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Herausgegeben

von Hans-Martin
Lohmann und
Freud-
Joachim Pfeiffer
Handbuch
Leben – Werk – Wirkung

Sonderausgabe

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
IV

Mit freundlicher Förderung durch Ulrike Crespo


und die Ursula Ströher Stiftung, Basel.

Die Herausgeber:
Hans-Martin Lohmann ist freier Publizist, ehem.
Chefredakteur der Zeitschrift »Psyche«;
zahlreiche Publikationen zu Freud.
Joachim Pfeiffer ist Professor für Neuere deutsche
Literatur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg; Mitherausgeber
des »Jahrbuchs Literatur und Psychoanalyse«.

Bibliografische Information der Deutschen


Nationalbibliothek © 2013 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Verlag GmbH in Stuttgart 2013
über http://dnb.d-nb.de abrufbar. www.metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-02514-2 info@metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-01242-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-01242-5
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V

Vorwort

Wie alle wahrhaft großen Werke der Geistesge- »Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaf-
ten, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen
schichte ist auch das Freudsche Werk keineswegs un- kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum
umstritten. Aber jenseits der Frage, mit welchem zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten. Bereits mit-
Recht über Freud gestritten werden kann und soll, ten auf der Höhe der psychoanalytischen Arbeit, im Jahre
erhebt sich sein Werk als ein geistiges Monument, 1912, hatte ich in ›Totem und Tabu‹ den Versuch gemacht, die
neu gewonnenen analytischen Einsichten zur Erforschung der
dessen Strahlkraft schwer zu überschätzen ist. Die Ursprünge von Religion und Sittlichkeit auszunützen. Zwei
Historiker der modernen Ideen- und Geistesge- spätere Essays ›Die Zukunft einer Illusion‹ 1927 und ›Das Un-
schichte sind sich darin einig, daß Freud gleichrangig behagen in der Kultur‹ 1930 setzten dann diese Arbeitsrich-
neben Gestalten wie Marx, Nietzsche und Max We- tung fort. Immer klarer erkannte ich, daß die Geschehnisse der
Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Men-
ber steht – so etwa das Urteil Eric Voegelins. Freuds schennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen ur-
widerspruchsvolles Werk hat die unterschiedlichsten zeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vor-
wissenschaftlichen Disziplinen und Theorien, aber drängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwi-
auch unser Alltagsbewußtsein, unsere Sprache und schen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse
beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf ei-
unsere kulturellen Verhaltenscodes maßgeblich be- ner weiteren Bühne wiederholt« (GW XVI, 32 f.).
einflußt. Selbst da, wo es auf explizite Kritik und Ab-
lehnung stößt, ist seine Wirkung noch spürbar. Trotz Freud versteht die Psychoanalyse also keineswegs als
aller Zurückweisungen, die Person und Werk immer eine psychologische Theorie atomisierter Individuen;
wieder erfahren haben, steht Freuds enorme Bedeu- vielmehr rückt bei ihm die Beziehung zwischen in-
tung für die Entzifferung von vergangener und ge- dividueller und kultureller Entwicklung, zwischen
genwärtiger Kultur- und Gesellschaftsgeschichte au- Individuum und sozialer Organisation, zwischen
ßer Frage. Für Michel Foucault gehört Freud zu den Ontogenese und Phylogenese ins Zentrum der Auf-
›Diskursivitätsbegründern‹ der Moderne, d. h. zu den merksamkeit. Die Bestimmung der Relation von
Begründern einer neuen Redeordnung – ein Attribut, individueller »Menschennatur« und kollektiver
das Foucault nur wenigen Autoren zuerkennen »Menschheitsgeschichte« bildet den Dreh- und An-
wollte. gelpunkt der Freudschen Theorie. Von daher wird
Die Rezeption des Freudschen Werks war, zumal in auch das inzwischen erwachte Interesse der Kultur-
den Kreisen professionell arbeitender Psychoanalyti- wissenschaften an der Psychoanalyse verständlich,
ker, lange Zeit von der einseitigen Konzentration auf das sich in einer Vielzahl von interdisziplinär betrie-
den klinisch-therapeutischen Aspekt geprägt, wäh- benen Forschungsprojekten und Fragestellungen
rend die kulturtheoretische Sichtweise Freuds, nicht ausdrückt. Das Unbewußte im Freudschen Sinne ist
zuletzt auch wegen ihrer unbequemen und schwer – man muß dies freilich mit aller gebotenen Zurück-
einzuordnenden Implikationen, eher mit Zurückhal- haltung formulieren, um Mißverständnissen aus dem
tung aufgenommen wurde. Für Freud indessen war Wege zu gehen – eben nicht nur eine Dimension des
die Kulturtheorie – also sein Nachdenken über Ur- Individuums, sondern auch eine von kulturellen und
sprung und Entstehung von Kultur sowie über ihr zivilisatorischen Entwicklungen, von sozialen Prozes-
mögliches Scheitern – nicht ablösbar von den klini- sen und künstlerischen wie intellektuellen Schöp-
schen und metapsychologischen Aspekten seiner fungen.
Lehre; beide bilden vielmehr eine untrennbare Ein- Das vorliegende Handbuch will diesem Zusam-
heit. Welche zentrale Rolle in Freuds Selbstverständ- menhang Rechnung tragen. Sein vorrangiges Inter-
nis seine kulturtheoretischen Erörterungen und Re- esse ist also kulturwissenschaftlich determiniert,
flexionen spielen, wird aus dem Nachtrag zur wenngleich andere Gesichtspunkte, auch klinische,
»Selbstdarstellung« (1935) deutlich, wo es heißt: nicht gänzlich vernachlässigt werden. Freuds Werk
VI Vorwort

wird in all seinen Facetten in den Blick genommen: mus – sind die Beiträge des vierten Teils gewidmet.
Sämtliche Schriften werden in thematisch zentrier- Besonders hier wird die immense wirkungsgeschicht-
ten, zuweilen auch chronologisch angeordneten liche Bedeutung der Freudschen Psychoanalyse sicht-
Werkgruppen vorgestellt, die wichtigsten Themen bar – ihre produktive und kritische Kraft, alte Fragen
und Thesen der Freudschen Theorie diskutiert und wieder aufzugreifen und neue zu stellen. Mehr denn
auf ihre Rezeption und Wirkung hin befragt. Der je gilt heute, was der Erfinder der Psychoanalyse vier
Werkpräsentation und -analyse geht ein umfangrei- Jahre vor seinem Tod, als sein Werk vom National-
ches Kapitel voraus, das den sozialhistorisch-politi- sozialismus tödlich bedroht war, noch als Wunsch
schen, wissenschaftsgeschichtlichen und biographi- und »Illusion« bezeichnet hatte: daß er »zu den Au-
schen Kontext von Freuds Werk skizziert. Das Aus- toren gehört, denen eine große Nation wie die deut-
wahlkriterium für die »Themen und Motive« des sche bereit ist, Gehör zu schenken« (GW XVI, 33).
dritten Teils verdankt sich vor allem kulturtheoreti- Wie aus vielen Beiträgen des Handbuchs hervorgeht,
schen Aspekten und Fragestellungen; die klinisch- sind es nicht nur die Deutschen, bei denen Freuds
therapeutischen Gesichtspunkte, die in anderen psy- Werk Widerhall und Aufnahme gefunden hat.
choanalytischen Handbüchern und Nachschlagewer- Ohne tatkräftige materielle und ideelle Unterstüt-
ken breiten Raum einnehmen, traten dabei naturge- zung könnte ein Unternehmen wie dieses nicht ge-
mäß in den Hintergrund. Der Rezeption des lingen. Der besondere Dank der Herausgeber geht
Freudschen Werks in den unterschiedlichsten wissen- deshalb an den ›Arbeitskreis für Literatur und Psy-
schaftlichen Disziplinen und Ausfächerungen – von choanalyse‹ in Freiburg sowie an Lothar Bayer, Ulrike
der Philosophie über die Literaturwissenschaft bis Crespo, Ute Hechtfischer und Katherine Stroczan.
zur Theorie des Films, von der Ethnologie über die
Soziologie bis zur Politischen Psychologie, vom Mar- Die Herausgeber
xismus über die Kritische Theorie bis zum Feminis-
VII

Inhalt

I. Freud und seine Epoche 8.2 Die »kulturelle« Sexualmoral und die
moderne Nervosität (1908) . . . . . . . . 149
1. Der Epochenkontext . . . . . . . . . . . 1 8.3 Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens
1.1 Politik und Gesellschaft in Freuds Wien (1910–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . 151
(1860–1938) . . . . . . . . . . . . . . . . 1 8.4 Zur Einführung des Narzißmus (1914) . . 154
1.2 Philosophischer Kontext . . . . . . . . . 10 8.5 Jenseits des Lustprinzips (1920) . . . . . . 158
1.3 Die Wiener Moderne . . . . . . . . . . . 25 8.6 Psychosexualität der Frau . . . . . . . . 162
1.4 Anfänge der modernen Sexualwissen-
schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 9. Kulturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . 168
9.1 Totem und Tabu (1912/13) . . . . . . . . 168
2. Die intellektuelle Biographie . . . . . . 49 9.2 Massenpsychologie und Ich-Analyse
(1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
9.3 Die Zukunft einer Illusion (1927) . . . . . 174
9.4 Das Unbehagen in der Kultur (1930) . . . 178
II. Werke und Werkgruppen 9.5 Der Mann Moses und die monotheistische
Religion (1939 [1934–38]) . . . . . . . . 181
1. Frühe Schriften . . . . . . . . . . . . . . 77 9.6 Schriften zum Thema Krieg und Tod . . 187
1.1 Die sogenannten voranalytischen
Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 10. Literatur und Kunst . . . . . . . . . . . 193
1.2 Die Kokain-Schriften . . . . . . . . . . . 79 10.1 Der Wahn und die Träume in W. Jensens
1.3 Zur Auffassung der Aphasien (1891) . . . 81 ›Gradiva‹ (1907) . . . . . . . . . . . . . 193
10.2 Der Dichter und das Phantasieren
2. Hysterie-Studien . . . . . . . . . . . . . 84 (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
10.3 Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da
3. Vorlesungen und einführende Schriften 94
Vinci (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . 197
4. Schriften zur Traumdeutung . . . . . . 106 10.4 Das Motiv der Kästchenwahl (1913) . . . 199
10.5 Einige Charaktertypen aus der psycho-
5. Theorie des Unbewußten . . . . . . . . 118 analytischen Arbeit (1916) . . . . . . . . 201
5.1 Zur Psychopathologie des Alltagslebens 10.6 Eine Kindheitserinnerung aus ›Dichtung
(1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 und Wahrheit‹ (1917) . . . . . . . . . . . 203
5.2 Der Witz und seine Beziehung zum 10.7 Das Unheimliche (1919) . . . . . . . . . 204
Unbewußten (1905) . . . . . . . . . . . . 119 10.8 Der Humor (1927) . . . . . . . . . . . . 207
5.3 Das Ich und das Es (1923) . . . . . . . . 121 10.9 Dostojewski und die Vatertötung
5.4 Metapsychologische Schriften . . . . . . 123 (1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
5.5 Weitere Schriften zum Unbewußten . . . 129 10.10 Psychopathische Personen auf der Bühne
6. Zwangshandlungen, Phobien, Paranoia, (1942) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Theorie der Angst . . . . . . . . . . . . 134 10.11 Der Moses des Michelangelo (1914) . . . . 211

7. Behandlungstechnik . . . . . . . . . . . 139 11. Autobiographische Schriften . . . . . . 215


8. Sexualtheorie und Triebtheorie . . . . . 146 12. Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
8.1 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
(1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 13. Der Autor Freud . . . . . . . . . . . . . 232
VIII Inhalt

III. Themen und Motive 7. Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 348


1. Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 239 8. Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . 373
2. Antike und Mythos . . . . . . . . . . . 246
9. Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . 377
3. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
10. Feminismus/Gender Studies . . . . . . 383
4. Biologie und Materialismus . . . . . . . 260
11. Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
5. Krankheit und Gesundheit . . . . . . . 264
6. Theater, Szene und Spiel . . . . . . . . 271 12. Film- und Kinotheorie . . . . . . . . . 402

13. Ethnopsychoanalyse . . . . . . . . . . . 412

14. Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 417


IV. Rezeptions- und
Wirkungsgeschichte 15. Politische Psychologie . . . . . . . . . . 423

1. Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 277
1.1 Rezeption im deutschsprachigen Raum . 277
1.2 Rezeption in Frankreich . . . . . . . . . 283 V. Anhang
1.3 Rezeption in den angloamerikanischen
Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
1. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
1.4 Institutionalisierung der Psychoanalyse . 292
2. Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

3. Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . 302 3. Freuds Schriften chronologisch nach


den Gesammelten Werken . . . . . . . . 434
4. Kunst und Kunsttheorie . . . . . . . . . 307
5. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 4. Die Autorinnen und Autoren . . . . . . 440

6. Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . 329 5. Personenregister . . . . . . . . . . . . . 442


1

I. Freud und seine Epoche


1. Der Epochenkontext

1.1 Politik und Gesellschaft und widersprüchlich ausfielen, besonders im Hin-


blick auf die Wünsche der unterworfenen Nationali-
in Freuds Wien (1860–1938) täten. So wurde 1861 zwar ein Zweikammer-Parla-
ment für die gesamte Monarchie eingerichtet, zu-
Das Habsburgerreich um 1860
gleich aber durch das Wahlverfahren dafür gesorgt,
Das habsburgische Österreich, obwohl territorial daß die deutschen Vertreter stets die Mehrheit hat-
weit in den Osten und Südosten Europas ausgrei- ten.
fend, war über Jahrhunderte hinweg politisch und Die Niederlage im Krieg mit Preußen, die Habs-
kulturell eng mit dem Schicksal des Deutschen Rei- burg seiner europäischen Großmachtstellung zu be-
ches verwoben. Erst im 19. Jh., zunächst unter den rauben drohte, führte zu einem Kompromiß vor al-
militärischen und politischen Schlägen Napoleons, lem mit den Ungarn, die sich seit langem heftig ge-
dann im Zuge der sich anbahnenden »kleindeut- gen die politische und kulturelle Hegemonie der
schen« Lösung, die in der Niederlage Habsburgs im Deutschen sträubten. Die Errichtung der Doppel-
preußisch-österreichischen Waffengang von 1866 monarchie im Jahre 1867 gewährte Ungarn weitge-
(Königgrätz) gipfelte, kam es zur endgültigen Tren- hende Zugeständnisse und innenpolitische Autono-
nung von Deutschland und Österreich. Fortan gin- mie, während außen-, militär- und finanzpolitisch
gen die beiden zentraleuropäischen Mächte ihre eige- die beiden Reichsteile weiterhin gemeinsam regiert
nen Wege, wenn auch zumindest bündnispolitisch wurden. Der Kaiser von Österreich war zugleich Kö-
bald wieder geeint. In kultureller und politischer nig von Ungarn. Dieser Kompromiß sicherte einer-
Hinsicht blieb die Habsburgermonarchie mit ihren seits den Fortbestand und die europäische Machtstel-
deutschsprachigen Eliten ohnehin weiter stark lung der Habsburgermonarchie, sorgte aber anderer-
deutschorientiert. seits auch dafür, daß das politische Arrangement zwi-
Nach den europäischen Revolutionen von 1848/49, schen der deutschen Minderheit in der westlichen
die auch das multinationale Reich in seinen Grund- und der ungarischen Minderheit in der östlichen
festen erschüttert hatte, war das Habsburger Regime Reichshälfte auf Kosten von Polen, Tschechen, Slo-
unter Kaiser Franz Joseph I. (1848–1916) zunächst waken, Kroaten, Serben und Rumänen ging, die wei-
bemüht, die alten vorrevolutionären Verhältnisse zu terhin in der Position unterdrückter Völker verharr-
restaurieren, indem eine föderative Gliederung des ten. Die Nationalitätenfrage blieb fortan stets viru-
Vielvölkerstaats widerrufen, die Landtage aufgelöst lent und wurde erst gelöst, als der alte Vielvölkerstaat
und die ungarische Verfassung außer Kraft gesetzt 1918/19 aufhörte zu existieren.
wurden. Absolutismus und Zentralisierung, mittels Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich
eines ausgeklügelten bürokratischen Apparats – von war das Habsburgerreich um die Mitte des 19. Jh.s,
Robert Musil in seinem epochalen Romanwerk Der jedenfalls im Vergleich zur westeuropäischen Ent-
Mann ohne Eigenschaften satirisch unter die Lupe ge- wicklung, zurückgeblieben. Das hatte sich nicht zu-
nommen – exekutiert und von Armee und Geheim- letzt daran dramatisch gezeigt, daß im preußisch-
polizei unterstützt, avancierten zu Leitmaximen des österreichischen Konflikt von 1866 die österreichi-
politischen Systems. Erst nach 1859, unter dem Ein- sche Armeeführung aufgrund des mangelhaft ausge-
druck der militärischen Schlappe in Italien und des bauten Eisenbahnnetzes nicht in der Lage war, die
damit einhergehenden Ansehensverlusts der Monar- benötigten Truppen von der italienischen Front
chie bei der Bevölkerung, bequemte sich das Regime rechtzeitig an den böhmischen Kriegsschauplatz zu
widerstrebend zu gewissen innenpolitischen Reform- verlegen (Craig 1974/1981, 176) – Indikator dafür,
maßnahmen, die insgesamt freilich inkonsequent daß Österreich noch längst nicht den Anschluß an
2 Freud und seine Epoche

die industrielle Dynamik der Moderne gefunden die jeweils auf ihre partikularen Interessen pochten,
hatte. Daran trug zum einen die deutsche Führungs- sondern daß sie gewissermaßen unmittelbar zum
elite schuld, der die Historiker Indolenz, fehlendes staatlichen Machtzentrum standen, dann wird ihre
Verantwortungsbewußtsein und zum Teil auch Un- singuläre oder »anomale« Stellung besonders deut-
fähigkeit vorgeworfen haben. Das Problem lag aber lich: »Die Anomalie des jüdischen Verhältnisses zum
auch beim Kaiser selbst, der das Zentrum der politi- Staat lag in der Tatsache, daß hier ein Volk in eine
schen Macht bildete, diese freilich nie wirklich kon- politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine po-
sequent einsetzte. Der Schriftsteller Karl Kraus cha- litische Repräsentanz hatte« (ebd., 58). Freilich hat-
rakterisierte Franz Joseph als eine »Unpersönlich- ten sie als Juden gerade dadurch am meisten zu ge-
keit«, die gleichwohl allen Institutionen ihren Stem- winnen. Denn ihre bürgerliche Existenz hing nicht
pel aufdrücke: »Ein Dämon der Mittelmäßigkeit von der Teilhabe an einer sozialen Klasse oder natio-
hatte unser Schicksal beschlossen« (zit. nach ebd., nalen Gemeinschaft ab, sondern allein vom Maß der
294). Dem Dämon österreichischer Mittelmäßigkeit Freiheit und Freizügigkeit, die ein liberaler Staat ga-
und Schwerfälligkeit insgesamt verlieh Musil den rantierte. »Der Kaiser und das liberale System boten
schönen Namen »Kakanien« (Musil 1952, 31 ff.). den Juden einen Status, ohne eine Nationalität zu
fordern; sie wurden zum übernationalen Volk des
Vielvölkerstaates und in der Tat zu dem Volk, das in
Ein liberaler Aufschwung
die Fußstapfen der früheren Aristokratie trat. Ihr
In dieser Situation relativer Stagnation erhielten jene Glück stand und fiel mit dem des liberalen kosmopo-
gesellschaftlichen Kräfte Auftrieb, die ein elementares litischen Staates« (Schorske 1980/1982, 123).
Interesse an konstitutionellen Reformen und Libera- In der Traumdeutung hat Freud eine Episode aus
lisierung der Verhältnisse hatten. Vor allem das auf- seiner Jugendzeit erzählt, die in der Freud-Literatur
strebende Bürgertum – Industrielle, Kaufleute, Aka- immer wieder beispielhaft angeführt wird, weil sie
demiker – wandte sich gegen den vorherrschenden ein Schlaglicht auf die veränderte Situation wirft, die
Klerikalismus und die Privilegien des Adels, indem es sich für die Juden in den 1860er und 70er Jahren
im Interesse des kommerziellen Fortschritts und gei- eröffnet hatte. Sein Vater Jacob pflegte den Jungen
stiger Freiheit energisch auf Reformen drängte. So auf seinen Spaziergängen durch die Straßen Wiens
kam es zu Beginn der 1860er Jahre, just zu dem Zeit- mitzunehmen und ihm die Dinge der Welt zu er-
punkt, als sich die Familie Freuds in der Wiener Leo- klären. Bei einer dieser Gelegenheiten erläuterte ihm
poldstadt niederließ, zu einer Reihe von Erlässen und Jacob, wie grundlegend sich die Verhältnisse zum
gesetzgeberischen Maßnahmen, die den Immobilis- Besseren für die Juden in Österreich gewandelt hät-
mus des Systems ins Wanken brachten. Die liberale ten: »Als ich ein junger Mensch war, bin ich in dei-
Partei, um deren parlamentarische Unterstützung nem Geburtsort am Samstag in der Straße spazieren
sich der Kaiser aus Gründen politischer Zweckdien- gegangen, schön gekleidet, mit einer neuen Pelz-
lichkeit hinfort bemühte, erreichte beeindruckende mütze auf dem Kopf. Da kommt ein Christ daher,
Erfolge: Liberalisierung der Pressegesetze, Verbesse- haut mir mit einem Schlag die Mütze in den Kot und
rungen im Rechtsprechungsverfahren, Aufhebung ruft dabei: Jud, herunter vom Trottoir! ›Und was hast
von Gesetzen zur Einschränkung der Rechte von Ju- du getan?‹ Ich bin auf den Fahrweg gegangen und
den sowie Militärreformen und Maßnahmen zur habe die Mütze aufgehoben, war die gelassene Ant-
Förderung des ökonomischen Wachstums. Außer- wort« (GW II/III, 203). Zwar war der Sohn nicht be-
dem entzog man die Schulen der kirchlichen Bevor- geistert über die passiv-unterwürfige Reaktion des
mundung, der Religionsunterricht wurde freiwillig Vaters, aber die Geschichte illustrierte ihm doch sehr
und die Zivilehe staatlich anerkannt. plastisch, wie sehr sich die Zeiten seitdem geändert
Nicht zuletzt für die große jüdische Minderheit des hatten.
Kaiserreichs bedeuteten diese Veränderungen, die ihr Der Sieg des Liberalismus in der Doppelmonarchie
die volle bürgerliche Gleichberechtigung einbrachte, brachte also zumal der jüdischen Bevölkerung hand-
eine schlagartige Verbesserung ihrer Lage. Folgt man feste Vorteile, was sich nicht zuletzt darin zeigte, daß
dem interessanten Hinweis Hannah Arendts (1951/ einige Juden zu Kabinettsmitgliedern im sog. Bürger-
1993, 89 f.), daß die Juden das eigentliche »Staats- ministerium aufstiegen. Karrieren wurden möglich,
volk« der Donaumonarchie darstellten, da sie weder die man sich vor kurzem noch nicht hatte vorstellen
eine eigene Klasse bildeten wie etwa Adel, Bourgeoi- können – im Wirtschaftsleben, im akademischen und
sie oder Arbeiterschaft noch eine eigene Nationalität wissenschaftlichen Feld, in der Politik. Noch Jahr-
wie etwa Deutsche, Tschechen, Polen oder Ukrainer, zehnte später beschwor Freud jene Zeit als eine Ära,
Politik und Gesellschaft in Freuds Wien 3

in welcher »jeder fleißige Judenknabe […] das Mini- besserten wirtschaftlichen Chancen, lebten bereits
sterportefeuille in seiner Schultasche« trug (ebd., 40.000 Juden in der Kapitale mit einem Anteil von
199). Daß Freud selber sich um die Zeit seines Abi- sechs Prozent an der Gesamteinwohnerschaft. 1880,
turs mit dem Gedanken trug, Jura zu studieren und als ihre Zahl auf über 72.000 gestiegen war, war jeder
eine politische Laufbahn einzuschlagen, ist verbürgt zehnte Einwohner von Wien Jude (Gay, 30; Hamann
(ebd.; Jones I, 48; Gay, 34). Wie so viele andere Juden 1996/2004, 468).
seiner Generation blieb Freud Zeit seines Lebens ein Wenn schon gebildete Zeitgenossen wie der
eingefleischter Liberaler, einfach deshalb, weil das Schweizer Gelehrte Jacob Burckhardt das Zentrum
Bündnis mit dem politischen Liberalismus das der k.u.k. Monarchie als »verjudet« bezeichneten,
Selbstverständliche und Naheliegende war. verwundert es nicht, daß die vox populi dies nicht viel
anders artikulierte. Für nicht wenige eingesessene
deutsche Wiener war die massive »jüdische Inva-
Die Krise des Liberalismus
sion«, wie es im antisemitischen Jargon hieß, schwer
Aber schon in den 1870er Jahren begann sich der erträglich. Das betraf zum einen die erkennbare äu-
Horizont einzutrüben. Der Börsenkrach des Jahres ßere Andersartigkeit von Menschen, die, oft ärmli-
1873, der nicht nur zum Bankrott großer Firmen cher Herkunft, aus den peripheren östlichen Zonen
und Banken führte, sondern auch zum Ruin von des Habsburgerreiches, vor allem aus Galizien, zuge-
kleinen Geschäftsleuten, Handwerkern und Sparern, wandert waren und ihre eigenen Gewohnheiten mit-
offenbarte, wie dünn die zivilisierte Decke war, die gebracht hatten. Peter Gay deutet an, daß auch der
den traditionellen Antisemitismus der österreichi- junge Freud, selber Sohn jüdischer Zuwanderer aus
schen Gesellschaft in den zurückliegenden Jahren Mähren, die Neigung hatte, Ressentiments gegen die
eingedämmt hatte. Obwohl natürlich jüdische Ge- Eigenart der Ostjuden zu entwickeln (Gay, 29). Zum
schäftsleute, Bankiers und Kleinsparer vom »Großen andern war auf Dauer nicht zu übersehen, daß viele
Krach« ebenso betroffen waren wie alle anderen jüdische Neubürger Wiens, fleißig, intelligent und
auch, entluden sich in der Öffentlichkeit heftige anti- ehrgeizig, wie sie waren, zunehmend einflußreiche
semitische Exzesse, indem man »die Juden« zum gesellschaftliche Positionen gewannen und besetzten.
Sündenbock stempelte. Im Grunde waren es die typi- Nicht wenige jüdische Industrielle, Bankiers und
schen Begleiterscheinungen einer überstürzten Indu- Kaufleute brachten es zu viel Geld und Einfluß. Jüdi-
strialisierung und Kommerzialisierung, die mit dem sche Akademiker waren in bestimmten Berufsgrup-
Liberalismus in der k.u.k. Monarchie, wenn auch pen überproportional vertreten – man schätzt, daß in
verspätet, Einzug gehalten hatten, die zu vorherseh- den 1880er Jahren mindestens die Hälfte aller Wiener
baren Verwerfungen führten: eine ›New Economy‹ Rechtsanwälte, Ärzte und Journalisten Juden waren.
gewissermaßen, deren überhitztes Wachstum zu sa- Vor allem im kulturellen Leben der Stadt war die
genhaften Spekulationsgewinnen einerseits und zu jüdische Dominanz eindrucksvoll. Verlagswesen und
ebensolchen Verlusten andererseits führte; ein im Zeitschriftenredaktionen, Musik und Theater, Litera-
Entstehen begriffenes Industrieproletariat, das sich tur und bildende Kunst, Philosophie und Wissen-
erst seine politische Form suchen mußte; dazu die schaft waren fast Synonyme für jüdische Geistigkeit
weiterhin schwelende Nationalitätenfrage, durch die und intellektuelle Begabung (Beller 1989/1993,
alle Errungenschaften und Kompromisse immer wie- 46 ff.). Namen wie Karl Kraus, Peter Altenberg, Ar-
der infrage gestellt wurden. In der Krise von 1873 thur Schnitzler, Jakob Wassermann, Hugo Bettauer,
waren es also die Juden, die für das wirtschaftliche Otto Weininger, Hans Kelsen, Otto Neurath und Gu-
Desaster herhalten mußten. stav Mahler stehen für das enorme Potential an Bil-
Wien war in jenen Jahren eine Stadt, die sich in dung und Brillanz, über das die jüdische Population
rapidem Tempo zur Großstadt und Metropole ent- verfügte. Die Juden waren gewissermaßen die »Pro-
wickelte. Als Freud sein Medizinstudium abschloß, testanten« Wiens (ebd., 264), insofern sie in einer
hatte Wien mehr als 700.000 Einwohner, davon viele, eher statischen katholischen Umgebung jenes beweg-
nicht zuletzt Juden, die erst in den zurückliegenden liche Ferment bildeten, das Urbanität, Weltoffenheit
Jahren aus den entfernten östlichen Reichsteilen zu- und Geschäftssinn verkörperte (Wassermann
gewandert waren. 1857, als Freud ein Jahr alt war, 1921/2005, 107). Und obwohl sich viele Juden Wiens,
gab es laut einer Volkszählung gerade einmal gut eng dem politischen Liberalismus verbunden und
6000 Juden in Wien, was etwa zwei Prozent der Be- um Assimilation an die Normen der nichtjüdischen
völkerung entsprach. Nur zehn Jahre später, infolge Mehrheit bemühten – aus Karrieregründen konver-
der günstigen politischen Bedingungen und der ver- tierten manche zum Katholizismus (ebd., 19) –, nah-
4 Freud und seine Epoche

men antisemitische Einstellungen im Laufe der Zeit wie Demokratie, soziale Reformen, Antisemitismus
wieder deutlich zu. Gordon Craig datiert das Ende und Katholizismus zu verschmelzen. In diesem neu-
der liberalen, relativ judenfreundlichen Ära in Öster- artigen politischen Katholizismus fanden die soziale
reich und damit das Wiedererstarken antisemitischer Unzufriedenheit der ›kleinen Leute‹, der Protest ge-
Strömungen auf das Jahr 1879 (Craig 1974/1981, gen das liberale Laisser-faire und die soziale Gleich-
296). Für die Feinde der Juden waren Liberalismus gültigkeit des modernen Kapitalismus sowie der
und Judentum ein und dasselbe. Und da alle Natio- schwelende Antisemitismus Unterschlupf, so daß
nalitäten Österreich-Ungarns, selbst viele Deutsche, Lueger Mitte der 1890er Jahre zum einflußreichsten
die sich politisch am Deutschen Reich orientierten, Politiker der österreichischen Kapitale avancierte.
antihabsburgisch eingestellt waren, waren sie zu- 1895 erzielte er bei der Bürgermeisterwahl die Mehr-
gleich auch alle antisemitisch eingestellt. Es sei daran heit der Stimmen – was Freud in einem Brief an Wil-
erinnert, daß in ebendiesem Jahr antiliberal und na- helm Fließ mit dem Hinweis kommentierte, sein ei-
tionalistisch eingestellte Figuren wie der protestanti- gener Wohnbezirk sei, gegen den allgemeinen Trend,
sche Hofprediger Adolf Stoecker und der Historiker liberal geblieben (F, 144). Auf Druck der Liberalen
Heinrich von Treitschke (»Die Juden sind unser Un- und Konservativen weigerte sich aber der Kaiser zu-
glück!«) in Deutschland eine heftige antisemitische nächst, Lueger zum Wiener Bürgermeister zu ernen-
Kampagne ins Rollen gebracht hatten (vgl. Craig nen. Dies war, wie Schorske schreibt, der »letzte Po-
1978/1983, 146 f.; Winkler 2000, 228 ff.; Bergmann sten« des Liberalismus (Schorske 1980/1982, 136).
2002, 40 ff.). Alles in allem, so Freuds Biograph Peter Zwei Jahre später sah sich Franz Joseph gezwungen,
Gay, handelte es sich bei der kurzen liberalen Ära sein Veto aufzuheben, so daß Lueger triumphal sein
bloß um »ein nervöses Zwischenspiel zwischen dem Amt antreten konnte. Vielleicht ist es mehr als nur
alten Antisemitismus und dem neuen« (Gay, 30) Zufall, daß Freud im selben Jahr 1897, als der anti-
oder, anders ausgedrückt, für die Juden Österreich- semitische Agitator ins Wiener Rathaus einzog, der
Ungarns um die »wohl glücklichste Phase ihrer Ge- jüdischen Loge B’nai B’rith beitrat – ein Zeichen da-
schichte« (Hamann 1996/2004, 468). für, daß Freud nicht gewillt war, in unruhigen Zeiten
seine Zugehörigkeit zum Judentum zu verleugnen. Es
bleibt noch hinzuzufügen, daß sowohl Georg von
Populistischer Antisemitismus
Schönerer als auch Karl Lueger, gewissermaßen die
Die wiederaufgelebte Feindschaft gegen die öster- Virtuosen eines neuen antisemitischen Stils, der
reichischen Juden organisierte sich um zwei Zentren nicht mehr primär religiös, sondern rassistisch be-
oder Bewegungen. Sie scharte sich einmal um Georg gründet war, Modell für Adolf Hitler standen (zu
von Schönerer (1842–1921), der für eine stramm Schönerer und Lueger ausführlich Schorske 1980/
deutschnationale Linie stand und die neue antijüdi- 1982, 115 ff., 126 ff.; Hamann 1996/2004, 337 ff.,
sche Stimmung – einen lärmenden, zu Krawallen 393 ff.).
neigenden Antisemitismus – in der Öffentlichkeit sa- Die katastrophale politische Niederlage des Libe-
lonfähig machte. Nach dem Urteil Carl Schorskes war ralismus zwang das Judentum des Habsburgerreiches
Schönerer »der mächtigste und konsequenteste Anti- zu der bitteren Erkenntnis, daß trotz aller Assimilie-
semit« Österreichs (Schorske 1980/1982, 123), der rungsanstrengungen der Versuch, zumindest vorläu-
vorzugsweise im Trüben fischte, dort, wo sich Be- fig, gescheitert war, zu vollwertigen und gleichbe-
nachteilige und Deklassierte aller Art fanden. Auf rechtigten Bürgern der Monarchie aufzusteigen.
Dauer einflußreicher und wirkungsmächtiger als Freud selber mußte die Erfahrung machen, daß seine
Schönerer war freilich Karl Lueger (1844–1910), der anhaltenden Bemühungen, als außerordentlicher
aus kleinen Verhältnissen stammte und sich seit den Professor an die medizinische Fakultät der Wiener
1870er Jahren in die Wiener Lokalpolitik einmischte. Universität berufen zu werden, immer wieder hinter-
Ursprünglich ein Liberaler, der gegen die preußisch- trieben wurden (Eissler 1966). Erst im März 1902 –
kleindeutsche Lösung opponiert hatte, entwickelte nach siebzehn Jahren des Wartens, während acht
sich Lueger im Laufe der Zeit zu einem antiliberalen Jahre das Übliche waren – wurde er zum Titular-Ex-
Politiker, der die sozialen Interessen der Unterschich- traordinarius ernannt, und das auch nur aufgrund
ten und des Kleinbürgertums vertrat und sich den von ›Beziehungen‹ (Schorske 1980/1982, 190; Charle
Demokraten zurechnete. Ende der 1880er Jahre 1997, 152): »So beschloß ich denn, mit der strengen
schließlich, mit der Gründung der Christlich-Sozia- Tugend zu brechen und zweckmäßige Schritte zu
len Partei, schuf sich Lueger jenes politische Instru- tun, wie andere Menschenkinder auch. Von etwas
ment, das es ihm erlaubte, so heterogene Elemente muß man sein Heil erwarten können und wählte den
Politik und Gesellschaft in Freuds Wien 5

Titel zum Heiland. […] Ich habe gelernt, daß diese tiert wurde und nur wenige Tage später Karl Lueger
alte Welt von der Autorität regiert wird wie die neue zum ersten Mal die Mehrheit im Wiener Gemeinde-
vom Dollar. Ich habe meine erste Verbeugung vor der rat errang, war für Herzl der Rubikon überschritten.
Autorität gemacht, darf also hoffen, belohnt zu wer- Nach dem Besuch einer »Tannhäuser«-Aufführung,
den« (F, 501, 503). Allgemein gilt, daß in den Krisen- die ihn wie elektrisiert zurückließ (Schorske 1980/
jahren um 1897 Karrieren und akademische Beförde- 1982, 153 f.; Janik/Toulmin 1972/1998, 73), skizzierte
rungen von Juden schwieriger wurden. So berichtet er erstmals seinen Traum von der jüdischen Auswan-
Freud in der Traumdeutung in ironischem Ton von derung aus Europa. Herzls zionistisches Projekt – die
der Auskunft, die einem jüdischen Kollegen, eben- Gründung eines eigenen jüdischen Staates in Palä-
falls auf eine Beförderung wartend, von einem höhe- stina –, zusammengefaßt in seiner Schrift Der Juden-
ren k.u.k. Beamten erteilt wurde: »daß allerdings – staat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage
bei der gegenwärtigen Strömung – Se. Exzellenz vor- (1896/2004), war die entschiedenste Antwort auf die
läufig nicht in der Lage sei usw. […] konfessionelle Herausforderung, die der Antisemitismus für die Ju-
Rücksichten […]« (GW II/III, 142). Es ist nahelie- den in Österreich ebenso wie in anderen europäi-
gend, daß für Freud Karl Lueger zum bestgehaßten schen Ländern darstellte (vgl. Wassermann 1921/
Gegner wurde, während er etwa für den Schriftsteller 2005, 109 ff.). Es berührt noch heute eigenartig, daß
Emile Zola, der um dieselbe Zeit in Frankreich für in derselben Stadt, in der der radikalste jüdische Frei-
den verfemten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus heits- und Emanzipationstraum geträumt wurde,
stritt, die tiefsten politischen Sympathien entwik- auch die Idee der nationalsozialistischen »Endlö-
kelte, aber auch für den ›semitischen‹ karthagischen sung« ihren Ursprung hat (Janik/Toulmin 1972/
Feldherrn Hannibal, der einst gegen Rom – welches 1998, 70) – Wien war eben nicht nur Herzls, Freuds
Freud wiederum mit dem antisemitischen Katholizis- und Wittgensteins, sondern auch Hitlers Wien (Ha-
mus identifizierte – zu Felde gezogen war. Allerdings mann 1996/2004). Herzls Lösungsvorschlag scheint
reagierte Freud in seiner Enttäuschung über das für Freud im übrigen wenig Anziehungskraft gehabt
Scheitern des Liberalismus im ganzen eher unpoli- zu haben.
tisch auf die Verschlechterung des allgemeinen politi-
schen Klimas, indem er den Kampf der äußeren
Kakanien im Abendlicht
Mächte gewissermaßen ins Innere des Menschen, in
seine Psyche, verlegte und so eine »Politik der Seele« Um die Jahrhundertwende präsentierte sich die Dop-
begründete (vgl. dazu ausführlich Schorske 1980/ pelmonarchie als ein Koloß auf tönernen Füßen. In
1982, 169 ff.). Wien herrschte trotz des Anscheins einer gewissen
Aber es gab auch ganz andere Reaktionen auf den Leichtlebigkeit und Sorglosigkeit so etwas wie per-
anschwellenden Bocksgesang des Antisemitismus manente Untergangsstimmung, der »schale Ge-
und auf die sich verschärfende Diskriminierung der schmack von Niedergang« (Timms 1995/1996, 14),
Juden. Theodor Herzl (1860–1904), aus einer wohl- denn viele Zeitgenossen wußten oder ahnten zumin-
habenden jüdischen Familie Budapests stammend, dest, daß die Zukunft nichts Gutes bringen werde.
religiös aufgeklärt, politisch liberal und kulturell Während die europäischen Großmächte, allen voran
deutsch, hatte in den 1890er Jahren als Pariser Korre- Deutschland, in einen hektischen Konkurrenzkampf
spondent der Neuen Freien Presse die Erfahrung ma- um Kolonien, Einflußsphären und Schlachtflotten
chen müssen, daß auch im Land der Aufklärung und eingetreten waren und so die Dynamik eines neuen
der Revolution der Liberalismus in Bedrängnis ge- Zeitalters verkörperten, machte man in Wien weiter
raten war. Das Frankreich der Dritten Republik war wie bisher. »Das Fortwursteln war zum politischen
zerrissen von proletarischen Massenaufmärschen, Prinzip der Habsburgermonarchie geworden«
staatlicher Korruption und antisemitischen Explosio- (Scheuch 2000, 8). Das Land war durch seine unge-
nen, die Herzls frankophile Haltung schwer erschüt- lösten Nationalitätenprobleme, d. h. durch die von
terten. Am Ende, nicht zuletzt unter dem Eindruck Tschechen, Polen, Ukrainern, Rumänen und Kroaten
der Verurteilung von Dreyfus im Dezember 1894, ausgelösten Zentrifugalkräfte, die auch durch die
kam er zu dem Schluß, daß die Toleranzbereitschaft über allen stehende Person des Kaisers nicht in
der Nichtjuden höchst begrenzt und daß es sinnlos Schach gehalten werden konnten, gelähmt und in sei-
sei, durch Assimilation eine Versöhnung von Juden ner wirtschaftlichen Entwicklung nachhaltig ge-
und Nichtjuden herbeiführen zu wollen. Als im Mai bremst. Im Vergleich zu Deutschland, Frankreich
1895 im französischen Parlament über die künftige und Großbritannien hinkte der Vielvölkerstaat in fast
Verhinderung einer jüdischen »Infiltration« debat- allen Belangen hinterher – vor allem industriell und
6 Freud und seine Epoche

militärisch. Obwohl Österreich-Ungarn nach Ruß- der Vorkriegsjahre wurde auch dadurch beeinträch-
land flächenmäßig das zweitgrößte Land Europas tigt, daß im Gefolge von linken Massendemonstra-
war und mit knapp fünfzig Millionen Einwohnern tionen im Dezember 1906 das allgemeine Wahlrecht
noch vor Frankreich und England den dritten Platz (für Männer, für Frauen erst 1919) konzediert wer-
einnahm, steuerte es im Jahr 1900 nur 4.7 Prozent den mußte, was bei den Parlamentswahlen von 1907
der Weltindustrieproduktion bei (Neitzel 2002, 49). dazu führte, daß Sozialdemokraten und Christsoziale
Zwar gab es einige prosperierende Industrieregionen, zu den stärksten politischen Kräften aufstiegen. Beide
in erster Linie Niederösterreich und Böhmen; zu- Parteien, als moderne Massenparteien organisiert,
gleich aber verharrte das Land im Status eines Agrar- waren prohabsburgisch und gegen eine engere Bin-
staates mit vollkommen zurückgebliebenen Gebie- dung an das Deutsche Reich, wie sie von den
ten. Wirtschafts- und finanzpolitisch war die Monar- Deutschnationalen angestrebt wurde. Beide überleb-
chie praktisch reform- und bewegungsunfähig, das ten auch den Sturz der Monarchie und avancierten
Riesenreich trat gleichsam auf der Stelle: »[E]s war zwischen den Kriegen zu den größten und einfluß-
der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mit- reichsten politischen Parteien (Arendt 1951/1993,
machte, man war negativ frei darin, ständig im Ge- 92). Bei den Wahlen von 1911 mußten Sozialdemo-
fühl der unzureichenden Gründe der eigenen Exi- kraten und Christsoziale freilich Verluste zugunsten
stenz«, wie Musil die Lage kommentierte (Musil der nationalistischen Strömungen hinnehmen, weil
1952, 35). in der Zwischenzeit die sozialen Gegensätze erneut
Diese Misere machte sich auch außenpolitisch in- von nationalen Spannungen überdeckt worden wa-
sofern geltend, als es dem Kaiserreich nicht gelang, ren.
seine traditionell auf den Balkan ausgerichtete Politik
in Stabilität und dauerhafte Erfolge umzusetzen. Seit
Österreich im Krieg
dem Berliner Kongreß 1878 hatte Österreich Bosnien
und die Herzegowina okkupiert und seiner Kontrolle Das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 beendete
unterworfen, wenngleich diese Provinzen formell mit einem Schlag den trügerischen Stillstand, in dem
nach wie vor Teil des Osmanischen Reiches waren. die Monarchie so lange verharrt hatte. Die Ermor-
Als man im Herbst 1908 daranging, Bosnien auch dung des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner
formell zu annektieren, löste dies nicht nur im be- Frau durch den Studenten Gavrilo Princip, hinter der
nachbarten Serbien, sondern auch bei den Groß- man serbische Drahtzieher vermutete, gab nunmehr
mächten Rußland, England und Frankreich Besorg- all jenen Kräften in Wien Auftrieb, die der Politik des
nis und Proteste aus. Letztlich führte die Politik der ewigen »Fortwurstelns« überdrüssig waren und jetzt
Doppelmonarchie dazu, daß an ihrer Südflanke ein für ein hartes Durchgreifen plädierten, indem man
großserbischer Nationalismus erstarkte und der sla- eine »Züchtigung« Serbiens verlangte wie etwa der
wische Irredentismus Auftrieb erfuhr, die beide für österreichische Generalstabschef Conrad von Höt-
permanente Unruhe sorgten. zendorf: »Nur eine aggressive Politik mit politischem
Gleichwohl gilt die Zeit zwischen 1900 und 1914, Ziel vermag vor dem Untergang zu bewahren und
die das »lange« 19. Jh. abschloß, als eine Ära des Erfolg zu erzielen« (zit. nach Scheuch 2000, 30).
Glanzes und der Saturiertheit. Das Wien der Belle Nachdem sich Wien einer Blankovollmacht Berlins,
Epoque war, in seiner Symbiose von deutscher und seines engsten Verbündeten, versichert hatte, die ei-
jüdischer Kultur, ohne Zweifel eine führende Metro- nen möglichen österreichischen Waffengang gegen
pole der Alten Welt, ein geistiges Zentrum von be- Serbien einschloß (Winkler 2000, 330; Neitzel 2002,
deutender Ausstrahlung. Ob freilich das Urteil Han- 168 f.), erging am 23. Juli ein hart formuliertes, auf
nah Arendts zutrifft, die antisemitische Agitation, die Unannehmbarkeit hin angelegtes Ultimatum an Bel-
in den 1880er und 90er Jahren durch Schönerer und grad, dem die serbische Regierung zwar weit, aber
Lueger so heftig angeheizt worden war, habe nach der nicht vollständig entgegenkam. Österreich zögerte
Jahrhundertwende allmählich nachgelassen (Arendt nicht, Serbien am 28. Juli den Krieg zu erklären, was
1951/1993, 88), kann bezweifelt werden. Brigitte Ha- wiederum am 30. Juli die Gesamtmobilmachung
mann zeichnet ein anderes Bild – nämlich das einer Rußlands, der Schutzmacht Serbiens, auslöste. Dar-
Stadt, in der die antisemitischen Obsessionen stets aufhin erfolgte umgehend die Kriegserklärung des
virulent blieben und zusätzlich dadurch Nahrung er- Deutschen Reichs zunächst an Rußland (31. Juli), so-
hielten, daß man Juden, russische Revolutionäre und dann an Frankreich, den Verbündeten Rußlands (3.
Sozialdemokraten kurzerhand in einen Topf warf August). Am 4. August, nachdem Deutschland durch
(Hamann 1996/2004, 488 ff.). Der scheinbare Glanz seinen militärischen Einmarsch die Neutralität Bel-
Politik und Gesellschaft in Freuds Wien 7

giens verletzt hatte, trat Großbritannien mit der der das riesige Staatsgebilde in seiner Person bis da-
Kriegserklärung an Deutschland an der Seite Frank- hin notdürftig zusammengehalten hatte, gewannen
reichs und Rußlands in den Krieg ein. Zwei Tage spä- die zentrifugalen Bestrebungen erst recht die Ober-
ter schloß sich Österreich-Ungarn der deutschen hand. Schließlich signalisierte der Kriegseintritt der
Kriegserklärung an Rußland an. »Der Topos vom Vereinigten Staaten an der Seite Frankreichs, Groß-
›unvermeidlichen Krieg‹ hatte schließlich objektiv er- britanniens und Italiens im Frühjahr 1917, daß die
zeugt, was er subjektiv vorausgesagt hatte« (Neitzel Mittelmächte immer hoffnungsloser in die Defensive
2002, 169). Die »Urkatastrophe« (George F. Kennan) gerieten. Der deutsche Sieg über Rußland, der mit
des 20. Jh.s nahm ihren Lauf »Es sind schwere Zei- dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk besiegelt
ten«, schrieb Freud an Sándor Ferenczi (F/Fer II/1, wurde, kam zu spät, um die Situation insgesamt
63). noch retten zu können. Schon der »Notwinter«
In Österreich-Ungarn löste der Kriegsausbruch, 1917/18 in Wien, der die Bevölkerung einer harten
ähnlich wie in Deutschland, in weiten Teilen der Be- Prüfung unterwarf, hatte gezeigt, daß die Energien
völkerung, sogar bis in die Kreise der politischen Lin- Österreichs erschöpft waren. An der Heimatfront
ken hinein, zunächst zustimmende Begeisterung aus. wurde die Lage immer unerfreulicher, Lebensmittel
Endlich schien die Zeit des dekadenten Stillstands und Heizmaterial waren knapp – Freud sprach An-
und entschlußlosen Abwartens vorbei. Manfred fang 1918 von einem »Kältetremor«, der ihn und
Scheuch spricht im Blick auf den patriotischen seine Familie erfaßt habe (F/A, 253) –, dazu kamen
Kriegstaumel von einer »kollektiven Neurose« die schlechten Nachrichten von den Fronten und von
(Scheuch 2000, 35), obgleich es sich doch eher um hohen Verlusten. Allen Durchhalteparolen zum Trotz
eine kollektive Psychose gehandelt haben dürfte. war klar, daß Karl Kraus recht behalten sollte: Es wa-
Viele junge Männer meldeten sich als Freiwillige zur ren zwar nicht Die letzten Tage der Menschheit, aber
Armee, die Presse überschlug sich in antiserbisch- doch die letzten Tage der Habsburgermonarchie, die
chauvinistischen Tönen (»Serbien muß sterbien«), angebrochen waren.
und angesehene Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke Am 3. November 1918, nachdem die militärische
und Hugo von Hofmannsthal liehen ihre Feder dem Niederlage des Deutschen Reiches im Westen kom-
»Kriegsgott« und der österreichischen Propaganda- plett war, unterzeichnete die letzte kaiserliche Regie-
maschine (Gay, 394). Auch Freud war anfänglich rung einen Waffenstillstand – der »böse Kriegs-
nicht frei von nationalistischen und bellizistischen traum« (ebd., 266) war vorbei. Am 11. November,
Anwandlungen, zumindest in seinen privaten Äuße- zwei Tage nach Ausrufung der Republik in Berlin
rungen (vgl. Brunner 1995/2001, 161 f.). und am selben Tag, an dem die Deutschen im Wald
Je länger der Krieg freilich dauerte und je deutli- von Compiègne einen Waffenstillstand mit den Alli-
cher wurde, daß die Mittelmächte nicht in der Lage ierten schlossen, trat die Regierung zurück, und Kai-
waren, im Westen oder im Osten entscheidende mili- ser Karl I. verzichtete auf den Thron. »Ich weine üb-
tärische Siege zu erringen, desto angespannter wurde rigens weder dem Österreich noch dem Deutschland
die Lage im Habsburgerreich. Nach dem Kriegsein- eine Träne nach«, schrieb Freud (F/E, 140), und: »Die
tritt Italiens auf Seiten der Entente (1915) sah sich Habsburger haben nichts als einen Dreckhaufen hin-
die Monarchie gezwungen, eine weitere Front zu er- terlassen« (F/Fer II/2, 186 f.). Am 12. November
öffnen, welche ihre militärischen und ökonomischen wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen.
Kräfte vollends zu überdehnen drohte. Hinzu kamen Durch Wien ging eine brutale Hunger- und Grippe-
die immensen Verluste im Feld, vor allem an der rus- welle, die Tausende von Menschen dahinraffte. Ein
sischen Front: Bereits Ende 1914 hatte Österreich- österreichischer Experte schätzte, daß im Winter
Ungarn 200.000 Gefallene zu beklagen, ca. 250.000 1918/19 die tägliche Energieaufnahme pro Person in
Soldaten gerieten in russische Gefangenschaft. Die Wien 746 Kalorien betrug (Gay, 429). Auf den Stra-
zunehmend schwierige Lage der Doppelmonarchie, ßen der Hauptstadt kam es zu Unruhen und Ausein-
die auch durch die militärischen Anstrengungen des andersetzungen zwischen revolutionären und reak-
Deutschen Reiches nicht kompensiert werden tionären Gruppen, und es dauerte Monate, bis sich
konnte, ermunterte die nationalistischen Kräfte mehr die Verhältnisse wieder normalisierten.
und mehr zu einer Politik der Opposition. Es schien
nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Tschechen,
Das kleine Österreich und das große Wien
Slowaken, Polen und die Balkanvölker sich vollstän-
dig vom Reich lösen würden. Das nunmehr existierende neue republikanische
Mit dem Tod des alten Kaisers im November 1916, Österreich umfaßte nur noch etwa ein Achtel des al-
8 Freud und seine Epoche

ten Staatsgebiets. Die Großstadt Wien mit ihren (Scheuch 2000, 71 ff.), förderte einen auch architek-
knapp zwei Millionen Einwohnern war zu einer Art tonisch anspruchsvollen sozialen Wohnungsbau, der
Wasserkopf geworden, der ein radikal geschrumpftes vielen kleinen Arbeiter- und Angestelltenfamilien zu-
Hinterland mit nur fünf Millionen Menschen re- gute kam, baute Schulen und führte eine Schulre-
gierte. Polen war ein selbständiger Staat geworden, form ein, die auch Kindern aus der Unterschicht den
ebenso Ungarn und die Tschechoslowakei. Die süd- Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen ermög-
slawischen Provinzen fanden sich im neu gebildeten lichte, und richtete insgesamt ein System umfassen-
Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab der Volksfürsorge und -wohlfahrt ein, das in ver-
1929 Königreich Jugoslawien) wieder. Im Versailler gleichbaren europäischen Großstädten seinesgleichen
Vertrag und im Friedensvertrag von Saint-Germain- suchte. Wien, nach wie vor ein Zentrum der europäi-
en-Laye mußte der neue Kleinstaat sowohl auf das schen Kultur, wozu nicht zuletzt Freuds Psychoana-
deutschsprachige Sudetenland als auch auf Südtirol lyse beitrug, die längst internationalen Ruf erworben
verzichten, ebenso mußte er das Verbot hinnehmen, hatte, erlebte in den 1920er Jahren einen Aufschwung
sich dem, gleichfalls geschwächten und territorial be- des Liberalismus, der jenen der 1860er und 70er
schnittenen, Deutschen Reich anzuschließen. Jahre noch übertraf. Die Vermutung liegt nahe, daß
Nach den ersten Parlamentswahlen im Februar Freud sich mit diesem politischen Milieu und Klima
1919, die mit einem Sieg der beiden maßgeblichen weitgehend identifizieren konnte, wofür einerseits
Vorkriegsparteien, der Sozialdemokratie (69 Man- die Tatsache spricht, daß er zu seinem 68. Geburtstag
date) und der Christlich-Sozialen (63 Mandate), en- am 6. Mai 1924 von der sozialdemokratischen Stadt-
deten – hinzukamen 24 Sitze für die Großdeut- regierung zum »Bürger der Stadt Wien« ernannt
schen –, stand Österreich vor einem mühseligen wurde (vgl. F/Fer III/1, 217 f.), zum andern der Um-
Neubeginn. Die neue Nationalversammlung bestä- stand, daß er im Wahlkampf 1927 einen Aufruf zur
tigte die Staatsbildung und annullierte durch das sog. Unterstützung der Sozialdemokratie unterschrieb
Habsburgergesetz die monarchischen Strukturen. (Scheuch 2000, 75). Auch eine Reihe von Mitarbei-
Um revolutionären Umtrieben und Forderungen tern und Schülern Freuds sympathisierte mehr oder
vorzubeugen – im benachbarten Ungarn war eine minder offen mit der Linken.
Räterepublik ausgerufen worden –, beschloß die Re- Aber Österreich war eben auch nicht Wien. Die im
gierung weitgehende Sozialgesetze, so die Einführung restlichen Land dominierende christlich-soziale Par-
des Achtstundentages und eine Regelung von tei und die Deutschnationalen agitierten nicht nur
Frauen- und Kinderarbeit. Andererseits sah sich voller Haß gegen die Sozialdemokratie, sondern auch
Österreich gezwungen, hohe Reparationsleistungen gegen die Juden, vor allem gegen die neuen jüdischen
zu erbringen, die den politischen und wirtschaftli- Einwanderer, die vor den Pogromen in Polen, Rumä-
chen Neubeginn erschwerten. Am 1. Oktober 1920 nien und der Ukraine flohen (Gay, 502). Genauso
trat eine neue demokratische Verfassung in Kraft, die wie vor dem Krieg blieb der Antisemitismus der
unmittelbar darauf folgenden Wahlen bescherten, bei österreichischen Mehrheitsgesellschaft eine akute Be-
Verlusten für die Sozialdemokraten, den bürgerli- drohung, was Freud im Jahre 1926 gegenüber einem
chen Parteien, voran den Christsozialen, einen kom- Interviewer zu der Feststellung veranlaßte: »Meine
fortablen Sieg. Fortan stellten die Konservativen den Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Bildung
Bundeskanzler, während die Sozialdemokraten dau- sind deutsch. Ich betrachtete mich geistig als Deut-
erhaft in die Opposition verbannt wurden. schen, bis ich die Zunahme des antisemitischen Vor-
Aber Wien war nicht Österreich. Während bürger- urteils in Deutschland und Deutschösterreich be-
liche Regierungen bis 1934 das Land lenkten, blieb merkte. Seit dieser Zeit ziehe ich es vor, mich einen
Wien in diesen Jahren unangefochten eine sozialde- Juden zu nennen« (zit. nach ebd., 504). Natürlich
mokratische Bastion. Nachdem die unmittelbare Not galt die Freudsche Psychoanalyse in den Augen der
der ersten Nachkriegsjahre vorüber war, gelang es der meisten Konservativen und Katholiken als »jüdische
linken Kommunalverwaltung, ehrgeizige soziale Pro- Wissenschaft«.
jekte zu verwirklichen, die die Stadt für viele im In-
und Ausland höchst attraktiv machte, z. B. für die eu-
Finis Austriae
ropäischen Juden, die nach dem Ersten Weltkrieg
nach Palästina einwanderten und für die das sozial- Die Weltwirtschaftskrise stürzte auch das bis dahin
demokratische Wien eine Art Vorbild und gesell- halbwegs stabilisierte Österreich in ökonomische
schaftliches Modell war (Segev 2000/2005, 279). Das Turbulenzen. Parallel zu diesen Turbulenzen vollzog
»Rote Wien«, wie es in den 1920er Jahren hieß sich der politische Aufstieg faschistischer Massenbe-
Politik und Gesellschaft in Freuds Wien 9

wegungen und -parteien nach dem Vorbild Italiens, Pressionen hin fallengelassen hatte und am 11. März
die ihre Anhänger vor allem aus der Mittelschicht 1938 zurückgetreten war – »Finis Austriae«, notierte
und dem Kleinbürgertum, aber in gewissem Umfang Freud am selben Tag (Freud 1992/1996, 62) –, mar-
auch aus der Arbeiterklasse rekrutierten (Hobsbawm schierten am 12. März deutsche Truppen in Öster-
1994/1995, 158 f.). Besonders die studentische Ju- reich und Wien ein: »Anschluß an Deutschland«
gend war anfällig für die radikalen Parolen des Fa- (ebd.). Als der deutsche Diktator zwei Tage später in
schismus. Wie in Deutschland bildeten sich in Öster- Wien einzog und auf dem Heldenplatz vor der Hof-
reich bewaffnete Selbstschutzorganisationen – bei burg die »größte Vollzugsmeldung« seines Lebens er-
den Rechten die Heimwehren, bei den Linken der stattete, jubelte ihm eine riesige Menschenmenge zu.
Republikanische Schutzbund –, die ihre politischen Wien war nicht mehr liberal und rot (das war es
Gegensätze zunehmend auf der Straße austrugen. schon in den 1930er Jahren nicht mehr), sondern
Auch in Österreich etablierte sich eine immer selbst- braun. Der Antisemitismus hatte gesiegt, und für die
bewußter und aggressiver auftretende nationalsozia- Wiener und österreichischen Juden begann eine Lei-
listische Bewegung mit offen antisemitischer Stoß- denszeit, die schlimmer war als alles, was sie in den
richtung. Die seit Mai 1932 mit Notverordnungen re- 1880er und 90er Jahren erlebt hatten. Was der Jour-
gierende Dollfuß-Administration verbot zwar die nalist Hugo Bettauer im Jahre 1922 in seinem sati-
NSDAP, konnte aber nicht verhindern, daß sie ihre risch-utopischen Roman als Menetekel an die Wand
Tätigkeit illegal fortsetzte. Der Aufstand des der So- geschrieben hatte (Bettauer 1922/1996), schickte sich
zialdemokratie nahestehenden Republikanischen jetzt an, Wirklichkeit zu werden: Wien wurde Die
Schutzbundes vor allem in Wien, der blutig nieder- Stadt ohne Juden.
geschlagen wurde, führte im Februar 1934 zum Ver-
bot der SPÖ, wenig später, im Mai, wurde durch eine Literatur
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
neue Verfassung die Abkehr von demokratisch- München 1993 (engl. 1951).
rechtsstaatlichen Prinzipien auch förmlich vollzogen. Beller, Steven: Wien und die Juden 1867–1938. Wien 1993
Fortan agierte als einzige zugelassene politische Par- (engl. 1989).
tei die Vaterländische Front, die von den Verbänden Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus. München
2002.
der Heimwehr und einem autoritärem Katholizismus Bettauer, Hugo: Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von über-
geprägt war – ein »semifaschistisches Regime« (ebd., morgen [1922]. Hamburg/Bremen 1996.
188). Als am 25. Juli 1934 bei einem nationalsozia- Brunner, José: Psyche und Macht. Freud politisch lesen. Stutt-
listischen Putschversuch Bundeskanzler Dollfuß er- gart 2001 (engl. 1995).
Charle, Christophe: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen
mordet wurde, mußte sich Hitler davon offiziell di- im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1997.
stanzieren, weil sein späterer Verbündeter Mussolini Craig, Gordon A.: Geschichte Europas im 19. Jahrhundert.
Österreichs Unabhängigkeit garantierte und Truppen München 1981 (engl. 1974).
am Brenner aufmarschieren ließ. –: Deutsche Geschichte 1866–1945. München 1983 (engl.
1978).
Gleichwohl nahm der Druck Nazideutschlands auf Eissler, Kurt R.: Sigmund Freud und die Wiener Universität.
das kleine Nachbarland in den folgenden Jahren Bern 1966.
ständig zu, erst recht, als sich Hitler und Mussolini Freud, Sigmund: Tagebuch 1929–1939. Kürzeste Chronik. Hg.
nach dem italienischen Abessinienabenteuer näher- von Michael Molnar. Basel/Frankfurt a. M. 1996 (engl.
1992).
kamen. Dollfuß’ Nachfolger Kurt von Schuschnigg Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators
sah sich 1936 genötigt, seine Außenpolitik an [1996]. München 2004.
Deutschland zu orientieren, wofür er als Gegenlei- Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lö-
stung die Zusicherung der staatlichen Integrität sung der Judenfrage [1896]. Hg. von Ernst Piper. Berlin/
Wien 2004.
Österreichs erhielt. All das aber half wenig, denn der Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte
nationalsozialistische Druck und die Unterwande- des 20. Jahrhunderts. München/Wien 1995 (engl. 1994).
rung des Regierungsapparats gewannen immer grö- Janik, Allan/Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien. Wien 1998
ßere Ausmaße. Im Februar 1938 mußte die Regie- (engl. 1972).
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952.
rung Schuschnigg schließlich die Ernennung des Na- Neitzel, Sönke: Kriegsausbruch. Deutschlands Weg in die Kata-
tionalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innenmi- strophe 1900–1914. Zürich 2002.
nister hinnehmen, womit das »trojanische Pferd« Scheuch, Manfred: Österreich im 20. Jahrhundert. Von der
(Peter Gay) bereits intra muros stand und den »An- Monarchie zur Zweiten Republik. Wien/München 2000.
Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle.
schluß« unmittelbar vorbereitete. Nachdem Schusch- Frankfurt a. M. 1982 (engl. 1980).
nigg die geplante Volksabstimmung über den Erhalt Segev, Tom: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor
der österreichischen Unabhängigkeit auf deutsche der Staatsgründung Israels. München 2005 (engl. 2000).
10 Freud und seine Epoche

Timms, Edward (Hg.): Freud und das Kindweib. Die Erinne- eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein ge-
rungen von Fritz Wittels. Wien 1996 (engl. 1995).
Wassermann, Jakob: Mein Weg als Deutscher und Jude [1921].
winnt« (1887, 400).
Frankfurt a. M. 2005. Die folgenden Ausführungen stehen in Wider-
Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1. spruch zu Freuds Selbstverständnis. Wie zu zeigen
München 2000. sein wird, hat er sich in allen Phasen seiner Denk-
Hans-Martin Lohmann entwicklung und auch seiner psychoanalytischen
Theoriebildung im Rahmen von Problemstellungen
der »eigentlichen Philosophie« bewegt, auch wenn er
behauptete, eine Annäherung an sie »sorgfältig ver-
mieden« zu haben (GW XIV, 86).
1.2 Philosophischer Kontext
Materialismus, Naturalismus
Freud verstand sich seit der Studentenzeit als ›Natur-
und Empirismus
forscher‹ oder ›Empiriker‹, und das bedeutete für
ihn, daß er die wissenschaftliche Sphäre von den ›un- Als Abiturient hatte Freud in einer populären Vorle-
reinen‹ Einflüssen der Philosophie frei halten wollte. sung das – irrtümlich Goethe zugeschriebene – Auf-
Der Empirismus des 19. Jh.s lehnte jede metaphysi- satz-Fragment »Die Natur« gehört und war durch
sche, da nicht auf Erfahrung gegründete Erkenntnis diesen naturphilosophischen Text so ergriffen, daß er
ab und wollte »endlich wieder die Sache der Aufklä- sich für das Studium der Medizin entschied (GW II/
rung und des wissenschaftlichen Fortschritts« vertre- III, 443; GW XIV, 34). Dieser Hymnus beginnt mit
ten (Schnädelbach 1983, 102 u. 110). Dadurch trug einer Anrufung an die Natur, in die wir Menschen
er maßgeblich zur Trennung von Wissenschaft und hineingestellt sind, von ihr »umgeben und um-
Philosophie und insbesondere zur ›Emanzipation‹ schlungen«, und endet mit einem Abgesang, in dem
der wissenschaftlichen Psychologie von der Philoso- uns nahegelegt wird, uns der Führung der Natur ver-
phie bei. trauensvoll zu überlassen. Wird die Natur als idea-
Im Spätwerk spricht Freud davon, daß die Psycho- lisierte Imago zum Ersatz des früher sehnsüchtig ver-
analyse der »wissenschaftlichen Weltanschauung« ehrten Gottesbildes, so kann sich der Naturforscher
(GW XV, 171 ff.) zuzurechnen sei, da es für sie keine in seiner Hingabe an die Natur wie der »Apostel eines
andere Quelle der Weltkenntnis als »die intellektuelle weltlichen Evangeliums« (Carus) fühlen (Hemecker
Bearbeitung überprüfter Beobachtungen« gebe. 1991, 75 ff.).
Kann man daher überhaupt von einer Philosophie Wie viele Naturforscher in der zweiten Hälfte des
Freuds sprechen? Er selbst hätte die Frage klar ver- 19. Jh.s vollzog Freud aber schon in den ersten Jahren
neint, weil er der Philosophie neben der exakten Wis- seines Medizinstudiums (1873–81) den Übergang
senschaft gar keinen Wahrheitsanspruch zubilligte. von einem pantheistisch-naturphilosophischen zu ei-
Die den Philosophen zugeschriebenen ›Intuitionen‹ nem positivistisch-naturwissenschaftlichen Weltbild.
und ›Spekulationen‹ erschienen ihm beinahe ebenso Seine naturwissenschaftlichen Studien an der Wiener
verdächtig wie die der Theologen. Aber ist er damit Universität waren vom Materialismus, Naturalismus
nicht einfach dem anti-metaphysischen Zeitgeist er- und Empirismus bestimmt und implizierten damit
legen, der glaubte, die bisherige metaphysische Philo- eine ›philosophische‹ Grundorientierung. Dabei
sophie durch die Naturwissenschaften ersetzen zu spielten vier Strömungen, die untereinander verbun-
können? Hat er nicht ein verkürztes und verzerrtes den waren, eine herausragende Rolle: der Evolutio-
Bild der Philosophie entworfen, indem er sie mit spe- nismus, der Biophysikalismus, der Englische Empi-
kulativem Denken und ›Systembildung‹ gleichsetzte? rismus und der anthropologische Materialismus (vgl.
Und tendierte er damit nicht zu einer Idealisierung Gödde 1991, 78 ff.).
der Wissenschaft, als ob sie von gesellschaftlichen Be- Die Evolutionstheorie hat den traditionellen Glau-
dingungen und ideologischen Wertungen frei sei und ben an einen Schöpfergott, der das Leben und seine
deshalb allein die Erkenntnis der ›Wahrheit‹ verbür- Arten konstant und unveränderlich geschaffen habe,
gen könne? Nietzsche stand der Wissenschaft viel ad absurdum geführt und damit das Menschenbild
skeptischer gegenüber und stellte vehement in Frage, revolutioniert. Man muß sich vergegenwärtigen, daß
ob es eine »voraussetzungslose Wissenschaft« über- Darwins Pionierarbeit Die Entstehung der Arten
haupt geben könne. Seine Antwort war ein klares durch natürliche Zuchtwahl 1859 und sein Werk über
Nein: »Ein ›Glaube‹ muß immer erst da sein, damit die Abstammung des Menschen erst 1871 erschienen
aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, waren. Ernst Haeckel baute die neuen Erkenntnisse
Philosophischer Kontext 11

Darwins dann zu einem ideologisch-weltanschauli- kelt. Erfahrung, Beobachtung und Experiment galten
chen Evolutionismus aus. Kein Wunder, daß Darwin ihm als die wichtigsten Erkenntnismittel zur Erfor-
und Haeckel in einem Jugendbrief Freuds von 1875 schung der Natur. Streng genommen ist er nur ein
als »unsere modernsten Heiligen« bezeichnet werden Erkenntnisprinzip, als solches aber mit dem Materia-
(S, 111). Wie er Jahrzehnte später in seiner »Selbst- lismus eng verbunden, da mittels der empirischen
darstellung« erklärte, habe ihn in seiner Jugend die Methodik der Forschungsgegenstand auf das sinnlich
damals aktuelle Lehre Darwins mächtig angezogen, wahrnehmbare und feststellbare Sein und Geschehen
weil »sie eine außerordentliche Förderung des Welt- beschränkt wird. Den Zugang zu Mill fand Freud
verständnisses versprach« (GW XIV, 34). Der Evolu- durch eine Lehrveranstaltung bei Franz Brentano
tionismus hat später auch die psychoanalytische und die Übersetzung einiger Essays von Mill, die von
Anthropologie und Theoriebildung grundlegend be- dem Wiener Gräzisten Theodor Gomperz vermittelt
einflußt. Zu den drei großen Kränkungen der worden war. Mills Denken stand »in klarem Gegen-
Menschheit rechnete Freud die Darwinsche Ab- satz zu den metaphysischen Systemen, die man da-
stammungslehre, da sie »die vom Hochmut geschaf- mals vorzugsweise ›Philosophie‹ nannte«, und »eher
fene Scheidewand zwischen Mensch und Tier« nie- dem empirisch-physikalistischen Geist des Brücke-
dergerissen habe (GW XIV, 109). schen Instituts nahe« (Bernfeld/Cassirer Bernfeld
Der Biophysikalismus entsprang der Reaktion auf 1981, 142 f.). Mill, Gomperz und Brentano vertraten
die romantische Naturphilosophie und hatte zum eine empiristische und liberalistische Geisteshaltung,
Ziel, die Medizin von jeder Art von Vitalismus und die für Freuds geistige Orientierung zeitlebens eine
Finalismus zu befreien. Im Zentrum der biophysi- wichtige Unterströmung bildete.
kalischen Bewegung stand die Physiologie, die von Der anthropologische Materialismus von Ludwig
Helmholtz, Du Bois-Reymond, Carl Ludwig und Feuerbach, in der er von den Bedingungen der realen
Freuds Lehrer Ernst Brücke repräsentiert wurde. Ihr sinnlichen Existenz des Menschen – Glückseligkeits-
ging es um den konsequenten Nachweis, daß »im Or- verlangen, Leiblichkeit, Schmerz und Tod – ausging,
ganismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die war ein Gegenentwurf zur Theologie und zur ideali-
gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese stischen Philosophie. Er nahm den Standpunkt des
bislang nicht zur Erklärung ausreichen, mittels der Menschen (statt den Gottes) und den der Endlichkeit
physikalisch-mathematischen Methode entweder (statt den des Absoluten) ein. Dementsprechend
nach ihrer Art und Weise der Wirksamkeit im kon- stellte er die Anschauung als das ›Prinzip des Lebens‹
kreten Falle gesucht werden muß, oder daß neue dem Denken gegenüber, räumte der Natur den ein-
Kräfte angenommen werden müssen, welche, von deutigen Primat vor dem Geistigen ein und suchte
gleicher Dignität mit den physikalisch-chemischen, von dieser Basis aus das Wesen des Menschen auf
der Materie inhärent, stets auf nur abstoßende oder naturwissenschaftlich-materialistische Weise zu er-
anziehende Componenten zurückzuführen sind« fassen. Freud wurde bereits als junger Student in den
(zit. n. Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981, 62 f.). Mit Bann der materialistischen Anthropologie und Reli-
dieser dezidiert antivitalistischen Einstellung trug der gionskritik von Feuerbach und David Friedrich
Biophysikalismus maßgeblich zur Entthronung der Strauß gezogen (F/B, 203 f.).
spekulativen Naturphilosophie bei. Die neuen Leit- Die beschriebenen Positionen scheint der junge
gedanken wie ›Einheit der Wissenschaften‹, ›Natur- Freud unter dem Einfluß seines Philosophielehrers
wissenschaft‹, ›physikalische Kräfte‹ waren nicht nur Franz Brentano, bei dem er vier Semester lang – vom
»Hypothesen für wissenschaftliche Arbeiten; sie wur- Wintersemester 1874 bis zum Sommersemester 1876
den zu so etwas wie Kultgegenständen. Es ging nicht – Vorlesungen und Seminare besuchte, etwas relati-
nur um Forschungsmethoden, sondern um Weltan- viert zu haben. Brentano war 1874 auf einen theo-
schauung« (Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981, 69). logischen Lehrstuhl in Wien berufen worden. In sei-
Der Biophysikalismus wurde in den 1870er Jahren ner Antrittsvorlesung ließ er keinen Zweifel daran
ähnlich missionarisch vertreten wie der Evolutionis- aufkommen, daß es »auch in philosophischen Din-
mus. Auch Freud, der fünf Jahre lang am physiologi- gen keine andere Lehrmeisterin geben kann als die
schen Labor Brückes forschte, gehörte zu seinen Erfahrung und [. . .] daß der Philosoph wie jeder an-
überzeugten Anhängern. dere Forscher nur Schritt für Schritt erobernd auf
Der Englische Empirismus, dessen erkenntnis- seinem Gebiete vordringen kann« (zit. nach Fischer
theoretisches Fundament Francis Bacon, John Locke 1995, 3). Wie der traditionellen Metaphysik stand er
und David Hume gelegt hatten, wurde im 19. Jh. von aber auch dem Materialismus ablehnend gegenüber
John Stuart Mill und Herbert Spencer weiter entwik- und war dezidierter Theist. Er hielt an der Lehre von
12 Freud und seine Epoche

der Unsterblichkeit der menschlichen Seele und der und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Mensch-
Realität Gottes fest und sah ein Hauptziel seiner Reli- heit eben noch unmündig und nicht genug aufge-
gionsphilosophie in der wissenschaftlichen Begrün- klärt gewesen. Jetzt aber war es doch nur eine An-
dung der Existenz Gottes. Auf den jungen Freud gelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und
machte Brentanos theistische Argumentationslogik Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und
einen starken Eindruck, so daß er seinem Jugend- dieser Glaube an den ununterbrochenen, unauf-
freund Silberstein anvertraute, er sei »nicht im haltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahr-
Stande, ein einfaches theistisches Argument zu wi- haftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen
derlegen«. Aber er habe nicht die Absicht, sich »so ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel, und sein
schnell oder so vollständig gefangenzugeben«, son- Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die
dern gedenke, sich »ein Urteil darüber sowie eine täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der
Entscheidung über Theism und Materialism vorzu- Technik« (1944, 16).
behalten. Vorläufig bin ich nicht mehr Materialist, Als Leitbild der liberalen Kultur galt der rationale
auch noch nicht Theist« (S, 118). Daraus wurde, wie Mensch, der seine gesellschaftlichen Pflichten ernst
Gay anmerkt (1987/1988, 49 ff.), allerdings nur ein nimmt und seine Gefühle und Leidenschaften be-
flüchtiger »Flirt mit der philosophischen Theologie«. herrscht; dem Irrationalen, Chaotischen und Unan-
Freud war und blieb ein loyaler Sohn der Aufklärung gepaßten stand man abwehrend gegenüber. Bereits
und ihrer Nachfolger, von denen er Feuerbach als ein Großteil der Jugendgeneration Freuds war von
denjenigen bezeichnete, »den ich unter allen Philo- den kulturellen Idealen und der politischen Praxis
sophen am höchsten verehre und bewundere« (S, des Liberalismus zutiefst enttäuscht. Auf fast allen
111). Vermutlich hat die mit den Namen Voltaire, Di- kulturellen Gebieten setzte eine erste Gegenbewe-
derot, Strauß, Feuerbach und Darwin verbundene gung ein, die in dem 1871 gegründeten ›Leseverein
Tradition der Religionskritik den Ausschlag dafür ge- der deutschen Studenten Wiens‹ ein Sammelbecken
geben, daß er sich letztlich gegen Brentano und für fand. Freud gehörte dem Leseverein fünf Jahre – von
den Atheismus entschied. Jahrzehnte später formu- 1873 bis zu dessen Verbot im Jahre 1878 – an. Das
lierte er in der Abhandlung »Die Zukunft einer Illu- politische, soziale und philosophische Programm des
sion« allgemein, was auch auf seine eigene Entschei- Lesevereins war in erster Linie deutschnational orien-
dungsfindung anwendbar ist: »Der wissenschaftliche tiert. Man setzte seine Hoffnungen auf eine politische
Geist erzeugt eine bestimmte Art, wie man sich zu Vereinigung zwischen dem Bismarck-Reich und der
den Dingen einstellt; vor den Dingen der Religion Habsburger Monarchie und damit auch auf eine
macht er eine Weile halt, zaudert, endlich tritt er ›kulturelle Wiedergeburt des deutschen Volkes‹. Im
auch hier über die Schwelle« (GW XIV, 362). Kontext des Lesevereins spielte die Orientierung an
Schopenhauer, Richard Wagner und dem noch jun-
gen Nietzsche – drei Außenseitern mit antiakademi-
›Dekonstruktion‹ des metaphysischen
scher Prägung – eine maßgebliche Rolle. Es ist nicht
und rationalen Menschenbildes
übertrieben zu sagen, daß sich das Interesse an Scho-
Die politische Herrschaft der liberalen Mittelschicht penhauer, Wagner und Nietzsche »im Verhältnis zum
in Österreich begann um 1860, dauerte aber nur bis Grad der Enttäuschung mit den Idealen und Prakti-
in die 1890er Jahre hinein. Ein wesentliches Charak- ken des österreichischen Liberalismus« entwickelte
teristikum der liberalen Wiener Kultur des 19. Jh. (McGrath 1974, 248).
kann in ihrem Streben nach rationaler Beherrschung Schopenhauers Anziehungskraft läßt sich daraus
von Natur und Gesellschaft gesehen werden. Der Op- erklären, daß er den Optimismus und die Fort-
timismus des Bürgertums gründete v. a. im Vertrauen schrittsgläubigkeit der aufklärerischen und idealisti-
auf den unwiderstehlichen Fortschritt der Wissen- schen Vernunftphilosophie ad absurdum geführt
schaften und die enorme Ausweitung technischer hatte. Einen Eindruck von Schopenhauers Wirkung
Anwendungsmöglichkeiten. Man vertraute auf die auf die junge Generation vermittelt Hans Vaihinger
Macht der individuellen Selbstbestimmung. In sei- im Rückblick auf sein Philosophiestudium in den
nen Memoiren Die Welt von Gestern schreibt Stefan 1870er Jahren: »Mir gab Schopenhauers Lehre Neues,
Zweig: »Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem Großes und Dauerndes: den Pessimismus, den Irra-
liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf tionalismus und den Voluntarismus [. . .] In allen Sy-
dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller stemen der Philosophie, die ich bis dahin kennen ge-
Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die lernt hatte, war das Irrationale der Welt und des Le-
früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten bens nicht oder wenigstens ganz ungenügend zur
Philosophischer Kontext 13

Geltung gekommen: das Ideal der Philosophie war ja schen Tradition, nämlich Wesen, Substanz, Vernunft,
eben, alles rationell zu erweisen, d. h. als logisch, als Geist, Bewußtsein, Ich, Subjekt, Wille u. a. wurden
sinnvoll, als zweckmäßig [. . .] Nun trat mir zum er- radikal in Frage gestellt.
stenmal ein Mann entgegen, der offen und ehrlich Auch Freud mußte erst metaphysische Grundbe-
die Irrationalitäten anerkannte und in seinem philo- griffe wie Wille, Ich und Bewußtsein ›dekonstruie-
sophischen System zu erklären versuchte. So erschien ren‹, bevor er ein Fundament für seine neuartige Psy-
mir Schopenhauers Wahrheitsliebe als eine Offenba- chologie errichten konnte (vgl. Gödde 2000, 96 ff.).
rung« (1923, 188 ff.). In dem Aufsatz »Eine Schwierigkeit der Psychoana-
Im 19. Jh. wurde die Möglichkeit menschlicher lyse« (GW XII, 8 ff.) schildert er, wie ein rationaler
Autonomie mit zunehmender Skepsis betrachtet. Um Mensch sein Innenleben sieht: Sein Bewußtsein gebe
die Abhängigkeit des Ich zu unterstreichen, sprachen dem Ich Kunde von allen bedeutungsvollen Vorgän-
Schelling, Schopenhauer, Eduard v. Hartmann, Ri- gen im seelischen Getriebe, und der durch diese
chard Wagner und Nietzsche von der Vorherrschaft Nachrichten gelenkte Wille führe aus, was das Ich an-
des irrational-triebhaften ›Willens‹ und von der ordne, oder ändere ab, was sich selbständig vollzie-
Macht des ›Unbewußten‹. Bei Nietzsche verband sich hen möchte. Der Wille könne überallhin dringen,
das Interesse am Irrationalen zunehmend mit dem um seinen Einfluß geltend zu machen, und das Ich
am Pathologischen: an Dekadenz, Nervosität und fühle sich sowohl der Verläßlichkeit der Nachrichten
psychophysischen Krankheiten. Mittels einer ›entlar- seitens des Bewußtseins als auch der Durchsetzbar-
venden Psychologie‹ deckte er die hinter der Ich-Fas- keit seiner Befehle durch den Willen sicher. Ein sol-
sade sich verbergenden Triebkonflikte auf und pro- ches rationales Menschenbild hielt Freud jedoch für
blematisierte die krankmachenden Mittel der Trieb- unhaltbar. Wie gerade die Neurosen zeigten, seien
unterdrückung. dem Bewußtsein nicht zugängliche Vorstellungen im
In den 1890er Jahren mündete die schon lange Spiel, die sich dem Ich nicht unterwerfen und allen
schwelende Krise des Liberalismus und Rationalis- sonst so erprobten Machtmitteln des Willens wider-
mus in die Gegenbewegung der ›Wiener Moderne‹ stehen: »Du vertraust darauf, daß du alles erfährst,
(ca. 1890–1910) ein. An der Auflösung der alten was in deiner Seele vorgeht, wenn es nur wichtig ge-
Wertorientierung, insbesondere ihrer wissenschaftli- nug ist, weil dein Bewußtsein es dir dann meldet.
chen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen […] Laß dich doch in diesem einen Punkt belehren!
Grundannahmen, waren sowohl Philosophen als Das Seelische in dir fällt nicht mit dem dir Bewußten
auch Naturwissenschaftler beteiligt. Die Physiker zusammen […] Für gewöhnlich, ich will es zugeben,
Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, die auf philo- reicht der Nachrichtendienst an dein Bewußtsein für
sophischen Lehrstühlen in Wien saßen, sich aber als deine Bedürfnisse aus. […] Aber in manchen Fällen
›Naturforscher‹ bezeichneten, gaben den Wiener […] versagt er und dein Wille reicht dann nicht wei-
Neuerern wesentliche Impulse. In seinem Hauptwerk ter als dein Wissen. In allen Fällen aber sind diese
Analyse der Empfindungen (1886) erklärte Mach, daß Nachrichten deines Bewußtseins unvollständig und
nicht das Ich, sondern die Elemente das Primäre häufig unzuverlässig« (GW XII, 10 f.). Diese beiden
seien. Er sprach von der nur ›relativen Beständigkeit‹ Aufklärungen kommen der Behauptung gleich, daß
des Ich. Die Hilfskonstruktion eines einheitlichen Ich »das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (ebd.,
sei nur ein Notbehelf zur vorläufigen Orientierung 11). Das rationale Menschenbild der liberalen Ära
und für bestimmte praktische Zwecke. Von da aus mußte seinen Platz »jenem reicheren, aber auch ge-
war es nicht weit zu der vielbeachteten These vom fährlicheren und schwankenden Geschöpf, dem
›unrettbaren Ich‹. Machs Psychologie der Empfin- homo psychologicus« räumen (Schorske 1982, 4).
dungen kann als Kern einer ›Philosophie des Impres-
sionismus‹, der Auflösung jeder höheren Welt in ei-
Bewußtseinsphilosophie versus Philosophie
nen Strom von Empfindungen gelten. Die Infrage-
des Unbewußten
stellung dessen, worauf die liberalen Bürger so stolz
waren: ihr Ich, ihre Subjekthaftigkeit, ihre Selbst- Freuds Berührung mit der Psychologie hatte zu-
steuerung stieß auch bei den Dichtern des ›Jungen nächst unter dem Vorzeichen des Herbartianismus
Wien‹, bei Bahr, Hofmannsthal und Schnitzler, später gestanden, der im 19. Jh. die main-stream-Psycho-
auch bei Musil und Broch, aber auch bei Philosophen logie in Österreich war. Der Lehrplan an den öster-
wie Wilhelm Jerusalem und Fritz Mauthner, später reichischen Gymnasien sah ein ›Philosophisches
bei Ludwig Wittgenstein und dem ›Wiener Kreis‹ auf Propädeutikum‹ in den beiden Fächern Logik und
große Resonanz. Die Grundbegriffe der metaphysi- Psychologie vor, in dem zwei Lehrbücher des Her-
bartianers Gustav Adolf Lindner behandelt wurden.
14 Freud und seine Epoche

Herbart war zu Beginn des 19. Jh.s angetreten, die losophischer Bestseller war. Es ist beeindruckend zu
idealistische Philosophie durch einen kritischen sehen, mit welcher Sorgfalt er der Frage nachgeht, ob
›Realismus‹ zu ersetzen. Er entwickelte eine ›Wissen- es unbewußte Vorstellungen geben kann. Er verkennt
schaftliche Psychologie‹, die die Gesetzmäßigkeiten nicht, daß die Lehre von unbewußten psychischen
des psychischen Lebens mit naturwissenschaftlichen Phänomenen »in neuester Zeit« zahlreiche Vertreter
Methoden zu erklären suchte, aber noch der Meta- gefunden habe. Wenn man aber von einer im Be-
physik verhaftet blieb. Seine Vorstellungs- und Asso- wußtsein gegebenen Tatsache auf die Wirkung unbe-
ziationspsychologie war auf die Erforschung der im wußter psychischer Phänomene schließen wolle, so
Bewußtsein gegebenen Tatsachen ausgerichtet. müsse als erstes die Tatsache selbst hinreichend ge-
In Lindners Lehrbuch der empirischen Psychologie sichert sein. Zudem sei es nötig, die Gesetze jener
als inductiver Wissenschaft wird das Bewußtsein als angenommenen unbewußten Phänomene darzule-
beständiger Fluß von Vorstellungen begriffen. Neben gen und empirisch abzusichern. Anstatt dieser An-
diesen klaren Vorstellungen bleibt die große Mehr- forderung gerecht zu werden, rekurriere Hartmann
zahl unserer Vorstellungen im Dunkel, weil sie unter immer dann auf ein »ewig Unbewußtes«, wenn me-
die ›Bewußtseinsschwelle‹ herabgedrückt werden. chanische Erklärungen nicht zum Ziel führen: »Ein
Solche ›gehemmten‹, ›verdunkelten‹ oder ›verdräng- solches hypothetisches Unding wird jeder [. . .] wenn
ten‹ Vorstellungen können nur unter Überwindung er nur einigermaßen ein exakter Denker ist, als unzu-
eines ›Widerstandes‹ wieder ins Bewußtsein zurück- lässig verwerfen« (Brentano 1874, 152 f.). Letztlich
kehren. Zu einer ›Reproduktion‹ kann es psycholo- gelangt Brentano zu dem Ergebnis, daß jeder psy-
gisch auf den Wegen der Assoziation kommen. Im chische Akt von einem darauf bezüglichen Bewußt-
Traum, den Lindner als »Vorbild der Seelenkrank- sein begleitet sei, und er behauptet, daß es neben
heiten« bezeichnet, werde durch eine von den Vor- dem Sachbewußtsein ein zweites auf die eigene Per-
stellungen des wachen Seelenlebens abgetrennte Vor- son bezogenes Bewußtsein gebe, das der ›inneren
stellungsmasse eine mehr oder minder vollkommene Wahrnehmung‹ zugänglich sei.
Verdunkelung unseres Bewußtseins herbeigeführt In den 1890er Jahren widmete sich Freud erstmals
(Lindner 1873, 220). Diese Ausführungen lassen er- dem Projekt, auf der Grundlage seiner klinischen Er-
kennen, daß in der Herbartianischen Psychologie die fahrungen in der Neurosentherapie (Hysterie, Neur-
Dynamik zwischen bewußten und unbewußten Vor- asthenie, Zwangs-, Angstneurose u. a.) eine wissen-
stellungen im Seelenleben schon tangiert, aber vor- schaftliche Psychologie aufzubauen. Dabei kam er
nehmlich in abstrakter Begrifflichkeit behandelt nicht umhin, sich mit der traditionell philosophischen
wurde. Frage zu beschäftigen, ob es neben dem bewußten
In einem 1875 mit dem jungen Freud und dessen ein ›unbewußtes Psychisches‹ gebe. Zur Klärung die-
Freund Josef Paneth geführten Gespräch wandte sich ser Frage bedurfte es der Auseinandersetzung mit der
Franz Brentano entschieden gegen Herbarts »apriori- Bewußtseinsphilosophie und -psychologie.
stische Konstruktionen in der Psychologie, hielt es Die gegenläufigen Konzeptionen des Bewußtseins
für unverzeihlich, daß es ihm nie eingefallen sei, die und des Unbewußten stammen aus der Ära der Auf-
Erfahrung oder das Experiment zu Rate zu ziehn und klärung im 18. Jh. Descartes hatte den zum Wider-
[. . .] erzählte uns einige merkwürdige psychologische spruch reizenden Satz geäußert, die Seele sei immer
Beobachtungen, die die Haltlosigkeit der Herbart’- im Zustand des Denkens (›anima semper cogitans‹).
schen Spekulationen zeigen. Es tue mehr not, über In diesem rationalen Seelenmodell blieb kein Platz
einzelne Fragen gründliche Untersuchungen anzu- für eine unbewußte Empfindungs-, Vorstellungs-
stellen, um zu einzelnen sicheren Resultaten zu ge- und Denktätigkeit. Wenn man mit Descartes Be-
langen, als das Ganze der Philosophie umfassen zu wußtsein und Cogitatio gleichsetzt, dann hat die
wollen, weil die Philosophie und Psychologie eine menschliche Seele nicht Bewußtsein, sondern sie ist
noch ganz junge Wissenschaft sei und besonders von Bewußtsein. Wenn man weiter mit Kant von einer
der Physiologie keinerlei Unterstützung erwarten strikten erkenntnistheoretischen Orientierung an
könne« (S, 116). Auf dieser programmatischen den Phänomenen ausgeht, dann bleibt kein Platz
Grundlage initiierte Brentano in den folgenden Jahr- mehr für jene damals weit verbreiteten Seelenlehren,
zehnten eine zweite große Psychologierichtung in die ›hinter‹ dem Bewußtsein eine substanzielle Seele
Österreich. In seinem Werk Psychologie vom empiri- als Trägerin der psychischen Vorgänge annahmen.
schen Standpunkt (1874) setzte er sich kritisch mit Infolge der von Descartes vorgenommenen Tren-
Eduard v. Hartmanns Philosophie des Unbewußten nung von Seele und Leib tat sich allerdings das Pro-
(1869) auseinander, das in den 1870er Jahren ein phi- blem auf, wie sich seelische Vorgänge, die existieren,
Philosophischer Kontext 15

ohne daß wir uns ihrer unmittelbar bewußt sind, Statt an Herbart und Brentano begann sich Freud
einordnen lassen. In dieser Frage schaltete sich Leib- an Denkern zu orientieren, die die anthropologische
niz ein. Als grundlegende seelische Fähigkeiten be- und psychologische Tragweite des Unbewußten er-
trachtete er die ›kleinen unmerklichen Vorstellun- kannten. In seinen Briefen an Wilhelm Fließ aus den
gen‹, die am Rande des Bewußtseins stehen oder gar 1890er Jahren finden sich ausdrückliche Bezugnah-
nicht ins Bewußtsein treten. In seinen Neuen Ab- men auf den in Wien lehrenden Philosophen Wil-
handlungen über den menschlichen Verstand (1704) helm Jerusalem, auf den französischen Philosophen
schrieb er, daß wir in jedem Augenblick unendlich Hippolyte Taine, auf Gustav Theodor Fechner und
viele solcher ›unmerklichen Vorstellungen‹ besitzen, auf Theodor Lipps, einen in München lehrenden
die uns nicht bewußt werden, weil sie entweder zu Philosophieprofessor.
schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig seien. Fechner stammt aus der Herbartianischen Tradi-
Jede auch noch so unklare und dunkle Kognition tion. Erste Hinweise auf Fechner, von dem er »außer
habe vielfältige Wirkungen auf die Wahrnehmung, der Psychophysik noch manche andere Schriften ge-
das Denken, den Geschmack, die Gewohnheiten und lesen« hatte (F/B, 202), finden sich bereits in Freuds
gehe als Bestandteil in jede deutlich bewußte Vor- Jugendbriefen (S, 202). Während Herbart seine Auf-
stellung ein. Unmerkliche Vorstellungen könnten merksamkeit noch auf die mehr oder weniger be-
auch im Gedächtnis Spuren vergangener Seelenzu- wußten Vorstellungen gerichtet hatte, wandte sich
stände hinterlassen, sich in diffuser Unentschlossen- Fechner den ›unbewußten Empfindungen‹ zu, die
heit äußern oder den Willen aufstacheln, um seeli- jenseits der ›psychophysischen Schwelle‹ liegen, aber
schen Verstimmungen entgegenzuwirken. Mit dieser nichtsdestoweniger wirksam seien (vgl. Wegener
berühmten Lehre von den ›pétites perceptions‹ hat 2005). Der Begriff der psychophysischen Schwelle
Leibniz eine philosophische Tradition angebahnt, die habe einen zentralen Stellenwert, wie er in seinem
man als die des ›kognitiven Unbewußten‹ bezeichnen Hauptwerk Elemente der Psychophysik schrieb, weil er
kann (vgl. Gödde 1999, 29 ff.). Sie wurde von Kant, »für den Begriff des Unbewußtseins überhaupt ein
Fechner, Helmholtz, v. Hartmann u. a. weitergeführt festes Fundament gibt. Die Psychologie kann von un-
und reicht bis zur heutigen Kognitionspsychologie bewußten Empfindungen, Vorstellungen nicht ab-
(Mertens 2005). strahieren. [. . .] Empfindungen, Vorstellungen haben
In der Entstehungsphase der Psychoanalyse war freilich im Zustand des Unbewußtseins aufgehört, als
Freuds Aufmerksamkeit auf die Aspekte der Wirk- wirkliche zu existieren, sofern man sie abstrakt von
samkeit und der Erkennbarkeit unbewußter psy- ihrer Unterlage faßt, aber es geht etwas in uns fort,
chischer Vorgänge und damit auf den Bereich des ko- die psychophysische Tätigkeit, deren Funktion sie
gnitiven Unbewußten zentriert. Wie wir sehen wer- sind, und woran die Möglichkeit des Wiedereintritts
den, ging er aber über Leibniz hinaus und entwik- der Empfindung hängt« (1868, 438 f.). In diesem
kelte eine eigene Vorstellung vom Unbewußten. Kontext sei auch die Theorie der ›unbewußten
Dabei konnte er an die in der Herbartianischen Psy- Schlüsse‹ erwähnt, die Hermann v. Helmholtz in den
chologie berücksichtigte Dynamik von Verdrängung, Mittelpunkt seiner Wahrnehmungstheorie stellte.
Widerstand und Reproduktion von Vorstellungen Besonders gelegen kam es Freud, daß er in Theo-
anknüpfen. Seine innovative Leistung bestand darin, dor Lipps, der neben Wundt und Brentano zu den
dieses Theorem aus dem Bezugsrahmen jener ab- führenden Vertretern der Akademischen Psychologie
strakten und rationalistischen Philosophie gelöst, sie gehörte, einen Kronzeugen für die Wissenschaftlich-
in seiner klinischen Theorie und Praxis mit Leben keit einer Psychologie des Unbewußten fand. Lipps
erfüllt und damit in die Nähe zu den ›Entfremdungs- hatte sich in den 1880er Jahren einer von Brentano
theorien‹ gebracht zu haben (vgl. Marquard 1987, initiierten Bewegung angeschlossen, die sich gegen
229; Gödde 1999, 172 ff.). die überkommene, vorwiegend passive Assoziations-
Brentanos Psychologie stand zwar der Empirie we- psychologie wandte, und war für eine Aktpsychologie
sentlich näher als diejenige Herbarts. Seine optimisti- eingetreten, die von einem aktiven Ich mit Wünschen
sche Annahme, die Urteile der inneren Wahrneh- und Intentionen ausging. Im Gegensatz zu Brentano
mung hätten jene »unmittelbare untrügliche Evi- war er jedoch davon überzeugt, daß der Begriff des
denz«, die sonst keiner anderen Erkenntnis zu- Unbewußten in der Psychologie notwendig sei. 1896
komme (1874, 177), blieb aber noch allzu sehr dem hielt er auf dem III. Internationalen Kongreß für Psy-
rationalen Menschenbild verhaftet, so daß Freud sie chologie in München einen programmatischen Vor-
mit seinen klinischen Erfahrungen in der Neurosen- trag zum Thema »Der Begriff des Unbewußten in der
therapie nicht vereinbaren konnte. Psychologie«. Darin vertrat er die These, daß die
16 Freud und seine Epoche

Frage des Unbewußten in der Psychologie »weniger er eine Brücke zwischen Physiologie und Psychologie
eine psychologische Frage als die Frage der Psycho- schlagen wollte. Schon bald darauf nannte er dieses
logie« sei (zit. nach Lütkehaus 1989, 235; vgl. GW II/ Projekt seinen »Tyrannen«, in dessen Dienst er nun
III, 616). Freud stimmte ihm mit begeisterten Wor- kein Maß kenne: »Es ist die Psychologie, von jeher
ten zu. Noch in einer seiner letzten Arbeiten erin- mein fern wirkendes Ziel, jetzt seitdem ich auf die
nerte er daran, daß Lipps als erster den Begriff des Neurosen gestoßen bin, um soviel näher gerückt.
Unbewußten im wissenschaftlichen Sinne zu »ver- Mich quälen zwei Absichten, nachzusehen, wie sich
wenden« wußte. Die Psychoanalyse habe sich dann die Funktionslehre des Psychischen gestaltet, wenn
»dieses Begriffs bedient, ihn ernst genommen, ihn man die quantitative Betrachtung, eine Art Ökono-
mit neuem Leben erfüllt« (GW XVII, 147). mik der Nervenkraft einführt, und zweitens aus der
Im VII. Kapitel der Traumdeutung hat Freud das Psychopathologie den Gewinn für die normale Psy-
Unbewußte als psychoanalytischen Grundbegriff ein- chologie herauszuschälen« (F, 130 f.).
geführt und ihn mit Hilfe seiner Theorie der Ver- Wie bei der Frage nach dem Unbewußten ging es
drängung begründet. Auf der klinischen Ebene be- auch in diesem materialistischen Kontext um eine
zeichnete er das Verdrängte als ›dynamisch‹ Unbe- traditionell philosophische Fragestellung, nämlich
wußtes, weil die verdrängten Wünsche, Leidenschaf- um das Leib-Seele-Problem. Hier sei an die Formel
ten und Phantasien von sich aus ins Bewußtsein vom ›L’homme machine‹ erinnert, die von dem fran-
zurückdrängen. Festzuhalten bleibt, daß Freuds ge- zösischen Aufklärer La Mettrie im 18. Jh. geprägt
nuine Entdeckung – das dynamische Unbewußte – worden war. La Mettrie hatte nachzuweisen versucht,
ganz andere motivationale Hintergründe als das ko- daß der Mensch nichts anderes sei als ein höchst
gnitive Unbewußte der philosophischen Tradition komplizierter Mechanismus. In der Tradition des
hat. Darum war er der Auffassung, daß das von Leib- mechanistischen Materialismus stand auch und ge-
niz vertretene Prinzip der Kontinuität des Bewußt- rade die biophysikalische Bewegung.
seins nicht auf das eigentliche Unbewußte anwend- Mit seinem »Entwurf einer Psychologie« (1895),
bar sei. Bei einer bloß kognitiven Ausrichtung bliebe jenem erst nach seinem Tod veröffentlichten Manu-
die Erhellung und Aufklärung auf der Stufe des Vor- skript, verfolgte Freud die Absicht, »psychische Vor-
bewußten stehen und wäre allzu sehr dem rationalen gänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zu-
Menschenbild verhaftet. stände aufzeigbarer materieller Teile« (Nachtr., 387).
Vergleiche zwischen Herbarts und Freuds Grundkon-
zeptionen des ›psychischen Mechanismus‹, der nach
Das Projekt ›Metapsychologie‹
Art physikalischer Gebilde gebauten ›Maschine‹ be-
Um die Wissenschaftlichkeit seiner neuen Psycholo- ziehungsweise des ›Apparates‹, haben große Ähnlich-
gierichtung zu begründen, verfolgte Freud parallel zu keiten ergeben (Dorer 1932; Hemecker 1991).
seiner klinisch-therapeutischen Erforschung der Ebenso ließ sich nachweisen, daß Fechners psycho-
Neurosen ein zweites, später ›Metapsychologie‹ ge- physikalische Prinzipien von Stabilität und Lust/Un-
nanntes Projekt, das eine allgemeine Theorie über lust die Basis für Freuds ökonomische Grundannah-
das Psychische bzw. den ›psychischen Apparat‹ er- men vom Konstanz- und Lustprinzip bildeten. Das
möglichen sollte. Mit der Metapsychologie hat Freud unmittelbare Modell für Freuds »Entwurf« dürfte der
ein Terrain bearbeitet, das traditionellerweise Theo- von Brückes Schüler Siegmund Exner 1894 veröffent-
logie und Philosophie für sich beansprucht haben: lichte Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der
»Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der my- psychischen Erscheinungen gewesen sein, der eine
thologischen Weltanschauung, die weit bis in die mo- Lehre von den Neuronen als materiellen Trägern des
dernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist Psychischen enthielt.
als in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die Wenn sich Freud schon im November 1895 von
dunkle Erkenntnis [. . .] psychischer Faktoren und seinem »Entwurf« distanzierte (F, 153 f. u. 158), so
Verhältnisse des Unbewußten spiegelt sich [. . .] in bedeutete dies nicht, daß er das – in Arbeitsteilung
der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, wel- mit Fließ zu erarbeitende – Vorhaben einer Verbin-
che von der Wissenschaft in Psychologie des Unbe- dung von Organologie und Psychologie schon da-
wußten zurückverwandelt werden soll. Man könnte mals aufgegeben hätte. Erst im September 1898
sich getrauen [. . .] die Metaphysik in Metapsychologie nahm er davon Abstand: »Ich bin [. . .] gar nicht ge-
umzusetzen« (GW IV, 287 f.). neigt, das Psychologische ohne organische Grundlage
1895 erwähnte Freud erstmals sein Projekt einer schwebend zu erhalten. Ich weiß nur von der Über-
»Psychologie für den Neurologen« (F, 124), bei dem zeugung aus nicht weiter, weder theoretisch noch
Philosophischer Kontext 17

therapeutisch, und muß also mich so benehmen, als Psychophysikalismus versus


läge mir nur das Psychologische vor« (F, 357). Psychovitalismus
Der »Entwurf« hat wichtige Aspekte der späteren
Metapsychologie – wie das Konstanz- und Lustprin- Bereits die Traumdeutung geht stellenweise über den
zip, den Primär- und Sekundärvorgang sowie die mechanistischen Vorstellungskreis des Apparatemo-
unbewußte und vorbewußte psychische Aktivität – dells hinaus. Im wunscherfüllten Träumen und
vorweggenommen und damit einen »mächtigen heu- Phantasieren, aber auch in den Sekundärprozessen
ristischen Effekt auf Freuds psychologisches Gesamt- wird eine Eigenaktivität des menschlichen Subjekts
denken ausgeübt« (Sulloway 1982, 182). In der sichtbar. In diesem Zusammenhang greift Freud auf
Traumdeutung konstruierte er dann einen zum phy- intentionale Kategorien wie Motiv, Absicht und Sinn
siologischen Apparat des Nervensystems parallelen zurück, die der Psychologie Brentanos und der ari-
›psychischen Apparat‹ und wandte sich damit der Ei- stotelischen Denktradition nahestehen, und wendet
genbedeutung des Psychischen zu, während das So- sie auf Träume, im weiteren auch auf Fehlhandlun-
matische zunächst ausgeklammert war. Mit dieser gen, Symptome und den Witz an. Den aus dem nor-
strikten Trennung gehört Freud einer Bewegung an, malen Sinnverständnis ausgeschlossenen Phänome-
die die Psychologie als eigenständige Wissenschaft ei- nen konnte damit »ein alternativer, anderer Sinn« zu-
nerseits vom somatischen Denken der Medizin und gesprochen werden. »Die Annahme dieses anderen,
der physiologischen Psychologie und andererseits verstehbaren und deutbaren Sinns wird zur wissen-
von den metaphysischen Voraussetzungen der Philo- schaftskonstituierenden Voraussetzung der Psycho-
sophie zu emanzipieren suchte. Dementsprechend analyse« (Schöpf 1982, 135).
sprach er nunmehr von psychischen statt physiologi- Darüber hinaus ist in der Traumdeutung eine on-
schen ›Energien‹, einem psychischen ›Konstanzprin- tologische Sicht des Unbewußten enthalten: »Das
zip‹ und von psychischen anstelle von ›Neuronen- Unbewußte muß nach dem Ausdrucke von Lipps als
systemen‹. Ausgehend von einem Vergleich des allgemeine Basis des psychischen Lebens angenom-
menschlichen Seelenapparats mit einem Reflexappa- men werden. Das Unbewußte ist der größere Kreis,
rat nahm er an, daß die psychischen Vorgänge be- der den kleineren des Bewußten in sich einschließt;
stimmte Systeme durchlaufen: vom Wahrnehmungs- alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während
system über die Erinnerungsspuren zum Unbewuß- das Unbewußte auf dieser Stufe stehen bleiben und
ten, evtl. zum Vorbewußten und schließlich zum doch den vollen Wert einer psychischen Leistung ha-
motorischen Ende. Damit führte er auf der metapsy- ben kann. Das Unbewußte ist das eigentlich reale
chologischen Ebene eine psychische ›Topik‹ ein und Psychische […]« (GW II/III, 617).
grenzte das ›eigentlich‹ Unbewußte durch eine Zen- Als wissenschaftshistorischen Kontext muß man
surschranke von den Systemen des Vorbewußten und einen paradigmatischen Wechsel in den Naturwis-
des Bewußten ab. Dem topisch Unbewußten werden senschaften berücksichtigen, der am Ende des
besondere Merkmale und Funktionsweisen zuge- 19. Jh.s einsetzte und die gesamte Anthropologie und
schrieben, v. a. die Verdichtungs- und Verschiebungs- Psychologie nachhaltig beeinflußte. Philipp Frank,
arbeit, die Eigenschaften der Unzerstörbarkeit und einer der frühen Aktivisten des Logischen Empiris-
Widerspruchsfreiheit, die Regulation nach dem Lust- mus, schreibt rückblickend über die Diskussionen im
prinzip und die Funktionsweise des Primärvor- Jahre 1907: »Wir erkannten den allmählichen Verfall
gangs. des Glaubens daran, daß die mechanistische Wissen-
Zusammenfassend kann man sagen, daß sich schaft schließlich alle unsere Beobachtungen erfassen
Freuds Metapsychologie des Unbewußten am würde« (zit. nach Fischer 1995, 247). In der Psycho-
Schnittpunkt zweier philosophischer Traditionen bil- biologie wurde nach und nach das ›biophysikalische‹
dete: einerseits jener philosophischen Tradition, die durch ein ›biogenetisches‹ Modell abgelöst (Sulloway
das Unbewußte dem Psychischen zurechnet; und an- 1982). Wissenschaftsgeschichtlich kann man für die-
dererseits der materialistischen Denktradition, die sen Übergang die Evolutionstheorien Darwins und
das Psychische, nunmehr in drei Systeme aufgeteilt, Lamarcks, das Aufkommen der sexualwissenschaftli-
in ein Apparatemodell einzuordnen sucht. chen Forschung und die moderne Kinderheilkunde
und Entwicklungspsychologie namhaft machen. Von
der biogenetischen Sichtweise waren Freuds Theo-
rien der infantilen Sexualität, der psychosexuellen
Entwicklung, der Triebe, der organischen Verdrän-
gung, der Fixierung und Regression – und damit
18 Freud und seine Epoche

»der gesamte dynamisch-genetische Kern der psy- rücksichtigung des Aspekts frühkindlicher ›Trieb-
choanalytischen Theorie« (Sulloway 1979/1982, 571) schicksale‹ hat sicherlich die bis dahin wirksame
– geprägt. Allgemein kann man sagen, daß die Anleh- Tabuisierung vitalistischen Denkens in der Psycho-
nung an die Physiologie und die Physik eher ein Ma- analyse gelockert. Man könnte von einem triebhaft-
schinenmodell des Psychischen, die Anlehnung an vitalen Unbewußten sprechen, wenn man unter vital
die Biologie und Evolutionstheorie hingegen eher ein die von Freud genannten Qualitäten wie lebendig,
Organismusmodell begünstigt. unruhig, drängend, affektiv und entwicklungsför-
Ergänzend hat Burkholz (1995) darauf aufmerk- dernd versteht. An der aufklärerischen Zielsetzung
sam gemacht, daß der in den 1880er Jahren aufkom- hat sich dadurch aber nichts geändert. Freud suchte
mende ›Neolamarckismus‹ zum Wiederaufleben vi- das Unbewußte weiterhin als eine spezifische innere
talistischen Denkens beigetragen habe, wobei die ›Le- Ordnung zu verstehen, die der wissenschaftlichen Er-
benskraft‹ der Naturphilosophie durch mentalisti- forschung zugänglich ist, und scheint gerade die ro-
sche Termini (Zell-, Pflanzenpsyche, Psychoid) mantisch-vitale Tradition des Unbewußten im Visier
ersetzt wurde. Mit drei vitalistischen Konzeptionen gehabt zu haben, als er davon sprach, daß das Unbe-
des Unbewußten hat sich Freud explizit auseinander- wußte für die Philosophen »etwas Mystisches, nicht
gesetzt: mit C. G. Jungs Lehre von der ›unbewußten Greifbares und nicht Aufzeigbares« (GW VIII, 406)
psychischen Energie‹ (GW X, 108), mit den »unlös- gewesen sei. Da er die Dynamik des Unbewußten zu-
baren Schwierigkeiten des psychophysischen Paralle- dem mit den grundlegenden Trieben der Selbst- und
lismus« (GW X, 266) sowie mit der von Hans Arterhaltung in Verbindung brachte, liegt es nahe,
Driesch entwickelten Konzeption eines ›Psychoids‹ seine triebpsychologische Konzeption als materiali-
(GW XIII, 241). Zugleich entwickelte er im Spätwerk stisch-evolutionär zu charakterisieren.
mit dem ›Es‹ eine eigene organismische Konzeption In der Eros-Todestrieb-Theorie erscheint das
des Unbewußten an. Schon 1917 in einem Brief an Anorganisch-Leblose als die ältere Naturordnung, zu
Groddeck hatte er das Unbewußte als »die richtige der das Organisch-Lebende mit dem Tode zurück-
Vermittlung zwischen dem Körperlichen und dem kehrt. In Jenseits des Lustprinzips heißt es: »Nach der
Seelischen, vielleicht das langersehnte ›missing link‹« Theorie E. Herings von den Vorgängen in der leben-
bezeichnet (F/G, 15). den Substanz laufen in ihr unausgesetzt zweierlei
Die Akzentverschiebung von einer mechanisti- Prozesse entgegengesetzter Richtung ab, die einen
schen zu einer vitalistischen Anthropologie zeigt aufbauend-assimilatorisch, die anderen abbauend-
auch eine Textstelle in der Abhandlung »Das Unbe- dissimilatorisch. Sollen wir es wagen, in diesen bei-
wußte«: »Es wäre doch unrecht, sich vorzustellen, den Richtungen der Lebensprozesse die Betätigung
daß das Ubw in Ruhe verbleibt, während die ganze unserer beiden Triebregungen, der Lebenstriebe und
psychische Arbeit vom Vbw geleistet wird, daß das der Todestriebe, zu erkennen? Aber etwas anderes
Ubw etwas Abgetanes, ein rudimentäres Organ, ein können wir uns nicht verhehlen: daß wir unverse-
Residuum der Entwicklung sei. Oder anzunehmen, hens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers
daß sich der Verkehr der beiden Systeme auf den Akt eingelaufen sind [. . .]« (GW XIII, 53). Man mag der
der Verdrängung beschränkt […] Das Ubw ist viel- Weltdeutung eines durchgängigen Antagonismus von
mehr lebend, entwicklungsfähig und unterhält eine Eros und Todestrieb zustimmen oder nicht; wesent-
Anzahl von anderen Beziehungen zum Vbw […] es lich bleibt, sich ihrer philosophischen Dimension
ist den Einwirkungen des Lebens zugänglich, beein- nicht zu verschließen. Freud selbst räumte ein, »daß
flußt beständig das Vbw und ist seinerseits sogar Be- man leider selten unparteiisch ist, wo es sich um die
einflussungen von seiten des Vbw unterworfen« (GW letzten Dinge, die großen Probleme der Wissenschaft
X, 288 f.). An einer späteren Stelle wird die Möglich- und des Lebens handelt. Ich glaube, ein jeder wird da
keit »besonders vollkommener Leistungen« (GW X, von innerlich tief begründeten Vorlieben beherrscht,
293) aus einem Zusammenspiel zwischen Vorbewuß- denen er mit seiner Spekulation unwissentlich in die
tem und Unbewußtem erklärt. In diesem Kontext Hände arbeitet. Bei so guten Gründen zum Miß-
muß man sich vergegenwärtigen, daß Leben, Ent- trauen bleibt wohl nichts anderes als ein kühles
wicklung und Schöpferkraft ähnlich wie Trieb oder Wohlwollen für die Ergebnisse der eigenen Denkbe-
Instinkt, Natur und Leib zu den zentralen Begriffen mühung möglich« (GW XIII, 64 f.).
vitalistischen Denkens gehören (vgl. Pongratz 1984,
196).
Die Einführung des ›Triebes‹ als Grenzbegriff zwi-
schen dem Somatischen und Psychischen und die Be-
Philosophischer Kontext 19

Die philosophische Tradition Schopenhauers als man die Philosophie Schopenhauers, etwa seinen
und Nietzsches Schluß, wie er auf den Willen als das ›Wesen des
Menschen‹ kommt, auch psychologisch deuten kann,
Hatte Freud schon in der mittleren Schaffensperiode und umgekehrt, wie man den Begriff des Unbewuß-
punktuell Übereinstimmungen mit Schopenhauer ten bei Freud auch im Sinne der Philosophie deuten
und Nietzsche eingeräumt, so tritt seine Affinität zur kann […]«.
Macht des ›Willens‹ und zur Ohnmacht des ›Intel- Freud hat auch darauf hingewiesen, daß Schopen-
lekts‹, wie er in der Lebensphilosophie vorgeprägt ist, hauer »den Primat der Affektivität und die überra-
im Spätwerk deutlich zutage. Anstelle der Dialektik gende Bedeutung der Sexualität vertreten« und
von Bewußtem und Unbewußtem rückt diejenige von »selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt«
Selbst- und Fremdbestimmung in den Vordergrund. (GW XIV, 86) hat. Tatsächlich finden sich in Scho-
Schopenhauer und Nietzsche können als Reprä- penhauers Werk zahlreiche Anhaltspunkte dafür, daß
sentanten einer Traditionslinie des Unbewußten gel- das, was Freud ›Verdrängung‹ nennen sollte, dort be-
ten, die aus einer Gegenposition zum Transzendenta- reits vorformuliert ist. Bei aller sachlichen Nähe darf
len Idealismus und zur romantischen Naturphiloso- freilich nicht übersehen werden, daß Freud im Hin-
phie erwachsen ist. An Schellings Neubestimmung blick auf die theoretische Erkenntnis und klinische
des ›Willens‹ als Drang, Trieb und Begierde anknüp- Nutzung des Verdrängungsbegriffs weit über Scho-
fend, haben beide der Vorstellung von der gefährli- penhauer hinausgegangen ist (Gödde 1999, 443 ff.).
chen Triebnatur des Menschen zum Durchbruch ver- Wie in Schopenhauer sah Freud auch in Nietzsche
holfen. Innerhalb dieser »Wende zur Wirklichkeit« einen Philosophen, »dessen Ahnungen und Einsich-
verlor die Natur nach Odo Marquard (1987, 198 f.) ten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den
»die Attribute der Harmonie, der Ichhaftigkeit, mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken«
der Zweckmäßigkeit, des vernünftig-Geschichtlichen (GW XIV, 86). Dem positivistischen Wissenschafts-
und organisch-Heilen«. Diesen Vorgang kann man ideal verpflichtet, hat er Nietzsche aber nur als Philo-
die »Entzauberung der Romantiknatur« nennen. sophen und Moralisten betrachtet und ihn als Nicht-
Als Freud 1923 das ›Es‹ einführt, bringt er es aus- Wissenschaftler in zwei Sitzungen der Mittwoch-Ge-
drücklich mit Nietzsche in Zusammenhang, »bei sellschaft (im April und Oktober 1908) relativiert
dem dieser grammatikalische Ausdruck für das Un- und ausgegrenzt (vgl. Nunberg/Federn 1962/1976,
persönliche und sozusagen Naturnotwendige in un- 334 ff. u. 1967, 22 ff.). Wahrscheinlich hat er auch
serem Wesen durchaus gebräuchlich ist«. Wenn er Nietzsche gemeint, als er sich gegen jene »intellektu-
dann weiter ausführt, das Ich pflege »den Willen des ellen Nihilisten« wandte, die zwar von der Wissen-
Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene schaft ausgingen, sie aber zur »Selbstaufhebung«
wäre« (GW XIII, 251, Fn. 2 u. 253), so deutet diese drängten. Die Wissenschaft war für ihn die einzige
Formulierung explizit auf jene antiidealistische Tra- Garantin der Wahrheit. Es sei nun einmal so, daß
dition vom späten Schelling über Schopenhauer zu »die Wahrheit nicht tolerant sein kann, keine Kom-
Nietzsche hin, in der der ›Wille‹ als steuernde Macht promisse und Einschränkungen zuläßt, daß die For-
›hinter‹ den seelischen Erscheinungen betrachtet schung alle Gebiete menschlicher Tätigkeit als ihr ei-
wird. gen betrachtet und unerbittlich kritisch werden muß,
Im Hinblick auf Schopenhauer konstatierte Freud wenn eine andere Macht ein Stück davon für sich
selbst eine Reihe wichtiger Übereinstimmungen. Die beschlagnahmen will« (GW XV, 190). Demgegen-
Annahme unbewußter seelischer Vorgänge habe über hatte Nietzsche den Anspruch auf Wahrheitser-
Schopenhauer vorweggenommen, »dessen unbewuß- kenntnis zurückgewiesen: Wahrheit sei »ein beweg-
ter ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse liches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropo-
gleichzusetzen ist« (GW XII, 12). Die grundlegende morphismen, kurz eine Summe von menschlichen
Übereinstimmung zwischen Schopenhauers Meta- Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
physik, wie er sie in seinem Hauptwerk Die Welt als übertragen, geschmückt wurden, [. . .] Illusionen,
Wille und Vorstellung (Bd. I 1819, Bd. II 1844) dar- von denen man vergessen hat, dass sie welche sind,
gelegt hat, und Freuds Metapsychologie hat Max Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos ge-
Horkheimer (1972, 454 ff.) in einem Interview unter- worden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben
strichen: »Das Unbewußte ist bei Schopenhauer ei- und nun als Metall nicht mehr als Münzen in Be-
gentlich ›die große Realität: der Wille‹; der Wille, den tracht kommen« (Nietzsche 1873, 880 f.). Nietzsches
der Mensch im allgemeinen eigentlich nicht zu be- perspektivistische Erkenntnis- und Wissenschaftskri-
schreiben wüßte. Aber beide sind insofern identisch, tik scheint Freud gänzlich fremd geblieben zu sein.
20 Freud und seine Epoche

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß sich Freud hat in Das Unbehagen in der Kultur eine der
Freud gerade in seiner Kritik an der »Konstruktion Grundtendenz nach ähnlich kritische Position wie
einer übersinnlichen Realität« und seinem Anliegen, Nietzsche bezogen. Der entscheidende Schritt auf
»die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen« dem Weg zur Kultur sei, daß die Macht des Einzel-
(GW IV, 287 f.), in den Bahnen von Nietzsches Den- nen, die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, durch die
ken bewegte. Beide gehören der großen Bewegung der Gemeinschaft ersetzt wird. Das Wesentliche an
der Umkehrung der idealistischen Metaphysik des dieser Ersetzung bestehe darin, »daß sich die Mit-
19. Jh.s an (vgl. Wucherer-Huldenfeld 1994, 179 ff.). glieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmög-
Nietzsche ging allerdings weiter als Freud und ließ lichkeiten beschränken, während der Einzelne keine
selbst Heiligtümer wie ›Erkenntnis‹, ›Wahrheit‹ und solche Schranke kannte« (GW XIV, 454 f.). Auch was
›Wissenschaft‹ nicht unverschont, wobei seine Deu- das weitere Schicksal der gehemmten Aggression an-
tungsperspektive der ›Macht‹ eine zentrale Rolle langt, stimmt Freud mit Nietzsche überein: »Die Ag-
spielte. In dieser Hinsicht war er ein Vordenker der gression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich
Postmoderne im Sinne von Foucault, Derrida, De- aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen
leuze u. a. ist, also gegen das eigene Ich gewendet« (GW XIV,
482).
Mit seinen weiteren Ausführungen zum ›schlech-
Kritische Moral- und Kulturphilosophie
ten Gewissen‹ und zum ›asketischen Ideal‹ drang
Schopenhauer, Nietzsche und Freud kann man einer Nietzsche in einen Themenbereich vor, den Freud als
gemeinsamen Tradition ›entlarvenden‹ Denkens zu- Pathologie des ›Über-Ichs‹ behandelt hat. Aus der
rechnen, zu der die Vorurteilskritik Bacons, die euro- Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und
päische Moralistik, die Aufklärung, die Religions-, dem ihm unterworfenen Ich entstehen – bewußte
Ideologie- und Kulturkritik des 19. Jh.s und nicht zu- oder unbewußte – Schuldgefühle. Die Kultur bewäl-
letzt die psychologische Entlarvungskunst von tige »die gefährliche Aggressionslust des Indivi-
Schriftstellern wie Shakespeare, Stendhal, Heine, Do- duums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch
stojewski, Ibsen, Schnitzler u. a. gehören. eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besat-
Nietzsche hat »die entscheidende Wandlung der zung in der eroberten Stadt, überwachen läßt« (GW
metaphysischen Ethik im 19. Jahrhundert« ange- XIV, 282 f.). Ähnlich pointiert wie Nietzsche erklärt
bahnt (Schulz 1972, 641). Seine Kritik richtete sich in Freud, das Schuldgefühl sei »das wichtigste Problem
erster Linie gegen die im Christentum und noch bei der Kulturentwicklung«, da die Glückseinbuße »als
Schopenhauer vorherrschenden moralischen Werte Preis für den Kulturfortschritt« vor allem durch die
wie Mitleid, Güte, Askese und Heiligkeit und mün- Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt werde (GW
dete in die Forderung nach einer ›Umwertung aller XIV, 493 f.).
Werte‹ ein. In der Genealogie der Moral erklärte er die In diesem Kontext postuliert Freud ein ›Kultur-
christliche Moral für lebensfeindlich, da sie beim In- Über-Ich‹, das der Gemeinschaft dazu dient, ihren
dividuum eine schwerwiegende Triebunterdrückung Idealforderungen Nachdruck zu verleihen, aber zur
bewirke, die ihrerseits zu einer ›Verinnerlichung‹ der Gefahr werden kann, wenn es überhöhte und uner-
nach außen gehemmten Affekte und damit zu einer reichbare Ideale von Selbstbeherrschung und Askese
›Wendung gegen die eigene Person‹ führe. Diese aufstellt. Ein solches Ideal ist das christliche Gebot
krankhafte Dynamik war für Nietzsche (1887, 322– der Nächstenliebe, das Freud – mit ähnlichem Tenor
324) auch ein kulturelles Problem phylogenetischen wie Nietzsche – als Überforderung betrachtet: »Das
Ursprungs. »Die ganze innere Welt, ursprünglich Gebot ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ ist die
dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und
dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologi-
Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des sche Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist
Menschen nach Aussen gehemmt worden ist«. Mit undurchführbar; eine so große Inflation der Liebe
dem Einsatz staatlicher Machtmittel sei erreicht wor- kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not be-
den, »daß alle jene Instinkte des wilden freien seitigen« (GW XIV, 505).
schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen Von dieser Moralkritik ging Freud zu einer psy-
den Menschen selbst wandten«. Mit dem schlechten chologischen Kritik an der christlichen Religion über,
Gewissen sei die »größte und unheimlichste Erkran- da sie die Menschen durch illusionäre Wunscherfül-
kung« in der Menschheitsgeschichte eingeleitet wor- lung, anerzogene Autoritätsgläubigkeit und Denk-
den: »das Leiden des Menschen am Menschen, an sich«. hemmungen in emotionaler und geistiger Abhängig-
Philosophischer Kontext 21

keit halte. Letztlich stellte er das gesamte ethische Sy- In den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen
stem der christlichen Religion in Frage. Vereinigung schloß sich Freud der positivistischen
Insgesamt betrachtet trug Freuds These von der Geschichtsphilosophie an, die die Philosophie als
Pathologie des Kultur-Über-Ichs dazu bei, das Ver- überholtes Stadium in der Fortschrittsgeschichte des
trauen in die Vernunft der Gesellschaft und ihrer In- menschlichen Geistes eingeordnet hatte. Nach Augu-
stitutionen zu erschüttern. ste Comtes Dreistadiengesetz durchläuft die Denk-
Lassen sich Schopenhauer und Nietzsche zwei ent- entwicklung der Menschheit nacheinander ein theo-
gegengesetzten Bewältigungsstrategien des »Trieb- logisches, ein metaphysisches und ein wissenschaft-
problems« zuordnen, einerseits der ›Verneinung des liches (positives) Stadium. Die Aufgabe des wissen-
Willens‹ im Sinne einer Trieb-Verneinung und -Ab- schaftlichen Zeitalters sah Comte darin, sich von
tötung, andererseits des ›Willens zur Macht‹ im den noch bestehenden theologischen und metaphy-
Sinne einer Triebbejahung und -gestaltung, so zeigen sischen Spekulationen zu befreien und der ›positi-
Freuds Ausführungen in Das Unbehagen in der Kul- ven‹ Methode, die empirisch, objektiv und antispe-
tur, daß er in dieser Hinsicht Nietzsche näher steht kulativ sei, auf allen Gebieten zum Durchbruch zu
als Schopenhauer. Die Triebabtötung hat für ihn den verhelfen. In Totem und Tabu griff Freud auf eine von
großen Nachteil, daß man damit »auch alle andere Tylor modifizierte Version des Dreistadiengesetzes
Tätigkeit aufgegeben (das Leben geopfert)« habe. zurück und unterschied drei große Weltanschauun-
Demgegenüber hält er die »Beherrschung des Trieb- gen: die animistische, die religiöse und die wissen-
lebens« für das weitaus bessere Mittel zur Bewälti- schaftliche (GW IX, 96). Fehlt hier das metaphysi-
gung der eigenen Triebkonflikte. Im Unterschied zu sche Stadium, so hat Freud doch an anderer Stelle
Nietzsche, der stets vom Standpunkt des Ideals aus klargestellt, daß er die Philosophie »als ›survival‹ aus
philosophiert, betont Freud jedoch, daß die Subli- der Periode der religiösen Weltanschauung« betrach-
mierung »nicht allgemein verwendbar, sondern nur tet (B, 389).
wenigen Menschen zugänglich ist. [. . .] Auch diesen Als Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens
Wenigen kann sie nicht vollkommenen Leidens- erstmals davon sprach, daß »ein großes Stück der
schutz gewähren, sie schafft ihnen keinen für die mythologischen (oder animistischen) Weltauffas-
Pfeile des Schicksals undurchdringlichen Panzer und sung, die bis in die modernsten Religionen hinein
sie pflegt zu versagen, wenn der eigene Leib die reicht«, nichts anderes sei als »in die Außenwelt pro-
Quelle des Leidens wird« (GW XIV; 437 f.). jizierte Psychologie«, stellte er eine Analogie mit der
Paranoia her (GW IV, 287 f.). An diese Stellung-
nahme knüpfte er 1907 in einer Sitzung der Mitt-
»Wissenschaftliche Weltanschauung«
woch-Gesellschaft an und brachte nunmehr die »De-
und Philosophie
lirien« ins Spiel: Als »kombinierte Leistungen, denen
Mit seiner Kulturkritik verband Freud eine Kampf- das Systematische anhafte«, könne man sie »den gro-
ansage gegen alle Formen von Irrtum, Illusion, Aber- ßen (philosophischen) Systemen analogisieren«
glauben, Vorurteil und Kollektivpathologie. Um die (Protokolle I, 141). Im weiteren wurden die philo-
von ihm angestrebte Über-Ich-Korrektur auf breiter sophischen Denkleistungen auch mit zwanghaft-
Basis leisten zu können, wandte er sich prinzipiell grüblerischem Denken (Übergewicht der Logik) und
gegen »die Fabrikation von Weltanschauungen« und mit narzißtischer Selbstbezogenheit (Überhandneh-
verglich sie mit einem Baedeker, der auf der Lebens- men der Selbstbeobachtung) in Verbindung ge-
reise über alles Auskunft geben solle. Selbst die mo- bracht.
dernsten dieser »Lebensführer« seien lediglich Ver- In den Diskussionen des Wiener Freud-Kreises hat
suche, »den alten, so bequemen und so vollständigen auch die Thematik der Pathographie von Philoso-
Katechismus zu ersetzen« (GW XIV, 123). Jeder von phen eine wichtige Rolle gespielt, wobei besonders
ihnen liege »eine intellektuelle Konstruktion [zu- Nietzsche ins Blickfeld der Psychoanalytiker rückte
grunde], die alle Probleme unseres Daseins aus einer (Protokolle I, 334 ff. u. II, 22 ff.). In dem Aufsatz »Das
übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der Interesse an der Psychoanalyse« (1913) äußerte sich
demnach keine Frage offen bleibt und alles, was un- Freud erstmals eingehend zu der Aufgabe, die Philo-
ser Interesse hat, seinen bestimmten Platz findet« sophie selbst zum Objekt der Psychoanalyse zu ma-
(GW XV, 170). Im Kontrast zu solchen fest gefügten, chen. Erst der Psychoanalyse sei es möglich, die sub-
unerschütterlich wirkenden Denksystemen wie dem jektive und individuelle Motivierung von philosophi-
Animismus, den Religionen und schließlich der Phi- schen Lehren« zu erkennen. Zudem könne sie »der
losophie habe die ›wissenschaftliche Weltanschau- Kritik selbst die schwachen Punkte des Systems an-
ung‹ stets nur vorläufigen Charakter.
22 Freud und seine Epoche

zeigen«. Diese Kritik durchzuführen, sei aber nicht Operationen überschätzt und etwa noch andere Wis-
Sache der Psychoanalyse, »denn, wie begreiflich, sensquellen wie die Intuition anerkennt« (GW XV,
schließt die psychologische Determinierung einer 173).
Lehre ihre wissenschaftliche Korrektheit keineswegs Freuds Kritik bezieht sich im Kern auf den man-
aus« (GW VIII, 407). gelnden Erfahrungs- und Wirklichkeitsbezug der
Die in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung philosophischen Erkenntnisse. Dabei versieht er die
aufkommende Philosophiekritik fällt in eine Zeit, in Methode der ›Intuition‹ durchgängig mit negativem
der Freud sein ursprünglich auf Psychologie und Psy- Akzent, als ob sie bloß beiläufig und zufällig zustande
chotherapie zentriertes Forschungs- und Anwen- käme, und kontrastiert sie mit der theoriegeleiteten
dungsgebiet erheblich ausgeweitet und Brücken zu Erkenntnis, die nur in mühsamer Detailforschung zu
den »nicht psychologischen Wissenschaften« wie erringen sei. Die Intuition diene der Erfüllung von
Sprachwissenschaft, Philosophie, Biologie, Entwick- Wunschregungen, vermische sich allzu leicht mit
lungsgeschichte, Kulturtheorie, Kunstwissenschaft, Phantasien und Projektionen und müsse daher zu
Soziologie und Pädagogik geschlagen hat. Die »An- den »Illusionen« gerechnet werden. Es sei nicht ange-
wendung« der Psychoanalyse in den Geisteswissen- bracht, »diese Wünsche verächtlich bei Seite zu schie-
schaften gehörte nunmehr zu seinen erklärten Zie- ben oder ihren Wert fürs Menschenleben zu unter-
len. schätzen«. Aber es wäre doch »unrechtmäßig und in
In der berühmten Programmschrift des ›Wiener hohem Grade unzweckmäßig«, solchen Wünschen
Kreises‹, die 1929 unter dem Titel »Wissenschaftliche und Illusionen einen Einfluß auf die Erkenntnis zu-
Weltauffassung« veröffentlicht wurde, findet sich ein zubilligen (GW XV, 172 f.). Da sich die Philosophen
Bezug zu Freud: »Von der wissenschaftlichen Welt- zudem der Eigendynamik abstrakt-logischen Den-
auffassung wird die metaphysische Philosophie abge- kens und (spekulativen) Theoretisierens überlassen,
lehnt. Wie sind aber die Irrwege der Metaphysik zu würden sie sich dadurch erst recht vom Boden der
erklären? Diese Frage kann von verschiedenen Ge- Realität entfernen. Auch sprachkritische Überlegun-
sichtspunkten aus gestellt werden: in psychologi- gen spielen eine Rolle, wenn Freud auf die Gefahren
scher, in soziologischer und in logischer Hinsicht. aufmerksam macht, »die Beziehungen der Worte zu
Die Untersuchungen in psychologischer Richtung den unbewußten Sachvorstellungen zu vernachlässi-
befinden sich noch im Anfangsstadium; Ansätze zu gen« (GW X, 303) und den »Wortzauber« (XV, 178)
tiefgreifender Erklärung liegen vielfach in Untersu- zu überschätzen.
chungen der Freudschen Psychoanalyse vor« (zit. In Freuds Philosophiekritik ist die damit verbun-
nach Fischer 1995, 133). Der Begriff ›Weltauffassung‹ dene Gefahr von Klischeebildungen nicht zu verken-
war hier in betonter Absetzung von dem metaphy- nen: Erkenntnistheoretisch gesehen wird die Philo-
sisch vorbelasteten Terminus ›Weltanschauung‹ ge- sophie mit negativen Konnotationen wie Intuition,
wählt. Spekulation, Systembildung und Weltanschauung
Wenige Jahre später, in der letzten seiner Vorlesun- versehen, während die Wissenschaft der Sphäre von
gen zur Einführung in die Psychoanalyse, hat Freud – Wahrheit, Objektivität und empirischer Absicherung
sicher in Kenntnis der Programmschrift des Wiener zugeordnet wird. Aus pathologischer Perspektive
Kreises – ein Plädoyer für die ›wissenschaftliche wird die Philosophie mit Krankheitsattributen wie
Weltauffassung‹ gehalten, wobei er selbst überwie- narzißtischer Selbstbezogenheit, Grübelsucht und
gend von ›wissenschaftlicher Weltanschauung‹ paranoider Projektion ausgestattet, während die Wis-
spricht. Da die Psychoanalyse ungeeignet sei, eine ei- senschaft mit Besonnenheit, klarer Wahrnehmungs-
gene Weltanschauung zu bilden, müsse sie die der und Denkfähigkeit sowie Realitätstüchtigkeit identi-
Wissenschaft annehmen. Dabei wird die wissen- fiziert wird. Im Lichte der positivistischen Ge-
schaftliche Weltanschauung programmatisch von der schichtsphilosophie erscheint die Philosophie als
Philosophie abgegrenzt: »Die Philosophie ist der rückständig, während allein die Wissenschaft als fort-
Wissenschaft nicht gegensätzlich, sie gebärdet sich schrittlich gilt. Man kann sich in diesem Zusammen-
selbst wie eine Wissenschaft, arbeitet zum Teil mit hang fragen, ob Freud »nicht in der Darstellung wis-
den gleichen Methoden, entfernt sich aber von ihr, senschaftlicher Objektivität und ihrer praktischen
indem sie an der Illusion festhält, ein lückenloses und Resultate zum Teil selbst eine Idealisierung unterlau-
zusammenhängendes Weltbild liefern zu können, das fen ist, ob Wissenschaft nicht auch zum Gegenstand
doch bei jedem neuen Fortschritt unseres Wissens des Wunschdenkens und der Interessen werden und
zusammenbrechen muß. Methodisch geht sie darin dann nur den Schein der Neutralität und wertfreien
irre, daß sie den Erkenntniswert unserer logischen Objektivität wahren kann« (Schöpf 1978, 256).
Philosophischer Kontext 23

Der Mythos vom ›Anti-Philosophen‹ Freud ziehen auf einen Jugendbrief von 1873, in dem er
ankündigt, daß er das erste Universitätsjahr »ganz
Angesichts seiner philosophiekritischen Stellungnah- und gar auf rein humanistische Studien verwenden
men wurde Freud zu Recht als ›Anti-Metaphysiker‹ werde, die mit meinem Fach noch nichts zu tun ha-
bezeichnet. Er stand damit keineswegs allein. Auch ben« (S, 30). Damit waren sicherlich auch die philo-
andere in der österreichischen Philosophie einfluß- sophischen Studien bei Franz Brentano gemeint. Es
reiche Denker wie Nietzsche, Mach, Husserl und hat damals nicht viel gefehlt, und Brentano hätte den
Wittgenstein strebten nach einer Überwindung der Medizinstudenten Freud für die Philosophie gewon-
traditionellen Metaphysik. Für alle diese Denker, so nen. Drei Momente an Brentanos Projekt einer ›wis-
verschieden sie waren, erschien ›Wissenschaftlichkeit‹ senschaftlichen Philosophie‹, die als Charakteristika
wie eine Erlösungsformel. Man kann von einer »ge- der österreichischen Philosophie von 1874 bis 1936
meinsamen Grundeinstellung« bzw. »Familienähn- gelten können, dürften den jungen Freud besonders
lichkeit« dieser Denker sprechen (vgl. Giampieri angesprochen haben: der Empirismus, die Einteilung
1990, 41 ff.). der menschlichen Denkentwicklung nach dem Com-
Die viel weitergehende Charakterisierung als teschen Dreistadiengesetz und die Systemfeindlich-
›Anti-Philosoph‹ (vgl. Herzog 1988) hat dagegen zu keit (vgl. Fischer 1996, IX ff.; Stadler 1997). Am 7.
erheblichen Mißverständnissen geführt. Zweierlei ist März 1875 vertraut der 19jährige seinem Jugend-
dabei zu bedenken. Zum einen würde man mit der freund Silberstein an, daß »zumal unter dem zeiti-
Annahme fehlgehen, Freud hätte von den Jugendjah- genden Einfluß Brentanos in mir der Entschluß ge-
ren an eine gleichbleibend negative Einstellung zur reift ist, das Doktorat der Philosophie auf Grund von
Philosophie gehabt. Seine diesbezüglichen Äußerun- Philosophie und Zoologie zu erwerben« (S, 109 u.
gen weisen vielmehr in den verschiedenen Perioden 115). Diesem Vorhaben stand aber entgegen, daß
seiner Denkentwicklung unterschiedliche Akzentuie- man nicht gleichzeitig an der zoologischen und phi-
rungen auf und sind keineswegs frei von Ambivalenz. losophischen Fakultät studieren durfte.
Zum andern besteht eine Diskrepanz zwischen Freuds Ambivalenz gegenüber der Philosophie ist
Freuds publizierten und seinen inoffiziellen, v. a. zwar in seinen Jugendbriefen da und dort spürbar.
brieflichen Stellungnahmen zur Philosophie. Wäh- Eine deutlichere Abgrenzung von der Philosophie
rend z. B. seine Briefe an Eduard Silberstein und Wil- findet sich aber nur im Brief vom 9. September 1875,
helm Fließ zeigen, daß er im Medizinstudium und nachdem er von einer mehrwöchigen Englandreise
auch noch in der Entstehungsphase der Psychoana- zurückgekehrt war: »[…] die Bekanntschaft engli-
lyse der Philosophie mit großer Aufgeschlossenheit scher wissenschaftlicher Bücher, die ich gemacht
und Interessiertheit begegnete, hat er diese frühen habe, wird mich veranlassen, mich in meinen Stu-
persönlichen Erfahrungen in seinen Publikationen dien immer auf Seiten der Engländer zu halten, die
»geradezu systematisch ausgeblendet« (Hemecker nun einmal ein höchst günstiges Vorurteil bei mir
1991, 10). haben [. . .] Gegen Philosophie bin ich mißtrauischer
Der deutlichste Hinweis auf Freuds philosophi- als je […]« (S, 144 f.). Wahrscheinlich war der Ein-
sches Interesse in seiner Studienzeit findet sich in tritt in das physiologische Labor Ernst Brückes im
zwei Briefen an Fließ von 1896, die in der Entste- Jahre 1876 entscheidend für Freuds Abkehr von der
hungsphase der Psychoanalyse geschrieben sind. Im akademischen Philosophie. Gerade an diesem expo-
ersten heißt es: »Ich sehe, wie Du auf dem Umwege nierten Ort wurde empirisches Vorgehen im Sinne
über das Arztsein Dein erstes Ziel erreichst, den strenger Beobachtung zum obersten Gesetz erhoben;
Menschen als Physiologe zu verstehen, wie ich im ge- jegliches Spekulieren und Theoretisieren war strikt
heimsten die Hoffnung nähre, über dieselben Wege untersagt.
zu meinem Anfangsziel, der Philosophie zu kommen. Freuds Pathologisierung der Philosophie kommt
Denn das wollte ich ursprünglich, als mir noch gar erstmals in den Diskussionen der Wiener Psychoana-
nicht klar war, wozu ich auf der Welt bin« (F, 165). lytiker zum Ausdruck. Die Protokolle zeigen eine be-
Einige Monate später schrieb Freud noch pointierter: tonte Gegenüberstellung von objektiver Wissenschaft
»Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht und subjektiv verzerrter Philosophie. Wenn »Philo-
gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, sophie subjektive persönliche Weltansicht einzelner
und ich bin jetzt im Begriffe sie zu erfüllen, indem kranker Individuen« war, dann bedeutete dies eine
ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke« Bestätigung des »Objektivitätsanspruches« der Psy-
(F, 190). choanalyse (vgl. Behrendt 1986, 19 u. 46). Man kann
Diese Äußerungen lassen sich ihrerseits zurückbe- hier eine recht erfolgreiche Strategie erkennen, die
24 Freud und seine Epoche

Freud dazu diente, den wissenschaftlichen Status der Interessen unterzuordnen. Philosophie bedeutet wei-
Psychoanalyse auf Kosten der Philosophie zu etablie- terhin die Fähigkeit, wirkliche neue Erfahrungen ma-
ren (Herzog 1988, 165). chen zu können, die Kraft, den hypnotischen Zauber
Im Rahmen dieser Strategie ging Freud auch auf herrschender Ideologien zu durchbrechen, der ertö-
die Suche nach Verbündeten. So unterzeichnete er tenden Wirkung der Alltagsroutine auf unser Wahr-
1911 gemeinsam mit Ernst Mach, Albert Einstein, Jo- nehmungsvermögen zu widerstehen und unserem
sef Popper-Lynkeus u. a. einen Aufruf für die Grün- Verständnis der Natur und der Menschheit neue Ho-
dung einer »Gesellschaft für positivistische Philoso- rizonte zu eröffnen«.
phie«. Das Anliegen dieser Gesellschaft war, wie es in
einem Flugblatt hieß, »eine umfassende Weltan- Abschließende Überlegungen
schauung aufgrund des Tatsachenstoffes vorzuberei-
ten, den die Einzelwissenschaften angehäuft haben« Betrachtet man den philosophischen Kontext, in dem
(zit. nach Wucherer-Huldenfeld 1994, 187). Freuds Werk sich entwickelt hat, so fällt ein Licht auf
Im Spätwerk erklärt Freud, er habe »nach großem Freuds eigene ›Philosophie‹, die in meinen Augen ei-
Umweg die anfängliche Richtung wieder gefunden« nen wesentlichen Bestandteil seiner Metapsychologie
und begründet dies mit dem in den Jugendjahren darstellt. Auch wenn sie in allen Kapiteln berührt
übermächtigen Bedürfnis, »etwas von den Rätseln worden ist, bedarf es wohl noch des Hinweises, daß
dieser Welt zu verstehen« (GW XIV, 290). Bemer- man ihre philosophische Relevanz in ihrer ganzen
kenswert ist, daß er wieder zu naturphilosophischen Tragweite erst erkennen könnte, wenn man sie in
Betrachtungen (in Jenseits des Lustprinzips) und zur Freuds Gesamtwerk und in seinen Briefen systema-
Religions-, Kultur- und Weltanschauungsphilosophie tisch und detailliert freilegen und die Lesarten be-
(in Die Zukunft einer Illusion, Das Unbehagen in der deutender Freud-Interpreten wie Binswanger, Ri-
Kultur, Über einer Weltanschauung und Der Mann cœur, Adorno, Lorenzer, Marquard, Lacan, Derrida
Moses und die monotheistische Religion) zurückkehrt. u. a. heranziehen würde (vgl. Nagl, Vetter & Leupold-
Wenn er dennoch an der Abgrenzung der Psycho- Löwenthal 1990; Hegener 1997; Buchholz/Gödde
analyse von der Philosophie festgehalten hat, so lag 2005a, b).
dies wohl in erster Linie an seiner empiristischen Freuds Kritik an der Philosophie, die in manchen
Wissenschaftstheorie, die nicht frei von unaufge- seiner Stellungnahmen als generalisierende Ableh-
lösten Widersprüchen zu sein scheint. Freud befürch- nung erscheint, sollte besser als Kritik an bestimmten
tete, eine philosophisch-hermeneutische Lesart der Schulen der Philosophie, v. a. der Bewußtseinsphilo-
Psychoanalyse könnte einem »Subjektivismus« den sophie, der spekulativen Metaphysik und den Sy-
Weg ebnen, »der nicht nur den von ihm stets be- stemdenkern (auch des Neukantianismus) verstan-
tonten wissenschaftlichen Charakter seiner Schöp- den werden. Auch die Phänomenologie, die existenz-
fung bedroht, sondern diese auch selbst ganz aus- und transzendenzorientierte Philosophie sowie die
höhlt, indem sie dem subjektiven Belieben anheim- gesellschaftsorientierte Philosophie blieben ihm
gestellt wird« (Lohmann 1998, 106). fremd. Aber die Nähe seines Denkens zu so wichtigen
Aus heutiger Sicht hat sich die Spaltung zwischen Richtungen wie der wissenschaftsorientierten Philo-
Wissenschaft und Philosophie als zeitbedingt und ir- sophie, der materialistischen, naturalistischen und
reführend erwiesen, da sie zu einem Jahrzehnte wäh- atheistischen Anthropologie, der Ideologie- und Kul-
renden »gegenseitigen Berührungstabu« und einer turkritik sowie der Philosophie des Willens bzw. Un-
damit verbundenen »Reflexionsblockade« geführt bewußten ist unverkennbar. Wenn Psychoanalyse
hat (Schmidt 1995, 9), die es abzubauen gilt. Entge- und Tiefenpsychologie auf ihre philosophischen
gen dem Mythos vom Antiphilosophen kann man Grundannahmen zugunsten einer klinisch-psycholo-
Freud als einen »wirklichen Aufklärer im philosophi- gischen oder wissenschaftlichen Orientierung ver-
schen Sinne« betrachten. Seine Bemühungen, philo- zichten oder sie schlichtweg verleugnen, würde dies
sophische Gedankengänge als Illusionen und Ratio- nicht nur einen erheblichen Substanzverlust bedeu-
nalisierungen unbewußter Wünsche zu entlarven, ten, sondern die Gefahr mit sich bringen, von un-
sind nach Horkheimer (1948/1987, 379) selbst Aus- reflektierten Philosophien oder Weltanschauungen
druck einer philosophischen Grundhaltung: »Philo- eingeholt und vereinnahmt werden zu können.
sophie ist dann die Überzeugung, daß es ohne Wahr-
heit kein menschliches Leben gibt, und der Wille, die Literatur
Behrendt, Gisela: Psychoanalytische Philosophiekritik: Die phi-
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Die Wiener Moderne 25

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psychologie – wird damit Freuds Unbewusstes hinfällig? In: bach (1830–1916) aus dem Jahr 1889. Der Wortwitz
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ist typisch für die bei zeitgenössischen Autorinnen
(Hg.): Philosophie und Psychoanalyse. Symposium der Wie- übliche Praxis der Selbstverkleinerung. Die Pointe –
ner Festwochen. Frankfurt a. M. 1990. »Er hat eine Eselin dorthin gestellt« statt des litur-
Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora- gischen »Geht, ihr seid ausgeschickt« – trifft nicht
26 Freud und seine Epoche

nur die in die Welt gesandten Figuren des Werks; die Liegt ihre Herkunft ober-, unter- oder außerhalb
damals fast sechzigjährige Schriftstellerin richtet sie des bildungsbürgerlichen deutschsprachigen Mittel-
auch selbstironisch gegen sich. Mit der »modernen standes, so diffundieren auch ihre Werke geogra-
Genialität« meinte sie beispielsweise die von der jün- phisch wie gattungsmäßig. Marie von Ebner-Eschen-
geren Generation enthusiastisch gefeierte amorali- bachs »Dorf- und Schloßgeschichten« sind häufig in
sche Größe Friedrich Nietzsches. Die Struktur der Mähren, ihrem eigenen Herkunftsland, angesiedelt.
Anekdote entspricht dabei durchaus der von Freud Sie umzirkeln das Bürgertum durch die Schilderung
zehn (oder fünfzehn) Jahre später beschriebenen der ländlich-feudalen Gesellschaft; das wohl berühm-
Technik des Witzes (oder der Fehlleistung), sich der teste dieser Werke, Das Gemeindekind, war erst 1887
Klangähnlichkeit zu bedienen; auch eine (auto-)ag- erschienen. Seit 1877 veröffentlichte Ferdinand von
gressive Tendenz ist bei dieser Verwechslung nicht zu Saar seine Novellen aus Österreich, die ein zeitge-
leugnen. Was Marie von Ebner-Eschenbachs Brief schichtliches Panorama Österreich-Ungarns geben.
darüber hinaus interessant macht: Der Adressat war Gerade Saar hat man dabei eine besondere »tiefen-
kein anderer als der ihr befreundete Hausarzt Josef psychologische« Begabung zugesprochen, womit eine
Breuer (1842–1925), der spätere Koautor Freuds; zu Darstellungstechnik gemeint ist, die sozialhistorische
den Studien über Hysterie (1895) ist allerdings kein Veränderungen als Irritationen der Figurenpsyche
Kommentar Ebner-Eschenbachs überliefert. Die aufzeichnet. Anzengrubers »Volksstücke« wiederum
Stelle im Briefwechsel kündigt einen literatur-, medi- spielen im selben ländlichen Milieu wie seine Bau-
zin- und ideengeschichtlichen Epochenwechsel an; ernromane, und Roseggers Erzählungen aus der
das »Ite, missa est« bekommt retrospektiv auch noch »Waldheimat« wurden trotz oder gerade wegen ihrer
den Nebensinn einer Schlußformel für den öster- folkloristischen Züge ungemein populär. Als quasi-
reichischen Spätrealismus, der im kommenden Jahr- ethnographische Studien können Franzos’ »Cultur-
zehnt hinter neuen literarischen Richtungen zurück- bilder« und Sacher-Masochs »Ghetto-Geschichten«
treten mußte (Ebner-Eschenbach/Breuer 1969, 20 f.). gelten; sie präsentieren eine bereits entfremdete Her-
Daß Breuer sich seinerseits von der psychopathologi- kunftswelt. Die soziale bzw. ständische Palette und
schen Forschung abwandte, gleichsam erschreckt von die Vielfalt der literarisierten Regionen machen den
den Konsequenzen seiner eigenen Entdeckungen, österreichischen Realismus zu einer kulturgeschicht-
macht die Briefpartner entschieden zu Vertretern der lichen Chronik der Habsburgermonarchie, die dabei
»Alten«: Die Marginalisierung ihrer ästhetischen wie explizit oder implizit auch die sozialen, nationalen,
humanistischen Ideale erlebten sie bewußt. konfessionellen und ethnischen Spannungen der
1889 war in der Literaturszene der Habsburgermo- franzisko-josephinischen Ära spiegelt.
narchie von einem Paradigmenwechsel aber kaum Die genannten Autoren verbindet dabei, zumin-
noch etwas sichtbar geworden. Nach wie vor wurde dest ursprünglich, ein liberales und sozialkritisches
die literarische Produktion vom »poetischen«, »bür- Interesse. Bei Ebner-Eschenbach zeigt es sich gele-
gerlichen« Realismus dominiert. Dabei fällt auf, daß gentlich philanthropisch, bei Saar schopenhauerisch-
der österreichische Realismus das Merkmal der »Bür- melancholisch gefärbt. Während Anzengruber seine
gerlichkeit« nur auf übertragene Weise erfüllt. Seine volksaufklärerischen und antiklerikalen Intentionen
Vertreter gehören dem Adel an, wie Ebner-Eschen- konsequenter als Rosegger durchhielt, haben Sacher-
bach selbst, geborene Gräfin Dubsky, oder Ferdinand Masoch und Franzos dezidiert für die jüdische
von Saar (1833–1906), der aus dem Beamtenadel Emanzipation und gegen den sich seit den 1880er
stammte, aber, schwer verschuldet, nur durch die Jahren politisch organisierenden Antisemitismus ge-
Gastfreundschaft und die Zuwendungen der öster- schrieben. Literarisch ist hier, trotz aller Dementis
reichischen Hocharistokratie über Wasser gehalten der Wirklichkeit, ein prinzipieller Fortschrittsopti-
wurde. Oder sie waren aus dem Bauernstand aufge- mismus konserviert worden. Diesen Aspekt der
stiegen, wie Ludwig Anzengruber (geb. 1839), der im österreichischen Literaturtradition hat Sigmund
Dezember 1889 starb, und Peter Rosegger (1843– Freud später durchaus wahrgenommen, und zwar
1918): Anzengrubers Großvater hatte einen Hof in anhand eines Zitates von Anzengruber, den er einen
Oberösterreich, Roseggers Vater war steirischer »unserer besten Dichter« (GW VII, 220) nannte. Es
Waldbauer. Andere wiederum kamen aus dem öst- handelt sich um den »köstlichen Ausdruck« des
lichen Kronland Galizien, wie Leopold Ritter von Sa- Steinklopferhans aus der Komödie Die Kreuzelschrei-
cher-Masoch (1836–1895), der in Lemberg, und Karl ber (1872): »Es kann dir nix g’schehen«. Laut Freud
Emil Franzos (1848–1904), Sohn eines jüdischen ist eine solche in sich selbst begründete Zuversicht
Arztes, der in Czortkow geboren wurde. das Kennzeichen des »Helden aller Tagträume wie al-
Die Wiener Moderne 27

ler Romane« (ebd.). In Anzengrubers Stück fällt der mit »revolutionärem Elan« von den rund um 1860
Satz als Credo einer Diesseitsethik, die unberührt Geborenen in den 1880er Jahren im Deutschen Reich
von konfessionellen Gegensätzen und kulturkämpfe- abgegeben wurde (Sprengel 1998, 108), blieb in der
rischen Antagonismen als liberales Lebensvertrauen Habsburgermonarchie aus. Man hat vielfach davon
schlichtweg existiert. Der Satz wurde zum geflügelten gesprochen, daß die österreichische Literatur den
Wort und hat eine »erstaunliche Karriere« gemacht: Naturalismus gewissermaßen übersprungen habe.
Ihn zitierten Rosegger und Saar ebenso wie Hugo Richtig daran ist sicher, daß bestimmte Sujets und
von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Ludwig Witt- Milieus, etwa das verelendete Industrieproletariat,
genstein (Rossbacher 1992, 212 f.). Freud nennt ihn ebenso fehlten wie sozialistisch oder wissenschaftlich
nicht nur im Aufsatz Der Dichter und das Phanta- fundierte literaturtheoretische Konzepte. Ein revol-
sieren (1908) – als die Überzeugung »Seine[r] Maje- tierendes, gar ödipales Aufbegehren gegen die lite-
stät d[e]s Ich« –, sondern erwähnt ihn auch noch in rarischen Vorgänger hat es jedenfalls in Österreich
der Schrift Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915): nicht gegeben. Wenn dann doch so etwas stattfand
Heldentum beruhe wohl häufig auf der im Unbe- wie eine dezidierte Erneuerungsbewegung, so ging
wußten verankerten »Zusicherung des Anzengruber- sie erst einmal dezentral von Brünn, der Hauptstadt
schen Steinklopferhanns« (GW X, 351). Mährens aus – und sie hat sich irrtümlich selbst erst
Nun ist der Satz gewiß ein geradezu therapeutisch einmal für »naturalistisch« gehalten.
wirksames Manifest des österreichischen Liberalis- Zwei Monate nach Marie von Ebner-Eschenbachs
mus und seines Fortschrittsglaubens; proklamiert »ânesse«-Brief an Josef Breuer begann jedenfalls die
wurde es allerdings im Jahr vor der großen Krise der Wiener Moderne. Im Sommer hatte sich der damals
österreichischen Gründerzeit. Daß einem »nix 22jährige Student Eduard Michael Kafka (1868–
g’schehn« könne, war für die Betroffenen des Wiener 1893) an Hermann Bahr gewandt, um mit ihm »eine
Börsenkrachs (1873) nicht mehr zu glauben. Das Literatur in Österreich« zu gründen (Rieckmann
Trauma dieses Zusammenbruchs prägte noch die 1985, 17, 43–67). Am 1. Januar 1890 erschien darauf-
nächste Generation und war dafür verantwortlich, hin in Brünn die erste Nummer der Zeitschrift Mo-
daß die Vorgeschichte der Moderne von ihren Ver- derne Dichtung. An dieser bescheidenen Stelle sollte
tretern nicht als eine fortschrittsoptimistische Vor- sich die »moderne Genialität« in Österreich versam-
stufe, sondern als ein trügerisches Zeitalter der Si- meln.
cherheit erlebt wurde. Die Urteile der nächsten Ge-
neration waren hart. »Nicht ungestraft habe ich
Beginn einer Parallelaktion
meine Kindheit und meine erste Jünglingszeit in ei-
ner Atmosphäre verbracht, die durch den sogenann- Tatsächlich schien es so, als ob die Moderne Dichtung
ten Liberalismus der 60er und 70er Jahre bestimmt – sie existierte nur ein Jahr lang, wurde ab April 1891
war. Der eigentliche Grundirrtum dieser Weltan- in Wien als Moderne Rundschau weitergeführt und
schauung scheint mir darin bestanden zu haben, daß mußte im Januar 1892 mit der Berliner Freien Bühne
gewisse ideelle Werte von vornherein als fix und un- für modernes Leben fusioniert werden – Österreich
bestreitbar angenommen wurden, daß in den jungen nun endlich mit einer naturalistisch-realistischen Li-
Leuten der falsche Glaube erweckt wurde, sie hätten teratur vertraut machen wollte. Die ersten Beiträge
irgendwelchen klar gesetzten Zielen auf einem vorbe- von Autoren wie Arthur Schnitzler und Felix Salten
stimmten Wege zuzustreben, um dann ohneweiters (1869–1945) segelten gleichsam unter falscher
ihr Haus und ihre Welt auf sicherem Grunde auf- Flagge. Begann hier die Wiener Moderne mit einem
bauen zu können«, kommentierte Arthur Schnitzler Etikettenschwindel, so war ihr zweites Forum ein tra-
(Schnitzler 1968, 325). Stefan Zweig hat retrospektiv ditionelles Familienblatt, die Zeitschrift An der schö-
das »Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lücke nen blauen Donau, die sich aufgrund der Agilität ei-
verpalisadieren zu können gegen jeden Einbruch des nes jungen Redaktors um »neue« Literatur küm-
Schicksals«, als »optimistischen Wahn« und als merte. Ab der Jahreswende 1889/90 trafen sich die
»Traumschloß« bezeichnet (Zweig 1981, 16 f., 19). zuerst »Junges Österreich« genannten Autoren in ih-
Dieses harsche – und in jedem Fall verspätete – rer Redaktionsstube oder in dem Café Griensteidl ge-
Urteil der nachgeborenen österreichischen Autoren genüber dem alten Burgtheater: neben Schnitzler
hat wohl auch damit zu tun, daß sie die Auseinander- und Salten der Gymnasiast Hugo von Hofmannsthal,
setzung mit der vorangegangenen Generation nicht Richard Beer-Hofmann, Felix Dörmann und andere.
über politische Kategorien führte. Das programmati- Ein weiterer wichtiger Etablierungsschritt war die
sche Votum für eine literarische Erneuerung, wie es »Ibsen-Woche« im April 1891: Die Aufführungsreihe
28 Freud und seine Epoche

von Henrik Ibsens Dramen mit ihrer Verurteilung weisen ein oder mehrere gemeinsame Merkmale auf:
der »Lebenslüge« wurde ebenfalls zum Fanal für eine Sie waren jüdischer Herkunft; die Großväter oder
»neue Richtung« der Literatur. Allerdings entwickelte Väter hatten sich geographisch zentripetal aus der
sich jetzt ein deutliches Differenzkriterium zum Na- Provinz in die Metropole und sozial nach oben in
turalismus: Bahr hatte Ibsen – aus dessen Händen er den Unternehmer- oder Akademikerstatus bewegt;
später übrigens das »Junge Wien« übernommen ha- bei politischer Abstinenz traf sie der grassierende An-
ben wollte – schon 1887 als literarischen Johannes tisemitismus; nach einem Studium fiel die Entschei-
bezeichnet, der einem »Erlöser« den Weg weisen dung für eine schriftstellerische Tätigkeit, auch weil
sollte; jetzt erklärte er im Essay Zur Überwindung des der Zwang zum Broterwerb aufgeschoben werden
Naturalismus (1891) die Zeit für eine Literatur ge- konnte; ausgeprägte kulturelle Interessen verbanden
kommen, die über Naturalismus und bloßen Psycho- sich im Zeichen der nun ausgerufenen »nervösen«
logismus hinaus das »Nervöse« zu ihrem Gegenstand Moderne gelegentlich mit einer Rezeption psychopa-
machen solle. thologischer Forschung. So verzeichnete der fünf-
Damit war die Wiener Moderne tatsächlich einge- zehnjährige Hofmannsthal bereits 1889 »Ankauf der
läutet. Bei großer Theorieabstinenz der bestreffenden Bücher von Lombroso, Krafft-Ebing, Interesse für
Autoren bestand Übereinkunft darüber, daß man Psychiatrie« (Hofmannsthal 1979/80, Reden und
sich der Introspektion, der Darstellung von Gefühlen Aufsätze III, 313). Wegen seines Medizinstudiums
und Stimmungen bis hinein ins Neurasthenische und stand Arthur Schnitzler den Anfängen der Psycho-
»Hysterische« widmen wolle, wobei adäquate Dar- analyse natürlich besonders nahe. Sechs Jahre jünger
stellungsstrategien noch zu finden waren. Die »Ner- als Freud, studierte er teilweise bei denselben Pro-
venkunst« des »Jungen Wien« beabsichtigte eine Syn- fessoren, zum Beispiel beim Psychiater Theodor
these von Ästhetizismus und Tiefenpsychologie. Ob Meynert. Als Redakteur der medizinischen Zeit-
sich die Autoren in der zeitgenössischen Psychologie schriften seines Vaters, der Wiener Medizinischen
kundig machten oder nicht, sie privilegierten die Presse und der Internationalen klinischen Rundschau,
»Seelenstände« – so Hermann Bahrs Übersetzung besprach Schnitzler zwischen 1886 und 1892 immer
von Henri Frédéric Amiels »états d’âme« – vor den wieder Arbeiten von Jean Martin Charcot und Hip-
»Sachständen« und erklärten damit eine Poetik für polyte Bernheim, darunter Charcots Neue Vorlesun-
überholt, die Innerlichkeit nur aus dem Erzähler- gen über die Krankheiten des Nervensystems und
kommentar erschließen kann. Das hieß aber, daß Bernheims Neue Studien über Hypnotismus, Sugge-
sich die Texte nun jeweils eine eigene Bewußtseins- stion und Psychotherapie, wobei er nie zu erwähnen
theorie zu geben hatten. Für die nächsten zehn Jahre vergaß, daß »Dr. Freud« die Texte »in ganz muster-
entstand damit so etwas wie eine Parallelaktion zwi- giltiger Weise« (Schnitzler 1988, 215) ins Deutsche
schen der Literatur und Sigmund Freuds Theoriebil- übertragen habe. Persönliche Zusammentreffen gab
dung. Daß die Autoren des Fin de siècle seine Er- es damals bekanntlich noch nicht, obwohl die »Wie-
gebnisse dabei »antizipiert« oder »vorweggenom- ner Kreise« vielfache Überlappungen zwischen
men« haben sollen, ist eine ungenaue Aussage, die Kunst, Publizistik, Wissenschaft und Medizin bilde-
sich das Verhältnis von Literatur und Psychoanalyse ten – was auch als notwendiges Substrat für die er-
außerdem nicht anders zu denken vermag als in Ka- staunlichen schöpferischen Leistungen in Wien um
tegorien der Rivalität: Die tiefere oder vollständigere 1900 erklärt worden ist. Getrennt, aber ähnlich vor-
Einsicht ins Unbewußte ist dabei das epistemologi- bereitet, ging man an die Exploration der nervösen
sche Ziel, das offenbar nur im Wettbewerb erreicht Psyche.
werden kann. Tatsächlich generieren die Texte »Psy- Mit dem Erscheinen der Traumdeutung (1900)
chologien«, die einerseits auf ältere wissenschaftsge- und ihrer (langsamen) Rezeption wird diese Phase
schichtliche Positionen rekurrieren, sich andererseits abgeschlossen sein: Freuds Theorie wird fortan auf
ebenso von ihnen wie von der späteren Psychoana- die Konzeption literarischer Figuren mehr und mehr
lyse unterscheiden. Eine literarische »Seele« ist zu- Einfluß nehmen, auch dort, wo man der Psychoana-
letzt von uneinholbarer Alterität. lyse noch Widerstand entgegenbringt. Daß trotz viel-
Die »Kontaktstelle« zu Freud bildete sich jedenfalls facher diplomatischer Beziehungen zwischen den
in einem nunmehr sehr dichten Milieu, das sich im Nachbargebieten stets auch Grenzziehungen vorge-
Gegensatz zur vorangegangenen Generation homo- nommen wurden – und zwar beiderseits –, zeigt zu-
genisiert hatte: Die Autoren lebten in Wien, das jetzt gleich die Anfangsschwierigkeit der neuen Wissen-
als habsburgische Metropole einen beschleunigten schaft, sich zwischen Belletristik und orthodoxer Me-
kulturellen Austausch bot; ihre Familiengeschichten dizin zu positionieren. Ignoranz, sogar Vermeidung
Die Wiener Moderne 29

bleiben nicht aus: In den Beziehungen zu dem dann verschafft hat, der ihre Publizität sichern konnte: Im
schon gealterten »Jungen Wien« wird Freud sich Berliner Verlag von Samuel Fischer erschienen zwar
jahrzehntelang »vertreten« lassen, und zwar durch eigentlich die Vertreter der naturalistischen Moderne
seinen Schüler Theodor Reik (1888–1969), der Mo- – etwa Emile Zola, Henrik Ibsen und Gerhart Haupt-
nographien zu Schnitzler (1913) und Beer-Hofmann mann –, aber auch die österreichischen Schriftsteller
(1912, 1919) schrieb. Erst in den 1920er Jahren sollte kamen – trotz einiger Friktionen im Laufe der Jahre –
es zu sporadischen Kontakten kommen. Trotzdem unter seinem Dach zu Renommee, für einige wurde
gehören die Autoren der Wiener Moderne und Freud S. Fischer zur lebenslangen Verlagsheimat.
in das gemeinsame intellektuelle Milieu der Habs- Bahr hatte noch während seines zweiten Berlinauf-
burgischen Metropole, das durch krasse Ungleichzei- enthalts 1890/91 seinen ersten, in Paris entstandenen
tigkeiten von Innovationsschüben und traditionali- Roman Die gute Schule (1890) dort untergebracht. In
stischer Beharrung gekennzeichnet war. Was beide dem mit dem Untertitel »Seelenstände« versehenen
Seiten einander jedenfalls zugestanden, war das vehe- Buch geht es um einen jungen Maler, der seinen
mente Bestreben, die »Wahrheit« des Seelischen ge- neuen Kunstideen keinen Ausdruck verschaffen kann
gen die gesellschaftlichen Rededispositive durchzu- und sich statt dessen mit seiner Geliebten dem Sin-
setzen. nengenuß ergibt; diese Entwicklung endet in zyni-
scher Frustration. Die zeitgenössische Kritik reagierte
meist mit Empörung auf den gewagten Inhalt. Skan-
Notunterkunft der Seele: Hermann Bahr
dal machten etwa die geschilderten homosexuellen
Eine Schlüsselrolle nimmt dabei Hermann Bahr Beziehungen; die »conträren Sexualempfindungen«
(1863–1934) ein, und zwar nicht nur als Mentor des galten nach Richard von Krafft-Ebings Psychopathia
»Jungen Wien«. Bahr galt schon vielen seiner Zeit- sexualis (1886) den Zeitgenossen noch als klinische
genossen als publizistischer Konjunkturritter. »Ich Phänomene. Dazu kam die sadomasochistische Pra-
machte stets alle geistigen Moden mit, freilich nur xis des Helden der Guten Schule, ein in der europäi-
solange sie noch nicht Mode waren [. . .]; über mich schen Dekadenzliteratur bereits vielfach thematisier-
war verhängt, das Ringelspiel aller Irrtümer der Zeit tes Phänomen. Der Begriff »Masochismus« war aller-
kennenzulernen«, schrieb er rückblickend (Bahr dings erst im Jahr zuvor, in Krafft-Ebings Neuen For-
1918, 98 f.). Seine Bedeutung besteht unstreitig darin, schungen zur Psychopathia sexualis (1890), geprägt
Umstrukturierungen des literarischen Feldes ebenso worden, und zwar in Beziehung auf Leopold von Sa-
frühzeitig erkannt zu haben wie den Bedarf an neuen cher-Masochs Novelle Venus im Pelz (1869), durch-
Ausdrucks- und Deutungsmodellen des psychischen aus zum Mißfallen des Verfassers. Bahr hingegen ging
Geschehens. Verdienste erwarb er sich jedenfalls auch es gerade um die Provokation; er verstand Avant-
als Vermittler der europäischen Moderne nach Öster- garde als Tabubruch und versuchte, den themati-
reich. Als Sohn eines liberalen oberösterreichischen schen Devianzen eine entsprechende Form zu geben.
Landtagsabgeordneten in Linz geboren, scheiterte er Die betreffenden psychologisch-poetologischen
als österreichischer Student zunächst an seinen Überlegungen entfaltete er kurz nach dem Erschei-
deutschnationalen Umtrieben, schloß sich dann in nen des Romans in dem Aufsatz Die neue Psychologie
Berlin (1884–1887) der marxistisch-sozialistischen (1890). Mehr als die vom Naturalismus dargestellten
Partei an und rezipierte während seines Aufenthaltes äußeren Tatsachen interessiere die Menschen, so
in Paris (1888/89) nicht nur Balzac und Zola, son- Bahr, die inneren Zustände. Die geforderte »neue
dern vor allem symbolistische Autoren wie Baude- Psychologie« dürfe dabei aber nicht wieder hinter die
laire, Maeterlinck und Huysmans. Als eine Art lite- empirisch-naturalistische Präzision zurückfallen; sie
rarisches Konkurrenzunternehmen zur Berliner Mo- müsse »deterministisch, dialectisch und decomposi-
derne begann er nach seiner Rückkehr nach Wien tiv« sein. »Deterministisch« nannte Bahr die vom
eine literarische Richtung zu etablieren, die Natura- Naturalismus übernommene Tendenz, die Milieube-
lismus und Symbolismus amalgamieren und dabei so dingtheit literarischer Figuren anzunehmen. Als
etwas wie eine psychische Seismographie entwickeln »dialectisch« bezeichnete er den Versuch, der Kom-
sollte. Ob Bahr bei dem Zusammenschluß der Au- plexität des Seelenlebens gerecht zu werden und den
toren des »Jungen Wien«, der immer sehr locker und Umschlag des einen in ein anderes Gefühl darzustel-
unverbindlich blieb, wirklich eine so eminente Rolle len. »Decompositiv« schließlich müsse das Verfahren
gespielt hat, wie er nachträglich angab, steht zwar da- sein, »indem die Zusätze, Nachschriften und alle
hin, richtig ist, daß er ihre Werke nach Kräften ge- Umarbeitungen des Bewußtseins ausgeschieden und
fördert und ihnen vor allen Dingen einen Verleger die Gefühle auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor
30 Freud und seine Epoche

dem Bewußtsein zurückgeführt werden«. Die neue Hypnose, Träume und Kritik:
Psychologie strebt das Paradox an, nicht verbalisierte Arthur Schnitzler
»erste Elemente« der Psyche zu versprachlichen, »die
Anfänge in den Finsternissen der Seele, bevor sie Der Vater Arthur Schnitzlers, Johann Schnitzler
noch an dem klaren Tag herausschlagen«. Die tradi- (1835–1893), war ein jüdischer selfmade man: Aus
tionelle, reflektierte »Ich«-Erzählung könne der der ungarischen Kleinstadt Groß-Kanisza zum Medi-
neuen Psychologie höchstens eine »Noth-Unter- zinstudium nach Wien gekommen, arbeitete er sich
kunft« gewähren. Man müsse eine Form finden für zum Gründer und Leiter der Wiener Poliklinik hoch,
»die Erscheinungen auf den Nerven und Sinnen, ein modellhafter Aufstieg für einen Angehörigen der
noch bevor sie in das Bewußtsein gelangt sind, in Gründer-Generation. Unter dieser väterlichen Mu-
dem rohen und unverarbeiteten Zustande«. Mit einer sterhaftigkeit hatte Arthur Schnitzler (1862–1931)
Geschichte in dieser Technik wäre dann wohl eine vielfach zu leiden, zumal er sein Medizinstudium mit
staunenswerte »Intensität der Wahrheit« zu erreichen weit weniger Erfolg betrieb und als Assistent und Re-
(Wunberg 1976, I, 92–101). dakteur seines Vaters aus dessen Schatten kaum her-
Im Roman Die gute Schule wird allerdings noch in austrat. Der Interessenskonflikt zwischen Medizin
der dritten Person erzählt. Bahr versuchte, sowohl die und »Poesie« löste sich für Schnitzler erst nach dem
Distanz eines allwissenden Erzählers als auch die ei- Tod seines Vaters, als die Entscheidung für eine lite-
nes rückblickenden Ich zu vermeiden, um ein gleich- rarische Laufbahn endgültig fiel. Daß Schnitzlers me-
sam unzensuriertes Bewußtseinsprotokoll des Hel- dizinische Erfahrungen aber nicht nur die Sujets vie-
den zu geben. Psychologische Dissoziationsphäno- ler Werke lieferten, sondern auch seine literarische
mene sollten dabei analog zur malerischen Technik Anthropologie prägten, liegt auf der Hand. Sein In-
der Impressionisten, also in einer diskontinuierlichen teresse für Psychopathologie und vor allem für die
Abfolge einzelner Wahrnehmungspartikel, aufge- Hysterieforschung war dabei von Anfang an groß ge-
zeichnet werden. Dies allerdings leistet sein Roman wesen, womit sich Schnitzler auch durchaus von or-
gerade nicht (Thomé 1993, 393–433). Verbalisierbar thodoxen Positionen der Wiener Schule unterschied.
ist natürlich nur, was das Bewußtsein des Helden tat- An der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung der Poliklinik
sächlich erreicht, so daß im Grunde doch nur seine führte Schnitzler 1888 Hypnoseexperimente durch,
nachträgliche Gefühlsreflexion zur Sprache kommen die zu seiner einzigen klinischen Schrift, Über funk-
kann. Die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, psy- tionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hyp-
chische Vorgänge überhaupt triftig in Worte zu fas- nose und Suggestion, führten. Die Protokolle von
sen, wird allerdings mitbedacht, weshalb Die gute Schnitzlers Versuchsanordnungen verzeichnen viel-
Schule auch frühzeitige sprachkritische Impulse gege- fach phantastische Einfälle und fiktive Inszenierun-
ben hat. Kann das Seelenleben des Helden schon gen, weshalb eine Literarisierung der hypnotischen
durch die Versprachlichung immer nur »nachträg- Explorationen nicht verwundert. Der berühmte Ein-
lich« und mittelbar dargestellt werden, so hat man akter Die Frage an das Schicksal (entst. 1889) aus dem
sich unter seinem »Unbewußten« die Gefühlspro- Anatol-Zyklus (1893) setzt eine private Ausbeutung
duktion der Nerven zu denken, die, wenn sie stark der experimentellen Situation in Szene: Von Eifer-
genug ist, ohnehin die Schwelle zum Bewußtsein sucht geplagt, glaubt der melancholische Lebemann
überschreitet. Eine Vorstellung von »vergessenen«, Anatol seiner Geliebten Cora die Treuebekundungen
gar »verdrängten« Inhalten liegt hier also noch gänz- nicht und versucht, die Wahrheit aus ihr herauszu-
lich fern, weswegen Bahrs Neue Psychologie kaum als hypnotisieren. Als er sie bereits in Schlaf versetzt hat,
Vorgriff auf die Psychoanalyse bezeichnet werden fehlt ihm aber der Mut, die möglicherweise bevor-
kann. Zum Ausdruck kommt allerdings die Einsicht, stehende Kränkung seines Selbstgefühls hinzuneh-
daß die Introspektion das Figurenbewußtsein nicht men, und er weckt sie auf, ohne die ominöse Frage
ausreichend erschließt. Bahr erkennt die Defizite ei- gestellt zu haben. Geht die Pointe bereits ebenso auf
ner »realistisch« plausbilisierten Figurenpsychologie, seine Kosten wie auf die Coras, deren Untreue dem
etwa das Manko, Phänomene wie Gefühlsambivalen- Zuschauer durch den Kontext suggeriert wird, so
zen zu motivieren. Insofern ist sein Buch ein Indika- desavouiert die unbekümmerte Verletzung ihrer
tor für die »neuen« Fragen, die durch die »alte« em- psychischen Privatsphäre letztlich den Experimenta-
pirische Psychologie und durch die »alte« realistische tor. Auf den ersten Blick liefert der Einakter das
Erzählform nicht mehr zu beantworten waren. Auf Stichwort für eine folgenreiche Entdeckung, was Co-
beiden Seiten wurden die Antworten nicht mehr von ras Psyche betrifft:
ihm selbst entwickelt.
Die Wiener Moderne 31

