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Matias Mieth

Rudolf Steiner liest die Jenaer Geistesgeschichte – Zur Novalis-Lektüre Rudolf Steiners

Rudolf Steiner (1861-1925) wirkt aktuell und attraktiv: seine weltanschaulichen Bilder und
suprahistorischen Konstruktionen stehen diametral gegen einen als lebensweltlich
allmächtigen erfahrenen Materialismus, sie lehnen eindirektionale Wachstumsvorstellungen
ebenso ab wie eindimensionale Verwertungszwänge der Marktlogik. Denn Steiner bietet –
intellektuell durchaus anspruchsvoll unterlegt - Antworten auf „letzte Fragen“ an: Schon der
Goethe-Herausgeber Steiner sah sich selbst als geistigen Widerpart eines sachverfallenen
Positivismus. Nietzsches pessimistisch-zynischer wie Marxens historisch-optimistischer
Materialismus können individuelle Sinnfragen moderner Individuen nicht befriedigend
beantworten. Steiners „Ertötung aller Selbstheit“ als „Grundlage für das höhere Leben“ (GA
40, 1981, 274f.) ist geradezu ein Gegenprogramm zum demokratisch legitimierten
Individualismus der westlichen Gegenwart.
Die Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner war lange einerseits von Apologetik, andererseits
von Polemik gekennzeichnet. Erst das 150. Geburtsjahr Steiners hat mit drei Biografien einen
Qualitätssprung gebracht, unter denen derjenigen Helmut Zanders zweifellos die Krone
gebührt1. Möglicherweise ist damit ein Stand der Diskussion erreicht, der – historisch-kritisch
- Steiners Anspruch akzeptiert, im Gegensatz zur Naturwissenschaft, die sich auf die
Untersuchung objektiv nachprüfbarer Tatsachen beschränkt, einen methodisch exakten Weg
der Introspektion und Selbsterfahrung zu begründen.2

Beziehungen Rudolf Steiners nach Jena lassen sich seit seiner Arbeit als Goethe-Herausgeber
in Weimar (1891 – 1896) immer wieder nachweisen. Allerdings macht es sich die in der
anthroposophischen Literatur verbreitete Annahme einer quasi natürlich-genealogischen
Beziehung des „Sehers“ der „geistigen Welten“ zur „Stadt des deutschen Idealismus“ 3 zu
einfach. Steiner nämlich hat die klassische deutsche Philosophie, das in diesem Sinne
„geistige Jena“ höchstens punktuell zur Kenntnis genommen. Zunächst seien hier deshalb die
drei wesentlichsten biografischen Episoden der Beziehung Rudolf Steiners zu Jena angeführt.

Zunächst war es das gemeinsam von Fichte und Niethammer in Jena herausgegebene
„Philosophische Journal einer Gesellschaft teutscher Gelehrten“, das bei dem knapp
zwanzigjährigen Rudolf Steiner Anfang 1881 ein philosophisches Erweckungserlebnis
auslöste. In einem Brief an Josef Köck beschreibt Steiner ein umwälzendes Lektüre-Erlebnis:
„Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. .. Ich
glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben -
geahnt habe ich es ja schon längst -; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer
wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen

1
GEBHARDT, ULLRICH, ZANDER 2011.
2
Philosophiegeschichtlich mag hier der Hinweis erlaubt sein, dass auch Fichtes
Wissenschaftslehre in dem überzeitlichen Augenblick der „schwebenden Selbstanschauung“
des denkenden Bewusstseins gründete. Kant dagegen hielt die „intellektuelle Anschauung“
des Ichs für unmöglich. Das „Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen“ Kants ist Steiner zurecht immer
wieder vorgeworfen worden. Vgl. auch GREUEL sowie VIETOR. In der Psychologie
wiederum ist die Methode der Selbstbeobachtung wegen mangelnder Überprüfbarkeit zwar
inzwischen aufgegeben worden – sie war aber zumindest in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts durchaus noch ernsthafter Diskussionsgegenstand.
3
SELG, S. 22.

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Fund!“4 Steiner hatte folgende, 1796 in Jena veröffentlichte Schelling-Passage gelesen: »Uns
allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser
innerstes, von allem, was von außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da
unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige anzuschauen; diese Anschauung ist die
innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer
übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, daß irgend
etwas im eigentlichen Sinne ist, während alles übrige nur erscheint, worauf wir jenes Wort
übertragen. Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, daß sie nur
durch Freiheit hervorgebracht und jedem andern fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit von
der eindringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewußtseins
hinreicht.«5
Rückblickend erklärte Rudolf Steiner Jahrzehnte später in seiner unvollendet gebliebenen
Autobiographie: „Mir war dieses „Ich“ innerlich überschaubares Erlebnis von einer in ihm
selbst vorhandenen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit erschien mir nicht weniger gewiß wie
irgendeine vom Materialismus anerkannte. Aber an ihr ist garnichts Materielles. Mir hat
dieses Durchschauen der Wirklichkeit und Geistigkeit des „Ich“ in den folgenden Jahren über
alle Versuchungen des Materialismus hinweggeholfen. Ich wußte: an dem „Ich“ kann nicht
gerüttelt werden. Und mir war klar, daß derjenige das „Ich“ eben nicht kennt, der es als eine
Erscheinungsform, ein Ergebnis anderer Vorgänge auffaßt“ (GA 28, 85). Steiner verdrängt
hier allerdings, dass er zum Zeitpunkt dieser Schelling-Lektüre noch viele weltanschauliche
Wandlungen vor sich hatte, ehe er 1902 endgültig zum Theosophen wurde.

