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Herausgegeben
von Volker Gerhardt
und Renate Reschke
in Zusammenarbeit mit
J0rgen Kjaer
Jacques Le Rider
Annemarie Pieper
Robert B. Pippin und
Vivetta Vivarelli
Akademie Verlag
DieDrucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt
(Regierangspräsidium Halle)
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Exlibris für Torsten Unger
von Olaf Gropp (Magdeburg). Mit Genehmigung des Künstlers.
ISBN 3-05-004049-1
Siglenverzeichnis
I. Nietzsche und die Romantik
13.Jahreshauptversammlung der Nietzsche-Gesellschaft,
Naumburg, 17.-19. Oktober 2003
Steffen Dietzsch
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen. 13
Dirk von Petersdorff
Nietzsche und die romantische Ironie. 29
Violetta L. Waibel
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung. 45
Justus H. Ulbricht
Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche. 63
-
Johann Figl
Nietzsche und die Religionsstifter. 87
6 Inhaltsverzeichnis
Hans-Martin Gerlach
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel. 97
Volker Caysa
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche .... 107
Kurt Jauslin
Ordnung schaffen
Lesarten zu Nietzsches Genealogie der Moral.115
Volker Ebersbach
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit
giebt es keinen nothwendigen Gegensatz"
Friedrich Nietzsche und die Verleumdungen des Erotischen in der Liebe ... 129
Jason M. Wirth
Nietzsches Fröhlichkeit
Gibt es etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf? .143
Erwin Hufnagel
Déformation professionelle
Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der Phänomenologie Max Schelers ... 153
Pia Daniela Volz
Wahrsinn oder Wahnsinn?
Nietzsche als Objekt belletristischer Begierde.175
Karen Joisten
Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? oder
Der Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus.193
Konstantin Broese
Nietzsche und die antike Aufklärung
Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit Demokrit in seiner
Leipziger Studienzeit vor dem Hintergrund seiner Lange-Rezeption.231
Christian Wollek
Nietzsche und das Problem des Sokrates.241
IV. Aufsätze
Arno Boehler
Nietzsches virtuelle
Wanderung im Sprachzeitraum
des „Gefährlichen Vielleicht".251
Axel Schubert
Die Genesung des Zarathustra eine Epikrise.265
-
Martin Pernet
Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft
Der Briefwechsel seines Vaters mit Emil Julius Schenk .279
V. Rezension
Martin Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung.
,
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ',
Freiburger Seminar Wintersemester 1938/39, {Stephan GünzeT).299
Personenverzeichnis .305
Autorenverzeichnis.313
Siglenverzeichnis
Werkausgaben
Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/Briefausgaben von Giorgio Colli und Maz-
zino Montinari, Berlin/New York 1967ff. und 1980.
A bkürzungenfür Nietzsche-Periodika
Nietzsche-Studien
Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzscheforschung, begründet
-
von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Günter
Abel, Josef Simon, Berlin/New York: Walter de Gruyter Verlag
Nietzscheforschung
Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. Volker Gerhardt
-
von
und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag
I. Nietzsche und die Romantik
13. Jahreshauptversammlung
der Nietzsche-Gesellschaft
Naumburg, 17.-19. Oktober 2003
Steffen Dietzsch
In seinem Baseler Habilitationsvortrag Die Zukunft der Philosophie hat Karl Joël 1893
von Nietzsche gesagt, dass bei ihm, „mit seiner dionysischen Wildheit und propheti-
schen Bilderkraft [...] die Philosophie von einer Wissenschaft sich wandelt zu einer
Stimmungspoesie von orientalisch mystischem Duft".2 Joël ahnt hier „die kommende
Geisteswende"3, wie er sagt, und er nähme in „dem jungen Kultus der Originalität, in
dem Vordrängen neuromantischer Individualitäten [...] neben viel Künstelei und expe-
rimentierender Unreife deutlich die Sehnsucht [...] nach subjektiver Vertiefung"4 wahr.
Eine entsprechende Diagnose würde sich leicht schon ein Säkulum früher finden las-
sen, wenn man einige der Stimmen aufriefe, die vor dem Abgleiten des aufklärerisch-
vernünftigen Denkens in Subjektivismus, lustvolle Paradoxie, schwarzen Humor und
gar Nihilismus meinten warnen zu müssen, so wie sich das wohl tagtäglich im Jenaer
Salon der Madame Lucifer (Caroline Böhmer Schlegel Schelling) in den späten
Neunzigern des 18. Jahrhunderts zuzutragen schien. Wir Heutigen nennen das aller-
- -
Octavio Paz, „Analogie und Ironie", in: ders., Essays 2, Frankfurt/M. 1984, 74.
Karl Joël, „Die Zukunft der Philosophie", in: ders., Philosophenwege. Ausblicke und Rückblicke,
Berlin 1901, 12.
3
Ebd., 24.
4
Ebd., 24.
14 Steffen Dietzsch
von dem einstigen Romantikersalon entfernt, und es wurde (1804) gegründet, als der
Jenaer Romantikerkreis zerfiel.
Dort, wo nach landläufiger Meinung sowieso die hingehören, die sich nicht dem ,ideo-
kratischen' Normativ die Abweichung sei immer dümmer als die Regel (Peter Hacks)
-, und seiner Botschaft des ,Ordentlichen', ,Gültigen', ,Normativen' und des ,Fertig-
-
seins' zu beugen geneigt sind. „Nietzsches Freigeist ist ,sich selbst entsprungen' und
,haßt alle Gewöhnung und Regeln, alles Dauerhafte und Definitive'."5 Karl Joël hat
jedenfalls als einer der ersten in einer sehr frühen Phase der Nietzscheforschung (noch
zu Lebzeiten des Meisters) diese genealogische Spur zum Verstehen des nun in der
Villa Silberblick in Weimar archivierten, stillgelegten Geistes gelegt.
Sein Buch über Nietzsche und die Romantik ist 1905 bei Eugen Diederichs in Jena
erschienen. Es ist entstanden aus schon länger zurückliegenden Vorträgen von vor der
Jahrhundertwende.
Diese Schrift ist einmal sozusagen als mit seinem Gegenstand geistesverwandt ge-
rühmt worden, als ein „glänzend geschriebenes, geistvolles Buch [...] fernab von jener
Trockenheit [herkömmlicher] wissenschaftlicher Arbeit", und das es gerade deshalb
in Probleme hineinloten kann, „die mit dem kalten Verstände allein nimmermehr erfaßt
-
werden können".6
Im folgenden soll dreierlei vorgestellt werden: 1) einführend eine Skizze zu Karl
Joëls Leben, 2) seine Idee, Nietzsche als Romantiker zu lesen, und 3) ein paar Bemer-
kungen zu der Frage, ob sich Nietzsche in dieser Genealogie wiedererkannt hätte.
I.
Joël stammt aus Schlesien, aus Hirschberg, hier wurde er am 27. März 1864 in ein libe-
rales jüdisches Milieu hineingeboren. Er ist, wie die Bedeutendsten der ersten Generati-
on der deutschen Nietzscheforschung, jüdischer Herkunft, wie Theodor Lessing, Sa-
lomo Friedlaender (Mynona), Felix Hausdorff (Paul Mongré), Raoul Richter7, Max
-
5
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena/Leipzig 1905, 154.
6
Literarisches Centralblatt, 1906.
Vgl. Steffen Dietzsch, „,Die Philosophie fängt an, wo der Respekt aufhört'. Raoul Richters fröhli-
che Skepsis", in: Weimarer Beiträge ig. 49 (2003), H. 2, 219-241.
Vgl. Steffen Dietzsch, „Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras. Oscar Levy und der jüdische
Nietzscheanismus", in: Nietzscheforschung, Bd. 10 (2003), 205-225.
Karl Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Raymund
Schmidt, Bd. 1, Leipzig 1921, 71.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen 15
tus"10 gerade das ,Andere' dieser Wirklichkeit zu eruieren versucht. Nietzsches Frage
von 1874, wann denn wieder „die Menschen Kleistisch-natürlich empfinden, wann sie
wieder lernen, den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem heiligsten Innern zu
messen?" (KSA, SE,1, 356), gab genau die mentale Lage des jungen Joël wieder. Es
waren ein authentischer Immanuel Kant und die (zuerst, wie just der Schlegelkreis, in
Dresden erfahrene) romantische Kunst, die sich ihn gegen den akademischen Zeitgeist
stellen ließ. Seine wissenschaftliche „Fachliteratur mutete an wie eine Verschwörung
der Nüchternheit, wie eine Scholastik ohne Glaube und gab zumeist nur Psychologie
,ohne Seele', Erkenntniskritik ohne Erkenntnis, Historie ohne originales Leben [... und]
die äußerste Abkehr von allem spekulativen Sinn".11 So griff er just auf Plato zurück,
über den er, und zwar „ohne jede Fühlungsnahme mit einem Lehrer"12, im Oktober
1886 in Leipzig promovierte Zur Erkenntnis der geistigen Entwicklung und der
schriftstellerischen Motive Piatos [gedr. Leipzig 1887].
-
Joël nomadisierte anschließend ein halbes Dutzend Jahre zwischen Leipzig, Dresden
und Berlin als freier Autor, er schrieb unter Pseudonym für Zeitschriften, wie die Ge-
genwart, Neue deutsche Rundschau und das Magazin für Literatur. In jenen Jahren
erlebte er eine „fast wurzellose Fremdheit zur zeitgenössischen Universitätsphilosophie,
am schärfsten wohl", wie er sich erinnerte, „als ich in einem Gespräch mit [Franz]
Brentano in Wien, und bei einem Habilitationsversuch in München einer tiefen Gering-
schätzung und Ablehnung der deutschen spekulativen Philosophie begegnete, die mir
doch als Höhepunkt geistiger Kultur feststand".13
Er lernte u. a. Eduard Zeller und Wilhelm Dilthey kennen, mit Georg Simmel begann
eine Jahrzehnte hindurch gepflegte Freundschaft, mit ihm fand er sich zusammen „in
einer gewissen Loslösung von der Schulphilosophie und dann immer positiver in der
Betonung der Lebensbedeutung des Denkens".14 Joël hat dabei en passant auch ein
modernes urbanes Medium für die Philosophie entdeckt: das Café. „Seitdem es Cafés
gibt, ist Europa wohl dreimal so geistreich, dreimal so paradox, dreimal so radikal ge-
worden [...], auf dem roten Polster in nachtschwärmender Gesellschaft [wird] selbst der
Frömmste radikal, und der schwarze Trank [...] begeistert selbst den kleinsten Registra-
tor zum Weltreformer."15
Joël wird dann von einem Freund (dem kulturphilosophisch orientierten Philologen
Ferdinand Dümmler) auf Basel aufmerksam gemacht, „der ernsten, frommen, altehr-
würdigen, patrizisch regierten Stadt".16 Das ist neben Leipzig der zweite Ort, der ihn
jetzt mit Nietzsches Wirken nachhaltig konfrontieren wird. In Nietzsche begegnet ihm
einer, der sich, in seinen Leipziger und Baseler Jahren, in einer vergleichbaren Seelen-
lage befindet. Joël wird 1893 Privatdozent für Philosophie in Basel; im selben Jahr
wird, als Nachfolger Jacob Burckhardts, Heimich Wölfflin als Extraordinarius für
10
Ebd., 73.
1'
Karl Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 76.
12
Ebd., 77.
13
Ebd., 80.
14
Ebd., 80.
15
Karl Joël, „Geselligkeit und Geisteskultur", in: ders., Antibarbarus, Jena 1914, 153.
1
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 69.
16 Steffen Dietzsch
Kunstgeschichte hierher berufen. Mit ihm und seinem Kreis verbindet ihn bald eine
enge Freundschaft. Franz Overbeck informiert dann fünf Jahre später Heinrich Köselitz
von der akademischen Karriere Karl Joëls in Basel: „Ein [bezüglich auf Paul Mongré]
recht verschieden gearteter einstiger Genosse aus der Leipziger philosophischen Gesell-
schaft, Prof. Joël, ist hier als Extraordinarius [...] niedergelassen."17
Joël versteht sein Wirken von nun ab ausdrücklich kulturphilosophisch: ganz so wie
er jetzt Nietzsche begreift, der „den Philosophen zum Erzieher und zum Kulturmissio-
nar berief und den Gedanken aus der grauen Theorie und der Enge des Studierzimmers
ins farbige Licht, in die Freiluft, ja Bergluft hinaustrug zu lebendiger Intuition".18 Das
ist der geistige Hintergrund, vor dem Joël dann sein Bild von Nietzsche dem Romanti-
ker zeichnen wird.
-
Im Herbst 1895 war die Leiterin des Nietzsche-Archivs, das im Vorjahr in Naumburg
gegründet wurde, Elisabeth Förster-Nietzsche, zum ersten Mal nach dem Ausbruch der
Krankheit Nietzsches wieder in Basel, zur Vorbereitung ihrer großen Biographie des
Bruders. Joël seinerseits traf im Frühjahr 1899 (gelegentlich einer Fahrt nach Berlin) die
Weimarer Archivleiterin. Overbeck schrieb damals an Köselitz, er wisse wohl, dass Joël
„der Frau Förster einen Kratzfuss auf seiner Rückreise zugedacht habe" und er sei „nun
neugierig zu erfahren, was er dort [...] für Erfahrungen macht, nach den Orakeln, wel-
che die Frau Förster, als rückwärts gewendete Pythia in der ganzen Angelegenheit [ei-
ner vermuteten Stirner-Rezeption Nietzsches S. D.] schon abgegeben hat".19
Von Leipzig her hatte später der Privatdozent für experimentelle Psychologie, Max
-
Brahn, der nach dem Tode seines Freundes Raoul Richter (1912) dessen Vermittlerrolle
zwischen dem Nietzsche-Archiv und der akademischen Welt weiterführte, versucht,
1916 der Philosophischen Fakultät der Universität Basel vorzuschlagen, aus Anlass
ihres siebzigsten Geburtstages der Förster-Nietzsche ein Ehrendoktorat zu verleihen.
Der Basler Dekan Karl Joël jedoch konnte nicht anders als abzulehnen. „Sie werden es
mir nachsehen", so schreibt er nach Leipzig, „daß ich es [...] namentlich dem Anden-
ken Overbecks schuldig bin, nicht gerade den Vorschlag zur Krönung ihrer ausgespro-
chensten Feindin zu machen, die gar nicht aufhören kann sie zu beschuldigen" kurz:
es wäre ein Vorschlag, „den man in Basel nicht anders als einen Schlag gegen Overbeck
-
und andererseits nicht anders als ein pater peccavi der Basler verstehen würde".20
Seit 1902 ist dann Karl Joël Ordinarius in Basel (bis 1931). Sein Nachfolger wird
Herman Schmalenbach (aus Göttingen), bis er 1950 emeritiert wird. Karl Joël starb
1934 in St. Gallen. In der ihm gewidmeten akademischen Festschrift, die ihn kurz vor
seinem Tode noch erreicht hat, hat allerdings keiner der Beiträge auf seine, vielleicht zu
wenig akademische, Pretiose von vor dreißig Jahren über Nietzsche und die Romantik
irgendeinen Gedanken verschwendet.
17
Franz Overbeck an Heinrich Köselitz, v. 8. März 1898, in: Franz Overbeck/Heinrich Köselitz,
1
Briefwechsel, hg. von David Marc Hoffmann, Berlin/New York 1998 [Suppl. Nietzscheana 3], 447.
Karl Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart, 81.
19
Franz Overbeck an Heinrich Köselitz, v. 16. April 1899, in: Franz Overbeck/Heinrich Köselitz,
20
Briefwechsel, 479f.
Karl Joël an Max Brahn, v. 11. April 1916, Goethe-Schiller-Archiv [Weimar], Sign. 152 /12.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen 17
II.
Mit seiner Nietzsche-Deutung als Romantiker wollte Joël ausdrücklich, wie er aus der
Rückschau seiner Selbstdarstellung schrieb, nicht „Nietzsche durch Romantisierung
begraben, wie es mancher [...] Nietzscheaner ängstlich pro domo mißverstand."21 Er hat
Nietzsche vielmehr eine diesbezügliche Aktualität zugemutet, die sich, paradox genug,
gerade im Abendlicht der romantischen Sonne verdeutlichte (in derselben Tageszeit, in
der nach der Meinung von einem, der dem Romantiker-Salon in Jena eher fern stand,
die ,Eule der Minerva' ihren Flug beginnt). Diese Metapher weist dringlich daraufhin,
dass Joël mit seiner Nietzsche-Deutung gerade nicht einem verlöschenden, vergehenden
Leuchten nostalgisch nachhängt, sondern es wird jetzt das überwältigend Gegenwärtige
von Romantik selber namhaft gemacht: „Die Romantik", schreibt Joël, als wär's ein
Satz von heute, „so lange nach ihren reaktionären Ausläufern verkannt und verketzert,
ward ja erst heute wieder in neuem Erleben aus dem Schatten ins Licht getragen".22
Joëls frühes Werk ist selber in gewisser Hinsicht noch ein romantischer Text. Er will
sich explizit, durch seine Darstellungsform abheben von der akademischen, literarhisto-
rischen Art und Weise, wie gerade zur selben Zeit die alten Romantiker aus dem Staub
der Bibliotheken hervorgeholt und sich inzwischen „eine anschwellende gelehrte und
ungelehrte Literatur [...] bereits ihrer bemächtigt"23 hat.
Mit seiner Schrift will er gerade nicht einen Beitrag zur Historisierung oder Philolo-
gisierung Nietzsches in Relation zu einer hundert Jahre alten Geistesbewegung leisten,
sondern beide innerlich als verbunden und aktuell vorstellen: Nietzsches Metapher da-
für: Der Wanderer und sein Schatten. Joël fand sich zu dieser Doppelsicht insofern
berechtigt, als sich der Sinn von Nietzsches Diktum: Jede Philosophie verbirgt auch
eine Philosophie, offen zu legen schien.
Er weiß natürlich, dass Nietzsche selber sich generell nie in den engen akademisch-
komparatistischen Rahmen Nietzsche und hätte zwingen lassen. Oder, wie Joël gleich
...
anfangs schreibt: „Das Genie verträgt kein ,und'; denn es ist das Unvergleichbare."24
Dementsprechend begreift man gerade Nietzsche nicht, „indem man in der üblichen
Weise sich begnügt ihn in Perioden zu zerlegen, die man der Reihe nach beschreibt;
man begreift ihn überhaupt nicht, indem man ihn isoliert".25
Dies dreifache Nichts als Pointe der Suche nach der verlorenen Identität des raison-
-
nierenden Ich-Erzählers galt als ohrenfälliges Zeugnis des romantischen Nihilismus mit
all seinen vermuteten verhängnisvollen Folgen für die deutsche Geistesgeschichte,von
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu ,Gottseibeiuns-Hitler'. Nicht erst gegenwärtige
political correctness warnt vor solcher Genealogie, schon die biedermeierlichen Zeitge-
nossen Bonaventuras bemerkten hier eines der „merkwürdigsten und entsetzlichsten
Bücher, die jemals geschrieben worden"28. Natürlich sind solche Text-Wahrnehmungen
und Warnungen gegenstandslos.
Uns Heutigen sollte es möglich sein, unaufgeregter als im Biedermeier und schärfer
noch als Joël, diesen romantischen Schatten von nomadischen Texten verstehend zu
konturieren. Das trifft zunächst auf das zu, was Joël vom Nihilisten Nietzsche sagt, das
der alles von sich stieße und selbst das Glück verachte. Dieser, wie Gottfried Benn es
genannt hat, „Ecce-Homo-Schauer: Nihilismus ist [selber] ein Glücksgefühl"29, ist eine
ebensolche, jedenfalls prima facie, nihilistische Konfession, wie sie uns seinerzeit aus
Schlegels Salon, exemplarisch in den Nachtwachen des Bonaventura entgegentrat.
„Ich kenne", so sagt Nietzsche im, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen, Ecce
homo, „die Lust am Vernichten (und ich) gehorche meiner dionysischen Natur, welche
das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit
bin ich der Vernichter par excellence."30 Nietzsche verkündet die ,Jieraufkunft des Ni-
hilismus"31 als europäisches Schicksal der nächsten zweihundert Jahre. Der Nihilismus
sei „die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werte und Ideale"32, er ist so nicht
„Ursache, sondern nur die Logik der décadence".33 Dieses Aufrufen des Nihilismus
Werner Kohlschmidt, „Nihilismus der Romantik", in: Romantikforschung seit 1945, hg. von
Klaus Peter, Königstein/Ts. 1980, 53f., und Werner Kohlschmidt, Form und Innerlichkeit, Stutt-
11
gart 1955.
Nachtwachen des Bonaventura, hg. von Steffen Dietzsch, Leipzig 1991, 141. Vgl. auch Karen
Brzovic, Bonaventuras .Nachtwachen as Satirical Novel, Berlin/New York 1990.
'
8
Ernst v. Lasaulx an Joseph Görres, 28. März 1831, in: Richard Stölzle, Ernst v. Lasaulx (1805-
1861), Münster 1904, 29.
19
Gottfried Benn, „Rede auf Heinrich Mann" [1931], in: ders., Das Hauptwerk, Bd. 2 (Essays, Reden,
Vorträge), hg. von Marguerite Schlüter, Wiesbaden/München 1980, 276.
30
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, hg. von Raoul Richter, Leipzig 1908, 117.
31
Friedrich Nietzsche, Nachlass, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 1966, Bd.
3, 634.
32
Ebd., 635.
33
Ebd., 775.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen 19
durch Nietzsche, werkgeschichtlich34 seit 1880, verstellt allerdings immer wieder die
Verstehenshorizonte seiner Philosophie; immer wieder, quer durch die Lager sonst
streng verfeindeter Ideenkombattanten, wird Nietzsche mit seiner Botschaft identifi-
ziert.
Jedoch: Auch bei Nietzsche liegt im Umgang mit dem Nihilismus, wie bei jenem
Jenaer Romantiker, kein resignativer Gestus in Erwartung des ,Endes' vor, vor allem
auch kein Denkabusus angesichts einer überwältigenden, unbegriffenen Lebenswelt.
Nietzsche zeigt im Gegenteil dazu, wie man trotz der Konfrontation mit dem Gefürchte-
ten mental unbeschädigt bleiben könnte: Ein „Philosoph erholt sich anders und mit
anderem: er erholt sich z. B. im Nihilismus. Der Glaube, dass es gar keine Wahrheit
gibt, der Nihilisten-Glaube, ist ein großes Gliederstrecken für einen, der als Kriegsmann
der Erkenntnis unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die
Wahrheit ist häßlich."35 Aber: Nietzsche ehrt als Philosophen gerade die, die trotzdem
im Denken blieben, gleichwohl sie „im Denken den Bann der Sitte durchbrachen"
(KGW, NF, V, 1, 457f), um so nachhaltig, innovativ, gestaltend zu schaffen. Die Wahr-
nehmung von Finalitäten führt im Verstände Nietzsches gerade nicht zum finalen Ge-
dankenblitz (der die reflektierende Urteilskraft gerinnen lässt). Übersehen wurde bei
allen auftauchenden ,moralischen' Lesarten nihilistischer Texte fast immer die enigma-
tische Botschaft solcher Texte, um derentwillen sie, so verschieden sie sind, wahr-
scheinlich überhaupt geschrieben wurden. Dieses ,Enigma' lautet in den Worten Bona-
venturas: ,Jfichts geht doch über das Lachen"7"6. Das Subjekt vermag, gewissermaßen
als auf eine ,Subtextur' zum Verstand, in solchen Situationen auf eine Sprache des ,
Leibes' zurückzugreifen. „Der Witz ist das Nichternstnehmen des äußeren Anschau-
ungsstoffes, die Ironie das Nichternstnehmen der eigenen inneren Vorstellungen und
Gedanken, der Humor das Nichternstnehmen der eigenen Gefühle."37
Vgl. dazu Elisabeth Kuhn, „Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs", in: Nietzsche-Studien,
Bd. 13 (1984), 253ff. Vgl. auch: Walter Müller-Lauter, „Nihilismus als Konsequenz des Idealis-
mus", in: Denken im Schatten des Nihilismus, hg. von Alexander Schwan, Darmstadt 1975.
Friedrich Nietzsche, Nachlass, Werke in drei Bänden, Bd. 3, 675.
Nachtwachen des Bonaventura, 124. Vgl. auch K. Alfons Knauth, „Luckys und Bonaventuras
unglückliche Weltansichten", in: Romanistisches Jahrbuch 26 (1975), 147ff, und Luciano Zagari,
„Der Sprung über den eigenen Schatten. Die Nachtwachen als poetologisches Oxymoron", in:
Skepsis oder das Spiel mit dem Zweifel, Festschrift für Ralph-Rainer Wuthenow zum 65. Geburts-
tag, hg. von Carola Hilmes u. a., Würzburg 1994, 5Iff.
Friedrich Gundolf, „Friedrich Schlegels romantische Schriften", in: Jahrbuch des Freien Deutschen
Hochstifts, Bd. 1927, 69.
20 Steffen Dietzsch
ieren."38 Das ist in dem Diktum von Karl Joël ausgedrückt: „Der Romantik ist es Ernst
mit dem Lachen."39
Den höchsten Ernst gleich ins Komische zu wenden, damit man, wie es ein Romanti-
ker des Jenaer Schlegel-Kreises (Johann Wilhelm Ritter) gesagt hat, nicht gleich tot-
geprügelt werde, dazu sind auch für Nietzsche die Ironie und das Lachen da. Joël unter-
streicht Nietzsches Einfall, „die Rangordnung der Philosophen nach ihrem Lachen [zu]
bestimmen"40, denn, so sagt Nietzsche: „Über sich selber lachen, wie man lachen muss-
te, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen dazu hatten bisher die Besten nicht
genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! Es gibt vielleicht auch
-
159f).
Der Mensch bedarf des Komischen, er handhabt das Lachen als die Antwort des Leib-
haftigen gegen die Schwere unserer technischen Lebenswelt. Gegen sie bleibt ihm, im-
merhin, noch das Lachen, „der Hanswurst-Geist d. h. die Fingerfertigkeit' der Ironie".*3
Nietzsche sieht sich, wie die Spötter im Jenaer Salon um 1800, vor allem bei seinen
Deutschen, „wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen" (Brief an Carl
Fuchs vom 27. 12. 1888, KSB, 8, 554), umgeben von lustlosen Muckern, denen im Voll-
zug ihrer bürgerlichen Tüchtig- und Hörigkeit das Lachen abhanden gekommen ist. Die
große idealistisch-humanistische Tradition, so Nietzsche, habe zu Respekt vor absoluten
und unbedingten Werten und Wahrheiten erzogen. „Nietzsche aber hob [sogar] die Mo-
ral in der Natur auf. Er liebt die Natur [...] weil sie idealfeindlich ist, er idealisiert sie
nicht, er pflegt sie nicht, er versenkt sich nicht in sie [...] er liebt die Wüste, in der die
Kraft der Welteroberer und die Träume der Propheten ausatmen, er spricht von den
Nordpolarexpeditionen der Erkenntnis."44
Nietzsches „Wahrlachen" kommt natürlich, wie alles Wichtige bei ihm, maskiert, als
Rätsel und Paradox vor. Das war wohl auch der Grund, dass jenes Lachen des Philoso-
phen bei vielen Interpreten, namentlich bei Deutschen, lange außer Acht gelassen wur-
de. Aber, so notiert sich er einmal, „man muß dem bornierten ,deutschen Ernst' [bei-
spielsweise in der Musik] das Genie der Heiterkeit entgegenstellen".45 Das Lachen also
ist die momentane physische Antwort auf die Frage, auf die es zunächst keine begriffli-
che Antwort gibt; das Lachen, als ein Vermitteln (von so noch nie Vermitteltem: exem-
plarisch im Witz!), ist die Arbeit an der „Wiederherstellung des Sinns"46, der im Nihilis-
tischen untergegangen schien. „Das bis zum Tragischen Komische und das bis zum
Komischen Tragische, Jean Paul und Don Quixote sind die Lieblingspoesie des jungen
Nietzsche."47
Das Lachen trägt dazu bei, die verkehrte Logik einer verkehrten Welt erkenn- und
ertragbar zu machen. Es konditioniert uns, Widersprüche und Absurditäten unserer
Mitwelt hinzunehmen und mit ihnen so umzugehen, dass uns kein affirmativer Reali-
tätstaumel befallt. Nietzsche und die Romantiker verstehen sich als „Parodisten der
Weltgeschichte und Hanswürste Gottes vielleicht", so ihre Hoffnung, „dass, wenn
auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat" (
-
KSA, JGB, 5, 157). Das Lachen wird uns im Ganzen als eine ,mittlere' Kompensations-
form, als Mittel, unsere Psychosen ,soziabel' zu machen, zugemutet. „Laßt mir nur das
Lachen mein lebelang, und ich halte es hier unten aus!"48 Viele literarische und künstle-
rische Manifestationen seither, von Georg Büchner bis Thomas Bernhard, haben eine
Nähe zu jenem Diktum Bonaventuras (aus der 15. Nachtwache): „Wo gibt es überhaupt
ein wirksameres Mittel jedem Hohne der Welt und selbst dem Schicksale Trotz zu bie-
ten, als das Lachen?"49
So erweist sich bei Nietzsche wie in der Jenaer Romantik gerade das Lachen, das aus
der Schwärze kommt, als Korrektiv im Umgang mit den virtuellen Gebilden der Philo-
sophie, z. B. den Begriffen von Gott, Seele oder Unsterblichkeit, auch Humanität, weil
das Lachen das Leben im Gefolge hat. Für unsere Gegenwart ist das einmal so zusam-
mengefasst worden: „Der Witz half den Ohnmächtigen angesichts der tödlichen Bedro-
Ebd., 125.
22 Steffen Dietzsch
hung ihre Menschenwürde zu bewahren."50 Beide, Nietzsche und die Romantiker,
„werden zu [...] Spöttern gegen die ,Vernünftler', die ,logischen Philister', und Novalis
stellt eine Liste der .Vorurteile der Gelehrten' auf, die bei Nietzsche stehen könnte".51
Aber, so gibt uns Joël zu verstehen, das Lachen ist nicht mißzuverstehen als ein wo-
möglich bloß begrifflicher Schlussstein in Nietzsches ,System'. Sondern es ist vielmehr
ein Signum für Überschuss: „Hinter seinem Lachen tobt die Leidenschaft, die sich be-
freien will."52 Kurz: mit Nietzsches kategorischen Imperativ gesagt: „Das Lachen
sprach ich heilig: ihr höheren Menschen, lernt mir lachen!" (KSA, GT, 1, 22). Wich-
-
tig bleiben für Joël trotz allem nicht Sätze aus Romantiker-Schriften, die man mit sol-
chen bei Nietzsche zu vergleichen hätte. Wichtig bleibt: „Der Geist der Romantik be-
herrschte seine ganze Entwicklung; [...] Musik, die Kunst der Künste für die
Romantiker, zusammenklingend mit Philosophie, deren starker Einschlag die Romanti-
ker gleich Nietzsche zu rätselhaften Mischwesen stempelt von Denkern und Dich-
Religion
Hier scheinen sich Romantiker und Nietzsche momentan am weitesten voneinander zu
entfernen, denn „wie die Romantik ihre Liebe, so trug Nietzsche seinen Krieg bis in den
Himmel hinein."54 Aber die Religion ist auch schon bei den (Jenaer) Romantikern ein
exemplarisch konstruiertes Artefakt. Einen ,Katholizismus' wie den in Novalis' Die
Christenheit oder Europa hat es in der wirklichen Glaubenswelt nie gegeben. Und: „Im
übrigen ist es schwer erkennbar, worin sich die für Novalis richtungsgebende Idee der
Gottheit von der romantischen Idee einer in Poesie verwandelten Humanität unterschei-
det."55
Joël betont auch, dass Nietzsche gerade in die Religion der Romantik eintreten kann,
weil er exemplarisch deren Bestimmung bedient, nämlich Religion begreift als, wie es
in einem Schlüsselsatz des ganzen Buches heißt, „überschwenglichen Trieb, unendli-
ches Lebensgefühl", das „weit hinaus über fremde Satzung, über die Ideale der Liebe
und Güte, über die Grenzen der Moral, ja über Gott hinaus" greift und „noch die heiße
Stirn des himmelstürmenden Ketzers (küßt), weil sie heiß ist".56 Die kleine Geister er-
schreckende Gottesleugnung, derer auch Nietzsche immer wieder geziehen wurde, be-
trifft nur den, allerdings theokratisch verbreiteten, ,Gott' als Herrn, der Knechten be-
fiehlt, als Herrn, vor dem wir die Knie zu beugen haben, dessen Namen inflationär (und
straflos) aufrufbar und zu beliebigen Zwecken instrumentierbar scheint. „Nietzsche
eifert", so Joël, „gegen Gott als Grenze des Menschen, gegen den Gott außer dem Men-
Milo Dor, „Der Witz in finsteren Zeiten", in: ders., Grenzüberschreitungen, Wien 2003, 13.
5'
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 101.
52
Ebd., 124.
53
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 71 ff.
54
Ebd., 65.
5
Werner Krauss, „Französische Aufklärung und deutsche Romantik", in: ders., Aufklärung III, hg.
von Martin Fontius, Berlin 1996, 226.
56
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 181.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen 23
sehen".57 Das hat er mit den Jenaer Romantikern gemeinsam, denen, wie Joël exempla-
risch Friedrich Schlegel zitiert, „nichts religiös im strengen Sinne ist, was nicht ein
Produkt der Freiheit ist".58
Damit wird in diesem Denkkreis auf etwas verwiesen, was ursprünglich nur mit dem
„Einen Christen, und der starb am Kreuz" (KSA, AC, 6, 211), verbunden werden muss-
te. Es geht hier nicht um eine so oder so zu erzählende Geschichte des Christentums.
Vielmehr erkunden Nietzsche und die Romantiker zuerst einen (immanenten, nicht
transzendenten!) Weg, wie der Mensch über sich hinaus kommen könnte, denn er ist in
seinem je konkreten Dasein etwas, das immer schon zu überwinden ist. Wir vermögen
dabei eine überraschend ,kreuzesphilosophische' Konsequenz Nietzsches zu erkennen:
„Die Via Crucis wird zu einem Weg, der nirgendwohin führt, es sei denn zu einem
kahlen Grabhügel übersät von anonymen und nackten Kreuzen. Außerdem ist das
Kreuz wieder zu dem geworden, was die Frömmigkeit nach und nach unkenntlich ge-
-
Traum
Nietzsches „ganze Jugendzeit ist voll von romantischen Träumen, romantischen Spie-
len, romantischen Spaziergängen [...] vor allem voll von den romantischen Künsten
Lyrik und Musik".60 Alle Poesie, vermutet Nietzsche, ist ,Traumdeuterei'. Mit Calderón
konnte er sagen: Traum schien mir die Welt [...] Und träumend zu wandern war eine
der geistigen wie sozialen Verkehrsformen der Romantiker allesamt waren sie leiden-
schaftliche Wanderer, wie Nietzsche, „der sich seine Gedanken ,ergangen' hat, wie er
-
zugleich sich in ihnen erging. Er fühlte sich und schreibt als der ,Wanderer'."61
Das führt den späten allzu späten Romantiker nicht weg von der ,Wirklichkeit', gar
in eine Traumlandschaft mit blauer Blume, sondern schärft seinen Blick für sie. Das
aber ist nicht die Wiedergewinnung einer vorgeblich authentischen, ursprünglichen'
Natur à la Jean Jacques Rousseau (den hassen die Romantiker wie auch Nietzsche).
Sondern Joël bemerkt hierbei einen realistischen Kontext, der ein nach vorn weisendes
Gedankenexperiment wie den ,Uebermenschen'', den „Hölderlins ,Hyperion' und die
Romantik vorgeahnt hat"62, möglich macht. Die Romantiker sind die ersten, die sich
begrifflich um diese Steigerungsfigur des Menschen bzw. der Realität Gedanken ma-
chen. Hier wird auch jener neue Begriff gefunden, der die künftige Kunst und Literatur
der Moderne nachhaltig bestimmen sollte, der Begriff des Surrealen. So entdeckt Joël,
und das ist ein Zeichen bemerkenswerter hermeneutischer Sensibilität, in den Romanti-
kern die „Finder des ,Ueberwirklicheniii63.
Ebd., 182.
Ebd., 181. Vgl. auch Karl Joël, „Der Glaube der Atheisten", in ders., Antibarbarus, 187f.
Xavier Tilliette, Philosophische Christologie, Einsiedeln/Freiburg 1998, 276. Vgl. auch Eugen
-
Ebd., 77. Vgl. auch Klaus-Dieter Eichler, ,„In deinem Freund sollst du deinen besten Feind ha-
ben'. Nietzsches Reflexionen über die Freundschaft", in: Nietzsche im Exil, hg. von Rüdiger
-
mantik".72 Oder, wie es einem aus dem Kreis jener ersten deutsch-jüdischen Nietzsche-
leser bescheinigt wurde: dass „die Philosophie dort anfange, wo der Respekt aufhört".73
III.
Nietzsche hat sich gelegentlich deutlich gegen die Romantik ausgesprochen. „Die ro-
mantische Kunst ist nur ein Nothbehelf fur eine manquirte Realität" (KSA, NF, 13,
494). Für Distanzierungen gilt in hohem Maße das, was von Heinrich Heines Abwen-
dung vom romantischen Geist gesagt worden ist: das er dabei gelegentlich gerade das
an ihr übersehen hat, was ihn mit ihr verbindet.74 Er hat sich selber einmal, ironisch, die
rhetorische, selbstkritische Frage gestellt, bezüglich seiner Geburt der Tragödie: „Aber,
mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist [...] ist
das nicht das ächte rechte Romantiker-Bekenntnis von 1830, unter der Maske des Pes-
simismus von 1850?" (KSA, GT, 1,21) Hier wird deutlich, dass Nietzsche sich haupt-
sächlich mit der französischen Romantik auseinandersetzt, als deren Schattenmann er
Rousseau wahrnimmt. Vor allem dessen 18. Jahrhundert und die Folgen sind es, wovon
sich Nietzsche abzuheben bemüht, wenn er die Romantik kritisiert. Exemplarisch ist,
was er über George Sand schreibt, als er ihre Lettres d'un voyageur las: hier sei „alles,
was von Rousseau stammt, falsch, gemacht, Blasebalg, übertrieben. Ich halte diesen
bunten Tapeten-Stil nicht aus; ebensowenig als die Pöbel-Ambition nach generösen
Gefühlen. [...] Wie kalt muß sie bei alledem gewesen sein, diese unausstehliche Künst-
lerin! [...] Kalt, wie Hugo, wie Balzac, wie alle Romantiker, sobald sie dichten! [...]
diese fruchtbare Schreibe-Kuh, die etwas Deutsches im schlimmen Sinne an sich hatte,
gleich Rousseau selbst" (KSA, GD, 6, 114f). Karl Joël hat angesichts solcher Textlagen
insgesamt deutlich gemacht, dass man im Blick auf Nietzsche zweierlei Romantik aus-
einanderhalten muss, und „was hier ein für allemal gesagt sei: Nietzsche bekämpft als
.Romantik' nicht die eigentliche, die Frühromantik um die Jahrhundertwende, sondern
die spätere, die großenteils gar nicht mehr Romantik ist, sondern der Standpunkt altge-
wordener Romantiker, Dekadenz und Epigonentum der Romantik, Nachromantik".75
Auf einen wichtigen Unterschied zwischen den Romantiken, namentlich zwischen
deutscher und französischer Romantik hat Nietzsche selber verwiesen und dabei seine
Nähe zur deutschen Romantik nahegelegt. Die deutsche Romantik setzt sich nicht, wie
die französische ab vom Klassizismus. „Die Romantiker in Deutschland", so Nietzsche,
„protestieren nicht gegen den Klassizismus [im Gegenteil, sie sehen z. B. in Goethe
einen ihrer Mentoren], sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes
Jahrhundert."76
Ebd., 78.
Heinrich Hasse, Die Philosophie Raoul Richters, Leipzig 1914, 12.
Vgl. Oskar Walzel, „Wesensfragen deutscher Romantik", in: Jahrbuch des Freien Deutschen
Hochstifts, Bd. 1929, 252.
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 158f.
Friedrich Nietzsche, Nachlass. Werke in drei Bänden, Bd. 3, 647.
26 Steffen Dietzsch
Es gibt im Leben Nietzsches Berührungen mit dem romantischen Geist. Aber:
viele
„Aus dem Widerspruch Nietzsches Romantik dessen eigenen Romantizismus zu
zur
entwickeln und diesen nicht zuletzt am ,Phantasie'-Begriff zu erläutern"77, ist, wie Karl
Heinz Bohrer schreibt, die Leistung von Karl Joëls Buch Nietzsche und die Romantik
gewesen.
Nietzsche hat seine geistigen Quellen, Arthur Schopenhauer und Richard Wagner,
„dem man zugute halten muß, dass er die Tendenzen der Romantik auf seine Weise im
Groß-Üppigen weiterführte"78, als die markantesten Fortsetzer und Ideenspender der
europäischen Romantik gesehen. Gleichwohl hat er Wagners bedenkliche Fortentwick-
lung hin zu einem „Romanticismus" (KSA, NF, 9, 417) gesehen, es sei „Wagners Mu-
sik noch Literatur, so gut es die ganze französische Romantik ist".19 Überdies gab es
viele bildungsgeschichtliche Berührungspunkte des jungen Nietzsche mit romantischen
Verkehrslagen. Die näheren Orte seiner Kindheit und Jugend sind Orte der Romantik,
sein Pfortenser Lehrer Karl August Koberstein war ein Romantikforscher. Auch sein
enger Leipziger Freund Erwin Rohde war ein intimer Kenner des romantischen Landes
(der Caroline v. Günderode und Friedrich Creuzers).80
Aphoristik
Ein zentrales formales Element, das allerdings eine Verbindung von Nietzsches
Schreibart mit der (Jenaer) Romantik nahe legt, ist der Umgang mit dem Aphorismus.
Die Fremdheit seiner philosophischen Zeitgenossen diesem Mittel gegenüber, sieht
Nietzsche nicht darin, dass sich modern, gewissermaßen diskursdemokratisch, eine
systematische Redeart durchzusetzen beginnt, die die Verstehensprozesse, allgemein
verbindlich, argumentativ, reguliert. Sondern Nietzsche bemerkt in der Warnung vor
dem Aphorismus umgekehrt ein allgemeines Reduktionssyndrom in der philosophi-
schen Kultur am Werk. Dass viele mit der aphoristischen Form Schwierigkeiten be-
kommen, läge darin, so Nietzsches romantisch(-ironische) Schlüssel-Erklärung, „dass
man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen ge-
prägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ,entziffert'; vielmehr
hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es eine Kunst der Auslegung bedarf.
[...] Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was
heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist und darum hat es noch Zeit bis zur
,Lesbarkeit' meiner Schriften -, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ,moder-
-
ner Mensch' sein muss: das Wiederkäuen" ( KGW, GM, VI, 267f.).
So betont auch Joël die Aphoristik als die literarische Idealform für den kritischen
Geist, als ,Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis'. Der Aphorismus ist keine
„Scherbe, sondern als Gemme, als Ganzes im kleinen, als selbstständige Ausmeiselung
[...] als Entfaltung des Endlichen zu unendlicher Bedeutung"81 zu begreifen. Nietzsche
Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, Frankfurt/M. 1989, 84.
Ferdinand Lion, Romantik als deutsches Schicksal, Stuttgart 1963, 105.
Ebd., Bd. 13,494.
Vgl. Otto Crasius, Erwin Rohde, Tübingen/Leipzig 1902, 202.
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 116.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen 27
hätte, wenn er mehr rezeptive Energie freizusetzen in der Lage gewesen wäre, durchaus
Entdeckungen in der Jenaer Salonkultur machen können. Und er hätte Geistesverwand-
te, wie Friedrich Schlegel finden können (in ihm hätte er einen gemeinsamen Lessing-
Verehrer getroffen), und mit ihnen dasselbe Interesse nach einer anderen Kunst, näm-
lich „eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst,
welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert!" (KSA, FW,
3,351).
IV.
Die letztliche Unbestimmbarkeit Nietzsches als Romantiker aber kann (oder will) Joël
nicht überspielen, die wird deutlich, wenn er den Röckener einen „romantischen Ba-
rockgeist" nennt, als wäre man mit einem Epitheton nicht schon hermeneutisch genug
gefordert! Es bleibt als ein Resultat der Re-Lektüre von Nietzsche und die Romantik die
doppelte Einsicht: Romantik und Nietzsche sind beide Phänomene des Modernismus.
Beide betonen: „In der Kunstrevolution verwirklicht sich das emanzipierte Indivi-
duum."82 Nietzsche und die Romantiker sind (a) Denker der Selbstüberwindung, damit
über die Zeiten von Interesse, weil sie nicht bloß ihre Zeit in Gedanken fassen, sondern
„Mutmacher überhaupt"83 sind.
Damit repräsentieren sie (b) Lebensformen des Übergangs: „Nietzsche und die Ro-
mantiker, das sind sie Bacchantenseelen, die Dithyrambiker der deutschen Literatur
[...] in der die tiefste Tragik umschlagen kann in das Jauchzen des Satyrspiels, in der
die höchste Freude den Schmerz gebiert und der tiefste Schmerz die Lust."84
Wie eine ironische Rede in schöner Form aussieht, zeigt der Schluss der Fröhlichen
Wissenschaft. Der vorletzte Aphorismus endet mit der Beschwörung eines neuen Erns-
tes, der in einer noch unbestimmten Zukunft eintreten soll: wenn, so heißt es dort, „das
eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der
Zeiger rückt, die Tragödie beginnt [...]". Hier wird rhetorisch der hohe Ton geübt,
gekennzeichnet durch die Metaphorik („Schicksal der Seele"), das bedeutungsschwere
Adjektiv „eigentlich", das Substantiv „Tragödie" und die drei Punkte am Schluss. Dem
folgt der als „Epilog" bezeichnete letzte Aphorismus, der den Ernst der rhetorischen
Situation durch „das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen" unterbricht: „Die
Geister meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen
mich zur Ordnung. ,Wir halten es nicht mehr aus rufen sie mir zu -; fort, fort mit
dieser rabenschwarzen Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner
-
weicher Grund und Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde,
um fröhlich zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so
flügge, dass es die Grillen nicht verscheucht [...]'" (KSA, FW, 3, 637).
Es ist wichtig, dass dieses Gelächter nicht von außen kommt, sondern aus dem Buch
selbst hervorgeht, denn es sind die Geister des Buches, die den hohen Ton als „raben-
schwarze Musik" ironisieren, dem Propheten die Ohren langziehen und ein Vormittags-
lied fordern. Zu diesem Buch und zur sprechenden Instanz gehört also beides: Der Ernst
und das Lachen; beides hat seinen Platz im Umgang mit der Welt. Wie in der Natur, auf
die sich die Geister berufen, die Finsternis nur ein Teil ist, so soll der Denker verschie-
dene Perspektiven in sich verbinden, die Schwere und das Lachen vereinen.
Wenn man an dieser und anderen Stellen bemerkt, dass die Ironie als Stilprinzip und
Denkform eingesetzt wird, dann liegt es nahe, nach einer möglichen Beziehung zur
Romantik zu fragen. Denn innerhalb der Moderne hat zuerst die Romantik die Ironie
theoretisch begründet und literarisch erprobt.1 Schon Karl Joël hat in seiner Pionier-
1
Auf die antike Ironie und ihre wichtigste Manifestation in der Dialogführung des Sokrates kann hier
nicht eingegangen werden. Sie ist aber für die Entwicklung des Ironie-Konzepts in der Romantik von
großer Bedeutung. Wiederholt nennt Friedrich Schlegel Piaton einen Menschen, der sich in einer un-
30 Dirk von Petersdorff
Studie zum Verhältnis Nietzsches zur Romantik von dieser Gemeinsamkeit gesprochen:
Friedrich Schlegel und Nietzsche „sind Ironiker, und sie betonen die Ironie als ihre
bewusste Methode und Kunst", heißt es bei ihm.2 Dabei soll einer möglichen Beziehung
allerdings nicht in Form einer Einflussforschung nachgegangen werden, die fragt, wel-
che romantischen Texte Nietzsche zu welcher Zeit gelesen, wie er sich dazu geäußert
und welche Spuren diese Lektüre womöglich hinterlassen hat. Nicht selten verlieren
sich solche grundsätzlich berechtigten Nachforschungen in einem Gewirr aus Einzel-
bemerkungen, die aus ihren Kontexten herausgelöst werden, bleiben auf Vermutungen
angewiesen, müssen mit einkalkulieren, dass ein Autor Einflüsse unterschlägt oder dass
sie ihm selber nicht bewusst sind. Zudem wird bei solchen Untersuchungen oft das
zeitgenössische Verständnis von Romantik, in das auch Nietzsche eingebunden war, mit
dem gegenwärtigen Bild und der gegenwärtigen Kenntnis von Romantik überblendet
und vermischt. Die Ergebnisse solcher Studien fallen nicht selten unpräzise aus; sie
lauten etwa so, dass Nietzsche einerseits die Romantik stark bewundere, sie gleichzeitig
aber scharf kritisiere, wobei das eine mit dem anderen in einem dialektischen Wechsel-
verhältnis stehe.3 Hier soll ein anderer Weg eingeschlagen, soll systematisch gefragt
werden: Warum stellt die Ironie für die Romantiker wie für Nietzsche eine plausible
Form dar, sich selbst auszudrücken und die Umwelt zu beschreiben? Aufweiche Situa-
tion antwortet das Konzept der Ironie, und inwiefern handelt es sich dabei um eine den
Romantikern und Nietzsche gemeinsame Situation? Welche äußeren Bedingungen und
welche Normen teilt Nietzsche mit seinen Vorfahren?
endlichen Suchbewegung befunden habe: „Er ist nie mit seinem Denken fertig geworden, immer be-
schäftigt, seine Ansichten zu berichtigen, zu ergänzen, zu vervollkommnen" (Friedrich Schlegel,
Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner
u. a„ Paderborn u. a. 1958ff., Bd. XII, 209). Die beständige Selbstkorrektur, die im Blick auf ein nie
zu erreichendes Absolutes geschieht, entspricht dem, was Schlegel romantische Ironie nennt.
2
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena, Leipzig 1905, 121.
Beispiele für solche Einflussforschungen sind : Matthias Politycki, Umwertung aller Werte? Deut-
sche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/New York 1989, 230ff.; Ernst Behler, „Nietzsche und
die frühromantische Schule", in: Nietzsche-Studien, Bd. 7 (1978), 59-96; Ingrid Hennemann Bara-
le, „Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches Beziehung zu den frühromantischen
Kunsttheorien", in: Nietzsche-Studien, Bd. 18 (1989), 158-181; Linda Duncan, „Heine and Nietz-
sche", in: Nietzsche-Studien, Bd.19 (1990), 336-345.
Nietzsche und die romantische Ironie 31
unter Vorbehalt stellt. Eine Äußerung wird getan, wie in dem oben genannten Beispiel
aus der Fröhlichen Wissenschaft, um anschließend ihre Gültigkeit einzuschränken: Sie
ist nicht die einzig angemessene, einzig wahre Form des Ausdrucks. Schlegel, der wich-
tigste romantische Theoretiker der Ironie, spricht von der „Unmöglichkeit und Notwen-
digkeit einer vollständigen Mitteilung".4 Das heißt: Wir versuchen, mit einer Situation
angemessen umzugehen, das Notwendige zu sagen, wollen einem Menschen gerecht
werden, wissen aber gleichzeitig, dass dies nie wirklich gelingt. Immer fehlt etwas,
immer ist ein Ton falsch, könnte man eigentlich auch ganz anders reden. Deshalb wird
die Äußerung, für die man sich entscheidet, mit einer Einschränkung versehen.
Im besonderen Maß ist die Ironie nach Meinung der Romantiker dort am Platz, wo es
um Geltungsansprüche, um Wahrheitsfragen geht, wo vom Absoluten gesprochen wird.
Hier ist es besonders notwendig, jene Aussagen oder Institutionen als begrenzt zu verla-
chen, die sich für substantiell, für unbezweifelbar halten. Einem selbstsicheren Men-
schen, der mit dem Gefühl auftritt, im Recht zu sein, begegnet die Ironie mit einem Lä-
cheln, das um die vielen anderen Richtigkeiten weiß. Wenn mit Kant das Unbedingte nur
als regulative Idee jenseits der Realität existiert und sich nicht in Gedanken repräsentie-
ren lässt, dann ist die Position des Unbedingten freizuhalten, dafür ist der Ironiker zu-
ständig. Jede Grenzziehung stellt er in Frage, um den Horizont offenzuhalten. Er de-
monstriert die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit dessen, was mit sich ganz einig ist.
Das Endliche, was seine Endlichkeit vergisst, wird an das Unendliche verwiesen. Des-
halb kann Schlegel in einer seiner enigmatischen Äußerungen sagen: „Wer Sinn fürs
Unendliche hat, [...] sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche."5
Dabei fällt der ironische Widerspruch oft komisch aus, gibt der Ironiker den Hanswurst,
der die Wahrheitsansprüche durch den Kakao zieht. Die Verbindung von Philosophie
und Witz wird deutlich, wenn Schlegel die Ironie als „transzendentale Buffonerie" be-
zeichnet,6 somit Kant und die komische Figur der italienischen Oper verbindet.
Neben den denkgeschichtlichen Bedingungen, neben der philosophischen und religi-
ösen Situation, gibt es weitere Gründe für die Plausibilität der Ironie. Die Ironie reagiert
auch auf die Erfahrung einer modernen, pluralen Gesellschaft, die sich nicht mehr auf
Glaubenssätze festlegt, die allgemein geteilt werden, sondern nur noch den Anspruch
erhebt, das Nebeneinander der verschiedenen Positionen in eine möglichst friedliche
Form zu bringen. Die Literatur um 1800 hat schon ein deutliches Bewusstsein von der
entstehenden offenen Gesellschaft, wie sich an verschiedenen Beispielen von Friedrich
Schiller über Novalis bis zu Friedrich Hölderlin und Clemens Brentano zeigen ließe.
Die Autoren reflektieren den Verlust von Einheitsbegriffen, sehen, dass der moderne
Mensch eine Rollenpluralität in sich austarieren muss, bemerken, dass die verschiede-
nen Teilbereiche der Gesellschaft eigenen Normen folgen und dass die Variabilität des
Ideengutes zunimmt.7
4
Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 160.
5
6
Ebd., 243.
Ebd., 160.
Dazu: Dirk von Petersdorff, „Ein Knabe saß im Kahne, fuhr an die Grenzen der Romantik. Cle-
mens Brentanos Roman" ,Godwi', in: Text + Kritik 143 (1999): Aktualität der Romantik, 80-94.
32 Dirk von Petersdorff
In einer solchen Gesellschaft weiß jeder Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, dass er
mit anderen prinzipiell gleichrangigen konkurrieren muss, und deshalb lässt sich hier
die Korrekturleistung der Ironie besonders gut erfahren. Dass das soeben Gesagte von
einer nachfolgenden Position dementiert wird, kann jeder erfahren, der eine Zeitung
durchblättert. Wenn die Ironie, wie Schlegel sagt, aus der Erfahrung „der ewigen Agili-
tät, des unendlich vollen Chaos" hervorgeht,8 dann lässt sich eine solche Erfahrung in
pluralen Gesellschaften besonders gut machen, denn sie leben von der beständigen
Konkurrenz der Meinungen, die sich nicht mehr von einer übergeordneten Position aus
ordnen und bewerten lassen. In dieser Gesellschaft ist die Kritik zum Prinzip geworden,
herrscht ein Strom von Rede und Gegenrede, von Denken und Gegendenken. Ausdrück-
lich stellt Schlegel die Ironie in eine Verbindung zur Urbanität und zum Prinzip des
Dialogischen: „Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität."9
Mit dem Begriff der ,Urbanität' spielt der junge Schlegel auf die antike Polis als
Herkunftsort der Ironie und auf moderne Großstädte an, besonders auf Paris. Verbunden
damit ist die Vorstellung eines Menschen, der Anteil an den verschiedenen Bereichen
der modernen Gesellschaft und ihren verschiedenen Normen besitzt und deshalb als
vielfältige Persönlichkeit agiert. Von einem „Geist, der gleichsam eine Mehrheit von
Geistern" enthält, ist in dem Zusammenhang die Rede, von einem „liberalen" Men-
schen, der „von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frei ist".10 Die
Moderne bringt ein bewegliches Ich hervor, und dessen Selbstverständnis lässt sich mit
der Ironie ausdrücken, die Schlegel als „steten Wechsel von Selbstschöpfung und Ver-
nichtung" bezeichnet." Dass solche Formulierungen nicht nur in einem ideengeschicht-
lichen Raum entstehen, wie es die jüngere Forschung betont hat, sondern auch aus his-
torisch-politischen Erfahrungen hervorgehen, zeigt sich, wenn Schlegel das Innenleben
des Ironikers als eine „ununterbrochene Kette innerer Revolutionen" bezeichnet.12 So
wird der Zusammenhang der Ironie mit dem Zeitalter nach 1789 hergestellt: Im moder-
nen Menschen und in der entfesselten Geschichte ist wenig Stabilität vorhanden,
ringen
verschiedene Ansprüche miteinander, und die Ironie ist eine Form, diese Widersprüche
nicht zu leugnen, mit ihnen umzugehen, ohne dabei die Wahrheitsfrage zu suspendie-
ren. Sie wird nicht abgeschafft, sondern offengehalten.
sehe Ironie in einen Zusammenhang mit der philosophischen Erkenntniskritik und der
Reflexion einer modernen Gesellschaft gestellt wurde, ob sich beides auch im Werk
Nietzsches findet.
Dessen Erkenntniskritik ist gut bekannt. Sie findet einen markanten Einsatz mit dem
frühen Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne; der berühmte
Anfang lautet: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen
flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das
Erkennen erfanden" (KSA, WL, 1, 875). Wichtig ist, dass das Erkennen als Erfindung
bezeichnet wird, es nicht um das einzig richtige Verständnis einer erfassbaren, festste-
henden Realität geht. Erkenntnis versteht Nietzsche als den Versuch, dem undurch-
schaubaren Chaos der Wirklichkeit Regularitäten aufzuerlegen, sich die Welt im Zuge
von Aneignungsprozessen handhabbar zu machen. Subjekt- und Objekt-Welt bilden
zwei getrennte Sphären, zwischen denen es „keine Causalität, keine Richtigkeit" gibt
(ebd., 884). Damit gelangt man über den Status einer Deutung der Objekt-Welt nie
hinaus, und es fehlen Anhaltspunkte, die eine bestimmte Interpretation vor anderen
auszeichnen könnten, weil sie der Wirklichkeit besonders nahekäme (KSA, FW, 3,
627). Der Zugang zu einer Welt ,da draußen' ist nicht möglich, ,die' Realität als einzige
Realität nicht abbildbar. Die Bezeichnungen der Sprache sind Erfindungen, die ein
gesellschaftliches Miteinander ermöglichen, indem sie verbindliche Bezeichnungen und
Deutungen der Dinge festlegen. Nietzsche vertritt einen weitgehenden Nominalismus,
der die Erschließungs-Leistung der Sprache bezweifelt.
Dieser Nominalismus untergräbt den Glauben an unbedingte, nicht konstruierte
Wahrheiten, die im „Alter der theoretischen Unschuld" versinken (KSA, MA I, 2, 356).
Normen gehen aus Behauptungen und Annahmen hervor, die sich als nützlich erwiesen
haben. Man kann hier von einer großen Verunsicherung sprechen, aber auch von einer
großen Befreiung. Man wird frei von Unbedingtheitsansprüchen und ihrem Furor: „Es
ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht
hat, sondern der Kampf des Glaubens an Meinungen" (ebd.). Wer um die Grenzen der
Erkenntnis weiß, ist von der „Tyrannei des Wahren" befreit (KSA, M, 3, 297).
Erkenntnis soll fortan als Gegengift dienen, um die Wirkung neu auftretender Wahrhei-
ten zu begrenzen (KSA, MA, 2, 323). Befreit von den „Bezauberungen", welche in
Jedem unbedingten Ja und Nein" liegen (KSA, FW, 3, 627), kann der Einzelne die
Lebensformen wechseln; er wird nicht festgehalten. So schließt die Einsicht, dass indi-
viduelle Willensentscheidungen in jedem Erkenntnisakt mitwirken, eine Aufforderung
zum Experimentieren ein. Wenn alles Erkennen einem Tanz gleicht, kann man diesen
auch neu, elegant und schön tanzen (ebd., 417).
Ausführlicher muss von Nietzsches Diagnosen zur modernen Gesellschaft die Rede
sein, weil sie weniger bekannt sind. Dabei stammen die zitierten Äußerungen überwie-
gend aus den Büchern der mittleren Phase, aus Menschliches, Allzumenschliches, Mor-
genröthe und Die fröhliche Wissenschaft. In ihnen hat er die gesellschaftlichen Bedin-
gungen seiner Zeit überraschend genau und abseits der üblichen zivilisationskritischen
Muster beobachtet. Im ersten Kapitel von Menschliches, Allzumenschliches, 1878 er-
schienen, heißt es unter dem Titel Zeitalter der Vergleichung: „Je weniger die
Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grosser wird die innere Bewe-
34 Dirk von Petersdorff
gung der Motive, um so grosser wiederum, dem entsprechend, die Polyphonie der Be-
strebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und
seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bin-
dendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle
Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. Ein solches Zeitalter be-
kommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen,
-
Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher,
bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der
Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit" (KSA, MA I, 2, 44). Die
Geschichtsschreibung nennt das nüchtern Modernisierung. Beschrieben ist der Verlust
von Bezügen, aus denen der Lebensvollzug unbefragt und selbstverständlich hervor-
ging; der Verlust von Räumen und Milieus, die Mentalitäten prägten und Einstellungen
vorgaben. Dem entspricht ein Gewinn, wenn man die gestiegene Beweglichkeit sieht,
die neue Möglichkeit, zwischen Lebensformen zu wählen, Häuser zu wechseln. Die
moderne Gesellschaft ist durch äußere und innere Unruhe gekennzeichnet, weil den
freigesetzten Individuen verschiedene Welt- und Selbstbetrachtungen offen stehen, die
sie leben können, auch probeweise, vorläufig. Die Gesellschaft stellt immer weniger
Selbstverständlichkeiten bereit, der Grad ihrer Heterogenität steigt. Der moderne
Mensch ist unentwegt damit beschäftigt, sich zu vergleichen.
Das ist ein allgemeines Kennzeichen der Moderne, die sich in Schüben durchsetzt
und deren Unruhe dort besonders stark wird, wo ein solcher Schub auftritt und wieder
eine Schwelle überschritten wird. Nietzsche spricht von seiner Gegenwart als einer
solchen Zeit, wo Altes und Neues einen „Contrast" bilden, weil sie „noch zu nahe
gestellt" sind. Gegensätze stehen nebeneinander, führen zu einem „aufgeregten" Da-
sein, das die Reizbarkeit der Individuen erhöht (ebd., 43). Denn es ist nicht so, dass
Traditionen einfach abgeschnitten werden und beseitigt sind. Sie verlieren nur ihre frag-
lose Normativität, existieren aber weiter und treten in Konkurrenz mit Neuentwicklun-
gen. Dadurch ist der Einzelne verschiedenen Ansprüchen ausgesetzt, und Nietzsche
kann einen durchschnittlichen Zeitgenossen beschreiben, der sich nach einer religiös
bewegten Kindheit einem jugendlichen Pantheismus zuwendet; von dort gelangt er zu
einer metaphysischen Philosophie und sucht sein Heil dann in der Kunst; schließlich
landet er beim Glauben an Naturwissenschaft und Historie (ebd., 224f.). Ein Leben
verbindet konkurrierende Weltdeutungen, alte und neue, so dass der Kampf der Genera-
tionen auch im Inneren stattfindet (ebd., 222). Damit geht jenes Gefühl der Beschleuni-
gung einher, das schon aus der Moderne des späten 18. Jahrhunderts bezeugt ist: Es ist,
„als ob die Jahreszeiten zu rasch aufeinander folgten" (ebd., 232.).
Für diese mentalen Veränderungen werden historische Ursachen benannt. Dazu zählt
die gestiegene Mobilität durch Handel, Industrie und Verkehr. Räume und Grenzen
bieten jetzt weniger Orientierung (ebd., 309). Mit der Urbanisierung gehen „feste, ruhi-
ge Linien" der Natur verloren (ebd., 234), mit denen man lebte. Auf politischem Gebiet
sieht Nietzsche überraschend präzise die langsame, aber mächtige Demokratisierung
des 19. Jahrhunderts. Sie führt zu einem Abbau von Hierarchien, von Oben und Unten,
von normierenden Größen (ebd., 292). Stattdessen herrscht die „Concurrenz" von Men-
schen und Parteien, die sich rasch ablösen, denen die „Bürgschaft ihrer Dauer" fehlt
Nietzsche und die romantische Ironie 35
(ebd., 305). Mit der Konkurrenzsituation ist die Verpflichtung zum Gewaltverzicht
verbunden (ebd., 359). So ändern sich die Formen des Zusammenlebens, vor allem aber
die Basis des Staates. Die demokratische Regierung als „Function des alleinigen Souve-
rains, des Volkes", kann, wenn das Volk „mannichfach über religiöse Dinge denkt",
keine glaubensähnlichen Vorgaben mehr formulieren (ebd., 303). Der Staat bildet keine
mythologische Einheit mehr ab, er ruht nicht mehr auf einem gemeinsamen mentalen
Fundament. Damit wird die Sphäre des Politischen vom „unbedingten Gefühle" ge-
löst (KSA, M, 3, 148). Sie erfüllt Funktionen, organisiert Konflikte, vermittelt aber
keine Wahrheit. Deshalb kann Nietzsche zuletzt die „Entfesselung der Privatperson" als
„Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes" ansehen (KSA, MA I, 2, 305).
Natürlich lebt auch diese Privatperson noch in Zusammenhängen, in denen man Auf-
gaben wahrnimmt, aus denen man sein Selbstverständnis bezieht. Aber diese Zusam-
menhänge werden nicht mehr als natürlich erfahren, sie entstammen nicht mehr einer
großen, im wesentlichen als gegeben angesehenen Ordnung. Der alteuropäische Glaube
an Vorherbestimmung geht verloren: „Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte
haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stande gebracht, jene Ungeheuer von breiten
Gesellschafts-Thürmen aufzurichten", deren Qualität in ihrer Schutzfunktion und Dauer
besteht. Dagegen entdeckt man in den neueren, „eigentlich demokratischen" Zeitaltern
das „Willkürliche" aller Zusammenhänge, ihren Konstruktcharakter. Das wirkt zurück
auf den Lebensweg, der nicht mehr vorgezeichnet ist, „wo der Einzelne überzeugt ist,
ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo Jeder mit
sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und
Kunst wird". Nietzsche sieht, dass es sich bei dieser Freisetzung des Individuellen um
einen Zug zur Verwestlichung handelt.13 Der „Amerikaner-Glaube" wird immer mehr
auch „Europäer-Glaube", und die alten europäischen Türme zerfallen: „Wir Alle sind
kein Material mehr für eine Gesellschaft" (KSA, FW, 3, 595ff.).
Eine derartige Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Moderne ist in der
deutschen Literatur und Philosophie schon vor Nietzsche geführt worden; hier gab es
Punkte, an die er anknüpfen konnte. Ein ungehörter Ton ergibt sich aber aus der Em-
phase, mit der Nietzsche die Freisetzung des Individuums betreibt. In den genannten
Werken der mittleren Phase setzt sich Nietzsche deutlich von jener Zivilisationskritik
ab, die Modernisierung als Verfall ansieht, die intensiv vor den Gefahren zu großer
Freiheit gewarnt, aber selten Angst vor zu wenig Freiheit geäußert hat. Gegen deren
Bewertungen wendet er sich, dagegen, Zeiten, in denen es „schon viele Individuen und
Lust am Individuellen giebt", als Zeiten des Niedergangs, der „Corruption" zu bezeich-
nen. Er sieht, dass starke Kollektiv-Identitäten der Entwicklung neuer Ideen hinderlich
sind. Wo die eine Leidenschaft der Groß-Gemeinschaft in viele Leidenschaften zerfallt,
steigt die Gesamtmenge der „verbrauchten Energie eines Volkes", und das Individuum
gibt „so verschwenderisch" Energie aus, „wie es ehedem nicht konnte". Während die
13
Die Geschichtswissenschaft hat erst neuerdings diese Perspektive eingenommen: Heinrich August
Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 2000. Die Darstellung konzentriert sich auf die
Politik; eine Mentalitätsgeschichte der Aneignung des Westens und der Auseinandersetzung mit
ihm steht noch aus.
36 Dirk von Petersdorff
Verteidiger des sozialen Bandes von „Erschlaffung" sprechen, schlägt „die Flamme der
Erkenntniss lichterloh zum Himmel" (ebd., 395f).
Dabei setzt er Individualisierung nicht mit Beziehungslosigkeit oder Gesellschafts-
ferne gleich. Auch die „ungebundneren" und „unsichereren" Individuen (KSA, MA I, 2,
187), die den Boden des Allgemeinen lockern, leben noch in Zusammenhängen. Diese
gestalten sich aber anders. Interessanterweise findet man schon die Vorstellung einer
differenzierten Gesellschaft, die aus verschieden organisierten Teilbereichen besteht. In
der Moderne muss ein Individuum „überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur ange-
passt werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern" (ebd.,
203). Hier wird Heterogenität festgestellt, ohne Identität für obsolet zu erklären. An
einem einheitlichen, kontinuierlichen Selbstbezug wird festgehalten, dieser aber als
Integrationsleistung bestimmt, als Fähigkeit, verschiedene Welten und ihre Ideen zu
verbinden. Das moderne Ich ist nicht losgelöst, sondern in den „Contrapunct der priva-
ten und öffentlichen Cultur eingereiht". Es ist weiter Teil einer Ordnung, aber weil es
sich um eine bewegliche Ordnung handelt, gestaltet es diese auch mit. Im Bild der Mu-
sik: Man soll „als Melodie begleiten" und „die Melodie führen" (ebd., 203). Dabei kann
es, weil die Moderne aus schwer zu vereinbarenden Gegensätzen besteht und der
Mensch in sich „heterogene Mächte waltend findet", zu heftigen Spannungen im Inne-
ren kommen. Auch hier flüchtet sich Nietzsche nicht in einfache, extreme Lösungen,
sondern skizziert ein Modell: Das Innenleben sei als Gebäude zu gestalten, in dem wi-
derstrebende Ideen, „wenn auch an verschiedenen Enden", wohnen können, „während
zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte" angesiedelt werden, um gegebenenfalls
Streit zu schlichten. Das Modell des heterogenen Hauses dürfte der Lebenspraxis vieler
gegenwärtiger Menschen nahe kommen (ebd., 227f.).14
Nietzsches Ironie
Wenn nun von Nietzsches Ironie die Rede sein soll,15 dann muss gezeigt werden, dass
sie sich aus seinen Überlegungen zu den Grenzen der Erkenntnis und aus seinen Beob-
14
Überlegungen zur parallelen Organisation des modernen Ich und der modernen Gesellschaft finden
sich auch in den Nachlassnotizen (u. a. KSA 9). Aus grundsätzlichen Überlegungen, das Verhältnis
von veröffentlichten Texten und Notizen betreffend, und im Hinblick auf die Rezeption beschränke
ich mich auf die von Nietzsche zur Veröffentlichung gegebenen Schriften. Grundsätzlich sollte
man den Unterschied zwischen Werken, die von einem Verfasser zu einem bestimmten Zeitpunkt
als abgeschlossen, als formal und gedanklich durchgearbeitet angesehen und deshalb für die Öf-
fentlichkeit freigegeben werden, und Aufzeichnungen, die den Charakter von Notizen, Überlegun-
gen, auszubauenden Ideen und Lesefrüchten tragen, nicht nivellieren.
15
Den Begriff der Ironie benutzt Nietzsche in uneinheitlicher Bedeutung und Bewertung. Die roman-
tische Theorie war zu seiner Zeit editorisch nicht leicht fassbar und nicht rekonstruiert. Er kannte
die lyrische Umsetzung der Ironie bei Heinrich Heine und hat auf ihre „göttliche Bosheit" hinge-
wiesen (KSA, EH, 6, 286). Entscheidend sind aber nicht Einflüsse und Begriffe, sondern eine Hal-
tung, die auf Bedingungen der Moderne reagiert und deshalb periodisch wiederkehrt. Dazu Bernd
Bräutigam, „Verwegene Kunststücke. Nietzsches ironischer Perspektivismus als schriftstellerisches
Verfahren", in: Nietzsche-Studien, Bd. 6 (1977), 45-63; Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph -
Nietzsche und die romantische Ironie 37
achtungen zur Struktur der modernen Gesellschaft ergibt. Der Zusammenhang wird
deutlich in der Vorrede zum ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches; dabei
handelt es sich um ein zentrales und ästhetisch eindrucksvolles Stück von Nietzsches
Werk. Er geht von der Begrenztheit jeder Behauptung aus: „Du solltest das Perspektivi-
sche in jeder Werthschätzung begreifen lernen die Verschiebung, Verzerrung und
scheinbare Teleologie der Horizonte." Aus der Einsicht in die „intellektuelle Einbusse,
-
mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht" (ebd., 20), zieht er den Schluss, dass
es besser und wahrer ist, die Perspektive wiederholt zu wechseln. So wird man zu ei-
nem vollständigeren Menschen, reichert sich an, wird Einschränkungen los: „Überallhin
dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend,
alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend" (ebd., 21). Das ist der Positi-
onswechsel des Ironikers. Ihm liegt ein starker Freiheitswille zugrunde: „Man lebt,
nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe,
freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg,
wieder empor fliegend" (ebd., 18). Festlegungen gelten als Abhängigkeiten, als Bin-
dung an etwas, das selber nur bedingt ist, an ein Teilsystem, eine Teilwahrheit oder
einen Götzen. Dagegen richtet sich die Neubeschreibung der Identität: „In vielen Län-
dern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen
Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft,
der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft
zu bannen schienen; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in
Ehren, oder Geld, oder Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dank-
bar sogar gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend
einer Regel und ihrem ,Vorurtheil' losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und
Wurm in uns" (KSA, JGB, 5, 62).
Ausdrücklich wird diese Haltung auf die vorhergehende historische Diagnose bezo-
gen. Man lebt in einem Zustand, in dem es „keinen Vergelter, keinen Verbesserer letz-
ter Hand mehr" gibt, man geht nicht mehr von einer letzten Weisheit, letzten Macht aus,
glaubt nicht mehr, dass die Geschichte von einer großen Vernunft gesteuert wird (KSA,
FW, 3, 527). Diesen Zustand kann man beklagen und Ironiker als zynische Menschen
ansehen, die nicht mehr bereit sind, sich für irgend etwas zu engagieren und alles von
oben herab belächeln. Mit Nietzsche kann man aber die Perspektive umdrehen und die
Humanität gerade in der Ironie finden. Gegen die Vertreter des Unbedingten, die dekre-
tieren: „Es giebt Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf!", setzen die
Freunde der Ironie den heiteren Zweifel, vertrauen dem „corrigirenden Lachen" (ebd.,
372).16 Dieses Lachen resultiert aus der Erfahrung eines Menschen, der „durch ver-
schiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist" (KSA, MA I, 2, 358) und mit dem
Psychologe -Antichrist, Darmstadt, 2. Auflage 1988, 455ff.; Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch ei-
ner Mythologie, Berlin 1921, 5. Auflage, 177ff; Ernst Behler, Ironie und literarische Moderne, Pa-
derborn u. a. 1997, 250ff.
So hat auch Bernd Bräutigam die Ironie verstanden: als „Konstellation von sich ausschließenden
perspektivischen Betrachtungsweisen, die verhindern soll, daß die Einzelaussagen, selbst bei ihrer
dogmatischen Artikulation, als fixe Wahrheiten rezipiert werden können" {Verwegene Kunststücke,
59).
38 Dirk von Petersdorff
Odo Marquard, Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, 11.
Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 369.
Nietzsche und die romantische Ironie 39
um der Gefahr der Stilisierung zu entgehen, Scherze über sich selbst in seine Philoso-
phie eingestreut. Wenn man Bilder von ihm sieht, fällt natürlich der große und stark
geformte Bart ins Auge. Er stellt sich eine Situation vor, in der sich Menschen kennen
lernen und zunächst nicht als Persönlichkeit wahrnehmen, sondern über eine in die
Augen springende Einzelheit: „So kann der sanftmüthigste und billigste Mensch, wenn
er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen, und ruhig
sitzen, die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zubehör zu einem grossen
Schnurrbart" (KSA, M, 3, 247f). Der Ironiker sitzt sich gegenüber und betrachtet sich
-
von außen.
Eine gewisse Gefahr für ihn lag in seiner Neigung, sich als Zerstörer einer Welt, als
Erahner neuer, ganz unbekannter Lebensformen zu verstehen, prophetische Aussagen
zu treffen und über alles und jeden Urteile zu fallen. Manche von Nietzsches Verehrern
blenden solche Schwächen noch heute aus, aber der Meister schrieb dazu: „Das Mittel,
um der Prophet und Wundermann seiner Zeit zu werden, gilt heute noch wie vor Alters:
man lebe abseits, mit wenig Kenntnissen, einigen Gedanken und sehr viel Dünkel,
endlich stellt sich der Glaube bei uns ein, dass die Menschheit ohne uns nicht fortkom-
-
den Frauen der Familie zu leiden. Immer wieder ist es der Wille zur Größe, der belä-
chelt wird, dem die skeptische Gegenrede gilt. So kann Nietzsche im Rückblick schrei-
ben: „Freilich, es gab einmal .schönere' Zeiten, wo man sich noch mit jedem einiger-
maassen neuen Gedanken so unentbehrlich fühlen konnte, um mit ihm auf die
Strasse zu treten und Jedermann zuzurufen: ,Siehe! Das Himmelreich ist nahe herbei-
gekommen!" (KSA, FW, 3, 547). Wieder trifft der Spott einen wunden Punkt der Mo-
derne, die Fortsetzung einer religiösen Rhetorik („Siehe") und religiöser Ansprüche
(„das Himmelreich") bei Intellektuellen, die sich selbst für säkularisiert halten. Noch in
den letzten Briefen kann unvermutet das ironische Selbstverhältnis durchschlagen. Der
mit Götternamen signiert, kann gleichzeitig Jacob Burckhardt klagen, dass er dazu ver-
urteilt sei, „die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten" (KSB, 8, 577).
Die Ironie schlägt sich nicht nur in der Strukturierung der Gedanken nieder, sondern
auch in der Formung der Sprache. Dem Prinzip der ironischen Fluktuation entspricht ein
Wechsel der Diskurse. Nietzsche praktiziert eine große Sprechnähe, verwendet aber
ebenso das Vokabular von Fachsprachen; er schreibt Verse und polemisiert; übt den
vorsichtig-fragenden Stil, aber auch eine dekretierende Prosa. Diese Weite der Sprache
hat Thomas Mann herausgestellt. Er spricht von den verschiedenen Tönen in Nietzsches
Philosophie und nennt einen davon altfränkisch-gelehrtenhaft, einen anderen deutsch-
40 Dirk von Petersdorff
humanistisch. Er sieht einen „unheimlich mondänen und hektisch heiteren, zuletzt mit
der Schellenkappe des Weltenspaßmachers sich schmückenden Über-Feuilletonismus."19
Interessant ist die so konstatierte Verbindung von Tradition und Moderne: Man lebt mit
der Herkunft und dem Alten, das in uns „fortdichtet, fortliebt, forthasst" (KSA, FW, 3,
417), weicht aber vor der Sprache der Gegenwart, selbst vor dem viel geschmähten Jour-
nalismus nicht zurück. Dabei wird der Witz des Narren mit dem Ernst verbunden. So
steht Nietzsche in der Tradition ironischen Philosophierens, das sich schon in seiner
romantischen Form durch die Integration verschiedener Haltungen und Stillagen aus-
zeichnete.
Neben der Form der Sprachstrukturierung sind es bestimmte Bildfelder, die sich zum
Ausdruck eines ironischen Selbstgefühls eignen. Dazu zählen traditionell Bilder der
Bewegung, der Höhe und Leichtigkeit, die für das Abstreifen von Festlegungen, Auflö-
sung von Ordnungen stehen. Nietzsche verwendet an mehreren Stellen die Metaphorik
des Tanzes, die er mit der Moderne-Diagnose verbindet. Die Tanzbewegung entsteht,
weil der moderne Mensch in seiner Lebensführung den Ansprüchen verschiedener Wel-
ten gerecht werden muss und sich dabei mit schnellen Schritten zwischen ihnen hin und
her bewegt. Wer wissenschaftlich erkennt, aber auch Religion und Poesie treibt und
zwischen diesen Ansprüchen nicht nur hin- und hertaumeln, sondern seine Identität
ausbilden will, der tanzt: „Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen"
(KSA, MA I, 2, 228f.). Wer den Deutungen der Welt jeweils nur ein begrenztes Recht
gibt, befreit sich aus ihren Verengungen und sieht ihre Kämpfe aus der Distanz an. Oft
ist bei Nietzsche von einer solchen distanzierten Haltung des „Nicht-Liebens, Nicht-
Hassens, Ueberschauens" die Rede (ebd., 105). Als Vergleich dient der Blick vom Ge-
birge: „Wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man un-
ter sich fühlt" (KSA, EH, 6, 258).
Schon die Romantiker hatten, wo sie das ironische Selbstgefühl beschrieben, auf die
Metapher des Schwebens zurückgegriffen. So schreibt Schlegel, dass die poetische
Reflexion, die sich von Interessen und begrenzten Absichten gelöst habe, „auf den Flü-
geln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben" werde.20 Im Anschluss an Johann
Gottlieb Fichtes Subjektphilosophie bezeichnet Novalis das „Freyseyn" als „Schweben
zwischen Extremen".21 In diesem Zusammenhang fragt Nietzsche, ob eine Philosophie,
die von dem Wandel aller Vokabulare überzeugt ist, nicht eigentlich zur Tragödie wer-
den müsse. Denn der Loslösung von Moral und Religion werden keine neuen verbindli-
chen Wahrheiten entgegengestellt, so dass nur die Skepsis bleibt, die beständige Frage
19
Thomas Mann, Essays. Band 6. Meine Zeit. ¡945-1955, hg. von Hermann Kurzke, Stephan Sta-
chorski, Frankfurt/M. 1997, 66 {Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung"). Zum
Wechsel der Sprachebenen: Hans-Martin Gauger, Nietzsches Stil am Beispiel von .Ecce homo', in:
Nietzsche-Studien, Bd. 13 (1984), 332-355, der eine der wenigen wirklichen Analysen von Nietz-
sches Sprache liefert. Interessant im Hinblick auf ironisches Sprechen ist die so genannte „Technik
des fortschreitenden, sich korrigierenden Durchstoßens", das der ironischen Forderung nach dem
Wechsel von Setzung und Vernichtung entspricht (345).
20
Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 182.
21
Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans-Joachim Mahl,
Richard Samuel, München, Wien 1978, Bd. 2, 177.
Nietzsche und die romantische Ironie 41
nach erkenntnisleitenden Motiven, die uns überreden wollen, etwas als wahr anzusehen.
Motive des Handelns geraten unter Verdacht, Leidenschaften, die zur Zukunft drängen,
werden bezweifelt. Nietzsche will die darin liegende Befreiung lehren: Man wird von
Affekten frei, weil man ihre Begrenztheit verstanden hat. Man verliert Furcht und Zorn,
und manche Fragen stellt man einfach nicht mehr. Dem Menschen, der immer vollstän-
diger erkennt und deshalb auf vieles Einzelne verzichtet, wird „als der wünschens-
wertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen
und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge" erscheinen (KSA, MA, 2, 53ff.).
Wollte man auf dieser Ebene nach der Beziehung Nietzsches zur romantischen Ironie fragen, muss-
te der Weg über Heine laufen, dem ersten Autor, der das Konzept der Ironie, das die Frühromantik
entwickelte, wirklich in Literatur umsetzte. Zu Heine gibt es aussagekräftige Bemerkungen Nietz-
sches. Am bekanntesten ist der Lobpreis in Ecce homo: Hier wird die ironische Struktur von Heines
Denken benannt. Heine kann, so Nietzsche, den Gott nicht ohne den Sartyr denken (KSA, EH, 6,
268) und entspricht damit dem Schlegelschen Prinzip von Setzung und Aufhebung. Von höchsten
Wahrheiten ist die Rede, aber wenn sie vorbeiziehen, muss der Scherz ihnen auf dem Fuß folgen,
damit keiner vergisst, dass es sich um Abbilder, um vorläufige Manifestationen des höchsten Wah-
ren handelt, die von anderen Abbildern eingeschränkt und abgelöst werden. Das Göttliche zeigt
sich in der Bewegung, dem beständigen Zug von Göttern und Sartyrn; es ist der Stachel, der die
Suche antreibt.
Zum Begriff der Moderne als Makroepoche, zu deren konstitutiven Merkmalen und Untergliede-
rung in Mikroepochen vgl. Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa.
Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998.
42 Dirk von Petersdorff
Wenn sich solche Gemeinsamkeiten über relativ große Zeitabstände hinweg feststel-
len lassen, dürfen zugleich die Differenzen innerhalb des Rahmens der Moderne, die
sich aus dem historischen Wandel ergeben, nicht übersehen werden. Am Beispiel der
Voraussetzungen der Ironie ließe sich sagen, dass Nietzsche die Erkenntniskritik, die
um 1800 entwickelt wurde, verschärft und die bei Kant vorhandenen Sicherungen ge-
gen einen bodenlosen Zweifel, die regulativen Ideen und die praktischen Postulate,
kappt. Dadurch wird auch die Ironie eine andere. In der auf Kant folgenden Romantik
war sie relativ fraglos auf ein denkbares Absolutes bezogen, das den Negationen eine
endgültige, durchschlagende Schärfe nahm. Auch bei Nietzsche gibt es Versuche, die
Ironie religiös aufzuladen, aber daraus wird keine dauerhafte Vorstellung, keine Linie,
die das Werk durchzieht. Seine Ironie ist daher ebenso anfällig für einen alles zerset-
zenden Zweifel wie für dezisionistische Befreiungsversuche aus dem Zweifel, in denen
plötzlich ein neuer Wahrheitsbesitz behauptet, eine alle Probleme lösende Großtheorie
postuliert wird.
Fragt man nach der Gesellschaftsdiagnose, so sieht man, dass Nietzsche über präzise-
re Beschreibungen einer säkularisierten, in Bewegung geratenen, sich auseinander ent-
wickelnden Gesellschaft verfügt, als dies um 1800 möglich war. Mit dem Fortgang der
Geschichte erhöht sich die Möglichkeit, entsprechende Erfahrungen zu machen, wo die
Frühromantiker mehr von der politischen Theorie und den revolutionären Entwicklun-
gen in Frankreich als von den erst anfänglichen gesellschaftlichen Modernisierungspro-
zessen in Deutschland ausgehen mussten. Dadurch ist für Nietzsche die Vorstellung
einer mentalen Einheit der Gesellschaft, wie sie im romantischen Konzept einer .Neuen
Mythologie' postuliert wurde, kaum noch von Bedeutung; jedenfalls gilt dies für die
Zeit nach der Trennung von Richard Wagner, der noch an der romantischen Kunstreli-
gion partizipierte. Das ironische Widerspiel heterogener gesellschaftlicher Positionen
wird dadurch bei Nietzsche sehr viel schärfer dargestellt als in der Romantik, wo es
durch die Vorstellung eines idealen und in der Zukunft wieder möglichen Konsenses
eingehegt wurde. Wiederum erhöht sich dadurch die Gefahr einer Verführung durch
neue Großtheorien, die eine Neuformierung und schließlich eine Aufhebung des Plura-
lismus versprechen.
Derartige Differenzen zwischen der romantischen Ironie und Nietzsches Ironie sind
zu benennen, die Gemeinsamkeiten jedoch sind stärker. Sie treten in einer verwandten
Schreibweise auf, deren Verwendung auf vergleichbare Erfahrungen und gemeinsame
Schlussfolgerungen zurückgeführt werden konnte. Nietzsche gehört zu jener Linie iro-
nischer Literatur, die in der Romantik mit Schlegel, Brentano und Heine beginnt und zu
der nach ihm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Thomas Mann, in der zweiten
Hälfte etwa Hans Magnus Enzensberger gehören. Diese Linie ist innerhalb der deut-
schen Literatur und Philosophie nicht dominant und wird von einer dauerhaften Ironie-
Kritik begleitet. Aber sie stellt eine der Möglichkeiten dar, mit den Bedingungen der
Moderne umzugehen, statt sie zu negieren, das Subjekt zu erhalten, seine Komplexität
nicht zu reduzieren. Die Ironie gehört deshalb auch zu jenen literarischen Traditionen,
die fortsetzungsfähig scheinen. Dies gilt auch im Blick auf Nietzsche: Wer mit der
Kunstreligion des Frühwerks Schwierigkeiten hat, das Spätwerk von einem intellektuel-
len Reduktionismus bedroht sieht, dem bleibt jene große heitere Ebene in der Mitte des
Nietzsche und die romantische Ironie 43
Werkes. Wiederholt findet man hier das Bild eines Menschen, der am Meer sitzt, das
Spiel der Wellen verfolgt und in diesem undurchschaubaren, aber schönen Spiel Bewe-
gungsgesetze der Psyche wie der Gesellschaft abgebildet sieht. Hier gibt es keinen Fu-
ror und Deutungszwang, sondern ein gelassenes Betrachten der Antagonismen, die
studiert werden, um zuletzt ihre Zusammengehörigkeit verstehen zu können.
VlOLETTA L. WAIBEL
Das „Andenken eines wahren und ächten Nicht-Philisters", der an den Philistern
zugrunde ging, gilt es zu bewahren; eine der „unbewaffneten Seelen, [...] der Werther
Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; [...] ein Leben voll Weichheit und Sehn-
sucht, aber auch Kraft und Inhalt [...] in seinem Willen und Grosse, Fülle und Leben in
seinem Stil" (KSA, DS, 1, 171f.). In diesen bekannten Worten verdichtet Friedrich
Nietzsche sein Hölderlin-Bild, ein Widerhall des Bildes des Lieblingsdichters und des
geistigen Lehrers aus den Tagen des 17-jährigen Nietzsche in Pforta.1 Gemessen an der
überragenden Bedeutung Friedrich Hölderlins für den intellektuellen Bildungsgang
Nietzsches erweisen sich die expliziten Bezugnahmen auf Hölderlin und sein Werk als
marginal. Dennoch, sowohl die Rezeption Hölderlins durch Nietzsche als auch die
nachfolgende Rezeption Hölderlins durch Nietzsches bildende Prägung ist philologisch
gut erforscht und dokumentiert.2 So will ich mich in meiner Untersuchung auf systema-
Thomas H. Brobjer zeigt in: „A discussion and source of Hölderlin's influence on Nietzsche. Nietz-
sches use of William Neumann's Hölderlin", in: Nietzsche Studien, 30 (2001), ~i91—4\2, dass
Nietzsches Bekenntnis zu Hölderlin in seinem Schulaufsatz ein Plagiat ist. Weite Teile habe er aus
Neumanns Biographie und Textauswahl Moderne Klassiker. Deutsche Literaturgeschichte der neu-
eren Zeit in Biographien, Kritiken und Proben: Friedrich Hölderlin. Cassel 1853 (1859) abge-
schrieben oder kompiliert. Vgl. auch Nietzsches Schulaufsatz in KGB 1, 338-341. Ein weiteres
Anliegen Brobjers ist es, so zentrale Motive wie Nietzsches Apollinisches und Dionysisches, die
Wiederkehr des Ewiggleichen oder den Übermenschen also Motive Hölderlins auszuweisen, die in
Neumanns Ausgabe zu finden gewesen seien. Die von Brobjer aufgedeckten Motivparallelen lassen
sich tatsächlich aufweisen, doch versäumt es Brobjer, die systematischen Differenzen auch nur an-
zudeuten, die mit diesen Motiven bei den beiden Denkern einhergehen.
Differenziert und umsichtig ist die Untersuchung von Gunter Martens, „Hölderlin-Rezeption in der
Nachfolge Nietzsches Stationen der Aneignung eines Dichters", in: Hölderlin-Jahrbuch 23
(1983), 54—78. Vgl. ferner Henning Bothe, .Ein Zeichen sind wir, deutungslos'. Die Rezeption
-
Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992 (zu Hölderlin und Nietzsche,
50-54. Eine von Anfang an bestehende, durchgängige Ambivalenz von Nietzsches Hölderlin-Bild,
das zunehmend negativere Züge annehme, arbeitet Matthias Politycki in: Umwertung aller Werte?
Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/New York 1989, 410-430, heraus. Vgl. auch ders.,
46 ViolettaL. Waïbel
tische Fragen dieser beiden sich geistig eben so nahen wie einander auch fremden Den-
ker konzentrieren.
Da sich meine Fragestellung in den Rahmen Nietzsche und die Romantik einschreibt,
ist näherhin zu fragen, gibt es einen Begriff romantischer Bildung, ist das Bildungsge-
schäft nicht vielmehr ein klassisches Anliegen? Und überdies, ist Hölderlin ein Roman-
tiker, ist es Nietzsche? Was überhaupt ist Romantik? Eine berühmte Antwort lautet:
„Der Romantiker studirt das Leben, wie der Mahler, Musiker und Mechaniker Farbe,
Ton und Kraft. Sorgfältiges Studium des Lebens macht den Romantiker, wie sorgfälti-
ges Studium von Farbe, Gestaltung, Ton und Kraft den Mahler, Musiker und Mechani-
ker."3 Friedrich von Hardenberg (Novalis) notiert diese Bestimmung des Romantikers
im Allgemeinen Brouillon von 1798/99 unter der Nummer 1073. Stellvertretend für die
vielen Versuche, Romantik zu bestimmen, ist die Bestimmung so einfach, wie beste-
chend und trifft in einer ersten Annäherung sowohl das Suchen des Dichters und Den-
kers Hölderlin als das des Philosophen, Philologen und scharfsinnigen Psychologen
Nietzsche. Beide erforschen sie das Leben, die Seele der menschlichen Individualität als
Grenzgänger zwischen der bekannten und der unerforschten Welt, stellen ewige Wahr-
heiten zur Disposition, um sie in der Vergänglichkeit des Werdens, dem ewigen Abflie-
ßen des gerade eben Erfassten neu zu suchen und manchmal auch zu finden. Der Bil-
dungsbegriff, dem sich beide Denker verschreiben, ist romantisch auch dann, so meine
These, wenn ihre Bildungsgüter kanonisch klassisch zu nennen sind. Beide lassen sie
nichts als wahre Bildung gelten, das nicht aus der Lebendigkeit echter individueller
Erfahrung und Beobachtung des Lebens hervorgeht. So ist es kein Zufall, wenn sich
Nietzsche Hölderlins Vers aus dem Gedicht Sokrates und Alcibiades notiert: „Wer das
Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste" (KSA, NF, 7, 711). Eine Durchsicht der weni-
gen direkten Bezugnahmen Nietzsches auf Hölderlin lässt4 dessen Bild durch und durch
als das eines Romantikers erscheinen.
Im folgenden sollen drei Momente des Begriffs der wahren Bildung herausgearbeitet
werden, die zugleich Berührungspunkte des Denkens von Hölderlin und Nietzsche dar-
Der frühe Nietzsche und die Deutsche Klassik. Studien zu Problemen literarischer Wertung, Strau-
bing/München 1981, 175-190.
Friedrich von Hardenberg (Novalis), Novalis Schriften. Die Werke von Friedrich von Hardenberg,
hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte
und verbesserte Auflage, sechs in sieben Bänden, Stuttgart, Berlin, Köln 1960-1999, 3, 466.
Nietzsches Begriff der Romantik bedenkend liest Karl Heinz Bohrer in seiner Untersuchung Die
-
Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt/M.
1989, 84—94, die Unzeitgemäßen Betrachtungen als Zeugnisse eines romantischen Denkens gegen
den positivistischen Wirklichkeitsbegriff der Hegelianer, dem die Erfahrung des Augenblicks, des
Plötzlichen, des Rätsels entgegengehalten werde und mit dem Nietzsche bereits das philosophische
durch das ästhetische Paradigma ersetze. Eine gute Einführung in die Vielfältigkeit romantischen
Denkens bietet Gerhard Hoffmeister, Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart 1990. Zur
-
grundsätzlichen Orientierung, wenn auch nicht im direkten Zugriff auf Nietzsche, auch: Karl Heinz
Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt/M. 1989 und
Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/M. 1989.
4
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Michael Knaupp, Darm-
stadt 1998 (im folgenden Knaupp) 1, 196.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung AI
stellen. Gelegentlich spielen dabei nachgelassene Texte Hölderlins eine Rolle, die
Nietzsche zwar nicht gekannt haben konnte, die aber systematisch relevante Grundge-
danken Hölderlins in prägnanter Weise zum Ausdruck bringen. Gerechtfertigt ist der
Griff zu Nachlassschriften, weil in ihnen philosophische Probleme explizit gemacht
sind, die den Werken Hölderlins implizit eigen sind, und die beiden Denkern durch die
intime Kenntnis der griechischen Quellentexte grundsätzlich vertraut sind.
So gilt es erstens, den Begriff einer wahren Bildung auf den Authentizitätssinn hin zu
untersuchen. Zweitens ist der Bildungsbegriff in seiner Zeitlichkeit zu betrachten. Bil-
dung schöpft immer aus vergangener Größe, die für beide Denker besonders in der grie-
chischen Antike gegeben ist. Das Vergangene als das Nichtgegenwärtige ist aber immer
auch das nicht mehr Lebendige. So hat Bildung ein besonderes Augenmerk auf die Ver-
lebendigung des Vergangenen für die jeweilige Gegenwart zu richten. Drittens ist die
Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass sich das Wort Bildung von Bild herleitet. Bil-
dung verdankt sich gleichermaßen ihrer Bildlichkeit wie ihrer Begrifflichkeit. Ihre Bild-
lichkeit geht einher mit Mythenbildung in Vergangenheit und Gegenwart. Die mythische
Gestalt ,Dionysos' ist für beide Denker von eminenter Bedeutung, wenn auch in recht
unterschiedlicher Weise. Auch darauf soll schließlich ein Blick geworfen werden.
Knaupp 1, 611.
48 ViolettaL. Waibel
besteht darin, auf den ganzen Menschen wirken zu wollen. Er soll weder bloß als ratio-
nales Wesen angesprochen sein, das aus einer Geschichte lernt, oder zum Zweck des
Botanisierens Lebendiges tötet, noch bloß als sinnliches Wesen, das an einer Pflanze
riecht, sich betören lässt. Solchen Vereinseitigungen stellt Hölderlin das Ideal vom
ganzen Menschen entgegen, der allein der wahre Mensch ist.
Dies spiegelt sich auch in der Nietzsche wohl bekannten berühmten Deutschenschel-
te im drittletzten Brief des Hyperions, wo Hölderlin seinen Protagonisten klagen läßt:
,,[I]ch kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker
sieht du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Men-
schen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen ist das
nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinan-
-
der liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?"6 Dem entgegen wir-
kend, will das Werk des Dichters mehr sein als bloß die merologische Summe, die man
zusammenmischt aus Elementen der Sinnen- und der Verstandeswelt, um irgendein
oberflächliches Vergnügen zu befriedigen. Wie das echte Kunstwerk zu konzipieren ist,
reflektiert Hölderlin in zahlreichen Kontexten.
In einer überlieferten, aber in den endgültigen Druck nicht aufgenommenen Vorrede
zum Hyperion, macht Hölderlin deutlich, dass es ihm mit seinem Werk um Originalität
gehe, eine Originalität, die jedoch nichts mit Neuheit, mit Sensationslust oder dem Ta-
gesgeschäft der Zeitungsschreiber zu tun hat: „Mir ist Originalität Innigkeit, Tiefe des
Herzens und des Geistes. Aber davon scheint man jezt gerade, wenigstens in der Kunst
sehr wenig wissen zu wollen; und wenn nicht andere siegen, so wird es neuester
Geschmak werden, von der Natur zu sprechen, wie eine spröde Schöne von den Män-
nern, und seinen Stoff zu behandeln wie ein geschworner Berichterstatter."7 Die negati-
ve Abgrenzung des Originalen vom Ephemeren und Vorübergehenden zufälliger Sensa-
tionen und Tagesereignisse sagt noch nichts über die positive Bestimmung der Ganzheit
und Echtheit aus, die Hölderlin im Blick hat. Ausdrücklich reflektiert er dies in seiner
Nietzsche nicht zugänglichen poetologischen Hauptschrift Verfahrungsweise des poeti-
schen Geistes. Das authentische Kunstwerk der Dichtkunst erfordert, so Hölderlin, eine
sorgfältige Wahl des geeigneten Stoffes. Für den Stoff zu den drei Hauptgartungen der
Dichtung, dem Epischen, Tragischen und Lyrischen, muss ein „ächter Grund zu den
Begebenheiten, zu den Anschauungen die erzählt, beschrieben, oder zu den Gedanken
und Leidenschaften, welche gezeichnet, oder zu den Phantasien, welche gebildet wer-
den sollen, vorhanden [sein], wenn die Begebenheiten oder Anschauungen hervorgehn
aus rechten Bestrebungen, die Gedanken und Leidenschaften aus einer rechten Sache,
die Phantasien aus schöner Empfindung."8 Der ,,ächte[...] Grund", von dem Hölderlin
spricht, bezeichnet die Bedingung für die idealische, also philosophische Durchdrin-
gung des Stoffes. An ihm liegt es, dass die epische Behandlung „aus rechten Bestre-
bungen" entspringen kann, dass die dramatische Behandlung der „Gedanken und Lei-
denschaften aus einer rechten Sache" darzustellen sei und dass schließlich die lyrische
Behandlung „aus schöner Empfindung" hervorgehe. Das Maß an aufrichtigem Interesse
6
Ebd., 754f
7
Ebd., 557.
8
Knaupp 2, 80.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung 49
und Wahrheitssinn, das den Dichter bei der Wahl seines Stoffes für die dichterische
Intention leitet, ist nach Hölderlin notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraus-
setzung für ein echtes Kunstwerk. Das Gespür für den rechten Stoff kann ebenso wenig
von einem Kompendium für Dichter ersetzt werden, wie Kant deutlich gemacht hat, wie
dass das Urteil von dem, was als ,schön' gelten darf, nicht durch begriffliche Festle-
gungen, durch Kriterien der Vollkommenheit oder Ähnlichem bestimmt werden kann.
So spricht Hölderlin von einem Totaleindruck, der das ideelle Ganze eines wahren
Kunstwerks imaginieren lässt, um anschließend in einer sukzessiven Gedankenarbeit
und durch eine geeignete Verfahrungsart des Dichters auseinandergelegt zu werden, an
dessen Ende das echte Kunstwerk steht. Nur einem so entstandenen Kunstwerk aus
echter Gesinnung wächst auch die Wirksamkeit zu, die sich Hölderlin erhoffte, und die
sich, wenn auch sehr spät, wenigstens bei einem bestimmten Kreis von Lesern einge-
stellt hat. Die Authentizität der Gesinnung dessen, was der Dichter oder Philosoph mit-
zuteilen hat, wird von Hölderlin weit höher angesetzt als einzelne Irrtümer, die entwe-
der unterlaufen, oder aber gezielt zur Belehrung eingesetzt werden. In der verworfenen
Vorrede zum Hyperion schreibt er: „Auch wird man manches Unverständliche, Halb-
wahre, Falsche in diesen Briefen finden. Man wird vieleicht sich ärgern an diesem Hy-
perion, an seinen Widersprüchen, seinen Verirrungen, seiner Stärke, wie an seiner
Schwachheit, an seinem Zorn, wie an seiner Liebe. Aber es muß ja Aergerniß kom-
men."9
Gibt dies Raum für Beliebigkeit, Hauptsache, die Gesinnung ist aufrichtig? Um es
hart auf den Punkt zu bringen: Hatten die Nationalsozialisten Hölderlin doch zurecht als
einen der ihren erkannt? Keineswegs. Ganz Immanuel Kant verpflichtet, holt Hölderlin
gegen Ende seiner poetologischen Schrift über die Verfahrungsweise des poetischen
Geistes noch einmal aus, um den Grundton der Stimmung des Dichters als eine schöne,
heilige, göttliche Empfindung zu bezeichnen, die er ausdrücklich und wörtlich in An-
lehnung an Kant als „transcendental" bezeichnet.10 Der Grundton der Dichtung muss
getragen sein von einer Einstellung, die verallgemeinerbar in dem Sinne ist, wie das
Urteil über das Schöne, zwar unbegrifflich, daher subjektiv, aber dennoch subjektiv
allgemeingültig beurteilt werden können muss. Die Echtheit der Dichtung erwächst
nach Hölderlins Vorstellung aus dem ungeteilten Engagement des Dichters und aus
seiner Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit sprachlicher Ausdrucksformen und Parameter in
der Weise zusammenzuführen, dass das Nachdenken, die Empfindung, die Musikalität,
der Schönheitssinn in gelungener Komposition zusammenstimmen. ,Aber es muß ja
Aergerniß kommen', so Hölderlin, wenn derart Unzeitgemäße Betrachtungen angestellt
werden, ein kalkuliertes Ärgernis, auf das es Hölderlin ebenso anlegte, wie nach ihm
Nietzsche, dessen Authentizitätsforderung nun in Augenschein zu nehmen ist.
9
10
Knaupp 1, 558.
Knaupp 2, 95.
50 ViolettaL. Waibel
leidigen Pflicht wird unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung Philis-
ter' durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein;
-
ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was der Philister
und was sein Gegensatz ist" (KSA, DS, 1, 165).11 Die scheinhafte Existenz der Bil-
dungsphilister und der Kultur der Zeit und der Gegensatz zum „ächten Kulturmen-
schen" ist das, was den besonderen Zorn Nietzsches erregt und ihn erbitterte Wortfeh-
den führen lässt. Der Philister, der umgangssprachlich als ein engstirniger, ängstlicher
und beschränkter Mensch des Bürgertums gilt, hat Einzug gefunden in die Kulturwelt,
besser in das, was sich Kultur nennt, es in Wahrheit aber gar nicht ist. An der vermeint-
lichen Kultur geißelt Nietzsche die selbstsatte Zufriedenheit, die sich gesund nennt, um
jeden „unbequemen Störenfried" krank und überspannt zu nennen (ebd., 171), er geißelt
deren „Rückenkrümmung vor den deutschen Zuständen", den ,,schamlose[n] Philister-
Optimismus" (ebd., 191), den „Mangel an Charakter und Kraft bei dem Anschein von
Kraft und Charakter, [...] Defekt an Weisheit bei aller Affeetation der Ueberlegenheit
und Reife der Erfahrung" (ebd., 200).
Statt anpasserischer Rückenkrümmung und falschem kalkuliertem Optimismus steht
Nietzsche das Idealbild des Künstlers vor Augen, der zur Anpassung nicht bereit ist, die
Dinge sieht, wie sie sind und vor allem bereit ist, dies auch mit Aufrichtigkeit namhaft
zu machen. Dies aber bedeutet, auch Leid zu sehen und zu ertragen, selbst Leid und
Schmerzen zu erfahren durch den Widerstand derer, die die Wahrheit nicht zu ertragen
und nicht zu sehen bereit sind.
Die überragende Bedeutung, die Nietzsche der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu-
misst, und die er vom ernstzunehmenden Philosophen ebenso erwartet wie vom echten
Künstler, hat er zurecht in den Werken Hölderlins, in dessen Selbstverständnis als Dich-
ter und Künder eines wahren Wortes gefunden. Während aber die Erste Unzeitgemäße
Betrachtung die Scheinhaftigkeit des Bildungsphilistertums geißelt, ist ihr positives
Im Altertum waren die Philister ein Volk, das kurz nach 1200 v. Chr. in die südwestliche Küsten-
ebene Palästinas eingedrungen war. Zunächst siegreich gegen israelitisch besiedelte Gebirgsgegen-
den vorstoßend, erlahmte ihre eigenständige kulturelle Kraft und sie paßten sich den sie umgeben-
den Semiten an. In der Bibel sind sie die schlimmsten Feinde des auserwählten Volkes, der
Israeliten. In der Studentensprache ist der Philister der Nichtakademiker, der Bürger, aber auch der,
der vom Studentenleben in das bürgerliche Leben eintritt. Allgemein bedeutet Philister engstirniger
Mensch mit ängstlicher, beschränkter Lebensauffassung (vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch,
Mannheim 1963, 508 ). Eine ausführliche Untersuchung von Nietzsches Bildungsbegriff findet sich
bei Timo Hoyer in: Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografié und Rezeption, Würzburg 2002.
Hoyer kontrastiert die publizierten Schriften mit entsprechenden Nachlasstexten und zeigt Verwer-
fungen, Widersprüche und Selbstrevisionen in Nietzsches Denken auf.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung 51
Pendant, die Ehrlichkeit, Thema der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung. Wie bekannt,
ist sie gerade nicht an Nietzsches Wegweiser und Lehrer Hölderlin adressiert, sondern
an Schopenhauer als Erzieher. Arthur Schopenhauer ist für den Nietzsche der frühen
Schriften die Philosophengestalt, die „nie scheinen will: denn er schreibt für sich, und
niemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogar zum
Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst!" (KSA, SE, 1, 346). Die-
sem Urteil setzt er überdies hinzu: „Ich weiss nur einen Schriftsteller, den ich in Betreff
der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne" (ebd.,
348). Wieder ist es nicht Hölderlin, sondern ein anderer, Michel Montaigne, der mit der
Ehrlichkeit Schopenhauers Schritt zu halten vermag, während Hölderlin und Heinrich
von Kleist genau in diesem Kontext zwar Ungewöhnlichkeit bescheinigt wird, die aber,
so Nietzsche, dem „Clima der sogenannten deutschen Bildung" im Gegensatz zu „Na-
turen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner" (ebd., 352) nicht
standhielten. Sie gaben zwar ihre geistige Unabhängigkeit nicht auf, aber sie zerbrachen
an den unausgesetzten Widerständen, jeder auf seine Weise. Zwar gibt es bei Hölderlin
ein Gedicht auf Die scheinheiligen Dichter, denen er zuruft: „Ihr kalten Heuchler,
sprecht von den Göttern nicht!"12 und an Alabanda muss Hyperion entdecken, dass er,
der Freund, sich einem zweifelhaften Bund falscher Menschenfreunde verschrieben hat.
Die Scheinhaftigkeit ist ein Thema Hölderlins, aber, Nietzsche hat richtig gesehen, sie
ist nicht sein großes Thema. Hölderlin ist gedanklich häufig schon dort, wo dem Schein
durch die dichterischen Gestalten ein Korrektiv entgegengestellt wird. Seine Dichtung
ist aufrichtig und ehrlich, er ist weniger der mit lauter Stimme Anklagende, denn der in
stiller Verzweiflung Trauernde. Er ist dem Tragischen der Griechen, besonders des
Sophokles sehr nahe. Auch Nietzsche ist dies, doch mit einem entschieden anderen
Gestus.
Es sei nochmals zu Nietzsches vernichtendem Urteil der ersten Unzeitgemäßen Be-
trachtung gegen den ,Bekenner und Schriftsteller' David Friedrich Strauss als Bil-
dungsphilister par excellence zurückgekehrt. Auffälligerweise verknüpft Nietzsche wie
Hölderlin die Frage der Authentizität eines Schriftstellers mit der Fähigkeit zur Schau
eines Ganzen. Er schreibt: „Gewöhnlich lässt sich schon nach dem ersten schriftlichen
Entwurf erkennen, ob der Verfasser ein Ganzes geschaut und diesem Geschauten ge-
mäss den allgemeinen Gang und die richtigen Maasse gefunden hat." Er fährt mit der
Bemerkung fort: „Das Gegentheil hiervon ist bekanntlich, ein Buch aus Stücken zu-
sammenzusetzen, wie dies die Art der Gelehrten ist. Sie vertrauen darauf, dass diese
Stücke einen Zusammenhang unter sich haben und verwechseln hierbei den logischen
Zusammenhang und den künstlerischen" (KSA, DS, 1, 209f).
Nur der Künstler oder Philosoph, der sich und seinem Künstlertum eine echte Auf-
gabe ohne Parteinahme zu stellen vermag, der eine Vision und einen Bildungsauftrag
gefunden hat, hat auch etwas Authentisches mitzuteilen. Dieser Idee oder Vision ordnen
sich dann andere Momente wie von selbst unter. Der Bekenner, wie ihn Nietzsche
zeichnet, spricht aus sehr subjektiven Gründen, will gefallen, krümmt sich gemäß de-
nen, die mächtig sind oder scheinen, so dass die Rücksichtnahme auf viele Stimmen
nichts anderes als ein Stückwerk zustande kommen lässt. Allerdings bemerkt Nietzsche,
12
Knaupp 1, 193.
52 ViolettaL. Waibel
dass die Einheit Kopf und Herz sich mitunter mit einem kleinen Herzen vertrage
von
(vgl. ebd., 182). Die Schau eines Ganzen gilt allerdings als unromantisch, ist es der
Romantik doch um ein Kontingenzbewusstsein, ein Bewusstsein von Zerfall und Zufall
zu tun. Die Schau eines, sei es auch begrenzten Ganzen, wie die Idee des ganzen Men-
schen stehen Hölderlin wie Nietzsche trotz allem Wissen um die Kontingenz des Le-
bens vor Augen. Beider Werke tragen Züge romantischen Denkens und sind ihm doch
nicht schlechthin zuzurechnen.
womit wir uns verhalten gegen das Altertum."15 Hölderlin sieht sich in eine Tradition
hineingestellt, die ihren Bildungskanon aus den Schätzen des Altertums schöpft, die
ebenso sehr bereichert, wie sie den Geist der Menschen an vergangene Zeiten fesselt
und der Gegenwart das Lebendige nimmt. So wichtig und wertvoll es ist, das erworbene
Bildungsgut zu bewahren, so geschieht es um den Preis wahrhaft neuer Schöpfungen.
Gleichwohl sieht Hölderlin im Menschen einen Bildungstrieb, den es vorzüglich zu
beachten gilt, und „der darauf geht, das Ungebildete zu bilden, das Ursprüngliche Na-
türliche zu vervollkommnen, so daß der zur Kunst geborene Mensch natürlicher weise
und überall sich lieber mehr das Rohe, Ungelehrte, Kindliche, holt, als einen gebildeten
Stoff, wo ihm, der bilden will, schon vorgearbeitet ist".16 Hölderlin trifft keinesfalls eine
Entscheidung zugunsten der Bildertreue oder dem Bildersturm, der Tradition oder dem
radikal Neuen, sondern plädiert für die kreative Nutzung beider, da das Alte das Neue
13
Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. von Dietrich Eberhard Sattler.
Frankfurt/M./Basel, 1975ff. (FA), Bd. 14, 83.
14
15
Vgl. KSA, NF, 7, 680f Der Brief in seiner vollen Länge findet sich in Knaupp 2, 767-772.
Knaupp 2, 62.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung 53
begreiflich macht, und umgekehrt. Doch eben so nötig ist es, kritische Distanz zu schaf-
fen, das Lastende der großen Werke vergangener Zeiten zu reflektieren und Raum für
ganz anderes zu gewähren. In dieser zugleich positiven und negativen Haltung spiegelt
sich die Denkfigur der Wechselbestimmung, die Hölderlin durch Johann Gottlieb Fichte
in eindrücklicher Weise kennengelernt hat und die zeitlebens sein Denken bestimmen
sollte.17 Der mit reichem Bildungsgut ausgestattete Künstler wird zu seiner Eigentlich-
keit erst dann dringen, wenn er neben dem klassisch zu nennenden Vorbildhaften auch
den Zugang zu dem radikalen Gegenteil sucht, das Hölderlin mit knappen Worten als
das „Rohe, Ungelehrte, Kindliche" bezeichnet. Dies nämlich ist der Lehrmeister der
radikalen Ursprünglichkeit, dasjenige der Natur oder des Natürlichen, das der Kunst
gegenüber steht und das Nietzsche das Dionysische nennen wird.18 So zeigt sich, dass
das klassische Bildungsgut, das überwältigende Gewicht der Vergangenheit, nur dann
wirklich begriffen wird, wenn es auch aus dem ungestalteten Leben heraus, aus der
ungestalten, alle bekannte Form negierenden Gegenwärtigkeit und Spontaneität heraus,
in seiner Gestalthaftigkeit und Absichtlichkeit verstanden wird. Dieser bewusste Akt
der Negation bedeutet, sich in den Ursprung alles Ausdruckwillens, aller Gestaltgebung
zurückzuversetzen, und sei dies auch nur in der Künstlichkeit eines gelungenen Augen-
blicks.
Es gilt, so Hölderlin, den Bildungstrieb recht eigentlich zu begreifen, so „daß wir
alles, was vor und um uns aus jenem Triebe hervorgegangen ist, betrachten als aus dem
gemeinschaftlichen ursprünglichen Grunde hervorgegangen, [...], daß wir die wesent-
lichsten Richtungen, die er vor und um uns nahm, auch seine Verirrungen um uns her
erkennen, und nun, aus demselben Grunde, den wir lebendig, und überall gleich, als den
Ursprung alles Bildungstriebs annehmen, unsere eigene Richtung uns vorsezen, die
bestimmt wird, durch die vorhergegangenen reinen und unreinen Richtungen."19 Mit
dieser Auffassung des Bildungstriebes, dem genuin Poietischen aller Bildung, sucht
Hölderlin mit den Klassikern im Kopf den Klassikern zu entkommen, um einen wirk-
lich neuen Beginn zu finden, der freilich noch immer die alten und mächtigen Vorbilder
im Blick hält. Dies weniger als Muster denn als Maß. Aus ihnen soll nicht ein Kanon,
sondern eine Richtung gewonnen werden, um das spezifisch Individuelle des Kunst-
werks und der Bildungsarbeit gemäß der jeweiligen Zeitbedürfnisse ans Licht zu brin-
gen.
Die kreatürliche Kraft, die der Konfrontation vergangener Größe mit ihrer Demonta-
ge in der Gegenwart innewohnt, demonstriert Hölderlin in der berühmten Rede des
Hyperion über die Griechen, deren Größe und Schönheit in Literatur und Kunst und
17
Dazu: Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte, 1794-1800. Paderborn 2000, 117-197.
1
Vivetta Vivarelli sucht in ihrer Untersuchung „Metaphern des Dionysischen bei Nietzsche", in:
Nietzsche und die antike Philosophie, hg. von Daniel W. Conway und Rudolf Rehn, Trier 1992,
153-171, auf, die sich mit ähnlichen Metaphern bei Hölderlin vergleichen lassen. Eine systema-
tisch sehr fruchtbare Untersuchung liegt in der Arbeit von Bernhard Böschenstein, .Frucht des Ge-
-
witters'. Zu Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution. Frankfurt/M. 1989, vor. Er entdeckt in
scheinbar abgelegenen Motiven und Metaphern Hölderlins weitreichende Verarbeitung des Diony-
sos-Mythos.
19
Knaupp 2, 63.
54 ViolettaL. Waibel
Knaupp 1,689.
Ebd., 693.
Ebd., 693.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung 55
„So dacht' ich. Nächstens mehr."23 Der hier denkt, ist zuerst der Schriftsteller Hyperion,
esist zudem der Schriftsteller Hölderlin, der eine Fortsetzung insinuiert, wohl wissend,
daß sie als neuer Band des Hyperion niemals intendiert, aber dennoch erwartet wird.
Schließlich ist es der Leser, der aufgefordert ist, den Imperativ des kreativen Prozesses
der Zeitschichtung aufzunehmen, ihrer Richtung zu folgen, die Verirrungen zu erken-
nen und im Sinne der Gegenwart zu korrigieren.
Schönheit, die Natur ist Repräsentantin der naiven, unberührten, daher auch unschuldi-
gen Schönheit. In dieser Mittlerfunktion besteht der zentrale Bildungsauftrag, den der
Dichter sich selbst zur Aufgabe gemacht hat. Dionysos ist die mythische Gestalt, die
Hölderlin als Mittlerfigur und daher als Symbol des Dichters in einigen seiner bedeu-
tendsten Gedichte beschwört.
In Brot und Wein ist Dionysos der kommende Gott nach der langen Nacht der Jetzt-
zeit, in Dichterberuf'ist er der, der vom Indus kommend die Völker weckt, in der Frie-
densfeier schließlich werden Dionysos, Herakles, Christus und Napoleon im Bild des
Fürsten des Festes übereinandergeschichtet. Im vorliegenden Kontext ist es angebracht,
zunächst auf die Hymne Wie wenn am Feiertage einzugehen, die mit großer Empha-
...
se die hymnische Dichtung Hölderlins im Blick auf den Gott Dionysos/Bacchus einlei-
tet und das Selbstbild des Dichters zeichnet. Sodann wird auf die Hymne Der Rhein
eingegangen, aus der sich Nietzsche einige Verse aufgezeichnet hat, um sie in sein Bild
vom Dionysischen einzuschreiben.
In der Hymne Wie wenn am Feiertage steht die Geburt des Dionysos als Sinnbild
...
der Geburt des dichterischen Gesangs im Zentrum und bildet ein selbstreferentielles
Gedicht, eine Hymne auf die Hymne. Das Gedicht ist im Sommer 1800 in einer Prosa-
fassung niedergeschrieben und dann in die vorliegende metrische Fassung gebracht
worden. In seinen letzten beiden Strophen ist es Fragment geblieben.26 Die von Hölder-
lin häufig thematisierte Rolle des Dichters als Mittler zwischen Gott und Mensch steht
in diesem Gedicht im wahrsten Sinne des Wortes in der Mitte der Dichtung, und zwar
in der mittleren Triade. Der Hauptgedanke der mittleren, fünften Strophe, der in die
sechste Strophe hinüberreicht, spricht davon, dass der Geist der Allebendigen, oder der
Götter, im Lied gegenwärtig sei, in ihm wehe, dass dieser Geist ferner ein Gemeinsa-
mes an Gedanken sei, ein Gemeinsames „zwischen Himmel und Erd" (V. 42), ein Ge-
meinsames „unter den Völkern" (V. 42). Der Dichter ist derjenige, in dessen Seele die-
ser Geist ,,[s]till endend" (V.44) Gestalt gewinnt, und zwar „von heiigem Stral
entzündet" (V. 47). Der Gesang ist eine „Frucht in Liebe geboren" (V. 48), er ist der
„Götter und Menschen Werk" (V. 48), er zeugt von der gelungenen Vermittlung. Die
Zeugung des Gesangs aus göttlichen und menschlichen Kräften setzt Hölderlin in eine
vieldeutige Parallele zum Mythos von der Geburt des Dionysos (Bacchus). Die Königs-
tochter Semele (gelegentlich auch als Erdgöttin verstanden) begehrt den Gott Zeus un-
mittelbar und mit eigenen Augen zu schauen. Ein solches Begehren entspringt mensch-
licher Anmaßung und zieht unabweislich Verderben und Vernichtung nach sich, wie
der Mythos der von Zeus in der Gestalt des Blitzes tödlich getroffenen Semele zeigt.27
Gleichwohl bedeutet die Begegnung Semeies mit dem Gott, mit Zeus, nicht nur Tod
und Untergang, zeugt sie doch die „Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus"
(V. 53). Dieses mythische Ereignis steht sowohl für die Möglichkeit einer gelingenden
Auf metrische Unregelmäßigkeiten, die Bedeutung des Gedichts im Hinblick auf Hölderlins Pin-
dar-Beschäftigung und Pindar-Übersetzungen, den Zusammenhang mit Hölderlins Übersetzung aus
Euripides Bacchantinnen kann nicht näher eingegangen werden. Im folgenden Versangaben nach
Knaupp 1,262-264.
Vgl. Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Reinbek bei Hamburg
1985,373.
58 ViolettaL. Waibel
Vermittlung zwischen den Extremen Gott und Mensch, als für die Auslotung der Mög-
lichkeiten diesseits und jenseits dieser Grenzen.
Das Bild vom Gesang als Mitte und Vermittlung in der mittleren Triade ist daher
auch Grenze gegen die erste und die dritte Triade. In der ersten Triade wird der Dichter
in Analogie zum Landmann gesetzt, der den Acker bebaut, der den Gesetzen der Natur
ebenso gehorcht, wie er dank menschlicher Vernunft nach Freiheitsgesetzen handelt
und beide Arten von Gesetzen koordinieren muss. Während jedoch der Landmann und
Dichter in hohem Maße der Natur zugeneigt ist, die es mit den Möglichkeiten freier,
spontaner Gesetzgebung in Einklang zu halten gilt, dominieren in der dritten Triade die
Freiheitsgesetze menschlicher Vernunft, die sich diesseits der von Gott gezeichneten
Grenzen halten oder in hybrider Selbstüberhebung diese Grenzen missachten und die
Stimme des Schicksals durch Grenzüberschreitung der Vernunft herausfordern.
Die dionysischen Zeichen der ersten Triade gehören vorwiegend der Natur an. Die
erste Strophe hebt mit der Witterungsbeschreibung eines überstandenen Gewitters an,
das in seiner wohltuenden Wirkung gezeichnet wird: „Aus heißer Nacht die kühlenden
Blize fielen/ [...] und glänzend/ In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines" (V. 3, 8,
9). Ferner ist es der „Weinstok" (V. 1), das Zeichen des Bacchus, der unter den kühlen-
den Blitzen in heißer Nacht und unter dem erfreuenden Regen „trauft". Die zweite und
dritte Strophe machen deutlich, dass allein das Erwachen der Natur ein Erwachen der
schöpferischen, allerschaffenden Begeisterung sein kann. Alle menschliche Schöpfer-
kraft verdankt sich einer höheren Kraft, der der göttlichen Natur. Der Ackerbau des
Landmanns hängt von der Gunst der Natur ebenso ab, wie der Erbauer von Wortgebil-
den, der Dichter: „im Liede wehet ihr Geist" (V. 37). Der Weinstock selbst ist es, der
der dunklen Erde entwächst, genährt vom Licht der Sonne, einer Repräsentantin des
himmlischen Feuers. Die Begeisterung, nicht im Sinne einer überschwenglichen Eksta-
se, sondern als belebendes Gefühl, als Gefühl am „Feiertage" (V. 1 ), ist nicht nur Ge-
genstand der Dichtung, sondern auch unmittelbarer Ausdruck des Gedichts, des hymni-
schen Gesangs. Die „Begeisterung" als „Allerschaffende" (V. 26-27) ist in sublimierter
Form als Feuer des Himmels zu verstehen, so dass in der vierten Strophe die Rede da-
von sein kann, „wie im Aug' ein Feuer dem Manne glänzt/ Wenn hohes er entwarf; so
ist/ Von neuem an den Zeichen, den Thaten der Welt jezt/ Ein Feuer angezündet in
Seelen der Dichter" (V. 28-31). Die Kraft der Natur ist es, die die menschliche Freiheit
zu einer schöpferischen, lebendigen Kraft erwachsen lässt.
Gemäß der dritten Triade trinken die Erdensöhne dank der gelungenen Geburt von
Bacchus, dem gelungen Werk von Gott und Mensch im wörtlichen und im übertragenen
Sinne „himmlisches Feuer jezt/ [...] ohne Gefahr" (V. 54/55). Der gelungene Gesang ist
das Medium, in dem der eigentliche Bildungsauftrag des Dichters sich ausspricht, der
nach der Maßgabe Hölderlins der Priester der Moderne ist. Ihm ist die Mittlerfunktion
zwischen dem Gegensatz von Geist und sinnlichem Stoff, Göttlichen und Menschlichen
in ihrem Auseinandersein und in ihrem Zusammenwirken zugewiesen. Der Geist als das
Unendliche ist in seiner Unfasslichkeit und Fasslichkeit zugleich bezeichnet. Die Er-
densöhne trinken das himmliche Feuer in Gestalt des Weines, der Begeisterung, des
Gesangs des Dichters jedoch nur solange gefahrlos, solange die nötige Selbstbeschei-
dung vor dem Göttlichen bewahrt bleibt: „Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern/
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung 59
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen/ [...] Denn sind nur reinen Herzens/ Wie
Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände" (V. 56-57 und 61-62).
Die Bedingung der Selbstbescheidung droht durch emphatische Freiheitserfahrung
jedoch in Hybris umzuschlagen. Diesem Gedanken ist die zweite Hälfte der dritten,
Fragment gebliebenen, Triade gewidmet. Der Dichter, der trotz des warnenden Bei-
spiels der Semele, das Göttliche unmittelbar schauen will, findet sich, wie das letzte
Strophenfragment andeutet, als falscher Priester tief unter den Lebenden wieder. Seine
Frucht dort ist einzig, ,,[d]as warnende Lied den Gelehrigen [zu] singe[n]". (V. 72) In
dieser Gefahr der dem Menschen zueigenen Hybris hebt sich Freiheit selbst auf und
schlägt um in Naturnotwendigkeit, in das Fatum tragischen Geschicks. Die Grenzen
menschlicher Freiheit nicht anerkennen zu wollen, ihre Grenzen zu sprengen und damit
Freiheit durch Freiheit zu vernichten, ist auch das tragische Verhängnis des Empedo-
kles, wie Hölderlin ihn deuten wird. Trotz der großen Bedeutung von Hölderlins Trau-
erspiel Empedokles für Nietzsche kann hierauf nicht näher eingegangen werden.
Stattdessen ist Hölderlins Vaterländischer Gesang Der Rhein in Augenschein zu
nehmen.28 Im Zuge der mythisierenden Selbstinszenierung des Dichters spielen in sei-
nen Gedichten Flüsse eine herausragende Rolle. Nicht nur ist Hölderlin mit ihnen groß
geworden, wie dem Neckar in Lauffen, Nürtigen und Tübingen, später in Stuttgart und
Heidelberg, ist ihnen begegnet, wie der Saale in Jena, dem Main in Frankfurt, dem
Rhein in Mainz und andernorts, der Garonne und Dordogne in Bordeaux in Frankreich.
Flüsse sind für Hölderlin Zeichen des Himmels und Ursprung des Lebens, sie durchzie-
hen das ohne sie trockene Land, machen fruchtbar, urbar, lassen Pflanzen wachsen,
Tiere daran tränken, Menschen an ihren Ufern bauen. Hinzu kommt, dass der Gebirgs-
bach im ausgehenden 18. Jahrhundert als Sinnbild des Genies, des Künstlers, der ausge-
zeichneten Persönlichkeit galt. Das Genie schafft sich im stürmenden Drang, im Be-
wusstsein der eigenen Freiheit seine Bahn.
All dies ist mitgedacht in der Personifizierung des jungen Rheins, der als Halbgott
geboren, aufbegehrt gegen die ,,Wikelbande[]" (V. 63) der Neugeborenen, der, indem er
den Felsen durchsticht, Felsen und ganze Wälder mit in den Abgrund reißt: „wie der
Bliz, muß er/ Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn/ Die Wälder ihm nach und
zusammensinkend die Berge" (V.73-75), um in der Ebene als „Vater Rhein" (V. 88)
besänftigt seine Bahn zu ziehen und das Land zu bestellen. Der Name des Rheins er-
laubt, ihm das Epitheton des „Reinentsprunge[n]" (V. 46), das heißt, des „freigebore-
nen" (V. 33) Göttersohnes beizulegen. Daher ist von seiner „königlichen Seele" (V. 38)
die Rede, die es, anders als Tessin und Rhodanus, also Rhône, zuerst nach Osten drängt,
bis sie die vorgezeichnete Bahn des ihm zugemessenen Schicksals einschlägt, zuerst
nach Westen, dann nach Norden zu fließen. Was aber treibt den Rhein in den Osten
nach Asia? Aus Asien, vom Indus im heutigen Pakistan kommt der Weingott Dionysos
oder Bacchus mit seinem Gefolge von Frauen, den Mänaden oder Bacchen ins griechi-
sche Theben, um dort den dionysischen Kult einzuführen. Asien, genauer Kleinasien ist
auch von großer Bedeutung als Ort des Ursprungs des geschriebenen Wortes, das eine
wesentliche Zäsur in der Entfaltung der Kultur darstellt, zunächst in der asiatischen,
dann der ägyptischen und griechischen, schließlich der westlichen Kultur Zentraleuro-
pas.
Zwei Strophen der Rhein-Hymne beschäftigen sich mit Jean Jacques Rousseau, dem
Künder eines neuen Naturverständnisses, der auf Hölderlin einen bedeutenden Einfluss
hatte. Er rede so, „Wie der Weingott [also Dionysos V. L. W.], thörig göttlich/ Und
gesezlos sie die Sprache der Reinesten giebt/ Verständlich den Guten, aber mit Recht/
-
Die Achtungslosen mit Blindheit schlägt" (V. 145-148). Wie Rousseau das Eigentliche
der menschlichen Seele durch das Studium der Natur zu erkunden sucht, so sucht Höl-
derlin die Zeichen der Erde, den Lauf der Flüsse, die Stellung der Berge, Tag und Nacht
einerseits in seiner physischen Sinnlichkeit darzustellen, andererseits als Zeichen der
Nähe oder Ferne des Göttlichen zu deuten. Das Lesen dieser Zeichen heißt, zu erken-
nen, dass der Baumeister des Alls und der Erde zuweilen „auch ruht", dass er, wie es
weiter im Gedicht heißt, sich „Versöhnend zu der Braut/ Der Bildner sich/ Der Tagsgott
zu unserer Erde sich neiget" (V. 177-179). Wenn der Tagsgott, die Sonne zur Erde sich
neigt, so ist dies der Augenblick, in dem der Abend hereinbricht, bis er in das Dunkel
der Nacht, Hölderlins Bild der Jetztzeit, übergeht. Das Dunkel der Nacht ist aber nicht
bloß Nichts. In Hölderlins Denken ist es ausdrücklich der werdende Urgrund des kom-
menden Tages, in dem das Vermittlungsgeschehen von Gott und Mensch vorbereitet
wird. Es bedarf des ersten unter den Weisen, Sokrates, um die lange Nacht durchzuwa-
chen und den kommenden Tag zu begrüßen: „Denn schwer ist zu tragen/ Das Unglük,
aber schwerer das Glük/ Ein Weiser aber vermocht es/ Vom Mittag bis in die Mitter-
nacht/ Und bis der Morgen erglänzte/ Beim Gastmahl helle zu bleiben" (V. 204-209).
Das Gastmahl, Piatons Symposion, ist eine Weise, in der Jetztnacht den künftigen Tag
vorzubereiten. Der zur Natur sich wendende Philosoph Rousseau repräsentiert in dem
Gedicht die Züge des Dionysos, die in ihm ein ursprüngliches Naturwesen erkennen
lassen, während Sokrates die Rolle zufallt, das dionysische Feuer des Himmels in der
Nacht im Zuspruch zum Wein und im philosophischen Gespräch über die Liebe zu
bewahren. Nietzsche könnte in diesem Gedicht eine Trennung der Sphären des Dionysi-
schen und Appolinischen entdeckt haben, die von Hölderlin freilich anders intendiert
war
Knaupp I, 343; KSA, NF, 7, 711; in Nietzsches Abschrift finden sich wenige Abweichungen in
Rechtschreibung und Interpunktion.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung 61
ist nicht überliefert, lässt sich in ihnen gleichwohl eine Nähe zum Geist des Dionysi-
schen in Nietzsches früher Tragödienschrift erkennen. Dies nicht nur deshalb, weil, wie
besprochen, in anderen Versen der Rhein-Hymne, die Nietzsche übergeht, vom Wein-
gott, also Dionysos die Rede ist, dem Rousseau gleiche, und der „thörig göttlich/ Und
gesezlos sie die Sprache der Reinesten" spreche (V. 145-146). Dichtung, von Hölderlin
ausdrücklich als Gesang verstanden, ist ihrem Wesen nach der Musik als Ausdrucks-
form menschlichen Dasein sehr nahe. Dies trifft den Kern von Nietzsches Schrift. Im
Dionysischen, das Nietzsche der apollinisch-sokratischen Welt des Rationalen, Abge-
klärten, Gebändigten gegenübersetzt, findet er ein Empfindungs- und Ausdrucksvermö-
gen der menschlichen Natur am Werk, die er vermutlich auch in dem Ausdruck des
„Reinentsprungenen" und seiner Rätselhaftigkeit am Werke sieht. Schon in der Zweiten
Unzeitgemäßen Betrachtung war von „der einzigen Meisterin Natur" zu lesen (KSA,
HL, 1, 327) und von der Urwelt der Griechen. Die Uranfänglichkeit spricht Hölderlin
mit bedeutender Geste in seinen Versen aus.
Während die Dionysos-Gestalt für Hölderlin eine Mittlerfigur darstellt zwischen dem
Irdischen und Göttlichen, der Wildnis und dem Heiligen, dem Ungebändigten der
Kindheit und der abgeklärten Reife des Alters, der gegenwärtigen Abwesenheit und
dem erwarteten Kommen, das der Dichter besingt und beschwört, ist für Nietzsche das
Dionysische nicht einmal eigentlich mythische Gestalt, sondern Mythisches an sich.
Deshalb spricht er auch vom Dionysischen und Appolinischen eher denn von Dionysos
und Apollo. Es ist ein Teil der menschlichen Natur, der durch ein Übermaß an Kultur,
durch Vereinseitigung der Rationalität, durch philiströses Bildungsbürgertum hinweg-
gedacht wurde. Vielmehr als Hölderlin bemüht Nietzsche für das Dionysische eine
Sprache der Exaltation. Er zeichnet es als Metapher einer Urgewalt des Lebendigen, das
Titanisches und Prometheisches in sich schließt (vgl. KSA, GT, 1, 71), es ist höchste
Form des Pathos und des Rausches (vgl. ebd., 85, 95), ist kreatives Urchaos, dem Nietz-
sche das Wort des Anaxagoras leiht: „im Anfang war alles beisammen; da kam der
Verstand und schuf Ordnung" (ebd., 87). Schließlich weiß Nietzsche drei Tugenden des
Optimismus aufzuzählen, die den Tod der Tragödie und damit des letzten Dionysischen
bedeuteten: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugend-
hafte ist der glückliche" (ebd., 94). Dem modernen, der Tragödie entfremdeten Men-
schen bescheinigt Nietzsche einen Mangel an Empfindungsfähigkeit und ein unaufrich-
tiges Hinwegtäuschen über das Leid und kurzsichtige Meiden von Schmerz, ein
Glücklichseinwollen um jeden Preis, das den Menschen von sich selbst entfremdet.
Nietzsche geht es keineswegs um eine masochistische Glorifizierung von Leid und
Schmerz. Es geht ihm darum, dass sie auf eine unhintergehbare Weise zum Leben des
Menschen gehören, denn wo Menschen miteinander umgehen, wird es immer zu Inter-
essenskonflikten, zu anmaßenden Machtansprüchen, zu Neid und dergleichen kommen.
Die überlieferten Tragödien des Aischylos oder Sophokles haben den unvermeidlichen
Abgründen, die dem menschlichen Leben innewohnen, einen künstlerischen Ausdruck
und eine bewusste Gegenwärtigkeit im Leben verliehen.30 Nietzsche kann es nicht hin-
in diesem Sinne spricht Babette E. Babich in: „Between Hölderlin and Heidegger: Nietzsches
Transfiguration of Philosophy", in: Nietzsche-Studien, 29, (2000), 267-301, von der notwendigen
Transfiguration der Philosophie Nietzsches, der sich vom bloßen Wissenwollen abwendet, um dem
62 Violetta L. Waibel
nehmen, dass die Menschen sich über die unhintergehbaren Abgründe des menschli-
chen Daseins mit einem heiteren, zweckoptimistischen Lächeln hinwegtäuschen. Es gilt
die Emotionalität des Menschen zu schützen vor den zweifelhaften kognitiven Errun-
genschaften, einen Teil der Emotionen aus falschem Optimismus hinweg zu rationali-
sieren. Damit wird die in der Emotionalität geborgene Lebendigkeit des Menschen als
Ganzes untergraben. Nur wenn beide Wurzeln des menschlichen Geistes, Emotion und
Kognition den ihnen je zugehörenden Ort im Leben der Menschen und in der Gesell-
schaft zugewiesen bekommen, ist das Wesen Mensch ein lebendiges Wesen.
Wahre Bildung ist bei Hölderlin und Nietzsche bestimmt durch ein hohes Maß an
Authentizität, die nach Hölderlin allererst aus der Ganzheitlichkeit des künstlerischen
Wollens und des Wollens des Künstlers erwächst; nach Nietzsche ist vom Künstler und
Philosophen tiefe Aufrichtigkeit gefordert. Die Wahrhaftigkeit im Wollen und Hinsehen
ist eine gute Voraussetzung für ein Kunstwerk als einem ganzheitlichen, lässt aber den
Weg offen, die Brüchigkeit des menschlichen Lebens nicht nur zu sehen, sondern im
Sinne des romantischen Denkens in die Form des Kunstwerks einfließen zu lassen.
Beide Denker lieben, kennen und schätzen ihre Griechen im Überfluß und suchen, sich
vor dem Überwältigtwerden durch sie zu schützen. Hölderlins Weg ist mehr der einer
dialektischen Reflexion und vorsichtigen Versöhnung des Alten und des Neuen, wäh-
rend Nietzsche zufolge die starke Persönlichkeit sich vor der Überwältigung durch an-
dere Größe zu bewahren weiß. Schließlich ist Hölderlins Dionysos die Mittler- und
Bildnerfigur schlechthin zwischen den Extremen, während Nietzsches Dionysos die
große Gegenkraft zum sokratischen Zeitalter, das echte Gefühl, das Musikalische
schlechthin neben und in Ergänzung zum Rationalen darstellt. Das Leben darstellen zu
wollen, der unerbittliche Blick des Lebens selbst und des Lebendigen ist es vor allem,
das beide Denker zur Romantik zurechnen lässt. So besteht wahre Bildung wesentlich
darin, die gesamte Natur des Menschen erkennen zu wollen, zu respektieren und in
ihrem Geist zu handeln. Hölderlin und Nietzsche sind Dichter und Denker, die diese
Dimension erkannt haben, als die Frage nach der Relation von Emotion und Kognition
noch nicht die Breite heutiger Diskussion erreicht hat.
Leben als Ganzem Raum zu schaffen. Hinsichtlich der Bestimmung des Tragischen in der Antike
ist der These Günther Patzigs zuzustimmen, der in seiner Untersuchung „Antike Tragödienphiloso-
-
phie: Piaton und Aristoteles", in: Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, hg.
von Werner Frick in Zusammenarbeit mit Gesa von Essen und Fabian Lampart, Göttingen 2003,
74-94, zur These gelangt, den Tragödiendichtern könne es kaum in erster Linie um Katharsis, um
Abfuhr von Furcht und Schrecken, als vielmehr um das Erlebbarmachen von Emotionalität zu tun
gewesen sein.
Justus H. Ulbricht
mit Nietzsche
Am 15. Oktober 2003 eröffnete die Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen in
den unteren Räumen des ehemaligen Friedrich Nietzsche-Archivs in Weimar eine kleine
Ausstellung unter dem Titel Klingers Nietzsche. Dahinter verbarg sich der Versuch, mit
einigen Dutzend sprechender Exponate aufzuzeigen, wie sich das Bild Friedrich Nietz-
sches, wörtlich genommen, die plastischen Arbeiten am Porträtkopf des Philosophen, die
der Leipziger Künstler Max Klinger vorgenommen hat, vom ersten Entwurf 1902 bis zur
Gestaltung der heute im Archiv zu sehenden Porträt-Herme des Philosophen (1905)
verändert hat. Dies ist nur auf den ersten Blick ein rein kunsthistorisch oder ästhetisch
relevantes Thema. Klingers Bearbeitungen in Marmor, Bronze oder Gips parallel lief
eine ganz andere Arbeit an Nietzsches Texten, auch und gerade im Weimarer Archiv,1
das seit seinem Umzug von Naumburg nach Weimar im Jahre 1896 daran gegangen war,
Nietzsche „ins Naumburgische" zu übersetzen, ihn ,,[d]eutschzusprechen" (Franz Pfem-
fert) und damit für diejenigen geistigen Strömungen nutzbar zu machen, denen es dezi-
diert um eine „deutsche Renaissance"2 in Zeiten beschleunigter Modernität zu tun war.
Die Wiedereröffnung des durch Henry van de Velde umgebauten Nietzsche-Archivs
am 15. Oktober 1903, an die die erwähnte Ausstellung exakt einhundert Jahre später
erinnern sollte, gehörte einst zum Auftakt der kulturellen Regenerationsperiode, für die
sich in der Forschung der Begriff „neues Weimar" eingebürgert hat.3 Dessen wichtigs-
ter Protagonist Harry Graf Kessler begann sein Wirken als führender Kurator des
Auftakt
Im Januar 1900 verbreitete ein kulturell engagierter Leipziger Verlag das Manifest Zur
Jahrhundertwende, mit dem er zwischen einigen seiner Neuerscheinungen einen ganz
bestimmten, der eigenen Ansicht nach zwingenden geistigen Zusammenhang konstruie-
ren und so deren Absatz steigern wollte. Zugleich versuchte der Verleger, sein Unter-
nehmen in den ästhetischen und weltanschaulichen Debatten des Fin de siècle eindeutig
zu positionieren: „Als führender Verlag der Neuromantik möchte ich betonen, dass diese
nicht mit der Dekadenzrichtung in der Literatur zu verwechseln ist. Nicht das Primitive,
nicht weltfremde Träumerei bevorzugt diese neue Geistesrichtung, sondern nach dem
Zeitalter des Spezialistentums, der einseitigen Verstandeskultur, will sie die Welt als
etwas Ganzes genießen und betrachten. Indem sie das Weltbild wieder intuitiv erfaßt,
überwindet sie die aus der Verstandeskultur hervorgegangenen Erscheinungen des Mate-
4
Der vorliegende Beitrag fußt auf Justus H. Ulbricht, Auf der Suche nach der verzauberten Zeit, in:
Imagination Romantik. Botho-Graef-Kunstpreis der Stadt Jena 2001, hg. von Kulturamt der Stadt
Jena, Jena 2001, 174-187.
Dazu Justus H. Ulbricht, „,Deutsche Mitte' Thüringen als Sehnsuchtslandschaft", in: Expressio-
nismus in Thüringen. Facetten eines kulturellen Aufbruchs, hg. von Cornelia Nowak/Kai Uwe
-
Schierz/Justus H. Ulbricht, Jena 1999, 218-223; Justus H. Ulbricht, „Wo liegt Kaisersaschern?
Mitteldeutsche Mythen und Symbolorte. Eine Spurensuche .deutschen Wesens'", in: Jürgen John
(Hg.), „Mitteldeutschland". Begriff- Geschichte Konstrukt, Rudolstadt, Jena 2001, 135-158.
-
Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche 65
-
rialismus und Naturalismus [...] Die Altromantiker strebten nach viel Wissen, nach Uni-
versalmenschentum und indem sie ihre Ideale nicht bloß zu denken sondern auch zu
leben trachteten, beseelten sie ihre Kenntnisse. Auf gleichem Weg wird auch die Neuro-
mantik wandeln, wenn sie wieder an die Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Kunst und
Daseinsfreude der Menschen aus dem Zeitalter des Paracelsus und Dürer anknüpft. Sie
wird den von Nietzsche mit Recht gebrandmarkten Bildungsphilister, der sich nur mit
den Lappen der Kultur behängt hat, überwinden und zur künstlerischen Kultur des 20.
Jahrhunderts erziehen. Die Sehnsucht der Seele nach etwas, das dem Leben Sinn und
Inhalt giebt, führt zuerst zur innerlichen Vertiefung. Aus dieser heraus entwickelt sich
der Mensch nach Goethe's Beispiel zum Einklang mit der Umgebung; denn das mit
Bewußtsein-Leben führt zur Ausbildung vorhandener Kräfte und Anlagen, zu dem ge-
sunden, fröhlichen Menschen, dessen eigenes Leben ein unbewußtes Kunstwerk ist. Kein
totes Wissen mehr, sondern es soll die Kunst werden, des Menschen Seele und Empfin-
den umzuformen und ihn zur praktischen Betätigung zu führen [...]."* Mit diesen Wor-
ten war sich der Autor des Manifests treu geblieben, der erst vier Jahre zuvor sein Ver-
lagsunternehmen gegründet hatte. Einem ebenfalls kulturreformerisch engagierten
Freund, dem Dresdner Publizisten und Herausgeber der Zeitschrift Kunstwart, Ferdinand
Avenarius, schrieb er 1896: „Ich habe den kühnen Plan, ich möchte einen Versamm-
lungsort moderner Geister haben [...] Parole: Entwicklungsethik, Sozialaristokratie,
gegen den Materialismus zur Romantik und zu neuer Renaissance. Auch für Mystik habe
ich sehr viel übrig."7
Wiederum vier Jahre nach der Proklamation Zur Jahrhundertwende, im Jahre 1904,
beschloss der Verleger, seinen Betrieb in die Stadt zu verlagern, die für ihn das kulturel-
le Erbe von Antike, Klassik und Romantik, zugleich, mit den Zeiss-Betrieben, eine
faszinierende Modernität verkörperte: „Ich siedele am 1. April nach Jena über und
möchte dann mit den Hauptvertretern der Romantiker in Einzelschriften erscheinen.
[...] Es ist eine Lieblingsidee von mir, so etwas wie ein hundertjähriges Jubiläum der
Romantiker damit zu dokumentieren und vor allem den Namen Jena' dann wieder in
den Vordergrund zu bringen [...]."*
Ende März 1904 rollten etwa zwanzig Güterwaggons von Leipzig an die Saale, in
denen sich der komplette betriebliche und private Besitz von Eugen Diederichs, gebo-
ren auf dem Rittergut Löbitz bei Naumburg, und seiner Familie befand9: „Hier wo die
6
Original im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Nachlass Eugen Diederichs. Reproduktion bei
Peer Kösling, „.Universalität der Welterfassung.' Der Eugen Diederichs Verlag ein Verlag der
Neuromantik?", in: Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner (Hg.), Romantik, Revolution und Reform.
-
Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949, Göttingen 1999, 82; Kursivierung im
Original.
Zit. nach Eugen Diederichs Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu
von Strauß und Torney-Diederichs, Jena 1936, 40.
Eugen Diederichs an Martin Rade, 26. Oktober 1903, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und
Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs, Jena 1936, 88, Hervorhebung im
Original.
Dazu: Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag.
Aujbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996; Versammlungsort moderner Geister. Der
Kulturverleger Eugen Diederichs und seine Anfänge in Jena [Katalogbuch zur gleichnamigen Aus-
66 Justus H. Ulbricht
Romantik blühte, wo Schiller, Goethe, Hölderlin und Fichte lebten, in der Nähe Wei-
mars schien es leichter, das Erbe ihres Geistes zu wahren, weil die Vergangenheit tat-
sächlich durch Natur und Bauten in die Gegenwart sich fortsetzte."10 Somit wurde die
alte Heimat der Frühromantik zum neuen Standort des ,führenden Verlags' moderner
Spätromantik. Was aber war und zu welchem Ende blühte die ,blaue Blume' des vor-
letzten Jahrhundertendes?
Ortsbestimmungen
Ein literaturgeschichtliches Nachschlagewerk der 1950er Jahre nennt ,Neuromantik'
eine „oberflächliche und behelfsmäßige, daher auch sehr umstrittene Bezeichnung für
eine durchaus ernstzunehmende Erscheinung der dt. Lit. im ausgehenden 19. Jahrhun-
dert."11 Schon zur Entstehungszeit des Wortes sei ,Neuromantik', wie eine jüngere Un-
tersuchung konstatiert, gemeinsam mit der Wortprägung ,Moderne' zu einem „Passe-
partout-Begriff geworden. Mittels solcher Begriffe versuche „ein an seinen vielfältigen
Neuerungen beinahe selbst irre gewordenes Zeitalter seine eigene epochale Identität
ohne Aussicht aufbleibenden Erfolg zu bestimmen".12 Andere belehren darüber, dass
die ursprüngliche Romantik um 1800 selbst sich als ,neuromantisch', im Gegensatz
zum ,altromantischen' deutschen Mittelalter, begriffen habe, dass Wort und Sache über
die französische Literatur der Mitte des 19. Jahrhunderts um 1900 nach Deutschland
zurückgekommen seien.13 „Unübersehbar war der Bewegungs-, ja Mode-Charakter der
Neuromantik", urteilt ein weiterer Autor über die Zeit des Fin de siècle und versucht,
sich und andere im Dschungel der Begrifflichkeit zu orientieren.14 An einzelnen Ideen,
Phantasien und Träumen der kulturkritischen Bewegungen der 1980er Jahre hat man
explizite Rückbezüge auf die alte Romantik festgestellt und sie mit dem Epitheton ,neu-
stellung], München 1996; Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896-
1930), Wiesbaden 1998.
10
Eugen Diederichs, „Lebensaufbau. Skizze zu einer Selbstbiographie", geschrieben Juni 1920 bis
März 1921, 276 [unveröff. Typoskript], in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Eugen
Diederichs.
11
Helmut Prang, „Neuromantik", in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage,
hg. von Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr, Berlin 1959, 2. Band, 678-680, Zitat 678, Abkür-
zung im Original; Anne Kimmich, Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Neuromantik"
in der Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen 1936; Reinhild Schwede, Wilhelminische Neuro-
mantik. Flucht oder Zuflucht?, Frankfurt/M. 1987.
12
Klaus Lichtblau, „Der Eugen Diederichs Verlag und die neuromantische Bewegung der Jahrhun-
dertwende", in: Ulbricht/Werner, Romantik, Revolution und Reform, 60-77, Zitat 66.
13
Zahlreiche Belege in Reinhold Grimm, „Zur Vorgeschichte des Begriffs ,Neuromantik'", in: Das
Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, hg. von Wolfgang Paulsen, Heidel-
berg 1969, 32-50; Jürgen Viering, „Neuromantik", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissen-
schaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Harald Fricke,
Berlin/New York 2000, 707-709.
14
Peter Sprengel, „Neuromantik", in: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. von Dieter Borch-
meyer/Victor Zmegac, Tübingen 1994, 335-339, Zitat 337.
Neuromantik Ein
-
Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche 67
18
Versammlungsort moderner Geister, 486-507.
Coellen, Neuromantik, 125.
9
Dazu Justus H. Ulbricht, „Durch .deutsche Religion' zu .neuer Renaissance'. Die Rückkehr der
Mystiker im Verlagsprogramm von Eugen Diederichs", in: Moritz Baßler/Hildegard Châtellier,
(Hg.), Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900/Mystik, Mystizismus und
Moderne in Deutschland um 1900, Strasbourg 1998, 165-186; ders.: „.Theologia deutsch'. Der
Diederichs-Verlag und die Suche nach einer modernen Religion für Deutsche", in: ders./Werner,
Romantik, Revolution und Reform, 156-174. Zum Kontext: Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der
deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997, bes. 13-27; die Arbeit verweist
vielfach auf die kaum zu überschätzende Rolle Nietzsches.
68 Justus H. Ulbricht
denn Materie und Geist sind die beiden Erscheinungsformen einer Kraft. Kunst und
Religion als schöpferische Kräfte befinden sich in engster Verwandtschaft."20 Die Ver-
lagskultur aus Jena begriff sich als ein Beitrag zur Regeneration der „deutschen Seele",
ein Rettungswerk, dem der Verleger im Zeichen des Löwen zeitlebens verschrieben
war.21 Seine Bemühungen um ,Deutsches Wesen' beziehen sich im wichtigen Verlags-
katalog Wege zu deutscher Kultur von 1908 explizit auf die Romantik und deren eigene
Suche nach den „poetischen Schätze[n] unseres Volkes", auf die „Kunst des Mittelal-
ters" und die „germanische Gefühlswelt".22
Soviel scheint klar zu sein und wurde bereits in Diederichs' Manifest Zur Jahrhun-
dertwende unterstrichen: ,Neuromantik' war und ist eine Sammelbezeichnung für nicht-
und gegennaturalistische Strömungen um 1900, die, in des Verlegers Worten, „Materia-
lismus und Naturalismus" und „einseitige Verstandeskultur" überwinden wollten. Sie ist
verwandt mit Stilbewegungen wie dem Impressionismus, dem Symbolismus, dem Ju-
gendstil, dem Ästhetizismus und der Décadence. Manche Zeitgenossen des Wilhelmi-
nismus setzten die neue „Romantik der Moderne" allerdings zu umstandslos mit der
„Decadence"-Literarur ihrer Zeit23 gleich, was Diederichs immer wieder zur Konkretisie-
rung seines eigenen Verständnisses von ,Neuromantik' veranlasst hat, zumal er mit jeder
Form gewöhnlicher Dekadenz nichts zu tun haben wollte. Dabei verkannte er, obwohl
einer der frühen Verehrer Nietzsches, dass dieser Modephilosoph des Wilhelminismus
sich selbst emphatisch als ,decadent' bezeichnet hatte, ohne damit ausschließlich Asso-
ziationen an Krankheit, Devianz, Sittenverwahrlosung und kulturellen Verfall wecken zu
wollen, die andere in seiner Zeit mit dem Namen ,Dekadenz' belegten.24
Dass Nietzsche unbestritten „der Philosoph der Neuromantik" sei, war bereits 1900
zum Thema einer Zeitstudie geworden25, dem gleichnamigen Werk von Georg Tantz-
scher. Samuel Lublinski pries in seiner Bilanz der Moderne des Jahres 1904 den Zara-
thustra als „höchstefs] Kunstwerk der modernen Romantik".26 Und auch Coellens Ar-
Zur Kultur der Seele 1896-1906, Verlagsbericht von Eugen Diederichs Jena, unpag.
21
Zu den sich wandelnden politischen und kulturellen Optionen von Diederichs vgl. Justus H. Ul-
bricht, „,Meine Seele sehnt sich nach Sichtbarkeit deutschen Wesens' Weltanschauung und Ver-
lagsprogramm von Eugen Diederichs im Spannungsfeld zwischen Neuromantik und .Konservativer
Revolution'", in: Hübinger, Versammlungsort moderner Geister, 335-374; Stefan Breuer, „Kultur-
pessimist, Antimodernist, konservativer Revolutionär? Zur Position von Eugen Diederichs im Ideo-
logienspektrum der wilhelminischen Ära", in: Ulbricht/Werner, Romantik, Revolution und Reform,
36-59.
Vgl. Wege zu deutscher Kultur. Eine Einführung in die Bücher des Eugen Diederichs Verlages,
Jena 1908, 69.
3
Vgl. Leo Berg, „Die Romantik der Moderne" [1891], in: Die literarische Moderne. Dokumente zum
Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, ausgew. u. mit einem Nachwort hg. von
Gotthart Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 77-82. Zur Décadence vgl. Wolfdietrich Rasch, Die litera-
rische Décadence um 1900, München 1986.
24
Vgl. Elisabeth Kuhn, „décadence", in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben
Werk- Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000, 213-215. -
5
Georg Tantzscher, Friedrich Nietzsche und die Neuromantik. Eine Zeitstudie, Dorpat 1900.
26
Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne, Berlin 1904, 130; dort auch zahlreiche Bemerkungen
zur Nietzsche-Mode und den neuromantischen Tendenzen der Epoche.
Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche 69
-
beit apostrophierte den Philosophen als „Vater der Neuromantik".27 Später veranlassten
diese Einschätzungen Karl Joël zu seiner großen, ebenfalls von Diederichs verlegten
Studie Nietzsche und die Romantik1*, wobei Joël einräumte, dass die Wortkombination
den Philosophen aus Naumburg selbst wohl empört hätte.29
Konturen
Doch nicht allein Coellen oder Joël, sondern auch deren Verleger selbst legte eine, in
unseren Augen, atemberaubende Fähigkeit zu ästhetischer und intellektueller Kombina-
torik an den Tag, wenn es galt, den Sehnsuchtsbegriff ,Neuromantik' mit Leben zu
füllen. Im Jahre 1898 versammelte Diederichs unter dem Motto Zu einer Neuromantik
erstmals vier Titel in einem gemeinsamen Werbeprospekt: Eine dreibändige Novalis-
Ausgabe, zu der der Friedrichshagener Dichter Bruno Wille ein Vorwort beigesteuert
hatte,30 ein Buch Karl Müller-Rastatts über den damals langsam wiederentdeckten
Friedrich Hölderlin mit dem Titel In die Nacht! Ein Dichterleben, Maurice Maeter-
lincks Essay-Sammlung Schatz der Armen31 und die Musikalischen Streifzüge des Mu-
sikkritikers Richard Batka, den der Verleger aus dem Kunstwart-Kieis seines Freundes
Avenarius kannte. Jahrzehnte später rechnete Diederichs außerdem Julius Harts Werk
Der neue Gott (1899) zur gleichen Richtung: „Neuromantik in erster Linie als An-
schauung des Universums gefaßt."32 Auch die von Friedrich von Oppeln-Bronikowski,
dem Maeterlinck-Übersetzer des Verlags, besorgte Anthologie Die Blaue Blume ( 1900),
Hermann Hesses Erzählung Eine Stunde hinter Mitternacht (1899) und Leopold Webers
Traumgestalten (1900) zählten nach Diederichs eigenen Worten ebenfalls zum Profil
seines Hauses, mit dem er sich „als führender Verlag einer Neuromantik fühlte, zu der
für mein Denken im Sinne eines Wackemoder der Sinn für deutsche Vergangenheit,
und im modernen Sinne künstlerische Kultur und religiöse Weltanschauung gehörte".33
ler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 467^78. Sämtliche in diesem Aufsatz zitierten
Lexikon-Artikel zur .Neuromantik' erwähnen Maeterlinck an prominenter Stelle.
Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und Torney-
Diederichs, Jena 1936, 44. Jens Peter Jacobsen, dessen Gesammelte Werke ab 1898 im Verlag er-
schienen sind, war ein weiterer, von Diederichs ins Spiel gebrachter, .neuromantischer' Autor.
Ebd., 50.
70 Justus H. Ulbricht
Für letztere Tendenzen standen die Werke des englischen ,Arts & Crafts'-Propheten
John Ruskin34 sowie die frühen kulturkritischen Arbeiten des deutschen Malers und
Architekten Paul Schultze-Naumburg.35
Hermann Hesse war es auch, mit dem sich um die Jahreswende 1899/1900 ein klei-
ner Briefwechsel entspann, in dem der junge Autor mit Diederichs einige seiner eigenen
Vorstellungen über den Begriff ,Neuromantik' austauschte. Bereits anlässlich der Pub-
likation seiner Erzählung Eine Stunde hinter Mitternacht hatte Hesse geschrieben:
„Ich hoffe auf eine Zeit, wo wir über manches, z. B. über den Proteus ,Romantik'
einander verstehen werden [...] Das ist das Hauptstück meiner Romantik: Liebevolle
Pflege der Sprache, die mir wie eine rare alte Geige erscheint, bei der eine lange Ge-
schichte und Ausbildung mit der treuesten Pflege und der geübtesten Hand zusammen-
wirken muß, um Leben und Wohllaut zu haben."36
Im November 1899 schließlich schickte Hesse einige programmatische Äußerungen
über „Neuromantik" an den Verleger, in denen er behauptete, dass die „neuromantische
Dichtung" vor allem an Novalis anknüpfe: „Die Geschichte der wahren Romantik, die
mit dem Tode des Novalis abgebrochen [ist], will wieder beginnen. Das Wort, das
durch ein populäres Mißverständnis zum Spottruf geworden war, hat eine neue Jugend
gereinigt und will es zu allen Ehren bringen, von denen ihre unglücklichen Vorgänger
in ihren begeisterten Seelen geträumt haben."37
Diederichs selbst war zur gleichen Zeit seiner eigenen Parole allerdings unsicher ge-
worden, „Das Wort Neuromantik war bereits abgegriffen"38, so dass er begann, manche
Akzente anders und stärker auf das zweite Schlagwort seines Gründungsmottos zu set-
zen, auf die ,neue Renaissance'. Sein ,Sendschreiben' des Jahres 1900 Zu neuer Renais-
sance enthielt jedoch weiterhin die Sparten ,Romantik und Neuromantik'. Unbestritten
deutlich blieb vor allem die Stoßrichtung seiner kultur- und literaturreformerischen In-
tentionen: „Der Verlag vertritt in erster Linie die den Naturalismus ablösende
Neuromantikf...]."39 Aber selbst eine andere programmatische Grundlinie der damaligen
Literatur, die so genannte ,Heimatkunst', werde „erst dann zu wirklicher Kunst, wenn sie
über das Heimatgefühl hinaus sich zu der Darstellung des um das Letzte ringenden
menschlichen Geistes auswächst, darum muss auch in ihr ein Stück Romantik leben, das
Dazu Wolfgang Kemp, John Ruskin 1819-1900. Leben und Werk, Frankfurt/M. 1987.
Das genaue ,neuromantische' Profil des Verlags skizziert Kösling, Universalität der Welterfas-
„
sung", 78ff.; Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 146-150, 478—484, 512—
521. Zu ,Künstlerische Kultur und Reformbewegungen': Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs,
249-267.
Hermann Hesse an Eugen Diederichs, 6. April 1899, in: Eugen Diederichs, Selbstzeugnisse und
Briefe von Zeitgenossen, hg. von Ulf Diederichs, Düsseldorf/Köln 1967, 103.
Hermann Hesse an Eugen Diederichs, 5. November 1899; Beiblatt Neuromantik, in: Selbstzeugnis-
se und Briefe, 106-109, Zitat 109. Damit belegt Hesse jedoch wenig mehr als seine eigene Liebe zu
Novalis.
Seine Notizen zum Jahr 1900 in Eugen Diederichs, „Lebensaufbau. Skizze zu einer Selbstbiogra-
phie", geschrieben Juni 1920 bis März 1921, 73 [unveröff. Typoskript], in: Nachlass Eugen Diede-
richs, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
So im Publikumsprospekt von 1900 Tendenz des Verlages, zit. n. Heidler, Der Verleger Eugen
Diederichs und seine Welt, 453.
Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche 11
-
sich zum Symbol gestaltet".40 Auch den Pantheismus und Monismus der Friedrichshage-
ner Freunde, die Diederichs neben dem Kunstwart-Kieis als „Standbein"41 des Verlages
galten, subsumierte er unter das Rubrum ,Neuromantik', etwa dadurch, dass er Bruno
Willes Offenbarungen des Wacholderbaumes (1901) als ,,erste[n] neuromantische[n]
Roman" in Deutschland bezeichnete.42 Zwei Jahrzehnte später urteilte er rückblickend:
„Aus dem Zusammenwachsen der neuromantischen Bewegung mit dem realistischen
Idealismus des Kunstwartkreises erwuchsen sämtliche Linien des Verlages, deren Mit-
telpunkt aber war die religiöse. Bereits 1902 prägte ich das Schlagwort ,religiöse Kul-
tur', wie überhaupt das Wort ,Kultur' durch die Bücher meines Verlages neues Leben
empfing und so zum modernen Schlagwort wurde. Es war von entscheidender Bedeu-
tung, dass ich bereits 1903 Meister Eckehart neu herausbrachte [...]."43
Die Jahre 1901 bis 1903 bezeichnen eine Periode der langsamen Umorientierung des
Verlegers, der sein Bestreben nach „Universalität der Welterfassung" und die Suche
nach „etwas, was dem Leben Sinn und Inhalt gibt", durch die direktere Hinwendung
zum Religiösen und zur Mystik zu befriedigen suchte.44 An seinen wichtigsten religiö-
sen Verlagsautor, den protestantischen Dissidenten Arthur Bonus, schrieb er zum 31.
Oktober 1901, dem Reformationstag: „Glauben Sie nicht, dass ich Neuromantik als das
Ziel aller Entwicklung ansehe, ich glaube, wir sind uns darin sehr einig. Aber warum
sollte sie nicht mit zum Aufbauen des heutigen Menschen gehören? Ebenso wie die
Mystik."45 Einem Theologen, der bei ihm veröffentlichen wollte, gestand er ein Jahr
später: „Ich habe Bedenken, dass ich damit in ein zu rein religiöses Fahrwasser mit
meinem Verlag komme. Ich möchte nicht wie die Romantiker mit meinem Verlag als
Stürmer und Dränger beginnen und dann mit der Kirche enden. Bei dem Wort Christus
werde ich eigentlich immer etwas nervös [...] Nun bringe ich jetzt soviel Mystiker in
Neuausgaben, dass ich etwas Scheu davor habe, mein Verlagsschifflein mit den kirchli-
chen Begriffen ,Gott' und ,Christus' noch mehr zu überlasten [...] Und dann kommen
wieder die Bedenken, dass ich mit meinem Verlag zu sehr ins Spekulative hineinkom-
me und mich zu sehr vom wirklichen Leben entferne. Deshalb darf ich auf keinen Fall
zu ausschließlich in religiöses Fahrwasser geraten."46
Zwischen beiden Briefen lag bei Diederichs die Lektüre von Ricarda Huchs Werk
zur Romantik, vor allem die des zweiten Bandes über den ,Verfall' jener literarischen
Bewegung. Über dieses Leseerlebnis schrieb er seinem ,neuromantischen' Spitzenautor
Maurice Maeterlinck, „es ersetzt beinahe, dass man unsere Romantiker selbst liest.
Meine eigene innere Entwicklung ist durch das Buch sehr beeinflußt worden".47
Dies gilt auch für die Selbstzweifel am bis dahin für ihn maßgeblichen Neuroman-
tikverständnis, der durch die zeitgenössische, nahezu inflationäre Verwendung des Be-
griffs weiter gesteigert worden sein dürfte: „Ich meine, es ist noch eine große Frage,
welche Entdeckung die größere ist, die des Entwicklungsgesetzes oder die von der Kraft
des Unbewußten, wie sie den Romantikern zuerst aufging. Die Romantiker wurden mit
dieser Entdeckung nicht fertig, sie gingen daran unter, weil sie sich vom Unbewußten
zu sehr treiben ließen, statt es eben erkenntnismäßig zu beherrschen und zu werten. Und
ich meine: alles Gerede über Religion und Gottschauen hilft nichts, wenn es nicht das
Problem behandelt: in welchem Verhältnis steht unsere Willensfreiheit zum Unbewuß-
ten und wie können wir durch einen auf Erkenntnis beruhenden Willen das Unbewußte
so leiten, dass dadurch Gott zu immer mehr sichtbarem Ausdruck kommt."48
Diederichs begann schon vor dem Umzug nach Jena, in Distanz zur neuromantischen
Modeliteratur zu gehen, seine eigene Idee des Romantischen zu klären und durch das
Konzept des ,Klassischen' zu erweitern. „Schiller und die Romantiker sind die eigentli-
chen Väter einer künstlerischen Kultur" schrieb er später und deutete damit die Ideen-
und Autorenkonstellation an, die er seit 1904 in Jena bewusst propagierte.49 Sein Enga-
gement für die zeitgenössische Neuromantik endete in diesen Jahren auch auf andere
Weise: Er machte die alten Romantiker durch neue Ausgaben bekannter. Drei Jahre
nach dem Novalis-Jahr 2001 sei daran erinnert, dass dazu auch eine seinerzeit „definiti-
ve"50 Ausgabe der Werke dieses Frühromantikers gehört hat.
Will man das gesamte, hier nur in Auszügen skizzierte Engagement des Verlegers für
Romantik und Neuromantik einschätzen, so drängt sich ein Aphorismus Friedrich
Schlegels aus dem Jahre 1800 geradezu auf: „Viele Werke der Alten sind Fragmente
geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei ihrer Entstehung."51
Eugen Diederichs an Maurice Maeterlinck, 28. Oktober 1903, in: Leben und Werk. Ausgewählte
48
Briefe und Aufzeichnungen, ebd., 89.
Eugen Diederichs an Julius Konstantin von Hoeßlin, 23. November 1903, in: Leben und Werk.
49
Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, ebd., 93.
Dazu Ulf Diederichs, „Jena und Weimar als verlegerisches Programm. Über die Anfange des Eu-
gen Diederichs Verlages in Jena", in: Jürgen John/Volker Wahl, (Hg.), Zwischen Konvention und
50
Avantgarde, 51-80.
51
Zeitgenössische Kritik, zit. bei Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 519.
Friedrich Schlegel, Werke in zwei Bänden, Berlin/Weimar 1988, Bd. 1, 192.
IL „[...] gegen die Verlogenheit
Jahrtausenden"?
von
Friedrich Nietzsche und seine Interpreten
VIII. Internationales Dortmunder Nietzsche-Kolloquium
6.-8. August 2003
Andreas Urs Sommer
„Ecce homo!" soll der römische Statthalter Pilatus nach dem Passionsbericht des Jo-
hannes ausgerufen haben, als er den gegeißelten, mit Dornenkrone und Purpurkleid
angetanen Jesus von Nazareth dem aufgebrachten Volk vorführen ließ (Johannes 19,5).
Ecce homo lautet bekanntlich auch der Titel von Friedrich Nietzsches ironischer (?)
Autohagiographie, jenem Werk, das die Welt vorbereiten sollte auf den „zerschmet-
ternden Blitzschlag der Umwerthung, der die Erde in Convulsionen versetzen wird"
(KSA, EH, 6, 363f). In dieser „Umwerthung aller Werthe" nun, in Nietzsches Anti-
christ nämlich,' kehrt die ,Ecce homo'-Situation des Johannesevangeliums wieder,
wenn auch eigentümlich transformiert. Zwar steht nicht Jesu Leidensweg im Zentrum,
wohl aber, ziemlich genau in der arithmetischen Mitte des Textes, „der psychologische
Typus des Erlösers" (KSA, AC, 6,199). Nietzsche führt uns einen ganz neuen Jesus vor,
einen, der bis dahin weder von der kirchlichen Tradition, noch von Nietzsche selber so
gesehen worden ist. Dieses Zeigen, dieses Vorführen des „Typus Jesus" (ebd.) entbin-
det Nietzsche von einer konventionellen wissenschaftlichen Annäherung an den rätsel-
haften Mann aus Nazareth, wie sie die historisch-kritische Exegese etabliert hatte.
Die ,Ecce homo'-Situation der johanneischen Leidensgeschichte ist in der von Nietz-
sche verwerteten Fachliteratur zwiespältig beurteilt worden. In Daniel Schenkels Cha-
rakterbild Jesu, das Nietzsche schon in seinen Bonner Studententagen durchgearbeitet
hatte,2 heißt es zu Johannes 19,5, Pilatus habe versucht, „das Mitgefühl der jüdischen
Gegner Jesu in Anspruch zu nehmen, [...] und liess Jesus aufs grausamste misshandeln,
um das Mitleid seiner Feinde zu wecken; ein Verfahren, welches allerdings von keiner
besonders tiefen Kenntniss des menschlichen Herzens zeugte."3 Bei Ernest Renan, des-
Den Briefen an Georg Brandes vom 20. November 1888 (KSB 8, 482) und an Paul Deussen vom
26. November 1888 (ebd., 492) ist zu entnehmen, dass Nietzsche gegen Ende 1888 im Antichrist
die ganze „Umwerthung aller Werthe" vollendet sah.
!
Zu den Einzelheiten der Schenkel-Rezeption: Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der
Antichrist" Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 271f, 279, 284f und 322.
Daniel Schenkel, Das Charakterbild Jesu. Ein biblischer Versuch, Wiesbaden2 1864, 300. Unter
.
Nietzsches Büchern hat sich die dritte Auflage des Werkes (1864) erhalten (Max Oehler, Nietzsches
Bibliothek. Vierzehnte Jahresgabe der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942, 23).
76 Andreas Urs Sommer
sen Vie de Jésus von 1863 trotz aller Polemik eine entscheidende Quelle für das Jesus-
Konstrukt im Antichrist gewesen ist,4 wird die Geißelung, Dornenkrönung, Verspottung
und Vorführung Jesu zum letzten Akt im Bestreben des Statthalters, Jesus vor dem
Blutdurst des Mobs zu retten: „il voulut tourner la chose en comédie."5 Die für Jesus
vermutlich erniedrigende Szene als blutige Komödie, ausgerichtet zu seinem eigenen
Besten? Dieser Quellenbefund und der Kontext, in dem der ,Ecce homo'-Ausspruch im
Johannesevangelium steht, raten zur Vorsicht bei der Deutung der ,Ecce homo'-
Situation im Antichrist und des Titels von Nietzsches Autohagiographie.6 Nur isoliert
betrachtet oder ,übercodiert' durch die christologische Deutungsgeschichte, klingt die
Pilatus zugeschriebene Äußerung bewundernd, ja ehrfurchtsvoll, zumal in der Überset-
zung Luthers: „Sehet, welch ein Mensch!"7 Der Zusammenhang des Passionsberichts
macht ein solches Bewundertwerden Jesu durch Pilatus allerdings wenig wahrschein-
lich, ist es der Statthalter doch selbst, der Jesus quälen und verhöhnen lässt. Er führt die
königlichen und messianischen Interpretationen Jesu durch die Dornenkrönung ad ab-
surdum. So bekommt der Ausspruch einen anderen Klang: Sehet, nur ein Mensch, kein
König der Juden, kein Messias! Das von Pilatus angewandte Verfahren hat den Zweck,
das zu widerrufen, was die Anhänger ebenso wie die Gegner von Jesus zu wissen glaub-
ten. Das Verfahren widerruft das messianische Selbstverständnis des johanneischen
Jesus, nach der Lesart des Evangelisten in der immerhin achtenswerten Absicht, den
Menschen Jesus vor dem mordlüsternen Pöbel zu bewahren. Indem Pilatus die Vorfüh-
rung Jesu als blutige Komödie, als monströse Travestie inszeniert, werden die landläu-
figen Jesus-Deutungen gleichzeitig unterlaufen und überboten. Das, was Jesus von sich
selbst zu wissen glaubt, soll ebenso entplausibilisiert werden wie die Erwartungen der
Anhänger und Gegner Jesu: Nur ein Mensch, nicht mehr, nicht weniger.
Es ist kein Zufall, dass Nietzsches Antichrist zufolge, der Pilatus des johanneischen
Passionsberichts die „einzige Figur" „im ganzen neuen Testament" ist, „die man ehren
muss": „Einen Judenhandel ernst zu nehmen dazu überredet er sich nicht." (KSA,
AC, 6, 225). „Der vornehme Hohn eines Römers" (ebd.) sei es, der aus der skeptischen
-
Frage nach der Wahrheit spreche, die Jesus unverschämt für sich in Anspruch nimmt.
Diese Frage „Was ist Wahrheit?" (Johannes 18,38) zersetzt die göttlichen Aspirationen,
die zumindest der Evangelist seinem Heiland zuschreibt und erweist sich als integraler
Bestandteil der Desillusionierungs- und Abwiegelungsstrategie, mit der der Statthalter
das Problem Jesus zu lösen hofft, vielleicht weniger, wie Schenkel und Renan glaubten,
aus dem mitmenschlichen Empfinden, Jesus retten zu wollen, denn aus Staatsräson, aus
dem Willen, das unruhige Palästina endlich zu pazifizieren. Von Sentimentalität oder
Mitleid wird der Pilatus des Antichrist kaum angefochten: „Ein Jude mehr oder weniger
was liegt daran?" (KSA, AC, 6, 225). Eine Nachlassnotiz vom Frühjahr 1884 macht
deutlich, welche Welten da aufeinanderprallen: „Es wird erzählt daß der berühmte Stif-
-
ter des Christenthums vor Pilatus sagte ,ich bin die Wahrheit'; die Antwort des Römers
daraufist Roms würdig: als die größte Urbanität aller Zeiten" (KSA, NF, 11, 100).8 Der
Typus des Pilatus wird auf ähnliche Weise dem Neuen Testament extrahiert wie der
„psychologische Typus des Erlösers", von dem es heißt, er „könnte ja in den Evangelien
enthalten sein trotz den Evangelien" (KSA, AC, 6, 199): Das Neue Testament muss
gegen die durchsichtigen Parteiinteressen seiner Verfasser gelesen werden; der unerbitt-
liche Leser Nietzsche kehrt die Autorenintentionen um: „erster Eindruck des neuen
Testaments. Man nimmt Partei für Pilatus und dann, beinahe, für die Schriftgelehrten
und Pharisäer" (KSA, NF, 12, 207).
Pilatus verkörpert, neben Zarathustra! (KSA, AC, 6, 236), im Antichrist jene Skepsis
der Stärke, auf die der 54. Abschnitt des Werkes ein Hohelied anstimmt. Skepsis heißt
im Falle des Pilatus, sich gegen die Bedeutungszumutungen zu verwahren, mit denen
man einem Phänomen, Jesus von Nazareth, zu Leibe rückt. Dabei spielt es erst gar kei-
ne Rolle, ob es sich um die Bedeutungszumutungen wohl- und übelwollender Dritter
handelt, oder um die Bedeutungszumutung der Selbstdeutung. Stellt Pilatus gar ,J£phe-
xis in der Interpretation",9 „die Kunst, gut zu lesen", „Thatsachen ablesen [zu] können,
ohne sie durch Interpretation zu falschen" (ebd., 233), unter Beweis? Der Statthalter
beschränkt sich auf den deiktischen Gestus, das Hinweisen, das Zeigen: „Sehet, ein
Mensch!" Nichts mehr, nichts weniger. Doch genug, um die allseitigen Bedeutungszu-
mutungen zu neutralisieren und in die Privatheit der jeweils Urteilenden abzudrängen:
Für das Römische Reich und für den Inhaber der Blutgerichtsbarkeit sind die Projektio-
nen, was Jesus ,in Wahrheit' sein könnte, Gottessohn, Messias, König der Juden, Auf-
'
Auch KSA, NF, 12, 381: „Pilatus die einzige honnête Person, sein dédain vor diesem Juden-
Geschwätz von .Wahrheit', als ob solch Volk mitreden dürfte, wenn es sich um Wahrheit handelt,
sein a yeypacpa, sein wohlwollender Versuch, diesen absurden Attentäter los zu geben, in dem er
schwerlich etwas anderes sehen konnte als einen Narren...sein Ekel in Hinsicht auf jenes nie genug
zu verurtheilende Wort ,ich bin die Wahrheit'".
Zur Ephexis als skeptischer Urteilsenthaltung: Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist",
510-512.
78 Andreas Urs Sommer
rührer, Gotteslästerer, ohne Belang. Ein Mensch „mehr oder weniger was liegt dar-
an?" (ebd., 6, 225).
-
Nietzsches antichristliche Lesart des Phänomens Jesus eifert dem pilateischen Zei-
gen, der ,Ecce homo'-Vorführung nach. Allerdings reichert der Philosoph seine Lesart
um Elemente an, die das Spezifische, die Individualität, aber auch die
Typenhaftigkeit
Jesu profilieren sollen. Freilich unterläge man einem Irrtum, hielte man dieses De-
monstrationsverfahren, das sich gegen die Interpretationsangebote der Kirche ebenso
abgrenzt wie gegen die der moralisch interessierten, historisch-kritischen Exegese, für
einen Selbstzweck. Nur eine oberflächliche Lektüre der Antichrist-Abschnitte 28 bis 35
kann zur Ansicht verleiten, Nietzsche wolle (s)eine persönliche Jesus-Frömmigkeit
gegen den kirchlichen oder moralisch-exgetischen Überbau in Schutz nehmen. Gewiss
räumt er die fortdauernde Möglichkeit eines Lebens nach der Vorgabe Jesu ein: „bloss
die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich
... Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig:
das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein" (ebd.,
211). Wer jedoch einen solchen Passus als Bekenntnis zu einer jesuanischen praxis
pietatis oder praxis vitae abbucht, überliest geflissentlich, dass mitnichten das im Anti-
christ mit herrischer Gebärde immer wieder das Wort an sich reißende ,Ich' man wird
streiten, inwiefern es mit dem Autoren-Ich identisch ist hier davon redet, es empfehle
-
oder lebe diese jesuanische Existenzform.10 Bislang ist in der Forschung das (vermutlich
-
wältigt der sonderbar kindliche Mann aus Nazareth laut Antichrist nicht dadurch, dass
er sich und seiner Welt moralische, metaphysische oder religiöse Lehren vorschreibt,
sondern mit Hilfe einer neuen, ganz einfach gelebten „Praktik" (ebd., 205). Die „Prak-
tik", alle Distanz zur Welt, zu sich und den Mitmenschen aufzugeben, stellt das noch
immer ,mögliche' Christ-, das heißt Jesuanisch-Sein dar, welches den dazu Disponier-
ten zu allen Zeiten möglich sei. Antichrist-Sein heißt jedoch Partei- und Distanzneh-
men, heißt Kriegführen. Was der angeführte Passus konzediert, ist mitnichten die gläu-
bige Versenkung in Leben und Sterben des Erlösers, sondern eine Praxis der
Selbsterlösung, die unter gewissen Dekadenzbedingungen, wie die Leidensverwin-
dungspraxis Buddhas12, angezeigt scheint, ohne freilich eine vom ,Ich' des Antichrist
privilegierte Praxis zu sein. Wer Christsein als Selbsterlösung mittels Aufgeben aller
Distanz begreift und verwirklicht, dem werden Christsein und Existenzberechtigung
zugestanden.