ANATOL Mir ist nämlich noch etwas eingefallen. Schleier der Beatrice ein: Die Heldin, Tochter eines
MAX Und zwar . . .?
ANATOL Das Unbewußte! (Schnitzler 1962, Bd. 1, 38)
Bologneser Wappenschneiders, Geliebte des Dichters
Filippo, sieht sich eines Nachts träumend als Her-
Coras »Unbewußtes« imaginiert Anatol dann natür- zogin, worauf Filippo sie als »Dirne [ihres] Traums«
lich nur als einen tranceartigen Zustand unkontrol- davonjagt – und ihr Wunsch unglaublicherweise in
lierter Verführbarkeit; an ihre Fehltritte, heißt es Erfüllung geht. Das ohnehin unter Konstruktions-
schon zuvor, könne sie sich schlicht nicht erinnern. und Plausibilisierungsmängeln laborierende Schau-
Obwohl auf Seiten Anatols sehr viel altvertraute, spiel hat es nie zu großem Erfolg gebracht, seine Ein-
weitgehend schopenhauersche männliche Psycholo- sicht in den Wunscherfüllungscharakter des Traums
gie im Spiel ist, deutet sein recht populistisches Psy- ist aber unstrittig:
chemodell immerhin voraus auf das »Unbewußte« Doch Träume sind Begierden ohne Mut,
als Topos von Triebrepräsentanzen, das vom Bewußt- Sind freche Wünsche, die das Licht des Tags
sein durch Verdrängungsleistungen getrennt ist. Die Zurückjagt in die Winkel unsrer Seele,
Affinität wie auch der entscheidende Abstand zu Daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen [. . .]
(Schnitzler 1962, Bd. 1, 576)
Freuds bewußtseinsunfähigem ›System Ubw‹ lassen
sich dem Einakter recht präzise ablesen. Was ausbleibt, ist jedoch die Darstellung einer Ver-
Das Hypnosethema hat Schnitzler nochmals auf- schlüsselungstechnik im Traum: Beatrices Triebziel
genommen und in ein historisches Kostüm gesteckt. stellt sich vollkommen unverhüllt dar, »unbewußt«
Der Einakter Paracelsus (1898) spielt im Basel des be- ist ihr lediglich die Existenz des Wunsches selbst.
ginnenden 16. Jh.s, wo der geheimnisumwitterte An Schnitzlers Figurenpsychologie der 1890er
Wunderheiler auftaucht und prompt in einen Kon- Jahre lassen sich also in der Tat erstaunliche »Fami-
flikt mit der orthodoxen Basler Fakultät gerät. Im lienähnlichkeiten« (Ludwig Wittgenstein) zu Freuds
klassischen Blankvers wird also die Kontroverse zwi- sich entwickelnder Theorie entdecken. Für Schnitz-
schen der Wiener Schule und der französischen Hy- lers Rezeptionsgeschichte ist es bezeichnend, daß er
sterieforschung verschlüsselt. Paracelsus ist aber kei- auf sein frühes »vorfreudianisches« Figurenrepertoire
neswegs ein Held des Fortschritts: Er versucht, seiner – Anatol, das »süße Mädel« – festgelegt wurde, wobei
ehemaligen Geliebten Justina in Hypnose einen Ehe- man deren psychische Befindlichkeit vielfach als Kri-
bruch zu suggerieren, um an ihrem spießbürgerli- sensymptom des »impressionistischen Menschen«
chen Ehemann Rache zu nehmen. Untreue offenbart interpretierte: Ihre Diskontinuitäts- und Depersona-
sich hier nicht, wohl aber unerfüllte Triebwünsche; lisationserfahrungen wurden vielfach auf Ernst
die Handlung findet dann doch noch zu einem etwas Machs empiriokritizistische Theoreme bezogen. Al-
mühsamen happy end. Gegenüber der Frage an das lerdings begann die Mach-Rezeption des »Jungen
Schicksal geht es nunmehr eindeutig um ein weib- Wien« erst ab 1903, weshalb Machs Satz vom »un-
liches Unbewußtes. Vor 1900 markiert Paracelsus rettbaren Ich« ohnehin nur als nachträgliches Deu-
wohl die entschiedenste Annäherung von Literatur tungsinstrument eingesetzt werden kann. Zur At-
und Psychoanalyse. Justinas Schwester Cäcilia zeigt traktivität von Schnitzlers Frühwerk trug freilich die
hysterische Symptome, die auf ihre unerwiderte Möglichkeit bei, es als Ausdruck von Fin de siècle-
Liebe deuten, will sich von Paracelsus aber nicht be- Klischees von traumhaft-stimmungsvoller Sinnlich-
handeln lassen. Der Einakter mag daher wirken wie keit zu lesen.
ein literarisches Fallbeispiel der Studien über Hysterie Die Lektüre der Traumdeutung im Frühjahr 1900
(die Schnitzler allerdings erst 1903 gelesen hat); führte nun fraglos zu Veränderungen an Schnitzlers
überliefert ist, daß Freud nach einem Besuch der Figurenkonzeption, die er – insbesondere was ihre
Aufführung Erstaunen darüber äußerte, »wieviel von Träume betraf – von nun an psychoanalytisch kon-
den Dingen so ein Dichter weiß« (Jones I, 402, 19. 3. form zu halten versuchte, wie er fortan auch seine
1898). Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) eigenen Träume zu beobachten, zu notieren und ge-
kommt Freud dann nochmals auf Paracelsus zu spre- legentlich zu interpretieren pflegte. Die Novellen
chen: Schnitzler habe das Phänomen des Krankheits- Frau Berta Garlan und Lieutenant Gustl (entstanden
gewinns dort sehr richtig an Cäcilia erläutert (GW V, von Januar bis April bzw. im Juli 1900) zeigen bereits
203, Fußnote). freudianische Spuren: Berta Garlan, eine Witwe aus
Neben der Hypnose thematisiert Schnitzler vor der Provinz, deren neuerlicher Liebesversuch dra-
1900 auch noch mehrfach den Traum. Als eine – stisch scheitert, träumt bereits gemäß psychoanaly-
recht plakative – Form der Wunscherfüllung führt er tisch definierter Gegebenheiten wie Tagesrest, Misch-
ihn im historistischen Renaissance-Drama Der personen oder Weckreiz. Gustl, der sich von einem
32 Freud und seine Epoche

Bäckermeister beleidigt fühlt und sich aus gekränkter Mythos und Psyche:
Ehre umbringen zu müssen glaubt, offenbart sein be- Hugo von Hofmannsthal
schränktes Bewußtsein in der von Schnitzler einge-
führten Erzähltechnik des präsentischen »Inneren Die Theorie von der infantilen Sexualität konnte
Monologs«, einer Montage von Gedankensplittern Schnitzler aber durchaus gelten lassen. Daß sich die
und Assoziationen, die vor- und unbewußte, meist sexuellen Strebungen des Kindes »an das erste an-
aggressive, Regungen unmittelbar anschaulich wer- ders-geschlechtliche Wesen knüpfen, mit dem das In-
den läßt. dividuum in Beziehung tritt«, schien ihm »fast eine
Gegen bestimmte psychoanalytische Theoreme Banalität«. Nicht akzeptieren wollte er, daß Freud
machte Schnitzler aber lebenslang entschiedene Vor- diese Selbstverständlichkeit just am antiken Mythos
behalte geltend. Aus den verstreuten Aufzeichnungen demonstrierte. Während Freud Ödipus’ Unwissen
Über Psychoanalyse spricht auch massive Skepsis. Ge- mit dem Unbewußten des Zuschauers korreliert, be-
gen eine »monomanische« Symboldeutung erhob er steht Schnitzler auf einer Trennung der mythischen
ebenso Einspruch wie gegen die Immunisierungsef- Fabel und dem psychologisch-empirischen Phäno-
fekte in der Therapie. Da Schnitzler an einer spätauf- men: »nur, wenn das Sexualgefühl sich [wie im My-
klärerischen Position festhielt, die moralische Postu- thos, K. F.] auch an der ungekannten Mutter veran-
late an ein Minimum von Willensfreiheit und Be- kern würde, hätte der sogenannte Oedipuskomplex
wußtseinsfähigkeit band, entwickelte er das Konzept seine tiefere metaphysische Bedeutung. Gerade die
eines »Mittelbewußtseins«, das eigener Exploration Oedipuspassage hat mit dem sogenannten Oedipus-
durchaus zugänglich sei. Seine Würdigung der Psy- komplex nichts zu tun. Oedipus liebt seine Mutter,
choanalyse schließt eine reservatio mentalis ein: »Sie ohne zu wissen, daß sie seine Mutter ist« (Schnitzler
hat die Kenntnis von der Seele erweitert, indem sie 1976, 278). Schnitzler hat sich hier noch geweigert,
ermutigte, in Tiefen zu forschen, die früher [. . .] aus eine antike Anagnorisis auch auf dem neuen Territo-
Feigheit oder Grauen nicht durchforscht wurden. [-] rium des Unbewußten stattfinden zu lassen. Wer ihn
Sie hat zugleich den Fehler begangen, in diesen Tie- – und Freud – hier auf erstaunliche Weise überholte,
fen sich länger aufzuhalten und unablässiger darin zu war Hugo von Hofmannsthal.
wühlen, als nötig und als nützlich war« (Schnitzler Hofmannsthal (1872–1929) hatte sich der Gruppe
1976, 281). Diese Distanz – oder Abwehr – hatte des »Jungen Wien« noch als allseits gefeiertes Wun-
auch mit Schnitzlers Überzeugung zu tun, daß die derkind angeschlossen. Urenkel eines geadelten jüdi-
Dichtung der Psychoanalyse gegenüber nicht nur au- schen Unternehmers und einziges Kind des Direktors
tonom, sondern auch überlegen sei: Die ästhetische der Wiener »Bodencreditanstalt«, wuchs er mit allen
Gestaltung des Seelischen entzog sich aus seiner Sicht Bildungsprivilegien auf. »Loris«, so das Pseudonym
in mehrfachem Sinn der Determination. des Gymnasiasten, der unter eigenem Namen noch
Auch auf Schnitzlers Seite bestand daher wohl die nicht publizieren durfte, erstaunte nicht nur durch
notorische »Doppelgängerscheu«, die Freud in einem seine poetische Begabung, sondern auch durch seine
berühmten Brief zu Schnitzlers 60. Geburtstag am stupende Fähigkeit zur Aneignung von Lektüreinhal-
15. Mai 1922 konstatierte (Freud 1955, 97) und dafür ten. Außerordentlich rasch nahm er sowohl überlie-
verantwortlich machte, daß eine persönliche Begeg- ferte Stoffe als auch zeitgenössische Wissenshorizonte
nung bis dato nicht stattgefunden hatte. Freuds Fall- auf. In der Beziehung zu Freud vertrat er ein Feld,
beschreibungen und Schnitzlers Novellen zeigen ei- das andere Autoren des Umfelds freilassen mußten:
nen hohen Grad von Permeabilität zwischen Litera- das der Antikenrezeption.
tur und Psychoanalyse an; zu einer Durchdringung Die Studien über Hysterie hat Hofmannsthal offen-
wollte es Schnitzler aber nicht kommen lassen. Auch bar relativ spät gelesen. Erst im Frühjahr 1902 entlieh
als es im Anschluß an Freuds Brief zu mehreren Be- er sie von Hermann Bahr. Die Traumdeutung ist in
suchen und Zusammentreffen kam, gab er seine seiner Bibliothek erhalten, ein Lektürenachweis aber
prinzipiellen Vorbehalte nicht auf. Nach 1900 hatten nicht überliefert. Wie Schnitzler, suchte Hofmanns-
sich seine Werke zunehmend mit sprachlichem Miß- thal allerdings auch in seinem »vorfreudianischen«
brauch und psychischer Manipulation auseinander- Werk nach ästhetischen Lösungen, die zugleich die
gesetzt; die Frage nach der individuellen Verantwor- Forderung nach einer »neuen Psychologie« befriedi-
tung mochte Schnitzler an kein Unbewußtes dele- gen konnten. Auf Hermann Bahrs Abhandlung ver-
gieren. wies Hofmannsthal ausdrücklich in einer Rezension
(1891) von Paul Bourgets Physiologie de l’amour mo-
derne, an der er sehr präzise das Moderne-Syndrom
Die Wiener Moderne 33

von Ich-Spaltung und Dissoziation beschreibt – aller- Jungs Archetypen-Lehre – als stringent. Die Ge-
dings noch als »neuropathisches« Phänomen. Im sel- schichte selbst erzählt, wie ein »Bewußtsein [. . .] von
ben Jahr präsentierte er eine solche »moderne«, ner- vielfältigen Bildern [. . .] ganz überschwemmt« wird
vöse, ins Gewand der Frührenaissance gekleidete Fi- (Hofmannsthal 1979/80, Erzählungen, 131), und in-
gur im Vers-Einakter Gestern (1891): Der Held An- szeniert diese Bilder nach einer bereits filmisch zu
drea vertritt programmatisch und generationstypisch nennenden Ästhetik.
das diskontinuierliche »Augenblicksbewußtsein« und Das romantische Motiv des verschütteten Berg-
stellt sich selbst als »Impressionisten« vor: manns, dessen unverwester Leichnam nach Jahr-
Hat nicht die Laune Wechsel, nicht die Kraft? zehnten von seiner Braut wiedererkannt wird, bildet
Erwacht und stirbt nicht jede Leidenschaft? schließlich den Stoff für Das Bergwerk zu Falun (ent-
Wer lehrte uns, den Namen »Seele« geben standen 1899). Hofmannsthals Elis steht zwischen
Dem Beieinandersein von tausend Leben?
der lebensverkörpernden Anna und der lockenden
Die Untreue seiner Geliebten Arlette, die sich ganz Unterwelt der Bergkönigin, der er schließlich erliegt.
ähnlich auf eine Psychologie der Diskontinuität be- Wieder bieten sich tiefenpsychologische Topoi an;
ruft – »Ein Abgrund scheint von gestern mich zu rückblickend deutete Hofmannsthal selbst den Pro-
trennen, / Und fremd steh ich mir selber gegen- tagonisten Elis – im Sinne von Herbert Silbers Pro-
über« –, kann er aber nicht überwinden (Hofmanns- bleme der Mystik und ihrer Symbolik (1914) – als ei-
thal 1979/80, Dramen I, 223, 242). nen, der sich der Gefahr der »Introspektion« auslie-
Während das kleine Proverbe noch die elegante fert (Hofmannsthal 1979/80, Reden und Aufsätze III,
Widerlegung des Helden unternahm, stellte Hof- 601) und an einen Abgrund gelangt.
mannsthal in der Prosa der 1890er Jahre alltagspsy- Während Hofmannsthal in diesen Texten Seeli-
chologische Annahmen von Kausalität und Konti- sches in Symbolbildern inszenierte, die auch für die
nuität sehr viel radikaler in Frage. Das Märchen der psychoanalytischen Forschungen relevant werden
672. Nacht (1895) erzählt die Geschichte eines Kauf- sollten, floß in die Konzeption von Elektra (1904)
mannssohnes, der mit vier Domestiken auf dem und von Ödipus und die Sphinx (1906) die Lektüre
Land in luxuriöser Zurückgezogenheit lebt – bis er der Hysterie-Studien und der Traumdeutung unmit-
sich gezwungenermaßen mit der Stadt und ihren telbar ein. Daß Josef Breuers Fallgeschichte der Anna
Häßlichkeiten konfrontieren muß. Alptraumhaft be- O. gewissermaßen als »Vorlage« diente, läßt sich an
drängende Bilder laufen vor ihm ab; vom Huf eines vielen hysteroiden Symptomen von Hofmannsthals
Pferdes getroffen, stirbt er am Ende. Der Verzicht auf Elektra zeigen. Von der Erinnerung an den Tod des
psychologische Plausibilisierung gibt Rätsel auf; das Vaters getrieben, lebt sie in Erwartung der Rache an
Motivationsdefizit ist lange mit lebensphilosophisch- ihrer Mutter, verfällt nach Orestes Tat einem ekstati-
moralischen Erklärungen – der Kaufmannssohn geht schen Tanz und bricht dann zusammen. Das zweite
an seiner Lebensvermeidung zugrunde – oder mit Antikenstück, Ödipus und die Sphinx, geplant als
dem, durchaus plausiblen, Nachweis ödipaler Kon- Vorspiel zu einer Ödipus-Trilogie, behandelt gewis-
figurationen avant la lettre aufgefüllt worden. In An- sermaßen die Vorgeschichte des sophokleischen Dra-
betracht der Entstehungszeit ließe sich die mentale mas: In Delphi hat Ödipus sein zukünftiges Schicksal
Befindlichkeit des Kaufmannssohns hingegen auf in einem Traum gesehen, den ihm das Orakel gleich-
Pierre Janets Begriff der »désagrégation« (1889), der sam nur mehr auslegt: »Des Erschlagens Lust / hast
Dissoziation der Persönlichkeit und des Zerfalls von du gebüßt am Vater, an der Mutter / Umarmens Lust
Wahrnehmungs- und Willensfunktionen beziehen. gebüßt, so ists geträumt, / und so wird es geschehen«
Die Reitergeschichte (1898) berichtet von Wacht- (Hofmannsthal 1979/80, Dramen II, 397). Ödipus
meister Anton Lerch, der mit seiner Schwadron 1848 und die Sphinx endet mit der Erringung Jokastes, vor
das verlassene Mailand besetzt, sich dann absondert der Erkenntnis und Selbstbestrafung. Die Verbin-
und durch ein verlassenes Dorf reitet. In seinem Be- dung zu Freuds Theorien haben die Zeitgenossen an
wußtsein wechseln sexuelle Phantasien und die Elektra wohl gesehen – mitunter wurde sie lapidar als
Wahrnehmung extremer Häßlichkeit und Verwahr- »hysterisch« bezeichnet –, bei Ödipus erst spät und
losung. In einem entgegenkommenden Reiter er- vereinzelt bemerkt. Daß Hofmannsthal die antiken
kennt er plötzlich sein eigenes Spiegelbild. Nachdem Stoffe durch Psychoanalyse aktualisierte, wäre aber
er einen Befehl seines Rittmeisters verweigert hat, auch eine zu schlichte Formel für seine Syntheselei-
wird er erschossen. Auch hier erwiesen sich nachträg- stung. Hofmannsthals hochkomplexe, auch durch
liche tiefenpsychologische Interpretamente – wie das Studium von Johann Jakob Bachofen oder Erwin
Otto Ranks Doppelgänger-Studie (1925) oder C. G. Rohde facettierte Mythendeutung integriert vielmehr
34 Freud und seine Epoche

die psychoanalytische Auslegung – ohne sich je dar- gen grotesk entstellter Gealterter. Das Enigmatische
auf zu beschränken. An Hofmannsthals Texten zeigt dieser Passagen hat psychoanalytische Lektüren ge-
sich generell am deutlichsten der prinzipielle Unter- radezu eingeladen. Pauls Entwicklung zum Sozialen
schied von Literatur zu zeitgenössischen Diskursen, hin ist daher auch schon als analytische Selbstthera-
die sie aufnehmen kann, um sich zugleich von ihnen pie gedeutet worden. Vorsichtigere Interpreten haben
abzuheben. Die Distanz zwischen Freud und Hof- auf bestimmte Übereinstimmungen mit der zeit-
mannsthal hat sich mit Hofmannsthals späterer Uto- gleich entstehenden Traumdeutung aufmerksam ge-
pie einer konservativen Kultursynthese wohl noch macht und die Erzählung als ein besonders markan-
vergrößert. tes Beispiel der Parallelaktion von Literatur und
Psychoanalyse in den 1890er Jahren aufgefaßt. Tat-
sächlich überwiegen aber Divergenzen: Pauls Asso-
Judentum und Unbewußtes:
ziativlogik, die eine Kette traumhafter Bilder gene-
Richard Beer-Hofmann
riert, gehorcht viel eher ästhetisch-kompositorischen
Als Schiedsrichter in Fragen des guten Geschmacks als unbewußten Determinanten. Das psychische Ge-
galt im Kreis des »Jungen Wien« Richard Beer-Hof- schehen, das sich zuerst in Stimmungsbildern ent-
mann (1866–1945), Sohn eines Rechtsanwalts und faltet, erhält eine überpersönliche historische Dimen-
selbst studierter Jurist; dem Typus des europäischen sion: »Alle Stunden, die kamen, formten so mit un-
Dandy kam er in den Anfangsjahren wohl am näch- ablässigen Fingern eine Seele [. . .]. Weil aber nichts
sten. Sein Werk blieb demgegenüber schmal: In den wiederkommen konnte, [. . .] war auch jede Seele die
1890er Jahren veröffentlichte er lediglich zwei Novel- Hüterin von nie gesehenen, unerhörten, einzigarti-
len, Camelias (1891) und Das Kind (1893), eine gen Wundern« (Beer-Hofmann [1900], 122). Dar-
dritte, Der Tod Georgs (entstanden 1893–1899) er- über hinaus werden, in der Tat etwas unvermittelt,
schien 1900. Held der ersten ist der narzißtisch fi- hereditäre, ja genealogische Faktoren eingeführt. Je-
xierte und neurotisch gehemmte Freddy, der die Hei- denfalls erscheint Pauls Seelenleben zuletzt nicht von
rat mit einem jungen Mädchen aus Bequemlichkeit individuellen Triebregungen, sondern von kollekti-
verwirft, um bei seiner langjährigen Mätresse zu blei- ven Prägungen gesteuert.
ben. Das Kind ist die uneheliche Tochter Pauls aus Auch nach 1900 nahm Beer-Hofmann von der
seinem Verhältnis zu einem Dienstmädchen; es wird Psychoanalyse kaum Notiz. Umgekehrt merkte
zu Pflegeeltern gegeben und stirbt an Vernachlässi- Freud, wieder in einem Gratulationsbrief, diesmal zu
gung, worüber sich Paul mithilfe einer lebensphilo- Beer-Hofmanns 70. Geburtstag am 10. Juli 1936, vor-
sophisch grundierten Einheitserfahrung mit der Na- sichtig an, daß »nach manchem, was ich über Sie
tur tröstet. hörte, [. . .] viele bedeutsame Übereinstimmungen
Hatte Beer-Hofmann schon hier die egozentrische zwischen Ihnen und mir« bestehen müßten (vgl.
Selbststilisierung des Fin de siècle-Ästheten aufs Scherer 1993, 354–363). Beer-Hofmann, der ab 1905
Korn genommen, führt Der Tod Georgs den Helden an einem biblischen, nie abgeschlossenen Dramenzy-
Paul aus seiner solipsistischen Isolation. Konfrontiert klus, Die Historie von König David, gearbeitet hatte,
mit den Erfahrungen von Tod, Alter und Häßlichkeit, konstituierte die Psyche seiner Figuren aber nun ent-
findet sich Paul aus seinem subjektivistischen Uni- schieden anders. Ihr »Unbewußtes«, wenn es denn
versum geworfen – um sich am Ende auf seine jüdi- eine Rolle spielt, ist nichts Innerpsychisches, sondern
sche Herkunft zu besinnen und die Verbundenheit etwas Metaphysisches: Es wird zum Topos für den
mit seinen Vorfahren geradezu physisch zu erleben: Anspruch Gottes.
»Denn über dem Leben derer, deren Blut in ihm floß,
war Gerechtigkeit wie eine Sonne gestanden, deren
Neurosen und Diätetik: Felix Dörmann,
Strahlen sie nicht wärmten, deren Licht ihnen nie
Leopold von Andrian, Peter Altenberg
geleuchtet, und vor deren blendendem Glanz sie den-
noch mit zitternden Händen, ehrfürchtig ihre leider- In enger oder loser Verbindung zum »Jungen Wien«
füllte Stirne beschatteten. [. . .] Und von ihrem Blute stand in den 1890er Jahren noch eine Reihe weiterer
war auch er« (Beer-Hofmann [1900], 133 f.). Voraus Autoren, deren Arbeiten ebenfalls um psychologische
geht aber noch ein kompliziert strukturierter Traum: oder psychopathologische Fragen zentriert sind. Im
Paul träumt, eine Frau zu haben, die im Sterben liegt; Zeichen der Dekadenz wird »Nervosität« zur Bedin-
Kindheitserinnerungen steigen auf und werden abge- gung von Kreativität; die Literatur begibt sich auf das
löst von der Vision eines syrischen Tempelfestes; Na- Feld der Neurose, um dort ästhetische Ausnahmezu-
turbilder wechseln mit perseverierenden Vorstellun- stände herzustellen. Als frühe Verständigungstexte
Die Wiener Moderne 35

gehandelt wurden beispielsweise die Gedichtbände sein Bildnis entgegen schauen würde« (Andrian
Neurotica (1891) und Sensationen (1892) von Felix [1895], 54). Vier Jahre, bevor Havelock Ellis den
Dörmann (1870–1928). Dörmann, großbürgerlicher Begriff »Narzißmus« prägte, ist der Melancholiker
Herkunft, war Redakteur, Baudelaire-Übersetzer und Erwin Opfer einer narzißtischen Neurose. Dieses Lei-
Theaterkritiker, blieb als Autor jedoch immer epigo- den wird gleichsam im Gegenzug für die Ästhetisie-
nal. Umso charakteristischer war der Erfolg der Neu- rung der Realität eingesetzt; Pathologie ist das Sub-
rotica, der sich jedoch auch einer (verspäteten) Be- strat der Ästhetik.
schlagnahme und einem Prozeß wegen Gottesläste- Eine therapeutische Antwort auf die Epochen-
rung und Unsittlichkeit verdankt. Die Gedichte sind krankheiten suchte schließlich Peter Altenberg
unschwer als Imitate der europäischen Dekadenz- (1859–1919), der mit dem »Jungen Wien« nur lose
dichtung erkennbar; ein völlig auf sich selbst konzen- verbunden war. Seine Schriftstellerkarriere begann,
triertes Ego, das sich selbst als einen »seelensiechen, als S. Fischer 1896 den Band Wie ich es sehe heraus-
armen Mann« bezeichnet, breitet seine sexuellen Ob- brachte, bereits in der für Altenberg typischen Form
sessionen und seine Todessehnsüchte aus: »meine der kleinen lyrischen Skizzen. Sohn eines jüdischen
Seele wurde krank geboren: / Ihr fehlt die Lust, die Großhandels-Gesellschafters, scheiterte er an Stu-
Kraft, der Muth zum Leben« (Dörmann [1891], 11, dium und Buchhändlerlehre; wegen »Überempfind-
16). In den Sensationen tritt dann die Seele selbst in lichkeit des Nervensystems« wurde ihm Berufsunfä-
»kothbesudeltem Purpurgewande« vor das lyrische higkeit attestiert, was zur Trennung von seiner Fami-
Ich (Dörmann 1892, 45). Diese Lyrik spekuliert mit lie führte. Als notorischer Bohemien in ständigen fi-
der Faszination einer »modernen« Symptomatologie, nanziellen Nöten und gesundheitlichen Krisen,
welche aber mit einer noch völlig konventionellen ausgelöst durch Medikamenten- und Alkoholsucht,
Seelen-Allegorik verbunden wird. Insgesamt lieferten verfaßte er gleichwohl diätetische Ratschläge; den
die Bände ein diagnostisch einwandfreies Bild von Band Pròdrŏmŏs (1906) nannte er den »ersten phy-
»Neurasthenie« – ein Terminus, der erst Anfang der siologischen Roman« und eine Vereinigung von
1880er Jahre von George Beard eingeführt worden Dichtung und Hygiene. Seine aphoristischen Tips zu
war; die Müdigkeits-Neurose wurde auf die »mo- Ernährung, Verdauung, Bewegung, Massage und
derne« Überreizung zurückgeführt. Bei Dörmann Frischluftzufuhr stehen im Kontext der Reformkultur
wird dieses generationstypische Leiden allerdings nur um 1900, haben aber mit einem Gesundheitsratgeber
ästhetisch ausgestellt. kaum etwas zu tun: Die Dringlichkeit der Ausrufe-
»Ego Narcissus« lautet eins der Motti eines ande- sätze bezieht sich vielmehr auf die Schwierigkeit, das
ren Kultbuches der 1890er Jahre: Der Garten der Er- Konzept einer leib-seelischen Einheit gegen die zeit-
kenntnis (1895) von Leopold von Andrian (1875– typische Erfahrung von Dissoziation und Fragmen-
1951), bei S. Fischer verlegt, wurde außerordentlich tierung zu halten – einer Fragmentierung, der
hochgeschätzt. Andrian, Sohn eines Anthropologen, schließlich auch die Form der Aufzeichnungen kon-
in Wiener Internaten erzogen, begann nach dem Stu- genial ist: »Unser Nervensystem trägt keinerlei Ver-
dium eine diplomatische Karriere, womit seine Lauf- antwortung für seine Moment-Impressionen. Jede
bahn als Schriftsteller auch schon wieder abgeschlos- Minute hat ihre eigenen Gesetze. Frage mich um 6
sen war. Selbst depressiv und schwer hypochondrisch Uhr, was ich um 5 für ein Mensch war?!? Vielleicht
veranlagt, schilderte Andrian einen jungen Fürsten- ein höherer, vielleicht ein niedrigerer – – –« (Alten-
sohn auf der Suche nach dem »Geheimnis des Le- berg 1906, 206). Die Utopie der Selbstheilung schei-
bens«; hypersensibel und nervenschwach, stirbt »der tert an dem Umstand, daß der »Dyspepsie der Seele«
Erwin«, ohne diese Erkenntnis erreicht zu haben. in Eigenregie nicht mehr abzuhelfen war.
Seine Morbidität legiert sich aber mit einem Schön-
heitskult, der alle Wahrnehmungen zu einem kostba-
Allianz und Abwehr: Karl Kraus
ren Ensemble von Kunstgegenständen stilisiert. Die
Distanzierung des Ich von der Außenwelt führt zu Während Schnitzler und Hofmannsthal sich auf eine
einer traumhaften und märchenartigen Atmosphäre – wenn auch distanzierte – Beschäftigung mit der
und erweckt die Sehnsucht nach einem »Anderen«, Psychoanalyse einließen, andere Autoren des »Jungen
einem verbotenen und geheimen Bezirk. Allerdings Wien« auf Freud kaum reagierten, gab es für eine
wird die Wirklichkeit schließlich selbst noch als Pro- kurze Zeit auch eine Art von Allianz – allerdings mit
jektion und als narzißtische Spiegelung erkannt: »er einem bereits Außenstehenden. Karl Kraus (1874–
selber war die Welt, gleich groß und gleich einzig wie 1936) hatte sich schon mit den Vertretern des »Jun-
sie, [. . .] er hoffte, daß [. . .] ihm aus ihrem Bildnis gen Wien« überworfen, als er sich kurzfristig in ein
36 Freud und seine Epoche

Bündnis mit der Psychoanalyse einließ. Geboren und die Geldbegattung verächtlich findet, die Frau zur
1874 im nordböhmischen Jicín als Sohn eines jüdi- Dirne macht und die Dirne beschimpft, die Geliebte
schen Papierfabrikanten, der mit seiner Familie 1877 geringer werthet als die Ungeliebte« (Kraus, Die Fak-
nach Wien übersiedelte, hatte Kraus in Wien Jura, kel 115, 17. September 1902, 23 f.). Tatsächlich be-
Philosophie und Germanistik studiert und Anfang stand in der habsburgischen Hauptstadt eine Praxis
der 1890er Jahre Kontakte zu den Schriftstellern des der sexuellen Libertinage – um 1890 schätzte man die
»Jungen Wien« gehalten. Allerdings betrachtete man Zahl der Prostituierten in Wien auf 25.000 –, beglei-
ihn von Anfang an nicht als unmittelbar zugehörig, tet von einem scheinheiligen öffentlichen Diskurs. In
und umgekehrt nahm Kraus heftigen Anstoß an Her- vielen Polemiken richtete sich Kraus nun einerseits
mann Bahrs publizistischer Tätigkeit und seiner No- gegen die Unterdrückung vor allem der weiblichen
vitäten-Propaganda. Bereits 1893 veröffentlichte Sexualität durch Schweigegebote und Sanktionen,
Kraus, der im Jahr zuvor seine Maturitätsprüfung ab- andererseits gegen die Veröffentlichung und Ver-
gelegt hatte, eine Polemik gegen Bahr unter dem Titel marktung der Privatsphäre durch Justiz und Presse.
Die Ueberwindung des Hermann Bahr, in dem er In der Opposition gegen die gesellschaftliche
nicht nur dessen »absurde Sensationsriecherei und Scheinmoral schien es nun die Möglichkeit eines
Originalitätshascherei« aufs Korn nahm, sondern Bündnispartners zu geben. Im Oktober 1904 nahm
auch die »patschuliwedelnden Decadencepinsche[r] Freud mit Kraus Kontakt auf und beglückwünschte
und artigen Bologneserhündchen«, die Bahr auf dem ihn zu seinen Stellungnahmen zum neuesten »Sitt-
Fuß folgten (Wunberg 1976, I, 392). Zum endgülti- lichkeitsskandal«. Kraus’ Gesellschaftskritik und
gen Bruch kam es im November 1896, als Kraus’ Po- Freuds psychoanalytische Einsichten konvergierten
lemik Die demolirte Litteratur in Fortsetzungen in der in ihrem aufklärerischen Impetus, und Freud schlug
»Wiener Rundschau« zu erscheinen begann. Der Ti- Kraus im November 1906 ausdrücklich vor, daß »wir
tel der Satire spielt auf das Kaffeehaus Griensteidl am wenige« zusammenhalten sollten – eine Allianz der
Wiener Michaelerplatz an, das abgerissen (»demo- Vernunft gegen die gemeinsamen Gegner, die amora-
liert«) werden sollte, ein Treffpunkt der Autoren des lisch zensurierenden gesellschaftlichen Instanzen und
»Jungen Wien«, den Kraus bereits als Gymnasiast fre- deren Widerstände, stand in Aussicht (Worbs 1983,
quentiert hatte. Nun galt – und gilt – das Kaffeehaus 149–177; Timms 1986/1995, 141–174).
als besonders kreatives Milieu, als inspirierende Diese Hoffnung bestand aber nur kurz; Kraus’
Halböffentlichkeit, als offenes Kommunikationsfo- Skepsis gegenüber einer doktrinären Verfestigung
rum, das die erstaunliche Produktionsdichte der psychoanalytischer Theoreme nahm rapide zu; auf
Wiener Künstler überhaupt erst ermöglicht haben die Selbstimmunisierung des Analyseverfahrens rea-
soll. Kraus räumte mit den folkloristischen Aspekten gierte er polemisch, wozu auch noch ein Zerwürfnis
des Topos ebenso auf wie mit den Manierismen der mit dem Freud-Schüler Fritz Wittels (1880–1950)
Autoren; Ziel seiner Angriffe ist die Überstilisierung kam. Ohne daß Freud je persönlich angegriffen
von Texten und Personen. wurde, mehrten sich in der Fackel nun die satirischen
Im Jahr 1901 sollten sich Karl Kraus und Hermann Ausfälle gegen seine Theorie; sie gipfelten im wohl
Bahr dann auch als Prozeßgegner gegenüberstehen. berühmtesten psychoanalysekritischen Aphorismus:
Inzwischen hatte Kraus eine eigene, legendär gewor- »Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren
dene Zeitschrift, Die Fackel, gegründet, in der er Therapie sie sich hält« (Kraus, Die Fackel 376/377,
österreichische Zustände, vor allem im Pressewesen, 30. Mai 1913, 21). Noch in Kraus’ Traumstück (1922)
aufs schärfste attackierte. Das erste Heft erschien im singt der Chor der »Psychoanalen« vom »eignen De-
April 1899; ab 1911 alleiniger Verfasser, sollte Kraus fekt«. Vollkommen untolerierbar war für Kraus das
bis zu seinem Tod die notorischen roten Hefte als Eindringen wilder Interpreten in die für ihn geheilig-
Waffe gegen Rückständigkeit und Verlogenheit ein- ten Gebiete der Dichtung: »Man glaubt, daß Ge-
setzen, und zwar vielfach in der Form des kommen- dichte / der Genius verrichte, / das ist blauer Dunst. /
tierten oder unkommentierten Zitats: Die korrum- Privat onanieren / und für die Welt sublimieren / no
pierte Sprache verriet von selbst die Korruption ihrer ist das eine Kunst?« (Kraus 1989, 99). Auch dieser
Subjekte oder Sujets. Besonders heftige Angriffe rich- Bruch zwischen Kraus und der Psychoanalyse ist ein
tete Kraus auch gegen die Rechtssprechung in Sitt- Ausdruck eines Autonomiebeharrens seitens der Lite-
lichkeitsfragen. Den juristischen Eingriff ins Intimle- ratur. Die ästhetische Höhe der Wortkunst wollte
ben bei gleichzeitiger Doppelmoral in eroticis kriti- Kraus seinerseits als Tabuzone gesichert wissen; psy-
sierte er als »unselige Heuchelei« und attackierte eine choanalytischen Deutungswünschen mußte er hier
Gesittung, welche »die Geldheirat erstrebenswerth als schärfster Zensor entgegentreten.
Die Wiener Moderne 37

Grenzverkehr zur »Nachbarmacht«: hang gestellt (Corino 1973, 151 ff.). Törleß, von des-
Robert Musil sen Position zwischen Realitätsverdopplung und Ich-
Spaltung aus es auch den Vorschein einer »zweiten«,
Für Robert Musil (1880–1942) und Stefan Zweig rational nicht zugänglichen Wirklichkeit gibt, ent-
(1881–1942) brauchte es keinen »freudian turn« zieht sich am Ende den »Verwirrungen« und legt sie
mehr zu geben. Obwohl nur wenige Jahre jünger als als vergangene Phantasmen gewissermaßen ad acta.
Kraus, gehörten sie zur »zweiten Generation« der Musil, der sich in der Folge nicht nur mit der Ter-
österreichischen Moderne. Ihre Werke wuchsen mit minologie von Pierre Janet und Charcot vertraut
der Entwicklung von Freuds Arbeiten mit; wiewohl zeigte, sondern auch immer genauere Kenntnis der
der Beginn der Freud-Lektüre nicht eindeutig nach- Psychoanalyse erwarb, teilte eine prinzipielle Ein-
gewiesen werden kann, gilt für beide Autoren, daß schätzung der Schriftsteller-Seite: daß die Psychoana-
Kenntnisse der Psychoanalyse, wenn vielleicht auch lyse Redefreiheit für Tabubezirke erkämpft, mithin
in indirekter und popularisierter Form, bereits zu auch dem Literarischen geöffnet hatte: »Die Psycho-
den Voraussetzungen ihres Frühwerks gehörten. analyse hat bewirkt, daß über das Sexuelle (das bis
Für Robert Musil wurde Wien erst mit Verspätung dahin der Romantik und der Niedrigkeit überlassen
Zentrum von Leben und Werk. In Klagenfurt gebo- war) gesprochen werden könne: das ist ihre unge-
ren, studierte er in Brünn Maschinenbau, in Berlin heure zivilisatorische Leistung« (Musil 1955, 573).
Philosophie und Psychologie und lebte erst ab 1911 Dieser Dank verband sich aber mit sehr komplizier-
in der habsburgischen Hauptstadt. Sein erster Ro- ten Abwehroperationen, da Musil zugleich davon
man, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), ausging, daß die Psychoanalyse der Literatur umge-
enthält Reminiszenzen seiner Internatszeit an der kehrt auch den Boden entzog. Um 1926 notierte er:
Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen: »Die Wissenschaft nimmt ihr Terrain ab, die Psycho-
Törleß, dessen pubertäre Sinnlichkeit sich zuerst an analyse ist nur solange eine finster drohende u lok-
die Besuche bei der Prostituierten Božena heftet, kende Nachbarmacht für den Dichter als er wenig
wird Zeuge sadistischer Praktiken zweier Mitschüler von ihr versteht u sie ein Durcheinander von wissen-
an dem Kadett Basini und verfällt damit einer tiefen schaftl. Genialität u. Journalismus bildet. Sobald ein
Krise; später wird er von Basini verführt. Den Einfluß psychol. Gebiet geklärt ist, wird es ebensowenig
Freuds auf dieses Werk meinte man zweifelsfrei fest- dichtbar sein wie eine umständliche Beschreibung
stellen zu können, wobei der sichere Nachweis von der Wunder einer Elektrisiermaschine« (Musil 1978,
Textkenntnissen bei Musil zu dieser Zeit noch fehlt. 8, 1404).
Daß Musil zumindest von den Hysterie-Studien No- Gegenüber der »Nachbarmacht« besteht Musil auf
tiz genommen hatte, ist allerdings vorauszusetzen; er Souveränität. Kritische, auch spöttische Bemerkun-
hatte die Hinweise wohl bei Ernst Mach, über den er gen fallen bei ihm späterhin nicht nur gegen die Psy-
dissertierte, und Otto Weininger gefunden. Weinin- choanalyse und ihre Immunisierungsstrategien, son-
gers Monographie Geschlecht und Charakter (1903), dern vor allem gegen die psychoanalytische Litera-
die bei einem biologischen Geschlechtsdimorphis- turinterpretation: »Personen eines Dichtwerks wie le-
mus beginnt und bei einer fanatisch verfochtenen bende Menschen behandeln ist die Naivität des
ontologischen Geschlechterpolarität endet, war von Affen, der in den Spiegel greift« (Corino 1973, 125).
außerordentlicher Wirkung auf die Zeitgenossen; die Diese ausdrückliche Distanznahme behält sich nicht
Idee einer männlich-geistigen Sublimierungsleistung, nur Autonomie vor, sondern auch das Recht, die Psy-
die der bedrohlichen weiblichen Sexualität gegen- choanalyse ihrerseits für eine »Teilwahrheit« (Musil
übersteht, hat noch in der Zwischenkriegszeit vielfa- 1978, 3, 1018) zu halten. Auf General Stumm von
che Wurzeln in dieser obsessiven Schrift. Wie immer Bordwehrs Aufmarschplan des Geistes, von dem Der
vermittelt, sind die Affinitäten zwischen Törleß’ Mann ohne Eigenschaften hinreißend ironisch erzählt,
Empfindungen und Freuds Basisannahmen zum wäre ihr Urheber als ein »Ideenbefehlshaber« (Musil
Ödipus-Komplex ganz offensichtlich. Die »Ideenver- 1978, 2, 374) unter anderen anzusehen.
schlingung« (Musil 1978, 6, 33), die sich für Törleß
zwischen seiner Mutter und Božena einstellt, wird
Zum Abschied: Stefan Zweig
ungemein plastisch geschildert und wirkt wie eine
Vorwegnahme von Freuds Studie Über einen beson- 1881 als Sohn eines Wiener Textilunternehmers ge-
deren Typus der Objektwahl beim Manne (1910): Zum boren, ist Zweig seit 1904 als Novellist, als histori-
eigenen Entsetzen werden Mutter und Hure in einen scher Biograph, als Autor von Persönlichkeitsbildern
ebenso peinigenden wie zwingenden Zusammen- und Übersetzer hervorgetreten. Ein großer Reisender
38 Freud und seine Epoche

und mit vielen seiner europäischen Zeitgenossen ver- merksam, daß auch zwischen dem Biographen und
bunden, setzte er sich nach dem Weltkrieg für pazifi- seinem Gegenstand Übertragung stattfindet (Zweig
stische und paneuropäische Ideen ein. Er verstand 1989, 173; Hoffer 1994). Zweig hatte einen asketi-
sich selbst als Hermeneut großer Geister und ver- schen Wahrheitsfanatiker erdichtet, der sich aus-
schiedener Völker und entwickelte in dieser Vermitt- schließlich um die menschlichen Nachtseiten küm-
lerfunktion eine literarische Psychologie, die auf eine mert. Von dieser seiner eigenen Projektion wandte er
konsequente und konsensuelle Plausibilisierung hi- sich am Ende ab, um trotz aller Hochachtung vor
storischen Handelns aus ist. Nicht von ungefähr hat Freud eine »Psychosynthese« herbeizuwünschen, die
seine Darstellung der Psychoanalyse daher ihre »an- dem Menschen auch Trost und Erhebung spenden
stößigsten« Züge entfernt und gemildert. Wenn die könnte. Hier wird Psychoanalyse mit den Qualitäten
Literatur in Gestalt von Stefan Zweig der Psychoana- der Literatur, allerdings der vormodernen, über-
lyse ihren Dank abstattet, dann tut sie es nicht, ohne trumpft. Wie Arthur Schnitzler seinerzeit seinen Bio-
ihrerseits zensurierend in Freuds Theorie einzugrei- graphen Reik wissen ließ: »Über mein Unbewußtes
fen. [. . .] weiß ich aber immer noch mehr als Sie« (Urban
Ein direkter Kontakt zu Freud bestand seit 1908; 1975, 240 f.), so entgegnete diesmal Freud: »der Kerl
ab damals sandte man einander die Neuveröffent- ist doch etwas komplizierter« (Zweig 1989, 154). Auf
lichungen zu. Zweigs Essayband zu Hölderlin, Kleist dem Feld der Biographie lieferten sich Literatur und
und Nietzsche, Der Kampf mit dem Dämon (1925), Psychoanalyse also ein Patt: Während der Schriftstel-
ist Freud gewidmet. Im Briefwechsel mit Freud tritt ler beanspruchen muß, daß Lebensgeschichte mehr
Zweig als Sprecher für eine freudianisch geprägte ist als die Psychographie der betreffenden Person,
Epoche auf: »Ich gehöre zu der geistigen Generation, kennt der Analytiker noch die unbewußten Strebun-
die kaum jemandem so sehr für Erkenntnis verschul- gen des Biographen. Auch die Konkurrenz um die
det ist als Ihnen«, schrieb er ihm im März 1920, und gültigere Vermittlung von Lebens- und Werkge-
im September 1926: »Sie haben, wie zahllosen einzel- schichte mußte unentschieden ausgehen.
nen Menschen der Literatur einer ganzen Epoche die Schon 1934 gab Zweig seinen Salzburger Wohnsitz
Hemmungen weggenommen. Dank Ihnen sehen wir auf, um nach London zu ziehen, wo er nach Aus-
vieles, – Dank Ihnen sagen wir vieles, was sonst nicht bruch des Zweiten Weltkriegs die britische Staatsbür-
gesehen oder gesagt worden wäre. [. . .] Und wir wer- gerschaft annahm. Im Juni 1938 hat er den aus Wien
den nie diesen großen Eröffner verleugnen« (Zweig vertriebenen Freud dort begrüßt. In ihrer beider Hei-
1989, 130, 142) – womit er die ödipale Revolte von mat war der aufklärerische Impuls ihres Schaffens auf
vornherein dementierte. In dieses durchaus patriar- tragische Weise gescheitert; weltweit war ihr Ruf un-
chalisch geprägte Schüler-Lehrer-Verhältnis ist Freud angefochten. Am 14. September 1939 richtete Zweig
denn auch mit Interesse an den Fortschritten und seinen letzten Brief an den »Freund und Meister«.
wohlwollender, aber entschiedener Kritik eingetre- Zwölf Tage später hat er an Freuds Sarg Abschieds-
ten. Die Korrespondenz, in der Freud Zweigs Werke worte gesprochen, deren Ambivalenz ihnen nichts
ja nicht deutet, sondern seinen Deutungen histori- von ihrer Gültigkeit nimmt: »Sitte, Erziehung, Philo-
scher Persönlichkeiten aus professioneller Sicht zu- sophie, Dichtkunst, Psychologie, alle und alle For-
stimmt oder nicht, markiert tatsächlich eine neue men geistigen und künstlerischen Schaffens und see-
Stufe der Kooperation zwischen Literatur und Psy- lischer Verständigung sind seit zwei, seit drei Gene-
choanalyse. rationen durch ihn wie durch keinen zweiten unserer
Allerdings hatte dieses Verhältnis, selbst psycho- Zeit bereichert und umgewertet worden – selbst die
analytisch betrachtet, auch seine Vertracktheiten: von seinem Werk nicht wissen oder gegen seine Er-
Daß Zweig in wortreicher Bewunderung Freud zum kenntnisse sich wehren, selbst jene, die niemals sei-
Heros machte und verklärte, ist offensichtlich; daß er nen Namen vernommen, sind ihm unbewußt pflich-
damit sein eigenes Ich-Ideal projizierte und eine »he- tig und seinem geistigen Willen untertan. Jeder von
roische Identifizierung« vollführte (Cremerius 1975), uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wäre
erscheint plausibel; daß dabei auch eine unterdrückte anders ohne ihn in seinem Denken und Verstehen,
Auflehnung im Spiel war, läßt sich nicht von der jeder von uns dächte, urteilte, fühlte enger, unfreier,
Hand weisen. Umgekehrt reagierte Freud mit vielsa- ungerechter ohne sein uns Vorausdenken, ohne jenen
genden Distanzierungen. In seinem eigenen Psycho- mächtigen Antrieb nach innen, den er uns gegeben«
porträt aus Zweigs Band Heilung durch den Geist (Zweig 1989, 188, 250).
(1931) wollte er sich nur bedingt erkennen; bei späte-
rer Gelegenheit machte er Zweig diskret darauf auf-
Anfänge der modernen Sexualwissenschaft 39

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40 Freud und seine Epoche

mögen und Aktivitäten abgegrenzt und überwiegend Sphäre trennte. Eine profane Weltsicht begann, mit
als Sexualität zur gesellschaftlichen Form geworden. Hilfe einer Reflexionsphilosophie und vieler Wissen-
schaften, die wie Pilze aus dem Diskursboden schos-
sen, die neuen Fragmente, Körper, Seele, Sexualität,
Die erkenntnistheoretische Geburt
Selbstbewußtsein usw., ganz anders zu ordnen. Das
der Sexualform
Gefühl der Sexualität als solcher entstand – und die
In den zwei bis drei Jahrzehnten vor und nach 1800 Voraussetzung der Undinge Erfahrungs-Seelen-
ereignete sich nach übereinstimmender Auffassung kunde, Subjekt-Sexuologie und Psycho-Analyse.
namhafter Philosophen ein epistemologischer Bruch: Vor diesem und verschränkt mit diesem Prozeß er-
Der Mensch als solcher trat als selbstmächtiges Sub- eignete sich eine Anti-Masturbations-Kampagne, die
jekt in die Ordnung des Wissens, die sog. Episteme. einen eigenmächtigen, schwer zu kontrollierenden
Vor dieser Schwellenzeit gab es kein erkenntnistheo- Akt durch Allo- und Autopathologisierung in eine
retisches Bewußtsein vom Menschen als solchem. nicht mehr versiegende Quelle von Fahrlässigkeit
Weil die vorausgegangene Episteme kein spezifisches und Schuld der bewachenden und erziehenden Er-
und eigenes Gebiet des Menschen isolierte, konnte wachsenen, von Schwäche und Lebenshypothek der
Foucault in Les mots et les choses (1966/1971, 373) Heranwachsenden sowie von Gestört- und Abnorm-
sagen: »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts sein beider transferierte, ein beängstigender Prozeß,
existierte der Mensch nicht.« der Überwachungs- und Reparaturmächte notwen-
Erst jetzt traten Objektbereiche und Subjektver- dig machte. Diese Kampagne zeigt, wie das bürger-
mögen ins Zentrum des Wissens, die uns epistemolo- liche Subjekt im Moment seines Entstehens zerrissen
gisch noch vertraut sind, die aber wieder zurückzu- wurde, sich selbst zu vernichten suchte, paradoxer-
treten scheinen: Arbeit und Arbeitskraft, Leben und weise durch lustvolle Sensationen, die selbst für Kant
Lebenswille, Sexualität und Sexualtrieb, Sprache und (1797/98, 1803) zur Selbstschändung und Selbstver-
Sprachvermögen. Die fundamentale Opposition von nichtung geworden waren.
Leben und Tod, von Lebendigem und Nichtleben- Indem die Wonne des sog. Soulaschierens (heute:
digem tauchte auf; Biologie konnte entstehen. Das Onanieren) ausgetrieben wird, werden die Traktier-
Organische wurde zum Lebendigen, das produziert, ten sexualisiert, und das Orgiastische läßt sich in den
indem es wächst und sich reproduziert; das Anor- Fahndungsorgien nieder. Jetzt beginnen die Soula-
ganische wurde zum Nichtlebendigen, das unfrucht- schanten zu wissen, daß das, was ihnen eine ebenso
bar und bewegungslos mit dem Tod zusammenfällt. harmlose, weil unproblematisierte Wohllust bereitet
Zwei Jahrhunderte später sind die Oppositionen hatte, eine Wollust ist, die entweder in die überir-
nicht mehr fundamental, weil Leben und Tod diver- disch-seelische Hölle führt oder ins irdisch-körper-
sifiziert wurden und ineinander übergehen. Und der liche Verderben – bis einem mit Tissot (1758/1760)
Status des Subjekts ist epiphänomenal. Es ist nicht das Hirn in der Schale rasselt. Das Wort ›Masturba-
Herr – und schon gar nicht Frau – im eigenen Haus tion‹ erinnert noch an beide Zu- und Abflüsse, und
und in den Systemen, kein Integral, geschweige denn das »Hand-an-sich-Legen« kann als Tertium compa-
Konstituens. Im Zentrum der System-, Bedeutungs- rationis von Selbsterregung und Selbstmord gelesen
und Bewußtseinskonstitution stehen Objektive (vgl. werden.
Sigusch 2005c, 192 f.), die »Subjektivität«, gedacht als Die bis in die 1960er Jahre anhaltende Kampagne
allgemeines, »Personalität«, gedacht als besonderes, zeigt auch, wie die bürgerliche Sexualform im Mo-
und »Individualität«, gedacht als einzelnes Selbstbe- ment ihres Entstehens dadurch deformiert wird, daß
wußtsein, deplazieren, in eine exzentrische Position sich in ihr alte Raster der Sündhaftigkeit und des Ver-
zwingen. brechens mit neuen des Viehischseins, der Unnatür-
Kein Wunder also, daß Sexualität als eine kulturell lichkeit, der Unkontrolliertheit, der Entgleisung und
allgemein durchgesetzte, isolierte und dramatisierte Verschleuderung kostbarster Lebensgüter, des Raub-
Form nur in den europäisch-nordamerikanischen baues an sich selbst, der Dysfunktionalität und der
Arbeits- und Lebensgesellschaften entstand, eine Tat- Abnormität zu einem monströsen Konstrukt aus
Sache, die bis heute auf Weltkongressen der Sexuo- Unzucht/Delinquenz/Laster/Störung/Krankheit ver-
logie oder der Gesundheitsförderung für Verwirrung schränken. Andererseits konnte eine allgemeine Se-
sorgt. Die Sexualform, die wir kennen, bildete sich xualform nur entstehen, weil die Not der Menschen
als erkenntnistheoretisches, moralisches, ästheti- in der experimentell-ökonomischen Tausch- und
sches, medizinisches und psychologisches Problem Wissensgesellschaft nicht mehr überwiegend Hun-
heraus, als sich die religiöse von der epistemischen gersnot war und weil gleichzeitig alle menschlichen
Anfänge der modernen Sexualwissenschaft 41

Vermögen isoliert und als solche vergesellschaftet dert aber geht es bei uns seit zwei Jahrhunderten,
wurden. Nach und nach wurde die »sexuelle Frage«, anders als in anderen Kulturen, vorrangig um das
nur ein Teil der »sozialen«, nicht mehr darauf be- materielle und manifeste und nicht um das imma-
grenzt, »Selbstschändung« und Zwittrigkeit zu besei- terielle und spirituelle Befriedigen von Gier und
tigen, Zweigeschlechtlichkeit zu installieren und die Neugier. Leibhafte Bedürfnisse werden nicht wie in
Fort-»Pflanzung« je nach herrschendem Kalkül an- der europäischen Antike und im alten China maßvoll
oder abzustellen. reflektiert begrenzt oder gar wie im alten Indien
kunstvoll beseitigt; sie werden vielmehr maß- und
kunstlos befriedigt, und zwar im allgemeinen auf ei-
Die Fabrikation des »Sexualwesens
nem niedrigen Ritualitäts- und Reflexivitätsniveau,
Mensch«
um nicht zu sagen: auf dem Niveau einer Kulturbeu-
Am Ende des 19. Jh.s fiel die sexuelle Frage mit der tel-Kultur.
Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Glück und Den ihr angemessenen Namen, einen Kollektivsin-
Leidenschaft, nach erregter Harmonie, nach dem gular, der die zahllosen Vorgänger von Venus bis Ni-
Verhältnis von Mensch zu Mensch als einem mensch- sus (heute: am ehesten Trieb) verschlingt, erhält die
lichen zusammen. Dazu konnte es nur kommen, weil kulturelle Sexualform erst im 19. Jh. Erst dann wird
die Bourgeoisie die Idee der freien, gleichen indivi- das Adjektiv »sexuell« (wie das Adjektiv »modern«)
duellen Geschlechtsliebe als einen neuen sittlichen in den europäischen Sprachen substantiviert: »Se-
Maßstab in die Welt gesetzt hatte: Liebe als ein Men- xualität / sexualité / sexuality« gibt es zuerst bei den
schenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebe Pflanzen, dann bei den Tieren, eine epistemische
als freie Übereinkunft autonomer Subjekte, die Ge- Mitgift, die nach wie vor kausale Schatten wirft. Das
genliebe beim geliebten Menschen voraussetzt, Lie- Hauptwort »Sexualität« findet sich weder in der Bibel
besverhältnisse als Gewissensverhältnisse von Dauer noch bei Homer noch bei Shakespeare. Für die Se-
wie von Intensität. xualwissenschaft ist das kein Nebenbefund, sondern
Der hellhörige Hegel (1798, 268 f.) schrieb zu Be- die Sache selbst: Vergesellschaftung von Geschlecht
ginn des bürgerlichen Zeitalters: »Das Bild besserer, und Liebe, von Eros, Minne, Wohllust, Piacere,
gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seelen der Men- Amore usw. Was in den Jahrhunderten davor mit
schen gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen zahllosen Ausdrücken bezeichnet werden konnte,
nach einem reineren, freieren Zustande hat alle Ge- wird seit dem 19. Jh. oft nur noch mit einem Wort
müter bewegt und mit der Wirklichkeit entzweit.« bedacht.
Das Gefühl der Not wird unerträglich, das Bedürfnis Die Fabrikation des »Sexualwesens Mensch«, wie
nach Veränderung gewaltig. Der Deutsche Karl Hein- Kentler (1984) es nannte, dauerte aber sehr viel län-
rich Ulrichs (1864), der Männer liebt, und der Italie- ger und war blutiger als der Übergang vom Adjektiv
ner Paolo Mantegazza (1873), der Frauen liebt, drük- zum Substantiv. Charakteristisch »für die mittelalter-
ken es aus, seufzen nach einem »reineren, freieren liche Gesellschaft, verglichen mit der neuzeitlichen«,
Zustande«, geben der Wissenschaft den Auftrag, das ist »die extreme Uneinheitlichkeit des Verhaltens«
Geschlechtswesen Mensch jetzt auch als Liebes- und (Elias 1969, Bd. 1, 157 f.). Jahrhunderte, einen einzig-
Sexualwesen zu erforschen und für beide »bessere, artigen »Prozeß der Zivilisation« lang, dauerte es, bis
gerechtere Zeiten« zu erkämpfen. die Alteuropäer allgemein und effektiv für Lohnar-
Die Gegenwart erschien als »Zeitgeist«, als vor- beit, Sittlichkeit und Sexualität disponiert waren, bis
übergehend, als ein »allmähliche[s] Zerbröckeln« das Sexuelle gleichzeitig hervorgehoben und ver-
(Hegel 1807, 18). Mentalitäten und Begriffe der Ver- schwiegen werden konnte, »so erhoben und ernied-
änderung entstanden: Bewegung, Krise, Entwick- rigt« wie keine andere »Naturerscheinung« (Hirsch-
lung, Fortschritt, Emanzipation, Revolution usw. Da feld 1908, 9). Unvorstellbar für einen mittelalterli-
aber der autonome Bürger, der schon im Prozeß sei- chen Menschen, was für uns einheitlich selbstver-
nes Entstehens zerfiel, »mit der Wirklichkeit ent- ständlich ist: in einem dunklen Kino sitzen, einen
zweit« blieb, nicht zuletzt weil er das weibliche Ge- exzitierenden Film sehen, die »Sexualobjekte« in
schlecht zum Sexus sequior, das heißt zum zweiten, Greifnähe haben – und trieb- wie affektgedrosselt
abgeleiteten Geschlecht, degradierte, hielt das »Seuf- bleiben.
zen« an, verschwand die Not des Lebens nicht, ver- Das fabrizierte »Sexualwesen Mensch« war nicht
loren die Menschen das Gefühl des Unbehagens in einfach weiterhin unfrei oder gar erstmalig frei; es
der Kultur nicht. Und so schleppten sie sich von se- war vielmehr unfrei frei. Nach Hegels (1798–1800,
xueller Revolution zu sexueller Revolution. Unverän- 323) Beobachtung unterscheidet sich der wilde
42 Freud und seine Epoche

»Mogulitze« vom ebenso vernünftigen wie sexuellen Weibes, von der insgesamt vergleichbaren Stärke der
Repräsentanten der neuen europäischen Gesellschaft Geschlechter, vom Geschlechterverhältnis im eigenen
dadurch, »daß jener den Herrn außer sich hat, dieser Land und bei entfernten Völkern, von der Hygiene
aber den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eige- als Garant der Zukunft usw. Daneben schrieb Mante-
ner Knecht ist; für das Besondere, Triebe, Neigungen, gazza Romane. Von der Wirkung und Verbreitung
pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es seiner Werke her ist er der Kinsey der Jahrzehnte zwi-
nennt, ist das Allgemeine notwendig und ewig ein schen 1870 und 1930. Grundsätzlich ging es Mante-
Fremdes, ein Objektives; es bleibt eine unzerstörbare gazza um die Verwissenschaftlichung des »Ge-
Positivität übrig, die vollends dadurch empörend schlechtssinnes« und der Liebe zwischen Mann und
wird, daß der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot Frau. Maßstab war dabei ein ideeller und optimisti-
erhält, eine bestimmte Pflicht, den Widerspruch ein- scher Naturalismus. Aus heutiger Sicht sind seine
geschränkt und allgemein zugleich zu sein enthält Abhandlungen zur Psychologie und Soziologie der
und um der Form der Allgemeinheit willen für ihre heterosexuellen Liebe, zur gesellschaftlichen und ma-
Einseitigkeit die härtesten Prätentionen macht.« Das teriellen Ungleichheit der Geschlechter und zur Eth-
also meint subiectum. So also kann das Prinzip der nologie des Sexual- und Geschlechtslebens strecken-
Subjektivität als eines der Herrschaft verstanden weise der nachfolgenden Sexualwissenschaft um
werden. Jahrzehnte kritisch voraus (Mantegazza 1854, 1873,
1886, 1893; vgl. Sigusch 2007).
Der aus Ostfriesland stammende königlich hanno-
Die ersten Sexualwissenschaftler
versche Amtsassessor, preisgekrönte Rechtsgelehrte,
der Moderne
Lyriker und Latinist Karl Heinrich Ulrichs ist inso-
Als sich Freud in den 1890er Jahren der sexuellen fern im emphatischen Sinne ein Sexualwissenschaft-
Frage zuwandte, existierte bereits eine Wissenschaft, ler der ersten Stunde, als er auf einzigartige Weise auf
die sich noch nicht Sexualwissenschaft nannte, aber der Lichtseite der Aufklärung zu operieren suchte.
insofern eine moderne Sexuologie war, als sie die Seine kulturelle und politische Modernität läßt oft
Frage erörterte, was an Genus und Sexus natürlich/ hinsichtlich Freisinn und Menschenrecht den Geist
gesund/essentiell und was unnatürlich/krank/kon- des 19. Jh.s weit hinter sich. So war für ihn selbst-
struiert sei. Während die meisten Historiker die Se- verständlich, daß alle Menschen mit der gleichen
xualwissenschaft mit Richard von Krafft-Ebing Würde ausgestattet sind und dieselben Rechte zu be-
(1840–1902) oder mit Iwan Bloch (1872–1922) be- anspruchen haben. Alle sexuellen Vorlieben werden
ginnen lassen, halte ich Karl Heinrich Ulrichs (1825– respektiert, keine ist mehr wert, keine freiwillig unter
1898) und Paolo Mantegazza (1831–1912) für die er- Erwachsenen praktizierte wird bestraft, alle sind
sten Sexualwissenschaftler im emphatischen Sinne. nachweislich gesund und natürlich, namentlich die
Aus einer angesehenen norditalienischen Familie mannmännliche Liebe. Diese subjektive Gewißheit
stammend, stieg Mantegazza nach dem Studium der versetzte Ulrichs in die Lage, der mutigste, entschie-
Medizin und Philosophie zum Abgeordneten und Se- denste und einflußreichste Vorkämpfer der Homose-
nator des Königreichs sowie zum Professor für Pa- xuellen-Emanzipation zu werden. Dabei folgte er un-
thologie in Pavia und für Anthropologie und Ethno- willkürlich willkürlich dem Gebot des inzwischen ge-
logie in Florenz auf. Er begann bereits als 21jähriger sellschaftlich installierten Wissensobjektivs, nach
eine enorme Wissensmenge zu sammeln und selbst dem noch das Intimste, Geheimste, Schamloseste
durch Experimente an Tieren und Menschen, durch und Unaussprechlichste bei einem Namen zu nennen
Beobachtungen und Weltreisen zu produzieren. Als ist. In den 1860er Jahren entwarf Ulrichs die erste
einer der ersten Forscher begann er zu reflektieren, moderne, das heißt »naturwissenschaftliche« Theorie
wie und warum Menschen einer anderen Kultur das, der mannmännlichen Anziehung und stellte Über-
was für uns »erotisch« ist und unveränderbar scheint, legungen in Richtung auf eine »Geschlechtswissen-
mit ganz anderen Bedeutungen versehen. Seine wis- schaft« an (Ulrichs 1865, 1868, 1994; vgl. Sigusch
senschaftlichen und populärwissenschaftlichen Bü- 1999). Mit Blick auf geschlechtlich und sexuell Auf-
cher, die einmalig hohe Auflagen in Europa und fällige und Verpönte, von den Zwittern bis hin zu den
Amerika erreichten, handeln von Liebe und Hass, noch nicht Homosexuelle genannten »Urningen«,
Schmerz und Ekstase, von der Verlogenheit der vertrat er eine Position, die erst heute für wenige For-
christlich geprägten Liebes- und Geschlechtsmoral, men einigermaßen kulturell erreicht ist und mit
von der Entrechtung der Frau als Genus, von der in- Mühe wissenschaftlich gehalten wird: Es geht nicht
tellektuellen Impotenz und der sexuellen Potenz des um Krankheit, Mißbildung, Unzucht, Lasterhaftig-
Anfänge der modernen Sexualwissenschaft 43

keit oder Übersättigung, sondern um Eigenart, Varia- den Jahrzehnten nach Mantegazza, Ulrichs und den
tion, ein Drittes, ein Viertes, ein Anderes. zahlreichen deutschen, französischen, russischen,
Bei Mantegazza ist die Frau sexuell potenter als der nordamerikanischen und italienischen, von Krafft-
Mann. Bei Ulrichs ist der Urning/Homosexuelle ein Ebing zusammengefaßten und angeführten Sexual-
eigensinniges und gesundes Geschlechts-Subjekt. psychopathologen zur Disziplin gemacht haben, in-
Beide mußten aber noch erleben, wie die Medizin, dem sie Zeitschriften, Fachgesellschaften und ein
von einem inzwischen installierten Krankheitsobjek- Institut gründeten, nationale und internationale
tiv diskursiv aufgepeitscht, die weibliche Sexualität Kongresse abhielten, Standard- und Handbücher
zur Minderwertigkeit und die mannmännliche Liebe verfaßten und vor allem viel diskutierte sexualwis-
zur Krankheit umkonstruierte – für zunächst einmal senschaftliche Theorien i.e.S. entwickelten. Zu diesen
hundert Jahre. Forschern gehören vor allem die Berliner Ärzte Al-
Bekanntester Repräsentant jener Richtung, die die bert Moll (1862–1939), Magnus Hirschfeld (1868–
Vorstellungen und Vorarbeiten von Mantegazza und 1935), Iwan Bloch (1872–1922) und Max Marcuse
Ulrichs mißachtete, war Richard von Krafft-Ebing, (1877–1963) sowie der englische Arzt Havelock Ellis
der mit vollem Namen Richard Fridolin Joseph Frei- (1859–1939), der in vielen Büchern auf einem hohen
herr Krafft von Festenburg auf Frohnberg genannt Niveau den jeweiligen Forschungsstand verläßlich
von Ebing hieß (Sigusch 2002b). Er stammte aus ei- und kreativ zusammenfaßte. Hinzu kommen viele
ner süddeutsch-österreichischen Familie, die väterli- Fachleute, die sich spezielle Verdienste erworben ha-
cherseits den Herrschenden als Amtmänner gedient ben, beispielsweise Albert Eulenburg (1840–1917) als
und mütterlicherseits dem aufstrebenden Bürgertum universitätsmedizinisch arrivierter Schutzpatron der
freiheitliche Rechte eingeklagt hatte. Dieses Herkom- neuen, »schmutzigen« Disziplin, Albert Blaschko
men reflektiert sich in Krafft-Ebings Werk: Einerseits (1858–1922) als engagierter Kämpfer gegen die Vene-
preßte er die erotisch-sexuellen Vorlieben und Auf- rie, gegen Geschlechtskrankheiten und wilde Prosti-
fälligkeiten in eine starre psychiatrische Systematik, tution, Hermann Rohleder (1866–1934) als einer der
andererseits zeigte er ein menschenzugewandtes In- ersten Sexualmediziner sowie als einzige, mit der dis-
teresse an den ungewöhnlichsten Niederschlägen des ziplinierten Sexualwissenschaft enger verbundene
Sexualtriebes und ließ die Pathologisierten und In- Frau, Helene Stöcker (1869–1943), die sich vor allem
kriminierten in seinen Veröffentlichungen unzensiert für ledige Mütter und deren Kinder engagierte, gegen
zu Wort kommen. Sein Hauptwerk Psychopathia se- Patriarchalismus und Sexismus kämpfte und über die
xualis (1886) faßte das kasuistische Meinen und Wis- »freie« Liebe nachdachte.
sen der europäisch-nordamerikanischen Psychiatrie
und Gerichtsmedizin zusammen und ebnete als Best-
Freud und die Sexualwissenschaft
seller der Sexualpathologie den Weg, indem es sie po-
pularisierte. Krafft-Ebing, 1840 in Mannheim gebo- Bis 1905 kaum als Sexualforscher hervorgetreten,
ren, hatte nacheinander Professuren für Psychiatrie setzte sich Freud, als er sein epochales, nur 83 Seiten
in Straßburg, Graz und Wien inne und war im 19. Jh. umfassendes Werk Drei Abhandlungen zur Sexual-
einer der angesehensten Vertreter seines Faches. Von theorie veröffentlichte, über die Berge an experimen-
den bekannten und einflußreichen deutsch-öster- tellen und empirischen Daten, an Begriffen und
reichischen Sexualforschern seiner Zeit war er der Theorien, die die Sexualwissenschaftler inzwischen
einzige, der kein Jude war und es wohl auch des- aufgehäuft hatten, weitgehend hinweg. Die erste Fuß-
wegen als einziger bis an die Spitze einer berühmten note der ersten Abhandlung, die eine gewisse Irrita-
Universitätsklinik geschafft hat. Theoretisch und kli- tion hervorruft (Sigusch 2005a), lautet lapidar: »Die
nisch ist Krafft-Ebing sehr viel eher der Begründer in der ersten Abhandlung enthaltenen Angaben sind
einer modernen Forensischen Psychiatrie als einer aus den bekannten Publikationen von v. Krafft-
modernen Sexualwissenschaft (Sigusch 2002a, 2004). Ebing, Moll, Moebius, Havelock Ellis, Näcke, v.
Er lenkte den Blick der Medizin und des Rechts von Schrenk-Notzing [richtig: Schrenck-Notzing], Lö-
der Tat auf den Täter, von einer strafbaren Handlung wenfeld, Eulenburg, J. Bloch [richtig: I. Bloch] und
auf ein beschädigtes, gefährliches, leidendes Subjekt, aus den Arbeiten in dem von M. Hirschfeld heraus-
betonte die Frage der Zurechnungsfähigkeit und gegebenen ›Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‹
stellte neben den Richter den Psychiater als unver- geschöpft. Da an diesen Stellen auch die übrige Lite-
zichtbaren Sachverständigen. ratur des Themas in erschöpfender Weise aufgeführt
Der Vollständigkeit halber seien jene Forscher we- ist, habe ich mir detaillierte Nachweise ersparen kön-
nigstens kurz erwähnt, die die Sexualwissenschaft in nen« (Freud 1905, 80).
44 Freud und seine Epoche

Nach dieser Pauschalierung braucht sich Freud mit weltweite Novum Archivio delle Psicopatie Sessuali
den Anschauungen der Sexualforscher nicht mehr im (1896), herausgegeben von Pasquale Penta. Merk-
einzelnen auseinanderzusetzen, kann aber viel von würdigerweise aber auch nicht durchaus weichenstel-
ihnen entlehnen und immer wieder so tun, als sei er lende Abhandlungen wie Mantegazzas Gli amori degli
der Entdecker. Technisch gesehen, ist das ein äußerst uomini. Saggio di una etnologia dell’amore (1886)
geschickter Schachzug, durch den ausufernde Pro- oder Auto-erotism (1898) und The sexual impulse in
und Kontra-Debatten sowie Richtungsbekenntnisse women (1902) von Havelock Ellis. Wenn schon all
und -streitigkeiten vermieden werden. Inhaltlich ge- diese Werke nicht, dann hätte Freud normalerweise
sehen, ist dieses formale Heraustreten aus dem histo- wenigstens zwei bedeutende Werke von Pionieren der
risch bereits enorm angeschwollenen Strom der mehr Sexualwissenschaft nennen müssen: die Untersu-
oder weniger dem bereits voll installierten Wissen- chungen über die Libido sexualis (1897) von Albert
schaftsobjektiv genügenden Literatur genial, ein wis- Moll und die Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
senschaftlich-literarischer Strom, in dem bereits alle sexualis (1902, 1903) von Iwan Bloch.
Zeichen und Probleme durcheinander schwimmen: Iwan Bloch wendet sich in seinen Beiträgen grund-
phantasia morbosa, piacere und amore, fisiologia della sätzlich von Krafft-Ebings (1886) Verständnis der
donna, dégénérescence, sens génésique, zones érogènes, Perversionen ab: Die sexuellen Anomalien seien »als
auto-erotism, erotic symbolism, man and women, An- allgemein menschliche, ubiquitäre Erscheinungen«
thropologia sexualis, Libido, Kontrektations- und anzusehen und damit als »physiologische«. Diese
Detumeszenz-Trieb, Psychopathia sexualis, konträre »Theorie«, die er »als die anthropologisch-ethnologi-
Sexualempfindung, Neurasthenia sexualis, Aphrodi- sche der medizinischen und historischen« gegen-
sie und Anaphrodisie, Mutterschutz und freie Liebe, überstellt, schränke »das Gebiet der ›Degeneration‹
Frigidität, Klitoridektomie, Prostitution, Venerie, bedeutend ein« (1902, XIV). Zuvor war schon Albert
Malthusianismus usw. Der geniale Freud aber macht Moll theoretisch und geistig weit über das hinaus-
einen Strich unter das epistemologische und sonstige gegangen, was sich Krafft-Ebing und die anderen,
kulturelle Durcheinander und faßt in einem auch von der Morelschen Degeneratioshypothese beein-
graphisch neuartigen, unaufgeregten, leicht lesbaren flußten Sexualpsychopathologen gedacht hatten (vgl.
Stil den bisherigen sexualwissenschaftlichen For- Morel 1857). Außerdem nahm er sexualtheoretisch
schungsstand auf nur wenigen Seiten zusammen. etliches von dem vorweg, was sich später Freud und
(Man beachte beim historischen Argumentieren je- die Psychoanalyse zugute halten werden (vgl. dazu
doch die inhaltlichen Differenzen zu den nachfolgen- im einzelnen Sulloway 1982; ferner Sigusch 1995).
den erweiterten, sich über zwei Jahrzehnte erstrek- Moll erörtert (wie etwas später vor allem auch Ha-
kenden Ausgaben der Drei Abhandlungen.) Albert velock Ellis) den »normalen Geschlechtstrieb«, über
Moll hatte für seine berühmte Libido-Studie (1897) den bisher »fast gar keine eingehenden Untersuchun-
das Zehnfache, 872 Seiten und zahllose Fußnoten, gen veröffentlicht worden sind« (Moll 1897, V). Er
benötigt. hält die »Vererbung« der Heterosexualität und ange-
In der ersten Fußnote, die die Quellen zu nennen borene »inhalterfüllte Triebe« (ebd., 100) nicht für
vorgibt, aus denen er »geschöpft« habe, ruft Freud eine Selbstverständlichkeit, nimmt eine latente Ho-
kein einziges Werk seiner Vorgänger wenigstens mosexualität der Normalen und eine latente Hete-
durch das Nennen des Titels wach. Natürlich nicht rosexualität der Homosexuellen an (ebd., 326 ff.),
De mentis aberrationibus ex partium sexualium condi- plädiert für die Abschaffung des Paragraphen 175
tione abnormi oriundis (1823) von Hermann Joseph (ebd., 841). Der Geschlechtstrieb, und zwar der
Löwenstein oder Ueber die Beziehungen des Sexual- »normale« ebenso wie der »perverse« (ebd., 521 f.),
systemes zur Psyche überhaupt und zum Cretinismus setzt sich nach seiner Vorstellung aus zwei entwick-
ins Besondere (1826) von Joseph Häussler und natür- lungsdynamischen Teiltrieben zusammen: einem
lich nicht die erste Psychopathia sexualis (1844) von »Detumescenztrieb«, der »als ein organischer Drang
Heinrich Kaan mit ihrer theoretischen Anbindung ei- zur Entleerung eines Sekrets aufzufassen« sei (ebd.,
nes funktionell-hydraulisch gedachten Geschlechts- 94), und einem »Kontrektationstrieb«, der »zur kör-
triebes namens Nisus an die Phantasie, speziell an perlichen und geistigen Annäherung« dränge (ebd.).
furiose phantasia morbosa (vgl. Gutmann 1998; Si- Moll meint, ein Fortpflanzungstrieb sei beim Men-
gusch 2002a, 2003a). Und auch nicht Des aberrations schen »kaum noch anzunehmen« (ebd., 4). Insge-
du sens génésique (1880) von Paul Moreau de Tours samt ließen sich die Triebe des Menschen »am ehe-
und Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechts- sten durch die Stammesgeschichte verständlich«
sinnes (1886) von Benjamin Tarnowsky oder das (ebd., 522) machen. Ausführlich geht er zum Beispiel
Anfänge der modernen Sexualwissenschaft 45

auf die Verkümmerung des Geruchssinnes beim als Jahre der Weichenstellung und der Dissoziation
Menschen ein (ebd., 133 f., 376 ff., 513), eine Frage, eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen kön-
die auch Freud (Stichworte: organische Verdrängung nen.
und aufgelassene erogene Zonen) sehr beschäftigt Von den vielen Ereignissen im Jahr 1905 greife ich
hat. Übrigens spricht Moll mit Ernest Chambard einige heraus: Der Erreger der Syphilis wird entdeckt;
(1881, 65) und anderen Franzosen wie Féré und Bi- ein Jahr später wird Salvarsan, das erste wirksame
net auch schon von erogenen Zentren resp. Zonen Heilmittel, entwickelt. Helene Stöcker initiiert den
(»zones érogènes«, Moll 1897, 93). »Bund für Mutterschutz« und gründet eine Zeit-
Und er kennt und würdigt ausführlich sexuelle Re- schrift zur Reform der sexuellen Ethik. August Forel
aktionen, Wollustempfindungen und Liebesgefühle veröffentlicht seinen Bestseller Die sexuelle Frage, Ha-
von Kindern klinisch-empirisch (z. B. ebd., 13 ff., velock Ellis publiziert 1905 und 1906 die Bände 4
45 ff.; vgl. auch Moll 1891 und 1909), beschreibt an- und 5 seiner Studies in the Psychology of Sex, u. a.
deutungsweise, was später Ödipuskomplex genannt über »Sexual selection« beim Menschen und »eroti-
werden wird (1897, 43 ff.). Ich zitiere: »Neigung zum schen Symbolismus«. Magnus Hirschfeld ist 1905
anderen Geschlecht mit allen Zeichen einer Liebes- und 1906 vor allem mit dem Kampf gegen den Alko-
leidenschaft (kommt) bereits lange Zeit vor der Pu- hol, mit sog. Geschlechtsübergängen, dem »Wesen«
bertät (vor). Es sind mir Fälle bekannt, wo im 5. oder der Liebe und der »Lösung« der Frage der Bisexuali-
6. Jahre unzweifelhaft, vom Geschlechtstrieb herrüh- tät befaßt.
rende Neigungen zum anderen Geschlecht auftra- Zu dieser Zeit, um 1904/05, kommt der Ausdruck
ten.« Wie »der sexuelle Kontrektationstrieb schon »Sexualwissenschaft« auf, den Iwan Bloch später für
vor der Reife der Genitalien vorkommen kann«, so sich reklamieren wird. Freud hat übrigens – vielleicht
auch der Detumeszenztrieb, den es schließlich auch sogar als erster überhaupt – bereits in einem Aufsatz
beim weiblichen Geschlecht ohne eine dem Samen von 1898 beiläufig, aber gezielt von »Sexualwissen-
vergleichbare Absonderung gebe. Empfunden werde schaft« (GW I, 498) gesprochen, die leider noch als
»eine Art Wollustgefühl, eine Art Kitzel« an den Ge- »unehrlich« gelte.
nitalien; Erektionen träten »lange Zeit vor der Puber- Zwei Jahre später veröffentlicht Bloch Das Sexual-
tät« auf, Masturbation werde bereits bei 1 bis 2 Jahre leben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur moder-
alten Kindern beobachtet (ebd., 44 ff.). Das Beson- nen Kultur (1907), ein Werk, das der fortan »Sexual-
dere ist, daß Moll, eindrucksvoll belesen, nicht nur wissenschaft« genannten Wissenschaftsrichtung ein
theoretische Behauptungen aufstellt, sondern alle Be- anthropologisch-ethisches Programm gab. Ein Jahr
hauptungen anhand von Fallvignetten zu belegen später gründet Hirschfeld die erste Zeitschrift für Se-
sucht. xualwissenschaft und Max Marcuse die Zeitschrift Se-
Kein Wunder also, daß Molls Einfluß auf Freuds xual-Probleme. 1909 bringt Moll die Zeitschrift für
sexualtheoretische Vorstellungen und Begrifflichkei- Psychotherapie und medizinische Psychologie heraus,
ten groß war, wie Sulloway (1979/1982) nicht zuletzt die später im Titel den Anspruch »mit Einschluß der
an Freuds heftigen Unterstreichungen in seinem Psychoanalyse« erhebt.
Handexemplar der Mollschen Studie plausibel ge- Die »sexualpolitische Bewegung« der sich emanzi-
macht hat – von der stammes- und individualge- pierenden Frauen, der Angehörigen des »Dritten
schichtlichen Dynamisierung der vordem statisch ge- Geschlechts«, der Kämpfer gegen Prostitution und
dachten Libido sexualis, der Verschränkung von Ver- Venerie und für Licht und freie Körper, der Mutter-
erbtem und Erworbenem, der Untrennbarkeit von schützer, der frei Liebenden usw., mit der die »sexuo-
Heterosexuellem und Homosexuellem, dem keines- logische Bewegung« zum Teil zusammenfiel, inter-
wegs monolithischen, unteilbaren Geschlechtstrieb essierte Freud nur am Rande. Er war davon besessen,
bis hin zur präpuberalen kindlichen Sexualität von aus seinen Ideen eine eigene, eine »psychoanalytische
Jungen wie Mädchen. Bewegung«, hervorgehen zu lassen. Freud versuchte
zwar, sich mit den bekannten Sexuologen gutzustel-
len, weil sie nicht ohne Einfluß waren. Sie hatten
Sexuelle Revolution um 1905
bereits vor der Jahrhundertwende Standardwerke
Als Freud seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie verfaßt wie Richard von Krafft-Ebing, »wissenschaft-
veröffentlichte, erreichte die »erste sexuelle Revolu- lich-humanitäre« Komitées eingerichtet wie Magnus
tion« in Mitteleuropa einen ihrer Höhepunkte. Folg- Hirschfeld oder Zeitschriften herausgegeben wie Pas-
lich werden diese Jahre in einer Geschichte des Ver- quale Penta und waren jetzt dabei, Handbücher und
hältnisses von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft Fachgesellschaften in die Welt zu setzen, traten pres-
46 Freud und seine Epoche

sewirksam in Sensationsprozessen auf, veranstalteten so feindselig eingestellt, daß keine einzige Idee Molls
Weltkongresse usw. Deshalb gab Freud ihnen auch gewürdigt wird. Und Freuds Behauptung, Moll habe
einige Arbeiten zur Veröffentlichung in ihren Bü- keine »entschiedene Meinung« von sich gegeben, ist
chern oder Zeitschriften (vgl. Freud 1908a, 1908b, aus der Luft gegriffen (vgl. Sigusch 1995). Beispiels-
1908c, 1923a, 1923b) – bis sich die theoretischen, po- weise war Moll einer der wenigen namhaften Ärzte,
litischen oder persönlichen Differenzen von beiden der nicht nur Medizin und Psychologie wirksam ins
Seiten nicht mehr übertünchen ließen. Benehmen setzte, sondern auch einer der wenigen,
der geistreich und mutig gegen das um sich greifende
eugenische Denken und Handeln ankämpfte (zu
Rivalitäten
Freuds Verhältnis zu anderen Sexualforschern wie
Wohl von Anfang an unüberbrückbar waren die Ge- Havelock Ellis, Magnus Hirschfeld und Max Mar-
gensätze zwischen Freud und Moll, der nach dem cuse, mit denen er zeitweilig, wenn auch nicht rei-
Tod Krafft-Ebings die europäische Autorität in sexu- bungslos zusammenarbeitet, vgl. Sigusch 2005b).
ellen Fragen war. Moll hatte bereits 1889 das deutsch-
sprachige Standardwerk über den Hypnotismus vor-
Differenzen
gelegt, 1891 eine umfangreiche Monographie über
die noch »conträre Sexualempfindung« genannte Insgesamt war das Verhältnis von Freud und den Se-
Homosexualität und 1902 eine bis heute lesenswerte xuologen seiner Zeit nicht nur aus eher äußerlichen
Ärztliche Ethik veröffentlicht. Er sah sich selbst als und persönlichen Gründen angespannt. Die Diffe-
derjenige, der die aus Frankreich kommende Psycho- renzen reichten sehr viel tiefer. Denn historisch hat
therapie in Deutschland eingeführt hatte, und sich die Psychoanalyse entlang der Differenz von Un-
brachte tatsächlich als erster Krankenkassen dazu, bewußtem und Bewußtem, innerer Phantasie und
Psychotherapie zu bezahlen. Es ist nicht übertrieben, äußerer Realität, Struktur und Symptom, Erleben
ihn als den Begründer der Medizinpsychologie in und Verhalten, Latenz und Manifestation von der Se-
Deutschland zu bezeichnen (vgl. Sigusch 1995). xuologie geschieden. Überspitzt gesagt: Affirmative
Spätestens seit 1905 stritten sich Moll und Freud Psychoanalytiker sind heilfroh, wenn die polymorph-
um Prioritätsrechte (vgl. Sulloway 1979/1982). So perverse Anlage in der Abstraktion bleibt, affirmative
behauptete Moll: »Das Unbewußte Freuds ist in den Sexuologen aber sind fasziniert, wenn sich Perver-
ersten Arbeiten, wie Steyerthal sagt, nichts andres als sionen vielfältig manifestieren.
das Unterbewußte von Dessoir und Moll« (Moll Auch konnten sich die meisten Sexuologen nicht
1936, 71). Freud wiederum war auf den Geheimrat damit abfinden, daß den Subjekten ihre eigene Ver-
gar nicht gut zu sprechen, weil er sich einredete, Moll nunft, das hohe Ziel der Bourgeoisie, inkommensu-
plagiiere ihn und mache ihm die »Priorität an der rabel sei, wie die durchdachte Lehre Freuds ergab.
kindlichen Sexualität« streitig, die nun einmal, »so Früh sah Freud (GW I, 15) die »gehemmten Vor-
komisch das auch klingen mag, von ihm – Freud – sätze« in einer Art von Schattenreich aufbewahrt, in
entdeckt worden« sei (Nunberg/Federn, Bd. 2, 1977, dem sie »eine ungeahnte Existenz« fristen – »bis sie
44). Das allerdings klingt nicht nur komisch, es ist als Spuk hervortreten«. Solchen Spuk, von dem
auch falsch. Moll hatte bereits 1897 in seinen Unter- schon bei Marx (1867) die Rede war, als er seinen
suchungen über die Libido sexualis, die Freud sofort Begriff des Fetischcharakters verständlich machen
studiert und mit vielen aufmerkenden Anstreichun- wollte, setzte Freud den erhabenen Idealen, dem
gen versehen hatte, die »normale« infantile Sexualität freien Willen und der selbstgewissen Vernunft entge-
nicht nur beiläufig wie die meisten vorausgegange- gen, von denen Sexualforscher wie Iwan Bloch oder
nen Autoren, sondern gewissermaßen systematisch Albert Moll durchdrungen waren. Das siegreiche
»entdeckt«, empirisch »bewiesen« und theoretisch Handeln der Bürger gründete Freud zufolge nicht
eingeordnet, wie Freud wußte, aber öffentlich nicht nur auf Triebverzicht, den die tonangebenden Sexuo-
eingestehen wollte. logen der Zeit auch einklagten, sondern ebenso auf
Als die Wiener Psychoanalytische Vereinigung Wunschverdrängung und Gedankenhemmung. Be-
Molls Buch über Das Sexualleben des Kindes (1909) kanntlich behauptete Freud, »daß das Ich nicht Herr
»diskutierte«, wird dessen schlechter Charakter sei in seinem eigenen Haus« (GW XII, 11). Er nannte
mehrfach hervorgehoben. Freud soll laut Protokoll das »die dritte Kränkung der Eigenliebe«, die als psy-
gesagt haben: »Er ist ein kleinlicher, gehässiger, be- chologische der kosmologischen des Kopernikus und
schränkter Charakter. Er gibt nicht eine entschiedene der biologischen des Darwin gefolgt sei. Ahnen
Meinung von sich« (ebd., 44 f.). Die Versammlung ist konnten die alten Sexuologen ebensowenig wie
Anfänge der modernen Sexualwissenschaft 47

Freud, daß Adorno (1966) eine vierte Kränkung hin- tät nennen, konstitutiv. Denn das, was seine Bedeu-
zufügen würde, indem er das Transzendentalsubjekt tung nur dadurch gewinnt, daß es sich von anderen
als bewußtlos erkannte, und daß Foucault Bedeutungen, hier solchen der Nichtsexualität, ein-
(1966/1971, 462) zur selben Zeit »archäologisch« deutig und wiederholbar unterscheidet, distanziert
darauf wetten würde, »daß der Mensch verschwindet sich zugleich von sich selbst. Das allgemeine und das
wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« individuelle Moment des Sexuellen durchdringen
Linke und rechte Kulturphilosophien stimmten im einander, sind miteinander und in sich selbst vermit-
20. Jh. immer wieder darin überein, daß sich entlang telt, um es noch einmal altkritisch zu sagen, nicht
der Subjektivität nicht mehr weiterdenken lasse, daß aber identisch. Im Moment seiner Manifestation di-
das Individuelle nur noch ein Epiphänomen sei, daß stanziert sich das Sexuelle vom Individuum, indem
sich Hegels Subjekt historisch als Fiktion herausge- es sich allein durch Kommunikation in das transsub-
stellt habe, daß Individualität philosophisch hinter- jektive Gefüge des gesellschaftlichen Sexualsystems
gehbar und praktisch schon lange hintergangen sei. einfügt, und vom gesellschaftlichen Sexualsystem, in-
So nahe diese Philosophien in der Diagnose des All- dem es sich ihm, wenn auch noch so ohnmächtig
gemeinbefundes beieinanderliegen, so sehr gehen sie und marginal, als Beseeltes entzieht. In diesem Sich-
auseinander, wenn die grundsätzliche Wertentschei- entziehen überwintert für die Psychoanalyse wie für
dung des Denkers zum Zuge kommt. Applaudieren die Subjektsexuologie die Hoffnung, daß die konven-
die einen der Verramschung und Überwindung des tionelle Heuchelei nicht permanent sei und der Spuk
Individuellen bis hin zur Ausmerzung, beklagen die der facta bruta nicht alles.
anderen die Schwächung des individuellen Wider-
standes und plädieren für seine Kräftigung wie jede Literatur
Subjektsexuologie. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M.
1966.
Trotz des weithin von den Philosophen geteilten Bloch, Iwan: Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis.
Allgemeinbefundes hält die Psychoanalyse bis heute Dresden 1902 (1. Teil) und 1903 (2. Teil).
mehrheitlich am Individuellen fest. Sie will nicht –: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur mo-
wahrhaben, daß die Struktur, das Feld, die Episteme, dernen Kultur. Berlin 1907.
Chambard, Ernest: Du somnambulisme en général: Analogies,
die diskursive Formation oder die Imperative und signification nosologique et étiologie. Paris 1881.
Objektive dem Dividuum vorschreiben, was es wie Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische
zu praktizieren habe. Dessen Blick und Empfinden und psychogenetische Untersuchungen [1939]. 2 Bde. Bern
2
ist ihr nicht nur eingepflanzt, sondern immer noch 1969.
Ellis, Havelock: Auto-erotism. A psychological study. In: Alien-
selbsttätig. Sie ist wie die Subjektsexuologie davon ist and Neurologist (1898), 260–299.
überzeugt, daß die Individuen das Sexuelle immer –: The sexual impulse in women. In: American Journal of Der-
wieder neu interpretieren, daß sie es mit neuen Be- matology and Genito-Urinary Diseases (1902), 46–57.
deutungen versehen und damit irreduzibel machen, –: Sexual selection in man. Philadelphia 1905.
–: Erotic symbolism. The mechanism of detumescence. The
wie es auch gerade genannt werde. Denn wäre das psychic state in pregnancy. Philadelphia 1906.
Sexuelle nicht individuell, wären wir Sexualmaschi- Forel, August: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche,
nen, die nur das automatisch ausführten, was das psychologische, hygienische und soziologische Studie für Ge-
Allgemeine, das System, die Regeln, die Diskurse, die bildete. München 1905.
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der
Codes, die Machtstrategien (oder wie sonst das dem Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1971 (frz. 1966).
Individuellen total Vorgängige in den anthropofuga- Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leip-
len Philosophien genannt wird) bestimmt und mit zig/Wien 1905, Reprint Frankfurt a. M. 2005.
oder ohne ein molluskenhaftes Reflex-«Subjekt« rea- –: Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexua-
lität. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908), 27–34
lisiert. Dann wäre wirklich festgelegt, was Sexualität (= 1908a).
ist oder Liebe, und die Iterabilität dessen, was als se- –: Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität.
xuell oder triebhaft angesehen wird, auf die die herr- In: Sexual-Probleme (1908), 107–129 (= 1908b).
schende Konvention trotz aller Assoziation und Dis- –: Über infantile Sexualtheorien. In: Sexual-Probleme (1908),
763–779 (= 1908c).
soziation, trotz aller Dispersion und Diversifikation –: Libidotheorie. In: Marcuse 1923, 296–298 (= 1923a).
der Sexualität (Sigusch 1998, 2005c, 2006) angewie- –: Psychoanalyse. In: Marcuse 1923, 377–383 (= 1923b).
sen ist, wäre perfekt, nicht mehr oder weniger gege- Gutmann, Philipp: Zur Reifizierung des Sexuellen im 19. Jahr-
ben. hundert. Frankfurt a. M. u. a. 1998.
Häussler, Joseph: Ueber die Beziehungen des Sexualsystemes zur
Die Distanzierung des Sexuellen vom Individuum Psyche überhaupt und zum Cretinismus ins Besondere. Würz-
durch die Konvention ist im Sexualakt selbst angelegt burg 1826.
und für das, was wir seit zwei Jahrhunderten Sexuali- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Daß die Magistrate von den
48 Freud und seine Epoche

Bürgern gewählt werden müssen [1798]. Werke in 20 Bän- öffentlichter Briefe Molls aus dem Jahr 1934. In: Zeitschrift
den. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1971. für Sexualforschung (1995), 122–159.
–: Der Geist des Christentums und sein Schicksal [1798–1800]. –: Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Trans-
Werke in 20 Bänden. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1971. formationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten. In:
–: Phänomenologie des Geistes [1807]. Werke in 20 Bänden. Psyche 52 (1998), 1192–1234.
Bd. 3. Frankfurt a. M. 1970. –: Ein urnisches Sexualsubjekt. In: Zeitschrift für Sexualfor-
Hirschfeld, Magnus: Über Sexualwissenschaft. Programmarti- schung (1999), 108–132, 237–276.
kel. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908), 1–19. –: Richard von Krafft-Ebing zwischen Kaan und Freud. Be-
Kaan, Heinrich: Psychopathia sexualis. Leipzig 1844. merkungen zur 100. Wiederkehr seines Todestages. In: Zeit-
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten [1797/1798]. In: schrift für Sexualforschung (2002), 211–247 (= 2002a).
Werke in 6 Bänden. Hg. von W. Weischedel. Bd. IV. Darm- –: Richard von Krafft-Ebing: Bericht über den Nachlass und
stadt 1956. Genogramm. In: Zeitschrift für Sexualforschung (2002),
Kentler, Helmut (Hg.): Sexualwesen Mensch. Texte zur Erfor- 341–354 (= 2002b).
schung der Sexualität. Hamburg 1984. –: Heinrich Kaan – der Verfasser der ersten »Psychopathia se-
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(alles Erschienene). Berlin 1897. dem Lateinischen übersetzt. Frankfurt a. M./Leipzig 1760).
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produisent ces variétés maladives. Paris 1857. Vierte Schrift. Leipzig 1865.
Nunberg, Hermann/Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener –: Memnon. Die Geschlechtsnatur des mannliebenden Urnings.
Psychoanalytischen Vereinigung. 4 Bde. Frankfurt a. M. Siebente Schrift. Schleiz 1868.
1976–1981 (engl. 1962–1975). –: Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. 4
Penta, Pasquale: Archivio delle Psicopatie Sessuali (1896). Bde. Hg. von Hubert Kennedy. Berlin 1994.
Sigusch, Volkmar: Albert Moll und Magnus Hirschfeld. Über Volkmar Sigusch
ein problematisches Verhältnis vor dem Hintergrund unver-
49

2. Die intellektuelle Biographie

Über Freuds Leben ist viel gerätselt und gestritten Komplizierte Familienverhältnisse –
worden – nicht verwunderlich bei einem Mann, der Freuds Elternhaus
selber mit dem wissenschaftlichen Anspruch auftrat,
die Rätsel des menschlichen Lebens psychologisch Sigismund Schlomo Freud, wie gemäß Eintrag in die
entschlüsselt zu haben. Es gab und gibt zahlreiche väterliche Familienbibel der vollständige Name lau-
Mutmaßungen und Hypothesen über verbotene tete, wurde am 6. Mai 1856, im Todesjahr seines
Liebschaften, über Phasen von Rauschgiftabhängig- Lieblingsdichters Heinrich Heine, in dem mähri-
keit, ja sogar über das wahre Datum seiner Geburt, schen Städtchen Freiberg (heute Příbor) geboren.
das aus Schicklichkeitsgründen auf später verlegt Sein Vater Kallamon Jacob Freud, ein nicht eben be-
worden sei. Zumal die Gegner Freuds und der Psy- tuchter jüdischer Wollhändler, hatte 1855, wahr-
choanalyse haben es nicht an Eifer fehlen lassen, scheinlich in dritter Ehe – eine zweite Ehe Jacobs,
Freuds privater wie wissenschaftlicher Biographie wenn es sie denn gab, liegt bis heute weitgehend im
manchen Makel anzuhängen (Zaretsky 1996/1999). dunklen und ist in der Forschung umstritten (vgl.
Dabei liegt es, nach allem, was die seriöse Freud- Schur 1972/1973, 32 ff.; Clark 1979/1981, 17 f.; Bern-
Forschung herausgefunden hat, näher, in Freuds äu- feld/Cassirer Bernfeld 1944/1981, 82; Gay, 4, 830;
ßerer Biographie eher die eines Musterknaben zu se- Krüll 1992, 151 f.) –, die zwanzig Jahre jüngere Ama-
hen, der sich zeitlebens bemühte, den Anforderungen lia Nathanson geheiratet, die ihm nach Sigmund, wie
von Familie, Karriere und Beruf vorbildlich zu ge- er sich seit seinem sechzehnten Lebensjahr nannte,
nügen. Für Sensationen, Skandale und Aufruhr ist da sieben weitere Kinder schenkte.
wenig Platz. Als alter Mann erklärte Freud Edward Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß familiäre
Bernays gegenüber, sein Leben sei »äußerlich ruhig Beziehungen und Verstrickungen, das ödipale Drei-
und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu eck und die später damit verknüpften Phantasien in
erledigen« (B, 408), und es gibt wenig Grund, diese Freuds ausgearbeiteter psychoanalytischer Theorie
Selbstaussage grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. eine markante Rolle spielen, ist es wenig überra-
Auch Freuds Biograph Peter Gay teilt diese Auffas- schend, daß die familiären Konstellationen, unter de-
sung: »Er wurde geboren, er studierte, er reiste, er nen das Kind aufwuchs, ziemlich kompliziert waren.
heiratete, er praktizierte, er hielt seine Vorlesungen, So war seine Mutter Amalia jünger als Emanuel, der
er publizierte, er disputierte, er alterte, er starb« älteste Sohn Jacobs aus erster Ehe, der bereits ver-
(Gay, 6). Zu diesem im ganzen unspektakulären Le- heiratet und seinerseits Kinder hatte, und nur wenig
ben paßt, daß Freud praktisch sein gesamtes Leben, älter als Sigmunds zweiter Halbbruder Philipp. Aus
78 Jahre, in Wien verbrachte, einer Stadt, der er in der Perspektive des Kindes war es durchaus plausibel,
heftiger Haßliebe verbunden war. Als er sie kurz vor daß die etwa gleichaltrigen Emanuel, Philipp und
seinem Tod verlassen mußte, schrieb er: »Das Tri- Amalia eher zueinander paßten als der wesentlich äl-
umphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark tere Jacob zu seiner jungen, attraktiven Frau. In der
mit der Trauerarbeit, denn man hat das Gefängnis, Psychopathologie des Alltagslebens (GW IV, 60) hat
aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr ge- Freud den Hinweis geliefert, daß der noch nicht
liebt« (F/E, 903). Dreijährige bei der Geburt seiner Schwester Anna die
Vorstellung hatte, daß nicht der Vater, sondern Phil-
ipp das Schwesterchen in den Leib der Mutter »hin-
einpraktiziert« haben könnte. Tatsächlich muß es für
das Kind irritierend gewesen sein, daß seine beiden
erwachsenen Halbbrüder der Mutter irgendwie nä-
50 Freud und seine Epoche

herstanden als der Vater, daß dieser ohne weiteres von seiner Mutter vielleicht nur in den ersten Le-
sein Großvater hätte sein können und daß einer der bensjahren versorgt und dann einer Ersatzmutter
Söhne Emanuels, John, ein Jahr älter war als er, der (seiner Stiefmutter?) in Obhut gegeben. Michelan-
Onkel. All das bildete wahrlich Stoff und Motiv ge- gelo kam einen Monat nach seiner Geburt zu einer
nug für einen »Familienroman« (vgl. GW V, 127; GW Stillamme, seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt
VII, 227 ff.), den die Freud-Biographik entsprechend war. Diesen mythologischen und historischen Figu-
ausgeschlachtet hat (vgl. Jones I, 26 ff.; Bernfeld/Cas- ren hat Freud in seinem Werk eindringliche Über-
sirer Bernfeld 1944/1981, 78 ff.; Clark 1979/1981, legungen gewidmet (GW II/III, 267 ff.; GW VIII,
14 f.; Krüll 1992, 159 ff.; zurückhaltend dagegen Eis- 127 ff.; GW X, 171 ff.; GW XVI, 101 ff.) und ihnen
sler 1976, 11). Bedeutungen zugeschrieben, die Rückschlüsse auf
Zu den familiären Verwicklungen, die Freuds frühe sein Bild von Männlichkeit/Väterlichkeit einerseits
Jahre prägten, gehört auch der Umstand, daß es in und Weiblichkeit/Mütterlichkeit andererseits erlau-
seinem Elternhaus eine Kinderfrau gab, von der ben – ein Bild, das bis heute stark umstritten ist.
Freud noch in der Traumdeutung berichtet. Diese Das Verhältnis Freuds zu seiner Mutter scheint al-
»prähistorische Alte« (GW II/III, 253) namens Mo- les andere als unkompliziert gewesen zu sein und kei-
nica Zajı́c war, so Freud in einem Brief vom 3. Okto- neswegs so »harmonisch«, wie K. R. Eissler glauben
ber 1897 an Wilhelm Fließ, »meine Lehrerin in se- machen möchte (Eissler 1976, 30). In der Neuen Folge
xuellen Dingen und hat geschimpft, weil ich unge- der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
schickt war, nichts gekonnt habe« (F, 290). Sie füllte (GW XV) aus dem Jahr 1933 beschreibt Freud die
jene Lücke aus, die seine Mutter hinterließ, als sie Gefühle des kleinen Kindes, »wenn das nächste Kind
ihren zweiten Sohn Julius zur Welt brachte, der ein in der Kinderstube erscheint«: »Es fühlt sich ent-
halbes Jahr später starb. Kurz zuvor war Amalias jün- thront, beraubt, in seinen Rechten beschädigt, wirft
gerer Bruder Julius in Wien gestorben. Noch im sel- einen eifersüchtigen Haß auf das Geschwisterchen
ben Jahr, 1858, kam Freuds Mutter mit ihrer Tochter und entwickelt einen Groll auf die ungetreue Mutter
Anna nieder. Wenn man sich klarmacht, daß Amalia […]« (ebd., 131; vgl. auch GW II/III, 257 ff.). Eben-
damals, während Sigmund im zweiten und dritten dies war die Situation des kleinen Sigmund, als sein
Lebensjahr stand, durch zwei Schwangerschaften, Bruder Julius geboren wurde und die ganze Auf-
zwei Geburten und zwei Todesfälle belastet war, und merksamkeit und Fürsorge der Mutter auf sich
weiter, daß sie nicht lange nach Sigmunds Geburt an lenkte. In der Literatur wird Amalia einesteils als lie-
Tuberkulose erkrankte, die sie zu einem längeren bevolle, wärmespendende Person charakterisiert und
Kuraufenthalt zwang, dann leuchtet ein, daß die daraus geschlossen, die Beziehung zwischen Mutter
tschechische Kinderfrau für Freud eine regelrecht le- und Sohn sei ebenso liebevoll und warm gewesen
bensrettende Bedeutung gehabt haben muß. Ihre Zu- (Jones II, 479; Eissler 1976, 30 f.). Andererseits gibt es
wendung half dem Kind, mit der Tatsache, eine zeit- Darstellungen, die daran zweifeln lassen und auf
weise depressive »tote Mutter« (André Green) zu ha- Amalias fordernde, egoistische und dominante Art
ben, an der sein Bedürfnis nach Halt und Sinn ab- und auf starke Ambivalenzgefühle des Kindes gegen-
prallte, besser fertig zu werden. Als sie um die Zeit über der Mutter hinweisen (Krüll 1992, 178; Hardin
der Geburt Annas wegen Diebstahls von der Familie 1987–1988/1994). Feststeht, daß der erwachsene
entlassen wurde, muß dies für das Kind Sigmund ein Freud sich relativ selten und stets zurückhaltend über
herber emotionaler Verlust gewesen sein, dessen er seine Mutter geäußert hat. Eher herrscht ein Ton der
sich noch vierzig Jahre später erinnerte (F, 289). Distanz vor: Nicht Freud liebte seine Mutter, sondern
Diese biographische Episode ist insofern von Be- sie ihn, den begabten Erstgeborenen: »Wenn man der
lang, als sie auf einen bemerkenswerten Sachverhalt unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so be-
im Freudschen Werk verweist, der dort mehrfach hält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zu-
auftaucht. Freud interessierte sich auffällig für Män- versicht des Erfolges, welche nicht selten den Erfolg
ner und identifizierte sich mit ihnen, die zwei Mütter wirklich nach sich zieht«, heißt es in Freuds kleiner
hatten: Ödipus, Moses, Leonardo da Vinci und Mi- Schrift über eine Kindheitserinnerung aus Goethes
chelangelo Buonarroti (vgl. Harsch 1994). Ödipus Dichtung und Wahrheit (GW XII, 26). In der Traum-
wurde infolge eines Orakelspruchs von seiner Mutter deutung findet sich eine ähnlich lautende Formulie-
entfernt und wuchs an einem fremden Königshof rung (GW II/III, 404). Daraus allerdings zu folgern,
auf. Moses wurde von seiner (jüdischen) Mutter aus- die »herzliche Ehrerbietung von seiten des Sohnes«
gesetzt, von der Tochter des Pharao gefunden und (Schur 1972/1973, 499) gegenüber der Mutter, die
am ägyptischen Hof großgezogen. Leonardo wurde sich in Freuds regelmäßigen Sonntagsbesuchen nie-
Die intellektuelle Biographie 51

derschlug, sei gleichbedeutend mit Liebe, ist sicher- spielen, und ihm die Kastration angedroht haben. Al-
lich voreilig, eher scheint es sich um Gefühle von Re- lerdings sind das eher Spekulationen als gesicherte
spekt und Dankbarkeit als um Liebesgefühle gehan- Tatsachen, ebenso wie die Behauptung, Jacob habe
delt zu haben. Schließlich muß man die denkwürdige seine älteren Söhne aus erster Ehe nicht zuletzt des-
Tatsache erwähnen, daß der Sohn, als Amalia im halb nach England geschickt, um Philipp und Amalia
Jahre 1930 hochbetagt starb, sich weigerte, beim Be- auseinanderzubringen, d. h. um Philipp für seine
gräbnis persönlich anwesend zu sein. Statt dessen Triebhaftigkeit gegenüber Amalia zu bestrafen (Krüll
schickte er seine Tochter Anna zur Beerdigung (F/Fer 1992, 168, 191 f.). Jedenfalls scheint in diesen familia-
III/2, 246), woraus man den psychologischen Schluß len Szenen jenes Thema schemenhaft auf, das in der
ziehen kann, das der Sohn gemäß dem Talionsgesetz entfalteten psychoanalytischen Theorie Freuds einen
ebendas vollstreckte, was seine Mutter ihm einst an- Eckpfeiler bildet: die Macht des Sexuellen, die »Tat-
getan hatte: Er schickte einen »Ersatzsohn«, so wie sache geschlechtlicher Bedürfnisse bei Mensch und
seine Mutter ihn während einer entscheidenden Tier« (GW V, 33) und die sich daraus für den er-
Phase seiner frühen Kindheit der Obhut einer Ersatz- steren ergebende Notwendigkeit, seine Triebe zu zü-
mutter überlassen hatte – Auge um Auge, Zahn um geln, um der Kastration und Vernichtung durch den
Zahn. Aus diesen Zeugnissen darf man vielleicht den Vater zu entgehen. Man kann deshalb mit einer ge-
vorsichtigen Schluß ziehen, daß Freud seine unbe- wissen Plausibilität vermuten, Freuds in Totem und
wußten Bindungen an diese ambivalent besetzte Tabu (GW IX) entworfenes Bild der Urhorde, der ge-
Mutterfigur (vgl. F/E, 66o) nie wirklich durchgear- gen die sexuelle Diktatur des Vaters rebellierenden
beitet hat (Gay, 20) und daß die in seinem Werk auf- Söhne, die den Vater töten, um anschließend neue
fällig fehlbelichtete Weiblichkeit, die er als alter Mann Verbotstafeln gegen Triebenthemmungen zu errich-
in die Metapher des »dark continent« (GW XIV, 241) ten, gehe auf Erfahrungen in der eigenen Familie zu-
bannte, Konsequenz jenes mythologischen Geheim- rück (Krüll 1992, 192). Auf jeden Fall kann man sa-
nisses war, das er mit der Gestalt der Mutter und der gen, daß Freuds erste Kinderjahre, die sich in einem
Frau zeitlebens verband. höchst unübersichtlichen familialen Beziehungsge-
Weniger komplex und undurchsichtig scheint flecht und in einem fast als inzestuös zu bezeichnen-
Freuds Verhältnis zu seinem Vater gewesen zu sein. den Klima zwischen verschiedenen Generationen ab-
Jacob, ein alles in allem eher erfolgloser kleiner Ge- spielten, alles andere als unkompliziert, womöglich
schäftsmann, der offenbar häufig auf die finanzielle sogar traumatisierend waren (Kollbrunner 2001,
Unterstützung anderer – etwa seiner nach England 91 ff.).
ausgewanderten Söhne Emanuel und Philipp – ange-
wiesen war, selber zwar jüdisch-orthodox erzogen,
Eine Jugend in Wien
aber in späteren Jahren in religiösen Dingen ein Frei-
geist, wird vom Sohn als ein Mann »von tiefer Weis- Aufgrund wachsender wirtschaftlicher Schwierigkei-
heit und phantastisch leichtem Sinn« beschrieben, als ten Jacobs zog die Familie, nach einer kurzen Leip-
ein »interessanter Mensch, innerlich sehr glücklich«, ziger Episode, 1860 nach Wien um und ließ sich in
mit »Anstand und Würde« (F, 212, 206). Freud, sei- der Leopoldstadt nieder, die mehrheitlich von Juden
nerseits ein »Atheist strengster Observanz« (Eissler bewohnt war. Freiberg, der Ort seiner frühen Kinder-
1976, 12), der sich selbst als »ganz gottlosen Juden« jahre, blieb für Freud ein Sehnsuchtsort, dessen er
titulierte (F/P, 64), scheint seinen Vater zwar geliebt sich immer wieder gerne erinnerte. Noch 1931, als
zu haben, aber das Moment ödipaler Rivalität ist in eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus enthüllt
manchen Äußerungen nicht zu überhören. Seine wurde, bekannte er sich als »das glückliche Freiberger
frühe Identifizierung mit dem Römer-Feind Hanni- Kind«, das »aus dieser Luft, aus diesem Boden die
bal, dessen Vater ihn einst schwören ließ, an den Rö- ersten unauslöschlichen Eindrücke empfangen hat«
mern Rache zu nehmen, verweist auf den Triumph (GW XIV, 561). In der Hauptstadt der k.u.k. Monar-
des größeren Sohnes (Hannibal/Freud) über den chie, die in den 1860er und 70er Jahren vom Geist
großen Vater (Hamilkar Barkas/Jacob). eines reformerischen Liberalismus durchweht war,
Trotz aller Umgänglichkeit und Freundlichkeit war besuchte Freud zunächst eine Privatschule, dann das
Jacob freilich auch der strenge Patriarch der Familie – Leopoldstädter Communal-Realgymnasium, an dem
ein Zug, den der Sohn ziemlich ungebrochen fort- er mit siebzehn das Abitur ablegte – mit Auszeich-
führte. Als drohende und strafende Instanz, die er als nung, wie es sich für einen frühreifen Klassenprimus
autoritärer pater familias darstellte, soll er dem klei- gehörte. Schon der Gymnasiast beherrschte, was
nen Sigmund verboten haben, an seinem Genital zu auch seinen Lehrern auffiel, die deutsche Sprache in
52 Freud und seine Epoche

bemerkenswerter Vollendung, von Freud in einem Ausflug in die Philosophie rasch von der philosophi-
Jugendbrief ironisch kommentiert: »Mein Professor schen »Neigung zum Spekulieren« (Jones I, 49) ab-
sagte mir […], daß ich hätte, was Herder so schön kehrte – weshalb er auch später gewisse Probleme da-
einen idiotischen Stil nennt, das ist ein Stil, der zu- mit hatte, den Einfluß von Philosophen, namentlich
gleich korrekt und charakteristisch ist« (B, 6). Bereits von Nietzsche, auf seine Theorie einzubekennen (Yo-
damals zeichnete sich offenbar ab, daß Freud das vel 1989/1994, 423 f.; Gasser 1997, 128 ff.) –, wandte
Zeug zu einem großen Schriftsteller hatte, der er Freud sich zunächst dem Feld der Zoologie zu, auf
dann ja auch wurde. Die deutsche Sprache war das dem er offenbar so Beachtliches zustande brachte,
Haus, in dem Freud zeitlebens wohnte und dem er daß ihm das Wiener Unterrichtsministerium zwei-
sich tief und leidenschaftlich verbunden fühlte (vgl. mal ein Stipendium gewährte. Das Geld floß in zwei
Mahoney 1982/1989; Goldschmidt 1988/1999; Loh- Studienaufenthalte in Triest, das damals noch zum
mann 1998/2004, 127 ff.). Habsburgerreich gehörte, wo er an der Zoologischen
Als stolzer und selbstbewußter Erstgeborener er- Station das Nervensystem der Fische mikroskopierte
fuhr Freud jene Förderung seiner Talente, die ehrgei- und nach den Hoden von Flußaalen fahndete. Seine
zige und von der Begabung ihres Sohnes überzeugte Forschungsergebnisse wurden 1877 publiziert. Hier
Eltern zu investieren pflegen. Dahinter mußten die ist daran zu erinnern, daß der begabte Neuroanatom
jüngeren Geschwister, vor allem die Schwestern, in Freud, dessen später entwickelte psychoanalytische
jeder Hinsicht zurücktreten. Es ist überliefert, daß Hermeneutik seine naturwissenschaftliche Frühzeit
der Jüngling stets über ein eigenes Zimmer verfügte, beinahe vollständig überdeckt hat, von der Nachwelt
so beschränkt die räumlichen Lebensumstände der weitgehend vergessen wurde und erst heute, im Zuge
Familie sonst sein mochten. Als deren erklärter Lieb- der Annäherung von Neurowissenschaft und Psycho-
ling, dem Großes zugetraut wurde, genoß Freud al- analyse, wiederentdeckt und rehabilitiert wird (Ka-
lerhand Privilegien. plan-Solms/Solms 2000/2003; vgl. auch Der Spiegel
Den Wunsch, angeregt durch seinen Jugendfreund 2005).
Heinrich Braun – später ein bekannter österreichi- Unzufrieden mit seinen neuroanatomischen For-
scher Politiker – Jura zu studieren und in die Politik schungen, vielleicht auch mit seinem Lehrer Carl
zu gehen, gab Freud rasch zugunsten des Medizin- Claus (der in Freuds autobiographischen Schriften
studiums auf. Im Herbst 1873 schrieb er sich an der nirgends erwähnt wird), wechselte der Student die
Wiener Universität ein, wo er spät, im März 1881, Richtung und schloß sich zwischen 1876 und 1882
promoviert wurde. In die frühen 1870er Jahre fällt dem Physiologischen Institut an, das von dem be-
auch Freuds erste Liebe, seine juvenile Zuneigung zu rühmten Gelehrten Ernst Wilhelm von Brücke ge-
Gisela Fluss, der Schwester seines Schulfreundes Emil leitet wurde. Brücke, ein führender Vertreter der
Fluss. Allerdings gibt die Korrespondenz mit dem Ju- Helmholtz-Schule und radikaler Verfechter eines me-
gendfreund Eduard Silberstein zu erkennen, daß dizinischen Positivismus, der sich erfolgreich gegen
Freuds Gefühle weniger dem Mädchen als vielmehr den um die Mitte des Jahrhunderts blühenden Vita-
ihrer Mutter galten, von deren Reizen er in einer lismus wandte, war eine der wenigen Figuren, die
Art verspäteter ödipaler Verliebtheit schwungvoll Freuds wissenschaftliche Einstellungen lebenslang
schwärmte und die er sogar gegen seine eigene Mut- prägten (vgl. Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1944/1981,
ter ausspielte (S, 23). Daß die in den Silberstein-Brie- 54 ff.). »Im physiologischen Laboratorium von Ernst
fen als »Ichthyosaura« (ebd., 151) verschlüsselte Per- Brücke fand ich endlich Ruhe und volle Befriedi-
son, für die der adoleszente Freud ebenfalls starke gung«, heißt es in Freuds »Selbstdarstellung« von
Worte fand, identisch mit Gisela Fluss ist, gehört in 1925 (GW XIV, 35). Brücke war für ihn die größte
den Bereich der Legende (Heim 1992/1994). Es war Autorität, »die je auf mich gewirkt hat« (ebd., 290).
offenbar noch eine andere junge Frau im Spiel, von Freuds Bindung an Brücke überlebte selbst seine
der wenig bekannt ist, eine Frau, die für Freud die Wendung von der physiologischen zur psychologi-
handfest-irdische Seite der Liebe verkörperte – eine schen Erklärung geistig-seelischer Phänomene, und
bedrohliche Seite, die er vorerst abwehren und be- wenn er noch 1932 schreiben konnte, die Psychoana-
kämpfen mußte. lyse sei »ein Stück Wissenschaft und kann sich der
Denn der Wille zum Wissen und der Wunsch, ein wissenschaftlichen Weltanschauung anschließen«
berühmter Mann oder doch wenigstens ein ordent- (GW XV, 197), so ist dies als eine späte Hommage an
licher Professor zu werden, waren bei Freud stärker. seinen Lehrer Brücke zu verstehen. Freuds gesamte
Mehr Forscher als Student, ein »gottloser Mediziner Psychologie – das ist später oft heruntergespielt wor-
und Empiriker« (S, 82), der sich nach einem kurzen den – steht im Banne eines Wissenschaftsverständ-
Die intellektuelle Biographie 53

nisses, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s von los lange Verlobungsjahre in, so gibt es Anlaß zu ver-
Männern wie Charles Darwin, Emil Du Bois-Rey- muten, vollkommener Enthaltsamkeit. Jahrzehnte
mond, Hermann Helmholtz, Rudolf Virchow und später schrieb Freud in einem Brief an James Put-
eben Ernst von Brücke geprägt und propagiert nam, in dem es um das Thema größerer sexueller
wurde. Im Freudschen Selbstverständnis blieb die Freizügigkeit in der Jugend ging: »Ich vertrete ein un-
Psychoanalyse in letzter Instanz eine Naturwissen- gleich freieres Sexualleben, wenngleich ich selbst sehr
schaft der Seele auf biologischer Grundlage (vgl. wenig von solcher Freiheit geübt habe« (zit. nach
Lohmann 1998/2004, 99 ff.). Jones I, 126). Wieviel Zorn und Erbitterung der
Nach dem einjährigen Militärdienst, den Freud Zwang zur Unterdrückung seines sexuellen Begeh-
1879/80 ableistete und den er sich aus Langeweile da- rens in Freud hervorrief, wissen wir aus seinen (bis
mit vertrieb, einige Schriften von John Stuart Mill, heute nicht vollständig publizierten) Brautbriefen:
darunter den Essay über die Frauenemanzipation, ins »[…] ich bin ja nur ein halber Mensch im Sinne der
Deutsche zu übersetzen, und dem Ende seiner Zeit alten platonischen Fabel, die Du gewiß kennst, und
am Brückeschen Institut, an dem ihm weitere Kar- meine Schnittfläche schmerzt mich, sobald ich außer
rierechancen verbaut waren, stand Freud zunächst Beschäftigung bin.« Und fast im selben Atemzug, in
einmal vor dem Nichts. 1882 war er beides, arm und einer Aufwallung von Empörung und Verachtung ge-
verliebt. Diese Konstellation zwang ihn, auf eine wis- gen die, die ohne Skrupel und Gewissen ihren Ver-
senschaftliche Laufbahn und damit auf seine Ambi- gnügungen frönen, heißt es:
tionen auf den Professorenberuf zu verzichten. »Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen
Schweren Herzens entschloß er sich, eine Stelle am mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Er-
Wiener Allgemeinen Krankenhaus anzutreten, zuerst regungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für
als Aspirant, dann als Sekundararzt, obwohl er, wie er was – und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung
natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung.
später mehrfach betonte, nie Arzt werden wollte […] So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns ab-
(ebd., 110 ff.). Freuds allgemeine »schlechte mate- zuhalten, als uns Genuß zu verschaffen, und in der höchsten
rielle Lage« (GW XIV, 35) mochte ein Grund sein, Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die sich mit den
Geld zu verdienen. Ein anderer, und wohl gewichti- Banden von Tod und Leben aneinander ketten, die jahrelang
entbehren und sich sehnen, um einander nicht untreu zu wer-
gerer, war, daß er im April 1882 Martha Bernays ken- den […]« (Freud 1971, 36 ff.).
nengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt
hatte. In Freuds leidenschaftlichem Ausbruch findet sich
eine Reihe emotionaler Motive, in denen gleichsam
in nuce vorweggenommen ist, was in seiner später
Liebe und Beruf
ausgearbeiteten Theorie eine zentrale Rolle spielen
Martha, fünf Jahre jünger als Freud, entstammte ei- sollte. Als er in den 1890er Jahren seine Gedanken
ner alten und kultivierten jüdischen Familie aus zur sexuellen Ätiologie der Neurosen niederlegte und
Hamburg. Ihr Großvater Isaac Bernays war Groß- zu Beginn des 20. Jh.s mit sexualreformerischen Be-
rabbiner von Hamburg gewesen, zur Familie zählten strebungen nach einem freizügigeren Umgang mit
bedeutende Gelehrte wie der Altphilologe Jacob der Sexualität sympathisierte, hatte er die harten Er-
Bernays. fahrungen seiner Verlobungszeit im Rücken. Als er
Da Martha, mit der Freud sich schon im Juni 1882 das Konzept der Sublimierung der Triebe, deren Um-
verlobte, aus einer zwar angesehenen, aber ebenfalls arbeitung in »Kultur« formulierte, konnte er auf eine
mittellosen Familie kam, führte kein Weg an einer reale Lebenserfahrung zurückgreifen. Und das Motiv
beruflichen Tätigkeit vorbei. So wurde Freud Klini- schließlich, nicht so sehr eigene Lust zu suchen als
ker, um in absehbarer Zeit einen bürgerlichen Haus- vielmehr »Unlust zu vermeiden« (Nachtr., 404) – ein
halt gründen zu können. Motiv, das Freud der berühmten Bienenfabel des eng-
Es waren harte und entbehrungsreiche Jahre, die lischen Schriftstellers und Satirikers Bernard Mande-
Freud durchzustehen hatte. Nicht als »other Victo- ville (1714/1968, 181) entlehnt haben könnte –, ist
rian« (Steven Marcus) wie jener anonyme Autor von nachgerade ein psychologisches Leitmotiv des ge-
My Secret Life, der sich glaubwürdigen Untersuchun- samten Freudschen Werkes.
gen zufolge alle von ihm beschriebenen sexuellen Es- Mit seiner schlecht bezahlten Tätigkeit am Wiener
kapaden selber geleistet haben soll, eher als streng Allgemeinen Krankenhaus verfolgte Freud vor allem
erzogener Wiener Viktorianer, für den vor-, später das Ziel, sich durch den Erwerb klinischer Praxis auf
außereheliche geschlechtliche Vergnügungen tabu eine Existenz als niedergelassener Arzt vorzubereiten.
waren, durchlitt der angehende Nervenarzt vier end- Neben dieser Tätigkeit blieb ihm, dem ambitionier-
54 Freud und seine Epoche

ten Forscher und Wissenschaftler, immer noch genü- Foucault, ausgerechnet in der Salpêtrière sterben
gend Zeit, seinem Wissensdrang zu gehorchen und sollte.) Schon bevor Freud in Paris ankam, schrieb er
seine Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten der Me- voller Euphorie an seine Verlobte: »O wie schön wird
dizin zu vertiefen, wobei freilich die Spezialisierung das sein! Ich […] komme dann mit einem großen,
auf die Neuropathologie deutlich im Zentrum stand. großen Nimbus nach Wien zurück, und dann heira-
Zunächst arbeitete Freud in der Abteilung des re- ten wir bald, und ich kuriere alle unheilbaren Ner-
nommierten Internisten Hermann Nothnagel, seit venkranken […]« (Freud 1971, 94).
Mai 1883 in der Klinik des nicht minder renommier- Ähnlich wie Brücke auf dem Feld der Physiologie
ten Hirnanatomen und Psychiaters Theodor Meynert galt Charcot damals als unumschränkter Herrscher
– von beiden wohlwollend gefördert. Freuds Selbst- auf dem Gebiet der Diagnostik und Behandlung spe-
bewußtsein war beträchtlich. Als er im Januar 1885 zieller Nervenkrankheiten, vor allem der Hysterie,
die Habilitation und damit die Stellung eines Privat- die von der Medizin jener Zeit kaum ernstgenom-
dozenten an der Wiener Universität anstrebte, hatte men wurde. Freud war von der Persönlichkeit Char-
er keinerlei Probleme, sich der Empfehlungen seines cots ebenso fasziniert wie von seinen Forschungen
alten Lehrers Brücke sowie Meynerts und Nothnagels und seinen bisweilen theatralischen Krankendemon-
zu versichern. Das Ministerium zögerte nicht, Freuds strationen vor großem Auditorium. Die kurze, aber
Ernennung zum Dozenten umgehend zu bestätigen. intensive Lehrzeit bei Charcot – erst bei ihm, be-
Die Dozentur versprach eine gutgehende spezialärzt- kannte Freud, habe er »klinisch sehen gelernt« (B,
liche Praxis und stellte wissenschaftlichen Gewinn in 228) –, dem es nicht nur gelang, der Hysterie einen
Aussicht. angemessenen Platz im wissenschaftlichen Denken
In die 1880er Jahre fällt auch Freuds Beschäftigung der Ärzte zu verschaffen, sondern dem auch der
mit dem Rauschgift Kokain, dessen suchterzeugender Nachweis glückte, daß hysterische Symptome bei
Drogencharakter damals freilich noch kaum bekannt hypnotisierten Patienten künstlich erzeugt werden
war. Zwischen 1884 und 1887 veröffentlichte er fünf können, öffnete Freud die Augen für die nicht-phy-
Arbeiten über das Tropanalkaloid Kokain (Freud siologischen, also möglicherweise eher psychologisch
1884–1887/1996) in der Hoffnung, ein neues neur- zu erklärenden Ursachen von Geistespathologien. Al-
asthenisches Medikament zu entdecken und auf ei- lerdings könnte er schon zuvor, dank der Bekannt-
nem Forschungsgebiet zu reüssieren, das außerhalb schaft und Freundschaft mit dem bedeutenden Wie-
dessen lag, was Freuds akademische Lehrer interes- ner Arzt Josef Breuer, auf diese Möglichkeit gestoßen
sierte. Sein Pech war, daß er bei seinen Experimenten sein.
mit der Droge, die auch Selbstexperimente einschloß, Nach seiner Rückkehr aus Paris erlebte Freud ei-
die Morphiumabhängigkeit seines Kollegen Ernst nen herben Rückschlag, und es sollte nicht der letzte
Fleischl von Marxow mit der Verschreibung von Ko- sein, den er im Kreis der Wiener medizinischen Ka-
kain zu bekämpfen versuchte und damit am Ende pazitäten erfuhr. Von Charcot darüber aufgeklärt,
scheiterte. Und nicht er, obwohl er kurz davorstand, daß die Hysterie entgegen allen landläufigen Auffas-
sondern sein Studienfreund Carl Koller entdeckte die sungen auch bei Männern auftreten könne, trug
lokalanästhesistische Wirkung des Kokains am Auge Freud im Oktober 1886 seine Gedanken über männ-
und heimste damit jenen wissenschaftlichen Ruhm liche Hysterie vor und stieß damit auf einhellige Ab-
ein, den Freud für sich selbst erhofft hatte (Bernfeld lehnung. Es ist freilich möglich, daß solche Ableh-
1953/1981, 206 ff.). »Die Kokageschichte«, notierte er nung nicht so sehr der Neuigkeit selber galt, die
leicht ernüchtert schon im Herbst 1884, »hat mir al- Freud mitzuteilen hatte, als vielmehr dem auftrump-
lerdings viel Ehre eingebracht, aber doch den Löwen- fenden Ton, mit der er sie als Pariser dernier cri vor-
anteil anderen« (Freud/Bernays 2005, 96). stellte – was die von sich überzeugten Wiener viel-
Währenddessen bereitete sich Freud weiter auf die leicht kränkte. Aber wie tastend und schwankend
Eröffnung einer Privatpraxis vor, immer mit Blick auch immer – Freud hielt an seinen neuen Erkennt-
auf »Geld, Stellung und Namen« (B, 137). Bevor es nissen fest, wobei er sich nicht sicher war, ob er
allerdings soweit war, bot sich ihm dank eines sechs- Charcots Ansicht teilen sollte, der hypnotische Zu-
monatigen Reisestipendiums die Möglichkeit zur Er- stand könne allein bei Hysterikern erzeugt werden,
langung einer abschließenden Zusatzqualifikation – oder die einer anderen französischen Schule um
an der der Salpêtrière des berühmten Jean-Martin Ambrose Auguste Liébault und Hippolyte Bernheim,
Charcot. (Es entbehrt nicht der Ironie, daß fast genau wonach beinahe jeder für die Hypnose empfänglich
hundert Jahre später der schärfste Diagnostiker und sein sollte. In seinem Nachruf auf den verehrten Leh-
Kritiker des klinischen Blicks, der Philosoph Michel rer Charcot, der im August 1893 gestorben war,
Die intellektuelle Biographie 55

schreibt Freud: »Die Beschränkung des Studiums der nehmend auf die Hypnose zurück, deren Technik er
Hypnose auf die Hysterischen, die Unterscheidung in Nancy studiert hatte. Aber auch hier hielten sich
von großem und kleinem Hypnotismus, die Aufstel- die Heilerfolge in Grenzen. »Im Zeitraum von
lung dreier Stadien der ›großen Hypnose‹ und deren 1886–1891 habe ich wenig wissenschaftlich gearbeitet
Kennzeichnung durch somatische Phänomene, dies und kaum etwas publiziert. Ich war davon in An-
alles unterlag in der Schätzung der Zeitgenossen, als spruch genommen, mich in den neuen Beruf zu fin-
Liébaults Schüler Bernheim es unternahm, die Lehre den und meine materielle Existenz sowie die meiner
vom Hypnotismus auf einer umfassenderen psycho- rasch wachsenden Familie zu sichern« (GW XIV, 41),
logischen Grundlage aufzubauen und die Suggestion lautet der wenig freundliche Kommentar im Rück-
zum Kernpunkt der Hypnose zu machen« (GW I, blick, wobei Freud außer acht läßt, daß er zu Beginn
34). Freud verhielt sich gewissermaßen salomonisch der 1890er Jahre sich intensiv auf dem Gebiet der
und gab beiden Seiten ein Stück weit recht. 1889 Gehirnanatomie und -physiologie betätigt hatte und
suchte er Bernheim auf und unterstrich auf diese daß eine Frucht seiner Forschungen die bedeutende
Weise, daß er die Schule von Nancy als derjenigen Studie Zur Auffassung der Aphasien von 1891 war
von Paris ebenbürtig betrachtete, und wie um seine (Freud 1891/1992).
Unparteilichkeit zu betonen, übersetzte er sowohl
Werke von Charcot wie von Bernheim ins Deutsche.
Freundschaften
Bis in die 1890er Jahre experimentierte Freud mit der
hypnotischen Technik, bis er sie über mehrere Zwi- Zwei enge Freundschaftsbeziehungen waren es, die
schenschritte nach und nach in die psychoanalytische Freuds privaten und wissenschaftlichen Weg in den
transformierte und endlich ganz aufgab. 1990er Jahren prägten – einmal die Freundschaft mit
Inzwischen hatte Freud im Frühjahr 1886, nach dem älteren Josef Breuer, sodann die mit dem »cha-
seiner Rückkehr aus Paris, beim Allgemeinen Kran- rismatischen« (Eli Zaretsky) Wilhelm Fließ. Schon zu
kenhaus gekündigt und in der Rathausstraße 7 eine Beginn der 1880er Jahre hatte ihm Breuer von einer
eigene Praxis aufgemacht, wohin ihm Nothnagel und Patientin erzählt – in der medizinischen Literatur un-
Breuer Patienten überwiesen; zugleich arbeitete er ter dem Pseudonym »Anna O.« geführt, hinter dem
drei Nachmittage in der Woche als Neurologe am sich die später als jüdische Frauenrechtlerin bekannt
Kinder-Krankeninstitut von Max Kassowitz. Entge- gewordene Bertha Pappenheim verbarg (vgl. Konz
gen gelegentlichen pessimistischen Anwandlungen, 2005) –, die an schweren hysterischen Symptomen
den »Kampf mit Wien« (Freud 1971, 136), d. h. um litt. Breuer, ein ungewöhnlich fähiger Arzt und For-
eine auskömmliche Existenz, nicht gewinnen zu kön- scher, hatte eher zufällig die Beobachtung gemacht,
nen, erwies sich die Freudsche Praxis zunächst als daß die Patientin unter Hypnose in der Lage war, sich
durchaus einträglich. Endlich, nach vier Jahren qual- detailliert an die Ursprungssituation zu erinnern, die
vollen Wartens, konnte auch die Heirat mit Martha das hysterische Symptom hervorgerufen hatte, und
ins Auge gefaßt werden. Dank großzügiger Geldge- dabei den seinerzeit unterdrückten Affekt zu artiku-
schenke von der Verwandtschaft der Braut und mit lieren, woraufhin das Symptom verschwand. Dieser
Hilfe von Anleihen und Geldzuwendungen betuchter aufschlußreichen Beobachtung, die gewissermaßen
Freunde war Freud in der Lage, einen eigenen Haus- am Anfang der Psychoanalyse steht – und Freud war
stand zu gründen. Die Ziviltrauung fand am 13. Sep- später im ganzen fair genug, Breuers gewichtigen An-
tember 1886 in Wandsbek bei Hamburg statt. Ein teil an seiner »Erfindung« zu würdigen (z. B. GW
Jahr später brachte Martha das erste Kind, die Toch- XIV, 46) –, hatte Freud zunächst wenig Beachtung
ter Mathilde, zur Welt, in kurzen Abständen folgten geschenkt. Jetzt aber, wo er mit den herkömmlichen
fünf weitere: Jean-Martin (1889), Oliver (1891), Heilmethoden gescheitert war, kam er darauf zurück,
Ernst (1892), Sophie (1893) und Anna (1895). Die zumal sich diesmal wirkliche Erfolge zeigten. »Wir
jüngste Tochter Freuds sollte das einzige Kind sein, fanden […] zu unserer größten Überraschung«,
welches das geistige Erbe des Vaters antrat. heißt es im einleitenden Kapitel der gemeinsam mit
Auf Dauer brachte die nervenärztliche Praxis nicht Breuer verfaßten Studien über Hysterie von 1895, die
nur Vorteile, sondern auch neue Enttäuschungen. zu Recht als das »Urbuch der Psychoanalyse« be-
Die damals üblichen Heilverfahren – Elektrotherapie, zeichnet worden sind (Grubrich-Simitis 1995), »daß
Massagen und Heilbäder – erwiesen sich als nur be- die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und
grenzt tauglich, wirkliche Besserung und gar voll- ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen
ständige Genesung blieben bei Freuds Patienten häu- war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang
figer aus, als ihm lieb sein konnte. Also griff er zu- zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den be-
56 Freud und seine Epoche

gleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der zwischen Nase und Genitalorganen und seine Theo-
Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher rie biorhythmischer Zyklen heute eher als verschro-
Weise schilderte und dem Affekt Worte gab.« Freud ben gelten, war Freud bereit, Fließ mehr oder minder
und Breuer kamen zu dem Fazit, »der Hysterische kritiklos zu vertrauen. »Ein intimer Freund und ein
leide größtenteils an Reminiszenzen« (GW I, 85 f.), gehaßter Feind waren mir immer notwendige Erfor-
die, so muß man hinzufügen, mit einem ursprüngli- dernisse meines Gefühlslebens; ich wußte beide mir
chen Trauma zusammenhängen. immer von neuem zu verschaffen« (GW II/III, 487) –
Während aber Breuer seine sog. kathartische Me- zuweilen in ein und derselben Person, wenn man an
thode nur bei dieser einen Patientin, eben »Anna O.«, die Freundschaften mit Fließ und C. G. Jung denkt,
erprobte, erkannte Freud ihren umfassenderen Sinn die beide in tiefe Zerwürfnisse umschlugen. In Fließ
und erhob sie peu à peu in den Rang einer bevorzug- fand er diesen dringend benötigten Intimus, und daß
ten Behandlungstechnik. Dabei stellte er im Laufe er ihn so heftig idealisierte und ihm in vielem so be-
der Zeit fest, »daß nicht beliebige Affekterregungen denkenlos folgte – in einem Fall bis zu einer schweren
hinter den Erscheinungen der Neurose wirksam wa- ärztlichen Panne, die beinahe böse Folgen gehabt
ren, sondern regelmäßig solche sexueller Natur, ent- hätte –, läßt sich nur damit erklären, daß Freud in
weder aktuelle sexuelle Konflikte oder Nachwirkun- seiner damaligen Situation relativer Isoliertheit – im
gen früherer sexueller Erlebnisse« (GW XIV, 48). Das Rückblick sprach er von »splendid isolation« (GW X,
Postulat der sexuellen Ätiologie der Neurosen, das in 60) – in einer Übertragungsbeziehung befangen war,
der Folgezeit eine so herausragende Bedeutung für die es ihm unmöglich machte, »de[n] einzige[n] An-
Freud gewinnen sollte, galt zunächst ausschließlich dere[n], de[n] alter« (F, 66), wie er Fließ enthusia-
der Hysterie, wurde dann aber auf alle Formen von stisch apostrophierte, realistisch wahrzunehmen.
Neurose übertragen. »Ich ging über die Hysterie hin- In der Wiener Ärzteschaft stieß Freud mit seinen
aus«, heißt es in der »Selbstdarstellung«, »und be- neuen sexologischen Ideen auf wenig Gegenliebe und
gann, das Sexualleben der sogenannten Neurasthe- Resonanz. Auch Martha, die den häuslichen und fa-
niker zu erforschen […] Dieses Experiment kostete miliären Hintergrund intakt hielt und keinerlei intel-
mich zwar meine Beliebtheit als Arzt, aber es trug lektuelle Anteilnahme an jener »Art von Pornogra-
mir Überzeugungen ein, die sich heute, fast dreißig phie« (zit. nach Gay, 75) aufbrachte, fiel als verstän-
Jahre später, noch nicht abgeschwächt haben. Man dige Gesprächspartnerin aus – einzig seine Schwä-
hatte viel Verlogenheit und Geheimtuerei zu über- gerin Minna, die seit 1896 im Freudschen Haushalt
winden, aber wenn das gelungen war, fand man, daß lebte, scheint zumindest in begrenztem Maße für
bei all diesen Kranken schwere Mißbräuche der Se- Freuds Ideen aufgeschlossen gewesen zu sein (Freud/
xualfunktion bestanden« (ebd., 49). Bernays 2005). Diese schmerzliche Leere füllte Fließ,
Freud stand, kein Zweifel, an einem Wendepunkt und Freud offenbarte sich ihm ihn einer Weise, die
seiner ärztlichen und wissenschaftlichen Karriere. Als beispiellos zu nennen ist. Die dank seiner späteren
die Studien erschienen, hatten sich seine und Breuers Schülerin Marie Bonaparte erhaltenen Briefe Freuds
Wege längst getrennt, weil der Ältere nicht bereit war, an Fließ (während Freud umgekehrt Fließ’ Briefe ver-
Freud auf das riskante und anstößige Feld der se- nichtet hat) zeugen von einer fast brutal zu nennen-
xuellen Ätiologie der Neurosen zu folgen, und die den Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, von seinen
»Arbeitsgemeinschaft« (ebd., 47) aufgekündigt hatte. Emotionen, Phantasien und Spekulationen, seinen
»Ich glaube, er verzeiht mir nie«, meldete Freud an physischen und seelischen Beschwerden, seiner Niko-
Fließ, »daß ich in den ›Studien‹ ihn mitgerissen und tinabhängigkeit, seinen ehelichen Freuden und Lei-
für etwas engagiert habe, wo er immer nur drei Kan- den. Die in jeder Hinsicht intensive und durchaus
didaten für den Platz einer Wahrheit kennt und jede homophil gefärbte Freundschaft mit Fließ eröffnete
Allgemeinheit als Überhebung verabscheut« (F, 185). ihm gerade wegen ihrer grenzenlosen Toleranz jenen
Aus den Fließ-Briefen wissen wir freilich auch, daß Spielraum, in dem sich Freuds Gedankenexperi-
Freud die Trennung von Breuer, der ihn beruflich mente ungehemmt entwickeln konnten. So paradox
und finanziell stets freundschaftlich gefördert hatte, es klingt: Die genialische »Verrücktheit« von Fließ,
alles andere als leichtgefallen ist. seine wissenschaftlichen Marotten und haltlosen
Die Stelle Breuers hatte längst der Berliner Hals- Spekulationen, in denen Freud sich verlor, bildeten
Nasen-Ohren-Spezialist Wilhelm Fließ eingenom- den Boden für Freuds Kreativität, für seine Fähigkeit,
men, mit dem Freud seit 1887 in brieflichem Kontakt die Zensurschranke zwischen der trieb- und affekt-
stand. Obwohl Fließ’ bizarre Zahlenspekulationen, näheren Schicht des Vorbewußten und dem Bewußt-
seine Annahme einer physiologischen Beziehung sein zu lockern und damit Selbstbeobachtungen und
Die intellektuelle Biographie 57