Während dieser wissenschaftlichen und berufsbiografischen Suchbewegungen war Steiner


zeitweise - wie die meisten seiner Zeitgenossen - von einem ganz anderen Jenaer tief
beeindruckt, und zwar von Ernst Haeckel. Dessen Monismus, der moderne
naturwissenschaftliche Evolutionslehre mit pantheistischer Religiosität verband, und
insbesondere Haeckels Gedanken der teleologischen Evolution einer zugleich ideellen und
materiellen Ursubstanz hat Steiner mehrmals öffentlich verteidigt, obwohl Haeckels
Materialismus in keiner Weise mit Steiners (späteren) Theoriegebäuden in Deckung zu
bringen ist.

Ein Jahr vor seinem Tod schließlich besuchte Rudolf Steiner im Juni 1924 auf der Rückreise
aus Koberwitz in Schlesien das von Siegfried Pickert, Franz Löffler und Albrecht Strohschein
kurz zuvor übernommene ehemalige Ausflugslokal Haus Lauenstein. Steiner schlief im Hotel
„Schwarzer Bär“ – dreißig Jahre, nachdem er hier an der Feier zu Haeckels 60. Geburtstag
teilgenommen hatte. Die drei jungen Männer hatten hier in Jena-Lichtenhain gemeinsam mit
Ilse Knauer ein an Steiner orientiertes heilpädagogisches Heim eröffnet und stellten jetzt
erstmals Rudolf Steiner persönliche ihre Kinder vor, dieser gab Hinweise für ihre
Behandlung6. Eine Woche nach seinem Besuch auf dem Lauenstein begann Steiner in

4
Brief Rudolf Steiners an Josef Köck am 13. Januar 1881 „12 Uhr Mitternachts, zit. n. ZANDER, S.
38.
5
F. W. J. Schelling im achten der «Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus» in
Niethammers «Philosophischen Journal» 1796, wiederabgedruckt in Schellings «Philosophischen
Schriften», 1. Bd. (1809), S.165. Im selben Jahr übrigens entwickelt Schelling gemeinsam mit
Hölderlin und Hegel im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“: „Die erste IDEE ist
natürlich die Vorstelluntg VON MIR SELBST, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien,
selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und
gedenkbare SCHÖPFUNG AUS DEM NICHTS.“ (QUELLE???)
6
Am 24. August 1924 wurde der „Verein zur Heilung und Erziehung Seelenpflege bedürftiger Kinder
Lauenstein“ unter der Nummer 125 im Vereinsregister des Amtsgerichtes Jena eingetragen. Aus
Platzgründen zog man 1926 in das „Haus Bernhard“ in Jena-Zwätzen um.

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Dornach die zwölf Vorträge seines „Heilpädagogischen Kurses“, die bis heute als die
Grundlage der anthroposischen Heilpädagogik gelten. Die im „Heil- und Erziehungsinstitut ür
seelenpflegebedürftige Kinder Lauenstein“ begonnene Initiative und Steiners Vorlesungsreihe
führten zu Nachfolgegründungen in über 90 Ländern. Die in Jena erstmals praktizierte
anthroposophische Heilpädagogik gehört damit nach der Waldorfpädagogik zu den
folgenreichsten Anregungen Rudolf Steiners.7

Steiner nahm sämtliche Philosophen des deutschen Idealismus wie die Literaten der
deutschen Klassik und Romantik als Vorläufer der Theosophie bzw. Anthroposophie in
Anspruch, weil seiner Auffassung nach „im damaligen Zeitraum dem deutschen Dichten und
Denken eine theosophisch-mystische Unterströmung zu Grunde liegt“. Das zeigt schon ein
Vortragstitel wie „Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren“8.
Steiner hat dabei aber Novalis im Besonderen ein öffentliches Maß an Aufmerksamkeit zuteil
lassen werden lassen, das nur von demjenigen für Goethe übertroffen wird. Viel verband
Steiner mit dem „Aktuarius“ und Dichter, der 1799 in Jena jenen Essay vortrug, der erst
Jahrzehnte später unter dem Titel „Die Christenheit oder Europa“ veröffentlicht werden sollte.