Das heißt, Nietzsches Lesart unterläuft oder überbietet die herkömmlichen Interpreta-
tionen Jesu, indem es ihn aus der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte herausoperiert,
eine Heilsgeschichte, die Der Antichrist als erschreckend gradlinige Abfolge des Un-
heils ans Licht stellen will. Man folgte bei Pilatus wie bei Nietzsche freilich einer fal-
schen Fährte, wollte man vermuten, das Hinweisen auf den von allen Schlacken interes-
sierter Interpretationen gereinigten Jesus sei ganz interesselos und ausschließlich dem
Bestreben geschuldet, ein bestimmtes historisches Phänomen vor den Zumutungen
seiner Fehldeutungen zu retten. Bei Pilatus ist das darf man aus der Darstellung in
Antichrist 46 ableiten vielmehr das Interesse wirksam, das alte, vorsklavische Wertge-
-
füge, die Ordnung der antiken, römischen Zivilisation gegen die Angriffe aus der Ecke
-
des antirömischen Traditionsjudentums als auch aus der Ecke der anarchistischen Jesua-
ner-Sekte zu sichern. Die Strategie des Pilatus besteht zunächst darin, Jesus als Narren zu
verharmlosen, der als solcher die Todesstrafe nicht verdient. Das ,Ecce homo'-Wort
degradiert den vorgeblichen Erlöser oder Blasphemisten zu einem Menschen unter Men-
schen; seine Individualität wird unter der verallgemeinernden, im Hinblick auf die Hei-
landsprojektionen verächtlichen Gattungsbezeichnung ,Mensch' weggekürzt. Die Skep-
sis des Pilatus dient der Renormalisierung Jesu. Als er scheitert und seine eigene
Autorität ins Wanken gerät, muss der Statthalter dem aufrührerischen Volk doch willfah-
ren, um seine eigenen Ordnungsinteressen zu schützen.
Nietzsches Erlösertypologie gibt Jesus demgegenüber seine radikale Individualität
zurück, um den verallgemeinernden Eingemeindungen, die ihm von Seiten der apostoli-
schen und paulinischen, später kirchlichen Deutungspraxis widerfahren sind, den Le-
bensnerv durchzuschneiden. Der von der ,Psychologie des Erlösers' vorgestellte
Mensch ist ein ,Typus', aber als solcher im Vergleich zu (fast) allen anderen Menschen
singular. Die antichristliche Skepsis stellt diese Singularität heraus und macht die durch
die Gattungsbezeichnung ,Mensch' herbeigeführte Komplexitätsnivellierung rückgän-
gig, weil ihre Interessen situativ anders gelagert sind als die des Pilatus: Während dieser
Der Antichrist, 20-23. Dazu: Andreas Urs Sommer, „Ex oriente lux? Zur vermeintlichen
.Ostorientierung' in Nietzsches Antichrist", in: Nietzsche-Studien, Bd. 28 (1999), 194-214; Micha-
el Skowron, „Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien", in: Nietzsche-Studien, Bd. 31
(2002), 1-39.
80 Andreas Urs Sommer
eine bestehende Ordnung erhalten will, will das antichristliche ,Ich' eine bestehende
Ordnung, die als widernatürliche gebrandmarkte Ordnung der christlichen Moral, mit
allen Mitteln destabilisieren. Ein solches Mittel ist die radikale Individualisierung Jesu,
von dem gezeigt werden soll, dass er mit keinem der kruden Begriffe gefasst werden
kann, die bislang auf ihn angewendet worden sind. Hier wäre die Luther-Übersetzung
des Pilatus-Wortes angebracht: „Sehet, welch ein Mensch!"
,,[D]ie Geschichte des Christenthums und zwar vom Tode am Kreuze an ist die
Geschichte des schrittweise immer gröberen Missverstehns eines ursprünglichen Sym-
- -
bolismus" (KSA, AC, 6, 209). Hier kommt ein neues Element ins Spiel: nicht mehr
Jesus als Phänomen, als deutungsbedürftiges Zeichen, sondern Jesus als zeichensetzen-
des Individuum,13 dessen Zeichen freilich tragischen Missdeutungen, Überzeichnungen
ausgesetzt waren: „die ersten Jünger in Sonderheit übersetzten ein ganz in Symbolen
und Unfasslichkeiten schwimmendes Sein erst in die eigne Crudität, um überhaupt Et-
was davon zu verstehn, für sie war der Typus [des Erlösers] erst nach einer Einfor-
mung in bekanntere Formen vorhanden" (ebd., 202). Die exzessiv bemühte Überset-
-
13
Dazu Werner Stegmaier, „Nietzsches Zeichen", in: Nietzsche-Studien, Bd. 29 (2000), 57f„ der die
Zeichengebungskraft Jesu in stärkerer Analogie zu Nietzsches eigener Zeichengebungskompetenz
stehen sieht, als mir das ratsam scheint.
Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung 81
lebt, er wehrt sich gegen Formeln." Glaubensvoraussetzung scheint die ,„gute Bot-
schaft'" zu sein, „dass es keine Gegensätze mehr giebt; das Himmelreich gehört den
Kindern" (ebd.). Die Botschaft fallt mit dem Glauben zusammen; es gibt kein zeitliches
oder logisches Folgeverhältnis zwischen ,guter Botschaft' und ,Glaube'. Beide stehen
in keiner kausalen Abhängigkeit voneinander wie das spätestens von Paulus an der Fall
sein wird: Dort ist zuerst die Botschaft da, als Informationseinheit, die übermittelt wer-
den muss. Angekommen ist sie, wenn die Empfänger sie nicht nur gehört, sondern ver-
innerlicht haben. In ein derartiges Absender-Information-Adressaten-Schema lassen
sich weder ,Glaube' noch ,Botschaft' Jesu, wie sie Nietzsches Antichrist wiedergibt,
einordnen. Jesus ist mit seiner Botschaft und seinem Glauben identisch. Der Glaube
wird im Text nie direkt als ,sein Glaube', als etwas Jesus Gehörendes und Verfügbares
charakterisiert. Es handelt sich um einen Glauben, in dem alle Gegensätze aufgehoben
sind, auch die zwischen Subjekt und Objekt, Empfindendem und Empfundenem, Glau-
bendem und Geglaubtem.
Jesus als ,freier Geist' ist auf keine feststehenden Realitäten angewiesen; seine
„Symbolik" hat mit den Symbolen der Dogmatik nur insofern etwas zu tun, als letztere
die verfälschende Festschreibung dessen ist, was sich nicht festschreiben lässt. Die
Parabeln Jesu verbergen, wie bereits Bruno Bauer erkannt hat, viel mehr als sie verdeut-
lichen14, und Jesus lehrte nach evangelistischem Zeugnis ausschließlich in Parabeln.
Schon die Form der ,Lehre' Jesu steht in Widerspruch zu dem, was man daraus meinte
codifizieren zu können. Es fehlt, so die antichristliche Analyse, jede Eindeutigkeit einer
Lehre. Jesu ,Symbolik' ist jenseits von Religion und Kult, Wissenschaft und Politik,
Kunst und Literatur angesiedelt, liegt außerhalb der Welt „sein ,Wissen' ist eben die
reine Thorheit darüber, dass es Etwas dergleichen giebt" Von Weltverneinung, wie sie
-
sich das Christentum später auf die Fahne schreiben sollte, könne bei Jesus noch keine
Rede sein, „er hat den kirchlichen Begriff ,Welt' nie geahnt" (ebd., 204). Allen Dingen
dieser Welt, dem Staat, der Gesellschaft, der Arbeit, dem Kriege steht Nietzsches Erlö-
ser' indifferent gegenüber; er nimmt kein Umwertungs- oder Umfälschungswerk vor,
wie es im antichristlichen Geschichtsbild das Judentum eingeleitet und Paulus vollendet
hat. Was der Mann aus Nazareth anbietet, ist nicht eine neue Bewertungsweise des
Daseins und der Realität, sondern schlicht eine ,Praktik', mit der sich leben lässt, ohne
dass man aus Überempfindlichkeit an der Welt zugrunde geht. So hat Jesus auch nichts
zu beweisen,
jedenfalls keine „,Wahrheit' durch Gründe". Er spricht bloß in Bildern
„vom Innersten: ,Leben' oder ,Wahrheit' oder ,Licht' ist sein Wort für das Innerste".
Wie aber ist für denjenigen, der sich nicht in die Begriffslosigkeit flüchtet, das Begriffs-
lose zu fassen? Das antichristliche ,Ich' bringt das auf Begriffe, wofür Jesus die Begrif-
fe fehlen. Jesus wird ein uneigentlicher Begriffsgebrauch attestiert, der nichts so meine,
wie es klinge. Der Text spricht, dies mag erstaunen, nicht von Wörtern oder Worten, die
Jesus verwende, sondern mehrfach von „Begriffen" (ebd., 203), die ganz zufällig seien:
Siehe Albert Schweitzer, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1906/1913), in: ders., Gesam-
melte Werke in fünf Bänden, Bd. 3, Zürich 1974, 247. Zu Nietzsches Beziehung zu Bauer: Andreas
Urs Sommer, „Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts", in: Henning Ottmann (Hg.),
Nietzsche-Handbuch. Leben Werk- Wirkung, StuttgartAVeimar 2000, 413.
-
82 Andreas Urs Sommer
„Unter Indern würde er sich der Sankhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Laotse
bedient haben" (ebd., 204). Jesu Begriffe begreifen nichts, sie weisen nur hin.
Bis hierher haben wir uns mit den Interpretationen beschäftigt, die Jesus als einer Figur
im christlich-antichristlichen Weltdrama im Laufe der Geschichte zuteil wurden. Mar-
kante Stationen waren die skeptische Interpretation durch Pilatus, die Interpretationen
der unmittelbaren Herrenjünger sowie des paulinischen und nachpaulinischen Christen-
tums, schließlich die Interpretation in Nietzsches Antichrist, die sich von den Jesus-
Bildern in früheren Werken Nietzsches unterscheidet15 und zu insinuieren scheint, in
„liebevoller und vorsichtiger Neutralität" die (mögliche) Selbstdeutung Jesu wieder-
zugeben. Mit Max Weber zu reden,16 es bestehe in der ,Psychologie des Erlösers' zwar
eine ,Wertbeziehung' des antichristlichen ,Ichs', im Hinblick auf die Auswahl des Ge-
genstandes und dessen angenommene ,Kulturbedeutung'; es unterbleibe aber im Hin-
blick auf das Seinsollen dieses Gegenstandes ein Werturteil: ,Identifikation' oder Ver-
urteilung findet gerade nicht statt. Die im Titel des Beitrages genannte Hermeneutik der
Urteilsenthaltung, die ich als skeptische Strategie in der antichristlichen ,Psychologie
des Erlösers' zu finden glaube, bedeutet nicht Wertbindungsfreiheit, aber doch Wertur-
teilsenthaltung im Hinblick auf das Seinsollen des untersuchten Gegenstandes. Solche
Werturteilsenthaltung ist sonst nicht das Kennzeichen der Streitschrift Der Antichrist,
die bei der Erörterung des nachjesuanischen Christentums auf jeder Seite allerentschie-
denste Werurteile fallt. Als Polemik will Der Antichrist schwerlich ein Beispiel geben
für die später beschworene „Philologie als Ephexis in der Interpretation", als Tatsa-
chenablesekunst (ebd., 233). Die .Psychologie des Erlösers' ist im Gesamtgefüge des
Antichrist die große unpolemische Ausnahme, die bei aller Kühnheit der Konjekturen in
der Rekonstruktion des Erlösertypus jene wissenschaftlich-philologische Urteilsenthal-
tung exemplifiziert, die ansonsten in dem mit viel Bedacht komponierten Werk fehlt
und wohl auch fehlen soll. Was allerdings nicht heißt, dass sich die Erlöserpsychologie
nicht in übergeordnete polemische Zusammenhänge einfügen ließe. Sie ist, ihrer intrin-
sischen Neutralität wegen, für derlei Instrumentalisierungen vielmehr ausgesprochen
anfällig. Mit einem Jesus, wie ihn die ,Psychologie des Erlösers' zeichnet, bricht einem
sich auf diesen Jesus berufenden Christentum als Glaubensgemeinschaft und Heilsan-
stalt der Boden unter den Füßen weg.
Nun wirft das Tagungsthema nicht die Frage nach Jesus und seinen Interpreten, son-
dern nach Nietzsche und dessen Interpreten auf. Mit solchen habe ich mich in den bis-
herigen Ausführungen erst da und dort herumgeschlagen, auch meine Divergenzen zum
Interpretationskanon deutlich gemacht. Ich will etwas weiter bohren, unter dem Ge-
sichtspunkt, ob es, wie man im Geist ,poststrukturalistischer' Lektüren ohne weiteres
annehmen könnte, nicht angebracht sei, Nietzsches Antichrist im Ganzen als ironisch,
uneigentlich, nicht als begriffliche Sedimentierung einer Umwertungstätigkeit zu ver-
stehen. Will man das vertreten, scheint sich der Rekurs auf das laut der ,Psychologie
In dieser Lesart ist Jesus ein nihilistischer Relativist, der nichts ernst nimmt, sich aller
Konkretion verweigert und in der vorbegrifflichen Unbestimmtheit verharrt, lässig dar-
auf verzichtet, seine Existenz zu realisieren. Nietzsche wäre auf derselben Hochebene
anzutreffen, ein Spieler mit unzähligen Möglichkeiten, ohne einer einzigen, konkreten
die Präferenz zu geben. Wenn er, aus einer Laune heraus, den Part des ,Antichrist' ü-
bernehme, spiele er seine Rolle zweifellos gut, ohne aber dem, was er als ,Antichrist'
skandiere, selber Glauben zu schenken. Nietzsche führe die Sache durch, um die Ab-
surdität beider Positionen, aller Positionen seinen Zuschauern zu demonstrieren. Selbst
bleibe er dem Multiperspektivismus treu, wie Jesus, der keine Perspektive bevorzuge
und sich im permanenten Nichtentscheiden übe. Jesus sei das Alter ego Nietzsches, der
in der Psychopathologie des Erlösers seine eigene Psychopathologie aus der Perspektive
der physiologischen Monoperspektivisten bewusst vorwegnehme.
So leicht lässt sich die Dekonstruktion von Nietzsches Antichristentum anhand der
,Psychologie des Erlösers', wie ich sie als advocatus deconstructivismi probehalber
exponiert habe, nicht bewerkstelligen. Jesus selber, wiewohl décadent, redet im Anti-
christ mit seinem uneigentlichen, nicht wörtlich gemeinten Sprechen keiner Beliebig-
keit das Wort; er ist kein Nihilist, dem es auf gar nichts mehr ankäme. Seine Sprache ist
nicht die des Wortes, das ohne Übertragungsstörungen ausdrücken könnte, was Sache
ist. Tatsächlich kehrt im ,freien Geist' Jesus Nietzsches eigene Sprachskepsis wieder,
die beim Erlöser nicht durch Reflexion auf die (fehlende) Erkenntniskraft der Sprache
bedingt ist. Der Mann aus Nazareth denkt nicht über die Sprache nach und kommt dann
zum Schluss, dass sie als Ausdruck dessen, was er zu sagen habe, inadäquat sei. Er
verwendet, wie Nietzsche, diese Sprache, aber sie hat, wie „die ganze Realität, die gan-
ze Natur [...] für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses". „Der Begriff,
die Erfahrung ,Leben' widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube,
Dogma" (ebd., 204).17 Also leitet ihn auch im traditionellen Sinn kein ,Glaube' mehr,
17
Das schließt an Leo Tolstoi, Ma religion, Paris 1885, 221, an; vgl. Andrea Orsucci, Orient Okzi-
dent. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996, 335,
-
und, unter Berufung auf Ernst Benz, Georges Goedert, Nietzsche. Disciple de Dionysos. Une intro-
duction à son œuvre, Bruxelles 2001, 206.
84 Andreas Urs Sommer
sein eigener .Glaube', sein Zustand ist etwas Grundverschiedenes. Und um jene „Erfah-
rung .Leben'" (ebd.) geht es Jesus; sie ist nicht durch Lehre, sondern nur durch Praktik
zu vermitteln. Sein Beispiel muss wirken, nicht sein Wort. Dass es nicht gewirkt hat, ist
den interessegeleiteten Fehldeutungen anzulasten.
Nietzsches Jesus, obgleich „mit einiger Toleranz im Ausdruck" ein Freigeist,18 geht
es um das Geschehenlassen, die Auflösung aller Gegensätze in seinem praktizierten
Nicht-Wollen. Nietzsche hingegen, soweit wir seinen Aussagen im Spätwerk trauen und
nicht über alles den Schleier der Uneigentlichkeit breiten, will Machtwillen realisieren,
will wollen, will die Realität, die von Jesus, „diesem Anti-Realisten" (ebd., 203), nicht
gesehen und von Paulus weggelogen wurde. Diesen Realitätsbezug erhält sich der Anti-
christ, indem er sprechend zupackt, nicht uneigentlich spricht, sondern in seinem Spre-
chen neue Werte setzt. Mit bloßem Passivismus des Alles-Zulassens begnügt er sich
ebenso wenig wie mit einem Perspektivismus der Unverbindlichkeit. Das Zeichen .Je-
sus' ist ein extremer Gegentypus zum Zeichen ,Antichrist', aber kein selbstwider-
sprüchlicher wie Paulus, der die Welt zu erobern trachtet, indem er sie negiert.19 Jesus
fehlt im Antichrist jeder Wille zur Macht.20
Lassen Sie mich zur abschließenden Markierung der Differenz vom ,Typus des Erlö-
sers' und antichristlichem .Ich' ein paar Bemerkungen zum .Pathos der Distanz' an-
bringen. Mit dieser Formel wird in Antichrist 43 und 57 zunächst das Selbstbewusstsein
der vornehmen Menschen, von andern Menschen geschieden zu sein, zum Ausdruck
gebracht. Das Sich-Unterscheiden ist als notwendig anzuerkennen. Die Vornehmen
(und die Philosophen) werden wer sie sein sollen, indem sie sich von ihresgleichen und
den Unvornehmen unterscheiden und unterschieden wissen: „Man übertreibt nicht,
wenn man das .Pathos der Distanz' als die básale ethische Grundregel für den von
Nietzsche geforderten .souveränen Menschen' versteht."21 Identität, so prekär und
schwankend sie sein mag, beruht auf Abgrenzung. Abgrenzung bedeutet Leiden so gut
wie Leidenschaft. Der Skeptiker im Sinne von Antichrist 54 dürfte das ,Pathos der Dis-
tanz' auf idealtypische Weise verkörpern. Vielleicht tut es Pilatus auch. Den ,Typus des
Erlösers' zeichnet demgegenüber die vollständige Abwesenheit vom .Pathos der Dis-
tanz' aus. Nach antichristlicher, dezidiert distanzierter Lesart verzichtet Jesus auf die
Entfaltung von Individualität durch Abgrenzung, auf alle „Grenzen und Distanzen im
Gefühl" (ebd., 200f.). Dem dadurch unvermeidlichen Leiden wäre er nicht gewachsen:
Die von ihm geübte „Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz" (ebd.) gründet
Bd. 30 (2001), 175-186. Noch immer unübertroffen: Jörg Salaquarda, „Dionysos gegen den Gekreu-
zigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus [1974]", in: ders., (Hg.), Nietzsche, Darmstadt
1996,288-322.
Gerd-Günter Grau, Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemässe Betrachtungen über Nietzsche,
Berlin/New York 1984, 199-201, 317-321; Werner Stegmaier, „Nietzsches Kritik der Vernunft
seines Lebens. Zur Deutung von Der Antichrist und Ecce homo", in: Nietzsche-Studien, Bd. 21
21
(1992), 172f.
Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 6.
Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung 85
auf dem Unvermögen zum Widerstand. Jesus bleibt Kind und daher distanzunfähig.22
So erscheint er aus antichristlicher Sicht als Inbegriff des Unvornehmen. 1887/88 denkt
Nietzsche in einer Nachlassnotiz über das von ihm wieder ans Tageslicht geförderte
jesuanische Ideal nach und fragt nach seinem Wert:23 „Welche Werthe werden durch
dasselbe negirt: was enthält das Gegensatz-Ideal? Stolz, Pathos der Distanz, die grosse
Verantwortung, den Übermuth, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und erobe-
rungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des
Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkennmiss...: das vornehme Ideal wird negirt"
(KSA, NF, 13, 159).24 Diesem vornehmen ,Gegensatz-Ideal' huldigt das antichristliche
,Ich' (ungeachtet der Frage, wie das ,Ich' zum historischen Autorsubjekt Nietzsche
stehen mag); dieses ,Ich' ist leidenschaftlich distanznehmend und wird dadurch, dass es
leidenschaftlich Distanz nimmt, das, was es ist. ,Pathos der Distanz' dürfte zwar den
Abschied von metaphysisch-substantialistischen Subjektkonzeptionen implizieren, gibt
aber das Postulat einer nicht-substantialistischen Individualität und Subjektivität kei-
neswegs auf: Das Subjekt kann sich, wird man gegen poststrukturalistische Nietzsche-
Interpreten in Erinnerung rufen, allein generieren, indem es Distanz herstellt, sowohl
gegen außen wie gegen innen. Zu solcher Subjektivität fehlt dem ,Typus des Erlösers',
mit Fjodor Dostojewskij ein „Idiot" (KSA, AC, 6, 200), schon die Anlage, von einem
zur subjektiven Selbstkonstitution erforderlichen Willen ganz zu schweigen. Jesu Zei-
chen schaffen nach antichristlicher Deutung gerade keine Distanz, selber ist er kein
distanznehmendes Wesen. „Die Cultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt"
(ebd., 204); sie kann ihm nicht bekannt sein, stellt Distanz doch eine Möglichkeitsbe-
dingung für Kultur25 dar und für den programmatischen, trotz skeptischer Gegenreden
kaum geschmälerten Realismus in Nietzsches Spätwerk. Dies suggeriert, wenigstens auf
der rhetorischen Oberfläche, dass man über die Zeichen hinaus zu irgendeiner Realität
vorstoßen könne. Die in der ,Psychologie des Erlösers' durchgespielte ,Ecce homo'-
Situation ist der Versuch der klinisch-wissenschaftlichen Distanzierung, somit die
Kontrafaktur der absoluten Distanzaufgabe, der sich Jesus aus existenzieller Not beflei-
ßige. Das Zeichen ,Jesus' ist der im Antichrist vorgenommenen Selbstdeutung des Zei-
chens ,Nietzsche' genau entgegengesetzt.
Dazu ohne Bezug auf Nietzsches .Typus des Erlösers', Hans Blumenberg, Begriffe in Geschichten,
Frankfurt/M. 1998, 34: „Wie ein Mensch .erwachsen' wird und dabei so etwas wie ,eine Welt' be-
kommt, lässt sich zwar nicht erklären, doch beschreiben mit dem Begriff der Distanz. Was ,den
Erwachsenen' mit Wehmut im Rückblick auf die Kindheit erfüllt und ihm als das Unwiederbringli-
che an ihr erscheint, ist die verlorene Nähe zu den Dingen, bis zur Körperwärme im Wort- wie im
Übertragungssinn. Doch wem es gelänge, Kind zu bleiben und damit kindisch zu werden, der be-
käme nie eine Welt."
Man beachte, in Weberscher Terminologie, die Trennung von werturteilsfreier, .wissenschaftlicher'
Exposition des Ideals und von außerwissenschaftlicher (vielleicht philosophischer) Erörterung sei-
nes Wertes.
DasGegenbekenntnis zum jesuanischen Christentum folgt bald darauf: „Ein tüchtiger Soldat hat
umgekehrt keine Freude außer in einem rechtschaffenen Kriegfuhren und Feindseinwollen" (KSA,
NF, 13, 163).
Dazu: Odo Marquards Bestimmung von „Kultur als Arbeit an der Distanz" in einer Würdigung
Hans Blumenbergs (Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, 112).
86 Andreas Urs Sommer
Freilich könnte man auf, dies zum Schluss, Nietzsches Distanzversessenheit auch als
ein, den genannten, plakativen Realismus konterkarierendes und hintertreibendes Un-
ternehmen deuten. Man könnte sogar mutmaßen, Nietzsches Postulat der Distanznahme
sei eigentlich ein zeichenphilosophischer Pyrrhonismus, insofern es die Hoffnung ver-
abschiedet, in irgendetwas hinter dem Erscheinenden, dem zeichenhaft Gegebenen und
zeichenhaft Erschaffenen einzudringen. Auch für den, der laut der ,Psychologie des
Erlösers' alle Distanz aufgibt, gibt es nur Zeichen, keine Dinge, keine Welt dahinter.
Fallen so absolute Distanznahme und absolute Distanzlosigkeit am Ende in eins? „Ecce
homo"!
JOHANN FlGL
Der Titel des Referats hängt eng mit der Themenstellung des Kolloquiums zusammen:
in dem Abschnitt von Ecce homo, in dem sich Friedrich Nietzsche „gegen die Verlo-
genheit von Jahrtausenden" wendet, sagt er auch, dass in ihm ,,[n]ichts [...] von einem
Religionsstifter [ist]" (KGW, EH, VI 3, 363). Der Kontext der Aussagen verdeutlicht,
warum die dezidierte Abgrenzung gegenüber den Religionsstiftern erforderlich ist: es
ist die Religionsstiftern vergleichbare weltgeschichtliche Bedeutung, sein ,Schicksal',
die seiner Selbstdeutung, die sich einmal an seinen Namen und seine Botschaft (er ver-
steht sich als ,froher Botschafter", ebd., 364; vgl. ebd., 393) anknüpfen wird: „an eine
Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, gehei-
ligt worden war", und er fügt hinzu: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." (ebd.,
363). Genau an dieser Stelle betont er, dass mit alledem nichts von einem Religionsstif-
ter in ihm sei. Von diesen grenzt er sich schon im ,Vorwort' der späten Schrift ab, wenn
er über seinen Zarathustra sagt, dass „hier kein .Prophet', keiner jener schauerlichen
Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht [redet], die man Religionsstifter nennt"
(ebd., 257). Es ist zudem die in Nietzsches Selbstverständnis gegebene „Grundconcep-
tion" dieses Werkes, der ,£wige-Wiederkunfts-Gedanke" (vgl. ebd., 333), der eine Deu-
tung in Parallele zu religiösen Grundaussagen nahe legen könnte. Nietzsche nennt die-
sen Gedanken im Spätnachlass selbst „Religion der Religionen" (KGW, NF, VII 3,
208), die eine Abgrenzung bzw. Präzisierung des Begriffs ,Religion' verlangt.
Ausgehend von dieser Problemstellung möchte ich im folgenden auf zwei Aspekte
von Nietzsches Verhältnis zu Religionsstiftern eingehen: der erste zielt auf Nietzsches
Analyse und Kritik dieser geschichtlich bedeutsamen Persönlichkeiten; der andere ver-
sucht seinen Wiederkunftsgedanken darzustellen, sowohl in den Aspekten, wo er als
Gegensatz zu einer religiösen Daseinsdeutung profiliert ist, als auch in dem von Nietz-
sche explizierten Aspekt, ob und inwiefern diese ,Lehre' selbst ,Religion' genannt wer-
den kann.
Antwort auf diese Frage will ich in Form einer Interpretation dafür besonders ein-
schlägiger Texte Nietzsches geben. Zwei Textgruppen sind dies: einerseits aus Ecce
homo jene, in denen auf Zarathustra und dessen ,Grundconception', den Wiederkunfts-
gedanken, Bezug genommen wird, andererseits Nachgelassene Fragmente aus dem
88 Johann Figl
Umfeld der erstmaligen Nennung von Zarathustra und der Ewigen Wiederkunft des
Gleichen im Spätsommer 1881.
Interpretation wird später von ihm noch vertieft1. Im 5. Buch der Fröhlichen Wissen-
schaft (Aph. Vom Ursprung der Religionen) ist es die „eigentliche Erfindung von Reli-
gionsstiftern", dass sie zuerst „eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte", eine
disciplina voluntatis ansetzen, da sie „gerade diesem Leben eine Interpretation" geben,
die ihm höchsten Wert zu verleihen scheint, was die „wesentlichere" von „diesen bei-
den Erfindungen" sei (ebd., 271); Jesus, Paulus und Buddha werden als solche Inter-
preten' exemplarisch vorgestellt: „Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters
kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie sieht, dass er sie auswählt, dass er zum
ersten Male erräth, wozu sie gebraucht, wie sie interpretiert werden kann. Jesus (oder
Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor,
ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: er legte es aus, er legte den höchsten
Sinn und Werth hinein und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten [...]
Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle Stände
-
und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Al-
lem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnislos leben:
er verstand, wie eine solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis
inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal
(das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht, dies .Verste-
hen' war sein Genie" (ebd. 271 f.).
-
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass stets das Motiv vorherrscht, dass
eine bestimmte Interpretation den Religionsstifter kennzeichnet, die eigentlich eine
,Erfindung' ist, die in anderen Kontexten eine Täuschung, eine Falschheit, eine Verlo-
Dazu: Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale
Theorie der Auslegung im späten Nachlass, Berlin/New York 1982; zur religionsspezifischen The-
matik: ders., Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berück-
sichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, 30 Iff, 355.
Nietzsche und die Religionsstifter 89
genheit genannt wird. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Nietzsche in
dem Buch, in dem er .gegen die Verlogenheit von Jahrtrausenden' auftritt, den Religi-
onsstifter als entschieden negative Gegenfigur kennzeichnen muss, der Erlebnisse
selektiv und tendenziell interpretiert.
wie es im folgenden Fragment heißt, mit dem „Entwurf einer neuen Art zu leben" (ebd.)
zusammen? Ist in der Symbolik des Mittags, der zugleich die ,Ewigkeit' meint, eine
neue Art des Lebens impliziert? Die Sinnaussage des Entwurfs tritt deutlicher hervor,
wenn man ihn mit dem vergleicht, den Nietzsche „Anfang August 1881", ebenfalls in
Sils Maria notierte und den er selbst datiert hat. Er hat die Überschrift ,JDie Wiederkunft
des Gleichen. Entwurf (ebd., 392).
Im folgenden geht es bei der Interpretation der Wiederkunft um die Auswirkungen
auf das individuelle Selbstverständnis der verkündeten Lehre. Neben anderen zentralen
Inhalten, wie dem einer kosmologischen Sicht, die mit der Wiederkunftslehre verbun-
In dem gebundenen Heft M III 1 (= Fragmentengruppe 7, Frühjahr bis Herbst 1881, Band V 2,
339^174). Vgl. Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 81.
6
Während Mazzino Montinari 1982 noch feststellte, dass „die genaue Quelle, aus der Nietzsche
diesen Namen übernahm, auch heute noch als unbekannt gelten (muß)" (ebd. 81), kann inzwischen
dank überzeugender Quellenstudien dieses Problem als gelöst gelten. Paolo D'Iorio teilte diese
wichtige Stelle mit: sie ist Friedrich Anton von Hellwalds Kulturgeschichte in ihrer natürlichen
Entwicklung bis zur Gegenwart' (Augsburg 1875) entnommen. Nietzsche hatte sich dieses Werk
von Overbeck nach Sils Maria schicken lassen. Dazu: P. D'Lorio, „Beiträge zur Quellenfor-
schung", in: Nietzsche-Studien 22, 1993, 395; Dazu:. KSA 15 (Chronik zu Nietzsches Leben), 117.
92 Johann Figl
den ist, scheint die Bedeutung, die die Lehre für die Lebensgestaltung, für eine neue
existenzielle Schwerpunktsetzung der Menschen hat, in den Augen Nietzsches grundle-
gend zu sein. In der ersten Zusammenstellung unter dem Titel Die Wiederkunft des
Gleichen in dem Entwurf schreibt er unter Punkt 5: „Das neue Schwergewicht: die ewi-
ge Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen's, Irren's, unsrer
Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste
unseres Lebens wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Un-
wissenheit verbracht haben?" (ebd.). Diese Lehre ist eine, die das Leben verändert und
-
die Biographie in zwei Teile trennt. Nietzsche sagt später des öfteren, dass mit seinem
Leben und seiner Verkündigung die Geschichte der Menschheit in zwei Teile geteilt
wird7; hier aber geht es darum, dass das individuelle Leben sich notwendig ändern
muss, wenn man die Einsicht in die Wiederkunftslehre gewonnen hat. Die Frage ist,
was man mit dem Rest des Lebens tut, nachdem im Horizont dieser Einsicht, des neuen
Wissens, das vorhergehende Leben als wesentlichste Unwissenheit' erscheint. Aus
dem Schwergewicht, das die Lehre bedeutet8, ergibt sich für Nietzsche die unendliche
Wichtigkeit dessen, was Menschen in Hinkunft tun. Die Einsicht und Anerkennung der
neuen Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen fordert eine Änderung des Selbst-
verständnisses, das zu einer extrem hohen Bedeutung des individuellen Lebens führt:
„Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!" fordert er (ebd., 401). Die
Konsequenz daraus ist die Einsicht: ,JDiess Leben dein ewiges Leben!" (ebd., 410).9
-
Dazu: Die Fröhliche Wissenschaft (Aph. 125 Der tolle Mensch): „Es gab nie eine grössere That,
und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte,
-
als alle Geschichte bisher war!" (KGW, FW, V 2, 159); Ecce homo (Warum ich ein Schicksal bin):
der, der über die christliche Moral aufklärt, ist, „eine force majeure, ein Schicksal, er bricht die
Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm" (KGW, EH, VI
-
3,371).
Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 341: Das grösste Schwergewicht, wo Nietzsche erstmals im
veröffentlichten Werk die Wiederkunftslehre thematisiert (KGW V 2, 250).
Dazu näher: J. Figl, „Religionen in der Moderne. Nietzsches Diagnose, ihre Probleme und Perspek-
tiven", in: Zeitenwende Wertewende. Internationaler Kongress der Nietzsche-Gesellschaft zum
100. Todestag Friedrich Nietzsches vom 24.-27. August 2000 in Naumburg, hg. von Renate
-
Reschke, 65-76.
Nietzsche und die ReligionsStifter 93
den ,Ewigkeitswert' des Lebens wird die Bedeutung des Augenblicks auch dadurch
erhöht, weil die Grundaufgabe in jeder Situation neu geleistet werden kann. Sie soll so
geleistet werden, dass sie ,ewigen' Bestand in dem Sinn hat, dass der Mensch sie immer
wieder leben will und bejahen kann.
zu den von Nietzsche genannten Herden-Gefühlen, die mächtiger und älter seien, deut-
lich sichtbar. Sogar im „erwachten Individuum" sei dieser Urbestand der Herden-
Gefühle noch übermächtig (vgl. ebd., 412). Ein Ego ist deswegen heute noch sehr sel-
ten10, einer der Gründe ist die religiöse Erziehung, das Verlangen nach staatlich-
sozialen Bindungen; die Nationen sind ebenfalls zu nennen (ebd.). Eine Folge daraus ist
die Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Ego: „Der Egoismus ist noch unendlich
schwach! [...] Man frage nur einmal, wie Wenige gründlich prüfen: warum lebst du
hier? warum geht du mit dem um? Wie kamst du zu dieser Religion? Welchen Einfluß
übt diese und jene Diät auf dich? Ist dies Haus für dich gebaut? Usw. Nichts ist seltener
als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurtheil, man kenne das
ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und
Intelligenz darauf verwandt als ob wir für die Selbsterkenntniß durch eine intuition
der Forschung überhoben wären!" (ebd., 426).
-
Im Zusammenhang mit der Suche nach dem ,Ego' macht Nietzsche eine interessante
Feststellung, bei der er auch Religionsstifter einschließt, nämlich, dass in den früheren
Kulturen gerade jene, die den Egoismus verurteilt haben, ihn selbst praktiziert hätten:
„Der Egoism ist verketzert worden, von denen die ihn übten (Gemeinden Fürsten Partei-
führern Religionsstiftern Philosophen wie Plato); sie brauchten die entgegengesetzte
Gesinnung bei den Menschen, die ihnen Funktion leisten sollten" (ebd., 455). So be-
trachtet gab es in der Geschichte immer schon zwei Arten von Menschen, „die Heer-
den-Menschen und die selbsteignen Menschen: letztere zuerst als Hirten" (ebd., 414).
Vor diesem Hintergrund wird die isolierte Notiz verständlich: „Jesus war ein großer
Egoist" (ebd., 48811). Religionsstifter haben demnach Züge, die Nietzsche für jedes
Individuum einfordert, wodurch die Bedeutung dessen, was Ich-Bewusstsein heißt, eine
neue, eine nicht-religiöse Bedeutung bekommt.
Nietzsche geht es um Individualität, um den Sinn des ,Eigenen'. Dieser kann nicht
von anderen Autoritäten bestimmt werden, weder von dem ,Man' der Masse, der ,Her-
de', wie er es nennt, noch von deren ,Führern'; Religionen sind ,Herdenbildungen'.
Religionsstifter vermitteln ein für Viele geltendes Lebensmodell, Nietzsches Konzept
ist eines für das jeweilige Individuum, auch darum muss er den Vergleich mit Religi-
onsstiftern trotz deren historischer Bedeutung, ihrer ,Vorläufer'-Funktion für die Aus-
bildung eines Selbst, ablehnen. Das trifft selbst dann noch zu, wenn er seine eigene
Lehre, wie es im Nachlass der Fall ist, als ,Religion' bezeichnet.
NF, VII 3, 76; ebd. 50): „Ewige Wiederkehr jedes guten Dings"); es ist nicht nur eine erschrecken-
de Botschaft, sondern auch eine tröstliche, weil das Gute auf ewig bewahrt ist. In Ecce homo sagt
er, rückblickend auf den Tag, wo er sein 44. Lebensjahr vollendet hat, dass er es „begraben [durf-
te], was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich" (KGW, EH, VI 3, 261).
Nietzsche und die Religionsstifter 95
ist erdavon überzeugt, dass sein Gedanke „mehr als alle Religionen (enthält)", und
zwar wegen der Diesseitsorientiertheit (KGW, NF, V 2, 401). Der Wiederkunfts-
Gedanke verlangt im Verhältnis zu den Religionen eine neue Lebensart, die sich als
realistischere und diesseitige Sinnantwort versteht. Sie gibt keine allgemeine Antwort
wie die traditionellen Religionen, sondern fordert auf, die jeweils eigene zu finden,
insofern sie sich am ,Ego' (im beschriebenen Sinn) orientiert.
Nietzsche möchte seine Lehre nicht wie eine „plötzliche Religion" lehren, denn „für
den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende" bevor er sich durchsetzen
wird; im Vergleich dazu sind „die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christentum
erhalten hat", nicht bedeutsam (ebd.). Es ist auffallend, dass er die Umschreibung mit
den Jahrtausenden' auch für Also sprach Zarathustra und dessen Botschaft verwendet:
in Ecce homo sagt er, dass das Buch Zarathustra „mit einer Stimme über Jahrtausende
hinweg" spricht (KGW, EH VI 3, 257); er beschreibt das Außergewöhnliche der diesem
Werk zugrunde liegenden Inspiration, die er auch als „Offenbarung" (vgl. ebd., 337)
bezeichnet, in folgender Art: „Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle
nicht, dass man Jahrtausende zurückgehen muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen
darf, ,es ist auch die meine'" (KGW, ZA, VI 3, 338).
Vor diesem Hintergrund ist sein Wort, dass er sich „gegen die Verlogenheit von
Jahrtausenden im Gegensatz weiss" (KGW, EH, VI 3, 363) besser einzuordnen: es geht
dabei um die Gegensatzbegriffe .Wahrheit' und .Lüge', aber in einem neuen Sinn, im
Kontext einer menschheitsgeschichtlich bedeutsamen „Umwerthung der Werthe" (vgl.,
ebd., 363f); es geht um die Auseinandersetzung mit der durch die traditionellen Religi-
onen geprägten Moral. Von hier interpretiert Nietzsche in den anschließenden Abschnit-
ten (Warum ich ein Schicksal bin) auch den Namen Zarathustra, wo er sich als den
„ersten Immoralisten" bezeichnet: Für ihn ist das, „was die ungeheure Einzigkeit jener
Person ausmacht [...] gerade dazu das Gegentheü", diese habe die Moral ins Metaphy-
sische übersetzt; „Zarathustra schuf diesen verhängnisvollen Irrthum, die Moral: folg-
lich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt"; der Name jenes Religionsstifters
besagt in Nietzsches (Selbst-)Deutung „die Selbstüberwindung des Moralisten in
seinem Gegensatz in mich" (ebd., 365).
-
Aus der Anti-Position gegenüber den traditionellen Religionen und den Religionsstif-
-
tern ergibt sich, dass Nietzsches eigene Lehre nicht als eine Religion im ,substanziellen'
Sinn des Begriffs bezeichnet werden kann, auch wenn er selbst gelegentlich das Sub-
stantiv ,Religion' dafür verwendet. Eine andere Frage ist, ob dem Gedanken der ewi-
gen Wiederkunft' und der von Zarathustra verkündeten Botschaft, Nietzsche bezeichnet
sich in Ecce homo als „froher Botschafter" (ebd., 364), ein religiöser Charakter im funk-
tionalen Sinn zugesprochen werden kann; ob sie Funktionen hat, die auch die traditio-
nellen Religionen erfüllten, wie z. B. eine Antwort auf den Sinn des Kosmos oder auf
die Frage des Todes zu geben und eine Orientierung für ein erfülltes Leben anzubieten;
dies bedarf einer weiteren Analyse. Dabei ist es wichtig, die beiden Grundverständnisse
von Religion in der heutigen Religionswissenschaft vor Augen zu haben, um Missver-
ständnisse auszuschließen: beim materialen oder auch substantialistischen Religions-
begriff geht es um zentrale Inhalte (Gott, Ewiges Leben, religiöse Gebote); der funktio-
nale hingegen hat keine inhaltliche Begrenzung, er ist sehr weit, kann praktisch alle
96 Johann Figl
anthropologischen Bereiche umfassen (existenzielle Grunderfahrungen, auch Sport,
Kunst, Werbung); es wird gesagt, dass dadurch religiöse Funktionen erfüllt werden
können (Sinnfrage, Gemeinschaftsgefühl) oder Züge anzutreffen sind, die religionsana-
log sind (z. B. Rituale). Im ersteren Begriff geht es um Religionen im herkömmlichen
Sinn, im letzteren um Religiosität und ,Religion' in einem allgemein-anthropologischen
Sinn; in diesem funktionalen Kontext kann religionssoziologisch bei Weltanschauungen
(Atheismus, Agnostizismus etc.) oder politischen Systemen ein ,religiöser' Charakter
konstatiert werden.13 Die Frage in diesem Zusammenhang lautet: inwiefern ist es legi-
tim, bei Nietzsches neuer ,Inspiration' der ,Ewigen Wiederkunft' von ,Religiosität'
oder ,Religion' zu sprechen? Es gibt für eine solche Redeweise wichtige und begründe-
te Ansätze14, aber angesichts der Tatsache, dass der Begriff funktionaler Religiosität
selbst stark diskutiert wird, ist an diese Diskussion anzuschießen, um eine stringente
Deutung geben zu können. Eine solche ist wesentlich davon abhängig, in welcher Wei-
se funktionale Religiosität definiert wird; es ist eine Frage, ob z. B. die Formulierung
,weltliche Religiosität' weiterführt15, da zuvor das Verhältnis von .Welt(lichkeit)' und
.Religiosität' geklärt sein müsste. Es bedarf einer religionswissenschaftlich fundierten
Begriffsbestimmung, die sowohl dem spezifisch philosophischen Gebrauch religiöser
Termini bei Nietzsche gerecht wird, als auch seiner entschiedenen Kritik an Vorstellun-
gen und Praktiken, die er ausdrücklich in einem religiösen Kontext sieht und als solche
zurückweist.16 Gewiss aber ist Nietzsches Wiederkunftslehre keine Religion im substan-
tiellen Sinn, wie es die traditionellen Religionen sind; dies unterscheidet ihn wesentlich
von den Religionsstiftern, die allesamt zwar auch Religionskritiker (darin ist Nietzsche
mit ihnen vergleichbar) waren; aber anstelle der traditionellen Religion (Buddha: ve-
disch-brahmanische Religion; Jesus: jüdische Religion; Mohammed: arabische Stam-
mesreligion) haben sie eine neue Religion mit teils anderen Inhalten, jedenfalls in einer
neuen Gesamtdarstellung, gebracht bzw. gaben den Anstoß dazu. Die Abgrenzung trifft
auch und gerade, wie aufgezeigt wurde, für Zarathustra als Religionsstifter zu.
13
Dazu: Johann Figl, „Einleitung", in: Handbuch Religionswissenschaft, hg. von dems., Inns-
14
bruck/Göttingen 2003, bes. 65-68.
Dazu: J. Lippitt/J. Urpeth (Hg.), Nietzsche and the Divine, Manchester 2000; R. Okochi, Wie man
wird, was man ist: Gedanken zu Nietzsche aus östlicher Sicht, Darmstadt 1995, bes. 65ff.
15
Dazu: M. Skowron, „Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien", in: Nietzsche-Studien
31 (2001) 1-39, bes. 37f.
16
Ein Versuch in dieser Richtung wird in meiner in Ausarbeitung befindlichen Studie Nietzsche und
die Religionswissenschaft (Arbeitstitel) vorgelegt werden (voraussichtlich 2005).
Hans-Martin Gerlach
„Das eine bin ich, das Andere sind meine Schriften" so bemerkt Friedrich Nietzsche
im ersten Satz jenes Abschnittes seines Ecce homo, welcher mit der uns eigenartig an-
-
mutenden Überschrift Warum ich so gute Bücher schreibe gekennzeichnet ist (KSA,
EH, 6, 298). Er setzt, selbsterkennend und hoffend, aber selbsterkennend mit den inne-
ren seelischen Nadelstichen, fort: „Ich selbst bin noch nicht an der Zeit. Einige werden
posthum geboren" (ebd.). Jedoch, so seine Überzeugung, „irgendwann wird man Insti-
tutionen nötig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe:
vielleicht selbst, daß man dann auch einige Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra
errichtet" (ebd.), denn nach seiner Überzeugung wäre es im vollkommenen Wider-
spruch zu ihm stehend, wenn man heute, das war 1888, bereits Ohren und Hände für
seine Wahrheiten erwarten würde. Aber er sieht dabei auch die .Wirkungslosigkeit' und
das Nichtverstehen seiner Wahrheiten wohl ausnehmlich auf Deutschland, „Europas
Flachland", wie er bemerkt, beschränkt, denn im Ausland vermeint er seine Leser, aus-
gesuchte Intelligenzen, „wirkliche Genies", schon zu erkennen: „In Wien, in St. Peters-
burg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New York", überall sei er schon „ent-
deckt", nur nicht in der „flachen" Heimat (ebd., 301).
Nietzsche hatte zweifelsohne recht, wenn er diese Feststellung traf; er hatte auf seine
Weise recht, wenn er die Vision von Institutionen hatte, die einmal auf Lehrstühlen den
Zarathustra interpretieren würden. Aber zugleich war damit in ihm jene bohrende Un-
ruhe, die sich bis zur „erschrecklichen Angst" steigerte, dass man auf diese Art ihn
„eines Tages heilig" sprechen könnte, um mit ihm „Unfug" (ebd. 365) zu treiben. Es
gäbe nichts Verlogeneres als jenes Heiliggesprochen werden. Dann wollte er schon
lieber ,Hanswurst' sein.
Nietzsche schien in seinen Spätwerken all das vorauszuahnen, was dann wirklich ge-
schah, in der Philosophie als auch in der Kunst, der Literatur und allgemein in der Poli-
tik. Er wurde entweder heilig gesprochen oder verteufelt; die wenigsten sahen ihn als
.Hanswurst', d. h. als jenen ,Narren' (eventuell im Shakespeareschen Sinne), der den
Mächtigen dieser Welt (als großen Individuen oder als alles bestimmende Masse) die
Wahrheiten frei und offen sagte, die keine verkappten Lügen mehr waren. Seine Formel
98 Hans-Martin Gerlach
war dabei:,Umwertung aller Werte', es war eine Formel für einen Akt höchster Selbst-
besinnung Menschheit, wie er meinte.
der
Der große Prozess der Nietzsche-Rezeption, der bis auf den heutigen Tag nicht auf-
gehört hat zu wirken, von dem ich befürchte, er erhält durch jedwede Jubiläen, wie wir
sie verschiedentlich begehen, neues Futter, setzte auf den angedeuteten Gebieten kurz
vor und nach dem geistigen Ende des Meisters ein. Eigentlich genau auf die Art und
Weise, wie er es befürchtet hatte. Nach den ersten wüsten Beschimpfungen gegen den
anstößigen und anstoßenden Philosophen, der angeblich jegliches Rauben und Morden
in seinem Werke rechtfertigte und der die Bestie im Menschen hochleben ließ, so Her-
mann Türck in seiner in den 90er Jahren sehr verbreiteten Arbeit Nietzsches philosophi-
sche Irrwege^ und der intellektuell vornehmer gehaltenen Zurückweisung seiner philo-
sophischen Denkkonstruktion durch die offizielle ,Philosophenzunft' (Eduard von
Hartmann charakterisiert z. B. sein Denken als „wahnsinnige Selbstvergötterung"2 und
Wilhelm Windelband bezeichnet ihn als einen „nervösen Professor, der gern ein wüster
Tyrann sein möchte"3) begannen sich jedoch auch erste zarte Pflänzchen einer Nietz-
sche-Verehrung und einer sachbezogenen Rezeption abzuzeichnen, die teilweise schon
zu Nietzsches Lebzeiten vor seiner geistigen Umnachtung vollzogen wurden, von denen
er wohl auch persönlich nicht unbeeindruckt blieb, wenn wir an seine Reaktion auf
Georg Brandes' hochherzige Einschätzung der Nietzscheschen Philosophie als eines
aristokratischen Radikalismus' denken. Es sei, so Nietzsche in einem Antwortbrief an
Brandes, das „gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe" (Brief vom
04. 01. 1889, KSB, 8, 573). Es gab darüber hinaus auch erste ernstzunehmende Anzei-
chen für den Versuch einer wirklich analytisch-kritischen Bewertung seines Denkens
aus seinen historischen Quellen, seinen inneren Problementwicklungen und dem Zeit-
geist heraus, wie sie sich in Georg Simmeis Aufsatz Friedrich Nietzsche. Eine moral-
philosophische Silhouette in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik
1895 abzeichnete. Anhängern wie Gegnern von Nietzsches Denken wirft Simmel vor,
dass sie ihn ob seiner „kopernikanischen Tat" auf moralphilosophischem Gebiet, (das
Individuum erhält seine Würde nicht über den Umweg des Allgemeinen, sondern be-
sitzt sie durch sich selbst), nicht wirklich verstanden haben, weil sie ihn in jeder Hin-
sicht „von der Kontinuität des menschlichen Geisteslebens" abgetrennt und aus ihm
eine „intellektuelle Causa sui" gemacht hätten, die jenseits aller historischen Bezüge
läge, während er hingegen „erst in der Einordnung in diese den Platz findet, den er be-
halten wird, wenn er überhaupt einen behält".4
Was den letzten nachdenklichen Halbsatz Simmeis bezüglich Nietzsches Platzhalter-
schaft und Nachwirkung anbetrifft, so hat das 20. Jahrhundert gezeigt, dass er der deut-
sche Denker und Philosoph der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, der neben
Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und
Karl Marx auf das Nachhaltigste das philosophische, geistige, kulturelle und politisch-
ideologische Leben und Werden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, ja
der ganzen Welt wesentlich mitbestimmen sollte. Entsprechend war die sprunghaft
zunehmende Rezeption seiner Gedanken durch Philosophen, Wissenschaftler, Literaten,
Musiker, Künstler jeglichen Genres sowie vor allem auch von Politikern, die ,ihren'
Nietzsche zu ,entdecken' und sogleich auch zu ,verraten' begannen. Waren es in der
Frühzeit (zwischen den ausgehenden 80er und in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts
bis zum Ende des I. Weltkrieges) vornehmlich einzelne philosophische Positionen und
Teilstücke seines Denkens, denen sich philosophische und sonstige Anhänger oder
Gegner zugewendet haben und heftig darüber stritten, (man solle in diesem Zusammen-
hang auch auf das stürmische Auf und Ab der Editionsgeschichte blicken, denn Rezep-
tions- und Editionsgeschichte weisen gerade im ,Fall Nietzsche' äußerst enge Bezie-
hungen auf), so begann in den 20er Jahren eine zweite Etappe der Nietzsche-Rezeption,
die auf philosophisch-theoretischem Gebiet stark dadurch charakterisiert ist, dass Den-
ker wie Karl Jaspers, Martin Heidegger, Walter Kaufmann, Karl Löwith, aber auch
Alfred Baeumler oder Georg Lukács von ihren philosophischen und weltanschaulichen
Positionen aus eine Interpretation des Nietzscheschen Gesamtschaffens vorzunehmen
suchten. Parallel dazu lief aber noch etwas anderes, ein Prozess politisch-ideologischer
.Instrumentalisierung', und als Gegenstück dazu, der einer Verteufelung des deutschen
Denkers auf dem Boden politischer Weltanschauungsbildung und Ideologie, der nur
funktionieren konnte, weil vorgeprägte Idole und Masken, an deren Zustandekommen
das Nietzsche-Archiv (mit Elisabeth Förster-Nietzsche) wesentlich beteiligt war, vor-
handen waren, die sich in den ideologischen Meinungsbildungsprozess hervorragend
einbringen ließen.
Erst seit den 60er Jahren, editorisch gestützt vornehmlich durch die Kritische Ge-
samtausgabe Giorgio Collis und Mazzino Montinaris sowie ihrer Mitstreiter, war eine
neue und, wie wir jetzt schon bemerken können, wohl nicht die letzte Epoche einer
ungeheuer vielfältigen Welle einer Nietzsche-Rezeption angebrochen, die sich einer-
seits durch eine akribische Nietzsche-Philologie auszeichnet und in immer feinere Ka-
pillaren des Denkkosmos des ,Meisters' vordringen lässt, die andererseits aber auch
einen sehr freien Umgang mit seinem Denken zeigt, bei welchem man teilweise mit
Versatzstücken arbeitet und so eigene theoretische Positionen fundiert bzw. beliebig
auslegt und erweitert. Man denke nur an die verschiedenen Richtungen der Existenzphi-
losophie, an die Hermeneutik, die Kritische Theorie oder die breite und oft recht diffuse
Bewegung der Postmoderne. Im Folgenden soll aber nicht so sehr diese Linie einer
mehr oder weniger akademisch angelegten Nietzsche-Rezeption eine Rolle spielen,
sondern mit Blick auf die Thematik „ gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden",
will ich mich den Versuchen einer Verarbeitung bzw. Zurückweisung Nietzscheschen
...
Gedankenguts in den wesentlichen politischen Ideologien des ausgehenden 19. und des
20. Jahrhunderts zuwenden. Dies wird notgedrungen fragmentarisch sein.
Zunächst muss man den .Meister' selbst befragen, was er für ein Verhältnis zur Poli-
tik hatte. Ich weiss nicht, ob man sich auf den Kyniker Anthistenes von Athen berufen
kann, der auf die Frage, wie er sich zur Politik verhalte, antwortet: „Wie zum Feuer:
nicht zu nahe heranstellen, damit man nicht anbrennt; nicht zu ferne bleiben, um nicht
100 Hans-Martin Gerlach
zu frieren."5 Nietzsches Verhältnis zur Politik ist gleichfalls ein zwiespältiges, ambiva-
lentes; einerseits behauptet er „der letzte antipolitische Deutsche zu sein" (KSA, 14,
472); andererseits ist uns jener überhoben klingende Satz aus Ecce homo im Ohr, mit
dem er behauptet, dass es erst von ihm an „auf Erden große Politik"( KSA, EH, 6, 366)
gäbe und es das nächste Jahrhundert, das zwanzigste, sei, welches den Kampf um die
Endherrschaft, den Zwang zur großen Politik hervorbringe, wie er die offenbar von ihm
erkannten imperialen Züge seines Zeitalters in die politische Wirklichkeit eines neuen
Jahrhunderts hinein projizierte. Dieses furchtbare Jahrhundert mit seinen verheerenden
Weltkriegen, den Jahrhundertkatastophen des Holocausts und der Atombombenabwür-
fe, welches sich darüber hinaus zweimal am Kern der Dinge vergriff, dem Atomkern
und dem Zellkern, welches in der Überleitung in ein neues Jahrhundert noch viel größe-
re Katastrophen anzudeuten vermag, hat in seiner Realität jene Haltung Nietzsches in
seiner späten Schaffensphase bezüglich des Blicks auf das Politische auf grausamste
Weise bestätigt. Die Zeit für .kleine Politik' in jeglicher Form europäischer .Kleinstaa-
terei' scheint endgültig durch diesen Gang der Weltgeschichte vorbei zu sein.
Dennoch hatte er persönlich zum politisch-praktischen Geschehen seiner Zeit ein
eher distanziertes Verhältnis. Sein überzogener Individualismus und seine Ablehnung
des Massenhaften (Politik in ihrer durchgreifenden Wirksamkeit beginnt aber dort, wo
Massen bewegt werden) ließen ihn diese Haltung einnehmen. Erst die Aktivitäten des
Nietzsche-Archivs, besonders die Elisabeth Förster-Nietzsches, sollten die Weichen
zum doppelgleisigen Missbrauch stellen. Doppelgleisig insofern, als mit ihrer eigenen
rechtsorientierten, nationalistischen, antidemokratischen und antisemitischen Deutung
des Schaffens ihres Bruders und der darauf aufbauenden hemmungslosen Ausbeutung
des Nietzscheschen aphoristischen Denkens durch politische Bewegungen, die von
deutschnationaler bis zu nationalsozialistischer und faschistischer Programmatik reich-
te, sich zugleich die Gegenposition vornehmlich linksorientierter, von linksliberalen
über sozialdemokratisch-sozialistischen bis zu kommunistischen Bewegungen reichen-
den Abwehrfront gegen Nietzsche herausbildete, die gleichfalls über weite Strecken
einen Zerrspiegel Nietzeschen Schaffens darstellte, den insofern die deutsche und inter-
nationale Rechte von ihren Standorten aus mit produzierte, weil man die selbst fabri-
zierte Maske des Denkers für dessen geistige Realität ausgab. Dabei war die Förster-
Nietzsche selbst bemüht, ihren Bruder zeitweise aus konkretem parteipolitischem Ge-
zänk' herauszuhalten. Das zeigt ihr Vorwort zu dem von ihr 1922 herausgegebenen
Sammelband Nietzsche Worte über Staaten und Völker: „Hier und da wird sich der
Parteimann freuen, denn er findet Bemerkungen, die ganz nach seinem Herzen sind
-
aber, aber einige Seiten später findet er, dass Nietzsche dieselbe Sache auch von einem
-
ganz anderen Gesichtspunkt aus betrachtet. Nicht umsonst hat mein Bruder oft gesagt,
daß jede Sache, jedes Erlebnis nicht nur zwei, sondern vier bis fünf verschiedene Seiten
habe. Nein, er war kein Parteimann, oder, wenn er eine Partei hätte gründen können, so
wäre es die der unabhängigen vornehmen Seelen gewesen, die er in allen Ständen ge-
funden hat [...] Aber die vornehmen, unabhängigen Seelen bilden keine Parteien, denn
diese sind immer Einzelne, die das Fürsichsein lieben."6 Diese betonte Unschuld der
5
Wilhelm Nestle, Die Sokratiker, Jena 1922, 89.
6
Elisabeth Förster-Nietzsche, Nietzsche Worte über Staaten und Völker, Leipzig 1922, 7f.
-
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel 101
Parteilosigkeit Nietzsches hinderte sie jedoch nicht daran, mit ihrer Editionspolitik und
ihrem Streben, das Archiv zum geistigen Zentrum einer ,dritten Weimarer Klassik' und
eines Nukleus für die konservative Wiedergeburt der deutschen Nation aus dem Geiste
eines von ihr in einem rechten Zerrspiegel zurecht gestutzten Nietzsche werden zu las-
sen. Als das freilich nur äußere Zeichen einer solchen Haltung gelten immer noch jener
Handschlag, mit welchem sie Adolf Hitler bei dessen Besuch in der Villa Silberblick
begrüßte und ihm als Geschenkgabe den Spazierstock ihres Bruders überreichte oder
jenes Telegramm des Archivs anläßlich des 50. Geburtstages Benito Mussolinis 1933,
in welchem das Archiv, sprich Förster-Nietzsche, hervorhebt, dass er der „geniale Wie-
dererwecker aristokratischer Werte in Nietzsches Geist"7 sei. Es waren aber nicht nur
diese äußeren Zeichen eines Anpassungsversuches des Archivs mit einem zurechtge-
stutzten Nietzsche an die faschistische bzw. nationalsozialistische Bewegung. Förster-
Nietzsche hatte sich schon nach dem Untergang des deutschen Kaiserreiches auf die
Seite nationalistisch-konservativer Kreise gestellt. In seiner Tagebucheintragung vom
20. Juli 1922 bemerkt Harry Graf Kessler: „Sehr unerquickliches politisches Gespräch,
das sie herbeiführte, indem sie sagte, sie fürchte für mein Leben von Seiten der Bol-
schewiki, die ja auch Rathenau hätten ermorden lassen", was für Kessler ein „absurder
Unsinn" sei, der von Erich Ludendorff käme. Für Förster-Nietzsche steht die Behaup-
tung aber als Tatsache fest, auch wenn Kessler feststellt: „Man schämt sich, solche
Absurditäten widerlegen zu müssen. Die gute alte Dame spricht von den Rechtsradika-
len nur als ,Wir'"8. In einer Eintragung vom 15. Mai 1925 verweist er darauf, wie Förs-
ter-Nietzsche davon überzeugt ist, dass nur ein Paul von Hindenburg die Verhältnisse in
Deutschland zu konsolidieren' vermöge: „Der widerwärtige Eindruck, den die Verbin-
dung von ,Garten-Lauben-Militarismus' mit engstirnigem Generalstäblertum bei Frau
Förster-Nietzsche heute nachmittag machte, dauert fort."9 Es ist eine lange politisch-
ideologische Kontinuitätslinie, die durch den Geist Förster-Nietzsche und den des Ar-
chivs geht, der als rechts-konservative Interpretationsmaschinerie bezüglich des Nietz-
scheschen Werkes gilt und der mehr und mehr in faschistisches und nationalsozialisti-
sches Fahrwasser gleitet. Andererseits gibt es auch außerhalb des Archivs ein
entsprechendes Interesse rechter Kreise, sich direkt des Nietzscheschen Denkens zu
bedienen, um entsprechende politische Strategien weltanschaulich-ideologisch mit
Versatzstücken aus Nietzsches ,Gedankensteinbruch' zu fündamentieren. Typisch ist
dafür das Verhalten Mussolinis, denn ehe die deutschen Nationalsozialisten Nietzsche
als einen ihrer angeblichen .Ahnherren' zu entdecken begannen, hatte dies schon die
italienische faschistische Bewegung mit Mussolini an der Spitze getan. Mussolini, vor
dem I. Weltkrieg Sozialist und Direktor des Zentralorgans der PSI Avanti, dessen politi-
sches und geistiges Vorbild Marx war, versuchte, besonders unter dem Eindruck der
Fronterlebnisse im Krieg, eine geistige Symbiose zwischen Marx' Klassenkampf und
Nietzsches Übermenschen herzustellen. In seinem wesentlich anarchosyntikalistisch-
voluntaristisch fundierten Konzept eines Kampfes gegen den Reformismus der II. Inter-
nationale und damit seiner eigenen sozialistischen Partei erhoffte er sich, dass auf dieser
Dazu: Richard F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. Ill, Berlin/New York 1998, 472.
8
Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, Frankfurt/M. 1961, 331.
9
Ebd., 443.
102 Hans-Martin Gerlach
Basis eine proletarische Elite heraufkommen sollte, die in ihrer Dynamik wesentlich
über eine nur statische Masse hinauszugreifen in der Lage war. Hier sind Ähnlichkeiten
bezüglich der Diskussion des Verhältnisses bestimmter Kreise der deutschen Sozialde-
mokratie zu Nietzsches Denken in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts festzustellen.
Kurt Eisner, der spätere Führer der bayerischen Räterepublik nach Kriegsende 1918, hat
schon 1892 in seinem Buch Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apos-
tel der Zukunft diesen Einfluss festgestellt: „Der Einfluß Nietzsches hat nicht nur eine
Anzahl literarischer Anhänger der Sozialdemokratie dieser Fahne abwendig und zu
poetischen Anarchisten gemacht, er hat auch [...] jene eigenartige Gruppe der Jungen'
geschaffen, die unter Führung Bruno Willes den Zorn und die Macht Bebeis unlängst zu
kosten hatten."10 Es war dies der so genannte Friedrichshagener Kreis in der Berliner
Sozialdemokratie, die jungen Wilden, die eine neue Partei gründen wollten, eine Partei
der ,Sozialindividualisten', die eine Individualisierung des Arbeiters' forderten, die in
Nietzsches Individualethik ihr Vorbild fanden. Man wollte mit Nietzsche über den So-
zialismus der deutschen Sozialdemokratie als führender Kraft der II. Internationale
hinausgehen in einen „Anarchismus der Auserwählten".11 Den aber konnte sich die
Sozialdemokratische Partei nicht bieten lassen und also wurden die ,Jungen' aus der
Partei ausgeschlossen.
Franz Servaes, ein von Nietzsche überzeugter Berliner Universitätsprofessor, der die-
sem Kreis zugeneigt war, formulierte in der von Otto Brahm 1890 in Berlin gegründeten
Freien Bühne für modernes Leben, dass diese Gruppierung sich zu einem „revolutionä-
ren Individualismus" bekannte und sich strikt gegen politische Strukturen wandte, die
eine Selbständigkeit des Geistes verhinderten. Jugendlichkeit, Eroberungslust und Hoff-
nungsfreudigkeit im Kampf gegen Verzagtheit und gegen die alte morsche Gesellschaft
sei ihr Programm einer echten sozialistischen Aufbruchsstimmung. Und hier sieht Ser-
vaes, wie später Mussolini, Berührungspunkte zwischen Nietzsches Denken und einem
solchen Programm der Sozialisten. Hier müsse nun „der Nietzscheanismus in den Sozia-
lismus" einschlagen. „Nietzsche und der Sozialismus", obwohl Ströme, die von einem
jeweils anderen Ende kommen und sich nur mit „widerwilligem Zischen" vereinigen,
„beide sind sie revolutionär und zukunftsträchtig".12 Ähnliches schien Mussolini (unter
dem Eindruck der Schlachten des I. Weltkrieges) auch zu sehen und strebte zunächst
eine Vereinigung beider Prinzipien an, ehe er sich von dem einen, dem marxistischen
verabschiedete und das andere in seine politisch-ideologische Programmatik einzuarbei-
ten begann. In seinem Aufsatz Mussolini und Nietzsche. Ein Beitrag zur Ethik des Fa-
schismus schreibt Max Oehler Ende der 20er Jahre13, Mussolini zitierend, dass dieser von
„dem Nietzscheschen Grundton" in dessen Schriften ausgehe, da diese einen „tiefen
Eindruck" auf ihn gemacht haben und ihn „vom Sozialismus kuriert" hätten. Positiv
Kurt Eisner, Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft, Leipzig
1892,87.
11
Ebd., 88.
12
Franz Servaes, „Nietzsche und der Sozialismus. Subjektive Betrachtungen", in: Freie Bühne 3. Jg.,
Berlin 1892,88.
13
Die Datierung entnehme ich einer Aussage Ursula Sigismunds, der Tochter Max Oehlers und Nich-
te Elisabeth Förster-Nietzsches.
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel 103
aber habe auf ihn Nietzsches Position des ,Lebe gefährlich' gewirkt, denn, so Mussoli-
ni: „Ich habe damals gehandelt."14 In der Doktrin des Faschismus von 1932 betont er,
dass die „geistige[ ] Grundhaltung" der Faschisten ein eigenbrötlerisches Leben unter-
drücken soll und auf ein „höheres Leben in Freiheit" setzt, „das alle räumlichen und
zeitlichen Gebundenheiten überwindet: ein Leben, in dem das Einzelwesen durch
Selbstverleugnung, durch den Verzicht auf seine Sonderinteressen, ja selbst durch den
Tod, jene reine geistige Existenz verwirklicht, in der die wahre Menschenwürde be-
ruht".15 Dies sieht Mussolini als „Lebenskampf, zu dem er auch von Nietzsche ange-
regt worden ist, denn er „faßt das Leben als Kampf auf, da es nach seiner (des Faschis-
mus HMG) Ansicht die Sache des Menschen ist, sich selbst zu erobern, wenn er sich
seiner würdig erweisen will. Zunächst hat er in sich selbst das physische, moralische
-
und geistige Werkzeug zu erschaffen, mit dem er sein Leben einrichtet."16 Darauf zielt
auch jenes Telegramm des Nietzsche-Archivs anlässlich des 50. Geburtstages des Duce
1933, in dem er als genialer Wiedererwecker der aristokratischen Werte in Nietzsches
Geist gefeiert wird und er in seiner Antwort die Förster-Nietzsche lobt, „den Geist Ihres
großen Friedrich" zu hüten.17 Im Vergleich zu Mussolini war den Führern des National-
sozialismus Nietzsche „so gut wie fremd", wie Montinari bemerkt. 18 Zwar war man
äußerlich bemüht, mit Nietzsche zu poussieren (Archivbesuch, Gedenkhalle) und be-
mühte sich, ihn nominell in die Ahnengalerie des Nationalsozialismus einzuordnen, so
wenn Alfred Rosenberg, der als Weltanschauungsbildner' des Nationalsozialismus
,
galt, in seiner Rede zum 100. Geburtstag Nietzsches am 15. Oktober 1944 in Weimar
auf den angeblich engen Bezug zwischen dem Nationalsozialismus und den Philoso-
phen zu verweisen sucht, weil beide gegen den übrigen Teil der Welt ankämpfen müs-
sen: „In einem wahrhaft geschichtlichen Sinne steht die nationalsozialistische Bewe-
gung als ganzes heute vor der übrigen Welt, wie Nietzsche als einzelner einst vor den
Gewalten seiner Zeit."19 Diese waren Liberalismus, Plutokratie, Parlamentarismus,
Demokratie und Marxismus. An Stelle der marxistischen Idee des Klassenkampfes
„führte er das Verhältnis zwischen Soldaten und Führer an, das immer noch anständiger
und besser sei als das damalige Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer."20 Selbst
die Vorahnung marxistischer Diktatur, „die wir als Todfeind aus Moskau gegen uns
anmarschieren sehen", war für Rosenberg schon bei Nietzsche „eindeutig geweissagt",
wenn er diesen angeblich zitiert: „Der Marxismus braucht die alleruntertänigste Nie-
derwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat, wie niemals etwas gleiches exis-
tiert hat."21 Merkwürdig oder eher typisch für eine solche gewaltsame, alles verzerrende
14
Max Oehler, „Mussolini und Nietzsche. Ein Beitrag zur Ethik des Faschismus", Goethe-Schiller-
Archiv, (GSA) 100/ 1187, 1.
15
Benito Mussolini, Schriften und Reden 1932-1933, Zürich 1935, 62.
16
Ebd., 63.
17
Dazu: Richard F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist III, 472.
18
Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 169.
19
Alfred Rosenberg, „Friedrich Nietzsche. Ansprache des Reichsleiters und Reichsministers A. R. bei
der Nietzsche-Gedenkstunde zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober", GSA/ZAS/ S 1944, 28.
20
Ebd., 18f.
21
Ebd., 19.
104 Hans-Martin Gerlach
Interpretation ist, dass in einem angeblich wörtlichen Zitat Nietzsche vom Marxismus
spricht, den er als solchen nicht kannte und wohl auch nie in den Mund nahm.22 Es kam
nie auf das Wort und dessen Sinn an, es kam auch nicht darauf an, ob es diese Stelle bei
Nietzsche überhaupt gibt; Nietzsche wurde zurechtgebogen, wo man ihn brauchte und
verschwiegen dort, wo er unpassend war, z. B. hinsichtlich seiner Kritik am Antisemi-
tismus. Man bediente sich seines Antisozialismus genauso wie man seine Kritik am
Nationalismus des Bürgertums des 19. Jahrhunderts aufgriff, um über beide hinweg die
Nietzschesche Idee des ,guten Europäers' zu beschwören, die im nationalsozialistischen
Kampf gegen alle Feinde Europas kulminiert, weil allein „das nationalsozialistische
Deutschland dieses alte Europa"23 noch verteidigt. Auf dieser Basis wird in den
Schlusssätzen der Rede die Ahnherrschaft Nietzsches für den Nationalsozialismus be-
tont; Rosenberg behauptet dort: „Nach Abstreifung alles Zeitbedingten und auch allzu
Menschlichen steht diese Gestalt heute geistig neben uns, und wir grüßen ihn über die
Zeiten hinweg als einen Nahe-Verwandten, als einen geistigen Bruder im Kampf um die
Wiedergeburt einer großen deutschen Geistigkeit, um die Gestaltung eines großräumi-
gen Denkens und als Verkünder einer europäischen Einheit, als Notwendigkeit für
schöpferisches Leben unseres alten, sich heute in einer großen Revolution verjüngenden
Kontinents."24
Soviel hatte Rosenberg in seiner Weltanschauungsschrift Der Mythos des 20. Jahr-
hunderts nicht über Nietzsche geschrieben wie in dieser ,Geburtstagsrede' kurz vor dem
militärischen und politischen Ende der NS-Diktatur. Hier wurde Nietzsches Werk in
einer Kampfideologie vermarktet, in der Nietzsche-Zitate und biographische Begeben-
heiten wie Bebilderungen in einen vorgestanzten ideologisch-politischen Rahmen ein-
gepreßt wurden. Im Mythos des 20. Jahrhunderts war ihm sogar Nietzsches Individuali-
tätsdenken fremd: „Die stärkste Persönlichkeit ruft heute nicht mehr nach Persönlichkeit,
sondern nach Typus."25 Dem Rosenbergschen Klassizismus-Kult müsste auch das Dio-
genes-Konzept des jungen Nietzsche als „etwas rassisch und seelisch Fremdes" erschei-
nen, weil dieser Kult aus dem Osten des Mittelmeerraumes stammte.
Nietzsche war, hier bestand für den nationalsozialistischen Zerrspiegel das Problem,
nicht ohne weiteres passgerecht in die ,Ahnengalerie' des Nationalsozialismus einzu-
ordnen, da in ihr auch ,Bilder' jener hingen, die eingeschworene Gegner Nietzsches
waren: Paul de Lagarde, Richard Wagner, Houston St. Chamberlain. Aber das war nicht
das vordergründige Problem. Bedeutsamer waren inhaltlichen Probleme, die die Diffe-
renzen wesentlicher aufscheinen ließen, die darauf aus waren, beim Herausheben der
Gemeinsamkeiten auch die Differenzen scharf zu betonen, wie es z. B. ein Ideologe des
Nationalsozialismus, Heimich Härtle in seinem Buch Nietzsche und der Nationalsozia-
lismus tat, das 1937 im Parteiverlag der NSDAP erschien und geradezu ein ,Kathechis-
mus' dafür war, wie im Nationalsozialismus Nietzsche zu lesen sei; es war nach Aussa-
So gibtes im Index-Band der Nietzsche-Ausgabe von Karl Schlechts nur einen Adolf Bernhard
Marx, der sich mit Ludwig van Beethovens Leben und Werk beschäftige.
Alfred Rosenberg, „Friedrich Nietzsche. Ansprache des Reichsleiters und Reichsministers A. R. bei
der Nietzsche-Gedenkstunde zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober", 27.
Ebd., 30.
Alfred Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München 1935, 22.
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel 105
gen des Autors notwendig, „Nietzsches politische Gedankenwelt und den National-
sozialismus scharf abzugrenzen, Verwandtschaft und Gegensatz klarzustellen."26 Das
betrifft vor allem den Nietzscheschen ,Anti-Antisemitismus' oder die Sozialismuskritik,
da man im eigenen Programm auf einen nationalen Sozialismus setzte, der auch im
Gegensatz zum Individualismus Nietzsches stand. Dieser Individualismus sei nur die
unterste Lebensform, die höchste sei die Rangordnung, und die sah man wiederum be-
sonders im Schaffen des späten Nietzsche verwirklicht.
Eine solche vordergründige politisch-ideologische Vermarktung kann man sich nicht
generell leisten, zumindest nicht im universitären Bereich. Hier lieferte der Lehrstuhlin-
haber des Lehrstuhls für .politische Pädagogik' und Amtsleiter im Amt Rosenberg, der
zweifelsohne ein bedeutsamer Kant-Forscher in den 20er Jahren und ein guter Bekann-
ter Thomas Manns war, Alfred Baeumler, die entsprechende intellektuelle Lesart. Mit
seiner Edition der Kröner-Ausgabe27 schuf er eine massenwirksame Basisvoraussetzung
für eine ,gehobenere' Nietzsche-Rezeption im Nationalsozialismus, die er in seinem
schon 1931 erschienenen Buch Nietzsche der Philosoph und Politiker entwickelte und
in späteren Arbeiten, so in seinem richtungweisenden Artikel: Nietzsche und der Natio-
-
nalsozialismus aus dem Jahre 1934 ausbaute. Grundlegend sind dabei die Positionen
des .heroischen Realismus', der nach Baeumlers Meinung den Philosophen Nietzsche
charakterisiert, und der alle starre Seinsmetaphysik zugunsten einer Welt des dynami-
schen Werdens aufhebt und der seinen ,Heraklitismus' ausmacht. Jeglichen Logizismus
verpönend, kritisiert Baeumler die .Hinter-Weltler' (Christentum und Piatonismus) und
setzt erkenntnistheoretisch auf die Macht der Sinne. Der .Politiker' Nietzsche wird
charakterisiert in seiner Gegnerschaft zum modernen Nationalstaat in Form von bürger-
lichen Demokratien oder auf die Gleichheit setzenden sozialistischen Staaten. Für
Nietzsche wird in Baeumlers Sicht das .Germanische' bedeutsam, was eine weitere
nationalsozialistische Lesart des ,guten Europäers' ist. Während die bürgerliche Gesell-
schaft auf das Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit setzt, was zu einer „matten
Menschheit" führe, die „zeitweiliger Rückfalle in die Barbarei"28 bedarf, setzt die neue
rechte Nietzsche-Interpretation auf dessen ,große Politik', die als ihr vorantreibendes
Moment „das Bedürfnis des Machtgefühls" besetzt und gegen das Mittelmäßige in der
Politik nur „die Gefahr und den Krieg"29 kennt. Während Baeumler noch im 1931er
Nietzsche-Buch darauf wartet, dass ein „neues Europa" bald „einen großen Staatsmann
hervorbringen" möge, der als „der große Realist gefeiert wird"30, so hatte er ihn 1934 in
seinem Grundsatzartikel Nietzsche und der Nationalsozialismus nominell festgehalten
Adolf Hitler: „Übertragen wir diese Stellung Hitlers gegenüber der Republik von Wei- -
Ebd., 173.
106 Hans-Martin Gerlach
mar auf den einsamen Denker des 19. Jahrhunderts, dann haben wir Nietzsche."31 Es ist
für ihn klar, dass, wenn wir der „Jugend zurufen: Heil Hitler! so grüßen wir mit die-
sem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche".32
-
Ders., „Nietzsche und der Nationalsozialismus", in: ders., Studien zur deutschen Geistesgeschichte,
Berlin 1937, 283.
Ebd., 294.
Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 9, Berlin 1963, 364.
Volker Caysa
1
Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, 12.
2
Ebd., 52.
108 Volker Caysa
schließt ein, die herrschende Sprache und Moral (und die mit ihr verbundene Gewalt)
genealogisch zu kritisieren. Wer eine neue Sprache schafft, der schafft die Geschichte
neu. Wer sich selbst regieren will und sich nicht durch die Sprache der staatlichen
Macht beherrschen lassen will, muss sich selbst eine Sprache für seine Lebensform
schaffen.
Kritik in diesem Sinne ist die Bewegung, in welcher sich das Subjekt nicht nur das
„Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte" und „die Macht auf ihre
Wahrheitsdiskurse" hin zu befragen, sondern auch die Bewegung, in der es die Fähig-
keit erlangt, selbst Herrschaft auszuüben, die damit beginnt, sich selbst zu beherrschen.
Kritik ist dann „die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsam-
keit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die
Funktion der Entunterwerfung"3 und der Konstituierung von Autonomie.
Die Macht der Kritik stiftet sich in der Selbstregierung des Individuums. Dieser
Standpunkt der Selbstregierung ist der eines innerweltlichen Außen, einer immanenten
Transzendenz, eines alternativen diesseitigen Jenseits. Der Wille zur (Selbst-)Macht als
wirkende Kraft ist die Macht der Kritik, der die Kritik der Macht innerweltlich ermög-
licht. Kritik als Selbstregierung und als Selbstbeherrschung scheint den Freiraum des
anders-sein-Könnens diesseitig zu ermöglichen. Wenn es diesen Freiraum, die Mög-
lichkeit des Unterschlupfes, des Asyls, einer anderen Existenzweise nicht mehr gibt,
andere Lebensformen nach einem Lebensmodell gleichgeschaltet werden, dann beginnt
eine Welt totalitär zu werden und sich durch absolute Selbstreflexivität, durch ,Inzucht'
selbst zugrunde zu richten. Dies nicht nur moralisch zu kritisieren, sondern durch die
eigene Existenzweise zu verhindern, ist das Ethos der Kritik. Eine solche Kritik scheint
stark genug zur ,großen Politik', weil sie selbst im kleinen schon große Politik macht.
Die Gefahr dieser Politik ist, dass sie das Privateste politisiert. Indem die Politisierung
eine Ästhetisierung meint, die auf ein schönes, bejahenswertes und einfaches Leben
zielt, ist eine Moralisierung des Privaten ausgeschlossen. Daher ist die ästhetisierte
Kritik das Ende der Moral, wie es das Ende der Wahrheit ist. Die Wahrheit' und .Mo-
,
ral' dieses Kritiktypes werden durch die Art und Weise der selbstgestalteten Existenz
bezeugt, nach diesem Maß hat sich Kritik in ihrer Positivität und Negativität zu richten.
Sie braucht nicht mehr Begriffe wie ,Wahrheit', ,Gut' und ,Böse', weil sie existenziell
glaubwürdig ist, sich existenziell selbstbezüglich verhält, weil sie in ihrem Amoralis-
mus wahrhaftig ist.
Dass Kritik nur glaubwürdig ist, wenn sie selbstbezüglich angewandt wird, ist trivial,
muss aber erinnert werden in einer Zeit, in der das Auseinanderfallen von Denken und
Existenz, Moral und Ethos, Wahrheit und Ethik per wissenschaftlicher Kritik legitimiert
werden. Der Künstler-Philosoph vermag diesen wissenschaftlichen Normalfall positiv
zu kritisieren, nicht aber der abstrakt rationalistische Philosoph. Das bedeutet, dass nach
Nietzsche das Problem der Wahrheit und der Moral, theoretischer und praktischer Ver-
nunft durch die eigene, künstlerische Existenz gelöst wird und uns anders, als wir es
bisher kannten, aufgegeben wird. An die Stelle einer sich selbst betrügenden kritischen
Moralität und Wahrheit muss ein Ethos der Kritik treten, damit Kritik nicht mehr in der
alten Manier den Ankläger anklagt, sondern damit der Neinsagende ein Jasagender
3
Ebd., 15.
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche 109
werden kann und jeder das Seinige nicht nur tun kann, sondern es auch hat. Diese Kritik
wäre ,gut' und ,wahr', weil sie ,schön' ist.
die damit verbundene Einheit von Selbstbestimmung und Selbstdenken in der Selbstre-
gierung ist das Individuum causa sui, in der sich Denken und Existenz gegenseitig be-
gründen und miteinander konkret identisch sind. Durch die Tathandlung meines Den-
kens begründet sich die Tatsache meiner Existenz. Vernünftig ist diese Tatsache, sofern
sie Autonomie begründet, die Maßstab vernünftigen Denkens und Handelns von Indivi-
duen wie von Gemeinschaften ist. Autonomie von Gemeinschaften kann es aber nicht
geben, wenn es anfänglich keine wertsetzenden, selbstbestimmt handelnden Individuen
gibt.
4
Hans Saner, „Gespräch über die Utopie", in: Kunstforum international, 143 (1999) 77-78.
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche 113
des Individuums in der Gemeinschaft mit anderen ist und die in der gemeinschaftlichen
Selbstinszenierung gipfelt.
Selbstmächtigkeit, Selbstregierungsfähigkeit und nicht nur reines Selbstdenken, der
praktische Selbst-Einsatz, nicht nur der theoretische Denk-Einsatz sind der Grund der
Kritik, der einen vernünftigen Umgang mit sich und den anderen einschließt. Diese Art
von Kritik hat nicht nur einen politischen Aspekt, sie ist ein Politikum als Existenzform,
die sich in autonomer Lebensführung gründet: Kritik ist Lebensführung und Lebensfüh-
rung ist Politik. In der Lebensführung der einzelnen zeigt sich nicht nur der existenziel-
le Charakter der Kritik, sondern auch der existenzielle Charakter des Politischen.5 Das
Politische des Lebens beginnt in der Selbstregierungsfähigkeit der Subjekte. Diese Art
von Kritikfähigkeit ist der Grund der Politikfähigkeit, das Politische stiftet sich existen-
ziell im Ethos der Kritik. Die Kritik wird nicht nur aus dem Geist der Lebenskunst ge-
boren, sondern die Geburt der Politik erfolgt aus dem Geiste der Kritik. Die Macht der
Kritik besteht in der Selbstregierungsfähigkeit der Subjekte, sie begründet Selbstpolitik
und ist immer auch ein Selbstentwurf meiner selbst in der Gemeinschaft mit anderen.
Wie die Selbstsorge nicht von der Sorge um andere zu trennen ist, so zielt Selbstkritik
als Selbstpolitik nicht bloß auf Entwürfe gelungener Privatheit, sondern auf Entwürfe
gelingender Gemeinschaftlichkeit. Auch in diesem Sinne ist das Private immer poli-
tisch.
Dazu: Volker Gerhardt, „Politik ist mehr als die Summe aus Moral und Recht", in: Merkur 54
(2000), 3.
Kurt Jauslin
Ordnung schaffen
Lesarten zu Nietzsches Genealogie der Moral
zige, der die Frage versteht und gewillt ist, sie zu beantworten, so unbefriedigend die
Antwort ausgefallen sein mag. Georg Wilhelm Friedrich Hegel dagegen würde sie auch
nicht verstehen. Hegel ist selbst Gott, seine unwillige Antwort müsste lauten: Von mir.
Nietzsche ist nichts dergleichen. Er kennt weder die Gewissheiten noch die Eindeu-
tigkeiten, die aus so genannten Überzeugungen erwachsen. Die Frage nach dem Woher
verwandelt sich ihm alsbald in die Frage nach dem Wozu, die sich bei Licht besehen als
die interessantere und bedeutend folgenreichere erweist. Vor allem aber lässt seine Ar-
gumentation den fast marxistischen Schluss zu, dass die Erklärung des Wozu immer
schon die Antwort auf das Woher enthält. Moral entsteht aus dem Bedürfnis, Ordnung
zu schaffen in einer ihrem Wesen nach kontingenten Wirklichkeit. Das heißt, sie ist ein
Instrument zur Disziplinierung der Körper, da der Körper, darin stimmt Nietzsche mit
Michel de Montaigne überein, die einzige uns unmittelbar zugängliche Wirklichkeit ist.
Anders als für Montaigne, dem die Erfahrung des Körpers etwas Selbstverständliches
ist, bleibt er für Nietzsche ein Gelände äußerster Befremdung. Darin liegt die Differenz
zu Deleuze, der das Denken und den Körper als einheitlichen Text begreift. Für Nietz-
sche gilt, mit Blick auf die Differenz von Leben und Werk, die Einsicht Gottfried
Benns: „Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt."2 Der Körper bleibt das
Raubtier, das ihm nicht, wie Montaigne, durch die allgemeine Zugehörigkeit zu einem
in stillem Fatalismus akzeptierten Naturzustand vertraut ist. Der Körper ist ihm ein
fremdes Tier. Moral als Herrschaftsinstrument dient nicht wie bei Karl Marx der Befes-
tigung der ökonomischen Macht, sondern dem Herrschaftsanspruch der Religion, die
sich der Körper bemächtigen will, weil sie insgeheim, nur verdeckt durch metaphysi-
sche Referenzen, im Anspruch des Körpers eine konkurrierende Wirklichkeit erkannt
hat, die, wenn sie akzeptiert würde, das Regiment der Religion über den Menschen
beenden müsste. Letzteres verhindert die „Priesterkaste", die sich als Perversion des
„hohen Menschen" (KGW, JGB, VI,2, 86) zu erkennen gibt.
Wie alle Vorstellungen, die wir uns von der Wirklichkeit der Körper machen, ist
auch diese Erklärung Fiktion. Unmittelbar wirklich sind uns nur die Bedürfnisse des
Körpers, sein unüberwindlicher Trieb zur Selbsterhaltung, die elementaren Ereignisse
von Lust und Schmerz. Fiktion sind alle Ordnungen, die wie die Moral oder die Wis-
senschaft durch Reduktion der kontingenten Welt auf Begriffe entstehen. Sie bestätigen
nur die Distanz, die das Denken von der Wirklichkeit der Körper trennt. Wahrnehmung
besteht, wie in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn erläutert, darin, sich
ein Bild zu machen aus den Analogien einer metaphorischen Ordnung. Weil diese me-
taphorische Ordnung nicht der moralischen Wertung, der ,Lüge' unterliegt, ist sie auch
wirklich; sie tritt gleichberechtigt zur Wirklichkeit des unfassbaren Körpers auf, dem
sie verpflichtet bleibt, weil sie ihn nicht durch die Unterordnung unter ein System be-
herrschen will, das durch Reduktion seiner Wirklichkeit entsteht. Die wahrnehmbare
und wahrgenommene Wirklichkeit ist ästhetisch und der Begriff erweist sich als Resi-
duum einer Metapher" (KGW, WL, 111,2, 376).
Selbstverständlich wird damit der Begriff als Instrument der Philosophie nicht abge-
schafft, wie es die Nietzsche-Rezeption, je nach den von ihr anvisierten Zielen, entwe-
:
Gottfried Benn, „Pallas", in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1, Wiesbaden 1959,
365.
Ordnung schaffen 117
der befürchtet oder erhofft hat. Nietzsches „Artisten-Metaphysik" (KGW, GT, III, 1, 7)
ist eine epistemologische Maschine zur Reinigung der Begriffe von ihrem angemaßten
Anspruch auf Wahrheit. Die nämlich wäre, wenn überhaupt, nur in der begrifflich wie
metaphorisch unfassbaren Unmittelbarkeit des Körpers zu finden. Der Begriff ist nicht
mehr, wie von Hegel postuliert wurde, das Ordnungsprinzip, das alle metaphorischen
Ordnungen als ephemer zurückweist, sondern die ästhetische Ordnung der ,Artisten-
Metaphysik' ist der Prüfstein, an dem alle aus der metaphorischen Ordnung abgeleiteten
Begriffe zu messen sind.
Eine Philosophie, die jeden Begriff nach seiner metaphorischen Haltbarkeit beurteilt
und umgekehrt die Metapher nach ihren begrifflichen .Residuen' befragt, stellt sich
erkenntnistheoretisch als Paradoxon dar: sie will sowohl die größtmögliche Eindeutig-
keit des Begriffes, wie die größtmögliche Mehrdeutigkeit der Metapher erhalten. Das
führt zu epistemologischen Zwittern, die für Nietzsches Argumentation charakteristisch
sind. Deleuze hat versucht, dieses philosophische Zwitterwesen unter dem Bild des
,Nomadendenkens' zu fassen, das sich in der Bewegung zwischen Bild und Begriff
entfalte und wesentlich aus dieser Bewegung bestehe. Wie jede Metapher saugt auch
diese die Wirklichkeit des Modells, das sie beschreiben will, vollständig auf, dass
Nietzsche darin erst wieder sichtbar wird, wenn man die Differenzen herausarbeitet.
,Nomadendenken' beruft sich auf einen fundamentalen Einklang mit der Welt, der für
den Nomaden eine Frage des Überlebens ist. Es produziert aus diesem Grund zwar
keine Moral im Sinne Nietzsches, aber ein rigides Ordnungssystem, das sich als natürli-
che Ordnung im weitesten Sinne ausgibt.