Einsichten zuzulassen, die gewöhnlich der Verdrän- mußten Freud in seiner Sicht noch bestärken, zumal
gung unterliegen. Fließ war gleichsam der Katalysa- Fließ sie teilte, so daß er sich schließlich ermutigt
tor für Freuds kreativen Prozeß und für das, wofür fühlte, sie öffentlich zu vertreten. Sein Vortrag Zur
Freud die Bezeichnung »Selbstanalyse« fand (F, 288, Ätiologie der Hysterie, den er am 21. April 1896 vor
291 u. ö.), die bis heute als die eigentliche Geburts- dem Verein für Psychiatrie und Neurologie hielt und
stunde der Psychoanalyse gilt. Wenn Breuer Freud mit dem er seine Ärztekollegen davon zu überzeugen
auf das Geheimnis der Patienten-Erinnerungen in suchte, daß der Ursprung der Hysterie regelhaft auf
der »talking cure« (Nachtr., 229) gestoßen hatte, so sexuellen Mißbrauch in der Kindheit zurückgehe, ge-
Fließ ihn auf die Abkömmlinge des eigenen Unbe- riet zum Fiasko. Der bekannte Sexologe Richard von
wußten. Krafft-Ebing sprach von einem »wissenschaftlichen
Im selben Jahr, in dem die Studien über Hysterie Märchen« (F, 193), das professionelle Auditorium
erschienen, ein Buch, von dem Freud überrascht fest- reagierte feindselig. Von diesem Moment an war
stellte, »daß die Krankengeschichten, die ich Freud in Wien ziemlich isoliert.
schreibe, wie Novellen zu lesen sind« (GW I, 227), Obwohl Freuds sexuelle Traumatheorie in ihrer
schickte er Fließ einen Text, der, postum (1950 bzw. Verallgemeinerung einigermaßen unplausibel ist, be-
1987) veröffentlicht, jene Seite von Freuds Forscher- durfte es noch einer Weile, bis er sich von ihr trennte.
interesse herauskehrt, von der er ursprünglich her- Jedenfalls begann Freud allmählich zu realisieren,
kam, der Neurologie. Diesen sog. Entwurf einer Psy- daß seine Patienten im Sprechzimmer Berichte pro-
chologie bezeichnete er selber als »Psychologie für duzierten, die mehr auf Phantasien und Wünschen
den Neurologen« (F, 129). Hatte er soeben noch in beruhten denn auf wirklichen Ereignissen, daß des-
den Studien eine narrative Version seiner neuen Er- halb die von ihnen behauptete »Verbreitung der Per-
kenntnisse über den Zusammenhang von sexuellem version gegen Kinder wenig wahrscheinlich ist« (F,
Trauma und hysterischer Erkrankung geliefert, so 283) und »daß es im Unbewußten ein Realitätszei-
schlägt im Entwurf wieder der Naturwissenschaftler chen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und die
in ihm durch. Auch wenn Freud das ehrgeizige Pro- mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden
jekt, das er später unter dem Titel einer »Metapsy- kann« (ebd., 284). Kurzum: »Ich glaube an meine
chologie« (ebd., 181) noch einmal aufgriff, offenbar Neurotica nicht mehr« (ebd., 283). Der Gewinn die-
bald aufgab, unterliegt es keinem Zweifel, daß das im ser Korrektur – die Aufgabe der sog. Verführungs-
siebten Kapitel der Traumdeutung entwickelte Modell theorie und die Anerkennung der Macht unbewußter
vom psychischen Apparat in fast sämtlichen Annah- Wünsche und Phantasien – ermöglichte es Freud, die
men den Gedanken des Entwurfs nachgebildet ist. verbreitete Vorstellung von der sexuellen Unschuld
Deshalb konnte er später, gegen jede vordergründige des Kindes als Köhlerglauben eines harmoniesüchti-
Evidenz, auch behaupten, die Traumdeutung sei »in gen Zeitalters zu entlarven und die Entdeckung zu
allem Wesentlichen anfangs 1896 fertig« gewesen, machen, daß es in der Entwicklung des (männlichen)
d. h. zur Zeit der Beendigung des Entwurfs, obwohl Kindes den Ödipuskomplex gibt, insofern es mit dem
sie »erst im Sommer 1899 niedergeschrieben« wurde Vater rivalisiere und sich der Mutter bemächtigen
(GW X, 60 f.). wolle: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und
Ansonsten aber blieb Freud auf der Spur seiner die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden
Selbstanalyse – »Der Hauptpatient, der mich be- und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher
schäftigt, bin ich selbst« (F, 281) – und bei der schon Kindheit […]« (ebd., 293). Dieser ödipale Wunsch
in der Zusammenarbeit mit Breuer erprobten Me- aber, so will es das Gesetz der menschlichen Psyche,
thode der »freien Assoziation« (GW XI, 104), wo- müsse im Zuge der weiteren Entwicklung unerbitt-
nach der Patient in der Kur stets das sagen soll, was lich verdrängt werden, und das Verdrängte kehre
ihm gerade einfällt, egal, wie banal, anstößig oder beim Erwachsenen in Gestalt symptomatischer Miß-
sinnlos es scheinen mag. Die Erzählungen seiner Pa- brauchs- und Verführungsphantasien wieder.
tienten überzeugten ihn mehr und mehr davon, daß Mit der Revision der Verführungstheorie und dem
alle Neurosen die Folge sexuellen Mißbrauchs eines Postulat des ödipalen Gesetzes, die zu der Bedeutung
Kindes durch einen Erwachsenen oder ein älteres von Erinnerungen und der lösenden Wirkung der
Kind seien. Eher beiläufige Bemerkungen von Breuer, Redekur hinzutraten, hatte Freud einen zentralen
nervöse Störungen hätten immer mit »secrets d’al- Pfeiler seiner neuen psychoanalytischen Theorie auf-
côve« zu tun, und ein früher bei Charcot aufge- gestellt. Allerdings muß man ergänzen, daß er die
schnapptes »c’est toujours la chose génitale … tou- Verführungstheorie nie vollständig aufgab, sondern
jours … toujours … toujours« (zit. nach Gay, 109) ihre Reichweite lediglich einschränkte – denn es war
58 Freud und seine Epoche

ja nicht zu leugnen, daß es sexuellen Mißbrauch und Auflagen (Grubrich-Simitis 1999, 47). Mit fast jeder
Verführung tatsächlich gab. In den Drei Abhandlun- Neuauflage ergänzte Freud sein Jahrhundertbuch um
gen zur Sexualtheorie heißt es: »[…] ich kann nicht weiteres Material, so daß sein Umfang im Laufe der
zugeben, daß ich in meiner Abhandlung 1896 ›Über Jahre erheblich anschwoll.
die Ätiologie der Hysterie‹ die Häufigkeit und die Be- Wenn man es heute liest, fällt einem zunächst ein-
deutung derselben [der Verführung] überschätzt mal die Harmlosigkeit des Textes auf. Was vor gut
habe, wenngleich ich damals noch nicht wußte, daß hundert Jahren in den Augen vieler Zeitgenossen als
normal gebliebene Individuen in ihren Kinderjahren skandalös erscheinen mochte – vor allem das von
die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können, und Freud eingestreute autobiographische Material, das
darum die Verführung höher wertete als die in der mit einem gewissen entlarvungspsychologischen Ge-
sexuellen Konstitution und Entwicklung gegebenen stus dargeboten wird –, dürfte heute eher mit einem
Faktoren. Es ist selbstverständlich, daß es der Verfüh- Achselzucken quittiert werden: Die Allgegenwärtig-
rung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu keit sexuell aufgeladener Bilder in der Werbung und
wecken, daß solche Erweckung auch spontan aus in- die Darstellung der menschlichen Sexualität in allen
neren Ursachen vor sich gehen kann« (GW V, 91). ihren Schattierungen und Varianten, wie sie uns in
Damit postulierte Freud zweierlei: einmal, daß be- Kino, Fernsehen und Internet begegnen, lösen keinen
reits das Kind eine sexuelle Konstitution aufweist, Skandal, sondern eher Überdruß aus. Die enorme
zum andern, daß es keinen zwingenden Zusammen- kultur- und geistesgeschichtliche Wirkung der
hang zwischen sexueller Verführung und Neurose Traumdeutung beruht denn auch nicht primär auf
gibt. Es zählt zu den Ironien der Freud-Rezeption, einzelnen Inhalten des Werkes als vielmehr darauf,
daß in den 1880er und 90er Jahren dieser Realismus daß sie einen Raum eröffnete, in dem sich bisher Un-
preisgegeben wurde, indem man Freud vorwarf, er gesagtes zu entfalten vermochte. Wenn man das Un-
habe aus opportunistischen Interessen das Wohl des bewußte als pars pro toto für Gefühle gelten läßt (Ha-
Kindes verraten (Masson 1984/1984). stedt 2005, 38), dann kann man sagen, daß Freud die
Im ständigen Dialog mit Fließ setzte Freud seine Welt der Gefühle in einem Maße zugänglich gemacht
Selbstanalyse fort als eine Art Introspektion bei er- hat, wie es bis dahin unbekannt war. Statt das Uni-
höhter Aufmerksamkeit für Neben- und Untertöne, versum der Gefühle/des Unbewußten gemäß einer
für das scheinbar Bedeutungslose und Nebensächli- älteren Tradition dem Bereich des Irrationalen zuzu-
che, vor allem für seine Träume, aber auch die seiner schlagen, schreibt ihm Freud eine eigene Logizität zu,
Patienten. Zugleich entwickelte er jene Kunst der die ihrerseits den Verstand dazu nötigt, seinen All-
Deutung symbolischer Ordnungen, die das Freud- machtsanspruch zu mäßigen. Mit der Traumdeutung
sche Werk als etwas grundlegend Neues, ja Revolu- wollte Freud die Unterwelt bewegen – »acheronta
tionäres ausweist. In der Traumdeutung fand dieses movebo«, wie es im Motto des Buches heißt (GW II/
Neue und Revolutionäre seine gültige Gestalt, und III, VI) –, d. h. jenen seelischen Bezirk erschließen,
man darf sagen, daß es nur wenige Bücher gibt, die buchstäblich zum Sprechen bringen, der bis dahin
das kulturelle Selbstverständnis des Menschen im aus dem allgemeinen Diskurs der Vernunft ausge-
20. Jh. nachhaltiger geformt haben als dieses. Die schlossen war.
Traumdeutung ist es denn auch, deren Titel noch je- Aber noch aus einem weiteren Grund muß das
dem einfällt, der nach Freuds Stellung und Rang in Buch zu den kulturellen Grundlagentexten des
der modernen Geistesgeschichte gefragt wird. 20. Jh.s gerechnet werden. Im Gegensatz zu den mei-
sten seiner früheren Schriften, die sich am ärztlichen
Blick auf ein Krankheitsgeschehen orientieren, ist Die
Von der Psychopathologie
Traumdeutung die erste große Arbeit Freuds, die das
zur Normalpsychologie
begrenzte Terrain der Klinik verläßt und den Blick
Die Traumdeutung erschien Ende 1899, vom Verleger auf allgemeine psychische Phänomene lenkt, unab-
programmatisch auf das Jahr 1900 vordatiert. Mit hängig von psychopathographischen Rücksichten.
diesem Buch war Freud ein Durchbruch gelungen, Was Freud in einem Brief einmal »Normalpsycho-
und er wußte es. Auch wenn sich der Autor über die logie« (zit. nach Gay, 153) nennen sollte, ist nichts
zurückhaltenden Reaktionen der fachlichen und anderes als das Eingeständnis, daß ihn sein For-
nichtfachlichen Öffentlichkeit zunächst beklagte schungsinteresse – Erkundung der Herkunft der
(Gay, 155 f.) und mit dem mangelnden Verkaufser- Neurosen – unversehens auf ein Feld geführt hatte,
folg unzufrieden war, erwies sich das Werk auf lange das sich nicht mehr nur dem Feld psychischer Krank-
Sicht durchaus als Erfolg – bis 1930 erschienen acht heiten zurechnen ließ, sondern Allgemeingültigkeit
Die intellektuelle Biographie 59

beanspruchen konnte. Weil jeder Mensch träumt und Wissenschaft sei: »Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse
der Traum eine kulturell ubiquitäre Erscheinung ist, begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie
die schon die antiken Schriftsteller beschäftigt hatte, wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern
kann von Psychopathologie nicht mehr die Rede wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Auf-
sein. Alle für das Verständnis des Traumes notwendi- schlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Men-
gen Annahmen und Begriffe sind nicht an pathologi- schen am nächsten geht, sein eigenes Wesen«, heißt
sche Prozesse gebunden, sondern an solche des all- es in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung
gemeinen und normalen menschlichen Seelenlebens in die Psychoanalyse (GW XV, 169). Von daher ver-
(vgl. GW XIV, 73). Das vermeintlich Irrationale und steht man vielleicht besser, warum Freud in späteren
scheinbar Sinnlose psychischer Produktionen erweist Jahren den Schweizern Eugen Bleuler, Ludwig Bins-
sich nicht länger als Privileg des kranken Menschen, wanger und vor allem Carl Gustav Jung, die dem
vielmehr als berechtigter Teil der conditio humana. akademischen Betrieb näherstanden als er und seine
In dieselbe Kerbe schlagen auch Freuds 1901 ver- Wiener Anhänger, so ungewöhnliche Avancen
öffentlichte Studie Zur Psychopathologie des Alltags- machte.
lebens (GW IV) und das vier Jahre später publizierte Mit dem Paukenschlag von 1905, der Veröffentli-
Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten chung des Witz-Buches und der Drei Abhandlungen
(GW VI). Wie der Traum sind auch die Fehlleistun- zur Sexualtheorie (GW V, 27–145), schloß Freud sein
gen und der Witz sozusagen normale psychische »quinquennium mirabile« (K. R. Eissler) und damit
Hervorbringungen, wie sie jedem gesunden Men- die Konstitutionsphase der Psychoanalyse ab. In den
schen unterlaufen oder gelingen. Gemeinsam ist ih- Drei Abhandlungen kam er noch einmal auf die The-
nen, daß sie aus einem Konflikt zwischen Wunsch matik zurück, die ihn in den 1890er Jahren so mäch-
und Wirklichkeit resultieren: Noch das harmloseste tig ergriffen hatte – auf das Problem der mensch-
Versprechen, welches das bewußt angestrebte Ziel lichen Sexualität, jenes »an die Biologie angrenzende
verfehlt, oder der geistreiche oder anzügliche Witz, Stück der Lehre« (ebd., 31), von dem er überzeugt
der den Klartext vermeidet, ist Freud zufolge durch war, daß es auf den anhaltenden Widerstand der ge-
einen unbewußten Wunsch determiniert und stellt bildeten Öffentlichkeit stoßen werde. Ein solcher Wi-
insofern eine geglückte Handlung dar; was auf der derstand war schon deshalb zu erwarten, weil Freud,
Ebene des Bewußtseins verfehlt wird, erfüllt sich auf neben dem Postulat einer eigenständigen infantilen
der Ebene des Unbewußten – im Traum, im Witz, in Sexualität, das sich gegen den Mythos von der se-
der Fehlleistung. xuellen »Unschuld« des Kindes richtete, es erstmals
Man kann also sagen, daß Freud mit diesen drei wagte, die »normale« oder »natürliche« Sexualität
Büchern aus dem Bannkreis der Medizin heraustrat des Erwachsenen zu dekonstruieren – etwas, das uns
und sich auf das weite Feld einer wissenschaftlichen heute eher als selbstverständlich erscheint, damals
Psychologie begab, die den unbescheidenen An- aber ein sexualtheoretischer und -politischer Stein
spruch erhob, Psychologie schlechthin zu sein. Mit des Anstoßes war. Wenn Freud, einer alten Idee sei-
diesem fundamentalen Richtungswechsel seiner For- nes Freundes Fließ folgend, beim Individuum von
scherinteressen brachte Freud sich wie auch seine einem gewissen »Grad von anatomischem Herm-
späteren Schüler freilich in eine spannungsvolle Si- aphroditismus« und von »einer ursprünglich bisexu-
tuation: Sollte die Psychoanalyse nach dem Willen ellen Veranlagung« ausgeht (ebd., 40) und dann (in
ihres Schöpfers fortan in erster Linie eine Wissen- einer später angefügten Note) die Behauptung auf-
schaft sein, die in allgemeingültiger Form die Regel- stellt, daß »das ausschließliche sexuelle Interesse des
mäßigkeiten des menschlichen Seelenlebens und das Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges
Funktionieren des psychischen Apparats expliziert, Problem und keine Selbstverständlichkeit« sei (ebd.,
so blieb sie im Gegensatz dazu, sofern ihr bis auf 44), dann konnte dies nicht ohne Konsequenzen blei-
weiteres der Weg zum angestammten sozialen Ort ben. Denn daß Heterosexualität ein natürlicher Che-
der Wissenschaft, zur Universität, versperrt war, an mismus sei und Homosexualität entsprechend unna-
die Erfahrung der Klinik, der ärztlichen Praxis ver- türlich, eben eine Perversion, galt zu Freuds Zeit als
wiesen. Wie Freud selber, der es schließlich nur mit ausgemachte Sache, und Entrüstung gehörte zum gu-
Verzögerung zum Extraordinarius brachte (vgl. Loh- ten Ton, wie die öffentlichen Reaktionen auf den
mann 1998/2004, 39 f.), waren die meisten seiner Prozeß gegen Oscar Wilde hinreichend belegen. Mit
späteren Schüler niedergelassene Ärzte und damit Mut und Beharrlichkeit verfocht Freud die Ansicht,
isoliert vom Wissenschaftsbetrieb. Dennoch pochte es sei nicht die Aufgabe des Arztes, sich in Sachen
Freud bis zuletzt darauf, daß die Psychoanalyse eine Sexualität als moralischer Richter aufzuführen. So
60 Freud und seine Epoche

heißt es im Bruchstück einer Hysterie-Analyse: »Was 207 ff.), begann bereits in der ersten Dekade des
wir die sexuellen Perversionen heißen, die Über- 20. Jh.s (Schröter 2004), wenngleich es zu dieser Zeit,
schreitungen der Sexualfunktion nach Körpergebiet als die psychoanalytische Gruppenbildung erst in ih-
und Sexualobjekt, davon muß man ohne Entrüstung ren Anfängen steckte, noch ein verdeckter, von den
reden können. Schon die Unbestimmtheit der Gren- Protagonisten nicht als solcher wahrgenommener
zen für das normal zu nennende Sexualleben bei ver- Kampf war.
schiedenen Rassen und in verschiedenen Zeitepo- Im Kreis seiner ersten Schüler und Anhänger war
chen sollte die Eiferer abkühlen […] Ein Stückchen es Freud möglich, die theoretische Spannweite und
weit, bald hier, bald dort, überschreitet jeder von uns die vielfältigen klinischen wie außerklinischen Impli-
die fürs Normale gezogenen engen Grenzen in sei- kationen seiner neuen Theorien zu testen und zur
nem eigenen Sexualleben. Die Perversionen sind we- Diskussion zu stellen. Dabei ging es gelegentlich auch
der Bestialitäten noch Entartungen im pathetischen schon einmal hoch her, besonders dann, wenn Perso-
Sinne des Wortes« (GW V, 210). Im Abstand von nalia zur Debatte standen. So wurde im Schutze der
rund hundert Jahren, in denen sich, zumindest in der Intimität der kleinen Gruppe, die überwiegend aus
westlichen Zivilisation, die Auffassungen von der Se- Juden bestand, so manches thematisiert, was die Psy-
xualität, von Norm und Abweichung, grundlegend choanalyse vor einer größeren Öffentlichkeit unwei-
gewandelt haben (vgl. Sigusch 2005, Quindeau/Si- gerlich diskreditiert hätte. Als tatsächlich einmal Dis-
gusch 2005), kann man gut ermessen, wie weit Freud kussionsergebnisse nach außen drangen, nämlich als
mit seinen sexualtheoretischen Vorstellungen seiner Wittels in der Mittwochsrunde seine Ansichten über
Zeit voraus war (vgl. ebd., 76 ff.). die angebliche Neurose des in Wien allseits bekann-
ten Herausgebers der Zeitschrift Die Fackel vortrug,
bezahlte Freud dies prompt mit der Gegnerschaft des
Anfänge der Freud-Schule
Satirikers. Es nützte nichts, daß Freud davor gewarnt
An die Stelle der Freundschaft mit Fließ, die aus hatte, »die Neurose dort in den Vordergrund zu stel-
Freuds Sicht ihre Notwendigkeit und Unersetzlich- len, wo es sich um eine bedeutende Leistung handelt«
keit längst eingebüßt hatte und die mit einem klein- (Nunberg/Federn 1962–1975/1976–1981, Bd. II, 355;
lichen Streit um Prioritätenfragen endete (F, 508 ff.), vgl. auch F/A 121) – was im Fall von Karl Kraus ge-
traten ab 1902 die Beziehungen zu vier Ärzten – Al- wiß zutrifft. Dieser, obwohl der Psychoanalyse, vor
fred Adler, Max Kahane, Rudolf Reitler und Wilhelm allem Freuds sexualtheoretischen Neuerungen gegen-
Stekel. Man traf sich an jedem Mittwochabend in über anfänglich durchaus aufgeschlossen, ließ es sich
Freuds Wohnung in der Berggasse 19, um mit ihm nach diesem Eklat nicht nehmen, spitze Pfeile gegen
über seine neuartigen Theorien zu diskutieren. In sie zu schießen – Freud verlor in Wien einen wichti-
den folgenden Jahren wuchs die Mittwoch-Gesell- gen potentiellen Verbündeten (Timms 1986/1995,
schaft, Vorläuferin der 1908 gegründeten Wiener Psy- 141 ff.; vgl. auch F/Fer I/1, 213). Ob allerdings die
choanalytischen Vereinigung, deren Debatten dank Affäre Freud/Kraus, die eher eine Affäre Wittels/
der Mitschrift des Protokollführers Otto Rank zwi- Kraus war, so negativ für Freud und seine Gruppe zu
schen 1906 und 1918 überliefert sind (vgl. Nunberg/ Buche schlägt, wie der Literaturhistoriker Edward
Federn 1962–1975/1976–1981), langsam, aber stetig. Timms (1995/1996, 9) insinuiert, darf man bezwei-
1903 schloß sich Paul Federn dem noch informellen feln.
Kreis an, es folgten Eduard Hitschmann, Isidor Sad- Nach und nach sprach sich die Psychoanalyse auch
ger und Fritz Wittels, der erste Biograph Freuds außerhalb Wiens herum. Seit 1906/1907 schloß sich
(Wittels 1924). Auch Nicht-Ärzte, später »Laien« ge- eine Reihe von Ausländern der Freud-Gruppe an,
nannt, waren dabei, etwa Max Graf (der Vater des darunter Max Eitingon, späterer Gründer und Finan-
»Kleinen Hans« aus Freuds berühmter Fallge- zier des Berliner Psychoanalytischen Instituts, Karl
schichte), der Verleger Hugo Heller und der Jurist Abraham, Gründer der Berliner Psychoanalytischen
Hanns Sachs, auf deren Interesse und Mitarbeit Gesellschaft, Sándor Ferenczi, der die Psychoanalyse
Freud stets besonderen Wert legte, war ihm doch im in Ungarn etablierte, der Waliser Ernest Jones, Freuds
Sinne des umfassenden wissenschaftlichen An- Statthalter in England, der sein Lebenswerk mit einer
spruchs seiner Sache daran gelegen, »daß die Lehren lange maßgeblichen Freud-Biographie krönen sollte,
der Psychoanalyse nicht auf das ärztliche Gebiet be- sowie der Schweizer C. G. Jung – allesamt Ärzte, die
schränkt bleiben« (GW X, 64). Freuds in den 1920er bedeutende Beiträge zur Weiterentwicklung der Psy-
Jahren offen und hart geführter Kampf um die Be- choanalyse leisteten. Allerdings sollte sich im Laufe
rechtigung der sog. Laienanalyse (vgl. GW XIV, der Zeit zeigen, daß die intellektuelle Eigenständig-
Die intellektuelle Biographie 61

keit, die Leute wie Jung, Ferenczi und Jones in die Freud?« (F/A, 100). Tatsächlich erhielt Freud uner-
Begegnung mit Freud einbrachten, auch Stoff für warteten Zuspruch aus den Vereinigten Staaten. Der
Konflikte enthielt, die in einigen Fällen schmerzlich Präsident der Clark University in Worcester, Mas-
endeten. In der Tat stellt sich die Frage, ob Freud als sachusetts, Stanley Hall, trug ihm die Ehrendoktor-
anerkanntes Schuloberhaupt, das bedingungslose würde an und lud ihn zu einer Vortragsreise nach
Loyalität zu seiner Sache forderte, in der Lage war, Amerika ein. Im September 1909 reiste Freud in Be-
geistige Originalität und Unabhängigkeit neben sich gleitung von Ferenczi und Jung per Schiff von Bre-
zu dulden – er selbst hielt sich jedenfalls für tolerant men nach New York, wo sich ihm Jones und sein
genug dafür (Gay, 276 f.). Insgesamt scheint es so, als amerikanischer Übersetzer Abraham A. Brill an-
sei er im Zweifels- und Konfliktfall mit den Ärzten schlossen. Im »so prüden Amerika« (GW X, 70), ge-
weniger nachsichtig umgegangen als mit den gen das Freud ansonsten bis an sein Lebensende so-
»Laien«, den Nicht-Ärzten. Freuds »liebste Lou« (F/ lide Vorurteile pflegte, wurde er freundlicher als er-
AS, 124 u. ö.), die russische Schriftstellerin Lou An- wartet empfangen: » […] in Europa«, heißt es in der
dreas-Salomé, die in die 1908 gegründete Wiener »Selbstdarstellung«, »fühlte ich mich wie geächtet,
Psychoanalytische Vereinigung, Nachfolgerin der hier sah ich mich von den Besten wie ein Gleich-
Mittwoch-Gesellschaft, das geheimnisvolle Flair ihrer wertiger aufgenommen. Es war wie die Verwirkli-
Begegnungen mit Nietzsche und Rilke trug, konnte chung eines unglaubwürdigen Tagtraumes, als ich in
es sich z. B. leisten, Freuds Lehren manchmal bis zum Worcester den Katheder bestieg […] Die Psychoana-
Lyrischen, ja Kitschigen zu literarisieren, ohne damit lyse war also kein Wahngebilde mehr, sie war zu ei-
Freuds anhaltende Zuneigung zu ihr aufs Spiel zu nem wertvollen Stück Realität geworden« (GW XIV,
setzen. Auch im Falle des Schweizer Pfarrers Oskar 78).
Pfister, zwischen dessen Protestantismus und Freuds Das Jahr 1910 markiert den ersten Höhepunkt in
militantem Atheismus Welten lagen, und des Dich- der von Freud initiierten und mit viel Umsicht ge-
ters Arnold Zweig, dessen Auffassungen von der Psy- führten psychoanalytischen Bewegung. Inzwischen
choanalyse bedenklich zum Wohlmeinend-Weltan- war die erste vereinseigene Zeitschrift, das Jahrbuch
schaulichten neigten, ließ Freud erstaunliche Milde für Psychoanalytische und Psychopathologische For-
walten. Die Gefahr, so schien es aus Freuds Sicht, schungen ins Leben gerufen worden (es folgten das
kam eher von den Ärzten, tendierten letztere doch Zentralblatt für Psychoanalyse, die Imago und die In-
ständig dazu, die Psychoanalyse auf das Feld der ternationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse),
Heilkunst einzuschränken. Insofern war Freuds Miß- und in Salzburg hatte 1908 der erste internationale
trauen gegen die Ärzte und sein Wohlwollen für die Kongreß der Psychoanalytiker stattgefunden. Vor-
Nicht-Ärzte nur konsequent. läufiger Schlußpunkt dieser organisationspolitischen
Erfolge war die Gründung der Internationalen Psy-
choanalytischen Vereinigung (IPV) 1910 in Nürn-
Die Psychoanalyse wird eine ›Bewegung‹
berg, zu deren Präsident auf Freuds ausdrücklichen
Freud hatte lange gebraucht und viel experimentiert, Wunsch hin Jung gewählt wurde (Jones II, 90; Gay,
ehe er seinen endgültigen Weg als Wissenschaftler 249).
und Arzt gefunden hatte. Seit 1905, also um sein Daß Freuds Wahl auf Jung gefallen war, hatte so-
fünfzigstes Lebensjahr, stand die weitere Marschrich- wohl persönliche wie politische Motive. Wie aus der
tung fest, die einer klaren Zielsetzung folgte. Auch von beiden Seiten intensiv geführten Korrespondenz
die anhaltende Diskriminierung seiner neuartigen hervorgeht, war Freud offenbar bereit, Jung mehr
Theorien durch die Zunft der Neurologen und Vertrauen entgegenzubringen als den meisten ande-
Psychiater – noch 1910 dekretierte der Geheime Me- ren seiner Anhänger, vor allem den Wienern, und
dizinalrat Wilhelm Weygandt, Freuds Lehre sei eine mehr in ihn zu investieren, als er sich sonst gestattete.
»Sache der Polizei« (zit. nach Jones II, 136) – konnte In Anspielung an den Makedonenkönig Philipp und
sein Selbstvertrauen nicht ernsthaft erschüttern. dessen ambitionierten Sprößling titulierte Freud den
Denn die zum Teil rüde vorgetragenen Attacken ge- Jüngeren einmal gar als seinen lieben »Sohn Alexan-
gen Freud waren ja zugleich ein untrügliches Indiz dros«, indem er ihm für die Zukunft genügend Ter-
dafür, daß seine wie immer umstrittenen Theorien ritorium zur Eroberung in Aussicht stellte (F/J, 331),
öffentlich wahrgenommen und diskutiert wurden. wie überhaupt die Vater-Sohn-Konstellation in dem
Mehr als die manifeste Ablehnung der Psychoanalyse Briefwechsel eine unübersehbare Rolle spielt (z. B.
zählte letztlich die von Abraham kolportierte Frage ebd., 594). Andererseits war es mehr als nur eine per-
amerikanischer Ärzte »what do you think about sönlich motivierte Neigung Freuds, Jung zum Kron-
62 Freud und seine Epoche

prinzen und »Erben« (ebd., 191) zu machen. Viel- migkeiten – Jungs erweiterter Libidobegriff und die
mehr hielt er es für einen klugen politischen Schach- schwammigen mystisch-religiösen Anwandlungen
zug, einen Nichtjuden als seinen legitimen Nachfol- des Pastorensohns, die dem Rationalisten und Athei-
ger einzusetzen, dazu einen, der dank seiner sten Freud nur obskur vorkommen konnten – nicht
einflußreichen wissenschaftlichen Verbindungen und mehr zu überspielen. Vor die Alternative gestellt, sei-
seiner Stellung am Burghölzli, der Züricher psychia- nen bisher wichtigsten Mitstreiter zu verlieren oder
trischen Universitätsklinik, ein Garant dafür war, daß die Grundüberzeugungen seiner Lehre preiszugeben,
die Psychoanalyse sowohl in der wissenschaftlichen entschied sich Freud für ersteres. Auf Anregung von
Welt wie in der nichtjüdischen Öffentlichkeit auf Ferenczi und Jones, seinen loyalstenVasallen, und un-
freundlichere Resonanz rechnen konnte. »Die egoi- ter Einschluß von Abraham, Rank und Sachs (später
stische Absicht, die ich verfolge und natürlich offen kam noch Eitingon hinzu) unternahm Freud einen
eingestehe, ist, Sie zum Fortsetzer und Vollender Schritt, der die Macht der psychoanalytischen Lei-
meiner Arbeit einzusetzen, indem Sie auf die Psycho- tungsgremien, und das heißt auch der IPV-Präsi-
sen anwenden, was ich bei den Neurosen begonnen dentschaft Jungs, faktisch außer Kraft setzte: Er grün-
habe, wozu Sie als starke, unabhängige Persönlich- dete ein Komitee (vgl. Schröter 1995), das »streng
keit, als Germane, der leichter die Sympathien der geheim« (C, 148; im Original englisch) existieren
Mitwelt kommandiert, mir besser zu taugen scheinen und arbeiten sollte und dessen Aufgabe es war, die
als irgendein anderer, den ich kenne.« Und Freud zentralen Freudschen Ideen zu bewahren und, wie
fügte hinzu: »Nebenbei habe ich Sie ja auch lieb Jones schrieb, »unsere eigenen unbewußten Absich-
[…]« (ebd., 186). ten mit den Erfordernissen und Interessen der Bewe-
Die offenbare Bevorzugung Jungs durch Freud gung in Einklang zu bringen […] wie die Paladine
mußten dessen Wiener Gefolgsleute, die er gelegent- Karls des Großen das Reich und die Politik ihres
lich und wenig schmeichelhaft als seine »Bande« be- Herrn zu hüten« (ebd., 149; im Original englisch).
zeichnete (zit. nach Gay, 205), als Affront empfinden. Dieser nicht undubiose Schachzug, der das Macht-
So kam es auf dem »Nürnberger Reichstag« (F/J, 338; zentrum der Psychoanalyse von den demokratisch
F/Fer I/1, 235) zu einer regelrechten Revolte der Wie- gewählten Gremien auf eine informelle und geheime
ner gegen Freuds, von Ferenczi unterstützte, eigen- Gruppe unter Freuds persönlicher Kontrolle verla-
mächtige Nominierung Jungs zum ersten IPV-Präsi- gerte, sicherte einerseits den Fortbestand der »reinen
denten (Jones II, 90 ff.; Gay, 249 ff.). Freud mußte zu Lehre«, war aber andererseits auch dazu angetan,
stärksten rhetorischen Mitteln greifen, um die In- Zweifel an Freuds Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit
thronisierung Jungs schließlich durchzusetzen. Laut zu wecken. In der Politik, so Peter Gays Urteil, war
Wittels sagte er: »Ihr seid zum größten Teil Juden Freud »unredlicher als in seinem übrigen Verhalten«
und deshalb nicht geeignet, der neuen Lehre Freunde (Gay, 249).
zu erwerben. Juden müssen sich bescheiden, Kultur- Schon mit der Veröffentlichung von Totem und
dünger zu sein. Ich muß den Anschluß an die Wis- Tabu (GW IX) 1912/13 machte Freud deutlich, daß
senschaft finden; bin alt, will nicht immer nur ange- er Jung nicht weiter ungestraft schalten und walten
feindet werden. Wir alle sind in Gefahr.« Und er fügte lassen wollte, indem er ihn auf dessen ureigenem Ter-
hinzu: »Die Schweizer werden uns retten« (Wittels rain, der Mythologie, zu übertrumpfen und ihn zu-
1924, 124). Immerhin gelang es der Wiener Interven- gleich der väterlich verfügten Kastration zu unter-
tion, die weitreichenden, fast diktatorischen Voll- werfen suchte (Mahoney 1982/1989, 191). Der Bruch
machten, die Freud Jung zugedacht hatte, in einigen mit Jung, für Freud ein schwerer emotionaler Schlag,
wesentlichen Punkten einzuschränken. war endgültig, als er er im Sommer 1914 seine
Aber Freuds Kalkül ging nicht auf. Trotz allen Wer- »Bombe« (F/Fer I/2, 297, 308, 312) platzen ließ, in-
bens um den Jüngeren konnte ihm auf Dauer nicht dem er Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewe-
verborgen bleiben, daß Jung mit ihm scharf konkur- gung (GW X, 43–113) publizierte, das eine unnach-
rierte und zugleich mit ihm einen Vater-Sohn-Kon- sichtige und polemische Abrechnung mit Jung und
flikt austrug, der ihn hinderte, Freuds Autorität, die Adler enthält.
ja nicht angemaßt, sondern in seinen brillanten Lei- Denn auch der Letztere war der jungen psycho-
stungen begründet war, anzuerkennen. Freud hatte analytischen Bewegung inzwischen abhanden ge-
sich lange darum bemüht, die emotionalen Konflikte kommen. Alfred Adlers Theorie von der »Organmin-
durch Toleranz zu schlichten und wissenschaftliche derwertigkeit« in bezug auf die Ätiologie der Neu-
Differenzen so weit wie möglich zu relativieren. Aber rosen, seine Ideen von »männlichem Protest« und
spätestens ab 1912 waren die theoretischen Unstim- einem »Willen zur Macht« mit ihren ichpsychologi-
Die intellektuelle Biographie 63

schen Implikationen (vgl. Mühlleitner 1992, 17; ebd., 363 ff. u. ö.), an deren Nichterfassen nach eige-
Handlbauer 1990/2002, 123 ff.), die, wie Freud an- nem Eingeständnis noch seine Behandlung der
merkt, die lächerliche Rolle des Ichs als eines »dum- »Dora« gescheitert war (GW V, 282; Decker 1998).
men August im Zirkus« (GW X, 97) verkennen, Diesen spontanen Mechanismus des Unbewußten,
schließlich die daraus resultierende Vernachlässigung die Gegenwart – den ärztlichen Therapeuten – mit
des Unbewußten sowie der Bedeutung der Sexualität, Eigenschaften und Zuschreibungen der Vergangen-
des Ödipuskomplexes und des Traums, die für Freud heit – Eltern, Geschwister usw. – auszustatten, hatte
stets das »Schiboleth der Psychoanalyse« blieben Freud bei der Behandlung »Doras« nicht durch-
(ebd., 101; vgl. auch GW V, 128) – in alldem sah schaut, weshalb die Geschichte für die Beteiligten so
Freud bloß ein ehrgeiziges und unberechtigtes Stre- unbefriedigend endete (und bis heute in der Freud-
ben »nach einem Platz an der Sonne« (GW X, 95), Literatur heftig diskutiert wird). Um 1900 hatte
das seinen eigenen Intentionen zuwiderlief. Ein psy- Freud noch nicht erkannt, daß die Übertragungslei-
chologisches »Weltsystem ohne Liebe« sprengte den stungen und -angebote des Patienten therapeutisch
Rahmen des von Freud geschaffenen Systems, und so nutzbar gemacht werden können, wenn man sie rich-
zögerte er wie im Falle Jungs am Ende nicht, an Adler tig übersetzt, und noch weniger, daß der Arzt seiner-
»die Rache der beleidigten Göttin Libido […] zu seits Gefühle mobilisiert, insofern er dem Einfluß des
vollziehen« (F/P, 47). Im Herbst 1911 konstatierte Patienten auf sein eigenes Unbewußtes ausgesetzt ist.
Freud, der Adler lange hatte gewähren lassen, weil er Solche Affekte faßte er unter dem Begriff »Gegen-
ihn für originell und intelligent hielt, die Unverein- übertragung« zusammen, die freilich »bewältigt«
barkeit von dessen Theorien mit den seinen und atte- werden müsse (GW VIII, 108; F/Fer I/1, 312). Im
stierte ihnen »den Charakter einer feindseligen Kon- Gegensatz zu vielen späteren Analytikern, vor allem
kurrenz« (Nunberg/Federn 1962–1975/1976–1981, aus der Schule Melanie Kleins, sah Freud in der Ge-
Bd. III, 272), was den Ausschluß Adlers und seiner genübertragung eher einen zu beseitigenden Störfak-
Sympathisanten aus der Wiener Vereinigung zur tor, worin ihm wiederum die französischen Schule
Folge hatte. Wilhelm Stekel, der gewisse Ansichten Jacques Lacans folgte.
Adlers teilte, zunächst aber versucht hatte, zwischen Zwischen 1905 und 1914 fallen auch die Publika-
den Kontrahenten zu vermitteln (vgl. Mühlleitner tionen von zwei der berühmtesten Fallgeschichten
1992, 321), verließ ein Jahr später ebenfalls die Ver- Freuds, der Analyse der Phobie eines fünfjährigen Kna-
einigung. Die Mehrzahl der Gruppe blieb allerdings ben (GW VII, 243–377) und der Bemerkungen über
bei Freud. Wittels vermerkt dazu bissig, um diese einen Fall von Zwangsneurose (ebd., 379–463). Er-
Zeit habe »die Verpapstung Freuds durch seine Schü- gänzt und um einen klinisch so gut wie aussichts-
ler« begonnen (Wittels 1924, 207). losen Fall erweitert wurden die großen Krankenge-
schichten des »kleinen Hans« und des »Rattenman-
nes« durch seinen Kommentar zu Daniel Paul Schre-
Wissenschaftliche Explorationen
bers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903),
Ungeachtet aller Konflikte und schmerzlichen Tren- der seitdem als Klassiker der Psychiatrie-Literatur gilt
nungen, die Freud in diesen Jahren durchzustehen und Schreber gewissermaßen unsterblich gemacht
hatte, fuhr er fort, seine Theorien an neuen Gegen- hat. Der Zugang zum Schreberschen Wahnsystem
ständen zu erproben und unbekanntes Territorium war Freud deshalb möglich, weil er erkannte, daß die
zu erschließen. Das Jahrzehnt zwischen der Veröf- Paranoiker, »allerdings in entstellter Form, gerade
fentlichung der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie das […] verraten, was die anderen Neurotiker als Ge-
(1905) und von Zur Einführung des Narzißmus heimnis verbergen« (GW VIII, 240). Das paranoid
(1914), das mit dem beginnenden Abgesang des al- Entstellte, so könnte man sagen, ist zugleich das Of-
ten, des bürgerlichen Europa zusammenfällt, stand fenbare.
im Zeichen einer ungeheuren wissenschaftlichen Auf der anderen Seite kämpfte Freud in diesen Jah-
Produktivität. In rascher Folge publizierte Freud ren energisch darum, das Anwendungsfeld der Wis-
Schrift um Schrift, womit er zugleich auch seine senschaft vom Unbewußten nach allen Seiten hin
Schüler und Anhänger zu immer neuen Leistungen auszudehnen. Ihr ärztlich-medizinischer Hinter-
anspornte. Auf der einen Seite baute Freud seine grund, die Neurosentheorie – »das Mutterland« (F/
Krankheitslehre und die Technik der psychoanalyti- Fer I/1, 342) –, bildete zwar nach wie vor den Aus-
schen Behandlung aus und erweiterte letztere um gangspunkt aller weiteren Explorationen. Aber für
neue Aspekte und Einsichten, etwa in die Natur des- Freud stand spätestens seit der Traumdeutung fest,
sen, was er »Übertragung« nannte (GW VIII, 54 ff.; daß es um mehr ging als um die medizinische An-
64 Freud und seine Epoche

wendung der Psychoanalyse, wollte er deren An- schluckt werde […]: Der Gebrauch der Analyse zur
spruch, eine allgemeine Psychologie zu sein, festigen Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendun-
und durchsetzen. Dazu gehörte auch die Strategie, gen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht
daß Freud in nicht-medizinischen Journalen publi- die wichtigste ist« (ebd., 283). Mit dieser Prognose
zierte, etwa den Aufsatz über Zwangshandlungen und sollte Freud so falsch nicht liegen, obwohl der An-
Religionsübungen (GW VII, 129–139) in der Zeit- schein zunächst und bis auf weiteres gegen ihn
schrift für Religionspsychologie und die Arbeiten Die sprach.
»kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität Vom allgemeinen »kulturellen Wert« (F/J, 375) sei-
(ebd., 141–167) und Über infantile Sexualtheorien ner Entdeckungen zutiefst durchdrungen, wandte
(ebd., 169–188) in der Zeitschrift Sexualprobleme, sich Freud in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg
dem Folgeorgan der von der Frauenrechtlerin Helene mit Neugierde und Eroberungsgeist verstärkt außer-
Stöcker herausgegebenen Zeitschrift Mutterschutz, ei- klinischen Phänomenen zu. An Wilhelm Jensens Er-
nem Blatt der bürgerlichen Frauenbewegung (Reiche zählung Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück,
2005, 122). Schon solche Publikationsorte, von der 1903 erschienen und von Freud in Der Wahn und die
Thematik zu schweigen, zeigten deutlich an, daß Träume in W. Jensens »Gradiva« (GW VII, 29–125)
Freud gewillt war, einen wissenschaftlich expansiven enthusiastisch rezipiert, exemplifizierte er seine Auf-
Kurs zu verfolgen. fassung, daß es eine Entsprechung von Menschheits-
Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang auf ein geschichte (Pompeji – Gegenwart) und individueller
Mißverständnis aufmerksam zu machen, das sich, Seelen- und Entwicklungsgeschichte (Kindheit – Er-
entgegen der erklärten Absicht Freuds, bis heute wachsenenalter) gebe. Indem man die Archäologie
hartnäckig hält. Wenn von der »Anwendung« der des einen (Ontogenese) betreibe, komme man auch
Psychoanalyse die Rede ist, so versteht man darunter in der Archäologie des anderen (Phylogenese) weiter
in der Regel ihre außerklinische Ingebrauchnahme, und vice versa. Darüber hinaus attestiert Freud dem
z. B. für die Betrachtung und Interpretation von Wer- Dichter, daß es ihm, anders als dem Neurotiker, ge-
ken der Literatur, Musik und bildenden Kunst oder linge, die Wirklichkeit in der Phantasie derart zu kor-
für kulturwissenschaftliche Disziplinen wie Religi- rigieren, daß das Resultat »ästhetischen Lustgewinn«
onswissenschaft, Mythenforschung, Ethnologie, An- bewirkt und damit ein glückliches Gelingen, das »die
thropologie, Philosophie und Soziologie. Im Freud- eigentliche ars poetica« sei, wie es in der kleinen
schen Original liest es sich indessen anders. Dort ist Schrift Der Dichter und das Phantasieren heißt (GW
nirgends die Rede von einem ärztlichen Prius der VII, 223).
Psychoanalyse gegenüber ihren nicht-ärztlichen, so- Auch Freuds Arbeiten über Eine Kindheitserinne-
zusagen abgeleiteten Anwendungen, von ihrem »ei- rung des Leonardo da Vinci (GW VIII, 127–211) und
gentlichen« medizinischen Zentrum, wie dies sogar den Moses des Michelangelo (GW X, 171–201) fallen
ein profunder Kenner wie Gay nahelegt, wenn er von in das umfängliche Register jener außermedizini-
den »Schriften Freuds über angewandte Psychoana- schen Anwendungen der Psychoanalyse, die in sei-
lyse« schreibt (Gay, 352) und damit deren kultur- nem Werk immer breiteren Raum beanspruchten.
theoretische Nutzung meint. Vielmehr etablierte Schon die Bemerkung, seine Leonardo-Studie sei
Freud die Wissenschaft vom Unbewußten als Grund- »das einzig Schöne, das ich je geschrieben« habe (F/
lagenwissenschaft, die unterschiedliche Anwendun- AS, 100), bezeugt, welchen Stellenwert Freud seinen
gen ermöglicht, von denen die ärztliche nur eine un- Exkursionen im Bereich von bildender Kunst und Li-
ter vielen und nicht einmal eine besonders privile- teratur beimaß. Beide Texte, darauf ist in der Freud-
gierte ist. In der in den 1920er Jahren geführten De- Forschung oft hingewiesen worden (z. B. Jones II,
batte um die Legitimität der sog. Laienanalyse hob er 101), spiegeln in subtiler Weise auch Spuren und Fra-
hervor, die korrekte Grenzlinie verlaufe nicht zwi- gen der Freudschen Biographie wider. Der gehemmte
schen der ärztlichen Analyse im Sinne einer »speziel- Homosexuelle Leonardo, als Kleinkind mit zwei
len Pathologie und Therapie der Neurosen« (GW Müttern aufgewachsen – man erinnere sich der bei-
XIII, 419) und den sonstigen Anwendungen der Ana- den ›Mütter‹ Freuds –, der seine Sexualität zu groß-
lyse, sondern »zwischen der wissenschaftlichen Psy- artigen künstlerischen und wissenschaftlichen Lei-
choanalyse und ihren Anwendungen auf medizini- stungen sublimiert und doch wie unter Zwang nicht
schem und nichtmedizinischem Gebiet» (GW XIV, imstande ist, seine geistigen ›Kinder‹« in Ruhe wach-
295). Nachdrücklich setzte sich Freud dafür ein, »daß sen zu lassen, sondern sich immer neuen Projekten
die Psychoanalyse kein Spezialfach der Medizin« zuwendet, die kaum je vollendet wurden – auch
(ebd., 289) und daß sie nicht »von der Medizin ver- Freud spricht rückwirkend vom »Stückwerk meiner
Die intellektuelle Biographie 65

Lebensarbeit« (GW XI, 96): Diese Gestalt mußte ei- daß »ein gewisses Maß von individueller Glücksbe-
nen ruhelosen Charakter wie Freud, dessen schöp- friedigung« möglich wird (GW VII, 166 f.) – für
ferische Gewalt und sublimatorische Kraft gleicher- Männer wie für Frauen. Andernfalls, so prophezeite
maßen herrisch regierten, einfach faszinieren. Es tut Freud, besorge die vorherrschende sexuelle Repres-
hier wenig zur Sache, daß Freuds Leonardo-Deutung sion ebendas, was sie zu verhindern vorgibt – eine
auf höchst wackligen Füßen steht und u. a. auf einem allgemeine dumpfe Feindseligkeit gegen die Kultur
Übersetzungsfehler basiert, der sein Interpretations- schlechthin.
konstrukt faktisch haltlos macht (vgl. Schapiro 1956, Gleichzeitig legte Freud in Totem und Tabu schlüs-
150 f.; Chotjewitz 2004, 94 ff.; dagegen Eissler 1961/ sig dar, daß alle menschliche Kultur nur auf der Basis
1992, 35 ff.). Was zählt und bleibt, ist, daß Freud mit von sozialen Tabus, Verboten und Einschränkungen
dem Leonardo-Essay zu einem »der bedeutendsten entstehen kann. So wie das Kind den Ödipuskomplex
Diskursbegründer unserer Epoche« (Herding 1998, durchlaufen und lernen muß, die fundamentalen Re-
10) geworden ist, der bis heute die Kulturwissen- geln und Gebote des sozialen Zusammenlebens in
schaften in seinen Bann zieht. der Familie zu akzeptieren und zu verinnerlichen,
Gleiches gilt für Freuds Studie über den Moses des mußte Freuds primitive »Brüderschar« (GW IX, 172)
Michelangelo. Auch in ihr mag man Züge von einem die Leistung erbringen, ihre ursprünglichen Triebe
»Selbstporträt« entdecken (Mannoni 1968/1971, 99), und Impulse zu zügeln und sie in den Dienst einer
wenn man in dem religiösen Gesetzgeber Moses, der gemeinsamen Sache – des kollektiven sozialen Über-
sich im Zorn über den Götzendienst des Volkes Israel lebens, der Kultur – zu stellen. In diesem Sinne ist
anschickt, die Gesetzestafeln zu zertrümmern, einen Ödipus immer ein »Oedipus Politicus« (Brunner
Widergänger des psychoanalytischen Gesetzgebers 1998), sofern er gezwungen ist, sich mit den Macht-
Freud erkennt, der im Zorn über seinen abtrünnigen und Autoritätsverhältnissen innerhalb einer sozialen
Schüler C. G. Jung seinen Affekten spontan die Zügel Gruppe auseinanderzusetzen. Aus der Überwältigung
schießen lassen will, sich aber dann entschließt, sich von Trieben und Wünschen, aus der Tabuisierung
um der Sache, des Gesetzes, willen zurückzunehmen. bestimmter Praktiken gehen laut Freud die Anfänge
Moses wie Freud entscheiden sich »für das Nieder- der Kultur hervor. Inzestverbot und Exogamiegebot
ringen der eigenen Leidenschaften zugunsten und im statuieren Formen von Sozialität, die wiederum un-
Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht trennbar mit der Evolution von Schuldgefühlen, des
hat« (GW X, 198). Ähnlich wie im Fall des Leonardo- Gewissens und des ersten primitiven Rechts verbun-
Aufsatzes ist Freud auch in seiner Deutung der Mi- den sind: Ohne das Faktum des schuldigen Men-
chelangelo-Statue ein markanter Fehler unterlaufen schen keine Kultur.
(Verspohl 1991, 158 ff.; Grubrich-Simitis 2004, 59 ff.; Mit diesem Tableau ist ein Spannungs- und Kon-
Lohmann 2004, 36), ohne daß diese Fehlleistung der fliktfeld bezeichnet, das in Freuds gesamter Kultur-
Sache wirklich Abbruch tut. Es ist faszinierend zu se- theorie einen zentralen Platz einnimmt (Reiche 2005,
hen, wie ungebrochen die intellektuelle Herausforde- 121 f.). Wenn Freud auf der einen Seite gegen die
rung ist, die Freuds Moses-Studie bis heute für die herrschende kulturelle Sexualmoral streitet, nimmt
Kunstwissenschaft darstellt. er eindeutig Partei für eine Sexualität, die er allent-
halben unterdrückt und geknebelt sieht und der er
deshalb mehr Freiheit und individuellen Ausdruck
Libido und Kultur
gönnt. Wenn er auf der anderen Seite der Kultur und
Für die Verhältnisse seiner Zeit war Freud ein sexual- ihren Notwendigkeiten und Zwängen das Wort redet,
politischer Freigeist, wovon etwa die Drei Abhand- kommt er zumindest implizit nicht umhin, eine wie
lungen zur Sexualtheorie und die Schrift über die immer definierte »kulturelle« Sexualmoral zu legiti-
»kulturelle« Sexualmoral eindrucksvoll Zeugnis ab- mieren. Aus diesem Widerspruch findet die Freud-
legen. Ohne allzu ängstliche Rücksicht auf die herr- sche Theorie nirgends heraus, und vielleicht liegt ihre
schenden Konventionen plädierte er offen für eine Bedeutung (und ihr heuristisches Potential) nicht zu-
Ermäßigung der – vor allem die Frauen betreffenden, letzt darin, daß sie sich weigert, eine eindeutige Lö-
die am meisten darunter zu leiden hatten – repressi- sung des Konflikts zu postulieren. Freud zieht sogar
ven kulturellen Sexualmoral mit ihren heuchleri- die Möglichkeit in Betracht, »daß eine Ausgleichung
schen Normen und Ansprüchen. Unter dem bunten der Ansprüche des Sexualtriebes mit den Anforde-
Banner der Libido kämpfte Freud für eine Gesell- rungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist« (GW
schaft, die den »unterdrückten kulturfeindlichen See- VIII, 91). Der prozessierende Widerspruch, in den
lenkräfte[n]«, der Sexualität, so viel Raum gewährt, alles Menschlich-Triebhafte in jeder nur denkbaren
66 Freud und seine Epoche

kulturellen Form verstrickt ist, findet in Freuds Kul- den Tatsache, daß die k.u.k. Armeen bereits mit dem
turtheorie ihren adäquaten Ausdruck: Sie ist selber kleinen Serbien erhebliche militärische Schwierigkei-
dieser prozessierende Widerspruch. Auch hundert ten hatten, um von denjenigen an der russischen
Jahre nach Freuds bahnbrechenden Schriften bleibt Front ganz zu schweigen, so daß Freud nicht ganz zu
im Zeichen entsublimierter Triebe und entfesselter Unrecht vermutete, daß »der hohe Verbündete«,
»Neosexualitäten« (Sigusch 2005) die Frage offen, Deutschland, »uns heraushauen« müsse (F/Fer II/1,
welches Maß an sexueller Freiheit und Gleichgültig- 66). Was Freud indessen am meisten beschäftigte und
keit der modernen Zivilisation zuträglich ist und wo seine patriotischen Gefühle im Verlauf des Krieges
Grenzen überschritten werden, jenseits derer die kul- nach und nach dämpfte, war der Umstand, daß nicht
turelle Regression droht. nur seine engsten Mitarbeiter, sondern auch seine
»drei Krieger« (F/Fer II/2, 142), die Söhne Martin,
Oliver und Ernst, immer mehr in die Ereignisse und
Die Psychoanalyse im Krieg
Gefahren des Krieges hineingezogen wurden (Nähe-
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer res zum Soldatenschicksal der Söhne bei Jones II,
1914 und die Polarisierung Europas in zwei einander 243 ff.). Im Mai 1917 war Freud schließlich in der
erbittert bekämpfende Lager unterbanden bis auf Lage, den Krieg unumwunden ein »Unglück« zu
weiteres den äußeren Fortschritt des psychoanalyti- nennen und den Frieden herbeizusehnen (F/A, 238).
schen Projekts. Viele Schüler und Kombattanten Zudem machten sich je länger, desto mehr kriegs-
Freuds, z. B. Karl Abraham und Sándor Ferenczi, Vik- bedingte Mangelerscheinungen aufgrund rationierter
tor Tausk und Ernst Simmel, waren unmittelbar vom Nahrungs- und Heizmittel bemerkbar, die auch
Kriegsgeschehen betroffen, indem sie den Arztkittel Freud und seine Familie betrafen (Jones II, 231). Als
mit der Uniform tauschen und als Militärärzte die Niederlage der Mittelmächte nicht mehr zu leug-
Dienst tun mußten. Der Brite Ernest Jones wiederum nen war, schrieb Freud an Ferenczi: »In Deutschland
gehörte nunmehr zur Allianz der Kriegsgegner wird es nach meiner Erwartung furchtbar zu tagen
Österreichs und Deutschlands und galt insofern, beginnen. […] Und überdies wird dort Widerstand
wenn auch ironisch, als »Feind« (F/A, 188 f.), und geleistet werden, blutiger Widerstand. Der Wilhelm
daß England überhaupt »auf der unrechten Seite« ist ein unheilbarer romantischer Narr, er verrechnet
stand (ebd., 184), wurmte den anglophilen Freud. sich mit der Revolution genauso wie eben mit dem
Auch der wissenschaftliche Austausch und die Pu- Krieg. […] Bei Altösterreichs Untergang konnte ich
blikationspolitik des Freud-Kreises gerieten durch nur hohe Befriedigung empfinden. Leider bin ich
die einschränkenden Bedingungen des Krieges emp- auch nicht deutsch-österreichisch oder alldeutsch«
findlich ins Stocken. Für Freud selber hatte der Krieg (F/Fer II/2, 185 f.).
außerdem die unangenehme Konsequenz, daß ihm Während Freud also zumindest in den ersten
nach und nach die Patienten wegblieben. Kriegsjahren im privaten Kreise aus seiner Identifika-
Freuds Haltung zum Krieg ist nicht leicht zu be- tion mit den militärischen Zielen der Monarchie kei-
stimmen. In seinen privaten Äußerungen überwog nen Hehl machte und nationalistische Töne an-
zunächst ein nationalistischer und bellizistischer Ton, schlug, achtete er in seinen öffentlichen Äußerungen
durchaus im Übereinklang mit der Mehrheit seiner und Auftritten auf strenge Distanz zu jeglicher Form
Zeitgenossen. Er habe wie viele andere »plötzlich Li- von Parteilichkeit. Als Wissenschaftler hielt er es für
bido für A[ustria]-U[ngarn] mobilisiert« (F/Fer II/1, unvertretbar, den Krieg zu verherrlichen und vater-
66): »Ich fühle mich […] vielleicht zum ersten Mal ländische und bellizistische Einstellungen zu kultivie-
seit 30 Jahren als Österreicher und möchte es noch ren, wie es viele seiner Kollegen taten. In der 1915
einmal mit diesem wenig hoffnungsvollen Reich ver- veröffentlichten Schrift Zeitgemäßes über Krieg und
suchen« (F/A, 180). Auch dem verbündeten Deutsch- Tod (GW X, 323–355) beklagte er sich über die Ver-
land traute er allerhand zu. In einem Anfall von wirrtheit, die so viele Intelligenzen angesichts des
Chauvinismus ging Freud so weit, Jones die »Bor- Krieges erfaßt habe: »Selbst die Wissenschaft hat ihre
niertheit des Engländers« vorzuwerfen (F/Fer II/1, leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs
86), weil der es in einem Brief an ihn gewagt habe, tiefste erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu ent-
Deutschlands Fähigkeit zum militärischen Sieg in- nehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des
frage zu stellen (C, 303). Es dauerte noch eine ge- Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Geg-
raume Zeit, bis Freuds Kriegseuphorie verflogen war ner für minderwertig und degeneriert erklären, der
und zunehmender Skepsis Platz machte. Solche Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelen-
Skepsis fand Nahrung in der rasch sichtbar werden- störung verkünden« (ebd., 324). Bezeichnenderweise
Die intellektuelle Biographie 67

rückte Freud in einer privaten Äußerung gegenüber sächlich nur fünf gedruckt. Die übrigen gelten seit-
Abraham sogleich wieder von seiner neutralen Hal- dem als verschollen (oder wurden nie geschrieben);
tung als Wissenschaftler ab, indem er seine Gedanken erst 1983 wurde eher zufällig der Entwurf der zwölf-
über Krieg und Tod als »zeitgemäßes Gewäsch« abtat ten Abhandlung gefunden und zwei Jahre später
(F/A, 205). In der 1916 publizierten Notiz über Ver- publiziert, die Übersicht der Übertragungsneurosen
gänglichkeit (GW X, 357–361) wiederum geißelte er (Nachtr., 625–651). Freuds metapsychologische
den Krieg als Kulturbarbarei: »Er beschmutzte die er- Schriften Triebe und Triebschicksale (GW X, 209–
habene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte 232), Die Verdrängung (ebd., 247–261), Das Unbe-
unser Triebleben in seiner Nacktheit bloß, entfesselte wußte (ebd., 263–303), Metapsychologische Ergänzung
die bösen Geister in uns, die wir durch die Jahrhun- zur Traumlehre (ebd., 411–426) und Trauer und Me-
derte währende Erziehung […] dauernd gebändigt lancholie (ebd., 427–446), zu denen man noch die
glaubten« (ebd., 360). Tatsächlich praktizierte Freud Arbeiten Formulierungen über die zwei Prinzipien des
in seiner Haltung zum Krieg eine strikte Trennung psychischen Geschehens (GW VIII, 229–238) von 1911
von privatem Nationalismus und öffentlichem Uni- sowie Jenseits des Lustprinzips (GW XIII, 1–69) von
versalismus, was ihn in einen absoluten Gegensatz 1920 und Das Ich und das Es (ebd., 235–289) von
zur politisch festgelegten Rhetorik seiner Kollegen 1923 zählen muß, gehören sowohl zu den wichtigsten
aus Medizin und Psychiatrie brachte (Brunner theoretischen Texten, die ihr Autor jemals verfaßt
1995/2001, 162). hat, als auch zu den schwierigsten und unzugänglich-
Unter den restriktiven Bedingungen des Krieges, sten. In der Freud-Nachfolge hat es denn auch immer
als vieles notwendig zum Erliegen kam, fand Freud wieder Stimmen gegeben, die dazu rieten, die Meta-
Zeit und Kraft, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das psychologie ganz auf sich beruhen zu lassen.
ihn bereits früher, im Entwurf einer Psychologie von Präsentiert sich die Freudsche Metapsychologie als
1895 und im siebten Kapitel der Traumdeutung, be- ein äußerst opakes Gebilde, so die mitten im Krieg
schäftigt hatte: die Ausformulierung dessen, was er entstandenen Vorlesungen zur Einführung in die Psy-
»Metapsychologie« taufte, von der schon in den choanalyse (GW XI) als eine allgemeinverständliche
Fließ-Briefen häufiger die Rede ist (F, 181, 228, 329). Synopse und gelungene Popularisierung der psycho-
Unter Metapsychologie verstand Freud die allge- analytischen Lehre, die in Buchform schon zu Freuds
meinste und abstrakteste begriffliche Zusammenfas- Lebzeiten enorm hohe Auflagen erreichte. In den
sung seiner Psychologie des Unbewußten, und zwar Vorlesungen, die mit der Erläuterung der Fehlleistun-
»nach [ihren] dynamischen, topischen und ökono- gen, d. h. mit einem Element der Alltags- und Nor-
mischen Beziehungen« (GW X, 281), d. h. nach Maß- malpsychologie beginnen, fand Freud zu der be-
gabe der Darstellbarkeit psychischer Phänomene in rühmten Formulierung von den drei narzißtischen
konfliktpsychologischer Hinsicht, was das dynami- Kränkungen, die das Menschengeschlecht durch die
sche Spiel der unbewußten Kräfte angeht, in differen- moderne Wissenschaft habe hinnehmen müssen, un-
tieller Perspektive, was die unterschiedlichen Systeme ter denen die durch die Psychoanalyse die »empfind-
und »Orte« der Psyche betrifft, sowie in energetischer lichste Kränkung« sei, indem sie zeige, daß das »Ich
Sicht, was die Quantitäten und Umwandlungen […] nicht einmal Herr im eigenen Hause [ist], son-
psychischer Energien anbelangt: »Absicht dieser dern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt
Reihe [metapsychologischer Texte] ist die Klärung von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vor-
und Vertiefung der theoretischen Annahmen, die geht« (ebd., 295). Diese kränkende Botschaft, die nur
man einem psychoanalytischen System zu Grunde le- das Konzentrat alles dessen darstellt, was Freud seit
gen könnte« (ebd., 412). Analog der Metaphysik der der Traumdeutung zu sagen hatte, wiederholte er we-
Philosophen sollte die Metapsychologie, Freuds nig später in seiner Schrift über Eine Schwierigkeit der
»Ideal- und Schmerzenskind« (F, 228), dazu taugen, Psychoanalyse, in der von »fremden Gäste[n]« die
die letzten Gründe und Zusammenhänge des Rede ist, die das Ich nicht unter Kontrolle habe (GW
menschlichen psychischen Kosmos zu erklären, und XII, 9).
dies ausdrücklich unter Einschluß der Biologie, wie Gegen Ende des Krieges, als man am wenigsten
Freud immer wieder (z. B. GW VIII, 410), hervorhob. damit rechnen konnte, erlebte Freud zwei Triumphe,
Daß die Anatomie »das Schicksal« sei (ebd., 90), war die seiner Sache mächtigen Auftrieb gaben. Anton
für ihn alles andere als eine Phrase. Obwohl er in von Freund, ein reicher ungarischer Bierbrauer, den
seinen Briefen aus jener Zeit von insgesamt zwölf Ab- Freud in Behandlung hatte, vermachte dem psycho-
handlungen zur Metapsychologie spricht (F/Fer II/1, analytischen Unternehmen, das durch den Krieg
124; F/AS, 35), wurden zwischen 1915 und 1917 tat- stark gelitten hatte, eine bedeutende Geldsumme, die
68 Freud und seine Epoche

Freud in die Lage versetzte, sich von seinem nach therapeutischen Implikationen eine Art offiziellen
Jones’ Urteil (Jones II, 236) ungeliebten Verleger Durchbruch – plötzlich war die Psychoanalyse in al-
Hugo Heller zu trennen und einen eigenen Verlag zu ler Munde. Die besten Kliniker aus Freuds Anhänger-
gründen, der ihn von Verlegerlaunen unabhängig schaft – Karl Abraham, Max Eitingon, Sándor Feren-
machte (ebd., 236 f.; Eissler 1976, 27; Gay, 423). In czi und Ernst Simmel – eroberten der Psychoanalyse
der Folge sollte sich herausstellen – und das gehört mit ihren einschlägigen Arbeiten ein unerwartetes
nicht zu den geringsten Lebensleistungen Freuds –, Renommee. Für sie war der Krieg wie »ein riesiges
daß der 1919 eröffnete Internationale Psychoanalyti- Laboratorium«, in dem man psychoanalytische Lehr-
sche Verlag eine durchaus erfolgreiche, wenn auch sätze praktisch und mit Erfolg testen konnte (Gay,
stets zuschußbedürftige Gründung war, mit der 423). Es war Freuds erster Triumph über die Psychia-
Freud das weitere publizistische Schicksal seiner trie, von der er bis dahin so vehemente Zurückwei-
Schriften in die eigenen Hände nahm. Freud erwies sung erfahren hatte. An dieser Stelle sei noch hin-
sich als ein ebenso passionierter wie fähiger Verleger, zugefügt, daß Ferenczi, einer von Freuds Lieblings-
auf den das Klischee vom weltfremden und unprakti- schülern, im April 1919 unter Béla Kuns kurzlebigem
schen Stubengelehrten ohne Sinn für kommerzielle kommunistischen Regime zum weltweit ersten Pro-
Dinge in keiner Weise zutrifft (Grubrich-Simitis fessor für Psychoanalyse an der Universität Budapest
1993, 31 ff.; Jones III, 46 ff.). Sein eigener Verleger zu ernannt wurde. Dieser Erfolg war allerdings nicht
sein und Schriften seines Geschmacks drucken zu von Dauer, weil wenig später Admiral Miklós Hor-
können, muß für ihn, den »Bücherwurm«, dessen thys Konterrevolution die ungarische Räterepublik
»erste Leidenschaft meines Lebens«, wie er in der hinwegfegte, wodurch Ferenczi seine Position wieder
Traumdeutung bekennt (GW II/III, 178), Bücher wa- verlor (F/Fer II/1, 23).
ren, ein unvorstellbares Glück bedeutet haben. Der
Urheber dieses Glücks, von Freund, starb bereits
Der Triumph der Psychoanalyse
1920; Freud widmete ihm einen dankbar-noblen
Nachruf (GW XIII, 435 f.). In der Nachkriegszeit begannen für Freud die Jahre
Der andere Triumph hatte unmittelbar etwas mit des Ruhms. So armselig die äußeren Verhältnisse im
den Folgen des Weltkriegs zu tun. Das Elend der sog. auf Kleinstaatformat geschrumpften Österreich wa-
Kriegsneurotiker, wie man jene Soldaten nannte, die ren und so sehr auch Freud darunter zu leiden hatte,
durch ihre Fronterfahrungen schwer traumatisiert so unaufhaltsam stieg die Psychoanalyse nun zu ei-
waren, erwies sich gleichsam als Glücksfall für die nem international beachteten und geachteten Unter-
Psychoanalyse. Während die meisten Militärpsychia- nehmen auf – zwar gehe es »uns allen schlecht […],
ter jener Zeit, wie selbstverständlich dem übergeord- unserer Sache aber sehr gut«, vermeldete Freud Fe-
neten Interesse des kriegführenden Staates an ein- renczi (F/Fer III/1, 92). Sichtbares Zeichen dieses
satzfähigem ›Menschenmaterial‹ verpflichtet, den Aufstiegs war, neben der Etablierung eines eigenen
Teufel mit Beelzebub austrieben und die traumati- Verlags, die Gründung psychoanalytischer Kliniken
sierten Frontsoldaten mit barbarischen Methoden – und Ausbildungsinstitute. Die erste Institution dieser
Isolationsfolter, Zwangsexerzieren, Anwendung von Art, eine Poliklinik mit angeschlossener Lehrstätte
Elektroschocks – für neue Fronteinsätze ›therapier- für angehende Psychoanalytiker, entstand unter der
ten‹, weshalb Freud diese Therapeuten mit »Maschi- Leitung Max Eitingons (der zugleich als großzügiger
nengewehren hinter der Front« verglich (Freud Mäzen des Instituts in Erscheinung trat) und Ernst
1920/1972, 947), erkannten die Freudianer, daß sich Simmels zu Beginn der 1920er Jahre in Berlin und
bei den Kriegsneurosen ebendas zeige, was sie para- diente allen späteren Gründungen als richtungwei-
digmatisch an den »Friedensneurosen« (Nachtr., sendes Vorbild (F/E, 7 ff.; F/Fer III/1, 59 f.).
707), etwa der Hysterie, herausgearbeitet hatten – die Freud war nunmehr eine Zelebrität, deren Name
psychischen Ursachen dieser Neurosenform. Die fixe und Rat gefragt waren. Aus den USA, England und
Idee der staatsfrommen Militärpsychiatrie, bei den anderen europäischen Ländern kamen Interessenten
Kriegsneurotikern handele es sich weithin um Simu- nach Wien, um vom Meister die höheren Weihen zu
lanten und Drückeberger, wurde dementsprechend erlangen. Aus London reisten Joan Riviere sowie Alix
zurückgewiesen. Auf dem fünften internationalen und James Strachey an, Freuds spätere englische
Kongreß der Psychoanalytiker am 28./29. September Übersetzer und Herausgeber der Standard Edition
1918 in Budapest, bei dem auch österreichische, un- des Freudschen Werkes, die zugleich Verbindungen
garische und deutsche Regierungsvertreter anwesend zum Bloomsbury-Kreis um Leonard und Virginia
waren, erlebte Freuds Krankheitslehre samt ihren Woolf und deren avantgardistische Hogarth Press
Die intellektuelle Biographie 69

pflegten. Die Amerikaner waren durch den Psychia- nere mich meiner eigenen Abwehr, als die Idee des
ter und Anthropologen Abram Kardiner vertreten, Destruktionstriebs zuerst in der psychoanalytischen
der später ein Buch über Meine Analyse bei Freud ver- Literatur«, nämlich bei der russischen Psychoanalyti-
öffentlichte. Bis in die späten 1920er und frühen 30er kerin Sabina Spielrein, die er im Jenseits ausdrücklich
Jahre behandelte Freud amerikanische Patienten wie erwähnt (ebd., 59), »auftauchte, und wie lange es
Smiley Blanton und die Schriftstellerin Hilda Doo- dauerte, bis ich für sie empfänglich wurde. Daß an-
little, an deren in harter Währung gezahlten Hono- dere dieselbe Ablehnung zeigten und noch zeigen,
raren ihm stets gelegen war. Die Französin Marie Bo- verwundert mich weniger. Denn die Kindlein«, so
naparte, Mitglied des europäischen Hochadels und Freud mit mildem Spott, »sie hören es nicht gerne
Verfasserin einer psychoanalytischen Studie über Ed- […]« (GW XIV, 479). Wahrscheinlich war die Reak-
gar Allan Poe, stieß Mitte der 1920er Jahre zum enge- tion Eitingons auf die Veröffentlichung des schmalen
ren Zirkel um Freud (Bonaparte war es auch, die Buches für die Mehrheit der Analytiker repräsentativ,
nach dem Tod von Wilhelm Fließ das inzwischen in wenn er Freud schrieb, das Werk mache ihm »sehr zu
den Antiquariatshandel gelangte Konvolut von schaffen« (F/E, 217; vgl. auch Jones III, 315 ff.). Im
Freuds Briefen an Fließ aufkaufte und somit für die übrigen spricht es für Freuds beträchtliche Fähigkeit
Nachwelt rettete), ebenso die Amerikanerin Dorothy zur Selbstironie, wenn er am Ende von Jenseits des
Burlingham, die Anna Freuds engste Freundin wer- Lustprinzips den Dichter Friedrich Rückert mit dem
den sollte. In Italien kümmerte sich Edoardo Weiss Satz zitiert: »Was man nicht erfliegen kann, muß
um die Übersetzung und Verbreitung der Freudschen man erhinken […]« (GW XIII, 69), und damit zu
Lehre. Ganz zu schweigen von der zahlreichen neuen erkennen gibt, daß, was er in seiner Schrift triebtheo-
Anhängerschaft in Deutschland, Österreich und der retisch gewonnen habe, nur ein erster mühevoller
Schweiz, darunter Freuds späterer Biograph Siegfried Schritt auf dem Wege zu neuer wissenschaftlicher Er-
Bernfeld (Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981), Otto Fe- kenntnis sei.
nichel, der ein Standardwerk zur psychoanalytischen Ein Novum stellte auch der 1921 erschienene Essay
Neurosenlehre verfaßte (Fenichel 1945/1974–1977), über Massenpsychologie und Ich-Analyse (GW XIV,
Karen Horney, Melanie Klein und Wilhelm Reich. 71–161) dar, Freuds wichtigster Beitrag zur Sozial-
Bekannte Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler psychologie (ebd., 73). Unter Rückgriff auf Gustave
– Romain Rolland, Arnold Zweig, Stefan Zweig, Tho- Le Bons Psychologie der Massen (1895) und nicht
mas Mann, Salvador Dalí und Albert Einstein, um ganz ohne die zeittypische elitäre Verachtung des In-
nur die wichtigsten Namen zu nennen – hielten sich tellektuellen für die Masse versucht sich Freud an der
etwas darauf zugute, in persönlichem Verkehr mit Beantwortung der Frage, wie der Zusammenhalt der
der Wiener Autorität zu stehen oder mit ihr zu kor- Masse und deren Unterwerfung unter die Autorität
respondieren. einer Person, eines »Führers« zustandekommen und
Anfang der 1920er Jahre publizierte Freud, der zu erklären sind. Liest man Thomas Manns im Jahre
jetzt in einem Alter stand, in dem berufstätige Men- 1930, am Vorabend des deutschen Massenaufbruchs
schen normalerweise in den Ruhestand treten, drei in den »Führerstaat« veröffentlichte Novelle Mario
Schriften, die ein weiteres Mal dokumentierten, daß und der Zauberer, so könnte man bei der Lektüre be-
Freud sich auch jetzt noch nicht damit begnügen stimmter Passagen – etwa da, wo der Dichter die
wollte, den Kanon psychoanalytischen Wissens ab- hypnotische Beziehung des »Führers« Cipolla zu sei-
zurunden und zu verwalten, sondern daß er, neu- nem Publikum beschreibt – den Eindruck gewinnen,
gierig und eroberungslustig wie eh und je, immer es handele sich um eine literarische Verarbeitung und
noch auf der Suche nach Neuem war. Mit der Ver- Übersetzung von Freuds Massenpsychologie.
öffentlichung von Jenseits des Lustprinzips (GW XIII, Schließlich stellte Freud 1923 seiner revidierten
1–69), das, einem alten Projekt Freuds folgend, die Triebtheorie, die von dem Dualismus von Lebens-
biologischen Grundlagen der Psychoanalyse weiter und Todestrieben regiert wird, mit der Schrift über
ausbaute, mutete er der psychoanalytischen Welt eine Das Ich und das Es (GW XIII, 235–289) eine neue
Schrift zu, deren radikale Wucht und Schärfe von Topik zur Seite, in der die ursprüngliche Topik von
dieser allgemein nur als Zumutung empfunden wer- unbewußt-vorbewußt-bewußt durch die von Es, Ich
den konnte. An den Schreck, den er mit dem Postulat und Über-Ich substituiert wird – eine der letzten gro-
eines Destruktions- oder Todestriebs bei seinen An- ßen theoretischen Neuerungen, die Freud in sein
hängern auslöste, machte er denn auch insofern ge- Lehrgebäude einfügte. Alles, was noch auf diese
wisse Konzessionen, als er noch zehn Jahre später in grundlegende Schrift folgte, trägt, so möchte man sa-
Das Unbehagen in der Kultur eingestand: »Ich erin- gen, den Charakter absoluter Zwanglosigkeit. Auf der
70 Freud und seine Epoche

Höhe seines Ruhms und im Zenit öffentlicher Aner- gewiesener Spezialist, eine radikale Operation vor:
kennung konnte Freud sich gestatten, sich als Schrift- Kiefer und Gaumen der erkrankten Seite wurden
steller jenen Neigungen und Interessen zuzuwenden, entfernt und eine Prothese eingesetzt. »Es war ein
die er, wie er rückblickend glaubte, jahrzehntelang furchtbarer Eingriff, der chronische Folgen zeitigte
vernachlässigt hatte. Diese Verschiebung oder Um- und die Vitalsphäre berührte« (Eissler 1976, 29). Daß
orientierung seiner Forscherleidenschaften begrün- Freud trotz ständiger Schmerzen, trotz der einschnei-
dete er 1935, in der Nachschrift zur »Selbstdarstel- denden physischen und psychischen Einschränkun-
lung«, »mit einem Stück regressiver Entwicklung. gen, die ihm der Krebs und die Prothese – das »Un-
[…] Nach dem lebenslangen Umweg über die Natur- geheuer« oder »Monster«, wie sie auch genannt
wissenschaften, Medizin und Psychotherapie war wurde (Jones III, 119; Kollbrunner 2001, 24) – aufer-
mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zu- legten, und trotz seines fortgeschrittenen Alters wei-
rückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken er- terhin in der Lage war, seine ärztliche Praxis fort-
wachten Jüngling gefesselt hatten« (GW XVI, 32). zuführen und geistig und schriftstellerisch produktiv
Fortan beherrschten Themen das Feld, denen Freud zu bleiben, muß man wohl als außergewöhnlich be-
zwanzig Jahre früher nur sporadisch Raum gewährt zeichnen und mit seiner immensen Willensstärke
hatte: Kultur, Religion, Anthropologie, Geschichte und Selbstdisziplin in Zusammenhang bringen. In ei-
und Vorgeschichte, Literatur, Archäologie, Judentum, nem Brief an Eitingon aus dem Jahr 1926 heißt es:
ja sogar Okkultismus. Allerdings beharrte Freud dar- »Ich sehe einen Triumph darin, wenn man sein klares
auf, daß er bei solcherlei Beschäftigungen sich kei- Urteil unter allen Umständen bewahrt […]« (F/E,
neswegs in sog. höheren Sphären bewege, sondern 448).
sich weiterhin »im Parterre und Souterrain« seines Zunächst einmal ist es natürlich naheliegend,
Denkgebäudes aufhalte (F/B, 236). Freuds Krebs mit seiner lebenslangen Nikotinabhän-
In Freuds Triumphe mischten sich freilich auch gigkeit zu erklären (Schur 1972/1973, 413 f.), die er
persönliche Niederlagen. Im Januar 1920, fast zeit- selber in seinen Briefen vielfach bezeugt hat. Die täg-
gleich mit Anton von Freund, starb seine Tochter So- lichen Zigarren, von denen er durchschnittlich zwan-
phie, Freuds »Sonntagskind« (zit. nach Jones III, 33), zig Stück rauchte, galten ihm nicht zuletzt als Mittel,
im Alter von sechsundzwanzig Jahren an der damals seine geistige Produktivität und Gesundheit aufrecht
in Europa grassierenden Spanischen Grippe. »Jahre- zu erhalten; das Rauchen helfe ihm, den »psychi-
lang«, schrieb Freud, »war ich auf den Verlust meiner schen Kerl« gut zu behandeln, »sonst arbeitet er mir
Söhne gefaßt, nun kommt der der Tochter. Da ich im nichts« (F, 134). Im übrigen sah Freud im Rauchen
tiefsten ungläubig bin, habe ich niemand zu beschul- einen Ersatz für die »Ursucht«, die Onanie (ebd.,
digen und weiß, daß es keinen Ort gibt, wo man eine 312 f.). Selbst nach der ersten Krebsoperation, als
Klage anbringen kann« (F/Fer III/1, 51). Der Tod des ihm die Ärzte ein striktes Rauchverbot verordneten,
geliebten viereinhalbjährigen Enkels Heinele im Juni gab Freud seiner Sucht nach und rauchte weiter. Es
1923 traf Freud emotional noch weit stärker als der wäre also nicht sonderlich überraschend, zu dem Er-
seiner Tochter – er registrierte bei sich die erste De- gebnis zu kommen, Freuds starker Nikotinkonsum
pression seines Lebens (ebd., 169). Nur zwei Monate sei der ausschlaggebende karzinogene Faktor gewe-
zuvor, im April, war bei Freud eine Geschwulst in der sen.
Mundhöhle entdeckt und operativ entfernt worden. Tatsächlich führen die meisten Biographen Freuds
Die Diagnose, von den konsultierten Ärzten zunächst – allen voran Ernest Jones, Max Schur, K. R. Eissler
unterdrückt, lautete schließlich auf Krebs (Jones III, und Peter Gay – in Anlehnung an das gängige bio-
113 ff.; Schur 1972/1973, 424 f.; Gay, 470 ff.). logische Wissenschaftsparadigma den Krebs wie
selbstverständlich auf das Rauchen zurück, so wie es
Freud ja auch selber tat. Weder er noch einer seiner
Das Karzinom
bedeutenden Biographen kam je auf die Idee, den
Obwohl die Ärzte also zunächst versuchten, Freud Krebs psychoanalytisch zu deuten, d. h. nach lebens-
über den Ernst seiner Erkrankung im unklaren zu geschichtlichen und psychischen Hintergründen zu
lassen, ließ dieser sich nicht täuschen: Er wußte, daß fragen. Offenbar hat die offizielle Freud-Biographik
er Krebs hatte (C, 521; Schur 1972/1973, 425). Auf Freuds Abneigung gegen das Genre der Biographik
den ersten chirurgischen Eingriff folgten in den sech- schlechthin sowie seinen ausgeprägten Hang, seine
zehn Jahren bis zu Freuds Tod mehr als dreißig wei- private, nicht-wissenschaftliche Biographie mit einer
tere Operationen. Bereits ein halbes Jahr nach dem Mauer des Schweigens zu umgeben und zu diesem
ersten Eingriff nahm Professor Hans Pichler, ein aus- Zweck, wie mehrfach geschehen, private Dokumente
Die intellektuelle Biographie 71

zu vernichten, weitgehend verinnerlicht. Bei Jones & chogener Natur gewesen. Aber mit Kollbrunner kann
Co. dagegen finden wir, wenn von Freuds Krebs die man zu dem vorsichtigen Urteil kommen, daß es im
Rede ist, hauptsächlich Hinweise auf die vorbildlich Falle Freuds neben rein somatischen Ursachen auch
mutige und klaglose Haltung, mit welcher der alte psychosomatische und psychosoziale Belastungsfak-
Mann den Qualen seiner Krankheit sechzehn Jahre toren gegeben haben könnte, die den Ausbruch der
lang begegnete (paradigmatisch Eissler 1976, 29). Krebserkrankung mitverursachten (ebd., 272 ff.).
Erst der Schweizer Psychoonkologe Jürg Kollbrun- Freud hat sich, wie wir wissen, im Interesse der Voll-
ner, der den psychobiographischen Hintergrund von endung seines geistigen Lebenswerkes und seiner
Krebspatienten eingehend untersucht hat, hat es in ›Mission‹, der Psychoanalyse, vieles versagt – der To-
jüngster Zeit unternommen, das Tabu über Freuds pos der Versagung spielt in Freuds Gefühlshaushalt
Krankheit zu brechen und Fragen zu formulieren, die und Rhetorik eine nicht zu unterschätzende Rolle. In
bisher niemand zu formulieren wagte (Kollbrunner seiner Schrift Zur Einführung des Narzißmus heißt es:
2001). Sein Vorwurf an die Adresse der Freud-Bio- »Ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber
graphen lautet, sie hätten sich zu sehr an Freuds endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht
»Selbstdarstellung« (GW XIV, 31–96) orientiert und krank zu werden, und muß erkranken, wenn man
es dergestalt versäumt, ›Indizien‹ zur Kenntnis zu infolge von Versagung nicht lieben kann« (GW X,
nehmen, die ein anderes Bild als das eines heroisch 151 f.).
Lebenden und Leidenden vermitteln. Kollbrunner Dem dramatischen Auftritt des Karzinoms, der
hat das Werk Freuds sowie die zugänglichen Korre- Freuds privates Leben hinfort bestimmen sollte,
spondenzen und autobiographischen Zeugnisse akri- folgte der Auftritt eines Menschen, ohne den Freuds
bisch durchleuchtet und ist dabei zu Schlüssen und letzte Lebensjahre kaum vorstellbar sind (Gay,
Hypothesen gelangt, die der offiziellen Ikonographie 481 ff.). Schon bei der ersten Operation im April
Freuds stark widersprechen. In der psychoanalyti- 1923, die unter höchst unerquicklichen äußeren Um-
schen und psychopathographischen Lesart Kollbrun- ständen verlaufen war (ebd., 471 f.), hatte Anna,
ners wird Freuds Satz aus dem Leonardo-Essay beim Freuds jüngste Tochter, sich geweigert, ihren Vater zu
Wort genommen, wonach es scheint, »daß die Kind- verlassen. Seitdem wich sie, die er schon als Kind als
heit nicht jenes selige Idyll ist, zu dem wir es nach- eine »Sehenswürdigkeit« gepriesen hatte (F, 277), bis
träglich entstellen […]« (GW VIII, 198). Demgemäß zu seinem Tod nicht mehr von seiner Seite.
rekonstruiert der Autor Freuds frühe Kindheit nicht Anna, 1895 geboren und das jüngste der Freud-
als Idyll, sondern als eine Kette von komplizierten Kinder, war schon früh der auserkorene Liebling ih-
und schwerwiegenden familialen Ereignissen und res Vaters. Sie wurde Lehrerin, zeigte aber bereits in
psychischen Konstellationen, die in der Summe zu jungen Jahren ein starkes Interesse an der Arbeit und
einer massiven Störung der Mutter-Kind-Beziehung den Schriften Freuds, der sie zwischen 1918 und 1924
geführt hätten (siehe oben S. 50). Kollbrunner zu- in Analyse nahm – was damals, in den Anfangszeiten
folge hat Freud die Beziehung zu seiner Mutter – und der Psychoanalyse, noch nicht als Regelverletzung
damit zum weiblichen Geschlecht überhaupt (Loh- galt. Annas Wunsch, Psychoanalytikerin zu werden
mann 1998/2004, 116 ff.) – später nie wirklich durch- und Medizin zu studieren, begegnete Freud mit der
gearbeitet und verstanden und deshalb seine Agres- für ihn bezeichnenden Forderung, sie solle als Laien-
sionen gegen die Mutter nach Kräften unterdrückt analytikerin ihren Weg machen – Anna Freud, die
oder in Form wissenschaftlicher Kreativität subli- später als Kinderanalytikerin einen glänzenden Ruf
miert. Es ist immerhin aufschlußreich, daß Freud je- erwarb, war nicht die erste und nicht die letzte, der
den Sonntag, wenn er seine alte Mutter besuchte, un- Freud von der Medizin abriet. Daß Anna unverhei-
ter Verdauungsstörungen oder Magenverstimmung ratet blieb (was Freud eine Zeitlang beunruhigte)
litt (Kollbrunner 2001, 170). Ebenso aufschlußreich und sich neben ihrer eigenen Arbeit, die sie in be-
ist die Tatsache, daß das Freudsche Werk fast aus- merkenswerter intellektueller Unabhängigkeit von
nahmslos eine Auseinandersetzung mit der väterli- ihrem Vater betrieb, ganz der Sorge um ihn widmete
chen Autorität (Ödipus) enthält, während die frühe – Kollbrunner (2001, 203 ff.) spricht von der »ent-
Kindheit, der präödipale Raum – die Zeit des frühen fremdeten Statthalterin« –, paßt zum von Freud ge-
Traumas –, fast gänzlich ausgespart bleibt. wählten mythologischen Bild der »Antigone« (B,
Sicher läßt sich aus solchen biographischen Hin- 439), die den blinden König Ödipus an der Hand
weisen, die Kollbrunner um eine ganze Palette wei- führt. Und gewiß ist es von hoher symbolischer Aus-
terer ergänzt, nicht der simple und unumstößliche sagekraft, daß im Jahre 1930, als Freud der Goethe-
Schluß ziehen, Freuds Karzinom sei vor allem psy- Preis der Stadt Frankfurt am Main zuerkannt wurde,
72 Freud und seine Epoche

Anna als Stellvertreterin ihres Vaters den Preis ent- mächtig geworden« (GW XVI, 269). Für Freud blieb
gegennahm und seine Dankesrede verlas (GW XIV, der furor sanandi stets ein Bedürfnis, das man als
547–550). In welchem Maße der alte Freud auf Annas Analytiker zu bekämpfen habe. Ohne Zweifel haftet
Fürsorge angewiesen war, belegt ein Brief an Lou An- dem Konflikt zwischen Freud und seinem vielleicht
dreas-Salomé aus dem Jahr 1935: »Was an mir noch treuesten und ihm emotional zugewandtesten Schü-
erfreulich ist, heißt Anna« (F/AS, 222). Und kurz vor ler und Freund etwas tief Tragisches an, wie auch der
seinem Tod gestand er Marie Bonaparte: »[…] ich Briefwechsel zwischen 1924 und 1933 deutlich zu er-
werde immer unselbständiger und abhängiger von kennen gibt.
ihr« (B, 475). Als einer seiner Wiener Anhänger, der Literatur-
wissenschaftler Theodor Reik, der u. a. über Gustave
Flaubert und Arthur Schnitzler publiziert hatte, 1925
Späte Kämpfe und Konflikte
Opfer einer Anklage wegen Kurpfuscherei wurde,
In die zweite Hälfte der 1920er Jahre fallen die Tren- packte Freud die Gelegenheit beim Schopf und ver-
nung von Otto Rank, die zunehmende Entfremdung öffentlichte seine Schrift über Die Frage der Laien-
Freuds von Sándor Ferenczi sowie der verschärfte analyse (GW XIV, 207–286), um grundsätzlich zu
Kampf um die Berechtigung der Laienanalyse. Rank, klären, »ob es auch Nichtärzten erlaubt sein soll, die
einer der ersten Laienanalytiker der Wiener Gruppe Analyse auszuüben« (ebd., 209). Freuds Haltung in
und rund zwanzig Jahre lang einer der engsten Mit- dieser Frage war immer klar: Für ihn verlief, was die
arbeiter Freuds und von diesem stets wohlwollend Sache der Psychoanalyse angeht, die Grenze nicht
gefördert, 1919 schließlich zum Leiter des Internatio- zwischen Ärzten und Nichtärzten, vielmehr zwischen
nalen Psychoanalytischen Verlags avanciert – »For a der Wissenschaft und ihren diversen Anwendungsge-
few years Rank was the Verlag […] his work there bieten. In der »Selbstdarstellung« heißt es kategorisch:
culminated in the publication of Freud’s Gesammelte »Es ist nicht mehr möglich, die Ausübung der Psy-
Schriften« (Jones zit. nach Mühlleitner 1992, 251) –, choanalyse den Ärzten vorzubehalten und die Laien
hatte sich mit zwei Publikationen das Vertrauen von ihr auszuschließen« (GW XIV, 96). Tatsächlich
Freuds verscherzt. Sowohl die gemeinsam mit Feren- fürchtete Freud nichts mehr, als »daß die Psychoana-
czi verfaßten Entwicklungsziele der Psychoanalyse als lyse von der Medizin verschluckt werde und dann
auch Das Trauma der Geburt, beide 1924 erschienen, ihre endgiltige Ablagerung im Lehrbuch der Psychia-
betrachtete Freud als Affront gegen die Grundansich- trie finde«, wie er wiederum in der Schrift zur Laien-
ten der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Es analyse formuliert (GW XIV, 283). Nicht nur mußte
kam zu Trennungen und kurzzeitigen Wiederannä- Freud gegen die Front der amerikanischen Analytiker
herungen, bis Rank sich schließlich ganz von Freud angehen, die den Ausschluß der Laien am konse-
lossagte und eigene Wege ging, zunächst in Paris, quentesten betrieben (was seinen ohnehin starken
dann in den Vereinigten Staaten. In den Tagebüchern Ressentiments gegen Amerika zusätzliche Nahrung
der Schriftstellerin Anaïs Nin, die seine Patientin und gab), sondern auch gegen einige seiner einflußreich-
Schülerin war, findet man ein plastisches Porträt des sten Anhänger wie Karl Abraham und Ernest Jones,
späten Rank. die der Laienanalyse skeptisch bis ablehnend gegen-
Mit Ferenczi kam es dagegen nie zum offenen überstanden.
Bruch, vielleicht einfach deshalb, weil er zu früh Nicht nur in dieser Sache zeigte sich Freud von
(1933) starb. Gleichwohl waren die Irritationen und seiner kämpferischen Seite. Als er 1927 seine Schrift
wechselseitigen Mißverständnisse zwischen ihm und Die Zukunft einer Illusion (GW XIV, 323–380) ver-
Freud beträchtlich, obschon Ferenczi immer wieder, öffentlichte, faßte er all das zusammen, was ihn seit
wenn auch vergeblich, versuchte, den bewunderten seiner Jugend geistig geprägt hatte. Freuds unbeirr-
und geliebten »Professor« davon zu überzeugen, daß bare Wissenschaftsgläubigkeit, ein Relikt des 19. Jh.s,
seine therapeutischen Experimente und Neuerungen und sein unbeugsamer Atheismus lassen sich biogra-
mit Freuds Psychoanalyse kompatibel seien. Freud phisch früh belegen, etwa in den Briefen an seinen
wollte sich auf Ferenczis technische Innovationen im Jugendfreund Eduard Silberstein, wo es z. B. heißt:
Umgang mit Patienten, vor allem auf die »Kußtech- »So essen wir denn mit an Sonn- und Feiertagen,
nik« nicht einlassen und verwahrte sich gegen dessen aber mit dem Unterschied, daß wenn die Frommen
»zärtliche Mutterrolle«, gegen welche er seine eigene meinen, sie hätten ein gutes Werk getan, wir Welt-
strenge »Vaterrolle« ausspielte (F/Fer III/2, 273 f.). In kinder uns bewußt sind: wir haben eine gute Schüssel
seinem Nachruf auf Ferenczi schrieb Freud: »Das Be- gegessen« (S, 75). Wie für die materialistischen Auf-
dürfnis zu heilen und zu helfen war in ihm über- klärer des 18. und 19. Jh.s von Diderot und Voltaire
Die intellektuelle Biographie 73

über Feuerbach und Darwin bis hin zu Haeckel und geber und Religionsstifter« (GW XVI, 103) als Maß-
Helmholtz, in deren Nachfolge er sich sah, galt für stab, wie sie auch in der Schrift über den Moses des
ihn letztlich die Marxsche Maxime (obwohl Freud Michelangelo unschwer zu erkennen ist, dann drängt
Marx wahrscheinlich nie gelesen hat), daß die Kritik sich der psychologische Schluß auf, daß Freud auf
der Religion die Voraussetzung aller Kritik sei. Freud dieser Ebene seiner Gefühle eher auf Distanz zu sei-
zufolge ist Religion nicht das berühmte Opium – das ner jüdischen Herkunft geht. Denn das Volk der Ju-
vielleicht auch –, sondern eher eine kollektive den ist beschränkt und wankelmütig, es zweifelt im-
Zwangsneurose (GW XIV, 367) oder, wie er in Das mer wieder an der Notwendigkeit der Mosaischen
Unbehagen in der Kultur schreibt, ein Massenwahn Unterscheidung (Assmann 2003), indem es in Aber-
(ebd., 440). Weil Wissenschaft und Religion prinzipi- glauben und Polytheismus zurückfällt und schließ-
ell unvereinbar sind, weil das moderne wissenschaft- lich den »Tyrannen« Moses ermordet (GW XVI,
liche Weltbild das ältere religiöse hinter sich gelassen 148 f.) – ein deutlicher Anklang an das Vatermord-
hat, ist für Freud auch seine Wissenschaft, die Psy- thema in Totem und Tabu, ebenso an das Verhalten
choanalyse, frei von allen religiösen Schlacken, d. h. von Freuds früheren Anhängern Jung, Adler, Stekel,
von der Illusion, es gebe eine Instanz, die sie zu Rank und Ferenczi, die wankelmütig und abtrünnig
transzendieren oder infragezustellen vermöchte. »Die geworden und vom Freudschen monotheistischen
wissenschaftliche Arbeit ist […] für uns der einzige Gesetz abgewichen waren. »Wenn Moses ein Ägypter
Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen war …« (GW XVI, 114), so Freuds Hypothese, dann,
kann« (GW XIV, 354). so müssen wir schließen, ist auch er selber – kein
Seine kompromißlose Ablehnung jeglicher Reli- Jude. Vielmehr ein ferner geistiger Nachfahr jenes
gion, selbstverständlich auch der jüdischen, die nicht Pharao Echnaton, der in einem revolutionären Akt
zuletzt in seinem langjährigen Briefwechsel mit dem des Theo- und Ikonoklasmus die mythische Götter-
Schweizer protestantischen Theologen Oskar Pfister welt gestürzt und an ihre Stelle die Eine Wahrheit
immer wieder zum Ausdruck kommt, hinderte Freud gesetzt hatte. Freuds rationalistischer Monotheismus
indes nicht, sich entschieden mit dem Judentum zu begreift sich als Tat der Aufklärung, als Entmytholo-
identifizieren. Je offener und aggressiver der Antise- gisierung und Entzauberung der Welt im Sinne Max
mitismus auftrat, desto selbstbewußter bekannte sich Webers. Für die Dialektik der Aufklärung fehlte ihm
Freud zu seinen jüdischen Wurzeln – selbstverleug- das notwendige Gespür.
nende und assimilatorische Tendenzen waren ihm, So sehr Freuds Moses-Buch am Beginn des 21. Jh.s
der sich zugleich den besten Traditionen der deut- Quelle und Gegenstand fruchtbarer religionswissen-
schen Kulturnation zugehörig fühlte, zuwider: »Ob- schaftlicher und kulturhistorischer Debatten gewor-
wohl der Religion meiner Voreltern längst entfrem- den ist, so sehr mußte es bei seinem Erscheinen am
det, habe ich das Gefühl der Zusammengehörigkeit Vorabend des Zweiten Weltkriegs die zeitgenössi-
mit meinem Volke nie aufgegeben […]« (B, 380). In schen Leser verstören. Denn zur selben Zeit sahen
seinem letzten großen Werk Der Mann Moses und die sich die deutschen und österreichischen Juden bereits
monotheistische Religion (GW XVI, 101–246) von schwerster Repression und Verfolgung durch den Na-
1939, das bereits in einem Verlag des Exils, bei Allert tionalsozialismus ausgesetzt. Viele von Freuds An-
de Lange in Amsterdam, erscheinen mußte, themati- hängern – darunter Max Eitingon, Otto Fenichel,
sierte Freud sein Verhältnis zum Judentum ein letztes Wilhelm Reich, Theodor Reik, Hanns Sachs – waren
Mal. Hier wird die mythische Gestalt des Moses, ent- emigriert, Freud selbst und seine Familie hatten
gegen der gängigen Lesart und im Sinne einer Wie- Wien im Frühsommer 1938 verlassen müssen und in
derkehr des Verdrängten (Assmann 1998, 211 ff.), als London Zuflucht gefunden. Die psychoanalytischen
eine von vornehmer ägyptischer Abkunft dargestellt Gesellschaften Deutschlands und Österreichs waren
und damit nichts Geringeres postuliert als die Spren- »arisiert« und faktisch zerschlagen worden, und die
gung der Generationenkette und die Befreiung von Nazis hatten den Internationalen Psychoanalytischen
der Traditionslast der Väter: Moses wird Ägypter (Le Verlag liquidiert. In einer solchen Situation konnte
Rider 2002/2004, 313 ff.). So ungebrochen Freud zeit- oder mußte ein Werk wie Der Mann Moses, das sich
lebens imstande war, sich gegenüber einer feindse- kritisch mit dem Judentum befaßt, als ein Zeichen
ligen Umwelt als Jude zu behaupten, so gebrochen der Entsolidarisierung Freuds mit der bedrängten Ju-
und ambivalent erscheint im Mann Moses seine Ein- denheit Europas verstanden werden. Dieser Eklat, der
stellung gegenüber den Juden in der ägyptischen z. B. einen Gelehrten wie Martin Buber zu einer zor-
Sklaverei. Nimmt man Freuds notorische Identifizie- nigen Reaktion veranlaßte (vgl. F/E, 919; Gay, 727),
rung mit der Gestalt des Moses als »Befreier, Gesetz- konnte nur wenig dadurch abgeschwächt werden,
74 Freud und seine Epoche

daß Freuds Buch auch eine heftige Attacke gegen das Ein Jahr später publizierte Freud eines seiner letz-
Christentum und das Phänomen des christlichen An- ten großen Bücher, die Neue Folge der Vorlesungen zur
tisemitismus enthält (GW XVI., 194 ff.). Einführung in die Psychoanalyse (GW XV), eine Fort-
setzung und Fortschreibung der im Ersten Weltkrieg
begonnenen Vorlesungsreihe. Hier findet sich jene
Die letzten Jahre
berühmt gewordene Formulierung, die man als
Auch die chronischen Beschwernisse durch Alter und Freuds geistiges Vermächtnis an die Nachwelt lesen
Krankheit vermochten Freud nicht davon abzuhal- mag. Es sei das Ziel der Psychoanalyse, »das Ich zu
ten, seinen geistigen Interessen wie eh und je zu fol- stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen,
gen. Als immerhin Vierundsiebzigjähriger veröffent- sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Or-
lichte er mit Das Unbehagen in der Kultur (GW XIV, ganisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke
419–506) ein Buch, das neben der Traumdeutung des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden«
sein wohl berühmtestes geworden ist. Noch während (ebd., 86).
er daran schrieb, ließ er Eitingon wissen, er hege Zu seinem achtzigsten Geburtstag am 6. Mai 1936
Zweifel am Gelingen des Werkes und plane, ihm den wurde Freud, der eine Zeitlang darauf spekuliert
Titel »Das Unglück in der Kultur« zu geben (F/E, hatte, den Nobelpreis zu erhalten (Freud 1992/1996,
646; vgl. auch Grubrich-Simitis 1993, 198, 214). Die- 73), eine außergewöhnliche Ehrung zuteil, die ihn
ser Titel wäre nicht einmal unpassend gewesen, denn für die entgangene Auszeichnung durch das Stock-
eine der Quintessenzen, die der Autor aus dem Di- holmer Preiskomitee zumindest ein wenig entschä-
lemma des Individuums, das zwischen Triebwün- digte. 191 Künstler und Schriftsteller, darunter Ro-
schen und Triebversagungen, zwischen kulturerhal- main Rolland, H. G. Wells und Virginia Woolf, über-
tenden und kulturzerstörenden Neigungen hin und mittelten ihm eine Glückwunschadresse, die von
her schwankt, lautet, es sei »im Plan der ›Schöpfung‹ Thomas Mann und Stefan Zweig formuliert worden
nicht enthalten«, daß der Mensch glücklich werde, war. Wenig später erschien Thomas Mann persönlich
Glück sei »nur als episodisches Phänomen möglich« in Wien und verlas im Haus in der Berggasse 19 sei-
(GW XIV, 434). Zwar sei es das Programm des Lust- nen Vortrag über »Freud und die Zukunft« (Jones III,
prinzips, das den Lebenszweck setze. Aber, so fügt 244 f.). Außerdem wurde Freud Ende Juni zum kor-
Freud hinzu, es sei als solches ȟberhaupt nicht respondierenden Mitglied der exklusiven Royal So-
durchführbar« (ebd.). Man darf konstatieren, und ciety gewählt – »Foreign member Royal Society«, wie
vielleicht liegt nicht zuletzt darin seine Größe, daß er stolz und lakonisch in seinem Tagebuch notierte
Freud gegen Ende seines Lebens nicht mehr Rat (Freud 1992/1996, 58).
wußte als den, die Ungewißheit des Ausgangs im
Kampf zwischen Trieb und Kultur, Eros und Thana-
Exil und Tod
tos stoisch zu ertragen (ebd., 506) und sich aller
Glücksillusionen zu entledigen. Bereits 1933, mit Beginn der Reichskanzlerschaft
Trotz eines unübersehbaren Pessimismus, der sein Adolf Hitlers in Deutschland, bekam Freud aus der
Spätwerk mehr und mehr prägt, war Freud immer Ferne zu spüren, daß die politisch ruhigen Jahre vor-
wieder bereit, gewissermaßen ›gegen den Strich‹ zu bei waren. Im Mai verbrannten die Nazis seine
denken, d. h. der modernen Kultur einen Kredit ein- Werke, so wie sie die Werke von Heinrich Heine und
zuräumen, den er ihr sonst mit guten Gründen ver- Karl Marx, von Kurt Tucholsky und Franz Kafka und
weigerte. Als sich im Jahre 1932 der Physiker Albert vielen anderen jüdischen und linken Schriftstellern
Einstein mit der Bitte an ihn wandte, er möge doch verbrannten. Im Jahr darauf wurde die Demokratie
darlegen, ob es Wege gebe, die Menschheit von der in Österreich liquidiert und machte einem klerikofa-
Geißel des Krieges zu befreien, antwortete Freud in schistischen Ständestaat Platz, den Freud im Ver-
einem knappen Text mit dem Titel Warum Krieg? gleich mit dem nationalsozialistischen Deutschland
(GW XVI, 11–27), er sehe einen solchen Weg, wenn noch als das kleinere Übel betrachtete – er war sogar
es gelinge, den Prozeß der Zivilisation unumkehrbar der Ansicht, der reaktionäre österreichische Katholi-
zu machen. Dieser Prozeß sorge für eine allmähliche zismus sei der beste Schutz gegen die Nazis (F/AS,
»Erstarkung des Intellekts« sowie für die »Verinnerli- 224). Alles in allem verhielt sich Freud angesichts der
chung der Aggressionsneigung« und führe endlich zu bedrohlichen politischen Entwicklungen merkwür-
psychischen Dispositionen, die eine »konstitutionelle dig kühl und distanziert, so, als betreffe ihn das alles
Intoleranz« gegen den Krieg zur Folge habe: »Alles, nicht. Vielleicht war es aber auch nur eine Frage des
was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch ge- Alters. Jedenfalls erklärt dieser politische Quietismus,
gen den Krieg« (ebd., 26 f.).
Die intellektuelle Biographie 75

der ihn auch die realen Gefahren für sich und seine postum veröffentlicht wurde. Erstaunlich ist auch,
Familie verkennen ließ, vielleicht sein eher unglück- daß er immer noch alte Freunde und viele Besucher
liches Agieren, als es um das Schicksal der jüdischen empfing, darunter die Schriftsteller Arthur Koestler
Analytiker in Deutschland ging. Statt kompromißlos und Stefan Zweig, den Zionistenführer Chaim Weiz-
deren Belange zu vertreten, ließ er sich, in Koopera- mann, den Anthropologen Bronislaw Malinowski
tion vor allem mit Jones, der damals Präsident der und den Maler Salvador Dalí, der eine Porträtskizze
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung war, von ihm anfertigte.
auf allerlei Halbherzigkeiten und Kompromisse mit Im Frühjahr 1939 verschlechterte sich Freuds Ge-
den Nazis ein – auf Kosten der Juden (vgl. Lohmann/ sundheitszustand, das Karzinom wurde von den Ärz-
Rosenkötter 1984/1994, 75 f.). Das betrifft nicht zu- ten als nicht mehr operierbar und unheilbar einge-
letzt auch Wilhelm Reich, einen bekennenden Kom- stuft (Jones III, 284). Am 1. August schloß er seine
munisten, der vermutlich wegen seiner politischen Praxis. Das letzte Buch, das Freud las, war Balzacs
Einstellungen unter Befürwortung Freuds, der wie- Erzählung Das Chagrinleder: »Das war das richtige
derum die Psychoanalyse politisch möglichst ›neu- Buch für mich; es handelt von Einschrumpfen und
tral‹ halten wollte, 1934 auf dem Luzerner Kongreß Verhungern« (zit. nach Schur 1972/1973, 619). Freud
aus der Vereinigung ausgeschlossen wurde – als sei in hatte seinem Vertrauensarzt Max Schur, der ihn
jener Situation politische Neutralität eine Option schon in Wien behandelt hatte, das Versprechen ab-
gewesen. genommen, daß, »wenn es mal so weit ist, […] Sie
Nach dem gewaltsamen »Anschluß« Österreichs an mich nicht unnötig quälen lassen« (ebd., 483). Im
das Deutsche Reich im März 1938 war auch Freud September 1939 war es so weit. Nachdem Schur mit
klar, daß er und seine Familie aufs äußerste bedroht Anna das Notwendige besprochen hatte, injizierte
waren. Eine Welle antisemitischer Exzesse ging durch Schur Freud am 21. und 22. mehrere Dosen Mor-
Wien; am 15. März wurden Freuds Wohnung und phin, die ein Koma bewirkten, aus dem Freud nicht
der Verlag durchsucht, eine Woche später mußte mehr erwachte. Er starb am frühen Morgen des 23.
Anna zum Verhör. »Anna bei Gestapo« (Freud September 1939. Freud hatte nicht warten wollen, bis
1992/1996, 62). Die Repression der neuen Machtha- Krankheit und Schmerz ihn vollends lähmen und
ber gegen sein liebstes Kind versetzte Freud in höch- zerrütten würden. Am Ende seiner Biographie erin-
sten Alarmzustand. Wien war jetzt tatsächlich zum nert Peter Gay an eine briefliche Äußerung Freuds
»Gefängnis« (F/E, 903) geworden, das es schnellst- gegenüber Oskar Pfister aus dem Jahr 1910: »Im Har-
möglich zu verlassen galt. Und Freud hatte, neben nisch laßt uns sterben, wie König Macbeth sagt« (F/P,
dem nach Rettung seiner Angehörigen, noch einen 33). Wie seine Biographen bevorzugte Freud die Me-
persönlichen Wunsch: »to die in freedom«, in Frei- taphorik von Heroismus und Kampf, wenn es um die
heit zu sterben (B, 459). Selbstcharakterisierung seines Lebens ging.
Mithilfe zuverlässiger Freunde wie Marie Bona-
parte und Ernest Jones, aber auch auf dem Weg di- Literatur
plomatischer Interventionen konnten Freud und Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächt-
seine Familie im Juni 1938 über Paris nach London nisspur. München/Wien 1998.
ausreisen, wo sie zunächst in einer provisorischen –: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheis-
mus. München/Wien 2003.
Bleibe in der Elsworthy Road, dann im hübschen Bernfeld, Siegfried: Freuds früheste Theorien und die Helm-
Haus 20 Maresfield Gardens, dem heutigen Freud- holtz-Schule [1944]. In: Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981,
Museum, ein neues Zuhause fanden. Die Begrüßung S. 54–77.
durch die englische Öffentlichkeit war überwältigend –: Freuds Kokain-Studien, 1884–1887 [1953]. In: Bernfeld/
Cassirer Bernfeld 1981, 198–236.
freundlich (Gay, 710), selbst traditionsbewußte Ärz- – /Suzanne Cassirer Bernfeld: Freuds frühe Kindheit [1944].
tezeitschriften wie der Lancet und das British Medical In: Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981, 78–92.
Journal hießen Freud aufs herzlichste willkommen – /Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik.
(Jones III, 271 f.). Es ist erstaunlich, daß Freud trotz Hg. von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1981.
Brunner, José: Psyche und Macht. Freud politisch lesen. Stutt-
der Aufregungen und Strapazen der zurückliegenden gart 2001 (engl. 1995).
Wochen und Monate in der Lage war, die durch die –: Oedipus Politicus: Freud’s Paradigm of Social Relations. In:
Abreise ins Londoner Exil unterbrochene Arbeit am Michael S. Roth (Hg.): Conflict and Culture. New York 1998,
Mann Moses unverzüglich wieder aufzunehmen 80–93.
Chotjewitz, Peter O.: Alles über Leonardo aus Vinci. Hamburg/
(Freud 1992/1996, 65). Und bereits im Juli 1938 be- Leipzig/Wien 2004.
gann Freud mit seinem Abriß der Psychoanalyse (GW Clark, Ronald W.: Sigmund Freud. Frankfurt a. M. 1981 (engl.
XVII, 63–138), der freilich unvollendet blieb und erst 1979).
76 Freud und seine Epoche

Dannecker, Martin/Agnes Katzenbach (Hg.): 100 Jahre Freuds jüdische Tradition und weibliche Emanzipation. Frankfurt
»Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«. Aktualität und An- a. M./New York 2005.
spruch. Gießen 2005. Krüll, Marianne: Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psy-
Decker, Hannah S.: Freud’s »Dora« Case: The Crucible of the choanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung. Frankfurt
Psychoanalytic Concept of Transference. In: Michael S. a. M. 1992.
Roth (Hg.): Conflict and Culture. New York 1998, Le Rider, Jacques: Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die
105–114. Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne. Wien 2004
Der Spiegel: Hatte Freud doch recht? Hirnforscher entdecken (frz. 2002).
die Psychoanalyse. In: Der Spiegel Nr. 16, 18. 4. 2005, Lohmann, Hans-Martin: Sigmund Freud [1998]. Reinbek
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Psyche 48 (1994), 154–159 (frz. 1992). Städel-Jahrbuch 13 (1991), 155–176.
Herding, Klaus: Freuds Leonardo. Eine Auseinandersetzung mit Wittels, Fritz: Sigmund Freud. Der Mann, die Lehre, die Schule.
psychoanalytischen Theorien der Gegenwart. München Leipzig/Wien/Zürich 1924.
1998. Yovel, Yirmiyahu: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göt-
Kaplan-Solms, Karen/Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse. Eine tingen 1994 (engl. 1989).
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Kollbrunner, Jürg: Der kranke Freud. Stuttgart 2001. rung. In: Psyche 53 (1999), 371–191 (engl. 1996).
Konz, Britta: Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für Hans-Martin Lohmann
77

II. Werke und Werkgruppen


1. Frühe Schriften

1.1 Die sogenannten und seine phylogenetische Betrachtungsweise zeigen


(Wiest/Baloh 2002). Mit diesen Arbeiten erwarb
voranalytischen Schriften Freud den akademischen Titel eines Privatdozenten,
konnte eine Privatpraxis als Neurologe eröffnen und
Wann, wo und durch wen der Ausdruck ›voranaly- die Leitung der neurologischen Abteilung am öffent-
tisch‹ zur Bezeichnung von Freuds Frühwerk einge- lichen Kinderkrankeninstitut von Max Kassowitz
führt worden ist, ist nicht genau zu klären. Sofern übernehmen (Eissler 1966; Gickelhorn 1960). Zehn
Freud selber diesen Ausdruck benutzte, wollte er da- Jahre lang, von 1886 bis 1896, arbeitete er an diesem
mit einen Zeitraum markieren, in dem das Psychi- Institut drei Tage pro Woche mit hysterischen Kin-
sche noch nicht als eigenständiger Bereich im Zen- dern, eine pädiatrische Arbeit, deren Bedeutung für
trum seines Interesses stand (Grubrich-Simitis 1993, die Entstehung der Psychoanalyse in der Regel bisher
349). In späteren Jahren stand Freud seinen frühen übersehen worden ist (Bonomi 1994). Ausgehend
Schriften eher skeptisch gegenüber und reagierte auf von seinen Erfahrungen am Kassowitzschen Institut,
die ersten Versuche, sie zu würdigen und bibliogra- publizierte Freud Studien über Cerebrallähmungen
phisch zu erfassen, negativ: »Denn ich weiß, die mei- bei Kindern, ein Thema, zu dem er 1897 seine letzte
sten von ihnen taugen wenig, einige aber nichts. [. . .] neurologische Arbeit veröffentlichte.
So z. B. die [. . .] über die Lappenorgane des Aals Zu Freuds voranalytischen Schriften sind auch
[Freud 1877], die man nur als ›läppisch‹ bezeichnen seine Übersetzungen für die von Theodor Gomperz
kann. Ebenso schlecht war Jahre später (1882) die herausgegebenen Gesammelten Werke von John Stu-
Arbeit über die Nervenelemente des Flußkrebses art Mill (»Über Frauenemanzipation«, »Plato«, »Die
[Freud 1882]. [. . .] Auch die hirnanatomischen Bei- Arbeiterfrage«, »Der Sozialismus«) und einiger Arbei-
träge [. . .] sind nicht mit jener Sorgfalt gearbeitet, die ten von Jean-Martin Charcot und Hippolyte Bern-
solche Studien erfordern«, schrieb er 1936 an Rudolf heim aus den 1880er und frühen 1890er Jahren zu
Brun (zit. nach Meyer-Palmedo/Fichtner 1999, 9). zählen. Seine erste Veröffentlichung überhaupt hat
Zunächst verfaßte der Student Freud zoologische K. R. Eissler 1974 wieder zugänglich gemacht. Es
Arbeiten, die immerhin in den Sitzungsberichten der handelt sich dabei um die in der Schülerzeitschrift
Akademie der Wissenschaften in Wien publiziert Musarion des Leopoldstädter Kommunalreal- und
wurden. In Brückes physiologischem Laboratorium Obergymnasiums veröffentlichten fünf Sentenzen,
arbeitete er an neurohistologischen Fragestellungen die unter dem Titel Zerstreute Gedanken 1871 erst-
und entwickelte verbesserte Präparationstechniken mals gedruckt wurden (Freud 1871/1974, 101). Eiss-
(bibliographische Angaben zu diesen und den fol- ler und Klaus Schröter haben den Maximen und Re-
genden Arbeiten in ebd., 15 ff.). 1924 äußerte er über flexionen des Gymnasiasten Freud ausführliche Stu-
diese Zeit gegenüber Karl Abraham: »Es ist eine dien gewidmet (Eissler 1974, Schröter 1974).
starke Zumutung an die Einheit der Person, daß ich Es ist auch heute noch nicht möglich, den genauen
mich mit dem Autor der Arbeit über die Spinalgan- Umfang von Freuds Frühwerk zu bestimmen. Wer-
glien von Petromyzon identisch fühlen soll. Indes, es den in den Inhaltsangaben der wissenschaftlichen Ar-
dürfte doch so sein, und ich glaube, ich war über beiten des Privatdocenten Dr. Sigm. Freud 1877–1897
diesen Fund glücklicher als seither über andere« (GW I, 461–488) etwa 30 Arbeiten aufgezählt, die
(F/A, 343). Als Sekundararzt bei Meynert beschäf- nicht in die Gesammelten Werke aufgenommen wor-
tigte sich Freud mit neuroanatomischen Arbeiten, die den sind, so finden sich in der von Ingeborg Meyer-
seine experimentelle Befähigung, seine genaue Palmedo 1975 herausgegebenen Sigmund Freud-Kon-
Kenntnis des damals aktuellen Forschungsstandes kordanz und -Gesamtbibliographie bereits über 50 Ti-
78 Werke und Werkgruppen

tel (Meyer-Palmedo 1975) und in der zweiten Auflage wohl machten es sich die ersten Historiker der Psy-
der von Meyer-Palmedo und Gerhard Fichtner 1999 choanalyse zur Angewohnheit, Freuds wissenschaft-
herausgegebenen verbesserten Auflage der Freud-Bi- liche Laufbahn in eine vorpsychoanalytische und in
bliographie mit Werkkonkordanz von 1989 über 160 eine psychoanalytische Periode einzuteilen und das
Titel (Meyer-Palmedo/Fichtner 1999). Es ist anzu- Frühwerk weithin zu ignorieren. Die Psychoanalyse-
nehmen, daß in den kommenden Jahren noch wei- Historiker, schreibt Henry F. Ellenberger, »sahen in
tere unbekannte Arbeiten Freuds auftauchen wer- Freud einen Neurologen, der seinen Beruf aufgege-
den. ben hat, um eine neue Psychologie zu begründen«
Freuds Entschluß, seine zoologischen, histologi- (Ellenberger 1970/1996, 649).
schen, neuroanatomischen und neuropathologischen Erst später erkannte man in den Schriften aus der
Arbeiten in die Gesammelten Schriften nicht aufzu- ersten Arbeitsperiode Freuds eine Arbeits- und For-
nehmen, sollte wohl die Stellung der Psychoanalyse schungsperspektive, deren Kenntnis zum Verständnis
als eine von ihm entwickelte, neue und eigenständige des geistigen Ursprungsortes der Psychoanalyse not-
Wissenschaft hervorheben. Auch die Herausgeber der wendig ist. Der erste, der Freuds wissenschaftliche
Gesammelten Werke hielten sich an Freuds Wunsch: Anfänge systematisch erforscht hat, war Siegfried
»Die Absicht der Herausgeber, einige der voranalyti- Bernfeld (Bernfeld 1944/1981; 1949/1981). Er ver-
schen Arbeiten Freuds in die ›Gesammelten Werke‹ faßte und publizierte, teils zusammen mit seiner Frau
aufzunehmen, wurde nach Besprechung mit dem Suzanne Cassirer Bernfeld, zwischen 1944 und 1953
Autor auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wieder eine Reihe grundlegender Studien zur Biographie
fallengelassen«, notierte Anna Freud (GW I, VI). Als Freuds, die für alle späteren Freud-Biographen weg-
Alexander Mitscherlich in den 1960er Jahren vor- weisend waren (Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981).
schlug, die voranalytischen Schriften in eine damals Frank J. Sulloway legte 1979 eine ausführliche Studie
geplante historisch-kritische Freud-Gesamtausgabe über die Anfänge von Freuds wissenschaftlicher Tä-
aufzunehmen, wurde dieser Vorschlag unter Beru- tigkeit vor (Sulloway 1979/1982), und im Gegensatz
fung auf Freuds negative Einstellung abgelehnt (Gru- zu einer Sichtweise, wie sie vor allem Ernest Jones in
brich-Simitis 1993, 79). Alle späteren Versuche, diese seiner Freud-Biographie (Jones I–III) vertreten hat,
Schriften im Rahmen einer Gesamtausgabe zu ver- die eine immerwährende wechselseitige Feindselig-
öffentlichen, sind bisher gescheitert (ebd., 78 ff.), und keit zwischen Freud und der akademischen Medizin
auch die von Sigmund Freud Copyrights für 2001 unterstellt, konnte Ulrike May anhand der Früh-
angekündigte, von Mark Solms vorbereitete und schriften nachweisen, daß Freud die Anfänge seiner
kommentierte Gesamtausgabe aller neurowissen- Metapsychologie und seiner klinischen Theorie in
schaftlichen Arbeiten Freuds ist bisher nicht erschie- ständiger Auseinandersetzung mit den von der Neu-
nen. In vier Bänden sollen über 120 Arbeiten aus den ropathologie und Psychiatrie im Wien des ausgehen-
Jahren 1876 bis 1900, die zum Großteil seit ihrer den 19. Jh.s vertretenen Auffassungen entwickelt hat
Erstveröffentlichung nicht mehr ediert worden sind, (May-Tolzmann 1996). Mark Solms kommt in einer
gleichzeitig auf Englisch und Deutsch wieder veröf- mit Michael Saling veröffentlichten Arbeit über zwei
fentlicht und damit für die Forschung leichter zu- frühe Schriften Freuds (Freud 1888) zu dem Schluß,
gänglich gemacht werden. Einige Arbeiten wurden in daß Freud seine Konzepte zwar unterschiedlichsten
den 1987 bei S. Fischer erschienen Nachtragsband zu Quellen entnommen, seine psychologische Theorie
den Gesammelten Werken aufgenommen, und Ingrid aber, die davon ausgeht, daß psychische Prozesse nur
Kästner und Christina Schröder publizierten 1989 unabhängig von ihren organischen Grundlagen ver-
eine Reihe von voranalytischen Arbeiten Freuds standen werden können, von allem Anfang an unab-
(Kästner/Schröder 1989). hängig von irgendwelchen neurophysiologischen Sy-
Die ablehnende Haltung Freuds und seiner geisti- stemen entwickelt hat (Solms/Saling 1990).
gen Erben hat dazu geführt, daß das Frühwerk lange Erst in den letzten Jahren ist ein deutlich zuneh-
Zeit wenig beachtet worden ist. Zwar hatte Freud, als mendes Interesse am Frühwerk Freuds festzustellen.
ihn Smith Ely Jelliffe 1937 um Unterstützung bei der So fand im Mai 1995 in Gent ein internationaler
Zusammenstellung seiner voranalytischen Schriften Kongreß über Freuds voranalytische Schriften statt,
bat, geschrieben, daß er, Jelliffe, damit eine wenig aus dem eine französische (Geerardyn/Van de Vijer
dankbare Aufgabe übernehme, die aber insofern von 1998) und eine englische Veröffentlichung (Van de
Nutzen sein könne, als sie dokumentiere, daß er, Vijer/Geerardyn 2002) hervorgegangen sind. Das
Freud, die Psychoanalyse nicht aus dem Hut gezau- verstärkte Interesse am frühen Freud ist aber vor al-
bert habe (Meyer-Palmedo/Fichtner 1999, 9). Gleich- lem auf die Annäherung von Psychoanalyse und
Die Kokain-Schriften 79

Neurowissenschaften zurückzuführen, wobei immer Schröter, Klaus: Maximen und Reflexionen des jungen Freud.
In: Eissler 1974, 129–186.
deutlicher Entsprechungen und Schnittstellen zwi- Solms, Mark/Michael Saling: A Moment of Transition. London/
schen den beiden ursprünglich getrennten und me- New York 1990.
thodisch unterschiedlichen Theorieansätzen zu be- Solms, Mark: Une introduction aux travaux neuroscientifiques
obachten sind. Neurowissenschaftler sprechen heute de Freud. In: Geerardyn/Van de Vijer 1998, 23–42; engl.: An
Introduction to the Neuroscientific Works of Sigmund Freud.
von Verdrängung, Abwehr oder Trauma, und Psycho- In: Van de Vijer/Geerardyn 2002, 17–35.
analytiker bestätigen die neuesten Ergebnisse der Ge- Sulloway, Frank J.: Freud. Biologe der Seele. Jenseits der psycho-
hirnforschung. Ob allerdings Bewußtsein und Unbe- analytischen Legende. Köln 1982 (engl. 1979).
wußtes aus einer gemeinsamen psychoanalytisch- Van de Vijer, Gertrudis/Filip Geerardyn (Hg.): The Pre-psycho-
analytic Writings of Sigmund Freud. London 2002.
neurowissenschaftlichen Perspektive verstanden wer- Wiest, Gerald/Robert W. Baloh: Sigmund Freud and the VIIIth
den können und welche neuen Aussichten sich aus Carnial Nerve. In: Otology & Neurotolgy 23 (2002),
der Zusammenarbeit der beiden Disziplinen letztlich 228–232.
ergeben werden, ist heute noch schwer abzusehen. Thomas Aichhorn

Literatur
Bernfeld, Siegfried: Freuds früheste Theorien und die Helm-
holtz-Schule [1944]. In: Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981,
54–77.
–: Freuds wissenschaftliche Anfänge [1949]. In: Bernfeld/Cas- 1.2 Die Kokain-Schriften
sirer Bernfeld 1981, 112–147.
– /Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik. Zwischen 1884 und 1887 veröffentlichte Freud fünf
Hg. von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1981.
Bonomi, Carlo: Why have we Ignored Freud the »Paediat-
Arbeiten über das Tropanalkaloid Kokain: Über Coca
rician«? The Relevance of Freud’s Paediatric Training for the (1884; 1885 mit Nachträgen), Beitrag zur Kenntnis
Origins of Psychoanalysis. In: André Haynal/Ernst Falzeder der Cocawirkung (1885), Über die Allgemeinwirkung
(Hg.): 100 Years of Psychoanalysis. Genf 1994. des Cocains (1885), Gutachten über das Parke Cocain
Eissler, K. R.: Sigmund Freud und die Wiener Universität.
Bern/Stuttgart 1966.
(1885) und Bemerkungen über Cocainsucht und Co-
–: Psychoanalytische Einfälle zu Freuds »Zerstreute(n) Gedan- cainfurcht mit Beziehung auf einen Vortrag W. A.
ken«. In: Ders. (Hg.): Aus Freuds Sprachwelt und andere Bei- Hammonds (1887). Eine weitere, in englischer Spra-
träge. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 2 (1974), che abgefaßte Schrift, Cocaine (1884), wird gelegent-
103–128.
Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Zürich
lich, z. B. von Grinstein (1971), Freud zugeschrieben,
1996 (engl. 1970). was freilich nur geringe Plausibilität hat (Freud
Freud, Sigmund: Zerstreute Gedanken [1871]. In: Eissler 1974, 1884–1887/1996, 136 ff.).
101. Freuds Beschäftigung mit Kokain fällt in seine Zeit
–: Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als
Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals. In: Sitzungs-
als Assistenzarzt am Wiener Allgemeinen Kranken-
bericht der Akademie der Wissenschaft Wien (Math.-Natur- haus. Um sich als Arzt zu etablieren und eine Familie
wiss. Kl.). 1. Abt., Bd. 75 1877, 419–431. gründen zu können, hoffte Freud, etwas Neues zu
–: Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim entdecken, »was die Welt in Atem hält« und ihm
Flußkrebs. In: Sitzungsbericht der Akademie der Wissen-
schaft Wien (Math.-Naturwiss. Kl.). 3. Abt., Bd. 85 1882,
»den Zulauf […] des geldzahlenden Publikums ein-
9–46. trägt« (B, 106). Dieses Neue war das aus der Koka-
–: Aphasie; Gehirn [unsignierte Artikel]. In: Albert Villaret pflanze gewonnene und damals in seiner Wirkung
(Hg.): Handwörterbuch der gesamten Medizin. Bd. 1. Stutt- noch wenig bekannte Gift Kokain. Freud konnte auf-
gart 1888, 88–90, 684–697.
Geerardyn, Filip/Gertrudis Van de Vijer (Hg.): Aux Sources de
grund vorhergehender Forschungsarbeiten über Ko-
la Psychanalyse. Paris 1998. kain davon ausgehen, daß die Substanz als Arznei-
Gicklhorn, Josef/Renée Gicklhorn: Sigmund Freuds akademi- mittel brauchbar und in kleinen Dosen ungiftig war.
sche Laufbahn. Wien/Innsbruck 1960. Was fehlte, waren Selbstversuche und klinische Er-
Grubrich-Simitis, Ilse: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Doku-
mente sprechen machen. Frankfurt a. M. 1993.
probung des Pharmakons, die Freud unverzüglich in
Kästner, Ingrid/Christina Schröder: Sigmund Freud Angriff nahm. In Über Coca heißt es: »Ich habe diese
(1856–1939). Hirnforscher. Neurologe. Psychotherapeut. Aus- gegen Hunger, Schlaf und Ermüdung schützende
gewählte Texte. Leipzig 1989. und zur geistigen Arbeit stählende Wirkung des Coca
May-Tolzmann, Ulrike: Freuds frühe klinische Theorie. Tübin-
gen 1996.
etwa ein dutzendmal an mir selbst erprobt« (Freud
Meyer-Palmedo, Ingeborg: Sigmund Freud-Konkordanz und 1884–1887/1996, 63). Auch in den Briefen an seine
-Gesamtbibliographie. Frankfurt a. M. 1975. Verlobte Martha Bernays ist mehrfach von Kokain-
– /Gerhard Fichtner: Freud-Bibliographie mit Werkkonkor- konsum und dessen stimulierender Wirkung die
danz. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Frankfurt
a. M. 1999.
Rede. Den klinischen Test machte Freud an einer
80 Werke und Werkgruppen

eher zufälligen Auswahl von Kollegen, Patienten und präparate herstellte und in scharfer Konkurrenz zur
Familienangehörigen (Jones I, 105). Firma Merck stand. Gegen ein Honorar von sechzig
Die im Juli 1884 erschienene Arbeit Über Coca ist Gulden veröffentlichte Freud seine Stellungnahme
die wichtigste und umfangreichste aus der Reihe der im Rahmen eines von anderer Hand verfaßten Arti-
Freudschen Kokain-Studien. Sie referiert ausführlich kels, der mehr den Charakter einer Werbeschrift als
die wissenschaftliche Literatur über das Thema, die einer wissenschaftlichen Information trägt (ebd.,
Herkunft der Kokapflanze, ihre Verwendung durch 111 f.). Zwei Jahre später, 1887, publizierte Freud
die lateinamerikanischen Indianer, den Transfer nach seine letzte Kokain-Studie, in der er seine früher for-
Europa und die chemische Gewinnung von Kokain, mulierten Positionen noch einmal verteidigte und
dessen Wirkungen bei Tieren und Menschen sowie vor allem auf die inzwischen lebhafte öffentliche Dis-
seine therapeutische Anwendung. Die Schrift er- kussion über Kokainsucht und die dadurch ausge-
schließt wissenschaftliches Neuland und wurde in lösten Ängste einging.
der Folge immer wieder anerkennend zitiert. Sie en- Freuds Beschäftigung mit Kokain haftet bis heute
det mit einem hoffnungsvollen Hinweis Freuds: »An- der Ruch eines Mißbrauchs und einer Übertretung
wendungen, die auf der anästhesierenden Eigenschaft an (vgl. z. B. Shepherd 1985/1986, 21), was wohl
des Cocains beruhen, dürften sich wohl noch meh- nicht zuletzt damit zu tun hat, daß inzwischen die
rere ergeben« (ebd., 83). toxischen und suchterzeugenden Potenzen des Ko-
Auf genau diesem Feld aber, dem der Anästhesie, kains wohlbekannt sind, was zu Freuds Zeit noch
kam Freud zu spät. Denn inzwischen hatte der Wie- längst nicht so eindeutig der Fall war. Erst die Ko-
ner Ophthalmologe Carl Koller, durch Freuds Stu- kainwellen vor und nach dem Ersten Weltkrieg führ-
dien auf das Kokain aufmerksam geworden, die lo- ten dazu, den Gebrauch der Droge zu ächten und sie
kalanästhesistische Wirkung des Kokains am Auge rechtlich den gefährlichen Opiaten gleichzustellen
entdeckt und seine Entdeckung Anfang September (Hirschmüller 1996, 33). Hinzukommt ein Vorfall,
1884 umgehend publiziert. Koller wurde über Nacht der Freuds Ruf zusätzlich geschadet hat (Bernfeld
berühmt und für seine bahnbrechende Leistung – die 1953/1981, 202 f.; Hirschmüller 1996, 27 ff.). Er ver-
Einführung der Lokalanästhesie in der Chirurgie – in suchte nämlich seit seinen ersten Experimenten mit
der ganzen Welt gefeiert (Bernfeld 1953/1981, 209 f.; Kokain im Frühjahr 1884, seinen morphinabhängi-
Hirschmüller 1996, 17). Zwar vergaß Koller nicht, gen Kollegen und Freund Ernst Fleischl von Marxow
Freuds wichtige Vorarbeit zu erwähnen, aber für mithilfe des Kokains von seiner Sucht zu heilen, und
Letzteren blieb doch nicht viel mehr als eine herbe er war vom Erfolg zunächst überzeugt. Erst später
Enttäuschung, wie eine briefliche Äußerung gegen- mußte er erkennen, daß Fleischl heimlich regelmäßig
über seiner künftigen Schwägerin Minna Bernays Kokain nahm und somit von der Morphin- zur Ko-
(Freud/Bernays 2005, 96) und eine Bemerkung in der kainabhängigkeit übergewechselt war. Um ihn nicht
Traumdeutung (GW II/III, 176) belegen. Freud sei- öffentlich bloßzustellen, verzichtete Freud im folgen-
nerseits stand in seinem wenig später publizierten den darauf, den Fehlschlag seines therapeutischen
Beitrag zur Kenntnis der Cocawirkung nicht an zu Versuchs einzugestehen und damit Fleischl als ko-
konzedieren, daß nicht er selbst, sondern Koller »den kainsüchtig zu brandmarken. Erst in seiner letzten
glücklichen Gedanken gefaßt« habe, »durch das Co- Kokain-Studie von 1887 spricht Freud in allgemeiner
cain […] eine vollständige Anästhesie und Analgesie Form vom traurigen Ergebnis des Versuchs, »den
der Cornea und Conjunctiva zu erzeugen […]« Teufel durch Beelzebub auszutreiben« (Freud 1884–
(Freud 1884–1887/1996, 89). 1887/1996, 125). Bereits 1885 hatte der deutsche
Freuds zweite Kokain-Studie befaßt sich mit der Arzt Albrecht Erlenmeyer die therapeutische Wir-
Untersuchung eines Nebenalkaloids des Kokains, des kung des Kokains bei Morphiumsüchtigen öffentlich
Ecgonins, wozu ihn die Herstellerfirma Merck in bezweifelt und die Kokainsucht als »würdige dritte
Darmstadt gegen Honorar beauftragt hatte. Die Geißel der Menschheit« neben Morphiumsucht und
dritte Schrift resümiert im wesentlichen die Resultate Alkoholismus gestellt (zit. nach Hirschmüller 1996,
der beiden vorhergehenden Studien und hebt den 32).
Wert des Kokains für die Psychiatrie hervor. Neu ist, Im Rückblick hat Freud seine frühen Kokain-Stu-
daß Freud hier ausdrücklich die subkutane Injektion dien offenbar mit einer gewissen Distanz und Ambi-
bei Entziehungskuren, etwa bei Morphinabhängig- valenz betrachtet. In einem Brief an seinen Biogra-
keit, empfiehlt (ebd., 106). Die folgende Schrift ist phen Fritz Wittels vom 18. Dezember 1923 bezeich-
ein vergleichendes Gutachten für die amerikanische nete er seine Arbeit über Koka als ein »Allotrion, mit
Firma Parke, Davis & Co., die verschiedene Kokain- dem ich bald abschließen wollte […]« (Nachtr., 756).
Zur Auffassung der Aphasien 81

Drei Jahre vor seinem Tod unterschied er Rudolf (1956/1979, 124); Jones’ auf eine Untersuchung von
Brun gegenüber zwischen der ersten und den wei- Jelliffe gestütztes Urteil, Freuds Buch sei unter den
teren Kokain-Studien, die nie hätten veröffentlicht Aphasieforschern kaum wahrgenommen worden
werden sollen – Freud rubriziert sie unter »Jugend- (Jones I, 257), widerspricht Wolfgang Leuschner ex-
sünden« (zit. nach Hirschmüller 1996, 36). Auch die plizit für die engere Fachdiskussion (Leuschner 1992,
einschlägigen Passagen der »Selbstdarstellung« (GW 7). Freud selbst ist außer in dem 1893 auf französisch
XIV, 38 f.) mit ihren charakteristischen Auslassungen veröffentlichten Aufsatz Quelques considérations pour
– Freud geht lediglich auf Kollers Triumph und auf une étude comparative des paralysies motrices orga-
den ihm selber entgangenen Gewinn ein, wofür er niques et hystériques (GW I, 41, 44 f., 48 f., 51) über
ironisch seine Braut verantwortlich macht (vgl. die Abgrenzung hysterischer von physisch bedingten
Gundlach/Métraux 1979, 437) – deuten darauf hin, Lähmungen thematisch nicht mehr auf das Werk ein-
daß Freud später Schwierigkeiten damit hatte, die gegangen. In der »Selbstdarstellung« bezeichnet er es
psychotropen Eigenschaften des Kokains zu themati- als »kleines kritisch-spekulatives Buch« und Neben-
sieren, für die er sich ursprünglich interessiert und produkt der Arbeit an einem Wörterbuchartikel
die er an sich selbst ausprobiert hatte. In der Freud- (GW XIV, 41 f.). Besagter Artikel über »Aphasie« ist
Nachfolge hat man die zwiespältige Haltung des Au- 1888 in Villarets Handwörterbuch der gesammten Me-
tors der Kokain-Schriften verinnerlicht und diese dicin erschienen. Eine Zusammenfassung des Buches
stillschweigend auf sich beruhen lassen. Es dauerte findet sich in dem von Freud zum Zweck seiner Ha-
mehr als hundert Jahre, bis sie erstmals vollständig bilitation eingereichten Abriß seiner Publikationen
nachgedruckt und damit der Öffentlichkeit wieder (GW I, 472 f.). Das Werk selbst wurde nicht in die
zugänglich gemacht wurden (Freud 1884–1887/ Ausgabe der Gesammelten Werke aufgenommen; eine
1996). separate Neuausgabe ist 1992 erschienen.
Geringe Beachtung fand die Schrift folglich in der
Literatur Psychoanalyse selbst; sie wurde von vornherein unter
Bernfeld, Siegfried: Freuds Kokain-Studien, 1884–1887 [1953]. die »neurologischen« Arbeiten Freuds eingeordnet.
In: Siegfried Bernfeld/Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine
der Freud-Biographik. Hg. von Ilse Grubrich-Simitis. Frank-
Dieses Urteil ist voreilig. Denn obgleich sich Freud
furt a. M. 1981, 198–236. auf das Feld der pathologischen Anatomie begibt, be-
Freud, Sigmund: Schriften über Kokain [1884–1887]. Hg. und reitet sein Buch letztlich doch einer psychologischen
eingel. von Albrecht Hirschmüller. Frankfurt a. M. 1996. Behandlung der Aphasie das Feld. Seitdem Broca
– /Minna Bernays: Briefwechsel 1882–1938. Hg. von Albrecht
Hirschmüller. Tübingen 2005.
1861 durch einen Sektionsbefund nachweisen
Grinstein, Alexander: Freud’s First Publications in America. In: konnte, »daß Läsion der dritten [. . .] linken Frontal-
Journal of the American Psychoanalytical Association 19 windung völligen Verlust oder höchstgradige Ein-
(1971), 241–264. schränkung der artikulierten Sprache – bei sonstiger
Gundlach, Horst/Alexandre Métraux: Freud, Kokain, Koller
und Schleich. In: Psyche 33 (1979), 434–451.
Intaktheit der Intelligenz und der anderen Sprach-
Hirschmüller, Albrecht: Einleitung zu: Freud 1884–1887/1996, funktionen – zur Folge hat« (Freud 1891/1992, 40),
9–39. ist die Erforschung der Aphasie von der anatomi-
Shepherd, Michael: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund schen Pathologie und im besonderen von der Loka-
Freud. Rheda-Wiedenbrück 1986 (engl. 1985).
lisationshypothese beherrscht. Letztere unterstellt die
Hans-Martin Lohmann materielle Speicherung der Sinneseindrücke z. B. auf
zellularer Ebene, zumindest aber die Verortbarkeit
psychischer Funktionen in den verschiedenen Rin-
denbezirken des Gehirns. Freud setzt sich gezielt mit
1.3 Zur Auffassung den Arbeiten von C. Wernicke auseinander, die von
der Aphasien (1891) den anatomischen Modellen des Hirnaufbaus seines
eigenen akademischen Lehrers Th. Meynert beein-
Bei dieser Arbeit handelt es sich um Freuds erste mo- flußt sind. Wernicke hatte nicht nur 1874 das »Ge-
nographische Veröffentlichung. Der etwa 100 Seiten genstück zur Brocaschen Aphasie« entdeckt, »den
umfassenden Schrift war zunächst kein großer Erfolg Verlust des Sprachverständnisses bei erhaltener Fä-
beschieden; nach Jones wurden von 850 gedruckten higkeit, sich der artikulierten Sprache zu bedienen«
Exemplaren binnen neun Jahren 257 verkauft; der (ebd.), sondern der daraus folgenden Unterschei-
Rest wurde eingestampft (Jones I, 257). Sachliche Be- dung zwischen motorischer und sensorischer Apha-
zugnahmen findet man z. B. bei Bergson (Bergson sie noch einen dritten Typus hinzugefügt: die Lei-
1896/1982, 117), Goldstein (1971, 42) und Jakobson tungsaphasie. Diese Untergliederung beruht eben auf
82 Werke und Werkgruppen

der festen »Lokalisierung« von motorischem und über das Klangbild in einem Bezug zu den »Objekt-
sensorischem Zentrum auf der Hirnrinde und der assoziationen« steht. Sowohl in die Wortvorstellung
Notwendigkeit einer koordinierenden Vermittlung als auch in die »Objektvorstellung« gehen vielfältige
zwischen beiden mittels sog. ›weißer Fasern‹. Im An- »Elemente visueller, akustischer und kinästhetischer
schluß an Wernicke hatte L. Lichtheim eine Typo- Herkunft« ein (122); dennoch unterscheiden sie sich
logie von sieben verschiedenen Aphasiestörungen deutlich: »Die Objektvorstellung erscheint uns also
aufgestellt. nicht als eine abgeschlossene, kaum als eine ab-
Freuds Vorgehen ist, in Ermangelung eigener ana- schließbare, während die Wortvorstellung uns als et-
tomischer Befunde, das einer Sekundärinterpreta- was Abgeschlossenes, wenngleich der Erweiterung
tion: In einer stets changierenden Argumentation Fähiges erscheint« (122). Daß hier eine Linie zu
zeigt er auf, daß Sektionsbefunde und die ärztliche Freuds späteren Erörterungen zum Verhältnis von
Beobachtung der Kranken häufig nicht übereinstim- Wortvorstellung und Sachvorstellung zu ziehen ist,
men. Als »unhaltbar« erweist sich v. a. die Leitungs- haben bereits die Herausgeber der Freudschen Studi-
aphasie (ebd., 55); Freuds Nachweis eines zusam- enausgabe erkannt und dem Text über Das Unbe-
menhängenden Sprachgebiets der Rinde macht ihre wußte (GW X, 263–303) den entsprechenden Passus
Annahme obsolet. Generell wären von der Lokalisa- aus der Aphasie-Schrift als Beilage hinzugefügt.
tionshypothese her scharf abgegrenzte Einbußen in Freuds eigene Typologie der Aphasien unterschei-
den sprachlichen Fähigkeiten Aphasiekranker zu er- det: »1. Eine Aphasie erster Ordnung, verbale Apha-
warten gewesen; zu beobachten ist aber vielmehr eine sie, bei welcher bloß die Assoziationen zwischen den
kontinuierliche und verteilte »Funktionsstörung, die einzelnen Elementen der Wortvorstellung gestört
auch durch nicht-materielle Schädigung zustande sind, und 2. eine Aphasie zweiter Ordnung, asymboli-
kommen könnte« (ebd., 71), und die Freud mit sche Aphasie, bei welcher die Assoziation von Wort-
Hughlings Jackson durch eine »solidarische Reak- und Objektvorstellung gestört ist« (Freud 1891/1992,
tion« des Sprachapparats erklärt. 122). Ein weiterer Typus, »Aphasien dritter Ordnung
Doch Freuds Arbeit ist über die Diskussion um die oder agnostische Aphasien« (123), gehört nicht mehr
Verursachung der Aphasie hinaus von Interesse. in den engeren Bereich der Sprachstörungen, weil es
Denn in ihr finden sich zentrale Argumentationen, in ihm um das Verhältnis »zwischen Objekt und Ob-
die bereits die spätere Metapsychologie indizieren, jektvorstellung«, also um eine Erkenntnisbeziehung,
und dezidierte Stellungnahmen zum Verhältnis von geht (123). Der von Jakobson als Gegensatz von syn-
Physiologie und Psychologie. Trotz des Bekenntnisses tagmatischer und paradigmatischer Ebene bzw. von
zum psychophysischen Parallelismus verwahrt sich Metaphorik und Metonymik beschriebene »Doppel-
Freud entschieden gegen jede »Verwechslung« und charakter der Sprache« (Jakobson 1956/1979, 119 ff.)
Übertragung von im Psychischen, etwa in der Ver- findet sich so bereits bei Freud erfaßt.
bindung der »Vorstellungen« untereinander, gelten- Erst aus der strukturalen Linguistik und Psycho-
den Verhältnissen auf die Beziehungen ihrer eventu- analyse ergab sich ein neues Interesse an Freuds
ellen physiologischen Substrate (ebd., 97 f.). In der Aphasie-Schrift. In Frankreich bemühte man sich im
Auseinandersetzung mit der Lokalisationshypothese Umkreis Lacans um eine strukturale Rekonstruktion
gelangt Freud bereits hier zu der Einsicht, daß Emp- der frühen Sprachkonzeption Freuds mit dem Ziel,
findung und Assoziation topisch nicht zu trennen, die Psychoanalyse endgültig von biologistischen Re-
daß »beide Namen von einem einheitlichen und un- sten zu befreien (Nassif 1977); im deutschen Sprach-
teilbaren Prozeß abstrahiert« sind (ebd., 100). Man raum griff Lorenzer im Gegenteil die Aphasie-Schrift
kann eine direkte Linie zu Freuds späteren Überle- auf, um den Zusammenhang von Physiologie und
gungen zum Verhältnis von Spur, Erinnerung, Ge- Psychologie wiederherzustellen und »die umstands-
dächtnis und Bewußtsein ziehen. Freuds eigene Auf- lose Verwerfung des Freudschen Biologismus, in der
fassung der Aphasie beruht auf einer weiteren Aus- sich Ich-Psychologie und Lacan einig sind, [zu] kor-
arbeitung des Modells des Sprachapparats, dessen rigieren« (Lorenzer 2002, 85). Forrester zeichnete hi-
Aufbau genetisch über die verschiedenen Stufen des storisch und systematisch die Verbindung zwischen
Erlernens (Sprechen, Buchstabieren, Lesen, Schrei- dem Freudschen Verständnis von Aphasie und Hy-
ben usw.) und der jeweiligen Integration motorischer sterie nach (Forrester 1980/1985).
(»Sprachinnervationsbild«) und sensorischer (»Wort-
klangbild«) Momente rekonstruiert wird (117 ff.). Literatur
Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über
Freud gelangt so zu einem differenzierten »Psycho- die Beziehung zwischen Körper und Geist. Frankfurt a. M./
logische[n] Schema der Wortvorstellung« (121), die Berlin/Wien 1982 (frz. 1896).
Zur Auffassung der Aphasien 83

Forrester, John: Aphasie, Hysteria and the Talking Cure. In: Jakobson, Roman: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen
Ders.: Language and the Origins of Psychoanalysis [1980]. aphatischer Störungen. In: Ders.: Aufsätze zur Linguistik und
Basingstoke/London 1985, 1–39. Poetik. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979, 117–141 (engl
Freud, Sigmund: Aphasie. In: Albert Villaret (Hg.): Handwör- 1956).
terbuch der gesammten Medicin. Bd. I. Stuttgart 1888, Jelliffe, Smith Ely: Sigmund Freud as Neurologist. In: Journal of
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–: Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie [1891]. Leuschner, Wolfgang: Einleitung zu: Freud 1891/1992, 7–31.
Hg. von Paul Vogel, bearb. von Ingeborg Meyer-Palmedo, Lorenzer, Alfred: Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder:
eingel. von Wolfgang Leuschner. Frankfurt a. M. 1992. Sprache und Interaktion. Frankfurt a. M. 1973.
Goldstein, Kurt: Zur Frage der amnestischen Aphasie und ihrer –: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Stuttgart 2002.
Abgrenzung gegenüber der transcorticalen und glossopsy- Nassif, Jacques: Freud l’inconscient. Sur les commencements de
chischen Aphasie. In: Selected Papers/Ausgewählte Schriften. la psychanalyse. Paris 1977.
Den Haag 1971, 13–57. Stephan, Arnim: Sinn als Bedeutung. Bedeutungstheoretische
Gondek, Hans-Dieter: Aphasie und Angst – die Frühgeschichte Untersuchungen zur Psychoanalyse Sigmund Freuds. Berlin/
der Psychoanalyse. In: Ders.: Angst – Einbildungskraft – New York 1989.
Sprache. Ein verbindender Aufriß zwischen Freud, Kant, La- Hans-Dieter Gondek
can. München 1990, 27–87.
84

2. Hysterie-Studien

Das rätselhafte Erkrankungsbild der Hysterie, die weitgehend verschwunden und haben sich somit als
sich wegen ihrer auffällig wandlungsfähigen Sympto- zeit- und kulturbedingt erwiesen.
matik mit einem ›Paradiesvogel‹ vergleichen läßt Nach seiner Rückkehr aus Paris (1886) hatte sich
(Seidler 1996), war für Freud eine erste große Her- Freud zum Fürsprecher der Lehren Charcots ge-
ausforderung auf seinem Weg zur Psychoanalyse. Die macht. Erst in seinem Nachruf auf Charcot (1892)
klinischen Erfahrungen und theoretischen Konzepte, übte er Kritik an dessen ätiologischem Erklärungs-
die er an diesem Neurosentypus sammelte, legten konzept, das noch der Tradition der französischen
den Grundstein für seine Konzeption des Unbe- Degenerationslehre verhaftet war: »Charcot über-
wußten. schätzte die Heredität als Ursache so sehr, daß kein
Raum für die Erwerbung von Neuropathien übrig
blieb.« Deshalb werde an den ätiologischen Theorien
Entstehungskontext
Charcots »wohl bald zu rütteln und zu korrigieren
Ausgangspunkt für Freuds Neurosenforschung war sein« (GW I, 35). Wie Freud später erklärte, sei Char-
sein viermonatiger Studienaufenthalt (1885/86) bei cot »psychologischen Auffassungen nicht geneigt«
dem französischen Neurologen Charcot an der Pari- gewesen. Erst dessen Mitarbeiter Pierre Janet habe
ser Klinik Salpêtrière. Von diesem Zeitpunkt ab »ein tieferes Eindringen in die besonderen psychi-
rückte die von Charcot als ›Königin der Neurosen‹ schen Vorgänge bei der Hysterie« versucht. Josef
glorifizierte Hysterie in den Brennpunkt seiner For- Breuer und er seien dessen Beispiel gefolgt, als sie
schungsinteressen. Charcots hypnotische Experi- »die seelische Spaltung und den Zerfall der Persön-
mente hatten gezeigt, daß hysterische Symptome lichkeit« ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rückten
künstlich hervorgerufen und wieder rückgängig ge- (GW VIII, 17). Bei genauerer Betrachtung zeigte sich
macht werden können. Bei ihnen gelang der Nach- allerdings, daß Janet die von ihm erkannte Abfolge
weis, daß sie – in den Worten Freuds – »Erfolge von von ›Trauma‹, ›unbewußten fixen Ideen‹ und ›Be-
Vorstellungen seien, die in Momenten besonderer wußtseinsspaltung‹ nur auf die Entstehung der ›Zu-
Disposition das Gehirn des Kranken beherrscht hat- fallssymptome‹ bezog. Die eigentlichen Symptome
ten« (GW I, 34). Zu den Errungenschaften der Schule der Hysterie, die ›Stigmata‹, seien Ausdruck einer
der Salpêtrière, die Gilles de la Tourette (1891/1894) konstitutionell bedingten ›Einengung des Bewußt-
dokumentiert hat, gehören v. a. die klinische Sym- seinsfeldes‹ (Janet 1892/1894). Dagegen wandten
ptomatologie, die differentialdiagnostische Abgren- Freud und Breuer ein, daß sich Janets Auffassung
zung und die ätiologischen Beobachtungen hinsicht- »wesentlich in dem eingehenden Studium jener
lich des traumatogenen und ideogenen Ursprungs schwachsinnigen Hysterischen gebildet hat, die im
der Hysterie. Charcot war sich nach Freuds Einschät- Spitale oder Versorgungshause sind, weil sie ihrer
zung »des Sieges seiner Lehren von der Hysterie voll- Krankheit und ihrer dadurch bedingten geistigen
kommen sicher« und wiederholte bei verschiedenen Schwäche halber sich im Leben nicht halten können«
Gelegenheiten, »die Hysterie sei allerorten und zu al- (Nachtr., 291). Im Kontrast dazu hätten sich unter
len Zeiten die nämliche« (GW I, 33). Indessen erwies den von ihnen behandelten Hysterischen »die geistig
sich gerade diese – positivistische – Grundannahme klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kri-
eines quasi naturgesetzlichen Verlaufs der hysteri- tischsten Menschen gefunden« (GW I, 92).
schen Symptombildung zunehmend als fragwürdig. Breuer hatte in den Jahren von 1880 bis 1882 den
Die großen hysterischen Anfälle und die motorischen später berühmt gewordenen Hysterie-Fall der Anna
Lähmungen, die zu Charcots Zeiten das klinische O. behandelt und den 14 Jahre jüngeren Freud schon
Bild der Hysterie beherrscht hatten, sind im 20. Jh. 1882 in seine Therapie-Erfahrungen mit dieser Pa-
Hysterie-Studien 85

tientin eingeweiht. Der »Gegensatz zwischen der un- In seinem ursprünglichen Krankenbericht von
zurechnungsfähigen, von Halluzinationen gehetzten 1882 hatte Breuer notiert: »Sexuelles Element ist er-
Kranken am Tage und dem geistig völlig klaren Mäd- staunlich unterentwickelt; ich habe in den massen-
chen bei Nacht« hatte ihn immer wieder in stau- haften Hallucinationen auch nicht einmal dasselbe
nende Faszination versetzt. In seiner Falldarstellung vertreten gefunden. Jedenfalls ist sie noch nie verliebt
ist von ›Dissociation der geistigen Persönlichkeit‹ die gewesen, soweit nicht ihr Verhältnis zum Vater dieses
Rede; die Kranke sei in zwei Persönlichkeiten »zer- ersetzt hat oder vielmehr damit ersetzt war« (zit. n.
fallen« (Nachtr. 241 ff.). Dies zeigt, daß Breuer mit Hirschmüller 1978, 349). Als diese Falldarstellung
ähnlichen Phänomenen konfrontiert war, wie sie in später in den Studien über Hysterie veröffentlicht
der Geschichte der ›Dynamischen Psychiatrie‹, ange- wurde, fehlte allerdings dieser auf eine ödipale Ver-
fangen bei den Magnetiseuren Mesmer und Puysé- liebtheit in den Vater hindeutende Satz. In Breuers
gur, immer wieder beschrieben worden sind – als einfühlsamer Darstellung gewannen die Entgleisun-
›magnetische Krankheiten‹, ›multiple Persönlichkeit‹ gen im Gefühlsleben der Anna O. eine für die dama-
oder ›doppeltes Selbst‹ (Ellenberger 1973, 178 ff.). ligen Verhältnisse erstaunliche innere Logik und Ge-
Die Disposition für die spätere ›Bewußtseinsspal- schlossenheit, und man mußte den Eindruck haben,
tung‹ lag in Annas seit den Jugendjahren ausgepräg- als habe seine Therapie zu einem Heilungserfolg ge-
ter Neigung zum Tagträumen. Aus dieser Disposition führt. Auf Grund von Archivmaterial, v. a. aus dem
entwickelte sich in einem längeren Stadium, als sie Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, ließ sich jedoch
um ihren kranken Vater bangte und sich in der Pflege nachweisen, daß die Patientin nach der Therapie bei
für ihn verausgabte, eine Angsthalluzination, die Breuer noch mehrfach in stationärer Behandlung
nach dessen Tod zum Durchbruch kam. Zu Beginn war (vgl. Hirschmüller 1978, 152 ff. und 348 ff.).
der Behandlung litt sie an einem höchst intensiven
Husten. Bald folgten noch schwerere Symptome: u. a.
Freuds erster psychodynamischer
Sprechhemmungen bis hin zum Mutismus, Sehstö-
Erklärungsansatz der Hysterie
rungen sowie eine Kontraktur und Anästhesie des
rechten Armes, die sich auf das rechte und linke Bein Breuer selbst hat nur einen Fall von Hysterie behan-
und schließlich auch auf den linken Arm ausdehnte. delt. Er überwies aber Freud, der seit 1886 eine neu-
Die erste Entdeckung eines ›psychischen Mechanis- rologische Praxis führte, die neurologischen Fälle, bei
mus‹ gelang Breuer, als er erriet, daß Annas Mutis- denen er von hypnotischer bzw. analytischer Arbeit
mus mit einer Kränkung durch den Vater in Zusam- viel erwartete, und so wurde Freud nach und nach zu
menhang stand. Als er sie dazu brachte, ihm von dem einem Spezialisten in der Hysterie- und Neurosen-
Kränkungserlebnis zu erzählen, fiel die Sprechhem- therapie. In gemeinsamer Diskussion suchten sie, die
mung weg. Als Breuer sie bei seinen ärztlichen Besu- gewonnenen Erfahrungen theoretisch zu erfassen
chen mehrfach in einer Art Autohypnose antraf, er- und publizierten auf Freuds Initiative 1893 die als
kannte er, daß sie sich in diesen ›Absencen‹ jeweils ›Vorläufige Mitteilung‹ deklarierte Abhandlung Über
intensiv mit einem bestimmten, offenbar sehr priva- den psychischen Mechanismus hysterischer Phäno-
ten Thema beschäftigte, und gab ihr daraufhin gezielt mene. Zwei Jahre später erschien dieser Text, um vier
Stichworte, die sie zur Offenlegung ihrer geheimen lange Krankengeschichten, einen theoretischen
Gedanken veranlaßten. Das Aussprechen in der Au- (Breuer) und einen therapeutischen Teil (Freud) er-
tohypnose war stets mit einer spürbaren Erleichte- weitert, in den Studien über Hysterie (GW I, 75–312),
rung verbunden. Einmal erzählte Anna voller Ekel, die als ›Urbuch der Psychoanalyse‹ (Grubrich-Simitis
daß ihre Schwierigkeiten beim Hinunterschlucken 1995) gelten.
von Wasser begonnen hatten, als sie sah, wie der Breuers und Freuds Grundannahme war, daß die
kleine Hund ihrer Gouvernante Wasser aus einem meisten Symptome von Hysterie traumatisch bedingt
Glas trank: Nachdem sie ihren »steckengebliebenen seien. Unter einem ›psychischen Trauma‹ sei ein Er-
Ärger« zum Ausdruck gebracht hatte, trank sie unge- lebnis zu verstehen, das peinliche Affekte wie Angst,
hemmt eine große Menge Wasser und erwachte aus Scham, Ekel, Trauer usw. hervorruft. Zweite Voraus-
der Hypnose mit dem Glas an den Lippen; damit war setzung war die mangelnde ›Abreaktion‹ der trauma-
die Störung »für immer verschwunden« (Nachtr. tisch bedingten Affekte. Würden sie nicht adäquat
233). Die geistreiche Patientin bezeichnete ihre quä- bewältigt, sei es durch ein entlastendes Gespräch,
lenden Gedanken als ›clouds‹ (Wolken), und die the- durch eine Gefühlsentladung wie Klagen und Weinen
rapeutische Prozedur als ›talking cure‹ (Redekur) oder durch eine Rachehandlung, so bleibe »das
oder mit einer humoristischen Wendung als ›chim- psychische Trauma respektive die Erinnerung an das-
ney sweeping‹ (Kaminfegen).
86 Werke und Werkgruppen

selbe, nach Art eines Fremdkörpers« wirksam. Des- sicht auf Erfüllung ihres Wunsches, aber auch ohne
halb leide der Hysterische »größtenteils an Reminis- Mut, sich diesen Liebeswunsch und die Enttäu-
zenzen«, die seinem normalen Gedächtnis nicht zu- schung eingestehen zu können: »Ich wußte es ja nicht
gänglich seien (GW I, 95 f.). Für diese Annahme oder besser, ich wollte es nicht wissen, wollte es mir
sprach, daß die einzelnen hysterischen Symptome aus dem Kopfe schlagen […]« (GW I, 175). An dieser
immer dann beseitigt werden konnten, »wenn es ge- Stelle kommt die zur Lösung des inneren Konflikts
lungen war, die Erinnerung an den veranlassenden eingesetzte ›Verdrängung‹ zum Tragen. Die mit dem
Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch Ich unverträgliche Vorstellung werde »nicht zunichte
den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn gemacht, sondern bloß ins Unbewußte gedrängt«.
dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführli- Damit sei ein »Kern- und Kristallisationsmittelpunkt
cher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab« für die Bildung einer vom Ich getrennten psychi-
(GW I, 85). Je nach den Bedingungen, die eine solche schen Gruppe gegeben, um den sich in weiterer Folge
›kathartische‹ Affektabfuhr verhindert haben, wird alles sammelt, was die Annahme der widerstreiten-
zwischen Hypnoid- und Abwehrhysterie unterschie- den Vorstellung zur Voraussetzung hätte« (GW I,
den. Der ›Hypnoidhysterie‹ liege ein hypnoseähnli- 182).
cher (›hypnoider‹) Zustand zugrunde. Eine adäquate Die Bedeutung eines ›Initialbeispiels‹ für die Er-
– affektiv befreiende – Reaktion sei nicht möglich ge- kenntnis der Abwehrhysterie – eines in seiner Grund-
wesen, weil die pathogenen Vorstellungen »in schwe- struktur durchsichtig gemachten Einzelfalls, der auf
ren lähmenden Affekten« wie z. B. in fortdauernder das Typische einer Neurosenkonstellation abzielt
Angst oder »direkt in abnormen psychischen Zustän- (vgl. Schröter 1988, 152 f.) – kommt aber dem Fall
den, wie im halbhypnotischen Dämmerzustande des Elisabeth v. R. zu. Diese Patientin litt seit zwei Jahren
Wachträumens, in Autohypnosen u. dgl.« entstanden an starken Schmerzen in den Beinen und war da-
sind. Bei der ›Abwehrhysterie‹ komme hingegen des- durch im Gehen und Stehen behindert (Abasie/Asta-
halb keine Reaktion zustande, »weil es sich um Dinge sie). Sie war als jüngste von drei Schwestern aufge-
handelte, die der Kranke vergessen wollte, die er wachsen und fühlte sich sehr zum Vater hingezogen,
darum absichtlich aus seinem bewußten Denken ver- dem sie »einen Sohn und Freund« ersetzte. Er pro-
drängte, hemmte und unterdrückte« (GW I, 89 f.). phezeite ihr schon früh, daß sie es wegen ihres kecken
Die Beschreibung der Hypnoidhysterie war an und rechthaberischen Wesens nicht leicht haben
Breuers Modellfall der Anna O. orientiert. Diese Pa- werde, einen Mann zu finden. Auch sie selbst ver-
tientin habe in einem hypnoiden Gemütszustand spürte den starken Wunsch, sich ihre Freiheit nicht
traumatische Erfahrungen gemacht, die in ›unbe- durch eine Ehe beschneiden zu lassen. Andererseits
wußten Vorstellungen‹ ihren Niederschlag gefunden war sie von großem Stolz auf ihren Vater erfüllt und
und zu einer ›Spaltung der Psyche‹ geführt hätten. in ihrer Familienloyalität stets bereit, ihre eigenen
Eine solche Spaltung bestehe in rudimentärer Weise Wünsche zugunsten der Familieninteressen zurück-
bei jeder ›großen Hysterie‹ und die Fähigkeit und zustellen. Deshalb war sie sehr erschüttert, als ihr Va-
Neigung zu dieser Dissoziation sei ›das Grundphäno- ter schwer erkrankte und nach zweijähriger intensi-
men dieser Neurose‹ (Nachtr., 286). ver Pflege verstarb. Während eines anschließenden
Als typisches Beispiel einer nur durch traumati- Sommeraufenthalts der Familie traten plötzlich Eli-
sche Erlebnisse erworbenen Abwehrhysterie betrach- sabeths Beinschmerzen und ihre Gehschwäche auf.
tete Freud den Fall Lucy R. Ihr Hauptsymptom wa- Von jetzt ab war sie die ›Kranke‹ in der Familie.
ren quälende subjektive Geruchsempfindungen, die Aus dieser Lebensschilderung ergab sich noch kein
sie ständig verfolgten. Die Geruchsempfindung ver- hinreichender Aufschluß darüber, warum Elisabeth
brannter Mehlspeise ließ sich in der Therapie auf ei- eine schmerzhafte Abasie entwickelt hatte. Um in
nen inneren Konflikt zurückführen: Sie wollte ihre ›tiefere Schichten der Erinnerung‹ einzudringen,
Stellung als Gouvernante aufgeben, weil sie es im drückte Freud suggestiv mit der Hand an ihre Stirn
Haus ihres Dienstherrn nicht mehr aushielt, hing und forderte sie nachdrücklich auf, ihm zu sagen,
aber sehr an den lieben Kindern, denen sie die ver- welche Bilder und Erinnerungen während des Drük-
storbene Mutter ersetzen wollte. Gerade in einer Si- kens in ihr auftauchten: Die Patientin erinnerte sich
tuation, als dieser Konflikt aktualisiert wurde, unter- jetzt an einen Tanzabend, an dem ein junger Mann
lief ihr das Mißgeschick, daß sie die Mehlspeise an- sie aus einer Gesellschaft nach Hause begleitet hatte,
brennen ließ. Die weiteren Einfälle der Patientin an die Gespräche mit ihm und an die Empfindungen,
führten dann zu einem tiefer liegenden Konflikt. mit denen sie dann nach Hause zurückkehrte. Sie
Lucy hatte sich in den Hausherrn verliebt, ohne Aus- hatte sich spontan in ihren Tanzpartner verliebt und
Hysterie-Studien 87

sich der Hoffnung hingegeben, ihre Beziehung möge dem psychischen Trauma als Veranlassung, dem
in eine Ehe einmünden. Diesen Wünschen nachzu- nicht ›abreagierten‹ Affekt, der zentralen Dynamik
gehen, hätte jedoch bedeutet, ihren geliebten Vater der Verdrängung und der Konversion.
mit seiner Krankheit im Stich zu lassen. Auf diesen
Konflikt reagierte sie mit starken Selbstvorwürfen.
Annahmen zur ›sexuellen Ätiologie‹
Am nächsten Tag traten die Gehstörungen (als Ab-
der Hysterie bis zur ›Verführungshypothese‹
lehnung des Wunsches zu tanzen) zum ersten Mal
auf, hielten allerdings nicht lange an, vermutlich weil Auf der Suche nach bedeutsamen, noch nicht bewäl-
sie sich bald dazu durchgerungen hatte, auf ihre Nei- tigten Träumen seiner Patienten beobachtete Freud,
gungen zu verzichten. daß es sich dabei sehr häufig um sexuelle Erlebnisse
Nach dem Tod ihres Vaters verbrachte Elisabeth handelte. Diese Beobachtung veranlaßte ihn, das Se-
mit ihrer Familie einen gemeinsamen Urlaub. Einmal xualleben seiner Patienten systematisch zu erfor-
unternahm sie mit dem Ehemann der Schwester ei- schen. Dadurch rückte der Aspekt der Sexualität ins
nen längeren Spaziergang, auf dem sie sich im Ein- Zentrum seiner klinischen Beobachtungen und Hy-
klang mit allem fand, was er sagte. Nach der Rück- pothesenbildungen. Freud sah sich zunächst vor die
kehr traten heftige Schmerzen in den Beinen auf, Frage gestellt, ob die traumatisch bedingten Vorstel-
ähnlich wie damals nach dem Tanzvergnügen. We- lungen, die verdrängt werden mußten, in erster Linie
nige Tage später machte sie allein einen Spaziergang sexuellen Inhalt hatten und ob das Hauptmotiv der
zu einer herrlichen Aussichtsstelle. Ihre Einsamkeit Verdrängung in sexueller Scheu und Ablehnung bzw.
war ihr schmerzlich bewußt, und sie sehnte sich nach in moralischen Skrupeln und Schuldgefühlen zu se-
einer ähnlich glücklichen Verbindung, wie sie offen- hen sei.
bar zwischen ihrer Schwester und ihrem Schwager Im therapeutischen Teil der Studien über Hysterie
bestand. Nach diesem Ausflug traten wiederum hef- gab er eine knappe Einschätzung der dortigen Kran-
tige Schmerzen auf, die sich am Abend desselben Ta- kengeschichten unter sexuellem Gesichtspunkt. Die
ges noch verstärkten und seither chronisch blieben. Fälle Anna O. und Elisabeth von R. seien noch nicht
Kurze Zeit später starb die Schwester unerwartet. In unter dem neueren Aspekt der Sexualneurose er-
der weiteren therapeutischen Arbeit gelang es Freud, forscht worden. Bei Lucy R. habe eine Hysterie »bei
eine wichtige Erinnerung freizulegen. Am Totenbett unverkennbar sexueller Ätiologie« vorgelegen (GW I,
der Schwester war bei Elisabeth plötzlich der Ge- 257 f.). Die einzige Ausnahme bildete der Fall Katha-
danke aufgetaucht, daß der Schwager jetzt frei sei rina, in dem gerade das Problem der sexuellen Trau-
und sie seine Frau werden könne; aber sie hatte die matisierung und Verdrängung zum Tragen kam.
aufkommenden Liebes- und Heiratswünsche so- Freud hatte im Sommer 1893 einen Berg in den
gleich wieder beiseite geschoben. Hohen Tauern bestiegen und genoß die Aussicht, als
Auf diesem Weg erkannte Freud einen Zusammen- er von Katharina, der 18jährigen Tochter einer Hüt-
hang zwischen Elisabeths unerfülltem Liebesleben tenwirtin, wegen eines Nervenleidens angesprochen
und dem Auftreten der Schmerzen in den Beinen. wurde. Sie klagte über Atemnot, bei der sie Druck auf
Dem ersten Auftreten der Symptomatik lag ein Kon- den Augen, Schwindel, Hämmern im Kopf und Be-
flikt zwischen erotischen Wünschen und Loyalität ge- engungsgefühle im Hals verspürte. Zudem hatte sie
genüber dem Vater zugrunde, und auch dem späte- Angst, von hinten überfallen zu werden, und sah des
ren Auftreten der Schmerzen ging ein ähnlich gela- öfteren ein »grausliges Gesicht« vor sich, das sie aber
gerter Liebes- und Loyalitätskonflikt voraus. Daß so nicht identifizieren konnte. Freuds erste Einschät-
intensive erotische Vorstellungen, wie sie die Patien- zung ging dahin, daß es sich um einen hysterischen
tin erlebt hatte, vom Bewußtwerden ausgeschlossen Angstanfall handelte.
werden konnten, ließ sich auf das Motiv der ›Ver- Ein solcher Angstanfall war erstmals vor zwei Jah-
drängung‹ zurückführen. Der ganze Mensch sträube ren aufgetreten und stand im Zusammenhang mit
sich dagegen, sich offen mit den unverträglichen ero- einem Erlebnis, an das sich Katharina ohne allzu
tischen Vorstellungen zu konfrontieren. Die ›Konver- große Schwierigkeiten erinnern konnte. Sie hatte da-
sion‹ seelischer Schmerzen in körperliche diene der mals ihren Vater zufällig beim Beischlaf mit ihrer
Patientin dazu, sich aus dem quälenden Konflikt zwi- Cousine Franziska entdeckt und war darüber sehr er-
schen Wunsch und moralischer Verpflichtung zu be- schrocken, ohne sich ihre Betroffenheit recht erklä-
freien. Im Rahmen dieser ersten psychodynamischen ren zu können. Einige Tage später traten die Sym-
Erklärung der Hysterie ging Freud von einem Zu- ptome erneut auf, verschärft durch tagelange Brech-
sammenspiel von vier ätiologischen Faktoren aus: anfälle, die auf Ekel hindeuteten. Im weiteren Ge-
88 Werke und Werkgruppen

spräch erinnerte sich Katharina an eine Reihe von sentlichen Grund für die Symptomentstehung sah
Szenen, bei denen der Vater ihr selbst sexuell nachge- Freud aber darin, daß in der Entdeckungsszene die
stellt hatte. So erwachte sie, erst 14 Jahre alt, eines ursprünglichen Affekte des Ekels und der Angst wie-
Nachts und »spürte seinen Körper« im Bett. Sie wies derentdeckt wurden und wegen ihrer großen trau-
ihn entschieden ab, so daß es nicht zu weiteren Zu- matischen Kraft einer entsprechenden stärkeren
dringlichkeiten kam. Ein anderes Mal mußte sie sich Konversion bedurften.
seiner in einem Wirtshaus erwehren, als er in betrun- Alle Fälle in den Studien über Hysterie enden späte-
kenem Zustand war. In diesen Situationen war bei stens in einem Pubertätstrauma. Im Fall Katharina
Katharina jeweils eine Atemnot aufgetreten. ereignete sich die Verführungsszene im 14. Lebens-
Für Freud ergab sich aus der Verbindung zwischen jahr. In anderen Fällen, die Freud später behandelte,
den verschiedenen Szenen eine schlüssige Erklärung erwiesen sich die Pubertätstraumen aber als so ge-
der Symptome, die er der jungen Frau mit folgenden ringfügig, daß sie für eine Erklärung der Symptoma-
Worten nahebrachte: »Jetzt weiß ich schon, was Sie tik nicht ausreichend erschienen. Als er seine Suche
sich damals gedacht haben, wie Sie ins Zimmer ge- nach pathogenen Traumen und Verdrängungen wei-
schaut haben. Sie haben sich gedacht: jetzt tut er mit ter in die Lebensgeschichte zurückverfolgte, gelangte
ihr, was er damals bei Nacht und die anderen Male er zu einer Hypothese, die er erstmals im Brief vom
mit mir hat tun wollen. Davor haben Sie sich geekelt, 8. Oktober 1895 an Wilhelm Fließ formulierte: Für
weil Sie sich an die Empfindungen erinnert haben, die Entstehung der Hysterie nehme er an, daß »ein
wie Sie in der Nacht aufgewacht sind und seinen primäres Sexualerlebnis (vor der Pubertät) mit Ab-
Körper gespürt haben« (GW I, 192). Sie hielt dies neigung und Schreck« stattgefunden habe (F, 146).
sehr wohl für möglich. Auch das Rätsel des unbe- Kurze Zeit später bezeichnet er die Formel vom »in-
kannten »grausligen Gesichts« konnte gelöst werden. fantilen Sexualschreck« als Lösung des Rätsels (F,
Katharina sah auf einmal deutlich das wutverzerrte 148). Aus diesem Keim erwuchs die ›Verführungs-
Gesicht des Vaters vor sich, der mehrmals drohend hypothese‹, die bis Ende 1897 zu den Grundannah-
auf sie losgegangen war, weil sie ihre Entdeckung an men der Freudschen Neurosenlehre gehörte. Sie be-
die Mutter verraten hatte. sagt im wesentlichen, daß die passive Verführung ei-
An diesem Fallbeispiel läßt sich zeigen, in welchem nes unschuldigen Kindes (zumeist eines Mädchens)
Zusammenhang der ätiologische Faktor der Sexuali- durch Geschwister oder Erwachsene in der frühen
tät mit den anderen vier Faktoren von Trauma, nicht Kindheit als ›unbewußte Erinnerung‹ im Seelenleben
abreagiertem Affekt, Verdrängung und Konversion zurückbleibt. Wird diese Erinnerung nach Eintreten
steht. Der Verführungsversuch des Vaters erscheint der sexuellen Reife wiederbelebt, so gelangt sie zu
als das ursprünglich traumatisierende Moment, das traumatischer Wirksamkeit und wird dadurch zur
bei der Pubertierenden die Affekte von Ekel und spezifischen Ursache der Hysterie.
Angst ausgelöst hat: »Angst bei jungen Mädchen Zu der Verführungshypothese sah sich Freud letzt-
hatte ich so oft als Folge des Grauens erkannt, das ein endlich durch die Analyse eines männlichen Patien-
virginales Gemüt befällt, wenn sich zuerst die Welt ten veranlaßt, »der in der Jugend Hysterie, später Be-
der Sexualität vor ihm auftut« (GW I, 186). Nach obachtungswahn gezeigt hat«. Dieser eine Fall –
Freuds Theorie blieb die verdrängte Vorstellung als wahrscheinlich der in den Fließ-Briefen des öfteren
›Erinnerungsspur‹ zurück, die der seelisch-geistigen genannte »Herr E.«, den Freud mehr als fünf Jahre
Verarbeitung nicht zugänglich sei und einen ›unbe- lang behandelt hat – habe ihm das Erwartete: »in-
wußten‹ pathologischen Kern bilde: »Wenn einmal fantiler Mißbrauch bei männlicher Hysterie« ergeben
ein solcher Kern für die hysterische Abspaltung in (F, 152 f.). Zu dieser Thematik wird in dem Aufsatz
einem ›traumatischen Moment‹ gebildet worden ist, Zur Ätiologie der Hysterie (1896, GW I, 423–459)
so erfolgt dessen Vergrößerung in anderen Momen- weiter ausgeführt: »Wenn wir die Ausdauer haben,
ten, die man ›auxiliär traumatische‹ nennen könnte« mit der Analyse bis in die frühe Kindheit vorzudrin-
(GW I, 64). Die von Katharina bemerkten Heimlich- gen, so weit zurück nur das Erinnerungsvermögen
keiten zwischen dem Vater und der Cousine, die eines Menschen reichen kann, so veranlassen wir in
schließlich in der großen Entdeckung kulminierten, allen Fällen den Kranken zur Reproduktion von Er-
können als solche auxiliär traumatische Momente lebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ih-
betrachtet werden. In diesen Szenen kamen noch an- rer Beziehungen zu den späteren Krankheitssympto-
dere Affekte ins Spiel, nämlich Eifersucht auf die men als die gesuchte Ätiologie der Neurose betrach-
Cousine, enttäuschte Liebe und Rachegefühle, die tet werden müssen. Diese infantilen Erlebnisse sind
ebenfalls der Verdrängung anheimfielen. Den we- wiederum sexuellen Inhalts, aber weit gleichförmige-
Hysterie-Studien 89

rer Art als die letztgefundenen Pubertätsszenen; es pervers beschuldigt werden mußte, die Einsicht in
handelt sich bei ihnen nicht mehr um die Erweckung die nicht erwartete Häufigkeit der Hysterie und v. a.
des sexuellen Themas durch einen beliebigen Sinnes- das Zugeständnis, daß es »im Unbewußten ein Reali-
eindruck, sondern um sexuelle Erfahrungen am eige- tätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und
nen Leibe, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden
Sinne)« (GW I, 437 ff.). In sämtlichen 18 Fällen, die kann« (F, 283 f.). Diese Revision führte zu einer er-
er behandelt habe, sei er zur Kenntnis solcher sexuel- heblichen Abwandlung der bisherigen ätiologischen
len Erlebnisse im Kindesalter gelangt. Zumeist habe Hypothesen: Demnach kommt es nicht mehr ent-
es sich um Verführung durch ältere Kinder oder Er- scheidend auf die ›äußere‹ oder ›materielle‹ Realität
wachsene, nicht selten um Inzest gehandelt. traumatischer Erfahrungen, sondern auf die ›psych-
Freuds Verführungstheorie wurde und wird oft ische‹ Realität an. Die sexuelle Verführung in der frü-
einseitig unter dem Aspekt des äußeren traumatisie- hen Kindheit wird nicht mehr als notwendige (wenn
renden Eingriffs – des Kindesmißbrauchs – gesehen. auch häufig vorkommende) Ursache der Hysterie an-
Der psychologische Kern dieser Theorie wird aber gesehen. Da es sich bei der passiv erlittenen Sexual-
erst bei genauerer Betrachtung der darin enthaltenen verführung auch um eine bloße Phantasie handeln
ätiologischen Hypothesen sichtbar: Traumatische Er- kann, ist die unbewußte Erinnerung nicht mehr als
fahrungen der frühen Kindheit seien eine notwen- spezifische, sondern nur als mögliche Ursache der
dige Bedingung für die Entstehung der Hysterie. Eine Hysterie zu betrachten.
weitere Bedingung sei, daß es sich dabei stets um se- Was hat die Aufgabe der Verführungshypothese für
xuelle Traumen handle, deren Inhalt in wirklicher Ir- die Entwicklung der Psychoanalyse bedeutet? Nach
ritation der Genitalien bestehe. Traumatisch wirke je- Masson (1984) hat Freud die Verführungstheorie
doch nicht die frühkindliche Erfahrung als solche, aufgegeben, weil er nicht den Mut gehabt habe, die
sondern ihre Wiederbelebung als unbewußte Erinne- Ablehnung dieser Theorie seitens seiner Kollegen zu
rung, nachdem der Betroffene die sexuelle Reife er- ertragen. Lorenzer (1984, 212) nimmt dagegen eine
langt habe. Demnach sah Freud die spezifische Ur- Wende von der Diagnose der traumatisierenden Er-
sache der Hysterie in der aktuell wirksamen, aber un- eignisse zur Erkundung der Phantasie – von der »Er-
bewußten Vorstellung passiv erlebter Verführung. eignisdiagnose zur Erlebnisanalyse« – an, die eine
Der letztgenannte auch für die Verdrängungslehre re- zweite Geburtsstunde der Psychoanalyse markiert
levante Punkt bedarf der Erläuterung. Freud unter- habe. Fortan hätten sich neue Perspektiven für die
scheidet zwischen einem frühkindlichen Realereignis, Weiterentwicklung der Psychoanalyse, vor allem die
das eine Erinnerungsspur hinterlassen hat, und einer Konzeptionen des Triebes und der psychosexuellen
aktuellen Verdrängungsdynamik. Die Verdrängung Entwicklung eröffnet. Die Kontroverse Trauma- ver-
einer peinlichen sexuellen Vorstellung reiferer Jahre sus Triebtheorie hat in den 1980er und 1990er Jahren
erlange nur dann pathogene Wirkung, »wenn bei der im Rahmen der Auseinandersetzungen über sexuel-
betreffenden, bis dahin gesunden Person infantile Se- len Mißbrauch eine Hochkonjunktur erlebt, bei der
xualspuren als unbewußte Erinnerungen vorhanden sich allerdings aufgrund der dramatisch inszenierten
sind, und wenn die zu verdrängende Vorstellung in Enttabuisierung der Mißbrauchsthematik durch Au-
logischen oder assoziativen Zusammenhang mit ei- toren wie Masson und Alice Miller tiefsitzende Kli-
nem solchen infantilen Erlebnis gebracht werden schees über Freud und die Psychoanalyse festgesetzt
kann« (GW I, 448). Demnach ist die Existenz der haben, die nicht leicht zu korrigieren sind.
infantilen Sexualerlebnisse nicht ausreichend. Es
müsse noch eine ›psychologische Bedingung‹ hinzu-
Die klassische Konzeption der Hysterie
kommen, nämlich daß die Erinnerungen unbewußt
als ödipaler Triebdynamik
seien: »nur solange und insofern sie unbewußt sind,
können sie hysterische Symptome erzeugen und un- Mit der Aufgabe der Verführungstheorie setzte bei
terhalten […] Die hysterischen Symptome sind Ab- Freud eine Denkentwicklung ein, die zur Ausarbei-
kömmlinge unbewußt wirkender Erinnerungen« tung der verschiedenen Konzepte der Triebtheorie,
(GW I, 448). insbesondere derjenigen der ›infantilen Sexualität‹
Die Verführungshypothese hat Freud schon am 21. und der ›psychosexuellen Entwicklungsphasen‹ führ-
September 1897 in einem vielzitierten Brief an Fließ te. Eine wesentliche Beobachtung, die ihn zu der An-
wieder aufgegeben. Als Hauptgründe führte er an: nahme infantiler Sexualität bewog, war das lustvolle
das Ausbleiben der vollen Erfolge in der Therapie, die Saugen an der Mutterbrust, das dem Kleinkind eine
Überraschung, daß in sämtlichen Fällen der Vater als orgasmusähnliche Entspannung verschafft: Werden
90 Werke und Werkgruppen

orale und anale Trieblust, die schon das Kind erleben in Verbindung steht. Da Befriedigung, Versagung
kann, als Ausdrucksformen der Sexualität verstan- und Verdrängung an den jeweils phasenspezifisch
den, so wird ein erweiterter Sexualitätsbegriff zu- vorherrschenden Partialtrieben ansetzen, kann man
grundegelegt, der alle mit Entspannung oder Lust die Fixierung bzw. Regression auf die orale, anale
verbundenen Bedürfnisbefriedigungen einbezieht. und phallisch-ödipale Phase und die jeweils zugehö-
Im Jahr 1897, als Freud erste Einblicke in die spon- rigen Triebregungen und Objektbeziehungen bezie-
tanen Äußerungen der infantilen Sexualität gewann, hen.
unterzog er sich einer intensiven Selbstanalyse, um Die durch die Triebtheorie modifizierte Hysterie-
seiner eigenen ›Hysterie‹ und den frühkindlichen Ur- theorie läßt sich an der Therapiedarstellung der Pa-
sprüngen seiner Neurose auf den Grund zu gehen tientin ›Dora‹ verdeutlichen, die Freud 1905 unter
(F, 281 u. 288 f.). In dieser Selbstanalyse gelangte er dem Titel Bruchstück einer Hysterie-Analyse (GW V,
zur Einsicht in eine familiäre Beziehungskonstella- 161–286) publizierte. In ihr kommen erstmals die In-
tion, die er über die eigene Erfahrung hinaus als eine timitäten des sexuellen Lebens – als nunmehr ent-
für alle unumgängliche Durchgangsstufe der Kind- scheidende Ätiologie der Hysterie – zur ausführli-
heitsentwicklung betrachtete: »Ich habe die Verliebt- chen Darstellung. Nach Freuds eigenen Worten bietet
heit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater sie »Ausblicke auf das sexuell-organische Fundament
auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein all- des Ganzen« und ist »immerhin das Subtilste, was ich
gemeines Ergebnis früher Kindheit, wenn auch nicht bis jetzt geschrieben und wird noch abschreckender
immer so früh wie bei den hysterisch gemachten Kin- als gewöhnlich wirken« (zit. n. Jones I, 421).
dern. [. . .] Wenn das so ist, so versteht man die pak- Als die 18jährige Patientin im Herbst 1899 die psy-
kende Macht des König Ödipus […] die griechische choanalytische Behandlung begann, litt sie unter pe-
Sage greift einen Zwang auf, den jeder verspürt hat. riodischen Anfällen von Atemnot und nervösem Hu-
Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der sten, der zeitweise zu völliger Stimmlosigkeit führte.
Phantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die In der Familie war sie chronisch verstimmt. Selbst
Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder dem Vater, den sie bisher sehr geliebt hatte, begegnete
zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der sie mit demonstrativer Ablehnung. Besonders beun-
seinen infantilen Zustand von seinem heutigen ruhigt waren die Eltern durch einen zufällig entdeck-
trennt« (F, 293). ten Brief, in dem Dora von ihnen Abschied nahm,
Vom Blickwinkel der neu konzipierten Triebtheo- weil ihr das Leben unerträglich sei. Bald darauf kam
rie aus erscheint die Verführungshypothese in einem es nach einem geringfügigen Wortwechsel mit dem
völlig neuen Licht. Bisher waren ältere Geschwister, Vater zu einem Anfall von Bewußtlosigkeit.
die Eltern oder andere Erziehungspersonen die Die Symptome hatten teilweise schon eine längere
Schuldigen, die ihre Sexualbedürfnisse ungehemmt Vorgeschichte. So war die Atemnot erstmals im Alter
ausgelebt und dadurch die Kinder traumatisiert hat- von 8 Jahren, der nervöse Husten seit dem 12. Le-
ten. Wenn aber die Kinder selbst von sexuellen Wün- bensjahr wiederholt aufgetreten. Die psychische
schen erfüllt waren, so durfte man annehmen, daß Krise und die Selbstmordgedanken schienen jedoch
sie eine Verführung durch ihr erotisches Mitspielen in engem Zusammenhang mit einer Art traumati-
stimuliert oder allein in der Phantasie inszeniert hat- scher Erfahrung zu stehen, die zwei Jahre zurücklag.
ten. Die Sexualität wurde also nicht mehr von außen Doras Eltern waren seit mehreren Jahren mit einem
in die unschuldige Welt des Kindes hineingetragen. Ehepaar K. befreundet. Beide Ehen waren problema-
Das Kind selbst war aus inneren Bedürfnissen dafür tisch. Doras Mutter hatte sich ganz auf die Hausfrau-
empfänglich. enrolle verlegt. Frau K. war zu Doras Vater, den sie in
In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905; den Jahren seiner Krankheit intensiv gepflegt hatte,
s. Kap. III.8) wird dann genauer ausgeführt, daß bei eine Liebesbeziehung eingegangen. Herr K. hatte sich
den späteren Neurotikern eine erhöhte ›Fixierbarkeit‹ der noch jugendlichen Dora zugewandt und viel Zeit
der frühkindlichen Erfahrungen bestehe, die »zwang- mit ihr verbracht. Die Szene, die Anlaß zu großer
artig auf Wiederholung hinwirken und dem Sexual- Unruhe und Empörung gewesen war, hatte sich er-
trieb für alle Lebenszeit seine Wege vorzuschreiben eignet, als Dora 16 Jahre alt war. Herr K. hatte es auf
vermögen« (GW V, 144). Genetisch gesehen, handelt einem Spaziergang nach einer Seefahrt gewagt, ihr
es sich bei der Fixierung um eine ›Entwicklungshem- einen Liebesantrag zu machen, den sie mit einem
mung‹, die mit fehlgeleiteter Befriedigung oder Ver- Schlag ins Gesicht beantwortete. Später stritt Herr K.
sagung der Triebbefriedigung und mit dem gesamten die von Dora gegebene Darstellung entschieden ab
Verdrängungsprozeß in der kindlichen Entwicklung und betrachtete sie als bloßes Phantasiegebilde, was
Hysterie-Studien 91

