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Rudolf Steiner liest die Jenaer Geistesgeschichte – Zur Novalis-Lektüre Rudolf Steiners
Rudolf Steiner (1861-1925) wirkt aktuell und attraktiv: seine weltanschaulichen Bilder und
suprahistorischen Konstruktionen stehen diametral gegen einen als lebensweltlich
allmächtigen erfahrenen Materialismus, sie lehnen eindirektionale Wachstumsvorstellungen
ebenso ab wie eindimensionale Verwertungszwänge der Marktlogik. Denn Steiner bietet –
intellektuell durchaus anspruchsvoll unterlegt - Antworten auf „letzte Fragen“ an: Schon der
Goethe-Herausgeber Steiner sah sich selbst als geistigen Widerpart eines sachverfallenen
Positivismus. Nietzsches pessimistisch-zynischer wie Marxens historisch-optimistischer
Materialismus können individuelle Sinnfragen moderner Individuen nicht befriedigend
beantworten. Steiners „Ertötung aller Selbstheit“ als „Grundlage für das höhere Leben“ (GA
40, 1981, 274f.) ist geradezu ein Gegenprogramm zum demokratisch legitimierten
Individualismus der westlichen Gegenwart.
Die Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner war lange einerseits von Apologetik, andererseits
von Polemik gekennzeichnet. Erst das 150. Geburtsjahr Steiners hat mit drei Biografien einen
Qualitätssprung gebracht, unter denen derjenigen Helmut Zanders zweifellos die Krone
gebührt1. Möglicherweise ist damit ein Stand der Diskussion erreicht, der – historisch-kritisch
- Steiners Anspruch akzeptiert, im Gegensatz zur Naturwissenschaft, die sich auf die
Untersuchung objektiv nachprüfbarer Tatsachen beschränkt, einen methodisch exakten Weg
der Introspektion und Selbsterfahrung zu begründen.2
Beziehungen Rudolf Steiners nach Jena lassen sich seit seiner Arbeit als Goethe-Herausgeber
in Weimar (1891 – 1896) immer wieder nachweisen. Allerdings macht es sich die in der
anthroposophischen Literatur verbreitete Annahme einer quasi natürlich-genealogischen
Beziehung des „Sehers“ der „geistigen Welten“ zur „Stadt des deutschen Idealismus“ 3 zu
einfach. Steiner nämlich hat die klassische deutsche Philosophie, das in diesem Sinne
„geistige Jena“ höchstens punktuell zur Kenntnis genommen. Zunächst seien hier deshalb die
drei wesentlichsten biografischen Episoden der Beziehung Rudolf Steiners zu Jena angeführt.
Zunächst war es das gemeinsam von Fichte und Niethammer in Jena herausgegebene
„Philosophische Journal einer Gesellschaft teutscher Gelehrten“, das bei dem knapp
zwanzigjährigen Rudolf Steiner Anfang 1881 ein philosophisches Erweckungserlebnis
auslöste. In einem Brief an Josef Köck beschreibt Steiner ein umwälzendes Lektüre-Erlebnis:
„Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. .. Ich
glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben -
geahnt habe ich es ja schon längst -; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer
wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen
1
GEBHARDT, ULLRICH, ZANDER 2011.
2
Philosophiegeschichtlich mag hier der Hinweis erlaubt sein, dass auch Fichtes
Wissenschaftslehre in dem überzeitlichen Augenblick der „schwebenden Selbstanschauung“
des denkenden Bewusstseins gründete. Kant dagegen hielt die „intellektuelle Anschauung“
des Ichs für unmöglich. Das „Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen“ Kants ist Steiner zurecht immer
wieder vorgeworfen worden. Vgl. auch GREUEL sowie VIETOR. In der Psychologie
wiederum ist die Methode der Selbstbeobachtung wegen mangelnder Überprüfbarkeit zwar
inzwischen aufgegeben worden – sie war aber zumindest in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts durchaus noch ernsthafter Diskussionsgegenstand.