Eine derartige Übereinstimmung von Leben und Denken ist für Nietzsche nur im
utopischen Horizont der ewigen Wiederkehr denkbar. Seine zwitterhafte Epistemologie
bekräftigt den Anspruch der Philosophie, nicht Beschreibung sondern Schöpfung von
Welt zu sein, ein globaler Ordnungsentwurf. Er ist kein Wüstensohn, der in der Ge-
meinschaft seines Stammes wurzelt, sondern ein evangelischer Pfarrerssohn, ein
Stamm, der wie kein anderer der Moral ergeben ist. Sie ist seine erste Heimat oder wie
es in der Vorrede zur Genealogie der Moral heißt sein ,A priori", mit dessen Herkunft
er seit seinem dreizehnten Lebensjahr befasst gewesen sei (KGW, GM, VI,2, 261). Er
verleugnet die Herkunft keineswegs, sondern macht sich in der Nachfolge Christi daran,
die alte Ordnung, die für die Welterlöser immer in „der Verlogenheit von Jahrtausen-
den" (KGW, EH, VI,3, 363) bestanden hat, zu entmachten. Wie Christus den Tempel
von den Geldwechslern säubert, so er den Tempel der Begriffe von den falschen Pries-
tern, der erste Schritt in der Lieblingsbeschäftigung aller Religionsstifter: wieder Ord-
nung zu schaffen.
Der ,tolle Mensch' Nietzsches hat den Ausgang aus Piatos Höhle gefunden und ent-
deckt, dass die Schatten an der Wand nicht von höheren Ideen stammen, nicht einmal
von toten Sternen. Das Schattenspiel ist schon seine Welt, neben der es eine andere
nicht geben kann. Der Versuch, diesem Spiel eine Ordnung zu finden, führt von der
118 Kurt Jauslin
Frage nach dem Woher zu der Frage nach dem Warum. Das ist, wie die Philosophie
erklärt hat, eine Kinderfrage, die Frage, die Nietzsche unentwegt stellt, und er lässt sich
nicht beruhigen von quietistischen Ausweichmanövern der Philosophie und von Erlö-
sungsphantasien der Religion. Erlöst werden wir nur vom Leben selbst, ein Heilsver-
sprechen, das erkennbar die äußerste Zumutung darstellt.
Die Moral, die das Miteinander und den Zusammenhang der Spieler regulieren will,
tritt als Ordnungsmacht des Schattenspiels auf. Während der kategorische Imperativ
Kants sich stets an ein autonomes Individuum richtet, das kraft seines apriorisch ver-
fügbaren Wissens über gut und böse selbst entscheidet, ist Moral ein radikal egalitäres
Prinzip, das von außen alle Entscheidungen festlegt, den Unterschied von Recht und
Unrecht definiert, richtet und straft und aus Sanktionen ein für alle geltendes Rechtssys-
tem errichtet. Ethos differenziert und wägt ab, Moral schert über einen Kamm. Nietz-
sches Vernichtung der Moral geht deshalb einher mit der Zurückweisung des egalitären
Prinzips, die in der Genealogie der Moral durch die Rekonstruktion der Hegeischen
Antinomie zwischen Herr und Knecht geleistet wird.
Die hierarchische Ordnung von Herr und Knecht ist durch ihre Herkunft aus dem Na-
turzustand der Stachel im Fleisch der Moral, ihr Ansporn, die Quelle der Anarchie
durch Reglementierung auszutrocknen. Moral ist im Verständnis Nietzsches die von
Thomas Hobbes konstruierte leviathanische Ordnung, die gewaltsam den Naturzustand
bereinigt. Sie ist die Ordnung der Knechte, die Deleuze in Nietzsches Beschreibung des
„reaktiven Menschen"3 gefunden hat. Die Moral ist selbst der Motor des verwerflichen
Handelns, der still zu stellen ist. Vorzugsweise geschieht dies in Philosophie und Reli-
gion durch Auflösung der grundlegenden Antinomie. Hegel hat in der Phänomenologie
des Geistes die divergierenden Aktivitäten der Bewußtseine von Herr und Knecht im
dialektischen Prozess des Denkens zum Ausgleich gezwungen. Die christliche Religion
hat die Antinomien des Alten Testaments durch das Erlösungswerk des Neuen aufzuhe-
ben versucht. Nietzsche weist beide Problemlösungen zurück. Die von der Moral ge-
setzte Antinomie von ,gut' und ,schlecht' wird als Folge aus dem Verhältnis von Herr
und Knecht nicht abgeschafft, sondern neu begründet. Die Moral als Motor des Han-
delns ersetzt er durch ein Ordnungsprinzip, das direkt der natürlichen Ordnung von Herr
und Knecht entspringt, den Willen zur Macht, der die Definitionsgewalt über ,gut' und
,schlecht' an sich zieht.
Der Prozess, den die Genealogie der Moral entwirft, zielt auf eine gesellschaftliche
Ordnung, die den Naturzustand nicht entwertet, sondern als wirkliche Wirklichkeit
einholt, die allerdings zu einem neuen Widerspruch führt: Die den Instinkten, die den
Naturzustand regieren, entnommene Ordnung, erweist sich als Versuch, ,den Tiger zu
reiten'. Die Definitionsgewalt über das Gute wird dem Herrn zugewiesen, das der Natur
entsprechende Verhältnis von Herr und Knecht der Hegeischen Dialektik entzogen. Das
führt zu inkommensurablen und auf Dauer kontingenten Machtverhältnissen, die der
ursprünglichem Absicht, von der Herrschaft der Moral zu befreien, zuwider laufen.
Der niedere Mensch, der Knecht oder Sklave, ist, Nietzsches Konstrukt folgend,
durch das ,Ressentiment' gezeichnet, das sich immer zuerst „den bösen Feind" kon-
struieren müsse, um sich auf dieser Folie einen Guten denken zu können, „sich selbst".
Die Vornehmen dagegen gingen vom „Grundbegriff gut" aus; schlecht sei für sie eine
„Komplementärfarbe" zu einem ursprünglich als gut Gedachten. Die „Sklavenmoral"
müsse deshalb das Gute für das Böse halten (KGW, GM, VI,2, 274). Das ist eine epis-
temologisch interessante Differenzierung. Die Situation der beiden konkurrierenden
Typen betreffend, stellt sie fest, dass die niederen Menschen sich offensichtlich in einer
Notlage befinden, die sie zwingt, die Ursache ihres Übels zu ergründen, eine Absicht,
die man nicht für unberechtigt erklären und deshalb nicht schlicht dem Ressentiment
zuschreiben kann. Die Knechte, um die ursprüngliche, von Hegel ererbte Terminologie
wieder aufzugreifen, liegen nicht falsch mit der Annahme, dass diese Notlage mit der
Überzeugung der .Vornehmen' zusammenhängt, sie allein verfugten über die Definiti-
onsgewalt des Guten. Die Knechte haben in Nietzsches Konstruktion gute Gründe für
den Verdacht, sie seien als ,Komplementärfarbe' ausersehen. Indem Nietzsche der von
Hegel übernommenen Antinomie ihren dialektischen Zusammenhang entzieht, negiert
er die von Hegel eröffnete Möglichkeit der Verständigung zwischen Herr und Knecht.
Ihre einzige Gemeinsamkeit besteht in der Überzeugung, schlecht sei nie das Eigene,
sondern immer nur das Andere. So treffen sie sich wieder im Ressentiment.
Die Differenzierung zwischen ,gut' und .schlecht' gehe auf das .Herrenrecht' zu-
rück, d. h. auf eine Definitionsgewalt, die aus der Distanz zwischen ,oben' und ,unten'
entsteht. Güte sei nicht Ausdruck des Altruismus, sondern Ausdruck von Stärke, Aus-
übung von Macht. Die Erkenntnis von ,gut' und ,böse', die sich der Gott des Alten
Testaments als seine eigene, unteilbare Macht vorbehalten hatte, und deren Anmaßung
durch den Menschen als Sündenfall registriert und mit der Austreibung aus dem Para-
dies bestraft hat, diese Einsicht oder Erfahrung entstehe aus dem ,Pathos der Vornehm-
heit'.
Gemäß Nietzsches etymologischer Erklärung von ,gut' und .schlecht', enthalten bei-
de Begriffe ursprünglich kein moralisches Urteil, da sich ,gut' vom Vornehmen und
Edlen, schlecht' aber von „schlicht" ableite und den „gemeinen Mann" beschreibe,
,
„noch ohne verdächtigen Seitenblick" (ebd., 275). Die Austauschbarkeit von ,schlecht'
und ,schlicht' ist sprachgeschichtlich bis ins frühe 19. Jahrhundert belegt. Beim ,Guten'
ist die etymologische Konstruktion weniger klar. Das hängt damit zusammen, dass der
moralische Gegensatz des ,Guten' weniger das ,Schlechte' als vielmehr das ,Böse' war
und ist. ,Schlecht' ist ein Alltagsbegriff, ein Urteil, das selbst der kontingenten Wirk-
lichkeit angehört; ,böse' enthält ein metaphysisches Urteil, das immer auf ein höheres
als nur menschliches Gesetz verweist. Man kann von gutem oder schlechtem Essen
reden, niemals von gutem oder bösem Essen. Ein schlechter Mensch ist nicht unbedingt
ein böser Mensch.
Auch im Fall des Guten scheitert Nietzsches Etymologie am Übergang des Begriffes
in ein moralisches Urteil: ,gut' und ,edel' sind nicht synonym wie ,schlecht' und
,schlicht', die zudem etymologisch ein Wort sind; der Zusammenhang zwischen beiden
funktioniert nur in eine Richtung: das ,Gute' ist auch das .Edle', das ,Edle' aber keines-
falls stets das ,Gute'. Es gibt keinen Zweifel, dass auch das Gute, das aus der Ausübung
von Macht entsteht, nichts anderes ist als eine moralische Kategorie, wie das Mitleid,
das den schlichten Menschen vorbehalten bleibt, weil ihnen die moralische Kategorie
des ,Guten' nicht verfügbar ist, aus ursprünglichem Mangel an jenem Edelmenschen-
120 Kurt Jauslin
turn, für das es nichts als ein Zeichen von Schwäche sein kann. Nietzsche entwickelt
aus der Etymologie eine Klassenhierarchie und aus dieser eine Rassenhierarchie. Man
muss feststellen (dürfen!), dass seine aus mythologischen, etymologischen, ethnologi-
schen und evolutionshistorischen Brocken montierte Konstruktion die epistemologische
Qualität Oswald Spenglers nicht wesentlich übertrifft.
Gegen das epistemologische Urteil lässt sich gewiss einwenden, es entstamme einer
Philosophie, die Nietzsche ,der Verlogenheit von Jahrtausenden' zurechnet. Es gehe
ihm, anders als Hegel, nicht um das richtige Denken, sondern um das richtige Leben,
das erst das wirkliche Leben werden soll. Das bisherige wirkliche Leben werde von
Gethsemane bis zu seiner Zeitgenossenschaft durch die ,Lüge' christlicher Moral be-
stimmt, ein .uneigentliches' nach der Terminologie Martin Heideggers, das durch seine
Existenz die Entfaltung des »eigentlichen' verhindert. Das richtige Leben beruft sich
nicht auf Gesetze des Denkens, sondern auf die menschliche Natur, die stets die Nega-
tivfolie gegenüber den Ordnungen der Moral gewesen ist. Moral entwickelt sich stets
im Widerspruch zum status naturalis.
Aufgabe des Denkens wäre es demnach, das falsche wirkliche Leben in das richtige
zu verwandeln, in dem die Natur des Menschentieres zu ihrem Recht kommt. In der Tat
wird damit der Anspruch der Philosophie aufgegeben, Ordnungen des Denkens zu er-
mitteln und zu erproben, da es keine Ordnungen gibt, die der kontingenten Natur kom-
plementär wären. Nicht das Denken, sondern die Welt soll in Ordnung gebracht werden,
das heißt: Natur soll nicht als Vorstellung des Denkens erscheinen, sondern sie soll den
Weg des Denkens bestimmen. Die ,Umwertung aller Werte' reflektiert auf die Umkeh-
rung des von der Philosophie erklärten Verhältnisses von Kopf und Bauch, nach Micha-
el Bachtin, auf die „Karnevalisierung" der Begriffe.4 An die Stelle der diskursiven Ord-
nungen, die machtlos sind gegenüber der kontingenten Natur, tritt die unendliche Folge
der Analogieschlüsse, in denen das Denken im Einklang ist mit seinem Gegenstand.
Damit aber ist nur die mythologische Ordnung der Natur rekonstruiert, die Nietzsche in
der griechischen Welt zu erkennen glaubte. Die Wirklichkeit der Natur verschwindet
erneut in der Fiktion. Nietzsches Raubtier ist ein flktionales Tier, das in der Natur nicht
vorkommt: Es ist der Mensch, das ,nicht festgestellte Tier'.
Die Analogie zwischen den hohen Menschen als den Raubvögeln und ihrem niederen
Gefolge als den Lämmern (ebd.,2, 293), demonstriert das Scheitern der Analogie an der
natürlichen Welt. Selbstverständlich weiß Nietzsche, dass an sich der Raubvogel weder
edel noch böse, das Lamm weder gut noch schlecht, nicht einmal schlicht ist. In der
natürlichen Welt des Fressens und Gefressenwerdens gibt es weder gut noch schlecht
und schon gar nichts Böses. Dem würde Nietzsche problemlos zustimmen. Seine Meta-
pher funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass es eine Naturwirklichkeit gibt, die
den aus der Metapher entwickelten Begriffen des Denkens unmittelbar kongruent ist.
Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankftirt/M.
1990.
Ordnung schaffen 121
Die Metapher ist aber, obwohl sie aus der Naturwirklichkeit entnommen ist, auch die
Metapher vom Lamm Gottes, nicht rückbezüglich auf die Naturwirklichkeit anwendbar.
Die Lämmer sind den Raubvögeln nicht ,gram' Sie versuchen, ihnen aus dem Weg
.
zu gehen. Die Frage nach dem ,Sein hinter dem Thun, Wirken, Werden', das es laut
Nietzsche nicht gibt, berührt die alte philosophische Frage nach der Differenz oder
Identität zwischen einer wirklichen Welt und einer als wirklich gedachten Welt, dem
kantischen ,Ding an sich' und dem ,als ob' der Vernunft, der Differenz zwischen dem
Menschen als Naturwesen und als Vernunftwesen, das man mit Hobbes oder Jean-
Jacques Rousseau jeweils für schlecht oder gut halten kann. Vom status naturalis her
wird man zwingend feststellen müssen, dass es keine Möglichkeit gibt, sich zwischen
Raubvogel und Lamm zu entscheiden. In der Natur wird man immer, was man ist oder
was man isst.
Nietzsches Satz käme der Sache bedeutend näher mit der Formulierung, dass es in
der Natur die Differenz von Sein und Handeln nicht gibt, es ist im Grunde obsolet, ob
man das Ergebnis als Sein oder Handeln bezeichnet, weil es kein Bewusstsein gibt, das
sich mit Kant oder Hegel das Sein konstruieren oder mit Marx durch das Sein bestimmt
sein könnte. Nietzsche redet nach alter Mythenweise metaphorisch, damit menschlich
von der Natur, die weder edel noch niedrig gesinnt, sondern einfach vorhanden ist. Es
gibt in der Natur nicht Starke und Schwache, sondern nur Stärken und Schwächen: Das
Lamm in seiner Herde ist stark, der Raubvogel schwach, sobald er am Boden angelangt
ist. Alles andere ist Projektion.
Das Zerbrechen der Analogie lässt sich detailliert am Verhältnis von Mitleid und
Grausamkeit verfolgen, Begriffen, die in Nietzsches Verständnis unvereinbare mensch-
liche Verhaltensweisen beschreiben. Beide kommen in der natürlichen Welt, auf die
sich die Analogie der Metapher bezieht, nicht vor. Gleichwohl rechnet Nietzsche die
Grausamkeit zu den natürlichen Instinkten, die immer im Recht seien. Das Mitleid da-
gegen wird, im ausdrücklichen Widerspruch zu Arthur Schopenhauers Mitleidsethik,
dem Herrschaftsbereich der Instinkte entzogen. Das Mitleid ist das wichtigste Merkmal
der Dekadenz des niederen Menschen, der sich unter der Herrschaft der Moral seiner
Instinkte schämt. Die Freude an der Grausamkeit dagegen sei als „Eigentum einer älte-
ren Menschheit" (ebd., 319) dem moralischen Urteil entzogen, aufgrund der unbegrün-
deten Annahme, diese habe im Einklang mit der Natur gelebt. Der Analogieschluss vom
grausamen zum natürlichen Verhalten scheitert in der Analogie, die Nietzsche im Bild
der griechischen Götterwelt und ihrem Ursprung aus den Naturgewalten entwirft: Die
Götter kennen keine Grausamkeit, weil sie Bilder der Naturgewalten sind und wie die
Tiere handeln. Das beste Vorbild für die Übung der Grausamkeit ist durchaus der Gott
des Alten Testaments, der mit ihrer Hilfe das auf seinem eigenen Gesetz gegründete
Herrenrecht über seine Knechte ausübt.
Die Grausamkeit bleibt, im Gegensatz zum Mitleid, dem moralischen Urteil entzo-
gen, weil sie zu Nietzsches Herrenrechten gehört. Ihre Übung erweist nicht nur die
Überlegenheit des Herrn über den Knecht, sondern sie ist das Indiz dafür, dass die Be-
gründung der Gesellschaft im Recht auf Kants transzendentale Fiktion des kategori-
schen Imperativs so wenig angewiesen ist, wie auf die christliche Fiktion vom ewigen
Gesetzgeber und höchsten Weltenrichter. Der transzendentale Zusammenhang von
122 Kurt Jauslin
Schuld und Strafe wird in einen immanenten Zusammenhang von Gläubiger und
Schuldner verwandelt. Auf den ersten Blick entspricht das in erstaunlicher Weise dem
heutigen pragmatischen Rechtsverständnis, erstaunlich deshalb, weil Nietzsche in den
egalitären Voraussetzungen dieses Systems den Gipfel der Dekadenz erreicht sah.
Nietzsche war nicht pragmatisch. Der Interessenausgleich, in dem Schuld und Strafe
vollständig in die materielle Gegenleistung zu Lasten der Ökonomie oder des Körpers
verlegt sind, müsste den Antagonismus von Herr und Knecht ausgleichen. Das aber ist
für Nietzsche nichts als der Sündenfall der Moral. Der Ausgleich entsteht aus dem Pro-
zess, in dem das Bewußtsein des hohen Menschen sich bildet. Wie Hegel rekonstruiert
Nietzsche die Entstehung der sozialen Verhältnisse als Denkbewegung des Bewusst-
seins, allerdings ohne dessen dialektische Struktur. Der Ausgleich geht auf die einseiti-
ge Setzung des Herrenrechts zurück.
.Gerechtigkeit' sei nur auf Grund der Herrenmoral möglich: Gerechtigkeit könne
nicht aus dem .Ressentiment' hervorgehen, nicht aus dem ,reaktiven' Handeln gegen-
über der Tat, nicht aus der ,Rancune', die das Recht auf Rache und Sühne gründen will,
sondern nur aus der aktiven „Aufrichtung des Gesetzes", das „Willkürakte" als Verstoß
ahndet. Weil das Gesetz etwas Selbsthandelndes, Aktives ist, könne es nur aus der
„Sphäre der Aktiven, Starken, Spontanen, Agressiven" entstehen (ebd., 327). Nur durch
dieses, aus einer Position der Stärke entwickelte Gesetz sei es möglich, Recht und Un-
recht zu unterscheiden, die ohne den durch den Antagonismus von Herr und Knecht
ausgelösten Prozess der Bewusstseinsbildung nicht wahrnehmbar wären. Ihre Bestim-
mung, die Selbstbestimmung der ,Herrenmoral' gegenüber der ,Sklavenmoral' ist Er-
gebnis des sich in der Geschichte verwirklichenden Selbstbewußtseins der .Vorneh-
men'.
Die entscheidende Differenz gegenüber Hegel besteht darin, dass Nietzsche diese
Bewegung nicht als Selbstverwirklichung des Geistes in der wirklichen Welt versteht,
sondern als Fiktion, die ein ,Als ob' gegenüber dem ,An Sich' der natürlichen Wirk-
lichkeit produziert. An sich könne man von Recht und Unrecht nicht reden, könne das
Verletzen und Vergewaltigen kein Umecht sein, weil das Leben selbst „essentiell [...]
verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert" (ebd., 328). Durch die
Fiktion des Rechts wird eine biologische Funktion des Lebenswillens zwar nicht ausser
Kraft gesetzt, aber auf Zeit ausgesetzt. Die Installation des Rechts führt, wie Nietzsche
mit Missfallen registiert, zu „Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens" (ebd.).
Deshalb mussten ,Rechtszustände' stets ,Ausnahmezustände' bleiben. Das Recht ist
reduziert darauf, den Kampf aller gegen alle, der zur Aporie des status naturalis wird,
einzudämmen. Nietzsches Umwertung kehrt das egalitäre demokratische Rechtssystem
um: Nicht der Zustand der Rechtlosigkeit ist der Ausnahmezustand, sondern die
,Rechtszustände' selbst.
seinem eigentümlichen freien Gang" (Friedrich Schiller) behindert wird. Es gibt dem-
nach so etwas wie ein richtiges Leben jenseits von ,gut' und ,böse', das nicht durch das
Recht geregelt ist, sondern dessen Ordnung durch die „herrschaftliche Rolle der höchs-
ten Funktionäre" (ebd., 332) bestimmt wird, durch die natürlichen Konstanten der
menschlichen Instinkte, die nicht moralisch domestiziert werden dürfen, aber ästhetisch
sublimiert werden müssen. Gegenüber der Fiktion des Rechts erweist sich das richtige
Leben als ,An sich', funktional darin, dass es sich an der Funktion des Lebenswillens'
definiert. Die Moral ist das Signum des falschen Lebens, das fallen muss. Nietzsche
teilt mit Theodor W. Adorno die Überzeugung, es gebe kein richtiges Leben im fal-
schen.
Es geht Nietzsche darum, eine Wirklichkeit zu konstruieren, die eine andere gegen-
über der vermuteten Naturwirklichkeit und eine andere als die Wirklichkeit des Den-
kens ist, eine, in der die Kontingenz der natürlichen Welt und die Ordnungen des Den-
kens übereinstimmen, in der Hegels Idee irdisch geworden und tatsächlich das
Vernünftige das Wirkliche und das Wirkliche das Vernünftige ist. Die Ordnung, die
keine Moral braucht, kann nur eine ästhetische sein. Sie verwirklicht sich ästhetisch in
Nietzsches Vorstellung vom Spiel für die Götter, in der Allegorie des großen Weltthea-
ters, der Stage-Allegorie.
Sein Konzeption des Welttheaters ist, trotz griechischer Drapierung, unverkennbar
dem christlichen Theatermodell verpflichtet. Das himmlische Tier, das auf der Bühne
zur Erbauung Gottes oder der Götter agiert, leidet am schlechten Gewissen, das seinen
Ursprung im Wesen der Allegorie selbst hat, die, wegen ihrer doppelten Bindung, im-
mer ein himmlisches und ein irdisches Gesicht vorweisen muss. Die Fehlbarkeit gegen-
über den Ansprüchen des Himmels und die wirkliche Wirklichkeit des Leidens sind
nicht in Einklang zu bringen. Zur Befriedung des Gewissens und zur Linderung des
Leidens müssen die nach außen gerichteten Instinkte nach innen gewendet werden. Sie
richten sich damit „gegen den Menschen selbst", (ebd., 338f), der das Menschentier in
sich abtöten muss, ohne dass es ihm gelingt, dadurch zum Gott zu werden. Die Thea-
termetapher verdeutlicht als ästhetisches Konstrukt vor allem, dass das neue ,An sich'
eines richtigen Lebens nur aus einer neuen Fiktionalisierung der Instinkte entstehen
kann, die allerdings ohne den hilfreichen moralischen Kanon auskommen muss. Die
Fiktionalisierung der ursprünglich nur dem Lebenswillen entsprungenen und darüber
hinaus vollkommen kontingenten Instinkte muss zu Kausalitäten und zur Automatisie-
rung des Denkens hinsichtlich seiner Zielsetzungen führen. Nietzsche versucht die Au-
tomatisierung zu vermeiden, indem er die Konkretion des Zieles in die Zukunft verlegt,
in der das richtige Leben als „ein großes Versprechen" (ebd., 340) wartet, als irdisches
Paradies.
Der utopische Horizont, vor dem sich das richtige Leben auf der Weltbühne abspielt,
muss zur ,ewigen Wiederkehr' des schlechten Gewissens führen. Es resultiert, dem
Wesen der Utopie gemäß, aus der Unerreichbarkeit des Zieles, das ein nicht eingelöstes
Versprechen bleibt. Will man die Kontingenz der natürlichen Wirklichkeit in Demut
anerkennen, wie es unabweislich scheint, und zugleich festhalten, dass ein anderes Ord-
nungsprinzip als das ästhetische nicht zur Verfügung steht, so wird man sich von der
Theatermetapher verabschieden müssen, weil es den höheren Zuschauer nicht gibt, den
124 Kurt Jauslin
soll die Philosophie zur Wirklichkeit dieses Lebens vorstoßen, andererseits räumt
Nietzsche ein, dass auch das Leben des Philosophen nur eine Form von Askese ist.
Der Triebverzicht des asketischen Ideals erweist sich als ambivalente Forderung, die
das Janus-Gesicht der Stage-Allegorie spiegelt. Auch der Philosoph fordert sexuelle
Enthaltsamkeit, weil der Trieb das Denken behindere. Der Begriff des asketischen Ide-
als entwickelt eine negative Dialektik, deren Prozess mühsam zu stoppen ist. Das aske-
tische Ideal ist unverzichtbar für den Fortgang der Vernunft, führt aber mit seinem Ein-
dringen in das wirkliche Leben zu iher „Selbstverhöhnung" (ebd., 382). Reduziert man
die Dialektik auf das interessenlose, von den Affekten gereinigte ästhetische Subjekt
Kants, kehrt das asketische Ideal wieder, das die perspektivische Sicht der Vernunft
zunichte machen will, um „den Intellekt zu castrieren" (ebd., 383). Der Asket ist die
Inkarnation des falschen Lebens, nicht weil er bescheiden oder selbstgenügsam wäre,
sondern wegen seiner Überheblichkeit, die das Krankhafte zum Gesunden, Gerechten
und Guten erklärt und sich zum Richter ernennt über „Gesundheit, Wohlgeratenheit,
Stärke, Stolz, Machtgefühl", die er verurteilt, „wie als ob" die Eigenschaften „an sich
schon lasterhafte Dinge seien". Wie der römische Aufklärer Celsus in seiner Polemik
gegen die Christen, erkennt Nietzsche den absoluten Machtanspruch der Asketen: „wie
sie im Grunde dazu bereit sind, büssen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu
sein!" Mit einem Wort: „Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht ge-
nommen" (ebd., 386).
Die überhebliche Bescheidenheit ist ein tief destruktives Ordnungsprinzip; der Asket
ist, um es in einem an Nietzsche angelehnten Bild auszudrücken, das moralische Tier,
das durch eine falsche Interpretation der Instinkte entsteht und damit die Moral und die
Instinkte vernichtet. Dieses asketische Ideal schlägt bei Nietzsche in seiner höchsten
Verkörperung auf beinahe dialektische Weise ins Gegenteil um. Der „asketische Pries-
ter, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende, er gerade gehört zu
den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens" (ebd., 384).
-
Mit seiner Verhöhnung der ausgleichenden Vernunft weist er auf die andere Wirklich-
keit des Lebens, auf Schmerz und Tod hin, auf das „kranke Tier", das der Mensch als
„nicht festgestelltes Tier" ist. Der asketische Priester verfolgt ein philosophisches Pro-
jekt, das man die Erkenntnis des Schmerzes nennen könnte. Der Schmerz und die Wun-
de des Daseins sind seine Wirklichkeit. Der „asketische Priester" ist der Stachel im
Fleisch der Zufriedenheit, das entschiedene Urteil, dass das wirkliche Leben noch nicht
erreicht, nicht einmal richtig gedacht, geschweige denn gelebt sei. Das macht ihn zu
einem „ewig Zukünftigen" (ebd.,2, 385).
Die Denkfigur des ,asketischen Priesters' verdeutlicht, warum Nietzsche dem asketi-
schen Ideal einen derart prominenten Platz in der Genealogie der Moral einräumt. Das
asketische Ideal ist nicht zu denken, sondern nur zu leben. Es beschäftigt zuerst den
Körper, den es der schmerzlichen Wirklichkeit ausliefert, bevor das Denken zu seinen
ersten Folgerungen gelangen kann. Die Erkenntnis des Schmerzes ist ihm die bewusst-
seinsbildende Kraft, und der Körper ist dem Asketen, wie für Montaigne, die Quelle
aller Empirie, aus der sich das wirkliche Leben nährt. Es ist aber nicht das richtige
Leben. Der ,asketische Priester' gehört, ohne seine Verdienste um die Erkenntnis zu
-
schmälern, zu den Standpunkten, die überwunden werden müssen. Die Erkenntnis des
126 Kurt Jauslin
Schmerzes beschreibt in der Figur des asketischen Priesters nicht nur die körperliche
Empirie des Denkens, sondern auch den Eingriff des Denkens in den Körper des Philo-
sophen. Die Genealogie der Moral entwickelt sich unmittelbar aus dem wirklichen
Leben des Philosophen, in dem das Denken den Körper aufzehrt. Ein gefräßiges Groß-
hirn ist am Werk, das sämtliche Instinkte für seine Ziele instrumentalisiert und jede
sinnliche Erfahrung auf der Stelle in eine Metapher verwandelt. Der Philosoph opfert
die Bedürfnisse seines Körpers auf dem Altar des Denkens wie ein asketischer Priester,
nicht mehr aus der Gewissheit jenseitigen richtigen Lebens, sondern aus der Überzeu-
gung, dass das Denken selbst sich nach dem Prinzip der ewigen Wiederkehr einen neu-
en Körper schafft, der seiner nicht mehr bedarf und endlich im wirklichen und richtigen
Leben ankommt.
Weil es für Nietzsche kein richtiges Leben im falschen geben kann, auch keine jen-
seitige Instanz, die den Begriff des richtigen Lebens feststellt, muss die neue Ordnung,
die stets in Bewegung auf ein Zukünftiges ist, wie bei Hegel, aus der Selbstentfaltung
des Bewusstseins entstehen. Die Wirklichkeit der Instinkte, die tritt in dieser Ordnung
nicht in ihrem ,An sich' hervor, das nichts als die natürliche Kontingenz wäre, sie er-
scheint nicht ,für sich' und unzugänglich für das Denken, sondern als eine Ordnung an
und für sich, als eine vom Denken zugerichtete, wieder in Ordnung gebrachte Wirklich-
keit.
Ordnung schaffen heißt, das ,nicht festgestellte Tier' fest zu stellen. Die Ordnung,
wie sie Nietzsche entwickelt, ist nur als ästhetische zu begründen, will man nicht Kants
transzendentales Prinzip oder Schopenhauers Mitleidsethik bemühen und, wie Nietz-
sche überzeugt ist, in die von Kant bemängelte selbstverschuldete Unmündigkeit' zu-
rückfallen. Das Referenzmodell für eine nicht moralisch begründete Ordnung ist Schil-
lers Ästhetik des Schreckens, die Nietzsches Spiel für Götter als eine von der Moral
befreite ästhetische Ordnung erklärt, die „in der bedenklichen Anarchie der moralischen
Welt, die Quelle eines ganz eigenen Vergnügens" entdeckt.5 Schiller ist weit davon
entfernt, die moralische Ordnung abzuschaffen. Er hat das nicht nötig, weil er die ästhe-
tische als eine von ihr unabhängige rekonstruiert, die auch die überlegene ist: „Wenn
keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesez
mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Pal-
lastes herunter wankt, und der Kindermord jezt geschehen ist."6
Nietzsches ,Bestie', sein ,hoher Mensch', der in der Gewalttätigkeit die Freiheit sei-
nes Handelns erweist, wird von Schiller ästhetisch gerechtfertigt, weil er jenseits von
,gut' und ,böse' die Jndependenz' der Imagination bezeugt, „aus jedem Furchtbaren
ein Erhabenes zu erzeugen".7 Der Begriff des »Erhabenen', den Schiller von Edmund
Burke übernimmt, setzt das „moralische Urteil" außer Kraft und bewirkt, daß wir „den
Schreckbildern der Einbildungskraft", weil nur dem „ästhetischen Urteil" verpflichtet,
„furchtlos und mit schauerlicher Lust" begegnen.8 Das Janus-Gesicht der Allegorie des
Friedrich Schiller, „Über das Erhabene", in: Schillers Werke Nationalausgabe, Bd. 21, Weimar
1963,41.
6
Ders., „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?", in: ebd., Bd. 20, 92.
7
Ders., „Über das Pathetische", ebd., 210.
8
Ders., „Über das Erhabene", 47.
Ordnung schaffen 121
Welttheaters kehrt wieder im Oxymoron, mit dem Schiller die neue Freiheit von der
Moral in der Figur des pathetischen' und des .Erhabenen' als Ordnung letzter Hand
beschreibt, „weil wir uns bei ästhetischen Urteilen erweitert, bei moralischen hingegen
eingeengt und gebunden fühlen".9
Ohne die Präferenz des ästhetischen Urteils müsste, wäre mit Nietzsche zu sagen, das
moralische Urteil als einziges Ordnungsprinzip übrig bleiben, und der Wille müsste sich
entweder mit Rousseau selbst disziplinieren oder mit Hobbes durch die Gewalteinwir-
kung der staatlichen Organisation diszipliniert werden. Folgerichtig hat Bernard Man-
deville 150 Jahre vor Nietzsche in der Inquiry into the Origin of Moral Virtue seiner
Bienenfabel die Moral als Instrument zur Befestigung der Herrschaft der wenigen über
die vielen identifiziert, der Tugend das Verdienst abgesprochen und das Mitleid als
Mittel zur Selbstbestätigung erklärt.10
9
Ders., „Über das Pathetische", 216.
10
Bernard de Mandeville, „An Enquiry into the Origin of Moral Virtue", in: Ders., The Fable of the
Bees, Oxford 1924, Bd. 2, 47.
128 Kurt Jauslin
schlechten Menschen sondern nur gute und schlechte Taten. Güte erscheint als
geben,
etwas Widernatürliches, dessen Existenz sich nicht begründen lässt, als das eigentliche
Problem ethischer Ordnungen. In seinem Gedicht Menschen getroffen zählt Benn eine
Reihe von Leistungen der menschlichen Natur auf, die man alle dem unbestimmten
Begriff der Güte zurechnen könnte, und endet mit der Formulierung des Problems jeder
Ethik: „Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden/ woher das Sanfte und
das Gute kommt/ weiß es auch heute nicht und muß nun gehn."11
11
Gottfried Benn, „Menschen getroffen", in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 3, 321.
Volker Ebersbach
Vorwurf trifft das „Christenthum" nicht allein: „In allen pessimistischen Religionen
wird der Zeugungsact als schlecht an sich empfunden [...]" (KSA, MA I, 2, 135).1
,Asketische Ideale'2 sind Instrumente der Verleumdung des Erotischen in der Liebe.
Mit dieser Verleumdung wird aus der Liebe die altruistische, karitative, unegoistische
,Nächstenliebe' herausgespalten und das erotische Begehren, die Sexualität, herabge-
würdigt. Die „Liebe zu Gott und den Menschen um Gotteswillen" (KSA, JGB, 5, 118;
vgl. ebd., 79, 213) soll eine „allgemeine Menschenliebe" erzeugen, die sich allerdings
als „Utopie" (KSA, M, 3, 138f.) erweist: „Zuletzt ist die ,Liebe zum Nächsten' immer
etwas Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im
Verhältnis zur Furcht vor dem Nächsten" (KSA, JGB, 5, 122). Zarathustra korrigiert
den verlogenen Altruismus der Kirche: „Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch,
aber seid mir erst Solche, die sich selber lieben" (KSA, ZA, 4, 216). Auch Christus
-
verlangt nur, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, nicht mehr als sich
selbst. Und „höher noch als die Liebe zu Menschen", stellt Zarathustra fest, „ist die
Liebe zu Sachen und Gespenstern". Er rät zur „Nächsten-Flucht und zur Fernsten-
Liebe" (ebd., 77). Die Verleumdung des Eros hat, weil sie ihm „Gift zu trinken" gibt,
üble Folgen, die ihren Zielen zuwiderlaufen: „[...] nicht wenige, die ihren Teufel aus-
treiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue" (ebd., 70). In seiner Lust, denen, die
ihn gequält haben, möglichst viel Unangenehmes zu sagen, geht Nietzsche sehr weit:
Die „Kunst der rechtschaffenen' Verleumdung" des Eros durch die „Missrathenen",
durch die „Schwachen", „Leidenden" und „Kranken", die „Heillos-Krankhaften", „die
zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen", die „Eitlen", „die verlogenen Missgeburten",
die „Species der moralischen Onanisten und ,Selbstbefriediger'" ist ein „Giftgewächs"
und zugleich die „grösste Gefahr für die Gesunden". (KSA, GM, 5, 367ff.) Die Vor-
würfe „Schuld" und „schlechtes Gewissen" (ebd., 331) bleiben nicht ohne verheerende
Folgen: ,J3öse denken heisst böse machen. Die Leidenschaften werden böse und
tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden" (KSA, M, 3, 73). Nietzsche
-
erlebt die „Moral als Widernatur", „die Praxis der Kirche" als „lebensfeindlich", als
„Castratismus" (KSA, GD, 6, 82ff.)
1
Den Akt der Geburt bei Tieren beobachtet zu haben, schildert Nietzsche seinem Freund Carl von
Gersdorff am 24. 7. 1874 fast ehrfürchtig als bedeutendes Erlebnis: „[...] auf dem Rückwege warf
eine Ziege vor meinen Augen ein Zicklein, das erste lebendige Wesen, welches ich gebären sah.
Das Junge war viel behender als ein kleines Kind und sah auch besser aus, die Mutter leckte es und
benahm sich wie mir schien sehr vernünftig, während Romundt und ich furchtbar dumm dabeistan-
den" (KSB 4, 247).
Ihnen widmet Nietzsche in der Genealogie der Moral ein entlarvendes Kapitel, die Dritte Abhand-
lung: was bedeuten asketische Ideale? (KSA, GM, 5, 339ff).
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit..." 131
Nietzsche ist weder der erste große Leidende noch der erste Ankläger. Wilhelm
Heinse (1746-1803) entwarf in dem seinerzeit Aufsehen erregenden Roman Arding-
hello und die glückseligen Inseln eine utopische Sezession aus moralischer Enge in
erotische Freizügigkeit. Er war es wohl, der während Friedrich Hölderlins Aufenthalt
mit Susette Gontard 1796 in Bad Driburg, im selben Haus wohnend, das heimlich
leidende Liebespaar dazu ermunterte, einander Erfüllung zu gewähren.3 Der junge
Johann Wolfgang Goethe verteidigt in seiner Farce Götter, Helden und Wieland die
Antike gegen verunglimpfende Vorwürfe des „Lasters" durch ein „aberweises Jahr-
hundert", das die Griechen noch mit den Illusionen Johann Joachim Winckelmanns
betrachtet.4 In seinem Dramolett Satyros oder Der vergötterte Waldteufel entkommt
ein Einsiedler knapp dem ländlichen Volk, das sein Kruzifix verspottet und sich einem
Satyr zugewandt hat.5 Die Verleumdung des Erotischen in der Liebe ist Gretchens
Schicksal im Ersten Teil des Faust, und in den Wahlverwandtschaften müssen die
Beteiligten einer Dreiecksgeschichte dafür büßen, dass sie dem Erotischen in ihrer
Liebe entsagen wollten.
Aber „während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertöd-
tet zu haben glaubt", sich täuscht, lebt sie nicht nur „auf eine unheimliche vampyrische
Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen" (KSA, WS, 2, 590). Das eroti-
sche Begehren schleicht zurück in die „Religion der Liebe" (KSA, AC, 6, 201). Das
führt zur „Vergeistigung der Liebe", insgeheim „ein großer Triumph über das
Christenthum" (KSA, GD, 6, 84), zur ,Jiebe als Passion" (KSA, JGB, 5, 212), zur
vornehmen, abendländisch ritterlichen Liebe, in der „unter dem Druck christlicher
Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat"
(ebd., 111), so dass heute „die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde,
das allen Kreisen gemein ist, in einer dem Alterthum unbegreiflichen Übertreibung"
(KSA, M, 3, 74). Erst in diesem Klima kann die Liebe zu einem Zustand zurückfinden,
-
in dem sich der ,Gegensatz' zwischen ,Keuschheit' und Sinnlichkeit' wieder auflöst:
„Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar die Begierde" (KSA, FW, 3, 425). Diese
„neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe" (KSA, GM, 5, 268), dieser
„feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat",
der aus ihm „eine lyrische Religion" gemacht hat, ist eine Gefahr für den „décadent"
Nietzsche, aber auch eine Chance für „dessen Gegensatz" (KSA, EH, 6, 266).
3
Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin, Frankfurt/M. 1978, 465ff.
4
Johann Wolfgang Goethe, Poetische Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 5, 182-195.
Ders., ebd., 165ff.; 168: „Es tut mir in den Augen weh/ Wenn ich dem Narren seinen Herrgott seh
132 Volker Ebersbach
ben.6 Sie passte in die Tribschener Villa und hätte auch in die Villa Wahnfried gepasst.
Richard Wagner hatte nichts zu befürchten, wenn er seine Frau allein in Begleitung
seines Bewunderers nach Mannheim reisen ließ. Nietzsche ist auch ihr Bewunderer.
Sonst schweigt er sich vollkommen aus. Erst Wahnzettel bringen es Anfang Januar
1889 an den Tag: „Ariadne, ich liebe Dich" (KSB, 8, 572).7
Im März 1882 machen Malwida von Meysenbug und Paul Rée in Rom ihren Freund
mit Louise von Salomé bekannt. Ausgerechnet in der weihrauchdunstigen Peterskirche
trifft man sich, wo Rée in einem Beichtstuhl mit ,Arbeitsnotizen' beschäftigt ist. „Von
welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?"8 soll Nietzsche bei ihrem An-
blick ausgerufen haben. Ein besonderes Erkennen, dem mystischen Wiedererkennen
einer Liebe auf den ersten Blick nicht unverwandt, liegt über der Begegnung. Der geis-
tige Reiz ihrer Vaterstadt Sankt Petersburg ist Nietzsche bekannt durch seinen Freund
Overbeck, der dort aufgewachsen ist, und in den Romanen Fjodor Dostojewskijs, die er
1887 entdeckt, wird er ihm wiederbegegnen. ,Ljola' lief als kleines Mädchen durch die
Straßen, in denen Dostojewskijs Romane spielen, und sie hat Geschichten wie er in
ihrem Kopf. Sie ist, abgesehen von der Staatsbürgerschaft, keine ,Russin', sondern vom
Vater her hugenottischer und baltisch-deutscher, von der Mutter her hamburgisch-
hanseatischer Herkunft. Unter fünf Brüdern müsste sie sich behaupten. Sie weiß also
die Männer zu nehmen. Den Kosenamen ,Lou' hat sie von ihrem Lehrer Hendrik (Hen-
ri) Gillot, der sich in seine Schülerin so verliebte, dass er Frau und Kind verlassen hätte,
wäre sie zu haben gewesen. Sie kennt es, einem Mann den Kopf verdreht zu haben und
ihn enttäuschen zu müssen. Sie kennt auch ein „Verschen", das Nietzsche, dem Vereh-
rer alles Raubtierhaften (KSA, JGB, 5, 117) gefallen muss: „Die Welt, sie wird dich
schlecht begaben, glaube mir's! Sofern du willst ein Leben haben: raube dir's!"9 Sie hat
den protestantisch reformierten Kirchenglauben abgelegt und ist bereit, in den „soge-
nannten ,unübersteiglichen Schranken', die die Welt zieht", nur „harmlose Kreidestri-
che" zu erblicken.10 Sie weiß wie Nietzsche vom Egoismus der Liebe" (KSA, M, 3,
137), von der „Gottlosigkeit, Gottverlassenheit der Liebe" (KSA, FW, 3, 527f).
Eine Schönheit für die Liebe auf den ersten Blick ist Lou nicht, und Nietzsche traut
sich selbst zu wenig, um sich so zu verlieben. Er meint: „Auch die Liebe muß man ler-
nen" (ebd., 560). Über die bürgerliche Ehe, auf die es hinausläuft, wenn man einen
Heiratsantrag macht, denkt er ohne Illusionen. Sie ist die „erlaubte Form der Ge-
6
Dazu: Hermann-Peter Eberlein, Flamme bin ich sicherlich. Friedrich Nietzsche, Franz Overbeck und
ihre Freunde, Köln 1999, 85f; Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner, Berlin
1998.
7
Die Jenaer Krankengeschichte (Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine
medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990, 397) verzeichnet für den 27. März 1889
Nietzsches Aussage: „Meine Frau Cosima hat mich hierher gebracht." Da bei der Ankunft in Jena sei-
ne Mutter die Begleiterin war, scheint sich ein Hauch von Respekt vor mütterlicher Autorität, mit al-
len Widerständen dagegen, in Nietzsches Liebe zur ,hohen Frau' Cosima Wagner geschlichen zu ha-
ben.
8
Lou Anderas-Salomé, Lebensrückblick, aus dem Nachlass hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt/M., 80.
9
Dies., ebd., 56f.
10
Dies., ebd., 78.
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit..." 133
schlechtsbefriedigung" (KSA, NF, 10, 18). Trotzdem macht er der klugen, herben Stu-
dentin einen förmlichen Antrag, täppisch genug, auf dem Umweg über Rée, der sich
selber Hoffnungen hingibt. Schon bei Mathilde Trampedach hat er den Musiker Hugo
von Senger als Fürsprecher benutzt, ohne zu ahnen, dass der selbst um das Fräulein
warb, das er dann auch heiratete. Lou lehnt mit der Begründung ab, sie hege eine
„grundsätzliche Abneigung gegen alle Ehe überhaupt"", hoffend, darin mit dem unver-
hofften Brautwerber übereinzustimmen. Man einigt sich auf ein allein den Studien ge-
widmetes Leben zu Dreien, eine ,Dreieinigkeit', und will entweder nach Wien oder
Paris gehen. Doch Nietzsche hält sich nicht daran. Er glaubt, in der „Abneigung gegen
alle Ehe" keinen Einwand gegen ein Liebesverhältnis sehen zu müssen, und Lou entmu-
tigt ihn nicht völlig. Die Gedanken über ,Liebe' und ,Weib', die er bis zur gerade abge-
schlossenen Fröhlichen Wissenschaft niedergeschrieben hat, sind für ihn selbst schwer
auszuhalten. Wie willkommen wäre ihm eine junge vorurteilsfreie Frau, die ihm zeigte,
dass er sich täuscht oder es wenigstens eine Ausnahme gibt. Wenn er ihr die Heirat
anträgt, um sie vor moralischem Argwohn der Gesellschaft gegen ihr Sonderverhältnis
zu schützen, hofft er vielleicht, gegenüber Rée in einen Vorteil zu kommen und eine
Nähe zu schaffen, in der schließlich doch ein erotischer Funke überspringt. Dass Lou
nicht frigid, sondern nur noch nicht erweckt war, zeigt später ihre heftige Liebesbezie-
hung zu Rainer Maria Rilke.
So hält er sich in einer Falschmünzerei der eigenen Gefühle selbst nicht an das, was
er längst weiß. Bei einem Reiseaufenthalt am Orta-See besteigen sie allein den Monte
sacro und haben auf dem Gipfel eine Szene, die stürmisch genug ist, dass beide einen
Schleier der Diskretion darüberlegen. „Ob ich Nietzsche auf dem Monte sacro geküßt
habe ich weiß es nicht mehr",12 äußert Lou in einem späten Gespräch. Womöglich
hat dieser Kuss sie ebenso abgekühlt wie Nietzsches Versuche, Rée vor ihr herabzu-
-
setzen. „Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind,"
gesteht Nietzsche später, „sie haben eine Art, das Glück zu fassen, als ob sie es erdrü-
cken und ersticken möchten, aus Eifersucht, ach, sie wissen zu gut, daß es ihnen
davonläuft!" (KSA, JGB, 5, 229). In einem Brief an Lou fleht er: „Ja, ich glaube an
-
Sie: helfen Sie mir, daß ich immer an mich selber glaube" (KSB, 6, 197). Lou wirkt
belebend und gesundend auf ihn.
Nach Plänen, sich in märkischen Kiefernwäldern nahe Berlin zu treffen, trifft man
sich in Tautenburg, unweit von Jena, durchstreift drei Wochen die Forste in unentweg-
tem Gespräch. Nietzsche führt eigens ein Heft mit Aufzeichnungen für Lou von Salomé
(KSA, NF, 10, 9^42), von denen einige als Sprüche und Zwischenspiele in Jenseits von
Gut und Böse auftauchen. ,JJie Ehe als langes Gespräch" (KSA, MA, 2, 279) scheint
Wirklichkeit zu werden. Nietzsche ist fest überzeugt, dass Lou sich im Irrtum befindet,
wenn sie ihn nicht wiederliebt. Er versucht es mit Freundschaft, obgleich er Freund-
schaft zwischen Mann und Frau nicht für möglich hält. Als Freund und Lehrer glaubt
er, sie von diesem Irrtum zu befreien. Sie stimmen so sehr überein, dass ein Zuhörer
geglaubt hätte, „zwei Teufel unterhielten sich".13 Sätze Zur Lehre vom Stil tragen den
11
Dies., ebd., 80.
12
Dies., ebd., 236, Anm. zu 80.
13
Dies, ebd., 84.
134 Volker Ebersbach
Vermerk: „Einen guten Morgen, meine liebe Lou!" (KSA, NF, 10, 39). Er lässt sich
ausbeuten. „Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine
Schüler ernst, sogar sich selbst" (KSA, JGB, 5, 85). Lou beutet ihn mit gutem Gewis-
sen aus, gehört doch das Recht auf Ausbeutung zu den Grundpfeilern seiner Philoso-
-
phie.
Die Sitte der Zeit erfordert eine Anstandsdame. Während Nietzsche in einem anderen
Haus allein wohnt, logiert Lou mit Nietzsches Schwester Elisabeth beim Pfarrer. Lis-
beth ist nicht bereit, ihren ,Herzens-Fritz' herzugeben. Er braucht nur den Begriff „wil-
de Ehe" in den Mund zu nehmen, und sie schreit hysterisch und übergibt sich.14 Die
nicht unerotische Bindung an den Bruder hat das ,Lama' noch immer nicht heiraten
lassen. Seine Ehefrau kann und darf sie nicht werden. Sie begnügt sich damit, seine
geistige Partnerin zu sein, und gerade das nimmt Lou ihr nun auch weg. Elisabeths Ei-
fersucht ist ein Indiz dafür, dass es zwischen Nietzsche und Lou erotisch knisterte. Der
unüberwindliche Besitzanspruch der Liebe, der sich als Treueanspruch tarnt, den die
Gesellschaft der Güterverteilung ummünzt in ein Treuegebot, macht sich im Verhältnis
der Schwester zum Bruder geltend. Mit einem richtigen Instinkt schließt sie auch dar-
auf, dass ihr ,Herzens-Fritz' sich etwas vormacht. Sie unterlässt nichts, ihn bei Lou, Lou
bei ihm und beide bei der Mutter hinterrücks schlechtzumachen. Die Verleumdung des
Erotischen in der Liebe nimmt für Nietzsche die Gestalt seiner Schwester und dahinter
die seiner Mutter an. Das Tragikomische daran ist, dass Lisbeth überhaupt nicht zu
intrigieren brauchte. Lou will ihr den Bruder keineswegs wegnehmen. Nietzsche wird
für eine Affäre gescholten, die er mit Lou gern gehabt hätte. Sehenden Auges ist er in
eine unglückliche Liebe gestolpert. Dass er sein weibliches Spiegelbild erblickte, hat
ihn entflammt und zutraulich gemacht. Aber Lou, das Spiegelbild, in das er sich verliebt
hat, ist ungehorsam. Es liebt ihn nicht. Es ,folgt' ihm nicht, wie er es vom ,Weibe' er-
wartet. Nietzsche lernt auch die bis dahin in Unterwerfung gehüllte Schwester kennen.
Ein aus dem Gehorsam ausbrechendes Spiegelbild ist auch sie. Wenn er es noch nicht
wusste, dann weiß er es jetzt: „In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer
als der Mann" (KSA, JGB, 5, 97).
14
Dies., ebd., 240, Anm. zu 83. Zu Elisabeths Beunruhigung bei Heiratsplänen ihres Bruders vgl.
KSB 4, 250: „Meine Bemerkung über Fr. R[ohr] sollte Dich nicht aufregen, ich theilte sie als Curi-
osum mit. Übrigens sind Deine Bedenken meine Bedenken." Am 21. 4. 1883, Nietzsche vertraut in
einem Brief (KSB 6, 365) Heinrich Köselitz an, „es war nur eine Consequenz davon, daß meine
Mutter mich voriges Jahr einen ,Schimpf der Familie' und ,eine Schande für das Grab meines Va-
ters' nannte. Meine Schwester schrieb mir einmal, wenn sie katholisch wäre, so würde sie in ein
Kloster gehn, um den Schaden wieder gut zu machen, den ich durch meine Denkweise schaffe."
Diese „Naumburger ,Tugend'" ( 9. 9. 1882 an Franz Overbeck, KSB 6, 256), hatte für ihn etwas
Barbarisches: „die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen: ich bin immer
krank, wenn ich mit ihr zusammen war" (ebd., 256). 1885 klagt der Vereinsamte in einer Notiz:
„Eigentlich sollte ich einen Kreis von tiefen und zarten Menschen um mich haben, welche mich
etwas vor mir selber schützten und mich auch zu erheitern wüßten: denn für einen, der solche Din-
ge denkt, wie ich sie denken muß, ist die Gefahr immer ganz in der Nähe, daß er sich selber zer-
stört" (KSA, NF, 12, 9). Er fühlt sich in der Nähe von Menschen wie ein „müder Wanderer, den
das harte Gebell eines Hundes empfangt" (KSA, NF, 13, 21).
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit..." 135
Lou zieht sich irritiert zurück und lebt, bis sie heiratet, an der Seite von Paul Rée, der
sie nicht bestürmt, der sich auf Abstand halten lässt. Nietzsche verfallt in narzißtische
Wut und Männerhysterie. Er sieht in seiner Enttäuschung über die vermeintliche Aus-
nahme eine einzige Bestätigung seiner Vorurteile über „das Weib", seiner „Verachtung
für das weibliche Geschlecht" (KSA, NF, 10, 23).15 Das empört ihn: „Eine Seele, die
sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren Bodensatz: ihr Unterstes
kommt herauf (KSA, JGB, 5, 88). Er trägt sich mit Selbstmordgedanken. Vielleicht
-
hegt er auch den Wunsch, „den Gegenstand seiner Liebe zu tödten, damit er ein für alle
Mal dem frevelhaften Spiele des Wechsels entrückt sei" (KSA, MA II, 2, 496). Die
Hysterie klingt ab. Eine Versöhnung hält er nicht mehr für möglich, weil er einsieht,
dass er selbst zu weit gegangen ist und sie ihm das, was er wollte, auch nicht bringen
würde.16 „Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte" (KSA, JGB, 5,
103). Der Selbstbeobachter hat die sadomasochistische Grausamkeit und Zerstörungs-
wut des dionysischen Eros geschmeckt. So wird ihm die erotische Liebe zum ,Fatum',
zur Fatalität, cynisch, unschuldig, grausam und eben darin Natur! Die Liebe, die in
ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist!" (KSA
-
WA, 6, 15).17 In Georges Bizets Oper Carmen entdeckt er das alles wieder. In einem
Brief an August Strindberg wiederholt er diese Formel kurz vor dem Zusammenbruch
(KSB, 8, 493).
Selbst wenn Lou ihn wiedergeliebt hätte, wäre Nietzsches Liebe zu ihr zum Scheitern
verurteilt gewesen. Der August in Tautenburg war ein Rückfall in die Bezauberung
durch etwas, das er durchschaut zu haben glaubte. Zarathustra war in Sils, das er dies
eine Mal ausließ, schon vorbeigegangen. In E. T. A. Hoffmanns Märchen Der goldene
Topf verfehlt und versäumt der Student Anseimus seine Geliebte, weil er schon, bevor
er um sie wirbt, mit einem Bein im Geisterreich der Poesie gefangen ist. Im Haus Wag-
ner verglich man Nietzsche gern mit ihm.18 Er richtete sich wieder ein in seiner Ein-
samkeit, nachdem er mit Mutter und Schwester gebrochen hatte. Vorbei alle Gespräche:
„Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt", (KSA, JGB,
5, 100) vermerkt er bitter. Er vertont Lous Hymnus auf das Leben, seine einzige zu
Lebzeiten veröffentlichte Komposition. „Der Schmerz gilt nicht als Einwand gegen das
Leben", reflektiert er noch in Ecce homo über das Jasagende Pathos par excellence"
(KSA, EH, 6, 336). Seine „Liebe zum Leben" ist fortan wie die „Liebe zu einem Weibe,
das uns Zweifel macht" (KSA, FW, 3, 350, Vorrede, 1886). Lou, die Psychoanalytike-
rin, spricht in ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken nicht wie über einen
Mann, der sie geliebt und begehrt hat, sondern, und das ist besser, wie über ihren ver-
16
„Was weiß der von Liebe, der nicht gerade das verachten mußte, was er liebte!" (KSA, NF, 10, 57).
Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick, 86: „Nietzsche antwortete kopfschüttelnd: Was ich getan,
,
trautesten Patienten. Zarathustra weiß: „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es
ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn" (KSA, ZA, 4, 49).
Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den
reichsten Willen" (ebd., 157). Dem christlich verleumdeten, beschmutzten Eros gibt er
dieselbe Unschuld zurück wie dem als „Erbsünde" verleumdeten „Triebleben": Es ist
„Willezur Macht [...] und nichts ausserdem" (KSA, JGB, 5, 55).
Nennen wir Nietzsches zarathustrische Offenbarung eine Offenbarung in der zweiten
Ableitung und die daraus hervorgehende, „Fernstenliebe" genannte Menschenliebe eine
Menschenliebe der zweiten Ableitung, so finden wir in allem, was Zarathustra über die
Liebe zwischen Mann und Frau, über Ehe und Zeugung sagt, vor allem was er in dem
Kapitel Von alten und jungen Weiblein (KSA, ZA, 4, 84ff.) mit einem alten „Weiblein"
verhandelt, einen sexualethischen Konservatismus in der zweiten Ableitung oder, um
der gegenwärtigen Meta-Mode zu folgen, einen Meta-Konservatismus. Es ist wie mit
seiner Ästhetik: Als Auflöser des Überkommenen scheint er modern zu sein, aber er ist
kein Vertreter der ,Moderne'. Sein Meta-Konservatismus des Durchschauens kann we-
der für eine ästhetische noch für eine sexuelle, sexistische Anarchie in Anspruch ge-
nommen werden. Das „laisser aller" des „Sichgehen-lassens" (KSA, JGB, 5, 108), Aus-
fluss einer heuchlerisch zur ,reinen', karitativen, christlichen Nächstenliebe entstellten
,Liebe', erzeugt kranke, elende, ekelhafte Menschen und „den grossen Ekel am Men-
schen" (KSA, GM, 5, 372). „Der Ekel am Menschen, am ,Gesindel'", bekennt Nietz-
sche, „war immer meine grösste Gefahr" (KSA, EH, 6, 276) Hier wurzelt sein Ethos der
„Vornehmheit", das aus der Ehe ein Instrument zur Züchtung „eines neuen Adels"
(KSA, ZA, 204, 254) macht: „Nicht nur fort, sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!"
(Ebd., 90). Der ,¿ufall der Ehen" (KSA, M, 3, 142) müsste, so erwägt Nietzsche
schon vor diesem Imperativ, ärztlicherseits korrigiert werden, zur Zukunft des Arztes"
gehöre es, „Ehestifter und Eheverhinderer" (KSA, MA I, 2, 203f.)21 zu werden. Zu al-
lem, was wir Nietzsche über „Zucht", „Züchtung" und Zeugungsverbot sagen hören,
müssen wir bedenken, dass er sich selbst dem Typus zurechnet, dem er keine genetische
Nachkommenschaft erlaubt.22 Nicht nur, dass er „die Erde" sich „in einen Garten des
~
Dazu: „vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten" (KSA, M, 3, 142).
21
Dazu Nietzsches späte Notizen zu „Fällen, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde": „Der Syphili-
tiker, der ein Kind macht, giebt die Ursache zu einer ganzen Kette verfehlter Leben ab, er schafft
einen Einwand gegen das Leben, er ist ein Pessimist der That: wirklich wird durch ihn der Werth
des Lebens aufs Unbestimmte hin verringert" (KSA, NF, 13, 401f). Der .Pessimismus der That' ist
bereits überholt. Ein Rückgriff in diesem Zusammenhang lässt Assoziationen ahnen, die sich in
früherem Denken mit dem Pessimismus Arthur Schopenhauers verbanden.
22
Der späte Nietzsche übertrumpft hinsichtlich der ,décadents\ zu denen er sich selber zählt, bis er
sich auch als deren „Gegensatz" (KSA, EH, 6, 266) versteht, das „Bibelverbot ,du sollst nicht töd-
ten!'" mit dem Verdikt „ihr sollt nicht zeugen!" (KSA, NF, 13, 594, 600, 611). Der Gedanke ist
früh vorbereitet (KSA, MA I, 2, 266): „In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den
Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen." Dazu: „Bei den Kindern der
großen Genie's bricht der Wahnsinn heraus" (KSA, M, 3, 204). Nach dem Zeugnis Resa von
Schirnhofers (Sander Gilman, [Hg.] unter Mitwirkung von Ingeborg Reichenbach, Begegnungen
mit Nietzsche, Bonn 1981, 497f.) schätzte Nietzsche die Eugenik des britischen Vererbungsfor-
schers Sir Francis Galton (1822-1911 ), Inquiries into Human Faculty and its Development. Anfang
1887 waren die Aufzeichnungen aus dem Untergrund, Monologe des Selbsthasses, in einer franzö-
sischen Übersetzung (l'esprit souterrain) in Nizza für Nietzsche die Schlüssel zu den Werken Fjo-
138 Volker Ebersbach
Glücks" verwandeln sähe, wenn man als „eine practische Philosophie für das weibliche
Geschlecht" einfach „den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fort-
pflanzung verwehrte" (KSA, MA II, 2, 496), er sieht auch eine „Oekonomie der
Menschheit" darin, dass „Spitzen der Menschheit [...] nicht weiter in Spitzchen auslau-
fen" (KSA, WS, 2, 640).
Nietzsche gibt mit der Reintegration des Erotischen in die Liebe den Anspruch, sie
sei mehr als Befriedigung der Wollust, den das Christentum hineinlegte, so dass aus der
Leidenschaft jene höhere „amour-Passion" wurde, keineswegs preis. Auch für ihn hat
der Zeugungsakt einen höheren Zweck. Aber er nennt es „eine verfluchte Lüge", wenn
man „von der Kinderzeugung als der eigentlichen Absicht der Wollust redet" (ebd.,
541). Eine Erotik um ihrer selbst willen setzt den alten Monogamie-Anspruch der Ehe
außer Kraft: „Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine Ausnah-
me' verträgt" (ebd., 269). Die „Geschlechtsgenossenschaft", die Polygamie, war ohne-
hin „Jahrtausende lang viel mächtiger [...] als die Gewalt der Familie" (ebd., 306). Der
Monogamie-Anspruch schließt sich dem Freund der antiken Götterwelt mit dem Mono-
theismus kurz: „Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller
Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott" (KSA, JGB, 5, 86). Eine Ehe auf Zeit, an
die Nietzsche auch dachte, als er Lou jene ,wilde Ehe' anbot, in der er sich bemüht
hätte, Rée als Teilhaber zu dulden, findet vielfach seine Fürsprache und in den ,neuen
Tafeln' des Zarathustra ihre Stilisierung: „Euer Eheschliessen: seht zu, dass es nicht ein
schlechtes Schliessen sei! Ihr schlösset zu schnell: so folgt daraus Ehebrechen! [...]
,Gebt uns eine Frist und kleine Ehe, dass wir zusehn, ob wir zur grossen Ehe taugen! Es
-
ist ein grosses Ding, immer zu Zwein zu sein!" (KSA, ZA, 4, 264). Solch eine Ehe ver-
steht er als die „gute Ehe", in der es zwischen „Keuschheit und Sinnlichkeit" keinen
„nothwendigen Gegensatz" mehr gibt. Der Immoralist bricht auch in seiner Sicht auf
die Liebe mit den überkommenen Werten: „Was aus Liebe gethan wird, geschieht im-
mer jenseits von Gut und Böse" (KSA, JGB, 5, 99). Es ist nicht schamlos: Das Scham-
gefühl behält für Nietzsche, auch dies ein Teil seines Meta-Konservatismus, den Rang
eines hohen und raren Gutes: „Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten
Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein" (KSA, ZA, 4, 250). Eine umgewertete Scham,
die gerade schöne Menschen vor dem Zugriff schützt23, die es vermeidet, verbietet,
jemanden zu beschämen (KSA, FW, 3, 519), also den einen .Willen zur Macht' gegen
den anderen sichert, gehört zu seinem neuen Ethos der Vornehmheit.
dor M. Dostojewskijs, von denen er einige in rascher Folge las (KSB, 8, 27f). Im Zusammenhang
mit Dostojewskijs Dämonen bestätigt Nietzsche den untergründigen Selbsthaß: „Ich weiß, daß ich
mich tödten sollte, daß ich die Erde von mir reinigen sollte, wie von einem miserablen Insekt"
KSA, NF, 13, 142).
„Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu" (KSA, MA II,
269).
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit..." 139
Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad
der Ewigkeit" (ebd., 273). Es ist ein Universum Continuum, eine Genesis Perpetua, ein
ewig fortdauerndes Universum, in dem die Schöpfung gleichsam ständig stattfindet, in
dem aber auch alles ewig wiederkehrt: „Alles geht, Alles kommt zurück: ewig rollt das
Rad des Seins [...] ewig bleibt sich treu der Ring des Seins" (ebd., 272). Eine Dialektik
von Augenblick und Ewigkeit scheint bei Goethe am Ende des Faust vorgeprägt. Nietz-
sches Gedanke einer ,ewigen Wiederkunft', bereits im August 1881 am See von Sil-
vaplana bei Surlej, an dem inzwischen legendären Pyramidalstein gefasst, ist ein Aus-
bruch aus der fatalen Einmaligkeit jeder Lust und jedes Scherzes in die tragische
Ewigkeit des so lustvollen wie schmerzhaften dionysischen Eros. „Nicht die Stärke,
sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die hohen Menschen" (KSA, JGB, 5,
86). Das Allerschönste, Allerhöchste, Allerwichtigste, der Schauer des Zeugungsaktes
selbst, der Orgasmus in seiner allerflüchtigsten Natur wird durch sein ewiges Wieder-
kehren dauerhaft. Ihn ewig wiederzuwollen um den Preis, auch den Schmerz wiederzu-
wollen, dieses Ja zum Leben, das „jasagende Pathos par excellence" (KSA, EH, 6,
336), ist das tragische Pathos des Adels, den Nietzsche meint.
Den tiefen Eindruck, den der Gedanke der ,ewigen Wiederkunft' auf Nietzsche selbst
machte, schildert Resa von Schirnhofer: „[...] als wir bei der Türe standen, veränderten
Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit]" (KSA, ZA, 4, 402f).
140 Volker Ebersbach
sich plötzlich seine Züge. Mit einem starren Ausdruck im Gesicht, scheue Blicke um
sich werfend als würde eine entsetzliche Gefahr drohen, wenn ein Horcher seine Worte
hörte, die Hand am Munde den Laut dämpfend, verkündete er mir flüsternd das Ge-
heimnis', das Zarathustra dem Leben ins Ohr gesagt."25 Es ist ein durchaus eschatologi-
sches Geheimnis. Himmel und Hölle werden in der ,ewigen Wiederkunft' zusammenge-
legt, nicht als eine Jenseitsvorstellung, sondern diesseitig, als ewige Wiederholung des
Gleichen, des Himmels und der Hölle im irdischen Leben, auch in der Liebe, im Eros.
Nietzsche entwickelt nach der Trennung von Lou, nachdem sich ihm die Flüchtigkeit,
die Täuschbarkeit und Unbeständigkeit des Erotischen in der Liebe wie auch des Weib-
lichen bestätigt zu haben scheint, eine ,Erotik der Ewigkeit'. Die ,Ewigkeit' und in ihr
die ,ewige Wiederkunft' ist, endlich, das gehorsame Spiegelbild, das vielfache Spiegel-
bild des Spiegelbildes, hinter dem sich ohne den, der hineinschaut, das Nichts auftäte.
Meinung nicht abschaffen, sondern „ennobliren" sollte (KSA, NF, 13, 402).27 Der Ge-
gensatz zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit war nur darum ein ,nothwendiger', weil
er mit Geld und Besitz aufgerechnet werden konnte.
Daran hat sich im Kern nichts geändert. Die „Verlogenheit von Jahrtausenden"
(KSA, EH, 6, 365f.) setzt sich fort. In den Erscheinungsformen marktwirtschaftlicher
Demokratie hat sich die Lage sogar zugespitzt. Das Klima des Unverschämten, in dem
die Kassen klingeln, profitiert von einer Zerstörung der Liebesfähigkeit, die es selbst
fortgesetzt betreibt. Es erstreckt sich inzwischen auf alle Lebensbereiche. Es gibt dem
Eros ein anderes, ein neues ,Gift' zu trinken. Auch der unverschämte Markt verleumdet,
beschmutzt, vergiftet das Erotische in der Liebe. Das Klima des Unverschämten gehört
in die Welt der „letzten Menschen" (KSA, ZA, 4, 19), die „das Glück erfunden" haben
und „blinzeln", es gehört zum „grossen Jahrmarkts-Bumbum" (KSA, FW, 3, 351), es
gehört zur „Lust der Menge" und ihrem „Geschrei": „Gieb uns diesen letzten Men-
schen, [...] mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermen-
schen!" (KSA, ZA, 4, 20).
,Ehe' bezeichnet Nietzsche „im Christenthum [...] als eine Concession an die menschliche
Schwachheit und als pis (frz. das Schlimmste V. E.) aller der Hurerei" (KSA, NF, 13, 419).
-
Jason M. Wirth
Nietzsches Fröhlichkeit
Gibt es etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf?
Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!
Der Aufsatz1 basiert auf der Überzeugung, dass eine gewisse Kategorienverwechslung
die Entwicklung großer Teile der westlichen philosophischen Tradition beeinflusst hat,
dass diese Kategorienverwechslung das Auswahlprinzip stellt, nach dem man festlegt,
was rechtmäßig zu dieser Tradition gehört, und darüber hinaus die Art und Weise be-
stimmt, wie Texte innerhalb dieser Tradition organisiert werden. Der Aufsatz basiert
zudem auf der Gewissheit, dass Friedrich Nietzsche zu den scharfsinnigsten Kritikern
dieser Verwechslung gehört. Und schließlich geht er davon aus, dass die Praktiken, mit
deren Hilfe man sich heute an Nietzsche erinnert und ihn interpretiert, zumindest inner-
halb bestimmter dominanter Stränge der angloamerikanischen philosophischen Traditi-
on, selbst dieser Kategorienverwechslung unterliegen.
So meine drei Behauptungen. Kurz gesagt: die amerikanische so genannte analyti-
sche Tradition kann nichts mit Nietzsche anfangen; das ist ein Verlust für die analyti-
sche Philosophie und für die Philosophie selbst. Analytische Philosophie verkürzt die
1
Ich möchte Christine Gerhardt und Jeanne Cortiel für ihre ausführliche und hervorragende Hilfe bei
der Übersetzung danken.
144 Jason M. Wirth
Analytik. Das heißt, dass sie ,Ressentiment' vor den weiteren Möglichkeiten der Analy-
tik hat. Nietzsches Lachen als Thema fehlt überhaupt in dieser Rezeption. Lachen, eine
tiefe Art des Jasagens, ist immer „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden" (KSA,
EH, 6, 365f).
Dass Nietzsche ein beharrlicher Kritiker von Mechanismen der Erinnerung war, ist
bereits anerkannt. Er argumentierte, dass das, was das Gedächtnis speichert und nicht
auslöschen kann, von Mechanismen der Erniedrigung, Entwürdigung, Impotenz, der
Unfähigkeit zu leiden, bestimmt ist. Demnach ist das Selbst, das sich selbst erinnert,
sich selbst wahrnimmt, das gelernt hat, sich in der Fiktion seiner Integrität zu kennen
und zu schätzen, der Komplize seiner eigenen Versklavung und seines eigenen
Schwachsinns. Solche Kreaturen werden herangezogen, um die Verantwortung zu in-
ternalisieren, sich selbst ,treu' sein, und müssen als solche zuallererst, wie Nietzsche
zu
es eindringlich in derGenealogie der Moral formuliert hat, „berechenbar, regelmäßig,
notwendig" geworden sein, „sich selbst für [ihre] eigene Vorstellung" und um damit
„für sich als Zukunft gut sagen zu können" (KSA, GM, 5, 292). Die reaktive und ver-
antwortliche' Erinnerung kann sich auf keine, wie immer geartete, Weise von der be-
drückenden Last ihres Inhalts befreien, man ist demzufolge nicht frei, etwas anderes zu
werden als das, was man schon ist, und das ist, unter dem Druck der grundsätzlichen
Verantwortung der Erinnerung, man selbst zu sein. Die Erinnerung, die automatisch
treu und der Identität des denkenden Subjekts verantwortlich bleibt, ist eine traumati-
sierte, daher wehleidige, todernste Erinnerung. Dies ist eine Erinnerung, die vom Geist
der Schwere beseelt ist; das ist ironischerweise der Geist, in dem man sich größtenteils
an Nietzsche erinnert.
Die Kategorienverwechslung ist die Verwechslung von ,harter Arbeit' mit dem ,sich-
selbst-Ernst-Nehmen' der Philosophie; die Produktion philosophischer Gedanken ist
weder leicht noch ungetrübt. Dies bedeutet nicht nur, dass man hart arbeitet, sondern
dass die von der schweren Arbeit der Philosophie hervorgerufene Qual jenen Geist
aufwertet, der das philosophische Unternehmen motiviert und bestätigt. Der Erzfeind
des Geistes der Schwere, der Geist der Schwere wird von Zarathustra als sein „alter
Erzfeind" (KSA, ZA, 4, 387) verstanden, ist das Lachen. Das Wort ,Schwere' ist dop-
peldeutig: es enthält die Bedeutung von ,Schwerkraft', die Kraft, mit der Dinge an der
Erde gehalten werden und die Bedeutung von Schwierigkeit', als ob ein profunder
philosophisch verdienstvoller Gedanke ein schwerer Gedanke sei, ein rechtmäßig ge-
wichtiger und daher ernsthafter Gedanke. Die kleinste Spur von Lachen, und wir Philo-
sophen, die wir uns durch die unaufhörliche Glorifizierung des Schmerzes, den unsere
Arbeit verursacht, ernsthaft als Philosophen erkennen und erinnern, schließen daraus,
dass solche Leichtfertigkeit und Frohsinn nicht ernsthaft sei, nicht gewichtig genug und
daher oberflächlich, absonderlich, unterhaltsam, keine ernst zu nehmende Philosophie,
keine echte Philosophie.
Dieses Vorurteil, diese Kategorienverwechslung stehen dahinter, wenn Nietzsche
von den vielen bürokratischen Wächtern der Wahrheit an die Literatur oder
Mythologie
oder irgendeine andere Disziplin abgeschoben wird, nur nicht in die Philosophie! Sicher
bedroht Nietzsches Leichtfertigkeit, seine aggressive Ablehnung der Nüchternheit, die
wir ernsthaften und echten Philosophen dringend erbitten, was wir automatisch als die
Nietzsches Fröhlichkeit 145
Stimmung oder den ,Geist' dessen erinnern, was wir als Philosophen sind. Man hört in
der angloamerikanischen Diskussion nicht selten, dass die so genannte kontinentale
Philosophie im allgemeinen und bei Nietzsche im besonderen (im ganz besonderen), im
Grunde keine echte Philosophien sind. Dies scheint proportional zu Nietzsches schein-
barem Schwulst, seiner Trunkenheit, seinem Übermut der Fall zu sein. Wo bleiben die
asketische Agonie der distanzierten Objektivität des Logikers oder Georg Wilhelm
Friedrich Hegels ,Ernst des Begriffes'?
Falls Nietzsche doch Einlass gewährt wird in die erhabene Kategorie dessen, was als
.Philosophie' gilt, muss er zuerst den engen Begrenzungen dieser Kategorie angepasst
werden: er muss erhaben und dadurch potentiell philosophisch' gemacht werden. Der
Nietzsche, den man so verstehen kann, als hätte er eine Epistemologie, der, der sich,
wenn man ein bisschen nachhilft, trotz seiner Grobheit und Leichtigkeit als ein wirkli-
cher Philosoph offenbaren kann, ist der, den wir ernst nehmen sollten. Nietzsche, der
Perspektiviker. Nietzsche der Nihilist. Nietzsche der Epistemologe. Nietzsche der A-
theist. Nietzsche, ein weiterer Ismenkrämer.
Wenn man ihn nicht als jemanden rettet, der ohnehin schon immer ein ernster Philo-
soph war, erscheint Nietzsche oberflächlich und entweder leichtfertig oder gefährlich.
Von einigen, die ihn als Philosophen nicht ernst nehmen, wird er manchmal als Prophet
des kulturellen Relativismus abgetan; wenn Gott tot und nichts wahr ist, ist alles mög-
lich. Anything goes! Wir können masturbieren, Gras rauchen, ohne Schuldgefühle die
Kirche ignorieren, und Nietzsche wird zum Geist, der kulturelle Dekadenz, Rock- und
Rapmusik beseelt. Andere, sowohl die, die ihn als ernsthaften Philosophen fröhlich
annehmen, als auch jene, die ihn als solchen verwerfen, fühlen sich gezwungen, bestän-
dig Nietzsches Diskurs über die Oberfläche, über die Oberflächlichkeit des Denkens
hervorzuheben. Da das Denken niemals in Regionen jenseits der Höhle vordringt, da es
seinen Weg niemals aus den dunklen Kammern der Unwissenheit in das Licht der wah-
ren Welt findet, ist alles purer Schein, alles Oberfläche, wird eine wild hervorbrechende
Menschen' die notwendige Eigenschaft für die ,Lesbarkeit' von Nietzsches Schriften
fehlt, die Fähigkeit, Gelesenes „wiederzukäuen" (KSA, GM, 5, 256). Wenn man nicht
zum Wiederkäuen fähig ist, wird das Futter, das zum Nährstoff bestimmt war, zu Gift.
Der gesündeste Diskurs macht, nicht wiedergekäut, die Kranken kränker; sie werden in
Nietzsche war sich des paradoxen Charakters, der janusgesichtigen Duplizität, einer solchen For-
mulierung bewusst. Weil man die Leichtfertigkeit nicht ernst genug nimmt, kann man den Ernst
nicht aus sich selbst heraus überwinden. Nietzsche argumentiert in der Genealogie der Moral, dass,
während sich einige an seinem aphoristischen Stil und „an dem halkyonischen Element, aus dem
jenes Werk geboren ist" ergötzen, die aphoristische Form für andere eine „Schwierigkeit" darstellt:
„sie liegt darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt" (KSA, GM, 5, 255).
146 Jason M. Wirth
den bitteren Kreislauf, in dem alles todernst ist, absorbiert. Die Fähigkeit, wiederzukäu-
en, fehlt dem modernen/postmodernen Menschen. Ein ernstes Ja verbirgt tödliche Ne-
gationen, hasserfüllte Gedankengänge, die sich als ihr Gegenteil verkleiden.
Wenn man sich lediglich den Beginn und das Ende von Nietzsches Werk ansieht,
merkt man, dass Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie 1871 behauptet hat, dass
die Griechen oberflächlich aus Tiefsinn waren; in der scharfsinnigen Geschichte eines
Irrtums in der Götzen-Dämmerung 1888 kam er zu folgendem Schluss: „Die wahre
Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht? [...]
Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!" (KSA,
GD, 6, 81). In dieser Abschaffung, am „Ende des längsten Irrtums", sah Nietzsche den
„Höhepunkt der Menschheit", was wiederum nicht das Ziel selbst war, sondern eine
Gelegenheit. Es war der Beginn der Überwindung der Schwere der Menschheit selbst.
Es war die Möglichkeit des Übermenschen, des nicht mehr nur Menschlichen.
JNCIPITZARATHUSTRA" (ebd.).
Der andere Anfang fängt nicht durch eine Umkehr bestehender Werte an, in der das
,Gute' abgewertet und das ,Böse' aufgewertet und, analog dazu, die ,Schwere' abge-
wertet und die »Leichtigkeit' aufgewertet wird. Die traurige menschliche Kreatur ist
intellektuell selbst nicht davon überzeugt, dass sie ihre Traurigkeit in dem Vorsatz, öfter
zu lachen, auflösen kann. Sie überwindet die Schwere aus der Schwere selbst heraus
und setzt jene ,Macht' frei, die sich umgekehrt hat, indem sie sich gegen sich selbst
richtet, anstatt sich zu befreien und auszudrücken. Schwere ist die Perversion von
Leichtigkeit, in der die Leichtigkeit versucht zu fliegen, indem sie sich selbst konstant
niederdrückt. Dieses sich-selbst-Überwinden der Perversion der Schwere aus ihrer ei-
genen Perversion heraus ist die Aktivierung des Willens zur Macht. Man geht genealo-
gisch vor und bestätigt und meistert dadurch, was man überwinden möchte. Das ist der
Grund, warum Nietzsche die Leichtigkeit paradoxerweise so ernst nimmt. Man wird
ernster, aber nicht todernst, in Anbetracht der Leichtfertigkeit. Die Schwere käut wieder
und grübelt über die ursprüngliche Perversion der Leichtigkeit, die immer schon ihr
anderer Ausgangspunkt war.
In der Genealogie der Moral hat Nietzsche behauptet, dass heute „Schmerz mehr
wehtat", dass der Schmerz, der in manchen Fällen auf der Seite des Lebens war, inzwi-
schen für Gift gehalten wird, was unter allen Umständen vermieden werden sollte. Ge-
nau jene Bewegungen, die die Aktivität des Lebens versinnbildlichen, werden nun ge-
mieden, als Inbegriff der Reaktivität des Lebens. Die Not des Lebens wird das Elend,
,die Not' das, was vermieden werden muss, um sich selbst treu zu sein. Die Anfüh-
rungszeichen um ,die Not' zielen darauf, die ansteckende Krankheit unter Kontrolle zu
halten, die das ernsthafte Selbst nicht absorbieren kann. Der barbarische Rest, die Aus-
sagen, die die Integrität des ernsthaften, denkenden Subjekts angreifen würden, werden
als Feinde des menschlichen Lebens eingepfercht und verunglimpft. ,Die Not' ist die
sorgfältig im Zaum gehaltene Bewegung einer Reaktion, der Zurückweisung dessen,
was die ernsthafte Arbeit meiner eigenen Selbstkonstitation auflösen würde.
Folglich findet Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft, einem Buch, das ernsthaft
dem Bestreben gewidmet ist, sich selbst nicht ernst zu nehmen, einen Fluchtweg für den
ernsten Schmerz des modernen Menschen: „Das Recept gegen ,die Not' lautet: Not"
Nietzsches Fröhlichkeit 147
(KSA, FW, 3, 414). Der Fluchtweg entfesselt die Not, die innerhalb der Parameter der
,Not' enthalten ist. Er setzt die Freude über die Affirmation des Schmerzes jenseits der
ernsthaft aufrechterhaltenen Unterscheidung zwischen Schmerz und Lust frei. Diese
,Übernot' ist der Ausbruch der Affirmation, der Liebe, in ihrer maximalen Ausdrucks-
stärke als Lachen. Lachen verweigert sich der abschließenden Eingrenzung des Den-
kens in einem wie immer gearteten Endprodukt, durch Anführungszeichen in sicheres
Gewahrsam gebracht, bzw. dem Sich-Bequem-Machen in einem Ismus. Es verweigert
sich nicht durch eine oberflächliche Reaktion, selbstgefällige Gleichgültigkeit oder
kapriziöse Zurückweisung, sondern durch eine uneingeschränkte Affirmation dessen,
was das Endprodukt des Denkens immer zurückgewiesen hat. Lachen ist die Liebe für
den Neuanfang, für den verloren gegangenen Anfang in jeder Schlussfolgerung. Dieser
Weg zur Leichtfertigkeit liegt in der Aktivierung des Willens zur Macht als der heiligen
Affirmation jeder einzelnen seiner Handlungen, als Ausdruck der vollkommenen Fülle
des Lebens, seines nie endenden „Tanzbodens für göttliche Zufalle" (KSA, ZA, 4, 209).
„War das das Leben? Wohlan! Noch Einmal!" (ebd., 199). „Denn ich liebe dich, oh
Ewigkeit!" (ebd., 291).
Nietzsches Lachen und Leichtigkeit sind keine Symptome seiner Krankheit, keine ir-
relevanten oder zufälligen Launen, die sich leichtfertig, willkürlich oder verrückt an das
vermeintliche äußerste Ende seines Denkens anhängen. Sie sind die Bewegungen der
Wahrheit selbst, im Akt der Aktivierung, im Akt seines geliebt- und bestätigt-Werdens,
in der Freundschaft des Lachens mit dem dunklen Vorgänger im Herzen aller Notwen-
digkeit des Lichts. Im vierten Buch von Zarathustra, was erwartungsgemäß das Buch
ist, bei dem die meisten Philosophen die größten Schwierigkeiten haben3, es ernst zu
nehmen, wird Zarathustra weder nur eine Art ironischer Prophet, noch ist er symptoma-
tisch für irgendeinen nichtigen Ausflug ins, philosophisch gesehen, leichtfertige Land
der Lyrik. In aller Ernsthaftigkeit ringt er der Ernsthaftigkeit selbst das Heilige ab. Er
krönt sich selbst mit der aktivierten Liebe zur Wahrheit, während sie sich unaufhörlich
entladend hervorlacht: „Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich sel-
ber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter" (ebd., 366). In
der geadelten Entladung des Lachens nennt er sich, der sich ernsthaft nicht so ernst
nimmt: „Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher" (ebd.). Das ist eine
entscheidende Formulierung. Zarathustra ist der Wahrsager, der, der die Wahrheit
spricht, aber Wahrheit ist nicht mehr die Entsprechung zwischen Ding und Intellekt.
Der Wahrsager ist der Wahrlacher, der, der die Wahrheit lacht, der lacht als die wahrste
Art, die Wahrheit zu sagen. Zarathustra ist nicht einfach der, der wahrhaftig lacht, son-
dern der, der die Komödie der Wahrheit selbst auslöst.4
Nietzsches Humor ist nichts Unbeabsichtigtes, kein Nebenelement. Sein Lachen ge-
hört untrennbar zur Materie seines Denkens, als der Zufall und als das Spiel, die Leich-
tigkeit, der Spaß im Herzen des Schmerzes der Arbeit. Das heißt aber ausdrücklich
nicht, dass Nietzsche die Philosophie auf die launigen Spasmen und die lässige Willkür
von Cocktailpartygesprächen reduziert hat. Das in der Philosophie aktivierte Spiel ist
nicht mein Spiel. Es ist das Spiel, das mich hat, so wie die vedische Tradition den be-
wundernswerten Mut hatte, zu verkünden, das alles Schicksal selbst lila, das Spiel der
Götter, sei. Das Lachen ist die Bewegung der Liebe als Umarmung des Anderen, nicht
seine Erdrosselung dadurch, es auf mein Anderes zu reduzieren, jenes Andere, das mit
dem übereinstimmt oder zum Übereinstimmen gebracht werden muss, als das wir uns
selbst erinnern müssen. Das Lachen ist Liebe, die das immerwährende Leben der
Wahrheit ist. „Welches war hier auf Erden bisher die größte Sünde? War es nicht das
Wort Dessen, der sprach: ,Wehe Denen, die hier lachen!'" (ebd., 365). Zarathustra
kommt zu dem Schluss, dieser Eine „liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt,
die Lachenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern verhiess er
uns" (ebd.).
Der Geist der Schwere ist Ressentiment vor der Macht des Lachens. Weil wir das La-
chen in seiner störenden Unvereinbarkeit mit unseren Identitätsprojekten nicht bejahen
können, reagieren wir negativ, stigmatisieren es als Krankbeit und Unverantwortlich-
keit. Dabei wird mein Unvermögen, meine Fähigkeit zu lachen, zu bejahen, zum Man-
gel an Ernsthaftigkeit des Anderen, und ich geißele ein solches Lachen und mache es
verantwortlich dafür, dass ich nicht ich bin, und versuche, es dazu zu veranlassen, ähn-
lich reaktiv zu werden: Ich werden zu müssen, oder sich selbst als krankhaft, Überwa-
chung und Strafung bedürfend, zu bejahen. Mein Verlangen, den Anderen von der
Krankheit seinen Lachens zu heilen, vom Elend seiner Unverantwortlichkeit, hat seine
,Herkunft' in der Widersinnigkeit des Lachens, in seiner Fähigkeit, ein Spiegel zu wer-
den, in dem ich mich als traurig und unfähig zu lachen und zu bejahen sehe. Folglich
bemerkt Nietzsche, dass Denker wie Thomas Hobbes symptomatisch für den Drang
sind, die Relevanz des Lachens als „ein arges Gebreste der menschlichen Natur, wel-
ches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird" (KSA, JGB, 5, 236), abzu-
tan. Ich kann das nicht lieben, was ich nicht selbst bin; hier findet sich die Herkunft
dessen, worüber wir sprechen, wenn wir über Liebe sprechen: Wir sprechen über uns
4
Gary Shapiro, einer der wenigen von Nietzsche-Kommentatoren, der die Bedeutung von Nietzsches
Gelächter anerkennt, der Nietzsches Gelächter ernst nimmt, bemerkt: „We misunderstand Zara-
thustra's laughter so long as we fail to understand his conception of the self and the dissolving ten-
dency of eternal recurrence. Philosophers who themselves exemplify the spirit of seriousness, like
Hobbes, will presuppose the separation of individuals and the singleness of the laughing selves in
their accounts of laughter." („Wir missverstehen Zarathustras Gelächter so lange, so lange wir sein
Konzept des Ich und die Tendenz der ewigen Wiederkehr sich aufzulösen nicht verstehen. Philo-
soph/innen, die, wie Hobbes, selbst den Geist der Ernsthaftigkeit veranschaulichen, werden in ihren
Darstellungen des Lachens die Trennung der Individuen sowie die Einmaligkeit der lachenden In-
dividuen voraussetzen.") Nietzschean Narratives, Bloomington 1989, 103.
Nietzsches Fröhlichkeit 149
selbst: „Was alles Liebe genannt wird", ist in Wirklichkeit Habsucht, Konsumsucht,
hysterischer Konsumrausch, der im Kern „unsere Lust an uns selber" ist und dadurch
„ein Drang nach neuem Eigenthum" (KSA, FW, 3, 386). Was wir Liebe nennen ist
tatsächlich Hass, was als Leichtfertigkeit abgetan wird, ist schwere Arbeit. Es ist die
Unschwere des Leidens des Anderen, die Liebe ist und Freundschaft mit der Erde. La-
chen hat einen Sinn für das Fremde, für die Äußerlichkeit, was nicht ich oder meine
Welt ist.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass im ernsten Gewerbe der westlichen Philoso-
phie das Lachen verunglimpft wurde und wird. Wo sind die großen Abhandlungen zu
den Lachkrämpfen? Warum ist die Frage nach den Grundlagen und Grenzen des Wis-
sens schwerwiegend genug, um eine kleine industrielle Produktion von Büchern zu
rechtfertigen, während die Grundlagen und Grenzen des Lachens nicht als ernst zu
nehmende Fragen gewertet werden? Es wird allenfalls in den Dienst eines geistreichen
Stils gestellt, der die Vermittlung von ernsten Inhalten schmackhaft macht. Am auf-
schlussreichsten ist die Gruppe von Darstellungen, die Lachen als Akt der Herablas-
sung beschreiben. Nietzsche identifiziert das selbstverherrlichende Mitleidsgefühl in
Hobbes' Darstellung der „sudden glory [plötzlichen Herrlichkeit]", die ich finde, indem
ich mich selbst über andere und über mich selbst, aus einem erhabenen, gereiften
Blickwinkel betrachtet, stelle. Ich lache über die Kleinen, die es zu nichts gebracht ha-
ben, die Schwachen, die Pechvögel; alles, um mein eigenes Überlegenheitsgefühl zu
stärken. Wie Hobbes in Human Nature (1640) argumentierte, lachen Menschen „über
die Gebrechlichkeiten anderer, durch welchen Vergleich ihre eigenen Fähigkeiten her-
vorgehoben und veranschaulicht werden. Menschen lachen auch über Witze, deren Witz
immer aus der eleganten Enthüllung und Übermittlung irgendeiner Absurdität eines
Anderen an unseren Geist besteht."5 Folglich, schloss er, entstammt das Lachen der
„plötzlichen Herrlichkeit, die aus der plötzlichen Vorstellung einer Erhöhung, im Ver-
gleich mit der Gebrechlichkeit von anderen, in uns entsteht".6 Krüppel lachen nicht über
Krüppel, Idioten nicht über Idioten. Dumme finden den Film Dumm und Dümmer nicht
lustig. Ich lache vielmehr über einen Menschen, der gehandikapt oder behindert ist,
deswegen, weil ich mich für etwas Besseres halten muss. Die ,plötzliche Herrlichkeit'
eines solchen Lachens, die Herrlichkeit des Falschlachers, ist untrennbar mit Nietz-
sches kritischem Diskurs über den sich selbst stützenden Mechanismus des Mitleidsge-
fiihls verbunden.