Dora erst recht erzürnte. Doras Vater und Frau K. zur Mutter, von der sich wahrscheinlich bei den mei-
ergriffen Partei für Herrn K. und führten Doras Ge- sten Menschen eine deutliche Spur findet, muß bei
schichte auf die Lektüre erotischer Bücher zurück. den konstitutionell zur Neurose bestimmten, früh-
In der Therapie erinnerte sich Dora alsbald an ein reifen und nach Liebe hungrigen Kindern schon an-
weiteres Erlebnis mit Herrn K., als sie 14 Jahre alt fänglich intensiver angenommen werden. Es kom-
gewesen war. Sie wartete damals auf ihn, um gemein- men dann gewisse hier nicht zu besprechende Ein-
sam das Haus zu verlassen, als er sie plötzlich an sich flüsse zur Geltung, welche die rudimentäre Liebes-
preßte und ihr einen Kuß gab: »Das war wohl die regung fixieren oder so verstärken, daß noch in den
Situation, um bei einem 14jährigen unberührten Kinderjahren oder erst zur Zeit der Pubertät etwas
Mädchen eine deutliche Empfindung sexueller Er- aus ihr wird, was einer sexuellen Neigung gleichzu-
regtheit hervorzurufen. Dora empfand aber in die- stellen ist und was, wie diese, die Libido für sich in
sem Moment einen heftigen Ekel, riß sich los und Anspruch nimmt. Die äußeren Verhältnisse bei un-
eilte an dem Manne vorbei zur Treppe und von dort serer Patientin sind einer solchen Annahme nicht ge-
zum Haustor« (GW V, 186). Diese Ekelempfindung rade ungünstig. Ihre Anlage hatte sie immer zum Va-
hielt Freud für eine typisch hysterische Reaktion. ter hingezogen, seine vielen Erkrankungen mußten
Wenn es normal sei, bei einem Anlaß zur sexuellen ihre Zärtlichkeit für ihn steigern; in manchen Krank-
Erregung mit Lustgefühlen zu reagieren, wie lasse heiten wurde niemand anders als sie von ihm zu den
sich dann die ›Affektverkehrung‹ vom normalen kleinen Leistungen der Krankenpflege zugelassen;
Lustgefühl in Ekel erklären? Ein erster Anhaltspunkt stolz auf ihre frühzeitig entwickelte Intelligenz hatte
ergab sich daraus, daß Dora bis zum 4. oder 5. Le- er sie schon als Kind zur Vertrauten herangezogen.
bensjahr eine Daumenlutscherin gewesen war. Das Durch das Auftreten von Frau K. war wirklich nicht
ausgiebige Lutschen ließ sich als orale Selbstbefriedi- die Mutter, sondern sie aus mehr als einer Stellung
gung deuten, die aber durch das Eingreifen des Vaters verdrängt worden« (V, 216 f.).
verdrängt werden mußte. In der weiteren Analyse der Diese Fallskizze läßt erkennen, daß sich Freuds
Kindheitsentwicklung zeigte sich, daß die Patientin triebtheoretische Sicht der Hysterie im Verhältnis zu
schon früh mit einem Scheidenpilz behaftet war und seiner früheren Konzeption in den Studien über Hy-
– auffälligerweise erst im 7. und 8. Lebensjahr – Bett- sterie stark gewandelt hat. Nunmehr betont er, »daß
nässerin wurde. Aus diesen und weiteren Indizien die Verursachung der hysterischen Erkrankungen in
schloß Freud, daß Dora eine Phase intensiver Ma- den Intimitäten des psychosexuellen Lebens der
sturbation durchlebt hatte, die dann durch das Bett- Kranken gefunden wird, und daß die hysterischen
nässen und die späteren hysterischen Symptome der Symptome der Ausdruck ihrer geheimsten verdräng-
Atemnot und des hysterischen Hustens abgelöst ten Wünsche sind« (GW V, 164). Der Fall Dora kann
wurde. als erste psychoanalytische Falldarstellung im enge-
Masturbation, Bettnässen und Scheidenpilz führte ren Sinne betrachtet werden. Zur genaueren Einord-
er auf frühzeitige erotische Phantasietätigkeit zurück. nung dieser Fallgeschichte im Entstehungs- und Ent-
Da sexuell frühreife und liebesbedürftige Kinder in wicklungsprozeß der Psychoanalyse wird auf Vera
besonderem Maße zu ödipalen Phantasien neigen, Kings Studie »Die Urszene der Psychoanalyse« (1995)
lag es für ihn nahe, Doras Beziehung zum Vater unter verwiesen.
diesem Aspekt zu betrachten. Auffällig war, daß sie in Zum Abschluß von Freuds Hysterie-Studien seien
ihrer Krise an fast nichts anderes als die Person des noch zwei Arbeiten erwähnt. In Hysterische Phanta-
Vaters denken konnte. Vor allem konnte sie nicht ver- sien und ihre Beziehung zur Bisexualität (1908, GW
zeihen, daß er sich einer anderen Frau liebevoll zuge- VII, 189–199) experimentiert er mit verschiedenen
wandt hatte. Nach Freuds Einschätzung handelte sie Formeln, um das Wesen des hysterischen Symptoms
wie eine eifersüchtige Frau nach der Devise »Sie oder fortschreitend besser zu erfassen. Es sei Erinnerungs-
ich«. Daher lag der Schluß nahe, daß »ihre Neigung symbol gewisser traumatischer Erfahrungen, Ersatz
in höherem Maße dem Vater zugeneigt war, als sie für die Wiederkehr dieser traumatischen Erlebnisse,
wußte oder gern zugegeben hätte«. Doras Liebesver- Realisierung einer der Wunscherfüllung dienenden,
langen betrachtete Freud als »Auffrischung infantiler unbewußten Phantasie, Wiederkehr einer infantilen
Empfindungskeime« unter dem Druck eines bela- Sexualbefriedigung, Ausdruck einerseits einer männ-
stenden Konflikts. In diesem Zusammenhang nahm lichen, anderseits einer weiblichen unbewußten se-
er auf die Ödipussage Bezug, um das Typische an xuellen Phantasie (VII, 196 f.). In Allgemeines über
diesen Beziehungen zu charakterisieren: »Diese früh- den hysterischen Anfall (1909, GW VII, 233–240)
zeitige Neigung der Tochter zum Vater, des Sohnes wird betont, daß es sich bei einem solchen Anfall um
92 Werke und Werkgruppen

ins Motorische übersetzte, pantomimisch dargestellte hysterische Charakter als Einheit zunehmend in
Phantasien sexuellen Inhalts handle (VII, 236 ff.). Frage gestellt, so daß man es für notwendig hielt, ver-
Für Freuds weitere Theoriebildung war und blieb schiedene Unterformen der hysterischen Persönlich-
maßgeblich, daß er den ›Ödipuskomplex‹ ins Zen- keit zu unterscheiden. Grundlegend wurde die Ab-
trum der Ätiologie der Hysterie gerückt hatte. Bei grenzung zwischen einer hysterischen Persönlichkeit
den Hysterikern komme es zu einer Fixierung auf die mit überwiegend ödipalen und einer ›hysteroiden‹
phallisch-ödipale Phase bzw. zu einer Regression auf Persönlichkeit mit überwiegend präödipalen Konflik-
phallisch-narzißtische Phantasien. Diese Annahmen ten. Weiterführende Perspektiven eröffnen sich mit
bildeten den Kern des klassisch psychoanalytischen Hilfe triadischer Erklärungsansätze (vgl. Buchholz
Hysterieverständnisses. 1993). So hält Rupprecht-Schampera (1997) mit
Rückgriff auf ein Konzept der ›frühen Triangulie-
rung‹ an einem einheitlichen genetischen Erklä-
Freuds Hysterie-Studien aus heutiger Sicht
rungsmodell der Hysterie fest: Ausgehend von einer
Im 19. Jh. hat die weibliche Hysterie eine epidemi- nicht gelungenen Separation von der Mutter wende
sche Verbreitung gefunden. Über die klassischen Fall- sich das Mädchen dem Vater zu, der jedoch in seiner
darstellungen in der Neurologie, Psychiatrie und Psy- triangulären Funktion versage. Daraufhin suche es
choanalyse hinaus hat auch das Medium der Roman- die Aufmerksamkeit des Vaters forciert durch ein se-
literatur – Flauberts Madame Bovary kann als Proto- xualisiertes Beziehungsangebot zu erlangen. Die spä-
typ einer Hysterikerin gelten (Kronberg-Gödde tere Hysterikerin bleibe auf der Suche nach dem idea-
2004) – große Wirkung erlangt. Viele Frauen haben lisierten Vater, auch wenn sie dazu »unterschiedlich
sich an dieser ›Modellkrankheit‹ und ihrem ›Sym- laute, nicht immer sexuelle, aber doch gezielte For-
ptomrepertoire‹ orientiert, um ihre existenzielle Ver- men der Annäherung und des interesseheischenden
unsicherung und ihren Protest gegen ihre gesell- Sich-bemerkbar-Machens gegenüber den in der je-
schaftliche Benachteiligung zum Ausdruck zu brin- weiligen Epoche idealisierten Vaterfiguren« verwende
gen (vgl. Bronfen 1998). Heute spielt die klassische (ebd., 661).
Symptomsprache der Lähmungen und Anfälle als In den letzten Jahrzehnten ist die Hysterie als dia-
Ausdruck ohnmächtigen bzw. agitierten Leidens nur gnostische Kategorie immer wieder in Zweifel gezo-
noch eine untergeordnete Rolle. Sie ist gleichsam ih- gen und schließlich aus den großen Klassifikations-
rer Unschuld beraubt worden und hat sich in ihren systemen (ICD [International Classification of Dis-
Ausdrucksformen den jeweiligen soziokulturellen eases] 10 und DSM [Diagnostic and Statistical
Bedingungen angepaßt. Manual of Mental Disorders] IV) verdrängt worden.
Das psychoanalytische Interesse hat sich seit den Daß die nosographische Klarheit und Überzeugungs-
1930er Jahren von der Erklärung der hysterischen kraft, die Charcot und auch noch Freud erreicht zu
Symptomneurose zur Analyse des ›hysterischen Cha- haben glaubten, an Glaubwürdigkeit verloren hat,
rakters‹ verlagert. Wurde die hysterische Charakter- zeigte sich auch und gerade in der wissenschaftshi-
bildung zunächst auf ödipale Konflikte und Verdrän- storischen Forschung: Einerseits wurde die Klinik
gungen zurückgeführt, so besteht darüber längst und Forschungsstätte der Salpêtrière durchleuchtet,
keine Einigung mehr. Die auffälligen Abhängigkeits- wobei ein reichhaltiges mediales Inventar an Zeich-
und Anklammerungsbedürfnisse hysterischer Patien- nungen und Photographien zur ›Erfindung der Hy-
ten gaben Veranlassung zu der Annahme, daß auch sterie‹ (Didi-Hubermann 1982/1997) sichtbar wurde.
prägenitale, speziell orale Fixierungen und ein oraler Andererseits wurden die berühmten Hysteriedarstel-
Beziehungsmodus an der Entstehung dieser Neurose lungen Freuds in diagnostischer Hinsicht in Frage ge-
beteiligt seien. S. O. Hoffmann (1979, 296 ff.) geht in stellt und mittlerweile unter verschiedensten Krite-
seiner dynamischen Definition des hysterischen Cha- rien wie Schizophrenie, Borderline-Störung, Gilles-
rakters von drei Hauptkonflikten – einem ödipalen, de-la-Tourette-Syndrom, psychosomatischen oder
einem Abhängigkeits- und einem Selbstwertkonflikt rein neurologischen Störungen neu diagnostiziert
– und fünf dynamischen Mechanismen – einer spezi- und interpretiert (vgl. Micale 1989, 249 ff.).
fischen Veränderung des Selbstbildes, einer spezifi- Um am Terminus der Hysterie festhalten zu kön-
schen Verwendung von Emotionen, einem massiven nen, schägt Mentzos (1980) vor, ihn nicht als nosolo-
Einsatz von Identifizierungen, einem besonderen gische Einheit, sondern als ›Modus der Konfliktver-
Umgang mit Phantasien und Symbolen sowie einer arbeitung‹ zu verwenden. Für den hysterischen Mo-
spezifischen Rolle von Verdrängung und Verleug- dus sei charakteristisch, daß sich der Betreffende in
nung – aus. In der weiteren Entwicklung wurde der einen Zustand versetzt, in dem er sich selbst und den
Hysterie-Studien 93

ihn umgebenden Personen in gewissen Aspekten sei- Literatur


nes Selbst anders erscheint als er in Wirklichkeit ist. Bronfen, Elisabeth: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Mo-
derne. Berlin 1998.
Damit werde v. a. eine vorübergehend inszenierte Buchholz, Michael B.: Dreiecksgeschichten. Eine klinische Theo-
Veränderung der eigenen Selbstrepräsentanz erreicht. rie psychoanalytischer Familientherapie. Göttingen 1993.
Mentzos unterscheidet dabei eine ›pseudo-regressive‹ – /Günter Gödde (Hg.): Macht und Dynamik des Unbewus-
und eine ›pseudo-progressive‹ Entwicklungsrich- sten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psy-
choanalyse. Gießen 2005.
tung. Im einen Fall will der Hysterische schwächer, Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photo-
kränker, ohnmächtiger erscheinen und rekurriert graphische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1997
darum auf Lähmungen, Sprachstörungen, Ohn- (frz. 1982).
machtsanfälle und ähnliche ›Konversionen‹. Im an- Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten [1973].
Zürich 1985.
dern Fall will er sich dagegen von seiner stärkeren, Essen, von Cornelie/Tilmann Habermas: Hysterie und Buli-
gesünderen, mächtigeren Seite zeigen und neigt des- mie. Ein Vergleich zweier ethnisch-historischer Störungen.
halb zu Don-Juanismus oder phallisch-narzißtischen In: Annette Kämmerer/Barbara Klingenspor (Hg.): Bulimie.
Charakterzügen. Stuttgart 1989, 104–125.
Gilles de la Tourette, Georges: Die Hysterie nach den Lehren der
Dienten die hysterischen Körpersymptome im Salpêtrière. Leipzig/Wien 1894 (frz. 1891).
19. Jh. vielen Frauen dazu, die ›Flucht in die Krank- Gödde, Günter: Charcots neurologische Hysterietheorie – Vom
heit‹ anzubahnen und zu legitimieren, so kann man Aufstieg und Niedergang eines wissenschaftlichen Paradig-
die Hysterie jener Epoche als eine ›ethnische Stö- mas. In: Luzifer-Amor 7, H. 14, (1994), 7–54.
–: Traditionslinien des Unbewußten. Schopenhauer – Nietzsche
rung‹ betrachten, mit deren Hilfe sozial verpönte – Freud. Tübingen 1999.
Wünsche dissoziiert und nicht verantwortet wurden. Grubrich-Simitis, Ilse: Urbuch der Psychoanalyse. Hundert
Sie eignete sich »besonders für Personen, denen auf- Jahre Studien über Hysterie nach Josef Breuer und Sigmund
grund ohnmächtiger Position bzw. kultureller Tabus Freud. Frankfurt a. M. 1995.
Hirschmüller, Albrecht: Physiologie und Psychoanalyse im Le-
eine verantwortete Äußerung sexueller und aggressi- ben und Werk Josef Breuers. Bern 1978.
ver Gefühle gegenüber den jeweils Mächtigen un- Hoffmann, Sven Olaf: Charakter und Neurose. Frankfurt a. M.
möglich erscheint« (von Essen/Habermas 1989, 122). 1979.
In den letzten Jahrzehnten spricht einiges dafür, daß Janet, Pierre: Der Geisteszustand der Hysterischen. Leipzig/
Wien 1894 (frz. 1892).
die Hysterie als ethnische Störung durch die Eßstö- King, Vera: Die Urszene der Psychoanalyse. Adoleszenz und Ge-
rungen, speziell die Bulimie abgelöst worden ist. schlechterspannung im Fall Dora. Stuttgart 1995.
Die wissenschaftshistorische und interdisziplinäre Kronberg-Gödde, Hilde: Die magischen Weltbezüge in Gu-
Erforschung der Hysterie hat in jüngster Zeit eine stave Flauberts Madame Bovary. In: Eva Jaeggi/Hilde Kron-
berg-Gödde (Hg.): Zwischen den Zeilen. Literarische Werke
erstaunliche ›Renaissance‹ erlebt und dabei vielfältige psychologisch betrachtet. Gießen 2004, 77–90.
und immer weiter entwickelte theoretische Perspekti- Lorenzer, Alfred: Intimität und soziales Leid. Archäologie der
ven hervorgebracht (vgl. Micale 1989, Seidler 1996). Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1984.
Dennoch wird es immer wieder zu Metamorphosen Masson, Jeffrey M.: Was hat man dir, du armes Kind getan?
Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie.
dieses ›Paradiesvogels‹ kommen, weil die jeweiligen Reinbek 1984 (engl. 1984).
Symbolisierungen keine konstante und überindivi- Mentzos, Stavros: Hysterie. Zur Psychodynamik unbewußter In-
duelle Bedeutung haben, sondern stets von neuem szenierungen. Frankfurt a. M. 1980.
als subjektive Botschaften innerhalb eines bestimm- Micale, Mark: Hysteria and its Historiography: A Review of
Past and Present Writings. In: History of Science 27 (1989),
ten sozialen, politischen und historischen Kontextes 223–261, 319–351.
interpretiert werden müssen. Rupprecht-Schampera, Ute: Das Konzept der ›frühen Trian-
Bei aller zeitlichen und kulturellen Bedingtheit sei- gulierung‹ als Schlüssel zu einem einheitlichen Modell der
ner Erklärungsansätze war es in erster Linie Freud zu Hysterie. In: Psyche 51 (1997), 637–664.
Schröter, Michael: Freud und Fließ im wissenschaftlichen Ge-
verdanken, daß es seit Ende des 19. Jh.s zu einem spräch. Das Neurasthenieprojekt von 1893. In: Jahrbuch der
Paradigmenwechsel von einer ›neurologischen‹ zu ei- Psychoanalyse 22 (1988), 141–183.
ner ›psychodynamischen‹ Theorie kommen konnte Seidler, Günter (Hg.): Hysterie heute. Metamorphosen eines Pa-
(vgl. Gödde 1994). Er bleibt der maßgebliche Be- radiesvogels. Stuttgart 1996.
gründer des Wissenschaftsdiskurses über die Hyste- Günter Gödde
rie. Dieses Erkrankungsbild eröffnete ihm den ersten
Zugang zum Unbewußten, den er und seine Nach-
folger dann in der Erforschung von Angst- und
Zwangssymptomen, Träumen, Fehlleistungen, Wit-
zen u. a. weiter ausgebaut haben.
94

3. Vorlesungen und einführende Schriften

Aus verschiedenen Anlässen verfaßte Freud Einfüh- rapeutischen Geschehens und diese Bewegung se-
rungstexte in die Psychoanalyse. Diese Texte zeigen kundiert derjenigen in seiner Theoriebildung. War er
seine immer verfeinerte Weiterentwicklung der bis etwa 1906 noch ganz an neurowissenschaftlichen
Kunst, in die Psychoanalyse einzuführen. Anschlüssen interessiert (Reflexbogen-Modell, Ener-
gieerhaltungssatz), so beginnt er ab dieser Zeit, seine
Bildgebungen aus anderen, v. a. aus sozial- und kul-
Über Psychoanalyse (1909)
turwissenschaftlichen Zusammenhängen zu entleh-
Als er im September 1909 durch G. Stanley Hall ein- nen, wofür das prominenteste Beispiel der Ödipus-
geladen wird, zur Gründungsfeier der Clark Univer- Komplex ist (vgl. Kitcher 1992). Kurz, Freud vollzieht
sity in Worcester, Massachusetts, zu sprechen, hält er eine prägnante Wendung zu einer Deutung der Psy-
fünf Vorlesungen Über Psychoanalyse, die ein Jahr choanalyse als Kulturwissenschaft, die in seinen rei-
später veröffentlicht werden (GW VIII, 1–60). Die chen Entlehnungen aus der schönen Literatur zwar
Einladung in die USA empfand Freud zu Recht als vorher schon angelegt war, hier aber deutlich mar-
internationale Anerkennung durch einen psychologi- kiert wird. Das ist dem universitären Kontext, der
schen Fachvertreter, der höchstes Ansehen genoß selbständigen Etablierung einer gegenüber anderen
und die akademische Psychologie in den USA mäch- Wissenschaften souveränen Psychologie durchaus
tig vorangetrieben hatte. In diesen Vorlesungen erin- angemessen.
nert er an seine mit Josef Breuer gemeinsam durch-
geführten ersten Behandlungen mit der »katharti-
Kurzer Abriß der Psychoanalyse (1924)
schen Methode« und erklärt, warum er sie aufgeben
mußte: weil die feineren seelischen Kräfte so nicht zu Dieser zunächst in englischer Sprache erschienene
studieren waren. Die Hypnose hat Freud immer als Text (GW XIII, 403–427) beginnt mit einer bemer-
ein Stück »Unrecht an den Kranken« wegen der ihr kenswerten Selbst-Historisierung: »Die Psychoana-
eigentümlichen gewaltsamen Willensaufzwingung lyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert
empfunden. Rasch erklärt er, wie wenig die medizini- geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als et-
sche Diagnose bringt, und er öffnet neue Weisen des was Neues vor die Welt tritt, meine ›Traumdeutung‹,
Zuhörens, indem er von seiner Patientin die Be- trägt die Jahreszahl 1900. Aber sie ist, wie selbstver-
schreibung der Psychoanalyse als »talking cure« und ständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom
als »chimney sweeping« übernimmt. Tatsächlich ge- Himmel gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie
schieht nicht mehr, als daß gesprochen wird, und da- fortsetzt, sie geht aus Anregungen hervor, die sie ver-
bei findet eine »Reinigung« besonderer Art statt. arbeitet« (GW XIII, 405; vgl. Buchholz/Gödde 2005).
Eine der vielen Metaphern in seinen Texten weist Zu diesen Anregungen zählt Freud nun wiederum
er besonders aus, die des Katalysators. Der Arzt näm- nicht die Medizin, denn »mit dem psychischen Mo-
lich spiele »nach einem vortrefflichen Worte von S. ment wußten sie [die Ärzte] nichts anzufangen«. Die
Ferenczi die Rolle eines katalytischen Ferments, das Hypnose wurde von der »freien Assoziation« ersetzt.
die bei dem Prozesse frei werdenden Affekte zeitwei- »Freud wurde dabei von der Erwartung geleitet, daß
lig an sich reißt« (GW VIII, 55). Seine Präsenz im sich die sogenannte freie Assoziation in Wirklichkeit
Gespräch ist wichtig, damit eine Reaktion bei seinem als unfrei erweisen werde, indem nach der Unter-
Patienten ablaufe, die ohne diese Entwicklungshilfe drückung aller bewußten Denkabsichten eine Deter-
nicht stattfinden könne. Trotz dieses chemischen minierung der Einfälle durch das unbewußte Mate-
Bildfeldes bewegt sich Freud deutlich von der Medi- rial zum Vorschein käme« (GW XIII, 410 f.).
zin weg hin zu einer kultivierten Auffassung des the- Aus dieser in den Einfällen dann sichtbar werden-
Vorlesungen und einführende Schriften 95

den Ordnung und Determinierung lasse sich der un- wachend sah, wie ein Hund aus einem Wasserglas zu
bewußte Sinn »erraten«. Das geht nicht ohne Wider- schlabbern versuchte. Erst mit Aufhebung der Ver-
stände ab, die von der Verdrängung ausgingen. Von drängung ihres Ekels kann sie sich frei machen, wie-
ihr »betroffen wurden Regungen zur Selbstsucht und der zu trinken. Sie kann die »Szene« erinnern, ohne
Grausamkeit, die man allgemein als böse zusammen- Ekel und Abwehr wiederholen zu müssen.
fassen kann, vor allem aber sexuelle Wunschregun- Dieser Begriff der »Szene« findet später auch Ein-
gen, oft von der grellsten und verbotensten Art« gang in die weitere Theorieentwicklung, etwa bei Al-
(412). Entscheidend ist die kulturwissenschaftliche fred Lorenzer (1970), aber auch bei Lichtenberg
Wendung: »Die Psychoanalyse kam in dieser Zeit all- (1989), der »Modellszenen« in der frühen Säuglings-
mählich in den Besitz einer Theorie, welche über die entwicklung als Prototypen der Erfahrungsorganisa-
Entstehung, den Sinn und die Absicht der neuroti- tion beschreibt. Die Theorie – um Sinn und Absicht
schen Symptome zureichende Auskunft zu geben schon zentriert – findet damit einerseits nachhaltigen
schien« (413). Sinn und Absicht in ihren unbewuß- Anschluß an die Hermeneutik, indem Lorenzer
ten Modalitäten waren damit als diejenigen Dimen- (1974) das »Szenische Verstehen« als genuinen Mo-
sionen ausgewiesen, mit denen es die Psychoanalyse dus einer »Tiefenhermeneutik« zu begründen sucht;
zu tun hat. Symptome und Fehlleistungen, Träume sie entwickelt sich aber auch zu einem eigenen Theo-
und der Witz sowie die »Unarten« der Kinder – dies rietypus, der nicht vorrangig die Hierarchie von Be-
alles konnte nun als sinnhaft ausgewiesen werden, griffen und die Begriffe nach Prädikaten ordnet, son-
wenn man es nur in den Rahmen einer Theorie dern sich für charakteristische Modell-Szenen sensi-
stellte, die diese Zusammenhänge zu sehen erlaubte. bilisiert. Eine dieser Modellszenen ist der Ödipus-
Freud stellt die Komponenten dieser Theorie hier zu- Komplex, andere wären infantile Töpfchen-Szenen
sammen: »Es sind: die Betonung des Trieblebens (Af- (Kampf und Autonomie), Szenen des Voyeurismus
fektivität), der seelischen Dynamik, der durchgehen- und der Exhibition, »master-slave«-Themen (z. B.
den Sinnhaftigkeit und Determinierung auch der an- Greenberg 1994). Die Entwicklung der psychoana-
scheinend dunkelsten und willkürlichsten seelischen lytischen Theorie könnte als Hinzufügung solcher
Phänomene, die Lehre vom psychischen Konflikt Szenen beschrieben werden, etwa zu Mann-Frau-
und von der pathogenen Natur der Verdrängung, die Themen (Benjamin 1988). Der Analytiker in der pro-
Auffassung der Krankheitssymptome als Ersatzbe- fessionellen Praxis wird so in den Stand gesetzt, seine
friedigungen, die Erkenntnis von der ätiologischen Sensibilität für die Wiederholung solcher Szenen in
Bedeutung des Sexuallebens, insbesondere der An- der Übertragung zu verfeinern, die Aufforderung
sätze zur kindlichen Sexualität« (413). Hierzu zählt zum szenischen Mitspielen und zur Teilhabe zu ent-
er dann den Ödipus-Komplex und bezeichnet ihn als ziffern, eine »exzentrische Position« (Plessner 1982;
»Kern eines jeden Falles von Neurose« (413). Diese Buchholz 1990) dazu einzunehmen und sie schließ-
spezielle Kern-These ist mittlerweile in ihrem univer- lich zu deuten. Solche Szenen haben in ihrem proto-
sellen Anspruch bestritten. Entscheidend aber ist die typischen Charakter aber auch kulturelle Bedeutung,
Umstellung auf »Sinn«, »Bedeutung«, »Absicht« in etwa in der familialen Sozialisation oder in Formen
ihren unbewußten Dimensionen. Die sozial- und erwachsener Kommunikation. Neuerdings ist der Be-
kulturwissenschaftliche Wendung wird mit allem griff der »Szene« auch neurowissenschaftlich (unter
Nachdruck intensiviert. Anerkennung der Freud-Breuerschen Leistungen)
genutzt worden (Edelman/Tononi 2002); szenische
Erfahrungsorganisation bildet schon im subhuma-
Psycho-Analysis (1926)
nen Bereich den »Unterbau« höherer kognitiver Lei-
In diesem kleineren Text für die Encyclopedia Britan- stungen und bleibt beim Menschen erhalten. Die
nica (GW XIV, 297–307) verfährt er ebenfalls histo- Angst eines Panikanfalls kann dann so verstanden
risch und verwendet, zusätzlich zur knappen Wieder- werden, daß ein »an sich harmloser« Auslöserreiz für
holung der hier schon geschilderten Theoriebestand- einen Patienten die gesamte szenische Konstellation
teile, mit Nachdruck den älteren Begriff einer evoziert, die einst angstauslösend war; mit den zur
»Szene«, der den »Sinn« hysterischer Symptome auf- Verfügung stehenden Selbstaufklärungsmitteln des
schließt; es sind bestimmte Motivkonstellationen Denkens kann er diese Angst nicht verstehen und
und auslösende Bedingungen, die für seine Patien- muß dem Fluchtimpuls folgend sich zurückziehen.
tinnen und Patienten eine unbewußte Figuration Erst die szenische Rekonstruktion ermöglicht das
hervorrufen; eine Patientin weigert sich zu trinken, volle, nämlich symbolisch repräsentierte Verständnis
weil sie in der Nacht bei der Pflege ihres Vaters auf- dieser Reaktion – und macht den Anfall überflüssig.
96 Werke und Werkgruppen

Die Differenz zwischen »Szene« und »Symbol« hat ten Sie aus!« (GW XV, 99). Die eine Anrede kann sich
Lorenzer (1970, 1974) im Anschluß an Wittgenstein ein Lehrer gegenüber dem fast mündigen Schüler ge-
als »aufgespaltenes Sprachspiel« gefaßt und darin die statten, die andere, passend zum Thema der Angst,
Verdrängung sprachtheoretisch reformuliert. ruft ein Retter dem zu, den er alsbald aus seiner Not
befreien wird. Beides macht deutlich, wie Freud ei-
nen Subtext in seine offizielle Lehre dramatisch ein-
Die Vorlesungen von 1916–1917 und die
webt. Seine Darstellung der Psychoanalyse will be-
Neue Folge der Vorlesungen von 1933
wegen.
Ein umfangreicher Einführungstext Freuds, die Vor-
lesungen von 1916–1917 (GW XI, 1–482), soll hier
Theoretisieren und/oder Mentalisieren
ausgiebiger betrachtet werden. Sie werden von Freud
gehalten, um seinen Verpflichtungen als außerplan- Freud kann seinen Hörern nicht einfach eine be-
mäßiger Professor an der Wiener Universität nachzu- griffshierarchische Theorie und Tatsachen als Be-
kommen. Es sind Vorlesungen für Hörer aller Fakul- weise vorlegen. Er kann auch nicht, um es dem An-
täten und, wie man im Gedanken an die damals ak- fänger leicht zu machen, Schwierigkeiten elegant um-
tuelle Frage, ob Frauen überhaupt studieren dürften, schiffen. Hier ruft er mit Nachdruck: »Aber das geht
hinzufügen muß, für Hörer beiderlei Geschlechts bei der Psychoanalyse nicht« (GW XI, 99). Er muß
(Gay 1984). Freud entwickelt hier die Kunst der Ein- solche Hörererwartungen frustrieren. Um zu verste-
führung zu einem Höhepunkt durch die Art und hen, was bei der Psychoanalyse »geht«, muß er eine
Weise, wie er seine Hörerinnen und Hörer anspricht. bestimmte Rezeptionseinstellung erzeugen, er muß
Die Vorlesungen sind in drei große thematische Grup- seinen Hörern erst zeigen, wie sie selbst denken, wie
pen eingeteilt. nachlässig und ungenau sie beobachten, eine wie ge-
Die erste Gruppe beschäftigt sich mit den Fehllei- ringe Meinung sie von psychischen Äußerungsfor-
stungen, die Freud im Sinne eines Propädeutikums men haben – und erst dann kann er diese Einstellun-
für besonders geeignet ansieht, mit dem Studium des gen als nicht zufällig ausweisen, als determiniert vom
Seelischen bekannt zu machen. Freud will seine Hö- Widerstand seiner Hörer. Zahllos sind die Beispiele
rer einführen, er kann gar nicht anders, wenn er mit dafür. Immer erneut führt er vor, wie seine Hörer
ihnen »diskutieren« will. Die zweite, umfangreichere wahrscheinlich denken werden und auf welche Irr-
Vorlesungsgruppe beschäftigt sich mit dem Traum wege sie mit ihrem »gesunden Menschenverstand«
und dessen Deutung. Daran schließt sich die größte geraten werden.
Zahl an einzelnen Vorlesungen umfassende Gruppe Wenn er so das stille Denken seiner Hörer laut
mit dem Titel Allgemeine Neurosenlehre an. denkt, macht er von etwas Gebrauch, was man mit
1933 schließlich veröffentlichte Freud eine Neue Luhmann (1997) methodisch eine »Beobachtung
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psycho- zweiter Ordnung« nennt oder im neueren Umfeld
analyse – zu einer Zeit, als er keine Vorlesungen mehr der Psychoanalyse als »Mentalisierung« zu bezeich-
an der Universität hielt und wegen seines Kehlkopf- nen begonnen hat (Fonagy/Gergely/Jurist/Target
krebses auch nicht mehr halten konnte. In einer di- 2004; Dornes 2004). Mentalisierung meint die Fähig-
daktischen Diktion, die den Vorlesungen nachgebil- keit, das Verhalten anderer Menschen als nicht nur
det ist, wendet er sich an eine fiktive Zuhörerschaft. von Reizen determiniert, sondern als von sinnvollen
So beginnt er jede dieser neuen, insgesamt sieben Absichten gesteuert anzusehen. Hier sind wir wieder
Vorlesungen mit der Anrede: »Meine Damen und bei Sinn und Absicht. Schon der Säugling (Köhler
Herren«. Die Kontinuität mit der ersten Vorlesungs- 2004) schließt vom Verhalten auf Absicht und Sinn,
reihe bringt die Fortsetzung der Numerierung zum denkt sich, was andere denken, also wünschen, hof-
Ausdruck. Immer wieder spricht er sein Publikum fen oder zum Ausdruck bringen möchten und er er-
mit Nachdruck direkt an. Damit konstelliert er sei- fährt, daß er ebenso behandelt wird, als Wesen mit
nerseits höchst aktiv mit großem Geschick selbst be- »Seele«, die sich artikulieren und entäußern möchte.
deutungsvolle Szenen der Rezeption, die zu studieren »Denken des Denkens« war immer schon ein älterer
nicht ohne Bedeutung für ein angemessenes Ver- Name für Philosophie, die darin ihren Sinn dafür be-
ständnis dieser Texte ist. wahrte, daß die Art und Weise, wie wir etwas sehen,
Aus der 27. Vorlesung der ersten Folge erwähne ich also denken, viel davon ausmacht, was uns die Dinge
einen Zuruf: »Denken Sie nach!« (GW XI, 447). In sind. Ein Stück Holz ist in einem bestimmten Kon-
der Vorlesung über Angst und Triebleben der »Neuen text eine Schachfigur. Der Philosoph John Searle
Folge« ruft er seinem imaginären Publikum zu: »Hal- (1997) nennt das die »Zählt-als«-Umwandlung: Ein
Vorlesungen und einführende Schriften 97

Stück Papier in meiner Tasche »zählt als« Geld, wenn Freud braucht den Widerstand (Forrester 2000), er
alle es glauben, wodurch es soziale und kulturelle soll überwunden werden. Er teilt seinem Publikum
Wirklichkeit wird. Im Kern vermeintlich empirischer mit, »kein Anteil Ihres Interesses ist auf das psychi-
»Tatsachen« ist so der Mythos des Empirismus sicht- sche Leben gelenkt worden, in dem doch die Leistung
bar; man muß an Tatsachen glauben. Es kommt, wie dieses wunderbar komplizierten Organismus gipfelt«
wir seit Charles Sanders Peirce wissen, nicht nur auf (GW XI, 12/13). Dann aber zeigt er, daß das Seelische
die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Be- – er spricht beinahe ausschließlich von der »Seele«
zeichneten an, sondern auch darauf, wie ein Interpret und nicht pseudonaturwissenschaftlich von der »Psy-
diese Beziehung auffaßt. Das ist das neue Verständ- che« – flüchtig ist, sich in »unscheinbaren Vorkomm-
nis, das Freud hier vorführt, mit welchem er über die nissen« mitteilt; das sei kaum anders als beim Flirt
genannten anderen Einführungstexte hinausgeht. ein schneller, zugeworfener Blick (GW XI, 20), doch
Freud, der sich selbst freilich als harter naturwis- gerade dem gilt alle Bedeutung. Anders beim Ver-
senschaftlicher Empiriker versteht, entzaubert mit sprechen, beim Verlegen von Gegenständen, beim
seiner Rhetorik der »Beobachtung zweiter Ordnung« Vergessen von Namen. Das Flüchtige wird – beim
eben diesen Glauben. Er hebt die Rolle des Inter- Flirt – hoch geschätzt, aber von den gleichen Perso-
preten von Tatsachen hervor. Kein Geringerer als nen als Einwand gegen die Würdigung seelischer
Niklas Luhmann (1988, 299) hat darin die große Lei- Phänomene genutzt. Das so entstandene »wissen-
stung von Freud gesehen, die er mit der von Marx in schaftliche« Vorurteil will die Fehlleistungen als be-
einem Atemzug nennt. deutungslos abtun. Dies zu überwinden fordert
Freud mit Nachdruck. Fehlleistungen kommen also
»Man kann auf diese Weise die Marxsche Kritik der politischen
Ökonomie reformulieren und ebenso die Freudsche Kritik des nicht durch Übermüdung, Ablenkung oder Zufall
verdrängenden, sublimierenden Bewußtseins. Es handelt sich zustande. Sie sind vielmehr sinnvoll gebildet. Sie tei-
in beiden Fällen um eine Beobachtung, die sich darauf spezia- len einen Sinn – einen unbewußten Sinn freilich –
lisiert, das zu beobachten, was die beobachtenden Systeme mit, der dem Handelnden nicht recht ist. Der Red-
nicht beobachten können. Die Namen von Marx und Freud
stehen hier nur für eine sehr einflußreiche, breitenwirksame ner, der die Tagungsgäste mit den Worten begrüßt:
Innovation des modernen Denkens, und es fällt rückblickend »Ich freue mich, Sie verabschieden zu dürfen«, wird
auf, daß die offizielle Erkenntnistheorie mit dieser Form des gut verstanden. Die zweite Redeabsicht hat, gerade
Beobachtens von Beobachtungen, des Beschreibens von Be- weil sie sich nicht äußern sollte, mit der bewußten
schreibungen, des Wissens über Wissen, unüberwindliche
Schwierigkeiten gehabt hat«. Absicht »interferiert«. Bedingung der Fehlleistung ist,
daß die zweite Absicht unbewußt gemacht werden
Deshalb also präsentiert Freud nicht Tatsachen, denn sollte; dann entzieht sie sich der bewußten Kontrolle
als Beobachter seiner Beobachter weiß er, daß diese und kann sich durchsetzen.
sie gar nicht wahrnehmen könnten. Er muß deshalb Die manifeste Äußerung, die dann zustande
seinen Hörern eine Gesprächsform anbieten, die sie kommt, ist somit Kompromißprodukt aus einander
befähigt, das eigene Denken zu denken, das eigene widersprechenden Absichten. So kann Freud gleich
Beobachten mitsamt dessen Beschränkungen zu be- die theoretische Ernte einfahren, alles ist auf einen
obachten – damit sie diejenigen Tatsachen, für die Schlag zusammen: a) die Unterscheidung zwischen
die Psychoanalyse sensibilisieren will, überhaupt in bewußter und unbewußter Tendenz; b) die Sinnhal-
den Blick nehmen können. Sie können es »nicht be- tigkeit scheinbar »sinnloser« Phänomene; c) der ma-
obachten« (Luhmann, ebd.) – und dafür hat die Psy- nifeste Kompromiß aus dem latenten Konflikt; d) der
choanalyse den Namen des »Widerstandes« ausgebil- Verzicht auf die Unterscheidung von »normal« und
det. Der Widerstand sitzt im Zentrum der Wissen- »krank«.
schaftsauffassung seiner Zuhörer. Freud muß seinen Der letzte Punkt ist sozusagen ein Nebenprodukt,
Hörern deshalb zeigen, wie sie als frühere Beobachter auf das Freud Wert legt. Immer wieder zeigt er, daß
ihre »Tatsachen« beobachtet haben und kann ihnen die »Bedingungen für die Symptombildung […]
dabei entdecken, warum ihnen Entscheidendes ent- auch bei den Normalen nachzuweisen« (GW XI, 373)
geht. Deshalb beginnt er gleich in der ersten Vorle- sind, ja, er befasst sich mit den Fehlleistungen gerade
sung: »Ich werde Ihnen zeigen, wie die ganze Rich- deshalb, um zu zeigen, daß sich an ihnen die gleichen
tung Ihrer Vorbildung und alle Ihre Denkgewohn- »Mechanismen« manifestieren, die auch die Neurose
heiten Sie unvermeidlich zu Gegnern der Psychoana- bestimmen. Einer konventionellen Einstellung wür-
lyse machen müßten und wieviel Sie in sich zu den diese Subtilitäten entgehen. Psychoanalytische
überwinden hätten, um dieser instinktiven Gegner- Tatsachen erschließen sich erst dem, der bereit ist,
schaft Herr zu werden« (GW XI, 8). solche Denk-Konventionen zu »überwinden«. Psy-
98 Werke und Werkgruppen

choanalytische Tatsachen, so scheint Freud mit seiner Manifestationen des Seelischen ein sinnhaftes Ge-
hörerorientierten Rhetorik sagen zu wollen, gibt es schehen zu entziffern.
erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ord-
nung. Während eines Gesprächs sind die Beteiligten
Paradoxales Traumwissen
wechselseitig immer Zuhörer, also Beobachter und
können nicht anders als das Gehörte »deuten«. Dabei Bei der Einführung in die zweite große Vorlesungs-
fällt dem Konversationsanalytiker Schegloff (2000) gruppe über den Traum kann er an das bei den Fehl-
auf: »Wenn eine Äußerung vor ihrer Vervollständi- leistungen schon Entwickelte anknüpfen. »Wir
gung abgebrochen wird und man danach fragt, was wollen den Sinn der Träume nachweisen, als Vorbe-
mit dem unterdrückten Äußerungsanteil geschieht, reitung zum Studium der Neurosen […] denn das
läßt sich manchmal feststellen, daß das unterdrückte Studium des Traumes ist nicht nur die beste Vorbe-
Objekt dann plötzlich im späteren Verlauf des Ge- reitung für das der Neurosen, der Traum selbst ist
sprächs auftaucht« (ebd., 3). Um es beobachten zu auch ein neurotisches Symptom, und zwar eines, das
können, kann man sich nicht als »normaler Ge- den für uns unschätzbaren Vorteil hat, bei allen Ge-
sprächsteilnehmer« verhalten. Man muß beobachten, sunden vorzukommen« (GW XI, 79).
wie die Teilnehmer sich gegenseitig beobachten. Eben Auch hier geht es um Sinn. Die Traum-Bildung
dies vollzieht Freud in schöner Vorwegnahme späte- wird erklärt in Analogie zu den Fehlleistungen. Der
rer wissenschaftlicher Entwicklungen; Schegloff er- manifeste Traum entspricht der – entgleisten – Rede;
wähnt Freuds Theorie der Fehlleistungen nicht, wor- er ist Kompromißprodukt eines Konflikts latenter
auf Kazanskaya und Kächele (2000) zu Recht hin- Traumgedanken, die sich unter dem Einfluß der
weisen. Traumzensur nicht haben äußern dürfen. Der Traum
Im Alltagsdialog werden Fehlleistungen meist als ist so wenig sinnloses seelisches Produkt wie die Fehl-
müdigkeitsbedingt oder zufällig abgetan. Die Kon- leistung, er hat Bedeutung. Hier treffen wir die ver-
vention, sie nicht ernst zu nehmen, schließt sich über schiedenen Beobachtungsstufen wieder, diesmal im
ihnen stets rasch, man überhört sie oder lacht ge- Verhältnis einer träumenden Person zu sich selbst.
meinsam darüber. Das ist soziale Praxis, die Schegloff »Ich sage Ihnen nämlich, es ist doch sehr wohl mög-
materialgenau an Transkripten analysiert. Die Kon- lich, ja sehr wahrscheinlich, daß der Träumer es doch
vention ist zugleich konversationelle Praxis, die die weiß, was sein Traum bedeutet, nur weiß er nicht, daß
Irritation gemeinschaftlich vermeidet – und eben das er es weiß, und glaubt darum, daß er es nicht weiß«
kann nur analysiert werden, wenn man diese Praxis (GW XI, 98).
der vermeidenden Beobachtung beobachtet. Im Alltag Dieser »Glaube« kann wiederum beobachtet wer-
mag diese Praxis eine Ressource zur Wiederherstel- den als Teil derjenigen seelischen Kraft, die den
lung der Konvention sein, aber der Wissenschaftler Traum als sinnlos erscheinen lassen will, sich dafür
Freud macht sie zum Gegenstand seiner Beobach- aber in ein solches Paradoxon verstrickt. Das erfährt
tung; er beobachtet, wie im Alltag das Unbewußte der Träumer, wenn er sich von der Gesamtgestalt des
»weg«-beobachtet, d. h. ignoriert wird. Sind die manifesten Traumes löst und seine latenten Traum-
Dinge aber erst einmal in den Fokus der Aufmerk- gedanken zu den einzelnen Traumbestandteilen mit-
samkeit geraten, kann Freud immer wieder zeigen: so teilt; die Lockerung des assoziativen Netzes der Ein-
verschieden ist das, was Normalbürger tun, von dem fälle macht latente Traumgedanken sichtbar, deren
nicht, was Neurotiker tun. Auf die medizinische Un- deutende Verknüpfung auf der Ebene zweiter oder
terscheidung »gesund/krank« will er mit Nachdruck höherer Ordnung erfolgt. Dann wird erkennbar, daß
verzichten, und so wiederholt er noch im hohen Al- die latenten Traumgedanken einen Wunsch enthal-
ter, im Abriß der Psychoanalyse von 1938/1940: »Wir ten, der sich im manifesten Traum entstellt erfüllt.
haben erkannt, daß die Abgrenzung der psychischen Freud hält an der Wunscherfüllungstheorie des Trau-
Norm von der Abnormalität wissenschaftlich nicht mes fest, verdeutlicht aber mit Nachdruck, diese
durchführbar ist, so daß dieser Unterscheidung trotz These beziehe sich nicht auf den manifesten, sondern
ihrer praktischen Wichtigkeit nur ein konventioneller auf den latenten Traum. Und er wundert sich, daß
Wert zukommt« (GW XVII, 125). seine vielfachen Klarstellungen, es gehe keineswegs
Statt dessen beobachtet er vom Standpunkt der nur um sexuelle Wünsche, von seinem Publikum so
Beobachtung zweiter Ordnung die alltagspraktische oft überhört wurden. Er beobachtet auch hier, wie
Unterscheidung von »normal/nicht-normal« als eine diese Zuhörer ihn beobachtet haben. Wiederum mit
der konventionellen sozialen und kulturellen Praxis. Bezug auf die »Tatsachen« läßt er wissen, welche
Das erste ermöglicht ihm, noch in den flüchtigsten neue Einstellung sich auf dieser logisch höheren
Vorlesungen und einführende Schriften 99

Ebene ergibt: »Es heißt demütig sein, seine Sympa- Daß dieser »Andere« im Ursprung schon in Freuds
thien und Antipathien zurückstellen, wenn man er- Perspektive die Mutter ist, kann hier nur angedeutet
fahren will, was in dieser Welt real ist« (GW XI, werden. Sie spricht den unorganisiert scheinenden,
146). den zappelnden kindlichen Äußerungen Absicht, In-
Es hat systematische Form, wie Freud seine These tentionalität, Planung und sinnhafte Gestalt zu – und
von der Wunscherfüllung selbst gegen den Einwand dadurch wird aus Verhalten Handlung. Sie gibt Sinn.
der Angst- und Strafträume begründet, bei denen Sinn liegt nicht »im« Verhalten, sondern in der Art,
doch offensichtlich keine Wünsche erfüllt werden. wie dies wahrgenommen wird. Bedeutung, so der
Hier greift er auf die Analogie eines Märchens zu- evolutionäre Anthropologe Burling (2000), entsteht,
rück. Eine Fee bietet einem älteren Ehepaar drei wenn ein Hörer etwas als Zeichen auffaßt. So findet
Wünsche frei. Während die beiden beraten, dringt die zappelnde »erste« Rhetorik des Kindes Resonanz
der Duft einer gebratenen Wurst in die Nase der Frau durch die »zweite« Rhetorik der Mutter, die die erste
und sie ruft aus, jetzt hätte sie gerne ein solches Brat- beobachtet, sprich: interpretiert, nämlich im Vollzug
würstchen. Sofort ist es da und darüber ist der Mann ihrer Liebe und der Erziehung. Mütter nutzen ihr in-
so verärgert, daß er wünscht, die Würstchen mögen tuitives Wissen um die Zuständlichkeit ihres Kindes,
der Frau an der Nase baumeln. Da sich auch das so- die baby-watcher haben uns genau beschrieben, wie
fort erfüllt, bleibt beiden nur, als dritten Wunsch die sich das wiederum beobachten läßt (Shotter/Newson
Rückgängigmachung des zweiten zu wünschen – und 1982; Stern 1985). Sie »interpretieren« im Vollzug.
demütig gegen die sofortige Wunscherfüllung zu »Interpretation« ist ganz praktisch zu verstehen.
werden. Den Sinn dieser kleinen Belehrung für das Als solche dialogische Rhetorik stellt Freud im Brat-
Thema der Angst- und Strafträume nutzt Freud nun wurst-Vergleich seinen Hörern die Umwandlung der
zur Erläuterung, wie Wünsche zugleich Strafen sein latenten Traumgedanken in den manifesten Traum
können. vor. Latente Traumgedanken erfahren Widerspruch
durch die Zensur, der sie sich fügen, indem sie sich
»[…] die Bratwürstchen auf dem Teller sind die direkte
Wunscherfüllung der ersten Person, der Frau; die Würstchen verstellen, ihren affektiven Gehalt auf andere The-
an ihrer Nase sind die Wunscherfüllung der zweiten Person, men verschieben oder sich mit anderen Themen ver-
des Mannes, aber gleichzeitig auch die Strafe für den törichten dichten, so daß die Zensur umgangen werden kann.
Wunsch der Frau. Bei den Neurosen werden wir dann die Mo- Dabei müssen sich die Traumgedanken in Bilder ver-
tivierung des dritten Wunsches, der im Märchen allein noch
übrigbleibt, wiederfinden. Solcher Straftendenzen gibt es nun wandeln, sie müssen »Rücksicht auf Darstellbarkeit«
viele im Seelenleben des Menschen; sie sind sehr stark, und nehmen. Die Rücksicht auf Darstellbarkeit zusam-
man darf sie für einen Anteil der peinlichen Träume verant- men mit Verdichtung und Verschiebung faßt Freud
wortlich machen. Vielleicht sagen Sie jetzt, auf diese Weise als Mechanismen der Traumarbeit zusammen. Es ist
bleibt von der gerühmten Wunscherfüllung nicht viel übrig.
Aber bei näherem Zusehen werden Sie zugeben, daß Sie un- die Leistung der Traumarbeit, latente Gedanken in
recht haben. Entgegen der später anzuführenden Mannigfal- einen manifesten Traum umzuwandeln.
tigkeit dessen, was der Traum sein könnte, – und nach man- Die latenten Gedanken wandeln sich unter der Be-
chen Autoren auch ist –, ist die Lösung – Wunscherfüllung – dingung von Traum und Schlaf in Bilder um, neh-
Angsterfüllung – Straferfüllung doch eine recht eingeengte.
Dazu kommt, daß die Angst der direkte Gegensatz des Wun- men andere Gestalt an. Deshalb warnt Freud davor,
sches ist, daß Gegensätze einander in der Assoziation beson- den manifesten Traum von seinem Bildwert her zu
ders nahe stehen und im Unbewußten, wie wir gehört haben, lesen, man müsse ihn vielmehr wie ein Bilderrätsel
zusammenfallen. Ferner, daß die Strafe auch eine Wunscher- auffassen. Hier stellen Bilder Denkzusammenhänge
füllung ist, die der anderen, zensurierenden Person« (GW XI,
224 f.). dar, aber die Darstellung als Bild täuscht über den
gedanklichen Inhalt. Das Visuelle des Traums ist, im
Man darf das als Beispiel für geschickte Belehrung Sinne der ersten Rhetorik, jene Bilderschrift, die
lesen; es ist aber auch eines für das Grundprinzip, durch die zweite Rhetorik narrative Form erhält
wie Freud den »psychischen Apparat« aufgebaut (Stockreiter 2000).
sieht: als Mehrpersonendrama. Der Wunsch des Ei- Die Deutung des Traums kann die Ästhetik der
nen kann die Strafe des Anderen sein, der Wunsch zu Traumarbeit im Ergebnis des manifesten Traums
strafen kann den Anderen ängstigen. Nicht nur hän- würdigen, v. a. aber wird sie in den Einfällen die ver-
gen Wunsch und Strafe eng zusammen, die seelische schiedenen Stimmen zu berücksichtigen haben, die
Konstitution ist selbst auf diese Weise aufgebaut. Der in der Traumgestalt erst hörbar werden, sobald man
»Nebenmensch«, wie er in einer an Goethe erinnern- diese durch die freien Assoziationen zerbricht. Das
den Wendung öfter formuliert, repräsentiert auch führt Freud an vielfachen Beispielen überzeugend
eine andere seelische Seite bzw. diese den Anderen. vor und gestaltet eben dadurch im Hinblick auf seine
100 Werke und Werkgruppen

Hörer jene Beziehungsform, von der er gerade mit Neurosenlehre


ihnen spricht: er gibt dem unverständlichen Traum-
gezappel Sinn. Damit führt er ihnen ad oculos vor, Doch das Unbewußte hat eigene Kraft und die be-
wie die Traumdeutung bei ihrer Rekonstruktion ver- kommt der praktische Analytiker zu spüren, wenn er
fährt: sie muß die dialogische Struktur des Traums Kranke behandelt, wovon die Neurosenlehre handelt.
selbst als dessen Konstruktionsprinzip berücksichti- Auch hier treffen wir sofort wieder auf die beiden
gen und kann nur so die »Osmose« zwischen dem Ebenen des Wissens, die aus der Beobachtung der
Unbewußten und dem Visuellen (Pontalis 1992) be- Beobachtung entstehen: »Was müssen wir tun, um
leuchten. das Unbewußte bei unserem Patienten durch Bewuß-
Die Deutung des Traums ist dann kein erkenntnis- tes zu ersetzen? Wir haben einmal gemeint, das ginge
theoretisches Unternehmen allein, das Tatsachen des ganz einfach, wir brauchten nur dies Unbewußte zu
Seelischen in abstinenter Kühle objektivierend unter- erraten und es ihm vorzusagen. Aber wir wissen
sucht, sondern sie will die Traumerfahrung einholen, schon, das war ein kurzsichtiger Irrtum […] Unser
indem sie Schritt für Schritt re-konstruiert, was der Wissen um das Unbewußte ist nicht gleichwertig mit
Traum konstruiert hat. Die Position der Traumdeu- seinem Wissen; wenn wir ihm unser Wissen mittei-
tung kann wegen der dialogischen Struktur nur wie- len, so hat er es nicht an Stelle seines Unbewußten,
derum Beobachtung zweiter (oder höherer) Ord- sondern neben demselben, und es ist sehr wenig ge-
nung sein: sie beobachtet, wie die zweite die erste ändert« (GW XI, 453).
Rhetorik »beschreibt«. Das geeignete sprachliche Zwei Arten von Wissen entstehen so, die durch ei-
Mittel zur Bewältigung der dabei entstehenden Kom- nen Widerstand getrennt gehalten werden. Dasselbe
plexität ist deshalb die Metapher oder verwandte fi- wird gewußt, aber auf verschiedene Weise. Das vom
gurative Sprachformen (wie Märchen, Gleichnis und Analytiker gehörte Wissen und das Reale des Unbe-
Allegorie), weil die Metapher an der Grenze zwischen wußten, demgegenüber Freud bezeugt, demütig ge-
erster und zweiter Rhetorik gebildet wird. Hier in- worden zu sein, fallen erst zusammen, wenn der Wi-
tegrieren sich Visualität und artikulierter Gedanke zu derstand überwunden ist. Der richtet sich nun gegen
einer neuen Einheit (vgl. Buchholz 2003), eben der bestimmte unbewußte Konflikte, wie den Ödipus-
Sprachfigur der Trope. Figurative Sprachformen ar- komplex, aber auch gegen Geschwisterkomplexe, Ei-
tikulieren in geeigneter Weise dann das Unbewußte fersuchts- und Neiddramen. Die unterschiedlichen
und schützen zugleich gegen den Einbruch einer Lösungen des Ödipuskomplexes machen die mani-
Realität, die den Traum zerstören, den Schläfer zum feste Gestalt der verschiedenen neurotischen Bilder
Aufwachen treiben müsste. »Das Unbewußte be- aus, wenn Teile der Persönlichkeit an diese Dramen
schützt uns«, formulierte Christopher Bollas im Ge- fixiert bleiben. Werden die darin gebundenen Ener-
spräch (Buchholz/Altmeyer 2001). gien durch die analytische Arbeit frei, kann man die
Das Reale ist für Freud die dialogische Struktur des Entdeckung machen, daß ihre besondere Besetzung,
Unbewußten. So hat es nicht nur eigenen Sinn, son- nämlich ihre libidinöse oder aggressive Aufladung
dern auch eigenen Bestand und eigene Kraft, etwa bei sich auf den behandelnden Arzt richten, der nun be-
der Schilderung jener Symbole, zu denen die Einfälle obachten muß, wie der, der doch Hilfe annehmen
des Träumers versagen. Lange zigarrenförmige Ge- wollte, sie vehement ablehnt und statt dessen den
genstände im Traum wie etwa ein Zeppelin seien im- Arzt bekämpft oder von ihm Liebe fordert: »Man
mer als Phallus/Penis zu deuten, etwa. An dieser Auf- hört nun aber unter diesen Umständen mit Erstau-
fassung von den Traumsymbolen hat sich die psycho- nen Äußerungen von seiten der Frauen und Mäd-
analytische Kontroverse damals schon entzündet chen, welche eine ganz bestimmte Stellungnahme
(Jones 1970; Ferenczi/Rank 1924/1996), denn die zum therapeutischen Problem bekunden: sie hätten
Frage ist ja: Woher kennt Freud die Bedeutungen die- immer gewußt, daß sie nur durch die Liebe gesund
ser Symbole? Tatsächlich bleibt Freud die Antwort werden können, und von Beginn der Behandlung er-
schuldig, er verweist nur kursorisch auf den Einfluß wartet, daß ihnen durch diesen Verkehr endlich ge-
von Mythen, Volksgut und altem Wissen. Das aber schenkt werde, was ihnen das Leben vorenthalten
könnten auch seine Patienten haben. Tatsächlich ist (hat)« (GW XI, 458). – Die Beziehung zum Arzt hat
dieses Stück seiner Theorie eher schwach – er gibt den Namen »Übertragung« bekommen. Sie ist im-
fast die mühsam errungene Position des Beobachters mer der Versuch, den Analytiker zu bewegen, die Be-
zweiter Ordnung auf, wenn er ein exklusives Wissen obachtungsposition höherer Ordnung zu verlassen,
über Symbole beansprucht. sie selbst nicht einnehmen zu müssen und sie gegen
reale Befriedigung einzutauschen.
Vorlesungen und einführende Schriften 101

Freud hat an der Traumdeutung das dialogische Koryphäen hat er ins Deutsche übersetzt. Und er
Modell für die Deutung der Übertragung entwickelt. stellt fest, daß diese Autoritäten die Herkunft der
Er muß Liebesforderungen oder aggressive Feindse- Suggestibilität nicht anzugeben wußten, vor allem
ligkeit nur als Äußerungen der ersten Rhetorik auf- nicht deren Abkunft von Sexualität und Betätigung
fassen und ihnen nun mit Mitteln der zweiten Rheto- der Libido in den Manifestationen der Übertra-
rik jenen Sinn verleihen, der ihnen so zukommt, daß gung:
das Subjekt sich daran artikulierend entfaltet – er »Soweit seine Übertragung von positivem Vorzeichen ist, be-
muß also eine narrative Form anbieten, die das Ge- kleidet sie den Arzt mit Autorität, setzt sie sich in Glauben an
schehen so rahmt, daß sein Sinn erkennbar wird. Das seine Mitteilungen und Auffassungen um. Ohne solche Über-
eine Angebot narrativer Formen ist die Lehre von der tragung, oder wenn sie negativ ist, würde er den Arzt und
dessen Argumente nicht einmal zu Gehör kommen lassen. Der
menschlichen Sexualität und ihrer Entwicklung, das Glaube wiederholt dabei seine eigene Entstehungsgeschichte;
andere ist die des Ödipuskomplexes. Wie Fehlleistun- er ist ein Abkömmling der Liebe und hat zuerst der Argumente
gen und Traum haben neurotische Symptome einen nicht bedurft. Erst später hat er ihnen so viel eingeräumt, daß
Sinn, sie sind »Ersatz für etwas anderes, was unter- er sie in prüfende Betrachtung zieht, wenn sie von einer ihm
lieben Person vorgebracht werden. Argumente ohne solche
blieben ist« (GW XI, 289). Stütze haben nicht gegolten, gelten bei den meisten Menschen
Die Aufschlüsselung ihres Sinns führt erneut zu niemals im Leben etwas. Der Mensch ist also im allgemeinen
der Einsicht, daß Sexualität eine dialogische Tatsache auch von der intellektuellen Seite her nur insoweit zugänglich,
des menschlichen Lebens ist, von der Freud die be- als er der libidinösen Objektbesetzung fähig ist […]« (GW XI,
463).
kannten Erweiterungen nun vornimmt: Schon die
Äußerungen des Säuglings sind von einer Lustsuche Die Ermöglichung solcher Besetzung ist deshalb er-
bestimmt, die sich um bestimmte Körperzonen, die stes Ziel in der analytischen Behandlung. Freud ist
als erogen ausgezeichnet werden, gruppieren. Ihre hier ganz realistisch: Wie auch der Lehrer oder der
Kraft richtet sich auf die nächsten Personen, das sind Anwalt braucht er zunächst Glauben, der sich durch
die Eltern. Der Vater wird dabei vom Knaben als Ri- die Person des Arztes trägt. Argumente und ihre Prü-
vale bei der Mutter bekämpft und an dieser fami- fung sind erst späte Erwerbungen. Diese Betonung
liären Konstellation bildet Freud sein narratives For- des Glaubens ist übrigens durch die neuere Psycho-
mat des Ödipuskomplexes aus. In der Tat: hat man therapieforschung (überzeugend: Wampold 2001)
einem Patienten erst einmal den Ödipuskomplex er- durchaus gewürdigt worden; der Patient muß Sinn
läutert, richtet sich aller Widerstand gegen ihn, vor herstellen können zwischen seiner Störung, dem an-
allem wird er den Arzt der Lächerlichkeit preiszuge- gebotenen Behandlungsvorschlag und der Art und
ben suchen. Genau damit aber wiederholt er, so zeigt Weise, wie der Behandler seine Vorschläge vertritt.
Freud, den Kampf gegen den Vater und indem diese Argumente für »wissenschaftlich nachgewiesene Me-
Wiederholung wiederum zeigt, wie sehr der Patient thoden« überzeugen nicht, wenn die Integrität des
in dieser narrativen Form gefangen ist, wird er all- Behandlers sie nicht gewährleistet und wenn der Pa-
mählich genötigt, sie aufzugeben. Er muß schließlich tient keinen sinnreichen Zusammenhang mit seiner
Verzicht üben und eigene, außerödipale Ziele im Le- Störung nachvollziehen kann.
ben zu realisieren suchen. Die narrative Form dient Freud ist hier zupackend, gerade als Wissenschaft-
Freud als Rahmung des »Materials«, sie schafft Kohä- ler. In der letzten Vorlesung erläutert er seine Hal-
renz, wo andere nur sinnloses Gezappel sähen. Sie tung als Wissenschaftler in einem illustrativen Ver-
schafft in diesem Sinne jene Tatsachen, die andere zu gleich. Die Wissenschaft gehe nicht nur experimen-
beobachten und vorzufinden erwarten – und deshalb tell vor, schon dem Astronomen müsse das Experi-
nicht sehen. mentieren mit den Himmelskörpern schwer fallen.
Vielmehr verknüpfe der Wissenschaftler verschiedene
lose Enden miteinander, prüfe ihre Passung, halte
Doch nur Suggestion?
sich für neue unerwartete Momente offen und
Hier kommen kritische Einwände. Ist es nicht so, daß schließlich gewinne er eine Überzeugung, die er mit
also doch mit Suggestion gearbeitet wird? Sieht der Offenheit für Kritik vertrete. Es sei nicht wahr, daß
Deuter nicht doch nur, was er weiß? Drängt der Ana- die Wissenschaft »blind von einem Versuch zum an-
lytiker nicht auf, was er zu finden meint? Freud er- dern torkelt, einen Irrtum mit einem anderen ver-
läutert seinen Hörern die Herkunft der analytischen tauscht. In der Regel arbeitet sie wie der Künstler am
Technik aus der Suggestion, von der er sich bei Char- Tonmodell, wenn er am rohen Entwurf unermüdlich
cot in Paris, dann aber auch bei Bernheim in Nancy ändert, aufträgt und wegnimmt, bis er einen ihn be-
genügend Anschauung verschafft hat. Bücher beider friedigenden Grad von Ähnlichkeit mit dem gesehe-
102 Werke und Werkgruppen

nen oder vorgestellten Objekt erreicht hat« (GW XV, Er rät ab, weiblich und passiv gleichzusetzen und
188 f.). meint: »Dabei müssen wir achthaben, den Einfluß
Dies Modellieren des Objekts basiert somit – ver- der sozialen Ordnungen nicht zu unterschätzen, die
gleichbar dem Künstler – auf einem intuitiven Vor- das Weib in passive Situationen drängen. Das ist alles
wissen, von dem Freud vielfach Beispiele gegeben noch sehr ungeklärt« (ebd., 123). Und wenn er sei-
hat. Bei den Fehlleistungen war es der Fall, wenn ei- nen Eindruck beschreibt, »daß das kleine Mädchen
ner den Namen einer Person zu finden versucht, den intelligenter, lebhafter ist als der gleichaltrige Knabe«
er gerade nicht erinnert – hier erkennt er die richtige (125), sieht man, wie hoch Freud den Einfluß der
Lösung sofort, wenn sie ihm etwa zugerufen wird. »sozialen Ordnung« eingeschätzt hat; sie schränkt
Dann stellt sich der »befriedigende Grad von Ähn- das Mädchen ein. Das Mädchen aber muß auch das
lichkeit« als Evidenzüberzeugung schnell ein. Im erste Liebesobjekt, die Mutter, gegen den Vater tau-
Traum ist es das dialogische Modell, wo die zweite schen, es muß die erogene Reizbarkeit von Klitoris zu
Rhetorik die erste artikuliert; wir haben gesehen, daß Vagina verschieben – und daran ist von feministi-
dies der Mutter-Säuglings-Interaktion nachgebildet scher Seite besonders viel Kritik geübt worden. Für
ist. Die Mutter »weiß« etwas von ihrem Säugling und die psychoanalytische Theoriebildung aber ist es von
wenn es das Richtige ist, stellt sich wiederum der be- Vorteil, daß Freud bei der Diskussion der Weiblich-
friedigende Grad von Ähnlichkeit her. Darin liegt al- keit dazu gelangt, der präödipalen Mutterbindung
les Potential für Verkennungen, denn natürlich ver- eine erhebliche Rolle zuzubilligen. Deshalb sieht er
kennen Mütter oft genug ihre Kinder. Aber Freud den Kastrationskomplex anders verlaufen. Die jun-
will uns hier anscheinend Mut zu einem solchen Vor- gen Mädchen entwickeln die Phantasie, die Mutter
wissen machen. In der Praxis der Neurosenlehre, in sei für den Penismangel verantwortlich und diese
der Behandlungssituation also, kommt es genau dar- (vermeintliche) Benachteiligung können sie kaum
auf an, daß der Analytiker den Vorentwurf seines Pa- verzeihen. Während beim Knaben die Androhung
tienten versteht, ihm eine narrative Form anbietet der Kastration den Untergang des Ödipuskomplexes
und so das Selbst des Patienten Gestalt zu werden einleitet, werde er durch die Entdeckung der »Kastra-
eine Chance bekommt. Hier wird das Thema der un- tion« beim Mädchen erst geschaffen. Freud weiß, wie
bewußten Kommunikation vorbereitet. »unvollständig und fragmentarisch« (145) das ist,
was er zur Weiblichkeit vorzutragen hat, und man
spürt seinen Formulierungen die Unzufriedenheit
Neue Folge der Vorlesungen (1933)
an; das »Rätsel Weib« hat sich ihm nicht vollständig
Zur Zeit der Neuen Folge der Vorlesungen von 1933 erschlossen.
(GW XV, 1–197) hatte Freud längst theoretische Um- Wenig Aufmerksamkeit ist seiner mühevollen Aus-
bauten vorgenommen. Er hatte das topische Modell einandersetzung mit der Telepathie in weiteren Vor-
mit der Unterscheidung bewußt/unbewußt aufgege- lesungen gezollt worden. Schon zu Beginn der Neuen
ben. Die Abwehrleistungen des Ich mußten als unbe- Folge (GW XV, 6) gibt er den merkwürdig scheinen-
wußt aufgefaßt werden. Abwehr kann jedoch nicht den Hinweis, die Traumlehre sei zwar »das Kenn-
als unbewußte Leistung eines »Bewußtseins« be- zeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wis-
schrieben werden; ein solcher Widerspruch mußte senschaft« geblieben, aber sie sei auch »der Mystik
gelöst werden, indem Freud die psychischen »Instan- abgewonnen« worden. Zu Beginn der Vorlesung über
zen« nun im Strukturmodell als Es, Ich und Überich »Traum und Okkultismus« wiederholt er diesen Hin-
bezeichnet. Dann kann man von unbewußten Lei- weis (ebd., 32) auf die Mystik, um später erneut die
stungen sowohl des Ich wie auch des Überich spre- Psychoanalyse mit »gewissen mystischen Praktiken«
chen und hat auf diesem Weg sogleich eine Möglich- zu vergleichen, denen es »gelingen mag, die norma-
keit gefunden, das unbewußte Schuldgefühl mit dem len Beziehungen zwischen den einzelnen seelischen
Überich in Verbindung zu bringen. Auch seine Auf- Bezirken umzuwerfen, so daß z. B. die Wahrneh-
fassungen von der Weiblichkeit werden zusammen- mung Verhältnisse im tiefen Ich und im Es erfassen
gefaßt und teils neu formuliert, etwa in der Vorlesung kann, die ihr sonst unzugänglich waren« (86)
»Die Weiblichkeit«: »Den Analytikern sage ich zu we- Wenn man bedenkt, daß die psychoanalytische Si-
nig und überhaupt nichts Neues, Ihnen aber zu viel tuation in der Tat Ähnlichkeit mit meditativer Praxis
und solche Dinge, für deren Verständnis Sie nicht hat, ist der Vergleich mit mystischer Versenkung so
ausgerüstet sind« (GW XV, 119). Man muß »ausge- abwegig nicht. Wir sehen einen auch spirituellen
rüstet« sein für die psychoanalytische Wahrneh- Freud (Stein 1997), den eine nur wissenschaftlich
mung, will er erneut zum Ausdruck bringen. orientierte Rezeption unterschlägt.
Vorlesungen und einführende Schriften 103

Freud beschäftigt sich mit der Möglichkeit des Ge- Befunden, die sich ergeben, wenn man Mutter und
dankenlesens und illustriert dies mit zahlreichen Bei- Kind gleichzeitig in Analyse hat. Freud beruft sich
spielen. Sie sind detailreich und kaum wiederzuge- hier auf Dorothy Burlinghams erste behandlungs-
ben. Immerhin aber formuliert er gegen die wissen- technische Versuche. Die Osmose der Kommunika-
schaftlichen Skeptiker: »Wenn man sich für einen tion wird zwischen Mutter und Kind am intensivsten
Skeptiker hält, tut man gut daran, gelegentlich auch sein; diese Kommunikationsform nicht abzulehnen,
an seiner Skepsis zu zweifeln« (GW XV, 57) und er ist Freuds Anregung. Freud ist dabei ganz der Wis-
will seinen Hörern »nahe legen, über die objektive senschaftler, der seine Skepsis skeptisch betrachtet
Möglichkeit der Gedankenübertragung und damit (erneut eine Beobachtung zweiter Ordnung) und ge-
auch der Telepathie freundlicher zu denken« (ebd., rade deshalb nicht leugnen kann, daß es hier etwas
58). Die Annahme, daß ein seelischer Akt des Einen zu entdecken gibt, wovon andere wie die Mystiker
den entsprechenden seelischen Akt beim Anderen ahnungsvoll sprachen.
anregt, ist für einen Psychoanalytiker so fremd nicht. Freud scheint recht behalten zu haben, die Wissen-
Das Receiver-Gleichnis, wonach der Analytiker sein schaft (Görnitz/Görnitz 2002, 2005) beginnt, diese
Unbewußtes dem des zu Analysierenden so einstellen Dinge in der Tat zu klären. Die neuere psychoanalyti-
solle wie der Telefonhörer gegenüber der Muschel, sche Forschung hat hier den Begriff des »impliziten
verwendet Freud immerhin, um den Kern der analy- Beziehungswissens« ausgebildet (Stern 1998; Brusch-
tischen Haltung zu beschreiben. Vielfach weist er an weiler-Stern u. a. 2002; Stern 2004). Er bringt zur
anderen Stellen darauf hin, daß es diese Möglichkeit Geltung, wie Teilnehmer einer gemeinsamen Interak-
der unvermittelten Wahrnehmung im menschlichen tion ihre Erfahrung jenseits der Worte teilen. Erfah-
Verkehr gibt. In der Neuen Folge der Vorlesungen er- rung ist gemeinsam und körpernah, verbunden und
folgt der Hinweis auf die familiären Beziehungen, in- prozedural; Wissen hingegen abstrakt, deshalb ge-
dem Freud annimmt, das Kind verstehe das Unbe- trennt und repräsentational-symbolisch. Erfahrung
wußte seiner Eltern, weshalb die Erziehung weniger geht voraus. Vergleichbar ist diese Art über implizites
von bewussten Prinzipien als vielmehr vom elterli- Beziehungswissen zu denken der erstmaligen Be-
chen Über-Ich geleitet sei. Freud hält die unbewußte schreibung eines »bi-personalen« Feldes durch die
Kommunikation für eine archaische Möglichkeit: südamerikanischen Psychoanalytiker Baranger und
»Was zwischen den beiden seelischen Akten liegt, kann leicht Baranger (1966). Das ist neuerdings von dem italie-
ein physikalischer Vorgang sein, in den sich das Psychische an nischen Analytiker Ferro (2002, 2003) aufgegriffen
einem Ende umsetzt und der sich am anderen Ende wieder in und subtil weiterentwickelt worden. Auch ergeben
das gleiche Psychische umsetzt. Die Analogie mit anderen Um-
setzungen wie beim Sprechen und Hören am Telefon wäre
sich erneut Bezüge zu Lorenzer (1970, 1974) und Ar-
dann unverkennbar. Und denken Sie, wenn man dieses physi- gelander (1967). Die therapeutische Interaktion kann
kalischen Äquivalents des psychischen Akts habhaft werden als »Szene« beschrieben werden, an der beide Betei-
könnte! Ich möchte sagen, durch die Einschiebung des Unbe- ligte teilhaben. Freud legt in der dialogischen Anlage
wußten zwischen das Physikalische und das bis dahin ›psy-
chisch‹ Genannte hat uns die Psychoanalyse für die Annahme
seiner Vorlesungen den Grundstein dazu.
solcher Vorgänge wie die Telepathie vorbereitet. Gewöhnt man Michael B. Buchholz
sich erst an die Vorstellung der Telepathie, so kann man mit ihr
viel ausrichten, allerdings vorläufig nur in der Phantasie. Man
weiß bekanntlich nicht, wie der Gesamtwille in den großen Die Frage der Laienanalyse (1926)
Insektenstaaten zustande kommt. Möglicherweise geschieht es
auf dem Wege solch direkter psychischer Übertragung. Man Freud fand früh, daß die Psychoanalyse über die
wird auf die Vermutung geführt, daß dies der ursprüngliche, Grenzen der Medizin hinausreiche, sowohl was das
archaische Weg der Verständigung unter den Einzelwesen ist, Potential ihrer psychologischen Annahmen als auch
der im Lauf der phylogenetischen Entwicklung durch die bes-
sere Methode der Mitteilung mit Hilfe von Zeichen zurück-
was ihre Praxis betraf. Nach 1918 ermutigte er einige
gedrängt wird, die man mit den Sinnesorganen aufnimmt. seiner nicht-ärztlichen Schüler zur analytischen Tä-
Aber die ältere Methode könnte im Hintergrund erhalten blei- tigkeit, darunter Theodor Reik, der deshalb standes-
ben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchsetzen, und strafrechtliche Schwierigkeiten bekam (Fallend
z. B. in leidenschaftlich erregten Massen« (GW XV, 59).
1995, 130–140). Sie waren der Anlaß zur Nieder-
Von Möglichkeiten unbewußter Kommunikation ist schrift von Die Frage der Laienanalyse (GW XIV,
Freuds Denken erfüllt, seine Hinweise in anderen 207–286) (»Laie« = Nicht-Arzt). Hinzu kam, daß
Texten lassen sich nicht übersehen. Wie um einen Be- sich in der Internationalen Psychoanalytischen Ver-
leg dafür zu liefern, daß er deren Ursprung in der einigung (IPV) ein Konflikt um die Frage der Vor-
Mutter-Kind-Situation sieht, beschließt er die Vorle- qualifikation des Analytikers anbahnte (Schröter
sung über die Telepathie mit den (damals) neueren 2002), den Freud mit dem kleinen Buch, das im Juni/
Juli 1926 entstand, beeinflussen wollte.
104 Werke und Werkgruppen

Der Text ist mit literarischem Gusto als Dialog in- sonderen analytischen Ausbildung und das Verständ-
szeniert. Als Partner imaginiert Freud einen »Unpar- nis der Psychoanalyse als »Psychologie«, sogar als de-
teiischen«, mit dessen historischem Vorbild, dem ren »Fundament«, und als Wissenschaft, die nicht
Vorsitzenden des Wiener Landessanitätsrats Arnold von der Therapie »erschlagen« werden dürfe (ebd.,
Durig, er 1924 wirklich über den Fall Reik verhandelt 289, 291). Aus seinem Widerspruch gegen seine New
hatte (Schröter 2003). Freud beschreibt seinem Ge- Yorker Anhänger, die ein ärztliches Monopol auf die
genüber die analytische Therapie, stellt die Postulate Ausübung der Psychoanalyse vertraten, wurde für die
eines Ich und eines Es vor, führt die Triebe ein und Publikation eine scharfe Passage von drei Drucksei-
die Verdrängung, charakterisiert die Eigenart und ten gestrichen (Grubrich-Simitis 1993, 226–229).
Bedeutung der infantilen Sexualität. Alle diese Aus- Freuds rückblickendes Fazit lautete (F/E, 596): »Un-
führungen haben den Zweck zu zeigen, daß man für zweifelhaft war meine Schrift über die Laienanalyse
die Ausübung der Analyse wenig medizinisches Wis- ein Schlag ins Wasser. Ich habe mich bemüht, ein
sen brauche, dagegen »viel Psychologie und ein Stück analytisches Gemeingefühl zu wecken, das sich dem
Biologie oder Sexualwissenschaft« (GW XIV, 247). ärztlichen Standesbewußtsein entgegenstellen sollte,
Danach geht es um die psychoanalytische Deutung, aber es hat keinen Erfolg gehabt.«
die Widerstände des Patienten gegen den Erfolg der Michael Schröter
Therapie und um die Übertragung. Die behand-
lungstechnischen Komplikationen, die sich dadurch Literatur
Argelander, Hermann: Das Erstinterview in der Psychothera-
ergeben, begründen die Notwendigkeit einer speziel- pie, Teil I. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse 21
len Ausbildung zum Analytiker, und diese sei nur an (1967), 341–374.
den Lehrinstituten der IPV zu erlangen. Baranger, Madeleine/Wright Baranger: Insight and the analytic
Erst jetzt lenkt Freud zum eigentlichen Thema situation. In: R. E. Litman (Hg.): Psychoanalysis in the Amer-
icas. New York 1966, 22–41.
über. Er wendet den Vorwurf der Kurpfuscherei, der Benjamin, Jessica: The Bonds of Love New York 1988.
gegen den Nicht-Arzt Reik erhoben worden war, ge- Bruschweiler-Stern, Nancy/Anne-M. Harrison/Karla Lyons-
gen Ärzte, die ohne die erforderlichen Spezialkennt- Ruth/Anne-C. Morgan/Jay-P. Nahum/Lynne-W. Sander/
nisse Psychoanalyse praktizieren, und fordert, »daß Daniel-N. Stern/Edward Z. Tronick: Explicating the Implic-
it: the Local level and the Microprocess of Change in the
niemand die Analyse ausüben soll, der nicht die Be- Analytic Situation. In: International Journal of Psychoanal-
rechtigung dazu durch eine bestimmte Ausbildung er- ysis (2002), 1051–1063.
worben hat« (267). Eine ärztliche Vorbildung sei für Buchholz, Michael B.: Die Rotation der Triade. In: Forum der
Analytiker unpassend, weil im Medizinstudium vie- Psychoanalyse (1990), 116–134.
–: Metaphern der ›Kur‹. Qualitative Studien zum therapeuti-
les gelehrt werde, was sie nicht brauchten, und um- schen Prozeß. Gießen 22003.
gekehrt; in diesem Zusammenhang entwirft Freud –: Metaphern und ihre Analyse im therapeutischen Dialog. In:
die Utopie einer »psychoanalytischen Hochschule«, Familiendynamik (2003), 64–94.
deren Lehrangebot von der Tiefenpsychologie über – /Martin Altmeyer: ›Das Unbewußte beschützt uns‹. Ein Ge-
spräch mit Christopher Bollas. In: Annemarie Schlösser/Alf
die Biologie bis zur Literaturwissenschaft reicht Gerlach (Hg.): Kreativität und Scheitern. Gießen 2001,
(281). Vor allem aber sei es für die Psychoanalyse als 479–525.
Wissenschaft unerläßlich, daß sie auch von nicht- – /Günter Gödde (Hg.) Macht und Dynamik des Unbewussten.
ärztlichen Forschern betrieben werde; denn sie sei im Bd. I. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und
Psychoanalyse. Gießen 2005.
wesentlichen nicht ein Teil der Psychiatrie, sondern Burling, Robbins: Comprehension, Production and Conven-
eine Basistheorie für alle Geistes- und Sozialwissen- tionalisation in the Origins of Language. In: Chris Knight/
schaften. Insgesamt imponiert das argumentative Michael Studdert-Kennedy/James R. Hurford (Hg.): The
Raffinement, mit dem Freud aus der Natur der Sache Evolutionary Emergence of Language. Social Function and the
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die berufsständische Konsequenz, auf die es ihm an- 27–40.
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Löwenthal 1996/1987). Den letzten der 28 Beiträge Fallend, Karl: Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Psychoanalyse
lieferte Freud selbst; der im Juni 1927 geschriebene auf dem Weg zur Institution und Profession. Protokolle der
Text, der zu der Diskussion Stellung nimmt, wurde Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und biographische
Studien. Wien 1995.
später der Frage der Laienanalyse als Nachwort beige- Ferenczi, Sandor/Otto Rank: Entwicklungsziele der Psychoana-
fügt (GW XIV, 287–296). Freud betont darin noch- lyse. Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis. Wien,
mals seine Hauptpunkte: das Erfordernis einer be- Nachdruck der Ausgabe von 1924, 1996.
Vorlesungen und einführende Schriften 105

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106

4. Schriften zur Traumdeutung

Entstehung Zeitpunkt des »Irma«-Traumes 1895 als »Krise der


Lebensmitte« (Anzieu 1988/1990, 5 f.). Diese Krise
Über hundert Jahre nach seinem Erscheinen dürfte verschärft sich, als 1896 Freuds Vater stirbt.
Freuds Traumdeutung (GW II/III) der bekannteste Mehrere Freud-Biographen stimmen darin über-
psychoanalytische Text sein. Mit dem Thema ein, daß Freud nach dem Tod seines Vaters in sy-
›Traum‹ hat Freud sich seit 1895 beschäftigt. Seit stematischer Weise beginnt, sich selbst zu analysie-
1897 arbeitete er intensiver daran, und im Herbst ren, und das vor allem durch die Analyse eigener
1899 schloß er Die Traumdeutung ab. Sein Verleger Träume (vgl. Anzieu 1988/1990, 76; Gay 1987/1989,
datierte den Erscheinungstermin auf 1900 vor. Un- 104 f.; vom Scheidt 1974; Schur 1972/1973, 136).
strittig ist, daß mit der Traumdeutung nicht nur das Freud selbst hielt den Tod des Vaters für »das be-
»Urbuch« und »Stiftungswerk« der Psychoanalyse deutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust
vorliegt, sondern daß sie auch das methodologische im Leben eines Mannes« (GW II/III, X). Er beschrieb
Fundament der Psychoanalyse in dem Sinne bildet, seinen eigenen Zustand als »recht entwurzeltes Ge-
als hier die Wechselbeziehungen von Gegenstand, fühl« (F, 213).
Methode und Theorie, wie sie für die Psychoanalyse Zu dieser Zeit strebte Freud eine Professur an. Da-
als Wissenschaft spezifisch sind, erstmals formuliert durch sollte sich sein Ruf verbessern und damit sein
werden. Das Neuartige der Psychoanalyse liegt nicht mäßiges Einkommen, das er aus seiner Praxis als
nur in der Theorie, sondern vor allem in der Me- Psychiater und Neurologe bezog. Zugleich wollte er,
thode, die Freud auch an seinen eigenen Träumen der bislang immer noch von jüdischen Kollegen, vor
vorführt. allem von Josef Breuer, finanziell unterstützt wurde,
In der Geschichte der Psychoanalyse nimmt Die ökonomisch unabhängig werden. Da Freud jedoch in
Traumdeutung aber nicht nur methodisch eine dem Sinne eine neue Wissenschaft begründete, als
Schlüsselstellung ein; sie liefert zugleich eine Theorie deren Methode und Ergebnisse nicht auf der Linie
psychischer Symptombildungen, zunächst bei Hyste- seiner bisherigen naturwissenschaftlich ausgerichte-
rien, Zwangsneurosen und Phobien, auf der Grund- ten Laufbahn lagen, mußte er auch fürchten, seine
lage »normaler«, und das heißt nach Freud, bei allen bisher erreichte Reputation zu verlieren. Hinzu kam,
Menschen vorkommender psychischer Prozesse. daß er mit einem nicht geringen Antisemitismus im
Man kann Freuds Traumdeutung schwerlich lesen, politischen Milieu Wiens zu rechnen hatte. In meh-
ohne an sich selbst Fragen zu stellen. Freud führt uns reren Träumen, nicht nur im vielfach nachträglich
mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft zu uns interpretierten Irma-Traum, zeigte sich Freuds Angst,
selbst zurück. Damit vollziehen wir seine eigene Ent- er könne beruflich und sozial bloßgestellt werden.
deckung nach, der zufolge das Verstehen der eigenen Somit hatte Freud, indem er seine neuartige Psycho-
Person die Voraussetzung dafür ist, andere zu ver- therapie vertrat (die mit der Aufgabe einiger prestige-
stehen. Die Traumdeutung enthält annähernd 200 besetzter ärztlicher Rollenaspekte einherging) seine
Träume. Fünfzig davon sind Freuds eigene (vgl. An- Ängste selbst in Gang gesetzt. Erdheim hat diese Ge-
zieu 1988/1990; Deserno 2002; Grinstein 1968; vom fährdung zutreffend als drohenden »sozialen Tod«
Scheidt 1974). An den ausführlichen Analysen von charakterisiert (1982, 34).
Freuds eigenen Träumen fällt die starke Bezugnahme Aus medizinhistorischer Sicht ist Freuds Selbstana-
auf die berufliche Situation auf. So definiert Anzieu lyse, in der er seinen Größenphantasien und seinen
in seiner umfassenden Rekonstruktion von Freuds Versagensängsten auf die Spur kommt, ein Selbstver-
Selbstanalyse die intellektuelle, berufliche und fami- such, der sich den Selbstversuchen anderer naturwis-
liäre Situation des 39jährigen Privatdozenten zum senschaftlich und therapeutisch orientierter Ärzte
Schriften zur Traumdeutung 107

vor ihm zur Seite stellen läßt (vgl. Schott 1985). Auch mus, aber auch die zeitweise Einsamkeit, von Freud
die Kokain-Experimente Freuds lassen sich, so sehr »splendid isolation« genannt, wird vor allem auf die
sie auch die ärztliche Reputation bedrohten, berufs- Selbstanalyse bezogen. Jedoch ist diese Sicht auf
biographisch als Vorläufer des ungefähr zehn Jahre Freud ebenso vereinfachend wie die Auffassung, man
späteren psychoanalytischen Selbstversuchs, wie ihn habe Freuds Ernennung zum Professor nicht nur we-
Die Traumdeutung enthält, einordnen (vom Scheidt gen der Psychoanalyse, sondern vor allem wegen des
1973). antisemitischen Vorurteils verzögert. Es gibt auch
Der psychoanalytische Selbstversuch bildet die eine Verzögerung auf Freuds Seite, da er seinen Erfolg
Grundlage der von Freud in den Grundzügen ent- mit der Entstehung und Aufnahme der Traumdeu-
worfenen psychoanalytischen Therapie. An der eige- tung verknüpfte. Statt des »Konquistadoren-Tempe-
nen Person entdeckte und entwickelte Freud, was raments«, von dem Freud selbst sprach, diagnosti-
Schott die zweite Forschungs-»Leitlinie« neben der ziert Ellenberger (1970/1973, 610 f.) eine »schöpferi-
bisherigen naturwissenschaftlichen nennt: Die Ori- sche Krankheit«. Mit dieser interessanten Formulie-
entierung an dem, was die subjektive Mitteilung in rung wird ein Bogen gespannt, der von einem
der Therapie bedeutet (Schott 1985, 86f). An der kühnen Forscher bis zu »einem kranken Helden
Traumdeutung kann man nachvollziehen, wie Freuds [reicht, H. D.], […] einem von neurotischen Sym-
Selbstanalyse auf seine Theoriebildung zurückwirkte. ptomen geplagten Menschen, der sich vergeblich ver-
So ergab sich aus der Selbstanalyse der Anstoß, daß schiedenen Therapieversuchen befreundeter Ärzte
Freud seine ursprüngliche Auffassung, nach der jeder unterzieht und sich schließlich selbstanalytisch be-
Neurose eine Situation sexueller Verführung zugrun- handelt« (Schott 1985, 43). Es ist Freud offensichtlich
deliegen sollte, relativieren mußte (Gay, 114). gelungen, der Krise der Lebensmitte eine große
Im Sommer 1897 schreibt Freud an Fließ: »Der schöpferische Lösung abzuringen.
Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst. Im Vorwort zur Traumdeutung ist nachzulesen,
Meine kleine, aber durch die Arbeit sehr gehobene daß Freud wußte, welchen komplikationsreichen
Hysterie hat sich ein Stück weiter gelöst. Anderes Weg er mit seiner Entscheidung einschlug, seine Hy-
steckt noch. Davon hängt meine Stimmung in erster pothesen zum Traum auch an den eigenen Träumen
Linie ab. Die Analyse ist schwerer als irgendeine an- voranzutreiben und diese Schritte zu publizieren. Er
dere. Sie ist es auch, die mir die psychische Kraft zur hat den Traum als via regia zum Unbewußten cha-
Darstellung des bisher Gewonnenen lähmt. Doch rakterisiert. Man muß hinzufügen: Für ihn war es ein
glaube ich, es muß gemacht werden und ist ein selbstbeschrittener Königsweg, auf dem er nicht nur
notwendiges Zwischenstück in meinen Arbeiten« fürchten mußte, selbst als Neurotiker diagnostiziert
(F, 281). zu werden – was auch heute noch geschieht –, son-
Charakteristisch ist der Wechsel von Stockungen dern daß man deshalb seine Ergebnisse für ungültig
der Selbstanalyse mit Verschlechterung des Befindens erklären würde.
einerseits und Stimmungsaufhellungen andererseits, Die Bedeutung, die der Berliner Hals-Nasen-Oh-
wenn es Freud gelingt, sich selbst besser zu verstehen renarzt Wilhelm Fließ für Freuds Selbstanalyse hatte,
und zu erkennen, daß er damit auch in seiner wird unterschiedlich interpretiert, aber übereinstim-
Traumforschung weiterkommt. In diesem Sinn mend für entscheidend gehalten. So sah Kohut
schreibt Freud, als er sich an seine Kinderfrau erin- (1974) in der spezifischen Wahl von Wilhelm Fließ
nert und in ihr die »Urheberin« erkennt, was die ei- eine Intuition Freuds, sich selbst eine Analysesitua-
gene sexuelle Aufklärung betrifft: »[. . .] gelingt mir tion zu erschaffen. Im Hinblick auf die Übertragung
die Lösung der eigenen Hysterie, so werde ich dem ist die Interpretation nicht zu gewagt, daß Freud am
Andenken des alten Weibes dankbar sein, das mir in zeitweise realitätsfernen wissenschaftlichen Spekulie-
so früher Lebenszeit die Mittel zum Leben und Wei- ren von Fließ seine eigene Spekulationsneigung er-
terleben vorbereitet hat« (F, 289). kannte, abarbeitete und unter Kontrolle brachte. Je-
Oft wird von Freud das Bild eines »einsamen Hel- denfalls wird gerade durch den Briefwechsel mit
den« und eines »heroischen Schöpfers« der Psycho- Fließ deutlich, daß genuine Selbstanalyse weitgehend
analyse tradiert. Er selbst hat wesentlich dazu beige- nicht möglich ist. Auch die Selbstanalyse bedarf einer
tragen, z. B. durch das Motto aus Vergils Aeneis, das ihr günstigen Verankerung in unterstützenden Bezie-
er der Traumdeutung voranstellte: »Flectere si nequeo hungen wie Freundschaften, guten Arbeitsbeziehun-
superos, Acheronta movebo« (Wenn ich die Götter gen und – nicht zuletzt – in Liebesbeziehungen.
nicht in Bewegung bringen kann, werde ich die Un- Freuds Einstellung zur Bedeutung der Selbstana-
terwelt aufwühlen) (GW II/III, VI). Dieser Herois- lyse bewegte sich, wie Schott ausführt, zwischen zwei
108 Werke und Werkgruppen

Einstellungen: »Tatsächlich schwankt Freud, wem er durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermög-
die Priorität bei der psychoanalytischen Ausbildung licht wird. Die Traumarbeit ist es, die diese Form her-
zubilligen soll: der Selbstanalyse oder der Lehrana- stellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum,
lyse. In diesem Schwanken drückt sich die Konfusion die Erklärung seiner Besonderheit« (GW II/III, 510,
zweier Konzepte bei Freud aus: das autodidaktische Anm. 2).
Konzept der Selbstanalyse und das pädagogische Als Traumarbeit konzipierte Freud verschiedene
Konzept der analytischen Therapie, das er als ›Nach- psychische Operationen oder »Mechanismen«, mit
erziehung‹ bezeichnet hat« (Schott 1985, 50). deren Hilfe aus »Traumquellen« wie körperlichen
In der Psychopathologie des Alltagslebens setzte Reizen, Erinnerungen, unerledigten Wünschen und
Freud seine Selbstanalyse an eigenen Fehlleistungen damit zusammenhängenden Ängsten zunächst ein
fort (z. B. das Signorellli-Beispiel, GW IV, 6 f.). Auch latenter Traumgedanke und dann der manifeste
die späte Schrift Der Mann Moses und die monothei- Trauminhalt gebildet werden. Verdichtung, Verschie-
stische Religion kann, obgleich weniger offensichtlich bung, Rücksicht auf Darstellbarkeit und sekundäre
als die über 30 Jahre jüngere Traumdeutung, als Do- Bearbeitung entstellen einen unerledigten Wunsch-
kument und Ergebnis der Selbstanalyse Freuds ge- konflikt nicht nur, sondern sie stellen ihn zugleich als
lesen werden (Grubrich-Simitis 1991, 76). erfüllt dar. In Freuds Worten: »Der Traum ist die
(verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, ver-
drängten) Wunsches« (GW II/III 166). Oder: »Der
Kurzcharakteristik der Inhalte
Traum kann aber nicht anders, als einen Wunsch als
Während vor Freud der Text eines Traumes mit Hilfe erfüllt darstellen« (GW II/III, 241).
feststehender Übersetzungsregeln (Traumlexika) aus- Die spezifische Logik der Traumarbeit, einen
gelegt wurde, geht Freud in der Traumdeutung einen Wunsch als erfüllt erscheinen zu lassen, hängt eng
neuartigen Weg. Er legt an eigenen Träumen seine mit der Bestimmung des Traumes als »Hüter des
Methodik ausführlich dar (vgl. den Irma-Traum in Schlafes« zusammen. Auch der Schlafwunsch gehört
GW II/IIII, Kap. 2). Durch »freie« Einfälle (Assozia- zu den Traumquellen, wie später Bertram Lewin
tionen) zu den verschiedenen »Elementen« des »ma- (1950/1982, 1953) mit seinem Konzept der »Traum-
nifesten« Trauminhaltes (gemeint ist der erinnerte leinwand« und seinem erweiterten Modell der Orali-
und erzählte, bzw. der schriftlich fixierte Traumtext) tät, der »Trias oraler Wünsche« (verschlingen, ver-
wird ein neuer, umfangreicher »Text« gewonnen, schlungen werden und schlafen) ausführte. Nach
dessen Deutung erweisen soll, daß der manifeste Freud, aber auch nach gegenwärtiger psychoanalyti-
Trauminhalt eine entstellte Darstellung »latenter« scher Auffassung können Träume keinesfalls nur Ne-
Traumgedanken sei. bengeräusche oder Abfallprodukte neuronaler Pro-
Die populäre Rezeption der Traumdeutung rückte zesse sein. Stattdessen ist in der Fähigkeit zu träumen
die Wunscherfüllungstheorie reduktionistisch in den eine psychische, und das heißt, eine sinn- und bedeu-
Vordergrund, um sie in Verbindung mit den von tungsvolle, auf Integration zielende Funktion zu se-
Freud postulierten sexuellen Wünschen zugleich als hen, die zwar ohne eine neuronale Basis nicht denk-
einseitig und übertrieben abzulehnen. Freud legte in- bar ist, aber auf diese auch nicht reduziert werden
des großen Wert darauf, den Traum als »vollgültiges kann, ohne daß die eigenständige, zwischen Körper
psychisches Phänomen« zu sehen und »in den Zu- und Umwelt vermittelnde Funktion psychischer Ak-
sammenhang der uns verständlichen seelischen Ak- tivitäten und Prozesse, für die seit Freud die Traum-
tionen des Wachens« einzureihen (GW II/III, 127). arbeit modellbildend ist, verworfen würde.
Allerdings hob Freud aus der Fülle in Frage kom- Obgleich Freud bei den Mechanismen der Traum-
mender Wünsche, die im Traum erfüllt werden sol- arbeit sich einer physikalischen Sprache bediente,
len, die unterdrückten infantilen sexuellen Wünsche gibt es Hinweise, daß er mit diesen Mechanismen
als Triebkräfte der Traumbildung hervor. verschiedene Formen der »Bedeutungsübertragung«
Als Freud jedoch feststellte, daß »eine hochkom- und damit symbolische Prozesse konzipierte (De-
plizierte geistige Tätigkeit« (GW II/III, 127) den serno 1992, 961 f.; Sharpe 1937/1984). So stellt die
Traum aufbaue, setzte er den entscheidenden Akzent Verdichtung zweier oder mehrerer Bilder einen Ver-
auf die dem Träumen spezifische Verarbeitung, auf gleich dar, dessen Bezugspunkt jedoch nicht in Er-
die Traumarbeit. In dieser Argumentation liegt eine scheinung tritt. Dem entspricht Freuds Formulie-
Entmystifizierung des Traumes, die nicht übersehen rung (GW II/III, 498 f., 662 f.), daß eine unbewußte
werden sollte: »Der Traum ist im Grunde nichts an- Vorstellung sich durch eine vorbewußte »decken«
deres als eine besondere Form unseres Denkens, die lasse. Freud wies auf die Galtonschen Mischphoto-
Schriften zur Traumdeutung 109

graphien hin, die der Feststellung genetisch bestimm- erhebliche Aufregung versetzte. Der Frau eines er-
ter Merkmale dienten: Was in den übereinanderge- folgreichen Kollegen machte er das Kompliment, sie
legten Bildern gleich oder sehr ähnlich ist, tritt her- sehe blühend aus. Am nächsten Tag notierte er den
vor, was sehr unterschiedlich ist, wird gelöscht. Pa- folgenden Traum: »Ich habe eine Monographie über
lombo (1978) hat daran anknüpfend in der eine gewisse Pflanzenart geschrieben. Das Buch liegt
Verdichtung eine archaische Ich-Leistung gesehen, vor mir, ich blättere eben eine eingeschlagene farbige
bei der ein kognitiver Vergleich durch Ȇberlage- Tafel um. Jedem Exemplar ist ein getrocknetes Spezi-
rung« angestellt wird. Dies entspricht sprachwissen- men der Pflanze beigebunden, ähnlich wie aus einem
schaftlich einer symbolischen Leistung, die sich mit Herbarium« (GW II/III 175).
der Funktion der Metapher vergleichen läßt. Statt einzelner Assoziationen werden hier zusam-
Bei der Verschiebung geht es um die »Übertragung« menfassend die Themen genannt, um die sich Freuds
eines bestimmten psychischen Akzentes von einem Einfälle drehen. Sie gehen vor allem von den mani-
Bild auf ein anderes, im durchsichtigsten Falle von festen Traumelementen »Pflanzenart« oder »Mono-
einer Person auf eine andere; sprachwissenschaftlich graphie« aus (GW II/III, 175 f. und 287 f.). Eine erste
kommt hier die Metonymie in Betracht (zu Metapher Reihe von Einfällen führt über Zyklamen zu den
und Metonymie vgl. Hock 2001, 213 f.; Sharpe Lieblingsblumen von Freuds Frau und zum Bedau-
1937/1984, 40 f.; Widmer 1990, 72 f.). Mit der Rück- ern, daß sie nicht mehr so blühend sei, aber auch zu
sicht auf Darstellbarkeit versuchte Freud einzubezie- Überlegungen, was eine erfolgreiche Behandlung
hen, daß wir beim Träumen nicht anders können, als darstelle. Eine zweite Kette von Einfällen, von »Mo-
in Bildern zu denken. Deshalb hat er auch wiederholt nographie« ausgehend, führt mehr als zehn Jahre zu-
die zu seiner Zeit stärker verbreiteten Bilderrätsel er- rück, als Freud an einem anderen Text schrieb, von
wähnt, deren Lösung erfordert, daß wir die darge- dem er sich einen großen Erfolg versprach: Über
stellten Gegenstände in Worte zurückverwandeln Coca. Dieser Erfolg war nicht eingetreten. Die »Wun-
und, wie neben den Gegenständen angegeben, dann derdroge« hatte nicht gehalten, was sie versprach.
bestimmte Buchstaben austauschen, um z. B. auf ein Statt dessen hatte Freud sich mit viel Kritik, sogar
Sprichwort wie »Jeder ist seines Glückes Schmied« als mit Vorwürfen ärztlichen Fehlverhaltens und mit
des Rätsels Lösung zu kommen. Die sekundäre Bear- dem Versäumnis, eine Entdeckung einem anderen
beitung dient nach Freud dazu, dem nächtlichen überlassen zu haben, auseinanderzusetzen.
Traumerlebnis mit seinen unerwarteten Bild- und Die nächste, dritte Reihe von Assoziationen reicht
Szenenwechseln durch das Ausfüllen von Lücken und weiter in die Vergangenheit und führt zum einen zu
Glätten von Brüchen eine Kohärenz zu verleihen, die der Erinnerung, daß der Vater ihn kritisierte: Aus
das Wachbewußtsein akzeptiert und den Traum »er- dem Jungen wird nichts werden, soll er gesagt haben.
zählbar« werden läßt. In der Schule hatte Freud eine Prüfung über Pflanzen
Zur Illustration der Traumarbeit soll Freuds nicht bestanden. Auch beschreibt er seine Leiden-
Traum von der Botanischen Monographie dienen. schaft fürs Büchersammeln. Eine vierte Assoziations-
Neben die Annahme, daß jeder Traum einen Wunsch reihe umkreist das Schicksal von Büchern. Freud er-
(oder mehrere) als erfüllt darstellt, tritt Ende 1898 innert sich zum anderen, daß ihm der Vater, als er
bei Freud eine weitere Hypothese: Der Wunsch, der fünf Jahre alt war, ein Buch überließ, das der Sohn
die Traumbildung in Gang setzt, soll der Vergangen- wie eine Artischocke, die später seine »Lieblings-
heit angehören. Freund Fließ war, was diese Neue- pflanze« werden sollte, zerpflückte. »Zerpflücken«
rungen und das Fortschreiten des Manuskripts be- wiederum ist das Stichwort für die Erinnerung, die
trifft, auch jetzt auf dem laufenden. Leider sind seine näher an der Gegenwart liegt: ein Buch seines Freun-
Briefe nicht erhalten. Wie Freud in der Traumdeu- des Fließ wurde von einem Kritiker »zerrissen«. Aber
tung (GW II/III, 177) erwähnt, hat Fließ ihm am auch Freud selbst steht inzwischen dem Freund und
Vortag zum folgenden Traum geschrieben, daß er dessen Denken sowohl konkurrent als auch kritisch
sich in Gedanken viel mit Freuds Traumbuch be- gegenüber.
schäftige; er sähe es fertig vor sich liegen und blättere Welchen latenten Traumgedanken findet Freud,
darin. Was ereignete sich noch an diesem Tag? Freuds wenn er den knappen manifesten Traumtext in den
Blick war in ein Schaufenster und dort auf eine Mo- angedeuteten, komplexen Kontext von Einfällen
nographie über die Pflanzenart der Zyklamen gefal- stellt? »Der Traum bekommt wieder den Charakter
len. Außerdem traf er Kollegen. Ein Gespräch ent- einer Rechtfertigung, eines Plädoyers für mein Recht,
wickelte sich, in dem es um wissenschaftlichen Erfolg wie der erstanalysierte Traum von Irmas Injektion; ja,
ging – ein Thema, das Freud immer wieder in eine er setzt das dort begonnene Thema fort […]. Es
110 Werke und Werkgruppen

heißt jetzt: Ich bin doch der Mann, der die wertvolle wie die Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901),
und erfolgreiche Abhandlung (über das Kokain) ge- Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten
schrieben hat, ähnlich wie ich damals zu meiner (1905) und das Bruchstück einer Hysterie-Analyse
Rechtfertigung vorbrachte: Ich bin doch ein tüchtiger (1905 [1901]). Die letztgenannte Arbeit sollte zu-
und fleißiger Student; in beiden Fällen also: Ich darf nächst »Traum und Hysterie« lauten und ist als
mir das erlauben […]« (GW II/III, 179). »Dora«-Fallgeschichte bekannt geworden. Aber auch
An anderer Stelle setzt Freud diese Deutung fort: die Traumtheorie selbst hat Freud bis zu seinem Le-
»Ihm [dem Traum, H. D.] entspricht im Denken ein bensende immer wieder aufgegriffen, z. B. in seinen
leidenschaftliches Plädoyer für meine Freiheit, so zu Vorlesungen (1916–17, 1933). Sowohl von Freuds Si-
handeln, wie ich handle, mein Leben so einzurichten, tuation als Wissenschaftler als auch von seiner thera-
wie es mir einzig und allein richtig erscheint. Der peutischen Arbeit her betrachtet ist der Forschungs-
daraus hervorgegangene Traum klingt gleichgültig: gegenstand ›Traum‹ ein »Stellvertreter«: Das Rätsel
Ich habe eine Monographie geschrieben, sie liegt vor des Traumes stand, was Freuds Behandlung von
mir […]. Es ist wie die Ruhe eines Leichenfeldes; psychisch Kranken betraf, für das Rätsel der neuroti-
man verspürt nichts mehr vom Toben der Schlacht« schen Symptombildung: »Das Studium des Traumes
(GW II/III, 470). ist nicht nur die beste Vorbereitung für das der Neu-
Die angeführten Einfälle mit ihren vielfältigen Ver- rosen, der Traum selbst ist auch ein neurotisches
knüpfungen stellen eine Balance her zwischen gegen- Symptom, und zwar eines, das den für uns unschätz-
sätzlichen Gefühlen Freuds durch die mehrfache Ver- baren Vorteil hat, bei allen Gesunden vorzukommen«
wandlung des Konfliktes zwischen Ehrgeiz auf der ei- (GW XV, 79).
nen und Versagensängsten auf der anderen Seite. Nach dem Gegenstand, dem Traum als Stellvertre-
Freud möchte unbedingt sein Ziel erreichen und sei- ter des Symptoms, und der Methode, der Selbstana-
nen Ehrgeiz befriedigen, fürchtet aber, daß er, indem lyse als Stellvertreterin der Behandlung, ist der dritte
er seine Verpflichtungen der Familie und den Patien- Bestandteil der spezifischen Erkenntnislogik Freuds,
ten gegenüber vernachlässigt, Schuld auf sich lädt. die Theorie, näher zu bestimmen. Freud sah die theo-
Über diesen wichtigen Schritt in der Selbstanalyse retische Aufgabe darin, den unbewußten psychischen
hinaus kann Freud diesen Traum mitsamt dem asso- Prozessen, die er bei Symptombildung und Traum-
ziativen Kontext als wichtiges Beispiel für die Me- bildung gleichermaßen unterstellte, eine Lokalität
chanismen Verdichtung und Verschiebung verwen- zuzuordnen: »Wir können einen psychischen Appa-
den: die Grundpfeiler seiner Auffassung von der rat entwerfen, wenn wir gemerkt haben, daß man
psychischen Arbeit des Träumens. Im gegebenen Bei- durch die Traumdeutung wie durch eine Fenster-
spiel macht er die Verschiebung für den affektiv in- lücke in das Innere desselben einen Blick werfen
differenten Eindruck des Traumes verantwortlich: So kann« (GW II/III, 224).
wie Freud am Tag zuvor im Schaufenster eine Mono- Der psychische Apparat, den Freud entwirft, leistet
graphie erblickte, so sieht er auch im Traum eine Arbeit. Freud rückte, wie bereits ausgeführt, die Pro-
Monographie. Aber: Die Monographie hat es buch- duktion von Sinn- und Bedeutungszusammenhän-
stäblich in sich, denn in ihr sind wichtige Themen, gen in einen physikalischen Begriffshorizont. Im Fall
Gefühle der Vergangenheit, aber auch die Zukunft, des Traums heißt die »Leistung« dieses Apparats
wie Freud sie sich wünscht, konzentriert. Schließlich Traumarbeit. Neben den Mechanismen Verdichtung,
geht es um sein Traumbuch, auch in dem Sinne, daß Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit und se-
er sich damit einen überragenden Erfolg wünscht. kundäre Bearbeitung unterschied Freud zwei Funk-
Die beschriebene Balance der Konfliktanteile stellt ei- tionsweisen des psychischen Apparats: Primärvor-
nen Kompromiß dar. Zwar ist einerseits der bren- gang und Sekundärvorgang. Er ordnete die Mechanis-
nende Ehrgeiz der Zensur anheimgefallen und ver- men der Traumarbeit dem Primärvorgang zu und
schwunden; andererseits ist die gewünschte Mono- charakterisierte ihn durch Wahrnehmungsidentität:
graphie, jedenfalls im Traum und gemäß seiner Traumgedanken würden (halluzinatorisch) ins Bild
Funktion, einen Wunsch als erfüllt darzustellen, gesetzt, als ob sie eine Wahrnehmung seien; bestim-
schon erschienen. mend sei das Lust-Unlust-Prinzip. Nach heutiger
Auffassung organisiert der Primärvorgang nonver-
bale Repräsentationen ganzheitlich und situativ. Da
Aspekte der Traumtheorie
Repräsentation und Gedächtnis zusammenhängen,
Die mit der Traumdeutung geschaffene theoretische steht der Primärvorgang für die triebhafte bzw. emo-
Grundlegung ermöglichte Freud weitere Schriften tionale Organisation unseres Gedächtnisses. Die Auf-
Schriften zur Traumdeutung 111

gabe des Sekundärvorgangs definierte Freud dagegen Angstträume. Angst als Motor von Abwehr scheint
durch die Herstellung von Denkidentität. Heute fin- schlecht zur Theorie der Wunscherfüllung zu passen.
det die Mitwirkung des Sekundärvorgangs an der Zum einen hat Freud über dreißig Jahre nach der
Traumbildung Berücksichtigung. Während der Pri- Traumdeutung seine Auffassung über die Wunscher-
märvorgang die unerledigten, auf Abfuhr und un- füllung abgeschwächt und vom Versuch der Wunsch-
mittelbaren Ausdruck drängenden Tendenzen situa- erfüllung gesprochen (Neue Folge der Vorlesungen,
tionsgerecht bearbeitet, werden unter dem Einfluß 1933). Das impliziert auch das Scheitern dieses Ver-
des Sekundärvorgangs unbewußte Tendenzen struk- suches: Wenn ein Traum mit ängstlichem Aufwachen
turgerecht gestaltet. endet, dann vermochte die Traumarbeit zumindest
Eine Traumtheorie, die sich auf unbewußte Wün- den Schlafwunsch nicht als erfüllt darzustellen. Zum
sche, deren Übersetzung in latente Traumgedanken anderen konnte Freud gerade an den Prüfungsträu-
und deren Umarbeitung durch Traumarbeit zum men zeigen, daß auch Angstträume der Wunscherfül-
manifesten Trauminhalt bezieht, definierte Freud so: lung dienen können. Er ging von einer Beobachtung
»Eine Aussage über den Traum, welche möglichst aus, die sich leicht bestätigen läßt: Prüfungsangst
viele der beobachteten Charaktere desselben von ei- kommt im Traum nur bei Personen vor, die früher
nem Gesichtspunkt aus zu erklären versucht (hier die ihre Prüfungen bestanden haben. Daraus folgerte
Wunscherfüllung, H. D.) und gleichzeitig die Stellung Freud, eine gegenwärtige Angst ließe sich dadurch
des Traumes zu einem umfassenderen Erscheinungs- verringern, daß sie in der Verkleidung einer früheren
gebiet bestimmt (die Existenz unbewußter Prozesse, auftritt, weil der Träumer damit seine Angst verrin-
evident durch die neurotischen Symptombildungen, gern könne. Da er die frühere Prüfung bestanden
H. D.), wird man eine Traumtheorie heißen dürfen« habe, könne er sich auch erhoffen, die bevorstehende
(II/III, 78). ängstigende Situation zu meistern.
Auch in der Theoriesprache selbst ist eine Art Eine Kontroverse mit personellen Folgen (nämlich
Stellvertretung erkennbar: Freuds naturwissenschaft- den Ablösungen von Carl Gustav Jung und Alfred
lich orientierte Begriffssprache soll der sinnverste- Adler) hängt auch mit der Traumtheorie zusammen.
henden Deutungsarbeit eine allgemein anerkannte Freud konnte der Kompensationstheorie von Jung
Legitimation verleihen. Für Freud gehören »Bildung« und Adler nicht zustimmen. Ihr zufolge sollten
(Entstehung) und »Deutung« des Traumes zusam- Träume das enthalten, was im bewußten Leben aus-
men: Die Deutung eines Traumes ist die Umkehrung gespart bleiben müsse. Freud hielt dagegen, daß sich
seiner Entstehung. Vom erzählten Traum ausgehend im Traum die unbewußte Abwehr des Ichs, wenn
wird durch Assoziationen die Traumbildung gleich- auch mit anderen Mitteln, fortsetze. Auf den ersten
sam rückgängig gemacht; die latenten Traumgedan- Blick leuchtet die Kompensationshypothese ein,
ken und unbewußten Wünsche, die der manifeste macht aber in der Konsequenz die Abwehr und da-
Traumes entstellt repräsentiert, kommen wieder zum mit auch die präzise Bestimmung des Konfliktge-
Vorschein. schehens eher überflüssig. In der Praxis führt sie
dazu, daß die Arbeit mit Assoziationen entbehrlich
erscheint. Im Gegensatz zu Freud ist bei Jung der
Kontroversen der Forschungsdiskussion
Traum wieder eine Art Offenbarung: Etwas Überna-
»So oft ich auch an der Richtigkeit meiner schwan- türliches (nach Jung das kollektive Unbewußte mit
kenden Erkenntnisse zu zweifeln begann, wenn es seinen Archetypen) spricht sich im Traum aus. Ähn-
mir gelungen war, einen sinnlos verworrenen Traum lich wie der antike Traumdeuter übersetzt der Jungi-
in einen korrekten und begreiflichen seelischen Vor- anische Analytiker die übernatürliche Botschaft für
gang beim Träumer umzusetzen, erneuerte sich den Patienten.
meine Zuversicht, auf der richtigen Spur zu sein« Mit der Fallgeschichte des »Wolfsmannes« rea-
(GW XV, 37). – Wie diese 1933 rückblickende Äuße- gierte Freud auf die divergierenden Auffassungen sei-
rung zeigt, schien Freud in der Traumdeutung – trotz ner Schüler, insbesondere auf Jung (GW XII,
vieler eigener Ergänzungen (vgl. Grubrich-Simitis 27–157). Die vielfach festgestellte Forciertheit von
1999) – das Fundament seiner gesamten Arbeit ge- Freuds Argumentation läßt sich darauf zurückfüh-
sehen zu haben. Daran haben auch die schon zu sei- ren, daß er seine Theorie, nach der die neurotischen
ner Zeit geführten Kontroversen wenig ändern kön- Symptombildungen infantil-sexuelle bzw. psychose-
nen. xuelle Wurzeln haben, aber auch seine Hypothese der
Ein kontroverses Thema der Traumtheorie waren Wunscherfüllung – bei der ebenfalls infantile Wün-
schon zu Lebzeiten Freuds, auch bei ihm selbst, die sche eine große Rolle spielen – erneut belegen
112 Werke und Werkgruppen

möchte. Zugleich spielte sich die Auseinandersetzung bestehen aus kaum entstellten Anspielungen sexuel-
mit den abweichenden Auffassungen auf einer zwei- ler Art, wie die Darstellung der männlichen und
ten Ebene ab: Da es für Freud darauf ankam, die Si- weiblichen Genitalien durch längliche oder höhlen-
tuation in der psychoanalytischen Gruppe zugunsten förmige Gegenstände. In diesem Zusammenhang
seiner Auffassung zu entscheiden, wurde die spezifi- schloß sich Freud der Spekulation anderer an, die an-
sche Dynamik der Fallgeschichte, in der Freud außer- nahmen, daß die »Traumsprache« schon vor der Ent-
dem erstmals den männlichen »umgekehrten« oder wicklung unseres Denkens als eine Art Ursprache be-
»passiven« Ödipuskomplex beschrieb, zum Zentrum standen haben könnte (GW XI, 169 f.). Später hat vor
der gruppendynamischen Auseinandersetzung, die allem Alfred Lorenzer den Freudschen Symbolbegriff
auch zugunsten Freuds ausging (Davis 1993, 65–139; zugunsten eines interdisziplinären und von der Ab-
Deserno 1993, 60 f.). wehr gelösten Konzepts – gemeint sind die symboli-
Interessant ist, daß die Kompensationshypothese schen Interaktionsformen – aus seinem einseitigen
gegenwärtig wieder einen Platz in der psychoanalyti- theoretischen Bezug befreit (Lorenzer 1970).
schen Theorie einnimmt: In der noch jungen Psycho- Mit der Frage, inwieweit die psychoanalytische
traumatologie haben Fischer und Riedesser (1998) Traumdeutung als wissenschaftliches Verfahren gelten
dem klassischen Konflikt-Abwehr-Modell ein über- könne, ist eine auf Dauer gestellte Kontroverse ver-
zeugend ausgearbeitetes Trauma-Kompensationsmo- bunden (vgl. Specht 1981). Die Umkehrbarkeit der
dell zur Seite gestellt. Es besteht kein Zweifel, daß es Traumproduktion durch die Traumdeutung läßt
sowohl Träume gibt, für die vor allem das Konflikt- Freuds Traumuntersuchung regelhaft und damit wis-
Abwehr-Modell gültig ist, als auch Träume, die man senschaftlich erscheinen. Dennoch hat die neue Wis-
besser versteht, wenn man sich am Modell der Trau- senschaft Psychoanalyse eine weitere, unübersehbare
makompensation orientiert. Tendenz, die sich mit der immer wieder proklamier-
In der Unterscheidung, die Freud 1923 einführte, ten Tendenzlosigkeit der Wissenschaft im Sinne von
daß es nämlich Träume »von oben« und »von unten« Naturwissenschaft schlecht verträgt: Sie ist kritisch,
gebe, ist vielleicht ein leichtes Einlenken zu erkennen; weil sie hilft, ein bestimmtes Bewußtsein auch als
allerdings läßt sein letzter Satz keinen Zweifel daran, »falsches« bzw. »entstelltes« zu erkennen und mit
daß er die erkämpfte Position nicht mehr preisgeben Hilfe der Deutung zu einer tiefergehenden Selbster-
wird: kenntnis zu gelangen.
Genau damit brachte und bringt sich die Psycho-
»Träume von unten sind solche, die durch die Stärke eines
unbewußten (verdrängten) Wunsches angeregt werden, der analyse weiterhin in ein Dilemma: Die Willkür, die
sich eine Vertretung in irgendwelchen Tagesresten verschafft sie mit der Deutungsmethode und dem Aufzeigen
hat. Sie entsprechen Einbrüchen des Verdrängten in das Wach- der Umkehrbarkeit eingeschränkt hat, werde sie, wie
leben. Träume von oben sind Tagesgedanken oder Tagesab- Kritiker immer wieder einwenden, deshalb nicht los,
sichten gleichzustellen, denen es gelungen ist, sich nächtlicher-
weise eine Verstärkung aus dem vom Ich abgesprengten Ver- weil sie im Bereich des Subjektiven verbleibe. Leider
drängten zu holen. Die Analyse sieht dann in der Regel von übersieht dieser Einwand, daß die Psychoanalyse ge-
diesem unbewußten Helfer ab und vollzieht die Einreihung rade im Subjektiven oder Partikularen das Objektive
der latenten Traumgedanken in das Gefüge des Wachdenkens. und Universale aufspüren kann. Diese Kontroverse
Eine Abänderung der Theorie des Traumes wird durch diese
Unterscheidung nicht erforderlich« (GW XIII, 303 f.). wird so lange weiter bestehen, wie »science« im Sinne
von Naturwissenschaft als Ideal einer Einheitswissen-
Auch Freuds Symbolverständnis führte zu einer Kon- schaft mit Alleinvertretungsanspruch auf Wissen-
troverse, jedoch noch nicht zu seinen Lebzeiten. Da schaftlichkeit allen Gegenständen oder Fragestellun-
schlossen sich die Psychoanalytiker Freuds speziellem gen gegenüber auftritt. Leider schieben die Befürwor-
und eingeschränktem Symbolverständnis an, dem ter einer Einheitswissenschaft eine wichtige Tatsache
zufolge ein Symbol für etwas Abgewehrtes steht. beiseite: Will man zu hochspezifischen Ergebnissen
Diese Sicht steht mit der Methode in Einklang: Sie kommen, dann muß man anerkennen, daß zwischen
rechtfertigt den assoziativen »Aufwand« der Traum- dem jeweiligen Gegenstand und der Methode, mit
analyse, durch den die entstellten Konfliktelemente der man ihn untersucht, kein beliebiges, sondern ein
erst wieder »erraten« werden können. Zugleich ver- spezifisches Verhältnis bestehen sollte. Kurz gefaßt:
trat Freud aber auch, daß sich manchmal die Traum- Die Untersuchung der psychischen Realität, unter Ein-
deutung verkürzen ließe, wenn man von der relativ schluß unbewußter Prozesse, erfordert eine andere Me-
feststehenden Bedeutung vieler Traumsymbole aus- thode als die Untersuchung materieller Realität.
ginge und sie in die Deutung einsetze. Die von ihm Zu dieser Kontroverse gehört auch die Auseinan-
genannten und bekannten feststehenden Symbole dersetzung mit Freuds Begrifflichkeit, die er mit der
Schriften zur Traumdeutung 113

Traumdeutung einführte und später ausbaute. Wie Die ersten Rezensionen waren extrem gegensätz-
Ricœur (1965/1969) sorgfältig darlegte, gehören lich. Die Gruppe der »professionals«, Psychologen
Freuds theoretische Konzepte zumindest zwei unter- und Mediziner, zogen Freuds Thesen, vor allem seine
schiedlichen »Sprachen« an. Der Gegenstand Traum Annahme, der Traum sei der Versuch einer Wunsch-
wird von der Methode her »verstanden« (Hermeneu- erfüllung, in Zweifel. Freud habe die Rolle der Se-
tik) und von der Theorie her durch Kräfte »erklärt« xualität überbewertet und seine Methode sei unwis-
(Energetik). Mit Energetik ist Freuds physikalische senschaftlich. Sie wiesen aber auch seine Theorie ins-
und physiologische Begriffssprache gemeint, die das gesamt zurück. Ein Beispiel dafür ist die Rezension
Psychische mit Hilfe naturwissenschaftlicher Analo- des Breslauer Psychologen William Stern. Er stellte
giebildungen begrifflich erfassen will. Die naturwis- fest, daß »der Hauptinhalt des Buches als verfehlt
senschaftliche Analogie wird auch darin deutlich, und unannehmbar bezeichnet« werden könne (zit. n.
daß in Freuds Traumdeutung nach einem determi- Kimmerle 1986, 60–64) und kritisierte den Wert von
nierenden Ursprung gesucht wird, der in der Gegen- Freuds Selbstanalyse wie folgt: »An diesem Verfahren
wart des Deutens Vergangenheit ist. Unbewußte, ab- ist nicht weniger als alles zu bestreiten. Weder ist die
gewehrte Wünsche wirken im Seelenleben, als wären Selbstbeobachtung eine so einfache Sache, nament-
sie Ursachen. Werden sie bewußt, verlieren sie diesen lich, wenn man, wie der Verf. durch seine Theorie
»verdinglichten« Zug und werden, wieder oder erst- […] über den Wunschcharakter des Traumes beein-
mals, Bestandteile unserer Erfahrung. flußt ist […]. Die Unzulässigkeit dieser Traumdeu-
Freud hat sich nie als Hermeneutiker definiert, ob- terei als wissenschaftliche Methode mußte mit aller
gleich er in seiner Traumdeutung hermeneutisch ver- Schärfe betont werden […]« (ebd.).
fährt. Als naturwissenschaftlich ausgebildeter For- Dagegen haben die sogenannten Laien, vor allem
scher schrieb er so, als würden seine weitreichenden Geisteswissenschaftler, Freuds Traumdeutung begei-
Kenntnisse in Literatur und Kunst ihm die Deu- stert aufgenommen und für ihre Arbeit verwendet,
tungsarbeit lediglich erleichtern. Die hier skizzierten eine Wahlverwandtschaft, die bis heute anhält (z. B.
kontroversen Themen finden sich ausführlich darge- Pietzcker 1974); desgleichen die Kulturwissenschaf-
stellt u. a. bei Deserno (1999, 2001, 2002), Ermann ten, wofür hier beispielhaft nur Die unbewußte Ge-
(2005) und Mertens (1999, 2004). sellschaft von Lenk (1983) genannt sei, in der mit
Hilfe einer historischen Darstellung des Verhältnisses
von Traum und Literatur eine gemeinsame Logik
Rezeption und Wirkung
beider herausgearbeitet wird: Die spezifische Traum-
Allein im deutschsprachigen Raum ist die Sekundär- logik läßt sich in sprachlichen, bildnerischen und
literatur zu Freuds Traumdeutung im einzelnen kaum musikalischen Kunstwerken nachweisen. Nicht zu-
mehr zu überblicken. Als »Jahrhundertwerk« wurde letzt läßt sich aufzeigen, daß es zwischen individuel-
sie in zahlreichen Aufsätzen und Büchern gewürdigt len Versuchen der Wunscherfüllung und den kultu-
(u. a. Danckwardt 2000; Deserno 1999, 2001; Er- rellen Illusionsbildungen (wie z. B. in der Religion)
mann 2005; Marinelli/Mayer 2000; Mertens/Obrist Parallelen gibt.
u. a. 1999, 2004; Starobinski/Grubrich-Simitis/Solms Sowohl Freuds Enttäuschung darüber, daß seine
1999). Im Rückblick sah Freud in der Traumtheorie Schüler die Traumlehre für abgeschlossen hielten, als
den entscheidenden Wendepunkt seines Werkes: auch die starke Polarisierung unterschiedlicher Schu-
»Mit ihr [der Traumlehre] hat die Analyse den Schritt len sind inzwischen überholt. Neben einzelnen Stim-
von einem psychotherapeutischen Verfahren zu einer men, die notorisch die Unsinnigkeit des Träumens
Tiefenpsychologie vollzogen. [Sie] ist seither auch wie des Traumdeutens behaupten, ist gegenwärtig ein
das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jun- Dialog zwischen den verschiedenen Wissenschaften,
gen Wissenschaft geblieben, etwas wozu es kein Ge- die sich mit dem Traum befassen, fest etabliert. So
genstück in unserem sonstigen Wissen gibt, ein Stück gibt es nebeneinander sich ergänzende Modelle der
Neuland, dem Volksglauben und der Mystik abge- Traumgenerierung auf neurobiologischer (Leuzin-
wonnen« (GW XV, 6). ger-Bohleber/Pfeifer u. a. 1998), kognitionspsycholo-
Zugleich fand Freud 33 Jahre nach dem Erscheinen gischer (Bucci 1997; French 1953; Leuschner 1999;
der Traumdeutung deutliche Worte für seine Enttäu- Leuzinger-Bohleber/Pfeifer u. a. 1998; Moser/von
schung über die Aufnahme des Werkes, das er für Zeppelin 1996) und neuropsychoanalytischer
sein wichtigstes hielt: »Die Analytiker benehmen Grundlage (Kaplan-Solms/Solms 2000/2003; Solms
sich, als hätten sie über den Traum nichts mehr zu 1999). Der Eindruck, die Psychoanalyse habe heute
sagen, als wäre die Traumlehre abgeschlossen« (ebd.). keine eigene Traumtheorie mehr, trifft in bestimmter
114 Werke und Werkgruppen

Weise zu. Indem wichtige Aspekte der Traumtheorie In seinem dreibändigen Werk The Integration of
durch andere Wissenschaften und ihre Methoden be- Behavior (1952, 1953, 1958) unternahm Thomas
stätigt und ergänzt wurden, veränderte sich auch die French den wohl ersten interdisziplinären Versuch,
Sprache der Theorie selbst: Sie ist pluralistisch ge- das Konfliktmodell der Freudschen Traumtheorie
worden (Leuzinger-Bohleber/Deserno/Hau 2004). mit der Feldtheorie Kurt Lewins, den frühen kogni-
Neben diesem notwendigen theoretischen Pluralis- tionspsychologischen Ansätzen Tolmans und der Ge-
mus (ebd.), dessen Vorläufer sich schon bei Freud stalttheorie Köhlers zu verbinden. Er ging davon aus,
finden lassen, sollte aber nicht die eigenständige, mit daß alles Verhalten dazu tendiere, sich in Gegensät-
der Traumdeutung eingeführte Methode als Kern- zen zu »polarisieren«, und nahm an, daß »integrative
stück der Psychoanalyse aus dem Blick geraten. Felder« das Ausmaß der Polarisierung modifizieren
Der Übersicht halber werden in diesem Abschnitt würden. Bei neurotischen Konfliktlösungen sei, so
nicht möglichst viele Wirkungen von Freuds Traum- eine weitere Annahme, die kognitive und affektive
deutung aufgeführt, sondern nur zwei Bereiche skiz- »Spannweite« dieser Felder eingeschränkt. Mit Hilfe
ziert, die allerdings im Zentrum der aktuellen der detaillierten Untersuchung einer Traumserie
Traumforschung stehen: die psychoanalytisch inspi- konnte French zeigen, wie mit fortschreitender Ana-
rierte experimentelle Traumforschung als interdiszi- lyse sich die integrative Spannweite der kognitiven
plinäres Forschungsfeld und das Verhältnis des Trau- Felder vergrößert. Dennoch hielt er es eher für eine
mes zur psychoanalytisch-therapeutischen Situation. Ausnahme, daß im Traum eine Konfliktlösung er-
Gegenwärtige psychoanalytische Traumforschung ist reicht werde. Charakteristisch für sein Modell ist,
prozeßhaft orientiert. In der experimentellen For- daß im Traum ein unerledigter Konflikt durch ko-
schung hat sie das »processing« subliminaler Stimu- gnitiv akzeptablere Konfliktkonstellationen substitu-
lationen im Sinne von Dissoziation und Reassozia- iert wird. Gelingt das nicht, kommt es zum Rückzug
tion herausgearbeitet (Leuschner 1999; Leuschner/ vom aktuellen Konfliktgeschehen, und das Traum-
Hau u. a. 2000). In der klinischen Traumforschung geschehen bricht ab.
werden unterschiedliche Phasen der Konfliktdarstel- Nach der modernen kognitionswissenschaftlichen
lung und Integration der unbewußten Konfliktan- Konzeptualisierung von Moser und von Zeppelin
teile beschrieben (vgl. Döll/Deserno u. a. 2004). Zum (1996) entstehen Träume dadurch, daß unter der Be-
einen entwickelte sich seit den 1950er Jahren mit der dingung des Scheiterns einer Wunscherfüllung oder
Entdeckung, daß bildhaftes Träumen häufig mit ei- auch unter traumatischen Bedingungen negative Af-
nem elektrophysiologisch gut definierbaren Schlafzu- fekte vorherrschen und das aktuelle Geschehen des-
stand, der sogenannten REM-Phase (rapid eye move- halb nicht »desaffektuiert« und generalisierend im
ments) kombiniert ist (Aserinsky/Kleitmann 1953), Gedächtnis abgelegt werden kann, sondern als
ein experimenteller Forschungsbereich in der Psy- »Komplex« gespeichert wird. Dieser wird durch af-
choanalyse. Zum anderen sind heute die therapeuti- fekthaltige Ereignisse des Vortages aufgerufen und
sche Anwendung der Psychoanalyse und ihre Erfor- führt zur Traumgenerierung. Das hier unterstellte
schung an einem interaktiv-intersubjektiven Prozeß- Gedächtnismodell wird von Leuzinger-Bohleber/
modell orientiert, für das der Traum als Indikator Pfeifer/Röckerath (1998) im Sinne der »embodied
wie auch als Modell von großer Bedeutung ist. cognitive science«, d. h. durch die Betonung des sen-
Was bedeutet Interdisziplinarität in der Traumfor- somotorischen Gedächtnisses ergänzt.
schung? In seinem fiktiven Dialog mit Freud hat Mer- Koukkou und Lehmann (1998) haben über lange
tens die verschiedenen Positionen dargelegt (Mer- Zeit ein systemtheoretisches Modell funktioneller
tens/Obrist u. a. 2004). Auf seiten der Psychoanalyse Hirnzustände, insbesondere beim Träumen und
wird dieser Dialog von Forschern geführt, die ihre Schlafen auf der Grundlage elektroenzephalographi-
Traumforschung mit experimentalpsychologischen scher Messungen (EEG), entwickelt. Nach diesen Be-
Verfahren – wie z. B. der subliminalen Traumstimula- funden darf angenommen werden, daß die festge-
tion – durchführen (vgl. Fiss 1993; Hartmann 1995; stellten Ähnlichkeiten zwischen Entwicklungsphasen
Leuschner 1999; Shevrin 2002). Andere arbeiten mit der frühen Kindheit und Schlafphasen des Erwach-
Computersimulation und kognitionswissenschaftli- senen auf eine funktionelle Entsprechung hinweisen:
chen Modellen (French 1953; Bucci 1997; Moser/von Der Erwachsene durchläuft im Schlaf funktionale
Zeppelin 1996). Eine dritte Richtung gewinnt ihre Hirnzustände, die es ermöglichen, daß Gedächtnis-
Befunde aus der psychoanalytischen Therapie mit speicher der Kindheit wieder zugänglich werden.
Patienten, die unterschiedliche Gehirnläsionen erlit- Kaplan-Solms und Solms schließen aus der Be-
ten haben (Kaplan-Solms/Solms 2000; Solms 1999). schreibung verschiedener Syndrome, die mit Traum-
Schriften zur Traumdeutung 115

verlust bzw. Verwischung von Traum und Realität nennen ihn den »geträumten« Traum. Der »erin-
einhergehen, auf eine neurodynamische Struktur des nerte« und der »erzählte« Traum sind Transforma-
Träumens: Keine Funktion, die zum Träumen bei- tionen des »geträumten« Traumes. Die Annahme ei-
trägt, kann in einer bestimmten Region des Gehirns ner Verzerrungs-Konsistenz-Hypothese erlaubt es,
lokalisiert werden; das Träumen als neurodynami- mit der uns am meisten zugänglichen Form des
scher Prozeß entfaltet sich in der Interaktion zwi- Traumes, dem erzählten Traum zu arbeiten. Aller-
schen verschiedenen Teilkomponenten des Gesamt- dings werden nicht alle Träume, die erinnert werden,
systems (Kaplan-Solms/Solms 2000/2003, 54). in der therapeutischen Situation auch erzählt. Immer
Ebenso prozeßorientiert hat sich die klinische oder wieder ist es gerade das Bewußtwerden einer Über-
therapeutische Traumforschung weiterentwickelt. tragungssituation, auf die das Erinnern und Erzählen
Neben den inhaltsorientierten Untersuchungen sind eines Traumes oder eines weiteren Teils von einem
der Traum und seine Deutung in den Gesamtzusam- schon berichteten Traumes folgt. Das »Traumähnli-
menhang der psychoanalytischen Situation gerückt che« eines Agierens oder Inszenierens der Übertra-
worden. Hier wird vom Traum als Paradigma der Ei- gung wird oft vom Psychoanalytiker erahnt und be-
gengesetzlichkeit psychischer Realität ausgegangen stätigt sich später (vgl. Deserno 1999, 398–411).
und der Traumcharakter bzw. die Traumlogik der Insgesamt versucht die neuere psychoanalytische
Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse un- Traumforschung, die klinisch-therapeutische, kon-
tersucht. Im Sinne konzeptueller Grundlagenfor- zeptuelle und experimentelle Forschung zusammen-
schung entwickelte sich eine Forschungslinie, die mit zuführen. Nach den erwähnten klinischen und ex-
den Arbeiten von Bertram Lewin (1948, 1950/1982, perimentellen Untersuchungen ist Freuds Annahme,
1953, 1955/1999) beginnt, in den Auffassungen von der Traum sei der Versuch einer Wunscherfüllung,
Morgenthaler (1986) und Merton Gill (1982/1996, dahingehend zu erweitern, daß eine übergeordnete
1994/1997) sich fortsetzt und die Traumdeutung Funktion des Träumens in der Entwicklung, Auf-
konsequent mit der Übertragungsanalyse verbindet rechterhaltung und notfalls auch der »Reparatur«
(Deserno 1992; Ermann 2005). Sie hat den »Traum- psychischer Prozesse, vielleicht auch der psychischen
charakter« oder die »Traumlogik« der psychoanalyti- Strukturen besteht; Träume sind also nicht nur Hüter
schen Situation und des Agierens, bzw. Inszenierens des Schlafs, sondern, soweit möglich, auch der psy-
der unbewußten Übertragung herausgestellt. De- chischen Struktur (Stolorow 1989, 102). Eine täglich
serno geht theoretisch weiter, wenn er verschiedene bedeutsame Aufgabe des Träumens liegt schon allein
psychische Realitäten mit unterschiedlichen symbo- darin, im Wachleben zunächst vernachlässigte Wahr-
lischen Modi in der psychoanalytischen Situation nehmungen und Wünsche nochmals zu überprüfen
interdisziplinär zusammenführt und damit den und damit dem wachen Denken und Handeln poten-
Traum- bzw. Erinnerungscharakter der Übertra- tiell zugänglich zu machen.
gungsinszenierungen mit Hilfe unterschiedlicher Eine andere Erweiterung von Freuds Wunscherfül-
Symbolisierungsformen erfaßt (1999, 2002, 2005). lungshypothese liegt in der näheren Bestimmung,
Die früher kontrovers diskutierte Kompensations- warum der Traum, aber auch die ihm psychologisch
hypothese des Träumens hat auf einem neuen Weg wahlverwandte Übertragung auf eine Wunscherfül-
Eingang in die klinische Psychoanalyse gefunden: lung drängen: Viele klinische Beobachtungen spre-
Durch ihre psychotraumatologische Forschung chen dafür, daß dieses Drängen nicht nur sich selbst
konnten Fischer und Riedesser (1998) der klassischen Genüge tut, sondern immer wiederkehrende Verlust-
Abwehrlehre ein Kompensationsmodell der Trauma- oder Trennungserlebnisse zum Ausdruck bringt und
bewältigung gegenüberstellen. Vor allem konnten sie zugleich lindert (Pontalis 1977/1998).
zeigen, daß der therapeutische Zugang zum Trauma- Wir träumen sehr viel mehr, als man Anfang des
patienten sich wesentlich von dem zum Patienten, 20. Jh.s annahm: Jede Nacht ungefähr drei Stunden,
der unter den Folgen eines ungelösten Konfliktes lei- im Laufe unseres Lebens durchschnittlich sieben
det, unterscheidet. Diese kompensatorischen Muster Jahre. Daraus ist zu schließen, daß Träume keinesfalls
lassen sich auch an den Behandlungsträumen trau- nur als Resultat von Abwehrvorgängen und Zensur-
matisierter Patienten zeigen. motiven vergessen werden. Wir vergessen sie auch,
Es ist für die Forschung und für die Praxis sinn- weil sie ihre Funktion erfüllt haben. Die in den
voll, verschiedene Transformationen des Träumens Traum eingehenden Ereignisse, Gedanken, Wünsche
anzunehmen: Zunächst kann man einen Traum in und Erinnerungen werden beim Träumen umgear-
Echtzeit unterstellen, auch wenn er uns nicht unmit- beitet, indem sie sowohl vorbewußten als auch unbe-
telbar zugänglich ist. Moser und von Zeppelin (1996) wußten Operationen ausgesetzt werden. Unverändert
116 Werke und Werkgruppen

ist davon auszugehen, daß Träume einen latenten Fosshage, James L.: The Psychological Function of Dreams. In:
Psychoanalysis and Contemporary Thought 4 (1983),
Sinn haben und daß die Erlebnisse, die sie darstellen, 641–669.
systematisch entstellt sind. Diese Entstellung wie- French, Thomas M.: The Integration of Behavior. Bd. 2: The
derum ist nur im Kontext individueller Erfahrung zu Integrative Process in Dreams. Chicago 1953.
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118