Rudolf Steiner war als Kind von Mathematik, insbesondere Wahrscheinlichkeitsrechnung und
Geometrie, fasziniert. Der pythagoreische Lehrsatz habe ihn „verzaubert“ und gezeigt, dass
man in „rein innerlich angeschauten Formen“ leben könne (GEBHARDT, 42f.). Mathematik
macht für den Anthroposophen Steiner reines, sinnlichkeitsfreies Denken möglich. Novalis
war für Steiner zunächst deshalb interessant, weil Novalis nach Auffassung Steiners durch die
Mathematik den Weg zum „Wärmsten“, den „Weg zum spirituellen Leben“ eröffnet, während
sie für die meisten Menschen „immer etwas Kaltes bleibt“ (STEINER 1930, 12f.). Steiner sah
in Novalis einen „praktische(n) Geist, der auf der Bergakademie studiert hat, durch und durch
Mathematiker, der Mathematik empfunden hat als ein großes Gedicht, nach dessen Linien die
göttliche Geistigkeit die Welt gedichtet hat“ (STEINER 1910, 14) Für Steiner lebte in Novalis
eine „pythagoreische“ Denkungsart, weil Novalis sich durch mathematische und
naturwissenschaftliche Schulung zum Berg-Ingenieur ausgebildet hat: „Die Art, wie der
menschliche Geist die Gesetze der reinen Mathematik aus sich selbst heraus entwickelt, ohne
Zuhilfenahme einer jeglichen sinnlichen Anschauung, wurde ihm zum Vorbild für alles
übersinnliche Erkennen überhaupt.“ Novalis schwebt „nicht bloß eine Apotheose der
Wissenschaft von den Zahlen und Raumgrößen vor, sondern die Anschauung, daß alle
inneren Seelenerlebnisse zu dem Kosmos sich verhalten sollen, wie die reine sinnlichkeitfreie
mathematische Geisteskonstruktion zu der äußeren zahlenmäßigen und räumlich geordneten
Weltharmonie sich verhält“ (STEINER 1906).

7
Auch prosperierende Unternehmen in der ökologischen Landwirtschaft (Demeter) sowie Kosmetik
und Medizin (Weleda) beziehen sich auf anthroposophische Grundlagen. Gerade vor dem Hintergrund
dieser Erfolge überrascht die unter Anthroposophen noch immer weit verbreitete Verweigerung der
Historisierung ihres Begründers Rudolf Steiner und die dabei nachklingende Überzeugung, mit der
Anthroposopie die Unterscheidung zwischen Religion und Wissenschaft überwunden zu haben.
Steiners für die Moderne suspekte Selbstüberschätzung ist dabei wissenshistorisch allerdings nichts
Einmaliges: schon Max Scheler unterschied auf einer unteren Stufe „Herrschafts- und
Leistungswissen“, auf einer zweiten Stufe Bildungswissen und auf der obersten Stufe der
Rangordnung „Heils- oder Erlösungswissen“. Sophia Vietor hält die Anthroposphie für den
vermutlich letzten „ernsthafte(n) Versuch, eine allumfassende Metaphysik zu begründen, in deren
Zentrum der freie, sich selbst erkennende und bestimmende moralische Mensch steht.“ (VIETOR, S.
347).
8
STEINER 1906, S. 12. Steiner verweist dabei auch auf Schillers Jugendschrift «Die Theosophie des
Julius».

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Vor allem aber blieb Novalis für Steiner bis zuletzt der „eigentlich poetische Mensch“,
welcher durch sein ganzes Leben und Werk das „musikalisch-dichterische Element“ in
reinster Form verkörperte9.
Schon bei flüchtiger Lektüre könnte man Steiner eine auch methodologische Nähe zu
Novalis` romantischer Programmatik unterstellen, hatte Novalis in seinem berühmten 105.
Athenäums-Fragment „Die Welt muss romantisiert werden“ doch „eine Operation für das
Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche“ gefordert, um „dem Gewöhnlichen ein
geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten“ zu geben.
Novalis hat zudem die „Erscheinung“ von Verstorbenen und die für Steiner zentrale
„Seelenwanderung“ an verschiedenen Stellen in Erwägung gezogen10. Und doch muss man
Steiners Art des Umgangs mit Novalis in ihrer Funktion für Steiners geistesgeschichtliche
„Legendenbildung“ sehen, denn Steiner unterlegt Novalis` Äußerungen seine eigene
Terminologie, um diesen als Zeugen für die Anthroposophie heranziehen zu können, etwa
wenn er mit Verweis auf Novalis’ nachgelassene Schriften formuliert, dass „derjenige Geist,
der in Novalis lebte“, den Schlafzustand des Menschen genau wie Steiner definiert habe:
„Wenn der Mensch wach ist, dann sind in ihm vereinigt die innere Seele - so nannte man im
damaligen Sprachgebrauch das, was wir heute Astralleib nennen würden - mit dem äußeren
Leib. Der Leib genießt die Seele. — Ein schönes Wort, das Novalis gebrauchte, um die
Beziehung zwischen physischem und Astralleib auszudrücken.“ (STEINER 1910, 13).
Novalis war für Steiner fähig, „tief zu empfinden, zu wissen, daß in jenen spirituellen Welten,
in welche die Seele des Nachts untertaucht, die höhere spirituelle Realität ist, daß der Tag ...
nur ein Ausschnitt der ganzen spirituellen Wirklichkeit ist“ (STEINER 1930, 13f.), weil der
Mensch des Nachts „ein geistiges Wesen unter geistigen Wesen“ ist (STEINER 1930, 25).

Rudolf Steiner war ein Mann der wörtlichen Rede, seine Anhängerschaft hat er auf
ausgedehnten Vortragstouren durch ganz Europa gewonnen, in der direkten Konfrontation mit
dem Publikum hat er seine Faszinationskraft gewonnen – und dies durchaus schon vor seiner
endgültigen Wendung zur Theosophie, z.B. während seiner Lehrtätigkeit an der
Liebknechtschen Arbeiterbildungsschule nach seinem Umzug nach Berlin 1897. Der
Vortragsredner Steiner arbeitete assoziativ und mäandernd, weniger logisch und deduktiv. In
seinen Vorträgen selbst, auf jeden Fall aber zwischen seinen verschiedenen Vorträgen zu
verschiedenen Zeitpunkten lassen sich mühelos widersprüchliche Begriffsverwendungen
nachweisen. Darum aber soll es hier nicht gehen. Beantwortet werden soll vielmehr die Frage,
ob Steiner einen originären Platz in der Novalis-Rezeption beanspruchen kann, ob Steiners
Zugriff auf Novalis eher originell und produktiv oder instrumentell und verengend ist.