In solchem Lachen, dem die Herkunft des Wahrlachers, dessen, der die Wahrheit
lacht, fehlt, lache nur ich, und dabei sichere ich mir verantwortungsbewusst meine Er-
innerung an mich selbst. Andererseits besteht in Bezug auf die Wahrlacher nicht nur ein
Unterschied in der Art, sondern ein Unterschied im Grad. Sie haben das olympische
„Also men laugh at the infirmities of others, by comparison wherewith their own abilities are set off
and illustrated. Also men laugh at jests, the wit whereof always consisteth in the elegant discover-
ing and conveying to our minds some absurdity oí another." Zit. n. Walter Kaufmanns Fußnote zu
Aph. 294 in: Friedrich Nietzsche, Beyond Good and Evil, New York 1966), 231 (übers, von Chris-
tine Gerhardt und Jeanne Cortiel).
6
„fSJudden glory arising from some sudden conception of some eminency in ourselves, by compari-
son with the infirmity of others" (übers, von Christine Gerhardt und Jeanne Cortiel).
150 Jason M. Wirth
Laster desLachens, sind „des goldnen Gelächters fähig" (KSA, JGB, 5, 236). Solch ein
olympisches Laster lacht sogar während heiliger Zeremonien (ebd.). Zarathustra ist, wie
er einräumt, ein bösartiger Heiliger. Es sind nicht die heiligen Zeremonien, die wirklich
ernsten Momente des Lebens, die heilig sind. Vielmehr wird das Lachen heilig gespro-
chen.
Deshalb reflektierte Nietzsche darüber kraftvoll und vernichtend am Anfang der
Fröhlichen Wissenschaft. Die frohe und heitere Art zu wissen, das Wissen, das in seiner
Wahrheit mit Lachen erschallt, ist in der Änderung der Tonlage unterschieden von den
frühen Werken. Im späten Nachwort zur Geburt der Tragödie gab Nietzsche später zu:
„Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' und nicht reden!" (KSA, GT, 1,15) Nietz-
sche stellt fest: „Der Mensch ist allmählich zu einem phantastischen Thiere geworden,
-
welches eine Existenz-Bedingung mehr, als jede andere Thier, zu erfüllen: der Mensch
muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt [...] Und immer wieder
wird von Zeit zu Zeit das menschliche Geschlecht decretiren: ,es gibt Etwas, über das
absolut nicht mehr gelacht werden darf!" (KSA, FW, 3, 372).
Deshalb lacht der Schafhirte, als er der Erschaffung von immer neuen, ernsthaften
Schafherden entsagt und auf Zarathustras Drängen den Kopf der Schlange abbeißt und
damit den Kopf der Schwere der ewigen Wiederkehr des Gleichen beißt. Damit bejaht
er die endlose Erschaffung von Identitäten aus der dunklen Nacht der Differenz und
sein Lachen, die großartige Explosion, ist nicht mehr das Lachen eines menschlichen
Wesens. „Ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war" (KSA, ZA, 4, 202).
Nietzsche macht wenig Gebrauch von jener anderen Theorie des Lachens, die besagt,
dass man über das Widersinnige lacht, denn das bedeutet wiederum nur, falsch zu la-
chen, indem man sich vom Fremden abschirmt, Zuflucht im Normalen sucht. Solches
Lachen geht fälschlicherweise vom Primat der Ordnung aus, setzt das Chaos, die Alteri-
tät und das Fremde außer Kraft. Das ist ein Lachen, das das Widersinnige neutralisiert,
die Ordnung aufrecht erhält, als ob das Folgerichtige das Ursprüngliche wäre und das
Widersinnige eine nebensächliche Invasion, die abgewehrt werden muss, trotz der Lust,
die solchen Abwehrmanövern eigen ist. Trotz der Brillanz von Immanuel Kants dritter
Kritik ist das Lachen am Ende eine Sache des Ausflugs ins Chaotische, eine still-
schweigende Bestätigung der Ordnung, von der es die Ausnahme ist. Nietzsche behaup-
tete, als er über das Zeitalter sprach, in dem die verschiedenen Masken der Moral dem
„Karneval großen Stils", dem „geistigsten Fasching-Gelächter und Übermut", der
„transzendentalen Höhe des höchsten Blödsinns", der „aristophanischen Welt-
Verspottung" ausgesetzt sind: „Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfin-
dung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als
Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, vielleicht dass, wenn nichts
von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!" (KSA, JGB,
-
5, 157).
Der göttliche Possenreißer ist ein Hanswurst. Seit dem 16 Jahrhundert war dies, mit
einem gehörigen Maß an Spott, zunächst ein Name für dicke Menschen, ein Hans, der
dick ist wie eine Wurst. Für Martin Luther hatte ein Hanswurst etwas von einem unge-
schickten Tölpel, der später zum ungeschickten Bauern wurde und dann die Bedeutung
eines Narren im Lustspiel annahm. Der Hanswurst, ob als plumper Dicker oder unge-
Nietzsches Fröhlichkeit 151
schickter Bauer, gehört nicht in das ernste Leben der schönen Menschen der großen
Bewegungen der Geschichte. Der göttliche Hanswurst ist nicht einfach nur lustig, er ist
ein Vertreter des Unzeitgemäßen, des Lachens, das die Liebe der Ewigkeit ist und den
scheinbar sinnvollen Abschluss der Geschichte untergräbt. Wie Clément Rosset argu-
mentiert hat, ist „Freude die notwendige Bedingung, wenn nicht des Lebens im allge-
meinen, so doch zumindest des Lebens, das man bewußt und mit voller Kenntnis lebt.
Sie besteht in einer Tollheit, die einem paradoxerweise erlaubt und nur sie kann solch
eine Erlaubnis geben alle anderen Formen des Wahnsinns zu vermeiden, was einen
-
vor einem neurotischen Dasein und permanenter Unwahrheit bewahrt."7 Das ist eine
-
Erfahrung von Wahrheit, der komische Ausdruck des tragischen, das Zurückfallen des
Verstehens an den dunklen Vorgänger, der sein Ursprung war, die Nietzsche begleitet
hat, bis er die Menschheit im Januar 1889 in Turin verließ. Im Zusammenbruch wurde
die Liebe zu einem verschmähten Pferd, das zum Abfall in der wachsenden Industriege-
sellschaft geworden war, wie Pierre Klossowski es ausgedrückt hat, „eine Flut aus La-
chen das Lachen, aus dem die Wahrheit hervorgeht, das Lachen, in dem alle Identitä-
ten explodieren, einschließlich derer Nietzsches."8
-
Toward a Philosophy of the Real, hg. und übers, von David F. Bell, New York/Oxford
Joyful Cruelty.
1993, 18.
Pierre Klossowski, Nietzsche and the Vicious Circle (1969), übers, von Daniel W. Smith, Chicago
1997,251-252.
Erwin Hufnagel
Déformation professionelle
Zur Rezeption Friedrich Nietzsches
in der Phänomenologie Max Schelers
Dazu: Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967; Volker Gerhard, Friedrich Nietzsche, München
1992.
154 Erwin Hufnagel
Vielleicht wurde zu sehr an den Rand geschoben, dass Nietzsches Werk auch oder
gar in erster Linie als Manifestation eines einzigartigen geistig-leiblichen Habitus2 ge-
würdigt werden könnte. Dem Philologen und Philosophen liegt eine solche Sichtung
ferner als dem Kultur- und Sozialwissenschaftler. Jedenfalls scheint es belangvoll und
folgenreich zu sein, ob man in den Nietzsche-Interpretationen auf einen Text oder einen
Habitus verweist. Anders als Immanuel Kant wollte Nietzsche nicht als Text verstanden
werden. Mit eingeschliffenen Mustern philologischer oder den weitmaschigen Netzen
kommunikativ-applikativer Hermeneutik lässt er sich nicht adäquat begreifen und be-
grenzen. Das offenkundig hilflose Suchen nach den verschlungenen Beziehungen zwi-
schen Person und Werk zielt auf die theoretisch zentrale Einheit des Habitus als mona-
disches geschichtlich-leibhaftiges Apriori, in dem diese Momente aufgehoben sind. Mit
den Kategorien der Texthermeneutik lässt sich kein Habitus in seiner genetisch-
strategischen Dynamik verstehen.3 Jean-Jacques Rousseaus Rêveries* z. B. erheben sich
über die konstruktiven Dichotomisierungen und Relationierungen von Person und Werk
in der Enthüllung des zugrunde liegenden Habitus, dessen Logik er, begrifflicher Refle-
xion misstrauend, träumend vergegenwärtigen will.
Die stellvertretende Interpretation eines Textes oder die eines Habitus sind methodo-
logisch nicht identisch. Die Grenzen der Erkenntnis verlaufen anders. Es gibt ein auf-
klärerisches Ethos, auf stellvertretende Interpretationen zu verzichten.5 Darf Nietzsche
als Text und als Habitus stellvertretend interpretiert werden? Was geht in solcher Inter-
pretation verloren? Worin liegen die Beschränktheiten einer nicht-stellvertretenden
(monadischen) Interpretation? Wie immer man darüber denken mag, der institutionell-
gesellschaftlich festgezurrte Zwang zur Produktion und Rezeption massenhaft ange-
häufter, bewerteter, geförderter, dogmatisierter stellvertretender Interpretationen wider-
streitet den aufklärerischen Hoffnungen auf einen nicht-entfremdeten, vorurteilsfreien,
aus authentischen Erfahrungen lebenden Menschen.
Die interpretationstheoretische Klärung des Begriffs steht aus. Er fungiert als regulatives Konstrukt.
Methodologisch bedeutsam sind folgende Momente: die Theorie reflektierender Urteilskraft (Kant),
die wissenssoziologische Typologisierung der Metaphysik (Scheler), Modelle strategischer individua-
ler und sozialer Vernunft jenseits der Vertextlichung (Alfred Adlers Theorie des Lebensplans resp.
Lebensstils). Der habitustheoretische Ansatz begreift .Nietzsche' als gewordenes prinzipielles Gefüge,
das auf eine eigentümliche Typik von Handlungen, Schöpfungen verweist, ohne deterministisch zu
sein. Narrationen sind passé. Regulative, riskante Konstruktionen müssen anvisiert werden. Das ver-
mag nur der große synthetische prinzipiensichtige Geist. Das ist eine Chance für neue interpretative
Wertungen. Die Möglichkeiten des Habitus-Begriffs sind nicht ausgereizt. Integrierbar wäre auch die
Luhmannsche Stiltheorie mit ihren systematischen und historischen Dimensionen. Neue, komplexe
und offene Kategorialitäten zeichnen sich ab.
3
Dazu: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frank-
furt/M. 1987.
4
Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers; in: Henning Ritter (Hg.), Rous-
seau. Schriften, Bd. 2, München/Wien 1978, 637-760.
Dazu: Ders., Emile oder Über die Erziehung, hg. von Martin Rang, Stuttgart 1998, 545ff. (Glau-
bensbekenntnis des savoyischen Vikars).
Déformation professionelle 155
manch konfus-fragiles, dumpf-egoistisches, an sich selbst und der Zeit leidendes Ge-
schöpf klammerte, durch eine metaphysische Rekonstruktion der Nietzscheschen viel-
deutigen Wiederkunftslehre befreite. Sein Denken wurde in die Tradition der europäi-
schen Philosophie als herausfordernde Leistung integriert. Karl Joël13 schließlich, der
einem dialektisch-organologischen Universalismus huldigte, stellte Nietzsches Person
und (frühes) Werk in den Kontext abgründiger, archaischer Romantik, deren Wurzeln in
die griechischen Mythen und Tragödien reichen.
Scheler, lebenslang ein kritischer Bewunderer Diltheys, sieht zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts einen neuen, geradezu revolutionären Typus des philosophischen Denkens
Einfluss und Gehalt gewinnen, den vorbegrifflich-intaitiver Unmittelbarkeit des Erlebens
in seiner oszillierenden, interimistische objektivierende Konstruktionen zerschlagenden
Fertilität. Die großen Begriffsmetaphysiken, der Neukantianismus dient als bevorzugter
Bezugspunkt der polemischen Kritik, haben sich in hypertropher Reflexivität ausge-
spielt.14 Sie sind für die empirischen Wissenschaften wie für das alltägliche Denken und
Handeln funktionslos geworden. Die Philosophie hat sich aus der gesellschaftlich-
kulturellen Wirklichkeit verabschiedet. Die übersteigerte Selbstbezüglichkeit der Meta-
physik hat dem Positivismus in die Hände gearbeitet. Auch aus dem verlöschenden phi-
losophischen Historismus kann keine Hoffnung keimen. Während Dilthey die Philoso-
phie des Lebens als Rettung preist, setzt Scheler auf integrative, die szientistischen
Vergegenständlichungen der Welt systematisch einbeziehende metaphysische Phänome-
nologie. Affinitäten zur Lebensphilosophie werden deutlich herausgestellt. Nicht minder
klar rückt er begründungstheoretische Schwachstellen des lebensphilosophischen Histo-
rismus ins Licht.15 Durch Scheler erfahren wir von der verzehrenden, ganz Europa in
seinen Bildungsschichten befallenden Sehnsucht nach Erlösung von begrifflich-
szientistischer Weltdeutang und -bemeisterung. Eine rauschhafte Gier nach unmittelbar-
schöpferischer, beseligender und entgrenzender Weltbegegnung flackert unerfüllt in den
Menschenseelen. Erleben und Begegnung werden zu Losungsworten am Ende einer
artifiziellen, konstruktiv-begrifflichen, unübersteigbar partikularen Weltbestimmung, wie
sie die neuzeitliche Wissenschaft kodifizierte. Max Weber entzauberte dieses zügellose
Drängen nach der Fülle des Erlebens als Erpichtsein auf Sensationen.16
Nietzsche gab, wie Scheler zeigt, dieser aufquellenden Sehnsucht nach ungeschmä-
lertem, unkontrolliertem, der verformenden Reflexion entzogenem Leben ihren faszinie-
renden poetisch-emphatischen Ausdruck. Seine Sprache wirkte wie ein verdichtender,
verklärender Zauberstab. Endlich konnte sich das Ursprungswollen in mythischen Ge-
stalten klären und wiederfinden. Nietzsche konnte zum Propheten einer neuen, noch
gärenden Zeit aufsteigen. Nicht der Philosoph, sondern der Dichter, der Künstler, der
magische Seher vollzieht die exemplarische Deutung der Welt. Große, wesentliche Ge-
schichten werden wieder in unvergesslichen, vertraut-unvertrauten Bildern erzählt, deren
Fülle und Gegensätzlichkeit zugleich Distanzierung erheischt. Über diese Brüchigkeit
sagt Scheler nichts. Vielleicht hat er sie als Kind der Zeit gar nicht wahrgenommen.
Nietzsches Begriff, besser: schillerndes Bild vom Leben fesselt Schelers Blick. Hier
ahnt er tiefe Gemeinsamkeiten. Sein eigenes philosophisches Wollen kreist um eine
neue Sichtung und Wertung des Lebens. Seine Phänomenologie ruht auf einem lebens-
philosophischen Fundament. Aber sein Blick auf Nietzsches Bild des Lebens ist selek-
tiv. Nietzsche, Dilthey und Henri Bergson sollen in die unstete, zerrissene, suchende
und besonders durch Edmund Husserls transzendentalphilosophische Wendung in den
Ideen11 in verfeindete Richtungen gespaltene phänomenologische Bewegung als Anreger
integriert und von ihren jeweiligen theoretischen Insuffizienzen befreit werden.18 Der in
rationalistisch-technologischen Mechanismen seit Jahrhunderten leidende, sich perspek-
tivisch borniert unterdrückende, gott- und weltvergessene Mensch harrt seiner Erlösung.
Scheler ist davon überzeugt, dass allein die Phänomenologie in ihrer geläuterten Gestalt
diesen heilsgeschichtlichen Wunsch, der sich im zeitgenössischen lebensphilosophischen
Begehren ungeduldig-mannigfaltig äußert, zu erfüllen vermag. Aus der heilsgeschichtli-
chen Selbstinterpretation wird Nietzsches philosophisches Werk gesichtet. Alle progres-
sionsorientierten, schöpferischen, Werte kühn entwerfenden, sich überschreitenden Per-
spektiven des Nietzscheschen Lebensbegriffs werden ins Zentrum gerückt. Offensicht-
lich hat er Die Geburt der Tragödie gelesen und Bergsons élan vital dort präformiert
gefunden.19 In den Versuchen wird Nietzsche in den Kontext mit der Diltheyschen und
Bergsonschen Lebensphilosophie gestellt, dessen systematische Krönung Schelers meta-
physische Phänomenologie sein soll. In dieser Kontextualisierung liegt eine unmissver-
ständliche Wertung.
Nietzsche wird zum heraklitischen Künder des Lebens, das als Metapher des universa-
len, vom Kosmischen und Biologischen ins Psychisch-Geistige reichenden Wandels, des
unendlichen Gestaltens und Durchbrechens gewonnener Formen gedeutet wird. Den
Zarathustra und die Geburt der Tragödie nimmt Scheler als geistige Einheit. In ihnen
vollzog Nietzsche die metaphysische Universalisierung der Lebensmetapher. Die ironi-
sche naturalistisch-kosmologische Regionalisierung des Lebens auf einem winzigen
Planeten, in Ueber Wahrheit und Lüge im auss ermoralischen Sinne (KSA, WL, 1, 875f.)
unvergesslich ins Bild gefasst, hat Nietzsche metaphysisch überwunden. Als Metaphysi-
ker des Lebens will Scheler ihn würdigen, ohne freilich in die Diskussion um Rang und
Status der Geburt der Tragödie einzugreifen. Versteckt nur bezieht er sich in nietzsche-
anischen Reformulierungen auf jenen missverstanden skandalösen Erstling, den er
gründlicher kennt und für sich wichtiger erachtet als den Zarathustra. Hier spürt er gro-
ßen, geschichtsmächtigen metaphysischen Geist, der auch ihn, den kritischen, eigene
Wege suchenden Gefolgsmann der (Husserlschen) Phänomenologie unwiderstehlich
anzieht.
Schelers Rekurs auf Nietzsche dient primär der Klärung des eigenen philosophischen
Wollens. Eine umfassende Würdigung von Nietzsches Werk liegt ihm fern. In seinen
Augen ist Nietzsche in erster Linie der kritisch-genetische Theoretiker der moralischen
und religiösen Werturteile resp. Vorurteile,20 von aufklärerisch-ideologiekritischem,
destruktivem Pathos beseelt.21 Als leidenschaftlicher Zerstörer moralischer und religiöser
Überzeugungen stieß Nietzsche, wenn wir Scheler folgen, auf die Metaphysik des Le-
bens. In ihr konnte er seine genetischen Entlarvungen und Überwindungen einer univer-
salen Dynamik einordnen und einem gesteigerten Leben zuweisen. Mit dem für sein
eigenes axiologisches Unterfangen gefährlichen moralistischen Entlarver wird sich er in
seiner Ressentiment-AhhanAlung22 subtil streiten. Über die Gewagtheit seiner motivi-
schen Hierarchisierung verliert er kein Wort. Immerhin wird verständlich, warum Sche-
ler, selbst im Kern seines Denkens ein Philosoph des Wertens in seiner kulturell-
biographischen Geschichtlichkeit, die am Horizont des Jahrhunderts heraufziehende
metaphysische (Nietzsche, Bergson) und antimetaphysische Philosophie des Lebens
(Dilthey) emphatisch begrüßt. Wertungen und Umwertungen stehen, wie bei Nietzsche,
im Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens. Dass Scheler, prima facie anders als Nietz-
sche, Wertungen in ihrer eigentümlichen, nicht objektivistisch zu verstehenden Apriori-
tät im Rahmen einer umgreifenden Axiologie23, die Fragment geblieben ist, systematisch
bedenket, ist ein trotziges Aufbäumen gegen Nietzsches zermalmende Kritik. Deren
latente axiologische Positivität blieb ihm trotz der geahnten Verwandtschaft fremd.
Nietzsche ist für Scheler Intaitionist des Lebens, dessen moralkritische Leistung in
den Versuchen noch nicht gewürdigt wird. Das geschieht zeitgleich in der Abhandlung
über das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Im Grunde war Nietzsche für Scheler ein
zwitterhaftes Philosoph-Künstler-Wesen, dem es an systematischer Potenz gebrach, eine
Gestalt des Übergangs, deren Intentionen zu klären und für eine neue, lebensphiloso-
phisch grundierte Phänomenologie zu nutzen waren. Scheler war auf der Suche nach
einer Begrenzung der Reflexivität, die vom europäischen Rationalismus als Vernunft-
handlung normativ ausgezeichnet wurde. Rousseaus Vernunftkritik widersetzte sich
Ebd., 316.
Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der Moral hat Scheler offensichtlich kursorisch gelesen.
Von diesen als destruktiv gedeuteten späten Schriften her, die eine fundamentale Herausforderung an
den Axiologen Scheler darstellen, deutet er Nietzsches Metaphysik des Lebens. Dass die Genealogie
der Moral auch anders interpretiert werden kann, hat Volker Gerhard im Nachwort zu dieser Schrift
(Stuttgart 1997) gezeigt; dazu auch Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral", Darm-
stadt 1994.
Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, 33-,
Dazu: Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (Glaubensbekenntnis des savoyischen
Vikars), 1998; Ders., Träumereien eines einsamen Spaziergängers, 1978.
Max Scheler, Versuche, 314.
Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit, übersetzt und hg. von Anton J. Gail, Stuttgart 1999.
Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, hg. von Katharina Mommsen, Stuttgart
1992.
Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft"; in: Logos 1 (1910/11), 289-341. Dazu:
Antonio Aguirre, „Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
160 Erwin Hufnagel
Scheler trennt Leben und Spiel. Das Leben als Spiel kommt ihm nicht in den Sinn.
Dass selbst der Moralist Nietzsche sich spielerisch von aller Moral befreit, dass das Spiel
wie das Leben einer gänzlich außermoralischen Logik folgt, in der Chaos und Ordnung
spezifisch gebannt und gegenwärtig sind, bleibt für ihn ein undenkbarer Gedanke. Die
Übersetzung des vieldeutigen, mit sich selbst spielenden, sich überraschend anderen
Spielen zuwendenden Spiels ins Prokrustes-Bett theoretischer Bestimmtheiten muss
arbiträre Verstümmelungen zeitigen. Betrachten wir sie näher.
Scheler tilgt aus dem Nietzscheschen Lebensbegriff das zerstörerisch Sinnlose, das
zirkuläre Gebären und Vernichten, das jeder Teleologie und Heilslehre spottet. Dass der
von Piaton und seinen europäischen Gefolgsleuten unterschlagene tragische Mythos29 der
ephemeren Vergänglichkeit, essentiellen Uneindeutigkeit, konstitutionellen Fragilität
und unaufhebbaren Sinnlosigkeit alles Menschlichen Nietzsche schon in der Geburt der
Tragödie umtreibt und in der Genealogie der Moral zum ästhetischen Fiktionalismus30
als letztem von sich selbst erlösendem Wort führt, dass die Wissenschaft als methodolo-
gische Selbstdisziplinierung ein verdeckter Abkömmling des ambivalenten asketischen
Ideals ist, von dem es einigen vergönnt ist, halkyonisch spielend Abschied zu nehmen,
bleibt Scheler und den phänomenologischen Zunftgenossen verborgen. Die tragisch-
komödiantische Kultur des Abschieds haben der Wille zum Aufbruch und der trügeri-
sche Glaube an Wahrheit und Wissenschaft für sie unsichtbar und bedeutungslos werden
lassen. Sie glauben an das Absolute; sie haben, in welcher Variante auch immer, Mono-
theismus im Blut. Nietzsches Liebe zum Vornehmheit bekundenden, Gestaltwandel und
Widersprüchlichkeit als Befreiung von der Unterwerfung unter eine einzige Geschichte
nutzenden Polytheismus (der griechischen Götterwelt) bleibt ihnen fremd.31 Sie wissen
als Letztgültigkeitsbesessene nichts vom homerischen Gelächter. In aller Wissenschafts-
kritik bleiben sie dem asketischen Ideal der letztheitlichen Wahrheit, der Wissenschaft
treu. Der Wille zur Wahrheit wird keinem zum Problem.
Nietzsche wird durch Scheler zum universalistischen, die alte metaphysische Trias
von Gott, Mensch und Welt umgreifenden Lebensphilosophen neutralisiert. Dass alle
Instanzen dieser Metaphysik von Nietzsche destruiert wurden, nimmt er nicht wahr. Da
er selbst Gott und den Kosmos mit Geschichtlichkeit durchtränken und auf den sich
selbst deifizierenden Menschen unlösbar beziehen will, sieht er in Nietzsche den ah-
nungsvollen Wegbereiter seines eigenen Philosophierens. Über den tragischen Aspekt
des ephemeren Lebens, das in der Unendlichkeit der Planeten kaum sichtbar aufblüht
und auf ewig in kaltem Schweigen versinkt,32 kann Scheler durch solche universale Per-
spektive rasch hinweghuschen. Er nimmt ihn einfach nicht ernst.33 Sein Blick ist auf den
Philosophie" (1913); in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart
1992, 43-73.
29
Dazu: Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles, Frank-
furt/M. 1970.
30
Dazu: Novalis, Heinrich von Ofterdingen, hg. von Jochen Hörisch, Frankfurt/M. 1982.
Dazu: Odo Marquard, „Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie"; in: ders., Ab-
31
am Leitfaden des Willens zur Macht, der steigenden, sich selbst übersteigenden Selbst-
mächtigkeit des Menschen gedeuteten Zarathustra gerichtet. Das andere Tanzlied wird
mit wenig Vertrauen suggerierenden Eingangsworten zitiert.34 Das jenseits von Gut und
Böse', das Zarathustra (Mensch) und Leben im werdenden, verwesenden Sein und Han-
deln bestimmt und als Wesensverwandte aneinander schmiedet, zum trügerischen wech-
selseitigen Gutsein, zur axiologisch-teleologischen Projektion ,der Mensch hat Sinn, das
Leben hat Sinn' verlockt, dem das Leben nicht widerspricht, vermag Scheler nicht zu
irritieren. Ihn fasziniert die anfangliche anthropomorphe Ansprache ans Leben, die wie
ein Liebesgedicht klingt, um sogleich jedoch ins Dämonische zu kippen. Der fiktionale
Anthropomorphismus, der sinnloses Gebären, Vernichten und Verschlingen in die Ver-
trautheit des Dialogs, der keiner sein kann, ästhetisch-libidinös transformiert, bannt
scheinhaft die Angst, die allgegenwärtig bleibt. Das Leben wird wie bei den Frühroman-
tikern (Friedrich Schlegel, Novalis) poetisiert. Die dialogisch vorgetäuschte Liebe ist
Ausdruck der Verzweiflung, Fremdheit und Einsicht in die schicksalhafte Kontingenz.
Der Urgrund fragt nicht nach dem Menschen, in dem er seiner blitzhaft-vergessend an-
sichtig wird.
Nietzsche verweist in der von Scheler nicht vordergründig-abgründig, tänzerisch-
spielend verstandenen liedhaft-ästhetisierenden Passage auf motivische Oszillationen,
die den Lebensbegriff, der nur eine unumgängliche, Leben ermöglichende künstlich-
künstlerische, privat-perspektivische Anschauung ist, in all seinen Erscheinungsformen
durchzucken. Im strikten Sinne hebt Nietzsche damit den latenten Dogmatismus der
Lebensphilosophie auf, den Scheler in der Konzeption seines Textes unterstellt. Das
Leben bleibt für Nietzsche das überwältigende Fremde, mit dem Zarathustra einen tänze-
rischen Dialog versucht, dessen Scheitern im kaum kaschierten gewaltsamen Duktus der
Rede für jedes feinere Ohr hörbar ist. Zur Scheinhaftigkeit zwingt das unergründliche
Leben, dessen Teil wir geworden sind. So modeln wir uns einen ,Begriff, der nichts
begreifen kann. In diesem Sinne ist der Begriff des Lebens wahnhaft. Den Wahn können
wir nicht überschreiten. Aber wir können auf ihm Systeme errichten, die ihn vergessen
machen sollen.
Wenn Scheler behauptet, dass Nietzsche die ,Philosophie des Lebens' nicht als syste-
matisches Ganzes vor Augen hatte, sie dennoch als „verborgener Schutzgeist"35 ihrer
Ausgestaltung wirke, so spinnt er den Faden einer Letztbegründungsphilosophie fort, den
Nietzsche in den von Scheler berücksichtigten Texten durchschnitten hatte. Selbst Nietz-
sches Äußerungen über das Leben müssen in ästhetisch-fiktionaler, kompensatorisch-
projektiver Form in die spielerische Schwebe gebracht werden, in der das Erkennenwol-
len über sich selbst zu lachen vermag. Deshalb ist es aufs Ganze gesehen nicht zutref-
fend, dass Nietzsche sich zu naturalistischen oder biologistischen Borniertheiten verstie-
gen habe.36 Mehr als ein metaphorisches Spiel, in dem die wirbelnden Metaphern sich
von ihren Bestimmtheiten lösen, liegt ihm nicht im Sinn. Metaphorischer Polytheismus
„In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben [...]", KSA, ZA, 4, 282.
Versuche, 314.
Dazu: Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 3., unveränderte
Aufl., Berlin 1950; Rüdiger Safranski, Nietzsche (ausgew. von R. S.), München 1999, 40ff
162 Erwin Hufnagel
hält das Spiel offen. Um das wirklich zu begreifen, muss man als Spieler, als Meister der
Masken geboren sein.
Wenn wir dem ,anderen Tanzlied' folgen, zerstiebt der Glaube an Urgründe, an
Letztheiten jedweder Art. Selbst der dionysische Grund des Lebens verdankt sich meta-
phorischen Fiktionen, in denen der Mensch haust und seine Verzweiflung bändigt. Alles
verweist, wie in der Monadologie oder in einem Spinnennetz, auf alles. Gewaltsam zer-
schneidet Scheler das trügerisch-schöne Gefüge, dessen melancholischer Schönheit er
nicht ansichtig geworden ist. Zwar zögert er, bei Nietzsche von einem ,Begriff des Le-
bens zu sprechen, dennoch folgt er begrifflichen Orientierungen. Zunächst wird Nietz-
sches oszillierende Metaphorik des Lebens im Geiste der Lebensphilosophie, die mit
Herder, Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi ihre folgenreiche Ausges-
taltung fand,37 genetisch formalisiert. Leben wird zur gesetzmäßigen Abfolge von Aktio-
nen des Strömens, der Werterhöhung in der Abfolge von Gestaltungen, der Niedergang
indizierenden Verkrustung, die sich in Gesetzlichkeiten fassen lässt. Strömen, Werterhö-
hung und Verkrustung sind nicht die Kategorien, mit denen sich Nietzsches dionysisch-
apollinischer Lebensbegriff, in dem sich kein Funken von Normativität, aber die sinnlose
Prozessualität des Gestaltens und Entstaltens regt, die wir euphemistisch ,Geschichte'
nennen, zu verstehen wäre. Von Diltheys vermeintlich unmetaphysischer Teleologie und
Bergsons metaphysischer Hermeneutik her nähert sich Scheler, alte normative Verklä-
rungen des Naturbegriffs aufnehmend, der sinnlosen Dynamik des Lebens, die in Natar
und Geschichte sich zeigt. Unbemerkt werden zudem aristotelische Form-Materie-
Teleologien dem Nietzscheschen Lebensbegriff eingehaucht. Scheler modelt Nietzsche
zum anregenden Metaphysiker, der sich im Kampf gegen den Terrain gewinnenden Evo-
lutionismus (Herbert Spencer, Charles Darwin) nutzen lässt.
Leben bedeutet ursprüngliche, spielerische, unberechenbare, überraschende Aktivität.
Es ist ein Spiel, das sich selbst genießen und steigern will. Zeitgenössische reaktive Be-
stimmungen des Lebens entstammen irrigen Voraussetzungen, der reaktiv-konformis-
tischen Mentalität des Bourgeois. In der Bestimmung des Lebensbegriffs verrät sich nach
Scheler die unbedachte Grundhaltung zur Welt. Nietzsches Gesellschafts- und Kulturkri-
tik entstammt dem Willen zum spielerischen, neue Formen und Selbsterfahrungen su-
chenden Wagnis. Im Lebensbegriff hat Nietzsche diesen Willen zum Ausdruck gebracht.
Er ist das kategoriale Zentrum seines Denkens und Empfindens. Diesen interpretativen
Weg deutet Scheler nur an. In einer habituellen Interpretation Nietzsches könnte auf ihm
vorangeschritten werden. Jedenfalls macht Scheler klar, dass die Semantik der wissen-
schaftlichen und außerwissenschaftlichen Fundamentalbegriffe in präreflexiven Haltun-
gen, Stilen der Weltöffnung und -begegnung verankert ist. Eine Sprachanalyse, das ist
ein Affront gegen die Hermeneutik, verheddert sich in Oberflächlichkeiten, weil sie nicht
zur Analyse von Haltungen in ihrer individualen und traditionalen Genese vordringt. Auf
Nietzsches Schultern wagt er diesen verlockenden, wissenssoziologische Horizonte ah-
nenden Ausblick.38 Nietzsches Lebensbegriff ist willkommen, weil er mit mechanistisch-
reaktiven und utilitistisch-berechnenden Vorurteilen bricht. Seine systematische Explika-
tion und philosophische Adelung erfahrt dieser Begriff freilich erst, wenn wir Scheler
glauben, in der Phänomenologie.
Neben die teleologisch-formale Sichtweise des Nietzscheschen Lebensbegriffs tritt die
historistische, die zur existentiellen drängt. Ihren Abschluss findet Schelers Nietzsche-
Interpretation in der kategorialanalytischen resp. ideologiekritischen Applikation des
Lebensbegriffs, die Scheler sich zurechnet. Nietzsches dekuvrierende Leistung bleibt de
facto ungewürdigt. Als ideologiekritischen Bundesgenossen feiert er ihn nicht. Nietz-
sches Denken wird Durchgangsstadium für das eigene phänomenologische System, mit
dem er sich von Husserls transzendentaler Phänomenologie abgrenzen möchte. In die-
sem System walten vernachlässigte Beziehungen zum Geist des Historismus. So nimmt
es nicht wunder, dass er in vager Anlehnung an die Geburt der Tragödie^ Werden und
Vergehen geschichtlicher Welten mit ihren axiologischen Gliederungen und Beziehun-
gen als Aktionen des unergründlichen Lebens versteht, von der vitalistischen zur histo-
ristischen Semantik des Lebensbegriffs aufsteigt. Über die Problematik dieses perspekti-
vischen Wechsels in die Welt der geistigen Schöpfungen erfahren wir nichts. Da Scheler
den Historismus in seiner eigenen Phänomenologie metaphysisch relationiert, schwinden
im Ausblick auf letztheitliche regulative Sicherungen die in ihm lauernden Gefahren der
Resignation und Verzweiflung. Hinter allem Werden und Verwesen stehen feste, prinzi-
piell erschlossene, gefühlte Gliederungen des Seins. Den Glauben daran hat Nietzsche
längst verloren.
Das Ideal des Übermenschen steht Schelers phänomenologisch-existenzphiloso-
phischen Hoffnungen am nächsten. Die Nachtseiten des Lebensbegriffs können darin
vergessen werden. Von diesem Ideal her interpretiert er Nietzsches Lebensbegriff formal
und historistisch. Die triadische Struktur des Lebensbegriffs wird als teleologisches Ge-
füge gedeutet: Dynamik, Geschichte, Übermensch. Tragische Einsichten werden im
Keim erstickt. Dass jede Lebensbestimmtheit den Tod, den Mord des anderen zur Vor-
aussetzung hat, in jedem Ja ein vernichtendes Nein tobt, Leben unabweislich Töten in
sich schließt, nimmt Scheler nicht wahr. Es gibt Wahrheiten, die dem Leben, die den
Lebenden verborgen bleiben müssen. Bis in die Sprache hinein spürt man Schelers fikti-
onales Interesse. Strömen, Rauschen und Trinken kaschieren die grässliche Wahrheit
sinnlosen Tötens und Leidens in lyrischen Euphemismen, in anthropomorpher Sinnein-
bettung.40 So lassen sich Ängste bewältigen. Richtungsvokabeln dienen der Flucht in den
Schein, dessen das Leben bedarf. Prometheisch-apollinische Einäugigkeit lässt Leben als
unendlichen Prozess der Gestaltung, des formalen Bewältigens des Ungestalten erschei-
nen, in dem die ideologisierende Gewalttätigkeit nicht zu Bewusstsein kommen darf.41
Biologie und Historismus werden kategorial identisch: Aktivität, Innovation, progressive
Formung, universale ideologische Bestimmtheit. Die Polysemantik des Nietzscheschen
Lebensbegriffs verführt zur organologischen Generalisierung. Selbst das Vernichten
sieht Scheler als weiter schreitende, sinnvolle Formung im vitalen und humanen Bereich
gesehen: Vernichtung als Steigerung. Nietzsches ,Wille zur Macht' erscheint als teleolo-
39
Ebd., 315.
40
Ebd., 314.
41
Ebd., 315.
164 Erwin Hufhagel
Dazu: Christian Bermes (Hg.), Sprachphilosophie, Freiburg 1999; Friedrich Nietzsche, KSA, WL, 1,
879ff.
166 Erwin Hufnagel
Scheler bezweifelt nicht, dass es sich um eine Dichotomie handelt. Eine artikulatorische Interpretation
kommt zu einer anderen Sichtung. Sie wird selten versucht.
45
Dazu: Nikias Luhmann. Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1999.
Déformation professionelle 167
Dazu: Max Scheler, Versuche, 316: „Das ist das Merkwürdigste [...].'
168 Erwin Hufnagel
Aer seine Voraussetzungen und Geschichtlichkeit nicht ahnende Typus des homo faber
werden analytisch-rekonstruktiv transzendierbar. Das Spektrum geschichtlicher Mög-
lichkeiten wird wieder sichtbar. Auswege aus der Sackgasse der Moderne können nur
so gefunden werden. Die vita activa in der engen bürgerlich-technologischen Semantik
des homo faber ist nicht das letzte Wort.47 So schaffen sich Nietzsche und Scheler Zu-
gang zu verschütteten (Antike, Renaissance) und erst zu entwerfenden Lebensmöglich-
keiten.
Scheler sieht in Nietzsche den Kritiker des modernen Menschen, der aus uneingestan-
dener Angst, aus Ressentiment gegen das verschwenderische, nicht antizipierbare, tödli-
che Risiken bergende Leben die Welt und den Menschen in artifiziell-hermetischen Sys-
temen, in denen das mythische Gesetz der Wiederholung als Optimum der Logizität
gilt,48 berechenbar zu machen trachtet und dadurch seine Geschichtlichkeit, seine
existentiellen Möglichkeiten des Opfers, der Selbstlosigkeit und des Aufschwungs
verrät. Niedergehendes Leben sucht rational-instrumentelle Sicherungssysteme und folgt
im Sozialen der strategischen Vernunft. Anpassung und Daseinserhaltung avancieren zu
zentralen Kategorien. Der Bourgeois resp. der Pöbeltypus begründet mit ihnen eine
Scheinwelt der wissenschaftlichen, gegen Kritik immunisierten Objektivität.49 Nietzsche
hat nach Einschätzung Schelers die bürgerliche Wissenschaft als defizienten Modus des
Denkens entlarvt. Es müssen die jeweils fundierenden Ethos-Typen historisch rekon-
struiert werden.
Ohne Skrupel übernimmt Scheler die normativen Implikationen, die er in Nietzsches
Philosophie des Lebens findet. Möglicherweise wirkt sich der normative Horizont, den
Scheler von Nietzsche übernimmt, hinderlich aus. Über den Erkenntniswert der Auf-
stiegs- und Niedergangsvokabeln lässt sich streiten. Dass Arbeit, Leistung, Vorsicht,
Klugheit, Selbstkontrolle, ökonomische Vernünftigkeit und kausalanalytische wissen-
schaftliche Konstruktivität für die Selbstbestimmung und Lebensgestaltang des moder-
nen Menschen bestimmend wurden, lässt sich mit vager affektbesetzter Lebensmetapho-
rik nicht begründen. Scheler folgt Nietzsche bis ins Pathos verschwenderischer Lebens-
entwürfe ausspähender Eigentlichkeit. Selbstüberschreitung vermählt sich am Vorabend
des Ersten Weltkrieges mit den Gedanken berauschender Opfer und unbedingter Liebe.
Das Pathos kippt leicht ins Pathologische. Durch die ideologiekritisch-wissenssoziolo-
gische Forschungsperspektive kommt wohltuende Linderung. Doch bleibt die fundamen-
tale Insuffizienz der normativ-deskriptiv oszillierenden Lebensmetaphorik sichtbar. Dass
lebensweltliche und wissenschaftliche Rationalität, dass jegliche Bestimmung der eige-
nen Identität um den Preis radikaler Reduktion gewonnen werden kann, bleibt undisku-
tiert. Schelers, Nietzsche entlehntes, Ethos der Unverfügbarkeit und Wahrung der Kom-
plexität des Lebens bzw. der Geschichte unterschlägt den lebensnotwendigen Zwang zur
Vereinfachung, zur artifiziellen Konstruktion. Der Zwang wird als niedergehendes, letzt-
lich totes Leben stigmatisiert und dem analytischen Zugriff, dem das Wort geredet wird,
Dazu: Johann Arnos Comenius, De rerum humanarum Consultatio Catholica, hg. von Otokar Chlup,
Prag 1966.; Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1983.
Dazu: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente,
Frankfurt/M. 2003.
Dazu: Max Scheler, Versuche, 316f.
Déformation professionelle 169
partiell entzogen. So wird aus dem Versuch der Lebensphilosophie eine antagonistische
Versuchung.
Ders., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1966.
51
Dazu: Ders., Frühe Schriften, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. von Maria Scheler/Manfred S.
52
Frings, Bern/München 1971.
Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, 1918.
53
Alois Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, 1920.
54
Dazu die vernichtende Kritik, die Hermann Ebbinghaus an Diltheys Akademieabhandlung Ideen über
eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) geübt hat: „Über erklärende und beschrei-
bende Psychologie", in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 9, 161—
205.
170 Erwin Hufhagel
emotionale Konfiguration werden, in dem die schematische Trennung von Wollen, Füh-
len und Erkennen eingeschmolzen wird. Nietzsche hat für Scheler die Typologie Dil-
theys entscheidend vorangetrieben. Geschichtlich-lebensgeschichtliche abgesunkene
apriorische Gefüge, aus Erfahrungen des Handelns hervorgegangen und Handlungen
vorzeichnend, werden erstmals in ihrer Komplexität erhellt. Die bewusste Geschichte
entstammt unbewussten Artikulationseinheiten mit eigener zirkulärer Geschichtlichkeit.
Schelers Phänomenologie des Gefühlslebens erhält durch Nietzsches Systematisierung
des Ressentimentbegriffs den verbindlichen methodologischen Zuschnitt, in dem Andeu-
tungen und Hoffnungen Diltheys sich zu einer neuen, vorsprachliche Konfigurationen
einbeziehenden Theorie der Auslegung fügen. Zwischen 1912 und 1915 hat sich Sche-
ler, wie die veränderte Druckfassung belegt, mit den Partien I, 8; I, 10 und I, 14 der Ge-
-
Weil Nietzsche die verborgensten Winkel des Ressentiments aufgespürt hat, kann, so
hofft Scheler, die Idee der humanitas, die Idee des spielerisch-sorglosen, selbstlos-
liebenden, ungekannte Werte schaffenden und genießenden, naiv-egoistischen, alles
Reaktive verschmähenden, aus einer ungebrochenen, unverletzten, unbedachten Mitte
handelnden Menschens der Noblesse, der selbst noch für den aus Irritationen und Refle-
xionen erwachsenen Stolz zu stolz ist, in neuem, glanzvollem Lichte gesehen werden.
Scheler konfrontiert den von Nietzsche gezeichneten Menschen des Ressentiments mit
dem angstfreien, ritterlich-schenkenden, bislang ungedachte Möglichkeiten suchenden,
liebenden homo ludens, dessen Spiel auch kämpferisch sein darf. Dass der Typus des
achtenden Selbstbezugs, der aus ganzem Leibe liebenden Welthaltung, in der Renais-
sance und Aufklärung sich überzeitlich ineinanderfügen, im Zentrum der Selbstverge-
wisserung Nietzsches und geschichtlicher Hoffnungen steht und den Gedanken des
Übermenschen konkretisiert, bleibt von Scheler nicht unerwähnt, aber im Hintergrund
und in bezug zu anderen Autoren aus Geschichte und Gegenwart entwickelt.62 Scheler
beansprucht einen axiologischen Primat, den er nicht gefährden will. Nietzsche bleibt der
in seine Grenzen zu weisende rhapsodische Alleszermalmer, dessen provokatorische
Mächtigkeit methodologisch geklärt und durch die eigene Wertlehre ins Positive gewen-
det werden soll.
Nietzsches tiefenpsychologische Destruktion wirkt bei ihm als Stachel im Fleisch. Der
Begriff der Ethik wird fragwürdig. Seine tradierte Semantik ist obsolet. Scheler weitet
Nietzsches Psychologie des Ressentiments zur verstehend-beschreibenden Phänomeno-
logie von Ethosformen, erhöht dadurch den grundlagentheoretischen Anspruch an eine
Axiologie. Die lebensphilosophisch-diltheysche Bescheidung auf eine Pluralität von
inkommensurablen Ethosformen mag er nicht akzeptieren. Er hält an einer metaphysi-
schen Axiologie fest, deren Argumentationsmuster sich von denen der tradierten Meta-
physik unterscheiden. In der Ressentiment-AbhmAhxng fügt er die Pluralität geschicht-
lich-monadischer Moralen, die er als spezifische Wertvorzugsregeln, als Variation des
Grundwertes und nicht einfach der jeweiligen Einbettung eines vermeintlich konstanten
Grundwertes in diverse geschichtliche Kontexte bestimmt, einer „absoluten Ethik"63 ein;
im zweiten Teil der Formalismus-Schriñ64 betont er den urteilsgebundenen, nachrangi-
gen Status des Begriffs der Ethik und grenzt ihn von der vorgeordneten Phänomenologie
der axiologischen Präferenz ab. Nietzsches vorsprachlich-unbewußte Semantik des Res-
sentiment-Begriffs zwang er die urteilshaft-bewusste Fassung des Begriffs der Ethik
durch eine Phänomenologie der absolut gültigen Präferenz- resp. Wertrangordnung zu
überbieten.
Welt erschließt sich vorurteilshaft in wertenden Wollungen. Das bewusste Urteil ist
ein Kind der Reflexion, das sich im System einer Ethik verwandtschaftliche Beziehun-
gen konstruiert. Schelers Phänomenologie bricht mit dem Primat von Urteilssystemen.
Die Konfrontation mit Nietzsches Ressentiment-Lehre ist das Schlüsselerlebnis. Das
Ressentiment ist ein Modus des habituell gewordenen Vorurteils, in dem sich Wirklich-
keiten und Urteilshorizonte erschließen. An die Stelle des überindividuell-überge-
Friedrich Nietzsche, KSA, JGB, 5, 205-240; KSA, GM 5, 270-277; Max Scheler, Ressentiment, 46ff.
Max Scheler, Ressentiment, 68f. (er spricht von einer „ewiggültigen Ethik").
Ders, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 300ff.
Déformation professionelle 173
Dazu: Ders., Ressentiment, 68ff; Ders., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
173ff.
Ders., Ressentiment, 47.
Dazu: ebd., 77.
Ebd., 83ff.
Dazu: ebd., 70.
Pia Daniela Volz
1
Bruno Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Tübingen 1978 (2 Bde.); ders., Nietzsche
wie ihn die Dichter sahen, Göttingen 2000.
-
2
Vortrag vor dem Nietzsche-Forum München, 2003 (unpubliziert).
176 Pia Daniela Volz
Klinische Rekonstruktionen
Nietzsches psychischer Zusammenbruch erfolgte um die Jahreswende 1888/89 in Turin:
ein hochgradiger Erregungszustand mit Größenwahn zeigte sich, symptomatisch ge-
sprochen, eine manische Psychose. In den letzten Dezembertagen 1888 hatte Nietzsche,
so die örtliche Überlieferung, Tag und Nacht überlaut wagnersche Musik auf dem Kla-
vier gespielt und nackt wie ein Satyr in höchster Erregung durchs Zimmer getanzt, Un-
mengen Wasser getrunken, Geldscheine zerrissen, auf der Straße Passanten umarmt.
Um den 3. Januar 1889 fällt auch die legendäre Umarmung des misshandelten Drosch-
kengauls.
Nietzsche fühlte sich als Courier du grand monde, sandte Freunden wie Unbekann-
ten Botschaften auf Büttenpapier, die so genannten Wahnsinnsbriefe. Die Identität des
Philosophen Nietzsche, der von der umfänglichsten Seele' geträumt und den traditio-
nellen Subjekt-Begriff relativiert und destruiert hatte, löste sich auf in ein Figuren-
Kaleidoskop, ideenflüchtigen Selbstbildern, die mit dem Material spielen, das den zuvor
getragenen Masken des poetischen Ichs gleicht. So im berühmten Brief an die „Prinzeß
Ariadne, meine Geliebte" (3. Januar 1889): „Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch
bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne Alles, was Men-
schen erleben können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Budha,
in Griechenland Dionysos gewesen, Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen,
insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich [...] Voltaire und
-
Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner [...] dies Mal aber komme ich als der sieg-
reiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird" (KSB 8, 572f).
Die Realien der Turiner Umgebung (Festumzüge, Konzerte) werden in diesen
Schreiben wahnhaft umgedeutet. Sie lebensgeschichtlich sorgfältig zu deuten, in ihren
Linien und Motiven in die Philosophie Nietzsches einzuordnen, würde eine sorgfältige
Analyse und genaue Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten und historisch-politischen
Ereignisse erfordern. Nur ein Beispiel aus dem Brief an Jakob Burkhardt vom 6. Januar
1889: „In diesem Herbst war ich [...] zwei Mal bei meinem Begräbnisse zugegen, zu-
erst als conte Robilant (- nein, das ist mein Sohn, insofern ich Carlo Alberto bin, meine
Natur unten) aber Antonelli war ich selbst" (ebd., 578f).
Die Inkarnationen und Identifikationen wechseln in rascher Abfolge: die Sprache ist
bedeutungsschwer und anspielungsreich zugleich. Wir kennen die historischen Perso-
nen: den italienischen König Carlo Alberto (1798-1849), Nietzsche wohnte in Turin in
der gleichnamigen Straße, seinen Sohn Vittorio Emmanuele II (1820-1878) seit 1861
König von Italien. Der uneheliche Sohn Carlo Albertos war Graf Carlo Robilant ( 1826-
1888). Er war wie Alessandro Antonelli (1798-1888), der Erbauer der Mole Antonelli,
mit düsterem Pomp im Turiner Herbst beerdigt worden.3 Was ist damit für die Interpre-
tation gewonnen? Was ist das: „meine Natur unten"? Die Sexualität, die Zeugungs-
kraft? Will Nietzsche sagen, wenn er auf seiner eigenen Beerdigung anwesend ist, dass
die Zeit, Söhne zu zeugen, unwiderruflich vorbei ist? Eine düstere Vorahnung, dass
Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Unter-
suchung, Würzburg 1990, 263 ff.
Wahrsinn oder Wahnsinn? 177
seine Identität sich auflöst? Spürt er, dass es mit dem bewussten Leben zu Ende geht?
Eine umfangreiche Interpretation der ,Wahnsinnsbriefe' steht immer noch aus.
Zurück zu den Fakten: In der Basler Psychiatrischen Klinik Friedmatt wurde bei
Nietzsche im Januar 1889 die Diagnose progressive Paralyse' gestellt, die auf dem
klinisch-neurologischen Befund fußte, da Laboruntersuchungen wie die Wassermann-
Reaktion (Syphilis-Nachweis 1906) noch nicht existierten. Wichtiges Indiz für eine
venerische Infektion war die Augenuntersuchung: die rechte Pupille zeigte die reflekto-
rische Pupillenstarre, sie verengte sich bei Lichteinfall nicht.4
Schon 1877 war bei Nietzsche eine chronische Ader- und Regenbogenhautentzün-
dung (Chorio-Retinitis centralis) im rechten Auge konstatiert worden, welche das Lesen
zeitweise unmöglich machte. Die erst einseitig, dann beidseitig über mehr als 25 Jahre
chronisch verlaufende Uveitis, ist mit viel Plausibilität als Indiz für eine syphilitische
Infektion gedeutet worden. Die Infektion selbst? Manche mutmaßen, sie sei bei einem
Bordellbesuch während der Studentenzeit in Leipzig (1866) erfolgt, die Begegnung
Adrians mit der Hetäre Esmeralda in Thomas Manns Doktor Faustus vor Augen. Nietz-
sche selbst meinte, sich mit Gonorrhoe zweimal spezifisch' angesteckt zu haben. Von
seiner Schwester zum asexuellen Heiligen stilisiert, war er vielmehr, wie Joachim Köh-
ler gezeigt hat, ein „passionierter Erotiker", der unter seiner Neigung zur latenten Ho-
mosexualität litt.5 Abgesehen von gelegentlichen Kontakten zu Prostituierten hatte er
keine dauernden intimen Liebesbeziehungen, weder zu einem Mann noch zu einer Frau,
wobei er seine schizoid-narzißtische Beziehungsstörung zur heroischen Einsamkeit
stilisierte und sich seinen ,Sohn' Zarathustra als Alter ego schuf. Nach der Frühpensio-
nierung wurde er von 1880 an sehr erschreckt von der Intensität seiner Gefühle, die
zwischen starken depressiven Verstimmungen und rauschhaften Glücks- und Inspirati-
onszuständen schwankten und sich klinisch als schwere Migräne-Anfälle manifestier-
ten: „Ein Gefühl von Welt-Fremdheit, Vorüber-Eilendem, Wanderer-haftem sitzt sehr
tief in mir drin [...] mein Gefühl, sei es des Angenehmen oder des Unangenehmen, hat
so heftige Explosionen, daß ein Augenblick [...] hinreicht [...] mich vollkommen krank
zu machen (etwa 12 Standen später ist es entschieden, es dauert 2-3 Tage)", heißt es in
einem Brief vom 9. Juli 1883 (KSB 6, 393ff).
In diesen Jahren verschlimmerte sich die neurologische Symptomatik mit stundenlan-
gen Krampferscheinungen sowie einem „der Seekrankheit eng verwandtem Gefühl einer
Halb-Lähmung, wo mir das Reden schwer wird" sowie „längeren Bewußtlosigkeiten"
(ebd., 3ff). Differentialdiagnostisch ist am ehesten an eine Migraine accompagné tax
denken, die wohl durch den meningo-encephalitischen (syphilitischen) Hirnprozess über-
lagert wurde, der zu dem hypomanischen Schaffensrausch 1888 führte. Nietzsche kons-
tatierte eine „extreme Irritabilität" als Teil einer nervösen „Gesammt-Erschöpfung",
hereditär vom Vater erworben, der „an Folgeerscheinungen des Gesammt-Mangels an
Lebenskraft gestorben" sei (KSB 8, 347).
4
Leonard Sax, „What was the cause of Nietzsche's dementia?", in: Journal of medical biography, 11
(1) (2003), 47-54. Der amerikanische Psychiater bestreitet, dass dies ein spezifisch syphilitisches
Zeichen sei, da bei Nietzsche schon als Kind eine Pupillenungleichheit aufgefallen sei.
Joachim Köhler, Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft,
Nördlingen 1989.
178 Pia Daniela Volz
Nietzsches Werke wurden mit der Krankheit in Verbindung gebracht: schon die Tra-
gödienschrift wurde als ,verrückt' und größenwahnsinnig' apostrophiert, erst recht die
Werke seit 1881, so bei Max Nordau, der 1892/93 in seiner Schrift Entartung Nietzsche
als ,Tobsüchtigen' auftreten ließ, seine Schriften als Ausgeburten ,maniakalischer Exal-
tation' brandmarkte. Der Nervenarzt Paul J. Möbius nahm den Zarathustra Teil IV als
Beweis dafür, inwieweit die Geisteskrankheit progrediert sei: „Die Zerstörung der
Hemmungen ist fortgeschritten, das Zartgefühl mehr geschädigt: zum ersten Mal bemer-
ken wir Gemeinheit und Lüsternheit."6 Mittlerweile herrscht hinsichtlich der Konstatie-
rung pathologischer Texte Einigkeit in der Nietzsche-Forschung, dass von einem Ein-
fluss der Geisteskrankheit allenfalls im Turiner Herbst 1888 im Sinne einer Aggressi-
vierung und Auflockerung bei hohen Stilgefühl die Rede sein kann.
Wie ging es mit Nietzsches Zustand nach dem Basler Klinikaufenthalt weiter?
Die Geistes-Lähmung schritt während des dreivierteljährigen Aufenthaltes in der Je-
naer Klinik voran mit Denkinkohärenz, Merkfähigkeitsstörungen, zeitlicher und örtli-
cher Desorientiertheit, Apathien, abwechselnd mit aggressiven Durchbrüchen. Nach
einem Jahr wurde er 1890, als in ,Remission' befindlich, in die Obhut der Mutter ent-
lassen. Lesen, Klavierspielen, Spazierengehen waren eingeschränkt möglich, doch
nahmen das unerwartete Aufschreien, Gangstörungen und Demenz zu. 1893 und 1895
traten motorische Reizerscheinungen (stundenlanges Reiben der Brust) auf. In den letz-
ten drei Lebensjahren erlitt er zwei Schlaganfalle; ein letzter Schlaganfall des
54jährigen im August 1900 führte zu einer Pneumonie und zum Tod.
6
Vgl. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 13ff
Paul J. Möbius, Über das Pathologische bei Nietzsche, Wiesbaden 1904; Kurt Hildebrandt, Ge-
sundheit und Krankheit in Nietzsches Leben und Werk, Berlin 1926; Karl Jaspers, Nietzsche. Ein-
führung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936; Wilhelm Lange-Eichbaum, Nietz-
sche. Krankheit und Wirkung, Hamburg 1947; Wilhelm Lange-Eichbaum/Wolfgang Kurth, Genie,
Irrsinn und Ruhm, München 1989, Bd. 7.
Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 7.
9
Richard Schain, The legend of Nietzsches syphilis, Westport 2001.
Wahrsinn oder Wahnsinn? 179
Europäer, so Schain, hielten aus historischen Gründen an der Annahme einer progres-
siven Paralyse' und damit einer exogenen Psychose fest, an einer Krankheit, die so gut
wie jede andere psychisch-neurologische Störung nachahmen könne, worin ihr die
Schizophrenie als endogene Psychose (im historischen Sinne der ,Dementia preacox'
Emil Kraepelins) in keiner Weise nachstehe. Worin die spezifische Vulnerabilität
Nietzsches, die 1888 zum Ausbruch der Schizophrenie geführt haben soll, bestanden
haben mag, vermag Schain nicht zu sagen. Gino Gschwend hält der Schizophrenie-
Diagnose entgegen, Nietzsches Wahnphänomene seien viel flüchtiger und in ihren In-
halten rasch wechselnder gewesen als die viel stabileren Wahngebilde bei einer schizo-
phrenen Psychose.10 Zum hundertsten Todestag Nietzsches kamen neue Mutmaßungen
zum Vorschein: So attestiert die amerikanische Psychiaterin Eva Cybulska", welche die
Syphilis ebenfalls für eine Fehldiagnose hält, Nietzsche eine zyklothyme Persönlich-
keitsstörung (572) mit einer manisch-depressiven Erkrankung, gefolgt nach 1889 von
einer Multiinfarkt-Denemez (571). Sie zieht einen dienzephalischen Hirntumor in Be-
tracht. Auch Leonard Sax12 findet die Diagnose eines rechtsseitigen retroorbitalen Me-
nigeoms plausibler als die Paralyse-Diagnose (50). Es gibt keine neuen Dokumente,
keine neuen Fakten: die klinischen Spekulationen werden nie verstummen, da harte
Fakten (Serologie, Computertomographie des Gehirns) nicht vorliegen. Viele erklären
daher die Krankheitsdiskussion für irrelevant, da sie für das Verständnis von Nietzsches
Werken nichts beitrage. Andere würden eine Exhumierung von Nietzsches Gebeinen
begrüßen, um posthum nach Syphilis-Nachweisen zu suchen, um der verwirrenden
Fülle der Spekulationen13 ein Ende zu bereiten.
'
Gino Gschwend, „Pathogramm von Nietzsche aus neurologischer Sicht", in: Schweizerische Ärzte-
zeitung, 81 (1) (2000), 45^18.
11
Eva M Cybulska, „The madness of Nietzsche: a misdiagnosis of the millenium? ", in: Hospital
Medicine, 61 (2000) 571-575.
12
Leonard Sax, „What was the cause of Nietzsche's dementia?", 47-54.
13
Aus der Fülle der pathographischen Sekundärliteratur weniger bekannte Arbeiten: Didier Cressy,
Nietzsche: schizoidie, génie et paralysie générale. Contribution a l'étude de la maladie mentale et
de la personalite d'un philosophe, Diss. med., Rouen 1986; Klemens Dieckhöfer, „Friedrich Nietz-
sche. Zur Variblität der Krankheit eines Genies", in: extractapsychiatrica, 3 (1992), 322-343; J. F.
Donnot, „La folie de Nietzsche", Thèse med., Dijon 1980; Lutz Gentsch, Wahnsinn oder Philoso-
phie Friedrich Nietzsche? Eine meistens methodologische Analyse, Frankfurt/M. 1995; Ulrike
Hoffmann-Richter, „,lieber Basler Professor als Gott'. Nietzsches Basler Krankengeschichte", in:
-
Psychiatrische Praxis, 27 (2000), 151-153; A. Raab, Nietzsche et la psychiatrie, Thèse med., Paris
1940; Pia Daniela Schmücker, „Wider den ,Geist der Schwere'. Nietzsches Leiden in ihrem psy-
cho-physischen Zusammenhang", in: Schweizerische Rundschau für Medizin, 29/30 (2001), 1245-
1256; Günter Schulte, „,Ich impfe euch mit dem Wahnsinn'. Nietzsches Philosophie der verdräng-
ten Weiblichkeit des Mannes", Frankfurt/M. 1992; Christoph Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche
und der Wahnsinn der Vernunft, Frankfurt/M. 1991; Johannes Wilkes, „Friedrich Nietzsche: Die
Geschichte seiner Krankengeschichte zum 100. Geburtstag des Dichterphilosophen", in: Psychi-
atrische Praxis, 27 (2000), 147-150; Jochen Zwick, Nietzsches Leben als Werk: ein systematischer
-
Versuch über die Symbolik der Biographie bei Nietzsche, Stuttgart 1994.
180 Pia Daniela Volz
lung seines Geistes in der Turiner Inszenierung gelangt sei. Werner Ross sieht ebenfalls
als Lebens-Leitlinie dieses ungemein höflichen Menschen und disziplinierten Schrift-
stellers den Durchbruch zur eruptiven Befreiung von falschen Häuten unter dem Motto
„Alle Wege führen zum Wahn."18 Der Wahn als willkommenes Stimulanz, als zum
Vorschein-Kommen des wahren Selbst. Thomas Mann hat im Doktor Faustus ( 1947)
die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkühn19 als Fall eines hochprekären
Künstlerlebens gestaltet, das von Frigidität und Sterilität bedroht, der Enthemmung
bedurfte. Adrian ist in Mannscher Collagetechnik nach dem Vorbild Nietzsches gestal-
tet (wir finden nicht nur Zitate aus Nietzsches Lebensbeschreibungen, sondern auch aus
der syphilidolgischen Spezialliteratur seiner Zeit). 1943 heißt es in einem Brief an den
Bruder Heimich, er verfolge einen sehr alten Plan einer „modernen Teufelsverschrei-
bungsgeschichte aus der Schicksalsgegend Maupassant, Nietzsche, Hugo Wolf etc.,
kurzum das Thema der schlimmen Inspiration und Genialisierung, die mit dem Vom
Teufel geholt Werden, d. h. mit der Paralyse endet. Es ist aber die Idee des Rausches
überhaupt und der Anti-Vernunft, damit verquickt auch das politische, faschistische und
damit das traurige Schicksal Deutschlands."20
14
Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), in: ders., Gesammelte
Werke, Frankfurt/M. 1990, 675-712.
15
Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, Frankfurt/M. 1981, 139-160.
16
Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus, München 1986.
17
Georges Bataille, „Nietzsches Wahnsinn", in: Acéphale Nr.5, Folie, guerre et mort, Juni 1939.
Wiederabgedruckt u. übersetzt in: Zur Kritik der palavernden Aufklärung, hg. von Gerd Bergfleth
u.a., München 1984, 27-33. Darin: „Nietzsche", 155-161. Vgl. George Bataille, Wiedergutma-
18
chung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte, München 1999.
Werner Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1984; ders., Der wilde
Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos, Stuttgart 1994.
19
Liisa Saariluoma, Nietzsche als Roman: über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns .Doktor
Faustus', Tübingen 1996. Auch: K. Heinrich/Ch. Walter, „Zur Psychopathologie von Thomas
Manns Doktor Faustus: pathographischer Versuch über Adrian Leverkühn", in: Persönlichkeit und
psychische Erkrankung (Festschrift für Prof. Peters zum 60. Geburtstag), hg. von A. Marneros.
20
Springer 1992, 10-17.
Zit. n. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 192.
Wahrsinn oder Wahnsinn? 181
Sigmund Freud21 war in analoger Weise der Meinung, die Paralyse habe im Leben
Nietzsches eine wichtige Rolle gespielt, insofern der durch sie bewirkte „Auflocke-
rungsprozeß" dessen geniale Fähigkeit der „endopsychischen Wahrnehmung", der
Introspektion gesteigert habe. Carl Gustav Jung war anderer Meinung: „Die Neurose
macht keine Kunst. Sie ist unschöpferisch und lebensfeindlich. Nietzsches syphilitische
Infektion hatte zweifellos einen stark neurotisierenden Einfluss auf sein Leben. Man
könnte sich aber einen gesunden Nietzsche denken mit Schöpferkraft ohne Überspannt-
heit etwa wie Goethe."22 Heutige Psychoanalytiker wie Léon Wurmser betonen die,
neben der syphilitischen Infektion, ausgeprägte Konflikthaftigkeit von Nietzsches In-
nenleben im Sinne von Über-Ich-Konflikten mit starker Autoaggressivität23, die sich in
psychosomatischen Beschwerden manifestierte (Magen- und Darmstörungen, Migräne
mit funktioneilen Sehstörungen, Schlafstörungen, Schwindel), Ausdruck eines ungelös-
ten Konfliktpotentials, das zugleich Impuls seines Schaffens gewesen sei. Denken und
Schreiben als Selbsttherapie? Als Überlebensstrategie, würde Hermann-Josef Schmidt24
sagen.
Meines Erachtens ist Nietzsches vielgestaltige und wechselnde Symptomatik Aus-
druck eines Krankheitskomplexes, bei dem sich organische Faktoren (Migräne, Myopie,
Paralyse) und psychische Faktoren (neurotische Depression mit hypomanischer Depres-
sionsabwehr auf dem Boden narzißtischer Persönlichkeitsstörung) überlagerten. Die
narzißtische Problematik, die Selbstwertstörung, das Leiden an Sinnlosigkeit und Lie-
besleere im Verbund mit organischen Faktoren waren mit massivem Leidensdruck ein
hinreichend produktionsförderndes Stimulanz. Nietzsche, vielfältig begabt, ein genialer
Stilist, der die innere Not in Sprache zu kleiden wusste, hätte der Paralyse als Auflocke-
rungs- und Kreativitätsschub nicht bedurft. Sie war es, die ihm letztlich die Sprache
nahm.
21
Das Freud-Bild Nietzsches ist umfassend gewürdigt von Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud,
Berlin/New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; 38).
22
Ebd., 47.
23
Léon Wurmser, Das Rätsel des Masochismus: psychoanalytische Untersuchungen von Über-Ich-
Konflikten und Masochismus, Berlin 1993. Weitere Arbeiten: Gaetano Benedetti, „Die neurotische
Lebensproblematik Nietzsches als eine Wirkkraft und Grenze seiner Philosophie", in: Gesnerus, 41
(1984), 111-132; ders., Die „narzißtische Problematik bei Friedrich Nietzsche", in: Narzißmus
beim Einzelnen und in der Gruppe: Psychotherapie und Literatur, hg. von Raymond Battegay,
Bern 1989, 11-20; Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in
Biographie und Werk, Darmstadt 1998; Bernd Nitzschke, „Lebenslanges Leiden und der Wille zur
Macht über das Leiden. Neue Literatur von und über Nietzsche", in: Psyche, 42 (1988), 439-447;
Hubertus Teilenbach, „Nietzsches Aufgerieben-Werden durch unauflösbare existentielle Antino-
mien", in: Daseinsanalyse. Phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie, 1 (1993), 38-
52.
24
Hermann Josef Schmidt, „,Jeder tiefe Geist braucht die Maske'. N.s Kindheit als Schlüssel zum
Rätsel Nietzsche?", in: Nietzscheforschung Bd. 1 (1994), 137-160; ders., Nietzsche absconditus
oder Spurenlesen bei Nietzsche. I Kindheit T.l/2, Berlin/Aschaffenburg 1991; Kindheit T. 3, 1991,
//. Jugend. 1. Tbd 1858-1861, 1993; //. Jugend. 2. Tbd 1862-1864, 1994; Wider weitere Entnietz-
schung Nietzsches. Eine Streitschrift, Aschaffenburg 2000.
182 Pia Daniela Volz
Die Verleugnung der Realität der Geisteskrankheit durch Idealisierung ist ein Weg.
Elisabeth hat ihn beschritten und mit ihr viele Fotographen, Möchte-gern-Literaten,
illustre Besucher, die in einer sich selbst aufwertenden Projektion den Kranken als
Spiegel eigener Phantasien missbrauchten: Nietzsche wurde zum goetheähnlichen Bild
des verstummten Weisen verklärt, so von Karl Böttcher: „Nicht wie Lenau, der erregt
tobte, nein wie einst Hölderlin wird Friedrich Nietzsche von einer Art elegischen
Wahnsinns umnachtet; er ist ruhig, mild, sanft, aber freud- und leidlos."25
-
Auserlesenen Besuchern wurde in der Villa Silberblick der Kranke, in weiße Gewän-
der gehüllt, auf einem Diwan aufgebahrt, wie in einem Mausoleum vorgeführt. Dem
Pathos der Inszenierung entspricht das kitschige Pathos der Besucher und ihrer Berich-
te, mögen sie Philo vom Walde oder Stanislaw Przybyszewski heißen, der polnische
Schriftsteller, der sich dazu verstieg, die Krankheit zum eigentlichen Wesen Nietzsches
zu verklären. Wenn jemand sich in die Unzugänglichkeit der Demenz, der geistigen
Umnachtung verabschiedet, so reizt nichts mehr als diese Lücke der Unmitteilbarkeit
aufzufüllen, durch Legendenbildung oder durch Erfindungen.
Fiktionen -
Visionen
Den nun vorzustellenden belletristischen Werken ist eines gemeinsam: sie operieren mit
einem reichen Fundus an Originalzitaten aus Nietzsches Werken und Briefen, mehr
oder weniger adaptiert, umformuliert oder nachempfunden im Kontext einer neuen
Rahmenhandlung.
Die französische Philosophin Isabelle Prêtre hat 1990 einen (dt. 1993) Nietzsche-
Roman mit dem allessagenden Titel Mein Wahnsinn ist meine Insel26 verfasst, der die
Krankheitsjahre in Monolog-Form lebendig werden lässt. Die Tagebucheintragungen
des Kranken beginnen am 11. Mai 1890 und enden einen Tag vor dem Tod am 24. Au-
gust 1900. Wir erhalten die einzigartige Chance, am Denken des Patienten Nietzsche
Anteil zu nehmen und seiner letzten Worte gewahr zu werden: „Was ich der zukünfti-
gen Menschheit zurief, verhallte in der Nacht. Daher werde ich auch meine letzten Ge-
danken für mich behalten. Ich habe es satt Perlen vor die Säue zu werfen! Man hält
mich für eingemauert, schizophren. Dabei bin ich erst jetzt wirklich glücklich"(7).
Obwohl der kranke Nietzsche dies zu Beginn des Romans ausruft, wird er uns weite-
re 284 Seiten an seinen sexuell-freizügigen Assoziationen teilhaben lassen. Der Wort-
reichtum eines Sprachlosen ist stupend: „Du, Mütterchen, bist ein Lamm in der Herde.
Ich ein Adler oder ein Hirte [...] Weißt Du warum ich schreie? Damit sie abhauen [...]
Der Schrei des Primaten, das Schreien des Säuglings, der Schrei des Wahnsinnigen.
Alles dasselbe. Ich stehe jenseits der Worte. Ich brauche sie nicht mehr" (2. Juni 1890).
„Ich kämpfe nicht mehr gegen die Dummheit jener, die ihren Leib ,Tempel Gottes'
nennen und ihn mit Eifer massakrieren. Kommt, ihr luziferischen Eunuchen, impotente
Menschheitsverderber, aseptische Denker, kriminelle Moralisten, kommt und betrachtet
die Lust eines Gottes [...] Ich bin Gott und halte Beischlaf mit dem gesamten Univer-
Isabelle Prêtre, Mein Wahnsinn ist meine Insel. Ein Nietzsche-Roman, München 1993.
Wahrsinn oder Wahnsinn? 183
sum" (26. Juli 1890). Natürlich erfasst der Kranke was in der Villa Silberblick mit ihm
geschieht: „Ich lebe in einem Mausoleum [...]. An den Wänden meine Portraits und
meine Bücher. Tapeziert mit Nietzsche. Rund um die Uhr bin ich von mir umringt, lebe
in mir selbst [...] Und ich, ungerührt, eingemauert in mein beglückendes Schweigen,
sehe sie mir an, wie sie da defilieren" (3. Mai 1898). Das Versinken ins Schweigen wird
als Zaubergarten, als vergoldeter Käfig vorgestellt. Sprachlich ist der ,Roman' auf der
Höhe dessen, was uns aus My sister and l21, ein angeblich von Osacar Levy überliefer-
tes, aus der Jenaer Klinik herausgeschmuggeltes Tagebuch Nietzsches, auf abenteuerli-
chen Wegen nach New York gelangt (251 Seiten) und 1951 erschienen. Hier beklagt
sich der Kranke in autobiographischen Ergüssen, dass von bornierten Klinikärzten sein
dionysischer Wahnsinn falsch als Satyriasis und Erotomanie verstanden und er als ab-
schreckendes Beispiel eines Genies verkannt werde, das als Strafe für den hybriden
Atheismus in die Umnachtung gestürzt wurde: „Nun in der Gewalt jener schleichenden
Lähmung, die aus jedem Absatz, den ich schreibe, einen Kalvarienberg der Seele, eine
apokalyptische Pein macht, sehe ich mehr denn je ein, daß mein Kreuzzug gegen Sokra-
tes in Wirklichkeit ein Krieg gegen mich selbst war."(303). Ludwig Marcuse wies auf
die Ungeheuerlichkeit der Publikation hin, er wies nach, dieser Nietzsche wisse zuviel
von sich: „Kann die Syphilis aus einer Jahrhunderterscheinung (und wenn sie außerdem
noch Nietzsche heißt) nicht einen Idioten, sondern einen öde pornographisierenden,
Nietzsche zitierenden und variierenden Kaffer machen? Sieht man von dem Gepfeffer-
-
ten ab, das übrigens nur hineingestreut ist, dann ist das Auffallendste dieses amerikani-
schen Nietzsche aus der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts: der Zeigefinger
des pedantischen Schullehrers, der die ganze Nietzsche-Literatur von Alois Riehl bis
Jaspers intus hat." (296).
Ein weiterer Versuch, ins Hirn des Geisteskranken hineinzuschauen, stammt aus
Deutschland. Otto A. Böhmer28 stellt seinem geistreich-witzig-sein-wollenden Buch
Der Hammer des Herrn das Wahnsinns-Motto (Morgenröte, Aph. 14) voran und legi-
timiert so, den erfundenen inneren Monolog Nietzsches mit selbstgefällig stilistischer
Brillanz und antiidealistischem Impetus freien Lauf zu lassen. Der Roman setzt ein mit
dem Zusammenbruch in Turin, der als großartige Simulation dargestellt wird: die Gren-
zen zwischen Vernunft und Wahn, Realität und Wachtraum werden verwischt. Die
Etappe der letzten zehn Lebensjahre wird durch luzide und verworrene Rückerinnerun-
gen ans frühere Leben konterkariert (so mit der angedichteten Liebe zu Eleonor Louise
Wiel, der momentweise mit Lou Salomé verschmelzenden Tochter des einst in Steina-
bad konsultierten Magendoktors). Warum nimmt gerade der Kuraufenthalt im Steina-
bad so viel Raum im Roman ein? Vermutlich aus philologischen Gründen: handelt es
sich doch um den am besten dokumentierten Kuraufenthalt Nietzsches, aus dem reich-
haltig zitiert werden kann, das Schwarzwäldlerische gibt einen feinen Stoff ab für lä-
cherliche Kurgäste.
Pia Daniela Volz, „Der unbekannte Erotiker. Nietzsches fiktive Autobiographie ,My sister and I'",
in: Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, hg. von Karl Corino,
Grneo 1988,287-304.
Otto A. Böhmer, Der Hammer des Herrn, Frankfurt/M. 1994.
184 Pia Daniela Volz
Der Angesprochene trank seinen Cognac mit einem Schluck leer und wischte sich die
Tropfen vom Bart. ,Ich verstehe recht gut', sagte er nach einer Weile des Nachdenkens,
,warum Sie Ihr Glas gegen das Licht kreisen ließen. Der Schliff bündelt das matte, ein-
förmige Licht der Lampe, läßt es in den Farben des Regenbogens erglühen und, mit
jeder Drehung, kaleidoskopisch tanzen, wirbeln, in immer neue Konstellationen rücken.
Sie verstehen, was ich meine? Hier das Leben, dort die Kunst. Und ohne Krankheit gibt
es keine Kunst. Im Kristallschliff liegt, metaphorisch gesprochen, die Krankheit des
Glases. Es zeigt die Scharte, die das Leben ihm geschlagen hat. Und nur dort, an den
scharfen Kanten, blitzt es verführerisch auf, das Leben'" (187).
Im nächtlichen Gang durch das Irrenhaus, wo Nietzsche sich unter das Personal
mischt, kann er diesem seine Vorstellung von der Welt als Labyrinth erläutern. Derweil
versammeln sich Böcklin, Wille, die Druskowitz und Möbius im Böcklin'schen Atelier,
um sich über Nietzsche auszutauschen. Der Geruch des Fin de siecle liegt in der Luft.
Köhler greift mit Vergnügen in die Mottenkiste des Theaterfundus. Das Irrenhaus als
theatrum mundi, so kommt es dem nächtlich sich schlaflos wälzenden Wille vor: „Ge-
plagt von absurden Traumfetzen, schreckte er immer wieder aus dem Schlummer hoch.
Die Friedmatt spukte ihm im Kopf herum. Erlebte er sie nicht täglich wie einen Traum,
der nicht enden wollte. Mit jedem Zimmer öffnete sich ihm eine Tür ins Unbegreifliche,
immer neue Kulissen schoben sich in sein Blickfeld, in denen unbekannte Stücke aufge-
führt wurden. Entpuppte sich nicht jeder Patient irgendwann als Schauspieler, der ah-
nungslos einer bizarren Rolle folgte? [...] hatte er nicht alle Stücke mit Eifer erforscht,
die teils komischen, teils erschütternden Szenarien beschrieben und klassifiziert? War er
nicht mit wissenschaftlichem Erkenntnisdrang, der tausendköpfigen Hydra der Krank-
heit zu Leibe gerückt? [...] Tausend Bühnen waren es, die vor ihm, mit gleichsam ob-
szöner Geste, ihren Vorhang hoben und ihn als einzigen Zuschauer teilnehmen ließen
an den Verfolgungstücken der Paranoiker, den Melodramen der Hysterikerinnen, den
Verwechselungskomödien der Schizophrenen, den Trauerspielen der Depressiven und
schließlich, als Höhepunkt des Spielplans, den Heldenstücken der größenwahnsinnigen
Paralytiker" (187).
Die dramatische Zuschürzung geschieht, als Möbius Nietzsche aus dem Irrenhaus
entführt und mit seinem einstigen Schüler Ludwig Scheffler zusammenbringt. Nachdem
einst die Annäherung zwischen Lehrer und Schüler gescheitert war, gestehen sich nun
beide, Wunder später Wunscherfüllung, ihre Zuneigung und steigen in den Gotthard-
Zug, der sie nach Italien bringt. Köhler kann sein Lieblingsthema unterbringen: Nietz-
sche alias Ariadne im homosexuellen Duo als der weibliche Part. Im Nachspiel des
Romans versammeln sich Wille, Franz Overbeck und die Druskowitz bei Elisabeth
Förster-Nietzsche: als sie dem kranken Nietzsche ihre Aufwartung machen wollen, ist
dieser soeben an seiner Überdosis Opium gestorben. Ein diabolisches Gekicher, so
meint der Leser zu hören, liegt über der Szenerie. Im Unterschied zu Böhmers Roman
wird Nietzsche aber nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, auch wenn Pomp, Künst-
lichkeit und Schwüle der Theaterwelt in- und außerhalb der Klinik beschworen und
karikiert werden. In der Böcklinschen Toteninsel ist zudem ein eindringliches Symbol
für Nietzsches Nachtfahrt gefunden.
186 Pia Daniela Volz
Nicht um Tod, sondern um Mord geht es bei Jens-Fietje Dwars30, Publizist in Jena,
Philosoph wie Köhler. Nachdem er sich in der Ausstellung Nietzsche in Jena (2000) mit
biographischen Hintergründen der Aufenthalte Nietzsches in Jena beschäftigt hatte,
reizte es ihn, auch literarisch ein Schärflein zum hundertsten Todestag beizutragen. Die
Notiz am Ende von Zarathustras letzte Wiederkehr überlässt es den Germanisten, ob es
sich um eine „Kriminalerzählung, eine Novelle oder gar einen philosophischen Mikro-
roman" handelt (104). Die fiktive Rahmenhandlung der ,Kriminalnovelle': N. N., Re-
dakteur beim Heimatblatt einer mitteldeutschen Kleinstadt, ist an den Folgen eines Ver-
kehrsunfalles gestorben. Dwars findet auf dem PC seines Onkels dessen Zarathustra-
Text mit „Anlehnungen an Nietzsche, Ernst Bertram und Hesse" und publiziert ihn
unverändert. N. N. selbst erklärt im Vorwort seines Manuskriptes, er gebe textgetreu
das Heft mit dem Titel Aus den Papieren von Johann Friedrich Querkopf wieder, das
bei dem auf dem Friedhof ermordeten Alten gefunden worden sei. Er hätte den Neun-
zigjährigen er am folgenden Tag interviewen wollen. Der Ich-Erzähler, der Alte, nä-
hert sich zu Beginn dem Ort N. „fatal vertraut", besichtigt den Dom (Naumburg und das
-
Nietzsche-Haus sind gegenwärtig). Bei einem Vortrag erlebt er eine Vision: „Durch die
halb offene Tür sah ich Teppiche ausrollen, Möbel aus der Wand treten, ein schweres
Bett mit tiefen Kissen. Langsam, unendlich langsam kam eine schwarze Gestalt aus
dem Dunkeln auf mich zu. Ich wollte aufstehn, ihr ausweichen, das Licht anzünden.
Doch etwas hielt mich gefesselt. Ich sah ihr hoch geschlossenes Kleid, das streng ge-
scheitelte Haar, gütige Augen, die immer größer wurden, einen riesigen Mund, aus dem
es scholl: ,Fritz mein Kind [...].' Da brach der Stuhl unter mir zusammen" (49).
In einer Klinik trifft Friedrich Querkopf auf Kattrin, ein 13jähriges Mädchen, seit
sechs Jahren und elf Monaten im autistischen Rückzug, seitdem auf dem Friedhof ein
Mann ermordet worden war. Im Erzähler erkennt sie den Fremden von einst. Sieben
Jahre zuvor war sie fasziniert gewesen, wie jener „Alte vom Berg", von den Erwachse-
nen für senil und verrückt erklärt, jeden Tag auf der Parkbank seine Reden gehalten
hatte, die anhüben: „Wohlan, meine Freunde"; ein Zarathustra redivivus. Wie ein Rat-
tenfänger von N. wusste er vor allem Kinder für sich zu interessieren. Kattrin, eine Art
Sonambule, ein Käthchen von N., wohnt in der Nähe des Friedhofs. Sie wird eines
Nachts Zeuge, wie ihr Zarathustra, ausgestattet mit Adler und Schlange, ausgespannt in
Kreuzform auf einem Grabstein Opfer eines satanischen Ritualmordes wird. Als sie
sieben Jahre später in Friedrich Querkopf Zarathustra zu erkennen meint, beginnt sie zu
reden; der Psychiater Rezelopp freut sich über die neue Zugänglichkeit. Doch er warnt
Friedrich vor der Radikalität der Kur, dem zu schnellen Erinnern: „Geben Sie ihr das
Gefühl, durch Sie ihr Gedächtnis wiederzugewinnen. Je mehr sie selbst in die Rolle des
Therapeuten wächst, desto weniger wird sie bemerken, therapiert zu werden und um so
schneller kommen wir an unser Ziel" (66). Friedrich mimt den Vergesslichen, damit
Kattrin sich erinnert. In der Tat, sie erinnert sich, wie ihr Zarathustra, nachdem ihm die
Polizei öffentliches Reden verboten hatte, sein ,Geheimnis' geschenkt hatte: „Alles
kehrt wieder. Und doch immer neu. Kein Tag gleicht dem anderen. Und aller Geist ist
Lüge. Doch wir können nicht leben, ohne seine Wahrheit." (83).
Rezelopp warnt vor der Wucht der Wiederkehr des Verdrängten; in einer Ver-
Dr.
dichtung von Anspielungen auf Novalis Friedrich Hölderlin Nietzsche bekennt der
Psychiater: „Das sind die wahren Kelche des Leids. Friedrich, Sie lieben das Pathos,
- -
hier könnten Sie Hymnen schreiben, schwarze Hymnen, die alles je Geschriebene in
den Schatten stellen" (99).
Hier werden Wiedergänger-Phanatasien ins Werk gesetzt. Wer kehrt wieder? Nietz-
sche? Zarathustra? Zwischen den Zeilen blitzen Züge des alten Ernst Ortlepp in der
Gestalt des Alten auf.31 Oder verwechseln wir den Friedhof mit dem Straßengraben?
Dwars' Text changiert in Mehrdeutigkeit, auch was die ,Wiederkehr des Gleichen'
betrifft: als Friedrich und Kattrin den Ort des Geschehens aufsuchen, wird auch er er-
mordet, von vier rechtrsradikalen Jugendlichen, Kattrin bleibt verschwunden. Eine Po-
litfabel? Die Täter bleiben unerkannt, unbestraft, Zarathustra wird in jeder deutschen
Kleinstadt immer von neuem ermordet. Es liegt an uns, wenn wir den Reden eines Pen-
ners nicht die Bedeutung schenken, die ihnen zukommt: „Nur hier und da werdet einen
Schein ihr erhaschen, einen Zettel aus Papier mit den Nullen, die das große Glück euch
lügen [...] Und Ihr werdet noch mehr Nullen jagen. Immer mehr, weil ihr seht, wie das
Unbill dennoch wächst" (80). So werden wir nicht nur mit weiteren Reden Zarathustras
beglückt, sondern auch mit bis dato unbekannten Aphorismen Nietzsches: „Sprach-
schwämme. Von Kindheit an saugen wir uns mit Worten voll. Sobald etwas drückt,
tröpfeln Sätze heraus. Zuweilen fliessen sie auch -je nach Druck und Vorrat" (52).
Halten wir einen Augenblick inne, fragen uns, was Motive für das Schreiben von
Meiz.se/7e-R0manen sein mögen? Voyeurismus und Sensationslust (sind nicht alle
Nietzsche-Forscher, Literaten, Psychoanalytiker, mehr oder weniger sublimiert, Voyeu-
risten?). Es könnte auch die Begierde antreiben, sich etwas von der verstörenden Pro-
duktivkraft des Wahns zu eigen zu machen (Böhmer und Köhler berauschen sich an der
eigenen Ausdruckskraft). Sich einen Namen machen, selbst ,berühmt' werden, indem
man sich eines berühmten Wahnsinnigen annimmt und auf die Absatzmärkte eines
Jubiläumsjahres hofft, sind sicher Antriebe für das Schreiben.
Fahren wir fort im Revue-passieren-Lassen belletristischer Wahn-Gestaltungen. Der
mit Dwars gleichaltrige Autor Bernhard Setzwein32, hat in seinem Roman Nicht kalt
genug (2000) sieben Rhapsodien über Nietzsches sieben Silser Sommer gestaltet. Der
Titel spielt darauf an, dass da einer ,nicht kalt genug' ist für das Ideal seiner eisigen
Geistigkeit. Basiert die Textcollage auf Briefstellen und Lebensreminiszenzen, besteht
die dichterische Freiheit darin, dass das Ereignis Turin bereits im ersten Silser Sommer
seine Schatten vorauswirft: „Ab und zu hatte der Professor so seltsame Anwandlungen.
Da fing er plötzlich das Tanzen an in seiner Kammer (Manchmal auch ganz nackt)"
(16). Dem Nesthäkchen Adrienne erklärt Nietzsche im Durisch'schen Hause warum er
aus Schmerz und Verzweiflung die Wände anschreit. Die Eltern halten die Kleine fern,
als im siebten Sommer der Professor wiederum in sexueller Ekstase durchs Zimmer
tanzt. Während dieser Sils selbst tags als eine „Hölle aus Eis und Schnee" erlebt, sieht
er sich nachts in Cloralträumen als Skelett im Eis, im Iglu überwinternd oder auf einem
„weißen Wal reitend" (89). Die gekonnte Prosa wechselt zwischen Realien und fiktiven
31
Hermann Josef Schmidt, Der alte Ortlepp war 's wohl doch, Aschaffenburg 2001.
32
Bernhard Setzwein, Nicht kalt genug, Innsbruck 2000.
188 Pia Daniela Volz
Hartmut Lange, Tagebuch eines Melancholikers. Aufzeichnungen der Monate Dezember 1981 bis
November 1982, Zürich 1987.
In: ders.,£>;e Waldsteinsonate. Novellen, Zürich 1987, 11-36.
Wahrsinn oder Wahnsinn? 189
so übermäßig besorgt zu sein. Er wurde ruhiger. Aber es war der Beginn jener Ruhe, in
der die Gedanken sterben" (37).
Nietzsche in Turin35, die erste literarische Veröffentlichung des Literaturwissen-
schaftlers Jürgen Kleist, entstand acht Jahre nach Langes Novelle. Die sieben Kapitel,
in dem Alltagsskurrilitäten des Turiner Nietzsches gemischt werden mit erfundenden
Alp-, Opium- oder Chloralträumen, leiden an einer Art Überkonkretismus. Der Text
trägt dick auf, aber er geht nicht unter die Haut. Da spaziert Nietzsche in einem Stadt-
park, trinkt Wasser aus dem Springbrunnen, versucht über seinen Ekel hinwegzukom-
men: „Einfach ekelhaft. Nietzsche nahm eine Handvoll Steine auf und schleuderte sie
ins Laub. Ein paar schwarze Vögel flatterten kreischend auf. Er rief ihnen hinterher, sie
sollten sich zum Teufel scheren. Haß stieg in ihm auf, Haß auf diese verfluchte Welt"
(61). Im Vorwärtstorkeln klammert er sich an einen Baum, reibt seine Hände an der
Rinde wund: „Alles Wahn. Die Menschheit war einem Wahne verfallen [...] Nietzsche
hielt mit einem Mal inne: der Schmerz war in ein heisses Brennen übergegangen. Er
ließ den Baum los und trat einen Schritt zurück. Seine Handflächen waren blutig: er
begann, sie langsam abzulecken" (62).