5. Theorie des Unbewußten

5.1 Zur Psychopathologie quis« (irgendeiner) entfallen ist. Freud versucht, den
Grund für das Vergessen herauszufinden, und fordert
des Alltagslebens (1901) den jungen Mann auf, zu »aliquis« zu assoziieren.
Die Assoziationen führen über verschiedene Zwi-
In dem 1901 erschienenen Werk Zur Psychopathologie schenschritte (Reliquien – Liquidation – Flüssigkeit)
des Alltagslebens (GW IV) versuchte Freud, seine psy- schließlich zum Blutwunder des heiligen Januarius
choanalytische Theorie des psychischen Determinis- und der Bemerkung, daß sich das alljährliche Flüs-
mus, der Bedeutung des Unbewußten und der Wie- sigwerden des Blutes einmal verzögert habe. Von da
derkehr des Verdrängten an alltagsweltlichen Erleb- an führt die Assoziationskette weiter zum Ausbleiben
nisweisen zu verdeutlichen. Im Zentrum stehen dabei der Monatsblutung seiner Geliebten und der ängst-
die sogenannten Fehlleistungen. Dazu gehören vor al- lichen Erwartung, daß »das Blutwunder« doch mög-
lem »die Fälle von Vergessen und die Irrtümer bei lichst bald geschehen solle (16). Die Angst vor dem
besserem Wissen, Versprechen, Verlesen, Verschrei- Ausbleiben der Blutung und dem Eintreten einer
ben, Vergreifen und die sogenannten Zufallshandlun- Schwangerschaft verdichtete sich für Freud assoziativ
gen« (268). Die Zusammensetzung der fraglichen Be- in dem Wort »aliquis«, das deshalb dem Vergessen
griffe mit der Vorsilbe »Ver-« deutet die innere anheim fiel (16 f.). Ebenso stellte Freud eine Gleich-
Gleichartigkeit dieser Phänomene bereits sprachlich artigkeit zwischen dem Vergessen von Eigennamen
an. und dem Fehlerinnern fest. Dabei geht es um ein
Fehlleistungen haben den Charakter einer mo- Fehlgehen der Erinnerung, und zwar auf dem Wege
mentanen, zeitweiligen Störung, die sich »innerhalb der Verschiebung von einem bedeutsamen Eindruck
der Breite des Normalen« (267) abspielt. Der Betrof- auf andere, assoziativ damit verbundene indifferente
fene kann sie sich selbst nicht erklären und schreibt Erfahrungen (51). Dies betrifft auch die Bildung von
sie seiner Unaufmerksamkeit oder dem Zufall zu Deckerinnerungen (52).
(268). Wenn man das Verfahren der psychoanalyti- Unter Deckerinnerungen (51 ff.) versteht Freud
schen Untersuchung auf sie anwendet, erweisen sie Kindheitserinnerungen, deren Schärfe und Plastizität
sich aber als wohlmotiviert und durch dem Bewußt- in merkwürdigem Gegensatz zu der Flachheit der Af-
sein unbekannte Motive determiniert (267). Sehr fekte steht, die den Inhalt der Erinnerungen betref-
häufig dienen sie der Vermeidung von Unlust, die fen. So hat ein 24jähriger Mann ein Bild aus seinem
mit dem Bewußtwerden unterdrückter unbewußter fünften Lebensjahr bewahrt, wo er im Garten eines
Inhalte verbunden wäre. Gleichzeitig läßt sich an ih- Sommerhauses auf einem Stühlchen neben seiner
nen demonstrieren, wie das Unterdrückte sich auf Tante sitzt, die bemüht ist, ihm das Alphabet beizu-
Umwegen dennoch Zugang zum Bewußtsein ver- bringen. Die Unterscheidung von m und n bereitet
schafft. Freud zeigt dies eindrücklich an dem folgen- ihm Schwierigkeiten, und er fragt die Tante, was der
den Beispiel des Versprechens: Jemand »erzählt von Unterschied zwischen den beiden Buchstaben sei.
Vorgängen, die er in seinem Innern für ›Schweine- Die Tante sagt ihm, daß das m einen Strich mehr
reien‹ erklärt. Er sucht aber nach einer milden Form habe als das n (57). Die Bedeutung dieser Kindheits-
und beginnt: ›Dann aber sind Tatsachen zum Vor- erinnerung erwies sich später, als sich zeigte, daß sie
schwein gekommen‹« (65). eine ganz andere Wißbegierde des Knaben über-
Das »Aliquis«-Beispiel gibt Aufschluß über den deckte, nämlich die nach dem Unterschied zwischen
Grund des Vergessens: Ein Bekannter Freuds hat Jungen und Mädchen, und er sich damals wohl sehr
Schwierigkeiten, ein Zitat aus Vergils Aeneis wieder- wünschte, daß die Tante darin seine Lehrmeisterin
zugeben, weil ihm das unbestimmte Pronomen »ali- werde. Damals fand er heraus, »daß der Bub wie-
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 119

derum ein ganzes Stück mehr habe als das Mädchen« Dies gilt schon deshalb, weil die von Freud in der
(57). Psychopathologie des Alltagslebens beschriebenen
Oft setzt sich ein indifferenter Eindruck als Deck- Fehlleistungen im Gegensatz zu Träumen und neu-
erinnerung im Gedächtnis fest, der diese Auszeich- rotischen Symptombildungen sich nicht stringent auf
nung nur der Verknüpfung mit einem früheren (sel- verdrängte infantile Wünsche zurückführen lassen.
tener auch einem späteren) Erlebnis verdankt, gegen Sie beziehen sich eher auf vorbewußte als auf unbe-
dessen direkte Reproduktion sich Widerstände erge- wußte Inhalte (Köhler 2000). Unabhängig davon hat
ben (52). Freuds Konzept der Nachträglichkeit von die Psychopathologie des Alltagslebens wahrscheinlich
Bedeutungszuschreibungen bekommt hier besonde- wie kein anderes seiner Werke zur Verbreitung des
res Gewicht. Freudschen Gedankenguts beigetragen. Schon zu
Für das Verlesen und Verschreiben zitiert Freud Freuds Lebzeiten erreichte das Buch zehn Auflagen
unter anderem ein Beispiel von Max Eitingon (jeder und wurde in zwölf Sprachen übersetzt (Jones II,
Neuauflage seiner Schrift pflegte Freud neues Mate- 395).
rial hinzuzufügen), der sich während des Ersten
Weltkriegs im Kriegsspital in Igló befand. Leutnant Literatur
X., der dort wegen einer kriegstraumatischen Neu- Grünbaum, Adolf: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine phi-
losophische Kritik. Stuttgart 1988 (engl. 1984).
rose behandelt wurde, las Eitingon eines Tages in Köhler, Thomas: Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis
sichtlicher Ergriffenheit den Schlußvers eines Ge- heute. Stuttgart 1996.
dichts vor, dessen Autor früh im Krieg gefallen war: –: Das Werk Sigmund Freuds. Entstehung – Inhalt – Rezeption.
»Wo aber steht’s geschrieben, frag’ ich, daß von allen/ Lengerich 2000.
Timpanaro, Sebastiano: The Freudian slip. Psychoanalysis and
Ich übrig bleiben soll, ein andrer für mich fallen?/ textual criticism. London 1974/1976.
Wer immer von euch fällt, der stirbt gewiß für mich;/ Christa Rohde-Dachser
Und ich soll übrig bleiben? warum denn nicht?«
Durch Eitingons Befremden aufmerksam gemacht,
las er dann, etwas betreten, richtig: »Und ich soll üb-
rig bleiben? Warum denn ich?« (126). 5.2 Der Witz und seine
Die Beschäftigung mit Determinismus, Zufalls- Beziehung zum Unbewußten
und Aberglaube führte Freud zu der Frage, ob auch
Zufälle und sog. »freie Einfälle« durch psychisches
(1905)
Material bedingt sind (267). Er glaubte, diese Frage Dies ist Freuds einzige Arbeit (GW VI), die einem
in vielen Fällen bejahen zu können, und demon- ästhetischen Phänomen nachgeht, indem sie ein um-
striert dies an folgender Begebenheit: Ein Mann fährt fangreiches Material analysierend systematisiert. Das
auf seinen Reisen durch Spanien mehrmals mit der in der Traumdeutung (1900) Erkannte – der Kom-
Bahn über den Bidossa-Fluß, wobei ihm jedesmal ein promiß zwischen Wunsch und Realitätsanspruch
Gedicht von Uhland in den Sinn kommt: »Aber frei und die Entstellung, die sich der Verfahren des Pri-
ist schon die Seele,/Schwebet in dem Meer von märprozesses bedient – wird aus der Einpersonen-
Licht«. Er kann sich dies nicht erklären, bis er zu psychologie des Traumes in die Mehrpersonenpsy-
Hause beim Blättern in einem Band Uhlandscher Ge- chologie des Witzes überführt. Hinzu kommt das zur
dichte entdeckt, daß einige Seiten nach diesem Ge- selben Zeit in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheo-
dicht ein anderes Gedicht den Titel »Die Bidossa- rie entwickelte Prinzip der Vorlust. Freud bewegt sich
Brücke« trägt (281 f.). hier in drei Traditionen, aus denen er Gedanken auf-
Daß Fehlleistungen physiologisch (vor allem durch greift, psychoanalytisch neuformuliert und zusam-
Ermüdung) oder auch durch die Kontaktwirkung menführt: die seit Aristoteles bekannte Vorstellung
von Lauten begründet sein können, wurde von Freud der sozialen Funktion des Lachens, wie sie ihm zu-
durchaus anerkannt. Eine Rückführung allein auf letzt mit Bergsons Le rire (1900) begegnete, die ro-
diese Ursachen erschien ihm aber nicht ausreichend, mantische Tradition vom subjektiven Charakter des
um die Störung des Redeflusses zu erklären (90 f.). Komischen, wie er sie in Jean Pauls Vorschule des Äs-
Linguistische Argumente, wie sie unter anderem von thetischen (1804, 1813) fand, und vor allem die phy-
Adolf Grünbaum (1984/1988) unter Berufung auf siologische Schule des 19. Jh.s, wie sie ihm mit Spen-
Sebastiano Timpanaro (1974/1976) benutzt wurden, cers The Physiology of Laughter (1868) begegnete. Er-
um Freuds Verdrängungslehre am Beispiel des Ver- mutigt fühlte er sich durch Komik und Humor (1898)
gessens des Wortes »aliquis« zu widerlegen, erweisen von Theodor Lipps. – Der Witz und seine Beziehung
sich daher als kurzschlüssig (vgl. Köhler 1996, 132 f.). zum Unbewußten erschien 1905, angeregt durch eine
120 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

Bemerkung von Fließ, dem, als er Korrekturfahnen sah in ihm einen Seitensprung (ebd., 91), der ihn von
zur Traumdeutung las, auffiel, daß dort die Träume seinem Weg abgeführt habe (GW XI, 242; 1916). Das
zu viele Witze enthielten. Freud, ein Sammler jüdi- setzte sich bei den an Unbewußtem und Therapie
scher Witze, fragt hier nach dem Wesen des Witzes interessierten Psychoanalytikern fort. Auch sind die
und nähert sich von ihm her zurückhaltend den Phä- beigezogenen Witze wegen des Doppelsinns der
nomenen Komik und Humor. Worte für nicht des Deutschen mächtige Leser öfters
Freud versteht den Witz als sozialen Vorgang zwi- schwer zu verstehen. So stammen die meisten nicht-
schen Witzproduzent und Witzhörer und die Tech- deutschen Arbeiten von Emigranten und an der jüdi-
niken des Witzes als Strategien, die dem Produzenten schen Thematik Interessierten. Die zum Teil recht
Witzarbeit und Gewinn an Witzeslust erlauben sowie groben, von Freud als selbstironisch verstandenen Ju-
dem Hörer zu Witzeslust verhelfen. Der Produzent denwitze wurden nach dem Holocaust als Angriff auf
begebe sich, wenn er mit der Sprache spielt und Un- die eigene Tradition interpretiert (Oring 1984); daß
zusammenhängendes verdichtet oder verschiebt, auf er deren jüdische Eigenart in den Hintergrund ge-
eine Stufe, die er als realitätsbewußter Erwachsener drängt und sie auf Universelles zurückgeführt hatte,
hatte verlassen müssen. Die psychische Energie, der deutete man als Zerschneiden seiner Abhängigkeits-
Hemmungsaufwand, den er eingesetzt hatte, um sich beziehungen, auch derer gegenüber seinen geistigen
solches Spiel zu verbieten, sei nun unnötig geworden; Vätern (Kofman 1990, 10–17); die aggressiven Witze
so lache er ihn ab. Beim Spiel mit der Sprache sei ein über Frauen als Zeichen seines männlichen Überle-
vorbewußter Gedanke ins Unbewußte gesunken und genheitsbedürfnisses. Er verstecke sein kastriertes,
nach den dort geltenden Gesetzen bearbeitet worden; weibliches oder jüdisches Gesicht hinter universell
so verändert, tauche er als plötzlicher Einfall wieder Menschlichem (ebd., 163).
auf. Spiellust und Aufhebungslust eines harmlosen Die psychoanalytischen Arbeiten zu Witz und Ko-
Witzes wirkten beim tendenziösen Witz als Vorlust: mik haben die Ergebnisse Freuds schärfer herausge-
lockten zur Lust an stärker verdrängten, insbeson- arbeitet, ergänzt und entfaltet. Schon früh hat Reik
dere aggressiven und sexuellen Regungen, die nun im den Vorgang zwischen Witzproduzent und -hörer als
witzigen Wortspiel durchbrächen, sich zugleich aber Zusammenspiel gefaßt: Der Produzent lege mit dem
auch verbärgen; anders als der Traum richte der Witz Witz ein unbewußtes Geständnis ab, sei nun in
sich ja an Adressaten, müsse also auch deren Zensur schuldbewußter Sorge, aus der Gemeinschaft ausge-
gerecht werden. Der Hörer führe lachend Energie ab, schlossen zu werden; die aber nehme ihm der Hörer
die er gegen die Lust am Wortspiel und gegen stärker durch sein Lachen ab. So könne der Produzent sich
verdrängte Regungen eingesetzt hatte, die nun aber aufgenommen fühlen und seinen gegen das unbe-
unnötig werde. Beim Hörer, dessen Aufmerksamkeit wußte Schuldgefühl eingesetzten Hemmungsauf-
durch mannigfache Techniken, z. B. durch Fassaden- wand ablachen. Zur Störung der Abfuhr komme es
bildung abgelenkt sei, wiederhole sich der Vorgang beim Produzenten aus vor- oder unbewußter Sorge
der Witzarbeit, allerdings ohne den Energieaufwand um die Aufnahme des Witzes (Reik 1929, 220). Das
des Produzenten. So könne er einen größeren Betrag wird durch Grotjahns These gestützt, daß sich in je-
Hemmungsenergie ablachen als dieser, den er mit dem Witz aggressive Tendenzen finden, ja daß La-
seinem Lachen seinerseits anstecke. – Von diesem chen im wesentlichen auf Freisetzung verdrängter
Verständnis des Witzes her blickt Freud auf Komik Feindseligkeit beruhe (1974, 36), was zu Schuldge-
und Humor. Komik verlange nicht notwendig nach fühlen führt. Das Lachen selbst bezogen Grotjahn
einem Hörer, sie vollziehe sich vorbewußt beim Be- (1974, 61 f.) und z. B. Kofman (1990, 92, u. 164) auf
trachter, dem etwas komisch erscheine: Er versetze das Lächeln des Säuglings. Mit ihm stelle sich in vor-
sich in das für ihn Komische und entwickle hierbei sprachlicher Kommunikation Einheit her. Wurde so
Erwartungen, die dann enttäuscht würden. Die hier- von psychoanalytischer Seite herausgearbeitet, daß
bei ersparten Erwartungsenergien führe er lachend der Hörer den Erzähler durch sein Lachen in die Ge-
ab. Den Humor, eine Art des Komischen, versteht meinschaft aufnimmt, so betont Genazino (2004,
Freud als Vorgang, bei dem nicht nur der Zuhörer, 133 ff.), daß, wer über einen öffentlich erzählten Witz
sondern auch die komische Figur fehlen könne. Der nicht lacht, seine eigene Vergesellschaftung zur Dis-
Humorist erhebe sich lächelnd über sein eigenes Lei- position stelle. Das mitlachende Publikum werde
den und seine Emotionen und könne nun mit er- vergesellschaftet, wer nicht lache dagegen zum Spiel-
spartem Gefühlsaufwand lächeln (s. Kap. II.10.11). verderber. Zu einzelnen Momenten des Witzes tru-
Freud hat sein Witzbuch nicht so hoch geschätzt gen mehrere Autoren Neues bei: Arieti zeigte, daß wir
wie andere seiner Beiträge (GW XIV, 92; 1925); er beim Hören eines Witzes lachen, wenn wir entdek-
Das Ich und das Es 121

ken, daß wir auf primärprozeßhaftes Denken ant- Wirkungsästhetik. In: Germanisch-Romanische Monats-
schrift. Neue Folge (1978), 129–154.
worten, während wir doch auf logisches eingestellt Kofman, Sarah: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz.
waren (1976, 111); Reik betonte die magische Macht München/Wien 1990 (frz. 1986).
des Worts, die Erzähler wie Hörer beim Eintauchen Oring, Elliot: The Jokes of Sigmund Freud. Philadelphia Univ. of
ins Vor- und Unbewußte ergreife, Grotjahn, arbeitete Pennsilvania Press 1984.
Reik, Theodor: Künstlerisches Schaffen und Witzarbeit. In:
unterschiedliche Charaktertypen von Witzproduzen- Imago 15 (1929), 188–220.
ten nach Arten ihrer Aggressivität heraus, z. B. den –: Jewish Wit. New York 1962.
Hänsler oder den Witzbold (1974, 40 ff.). Carl Pietzcker
»Von der Anwendung analytischen Denkens auf
ästhetische Themata hat mein Buch über den ›Witz‹
ein erstes Beispiel gegeben«, schrieb Freud 1914 (GW
X, 78). Reik hat dann das Paradigma Witzarbeit auf 5.3 Das Ich und das Es (1923)
die Kunstarbeit übertragen und so dem Paradigma
Traumarbeit, das die Literaturanalyse bis heute leitet, In seiner Arbeit Das Ich und das Es (GW XIII,
ein zweites an die Seite gestellt, das den ästhetischen 235–289) entwickelt Freud das Konzept des psychi-
Prozeß nun als sozialen begreifen läßt: das Angewie- schen Apparats mit den Instanzen Ich, Es und Über-
sensein des Dichters auf Beifall, der ihn von Schuld- Ich, das trotz der fortschreitenden wissenschaftlichen
gefühlen befreie. – Von literaturwissenschaftlicher Entwicklung insbesondere auf dem Gebiet der psy-
Seite wurde Freuds Modell des Witzes als Paradigma choanalytischen Objektbeziehungstheorie und der
von Literatur vor allem mit Blick auf deren Tech- Neurowissenschaften bis heute das psychoanalytische
niken aufgegriffen. Für Hiebel (1978, 129) ist das Denken prägt. Zunächst wird dazu der Begriff des
Buch über den Witz aufschlußreicher als Freuds un- Unbewußten weiter differenziert. Es gibt, so Freud,
mittelbar literaturtheoretische Arbeiten; nur hier ein deskriptiv Unbewußtes, das jederzeit bewußt wer-
habe er eine poetische Form mit Blick auf deren äs- den kann und insofern eigentlich vorbewußt ist, und
thetische Funktionsweise untersucht (ebd., 136). ein psychodynamisches Unbewußtes, das nicht ohne
Hiebel konzentriert sich auf die Mechanismen der weiteres bewußt werden kann, weil eine psychische
Witzarbeit, insbesondere Verschiebung und Verdich- Kraft sich dem widersetzt (240). Um diese Unter-
tung, die er in der Nachfolge Lacans als sprachliche scheidung hervorzuheben, nennt Freud das deskrip-
versteht und als Metapher und Metonymie im lite- tiv Unbewußte nunmehr »vorbewußt«. Den Begriff
rarischen Werk wiederfindet. Ähnlich sieht Bartels »unbewußt« reserviert er hingegen für das dynami-
(1981, 24, 27) in der Weise, wie Freud die Technik sche Unbewußte, das jene Vorstellungen enthält, die
des Witzes analysiert, ein Vorbild des Verstehens poe- der Verdrängung anheim gefallen sind (241).
tischer Gestaltungskunst, die mit Blick auf Form, Ebenso postuliert Freud eine zusammenhängende
nicht aber primär auf Inhalt zu untersuchen sei. – Organisation der seelischen Vorgänge und nennt
Die linguistische Analyse der Merkmale des Witzes diese Ich (243). Das Ich ist durch die psychischen
erschöpft für die Literaturwissenschaft den paradig- Funktionen definiert, die ihm obliegen (vor allem
matischen Charakter des Buches über den Witz frei- Wahrnehmung, Realitätsprüfung, Denken, Motili-
lich nicht. Das Modell einer psychoanalytischen tät). Vom Ich gehen auch die Verdrängungen aus, mit
Theorie des Kunstwerks als Modell eines sozialen denen gewisse seelische Strebungen vom Bewußtsein
Prozesses, wie es der Theorie des Witzes entspräche, ausgeschlossen werden sollen, ebenso wie der Wider-
steht allerdings noch aus. stand gegen ihre erneute Bewußtwerdung (243). Ver-
drängung und Widerstand sind aber unbewußte Vor-
Literatur gänge: Die Unterscheidung zwischen bewußt und
Anz, Thomas: Literatur und Lust. München 1998. unbewußt greift hier deshalb zu kurz. Es bedarf der
Arieti, Silvano: Creativity in Wit. In: ders.: Creativity. New York Einführung eines weiteren Gegensatzes, nämlich des
1976, 101–134. Gegensatzes zwischen dem Ich und dem von ihm ab-
Bartels, Martin: Traum und Witz bei Freud. Die Paradigmen
psychoanalytischer Dichtungstheorie. In: Literatur und Psy-
gespaltenen Verdrängten (244), das Freud Es nennt.
choanalyse. Hg. von Klaus Bohnen u. a. Kopenhagen/Mün- Das Ich ist dann der Teil des Es, der über das
chen 1981, 10–29. Wahrnehmungssystem mit der Außenwelt in Verbin-
Genazino, Wilhelm: Der gedehnte Blick. München 2004. dung steht und den Einfluß der Außenwelt dem Es
Grotjahn, Martin: Vom Sinn des Lachens. Psychoanalytische Be-
trachtungen über den Witz, das Komische und den Humor.
gegenüber zur Geltung bringt. Es vertritt zu diesem
München 1974 (amerik. 1957). Zweck das Realitätsprinzip, im Gegensatz zum Lust-
Hiebel, Hans: Witz und Metapher in der psychoanalytischen prinzip, das im Es uneingeschränkt regiert. Das Ich
122 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

repräsentiert Vernunft und Besonnenheit, im Gegen- fenden Gewissens (283). Auch die Todesangst, für die
satz zum Es, das die Leidenschaften enthält (253). es nach Freud im Unbewußten keine Entsprechung
Das Ich ist vom Es aber nicht scharf getrennt, es fließt gibt, spielt sich für ihn zwischen Ich und Über-Ich ab
nach unten hin mit ihm zusammen (251). In seinem (288). Leben ist für das Ich gleichbedeutend mit Ge-
Verhältnis zum Es gleicht es dem Reiter, der die über- liebtwerden, vom Über-Ich geliebt werden (ebd.).
legene Kraft des Pferdes zügeln soll. Oft bleibt ihm »Das Es, zu dem wir am Ende zurückführen, hat
aber nichts anderes übrig, als es dahin zu führen, wo- keine Mittel, dem Ich Liebe oder Haß zu bezeugen.
hin es gehen will (253). Um dieser Versuchung Ein- Es kann nicht sagen, was es will; es hat keinen ein-
halt zu gebieten, bedarf es einer moralischen Zensur. heitlichen Willen zustande gebracht. Eros und Todes-
Diese geschieht durch das Über-Ich oder Ichideal als trieb kämpfen in ihm [. . .] Wir können es so dar-
einem aus dem Ich heraus entwickelten System, das stellen, als ob das Es unter der Herrschaft der stum-
die Identifizierungen mit den Eltern der frühen men, aber mächtigen Todestriebe stünde, die Ruhe
Kindheit enthält. haben und den Störenfried Eros nach den Winken
Wenn ein frühes Sexualobjekt aufgegeben werden des Lustprinzips zur Ruhe bringen wollen, aber wir
muß, so tritt nach Freud dabei nicht selten eine Ich- besorgen, doch dabei die Rolle des Eros zu unter-
Veränderung auf, die man wie bei der Melancholie schätzen« (289).
als eine Aufrichtung des Objekts im Ich beschreiben Freuds 1923 entworfenes Konzept des psychischen
kann (258). Der Charakter des Ichs ist insofern ein Apparats mit seinen Instanzen Ich, Es und Über-Ich
Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen, hat in der Psychoanalyse seitdem eine Reihe von
der die Geschichte dieser Objektwahlen enthält Fortentwicklungen erfahren. In der psychoanalyti-
(258). Die Objektbesetzungen gehen ursprünglich schen Objektbeziehungstheorie wurde der Ursprung
vom Es aus und enthalten die erotischen Strebungen, des Über-Ichs hinter den Ödipuskomplex zurück in
die ausschließlich dem Lustprinzip unterliegen. Mit die frühe Mutter-Kind-Beziehung verlegt (Klein
der identifikatorischen Aneignung dieser Objektbe- 1958/2000). Hartmann (1964/1972) hat dem Begriff
ziehungen durch das Ich nimmt dieses aber auch des Ichs den des Selbst hinzugefügt. In der Selbst-
Züge des Objekts an. Damit kommt es in die Versu- psychologie wurde die Trennung von Über-Ich und
chung, dem Es den Verlust seines Liebesobjekts zu Ich-Ideal weiter ausgebaut (Kohut 1971/1973). Chas-
ersetzen, in dem es sich sozusagen selbst dem Es als seguet-Smirgel (1975/1981) sah das Ich-Ideal im
Liebesobjekt aufdrängt und sagt: »Schau her, du Gegensatz zum Über-Ich als den unbewußten Nie-
kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt ganz derschlag einer ursprünglichen (mütterlichen) Ver-
ähnlich« (258). Die Wirkung der ersten, im frühesten heißung. Ich, Es und Über-Ich wurden als ge-
Alter erfolgten Identifizierungen wird dabei beson- schlechtsspezifische Metaphern der Vater-Mutter-
ders nachhaltig sein. Dies gilt vor allem für die erste Kind-Beziehung dekonstruiert (Rohde-Dachser
und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, 1993). Unter neurowissenschaftlichen Gesichtspunk-
die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit (259). ten ist es vor allem der Begriff des prozeduralen (im-
Das Über-Ich ist aber nicht nur Ergebnis der ersten pliziten) und des deklarativen (expliziten) Gedächt-
Objektwahlen des Es, sondern es hat auch die Bedeu- nisses, mit dem Freuds Theorie des Unbewußten in
tung einer energischen Reaktionsbildung gegen die- die moderne neurowissenschaftliche Diskussion zu-
selben. Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich des- rückgeholt wurde. Ein interessanter Vorschlag der
halb auch nicht in der Mahnung: So (wie der Vater) Übersetzung der Freudschen Theorie des psychi-
sollst du sein, sie umfaßt auch das Verbot: So (wie der schen Apparats in eine neurowissenschaftlich fun-
Vater) darfst du nicht sein, das heißt nicht alles tun, dierte Theorie des subjektiven Erlebens stammt von
was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten (262). Deneke (1999/2001).
Das Über-Ich wird damit den Charakter des Vaters
bewahren. Je stärker der Ödipuskomplex war und je Literatur
beschleunigter seine Verdrängung erfolgte, desto Chasseguet-Smirgel, Janine: Das Ichideal. Psychoanalytischer
Essay über die »Krankheit der Idealität«. Frankfurt a. M.
strenger wird später auch das Über-Ich sein (263). Im 1981 (frz. 1975).
Extremfall kann man den Eindruck haben, als habe Deneke, Friedrich-Wilhelm: Psychische Struktur und Gehirn. Die
sich die destruktive Komponente des Todestriebs im Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten [1999]. Stuttgart 2001.
Über-Ich abgelagert und wüte nun von dort aus ge- Hartmann, Heinz: Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalyti-
schen Theorie. Stuttgart 1972 (engl. 1964).
gen das Es (283). Nach beiden Seiten hilflos, wehrt Klein, Melanie: Zur Entwicklung psychischen Funktionierens
sich das Ich dann vergeblich gegen die Zumutungen [1958]. In: Dies.: Gesammelte Schriften III: 1946–1963.
des mörderischen Es wie gegen die Vorwürfe des stra- Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 369–386.
Metapsychologische Schriften 123

Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen chische Vorgänge als quantitativ bestimmte Zustände
Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frank-
furt a. M. 1973 (engl. 1971).
aufzeigbarer materieller Teile« (Nachtr., 387) darzu-
Rohde-Dachser, Christa: Geschlechtsmetaphern im Diskurs stellen. Zu diesem Zweck konstruiert Freud einen aus
der Psychoanalyse. In: Michael B. Buchholz (Hg.): Meta- energieleitenden Neuronen zusammengesetzten »Ap-
phernanalyse. Göttingen 1993, 208–228. parat«, der dem sog. Konstanzprinzip zu folgen hat.
Christa Rohde-Dachser Durch geeignete Abfuhr und assoziative Verarbeitung
innerer Reize sowie Schutz- und Reduktionsmaßnah-
men gegenüber äußeren Reizen soll das Spannungs-
und Erregungsniveau des Apparats möglichst gering
5.4 Metapsychologische gehalten werden. Vor diesem energetisch-ökonomi-
Schriften schen Hintergrund – dem »Lust-Unlust-Prinzip« –
sollte die Hysterie ihre Erklärung finden: Die Erinne-
Zwischen 1914 und 1915 verfaßte Freud eine Reihe rungen an »vorzeitige Sexualerlebnisse«, die typi-
von Abhandlungen mit dem erklärten Ziel, die theo- scherweise die Krankengeschichten der Hysteriker
retischen Annahmen der Psychoanalyse zu klären prägen, bringen aufgrund ihrer unkontrollierbaren,
und zu vertiefen. Sie sollten als Buch mit dem Titel überflutenden Affektentbindung das postulierte
»Zur Vorbereitung einer Metapsychologie« erschei- Funktionsgefüge aus dem Gleichgewicht.
nen. Durch seine Korrespondenz (vgl. etwa F/Fer II/ Daß Freud seine Modellbildung in naturwissen-
1, 102, 106 f., 120, 124, 127 ff.) wissen wir, daß Freud schaftlichen Begriffen wie ›Kraft‹, ›Quantität‹, ›Ener-
ursprünglich zwölf Schriften für diese Reihe plante, gie‹, ›Ladung‹ etc. abgefaßt und zeitlebens die Aus-
letztlich jedoch nur fünf von ihnen veröffentlichte: sicht auf Meßbarkeit und Sichtbarmachung der po-
Triebe und Triebschicksale (GW X, 209–232), Die Ver- stulierten Vorgänge aufrechterhalten hat, führt bis
drängung (ebd., 247–261) und Das Unbewußte (ebd., heute zu kontroversen Debatten. Eine einflußreiche
263–303) im Jahr 1915 sowie die Arbeiten Metapsy- Position lautet, daß die Metapsychologie in ihrem
chologische Ergänzung zur Traumlehre (ebd., 411– szientistischen Gepräge nicht zur Psychoanalyse als
426) und Trauer und Melancholie (ebd., 427–446), interpretative Disziplin passe (Habermas 1968,
die zwei Jahre später erschienen. Die anderen sieben 300 ff.). Eine andere, nicht weniger einflußreiche Po-
Texte galten allesamt als verschollen. Im Jahr 1984 sition will den szientistischen Anspruch Freuds auf-
konnte Ilse Grubrich-Simitis ein unerwartet wieder- nehmen und ihn mit ›zeitgemäßen‹ Mitteln in streng
gefundenes handschriftliches Manuskript Freuds als neurowissenschaftlicher Perspektive einlösen (Gedo
eine der verlorenen geglaubten Arbeiten identifizie- 1998; Kaplan-Solms/Solms 2000/2003).
ren. Die Schrift wurde 1985 unter dem Titel Über- Freud selbst hat schon nach wenigen Wochen sei-
sicht der Übertragungsneurosen veröffentlicht (Freud nen ersten metapsychologischen Entwurf als »Wahn-
1985; Nachtr., 627–651). witz« verworfen. Aus heutiger Perspektive erscheint
Freuds Bemühung, die theoretischen Grundlagen dieses Urteil als übereilt, denn der Entwurf enthält in
der Psychoanalyse zu entwickeln und zu differenzie- bewundernswerter Fülle und Klarheit die entschei-
ren, ist keineswegs auf die genannten Schriften be- denden metapsychologischen Problemstellungen und
schränkt. Sowohl in den später verfaßten Abhand- z. T. geniale Lösungen derselben: etwa die Ableitung
lungen Jenseits des Lustprinzips (1920), Das Ich und der strukturellen Verschränkung von Verdrängung
das Es (1923), Hemmung, Symptom und Angst (1926) und Sexualität, d. h. die Antwort auf die Frage,
als auch in früheren Schriften, insbesondere im Ent- warum die Verdrängung ausschließlich an der Sexua-
wurf einer Psychologie (1895) und im 7. Kapitel der lität ansetzt. Es gilt noch darauf hinzuweisen, daß der
Traumdeutung (1900), hat Freud vergleichbar umfas- Entwurf im Kontext der Verführungstheorie der Hy-
sende theoretische Absichten verfolgt. sterie einen Schwerpunkt setzt, den die späteren me-
Der Begriff ›Metapsychologie‹ taucht das erste Mal tapsychologischen Konzepte vernachlässigen: Er be-
1898 im Briefwechsel mit Wilhelm Fließ auf. Dort tont den traumatischen Einfluß der Außenwelt, die
eruiert Freud die Tauglichkeit dieses Begriffs für in den psychischen Apparat eindringt, dort nach
seine »hinter das Bewußtsein führende Psychologie« temporalen Gesetzmäßigkeiten als Engramm wirk-
(F, 329). Der Briefwechsel enthält außerdem Freuds sam wird und bei Wiederbelebung pathologische
erstes umfassendes theoretisches Modell psychischen Vorgänge auslöst. Im weiteren Verlauf seiner Theo-
Geschehens, die unvollendet gebliebene, kurze Zeit rieentwicklung legte Freud den Schwerpunkt auf en-
später vom Autor verworfene Frühschrift Entwurf ei- dogene Reize, auf die Phantasie, die infantile Sexuali-
ner Psychologie. Der Text verfolgt die Absicht, »psy- tät und den Trieb.
124 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

Im 7. Kapitel der Traumdeutung, der nächsten me- lich weiterentwickelt und avanciert 1915 zu einer der
tapsychologischen Station, distanziert sich Freud drei Koordinaten, nach denen er seine Theorie seeli-
vom früher verfolgten Substanzialismus: »Wir wollen schen Lebens, die Metapsychologie, organisiert: In
ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um Das Unbewußte schreibt Freud: »Ich schlage vor, daß
den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches es eine metapsychologische Darstellung genannt wer-
Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung den soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen Vor-
sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Loka- gang nach seinen dynamischen, topischen und öko-
lität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf nomischen Beziehungen zu beschreiben« (GW X,
psychologischem Boden […]« (GW II/III, 541). Mit 281).
»psychologischem Boden« meint Freud die Etablie- Während die topische Betrachtungsweise angibt,
rung einer eigenständigen Betrachtungsweise seines innerhalb welchen Systems oder zwischen welchen
Gegenstandes, die er weder in der phänomenologisch Systemen ein psychischer Akt sich abspielt, führt die
orientierten Psychologie noch im psychophysischen dynamische Perspektive diesen auf das Spiel von
Parallelismus (vgl. GW XVII, 67) finden konnte. Die konfligierenden Kräften zurück. Die ökonomische
genuin psychoanalytische Betrachtungsweise beginnt Betrachtung schließlich untersucht die Energieaus-
mit der Annahme, daß die psychischen Vorgänge, das stattung dieser Kräfte. Die Klärung der sog. Ener-
Denken und die Erinnerungen an sich unbewußt giebesetzungen, die im psychischen Apparat beste-
sind und nur ausschnittweise, unter bestimmten Be- hen, sich entlang von Vorstellungsketten verschieben
dingungen, bewußt werden. Die unbewußten Vor- und gemäß ihrer variierenden Stärke bestimmte
gänge haben dabei als wirksame, vollgültige psychi- psychische Effekte wie Bewußtsein, Affektdurchbrü-
sche Akte (»Denkakte, Vorstellungen, Strebungen, che, Angst, Störung der Motilität usw. bewirken, ist
Entschließungen«, vgl. GW X, 267) zu gelten. Sie nach Freuds eigener Einschätzung das ungeklärteste,
sind zwar nicht beobachtbar, jedoch erschließbar jedoch entscheidende Moment der psychoanalyti-
und rekonstruierbar. In dieser Perspektive gelingt es schen Theorie. 1920, in seiner Abhandlung Jenseits
Freud, das lückenhafte, unvollständige Bild, das die des Lustprinzips, reflektiert Freud dieses spannungs-
Selbstwahrnehmung des Subjekts und die Bewußt- volle Merkmal der psychoanalytischen Theorie mit
seinspsychologie vom psychischen Geschehen liefern, den Worten, »daß wir nichts über die Natur des Erre-
zu schließen. Anhand der Erscheinungen, in denen gungsvorgangs [. . .] wissen, [. . .] wir also stets mit
sich unbewußte Gedanken entstellt verkörpern – in einem großen X operieren« (GW XIII, 30 f.). Paul
Symptomen, Träumen, Fehlleistungen, Abkömmlin- Ricœur (1965/1974) hat diese Beharrlichkeit Freuds
gen –, wird es »möglich, die Gesetze festzustellen, de- aufgegriffen und die Spezifik der Metapsychologie
nen sie gehorchen, ihre gegenseitigen Beziehungen wie der psychoanalytischen Deutung im allgemeinen
und Abhängigkeiten über weite Strecken lückenlos zu als gemischten Diskurs zwischen Kraft und Sinn,
verfolgen« (GW XVII, 79). Seine wachsende Kennt- zwischen Hermeneutik und Energetik beschrieben.
nis der Gesetzmäßigkeiten des Unbewußten, die sich Das System Vbw unterscheidet sich vom System
von denen des Vorbewußten und Bewußten unter- Ubw durch die Bewußtseinsfähigkeit seiner Inhalte.
scheiden, sowie das spannungsvolle Gefüge dieser Der Übergang eines psychischen Vorgangs vom Sy-
beiden Ordnungen systematisierte Freud im 7. Kapi- stem Ubw ins System Vbw ist nur unter bestimmten
tel der Traumdeutung zur sog. ersten Topik. Hierbei Bedingungen, nämlich unter Erfüllung der Ansprü-
handelt es sich um eine räumliche Modellvorstellung che einer Zensurinstanz, möglich. Die beiden Sy-
des psychischen Apparats, der Reize sensorisch auf- steme stehen in Konflikt, sie sträuben sich gegenein-
nehmen und motorisch abgeben kann und in Sy- ander. Unter dynamischem Aspekt besitzt das Unbe-
steme – psychische Orte – unterteilt ist. Dem System wußte einen permanenten Manifestationsdrang, dem
Unbewußt (Ubw) steht das System Vorbewußt-Be- eine ebenso beständige Kraft entgegenwirkt, die ihm
wußt (Vbw-Bw) gegenüber. Das Bewußtsein be- den Zugang zum Bewußtsein zu verwehren sucht.
kommt die Rolle »eines Sinnesorgans zur Wahrneh- Der dynamische Charakter dieses Gefüges wird von
mung psychischer Qualitäten« (GW II/III, 620) zuge- der Verdrängung strukturiert. In den psychischen Re-
sprochen. Diesem Sinnesorgan tritt von zwei Seiten gionen herrschen jeweils eigene Mechanismen und
Material entgegen: durch die Außenwelt und durch Funktionsweisen: im Unbewußten die Primärpro-
Vorgänge aus dem Inneren des psychischen Appa- zesse, im Vorbewußten die Sekundärprozesse.
rats. Diese Unterscheidung entspricht der von Lust-
Die topische Konzeption psychischen Geschehens und Realitätsprinzip. Der Primärvorgang ist eine Ar-
wird in den folgenden Jahren von Freud kontinuier- tikulationsdynamik besonderer Art. Sie hebt sich
Metapsychologische Schriften 125

deutlich von der Alltagssprache ab und kommt be- Sichtweise, in der die artikulative, sprachbezogene
sonders prägnant in der Traumbildung zum Tragen: Dimension des Unbewußten, das unbewußte Den-
In ihr werden psychische Elemente, Vorstellungen, ken, unterbestimmt bleibt.
Erinnerungsbilder ihres geläufigen Inhalts und ihrer 1920 hat Freud eine zweite Topik, die sog. Struk-
Bedeutung entkleidet, werden verschoben, verdichtet turlehre mit den Instanzen Es-Ich-Überich entwik-
und umgewertet, um Bestandteile (Artikuli) einer kelt. Dieses Modell ist stärker genetisch ausgerichtet.
Bilderschrift zu werden, die mit ihren Bedeutungs- Es beinhaltet die Annahme eines nicht verdrängten
effekten einem Ziel folgt: der Wunscherfüllung (GW Unbewußten und zeigt u. a. die progressive Ausdiffe-
II/III, 604), d. h. Spannungsabfuhr zu realisieren. Da renzierung des Ich aus dem Es. Die erste Topik, die
diese Primärtendenz des psychischen Apparats, die im Rahmen der metapsychologischen Schriften zur
halluzinatorische Wunscherfüllung, realitätsuntaug- Ausformung kam, ist auf die Strukturen der Systeme
lich ist, muß sie gemäßigt werden. und deren Arbeitsweisen konzentriert und unter-
Zu diesem Zweck, angestoßen durch die »Not des sucht deren Zusammenhang mit den dynamischen
Lebens« (Nachtr., 390), bildet sich im psychischen und ökonomischen Bedingungen des psychischen
Apparat der Sekundärvorgang heraus. Durch Mäßi- Geschehens.
gung, Hemmung und Bindung der Energie an be- Topisch gesehen herrschen im Unbewußten die
stimmte Vorstellungsgruppen und bestimmte Ver- Sachvorstellungen, dynamisch-ökonomisch betrach-
knüpfungsregeln (etwa den Satz vom Widerspruch) tet besteht der »Der Kern des Ubw […] aus Trieb-
wird realitätsgerechtes Denken möglich. Die unbe- repräsentanzen« (GW X, 285). Freud gebraucht den
wußten Wunschregungen bleiben jedoch der immer Begriff ›Trieb‹ seit 1905 und entwickelt ihn vor allem
rege »Kern unseres Wesens« (GW II/III, 609). Die an der Beschreibung der menschlichen Sexualität
Rolle des Vorbewußten besteht lediglich darin, den und ihres universellen Kernkonflikts, des Ödipus-
Wunschregungen die zweckmäßigsten Wege anzu- komplexes, in dem Wunsch und Verbot, dyadische
weisen und das freie Abströmen der Erregungsquan- und triadische Strukturen zusammenstoßen.
titäten in Richtung Wunscherfüllung zu verhindern. In Triebe und Triebschicksale gibt Freud eine um-
In Das Unbewußte widmet sich Freud ausführlich fassende Definition des Triebs als »Grenzbegriff zwi-
einem metapsychologischen Kardinalproblem, der schen Seelischem und Somatischem« (ebd., 214).
Differenzierung von vorbewußter und unbewußter Diese Definition ist kein Rückfall in den psychophy-
Vorstellung. Die Bestimmung dieses Verhältnisses sischen Parallelismus. Als Grenzbegriff ist der Trieb
soll das theoretische Verständnis des Verdrängungs- weder seelisch noch somatisch, vielmehr ermöglicht
mechanismus vertiefen und die Frage des Übertritts er, diesen Bereichen ihren spezifisch psychoanalyti-
einer unbewußten Vorstellung ins Bewußtsein bzw. schen Sinn anzunehmen. Der Trieb indiziert ein kon-
deren Integration ins System Vbw klären: »Die bei- stantes Repräsentationsgeschehen: »Würde der Trieb
den sind nicht, wie wir gemeint haben, verschiedene sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als
Niederschriften desselben Inhaltes an verschiedenen ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könn-
psychischen Orten, auch nicht verschiedene funktio- ten wir nichts von ihm wissen« (ebd., 276). Als in-
nelle Besetzungszustände an demselben Orte, son- nere Reizquelle und Arbeitsanforderung ist der Trieb
dern die bewußte Vorstellung umfaßt die Sachvor- vor allem Drang. Seine Energie wird Libido genannt.
stellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die Die mit libidinöser Energie besetzten Triebrepräsen-
unbewußte ist die Sachvorstellung allein. Das System tanzen – Vorstellungen und Vorstellungsgruppen –
Ubw enthält die Sachbesetzungen der Objekte, [. . .] streben nach Abfuhr.
das System Vbw entsteht, indem diese Sachvorstel- Freud stellt in seiner Triebtheorie Triebarten ein-
lung durch die Verknüpfung mit den ihr entspre- ander gegenüber: die Ich- und Selbsterhaltungstriebe
chenden Wortvorstellungen überbesetzt wird« (GW und die Sexualtriebe. Was in der einen Vorstellungs-
X, 300). Durch Worte, so die voraussetzungsvolle gruppe Lust bedeutet, kann in der anderen Unlust
und weitreichende Bestimmung, werden sekundär- bedeuten. Der Triebgegensatz ist die Grundlage des
prozeßhafte Denkvorgänge, also der gemäßigtere, ab- psychischen Konflikts.
fuhrgehemmte Energieablauf, begünstigt. Diese Dif- In der Abhandlung Die Verdrängung fragt Freud in
ferenzierung hat in der psychoanalytischen Theo- konfliktpsychologischer Perspektive nach der Entste-
rieentwicklung nach Freud zu problematischen In- hung des Unbewußten: Die Verdrängung kommt als
terpretationen Anlaß gegeben. Das Unbewußte Gründungsmechanismus nicht in Frage. Denn die
wurde zur vorsprachlichen Region archaischer Bilder Verdrängung, die zum Zweck der »Vermeidung von
und organismischer Exzitationen deklariert – eine Unlust« (ebd., 256) »in der Abweisung und Fernhal-
126 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

tung vom Bewußten besteht« (ebd., 250), setzt »eine Vorgang für das System Bw die Rolle einer Gegenbe-
scharfe Sonderung von bewußter und unbewußter setzung übernehmen, d. h. gegen das Verdrängte
Seelentätigkeit« (ebd.) bereits voraus. Dieses Zirkula- schützen soll, wird zur selbständigen Quelle der
ritätsproblem führt Freud zur Annahme einer »Ur- Angstentbindung. Der Verdrängungs-/Gegenbeset-
verdrängung«, durch die in einem konstitutiven Akt zungsprozeß muß erneut, letztlich unbegrenzt, ab-
»der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz des laufen und ergibt die für die Phobie typischen Ver-
Triebes die Übernahme ins Bewußte versagt wird. meidungsmaßnahmen.
Mit dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende In seinen Abhandlungen Metapsychologische Er-
Repräsentanz bleibt von da unveränderlich bestehen gänzung zur Traumlehre und Trauer und Melancholie
und der Trieb an sie gebunden« (ebd.). Gleichur- untersucht Freud die topischen, dynamischen und
sprünglich kommt es zu einer Gegenbesetzung, ökonomischen Bedingungen bei narzißtischen Affek-
»durch welche sich das System Vbw gegen das An- tionen. Der erstere Text würdigt vor allem den Schlaf
drängen der unbewußten Vorstellung schützt« (ebd., in seiner narzißtischen Bedeutung. Der Schlafwunsch
280). Im Sinne energetisch-ökonomischer Grund- versuche alle vom Ich in die Außenwelt und in die
sätze, gemäß der Äquivalenzregel, hält Freud es für Objektvorstellungen ausgeschickten Besetzungen
»sehr wohl möglich, daß gerade die der Vorstellung einzuholen und einen absoluten Narzißmus herzu-
entzogene Besetzung zur Gegenbesetzung verwendet stellen. Das gelinge nur unvollständig, denn das Ver-
wird« (ebd.). drängte des Systems Ubw folge dem Schlafwunsch
Nach der konstitutiven Urverdrängung, die die nicht. Die unbewußten Triebansprüche verschaffen
Teilung des psychischen Apparats in antagonistische sich im Material der Tagesreste Ausdruck, formen
Systeme bewirkt, ist die eigentliche Verdrängung ein den vorbewußten Traumwunsch, der dann als
»Nachdrängen«. Sie betrifft die psychischen Ab- (Traum-)Halluzination Erfüllung findet. Die Schlaf-
kömmlinge der (ur-)verdrängten Repräsentanz. Die bedingung ermöglicht es, daß die Traumwünsche das
verdrängten Triebrepräsentanzen bestehen im Unbe- unbesetzte Bewußtseins-Wahrnehmungssystem vom
wußten fort, bleiben »aktionsfähig« (ebd., 279), zie- Inneren des psychischen Apparats her überlisten, zu-
hen anderes Vorstellungsmaterial an, »wuchern«, mal diesem durch den Besetzungsentzug die Mög-
knüpfen Verbindungen nach ökonomisch-symboli- lichkeit der Realitätsprüfung genommen ist.
schen Regeln und drängen kontinuierlich auf Mani- Die Melancholie besteht ebenfalls in einer Regres-
festation. Da ihrer Bewußtwerdung ein Verdrän- sion von der Objektbesetzung auf den Narzißmus.
gungswiderstand seitens Vbw/Bw entgegensteht, gilt: Die typischerweise durch eine tiefe Ambivalenz ge-
Je größer durch Entstellungsmechanismen der Ab- kennzeichnete Objektbesetzung des Melancholikers
stand zum Verdrängten wird, desto größer ist die wird nach einer Enttäuschung aufgehoben, ins Ich
Chance, die Zensur zu überwinden. Die Aufrechter- zurückgezogen und geht dort in eine narzißtische
haltung der Verdrängung ist ein ständiger Kraftauf- Identifizierung mit dem aufgegebenen Objekt über.
wand für den psychischen Apparat. Zu ergänzen ist, Diese Identifizierung fungiert im Ich als Ersatzobjekt
daß die Verdrängung nicht nur die Vorstellungsre- und wird an Stelle des Objekts beschimpft und er-
präsentanz des Triebs, sondern auch den Affektbe- niedrigt. Sadismus und triebhafter Haß werden an
trag, also den quantitativen Anteil derselben betrifft ihm befriedigt. Sie gelten eigentlich dem Objekt, ha-
(vgl. ebd., 255). Letztlich entscheidet das Schicksal ben jedoch eine Wendung gegen die eigene Person
des quantitativen Faktors der Triebrepräsentanz über erfahren.
die Güte des Verdrängungsvorgangs, d. h. über die Die Melancholie ist Beispiel einer mehrfach ge-
von ihr erreichte Unlustersparnis. Von besonderer schichteten Triebumwandlung. Die Umwandlungen
Bedeutung ist die Umsetzung des Affektbetrags in des Triebs, ihre allgemeine Systematik und Sequen-
Angst, die Freud am Beispiel der Angsthysterie erläu- tialität hat Freud in Triebe und Triebschicksale heraus-
tert: Im hysterischen Krankheitsgeschehen kommt es gearbeitet. Er beschreibt einen Entwicklungsverlauf,
zur Verdrängung des ödipalen Liebesanspruchs. der von einer autoerotisch-narzißtischen über eine
Während der Vorstellungsanteil der Triebregung aus polymorph-perverse Stufe führt, in der sich Sexual-
dem Bewußtsein verschwindet, setzt sich der quanti- triebe aus vielfältigen Quellen unabhängig vonein-
tative Anteil derselben, die Libidobesetzung, direkt in ander, nach Organlust strebend, betätigen, hin zu ei-
Angst um, die an einer Ersatzvorstellung, dem phobi- ner mehr oder weniger vollkommenen Synthese, die
schen Objekt, durchbricht. Damit ist das Ziel der als genitale Libidoorganisation in den Dienst der
Verdrängung, die Verhütung von Unlustempfindun- Fortpflanzung tritt. Diese Entwicklung ist nicht als
gen, mißlungen. Die Ersatzvorstellung, die in diesem Reifung vorstellbar, sondern als strukturelles Kon-
Metapsychologische Schriften 127

fliktgeschehen. In ihrer schub- und konflikthaft ver- leuchtet und leitet« (GW XVII, 147). Freud erinnert
laufenden (Entwicklungs-)Geschichte sind die Trieb- mit Kant an die Bedingtheit und Begrenztheit un-
richtungen, die Triebziele und -objekte erheblichen serer Erkenntnis. Das Reale von Innen- und Außen-
Transformationen, Regressionen, Verstärkungen und welt erkennen wir nur, indem wir es den sinnlichen
Hemmungen, Verschränkungen und Substitutionen und kategorialen Formen der Anschauung und des
ausgesetzt. Die Triebschicksale folgen einer regelrech- Denkens anpassen. Diesem Schema folgt notwendi-
ten Transformationsgrammatik. In ihr können aktive gerweise auch der Psychoanalytiker, wenn er die, im
Triebformen in passive, in reflexive (lieben, geliebt Bewußtsein unvollständig repräsentierten psych-
werden, sich lieben) sowie in ihre gegensätzlichen ischen Abläufe, die Bedeutungslücken, durch nahe-
Formen (lieben und hassen) übergehen; objektge- liegende Schlußfolgerungen ergänzt und in bewußtes
richtete Strömungen können sich in subjektgerich- Material übersetzt. Die erkundenden Vorstöße ins
tete verwandeln, die eigene Person kann gegen die Unbekannte seien »nicht ohne neue Annahmen und
ähnliche und die fremde Person (auto-, homo-, he- die Schöpfung neuer Begriffe« (ebd., 81) möglich.
terophil), das Ich gegen die Außenwelt und ihre Ob- Freud spricht von intellektuellen Hilfskonstruktio-
jekte eingetauscht werden. nen mit Annäherungswert und stellt fest: »Es ent-
Freuds Rekonstruktion der Triebschicksale zeigt in spricht dann auch ganz unserer Erwartung, daß die
komprimierter Form Anliegen und Ziel der metapsy- Grundbegriffe der neuen Wissenschaft, ihre Prinzi-
chologischen Betrachtungsweise: In ihrem kategoria- pien (Trieb, nervöse Energie u. a.) auf längere Zeit so
len Rahmen gelingt die hypothetische Beschreibung unbestimmt bleiben wie die der älteren Wissenschaf-
einer latent stattfindenden, sinnstrukturierten Kon- ten (Kraft, Masse, Anziehung)« (ebd.).
flikt- und Transformationsdynamik, die, hinter den Die psychoanalytische Erfahrung kommt nach
manifesten psychischen Erscheinungen liegend, diese Freuds Überzeugung zustande, indem wir bestimmte
in einen verständlichen Zusammenhang bringt. Dem Denkformen ans Material anlegen, die diesem nicht
Bewußtsein ist dieser Zusammenhang verborgen. Es unmittelbar entstammen, ihm aber seine erfahrungs-
bietet von ihm keine, bestenfalls eine lückenhafte wertige Form aufprägen. Die Rechtfertigung der Ka-
Kenntnis. Die bewußtseinsüberschreitende Ausrich- tegorien liegt in ihren Resultaten, der Erkenntnisge-
tung seiner Forschung habe es ihm, schreibt Freud, nerierung. Die zahlreichen Veränderungen, die Freud
erlaubt, »die Psychologie zu einer Naturwissenschaft bis 1939 an seinen metapsychologischen Konzepten
wie jede andere auszugestalten« (GW XVII, 79). Die vornahm (Einführung des Todestriebs, Struktur-
Annahme, daß das Seelische an sich unbewußt sei, lehre, zweite Angsttheorie), sowie die Skepsis, mit der
habe es nicht nur ermöglicht, in einem bislang unbe- er nachträglich auf sein metapsychologisches Projekt
kannten Gegenstandsbereich »Gesetz, Ordnung und zurückblickte (vgl. GW XIV, 85), zeigen, daß er kein
Zusammenhang« (GW VIII, 401) aufzuzeigen, son- geschlossenes Theoriesystem begründen wollte und
dern auch diesen Bereich als Objekt psychologischer konnte. Selbstbewußt hielt er jedoch daran fest, daß
Forschung zu behandeln. Die Anbindung der Meta- die Unabgeschlossenheit der theoretischen Grundle-
psychologie an die Naturwissenschaften folgt also gung kein Mangel, vielmehr eine Stärke psychoana-
keineswegs einem naturalistischen, sondern einem lytischer Theorie sei. Sie gestatte es dem Psychoana-
methodologischen Motiv, dem der Überwindung der lytiker, in inniger Beziehung zum analytischen Mate-
psychologischen Phänomenologie, die ihrerseits in rial zu bleiben. Die spannungsvolle Uneinheitlichkeit
Gestalt des psychophysischen Parallelismus die in- und Unbestimmtheit der metapsychologischen
nere Tendenz hat, ihr lückenhaftes Bild vom Psy- Grundgedanken entspricht der nicht assimilierbaren
chischen außerhalb der Ordnung der Bedeutung, Alterität und Heterogenität ihres Gegenstandes und
nämlich durch Rückgriff auf somatische Prozesse, zu ermöglicht das Lesbarwerden des unbewußten Ge-
schließen. schehens. Die Ordnung des Unbewußten – eine Ord-
Freud rekurriert erkenntnistheoretisch auf Kant: nung der Nichtidentität und der Differenz – wird
»Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, durch die Freudsche Metapsychologie erschlossen
uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das und ist mit einem in sich homogen abgeschlossenen,
Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des positivistischen Wissenssystem unvereinbar.
Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Lothar Bayer
Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesor-
gane« (GW II/III, 617 f.). Trotz seiner Unvollständig-
keit bleibt die »Qualität der Bewußtheit [. . .] das ein-
zige Licht, das uns im Dunkel des Seelenlebens
128 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

Übersicht der Übertragungsneurosen (1915) änderungen der äußeren Lebensumstände (z. B. Not
der hereinbrechenden Eiszeit) sowie traumatische in-
Den 1983 unter Papieren Sándor Ferenczis überra- dividuelle und kollektive Erfahrungen (z. B. Verbot
schend entdeckten und zwei Jahre später veröffent- der Fortpflanzung, Regression auf die Libidophase
lichten Entwurf zur zwölften Abhandlung der meta- vor dem Primat der Genitalien, Kastration) gewesen
psychologischen Schriften (Freud 1985; Nachtr., sein könnte. »Was jetzt Neurosen sind, waren Zu-
627–651) hatte Freud an Ferenczi geschickt, mit dem standsphasen der Menschheit« (F/Fer II/1, 129).
er damals bezüglich metapsychologischer und »bio- Für jene »archaische Erbschaft« im Seelenleben des
analytischer« Themen eng zusammenarbeitete. In Menschen der Gegenwart, bestehend nicht nur aus
dem Begleitbrief vom 28. Juli 1915 stellte er aus- erblichen Dispositionen, sondern auch aus unbe-
drücklich fest, die Reinschrift folge dem Entwurf Satz wußt gewordenen inhaltlichen Erinnerungsspuren,
für Satz und weiche nur wenig von ihm ab (F/Fer II/ setzt Freud einen neolamarckistischen Vererbungs-
1, 137 f.). modus voraus. Diese Annahme ist wissenschaftlich
Demzufolge vermittelt der Entwurf ein genaues, nicht haltbar, und das mag einer der Gründe dafür
detailliertes Bild vom Inhalt der verschollenen zwölf- gewesen sein, weshalb er schließlich auf eine Veröf-
ten metapsychologischen Abhandlung. Der Text zeigt fentlichung verzichtete. Weitere selbstkritische Ein-
eine deutliche Zweiteilung. Das erste Stück umfaßt, wendungen sowie die Betonung des spielerischen,
stichwortartig festgehalten, den systematischen Ver- des Phantasiecharakters seiner Überlegungen stehen
gleich der ›Momente‹, die in den drei Übertra- in der Schlußpassage des Entwurfs.
gungsneurosen – Konversionshysterie, Angsthysterie, Auch wenn es sich um ein Dokument des Schei-
Zwangsneurose – wirksam sind: Verdrängung, Ge- terns handelt, ist dieser Text nichtsdestotrotz von ak-
genbesetzung, Ersatz- und Symptombildung, Ver- tuellem Interesse. Er kann nämlich als Freuds erster
hältnis zur Sexualfunktion, Regression, Disposition. Versuch angesehen werden, Trieb-Modell und
Dargelegt wird also das, was der Titel, Übersicht der Trauma-Modell der Neurosenätiologie miteinander
Übertragungsneurosen, ankündigt, auf sorgfältiger zu verbinden oder, anders ausgedrückt, die vorwie-
klinischer Beobachtung aufbauend und strikt auf die gend konflikttheoretische genuin psychoanalytische
ontogenetische Ebene beschränkt. Vom sechsten Mo- Auffassung von der Neurosenentstehung durch die
ment, der Beteiligung der ererbten Disposition an Würdigung des pathogenen Gewichts tatsächlich er-
der Neurosenentstehung, gewissermaßen losstür- littener Frühtraumen zu ergänzen: was jetzt in der
mend, folgt dann als zweiter Teil, fast durchgehend inneren, der psychischen Realität Urphantasien sind,
ausformuliert, die innovative, aber zugleich hochgra- waren in der Urzeit tatsächliche traumatische Erfah-
dig spekulative phylogenetische Rekonstruktion bzw. rungen mit der äußeren Realität (Grubrich-Simitis
Konstruktion. Der Titel der Abhandlung wird nun 1985, 1987; Lorenzer 1986). Diesen theoretischen In-
insofern überschritten, als Freud auch die »narzißti- tegrationsversuch hat Freud in seinen späteren
schen Neurosen« – Dementia praecox, Paranoia, Me- Schriften fortgesetzt, zumal in Der Mann Moses und
lancholie-Manie – in seine Reflexion einbezieht. die monotheistische Religion (GW XVI, 103–246).
Die vom Autor selbst als solche bezeichnete »phy- Ilse Grubrich-Simitis
logenetische Phantasie« liest sich wie eine Variation
und zugleich Fortführung des in seinem ersten kul- Literatur
turtheoretischen Hauptwerk Totem und Tabu (GW Freud, Sigmund: Übersicht der Übertragungsneurosen. Ein bis-
IX) 1912/13 angeschlagenen Themas: nämlich der her unbekanntes Manuskript. Hg. von Ilse Grubrich-Simitis.
sich auf die Frühzeit der Stammesgeschichte bezie- Frankfurt a. M. 1985.
Gedo, John E.: Überlegungen zur Metapsychologie, theoreti-
henden Hypothese von der Ermordung des tyranni- schen Kohärenz, zur Hermeneutik und Biologie. In: Psyche
schen Vaters der Urhorde durch die Söhne, mit der 52 (1998), 1014–1040.
Folge der Etablierung des Inzesttabus und der Entste- Grubrich-Simitis, Ilse: Metapsychologie und Metabiologie. Zu
hung des Schuldgefühls als der Affektbasis für die Sigmund Freuds Entwurf einer ›Übersicht der Übertra-
gungsneurosen‹. In: Freud 1985, 83–119.
Hervorbringung von Kultur. Im Entwurf zur zwölf- –: Trauma oder Trieb – Trieb und Trauma. Lektionen aus Sig-
ten metapsychologischen Abhandlung geht Freud mund Freuds phylogenetischer Phantasie von 1915. In: Psy-
nun der Frage nach, ob das, was heute in der neu- che 41 (1987), 992–1023.
rotischen und psychotischen Innenwelt als krankhaft Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.
1968.
und lebenseinschränkend imponiert, in seinen evolu- Kaplan-Solms, Karen/Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse. Eine
tionären Anfängen einmal überlebensnotwendige Einführung mit Fallstudien. Stuttgart 2003 (engl. 2000).
Anpassungsreaktion der Spezies auf bedrohliche Ver- Lorenzer, Alfred: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkennt-
Weitere Schriften zur Theorie des Unbewußten 129

nis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. Frankfurt a. M. tion hineinzuphantasieren. Oft werden der Mutter
1974.
–: Rezension von Freud 1985. In: Psyche 40 (1986), 1163–
auch so viele Liebesverhältnisse angedichtet, wie es
1166. ältere Geschwister gibt. Die Geschwister werden auf
Ricœur, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. diese Weise als illegitim erklärt und beseitigt (230).
Frankfurt a. M. 1974 (frz. 1965). Trotzdem bleibt auch im Familienroman die ur-
Turnheim, Michael: Das Andere im Gleichen. Über Trauer, Witz
und Politik. Stuttgart 1999.
sprüngliche Zärtlichkeit des Kindes für seine Eltern
Weber, Samuel: Freud Legende. Olten 1979. bewahrt. Denn die großartigen Personen, durch die
die Eltern ersetzt werden, sind durchweg mit Zügen
ausgestattet, die von Erinnerungen an die realen El-
tern herrühren (231). Unbewußt zielt der Familien-
5.5 Weitere Schriften roman also nicht auf die Beseitigung der Eltern, son-
zur Theorie des Unbewußten dern auf ihre Erhöhung. Er ist der Ausdruck der
Sehnsucht nach einer verlorenen glücklichen Zeit.
Freuds Auffassungen über den Einfluß des Unbe- Aus diesem Grund bleibt der Familienroman auch
wußten auf das menschliche Handeln kommen in ei- nach seiner Verdrängung erhalten und stellt unbe-
ner Reihe weiterer Werke zum Ausdruck. Besonders wußt einen Ansporn dar, ihn im späteren Leben in
hervorgehoben wird dabei das hartnäckige Festhalten die Wirklichkeit umzusetzen. Otto Rank hat in der
des Individuums an einmal erfahrenen Befriedigun- kürzlich neu aufgelegten Arbeit Die Geburt des Hel-
gen und seine Neigung, die abweisende Realität den (1909/2000) dargestellt, wie dieser Familienro-
durch Phantasien zu ersetzen, in denen solche Be- man auch im Mythos seine Entsprechung findet.
friedigungen möglich erscheinen. Die »Herrschaft Auch in der 1911 publizierten Schrift Formulierun-
des Lustprinzips« (GW XIV, 227) scheint ungebro- gen über die zwei Prinzipien des psychischen Gesche-
chen. hens (GW VIII, 229–238) geht es um die Rolle des
So beschreibt Freud 1909 in seinem Aufsatz Der Realitätsprinzips im Verhältnis zum Lustprinzip, das
Familienroman der Neurotiker (GW VII, 225–231), im Unbewußten vorherrscht. Am Anfang der
wie Kinder als Reaktion auf die Enttäuschung an den menschlichen Entwicklung steht für Freud die hallu-
realen Eltern sich in ihrer Phantasie einen Familien- zinatorische Wunscherfüllung, die ganz nach dem
roman erschaffen, in dem sie die Abkömmlinge so- Lustprinzip organisiert ist (231). Früher oder später
zial höherstehender Eltern sind, während die realen führt die Enttäuschung über das Ausbleiben der rea-
Eltern z. B. in die Position von Stiefeltern versetzt len Befriedigung dazu, diesen Versuch aufzugeben.
werden. Für das kleine Kind sind die Eltern die ein- Damit wird der psychische Apparat gezwungen, die
zige Autorität, und groß und wie die Eltern zu wer- Außenwelt zur Kenntnis zu nehmen und dort nach
den ist deshalb sein intensivster Wunsch (227). Frü- einer Veränderung zu streben. Auf diese Weise wird
her oder später setzt aber dann die Kritik an den El- das Realitätsprinzip in die psychische Tätigkeit einge-
tern ein. Das Kind fühlt sich beispielsweise durch die führt. Für Freud ist dies ein in mehrfacher Hinsicht
Geburt eines jüngeren Geschwisters zurückgesetzt folgenschwerer Schritt.
und beginnt, an der Liebe seiner Eltern zu zweifeln. Der Mensch kann die wahrgenommene unlieb-
Es entwickelt daraufhin die Idee, ein Stiefkind oder same Realität nun nicht mehr verdrängen. Statt des-
ein angenommenes Kind zu sein, während seine sen muß jetzt die Urteilsfällung entscheiden, ob eine
wirklichen Eltern ganz andere sind und es eines Tages bestimmte Vorstellung wahr oder falsch ist, d. h. mit
zu sich nach Hause holen werden. Das feindselige der Realität im Einklang steht oder nicht (233). Die
Benehmen der eigenen Eltern wird auf diese Weise motorische Abfuhr erfolgt jetzt nicht mehr durch In-
erklärt und erwidert (228). Während des Ödipus- nervationen des Körperinneren, sondern zielt auf die
komplexes neigt der Knabe zur Entwicklung derart Veränderung der Realität durch Handeln. Aufgehal-
feindseliger Gefühle vor allem gegenüber dem realen ten wird sie dabei durch den Denkprozeß. Denken ist
Vater, während er sich in seinem Familienroman ei- Probehandeln mit kleineren Besetzungsqualitäten
nen Vater phantasiert, der entsprechend erhöht wird. (233). Das Ich ist aber nicht bereit, die zur Verfügung
Er neigt auch dazu, sich erotische und sexuelle Situa- stehenden Lustquellen aufzugeben. Ein Teil des Den-
tionen auszumalen, in denen die Mutter in Situatio- kens wird deshalb abgespalten und bleibt allein dem
nen versetzt wird, die von geheimer Untreue und Lustprinzip unterworfen. Dazu gehört insbesondere
verbotenen Liebschaften handeln. Diese Phantasien das Phantasieren, das mit dem Spielen der Kinder
sind lustvoll, weil sie dem Knaben die Gelegenheit beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt wird
geben, sich auch selbst als Beteiligter in diese Situa- (234). Auch der Sexualtrieb gerät durch seine anfäng-
130 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

lich autoerotische Betätigung nicht so schnell in die Traum auf der latenten Ebene den Koitus a tergo zwi-
Situation der Versagung, sondern verbleibt unter der schen den Eltern darstelle, den der Junge bereits im
Herrschaft des Lustprinzips. Daraus ergibt sich eine Alter von eineinviertel Jahren beobachtet hatte, aber
besonders enge Beziehung zwischen Sexualität und erst durch die Erinnerung, die der Traum im Alter
Phantasie. Denn im Bereich der Phantasie bleibt die von vier Jahren in ihm hervorgerufen hatte, nach-
Verdrängung allmächtig (235). Unter dem Einfluß träglich mit der sexuellen Bedeutung versah, die der
des Realitätsprinzips wird die unsichere Lust schein- Vorgang besaß. Die sexuelle Verführung durch die
bar aufgegeben, aber nur, um damit eine spätere, ge- Schwester im Alter von dreieinviertel Jahren hatte
sicherte zu gewinnen. Dies erstreckt sich bis zur my- den Sexualwunsch des Jungen zu dieser Zeit bereits
thischen Projektion des Wunsches auf eine Beloh- ins Passive gewendet. Der im Traum aktivierte se-
nung im Jenseits (236). xuelle Wunsch des Patienten war deshalb der nach
Dem Unbewußten gilt die Realitätsprüfung nichts. passiver sexueller Befriedigung, die er vom Vater er-
Dort wird die in der Vorstellung erschaffene Realität sehnte (62). Der Traum zeigte ihm aber auch die Be-
mit der äußeren Wirklichkeit gleichgesetzt. Darum dingung dieser Befriedigung, nämlich Kastration. Im
ist es auch so schwer, unbewußte Phantasien von un- Traum wird die Kastration durch den Vater befürch-
bewußt gewordenen Erinnerungen zu unterscheiden tet, der damit zu einer Angst auslösenden Figur wird
(237). Für die neurotische Symptombildung haben (63). In einem nächsten Schritt wird diese Angst
unbewußte Phantasien die gleiche Kraft wie ein rea- dann vom Vater auf den in aufrechter Position abge-
les Ereignis. Neurotische Symptome können deshalb bildeten Wolf aus dem Bilderbuch verschoben, das
auch nicht auf reale Ereignisse zurückgeführt wer- von da an phobisch gemieden wird. Der Motor dieser
den. In der Neurose geht es für Freud immer um auffälligen Affektverwandlung besteht in der Angst
Wünsche und nicht um Realität (237 f.). vor Kastration (63).
In seiner Fallschilderung Aus der Geschichte einer Im Alter von sechs bis sieben Jahren entwickelte
infantilen Neurose von 1918 (GW XII, 27–157) der Patient dann zwangsneurotische Symptome, die
kommt Freud auf dieses Thema zurück. Beschrieben auf die gleiche Ambivalenz gegenüber dem Vater hin-
wird hier die Kindheitsneurose eines jungen Mannes deuten. Der Patient war als Kind lange Zeit hindurch
russischer Herkunft, der von 1910 an vier Jahre lang sehr fromm. Freud schildert, wie er als Kind vor dem
bei Freud in Behandlung war. Von der gegenwärtigen Einschlafen jedes Mal lange beten und eine unend-
Erkrankung des Patienten erfahren wir nur, daß er liche Reihe von Kreuzen schlagen mußte (40).
mit 18 Jahren im Anschluß an eine Gonorrhoe Ebenso mußte er abends jedes einzelne Heiligenbild,
schwere psychische Symptome entwickelte, die Freud das in seinem Zimmer hing, andächtig küssen. Es ka-
als Folge einer mit Defekt ausgeheilten Zwangsneu- men ihm dabei aber auch lästerliche Gedanken in
rose verstand (30). Freud beschränkt sich in seiner den Sinn, z. B. die Verbindung ›Gott – Schwein –
Fallschilderung auf die Darstellung der infantilen Kot‹, oder das zwanghafte Denken an die Heilige
Neurose des Patienten, deren Verständnis für ihn eine Dreifaltigkeit, wenn er drei Häufchen Pferdemist auf
unabdingbare Voraussetzung für die Erklärung der der Straße liegen sah. Unter dem Einfluß eines ver-
Neurose des Erwachsenen ist (83). ständnisvollen Lehrers traten diese Zwangssymptome
Im Zentrum der Kindheitsneurose steht der sog. bis zum zehnten Lebensjahr allmählich zurück
Wolfstraum, den der Patient im Alter von vier Jahren (100 f.), bis durch den Ausbruch der Gonorrhoe im
träumte. In diesem Traum geht nachts plötzlich das Alter von 18 Jahren die Kastrationsangst des Patien-
Fenster auf und der Patient sieht mit großem Schrek- ten einen neuen Höhepunkt erreichte und die neu-
ken, wie auf dem Nußbaum vor dem Fenster sechs rotische Erkrankung einleitete, derentwegen der Pa-
oder sieben weiße Wölfe mit großen Schwänzen sit- tient schließlich zu Freud in Behandlung kam
zen, die ihn aufmerksam anschauen. Vor Angst, von (133).
den Wölfen aufgefressen zu werden, schreit er auf Hinter der Reaktion des damals vierjährigen Pa-
und erwacht (55). Anschließend entwickelte der Pa- tienten auf die Beobachtung der durch den Traum
tient eine phobische Angst vor der Abbildung eines reaktivierten Urszene vermutete Freud phylogeneti-
Wolfs in einem Märchenbuch, der dort in aufrecht sche Schemata, die ein vorgeprägtes Wissen über die
stehender Position dargestellt war. Der Patient hatte menschliche Sexualität enthalten, analog dem weit-
Angst, dieser Wolf könnte ihn auffressen, und geriet gehend instinktiven Wissen der Tiere (156). »Dieses
deshalb jedesmal in Panik, wenn er das Bild sah. Instinktive wäre [dann] der Kern des Unbewußten,
Freud kommt nun über die Assoziationen des Patien- eine primitive Geistestätigkeit, die später durch die
ten zu seinem Traum zu dem Schluß, daß dieser zu erwerbende Menschheitsvernunft entthront und
Weitere Schriften zur Theorie des Unbewußten 131

überlagert wird, aber so oft, vielleicht bei allen, die Es ist das Leiden als solches, worauf es ankommt;
Kraft behält, höhere seelische Vorgänge zu sich hinab auch die Koppelung an die Sexualität ist hier ent-
zu ziehen« (156). fallen. In der psychoanalytischen Behandlung mani-
Diese Feststellung Freuds hat bis heute nichts von festiert sich der moralische Masochismus als negative
ihrer Bedeutung verloren, auch wenn in der psycho- therapeutische Reaktion, die sich jeder Genesung
analytischen Behandlung dem Aufdecken der Kind- energisch widersetzt (378 f.). Es scheint, als habe der
heitsneurose nicht mehr die Bedeutung zugemessen auf das Ich zurückgewendete Destruktionstrieb hier
wird, die Freud ihr noch zugestand. An ihre Stelle ist klar die Oberhand gewonnen.
heute die Entfaltung von Übertragung und Gegen- Auch Freud glaubt, daß die von der Kultur gefor-
übertragung getreten, die sich in der psychoanalyti- derte Triebunterdrückung zu einer Rückwendung
schen Beziehung zwischen Analytiker und Patient des Destruktionstriebs auf das Ich führt und so zur
entwickelt (Joseph 1985/1991). Entwicklung des moralischen Masochismus beiträgt.
In der Arbeit über Das ökonomische Problem des Er läßt es bei dieser Erklärung freilich nicht bewen-
Masochismus (GW XIII, 369–383), 1924 veröffent- den. Denn das Über-Ich, das hier als richtende In-
licht, befaßt sich Freud mit dem Problem, wie maso- stanz auftritt, repräsentiert – wenn auch in deperso-
chistische Strebungen erklärt werden können, wenn nifizierter Form – die Macht, Strenge, Neigung zur
doch gilt, daß die unbewußten seelischen Vorgänge Beaufsichtigung und Bestrafung der introjizierten El-
vom Lustprinzip beherrscht werden, dessen Ziel es tern, nur daß seine Strenge gegenüber dem Ich die
ist, Unlust zu vermeiden, die der Masochist umge- der introjizierten Eltern bei weitem übertrifft (383).
kehrt geradezu anzustreben scheint (371). Um diesen Das unbewußte Schuldgefühl, das den moralischen
Widerspruch aufzuklären, wendet sich Freud nach- Masochismus unterhält, läßt sich dann übersetzen als
einander dem erogenen, dem femininen und dem mo- Strafbedürfnis durch eine elterlichen Macht (382). Das
ralischen Masochismus zu. Über-Ich – für Freud ein Zeichen für die Überwin-
Der erogene Masochismus geht nach Freud auf eine dung des Ödipuskomplexes – wird in diesem Kontext
physiologische Veranlagung zurück. Die Sexualerre- erneut sexualisiert (382). Das Bedürfnis, vom Vater
gung entsteht hier als Nebenwirkung psychischer bestraft (geschlagen) zu werden, läßt sich dann als
Vorgänge, deren Intensität eine bestimmte Grenze regressive Entstellung des Wunsches nach einer ho-
überschritten hat (375). Auch Schmerz- und Unlust- mosexuellen (passiven) Beziehung mit ihm verste-
spannungen können sich auf diese Weise mit Sexuali- hen. Der negative Ödipuskomplex wird damit neu
tät koppeln. In den verschiedenen Sexualkonstitutio- belebt (382). Auf diese Weise erhält für Freud auch
nen wird diese physiologische Grundlage psychisch der moralische Masochismus eine erotische Kompo-
überbaut (375). Hier steht das Lustprinzip also ein- nente.
deutig im Vordergrund. In der modernen Psychoanalyse wird dem morali-
Unter femininem Masochismus versteht Freud schen Masochismus über diese triebtheoretische
demgegenüber die homosexuelle Identifizierung des Sicht hinaus eine Vielzahl weiterer Bedeutungen zu-
Mannes mit den für die Weiblichkeit charakteristi- geschrieben. Im Mittelpunkt steht dabei die Vermei-
schen Situationen des Kastriertwerdens, des Koitiert- dung von seelischem Schmerz, der unerträglich ist
werdens und des Gebärens (374). Die pervers-maso- und deshalb durch selbst induzierte masochistische
chistischen Praktiken dienen dann der spielerischen Handlungen überdeckt werden muß (Khan 1979;
Ausführung dieser phantasierten Situation (374). Rohde-Dachser 1986/1994; Wurmser 1993).
Der Masochist ist dabei in der Rolle eines hilflosen, In seiner Notiz über den Wunderblock (GW XIV,
abhängigen, vor allem aber schlimmen Kindes, das 1–8) untersucht Freud die Frage, wie der psychische
bestraft werden muß und diese Bestrafung auch ver- Apparat sich immer neuen Wahrnehmungen offen-
dient. Unbewußt geht es dabei immer um die Be- halten und das Wahrgenommene gleichzeitig auf
friedigung passiv-homosexueller Wünsche. Auch der Dauer bewahren kann. Menschen schreiben ihre Er-
feminine Masochismus steht insofern im Dienste des innerungen auf, um sie vor Entstellung und Verände-
Lustprinzips. rung zu bewahren. Schreibtafel oder Schreibpapier
Anders ist dies auf den ersten Blick beim morali- werden auf diese Weise zu materialisierten Stücken
schen Masochismus. Dort stehen die unbewußten des Erinnerungsapparates (3). Schreibpapier kann al-
Schuldgefühle und das damit verbundene Strafbe- lerdings immer nur eine begrenzte Anzahl von In-
dürfnis ganz im Vordergrund. Das Leiden wird hier formationen speichern; seine Aufnahmefähigkeit ist
auch nicht mehr von einer geliebten Person erwartet, also begrenzt. Bei der Schiefertafel ist dies anders.
wie dies beim femininen Masochismus der Fall ist. Hier können die Aufzeichnungen jederzeit wieder
132 Werke und Werkgruppen – Theorie des Unbewußten

zerstört und die Schiefertafel neu beschrieben wer- ledigt unser seelischer Apparat die Wahrnehmungs-
den. Es bleiben dann aber keine Dauerspuren erhal- funktion: Das aus Zelluloid und Wachspapier beste-
ten. Das eine schließt also das andere aus (4). hende Deckblatt entspricht dem System W-Bw und
Im Gegensatz dazu ist unser seelischer Apparat un- seinem Reizschutz, die Wachstafel dem dahinter lie-
begrenzt aufnahmefähig und erzeugt gleichzeitig genden Unbewußten, und das Sichtbarwerden der
dauerhafte, wenn auch nicht unveränderliche Erin- Schrift und ihr Verschwinden dem Aufleuchten und
nerungsspuren. Möglich wird dies, weil der seelische Vergehen des Bewußtseins während der Wahrneh-
Apparat dabei auf zwei verschiedene Systeme zurück- mung (7). Freud nahm an, daß das Unbewußte mit-
greifen kann, nämlich das System Wahrnehmung- tels des Systems W-Bw der Außenseite eine Art Füh-
Bewußtsein (W-Bw), das die Wahrnehmungen auf- ler entgegenstrecke, die rasch zurückgezogen werden,
nimmt, aber keine Dauerspur von ihnen verwahrt, nachdem sie deren Erregungen verkostet haben. So-
und das dahinterliegende »Erinnerungssystem«, das bald die Besetzung zurückgezogen wird, erlischt das
das Wahrgenommene als Dauerspur bewahrt. Freud Bewußtsein, und die Leistung des Systems ist stillge-
hatte diese Hypothese bereits in der Traumdeutung stellt (8).
entwickelt. Später, in Jenseits des Lustprinzips, fügte er Seither haben Neurowissenschaft und Kognitions-
dem die Annahme hinzu, daß das unerklärliche Phä- psychologie Theorien über die Wahrnehmung und
nomen des Bewußtseins im Wahrnehmungssystem das Gedächtnis entwickelt, die die von Freud auf der
an Stelle der Dauerspuren entstehe (Freud 1920, GW Grundlage der neurologischen Erkenntnisse seiner
XIII, 1–69). Nun entdeckt Freud überraschend einen Zeit entwickelten Hypothesen weit hinter sich gelas-
»Wunderblock«, der mehr kann als ein Blatt Papier sen haben. Wie hellsichtig Freud andererseits mit sei-
oder eine Schiefertafel; er leistet beides, genauso wie nen damaligen neurologischen Erkenntnissen diese
der von ihm postulierte Wahrnehmungsapparat (5). moderne Entwicklung bereits vorweggenommen hat,
Der Wunderblock ist eine in einen Papierrand ge- haben unter anderem Kaplan-Solms/Solms (2000/
faßte Tafel aus einer dunkelbräunlichen Harz- oder 2003) gezeigt.
Wachsmasse, über welche ein dünnes, durchschei- Wenn das Unbewußte den Regeln des Primärpro-
nendes Blatt gelegt ist, das aus zwei Schichten be- zesses folgt, welche Rolle spielt dann die Verneinung?
steht, oben eine durchsichtige Zelluloidplatte, darun- In der kleinen Schrift über Die Verneinung (GW XIV,
ter ein durchscheinendes Wachspapier (5). Wenn 9–15) aus dem Jahr 1925 konstatiert Freud, daß die
diese Oberfläche mit einem spitzen Stift geritzt wird, Verneinung ein Modus ist, das Verdrängte zur Kennt-
dann ergeben die Vertiefungen die Schrift. Das Ritzen nis zu nehmen, ohne es damit gleichzeitig auch zu
geschieht nicht direkt, sondern unter Vermittlung des akzeptieren (12). Wenn ein Patient sagt: »Ich habe
darüber liegenden Deckblatts. von einer Person geträumt. Aber die Mutter ist es
Freud sah hierin eine Annäherung an die Struktur nicht«, dann können wir, so Freud, von der Vernei-
des seelischen Wahrnehmungsapparats, wie er ihn nung absehen und berichtigen: »Also ist es die Mut-
bereits früher beschrieben hatte: Das Zelluloidblatt ter« (13). Ein verdrängter Inhalt kann zum Bewußt-
ist die schützende Hülle für das Wachspapier, die sein durchdringen unter der Bedingung, daß er ver-
schädigende Einwirkungen von außen abhalten soll. neint wird (12).
Das Zelluloid dient hier also als Reizschutz. Die ei- Der intellektuelle Ersatz für die Verdrängung ist die
gentlich reizaufnehmende Schicht ist das Papier. Verurteilung (12). Die Urteilsfunktion hat vor allem
Hebt man das ganze Deckblatt – Zelluloid und zwei Entscheidungen zu treffen: Sie soll dem Wahr-
Wachspapier – von der Wachstafel ab, verschwindet genommenen bestimmte Eigenschaften zusprechen
die Schrift und stellt sich auch nicht wieder her. Die (»Das will ich essen oder ausspucken« oder » Das soll
Oberfläche des Wunderblocks ist dann schriftfrei in mir sein oder außer mir«) (13). Denn das ur-
und von neuem aufnahmefähig (7). Die Dauerspur sprüngliche Lust-Ich will alles Gute sich introjizieren
des Geschriebenen bleibt aber auf der Wachstafel und alles Schlechte von sich werfen. Die Urteilsfunk-
selbst erhalten und ist bei geeigneter Belichtung les- tion soll im Dienste des Realitätsprinzips aber auch
bar. Der Block liefert also nicht nur eine immer neu über die reale Existenz eines Dings befinden (Reali-
verwendbare Aufnahmefläche, so wie die Schieferta- tätsprüfung) (13): Kann etwas in der Vorstellung
fel, sondern auch Dauerspuren der Aufschreibung Vorhandenes auch in der Realität wiedergefunden
wie der gewöhnliche Papierblock. Er löst auf diese werden? Ist es nur innen oder auch außen? Eines
Weise das Problem, die beiden Leistungen zu verei- Dings in der Außenwelt kann man sich bemächtigen.
nigen, indem er sie auf zwei gesonderte, aber mitein- Das Urteilen ist insofern die zweckmäßige Fortent-
ander verbundene Systeme verteilt (7). Genauso er- wicklung der ursprünglichen Einbeziehung oder
Weitere Schriften zur Theorie des Unbewußten 133

Ausstoßung des Wahrgenommenen aus dem Ich. Es charakter (314 f.). Wunsch- und realitätsgerechte
orientiert sich dabei an dem von Freud postulierten Einstellungen bestehen dabei nebeneinander, ohne
Dualismus von Lebens- und Todestrieb. »Die Beja- daß der Widerspruch zwischen beiden Beunruhigung
hung – als Ersatz der Verneinung – gehört dem Eros erzeugt. Die Spaltung bleibt unverändert bestehen.
an, die Verneinung – Nachfolge der Ausstoßung – Etwas ganz Ähnliches geschieht auch mit der Ver-
dem Destruktionstrieb« (15). Die Schöpfung des Ver- leugnung des Todes. Das läßt sich aus den weiteren
neinungssymbols ermöglicht dem Denken darüber Beispielen entnehmen, die Freud zur Erklärung des
hinaus aber auch einen ersten Grad von Unabhängig- Fetischismus anführt (315 f.). Danach dient der Feti-
keit von den Erfolgen der Verdrängung und somit schismus keineswegs nur der Verleugnung der Ka-
auch vom Zwang des Lustprinzips (15). In der analy- stration. Er zielt auf die Verleugnung der Geschlech-
tischen Behandlung gibt es aus dem Unbewußten ter- und Generationsdifferenz, in dem unbewußten
grundsätzlich kein »Nein«. Der Satz des Patienten Streben, auf diese Weise das narzißtische Paradies zu
»Daran habe ich nicht gedacht« weist vielmehr auf bewahren, aus dem der Mensch mit der Entdeckung
eine gelingende Aufdeckung des Unbewußten hin. der Geschlechterdifferenz und damit auch der Ur-
An dieser Erkenntnis Freuds hat sich innerhalb der szene endgültig vertrieben worden ist (Rohde-
psychoanalytischen Behandlungsmethode bis heute Dachser 1999). Der Fetisch übernimmt dann die
nichts geändert. Funktion des Feigenblatts (317), das diese Realität
In seiner Arbeit über Fetischismus (GW XIV, verdeckt, so wie bereits Adam und Eva im Mythos
309–317) geht Freud der Funktion des Fetischs nach, der Genesis ihre Nacktheit mit einem Feigenblatt zu
die dieser für die Aufrechterhaltung des psychischen verbergen suchten. Die »Grundtatsachen des Lebens«
Gleichgewichts besitzt. Für Freud ist der Fetisch ein (Money-Kyrle 1971), zu denen neben der Anerken-
Penisersatz, genauer: ein Ersatz für den Phallus der nung der eigenen Abhängigkeit und des Ausgeschlos-
Mutter, an den der Knaben geglaubt hat und auf den senseins aus der Urszene auch die Gewißheit des To-
er nicht verzichten will (312). Die Wahrnehmung, des gehört, werden auf diese Weise außer Kraft ge-
daß die Mutter keinen Penis hat, würde eine uner- setzt: Das Unbewußte, das laut Freud (GW X, 341)
trägliche Kastrationsangst hervorrufen. »Nein, das den Tod nicht kennt, hat auch hier den Sieg davon-
kann nicht wahr sein«, sagt sich der Knabe (312). getragen.
»Sonst könnte das Gleiche ja auch mir passieren.«
Die Wahrnehmung wird deshalb verleugnet, der Literatur
dazu gehörige Affekt verdrängt. Das bedeutet aber Joseph, Betty: Übertragung – Die Gesamtsituation [1985]. In:
Elizabeth Bott Spillius (Hg.): Melanie Klein heute. Entwick-
nicht, daß das Kind (genauer: der Knabe) seinen lungen in Theorie und Praxis. Bd. 2: Anwendungen. Wein-
Glauben an den weiblichen Phallus unverändert auf- heim 1991, 84–100.
rechterhalten hat. Im Konflikt zwischen dem Ge- Kaplan-Solms, Karen/Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse. Eine
wicht der unerwünschten Wahrnehmung und der Einführung mit Fallstudien. Stuttgart 2003 (engl. 2000).
Khan, M. Masud R.: Entfremdung bei Perversionen. Frankfurt
Stärke des Gegenwunsches ist es vielmehr zu einem a. M. 1983 (engl. 1979).
Kompromiß gekommen, wie er nur unter der Herr- Money-Kyrle, Roger: The Aim of Psychoanalysis. In: Interna-
schaft des Primärprozesses möglich ist (313). Die tional Journal of Psychoanalysis 52 (1971), 103–106.
Frau hat in der Vorstellung des Knaben zwar einen Rank, Otto: Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch
einer psychologischen Mythendeutung [1909]. Wien 2000.
Penis, aber dieser Penis ist nicht mehr das, was er Rohde-Dachser, Christa: Ringen um Empathie. Ein Interpreta-
früher war. Etwas anderes ist an seine Stelle getreten tionsversuch masochistischer Inszenierungen [1986]. In:
und zu seinem Ersatz ernannt worden (313). Dieser Dies. (Hg.): Im Schatten des Kirschbaums. Psychoanalytische
Ersatz ist der Fetisch als ein Zeichen des Triumphes Dialoge. Bern 1994, 32–46.
–: Todes- und Unsterblichkeitsphantasien bei Männern und
über die Kastrationsdrohung (315). Was die Wahl des Frauen – Über die Verbindung von Tod und Urszene. In:
Fetisches betrifft, so wird nach Freud der letzte Ein- Anne-Marie Schlösser/Kurt Höhfeld (Hg.): Trennungen.
druck vor dem traumatischen Ereignis (das heißt Gießen 1999, 289–308.
dem gefürchteten Sichtbarwerden des weiblichen Ge- Wurmser, Léon: Das Rätsel des Masochismus. Psychoanalytische
Untersuchungen von Über-Ich-Konflikten und Masochismus.
nitales) als Fetisch festgehalten (314 f.). Im Schuhfeti- Berlin 1993.
schismus beispielsweise erhält der weibliche Schuh, Christa Rohde-Dachser
den der Knabe erblickte, bevor sein Blick weiter nach
oben hin zum weiblichen Genitale wanderte, Fetisch-
134

6. Zwangshandlungen, Phobien, Paranoia,


Theorie der Angst

Angst wie alle Affekte – ist für ihn ein biologisches Substrat,
das in unserer phylogenetischen Erbschaft wurzelt. In
Es ist das zentrale Problem jeder Krankheitslehre, ei- ihr sieht er das »Grundphänomen und Hauptpro-
nen inhärenten Fixpunkt zu definieren, von dem aus blem der Neurose« (GW XIV, 175), dem Angstaffekt
sich die Mannigfaltigkeit symptomatischer Erschei- gibt er den Vorzug vor allen anderen Affekten, d. h.
nungen ordnen läßt. In der Psychoanalyse wird häu- eine »Ausnahmestellung in der seelischen Ökono-
fig und nicht zu Unrecht die Trieb-, Konflikt- und mie« (ebd., 181), wie er in der Schrift Hemmung,
Abwehrlehre genannt, von der aus sich eine struk- Symptom und Angst (GW XIV, 111–205) aus dem
turelle Betrachtungsweise psychischer Erkrankungen Jahr 1926 festhält. Sie motiviert in dieser Sichtweise
vornehmen läßt. Darüber hinaus rückte Freud ein af- alle psychischen Abwehrprozesse und bildet somit ei-
fektives Moment in den Mittelpunkt, dessen zentrale nen zentralen Bestandteil sämtlicher psychischen
Stellung innerhalb der Psychopathologie oft überse- Erkrankungen.
hen wird: die Erfahrung der Angst. »Wie immer das Freud entwickelte bekanntlich zwei unterschiedli-
sein mag, es steht fest, daß das Angstproblem ein che Theorien der Angst, die beide nicht ohne den
Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten jeweiligen Bezugsrahmen von topographischer und
und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, Strukturtheorie verständlich werden (vgl. Sandler
dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes u. a. 1997, 39). In der ersten Angsttheorie ist Angst
Seelenleben ergießen müßte«, heißt es programma- ein im Bewußtsein auftauchender Affekt, in dem sich
tisch in den Vorlesungen zur Einführung in die Psycho- Libido aus dem Unbewußten manifestiert. In der
analyse (GW XI, 408). So unterschiedliche Sym- zweiten Angsttheorie dagegen wird Angst als eine
ptome wie Zwangshandlungen, phobische Vermei- Ich-Reaktion, als ein Gefahrensignal auf eine innere
dungen und Fluchten sowie paranoide Zuschreibun- Bedrohung verstanden.
gen werden von ihrem Erscheinungsbild her Seine erste Angsttheorie faßte Freud in der 1895
allgemein durch Ängste aufrecht erhalten. Wird z. B. erschienenen Arbeit über die Angstneurose zusam-
der Zwangsneurotiker an der Ausübung seine men (GW I, 315–342), und sie behielt ihre Gültigkeit
Zwangshandlungen oder der Phobiker an seinen bis zu deren Revision 1926. Er unterscheidet zwi-
phobischen Verhaltensweisen gehindert, wird er mas- schen der Angst als Reaktion auf äußere Gefahren
sive Angst erleiden (ebd., 419). Dies fürchtet auch der und einer neurotischen Angst, bezogen auf unbe-
Paranoiker und schützt sich vor ihr insbesondere wußte Konflikte. Freud beschreibt hier eine breit ge-
durch den Mechanismus der Projektion. Zusammen- fächerte Symptomatik, d. h. neben dem eigentlichen
fassend schreibt Freud: »Es schiene also in einem ab- Angstgefühl, den Angstanfällen und Phobien sind für
strakten Sinne nicht unrichtig zu sagen, daß Sym- ihn auch eine allgemeine Reizbarkeit, Schlaflosigkeit,
ptome überhaupt nur gebildet werden, um der sonst hypochondrische Befürchtungen, Gewissensnöte,
unvermeidlichen Angstentwicklung zu entgehen. Zweifelsucht und körperliche Symptome wie
Durch diese Auffassung wird die Angst gleichsam in Schweißausbrüche, Schwindel, Durchfälle, Harn-
den Mittelpunkt unseres Interesses für die Neurosen- drang, Heißhunger, Übelkeit und Atemnot von Be-
probleme gerückt« (ebd.). deutung. Für alle diese Symptome meinte er 1895
Für Freud ist das psychische Leben an den Körper eine einheitliche, nämliche sexuelle Ätiologie anneh-
und seine Bedürfnisse gebunden und muß Mittel fin- men zu können. Sexuelle Abstinenz, frustrierte se-
den, diese zu befriedigen. Dementsprechend ist auch xuelle Erregung und coitus interruptus waren hier
sein Verständnis der Angst auf ein bestimmtes Pro- die wesentlichen Auslöser. Die Angst ist in dieser
zessieren körperlicher Bedürfnisse orientiert. Angst – Sichtweise eher außerhalb des Psychischen, nicht wie
Zwangshandlungen, Phobien, Paranoia, Theorie der Angst 135

die Phantasie in einen Bedeutungsraum eingebun- In seiner Arbeit Zwangshandlungen und Religions-
den, sondern auf der Ebene physiologischen Gesche- übungen (GW VII, 129–139) geht Freud nun weit
hens angesiedelt. Freud (GW XIV, 171) selber spricht über die Klinik der Zwangsneurose hinaus. Ihm war
von einem ökonomischen Erklärungsversuch der eine gewisse Ähnlichkeit zwischen zwangsneuroti-
Angst. schen Zeremonien einerseits und religiösen Übungen
Das Verständnis phobischer Symptombildungen, andererseits aufgefallen. Das sind gewisse Tätigkei-
wie Freud sie in der Krankengeschichte des Kleinen ten, die stets in der gleichen Anordnung und Abfolge
Hans vorstellt, basiert in der ersten publizierten Fas- ausgeübt werden müssen, soll nicht erhebliche Angst
sung (GW VII, 241–377) ganz auf diesem ökonomi- freigesetzt werden. Die angestrengte Sorgfältigkeit
schen Angstverständnis. Hans’ phobische Ängste vor dieser rhythmischen Zwangshandlungen läßt sie
Pferden, Giraffen und beladenen Wagen versteht er ebenso als heiliges Zeremoniell erscheinen wie jene
als Folgen eines »Umschlags der sexuellen Erregung der Kirche. Bei beiden zeigt sich äußerste Gewissen-
in Angst« (ebd., 352). Die in Angst verwandelte Li- haftigkeit im kleinsten Detail. Freud geht sorgfältig
bido sieht er »auf das Hauptobjekt der Phobie, das den Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei
Pferd« (ebd.) projiziert. Trotz aller psychodynami- Zwangssymptomen und religiösen Riten nach und
schen Überlegungen zu diesem Fall bleibt Freud kon- kommt zu dem Schluß: »Nach diesen Übereinstim-
sequent bei seiner ökonomischen These, daß bei all mungen und Analogien könnte man sich getrauen,
diesen psychischen Konflikten »die begleitenden Af- die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück
fekte uniform in Angst verwandelt erschienen« (ebd., zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als
368). eine individuelle Religiosität, die Religion als eine
universelle Zwangsneurose zu bezeichnen. Die we-
sentlichste Übereinstimmung läge in dem zugrunde
Zwangsneurose
liegendem Verzicht auf die Betätigung von konstitu-
Auch Freuds Arbeiten über die Zwangserkrankungen tionell gegebenen Trieben; der entscheidendste Un-
gehen zurück auf die Zeit vor 1897, als er noch das terschied in der Natur dieser Triebe, die bei der Neu-
sog. Affekt-Trauma-Modell zugrunde legte. Damals rose ausschließlich sexueller, bei der Religion egoisti-
schuf er die heute noch anerkannte nosologische Ka- scher Herkunft sind« (ebd., 138 f.). Beide Phäno-
tegorie der Zwangsneurose, arbeitete aber die dyna- mene kann Freud nur deshalb in Beziehung
mischen und strukturellen Aspekte im wesentlichen zueinander setzen, weil sie Abwehrphänomene dar-
später in jenem Kontext aus, dem er das topographi- stellen, in denen sich das Moment der Ritualisierung
sche Modell des psychischen Apparats zugrunde ausmachen läßt. Diese individuellen und sozialen
legte. In diesem zweiten Modell wird die Wahrneh- Abwehrleistungen bringt er auf die Formel ›Zwangs-
mungsqualität eines unbewußten Wunsches im we- neurose ist Privatreligion, Religion ist universelle
sentlichen von seinem Konfliktpotential für die be- Zwangsneurose‹ und verbindet derart Individuelles
wußte Wahrnehmung, und damit ganz besonders und Soziales unter dem Aspekt krankmachender
von der Angst, abhängig gemacht. Die Symptombil- Triebabwehr. In beiden Fällen dominiert ein strafen-
dung der Zwangshandlungen erlaubt als Kompro- des Über-Ich, das den Zwangsneurotiker ebenso
mißbildung die latente Befriedigung eines unbewuß- schuldbewußt sein läßt wie den frommen Sünder.
ten Wunsches, freilich in einer verdeckten, für das Und beide müssen durch Zwangshandlungen einer-
Bewußtsein nicht ängstigenden Form. Die Unterlas- seits und sich regelmäßig wiederholende Gebete an-
sung der Zwangshandlungen dagegen wird mit mas- dererseits ritualisiert zur Besänftigung ihres Schuld-
siver Angst beantwortet. Die Zwangshandlung ist gefühls beitragen.
eine »Abwehr- oder Versicherungshandlung«, eine Unabhängig davon, wie man diese psychoanalyti-
»Schutzmaßregel« (GW VII, 136). Der Zwangsneu- sche Deutung der Religion heute beurteilen mag, hat
rotiker, der sich immer wieder die Hände waschen sie ihre ideengeschichtliche Relevanz durch die Rück-
muß, versichert sich ihrer Sauberkeit und schützt führung auf unbewußte Triebkonflikte behalten. Re-
sich somit vor allen mit ›Schmutz‹ assoziierten unbe- ligion, ihrem Selbstverständnis nach dem Höheren
wußten Phantasien, z. B. Mordimpulsen. Mittels der im Menschen und dem Allerhöchsten überhaupt ver-
zwanghaften Realisierung dieser Handlung übt er zu- pflichtet, sieht sich jetzt auf das Niedrigste im Sinne
gleich einen nicht unerheblichen aggressiven Druck einer Abwehr des tief Unbewußten zurückgeführt.
auf Personen seiner Umgebung aus, befriedigt dem- Auch in seiner Untersuchung bürgerlicher Kardi-
nach den unbewußten aggressiven Impuls als auch naltugenden wie Ordnung, Sparsamkeit und Selbst-
das darauf reagierende Schuldgefühl. behauptungswillen findet Freud »Fortsetzungen der
136 Werke und Werkgruppen

ursprünglichen Triebe, Sublimierungen derselben verstand Freud diese Symptome »als Reaktion auf
oder Reaktionsbildungen gegen dieselben« (GW VII, eine ungeheure, vom Bewußtsein nicht zu erfassende
209). Noch an dem ausgesprochen vorsichtigen Stil Wut« (411).
seiner Formulierungen kann man heute ablesen, daß
Freud mit dem Nachweis einer unbewußten analero-
Das Ich und die Angst
tischen Besetzung beim Zwangscharakter zu Anfang
des 20. Jh.s ähnlich wie in seiner Religionsanalyse Diese klinischen Beschreibungen enthalten implizit
eine Tabuverletzung fürchtete. Führte er doch einen bereits einen Ich-Begriff, den Freud 1923 mit der
gesellschaftlich anerkannten Sozialcharakter auf Einführung der Strukturlehre ins Zentrum des
seine neurotischen Motive zurück und bezog derge- psychischen Apparats rückte. Konsequent verab-
stalt das Geldinteresse auf die unbewußte Lust am schiedete sich Freud nun auch von seiner ersten
Spiel mit den Faeces, dem ersten eigenständigen Pro- Angsttheorie: »Der Einspruch gegen diese Auffassung
dukt des heranwachsenden Kindes, dem dessen gan- […] war also eine der Folgen der im Ich und Es ver-
zer Stolz gilt. Während dieser ›erste Haufen‹ mit der suchten Gliederung des seelischen Apparates« (GW
weiteren Entwicklung der Ablehnung durch die Er- XIV, 193). Der Widerruf und die Darstellung seiner
richtung einer Scham- und Ekelgrenze verfällt, er- zweiten Angsttheorie erfolgte in der nicht einfach zu
freut sich der ›Haufen Geld‹ allgemeiner Anerken- lesenden, thematisch sehr heterogenen und viele
nung und verleiht so unserer Gesellschaft ihren basal neue Fragen aufwerfenden Arbeit Hemmung, Sym-
analen Charakter. Während hier psychodynamisch ptom und Angst. Das Ich wird nun zur eigentlichen
eine Verschiebung am Werk ist, resultiert Ordentlich- Angststätte (ebd., 120, 171). Freuds Studium diverser
keit als Charaktermerkmal aus einer Reaktionsbil- Symptombildungen bei Phobikern (u. a. bei Kleinen
dung gegen unbewußt gewünschte wie gefürchtete Hans) und Zwangsneurotikern läßt ihn jetzt die
anale Vermischungen und Verschmierungen. Angst als »Motor der Verdrängung« (137) und nicht
Klinisch macht Freud dies in seiner berühmtesten mehr als deren Folge sehen. Er versteht sie jetzt pri-
Krankengeschichte eines Zwangsneurotikers deut- mär als ein Affektsignal, das psychische Abwehrme-
lich: in der des sog. Rattenmannes. Freud behandelte chanismen und Symptombildungen auf den Plan
ihn seit Anfang Oktober 1907 etwa ein Jahr lang. ruft. Angst ist nun eine Reaktion auf eine drohende
Hier (GW VII, 379–463) läßt sich nachlesen, wie Gefahr für das Ich – eine Sichtweise, die auch dem
Freud Stunde um Stunde eine unbewußte Gegenwelt, heutigen klinischen Verständnis zugrunde liegt.
die gegen die bewußt hohe Sittlichkeit des Patienten Lediglich im Fall der traumatischen Neurose zieht
steht, herausarbeitet: die unbewußten Todeswünsche Freud weiterhin in Betracht, daß durch übergroße
gegen den Vater im Kontrast zur bewußten Vereh- Erregungsmengen der Reizschutz durchbrochen wird
rung und Unterwürfigkeit, als auch die zentrale Rolle und in der Folge automatisch Angst entsteht (161,
eines massiven, unbewußten Hasses, des »Todeskom- 168). Im Konzept dieser traumatischen Angst lebt
plexes bei der Zwangsneurose« (ebd., 453), der einer also etwas von der ersten Freudschen Angsttheorie
gleich starken Liebe entgegensteht. Erstmals zeigt fort (172). In ihr sieht er den Anfang aller Gefah-
Freud, »daß bei der Zwangsneurose gelegentlich die rensituationen, worauf jede spätere Angst i. S. eines
unbewußten seelischen Vorstellungen in reinster, un- Angstsignals reagiert (199).
entstellter Form zum Bewußtsein durchbrechen, daß Genetisch lokalisiert Freud den Anfang dieser
der Durchbruch von den verschiedensten Stadien des traumatischen Angst in der Geburtsangst (121). Er
unbewußten Denkprozesses her erfolgen kann« folgert, daß alle ängstigenden Erfahrungen struktu-
(445 f.). Freuds Interpretationen etwa des Versteh- rell Elemente des Geburtserlebnisses enthalten und
zwangs (412) zeigen zugleich, daß dem Zwangssym- ihrem Wesen nach Trennungsängste bzw. Angst vor
ptom eine Dynamik innewohnt, die den Charakter Objektverlust mobilisieren. Alle späteren Angstfor-
eines terroristischen Überfalls hat: »Mitten im eifrig- men – und damit die Signalangst – sah er als ent-
sten Studium fiel ihm da ein: […]« (410), »Da über- wicklungspsychologische Nachfolger dieser ersten
fiel ihn […]« (410), »kam ihm […] plötzlich die traumatischen Trennungserfahrung: die Angst vor
Idee« (411), »[…] bemächtigte sich seiner ein Ver- der Trennung von der Mutter, die Kastrationsangst,
stehzwang« (ebd., 412). Scheinbar aus dem Nichts die Über-Ich-Angst, die soziale Angst und die Todes-
heraus wird das Ich plötzlich von einem imperativen angst (169). Signalangst ist insofern das Erbe der
Gedanken dominiert, der die bisherige Tätigkeit un- traumatischen Angst und versucht diese schon im
terbricht und sich alles Fühlen und Denken unter- Vorfeld abzuwehren.
ordnet. Im Kontext des topographischen Modells Freud blieb jedoch, wie wir wissen, skeptisch ge-
Zwangshandlungen, Phobien, Paranoia, Theorie der Angst 137

genüber dem Versuch – und damit gegenüber der in das Ich verstanden werden, der dessen ganzes Füh-
zwei Jahre zuvor von Otto Rank (1924) publizierten len und Denken plötzlich dominieren und verändern
Theorie der Geburtsangst –, alle späteren Angstfor- kann. Der von Freud diagnostizierte Zerfall der Per-
men auf ein traumatisches Geburtserlebnis zurück- sönlichkeit (GW VII, 463) führte z. B. im Fall des
zuführen, und vertrat statt dessen eine Theorie der Rattenmanns dazu, daß auch sein seelisches Gesche-
phasentypischen Angstsituationen (GW XIV, 172). hen analog dem Modell der Rattenstrafe (bei der sich
Diese neue Auffassung der Angst demonstriert Ratten in das Gesäß des Gefolterten einbohren)
Freud auch konsequent in einem veränderten Ver- funktionierte, d. h. daß sein Ich von plötzlich ein-
ständnis der Phobie, hier wiederum bezogen auf den dringenden Vorstellungen hinterrücks angegriffen
Kleinen Hans. Freud (GW XIV, 130) verstand dessen wurde.
phobische Symptome jetzt als Lösungsversuch eines
psychischen Konflikts zwischen mörderischen ödipa-
Paranoia
len Impulsen gegen den Vater und seiner Liebe für
ihn. Die Kastrationsangst ist jetzt das Motiv der Ver- Solche gegen die Integrität des Ichs gerichtete Me-
drängung. »Aber der Angstaffekt der Phobie, der ihr chanismen beschreibt Freud darüber hinaus auch am
Wesen ausmacht, stammt nicht aus dem Verdrän- Beispiel der Paranoia – zu einer Zeit, in der er die
gungsvorgang, nicht aus den libidinösen Besetzun- Strukturlehre noch gar nicht eingeführt hatte. Inso-
gen der verdrängten Regung, sondern aus dem Ver- fern zeigen auch Freuds klinische Arbeiten über Pho-
drängenden selbst; die Angst der Tierphobie ist die bie, Zwangsneurose und Paranoia, daß der Gedanke
unverwandelte Kastrationsangst [. . .] Hier macht die eines abwehrenden Ichs schon lange vor der ab 1920
Angst die Verdrängung, nicht, wie ich früher gemeint entwickelten Strukturtheorie bei ihm existierte. Im
habe, die Verdrängung die Angst. […] Immer ist da- Fall der Paranoia gelangen ihm bahnbrechende Ein-
bei die Angsteinstellung des Ichs das Primäre und der sichten in deren unbewußte psychische Mechanis-
Antrieb zur Verdrängung. Niemals geht die Angst aus men, die sich einer sorgfältigen Detailanalyse verdan-
der verdrängten Libido hervor« (ebd., 137). ken. »Ich erinnerte mich daran, wie oft man in die
Freud begreift also diese Angst als ein Signal vor Lage gekommen war, psychisch Kranke falsch zu be-
der Gefahr der Kastration, die sich bei Verwirkli- urteilen, weil man sich nicht eindringlich genug mit
chung des ödipalen Triebwunsches einstellen würde ihnen beschäftigt und so zu wenig von ihnen erfah-
(ebd., 157). Mit seiner zweiten Angsttheorie hatte er ren hatte« (GW X, 238). Am beeindruckendsten
sich vom Begriff der Angst als einfachem Triebum- führt uns Freud diese methodische Haltung am Fall
wandlungsprodukt verabschiedet und sie als Signal- Schreber in seiner Arbeit Psychoanalytische Bemer-
affekt mit Bedeutung versehen. Die nach Freud for- kungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall
mulierten psychoanalytischen Objektbeziehungs- von Paranoia (Dementia paranoides) (GW VIII,
theorien führten zu weiteren Entwicklungen und 239–316), aber auch in der Studie über Eine Teufels-
Differenzierungen im Verständnis der Angst (Plän- neurose im 17. Jahrhundert (GW XIII, 317–353) vor.
kers 2003). Im Fall Schreber analysiert Freud den autobiographi-
Auch das vorwiegend im Kontext des topographi- schen Text des ehemaligen Senatspräsidenten beim
schen Modells entwickelte Verständnis der Zwangs- Oberlandesgericht Dresden Denkwürdigkeiten eines
neurose erfuhr im Rahmen der Strukturlehre und Nervenkranken (1903). Dessen Wahnsystem bestand
der zweiten Angsttheorie eine Reihe wichtiger Ergän- darin, »die Welt zu erlösen und ihr die verloren ge-
zungen. Ähnlich wie bei der Phobie sieht Freud (GW gangene Seligkeit wiederzubringen. Das könne er
XIV, 153) auch bei der Zwangsneurose in der Kastra- aber nur, wenn er sich zuvor aus einem Manne zu
tionsangst das Motiv der vom Ich aktivierten Ab- einem Weib verwandelt habe« (GW VIII, 248). Schre-
wehrmechanismen wie Ungeschehenmachen und ber fühlte sich besonders von seinem Arzt Flechsig,
Isolierung. Auch die Überbesetzung des Denkens, die aber auch von anderen Personen verfolgt. Freuds
Vorliebe für rationalistische Konstruktionen, die sorgsame Materialanalyse macht erstmals die bedeu-
Feststellung eines rigiden Ich-Charakters und eines tende Rolle der Projektion für das Verständnis para-
überstrengen Über-Ichs gewannen ihr Gewicht erst noider Symptome verständlich, nämlich daß »der
im Zusammenhang der Gliederung des psychischen jetzt wegen seiner Verfolgung Gehaßte und Gefürch-
Apparats in Es, Ich und Über-Ich. Zwangshandlun- tete ein einstiger Geliebter und Verehrter« (ebd., 276)
gen als Ich-Aktivität können nun nicht nur topogra- war. Im Zentrum der Paranoia identifiziert Freud
phisch als Verkehrung einer unbewußten Absicht in eine unbewußte homosexuelle Wunschphantasie
ihr bewußtes Gegenteil, sondern auch als Einbruch (295), im Fall Schreber eine »Sehnsucht nach Vater
138 Werke und Werkgruppen

und Bruder« (286). Überraschend ergibt sich hier der und er legte in seiner Krankheit »den Weg vom Vater
Schluß, daß die Wahnbildungen des Paranoiden über den Teufel als Vaterersatz zu den frommen Pa-
nicht die eigentlichen Krankheitserscheinungen sind, tres zurück« (GW XIII, 352).
sondern ein Heilungsversuch. »Was wir für die Manches an diesen Krankengeschichten würden
Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist wir heute vielleicht anders deuten, z. B. Freuds These,
in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruk- daß die Krankheit ganz auf dem »Vaterkomplex«
tion« (308). Das eigentliche Krankheitsgeschehen da- (GW VIII, 291) fuße. Aber dies ist nicht entschei-
gegen sieht Freud in der »Ablösung der Libido von dend. Ideengeschichtlich ist es von zentraler Bedeu-
vorher geliebten Personen – und Dingen« (308). tung, daß hier erstmals psychotische Erkrankungen
»Was sich uns lärmend bemerkbar macht, das ist der als sinnhaft und eingebettet in einen psychodynami-
Heilungsvorgang« (308). schen Zusammenhang verständlich gemacht wurden.
Auch im Fall des Malers Christoph Haitzmann, der Freud hat dadurch die Kluft, die das Neurotische
im 17. Jh. an Krämpfen, Visionen und panischen vom manifest Paranoiden trennt, zu dem er auch
Ängsten litt und behauptete, diese resultierten aus Formen von Eifersuchts-, Liebes- und Größenwahn
zwei Verschreibungen an den Teufel, weist Freud der zählte, einerseits verringert, indem er zeigte, daß
Projektion als psychischem Mechanismus die zen- auch das sog. Verrückte nichts jenseits des unbewuß-
trale Stellung zu, ebenso der unbewußten passiven ten Konflikts mit den Primärobjekten liegt. Anderer-
Homosexualität. Haitzmann fand Erlösung von sei- seits haben seine detaillierten Beschreibungen und
nen paranoiden Befürchtungen durch den geistlichen Analysen den Weg für die heutige psychoanalytische
Beistand von Kirchenmännern und trat am Ende in Psychosentherapie überhaupt erst eröffnet.
einen Mönchsorden ein. Mit detektivischem Gespür
für Unstimmigkeiten in kleinsten Details arbeitet Literatur
Freud den Tod des Vaters als Krankheitsanlaß heraus, Plänkers, Tomas: Trieb, Objekt, Raum. Veränderungen im psy-
choanalytischen Verständnis der Angst. In: Psyche 57
die daraus resultierende Melancholie, die unbewußte (2003), 487–522.
Ambivalenz im Verhältnis zum Vater sowie frühe Rank, Otto: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für
orale Ängste als Grundlage von Projektionen, in de- die Psychoanalyse [1924]. Frankfurt a. M. 1988.
nen sich der Maler plötzlich in ›Visionen‹ Dämonen, Sandler, Joseph/Alex Holder/Christopher Dare/Anna Ursula
Dreher: Freuds Modelle der Seele. Eine Einführung. Gießen
Christus und dem Teufel gegenübersieht. So wurde 2003 (engl. 1997).
der Teufel dem Maler zum projektiven Vaterersatz Tomas Plänkers
139

7. Behandlungstechnik

Freud hat seine behandlungstechnischen Auffassun- grenzen. So entstand die Vorstellung von einer »rite«-
gen – angefangen bei den ersten, noch experimentie- Psychoanalyse, bei der jede Abweichung von einem
renden und zusammen mit Josef Breuer entwickelten ausschließlich die Übertragung deutenden Vorgehen
Verfahrensweisen bis hin zur Gewinnung einer ge- als ein Parameter (Eissler 1953) aufgefaßt wurde.
wissen Standardisierung der Technik – während eines Diesen galt es so bald wie möglich zu analysieren,
Zeitraums von etwa zwanzig Jahren entwickelt. Nicht also wiederum einer analytischen Deutung zu unter-
wenigen gelten die behandlungstechnischen Metho- ziehen. Andernfalls – so die Befürchtung der lange
den, mit denen Freud einen neuen und einzigartigen Zeit dominierenden nordamerikanischen Ichpsycho-
Zugang zum psychischen Leben des Menschen be- logie – degeneriere die Psychoanalyse zu einer ledig-
gründete, als sein wertvollster und wissenschaftlich lich stützenden Psychotherapie.
erfolgreichster Beitrag (Gedo 2001). Insgesamt 27 Als die eigentlichen behandlungstechnischen Ar-
Arbeiten Freuds beschäftigen sich ganz oder teilweise beiten gelten jene Aufsätze, die Freud zwischen 1911
mit behandlungstechnischen Fragen. Sie werden hier und 1915 veröffentlichte. Viele seiner Anhänger und
berücksichtigt, soweit sie nicht bereits an anderer Schüler hatten sich freilich mehr von diesen Schriften
Stelle und in anderen Zusammenhängen, etwa der versprochen, galt doch die psychoanalytische Be-
Traumdeutung (s. Kap. II.4), thematisiert werden. handlungstechnik nicht nur in den Augen Außenste-
Die in den Technik-Aufsätzen formulierten Emp- hender als die Psychoanalyse schlechthin. Aber
fehlungen Freuds entstanden einerseits aus dem Be- Freuds Interessen waren bekanntlich weitaus breiter
dürfnis, das inzwischen angesammelte und differen- angelegt – die analytische Kur mit ihrem Regelwerk
ziert vorliegende Erfahrungswissen zu systematisie- war lediglich eines unter vielen. Vielleicht ist das
ren und an seine Schüler weiterzugeben. Zum an- auch der Grund dafür, daß das von Freud ursprüng-
deren waren sie auch in berufspolitischer Hinsicht lich geplante umfassende Werk über eine »Allge-
von Bedeutung. Freud wollte damit allen Diffamie- meine Methodik der Psychoanalyse«, das er 1910 an-
rungen seiner noch jungen Behandlungstechnik ent- gekündigt hatte, von ihm niemals geschrieben wurde.
gegentreten, und dies umso mehr, als die Regelverlet- Es war späteren Autoren wie Otto Fenichel (1941)
zungen und sexuellen Grenzüberschreitungen etwa und Ralph Greenson (1967) vorbehalten, Freuds ur-
von Seiten seiner Schüler C. G. Jung und Sándor Fe- sprüngliche Absicht in die Tat umzusetzen. Dennoch
renczi einer interessierten Öffentlichkeit auf Dauer hat eine Arbeitsgruppe des Sigmund-Freud-Instituts
nicht verborgen geblieben waren. aus den behandlungstechnischen Schriften Freuds
Erst in der nordamerikanischen Psychoanalyse die Anweisungen zur Behandlungstechnik extrahiert
mutierten die Empfehlungen und Ratschläge Freuds und dabei die durchaus stattliche Anzahl von 249 Re-
zu unumstößlichen Regeln, die so gut wie keine Aus- geln identifizieren können (Argelander 1979; Köhler-
nahme zuließen. Man hat diese »Nomothetisierung« Weisker 1978).
der Behandlungstechnik mit der überwiegend natur-
wissenschaftlichen Einstellung der medizinalisierten
Die Freudsche psychoanalytische Methode
Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten in Verbin-
(1904), Über Psychotherapie (1905)
dung gebracht. Sicherlich spielte aber auch der
Wunsch der in die USA emigrierten deutschen und Nach fast zehnjähriger Pause knüpfte Freud 1904
österreichischen Psychoanalytiker eine Rolle, die psy- und 1905 wieder an die behandlungstechnische The-
choanalytische Therapie als einen Regelkanon zu eta- matik aus den Studien über Hsyterie, insbesondere an
blieren und sie auf diese Weise gegen konkurrierende das Kapitel »Zur Psychotherapie der Hysterie« (GW I,
Therapieformen, z. B. die Verhaltenstherapie, abzu- 252–312), an. Dazwischen lag die so wichtige Beschäf-
140 Werke und Werkgruppen

tigung mit dem Traum und den Fehlleistungen. In Über ›wilde‹ Psychoanalyse (1910)
den kleinen Arbeiten von 1904 und 1905 (GW V,
In diesem kurzen Aufsatz (GW VIII, 117–125)
1–10, 11–26), die zahlreiche Überschneidungen aufwei-
wandte sich Freud gegen eine populärpsychologische
sen, beschäftigte er sich mit der analytischen Grund-
Verkürzung seiner Lehre vor allem durch schlecht
regel der freien Assoziation, mit den Unterschieden
ausgebildete Ärzte, die ihren neurotischen Patienten
zwischen der analytischen und der suggestiven Tech-
z. B. Selbstbefriedigung empfahlen in der Annahme,
nik der Hypnose und mit Fragen der Indikation für
damit ganz im Sinne der ätiologischen Bedeutung
die analytische Kur, etwa Bildungsgrad und Alter, und
der Sexualität gehandelt zu haben. Solche Ärzte lie-
schließlich mit dem Widerstand gegen die Analyse.
ßen dabei völlig unberücksichtigt, so Freud, daß er
den Begriff Sexualität »in demselben umfassenden
Die zukünftigen Chancen Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort ›lieben‹«
der psychoanalytischen Therapie (1910) (120) gebraucht, verstanden wissen wolle und daß
darüber hinaus mit dem Konzept der Psychosexuali-
Während die oben erwähnten Aufsätze noch weitge-
tät vor allem der seelische Anteil des Sexuellen ge-
hend den voranalytischen Erkenntnisstand wiederga-
meint sei: »Wer diese Auffassung der Psychosexuali-
ben, ging es Freud mit dieser Veröffentlichung (GW
tät nicht teilt, hat kein Recht, sich auf die Lehrsätze
VIII, 103–115) um eine programmatische Festlegung
der Psychoanalyse zu berufen, in denen von der ätio-
seiner bis dato gewonnenen Erkenntnisse. Eine Zu-
logischen Bedeutung der Sexualität gehandelt wird«
nahme der Wirksamkeit einer psychoanalytischen
(121).
Behandlung versprach er sich vor allem durch Wis-
Abgesehen von dem irrigen Verständnis der Sexua-
senszuwachs und behandlungstechnische Fort-
lität würden diese Ärzte aber auch keine Ahnung von
schritte. Hier bereits deutete er den wichtigen Sach-
der Wirkung des Widerstands bei einem Menschen
verhalt an, daß die analytische Technik je nach
haben, wenn Sexualbefriedigung an sich tatsächlich
Krankheitsform zu modifizieren sei, worauf er später
ein probates Mittel gegen die Vertreibung der Neu-
noch einmal ausführlicher zu sprechen kam
rose sei. Ihre neurotischen Konflikte würden ihnen
(GW XII, 191). Hoffnung setzte Freud zum zweiten
aber genau diese sexuelle Genußmöglichkeit verbie-
auch auf den Zuwachs an Autorität seiner Sache; zu-
ten; deshalb müsse man zuerst die Widerstände ana-
gleich war er allerdings realistisch genug zu sehen,
lysieren, was nur mittels einer gründlichen Analyse
daß die Gesellschaft sich auch künftig weiterhin ab-
möglich sei und nicht auf dem Weg suggestiv vorge-
weisend gegenüber der Psychoanalyse verhalten
brachter Ratschläge. Aber auch eine aufgeschlossene
werde, denn sie müßte ja zugeben, »daß sie an der
Öffentlichkeit verbreite häufig die Illusion, seelisch
Verursachung der Neurosen selbst einen großen An-
kranke Menschen litten lediglich unter einer Art Un-
teil hat« (GW VIII, 111). Vor allem das sog. Freud-
wissenheit, und wenn man ihnen nur das richtige
Bashing, das in den 1990er Jahren in den USA Mode
Wissen vermittle, würde ihr Leiden ein Ende finden.
wurde, zeigt, daß Freuds Prognose hinsichtlich der
»Nicht dies Nichtwissen an sich ist das pathogene
zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Thera-
Moment, sondern die Begründung des Nichtwissens
pie durchaus hellsichtig war.
in inneren Widerständen, welche das Nichtwissen zu-
Zum dritten erhoffte sich Freud eine Besserung der
erst hervorgerufen haben und es jetzt noch unter-
therapeutischen Chancen durch die »Allgemeinwir-
halten. In der Bekämpfung dieser Widerstände liegt
kung« der Arbeit des Psychoanalytikers und verstand
die Aufgabe der Therapie« (123).
darunter, daß mit zunehmender Information über
den Ersatzbefriedigungscharakter neurotischer Sym-
ptome der primäre Krankheitsgewinn keine Chance
Zur Dynamik der Übertragung (1912)
mehr erhalte. Wenn allgemein bekannt werde, daß
z. B. übertrieben starke Fürsorglichkeit eine Reakti- Freud formulierte in diesem Text (GW VIII, 363–
onsbildung darstellen kann, die gegenteilige Affekte 374) eine libidotheoretische Präzisierung des Über-
wie Ablehnung und Ambivalenz abwehren hilft, tragungskonzepts. Unerfüllte oder nicht restlos be-
dann werde der Krankheitsgewinn illusorisch friedigte Liebesbedürfnisse führen laut Freud dazu,
(112 f.). Vor allem die Popularisierung der Psycho- daß sich Menschen mit »libidinösen Erwartungsvor-
analyse durch den Film hat freilich ungleich mehr als stellungen jeder neu auftretenden Person zuwenden«
das gedruckte Wort dazu beigetragen, bestimmte (365). Genau dieser Vorgang ereigne sich auch in der
psychoanalytische Konzepte ins Alltagsbewußtsein zu psychoanalytischen Behandlungssituation.
befördern (vgl. Mertens 2005). Übertragung, »sonst der mächtigste Hebel des Er-
Behandlungstechnik 141

folgs« (367), kann auch in den Dienst des Wider- und Schüler in die richtigen, von ihm selbst bevor-
stands gestellt werden, vor allem dann, wenn diese zugten Bahnen zu lenken. Diese Absicht Freuds ging
dem Patienten ansatzweise bewußt wird: »Es ist ja bekanntlich nicht in Erfüllung. Schon bald schlug
klar, daß das Geständnis einer jeden verpönten z. B. Otto Rank (1924) eine Verkürzung der psycho-
Wunschregung besonders erschwert wird, wenn es analytischen Therapie mittels thematischer Fokussie-
vor jener Person abgelegt werden soll, der die Regung rung auf das Thema der Geburtsangst vor.
selbst gilt« (370). Daß die Übertragung auch zum Freud vertrat in den Ratschlägen die Auffassung,
Widerstand werden kann, gilt vor allem für die »ne- daß es sich trotz der unzähligen Eindrücke, die man
gative Übertragung«. In der Regel zeigen sich freilich von seinen Analysanden in der Kur empfange, nicht
eher Mischformen von positiver und negativer Über- empfehle, während des Zuhörens mitzuschreiben.
tragung. »[…] ein hoher Grad von Ambivalenz der Außerdem solle man erwartungsfrei zuhören, näm-
Gefühle ist gewiß eine besondere Auszeichnung neu- lich in einer Haltung der »gleichschwebende[n] Auf-
rotischer Personen« (373). Berühmt wurde vor allem merksamkeit« (377). Diese stellt das notwendige Ge-
Freuds Auffassung, daß die analytische Kur auf dem genstück zur Grundregel der »freien Assoziation«
Feld der Übertragungsphänomene durchgeführt dar. Damit überläßt sich der Psychoanalytiker seinem
werden sollte, »denn schließlich kann niemand in ab- »unbewußten Gedächtnisse« (378). Protokollierun-
sentia oder in effigie erschlagen werden« (374). gen zum Zweck einer wissenschaftlichen Publikation
Die Übertragungsanalyse wurde, um ein von würden nur dem Schein nach eine Exaktheit vermit-
Freud gern gebrauchtes Wort zu zitieren, zum »Schi- teln, ganz davon abgesehen, daß man dadurch »ein
boleth« der Psychoanalyse (GW V, 128; GW X, 101), Stück seiner eigenen Geistestätigkeit« binde (379).
weshalb es nicht verwundert, daß diese behandlungs- Wichtig sei vor allem, »sich während der psychoana-
technische Vorgehensweise immer wieder rekapitu- lytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu
liert wurde. Angefangen bei Sándor Ferenczis und nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein
Otto Ranks (1924) Kritik am Übergewicht kogniti- menschliches Mitleid beiseite drängt« (380). Solche
ver, vor allem genetischer Deutungen in der Psycho- »Gefühlskälte« (381) helfe insbesondere, den thera-
analyse, über James Stracheys Aufsatz (1935), der der peutischen Ehrgeiz zu zügeln, den Freud ohnehin als
Übertragungsdeutung die am meisten verändernde eher suspekt einstufte.
Kraft zuschrieb, und Merton Gills (1982) wegwei- Alle diese Freudschen Empfehlungen begründeten
sende Arbeit zur Übertragungsanalyse bis hin zu der eine explizite psychoanalytische Epistemologie, die
jüngsten Diskussion darüber, inwieweit die Übertra- ihr Erfinder auf folgende Formel brachte: »[…] dem
gungsanalyse bei Patienten mit gering ausgebildeten gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Un-
ichstrukturellen, kognitiven und sozioemotionalen bewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich
Kompetenzen durch ein unmittelbares Eingehen auf auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des
die Beziehung ergänzt werden müsse (vgl. Moser Telephons zum Teller eingestellt ist« (ebd.). Um diese
2001; Rudolf 2004), ist die Debatte über den Umgang Erkenntniseinstellung zu erreichen, sei es wichtig,
mit der Übertragung zum konstantesten Thema der sich der eigenen blinden Flecke bewußt zu werden. In
analytischen Technik geworden. Andere Therapie- Übereinstimmung mit Jung empfahl Freud deshalb
schulen, etwa die kognitive Verhaltenstherapie, die jedem angehenden Psychoanalytiker eine Lehr-
der Psychoanalyse in der Vergangenheit skeptisch bis analyse.
ablehnend gegenüberstanden, haben mittlerweile Gegen die Versuchung, vertrauliche Mitteilungen
ebenfalls die enorme Bedeutung der Übertragung für über die eigenen Defekte und Konflikte zu machen in
den Verlauf des therapeutischen Prozesses erkannt. der Hoffnung, damit den Widerstand des Patienten
zu unterlaufen, forderte Freud in einer berühmten
Metapher, der Arzt solle »undurchsichtig für den
Ratschläge für den Arzt bei der
Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts
psychotherapeutischen Behandlung (1912)
anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird« (384). Nur
Hier (GW VIII, 375–387) stellt Freud heraus, daß mit dieser versuchsleiteranalogen Haltung einer
sich seine Ratschläge »als die einzig zweckmäßigen strikten Anonymität sei es möglich, die Übertragung
für meine Individualität« (376) ergeben hatten, wo- des Patienten nicht mit der Subjektivität des Analy-
mit er offenließ, ob andere womöglich eine andere tikers zu kontaminieren.
Vorgehensweise bevorzugen könnten. Andererseits Nach de Swaan (1978) sind Freuds Ratschläge die
dienten die Aufsätze zur Technik unübersehbar dem erste professionstheoretische Abhandlung für den
Zweck, die allzu freizügigen Ideen seiner Anhänger neuen Beruf des Psychoanalytikers. In ihnen formu-
142 Werke und Werkgruppen

lierte Freud das Arrangement der psychoanalytischen chotherapie auf drei, bei der tiefenpsychologisch fun-
Kur mit ihren Grundregeln der freien Assoziation dierten Therapie gar auf eine Stunde reduziert wor-
und der Abstinenz als eine »experimentelle soziale den. Das ist einerseits ein pragmatischer Kompromiß
Nullsituation«, in der es möglich sei, die Übertra- im Rahmen einer von den Krankenkassen finanzier-
gungsleistungen von Patienten sozusagen »rein«, als ten Therapie, andererseits aber auch ein Zugeständ-
Produkte ihrer psychischen Konflikte darzustellen. nis an den Zeitgeist. Die alles beherrschende gesell-
schaftliche Einstellung, Zeit sei ein knappes und
kostbares Gut, läßt eine hochfrequente Psychoanalyse
Zur Einleitung der Behandlung (1913)
wie eine irrationale Verschwendung der Ressource
In dieser Arbeit (GW VIII, 453–478) macht Freud Zeit erscheinen. Tiefgreifende seelische Veränderun-
nach einem Vergleich der psychoanalytischen Be- gen, so Freud, benötigen aber Zeit und entfalten zu-
handlung mit dem Schachspiel im Hinblick auf die dem eine Eigendynamik, die auch in zeitlicher Hin-
»unübersehbare Mannigfaltigkeit« (454) möglicher sicht schwer zu prognostizieren ist.
Züge nach der Spieleröffnung darauf aufmerksam, Bezüglich des Honorars vertrat Freud die Mei-
daß alle Regeln ihre jeweilige Bedeutung immer nur nung, daß es »doch würdiger und ethisch unbedenk-
aus einem Gesamtzusammenhang gewinnen Deshalb licher [ist], sich zu seinen wirklichen Ansprüchen
sei es sinnvoll, die sog. Regeln lediglich als »Rat- und Bedürfnissen zu bekennen, als […] den unei-
schläge« aufzufassen, die »keine unbedingte Verbind- gennützigen Menschenfreund zu agieren« (464 f.).
lichkeit« (454) beanspruchen können, denn eine Freud erkannte hellsichtig, daß sich auch unter
»Mechanisierung der Technik« (455) sei keineswegs volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten der Geldauf-
wünschenswert. Freud war realistisch genug zu er- wand für eine analytische Behandlung durchaus
kennen, daß die schier unendliche Anzahl aller mög- rechne: »Es ist nichts Kostspieligeres im Leben als die
lichen Kombinationen im Zusammenspiel eines ganz Krankheit und – die Dummheit« (467).
bestimmten Analytikers mit einem ganz bestimmten Hinsichtlich der Durchführung der psychoanalyti-
Patienten die Formulierung und Einhaltung rigider schen Behandlung im Liegen führte Freud neben
Regeln unmöglich mache. dem sehr persönlichen Motiv, es nicht ertragen zu
Freud sprach sich dafür aus, Patienten, bei denen können, »acht Stunden täglich (oder länger) von an-
die Indikationsfrage unklar ist, für ein bis zwei Wo- deren angestarrt zu werden« (467), vor allem das Ar-
chen zu sehen und sich erst nach einer solchen Pro- gument an, auf diese Weise die Übertragung des Pa-
bezeit endgültig zu entscheiden. Eine Abgrenzung ge- tienten besser isolieren zu können.
genüber Vorformen der Schizophrenie – heute würde Wenn man den Patienten reden lasse, stelle man
man von der Diagnose eines Borderline-Strukturni- ihm die Wahl des Ausgangspunkts seiner Erzählung
veaus sprechen – sei nicht immer einfach, aber doch frei. Nur bei der korrekten Durchführung der
sehr wichtig, denn ein Scheitern der psychoanalyti- Grundregel verlangte Freud Konsequenz: Äußere ein
schen Therapie bei diesen Patienten diskreditiere oft- Patient z. B. Vorbehalte wegen des Sinns seiner Ein-
mals die gesamte Psychoanalyse. Heutzutage emp- fälle, dann solle man ihn immer wieder an die Ein-
fiehlt man zur Behandlung solcher Patienten eine haltung der Grundregel der freien Assoziation erin-
modifizierte analytische Psychotherapie (Rudolf nern. Dazu sei es erforderlich, diese von allem An-
2004). fang an dem Patienten zu erläutern. Kommen Patien-
Freud warnte davor, Patienten in Analyse zu neh- ten mit vorbereitetem Material in die Stunde, so sei
men, zu denen eine freundschaftliche oder gesell- dies als Widerstand zu deuten, ebenso, wenn ein Pa-
schaftliche Beziehung besteht, und auch nicht naiv tient mit anderen Personen über seine Analyse
darauf zu vertrauen, daß Patienten mit einem an- spricht. »Die Kur hat dann ein Leck, durch das ge-
fänglich hohen Zutrauen zur Psychoanalyse beson- rade das Beste verrinnt« (470).
ders erfolgreiche Patienten seien. Denn damit hätte Wie geschickt Freud es verstand, auch auf körper-
man die Macht des Widerstandes ignoriert, mit dem liche Ausdruckshandlungen in der Analysestunde zu
nicht nur bei Patienten, sondern auch bei Lehrana- achten, wird aus einem von ihm angeführten Beispiel
lysanden immer zu rechnen sei. ersichtlich, in dem ein junges Mädchen verschämt
Während diese Einschätzungen Freuds auch heute seinen Rock richtet. Freud fiel es nicht schwer, daraus
noch Gültigkeit beanspruchen dürfen, sind seine auf eine verdrängte Exhibitionsneigung zu schließen.
Empfehlungen bezüglich der Sitzungsfrequenz von Im weiteren gibt Freud die lange Zeit als eherne Regel
sechs Stunden pro Woche nicht übernommen wor- aufgefaßte Empfehlung, das Thema der Übertragung
den, sondern auf vier, im Fall der analytischen Psy- so lange unberührt zu lassen, wie die Mitteilungen
Behandlungstechnik 143

und Einfälle des Patienten »ohne Stockung« erfolgen genüber dem Arzt verhält (129 f.). Der Patient erin-
(473). Eine Mitteilung über die unbewußte Bedeu- nert sich mit anderen Worten nicht an zurücklie-
tung des Erzählten sei erst dann möglich, wenn sich gende Erfahrungen, sondern er verhält sich vielmehr
ein »ordentlicher Rapport« (473) hergestellt hat. aktuell so, wie er es früher getan hat. Gleichzeitig ist
Axiomatisch heißt es dazu: »Das erste Ziel der Be- ihm nicht bewußt, daß sein gegenwärtiges Verhalten
handlung bleibt, [den Patienten] an die Kur und an etwas mit früheren Erfahrungen, die sich der Erinne-
die Person des Arztes zu attachieren. Man braucht rung entziehen, zu tun haben könnte. Heute sehen
nichts anderes dazu zu tun, als ihm Zeit zu lassen« Psychoanalytiker in derartigen Übertragungen nicht
(473). Zugleich warnte Freud vor unanalytischen, nur das Wirken des psychodynamischen Unbewuß-
z. B. moralisierenden Interventionen, ebenso vor sol- ten, sondern über das deklarative und autobiogra-
chen, in denen man die Einfühlung mit dem Patien- phisch Verdrängte hinaus auch Anteile des nicht-be-
ten aufgebe und sich etwa. mit dem Ehepartner wußten, nicht-deklarativen Gedächtnisses, das nicht
identifiziere. bewußt (im Unterschied zu unbewußt) und nicht
Ebenso würde man einen heftigen und berechtig- symbolisierbar ist und sich gleichwohl permanent
ten Widerstand bei einem Patienten auslösen, wenn bemerkbar macht.
man – z. B. aus Angst, vom Patienten nicht anerkannt
zu werden – zu schnell die Übersetzung eines Sym-
Bemerkungen über die Übertragungsliebe
ptoms vornehme. In der Regel falle es nicht schwer,
(1915)
bereits beim ersten Kontakt die verdrängten Wün-
sche eines Patienten zu erraten, aber es zeuge von Die Handhabung der Übertragung stellt vielleicht die
Selbstgefälligkeit und Unbesonnenheit, diese dem größte behandlungstechnische Herausforderung für
Patienten nach kurzer Bekanntschaft zu deuten: »Der den Analytiker dar. Von verschiedenen Situationen
therapeutische Effekt wird in der Regel zunächst her beleuchtete Freud vor allem die Übertragungs-
gleich Null sein, die Abschreckung von der Analyse liebe, die bei Frauen auftritt, die auf Befriedigung ih-
aber eine endgültige« (474). Vorbei sei die Frühzeit res erotischen Verlangens nachdrücklich bestehen
der Psychoanalyse, in der eine intellektualistische Be- (GW X, 305–321). Solche Frauen sind Freud zufolge
handlungsauffassung vorherrschte und wo man unwillig, einen Ersatz zu akzeptieren, und sehen
glaubte, daß allein die Mitteilung von einem verges- nicht ein, was ihnen das bloße Reden über die Liebe
senen Kindheitstrauma bereits einen therapeutischen bringen soll. Ob dies Frauen von »elementarer Lei-
Effekt habe. Freud zufolge müssen erst die Verdrän- denschaftlichkeit« (315) sind oder ob das Auftreten
gungswiderstände überwunden werden, bevor eine einer heftigen erotisierten Übertragung, die auf den
Verbindung des intellektuellen Wissens mit den ver- realen Vollzug drängt, Anzeichen einer Borderline-
drängten Gefühlskomplexen stattfinden kann. Aus Persönlichkeitsstörung, wenn nicht gar einer psycho-
heutiger Sicht, die von der Annahme zweier unter- tischen Entwicklung ist, darüber gehen die Ansichten
schiedlicher Gedächtnissysteme ausgeht, kann man auseinander (Mertens 1991/2005). Bei der Handha-
dem ungeteilt zustimmen: Wenn die Verbindung bung dieser Übertragungsform handelt es sich oft
zwischen dem deklarativen und dem nicht-deklara- um eine Gratwanderung. Denn die mehr oder we-
tiven Gedächtnissystem unterbrochen ist, ergibt sich niger liebevolle Zuneigung eines Patienten und ent-
keine Veränderung, sofern lediglich das deklarativ- sprechende Gefühle beim Analytiker bilden die Vor-
autobiographische Gedächtnis angesprochen wird aussetzung jeglicher erfolgreichen Behandlung.
(Davies 2001). Es müssen zugleich auch die emotio-
nal-prozeduralen Gedächtnisinhalte berührt wer-
Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917)
den.
In diesem Aufsatz (GW XII, 1–12) wies Freud mit
seinem bekannten Diktum, der Mensch sei nicht
Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
Herr im eigenen Hause (11; vgl. auch GW XI, 295),
(1914)
darauf hin, daß die ihm dadurch zugefügte narzißti-
In dieser kleinen Arbeit (GW X, 125–136) schildert sche Kränkung die Anerkennung der Psychoanalyse
Freud den Fall eines Patienten, der in der Behand- erschwere. Der Neurowissenschaftler Ramachandran
lung nicht davon spricht, daß er sich erinnere, sich (2003) hat nahezu 90 Jahre später in ganz ähnlichen
gegenüber der elterlichen Autorität trotzig und un- Worten darauf hingewiesen, daß diese Kränkung
gläubig verhalten zu haben, sondern der sich im Hier heutzutage durch die Erkenntnis bewirkt werde, daß
und Jetzt der Behandlung trotzig und ungläubig ge- das Ich aus neurobiologischer Sicht eine Illusion sei.
144 Werke und Werkgruppen

Wege der psychoanalytischen überdauernden Kompetenzen des Ich (sog. Ich-


Psychotherapie (1919) Stärke bzw. sozioemotionale und kognitive Kompe-
tenzen) eröffnet psychoanalytische Zugangsweisen zu
Auch dieser Text Freuds (GW XII, 181–194) wirbt für Patienten, die früher als unbehandelbar galten (z. B.
die Auffassung, daß die analytische Kur »in der Ent- Patienten mit somatoformen Erkrankungen und
behrung – Abstinenz – durchgeführt« (187) werden Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder psychoti-
müsse. Das Leiden soll nicht ein vorzeitiges Ende fin- sche Patienten). Auch Freuds Hoffnung, daß die psy-
den, indem Ersatzbefriedigungen außerhalb der Ana- choanalytische Behandlung eines Tages unentgeltlich
lyse gesucht werden (»z. B. voreilige Bindung an ein sein werde (ebd.), ist Wirklichkeit geworden; seit
Weib«) oder indem das Übertragungsverhältnis 1967 übernehmen in der Bundesrepublik Deutsch-
durch eine allzu verwöhnende Haltung seitens des land die Krankenkassen die Behandlungskosten für
Analytikers selbst dazu wird. Wenn man einem Pa- analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psy-
tienten aus übergroßer Hilfsbereitschaft zuviel ge- chotherapie.
währt, bindet man ihn laut Freud zu stark an sich,
und er sieht womöglich dann gar keinen Anlaß, sich
Die endliche und die unendliche Analyse
in der wirklichen Welt bewähren zu müssen. »Es ist
(1937)
zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu ver-
sagen, die er am intensivsten wünscht und am drin- Es verwundert nicht, daß Freud gegen Ende seines
gendsten äußert« (189). Des weiteren wendet sich Lebens so etwas wie eine Bilanz hinsichtlich der Hei-
Freud gegen eine falsch verstandene Passivität im lungschancen von Neurosen zog. Im Unterschied zu
Sinne eines passiven Zuwartens. Er macht darauf seinen früheren optimistischen Äußerungen über die
aufmerksam, »daß die verschiedenen Krankheitsfor- heilende Wirkung der Analyse muten die Gedanken
men, die wir behandeln, nicht durch die nämliche des 81jährigen Freud eher resigniert an (GW XVI,
Technik erledigt werden können« (191). 57–99). So weist er darauf hin, daß alte Konflikte
Die von Freud ausgearbeitete Behandlungstechnik nach erfolgreicher analytischer Arbeit wieder auftau-
war ursprünglich im Blick auf hysterische Patienten chen können und daß es keinen definitiven Schluß-
entwickelt worden; aber Patienten mit einer Angst- punkt der psychoanalytischen Arbeit gebe. Neben
hysterie, einer Zwangsneurose oder einer Phobie er- konstitutionellen Faktoren, ungünstigen Verände-
forderten ein jeweils verändertes Vorgehen. Agora- rungen des Ich und tiefverwurzelten Affekten beim
phobe Patienten z. B. müsse man durch ein aktives Patienten gebe es auch noch die Person des Analy-
Vorgehen dazu bewegen, auf die Straße zu gehen, tikers, die »nicht durchwegs das Maß von psychischer
und sich dabei tatkräftig mit der Angst auseinander- Normalität erreicht« hat, zu dem sie ihre Patienten
zusetzen. Bei den schweren Fällen von Zwangshand- erziehen will (93).
lungen sei ein passives Zuwarten noch weniger ange- Auch wenn in der Gegenwart nur noch einige der
zeigt als bei den Phobikern, weil das freie Assoziieren von Freud veranschlagten Faktoren für die Zähigkeit
wie ein Zwangsritual ablaufen und zu unendlichen so mancher psychoanalytischen Behandlung verant-
Analysen führen könne. wortlich gemacht werden, so ist doch seine Skepsis in
Schließlich wies Freud darauf hin, daß Psychoana- mancherlei Hinsicht immer noch berechtigt, vor al-
lytiker sich mit dem betrüblichen Umstand abfinden lem dann, wenn allzu übertriebene Erwartungen an
müssen, gegen das weitverbreitete psychische Elend, den Ausgang einer Analyse gestellt werden. Die trau-
das die Volksgesundheit nicht minder bedrohe als matisierenden Auswirkungen einer bindungsgestör-
rein körperliche Erkrankungen, nur wenig ausrichten ten, depressiven oder kaltherzigen Mutter z. B. lassen
zu können. Ein Ausweg könnte sein, daß der Staat sich auch durch eine »gute Analyse« nur schwer
psychoanalytische Behandlungen unentgeltlich be- korrigieren.
reitstellen würde. Dann müßte in der Massenanwen-
dung »das reine Gold der Psychoanalyse« aber auch
Konstruktionen in der Analyse (1937)
reichlich »mit dem Kupfer der direkten Suggestion«
(193) legiert werden. Freud vergleicht in dieser späten Arbeit (GW XVI,
Heutzutage versucht man unter Zugrundelegung 41–56) die Tätigkeit der Konstruktion und der Re-
differenzierter diagnostischer Kriterien, der Vielfalt konstruktion in der Analyse mit der des Archäolo-
seelischer Erkrankungen auch behandlungstechnisch gen, wobei der Analytiker den Vorteil habe, es mit
Rechnung zu tragen. Vor allem die Unterteilung in Menschen zu tun zu haben, deren lebendige Über-
verschiedene strukturelle Organisationsniveaus von tragung in der Gegenwart ihm einen privilegierten
Behandlungstechnik 145

Zugang zu dem früh Verschütteten ermögliche. Er past: an examination of declarative and non-declarative
memory processes. In: International Journal of Psychoanaly-
definiert die Deutung als eine Intervention, die sich sis 82 (2001), 449–462.
auf ein einzelnes Element, einen Einfall, eine Fehl- Eissler, K. R.: The effect of the structure of the ego on psycho-
leistung bezieht, während die Konstruktion einen analytic technique. In: Journal of the American Psychoana-
größeren Zusammenhang vermittle und komplexer lytic Association 1 (1953), 104–153.
Fenichel, Otto: Problems of psychoanalytic technique. New York
sei. Die archäologische Metaphorisierung des psy- 1941.
choanalytischen Erkenntnisprozesses, derzufolge Ferenczi, Sándor/Otto Rank: Entwicklungsziele der Psychoana-
nach verdrängten und verschütteten Gedächtnisspu- lyse. Wien 1924.
ren in der Vergangenheit gesucht wird, ist inzwischen Gedo, John: The enduring scientific contributions of Sigmund
Freud. In: Annual of Psychoanalysis 29 (2001), 105–115.
vor allem durch die gedächtnispsychologischen Be- Gill, Merton Max: Analysis of transference. Theory and tech-
funde über die grundsätzliche konstruktivistische nique. Bd. 1. New York 1982.
Tätigkeit des Erinnerns fragwürdig geworden (Mer- Greenson, Ralph: Technik und Praxis der Psychoanalyse. Stutt-
tens/Haubl 1996). gart 1973 (engl. 1967).
Köhler-Weisker, Angelika: Freuds Behandlungstechnik und die
Technik der klientenzentrierten Gesprächs-Psychotherapie
Die psychoanalytische Technik (1938/1940) nach Rogers. In: Psyche 32 (1978), 827–847.
Mertens, Wolfgang: Einführung in die psychoanalytische Thera-
In diesem Kapitel aus dem posthum erschienenen pie [1991]. Stuttgart 2005.
–: Psychoanalyse. Grundlagen, Behandlungstechnik und Anwen-
Abriß der Psychoanalyse (GW XVII, 97–108) läßt der dung. Stuttgart 2005.
alte Freud noch einmal in komprimierter Form seine –: Rolf Haubl: Der Psychoanalytiker als Archäologe. Eine Ein-
Erfahrungen Revue passieren, die er insbesondere in führung in die Methode der Rekonstruktion. Stuttgart 1996.
der Analyse mit schwierigen Patienten gewonnen Moser, Ulrich: »What is a Bongaloo, Daddy?« Übertragung,
Gegenübertragung, therapeutische Situation. Allgemein
hatte, und wirft am Ende seines Aufsatzes, vielleicht und am Beispiel »früher Störungen«. In: Psyche 55 (2001),
ein wenig zu selbstkritisch, die Frage auf, ob nicht 97–136.
»die Energiemengen und deren Verteilungen im see- Ramachandran, Vilayanur: Das Ich im Schneckenhaus. In: Ge-
lischen Apparat« (108) zukünftig mit besonderen hirn und Geist 3 (2003), 68–69.
Rank, Otto: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für
chemischen Stoffen direkt zu beeinflussen seien. So- die Psychoanalyse [1924]. Gießen 1998.
lange aber nichts Besseres zur Verfügung stehe als die Rudolf, Gerd: Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur
psychoanalytische Technik, solle man diese trotz ih- psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Stutt-
rer Beschränkungen nicht verachten. gart 2004.
Strachey, James: Die Grundlagen der therapeutischen Wirkung
der Psychoanalyse. In: Internationale Zeitschrift für Psycho-
Literatur analyse 21 (1935), 486–516.
Argelander, Hermann: Die kognitive Organisation des psych- Swaan, Abram de: Zur Soziogenese des psychoanalytischen
ischen Geschehens. Ein Versuch zur Systematisierung der ko- »Settings«. In: Psyche 32 (1978), 793–826.
gnitiven Organisation in der Psychoanalyse. Stuttgart 1979.
Davis, Timothy: Revising psychoanalytic interpretations of the Wolfgang Mertens
146

8. Sexualtheorie und Triebtheorie

8.1 Drei Abhandlungen äußerst komplexes, gleichzeitig offenes, teils in sich


widersprüchliches Gesamtwerk entstanden, das als
zur Sexualtheorie (1905) Grundlage sowohl für die Freudsche Triebtheorie wie
für eine allgemeine psychoanalytische Entwicklungs-
Mit seiner 1905 publizierten Schrift Drei Abhandlun- theorie anzusehen ist.
gen zur Sexualtheorie (GW V, 33–145) legte Freud ei- Viel wurde vom Skandal, den dieser Text in der
nen bis heute grundlegenden Beitrag zum Verständ- Öffentlichkeit zur Zeit seines Erscheinens erregt hat,
nis der menschlichen Sexualität vor. Schon früh, auf gesprochen, und ein guter Teil der Empörung wurde
der Suche nach einer theoretischen Basis für die Psy- aufs Konto der öffentlichen Prüderie des ausgehen-
chopathologie, bewegte er sich auf dem Boden der den 19. und dem Beginn des 20. Jh.s gebucht. Liegt
Gewißheit sexueller Ursachen als Grundlage psych- die »Anstößigkeit« dieses Textes nicht aber nach wie
ischer Störungen. Dies ist u. a. seinen Briefen an Wil- vor in der kühnen Art des Denkens, das es wagt, den
helm Fließ und der zu Freuds Lebzeiten nie veröf- Blick auf das untersuchende Subjekt selbst zurück-
fentlichten Arbeit Entwurf einer Psychologie zu ent- zuwenden und dieses dadurch in Frage gestellte
nehmen (May-Tolzmann 1996). Subjekt mit seinen – immer auch verdrängten –
Die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie gelten Triebwünschen zu konfrontieren? (Reiche 1991,
neben der Traumdeutung als Freuds bedeutendster 2005; Quindeau/Sigusch 2005; Dannecker/Katzen-
Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen, ohne daß bach 2005).
sie den Anspruch einer geschlossenen Theorie erhe- Die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie sind in
ben oder gar erfüllen. Die Besonderheit dieser Schrift drei große Themenkreise gegliedert: 1. »Die sexuellen
liegt nicht zuletzt darin, daß sie das metapsychologi- Abirrungen«, 2. »Die infantile Sexualität« und
sche Konzept psychoanalytischer Theorie mit der kli- 3. »Die Umgestaltungen der Pubertät«. Bereits diese
nischen Theorie der Neurose in einer Weise zu ver- Reihenfolge der Themen läßt eine Linie erkennen,
einen sucht, wie es in anderen Werken Freuds nicht die von der Untersuchung einer speziellen Pathologie
intendiert oder vielleicht auch nicht gelungen ist. zu einer allgemeinen Theorie der psychischen Ent-
Über 20 Jahre hinweg hat Freud anläßlich diverser wicklung des Menschen verläuft.
Neuauflagen der Drei Abhandlungen Zusätze und An-
merkungen am ursprünglichen Text vorgenommen.
»Die sexuellen Abirrungen«
Diese Methode Freuds, eigene Veröffentlichungen
nachträglich umzuarbeiten und zu ergänzen, war für Am Beispiel der sog. sexuellen Abirrungen – populär
ihn ungewöhnlich und ist nur noch aus seiner Arbeit »Perversionen« – geht es Freud zunächst darum, die
an der Traumdeutung bekannt. Die Drei Abhandlun- landläufigen Meinungen über den Geschlechtstrieb
gen zur Sexualtheorie nehmen bis heute in der wissenschaftlich zu hinterfragen und damit weit ver-
psychoanalytischen Aus- und Fortbildung einen pro- breitete Vorurteile aufzubrechen. Der These von der
minenten Platz ein (Mühlleitner/Giefer/Reichmayr angeborenen Konstitution des Geschlechtstriebes
2005). setzt Freud eine wesentlich psychologische Idee ent-
Die verschiedenen Ergänzungen und Umänderun- gegen. Mit ihrer Hilfe kann er zeigen, daß die Ver-
gen bis zum Jahr 1924 umspannen den Bogen von knüpfung von Sexualobjekt und Sexualziel, die ›nor-
der ersten zur zweiten Triebtheorie, von den Anfän- malerweise‹ als gegeben angenommen wird, einer ge-
gen des Modells eines psychischen Apparats des naueren Betrachtung bedarf. Die Trennung von Ziel
Menschen bis zur Weiterentwicklung und Umfor- und Objekt des Triebes, am Beispiel der Perversion
mung des ursprünglichen Konzepts. Es ist damit ein untersucht, führt zu einer im Wortsinn umwerfenden
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 147