Im Umfeld der siebenten Generalversammlung der deutschen Sektion der Theosophischen


Gesellschaft in Berlin 1908 gestalteten Rudolf Steiner und seine Geschäftsführerin Marie
Sievers eine Art Novalis-Feier. Rudolf Steiner sprach bei dieser Vormittagsveranstaltung am
26. Oktober 1908 einleitende Worte. Er übernahm dabei zu großen Teilen die Darstellung von
Wilhelm Bölsche in dessen Einleitung zu Novalis` ausgewählten Werken in drei Bänden
(Leipzig 1903), ohne allerdings Bölsches Namen zu nennen. Danach rezitierte Marie von
Sivers, Steiners spätere Frau, Novalis „Hymnen an die Nacht“.

9
STEINER, Rudolf: Die Psychologie der Künste. Vortrag vom 9. 4. 1921 in Dornach. GA 271, S. 204
– 219. Am 23. 1. 1910 wurde in Straßburg ein „Ortsverein“ der Anthroposopischen Gesellschaft unter
dem Namen „Novalis-Zweig“ gegründet, Steiner sprach zur Eröffnung (STEINER 1910). Bis heute
beziehen sich anthroposophische Institutionen auf den Dichter, so der „Novalis-Verlag“, die „Novalis-
Bühne“, das „Friedrich von Hardenbeg Institut für Kulturwissenschaften“ sowie „Novalis. Zeitschrift
für spirituelles Denken“.
10
Vgl. VIETOR, S. 349.

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Zwei Monate darauf, am 22. Dezember 1908, erfolgte die zweite gemeinsame Novalis-
Veranstaltung von Sievers und Steiner. Rudolf Steiner sprach vor den Mitgliedern der
theosophischen Gesellschaft in Berlin über Novalis als Seher, Marie Steiner rezitierte
Novalis` «Marienlieder».
Am 26. Dezember 1909 sprach Rudolf Steiner in Berlin unter dem Titel
„Weihnachtsstimmung“ über Novalis.
Als sich Rudolf Steiner 1912 von Annie Besants Theosophischer Gesellschaft lossagte, um
seine eigene Anthroposophische Gesellschaft zu gründen, sprach Steiner am 29. Dezember
1912 auf der inoffziellen Gründungsveranstaltung der Anthroposophischen Gesellschaft
erneut zu Novalis, Marie Sivers hat diesen Vortrag 1930 mit „Novalis als Verkünder des
spirituell zu erfassenden Christus-Impulses“ betitelt.
1930 veröffentlicht Ernst Weidmann diese vier Vorträge Rudolf Steiners in einem Band mit
dem Titel „Das Weihnachtsmysterium: Novalis der Seher und Christuskünder“ (STEINER
1930).
Steiners Novalis-Vorträge akzentuieren – durchaus nicht nur im vom Herausgeber gewählten
Titel - ganz besonders die christliche Dimension des Dichters. Deshalb einige Bemerkungen
über das Verhältnis Rudolf Steiners zum Christentum.
Steiners Christus-Bild ist deutlichen Wandlungen unterworfen ist. Dabei können wir Steiners
Auffassungen vor seiner endgültigen Wendung zur Theosophie hier vernachlässigen – sie
ergeben kein konsistentes Bild. Erst im Alter von 41 Jahren ist Rudolf Steiner 1902 Mitglied
der Theosophischen Gesellschaft geworden. Zuvor könnte man ihn sicherlich phasenweise
als Goetheaner oder Nietzscheaner bezeichnen. Als Steiner nach dem Tod Friedrich
Nietzsches 1900 mehrere Gedenkreden auf den Philosophen hielt, wurde er gebeten, seinen
Vortrag in einem theosophischen Kreis um Sophie Gräfin Brockdorff zu wiederholen. Daraus
wurde schließlich eine Vortragsreihe. In einem ersten Zyklus sprach Steiner über die
neuzeitliche Mystik des Abendlandes. Am 19. Oktober 1901 begann Rudolf Steiner seine
zweite Vortragsreihe, und zwar über das „Christentum als mystische Thatsache“. Noch
während der Vortragsreihe, im Dezember 1901, forderten Graf und Gräfin Brockdorf Rudolf
Steiner auf, der Theosophischen Gesellschaft beizutreten. Jesus war für Steiner zu dieser Zeit
ein „Ur-Initiierter“ wie Buddha, beide besäßen eine „größtmögliche Zahl von
Wiederverkörperungen“. Passion und Auferstehung spielen (noch) keine Rolle11. Steiner
verortet die entscheidenden Wurzeln des Christentums insofern nicht im Judentum, sondern in
den östlichen Mysterienreligionen. Helmut Zander verweist in diesem Zusammenhang u.a.
auf den Einfluss des Leipziger Philosophen Rudolf Seydel. Die Deutung des (historischen)
Jesus als Christus spielt bei Steiner in den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende
noch keine zentrale Rolle12. In den bis 1905 publizierten Aufsätzen „Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten“ spielt das Christentum nicht einmal in Beispielen eine
Rolle.
1906 jedoch definiert Steiner sein Verhältnis zu Jesus und dem Christentum neu: Jetzt meint
Steiner eine „tiefe Verwandschaft des Christus Jesus mit dem Gottmenschen, der in jedem
Menschen veranlagt ist“, zu sehen. Jesus ist nicht mehr nur ein Eingeweihter, sondern steht
jetzt als Christus über allen anderen Religionen – entgegen der Lehre von der Gleichheit aller
Religionen in der Theosophie. „Der Christus“ gilt ihm nun als „Träger der Erdentwickelung“,