3
SELG, S. 22.
Ein Jahr vor seinem Tod schließlich besuchte Rudolf Steiner im Juni 1924 auf der Rückreise
aus Koberwitz in Schlesien das von Siegfried Pickert, Franz Löffler und Albrecht Strohschein
kurz zuvor übernommene ehemalige Ausflugslokal Haus Lauenstein. Steiner schlief im Hotel
„Schwarzer Bär“ – dreißig Jahre, nachdem er hier an der Feier zu Haeckels 60. Geburtstag
teilgenommen hatte. Die drei jungen Männer hatten hier in Jena-Lichtenhain gemeinsam mit
Ilse Knauer ein an Steiner orientiertes heilpädagogisches Heim eröffnet und stellten jetzt
erstmals Rudolf Steiner persönliche ihre Kinder vor, dieser gab Hinweise für ihre
Behandlung6. Eine Woche nach seinem Besuch auf dem Lauenstein begann Steiner in
4
Brief Rudolf Steiners an Josef Köck am 13. Januar 1881 „12 Uhr Mitternachts, zit. n. ZANDER, S.
38.
5
F. W. J. Schelling im achten der «Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus» in
Niethammers «Philosophischen Journal» 1796, wiederabgedruckt in Schellings «Philosophischen
Schriften», 1. Bd. (1809), S.165. Im selben Jahr übrigens entwickelt Schelling gemeinsam mit
Hölderlin und Hegel im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“: „Die erste IDEE ist
natürlich die Vorstelluntg VON MIR SELBST, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien,
selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und
gedenkbare SCHÖPFUNG AUS DEM NICHTS.“ (QUELLE???)
6
Am 24. August 1924 wurde der „Verein zur Heilung und Erziehung Seelenpflege bedürftiger Kinder
Lauenstein“ unter der Nummer 125 im Vereinsregister des Amtsgerichtes Jena eingetragen. Aus
Platzgründen zog man 1926 in das „Haus Bernhard“ in Jena-Zwätzen um.
Steiner nahm sämtliche Philosophen des deutschen Idealismus wie die Literaten der
deutschen Klassik und Romantik als Vorläufer der Theosophie bzw. Anthroposophie in
Anspruch, weil seiner Auffassung nach „im damaligen Zeitraum dem deutschen Dichten und
Denken eine theosophisch-mystische Unterströmung zu Grunde liegt“. Das zeigt schon ein
Vortragstitel wie „Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren“8.
Steiner hat dabei aber Novalis im Besonderen ein öffentliches Maß an Aufmerksamkeit zuteil
lassen werden lassen, das nur von demjenigen für Goethe übertroffen wird. Viel verband
Steiner mit dem „Aktuarius“ und Dichter, der 1799 in Jena jenen Essay vortrug, der erst
Jahrzehnte später unter dem Titel „Die Christenheit oder Europa“ veröffentlicht werden sollte.
Rudolf Steiner war als Kind von Mathematik, insbesondere Wahrscheinlichkeitsrechnung und
Geometrie, fasziniert. Der pythagoreische Lehrsatz habe ihn „verzaubert“ und gezeigt, dass
man in „rein innerlich angeschauten Formen“ leben könne (GEBHARDT, 42f.). Mathematik
macht für den Anthroposophen Steiner reines, sinnlichkeitsfreies Denken möglich. Novalis
war für Steiner zunächst deshalb interessant, weil Novalis nach Auffassung Steiners durch die
Mathematik den Weg zum „Wärmsten“, den „Weg zum spirituellen Leben“ eröffnet, während
sie für die meisten Menschen „immer etwas Kaltes bleibt“ (STEINER 1930, 12f.). Steiner sah
in Novalis einen „praktische(n) Geist, der auf der Bergakademie studiert hat, durch und durch
Mathematiker, der Mathematik empfunden hat als ein großes Gedicht, nach dessen Linien die
göttliche Geistigkeit die Welt gedichtet hat“ (STEINER 1910, 14) Für Steiner lebte in Novalis
eine „pythagoreische“ Denkungsart, weil Novalis sich durch mathematische und
naturwissenschaftliche Schulung zum Berg-Ingenieur ausgebildet hat: „Die Art, wie der
menschliche Geist die Gesetze der reinen Mathematik aus sich selbst heraus entwickelt, ohne
Zuhilfenahme einer jeglichen sinnlichen Anschauung, wurde ihm zum Vorbild für alles
übersinnliche Erkennen überhaupt.“ Novalis schwebt „nicht bloß eine Apotheose der
Wissenschaft von den Zahlen und Raumgrößen vor, sondern die Anschauung, daß alle
inneren Seelenerlebnisse zu dem Kosmos sich verhalten sollen, wie die reine sinnlichkeitfreie
mathematische Geisteskonstruktion zu der äußeren zahlenmäßigen und räumlich geordneten
Weltharmonie sich verhält“ (STEINER 1906).