Erkenntnis: »Der Geschlechtstrieb ist wahrscheinlich stitution (ebd., 71). Die Wurzeln des Sexualtriebes,
zunächst unabhängig von seinem Objekt [. . .]« nicht die Perversion selbst, können als angeboren an-
(GW V, 47). Mit diesem neuartigen Ansatz legt Freud genommen werden.
einen Triebbegriff frei, der sein jeweils eigenes Wesen
oder Unwesen im psychischen Haushalt des Men-
»Die infantile Sexualität«
schen treibt. Aufgrund dieser differenzierten Be-
trachtungsweise erlaubt die theoretische Behandlung »Kein Autor hat meines Wissens die Gesetzmäßigkeit
der »Abirrungen« folgerichtig die getrennte Bestim- eines Sexualtriebes in der Kindheit klar erkannt
mung von Sexualobjekt und Sexualziel. Zu den von [. . .]« (ebd., 74), heißt es in den einleitenden Sätzen
Freud erwähnten Perversionen – Pädophilie, Sodo- des Kapitels über die infantile Sexualität. Eine Be-
mie, Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus – hauptung dieser Art hat provokativen Charakter.
ist anzumerken, daß gerade die Darstellung des Feti- Denn natürlich haben Wissenschaftler verschiedener
schismus mit der Einführung des Konzepts einer Disziplinen damals und später darauf hingewiesen,
»nicht psychotischen« Spaltung, von Freud 1927 in daß Freud nicht als erster und alleiniger Entdecker
einem eigenen Beitrag ausgearbeitet (GW XIV, der kindlichen Sexualität zu gelten habe (Ellenberger
309–317), nicht mehr in die Drei Abhandlungen auf- 1970/1973; Sigusch 2005). Alle Argumente, die dahin
genommen wurde. Der Hauptakzent der ins Auge ge- gehen, Freuds Entdeckung der infantilen Sexualität
faßten »Abirrungen« liegt auf der Untersuchung der sei keine Entdeckung, sondern ein längst bekanntes
Frage der Homosexualität sowie des Komplexes Sa- Phänomen gewesen, verfehlen allerdings die zentrale
dismus/Masochismus. Im Hinblick auf diese beiden Aussage des Begriffs. Das Spezifische des Freudschen
Phänomene diskutiert Freud auch die konstitutionell Begriffs der infantilen Sexualität und das gänzlich
bisexuelle Anlage des Individuums (ebd., 40), die, im Neue liegt ja nicht in einer biologisch-phänomenolo-
Gegensatz zu den Annahmen seines einstigen Freun- gischen Feststellung kindlicher Sexualäußerungen,
des Wilhelm Fließ, freilich nicht als organisch vor- sondern in der Erkenntnis, daß die infantile Sexuali-
programmierte, sondern als psychische Anlage auf- tät mit dem Schicksal der Verdrängung verknüpft ist
gefaßt wird: Weibliche und männliche psychische und daß gerade die verdrängte infantile Sexualität als
Tendenzen existieren von Geburt an in jedem Indi- Ursache neurotischer oder perverser Symptome an-
viduum, während ihre definitive Ausgestaltung in zuerkennen sei. Vom gesicherten Wissen um die hy-
dieser oder jener Form sich erst aus dem Verhältnis sterische Amnesie ausgehend, kann Freud die infan-
der gegensätzlichen Tendenzen zueinander bestimmt. tile Amnesie (das Vergessen der Eindrücke der ersten
Die bisexuellen Tendenzen werden in einer Formu- Kinderjahre) erklären. Ihr Wesen bestehe »in einer
lierung Freuds von 1924 den männlichen/weiblichen bloßen Abhaltung vom Bewußtsein (Verdrängung)«
Tendenzen an die Seite gestellt, ebenso wie die Be- (ebd., 76).
griffe aktiv/passiv (Reiche 1990). Revolutionär ist in Der Vergleich zwischen dem »Seelenzustand des
diesem Kontext auch Freuds Hinweis, im Sinne des Kindes und des Psychoneurotikers« (ebd.) zeigt sich
psychosexuellen Konzepts der Psychoanalyse sei auch hier erneut als zentral im Freudschen Denken. Die
das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes an infantile Sexualität ist mehr als eine klinisch beob-
der Frau – also die durchschnittliche Heterosexualität achtbare Tatsache – sie ist auch ein theoretisches
– »ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Konzept.
Selbstverständlichkeit« (ebd., 44). Die erste Abhand- Der Aufbau des Kapitels über die infantile Sexuali-
lung faßt schließlich unter dem Verweis auf den »In- tät verläuft von der Darstellung der Verdrängung –
fantilismus der Sexualität« eine neue und sicherlich zunächst werden kindliche Amnesie und die sexuelle
unpopuläre Erkenntnis zusammen: Perversion, Neu- Latenzperiode untersucht – zu den »Äußerungen der
rose und normales Geschlechtsleben stehen in einer infantilen Sexualität« (ebd., 80 ff.). Sobald die »Äu-
Reihe. »Bei keinem Gesunden dürfte irgendein per- ßerungen« aber auf ihr »Inneres« befragt werden,
vers zu nennender Zusatz zum normalen Sexualziel stellt sich heraus, daß man der zuerst erwähnten
fehlen […]« (GW V, 60). Der oft (falsch) zitierte Satz, kindlichen Sexualäußerung, nämlich dem »Ludeln
»die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perver- oder Lutschen«, einen sexuellen Charakter nicht ab-
sion« (ebd., 65), stellt Neurose und Perversion als sprechen kann. Das »Ludeln« wird als autoerotische
verschiedenartige Formen dar, die den Triebkonflikt Betätigung eingestuft. Autoerotische Betätigungen
zu bewältigen versuchen, welcher aus allgemein in- finden an erogenen Zonen statt. Die erogenen Zo-
fantilen Quellen gespeist wird. Die Anlage zur Per- nen, in diesem Fall die Mundschleimhaut bzw. der
version ist ein Stück der für normal geltenden Kon- Mund, dienen vor allem der Nahrungsaufnahme. Die
148 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

infantile Sexualität entsteht also in »Anlehnung an erogenen Zonen ausgehend, postuliert Freud Partial-
eine der lebenswichtigen Körperfunktionen« (ebd., triebe, die das kindliche Sexualleben autonom regie-
83). Als die drei Merkmale der infantilen Sexualität ren. Aber dann heißt es doch, daß »bei allem Über-
gelten: Autoerotismus, erogene Zone und Anlehnung wiegen der Herrschaft erogener Zonen« Komponen-
an eine wichtige Körperfunktion. ten auftauchen, »für welche andere Personen als Se-
Die wesentliche Stellung, die der Autoerotismus xualobjekte von Anfang an in Betracht kommen«
für Freud einnimmt, hat ihn zu einem Kernpunkt (GW V, 92). Die einzelnen Partialtriebe suchen zu-
kontroverser Debatten schon innerhalb der Mitt- nächst unverknüpft und unabhängig voneinander,
wochgesellschaft gemacht (Nunberg/Federn 1974/ dem Lusterwerb nachzugehen, bis sie sich schließlich
1979, 306–340). In den späteren Auseinandersetzun- unter dem Primat der Genitalzone zur Erreichung
gen der »Wiener Schule« mit Melanie Klein spielt die des »sogenannte[n] normale[n] Sexualleben[s] des
Frage angeborener oder nicht angeborener unbe- Erwachsenen« (ebd., 98) in einer festen Organisation
wußter Phantasien im Zusammenhang mit dem Au- zusammenschließen. Mit der Betonung eines »soge-
toerotismus eine zentrale Rolle. nannten« normalen Sexuallebens unterläuft Freud
Masturbation und autoerotische Betätigung sind neuerlich eine rein biologisch determinierte Auffas-
die Möglichkeiten des Kindes, den Trieb zu befrie- sung von Sexualität, holt letztere aber in der folgen-
digen, oder sollte man sagen: um Erregungszustände den Phasenlehre von den »prägenitalen Organisatio-
abklingen zu lassen, da ja eine Befriedigung im Sinne nen« – orale, anale, phallische Phase – auf ihre bio-
der erwachsenen »Endlust« für das Kind nicht er- logisch- hereditär festgelegte Basis wieder zurück.
reichbar ist? Die Annahme erogener Zonen, an denen
durch masturbatorische Manipulation Aufhebung
»Die Umgestaltungen der Pubertät«
der Reizspannung möglich ist, führt Freud zur For-
mulierung einer »polymorph perversen« Anlage Der Trieb, der bisher autoerotisch fixiert war, »findet
(ebd., 91) des Kindes, einer wahrscheinlich oft miß- nun das Sexualobjekt«, heißt es im dritten Abschnitt
verstandenen Formulierung, die die Vielfältigkeit der der Drei Abhandlungen (ebd., 108). Daß der Trieb –
Erregungsmöglichkeiten des kindlichen Körpers und und nicht das Subjekt – »findet«, bedeutet für das
einen präsexuellen Status für das Kind annimmt – im menschliche Individuum, das unter der Bedingung
Unterschied zur Perversion des Erwachsenen. In die- der Zweizeitigkeit des Sexuallebens, d. h. der zeitli-
sem Zusammenhang wird die Frage der sexuellen chen Aufeinanderfolge von infantiler Sexualität und
Verführbarkeit des Kindes erneut zum Thema. Von Pubertät, geboren wurde und mit der Notwendigkeit
seiner ursprünglichen »Verführungstheorie« hatte der zweizeitigen Objektwahl erwachsen werden muß,
Freud sich bekanntlich bereits 1897 distanziert. Hier keineswegs eine vorgegebene Lösung, sondern eine
nun konzediert Freud, daß er seinerzeit die Bedeu- Aufgabe, die jeweils individuell zu bewältigten ist.
tung der Verführung zuungunsten der sexuellen Die biologisch-hormonellen Veränderungen, die die
Konstitution und Entwicklung überschätzt habe und Pubertät bestimmen und den Menschen zu einem
daß es »selbstverständlich« der Verführung nicht be- geschlechtsreifen Wesen machen, stellen im Leben je-
dürfe, »um das Sexualleben des Kindes zu wecken« des Individuums eine entscheidende Anforderung an
(ebd.). Daß Freud in diesem Kontext die, seiner seine bisherige psychosexuelle Organisation, die neu
Schutzlosigkeit geschuldete, leichte Verführbarkeit geordnet werden muß, um »funktionsfähig« zu sein.
des Kindes mit der des »unkultivierte[n] Durch- Häufig ist dies, oder in der nachfolgenden Adoles-
schnittweib[es]« gleichsetzt (ebd., 92), gehört zum zenz, der Moment, wo neurotische Störungen oder
einschlägigen Repertoire Freuds, was seine Einschät- Perversionen klarer hervortreten (Erdheim 1988;
zung von Frauen betrifft. 1993).
Mit der Verwerfung der Verführung als einzige Ur- Der Abschnitt über die Libidotheorie, 1915 vom
sache des sexuellen Traumas wird Freuds Konzeptua- Autor nachträglich hinzugefügt, stellt den Begriff ›Li-
lisierung eines hereditär bedingten Sexualtriebes und bido‹ als die Energie des Sexualtriebes vor, die als
eines Sexualtriebs, der durch das elterliche Pflegever- quantitativ veränderliche Kraft beschrieben wird, mit
halten geweckt wird (also doch Verführung?), deut- oder an der die Vorgänge der Sexualerregung fest-
lich. Im Pflegeverhältnis des Säuglings zur Mutter stellbar, ja sogar meßbar geworden seien (GW V, 118;
wird die »Verführung« als eine notwendige betont; vgl. Dahmer 1973/1982). Mit der Annahme einer ei-
zugleich wird sie zugunsten eines hereditär fixierten genen Energie für die Sexualvorgänge wird zwischen
Triebes (sollte man dabei nicht von Instinkt spre- einer allgemeinen Energie, Lebenserhaltungsvor-
chen?) vernachlässigt (Laplanche 2004). Von den gänge betreffend, und einer Energie der Sexualvor-
Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität 149

gänge unterschieden. Die Ausführungen über die Li- »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«. Aktualität und An-
spruch. Gießen 2005.
bido sind stark von Freuds 1914 erschienener Arbeit Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Bern/
Zur Einführung des Narzißmus (GW X, 137–170) ge- Stuttgart/Wien 1973 (engl. 1970).
prägt und erläutern die entscheidenden Begriffe: Erdheim, Mario: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kul-
»Ichlibido« und »Objektlibido«. – Zuletzt kehrt tur. Aufsätze 1980–1987. Frankfurt a. M. 1988.
–: Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. In: Psyche
Freud mit der Feststellung »Die Objektfindung ist ei- 47 (1993), 934–950.
gentlich eine Wiederfindung« (GW V, 123) zu den Fenichel, Otto: 175 Diskussionsfragen für Freud-Seminare
Anfängen des menschlichen Sexuallebens bzw. zur über »Drei Abhandlungen zur Sexual-Theorie«. In: Dan-
Entstehung des Sexualtriebs und zur Frage des Au- necker/Katzenbach 2005, 162–170.
Koellreuter, Anna: Das Tabu des Begehrens. Zur Verflüchtigung
toerotismus zurück. des Sexuellen in Theorie und Praxis der feministischen Psy-
Die Arbeitsmethode Freuds, den Begriff der Sexua- choanalyse. Gießen 2000.
lität aus dem herkömmlichen Rahmen herauszubre- Laplanche, Jean: Die rätselhaften Botschaften des Anderen und
chen und in seine Einzelteile zu zerlegen: eben zu ihre Konsequenz für den Begriff des »Unbewußten« im
Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie. In: Psyche 58
analysieren, hat die infantile Sexualität, die als das (2004), 898–913.
Herzstück der Drei Abhandlungen gelten können, aus –: Das Sexualverbrechen. In: Werkblatt 21 (2004a), 35–53.
dem engen Gefängnis bürgerlicher und schulmedizi- May-Tolzmann, Ulrike: Freuds frühe klinische Theorien
nischer Vorstellungen zweifellos befreit (Wiesbauer (1894–1896). Wiederentdeckung und Rekonstruktion. Tübin-
gen 1996.
1982). Andererseits und gleichzeitig wird an Freuds Morgenthaler, Fritz: Technik. Zur Dialektik der psychoanalyti-
Text aber auch deutlich, daß die infantile Sexualität, schen Praxis [1978]. Gießen 2005.
gerade aus der Sicht des Erwachsenen, ein höchst wi- –: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion [1984]. Gießen
derspenstiges Ding ist, das sich nur schwer fassen 2004.
Mühlleitner, Elke/Michael Giefer/Johannes Reichmayr: Feni-
läßt. Das weitere Schicksal der Freudschen Sexual- chels 175 Fragen zu Freuds »Drei Abhandlungen«. In: Dan-
theorie war höchst wechselhaft (Parin 1986/2000; necker/Katzenbach 2005, 151–159.
Koellreuter 2000; Reiche 2005). So kann Jean Laplan- Nunberg, Herman/Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener
che mit Recht behaupten: »Leichtherzig war man Psychoanalytischen Vereinigung 1906–1918. Bd. III. Frank-
furt a. M. 1979 (engl. 1974).
über Freuds Leiche gegangen, um diese infantile Se- Quindeau, Ilka/Volkmar Sigusch (Hg.): Freud und das Sexuelle.
xualität zu vergessen, nicht nur im Kind, sondern in Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspek-
jedem von uns – gegenwärtig und verdrängt« (La- tiven. Frankfurt a. M./New York 2005.
planche 2004a, 39). Bereits die ersten Schüler Freuds, Parin, Paul: Die Verflüchtigung des Sexuellen. In: Ders./Goldy
Parin-Matthèy: Subjekt im Widerspruch. Aufsätze 1978–1985
etwa Karl Abraham oder Sándor Ferenczi, haben den [1986]. Gießen 2000, 81–89.
Begriff der infantilen Sexualität nach eigenem Gut- Reiche, Reimut: Geschlechterspannung. Eine psychoanalytische
dünken modifiziert. Melanie Klein und ihre Nach- Untersuchung. Frankfurt a. M. 1990.
folger (Susan Isaacs) haben mit der Auffassung, daß –: Einleitung zu: Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Se-
xualtheorie. Frankfurt a. M. 1991, 7–28.
die Inhalte unbewußter Phantasien endogen vorgege- –: Nachwort zu: Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Se-
ben seien, das Wesen der infantilen Sexualität ver- xualtheorie. Reprint der Erstausgabe nach 100 Jahren. Frank-
flacht. Ichpsychologie, Objektbeziehungstheorie und furt a. M. 2005, 95–127.
Selbstpsychologie haben den konflikthaften Gehalt Sigusch, Volkmar: Freud und die Sexualwissenschaft seiner
Zeit. In: Ilka Quindeau/Ders. (Hg.): Freud und das Sexuelle.
der Sexualität zusätzlich entschärft und verharmlost. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspek-
Die moderne Säuglingsforschung und die Bindungs- tiven. Frankfurt a. M./New York 2005, 15–35.
theorie verzichten überhaupt weitgehend auf die Wiesbauer, Elisabeth: Das Kind als Objekt der Wissenschaft.
Thematisierung der Sexualität, die sich zwischen Wien/München 1982.
»Bindung« und »Begehren« gänzlich verflüchtigt. Die Friedl Früh/Johannes Reichmayr
Freudsche Sexualtheorie bewahrt ihre provokante
Bedeutung, auch für den psychoanalytischen Prozeß
(Morgenthaler 1978/2005; 1984/2004). Das Rätsel
der infantilen Sexualität selbst ist lebendig geblieben. 8.2 Die ›kulturelle‹
Es bevölkert Neurosen, Perversionen, Psychosen und
die psychoanalytische Kur. Sexualmoral und die moderne
Nervosität (1908)
Literatur Freuds Aufsatz (GW VII, 141–167) wurde zum ersten
Dahmer, Helmut: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud
und die Freudsche Linke [1973]. Frankfurt a. M. 1982. Mal 1908 in der Zeitschrift Sexualprobleme, einer
Dannecker, Martin/Agnes Katzenbach (Hg.): 100 Jahre Freuds Fortsetzung der Zeitschrift Mutterschutz, veröffent-
150 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

licht. Es handelte sich bei den Adressaten der Zeit- nur kompensieren, sondern sogar rechtfertigen
schrift um eine Leserschaft, die nicht zum Fachpubli- könnte. Freilich fällt ihm nicht viel dazu ein. Die
kum zu rechnen war, und tatsächlich zeichnet Freuds lange Abstinenz hat sich nicht nur in das Aussehen
Text eine Argumentations- und Schreibweise aus, die der Sexualität eingraviert, sie führt nicht nur zu ver-
durch ihre klaren Thesen imponiert: »Unsere Kultur ringerter Potenz beim Mann und zu häufiger Frigidi-
ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trie- tät bei der Frau, sondern ebensosehr zu verminderter
ben aufgebaut« (ebd., 149). Zugleich ist es Freuds er- Durchsetzungsfähigkeit und Tatkraft im Beruf. Sexu-
ste Arbeit, in der er explizit den Antagonismus von ell wenig durchsetzungsfähige Personen sind dies
Trieb und Kultur in den Mittelpunkt des Interesses auch beruflich, in der Sexualität gehemmte Men-
rückt. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die schen sind dies auch auf intellektuellen Gebieten.
Sexualeinschränkung durch die herrschende Sexual- Als Folge des Verbots koitaler Sexualität außerhalb
moral mit ihren Forderungen nach Abstinenz bzw. der Ehe diagnostiziert Freud die Zunahme masturba-
Monogamie. Die Abhandlung ist ganz offensichtlich torischer Aktivität, die als regressive Hinwendung zu
geschrieben unter dem Einfluß der Lektüre von Chri- einer autoerotischen Befriedigung unter Umgehung
stian v. Ehrenfels’ Sexualethik, der am 23. 12. 1908 des Objekts kritisiert wird. Auch die perversen Sei-
vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung sein tenwege der Sexualität werden durch die Untersa-
wohl schon damals befremdlich wirkendes «Züchte- gung geschlechtlicher genitaler Liebe gestärkt und er-
risches Reformprogramm« zur Überwindung der weisen sich in der späteren Ehe als potenzmin-
Monogamie vorstellen konnte (Nunberg/Federn dernd.
1962–1975/1976–1981, Bd. 2, 84 ff.). Schließlich beschwört Freud die neurotisierende
Zentral für den Aufbau des Freudschen Textes ist Auswirkung unglücklicher Ehen auf das Verhältnis
seine Erkenntnis, wonach nicht die Kultur an sich, zu den Kindern, die dann von der Mutter überängst-
sondern die »gegenwärtige ›kulturelle‹ Sexualmoral« lich und überzärtlich, vom Vater dagegen in über-
die schädliche Unterdrückung des Sexuallebens der mäßiger Strenge erzogen werden und somit alle Vor-
Kulturvölker herbeiführt und damit zugleich die mo- aussetzungen mitbringen, um einmal selbst zu den
derne Nervosität verursacht. Freud differenziert dann nervösen Erwachsenen zu gehören.
innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Sexual- Freuds Aufsatz ist eine Abrechnung mit der Sexu-
triebs zwischen drei Kulturstufen resp. drei Formen almoral seiner Zeit, der er sich auch selbst nicht ent-
der Kulturmoral: Dem Autoerotismus entspricht eine ziehen konnte. Insofern handelt es sich um einen
erste Stufe, auf der die Befriedigung des Sexualtriebs stark zeitgeschichtlich geprägten und zugleich auch
von Fortpflanzungszielen frei ist; auf einer zweiten sehr persönlichen Text. Seit den 1930er Jahren wurde
Stufe wird die infantile polymorph-perverse Sexuali- er insbesondere unter dem Einfluß von Wilhelm
tät dem Primat des Genitalen und damit den Fort- Reich und Otto Fenichel zu einem wahren »Kulttext
pflanzungszwecken geopfert (Sprung vom Autoero- der Linken« (May 2005, 13), weil er seiner Tendenz
tismus zur Objektliebe). Und schließlich reduziert nach sehr viel stärker als alle anderen Beiträge Freuds
sich auf der dritten Stufe die Sexualtätigkeit auf die proklamiert, daß der Mensch primär an den durch
Fortpflanzung in der Ehe. Nach Freud sind die Fol- die Außenwelt auferlegten Versagungen und nicht an
gen dieser Sexualmoral verheerend: Er macht sie ver- inneren Konflikten erkrankt (ebd., 11). Hier ist noch
antwortlich für die Vielzahl von Perversionen und keine Rede von einem Todestrieb, auch nicht von ei-
Neurosen sowie für die Homosexualität und zeigt nem Wiederholungszwang, es gibt weder einen pri-
sich überzeugt, »daß die Zunahme der nervösen Er- mären Masochismus noch eine Sexualität, der die
krankungen in unserer Gesellschaft von der Steige- Unfähigkeit zur vollen Befriedigung eingeschrieben
rung der sexuellen Einschränkungen herrührt« (ebd., ist. Diese Denkfiguren, die das Leiden an der eigenen
157). Auch die Aussicht auf sexuellen Verkehr in der Existenz innerpsychisch begründen, stehen Freud in
Ehe bietet dafür keine Entschädigung. Nicht nur der dieser Abhandlung fern. Insofern handelt es sich um
lange Aufschub bis zum endlichen sexuellen Genuß einen Aufsatz, der implizit revolutionäre Umwand-
wird denselben einschränken, auch die Verhütungs- lungen und radikale Sexualreformen propagiert.
mittel wirken sich negativ auf die Befriedigungsmög-
lichkeiten aus und sind letztlich selbst krankmachend Literatur
(Freud denkt hier ganz offensichtlich an die schädi- May, Ulrike: Das Verhältnis von politischer Überzeugung und
analytischer Arbeit, erörtert anhand der Berliner Aufsätze
gende Wirkung des coitus interruptus). Schließlich von Edith Jacobson (1930–1937). In: Luzifer-Amor 18
diskutiert er den möglichen kulturellen Gewinn, der (2005), 7–45.
die durch Verzicht entstandenen Schädigungen nicht Nunberg, Herman/Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens 151

Psychoanalytischen Vereinigung 1906–1918. 4 Bde. Frankfurt ten Typus der männlichen Objektwahl charakterisie-
a. M. 1976–1981 (engl. 1962–1975).
ren (ebd., 67–70). In einem zweiten Schritt sucht er
Udo Hock diese Eigentümlichkeiten durch Rückführung auf
eine »infantile Fixierung der Zärtlichkeit an die Mut-
ter« zu erklären. Die vier Liebesbedingungen lauten:
1. Das Liebesobjekt muß gebunden sein. Im Extrem-
8.3 Beiträge zur Psychologie fall wird das Begehren des Mannes erst geweckt,
des Liebeslebens (1910–1918) wenn die Frau nicht mehr alleinstehend ist, sondern
in einer Beziehung lebt. Es muß einen »geschädigten
Bereits am 28. 11. 1906 hatte Freud in einer Sitzung Dritten« geben (67). 2. Das Liebesobjekt muß sexuell
der Mittwochgesellschaft eine Studie über das Liebes- anrüchig sein, und sei es auch nur einem Flirt gegen-
leben des Menschen angekündigt (Nunberg/Federn über nicht abgeneigt. Freud nennt diese Bedingung
1962–1975/1976–1981, Bd. I, 63). Er äußerte dort auch »Dirnenliebe« (68). Der Mann kann nur lieben,
zum ersten Mal die Idee, das irrationale Moment der wenn er eifersüchtig ist. Merkwürdigerweise gilt diese
Liebe durch Rückführung auf das Infantile aufzuklä- Eifersucht aber nicht dem legitimen Ehepartner. Am
ren. Ein erster Entwurf stellte sein Diskussionsbeitrag Verhalten des Liebenden gegenüber seinem Liebes-
zu Ranks Vortrag »Der Mythos von der Geburt des objekt hebt Freud hervor: 3. Trotz seiner Dirnenhaf-
Helden« am 25. 11. 1908 dar (ebd., Bd. II, 64 f.). Am tigkeit hat das Liebesobjekt für den Liebenden höch-
19. 5. 1909 referierte er schließlich »Über einen be- sten Wert. Die Treue zum Objekt verhindert jedoch
sonderen Typus der männlichen Objektwahl« (ebd., nicht, daß sich solche Konstellationen im Liebesleben
214 ff.), eine Woche später wurde das Thema aus- dieses Typus wiederholen; es kommt zur »Bildung ei-
führlich diskutiert (ebd., 226ff). Der Vortrag entwirft ner langen Reihe« (70). 4. Der Liebende wird von der
die Grundzüge des gleichnamigen Artikels, den Überzeugung heimgesucht, die Geliebte retten zu
Freud als ersten von drei Beiträgen zur Psychologie des müssen.
Liebeslebens im Frühsommer 1910 verfassen wird. Es Nacheinander findet Freud nun folgende Antwor-
folgen im Jahr 1912 Über die allgemeinste Erniedri- ten für diese Eigentümlichkeiten des männlichen Lie-
gung des Liebeslebens sowie im Jahr 1918 Das Tabu beslebens: Wenn die generelle Erklärung richtig ist,
der Virginität (ursprünglich: »Das Tabu der Virginität wonach eine Mutterfixierung für diese Konstellation
und die sexuelle Hörigkeit«, am 12. 12. 1917 vorge- verantwortlich zu machen ist, dann kann der geschä-
tragen; ebd., Bd. IV, 306). Der letzte Text kann als digte Dritte nur der Vater sein (Bedingung 1). Die
Ergänzung zu »Das Tabu und die Ambivalenz der Überschätzung des Liebesobjekts entspringt der Un-
Gefühlsregungen«, dem zweiten der insgesamt vier ersetzbarkeit der Mutter; gerade deshalb kann aber
Aufsätze, die zusammen Totem und Tabu (1912/ der Liebende durch kein Liebesobjekt je die ersehnte
1913) bilden, verstanden werden. Befriedigung erreichen, es kommt zur Reihenbildung
Die Texte stehen im Zusammenhang mit Freuds (Bedingung 3). Die Dirnenhaftigkeit des Liebesob-
Ausarbeitung einer Sexualtheorie, deren Meilensteine jekts erklärt Freud durch die Entdeckung der sexuel-
die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) so- len Beziehung der Eltern. Wenn die Mutter sexuell
wie Zur Einführung des Narzißmus (1914) sind; Zu- mit dem Vater verkehrt und dem Sohn dadurch un-
sammenfassungen finden sich bei Jones II, 352–354. treu wird, dann ist der Unterschied zwischen ihr und
Freud beansprucht, mit seinen Beiträgen verschie- einer Hure doch nicht so groß (Bedingung 2). Nach-
dene Besonderheiten des menschlichen Liebeslebens dem sich die Entdeckung des Ödipuskomplexes seit
zu erhellen und damit ein Feld für die Psychoanalyse Freuds Selbstanalyse angekündigt hatte (F, 293),
zu gewinnen, das bisher der Literatur vorbehalten taucht der Begriff selbst zum ersten Mal in diesem
war. Zusammenhang auf: Der Sohn begehrt die Mutter
und haßt den Vater als Nebenbuhler, er gerät »unter
die Herrschaft des Ödipuskomplexes« (GW VIII, 73).
Über einen besonderen Typus
Für die Erklärung der Rettungsphantasie des Lieben-
der Objektwahl beim Manne
den verweist Freud auf Ranks »Mythus von der Ge-
Der Titel (GW VIII, 65–77) bringt zum Ausdruck, burt des Helden«. Er entziffert sie als den unbewuß-
daß sich bestimmte Männer nur dann verlieben kön- ten Wunsch des Sohnes, der eigenen Mutter ein Kind
nen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. zu zeugen und damit »sein eigener Vater zu sein« (75,
In einem ersten Schritt benennt und beschreibt Bedingung 4).
Freud vier »Liebesbedingungen«, die einen bestimm- Freuds Aufsatz enthält Einsichten, die weit über
152 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

die Psychoanalyse hinaus populär geworden sind, so des Liebeslebens handelt. Damit ist nicht die am häu-
etwa der Topos von der Aufspaltung der Mutter in figsten anzutreffende Psychopathologie des männli-
Heilige und Hure. Die Fixierung an das mütterliche chen Liebeslebens gemeint, sondern daß vielmehr je-
Liebesobjekt als Erklärungsmodell für die Besonder- der Mann unter einem gewissen Maß an psychischer
heiten des männlichen Liebeslebens gehört fast schon Impotenz leidet, weil die dafür verantwortlichen Mo-
zum Selbstverständnis unserer Alltagskultur und hat mente der starken Kindheitsfixierung, der Inzest-
nichts von ihrer Bedeutsamkeit eingebüßt. schranke und der Versagungen während der Puber-
tätszeit bei jedem Kulturmenschen vorhanden sind.
Hinzukommt die Unmöglichkeit, die verdrängten
Über die allgemeinste Erniedrigung
perversen Triebregungen »am geachteten Weibe zu
des Liebeslebens
befriedigen« (85). Vollen sexuellen Genuß verspricht
Freuds zweiter Beitrag zur Psychologie des Liebes- nur das erniedrigte Sexualobjekt, das sich über die
lebens (GW VIII, 78–91) gründet auf seiner psycho- herrschende sexuelle Ästhetik hinwegsetzt und per-
analytischen Erfahrung mit Fällen psychischer Impo- verse Spielarten der Sexualität zuläßt. Eine analoge
tenz. Für deren Zustandekommen macht er die Un- Einschränkung der Sexualität entdeckt Freud auch
vereinbarkeit »der zärtlichen und der sinnlichen bei der Frau: So wie der Mann seine Impotenz durch
Strömung im Liebesleben« (ebd., 83 f.) solcher Perso- die Erniedrigung des Sexualobjekts überwindet, so
nen verantwortlich. Die zärtliche Strömung, so sucht die Frau ihre Frigidität aufzuheben, indem sie
Freud, steht im Dienst der Selbsterhaltung und rich- ihre Sexualität als etwas Verbotenes und Geheimes
tet sich auf die Personen, die das Kind versorgen. Die behandelt.
sinnliche Strömung gilt Freud als eigentliche Äuße- In einem letzten Abschnitt zieht Freud weitrei-
rung des Sexualtriebs. Sie tritt während der Pubertät chende Schlüsse für das Verhältnis von Sexualität
in den Vordergrund und lehnt sich an die Objekte und Kulturarbeit, die keineswegs veraltet erscheinen.
der zärtlichen Strömung an. Aufgrund der Inzest- So stellt er zunächst fest, daß das sexuelle Verlangen
schranke ist sie freilich gezwungen, fremde Objekte abnimmt, sobald ihm die Befriedigung erleichtert
zu suchen, an die mit der Zeit auch die zärtliche Strö- wird, die Liebe verliert dann ihren Wert (vgl. dazu
mung gebunden wird: »Der Mann wird Vater und Žižek 1996, 49 f., 136). Auch die uneingeschränkte
Mutter verlassen […] und seinem Weibe nachgehen, Sexualfreiheit bietet keinen Ausweg aus den Versa-
Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sind dann beisammen« gungen, die das Kulturleben aufbürdet. Anders ge-
(81). Für das Mißlingen dieser Entwicklung erschei- sagt: Es gibt kein harmonisches Verhältnis zwischen
nen Freud zwei Momente maßgeblich: zum einen Liebendem und Sexualobjekt, wie das des Alkoho-
übermäßige Versagungen der Außenwelt, zum ande- likers zu seinem Wein. Statt dessen stellt Freud die
ren eine allzu starke Anziehung durch die inzestuö- Möglichkeit, im Sexualleben volle Befriedigung zu
sen Objekte. Je stärker eine solche inzestuöse Bin- erfahren, infrage. Als Begründung führt er die La-
dung im Unbewußten bei gleichzeitig versagender tenzzeit der Sexualität mit Dazwischenkunft der In-
Außenwelt existiert, umso nachhaltiger erscheint zestschranke sowie die Reduktion der infantilen po-
Freud die psychische Impotenz. Dem Liebenden ist lymorph perversen Sexualität auf die spätere Geni-
es dann nicht mehr möglich, ein Objekt sinnlich zu talität an. Die liebende Person verliert dadurch so-
besetzen, zärtliche Regungen beherrschen sein Lie- wohl ihre ursprünglichen Liebesobjekte wie auch
besverhalten. Weitaus häufiger kommt es vor, daß die ihre ursprünglichen Befriedigungswege. In diesem
sinnliche hinter der zärtlichen Strömung zurück- Zusammenhang fällt der berühmte Satz: »[D]ie Ana-
steht, ohne vollständig im Unbewußten fixiert zu tomie ist das Schicksal« (ebd., 90). Er bedeutet, daß
sein. In diesen Fällen gelingt es nicht, dasselbe Objekt der Sexualtrieb entscheidend durch die Lage der Ge-
wertzuschätzen und zugleich zu begehren. Freud nitalien zwischen den Ausscheidungsorganen – »inter
schreibt über das Liebesleben dieser Menschen: »Wo urinas et faeces« – bestimmt wird. Keineswegs ist da-
sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, mit eine biologistische, etwa hormonelle, Festlegung
können sie nicht lieben« (82). Als Ausweg bleibt nur der Sexualität gemeint. Freud schließt mit der Über-
die titelgebende »psychische Erniedrigung des Sexual- legung, daß eine volle sexuelle Befriedigung jeder
objektes« (83). Unter dieser Bedingung löst sich die kulturellen Fortentwicklung entgegenstünde, da da-
psychische Impotenz tendenziell auf, lustvolle und durch jedes Motiv für sublimatorische Leistungen
befriedigende Sexualität wird möglich. verlorenginge.
In einem nächsten Schritt klärt Freud darüber auf, Insbesondere der lacanianische Kultur- und Medi-
warum es sich um die ›allgemeinste‹ Erniedrigung entheoretiker Slavoj Žižek hat Freuds Aufsatz zum
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens 153

Ausgangspunkt eigener Ausführungen unter dem Ti- rung des Ethnologen Crawley, wonach das Tabu der
tel »Kino angesichts der ›allgemeinen Erniedrigung Virginität als Spezialfall eines umfassenden Tabus des
des Liebeslebens‹« gemacht (Žižek 1996, 125–141). Sexualverkehrs und des weiteren sogar des Weibes im
Schließlich läßt sich der Beitrag Freuds für die Ana- ganzen (Menstruation, Schwangerschaft, Entbin-
lyse zeitgenössischer Spielarten der Sexualität frucht- dung, Kindbett usw.) zu verstehen sei. Freud resü-
bar machen. Denn die inflationäre Ausbreitung der miert: »Vielleicht ist diese Scheu [vor dem Weibe;
Pornoindustrie auf allen Kanälen der neuen Medien U. H.] darin begründet, daß das Weib anders ist als
erscheint nicht denkbar ohne das von Freud kennt- der Mann, ewig unverständlich und geheimnisvoll,
lich gemachte Bedürfnis des Mannes nach einer Er- fremdartig und darum feindselig erscheint« (168).
niedrigung vornehmlich weiblicher Sexualobjekte Feindselig bedeutet, daß von ihr eine Gefahr ausgeht,
und nach der Befriedigung damit verbundener poly- die im ersten Sexualakt besonders intensiv droht.
morph-perverser Triebregungen. Die Erforschung dieser Gefahr und der dahinter-
liegenden Feindseligkeit gegenüber dem Mann ist der
Ausgangspunkt für Freuds weitergehende Überle-
Das Tabu der Virginität
gungen, die jetzt die »heute lebenden Frauen unserer
Im dritten und letzten Beitrag (GW XII, 159–180) Kulturstufe« (171) thematisieren und damit von der
bezieht sich Freud insbesondere auf zeitgenössische Psychologie des Mannes zu der der Frau übergehen.
ethnologische Texte, um der psychischen Bedeutung Zunächst referiert Freud die psychoanalytische Er-
der Virginität für Mann und Frau auf die Spur zu fahrung, wonach nicht nur bei enttäuschendem Se-
kommen. Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist xualverkehr, sondern auch im Falle befriedigender
folgender scheinbarer Widerspruch: In der westli- Sexualität postkoital feindselige Reaktionen der Frau
chen Kultur gibt es eine besondere Wertschätzung gegenüber dem Mann zu beobachten sind. Dies gilt
der Virginität, die zum einen auf dem durch die Vir- dann umsomehr für den ersten Koitus, insofern die
ginität in die Vergangenheit ausgedehnten monoga- Defloration mit Schmerz verbunden ist und die Zer-
men Anspruch des Mannes beruht (kein anderer störung des Hymens einer narzißtischen Kränkung
Mann hat je meine Frau besessen), zum anderen aber gleichkommt. Freilich reicht diese Erklärung kaum
sich aus der sexuellen Hörigkeit ableitet, die sich ins- aus, um zu verstehen, daß bei bestimmten primitiven
besondere zwischen Partnern einstellt, die miteinan- Völkern auf die Zerreißung des Hymens ein ritueller
der ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht ha- Koitus folgt, der von einem anderen Mann vollzogen
ben. In scheinbarem Gegensatz dazu werde in archai- wird. Deshalb führt Freud zusätzlich die Enttäu-
schen Gesellschaften – Freud spricht von »primitiven schung der Frau angesichts der Diskrepanz von Er-
Völkern«, vergißt freilich nicht, diesen Ausdruck wartung und Erfüllung an. Hinzu tritt jedoch vor al-
selbst zu problematisieren (ebd., 170) – der Akt der lem die frühe Fixierung der Libido insbesondere an
Defloration nicht vom Ehemann, sondern von einer den Vater: »Der Ehemann ist sozusagen immer nur
anderen Person (einer alten Frau, einem Priester, ein Ersatzmann, niemals der Richtige« (174). Nicht
aber auch dem Vater) rituell, d. h. per Hand oder in- nur der Akt selbst, auch das Objekt ist enttäuschend.
strumentell, vollzogen und oftmals durch einen zere- Doch noch immer ist Freud mit seinen Ergebnissen
moniellen Koitus ergänzt. Warum also wird die Vir- nicht zufrieden. Als letzten Grund für die Feindselig-
ginität bei diesen Völkern mit einem Tabu belegt, keit der Frau gegenüber dem Mann findet er schließ-
und worin besteht die Bedeutung dieses Tabus? lich die Reaktivierung des Penisneids und des Kastra-
Freud findet auf diese Fragen zunächst drei Ant- tionskomplexes, die er in der »männlichen Phase des
worten, die ihn freilich nicht wirklich zufriedenstel- Weibes« und vor jeder Objektwahl ansiedelt. Als eine
len: Daß im Deflorationsakt Blut vergossen wird, Folge ihres Penisneids leitet Freud schließlich den
führt ihn zunächst zur »Blutscheu« (166) der Primi- Wunsch der Frau ab, den Ehemann zu kastrieren und
tiven. Unzufrieden ist er mit dieser Erklärung, weil in den Penis des Mannes zu behalten.
den Beschneidungsriten der Knaben und Mädchen Das Tabu der Virginität hätte folglich zum Ziel,
dieses Tabu überwunden wird. Als zweiten Erklä- dem künftigen Ehemann all diese feindlichen Reak-
rungsansatz führt er die »Erstlingsangst« an (167). Er tionen der Frau auf den ersten Sexualakt zu ersparen.
vergleicht dafür den Primitiven mit dem Angstneu- Freud beschließt den Artikel mit einer Analyse von
rotiker und dessen großer Angstbereitschaft, die ge- Hebbels Tragödie Judith und Holofernes, die den Zu-
rade in jeder neuen und unheimlichen Situation, z. B. sammenhang zwischen der Defloration der Frau und
dem ersten Sexualverkehr, Nahrung findet. Schließ- der anschließenden Kastration des Mannes am lite-
lich referiert Freud durchaus zustimmend die Erklä- rarischen Beispiel verdeutlicht. Kritisch vermerkt er
154 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

schließlich, daß in der Lobpreisung der Virginität sy- 8.4 Zur Einführung
stematisch die archaische Feindseligkeit der Frau ge-
genüber dem Mann, wie sie noch in der Errichtung des Narzißmus (1914)
des Tabus der Virginität aufscheint, unterschlagen
wird. Der Begriff ›Narzißmus‹ zählt bis heute zu den viel-
Jean Laplanche hat diesem Freud-Text einen lan- deutigsten und widersprüchlichsten Konzepten der
gen Kommentar in seinen Problématiques II: Castra- psychoanalytischen Theorie. Es gibt keine wirklich
tion-Symbolisations gewidmet (Laplanche 1980/1983, präzise, allgemein akzeptierte Definition, und er wird
91–101), in dem er insbesondere hervorhebt, daß in Klinik und Metapsychologie in unterschiedlicher
Freud darin das Tabu intersubjektiv und nicht pro- Bedeutungsfülle genutzt. Gleichzeitig behauptet die-
jektiv erklärt: Das Tabu der Virginität sei keine ein- ser Begriff aber eine zentrale Stellung im Gebäude
fache Projektion der inneren Ambivalenz des Man- der Psychoanalyse.
nes, sondern speise sich aus der unbewußten Wahr- In seiner Arbeit mit dem Titel Auto-Erotism: A Psy-
nehmung des Wunsches der Ehefrau bzw. ihrer Vor- chological Study von 1898 hatte der englische Sexual-
läuferinnen (Mutter usw.). Resümierend schreibt wissenschaftler Havelock Ellis erstmals auf eine
Laplanche: »Es ist einer der seltenen Texte, der mit »Narcissus-like tendency« aufmerksam gemacht. Im
dem Freudschen Ipsozentrismus bricht« (Laplanche Unterschied zu dem deutschen Nervenarzt Paul
1992/1996, 126). Näcke, der 1899 den Begriff ›Narzißmus‹ ins Deut-
Insgesamt fällt jedoch auf, daß die Freudschen Bei- sche eingeführt hatte, ist bei Ellis narzißtische Selbst-
träge zur Psychologie des Liebeslebens in der Lite- verliebtheit eine normale Erscheinung. Näcke be-
ratur, etwa bei Bergmann (1987/1994) und Kernberg nutzte den Begriff, um eine pathologische sexuelle
(1995/1998) oder in den Sammelbänden Psychoana- Perversion zu bezeichnen, bei der der eigene Körper
lyse der Liebe (Höhfeld/Schlösser 1997) und Im Gar- verbunden mit orgastischen Gefühlen zum Objekt
ten der Lüste (1994), wenig Wiederhall gefunden ha- genommen wird.
ben. Am ausführlichsten hat sich Reiche damit be- Im Gegensatz zu diesem deskriptiven pathologi-
schäftigt (Reiche 1994/2004). Freuds Theoretisierung schen Symptombegriff der Sexualwissenschaft und
der Liebe unter dem Vorzeichen des Sexualtriebs ist Psychiatrie zu Beginn des 20. Jh.s erhielt der Begriff
mehr und mehr Konzeptionen gewichen, in denen ›Narzißmus‹ bei Freud die Bedeutung eines norma-
Aspekte der Objektbeziehung im Vordergrund ste- len Phänomens der psychischen Entwicklung. Zu-
hen. Vor allem aber sein methodisches Vorgehen, aus gleich wurde er aber auch zur Erklärung pathologi-
pathologischen Besonderheiten des Liebeslebens, wie scher Zustände benutzt, bei denen die Libido vom
sie die Titel seiner drei Beiträge zum Ausdruck brin- Objekt abgezogen wird.
gen, auf die Struktur von Liebesverhältnissen allge- Erstmals äußerte Freud seine Ansichten über den
mein zu schließen, ist in der Geschichte der Psycho- Narzißmus in einem Diskussionsbeitrag zu einem
analyse unwiederholt geblieben. Vortrag des Wiener Psychoanalytikers Isidor Sadger
in der Mittwochgesellschaft vom 10. November 1909.
Literatur Sadger hatte auf die Bedeutung des Narzißmus in der
Bergmann, Martin S.: Eine Geschichte der Liebe. Frankfurt Ätiologie der männlichen Homosexualität hingewie-
a. M. 1994 (engl. 1987).
Höhfeld, Kurt/Anne-Marie Schlösser (Hg.): Psychoanalyse der
sen. Er vertrat die Auffassung, daß die Sexualideale
Liebe. Gießen 1997. Homosexueller nicht nur »Züge von früheren Liebes-
Im Garten der Lüste. In: Psyche 48 (1994), 783–970. objekten aufweisen, sondern auch Ähnlichkeiten mit
Kernberg, Otto F.: Liebesbeziehungen. Normalität und Patho- der eigenen Person. Folglich liebte der Homosexuelle
logie. Stuttgart 1998 (engl. 1995).
Laplanche, Jean: Problématiques II. Castration-Symbolisations
in seinem Liebesobjekt sich selbst, d. h. es lag Nar-
[1980]. Paris 1983. zißmus vor« (May-Tolzmann 1991, 75). Freud griff
–: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psycho- diesen Gedanken in seinem Diskussionsbeitrag auf
analyse. Frankfurt a. M. 1996 (frz. 1992). und erweiterte ihn. »Dieser [der Narzißmus] sei
Nunberg, Herman/Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung 1906–1918. 4 Bde. Frankfurt
keine vereinzelte Erscheinung, sondern eine notwen-
a. M. 1976–1981 (engl. 1962–1975). dige Entwicklungsstufe des Übergangs vom Autoero-
Reiche, Reimut: Einleitung. In: Sigmund Freud: Schriften über tismus zur Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene
Liebe und Sexualität [1994]. Frankfurt a. M. 2004, 7–34. Person (= in die eigenen Genitalien) sei ein notwen-
Žižek, Slavoj: Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-poli-
tische Versuche. Wien 1996.
diges Entwicklungsstadium. Von da gehe man zu
Udo Hock ähnlichen Objekten über« (Nunberg/Federn 1967/
1977, 282).
Zur Einführung des Narzißmus 155

1910 taucht der Begriff erstmals in Freuds Publika- stimmten Bedingungen (sekundär) wieder auf das
tionen auf, in einer Fußnote der zweiten Auflage der Ich als Liebesobjekt zurückgenommen. Im Rahmen
Drei Abhandlungen (GW V, 44 ff.) und in Eine Kind- seines energetischen Modells formuliert Freud: »Je
heitserinnerung des Leonardo da Vinci (GW VIII, mehr die eine verbraucht, desto mehr verarmt die
169 f.). Bereits ausführlicher verwendet er ihn dann andere« (ebd., 141).
1911 in seinen Arbeiten Über einen autobiographisch Mit dieser Erweiterung seiner Triebtheorie ver-
beschriebenen Fall von Paranoia (GW VIII, 296 ff.) sucht er auch, C. G. Jungs Vorwurf zurückzuweisen,
und in Totem und Tabu (GW IX, 109 ff.). In seiner die Libidotheorie sei an der Erklärung der Schizo-
Arbeit Zur Einführung des Narzißmus (GW X, phrenie gescheitert, die sexuellen Inhalte seien zu-
137–170) behandelte Freud schließlich das Konzept gunsten einer allgemeinen psychischen Energie auf-
grundlegend und leitete damit wesentliche Neuerun- zugeben. Durch die Analyse der Übertragungsneu-
gen und Veränderungen seiner psychoanalytischen rosen war Freud ursprünglich zur Unterscheidung
Theorie ein, die teilweise erst Jahre später systema- von Sexualtrieb und Ichtrieb gelangt. Die Ichtriebe
tischer ausformuliert wurden. Das Narzißmuskon- (Hunger) haben die Selbsterhaltung des Individuums
zept selbst unterzog er aber nach 1914 keiner ent- zum Ziel, die Sexualtriebe (Liebe) streben nach Lust-
scheidenden Änderung mehr. befriedigung. Bereits 1910 hatte er den psychischen
Konflikt zwischen diesen beiden Triebarten (GW
VIII, 97 f.) beschrieben. Mit dieser Sonderung der
Primärer und sekundärer Narzißmus
beiden Triebqualitäten sollte die doppelte Funktion
Im ersten der in drei Teile gegliederten Arbeit ent- des Individuums als Selbstzweck und als Glied in ei-
wickelt Freud seine Vorstellungen vom primären und ner Fortpflanzungsreihe widergespiegelt werden.
sekundären Narzißmus und unterscheidet dabei erst- Während die Ichtriebe immer auf Befriedigung von
mals in seinem Werk Objektlibido von Ichlibido. Er außen angewiesen seien, könne die Libido auch au-
postuliert, daß dem Autoerotismus, dem uranfängli- toerotisch befriedigt werden, indem sie von den Ob-
chen, objektlosen Triebzustand, in dem Ichtriebe jekten abgezogen und wieder dem Ich – wir sprechen
und Sexualtriebe noch nicht geschieden sind, eine heute vom Selbst – zugewandt werde.
Stufe der psychischen Entwicklung folge, in der sich Mit der hier eingeführten Unterscheidung zweier
die Sexualtriebe auf das Ich, gleichsam ein erstes Lie- Arten von Libido erweitert Freud sein anfänglich
besobjekt, richten. Diese libidinöse Besetzung des Ich stark von biologischen Modellen geprägtes Triebmo-
während der Phase des primären Narzißmus sei mit dell um weitere psychologische Aspekte (Narzißmus
einem großartigen Hochgefühl verbunden. Beim vs. Objektliebe, Ichideal, Selbstgefühl), auch wenn er
späteren sekundären Narzißmus werde dann die Li- gleichzeitig betont, »daß all unsere psychologischen
bido wieder von den Objekten abgezogen und dem Vorstellungen einmal auf den Boden organischer Trä-
Ich zugewandt. Dies sei erneut mit Größenwahn ver- ger gestellt werden sollen«. Bis dahin seien diese »be-
bunden, wie man ihn bei Kindern, primitiven Völ- sonderen chemischen Stoffe durch besondere psy-
kern und Schizophrenen beobachten könne. chische Kräfte [zu] substituieren« (GW X, 144).
Die Hypothese einer entwicklungsgeschichtlich
normalen libidinösen Ichbesetzung und der späteren
Narzißtische Liebe und Objektliebe
regressiven Neubesetzung mit Abzug der Libido vom
Objekt auf das Ich ermöglicht Freud, die Schizophre- Zur weiteren Klärung des Narzißmus betrachtet
nie im Rahmen der Libidotheorie zu erklären und Freud im zweiten Teil seiner Arbeit die organischen
einzuordnen. Im Unterschied zum Hysteriker und Erkrankungen, die Hypochondrie und das Liebesle-
Zwangsneurotiker, der seine Libido zwar vom realen ben. Bei der organischen Erkrankung werde die Li-
Objekt abzieht, in der Phantasie aber daran festhält, bido von den Objekten abgezogen und ganz dem Ich
ziehe der Schizophrene seine Libido von den Objek- zugewendet, nach der Genesung fließe sie wieder den
ten ganz ab und führe sie seinem Ich zu. Dies erkläre Objekten zu. Gleiches gelte für den Schlaf und das
dann dessen Größenwahn. Träumen. Veränderungen von Ichzuständen seien da-
Diesen Prozeß der Libidoverschiebung vergleicht her mit einer Verschiebung der Libido vom Objekt
Freud mit einem Protoplasmatierchen, das seine zum Ich bzw. umgekehrt verbunden.
Pseudopodien ausstreckt und wieder zurückzieht. In der Hypochondrie besetze das Ich ein Körper-
Von der ursprünglichen (primären) Libidobesetzung organ durch Abzug von Objektlibido narzißtisch.
des Ich werde Libido an die Objekte abgegeben (ein Das sei möglich, da die Erogenität eine allgemeine
Teil bleibt im Libidoreservoir des Ich) und unter be- Eigenschaft aller Organe sei und das Genitale als ero-
156 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

gene Zone vertreten könne. Der psychische Apparat, keit eröffnet, vom Narzißmus zur Objektliebe zu
dessen Aufgabe darin besteht, als unlustvoll empfun- wechseln, wodurch ein Teil des eigenen Körpers ihr
dene Spannungen infolge Libidostauung zu bewäl- als Objekt entgegentrete. Hinter der liebevollen Zu-
tigen, drängte ursprünglich das Ich, die Grenzen des wendung der Eltern, der emotionalen Überschätzung
primären Narzißmus zu überschreiten und seine Li- der eigenen Kinder werde zudem der eigene ur-
bido auf Objekte zu richten. Werde der Libido die sprüngliche Narzißmus nach seiner Umwandlung
Befriedigung an den realen oder phantasierten Ob- zur Objektliebe sichtbar. Das Kind solle die unerfüll-
jekten versagt und komme es infolge dessen zu einer ten Wünsche der Eltern erfüllen und »die von der
Rückflutung der Libido auf das Ich, entwickele sich Realität hart bedrängte Unsterblichkeit des Ichs«
zunächst der Größenwahn. Wenn durch ihn die Ich- (ebd., 158) sichern.
libido nicht genügend abgeführt werde, komme es zu Den Typus der Objektwahl zusammenfassend,
einer Stauung der Ichlibido, entwickele sich die Hy- schreibt Freud: »Man liebt: 1) Nach dem narzißti-
pochondrie, die der neurotischen Angst entspreche. schen Typus: a) was man selbst ist (sich selbst),
Der Bewältigung der neurotischen Angst durch ver- b) was man selbst war, c) was man selbst sein
schiedene Symptombildungen (z. B. Konversion, möchte, d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst
Phobie) entspreche dann der Restitutionsversuch bei war. 2) Nach dem Anlehnungstypus: a) die nährende
der Schizophrenie mit seinen massiven Krankheits- Frau, b) den schützenden Mann und die in Reihen
symptomen, durch den Objekte wieder libidinös be- von ihnen ausgehenden Ersatzpersonen« (ebd.,
setzt würden – was Freud bereits in seiner Schreber- 156 f.).
Arbeit (GW VIII, 239–320) beschrieben hatte. Es scheint Freud klar gewesen zu sein, daß seiner
Freud wendet sich dann einem zentralen Thema, idealtypischen Darstellung der Objektwahl tatsäch-
der Objektwahl, zu und untersucht deren libidinöse lich eine dialektische Verwobenheit von Objekt- und
Dynamik. Da sich die Sexualtriebe entwicklungsge- Selbstlibido zugrunde liegt, wenn er die verschiede-
schichtlich zunächst an die Ichtriebe anlehnen, wer- nen Abweichungen bei der Objektwahl beschreibt.
den die Sexualobjekte dem Befriedigungserleben der
Ichtriebe entnommen. Dieser Anlehnung der Libido
Ichideal und Selbstgefühl
an die Ichtriebe bei der Objektwahl, die er als Anleh-
nungstypus bezeichnet, stellt er den narzißtischen Im dritten Teil seiner Schrift befaßt sich Freud mit
Typus der Objektwahl gegenüber. Hierbei werde eine dem Triebschicksal des primären Narzißmus. Dieser
Person als Liebesobjekt gewählt, die dem Vorbild der sei vielfachen Störungen ausgesetzt, wovon wahr-
eigenen Person entspreche. Den primären Narziß- scheinlich der Kastrationskomplex die bedeutendste
mus vorausgesetzt, habe der Mensch zwei ursprüng- sei. Freud grenzt sich zunächst gegen Alfred Adler ab,
liche Sexualobjekte, die Mutter und sich selbst. Ihm der die alleinige Triebkraft zur Charakterbildung und
stünden beide Wege offen, allerdings dominiere einer Neurosenentstehung auf soziale Wertung (männli-
von beiden. cher Protest) und nicht auf narzißtisch libidinöse
Die idealtypische Objektwahl betrachtend, Strebungen zurückführte. Hier zeigt sich einmal
schreibt Freud die Objektliebe nach dem Anleh- mehr das Bestreben Freuds, auch mit dieser Schrift
nungstypus eher dem Mann, die nach dem narzißti- seine Libidotheorie gegenüber den Dissidenten Adler
schen Typus eher der Frau zu. Die aus dem primären und Jung zu behaupten – genauso wie mit der kurz
Narzißmus stammende Sexualüberschätzung werde zuvor verfaßten Arbeit Zur Geschichte der psychoana-
in der Verliebtheit ganz auf das Objekt übertragen, lytischen Bewegung (GW X, 43–113).
das Ich verarme zugunsten des Objekts. Bei der Frau Wenn Teile der libidinösen Objektstrebungen in
scheine es in der Pubertät hingegen zu einer Steige- Konflikt mit den Anforderungen der Umwelt gelan-
rung des ursprünglichen Narzißmus zu kommen mit gen, werden sie verdrängt. Diese Verdrängung gehe
dem Ergebnis, daß sie geliebt werden will. Der Nar- von der Selbstachtung des Ich aus. Die Bedingung
zißmus einer Person übe großen Reiz auf diejenigen hierfür sei die Errichtung eines Ideals, an dem das
aus, die nach dem anaklitischen Typus liebten. aktuelle Ich gemessen werde. Die Entstehung dieses
Gleichzeitig sei dieser Narzißmus aber auch die Ichideals, das für die weitere Theorieentwicklung in
Quelle für den Zweifel des Mannes an der Liebe der den 1920er Jahren noch bedeutsam werden sollte
Frau und die Rätselhaftigkeit ihrer Person. Ein- (vor allem bei der Entwicklung der Strukturtheorie
schränkend fügt Freud hinzu, daß es auch viele von Ich, Es und Über-Ich), wird durch die kritischen
Frauen gebe, die nach dem Anlehnungstypus liebten. Stimmen von Umwelt, Eltern, Erziehern und öffent-
Und durch ein eigenes Kind werde ihr die Möglich- licher Meinung angeregt. Teile des primären Narziß-
Zur Einführung des Narzißmus 157

mus seien in dieses Ideal geflossen, und der Verlust äußert. Ursprünglich war ein solches Schuldbewußt-
der frühen Vollkommenheit werde hierdurch ausge- sein die Angst vor Liebesentzug durch die Eltern. In
glichen, ihm gelte die Selbstliebe. Dies sei eine not- seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse
wendige Voraussetzung für den Verdrängungsvor- (GW XIII, 71–161; s. Kap. II.9.2) wird Freud dieses
gang. Thema näher erörtern.
Freud unterscheidet im weiteren Idealbildung und
Sublimierung. Während letztere ein Prozeß ist, der
Ausblick
sich an der Objektlibido abspielt und der Trieb auf
ein anderes, nicht direkt sexuelles Ziel verschoben Man kann die Narzißmus-Arbeit als einen Wende-
wird, ist die Idealbildung ein Vorgang am Objekt, das punkt im Prozeß der Theoriebildung Freuds und in-
hierdurch vergrößert und erhöht wird. Die Um- sofern als wegweisend für spätere Entwicklungen be-
wandlung des Narzißmus in Idealbildung muß nicht trachten. Der Text ist höchst komprimiert, manche
mit Sublimierung einhergehen. Auch wenn diese ge- Gedanken, etwa zum Thema Ichideal und Gewissen,
fordert werde, kann das Idealich sie nicht erzwingen. werden lediglich angedeutet und erst in späteren Ar-
Während die Sublimierung einen Ausweg weise, wie beiten expliziert. Das Fehlen klarer Ich- und Objekt-
die Anforderungen der Triebe eingelöst werden kön- konzepte zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit
nen, ohne daß eine Verdrängung zur Erreichung des bereitete Freud zusätzliche Schwierigkeiten, seine
Triebziels herbeigeführt werden muß, steigere die Ideen zum Begriff des Narzißmus in ein klares Kon-
Idealbildung die Anforderungen an das Ich und be- zept zu fassen.
günstige die Verdrängung. Die Auffassung von einem primärnarzißtischen
In einem weiteren Schritt beschreibt Freud dann Stadium hat unter Freuds Nachfolgern zu einer Reihe
das Gewissen als diejenige Instanz, die über die Si- von Fragen und Kontroversen geführt. Geht der pri-
cherung der »narzißtischen Befriedigung aus dem märe Narzißmus den Objektbeziehungen voraus
Ichideal zu wachen« (162) hat, was mit Selbstbeob- oder bildet er sich gleichzeitig mit der inneren Vor-
achtung verbunden ist. Dieser Ansatz ermöglicht ihm stellung von Objekten? Ist eine Entwicklung des
auch das Verständnis des Beobachtungswahns bei der Selbst ohne eine Bindung an Objekte möglich? Freud
Paranoia. Die verinnerlichten, einstmals äußeren selbst scheint die Unzulänglichkeiten seines Konzepts
Verbote werden in der Paranoia wieder als Einwir- gespürt zu haben, denn im März 1914 teilte er Karl
kung von außen erlebt, indem die Entwicklungsge- Abraham mit: »Ich schicke Ihnen morgen den Nar-
schichte des Gewissens »regressiv reproduziert« (163) zißmus, der eine schwere Geburt war und alle De-
wird. Das eigene Gewissen tritt dabei dem Paranoi- formationen einer solchen zeigt. Er gefällt mir natür-
ker als »Einwirkung von außen feindselig entgegen« lich nicht besonders […]. Er bedarf noch sehr der
(163). Retouche« (F/A, 163).
Mit dem Selbstgefühl führt Freud dann einen af- 1923 machte sich Freud in Das Ich und das Es an
fektiven Begriff ein, den er als Ausdruck von Ich- eine Umarbeitung des ›Narzißmus‹, indem er einen
größe begreift. Es entwickele sich aus den Resten des primären Narzißmus postulierte, bei dem die ge-
primären Narzißmus, der Erfüllung des Ichideals samte Libido im Es angesiedelte ist. Die dadurch neu
und der Befriedigung in der Objektlibido. Durch Er- entstandenen Probleme für sein Narzißmuskonzept
folge werde das Selbstgefühl, das sehr stark von der wurden aber so groß, daß er schließlich zu seiner frü-
narzißtischen Libido abhänge, gesteigert, und Reste heren Auffassung vom Narzißmus zurückkehrte.
der primitiven Allmachtsgefühle würden dadurch Auch wenn Freuds Schrift bis heute von verschie-
potenziert. In der Verliebtheit ströme die Ichlibido denster Seite kritisiert und vermerkt wird, wo sie sich
auf das Objekt über, es werde zum Sexualideal. Als in Widersprüche verstrickt oder daß Aspekte wie Ag-
befriedigend werde dabei vom anaklitischen Typus gression oder die Bedeutung der Affekte für die Ob-
das erlebt, was die frühkindliche Liebesbedingung er- jektbeziehung überhaupt nicht vorkommen, muß
füllt, vom narzißtischen Typus das, was dem Ich zum man gleichwohl konzedieren, daß Freud hier wich-
Ideal fehlt. tige Ansätze formuliert hat: etwa für das Konzept des
Zum Abschluß stellt Freud erstmals eine Verbin- Selbst im Unterschied zu dem des Ich, für die Ob-
dung von Ichideal und Massenpsychologie her. Da jektbeziehungstheorie, die präödipale Gefühlswelt
das Ichideal infolge seiner Entwicklungsgeschichte und die Grundlagen der späteren Strukturtheorie.
auch einen sozialen Anteil hat, entsteht bei Nicht- Narzißmus ist bis heute kein eindeutiger Begriff.
erfüllung der sozialen Forderungen eine Nichtbefrie- Sieht man einmal von der schillernden Bedeutung
digung, die sich als soziale Angst und Schuldgefühl des ›Narzißmus‹ in der Alltagssprache ab, herrscht
158 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

selbst innerhalb der psychoanalytischen Schulen kein gehaltenen Neigung zur Spekulation freien Lauf ge-
Konsens. Der primäre Narzißmus als entwicklungs- lassen« (GW XIV, 84). Offensichtlich erfüllte er sich
geschichtliche Stufe in der Triebtheorie findet heute mit der philosophischen Grundlegung seiner psycho-
nur noch bei wenigen Psychoanalytikern Anklang. logischen Theorien ein altes Vorhaben aus seiner Ju-
Narzißtische Störungen werden vor allem als Fehl- gendzeit (Hemecker 1991; Reiter 1996), indem er
funktionen des Selbst verstanden, denen primär sich, wie in keiner anderen seiner Schriften zuvor, auf
keine Triebkonflikte zugrunde liegen. In den Vorder- philosophische Traditionen berief (Assoun 1976;
grund gerückt ist die Beschäftigung mit narzißti- Derrida 1980/1987; Gödde 1999).
schen Persönlichkeitsstörungen und pathologischem Für einige wenige seiner Nachfolger wurde die in
Narzißmus (Kohut 1971/1973; Kernberg 1975/1978). Jenseits des Lustprinzips erstmals vorgestellte neue
Auch auf die Ansätze von Melanie Klein, Donald W. Trieblehre theoretisch wie klinisch zu einem Grund-
Winnicott, Jacques Lacan und Béla Grunberger sei lagentext der Psychoanalyse, allen voran für Jacques
hingewiesen, die je eigene Vorstellungen zur Proble- Lacan und Melanie Klein (vgl. Jones III, 316, 329;
matik von Selbst- und Objektliebe entwickelt ha- Weber 1979, 147; sowie Eissler 1955/1978; 1971/
ben. 1980; Kimmerle 1988; Laplanche 1970/1974; 1986/
1988; 1996; Perner 2005; Rosenberg 1989/2005;
Literatur Schmidt-Hellerau 1995; Zagermann 1988). Für die
Altmeyer, Martin: Narzißmus und Objekt. Göttingen 2000. Mehrheit der Analytiker stellt sie bis heute eine der
Kernberg, Otto F.: Borderline-Störungen und pathologischer
Narzißmus. Frankfurt a. M. 1978 (engl. 1975). Psychoanalyse als Institution, Theorie und vor allem
Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Praxis schädliche, überflüssige, altersbedingte und
Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frank- metaphysische Entgleisung Freuds dar, die entweder
furt a. M. 1973 (engl. 1971). kritisiert oder ignoriert wird (Fenichel 1935/1985;
May-Tolzmann, Ulrike: Zu den Anfängen des Narzißmus: Ellis
– Näcke – Sadger – Freud. In: Luzifer-Amor 4 (1991), Schur 1966/1973; Reich 1942/1972).
50–89. Als sich Lou Andreas-Salomé im April 1919 bei
Nunberg, Herman/Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener Freud nach dem Schicksal seiner sieben noch nicht
Psychoanalytischen Vereinigung 1906–1918. Bd. II. Frankfurt veröffentlichten metapsychologischen Abhandlungen
a. M. 1977 (engl. 1967).
Sandler, Joseph/Ethel S. Person/Peter Fonagy (Hg.): Über erkundigte, antwortete er ihr, daß er an einem neuen
Freuds »Zur Einführung des Narzißmus«. Stuttgart-Bad Aufsatz mit dem Titel Jenseits des Lustprinzips arbeite
Cannstatt 2000 (engl. 1991). (FA, 105). An Ferenczi hatte er bereits im März des-
Michael Giefer selben Jahres geschrieben, daß er eben eine Arbeit
über die Genese des Masochismus mit dem Titel Ein
Kind wird geschlagen abgeschlossen habe und daß
eine zweite, mit »der geheimnisvollen Überschrift«
8.5 Jenseits des Lustprinzips Jenseits des Lustprinzips, gerade im Entstehen sei (F/
(1920) Fer II/2, 214). Im Mai 1919 berichtete er, daß er nicht
nur den Entwurf zum Jenseits, sondern auch Das Un-
Jenseits des Lustprinzips (GW XIII, 1–69) wurde im heimliche vollendet habe. Erst im Mai 1920 schrieb
Herbst 1920 als erste monographische Neuerschei- Freud Ferenczi, daß er wieder am Jenseits arbeite,
nung eines Freud-Werks im soeben gegründeten In- und am 18. Juli 1920 heißt es, daß er die Arbeit abge-
ternationalen Psychoanalytischen Verlag veröffent- schlossen habe (Grubrich-Simitis 1993, 237).
licht. In dieser Schrift entwickelt Freud die sog. Es waren also bestimmte Phänomene – die dämo-
zweite Triebtheorie, in der er die bislang geltende nisch-unheimliche Wiederholung des Gleichartigen
Fassung einer Gegenüberstellung von Sexual- und in Das Unheimliche und der Masochismus in Ein
Selbsterhaltungstrieben umgestaltet. Bis heute wird Kind wird geschlagen –, die ihn von der Notwendig-
diese Schrift kontrovers diskutiert, wobei die in Jen- keit überzeugten, eine neue Triebtheorie, eben den
seits des Lustprinzips eingeführten Begriffe – »Eros«, Dualismus der Lebens- und Todestriebe, in die Psy-
»Todestrieb«, »Wiederholungszwang« – vielfach als choanalyse einzuführen. Später wird Freud in der
unwissenschaftlich, philosophisch und höchst speku- Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
lativ eingeschätzt werden. Freud brachte seine neuen Psychoanalyse schreiben: »Beide, Sadismus wie Maso-
Thesen zunächst vorsichtig tastend vor, später aber chismus, sind für die Libidotheorie recht rätselhafte
betrachtete er sie für seine Theorie als notwendig Phänomene, der Masochismus ganz besonders, und
und unerläßlich (Jones III, 58). In der »Selbstdarstel- es ist nur in der Ordnung, wenn das, was für eine
lung« von 1925 heißt es, er habe »der lange nieder- Theorie den Stein des Anstoßes gebildet hat, für die
Jenseits des Lustprinzips 159

sie ersetzende den Eckstein abgeben sollte« (GW XV, sungen sehr erhebliche Differenzen festzustellen sind.
111). Daran anschließend begründet er die Einfüh- Die Erstfassung bestehe aus nur sechs Teilen, die
rung der neuen Trieblehre mit Erfahrungen aus der zweite Fassung aber, die als Druckvorlage diente, aus
analytischen Arbeit: Patienten, die in der Analyse Wi- sieben Teilen. Das gesamte, fast ein Drittel des Ge-
derstand leisten, ist nicht nur die Tatsache ihres Wi- samtumfangs ausmachende sechste Kapitel, in dem
derstands unbewußt, auch die Motive desselben sind der Begriff Todestrieb erstmals verwendet wird, sei
es. Als Motiv habe sich ein Strafbedürfnis herausge- erst nach dem Tod der Tochter eingefügt worden
stellt, das als masochistischer Wunsch erkannt wor- (Grubrich-Simitis 1993, 243).
den sei (ebd., 115). Jenseits des Lustprinzips schließt zunächst an Ge-
K. R. Eissler schreibt, es sei falsch, die Aufnahme danken an, die Freud bereits im Entwurf einer Psy-
des Todestriebs in die Triebtheorie als einen uner- chologie (Nachtr., 387–477) von 1895 niedergelegt
warteten und überraschenden Schritt Freuds zu be- hatte (Sulloway 1979/1992, 415). Das wird besonders
zeichnen, für den persönliche, unwissenschaftliche an den Überlegungen zur psychischen Energievertei-
Motive verantwortlich zu machen seien. Eine ins De- lung und an der Bedeutung deutlich, die er den trau-
tail gehende Untersuchung von Freuds Werk werde matischen Faktoren bei der Neurosenentstehung zu-
nachweisen, daß sich dieser letzte Baustein seiner mißt.
Theorien organisch an sein vorangehendes Werk fügt Das erste Kapitel (GW XIII, 1 ff.) beginnt mit öko-
(Eissler 1955/1978, 18). Sowohl Laplanche (1970/ nomischen Betrachtungen zum Lustprinzip. Das
1974) als auch Eissler (1955/1978; 1971/1980) haben Phänomen ›Lust‹ ist demnach auf die energetische
derartige Untersuchungen vorgelegt. Die Einführung Verteilung im psychischen Apparat ausgerichtet, auf
des Todestriebs entspricht inneren Notwendigkeiten die quantitative Erhöhung bzw. Erniedrigung von
des Freudschen Denkens und seiner Konzeption des Spannungen: Erhöhung der Spannung führt zu Un-
Unbewußten. Freud selbst legte offen, daß die zweite lust, Herabsetzung der Spannung zu Lust. Gemäß der
Triebtheorie eine Replik auf eine innertheoretische Theorie Fechners sei es das Bestreben des seelischen
Gewichtsverlagerung in Richtung einer Vorherrschaft Apparats, die in ihm vorhandene Quantität von Erre-
des Narzißmus darstelle. Mit dem Eros/Todestrieb- gung möglichst niedrig oder konstant zu halten:
Konzept reagierte Freud auf die von ihm erkannte »Das Lustprinzip leitet sich aus dem Konstanzprinzip
Gefahr einer Auflösung der dualistischen Triebtheo- ab« (5). Hiermit nimmt Freud eine entscheidende
rie durch die Einführung des Narzißmus (GW X, Weichenstellung vor: Während in früheren metapsy-
137–170) bzw. auf die Gefahr einer Annäherung an chologischen Schriften, etwa im Entwurf und im
monistische Triebtheorien. siebten Kapitel der Traumdeutung, die unbewußten
Freud hat, die Versuche vorausahnend, die neue Prozesse, die verdrängten Triebregungen dem Träg-
Triebtheorie aus seiner Biographie zu erklären, vor heitsprinzip folgen sollten und nach voller Abfuhr
allem die Vermutung zurückgewiesen, sie sei eine Re- und Nullspannung strebten, tragen sie nun einer
aktion auf den Verlust seiner Tochter – eine These, »Tendenz zur Stabilität« (5), letztlich dem Selbster-
die Fritz Wittels in seiner 1924 veröffentlichten haltungs- und Ichprinzip Rechnung. In ökonomisch-
Freud-Biographie vertreten hat. Freud bemerkte energetischer Betrachtungsweise nähert Freud die
dazu: »Das Jenseits wurde 1919 geschrieben, als unbewußten Wunsch- und Sexualvorgänge dem Rea-
meine Tochter gesund und blühend war. Sie starb im litätsprinzip und seinen gebundenen Energieformen
Jänner 1920. Im September 19 habe ich das Manu- an.
skript des kleinen Buches mehreren Freunden in Ber- Das Trägheitsprinzip wird jedoch alles andere als
lin zur Lektüre überlassen, es fehlte daran nur der aufgegeben, es wird im Jenseits als Primärprinzip
Teil über die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der vielmehr bekräftigt und unter anderem Namen, als
Protozoen. Das Wahrscheinliche ist nicht immer das Nirwanaprinzip, reetabliert. »Freuds Entscheidung,
Wahre« (Nachtr., 758). Ilse Grubrich-Simitis meint das Lustprinzip mit dem Konstanzprinzip, dem Prin-
allerdings, daß Freud die Bedeutung des Umarbei- zip der Bindung, zusammenzuführen, hat damit zu
tungsprozesses, dem er die Erstfassung des Textes tun, daß das Lustprinzip, wie es sich in unbewußten
nach dem Tod seiner Tochter unterzogen hat, mit Vorgängen zeigt, immer schon eine bestimmte Bin-
dieser Äußerung verkleinert habe. Sie berichtet, daß dung der Triebenergie, und zwar die Bindung der
in der Library of Congress in Washington zwei Ma- Triebenergie an Vorstellungen, an Repräsentanzen
nuskriptversionen von Jenseits des Lustprinzips aufbe- voraussetzt« (Bayer 1996, 11). Im siebten Kapitel des
wahrt werden. Vergleiche man nun die beiden Ver- Jenseits schreibt Freud: »Die Bindung der Triebre-
sionen, so zeige sich, daß zwischen den beiden Fas- gung wäre aber eine vorbereitende Funktion, welche
160 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

die Erregung für ihre endgültige Erledigung in der und die in Träumen wiederkehrenden Erinnerungen
Abfuhrlust zurichten soll« (GW XIII, 68). an psychische Traumen der Kindheit gehorchen dem
Im zweiten Kapitel (9 ff.) wird die wiederholte Er- Wiederholungszwang.
fahrung von Unlust zunächst anhand der traumati- Mit der Feststellung, daß es keinen Reizschutz ge-
schen Neurosen, der sog. Unfallsneurosen, beschrie- gen Erregungen von innen gibt, beginnt das fünfte
ben. Das Traumleben der Kranken zeige, daß sie im- Kapitel (35 ff.). Die wichtigste Quelle innere Erre-
mer wieder in die Situation des Unfalls zurückge- gungen sind die nach Abfuhr drängenden Triebe und
führt werden, aus der sie mit neuem Schrecken ihre auf den seelischen Apparat übertragenen, nicht
erwachen. In der Folge wird das Spiel von Freuds gebundenen Krafteinwirkungen. Die Aufgabe der hö-
Enkel mit einer Holzspule untersucht. Das Kind be- heren Schichten des seelischen Apparates ist es, die
wältige einen unlustvollen Vorgang, das Fortgehen Erregung der Triebe zu binden. Nur unter dieser
der Mutter, das es passiv hat erleben müssen, indem (Bindungs-)Bedingung kann sich die Herrschaft des
es ihn spielerisch aktiv immer neu wiederhole. Ab- Lustprinzips überhaupt durchsetzen. Es bleibt die
schließend konstatiert Freud, daß auch die Beispiele wichtigste Aufgabe des Seelenapparates, die Erregung
von erfahrener Unlust die Existenz des Lustprinzips zu binden, und zwar unabhängig und ohne Rück-
voraussetzen, man könne mit ihnen die Wirksamkeit sicht auf das Lustprinzip. Dies belegen die klinischen
von Tendenzen jenseits des Lustprinzips, ursprüng- Äußerungen des Wiederholungszwangs. Freud fragt
licher als dieses und von ihm unabhängig, freilich nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem
nicht beweisen. Triebhaften und dem Zwang zur Wiederholung:
Im dritten Kapitel (16 ff.) wird der zentrale Begriff »Hier muß sich uns die Idee aufdrängen, daß wir
des Wiederholungszwangs eingeführt. Da sich der einem allgemeinen, bisher nicht klar erkannten –
Kranke in der psychoanalytischen Kur nicht an alles oder wenigstens nicht ausdrücklich betonten – Cha-
von ihm Verdrängte erinnern kann, ist er genötigt, rakter der Triebe, vielleicht alles organischen Lebens
das Verdrängte in der Übertragung neu zu beleben überhaupt, auf die Spur gekommen sind. Ein Trieb
und als gegenwärtiges Erleben zu wiederholen. Die- wäre also ein dem belebten Organischen innewohnen-
ser Zwang treibt ihn dazu, quälende Erlebnisse aus der Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zu-
der Kindheit zu wiederholen, die aufgrund der Un- standes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äu-
verträglichkeit der infantilen Sexualwünsche mit der ßerer Störungskräfte aufgeben mußte, eine Art von
Realität und der Unzulänglichkeit der kindlichen organischer Elastizität, oder wenn man will, die Äu-
Entwicklungsstufe einst aufgegeben werden mußten. ßerung der Trägheit im organischen Leben« (38).
Auch im Leben nicht neurotischer Personen kann Diese beiden Charakteristika – Streben nach voll-
man sich ständig wiederholende, unglückliche Vor- ständiger Spannungsabfuhr (»Trägheit«, »Rückkehr
gänge finden, die den Übertragungsphänomenen der zum Anorganischen«, 41) einerseits, Drang nach
Neurotiker entsprechen. Diese Beobachtungen und Wiederholung andererseits – zeichnen den Todes-
das Verhalten in der Übertragung berechtigt Freud zu trieb aus, der damit zum Trieb par excellence wird.
der Annahme, daß es im Seelenleben einen Wieder- Als solcher übernimmt der Todestrieb die Merkmale,
holungszwang gibt, der ursprünglicher, elementarer die der unbewußte Wunsch im Freudschen Denken
und triebhafter ist als das von ihm zur Seite gescho- bis 1900 und danach der Sexualtrieb bis zur Einfüh-
bene Lustprinzip. rung des Narzißmus und der Einsicht in die libidinö-
Das vierte Kapitel (23 ff.) beginnt Freud mit der sen Grundlagen des Ich (1914) innehatte.
Bemerkung: »Was nun folgt, ist Spekulation, oft Wenn die Triebe konservativ und auf Wiederher-
weitausholende Spekulation, die ein jeder nach sei- stellung von Früherem gerichtet sind, dann kann jeg-
ner besonderen Einstellung würdigen oder vernach- liche Entwicklung nur durch äußere – störende und
lässigen wird. Im weiteren ein Versuch zur konse- ablenkende – Einflüsse bedingt sein. Fortschritt,
quenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde, wo- Wachstum und Vervollkommnung widersprächen
hin dies führen wird« (23). Das lebende Bläschen, aber der konservativen Natur der Triebe. »Wenn wir
schreibt er, ist mit einem Reizschutz gegen die Au- als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß
ßenwelt ausgestattet. Erregungen von außen, die alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anor-
stark genug sind, diesen Schutz zu durchbrechen, ganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das
werden traumatisch genannt. Sie bedingen, da der Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das
eingedrungene Reiz psychisch nicht gebunden wer- Leblose war früher da als das Lebende« (ebd., 40). In
den kann, eine Störung im Energiehaushalt des Or- der »unbelebten Materie«, so folgert Freud, wurden
ganismus. Auch die Träume der Unfallsneurotiker »irgend einmal« (40) durch eine unvorstellbare Kraft-
Jenseits des Lustprinzips 161

einwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt Ablehnung einer monistischen Triebtheorie, wie sie
und zu Umwegen bis zur Erreichung des Todesziels etwa C. G. Jung vertrat, bestand Freud weiterhin auf
genötigt. Freuds betont selbst, daß seine Hypothesen seiner dualistischen, durch den Gegensatz von Le-
auf mythische Denkfiguren (62) zurückgreifen. bens- und Todestrieben bestimmten, Auffassung.
Nach Freuds Strukturbeschreibung kommt das Pa- Um zu erklären zu können, warum auch die le-
radox zustande, daß die konservative Natur der benserhaltenden Sexualtriebe bestrebt sind, einen
Triebe (ursprüngliche Kraft zur Wiederholung) in früheren Zustand wiederherzustellen, greift Freud
der Realisierung ihres Ziels, das Leblose zu erreichen, das Gleichnis Platons vom zerschnittenen Kugelmen-
das Lebendige, die immer größeren »Umwege zum schen wieder auf, das er bereits in den Drei Abhand-
Tode«, letztlich die »Lebenserscheinungen« (41) her- lungen zur Sexualtheorie, allerdings zu anderen Zwek-
vorbringt. Auf diese paradoxale Struktur und eine ken, verwendet hatte. Die lebende Substanz sei bei
Ursprungsstörung als Anstoß der Dynamik (»unvor- ihrer Belebung in kleine Partikel zerrissen worden,
stellbare Krafteinwirkung«, ebd., 40) führt Freud die die seither mit Hilfe der Sexualtriebe ihre Wieder-
kulturelle und geistige Entwicklung des Menschen vereinigung anstrebten.
zurück: »Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach Im siebten Kapitel (67 ff.) resümiert Freud das Ver-
seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wie- hältnis zwischen Wiederholungszwang und Lustprin-
derholung eines primären Befriedigungserlebnisses zip. Wenn es die früheste und wichtigste Funktion
bestünde; […] Der Weg nach rückwärts, zur vollen des seelischen Apparats ist, Triebregungen ohne
Befriedigung, ist in der Regel durch die Widerstände, Rücksicht auf Unlustempfindungen zu binden und
welche die Verdrängungen aufrecht erhalten, verlegt, den in ihnen herrschenden Primärvorgang durch den
und somit bleibt nichts anderes übrig, als in der an- Sekundärvorgang zu ersetzen, also freibewegliche Be-
deren, noch freien Entwicklungsrichtung fortzu- setzungsenergie in ruhende umzuwandeln, dann sei
schreiten, allerdings ohne Aussicht, den Prozeß ab- damit das Lustprinzip keineswegs aufgehoben. Viel-
zuschließen und das Ziel erreichen zu können« mehr geschehe eine solche Transformation durchaus
(44 f.). Diese Entwicklungsdynamik lokalisiert Freud in seinem Dienst und solle seine Herrschaft einleiten
auf der Ebene eines grundlegenden Triebkonflikts. und sichern. Das Lustprinzip kann seine Aufgabe,
Dem Todestrieb werden die Sexualtriebe entgegen- den seelischen Apparat erregungslos zu halten, um
gestellt. Sie sind die eigentlichen Lebenstriebe, die ihn zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzufüh-
den anderen Trieben, die zum Tod führen, entge- ren (oder den Betrag an Erregung in ihm zumindest
genwirken. konstant bzw. möglichst niedrig zu halten), nur
Im sechsten Kapitel (46 ff.) versucht Freud, seine durch Bindung der Triebenergie umsetzen. Ihr
Annahmen mit Hilfe von Erkenntnissen aus der Bio- kommt eine vorbereitende, ja begründende Funktion
logie zu bestätigen, und diskutiert zunächst die Ar- zu. Die Wiederholung verweist auf ein Früheres, das
beiten von August Weismann. Für Weismann sind seinerseits außerhalb der Bindung, vor ihr sein muß.
die Einzeller potentiell unsterblich, der Tod ist seiner Die Wiederholung kann aber nur sein und psychisch
Meinung nach eine späte Erwerbung, die erst bei den wirksam werden im Zusammenhang mit einer Vor-
Metazoen auftritt, den Vielzellern, bei denen es zu stellungsrepräsentanz, d. h. einer Bindung. In der
einer Sonderung der Körperzellen in Soma und Wiederbesetzung (i. e. Widerholung) der ersten Be-
Keimplasma gekommen ist. Damit ist aber für die friedigungserlebnisse findet die Entbindung, d. h. die
Annahme von Todestrieben, die sich vom Beginn des energetische Abfuhr statt. In Jenseits des Lustprinzips
Lebens auf Erden ableiten, nichts gewonnen. Auch entfaltet Freud das Lustprinzip als dialektische Figur,
die Forschungsergebnisse an den Pantoffeltierchen in der die Wiederholungsbewegung Bindung und
führen zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Entbindung widersprüchlich verklammert und
Im Laufe der Entwicklung seiner Libidotheorie nichts anderes darstellt als die »Äußerung der Träg-
war Freud zunächst auf den Gegensatz von auf das heit im organischen Leben« (38). Es kann hier nur
Objekt gerichteten Sexualtrieben und Ichtrieben ge- angedeutet werden, daß Freud mit dieser dialekti-
stoßen. Als er sich näher mit dem Ich beschäftigte, schen Figur der Tatsache Rechnung trägt, daß die
hatte er erkannt, daß das Ich das eigentliche und ur- Psychoanalyse das Triebgeschehen auf der Ebene der
sprüngliche Reservoir der Libido, ein mit narzißti- Repräsentationen rekonstruiert (vgl. Bayer 1996).
scher Libido besetztes Sexualobjekt sei. Damit war Mit seiner Metapsychologie, an der er seit den
aber auch der Gegensatz zwischen Ichtrieben und Se- 1915er Jahren laborierte, hinterließ Freud seinen
xualtrieben weggefallen, man mußte den libidinösen Nachfolgern ein Erbe, das sie nur unter größtem Vor-
Charakter der Selbsterhaltungstriebe anerkennen. In behalt antraten. Eine auf ihre gesellschaftliche Repu-
162 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

tation bedachte, klinisch-therapeutisch ausgerichtete Hemecker, Wilhelm: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Vor-
aussetzungen der Psychoanalyse. München/Hamden/Wien
Psychoanalyse lehnte die von Freud im Jenseits ent- 1991.
wickelten neuartigen Vorstellungen weitgehend ab, Kimmerle, Gerd: Verneinung und Wiederkehr. Eine methodische
nur in den romanischen Ländern fanden und finden Lektüre von Freuds »Jenseits des Lustprinzips«. Tübingen
sie eine gewisse Resonanz (Lohmann 1983/1985). In 1988.
Laplanche, Jean: Leben und Tod in der Psychoanalyse. Olten/
Frankreich waren es vor allem Jacques Lacan und Freiburg i.Br. 1974 (frz. 1970).
Jean Laplanche, die Freuds provokante Thesen aufge- –: Der Todestrieb in der Theorie des Sexualtriebes. In: Ders.:
nommen und weiterentwickelt haben. Die allgemein- Die allgemeine Verführungstheorie. Tübingen 1988, 178–198
ste, in der Regel akzeptierte Interpretation behauptet, (frz. 1986).
–: Der (sogenannte) Todestrieb: ein sexueller Trieb. In: Zeit-
die große Entdeckung, die Freud in seiner Schrift von schrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 11 (1996),
1920 gemacht habe, sei die der Aggression: Der To- 10–26.
destrieb sei nichts als wilde, reine, nicht sexuelle, ge- Lohmann, Hans-Martin: Wie harmlos dürfen Psychoanalyti-
netisch-biologisch vorgegebene Aggressivität. Nun ker sein? Notizen zur verdrängten Thanatologie. In: Ders.
(Hg.): Das Unbehagen in der Psychoanalyse. Eine Streitschrift
hat Freud zwar die Idee eines ursprünglichen Aggres- [1983]. Frankfurt a. M. 1985, 50–59.
sionstriebs bis 1920 in kritischer Abgrenzung gegen Perner, Achim: Freuds Theorie der Aggression. In: André Mi-
Alfred Adler, der ihn als Hypothese vorgeschlagen chels u. a. (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 6
hatte, abgelehnt; gleichwohl verfügte Freud auch (2005). Im Druck.
Reich, Wilhelm: Die Funktion des Orgasmus. Die Entdeckung
schon früher über eine Theorie der Aggression, des des Orgons [1942]. Frankfurt a. M. 1972.
Sadomasochismus und des Hasses, wie z. B. die Reiter, Bettina: Dunkel ist das Leben, ist der Tod – Zu Freuds
kleine Schrift über Triebe und Triebschicksale (GW X, Todestriebtheorie. In: Zeitschrift für psychoanalytische Theo-
209–232) bezeugt. Laplanche schreibt, nur noch we- rie und Praxis 11 (1996), 27–47.
Rosenberg, Benno: Todestrieb und Triebmischung oder Der
nige Psychoanalytiker, die das Todestrieb-Konzept Todestrieb in der Konstruktion des Objektes und des psy-
aufgegriffen haben – vor allem Melanie Klein und chischen Apparats oder Der Todestrieb und die masochisti-
ihre Schule –, könnten sich daran erinnern, daß sche Dimension der Existenz [1989]. In: Zeitschrift für psy-
Freud damit eine uranfängliche Tendenz zur Selbst- choanalytische Theorie und Praxis 20 (2005), 40–59.
Schmidt-Hellerau, Cordelia: Lebenstrieb & Todestrieb, Libido &
destruktion und erst sekundär eine nach außen ge- Lethe. Ein formalisiertes konsistentes Modell der psychoana-
lenkte Aggression gemeint habe (Laplanche 1996). lytischen Trieb- und Strukturtheorie. Stuttgart 1995.
Das Wesentliche bei der Akzeptanz des Todestriebs Schur, Max: Das Es und die Regulationsprinzipien des psych-
sei nicht in der Entdeckung und theoretischen Be- ischen Geschehens. Frankfurt a. M. 1973 (engl. 1966).
Sulloway, Frank J.: Freud.. Biologist of the Mind [1979]. Cam-
gründung der Aggression zu sehen. Vielmehr liege bridge/London 1992.
dieses Wesentliche gemäß der These von einem pri- Weber, Samuel: Freud Legende. Olten 1979.
mären oder ursprünglichen Masochismus in der Zagermann, Peter: Eros und Thanatos. Psychoanalytische Unter-
Idee, daß die Aggression sich zuerst gegen das Sub- suchungen zu einer Objektsbeziehungstheorie der Triebe.
Darmstadt 1988.
jekt richtet und sich in ihm staut, bevor sie nach au-
ßen gelenkt wird. Diese These war allerdings radikal Thomas Aichhorn
neu und entfaltete ihre Wucht erst im Zusammen-
hang mit der Postulierung eines Todestriebs (Laplan-
che 1970/1974, 127 f.). 8.6 Psychosexualität der Frau
Literatur
Assoun, Paul-Laurent: Freud, la philosophie et les philosophes. Freuds Theorie der Weiblichkeit, oft kritisiert, ist eine
Paris 1976. vom Modell männlicher psychosexueller Entwick-
Bayer, Lothar: Wiederholung und Genießen. In: Riss 11 (1996), lung abgeleitete Theorie. Im Zentrum der Kontrover-
9–17.
Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und
sen um diese Theorie steht die Frage nach einer ur-
jenseits. Berlin 1987 (frz. 1980). sprünglich eigenständigen weiblichen Entwicklung,
Eissler, K. R.: Der sterbende Patient. Zur Psychologie des Todes. die das Mädchen nicht als zunächst ›kleinen Jungen‹
Stuttgart-Bad Cannstatt 1978 (engl. 1955). sieht. Betrachtet man Freuds sexualtheoretischen
–: Todestrieb, Ambivalenz, Narzißmus. München 1980 (engl.
1971).
Entwurf in den Drei Abhandlungen von 1905, so wird
Fenichel, Otto: Zur Kritik des Todestriebes [1935]. In: Ders.: die logische Stringenz seines Denkens auch an sei-
Aufsätze. Bd. 1. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, 361– nem Konzept einer der männlichen Entwicklung
371. analog verlaufenden weiblichen erkennbar. Denn Re-
Gödde, Günter: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopen-
hauer – Nietzsche – Freud. Tübingen 1999.
ferenzpunkt für Freud ist die am biologischen Wissen
Grubrich-Simitis, Ilse: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Doku- seiner Zeit orientierte Herangehensweise des Wissen-
mente sprechen machen. Frankfurt a. M. 1993. schaftlers: Samen- und Eizelle als die einzig klar ge-
Psychosexualität der Frau 163

trennten Elemente der in männliche/weibliche Indi- fest, »[…] daß für beide Geschlechter nur ein Geni-
viduen zweigeteilten Menschheit entsprechen dem tale, das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also
Gegensatzpaar aktiv/passiv. Zwar hebt Freud die wis- nicht ein Genitalprimat, sondern ein Primat des
senschaftliche Unklarheit der Begriffe männlich/ Phallus« (ebd., 94 f.). Damit ist die Differenz von ›ihn
weiblich und die grundsätzliche Bisexualität des haben‹ versus ›ihn nicht haben‹ beiden Geschlech-
Menschen hervor und problematisiert die vermeint- tern eingeschrieben und die Erfahrung des Mangels
lich klare Trennung von aktiv/passiv. Gleichwohl hält als Signifikant des Weiblichen eingeführt.
er an der Zuordnung männlich/aktiv und weiblich/ Für Freud ist das Mädchen bis zur Pubertät psy-
passiv fest, indem er die Libido als »gesetzmäßig chosexuell charakterisiert durch die Klitoris als der
männlicher Natur« (GW V, 120) definiert, »denn der leitenden Genitalzone. Die Klitoris wird als männ-
Trieb ist immer aktiv« (ebd., 121). liches Lustorgan definiert, in dem die stärkere Bise-
Mit dieser Setzung ist der Hintergrund bereitet, xualität der Frau ihre anatomische Grundlegung
vor dem Freud den Unterschied der Geschlechter finde. Freud lehnt alle Befunde und Reflexionen über
entfaltet und begründet. Zugleich bildet sie die Rah- eine infantile Wahrnehmung der Vagina ab bzw. mißt
menbedingungen dafür, daß die Konzeptualisierung ihnen für die infantile Entwicklung keine Bedeutung
der Geschlechter in ihrer jeweiligen psychosexuellen zu. Die Vagina gilt Freud zwar als das weibliche Or-
Spezifik erschwert und soziokulturell bedingte Zu- gan, aber sie werde erst mit der Pubertät von beiden
schreibungen von Geschlechtscharakteren Platz grei- Geschlechtern entdeckt und nun, bei gelingender
fen, denen Freud selbst durchaus kritisch gegenüber- weiblicher Entwicklung, das leitende genitale Organ
stand. So dementiert er in der Neuen Folge der Vor- für die weibliche Sexualität. Die u. a. von Karen Hor-
lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse die Vor- ney, Melanie Klein, Josine Müller und Ernest Jones
stellung, die sexuelle Polarität von männlich/weiblich vorgetragenen Argumente über die wichtige Rolle
beinhalte zugleich eine geschlechtsspezifische Libido: der Vagina in der Entwicklung des Mädchens vor der
»Aber nichts dergleichen ist der Fall. Es gibt nur eine sexuellen Reife weist Freud zurück. So finden in
Libido, die in den Dienst der männlichen wie der Freuds Theorie der Weiblichkeit weder lustbetonte
weiblichen Sexualfunktion gestellt wird. Wir können vaginale Sensationen noch dadurch ausgelöste Äng-
ihr selbst kein Geschlecht geben; wenn wir sie nach ste einen Ort der Reflexion.
der konventionellen Gleichstellung von Aktivität und Die diesem Kapitel zugrundeliegenden Freud-
Männlichkeit selbst männlich heißen wollen, dürfen Texte gehören in den historischen Kontext der ersten
wir nicht vergessen, daß sie auch Strebungen mit großen Kontroverse, die während der 1920er und
passiven Zielen vertritt. […] die Zusammenstellung 1930er Jahre in der Psychoanalyse über die Theorie
›weibliche Libido‹ läßt jede Rechtfertigung vermis- der Weiblichkeit geführt und als ›Kontroverse Wien-
sen« (GW XV, 141). Der Verweis auf die »konven- London‹ in die Annalen eingegangen ist (Chasseguet-
tionelle Gleichstellung« macht deutlich, wie vorsich- Smirgel 1964/1974; Fliegel 1986/1991).
tig Freud Widersprüche und Unzulänglichkeiten sei-
ner Konzepte mitbedenkt. Trotz ihrer erkennbaren
Ödipuskomplex und Kastrationskomplex
Defizite, die schon seine Zeitgenossen kritisierten,
formulieren Freuds Arbeiten zur Weiblichkeitsheorie In seiner allgemeinsten Beschreibung bereitet der
grundlegende Einsichten und Problemstellungen, die Ödipuskomplex kein Problem, er ist für beide Ge-
für die nachfolgenden Analytikergenerationen weg- schlechter zutreffend: Das Kind liebt den jeweils ge-
weisend blieben – auch wenn sie neue Wege such- gengeschlechtlichen Elternteil, wodurch es in Rivali-
ten. tät mit dem eigengeschlechtlichen gerät. Seine Phan-
Beide Geschlechter beziehen sich laut Freud in der tasien, den gleichgeschlechtlichen Rivalen beseitigen
Erfahrung der anatomischen Differenz, deren Inte- zu wollen, stürzen es in bedrohliche innere Konflikte
gration in ihr sexuelles Körperbild und dessen psych- und Ängste, von diesem ja ebenfalls geliebten Eltern-
ischer Besetzung auf den Phallus/Penis, hieran werde teil nun seinerseits bestraft zu werden. Das Kind gibt
von beiden die Differenz erkannt – und bewertet. sein ödipales, besitzergreifendes Streben auf. In die-
1924 hatte Freud in Die infantile Genitalorganisation ser populären Version ist der Ödipuskomplex gleich-
(GW XIII, 291–298) sein Konzept der infantilen Se- sam von seinem Skandalon, der Sexualität, befreit.
xualität korrigiert und schon für das Kind die libidi- In Der Untergang des Ödipuskomplexes (GW XIII,
nöse Besetzung eines Objekts und die dominierende 393–402) entfaltet Freud 1924 nun sein Konzept und
Bedeutung der Genitalien konstatiert. Als zentralen hebt dessen Bedeutung hervor: »Immer mehr ent-
Unterschied zur Sexualität der Erwachsenen hält er hüllt der Ödipuskomplex seine Bedeutung als das
164 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualität« männlichen Gespielen wahr, daß es ›zu kurz‹ gekom-
(395). Freud skizziert die ödipale Situation des Jun- men ist, und empfindet diese Tatsache als Benach-
gen entlang der Linie der Triebentwicklung, mit der teiligung und Grund zur Minderwertigkeit« (400).
sich die Objektbeziehungen dann verbinden bzw. in Der Kastrationsangst des Jungen entspricht also die
Konflikt geraten. Grundlage der ödipalen Entwick- Kastrationserfahrung des Mädchens. Der Junge ent-
lung ist die phallische Organisation, der »Primat des wickelt sich in Übereinstimmung mit seiner sexuel-
Phallus«, d. h. der Penis in seiner konkreten Gestalt len Reife und seinem ursprünglichen Liebesobjekt
als Signifikant des Begehrens. Das Interesse des Kna- gleichsam naturwüchsig in den Ödipuskomplex hin-
ben konzentriert sich auf sein Genitale, in dem libidi- ein. Es ist die Kastrationsdrohung, die ihn veranlaßt,
nöse Strebungen der Objekt- wie der (narzißtischen) ihn aufzugeben. Anders das Mädchen. Ihm droht
Ichlibido zusammenfließen und ihm eine genitale keine Kastration, es erfährt dieselbe als gleichsam
Abfuhr der Sexualerregung erlauben. Die ödipale Be- vollzogene Tatsache. Damit befindet es sich in einer
setzung der elterlichen Objekte »bot dem Kinde zwei anderen psychischen Grundposition. «Das Mädchen
Möglichkeiten der Befriedigung, eine aktive und eine gleitet – man möchte sagen: längs einer symbolischen
passive« (398) – aktiv in der Position des Vaters, die Gleichung – vom Penis auf das Kind hinüber, sein
Mutter zu begehren, oder passiv in jener der Mutter, Ödipuskomplex gipfelt in dem lange festgehaltenen
vom Vater begehrt zu werden. Der masturbatori- Wunsch, vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhal-
schen Aktivität des Knaben tritt die Kastrationsdro- ten, ihm ein Kind zu gebären. Man hat den Eindruck,
hung in Form der Mißbilligung oder des Verbots ent- daß der Ödipuskomplex dann langsam verlassen
gegen, womit die aktive Position gefährlich wird. Die wird, weil dieser Wunsch sich nie erfüllt« (401).
unvermeidliche Kenntnisnahme des weiblichen, pe- Beide Wünsche, der »nach dem Besitz eines Penis
nislosen Genitales zwingt den Knaben zur Einsicht, und eines Kindes« (401), bleiben unbewußt stark be-
daß Kastration wirklich möglich sei, wodurch die setzt und helfen laut Freud dem Mädchen, sich auf
passive Position die nämliche Gefahr, den Verlust des seine ›weibliche Rolle‹ einzustellen. Der Peniswunsch
Genitales, bedeutet und gleichzeitig die Gefahr der wird durch den Kinderwunsch ersetzt, den es an den
Kastration in der aktiven Position realistisch erschei- Vater richtet.
nen läßt. Mithin gerät er in einen Konflikt zwischen 1925 faßt Freud in der Schrift über Einige psy-
seinem narzißtischen Interesse an seinem Genitale chische Folgen des anatomischen Geschlechtsunter-
und seiner libidinösen Besetzung der Eltern. Und schieds (GW XIV, 17–30) die unterschiedliche Posi-
hier »siegt normalerweise die erstere Macht; das Ich tion von Junge und Mädchen bezüglich Kastration
des Kindes wendet sich vom Ödipuskomplex ab« und ödipaler Situation zusammen: »Während der
(398). An die Stelle der libidinösen Besetzung des Ödipus-Komplex des Knaben am Kastrationskom-
ödipalen Objekts tritt eine Identifizierung mit dem plex zugrunde geht, wird der des Mädchens durch
Vater und seinem Verbot und bildet den Kern des den Kastrationskomplex ermöglicht und eingeleitet«
Über-Ichs, das nun seinerseits das ödipale Gebot, den (ebd., 28). Der Junge tritt im Einklang mit seinem
Verzicht auf den Inzest, vertritt. Die libidinösen Stre- Begehren in den Ödipuskomplex ein: Er hat ein Lie-
bungen werden teilweise zu zärtlichen desexualisiert, besobjekt und ein Geschlechtsorgan, in und mit dem
und der Knabe tritt in die Latenzzeit ein. Später, mit sich sein Begehren an sein Objekt richtet.
der sexuellen Reife in der Pubertät, wird er den Diese unterschiedliche Position der Kastration ge-
Schritt zum vollen Primat der Genitalien tun, sich genüber hat weitreichende Folgen für die Entwick-
endgültig von seinen inzestuösen Objekten lösen und lung der psychischen Struktur: Die Über-Ich-Ent-
sich an fremde Liebesobjekte binden. wicklung des Mädchens erfolgt nicht im gleichen
Die Frage nach der weiblichen psychosexuellen Maße als innerer Prozeß, wie Freud ihn für den Jun-
Entwicklung wirft indes für Freud weit größere – gen konzeptualisiert, da das Motiv der Kastrations-
und wie es zuweilen scheint: überraschende – Pro- angst fehlt, sondern gründet sich stärker auf Erzie-
bleme auf, da sie sich nicht so linear wie jene der hungsmaßnahmen, die mit Liebesentzug drohen, ist
männlichen darstellt. So findet sich zunächst die Ein- also in höherem Maße sozialinduziert, d. h. außen-
schränkung: »Unser Material wird hier – unverständ- geleitet und objektabhängig.
licherweise – weit dunkler und lückenhafter« (400). Der Ödipuskomplex stellt mithin für das Mädchen
Andererseits soll für die weibliche Entwicklung eine eine »sekundäre Bildung« dar (ebd.). Sechs Jahre spä-
der männlichen ganz analoge gelten: »Die Klitoris ter führt Freud in seiner Schrift Über die weibliche
benimmt sich zunächst ganz wie ein Penis, aber das Sexualität (GW XIV, 515–538) diesen Sachverhalt nä-
Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem her aus: Der Ödipuskomplex umfaßt alle Beziehun-
Psychosexualität der Frau 165

gen des Kindes zu seinen Eltern, und seine ›negative‹ fisch genährt durch den Penisneid, da dieser sich ins
Form fällt für das Mädchen in die Präödipalität, in Feld der Eifersucht verschiebt. 3. Der Penisneid dient
der der Vater nur als lästiger Rivale empfunden wird. dem Mädchen zur Abwendung von der Mutter, da sie
Der ›positive‹ Ödipuskomplex mit seiner Hinwen- für den »Penismangel« verantwortlich gemacht wird.
dung zum Vater wird in seinen Eigengesetzlichkeiten 4. Der enttäuschte Rückzug von der klitoralen/phalli-
nicht näher untersucht. Er bleibt gleichsam im Schat- schen/männlichen Onanie, da sie an die »narzißti-
ten der ursprünglichen Beziehung zur Mutter, in der sche Wunde« erinnert und dadurch von einem un-
das Mädchen verharren kann, ohne den Weg zu einer lustvollen Gefühl begleitet wird. Diesem Aspekt mißt
eigenständigen Beziehung zum Vater, zum Mann zu Freud die größte Bedeutung bei, da er schon auf den
finden (ebd., 518). in der Pubertät zu meisternden Wechsel von der
Diese Dynamik spielt schon 1920 in Über die Psy- phallisch-männlich dominierten Sexualität hin zur
chogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität Weiblichkeit vorbereitet und die ›normale‹ Entwick-
(GW XII, 269–302) eine große Rolle. Freud zeichnet lung einleitet. Mit diesen »Folgen des Penisneides«
hier den Weg der inneren Konflikte einer 18jährigen hat Freud nun die innere Logik der Kastrationserfah-
Patientin aus der ödipalen Situation nach: Aus Ent- rung des Mädchens beschrieben: Sie ist eine Enttäu-
täuschung an der mit ihrer Jugendlichkeit konkurrie- schung am eigenen Genitale und das Motiv für das
renden Mutter, die sie den drei Brüdern gegenüber Mädchen, sich der Weiblichkeit/Passivität zuzuwen-
zurücksetzte, gibt sie den Weg weiblicher Identifizie- den.
rung mit dem Wunsch nach Mutterschaft auf, weicht Sechs Jahre später, in Über die weibliche Sexualität,
also der Konkurrenz mit der Mutter aus und richtet nimmt Freud diese Fragen nach den Besonderheiten
ihren Narzißmus auf die Besetzung androgyner An- der weiblichen Entwicklung nochmals auf. Ist für den
teile. Am Vater – der ihr das ödipale Kind vorenthielt Jungen die Kontinuität von Geschlechtsorgan und
und die Mutter schwängerte, als die Tochter bereits Liebesobjekt als jeweils ein und dasselbe charakteri-
15 Jahre alt war – rächt sie sich in ihrer Enttäu- stisch, so ist die weibliche Entwicklung durch die
schung, indem sie die Männer als Liebesobjekte ver- zwei und den notwendigen Wechsel von eins nach
wirft: »Nach diesem ersten großen Mißerfolg verwarf zwei gekennzeichnet: Klitoris und Vagina, primäres
sie ihre Weiblichkeit und strebte nach einer anderen Liebesobjekt Mutter und sekundäres ödipales Objekt
Unterbringung ihrer Libido« (ebd., 284). Vater, Verzicht auf phallische Aktivität und Hinwen-
dung zu weiblicher Passivität. »Das Geschlechtsleben
des Weibes zerfällt in zwei Phasen, von denen die
Der Penisneid
erste männlichen Charakter hat; erst die zweite ist die
1925 erörtert Freud in Einige psychische Folgen des spezifisch weibliche« (GW XIX, 520).
anatomischen Geschlechtsunterschieds dann v. a. die
Gründe, die das Mädchen veranlassen, den für seinen
Die Bedeutung der präödipalen Phase
Ödipuskomplex erforderlichen Objektwechsel vorzu-
nehmen. Diese Frage führt ihn zur Abwendung des Das Mädchen gibt sein infantiles genitales Lustzen-
Mädchens von der klitoralen Onanie. Wie für den trum auf und wechselt sein Objekt, danach kann es
Jungen sieht er für das Mädchen die Onanie als spon- in die ›normale ödipale‹ Situation eintreten. Sein
tane Organbetätigung, die sich jedoch nicht wie beim Ödipuskomplex ist eine sekundäre Bildung: Mit die-
Jungen mit dem Ödipuskomplex verbindet. Die Er- sen spezifischen Bedingungen weiblicher Entwick-
fahrung der Kastration führt vielmehr zum Neid auf lung rückt die präödipale Phase in den Mittelpunkt.
das entbehrte und begehrte Organ. Zentral für Denn gerade an jenen Analysandinnen, die eine aus-
Freuds Theorie der Weiblichkeit sind in diesem Text gesprochen starke Vaterbindung aufwiesen, ent-
die Folgen, die er dem unvermeidlichen Minderwer- puppte sich diese als Erbe einer vorgängigen starken
tigkeitsgefühl und dem damit verbundenen Penis- Mutterbindung.
neid der Frau für ihre psychische Entwicklung zu- In seiner Schrift Über die weibliche Sexualität von
schreibt: 1. Der »Männlichkeitskomplex« als Reak- 1931 faßt Freud die strukturbildende, zentrale Be-
tionsbildung, mit der aufrechterhaltenen Hoffnung, deutung der präödipalen Phase für die weibliche Ent-
noch einen Penis zu bekommen bzw. ein Mann zu wicklung in folgendem Vergleich zusammen: »Die
werden. Dies stellt die radikalste Abwendung bzw. Einsicht in die präödipale Vorzeit des Mädchens
Verhinderung von Weiblichkeit dar und geht häufig wirkt als Überraschung, ähnlich wie auf anderem
mit manifester Homosexualität einher. 2. Freud sieht Gebiet die Aufdeckung der minoisch-mykenischen
die größere Eifersucht der Frau zusätzlich und spezi- Kultur hinter der griechischen« (GW XIV, 519). Hier
166 Werke und Werkgruppen – Sexualtheorie und Triebtheorie

findet sich auch Freuds Hinweis, weiblichen Analy- spätere Vaterobjekt, wo sie nicht hingehören […]«
tikerinnen möge es besser als ihm gelingen, in den (ebd., 531). Freud kann nun die Abwendung von der
Analysen mit Frauen in jene frühe Entwicklungs- Mutter nicht nur als wichtigen Objektwechsel sehen,
phase vorzudringen. Der Ödipuskomplex wird also sondern auch, »daß Hand in Hand mit ihr ein starkes
begrifflich erweitert: Er umfaßt alle Beziehungen des Absinken der aktiven und ein Anstieg der passiven
Kindes zu seinen Eltern, und seine ›negative‹ Form Strebungen zu beobachten ist« (ebd., 533).
fällt für das Mädchen in die Präödipalität, in der der Im letzten Teil seiner Abhandlung geht Freud ex-
Vater nur als lästiger Rivale empfunden wird. Der plizit auf die damalige psychoanalytische Diskussion
›positive‹ Ödipuskomplex mit seiner Hinwendung über die weibliche Sexualität ein, indem er auf Über-
zum Vater wird in seinen Eigengesetzlichkeiten von einstimmungen mit Karl Abraham, Jeanne Lampl-de
Freud nicht näher untersucht. Er bleibt gleichsam im Groot und Helene Deutsch und auf Differenzen mit
Schatten der ursprünglichen Beziehung zur Mutter. Otto Fenichel und Melanie Klein hinweist. Von Er-
Mit diesem erweiterten Verständnis der weiblichen nest Jones und Karen Horney grenzt er sich deutlich
Entwicklung hin zur ödipalen Konstellation bzw. de- ab, weil sie für seinen Geschmack den ursprüngli-
ren Verfehlen klären sich für Freud bislang unver- chen infantilen Strebungen zugunsten der späteren
ständliche Phänomene. So erscheint nun feindseliges einen zu geringen Stellenwert einräumen (ebd.,
Verhalten dem Ehemann gegenüber als Ausdruck der 534 ff.).
Regression auf die Ebene der Mutterbeziehung, für
die Feindseligkeit charakteristisch ist.
Zur Rezeption
Die Feindseligkeit gegen die Mutter wird durch die
ödipale Rivalität nur verstärkt. Ihre Ursprünge liegen Angesichts zahlreicher Formulierungen Freuds über
in den Frustrationen der präödipalen Zeit. Freud die Weiblichkeit liegt es nahe, ihm Befangenheit im
nennt hier: 1. Die Eifersucht auf andere, die dem in- Sinne patriarchalisch dominierter Wahrnehmung
fantilen Anspruch auf Ausschließlichkeit widerspre- und eine Entwertung des weiblichen Geschlechts
chen. 2. Das generelle Schicksal der infantilen Liebe, vorzuwerfen. Das hat vor allem die spätere feministi-
einer »Endbefriedigung« im Sinne des Orgasmus sche Kritik besorgt (vgl. IV.10). Hier sollen knappe
nicht fähig und deshalb enttäuschend zu sein und Hinweise auf die Weiterentwicklung der Weiblich-
dadurch Feindseligkeit hervorzurufen. 3. Die Folgen keitstheorie innerhalb der psychoanalytischen Litera-
des Kastrationskomplexes, die Freud mit dem Ma- tur genügen. Den feministischen wie den genuin psy-
sturbationsverbot verknüpft, so daß der Groll wegen choanalytischen Rezeptionsstrang verbindet die
des Verbots jenem wegen des ›Zu-kurz-gekommen- Frage nach einer eigenständigen weiblichen Entwick-
Seins‹ vorausgeht und zusätzlich stärkt. Zudem un- lung, die sich nicht aus einer primären Männlichkeit
terliegt auch die Mutter der allgemeinen Entwertung ableitet, sondern eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt,
der Weiblichkeit. Feindselige Gefühle und die ihr ent- die in der Anatomie des Geschlechterunterschieds
springende frühkindliche Ambivalenz veranlassen mitbegründet, aber nicht einem »phallischen Monis-
also das Mädchen, sich aus der ursprünglichen Mut- mus« unterstellt sind. Im Zentrum der Freud-Kritik
terbindung zu lösen, in die ödipale Konstellation ein- stand dabei die Frage nach der angeblichen Kastriert-
zutreten und dann – mehr oder weniger – die in- heit der Frau, ihrem Penisneid resp. dessen Bedeu-
zestuösen Beziehungen aufzugeben, die der Junge tung sowie die Gleichsetzung von aktiv und männ-
über den Ödipuskomplex via Kastrationsdrohung lich, in deren Konsequenz weibliche Selbstverwirk-
und Inzestverbot verläßt. lichungsbestrebungen jenseits von Familie und Mut-
In einer ausführlichen Diskussion über die »Sexu- terschaft als Ausdruck des Penisneides und der
alziele« der präödipalen Phase des Mädchens nimmt Verweigerung weiblicher Entwicklung betrachtet
Freud seine Konzeption von passiv/aktiv wieder auf wurden. Den Penisneid selbst als Symptom und Ab-
und fügt seine neuen Erkenntnisse dem Dualismus wehrformation als bedrohlich erlebter weiblicher
von weiblich/männlich ein. Er skizziert für das Mäd- Wünsche zu verstehen, hatten schon in den 1920er
chen das nämliche Bestreben wie für den Jungen, die und 1930er Jahren v. a. Horney (1922/1984), Klein
passiv erfahrene Handlung in eine aktive zu über- (1927/1985; 1932/1971) und Jones (1928; 1933;
führen. »Die so überraschende sexuelle Aktivität des 1935) geltend gemacht. Die Kontroverse über klito-
Mädchens gegen die Mutter äußert sich der Zeitfolge rale versus vaginale Erogenität resp. über die Defini-
nach in oralen, sadistischen und endlich selbst phalli- tion der Libido wurde fortgeführt in der Debatte um
schen, auf die Mutter gerichteten Strebungen. […] ein eigenständiges weibliches Begehren. Ähnlich wie
Mitunter begegnen sie uns als Übertragungen auf das Jones in der frühen Kontroverse, versuchte William
Psychosexualität der Frau 167

Gillespie später (1974), die einander widersprechen- Maria Torok (1964/1974) stellt den Autonomie-
den Positionen zu integrieren. Für ihn war Freud ei- kampf der Tochter in den Mittelpunkt ihrer Argu-
nem angemessenen Verständnis der weiblichen sexu- mentation und analysiert den Penisneid als Abwehr
ellen Erregung sehr nahe, als er 1905 von der Klitoris der tieferliegenden Ängste vor der mächtigen Mutter
als Auslöser der sexuellen Erregung innerhalb des der frühen kindlichen Entwicklung, die in der analen
weiblichen Genitales sprach. Gillespie erkennt darin Phase Kontrolle über den töchterlichen Körper bean-
eine Vorwegnahme der Forschungsergebnisse von sprucht und gegen deren Zugriff das Mädchen mit
Masters und Johnson aus den 1970er Jahren und be- archaischer Wut regiert – einer Wut, die nun ihrer-
dauert, daß Freud seinerzeit sich für die vermeint- seits angstauslösend wirkt und entsprechend mit
liche Opposition von Klitoris und Vagina entschie- dem Penisneid abgewehrt und unkenntlich gemacht
den habe. werden kann.
Kleins Theorie der frühkindlichen Entwicklung Alles in allem: Freuds ratlose Frage »Was will das
mit den Frühstadien des Ödipuskomplexes (1927) Weib?« (zit. nach Jones II, 493) bleibt weiterhin offen
wird in unterschiedlicher Weise fruchtbar für die und verweist auf den komplexen Charakter der psy-
Aufklärung der präödipalen Phase mit ihrer prägen- chosexuellen Entwicklung der Frau.
den Beziehung zum mütterlichen Primärobjekt. Für
Klein ist der Wunsch nach dem Penis zwar in Nach- Literatur
folge des immer auch frustrierten Wunschs nach der Chasseguet-Smirgel, Janine: Die weiblichen Schuldgefühle. In:
Dies. (Hg.): Psychoanalyse der weiblichen Sexualität. Frank-
Brust zu sehen, jedoch geht auch sie von einem – furt a. M. 1974, 134–191 (frz. 1964).
unbewußten – Wissen des Mädchens von seinem –: Bemerkungen zu Mutterkonflikt, Weiblichkeit und Reali-
Körperinneren und der Vagina aus, und der Wunsch tätszerstörung. In: Psyche 29 (1975), 805–812 (frz. 1974).
nach dem Penis wird zum genuin weiblichen Fliegel, Zenia O.: Die Entwicklung der Frau in der psycho-
analytischen Theorie: Sechs Jahrzehnte Kontroversen. In:
Wunsch, daraus eigene Babies zu machen. Diese Li- Judith Alpert (Hg.): Psychoanalyse der Frau jenseits von
nie findet sich auch bei Janine Chasseguet-Smirgel Freud. Berlin/Heidelberg/New York 1991, 11–40 (engl.
(1964/1974). Für sie ist der Penisneid Ausdruck des 1986).
Wunschs, sich von der Mutter zu befreien und auto- Gillespie, William: Freuds Ansichten über die weibliche Sexua-
lität [1974]. In: Psyche 29 (1975), 789–804.
nom Frau zu sein. Zehn Jahre später entwickelt die Horney, Karen: Die Psychologie der Frau. Frankfurt a. M. 1984
Autorin ihr Verständnis der Bedeutung der frühkind- (engl. 1967).
lichen Mutterbindung weiter und sieht im Penisneid Jones, Ernest: Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität.
eine Form des aus infantiler Hilflosigkeit geborenen, In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 14 (1928),
11–25
beide Geschlechter kennzeichnenden Rachewunsches –: Die phallische Phase. In: Internationale Zeitschrift für Psy-
der Mutter gegenüber. Deren Macht soll begrenzt, choanalyse 19 (1933), 322–357.
d. h. die Mutter soll ›kastriert‹ bzw. ihre ›Kastration‹ –: Über die Frühstadien der weiblichen Entwicklung. In: In-
festgeschrieben werden mit Hilfe jenes Organs, das ternationale Zeitschrift für Psychoanalyse 21 (1935),
331–341.
ihr mangelt: des Penis. Für Chasseguet-Smirgel Klein, Melanie: Frühstadien des Ödipuskomplexes [1927]. In:
(1974/1975) sind die psychoanalytischen Positionen Dies.: Frühstadien des Ödipuskomplexes. Frühe Schriften
zur Theorie der Weiblichkeit selbst ein Beispiel für 1927–1945. Frankfurt a. M. 1985, 7–21.
die Auswirkungen dieses infantilen Wunsches, inso- –: Die Auswirkungen früher Angstsituationen auf die weib-
liche Sexualentwicklung [1932]. In: Dies.: Die Psychoanalyse
fern sie den Penisneid, die notwendige Aufgabe der des Kindes. München 1971, 203–248.
Klitoris, fehlende Sublimierungsfähigkeit und Über- Torok, Maria: Die Bedeutung des »Penisneids« bei der Frau.
ich-Schwäche als konstitutionell bedingte Mangelsi- In: Chasseguet-Smirgel 1964/1974, 192–232.
tuation behaupten. Heidi Staufenberg
168

9. Kulturtheorie

9.1 Totem und Tabu (1912/13) Abhandlung (s. Kap. II.4) zur Parallele zwischen der
Projektion als ursprünglicher kindlicher Wahrneh-
Entstehung (Kontext, Quellen, Inhalte) mungsweise und der animistischen Weltanschauung
konstruiert Freud die Bildung gesellschaftlicher wie
Als Freud 1910/11 mit der Arbeit an Totem und Tabu psychischer Instanzen aus der subjektiven Perspek-
(GW IX) begann, hatte er vor, ethnologische Belege tive der kindlichen Entwicklung.
für den Ödipuskomplex zu sammeln (Freud: Einlei- Auch im dritten Kapitel, das den Animismus als
tungspassage zu Über einige Übereinstimmungen im Vorstufe der religiösen Weltanschauung einführt,
Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Nachtr., deutet Freud magisches Denken als »motorische Hal-
744 f.; Reichmayr 1995). Die rasche Veröffentlichung luzination«, analog dem kindlichen Spiel. Hat in der
der ersten Abhandlung war eine Reaktion auf Jungs Magie noch das Prinzip der ›Allmacht der Gedanken‹
Über Wandlungen und Symbole der Libido (1911) und regiert, so wird mit dem Animismus »ein Teil dieser
auf die drohende Spaltung der Psychoanalyse. Inso- Allmacht den Geistern abgetreten« (GW IX,
weit kann Totem und Tabu auch als Exotisierung der 106). Wieder bleibt die Frage, woher der Übergang
Institutionalisierungskonflikte der Psychoanalyse ge- vom Narzißmus zum Triebverzicht rührt, bewußt
lesen werden (Erdheim 2001). Entziffert wurde der ungelöst.
Text auch als Dokument der Ablösung von Freuds Alle offenen Fragen des bisherigen Textes soll die
jüdischer Herkunft (Blumenberg 2002) oder als Re- vierte Abhandlung über Totemismus und Exogamie
flex auf die kulturelle Position des assimilierten Ju- klären. Nach einem langen, atemberaubend unter-
dentums (Gilman 1993; Hamburger 2005). gliederten Literaturreferat scheint Freud schon er-
Totem und Tabu steht inhaltlich und methodisch in mattet aufgeben zu wollen (»Wir […] wissen selbst
der Tradition des englischen Evolutionismus (Ritvo nicht, worauf wir raten sollen«, ebd. 152) – da prä-
1990; Wallace 1983), der jedoch seinen Zenit bereits sentiert er mit einer überraschenden Volte die Lö-
überschritten hatte und spätestens seit dem Ersten sung: Die Darwinsche Urhorde, in der die Dominanz
Weltkrieg seine paradigmatische Funktion verlor eines Männchens die Exogamie der vertriebenen jun-
(Erdheim 2001). gen Männer erklärt. Analog zum Ödipuskomplex
setzt Freud »den Vater an die Stelle des Totemtieres
ein« (159) und hat somit das totemistische Tötungs-
Kurzcharakteristik der Inhalte
und Inzesttabu auf einmal erklärt. Robertson Smiths
Im ersten der vier zunächst getrennt erschienenen Auffassung des Tieropfers als symbolisch verbinden-
Kapitel wird der methodische Schlüssel präsentiert, der Clanmahlzeit liefert den letzten Baustein zur
die Gleichsetzung prähistorischer und indigener Völ- Schlußthese: »Eines Tages taten sich die ausgetriebe-
ker mit Kindern und Neurotikern. Das universale In- nen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten
zesttabu wird als Motiv der Exogamie und weiterer den Vater […]« (171 f.). Damit ist der Mord als Ur-
sozialer Vermeidungsregeln beschrieben. sprung der Sittlichkeit identifiziert. Um zu klären,
In der zweiten Abhandlung werden Tabu und wie aus dem Verbrechen ein Sozialvertrag erwachsen
Zwangsneurose verglichen; beide verbindet das Mo- kann, postuliert Freud eine ursprüngliche Ambiva-
ment unbewußter Feindseligkeit, im Falle der lenz bei den mörderischen Brüdern der Urhorde und
Zwangsneurose gegenüber geliebten Objekten, im erklärt aus deren Schuldbewußtsein das Tabu der Tö-
Falle des Tabus gegenüber Feinden, Herrschern und tung des Totemtieres. Das noch ungeklärte Inzest-
Toten. Bewußt offen läßt Freud die Frage nach deren tabu leitet Freud aus den »homosexuellen Gefühlen«
Ursprung. In einer eingeschobenen theoretischen der Brüderhorde ab, ohne dies weiter auszuführen,
Totem und Tabu 169

jedoch in andeutungsweisem Zusammenhang mit Wichtige Aspekte der Forschungsdiskussion


dem Mutterrecht.
Abschließend diskutiert Freud die Religionsent- Die Urhordenhypothese wurde in der Soziologie und
wicklung. Götter entstehen aus der Rückführung der Ethnologie weitgehend verworfen (Kroeber 1920,
Vaterfigur aus der Tier- in die Menschengestalt in der 1939; Róheim 1950; Westphal-Hellbusch 1960;
weiterentwickelten Brüderhorde. Unter ausdrückli- Brauns 1981; Bryce Boyer 1980; Petermann 2004).
cher Übergehung der Muttergottheiten erklärt Freud Freuds Methode entsprach der heute obsoleten »kon-
das Christentum als Neufassung des Vaterfrevels bei jekturalen Forschungsmethode« der evolutionisti-
gleichzeitiger Vergötterung des Sohnes. Der Ödipus- schen Ethnologie. Inzwischen hat die Ethnopsycho-
komplex erscheint somit als Ausgangspunkt von »Re- analyse (s. Kap. IV.13) andere Wege eingeschlagen
ligion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst« (188). (Muensterberger 1974; Reichmayr 1995; Minsky
1998).
Totem und Tabu bildet den Übergang zu Freuds
Diskussion der zentralen Themen,
negativer Kulturtheorie. Hatte er noch 1908 die Kul-
Thesen und Begriffe
turentwicklung auf die Triebunterdrückung zurück-
Gegen Freuds These gibt es gewichtige Einwände. geführt, die ihrerseits von sublimierten erotischen
Weder ein traumatischer Gründungsakt noch seine Trieben gesteuert werde, so wird er nach dem großen
genetische Weitergabe oder totemistisch-kulturelle Wurf von Totem und Tabu den Gedanken einer sub-
Festschreibung sind nachweisbar. Lévi-Strauss (1960/ limierten Traumatogenese der Kultur durch sein ge-
1965) sieht die Wurzel des Inzestverbots nicht in ei- samtes Œuvre weiterverfolgen: im Moses des Michel-
nem historischen Akt, sondern in dem der Vergesell- angelo (1914) (s. Kap. II.10.11), motiviert durch die
schaftung inhärenten Tauschprinzip. Grundsätzliche Kriegsgefahr und den Zerfall der psychoanalytischen
Einwände sind auch dagegen erhoben worden, das ›Brüderhorde‹, stärker noch in Zeitgemäßes über
Inzesttabu als Abwehr eines Inzestwunsches zu inter- Krieg und Tod (1915) (s. Kap. II.9.6), wo der offene
pretieren. Die Ethologie geht von einem durch die Rückfall in die Barbarei der Kriegsbegeisterung die
Brutpflege begründeten Vermeidungsverhalten aus Fragilität einer gewaltbasierten Zivilisation offenbart.
(›Westermarck-Effekt‹, Bischof 1985). Kultur bleibt eine dünne Oberfläche: »unser Unbe-
Auch der Totemismus, als scheinbar erste soziale wußtes mordet selbst für Kleinigkeiten« (GW X,
Organisationsform seit 1880 ein hochbesetztes 351). Dem Masseneffekt, der aus unbewußten Phan-
Thema der Ethnologie, kann heute nicht mehr als tasien eine real existierende »Rotte von Mördern«
Forschungsgegenstand akzeptiert werden. Golden- (ebd.) macht, widmet sich Freud in Massenpsycho-
weiser (1917) hat nachgewiesen, daß er ein nachträg- logie und Ich-Analyse (1921), wo er noch einmal aus-
liches Konstrukt darstellt. Freud erwähnt Goldenwei- führlich von der Urhorde handelt. Noch in Freuds
sers frühe Arbeiten wie auch andere kritische Lite- letztem Werk Der Mann Moses und die monotheisti-
ratur zum Evolutionismus, ohne sie jedoch weiter zu sche Religion (1939) (s. Kap. II.9.5) taucht die Ur-
beachten. Trotz der Kritik von Goldenweiser und horde wieder auf; trotz erheblicher Einwände aus sei-
Lévi-Strauss (1960/1965) ist die Totemismustheorie ner nächsten Umgebung beharrte er geradezu auf der
nicht ganz aus der Diskussion (vgl. Knight 1996a,b). Notwendigkeit einer lamarckistischen Theorie (Ritvo
Die von Robertson Smith inspirierte Theorie des 1990, 53).
Opfers, Schlußstück von Totem und Tabu, die kultu- Jenseits von Freuds evolutionistischem Paradigma
relle Legitimität aus der symbolischen Wiederholung kann Totem und Tabu als Text über die eigene Gesell-
eines gewaltsamen Stiftungsaktes ableitet, gilt aber schaft aufgefaßt werden. Der Urmord als Grün-
noch als bedeutsamer Schlüssel der Kulturanalyse dungsmythos faßt die Konstitution des rationalen
(Girard 1972/1994; Haas 2002). Diskurses (der kollektive Mord als erster Sozialver-
Kulturentwicklung beruht auf der Weitergabe von trag) und seine Gewaltbasis ineins.
Erfahrungen an die nächste Generation. Totem und Schon Kroeber (1939) hatte in der Revision seiner
Tabu favorisiert die Annahme einer »Vererbung Kritik eingeräumt, daß zwar nicht das punktuelle hi-
psychischer Dispositionen« (GW IX, 190), konkur- storische Ereignis des Vatermordes, wohl aber die
rierend dazu aber auch den Rekurs auf unbewußte grundsätzliche Gewaltförmigkeit vorkultureller Be-
Kommunikation zwischen Eltern und Kindern. ziehungen für die Kulturtheorie relevant sei. Erd-
»Keine Generation (ist) imstande […], bedeutsamere heim (2001) liest Totem und Tabu als Beitrag zum
seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen« Verständnis zeitgenössischer Tabuisierungen und als
(GW IX, 191). Theorie der kulturbedingten Krise der Adoleszenz.
170 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Girard (1972) setzt dagegen in seiner Theorie der des Mordes. In: Dirk Matejovski/Dietmar Kamper/Gerd-C.
Weniger (Hg.): Mythos Neanderthal. Ursprung und Zeiten-
»Gründungsgewalt« den Mord als Konstituens der wende. Frankfurt a. M./New York 2001, 69–86.
Menschwerdung. Böhme (2001) differenziert diesen Brauns, Hans-Dieter: Die Rezeption der Psychoanalyse in der
Gedanken und verbindet Freuds Kulturtheorie mit Soziologie. In: Johannes Cremerius (Hg.): Die Rezeption der
einem Kontinuum von Mythen, die sich mit dem Ur- Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie im
deutschsprachigen Raum bis 1940. Frankfurt a. M. 1981,
sprung der Kultur aus der Technik beschäftigen und 31–133.
die sowohl die Überwindung mörderischer Kultur- Bryce Boyer, L: Die Psychoanalyse in der Ethnologie. In: Helga
konflikte durch den Fortschritt der Technik als auch Haase (Hg.): Ethnopsychoanalyse. Stuttgart 1996, 29–48
die damit einhergehende Verfriedlichung von Bin- (engl. 1980).
Eickhoff, Friedrich-Wilhelm: Über die ›unvermeidiche Kühn-
nenbeziehungen spiegeln. heit‹, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Genera-
Freuds entschlossen mythisierendes Verfahren in tionen anzunehmen. Wie unentbehrlich ist der von Freud
Totem und Tabu kann auch als Dekonstruktionsbe- erschlossene phylogenetische Faktor? In: Psyche 58 (2004),
wegung verstanden werden. Schneider (1991) sieht 448–457.
Erdheim, Mario: Einleitung. In: Sigmund Freud: Totem und
darin ein paradigmatisches Plädoyer gegen die Tren- Tabu. Frankfurt a. M. 2001, 7–42.
nung von Theorie und Mythos. Gilman, Sander L.: Freud, Identität und Geschlecht. Frankfurt
Freuds erstaunliches Beharren auf der genetischen a. M. 1994 (engl. 1993).
Weitergabe erworbener Eigenschaften (Sulloway Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a.M 1992
(frz. 1972).
1979, 382 ff.; Eickhoff 2004) kann als Ersatz für die Goldenweiser, Alexander A.: Religion and Society: A Critique
verlorene metaphysische Geborgenheit (Erdheim of Emile Durkheim’s Theory of the Origin and Nature of
2001, 13–18) oder als Verlegung der aufgegebenen Religion. In: The Journal of Philosophy, Psychology, and
Traumatheorie in die Geschichte (Grubrich-Simitis Scientific Methods 14 (1917), 113–124.
Grossman, William: Freud’s Presentation of ›The Psychoana-
1998, 107) gesehen werden. Wirksamer für die lytic Mode of Thought‹ in Totem and Taboo and His Tech-
Geschichte der Psychoanalyse war jedoch die fast nical Papers. In: International Journal of Psycho-Analysis 79
nebenbei eingeführte alternative Erklärung des Kul- (1998), 469–486.
turtransfers: Die Annahme einer unbewußten Kom- Grubrich-Simitis, Ilse: Metapsychologie und Metabiologie. In:
Sigmund Freud: Übersicht der Übertragungsneurosen. Ein
munikation zwischen Eltern und Kindern sieht bisher unbekanntes Manuskript. Frankfurt a. M. 1985.
Grossman (1998) als Meilenstein der Objektbezie- –: Es war nicht der ›Sturz aller Werte‹. Gewichtungen in
hungstheorie und der Intersubjektivität des Seelen- Freuds ätiologischer Theorie. In: Anne-Marie Schlösser/
lebens. Kurt Höhfeld (Hg.): Trauma und Konflikt, Gießen 1998,
97–112.
Die präsentative Struktur von Totem und Tabu, die Haas, Eberhardt Th.: … und Freud hat doch recht: die Entste-
Rhetorik der Brüche und Auslassungen (Hamburger hung der Kultur durch Transformation der Gewalt. Gießen
2005) weist den Text als Versuch aus, eine autonom 2002.
männliche Ordnung unter Ausweisung der Mütter zu Hamburger, Andreas: Das Motiv der Urhorde. Ererbte oder
erlebte Erfahrung in Freuds ›Totem und Tabu‹. In: Freibur-
schaffen. In der Konsequenz ersetzt Freud die kind- ger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur
liche Frühentwicklung durch den Ödipuskomplex, und Psychoanalyse 2 (2005), 45–86.
den mütterlichen Container durch den getöteten Va- Jung, C. G.: Über Wandlungen und Symbole der Libido. Leipzig
ter. Das Theorem einer Fortzeugung von Kultur 1911.
Knight, Chris: Taboo. In: Allen Barnard/Jonathan Spencer
durch unbewußte Kommunikation zwischen Eltern (Hg.): Encyclopaedia of Social and Cultural Anthropology.
und Kindern wird ersetzt durch die biologische Ver- London/New York 1996a, 542–544.
erbung von Schuld. Diese Theorie bleibt jedoch un- –: Totemism. In: Barnard/Spencer 1996b, 550 f.
schlüssig: Denn der Vatermord alleine ist ja noch Kroeber, Alfred L.: Totem and Taboo: An Ethnologic Psycho-
analysis [1920]. In: Ders.: The Nature of Culture. Chicago
nicht der Schritt zur Kultur. Dieser wird erst in den 1952, 301–305.
selbstgesetzten Regeln der Brüderhorde vollzogen – –: Totem and Taboo in Retrospect [1939]. In: Ders.: The Na-
und zwar, wie Freud zwischen den Zeilen andeutet, ture of Culture. Chicago 1952, 306–309.
unter Mithilfe der Mutter. Lévi-Strauss, Claude: Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M.
1965 (frz. 1960).
Minsky, Rosalind: Psychoanalysis and Culture. Contemporary
Literatur States of Mind. New Brunswick 1998.
Bischof, Norbert: Das Rätsel Oedipus. Die biologischen Wurzeln Muensterberger, Werner (Hg.): Der Mensch und seine Kultur.
des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München Psychoanalytische Ethnologie nach ›Totem und Tabu‹. Mün-
1985. chen 1974.
Blumenberg, Yigal: ›Vatersehnsucht‹ und ›Sohnestrotz‹ – ein Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal
Kommentar zu Sigmund Freuds ›Totem und Tabu‹. In: Psy- 2004.
che 56 (2002), 97–136. Reichmayr, Johannes: Einführung in die Ethnopsychoanalyse.
Böhme, Hartmut: Von Affen und Menschen: Zur Urgeschichte Geschichte, Theorien und Methoden. Frankfurt a. M. 1995.
Massenpsychologie und Ich-Analyse 171

Ritvo, Lucille B.: Darwin’s Influence on Freud: A Tale of Two im gleichen Atemzug machen wir die erstaunliche
Sciences. New Haven 1990.
Róheim, Géza: Psychoanalyse und Anthropologie. Drei Studien
Entdeckung, daß Freud, der doch die soziologischen
über die Kultur und das Unbewußte. Frankfurt a. M. 1977 Theorien, die mit dem Begriff der Rolle operieren,
(engl. 1950). gar nicht kannte, über die Beschränktheit des Rollen-
Schneider, Peter: Freud, der Wunsch, der Mord, die Wissenschaft begriffs schon wieder hinausweist, indem er der Sa-
und die Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1991.
Sulloway, Frank J.: Freud, Biologe der Seele. Jenseits der psycho-
che nach auf die unbewußte Dynamik der Rolle ab-
analytischen Legende. Hohenheim/Köln-Löwenich 1982 hebt und nun seinerseits die Naivität des Rollenbe-
(engl. 1979). griffs zerstört. Der eben zitierte Satz lautet ja voll-
Wallace, Edwin R.: Freud and Anthropology. A History and ständig: »Jeder Einzelne ist ein Bestandteil von vielen
Reappraisal. New York 1983.
Westphal-Hellbusch, Sigrid: Freuds ›Totem und Tabu‹ in der
Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden,
heutigen Ethnologie. In: Zeitschrift für Psychosomatische und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vor-
Medizin 7 (1960), Nr. 1, 45–58. bildern aufgebaut« (ebd.). In diesem soziologisch so
Andreas Hamburger schlichten Satz ist eine Feststellung über die Überich-
Fragmentierung als Resultat multipler unbewußter
Identifizierungen des Individuums in modernen
Großgesellschaften verborgen und damit ein Er-
9.2 Massenpsychologie kenntnisniveau angelegt, das sich die Rollen-Sozio-
und Ich-Analyse (1921) logie viel später erst mit Rückgriff auf die Psycho-
analyse mühsam erarbeitet hat.
Massenpsychologie und Ich-Analyse (GW XIII, 71– Auf solche Ungleichzeitigkeiten muß sich einstel-
161) ist die einzige Schrift von Freud, deren Gegen- len, wer die Frage ›Was kann man heute mit Freud
stand – das moderne Phänomen der Masse – der So- noch anfangen?‹ dadurch beantwortet, daß er einfach
ziologie im engeren Sinne zuzurechnen ist. Aber so mit Freud anfängt, also anfängt, Freud zu lesen. Und
sehr er in den Disziplinen der Archäologie und der noch auf ein anderes hat er sich einzustellen: auf den
damals noch jungen Ethnologie zu Hause war, so we- geschichtlichen Horizont, vor dem Massenpsychologie
nig war er mit der Soziologie seiner Zeit vertraut. Das und Ich-Analyse entstanden ist und auf den die
mag sich daraus erklären, daß die Soziologie um die Schrift antwortet. Wir schreiben das Jahr 1921 – und
Jahrhundertwende im Wissenschaftsbetrieb des deut- durch die Bewegung der Massen sind die Habsburger
schen Sprachraums noch keineswegs anerkannt war, Monarchie, das zaristische Rußland und das deutsche
vielmehr ähnlich der Psychoanalyse ein Außenseiter- Kaiserreich gerade eben gestürzt worden oder zer-
dasein führte. Wie die Psychoanalyse von der Medi- fallen, und an die Stelle der alten Ordnungen treten
zin, so mußte sich die Soziologie erst noch von der nun höchst beunruhigende und unerprobte neue In-
Philosophie emanzipieren. Jedenfalls waren die gro- stitutionen und Ordnungen, die sich auf Massenwil-
ßen soziologischen Systeme von Auguste Comte oder len stützen oder doch berufen und nicht mehr auf
Max Weber Freud so wenig zugänglich wie die Sozio- Kaiser und Gott. Freud nimmt nicht ausdrücklich
logie Georg Simmels oder gar die von Marx und En- Bezug auf Massenstreik, Revolution und Anarchie,
gels entwickelte Gesellschaftslehre des historischen auf neue demokratische Einrichtungen rings um ihn,
Materialismus. aber wir wissen, daß er von all dem ebenso aufge-
Freuds unbefangener, nur von psychoanalytischer wühlt war wie die Zeitgenossen um ihn, auch wenn
Aufklärung geleiteter Blick auf gesellschaftliche Phä- diese Aufgewühltheit seinem Ideal stoischer Unbetei-
nomene wie Religions- oder Massenbildung könnte ligtheit keineswegs entsprach. Im März 1919 hatte
uns naiv erscheinen, gemessen an unserem Blick, der Psychoanalytiker Paul Federn in Freuds Beisein
dem vielschichtige wissenschaftliche Deutungsmu- in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Zur
ster von Gesellschaft zur zweiten Natur geworden Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft
sind und der doch gleichzeitig verstellt ist von der vorgetragen und darin seine eigene politische Hoff-
Unübersichtlichkeit konkurrierender Erklärungssy- nung psychoanalytisch begründet, die basisdemokra-
steme. Gerade diese scheinbare Naivität ermöglicht tischen Institutionen der »Arbeiter- und Soldaten-
den Reichtum an Entdeckungen, den sein Essay birgt. räte« mögen die Kraft haben, gleichsam als sozialisti-
Ein Beispiel: Wenn Freud feststellt: »Jeder Einzelne ist sche »Brüderhorde«, eine Neueinrichtung der Gesell-
ein Bestandteil von vielen Massen« (ebd., 144), dann schaft ohne irrationale Autoritätsbindungen zu
assoziieren wir unwillkürlich die soziologischen Be- bewerkstelligen (Federn 1919/1980). Freud zitiert Fe-
griffe des Rollenträgers und der Rollensegmente, aus dern in der Massenpsychologie (GW XIII, 107), aber
denen eine soziale Rolle zusammengesetzt ist. Aber politisch konnte er ihm nicht zustimmen. Federn war
172 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Sozialist und betonte die helle, kreative Seite der »jeder Einzelne einerseits an den Führer […], ander-
Massenbewegung (ohne die Gefahren zu leugnen, die seits an die anderen Massenindividuen libidinös ge-
von den unbewußten Schuldgefühlen ausgehen, die bunden ist« (104). Die dabei investierte Libido ist
im Umsturz frei werden); Freud war und blieb skep- zielgehemmt (127), es soll also keine direkte sexuelle
tischer Individualist und zog es vor, dem dunklen, Abfuhr erfolgen, und diese Zielgehemmtheit macht
konservativ-autoritären Kulturpessimisten Gustave gerade die Dauerhaftigkeit von Massenbildungen
Le Bon (Le Bon 1895/1919) sein Ohr zu leihen (vgl. aus. Die erwähnte Doppelbindung besteht, metapsy-
Brunner 1995/2001, 227). chologisch gesprochen, a) in einer doppelten Identi-
Damit sind wir schon im Anfangskapitel der Mas- fizierung (128) – nämlich einerseits der Massenin-
senpsychologie, in dem Freud zustimmend Gustave Le dividuen untereinander und andererseits der ge-
Bons Diagnose von Masse referiert: den hypnoti- meinsamen, kollektiven Identifizierung mit dem
schen Zustand des Individuums in der Masse, deren Führer oder mit der den Führer ersetzenden Idee
Affektsteigerung und Denkhemmung, ihren Illusio- (Ideologie) und b) in einer Abtretung (Projektion)
nismus und ihr Verfallensein an die Herrschaft des des Ich-Ideals der einzelnen an den Führer (bzw. die
Unbewußten (GW XIII, 76 ff.). Vor uns entsteht das leitende Ideologie) (144 f.). Es handelt sich also ge-
bekannte Bild der sog. dumpfen, verführbaren nauer um einen in vier Schritte zerlegbaren Vorgang:
Masse. ›Masse‹ ist hier all das Negative, was nicht 1) Identifizierung der Massenindividuen untereinan-
›Ich‹ ist – und von hier ist es nur ein kleiner Schritt der, 2) Identifizierung mit dem Führer (oder der
zu dem beschränkten Bewußtsein, das, indem es von Idee, Ideologie), 3) Projektion (Abtretung) des in-
Masse spricht, sich von ihr ausgenommen und diese dividuellen Ich-Ideals auf die Idee oder den Führer,
unter sich wähnt. Wir sehen hier Freud gefangen die hierdurch magisch überhöht und gestärkt wer-
durch Le Bons Blick, dessen Topologie ihrerseits völ- den, und 4) Ersetzung des individuellen Ich-Ideals
lig befangen ist in dem Gegensatzpaar Elite und durch das ›Objekt‹, also den Führer oder die nun
Masse. Anders kann Le Bon Gesellschaft nicht or- ›kollektiv‹ gewordene Idee (Ideologie). Die typische
ten. gemeinsame Art der Libidoverwendung läßt die Rei-
Das Neue an Freud gegenüber reaktionären Zivili- henbildung zu: Hypnose (Suggestion) – Massenbil-
sationskritikern wie Le Bon oder Nietzsche, aber dung – Verliebtheit (160). Wie die hypnotische Bezie-
auch gegenüber revolutionären Theoretikern wie hung »eine Massenbildung zu zweien« ist (126), so
Marx, der einen völlig anderen Zugang zum Phäno- könnte man auch die Verliebtheit eine Masse zu
men der Masse gewinnt, ist also keineswegs die be- zweien nennen oder umgekehrt die Masse eine ver-
schreibende Bestandsaufnahme von ›Masse‹. Seine vielfältigte Verliebtheit mit dem Ausschluß sexueller
Leistung besteht vielmehr darin, daß er die bislang Befriedigung.
gegebenen vulgärpsychologischen Deutungsstereo- Blicken wir nach der Vergegenwärtigung dieser
type – ›Suggestion‹ und ›Ansteckung‹ als erklärende Formeln noch einmal zurück auf den gesamten mas-
Elemente – auflöst und aus alten Antworten neue senpsychologischen Essay, so fällt zunächst die Unbe-
Fragen formuliert. Darum ist auch die eigentliche stimmtheit des von Freud verwendeten Massenbe-
Ausgangsfrage von Massenpsychologie und Ich-Ana- griffs auf. Er reicht von dem, was Freud »stabile Mas-
lyse: Was verbirgt sich hinter dem »Zauberwort der sen« nennt (90) und was wir heute unter dem Begriff
Suggestion« (95)? Freud will sich nicht damit begnü- der Institutionen zusammenfassen, bis hin zu den
gen, »daß die Suggestion, die alles erklärte, selbst der »Massen kurzlebiger Art« (90), also spontanen,
Erklärung entzogen sein sollte« (97). Die schrittweise flüchtigen Gruppen- und Massenbildungen. Und er
Entwicklung der Antwort bildet inhaltlich den Kern bleibt unbestimmt auch in dem, was wir heute das
und quantitatv den Hauptteil des Essays; methodisch Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nennen.
ist sie ein Musterbeispiel dessen, was wir heute An- Das abgegrenzte, autonome Ich – die Idealfiktion des
wendung der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Individuums der bürgerlichen Gesellschaft – wird
Phänomene nennen. gleichsam als fixer Vermessungspunkt vorausgesetzt.
Das Ergebnis läßt sich formelhaft zusammenfassen Es seien in diesem Kontext nunmehr einige Fragen
– und es war durchaus Freuds Absicht, seine Ergeb- umrissen, die sich aus der Entwicklung des gesamten
nisse bis zu Formeln zu verdichten; an einer Stelle Essays ergeben.
spricht er selbst von der »Formel für die libidinöse Die historisch und soziologisch so wichtige Frage
Konstitution einer Masse« (128): Massenbildung und der Verfestigung und dann sogar Erstarrung von
Massenkohärenz verwirklichen sich in einer typi- Massenbewegungen zu Institutionen wird nur ange-
schen »doppelte[n] Art der Bindung« (145), in der deutet – und zwar in dem Theorem der Urvater-Tö-
Massenpsychologie und Ich-Analyse 173

tung (als dem Paradigma einer sozialen Revolte) und Gesellschaft zu tun, einer Sichtweise mithin, die ih-
aus der ihr folgenden Ersetzung einer alten oder Prä- rerseits eher einem religiös-mythischen Typus ange-
Institution (»Urhorde«) durch eine sozioökonomisch hört und heutigem Denken und Wissen nicht mehr
neue oder überhaupt erst Kultur schaffende Institu- standhalten kann. In dieser Linie erhebt sich »der er-
tion (»Brüderhorde«). Wenn wir Freuds Erklärungs- ste epische Dichter« (GW XIII, 152) als Synonym des
typus folgen – ohne seine Hypothese inhaltlich unbe- fiktiven ›ersten‹ Individuums durch einen konstitu-
dingt vertreten zu wollen –, dann spielen Triebangst, tiven kreativen Akt aus der Masse. Indem dieser dich-
Verlassenheitsangst und Schuldgefühl bei der Bil- tend und objektivierend, also prinzipiell mit den
dung von Institutionen eine ebenso große Rolle wie Mitteln des Denkens und des Triebaufschubs, die
die zielgehemmte libidinöse Bindung bei der Mas- kulturkonstitutive Tat der Urvater-Tötung festhält,
senbildung überhaupt. In diesem Sinn binden Insti- schafft er den Kultur-Heros und damit das ›Ich‹, das
tutionen Affekte und Phantasien, die in unorgani- sich aus der Masse (der »Brüderhorde«) löst.
sierten Massen überschießen und zu einer Selbstzer- Wenn Freud »nur die Liebe als Kulturfaktor« aner-
störung der Masse oder Bewegung führen würden. kennt (ebd., 112), dann dürfen wir dies weder in ei-
Nach unserer heutigen psychoanalytischen und so- nem ethisch-altruistischen noch in einem vorder-
ziologischen Sicht gibt es überhaupt keine unorgani- gründig sexuellen Sinn verstehen. Liebe ist hier das
sierten Massen; jede Masse, jede Gruppe, jede Bewe- Synonym für die immer größere Einheiten schaf-
gung zeigt, wie alle Organismen, eine Tendenz zur fende Kraft des Eros, wie es in Jenseits des Lustprin-
Selbstregulation. zips heißt (GW XIII, 45; vgl. auch GW XIII, 130 f.),
Diese Selbstregulation ist eng an die »libidinöse und als Gegensatz zum Todestrieb (Thanatos) kon-
Struktur« (103) von Massen, Bewegungen und In- zipiert, dessen zerstörerische Immanenz alle kulturel-
stitutionen gebunden. Und insofern wir Libido und len Errungenschaften und letztlich die menschliche
Aggression als wesentlich zusammengehörig betrach- Gesellschaft überhaupt aufzulösen droht. Ein Jahr-
ten, untersucht die Psychoanalyse natürlich auch die zehnt später, im Unbehagen in der Kultur (GW XIV,
›aggressive Struktur‹ oder, übergreifend ausgedrückt, 419–506), wird Freud die geschichtliche Bewegung
die Triebstruktur von Institutionen. Die psychoana- insgesamt unter dem Blickwinkel des Gegensatzes ei-
lytisch konzipierten Libidostufen (vgl. Reiche 1991) ner Eros-Strömung und einer Thanatos-Strömung in
sind ohne Organisation (in Phasen, Fixierungen, der Kultur betrachten. »Liebe als Kulturfaktor« ist
Komplexen usw.) überhaupt nicht zu denken. Das also eher eine Metapher für die sublimierte, aufbau-
führt unmittelbar zum nächsten Problem. Psycho- ende, organisierende Arbeit, und zwar innere Arbeit
analyse nach Freud war und ist oft versucht, nicht (psychische Entwicklung) ebenso wie äußere Arbeit.
mehr nur die libidinöse und aggressive Struktur von So gesehen, besteht kein Gegensatz zwischen Freud
Institutionen zu erforschen, sondern Institution – und Marx, wenn letzterer in der menschlichen Arbeit
und dann Gesellschaft – überhaupt mit deren psy- allein das gesellschaftsbildende Prinzip erkennt.
chischer Struktur gleichzusetzen und sie auf diese zu Wenn Marx feststellt: »In den Kulturanfängen sind
reduzieren. Diese psychozentrische Gefahr ist bei die erworbenen Produktivkräfte der Arbeit gering,
Freud angelegt, freilich ist Freud nicht nur zurück- aber so sind die Bedürfnisse, die sich mit und an den
haltend, sondern auch weitblickend genug, um kei- Mitteln ihrer Befriedigung entwickeln« (Marx
nen Primat des Psychischen vor dem Gesellschaftli- 1867/1974, 535), so können wir Marx mit Freud in-
chen zu behaupten. Hier sei stellvertretend ein Zeuge terpretieren: Die Kategorie des Bedürfnisses bezieht
des Psychozentrismus in der Psychoanalyse zitiert, sich nicht nur auf die sog. materiellen Bedürfnisse,
nämlich Geza Róheim, der Kultur schlechthin als sondern auch auf die geistigen und seelischen Be-
»Bildung eines Ersatzobjektes« und als »universelle dürfnisse, also auch auf die kollektiven Ich- und
neurotische Manifestation« deutete (Róheim 1950/ Über-Ich-Fähigkeiten, die sich im geschichtlichen
1977). Prozeß entwickeln. Dieser Prozeß ist zugleich Prozeß
Freud begreift ›Kultur‹ bzw. ›Gesellschaft‹ als der Arbeit an der zielgehemmten libidinösen Ent-
durch einen Akt geschaffen, nämlich durch die Tat wicklung – Werk des Eros.
der Urvater-Tötung (kritisch dazu Erdheim 1991). Freud weigert sich, die schöpferische Seite von
Gesellschaft bildet sich nach seiner Vorstellung nicht Massenbewegungen zu sehen, und starrt, gefesselt
in einem langen evolutionären Prozeß, dessen An- durch Le Bons Blick, nur auf ihre regressive Seite.
fänge sich im Tier-Mensch-Übergangsfeld verlieren. Heute wissen wir, daß alle schöpferischen, kulturin-
Wir haben es hier vielmehr mit einer Konstitutions- novativen Leistungen auf die vorübergehende Auf-
theorie, im Gegensatz zu einer Evolutionstheorie von lösung bislang festgefügter Ich-Grenzen angewiesen
174 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

sind. Diesen Vorgang nennen wir Regression im an und argumentiert für ihre Ablösung durch ratio-
Dienste des Ich. Das gilt für kollektive, gesellschaft- nelle Geistesarbeit und wissenschaftlichen Fort-
lich-politische Innovationen (z. B. Revolutionen) schritt, die sich im Gegensatz zur Religion ihrer Vor-
ebenso wie für individuelle künstlerische und intel- läufigkeit und Unvollkommenheit bewußt bleiben
lektuelle Leistungen. Neue Stile des Verhaltens, der (Kap. V bis X). Freuds Text ist in weiten Passagen
Wahrnehmung, der Erziehung usw. werden ebenso voller Affekt, mit Polemik und sarkastischem Witz
in kollektiven Bewegungen entwickelt, etwa in Ju- und schließlich einigem Pathos geschrieben.
gendrevolten, wie neue gesellschaftliche Institutio-
nen. Die Dialektik und oft auch die Tragik schöp-
Kultur
ferischer Bewegungen – kollektiver wie individuel-
ler – liegt darin, daß ihre Träger im Moment der Lok- Mit Kultur meint Freud »all das, worin sich das
kerung der Ich-Grenzen auch besonders gefährdet menschliche Leben über seine animalischen Bedin-
sind: Individuen für psychopathologische Entfrem- gungen erhoben hat und worin es sich vom Leben
dungen, Kollektive für manipulative Fremdsteue- der Tiere unterscheidet« (ebd., 326). Er stellt die Kul-
rung. tur dem Animalischen im Menschen gegenüber.
Diese Grundbestimmung hat erhebliche Folgen.
Literatur Freud sieht einen Antagonismus zwischen animali-
Brunner, José: Psyche und Macht. Freud politisch lesen. Stutt- schen Bedingungen und Kultur, der nie aufzuheben
gart 2001 (engl. 1995).
Erdheim, Mario: Einleitung zu: Sigmund Freud: Totem und
ist. Aus ihm ergeben sich zwei Bewegungen: ein Un-
Tabu. Frankfurt a. M. 1991, 7–42. terdrücken und Eindämmen des Animalischen im
Federn, Paul: Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Menschen und ein Sich-Erheben aus diesen Bedin-
Gesellschaft [1919]. In: Helmut Dahmer (Hg.): Analytische gungen durch ihre Umwandlung. »Jede Kultur muß
Sozialpsychologie. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, 65–87.
Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Stuttgart 1919 (frz.
auf Zwang und Triebverzicht aufbauen« (ebd., 328).
1895). Triebopfer sind unumgänglich. Freud hat insbeson-
Marx, Karl: Das Kapital. Bd. 1 [1867]. In: Karl Marx/Friedrich dere den Verzicht auf destruktive, antisoziale und an-
Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus tikulturelle Tendenzen im Sinn. Zunächst hatten in
beim ZK der SED. Berlin 1974.
Reiche, Reimut: Einleitung zu: Sigmund Freud: Drei Abhand-
der Kulturentwicklung die Beherrschung der Natur,
lungen zur Sexualtheorie. Frankfurt a. M. 1991, 7–28. die Lebenserhaltung und damit das Materielle im
Róheim, Géza: Psychoanalyse und Anthropologie. Drei Studien Vordergrund gestanden. Nun treten nach seiner An-
über die Kultur und das Unbewußte. Frankfurt a. M. 1977 sicht die Regelung der Beziehung der Menschen zu-
(engl. 1950).
einander und die Verteilung der erreichbaren Güter
(Nachdruck von: Reimut Reiche: Einleitung zu: Sigmund in den Vordergrund, also das Seelische und die So-
Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse/Die Zukunft einer zialität.
Illusion. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt a. M. 2002, Kultur dient der Versagung von Triebwünschen –
7–15. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.)
als deren älteste führt Freud Inzest, Kannibalismus
Reimut Reiche und Mordlust an –, und sie entfaltet sich zugleich aus
dieser Versagung. So wird sie zu einem psychologi-
schen Besitz. Als Teil der Kulturentwicklung konsta-
tiert Freud eine Entwicklung der menschlichen Seele,
9.3 Die Zukunft einer Illusion mit der die Verinnerlichung der äußeren Kulturvor-
(1927) schriften einhergeht. Sie werden zu einer seelischen
Instanz umgewandelt: Das Über-Ich bildet sich aus,
Die Illusionsschrift (GW XIV, 323–380) erschien durch das der archaische Mensch und das Kind erst
1927 mit 91 Seiten Umfang und einer Auflage von zu moralischen und sozialen Wesen werden. Die
5000 Exemplaren im Internationalen Psychoanalyti- Ideale der Kultur werden ebenfalls verinnerlicht; sie
schen Verlag. 1928 erschien eine zweite Auflage zu befolgen, schenkt narzißtische Befriedigung. Die
(6.–16. Tausend). Die Schrift ist in drei Teilen aufge- Kunst entwickelt sich und gewährt Ersatzbefriedi-
baut. Im ersten Teil skizziert Freud, was er unter gungen für die Kulturverzichte.
›Kultur‹ versteht (Kap. I und II). Im zweiten Teil defi-
niert er Religion und lokalisiert sie innerhalb seiner
Religion
Auffassung von Kultur und ihrer Entwicklung (Kap.
III und IV). Im dritten Teil greift er die Religion als Als das vielleicht bedeutsamste Stück des psychischen
einen unzeitgemäßen und überholten Kulturbesitz Kulturbesitzes bezeichnet Freud die religiösen Vor-
Die Zukunft einer Illusion 175

stellungen. Er skizziert ihre Entwicklung von der frü- äußeren (oder inneren) Realität, die etwas mitteilen,
hesten Konfrontation mit der Übermacht der Natur was man selbst nicht gefunden hat, und die bean-
bis hin zur Endgestalt in unserer heutigen westlich- spruchen, daß man ihnen Glauben schenkt« (347).
christlichen Kultur. Hier nimmt er wiederum eine Er setzt also ganz auf das Inhaltliche der religiösen
wichtige Weichenstellung vor, indem er den Begriff Lehren, nicht auf religiöses Erleben oder Handeln.
der Kultur sehr weit faßt und Religion als einen Teil Sein Focus liegt auf der Wahrheit und Realitätsent-
der Kultur einführt und sie nicht neben, geschweige sprechung religiöser Inhalte. Lehrsätze dieser Art
denn über sie stellt. Die Religion hat bestimmte Auf- müßten überprüfbar sein, vergleichbar dem bekann-
gaben der Kultur übernommen: die Schrecken der ten Studentenlied »Konstanz liegt am Bodensee.
Natur zu bannen; mit der Grausamkeit des Schicksals Wer’s nicht glaubt, geh’ hin und seh« (347). Dabei
zu versöhnen, besonders dem Tod; für die Leiden läßt er inneres Erleben oder ekstatische Zustände, de-
und Entbehrungen zu entschädigen, die dem Men- nen die Überzeugung der Wahrheit von religiösen
schen durch den kulturell geforderten Triebverzicht Lehren entspringt, nicht gelten, weil sie nicht allge-
auferlegt werden. Grundlegender noch hat sie die meingültig sind. »Es gibt keine Instanz über der Ver-
Aufgabe übernommen, die Kulturforderungen zu be- nunft« (350). Nur die Wege des korrekten Denkens
gründen, indem sie diese als göttliche Offenbarungen können die Wahrheit religiöser Lehrsätze beglaubi-
vorstellt. Dies gab ihr für lange Zeit eine unhinter- gen. Hier konstatiert Freud einen unbestreitbaren
fragbare Geltung, verdunkelte jedoch ihren Ursprung Mangel an Beglaubigung – er spricht geradezu von
aus den Kulturnotwendigkeiten. den »religiösen Märchen« (351) – und wirft die Frage
Nun folgt jenes Argument Freuds, das am wirk- auf, weshalb religiöse Vorstellungen dennoch einen
mächtigsten geworden ist, weil es das Göttliche als so außerordentlichen Einfluß auf die Menschen ha-
Ursprung der Religion angreift: »Die Kultur schafft ben. Worin besteht ihre innere Kraft?
die religiösen Vorstellungen« – nicht Gott. Er erläu-
tert, »daß die Kultur dem Einzelnen diese Vorstellun-
Illusion
gen schenkt, denn er findet sie vor, sie werden ihm
fertig entgegengebracht, er wäre nicht imstande, sie Der Leser ist vorbereitet auf Freuds Formel für die
allein zu finden. Es ist die Erbschaft vieler Genera- Religion, die er nun benennt: »Diese, die sich als
tionen, in die er eintritt, die er übernimmt wie das Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Er-
Einmaleins, die Geometrie u. a.« (ebd., 342 f.). Freud fahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illu-
spricht es nicht aus, doch seine Meinung ist offen- sionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringend-
sichtlich: Religion wird von Menschen gemacht. Wie sten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer
alle Kulturproduktionen gehört sie zum man made Stärke ist die Stärke dieser Wünsche« (352).
stuff. Dabei ist das Subjekt der religiösen Produktion Freud charakterisiert Religion als Illusion. Der
nicht der Einzelne, sondern die Kultur. Sie erfüllt ei- zentrale Punkt an der Illusion ist deren Ableitung aus
nerseits seelische Bedürfnisse des Einzelnen und tritt menschlichen Wünschen, also ihre psychische Ge-
ihm andererseits in fordernder Versagung gegen- nese. Diese illustriert er am Beispiel des Bürgermäd-
über. chens, das sich die Illusion macht, daß ein Prinz
In einer kurzen Diskussion der »psychoanalyti- kommen wird, um sie heimzuholen. Vollkommen
schen Motivierung der Religionsbildung« (345) greift unmöglich ist das nicht, doch der Wunsch hat einen
Freud auf frühere Schriften zurück, in denen er die weit höheren Anteil daran als die realistische Aus-
infantile Hilflosigkeit als tiefste Motivierung be- sicht. Für noch viel weniger wahrscheinlich hält
schrieben hatte. Sie hält sich an die Mutter als ersten Freud, daß der Messias kommen und ein Goldenes
Angstschutz, sucht dann den Vater als zweiten und Zeitalter begründen wird. »Wir heißen also einen
stärkeren Angstschutz und handelt sich dadurch die Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivie-
Ambivalenz des Vaterkomplexes ein, die sich allen rung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen da-
Religionen tief eingeprägt hat. Dieser infantilen bei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab,
psychischen Motivierung setzt sich eine spätere auf, ebenso wie die Illusion auf ihre Beglaubigungen ver-
nämlich die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Er- zichtet« (354). An den religiösen Vorstellungen kriti-
wachsenen, auf die die Religion antwortet. siert er, daß die meisten von ihnen in ihrem Reali-
Bemerkenswert ist, wie Freud Religion faßt. Bisher tätswert weder beweisbar noch widerlegbar sind, und
hatte er von den religiösen Vorstellungen gesprochen. vergleicht sie mit der wissenschaftlichen Arbeit, die
Nun erläutert er, was er damit meint: »Es sind Lehr- er im Gegensatz dazu als den einzigen Weg ansieht,
sätze, Aussagen über Tatsachen und Verhältnisse der der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann.
176 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Was die Wahrheitsfrage angeht, so wird die Religion süßes oder bittersüßes Gift, das zwar Trost bringt,
in Freuds Sicht durch die Wissenschaft kritisiert und freilich um den Preis der Verdummung. Dagegen
abgelöst. setzt er sein Programm der »Erziehung zur Realität«
Freud vergleicht die Kulturentwicklung mit jener (373) als den notwendigen Kulturfortschritt seiner
des Kindes. Zunächst plädiert er für eine rein ratio- Zeit.
nale Begründung aller Kulturvorschriften und den Abschließend diskutiert Freud die Frage, inwieweit
Verzicht auf deren religiöse Herleitung und Verklei- seine eigene Ansicht über den Wert der rationellen
dung. Doch müsse man eingestehen, daß dies nicht Geistesarbeit und der Wissenschaft nicht wie die reli-
so leicht gehe. Weshalb? Weil Gott aus einem inneren giöse Illusion wiederum einen illusionären Charakter
Drang der Menschen heraus aufgetreten ist. Neben trage. Er räumt ein, daß seine Forderung nach einem
den Wunscherfüllungen enthält die Religion eine »Primat des Intellekts« (377) und seine pathetische
zweite psychische Dynamik: jene der historischen Re- Beschwörung der Rationalität – »unser Gott Logos«
miniszenzen (so wie die Hysterika an Reminiszenzen (378) – ebenfalls wunschbesetzt sind. Doch führt er
leidet, so auch die Menschheit). Hier greift Freud auf an, daß die wissenschaftliche Arbeit im Gegensatz
seine Schrift Totem und Tabu (GW IX) zurück, in der zur Religion auf Korrigierbarkeit durch Erfahrung
er die menschheitliche Urtat, den Vatermord am Ur- und Vernunft setzt, immer vorläufig ist und ihre ei-
vater, als Ursprung von Kultur und Religion be- gene Unvollkommenheit sieht. »Nein, unsere Wis-
schrieben hatte. senschaft ist keine Illusion« (380). So bleibt für ihn
An dieser Stelle führt er den für seine Religions- zu erwarten, daß auf Dauer der Vernunft und der
theorie von nun an zentralen Begriff der historischen Erfahrung nichts widerstehen kann, auch nicht die
Wahrheit ein. Er setzt die historischen Reste der Religion, deren Widerspruch gegen beide allzu greif-
Menschheitsentwicklung in Analogie zur infantilen bar geworden ist.
Neurose, die daraus entsteht, daß das Kind die uner-
läßlichen Triebverzichte wegen seiner Unwissenheit
Zum Kontext der Illusionsschrift
und intellektuellen Schwäche durch die rein affekti-
ven Kräfte der Verdrängung leisten muß. Analog zu Freud hatte vom Frühjahr bis zum September 1927
dieser kindlichen Situation sieht Freud die Religions- an dem Buch gearbeitet. Er war gut siebzig Jahre alt.
entwicklung als einen Prozeß der Verdrängung und Wir wissen nicht, weshalb er das Thema zu diesem
der abwehrbedingten Kulturbildung an, der aus dem Zeitpunkt aufgegriffen hat. Jedenfalls eröffnet er mit
Urmord entsprang. Heute jedoch ist die Kultur da- dieser Schrift die Serie von Studien über kulturelle
bei, erwachsen zu werden. Ihre infantil und affektiv Fragen, die ihn für den Rest seines Lebens hauptsäch-
bestimmten Reste wie die Ableitung aus »Gottes Wil- lich beschäftigen sollten. Die Auseinandersetzung mit
len« sind überflüssig geworden. Wenn wir die religiö- C. G. Jung und dessen Wendung zur Mystik ist ein
sen Lehrsätze »als gleichsam neurotische Relikte« der wichtiger biographischer Hintergrund. In einem Ge-
Menschheit ansehen (GW XIV, 368), können wir sie spräch mit Jung im Jahr 1910 hatte Freud sich vehe-
heute wie in der psychoanalytischen Therapie durch ment gegen die »schwarze Schlammflut des Okkultis-
»rationelle Geistesarbeit« ersetzen, was den Verzicht mus« gewandt, womit er so ziemlich alles meinte,
auf die historische Wahrheit ermöglicht. Sich selbst was in Philosophie, Religion und Parapsychologie
positioniert Freud dabei als einen verständigen Er- seiner Zeit gehandelt wurde (Jung 1961, 155). In den
zieher der Menschheit (367). 1920er Jahren wird zudem der Psychotherapeut als
Er entwirft die Zukunft einer »irreligiösen Erzie- säkularer Priester gefeiert (J. H. Schultz, A. Maeder
hung« (372) und wendet sich gegen die Denkverbote und andere). Wollte Freud gegen den Strom der Zeit
der zeitgenössischen Pädagogik. Diese versuche, die einen Damm schneidender Rationalität setzen?
sexuelle Entwicklung zu verzögern und den religiö- In seinem Briefwechsel mit Oskar Pfister meint
sen Einfluß verfrüht einzusetzen, und bewirke da- Freud, daß die Broschüre seine durchaus ablehnende
durch eine Denkhemmung gegenüber sexuellen und Einstellung zur Religion behandelt – »in jeder Form
religiösen Fragen. »Denken Sie an den betrübenden und Verdünnung« (F/P, 116). Er hält fest, daß die
Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines Ansichten seiner Schrift keinen Bestandteil des analy-
gesunden Kindes und der Denkschwäche des durch- tischen Lehrgebäudes bilden, sondern seine persön-
schnittlichen Erwachsenen« (370). Freud ist über- liche Einstellung wiedergeben. Er will niemanden ab-
zeugt, daß gerade die religiöse Erziehung seiner Zeit halten, die unparteiische Methodik der Analyse auch
ein Großteil Schuld an dieser Verkümmerung trägt. für die gegenteilige Ansicht zu verwerten. Doch hält
Religion wirkt als Schlafmittel, als Narkotikum und er die Religion für ein Stück Infantilismus, der an der
Die Zukunft einer Illusion 177