11
Steiner deutet die Auferstehung hier nicht als Auferweckung eines Toten, sondern als Erfahrung in
einer Mysterienhandlung: ZANDER 2011, S. 213.
12
ZANDER 2011, S. 157f. Allerdings machte Steiner aus der Seydelschen These von der zeitlich-
genealogischen „Abhängigkeit“ des Christentums vom Buddhismus, seinem „Sekundärcharakter“
schon hier einen evolutionären Aufstieg: „Das Christentum war für Steiner Schöpferin der Person, des
Subjekts, des „Ich“ und so eine Agentin ds Fortschritts und die Wegbereitering zur Eröfnung
mystischer Gehiemnnisse: Denn all das geschehn nicht mehr „im Innern der Mysterientempel“,
sondern in der Öffentlichkeit der christlichen Gemeinde.

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er „ist der Erdengeist, und die Erde ist sein Leib“. Im Frühjahr 1907 identifiziert Steiner
Christos mit dem Logos13, setzt also Christus mit der göttlichen Vernunft in eins. Mit der
behaupteten Einsicht in die bei Steiner erstmals 1904 auftauchende „Akasha-Chronik“14 hat
Steiner nunmehr angeblich auch Kenntnisse über das Leben Jesu zwischen seinem 12. und 30.
Lebensjahr erworben.
Für Steiner erscheint nunmehr der Sonnengeist Christus in der historischen Person Jesus in
menschlicher Gestalt, um der Menschheit den entscheidenden geistigen Impuls zu geben. Der
Jesus Christus des Berliner Novalis-Vortrags von 1909 „wandelte im Beginne unserer
Zeitrechnung in Palästina in Leibesgestalt. Er ist seit jener Zeit zu finden in der geistigen
Welt, denn er hat sich seit jener Zeit mit der geistigen Atmosphäre der Erde vereinigt. ... Er
durchdringt immer mehr und mehr alles Leben unserer Erde.“ (STEINER 1930, 50)
Dabei gab es für Steiner – entsprechend der unterschiedlichen Genealogien bei Lukas und
Matthäus – „zunächst“ zwei Jesus-Knaben, den von Nathan und den von Salomo
abstammenden. Der „salomonische Jesus“ prägte die „niedrigen“ Wesensglieder für den
Christus aus, in ihm lebte das geistige Ich des Zarathustra. Der „nathanische Jesus“ dagegen
trug den Geist Buddhas. Beim Besuch des Tempels ging der Geist Zarathustras in den Leib
des nathanischen Jesus über, das salomonische Jesuskind starb, während sich im nathanischen
Jesus die Impulse Buddhas und Zarathustras verbanden. Er konnte nun bei der Taufe im
Jordan den kosmischen Sonnengeist aufnehmen, d.h. bei der Taufe des dreißigjährigen Jesus
wurde der Christus „geboren“ (vgl. BAUMANN, 45).
Mit dem Opfertod in Golgatha hat der „Christus-Impuls“ in allen Menschen die Kräfte der
Vergeistigung und Selbsterlösung gestärkt (vgl. ULLRICH, 57). Steiners These in seinem
Novalis-Vortrag von 1909 lautet, „in der Zeit, als der Christus heruntergestiegen ist auf
unsere Erde, war die Menschheit an dem Punkt angekommen, wo die alten Gruppenseelen
anfingen, ihre Bedeutung zu verlieren.“ Der „Christus-Impuls“ brachte das, „was sich in die
individuelle Seele hineinergießen sollte“ (STEINER 1930, 52) – Christus läutet den
Individualismus der Moderne ein. Durch sein Blut, das beim menschheitsgeschichtlichen
„Mittelpunktsereignis“ der Kreuzigung auf Golgatha in die Erde floss, vereinigte sich das
kosmische Sonnenwesen Christus mit dem Geist der Erde15. Am tiefsten Punkt des
Niedergangs kann Christus wie ein Katalysator den Prozess der Wiedervereinigung der dem
Materialismus verfallenen Menschheit mit dem Geist in Gang setzen.