Die Erzählung endet mit einer Rede Zarathustras, die Nietzsche auf dem Turiner
Marktplatz hält, bevor er sich von der Menge angewidert abwendet und auf den miss-
handelten Droschkengaul trifft: „Mit einem gewaltigen Aufschrei stürzte er sich auf den
Kutscher, schleuderte ihn zur Seite, entriß ihm die Peitsche und zog sie ihm einmal quer
durchs Gesicht" (92). Wie immer die legendäre Umarmung des Pferdes sich abgespielt
haben mag, die Drastik der Ausgestaltung verstört und verstimmt, weil Nietzsche in ihr
verschwindet.
Während Langes Novelle auf den Augenblick des Übergangs zielt, ihre Eindrück-
lichkeit dem Ausgesparten und Angedeuteten verdankt, gestaltet Volker Ebersbach36
das Manisch-Gedrängte und Entfesselte des Turiner Nietzsche entlang erfundener
Träume. Die sind Reisen in Nietzsches Seelenabgründe: gelehrt und originell zugleich,
wie der vom Bienenschwarm im Garten Epikurs, der vom Weg ins Paradies bis zur
Ermordung der Magna Mater oder der vom Antiquariat, die Wiederkehr des Ewig
,
Gleichen' repräsentierend (104/05). Der innere Monolog mit Verzicht auf die Ich-Form
tritt in Gestalt eines Götterreigens auf: ein homerisches Sartyrspiel mit Schalk und
Ernst. Die Sprache taucht in den primärprozesshaft wirkenden Reichtum der Traum-
und Unterwelt lustvoll ein. Wie in einem Vexierspiegel mischen sich Wahrnehmung
und Denken, wie im großen Traum der Zertrümmerung der Götterbilder im Auftrage
des Papstes. Der Traum ist der Verwandte des Wahnsinns; so erfolgt der Übergang
allmählich aus der Welt der Traumgespinste, der „subcerbralen Trugbilder" (70) in die
Welt der zerütteten Psyche. In der alchemistischen Sprachwerkstatt werden viele Zuta-
ten amalgamisiert (Mythen, Nietzschezitate). Die Prosa strahlt jenseits rhetorischer
Kunstgriffe Magie aus: „Und dann der See, milchgrün gekräuselter Spiegel eines wol-
kenlosen Morgenhimmels [...] Stille Stillstand Glanz. Starke, trockene, kalte Luft"
(14). Der Turiner Herbst Nietzsches sprüht als Fest von Gleichzeitigkeiten; antike und
- -
italienische Gegenwart halten heilige Hochzeit. Der Wahnsinn ist eine große gnädige
Regression: „Er fühlte keinen Willen mehr. Die Sonne sank. Eine große Kühle kam
über ihn. Warm atmete noch der Fels. Ein Irrer wird sein Sterben nicht erleben. Wo der
Vulkan hatte aufbrechen wollen, öffnete sich eine Bucht. Das Meer kräuselte sich blau
unter zerfliessender Abendsonne. Silbern, leicht, wie ein Fisch schwamm sein Nachen
hinaus" (121).
Diese mit sich selbst spielende Sprache sagt aber auch, bildhaft-symbolisch einge-
kleidet, es könnte auch andres gewesen sein. Es sind unsere Phantasien. Während Prêtre
und Böhmer sich anmaßen, eine Fiktionalität zu errichten, die den Anschein von Wahr-
scheinlichkeit versucht, ist hier der Bildwelt dichterische Eigengesetzlichkeit zugestan-
den. Vorbild des Schlusskapitels (vor dem Eintreffen Overbecks in Turin) ist nicht eine
Turiner ,Himmelfahrt' (à la Werner Ross), sondern eine Höllenfahrt, eine, die weniger
an Dantesche Höllenkreise gemahnt denn an die Sprachwucht der Rede des toten Chris-
tus vom Weltgebäude herab bei Jean Paul. Grandios auch, wie die Zeit des geistigen
Untergangs Nietzsches von der Basler Klinik bis zum Tod, elf Jahre auf zwei Seiten
zusammengedrängt werden: ein stimmiges Kargerwerden der Sprache. Der Wahn ist
nicht mehr produktiv: er wird perseverativ-tautologisch. So lauten die Schlusssätze in
Variation der wenigen, aus der Weimarer Zeit überlieferten Originalsätze, als drehe sich
eine Schallplatte im Kreise: „Ich bin tot, weil ich dumm bin, nein ich bin dumm, weil
ich tot bin, nein ich bin tot, weil ich dumm bin, nein ich bin dumm, weil ich tot bin, ich
bin" (139). Eberbachs Monolog ist ein eindrucksvolles Beispiel der Darstellung
ästhetischer Wahrhaftigkeit' des Wahns.
Das letzte Beispiel ist das vielgelesenste und populärste. Es stellt die therapeutische
Situation in den Mittelpunkt, als fruchtbare intime menschliche Begegnung, die nicht
folgenlos bleibt. So verlockend wie der Blick durch das Schlüsselloch der Schlafzimmer-
tür ist der verbotene Blick in das doppelt abgeschirmte Sprechzimmer. Therapeut mit
Leib und Seele ist Irvin D. Yalom37, der in mehreren Büchern einem breiten Leserkreis
vor Augen führte, was in einer Psychotherapie passiert. So im Krimi Rote Couch (Mün-
chen 1998), in dem der Lehranalytiker Marshai Streider und die Rechtsanwältin Carol
Astrid ihre Plätze als Patient und Therapeut tauschen. Der Platztausch interessiert Yalom
als behandlungstechnisches Problem. Yalom entwickelte das Konzept der vier existen-
tiellen ,Grundtatsachen', an denen Menschen verzweifeln, weswegen sie Hilfe suchen: 1.
unsere essentielle Isolation, 2. die Unausweichlichkeit des Todes, 3. die Freiheit unser
Leben selbst gestalten zu müssen und 4. das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinnes.
Das Motiv des Rollentauschs und die vier Grundtatsachen spielen auch im Nietz-
sche-Roman, der When Nietzsche wept: a novel of obsession (1990; dt. Und Nietzsche
weinte) eine tragende Rolle. Der Roman spielt Ende 1882 in Wien. Es geht nicht um
den Wahnsinn des geistigen Zusammenbruchs, sondern um den Wahnsinn der obsessi-
ven Liebe mit folgendem Plot: Lou Salomé bittet den angesehenen Wiener Arzt Josef
Breuer den suizidgefährdeten Nietzsche in seine Kur zu nehmen, ohne dass dieser von
ihrer Intervention erfahrt. Breuer38, ein von reichen Privatpatienten geschätzter Arzt,
Forscher, Vater und Ehemann, befindet sich selbst in einer Krise wegen der Liebe zu
seiner hysterischen Patientin Anna O. Zu einem Höhepunkt geraten die Gespräche zwi-
schen Breuer, dem vierzigjährigen Internisten und Erfinder der Redekur und dem jun-
gen 27jährigen Sigmund Freud über den schwierigen casus: Bertha und Nietzsche.
Immer schon war die Frage spannend: Wäre Nietzsche durch eine psychotherapeuti-
sche Kur zu helfen gewesen? Der Roman schildert die Schwierigkeiten eines solchen
Therapieversuchs glaubwürdig: Nietzsche zeigt massiven Widerstand, ist zu stolz, Hilfe
anzunehmen, gleicht einer intelligenten Mauer'. Doch Breuer gelingt die geniale Ver-
tauschung der Rollen von Arzt und Patient: er bringt ihn, um ihm physisch bei seinen
schweren Migräneanfällen beizustehen, in einer Klinik unter und gibt sich in den ge-
meinsamen Gesprächen dem ,Menschenkenner' preis, indem er ihm seine quälende Lie-
be zu Anna O. anvertraut. Nietzsche deutet ihm dies als Kaschierung einer tiefer liegen-
den Existenzangst. Breuer erhält philosophischen Nachhilfe-Unterricht in einer Art
sokratischen Frage-Antwort-Kur. Besonders gelungen sind die Parallel-Aufzeichnungen
von Breuer und Nietzsche über den Gesprächsverlauf, eine Art praktizierter Perspekti-
vismus. Doch trotz Nietzsches Traumdeutungskunst als Tiefenhermeneutik geschieht
die Heilung Breuers von den seine Ehe und seinen Seelenfrieden gefährdenden
Zwangssymptomen und die Befreiung zum ,wahren Selbst' erst in einer Art hypnoider
Trance. Schließlich gesteht auch Nietzsche die Interna seiner Lou-Affäre: es kommt zur
kathartischen Affektabftihr im Tränenstrom, indem Nietzsche sich von Lou innerlich
verabschiedet (darauf spielt der Titel an). Die eigentümliche Dialektik, die Gesprächs-
partner sind zugleich offen und strategisch-verhüllend, erzeugt Spannung. So geschieht
die Heilung vom Liebeswahn. Breuer arbeitet erleichtert weiter; der Philosoph geht
wieder auf Wanderschaft, er bleibt der Retter der anderen, aber der unkurable Prophet,
der die Wirkkraft seiner Philosophie im Vorfeld der Psychoanalyse unter Beweis ge-
stellt hat. Kenner der historischen Hintergründe wissen, dass es die Herausforderung
durch Anna O. war, die Breuer nach der Veröffentlichung der mit Freud gemeinsam
erarbeiteten Studien über die Hysterie (1895) von der Arbeit mit dem Unbewussten sich
abwenden ließ. Das Gelungene an der ungewöhnlichen fiktiven Konsultation ist, wie
Yalom Nietzsche im Kern interpretiert, dass die erfundenen Nietzsche-Aufzeichnungen
etwas Kongeniales haben.
Nehmen wir alle literarischen Beispiele zusammen, so wird auf über 1000 Seiten
versucht, einen kranken, wahnsinnigen Nietzsche zum Sprechen zu bringen. Im besten
Falle (Lange oder Ebersbach) erhalten wir eine Ahnung von der Inkommensurabilität
des Wahns: „Jemand schlug ihm mit flacher Hand gegen die Stirn. Er schaute geradeaus
und um sich her. Niemand war da außer ihm. Sein Schatten hatte ihm an den Kopf ge-
schlagen. Der Schatten des Wanderers. Der Schatten Zarathustras. So schlägt Apollon
mit Wahnsinn."39
Wie der Philosoph in Piatons ,Höhlengleichnis' nach der Schau der Ideen und der Idee
des Guten von der wahren Welt in die sinnenhafte Welt der Höhle hinabsteigt, um dem
Nicht-Wissenden seine Einsichten zu vermitteln, so steigt auch Zarathustra ,in die Tie-
fe' hinab, um seine Weisheit, die er im Laufe von 10 Jahren in der Einsamkeit des Ge-
birges gesammelt hat, unter den Menschen zu verteilen. Natürlich ist das Geschenk des
Wissens, das der Philosoph den Höhlenbewohnern in Piatons Gleichnis bringt, ein an-
deres als dasjenige, das Zarathustra verteilen will. Beide haben aber, strukturell betrach-
tet, das gleiche Anliegen: sie wollen einen Verstehensprozess in Gang setzen, in dessen
Verlauf entweder, wie bei Piaton, einer der bisher Gefesselten gewaltsam ans Licht der
Ideen hinaufgeführt wird, oder, wie bei Friedrich Nietzsche im Zarathustra, „die Wei-
sen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal
ihres Reichthums froh geworden sind" (KSA, ZA, 4, 11).
Die Legitimation bzw. Rechtfertigung für die Initiation und Durchführung des jewei-
ligen Bildungsganges liegt in dem Mehr-an-Kompetenz, die der Philosoph (Piaton)
bzw. Zarathustra (Nietzsche) repräsentieren. Sie wird ihnen nicht von außen, von ihren
Mitmenschen zugebilligt oder zugesprochen, sondern sie wird durch sie selbst gesetzt.
Das meint, dass sowohl der Philosoph als auch Zarathustra eigenmächtig ihre höhere
Kompetenz im Unterschied zum Volk vorgreifend behaupten, die sie eigenwillig in den
Bildungsprozessen durchzusetzen versuchen. Die Theorie, die dem inneren Seelenauge
entspringt, wird so in eine Praxis hineingeholt, in der sich das zuvor Geschaute zu be-
währen und zu bewahrheiten hat. Beide schwingen sich zu (Er)Ziehern auf, die die
anderen, im pädagogischen Sinne, zu sich hinaufziehen wollen.
Die Fremdbestimmung des Menschen, der an die sinnenhaft gewohnte oder an die
moralische Kandare gelegt wurde, wird so von einer Fremdbestimmung durch den Phi-
losophen bzw. durch Zarathustra abgelöst, die sich nach einer gewissen Bildungs- und
Erziehungszeit in Autonomie verwandeln soll. Dem Schüler Piatons gelingt es dann,
selbst die höchsten Ideen zu schauen, dem ,Erben' Zarathustras, sich selbst als ein
,Sein-im-Übergang' zum Übermenschen zu verwirklichen und die ewige Wiederkehr
des Gleichen zu bejahen.
194 Karen Joisten
Liest man Nietzsches Zarathustra aus der hier gezeichneten Perspektive, kann man
trotz inhaltlicherDifferenzen die strukturelle Nähe Nietzsches zu Piaton aufweisen, die
sich, in der Erweiterung der Perspektive, auch bei anderen geistesgeschichtlichen Be-
zugsgrößen Nietzsches feststellen ließ. Allerdings könnte die Gefahr bestehen, das Spe-
zifische von Nietzsches Denken einzuebenen und die außergewöhnliche Radikalität
seiner Forderungen zu entschärfen. Um dieser Gefahr möglichst zu entgehen, will ich
eine andere Lesart vornehmen und Also sprach Zarathustra, das reifste Werk Nietz-
sches, ins Zentrum rücken. Die These, die den Gedankengang leitet, lautet: Zarathustra
geht den Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus. Die These lässt sich auch so
formulieren: Der Zarathustra ist eine Schrift, die in eine Trans-Hermeneutik einmündet.
Dies zu verdeutlichen, gehe ich in drei Schritten vor: Ich zeichne Zarathustras Weg von
der Weisheit zum Verstehen, seinen Weg über das Verstehen hinaus und frage Wie viel
Nietzsche verträgt der Interpret?
Fülle" und, wie es in der Rede Von der grossen Sehnsucht heißt, als „Über-Reichthum",
auf denjenigen angewiesen, der sich beschenken lässt, benötigen zwangsläufig einen
Adressaten, der das Geschenk zu erfassen vermag. Dazu ist es notwendig, dass der Ad-
ressat, wie es Zarathustra getan hat, bereits wach ist, wenn die Sonne aufgeht (vgl.,
ebd., 279), eine Haltung und Einsicht hat, die ein Sehen- und Empfangenkönnen über-
haupt möglich machen. Das Beschenktwerdenkönnen durch die Sonne geschieht nicht
durch Zwang oder eine andere Art von Repression, es geschieht als Angebot und Chan-
ce, die eigentätig und aus freiem Entschluss ergriffen werden muss. In diesem Sinne
deutet sich auch Zarathustra selber. Seine Weisheit hat für ihn keinen Selbstzweck, den
er in der Einsamkeit bewahren will, ist sie doch von einer derartigen Fülle und Kraft,
dass sie buchstäblich der Hände bedarf, die sich nach ihr ausstrecken und sie ergreifen
wollen.
Zarathustra geht mit der schenkenden Weisheit in die Tiefe hinab, nimmt den
schwierigen Prozess des permanenten Hinunter- und Hinübergehens auf sich. Nachdem
er in den Wäldern zunächst einem Heiligen begegnet ist, gelangt er in die nächste Stadt,
und hier zu dem Inbegriff der öffentlichen Meinung, dem Forum, dem Markt. Wichtig
ist, dass Zarathustra dem Volk, das auf dem Markt versammelt ist, sofort mit ungeheu-
rer Intensität seine Lehre vom Übermenschen verkündet. Ohne es darauf vorzubereiten
und für diese zu öffnen, fällt er mit der Tür ins Haus und bringt in einer prophetischen
Rede die Lehre zu Gehör, für die er selbst 10 Jahre lang reifen müsste: „Ich lehre Euch
den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll" (ebd., 14).
Das Scheitern der abrupten und eindringlichen Mitteilung ist, aus dieser Perspektive,
vorprogrammiert. Es verwundert nicht, dass Zarathustras Äußerungen, bewusst oder
unbewusst, von einem aus dem Volk missverstanden („,Wir hörten nun genug von dem
Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!'" ebd., 16) und von allen verlacht wird. Zara-
thustras erster eigener Versuch, seine Weisheit der Lehre des Übermenschen verschen-
ken und verstanden sein zu wollen, misslingt rettungslos.
Nach diesem Scheitern der Kommunikation versucht Zarathustra ein Stück weit der
Auffassungsgabe des Volkes entgegenzukommen. Die Lehre des Übermenschen, die für
sie zu weit entfernt ist, rückt er nicht mehr ins Zentrum seines Redens. Stattdessen
nimmt er einen neuen Anlauf, nennt nun seine anthropologische Grundthese, wie ich es
nennen möchte, sagt ihnen, was der Mensch seiner Möglichkeit nach ist: „Der Mensch
ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückbli-
-
cken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das
ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das
ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist" (ebd., 16f). Aus dieser Sicht ist der
Übermensch nicht etwas Fremdes und Anderes, dem man rat- und verständnislos gegen-
übersteht, sondern das Ziel, auf das der Mensch sich als ein Sein-im-Übergang ausrichten
kann. Die anthropologische Grundthese verstärkt Zarathustra, indem er den Einzelnen,
der dieses Mensch-Sein einzulösen versucht, durch seine Liebe zu ihm auszeichnet, die
er schließlich auf viele ausdehnt: „Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind,
einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen,
dass der Blitz kommt und gehn als Verkündiger zu Grunde" (ebd., 18).
196 Karen Joisten
Allerdings misslingt auch der zweite Versuch Zarathustras, für seine Über-Fülle und
seinen Über-Reichthum die ausgestreckten Arme zu finden, die empfangen wollen.
Während er nach dem ersten Fehlversuch lediglich das Volk ansah und sich wunderte,
dann aber sofort seine anthropologische Grundthese verkündete, benötigt er eine länge-
re Bedenkzeit, in der er das Scheitern der Kommunikation selbst zum Thema macht:
„,Da stehen sie', sprach er zu seinem Herzen, ,da lachen sie: sie verstehen mich nicht,
ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen,
dass sie lernen, mit den Augen hören? Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredi-
gern? Oder glauben sie nur den Stammelnden?" (ebd., 18). Zarathustra erfahrt, dass
seinem Reden kein Gehör geschenkt wird, er nur Unverständnis erntet. Fragend entwirft
er drei erfolgversprechendere Alternativen, die letztlich um die Notwendigkeit radikaler
Abkehr von der bisherigen Weise des Verstehens kreisen und Alternativen, sei es ein
lauteres, sei es ein vorsichtigeres Reden, in den Blick nehmen.
Allerdings zieht er die Alternativen nicht ernsthaft in Erwägung. Vielmehr entschei-
det er sich, zu dem Stolze des Volkes zu reden: „Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind.
Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus
vor den Ziegenhirten. Drum hören sie ungern von sich das Wort ,Verachtung'. So will
ich denn zu ihrem Stolze reden. So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen. Das
aber ist der letzte Mensch" (ebd., 19). Glaubt Zarathustra das Volk mit drastischen
Schilderungen der verächtlichsten Haltung, die der Mensch einnehmen wird, wenn er
seinen bisherigen moralischen Fehlweg bis zum tiefsten Punkt weiter hinabsteigt, an-
sprechen zu können, dann hat er sich dabei gründlich getäuscht. Der letzte Mensch als
Inbegriff jeglicher Stagnation, Verkümmerung, Gleichmacherei und größten Schwäche
menschlichen Seins, der Mahnung und Aufforderung sein sollte, einen anderen Weg
einzuschlagen, bevor es zu spät ist, wird von der Menge emphatisch gefeiert: „Gieb uns
diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, so riefen sie mache uns zu diesem letzten
Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!" Zarathustras Reaktion ist eindeu-
- -
tig. Sie bringt, wie im Anschluss an die misslungene Verkündigung seiner anthropolo-
gischen Grundthese, das Scheitern der Rede vom letzten Menschen zum Ausdruck:
„Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen: Sie verstehen mich nicht:
ich bin nicht der Mund für diese Ohren" (ebd., 20).
Überblickt man das Gesagte, steigt Zarathustra Stufe um Stufe auf der Leiter seiner
Weisheit hinab. Nachdem er zunächst auf der höchsten transanthropologischen Stufe
die Lehre des Übermenschen verkündet hat und am Gelächter des Volkes unmittelbar
erfasst, dass er nicht verstanden wird, begibt er sich auf die anthropologische Stufe. Auf
ihr stehend, führt er ihnen die Möglichkeiten des Menschen vor Augen, stellt den inne-
ren Zusammenhang zwischen Mensch und Übermensch her, um das zuvor Gesagte
näher an ihren Horizont heranzurücken. Als auch dieser Versuch der Verständigung
misslingt, begibt er sich auf die unterste Stufe des mit seinem inneren Seelenauge Ge-
schauten, d. i. die des letzten Menschen.
In gewisser Weise haben wir es mit dem Scheitern Zarathustras zur Verständigung
mit einer Überwindung der hermeneutischen Grundsituation zu tun. In ihr ist ein
Verstehenwollender gegeben, der sich das Fremde (den Text, die Lebensäußerungen)
im Rahmen seines Vorverständnisses anzueignen sucht, um das eigene Verstehen zu
Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? 197
erweitern und zu vertiefen. In der Vorrede ist die Dichotomie zwischen Eigenem und
Fremden, Zuverstehendem und Verstehenwollendem nicht gegeben. Genau genommen,
bleibt für Zarathustra der Hörer/Leser, der Rezipient eine Leerstelle, die nicht gefüllt
wird. Sein Wunsch, Weisheit zu verschenken, scheitert und damit die Möglichkeit, im
Verstehen unterwegs sein zu können.
Zarathustras Einsicht, die er daraus gewinnt, „lebendige Gefährten brauche ich, die
mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen und dorthin, wo ich will" (ebd., 25),
wird, wie im Laufe der Schrift deutlich wird, ein bloßer Wunsch bleiben, der sich ange-
-
sichts der faktischen Verfasstheit des Menschen nicht zu erfüllen vermag. So schreitet
Zarathustra allein, auf sich bezogen, zu sich selbst hinauf und begibt sich darin auf dem
Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus.
ganz Fremden, das als ein äußeres Problem an ihn herangetragen wird; auch ringt er
nicht mit einem anderen Mitmenschen, der mit einer anderen Haltung an ihn herantritt
und sich über das, was jenseits des Horizonts Zarathustras liegt, mit ihm auseinander-
setzen will. Stattdessen streitet sich Zarathustra mit dem Anderen als dem Fremden-
seiner-Selbst, das durch die lange Geschichte der Moral in ihn hineingelangt ist und nun
Stück für Stück mit Hilfe von Mut, Redlichkeit, Härte und Geduld bewältigt werden
muss. Das Ziel dieses Hinaus- und Hineingehens zu sich selber ist die Heimkehr der
Seele, der es gelingen soll, sich ausschließlich auf das Über-Andere-ihrer-Selbst als
dem Eigenen-ihrer-Selbst auszurichten, um das Höchste (und Tiefste) zu erreichen.
Liest man den Zarathustra in diesem Sinne als eine ,Psychokartographie' Zarathust-
ras, wird in ihr die Seelenlandkarte eines einzelnen entfaltet, mit ihren unterschiedli-
chen Höhen und Tiefen, Gebirgen und Wäldern, Abgründen, Verstecken und Winkeln
und ihrem Städtischen. Jeder der Orte steht für einen gewissen Seelenraum, für einen
spezifisch gestimmten und mit spezifischen Raumcharakteren behafteten Bezug zur
Welt. Die Tiere und Menschen, auf die Zarathustra während seines gefahrlichen Unter-
wegsseins in diesen Räumen trifft, sind keine konkreten, leiblich erfahr- und erfassba-
ren Lebewesen, sie sind Personifikationen spezifischer Wesenszüge bzw. Wesensseiten
der bisherigen Moral. Sie geben dem Fremden-seiner-Selbst Ausdruck, stellen solches
dar, das der kamelgleiche Geist gehorsam auf sich geladen hat. Will Zarathustra die
bisherige Moral in Richtung auf einen Immoralismus überschreiten, darf er in keinem
der Seeleninnenräume stehen bleiben; er muss Stufe um Stufe, Wegabschnitt für Weg-
abschnitt, den Konflikt mit dem jeweiligen Fremden-seiner-Selbst austragen, ihn beste-
hen und zum Eigen-seiner-Selbst weiter ausschreiten und voran- und hinaufkommen.
198 Karen Joisten
Vor diesem Hintergrund betrachtet, versucht Zarathustra sich selbst als ein Sein-im-
Übergang einzulösen, das heißt, er versucht in unerbittlicher Härte und Aufrichtigkeit
gegen sich selbst eine ,Selbstseelsorge' zu vollziehen. Die Einsicht in den bisherigen
Fehlweg des Menschen, der in seiner bittersten Konsequenz den ,letzten Menschen'
mahnend vor Augen hat, geht bei Zarathustra Hand in Hand mit der Absicht, neue Wege
zu durchschreiten, um derjenige zu werden, der er ist. Die uralte Forderung und Mah-
nung ,Werde, der du bist!' bedeutet für ihn, der zu werden, der er angesichts dessen, dass
der Wille zur Macht durch ihn hindurch wirksam ist, werden kann. Der Logos der Seele,
der bei Nietzsche durch den Willen zur Macht gedeutet wird, macht es erforderlich, dass
der einzelne diesem auch entspricht, willentlich und wissentlich das Selbsterkennen und
Selbsterschaffen auf sich nimmt, gemäß der Struktur, die (veranschaulicht als Kreis) das
Sich-selber-Wollen und die (veranschaulicht als Spirale) das Über-sich-hinaus-Wollen in
sich vereinigt. Im Sich-selber-Schaffen reinigt sich der Geist von allem Äußeren, Frem-
den und Anderen, das er bisher mit sich herumgetragen hatte und schreitet stetig zu sich
selbst und zu sich hinauf voran. In der Rede Die Heimkehr wird dieser Ort, an dem Zara-
thustra in unverstellter Weise bei sich eingekehrt ist und ihm eine den nächsten Dingen
angemessene Art des In-Beziehung-Seins möglich ist, als ,Heimat Einsamkeit" bezeich-
net: ,„Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause; hier kannst du Alles hinausreden und
alle Gründe ausschütten, Nichts schämt sich hier versteckter, verstockter Gefühle. ,Hier
kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf
deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit. Aufrecht
,
und aufrichtig darfst du hier zu allen Dingen reden: und wahrlich, wie Lob klingt es
ihren Ohren, dass Einer mit allen Dingen gerade redet!" (ebd., 23 lf).
Die Heimat Einsamkeit ist der Ort, an dem sich Zarathustra von den fremden Dingen,
-
den fremden, ihn auferlegten Haltungen und Einstellungen, Gefühlen und Ansichten,
von jeglicher Fremdbestimmung und -bestimmtheit befreien kann. Sie ist sein reicher
ten; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre! Es kehrt
nur zurück, es kommt mir endlich heim mein eigen Selbst, und was von ihm lange in
der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufalle" (ebd., 193). Seine Gene-
-
sung hat sich vollzogen, indem er sich von jeglichem Fremden befreite und sich da-
durch entschieden reinigte.
Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? 199
Fragt man danach, wie Zarathustra dasjenige an- und ausspricht, was in der Über-
windung des Fremden-seiner-Selbst zugunsten des Eigenen-seiner-Selbst als sein Eige-
nes sichtbar wird, kann sein Verweis auf seine Kinder herausgehoben werden. An zent-
ralen Stellen im Zarathustra lässt sich zeigen, dass er in seine Kinder die höchste
Hoffnung setzt, wobei ich diese als die ihm eigenen geistig-emotionalen Samen, seine
logoi spermatikoi, deuten möchte. Die Kinder Zarathustras sind die von ihm gepflanz-
ten und die durch ihn hindurch gewachsenen Eigenarten seiner selbst, es sind die ge-
sunden Lebensbäume seines starken Willens, die in die Tiefe und in die Höhe gewach-
sen sind. In der Rede Die Begrüssung spricht sich Zarathustra gegen die höheren
Menschen zugunsten seiner eigenen Kinder aus: „,Nein! Nein! Drei Mal nein! Auf
Andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen
heben, auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemuthere, solche, die rechtwinklig
gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! Oh, meine Gast-
-
freunde, ihr Wunderlichen, hörtet ihr noch Nichts von meinen Kindern? Und dass sie
mir unterwegs sind? [...] Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass
-
zu
ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm: was gab
ich nicht hin, was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte: diese Kinder, diese lebendi-
ge Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!'"
-
(ebd., 351).
Insbesondere am Ende des letzen Satzes „diese Kinder, diese lebendige Pflanzung,
diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung" wird deutlich, dass
Zarathustra seine so genannten Kinder als lebendige Sprösslinge seines eigenen Selbst
sieht. Sie werden von ihm selbst schaffend hervorgebracht, sind sie die größte Möglich-
keit und die höchste Hoffnung gelingenden Selbstwerdens. Wie bei Piaton sind die
wahren Logoi keine toten Mittel, sondern Kinder, die allein ein echtes und lebendiges
Philosophieren gewähren. Die erhoffte Ankunft der Kinder im Zarathustra ist daher
keine Nebensache, sondern von zentraler Bedeutung: sie steht für das Vollbringen und
das Vollenden des Lebens bzw. des Erlebens Zarathustras, durch das sich der Kreis
seiner Selbstwerdung in der Über-Fülle und im Über-Reichtum schließt. Zarathustra
vermag nun für sich und für die aus ihm erwachsenen Lebensbäume einzustehen und,
allein auf sich gestellt, von Stärke und Glut durchdrungen seine Werke' aus sich heraus
,
zu vollziehen. Sein Tun verwirklicht er nun als einen ganzheitlichen Selbstvollzug, der
den Menschen als Leib-sein und große Vernunft, die nicht ,Ich' sagt, aber ,Ich' tut,
gerecht zu werden vermag (vgl. ebd., 39).
In der letzten Rede Das Zeichen wird das Gelingen des Selbstwerdens Zarathustras
und seine endgültige Genesung mit dem Verweis auf das Sich-Nähern der Kinder ange-
zeigt. Zarathustra sagt angesichts des lachenden Löwen und der Taube als Ausdruck
dessen, dass das Zeichen kommt, „nur ein Wort: ,meine Kinder sind nahe, meine Kin-
der' -, dann wurde er ganz stumm [...] Und noch ein Mal versank Zarathustra in sich
und setzte sich wieder auf den grossen Stein nieder und sann nach. Plötzlich sprang er
empor ,[...] Mein Leid und mein Mitleiden was liegt daran! Trachte ich denn nach
Glücke! Ich trachte nach meinem Werkel Wohlan! Der Löwe kam, meine Kinder sind
-
nahe, Zarathustra ward reife, meine Stunde kam: Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt
an: herauf nun, herauf, du grosser Mittag!'" (ebd., 406ff.)
-
200 Karen Joisten
Vor dem Hintergrund kann die Überschrift dieses Abschnittes erläutert werden: Prin-
zipiell lassen sich mit Blick auf Nietzsches Zarathustra drei Arten der Alterität vonein-
ander abheben. Die erste Art betrifft den oder das Andere, (der) das grundsätzlich Zara-
thustra außen gegenübersteht. Diese Weise, die der Heilige im Walde repräsentiert,
weckt in ihm kein Interesse: Zarathustra geht vorüber oder vorbei, ohne ihm größere
Beachtung zu schenken. Die zweite Art der Alterität macht das Andere als das Fremde-
seiner-Selbst sichtbar. Hier ist das Fremde in den Seeleninnenraum verlegt, damit er
sich mit ihm auseinandersetzen kann. Zarathustra führt mit dieser Alterität permanent
seine erbitterten Kämpfe und Kriege. Dabei versucht er sie in Richtung auf das Über-
Andere-seiner-Selbst zu überwinden und durch eine neue, eine ihm gemäße Alterität zu
erlösen. Diese höhere Art der Alterität ist die dritte Art, in der das Fremde-seiner-Selbst
in das Eigene-seiner-Selbst schaffend hervorgebracht wurde. Zarathustra setzt sich mit
dem Fremden-seiner-Selbst auseinander, das er im Anzielen auf das Über-Andere-
seiner-Selbst in das Eigene-seiner-Selbst verwandelt. Die Kategorie des Anderen als des
Anderen ist (nach der Vorrede) verschwunden und mit ihr verschwindet die Spannung
bzw. Differenz zwischen Eigenem und Anderem, Eigenem und Fremden, die für ein
Verstehen konsumtiv ist. So wird in dem unermüdlichen Prozess der Selbstüberwin-
dungen Zarathustras das Verstehen als Vermittlung zwischen Eigenem und Frem-
den/Anderen überwunden und mit ihm das Wohnen im eigenen „Heim-und-Hause"
(ebd., 348) der Seele selbst ermöglicht. Die anderen Ausdrucksformen Zarathustras, wie
das Tanzen, das Lachen, das Singen, das Fliegen, sollen nicht der Verständigung und
dem Verstehen dienen, sondern der Fülle seiner selbst Ausdruck verleihen. Zarathustra,
dem es gelungen ist, seinen eigenen Geschmack zu entfalten, ihn schaffend hervorzu-
bringen, bewegt sich ausschließlich in der Selbstbezogenheit seines Mutmaßens, Erle-
bens, Meinens und Schmeckens: „Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner
Wahrheit; nicht auf Einer Leiter stieg ich zur Höhe, wo mein Auge in meine Ferne
schweift. Und ungern nur fragte ich stets nach Wegen, das gieng mir immer wider den
Geschmack! Lieber fragte und versuchte ich die Wege selber. Ein Versuchen und Fra-
-
gen war all mein Gehen: und wahrlich, auch antworten muss man lernen auf solches
Fragen! Das aber ist mein Geschmack: kein guter, kein schlechter, aber mein Ge-
-
schmack, dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe. ,Das aber ist nun mein Weg,
- -
wo ist der eure?' so antwortete ich Denen, welche mich ,nach dem Wege' fragten.
-
Die wilde Weisheit der höchsten Seele Zarathustras, die in Schmerzen gewachsen ist,
-
ist zugleich eine „Vogel-Weisheit" (ebd., 291). Sie macht es ihm möglich, sich aus-
schließlich mit sich selbst zu unterreden, es gibt nichts mehr, was er nicht durchlebt und
durchleibt hat. Die Frage nach dem rechten Geschmack, nach der Mutmaßung und der
Wahrscheinlichkeit, die spätestens durch die geistesgeschichtliche Entscheidung für die
Wirkung René Descartes und nicht für die von Giambattista Vico getroffen wurde,
erfahrt mit Zarathustra eine Rehabilitation, die zugleich in ihrer äußersten Zuspitzung
ihr Ende ankündigt. Sie soll den Weg nicht für ein echtes Verstehen als echtes Gespräch
eröffnen, sondern radikal zum Selbstgespräch auffordern, das jeder für sich und aus-
schließlich auf sich bezogen führt. Die Verständigung in der Sache wird von Zarathus-
Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? 201
tra durch eine Verständigung mit dem Fremden-seiner-Selbst verwirklicht, durch das er
sich schrittweise über das Verstehen hinaus bewegt.
auf die Botschaft eines anderen Geistes antwortender Geist sein und nicht mehr seine
Selbsterkenntnis vorantreiben. Der Interpret soll den Zarathustra tu ertragen versuchen.
Nietzsche fordert den Leser auf, selbst Zarathustra zu werden, mit einem Sprung in die
Schrift hineinzugelangen. Ist er im Buch, soll es ihm nicht um einen intellektuellen
Verstehensprozess gehen, er soll in der ihm eigenen Weise während seines gefahrlichen
Unterwegsseins eigene Erlebnisse durchleiben. Die hermeneutische Differenz, die übli-
cherweise zwischen dem auslegenden und dem fremden Geist angesetzt wird, ist nicht
mehr relevant, denn, es geht nicht um eine Verstehens-, sondern um eine Geschmacks-
frage, die jeder in der Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem ihm Eigenen zu
bewältigen hat. Die hermeneutische Frage nach dem Verstehen des Textes wird zu der
Frage nach dem Vertragen- und Ertragenkönnen seines Denkens. Anders gesagt: Zara-
thustra, dieser Einzelne, will auf seinem gefährlichen Unterwegssein nicht verstanden
werden, sondern er will für sich einstehen. Er will „glühend und stark, wie eine Mor-
gensonne" leuchten, allerdings ohne jede pädagogische Absicht. Er will in seiner Kraft
und Intensität wohnen, ohne dabei den Blick auf etwaige Mitmenschen zu richten. Er ist
der geworden, der er sein konnte. Der Interpret wird auf diesem Hintergrund so viel
Nietzsche vertragen, wie er bereit ist, sich als Verstehenden, der in Differenz zu dem
Zu-Verstehenden tritt, aufzugeben. Erst wenn er sich als Verstehenden aufhebt, ver-
sucht ein lebendiger Gefährte zu sein, der Zarathustra folgt, weil er sich selber folgen
will, wird er dem Anspruch Nietzsches gerecht werden. So ist der Zarathustra zwar ein
Buch, das ,Alle' und damit jeden Einzelnen anspricht, das aber letztlich ,Keinen' zu
finden scheint, der die Verantwortung für seine Gedanken im Tun zu ertragen bereit ist.
Geht der Leser dergestalt in den Zarathustra hinein und in ihm auf, versucht er sich
selbst auf den Weg in Richtung auf den Übermenschen zu begeben und der Erbe Zara-
thustras zu sein, dann mündet das Buch, konzeptionell betrachtet, in eine Trans-
Hermeneutik ein, und es wird das erreicht, was Nietzsche vielleicht intendierte: Der
Leser vermag über das Verstehen hinaus in seiner Selbstseelsorge ein Sich-selber-
schaffen und zugleich ein sich-selber-Auslegen zu leisten. In der Trans-Hermeneutik
geht es nicht mehr um eine Theorie zugunsten einer Praxis, sondern um einen leibhaft-
schöpferisch-interpretatorischen Selbstvollzug, in dem sich das Wort, das ist das golde-
ne Wort des Übermenschen, bewahrheitet und bewährt.
III. Friedrich Nietzsche und die Griechen
11. Nietzsche-Werkstatt
Schulpforta, 10.-13. September 2003
Matthew H. Meyer
I. Einleitung
In Ecce homo bezeichnet Nietzsche sich als den ersten tragischen Philosophen (KSA,
EH, 6, 312) und verspricht das Kommen eines tragischen Zeitalters (ebd, 313). Damit
unterstreicht er die Bedeutung seines ersten Werkes Die Geburt der Tragödie und ver-
weist auf eine Beziehung zwischen seinem frühen Studium griechischer Kultur und den
späten Werken. Bisher sind diese Hinweise größtenteils im Dunklen geblieben; obwohl
einige Forscher die Tragödie und das tragische Denken in den Werken Nietzsches für
wichtig erachtet haben, waren es nur wenige, die sich mit dem Wesen des tragischen
Denkens bei Nietzsche auseinandergesetzt haben.1
In diesem Aufsatz wird ein kleiner Beitrag zu dieser Problematik geleistet, wobei ge-
zeigt werden soll, dass Nietzsche trotz seiner Abkehr von der Metaphysik in der Geburt
der Tragödie seinem tragischen Denken immer treu geblieben ist. Kurz nach seinem
ersten Versuch, die tragische Weltanschauung der alten Griechen in der metaphysischen
Sprache Immanuel Kants und Arthur Schopenhauers darzustellen, erforscht er das vor-
sokratische Denken in der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
und entdeckt sein tragisches, aber auch anti-metaphysisches Prinzip in Heraklits Lehre
der Einheit der Gegensätze. Diese Wende in seinem Denken ist insofern wichtig, als sie
zeigt, dass Nietzsche einerseits die Metaphysik 1873 schon preisgegeben hat und ander-
seits, dass sowohl Menschliches, Allzumenschliches als auch Jenseits von Gut und Böse,
wo die Lehre Heraklits in den ersten Aphorismen auftaucht, eine Fortsetzung des tragi-
schen Denkens Nietzsches ist. Bevor dieser Wandel deutlich gemacht werden kann,
muss man sich zunächst darüber im Klaren sein, was tragisches Denken überhaupt
heißt. Daher gilt es im ersten Abschnitt, ein besonderes Augenmerk auf Die Geburt der
Tragödie zu legen.
1
Dazu: PeterKöster, „Die Renaissance des Tragischen", in: Nietzsche-Studien Bd. 1 (1972), 185-
209; Thomas Heilke, Nietzsche 's Tragic Regime, Dekalb 1998; Gilles Deleuze, Nietzsche et la Phi-
losophie, Paris 1962.
206 Matthew H. Meyer
II. Die Geburt der Tragödie und die tragische Weltanschauung
Die Geburt der Tragödie läßt sich als der erste Versuch Nietzsches ansehen, die tragi-
sche Weltanschauung zu skizzieren. Obgleich seine Ableitung der griechischen Kultur
aus den dionysischen und apollinischen Kräften wichtig ist, sollte man doch nicht die
Hauptthese von Nietzsches Erstlingswerk übersehen: Das tragische Kunstwerk trägt
eine ganze Weltanschauung in sich, sein blühendes Leben und sein plötzlicher Tod sind
mit deren Schicksal eng verbunden. Sowie es eine christliche, stoische oder buddhisti-
sche Weltanschauung gibt, gibt es auch eine Weltanschauung, die man tragisch nennen
könnte, und Nietzsche widmet sein erstes Werk der Frage, wie diese Weltanschauung
sich im alten Griechenland entwickelt hat und ruft die Deutschen zu einer Erneuerung
des tragischen Zeitalters Griechenlands auf (KSA, GT, 1, 132).
Man kann tragische Philosophie als eine Art des Denkens definieren, in welcher die
tragische Kunst verankert ist. In Die Geburt der Tragödie bezeichnet Nietzsche diese
Art des Denkens als dionysische Weisheit und legt sie dem mythischen Silen in den
Mund. Die Frage des König Midas, was das Allerbeste und Allervorzüglichste sei, be-
antwortet der Silen: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal,
was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das ersprießlichste ist?
Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nichts zu sein,
nicht zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben" (ebd., 35).
Der Gedanke ist hier, dass das menschliche Leben ohne die lebensbejahende Kraft
-
der tragischen Kunst vergänglich, bedeutungslos und ekelhaft sei. Tragische Philoso-
phie ist eine Umkehrung des platonischen Höhlengleichnisses, und der Silen bietet ei-
nen Schnellkurs in der Ethik Arthur Schopenhauers an: Das Leben ist Leiden, daher
solle man es verneinen.
Obwohl Nietzsche argumentiert, dass die apollinische Schönheit und die dionysische
Musik fähig seien, ein sonst elendes Dasein zu verklären, geht es hier um die Frage
nach dem tragischen Denken Nietzsches, und man kann kaum ein besseres Bild davon
gewinnen als durch den Vergleich dieses Denkens mit dem seines Gegners, des sokrati-
schen Optimismus. Nach Nietzsche hat Sokrates sowohl die Tragödie als auch die tragi-
sche Weltanschauung zerstört, weil er die Weisheit Silens durch sein optimistisches
Denken, ein völlig anderes Verständnis des Daseins, ersetzt hat. Während tragisches
Denkens die unvermeidliche Natur des Leidens betont, behauptet Sokrates, dass „das
Denken, das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei"
(ebd., 99). Im Vergleich zu Ödipus, dessen Geschichte gezeigt hat, dass Weisheit und
Leiden zusammengehören (ebd., 67), hat Sokrates die Wahrheitssuche mit der Tugend
und auch mit dem Glück verbunden (ebd., 94). Im Gegensatz zur griechischen Mytho-
logie, wo die Stabilität der olympischen Welt aus einem frevelhaften Krieg mit den
Titanen stammt, benützt der platonische Sokrates den Begriff Nous, um einen rational
geordneten Kosmos aufzubauen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Optimis-
mus des Sokrates die Tragödie bedeutungslos, wenn nicht barbarisch erscheinen ließ
und dadurch eine große Rolle in der historischen Transformation der Tragödie von ei-
nem religiösen, lebensbejahenden Fest zum bürgerlichen Unterhaltungsstück in Form
der ,Neuen Komödie' Menanders gespielt hat.
Die Einheit der Gegensätze als tragisches Prinzip 207
Verlassen wir nun die Altgriechen und wenden uns der Philosophie der Zeit Nietz-
sches zu. Hier entdeckt Nietzsche eine neue Art der tragischen Erkenntnis in der Philo-
sophie Immanuel Kants und Schopenhauers. Sowie der Mythos Silens die Griechen die
tragische Natur des menschlichen Daseins gelehrt hat, so behauptet Nietzsche, dass
diese zwei Denker die dionysische Weisheit nun „in Begriffe" wieder offenbart haben
(ebd., 120). Ausdrücklich lobt er Kant, weil er „das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu
benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzu-
legen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale
Zwecke entscheidend zu leugnen" (ebd., 118). Als nächster hätte Schopenhauer den
traumgleichen Charakter unseres Lebens nachgewiesen und die tragische Natur der
menschlichen Existenz mit dem Spruch, dass alles Leben wesentlich Leiden sei, ge-
schildert.2 Diese zwei Wahrheiten sieht Nietzsche als Grundsteine für eine Erneuerung
der tragischen Weltanschauung an und auf Grund dessen hofft er auf eine entsprechen-
de Wiedergeburt der Tragödie in den Opern Richard Wagners.
Nietzsches Versuch, seinen apollinischen und dionysischen Prinzipien eine metaphy-
sische Deutung zu geben, zeigt die bedeutende Rolle, die Kant und Schopenhauer in
Die Geburt der Tragödie spielen. Auf den ersten Blick scheint Nietzsches Rede von
dem Willen einerseits und der Erscheinungswelt, in der das Principium Individuationis
herrscht, anderseits die Metaphysik Schopenhauers abzubilden. Eine nähere Analyse
aber zeigt, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen der Philosophie Schopenhau-
ers und der Nietzsches gibt. Während Schopenhauers Verständnis des Willens ein ein-
heitliches Urprinzip darstellt, erfasst Nietzsche das Ur-eine selbst als widersprüchlichen
und leidenden Urgrund des Daseins (KSA, NF, 7, 166).3 Das bedeutet, dass hinter dem
Kampf des Daseins in der Welt des Individuums noch ein Kampf des Daseins liegt, weil
das Ur-eine in sich selbst zerrissen ist. Wenn der Schleier der Maja weggerissen wird,
erfahrt man nicht die Ruhe eines buddhistischen Aufklärungserlebnisses, sondern die
stürmische Macht des wilden Eros, die sich in dem dionysischen Kunstfest äußert.
Es ist nicht überraschend, dass Nietzsche mit dieser Willensauffassung sich bald zu
dem Philosophen, der behauptet hat, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, hingezo-
gen fühlt. In der Geburt der Tragödie ist aber Heraklit mit seiner Philosophie noch im
Hintergrund. Nichtsdestoweniger ist ein Einfluss des griechischen Philosophen auf
Nietzsches Erstlingswerk zu finden. Im vorletzten Abschnitt erscheint das Prinzip der
Einheit der Gegensätze und der Name Heraklits in Bezug auf die Hauptlehre der Geburt
der Tragödie, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ge-
rechtfertigt erscheint" (KSA, GT, 1, 152). Nietzsche behauptet, diese Lehre könne nur
durch die musikalische Dissonanz begriffen werden. Musikalische Dissonanz beweist
vor allem, dass der Schmerz eine gewisse Lust im Menschen erzeugen kann. Die Ein-
heit von scheinbaren Gegensätzen (Schmerz und Lust) ist auch in der Tragödie zu fin-
den und nach Nietzsche bietet sie eine Lösung zum Problem der tragischen Wirkung an.
:
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd, I, in: ders., Sämtliche Werke, Stutt-
gart, Frankfurt/M. 1986, 426.
Dazu: Friedhelm Decher, „Nietzsches Metaphysik in der ,Geburt der Tragödie'", in: Nietzsche-
Studien Bd. 13 (1984), 110-125; Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche
,JJie Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", Stuttgart 1992, 142f.
208 Matthew H. Meyer
Kurz gesagt, wir genießen die Tragödie, weil jeder Träne ein wenig Freude beigemengt
ist.
Obwohl die Einheit des Schmerzes und der Lust als auch die Einheit der Trauer und
der Freude den Reiz, den man in der Tragödie empfindet, erklärt, versucht Nietzsche
eine noch tiefere, mystische Deutung der Tragödie aufzuweisen. Wie die dionysische
Tragödie „das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt" darstellt, lehrt
Heraklit, dass die Welt wie ein spielendes Kind, die das „Steine hin und her setzt und
Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft" sei (ebd., 153). Der Tragödie geht es um
Schaffen und Zerstören, Werden und Vergehen, Leben und Sterben, sie strebt an, dieses
kindliche Verhältnis zu der Welt im Chor bzw. den Zuschauern zu erzeugen. Nach dem
Leid und der möglichen Vernichtung des Helden, d. h. Dionysos Zagreus (ebd., 72f),
gab es immer ein Satyrspiel, und nach Nietzsche waren diese ewigen, zauberhaften
Satyrn ein Beweis dafür, dass die Hauptlehre der Tragödie nicht die Vergänglichkeit
des menschlichen Daseins, sondern das ewige Leben und der fortwährende Schöp-
fungsprozess der Natur war (ebd., 108). So gesehen könnte man das Wesen der Tragö-
die in der Sprache der Einheit der Gegensätze mit dem Spruch, ,durch den Tod des
Individuums erfahrt man das ewige Leben der Natur', zusammenfassen. In Die Philo-
sophie im tragischen Zeitalter der Griechen wird diese Lehre Heraklits in einem sonst
verborgenen Prinzip der Tragödien-Theorie Nietzsches zu dem Grundstein seiner gan-
zen tragischen Weltanschauung.
sehe hat Heraklit mit seiner Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Not-
wendigkeit, „von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen" (ebd., 835).
Also schreibt Nietzsche über die Philosophie Heraklits: „Ein Werden und Vergehen, ein
Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat
in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und
der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld
und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich" (ebd., 830).
-
4
1888 radikalisiert Nietzsche seine Kritik der parmenidischen Philosophie durch eine Widerlegung
der Identität zwischen Denken und Sein: „Parmenides hat gesagt, ,man denkt das nicht, was nicht
210 Matthew H. Meyer
kannt, dass, obwohl Sätze, wie „das was ist, ist" und „was nicht ist, ist nicht", als Re-
geln des Denkens gültig sind, es „keine einzige Wirklichkeit, die nach jenem Gegensat-
ze streng geartet wäre", gibt (ebd., 846). Anders gesagt: Hätte Parmenides von Kant die
kritische Philosophie gelernt, hätte er seine metaphysische Welt erst gar nicht entwor-
fen. Allerdings findet Nietzsche die Philosophie des Parmenides nicht nur zum Lächeln.
Ein Moment der „völlig blutlosen" Abstraktion im Denken Parmenides', ungriechisch
wie kein anderes in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters zuvor, hat die
Geschichte der vorsokratischen Philosophie in zwei Hälften gespalten. Es markierte den
Anfang vom Ende des tragischen Denkens, den Start eines metaphysischen Projekts,
das in der Vertreibung der tragischen Dichter aus dem Staat Piatons kulminierte (ebd.,
812).
ist' wir sind am anderen Ende und sagen ,was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion
sein'" (KSA, NF, 13,332).
-
In einer wertvollen Studie zu dieser Problematik bietet Britta Glatzeder eine andere Auslegung
dieses Aphorismus an (Perspectiven der Wünschbarkeit: Nietzsches frühe Metaphysikkritik, Berlin
2000, 33ff.). Im Gegensatz zu meiner Interpretation sieht sie die Frage, „Wie kann Etwas aus sei-
nem Gegensatz entstehen", als ein Problem, welches die Philosophie lösen soll. Dagegen wird hier
behauptet, dass diese Frage Nietzsches Philosophie enthält. Sie ist die Einheit der Gegensätze, die
Nietzsches „dionysische Welt" im Fluss hält ( dazu KSA, NF, 11, 61 Of.).
Die Einheit der Gegensätze als tragisches Prinzip 211
Matthew H. Meyer, „The Tragic Nature of Zarathustra", in: Nietzscheforschung Bd. 9 (2001), 209-
218; ders., „,Menschliches, Allzumenschliches' und der musiktreibende Sokrates", in: Nietzsche-
forschungBd. 10(2002), 129-137.
212 Matthew H. Meyer
sich die Frage, warum die Einheit der Gegensätze in Jenseits von Gut und Böse wieder
auftaucht? Warum muss Nietzsche die tragische Philosophie von Menschliches, Allzu-
menschliches in Jenseits von Gut und Böse wiederholen? Hier ist nur die folgende
Hypothese anzubieten: Mit Jenseits von Gut und Böse beginnt eine Reihe von Abhand-
lungen, die nicht in einer Tragödie, sondern in einer Komödie kulminieren.8 Die Komö-
die Nietzsches findet sich dann in den Werken von 1888 und sie besteht aus zwei Ele-
menten des aristophanischen Kunstwerks. Schriften wie Der Fall Wagner, Götzen-
Dämmerung, Nietzsche contra Wagner und Der Antichrist beinhalten den Agon Nietz-
sches, in dem er aller Dekadenz den Krieg erklärt, während Ecce homo eine Parábase
voll des Selbstlobs Nietzsches darstellt. In seinen Spätwerken vervollständigt Nietzsche
seine Hoffnung auf eine Wiedergeburt der griechischen Kultur. Tragisches Denken
verlangt nicht nur die Tragödie, wie es in der Geburt der Tragödie beschrieben ist, son-
dern auch das heilige Lachen des Dionysos (KSA, JGB, 5, 236; KSA, GT, 1, 22). Wie
Piaton schon im Philebos andeutet, ist das Leben in einer Welt, die in einem ewigen
Wechsel von Lust und Unlust, Schaffen und Zerstören, Leben und Tod steht, sowohl
eine Tragödie als auch eine Komödie.9 Als der anti-metaphysische Denker par excel-
lence könnte Nietzsche ein tragischer und komischer Dichter zugleich sein „der letzte
Jünger des Philosophen Dionysos" (KSA, GD, 6, 160).10
-
Martin Kornberger zeigt die Verbindungen zwischen Jenseits von Gut und Böse und Ecce homo:
„Zur Genealogie des ,Ecce homo'", in: Nietzsche-Studien Bd. 27 (1998), 319-338. Hier könnte
man sagen, Ecce homo stelle die Philosophie der Zukunft dar, wo er als komische Dichter das
Christentum zu Tode lacht (KSA, JGB 5, 157; KSA 14, 346).
9
Piaton, Philebos, 50b.
10
Vielen Dank an Martin Liebscher für seine Hilfe bei der Übersetzung.
Enrico Müller
Die Zeit des ausgehenden fünften und vierten vorchristlichen lahrhunderts lässt sich als
Epoche einer auf den Logos gegründeten Welterschließung fassen. In ihr wird ein Be-
griff von Philosophie hervorgebracht und ausdifferenziert, der sich durch die gesamte
europäische Geistesgeschichte hinweg durchhalten wird und auch das gegenwärtige
Denken noch maßgeblich bestimmt. Der Logos als vernunftgeleitetes Sprechen tritt im
Rahmen der zwischen Sokrates und Aristoteles anzusetzenden Fundierung des philoso-
phischen Feldes mehr und mehr als Medium zu Tage, welches die Vielfalt und Verän-
derlichkeit der lebensweltlichen Phänomene auf eine ihnen zu Grunde liegende Einheit
befragt. Piaton hat seinen Protagonisten Sokrates im siebenten Buch der Politeia diese
Ausrichtung des Denkens emphatisch als Eintritt in eine neues Leben kennzeichnen
lassen: Die denkende „Umwendung (ustaaxpocpTi) vom Werden zur Wahrheit und zum
Sein" sei als „Erlösung (Xúaiq) von den Ketten" auch eine „Umwendung von den Schat-
ten zu den Formen und zum Licht und ein Aufstieg vom unterirdischen Ort zur Sonne
hin".1
Nietzsches Denken ist demgegenüber spätestens seit der Geburt der Tragödie von
einer besonderen Sensibilität für die Grenzen theoretischer Selbstdisziplinierung ge-
prägt. Die dem Logos eigentümliche Distanzierungsleistung hat er seinerseits distan-
ziert betrachtet. Dies belegen seine Analysen zur Entstehung der Philosophie in Athen.
Gerade in dieser Polis hat sich die Fähigkeit des Logos, in versachlichter Form Phäno-
mene des Lebens zu kategorialisieren und zu subordinieren, auch als Machtanspruch,
als Wille zur Beherrschung und Unterwerfung, zu erkennen gegeben. Nietzsche hat den
Zusammenhang nicht nur gesehen, er hat ihn vielmehr zugrunde gelegt, um von ihm aus
die Entstehung der klassischen Philosophie auch als eine Geburt des Logos aus dem
Geist der Politik zu entfalten. Bereits eine frühe genealogisch orientierte Nachlassnotiz
konstatiert in diesem Sinn: „Wissenschaft aus der Redekunst, Redekunst aus dem politi-
schen Trieb" (KSA, NF, 7, 148).
Nietzsches kaum thematisiertes Diktum, die Griechen seien „schon a priori als die
.politischen Menschen an sich' zu construiren" (KSA, VC/ GS, 1, 771), ist in seinem
prinzipiellen Gehalt bis heute unterschätzt. Es bietet die Möglichkeit, vermeintlich über-
zeitliche Sinnstiftangen und ästhetische Leistungen der griechischen Klassik in einen
spezifischen kulturellen Kontext zurückzunehmen. Der philosophische Logos ist keine
quasi-autonome selbstentfaltete Sinnstiftang mehr, sondern eine bestimmte Form der
Reflexion unter den Bedingungen des politischen Aprioris. Die öffentliche Rede war in
Griechenland immer auch ein Politikum; unter den Bedingungen expansiv orientierter
Demokratie wuchsen ihr neue Möglichkeiten zu. Nietzsche notiert in seiner Vorlesung
zur Geschichte der griechischen Beredsamkeit: „Aber erst mit der politischen Form der
Démocratie beginnt die ganze excessive Schätzung der Rede, sie ist jetzt das größte
Machtmittel inter pares geworden" (KGW, II, 4, 3669). Die demokratische Zeit Athens
bietet somit nicht den bloßen Hintergrund für das Entstehen und Sich-Etablieren der
Philosophie. Für Nietzsche ist es vielmehr die sich wandelnde politische Praxis selbst, in
der Philosophie sich ereignet, indem sie Dimensionen des Politischen an-, auf- und über-
nimmt, sie entpolitisiert und damit zu ihrer ,Sache' macht. Einer Erhellung dieser Zu-
sammenhänge dienen die folgenden Ausführungen. Während Teil I Nietzsches Stellung
zu Grenzen und Möglichkeiten der attischen Demokratie skizziert, siedelt Teil II seine
Beobachtungen zum Kampf zwischen Sophistik und Philosophie im zuvor eröffneten
Horizont an.
scheinung zu machen, steht Nietzsche, mit Ausnahme von Jacob Burckhardt, weitge-
hend allein. Zu einer einheitlichen Problematisierung bzw. Bewertung derselben konn-
te er sich indessen nicht durchringen. Die radiakaldemokratischen Praktiken,
besonders die Intensität, in der nach der Entmachtung des Adelsrates 462/461 v. Chr.
Politik ausschließlich über die Volksversammlung und den Rat gemacht wird, findet
sich als ein von den Perserkriegen ausgehender „politischer Furor" (KSA, NF, 8, 112)
bestimmt. Die wenig unzeitgemäße, antidemokratische Grundperspektive, von denen
die diesbezüglich relevanten Texte Homers Wettkampf unA Der griechische Staat ge-
prägt sind, ist jedoch nur vordergründig. Nietzsches Augenmerk ruht darauf, dass sich
im Rahmen einer spezifischen historischen Konstellation ein neues Selbstverständnis
manifestiert, ein Machtanspruch, der durch neue Modi der Reflexion erst einzuholen
ist. Das plötzliche Ausgreifen auf ungeheure territoriale Räume war für Athen ein
einmaliger Kraftakt: Etwa vierzigtausend männliche, erwachsene und freie Bürger, die
auf einem Gebiet von zweitausend Quadratkilometern lebten, beherrschten einen
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie 215
Großteil des Mittelmeergebietes. Athen führte seit 480 v. Chr. mehr oder minder im-
mer Krieg, ein Drittel der Bürgerschaft war zu jeder Zeit mit der Flotte in Kriegszügen
unterwegs. Der außenpolitischen Großräumigkeit korrelierte die Öffnung des Raumes
der Mitbestimmung für die Klasse der Theten, die, weitgehend mittellos, als unver-
zichtbarer Bestandteil der Flotte nun entsprechend politisch partizipierten. Nach den
Invektiven des Ephialtes gab es endgültig kein gegenüber der Volksversammlung pri-
vilegiertes Gremium mehr: alle noch so folgenreichen Entscheidungen wurden nach
der öffentlichen Diskussion von Anträgen, die ihrerseits agonal strukturiert waren,
durch einfache Mehrheit der Bürgerschaft gefallt. Demokratie als Ideologie verstand
sich in diesem Sinne als gezielte Machtausübung des Demos im Hinblick auf potentiell
machtausübende Institutionen, die zur Begrenzung personaler Machtausübung konzi-
piert sind. Als Verfassungstyp versteht sie sich kratistisch, nicht nomistisch.2 Nietzsche
kennt „kein zweites Beispiel einer so furchtbaren Entfesselung des politischen Trie-
bes" (KSA, CV/GS, 1,771).
Was aus institutionalistischer, von moderner Staatsbegrifflichkeit gedachter Per-
spektive als „unbedingte Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses
Staatsinstinktes" (ebd.) erscheint, lässt sich auch anders perspektivieren. Demokratie
als konkrete, medial unvermittelte und interindividuell ausgeübte politische Praxis
einer face to face-Gesellschañ lässt sich nicht auf ein Verfassungsmodell bloß forma-
ler politischer Theorie reduzieren. Auch sie ist zuletzt der vielleicht differenzierteste
Ausdruck jener „hellenischen Wettkampf-Vorstellung", den Nietzsche in Homers
Wettkampf als Abscheu vor den Gefahren der Alleinherrschaft bestimmt hatte (KSA,
CV/HW, 1, 789). Der junge Basler Professor registrierte gleichzeitig mit kaum ver-
schleierter Bewunderung die „außerordentliche Stärke des gegenwärtigen Gefühls in
den griechischen Volksversammlungen" (KSA, NF, 7, 407). Für Athen gilt der Befund
politischer Gegenwärtigkeit in besonderem Maße. leder Athener disputierte in den
Demenversammlungen, war Entscheidungsträger der etwa 40mal jährlich tagenden
Volksversammlung, durch das Los wurde er besoldetes Ratsmitglied, Inhaber be-
stimmter Ämter und Teil der permanent stattfindenden Dikasteriengerichte, partizipier-
te zudem an der umfangreichen von der Polis ausgerichteten Festkultur. Er lebte mit
der kratistischen Erfahrung des Ausübens einer Regierungstätigkeit und war insofern
habituell „Staatsmann, Soldat, Beamter, Kaufmann in einer Person" (KGW, II 3, 20).3
Aus dieser Anmerkung wird ersichtlich, dass das Politische kein bloßes Moment der
Existenz des Individuums war, sondern dass sich unter den Bedingungen einer Ubiqui-
tät des Politischen eine spezifische Form von Individualität ausprägt. Ein Individuum
entstand, das sozial in einer Weise konfiguriert war, dass es nicht umhin kam, alles
was ihm begegnete „als politisch zu verstehn" (ebd., 18).
Spätestens mit der nochmaligen Verschärfung der Bürgerrechtsbestimmungen unter
Perikles hatte sich endgültig diese neue Form der Identität etabliert, ein Typus Mensch,
der sich sowohl im Hinblick auf innenpolitische Machtausübungspraktiken als auch
Dazu Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs Demokratie ", Frankfurt/M. 1970, 44-49.
„
1
Zum demokratischen Habitus der Athener gegenüber dem modernen Bürgerbegriff in repräsentati-
ven Demokratien: Moses Finley, Antike und Moderne Demokratie. Mit einem Essay von Arnaldo
auf außenpolitische Ansprüche als exponiert begreift, verschieden nicht nur von den
Barbaren, sondern vor allem auch von anderen Griechen.4 „Die Verfassung, nach der
wir leben", heißt es im Epitaphios des Perikles, „vergleicht sich mit keiner der frem-
den."5 Mit der berühmten Leichenrede auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahrs, ein
für Nietzsches Verständnis athenischer Demokratie zentraler Text, macht der hellsich-
tige Thukydides die herausragende Persönlichkeit jener Zeit nicht nur zum Sprachrohr
einer neuartigen politischen Identität. Er inszeniert ihn als Anwalt und Exponenten
eines gesteigerten, sich ,höher' fühlenden und verstehenden Menschentums, als exem-
plarisches Individuum einer Stadt, die, wenn sie sich überhaupt ins Verhältnis zum
übrigen Griechenland setzt, unverhohlen den Anspruch erhebt, als rcaiôevata tt|ç
EM.aôoç, als „die Schule von Hellas" aufzutreten.6 Zugleich aber lässt er nach Nietz-
sche das Bild einer Kultur „unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt (die Pest
und der Abbruch der Kultur), noch einmal wie eine verklärende Abendröthe aufleuch-
ten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng" (KSA, MA I,
2, 308f).
Aggressive Expansionspolitik und demokratische Praxis sind in Athen nicht ohne
einander vorzustellen, sie dynamisierten sich gegenseitig. Was die Volksversammlun-
gen in Atem hielt, waren zum größeren Teil Abstimmungen über konkrete außenpoliti-
sche Themen. Je umgreifender die Thalassokratie Athens wurde, je repressiver die
Bündnispolitik, desto umfangreicher wurde das Konfliktpotential, die Möglichkeit pres-
tigeträchtiger Interventionen. Die mit dem neuen Selbstverständnis artikulierten An-
sprüche wuchsen unverhältnismäßig schnell, wurden aber immer wieder eingelöst, um
neuen Ambitionen zu weichen. Die durchgehende Angespanntheit der Bürger, ihr Wille
zu immer neuen Herausforderungen, ihre Bereitschaft zu Entscheidungen, deren Kon-
sequenzen mitunter unabsehbar waren, all dies hat Nietzsche wie Burckhardt fasziniert:
inwieweit das Wissen um den alsbaldigen Untergang dieses Lebensmodells die Klarheit
des Blicks beeinträchtigt, bleibt unentscheidbar und ist zudem eine Frage, die auch den
heutigen, ernüchterten Interpreten betrifft. Das politische Individuum Athens formier-
te und erfuhr sich maßgeblich durch sein Handeln. Es erfuhr die Ausmaße und die
-
Intensität dieses Handelns, als neu, als anders. Mit den zunehmenden Handlungsoptio-
nen und den immer weitreichenderen Konsequenzen eigenen Tuns stellt sich zwangs-
läufig die Frage nach den Möglichkeiten der Konzeptualisierung. Wer immerfort nur
handelt, wird zuletzt zum Spielball selbstgeschaffener unüberschaubarer Handlungszu-
sammenhänge. Athen hatte fundamental neue Verhältnisse geschaffen und dabei, wie
Nietzsche betont, die polyzentrischen archaischen Verhältnisse „vor allem ethisch"
(KSA, NF, 7, 79) hinter sich gelassen. Die angesichts neuer Bedürfnisse unzureichend
angelegte nomologische Selbstregulierung ermöglichte jene Risikobereitschaft und
Aktionsfreudigkeit, mit der die Polis zu höchster Machtentfaltung gelangte, „unver-
gängliche Denkmale sich überall im Guten und im Schlimmen aufrichtend" (KSA,
Dazu Christian Meier, Christian, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M.
1980, 28: „Insofern vollzog sich hier nicht nur ein Wandel im Verhältnis zwischen den Schichten
der Bürgerschaft, sondern zugleich eine Veränderung in der anthropologischen Dimension."
5
6
Thukydides, Historiae, II 37.
Ebd., 41.
Politik Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie 217
GM, 5, 11). Einmal im Zentrum ,großer Politik' befindlich, erwies sich das Nichtvor-
handensein einer praktikablen Selbstauslegung als folgenreiches Defizit an Konflikt-
bewältigungskompetenz .7
Im Aphorismus 356 der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 595ff.) findet sich
die Welt des perikleischen Athens als historisches bzw. anthropologisches Experiment
ins Medium des Ästhetischen übersetzt. Die Erfahrungsstruktar, die Christian Meier als
,Könnens-Bewusstsein' gekennzeichnet und entfaltet hat, wird hier als Übergang vom
,Rollen-Glauben' zur ,wirklichen Schauspielerei' gedeutet und auf ihre Grenzen be-
fragt: In dauerhaften Gesellschaftsordnungen spielt das Individuum seine Rolle gleich-
sam authentisch. Die Unmöglichkeit, sich angesichts fest etablierter Verhaltens- und
Verständnismuster adäquat im Blick zu behalten, zu sehen, welche Rolle, bzw., dass
man überhaupt eine Rolle spielt, führt zu deren Internalisierung. Zuletzt ist „aus der
Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur" (ebd.). Athen steht demge-
genüber als ,umgekehrtes Zeitalter' da, in dem die Geborgenheit im Bestehenden brü-
chig, die alte Rolle als unangemessen erachtet. Weil angesichts gewandelter und unab-
geschlossener Verhältnisse außer der Abgrenzung zum Vergangenen keine
weitergehenden Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung existieren oder wahrgenommen
werden, ist es nun das Funktionieren in Rollen, der „Rollen-Glauben", der fragwürdig
wird. Wo er verlernt ist, tritt ein „Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in den
Vordergrund", als Zeichen „eigentlich demokratischer Zeitalter": Jener Athener-
Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird, [...] wo der Einzelne über-
zeugt ist, ungefähr alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo Jeder
mit sich versucht, improvisiert, [...], wo alle Natur aufhört und Kunst wird" (ebd.). Die
paradoxe Struktur der Wieder-Verkünstlichung der Natur gewordenen Kunst insinuiert
eine Kulturtheorie, die das Aufkommen der interessantesten Zeitalter als Zusammen-
spiel von Instabilität und Improvisationsfahigkeit beschreibt, ihnen aber eines abspricht:
Dauerfähigkeit. War die Idealform des Griechentums als Agonalität bestimmt, die ihre
eigenen Korrektive hervorbringt, so lässt Nietzsche die athenische Demokratie als Im-
perium an der Unfähigkeit scheitern, dem eigenen Handeln Grenzen zu setzen. Die
Kehrseite des demokratisch engagierten Individuums wird offenbar: ,Bedürfnisse' wer-
den zu Fähigkeiten uminterpretiert, die Heteronomie konkreter Handlungszwänge als
Souveränität ausgelegt. Der Nachricht vom katastrophalen Ausgang der sizilischen
Expedition schenkten die Bürger keinen Glauben.
Dazu Egon Flaig, Ödipus, 48: „In Athen stoßen wir [...] auf eine Ungewissheit über die verbindli-
chen Handlungsmaximen und eine erstaunliche Instabilität der Maßstäbe [...] Das ist die Kehrseite
der Experimentierfreudigkeit, welche die griechischen Poleis unentwegt bewiesen, insbesondere
die über hohe Handlungspotentiale verfügende athenische Polis. Diese Offenheit für Neues, diese
Bereitschaft, .Überkommenes' über Bord zu werfen, wenn es durch .Besseres' ersetzt werden
kann, ein gefährlicher Hang zum Utilitarismus alles für erlaubt zu halten, wenn es bloß nützt ist
die Kehrseite einer normativen Unterbestimmtheit der Handlungsmaximen; das eine kann man
- -
und den Philosophen als ,Reaktion' auf den authentischen Sophisten begreift, gilt es
festzustellen, dass auch diese Umwertung das Werk eines Philosophen ist. Nietzsche hat
sich stets als einen solchen, trotz aller Sympathiebekundungen aber nirgendwo als So-
phist thematisiert. Die Tatsache, dass die Sophisten des fünften Jahrhunderts v. Chr. ihr
Denken weitgehend ohne Polemik gegen ,die Philosophen' entfalteten, Sokrates, Piaton
und Aristoteles ihre Positionen aber maßgeblich in Auseinandersetzung mit ,den So-
phisten' gewinnen, rechtfertigt den Gebrauch der Termini ,aktiv' und ,reaktiv'. Die
Wolken des Aristophanes, Piatons Sophistes und nicht zuletzt das fragwürdige Todesur-
teil gegen Sokrates signalisieren gleichermaßen, unter welchen Schwierigkeiten die
Emanzipation der Philosophie in Athen vor sich ging. Vorzugsweise die existentielle
Atmosphäre im Sophistes verdeutlicht eindrucksvoll, dass sich hinter folgenreichen
Exemplarisch in der attischen Komödie, für die Nietzsche eine „unendliche Freiheit des persönli-
chenAngriffs" konstatierte (KSA, NF, 7, 405).
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie 219
Aufwand seines Lehrers konstatiert er: „Der Sophist ist Verkäufer scheinbarer Weisheit,
nicht aber wirklicher."9
Die Nähe zwischen Sophisten und Philosophen bleibt wie bei Piaton auch bei Nietz-
sche ein kardinales philosophisches Problem. Während sich die antike griechische Phi-
losophie gegen ihre Kontrahenten abzugrenzen und von dieser Abgrenzung her zu
profilieren hatte, wird Nietzsche diese Nähe anders problematisieren. Ausgehend von
einer Ununterscheidbarkeit der Rollen siedelt er die Philosophie im Horizont der
Sophistik an, um Distanz zu ihrem antisophistischen Selbstverständnis der zu gewinnen.
Der philosophische „Kampf gegen die Sophisten" ist anfänglich auch für Nietzsche
„psychologisch schwer zu fassen: es ist eine Abtrennung nöthig, um nicht mit ihnen
verwechselt zu werden (wozu Alles einlud, weil sie nämlich sich verwandt fühlten)"
(KSA, NF, 12, 302f).
Die problematische Verwandtschaft ist auch in der Semantik ersichtlich. EocpiaTrjç,
und cpiXóaoípoc sind dem Wortsinn nach auf die Verbindung zum oocpov ausgerichtet und
angewiesen. Die Rolle des oo(póc galt es in den gewandelten Verhältnissen neu zu inter-
pretieren. Die im Hinblick auf die politische Praxis erkennbare Unterbestimmtheit tra-
dierter Maximen machte konkretere Formen vermittelbarer Lebensweisheit unersetzlich.
Dies Vakuum füllt der Sophist als „der höhere Lehrer des Altertums" (KSA, CV/HW, 1,
790) aus. Es ist für die soziale und intellektuelle Realität Athens bezeichnend, dass kein
Vertreter der so heterogenen Bewegung Athener war, ihre Bedeutung ist für keine andere
Polis ähnlich groß gewesen. Die aufgeregte Anspannung der jungen aristokratischen
Oberschicht bei der Ankunft eines Sophisten beschrieb Piaton in drastischen Farben für
den Fall des Protagoras. Trotz offenkundiger platonischer Ironie wird gegen die intentio
auctoris eines deutlich: In den gesellschaftlichen Verhältnissen Athens waren Orientie-
rungsangebote von außen notwendig und ungemein attraktiv.
Erst die ihnen eigentümliche Wanderexistenz ermöglichte es nach Nietzsche den So-
phisten, „die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werthurteile neben
einander" zu stellen (KSA, NF, 13, 292). Die damit verbundene Erfahrung der Pluralität
geltender Werten verschaffte ihnen jenen Reflexionsspielraum, von dem aus sie praxis-
nahe Bildungsangebote unterbreiteten. Als „vivendi praeceptores"10 lehrten sie nicht die
eine Lebensform, sondern Lebensstrategien in den von ihnen angetroffenen Verhältnis-
sen. Prominentestes Schlagwort in dieser Hinsicht ist sicher das der eußooMa, der
Wohlberatenheit in politischen und häuslichen Angelegenheiten.
Dass solche Konzepte weitgehend ohne Allgemeinheitsansprüche und normative
Implikationen, jenseits der jeweilig exemplarischen Kontexte auskamen, wird ihnen
zwar in den sokratischen Argumentationspraktiken der frühen platonischen Dialoge oft
zum Verhängnis, ist jedoch kein Einwand gegen ihre praktische Relevanz." Die von
9
Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, 165a.
10
Cicero, De oratore, III, 57.
11
Thomas Buchheim unterscheidet in Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, Hamburg
1986, zwischen einem .praktischen Denken' der Sophistik und dem .poietischen Denken' platoni-
220 Enrico Müller
scher Provenienz. Ersteres „beruft sich in Ansehung beliebiger Geschehnisse nicht auf einen exter-
nen Fluchtpunkt seines Verlaufs [...] So aufgefasst ist ein Geschehen nicht auf begrifflich scharfe
Verhältnisse abbildbar, vielmehr sind alle es kontrollierenden Instanzen in das Geschehen invol-
viert und also permanent in Modifikation begriffen". Dieses Denken „reflektiert nicht über (den)
Geschehnisse(n), sondern räsoniert in ihnen und ist in dieser Teilnahme den Wandlungen der Ori-
entierung ebenso ausgesetzt". Poietisches Denken „extrapoliert aus jedem Prozess, den es zu erfas-
sen sucht, einen Blickpunkt, der dem ganzen Vorgang äußerlich bleibt oder dessen Ende ist". Das
jeweilige Geschehen steht „unter einer Kontrolle, deren Instanz durch es selbst nicht in Mitleiden-
schaft gezogen wird. Der Abstand, den eine solche kontrollierende Instanz in diesem Denkschema
stets behält, ist Grundbedingung dafür, dass ein Vorgang in geschehensunabhängigen Termen be-
schrieben und so überhaupt als begriffliches Verhältnis aufgefasst werden kann" (132). Die „prakti-
sche Kompetenz" der Sophisten, die zugleich „Distanzlosigkeit zur Situation" impliziert (140), ist
für Nietzsche darin .Realismus', dass sie auf einer Anerkennungsleistung gründet und auf eine über-
individuelle, situationsabstrakte Konstruktion in Begriffen verzichtet.
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie 221
durch Apolitie ist sie es in jedem Fall: Dies war der Grundgedanke der solonischen
Stasisgesetze. Im Epitaphios des Perikles wird der Bürger, der am Verfassungsleben
keinen Anteil nimmt, nicht „still", sondern „schlecht" genannt.12 Die Philosophie muss
sich einen solchen Vorwurf, zumindest aus dieser Perspektive, gefallen lassen. Ausge-
hend vom Charisma und intellektuellen Potential eines ,Meisters' etablieren und institu-
tionalisieren sich im vierten Jahrhundert v. Chr. nacheinander Denk- und Lebensge-
meinschaften jenseits des öffentlichen Raums. Bezeichnend ist, dass die sich der
Öffentlichkeit entziehenden Schulen nach innen oft quasipolitisch strukturiert sind.
Eigene Kulte und Versammlungsstätten, Hierarchisierung, die Differenzierung in esote-
risches und exoterisches Lehrgut und heftige Polemik gegen alternative Unternehmun-
gen kennzeichnen Akademie und Peripatos, Stoa und Skepsis, Kyniker und das epiku-
reische ,Gärtchen'. Nietzsche hat dieses meist unterschätzte oder bagatellisierte
Phänomen deutlich erfasst und soziologisch adäquat beschrieben, wenn er die Philoso-
phen seit Sokrates gegenüber den Vorsokratikern und Sophisten als „Sektenstifter", die
Schulen selbst als „Sekten" bezeichnet (KSA, PHG, 1, 810).13 Während ein Fremdling
wie Protagoras den Athenern die Verfassung der Neugründung Thurioi bewerkstelligt,
ist der Philosoph, „seit Plato [...] im Exil und conspirirt gegen sein Vaterland" (ebd.).
Nicht Patriotismus wird mit dieser Formulierung eingefordert als vielmehr die Vermu-
tung geäußert, dass die Philosophie tendenziell den Raum gefährdet, der den Ursprung
ihrer eigenen Ermöglichung bedeutet, dass, mit Nietzsche, die philosophischen Rich-
tungen in ihrer apolitischen Struktur auch „Oppositionsanstalten gegen die hellenische
Cuitar und ihre bisherige Einheit des Stils waren" (ebd.).
Der philosophischen Lebensform korrespondiert folgerichtig ein theoretischer Ges-
tas, der die Relevanz des Politischen entweder leugnet (Antisthenes, Aristipp, die Cyni-
ker) oder die Politik in großangelegten Gegenutopien und auf den zyklischen Wechsel
der Verfassungen abhebender, politischer Theorien (Piaton, Aristoteles) konzeptuali-
siert. Das diesem Verfahren implizite Selbstverständnis beansprucht meta-politisch und
ftindamentalpolitisch zu sein. Die gelebte Politik findet sich in der aus der Philosophie
hervorgehenden politischen Theorie der Antike weitgehend zu einer Typologie der
Staatsformen und deren Diskussion schematisiert. Zum anderen wird der interindividu-
elle Charakter des Politischen zunehmend von der ethisch zu legitimierenden Politikfä-
higkeit des Individuums, von der ap8if| des Einzelnen her gedacht. Der philosophische
Begriff des Menschen als eines Individuums ist nach Nietzsche maßgeblich um den
Preis seiner Entpolitisierung gewonnen: der autonome Einzelne trat da hervor, wo das
Çcôov 7ioÀ,mKÔv zurücktreten müsste. Die massive Hinwendung auf den die Lebensfüh-
rung betreffenden Schlüsselbegriff der euôaipovia, den jede Schule im vierten Jahrhun-
dert v. Chr. auf ihre Weise interpretiert, ist Ausdruck eines die gesamte Philosophie
prägenden neuen Existenzverständnisses. Ethik, die zugleich immer auch Asketik war,
wurde für jene Individuen notwendig, denen das den gesellschaftlichen Zusammenhang
tragende Ethos verloren ging und die diesen Verlust in Denk- und Lebensgemeinschaf-
ten zu kompensieren hatten. Im Zusammenhang zwischen Desintegration, Apolitie und
einer auf das Seelenheil des Individuums abzielenden ethischen Reflexion bildet sich
für Nietzsche das ,reaktive' Moment der Philosophie: „Der Moralismus der griechi-
schen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre Schätzung der
Dialektik. Vernunft Tugend Glück heisst bloss: man muss es dem Sokrates nach-
= =
machen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen
das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nach-
-
geben an die Instinkte, an's Unbewusste führt hinab" (KSA, GD, 6, 72).
Ole Schütza
Es geht in um das Menschenbild des Thukydides und seiner zeitlosen Bedeutung, Fried-
rich Nietzsches Stellung zu Piaton und Thukydides, die er als Antipoden gegenüber-
stellt, die Philosophie der Macht oder das Naturrecht des Stärkeren und den damit in
Verbindung stehenden Ursprung der Gerechtigkeit.
In der Poetik des Aristoteles heißt es im 9. Kapitel: „[...] daß es nicht Aufgabe des
Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen
könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.
Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich [...] dadurch, daß der
eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist die
Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die
Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere
mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit
nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut [...]
Das Besondere besteht in den Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm
zugestoßen" (1451b).1
Aristoteles nennt im gleichen Abschnitt Herodot, den Schöpfer der ethisch-narrativen
Geschichtsschreibung.2 Dieser verfasste sein Werk, „damit nicht, was die Menschen
getrieben, was Griechen und Barbaren Großes und Bewundernswürdiges geleistet, und
weshalb sie miteinander Krieg geführt, mit der Zeit verwischt und vergessen würde".3
Aristoteles nennt auch Alkibiades, einen brillanten Redner und Demagogen, genialen
Strategen und Kriegsherren, der dennoch nur ein mittelmäßiger Politiker war. Über ihn
schrieben die Zeitzeugen Thukydides und Xenophon.
Xenophons Schaffen ist vielseitiger als das des Thukydides, aber nicht vielschichti-
ger. Er bleibt bei der Schilderung der historischen Ereignisse stehen, bei der bloßen
Berichterstattung über die unterschiedlichsten Begebenheiten von Aer Anabasis über die
Hellenika bis zur Reitkunst. Er setzt die Geschichte vom Peloponnesischen Krieg an der
Stelle fort, an der Thukydides endete, ohne jedoch die literarische Erzählkunst des Vor-
gängers zu erreichen.
Auf Xenophon und Herodot trifft Aristoteles' Kritik zu, da sie es nicht vermochten,
von ihren Schilderungen des Besonderen zu einer abstrakteren, allgemeineren Bedeu-
tung der von ihnen dargestellten Historie zu gelangen. Doch er übergeht Thukydides.
Vielleicht weil dieser nicht in das Schema passte oder anders gesagt: da dieser aus der
Art der anderen Historiker schlug und bis zu seiner Zeit und lange nach ihr einzigartig
war. Ob Aristoteles Thukydides letztlich verkannt oder übergangen hat, dem soll hier
nicht weiter nachgegangen werden.
Von Bedeutung ist hingegen das Geschichtswerk des Thukydides und dass Nietzsche
Thukydides nicht verkannt, sondern ihn erkennend gewürdigt hat. Zeitlich trennen Thu-
kydides und Nietzsche rund 2300 Jahre. Der griechische Historiker hat nach menschli-
chem Maßstab eines seiner Ziele erreicht: für die Ewigkeit zu schreiben. In seinem
ersten Proömium steckte er dies Ziel: „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen
erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur
so oder so ähnlich eintreten wird, der wird das Werk für nützlich halten, und das soll
mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es
aufgeschrieben" (I, 22 (4).4
Was verbindet Nietzsche aus eigener Sicht mit Thukydides? Was bedeutet der antike
Historiker dem modernen Philosophen?: „Ein Vorbild. Was liebe ich an Thukydides,
was macht dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefan-
-
genste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu
jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat
eine grössere praktische Gerechtigkeit als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer
der Menschen" (KSA, M, 3, 150). Denn Thukydides erkennt u. a. Perikles in seiner
Bedeutung für die Entwicklung Athens. Obwohl er dessen Politik kritisch betrachtete,
setzte er ihm mit der Leichenrede ein literarisches Denkmal.
Nicht so Piaton. Dieser zog es vor, Perikles und andere attische Staatsmänner in sei-
ner Politeia und im Gorgias zu verlästern und zu verkleinern, indem er ihnen vorwarf,
die unter ihrer Regierung stehenden Athener nicht zu besseren Menschen gemacht zu
haben und sie aufgrund dessen für gering achtete. Piaton setzt seine ethisch-moralischen
Ansprüche als absolute Messlatte an und über alles, so dass Nietzsche konstatiert: „ich
finde ihn abgeirrt von allen Grundinstinkten des Hellenen, [...] dass ich von dem gan-
zen Phänomen Plato eher das harte Wort ,höherer Schwindel' gebrauchen möchte als
irgend ein anderes" (KSA, NF, 13, 625).
Nach Nietzsche stehen sich der Idealismus Piatons und der Realismus des Thukydi-
des unversöhnlich gegenüber. Piaton war in dem hellenischen Kosmos ein Außenseiter,
der es jedoch vermochte, das Antikebild der deutschen Rezeption nachhaltig zu prägen
bzw. schönzufärben: „Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Plato-
nismus war jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht der principe Machiavel-
lis, sind mir am meisten verwandt, durch den unbedingten Willen, sich nichts vorzuma-
4
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, (V, 89, 105) übertragen von August Horneffer, Bremen
1957, 459, 463.
Nietzsche und Thukydides 225
chen und die Vernunft in der Realität zu sehn, nicht in der ,Vernunft', noch weniger
in der ,Moral' [...] Von der jämmerlichen Schönfärberei, die der klassisch gebildete
-
Deutsche als Lohn für seinen ,Ernst' im Verkehr mit dem Alterthum einerntet, kurirt
nichts so gründlich als Thukydides. Man muß ihn Zeile für Zeile umwenden und sein
Nicht-Geschriebenes so deutlich ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so substanz-
reiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-Cultar, will sagen die Realisten-Cultur zu
ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben aller-
wärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die grie-
chische Philosophie schon als die decadence des griechischen Instinkts: Thukydides als
die große Summe aller starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hel-
lenen im Instinkt lag. Der Muth unterscheidet solche Naturen wie Plato und Thukydi-
des: Plato ist ein Feigling folglich flüchtet er ins Ideal Thukydides hat sich in der
Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt" (KSA, NF, 13, 625f).
- -
Nietzsches Kritik an Piaton zielt neben dieser Politikerschelte auch auf dessen Kritik
an den Sophisten, zu denen Nietzsche Thukydides zählt. Die Zuordnung Thukydides'
zu den Sophisten ist trotz unterschiedlicher Definitionen der Sophisten nur bei Nietz-
sche belegt.
Piaton urteilt über die Sophisten eindeutig negativ. Ob in Sophistes, Gorgias oder
Protagoras, sie sind Menschenfänger, die Scheinwissen und rhetorische Fähigkeiten für
Geld verbreiten. Nietzsche definiert die Sophisten hingegen wie folgt: „Die Sophisten
sind nichts weiter als Realisten: sie formuliren die allen gang und gäben Werthe und
Praktiken zum Range der Werthe, sie haben den Muth, den alle starken Geister haben,
um ihre Unmoralität zu wissen [...] Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und
-
Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß
nicht was" (KSA, NF, 13, 331).
Mit Nietzsche ist festzustellen, dass sich aber auch große Gemeinsamkeiten in den
Werturteilen der beiden großen Griechen finden, dass Thukydides' Moral „die gleiche
ist, die überall bei Plato explodiert" (KSA, NF, 11, 56). In der Gegenüberstellung des
von Nietzsche hervorgehobenen Melierdialogs mit der Rede des Kallikles wird dies
deutlich: „Athener: [...] Wissen wir doch beide nur zu gut, daß es bei Verhandlungen
unter Menschen nur dann Gerechtigkeit gibt, wenn beide unter dem gleichen Zwange
stehen, daß dagegen die Überlegenen unternehmen, was möglich ist, und die Schwa-
chen es ihnen zugestehen" (Thukydides, V, 89) und „[...] Athener: Wir glauben, daß
bei den Göttern vermutlich, ganz sicher aber bei den Menschen, überall aus einem
Zwange der Natur heraus der Mächtige über das gebietet, dessen er Herr wird. Dieses
Gesetz haben wir nicht gegeben, auch nicht als erste angewandt; wir wenden nur das
vorgefundene an und hinterlassen es als ein künftiges für ewige Zeiten, wohl wissend,
daß auch ihr und andere, wenn sie zu derselben Macht kommen sollten wie wir, wohl
das gleiche tun würden" (Thukydides, V, 105).5 Bei Piaton steht: „Die Natur dagegen,
glaube ich, beweist selbst, daß es gerecht ist, wenn der Bessere mehr hat als der Gerin-
gere, der Stärkere mehr als der Schwächere. Vielerorts zeigt sich uns, daß das so ist, bei
den Tieren und bei den Menschen, in ganzen Städten und Geschlechtern, daß es das
erklärte Recht ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrscht und mehr hat als
Thukydides, V, 89, 105, Übertragung August Horneffer, Bremen 1957, 459, 463.
226 Ole Schütza
dieser. Mit welchem anderen Recht als dem der Natur ist Xerxes gegen Griechenland
gezogen oder sein Vater gegen die Skythen? [...] Ich glaube aber, diese Menschen han-
deln der Natur des Gerechten gemäß und bei Zeus, führwahr auch gemäß dem Gesetz
der Natur, wenn auch vielleicht nicht nach jenem, das wir willkürlich aufstellen. Wir
nehmen ja die Besten und Stärksten unter uns von der Jugend an heraus und wollen sie
[...] untertänig machen, indem wir ihnen sagen, es müsse Gleichheit herrschen, und das
sei eben das Schöne und das Gerechte" (Piaton, Gorgias, 483c-484a).6
Wie gleichen sich die Argumente: das ewige Recht der Natur, dass der Stärkere über
den Schwächeren zu herrschen habe. Während Kallikles seinem Dialogpartner Sokrates
schon bald keine inhaltlichen Argumente mehr entgegenzusetzen hatte, so ließ das
Scheitern des athenischen Machtanspruchs noch zwölf Jahre auf sich warten.