Sättigung der Vatersehnsucht festhält. Nur wenige sters (1928) versucht, die Religion durch die Ausein-
seien imstande, diesen zu überwinden (127). Er er- andersetzung mit Freud zu läutern und zu fördern.
wähnt seine zunehmende Skepsis gegenüber den the- Bis heute gibt es zahlreiche Versuche, einer infantilen
rapeutischen Leistungen der Analyse und betont, und neurotischen Religion eine reife und fortge-
»daß ich die wissenschaftliche Bedeutung der Analyse schrittene Religion gegenüberzustellen. Andere wie
für wichtiger halte als ihre medizinische und in der T. S. Eliot antworteten auf Freuds Provokation mit
Therapie ihre Massenwirkung durch Aufklärung und einer Gegenpolemik und gaben sich gar nicht erst
Bloßstellung von Irrtümern für wirksamer als die Mühe, ihn zu verstehen. Eliot nennt die Schrift »stu-
Herstellung einzelner Personen« (129). pid« und wirft Freud »verbal vagueness and inability
Es ist naheliegend zu vermuten, daß Freuds 1923 to reason« vor (1929, 350). Paul Ricœur (1966) hin-
ausgebrochene Krebserkrankung ihn besonders sen- gegen hebt hervor, daß Freud mit seinem Zweifel den
sibilisierte für Tröstungen, die über die Härten des heutigen Menschen in seiner Tiefe anspricht und daß
Schicksals hinweghelfen, und ihn deshalb den Trost unsere Kultur durch Freud ihre eigene Selbstanalyse
der Religion zurückweisen ließ. Zudem dürfte sie vollzieht. Die Psychoanalytiker selbst teilten fast
ihm seine eigene Endlichkeit vor Augen geführt und durchgehend Freuds religionskritische Position. In
ihn dazu gebracht haben, zum Ende seines Lebens den letzten Jahrzehnten lockerte sich diese Front, vor
die öffentliche Wirkung der Analyse zu forcieren und allem seitdem Winnicotts Verständnis von Illusion als
sich verstärkt als Erzieher und Lehrer der Menschheit einem kreativen Erfahrungsfeld im Übergangsraum
hervorzuwagen. und Bions »faith in O« an Einfluß gewannen (z. B.
Die Illusionsschrift bringt als psychoanalytische bei N. Symington, M. Eigen). Diese Ansätze reprä-
Arbeit kaum Neues. Contra illusiones nennt Eitingon sentieren eine Entwicklung, bei der Freuds funda-
sie in seinem Briefwechsel mit Freud, und tatsächlich mentale Frage nach der Wahrheit und Realität reli-
bildet der Kampf gegen die Illusionen und die Infra- giöser Glaubensinhalte unerheblich wird, was Rachel
gestellung des religiösen Wahrheitsanspruchs ihr Blass (2004) wiederum kritisiert. Hans Loewald
Zentrum. Freud stellt sich damit ausdrücklich in die schließlich hält Freuds Konzept der Illusion über-
Tradition der Aufklärung: »[…] habe ich nichts ge- haupt für inadäquat, um den Erfahrungsbereich der
sagt, was nicht andere, bessere Männer viel vollstän- Religion zu erfassen, den er vor allen Unterscheidun-
diger, kraftvoller und eindrucksvoller vor mir gesagt gen von Illusion und Realität, von Subjekt und Ob-
haben.« Er habe bloß der Kritik seiner großen Vor- jekt ansiedelt (1988).
gänger etwas psychologische Begründung hinzuge-
fügt (GW XIV, 358). Seit dem 18. Jh. war ›Illusion‹ zu Literatur
einem zentralen Begriff der Metaphysik- und Reli- Blass, Rachel B.: Beyond illusion: Psychoanalysis and the ques-
tion of religious truth. In: International Journal of Psycho-
gionskritik geworden. Bei Hume, Holbach und analysis 85 (2004), 615–634.
Nietzsche entspringen Illusionen wie bei Freud der Eliot, Thomas Stearns: The Future of an Illusion. By Sigmund
Einbildungskraft und den Leidenschaften der Men- Freud. In: The Criterion 3 (1929), 350–353.
schen, bei Kant und Feuerbach werden sie erkennt- Gay, Peter: »Ein gottloser Jude«. Sigmund Freuds Atheismus und
die Entwicklung der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1988
nistheoretisch in Frage gestellt, für Marx dienen sie (engl. 1987).
dem Trost der Ausgebeuteten und der Selbstrecht- Jung, Carl Gustav: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Düssel-
fertigung der Ausbeuter. Wie Gay (1987/1988) ge- dorf/Zürich 1971 (engl. 1961).
zeigt hat, positioniert Freud sich mit der Illusions- Loewald, Hans: Sublimation. Inquiries into Theoretical Psycho-
analysis. New Haven 1988.
schrift in dem zu seiner Zeit heftig wogenden Kampf Pfister, Oskar: Die Illusion einer Zukunft. In: Imago 14 (1928),
zwischen Wissenschaft und Religion als der letzte 149–184.
philosophe der Aufklärung. Ricœur, Paul: Der Atheismus der Psychoanalyse Freuds. In:
Concilium 2 (1966), 430–435.
Herbert Will
Zur Wirkungsgeschichte
Ihr Titel und der kämpferische und affektvolle Stil
machen Die Zukunft einer Illusion zu einer religions-
kritischen Polemik. Als solche ist sie auch immer auf-
gefaßt worden. Wenige von Freuds Schriften haben
über Jahrzehnte hinweg und bis heute ein vergleich-
bares Echo ausgelöst. Der Psychoanalyse freundlich
gesonnene Theologen haben nach dem Vorbild Pfi-
178 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

9.4 Das Unbehagen Diese zivilisatorischen Errungenschaften haben den


Kulturmenschen zwar zu einer »Art Prothesengott«
in der Kultur (1930) (451) gemacht, doch auch in dieser »Gottähnlich-
keit« fühle er sich nicht wirklich wohl. Im Gegenteil:
In Das Unbehagen in der Kultur (GW XIV, 419–506), »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung
eine seiner bekanntesten, aber auch schwierigsten der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren
Schriften, untersucht Sigmund Freud die dynami- Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann
schen und affektiven Grundlagen des Kulturprozes- auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer
ses. Vor dem Hintergrund der zweiten Triebtheorie gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angst-
von 1920 arbeitet er seine früheren Überlegungen zur stimmung« (506).
Kulturentwicklung (z. B. Totem und Tabu, GW IX) Freud zufolge ist der Kulturprozeß durch jene Ver-
um und erweitert sie zugleich. Ins Zentrum des änderungen charakterisiert, die er mit den mensch-
Freudschen Interesses rückt jetzt die These, daß die lichen Triebanlagen vornimmt. Einige dieser Anlagen
Kulturentwicklung unausweichlich mit einem An- werden verdrängt, verschoben, ins Gegenteil ver-
wachsen des Schuldgefühls verbunden sei. Der struk- kehrt, in Charakterformen umgewandelt oder der
turelle Zusammenhang von kulturell bedingtem Sublimierung zugeführt, die es ermöglicht, daß hö-
Triebverzicht, Triebentmischung und Entbindung here psychische Tätigkeiten die ihnen zugedachte
innerer Destruktivität wird metapsychologisch – Rolle im Kulturleben übernehmen. Freud zieht aus
ökonomisch und topologisch – abgeleitet und be- diesen Transformationen den Schluß, daß »die Kul-
gründet die kulturpessimistische Grundierung der tur auf Triebverzicht aufgebaut ist« und »die Nicht-
Schrift. befriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder
Nach Freud bezeichnet ›Kultur‹ »die ganze Summe sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Vorausset-
der Leistungen und Einrichtungen [. . .], in denen zung hat« (457). Er gibt zwei prägnante Beispiele in
sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen gattungsgeschichtlicher Perspektive: 1. Die Dienst-
entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz barmachung des Feuers erforderte den Verzicht auf
des Menschen gegen die Natur und der Regelung der die infantile Lust, es durch den Harnstrahl zu löschen
Beziehungen der Menschen untereinander« (GW und die männliche Potenz im homosexuellen Wett-
XIV, 448 f.). Hierbei zielt die Kultur auf die »Vereini- kampf zu genießen (449). 2. Infolge der Abwendung
gung vereinzelter Menschen zu einer unter sich libi- des Menschen von der Erde, seines Entschlusses zum
dinös verbundenen Gemeinschaft« (499). aufrechten Gang, fielen die Geruchsreize einer »orga-
Freud geht von der Feststellung aus, daß die Men- nischen Verdrängung« zum Opfer, die weitere Ta-
schen nach Glück streben, wobei diese Bestrebung bus, Reaktionsbildungen, Reinlichkeitsanforderun-
zwei Seiten habe: Einerseits tendiert sie zur Abwesen- gen usw. nach sich zog (459). Seit »der Entwertung
heit von Schmerz und Unlust, andererseits zum Er- des Geruchssinnes [. . .] [wird] die sexuelle Funktion
leben starker Lustgefühle (434). Doch dieses zweck- von einem weiter nicht zu begründenden Widerstre-
dienliche Programm – das Lustprinzip – ist »im Ha- ben begleitet, das eine volle Befriedigung verhindert
der mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos und vom Sexualziel wegdrängt […]« (466). Demzu-
ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. [. . .] die Ab- folge entstehen alle kulturellen Leistungen »auf Ko-
sicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der sten untergegangener (virtueller) Sexualität« (F, 303)
›Schöpfung‹ nicht enthalten« (434). Die Forderungen und bringen eine »unleugbare Herabsetzung der Ge-
des Lustprinzips sind nicht zu erfüllen (442). Glücks- nußmöglichkeiten« (GW XIV, 437) mit sich.
erwerb und Leidensschutz, also auch das im Dienste Diese »Kulturversagung« ist Freud zufolge die Ur-
des Lustprinzips operierende Realitätsprinzip, stoßen sache jener »Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu
an unwiderrufliche Grenzen, sind konfrontiert mit kämpfen haben« (457). Charakteristisch sei, daß die
drei Quellen menschlichen Leids: der Übermacht der Kulturmenschen ihren sozialen Institutionen die
Außenwelt, der Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers Schuld an ihrem Elend geben und glauben, sie seien
und den sozialen Verhältnissen (434, 444), die ihrer- glücklicher, »wenn wir sie aufgeben und in primitive
seits die Ansatzstellen aller kulturellen Bemühungen Verhältnisse zurückfinden würden« (445). Das kultu-
sind. Doch auch diese ändern nichts Grundsätzliches relle Unbehagen ist für Freud unumgänglich und der
an den inneren und äußeren Grenzen menschlichen notwendige Preis für das Überschreiten der animali-
Glücksstrebens. schen Bedingungen. Die allgemeine Kulturfeindlich-
Nüchtern beleuchtet Freud die Fortschritte von keit beleuchtet die Trägheit der Libido, »deren Ab-
Wissenschaft, Technik und Naturbeherrschung. neigung, eine alte Position gegen eine neue zu ver-
Das Unbehagen in der Kultur 179

lassen« (467) und zeigt, daß die Regression das nega- treten aus einer symbiotischen Einheit, der Verarbei-
tive Gegenstück der Vergesellschaftung ist. Aus tung des ödipalen Konflikts und der Übernahme von
psychopathologischer Sicht gibt Freud zu bedenken, Triebverzicht und Schuld, von Autonomie und Be-
daß es nicht »ungefährlich« sei, »einem Trieb die Be- gehren.
friedigung zu entziehen. [. . .] wenn man es nicht »Die Kultur verlangt auch noch andere Opfer als
ökonomisch kompensiert, kann man sich auf ernste an Sexualbefriedigung« (467). Um die Dynamik des
Störungen gefaßt machen« (457). Mit der Befähi- Kulturprozesses zu verstehen, muß es »einen von uns
gung zur Neurose zahle der Mensch die ›große Neu- noch nicht entdeckten Faktor geben« (468): die »Ag-
erwerbung‹, nämlich den Gewinn kultureller Güter gressionsneigung« (470). Diese Neigung zur Aggres-
und Institutionen. Für die nicht verkrafteten Trieb- sion ist der »Abkömmling und Hauptvertreter des
einschränkungen und -versagungen schafft der Neu- Todestriebs«, der seit Jenseits des Lustprinzips (GW
rotiker sich symptomatische Ersatzbefriedigungen XIII, 1–69) als ursprüngliche und eigenständige
und bezeugt auf diese Weise seine archaische Vorge- Triebanlage dem Lebenstrieb, dem Eros gegenüber-
schichte. Der Einblick in die Dynamik der Neurose, gestellt ist. »Die Existenz dieser Aggressionsneigung
so Freud, ist für den Psychoanalytiker deshalb zu- [. . .] ist das Moment, das unser Verhältnis zum
gleich auch ein Einblick in die konflikthafte Entwick- Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand nö-
lungsdynamik der Kultur. tigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Men-
Freud geht es im Unbehagen keineswegs darum, schen gegeneinander, ist die Kulturgesellschaft be-
die Kultur als Unterdrückungsinstanz herauszustel- ständig vom Zerfall bedroht. [. . .] Die Kultur muß
len. Eine solche Sicht würde Kultur und Individuum alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Men-
letztlich nur äußerlich und verdinglicht einander ge- schen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch
genüberstellen. Sein Interesse gilt vielmehr der Ent- psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Da-
stehungsdynamik der Kultur, er will Licht auf die Ur- her also das Aufgebot von Methoden, die die Men-
sprünge unserer großen kulturellen Institutionen, schen zu Identifizierungen und zielgehemmten Lie-
der Religion, der Sittlichkeit, des Rechts usw. werfen. besbeziehungen antreiben sollen, daher die Ein-
Damit nimmt Freud eine Frage auf, die er schon schränkung des Sexuallebens und daher auch das
mehr als dreißig Jahre zuvor gestellt hatte, nämlich Idealgebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst,
die Frage nach der »Affektgrundlage«, die imstande das sich wirklich dadurch rechtfertigt, das nichts an-
sei, die intellektuellen Vorgänge »wie Moral, Scham deres der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr
und dgl.« (F, 303) zu begründen. Auch wenn soziale zuwiderläuft« (GW XIV, 471). Das Schicksal des Ag-
Faktoren und kulturelle Ansprüche die Unlustent- gressionstriebs und die dynamischen und struktu-
bindung im Sexualleben und damit Verdrängung rellen Konsequenzen seiner Hemmung, die die kul-
und Neurose fördern, so können sie diese doch letzt- turellen Institutionen ebenso betreffen wie das In-
lich nicht begründen. Im Gegenteil: »Es muß eine dividuum, treten ins Zentrum des Freudschen Un-
[von sozialen Faktoren, d. V.] unabhängige Quelle tersuchungsinteresses.
der Unlustentbindung im Sexualleben geben; ist Freud gibt eine erste Antwort, die allerdings mehr
diese einmal da, so kann sie Ekelwahrnehmungen be- Rätsel als Lösungen beinhaltet:
leben, der Moral Kraft verleihen und dgl.« (ebd., »Etwas sehr Merkwürdiges [geht vor], das wir nicht erraten
171). Freud geht davon aus, »daß etwas in der Natur hätten und das doch so nahe liegt. Die Aggression wird introji-
des Sexualtriebs selbst dem Zustandekommen der ziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt,
vollen Befriedigung nicht günstig ist« (GW VIII, 89). woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet.
Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich
In dieser Verfehlung, der inneren Konflikthaftigkeit als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewis-
und Negativität der Triebvorgänge, erkennt Freud die sen‹ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft aus-
Ansatz- und Übergangsstelle, in der sich aus Natur übt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen be-
Kultur entwickeln kann. friedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-
Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbe-
In genetisch-strukturaler Perspektive macht Freud wußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur
die Annahme, daß im Innern der Kultur die »Ent- bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums,
zweiung« (GW XIV, 462) fortbesteht, durch welche indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in
die Kultur sich, im Heraustreten aus der Naturord- seinem Inneren, wie durch eine Besetzung in der eroberten
Stadt, überwachen läßt« (482 f.).
nung, erzeugt. Die Entzweiung besteht als nicht still-
stellbare Konflikt- und Transformationsdynamik Die Schuldfrage wird für Freud zum Kardinalpro-
fort. In jeder ontogenetischen Entwicklung ist die blem seiner Kulturtheorie. Die Kultur bedient sich
Kulturleistung von neuem zu erbringen, im Heraus- nicht nur des Schuldgefühls, sie setzt es als Bedin-
180 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

gung ihrer Möglichkeit auch wiederum voraus. Die- rung voranzustellen: »Es ist wirklich nicht entschei-
ses Bedingungsgefüge hat Freud in Totem und Tabu dend, ob man den Vater getötet oder sich der Tat
untersucht. In dieser Schrift leitet Freud »die Erwer- enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen schul-
bung der Urschuld, mit der auch die Kultur begann« dig finden […]« (492).
(GW XIV, 495), aus dem Urvatermord ab: »Im An- Unter genetischen Gesichtspunkten hat das
fang war die Tat« (GW IX, 194), lautet seine These. Schuldgefühl einen Vorläufer: die soziale Angst vor
Nach Freuds Kultur-Gründungsmythos vollzieht sich Liebesverlust und Strafe seitens einer Autorität bzw.
die Umwandlung der tyrannischen Urvaterherrschaft der überlegenen Elternfigur. Erst wenn diese Autori-
zur Brüderhorde, der ersten Solidargemeinschaft der tät verinnerlicht und aus einer äußeren Unterwer-
exogam Heiratenden, vermittels dieser Verschuldi- fungskonstellation eine innere Spannung, aus einer
gung. Zur Abarbeitung ihrer Schuld sowie zur Ab- heteronomen eine autonome Moral geworden ist,
sicherung des neuen Zustands gründete die Brüder- sollte, so Freuds Verständnis, von Gewissen und
schar die totemistische Kultur und die vorläufige Schuldgefühl gesprochen werden. Dann erst entfällt
›Rechtsform‹ der Tabuvorschriften. der Unterschied zwischen »Böses tun und Böses wol-
In Das Unbehagen in der Kultur überarbeitet Freud len, denn vor dem Über-Ich kann sich nichts verber-
die Verschuldigungstheorie. Als Problem dieser gen, auch Gedanken nicht« (484). In dem besagten
Theorie hatte er erkannt, daß sie voraussetzt, was sie Verinnerlichungsvorgang entsteht das Über-Ich, das
zu erklären versucht. »Wenn man ein Schuldgefühl nun als Gewissen gegen das Ich dieselbe strenge Ag-
hat, nachdem und weil man etwas verbrochen hat, so gressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an der
sollte man dies Gefühl eher Reue nennen. Es bezieht Elterninstanz befriedigt hätte. Dieser Vorgang ist ge-
sich nur auf eine Tat, setzt natürlich voraus, daß ein prägt von der grundsätzlichen Triebambivalenz; er
Gewissen, die Bereitschaft sich schuldig zu fühlen, zeugt einerseits von der Liebe zur Elternfigur, ande-
bereits vor der Tat bestand. Eine solche Tat kann uns rerseits von der ursprünglichen, gegen sie gerichteten
also nie dazu verhelfen, den Ursprung des Gewissens Aggression. Die Aggression, deren Befriedigung un-
und des Schuldgefühls überhaupt zu finden« terlassen wurde, wird im Über-Ich aufgenommen
(GW XIV, 491). Dieses Zirkularitätsproblem löst und wendet sich gegen das Ich. »Was nun im Über-
Freud auf, indem er zeigt, daß die Reue – dies ist eine Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes,
der zentralen Einsichten in Das Unbehagen in der und wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in
Kultur – nicht ein Erkenntnisvermögen, das Unter- den Tod zu treiben […]«, heißt es in Das Ich und das
scheidungsvermögen von Gut und Böse, zur unbe- Es (GW XIII, 283). Für die Ökonomie des Todes-
dingten Voraussetzung hat, sondern eine ›uranfäng- triebs gilt allgemein, daß er teils durch Mischung mit
liche Ambivalenz‹, deren Ausdruck sie gewisserma- erotischen Komponenten neutralisiert, teils als Ag-
ßen ist. »Die Reue war das Ergebnis der uranfängli- gression nach außen gelenkt wird, zum größeren Teil
chen Gefühlsambivalenz gegen den Vater, die Söhne aber nach innen wirkt (ebd., 284). Die Verwendung
haßten ihn, aber sie liebten ihn auch; nachdem der und Gewichtung der beiden Triebarten Eros und
Haß durch die Aggression befriedigt war, kam in der Thanatos, ihre Vermischung und Entmischung, ihre
Reue über die Tat die Liebe zum Vorschein […]« Internalisierung und Externalisierung, ihre relative
(492). Verminderung und Verstärkung zueinander folgen
Die Bereitschaft, sich schuldig zu fühlen, gründet ebenfalls ökonomisch-quantitativen Prinzipien.
demnach im Triebantagonismus, im zeitlos ewigen Vor dem Hintergrund einer metapsychologischen
Kampf zwischen Eros und Todestrieb. Dieser Ant- Betrachtungsweise wird das folgende Paradoxon er-
agonismus sei letztlich verantwortlich für die »ver- klärbar: Das Über-Ich oder das Gewissen »benimmt
hängnisvolle Unvermeidlichkeit des Schuldgefühls« sich [. . .] umso strenger und mißtrauischer, je tu-
(492) bzw. dafür, daß Trieb und Schuld eine unlös- gendhafter der Mensch ist, so daß am Ende gerade,
bare, aber widersprüchliche Einheit bilden, die die es in der Heiligkeit am weitesten gebracht, sich
zwangsläufig aus sich heraus das Neue, eben die Kul- der ärgsten Sündhaftigkeit beschuldigen« (GW XIV,
tur, heraustreibt. Die von Freud vorgenommene Ver- 485). Je ›moralischer‹ das Subjekt, desto weniger
ankerung der Schuld in der Triebdynamik entspricht Möglichkeiten stehen ihm zur Verfügung, mit öko-
ihrer Universalität und ihrer konstitutionslogischen nomischen Beträgen des Todestriebs libidinös amal-
Bedeutung für den Kulturprozeß. Die Fundierung im gamiert und/oder externalisierend umzugehen. »[J]e
Triebkonflikt ermutigt Freud dazu, die historisch- mehr er [der Mensch] seine Aggression nach außen
diachronische Betrachtungsweise der Schuld zu rela- einschränkt, desto strenger, also aggressiver [wird er]
tivieren und ihr eine strukturtheoretische Formulie- in seinem Ichideal [. . .] Je mehr ein Mensch seine
Der Mann Moses und die monotheistische Religion 181

Aggression meistert, desto mehr steigert sich die Ag- lingt es Freud, den Eintritt in die Kultur als eine dia-
gressionsneigung seines Ideals gegen sein Ich. Es ist lektische Strukturkonstellation darzustellen und aus
wie eine Verschiebung, eine Wendung gegen das ei- ihr die Transformationsdynamik abzuleiten, in der
gene Ich« (GW XIII, 284; vgl. auch GW XIII, 383). der Mensch für seinen Kulturfortschritt die Glücks-
Diese Einsicht ist folgenschwer, bedeutet sie doch einbuße zahlt und für immer »der Natur einen Tod
eine strukturelle Grenze bei der Befolgung morali- schuldig« bleibt (GW II/III, 211). Ursprünglich
scher Maximen, in Sachen Aggressionseinschrän- wollte Sigmund Freud seine Abhandlung »Das Un-
kung, Nächstenliebe und harmonischer Vergemein- glück in der Kultur« (F/E, 646) nennen.
schaftungsideale. Das Bedenken dieser Konsequen-
zen wird zum Schibboleth der Freudschen Ethik. Literatur
Die Erklärung für die Steigerung der Strenge des Kaufmann, Pierre: Freud: Die Freudsche Kulturtheorie. In: Ge-
Über-Ichs liegt für Freud in der Triebentmischung, schichte der Philosophie. Bd. VIII. Frankfurt a. M./Berlin/
Wien 1975 (frz. 1973).
der Entbindung todesträchtiger Destruktivität, die
Lacan, Jacques: Das Seminar Buch VII: Die Ethik der Psycho-
für ihn notwendigerweise mit Vergesellschaftung ein- analyse. Weinheim/Berlin 1996 (frz. 1986).
hergeht. »Das Über-Ich ist ja durch eine Identifizie- Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: Panik und Politik.
rung mit dem Vatervorbild entstanden. Jede solche In: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 29/30. Kassel
1989 63–98 (frz. 1979).
Identifizierung hat den Charakter einer Desexualisie-
–: Das jüdische Volk träumt nicht. In: Fragmente. Schriften-
rung oder selbst Sublimierung. Es scheint nun, daß reihe zur Psychoanalyse 29/30. Kassel 1989 99–128 (frz.
bei einer solchen Umsetzung auch eine Triebentmi- 1981).
schung stattfindet. Die erotische Komponente hat Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philoso-
phischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M. 1970
nach der Sublimierung nicht mehr die Kraft, die
(engl. 1955).
ganze hinzugesetzte Destruktion zu binden, und Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a. M.
diese wird als Aggressions- und Destruktionsneigung 1973 (frz. 1932).
frei. Aus dieser Entmischung würde das Ideal über- Reiche, Reimut: Total Sexual Outlet. Eine Zeitdiagnose [2000].
In: Ders.: Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Struktur-
haupt den harten, grausamen Zug des gebieterischen
wandel der Psyche. Frankfurt a. M./New York 2004,
Sollens beziehen« (GW XIII, 285). Freud verknüpft 147–176.
die Triebentmischung mit den elementaren sozialen Lothar Bayer/Kerstin Krone-Bayer
Vorgängen, er bindet sie an die Bedingung von Sozia-
lität und Kultur. Sie tritt auf, »sobald den Menschen
die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird« (GW
XIV, 492).
Im Unbehagen in der Kultur nimmt dieser Struk- 9.5 Der Mann Moses und
turzusammenhang die generellere Gestalt des Trieb-
verzichts an. Er wird zum entscheidenden tertium
die monotheistische Religion
datur, das den Eros-Todestriebkonflikt zum struktur- (1939 [1934–38])
bildenden Konflikt dynamisiert. »[A]nfangs ist zwar
das Gewissen (richtiger: die Angst, die später Gewis-
Der »historische Roman«
sen wird) Ursache des Triebverzichts, aber später
kehrt sich das Verhältnis um. Jeder Triebverzicht wird Die Arbeit an Freuds letztem Buch, das kurz vor sei-
nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder nem Tod im Verlag Allert de Lange in Amsterdam
neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz« erschien, geht bis ins Jahr 1934 zurück. Von einer
(488). Mit dieser metapsychologischen Strukturfor- ersten Fassung mit dem Titel Der Mann Moses. Ein
mel leuchtet Freud das unausrottbare Unbehagen in historischer Roman haben sich 28 handschriftliche
der Kultur aus. Der Kulturmensch hat gegen ein Seiten sowie 10 Seiten eines »Anhangs« kritischer
»drohendes äußeres Unglück [. . .] ein andauerndes Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur, sowie 13
inneres Unglück, die Spannung des Schuldbewußt- Seiten mit »Noten« (Grubrich-Simitis 1991) erhal-
seins, eingetauscht« (487). Diese Transformation fin- ten. Dieser Anhang nimmt auf den »Roman« als ein
det ihre Erläuterung als Triebschicksal – als Schicksal vollendetes Werk Bezug. Auch in seinem Brief an
des Todestriebs. Arnold Zweig vom 30. 9. 1934 schreibt Freud von
Mit dem Triebverzicht, der Verklammerung von seinem Buch und den Gründen, es nicht zu veröf-
Trieb, Über-Ich und Schuld, eröffnet sich die hu- fentlichen. So darf man annehmen, daß Freuds Mo-
mane Welt, eröffnen sich Natur und Geschichte. Vor sesbuch schon 1934 in seinen Umrissen vorlag. Der
dem Hintergrund des Eros-Todestriebkonzepts ge- »historische Roman« sollte sich, einem (nicht von
182 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Freuds Hand stammenden) Inhaltsentwurf zufolge, stärker dem Literarischen. Literarischer Ehrgeiz, das
in drei Teile gliedern (Grubrich-Simitis 1991, 81 f.): Interesse an der Form, waren es also nicht, und die
Der Mann Moses. Ein historischer Roman
Gattungsbezeichnung ist eher als ein Indiz zu ver-
[I] stehen, daß Freud, der sich der fiktionalen Anteile
a) Hat Moses gelebt? seiner (wie jeder anderen) historischen Rekonstruk-
b) Die Herkunft Mosis tion nur allzu bewußt war, diesen Text ein wenig ab-
c) Die neue Religion
d) Der Auszug aus Ägypten
seits seiner sonstigen, streng wissenschaftlichen Pu-
e) Das auserwählte Volk blikationen situieren wollte. Es war die Sache, das
f) Das Zeichen des Bundes und der Gottesname Thema, das ihn fesselte und für die letzten fünf Jahre
Kritischer Anhang seines Lebens nicht mehr los ließ. In einem Brief an
II
Lou Andreas Salomé vom 6. 1. 1935, also bald nach
[a]Das Volk Israel der mutmaßlichen Vollendung der Erstfassung, be-
b) Der grosse Mann schreibt er seine Studie in unübertrefflicher Präzi-
c) Der Fortschritt in der Geistigkeit sion:
d) Triebverzicht
»Sie ging von der Frage aus, was eigentlich den besonderen
III Charakter des Juden geschaffen hat, und kam zum Schluß, der
[a]Der Wahrheitsgehalt der Religion Jude ist eine Schöpfung des Mannes Moses. Wer war dieser
b) Die Tradition Moses und was hat er gewirkt? Das wurde in einer Art von
c) Die Wiederkehr des Verdrängten historischem Roman beantwortet. Moses war kein Jude, ein
d) Die historische Wahrheit vornehmer Ägypter, hoher Beamter, Priester, vielleicht ein
e) Die geschichtliche Entwicklung Prinz der königl. Dynastie, ein eifriger Anhänger des mono-
theistischen Glaubens, den der Pharao Amenhotep IV so um
Wenn man das spätere Werk mit diesem Entwurf zu- 1350 v. Chr. zur herrschenden Religion gemacht hatte. Als
sammenhält, zeigt sich, daß Freud den Stoff ur- nach dem Tode des Pharao die neue Religion zusammenbrach
und die 18te Dynastie erlosch, hatte der hochstrebende Ehrgei-
sprünglich in drei Aspekte gliedern wollte: den hi- zige all seine Hoffnungen verloren, beschloß das Vaterland zu
storischen (in der Form des »Romans«), den religi- verlassen, sich ein neues Volk zu schaffen, das er in der groß-
onsgeschichtlichen und den psychohistorischen. Der artigen Religion seines Meisters erziehen wollte. Er ließ sich zu
historische Teil entspricht den ersten beiden Abhand- dem semitischen Stamm herab, der seit den Hyksoszeiten noch
im Lande verweilte, stellte sich an ihre Spitze, führte sie aus
lungen des späteren Buches bzw. ihrer Erstveröffent- dem Frondienst in die Freiheit, gab ihnen die vergeistigte
lichung in Imago. Die (in der Urfassung nicht erhal- Atonreligion und führte als Ausdruck der Heiligung wie als
tenen) Kapitel des zweiten und dritten Teils sind bis Mittel zur Absonderung die Beschneidung bei ihnen ein, die
auf eine Ausnahme (III b) in den zweiten Teil der bei den Ägyptern und nur bei ihnen heimische Sitte war. Was
die Juden später von ihrem Gott Jahve rühmten, daß er sie sich
dritten Abhandlung »Moses, sein Volk und die mo- zu seinem Volke auserwählt und aus Ägypten befreit, traf
notheistische Religion« eingegangen: wörtlich zu – für Moses. Mit der Erwählung und dem Ge-
schenk der neuen Religion schuf er den Juden.
»Das Volk Israel« II a = 3 II a
Dieser Jude vertrug den anspruchsvollen Glauben der Aton-
»Der grosse Mann« II b = 3 II b
religion so wenig wie früher der Ägypter. Ein christlicher For-
»Der Fortschritt in der Geistigkeit« II c = 3 II c
scher Sellin hat es wahrscheinlich gemacht, daß Moses wenige
»Triebverzicht« II d = 3 II d
Jahre später in einem Volksaufstand erschlagen und seine
»Der Wahrheitsgehalt der Religion« III a = 3 II e
Lehre abgeworfen wurde. Gesichert scheint, daß der aus Ägyp-
(»Die Tradition« III b = 3 I b
ten zurückgekehrte Stamm sich später mit anderen verwand-
»Latenzzeit und Tradition«?)
ten vereinigte, die im Lande Midian (zwischen Palästina und
»Die Wiederkehr des Verdrängten« III c = 3 II f
der Westküste von Arabien) wohnten und dort die Verehrung
»Die historische Wahrheit« III d = 3 II g
eines auf dem Berge Sinai hausenden Vulkangottes angenom-
»Die geschichtliche Entwicklung« III e = 3 II h
men hatten. Dieser primitive Gott Jahve wurde der Volksgott
des jüdischen Volkes. Aber die Mosesreligion war nicht ausge-
Was konnte den 78jährigen, schwer krebskranken löscht, eine dunkle Kunde war von ihr und ihrem Stifter ge-
Freud im Jahr 1934 dazu bestimmen, einen »histori- blieben, die Tradition verschmolz den Mosesgott mit Jahve,
schen Roman« zu schreiben? Was die Form angeht, schrieb ihm die Befreiung aus Ägypten zu und identifizierte
zu der ihn vermutlich die ersten beiden Joseph-Ro- Moses mit Jahvepriestern aus Midian, die den Dienst dieses
Gottes in Israel eingeführt hatten. In Wirklichkeit hat Moses
mane Thomas Manns anregten, die 1933 und 1934 den Namen Jahve’s nicht gekannt, die Juden sind nie durch das
erschienen, so muß man sagen, daß schon das Frag- rote Meer gegangen, nie am Sinai gewesen. Jahve hatte für
ment von 1934 sie gründlich verfehlte. Stilistisch un- seine Anmaßung auf Kosten des Mosesgottes schwer zu büßen.
terscheidet es sich in nichts von den später veröffent- Der ältere Gott stand immer hinter ihm, im Laufe von 6–8
Jahrhunderten war Jahve zum Ebenbild des Mosesgottes ver-
lichten »Abhandlungen«; ja, diese nähern sich sogar ändert worden. Als halb erloschene Tradition hatte die Reli-
in ihrer Inszenierungsform des Suchens und Findens gion des Moses sich endgültig durchgesetzt. Dieser Vorgang ist
(mit zweimaligem Abbruch und Neubeginn) noch für die Religionsbildung vorbildlich und war nur die Wieder-
Der Mann Moses und die monotheistische Religion 183

holung eines früheren. Die Religionen verdanken ihre zwin- der Gattungsbezeichnung »historischer Roman«. Aus
gende Macht der Wiederkehr des Verdrängten, es sind Wieder-
erinnerungen von uralten, verschollenen, höchst effektvollen
ihr ergeben sich aber auch Rückschlüsse auf den von
Vorgängen der Menschengeschichte. Ich habe das schon in To- Freud ins Auge gefaßten Leserkreis. Mit dieser Schrift
tem und Tabu gesagt, fasse es jetzt in die Formel: Was die wandte sich Freud an das große Publikum und nicht
Religion stark macht, ist nicht ihre reale, sondern ihre histo- an den engeren Kreis der Schüler und Kollegen.
rische Wahrheit« (F/AS, 222 ff.; Grubrich-Simitis 1991, 21–
24).
Erst drei Jahre später, 1937, bricht Freud mit sei-
nem Vorsatz, seine Moses-Studie nicht zu veröffentli-
Klarer und knapper kann man das Thema nicht nur chen und publiziert das Material der ersten beiden
der Urfassung, sondern auch der späteren Publika- Teile des »historischen Romans«, das sich mit dem
tion nicht zusammenfassen. Zwei spezifisch jüdische Wirken des ägyptischen Moses beschäftigt, in zwei
Aspekte seines Projekts blendet Freud allerdings sei- Aufsätzen in der Zeitschrift Imago (23, 1937 H.1,
ner nichtjüdischen Briefpartnerin gegenüber aus. 5–13 und H.4, 387–419). Zu diesem Zweck gibt er
Das eine ist die Frage des Antisemitismus; es geht ja seinem Text die Form eines Fortsetzungsromans. Er
angesichts der Verfolgungen nicht nur um die Frage, läßt seinen ersten Artikel »Moses ein Ägypter« an ei-
»wie der Jude geworden ist«, sondern auch, »warum nem scheinbar unlösbaren Problem scheitern und
er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat« wartet dann in seinem zweiten Aufsatz »Wenn Moses
(Brief an Arnold Zweig vom 30. Sept. 1934; B, 436). ein Ägypter war . . .« mit der Lösung auf. Im ersten
Das andere ist die »monotheistische Religion«, unter Aufsatz verteidigt er die These, daß Moses ein Ägyp-
der Freud das Judentum versteht. Ist die monothei- ter war, verfolgt sie aber dann nicht weiter, weil die
stische Religion wirklich nur »vorbildlich« für die Unterschiede zwischen dem ägyptischen Polytheis-
»Religionsbildung« überhaupt? Ist die »zwingende mus und dem biblischen Monotheismus doch gar zu
Macht« allen Religionen eigen und nicht vielmehr gewaltig sind, um diese Verbindung plausibel er-
das Kennzeichen der monotheistischen Religion als scheinen zu lassen. Der zweite Aufsatz bringt dann
einer Vaterreligion? Obwohl Freud auch in seiner die Lösung des Problems: Nicht den ägyptischen
späteren Publikation eine eindeutige Antwort auf die Polytheismus hat der Ägypter Moses den Juden ge-
Frage nach dem Ursprung des Judenhasses vermei- bracht, sondern den Monotheismus des Ketzerkönigs
det, wird doch deutlich genug erkennbar, daß er ihn Echnaton. Diese an der »quest«, der Dramaturgie des
als eine Reaktion auf die »monotheistische Religion« Suchens und Findens orientierte Darstellungsform
mit ihren Ansprüchen nach Vergeistigung und Trieb- wendet Freud innerhalb des zweiten, sehr viel län-
verzicht deutet. geren (und vielleicht ursprünglich als zwei Artikel ge-
Die Frage nach dem Kontext läßt sich in den Brie- planten) zweiten Aufsatzes noch einmal an. Auch
fen an Lou Andreas Salomé und Arnold Zweig hin- hier inszeniert Freud nach drei Abschnitten, die seine
reichend klären. Es ist der bedrohlich anschwellende These eines ägyptischen Moses im Licht der Amarna-
Antisemitismus, der Freud die Frage nach dem Ur- Religion bestätigen und zusammenfassen, ein Schei-
sprung des Judentums, d. h. der monotheistischen tern: Zu groß ist der umgekehrte Widerspruch, der
Religion als vordringlich erscheinen ließ. Er nahm sie sich nun ergibt zwischen dem sublimen ägyptischen
mit dem methodischen Instrumentarium einer auf Monotheismus und der eher kruden Jahve-Vereh-
die Ebene des Kollektiven und Kulturellen makro- rung, die die historische Wissenschaft (E. Meyer) als
skopierten psychoanalytischen Erinnerungsarbeit in Urform des biblischen Monotheismus erschlossen
Angriff, bediente sich aber für seine historische Re- hat.
konstruktion der ihm seit langem vertrauten ägypto- Und auch hier eröffnet dann der fünfte Abschnitt
logischen Fachliteratur (Breasted 1905; Weigall einen überraschenden Ausweg. Der biblische Mono-
1910), der alttestamentlichen Wissenschaft (Sellin theismus hat zwei Wurzeln, eine ägyptische und eine
1922, 1928; Gressmann 1913) und Alten Geschichte midianitische. Die ägyptische Tradition führt auf den
(Meyer 1906), und zwar nicht ohne Unbehagen, Gott Echnatons zurück, die midianitische auf einen
denn mehrfach bedauert er, einen »Koloss auf tö- primitiven Vulkangott namens Jahve. Die biblische
nerne Füße stellen« zu müssen. Der »Koloss« ist seine Überlieferung hat beide Traditionen verschmolzen,
psychohistorische Analyse des Monotheismus, die in der Geschichte setzte sich aber schließlich die
»tönernen Füße« die Rekonstruktion des »ägypti- ägyptische gegenüber der midianitischen durch. Ab-
schen Moses«. Diese (für den Mediziner Freud, bei schließend deutet Freud die weiteren Perspektiven
aller Begeisterung für die Archäologie, s. Armstrong an, um die es ihm eigentlich geht: »Worin die eigent-
2005, kennzeichnende) Einschätzung des Wahrheits- liche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre
wertes historischer Konstruktionen spricht auch aus besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den
184 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf löschliche Spuren in der menschlichen Seele hinter-
die Weltgeschichte zu leugnen, [. . .] aus welchen lassen und eine patri-ödipale Grundstruktur aus-
Quellen manche, besonders die religiösen, Ideen die gebildet, die allen Menschen gemeinsam ist. Freud
Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker un- verweist hierfür auf die Parallele der paulinischen
terjochen [. . .]. Eine solche Fortsetzung meiner Ar- Erbsündenlehre. Die endliche Überwindung des Ur-
beit würde den Anschluß finden an Ausführungen, horden-Stadiums bedeutete die Geburt der Kultur
die ich vor 25 Jahren in ›Totem und Tabu‹ nieder- und der Religion. Der tote Vater wurde als Totemtier
gelegt habe. Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft vergöttlicht und die Söhne schlossen eine Art Gesell-
zu, dies zu leisten« (GW XVI, 154 f.). Wieder bricht schaftsvertrag auf der Basis des Inzesttabus, des Tö-
der Aufsatz ab mit dem Ausdruck scheinbaren Schei- tungsverbots und einiger anderer fundamentaler Ge-
terns. Dabei lag die Darstellung, zu der ihm angeb- setze, die eine Wiederkehr des Urhordensystems für
lich die Kraft fehlte, zumindest in Umrissen ausgear- immer ausschließen sollten. Der Monotheismus nun,
beitet in seiner Schublade. der sich nach Ansicht Freuds im Ägypten der 18. Dy-
nastie im Zusammenhang der ägyptischen Welt-
machtpolitik entwickelt und den König Echnaton zu
Das Buch Der Mann Moses
einer alle anderen Götter ausschließenden Religion
und die monotheistische Religion
radikalisiert, bricht gewissermaßen von außen in
Nach der Vertreibung aus Wien und der Übersied- diese religionsgeschichtliche Entwicklung ein, die al-
lung nach London entschließt sich Freud, die beiden lein aus der Dynamik der verdrängten und in der
Aufsätze um den zurückgehaltenen, in seinen Augen archaischen Erbschaft gespeicherten Urhordenerleb-
wichtigsten Teil ergänzt als Buch herauszugeben nisse gespeist ist. Die Menschheit reagiert auf diese
(GW XVI, 101–246). Diese dritte Abhandlung be- Revolution, für die die Zeit noch nicht reif ist, ab-
ginnt mit zwei »Vorbemerkungen«, die eine (angeb- lehnend. Die Ägypter warten den Tod des königli-
lich?) vor, die andere nach dem »Anschluß«, der Ver- chen Religionsstifters ab, um dann alsbald reumütig
treibung aus Wien und der Übersiedlung nach Lon- zur alten polytheistischen Religion zurückzukehren,
don geschrieben. Die erste Vorbemerkung begründet die Hebräer aber oder, wie Freud schreibt, »die wil-
den Vorsatz der Nichtveröffentlichung mit der Rück- den Semiten [nahmen] das Schicksal in ihre Hand
sicht auf die katholische Kirche als dem einzigen und räumten den Tyrannen aus dem Wege« (149).
noch wirksamen Bollwerk gegen Faschismus und Damit hätte auch hier der Monotheismus ein Ende
Antisemitismus. Die zweite Vorbemerkung begrün- finden und eine Episode bleiben können. Es kam
det den Entschluß zur Veröffentlichung. Die katholi- aber anders, und der Monotheismus trat einen bei-
sche Kirche hatte sich »mit biblischen Worten zu re- spiellosen Siegeszug über die Erde an. Dies versucht
den, als ein ›schwankes Rohr‹« erwiesen und »in dem Freud in der dritten Abhandlung mit Hilfe einer psy-
schönen, freien, großherzigen England« darf Freud es chohistorischen Religionstheorie zu erklären.
wagen, »das letzte Stück meiner Arbeit vor die Öf- Diese Theorie steht, was bisher nicht ausreichend
fentlichkeit zu bringen« (159). gesehen wurde, auf den beiden Beinen einer Tradi-
Auch diese beiden Vorbemerkungen sind natürlich tions- und einer Resonanztheorie (A. Assmann 2005,
eine Inszenierung, die in denkbarster Prägnanz den 100). Mit der einen Theorie will Freud erklären, wie
geschichtlichen Kontext vergegenwärtigt, in dem sich die Botschaft des Ägypters Mose über 6–800
diese Studie entstanden und in den sie hineinge- Jahre bis zu den Propheten erhalten konnte, mit der
schrieben ist. Aus dem Vergleich mit dem Entwurf anderen, wie sie bei ihrem Wiederauftauchen aus
von 1934 ergibt sich, daß Freud den ersten Teil der vergleichsweiser Versenkung eine so ungeheure, »die
dritten Abhandlung weitgehend neu geschrieben hat. Massen in Bann« schlagende Wirkung entfalten
Die Kapitelüberschriften des zweiten Teils dagegen konnte. Freuds Traditionstheorie ist durchaus kon-
decken sich mit denen des frühen Entwurfs. ventionell und kommt ohne Begriffe wie ›Trauma‹,
Der Inhalt der ersten beiden »Abhandlungen« ›Latenz‹, ›Verdrängung‹ und ›phylogenetisches Ge-
muß hier nicht noch einmal rekapituliert werden. dächtnis‹ aus. Das kommunikative, in der ägypti-
Die dritte Abhandlung stellt diese Befunde nun in die schen Gruppe seiner engsten Umgebung verkörperte
weitere religionsgeschichtliche Perspektive ein, die Gedächtnis war zwar nach einigen wenigen Genera-
Freud in Totem und Tabu entwickelt hatte. Der Mo- tionen ausgestorben, aber entscheidende Punkte wa-
notheismus ist eine Vaterreligion; in ihr kehrt der Ur- ren durch den Kompromiß mit der Jahve-Gruppe in
vater der Urhorde in fast unverstellter Form zurück. das kulturelle Gedächtnis übergegangen und dort
Der Mord am Urvater hatte nach Freud unaus- festgeschrieben worden, so daß dann die Träger der
Der Mann Moses und die monotheistische Religion 185

prophetischen Bewegung Jahrhunderte später daran derkehr des Verdrängten: so lautete die Formel, die
anknüpfen und dem reinen Monotheismus allmäh- wir für die Entwicklung einer Neurose aufgestellt ha-
lich zum Durchbruch verhelfen konnten (vgl. 218, ben. Der Leser wird nun eingeladen, den Schritt zur
232 f.). Annahme zu machen, daß im Leben der Menschen-
Für Freud haben die biblischen Texte nur den art Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Indivi-
Wert, den er auch den bewußten Erinnerungen des duen« (185 f.).
Patienten zugesteht, die ebenso viel verbergen wie Die religionsgeschichtliche Entwicklung läßt sich
verhüllen und durch die es zur eigentlichen histori- also niemals allein mit einer Traditionstheorie, son-
schen Wahrheit erst durchzustoßen gilt. Er liest sie dern nur durch eine Interaktion zwischen Tradition
gewissermaßen gegen den Strich und klopft sie auf und Resonanz erklären.
bestimmte Widersprüche und auf unbewußt stehen-
»Eine Tradition, die nur auf Mitteilung gegründet wäre,
gebliebene Erinnerungsspuren des verdrängten Trau- könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen, der den religiö-
mas ab. Dieses auf bewußter Weitergabe beruhende sen Phänomenen zukommt. Sie würde angehört, beurteilt,
Gedächtnis reicht für Freud nicht aus, um die patho- eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von
gene Dynamik der Religionsgeschichte zu erklären. außen, erreichte nie das Privileg der Befreiung vom Zwang des
logischen Denkens. Sie muß erst das Schicksal der Verdrän-
Er erweitert es um eine Tiefendimension, in der kol- gung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchge-
lektiv verdrängte Erfahrungen einen Ort finden kön- macht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wir-
nen. Träger dieser Tiefendimension ist nichts anderes kungen entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann, wie
als das individuelle Unbewußte, daher lehnt Freud wir es an der religiösen Tradition mit Erstaunen und bisher
ohne Verständnis gesehen haben« (208 f.).
ausdrücklich den Ansatz eines »kollektiven Unbe-
wußten« ab (170). Kollektiv ist nicht der Träger, aber In der Vehemenz und Nachhaltigkeit, mit der sich die
der Inhalt. Freud bestimmt dieses unbewußte Ge- prophetische Botschaft im Volk durchsetzt und von
dächtnis als ein »phylogenetisches Gedächtnis« und ihm Besitz ergreift, äußert sich, und das ist in Freuds
schreibt dazu: »Das Verhalten des neurotischen Kin- Augen wohl mehr als eine bloße Analogie, das
des zu seinen Eltern im Ödipus- und Kastrations- zwanghafte, pathologische Element des Monotheis-
komplex ist überreich an Reaktionen, die individuell mus:
ungerechtfertigt erscheinen und erst phylogenetisch,
durch die Beziehung auf das Erleben früherer Ge- »Es ist besonderer Hervorhebung wert, daß jedes aus der Ver-
gessenheit wiederkehrende Stück sich mit besonderer Macht
schlechter, begreiflich werden« (206; Hervorh. durchsetzt, einen unvergleichlich starken Einfluß auf die Men-
J. A.). schenmassen übt und einen unwiderstehlichen Anspruch auf
Das Unbewußte umfaßt also ein »phylogeneti- Wahrheit erhebt, gegen den logischen Einspruch machtlos
sches« und ein »ontogenetisches Gedächtnis«. Dem bleibt. Nach Art des credo quia absurdum. Dieser merkwürdige
Charakter läßt sich nur nach dem Muster des Irrwahns der
ontogenetischen Gedächtnis prägen sich die selbst- Psychotiker verstehen. Wir haben längst begriffen, daß in der
erlebten, aus dem bewußten Gedächtnis verdrängten Wahnidee ein Stück vergessener Wahrheit steckt, das sich bei
traumatischen Erfahrungen ein, während das phylo- seiner Wiederkehr Entstellungen und Mißverständnisse gefal-
genetische Gedächtnis durch traumatische Erfahrun- len lassen mußte, und daß die zwanghafte Überzeugung, die
sich für den Wahn herstellt, von diesem Wahrheitskern ausgeht
gen früherer Geschlechter geprägt ist. Das ist die und sich auf die umhüllenden Irrtümer ausbreitet. Einen sol-
schon erwähnte archaische Erbschaft aus der Ur- chen Gehalt an historisch zu nennender Wahrheit müssen wir
horde, die daher, in Freuds Worten, »nicht nur Dis- auch den Glaubenssätzen der Religionen zugestehen, die zwar
positionen, sondern auch Inhalte umfaßt, Erinne- den Charakter psychotischer Symptome an sich tragen, aber
als Massenphänomene dem Fluch der Isolierung entzogen
rungsspuren an das Erleben früherer Generationen. sind« (190 f.).
Damit wären Umfang wie Bedeutung der archai-
schen Erbschaft in bedeutungsvoller Weise gestei- Nach Freuds Erklärung reagieren die Menschen so
gert« (206), denn: »Wenn wir den Fortbestand sol- überstark auf die monotheistische Botschaft, weil ihr
cher Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft etwas von innen entgegenkommt, weil sie auf eine
annehmen, haben wir die Kluft zwischen Individual- psychische Disposition trifft, die ihr eine unwider-
und Massenpsychologie überbrückt, können die Völ- stehliche Evidenz verleiht. Es ist die Evidenz der Va-
ker behandeln wie den einzelnen Neurotiker« (207). terreligion für die ödipal geprägte Seele. Die Vaterre-
Auf dem Fortbestand dieser Erinnerungsspuren ligion bezieht ihre Evidenz aus der »historischen
beruht die Analogie zwischen dem Ablauf einer in- Wahrheit« des Urvaters; in ihr kehrt der durch das
dividuellen Neurose und dem Gang der Religionsge- Tätertrauma des Vatermords verdrängte Urvater in
schichte: »Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Aus- kaum verhüllter Form in das Bewußtsein der
bruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wie- Menschheit zurück.
186 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Das Zwanghafte der religiösen Überzeugungen ski 2002; Mark 2003). Die ödipale Struktur der ar-
heftet sich an diesen Wahrheitskern und breitet sich chaischen Erbschaft hatte sich bei ihm verschärft und
von dort auf die umhüllenden Irrtümer aus. Das war dem Vorbewußten und dem Bewußtsein näher-
heißt erstens: da muß etwas vorgefallen sein, die gerückt:
Gruppe, die sich mit solcher alle kritische Vernunft in »Die Wiedereinsetzung des Urvaters in seine historischen
den Wind schlagender Inbrunst an eine religiöse Rechte war ein großer Fortschritt, aber es konnte nicht das
Überzeugung hängt, muß in ihrer Frühzeit etwas er- Ende sein. Auch die anderen Stücke der prähistorischen Tra-
lebt haben, was dieser Botschaft inhaltlich nahe gödie drängten nach Anerkennung. Was diesen Prozeß in
Gang brachte, ist nicht leicht zu erraten. Es scheint, daß ein
kommt, und dieses Erlebnis, das ist der entschei- wachsendes Schuldbewußtsein sich des jüdischen Volkes, viel-
dende Punkt, muß traumatisch gewesen sein, damit leicht der ganzen damaligen Kulturwelt bemächtigt hatte als
es nicht einfach vergessen, sondern verdrängt und Vorläufer der Wiederkehr des verdrängten Inhalts. [. . .] Pau-
auf diese Weise im unbewußten Gedächtnis bewahrt lus, ein römischer Jude aus Tarsus, griff dieses Schuldbewußt-
sein auf und führte es richtig auf seine urgeschichtliche Quelle
werden konnte. Dieses Erlebnis ist einerseits der zurück. Er nannte diese die ›Erbsünde‹, es war ein Verbrechen
Mord am Urvater, dessen Erinnerungsspuren sich al- gegen Gott, das nur durch den Tod gesühnt werden konnte.
len Menschen in Gestalt der archaischen Erbschaft Mit der Erbsünde war der Tod in die Welt gekommen. In
eingeschrieben haben, und andererseits der Mord an Wirklichkeit war dies todwürdige Verbrechen der Mord am
später vergötterten Urvater gewesen. Aber es wurde nicht die
Mose, in dem die Juden diese Spur ausagiert haben, Mordtat erinnert, sondern anstatt dessen ihre Sühnung phan-
was zu einer Retraumatisierung und zu einer Ver- tasiert [. . .]. (192)
schärfung der ödipalen Disposition führte:
Was aber den jüdischen Volkscharakter so entschei-
»Es wäre der Mühe wert, zu verstehen, wie es kam, daß die dend geprägt und bis auf den heutigen Tag erhalten
monotheistische Idee gerade auf das jüdische Volk einen so
tiefen Eindruck machen und von ihm so zähe festgehalten wer- hat, ist nun allerdings eine Sache nicht des im Unbe-
den konnte. Das Schicksal hatte dem jüdischen Volke die wußten wirksamen phylo- und ethnogenetischen,
Großtat und Untat der Urzeit, die Vatertötung, näher gerückt, sondern des kulturellen Gedächtnisses, der »Tradi-
indem es dasselbe veranlaßte, sie an der Person des Moses, tion«. Freud führt hier an erster Stelle ein besonderes
einer hervorragenden Vatergestalt, zu wiederholen. Es war ein
Fall von ›Agieren‹ anstatt zu erinnern, wie er sich so häufig Selbstwertgefühl an. Die Juden, schreibt er, »haben
während der analytischen Arbeit am Neurotiker ereignet.« eine besonders hohe Meinung von sich, halten sich
(195). für vornehmer, höher stehend, den anderen überle-
Der Mord an Mose, den Freud von dem Alttesta- gen, von denen sie auch durch viele ihrer Sitten ge-
mentler Ernst Sellin übernimmt und den ja auch schieden sind. [. . .] Sie halten sich wirklich für das
schon Goethe postuliert hatte, hat in Freuds Psycho- von Gott auserwählte Volk, glauben ihm besonders
analyse des Judentums denselben methodischen Stel- nahe zu stehen, und dies macht sie stolz und zuver-
lenwert wie der Mord am Urvater, nämlich den einer sichtlich« (212).
therapeutischen Konstruktion. Freud braucht diese Ebenso entscheidend wie die Auserwähltheit ist für
Konstruktion, um die »Latenz« der monotheistischen Freud der vom Bilderverbot auferlegte Triebverzicht
Botschaft zwischen Mose und den Propheten erklä- und damit verbundene »Fortschritt in der Geistig-
ren zu können. Diese Latenz nun ist alles andere als keit«: »[. . .] wenn man dies Verbot annahm, mußte
eine Konstruktion, sie ist in Freuds Augen eine un- es eine tiefgreifende Wirkung ausüben. Denn es be-
abstreitbare historische Tatsache und sein eigent- deutete eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrneh-
licher Trumpf, den er immer wieder ausspielt. Denn mung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung,
diese jahrhundertelange Latenz beweist ihm, daß einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit,
eine Traumatisierung vorangegangen sein muß und streng genommen einen Triebverzicht mit seinen
erklärt, warum die wiederkehrende Erinnerung sich psychologisch notwendigen Folgen« (220).
mit der Gewalt des Verdrängten durchsetzen Freuds Religions- und Kulturtheorie basiert also
konnte. auf einem Zusammenspiel aus Tradition und unbe-
Die Retraumatisierung durch den Mord an Mose wußten Dispositionen, denen er mit seiner Reso-
machte die Juden, im Unterschied zu den Ägyptern nanztheorie auf die Spur kommen will.
und anderen Völkern, für die monotheistische Bot-
schaft auf lange Sicht ganz besonders empfänglich,
Rezeption
zumal ihnen diese Botschaft nicht nur verbal verkün-
det, sondern in einer Fülle einschneidender Gebote, Freuds Mosesbuch blieb lange Zeit fast unbeachtet.
insbesondere dem Gebot der Beschneidung, buch- Den Psychoanalytikern war es zu religionsgeschicht-
stäblich auf den Leib geschrieben wurde (Maciejew- lich, den Religionsgeschichtlern, falls sie es über-
Schriften zum Thema Krieg und Tod 187

haupt wahrnahmen, zu spekulativ. Auch heute wird Assmann, Aleida: Neuerfindungen des Menschen. Literarische
Anthropologien im 20. Jahrhundert. In: Dies./Ulrich Gaier/
man Freud in seinen historischen Konstruktionen Gisela Trommsdorff (Hg.): Positionen der Kulturanthropo-
nicht folgen. Die von ihm behaupteten Parallelen logie. Frankfurt a. M. 2005, 90–119.
zwischen der Aton-Religion und dem biblischen Mo- Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächt-
notheismus existieren nicht, weil die wichtigste, die nisspur. München 1998.
–: Der Fortschritt in der Geistigkeit. Freuds Konstruktion des
ethische Dimension, der Sonnenreligion Echnatons Judentums. In: Psyche 56 (2002), 154–171.
fehlt (Assmann 1998). Nichts spricht für einen in der –: Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis. In: Psyche
biblischen Darstellung verdrängten Mord an Mose, 58 (2004), 1–25.
vielmehr betont die Bibel selbst mehrfach die Absicht Ater, Moshe: The Man Freud & Monotheism. Jerusalem 1992.
Bernstein, Richard J.: Freud and the Legacy of Moses. Cam-
der Israeliten, Mose zu töten, und beschönigt in die- bridge 1998.
ser Hinsicht nichts (Yerushalmi 1991). Unerträglich Bori, Pier Cesare: Una pagina inedita di Freud. Il romanzo
erschien vor allem Freuds Psycholamarckismus (Ye- storico su Mosè. In: Rivista di storia contemporanea 8
rushalmi 1991). Aber gerade Yerushalmis Kritik lei- (1979), 1–17.
Breasted, James Henry: A History of Egypt. New York 1905.
tete die Wende ein, weil sie Freuds Traditionstheorie Derrida, Jacques: Mal d’Archive. Paris 1995.
als das eigentliche Thema des Buches herausstellte. Gay, Peter: A Godless Jew. Freud, Atheism, and the Making of
An diesem Punkt entzündete sich eine lebhafte De- Psychoanalysis. New Haven 1987.
batte. Dabei ist allerdings die Unterscheidung zwi- Goldstein, Bluma: Reinscribing Moses. Heine, Kafka, Freud, and
Schoenberg in a European Wilderness. Cambridge, Mass.
schen Tradition und Resonanz bisher nicht beachtet 1992.
worden. Im Lichte dieser Unterscheidung lassen sich Gressmann, Hugo: Mose und seine Zeit. Ein Kommentar zu den
die divergierenden Standpunkte von Yerushalmi Mose-Sagen. Göttingen 1913.
(1991) und J. Assmann (2004) einerseits und Derrida Grubrich-Simitis, Ilse: Freuds Moses-Studie als Tagtraum.
Weinheim 1991.
(1995) und Bernstein (1998) andererseits vermitteln. Maciejewski, Franz: Psychoanalytisches Archiv und jüdisches
Als Resonanztheorie läßt sich Freuds Ansatz eines Gedächtnis. Freud, Beschneidung und Monotheismus. Wien
kulturellen Unbewußten auch leicht im kulturwis- 2002.
senschaftlichen Sinne reformulieren. An die Stelle des Mark, Elizabeth Wyner (Hg.): The Covenant of Circumcision:
New Perspectives in Ancient Jewish Rite. Hanover, N. H.
Urhordentraumas und seiner Wiederholung durch 2003.
den Mord an Mose träten dann die schweren histori- McGrath, William: »How Jewish Was Freud?« Rev. of Freud’s
schen Traumatisierungen des jüdischen Volkes von Moses: Judaism Terminable and Interminable by Yosef Hayim
der assyrischen Eroberung des Nordreichs 722 v. Chr. Yerushalmi, and Freud and Moses: The Long Journey Home
by Emanuel Rice. In: New York Review of Books (1991),
bis zur endgültigen Vertreibung aus Palästina nach 27–31.
dem Bar-Kochba-Aufstand 135 n. Chr. Eine andere Meyer, Eduard: Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Halle
Debatte entspann sich im Zusammenhang der Dis- 1906.
kussion um Freuds Judentum: War Freud der aufge- Rice, Emanuel: Freud and Moses. The Long Journey Home. New
York 1990.
klärte »gottlose« Jude, als den er sich selbst bezeich- Schäfer, Peter: Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund
nete (Gay 1987) oder kehrte er in diesem letzten Freuds ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹.
Werk zum Judentum zurück (Rice 1990, Yerushalmi Berlin/Wien 2003.
1991, McGrath 1991)? Auch im Kontext der Mono- Sellin, Ernst: Mose und seine Bedeutung für die israelitisch-jüdi-
sche Religionsgeschichte. Leipzig/Erlangen 1922.
theismus-Diskussion gewann Freuds Buch neues In- –: Hosea und das Martyrium des Mose. In: Zeitschrift für die
teresse. Ging es Freud um eine »Dekonstruktion« des alttestamentliche Wissenschaft 46 (1928), 26–33.
Monotheismus (Assmann 1998) oder um seine Fort- Weigall, Arthur E. P.: The Life and Times of Akhnaton, Pharaoh
setzung im Sinne eines »Fortschritts in der Geistig- of Egypt. Edinburgh 1910.
Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unend-
keit« (Assmann 2002, kritisch dagegen Schäfer liches Judentum. Berlin 1992 (amerikan. 1991).
2003)? Schließlich lenkte die Wiederentdeckung des Jan Assmann
frühen »historischen Romans« durch Pier Cesare
Bori 1979 die Aufmerksamkeit auf die literarische
Qualität des Werkes, das unbeschadet der unbewäl-
tigten Form, für die sich Freud bei seinen Lesern
mehrfach entschuldigt, stilistisch zu seinen glanzvoll- 9.6 Schriften zum Thema
sten Texten zählt. Krieg und Tod
Literatur Zweimal hat sich Freud öffentlich über den Krieg ge-
Armstrong, Richard H.: A Compulsion for Antiquity. Freud and äußert – einmal unter dem Eindruck der Erfahrung
the Ancient World. Ithaca/London 2005. des Ersten Weltkriegs in der Schrift Zeitgemäßes über
188 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Krieg und Tod aus dem Jahr 1915 (GW X, 323–355), das Resultat innerer und äußerer Einflüsse auf das
sodann in dem 1933 erschienenen Brief an Albert individuelle Triebschicksal: Der innere Faktor besteht
Einstein unter dem Titel Warum Krieg? (GW XVI, in der Umwandlung der »bösen« oder eigensüchtigen
11–27). Beide Texte thematisieren und reflektieren Triebe mittels der erotischen Komponente in soziale
Freuds widersprüchliche und ambivalente Haltung Triebe; der äußere Faktor leitet sich aus den Impera-
zu dem, was er unter ›Kultur‹ verstand. tiven der Erziehung und den Ansprüchen der kultu-
rellen Umgebung, des »Kulturmilieus« ab. Kultur, für
Freud das einzige Bollwerk gegen den Krieg, ist
Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)
nichts anderes als Verzicht auf Triebbefriedigung
Die Schrift hebt an mit dem Bekenntnis Freuds, für (333). Zugleich stellt er aber nüchtern fest – und das
ihn und seinesgleiches, d. h. für die Angehörigen zivi- liegt ganz auf der Linie seiner ersten Triebtheorie, die
lisierter Nationen – die »Kulturweltbürger« (GW X, den Schicksalen des Sexualtriebes und der »kulturel-
327) – sei es eine »Enttäuschung«, mitansehen zu len« Sexualmoral gilt –, daß ein solch dauerhafter
müssen, wie eben diese zivilisierten Nationen über- Verzicht die meisten Menschen überfordere, weshalb
einander herfallen und einen erbarmungslosen Krieg deren »Kultureignung« letztlich auf einer »Art von
gegeneinander führen. Während man zwar damit Heuchelei« beruhe (336). »Es gibt […] ungleich
rechnen müsse, daß Kriege zwischen primitiven und mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Men-
zivilisierten Völkern, zwischen verschiedenen Men- schen, ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob
schenrassen und Hautfarben in gewisser Weise nor- ein gewisses Maß von Kulturheuchelei nicht zur Auf-
mal sind, könne man nur schwer akzeptieren, daß die rechterhaltung der Kultur unerläßlich sei […]«
»weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen (ebd.).
die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen Kultur bzw. Zivilisation, so belehrt Freud sich und
ist« (ebd., 325), sich wechselseitig bekriegen. An die seine Zeitgenossen, ist nur ein dünner Mantel, der
Stelle des Universalismus sittlicher Normen, die den notdürftig überdeckt, daß unter der glatten Oberflä-
Krieg ächten oder die, wenn der Krieg schon unver- che Kräfte am Werk sind, die jederzeit durchzubre-
meidlich ist, wenigstens für die Einhaltung humani- chen drohen, wie Freud unter Hinweis auf die Ana-
tärer Gebote und völkerrechtlicher Begrenzung sor- lyse der Traums betont. Die Deutung von Träumen
gen, sei der Partikularismus blanken Hasses getreten. zeige, »daß wir mit jedem Einschlafen unsere müh-
Dieser Krieg, schreibt Freud, »ist nicht nur blutiger sam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von uns
und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge werfen – um es am Morgen wieder anzutun« (338).
der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes Diese Plastizität des Seelenlebens, d. h. die Fähigkeit,
und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso von einem psychischen Zustand in einen anderen
grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein frü- überzuwechseln, geht Freud zufolge hauptsächlich in
herer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, eine Richtung – von einem späteren zurück zu einem
[…] anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten früheren, archaischen Zustand, wofür der Begriff
und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen »Regression« steht (337). Der Rückgang auf einen äl-
und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die An- teren psychischen Zustand ist deshalb möglich, weil,
sprüche des Privateigentums. […] Er zerreißt alle so Freud, »das primitive Seelische […] im vollsten
Bande der Gemeinschaft unter den miteinander rin- Sinne unvergänglich ist« (337). Der zentrale Punkt
genden Völkern […]« (328 f.). von Freuds Annahme, daß die menschliche Kultur
Nach diesem resignativen, Enttäuschung artikulie- auf Sand gebaut und insofern jederzeit gefährdet ist,
renden Auftakt seiner Schrift – ein rhetorisch ge- besteht in seiner Behauptung, daß der Krieg zu jenen
schickter Schachzug, um das Folgende desto effekt- »Einwirkungen des Lebens« (338) gehört, die beim
voller in Szene setzen zu können – schreitet nun Individuum die Regressionsneigung befördern und
Freud energisch ein, indem er darlegt, daß jene Ent- beschleunigen und so dafür sorgen, daß Menschen,
täuschung in Wahrheit auf einer Illusion beruhe – die ›an sich‹ friedfertig und kultiviert sind, plötzlich
auf der Illusion nämlich, man könne »das Böse« aus- alle Hemmungen verlieren und einander umbrin-
rotten oder unschädlich machen. Psychologisch bzw. gen.
psychoanalytisch betrachtet, bestehe der Mensch aus In der Traumdeutung wie in den Drei Abhandlun-
elementaren Triebregungen, die auf die Befriedigung gen zur Sexualtheorie geht es Freud auch in Zeitge-
ursprünglicher Bedürfnisse zielten und ›an sich‹ we- mäßes über Krieg und Tod darum, den kulturell »ver-
der gut noch böse seien. Was beim erwachsenen In- edelten« bzw. domestizierten Individuen die Illusion
dividuum z. B. als »gut« imponiert, ist Freud zufolge von ihrer primären »Kultureignung« zu nehmen und
Schriften zum Thema Krieg und Tod 189

ihnen nahezulegen, die Macht des Intellekts nicht zu menschen« auftreten, mit dem er sich schon ausführ-
überschätzen, denn Letzterer sei doch nichts anderes lich in Totem und Tabu befaßt hatte, um an dieser
als »Spielball und Werkzeug unserer Triebneigung psychologischen Kunstfigur zu demonstrieren, daß
und Affekte« (zit. nach Jones II, 434). Es ist dies ein der moderne Kulturmensch – der dem Urmenschen
Zug, der das gesamte Freudsche Werk wie ein roter nähersteht, als man für gewöhnlich glaubt (GW X,
Faden durchzieht und auf unübersehbare Weise 350) – unbewußt ein ebenso gebrochenes, ambiva-
daran erinnert, daß die Quellen dieses Werkes nicht lentes Verhältnis zum Tod nahestehender Menschen
nur im Rationalismus und Physikalismus des wissen- habe wie jener. Diese Ambivalenz rühre daher, daß
schafts- und fortschrittsgläubigen 19. Jh.s zu suchen die nahestehende bzw. geliebte Person einerseits Teil
sind, sondern ebensosehr in den szientismuskriti- von uns selbst, »innerer Besitz« (ebd., 353), also ge-
schen und vernunftsubversiven Überlieferungen, mäß der Logik des Unbewußten unsterblich ist, wäh-
die mit Namen wie Schelling, Baader, Carus und rend sie andererseits zugleich Nicht-Ich, ein Fremdes
Schopenhauer verbunden sind (vgl. Marquard oder gar Feindliches ist, das gemäß der Logik des Un-
1987). bewußten vernichtet werden darf: Im Gleichen –
Krieg und Tod sind nächste Verwandte, und so un- meinem Ebenbild – gibt es das schlechthin Andere.
tersucht Freud im zweiten Teil seines Essays das Ver- In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht un-
hältnis des Kulturmenschen zum Tod. Als erstes kon- angemessen, darauf hinzuweisen, daß Freud selber
statiert er die Unaufrichtigkeit dieses Verhältnisses, ein sprechendes Exempel für die von ihm behauptete
denn trotz der wohlfeilen Übereinkunft, »daß jeder Gefühlsambivalenz gegeben hat. In einem Brief an
von uns der Natur einen Tod schulde« (GW X, 341), Karl Abraham vom 29. Mai 1918 schreibt er über
glaube recht eigentlich niemand an den eigenen Tod seine hochbetagte Mutter: »Meine Mutter wird heuer
– unbewußt sei nämlich jedermann von seiner Un- 83 Jahre alt und ist nicht mehr recht solid. Manchmal
sterblichkeit überzeugt, weil dem Todesglauben, wie denke ich, es wird ein Stück Freiheit mehr für mich
Freud schreibt, »nichts Triebhaftes in uns« entgegen- sein, wenn sie stirbt, denn die Annahme, daß man
komme (350). Insgesamt neige der Mensch dazu, den ihr mitteilen muß, ich sei gestorben, hat etwas, wovor
Tod als einen Einbruch des Zufalls ins Leben, nicht man zurückschreckt« (F/A, 259). Unschwer kann
als eine Notwendigkeit zu betrachten. Diese konven- man erkennen, wie hier im Fall eines geliebten Men-
tionelle Einstellung zum Tod hat Freud zufolge aller- schen ein starker Bindungswunsch und zugleich ein
dings eine dramatische Konsequenz: Wenn der Tod Todeswunsch am Werk sind. In diesem von der Psy-
kulturell verleugnet wird, verliert das Leben selber an choanalyse aufgedeckten Ambivalenzkonflikt, der vor
Wert und Intensität, denn wo nicht mehr der höchste dem Bewußtsein in der Regel streng verborgen wer-
Einsatz gilt, wo also das Leben nicht mehr gewagt den muß, sieht Freud die schärfste Provokation der
wird, muß dieses arm und leer werden »wie etwa ein kulturell herrschenden Einstellung zum Tod (GW X,
amerikanischer Flirt« (343). Erst der Krieg stößt den 353).
Kulturmenschen unmißverständlich auf die Tatsache, Schließlich lenkt Freud den Blick auf die Bedeu-
daß es den Tod gibt und daß er nicht zufällig, son- tung des kulturell geforderten Tötungsverbots und
dern notwendig ins Leben tritt, das dadurch »freilich entlarvt es im Angesicht des Krieges als haltlos. Denn
wieder interessant geworden [ist], es hat seinen vol- die Stärke des Verbots verweise darauf, daß es sich
len Inhalt wieder bekommen« (344). Freud läßt die- gegen einen ebenso starken Impuls richte: »Was kei-
sen letzten Satz, der Heinz Politzer an Darwin und nes Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu
dessen »survival of the fittest« erinnert (Politzer verbieten […] Gerade die Betonung des Gebotes: Du
2003, 126), unkommentiert stehen, während der Le- sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer
ser sich fragt, ob er damit dem anthropologischen unendlich langen Generationsreihe von Mördern ab-
Ansatz etwa des Militärhistorikers Martin van Cre- stammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch
veld vorgreift, der in seinem Standardwerk über den uns selbst, im Blute lag« (350). Dieser Krieg, so
Krieg postuliert, das Töten im Krieg sei die einzige Freuds Resümee, bringt unser konventionelles Ver-
schöpferische Tätigkeit, die den unbegrenzten Ein- hältnis zum Tod ins Wanken, indem er die mühsam
satz aller menschlichen Fähigkeiten erlaubt: »Seit erworbenen »Kulturauflagerungen« verschwinden
Homer hat sich der Gedanke festgesetzt, daß nur und »den Urmenschen in uns« wieder hervortreten
jene, die ihr Leben willentlich, ja voller Freude aufs läßt (354) – und so schließt der Text mit der »zeit-
Spiel setzen, ganz sie selbst, ganz Mensch sein kön- gemäßen« Forderung: »Si vis vitam, para mortem.
nen« (van Creveld 1991/1998, 245). Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf
In einem weiteren Schritt läßt Freud seinen »Ur- den Tod ein« (355).
190 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Handelt es sich beim zweiten Teil des Freudschen der Loge B’nai B’rith, deren Mitglied er war, unter
Textes tatsächlich um eine »Verherrlichung des To- dem Titel »Wir und der Tod« vortrug (Freud 1915;
des« (Turnheim 1999, 35)? Eher geht es Freud wohl der Text weicht von der in den Gesammelten Werken
um die kulturell verdrängte Wahrheit des Todes, um gedruckten Fassung im Detail erheblich ab, während
dessen Präsenz mitten im Leben, um seine unhinter- er im Grundsätzlichen mit ihm übereinstimmt). Im
gehbare Gewalt – mehrmals gebraucht Freud mit Augenblick der Konfrontation mit dem Anderen,
einer Emphase, die an spätere Formulierungen dem Feind im Weltkrieg, wendet sich Freud an die
Heideggers gemahnt, die Begriffe »Wahrheit« und Gleichen, d. h. an die Juden als seine »lieben Brüder«
»Wahrhaftigkeit«, um seine Zeitgenossen daran zu (ebd., 132) und schließt damit den allgemeinen
erinnern, daß Krieg und Tod Tatsachen sind, mit de- Adressaten der zuerst in der Zeitschrift Imago abge-
nen der Kulturmensch jederzeit zu rechnen hat. Statt druckten Version (GW X, 341–355) ausdrücklich aus,
den Tod zu verdrängen oder zu verniedlichen und merkt Freud doch an, statt »Wir und der Tod« könne
damit, wie Freud meint, psychologisch über unsere der Vortragstitel auch lauten »Wir Juden und der
Verhältnisse zu leben (was letztlich in die Neurose Tod« (ebd.). Michael Turnheim gibt zu bedenken
führt), sollen wir anerkennen, daß der katastrophi- (Turnheim 1999, 28), daß dieser spezifisch jüdische
sche Einbruch, den Krieg und Tod für den modernen Kontext, in den das Thema Krieg und Tod hier ge-
Menschen bedeuten, die Rückkehr zum »vollen In- stellt wird, damit zu tun habe, daß es für die öster-
halt« des Lebens ist. Nur in der Zerstörung aller Illu- reichischen und deutschen Juden keineswegs klar
sionen liegt die Voraussetzung, das Leben erträglich war, wie man sich angesichts der Gegenwart des Krie-
zu machen. ges zu verhalten habe – sollte man, wie z. B. der
Was für den späteren und späten Freud gilt – die Schriftsteller Karl Kraus, die Greuel des Krieges an-
eindeutige Absage an das Gute und Friedliche im prangern und damit unpatriotisch handeln, oder
Menschen und die Feststellung der Unmöglichkeit sollte man lieber, wie etwa der Philosoph Hermann
der Befolgung des Gebots »Liebe deine Feinde« Cohen, eine hyperpatriotische Haltung einnehmen?
(GW XIV, 469) –, gilt ein Stück weit auch bereits für Freud bezog weder die eine noch die andere Position,
den mittleren Freud. In Zeitgemäßes über Krieg und sondern legte den Juden vielmehr nahe, die für sie
Tod geht Freud, das erst später formulierte Postulat besonders typische (Freud 1915, 132) Verkennung
eines ursprünglichen Aggressionstriebes und Wieder- des Todes aufzugeben und dessen Realität endlich zu
holungszwangs (vgl. GW XIII, 1–69) antizipierend, akzeptieren. Man weiß nicht, ob sich mit dieser Emp-
zumindest implizit mit den Wunschbildern des libe- fehlung Freuds an seine jüdischen Brüder womöglich
ralen Zeitalters, mit dessen Vorstellungen vom fried- die Hoffnung verband, ihnen werde so das Ärgste er-
lichen Ausgleich konkurrierender und widerstreiten- spart bleiben – nämlich Opfer der Ambivalenz ihrer
der Interessen, vom steten Fortschreiten zu einer bes- unmittelbaren sozialen und politischen Umgebung
seren Welt scharf ins Gericht. Es gibt Stimmen, die zu werden. Im Brief an Ferenczi vom 8. April 1915
Freud sogar mit Carl Schmitt in Verbindung bringen wiederum spricht Freud von einem »von Galgenhu-
(Bendersky 2000), für den bekanntlich die Unter- mor inspirierten Vortrag […], den ich hier im Juden-
scheidung von Freund und Feind konstitutiv für die verein gehalten habe« (F/Fer II/1, 116). Warum »Gal-
Dimension des Politischen war. Auch der zuneh- genhumor«? Was ahnte Freud im Hinblick auf das
mend pessimistische Charakter des Freudschen Den- künftige Schicksal der Juden?
kens, der unter dem Eindruck der traumatischen Er-
fahrungen des Ersten Weltkriegs in der Schrift von
Warum Krieg? (1933)
1915 unübersehbar hervortritt, erinnert an be-
stimmte theoretische Prämissen Schmitts, mehr noch 1932 schrieb der Physiker Albert Einstein unter dem
an solche des englischen Staatstheoretikers Thomas Datum des 30. Juli einen Brief an Freud, in welchem
Hobbes (vgl. Rieff 1961, 243 f.; Waibl 1980; Gay, 614). er ihn auf Anregung des Völkerbundes und seines
Zusammenfassend kann man sagen, daß Freud be- Internationalen Instituts für geistige Zusammenar-
reits in Zeitgemäßes über Krieg und Tod, deutlicher beit dazu aufforderte, mit ihm in einen Gedanken-
und entschiedener allerdings erst in Das Unbehagen austausch über die Frage einzutreten, ob es einen
in der Kultur, die Möglichkeit einer dauerhaft befrie- Weg gebe, die Menschen vom Verhängnis des Krieges
deten Welt mit größter Skepsis beurteilte. zu befreien. Freud griff den Vorschlag auf und ant-
Bleibt nachzutragen, daß Freud den zweiten Teil wortete Einstein im September 1932. Der Briefwech-
seines Essays (»Unser Verhältnis zum Tode«) kurz vor sel zwischen dem berühmten Physiker und dem be-
der Veröffentlichung vor seinen jüdischen Freunden rühmten Psychoanalytiker erschien Anfang 1933,
Schriften zum Thema Krieg und Tod 191

d. h. im historischen Kontext der Machtergreifung »Erstarkung des Intellekts« und zur »Verinnerlichung
Hitlers in Deutschland, unter dem Titel Warum der Aggressionsneigung«. Dieser vom Kulturprozeß
Krieg?, Pourquoi la guerre? und Why war? zugleich in begünstigten wachsenden »konstitutionelle[n] Into-
deutscher, französischer und englischer Sprache in leranz« (26) gegen Aggression und Gewalt ist der
Paris. Krieg nicht mehr kompatibel, und zwar sowohl in
Zunächst erörtert Freud die Möglichkeit der Her- ästhetischer wie in anderer Hinsicht – Krieg ist keine
stellung und Bewahrung des Friedens dadurch, daß Option mehr: »Alles, was die Kulturentwicklung för-
Gesellschaften von der Gewalt zum Recht übergehen, dert, arbeitet auch gegen den Krieg« (27).
indem sie die Gewalttätigkeit einzelner Starker mit- Anders als sonst, etwa in Das Unbehagen in der
tels des Zusammenschlusses der vielen Schwachen Kultur, wo Freud ausdrücklich festhält, Kultur sei kei-
zähmen. Aber auch der Übergang von der Gewalt neswegs das Kostbarste, was der Mensch besitzen
zum Recht schafft laut Freud keine dauerhaft friedli- oder erwerben könne, und alle Kulturanstrengungen
chen Zustände, da innerhalb einer größeren rechts- seien »nicht der Mühe wert« (GW XIV, 505), da sie
förmig organisierten Gemeinschaft neue Machtver- mit zu vielen (Trieb-)Opfern erkauft seien, votiert er
hältnisse entstehen, die wiederum zu Interessenkon- in Warum Krieg? ohne Wenn und Aber für die Kultur.
flikten und neuer Gewalttätigkeit führen. Auch nach Nicht wenige Leser sehen in diesem Sinneswandel
außen sehen sich Gemeinschaften immer wieder ge- Freuds einen Bruch in seinem Denken. Denn hier
zwungen, Konflikte gewaltsam auszutragen, und habe Freud, der doch sonst von der Annahme eines
Freud kommt zu dem Schluß, daß der Fortschritt, ursprünglichen Aggressionstriebes ausgegangen sei
den die Menschheit erreicht habe, lediglich darin be- und den gewaltsam ausgetragenen Konfliktfall für
steht, daß sie permanente Kleinkriege »gegen seltene, wahrscheinlicher gehalten habe als dessen friedliche
aber umsomehr verheerende Großkriege« einge- Beilegung, sich angesichts der vorgestellten Schrek-
tauscht hat (GW XVI, 18). Auch die Macht von ken des Krieges als Pazifist bekannt, der er vermut-
»Ideen«, wie sie etwa die supranationale Institution lich kaum war. Tatsächlich kann man Warum Krieg?
des Völkerbundes oder die »bolschewistische Den- als Dokument eines Vernunftpazifismus lesen, der
kungsart« (19) vertrete, garantiere keinen stabilen alle nur denkbaren sachlichen Einwände zugunsten
Frieden. »Es ist ein Fehler in der Rechnung, wenn des Bekenntnisses zur Zukunft der Kultur beiseite-
man nicht berücksichtigt, daß Recht ursprünglich schiebt, oder auch als Ausdruck von »wishful think-
rohe Gewalt war und noch heute der Stützung durch ing« (Bendersky 2000, 630). Wenig einleuchtend ist
die Gewalt nicht entbehren kann« (19 f.). das Gegenargument Alfred Schöpfs, wonach Freuds
Im weiteren argumentiert Freud mit der »mytho- überraschender Pazifismus, wie er sich in dem Brief
logischen Trieblehre« der Psychoanalyse (23), d. h. an Albert Einstein artikuliert, das Resultat einer den
mit dem Antagonismus von Eros und Thanatos, Le- Freund-Feind-Gegensatz transzendierenden Kon-
benstrieb und Todestrieb. Um die aggressiven Äuße- fliktlösungsstruktur gemäß einem in der Freudschen
rungen des Letzteren einzudämmen, d. h. um künf- Theorie angelegten triangulär-ödipalen Muster ist
tige Kriege zu verhindern, sei es notwendig, die im (Schöpf 2004, 530).
weitesten Sinne erotischen Bindungen unter den
Menschen, das Gefühl der Gemeinsamkeit und des
Zusammenhalts zu stärken, was nur mittels Identifi- Literatur
Bendersky, Joseph W.: Schmitt and Freud. Anthropology, Ene-
zierung zu leisten sei. Aber: »Das ist nun leicht ge- mies and the State. In: Dietrich Murswiek u. a. (Hg.):
sagt, aber schwer zu erfüllen« (23). Und daß die In- Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut
dividuen vollends auf ihre triebhaften Bedürfnisse Quaritsch zum 70. Geburtstag. Berlin 2000, 623–635.
Creveld, Martin van: Die Zukunft des Krieges. München 1998
verzichten und sich der »Diktatur der Vernunft« un- (engl. 1991).
terwerfen, sei schon gar utopisch (24) bzw. allenfalls Freud, Sigmund: Wir und der Tod [1915]. In: Psyche 45 (1991),
eine »Zukunftshoffnung«, wie es in der Neuen Folge 132–142.
der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Marquard, Odo: Transzendentaler Idealismus, Romantische Na-
turphilosophie, Psychoanalyse. Köln 1987.
heißt (GW XV, 185). Nitzschke, Bernd: Freuds Vortrag vor dem Israelitischen Hu-
So bleibt Freud am Ende nur die Beteuerung, man manitätsverein »Wien« des Ordens B’nai B’rith: Wir und
müsse »aus organischen Gründen« (GW XVI, 25) der Tod [1915] · Ein wiedergefundenes Dokument. In: Psy-
Pazifist sein. Der Prozeß der allgemeinen Kulturent- che 45 (1991), 97–131.
Politzer, Heinz: Freud und das Tragische. Hg. von Wilhelm W.
wicklung, Freud zufolge eine Art kollektiver Trieb- Hemecker. Wiener Neustadt 2003.
domestizierung der Gattung, die körperliche wie see- Rieff, Philip: Freud. The Mind of the Moralist. New York
lische Veränderungen bewirke, führe schließlich zur 1961.
192 Werke und Werkgruppen – Kulturtheorie

Schöpf, Alfred: Freund und Feind: Das Destruktive und seine Waibl, Elmar: Gesellschaft und Kultur bei Hobbes und Freud.
praktische Bewältigung. In: Psyche 58 (2004), 515–532. Wien 1980.
Turnheim, Michael: Das Andere im Gleichen. Über Trauer, Witz Hans-Martin Lohmann
und Politik. Stuttgart 1999.
193

10. Literatur und Kunst

10.1 Der Wahn und die Freud konnte sich bei seiner Deutung mit einer psy-
chologischen Organisation des Novellentextes kurz-
Träume in W. Jensens schließen, die sich nicht nur starker unbewußter Dy-
›Gradiva‹ (1907) namik, sondern auch deren informierter Kontrolle
verdankte.
Nachdem bereits 1903 Wilhelm Stekel auf die soeben Der Inhalt läßt sich folgendermaßen zusammen-
erschienene Novelle Gradiva. Ein pompejanisches fassen: Norbert Hanold, ein junger deutscher Gelehr-
Phantasiestück aufmerksam gemacht hatte, wies 1906 ter, dem die Archäologie alles bedeutet und die
C. G. Jung Freud noch einmal auf die Erzählung hin. Frauen und die Liebe wenig, wird eines Tages im Mo-
Zwischen beiden begann in diesem Jahr ein inten- nat Mai von großer Unruhe befallen. Nachts träumt
siver Briefwechsel, und Freud soll im Sommer 1906 er vom Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr., wo-
seine Gradiva-Analyse angefangen haben, um Jung bei ihm eine reizvolle junge Frau erscheint, die eigen-
›Freude zu machen‹ (Biograph Jones); die Schrift Der tümlich ihren linken Fuß aufsetzt. Am Morgen weiß
Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ (GW er, daß er von der Gradiva geträumt hat. ›Gradiva‹,
VII, 29–125) erschien im Mai 1907. Freud legte hier ›die Vorschreitende‹, hat er das Reliefbild einer jun-
erstmals die Interpretation eines geschlossenen lite- gen Pompejanerin getauft, das an einer Wand seines
rarischen Werks vor, wobei er – im Gegensatz zu den Arbeitszimmers hängt und für ihn eine intensive –
späteren Psychopathographien über Leonardo und für wissenschaftlich gehaltene – Attraktion besitzt.
Dostojewski – sich auf die binnenliterarische Psycho- Plötzlich wird der Drang, dem Schicksal der jungen
logie der handelnden Personen konzentrierte und Pompejanerin nachzuforschen, in Hanold unwider-
den Autor aussparte. stehlich. Er reist nach Italien, hier von Rom nach
Der 1837 in Heiligenhafen geborene, lange in Neapel, dann landet er wie unabsichtlich in Pompeji.
München lebende Wilhelm Jensen war ein äußerst Begleitet und dirigiert wird seine Reise von einer
produktiver Verfasser historischer Romane und von Reihe von Träumen, teils deutlich erotischen Charak-
entschiedener Unterhaltungsliteratur. Literaturge- ters. Hanold gerät in Pompeji in einen wahnhaften
schichtlich rechnet man ihn dem Realismus zu. Stu- Zustand, der sich noch verstärkt, als er in den Ruinen
dierter Mediziner und promovierter Philologe, stand tatsächlich auf die Gradiva trifft, die offenbar Urlaub
er in Kontakt mit den geistigen Strömungen seiner vom Hades hat. Wirklichkeit und Phantasie treten
Zeit, bekannte sich zu Schopenhauer und war nicht ihm jetzt gefährlich zusammen. Mit Hilfe aufdecken-
nur mit Storm und Raabe, sondern auch mit Ernst der Träume und des psychagogisch sehr geschickten
Haeckel und Wilhelm Wundt befreundet. Die Entste- Verhaltens der jungen Frau wird Norbert Hanold
hungsumstände der Gradiva sind insofern wichtig, schließlich von seinem Wahn befreit und kann den
als Jensen darin wieder einmal von einem zentralen wahren Sachverhalt erkennen: Die vermeintliche
persönlichen Motiv (Liebe zur ›Schwester‹) handelt Gradiva in Pompeji ist in Wirklichkeit seine Kind-
und – im Briefwechsel mit Freud – von einem be- heitsfreundin Zoe Bertgang, an der einmal seine
sonders starken kreativen Impuls spricht. Mit der ganze Liebe hing, bevor er sie der Wissenschaft op-
Psychoanalyse war Jensen nicht bekannt, als Scho- ferte. Diese Liebe ist jetzt wieder erwacht – wie Pom-
penhauerianer hatte er aber einen Begriff vom Illu- peji ›aus der Verschüttung wieder ausgegraben‹. Ha-
sionscharakter der Zeit, vom zeitlosen Unbewußten nold wird gesund, ist mit Zoe wieder dem Leben zu-
und von ›den Trieben‹. Allgemeine psychologische gewandt und wird sie vermutlich bald heiraten.
Konzepte wie die idée fixe und die Unterscheidung Freud hat es in der Gradiva Jensens nicht mit ei-
von ›bewußt‹ und ›unbewußt‹ waren ihm vertraut. nem Text zu tun, dessen psychologische Errungen-
194 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

schaften sich gleichsam hinter dem Rücken des Au- Traum Hanolds, in dem dieser sich zeitgleich mit der
tors aus seinem Unbewußten ergeben hätten. Die Gradiva in Pompeji befindet, und zwar am 24. Au-
Gradiva weist die klare und bewußte Textintention gust 79, dem Zeitpunkt der Verschüttung. Alles
auf, von einer »verschütteten« (Jensen/Freud, 216) flüchtet vor der hereinbrechenden Katastrophe, nur
Kindheitsliebe zu erzählen, die sich spurenweise an die Gradiva, die er plötzlich erkennt, legt sich vor
ein Bildwerk heftet und eines Frühlingstages wieder- dem Jupitertempel ruhig zum Schlaf nieder. Hanold
kehren möchte, womit sie den widerstrebenden Hel- möchte sie retten, doch ihr Gesicht färbt sich immer
den krank macht. Auch die ›kathartische‹ Gesundung blasser, als ob es sich zu weißem Marmor umwandle.
des Helden durch die Wiedergewinnung der persön- Dann hat der Aschenregen sie begraben. Der Traum
lichen Kindheitsvergangenheit ist bei Jensen bewußt wirke in Hanold fort, führt Freud aus, und bewege
angelegt. Selbst die damals für die Psychoanalyse im- ihn zu seiner spontanen Italienreise. Deuten kann
mer wichtiger werdende Gleichung aus der Evolu- Freud ihn noch nicht. In Pompeji trifft Hanold dann,
tionstheorie ›Ontogenese=Phylogenese‹ ist Teil der wie er wahnhaft glaubt, tatsächlich auf die Gradiva.
kalkulierten Konstruktion der Wahnzustände: Die Freud beschreibt nun psychoanalytisch den gesamten
›verschüttete‹ Kinderliebe Zoe erscheint Hanold als Vorgang der Wahnverstärkung bei Hanold und des
Pompejanerin aus dem Jahr 79, die ›ontogenetische‹ ›therapeutischen‹ Mitvollzugs durch Zoe Bertgang,
Vergangenheit findet also ihre Entsprechung in der der in die Auflösung des Wahns mündet, als Hanold
›phylogenetischen‹ Antike. Diese Beobachtungen zei- sie schließlich wiedererkennt. An diesem Punkt, an
gen, wie nahe eine psychologisch sensible Literatur dem die Verdrängung aufgehoben ist, kann sich
von sich aus den neuen Konzepten der Psychoanalyse Freud wieder dem Pompejitraum Hanolds zuwenden
bereits gekommen war – oder vice versa. und ihn ausführlich analysieren. Jetzt kann er sich
Freuds Interpretation des Textes simuliert eine auf die Annahmen und die Interpretationsmethode
fortlaufende klinische Anamnese des Norbert Ha- seiner Traumdeutung beziehen und sie am literari-
nold, wobei sie erkennbar schon von fünf vorgängi- schen Gegenstand erläutern. Der Leser erfährt das
gen Annahmen geleitet wird: 1. Bei Hanolds Reise- Wichtigste aus der Traumarbeit (z. B. über die Ver-
drang und seinem ›Wahn‹, die Gradiva erscheine ihm schiebung als Folge des Widerstands: Hanold, der sich
leibhaftig in Pompeji, handelt es sich um die Wieder- die Erotik nicht eingestehen will, träumt sich mit Zoe
kehr einer verdrängten Triebbesetzung. 2. Hinter die- aus der Gegenwart zurück ins alte Pompeji; in diesem
ser verdrängten Triebbesetzung verbirgt sich die Kin- Kompromiß ist dann ihre gemeinsame Anwesenheit
derliebe zu Zoe Bertgang. 3. Das Mittel der Verdrän- im Traum möglich); latenter Traumgedanke und ma-
gung war die archäologische Wissenschaft, und diese nifester Trauminhalt werden definiert und die Angst
ist zugleich der Bereich, in dem das Verdrängte zu- als verkappter Sexualaffekt erklärt. Am Ende kennt
rückkehrt. 4. Die Träume spiegeln die Wiederkehr der Leser die Quintessenz von Freuds Traumdeutung,
des Verdrängten und Hanolds Widerstand dagegen. und die Dichtung wurde zum Zeugnis ihrer Wahr-
5. Das 79 verschüttete und nach vielen Jahrhunder- heit.
ten wieder ausgegrabene Pompeji ist das Sinnbild für Pompeji ist im 19. Jh. ein vielfach besetztes Kultur-
die in Kindheit/Jugend erfolgte Verdrängung einer symbol. Um 1750 beginnt die bunte und populäre
frühen Liebe und für ihre Wiederkehr. Diese fünf Rezeptionsgeschichte der wiedergefundenen Stadt, in
Hypothesen bewähren sich dann an allen wichtigen der man ihr eine ganze Reihe gerade relevanter Be-
Details der Novelle, die Freud noch einmal nacher- deutungen zuschreibt (Venusstadt, Ort der Wieder-
zählt. Er führt dabei seine Nachweise wie in einem geburt, Geisterstadt usw.). Hier genügt, daß ›Pom-
therapeutischen Prozeß und erklärt überdies für den peji‹ mit einfachen, verständlichen Strukturen be-
Nichtinformierten die Axiome der Psychoanalyse. stimmte Zeit- und Raumverhältnisse darstellt, in die
Freuds weitläufiges Vorgehen ist hier nicht repro- man eine Bedeutung eintragen konnte. Von dieser
duzierbar, wir geben ein Beispiel: Die Ausgangsfrage Möglichkeit profitierte sowohl Jensens Italien-No-
ist, wie man in der Literatur vorkommende Träume velle wie Freuds psychoanalytische Deutung, und
aufzufassen habe und ob man sie behandeln könne hier liegt wohl eine Erklärung für die verblüffenden
wie tatsächlich geträumte. Freud verspricht die Ant- Strukturanalogien zwischen beiden. Es sind vor al-
wort am Beispiel der Gradiva zu geben. Er beschreibt lem verschiedene Erscheinungsformen von Zeit.
den Helden Norbert Hanold, dessen Faszination 1. Zeitlosigkeit: Wie das Unbewußte der Psycho-
durch das Marmorrelief der jungen Pompejanerin analyse keine Zeit hat – das heißt: infantile Inhalte
und seine fixe Idee, etwas über ihr historisches Urbild immer in die Präsenz treten können –, so führt auch
herauszufinden. Dann referiert Freud den ersten Gradiva die Zeitlosigkeit der erinnerten Kindheit vor.
Der Dichter und das Phantasieren 195

Zoe versucht, als sie in den Ruinen beieinandersitzen, die Psychoanalyse eine Zeit lang große didaktische
Hanold die gemeinsame Kinderzeit in Erinnerung zu Wirkung ausgeübt hat, bestünde diese Popularität al-
bringen: »Mir ist’s, als hätten wir schon vor zwei- lerdings nicht. Die Rezeptionsgeschichte der Studie
tausend Jahren einmal so zusammen unser Brot ge- muß noch geschrieben werden. Vor allem in der
gessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?« (Jen- französischen und englischen Literaturwissenschaft
sen/Freud, 196). Dies dürfte das Echo einer berühm- ist ihr Einfluß feststellbar. Vermutlich hat sie ihre
ten Schopenhauer-Stelle über die Unzerstörbarkeit größte Wirkung aber auf die Künste selbst ausgeübt.
unsers wahren Wesens durch den Tod sein. So kann man einen Einfluß der Gradiva und ihrer
2. Ontogenese = Phylogenese: Nach eben diesem Deutung auf Thomas Manns Novelle Der Tod in Ve-
Haeckel-Freudschen Prinzip, das bald auch für die nedig annehmen, die ja ebenfalls von der Wiederkehr
psychoanalytische Kulturtheorie Freuds wichtig wird, des Verdrängten handelt (das ist auch Thema des Ro-
versteht Gradiva die linearen Zeitverhältnisse in der mans von Manfred Dierks Der Wahn und die
Handlung: als »Gleichstellung von Verschüttung und Träume). Den zweifellos produktivsten Einfluß er-
Verdrängung, Pompeji und Kindheit« (GW VII, kennt man bei den französischen Surrealisten im
112). Zuge ihrer Psychoanalyse-Aneignung, und hier nicht
3. Zeitschichten als Sedimentschichten: Die bedeu- zuletzt über das Reliefbild der Gradiva und ihre
tende Rolle der Geologie, der Evolutionstheorie und ›mannequinhafte‹ Gangart. Bei Dalı́ tritt die Gradiva/
der Archäologie im 19. Jh. beförderte eine stratigra- Zoe zusammen mit seiner Frau Gala unter dem Dop-
phische Zeitvorstellung: Entwicklungen sedimentie- pelaspekt von Therapeutin und Muse auf. Auch Max
ren sich in feststellbaren Schichten. Beliebtes Beispiel Ernst, André Breton und André Masson haben das
war Schliemanns ›trojanische Torte‹ mit den ver- Motiv bearbeitet, und Marcel Duchamp hat für Bre-
schiedenen Siedlungsschichten Trojas. Das stratigra- tons 1937 eröffnete Galerie GRADIVA eine Durch-
phische Muster findet sich im psychoanalytischen Er- gangstür geschaffen, auf der, wer will, das Paar Zoe
innerungskonzept wie im Pompeji der Gradiva: für und Norbert Hanold erkennen kann (s. hierzu auch
den gesundenden Hanold steigt die Kindheitserinne- Kap. IV.10).
rung herauf aus einer tiefer liegenden Gedächtnis-
schicht – wie ›aus der Verschüttung wieder ausge- Literatur
graben‹. Dierks, Manfred: Der Wahn und die Träume im ›Tod in Vene-
dig‹. In: Psyche 44 (1990), 240–268.
4. Lineare Zeit vs. Konservierung: Der Widerspruch –: Der Wahn und die Träume. Eine fast wahre Erzählung aus
zwischen dem Zeitpfeil und der mystischen Idee der dem Leben Thomas Manns. Düsseldorf/Zürich 1997.
Zeitlosigkeit (nunc stans) wird in der Literatur des Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gra-
19. Jh. häufig behandelt und oft aufgelöst im geo- diva‹. Mit der Erzählung von Wilhelm Jensen. Hg. und ein-
geleitet von Bernd Urban. Frankfurt a. M. 1995.
logisch-archäologischen Motiv der Konservierung Jensen, Wilhelm: Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück.
von Zeitlichem. Beispiel ist die vielfach bearbeitete Dresden/Leipzig 1903. In: Freud 1995 (= Jensen/Freud).
Anekdote des jung verschütteten und als Jüngling Rohrwasser, Michael u. a. (Hg.): Freuds pompejanische Muse.
nach Jahrzehnten wieder ausgegrabenen Bergmanns Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle ›Gradiva‹. Wien 1996.
von Falun. Entsprechendes Interesse galt den petrifi- Manfred Dierks
zierten Leibern der im Jahr 79 umgekommenen
Pompejaner. Das psychoanalytische Konzept der Ver-
drängung versteht die Inhalte des Unbewußten ja
nicht anders: mit unverminderter Energie können sie 10.2 Der Dichter
nach Jahrzehnten wieder in ihr Recht treten. Auch und das Phantasieren (1908)
hier trifft sich Freud mit Jensens Gradiva-Phantasie:
Zoe für etwas Ausgegrabenes und wieder lebendig Dezember 1907 sprach Freud zu diesem Thema im
Gewordenes anzusehen. Salon seines Verlegers Heller; als Essay ausgearbeitet
Das Relief der Gradiva ist, seit Freud selbst es sich erschien der Vortrag im März 1908 in der literari-
über der Behandlungscouch aufhängte, zu einer schen Zeitschrift Neue Revue. Freud verstand ihn »als
Ikone der Psychoanalyse geworden und findet noch ein zu dürftiges Schema […], aber eine erste Annähe-
heute die erstaunlichste Verwendung bis hin zum rung an den realen Sachverhalt« (GW VII, 221 f.),
Logo auf persönlichen Internetseiten. Von der enge- betonte jedoch bald, daß die Psychoanalyse Dichtung
ren inhaltlichen Bedeutung, die ihm Jensen und hier nicht mehr bloß nutze, um ihre Erkenntnisse zu
Freud gegeben haben, hat es sich meist gelöst. Ohne bestätigen, sondern sie erstmals um ihrer selbst wil-
Freuds Interpretation, die als erzählte Einführung in len befrage (ebd., 123). Schon Kant hatte in der Kritik
196 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

der Urteilskraft Dichtung und Spiel einander ange- siologischem und seinem psychologisch-hermeneu-
nähert, Schiller dann in Über die ästhetische Erzie- tischen Denken. Phantasien sind ihm durch Abwehr-
hung und zu Freuds Zeit der von ihm gelesene Karl vorgänge entstellte Wunschinszenierungen, Ab-
Groos (GW VI, 135). Wilhelm Dilthey hatte in Die kömmlinge verdrängter Erinnerungen, die einen
Einbildungskraft des Dichters (1887) die Funktions- Mangel zur Voraussetzung haben: »der Glückliche
weisen dichterischen Phantasierens psychologisch phantasiert nie« (216). Sie entstehen im Wechselspiel
und historisch auf Erfahrungen des Dichters und auf zwischen einem aktuellen Eindruck, der einen
geistesgeschichtliche Rahmenbedingungen hin un- Wunsch weckt, der seinerseits frühere Erlebnisse er-
tersucht. Jetzt wendet sich Freud, nachdem er in Die innern läßt und sich nun auf künftige Erfüllung be-
Traumdeutung (1900) Gesetzlichkeiten des Träu- zieht. So schwebe eine Phantasie zwischen Gegen-
mens, in der Gradiva-Studie (1907) die Verwandt- wart, Vergangenheit und Zukunft und ändere sich
schaft von Wahn und Träumen sowie in seinem Buch mit ihnen. Von ihr aus begreift Freud Verwandtschaft
über den Witz (1905) die Funktion ästhetischer Vor- und Differenz unterschiedlicher Phänomene: Je nach
lust vor Augen geführt hatte, von hier aus dem dich- Abwehrmechanismen, Stärke der Besetzung und ver-
terischen Phantasieren zu (GW VII, 211–223). Er innerlichtem Realitätsprinzip ergäben sich aus iden-
fragt aus triebtheoretischer Perspektive produktions- tischen Phantasien Neurose, Psychose, Perversion,
ästhetisch nach dem Material der Dichter und wir- Traum, Tagtraum, Mythen oder Literatur; diese er-
kungsästhetisch nach Techniken, mit denen sie Rezi- strecke sich in lückenloser Reihe von trivialer Unter-
pienten erregen. haltungsliteratur bis zu anspruchsvollen dichteri-
Er verankert Dichtung durch Reihenbildung in schen Schöpfungen. So kann Freud durch Reihen-
weiteren psychischen Kontexten, knüpft an bewußt bildung dichterisches Schaffen, insbesondere literari-
Erfahrbares an und gelangt über psychoanalytisch sche Stoffwahl, mit zahlreichen der Psychoanalyse
Erkanntes zu Ansätzen einer ästhetischen Theorie. zugänglichen Phänomenen verbinden und zeigen,
Die erste Reihe führt vom Spiel über den Tagtraum wie sie aufeinander einwirken; er kann literarisches
zur Dichtung: Das Kind spiele, indem es in Anleh- Schaffen von anderswo erkannten Gesetzen her ver-
nung an die wirkliche Welt eine eigene schaffe, sie stehen und sich von der Theorie des Phantasierens
mit großen Affektbeträgen besetze, ernst nehme, aus dem phantasierenden Autor nähern.
aber deutlich von der Wirklichkeit abgrenze. Der Mit diesen Reihen hat Freud einen Weg zur Psy-
Heranwachsende verinnerliche das Realitätsprinzip choanalyse von Literatur gewiesen, zu ihrem Ver-
und gebe das kindliche Spiel auf. Statt dessen phan- ständnis als Literatur freilich erst wenig beigetragen.
tasiere er, gehe in einem von der Wirklichkeit ge- Das versucht er, indem er nach den Mitteln fragt, mit
trennten Raum seinen Wunschvorstellungen nach, denen Dichter die Abstoßung zwischen Ich und Ich
verberge diese Tagträume jedoch; denn er müsse in überwinden; hier sieht er die eigentliche Ars poetica,
der wirklichen Welt handeln und dürfe keine verbo- die jedoch Geheimnis bleibe. Zwei Mittel könne er
tenen Wünsche zugeben. Der Dichter verstehe es erraten: der Dichter mildere den egoistischen Cha-
dann, seine Tagträume so zu gestalten, daß andere rakter des Tagtraums durch Änderung und Verhül-
nicht abgestoßen werden und sie genießen. Diese lung und er besteche durch die Form mit ästheti-
Reihenbildung erlaubt es, Dichtung vom kindlichen schem Lustgewinn. Diesen versteht er nach dem Mo-
Spiel und vom Phantasieren her zu begreifen. Die dell der erotischen Vorlust, die zur genitalen Lust
zweite Reihe führt vom Traum über den Tagtraum locke, als Verlockungsprämie, welche zum eigentli-
zur Dichtung, eine Ergänzungsreihe, in der bewußte chen Genuß des Werks führe, der sich aus der Befrei-
und vorbewußte Momente zunehmen, das in der ung von psychischer Spannung ergebe.
Traumdeutung entwickelte Modell prinzipiell aber er- Der Essay enthält die psychoanalytische Literatur-
halten bleibt. Der offenen Auges geträumte Tagtraum wissenschaft in Keimform. Das am Traummodell
sei sekundär stärker bearbeitet, konsistenter und be- ausgerichtete Verständnis von Literatur als einer auf
ziehe die Wirklichkeit stärker ein. Das setze sich mit Anteilnahme Anderer bezogenen Phantasiebefriedi-
der Dichtung fort, die von möglichst vielen akzep- gung unbewußter Wünsche führte zu Interpretatio-
tiert werden wolle. So versteht Freud über das Ver- nen, die sich an der Traumdeutung orientierten. Sie
bindungsglied des Tagtraums Dichtung vom Modell fragten nach latentem Inhalt, unbewußtem Wunsch,
des Traums und Dichtungsarbeit von dem der Trauma, Verfahren des Primärprozesses (Verdich-
Traumarbeit her. tung, Verschiebung, Symbolbildung), nach Abwehr-
Wesentliches Moment dieser Reihen ist das Phan- prozessen und nach dem Autor. Oft wurden nur ein-
tasieren, das Verbindungsglied zwischen Freuds phy- zelne Momente untersucht, selten Kunstarbeit nach
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci 197

dem Modell der Traumarbeit als ganze rekonstruiert. von Objekt und Subjekt zu sichern; Form verschaffe
Dennoch gelang es oft, den Zusammenhang zwi- als Symbol wiedergewonnener Vollkommenheit
schen Phantasieren, Schreiben und Lebensgeschichte Selbstgenuß, schütze vor Schuldgefühlen und Ob-
zu erhellen. – An solchen Interpretationen wurde kri- jektverlust. Aus literaturwissenschaftlicher Perspek-
tisiert, daß sie den Text willkürlich auf latente Wün- tive wurde literarische Form als eine im Kompromiß
sche hin interpretierten, Künstlerisches auf Neuro- durchlässige Grenze zwischen Wunsch und Realitäts-
tisches zurückführten, Form als Verhüllung und Vor- prinzip verstanden: Von seinen unbewußten bis hin
lustlieferant mißverstünden, banausisch eher triviale zu seinen bewußten Momenten vollziehe das Werk
Texte analysierten und den historisch-gesellschaftli- sich in solchen Kompromissen als Abfolge von Gren-
chen Ort von Literatur ausblendeten. Solche Kritik zen, deren bewußtseinsnächste als literarische Form
ist gerechtfertigt, wo Deutungen nicht die gesamte wahrgenommen werde. – Eine umfassende Theorie
Traumarbeit rekonstruieren oder ihren Ort in ihr des Literarischen, die auf Der Dichter und das Phan-
nicht reflektieren (Schönau/Pfeiffer 2003, 75–114). tasieren aufbaut, gibt es noch nicht, doch die Phase
Inzwischen wurden literaturpsychoanalytische inhaltsbezogener Forschung ist überwunden.
Theoriebildung und Praxis, die auf Freuds Essay
gründen, fortentwickelt. Sie stützen sich auf Winni- Literatur
cott (1971), dessen Konzept vom Übergangsobjekt Cremerius, Johannes (Hg.): Psychoanalyse und die Geschicht-
lichkeit von Texten. Freiburger literaturpsychologische Gesprä-
den Zusammenhang von Spiel, Phantasieren, litera-
che 14 (1995).
rischem Schaffen und Rezipieren plausibler macht, Matt, Peter von: Die Opus-Phantasie. Das phantasierte Werk als
und auf Sachs (1924), der mit den gemeinsamen Tag- Metaphantasie im kreativen Prozeß. In: Psyche 33 (1979),
träumen Jugendlicher das missing link zwischen Tag- 193–212.
–: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse [1972]. Stuttgart
traum und Literatur entdeckte: Der Tagträumer finde 2
2001.
einen Komplizen seiner verbotenen Phantasie, Ge- Pietzcker, Carl: Zum Verhältnis von Traum und literarischem
fühle von Scham und Schuld verringerten sich, er er- Kunstwerk. In: Psychoanalytische Textinterpretation. Hg. von
fahre Geborgenheit, jene Abstoßung zwischen Ich J. Cremerius. Hamburg 1974, 57–69.
–: Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks
und Ich könne überwunden und die private Phanta-
am Beispiel von Jean Pauls Rede des toten Christus. Würz-
sie zur gemeinsamen, schließlich gesellschaftlichen burg 21983.
werden. Von Matt hat in die Diskussion zwei nütz- – (Hg.): Zur Psychoanalyse der literarischen Form(en). Freibur-
liche Begriffe eingebracht: das psychodramatische ger literaturpsychologische Gespräche 9 (1990).
Sachs, Hanns: Gemeinsame Tagträume. Wien 1924.
Substrat, die abstrakte unbewußte Phantasiestruktur
Schönau, Walter/Joachim Pfeiffer: Einführung in die psycho-
eines Textes (1972), und die Opus-Phantasie darüber, analytische Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 22003.
wie das Werk sein sollte (1979). Sie speise sich aus Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität [1971]. Stutt-
Traditionen und gestalte die private Phantasie in gart 91997.
Carl Pietzcker
überlieferte Formen, z. B. in die einer Gattung ein.
Das Wechselspiel möglichst aller Momente eines lite-
rarischen Textes untersuchte Pietzcker (1983). Dem
Zusammenhang zwischen Geschichtlichkeit und psy-
choanalytischer Deutung eines Textes gelten zahlrei- 10.3 Eine Kindheitserinnerung
che Arbeiten (z. B. Cremerius 1995). Der von Freud des Leonardo da Vinci (1910)
nur andeutend beantworteten Frage nach dem Lite-
rarischen von Literatur hat sich die Forschung in- Konzipiert ab Oktober 1909, wurde die Niederschrift
zwischen mehrfach angenommen (Pietzcker 1990): der Studie (GW VIII, 127–211) im April 1910 be-
Aus ich-psychologischer Perspektive wurden formale endet – sie erschien im Mai 1910 als Heft 7 der
Momente als ich-funktionale Abwehrmechanismen Schriften zur angewandten Seelenkunde. Der wichtig-
verstanden, die Befriedigung kontrollieren und Äng- ste Kontext ist die Beziehung zu C. G. Jung. Sie
ste konterkarieren, sowie als Organisatoren von scheint sich auf ihrem positiven Höhepunkt zu be-
Wahrnehmung, Verständlichkeit und Abgrenzung finden, Jung gilt als erwählter ›Kronprinz‹ Freuds.
zwischen Schein und empirischer Welt. Das syntheti- Tatsächlich aber strebt sie auf den endgültigen Kon-
sierende Ich sei unbewußten Ausdruckszwängen, flikt zu; treibende Kraft auf seiten Jungs ist, wie er
Traditionen und gesellschaftlichen Normen nicht selbst bemerkt, sein ›Vaterkomplex‹. Beide Konkur-
gänzlich unterworfen und könne mit ihnen spielen. renten stoßen in dieser Zeit in die phylogenetische
Aus selbstpsychologischer Perspektive dienen for- Frühphase der menschlichen Seelenentwicklung vor,
male Vollständigkeit und Harmonie dazu, Integrität die sie vor allem auf dem Gebiet der Mythologie stu-
198 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

dieren. Jetzt bereitet sich – bis Ende des Jahres 1911 – tät. Leonardo vertritt danach einen bestimmten Typ
der Abfall Jungs von der Psychoanalyse besonders in des Homosexuellen, der aus einer nicht aufgegebe-
der zentralen Libidotheorie vor, ausgehend von einer nen erotischen Einheit mit der Mutter hervorgeht. So
unterschiedlichen Fassung des Inzest-Problems. Von erkläre sich seine sexuelle Hemmung.
hier an ziehen Freud und Jung aus den vorliegenden Die künstlerische Hemmung hängt, nach Freud,
Phylogenese-Konzepten und aus Mythologie und damit zusammen: Die Identifizierung mit dem Vater,
Kulturgeschichte ihre unterschiedlichen Schlüsse – die die erotische Einheit mit der Mutter erst ermög-
Zeugnisse dafür sind der Briefwechsel Freud/Jung, lichte, wurde mit der Entscheidung zur Homosexua-
Jungs Wandlungen und Symbole der Libdido (1912) lität aufgegeben. Sie setzte sich jedoch auf dem Ge-
und Freuds Totem und Tabu (1912/13). biet der Kunst als Zwang fort: Leonardo behandelte
Die Beweislage von Freuds Interpretationen ist oft seine Kunstwerke so nachlässig wie sein Vater einst
dürftig, seine Kombinationen sind vielfach spekulativ den Sohn. Seine grandiose Forscherleistung hinge-
und – vor allem zur zentralen ›Geierphantasie‹ Leo- gen, die ihn als Künstler zunehmend einschränkte,
nardos – manchmal nachweislich falsch. Freud selber verdankte Leonardo der Auflehnung gegen seinen Va-
hat die Studie eine »halbe Romandichtung« (B, 317) ter – er fühlte sich durch keine Autorität gebunden
genannt. Das bestimmt den Status der beweisabhän- und konnte frei denken. Aus diesen Zusammenhän-
gigen inhaltlichen Erkenntnisse, etwa für die Leo- gen gewinnt Freud schließlich auch noch eine Deu-
nardo-Forschung. Den Wert als eine eher intuitive tung des ›ambivalenten‹ leonardesken Lächelns, wie es
psychoanalytische Charakterstudie berührt das aller- die Mona Lisa zeigt, und eine psychoanalytische Aus-
dings entschieden weniger. legung des Gemäldes von der Hl. Anna selbdritt.
Freud geht aus von einer doppelten Hemmung, die Die zentrale Geierphantasie Leonardos, von der
Leonardos Leben und Persönlichkeit beeinträchtigt aus Freud Leonardos infantile Seelenverhältnisse und
habe: In seinem Sexualleben habe er das heterose- die zugehörige phylogenetische – ägyptische – Ent-
xuelle Liebesobjekt mit dem homosexuellen vertau- sprechung interpretiert, fällt als Beweismittel aus.
schen müssen, sich aber vermutlich geschlechtlicher Freud ist in der von ihm hinzugezogenen Literatur
Betätigung enthalten. Als Künstler habe er die Eigen- einem Übersetzungsfehler aufgesessen: Leonardos
art entwickelt, ihm wichtige Werke unvollendet zu Notiz handelt nicht von einem Geier, sondern von
lassen, und seine Kunstübung sei zunehmend durch einem recht unterschiedlichen Raubvogel, dem Mi-
seinen Forschertrieb zurückgedrängt worden. Dieser lan (nibio). Dieser besitzt die von Freud herausgear-
Zwangsstruktur will Freud auf den Grund gehen. beiteten mythologisch-psychologischen Bedeutungen
In der einzigen verbürgten Kindheitserinnerung nicht. Trotz des Ausfalls dieser vermeintlich ideal ver-
Leonardos erkennt er eine Erwachsenenphantasie dichteten Schlüsselphantasie hat, davon unabhängig,
mit allerdings infantilen Rudimenten: Ein Geier sei Freuds Persönlichkeitsskizze bemerkenswerte Konsi-
zur Wiege Leonardos herabgekommen und habe mit stenz und ist mit wichtigen Lebensdaten Leonardos
seinem Schwanz gegen seine Lippen gestoßen. Sexu- vereinbar. Sie zeigt allerdings auch sehr deutlich, von
ell ist das eine Fellatio-Phantasie. Die Frage, warum welchen Imponderabilien solche historischen Fern-
es sich hier aber um einen Geier handelt, löst Freud diagnosen abhängig sind.
durch einen Rückgriff auf die ägyptische Mythologie: Für die Geschichte der Psychoanalyse ist an der
Dort sei der mütterliche Geier ein Tier, das nicht Leonardo-Studie zweierlei wertvoll geblieben: 1. Ein-
vom Manne, sondern vom Winde empfange. Der führung oder Ausbau von Theoriestücken wie des
Geier bedeute: Leonardo sei ein vaterloses Geierkind, primären Narzißmus und 2. prinzipielle Aussagen
das allein mit der (überzärtlichen) Mutter lebt. Dies zum Verhältnis von Psychoanalyse und Kunst:
treffe ja auch realiter auf seine ersten drei Lebens- 1. Freuds Analysen zur Homosexualität, die er in
jahre zu. Die Frage der Androgynität des mütterli- den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1904/5)
chen Geiers – er hat ja einen ›Schwanz‹ – löst Freud vorgelegt hatte, werden am Beispiel Leonardos noch
doppelt: über altägyptische Beispiele und über die – einmal erläutert und erstmals mit dem Narzißmus
angenommene – infantile Sexualforschung Leonar- verbunden: Das kleine Kind nimmt in der Regel sich
dos, der aus Kastrationsangst der Mutter (nun reprä- selbst in ›[primärem] Narzißmus‹ zum Liebesobjekt.
sentiert durch den Geier) ein männliches Genital zu- Diese libidinöse Besetzung wird beim Knaben abge-
gesprochen habe. In einem weiteren Schritt bezeich- löst durch die Liebe zur Mutter, die er später unter
net Freud diese biographischen und Phantasie-Ver- dem Druck der Kastrationsangst verdrängt. Bleibt er
hältnisse Leonardos, die sich in der Geier-Vorstellung jedoch auf die Mutter fixiert, wird der Heranwach-
verdichten, als eine Voraussetzung für Homosexuali- sende sich Knaben als neue Objekte wählen, die er so
Das Motiv der Kästchenwahl 199

liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Im psychoanalytisch unzugänglich ist« (GW VIII, 209).
Grunde handelt es sich dabei um »Ersatzpersonen Diese Positionsbestimmung im VI. Kapitel der Leo-
und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Per- nardo-Studie hat Freud niemals grundsätzlich ver-
son« (GW VIII, 170). Dies ist also eine spätere Re- ändert.
gression auf die frühkindliche Stufe des ersten Nar- Ein literarisches Echo ist in Timothy Findleys
zißmus und wird dann von Freud den Namen des phantasievollem C. G. Jung-Roman Der Gesandte
›sekundären Narzißmus‹ erhalten. Die Grundfigur (1999) zu erkennen. Kunstwissenschaft und Leo-
des von nun an immer wichtiger werdenden Nar- nardo-Forschung berücksichtigen die Studie durch-
zißmus-Konzepts ist in der Leonardo-Studie bereits aus und erörtern auch im – überwiegenden – Fall der
entwickelt. – Die in diesen Jahren für Freud domi- Ablehnung die psychologischen Einsichten. Meyer
nante Gleichung aus der Evolutionstheorie ›Ontoge- Schapiro (1956/1994) vermißt in Freuds Vorgehens-
nese = Phylogenese‹ läßt ihn das kindliche Seelen- weise naturwissenschaftliche Exaktheit. Manfred Cle-
leben in eine Verbindung mit ›urzeitlichen Analo- menz (2003) rekonstruiert Freuds Argumentation in
gien‹ bringen: Da »die seelische Entwicklung des Ein- kritischer Absicht. Eine nützliche Reflexion über
zelnen den Lauf der Menschheitsentwicklung Freuds Umgang mit den Daten und zum wissen-
abgekürzt« (GW VIII, 167) repetiere, habe sich wohl schaftstheoretischen Status seiner Leonardo-Hypo-
auch in Leonardos Kindheits-Phantasie von der these bietet die Entgegnung Christfried Tögels (In-
schwanzbewehrten Geiermutter eine alte Androgy- ternet o. J.) auf eine Kritik Han Israels (1992).
nie-Vorstellung wiederholt. Das entspreche auch
dem genetischen Zusammenhang von frühmensch- Literatur
licher Sexualforschung und Religionsentwicklung, in Clemenz, Manfred: Freud und Leonardo. Eine Kritik psycho-
analytischer Kunstinterpretation. Frankfurt a. M. 2003.
der die Androgynie als göttlich aufgefaßt wurde. Findley, Timothy: Der Gesandte. München 2000 (engl. 1999).
2. Der immer wieder erhobene Vorwurf, die Psy- Israel, Han: Freuds Phantasien über Leonardo da Vinci. In:
choanalyse versuche, die Kunstschöpfung zu ›erklä- Luzifer-Amor 5 (1992), H. 10, 8–42.
ren‹, trifft auf Freud von Anfang an nicht zu. Sein Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 5
(1992), Themenheft 10: Freuds Leonardo-Studie.
Verhältnis zur Kunst – vor allem zur Literatur – wird Schapiro, Meyer: Leonardo and Freud. An Art-Historical Study
in hohem Maße vom tradierten Genie-Gedanken be- [1956]. In: Ders.: Selected Papers IV. New York 1994.
stimmt, der einen analytischen Zugang zum kreati- Tögel, Christfried: Freud, Leonardo und die Wissenschaftstheo-
ven Prozeß selbst ausschließt. Allerdings verteidigt rie. In: www.freud-biographik.de/feyer.htm [o. J.].
Freud (in Kapitel VI) die Möglichkeit einer Patho- Manfred Dierks
graphie des Künstlers: Die ›Spuren seines Lebens-
kampfes‹ mit ihren inneren und äußeren Hemmun-
gen könnten herausgearbeitet und psychologisch ge-
deutet werden. Man kenne dann den Preis, den er für 10.4 Das Motiv
diese oder jene Eigentümlichkeit gezahlt habe und der Kästchenwahl (1913)
damit einige Bedingungen seiner künstlerischen Lei-
stung – deren eigentliches Wesen jedoch nicht. Freud Der Aufsatz (GW X, 23–37) entstand im Juni 1912,
zeigt das am Verhältnis der persönlichen Konstitu- also im Umkreis von Totem und Tabu (1911–12) und
tion Leonardos zu seinen Verdrängungs- und Sub- damit der entschiedenen Hinwendung zu phylogene-
limierungsleistungen. Die letzteren seien eine Vor- tischen und kulturhistorischen Aspekten der Psycho-
aussetzung seiner Schöpfungen – wie sie aber zu- analyse. Dominierende Themen dieser Zeit sind der
stande gekommen seien, bleibe das Geheimnis seiner Ödipuskomplex, die Vatertötung und der Tod. Den
›organischen‹ Anlagen. Ein zentraler Passus lautet: entscheidenden Anstoß dürfte aber die Briefdiskus-
»Die Triebe und ihre Umwandlungen sind das letzte, sion (Mai/Juni 1912) mit C. G. Jung über dessen ab-
das die Psychoanalyse erkennen kann. Von da an weichende Auffassung des Inzestbegriffs gegeben ha-
räumt sie der biologischen Forschung den Platz. Ver- ben: Jung befindet sich mit Wandlungen und Symbole
drängungsneigung sowie Sublimierungsfähigkeit der Libido (1911–12) auf dem Absprung von den
sind wir genötigt, auf die organischen Grundlagen Grundlagen der Psychoanalyse, insbesondere vom
des Charakters zurückzuführen, über welche erst sich Lustprinzip. Er versteht das Inzestverbot nicht mehr
das seelische Gebäude erhebt. Da die künstlerische als realistisch gemeint, sondern als symbolisch und
Begabung und Leistungsfähigkeit mit der Sublimie- legt dies Freud unter anderem an der Tatsache dar,
rung innig zusammenhängt, müssen wir zugestehen, daß das Verbot (nach Mose 3) merkwürdigerweise
daß auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns nicht das Vater-Tochter-Verhältnis umfaßt. Das In-
200 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

terpretationsverfahren der beiden Autoren im Hin- Die drei Kästchen – Kästchen als »Symbol des We-
blick auf phylogenetisch-kulturgeschichtliches Mate- sentlichen an der Frau« (GW X, 26) – bedeuten da-
rial stellt sich jetzt als direkt gegensätzlich heraus: nach die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen.
Jung bezieht seine Deutungen aus stammesgeschicht- Dies Dreiermuster führt zur zweiten Shakespeare-
lich-kultureller Frühzeit und versteht von dort her Szene: König Lear verteilt sein Reich an seine drei
die Einzelseele. Freud dagegen geht von dem Seelen- Töchter, von denen die jüngste die vorzüglichste ist,
modell aus, das er in seiner aktuellen Praxis an In- wenngleich sich Lear gerade darüber täuscht. Das
dividuen gewonnen hat, und wendet es auf früh- Muster führt weiter zur Schönheitswahl des Paris, zu
menschheitlich-frühkulturelle Erscheinungen an. – Aschenputtel, zur Psyche des Apuleius: die Dritte
Es spielt biographisch eine Rolle, daß Freud wie Kö- und Jüngste ist immer die beste. Wer sind nun diese
nig Lear drei Töchter hat und wie dieser einer davon drei Frauen ›eigentlich‹? Freud vermutet hinter ihnen
(Anna) den Vorzug gibt. ein sehr altes Motiv.
Freud geht aus von der Kästchenwahl-Szene im Die Deutung der Kästchenwahl ergibt psychoana-
Kaufmann von Venedig: lytisch jetzt eine Gleichung: Das stumpfe Blei und
Er möchte hinter die ›eigentliche‹ (= mythologi- Cordelias Stummheit symbolisieren beide, daß es
sche) Bedeutung der drei Kästchen kommen, die er sich bei der jüngsten Tochter um eine Tote handelt.
psychoanalytisch als Symbole für die Frau auffaßt. Die Annahme einer Verschiebung (wie in der Traum-
Nach einem Durchgang durch Mythos, Märchen und arbeit) ergibt sogar, daß es sich um die Todesgöttin
Dichtung, der ihm ähnliche Konstellationen einträgt, selbst handelt. Hinter dem Ensemble der drei Frauen
stellt er fest, daß es sich hier um die drei Schicksals- erscheint nun der alte Mythos der drei Schicksals-
göttinnen handelt: Cordelia in König Lear symboli- schwestern. Wie aber verträgt sich die furchtbare Tat-
siert deshalb den Tod. sache des Todes mit seiner Erscheinung als schönste,
Freud bezieht sich auf zwei Szenen aus Shake- treueste, jüngste Schwester? Die psychoanalytische
speare, an denen ihm ein Problem aufgeht. Im Kauf- Antwort: Die Angst vor dem Tod führte zu seiner
mann von Venedig bewerben sich drei Freier um die mythopoetischen Ersetzung durch das volle Gegenteil
schöne Porzia. Ihnen werden jeweils drei Kästchen von ihm. Dabei konnte die mythenbildende Phanta-
vorgelegt: ein goldenes, eins von Silber und eins aus sie auf eine uralte Ambivalenz zurückgreifen, auf die
Blei. Von diesen müssen sie eines wählen. Bassanio, archaische Identität von Liebes- und Todesgöttin.
der dritte Bewerber, dem die Liebe Porzias bereits ge- Auch die Unerbittlichkeit des Todes wird durch ihr
hört, entscheidet sich für das Blei und gewinnt damit Gegenteil ersetzt: Es besteht freie Auswahl.
die Braut. Freuds Frage ist natürlich, warum ausge- Auf diese Weise sind die Umformungen des My-
rechnet das Blei siegt. thos von den drei Schicksalsschwestern rekonstruiert:
Er schlägt nun eine Volte, die eher eine didaktische Die jüngste war ursprünglich die Todesgöttin und er-
Finte ist: Bei Eduard Stucken, einem Vertreter der scheint – durchs Gegenteil ersetzt – in späteren
Astralmythologie, holt er sich die Auskunft, der Kern Mythen und in den Fabeln Shakespeares als die treff-
der Werbungsszene sei eine Sternenkonstellation, die lichste Wahl, die der Mensch treffen kann. In einem
frühzeitlich auf menschliche Verhältnisse übertragen letzten Schritt bezieht Freud seine Entdeckung noch
worden sei. Die Braut gehöre dem Dritten, denn er enger auf die condition humaine, wobei seine Hoch-
sei in bleiernem Glanz der zum Sieg bestimmte ›Ster- schätzung der Dichtung zum Ausdruck kommt:
nenknabe‹. Freud ist damit nicht zufrieden, denn Shakespeare habe den von Wunschvorstellungen (Er-
»wir glauben nicht mit manchen Mythenforschern, setzungen usw.) entstellten Mythos ›regressiv‹ auf sei-
daß die Mythen vom Himmel herabgelesen worden nen alten Sinn hin zu bearbeiten vermocht: die Fabel
sind, vielmehr […], daß sie auf den Himmel proji- von der Kästchenwahl wird wieder durchsichtig auf
ziert wurden, nachdem sie anderswo unter rein ihren Kern hin. Cordelia, die Todesgöttin, wird den
menschlichen Bedingungen entstanden waren« (GW alten Mann Lear bald in ihre Arme nehmen. Sie ver-
X, 25). Mit diesen ›rein menschlichen Bedingungen‹ tritt die einzige Beziehung des Mannes zur Frau, die
stellt sich die Untersuchung auf den Boden der Psy- ihm das Alter noch verstattet.
choanalyse. Das heißt methodisch: Die literarischen Diese Gelegenheitsarbeit aus dem Umfeld von To-
Texte, die Mythen und Sagen, die Freud heranzieht, tem und Tabu zeigt sehr schön auf kleinem Raum,
werden nach Analogie des Traumes behandelt. Sie wie sich bei Freud persönliche Impulse (das Vater-
werden als Produkte einer Form der Traumarbeit Tochter-Verhältnis), das wissenschaftliche Konkur-
verstanden und erschließen sich den Verfahren der renzverhältnis zu Jung (Insistieren auf dem Primat
Traumdeutung. der Individualpsychologie) und die neueroberte my-
Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit 201

thologisch-kulturhistorische Tiefenperspektive (My- 10.5 Einige Charaktertypen


thologie, Völkerpsychologie) miteinander verbin-
den. aus der psychoanalytischen
Eine grundsätzliche Vorannahme ist die Gleichset- Arbeit (1916)
zung frühkultureller, vorgeschichtlicher Bewußt-
seinsformen und ihrer Produkte mit dem Traum. Die hier versammelten Arbeiten (»I. Die Ausnah-
Hier bezieht sich Freud seit Totem und Tabu auch auf men«, »II. Die am Erfolge scheitern« und »III. Die
völkerpsychologische Forschungen, vor allem James Verbrecher aus Schuldbewußtsein«) erschienen 1916
Frazers und Wilhelm Wundts. Die Position bleibt in- in Band 4 (6) der Imago (317–336). Es handelt sich
dividualpsychologisch: Er interpretiert das mytho- um Beiträge zur psychoanalytischen Charakterologie,
poetische Material mit den Verfahren der Traum- aber auch zur Literaturinterpretation; Freud erläutert
deutung. seine Typen mit Hilfe von Dichtungen Shakespeares,
Daß aber Freuds ›völkerpsychologische‹ Tiefenper- Ibsens und Nietzsches (GW X, 363–391). Sie waren
spektive immer wieder einmal die ontogenetisch-in- im Freudkreis wiederholt erörtert worden. Lou An-
dividualpsychologischen Grenzen überschreitet – zu dreas-Salomé hatte schon 1892 eine Monographie
Konzepten, wie sie etwa Jung gleichzeitig mit dem über Henrik Ibsens Frauengestalten publiziert, Otto
Kollektiven Unbewußten entwickelt –, zeigt seine Auf- Rank 1912 (21926) das Inzestmotiv in Rosmersholm
fassung des Dichters: Dem Dichter Shakespeare ge- erkannt. Freud und Rank nehmen wechselseitig auf-
linge die »Reduktion des Motivs auf den ursprüngli- einander Bezug.
chen Mythus […], so daß der ergreifende, durch die Den Charakter sieht Freud durch Widerstände be-
Entstellung abgeschwächte Sinn des letzteren von uns dingt: In der Arbeit am Widerstand könnten »über-
wieder verspürt wird« (GW X, 35). Freud nennt diese raschende Charakterzüge« zutage treten. Als »Aus-
›teilweise Rückkehr zum Ursprünglichen‹ ›regressiv‹. nahmen« (I.) faßt er Menschen, die aus ererbter Be-
Insofern, als der Dichter phylogenetische Erinnerung nachteiligung oder Schädigungen in früher Kindheit
in sich wieder erwecken kann, besitzt er Zugang zu das Recht ableiten, sich den Ansprüchen der Sozietät
einem kulturellen Gedächtnis von der Art des Kollek- auf Lusteinschränkung oder Gesetzestreue zu wider-
tiven Unbewußten. Freud steht hier auch in der Tradi- setzen. Richard III. leite aus seiner Mißgestalt das
tion des deutschen Geniegedankens seit dem Sturm Recht ab, Unrecht zu tun, sei doch an ihm Unrecht
und Drang. begangen worden. Aus dem Makel werde so ein Ag-
Literarisch hat die Studie bei Italo Svevo ein Echo gressor konstruiert – hier die Natur – und das Recht
gefunden. Sein süffisanter Psychotherapie-Roman zur Gegenaggression hergeleitet.
Zenos Gewissen (1923) enthält eine spiritistische Sit- Beim Typus derer, die »am Erfolge scheitern« (II.),
zung, mit der das Motiv und Freuds Deutung persi- erörtert Freud das Paradoxon, daß nicht die Versa-
fliert werden. In der Literaturwissenschaft wurde die gung, sondern die Erfüllung der Wünsche zur Er-
Arbeit in jüngerer Zeit von feministischer Seite ›wie- krankung führt. Der Wissenschaftler, der sich lange
dergelesen‹. Gerburg Treusch-Dieter konzentriert Jahre als Nachfolger seines akademischen Lehrers
sich vor allem auf die Nähe zu Totem und Tabu und sieht, dekompensiert, als er nach dem ›Rücktritt des
rekonstruiert die bei Freud enthaltene, aber nicht voll Alten‹ am Ziel seiner Wünsche ist. Freud löst das Pa-
ausgeführte weibliche Position: Die Entsprechung radoxon, indem er eine innere Versagung annimmt,
zur klassischen ödipalen Konstellation ist der Vater- die verhindere, daß aus der glückhaft veränderten
inzest und das Mutteropfer. Auch der Vatermord Konstellation der erhoffte Gewinn gezogen werden
durch den Sohn findet seine Entsprechung durch das kann. Mutmaßt Freud im Fall der Lady Macbeth, ihr
›den Vater tötende Weib‹ Cordelia (Treusch-Dieter Zusammenbruch und früher Tod seien Selbstbestra-
2001, 209–227; vgl. auch Weigel 1996). fung für das Vergehen an der Natur, an der Genera-
tivität, gelangt er in seiner weitausholenden Analyse
Literatur von Rosmersholm zu seiner Zentralthese: Es sei das
Treusch-Dieter, Gerburg: Die Heilige Hochzeit. Studien zur To- ödipale Schuldgefühl, welches das Scheitern herbei-
tenbraut [1997]. Pfaffenweiler 22001. führe, hier Rebekka West verbiete, das so ersehnte
Weigel, Sigrid: ›Shylock‹ und ›Das Motiv der Kästchenwahl‹. Heiratsangebot Rosmers anzunehmen. Mit der ana-
Die Differenz von Gabe, Tausch und Konversion im ›Kauf-
mann von Venedig‹. In: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe
lytischen Dramenstruktur ist die Nähe zum Ödipus
(Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theo- Rex gegeben: Rebekka habe unwissentlich mit ihrem
rien, Modelle. Reinbek 1996, 112–133. illegitimen Vater inzestuös zusammengelebt und
Manfred Dierks nach dessen Tod mit dem Ersatzvater/Geliebten Ros-
202 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

mer und dessen Ehefrau erneut die ödipale Situation plex. Die innerpsychoanalytische Kritik setzte daher,
konstelliert. Am Schluß erkenne sie, daß sie wieder- wenn auch spät, so doch konsequent, bei einer diffe-
holt unter der »Herrschaft des Ödipuskomplex« ge- renzierten Kategorisierung des Schuldgefühls an, wo-
standen habe, die Mutter beim Vater zu ersetzen bzw. bei einerseits dessen Bedingtheit durch die Umwelt
sie mörderisch zu beseitigen, und sühne diese Schuld (bis hin zum Trauma), andererseits Schuldgefühle
mit dem Tod. auf Grund von nicht-triebbedingten Bestrebungen in
Beitrag III ist nach gleichem Muster gebaut: Aus- Anschlag gebracht wurden; so unterscheidet Hirsch
gangspunkt ist diesmal das Paradox, daß bei be- (1997) vier Typen von Schuldgefühl: Beim »Scheitern
stimmten Personen das Schuldgefühl dem Verbre- am Erfolg« könne ein »Schuldgefühl aus Vitalität«
chen vorausgeht, statt ihm zu folgen. Die Auflösung (»Erfolg bedeutet Übertreffen«, 198 ff.) oder auf
erfolgt wiederum über die zeitliche Interferenz, den Grund von »Autonomiebestrebungen« (»Erfolg be-
Zusammenhang von vergangener und gegenwärtiger deutet Trennung«, 238 ff.) wirksam sein. Welche Ob-
Schuld/Tat: Jemand, der unter einem drückenden jekterfahrungen, wäre also zu fragen, führen zu ei-
Schuldbewußtsein leide, begehe (auch wiederholt) nem Über-Ich, das Autonomie oder Trennung ver-
eine kriminelle Handlung, um durch die Bestrafung bietet? Hinsichtlich des pathologischen Ödipuskom-
eine Linderung jenes ›präexistenten‹ Schuldgefühls plexes stellt Hirsch lapidar fest, daß erst die Abwehr
zu erfahren. Das aktuelle Verbrechen und seine Be- der eigenen inzestuösen Wünsche der Eltern im Kind
strafung mildern also ein Schuldgefühl, das ganz wo- ein »ödipales« Schuldgefühl erzeuge (194 f.). Von hier
anders her stammt, laut Freud wiederum aus dem aus werden die Vorurteile in Freuds Ibsen-Deutung
Ödipuskomplex. sichtbar, die alle Schuld auf der Kind-Position, den
Charakterologisch gesehen, gehören die drei Typen ödipalen Regungen der Tochter, anhäuft und die Vä-
Freuds zu den eklektischen, nicht systematisierten ter/Männer schont. Dennoch ist diese phallisch-he-
Typologien. Freud (Hoffmann 1984, 50) habe zwei gemoniale Lesart – auch lacanianisch umformuliert
Konzeptionen von Charakter ausgearbeitet: Charak- (Hiebel 1990) – bis heute wirksam, eine psychotrau-
ter als Triebschicksal und Charakter als Folge von matologische dagegen, die am Mißbrauch durch den
Identifizierung; eine Synthese beider, d. h. von Trieb- Adoptivvater, Dr. West, ansetzte, noch nicht in An-
theorie und Objektbeziehungstheorie, sei Freud nie griff genommen. Schließlich ließe sich das Handeln
gelungen. Insofern stehen auch hier die Beiträge I. der Protagonisten, also auch das des Vater-Geliebten
und II./III. unvermittelt nebeneinander. Mit Blick Rosmer, als Agieren bzw. Re-inszenieren von trau-
auf die Entstehungszeit zwischen Zur Einführung des matischen Erfahrungen verstehen, die sogar über Ge-
Narzißmus (1914) und Trauer und Melancholie nerationen hinweg wirksam sind. – Das Konzept
(1917) – Schriften, in denen die Identifizierungs- vom ›Verbrecher aus Schuldgefühl‹ ist inzwischen
und Introjektionsvorgänge sowie die präödipalen Allgemeingut geworden und fehlt in keinem Hand-
Entwicklungsphasen in den Vordergrund treten – buch zur Kriminologie. Der Freudsche Ansatz wurde
stellt »I. Die Ausnahmen« die fortgeschrittenste Posi- weiterentwickelt von Reik (1925) und Alexander/
tion dar, eröffnen sich doch hier Ausblicke auf Selbst- Staub (1929), vgl. Schneider (1981). Als Quelle des
psychologie und Psychotraumatologie. Da Freud von ›präexistenten‹ Schuldgefühls wird noch bis Winni-
Entschädigungen für »frühzeitige Kränkungen unse- cott (1958) der Ödipuskomplex angenommen. In-
res Narzißmus« spricht, könnte man »die Ausnah- zwischen haben das Denken in Objektbeziehungen,
men« mit Kohut zu den Modi narzißtischer (Selbst-) die Einsicht in die Wiederholungsstruktur der provo-
Kompensierung rechnen. Daß Freud jedoch die ›An- zierten Strafen sowie ihre Nähe zu autoaggressiven
sprüche der Frauen auf Vorrechte‹ mit denen eines Handlungen jedoch dazu geführt, die schweren
Richard III. auf eine Stufe stellt – sie sähen sich als Schuldgefühle auf traumatische Introjekte zurückzu-
ebenso infantil geschädigt, da »um ein Stück ver- führen. Das wiederholte Straffälligwerden würde da-
kürzt« –, zeugt von bestenfalls naiver Misogynie, vor mit eine kommunikative Funktion erfüllen: auf das
allem aber von Mangel an Einsicht in das Kränkungs- erlittene Trauma aufmerksam zu machen.
potential der Psychoanalyse selbst, die phallisch-mo-
nistisch Frauen als defekte Mängelwesen konstruiert. Literatur
Kulturkritisch wäre gegen Freud eine Anerkennung Alexander, Franz/Staub, Hugo: Der Verbrecher und seine Rich-
weiblicher »Erbitterung« jenseits von narzißtischer ter. Wien 1929.
Andreas-Salomé, Lou: Henrik Ibsens Frauengestalten.Berlin 1892.
Kränkung zu fordern. Hiebel, Hans H.: Henrik Ibsens psycho-analytische Dramen.
Die Arbeiten II. und III. wirken rückwärtsgewandt München 1990.
in ihrem Beharren auf Triebtheorie und Ödipuskom- Hirsch, Mathias: Schuld und Schuldgefühl. Göttingen 1997.
Eine Kindheitserinnerung aus ›Dichtung und Wahrheit‹ 203

Hoffmann, Sven O.: Charakter und Neurose. Ansätze zu einer beispiele deutet Freud das Hinausbefördern des Ge-
psychoanalytischen Charakterologie [1979]. Frankfurt a. M.
1984.
schirrs als magische Handlung, die gegen die An-
Kohut, Heinz: Die Heilung des Selbst [1977]. Frankfurt a. M. 1979. kunft eines Geschwisters gerichtet ist. Da Goethe vier
Mertens, Wolfgang: Scheitern am Erfolg – wrecked by sucess. nach ihm Geborene, zwei Brüder, zwei Schwestern,
In: Ders.: Psychoanalytische Grundbegriffe. Ein Kompen- sterben sah – nur die ein Jahr jüngere Cornelia, mit
dium. Weinheim 21998, 203–205.
Rank, Otto: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage [1912].
der er zwillingshaft verbunden war, überlebte –, liest
Leipzig/Wien 21926. Freud die an den Anfang der Autobiographie gesetzte
Reik, Theodor: Geständniszwang und Strafbedürfnis. Leipzig Erinnerung als narzißtischen Triumph: Kein männ-
u. a. 1925. licher Rivale habe Goethe die Position des Lieblings-
Schneider, Hans J.: Psychoanalytische Kriminologie. In: Die
Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. XIV. Zürich 1981,
sohnes bei der Mutter streitig machen können.
114–140. Die Studie ist ein Beitrag zur psychoanalytischen
Winnicott, Donald W.: Psychoanalyse und Schuldgefühle Biographik (auch zu Freud selbst), zur Geschwister-
[1958]. In: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt [1965]. beziehung und auf Grund des privilegierten Mutter-
München 1984, 17–35.
Sohn-Verhältnisses zur Geschlechterkonzeption. Der
Astrid Lange-Kirchheim frühesten (und in der Analyse als erste erzählten)
Kindheitserinnerung spricht Freud eine Schlüssel-
funktion zu. Als Deckerinnerung enthält sie, modern
10.6 Eine Kindheitserinnerung formuliert, ein Selbstkonzept, dessen unbewußte Di-
mensionen sich hinter einer Fassade von »Harmlo-
aus ›Dichtung und Wahrheit‹ sigkeit« und »Beziehungslosigkeit« auftun. Erkenn-
(1917) bar ist die ab 1910 sich entwickelnde narzißmus-
theoretische Argumentationslinie Freuds, die jedoch
Dieser Text (GW XII, 13–26) basiert auf zwei Vor- immer wieder ödipal überschrieben wird. Die Ge-
trägen, die Freud vor der Wiener Psychoanalytischen schwisterrivalität steht neben der Konkurrenz um die
Vereinigung hielt (13. 12. 1916 und 18. 4. 1917). Die Mutter als Liebesobjekt; Freud ist auf das männliche
Publikation erfolgte 1917 in der Imago, Bd. 5 (2), Kind (es gibt nur ein weibliches Fallbeispiel) und die
49–57 (vgl. Studienausgabe X, 256). Die Darstellung, Jahre zwischen 3 und 4 ausgerichtet. So vermutet er
zu der die Goethekenner Hanns Sachs und Eduard in der Goetheschen Geschwisterreihe eher im Bruder
Hitschmann beitrugen, steht im Kontext der Erfor- (Hermann Jakob Goethe) als in der Schwester den
schung der Künstlerbiographie sowie der Funktion Störenfried. Faktisch war seine Mutter aber im 5.
frühester Erinnerungen im allgemeinen. Freud selbst Monat mit der Schwester Elisabeth schwanger und
3
stellt die Verknüpfung mit seiner Arbeit Eine Kind- Goethe 4 ⁄4 Jahre alt (von Gersdorff 2001, 54). Freuds
heitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910; vgl. Kap. Schwierigkeiten mit präödipalen bzw. psychotrauma-
10.3) her, indem er dort 1919 eine längere, den Goe- tologischen Zusammenhängen sind daran erkennbar,
theaufsatz resümierende Anmerkung einfügt (GW daß er die Schuldgefühle übergeht, die sich einstel-
VIII, 128–211, 153). len, wenn die Vernichtungswünsche des Kindes Er-
Für die auf den ersten Seiten von Goethes Auto- folg haben, das Geschwister tatsächlich stirbt. Er ex-
biographie Dichtung und Wahrheit geschilderte kulpiert den Sohn, indem er die Täterschaft dem
Kindheitsbegebenheit vermutet Freud »die Jahre bis Schicksal zuweist, das den Bruder beseitigt und die
vier«. Die Szene ist das ›Geräms‹, ein vogelbauerarti- Liebe der Mutter sichert.
ger Holzgitteranbau neben der Eingangstür des El- Goethesch maskiert scheint hier Freud die Trau-
ternhauses, Akteure sind das Kind und drei Erwach- mata seiner eigenen Kindheit ins Spiel zu bringen
sene, die Gebrüder Ochsenstein, die als Zuschauer und zu verleugnen. Den 17 Monate jüngeren Bruder
fungieren. Vorausgegangen ist der ›Topfmarkt‹: Man Julius hatte er »mit bösen Wünschen und echter Kin-
hatte die Küche neu ausgestattet und die Kinder mit dereifersucht begrüßt«, sein Tod mit 6 Monaten habe
Spielzeuggeschirr versehen. Das allein spielende Kind dann den Keim zu lebenslangen Vorwürfen gelegt,
initiiert mit dem Hinauswerfen ›eines Geschirrs auf bekannte er 1897 gegenüber Fließ (F, 288 f.). Daß
die Straße‹ ein ›Schauspiel‹, das sich unter dem Bei- diese Schuldvorwürfe sich beim Tod des Vaters wie-
fall und den anfeuernden Rufen der drei Brüder stei- derholten, haben Krüll (1979/1992) u. a. wahrschein-
gert, bis auch sämtliche schweren Teller aus Mutters lich gemacht.
Küche klirrend zu Bruch gegangen sind. Bestärkt Dient also die Goethe-Studie der Selbstentschul-
durch zwei eigene und zwei von der Kinderanalyti- dung? Für Freud standen die feindseligen Geschwi-
kerin Hermine von Hug-Hellmuth beigesteuerte Fall- sterregungen im Zentrum, und deren traumatische
204 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

Qualität bedingte vermutlich die bis heute beklagte des weiblichen Geschlechts die Tendenz erwächst,
Vernachlässigung der Geschwisterbeziehung in der Söhne zu Delegierten zu machen.
Psychoanalyse (Wellendorf 2000). Unverkennbar ist Die Konzentration auf das Hinausbefördern des
zudem die Idealisierung der Muttergestalt, die eine Geschirrs (das Geschwisterchen bzw. die schwangere
Spaltung abwehrt: Die Freudbiographik hat auf den Mutter selbst symbolisierend) als magische Hand-
Gegensatz zwischen einer eher distanzierten leibli- lung verstellt Freud den Blick für die kommunikative
chen Mutter und einer liebevollen, warmherzigen Dimension, welche diese Inszenierung des Knaben
Kinderfrau hingewiesen; deren plötzliches Ver- im ›Geräms‹ auch aufweist. Es ist der Beifall der Zu-
schwinden in einer kritischen Phase der Familiensi- schauer, der das ›Schauspiel‹ der ›Topf‹-Zerstörung
1
tuation, als Freud 2 ⁄2 Jahre alt war, sei einer traumati- in Gang hält und steigert und – für die abwesende
schen Erfahrung gleichgekommen, welche forderte, Mutter narzißtischen Ersatz schafft. Im spielenden
mit »Objektveränderung und Objektwechsel« fer- Kind ist der spätere Autor enthalten, in die Szene ein
tig zu werden (Grubrich-Simitis 1991/1994, 42). Verständnis von Kreativität eingegangen, welche Zer-
»Freuds Identifizierung mit Männern, die zwei Müt- störung zur Voraussetzung hat: »Das Unglück war
ter hatten« (Harsch 1994), scheint sich hier auch auf geschehen«, so Goethe, aber »man hatte […] eine
Goethe zu erstrecken, insofern Freud zum Schluß die lustige Geschichte« (GW XII, 16). In dieser poetolo-
Großmutter Goethes in seine Betrachtungen ein- gisch-strategisch an den Anfang von Dichtung und
schließt: diese »in jener Frühzeit Verstorbene […], Wahrheit gestellten Episode konstituiert sich also
die wie ein freundlicher, stiller Geist in einem an- auch der große Autor, der aus den Berichten der an-
deren Wohnraum hauste« (GW XII, 26), läßt an die deren über seine Kindheit (Bettinas von Arnim, der
in Freuds Frühzeit verschwundene Kinderfrau den- Mutter, der Nachbarn) seine eigene Geschichte
ken. macht, um seine schöpferische Potenz in der Bewälti-
Es ist heute unbestritten, daß Freuds mehrfach gung von Mutterabwesenheit mittels Schauspiel und
wiederholte Auffassung, die Liebe der Mutter zum Erzählung zu bestätigen.
Sohn sei »die vollkommenste und am ehesten ambi-
valenzfreie aller menschlichen Beziehungen« (XV, Literatur
Eissler, Kurt R.: Goethe. Eine psychoanalytische Studie
143), eine verklärende Fehleinschätzung darstellt, 1775–1786. 2 Bde. Basel/Frankfurt a. M. 1983 (engl. 1963).
unbestritten inzwischen auch, daß traumatische Gersdorff, Dagmar von: Goethes Mutter. Eine Biographie.
frühe Erfahrungen es Freud verwehrten, seine Selbst- Frankfurt a. M./Leipzig 2001.
analyse bis in diesen dunklen Bereich voranzutreiben Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und
Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M.
(Grubrich-Simitis 1991/1994, 42). Winnicott (1947/ 1986.
1976) hat die zahlreichen Gründe aufgelistet, welche Grubrich-Simitis, Ilse: Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein
die Ambivalenz der Mutter gegenüber dem Kind, biographischer Essay [1991]. Frankfurt a. M. 1994.
auch wenn es ein Junge ist, bedingen. Daß Freuds Harsch, Herta E.: Freuds Identifizierung mit Männern, die
zwei Mütter hatten: Ödipus, Leonardo da Vinci, Michelan-
Verklärung der Mutter-Sohn-Beziehung solange un- gelo und Moses. In: Psyche 48 (1994), 124–153.
widersprochen blieb – Eissler affirmiert die Freud- Krüll, Marianne: Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psy-
sche Deutung der Episode aus Dichtung und Wahr- choanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung [1979].
heit noch 1963 –, liegt auch an der spät einsetzenden Frankfurt a. M. 1992.
Wellendorf, Franz: Geschwisterbeziehung. In: Bruno Waldvo-
grundsätzlichen Kritik an Freuds phallisch-monisti- gel/Wolfgang Mertens (Hg.): Handbuch psychoanalytischer
scher Geschlechterkonzeption. Wenn die Frau als ka- Grundbegriffe. Stuttgart u. a. 2000, 249–253.
strierter Mann vorgestellt wird und das Kind die Winnicott, Donald W.: Haß in der Gegenübertragung [1947].
Funktion eines Penisersatzes erfüllt, dann ist es der In: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse [1958]. Mün-
chen 1976, 75–88.
Sohn, der die beschädigte Frau am besten komplet-
tiert, ihr »uneingeschränkte Befriedigung« verschafft Astrid Lange-Kirchheim
(GW XV, 143).
Daß »der unbestrittene Liebling der Mutter« zu
sein nicht heißt, bedingungslos von ihr geliebt zu 10.7 Das Unheimliche (1919)
werden, hat Marianne Krüll zu überlegen gegeben. In
Freuds Mutter sieht sie keine gebende, warmherzige Der Artikel (GW XII, 227–268) wurde im Mai 1919
Gestalt, sondern eine tyrannisch fordernde (1979/ verfaßt, es hat jedoch einen – nicht datierbaren – frü-
1992, 178 f.). Ihre Kritik an Freuds Biographen ließe heren Entwurf gegeben. – Das Interesse für das ei-
sich auf die Goethes ausdehnen. Dem verklärenden gentümliche Gefühl des Unheimlichen gehört in den
Blick auf die Mütter entgeht, daß aus der Entwertung Umkreis des Okkulten, zu dem Freud zeitlebens eine
Das Unheimliche 205

ambivalente Beziehung gehabt hat. Zwei Jahre später Individualanalyse. So gelangt er zum symbolischen
nimmt er die okkulte Thematik wieder auf – in Psy- Inhalt und zu den Akteuren von Nathanaels Kastra-
choanalyse und Telepathie (erschienen erst 1941) – tionskomplex. Die Kastrationsdrohung geht aus vom
und behandelt sie wesentlich positiver als in der vor- Advokaten Coppelius, dem ›Sandmann‹, der dem
liegenden Schrift. Knaben Nathanael die Augen entfernen möchte
Freud behauptet für die psychische Herkunft des (Blendung = Kastration). Er stellt den bedrohlichen
Unheimlichen zwei Ursachen: Es entsteht entweder Part in der ambivalenten Vaterimago dar – der reale
als Wiederkehr von verdrängten infantilen Inhalten Vater dagegen vertritt den guten Anteil, er bittet dem
oder im Auftauchen überwundener ›animistischer‹ Jungen die Augen wieder frei. Nathanaels Todes-
Denkformen. Er gewinnt die wesentlichen Einsichten wunsch gegen den von Coppelius vertretenen bösen
aus einer Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Vateranteil wird tatsächlich realisiert, jedoch stirbt –
Der Sandmann: Ihr Held, der Student Nathanael, Verschiebung – statt des bösen der gute Vater. Die
steht unter dem Einfluß einer ambivalenten infanti- Schuld wird dem Coppelius zugesprochen. Der ge-
len Vater-Imago. Als er sich in das Mädchen Klara samte Komplex unterliegt nun der Verdrängung. Als
verliebt, steigt der verdrängte Kastrationskomplex der erwachsene Nathanael sich verliebt, taucht sein
wieder auf, der an die Vorstellung vom Sandmann Kastrationskomplex jedoch aus der Verdrängung
gebunden ist. Die bedrohlichen Vater-Figurationen wieder auf. Das gut-böse Väterpaar der ambivalenten
Coppelius und Coppola werden deshalb unheimlich. Vaterimago findet neue Stellvertreter im (wohlwol-
Eine Anmerkung gibt die gedrängte psychoanalyti- lenden) Professor Spalanzani und im (bedrohlichen)
sche Deutung der gesamten Erzählung. – Da das Un- Optiker Coppola. Die Puppe Olimpia, deren Väter
heimliche in der literarischen Fiktion unter besonde- beide sind, stellt sich als eine Personifizierung von
ren Bedingungen zustande kommt, trifft Freud auch Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater
Feststellungen zur Eigengesetzlichkeit von Dichtung, heraus. »Olimpia ist sozusagen ein von Nathanael
die für die Rekonstruktion einer psychoanalytischen losgelöster Komplex, der ihm als Person entgegen-
Ästhetik von Bedeutung sind. tritt; die Beherrschung durch diesen Komplex findet
In einem ersten Schritt behauptet Freud, das »Un- in der unsinnig zwanghaften Liebe zur Olimpia ihren
heimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf Ausdruck« (GW XII, 244). Diese Liebe ist rein nar-
das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht« (GW zißtisch und entfremdet ihn seinem realen Liebes-
XII, 231). Man müsse also verfolgen, »unter welchen objekt Klara.
Bedingungen das Vertraute unheimlich, schrecklich Das Unheimliche heftet sich hier also an den ›Sand-
werden kann« (ebd.). Nach einem Durchgang durch mann‹ (Coppelius) als den Vertreter des bösen Va-
die sprachlichen Bedeutungsnuancen von ›heimlich‹ teranteils im verdrängten infantilen Kastrationskom-
stößt er auf eine Variante, in der es mit seinem Ge- plex. Wenn er – im erwachsenen Leben des Natha-
gensatz ›unheimlich‹ zusammenfällt – also auf eine nael – als Optiker Coppola wieder auftaucht, wird es
begriffliche Ambivalenz, hinter der immer ein unauf- unheimlich, denn die einst vertraute (= ›heimliche‹)
löslicher affektiver Gegensatz vermutet werden darf. Kinderangst vor der Kastration ist wieder erschienen.
Freud übernimmt (ab 1912) mit ›Ambivalenz‹ einen Das Unheimliche des Sandmanns erfüllt also die Be-
(1910) von Eugen Bleuler in die Schizophrenie-For- dingung, es sei genau ›jene Art des Schreckhaften,
schung eingeführten Terminus und wendet ihn im welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurück-
Laufe der Theorieentwicklung auf verschiedene Be- geht‹. Freud formuliert diesen Sachverhalt schließlich
reiche des Seelenlebens an. In der zweiten Abhand- als eine Art Regel: 1. Das Unheimliche ist eine wieder-
lung von Totem und Tabu (»Das Tabu und die Ambi- kehrende verdrängte Gefühlsregung. 2. Der Sprach-
valenz der Gefühlsregungen«) findet der Terminus gebrauch läßt das ›Heimliche‹ in seinen Gegensatz,
bereits ›völkerpsychologische‹ Verwendung – er be- das Unheimliche, bruchlos übergehen, weil dieses in
zeichnet einen phylogenetischen Sachverhalt. Hier der Tat etwas dem Seelenleben von alters her (positiv
beginnt die Einflußspur des heute in den Kulturwis- oder negativ) Vertrautes ist, das ihm nur durch die
senschaften so leistungsfähigen Begriffes. Die Ambi- Verdrängung entfremdet war.
valenz von ›heimlich‹ ist einer seiner Fälle. Die gefundene Regel wird von Freud dann an
Freud untersucht diesen Fall nun an E.T.A. Hoff- Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels überprüft,
manns »Nachtstück« Der Sandmann. Er zerlegt die indem er auch für dessen unheimliche Motive eine
Erzählung in die ›Kindergeschichte‹ und den gegen- Ableitung aus infantilen Quellen versucht. Damit be-
wärtigen Zustand des Studenten Nathanael. Freud gründet Freud ein Modellverfahren für die psycho-
rekonstruiert also nach dem klassischen Modell einer analytische Erklärung scheinbar rein stofflich oder
206 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

rein ästhetisch bestimmter literarischer Motive. Das und das in jüngerer Zeit am klarsten in Käte Ham-
gilt etwa für das in der Romantik so beliebte ›Dop- burgers Logik der Dichtung (1957) ausformuliert
pelgänger‹-Motiv. Freud führt es auf den uneinge- wurde: daß das ›System Dichtung‹ sich andere Reali-
schränkten Narzißmus des Kindes zurück: Der Dop- tätsbedingungen erschafft. So unterliegt die Welt der
pelgänger versichert gegen den Untergang des Ichs. Märchen nicht unserer Realitätsprüfung, weil sie sich
In einem letzten Schritt stabilisiert Freud die von offen zur Übernahme animistischer Überzeugungen
ihm gefundene Begründung des Unheimlichen, in- bekennt, auf die wir uns als Bedingung der Märchen-
dem er sie der Gleichung ›Ontogenese = Phyloge- wirklichkeit einlassen müssen. Das Unheimliche als
nese‹ unterstellt. Danach wiederholt in der Kindheit das überwundene Unglaubwürdige, das dennoch
die individuelle Psyche überwundene Entwicklungs- plötzlich eintritt, kann deshalb nicht aufkommen.
phasen der menschheitlichen Frühzeit. Dieses von Ebenso akzeptieren wir die Geistererscheinungen
Ernst Haeckel zugespitzte Evolutionsgesetz be- Shakespeares. Anders verhält es sich aber, wenn
stimmte damals den psychoanalytischen Blick auf Dichtung sich auf den Boden der normalen Realität
›völkerpsychologische‹ Verhältnisse und erlaubte es, stellt. Dann unterliegt sie in hohem Maße der Reali-
in Totem und Tabu primitive ›Wilde‹ und zeitgenössi- tätsprüfung durch den Rezipienten, wie das etwa die
sche Neurotiker aufeinander zu beziehen. Bei der Dichtung des deutschen ›Realismus‹ forderte: das
Untersuchung unheimlicher Erscheinungen wie be- Wunderbare ist hier ausgeschlossen. Allerdings be-
stimmter neurotischer Zwangsideen oder dem noch zieht sich das Vorstehende fast nur auf Unheimliches,
heute von Abergläubischen gefürchteten ›bösen das aus der überwundenen animistischen Denkweise
Blick‹ stößt Freud auch hier auf das Prinzip der ›All- entsteht. Das Unheimliche aus verdrängten indivi-
macht der Gedanken‹. Diese unheimlichen Erschei- duellen Komplexen dagegen bleibt in jeder Dichtung
nungen entsprechen damit der frühzeitlichen Welt- ebenso unheimlich wie im realen Erleben. – Es sind
auffassung des Animismus, in der beispielsweise be- im Grunde rezeptionsempirische Überlegungen, die
stimmte Personen mit magischen Geisteskräften be- Freud anstellt. Gleichwohl wird deutlich, daß wich-
gabt schienen. So spricht auch der Knabe Nathanael tige Ansätze zu einer allgemeinen psychoanalytischen
dem ›Sandmann‹ magische Kräfte zu. Es ist deshalb Ästhetik formuliert sind. Die hier gestellte Grund-
immer auch ein (kleiner) Rest frühzeitlicher animi- frage ist, wieweit es der Dichtung mit ihren Mitteln
stischer Seelentätigkeit, der in der individuellen Psy- gelingt, beim Leser kollektiv Überwundenes und in-
che aufwacht, wenn etwas Vertrautes aus der Ver- dividuell Verdrängtes anzusprechen und zu ›mani-
drängung zurückkehrt und als unheimlich empfun- pulieren‹.
den wird. Am Unheimlichen ist also immer auch eine Der Sandmann ist Hoffmanns meistdiskutierter
Spur des phylogenetischen Animismus beteiligt. Text, was sich der Erzählstruktur und den Grund-
Solche Vermischung ändert nichts an der prinzi- motiven verdankt. Zeitenfolge und Raumordnungen
piellen Unterscheidung, daß das Unheimliche erzeugt sind ineinander verschränkt, variierende Wiederho-
wird von zweierlei Formen der erlebten Wiederkehr: lungen erlauben das Spiel mit Identitäten – der Text
Entweder kehrt ein verdrängter infantiler Vorstel- bietet einen erheblich unterbestimmten Imaginati-
lungsinhalt (wie der Kastrationskomplex) zurück onsraum an. Zentrale Motive wie Augen, Spiegel,
und ist psychische Realität. Oder eine überwundene Fragmentierung, Automatenmensch, Subjekt und
frühmenschheitliche Denkweise kehrt zurück – wie Wahn reizten in jüngerer Zeit vor allem zu psycho-
die geglaubte Wiederkehr eines Toten oder ein ge- analytischen, diskursanalytischen und dekonstrukti-
glaubter magischer Akt. In letzterem Fall ist die Rea- vistischen Lesarten. Daneben besteht eine erzähl-
litätsprüfung zuständig, die den Glauben an den ver- theoretische und sozialgeschichtliche Deutungstradi-
meintlichen Sachverhalt aufheben muß. Im Falle tion, so daß man geradezu von einer Sandmann-Phi-
wiederkehrender infantiler Vorstellungen kann je- lologie sprechen kann. Freuds Studie hat innerhalb
doch nichts als unwirklich aufgehoben werden – sie dieser Konjunktur einen bedeutenden Platz. Sie wird
sind psychische Tatsache. von den meisten Arbeiten berührt, kritisch verwen-
An dieser Stelle geht Freuds Untersuchung zu einer det (etwa von feministischer Seite) oder in bestimm-
ästhetischen Fragestellung über: Warum gilt die Reali- ter Richtung weitergeführt, etwa (von der Neurose
tätsprüfung, mit der wir im realiter erlebten Gefühl zur Psychose) zur Position Lacans. – Freuds Bestim-
des Unheimlichen Erfolg haben, in der Fiktion – in mung des Unheimlichen behauptet sich sogar noch
der Dichtung – nicht? Freud greift hier ein Problem im Bereich der Neurowissenschaften, wenn sich die
auf, das besonders seit der Aufklärung von der Ästhe- Bildproduktionen der Hirnrinde der Realitätsprü-
tik untersucht worden ist (›Geister auf der Bühne‹) fung entziehen (Hagner 2005).
Der Humor 207