7
Auch prosperierende Unternehmen in der ökologischen Landwirtschaft (Demeter) sowie Kosmetik
und Medizin (Weleda) beziehen sich auf anthroposophische Grundlagen. Gerade vor dem Hintergrund
dieser Erfolge überrascht die unter Anthroposophen noch immer weit verbreitete Verweigerung der
Historisierung ihres Begründers Rudolf Steiner und die dabei nachklingende Überzeugung, mit der
Anthroposopie die Unterscheidung zwischen Religion und Wissenschaft überwunden zu haben.
Steiners für die Moderne suspekte Selbstüberschätzung ist dabei wissenshistorisch allerdings nichts
Einmaliges: schon Max Scheler unterschied auf einer unteren Stufe „Herrschafts- und
Leistungswissen“, auf einer zweiten Stufe Bildungswissen und auf der obersten Stufe der
Rangordnung „Heils- oder Erlösungswissen“. Sophia Vietor hält die Anthroposphie für den
vermutlich letzten „ernsthafte(n) Versuch, eine allumfassende Metaphysik zu begründen, in deren
Zentrum der freie, sich selbst erkennende und bestimmende moralische Mensch steht.“ (VIETOR, S.
347).
8
STEINER 1906, S. 12. Steiner verweist dabei auch auf Schillers Jugendschrift «Die Theosophie des
Julius».
Rudolf Steiner war ein Mann der wörtlichen Rede, seine Anhängerschaft hat er auf
ausgedehnten Vortragstouren durch ganz Europa gewonnen, in der direkten Konfrontation mit
dem Publikum hat er seine Faszinationskraft gewonnen – und dies durchaus schon vor seiner
endgültigen Wendung zur Theosophie, z.B. während seiner Lehrtätigkeit an der
Liebknechtschen Arbeiterbildungsschule nach seinem Umzug nach Berlin 1897. Der
Vortragsredner Steiner arbeitete assoziativ und mäandernd, weniger logisch und deduktiv. In
seinen Vorträgen selbst, auf jeden Fall aber zwischen seinen verschiedenen Vorträgen zu
verschiedenen Zeitpunkten lassen sich mühelos widersprüchliche Begriffsverwendungen
nachweisen. Darum aber soll es hier nicht gehen. Beantwortet werden soll vielmehr die Frage,
ob Steiner einen originären Platz in der Novalis-Rezeption beanspruchen kann, ob Steiners
Zugriff auf Novalis eher originell und produktiv oder instrumentell und verengend ist.
9
STEINER, Rudolf: Die Psychologie der Künste. Vortrag vom 9. 4. 1921 in Dornach. GA 271, S. 204
– 219. Am 23. 1. 1910 wurde in Straßburg ein „Ortsverein“ der Anthroposopischen Gesellschaft unter
dem Namen „Novalis-Zweig“ gegründet, Steiner sprach zur Eröffnung (STEINER 1910). Bis heute
beziehen sich anthroposophische Institutionen auf den Dichter, so der „Novalis-Verlag“, die „Novalis-
Bühne“, das „Friedrich von Hardenbeg Institut für Kulturwissenschaften“ sowie „Novalis. Zeitschrift
für spirituelles Denken“.