Steiner versuchte zunächst zwischen der östlich orientierten Theosophie und seiner eigenen,
dem europäischen „Geistesleben“ verpflichteten Weltanschauung zu vermitteln. Aus dem
indischen Buddhismus übernahm er die Lehre von Reinkarnation und Karma aus der
westlichen Philosophie und dem Christentum die Konzentration auf die Einzelpersönlichkeit
und die Bedeutung ihres Lebens zwischen Geburt und Tod (vgl. VIETOR, 358). Steiner geht
davon aus, dass der unsterbliche Teil des Menschen, seine „ewige Individualität“ nicht als

13
GA, Bd. 96, S. 255.
14
Die Bezeichnung „Akasha-Chronik“ (akashic records) verwendete zuerst der Theosoph Charles W.
Leadbeater (1847–1934. Rudolf Steiner verwendete den Begriff hauptsächlich in der zwischen 1904
und 1908 erschienenen Aufsatzserie Aus der Akasha-Chronik und verband damit die Behauptung,
vergangene Ereignisse übersinnlich wahrnehmen zu können.
15
In der fünften – gegenwärtigen - nachatlantischen Epoche, deren Ziel die Herausbildung der
„Bewusstseinsseele“, d.h. die volle Entwicklung der kognitiven und moralischen Kräfte des Ich ist,
tritt Christus als Äthergestalt in Erscheinung. IN der nordisch-germanischen Unerrasse haben die
Menschen den bislang höchsten Grad an Rationalität, Individualität und Freiheit erreicht, haben sich
aber zugleich in den tiefsten Materialismus verstrickt. In der bevorstehenden sechsten Epoche wird er
in seinem Astralleib und in der siebten wird er als kosmisches Ich den Menschen erscheinen, die
hierfür – zum Beispiel durch die Anthroposophie – ihre höheren Erkenntnisfähigkeiten entwickelt
haben werden. Vgl. ULLRICH, S. 126.

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Tier oder Pflanze wie im Hinduismus, sondern immer wieder neu als Mensch verkörpert wird.
Sinn dieser Wiedergeburten ist die Verbesserung des Einzelnen, „so dass wir wirklich
sprechen können von einer Erziehung, welche die Menschenseele durch ihre verschiedenen
Erdenleben durchmacht, eine Erziehung durch alles das, was von dem gemeinsamen
Geiste der Menschheit geschaffen und ausgebildet wird.“ (STEINER 1913) In der
bürgerlichen Ideologie der „Arbeit an sich selbst“ verankert, hat Steiner damit „den östlichen
Reinkarnationsglauben um eine Art Leistungsprinzip erweitert“ (GEBHARDT, 24).
Im Gegensatz zu Charles Leadbeater und Annie Besant, welche ab 1909 in der
Theosophischen Gesellschaft verbreiteten, dass in dem 1897 geborenen Hinduknaben
Krishnamurti ein „bedeutender Weltenlehrer“, der „künftige Maitraya“ (d.i. der Buddha der
Zukunft) oder sogar „Christus“ wiedergeboren sei, begann Steiner in der deutschen Sektion
seine Überzeugung von der rein geistigen Wiederkunft Christi zu vertreten, weil er sich dem
Kult um Krishnamurti nicht anschließen wollte. Krishna wird „mit seinem Kern als alles, was
nach rückwärts weist“ auf der einen Seite Christus gegenübergestellt, „de(m) anderen
Kometen, nach vorwärts weisend“ (Steiner 1985, 104). Steiner betonte die Einmaligkeit der
„physischen Inkarnation“ des Christus in Jesus von Nazareth und machte an ihrer Stelle die
bevorstehende Erscheinung Jesu im „Ätherischen“ zum religiösen Inhalt
Während anthroposophische Biografen lange betonten, dass der Christus-Impuls der Grund
für Steiners Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft gewesen sei, hat Helmut Zander
schon 2007 herausgearbeitet, wie Steiner diesen Teil seiner Lehrer im Laufe der
Auseinandersetzung um Krishnamnurti „zu einer bruchfähigen Differenz ausgebaut“ hat
(ZANDER 2007, 167ff.). Steiner stellte nunmehr „die Christusgestalt in ihrer Einmaligkeit in
den Mittelpunkt, während von der theosophischen Präsidentin Annie Besant prinzipiell eine
Pluralität von messianischen Gestalten für real gehalten wurde“ (TIEDE, 3). Steiners Novalis-
Vorträge stehen in diesem Kontext.
Schon Steiners Arbeit als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften hatte
gezeigt: wie sein Lehrer Julius Schröer liebte Steiner weniger das Herausarbeiten exakter
kultureller Kontexte oder nachvollziehbarer Lesarten als vielmehr das „Einfühlen“ in die
Texte bzw. den Autor selbst.
Auch das Leben des Novalis war für Steiner im Sinne seiner Inkarnationslehre „eigentlich
Erinnerung ... an ein vorhergehendes“. Ausgelöst durch den frühen Tod Sophie von Kühns, so
deutet Steiner zunächst an, „wurden die spirituellen Erlebnisse früherer Inkarnationen
herausgetrieben, stellten sich vor die Seele hin und flossen in zarten, rhythmisch wogenden
Gedichten aus der Seele heraus“ (STEINER 1930, 13) Erst im dem Vortrag zu Weihnachten
1908 sprach Steiner genauer von Novalis als „der wiederverkörperten Seele des Elias, des
Täufers Johannes, des Raffael“. Das heute „Ereignis Weimar-Jena genannte Beziehungsfeld
ist bei Steiner Voraussetzung dieser „Neugeburt“ des Christentums in Novalis: „Aus dem
Kreise, in dem das geistige Leben selber erglühte“, ging, „wie eine Erstverkündigung
theosophisch-anthroposophischer Weltanschauung des Abendlandes“, Novalis hervor: „Im
Glanze der Goethe-Sonne, der Schiller-Sonne reifte diese dem Christus-Impuls
entgegenwebende und –sehnende Seele heran.“16
Novalis, „dieser wiedergeborene Raffael, dieser wiedergeborene Johannes, dieser
wiedergeborene Elias“ (STEINER 1930, 63), trägt für Steiner die geistigen Anregungen
dieser drei Vorgänger weiter.
Johannes ist dabei für Steiner der „wiedererstandene Prophet“ aus dem alten Testament, der
„verkündete die Taufe zur Erkenntnis der menschlichen Sündenhaftigkeit“, weil er sich