Wenn im Melierdialog keine Namen genannt sind, sondern nur die Athener und Me-
lier als Gruppen reden, so kaschiert dies nicht den Urheber der Worte der Athener. Die
Historiker stimmen darin überein, dass Alkibiades selbst zu Worte kommt oder andere
mit ihrer Rede ihm willfahren.7 Es ist der imperialistische Geist der von Alkibiades
geführten Kriegspartei Athens, die sich expressis verbis auf das Recht des Stärkeren
beruft. Hier wird die Fähigkeit Thukydides' vom Besonderen auf das Allgemeine zu
schließen, erneut deutlich, wenn er trotz möglicher besonderer Namensnennung des
einen Dialogpartners schlicht und allgemein von den Athenern spricht, deren zeitgenös-
sischen Majoritätswillen der eine Athener verkörperte.
Nietzsche stellt im Hinblick auf den zitierten Melierdialog fest: „Die Gerechtigkeit
nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides [...]
richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf
zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu ver-
ständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tau-
sches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit" (KSA, MA I, 2, 89).
Zurück zum Vergleich des antiken Historikers mit dem antiken Philosophen. Was
und wen Piaton auch scharf verurteilt, von Thukydides als Historiker wird Realität zu-
nächst lediglich dargestellt. Doch Thukydides urteilt auch. Bei ihm handelt es sich je-
doch weniger um Verurteilungen als um Beurteilungen. Er skizziert die Genese der
athenischen Krankheit, die Wurzeln der Selbstüberschätzung, der Hybris, und den Ver-
lust von Sophrosyne, der Bedachtsamkeit und dem Wohlberatensein, und folglich, mo-
dern formuliert, den Verlust vernunftgemäßen Handelns. Thukydides hat es vermocht
durch den Wechsel zwischen einfacher Darstellung, verhaltener Bewertung und Reden
bzw. Dialogen, die moralische Entwicklung Athens nachzuzeichnen. Durch die Schilde-
rung der Abfolge der Ereignisse wird er größtenteils der Notwendigkeit einer eigenen
6
Piaton, Die großen Dialoge, übertragen von Rudolf Rufener, München 1991.
7
Vgl. Fritz Taeger, Alkibiades, Stuttgart 1925, 61 ff, Jean Hatzfeld, Alcibiade, Paris 1951, 124f.
Schlüssig ist diese Ansicht insbesondere, da in Thuk. V, 84 Alkibiades als einziger Befehlshaber
der Gesamt-Expedition genannt wird und Bengtson in seinem Vortrag Zu den strategischen Kon-
zeptionen des Alkibiades dezidiert die Ansicht vertritt, Thukydides habe auch Alkibiades persönlich
befragt, um die Quellenbasis für sein Geschichtswerk zu erweitern, da allein dieser ihm militärische
Details über die athenische Strategie auf Sizilien darlegen haben konnte, die Thukydides in seinem
Werk breit erörterte.
Nietzsche und Thukydides 227
Stellungnahme enthoben, da er die Ereignisse für sich sprechen lässt, besonders durch
deren exemplarische Auswahl.
Die Reden der in Sparta versammelten Abgesandten der rivalisierenden Poleis analy-
sieren sowohl die Situation vor dem Beginn des Krieges als auch zwei allgemein-
menschliche Phänomene. Die Korinther über die Athener und Spartaner: „Sie sind die
ewigen Neuerer, rasch im Planen und der Ausführung dessen, was sie erkannt haben;
ihr aber (begnügt euch), das Bestehende zu wahren [...] Ferner sind sie über ihre Macht
hinaus wagemutig, wider alle Vernunft draufgängerisch, auch in Gefahren voller Zuver-
sicht; eure Art dagegen ist es weniger zu leisten, als in eurer Macht stünde [...] Und
weiter: sie sind tatkräftig, ihr seid Zauderer, sie schweifen in der Ferne, ihr hockt zu
Hause. Sie glauben nämlich, in der Ferne etwas zu gewinnen, ihr, durch ein Unterneh-
men auch das Bestehende zu gefährden [...] Haben sie etwas ins Auge gefasst, aber
nicht erreicht, glauben sie, ihres Eigentums beraubt zu sein, haben sie etwas im Sturm
gewonnen, es sei ihnen nur wenig im Vergleich zu ihren künftigen Taten geglückt [...]
Wenn daher jemand zusammenfassend behauptete, sie seien dazu geschaffen, weder
selbst Ruhe zu halten noch die anderen Menschen in Ruhe zu lassen, so hätte er voll-
kommen recht" (Thukydides, I, 70). Mit je einem Wort werden die Athener durch po-
lypragmosyne (Vielgeschäftigkeit), die Spartaner durch sophrosyne (Besonnenheit)
charakterisiert. Den Athenern legt Thukydides folgende Worte als Erwiderung in den
Mund: „So haben auch wir nichts verwunderliches getan, nichts wider menschliche
Natur, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen,
von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben
auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere
vom Mächtigeren niedergehalten wird; und wir glaubten, der Herrschaft wert zu sein,
auch in euren Augen bis ihr jetzt, auf euren Vorteil bedacht, von Gerechtigkeit redet;
die hat noch nie jemand, wenn sich Gelegenheit zum gewaltsamen Erwerb bot, höher
-
Dazu: Antonios Rengakos, Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Thukydides,
Stuttgart 1984, 13 f.
228 Ole Schütza
Weiterung zur See die einzige langfristige Strategie der athenischen Kriegspartei sein
konnte, um den Hauptrivalen zu zermürben. Es lässt sich hinzufügen, dass ein sich in
seiner Machtfülle bedroht sehendes Imperium nach Kräften die Expansion der eigenen
Einflusssphäre forciert. Gestern wie heute.
Als Philosoph betrachtet Nietzsche die thukydideischen Schilderungen über ihre his-
torische Faktizität hinaus; sie gewinnen zeitlose Deutungen der menschlichen Hand-
lungsweise. Nicht, dass dieses nicht auch von Thukydides intendiert war, doch sein
Anspruch als Historiker umfasste beides: eine wahrheitsgemäße Schilderung der histo-
rischen Ereignisse und die Psychogenese menschlichen Handelns. Der Mensch handele
in gegebenen Situationen gemäß seinen von Natur aus bestehenden Veranlagungen, zu
denen auch der Machttrieb gehöre, den Schwächeren zu unterdrücken.
Nicht allein das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, Gerechtigkeit und dem Recht
des Stärkeren zwischen den Staaten findet das gemeinsames Interesse von Thukydides
und Nietzsche. Das Allgemein-Menschliche findet sich auch in anderen Situationen
wieder. So in der Situation des Bürgerkrieges, wenn Recht und Ordnung in einer Polis
außer kraft sind und Nachbarn und Verwandte sich gegenseitig an Eigentum, Leib und
Leben zu schaffen machen.
Thukydides schildert (III, 69-81,) die Ereignisse eines Bürgerkrieges der Kerkyraier.
Daran schließt sich die als ,Pathologie des Krieges bekannt gewordene Passage an, in
'
der er auf die allgemeine Bedeutung des soeben angeführten zu sprechen kommt. Die
Ereignisse auf Kerkyra sind ihm ein Beispiel und Muster für die später in ganz Hellas in
Zwiespalt geratenen Poleis und das menschliche Verhalten in der Situation des Bürger-
kriegs: „Und bei solcher Zwietracht brach viel Schweres über die Städte herein, wie es
nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt,
manchmal heftiger, manchmal ruhiger (erschien es) und immer verschieden in den Er-
scheinungsformen, wie es eben die Wechselfalle der Ereignisse mit sich bringen; denn
in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil
sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten des
täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der
Menge den Gegebenheiten des Augenblicks an" (Thukydides, III, 82 [2]).
Im Sommer 1875 erkannte Nietzsche das zur selben Pathologie gehörende Kap. III,
84 als echt thukydideisch. Bereits in der Antike war es von Philologen als fremde Inter-
polation angesehen worden. Heute ist sich die Forschung weitgehend darüber einig,
dass es sich um eine, aus einer früheren Bearbeitungsphase unverändert gebliebene,
Passage des Thukydides handelt. Der die menschliche Natur analysierende Passus dar-
aus lautet: „Weil das Leben in der Stadt bis zu diesem Grad in Verwirrung geriet, ließ
die menschliche Natur erkennen, dass sie stärker geworden war als die Gesetze und
dass sie ohnehin gewohnt, gegen die Gesetze Unrecht zu tun sich daran noch freute:
unfähig, den Zorn zu beherrschen, machtvoller als das Rechtmäßige, feindselig gegen-
- -
über dem Hervorragenden. Sie hätten sonst nicht den Rechtspflichten die Rachsucht
vorgezogen und der Vermeidung des Unrechts nicht die Selbstbereicherung, wodurch
das Neidgefühl nicht seine verderbliche Wirkung gehabt hätte [...] Die Menschen zie-
hen es eben vor, die auch bei solchen Zuständen allgemein anerkannten Normen (näm-
lich Mitleid und Schonung), auf die sich für alle die Hoffnung gründet, im Falle der
Nietzsche und Thukydides 229
deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt" (Thukydides, II, 37). Diese
Passage widerlegt Nietzsches Vermutung einer göttlichen Herkunft der Nomoi in Thu-
kydides' Weltbild. Thukydides ist hier aufgeklärter als Nietzsche. Zugleich zeichnet die
Perikles von Thukydides in den Mund gelegte Rede ein Bild der athenischen Verfas-
sung und Gesellschaft, ihrer Werte und Normen zu Beginn des Krieges. Wenn Thuky-
dides auch schönfärbert und die Verhältnisse idealisiert darstellt, ist diese Überzeich-
nung philosophisch gesehen korrekt, da ein Bild der in Friedenszeiten herrschenden
zwischenmenschlichen Harmonie und der Gerechtigkeit der Ordnung entworfen wird,
um dieses später mit den durch den Krieg schlechter werdenden allgemein-mensch-
lichen Verhältnissen zu kontrastieren. Wenn Thukydides in der Schilderung des Beson-
deren historische Genauigkeit verlässt, dann nur, um seinen Lesern das Allgemeine,
auch im aristotelischen Sinne, aufzuzeigen.
Konstantin Broese
1. Einleitung
Der Begriff ,Aufklärung' schließt für Nietzsche antike Aufklärung mit ein.1 Dass für
ihn im Anschluss an Arthur Schopenhauer und Friedrich Albert Lange im Kontext anti-
ker Aufklärung Epikur von herausragender Bedeutung ist, ist mittlerweile bekannt,2
genauso wie die Tatsache, dass „Epikur und epikureisches Gedankengut [...] in Nietz-
sches Schriften so oft und so vieldeutig eingeflochten [sind], daß sie einer besonderen
[...] Interpretation bedürfen".3 Weniger bekannt ist, dass für Nietzsche die antike Auf-
klärung auch in Gestalt Demokrits von großer Bedeutung ist und dass er sich während
seiner, bisher erst unzureichend erforschten, Leipziger Studienzeit intensiv mit Demo-
krit als dem mit Abstand wichtigsten Vertreter antiker Aufklärung auseinandersetzt und
dabei zu Einsichten gelangt, die für seine Erkenntniskritik wegweisend sind.4 Im fol-
genden wird diese Auseinandersetzung Nietzsches unter besonderer Beachtung seiner
Lange-Rezeption eingehend analysiert.
Dazu: Henning Ottmann, „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung", in: Josef
Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 2, Würzburg 1985, 13.
Vgl. ders., „Nietzsches Stellung", 13-17; Fritz Bornmann, „Nietzsches Epikur", in: Nietzsche-
StudienBd. 13 (1984), 177-188.
Fritz Bornmann, „Nietzsches Epikur", 178.
Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Demokrit im Kontext seiner Leipziger Studienzeit: Hans
Gerald Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, Studien zur systematischen Bedeu-
tung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik, Habilitations-
schrift, Humboldt-Universität zu Berlin, 2001, 287-298; James I. Porter, Nietzsche and the Phi-
lology of the Future, Stanford 2000, 32-126.
232 Konstantin Broese
5
Hierzu mein Aufsatz „Nietzsches Verhältnis zur antiken und modernen Aufklärung Aspekte
ihrer Aneignung und Radikalisierung durch den frühen Nietzsche im Lichte unveröffentlichter
-
Manuskripte", in: Renate Reschke (Hg.), Friedrich Nietzsche Radikalaufklärer oder radikaler
Gegenaufklärer?, Nietzscheforschung, Sonderband 2, Berlin 2004, 231 f.
-
6
7
Vgl. ebd., 234-238.
Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Ge-
genwart, Iserlohn 1866. Auf die fundamentale Bedeutung der Position Langes in der Geschichte
des Materialismus für Nietzsche verweist Jörg Salaquarda in wegweisenden Studien: „Nietzsche
und Lange", in: Nietzsche-Studien Bd. 7 (1978), 236-260; ders., „Der Standpunkt des Ideals bei
Lange und Nietzsche", in: Studi Tedeschi, XXII, Napoli 1979; ders., „Das wahre Selbst über
Dir", in: Eugen Biser (Hg.), Besieger Gottes und des Nichts, Nietzsches fortdauernde Provokati-
on, Düsseldorf 1982, v. a. 30-39; ders., „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie", in:
Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Über Friedrich Nietzsche, Eine Einführung in sein Denken,
Frankfurt/M. 1985, 27-61; George J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1983.
8
9
Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 250.
Ebd. 237.
10
11
Vgl. ebd., 233-278 u. 481-500.
Ebd., 556.
12
Ebd., 541.
13
Ebd., V u. VII.
14
Ebd.,V.
15
Ebd., 268.
16
Lange bezeichnet in der ersten Auflage seiner Geschichte des Materialismus diese Auffassung
noch nicht als .Standpunkt des Ideals'. Dies wird von Salaquarda übersehen, wenn er schreibt,
dass der Leipziger Nietzsche den „Standpunkt des Ideals" aus dem letzten Kapitel der Geschich-
te des Materialismus entnehme (Ders., „Der Standpunkt des Ideals", 139f.). Folgt man Salaquar-
Nietzsche und die antike Aufklärung 233
Lange sowohl den Idealismus als auch den Materialismus, insoweit sie dogmatisch sind,
d. h. insoweit ersterer auf der Basis rein begrifflicher Erkenntnis17 und letzterer auf der
Basis seines „naiven Glauben[s]"18 an die „scheinbare Objektivität der Sinneserschei-
nungen"19 bestrebt ist, eine „Gesamtanschauung des Weltganzen"20 mit Anspruch auf
allgemeingültige Wahrheit zu entwerfen.21
Nietzsche erwirbt die 1. Auflage der Geschichte des Materialismus im August 1866
und arbeitet sie sehr schnell durch.22 Bereits kurz nach Beginn seiner Lektüre steht für
ihn dessen herausragende Bedeutung fest;23 zugleich greift er zustimmend Langes ent-
schiedene Radikalisierung der Erkenntniskritik Kants auf24 Darüber hinaus geht er mit
ihm davon aus, dass es unverzichtbar und sinnvoll sei, erkenntnisleitende und sinnstif-
tende Ideen zu entwerfen, die im Einklang mit der radikalen Erkenntniskritik stehen
bzw. nur als ,Begriffsdichtung' gelten. Wie Lange depotenziert der Leipziger Nietz-
sche vor diesem Hintergrund sowohl den Materialismus als auch den Idealismus als
,Begriffsdichtang', insoweit sie ein philosophisches Modell von der Welt im Ganzen
mit Anspruch auf (allgemeingültige) Wahrheit entwerfen.25 Letzteres geht zum einen
aus seiner Beschäftigung mit Demokrits Atomismus, zum anderen aus seiner kritischen
Auseinandersetzung mit Schopenhauers Metaphysik hervor.26
das Darlegungen in Nietzsche und Lange (239ff.), kann Nietzsche auf diesen erst 1887 gestoßen
sein, alser die vierte Auflage der Geschichte des Materialismus von 1882 bzw. 1887 erwirbt.
(Vgl. Hans Gerald Hödl Der letzte Jünger, 359, Anm. 1313). Gleichwohl ist festzuhalten, dass
Lange wesentliche Punkte dessen, was er in späteren Auflagen seiner Geschichte des Materia-
lismus .Standpunkt des Ideals' nennt, bereits in der 1. Auflage darlegt (Geschichte des Materia-
lismus, 545-557).
17
18
Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 346f.
Ebd., 483.
19
Ebd., 345.
20
Ebd., 60.
21
In der Geschichte des Materialismus kritisiert Lange am Materialismus die ihm eigene „ge-
müthlichef...] Zufriedenheit mit der Erscheinungswelt" (345) bzw. der sinnlich gegebenen Welt.
Dadurch ist er aus seiner Sicht „conservativ" (346) bzw. behindert den Fortschritt der Erkennt-
nis.
22
23
Vgl. Jörg Salaqurada, „Nietzsche und Lange", 236f.
24
Vgl. KGB 1/2, 184 (Brief an seinen Freund Mushacke, November 1866).
5
Vgl. KGB 1/2, 159f. (Brief an seinen Freund Gersdorff, August 1866).
Wie Lange kritisiert Nietzsche während seiner Leipziger Studienzeit am Materialismus die .Zu-
friedenheit mit der sinnlichen Welt' bzw. die Tatsache, dass er das „conservativef ] Element in
der Wissenschaft" ( KGW, NF, I, 4, 394) darstelle.
26
Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik Schopenhauers: KGW, NF, I, 4, 418—
427.
234 Konstantin Broese
:
Dazu: Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 311. Der Imperativ lautet: „Diese
Welt unsrer Vorstellungen, unsrer Interessen, unsrer Forschungen, ist unsre gegebene Welt. Be-
gnüge dich mit derselben! Nichts Absolutes können wir uns vorstellen" (391).
28
Ebd., 345.
29
Ebd., 554f.
30
31
Vgl. ebd., 402.
Dazu seine Bemerkung: „.Begnüge dich mit der gegeben[en] Welt' ist der sittliche Kanon, den
der Materialismus erzeugt hat" (KGW, NF, I, 4, 394).
2
Hier ist zu betonen, dass nach Lange und Nietzsche bei aller Wertschätzung der Erkenntnisse der
Materialisten dem transzendentalistisch-idealistischen Standpunkt Priorität zukommt ( Vgl. Jörg
33
Salaquarda, „Nietzsches Kritik", 37ff.).
Ebd., 68.
34
Ebd. 33.
35
36
Vgl. ebd. 44.
Ebd., 8.
37
Ebd., 67.
38
Vgl. ebd., 4f.
Nietzsche und die antike Aufklärung 235
grossartigen Zuge beseitigt"39 und das System entworfen habe, mit dem sich im abend-
ländischen Denken der Übergang vom Mythos zum Logos vollzogen habe. Da er nach
Lange als erster einen der Aufklärung bzw. der kritischen Rationalität verpflichteten
Standpunkt bezieht und somit der ,erste'40 ist, der von der ,Gesetzmässigkeit und
Nothwendigkeit des Weltganges' ausgeht, lässt er sich als Urahn heutiger experimen-
teller Naturwissenschaften bezeichnen.41 Letzteres zeigt für Lange seine Modernität
an.42
Besonderes Augenmerk im Hinblick auf Demokrits Atomtheorie richtet Lange auf
dessen, jede mythisch-religiöse Bezugnahme vermeidende, Erklärung der Entstehung der
Welt durch eine Wirbelbewegung der Atome43 sowie auf die Auffassung von der Entste-
hung der Sprache: dass Sprache dem Menschen nicht „von Natur" gegeben, sondern ein
Produkt menschlichen Übereinkommens sei.44 Demokrits Ethik erwähnt Lange nur bei-
läufig; sie sei eine Vorform der Ethik Epikurs, eine „mannhaftere Form der späteren
Hedonik".45
Bezeichnend ist für Lange, dass Demokrit aufgrund seines erkenntniskritisch-
aufklärerischen, besonders wegen seines antiteleologischen Standpunktes bereits beim
tiefsinnigen spekulativen Dichter'46 Piaton auf Ablehnung gestoßen ist. In diesem
Zusammenhang verweist er im impliziten Anschluss an die Demokrit-Darstellung bei
Diogenes Laertius auf die von Aristoxenus überlieferte „Sage, dass Plato in fanati-
schem Eifer alle Werke des Demokrit habe aufkaufen und verbrennen wollen".47 Diese
entschiedene Ablehnung findet sich nach Langes Auffassung bei Aristoteles wieder
und reicht über das vom Christentum geprägte Mittelalter, in dem ein „schwerer Schat-
ten" auf den gesamten Materialismus gefallen sei und für das Demokrit sowie Epikur
das schroffe „Gegenbild der christlichen Anschauung"48 darstellten, bis in unsere Tage,
wie die Philosophiegeschichte von Heimich Ritter zeige.49 Lange versteht seine ent-
schiedene Bezugnahme auf den Materialismus Demokrits (wie auf den Materialismus
überhaupt) und sein aufklärerisch-kritisches Potential als dessen Rehabilitation. Des-
halb stellt er am Ende des ersten Abschnittes rückblickend fest: „Es handelte sich dar-
um zu zeigen, wie mit dem Materialismus nicht die geistige Nacht hereinbrach", son-
dern eine „Fülle von Licht" 50, d. h. Aufklärung. Im übrigen ist aus der Sicht Langes
festzuhalten, dass das materialistische System Demokrits, so sehr es der Aufklärung
und kritischen Rationalität verpflichtet ist, wie jedes materialistische System an einem
39
Ebd., 68.
40
41
Vgl. ebd., 33.
42
Vgl. ebd., 33, 67f.
Ders., ebd., 67f.
43
44
Vgl. ebd. 8.
Ders., ebd., 15, 28ff.
45
Ders., ebd. 9.
46
47
Vgl. ebd. 66.
Ders., ebd., 12. Vgl. Diog. Laert. IX, 40.
48
Ebd., 80.
49
In diesem Sinne stellt er fest: „In neuerer Zeit hat Ritter in seiner Geschichte der Philosophie ein
volles Gewicht antimaterialistischen Grolles auf Demokrits Andenken gehäuft [...]" (ebd., 12).
50
Ebd., 64.
236 Konstantin Broese
bestimmten Punkt in Dogmatismus umschlägt, insofern auch für dieses der ,,naive[...]
Glaube[...] an die Sinnenwelt"51 und eine auf dieser Grundlage stehende philosophi-
sche „Gesamtanschauung des Weltganzen"52 mit Wahrheitsanspruch charakteristisch
ist.53
Nietzsches Aufzeichnungen und Entwürfe zu Demokrit in seiner Leipziger Studien-
zeit stehen im Zusammenhang mit seiner Absicht, eine Demokrit-Abhandlung zu
schreiben.54 Die hier in Rede stehenden Aufzeichnungen und Entwürfe sind zunächst
philologischer Art und erwachsen aus seiner Beschäftigung mit Diogenes Laertius.55
Wichtige Anregungen für seine philologische Beschäftigung mit Demokrit erhält Nietz-
sche vor allem zu Beginn durch seine Lektüre der Arbeiten von Valentin Rose.56
Von entscheidender Bedeutung für den vorliegenden Aufsatz ist die von Barbara von
Reibnitz festgestellte Tatsache, dass sich ,,[i]n das philologische Interesse [Nietzsches
an Demokrit, K. B.] [...] sehr bald das philosophische" „mischt[ ]"57, dass hierbei
Nietzsches Lektüre der Geschichte des Materialismus von Lange eine Schlüsselstellung
zukommt.58 Diese und die der Lektüre Demokrits wird daran deutlich, dass Nietzsche in
einem Brief an den Freund Carl von Gersdorff (16. 2. 1868) die Absicht äußert, Lange
seine geplante „Demokritabhandlung als Zeichen meiner Dankbarkeit [zu] schicken"
(KGB I, 2, 258) und im Leukipp und Demokrit gewidmeten §15 der Baseler Vorle-
sungsaufzeichnungen zu den „vorplatonischen Philosophen" ausdrücklich auf Langes
Geschichte des Materialismus verweist (vgl. KGW II, 4, 335).59 Dem angesprochenen
Interesse Nietzsches an Demokrit, wie es sich in seinen nachgelassenen Manuskripten
51
Ebd., 483.
52
Ders., ebd., 60.
3
Es liegt auf der Hand, dass Lange mit dieser Auffassung Demokrit nicht gerecht wird, wenn man
dessen grundsätzlichen Zweifel am Wahrheitsgehalt jeder sinnlichen Wahrnehmung beachtet
und den sich in diesem Zweifel andeuteten Skeptizismus berücksichtigt.
54
Die Abhandlung kommt nicht zustande. Wie aus einem Brief an Erwin Rohde vom 3. 11. 1867
und einigen Notizen hervorgeht, verfolgt Nietzsche eine Zeitlang die Absicht, aus der geplanten
Demokrit-Abhandlung einen Beitrag für eine geplante, jedoch nicht realisierte Festschrift zu Eh-
ren seines Lehrers Friedrich W. Ritschi zu machen (vgl. KGB I, 2, 232; KGW, NF, I, 4,466,
5
537).
Zu Nietzsches Laertius-Studien: Marcello Gigante, „Friedrich Nietzsche und Diogenes Laertius",
in: Tilman Borsche/Federico Gerrantana/Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten ". Wissen-
„
schaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, 3-16; Jonathan Bar-
nes, „Nietzsche and Diogenes Laertius", in: Nietzsche-Studien Bd. 15 (1986), 16-40.
56
7
Vgl. James I. Porter, Nietzsche and the Philology, 32-81.
Vgl. Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik" (Kap. 1-12), Stuttgart/Weimar 1992, 21.
58
Vgl. dies., ebd., 21f. Außerdem: Paolo DTorio, „L'image des philosophes préplatoniciens chez le
jeune Nietzsche", in: Tilman Borsche/Federico Gerrantana/Aldo Venturelli (Hg.), „Centauren-
Geburten". Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 384; James I. Porter,
Nietzsche and the Philology, 32-62 u. 82-126; Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 287-294.
59
Nietzsches Darstellung Demokrits, außer in PHG, ist stark an seinen Leipziger Studien zu De-
mokrit orientiert (dazu Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 291, Anm. 1024).
Nietzsche und die antike Aufklärung 237
In Langes Reflexion auf die Ethik deutet sich die Auffassung zwar an, doch geht Nietzsche weit
über sie hinaus und zugleich an Demokrit vorbei; andererseits macht er mit ihr auf etwas auf-
merksam, was die neuere Demokritforschung (im Anschluss an Paul Natorp und G. Vlastos) be-
tont, dass ein enger Zusammenhang zwischen seiner Atomlehre und den ethischen Schriften be-
steht.
Sie ist nach Epikur durch Seelenruhe und körperliche Schmerzlosigkeit konkret bestimmt, wobei
festzuhalten ist, dass der Mensch durch die Befreiung von der Götterfurcht, dem Tod bzw. allem
Ungewissen zur Seelenruhe geführt werden soll.
Nietzsche geht im Anschluss an seine Lektüre des Holbach-Kapitels der Geschichte des Materia-
lismus von Lange davon aus, dass ,,[a]lle Materialisten glauben daß der Mensch unglücklich sei,
weil er die Natur nicht kenne" (KGW, NF, I, 4, 386).
Ein wichtiger Bezugspunkt des von Nietzsche akzentuierten aufklärerischen Potentials der Ethik
Demokrits im Ausgang von Epikurs Ethik ist wiederum Lange, insofern dieser im ersten Ab-
schnitt seiner Geschichte des Materialismus herausstellt, dass die „Befreiung [...] der Nerv des
epikureischen Systèmes" (37) sei.
Hans Gerald Hödl macht deutlich, dass in der Feststellung Nietzsches später gern angewandte
Typologie nach Reinlichkeit, Sauberkeit, gutem Geruch anklingt (vgl. Der letzte Jünger, 292).
Nietzsche und die antike Aufklärung 239
504) zeigt. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche, anders als Lange, auch die Gegnerschaft
von Demokrit und Sokrates betont (vgl. ebd., 399, 483).68 Hier wird deutlich, dass er
bereits in seiner Studienzeit Sokrates besondere Aufmerksamkeit schenkt und der nega-
tive Aspekt seines späteren Sokrates-Bildes schon vorhanden ist.
Im übrigen stellt Nietzsche deutlicher als Lange die Gegnerschaft zwischen Demokrit
und Sokrates bzw. Piaton heraus, indem er auf deren unterschiedliche Einschätzung der
Teleologie verweist. Die Wurzel dieses Gegensatzes liegt aus seiner Sicht darin, dass
Sokrates und Piaton ein Ideologisches, d. h. theologisch-anthropomorphes Weltbild
vertreten, während Demokrit ein der Aufklärung verpflichtetes antiteleologisches, ein
alle theologisch-anthropomorphen Bezüge negierendes Weltbild entwirft (vgl. ebd.).
Ähnlich wie Lange prangert er die Ablehnung Demokrits und Epikurs durch das als
Gegenaufklärung schlechthin verstandene Christentum an, wobei er darauf abhebt, dass
dem Christentum beide „als das inkarnirte Heidenthum erscheinen" (ebd., 505) und es
diesem gelungen sei, „den energischen Plan Piatos" zur Verbrennung der Schriften
Demokrits „durchzuführen" (ebd., 504);69 in der späten Realisierung des Plans Piatons
durch das Christentum sieht Nietzsche die „größte Bosheit des Supranaturalismus"
(ebd., 461). Es wird deutlich, wie tiefgehend Nietzsches Distanz zum Christentum in
seiner Leipziger Studienzeit ist.70
Für Nietzsche kommt es im Rahmen seines erkenntniskritischen Ansatzes mit Lange
darauf an, sich gegen die seit der Antike festzustellende Verachtung des antiken Materia-
lismus bzw. der antiken Aufklärung zu wenden und diesen zu rehabilitieren. Im Mittel-
punkt steht dabei für ihn, stärker als bei Lange, Demokrit als Märtyrer der Wissen-
,
schaft' (vgl. ebd., 403) bzw. der Aufklärung: „Wir sind Demokrit noch viele Todtenopfer
schuldig, um nur einigermaßen wieder gut zu machen, was die Vergangenheit an ihm
verschuldet hat" (ebd., 504).
Im übrigen ist festzuhalten, dass für Nietzsche ähnlich wie für Lange das materialis-
tische System Demokrits zwar in hohem Maße der kritischen Rationalität bzw. der Auf-
klärung verpflichtet ist, jedoch in Dogmatismus umschlägt, wo es dem naiven Realis-
mus verfallt und ein philosophisches Weltmodell mit Anspruch auf letzte Wahrheit
entwirft. So wendet sich Nietzsche gegen Demokrits Gleichsetzung von Materie und
Ding an sich (vgl. ebd., 381), wie er unter Zuhilfenahme Kantischer Termini sagt, und
gegen dessen Glauben (vgl. ebd., 413), dass „das Räthsel der Welt gelöst" (ebd., 416)
zu haben und „die letzte Erkenntniß erreicht" (ebd., 413) sei. Insofern Demokrit aus der
Sicht Nietzsches diesen Glauben vertritt, ist er für ihn im Anschluss an Lange nur ein
großartiger Poet' (vgl. ebd., 379f), jemand, für den ein „dichterische[r] Schwu[n]g"
Lange verweist im ersten Abschnitt seiner Geschichte des Materialismus nur darauf, dass „Soc-
rates eine spiritualistische Richtung" (22) anbahnt, die „mannichfach modificirt, in den Syste-
men des Plato und Aristoteles das folgende Jahrhundert beherrscht" (22).
Im selben Manuskript heißt es mit Blick auf Demokrit, dass die „Theologen und Metaphysiker
[...] auf seinen Namen ihren eingewurzelten Groll gegen den Materialismus gehäuft" (KGW,
NF, I, 4, 504) haben. Damit greift Nietzsche Langes Bemerkung zu Ritter auf. (Vgl. Hans Gerald
Hödl, Der letzte Jünger, 290).
Dazu Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 293.
240 Konstantin Broese
(ebd., 414) „auffällig" (ebd.) ist.71 Im übrigen stellt Nietzsche wesentlich stärker als
Lange die Kehrseite der kritischen Rationalität Demokrits heraus, indem er feststellt,
dass sich diesem in seinem unbedingten Vertrauen zu der Schlusskraft der ratio (ebd.,
414) bzw. in seinem Glauben an die Unbegrenztheit rationaler Erkenntnis (ebd.) die
„tieferen Probleme" (ebd., 413) verbergen, so dass er „mit dem Aufbau der Welt u. der
Ethik zu schnell fertig" (ebd.) werde. Diese Charakterisierung Demokrits als eines ein-
gefleischten Rationalisten' (ebd., 462) bezieht Nietzsche in seiner Baseler Zeit primär
nicht auf diesen, sondern auf Sokrates.
Zusammenfassend, auch auf die Gefahr der Wiederholung, ist festzuhalten: Auf dem
Hintergrund der dargestellten Zusammenhänge wird deutlich, dass sich Nietzsche in
seiner Leipziger Studienzeit im Anschluss an Lange das erkenntniskritisch-
aufklärerische Potential des Materialismus Demokrits erschließt bzw. aneignet und sich
zugleich von dessen dogmatischen Zügen löst. Nietzsches Aneignung dieses Potentials
ist für seine spätere Erkenntniskritik wegweisend; es enthält bereits viele ihrer zentralen
Elemente, die Ablehnung einer metaphysischen Hinterwelt, die Befreiung von allen
mythisch-transzendenten Instanzen, die Akzentuierung der strengen naturwissenschaft-
lichen Methodik sowie das Insistieren auf einem strikt antiteleologische Standpunkt.
Hier ist anzumerken, dass Nietzsche in einem früheren Manuskript aus der Leipziger Studienzeit
(im Gegensatz zu Lange) den skeptizistischen Aspekt in Demokrits System akzentuiert. Im Ma-
nuskript heißt: „Man möge doch in Demokrit nicht den Idealisten verkennen. Sein Hauptsatz
bleibt ,das Ding an sich ist unerkennbar' u. das trennt ihn von allen Realisten auf immer"
(KGW, NF, I, 4, 222). An anderer Stelle des Manuskripts steht unter Bezugnahme auf die Dar-
stellung Epikurs bei Cicero bzw. diejenige Demokrits bei Sextus Empiricus: „Die Sinne lehren
nach Epikur durchaus die Wahrheit [...]. Nach Demokrit erkennen wir die Wahrheit überhaupt
nicht" (ebd., 222). Auf diesen Aspekt kommt Nietzsche in seinen späteren Aufzeichnungen
(wahrscheinlich unter dem sich verstärkenden Einfluss Langes) nicht mehr zurück.
Christian Wollek
1. Einleitung
Auf den ersten Blick scheint die Zusammenstellung von Nietzsche und Sokrates nur
die wiederholte Aufnahme von etwas zur Genüge Bekanntem zu sein: Jeder, der sich
mit Nietzsche beschäftigt, weiß um die schwierige, von Polemik und Kritik gekenn-
zeichnete Beziehung Nietzsches zu Sokrates, die sich seit den Vorstudien zur Geburt
der Tragödie als roter Faden durch sein Werk zieht und ihren Gipfel in der Götzen-
dämmerung, in dem mit Das Problem des Sokrates überschriebenen Kapitel findet.
Auf der anderen Seite entspricht dem philosophischen Konsensus hinsichtlich der Be-
deutung von Sokrates für Nietzsche eine nur geringe Anzahl von Schriften, die sich
explizit mit diesem Verhältnis beschäftigen. Abgesehen von zahllosen Streiflichtern
und Verweisen in wissenschaftlichen Periodika und tendenziösen Werken wie von
Ernst Sandvoss,1 ist eigentlich nur die große Monographie von Hermann Josef Schmidt
zu nennen, die das Verhältnis von Nietzsche zu Sokrates durch sein Gesamtwerk hin-
durch verfolgt.2
So ist bereits die Ausgangslage zwielichtig: Bekanntheit und anerkannte Wichtig-
keit des Themas stehen in einem merkwürdig proportionierten Verhältnis zu Zahl und
Aktualität wissenschaftlicher Publikationen (Schmidts Monographie datiert 1969).
Dass es sich bei .Nietzsche und Sokrates' aber um ein Thema handelt, das einen Kö-
nigsweg für das Verständnis Nietzsches weist, zeigt sich in seiner lebenslangen Aus-
einandersetzung mit Sokrates: Wer so stark polemisiert wie er gegen Sokrates, ohne
sich dabei von seinem Gegner lösen zu können, macht sich, dies würde er selbst so
sehen, verdächtig, dass ihm insgeheim an der befehdeten Sache mehr oder anderes
liegt, als er zu sagen bereit oder fähig ist. Nietzsche als Aufklärer der Ressentiments,
als Entlarver der geheimen Gedanken des Piatonismus, des Christentums und der
Ernst Sandvoss, Sokrates und Nietzsche, Leiden 1966. Sandvoss spielt den idealistisch-platonischen
.guten' Sokrates gegen den atheistisch-kranken Nietzsche aus.
2
Hermann Josef Schmidt, Nietzsche und Sokrates, Meisenheim am Glan 1969. Schmidt vermag, bei
aller deskriptiven Genauigkeit, Sokrates nicht als Selbstprojektion Nietzsches zu fassen.
242 Christian Wollek
christlichen Moral ist bis auf wenige Momente auffällig blind für sein eigenes Verhält-
nis zu Sokrates.3 Anders ausgedrückt: Es könnte der interessante Fall eingetreten sein,
dass Nietzsche als Bekämpfer des Ressentiments par excellence selbst einem Ressen-
timent erlegen ist, dass das ,Problem des Sokrates' auf ein zentrales Problem Nietz-
sches selbst verweist.
Es deutet sich an, dass die Klärung seines Verhältnisses zu Sokrates eine vielleicht
philosophisch ungebührliche Verschiebung der Untersuchung von einem philosophi-
schen auf einen psychologischen Schwerpunkt erfordert. Auf jeden Fall soll Nietz-
sches Verhältnis zu Sokrates, so die These, wesentlich als projektives Verhältnis dar-
gestellt werden.4 Es soll gezeigt werden, wie sich die Auffassung von Sokrates als
Selbstprojektion Nietzsches im Frühwerk, namentlich in der Geburt der Tragödie,
fassen lässt und welche Bedeutung dieses Denken des Sokrates für das weitere Werk
Nietzsches hat.
Eine dieser Stellen findet sich Nachlass aus dem Sommer 1875: „Socrates, um es nur zu bekennen,
steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe" (KSA, NF, 8, 97).
4
Soweit ich sehe, ist Nietzsches Denken als projektiv, d. h. als Selbstdarstellung explizit nur von Ernst
Bertram gedeutet worden, in neuerer Zeit von Volker Gerhardt und Wiebrecht Ries (Ernst Bertram,
Nietzsche, Berlin 1919, 308-341; Volker Gerhardt, „Nietzsches Alter-Ego. Über die Wiederkehr des
Sokrates", in: Nietzscheforschung, Bd. 8 (2001), 315-333; bei Ries ist im weiteren Sinne von Projek-
tion die Rede (Wiebrecht. Ries, Nietzsche für Anfänger. Die Geburt der Tragödie, München 1999,
31).
5
Heraklit: „Ich erforschte mich selbst" (DK 22 B 101 ).
Nietzsche und das Problem des Sokrates 243
6
Nietzsches Fähigkeit zu „ursprünglichem Staunen" jenseits von „Schultraditionen" beschreibt
Volker Gerhardt in: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart
1988, 9.
„Will man sie [die Vorsokratiker, Ch. W.] als eine Art Prolog auffassen, dann sind sie der Prolog
der abendländischen Philosophie überhaupt. Es sind die Denker der Frühzeit, und ihre Philosophie
ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ebenso als Physik zu uns spricht, gesetzt freilich, man denkt
diesen Begriff aus dem Wesen der griechischen <j)oaiç heraus, wie als Theologie, gesetzt wieder-
um, wir denken den Ueoç griechisch. Wer über sie schreibt und dabei den Titel wählt,Kosmos und
Physik', hat ein Recht dazu [...], jedoch ist es nicht minder angemessen, ihre Gedanken zu deuten
unter dem Thema ,Die Theologie der frühen griechischen Denker'" (Emil Berg, Die Vorsokratiker.
Einleitung, Münster 1971, 6f.).
Ein Musterbeispiel für Nietzsches Art, .projektiv' zu denken, ist die frühe Abhandlung Die Philo-
sophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in der Nietzsche subjektive Portraits der .vorplatoni-
schen Philosophen' gibt. Dies gilt besonders für Parmenides und Heraklit, die hoch gelobt bzw.
verdammt werden. In der Geburt der Tragödie finden wir diese Portraits in der Darstellung des
Sokrates wieder.
244 Christian Wollek
Dazu: Olof Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, Bern 1947, 314.
Nietzsche und das Problem des Sokrates 245
abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch
der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf
solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier in
seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt
und endlich sich in den Schwanz beisst da bricht die neue Form der Erkenntnis durch,
die tragische Erkenntnis, die, um ertragen zu werden, als Schutz und Hilfsmittel die
-
Vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus, Berlin/Aschaffenburg 1994, Bd. 2, 307ff.
12
Dazu: Volker Gerhardt, „Nietzsches Alter-Ego. Über die Wiederkehr des Sokrates", 315-333.
246 Christian Wollek
rischen Apolloniertams.13 Sokrates als ,Typus' steht wesentlich für ,Distanz', das Still-
beiseite-Treten von den hergebrachten Meinungen, der durch seine Besonnenheit (Soph-
rosyne) und souveräne Selbstkontrolle die Menschen zutiefst beeindruckt.14 Besonnen-
heit, Bei-sich-Sein, Distanziertheit von herkömmlichen Meinungen, ein „versucherisches
Umherstreifen" auf dem Marktplatz der Meinungen und Überzeugungen15, dies sind
Charakteristika, die jene Periode von Nietzsches Werk auszeichnen, die man ,mittlere'
oder ,positivistische' zu nennen übereingekommen ist. So ist Menschliches, Allzu-
menschliches dem Rationalisten und Aufklärer Voltaire gewidmet, und man findet in den
Büchern dieser Periode immer wieder Metaphern der Distanz, des Vogelflugs, des Sich-
Besinnens und vor allem der (Selbst-) Aufklärung. Wird Sokrates hier namentlich auch
nur selten erwähnt (er gehört als Person zu Nietzsches ,überwundenen' metaphysisch-
antik-wagnerschen Frühphase) so ist er in Menschliches, Allzumenschliches, der Mor-
genröthe und Fröhlichen Wissenschaft als intellektueller Habitus allgegenwärtig. Nietz-
sche, dem es nicht gelang, als Gelehrter und ,alexandrinischer' Mensch den ,musiktrei-
benden Sokrates' zu verwirklichen, vollzieht mit Menschliches, Allzumenschliches eine
weltanschauliche Kehrtwende und wird, indem er sich, von seinem alten Glauben ent-
täuscht, jenem in der Geburt der Tragödie noch geschmähten, vernunftgläubigen Sokra-
tes zuwendet, zum ,positivistischen' Mörder seiner eigenen Tragödiemetaphysik.
auf die Geburt der Tragödie, in seinem späten Versuch einer Selbstkritik.
Das, was Nietzsche in den frühen 1870er Jahren nicht wagte zu tun, verwirklicht er
gut zehn Jahre später, in seiner dionysischen Weisheitsdichtung Also sprach Zarathustra.
Die Geburt der Tragödie, mit der Formel vom ,musiktreibenden Sokrates', war gewis-
sermaßen die Partitur zur noch zu schreibenden und inszenierenden Oper, deren Haupt-
motive lauten: ,tragische Weisheit' und ,Vereinigung von Wissenschaft und Kunst'.
„Mein Begriff ,dionysisch' wurde hier höchste Tat" schreibt Nietzsche im Ecce homo
über den Zarathustra (KSA, EH, 6, 343). Tragödien- und Verkündigungsbuch stehen
zueinander in einem Verhältnis von Programm und Ausführung, Ahnung und Verwirkli-
13
Sokrates wird oft mit Apollo in Verbindung gebracht (Apologie, 20e; Kriton, 43d, Phaidon, 58c).
14
Das dürfte auch für Nietzsche gelten, der über die Alkibiadesrede in Piatons Symposion bereits als
Schüler eine Arbeit verfasst hat (Friedrich Nietzsche, Über das Verhältnis der Rede des Alcibiades
zu den übrigen Reden des platonischen Symosions (1864), in: Ders., Frühe Schriften, Bd. 2, hg. von
Joachim Mette, 420-424). ,Distanz' ist für Nietzsche ein Zeichen aristokratischer Menschen, aber
auch ein hervorragendes Charakteristikum des ,Plebejers' Sokrates.
15
Dies hat seine Parallele in Piatons Apologie, aber auch in den Memorabilien Xenophons.
Nietzsche und das Problem des Sokrates 247
chung, Reden über Kunst und Kunstwerk. Das Sokratische, zur Weisheit transformiert,
verschmilzt im Zarathustra mit seinem dionysisch-musikalischen Gegenpart zur tragi-
schen Weisheit und die epistemischen sokratischen Tugenden Aufklärung, Kritik und
Distanz werden im tragischen Kunstwerk der Zarathustra-Dichtung aufgehoben: Im
Zarathustra wird das in der Geburt der Tragödie erstmals angedachte Konzept des ,mu-
siktreibenden Sokrates' schließlich doch verwirklicht, zwar nicht unter dem Vorzeichen
des Sokratischen, sondern als Kunst bzw. Musik (gleichsam nicht mehr als .musiktrei-
bender Sokrates', sondern als ,redender Dionysos').16 Die beiden Kunstgottheiten Apollo
und Dionysos sind im Gleichstand der Kräfte vereint, Nietzsches quälender Lebenswi-
derspruch ist geheilt: Euphorie des Seins, tiefste Stande, Erlösung der Welt, Parusie des
erhabensten Schauspiels: .„Incipit tragoedia'" (KSA, FW, 3, 345).
16
„Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen" (KSA, EH, 6, 335.).
248 Christian Wollek
Versuch und Programm möglicher Selbstbefreiung und Selbstheilung begonnen hatte,
endet in einer bodenlosen Zerstörungswut gegen das Sokratische in ihm selbst („Nie-
dergangs Typ", „monstrum", „Pöbel", KSA, GD, 6, 67f), das wieder Selbstprojektion,
Selbstkampf Nietzsches gegen seine ungeliebte, nunmehr rundum abgelehnte sokrati-
sche Hälfte ist. So verstanden erweist sich Sokrates als der Gegenspieler Nietzsches, als
sein wahrer .geliebter Feind', sein nicht zu überspringender Schatten, der dennoch nicht
mehr als eine Spiegelung der Persönlichkeit Nietzsches nach außen in ein philosophi-
sches Prinzip, den ,Sokratismus', ist, im Kampfe mit welchem er „um es bei sich selbst
auszuhalten, schließlich einer ganzen Kultur den Prozess machen muss".17
7. Schluss
In dieser Auffassung des Verhältnisses Nietzsches zu Sokrates wird deutlich, wie wich-
tig für ihn die Persönlichkeit des Sokrates und sein Philosophieren sind. Es zeigt sich
aber auch, dass Philosophie bei Nietzsche weniger in einem positiven Vorrat an Theo-
rien, Programmen und Gedanken besteht, sondern, im Sinne sokratischen nichtwissen-
den Wissens, eine intellektuelle Haltung ist, die in ,freischwebender' Distanz zu den
Dingen sich gerade nicht auf Theoreme fixiert und fixieren lässt. Nietzsches große Ge-
danken des ,Willens zur Macht' und der ,ewigen Wiederkehr' wären in dieser Lesart
nur noch Chiffren und Siglen eines Selbstbefreiungsprozesses, Philosophie ihrem We-
sen nach .Aufklärung' als Autotherapie, eine theoretische ,Lebensweise', die es ver-
mag, bei ausgeprägtem Bewusstsein Distanz zu sich und den Dingen zu wahren, ohne in
die eigenen (Welt-)Bilder zu stürzen. Die Geburt der Tragödie, die am Anfang von
Nietzsches Denkweg steht, bildet somit quasi das Proömium zu dieser Entwicklung der
Selbstbefreiung und Selbstheilung durch intellektuelle Distanz.18 Der philosophische
Höhepunkt aber von Nietzsches Werk, der auch der gesündeste Zeitraum in Nietzsches
Leben und Werk im Sinne des griechischen ococppcoy19 (aus aaoç. und (ppovetv,. heil-
denkend) ist, läge nach dieser Lesweise nicht auf dem Zarathustra ( glücklicher Dis-
=
17
Rüdiger Safranski, „Nietzsches Zweikammersystem der Kultur", in: Nietzscheforschung, Bd. 8
18
(2001), 21.
.Pathos der Distanz' ist eine Formel Nietzsches. „Man übertreibt nicht, wenn man das ,Pathos der
Distanz' als die básale ethische Grundregel für den von Nietzsche geforderten souveränen Men-
schen versteht" (Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, Studien zur Philosophie Friedrich Nietz-
sches, 6).
19
Nietzsche setzt in Ecce homo seine größte Gesundheit in die Zeit der Entstehung des Zarathustra
und bezeichnet die Werke der mittleren Epoche als Werke der „Genesung" (KSA, EH, 6, 326).
Problematisch hieran ist, dass Nietzsche den überströmenden Glückszustand des Zarathustra-Seins
nicht konservieren konnte, Zarathustra ist schon zu sehr Krise, zu sehr Peripetie, zu übermensch-
lich'; er fasst dies im Begriff der „rancune des Grossen" (ebd., 341 f.).
IV. Aufsätze
Arno Boehler
„Der Umweg" lautet der Titel eines Texts von Philippe Lacoue-Labarthe, in: Werner Hamacher
(Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/M./Berlin 1986, 75-111. Zur „Detour" auch Paul De
Man, Allegories ofReading, Yale University 1979, 83ff; Wayne Klein, Nietzsche and the Promise
of Philosophy, New York 1997.
252 Arno Boehler
Kommen wir zurück zum frühen Nietzsche, lassen wir uns von ihm sagen, was er
über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zu sagen hat: „Was ist also Wahr-
heit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz
eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, über-
tragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, cano-
nisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man verges-
sen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden
sind" (KSA, WL, 1, 880f). Nietzsche gibt an dieser Stelle eine klare Antwort auf die
Frage, wie er selbst in der Frühe seines Schaffens .Wahrheit' denkt. Diese Nebenbe-
merkung ist für jede Nietzscheinterpretation nicht unwesentlich, bedeutet sie doch, dass
Nietzsche anscheinend keineswegs vor hat, jedes mögliche Konzept von Wahrheit auf-
zugeben, oder alle möglichen Konzepte von ,Wahrheit' in einer Art nihilistischen
Gleich-Gültigkeit zu nivellieren. Im Gegenteil. Bei dieser Fragestellung ist Nietzsche
schon früh das Lachen vergangen und der ganze Ernst einer entscheidenden Aufgabe
überkommen, die, so heißt es in seinen Spätwerken, bisher von den Philosophen einfach
übersprungen und übersehen wurde.
Eine Antwort auf die Fragestellung ,Was ist also Wahrheit?' kann, darf und soll für
ihn folglich weder ausbleiben, noch ist sie gleich-gültig, wird in ihrer Beantwortung
doch über die Zukunft von Lüge und Wahrheit im moralischen bzw. außermoralischen
Sinne entschieden.
Mit Blick auf die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts darf man behaupten,
dass Nietzsche in diesem frühen Text beginnt, unser Wahrheitsverständnis in Anfüh-
rungszeichen zu setzen und zu dekonstruieren. Er dekonstruiert es aber nicht um der
,reinen' Dekonstruktion willen, sondern um jenes anderen Wahrheitsverständnisses
willen, das sich in diesem Text konstruktiv ankündigt und zur Sprache drängt: jenes von
Nietzsche privilegierte Wahrheitskonzept, das von nun an unter ,Wahrheit' ein beweg-
liches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen versteht. Dem alten
Wort ,Wahrheit', dem scheinbar ungeschichtlichen Signifikanten, wird eine neue Rich-
tung, ein neues Verständnis, ein neuer Sinn gegeben. Der Destruktion des herkömmli-
chen Wahrheitsverständnisses folgt prompt die Konstruktion eines neuen, anderen
Wahrheitskonzepts. Das gängige Wahrheitskonzept wird in ein neues ,über-tragen', das
alte durch das neue ,ersetzt'. Ich ,über-trage' etwas heißt im Griechischen ,meta-
phero'. Die übertragene Bedeutung eines ursprünglichen' Sinns in einen davon abge-
leiteten wird heute noch als Metapher bezeichnet.
Warum privilegiert Nietzsche dieses neue, metaphorische Konzept von Wahrheit ge-
genüber dem herkömmlichen Verständnis? Warum ist die neue Perspektive wahrer' als ,
die alte?2
Wollen wir von diesem neuen Wahrheitskonzept etwas verstehen, müssen wir uns
zunächst fragen, was es heißen soll, dass Wahrheit von Nietzsche so vorgestellt wird,
,als ob' sie ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphis-
men sei. Fragen wir zunächst, was im herkömmlichen Sinne unter Metaphern und Me-
tonymien verstanden wird.
:
Zum Verhältnis von Wahrheit und Dummheit: Avital Ronell, Stupidity, Chicago 2002.
Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen
„ Vielleicht" 253
Der Duden bezeichnet beide Tropen der Sprache wie folgt: Metonymie ist die Erset-
zung eines Wortes durch einen verwandten Begriff, z. B. ,Dolch' durch ,Stahl'. In Hin-
blick auf mein Thema führe ich ein anderes Beispiel an. Ein Beispiel, das nicht aufge-
hört hat, Nietzsche zu verfolgen: Die Ersetzung von Ursache durch Wirkung und
umgekehrt. Eine Metapher hingegen ist ein Wort, indem ein Merkmal im übertrage-
nen Sinne gebraucht wird, z. B. das ,Haupt der Familie'. Der hierarchische Vorrang des
-
Seiendes in seinem Sein vom Nous ,ent-deckt' und angemessen reflektiert wird (Dialek-
tik des An-und-Für-sich-sein).3 Für Nietzsche dagegen sind Nous, Ratio, Vernunft und
Bewusstsein selbst schon aus anderen, ursprünglicheren, sinnlicheren Sphären abgelei-
tete Sphären. Ihr metaphysischer Vorrang vor allen anderen Sphären beruht für ihn
allein darin, dass das in der Vernunftsphäre sich einrichtende Sprachspiel in der Ent-
wicklungsgeschichte der abendländischen Metaphysik, seine eigene Herkunft aus der
Sinnlichkeit verleugnet und schließlich vergessen hat. Die Frucht und Furcht eines
,grund-legenden' Vergessens und Verdrängens, diese ausgehöhlte Münze, wird in der
westlichen Welt heute noch als Wahrheit' gehandelt und als „wa(h)re Welt" bezeichnet
,
und ausgegeben:
„Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind,
Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild
verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen" (ebd.,
880f).
Die abendländische Geschichte der Metaphysik ist für Nietzsche offensichtlich nicht
die Geschichte, in der sich das Wahre' ereignet, sondern in der sich ein Vergessen und
,
Verdrängen verfestigt: die Verleugnung der sinnlichen Herkunft der Vernunft. Dieses
Vergessen gipfelt auf idealistische Weise in der Schädelstätte der sich als absolut be-
greifenden und setzenden Vernunft. Durch die Übersetzung der Welt in den Deutschen
Idealismus wird dieses Vergessen für Nietzsche endgültig besiegelt und in der Folge in
den ,Gipfeltreffen' der westlichen Welt umgesetzt. Die Sphäre der Vernunft wird jetzt
so vorgestellt, ,als ob' sie gerade nicht der Sinnlichkeit entsprungen und eine von der
Sinnlichkeit abgeleitete Metapher derselben darstellen, sondern so, ,als ob' die Ver-
nunft selbst die Ur-Sache allen Seins wäre.
Je mehr die Metaerzählung abendländischer Vernunft ihre eigene genealogische Ab-
leitung aus der Sinnlichkeit vergisst, umso mehr beginnt sie sich selbst als Ur-Sache
allen Seins zu verstehen, auszulegen, zu interpretieren und schließlich zu setzen. Der
Nous, die Ratio, die Vernunft, das transzendentale Bewusstsein, diese ursprünglich aus
der Sinnlichkeit entsprungenen Epi-Sinnesorgane bestimmter Tierseelen, diese neben-
sächlichste Nebensache der Welt wird nachträglich zur causa efficiens, zur causa for-
malis, zur causa finolis und und sogar zur causa materialis allen Da-seins umgedichtet.
Was für ein historisches Naturschauspiel, das sich vor den (VideoA^isio-)Augen Nietz-
sches abzuspielen beginnt! Wie sollte er als Philosoph und Sprachwissenschaftler ein
solches Schauspiel angemessen bezeichnen und benennen? Welches Wort bietet ihm
die Sprache an für ein solches Schauspiel und Spektakel, das ihm spekulativ-visionär
vorstellig wird im und durch seinen philosophierenden Lebensvollzug?4
3
Inwiefern Nietzsche hier postrukturalistische und neopragmatische Kritik am traditionellen Wahr-
heitsbegriff im Sinne einer Korrespondenz und Abbildtheorie vorwegnimmt, bedarf eigener Analy-
se. In dem Moment, indem die scharfe Trennung von Form und Inhalt, deskriptiven Satzuniversen
und darin konstatiertem Referenten unscharf wird, implodiert der korrepondenztheoretische Wahr-
4
heitsbegriff. Dazu: Jacques Derrida, Limited Inc., Wien 2001.
Der Hinweis darauf, dass eine Sphäre (z. B. Nous) von einer anderen abgeleitet ist (z. B. Sinnlich-
keit), möchte der Autor nicht als Plädoyer für eine .Ursprungslogik' verstanden wissen. Dass ein
Supplement gerade nicht etwas bloß Sekundäres, Abgeleitetes, Minderes gegenüber einem ur-
Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen
„ Vielleicht" 255
Ich habe meine Antwort auf die Fragen eingangs gegeben. Nietzsches Wort für die-
ses Schauspiel lautet vermutlich ,Metonymie'. Eine Übertragung und Ersetzung eines
Wortes durch einen verwandten Begriff. In diesem Fall die verfängliche Vertauschung,
Übertragung und Ersetzung der beiden Begriffe ,Ursache' und ,Wirkung', die ein ent-
setzliches ,Durch-ein-ander' im Menschen erzeugen, durch das sich das animal rationa-
le selbst entgegengesetzt wird und von nun an als existierendes Fragezeichen durch die
Zeiträume wandert. Was uranfanglich bloß ein Nebeneffekt der Sinnlichkeit war, die
Entstehung einer Vernunftseele in bestimmten Tieren, das wird, wir befinden uns mitten
im konstruktiven Durcheinander des Projekts Moderne, zu einer Ursache umgedichtet
und zum Urgrund allen Seins gemacht, aus dem die ursprüngliche Ursache, die Sinn-
lichkeit, als manifester Effekt der Absolution der absoluten Vernunftgeschichte folgt.
Von dieser Ersetzung und Umkehrung des ursprünglichen Kausalverhältnisses von
Sinnlichkeit und Vernunft her gesehen kann Nietzsche den entscheidenden Charakter
der bisherigen Menscheitsgeschichte als eine Geschichte der Metonymie lesen, als die
denkwürdigste und ehrwürdigste Umwertung aller Werte, die sich bisher auf unserer
Erde abgespielt hat: „Fügen wir sofort hinzu, dass andererseits mit der Tatsache einer
gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden
etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvol-
les gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte" (KSA,
GM, 5, 323). Am Ende eines langen Übersetzungs-, Übertragungs- und Überwälti-
gungsprozesses, im Zeitalter der Moderne, im produktiven ,Durch-ein-ander' dieser
Zeit wird die Welt vom Menschen so vorgestellt, ,als ob' die Vernunft die ,wahre, ur-
sächliche Welt' von allem wäre und die Sinnlichkeit nur mehr als Folge, Erscheinung
derselben zu gelten hätte. Die materielle Welt ist zum Material der Realisation und
Entäußerung menschlicher Machenschaften (Zwecksetzungen) geworden.
In der Geschichte dieser gewaltigen Metonymie5 scheint sich für Nietzsche jedoch
kein bloßer Verfall, sondern ein erstes großes Versprechen der Menschheit einzulösen:
Der abendländische Humanismus. Die Sphäre der Vernunft hat sich in einer über tau-
sende Jahre hindauernden Geschichte das Tier im Menschen unterworfen und gefügig
gemacht, um sich selbst zum Herrn und zur emanzipierten Frau dieses umorganisierten,
umgewerteten Lebewesens zu machen. Vom Ende dieser metaphysischen Menschheits-
geschichte aus betrachtet, scheint das Vernunftorgan nun die Wahrheit des Ganzen zu
sein und das Ganze die sich zum Ende hin vollendende Geschichte der absoluten Ver-
nunft.
Schließen wir den ersten Abschnitt mit einer Zusammenfassung ab: 1. Die Mensch-
heitsgeschichte ist für Nietzsche jene Geschichte, in der eine Verkehrung des Ursache-
Wirkungsverhältnisses in Bezug auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft
stattfindet. Die Umkehrung eines Kausalverhältnisses ist für Nietzsche ein metonymi-
scher Prozess. Die ,wahre Welt' ist Vollzug und Effekt einer Metonymie. 2. Die
sprünglich Gegebenen heißen muss, diese Lektion haben wir eingehend von Jacques Derrida ge-
lernt.
Eine ,Kritik der Gewalt', die der bloßen Form des Gesetzes konstitutiv eigentümlich ist, finden
wir bei Jacques Derrida, Der „mystische Grund der Autorität", Frankfurt/M. 1991 und bei Gor-
gio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002.
256 Arno Boehler
Menschheitsgeschichte ist jene Geschichte, in der das Sinnliche in das Reich der Ver-
nunft ,über-setzt' wird, so, dass sich die dabei konstituierende Vernunftsphäre ihrer
sinnlichen Basis ,ent-gegen-setzt' und diese metaphysisch zu unterwerfen beginnt.
Nach einem jahrtausendelangen Kampf zwischen der Sphäre der Vernunft und der von
ihr unterworfenen Tierseele scheint es so, ,als ob' sich die Metapher der Vernunft ge-
gen ihre eigene Herkunft aus dem Tierreich durchzusetzen vermöchte und den Sieg
über die Sinnlichkeit davontragen würde. Die ,wahre Welt' ist demnach Vollzug und
Effekt einer Metapher, namentlich der Vernunftmetapher. 3. Das grausame Schlachtfeld
dieses metonymisch-metaphorischen Kampfes ist die sukzessive Entfaltung der
Menschheitsgeschichte: Anthropomorphismus.
Ich wiederhole Nietzsches frühe Antwort auf die Frage: ,Was ist Wahrheit?': „Was
ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropo-
morphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rheto-
risch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche ei-
nem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken" (KSA, WL, 1,880).
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders., Ge-
sammelte Schriften, hg. von der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, 29.
7
Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, 12.
Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen
„ Vielleicht" 257
in der Wissenschaft, was hat Literatur in der Philosophie verloren?', so fragt man sich
und denkt vielleicht an französische Philosophien, denen ein Hang zur Literatur nach-
gesagt wird. Oder man denkt an jene ,neokonservativen' Kreise, die im Fahrwasser
postmoderner Philosophien sitzen, oder an andere Schwärmer und ,Künstler', die sich
in Wissenschaft und Philosophie verirrt haben. Wir kennen das Sprachspiel nur zu gut.
Machen wir aber Ernst mit der Philosophie, d. h. lesen Kant, philosophieren
,deutsch'. Ich verweise auf den eingangs zitierten Satz Kants, den späten, vielleicht
reifsten und aufgeklärtesten von 1784.8 Einige Zeilen weiter gibt Kant eine vernünftige
Begründung für diese abwegige Idee, in der die Sphären der Philosophie und die Sphä-
ren der Literatur zu einer Art Überschneidung und gegenseitigen ,Deckung' zu kommen
scheinen: „[...] so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses
Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen
[...] Indem man ferner allenthalben nur auf die bürgerliche Verfassung und deren Ge-
setze und auf das Staatsverhältais Acht hat, [...] so wird sich, wie ich glaube, ein Leit-
faden entdecken, der nicht bloß zur Erklärung des so verworrenen Spiels menschlicher
Dinge, oder zur politischen Wahrsagerkunst künftiger Staatsveränderungen dienen
kann..., sondern es wird [...] eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in
welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich
doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie leg-
te, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden.
Eine solche Rechtfertigung der Natur oder besser der Vorsehung ist kein unwichti-
ger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtang zu wäh-
-
—
len."9
Einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen! Die Kantsche
Spätphilosophie, sollen wir sie die Spätmoderne nennen?, scheint die Perspektive (Sy-
nekdoche) zu entdecken.10 Jeder Satz, jedes Wort dieser ,kleinen' Schrift müsste sorg-
faltig untersucht und mit Nietzsches Genealogie der Moral,montiert' werden.
Was steht für Kant in dieser Schrift auf dem Spiel? Nicht die Geschichte des Men-
schen, wie sie sich historisch ereignet hat, sondern wie sie in ihrem Werdegang auf eine
bestimmte Finalursache hin literarisch konstruiert werden darf, kann und soll: und, wie
könnte es bei Kant anders sein, innerhalb der Grenzen der Vernunft. Diese Perspektive
der Vorstellung der Welt innerhalb der Grenzen der Vernunft nannte Nietzsche jene
Metonymie, jene Metapher, die den Menschen als Menschen ausmacht und vor allen
Tieren auszeichnet: Anthropomorphismus: „Der Mensch zählt seitdem mit unter den
unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das ,große Kind' des Heraklit,
heiße es Zeus oder Zufall, spielt er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine
Hoffnung, beinahe eine Gewißheit, als ob [Emphase A. B.] mit ihm sich etwas an-
-
kündige, etwas vorbereite, als ob [Emphase A. B.] der Mensch kein Ziel, sondern nur
-
ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei" (KSA, GM, 5,
-
323).
8
9
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 29.
Ebd.,29f.
10
Zu Nietzsches Perspektivismus: Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Harvard Uni-
versity Press 1985.
258 Arno Boehler
Mit dem Geschichtlichwerden des Hypertiers ,Mensch' tritt der Mensch in die virtu-
elle Realität des ,Als-Ob' ein. Er nimmt an-und-für-sich-selbst die Struktur eines nar-
zistischen Fragezeichens, eines interessanten Zwischenfalls, einer hoffnungsvollen
Brücke, eines spannungsgeladenen Wegs, kurz: eines performativen Versprechens an.
Diese Struktur des ,Als-Ob' entdeckt Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Ge-
schichte in weltbürgerlicher Absicht als legitime Idee der historischen Vernunft. Sich
den Gang der Weltgeschichte so vorauszukonstruieren, als ob der tatsächliche Gang der
Menschheitsgeschichte nur die sukzessive Realisation vernünftiger Verhältnisse inmit-
ten der Naturgeschichte des Werdens wäre, als ob die Geschichtlichkeit der Geschichte
,nur' die Geschichte eines weltbürgerlich beabsichtigten Versprechens sei, diese histo-
rische Denkungsart macht nach Kant Sinn. Sie ist der transzendental-visionäre ,Sinn'
einer quasi-historischen Vernunft.
Da Kant den Begriff ,objektiver Zweckmäßigkeit' in seiner Kritik der Urteilskraft
dekonstruiert und zu einer Regel der Urteilskraft des Menschen umfunktioniert, weiß er,
dass dem Werdegang der Natur keine objektive Teleologie mehr unterstellt werden
kann und darf. Er würde sonst hinter seine eigenen Kritiken zurückfallen. Was er aber
im Laufe seiner Dekonstruktion herkömmlicher Metaphysik einsieht, ist die Legitimität
einer Art ,Derridaschen' Quasi-Teleologie, d. h. einer metaphorischen Teleologie des
,Als-Ob', in der der Werdegang eines Gegenstandes fiktiv so vorkonstruiert wird, als ob
sein gegenwärtiger Zustand nur ein Durchgang zur Realisation der vorkonstruierten
fiktiven Finalursache wäre.
Von nun an dürfen Philosophinnen nach Kant, nicht nur nach Jacques Derrida, die
menschliche Weltgeschichte in ihrer irdischen Evolution vernünftigerweise so vorstel-
len, als ob die gegenwärtige Verfassung der Menschheit nur die momentan sichtbare
Spur eines Werdegangs wäre, der zumindest so vorgestellt werden darf, als ob er darauf
hinausliefe, einen allgemeinen bürgerlichen Rechtszustand hervorzubringen. Dass ein
solcher stattfinden wird, dass eine Stätte inmitten der ,Natar'geschichten des Werdens
hervorgebracht worden sein wird, in der dieser Zustand realisiert worden sein wird,
darüber kann Kant als ,Kritiker' traditioneller Metaphysik keine philosophische oder
wissenschaftliche Aussage mehr treffen, die dem Anspruch auf unbedingte Gewissheit
,un-bedingt' gerecht werden könnte. Weil der Mensch für Kant, kein Gott, und die
menschliche Vernunft noch nicht zur absoluten spekulativen Vernunft des Deutschen
Idealismus geworden ist, kann für Kant der Mensch über das spekulativ imaginierte
Ende dieser Geschichte nicht autonom verfügen. Es fehlt ihm in seiner Endlichkeit die
Macht, ein solches unendliches Versprechen von sich her, als causa sui dieser Perfor-
mance, einlösen zu können und versprechen zu dürfen. Bekanntlich hatte Kant darum
das Postulat Gottes noch nötig. Da der empirische Werdegang der Natur nicht zwangs-
läufig auf eine a priori vorgegebene finale Ursache hinausläuft, ist das Kommen dieser
Vorzukunft nicht mehr zwingend voraussagbar. Gleichwohl verbietet diese Kritik nicht,
den tatsächlichen historischen Werdegang der Menschheitsgeschichte auf mögliche
fiktive Ziele und Absichten hin zu entwerfen und imaginär so vorzukonstruieren, dass
wir den zukünftigen Werdegang der Geschichte als sukzessive An-gleichung der Wirk-
lichkeit an das ,vor-gestellte' Ideal denken. Würde das virtuelle Ideal einst erreicht
worden sein, wäre das performative Versprechen eingelöst und die regulative Funktion
Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen
„ Vielleicht" 259
dieser Idee hätte sich für die darin anwesenden Lebewesen in ein vorhandenes Regel-
werk verwandelt, das ihnen in ihrem Anwesen faktisch in concreto ,vor-gegeben' wur-
de. Kants Philosophie ist darum ein epochales Ereignis, da sie die Unscharfe zwischen
konstatierendem und performativem Sprechen als zentrales Problem der Schnittstelle
zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu begreifen beginnt.
Diese Probleme vor Augen habend, darf Kants quasi-teleologische Geschichtsphilo-
sophie nicht mehr versprechen, dass der tatsächliche Werdegang eines Gegenstands
tatsächlich seine ,virtuell' anvisierte Finalursache erreicht und seine Intention erfüllt
haben wird. Immer könnte im Verlauf der Zeit, die zwischen dem Jetzt und dem Zeit-
punkt der virtuellen Erfüllung des imaginierten Ziels aussteht, etwas geschehen, das die
Erfüllung und Selbstidentität der virtuellen Finalursache, zu der der Gegenstand an-und-
für-sich-selbst unterwegs ist, verhindern könnte. Die versprochene Selbstidentität eines
Gegenstands mit sich könnte in ihrem Unterwegssein durch innere und oder äußere
Umstände gestört und an der Erfüllung ihrer Selbstidentität gehindert werden, so dass
der Gegenstand an-und-für-sich-selbst nur als unerfülltes Versprechen und Fragment
seiner selbst existieren würde. Im Hinblick auf diese Gefahrenzone, die jedem perfor-
mativem Sprechakt analytisch eingeschrieben ist, hat Nietzsche gute Gründe, die kom-
menden Philosophen der Zukunft als Philosophen des gefährlichen Vielleicht' zu be-
zeichnen: „Vielleicht! Aber wer ist willens, sich um solche gefährlichen Vielleichts zu
kümmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen
-
abwarten, solcher, die irgendwelchen andern, umgekehrten Geschmack und Hang haben
als die bisherigen Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstände. Und-
allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen" (KSA,
-
JGB, 5, 17).
Denkt man den Werdegang eines Gegenstands als eine Art actio in distans, in der er
an-und-für-sich-selbst unterwegs ist, jene entfernte Finalursache zu erfüllen, aus der er
,virtuell' auf sein gegenwärtiges Dasein zu- und zurückkommt, ist man dabei, Nietz-
sches Dimension des ,gefährlichen Vielleicht' zu betreten. Eine Gefahrenzone und
Perspektive auf die gegenständliche Welt, in der sich der fragmentarische Charakter
aller Realität enthüllt; die gegenständliche Welt wird in und aus einer dieser Perspekti-
ven zur fragmentarischen Spur virtueller Realitäten, die an-und-für-sich-selbst ständig
und auf mannigfaltigste Weise damit beschäftigt sind, ihre fiktiven Vorhaben virtuell
umsichtig zu realisieren und damit poietisch zu vergegenständlichen.
Was wir mit der Frage nach der Geschichtlichkeit von Geschichte nach Kant im Vi-
sier unserer ,optischen Perspektive' (Video) auf die Welt haben, ist die konstruktive,
,augen-blickliche' Freigabe der gegenständlichen Welt auf mögliche Umsichten hin.
Eine solche Weltbetrachtung ist ihrer inneren Struktur nach technologisch. Sie fordert
die gegenständliche Welt heraus, sich als Material fiktiver Zwecksetzungen zu enthül-
len, auf die hin die Gegenstände der Natur nachträglich virtuell entwerfbar sein sollen
(poiesis). Das Wort ,virtuell', daran sei erinnert, hat seine etymologische Wurzeln (man
versucht zu sagen: natürlich) im Lateinischen, Römischen' und meint virtus, Kraft,
,
Macht, Potenz, Entschlossenheit, Vermögen, Tugend. Die Welt wird nicht mehr als
dem Willen vorgegebene Vorstellung betrachtet, sondern als Material möglicher Ma-
-
chenschaften, auf die hin sich der Wille die Welt, als imaginierte Vorstellung entwirft
260 Arno Boehler
Oder sollte man solche fiktiven Zielvorgaben besser .menschliche Phantasmen' nennen?
12
Zur Bedeutung der Metapher in Nietzsches Werk: Sarah Koffnan, Nietzsche et la métaphore, Paris
1983.
Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen
„ Vielleicht" 261
dest für Nietzsche, ihre Aufgaben vorschreiben und vorzeichnen wird. Fragestellungen
und Aufgaben, die die Philosophenväter kaum ahnen konnten. Ihnen ruft er in Jenseits
von Gut und Böse in vieldeutigem Sinne entgegen: „Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es
bald, so bald schon anders kommt" (ebd., 152).
Würde man von Kants Entdeckung der metaphorischen Quasi-Teleologie des ,Als-
-
ob' her seine Kritiken der theoretischen, praktischen und ästhetischen Vernunft rein-
terpretieren, würde man Entscheidendes über Nietzsches Konzept von Wahrheit qua ein
flexibles Heer von Metaphern und anthropomorphen Metonymien verstehen. Vielleicht
gilt auch das Umgekehrte. Wagen wir es also, Kants Philosophie der Geschichte in
Nietzsches neues Wahrheitskonzept zu ,über-setzen' und fassen gleichsam das Gesagte
zusammen.
In der metaphorischen Quasi-Teleologie des ,Als-Ob' wird einem tatsächlichen
Werdegang einer Geschichte ein fiktiver Werdegang vorgesetzt. Das ist nur der erste
Streich der Geschichte. In einem zweiten wird das dem tatsächlichen Werdegang unter-
schobene virtuelle Vorhaben als idealer Werdegang ausgelegt, der einen notwendigen
dritten Streich verlangt: die Geschichte der tatsächlichen virtuellen Angleichung der
Wirklichkeit an das vorgezeichnete und vorgeschriebene fiktive Ideal. Der tatsächliche
Werdegang der Menschheitsgeschichte soll an den fiktiv vorkonstruierten virtuell an-
geglichen und von dieser fiktiven zweiten Natur her tatsächlich be-arbeitet und in seiner
Tatsächlichkeit ersetzt werden. Eine solche Ersetzung und An-Gleichung eines ur-
sprünglichen Sinns an einen fingierten nennt Nietzsche als Altphilologe, einen meta-
phorisch-metonymischen Prozess.
Nachdem das Tier ,Mensch' über Jahrtausende an der Unterwerfung der Sinnlichkeit
unter die Vernunftmetapher litt, macht es im kosmopolitischen Projekt einer globalen
Unterwerfung aller Völker und Tierwelten unter den Leitfaden historischer Vernunft
aus der einstigen Umwertung und tierischen Erbsünde eine menschliche Erbtagend. Aus
dem Frust der Unterwerfung der Sinnlichkeit unter die Vernunftherrschaft ist ein Pro-
jekt geworden, das den Menschen nicht mehr frustriert, sondern das ihm fast euphorisch
Lust bereitet: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsere Natarvergewalti-
gung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-
Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeblichen
Zweck- und Sittlichkeitsspinne hinter dem großen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit
[...] Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns
mit keinem Tiere erlauben würden" (KSA, GM, 5, 357) und „Alle guten Dinge waren
ehemals schlimme Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden" (ebd., 358).
Nichts ist teurer erkauft, heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft, als das Wenige von
menschlicher Vernunft und vom Gefühl der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht.
Was einst mit Mühe und Not erzwungen und dem Tier im Menschen langsam hyperbo-
lisch abgerungen wurde, drängt nun bewusst und absichtlich auf seine globale Aner-
262 Arno Boehler
kennung in der Welt des Global Village und ist inzwischen zum Stolz und Selbstbe-
wusstsein in einer humanistischen Weltanschauung geworden. Damit beginnt eine an-
dere, neue Geschichte und Phase der halluzinierenden Vernunftherrschaft. Das mensch-
liche Selbstbewusstsein richtet sich tatsächlich engagiert, wenn nicht enthusiastisch, in
der Welt ein und fordert gegenüber dem ,Rest' der Welt sein universelles Recht auf
globale Anerkennung. Die Vernunft hat von der bloßen Über-setzung sinnlicher Ver-
hältnisse in vernünftige abgelassen und fordert triumphierend ihre virtuelle Ersetzung
durch vernünftige Verhältnisse. Damit enthüllt sich für Nietzsche der eigentliche und
alles entscheidende metonymische Bewegungssinn eines metaphorischen Prozesses. Ein
solcher Prozess läuft letztendlich nicht nur daraufhin hinaus, einen .ursprünglich' gege-
benen Sinn in einen abgeleiteten' zu ,über-setzen', sondern den ursprünglichen Sinn
im Laufe der Zeit durch den abgeleiteten zu ,er-setzen'. Dass die innerste Struktur me-
taphorischer Prozesse nicht im ,Über-setzen' und ,Entgegen-setzen', sondern im .Er-
setzen' beruht, zu dieser Einsicht war Nietzsche in seinem frühen Schaffen allererst
unterwegs. Wahrheit, als Ereignis metaphorischer Prozesse gedacht, muss für Nietz-
sche, in der Spätzeit seines Schaffens, als Ereignis einer Unterwerfungsgeschichte ge-
dacht werden, als Wille zur Macht. Ein altgewordener Sinn (Gott) wird durch einen
neuen, mächtigeren und herrschsüchtigeren Sinn ersetzt. Diese Metamorphose des
Sinns scheint nun selbst der ursprünglichste Sinn des Werdens, der ursprünglichste Sinn
des Lebe-Wesens zu sein. „[VJielmehr gibt es für alle Art Historie gar keinen wichtige-
ren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen sein
sollte [...] dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herr-
werden und dass wiederum alles Überwältigen und Herr-werden ein Neu-Interpretieren,
ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn' und ,Zweck' notwendig verdunkelt
oder ganz ausgelöscht werden muss [...] ,Entwicklung' eines Dings, eines Brauchs,
eines Organs ist demgemäß nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, [...]
sondern die Aufeinanderfolge von [...] an ihm sich abspielenden Überwältigungspro-
zessen, [...] kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als
welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu größerer Macht erscheint und
immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Größe eines
Fortschritts' bemißt sich sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden
mußte [...] Theorie eines in allem Geschehen sich abspielenden Macht-Willens" (ebd.,
313f.).13
Die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht muss daher für
Nietzsche in jener Überwältigungsgeschichte gipfeln, in der der ,Rest' der Welt tatsäch-
lich dieser kosmopolitischen Metapher unterworfen und seinem ,dionysischen' Unter-
gang zugeführt wird. Der ,Rest', ich verwende absichtlich dieses herrschaftliche Wort,
sind Afrika, Südamerika, Asien die Fidschi-Inseln. Ich nannte die Unterwerfungsge-
schichte die virtuelle Realität der Welt des ,Gestells'. Gibt es heute etwas Realeres, als
diese virtuelle Realität, diesen Weltentwurf, diesen festgelegten Sinn? „Ich schließe mit
drei Fragezeichen, man sieht es wohl. ,Wird hier [in Nietzsches Genealogie der Moral
A. B.] eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eins abgebrochen?' so fragt man mich
vielleicht [...] Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie teuer sich auf Erden die
-
13
Friedrich Nietzsche, KSA, GM, 5.313f.
Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des Gefährlichen Vielleicht"
„ 263
Aufrichtung jedes Ideals bezahlt gemacht hat? Wieviel Wirklichkeit immer dazu ver-
leumdet und verkannt, wieviel Lüge geheiligt, wieviel Gewissen verstärkt, wieviel
,Gott' jedesmal geopfert werden müsste?" (ebd., 335).
Daseins-Recht, einen Wert zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als
Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu einem Ziele [...] Wo ist das Gegenstück tu diesem
geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation? Warum fehlt das Gegen-
stück? [...] Wo ist das andere ,eine Ziel'" (KSA, GM, 5, 395).
Wagt man eine Antwort auf Nietzsches Frage, warum das Gegenstück zum Anthro-
pomorphismus fehlt, müsste sie so lauten: Vermutlich liegt der Fehl darin, dass die
Menschheit immer noch so räsoniert, als ob Eines und Einer nur sei, Eines und Einer
nur sein dürfe. Ein Sinn, ein Ziel, ein Zweck eine Metonymie und nicht ein anderer,
eine andere. Wo ist das andere ,eine Ziel', das Neben-ein-ander von Zielen? In der
Fröhlichen Wissenschaft (Aph. 14) scheint Nietzsche auf diese Frage, warum eine ande-
-
sucht, einem gemeinsamen höheren Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale
gewichen ist: aber wer kennt diese Liebe? Wer hat sie erlebt? Ihr rechter Name ist
Freundschaft" (KSA, FW, 3, 386f). Unterwegs zu einer ,Sprache der Freundschaft'14,
sollte darin die Idee einer singulären Geschichte in hypermoderner Absicht ankündigen,
-
1
Arno Boehler, Unterwegs zu einer Sprache der Freundschaft. DisTanzen: Nietzsche Deleuze
Derrida, Wien 2000.
- -
Axel Schubert
Der Aufsatz gibt vor, eine abschließende ärztliche Beurteilung einer Krankheit zu sein.
Die Allegorie eines von einem behandelnden Arzt angefertigten Berichtes der Epikrise
steht in erster Linie für die Auswertung dessen, was der Patient Friedrich Nietzsche
selbst an Darstellungen hinterlassen hat. Zum Teil wurde auch auf die Befunde anderer
.medizinischer Gutachter' zurückgegriffen.
Das Hauptanliegen dieser literarischen Diagnose ist der Versuch, das für Nietzsche
größte Leiden, seinen wichtigsten und zugleich verborgensten Gedanken auf der Text-
grundlage von Also sprach Zarathustra zu interpretieren. Deren Form verlangt auf-
merksame textarale Bergungsarbeit. Sie beginnt mit dem Heranführen an die Thematik
über die Verwebungen des Autors Nietzsche mit seinem Werk bzw. der literarischen
Figur des Zarathustra. Ein Blick in die Krankenakte ,Nietzsche', von fremden Autoren
und von ihm in Ecce homo angelegt, und in den Untergangsbericht Also sprach Zara-
thustra weist aufschlussreiche Parallelen auf. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Ka-
pitel Der Genesende im dritten Buch des Zarathustra, welches zugleich das Schlüssel-
kapitel für die Untersuchung von Nietzsches Hauptgedanken ist. Seine eingehende
Analyse und Interpretation führen schließlich zu einem umfassenden Krankheitsbild
und zu wichtigen Einblicken in den gut verborgenen Gedanken der ewigen Wieder-
kunft. Ist dieser aus dem Kryptogramm des Zarathustra dechiffriert, wird er auf seine
existentielle Bedeutung und seinen formalen Inhalt hin interpretiert. Die abschließende
Interpretation orientiert sich am differenztheoretischen Denken Gilles Deleuzes und
dessen umfassender Nietzsche-Rezension.1 Nietzsches existentielle Vorgaben zum
Denken von Wiederkehr und Identität bieten die Möglichkeit einer formalen Umorien-
tierung, weg von einem Denken der Identität, zu dem der Differenz, wie von Deleuze
und dem englischen Mathematiker George Spencer-Brown geleistet.2 Nietzsches gene-
sender Zarathustra soll als Ahnherr dieses Denkens gelten.
Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), München 1976; ders., Differenz und Wieder-
holung (1968), München 1997, in der sich wichtige Aspekte zur ewigen Wiederkunft einfließen.
Obwohl in George Spencer-Browns Formenkalkül .Laws of Form' keine Nietzsche-Rezension
vorliegt, bietet er wichtige Anhaltspunkte für die hier angestrebte Interpretation.
266 Axel Schubert
zu ihm, böten sich ihm zum Gleichnis an. Wenn er sich auf seinen Spaziergängen be-
findet, kommen ihm die Gedanken Schritt für Schritt. Er zeichnet sie in Notizheften auf,
arbeitet sie zu Hause aus. Bruchstückartig überkommen ihn die Einfalle: „Und dies ist
all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruch-
Die Genesung des Zarathustra -
eine Epikrise 267
stück ist und Räthsel und grauser Zufall" (KSA, ZA, 4, 179). Das lässt er die literari-
sche persona Zarathustra sagen, durch die er seine Inspirationen' artikuliert. Es entwi-
ckelt sich ein System von Gleichnissen, das Nietzsche selbst für gut durchdacht hält,
das aber nicht nur aus Sätzen und Schlussfolgerungen besteht, sondern ebenso aus Wi-
derlegungen und Verdeckungen einzelner Gedanken. Sie zu erkennen und als wichtige
Bestandteile seiner Lebensphilosophie zu verstehen, bedarf genauer Stadien, die über
das genüssliche Extrahieren von Zitaten hinausgehen.
3
Zu NietzschesErkrankungen: Karl Jaspers, Nietzsche, Berlin/New York 1981, 9Iff; Wilhelm
Lange-Eichbaum, Nietzsche Krankheit und Wirkung, Hamburg 1947; Werner Ross, Der ängstli-
che Adler, München 1994, 76-83 u. 554-601; Johannes Wilkes, Nietzsches Krankheit Genie und
-
Wahnsinn, in: Deutsches Ärzteblatt Ärztliche Mitteilungen, Köln 2000, Heft 11/2000, A-713f
-
4
Werner Ross, Der ängstliche Adler, 560.
-
5
Karl Jaspers, Nietzsche, 94.
268 Axel Schubert
rung und Beobachtung zu machen. In Ecce homo vergisst er nicht zu sagen, in welchem
Stadium der Gesundheit ein Werk abgefasst worden ist. Er erkennt, dass die Ranken-
Optik' zu außerordentlicher Klarsicht und Erkenntnis befähigt und dass sie ihm eine
einzigartige Mehrfachperspektive ermöglicht. Nietzsche bekommt Übung darin, von
einem Zustand in den anderen zu blicken und merkt, dass die Begriffe der Krankheit
und Gesundheit über ihren medizinischen und therapeutischen Sinn hinaus neu zu di-
mensionieren sind. jKrankheit' und ,Gesundheit' gelten als diskrete Zeichen, die eine
Zustandsbeschreibung der eigentlichen Gesundheit leisten. Indem er die Krankheit in
seinen Dienst stellt, nimmt er sie als Zeichen jener „grossen Gesundheit", für die er am
Ende des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft wirbt.6 Diese wird zu einer Qua-
litätsprobe seines Werkes. Genau wird geprüft, was ,krank' und ,décadent' an seinen
Gedanken und Erfahrungen ist, und aussortiert, was die Idee einer ursprünglichen Ge-
sundheit nicht unterstützt. Wird diese auch immer wieder von Krankheit heimgesucht,
muss sie auch stets aufs Neue erworben werden, so ändert das nichts an Nietzsches
Überzeugung, „dass man im Grunde gesund ist" (KSA, EH, 6, 266). Von der rückbli-
ckenden Warte des Ecce homo hält er sich selbst für eigentlich gesund, obwohl er stän-
dig krank ist. Er leugnet jeden „krankhaften Zug" an sich, „selbst in Zeiten schwerer
Krankheit [sei] er nicht krankhaft geworden" (ebd., 296). Daraus lässt sich für ihn wie
für sein Denken als conditio humana die Formel bilden: gekränkt werden ohne krank zu
werden.
Aus dieser Form der Wirklichkeitserfahrung setzt sich Nietzsches mythisch werden-
de Sichtweise die in den Gleichnissen des Zarathustra ihren höchsten Ausdruck findet.
,
Hier bildet sich ab, was in seinem Leben seinen Ursprung hat; Karl Löwith betont zu
Recht: „Zarathustra redet nicht zuletzt von Friedrich Nietzsche selbst."7 Die Entstehung
des Zarathustra fällt genau in jene durch den ,biologischen Faktor' katalysierte Zeit
und wird durch eine ekstatisch-euphorische ,Empfängnis' der Idee zur Person des Zara-
thustra und des Hauptgedankens eingeleitet (vgl., ebd., 325; KSA, FW, 3, 649).
Wenn Nietzsche schreibt, sein Zarathustra bedeute die „Rückkehr der Sprache zur Natur
der Bildlichkeit" (ebd., 344), so meint er nicht nur den neuen Stil, der in der Kraft der
Bilder, der Plastizität der Ereignisse und der Dichte der Sprache liegt. Er meint auch
seine neuen Einblicke in die Kausalität der Naturereignisse, in der das Auftreten von
Krankheit als ,Naturgeschehen' in einer über das Medizinische und Biologische hinaus-
gehenden ,Gesundheit' eine bedeutende Rolle bekommt. Doch nicht nur Krankheit und
Gesundheit dienen jetzt als Fluchtpunkte der neuen Perspektive, sondern ebenso die
,Trunkenheit der Genesung', die als Erfahrungszustand und als bedeutsame Metapher
6
Vgl. Friedrich Nietzsche, KSA, FW, 3, 636: „die grosse Gesundheit eine solche, welche man nicht
nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preis-
-
giebt, preisgeben muß!" Nietzsche fügte der Fröhlichen Wissenschaft das fünfte Buch 1887 zur zwei-
ten Auflage hinzu. Zwischen erster und zweiter Auflage liegt die Entstehungszeit des Zarathustra.
Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 1986, 185.
Die Genesung des Zarathustra -
eine Epikrise 269
erkannt wird. Mit den Veränderungen, die Nietzsches Leben in extreme Höhen und
Tiefen reißen, bildet sich bei ihm eine beschwörende Verehrung für das Genesen aus.
Es wird zum Sinnbild des gesamten Zarathustra und der zeitlich darum angesiedelten
Werke. So soll z. B. die von der Krankheit ,Mensch' befallene Erde eine „Stätte der
Genesung" werden; nicht zuletzt ist eine Facette der multiplen Person Zarathustra die
des Genesenden (KSA, ZA, 4, 179).
Ohne viel Phantasie ist zu merken, dass der Übergang von der Fröhlichen Wissen-
schaft zum Zarathustra der Schilderung einer ersten Infektion zu einer ausführlichen
Heilsgeschichte gleichkommt. Der letzte Aphorismus des vierten Buches der Fröhli-
chen Wissenschaft und der Beginn der ersten Vorrede des Zarathustra, die sich chrono-
logisch aneinander anschließen, sind fast auf das Wort identisch; sie enden mit dem
Satz, der die meisten Zarathustra-Kapitel abschließt: ,Also sprach Zarathustra'. Hier
weiß der Leser bereits, dass Gott tot ist, dass der letzte große Sinn zu Grabe getragen
worden ist. Er weiß, dass selbst Sokrates sein ganzes Leben darüber getäuscht hat, dass
er ein Pessimist war, der wie ein Soldat gelebt, aber am Leben gelitten hat (vgl. KSA,
FW, 3, 569f). Und er wird mit einem dämonischen Gedanken konfrontiert, dem nicht
anzusehen ist, ob er ,göttlich' oder das ,größte Schwergewicht' ist.