10
Vgl. VIETOR, S. 349.
11
Steiner deutet die Auferstehung hier nicht als Auferweckung eines Toten, sondern als Erfahrung in
einer Mysterienhandlung: ZANDER 2011, S. 213.
12
ZANDER 2011, S. 157f. Allerdings machte Steiner aus der Seydelschen These von der zeitlich-
genealogischen „Abhängigkeit“ des Christentums vom Buddhismus, seinem „Sekundärcharakter“
schon hier einen evolutionären Aufstieg: „Das Christentum war für Steiner Schöpferin der Person, des
Subjekts, des „Ich“ und so eine Agentin ds Fortschritts und die Wegbereitering zur Eröfnung
mystischer Gehiemnnisse: Denn all das geschehn nicht mehr „im Innern der Mysterientempel“,
sondern in der Öffentlichkeit der christlichen Gemeinde.
Steiner versuchte zunächst zwischen der östlich orientierten Theosophie und seiner eigenen,
dem europäischen „Geistesleben“ verpflichteten Weltanschauung zu vermitteln. Aus dem
indischen Buddhismus übernahm er die Lehre von Reinkarnation und Karma aus der
westlichen Philosophie und dem Christentum die Konzentration auf die Einzelpersönlichkeit
und die Bedeutung ihres Lebens zwischen Geburt und Tod (vgl. VIETOR, 358). Steiner geht
davon aus, dass der unsterbliche Teil des Menschen, seine „ewige Individualität“ nicht als
13
GA, Bd. 96, S. 255.
14
Die Bezeichnung „Akasha-Chronik“ (akashic records) verwendete zuerst der Theosoph Charles W.
Leadbeater (1847–1934. Rudolf Steiner verwendete den Begriff hauptsächlich in der zwischen 1904
und 1908 erschienenen Aufsatzserie Aus der Akasha-Chronik und verband damit die Behauptung,
vergangene Ereignisse übersinnlich wahrnehmen zu können.
15
In der fünften – gegenwärtigen - nachatlantischen Epoche, deren Ziel die Herausbildung der
„Bewusstseinsseele“, d.h. die volle Entwicklung der kognitiven und moralischen Kräfte des Ich ist,
tritt Christus als Äthergestalt in Erscheinung. IN der nordisch-germanischen Unerrasse haben die
Menschen den bislang höchsten Grad an Rationalität, Individualität und Freiheit erreicht, haben sich
aber zugleich in den tiefsten Materialismus verstrickt. In der bevorstehenden sechsten Epoche wird er
in seinem Astralleib und in der siebten wird er als kosmisches Ich den Menschen erscheinen, die
hierfür – zum Beispiel durch die Anthroposophie – ihre höheren Erkenntnisfähigkeiten entwickelt
haben werden. Vgl. ULLRICH, S. 126.
16
STEINER 1930, 60. Während Steiner in öffentlichen Vorträgen die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten
von Reinkarnation und Karma darstellte, begann er intern nach und nach konkretere Angaben zu den
Wiederverkörperungen zu machen. Sophia Vietor schließt sich Marie Steiner an und verweist darauf,
dass Steiner schon in einem anderen Vortrag, von dem keine Nachschrift erhalten sei, das „Novalis-
Raffael-Johannes-Elias-Geheimnis ...gegeben“ (Marie Steiner) habe. Vgl. VIETOR, S. 355f.