16
STEINER 1930, 60. Während Steiner in öffentlichen Vorträgen die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten
von Reinkarnation und Karma darstellte, begann er intern nach und nach konkretere Angaben zu den
Wiederverkörperungen zu machen. Sophia Vietor schließt sich Marie Steiner an und verweist darauf,
dass Steiner schon in einem anderen Vortrag, von dem keine Nachschrift erhalten sei, das „Novalis-
Raffael-Johannes-Elias-Geheimnis ...gegeben“ (Marie Steiner) habe. Vgl. VIETOR, S. 355f.

Steiner und Novalis.doc7 von 11


hineingelebt hatte „in einen neuen Unsterblichkeitsglauben“ (STEINER 1985, 38). Dabei
ermöglichte die Taufe dem Täufling „eine Art Rückschau auf das letzte Leben“. Johannes
machte sichtbar, „daß die alte Zeit erfüllt ist und daß eine neue Zeit beginnen müsse.“17
In Elias taucht für Steiner das „prophetische Element“ erneut auf (STEINER 1992, 110). Elias
markiert für Steiner den althebräischen Umschwung vom Glauben an einen strafenden und
belohnenden Gott hin zu einem Gottesbild, bei dem Jahwes allmächtiges Walten unabhängig
von den Taten der Menschen als göttlich gepriesen wird, „denn dem Ratschluss des alten
Jahve-Gottes entspricht es, Not und auch wieder Glück zu bringen. Aber niemals darf das
Vertrauen schwinden.» (STEINER 1911, 10)18
Raffael hat für Steiner griechische Äußerlichkeit mit christlicher Innerlichkeit verbunden.
Raffaels Sixtinische Madonna war für Steiner „Sinnbild dessen ..., was heranschwebt, um
sich mit dem Irdischen zu umkleiden.“ Raffael markiert für Steiner eine wesentliche
„Wasserscheide der Menschheitsentwicklung“ auf dem Wege ihrer „Verinnerlichung“, um
„den Blick hinzuwenden nicht auf die Sinneswelt, um die Rätsel des Daseins zu
fühlen, sondern auf das, was der Geist erahnend erschauen konnte, wenn er sich
rein den geistig-seelischen Kräften hingab.“ Dabei sind Raffaels Gestalten „herausgeboren ...
aus den Tiefen der seelischen Erlebnisse“, obwohl sie „in Bildern der Sinnlichkeit“
auftreten. „Verinnerlichung der Menschenseele“ aber war für Steiner in diesem
Zusammenhang der „Grundimpuls des Christentums“: der „Christus-Impuls“ ermöglicht das
“Loslösen der Menschenseele von der äußeren Welt“, das „Sich-Besinnen der Menschenseele
auf sich selbst“, weil der Mensch „sich getrennt hat von der Natur“ (STEINER 1913). Weil
Novalis in den „Blütenstaub“-Fragmenten postuliert hatte: „Nach Innen geht der
geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die
Vergangenheit und Zukunft“ (NOVALIS II, 419), konnte Novalis für Steiner das „Rätsel des
Christus“, das „Ereignis von Golgatha“ „schauen“ (STEINER 1930, 18), deshalb sieht
Novalis für Steiner „die Erde in der Zukunft als eine(n) große(n) Organismus, in dem der
Mensch eingebettet sein wird und dessen Seele der Christus ist“ (STEINER 1930, 21).
Als „Christus in Leibesgestalt auf der Erde wandelte“ empfing die Menschheit den Impuls,
aus den materiellen Niederungen wieder „hinaufzusteigen“ in die „geistige Welt“. Aber dieser
Impuls wirkte zunächst nur in einigen wenigen „geeigneten Seelen“, während die Menschheit
zunächst „wie um das Maß dessen, das überwinden werden soll, voll zu machen, den Weg
fort, herunter immer tiefer und tiefer in das materielle Dasein.“ (STEINER 1930, 44) Steiner
macht Novalis zum Vorläufer der anthroposophischen „Christologie“, weil Novalis durch sein
Schicksal die innere, rein geistige Erfahrung des „Christus-Ichs“ zuteil geworden sei. Wie
Novalis in seiner früheren Inkarnation als Johannes der Täufer auf die Menschwerdung des
Christus in Jesus von Nazareth bei der Jordantaufe hingewiesen habe, so sei die Dichtung von
Novalis eine Hinführung zur Anthroposophie, durch welche die Erkenntnis des Christus in
unserer Zeit vorbereitet werde.19