Hier beginnt die tragoedia: Zarathustras Untergang. Das ist nicht zu ernst zu neh-
men, denn nach der Fertigstellung des Zarathustra ist sich Nietzsche sicher, dass es sich
nicht nur um eine Tragödie handelt, die hier ihren Anfang nimmt. Ein Jahr später, im
Vorwort zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft, schreibt er: „Irgend etwas
ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zwei-
fel" (ebd., 346). Die Beurteilung des Unternehmens Zarathustra ist eine Frage des
Standpunktes und daher ein Motiv für Nietzsches wachsende Lust an der Parodie.
Zarathustras Untergang endet in einem der letzten Kapitel des dritten Buches. Es ist
übertitelt mit Der Genesende. Was im aphorismus coniunctionis der Fröhlichen Wis-
senschaft ausdrücklich seinen Anfang nahm, kommt hier ausdrücklich zu seinem Ende.
Nietzsche setzt das ,Ende' gesperrt hinter einen Gedankenstrich: „Also endet Zara-
thustras Untergang" (KSA, ZA, 4, 277). Die kleine Geste signalisiert, dass die Stelle
-
nicht das blanke Gegenstück zum ,Anfang' bildet. Zwischen normal gesetztem An-
fang' und gesperrt gesetztem ,Ende' liegt ein Unterschied, der einen wichtigen Gedan-
ken Nietzsches enthält, der dieser Gedanke ist. Wie sich zeigen wird, steht Zarathustra
am Ende seines Unterganges erneut vor seinem Untergang; nun aber als ein anderer, ein
genesener Zarathustra. Der Untergang wird ein Übergang gewesen sein.
Zarathustra in Der Genesende befindet sich in der finalen Phase einer schweren Er-
krankung. Schon vor einiger Zeit hat er sich an einem Gedanken infiziert, mit dem sich
seither sein Immunsystem abmüht. Die Kunde vom Tod Gottes im Herzen, überfallt ihn
immer wieder Schwindel und Erbrechen. Er diagnostiziert die „drehende Krankheit"
oder auch die „grosse See-Krankheit", die durch die Vorstellung ausgelöst wird (ebd.,
1 lOff). Im Gespräch mit dem Teufel in Gestalt eines ,Feuerhundes' realisiert Zarathust-
ra, dass der Mensch selbst als eine die Erde befallende ,Krankheit' gesehen werden
kann, nicht anders als der Teufel auch: Jeder ist sich selbst die nächste Krankheit (vgl.,
ebd., 67-171). Zarathustra ahnt, aber verdrängt die Konsequenz, bis ihm ein Wahrsager
den nächste Schritt in der Gleichung erklärt: „Eine Lehre ergieng, ein Glaube lief neben
270 Axel Schubert
ihr: ,Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war! Und von allen Hügeln klang es wieder:
'
,Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!'" (ebd., 172).
Die Prophétie geht ihm sehr nahe und stürzt ihn in eine tiefe Depression. Er irrt um-
her, isst und trinkt nicht, sinkt schließlich ohnmächtig zusammen. Mit einem wirren
Traum in Erinnerung wacht er auf. Derart angeschlagen, überkommen ihn heftige Zwei-
fel, ob er den Menschen überhaupt etwas außer pessimistischen Erkenntnissen zu ver-
künden habe. Trotz eindringlicher Aufforderung seiner ,stillsten Standen', seinem mys-
tischen Alter Ego, mit der Sprache heraus zu kommen, verlässt ihn der Mut zu jeder
weiteren Verkündung seiner tiefen Gedanken; er beschließt, sich noch einmal in die
Einsamkeit zurückzuziehen.
Einen ersten Eindruck dessen, was er nicht offen aussprechen will, gibt Zarathustra
im Rätsel vom „Gesicht des Einsamsten" (ebd., 197-202). Geschwächt und voller
Angst vor neuen Attacken auf Gleichgewicht und Magen zieht er es vor, sein Geheim-
nis erraten statt erschließen zu lassen. Er erzählt Seeleuten von einem ersten Gegenmit-
tel, das er erfolgreich gegen den ,Geist der Schwere', den Grund seines Leidens einge-
setzt hat. Allen Bedrückungen und Alpträumen zum Trotz habe er entdeckt, dass ihn
sein ,Mut' nicht verlassen habe. Diesen in Anschlag gebracht, habe er seine Angst zum
Duell herausfordern können: „Zwerg! Du! Oder ich!" (ebd., 198). In kurzem argumen-
tativem Schlagabtausch habe er sich dieser Last entledigen können. Der ,Zwerg', dieses
kleine, lähmende, einsam machende Attribut seines wichtigen Gedankens, habe selbst
eine Schwäche gehabt: er war neugierig. Als ihm Zarathustra anhand des Gleichnisses
vom ,Torweg' das Ausmaß und Gewicht seiner ,abgründlichen Gedanken' deutlich
gemacht habe, sei er plötzlich verschwunden und habe ihn allein zurückgelassen. In
der zweiten Episode seiner Vision berichtet Zarathustra, wie er auch den Ekel vor sei-
-
nem Gedanken überwunden habe. Der ihn würgenden schwarzen, schweren Schlange
habe er kurzerhand den Kopf abgebissen. Dermaßen verausgabt von der Selbstüberwin-
dung sei er in kathartisches Lachen ausgebrochen, dem er auf dem Rückweg zu seiner
Höhle voller Sehnsucht nachhänge.
Der Genesende
Neben der Rede Vom Gesicht und Räthsel bildet Der Genesende das eigentliche Schlüs-
selkapitel der Auseinandersetzung Zarathustras mit seinem schwersten Gedanken. Diese
nimmt in den verschiedenen Versionen hermetischer und poetischer Formulierungen die
Gestalt eines immer aufs Neue verschobenen Aufschubs an. Greift man die Ausführun-
gen in Ecce homo auf, so gleicht dies nicht nur der „Schwangerschaft" eines Elefanten-
weibchens, sondern auch einer äußerst schwierigen, außergewöhnlichen Geburt ( KSA,
EH, 6, 335f).
Der Genesende erzählt sowohl von einer Niederkunft Zarathustras als auch von ei-
nem Heraufrufen des ,abgründlichen' Gedankens. Beides deckt sich mit der Überschrift
des Kapitels, die dies als einen „leiblichen Prozess der Gesundung darstellt"8; auch die
versucht er, seinen abgründlichen Gedanken zum Reden zu bringen. Als dieser zu spre-
chen ansetzt, verschlägt es Zarathustra die Sprache. Die Darstellung zeigt, wie Nietz-
sche seinen Protagonisten (an anderer Stelle auch sich selbst) charakterisiert. Er präsen-
tiert einen von einer Inspiration Affizierten, der nicht Herr seiner selbst ist. Zarathustra
wird zur Wirkung einer sich von ihm unterscheidenden, substantiierten Ursache, die
zum wiederholten Mal von ihm Besitz ergreift.
Nietzsche hat sich selbst ebenso als ,Medium' einer Verkündung beschrieben, als
welches er den Zarathustra ,empfangen' habe. Er teilt Georg Brandes in einem Brief
mit, wie ihm auf seinen Märschen jeder Satz dieses Werkes förmlich zugerufen worden
sei (KSB, 8, 287). In Ecce homo gibt er eine bewundernswert genaue Beschreibung
seiner Erfahrung von Inspiration, an der auffallt, dass sie extrem unterschiedliche Emo-
tionen enthält: „Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen
Thränenstrom auflöst, bei der der Schritt bald unwillkürlich stürmt, bald langsam wird;
ein vollkommenes Ausser-sich-sein, mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl
feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das
Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als her-
ausgefordert, sondern als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflus-
ses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt"
(KSA, EH, 6, 339). Sowohl Nietzsche als Person und Empfänger der Inspiration, als
auch seine Empfindung in dem ekstatisch-abgründigen Augenblick stellt sich als in sich
-
differenziert dar: Alles ist in Bewegung und von Gegensätzlichkeit geprägt. Für Wil-
helm Lange-Eichbaum ist dies Grund, ihm „Züge des schizophrenen Erlebens" zu attes-
tieren." Nietzsche zeichnet ein Personenprofil, das nicht der Identität einer behördlich
erfassten Personalakte entspricht. Er selbst wie sein literarisches Analogon Zarathustra
ist vielmehr Effekt einer Bewegung, in deren repetitiver Form sich so etwas wie Persön-
lichkeit sedimentieren kann. Nietzsche, der sich wie kaum ein anderer gegen Kategorien
wie ,Ich', ,Ego', ,Identität' ausgesprochen hat, öffnet das Denken für eine rechtmäßige
Schizophrenie', die von nun an als Beschreibung dessen gelten muss, was seit René
9
Hierzu: „Wer gebären muss, der ist krank" (KSA, ZA, 4, 362).
0
Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt/M./Leipzig 1994, 254.
1'
Vgl. Wilhelm Lange-Eichbaum, Nietzsche Krankheit und Wirkung, 32f.
-
272 Axel Schubert
Descartes und noch bei Edmund Husserl als ego cogito, als identisches, ,reines Ich'
bezeichnet wird.12
Im ersten Abschnitt des Kapitels ist es Zarathustra unmöglich, seiner Inspiration ge-
recht zu werden und den Gedanken hervorzubringen. Gedankenstriche ersetzen die
Rede: Der Gedankenstrich bleibt die adäquate und einzige Möglichkeit, einen Gedan-
ken abzubilden. Nietzsche zeigt an dieser Stelle, wie er bei dem Versuch, eine individu-
elle Erfahrung in Schrift zu artikulieren, an eine Grenze stößt. Es ist die Grenze der
begrifflichen Sprache. Sie setzt dem kurzen ersten Abschnitt des Kapitels ein Ende.
Der zweite Abschnitt zeigt Zarathustra, wie er vor Ekel und Enttäuschung in Ohnmacht
-
fällt und sieben Tage zwischen Leben und Tod schwebt. Sieben Tage brauchte der jü-
disch-christliche Gott für die Erschaffung der Welt; sieben Tage dauert es, bis Zara-
thustra mit seinem Gegenentwurf aufwarten kann. Nietzsche denkt an die Schöpfung
einer ganz neuen ,Welt', eines neuen Wertekosmos', ohne jüdisch-christlichen Gott.
,
Doch auch nach sieben Tagen kommt es nicht zu einer Artikulation des Gedankens
in begrifflichen Worten des ,Fürsprechers des Kreises' Zarathustra. Der bildliche Dis-
kurs seiner Tiere, dem Adler und der Schlange, füllt sein Schweigen. Sie sichern ihm
die Unterstützung ,aller Dinge' zu, möge er doch endlich aus seiner Höhle heraustreten
und mit der Welt seine neue Erkenntnis teilen. Die Welt warte als sein ,Garten' auf
seine Zuwendung. Zarathustra hat eine andere Vorstellung von einem Garten. Das
,Geschwätz' der Tiere ist es, das er gärtnerischer Pflege unterziehen will. Zu ähnlich ist
-
es dem Sprechen der Menschen, das eine scharfe Kritik erfahrt. Zu lange war der
Mensch das auserwählte Tier, das die Rede hat: das zoon logon echón. Dabei hat er sich
Illusionen und ,Narreteien' hingegeben und Worte und Töne für die Dinge selbst gehal-
ten.
Den Tieren ist die Sprach- und Metaphysikkritik nichts Neues. Tanzt der Mensch
„über alle Dinge", so tanzen ihnen „alle Dinge selber" (KSA, ZA, 4, 272). Sie kennen
die Welt als jenen „Tanzboden göttlicher Zufalle", als welchen sie Zarathustra kurz vor
Sonnenaufgang erkannt hat (vgl., ebd, 207ff). Wie sie Zarathustras schwersten Ge-
,
danken schon kennen und ihm in dichterischer Gleichnisrede vortragen: „Alles geht,
Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins./ Alles stirbt, Alles blüht wieder auf,
ewig läuft das Jahr des Seins./ Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das
gleiche Haus des Seins./ Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu
der Ring des Seins./ In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel
Dort. Die Mitte ist/ überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit" (ebd., 272f.). Nun erfüllt
sich, was Zarathustra vom Wahrsager vernommen und was er gemeinsam mit dem
Zwerg im Gesicht des Einsamsten elaboriert hat. Die Tiere präsentieren eine Batterie
von Kreismetaphern, deren Variabilität den Text rhythmisiert, so dass die metaphori-
sche Rede des Kreises selbst ins Kreisen gerät. Das Gedicht tritt in den Kontext der
Musik; es ist ein Lied, dessen Worte ihre Bedeutung hinter ihre musikalischen Eigen-
schaften wie Rhythmus und Modulation zurückstellen. In lyrisch-musikalischer Form
bringt Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft beeindruckend zum Ausdruck.
Wieder wird nicht gesagt, was die ewige Wiederkunft ist; sie wird im Spiel mit sprach-
12
Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 86f.
Die Genesung des Zarathustra -
eine Epikrise 273
liehen Objekten aufgeführt. Sie realisiert sich „als Wiederkehr des ewig gleichen (oder
ähnlichen) Textes".13
Zarathustra ist erstaunt und erfreut, als er sieht, dass seine Tiere schon wissen, was er
in sieben Tagen mühsam erschaffen hat. Er versucht zu erklären, was die Schöpfung so
mühsam gemacht hat, was sein Ekel und Überdruß am Gedanken der ewigen Wieder-
kunft, wie am Dasein des Menschen war: Es ist der grassierende Pessimismus, der ihn
anwidert und ihm als ,schwarze schwere Schlange' in den Schlund kroch, der den Men-
schen zum grausamsten Tier gegen sich selber' macht, der die Menschen sich am Leid
anderer ergötzen lässt, um es dann Mitleid und Barmherzigkeit zu nennen. Auch der
Nihilismus, der ihm aus den Worten des Wahrsagers entgegensprang, ,würgt' ihn: dass
alles gleich und leer sei und sich nichts lohne. Nicht der Gedanke der ewigen Wieder-
kunft hat ihn chronisch krank gemacht, sondern die pessimistisch-nihilistische Qualität,
die man ihm geben wollte.
Die Tiere müssen Zarathustra unterbrechen; er droht erneut, vor Ekel zu kollabieren.
Sie legen ihm erneut ans Herz, in den ,Garten' der Welt hinauszutreten, nicht um ihn zu
bestellen, sondern um von ihm zu lernen. Er soll von den Vögeln das Singen lernen:
„Singen nämlich ist für Genesende" (ebd., 275). Singen ist die andere affirmative Geste
neben dem Lachen, mit der dem Pessimismus und Nihilismus des Wiederkunft-
Gedankens zu begegnen ist. Doch nicht allein Singen ist wichtig, sondern ebenso das
Singen neuer Lieder, die Anfertigung einer neuen ,Leier', auf der der Gesang begleitet
wird. Der Genesende wird neue Lieder und eine neue Leier brauchen. Immer aufs Neue
begleitet das Lachen den schöpferischen Akt, der neue Werke schafft.
In shakespearisch vertauschter Rollenverteilung ist das ,Ende' Zarathustras gedich-
tet. Die Tiere zeigen ihre tiefe Einsicht in den Wiederkunft-Gedanken durch die Formu-
lierung noch der letzten Konsequenz dieses Gedankens. Selbst Zarathustras letztes
Selbstgespräch vor seinem Tod sehen sie vorweg, führen es ihm vor: Zarathustra würde
die ewige Wiederkunft seiner selbst erkennen. Aus der Wiederkehr des ,großen Jahres
des Werdens' leitet sich ab, dass jedes dieser Jahre sich selbst gleich ist, dass wir (die
Tiere) darin uns selbst gleich sind, dass ich (Zarathustra) mir darin selbst gleich bin.
Die Tiere binden diese letzte Konsequenz jener individuellen Erfahrung wieder an Zara-
-
thustra und legen die Betonung zurück auf das ,Ich', das gleich wichtig für diesen Ge-
danken wie für Nietzsches Philosophieren ist. Doch es handelt sich um ein ursprünglich
differenziertes Ich, genau genommen ein Dividuum aus Ich und Seele14, das durch seine
Selbstbezüglichkeit die Möglichkeit zur Wiederholung birgt.
Die ewige Wiederkunft ist als Phänomen schon in der Welt, auch der Gedanke ist äl-
ter als zweitausend Jahre. Die Tiere, in die Naturgesetzmäßigkeit eingeweiht und sie
repräsentierend, zeugen davon, dass ihr Prozessieren bereits begonnen hat und auch in
Zukunft sein wird. Nietzsche durchwebt die verschiedenen Ebenen der Zeit und der
Person des Zarathustra mit seinem Gedanken, der so zu einer neuen Gesetzmäßigkeit
wird. Die Aufmerksamkeit liegt in der Person selbst, die der .Torweg' der Zeit ist, de-
13
Peter Gasser, Rhetorische Philosophie, 119.
14
Von der grossen Sehnsucht, in dem Zarathustra im inneren Dialog mit seiner Seele steht (KSA, ZA,
4, 278ff.).
274 Axel Schubert
ren Blick Nietzsche in die Ferne lenken will. In der Wollust des Zukünftigen' liegt die
,
Kraft, die zum Lachen und Singen anregt und die Bejahung des Schicksals ermöglicht.
Zarathustras Untergang ,endet' nicht nur an dieser Stelle, er beginnt zugleich wieder.
In diesem zyklischen Denken gibt es keinen Anfang und kein Ende mehr. Im unendli-
chen Kontinuum wird zwar seine Seele sterben wie sein Leib, aber das ,Ich' wird als
,Knoten von Ursachen', als notwendiges Schicksal ewig wiederkehren. Nietzsche spe-
kuliert nicht über ein jenseitiges Sammelbecken, das die Seele aufnehmen wird. Das
,Ich' wird so schnell ein ,Nichts' sein, wie es als Teil einer holistischen Kausalität wie-
derkehren wird: Ich, der Mensch ist ein Effekt des Wirkungszusammenhangs ,Welt'.
Zarathustra quittiert seine eigenen letzten Worte aus den Mündern der Tiere mit
-
Schweigen. Er kehrt zu seinem Gedanken zurück, setzt ein Signal gegen jeden weiteren
Versuch, ihn zu objektivieren. Es ist ein notwendiger Bestandteil jenes Gedankens, ihm
affirmativ zu begegnen, in ihm keine Sinnhaftigkeit und Wahrheit zu suchen. Statt des-
sen ist seine Funktion zu beachten, die darin liegt, das ,Ich' zur Quelle des Sinns und
des Neuen zu machen und Wahrheit durch Wahrscheinlichkeit zu ersetzen. Die ewige
Wiederkehr führt buchstäblich zu Nichts.
be und der Legitimation seines Denkens ergeben, zeigt der Gedanke der ewigen Wie-
derkunft am deutlichsten. Karl Löwith bringt dies auf die ernüchternde Formel: „Der
Gedanke der ewigen Wiederkehr ist bei Nietzsche philosophisch so wesentlich wie
fragwürdig: denn er ist für Nietzsche der erschütterndste Gedanke gewesen, während
nach ihm wohl sonst niemand von dem Gedanken im Ernst betroffen worden ist."15
Die Auseinandersetzung mit diesem Gedanken in der Nietzsche-Forschung mag Jaspers
-
Ansicht widerlegen. Es bleibt aber die Kluft zwischen der existentiellen Bedeutung
dieses Gedankens für Nietzsche und dem wissenschaftlichen Interesse, das die For-
schung daran hat. Während Nietzsche gesundheitlich von dem Gedanken betroffen war,
sind nach ihm in erster Linie wissenschaftliche Arbeiten mit dem Gedanken beschäftigt.
Es wird versucht zu rekonstruieren, was Nietzsche in seinen Schriften übermitteln woll-
te, wobei sich seinen Erfahrungen nur theoretisch genähert werden kann. Im Fall des
Zarathustra führt das zu erheblichen Problemen, da hier keinerlei objektive Beweisfüh-
rung angestrebt wird. Was in der Sprache der Lyrik ohne weiteres aussagbar ist, lässt
sich wissenschaftlich schwer nachweisen. Wenn Zarathustras Tiere (als Zarathustra)
Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 350.
Die Genesung des Zarathustra -
eine Epikrise 275
sagen: „ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Größten
und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge Wiederkunft lehre" (ebd., 276),
stellt sich die Frage, wie dafür Beweise beschafft werden können. Etwas, das als das
Gleiche und Selbe wiederkehren würde, wäre nicht als Wiedergekehrtes zu erkennen.
Arthur Danto bemerkt: „Wenn zwei Dinge einander so exakt gleichen, daß sie im Prin-
zip nicht auseinander gehalten werden können, dann kann nichts als Beweismittel dafür
dienen, daß es zwei voneinander zu unterscheidende Dinge gibt. Wenn man sie ausein-
ander halten könnte, würden sie sich lediglich im Punkte ihrer Unterscheidung unter-
scheiden."16 Obwohl Danto das Probleme identischer Wiederkehr sieht, unterschätzt
er die Bedeutung der Unterscheidung. Kann die bloße Unterscheidung (zeitliche Diffe-
-
renz) keine weiteren Aufschlüsse über das Ding und seine Wiederholung geben, so ist
es doch sinnvoll, sie als grundlegend und ursprünglicher als die erste emanierte Identität
zu sehen. Unterscheidung ist Voraussetzung dafür, dass sich weitere Formen bilden,
dass überhaupt etwas geschieht, da sie anschlussfähig ist für weitere Unterscheidungen.
Sie ermöglicht ein Prozessieren, das kein ,Leier-Lied' sein muss, sondern ein Schaffen,
eine Komposition sein kann.17
Die formale Bedingung ewiger Wiederkunft liegt in der Vielfalt und der Differenz,
das ewige Lied wiederkehrender Identität würde sich nie ausleiern. Zarathustras ver-
meintlicher Satz aus den Mündern der Tiere würde auf dem Prüfstein der Logik eines
solchen Identitätsdenkens scheitern aufgrund seines unsinnigen, rein deskriptiven In-
halts. Doch was kümmern den fröhlichen Wissenschaftler Nietzsche die Werte der
Logik? Er weiß um die Kraft der Dichtung, die die Wissenschaft auf solche Weise her-
-
auszufordern vermag. Zu gut ist ihm bewusst, dass die Gegenüberstellung von Kunst
und Wissenschaft zu keiner Favorisierung eines der beiden Antipoden führen kann, dass
sein innerer Kampf um die Gunst eines der beiden Lager seine .Krankheit' war, dass
ihn erst die Koexistenz von Kunst und Wissenschaft zu einem .Genesenden' gemacht
hat. Der dichtende Denker hinterfragt das traditionelle Identitätsdenken, das eine Ein-
heit und Ursprünglichkeit der Identität annimmt, dies in einem seiner obersten Grund-
-
sätze der Logik formuliert. Ausgehend von existentiellen Erfahrungen der Differenz
kreiert er ein davon abweichendes Denkmodell, das mit dem ,Einen', ,Vollen' und
unvergänglichen' bricht. Man denke an den inneren Dialog des ,schizophrenen' Sub-
jekts Zarathustra im Kapitel Vom Freunde: „,Immer Einmal Eins das giebt auf Dauer
Zwei!'/ Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten,
-
wenn es/ nicht einen Freund gäbe?/ Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte:
der Dritte ist der Kork, der/ verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt"
(ebd., 71).
Als er nach der letzten Interpretation seines schwersten Gedankens durch die Tiere in
Schweigen verfallt, spaltet sich seine Subjektivität erneut für ein internes Zwiegespräch
16
Arthur C. Danto, Nietzsche als Philosoph, München 1998, 247.
17
George Spencer-Brown, Laws of Form Gesetze der Form, Lübeck 1997; Gilles Deleuze, Diffe-
renz und Wiederholung, 164ff. Spencer-Brown macht deutlich, dass jeder Unterschied als Auffor-
-
derung zum Treffen einer Unterscheidung gelten muss, dass die Feststellung eines Unterschiedes
eine Unterscheidung ist. In diesem Sinne werden Unterschied und Unterscheidung (Differenz/ Dis-
tinktion) synonym verwendet.
276 Axel Schubert
mit sich bzw. seiner Seele. Die multiple Persönlichkeit Zarathustra präsentiert sich als
Beispiel existentieller Differenziertheit. Sie ist verschwistert mit der formalen und ur-
sprünglichen Differenz der ewigen Wiederkunft. Nietzsches Mahnung in Ecce homo
bezüglich seiner eigenen Identität knüpft daran an: „Verwechselt mich vor Allem
-
nicht!" (KSA, EH, 6, 257). Man kann nicht behaupten, Nietzsche gelänge es, zu sagen,
,wer er ist'. Er schreibt im Nachhinein, „wie man wird, was man ist" (ebd., 255) und
umgreift alle drei Zeitformen, in denen ein Mensch gesehen werden kann und muss.
Diejenige aber, auf die es ihm ankommt, ist die, in der man wird, was man ist: die
,höchste Zeit' der Zukunft, die Zeit des Werkes und des Schaffens. Nur auf die Zukunft
gerichtet ist es möglich, an dem zu gestalten, was man ist, auch wenn man daran zu
Grunde geht.
In der Zeitform des Werdens muss die ewige Wiederkehr gedacht werden. Die Wie-
derkehr in Gegenwart und Vergangenheit kann niemals ewig sein, sondern muss einma-
lig bleiben. Hier ist sie das Gleiche, das ebenso verschwindet, wie der Zwerg auf Zara-
thustras Schultern. Das Zukünftige im Visier und den Blick auf die Gasse vor uns
gerichtet, öffnet sich die Wiederholung, bietet Anschluss für neue Wiederholungen.
Wie die Differenz ist die Zukunft eine offene, anschlussfähige (Zeit-)Form. Ihre Beja-
hung macht aus der kreisförmigen Monotonie, die der Zwerg mit aller Schwere auf
Zarathustras Schultern legen will, eine lineare, liebenswürdige Ewigkeit. Sie macht
Zarathustra zu einem Genesenden, dessen Seele die Wollust des Zukünftigen' zu be-
,
singen weiß.
Nietzsche denkt statt einer Identität eine Differenz. Ewige Wiederkehr des Gleichen
bedeutet ewige Wiederkehr der Differenz. Die Wiederkehr in ihrer Aktualität und in
ihrem Vergehen ist das Gleiche und Selbe. Das ,Was' der Wiederkehr ist die Differenz:
„Die ewige Wiederkunft ist nicht das Verharren Ein-und-Desselben, ist weder ein
Gleichgewichtszustand noch die Dauer des Identischen. In der ewigen Wiederkunft
kehrt nicht das Ein-und-Dasselbe zurück, sondern ist die Wiederkunft selbst das Eine,
das allein vom Diversen und von dem sich Unterscheidenden ausgesagt wird."18 Der
Zarathustra illustriert dies durch die verschiedenen Versionen, in denen der Gedanke
-
der ewigen Wiederkunft präsentiert wird. Seine Artikulation findet in immer wiederkeh-
render Reformulierung statt. Von seiner ersten Erwähnung in der Fröhlichen Wissen-
schaft bis zur dichterischen Formulierung in Der Genesende erfahrt der Leser den Wie-
derkunft-Gedanken in beständig sich wandelnder Interpretation. Selbst am Ende es
Kapitels weist Zarathustras Schweigen darauf hin, dass eine endgültige Fassung des
Gedankens nicht gefunden ist, sie sich niemals finden wird.
Wenn die Wiederholung im Zarathustra das Thema ist, so immer in leichter Ab-
wandlung. Mit großer Freude greift Nietzsche vorherige Elemente auf und trägt sie in
einer Variante vor. Verkündet der Wahrsager anfangs noch: „Alles ist leer, Alles ist
gleich, Alles war!" (KSA, ZA, 4, 172), erfährt der Satz später die Variation: „Alles ist
gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt" (ebd., 274) und dann: „Alles ist gleich, es
lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt." (ebd., 300). Durch die Wiederho-
lung wird nicht immer wieder eine Identität bestätigt, sondern Formlosigkeit in eine
Form überführt. Die Form der Form ist selbst wieder eine Unterscheidung, was ein
ewiges Prozessieren möglich macht. Was sich als bloße Unterscheidung, als ,nackte
Wiederholung' (Deleuze) wiederholt ist dem Untergang geweiht. Das ist die Wiederho-
lung der Gegenwart und der Vergangenheit: sie bleibt unbemerkt, kann nicht ,identifi-
ziert' werden. Erst die unterschiedene Unterscheidung vermag ein Zeichen zu setzen,
das ewig wiederkehren wird: „Das Zeichen kommt" (ebd., 406). Die Erkenntnis der
ewigen Wiederkehr allein ist völlig sinnlos. Sie ist entmutigend, ängstigend und infekti-
ös: „Die ewige Wiederkehr hat keinen anderen Sinn als den folgenden: die Absenz
eines zuschreibbaren Ursprungs, d. h. die Zuweisung des Ursprungs als die Differenz,
die das Différente aufs Différente bezieht, um es (oder sie) als solche(s) wiederkehren
zu lassen."19
Eine Infektion ist nötig, damit sich eine Genesung ereignen kann. Ist dieses formale
Prinzip erkannt, so wird gleichzeitig jene zyklische Hypothese abgelehnt, die von Zara-
thustra als die falsche Interpretation der ewigen Wiederkehr kritisiert wird. Weder ist
die Zeit ein Kreis, wie der Zwerg im ,Gesicht des Einsamsten' vermutet, noch ist die
ewige Wiederkehr ein starrer Mechanismus, wie es noch seine Tiere sehen. Der
schweigende Schöpfer Zarathustra entdeckte einen medikamentösen Zug in dem Ge-
danken, der ihn immer wieder in die Krankheit getrieben hat. Ewige Wiederkehr bein-
haltet ein selektives Moment, das die Fatalität dieses Gedankens abschwächt. Dazu
muss der Blick vom vergehenden Augenblick abgewandt werden: Die Zeit ist nicht ein
Kreis; die lineare Abfolge der Zeitformen wird zum Kreis (des Werdens). Die Positio-
nierung ewiger Wiederkehr in die Zukunft bringt das Wollen ins Spiel. Dieses ist durch
Zarathustras Anstrengungen ,schwerelos' geworden, durch die Gleichung: wollen =
schaffen. Schließlich erfahrt der Gedanke der ewigen Wiederkehr durch die ständige
Umformulierung eine entscheidende Wandlung. Was zuerst durch die Figur des göttli-
-
chen Schreckensbotens in der Fröhlichen Wissenschaft als größte Last des Lebens ver-
kündet und zum Grund der Krankheit ,Mensch' wie des Menschen ,Krankheit' erklärt
wird, erscheint zum Schluss als der genesene Wille einer krankheitsfähigen Existenz.
Derselbe Gedanke, der dem Menschen die Krankheit des Nihilismus und Pessimismus
beschert hat, sorgt für die Genesung durch das Wollen des Wollens im Schaffen.
Der Briefwechsel von Carl Ludwig Nietzsche (1813-1849) mit Emil Julius Schenk
(1811-1895)1 umfasst insgesamt 245 zum Teil umfangreiche Briefe. Nach der schweren
Erkrankung Carl Ludwig Nietzsches, führte zunächst Franziska Nietzsche den Brief-
wechsel mit Schenk weiter. Als ihr Mann am 31. 7. 1849 starb, intensivierte sich die
bereits bestehende Korrespondenz von Franziska Nietzsche mit Schenks Frau Emma.2
Nach Emmas frühem Tod 1863 hat Schenk den schriftlichen Gedankenaustausch mit
Franziska Nietzsche aufgenommen. Bis ins hohe Alter gingen Briefe, geschrieben je-
weils anlässlich Franziskas Geburtstags von Zeitz, später Dodendorf nach Naumburg
und umgekehrt hin und her und erzählen von familiären und beruflichen Ereignissen.
Der schriftliche Gedankenaustausch der beiden Pfarrer Nietzsche und Schenk, enthält
-
viel Persönliches, lässt manches von der Atmosphäre, die in den Pfarrhäusern von Rö-
cken und Zeitz herrschte, spüren und bringt uns die Menschen, die diese Pfarrhäuser
bewohnten, in ihrem Handeln, Denken und Fühlen näher. Darüber hinaus wird die theo-
logische Denkungsart der beiden Briefpartner verständlich.
Der Briefwechsel ist nicht veröffentlicht, vorhanden in: Goethe-Schiller-Archiv Weimar (GSA):
100/363 resp. 396.
'
Beide Mütter erzählten sich und nahmen gegenseitig Anteil am Aufwachsen und Wohlergehen der
Kinder und Familien. Wir erfahren, dass der bekannte Leipziger Arzt, Hofrat Oppolzer zu Beginn
des Jahres 1849 bei Carl Ludwig Nietzsche einen unheilbaren „organischen Schaden im Gehirn"
diagnostizierte; dass es Franziskas Vater, der Pobleser Geistliche David Ernst Oehler gewesen war,
der angesichts der schweren Krampfzustände, die Joseph, den jüngsten Spross der Röckener Pfar-
rersfamilie, immer wieder befielen, „medizinisch thätig wurde und Joseph von seinen Krämpfen er-
löste". Von ihrem Ältesten ließ Franziska ihre Freundin am 16.11.1849 wissen, dass „Fritzchen
[...] seit seinem Geburtstag (dem 15. 10. M. P.) täglich auf eine Stunde in die öffentliche Schuh-
le" gehe. „Es gefallt ihm auch recht wohl und er meinte er hätte es sich doch so schwer vorgestellt."
-
Wir erfahren wir auch, dass die Nietzsches lange nicht wussten, ob sie Fritz nach Schulpforta oder
nach Halle zur Schule schicken sollten (Briefe Franziskas an Emma Schenk vom 8. 3. 1844; 4. 4.
1849; 16. 11. 1849).
280 Martin Pernet
Alles werden zu wollen, die damit auch mit einer liebenswürdigen Demuth sich nicht
bloss mir, sondern auch in bezaubernder Kindlichkeit meiner guten Mutter ganz unter-
ordnet und ergeben ist" (25. 8. 1843).
Die Mutter Nietzsches war die im Röckener Pfarrhaus bestimmende Persönlichkeit,
eine Stellung, die ihr Sohn nie in Frage gestellt hat. Zu selbstverständlich war sie ihm
und zu groß seine Achtung und Verehrung für seine Mutter. Sie war ihm ,,de[r] Schutz-
Engel meines Pfarrhauses" (Brief an Schenk, 10. 10. 1842). Was die beiden Schwes-
tern Carl Ludwig Nietzsches betrifft, die auch im Röckener Pfarrhaus wohnten, so er-
-
3
Franziska Nietzsche, in: Mein Leben (unveröffentlicht, geschrieben 1895, 30. GSA, Nietzsche-
Familie 851).
Eine Quellefür Nietzsches christliche Herkunft 281
Naumburg begab, war es Auguste, die ihn begleitete und ihn in Naumburg pflegte. Mit
ihr verband ihn eine ganz besonders herzliche Geschwisterliebe. Insgesamt herrschte im
Röckener Pfarrhaus eine aufgeräumte und heitere Stimmung, nicht zuletzt dank der
Kinder, die sich im Laufe der Jahre eingestellt hatten, wenn auch melancholische Mo-
mente nicht fehlten.4 Das Verhältnis zu seinen Schwiegereltern, namentlich zur
Schwiegermutter, zwar kein ungetrübtes, doch kann keinesfalls von einem Zer-
-
war
würfnis gesprochen werden.5 Der gesamte Briefwechsel Nietzsche Schenk ist in die-
ser Hinsicht eindeutig. So schrieb Nietzsche kurz nach seiner Vermählung am 10. 10.
-
1843 nach Zeitz: „Selbst auch über das Haus meiner Schwiegereltern (das verachtete
Nazareth unsrer Gegend) glaube ich früher zu scharf geurtheilt zu haben, nachredend
dem, was Andere sagen; ich habe bis jetzt viel mehr dort gefunden, als ich suchte, mehr
aber bei dem Schwiegervater, als bei der Schwiegermutter, was nun einmal eine komi-
sche Frau ist, vielleicht aber doch von besserem Kern, als die gar zu auffallende Schale
verrathen läßt." Das Pobleser Pfarrhaus blieb für die Nietzsches ein Ort des Zuspruchs,
in Zeiten der Not ein Ort der Hilfe und des Trostes.6
Hingewiesen sei in dem Zusammenhang auch auf Mitteilungen, in denen er von sei-
nem ältesten Sohn Fritz, wie er ihn liebevoll nannte, berichtet. Auch hier gilt es, Verein-
fachungen aus dem Weg zu räumen. Rainer Bohley weist in seinem Artikel über Nietz-
sches christliche Erziehung1 auf einen Brief von Nietzsches Vater an dessen Freund
Schenk hin, in dem Nietzsche von seinem Sohn Fritz, dieser ist gut zwei Jahre alt, be-
richtete: „Fritz ist [...] ein wilder Knabe, den manchmal allein der Papa noch zur Rai-
son bringt, sintemalen von diesem die Rute nicht fern ist." Auf der Basis dieser einzigen
Briefnotiz, wo Vater Nietzsche von einer Rute als Erziehungsmittel spricht, konstruiert
Bohley eine ganze Erziehungspraxis, die pietistischer Haltung entstamme und zum
Inhalt habe, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, „damit das Kind später offen sein
kann für Gottes Willen".8 Das Bild einer vorwiegend mit Rute und Schlägen geübten
Erziehungspraxis im Röckener Pfarrhaus ist falsch. Das Gegenteil war der Fall! Darauf
verweist bereits die unmittelbare Fortsetzung des von Bohley gebrachten Zitats, das der
Verfasser leider unterschlägt: „Allein jetzt hilft ein Anderer mächtiger mit erziehen, das
4
Die Atmosphäre im Pfarrhaus als ,morbid' zu charakterisieren, wie Curt Paul Janz dies tut (ders.,
Nietzsche. Biographie, Bd.l, München 1978, 42), entspricht in keiner Weise der Realität.
Rainer Bohley (ders., „Nietzsches Taufe", in: Nietzsche Studien, Bd. 9, Berlin/New York 1980,
389f.) und in seinem Gefolge andere sehen aufgrund einer einzigen negativen Mitteilung Nietz-
sches an Schenk ( Brief vom 22. 2. 1844) im Verhältnis des Philosophenvaters zu seinen Schwie-
gereltern „schwer überbrückbare Gegensätze", was den Tatsachen nicht entsprach.
Besuche gingen zwischen Röcken und Pobles hin und her und Carl Ludwig und Franziska feierten,
wie stolz nach Zeitz gemeldet wurde, „mit Dank gegen Gott in Pobles das Lustrum unsres Verlo-
bungstages" (Brief vom 1. 8. 1848). Als Nietzsches schwere Krankheit ausgebrochen war, war es
der Schwiegervater aus Pobles, der die dringend benötigten Medikamente bei den Ärzten holte und
selbst den Hofrat Oppolzer aus Leipzig nach Röcken gebracht hat. Nach dem Tod ihres Mannes
weilte Franziska Nietzsche regelmäßig mit ihren Kindern längere Zeit in ihrem Vaterhaus (vgl.
Briefe Franziskas an Emma Schenk).
Rainer Bohley, „Nietzsches christliche Erziehung", in: Nietzsche-Studien, Bd. 16 (1987), 169ff.
Ebd., 170. Dazu die von Bohley übernommene, doch wesentlich naivere Kolportierung des Sach-
verhalts bei Klaus Goch, Franziska Nietzsche. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1994, 136.
282 Martin Pernet
ist der liebe heilige Christ, welcher auch bei dem kleinen Fritz schon Kopf und Herz
ganz eingenommen hat, der von nichts Anderem sprechen und hören will als vom ,heile
Kist!'" (15. 12. 1846). Wenn Carl Ludwig Nietzsche in anderen Briefen von Fritzens
Lausbubereien erzählt, so tat er es z. B. so: „Aber auch mein Fritzchen, der sehr an
Husten litt, dabei aber an Leib und Seele Artigkeit und Unartigkeit zunahm und doch
trotz Husten und Unart unsre täglich wachsende, unaussprechliche Freude ist" (6. 7.
1846) und: „er bereitet uns mit seinem muntern gesunden, fröhlich in die Welt hinein-
guckenden Schwesterlein viel, viel Freude" (13. 11. 1846). Das ist der Tenor, der die
Briefe durchzieht, wenn er von seinem Ältesten berichtet. Ohne Zweifel war Friedrich
Nietzsches Vater ein herzensguter, sehr sensibler, stolzer Erzieher seines Sohnes und
seiner Kinder. Grobheiten, begangen an seinen Kindern9, sind nicht denkbar. Insgesamt
wird über die ganze gemeinsame Zeit, die Vater und Sohn vergönnt war, es waren
knapp fünf Jahre, das gelten dürfen, was Nietzsche seinem Freund in Zeitz mitteilte,
unmittelbar nachdem Fritz geboren und getauft worden war: „Dass aber ein solches
Kindlein eine solche Revolution in einem Hauswesen bewirken würde, hätte ich nicht
gedacht; er kommt mir vor, wie ein kleiner Souverain, dem alle gehorsamst folgen müs-
sen, wobei er die Person nicht ansieht denn er dirigir! freilich durch den Zug der Liebe
die Mutter wie die Großmutter, den Vater wie die Tante. Alles, Alles aber ist sehr
-
glücklich darüber, und bei dem Zuwachs der Sorgen ist die Freude auch gewachsen"
(29. 10. 1844). Zu erwähnen bleiben schließlich einige wenige Bemerkungen des
Röckener Pastors über Johann Christian Gustav Dathe, Dorfschullehrer in Röcken von
-
1838 bis 1854. Über den Lehrer Dathe, von dem die Röckener sagten, er sei ,ein Thy-
rann'10 (er prügelte nicht nur die Schulkinder über jedes Maß, sondern in seinem Haus
erbarmungslos auch seine elf Kinder und seine Ehefrau, was zunächst Verweise, dann
Geldstrafen und schließlich seine Absetzung zur Folge hatte), hatte Nietzsche, als Pfar-
rer Mitglied der Schulbehörde, den vorgesetzten Amtsstellen vorschriftsgemäß Bericht
erstattet, was Dathe sehr übel genommen hatte. Es kam zum gegenseitigen Zerwürfnis.
Daraufhin hatte Nietzsche die Versetzung Dathes gewünscht, aber die Regierung war
darauf nicht eingetreten.
9
Jede Erkrankung des Sohnes Fritz meldete der besorgte Vater nach Zeitz (ebenso Schenk die seiner
Kinder nach Röcken), erwähnte auch außerordentliche Ereignisse: „Fritzchen papelt wie ein Staar-
mätzchen und ist am Dienstag zum erstenmal auf dem Jahrmarkt in Lützen gewesen" (19. 3. 1847);
nach einem Besuch bei den Schenks in Zeitz meldete Nietzsche dahin: „Was wir aber von unsrer
Rückreise erzählen könnten, ist eigentlich nur das, was wir dabei von Eurer grossen Güte und
freundlichen Bewirthung dankend und rühmend gesprochen haben; es bewegte diess sich Alles um
das Thema, was Fritzchen verkündete, es habe ihm ,in -eitz -anz -ehr' gefallen; der kleine Mensch
war in solcher Erinnerung ganz ausgelassen und aufgeregt" (30. 4. 1847).
10
Zitat aus der Dorfchronik von Röcken (unveröffentlicht).
Eine Quellefür Nietzsches christliche Herkunft 283
Später wandte sich Hengstenberg der Neuorthodoxie zu und repräsentierte den konservativen Flü-
gel der evangelischen Union. Er kämpfte kompromisslos gegen Rationalismus und Liberalismus,
stellte sich der Aufgabe, wie er in der von ihm während einer Zeitdauer von über 40 Jahren heraus-
gegebenen Ev. Kirchenzeitung (der Pfarrer von Röcken war ein eifriger Leser der Gazette) formu-
lierte: „die Wahrheiten, wie sie in der Hl. Schrift enthalten und aus ihr in den Bekenntnisschrif-
ev.
ten unserer Kirchen abgeleitet sind, zu begründen und zu verteidigen". Die Verbindung von Thron
und Altar und seine bekenntnisgebundene Rechtgläubigkeit kennzeichnen ihn in späteren Jahren als
Vertreter der Restauration.
Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft 285
unseren Herrn gebetet habe, das ist nicht der König, welcher einst gesprochen ,wehe
dem, der an meine Krone rührt', das ist nicht der König, dem ich einst in tiefster Ehr-
furcht ins Auge geschaut als Einem, der von Gottes Gnaden vor mir stand!" Als christ-
lich-konservativer Royalist, der von sich sagte, dass ihm „überhaupt alles, was der Kö-
nig thut, (mir) ganz zusagt, weil doch in Allem, wie es auch auffallt, ein christlicher
Geist wehet, wozu ich auch die Zeitungs-Verbote, Professoren-Absetzungen, Ordens-
verleihungen an die gläubigen Geistlichen (auch an Couard) rechne" (19. 2. 1843 an
Schenk.) war Nietzsche über die Ereignisse in der preußischen Metropole entsetzt und
davon zutiefst betroffen.
Schenk urteilte differenzierter, zeigte mehr Gespür für die Zeichen der Zeit, bezich-
tigte den Röckener Freund der „politischen Naivität". Auch er verurteilte die Revoluti-
on, nahm aber das Verhalten des Königs von seiner Kritik nicht aus: „Wie ist die durch
ein Menschenalter ausgestreute Unheilssaat in einer Nacht blutig aufgegangen (er dach-
te an die Juni-Ereignisse in Berlin M. P.). Wird Liebe und Vertrauen nach solchen
Vorgängen zwischen Fürst und Volk wieder herzustellen sein? Kann sich der König mit
-
den neuen Ministern halten? Gott weiss es allein [...] O hätte doch der König früher
aufgegeben, hätte er noch vor 14 Tagen sich an die Spitze der freisinnigen, constitatio-
nellen Bewegung Deutschlands gestellt, er wäre jetzt schon das Haupt des deutschen
Bundes, trüge vielleicht die Kaiserkrone. Nun hat er gezwungen darauf eingehen müs-
sen, da hats keinen Werth" (22. 3. 1848).
Ebenso unterschiedlicher Meinung waren die beiden Freunde über das Verhalten
Herzog Josephs von Altenburg während der 48er Revolution. Da Nietzsche innerlich
ganz auf der Seite ,seines' Herzogs stand, teilte er voll Sorge Schenk mit: „Nun, Du
kannst wohl glauben, dass mir dies jetzt Tag und Nacht im Sinne liegt. Ich will aber
doch kurz darüber sein: ich stelle mich der innersten Überzeugung nach auf die Seite
des Herzogs, denn was man ihm vorwirft, das wirft man allen Fürsten vor und hinter
den Vorwürfen ist doch nur revolutionäre und republikanische Gelüste und französische
Nachäfferei verborgen" (27. 6. 1848). Schenk wollte Nietzsche in seiner Analyse auch
hier nicht folgen. Nüchtern stellte er fest: „In Altenburg ist grosse Gährung. Der Herzog
verdirbt es durch sein schwankendes Wesen, einmal zu fest und abstoßend, dann wieder
zu nachgiebig und ganz haltungslos mit allen Parteien"
(13. 5. 1848). Und: „Du hast
doch gelesen, dass aus dem Altenburger Lande eine Monsterpetition um allgemeine
Einführung der Republik nach Frankfurt gesendet worden ist? [...] Mich nimmt der
Umsturz drüben nicht wunder, Du mußt selbst gestehn, dass ein Augiasstall auszuräu-
men war" (9. 6. 1848). Doch wollte Schenk, immer bemüht um ein gutes Einvernehmen
mit seinem Röckener Freund, Person und Sache getrennt wissen. Darum die folgende
Beschwichtigung an Nietzsches Adresse: „Um den Herzog wollen wir nicht streiten;
das gute Herz lasse ich ihm, aber das reicht jetzt nicht aus. Das Bischen Kopf, was er
noch gehabt hat, hat er offenbar bei den Stürmen verloren, und dann verblendete Hart-
näckigkeit für Muth gehalten" (30. 6. 1848).
286 Martin Pernet
Eigentlich wäre die Erweckungsbewegung auf Grund ihrer reichen Kräfte und begeis-
terten Vertreter berufen gewesen, die tiefgreifenden Wandlungen der allgemeinen Lage
als Aufgabe zu erkennen und anzupacken. Aber sie beschränkte sich auf die Bekämp-
fung des Rationalismus und verfing sich in einem bloßen ,Anti', ohne die berechtigten
Anliegen dieser Glaubensrichtung zu erkennen.
In der preußischen Provinz Sachsen fürchteten die Rationalisten auf Grund der im-
mer stärkeren Einengung der Lehr- und Glaubensfreiheit in der evangelischen Landes-
kirche die gänzliche Unterdrückung ihrer Glaubensrichtung. Auf einer Zusammenkunft
in Halle hatten sie deshalb 1841 ein gemeinsames Credo formuliert. Ausgangspunkt und
zentraler Argumentationssatz war der Primat der Vernunft. Alle Glaubensaussagen
mussten der Prüfung durch die Vernunft standhalten. Als essentielle Grundsätze des
Christentums galten für sie der Glaube an Gott, an die Unsterblichkeit und an die Tu-
gend der Menschen. Damit hatten sie den reformatorischen Bekenntnisschriften ihre
normative Gültigkeit abgesprochen, jedem Staatskirchentum und zentralisierten Kir-
chenregiment eine Absage erteilt. Organisiert hatten sich die Rationalisten auf Initiative
des Magdeburger Pfarrers Leberecht Uhlich12 in der Gruppe der so genannten Licht-
freunde zur Selbstbehauptung gegen die neupietistische Orthodoxie. Vor der staats-
kirchlichen Wirklichkeit und der politischen Repression wirkten solche Anliegen radi-
kal und rebellisch. Die Gefährdung des etablierten Herrschaftssystems, die Schlagworte
,Freiheit' und ,Vernunft' hatten die Lichtfreunde gegen die ,Erweckten' verwendet, war
augenfällig. Mit Kabinettsordre vom 5. 8. 1845 wurden Versammlungen dieser theolo-
gischen Gruppierung in Preußen untersagt. Das gefährliche Moment dieser Glaubens-
überzeugung lag für die Regierung in der Tatsache, dass die Bewegung in allen Schich-
ten des Bürgertums Anhänger gefunden und der Ruf nach einer wie auch immer
gearteten protestantischen Freiheit' eine nicht gekannte Solidarität zwischen den Bür-
gern und Bürgerinnen wachgerufen hatte. Geschützt durch das Recht freier Religions-
ausübung, hatten sich die Zusammenkünfte der ,Lichtfreunde' zu einem Ort bürgerli-
cher Opposition entwickelt. Erschrocken über die massenhafte Beteiligung, müsste die
Regierung erleben, wie auf diese Weise Volksversammlungsverbote umgangen und ihre
Politik der ständischen Abgrenzung und Teilung unterlaufen wurde.
Den Rationalisten gegenüber standen die Vertreter der Erweckungsbewegung. Hat-
ten sich auch in ihr verschiedene theologische Richtungen ausgebildet, so war allen der
konservative Grundzug eigen. Im preußischen Sachsen war die Erweckungsbewegung
in einen mäßigen Konfessionalismus übergegangen. Ein mildes Luthertum, Neuluther-
tum genannt, das für andere Richtungen offen blieb, hatte nach innerkirchlichen Aus-
einandersetzungen Oberhand gewonnen. Absicht der Neulutheraner war es, in einer von
nivellierenden Einflüssen bestimmten Zeit, auf das Bekenntnis als organisierendes Prin-
zip theologischer Arbeit und auf die Bibel als organisch aufgefasste Heilsgeschichte
12
Leberecht Uhlich (1799-1872), Studium der Theologie in Halle beim Rationalisten Wegscheider,
später Hauslehrer, seit 1827 Pfarrer, ab 1845 in Magdeburg. Dazu: Martin Pernet, Das Christentum
im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, Opladen 1989, 23, Anm.69.
Eine Quellefür Nietzsches christliche Herkunft 287
lernte Carl Ludwig Nietzsche ebenfalls persönlich kennen und schätzen. Die an der
theologischen Fakultät der Universität Halle repräsentierten theologischen Richtungen
sind Hinweis auf Nietzsches theologische Entwicklung. Vom theologischen Rationa-
lismus seines Elternhauses begann er schon als Student Abschied zu nehmen, noch ohne
zu wissen, welcher andere Weg ihn erwartete. Im Laufe der Jahre hatte er sich eng an
Marks angeschlossen, der die praktisch-theologischen Fächer vertrat, zeitlebens dem
preußischen König und der von ihm verkündeten Union eine hohe Wertschätzung ent-
gegengebracht hat. Geweckt hatte Marks in Nietzsche das Interesse für die Homiletik,
der von der Erweckung am meisten geforderten theologischen Disziplin. Einmal im
Amt, las er nichts so aufmerksam wie Predigtsammlungen, geschrieben von beinahe
ausschließlich erweckten Geistlichen wie Couard (1793-1865) und Johann Fr. Arndt.
Gegenüber Schenk schwärmte Nietzsche von dieser Predigtlektüre. Schenk antworte-
te, dass ihm Arndt „mißfallen" habe. Einzelnes sei ihm wie „Unsinn" vorgekommen
und „mit Phantastereien sollen wir unsere Gemeinde wahrhaftig nicht unterhalten"
(5. 1. 1848). Als Nietzsche nach dem bestandenen zweiten theologischen Examen seine
Prüfungspredigt hielt, wird deutlich, dass er sich endgültig vom theologischen Rationa-
lismus verabschiedet hatte, jedoch noch ohne mit fliegenden Fahnen in das Lager der
Erweckten übergelaufen zu sein. Dass er allen drei Richtungen innerhalb der Erwe-
ckungsbewegung, der biblizistischen, erwecklichen und konfessionalistischen, gegen-
über zeitlebens Vorbehalte gehegt hat, zeigt besonders der hier interessierende Brief-
wechsel mit Emil Julius Schenk. Am ehesten fühlte er sich, wenn auch mit Vorbehalten,
den konfessionalistischen Neuorthodoxen (ihr Dogma war die Verbindung von Thron
und Alter und eine bekenntnisgebundene Rechtgläubigkeit, ihr Führer Hengstenberg)
verwandt. Eindeutig stellte er sich allerdings auf die Seite der Union, war es doch der so
verehrte preußische König gewesen (Nietzsche taufte seinen Erstgeborenen „zur Erin-
nerung an den königlichen Geburtstag [auf den Namen M. P.] Friedrich Wilhelm"
[Brief an Schenk, 29. 10. 1844] und charakterisierte auch seine Theologie als „preus-
-
sisch-theologisch" [Brief an Schenk, 20. 8. 1846]), der die Kirchenunion angeregt hatte.
Zu Nietzsches theologischen Gewährsmännern zählten Marks, Möller und Hanisch
(1787-1864), alle Anhänger der Erweckungsbewegung und überzeugte Unionisten.
Nach seinem ersten bestandenen theologischen Examen unterrichtete Nietzsche in
Altenburg zunächst die Kinder seines Verwandten Baumbach und predigte in Stellver-
tretung des Hofpredigers in der Schlosskapelle, wo Herzog Josef von Altenburg, er
hatte 1834 die Regierung des Landes von seinem Vater Friedrich übernommen13, ihn
kennenlernte und ihm 1838 das Amt des Erziehers seiner drei Töchter übertrug. Neben
dem Unterricht hatte er auch das Fach Religion zu erteilen. Zudem war das Studium der
Theologie weiterzuführen. Später hatte es Nietzsche der Fürsprache des Herzogs beim
Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg (1789-1868) regierte das Fürstentum von 1834-1848. Dass
die Bewegung von 1848 in Altenburg besonders stark gewesen war, lag an der allgemeinen Miss-
stimmung im Volk über des Herzogs sehr konservative Politik und seine Begünstigung ultrarechter
kirchlicher Kreise. Am 30. 11. 1848 dankte der Fürst zugunsten seines Bruders Georg ab. Von den
sechs Fürstentöchtern unterrichtete Carl Ludwig Nietzsche die drei ältesten: Maria Alexandrine
(1818-1907), Thérèse Henriette (1823-1915), Elisabeth Pauline (1826-1896). Dazu H. Schoeppl,
Die Herzoge von Sachsen-Altenburg, Bozen 1917, 177-183.
Eine Quellefür Nietzsches christliche Herkunft 289
preußischen König zu danken, dass er das Pfarramt von Röcken erhielt, war doch der
preußische Monarch Röckener Kirchenpatron. In Altenburg war es, wo er seinen
Freund Emil Julius Schenk kennen gelernt hatte.
Theol. Werdegang von Emil Julius Schenk (unveröffentlicht, in: AEK Magdeburg, Seh. 184, 1, 5).
290 Martin Pernet
rem Freundesverhältniss soll es beim Alten bleiben, d. h. unsre Freundschaft soll auf
festem Grunde ruhen, der nicht erschüttert werden kann, ob auch unsre Ansichten und
Richtungen hie und da auseinandergehen. Ja ich hoffe zu Gott, dass unsre alte Freund-
schaft auch dann eine Brücke finden würde, wenn wir uns irgendwo im entschiedensten
Gegensatze einander gegenüber erblickten" ( 8. 10. 1847). Nachdem Schenk an der
Universität Halle sein erstes Examen 1834 bestanden hatte, arbeitete er als Hauslehrer
-
auch in Altenburg. Dort lernte er Carl Ludwig Nietzsche kennen und schätzen. Nach
seinem zweiten theologischen Examen 1837 erhielt er 1840 von der königlichen Regie-
rung eine Berufung als Geistlicher nach Zeitz, wo er am 3. 1. 1841 in sein Amt einge-
führt wurde. Ein Jahr später verheiratete er sich mit Emma Hesekiel „der ältesten Toch-
ter des seligen General- Superintendenten D. Hesekiel in Altenburg, bekannt durch die
Kämpfe mit den rationalistischen Geistlichen des Herzogthums, dem ich bei Lebzeiten
hatte näher treten dürfen".15
Bekannt geworden war Friedrich Hesekiel (1794-1840), seit 1834 Generalsuperin-
tendent in Altenburg und Leiter des Predigerseminars, aufgrund des so genannten Al-
tenburger Konsistorialreskripts, von Hesekiel 1836 erlassen. Dabei handelte es sich um
einen der vielen Apostolikums-Streite: ein Pfarrer des Herzogtums Altenburg hatte die
Bedeutung des Apostolikums in Frage gestellt und wurde mit besagtem Reskript dafür
zur Rechenschaft gezogen, was in dem traditionellen Land des Liberalismus zu einem
Entrüstungssturm geführt hatte. Während seiner Altenburger Zeit verbrachte Schenk
jeden Sonntagabend im Haus der Familie Hesekiel, auch schätzte er ihn als „trefflichen
Prediger" (Brief an Nietzsche, 17. 7. 1839), den Mann, der sich als Vertreter der Erwe-
ckungsbewegung besonders durch seinen Kampf gegen aufklärerisch-rationalistische
Strömungen in der Kirche hervorgetan hatte. In diesem Haus traf Schenk nicht nur mit
Nietzsche zusammen; auch dieser war von der Persönlichkeit Hesekiels sehr einge-
nommen. Schenk hat dort auch seine Frau Emma Wilhelmine Hesekiel kennen gelernt.
Schenk blieb 21 Jahre seiner Gemeinde in Zeitz treu, zunächst als Pfarrer, später als
Archidiakon, während sein Freund Carl Ludwig Nietzsche von Anfang 1842 bis zu
-
seinem frühen Tod im Juli 1849 den Pfarrdienst in Röcken versah. Der vertraute
persönliche und briefliche Umgang zwischen Schenk und Nietzsche gehört in diese
Zeit. „Wegen seines Gehörleidens und wegen seiner grossen Familie (seine Frau, die
ihm vierzehn Kinder geboren hatte, starb unerwartet früh am 24. 11. 1863) berief ihn
das Kirchenregiment im Mai 1862 zum Pfarrer des kleinen Dorfes Dodendorf. 1889
wurde er in den Ruhestand versetzt und ist Ende 1895 gestorben."
Conferenz in Gnadau beizuwohnen. Hanisch hat mich dringend dazu eingeladen." Ha-
nisch neigte der orthodoxen Richtung in der Erweckungsbewegung zu. Er hat Nietzsche
in den Gnadauer-Verein eingeführt, dessen wesentliches Ziel die Bekämpfung der
,Lichtfreunde' war. Fragen der Kirchenunion und das Hochhalten des rechten Be-
kenntnis, (die Augsburgische Konfession als Bekenntnisgrundlage für jedes Vereins-
mitglied war verbindlich), zeigen, dass in Gnadau im Laufe der Zeit der konservative
Flügel innerhalb der Erweckungsbewegung die Oberhand gewonnen hatte. Nietzsche
nahm regelmässig an den Gnadauer-Versammlungen teil. Dagegen war ihm die Bewe-
gung der ,Lichtfreunde' zutiefst zuwider. In deren Führer Pastor Uhlich sah er einen
„so ekelhaften Menschen, [...] dass ich schon dorthin kein protestantischer Freund (ein
anderer Ausdruck für Lichtfreund M. P.) sein möchte" (Brief an Schenk, 13. 5.18 44).
In der Ablehnung der liberal eingestellten ,Lichtfreunde' gingen Schenk und Nietzsche
-
tung wurde darin gesehen, dass sie in einer Zeit allgemeinen Glaubenszerfalls den Ei-
genwert des Religiösen im Räume der Bildung betonten, eine Synthese von Religion
16
Neben Neanders geschichtlichen Arbeiten galt Schenks Interesse Ferdinand Christian Baurs Dog-
mengeschichte (1847). Darin hat Baur die Geschichte der Kirche im Sinn der Dialektik Georg Wil-
helm Friedrich Hegels als Selbstentfaltung der christlichen Idee dargestellt und mit einer streng his-
torischen Kritik verbunden. Die Tübinger Schule hat in der Folgezeit durch diese historisch-
kritische Methode ihren wissenschaftlichen Ruf begründet.
292 Martin Pernet
und geistiger Welt anstrebten, der Religionsschwärmerei der Romantiker ein klares Ziel
wiesen.
Schenks vielfältige theologische Lektüre zeigt deutlich, dass er sich vornehmlich mit
der kritischen Theologie auseinandersetzte, währenddem sein Röckener Freund als
Parteigänger einer konservativen theologischen Richtung auch die literarischen Grenzen
der einmal bestimmten Glaubensrichtang nicht überschritt. Was zur Folge hatte, dass
Nietzsche, je länger um so dezidierter, zwischen seiner Glaubenshaltung und derjenigen
anderer wertend zu unterscheiden begonnen hatte, zwischen ,Gläubigen' und .Ungläu-
bigen', wobei er sich selber den ,gläubigen Leuten' zuzählte (Brief an Schenk, 8. 4.
1845). Solche Unterscheidungen waren Schenks Sache nicht: „Was ich will und erstre-
be sehe ich nur hie und da in den leisesten Anfangen, weiss kaum, wie ich mich zu den
beiden grossen (theologischen M. P.) Parteien stellen soll. Das aber weiss ich, dass
meine innerste Natur sich gegen eine Kirche als Rechts-Anstalt, sich gegen ein Messen
-
mit Formeln und Gesetzen sträubt und nimmermehr damit befreunden wird" (Brief an
Nietzsche, 30. 9. 1847).
In einem langen Brief äußerte sich Nietzsche recht ausfuhrlich über seine Glaubens-
haltung. Darin notierte er: „auf der Kanzel gehöre ich mit voller Wahrheit zu den
strengsten, symbolgläubigen wirklich lutherischen Theologen! Aber fern von der
Kanzel nicht? Allerdings in derselbigen Weise nicht, ich vermag da nicht gegen Alles
-
die Augen zu verschließen, was auf der entgegengesetzten Seite doch auch Gutes und
Wahres ist, hier schließe ich noch nicht ab, hier prüfe und sichte ich noch, aber nur in
der Absicht, dass die Wahrheit, die ich predige, mir als die Eine, rechte Wahrheit je
länger je mehr erscheinen möge" (Brief an Schenk, 15. 12. 1845). Die Sätze zeigen,
dass Nietzsche nicht unbesehen ins Lager der Erweckten übergegangen war. In einem
anderen Brief schrieb er seinem Freund nach Zeitz: „es giebt eine pietistische Aus-
drucksweise, die mir unangenehm ist, selbst wenn ich in der Sache ganz übereinstimme.
Ob es doch vielleicht daran liegen kann, dass ich auch mit der Sache noch nicht ganz
und gar harmonire, will ich dahingestellt sein lassen" (13. 11. 1846). Eine letzte Unsi-
cherheit über den für ihn rechten Weg war ihm geblieben. Trotzdem verharrte er bei
dem Gedankengut der Erweckten, sein „conservativer Standpunct" (Brief an Schenk,
27. 4. 1848) war unerschütterlich. Konform der Absicht der Erweckten, die praxis pie-
tatis als reiche karitative und missionarische Tätigkeit zu leben, engagierte sich auch
der Pfarrer von Röcken bei Missionsfesten aller Art (Lützen, Naumburg, Röcken, Weis-
senfels), war Mitglied des Berliner Traktatvereins und des Gustav Adolf-Vereins, letz-
terer gestiftet zur Unterstützung evangelischer Christen in der Diaspora.
Auch in diesem Punkt konnte Schenk seinem Freund nicht folgen. „Du namentlich
sollst ganz wissen, woran Du mit mir bist und auf Deinem Wege gehe ich nicht mit"
(Brief an Nietzsche, 2. 9. 1846). „Mein Wesen ist, wie Du weißt nichts weniger als
zurückhaltend und verschlossen [...] Meine Bildung und Anschauung ist eben eine
andre und ich müßte fast ab ovo entwickeln. Nur das. Ich freue mich Deiner Stellung
und Darlegung sehr und schreibe Dir die volle Berechtigung zu, wenn ich auch in Thesi
und Praxi anders stehe" (Brief an Nietzsche, 21. 12. 1845). Damit spielte er auf seine
Haltung zur Vemittlungstheologie an. Während Nietzsche „gegen das Laxe gar zu sehr
vermittelnden Princip Möllers" (Möller war einer der Geistlichen, die sich in der Gna-
Eine Quellefür Nietzsches christliche Herkunft 293
dauer Konferenz für den Zusammenschluss der Unierten zu einem eigenen Verein ein-
gesetzt hatte) opponierte (Brief an Schenk, 31. 12. 1844), nahm Schenk Möller gegen-
über Nietzsches Kritik in Schutz: „Mir, für meine Person hat Möller in seiner Weise
und in seinem Wesen sehr gefallen" (Brief an Nietzsche, 11.6. 1845). In teologicis
lagen beide Freunde weit auseinander. Dies tat ihrer persönlichen Beziehung keinen
Abbruch. Im Gegenteil: die Meinungsverschiedenheiten förderten das gemeinsame
Gespräch.
Schluss
Thomas Mann hat Nietzscheleserinnen und Nietzschelesern zu bedenken gegeben, dass
das Verhältnis Friedrich Nietzsches zu den Vorzugsgegenständen seiner Kritik, darunter
auch das Christentum, das der Leidenschaft sei: freilich einer Leidenschaft ohne be-
stimmte Vorzeichen, denn das Negative wechsle beständig ins Positive hinüber. Wer
allerdings leidenschaftlich um und mit einer Sache ringe, die ihm lebenswesentlich ist,
der werde es weder objektiv noch sachlich tun wollen oder können. Die Leidenschaft
greife tiefer, greife an die Wurzeln des Lebens. Friedrich Nietzsches leidenschaftliches
Ringen um das und mit dem Christentum habe seinen Ursprung ohne Zweifel in sei-
nem Vaterhaus. Damit ist gesagt, dass es die erweckliche Form des Christentums ge-
wesen ist, die Nietzsche vor Augen hatte, wenn er sich damit auseinandersetzte, eine
Auseinandersetzung, die sich durch sein ganzes Leben hinzog. Doch muss Manns Be-
hauptung insofern relativiert werden, als seine Kenntnisse über das Christentum weit
über die von der Erweckung tradierte Form hinausgingen, er in seiner Auseinanderset-
zung mit dem Christentum dessen vielfältigste Prägungen vor Augen gehabt hat. Auf-
fällig ist, dass die Erweckung eine Glaubensrichtung war, die Friedrich Nietzsche nicht
nur negativ sehen wollte. Es war dies eine Frömmigkeit, die sich nicht so sehr auf eine
verstandesmäßig bedingte, sondern vielmehr auf eine unmittelbar erlebte, gefühlte und
empfundenen Gewissheit stützt, auf das Angerührt- und Betroffenwerden im Herzen. Es
war die erlebte praxis pietatis gewesen, die in ihm ihre Wirkung, in leidenschaftlichem
Sinn ohne Vorzeichen, nicht verfehlt hatte. So notierte er in seinem Antichrist: „Nicht
ein ,Glaube' unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch
ein andres Handeln. [...] die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist,
Gott" (KGW, AC, VI, 3, 204), ein Wort, das jeder Erweckte hätte unterschreiben kön-
nen. In die gleiche Richtung weist sein Gebrauch der christlichen Formel ,Gott am
Kreuz'. Nachweislich entstammt sie der Christologie des Pietisten Nikolaus Ludwig
Graf von Zinzendorf, dem Stifter der Herrenhuter Brüdergemeine. Nietzsche war, wenn
gewiss nicht in umfassendem Sinn, vertraut mit der Theologie Zinzendorfs.17
17
Auf einer Listevon Büchern, die Nietzsche im Sommer 1883 zusammengestellt hat, steht der Name
,Zinzendorf (KGW, VII, 1, 518). Weitere bezeichnende Wendungen, die auf Zinzendorfs Brüderge-
meine hinweisen, haben in den Notizen zum dritten und vierten Teil des Zarathustra Eingang gefun-
den (KGW, VII, 1, 224, 387). Ich sehe drei Möglichkeiten, wo Nietzsche auf den Namen Zinzendorfs
gestoßen sein könnte: 1. Der Vater Carl Ludwig Nietzsche hat aufmerksam Zinzendorfbücher gelesen.
Friedrich kann sie in der väterlichen Bibliothek, die seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes mit
294 Martin Pernet
Möglicherweise hing dies nicht zuletzt damit zusammen, dass für die ihn prägenden
und bestimmenden Menschen die Erweckung die Lebens- und Glaubensform im Sinn
einer praxis pietatis gewesen war. Schließlich gab er noch in späten Jahren seiner Au-
tobiographie, „Nietzsches beste und zuverlässigste Biographie", wie sie Mazzino Mon-
tinari genannt hat18, den allerchristlichsten Titel Ecce homo, eine Formel, die in der
Erweckungstheologie eine bedeutende Rolle gespielt hat. In diesem Zusammenhang
sind auch Nietzsches häufige biografische Versuche zu sehen. Die Biographie war für
die Erweckten die Möglichkeit, den genauen Zeitpunkt ihrer Erweckung, damit ihrer
Wiedergeburt, festzuhalten im Sinn eines öffentlichen persönlichen Bekenntnisses.
Gerade in jungen Jahren hat Nietzsche immer wieder neue biografische Entwürfe zu
Papier gebracht. So ist dieser Denker von seinem christlichen Gewissen gezeichnet
geblieben: durch und durch christlich und antichristlich, protestantisch und protestie-
rend, eben leidenschaftlich ohne bestimmte Vorzeichen.
Hatte der Knabe in seinem Vaterhaus das erweckliche Christentum mit der heimi-
schen Atmosphäre aufgesogen, so ist er dieser christlichen Glaubensform wieder in
Schulpforta begegnet, bei seinem von ihm verehrten Religionslehrer und Konfirmator
Robert Buddensieg. Auch Buddensieg war ein Schüler Tholucks, von diesem Theolo-
gen für die Sache der Erweckung gewonnen worden. Nietzsche hatte sich diesem Leh-
rer, wie seine Schwester schreibt, „warm angeschlossen"19; Buddensieg war geradezu
zu seinem ,geistliche[n]' Vater geworden. Sein früher Tod, wenige Wochen zuvor hatte
er den Schüler Nietzsche konfirmiert, traf diesen tief. Noch am Todestag schrieb er
seiner Mutter nach Naumburg: „Hr. Prof. Buddensieg ist todt! [...] Ach, du glaubst
nicht, wie mir traurig zu Muthe ist! Wir haben ihn alle so sehr geliebt; wir alle sind
ausserordentlich ergriffen [...] Ach, es ist zu schmerzlich!" (KGW, 1,1, 169ff). In die-
sem Ereignis, das dem jugendlichen Nietzsche nachträglich den frühen Tod seines eige-
nen Vaters wieder vor Augen geführt hatte und nochmals erleiden ließ, liegt eine we-
sentliche Einbruchsteile in seiner Gottesbeziehung. Ganz selbstverständlich hatte er die
christliche Botschaft in sich aufgenommen, dass sich Gott als liebevoller Helfer und
Garant des Guten erzeige. Er hat auch die Macht, das Gute zu garantieren und macht-
voll durchzusetzen. Aber diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Gottes Handeln blieb aus,
er wurde vom jugendlichen Nietzsche als derjenige erfahren, der nicht helfend in seine
Welt eingegriffen hatte, sondern der teilnahmslos den leidenden Menschen (seinem
Vater; seinem geistlichen Vater' Buddensieg) gegenübersteht, sie ihrem Schicksal
überlässt.
In seinem Briefwechsel mit Emil Julius Schenk tritt uns in Carl Ludwig Nietzsche
eine stolze, differenzierte, musikalisch hochbegabte und in persönlichem Umgang sehr
nach Naumburg genommen hatte, gefunden haben. 2. Im Elternhaus seiner Naumburger Jugendfreun-
de Wilhelm Pinder und Gustav Krug, wo sich Nietzsche oft aufgehalten hat, nachweislich mit Span-
genbergs achtbändiger Zinzendorf-Biografie. 3. Nietzsche ist während seiner Baseler Zeit mit der
Brüdergemeine in Kontakt gekommen.
Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin 1982, 33.
Elisbeth Förster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, Leipzig 1912, 112. Zu Buddensieg: Martin Pernet,
Das Christentum im Leben des jungen Nietzsche, 77-79; ders., Religion und Bildung. Eine Unter-
suchung zur Geschichte von Schulpforta, Würzburg 2000, 34ff.
Eine Quellefür Nietzsches christliche Herkunft 295
nen letzten Brief. Nun sei er ihr „mehr als 50 Jahre innerlich nahe" gewesen: „Leicht
könnte es der letzte Geburtstagsbrief sein, den ich Ihnen schreibe, so lassen Sie mich
Ihnen noch einmal herzlich für alle liebevolle Theilnahme, die Sie mir durch so viele
Jahre bewiesen haben, besonders von Herzen danken. Der Herr segne Sie auch dafür
und erhalte uns in ihm treu verbunden."
V. Rezension
Martin Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung.
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Freiburger Seminar Winter-
'
Mit Martin Heideggers Interpretation der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung liegt ein
in vieler Hinsicht ungewöhnlicher Band der Gesamtausgabe im Verlag Klostermann vor:
Obwohl es Materialien eines Seminars sind, das Heidegger im Winterhalbjahr 1938/39
in Freiburg abhielt, wird der Text auf seinen eigenen Wunsch in der Zweiten Abteilung
gebracht, im Rahmen der Vorlesungen. Der Grund dafür liegt darin, dass Heidegger die
Veranstaltung zunächst unter dem Titel Einführung in die Philosophie geplant hatte,
dann aber ein Seminar als dreistündige ,Anfangerübung' zur Einführung in die philoso-
phische Begriffsbildung im Haupttitel ankündigte, schließlich aufgrund des großen An-
drangs sie doch als Vorlesung hielt. Wie bereits in vielen Fällen liegt der Edition in ers-
ter Stufe die maschinenschriftliche Transkription von Heideggers Bruder Fritz zu
Grunde. Die Textsorte des vorliegenden Bandes bestimmt sich daher in der Gemengela-
ge von mündlichem Vortrag mit durchgehender Argumentation sowie Notizen mit
Stichpunkten für die freie Rede im Seminar. Ergänzt wird der Band durch erhaltene Mit-
schriften der Studierenden, die vor allem die ersten Sitzungen des Semesters protokollie-
ren. Unter ihnen befand sich auch Heideggers Sohn Hermann, dessen erhaltene Notizen
,,[n]ach Vater" (364) am ausführlichsten sind. Mit dem ausstehenden 87. Band der Ü-
bung vom vorausliegenden Sommersemester zu Nietzsches metaphysischer Grundstel-
lung ist, von einigen weiteren .Überlegungen' zu Friedrich Nietzsche in den geplanten
späten Bänden (Bde. 94-96) der Gesamtausgabe und der Interpretation des Ab-
schnitts 493 aus Der Wille zur Macht im Seminar Einübung in das philosophische Den-
ken (Bd. 88) abgesehen, Heideggers ,Nietzsche' nahezu vollständig vorhanden.
Inhaltlich ungewöhnlich ist der Band, da Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für
das Leben das Epizentrum für Heideggers Nietzschedeutung darstellt, eine eingehende
Interpretation derselben allerdings weder in Heideggers Nietzsche-Buch noch in den
Einzelausgaben der zugrundeliegenden Vorlesungen vom Wintersemesters 1936/37
(Bd. 43), Sommersemester 1937 (Bd. 44) und 1939 (Bd. 47), aus dem II. Trimester
1940 (Bd. 48) sowie der aufgrund von Heideggers Einzug zum ,Volksstarm' kurz nach
Beginn abgebrochenen Vorlesung vom Wintersemester 1944/45, nebst dem Text der
nicht gehaltenen Nietzsche-Vorlesung des Wintersemesters 1941/42 (Bd. 50), zu finden
ist. Dabei stellt die Zweite Unzeitgemäße das Nadelöhr dar, durch welches die Ausle-
gung der Zeitlichkeit eine Dekade vor den Vorlesungen hindurchgeht, in denen Heideg-
gers ,Kehre' sich vollzieht. Nur mit ihrer Hilfe konnte er in Sein und Zeit den Vorrang
der ,Zukunft' (als Ergreifen der Gegenwart) nicht nur für die individuelle' Eigenzeit,
sondern auch die historisch-überindividuelle Zeit behaupten bzw. jene, entgegen der
eigenen Argumentationsrichtung, in dieser gründen lassen. Zuletzt baut er seine Lesart
dessen, was er in einer regelrechten Feindschaft gegenüber anthropologisierender Le-
bensphilosophie, philosophischer Anthropologie und empirisch-experimenteller Psy-
chologie („Pawlow! irrig!", 43) jener Jahre unter ,Leben' versteht, auf den Verwen-
300 Rezension
Macht' liest und Nietzsches „Umkehrung" der Metaphysik als nur mögliche „Heraus-
drehung" (193) aus dieser figurieren lässt.
Zur Erinnerung: Heidegger war während der Jahre der Nietzsche-Vorlesungen 1935
bis 1942 Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses im Weimarer Nietzsche-Archiv,
der das Projekt der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietz-
sches (deren Bände ab 1933 im Münchner Verlag C. H. Beck erschienen) um Hans
Joachim Mette, Karl Schlechta und andere beriet. Ohne Begründung legte Heidegger
Weihnachten 1942 sein Amt nieder. In dieser Zeit setzte sich bei ihm die Annahme
durch, dass „die eigentliche Philosophie Nietzsches [...] in dem liegt, was er zurück-
gehalten hat, in seinem Nachlaß" (259) oder dass Nietzsches „beste [...] Philoso-
phie" (350) dort und in den Briefen schlummert, wie seine Studenten eilfertig notieren
und es auch die vielzitierte Parallelpassage der beiden Nietzsche-BänAe bezeugt. „Das
Veröffentlichte ist sozusagen Notschrei" lesen wir weiter in der Aufzeichnung des Stu-
denten. Als vorläufige Arbeitsgrundlage empfiehlt Heidegger seinen Studenten die
Kröner-Ausgabe von Der Wille zur Macht in der Herausgabe durch Alfred Baeumler
von 1930, nicht ohne abermals anzumerken: „Nur in der wirklichen Bereitstellung des
eigentlichen ,Werkes' (1881-1889) wird sie [sc. die historisch-kritische Ausgabe] zu-
künftig sein, falls ihr diese Aufgabe gelingt" (Nietzsche 1, 18). Sein Diktum ist zu wei-
ten Teilen durch seine Art des Philosophierens motiviert: dem Denken aus Grundwer-
ten', Sentenzen nur in Grenzfallen. Argumentationen sind ihm zuwider. Ein
,fragmentarischer', schwacher Nietzsche ist für ihn daher nicht im Sinne der ,postmo-
dernen' Lesart interessant, sondern als die von Jürgen Habermas gescholtene ,Projekti-
onsfläche' für mehr als eine Generation an Philosophen und Nietzschedeutern. Wie
kaum ein anderer Umstand geht dieser aus dem Material zu Heideggers Nietzsche-
Seminar hervor. Heidegger driftet geradezu von der Lektüre des Textes ab, hinein in
eine Meditation der Grundworte, nicht nur derjenigen, die er Nietzsches Philosophie
(unter Zuhilfenahme von Zitaten aus jeglichen Abschnitten seines Werks) unterlegt, so
vor allem »Gerechtigkeit', ,Leiblichkeit' und ,Ewige Wiederkehr', sondern zunächst
seiner eigenen: dem Begriff von ,Seyn' und ,echtem' Denken, „fdjenkerischefmj Den-
ken" (157) wie Heidegger es zu nennen pflegt, jenem Thema mit dem er sich 1951/52
nach seinem Lehrverbot in der Vorlesung Was heißt Denken? zu Wort meldet. In
Feindschaft steht Heidegger vor wie nach dem Krieg gegen „den ,Typus' des jetzigen
»Professors'": Er stellt für ihn (im Zeichen von Nietzsches Plädoyer für »Prägung' der
„Persönlichkeit" und »Zucht', 128) „das Urbild der Charakterlosigkeit" dar, „Flucht in
die Geltangsgelegenheit, völlige Wurschtigkeit [sie!] gegenüber der Wahrheitsfrage,
der Tanz um das papierne Kalb der ,Ergebnisse'" (108). Die eingewobene Kritik an
dem nur in Anführungszeichen verwendeten »Liberalismus' dürfte die von solcher Ein-
deutigkeit für ,die Sache' begeisterte Jugend nicht hinterfragt haben. Das Material zeugt
aber auch davon, dass Heidegger weit davon entfernt war, ein politischer Agitator zu
sein. Nicht weil er zu dieser Zeit irgend etwas durchschaut hätte, sondern weil er pro-
grammatisch gegen jede Art der Anwendung' war.
,
Rezension 301
Hier ist er ganz Aristoteliker: Die höchste Tätigkeit ist das (denkende) Nichtstun.
Nietzsches Wahrheitsbegriff sei von hier aus „niemals mit dem grob-billigen amerika-
nischen Pragmatismus zusammenzubringen, wenngleich dieser umgekehrt ein Ableger
von Nietzsche einem unverstandenen Nietzsche ist" (187), ermahnt er die Studen-
ten. Wenn er sich schon gegen falsch verstandene und auf einem Berg nahe Weimar
- -
pervertierte ,Gerechtigkeits'-Parolen wie Jedem das Seine" (142) ausspricht, die Poli-
tik bleibt außen vor. Für kritische Theoretiker ist an dieser Stelle wenig zu holen. Neben
professionellem Philosophentam und .Amerikanismus' sieht Heidegger die „größte
,Gefahr' für das Denken eines Denkers" dagegen mit dessen „vorgeblichen Anhän-
gern'" gegeben: „Leibniz und die Leibnizianer, Kant und die Kantianer, Hegel und die
Hegelianer; das Schlimmste aber Nietzsche und die Nietzscheaner" (10). Sicher zur
Freude der Studierenden fügt Heidegger an, dass man auf „Nietzsche-Literatur" (11)
verzichten kann. Entsprechend kurz dürfte die Literaturliste ausgefallen sein. ,JDenken-
lernen" (3) lautet das schlichte und doch nicht zu bewältigende Programm.
Was gibt Nietzsche laut Heidegger zu denken? Da ist zunächst der Umgang mit, Ge-
schichte' resp. ,Historie'. Heidegger, der das Seminar entlang der Kapitel der Textvor-
lage aufbaut, beginnt mit Nietzsches Gegenüberstellung von ,unhistorisch' und ,über-
historisch' im Hinblick auf die Vergessens- und Erinnerungsleitang von Tier und
Mensch. Im Zeichen einer Wiederkehr' der Anthropologie interessant ist Heideggers
,
Einsatz, die Differenz zwischen beiden dem abendländischen, damit auch griechischen,
Denkkreis zu entreißen und den Menschen nicht mehr als vernünftiges (Tier-)Wesen
(zoon), sondern als unvergleichliche Gattung zu denken. Der Unterschied ist einer, der
nicht innerhalb des ,Biologischen' zu denken sei, sondern als metaphysische Differenz.
Ein tertium comparationis gibt es nicht, die ,JQuft" (27) zwischen beiden ist unendlich.
Der Teilnehmer von Heideggers privaten Nachkriegsseminaren, Giorgio Agamben, geht
genau dieser Frage nach, treibt sie jedoch in entgegengesetzter Richtung voran, wenn
er, wie 1995 in seinem Buch Homo sacer, zeigt, dass den Griechen der Begriff einer
biologischen Einzelexistenz fehlte, diese nur als politische oder nicht-menschliche zu
denken war. Heidegger lastet das uneigentliche Denken dem universalisierten ,Ameri-
kanismus' an: „Bei ihnen in Amerika also im amerikanischen Denken", referiert und
erklärt er gleichfalls die Anfrage eines ausländischen Studierenden, ,„sei gar kein so
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großer Unterschied zwischen Tier und Mensch'" (24). Zwischen ihnen herrsche viel-
mehr ,j3ezugslosigkeit" so zwischen der „Maus" und dem ,jjythagoreeische[n] Lehr-
satz" (46), die diesem nie auch nur in seine ,Nähe' kommen kann.
Wie Jacques Derrida gegenüber Hans-Georg Gadamer in seiner Kritik von Heideggers
Nietzscheauslegung bereits 1981 in ihrer Debatte am Pariser Goethe-Institut herausstell-
te, ist es genau jener Kampf gegen den ,Biologismus', der Heideggers Nietzschebild
strukturiert: A priori lehnt Heidegger jede „psychobiographische[...f" (1) Auslegung
Nietzsches, aber, mit Ausnahme der eigenen, auch das Edieren von Gesamtausgaben ab.
Auch das ist ,Biologismus': der Versuch, durch das vollständige Sammeln einer Sache
habhaft zu werden. Durch diese Vorentscheidung kommt es mitunter zu waghalsigen
bzw. widersprüchlichen Gedankengängen und Zuschreibungen entlang Nietzsches Text.
Da das ,Tier' nicht eigentlich ,vergessen' kann, weil es die Fähigkeit zur .Erinnerung'
nicht hat, darf das, was das Tier dennoch ,erinnert' (vor allem die territoriale Orientie-
302 Rezension
rung), nicht als eigentliche ,Erinnerung' gelten: „Das Tier ist nicht unhistorisch, wohl
aber historielos, was beides sich nicht deckt. [...] Wenn Nietzsche daher sowohl das
Tier als unhistorisch bestimmt als auch den Menschen, dann besagt unhistorisch jedes
Mal etwas wesentlich Verschiedenes, ohne daß Nietzsche diese Verschiedenheit zurei-
chend herausstellt. Gleichwohl drängt sie sich wider sein Wissen heraus" (30).
Wenn aber ein Autor im 19. Jahrhundert von physiologischen Denkmotiven eingenom-
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schluss' mehr für oder wieder das Entschließen um den Preis des ,Lebens' möglich ist.
So bleibt der Inhalt des Entschlusses bei Heidegger befremdlich leer und kann im Se-
minar nur in seiner aristotelischen Form daherkommen: „Die kritische Historie Ist phi-
losophische Besinnung" (106). Der dreißigjährige Nietzsche dagegen setzt in seiner
Schrift die »plastische' Bildungskraft einer (unbewussterweise) greakophilen „Ju-
gend" (231) an deren Stelle, ein für Heidegger zu »biologistisches' Konzept, dem mit
hermeneutischen Mitteln entgegenzutreten sei. Auch den ob seines »Umweltbegriffs'
ansonsten uneingeschränkt verehrten Jakob von Uexküll geht Heidegger in seinem Se-
Rezension 303
minar daher kritisch an: „Uexküll nannte diesen Umkreis [sc. jedes Lebewesens] ,Um-
welt'; eine sachlich nicht berechtigte Terminologie, für die wir besser .Umfeld' sa-
gen." (267). Während das „Um-feld" des Tieres nur den „Umkreis von solchem, was
befängt und benimmt" bezeichnet (das Tier vergisst nicht, sondern wird von der „Um-
nehmung in die Benommenheit" genommen), ist die „Um-welt" des Menschen, „da, wo
Seiendes als ein solches ,im Ganzen' eröffnet und erfahrbar wird" (241). Mit genau je-
nem Schlüsselbegriff, der das Tier dem Menschen auf der Ebene des außersprachlichen
Symbolgebrauchs annähren sollte, kappt Heidegger jede Verbindung zwischen ihnen.
Dass er ein scharfer Beobachter gegen seine eigene Interpretation ist, zeigt eine ande-
re Stelle, an der er Nietzsches Cartesianismus und sein „Unverständnis" (150) Hegels
aufdeckt: „Nietzsche leugnet stets den möglichen Besitz der Wahrheit, weil er so naiv
wie je nur ein Scholastiker an die Wahrheit als adaequatio glaubt und diese, ohne es
voll und klar zu wissen, als Maßtstab sich vorhält für alles, was er über die ,Wahrheit'
im Wesen ausmachte" (196). Alles in allem der „äußerste biologische Cartesianis-
mus" (197), so Heidegger: „Nietzsches Gegnerschaft zu Descartes ist nur deshalb so
heftig und häufig, weil Descartes für Nietzsche noch nicht cartesisch genug ist, weil er
den Subjektivismus erst nur vordergründlich vom ,Ich' her denkt, statt vom Leiben und
Leben des Tieres Mensch" (197). Spannend wird das Seminarprotokoll immer dann,
wenn er mit solchen Gegendarstellungen aufwartet: Einmal reflektiert Heidegger über
die Relevanz von „,Stil"', den „Schreibmittel, Schreib-, Sagensweisen" und seiner Be-
deutung für Nietzsche. Dabei gibt er zu, dass die rhetorischen Elemente im weitesten
Sinne „das eigentlich ,Bildende'" (59) des philosophischen Denkens sind und „sich im
Werk gerade zum Verschwinden" (60) bringen. Nicht das Denken allein, auch die Mit-
tel seiner Mitteilung rücken mit Nietzsche in seinen Blick. An anderer Stelle nimmt er
sich der „medial[enf" Form zwischen dem Aktiv und Passiv der von Subjekt- und Ob-
jekt-Positionen strukturierten Sprache an und reflektiert im Vorgriff den Schreibstil der
späten Jahre, jene Grammatik ohne ,Gott' und/oder ,Täter': ,,[D]as Benannte hat in sich
den Bezug auf den Träger und Vollzieher seiner selbst und gleichwohl steht es nicht
völlig in seiner ,Macht'" (39).
Die schönste Stelle des Seminars ist eines der wenigen (meist ungelenk daherkom-
menden) Beispiele, mit der Heidegger einen Zusammenhang von ,Vergessen' und
,Abwesenheit' in ihrer, dem Verhältnis von ,Mensch' und ,Tier' analogen, unterschie-
denen Vergleichslosigkeit demonstrieren will: „Der Professor ,vergisst' den Schirm,
wir sagen: Er läßt ihn stehen. Der Schirm ist also gerade vorhanden, nicht überhaupt
verschwunden; aber der Professor: Mein Schirm ist ,weg', d. h. aus dem Umkreis des
unmittelbaren Verfügens, Festhaltens, Behaltens, aus der Behältnis weg" (38). Es ist
jenes Beispiel, mit dem Heidegger 1955 in seinem Festschriftbeitrag zu Ernst Jüngers
60. Geburtstag die ,Seinsvergessenheit' illustriert („das Sein [ist] der Schirm [...], den
die Vergeßlichkeit eines Philosophieprofessors irgendwo hat stehen lassen") und im
Zuge der Aufmerksamkeit eines Kritikers darauf Mazzino Montinari die Edition eines
bestimmten Satz aus Nietzsches Nachlass, dort also, wo .das Beste' zu lesen ist
zutiefst bereute.
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Dem Herausgeber Hans-Joachim Friedrichs ist für den teils schonungslosen Einblick
in Heideggers Denkwerkstatt zu danken. Jede zukünftige Beschäftigung mit seiner
304 Rezension
Stephan Günzel
Personenverzeichnis