17
STEINER 1985, S. 49 Nach seiner Hinrichtung geht die Seele des Johannes nach Steiner als
Gruppenseele in diejenige der zwölf Jünger Jesu über. Die historisch-kritische Bibelexegese geht
heute davon aus, dass es sich bei dem Jünger Johannes, dem Evangelisten und dem Apokalyptiker um
drei verschiedenen Persönlichkeiten gehandelt haben muss. Vernachlässigt wird hier die Tatsache,
dass Steiner kurz vor seinem Tode in seiner letzten Ansprache in Dornach am 28.9.1924 plötzlich
Lazarus-Johannes als frühere Verkörperung des Novalis nannte. In Raphael und Novalis sah er jetzt
die durch Christus bewirkte Initiation des vom Tode erweckten Lazarus nachwirken. (GA 238, S. 166
– 175).
18
Allerdings war der „physische Träger der geistigen Individualität des Elias“ für Steiner der biblische
Naboth (STEINER 1911, S. 8)
19
Diese philosophisch begründete Ich-Erfahrung formt Steier dann um in ein „johanneisches
Christentum“, in welchem das „höhere“ oder „transzendentale Selbst“ als „Christus in uns“
angesprochen wird. Auch die 1922 unter Leitung von Friedrich Rittelmeyer gegründete
Dass genau Rudolf Steiner für Novalis einer dieser (scheinbar) „Tiefgelehrten“ hätte sein
können, dass Steiners ganze Anthroposophie ohne die Symbolik von Zahlen und Figuren
undenkbar ist20, wird ausgeblendet. Stattdessen „ergänzt“ Steiner in seinem Vortrag die letzte
Zeile des Gedichts wie folgt:
„Christengemeinschaft“ versteht sich ihrem Ideal nach als „johanneische Zukunftskirche“, wie sie von
Novalis am Ende der Rede „Die Christenheit oder Europa“ prophezeit wird. Robert Goebel, ein
führender Priester der Christengemeinschaft, beruft sich auf das Ende von Schellings „Philosophie der
Offenbarung“, wo dem petrinischen Katholizismus und dem paulinischen Protestantismus die
johanneische Kirche des Geistes und der freien Einheit aller gegenübergestellt wird. Vgl. VIETOR, S.
359f..
20
Steiner arbeitet mit Analogien und benutzt die aus Goethes Faust bekannte Konzeption des
Mikrokosmos: Da sich in der Ordnung des Kosmos alles entspricht, bilden größte und kleinste
Einheiten einander ab. Steiners globalhistorische Korrespondenzreihen werden durch die Vierzahl,
seine Lebensalterslehre durch die Siebenzahl strukturiert. Die Zahlensymbolik der Drei-, Vier- und
Siebenzahl gibt seinen Systemen dabei einerseits das Gepräge des wissenschaftlich Berechenbaren
und wahrt andererseits in der Tradition der heiligen Zahlen den Schleier des Geheimen. Wo immer
zwei Mengen als gleichzahlig erscheinen, sind sie wesenhaft miteinander verbunden, weil dieses
Wesen sich in ihnen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ver- und enthüllt.
Wie Novalis das „geheime Wort“ des romantischen Dichters, so preist Steiner das Wort des
(anthroposophischen) Einzelnen, des großen Eingeweihten, als den er sich selbst sieht. Das
mag noch als Analogie gelten können. Durch die einengende Umwandlung des „Wesens“ in
das „Herden-Wesen“ im Schlussvers aber bekommt das ganze Gedicht ein elitäres, anti-
egalitäres Gepräge. Im weiteren Sinne ist das „Herdenhafte“ bei Steiner gekennzeichnet durch
„blindes Autoritätsgefühl“ und „blinden Glauben“21. Vor dem Hintergrund der in dem
Vortrag entwickelten anthroposophischen Christologie aber wird Novalis, ganz im Sinne des
Steiner-Konzepts von Jesus Christus als Vorläufer des modernen Individualismus, zum
Kämpfer gegen das „Herdenhafte“ der Gruppenseelen. Novalis ist anthroposophisch
„eingeholt“, ein offener lyrischer Entwurf auf einen ideologischen Beleg reduziert.
21
Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang
mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt, 6. Vortrag in Dornach am 6. Februar 1921, GA, Bd. 203,
S. 196.