17
STEINER 1985, S. 49 Nach seiner Hinrichtung geht die Seele des Johannes nach Steiner als
Gruppenseele in diejenige der zwölf Jünger Jesu über. Die historisch-kritische Bibelexegese geht
heute davon aus, dass es sich bei dem Jünger Johannes, dem Evangelisten und dem Apokalyptiker um
drei verschiedenen Persönlichkeiten gehandelt haben muss. Vernachlässigt wird hier die Tatsache,
dass Steiner kurz vor seinem Tode in seiner letzten Ansprache in Dornach am 28.9.1924 plötzlich
Lazarus-Johannes als frühere Verkörperung des Novalis nannte. In Raphael und Novalis sah er jetzt
die durch Christus bewirkte Initiation des vom Tode erweckten Lazarus nachwirken. (GA 238, S. 166
– 175).
18
Allerdings war der „physische Träger der geistigen Individualität des Elias“ für Steiner der biblische
Naboth (STEINER 1911, S. 8)
19
Diese philosophisch begründete Ich-Erfahrung formt Steier dann um in ein „johanneisches
Christentum“, in welchem das „höhere“ oder „transzendentale Selbst“ als „Christus in uns“
angesprochen wird. Auch die 1922 unter Leitung von Friedrich Rittelmeyer gegründete

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Die von Steiner propagierte anthroposophische Methode ist weniger das durch einen Zweiten
nachvollziehbare Experiment als viel mehr die meditative Versenkung des Einzelnen in die
eigene geistige Welt, die Selbstanschauung des Denkens. Sie ist insofern eben auch nicht die
literaturwissenschaftlich präzise Interpretation von Texten (zu der Steiner auch das
Handwerkszeug fehlte). Deshalb arbeitet Steiner bei seinen Novalis-Vorträgen nicht mit
literarischen Zitaten, die als Beleg fungieren: diese Rolle soll allein der künstlerische
Gedichtvortrag durch Marie von Sivers übernehmen. Wenn man Steiners Thesen am dessen
Umgang mit dem literarischen Text untersuchen will, ist man also darauf angewiesen,
Steiners spekulative Methoden zu akzeptieren und das eigene kritische Denkvermögen
„stillzustellen“.
Steiner sah in der Romantik im Allgemeinen und in Novalis im Speziellen den ihm
hochsympathischen Versuch, den Intellekt intellektuell zu überschreiten, um das
Überbewusste, Wesenhafte, Kosmische wieder zum Sprechen zu bringen. In seinem Kölner
Vortrag vom 29. Dezember 1912 zitiert Steiner als abschließenden Höhepunkt seines
Vortrags Novalis` Text „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“, in dem Novalis ja die
zukünftig-erlösende Kraft von Gesang, Dichtung und Liebe preist und positiv gegen die
„Tiefgelehrten“, gegen das Berechnende abhebt.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren


Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt in´s freie Leben.
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Dass genau Rudolf Steiner für Novalis einer dieser (scheinbar) „Tiefgelehrten“ hätte sein
können, dass Steiners ganze Anthroposophie ohne die Symbolik von Zahlen und Figuren
undenkbar ist20, wird ausgeblendet. Stattdessen „ergänzt“ Steiner in seinem Vortrag die letzte
Zeile des Gedichts wie folgt:

„Christengemeinschaft“ versteht sich ihrem Ideal nach als „johanneische Zukunftskirche“, wie sie von
Novalis am Ende der Rede „Die Christenheit oder Europa“ prophezeit wird. Robert Goebel, ein
führender Priester der Christengemeinschaft, beruft sich auf das Ende von Schellings „Philosophie der
Offenbarung“, wo dem petrinischen Katholizismus und dem paulinischen Protestantismus die
johanneische Kirche des Geistes und der freien Einheit aller gegenübergestellt wird. Vgl. VIETOR, S.
359f..
20
Steiner arbeitet mit Analogien und benutzt die aus Goethes Faust bekannte Konzeption des
Mikrokosmos: Da sich in der Ordnung des Kosmos alles entspricht, bilden größte und kleinste
Einheiten einander ab. Steiners globalhistorische Korrespondenzreihen werden durch die Vierzahl,
seine Lebensalterslehre durch die Siebenzahl strukturiert. Die Zahlensymbolik der Drei-, Vier- und
Siebenzahl gibt seinen Systemen dabei einerseits das Gepräge des wissenschaftlich Berechenbaren
und wahrt andererseits in der Tradition der heiligen Zahlen den Schleier des Geheimen. Wo immer
zwei Mengen als gleichzahlig erscheinen, sind sie wesenhaft miteinander verbunden, weil dieses
Wesen sich in ihnen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ver- und enthüllt.

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Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Herden-Wesen fort.

Wie Novalis das „geheime Wort“ des romantischen Dichters, so preist Steiner das Wort des
(anthroposophischen) Einzelnen, des großen Eingeweihten, als den er sich selbst sieht. Das
mag noch als Analogie gelten können. Durch die einengende Umwandlung des „Wesens“ in
das „Herden-Wesen“ im Schlussvers aber bekommt das ganze Gedicht ein elitäres, anti-
egalitäres Gepräge. Im weiteren Sinne ist das „Herdenhafte“ bei Steiner gekennzeichnet durch
„blindes Autoritätsgefühl“ und „blinden Glauben“21. Vor dem Hintergrund der in dem
Vortrag entwickelten anthroposophischen Christologie aber wird Novalis, ganz im Sinne des
Steiner-Konzepts von Jesus Christus als Vorläufer des modernen Individualismus, zum
Kämpfer gegen das „Herdenhafte“ der Gruppenseelen. Novalis ist anthroposophisch
„eingeholt“, ein offener lyrischer Entwurf auf einen ideologischen Beleg reduziert.

21
Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang
mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt, 6. Vortrag in Dornach am 6. Februar 1921, GA, Bd. 203,
S. 196.

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