Literatur in Das Ich und das Es sein zweites topisches Modell


Liebrand, Claudia: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. und schon 1914 in Zur Einführung des Narzißmus
Hoffmanns. Freiburg i.Br. 1996 [mit weiterführender Bi-
bliographie].
eine strukturelle Definition des Narzißmus versucht
E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch. Hg. von Hartmut Steinecke u. a. hatte, von diesen neuen Theorien her nach der
Bamberg 1992 ff. psychischen Einstellung des Humoristen und da-
Hagner, Michael: Der Hirnspiegel und das Unheimliche. In: nach, wie sie zustande kommt. Er verhalte sich zu
Röntgenportrait. Hg. von Torsten Seidel u. a. Berlin 2005,
90–101.
sich selbst wie ein Erwachsener zu einem Kind, in-
Hamburger, Käte: Logik der Dichtung. Stuttgart 1957. dem er von der Position des Über-Ich, der verinner-
Manfred Dierks lichten Elterninstanz, zu dem Ich hinabschaue, das
von hier aus klein erscheine. Das geschehe durch Ver-
schiebung des psychischen Akzents vom Ich auf das
Über-Ich, also durch einen Wechsel der Energiebeset-
10.8 Der Humor (1927) zungen, der das Über-Ich aufschwelle und das Ich
mit seinen Affekten unwichtig erscheinen lasse, so
Freud schrieb diesen kurzen, einige Aspekte des Hu- daß diese im Lächeln abgeführt werden könnten. Das
mors entwickelnden Essay 1927 (GW XIV, 381–389); sonst so strenge Über-Ich nehme hier tröstende Züge
er wurde im selben Jahr veröffentlicht. Nach dem an; das entspräche seiner Abkunft von der Eltern-
Tod der Tochter (1920), des Enkels (1923) und Karl instanz. Die Besetzungsverschiebung führe zu einem
Abrahams (1925), insbesondere aber nach der Ent- Triumph des Narzißmus, einem befreienden Gefühl
deckung seines Gaumenkrebses (1923), nach der Unverletzlichkeit, einer Weigerung, sich durch
Schmerzen und zahlreichen Operationen lag es nahe, die Realität kränken zu lassen, ja dazu, daß auch das
daß der Einundsiebzigjährige über Humor nach- Leiden noch zum Anlaß von Lustgewinn werde. So
dachte. »Welches Maß von Gutmütigkeit und Humor nähere der Humor sich jenen regressiven Prozessen,
gehört doch dazu, das grausliche Altwerden zu er- mit denen das Individuum sich dem Zwang des Lei-
tragen«, schrieb er später (F/AS, 225). Im Licht seiner dens entziehe; den Boden seelischer Gesundheit gebe
neuen Konzepte griff er Überlegungen aus seiner er jedoch nicht auf.
1905 erschienenen Abhandlung Der Witz und seine Der alltagssprachliche Begriff Humor umfaßt un-
Beziehung zum Unbewußten auf (GW VI, 260–269). spezifisch alles, was mit Lachen und guter Laune in
Dort hatte er den Humor als eine der höchsten Beziehung steht; ihm oder einzelnen seiner Aspekte
psychischen Leistungen verstanden. Er erlaube es, gilt eine Fülle von Forschungsarbeiten und Theorien,
trotz peinlicher Affekte Lust zu gewinnen, die aus er- auch psychologische (Strotzka 1976, 305–307; Frings
spartem Affektaufwand erwachse, der unterschiedli- 2000, 294). Der Humor im Freudschen Sinn, eine
chen Gefühlsregungen entspringen könne, Mitleid Haltung im Umgang mit Affekten, die es erlaubt,
z. B., Ärger, Schmerz, Grausamkeit oder Ekel. Dem Lust aus kränkenden Erfahrungen dadurch zu gewin-
entsprächen unterschiedliche Arten des Humors. nen, daß peinliche Gefühle in Distanzierung, Per-
Dieser vollziehe sich in vorbewußter oder automa- spektivenwechsel, unerwarteter Verknüpfung und
tischer Verschiebung von Affekten, die von peinli- spielerischem Umgang transformiert werden, hat
chen Vorstellungsinhalten, welche bewußt blieben, bislang noch keine Neukonzeptualisierung erfahren,
abgezogen und in humoristische Lust verwandelt wohl aber Differenzierungen und Erweiterungen.
würden – eine Abwehrleistung, sogar die höchste; Mehrfach wurde die Bedeutung des Ich und seiner
denn anders als etwa die Verdrängung entziehe sie Stärke betont; aus ich-psychologischer Sicht wurde
den Vorstellungsinhalt nicht der Aufmerksamkeit. Zu Humor gar als autonome Ich-Funktion verstanden
solcher Seelengröße käme es wohl, wenn sich das Ich (Frings 2000, 295). – Strotzka (1976, 317) sieht die
auf die Position eines Erwachsenen erhebe und der Besetzungsverschiebungen auf Über-Ich bzw. Ich-
Humorist von ihr aus dann auf sich und seine peinli- Ideal als Folge einer Ich-Aktivität, die sich aus der
chen Affekte hinabblicke wie auf die eines Kindes. – Notwendigkeit ergebe, Depression abzuwehren. Nach
Der Humor benötige nur eine einzige Person: den Critchley wirkt der Humor durch eine Ich-Spaltung,
Humoristen. Der Rezipient gewinne seine Lust, in- in der das Subjekt sich selbst zum Objekt werde, als
dem er die bereitgehaltene Affektentwicklung und Antidepressivum (2004, 111–132). Ietswaart betont,
deren Enttäuschung nachfühle. daß die Fähigkeit, eigenes Leiden, eigene Wider-
Nachdem er 1905 unter ökonomischem Gesichts- sprüchlichkeit und Unsicherheit bewußt zu akzeptie-
punkt triebtheoretisch die Quelle der Lust am Hu- ren, Selbstsicherheit voraussetze (1988, 187 f.).
mor behandelt hatte, fragt Freud, nachdem er 1923 Im humoristischen Akt würden nicht nur freund-
208 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

liche Ich-Ideal-, sondern auch strafende Über-Ich- Strotzka, Hans: Witz und Humor. In: Dieter Eicke (Hg.): Die
Psychologie des 20. Jahrhunderts II. München 1976,
Anteile besetzt; so gebe es nicht nur konstruktive 305–321.
Ausprägungen heiter gelassenen Humors, sondern Carl Pietzcker
auch destruktive, zynisch-sarkastische (Frings 2000,
294). – Insbesondere Strotzka kann Freuds Hoch-
schätzung des Humors nicht teilen; für ihn ist er Ver-
such einer Problemlösung in einem unreifen Sta-
dium der Persönlichkeit. Er bringe nur temporäre 10.9 Dostojewski
Scheinlösungen (Strotzka 1976, 311). Insoweit der und die Vatertötung (1928)
Humorist die Kindposition einnehme, rette er den
großartigen Narzißmus der Erwachsenenpositionen Es handelt sich um eine Gelegenheitsarbeit für die
durch scheinbare Unterwerfung als ein Kind, zu dem große, von Moeller van den Bruck herausgegebene
man trotz allem freundlich lache. Humor hebe zwar Dostojewski-Gesamtausgabe. Freud schrieb die Stu-
Besetzungen vorübergehend auf, mildere die Ambi- die (GW XIV, 397–418) in der Zeit von Juni 1926 bis
valenz und führe zu Spannungserleichterung, bringe vermutlich Mitte/Ende 1927.
jedoch keine rationale Dauerlösung: Der Gefangene, Im Hauptteil konzentriert sich Freud auf Dosto-
der seiner Fesseln lache, sei noch lange nicht frei. Al- jewskis Epilepsie. In mehreren Analyseschritten
lerdings helfe der Humor, unnötigen Konflikten aus- trennt er sie von akzidentellen Elementen und führt
zuweichen. Während Strotzka die Momente der Ab- sie auf den Wunsch der Vatertötung zurück: Die
wehr und des Illusionären betont, wertet Kohut, der schein-epileptischen ›Todesanfälle‹ seien eine Form
im Rahmen seiner Selbstpsychologie vom entwick- der Selbstbestrafung für Mordphantasien, deren Aus-
lungspsychologischen Konzept einer Umformung des führung dann allerdings die wirklichen Mörder des
Narzißmus vom primären hin zum reifen Narzißmus Vaters übernommen hatten – was psychoanalytisch
ausgeht, den Humor als Ausdruck narzißtischer jedoch keinen Unterschied mache. Von dieser
Reife. Zu ihr komme es, wenn Besetzungen vom nar- Schuldzuweisung her erkläre sich auch Dostojewskis
zißtischen Selbst abgezogen und, neu verteilt, in Unterwerfung unter die ›väterlichen‹ Domänen der
starke Idealisierung des Über-Ichs umgewandelt wür- staatlichen und der religiösen Autorität. Freud zeigt,
den. Das leiste ein intaktes Ich, welches dieses Selbst daß das Gewicht des Ödipuskomplexes die Brüder
so beherrsche, daß es dessen Forderungen nicht Karamasow neben König Ödipus und Hamlet stelle. –
mehr erliege und fähig werde, seine eigene Endlich- Im Schlußteil wird Dostojewskis Spielzwang analy-
keit ohne Verleugnung zu ertragen. Das Abziehen der siert.
Besetzungen vom narzißtisch geliebten Selbst führe Dostojewskis Persönlichkeit präsentiert sich Freud
zum Rückgang von Größenideen, zu dem vom Glau- in vier ›Fassaden‹: als Dichter, als Ethiker, als Sünder
ben an narzißtische Vollkommenheit, sowie zum ru- und als Neurotiker. Entsprechend psychoanalytischer
higen inneren Triumph mit einer Beimischung von Auffassung, daß künstlerische Begabung nicht analy-
Melancholie (Kohut 1975, 163–166). – Literaturwis- sierbar sei, steht eingangs der berühmte Satz: »Leider
senschaftliche und kulturgeschichtliche Konzeptuali- muß die Analyse vor dem Problem des Dichters die
sierungen des psychoanalytischen Humorbegriffs las- Waffen strecken« (GW XIV, 399). Besser erfaßbar ist
sen sich bisher nicht finden. der Ethiker. Seine große Leistung war die Zähmung
seiner Triebansprüche, doch verschenkte er den Sieg,
Literatur indem er sich am Ende den traditionellen Autoritä-
Critchley, Simon: Über Humor. Wien 2004 (engl. 2002). ten unterwarf – dem Zaren, dem Christengott und
Frings, Willi: Humor. In: Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel
(Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart
dem russischen Nationalismus. Dies ethische Schei-
2000, 293–296. tern verdankte Dostojewski seiner Neurose.
Grotjahn, Martin: Vom Sinn des Lachens. München 1974. Der Sünder (die Anlage zum Verbrecher) verrät
Ietswaart, Willem L.: Humor and the Psychoanalyst. In: Zeit- sich in der Stoffwahl. Es sind die gewalttätigen und
schrift für Psychoanalytische Theorie und Praxis 3 (1988),
187–198.
mörderischen Charaktere, die auf ähnliche Neigun-
Kohut, Heinz: Die Zukunft der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. gen im eigenen Inneren des Dichters hindeuten.
1975. Diese richten sich jedoch gegen ihn selber: Er ist Sa-
Preisendanz, Wolfgang: Humor. In: Joachim Ritter (Hg.): Hi- dist nach innen, also Masochist.
storisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel 1974,
1232–1234.
Die Neurose Dostojewskis gewinnt Freud aus sei-
Roeckelein, Jon E.: The Psychology of Humor: A Reference Guide ner Einschätzung der Epilepsie: Er versteht sie als
and Annotated Bibliography. Westport 2002. schwere Hysterie, deren Symptom der epileptoide
Dostojewski und die Vatertötung 209

Anfall war. Hier kommt nun mit einer gewissen, stimmt hat. Von dieser Grundannahme her wird ihm
kaum irritierbaren Mechanik die psychoanalytische die zentrale biographische Tatsache, die Epilepsie
Neurosenlehre zum Zuge und erzwingt bestimmte Dostojewskis, verständlich als immer wiederholte Er-
Sachverhalte als notwendige Implikation – auch bei innerung dieses Tötungswunsches: Der reale Tod des
dürftiger äußerer Beweislage. Tatsächlich ist diese Vaters wird in der epileptischen Aura als Triumph
völlig unzureichend, wie Freud selber zugibt: Man erlebt, jedoch sofort gefolgt von der Selbstbestrafung
weiß biographisch zu wenig, um die epileptoiden in den Qualen des Anfalls. Eben diese Ambivalenz-
Anfälle mit dem Seelenleben in Verbindung bringen struktur – Triumph und Reue – besitzt auch das Er-
zu können. Mit den wenigen vorhandenen biogra- innerungsfest, das die frühzeitliche Urhorde der
phischen Elementen unternimmt Freud dennoch mörderischen Söhne feiert: die Totemmahlzeit. Man
eine Konstruktion, die auf einer einzigen (psycho- hat hier ein gutes Beispiel, wie die phylogenetischen
analytischen) Gewißheit ruht: auf der Allgegenwart und die individualpsychologischen Hypothesen der
des Ödipus-Komplexes. Psychoanalyse einander stützen, indem sie sich wech-
Manifest wurde die ›Epilepsie‹ nach der Ermor- selseitig ihre Plausibilität bestätigen.
dung des Vaters durch leibeigene Bauern, in Dosto- Diese zirkuläre Argumentationsstruktur ist weni-
jewskis achtzehntem Lebensjahr. Von diesem ger ein wissenschaftlicher Beweis, als eine Basierung
›schwersten Trauma‹ aus rekonstruiert Freud die des Behaupteten auf Evidenz, bei sehr geschicktem
Neurose – auch rückwärts, da sie sich ja notwendig rhetorischem Nachdruck. Nur wer die Psychoanalyse
schon früh erweisen muß. Er findet in der Kindheit als eine intersubjektiv nachweispflichtige, durchweg
lethargische Schlafzustände mit Todesangst: Selbst- positive Wissenschaft postuliert, wird hier Anstoß
bestrafung für den Todeswunsch gegen den gehaßten nehmen. Wir haben es bei der Psychoanalyse mit ei-
Vater. Die Annahme eines Todeswunsches bekräftigt nem Seelenmodell zu tun, das eine Reihe angenom-
Freud mit Hinweis auf seinen Text Totem und Tabu, mener seelischer ›Tatsachen‹ ihrer Qualität nach
in dem der (hypothetische) Vatermord der frühzeit- nicht ›nachweisen‹ kann, da sie unbewußt sind. Der
lichen Menschen mit dem Todeswunsch der gegen- vorliegende Aufsatz zu Dostojewski ist ein gutes Bei-
wärtigen Neurotiker erklärt wurde. Diese zirkuläre spiel für die Künstler-Pathographie, das erste Inter-
Argumentation mit historisch und individualge- pretationsverfahren der Psychoanalyse, mit dem sie
schichtlich frühem Vatermordgeschehen hat keine ein Kunstwerk vom Leben des Autors her versteht
Beweisstruktur, sondern dient der Erhöhung von und dessen Biographie wiederum vom Kunstwerk
Plausibilität. Dafür sorgt auch eine einfühlsame und her. Man wird eine solche Interpretation in dem
elegante Rhetorik. Sie macht überdies die nun fol- Maße akzeptieren, wie man das psychoanalytische
genden Annahmen besonders für Nichtinitiierte ak- Modell akzeptiert. In diesem Maße werden – im Falle
zeptabler: Dazu gehört das Postulat einer ausgepräg- Dostojewskis – auch Freuds philologisch unzurei-
ten Bisexualität Dostojewskis und damit starker Ver- chende Nachweisverfahren durch die implizierten
liebtheit in den Vater. Gegen diese wehrt er sich mit psychologischen Annahmen befriedigend ergänzt.
Todeswünschen gegen ihn. Für die Todeswünsche be- Die heutige Dostojewski-Forschung stellt sich offen-
straft er sich unbewußt schon früh mit ›Anfällen‹, die bar auf einen ähnlichen Standpunkt: Sie spricht von
nach der tatsächlichen Tötung des Vaters die Schwere Freuds Phantasien über Dostojewski.
von ›Epilepsie‹ annehmen. Dies ist der Kreislauf von Eine literarische Wirkung der Studie ist nicht fest-
Schuld und Sühne bei Dostojewski. stellbar. – Die Dostojewski-Forschung reagierte nach
Am Schluß des Hauptteils über die Epilepsie ver- der Publikation (1928) ablehnend, wofür sie gute
sichert sich Freud, wie so oft, des Beistandes der Lite- philologische und biographische Gründe anzuführen
ratur: Er stellt die Brüder Karamasow in eine Reihe hatte. Eine aktuelle literaturwissenschaftliche Ein-
mit Sophokles’ König Ödipus und Shakespeares schätzung befaßt sich eher mit Freuds Phantasien als
Hamlet als drei weltliterarische Ausformungen des mit denen Dostojewskis (Schult 2003, 43–55). Der
Ödipus-Komplexes. Dostojewski ist also mit seinem niederländische Russist Karel van het Reve nimmt
Roman zum menschheitlichen ›Urverbrechen‹, dem die Studie zum Anlaß einer scharfen Polemik gegen
Vatermord, zurückgekehrt und legt mit ihm über die Freuds Beweisverfahren (Reve 1994). Der norwegi-
eigene Schuld ›sein poetisches Geständnis‹ ab. sche Russist Jostein Bortnes stimmt Freuds Annahme
Freud versteht die Brüder Karamasow als ein »poe- einer homosexuellen Unterströmung bei Dostojewski
tisches Geständnis« (GW XIV, 414), in dem sich Do- zu und gibt auch einen Überblick über englischspra-
stojewski zu seiner frühen Vatermord-Phantasie be- chige psychoanalytische Veröffentlichungen zu die-
kennt, die in ihren Konsequenzen sein Leben be- sem Thema (Bortnes 2000, 3).
210 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

Literatur vom Spiel her: Wie das Kind seine Unterlegenheit


Bortnes, Jostein: Male Homosexual Desire in the Idiot. In: Se- überwinde, indem es einen Erwachsenen spiele, je-
vernyj Sbornik. Proceedings of the Norfa Network in Russian
Literature 1995–2000. Hg. von Peter Alberg Jensen/Ingunn
doch wisse, daß es keiner ist, so könne der Erwach-
Lunde. Stockholm 2000, 103–120. sene, der das Realitätsprinzip verinnerlicht und auf
Neufeld, Jolan: Dostojewski. Skizze zu seiner Psychoanalyse. eigene Größe und intensive Gefühle verzichtet habe,
Wien 1923. beide in Identifizierung mit dem Helden erleben, sich
Reve, Karel van het: Dr. Freud und Sherlock Holmes. Frankfurt
a. M. 1994.
zugleich aber im Bewußtsein des Fiktiven der helden-
Schult, Maike: Verlockende Vatertötung. Freuds Phantasien zu haften Szenen sicher vor Gefahren wissen, wie sie
Dostojewskij. In: Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft (Hg.): dem Helden drohen. Gelte das für alle Gattungen, so
Jahrbuch 10 (2003), 43–55. steige das Drama tiefer in die Affektmöglichkeiten
Manfred Dierks und gestalte sogar das Leiden zum Genuß. Von die-
sen Überlegungen her bewegt sich Freud in einem
kultur- und genregeschichtlichen Parcours von der
10.10 Psychopathische antiken Tragödie über bürgerliches Trauerspiel, Cha-
raktertragödie und psychologisches Drama hin zur
Personen auf der Bühne Frage, wie psychopathische Figuren angelegt sein
(1942) müssen, damit die Zuschauer genußvoll mitfürchten
und mitleiden. Am Hamlet, dem für ihn ersten psy-
Der Essay (Nachtr., 655–661) entstand Ende 1905 chopathologischen Drama, zeigt er, daß dies gelinge,
oder Anfang 1906. Freud schenkte ihn Max Graf, der 1. wenn der Held nicht psychopathisch sei, sondern
ihn, unvollständig ins Englische übersetzt, 1942 ver- es erst werde, so daß der Zuschauer dessen Patho-
öffentlichte. 1962 erschien er, vollständig und logie übernehmen könne; 2. wenn die verdrängte Re-
deutsch, in Die neue Rundschau. 1904 hatte Hermann gung, an deren Verdrängung das Drama rüttle, sich
Bahrs Dialog vom Tragischen die Diskussion um die bei allen Zuschauern finde, so daß deren Verdrän-
Katharsis neu angefacht, die nach den Zwei Abhand- gungsaufwand, wenn sie diesen Konflikt anerkennen,
lungen über die aristotelische Theorie des Dramas erspart werde, und 3., wenn das Verdrängte nicht als
(1880) von Jacob Bernays, dem Onkel von Freuds es selbst ins Bewußtsein dringe, sondern in Gestalt
Frau Martha, geb. Bernays, in Wien geführt wurde. eines Abkömmlings, und das auch nur bei abge-
Freud hatte mit Josef Breuer in den 1890er Jahren die wandter Aufmerksamkeit. Werde dem nicht entspro-
»kathartische« Methode entwickelt, mit ihr bei den chen, so werde der Zuschauer von psychopathischen
Patienten intensive Erinnerungen an traumatische Personen abgestoßen und könne den Konflikt nicht
Ereignisse wiederbelebt und mit ihnen verbundene genußvoll leidend nachvollziehen. Das kritisiert
Affekte abführen lassen, diese Methode dann jedoch Freud an Hermann Bahrs Die Andere (1905). – Die
aufgegeben. Er, der in der Traumdeutung den ödipa- Verwendbarkeit psychopathischer Charaktere auf der
len Konflikt auf die Ödipus-Tragödie und den Hamlet Bühne sei begrenzt durch die Kunst des Dichters, Wi-
bezogen, an beiden seine Theorie demonstriert und derstände gegen die Identifizierung zu meiden und
deren Wirkung auf den Zuschauer reflektiert hatte, ästhetische Vorlust zu gewähren sowie durch die neu-
wendet sich hier einem Spezialproblem zu: der Büh- rotische Labilität des Publikums, d. h. durch dessen
nentauglichkeit psychopathischer Figuren. Disposition, Verdrängung, wenn sie bedroht wird, zu
Freud geht vom Schauspiel allgemein aus, um sich stützen, dann jedoch aufzugeben.
dann stufenweise seinem Spezialproblem zu nähern. Freud hat diesen ersten Versuch, in einem eigen-
Er formuliert die aristotelische Bestimmung, die Tra- ständigen Text psychoanalytisch über Literatur nach-
gödie errege Furcht und Mitleid, um die Zuschauer zudenken, nie veröffentlicht, ihn jedoch verschenkt:
zur Katharsis gelangen zu lassen, psychoanalytisch Das ist wohl ein Zeichen dafür, daß er ihn für be-
um: Sie eröffne Genußquellen aus dem Affektleben; wahrenswert hielt, nicht aber für so ausgearbeitet,
die Affekte tobten sich unter sexueller Miterregung daß er sich mit ihm öffentlich in die große Tradition
aus, würden also abgeführt. Der Genuß ergebe sich des Aristoteles und seines Schwiegeronkels Jacob stel-
aus psychischer Höherspannung beim Austoben und len könnte. In deren Spuren hatte er mit dem Begriff
durch Spannungserleichterung. Voraussetzung sei, Katharsis als befreiender Reinigung ein wirkungsäs-
daß der Zuschauer sich mit dem Helden identifiziere, thetisches Verständnis des Dramas übernommen und
mit ihm fühle, ja mit ihm leide, selbst jedoch nicht psychoanalytisch neu formuliert. Eine eigene Dra-
leide, sich sicher wisse und sein Leiden lustvoll kom- mentheorie hatte er jedoch nicht entwickelt, sondern
pensiere. Das leiste die Illusion. Freud versteht sie auf einen Spezialfall hingearbeitet. Er hatte neu ein-
Der Moses des Michelangelo 211

gebracht: die Bedeutung des Unbewußten, das Prin- dem Ich erlaube, durch Katharsis seine wegen aufge-
zip der abgelenkten Aufmerksamkeit und das der stauter Triebwünsche bedrohte Herrschaft wiederzu-
Vorlust. Und er hatte seine Überlegungen zum Ham- gewinnen: Die Illusion garantiere Freiheit von Schuld
let wirkungsästhetisch weiterentwickelt. So sehr er und lasse im sozial gebilligten Raum der Kunst inten-
sich mit anerkannten Theoretikern gemessen und sie sive affektive Reaktionen zu (Kris 1952/1977, 40 f.). –
psychoanalytisch übertrumpft hatte, so wenig konnte Schon bald wurde darauf hingewiesen, daß Freuds
er dem Anspruch auf eine ausgearbeitete Theorie ge- bildungsbürgerlich-klassizistisches Kunstverständnis
recht werden. Er legte vermutlich wegen solcher Am- sich hier in seiner Ablehnung der für die Moderne
bivalenz den Versuch beiseite und führte seine Über- charakteristischen psychopathischen Figuren zeige,
legungen in weniger ambivalenzbesetzten Bereichen daß er ihnen aber auch bei entsprechendem Publi-
fort. Vermutlich spielte auch die Ambivalenz gegen- kum und entsprechender Technik einen weiten
über Bahr eine Rolle. Dieser hatte in seinem Dialog Raum zugestehe (Spector 1972/1973, 152 f.).
die Tragödie von Freuds und Breuers Studien über
Hysterie her verstanden und mit Bernays Deutung Literatur
der aristotelischen Katharsis verbunden, nach der Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Le-
sen. München 1998.
diese unter heftiger, gegen das Bewußtsein an- Bahr, Hermann: Dialog vom Tragischen. Berlin 1904.
schäumender Erregung als lustvolle Entladung er- Bernays, Jacob: Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theo-
folge. Wie die beiden Ärzte ihre Patienten, so unter- rie des Dramas. Berlin 21880.
ziehe die Tragödie die Zuschauer einer tragischen Kris, Ernst: Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der
Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1977 (engl. 1952).
Kur, lasse bei ihnen das Tier los, »bis es sich ausge- Spector, Jack: Freud und die Ästhetik. Psychoanalyse, Literatur
tobt hat«, zwinge sie, ihre Wünsche zu erkennen und und Kunst. München 1973 (engl. 1972).
heile sie so. Freud, der die hypnotisch-kathartische Wakeman, Mary: Dynamics of the Tragic Catharsis. In: Litera-
Methode inzwischen abgelegt hatte, nimmt Gedan- ture and Psychology 9 (1959), 39–41.
ken von Bahr und Bernays auf › kritisiert beide je- Carl Pietzcker
doch implizit, indem er von der Arbeit am Wider-
stand her Voraussetzungen für das Gelingen solchen
Austobens an Dramen, nicht aber an der psychoana-
lytischen Kur darstellt und das Mißlingen an einem 10.11 Der Moses
Drama Bahrs, dessen Titelfigur sich allzu deutlich an des Michelangelo (1914)
Fälle der Studien über Hysterie (Anna O., Katharina)
anlehnt und sich einem Versuch unterzieht, durch Zu Beginn des 1914 veröffentlichten Essays (GW X,
Erinnern zu gesunden; was mißlingt. Die Auseinan- 171–201) bekennt der Autor, daß unter Kunstwerken
dersetzung mit Bahr, dem er sich wohl verpflichtet Dichtungen und Skulpturen die stärkste Wirkung auf
fühlte, gegen dessen Überdehnung einer von ihm be- ihn ausübten. Keine Schöpfung der Bildhauerkunst
reits abgelegten Methode er sich aber wohl auch hat Freud tatsächlich mehr ergriffen als Michelange-
wehrte, hatte den Aufsatz vermutlich angeregt, aber los Moses-Statue, die in der römischen Kirche San
auch so verengt, daß er Freuds Ansprüchen nicht Pietro in Vincoli steht und zum 1545 vollendeten
genügte. Grabmal für Papst Julius II. gehört. Er hat sie zwi-
Das späte Erscheinen, die verengende Ausrichtung schen 1901 und 1923 immer wieder aufgesucht, viel-
auf einen Sonderfall, die triebtheoretische Perspek- mals in den Jahren 1912/13.
tive, die nur schwache Beachtung des Kunstcharak- Eingangs spricht er auch davon, daß die rätselhafte
ters und die geringe Eignung zur Analyse einzelner Wirkungsmacht großer Kunst eng mit der Absicht
Dramen haben bislang zu keiner gezielten Ausein- des Künstlers verquickt sei, sofern es diesem glücke,
andersetzung mit dem Essay geführt; meist wird er sie in seinem Werk aufs prägnanteste auszudrücken
im Zusammenhang der Hamlet-Forschung disku- und so vom Betrachter Besitz ergreifen zu lassen.
tiert. Einzelne der hier angedeuteten Momente wur- Diese Absicht müsse also entschlüsselt und in Worte
den ohne Bezug zu ihm weitergedacht: die masochi- gefaßt werden, wollten wir begreifen, was uns ergreift
stische Befriedigung am Unterliegen des Helden, aus (ebd., 172). Zunächst stellt Freud fest, was an Michel-
dem der Zuschauer Genuß schöpft, also der Genuß angelos Moses nicht rätselhaft sei: Zweifelsfrei stelle
am Leiden, vom Strafbedürfnis des Masochisten her; sie den Gesetzgeber der Juden dar, der die Tafeln mit
der Genuß durch Illusion von der Angstlust Balints den heiligen Geboten halte. Als er dann im zweiten
(Anz 1998, 145 f.) und ich-psychologisch von der Schritt eine Vielzahl gelehrter Autoren vorwiegend
Schutzfunktion der ästhetischen Lust her, welche es des 19. Jh.s zu Wort kommen läßt, entfaltet sich je-
212 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

doch ein Wirrwarr höchst verschiedener, teils krass seien die Tafeln in Gefahr geraten abzustürzen. Um
widersprüchlicher Beschreibungen und Auffassun- dies zu verhindern, sei der rechte Arm eilends zu ih-
gen. Sofern sie davon ausgingen, daß ein bestimmter nen zurückgekehrt, und dabei habe die Hand einen
Moment im Leben des biblischen Helden dargestellt Teil des Bartes unwillkürlich mitgezogen. Gezeigt
ist, schienen sich die Zitierten allerdings einig: es sei werde nicht die Vorbereitung auf die unmittelbar be-
der Augenblick, da er nach der Herabkunft vom vorstehende Tafelzerschmetterung, sondern das Ende
Berge Sinai, wo er von Gott die Gesetzestafeln in einer heftigen Bewegung, die, im Dienste der Bewah-
Empfang genommen hatte, wahrnehmen müsse, daß rung der Gesetzestafeln, in Selbstbeherrschung aus-
das Volk Israel unterdessen abtrünnig geworden war laufe. Freud unterstellt Michelangelo also, daß er den
und um das Goldene Kalb tanzte. Auf dieses ihn em- Bibeltext absichtlich emendiert und den dort be-
pörende Bild sei der Blick des Michelangelo-Moses schriebenen jähzornigen Charakter des Moses um-
mit seiner Mischung aus Zorn, Schmerz und Verach- definiert habe: »Damit hat er etwas Neues, Über-
tung in einem letzten Moment der Ruhe vor dem menschliches in die Figur des Moses gelegt, und die
Sturm gerichtet, nämlich ehe er aufspringen und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Musku-
Tafeln am Boden zerschmettern werde. latur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucks-
In seinem eigenen Versuch, die Darstellungsabsicht mittel für die höchste psychische Leistung, die einem
Michelangelos zu erraten, zentriert Freud sein Au- Menschen möglich ist, für das Niederringen der eige-
genmerk vorwiegend auf Brustbereich, Bartverlauf nen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage ei-
sowie rechten Arm samt rechter Hand und entwik- ner Bestimmung, der man sich geweiht hat« (ebd.,
kelt die Hypothese einer Bewegung, die vor der mar- 198).
mornen Stillstellung durch Michelangelo abgelaufen Zeitlebens hielt Freud an dieser Deutung fest, ob-
sei. Er ließ sich diese Bewegung von einem Künstler gleich er seine Zweifel an deren Stimmigkeit nie ganz
zeichnen und veröffentlichte die Skizzen mit dem Es- beschwichtigen konnte; er nannte die Arbeit nicht
say (ebd., 191 f.): Ursprünglich habe dieser Moses ru- zufällig ein »Wagstück« (F/Fer I/2, 285). Als er später
hig dagesessen und die aufrechtstehenden Gesetzes- auf eine aus dem 12. Jh. stammende Moses-Statuette
tafeln sicher unter dem Arm gehalten. Dann sei das des Nicolas von Verdun aufmerksam gemacht wurde,
Geräusch des dem Götzendienst huldigenden Volkes die ihm seine Deutung zu bestätigen schien, verfaßte
an sein Ohr gedrungen, er habe den Kopf nach links er den 1927 veröffentlichten kurzen Nachtrag zur Ar-
in die Richtung gedreht, aus der es kam, und die beit über den Moses des Michelangelo (GW XIV,
Szene sofort begriffen. Jäh sei er in Zorn geraten und 319–322).
habe sich zum Aufspringen bereitgemacht. Die rechte Tatsächlich ist Freuds Deutung unzutreffend. Dies
Hand habe ihren Griff an den Tafeln aufgegeben und wurde in mehreren Stufen nachgewiesen (implizit
sei nach oben links in den Bart gefahren. Dadurch bereits von Reik 1919, explizit von Rosenfeld 1951;
Der Moses des Michelangelo 213

vgl. auch Grubrich-Simitis 2004). Ungeachtet der nahm er sie im Kontext der Gesammelten Schriften
Tatsache, daß er sich hinsichtlich seiner Methode unter seinen Namen. Das Hauptmotiv für die An-
ausdrücklich auf Giovanni Morelli berief, der mit onymisierung dürfte vielmehr die Tatsache gewesen
dem von ihm eingeführten morphologischen Verfah- sein, daß es sich um einen verdeckt autobiographi-
ren vergleichender Gemäldebetrachtung das Augen- schen Text handelt. In der sich selbst zügelnden Ge-
merk gerade auf scheinbar untergeordnete Details stalt, die Michelangelo in Opposition zum Bibelwort-
gelenkt hatte, schenkte Freud, wie übrigens auch die laut vermeintlich vor uns hingestellt hat, erschuf
von ihm zitierten Autoren, einem eigentlich unüber- Freud sich in Wahrheit seine zentrale Identifikations-
sehbaren Charakteristikum, nämlich den Hörnern figur, ein haltgebendes, konkretes Ichideal von Af-
auf dem Haupt des Moses, keine Beachtung. Hätte er fektbeherrschung und höchster Sublimierungslei-
dies getan, hätte er den dargestellten Augenblick stung, dem er in seinem 1912/13 vom Konflikt und
nicht der ersten Herabkunft vom Sinai, kurz vor Zer- schließlichen Bruch mit C. G. Jung ausgelösten Zorn
schmetterung der ersten Gesetzestafeln, also Exodus nacheifern konnte, im Dienste der Bewahrung seines
32, zuordnen und damit Michelangelo auch nicht Lebenswerks. Für die Entstehung psychoanalytischer
unterstellen können, er zeige einen Moses, der im Kernkonzepte ist von Interesse, daß fast zeitgleich
Gegensatz zum Bibeltext, im Dienste der Bewahrung mit dem Michelangelo-Essay die bahnbrechende
der Gesetzestafeln, seinen zerstörerischen Affektaus- theoretische Schrift Zur Einführung des Narzißmus
bruch zu beherrschen weiß. Denn diese Hörner ord- (GW X, 138–170) entstand, mit der Freud die psy-
nen die Skulptur eindeutig der in Exodus 34 be- chotische Dimension der inneren Welt systematisch
schriebenen späteren Herabkunft vom Sinai zu, mit zu untersuchen begann und den Begriff des ›Ich-
den zweiten Gesetzestafeln, nachdem die ersten zer- ideals‹ einführte, auf dem Wege zum späteren Begriff
schmettert worden waren: erst bei dieser späteren des ›Überichs‹.
Herabkunft hatte Moses’ Antlitz infolge seines dies- Die Beschäftigung mit Moses als dem Repräsen-
mal besonders langen Verweilens in Gottes Gegen- tanten eines »Fortschritts in der Geistigkeit« hat
wart gestrahlt, was das Volk Israel sich vor ihm fürch- Freud in seinem religionspsychologischen Alterswerk
ten ließ und weswegen er sich mit einem Tuch ver- Der Mann Moses und die monotheistische Religion
hüllte; Michelangelo drapierte ein solches – von (GW XVI, 103–246) fortgeführt. Die heute so leiden-
Freud gleichfalls ausgeblendetes – Tuch über das schaftliche Diskussion dieses jahrzehntelang kaum
rechte Knie seiner Statue. Das Hörnerdetail, das beachteten Buchs könnte als Zeichen dafür verstan-
auch andere Moses-Darstellungen kennzeichnet, wird den werden, daß in der gegenwärtigen Phase einer
heute auf die Doppelbedeutung des hebräischen beklemmenden kulturellen Regression Freuds Identi-
Wortes »karan« (strahlen/gehörnt sein) zurückge- fikationsfigur und Sublimierungsideal generell an At-
führt, kann aber auch als Metonymie aufgefaßt wer- traktion gewinnt.
den. Die Sekundärliteratur zu Der Moses des Michelan-
Innerhalb des Œuvres nimmt der Michelangelo- gelo ist umfangreich (zuletzt Spero 2001; Grubrich-
Essay eine Sonderstellung ein. Es handelt sich nicht Simitis 2004; für einen Überblick vgl. Goldsmith
um eine psychoanalytische, sondern eher um eine 1992). Obgleich Freuds Deutung heute allgemein als
kunstkritische Abhandlung. Im Unterschied zu der unzutreffend gilt, erfreut sich der Essay vor allem un-
vier Jahre zuvor publizierten Leonardo-Studie (GW ter Kunsthistorikern unverminderter Wertschätzung
VIII, 128–211), mit der Freud sein psychopathogra- (vgl. zuletzt Verspohl 2004), vor allem wegen der
phisches Urmodell für die genuin psychoanalytische, meisterhaften Beschreibung der Statue, der unüber-
also unbewußte Konfliktdynamik sowie Kindheits- troffenen Umsetzung des simultanen visuellen Sin-
schicksale, Sexualentwicklung und Traumawirkung neseindrucks in das Nacheinander des linearen
ins Zentrum rückende Untersuchung von Kunstwerk Sprachtexts durch den großen Schriftsteller Freud.
und Künstler inaugurierte, geht es ihm hier gleich-
sam wie einem Kunsthistoriker um die Entschlüsse-
lung der bewußten Darstellungsabsicht Michelange- Literatur
los, also nicht um Aufdeckung unbewußter Bedeu- Goldsmith, Gary N.: Freud’s Aesthetic Response to Michel-
tungen, wofür er sich doch eigentlich zuständig angelo’s Moses. In: The Annual of Psychoanalysis 20 (1992),
fühlte. Sein ihn beschämender Dilettantismus war 245–269.
Grubrich-Simitis, Ilse: Michelangelos Moses und Freuds »Wag-
aber nicht der einzige Grund, weshalb er die Studie, stück«. Eine Collage. Frankfurt a. M. 2004.
für ihn höchst ungewöhnlich, zunächst anonym in Reik, Theodor: Probleme der Religionspsychologie. I. Teil: Das
der Zeitschrift Imago erscheinen ließ – erst 1924 Ritual. Leipzig/Wien 1919.
214 Werke und Werkgruppen – Literatur und Kunst

Rosenfeld, Eva M.: The Pan-Headed Moses – A Parallel. In: Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Papst
The International Journal of Psycho-Analysis 32 (1951), Julius II. Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. Göt-
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359–462.
215

11. Autobiographische Schriften

Autobiographisches ist in vielen Freud-Schriften ent- angegangenen Konflikt mit Adler hatte er deutlich
halten, obwohl nur wenige sich explizit autobiogra- gemacht, daß er niemand in seiner Schule dulden
phisch geben (Grubrich-Simitis 1971/1973). Die wollte, der nicht bestimmte Kernpunkte seiner Lehre
wichtigsten sind die Geschichte der psychoanalyti- akzeptierte; es war daraufhin zur Trennung gekom-
schen Bewegung von 1914 und die »Selbstdarstellung« men. Und nun wiederholte sich die Geschichte. Dies-
von 1925; dazu kommen kurze Texte wie Zur Psycho- mal aber wog das Problem schwerer, denn Jung be-
logie des Gymnasiasten (1914) oder die Ansprache an setzte, als Präsident der IPV und als Redakteur des
den jüdischen Verein B’nai B’rith (1926) (vgl. außer- Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologi-
dem Meyer-Palmedo/Fichtner 1989/1999, 179). Aber sche Forschungen, die zentralen Machtpositionen der
die tiefsten Einblicke in sein persönliches Leben ge- psychoanalytischen Bewegung, ganz zu schweigen
währte Freud (abgesehen von seinen Briefen) gar von seinem sonstigen Renommee. Eine Trennung
nicht in diesen, sondern in Arbeiten allgemein-psy- von ihm brachte die Gefahr mit sich, daß er sowohl
chologischer Natur, wo ihm seine Selbstbeobachtung den Verein, einschließlich der neutralen Mitglieder,
entscheidende Belege lieferte. Das gilt insbesondere als auch die wichtigste psychoanalytische Zeitschrift
für die Traumdeutung (1900) und die Psychopatho- mitnehmen würde. Deshalb arbeitete Freuds inner
logie des Alltagslebens (1901); auch Aufsätze wie Über circle, das »Komitee«, gleichermaßen darauf hin,
Deckerinnerungen (1899) oder Eine Erinnerungsstö- Jung zu entmachten und jener Gefahr vorzubeugen.
rung auf der Akropolis (1936) kreisen um eigene Er- Ende Oktober 1913 gab Jung die Redaktion des
lebnisse. Ein zweiter Schwerpunkt des autobiogra- Jahrbuchs ab. Wenig später beschloß Freud, eine Ge-
phischen Schreibens bei Freud sind paradoxerweise schichte der psychoanalytischen Bewegung zu schrei-
Gesamtdarstellungen seiner Lehre wie die fünf Vor- ben (zeitweiliger Titel »Beiträge zur Geschichte
lesungen Über Psychoanalyse (1910) oder der Kurze [etc.]«: F/A, 161). Der Plan taucht erstmals in einem
Abriß der Psychoanalyse (1924). Statt einer abstrakten Brief vom 3. 1. 1914 auf (F/Fer I/2, 272), wird aber
Systematik bot er in solchen Fällen vielfach eine hi- schon ein bis zwei Monate länger bestanden haben.
storische Beschreibung, getreu dem Motto: »Man Ein äußerlicher Zweck der Schrift (wie auch der
versteht die Psychoanalyse immer noch am besten, theoretischen Schwesterschrift Zur Einführung des
wenn man ihre Entstehung und Entwicklung ver- Narzißmus) war gewiß, die Seiten des Jahrbuchs, das
folgt« (GW XIII, 211). Als echte Autobiographie hat bisher überwiegend mit Züricher Beiträgen versorgt
Freud keine seiner Publikationen verstanden; als er worden war, zu füllen. Substantiell wollte Freud Auf-
1929 aufgefordert wurde, eine solche abzufassen, schluß über die Hintergründe des Redaktionswech-
lehnte er mit den Worten ab: »Was alle Autobiogra- sels geben, das Proprium der Psychoanalyse aufzei-
phien wertlos macht, ist ja ihre Verlogenheit« (B, gen und eine Abgrenzung gegen vormalige Anhänger,
408). die davon abwichen, vollziehen bzw. als gerechtfertigt
erweisen (GW X, 44). Am 15. Februar war der Text
fertig (F/Fer I/2, 285). Er hieß komitee-intern die
Zur Geschichte der psycho-
»Bombe« und sollte helfen, die Trennung von Jung
analytischen Bewegung
und seinen Anhängern möglichst noch vor dem
Freuds erste autobiographische Schrift im engeren nächsten Kongreß (der dann wegen des Kriegs aus-
Sinn entsprang einem kriegerischen Impuls (Schrö- fiel) herbeizuführen. Bevor er erschienen war, dankte
ter 1995). Seit dem Jahreswechsel 1912/13 war seine Jung im April, provoziert durch eine Serie kritischer
Beziehung zu C. G. Jung aufgrund persönlicher und Rezensionen in der Internationalen Zeitschrift für
sachlicher Differenzen zerrüttet. Schon bei dem vor- Psychoanalyse, auch als IPV-Präsident ab. Freud for-
216 Werke und Werkgruppen

cierte daraufhin eine separate Produktion seiner Ge- Sublimität von Ethik und Religion zu retten. Mit sei-
schichte und konnte die Sonderdrucke Ende Juni, ei- ner Kritik will er nicht den »etwaigen Wahrheitsge-
nen Monat vor Fertigstellung des Jahrbuchs, verschik- halt der zurückzuweisenden Lehren« bestreiten, son-
ken. Das Manöver hatte den gewünschten Erfolg. Am dern lediglich demonstrieren, daß sie »die Grund-
25. Juli traf die offizielle Nachricht vom Austritt der sätze der Analyse verleugnen« und darum nicht unter
»Züricher« ein, gleichzeitig mit der Kriegserklärung demselben Namen firmieren sollten (93). Daß ihre
Österreich-Ungarns gegen Serbien, die den Ersten Vertreter dann auch keinen Platz mehr in der psy-
Weltkrieg einleitete (F/A, 180). choanalytischen Vereinigung haben könnten, ist eine
Der mit wütender Verve geschriebene Text gliedert stillschweigende Konsequenz. Einige bissige Äuße-
sich in drei Teile. Im ersten schildert Freud die Ent- rungen ad personam – »kleinliche Bosheiten« in Ar-
wicklung der Psychoanalyse bis 1902/06, ausgehend beiten Adlers, »Unaufrichtigkeit« in der Haltung
vom kathartischen Verfahren Breuers und von der Jungs (95, 105) – ergänzen den Aspekt der sachlichen
hypnotischen Suggestion. Er entfaltet dabei insbe- Unvereinbarkeit durch den der persönlichen Unver-
sondere drei Aspekte, die er als Essentials der Psycho- träglichkeit.
analyse hinstellt (GW X, 53): »Die Lehre von der Ver- Ein Grundzug der ganzen Darstellung ist, daß sie
drängung und vom Widerstand, die Einsetzung der die wissenschaftliche Landschaft mit scharfen Stri-
infantilen Sexualität und die Deutung und Verwer- chen in Freund und Feind aufteilt. Im Blick auf seine
tung der Träume zur Erkenntnis des Unbewußten«. früheren Jahre beschreibt sich Freud nicht nur als
Die abweisende Reaktion der Fachkollegen auf seine einsam, sondern auch als umgeben von Unverständ-
Ansichten zur Rolle der Sexualität in der Ätiologie nis und Mißachtung. Später habe die Fachwelt zwar
der Neurosen habe ihn veranlaßt, sich in eine »splen- immer mehr Notiz von ihm genommen, aber, abge-
did isolation« zurückzuziehen. Das Ziel dieser Ur- sehen von der kleinen Schar seiner Anhänger, seine
sprungserzählung ist der Nachweis, daß die Psycho- Lehren zumeist abgelehnt. Je stärker die Einsprüche
analyse ganz und gar Freuds »Schöpfung« sei, mit der und Anfeindungen, desto mehr habe er daran fest-
Implikation, daß er deshalb auch das Recht habe, gehalten, daß er »besonders bedeutungsvolle Zusam-
ihre Grenzen zu definieren. – Der zweite Teil behan- menhänge« entdeckt hatte (60). Dies war das Tem-
delt die Anfänge der psychoanalytischen Gruppen- perament des »Konquistadors«, das er sich gelegent-
bildung, beginnend mit der »Mittwoch-Gesellschaft« lich zusprach (F, 437), »mit der Neugierde, der
in Wien. Sehr klar wird betont, welchen Durchbruch Kühnheit und der Zähigkeit eines solchen«. Die ne-
es für Freud bedeutete, daß sich der Züricher psych- gativen Reaktionen der Kollegen wie auch den »Ab-
iatrische Lehrstuhl mit dem Ordinarius Eugen Bleu- fall« von Adler und Jung faßte er als Zeichen eines
ler und dem Oberarzt C. G. Jung seiner Lehre zuge- »Widerstands« auf, analog dem Widerstand seiner
wandt hatte. Seitdem habe seine Schule einen großen Patienten gegen die Aufdeckung verpönter Sachver-
Aufschwung erlebt, dessen internationaler Verlauf halte, und damit nicht nur als unvermeidlich, son-
skizziert wird. Zur geographischen Ausweitung sei dern fast schon als eine Bestätigung, daß er recht
eine inhaltliche Erweiterung des Anwendungsbe- hatte (GW X, 62, 92). So schweißte er seine Gruppe
reichs der Psychoanalyse auf alle möglichen Geistes- als Besitzer der »Wahrheit« in einer feindlichen Um-
wissenschaften gekommen. welt zusammen (vgl. F/Fer I/2, 216). Abgrenzung
Der dritte Teil enthält die Polemik, um deretwillen nach außen und Festigung nach innen gingen Hand
der ganze Text geschrieben wurde. Zunächst rechtfer- in Hand.
tigt Freud die Gründung der IPV und die Wahl von
Jung zum IPV-Präsidenten. Dann kommt er auf die
»Selbstdarstellung«
beiden »Abfallsbewegungen« unter seinen Anhän-
gern zu sprechen, zuerst auf die von Adler. Die zuvor Der Anlaß für die Entstehung dieser Schrift war we-
benannten Essentials werden jetzt als Maßstab be- nig spektakulär. Der Leipziger Verlag Felix Meiner
nutzt, um zu zeigen, daß Adlers Lehre mit ihrer Beto- hatte 1921 eine Reihe Philosophie der Gegenwart in
nung der Ichpsychologie auf Kosten der libidinösen Selbstdarstellungen eingerichtet, zu der ab 1923 eine
Triebregungen nicht mehr zur Psychoanalyse gerech- analoge Reihe für die Medizin hinzutrat; weitere folg-
net werden könne. Ähnlich wird bei Jung herausge- ten. Im Konzept des Unternehmens lag das Schwer-
arbeitet, daß er auf die Annahmen der Verdrängung, gewicht auf der »Autoergographie«: Die Autoren soll-
der kindlichen Sexualität etc. verzichte. Als Motiv ten eine »authentische« Darstellung ihres Lebens-
unterstellt Freud, daß Jung den Familien- und Ödi- werks geben mit Hinweisen auf das »persönliche Mo-
puskomplex habe entsexualisieren wollen, um die ment« darin (Grote 1923). Von allen Reihen war die
Autobiographische Schriften 217

Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen die um- pitel, das bis ca. 1890 reicht, ist der wertvollste Teil
fangreichste; sie brachte es auf acht Bände. Jeder um- der Schrift, weil mit seiner autobiographischen Aus-
faßte fünf bis acht Beiträge, die nicht nur durchlau- führlichkeit in Freuds Œuvre singulär. Das wird
fend im Band, sondern auch je für sich paginiert wa- durch den Petitsatz verdunkelt, der von der Erstver-
ren, so daß sie sich zugleich für den Einzelverkauf öffentlichung in die Gesamtausgaben übernommen
eigneten. Herausgeber war der Internist Louis R. wurde und dem werkbezogenen Konzept der Meiner-
Grote. Er bat »hervorragende« Mediziner um einen Reihe entsprach. Von dem Punkt an, wo der Groß-
Beitrag; das heißt, die Auswahl war per se Zeichen druck beginnt, verwandelt sich die »Selbstdarstel-
eines gewissen Ruhms. Freud eröffnete den vierten lung« überwiegend in eine Darstellung klinischer,
Band. Er war der Psychiatrie zugeordnet, aus der au- theoretischer und organisatorischer Aspekte der Psy-
ßer ihm Alfred Erich Hoche, der notorische Feind choanalyse und damit tatsächlich in eine Wiederho-
der Psychoanalyse (Bd. 1), Wladimir Bechterew, Au- lung von Dingen, die man auch anderswo nachlesen
gust Forel (Bd. 6) und Konrad Rieger (Bd. 8) ver- kann. Gleichwohl imponiert die Frische, mit der
treten waren (vgl. Grote 1930, wo diese fünf Texte Freud immer wieder, und so auch hier, seine Lehre in
versammelt sind). Im Vergleich zur Geschichte der neue Worte zu gießen verstand. Sie verblaßte in sei-
psychoanalytischen Bewegung ist Freuds »Selbstdar- nem Denken offenbar nicht zur Routine.
stellung« (deren Titel nicht von ihm stammt, sondern Zunächst erzählt er (Kap. 2), wie er dem zudecken-
dem Reihentitel entnommen wurde) viel ruhiger, den Verfahren der hypnotischen Suggestion das auf-
ausgewogener und detailfreudiger. Es handelt sich deckende, kathartische Verfahren Breuers vorzuzie-
um eine Gelehrtenautobiographie nach den Vorga- hen begann, das er einerseits als effektiver, anderer-
ben der Reihe, ohne jede selbstanalytische Deutung. seits als befriedigender empfand, weil es zugleich
Freud schrieb den Beitrag im Sommer 1924 wäh- einen Aufschluß über die Herkunft der Symptome
rend seiner Ferien auf dem Semmering nahe Wien. zu geben versprach, also einem Forschungszweck
Am 16. 7. berichtete er Ferenczi von der Nieder- diente. Dann kommt er auf seine Erfahrung zu spre-
schrift, am 6. 8. war das Manuskript abgeliefert (F/ chen, daß sowohl die Hysterie als auch alle anderen
Fer III/1, 222, 227). Mehrfach äußerte er, daß die Neurosen durch Störungen der Sexualfunktion ver-
»Selbstdarstellung« nur ein Wiederaufguß von Frü- ursacht seien. In seinem Bericht über den Schritt von
herem sei, daß er sie »ohne inneren Drang nur auf der kathartischen zur eigentlich psychoanalytischen
das Drängen des Herausgebers« verfaßt habe (F/G, Therapie, die ganz auf die Hypnose verzichtete, ist
78). Er wollte den Text zur Beziehungspflege nutzen die Episode, wie er mit der Übertragungsliebe einer
und ließ sich deshalb sein Honorar in Sonderdrucken Patientin zusammenstieß, besonders eindrucksvoll.
auszahlen. Sie trafen im Februar 1925 ein (C, 569), Die folgende Abhandlung (Kap. 3) über Widerstand,
reichten aber nicht, so daß er eine Nachlieferung be- Verdrängung und das Unbewußte bewegt sich voll-
stellte, die er im Juni verteilte (C, dt. 37). Für eine ends in bekannten Geleisen. In der Zusammenfas-
amerikanische Neuauflage, die 1935 erschien, ver- sung seiner Sexualtheorie betont Freud seinen erwei-
faßte er eine aktualisierende Nachschrift und fügte terten Begriff der Sexualität. Kapitel 4 beschreibt die
dem ursprünglichen Text einige Ergänzungen und Eigenart der psychoanalytischen Technik: die freie
Fußnoten hinzu (Freud 1973/1971, 37 f.). Assoziation mit der »Grundregel«, die analytische
Die »Selbstdarstellung« bietet, so Freud, gegenüber Deutungskunst und die Handhabung der Übertra-
früheren Texten »ein neues Mengungsverhältnis zwi- gung. Angefügt ist ein Abriß der Traumlehre, den
schen subjektiver und objektiver Darstellung, zwi- Freud mit dem oft wiederholten Hinweis beschließt,
schen biographischem und historischem Interesse« daß sie gezeigt habe, daß die Psychoanalyse nicht
(GW XIV, 34). Das heißt zunächst, daß er diesmal eine »Hilfswissenschaft der Psychopathologie« sei,
freigebiger ist mit persönlichen Mitteilungen: in be- sondern vielmehr »der Ansatz zu einer neuen und
zug auf seine Familie und sein Judentum, seine Lauf- gründlicheren Seelenkunde, die auch für das Ver-
bahn in Schule und Universität. Er schildert, wie und ständnis des Normalen unentbehrlich wird« (GW
warum er sich auf die Nervenkrankheiten speziali- XIV, 73).
sierte, erzählt von seinen Erfahrungen mit Charcot Kapitel 5 wendet sich den äußeren Schicksalen der
und dem großen Mann des Hypnotismus, Bernheim. Psychoanalyse zu: dem Wachstum der psychoanalyti-
Aus der weiteren Erzählung geht hervor, daß die Psy- schen Bewegung, dem teilweise bösartigen Wider-
choanalyse ein spezifisches Produkt der nervenärzt- stand der Fachwelt vor allem in Deutschland, der in-
lichen Praxis war, weil Freud eine wirksame Methode ternationalen Ausbreitung, den ersten »Abfallsbe-
für ambulante Behandlungen suchte. – Das erste Ka- wegungen«. Im Kontext der letzteren verteidigt sich
218 Werke und Werkgruppen

Freud gegen den Vorwurf der »Intoleranz«. Der Erste Mit dieser affektiv betonten Sicht der Dinge identifi-
Weltkrieg habe der Psychoanalyse die Genugtuung ziert sich seitdem jede Analytikergeneration, die
gebracht, daß einige ihrer Annahmen zur Psychoge- Freuds Werke liest, aufs Neue. Sie hat das historische
nese neurotischer Störungen im Blick auf die Kriegs- Selbstbild und dann auch die Geschichtsschreibung
neurotiker populär wurden. Anschließend werden der Freud-Schule über viele Jahrzehnte geprägt; siehe
der Plan einer Zentrale der Psychoanalyse in Buda- etwa die Freud-Biographie von Ernest Jones. Speziell
pest und der Aufbau der Berliner psychoanalytischen was die »Abfallsbewegungen« betrifft, blieb Freuds
Poliklinik erwähnt. Aus der theoretischen Entwick- Geschichte der psychoanalytischen Bewegung prägend,
lung seines Werks nach 1906/1907 hebt Freud als weil weder Adler noch Jung mit einer Gegendarstel-
seine eigenen Beiträge hervor: die Konzeption des lung reagierten; der einzige, der das tat, war Wilhelm
Narzißmus, die Spekulationen zum Triebdualismus Stekel (1926).
von Eros und Todestrieb, die metapsychologischen Ein Paradigmenwechsel wurde durch das Werk
Formulierungen zu Es, Ich und Über-Ich, die Bemü- von Henry Ellenberger über Die Entdeckung des Un-
hungen um das analytische Verständnis der Psycho- bewußten (1970/1973) herbeigeführt. Es war Ellen-
sen. Unter den jüngeren deutschen Psychiatern kon- bergers große Leistung, daß er die Geschichte der
statiert er »eine Art von pénétration pacifique mit Psychoanalyse aus der Isolation, in der Freud (und
analytischen Gesichtspunkten« (87). Das 6. Kapitel Jones) sie dargestellt hatten, in ihren historischen
erörtert die Anwendungen der Psychoanalyse auf Li- Kontext zurückholte, daß er Vorläufer benannte und
teratur und Kunstwissenschaft, Religionsgeschichte auf einer breiten Materialbasis den intellektuellen
und Prähistorie, auf Mythologie, Volkskunde, Päd- Raum beschrieb, in dem die Psychoanalyse entstand.
agogik usw., soweit Freud selbst daran beteiligt war. Der Eindruck einer fast autochthonen Arbeit, den
Totem und Tabu wird besonders breit behandelt; zur Freud erweckt hatte, und seine Schwarz-Weiß-Zeich-
Mythologie, Symbolik und Pädagogik habe er nur nung von analytischen Wahrheitssuchern und einer
wenig beigetragen. verblendeten Umwelt wurden durch Ellenberger
In der Nachschrift von 1935 bemerkt Freud, daß gründlich zerstört. An vielen Punkten konfrontierte
sein Interesse in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, er Freuds eigene Erzählung mit anderen Quellen und
nach einem »lebenslangen Umweg über die Natur- stellte sie damit in Frage. Etwas später legte Sulloway
wissenschaften, Medizin und Psychotherapie«, zu eine veritable Liste von »Freud-Mythen« vor (1979/
den kulturellen Problemstellungen seiner Jugend zu- 1982, 664–672), die zumeist auf Freuds autobiogra-
rückgekehrt sei. Seine betreffenden Schriften, die Zu- phische Schriften zurückgingen und die er zu destru-
kunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur, ieren suchte. Die neuere Jung-Forschung verwahrt
hätten viel Anklang gefunden und bei ihm die – bald sich dagegen, daß Jung als »Abtrünniger« gezeichnet
widerlegte – Illusion gestiftet, »daß man zu den Au- wird statt als ein eigenständiger Denker, dessen Alli-
toren gehört, denen eine große Nation wie die deut- anz mit Freud eine Episode in seiner eigenen Kon-
sche bereit ist, Gehör zu schenken«. Aber sie seien tinuität war (Shamdasani 2003). Infolge der geballten
keine wesentlichen Beiträge zur Psychoanalyse mehr Kritik dieser und anderer Autoren steht der Autobio-
gewesen und hätten »schadlos wegbleiben können« graph Freud heute fast unter einem Generalver-
(GW XVI, 32 f.). Ein abschließender Absatz konsta- dacht.
tiert das Gedeihen der IPV, als Gewähr für den Fort- Nun gibt es in der Tat Angaben Freuds, bei denen
bestand seines Werks. Mißtrauen angebracht ist: Die erste Patientin Breuers
wurde durch die kathartische Methode gewiß nicht
geheilt, und am Widerstand seiner Kollegen, auf den
Nachwirkung
er ab 1894 stieß, war Freud zum Teil selbst schuld,
In seinen autobiographischen Schriften hat Freud die weil er im Brustton der Überzeugung weitreichende,
Entstehung und Entwicklung seiner Lehre als Ge- schlecht belegte Generalisierungen vortrug. Anderes
schichte eines heroischen Kampfs konstruiert, den er dagegen ist zu Unrecht in Zweifel gezogen worden,
zuerst allein, dann mit Hilfe einer wachsenden Schar z. B. seine Aussage, daß er ab 1896 zehn Jahre lang in
von Getreuen gegen eine bornierte bis feindliche einer »splendid isolation« verharrte oder daß die
Umwelt führte. In konsequenter empirischer Arbeit Traumdeutung in der psychiatrisch-neurologischen
und im festen Vertrauen auf die Richtigkeit der erho- Fachpresse kaum besprochen wurde und wenn, dann
benen Befunde seien die Erkenntnisse der Psycho- im Grunde ablehnend. So hat die Freud-kritische Hi-
analyse auf- und ausgebaut worden, bis sie bei einer storiographie manches korrigiert, ist aber weit übers
größeren Zahl von Menschen Anerkennung fanden. Ziel hinausgeschossen (Köhler 1989). Im allgemei-
Autobiographische Schriften 219

nen sind Freuds autobiographische Schriften, wenn Grote, L. R.: Vorwort des Herausgebers. In: Die Medizin der
Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 1. Leipzig 1923, III–
man ihnen mit Fairness begegnet, erstaunlich zuver- XI.
lässig – allerdings auch kompromißlos selbstbezogen. – (Hg.): Führende Psychiater in Selbstdarstellungen. Leipzig
Gewiß treiben sie Geschichtspolitik im Interesse der 1930.
Gruppenbildung. Und sie bezeugen eine Neigung, Grubrich-Simitis, Ilse: Sigmund Freuds Lebensgeschichte und
die Anfänge der Psychoanalyse. In: Freud 1971/1973, 7–33.
sich aus der breiteren wissenschaftlichen Diskussion Köhler, Thomas: Abwege der Psychoanalyse-Kritik. Zur Unwis-
auszuklinken, Widersprüche von außen a limine ab- senschaftlichkeit der Anti-Freud-Literatur. Frankfurt a. M.
zuweisen und interne Meinungsverschiedenheiten 1989.
durch Ausschluß zu erledigen, die einerseits zur Pro- Meyer-Palmedo, Ingeborg/Gerhard Fichtner: Freud-Bibliogra-
phie mit Werkkonkordanz [1989]. Frankfurt a. M. 21999.
filierung der Freud-Schule beigetragen, andererseits Schröter, Michael: Freuds Komitee 1912–1914. Ein Beitrag
eine Selbstisolierung begünstigt hat, die bis heute zum Verständnis psychoanalytischer Gruppenbildung. In:
nachwirkt. Psyche 49 (1995), 513–563.
Shamdasani, Sonu: Jung and the Making of Modern Psychology:
The Dream of a Science. Cambridge/New York 2003.
Literatur Stekel, Wilhelm: Zur Geschichte der analytischen Bewegung.
Ellenberger, Henry S.: Die Entdeckung des Unbewußten. 2 Bde.
In: Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychoanalyse 2
Bern/Stuttgart/Wien 1973 (engl. 1970).
(1926), 539–575.
Freud, Sigmund: »Selbstdarstellung«. Schriften zur Geschichte
Sulloway, Frank J.: Freud – Biologe der Seele. Jenseits der psycho-
der Psychoanalyse. Hg. von Ilse Grubrich-Simitis [1971].
analytischen Legende. Köln-Lövenich 1982 (engl. 1979).
Frankfurt a. M. 21973.
Michael Schröter
220

12. Briefe

Freud hatte ein starkes Bedürfnis zu schreiben. So tel geboten, die sich noch nicht bei Meyer-Palmedo/
entstanden die vielen tausend Seiten seiner wissen- Fichtner finden. Dort sind auch genauere Daten zur
schaftlichen Werke; so entstanden Arbeitsnotizen Entstehungszeit genannt, die für bisher ungedrucktes
und andere Aufzeichnungen; und so entstand eine Material in den allermeisten Fällen durch die Web-
riesige Menge von Briefen. Ihre Zahl ist auf ca. 20.000 seite der Library of Congress ergänzt werden.
geschätzt worden, von denen mindestens die Hälfte
erhalten sei (Fichtner 1989, 810). Damit wäre Freuds
Familienbriefe
Brief-Œuvre umfangreicher als sein wissenschaftli-
ches Werk. Einen Querschnitt, der Freuds Kunst als 1882 verlobte sich Freud mit Martha Bernays, die ein
Briefschreiber at its best zeigt, bietet die Auswahlaus- Jahr später in ihre Heimat, nach Wandsbek bei Ham-
gabe Briefe 1873–1939 (B). Eine umfassende Diskus- burg, zurückkehrte. Die Zeit der Trennung bis zur
sion, auf weit überholter Materialbasis, findet sich Hochzeit 1886 überbrückte das Brautpaar durch
bei Grotjahn (1976). Über einzelne Korrespondenzen Briefe. Ca. 750 Stücke von Freud sind erhalten, ca.
informieren die Einleitungen oder Nachworte der je- 800 von Martha. Eine Auswahl der ersteren erschien
weiligen Editionen (F, S, F/B, C, F/Fer, F/E). Fichtner in den Briefen 1873–1939; eine vollständige Ausgabe
(1989) hat den Briefschreiber Freud sorgfältig gewür- wird gegenwärtig vorbereitet. Sie wird einen großen
digt; siehe außerdem de Mijolla (1989/1997). Liebes-Briefwechsel präsentieren, wie er nur in einer
Sämtliche Briefe Freuds, die bis 1998 veröffentlicht Epoche strenger Sexualnormen, wenig entwickelter
waren, sind in der Freud-Bibliographie von Meyer- Verkehrsnetze und ohne Telefon entstehen konnte.
Palmedo/Fichtner (1989/1999) angeführt und durch Sie wird die Jahre, in denen sich Freud nach dem
einen »Index der Briefempfänger« erschlossen, der Studium auf die Niederlassung als Nervenarzt vorbe-
387 Eintragungen enthält. Im Katalog der größten reitete, vollends zur bestbekannten Zeit seines Lebens
archivalischen Sammlung von Freud-Briefen (Li- machen. Und sie wird nicht zuletzt Marthas Anteil
brary of Congress, Washington) sind unter »Family und Persönlichkeit zu ganz neuem Recht kommen
Papers/Correspondence with Sigmund Freud« ca. 40, lassen.
unter »General Correspondence« knapp 600 Namen Schon aus der bisher veröffentlichten Auswahl geht
verzeichnet. Immer wieder tauchen, z. B. bei Auktio- hervor, daß Freud seiner Verlobten nicht nur beruf-
nen, neue Freud-Briefe auf. Vor allem aber nimmt liche und private Begebenheiten bis ins Kleinste mit-
die Zahl der gedruckten Briefe laufend zu. teilte, sondern ihr auch tiefen Einblick in seine Ge-
Wenn man den ganzen Bestand zu ordnen ver- danken und Gefühle gab. Wir lesen von seinen Ange-
sucht, treten als erste Gruppe die Familienbriefe her- hörigen, seinen Lehrern und Freunden, von seinen
vor, darunter die Braut- oder Verlobungsbriefe. Den wissenschaftlichen Arbeiten, unter denen die phar-
markantesten Komplex bilden dann die klassischen makologischen Untersuchungen über das Kokain
Freundes- und Schülerbriefwechsel. Im verbleiben- (das er auch selber nahm) herausragen, von seiner
den Rest gibt es viele interessante kleinere Konvolute Studienreise nach Paris mit dem überwältigenden Er-
und Einzelbriefe. Die folgende Darstellung konzen- lebnis Charcots, von seinen Geldnöten. In berühmt
triert sich auf veröffentlichtes Material. Offene, zur gewordenen Passagen offenbart er seine konservative
Publikation bestimmte Briefe – das bedeutendste Sicht der Rollenverteilung von Mann und Frau (B,
Beispiel ist Freuds Beitrag zum Briefwechsel mit Al- 81–83), der Habitus-Differenzen zwischen Mittel-
bert Einstein über die Frage Warum Krieg? (1932) – und Unterschichten (»Das Gesindel lebt sich aus und
werden vernachlässigt (bzw. in Kap. II.9.6 abgehan- wir entbehren«, B, 56) oder berichtet von der Ver-
delt). Bibliographische Nachweise werden nur für Ti- nichtung seiner Papiere, um es künftigen Biographen
Briefe 221

schwer zu machen (B, 144 f.). Wie nie mehr sonst einer »rein weiblichen Tätigkeit« zufrieden geben
gibt er sich gegenüber der Braut als ein leidenschaftli- werde. Gut dokumentiert ist Annas Übergang vom
cher Mensch zu erkennen: eifersüchtig und ehrgeizig, Lehrerberuf zur Übersetzertätigkeit 1915 bis 1920.
selbstbewußt, hoch impressionabel, gepeinigt von Besonders interessant, wie sie sich mit Unterstützung
der sexuellen Entbehrung. Und lange vor der Erfin- ihres Vaters der Kinder ihrer verstorbenen Schwester
dung der Psychoanalyse beeindruckt er bereits als Sophie annimmt, im Vorgriff auf ihre kinderanalyti-
scharfer Selbst- und Menschenbeobachter. sche Praxis. Und bezaubernd, gerade in den früheren
Nach der Heirat hat Freud vor allem auf Ferien- Briefen, ihr hellwacher Mädchen-Charme. Ab 1923
reisen, die er ohne seine Frau zu unternehmen freilich reduziert sich die Korrespondenz auf eine Ab-
pflegte, an Martha geschrieben; ein anderes um- folge von Telegrammen oder Berichten im Tele-
grenztes Konvolut sind die Briefe von seinen Berlin- grammstil.
Aufenthalten zur Anfertigung und Anpassung einer Größere Konvolute sind auch von Freuds Korre-
Kieferprothese 1928 bis 1930. Unter den Reisebriefen spondenzen mit seinen anderen Kindern, einschließ-
(Freud 2002) gibt es Juwelen behaglicher Beschrei- lich der Schwiegertöchter und -söhne, erhalten; nur
bungskunst, z. B. über eine Carmen-Aufführung 1907 Oliver hat das Gros der Briefe seines Vaters in den
in Rom (ebd., 228–233). Die meisten der späteren Wirren der Emigration verloren. Naturgemäß wurde
Briefe jedoch sind in einem schmucklosen Berichts- an die Kinder, die nicht in Wien lebten (an Ernst in
stil gehalten und dienen vor allem dem Zweck – oder Berlin und Sophie/Max Halberstadt in Hamburg),
vielmehr: dem Bedürfnis Freuds, die Symbiose des mehr geschrieben als an die anderen. Die Kinder-
familiären Alltags aufrechtzuerhalten. Aus dem »sü- Briefe imponieren, wie die Familienbriefe generell,
ßen Schatz« der Brautbriefe ist die »geliebte Alte« ge- als Äußerungen eines Patriarchen, der seine ausge-
worden. Vielfach aber tragen diese Schreiben auch dehnte Familie zusammen- und in Ordnung hält; es
die Anrede »Meine Lieben«, sind also gar nicht mehr geht darin immer wieder um Geld, Gesundheit, Fe-
an die Ehefrau als Individuum gerichtet, sondern – rienplanungen und -erlebnisse. Aus ihren Beständen
zum Vorlesen oder Weitergeben bestimmt – an die sind bisher nur vereinzelte Stücke veröffentlicht, so
Familie als Kollektiv. jener Trostbrief von 1908 an Mathilde, die sich
Zu dieser Familie gehörte auch Minna Bernays, die sorgte, »nicht schön genug zu sein und darum kei-
ab 1896, unverheiratet, im Haushalt ihrer Schwester nem Mann zu gefallen« (B, 287).
lebte. Fast die Hälfte der Briefe, die Freud an sie ge- Was Freuds Geschwister betrifft, so gibt es erwäh-
richtet hat (Freud/Bernays 2005), stammt aus seiner nenswerte Korrespondenzen mit den Schwestern
Verlobungszeit. Danach erzählte er der Schwägerin Rosa und Maria sowie mit dem Bruder Alexander.
u. a. von der Geburt seiner Kinder, von Alpenwande- Komplett veröffentlicht sind bisher nur die erhalte-
rungen und von seiner Reise nach Berlin 1893 zu nen Briefe an Maria und ihre Kinder (Freud 2004).
Wilhelm Fließ. Minna erweist sich in ihren Briefen Auf englisch korrespondierte Freud über Familiener-
als zupackend-kluge, scharfzüngige Frau, bei der es eignisse mit Sam Freud, einem Sohn seines nach
nicht überrascht, daß sie viel mehr als Martha zur Manchester emigrierten Halbbruders Emanuel. Sein
Teilhaberin von Freuds wissenschaftlichen Interessen New Yorker Neffe Edward Bernays fungierte in den
wurde. Am Ende steht eine Briefserie von Mai bis 1920er Jahren eine Zeitlang als amerikanischer Agent
Juni 1938, in der Freud vom quälenden Warten auf seines Onkels und hat eine Auswahl von dessen dies-
die Emigration berichtet. Das Verhältnis zwischen bezüglichen Briefen in seiner Autobiographie doku-
der »lieben Minna« und dem »geliebten Sigi« oder mentiert.
»lieben Alten« war offenbar geprägt von geschwister-
licher Intimität.
Briefe an Freunde und Schüler:
Von Freuds Briefwechseln mit seinen Kindern ist
Die großen Konvolute
der mit der jüngsten Tochter Anna, die seine Kron-
prinzessin, Vertraute und Pflegerin wurde, der ge- Die großen Freundes- und Schülerkorrespondenzen
wichtigste (Freud/A. Freud i. V.). Man sieht darin, Freuds sind fast alle veröffentlicht, obwohl nicht im-
wie der Vater die Tochter in ihren Jugendkrisen an- mer ungekürzt. Nennenswerte Ausnahmen, die noch
spricht, auch mit behutsamen analytischen Deutun- weitgehend der Publikation harren, sind die Briefe an
gen, und wie diese um seine Zuwendung ringt, z. B. Jeanne Lampl-de Groot sowie die Briefwechsel mit
durch die Mitteilung von Träumen. Der 18jährigen Abraham A. Brill und Marie Bonaparte. Auch von der
bescheinigt Freud, daß sie »mehr geistige Interessen« erhaltenen Korrespondenz mit Otto Rank, die 50
habe als ihre Schwestern und sich nicht leicht mit Briefe von Freud und 200 von Rank umfaßt, sind
222 Werke und Werkgruppen

bisher nur wenige Stücke publiziert, so die bedrük- wesentliches Forschungsinstrument dabei war seine
kenden Dokumente des Sommers 1924, als sich der Selbstanalyse, deren Anfänge und frühe Ergebnisse
Bruch zwischen beiden anbahnte. Die zahlreichen, ebenfalls in den Fließ-Briefen greifbar werden, zum
zumeist ungedruckten Briefe an Paul Federn bieten Beispiel: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und
aktuell-geschäftliche Mitteilungen. die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden
und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher
Kindheit« (F, 293).
Briefe an Eduard Silberstein
Freuds Freundschaft und so auch seine Korrespon-
Diese Briefe an einen Freund, von dem ansonsten denz mit Fließ – dem letzten Freund, mit dem er sich
wenig bekannt ist, erstrecken sich über die letzten duzte – lebte von der Bedürftigkeit zweier Außen-
Gymnasiumsjahre und die Studienzeit Freuds (S). seiter, die sich als große Erneuerer der Wissenschaft
Zwei Jugendlieben haben darin ebenso ihren Nieder- empfanden und einander in ihren Größenphantasien
schlag gefunden wie Freuds erste, zoologische For- bestätigten. Diese Bestätigung wog für Freud um so
schungsarbeiten, die er u. a. in Triest durchführte. schwerer, nachdem er sich 1896 aus dem Normaldis-
Unschätzbar die zahlreichen Mitteilungen über kurs seines Fachs entfernt hatte. Nun wurde Fließ für
Freunde, intellektuelle Interessen und gelesene Bü- ihn zur Inkarnation des Publikums, zum Adressaten
cher. Viele der Briefe sind in einem etwas dilettanti- seiner Arbeit schlechthin. Er diente ihm auch im pre-
schen Spanisch abgefaßt, das die beiden Freunde als kären Unternehmen der Selbstanalyse als unentbehr-
ihre Privatsprache verwandten; die Namen »Cipion« liches Gegenüber. Nach der Veröffentlichung der
und »Berganza«, mit denen sie sich anredeten, ent- Traumdeutung, in der Freud seinen Anspruch auf
stammen der Cervantes-Novelle Zwiegespräche der Größe erstmals in die Tat umgesetzt hatte, zerbrach
Hunde. die Beziehung der beiden an der Erkenntnis, daß sie
mit dem Denken des jeweils anderen nichts mehr an-
fangen konnten. Die Briefe nach Sommer 1900 re-
Briefe an Wilhelm Fließ
flektieren ihre zunehmende Entfremdung.
In den Briefen an den Berliner Hals- und Nasenarzt
Wilhelm Fließ (F) (deren Verständnis durch das Feh-
Briefwechsel mit C. G. Jung
len der Gegenbriefe gestört ist) läßt sich Freuds Ent-
wicklung vom Gehirnanatomen und Hypnosearzt Zwischen dem Auslaufen der Fließ-Briefe und dem
zum Schöpfer der Psychoanalyse als Theorie und Beginn der Korrespondenz mit Jung 1906 liegt eine
Praxis beobachten. Es gibt wenige Quellen der Wis- terra incognita in Freuds Erwachsenenleben. Der
senschaftsgeschichte, in denen der Durchbruch zu ei- Strom seiner Briefe setzt erst wieder ein, als die Zü-
nem neuen Paradigma ähnlich genau bezeugt ist wie richer Universitätspsychiater um Eugen Bleuler, die
hier. Wie sensationell dieses Material, als es erstmals seine Lehre akzeptierten, den Kontakt mit ihm auf-
(in Auswahl) bekannt wurde, auf die Gruppe der nahmen. Aus oder über Zürich kamen die Haupt-
Analytiker gewirkt hat, läßt sich an Eriksons Buch- personen, die fortan die Ausbreitung der Psychoana-
Essay von 1955 ablesen. lyse betrieben. Freuds Korrespondenzen mit ihnen
Freud berichtete Fließ, wie der Gedanke einer se- waren das wichtigste Mittel zum Aufbau seines inter-
xuellen Ätiologie der Neurosen von ihm Besitz er- nationalen Imperiums; entsprechend spielen organi-
griff, wie er seine Suche nach den Krankheitsursa- satorische Fragen darin durchweg eine, wenn nicht
chen immer weiter in die Kindheit ausdehnte und die dominante Rolle. In der Art, wie Freud diese Be-
sich dabei in der Sackgasse der sog. Verführungstheo- ziehungen pflegte, mit intellektueller Überzeugungs-
rie verlor. Sein Projekt einer neurologisch inspirier- kraft, werbendem Schmelz, affektiver Präsenz, huma-
ten Psychologie, das er parallel mit dem einer ätiolo- ner Großzügigkeit und autoritativer Strenge, zeigt
gisch angelegten Neurosenlehre verfolgte, verkör- sich eine charismatische Kunst der Menschenbe-
perte sich im »Entwurf einer Psychologie« von 1895, handlung, deren er für die Bildung seiner Schule, die
der für Fließ zu Papier gebracht wurde (der Text ist in bald nur noch für sich stand, in hohem Maße be-
GW Nachtr. abgedruckt). Ab 1897 gewann seine durfte. Durch alle affektiven Motive hindurch behielt
Theoriebildung im Zuge der Niederschrift der er das Ziel im Auge: den wissenschaftlichen und so-
Traumdeutung an Profil. Freud konzentrierte sich zialen Erfolg seiner »Sache«.
nun, anknüpfend an die Studien über Hysterie, auf Spiritus rector der Züricher Freud-Bewegung war
psychologische Zusammenhänge und Mechanismen C. G. Jung. Der Briefwechsel mit Jung (F/J) ist das
und entwickelte sein Modell des Unbewußten. Ein Dokument von Freuds Versuch, noch einmal in den
Briefe 223

Diskurs der akademischen Medizin einzutreten, und und theoretische Themen finden sich darin kaum,
er belegt das Scheitern dieses Versuchs, den Schritt vordringlich sind administrative und nicht zuletzt
der Freud-Schule in die Selbstbezogenheit, mit eige- Geldfragen. Sie betreffen den Internationalen Psy-
nen Zeitschriften, exklusiven Kongressen und einem choanalytischen Verlag, den Freud für das wichtigste
eigenen Verein. Diese Entwicklung, mit ihrer pola- Organ seiner Bewegung hielt, die Berliner Psycho-
risierenden Dynamik, kommt in den Jung-Briefen fa- analytische Poliklinik (verbunden mit einem Lehr-
cettenreich zur Sprache, wobei die Korrespondenten institut), die Eitingon 1920 gründete und bis 1933
nicht mit bissigen Bemerkungen über wissenschaft- leitete, sowie, von 1926 bis 1932, als Eitingon Präsi-
liche Gegner oder ungeschminkten Aussagen über dent der Internationalen Psychoanalytischen Vereini-
Vertreter der frühen Psychoanalyse sparen. gung (IPV) war, das Problem einer internationalen
Zugleich hat sich Freud mit keinem seiner Anhän- Standardisierung der psychoanalytischen Ausbildung
ger ebenso intensiv, quasi auf Augenhöhe, über klini- (Stichwort: »Laienanalyse«). Die Eitingon-Briefe be-
sche und theoretische Probleme ausgetauscht wie mit zeugen besonders nachdrücklich, daß der Verein der
Jung. Insbesondere diskutierten die beiden über das Psychoanalytiker nach dem Ersten Weltkrieg zu einer
Verständnis der Dementia praecox (Schizophrenie), weitgespannten Organisation der Forschung, Publi-
ein Themenfeld, das erst durch die Verbindung mit kation und Lehre heranwuchs, die spezifische An-
Zürich ins Zentrum von Freuds Aufmerksamkeit strengungen erforderte und ein entsprechend kom-
rückte; ein früher Streitpunkt dabei war die Frage der petentes Personal, und daß Freud diese Entwicklung
psychischen oder toxischen Ätiologie. Zahlreich sind im allgemeinen realistisch-geschickt, manchmal auch
auch die Mitteilungen über entstehende Werke (z. B. ungeduldig-erregt, aber möglichst aus dem Hinter-
Freuds Leonardo-Studie). Das wissenschaftliche Ge- grund vorantrieb und steuerte.
spräch begann zu verdorren, als Jung 1910 seine my- Abgesehen von seiner Managerfunktion war Eitin-
thologischen Forschungen aufnahm, die Vorarbeit gon derjenige Schüler (neben Rank), der gegenüber
für sein Werk Wandlungen und Symbole der Libido Freud am ehesten die Position eines »Sohnes« er-
(1911/12), mit dem er sich von Freud wieder ab- langte, symbolisiert durch die Anrede »Lieber Max«,
wandte. während bei den anderen (soweit sie Männer waren)
Auf einer dritten Ebene ist Freuds Briefwechsel mit die Vertraulichkeit nicht über »Lieber Freund« hin-
Jung ein bewegendes menschliches Dokument; Eiss- ausging. Mehr als in anderen Fällen sind Freuds
ler (1982, 7) hat ihn gelesen, »als ob er der Brief- Briefe an ihn voll von Familiennachrichten und Aus-
roman eines großen Schriftstellers wäre, in dem die künften über seine Gesundheit bzw. Klagen über
tragische Freundschaft eines älteren Mannes mit ei- seine Beschwerden nach der Krebsoperation. Wie
nem jüngeren dargestellt wird«. Freud war fasziniert Grubrich-Simitis schreibt (2005, 270): Der Brief-
von Jungs Intelligenz und Vitalität, schätzte auch, wechsel »gleicht in vielen Zügen einer Familienkorre-
daß dieser akademisch etabliert und Nicht-Jude war; spondenz«. Er flaute ab, als Eitingon 1934 nach Palä-
Jung erkannte die klinische Überlegenheit des Älte- stina emigrierte, aber den inhaltsreichsten Bericht
ren an und ließ sich durch dessen innovatorische An- über seine Ausreise nach London hat Freud diesem
sichten über das Unbewußte (weniger durch seine jüdischsten seiner engen Anhänger geschrieben (F/E,
Sexualtheorie) beeinflussen. Aber während Freud, 901–903). Eitingons Liebe und Anpassungsbereit-
maßlos in seinen Forderungen nach Nähe und An- schaft gegenüber Freud erwiesen sich als nahezu un-
hängerschaft, den »Nachfolger und Kronprinzen« begrenzt; unter den zentralen Schülerbeziehungen
suchte (F/J, 241), wollte Jung seinen eigenen Weg ge- Freuds war dies die einzige ohne schweren Konflikt.
hen. Am Ende wurde er grob, betitelte Freud als Neu-
rotiker und leitete damit den endgültigen Bruch
Briefwechsel mit Karl Abraham
ein.
Ebenfalls aus Zürich stieß Karl Abraham zu Freud.
Seine erfolgreichen Bemühungen, sich in Berlin, wo-
Briefwechsel mit Max Eitingon
hin er 1908 zurückkehrte, im Rahmen der nerven-
Der erste ›Züricher‹, der den isolierten Freud Anfang ärztlichen Praxis eine Existenz als Berufsanalytiker
1907 aufsuchte, war Max Eitingon, ab 1909 in Berlin. aufzubauen – er war der erste in der Schülergenera-
Allerdings kam der Briefwechsel zwischen den beiden tion, der diesen Schritt wagte –, sind in den Anfän-
Männern (F/E), wie ihre Freundschaft, erst 1918 gen seines Briefwechsels mit Freud (F/A; Freud/Ab-
richtig in Gang. Es handelt sich um die zahlenmäßig raham i. V.) ebenso ein Leitmotiv wie die Entwick-
zweitgrößte Schülerkorrespondenz Freuds. Klinische lung der Berliner Analytikergruppe, deren unbestrit-
224 Werke und Werkgruppen

tener Führer Abraham bis zu seinem frühen Tod Freud sich von Ferenczis neuer Technik – er nannte
blieb. Freud kommentierte die Arbeiten des jüngeren sie »Kußtechnik« – distanzierte (ebd. III/2, 272–
Kollegen, supervidierte per Brief dessen erste Fälle 274).
und schickte ihm Patienten, über die er Rapport Auf der organisatorischen Ebene enthalten Freuds
empfing. Unter den klinischen und theoretischen Briefe an Ferenczi ausführliche Mitteilungen über die
Diskussionen der Korrespondenten sticht die über Entwicklung seiner Konflikte mit Adler, Stekel und
die Melancholie hervor, mit der sich beide in klassi- Jung, während der andere über das wechselvolle
schen Arbeiten befaßt haben. Der Kampf um die Schicksal seiner Budapester Gruppe berichtete.
Trennung von Jung, dessen wesentliche Funktionen Schmerzhaft zu lesen sind die Briefe aus der Rank-
Abraham übernahm, bestimmte die Briefe 1913/14. Krise 1924, in der Ferenczi zunächst auf der Seite
Während des Kriegs gewann die Korrespondenz eine Ranks stand, den Gegensatz zu Freud nicht ertrug
besondere Intensität. und mit Mühe den Rückweg zu ihm fand. 1926/27
Abraham wurde in der psychoanalytischen Bewe- hatte er viel von einem langen Amerika-Aufenthalt
gung zum »Leader unserer Konservativen« (F/E, zu erzählen. Im Streit um die Laienanalyse setzte sich
340). Freud lobte die Klarheit, Vielseitigkeit und Ferenczi genauso entschieden wie Freud für die Aus-
»Korrektheit« seiner Schriften (F/A, 225) und übung der Psychoanalyse durch Nicht-Ärzte ein. Die
schätzte seine zuverlässige Tatkraft, die ab 1920 im undiplomatische Radikalität, mit der er dies tat, ko-
Aufbau des Berliner Instituts, der ersten spezialisier- stete ihn die IPV-Präsidentschaft.
ten Lehrstätte für Psychotherapie in Deutschland, ein Ferenczi suchte die persönliche Nähe Freuds, die
neues, fruchtbares Aktionsfeld fand. Daß Abraham ihn zugleich lähmte. Nach einer gemeinsamen Feri-
die Psychoanalyse als eine entschieden ärztliche Pra- enreise 1910 äußerte er den Wunsch nach völliger
xis vertrat, nahm er widerstrebend hin. Ein Schatten Offenheit im Umgang miteinander und wurde zu-
fiel auf die Freundschaft der beiden, als Abraham rückgewiesen. Unter der Hand bemühte er sich, z. B.
1924 Rank als Jung redivivus denunzierte. In ihren durch die Übersendung langer Traumdeutungen, die
letzten Briefen, kurz vor Abrahams Tod, stritten sie Korrespondenz mit Freud für eine Psychoanalyse in
sich wegen der konkurrierenden Projekte eines psy- Briefen zu nutzen; aber Freud ging nicht darauf ein
choanalytischen Films, die in Berlin und in Wien be- und gewährte ihm erst im Krieg drei Abschnitte von
trieben wurden. Diese Episoden belegen, daß die Be- insgesamt neun Wochen regelrechter Analyse (Du-
ziehung zwischen Freud und seinem Berliner Statt- pont 1994). Ebenso bezeichnend wie verwirrend ist
halter gespannter war, als die Oberfläche ihrer Korre- die Geschichte, wie Ferenczi die Tochter seiner Ge-
spondenz, die vor allem von Abraham möglichst liebten analysierte, sich in sie verliebte und Freud die
ruhig gehalten wurde, verrät. Analyse fortführte, um schließlich dem Freund von
einer Verbindung mit dem Mädchen abzuraten. Das
bittere Zerwürfnis der letzten Jahre, als Ferenczi auf
Briefwechsel mit Sándor Ferenczi
Freuds alte Theorie von einer traumatischen Verur-
Freuds Briefwechsel mit seinem ungarischen Paladin sachung der Psychoneurosen zurückgriff und seine
Sándor Ferenczi (F/Fer) ist nicht nur die umfang- technischen Experimente forcierte, kommt im Brief-
reichste, sondern nach oder neben den Jung-Briefen wechsel vor allem durch zunehmende Pausen und
auch die gehaltvollste und lebendigste seiner Schü- Beschränkung auf Geschäftliches zum Ausdruck.
lerkorrespondenzen. Dazu trugen Ferenczis Wärme
und sprühende Intelligenz ebenso bei wie seine aus-
Briefwechsel mit Ernest Jones
geprägte Abhängigkeit von Freud. Eine Vielzahl von
theoretischen und klinischen Themen kommt in die- Mit Ernest Jones, seinem wichtigsten englischen
sen Briefen zur Sprache, wobei nicht zuletzt Fragen Schüler, der bis 1912/13 in Toronto lebte und danach
der therapeutischen Technik hervortreten. Zur Para- in London eine Analytikerpraxis und eine IPV-
noia überließ Freud dem Freund seine Formel, daß Gruppe aufbaute, korrespondierte Freud weitgehend
sie aus der »Lösung der Libido von der homosexuel- auf englisch, weil es ihm unmöglich war, »deutsche
len Komponente« erwachse (ebd. I/1, 53). Ferenczis Worte mit lateinischen Buchstaben« zu schreiben (C,
Forschungen zur Telepathie begleitete er mit großem, 181), und Jones seine deutsche (»gotische«) Schrift
ambivalentem Interesse. Während des Kriegs verfolg- kaum lesen konnte; seinem spröden, nicht ganz feh-
ten beide ein Gemeinschaftsprojekt »Lamarck und lerlosen Englisch bescheinigte der Brite einen »klassi-
die Psychoanalyse«. Am Ende ihres sachlichen Aus- schen Alte-Welt-Klang« (ebd., 212). Auch in diesem
tauschs steht jener harsche Brief von 1931, in dem Briefwechsel stehen Belange der psychoanalytischen
Briefe 225

Bewegung im Vordergrund. Das liegt nicht zuletzt gann ihm Freud Patienten zu überweisen und klini-
daran, daß Jones von allen Mitgliedern des inneren sche Aufsätze von ihm zu glossieren. 1912 wollte er
Kreises um Freud am stärksten und eindeutigsten ihn als Jungs Nachfolger in der Schweiz aufbauen,
nach Macht strebte. Zugleich war er mit seiner Ge- was mißlang. Er beobachtete Binswangers Versuche,
schmeidigkeit, Zähigkeit und Realitätstüchtigkeit für die Psychoanalyse kritisch in den Rahmen einer phi-
Vereinspolitik besonders begabt. Er verband sein losophischen Psychologie zu stellen, mit Unwillen,
Machtstreben mit einer tiefen Anhänglichkeit an hielt aber den Kontakt mit ihm, was durch die takt-
Freud und stand Konflikte mit diesem durch, an de- volle Verehrung des Schweizers für den ›großen
nen andere zerbrochen wären. Mann‹ ermöglicht wurde. Freuds Beileidsbriefe nach
Zu Beginn geht es in den Briefen vorrangig um die dem Tod zweier Binswanger-Söhne sind von ergrei-
Entwicklung der Psychoanalyse in den USA. Schon fender Herzlichkeit.
hier tritt eine Ambition zutage, die Jones zeit seines Der Pfarrer und Religionspsychologe Oskar Pfister
Lebens verfolgte: daß er der Führer der organisierten war vor dem Ersten Weltkrieg der Hauptrepräsentant
Psychoanalyse in der ganzen angloamerikanischen der Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädago-
Welt sein wollte. Angesichts der heraufziehenden gik. Freud denkt in seinen Briefen an ihn über die
Jung-Krise regte er 1912 die Gründung eines infor- Eigenart seiner rein analytischen Technik nach, wäh-
mellen Gegenpräsidiums der IPV, des »Komitees«, rend der Pädagoge und Seelsorger Synthese, Subli-
an. Etwa ab 1920 ist sein Briefwechsel mit Freud mierung, Übertragung aktiv unterstützen könne. Ein
durch scharfe Spannungen gezeichnet, weil Jones später Höhepunkt des Briefwechsels ist der Aus-
konsequent seine eigenen Interessen vertrat: durch tausch über Die Zukunft einer Illusion. Pfisters regel-
den Anspruch auf Alleinzuständigkeit für die offiziel- lose Ausbildungstätigkeit, die dem nach 1918 auf-
len psychoanalytischen Publikationen, insbesondere kommenden Professionalisierungsstandard in der
von Freuds Werken, in englischer Sprache und durch Psychoanalyse nicht mehr entsprach, wurde von
den Widerstand gegen eine zentralistische Regulie- Freud getadelt.
rung der Analytikerausbildung. Der Gipfel der Ent-
fremdung war 1927 erreicht, als Jones das von Freud
Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé
mißbilligte Modell der frühkindlichen Entwicklung,
das Melanie Klein zu entwerfen begann, als Grund- Lou Andreas-Salomé, die als Schriftstellerin bereits
lage einer ›modernen‹, spezifisch englischen psycho- einen Namen hatte, hielt sich 1912/13 ein halbes Jahr
analytischen Schule akzeptierte und die Kleinsche lang in Wien auf, um Freuds Lehre zu studieren. Kurz
Polemik gegen Anna Freud unterstützte. Danach aber darauf begann sie, die Psychoanalyse auszuüben,
fand Freud die versöhnlichen Worte, daß die Streitig- nach 1918 auch zum Gelderwerb. Sie war fast gleich-
keiten »nur Mißhelligkeiten in einer Familie waren, altrig mit Freud – unter den Partnern der großen
so wie man an einem Band zerrt, das man als unzer- Freud-Korrespondenzen, nach Fließ, ein Unikum.
reißbar verspürt« (C, 643/dt. 60). Als ein mensch- Der Briefwechsel der beiden (F/AS) verstärkte sich
licher Höhepunkt des Briefwechsels erscheint die im Ersten Weltkrieg und wurde vollends vertraulich,
Zeit 1912 bis 1914, in der Jones’ Lebensgefährtin bei als sich Andreas-Salomé mit Anna Freud befreun-
Freud in Analyse war – und einen anderen Mann dete. Freud schickte ihr Patienten und beriet sie auf
heiratete. brieflichem Weg, wenn sie mit einem Fall nicht wei-
terkam. Einzigartig die langen, gedankenreichen
Kommentare, mit denen die »Liebste Lou« das Er-
Briefwechsel mit Ludwig Binswanger
scheinen neuer Freud-Schriften quittierte; sachliche
und Oskar Pfister
Schwerpunkte waren dabei Narzißmus und Weib-
Ludwig Binswanger und Oskar Pfister sind die bei- lichkeit. Freud genoß die Reflexionen der »Verstehe-
den letzten Züricher, mit denen Freud einen längeren rin par excellence« (ebd., 50) und bewunderte gra-
Briefwechsel begann (F/B; F/P). Sie bewegten sich ziös-befremdet die Kunst, »wie Sie sich seherisch be-
aus verschiedenen Gründen am Rand der psychoana- mühen, meine Bruchstücke zum Bau zu ergänzen«
lytischen Bewegung und waren vielfach anderer Mei- (ebd., 68).
nung als Freud, was diesen nicht hinderte, mit ihnen
freundschaftlich verbunden zu bleiben.
Briefwechsel mit Arnold Zweig
Binswanger, der Sproß einer Psychiater-Dynastie
und Erbe eines Sanatoriums, hatte Jung bei seiner Der alternde Freud ging kaum noch Beziehungen zu
ersten Reise nach Wien begleitet. Wenig später be- Männern ein, aus denen ein langdauernder, inten-
226 Werke und Werkgruppen

siver Briefwechsel erwuchs. Die einzige Ausnahme ist Kleinere Briefkonvolute und Einzelbriefe
die Freundschaft mit Arnold Zweig, der seine Be-
wunderung für die Psychoanalyse und ihren Begrün- Neben den zuvor behandelten Korrespondenzen, die
der offen zeigte und Freud mit seiner wortmächtigen umfangreich sind durch die Frequenz der Briefe und
Expressivität den Kontakt leicht machte. Hauptthe- die Dauer des zugrunde liegenden Kontakts, gibt es
men des Gesprächs zwischen dem »Lieben Vater eine Fülle von kleineren Briefkonvoluten und Einzel-
Freud« und dem ab 1933 in Palästina lebenden »Lie- briefen Freuds an Freunde, Patienten, Kollegen,
ben Meister Arnold« waren, abgesehen von der »so- Schüler, Schriftsteller, Ratsuchende etc. Sie können
genannten Gesundheit« (F/Z, 103), das Schicksal der hier nur in Auswahl berücksichtigt werden. Als ›klei-
Juden, die Tagespolitik und vor allem die gerade ge- ner‹ werden Konvolute definiert, die weniger als 50
planten, entstehenden oder entstandenen Werke. Freud-Briefe umfassen.
Freud kommentierte begeistert Zweigs Erziehung vor Die Reihe beginnt mit dem zweiten Bestand von
Verdun, riet ihm von einem Nietzsche-Roman (und Jugendbriefen, der von Freud erhalten ist: seinen
von einer Freud-Biographie) ab und berichtete von Briefen an Emil Fluss. Zu ihnen gehört der sog. Ma-
seiner eigenen schriftstellerischen Obsession, dem turabrief, in dem Freud von seinem schriftlichen
Mann Moses. Mit keinem anderen Briefpartner hat er Abitur berichtet. In Deutsch habe er ein »Ausgezeich-
so locker über Politik, Literatur und Geschichte ge- net« bekommen und von seinem Professor erfahren,
plaudert. »daß ich hätte, was Herder so schön einen idiotischen
Stil nennt, das ist einen Stil, der zugleich korrekt und
charakteristisch ist« (B, 6). Aus Freuds Nachstudien-
Komitee-Rundbriefe
zeit stammt eine Gruppe von Briefen an den Oph-
Ein Sonderfall unter den Korrespondenzen Freuds thalmologen Carl Koller, dem er zur Emigration nach
sind die Rundbriefe des sog. geheimen Komitees, die Amerika riet.
1920 auf seinen Vorschlag eingerichtet wurden. Es Briefe aus der therapeutischen Praxis Freuds schei-
handelt sich um eine Geschäftskorrespondenz, bei nen kaum erhalten zu sein. Das wertvollste frühe
der sich die Teilnehmer in festen (mit der Zeit wach- Konvolut sind 24 Schreiben an seine Patientin Anna
senden) Abständen über Vorgänge in ihren Orts- v. Vest, 1903–1926. Manche von ihnen, aus den Fe-
gruppen und in der IPV, einschließlich des Verlags, rien, bilden einen Teil der Behandlung, in anderen
informierten und Fragen von gemeinsamem Inter- wehrt sich Freud gegen die Zumutung, die beendete
esse besprachen. Je ein Durchschlag ging nach Wien, Kur wieder aufzunehmen. Von ähnlichem Charakter
London, Berlin und Budapest. Die ursprüngliche sind einige Briefe an Emma Eckstein. Der 23jährige
Hoffnung war, daß die Briefe synergetische Kräfte Arthur Fischer-Colbrie erreichte es mit seiner jugend-
mobilisieren würden. Statt dessen wurden sie zum lichen Verve, daß Freud ihn gegen alle Regeln der
Schauplatz von Konflikten, gipfelnd in der Rank- Technik »auf dem Du-Fuß« behandelte (Goldmann
Krise, in der das Komitee aufgelöst und seine Korre- 1985, 271). Nach 1918 verwischte sich bei Freud die
spondenz eingestellt wurde. Die Wiener Rundbriefe Grenze zwischen Patienten und Schülern, da er meist
wurden gewöhnlich von Rank nach Absprache mit Leute in Analyse nahm, die zugleich von ihm lernen
Freud verfaßt und von diesem mitunterzeichnet. wollten. Eine lockere, aber herzliche nach-analytische
Zweimal, 1922 und 1924, ergriff Freud allein das Fortsetzung des Kontakts zu einer Ex-Patientin be-
Wort, mit der vergeblichen Mahnung »Seid einig – zeugen seine Mitteilungen aus den 1930er Jahren an
einig – einig« (Rundbriefe III, 235). Nach der Neu- die amerikanisch-englische Dichterin Hilda Doo-
gründung des Komitees im Herbst 1924 bis zu seiner little.
Überführung in den formellen IPV-Vorstand 1927 Freud-Briefe an ältere oder gleichaltrige Kollegen
wurden die Wiener Rundbriefe von Freud diktiert sind erstaunlich selten. Aus der Korrespondenz mit
und von Anna Freud, die sie tippte, mitunterschrie- Eugen Bleuler, deren intensive Phase 1913 endete,
ben. Die Komitee-Rundbriefe stellen in den betref- sind bisher nur einige lange Briefe Bleulers, in denen
fenden Jahren eine Parallel-Korrespondenz zu Freuds er Freud eigene Träume zur Analyse vorlegte, und
Einzelkorrespondenzen mit Eitingon, Abraham, Fe- Auszüge aus den Jahren 1910 bis 1913 bekannt, in
renczi und Jones dar, mit denen sie sich vielfach denen die beiden Korrespondenten um die Frage von
verschränken. Pluralität oder Exklusivität in der Psychoanalyse bzw.
in der Wissenschaft stritten. In zwei langen Briefen
an den Psychiater Paul Näcke verteidigte Freud recht
unverblümt seine Theorie der Fehlleistungen, wobei
Briefe 227

er vorausschickte, es sei ihm »immer merkwürdig er- mit dem Berliner Ernst Simmel, von dessen Bestand
schienen, daß jemand, der kritisiert, sich darum bisher weniger als die Hälfte (auf englisch) veröffent-
schon für einen kritischen Kopf hält«. Eine gehalt- licht ist, beginnt ebenfalls mit der Äußerung von
volle Korrespondenz, vor allem über Fragen der Reli- Freuds Genugtuung, daß ein ihm Unbekannter seine
gion und Moral, führte er 1909 bis 1916 mit dem Ansichten rezipiert und auf einem neuen Gebiet, hier
Bostoner Professor für Neuropathologie James J. Put- dem der Kriegsneurosen, angewandt habe. Vertreter
nam. Er bestätigte darin, daß die Psychoanalyse ihre einer nächsten Generation sind Heinrich Meng
Adepten nicht zu Heiligen mache, und bekannte sich (Stuttgart, dann Frankfurt) und die beiden Wahl-
zu dem Satz von Friedrich Theodor Vischer: »Das Berliner Franz Alexander und Sándor Radó, die Freud
Moralische versteht sich von selbst.« Eine Handvoll schätzte und denen er noch relativ ausgiebig schrieb,
späterer Briefe an den Sexualwissenschaftler Havelock obwohl er zu ihnen keine engere Beziehung mehr
Ellis verbleibt in den Grenzen freundlicher Indiffe- aufbaute. In den meist kurzen Mitteilungen an Meng
renz. sparte er nicht mit Lob für dessen Verdienste um die
Das Gros der ›kleineren‹ Konvolute bilden wieder Ausbreitung der Psychoanalyse. Von den Alexander-
die Briefe an Schüler. Soweit und solange diese in Briefen sind bisher wenige Stücke publiziert, darun-
Wien lebten, hat Freud ihnen nur sporadisch und ter ein Kommentar zur Über-Ich-Theorie. Freuds
geschäftsmäßig geschrieben, so daß sich aus den Mit- Briefe an Radó liegen in englischer Übersetzung vor;
teilungen kein kontinuierliches Bild der Beziehung es handelt sich um einen Austausch zwischen dem
ergibt. Die 27 erhaltenen Briefe und Karten an Alfred Herausgeber und dem exekutiven Redakteur (seit
Adler wurden bisher nicht komplett publiziert; es 1925) der Internationalen Zeitschrift für Psychoana-
geht darin überwiegend um Patienten (Überweisun- lyse.
gen, konsiliarische Äußerungen) sowie um das von Durchgehendes Thema in Freuds Briefen an die
Adler mitredigierte Zentralblatt für Psychoanalyse. gebürtige Russin Sabina Spielrein ist ihre Ablösung
Freuds früher Briefwechsel mit dem Philosophen von ihrem Analytiker Jung, mit dem sie eine un-
Hermann Swoboda dreht sich um den von Fließ in- glückliche Liebesgeschichte gehabt hatte. Die 1919
itiierten Plagiatsstreit in bezug auf die Ideen der Bise- beginnenden Briefe an den Italiener Edoardo Weiss
xualität und Periodizität (Tögel/Schröter 2002). In zeichnen sich durch eine Fülle von Ratschlägen zur
den zahlreichen Mitteilungen an Theodor Reik be- analytischen Praxis aus. An seine englische (Lehr-)
kundet Freud immer wieder seine Anerkennung für Analysandin und anfängliche Hauptübersetzerin
dessen Schriften. Von den Briefen an seinen unge- Joan Riviere schrieb Freud in Sachen der englischen
betenen Biographen (1924) Fritz Wittels ist ein Teil Ausgabe seiner Schriften, gelegentlich auch zur Ab-
veröffentlicht, darunter drei aufschlußreiche Stücke wehr der englischen Angriffe gegen Anna Freud. Die
mit Kommentaren und Korrekturen zur Biographie. ausgedehnte, auf deutsch geführte, aber bisher nur
Fünf publizierte Briefe an Wilhelm Reich befassen auf französisch veröffentlichte Korrespondenz mit
sich vor allem mit dessen umstrittener Position als René Laforgue, die sich von 1923 bis 1937 erstreckt,
Leiter des Technischen Seminars in Wien bis 1930. hat ihren Schwerpunkt in den Versuchen Freuds, sei-
Bei seinem »Leibarzt« Max Schur beschwerte sich nen Partner von vorschnellen theoretischen und
Freud über unangemessen niedrige Rechnungen. technischen Neuerungen abzuhalten. Aus dem Halb-
Die Briefe an auswärtige Schüler sind im allgemei- dutzend Mitteilungen an seinen Genfer Ex-Analysan-
nen aussagekräftiger für die Beziehung der Korre- den Raymond de Saussure ist jene von 1938 aus Lon-
spondenten als die zuletzt genannten. Ein erstes, be- don unvergeßlich, in der Freud den Verlust der deut-
deutsames Beispiel ist Freuds Briefwechsel mit dem schen Sprache beklagt. Nach Peru gingen strategisch
Baden-Badener Arzt und Sanatoriumsbesitzer Georg bezweckte Briefe an Honorio F. Delgado. Von weiteren
Groddeck (F/G; Freud/Groddeck i. V.), der ihn 1917 Konvoluten mit Briefen an Schüler, so an den
mit der Nachricht überraschte, daß er die Psycho- Schweizer Emil Oberholzer und den Russen Nikolai
analyse für das Verständnis und die Behandlung von Ossipow, sind bisher nur vereinzelte Stücke publi-
Körperkrankheiten benutze, woraufhin ihn Freud als ziert. Die wenigen Vorkriegs-Briefe an den Nerven-
Anhänger reklamierte. In vielen Briefen äußerte er arzt Willy Hellpach und an den jungen Schriftsteller
sein Wohlgefallen an den krausen Werken Grod- Hans Blüher sind aufschlußreich als Zeugnisse dafür,
decks, dem er den Begriff des »Es« verdankte, be- wie Freud um Bundesgenossen oder potentielle
klagte aber auch dessen mystischen Hang zur Aufhe- Schüler warb und mit deren Eigenwillen kollidierte.
bung des Unterschieds zwischen Körperlichem und Eine ergiebige Gruppe für sich sind die Korrespon-
Seelischem. Der ähnlich umfangreiche Briefwechsel denzen, die Freud mit namhaften Schriftstellern ge-
228 Werke und Werkgruppen

führt hat. Am frühesten setzen die Briefe an Karl lernen wollte; an den Arzt Arthur Muthmann, den er
Kraus ein, die aber fast nur vom Plagiatsstreit mit an die Beschränkungen der Hypnose gemahnte; an
Fließ handeln. Dagegen sind die Briefe an Arthur den Altphilologen David Ernst Oppenheim, den er als
Schnitzler ein Beispiel dafür, wieviel Mühe sich Freud Mitarbeiter bei Folklorestudien gewann; an den Wie-
gedanklich und sprachlich im Verkehr mit ›Dichtern‹ ner Obersanitätsrat Arnold Durig, den er für die Lai-
gab. Höhepunkt jener Brief von 1922, in dem er enanalyse einzunehmen versuchte; an Julie Braun-
Schnitzler gestand, er habe bisher die persönliche Be- Vogelstein, der er Erinnerungen an seinen Schul-
gegnung mit ihm »aus einer Art von Doppelgänger- freund, den späteren Sozialisten Heinrich Braun, zur
scheu« gemieden (B, 257). Umfang- und inhaltsrei- Verfügung stellte; an Viktor v. Weizsäcker, dem er
cher ist die über 30 Jahre gehende Korrespondenz Überlegungen zur Psychosomatik mitteilte; an die
mit Stefan Zweig, dem Freud eindringliche Würdi- Mutter eines amerikanischen Homosexuellen, der er
gungen z. B. einer Novelle über das Tabu der männ- erklärte, daß die Psychoanalyse niemanden von sei-
lich-homosexuellen Liebe schickte und der umge- ner Homosexualität »heilen«, sondern im besten Fall
kehrt Freud versicherte, er habe durch den Mut einen unglücklichen Menschen zu einem glückliche-
seiner Psychologie den Schriftstellern einer ganzen ren machen könne.
Epoche die Hemmungen genommen. Dem Briefaus-
tausch mit Romain Rolland verdankte Freud den Be-
Freud als Briefschreiber
griff des »ozeanischen Gefühls« als Basis der Religio-
sität. Bei Thomas Mann bedankte er sich dafür, daß Freud schrieb, die Zeit ausnützend, in den Pausen
dieser ihn »gegen den Vorwurf eines reaktionären seiner nervenärztlichen Berufs- und Erwerbstätigkeit.
Mystizismus« verteidigt hatte. An Georg Hermann Das gilt im großen für seine Werke, die überwiegend
schrieb er 1936 u. a. über die Nationalsozialisten, sie in den Sommerferien entstanden oder in Perioden,
schienen »eine kulturelle Regression durchzumachen wenn seine Praxis schlecht ging. Es gilt auch im klei-
vom Schuldgefühl zur Aggression, die die ursprüng- nen für seine Korrespondenz, die er oft nachts er-
liche Quelle des Gewissens ist«. ledigte und insbesondere am Sonntag. Viele Mittei-
Die Zeugnisse von Freuds Kontakt mit dem lungen aus den Ferien bezeugen eine entspannte
deutsch-amerikanischen Schriftsteller George Sylve- Schreibfreude. Bei seinen Briefpartnern war Freud
ster Viereck, den er nach dem Weltkrieg Reklame für bekannt für die Promptheit und Zuverlässigkeit, mit
die Psychoanalyse in den USA machen ließ, sind der er antwortete. Umgekehrt vertrug er es schlecht,
noch weitgehend unerschlossen. Mit der von ihm wenn andere ihn auf Antwort warten ließen. Er
hochgeschätzten Diseuse Yvette Guilbert korrespon- führte Listen über ein- und ausgegangene Briefe und
dierte Freud über die Wurzeln ihrer Fähigkeit, sich in klagte nach runden Geburtstagen wochenlang über
die von ihr verkörperten Figuren hineinzuversetzen. die Berge von Gratulationen, die er abzuarbeiten
Bei William Bullitt, mit dem er um 1930 ein Dutzend hatte – und abarbeitete (beim 75. und 80. Geburtstag
karge Briefe wechselte (Roazen i. V.), überlagerten mit Hilfe vorgedruckter Dankeskarten).
sich die Rollen von Patient und Koautor (eines Für seine Mitteilungen benutzte er je nachdem,
Buches über Präsident Wilson). Von Freuds Briefen wieviel er zu sagen hatte, größeres oder kleineres
an die bildenden Künstler Hermann Struck und Max Briefpapier oder Briefkarten, allermeist mit gedruck-
Pollak, die ihn beide porträtiert haben, ist bisher nur tem Briefkopf. Die Bogen wurden gewöhnlich voll-
wenig veröffentlicht, darunter ein Kommentar über geschrieben; die Mehrzahl der Freud-Briefe sind zwei
das Struck-Porträt. Gegenüber Albert Einstein hob Seiten lang. Er selbst schrieb mit der Hand, in einer
Freud u. a. hervor, daß er ihn beneide, weil der Phy- energischen deutschen Schrift, die nur bei Eigenna-
siker nicht so leicht auf Widerspruch stoße wie der men, fremdsprachigen Wendungen und medizini-
Psychologe, auf dessen Feld jedermann Sachkenntnis schen Fachausdrücken zu lateinischen Buchstaben
beanspruche. Diese Korrespondenz ist übrigens ein überwechselte. Erst nach der Krebsoperation begann
Beispiel dafür, wie sehr die epistolaren Gipfeltreffen er, in die Maschine zu diktieren. Aber die einzige Se-
Freuds mit anderen Geistesgrößen durch runde Ge- kretärin, der er sich anvertraute, war seine Tochter
burtstage bestimmt waren. Anna, die ab Sommer 1927 kaum mehr Zeit dafür
Aus der Restgruppe seien zur Illustration der the- hatte. Seine Handschrift wurde mit fortschreitendem
matischen Spannweite noch wenige Briefe genannt – Alter besser lesbar und erreichte im Alter (oft) eine
teils Einzelstücke, teils Einzelveröffentlichungen aus kalligraphische Klarheit. Fast hypochondrisch kom-
einer größeren Reihe: an den Philosophen Heinrich mentierte er immer wieder ihre Qualität, z. B. wenn
Gomperz, der bei Freud (erfolglos) das Traumdeuten sie durch Kälte beeinträchtigt war. Konzepte fertigte
Briefe 229

Freud allenfalls für offiziöse Briefe an und nur in der ist in der Überlieferung partiell verdunkelt, weil oft
kurzen Zeit, in der seine Tochter für ihn arbeitete, als die Gegenbriefe verloren sind. Wir wissen von drei
handschriftliche Vorlage für ihr Typoskript. Anson- Gelegenheiten, bei denen Freud viele seiner Papiere
sten entstanden seine Briefe frisch von der Feder weg, vernichtete: 1885 im Gefühl, »das Zeug legt sich um
mit wenigen Korrekturen, und nicht selten bezog er einen herum wie der Flugsand um die Sphinx« (B,
den Schreibvorgang selbst – Verschreibungen, äußere 144); 1908 bei einem Umzug; und 1938 vor der Emi-
oder innere Unterbrechungen – in den Text mit ein. gration. So läßt sich die Gegenseitigkeit seiner brief-
So wurden seine Briefe zu Abbildern des assoziativen lichen Beziehungen nur in den Fällen verfolgen, die
Prozesses, der sie hervorbrachte. ihm selbst wichtig genug waren, daß er die Briefe der
Freud schrieb nicht nur gern, sondern wie unter Partner aufbewahrte bzw. soweit diese Konzepte oder
einem Zwang. Den höchsten Wert hatte für ihn das Kopien ihrer eigenen Briefe zurückbehielten.
Schreiben zum Zweck der Veröffentlichung; mit der Wenn Freud wollte, stand ihm eine bestrickende
Abfassung einer Arbeit beschäftigt, vernachlässigte er Höflichkeit und Überredungskraft zur Verfügung –
seine Briefpflichten. Aber auch das Briefschreiben oder auch eine schneidende Schärfe der Kritik und
galt ihm als eine ernsthafte Form der geistigen Ak- Abgrenzung. Sein Gedächtnis für Einzelheiten, die er
tivität, die er brauchte, um sich wohlzufühlen; schon an diesen oder jenen geschrieben oder von ihm er-
als junger Mann sagte er von sich: »wenn ich nicht fahren hatte, begann erst spät zu erlahmen. Der
Briefe schreiben und lesen kann, fürchte ich vor töd- große soziale Erfolg der Psychoanalyse, unter ungün-
licher Langeweile die ††† Cholera ††† zu bekom- stigen institutionellen Bedingungen, ist ohne Freuds
men« (S, 35). Andererseits gibt es viele Aussagen wie enorme, nuancierte Beziehungsfähigkeit, von der die
diese: »ich habe heute einen müden Tag und bin nur Korrespondenzen zeugen, nicht zu verstehen. Bei al-
zum Briefschreiben zu gebrauchen« (F/Fer I/1, 319). ledem erwies er sich (in seinen Erwachsenenjahren)
Im Alter meinte er sogar, daß »Briefschreiben die ein- als meisterlicher Stilist, der seine Beobachtungen, Er-
zige Art von Produktivität ist, die sich mir noch zur lebnisse und Gedanken ohne literarische Manier in
Verfügung stellt« (F/E, 485). Wo er einem Freund eine farbige, kernige – eben: in eine »idiotische«
(Fließ, Ferenczi, Jung) erstmals eine neue Idee mit- Form goß. Es gibt prachtvolle Reiseberichte von ihm,
teilte oder eine der Aufzeichnungen schickte, in de- so über eine Fahrt nach Aquileja im Frühjahr 1898
nen er solche Ideen für sich festhielt, gingen beide (F, 336–338). Über viele Ereignisse – die Ernennung
Arten des Schreibens Hand in Hand – Symbol einer zum Professor 1902 (F, 501–503), Zurechtweisungen
dialogischen Qualität, die auch seine wissenschaftli- von Jung (F/Fer I/2, 157–159) und Rank (F/E,
chen Texte prägt. Häufiger kam es vor, daß er seinen 371–373) – hat er Berichte verfaßt, die faszinieren.
Briefpartnern ein zur Publikation bestimmtes Manu- Seine Beileids- oder Gratulationsbriefe sind oft voller
skript oder einen Sonderdruck schickte, in der ex- Wärme und Weisheit. Aus einzelnen brieflichen Äu-
pliziten oder impliziten Hoffnung auf einen Kom- ßerungen ließe sich ein Vademecum von Sinnsprü-
mentar. chen gewinnen: »Glück ist die nachträgliche Erfül-
Welche Funktion hatte diese rastlose Schreibtätig- lung eines prähistorischen Wunsches. Darum macht
keit? Da war zunächst das Bedürfnis eines hoch im- Reichtum so wenig glücklich; Geld ist kein Kinder-
pressionablen Menschen, die Eindrücke des Tages in wunsch gewesen« (F, 320); »Mir kam immer vor, daß
Worte umzusetzen und sie damit zu neutralisieren. die Eigenmächtigkeit und das selbstverständliche
Zugleich diente das Briefschreiben der Kontrolle sei- Selbstvertrauen die unentbehrliche Bedingung dessen
nes weitgespannten Lebens, so in den Stakkato-Be- sei, was uns dann, wenn es zum Erfolg geführt hat, als
richten, die er von Reisen an seine Familie schickte, Größe erscheint« (F/B, 97); »man hat Autorität,
deren Berichte er seinerseits erwartete. Später war es solange man sie nicht in Anspruch nimmt« (F/E, 747).
vor allem seine internationale psychoanalytische Be- Aber es sind nicht nur die Glanzstücke, an denen
wegung, die er durch Briefe überwachte und för- sich die Pranke des Löwen zeigt – alles, was Freud
derte. Das Ausmaß des Netzwerks von Verwandten, schrieb, war eigenartig geprägt, »noch der kleinste
Freunden, Kollegen, Schülern, Gesprächspartnern, und unwichtigste Brief trägt«, so Fichtner (1989,
das Freud auf diese Weise lebendig erhielt, war im- 806), »den Stempel seiner Sprache und seines Den-
mens. Es ist ein eindrucksvolles Zeichen der Prä- kens«. Freud selbst hat nie gewollt, daß seine Korre-
gnanz seiner Beziehungen, wie er bei jedem Korre- spondenzen veröffentlicht werden. Daß die Nachwelt
spondenten einen spezifischen Ton anschlägt und seinen Wunsch ignoriert, läßt sich nicht besser recht-
Themen wählt, für die er bei ihm Interesse voraus- fertigen als mit den Worten von Walter Jens anläßlich
setzen kann. Diese Abstimmung auf das Gegenüber des Erscheinens der Briefe 1873–1939: »unser Land
230 Werke und Werkgruppen

ist um einen bedeutenden, endlich entdeckten Die erste Edition, die historisch-philologischen
Schriftsteller reicher geworden« (ebd., 804 f.). Ansprüchen halbwegs genügte – sowohl in der Inten-
sität der Kommentierung als auch in der Beschrän-
kung auf wenige Kürzungen –, war die der Korre-
Zur Editionsgeschichte
spondenz zwischen Freud und Andreas-Salomé
Gleich nach dem Tod ihres Vaters faßte Anna Freud (1966). Maßstabsetzend wurde dann die Ausgabe der
den Plan, seine Briefe zu sammeln »in Originalen Jung-Briefe (1974), die hauptsächlich dem Jung-For-
oder in Abschriften, wie die Eigentümer sie eben her- scher William McGuire zu verdanken war. Sie bot
geben« (F/B, 251). Von dieser Sammlung hat die grundsätzlich den vollständigen Text aller Briefe in
Jonessche Freud-Biographie sehr profitiert. Die erste zuverlässiger Transkription, mit einem Anmerkungs-
große Brief-Veröffentlichung war 1950 die von Anna apparat, der bis heute eine Fundgrube von Basisin-
Freud mitbesorgte Ausgabe der Fließ-Briefe, deren formationen darstellt, und einem vorbildlichen Regi-
Kommentierung durch Ernst Kris einen Meilenstein ster; nur eine angemessene Einleitung fehlte. Patien-
der Freudforschung darstellt. Es handelte sich um tennamen wurden verschlüsselt und einige Stellen,
eine gekürzte Ausgabe, die Material berücksichtigte, an denen noch lebende Personen hätten Anstoß neh-
das sich auf Freuds wissenschaftliche Arbeit sowie auf men können, weggelassen. Mit diesem Band war für
die politisch-kulturellen Bedingungen seines Lebens die Publikation von Freud-Korrespondenzen der
bezog, während Äußerungen über Patienten, fami- Durchbruch zur Wissenschaftlichkeit erreicht. Er be-
liäre Ereignisse, Alltags- oder als zu intim empfun- gründete eine editorische Tradition, die im S. Fi-
dene Vorgänge (z. B. Krankheiten) eher wegfielen. scher-Verlag unter der Regie eines auf Freud spezia-
Eine ähnliche Selektivität charakterisierte die lisierten Lektorats fortgesetzt wurde: mit der Ausgabe
nächsten großen Brief-Ausgaben, die unter der Di- der vollständigen Fließ-Briefe (1986) (die erstmals
rektion von Ernst Freud herauskamen: die Quer- auch einen textkritischen Apparat enthielt) sowie
schnitts-Auswahl von 1960, die auf Aspekte »des der Silberstein- (1989) und der Binswanger-Briefe
empfindenden, denkenden und kämpfenden Man- (1992).
nes« zugespitzt war (B, 480), sowie die Korrespon- Eine dritte Phase der Editionsgeschichte setzte ein,
denzen mit Pfister (1963), Abraham (1965) und A. als der literarische Agent der Freud-Erben, Sigmund
Zweig (1968). So dankenswert diese Bände waren, die Freud Copyrights, den Gang des Geschehens zu be-
eine Fülle von anregendem und anrührendem Mate- stimmen begann. Nun kam es darauf an, möglichst
rial darboten – die Kürzungen waren ein Problem rasch möglichst viele Briefe herauszubringen, im je-
(vgl. Falzeder 1997, betreffend F/P und F/A). Sie wa- weils meistbietenden Verlag. Repräsentanten dieser
ren es, weil sie oft nachlässig durchgeführt wurden, Phase sind die Editionen der Jones- (1993), der
so daß man z. B. Antworten zu lesen bekam auf Fra- Ferenczi- (1993–2005), der vollständigen Abraham-
gen, die fehlten. Sie waren es, weil die Herausgeber (2002/i. V.) und der Eitingon-Korrespondenz (2004);
den Lesern ihre eigenen Prioritäten aufdrängten, z. B. einige weitere stehen kurz vor dem Erscheinen. Zwei-
für Theorie- und gegen Organisationsgeschichte. Da- fellos wurde nun das Publikationstempo beschleu-
durch, daß in den Gegenbriefen mehr gestrichen nigt. Aber die Bände entstanden oft isoliert, ohne
wurde als in den Briefen Freuds, verschob sich die kontinuierliche, kompetente Moderation, was Aus-
Balance zwischen den Korrespondenten (so auch in wirkungen auf die editorische Qualität hatte (vgl.
F/Z). Ferner erkennt man in den Kürzungen eine Ab- Schröter 1994). Die Ausgabe der Jones-Briefe blieb
sicht, das öffentliche Freud-Bild zu schönen: ihn we- weit hinter dem zuvor etablierten Niveau zurück,
niger leidenschaftlich oder grimmig, weniger irr- und auch die der Ferenczi-Briefe gab Anlaß zur Kri-
tumsanfällig, weniger als Geschäftsmann oder Chef, tik. Ein spezielles, bis heute umstrittenes Problem ist,
weniger alltäglich und weniger jüdisch zu zeigen, als daß manche Herausgeber nicht mehr bereit waren,
er war. Auch wenn man die Motive für solche Retu- Patientennamen zu anonymisieren, d. h. die Normen
schen – die Pietät der Kinder, die Rücksicht auf le- ärztlicher Diskretion ins historisch-philologische
bende Personen und auf die Interessen eines breiten Feld zu übertragen. In der Textgestaltung zeichnet
Publikums – respektiert, bleibt es ein Stein des An- sich neuerdings ein Paradigmenwechsel ab, insofern
stoßes, daß die vorgenommenen Eingriffe vielfach immer häufiger die Originale diplomatisch getreu,
nicht markiert wurden. Last but not least waren die ohne Normalisierungen wiedergegeben werden.
Herausgeber allzu sparsam mit erläuternden Anmer- Die zuletzt skizzierte Phase wird Ende 2009 aus-
kungen und stützten sich auf unzuverlässige Tran- laufen, wenn die Rechte an Freuds Schriften frei wer-
skriptionen. den. Danach ist eine neue Welle der editorischen Be-
Briefe 231

schäftigung mit seinen Werken und so auch mit sei- – /Minna Bernays: Briefwechsel 1882–1938. Hg. von Albrecht
Hirschmüller. Tübingen 2005.
nen Korrespondenzen zu erwarten. Gegenwärtig ist – /Anna Freud: Briefwechsel 1904–1938. Hg. von Ingeborg
das Interesse daran jedenfalls so groß, daß immer Meyer-Palmedo. Frankfurt a. M. (in Vorb.).
wieder einzelne bisher unveröffentlichte Freud-Briefe – /Georg Groddeck: Briefwechsel 1917–1934. Hg. von Michael
zum Fokus ganzer Aufsätze genommen werden. Wie Giefer und Beate Schuh. Frankfurt a. M./Basel (in Vorb.).
Goldmann, Stefan (Hg.): Sigmund Freuds Briefe an seine Pa-
die entsprechende Serie von Fichtner (2003 ff.) exem- tientin Anna v. Vest. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 17
plarisch zeigt, sind in diesem Brief-Œuvre noch viele (1985), 269–295.
schöne Funde zu holen. Grotjahn, Martin: Freuds Briefwechsel. In: Die Psychologie des
20. Jahrhunderts, Bd. II: Freud und die Folgen (1). Von der
klassischen Psychoanalyse … Hg. von Dieter Eicke. Mün-
Literatur chen 1976, 35–146.
Dupont, Judith: Freud’s Analysis of Ferenczi As Revealed by Grubrich-Simitis, Ilse: »Wie sieht es mit der Beheizungs- und
Their Correspondence. In: International Journal of Psycho- Beleuchtungsfrage bei Ihnen aus, Herr Professor?« Zum Er-
Analysis 75 (1994), 301–320. scheinen des Freud-Eitingon-Briefwechsels. In: Psyche 59
Eissler, Kurt R.: Psychologische Aspekte des Briefwechsels zwi- (2005), 266–290.
schen Freud und Jung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1982. Library of Congress, Sigmund Freud Collection: http://lcweb2.
Erikson, Erik H.: Freud’s »The Origins of Psycho-Analysis«. In: loc.gov/service/mss/eadxmlmss/eadpdfmss/
International Journal of Psycho-Analysis 36 (1955), 1–15. 2004/ms004017.pdf.
Falzeder, Ernst: Wem eigentlich gehört Freud? Anmerkungen Meyer-Palmedo, Ingeborg/Gerhard Fichtner: Freud-Bibliogra-
zur Herausgabe von Freuds Briefen. In: Jahrbuch der Psy- phie mit Werkkonkordanz [1989]. Frankfurt a. M. 21999.
choanalyse 38 (1997), 197–220. de Mijolla, Alain: Images of Freud from His Correspondence.
Fichtner, Gerhard: Freuds Briefe als historische Quelle. In: Psy- In: Patrick Mahony u. a. (Hg.): Behind the Scenes. Freud in
che 43 (1989), 803–829. Correspondence. Oslo 1997, 369–412 (frz. 1989).
–: Freud als Briefschreiber [Kolumne]. In: Jahrbuch der Psy- Roazen, Paul: Biography of a Book. The Story of Freud, Bullitt
choanalyse 46 ff. (2003 ff.). and Woodrow Wilson. (in Vorb.).
Freud, Sigmund: Briefe an Maria (Mitzi) Freud und ihre Fami- Die Rundbriefe des »Geheimen Komitees«. Hg. von Gerhard
lie. Hg. von Christfried Tögel und Michael Schröter. In: Lu- Wittenberger und Christfried Tögel, 4 Bde. Tübingen
zifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 17. 1999–2006.
Jg. (2004), H. 33, 51–72. Schröter, Michael: Freud und Ferenczi. Zum ersten Band ihres
–: Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923. Briefwechsels. In: Psyche 48 (1994), 746–774.
Hg. von Christfried Tögel. Berlin 2002. Tögel, Christfried/Michael Schröter: Sigmund Freud und Her-
– /Karl Abraham: Briefwechsel 1907–1925. Ungekürzte Aus- mann Swoboda. Ihr Briefwechsel (1901–1906). In: Psyche 56
gabe. Hg. von Ernst Falzeder und Ludger M. Hermanns. (2002), 313–337.
Wien (in Vorb.) (engl. 2002). Michael Schröter
232

13. Der Autor Freud

Als Freud 1935 die zehn Jahre zuvor verfaßte »Selbst- sche Forschung und keine kritische Freud-Edition
darstellung« für die zweite Auflage ergänzte und er- gibt. Und wenn mit der Namensgebung des Preises
weiterte, kam er ausdrücklich auf die 1930 erfolgte angezeigt werden soll, Freud habe das Muster einer
Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Wissenschaftsprosa geliefert, die auch der Nichtaka-
Main zu sprechen. Diese offizielle Würdigung und demiker versteht, so bliebe das eine zu armselige
der Erfolg seiner Schriften bei einem breiteren Publi- Würdigung. Im folgenden ist zu zeigen, daß die
kum hätten, heißt es rückblickend, bei ihm die »Ent- Frage nach Freuds Autorschaft und Schreibweise
stehung der kurzlebigen Illusion« befördert, »daß mehr umfaßt.
man zu den Autoren gehört, denen eine große Na-
tion wie die deutsche bereit ist, Gehör zu schenken.
Der Autor und sein Werk
[…] Es war der Höhepunkt meines bürgerlichen Le-
bens […]« (GW XVI, 33). Was ist das Werk Freuds: die Bände der Gesammelten
Es ist kein Zugeständnis Freuds an den Namens- Werke oder die Psychoanalyse? Die Frage läßt sich
patron des Preises, wenn er sich selbst als Autor be- nicht nach der einen oder anderen Seite entscheiden.
zeichnet. Zu den großen Autoren einer Nation ge- Wie eng beides zusammenhängt, geht schon aus dem
zählt zu werden, wäre ihm die höchste Bestätigung bekannten Faktum hervor, daß das Erscheinungsjahr
seiner Forschungen und seines Schreibens gewesen. der Traumdeutung auf 1900 vordatiert wurde (vgl.
Unüberhörbar klingt aus diesen Worten, wie stark GW XVI, 261), womit der epochale Anspruch des
Freud die Psychoanalyse in der deutschen Kultur ver- Werks als Gründungsakte der Psychoanalyse auch
ankert sah und seine Veröffentlichungen als Werke nach außen hin als Geschichtsdatum kenntlich ge-
dieser Kultur anerkannt zu wissen hoffte. macht wurde.
Was bald danach geschah, machte daraus in der Für Freud gingen die Sorge um die Fortentwick-
Tat eine »kurzlebige Illusion«. Die Frage, die Freud lung der Psychoanalyse und um eine erkennbar ei-
schon Jahre zuvor vorsichtig aufwarf, ob nicht »seine genständige Präsentation seiner Schriften als Ge-
eigene Persönlichkeit als Jude, der sein Judentum nie samtwerk Hand in Hand. Diese sehr bewußte Werk-,
verbergen wollte«, Anteil an der Ablehnung der Psy- Publikations- und Organisationspolitik wird im er-
choanalyse gehabt habe (GW XIV, 110), war nun- sten Teil der Untersuchung von Ilse Grubrich-Simitis
mehr beantwortet. Zurück zu Freuds Texten ausführlich dargestellt. Der
Im Deutschen Reich Hitlers existierte der Autor besondere Wert dieser Untersuchung besteht darüber
Freud nicht mehr. Die Edition der Gesammelten hinaus in der Sichtung des Freudschen Nachlasses im
Werke (GW), kurz nach Freuds Tod begonnen, wurde Blick auf eine textkritische Freud-Edition. Zwar hat
in London auf den Weg gebracht, wo auch die Stand- Freud mehrfach seinen Schreibtisch rigoros aufge-
ard Edition (SE) erschien. Und die Rückkehr der Psy- räumt, also Manuskripte, Aufzeichnungen und Ex-
choanalyse in den Raum ihrer Herkunft blieb durch zerpte vernichtet (Grubrich-Simitis 1993, 117 f.);
diese Vertreibung stigmatisiert. In dieser Hinsicht aber was der Nachlaß an Notizen und Manuskripten
muß selbst die Einrichtung des »Sigmund Freud – einiges wird hier auszugsweise publiziert – enthält,
Preises für wissenschaftliche Prosa«, den die Darm- ist umfangreicher als angenommen und dürfte für
städter Akademie für Sprache und Dichtung jährlich die Einsicht in Freuds lebenslange Schreibarbeit
verleiht, als zweifelhafte Ehrung erscheinen. Gedacht ebenso wie für die kritische Kommentierung der
als Wiedergutmachung an einem verfemten Autor, Textgeschichte einzelner Werke beträchtlich sein.
kann sie doch nicht die Blöße verdecken, daß es bis Neben der Arbeit von Grubrich-Simitis bietet die
heute keinen renommierten Preis für psychoanalyti- Untersuchung von Patrick J. Mahony Der Schriftstel-
Der Autor Freud 233

ler Sigmund Freud die beste Einführung in die The- dung schrieb und sich in Zitaten Anspielungen und
matik der Autorschaft Freuds. Hier findet sich die Verweisen als jemand präsentierte, dem Sophokles,
wichtigste einschlägige Literatur referiert. Mahonys Shakespeare und Goethe, die Kunst der Renaissance
eigener Vermittlungsversuch zwischen dekonstrukti- wie die der Antike zu Gebote steht. Das machte es
vistischer Texttheorie, die von Freuds Schriften faszi- sehr viel schwieriger, ihn als ›wilden Mann‹, der in
niert ist, und der etablierten Psychoanalyse, die sich obszöner Weise das seelische Geschehen immer nur
für Autorschaft und Schreibweise nicht interessiert, aufs Sexuelle reduziert und dies auch dem unschuldi-
bleibt allerdings halbherzig. Er läuft im wesentlichen gen Kind zuschreibt, abzustempeln.
auf das Plädoyer für eine Offenheit gegenüber Freuds Ein weiterer, ganz entscheidender Faktor bei der
»prozessualem Stil« (Mahony 1987/1989, 142 ff.) hin- Popularisierung des Freudschen Werks und damit
aus, womit richtigerweise soviel gesagt wird, daß der der Psychoanalyse war indessen die von Freud selbst
Leser Freuds sich dem Rhythmus und der Autorprä- inszenierte Beteiligung der Leser an seinem Werk.
sentation des Textes überlassen solle, statt vorschnell Die Bindung und Einbeziehung des Lesers an und in
auf Zusammenfassung und Begriffsdefinition auszu- Freuds Werk hat niemand früher und präziser er-
sein. kannt als der Literaturhistoriker Walter Muschg in
seinem glänzenden Essay Freud als Schriftsteller von
1930. Freud erhoffte und suchte nicht nur eine breite
Der einbezogene Leser
Leserschaft, er köderte sie auch durch die Instanz
Der Erfolg der Psychoanalyse im allgemeinen kultu- ›des Lesers‹, die immer wieder in den Prozeß der Ge-
rellen Selbstverständnis zeigt sich nicht zuletzt in der dankenentwicklung hineingenommen wird.
Etablierung von Fach-Termini, die, auch wenn sie Dies geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen arbei-
nicht in jedem Fall von Freud erfunden wurden, als tet Freud durchgängig mit ›vorgefundenem Mate-
seine genuine Prägung in den Sprachgebrauch einge- rial‹, das er dem Leser zur Verfügung stellt. Das be-
gangen sind. Das Unbewußte, Ödipuskomplex, trifft nicht nur die Fallgeschichten, die vor der Deu-
durcharbeiten/verarbeiten, Narzißmus, Fetischismus, tung zunächst erzählt werden, sondern ebenso auch
Verdrängung, Fehlleistung, Tagesreste, Lustprinzip, das, was man den wissenschaftlichen Forschungs-
Übertragung, Deckerinnerung, Idealisierung, Über- stand nennt. »Wenn er sich irgendwo einer neuen
Ich, Sublimierung …: Es fällt schwer, Ausdrücke zu Problemstellung nähert, wird er unfehlbar zuerst die
finden, die aus dem Vokabular der Psychoanalyse bisherigen Anschauungen über den Gegenstand aus-
nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegan- einandersetzen, von denen man ahnt, daß er sie weit-
gen sind. gehend zu verwerfen denkt, und er entledigt sich die-
An den Begriffen allein freilich kann solche Popu- ser Vorpflichten mit einer Gewissenhaftigkeit, in der
larität nicht liegen, eher schon daran, daß Freud die man beste wissenschaftliche Tradition […] am Werk
Psychoanalyse zu einem Zeitpunkt entwickelte, da sieht. Freud versteht es ganz großartig, zuzuhören. Er
die tradierten Diskurse über die Seele, über Sexuali- läßt seine Vorgänger in Ruhe, hinter geschlossenen
tät, über das Bewußtsein und über die Sonderstel- Türen gleichsam, zu Worte kommen […]« (Muschg
lung des Menschen sich in einem gewaltigen Um- 1930/1975, 29).
bruch befanden. Die Darstellung des Materials wird zweifellos in
Aber auch dies reicht zur Erklärung nicht aus. Daß bestimmter Weise präpariert und komponiert; doch
Freuds Begriffe Eingang in den allgemeinen Sprach- geschieht das auf eine Weise, die dem Leser den Ein-
gebrauch fanden, beruht nicht nur darauf, daß seine druck vermittelt, er werde in die Lage versetzt, die
Forschung etwas traf, das die Epoche beunruhigte dargelegten Argumentationen und Überlegungen
und umtrieb, sondern eben auch an der Art, wie dies kritisch prüfen zu können. Hinzukommt, daß der
geschah, nämlich wie er seine Texte schrieb. »Schon Autor Freud immer wieder auf persönliche Erfahrun-
seine ersten Krankengeschichten«, notiert Arnold gen rekurriert, eigene Träume erzählt und eigene
Zweig in seiner Bilanz der deutschen Judenheit, »be- Fehlleistungen analysiert, sich damit also selbst der
wiesen ihn als großen Schriftsteller, seither hat er Überprüfung preiszugeben scheint.
auch diese Gabe immer reiner ausgebildet und durch Die zweite Ebene betrifft die Dramaturgie der
seine Terminologie und Begriffsbildung der deut- Freudschen Schriften. Freud weiht nicht nur in Vor-
schen Sprache neue Ausdrucksmittel geschenkt« worten und Einleitungen den Leser in sein jeweiliges
(Zweig 1998, 179 f.). Vorhaben ein, er hält auch dauernd Kontakt mit ihm,
Zu Freuds enormer Wirkung trug zweifellos we- beteiligt ihn an seinen eigenen Schwierigkeiten und
sentlich bei, daß er im Horizont einer klassischen Bil- Zweifeln, entschuldigt sich bei ihm für unerfüllte Er-
234 Werke und Werkgruppen

wartungen, stellt Vermutungen über von ihm zu er- Freud hat unter dem Titel des Triebhaft-Unbewußten
wartenden Widerspruch an. Hierbei handelt es sich und der Verdrängung etwas in Bewegung gesetzt, das
freilich nicht um stereotyp eingesetzte rhetorische er selbst nicht vollständig beherrschen konnte und
Floskeln, sondern um ein erstaunlich variantenrei- das zu beherrschen auch dem eigenen Programm zu-
ches Repertoire, das offenkundig für die Ausarbei- folge gar nicht möglich war.
tung der Texte unentbehrlich ist und sich kaum sonst In seinem kuriosen Briefwechsel mit dem Surrea-
bei einem Theorie-Autor findet. Dies betrifft auch listenpapst André Breton über dessen Vases commu-
die Wahl der erläuternden Vergleiche. Muschg hebt nicants versteckt Freud seinen Ärger über einen solch
hervor, wie häufig der Vergleich der Arbeit des Psy- unerwünschten Bündnispartner in einem Streit um
choanalytikers mit der des Archäologen, der Altertü- eine bibliographische Inkorrektheit, um sodann mit
mer ausgräbt und zu entziffern sucht, in Freuds dem Geständnis zu enden: »ich selbst bin nicht im
Schriften auftaucht (ebd., 43–47). Der Leser soll mit- Stande mir klarzumachen, was Ihr Surréalisme ist
graben. Er wird in ein Arbeitsbündnis mit dem Autor und will. Vielleicht brauche ich, der ich der Kunst so
gezogen und dergestalt zum Mitdenker gemacht, be- fern stehe, es gar nicht zu begreifen« (Breton
teiligt an der Erkundung der noch weitgehend uner- 1932/1973, 131). Aber der Autor, der die Technik der
schlossenen terra incognita des Unbewußten. freien Assoziation als wissenschaftliche Methode eta-
bliert hat und dem tollsten Wortwitz nachzuspüren
weiß, wird sich kaum dagegen verwahren können, als
»Herr über die Sprache«?
Bruder Christian Morgensterns und der Surrealisten
Das durch sein außerordentliches Werkgespür beein- gepriesen zu werden.
druckende Porträt, das Muschg von dem damals Und umgekehrt: Daß sich beim Sprechen Verspre-
74jährigen Freud als Schriftsteller entwirft, ist von cher einstellen, hat nicht Freud erfunden. Das gab es
der gegenwärtigen Freud-Rezeption weit entfernt. schon immer. Aber daß es keinen unschuldigen Ver-
Gleichwohl gebührt seinem Essay auch heute noch sprecher gibt und es demjenigen, der sich verspricht,
Anerkennung, weil er sich von jeglicher Versuchung nicht mehr möglich ist, sich auf eine Unkenntnis
fernhält, mittels psychoanalytischer Deutungsverfah- Freuds herauszureden, wurde erst durch den kultu-
ren und im billigen Triumph des Zwergen auf den rellen Siegeszug der Psychoanalyse möglich.
Schultern eines Riesen dem Autor am Zeug zu flik- Beides sind Beispiele für die Folgen einer Theorie,
ken. die sich nicht mit der Intention des Autors decken,
Was wäre damit gewonnen, zu behaupten, daß in die aber bei einer Theorie gerade deshalb ins Auge
Freuds Dialog mit dem Leser sich nur eine Strategie springen, weil sie gelehrt hat, der Souveränität des
der Unterwerfung verberge, um die Position eines intentionalen Bewußtseins zu mißtrauen. Durch die
übermächtigen Vaters zu etablieren? Wozu taugte der Grundannahme eines Unbewußten und der entstell-
Nachweis, der Autor Freud habe seine Fallberichte ten Wiederkehr des Verdrängten haben die Instanzen
geschönt oder seine Träume nur im Modus der des selbstpräsenten Sinns, der auktorialen Urheber-
Selbstzensur berichtet (vgl. dazu die ambivalente Ar- schaft und der Subjektzentriertheit des Ichs eine Tie-
gumentation bei Mahony 1982/1989, 226 ff.)? Und fendimension erlangt, die der restlosen Auflösung
warum sollte man dem Autor nicht die Befriedigung widersteht. Kein Traum läßt sich Freud zufolge bis zu
zugestehen, mit der er sich selbst auf die Schliche Ende deuten – und diese Erfahrung geht auch in das
kommt, wenn er z. B. in der Psychopathologie des All- Deutungsverfahren selbst ein.
tagslebens im Kapitel »Irrtümer« vermerkt, er habe Um in dieser Hinsicht die Eigenart des Werks und
sich in der Traumdeutung »einer Reihe von Verfäl- der Autorschaft präziser zu erfassen, bieten sich drei
schungen an geschichtlichen und überhaupt tatsäch- Zugänge an: zum einen über die Bedeutung von
lichem Material schuldig gemacht« (GW IV, 242), auf Sprache und Schrift; zum andern über die Frage nach
die er erst nachträglich aufmerksam wurde und die der Hermeneutik der Texte und schließlich über die
er nun als Fehlleistungen genauer aufklärt? Bestimmung von Freuds Autorschaft als Diskursbil-
Wenn Muschgs Porträt dennoch überholt er- dung.
scheint, so wird dies in der gleich anfangs formulier-
ten Prämisse greifbar, in seinen Schriften erweise sich
Einschreibungen – Deutsche Sprache
der Autor Freud »bewußt als Herr über die Sprache«
(Muschg 1930/1975, 7 f.). Aber wer anders als die Sprache und Schrift stellen zwei Pole dar, in deren
Freudsche Psychoanalyse hat solche Vorstellung von Spannungsfeld Freuds Texte angesiedelt sind. Wich-
Sprachherrschaft am nachhaltigsten unterminiert? tig ist zu bedenken, daß sie, als Paradigmen genom-
Der Autor Freud 235

men, nicht zusammenfallen, sondern als getrennt zu der heutigen Freud-Rezeption immer noch zu wenig
betrachten sind. berücksichtig wird: nämlich im Blick auf Freuds Bin-
Zunächst zur Schrift. Ein Blick auf die Reinschrift- dung an die deutsche Sprache. In Zeitgemäßes über
manuskripte Freuds oder auf eine Photographie sei- Krieg und Tod, mitten im Ersten Weltkrieg geschrie-
nes Schreibtisches genügt, um zu erkennen, welch ben, findet sich eine lange Passage über den »Kultur-
hohen Wert das Schreiben, die handschriftliche Fi- weltbürger«, die zugleich ein Selbstporträt enthält.
xierung seines Gedankengangs, für ihn besaß. Das ist Freud schildert, wie er aus den überlieferten Schätzen
für einen Autor jener Generation, der Freud ange- der Kunst und der Literatur vieler Völker sich »ein
hörte, nicht ungewöhnlich. Interessant wird die Sa- neues größeres Vaterland« zusammengesetzt habe,
che aber in dem Moment, wo sie mit den Basistheo- um mit den Worten zu schließen: »[N]iemals warf er
remen der Psychoanalyse unmittelbar zusammen- sich dabei vor, abtrünnig geworden zu sein der eige-
trifft. nen Nation und der geliebten Muttersprache« (GW
Unabhängig davon, daß Freud mit sehr unter- X, 327 f.).
schiedlichen epistemologischen Modellen operierte, Um Freuds tiefe Bindung an die deutsche Sprache
kommt dem Paradigma der Schrift eine herausgeho- zu erkennen, bedurfte es vielleicht erst eines beson-
bene Bedeutung zu. Man muß nicht erst an den klei- deren Zugangs, wie ihn das Buch des Schriftstellers
nen Text über den Wunderblock (GW XIV, 1–8) den- und Übersetzers Georges-Arthur Goldschmidt eröff-
ken, in dem Freud ein Modell für den dreifältigen net, der selber deutsch-jüdischer Herkunft ist und in
Vorgang des Einschreibens, des Löschens und der Frankreich der Judendeportation glücklich entkam.
Hinterlassung einer Spur fand. Freuds lebenslanges Goldschmidts Essay knüpft an die Erfahrung der Un-
Nachdenken über das Rätsel des Gedächtnisses, des übersetzbarkeit Freuds an, die er bei der Neuüber-
ungewollten Erinnerns wie des Vergessens, bewegt setzung von Freuds Text über Die Verneinung
sich um die Hauptvorstellung der Schrift und der machte. Goldschmidt schreibt über sein Vorhaben, es
Spur. gehe ihm »darum, die deutsche Sprache, wie sich
Jacques Derrida gebührt das Verdienst, bereits in Freud ihrer bedient hat und wie sie ihm zu denken
einer frühen Arbeit die Aufmerksamkeit auf die gab, dem französischen Publikum […] darzulegen
Schrift-Metaphern und -Modelle in Freuds Denken […]« und zugleich »die Sprache Freuds im Lichte
und Schreiben gelenkt zu haben, die das strukturali- jenes Verdrängten zu analysieren, das im National-
stisch-linguistische Konzept des Zeichens überschrei- sozialismus wirksam wurde« (Goldschmidt 1988/
ten (Derrida 1967/1972.) Heranzuziehen wäre weiter 1999, 11, 31). Für das deutsche Publikum sind diese
Hans Blumenbergs scharfsinniges Freud-Kapitel über Darlegungen umso wertvoller, als sich hier jemand
»Die Lesbarmachung der Träume«, das ebenfalls das von der Sprachverwüstung der ›Endlösung‹ den Zu-
Paradigma der Schrift ins Zentrum rückt (Blumen- gang zu den geschichtlichen Sprachkräften des Deut-
berg 1986). Auch wenn beide Philosophen eher die schen nicht verstellen läßt.
Aporien herausstellen, in die die Schrift als Begrün- An Ausdrücken wie ›Trieb‹, ›Wahn‹, ›Seele‹,
dungsparadigma der Psychoanalyse gerät, ergeben ›Scham‹ oder dem Präfix ›ver-‹ zeigt Goldschmidt
sich doch von hier aus sehr produktive Zugänge. eindringlich, wie stark die Freudsche Psychoanalyse
Freuds Grundidee, daß das System, das die Dauer- in der deutschen Sprache verwurzelt ist und wie in-
spuren der Erregung einschreibt, nicht identisch mit tensiv Freud diese Bindung selbst reflektiert hat, al-
dem System des Wahrnehmungs-Bewußtseins sein lerdings ohne die Übersetzungsproblematik zu be-
könne, bleibt in allen Versionen, die Freud zur Topik rühren. Was Goldschmidt glücklich hinzufügt, ist der
des Psychischen ausgearbeitet hat, bestehen. gleichzeitige Blick auf die Verschiedenheit der ana-
Während die Schriftmetaphorik und die Reflexion logen Sprachbildungen des Französischen, die unver-
auf Schrift sich wesentlich im gedächtnistheoreti- meidlich das Objekt der Psychoanalyse anders kon-
schen Rahmen des Einschreibens von Spuren bewegt, textualisieren, aber auch produktiv umformen. (Es
ist Freuds Verhältnis zur Sprache hauptsächlich auf ist kein Sakrileg, das Fehlen einer derartigen Sprach-
den Assoziationsreichtum der Wörter und den (glük- kompetenz der verdienstvollen englischen Standard
kenden oder mißglückenden) Vollzug des Sprechakts Edition der Werke Freuds anzukreiden).
ausgerichtet. Die Erfindung der »talking cure« beruht In dieser Perspektive erscheinen die Eigenbewe-
auf nichts anderem als auf der »alten Zauberkraft« gungen der gesprochenen Sprache nicht bloß als
der Worte (GW XI, 10). Übersetzungsproblem, sondern auch als integraler
Im Blick auf das Thema Autorschaft muß dieser Bestandteil der Psychoanalyse selbst, ihrer Ur-
Aspekt noch auf andere Weise bedacht werden, die in sprungsbindung an die deutsche Sprache zum einen
236 Werke und Werkgruppen

und ihres universalistischen Wissenschaftsanspruchs die Figuralität des sprachlichen Ausdrucks, die Re-
zum andern. Man kann nun aus Goldschmidts Über- präsentation des Autors im Text, die Gegenstrebigkeit
legungen die näher zu prüfende Hypothese ableiten, der Sinnproduktion: Das sind Eigenschaften des Tex-
daß, gerade weil die Unübersetzbarkeit der Schriften tes, die der Annahme einer restlosen Präsenz des
Freuds so eng mit ihrem Gegenstand (Unübersetz- Sinns im Text widerstreiten. Entstellungen und Ver-
barkeit des Traums, der Symptome etc.) zusammen- schiebungen bilden eine ›Grundqualität‹, die keines-
hängt, sich mit der geglückten Übertragung in eine wegs auf den engeren Kreis literarischer und poeti-
andere Sprache diese zirkelhafte Verklammerung auf- scher Texte beschränkt bleibt, sondern ebenso in
lösen und sich darin eine polykulturelle Wirksamkeit theoretischen Texten wirksam ist. Sie erfordert die
der Psychoanalyse erst eigentlich entfalten könnte. Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit ihrer
Lektüre; denn diese Texte sind in einem Maße der
Eigenbewegung des Sprachlichen ausgesetzt, die sich
Kryptologie der Texte
nicht restlos kontrollieren läßt.
Ein weiteres Problem stellt sich mit der Frage, wie die Die Radikalität des Aufklärers Freuds, das Aben-
Texte Freuds zu lesen seien. In der späten Schrift Der teuer seiner Schreib- und Theorieproduktion, er-
Mann Moses und die monotheistische Religion gibt es schließt sich dann gerade nicht in lehrbuchartigen
eine längere Passage, in der Freud überlegt, wie mit Zusammenfassungen, sondern in der Verfolgung je-
den Ungereimtheiten der biblischen Quellen zu Mo- ner Prozesse, in denen die Mühen der Begriffsbil-
ses – »auffällige Lücken, störende Wiederholungen, dung und die Widerspenstigkeit des Gegenstands am
greifbare Widersprüche« – umzugehen sei. Werk sind.
Dann heißt es: »Man möchte dem Worte ›Entstel- Daß Freud sich z. B. ernstlich genötigt sah, das
lung‹ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch Buch vom Mann Moses, der ein Ägypter war, zu-
hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. nächst als einen »historischen Roman« zu beginnen
Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung (vgl. Grubrich-Simitis 1993), ist dann keine literari-
verändern, sondern auch: an eine andere Stelle brin- sche Selbstüberschätzung, sondern Teil des fertigge-
gen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in stellten Textes selber, seiner Darstellungsimpulse und
vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das seiner Problematik. Oder wenn Freud notiert, sein
Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo ver- Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten
steckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem sei »direkt ein Seitensprung von der ›Traumdeutung‹
Zusammenhang gerissen« (GW XVI, 144). Freud her« und er habe es schreiben müssen, weil Fließ ihn
wiederholt hier eigentlich nur, was er bei der Ent- auf den witzigen Charakter vieler Träume aufmerk-
schlüsselung des Traums oder anderer psychischer sam gemacht habe (GW XIV, 91), so ist damit wenig
Phänomene immer schon verfolgt hat. erklärt. Aber die genaue Analyse der eigenartigen
Wäre dies nun ein sozusagen vom Autor vorgege- Konstruktion und Komposition des Buchs, in dem
benes kryptologisches Dechiffrierungsmodell, nach bis zum Schluß das ungelöste Verhältnis von Witz
dem seine eigenen Texte zu lesen seien? Nichts wäre und Komik die Untersuchung vorantreibt, kann er-
freilich unproduktiver, als derart verfahren zu wol- weisen, wie das selbstauferlegte Vorbild der Traum-
len. Was hier »Kryptologie der Texte« genannt wird, deutung immer wieder von der Textbewegung unter-
ist etwas ganz anderes. Es geht nämlich um die Lek- laufen wird.
türeweisen, die das Problem der Sinn-Interpretatio- Die Kryptologie der Texte – also die Freud-Lektüre
nen in der Lektüre noch einmal thematisieren. Und im Lichte avancierter Texttheorien – führt nicht al-
hier hat Freud ganz wesentlich vorgearbeitet, auch lein zu Einsichten in schriftstellerische Dimensionen
wenn er die Folgen am wenigsten vor Augen gehabt des Freudschen Werks, welche die etablierte Psycho-
haben dürfte. analyse nach Freud immer ausgeblendet hat. Sie hat
Wenn Freuds Aufmerksamkeit den Bildungen der vor allem auch zur Folge, daß Freuds Texte anders als
Verdrängung und Entstellung, der Fehlleistungen in Gestalt dürrer Theoreme in den Geistes- und Kul-
und der Symptome gilt, so hat er die Tür zu einer turwissenschaften eine Heimat gefunden haben.
Theorie des Textes und der Textualität (und ver- Wenigstens ein herausragendes Beispiel muß hier
gleichbarer kultureller Ausdrucksformen) aufgesto- genannt werden: Freuds Schrift über Das Unheim-
ßen, die sich vom alten hermeneutischen Modell ei- liche. Sie stellt in ihrer Textgenese wie in ihrer Textge-
nes erschließbaren und verfügbaren Sinns, der hinter stalt eine der merkwürdigsten Arbeiten dar, die Freud
den Mehrdeutigkeiten der textlichen Artikulation zu verfaßt hat. Am Anfang heißt es, daß ein »abseits lie-
gewinnen wäre, abkehrt. Die Polysemie der Wörter, gendes« Gebiet erschlossen werden solle. Am Ende
Der Autor Freud 237

heißt es: »Wir sind auf dieses Gebiet der Forschung man mußte schon blind und taub sein, um nicht zu
ohne rechte Absicht geführt worden […]« (GW XII, sehen und zu hören; und umgekehrt: nein […] kein
229, 267). Bis zuletzt sieht sich Freud im Fortgang sichtbares oder lesbares Wort sagt das, worum es jetzt
des Textes in unheimliche Wiederholungen verwik- geht, es handelt sich vielmehr um das, was zwischen
kelt, erinnert sich an eigene peinliche Erlebnisse, den Zeilen (den Worten) gesagt wird […]« (ebd.,
fragt sich, in welche Irre er sich mit diesem Thema 28). Diskursivitätsbegründer operieren am Ur-
hat führen lassen, und behilft sich mit einer stän- sprung, den sie selber setzen. Daher rührt der spezifi-
digen Umänderung der Textstrategie. Die Re-Lektüre sche Sog, die unablässige Anziehungskraft ihrer
dieses Freud-Textes hat den Begriff des Unheimli- Texte.
chen in den Kulturwissenschaften erst eigentlich eta- Seltsamerweise läßt Foucault einen grundlegenden
bliert und mit einer großen Zahl von Untersuchun- Punkt außer acht. Damit dieses Spiel gespielt werden
gen einen ganz eigenen Diskurs begründet (Cixous und der Sog sich entfalten kann, bedarf es eines be-
1972; Derrida 1993/1996; Hertz 1985/2001; Lindner sonderen Zusammentreffens von Wissenschaftsent-
2006). wurf und literarischer Autorschaft. Das ›Schriftstelle-
rische‹ ist hier nicht äußerlich, etwa als Mittel der
Der Autor als Diskursivitätsbegründer
Popularisierung eingesetzt, sondern Teil des Ent-
Der Freudsche Begriff der Übertragung ist jenseits wurfs selbst. Daß Freuds Werk, völlig unbeschadet
seiner klinischen Verwendung auch insofern von Be- seiner widersprüchlichen Rezeption, immer wieder
deutung, als er den Blick darauf lenkt, daß Freuds die Rückkehr zu den Texten einfordert und einfor-
Texte immer wieder gelesen und sozusagen nie aus- dern wird, beruht auf nichts anderem als auf der lite-
und zu Ende gelesen werden. Freuds anhaltende Wir- rarischen Autorschaft Freuds.
kung besteht unabhängig von der Geschichte der
psychoanalytischen Schulen oder der Zurückweisung Literatur
der Psychoanalyse durch andere Wissenschaften. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M.
1986.
Warum will man also trotzdem ›Freud‹ lesen? Breton, André: Die kommunizierenden Röhren. München 1973
Michel Foucault hat in seinem einflußreichen Auf- (frz. 1932).
satz Was ist ein Autor? eine bestimmte Art von Au- Cixous, Hélène: La fiction et ses fantômes. Une lecture de
toren »Diskursivitätsbegründer« genannt. Er grenzt l’Unheimliche de Freud. In: Poétique III (1972), 199–216.
Derrida, Jacques: Freud und der Schauplatz der Schrift. In:
sie von der allgemeinen Kategorie berühmter Denker Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972,
und Forscher ab, die neue Diskurse etabliert haben 302–350 (frz. 1967).
und im kulturellen Gedächtnis als große Namen ge- –: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und
führt werden. Zwar erstreckt sich auch bei ihnen die die neue Internationale. Frankfurt a. M. 1996 (frz. 1993).
Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur
Autor-Funktion über die bloße Verfasserschaft be- Literatur. München 1974, 7–31 (frz. 1969).
stimmter Werke hinaus; aber diese Funktion wird in Goldschmidt, Georges-Arthur: Als Freud das Meer sah. Freud
den Diskursen, die sie in Gang gesetzt haben, gewis- und die deutsche Sprache. Zürich 1999 (frz. 1988).
sermaßen aufgezehrt. Niemand, der über Genfor- Grubrich-Simitis, Ilse: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Doku-
mente sprechen machen. Frankfurt a. M. 1993.
schung schreibt, muß deshalb die Schriften des Jesui- –: Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay
tenpaters Mendel neu lesen. [1991]. Frankfurt a. M. 1994.
Wenn Foucault hingegen ausdrücklich Freud und Hertz, Neil: Freud und der Sandmann. In: Ders.: Das Ende des
Marx als Diskursivitätsbegründer bezeichnet, so Weges. Die Psychoanalyse und das Erhabene. Frankfurt a. M.
2001, 127–156 (engl. 1985).
spricht er ihnen als Autoren einen höchst seltenen Lindner, Burkhardt: Freud liest den »Sandmann«. In: Klaus
Gründungsakt zu. Bei den Theorien von Freud und Herding/Gerlinde Gehrig (Hg): Orte des Unheimlichen. Die
Marx bleibt »die Begründung einer Diskursivität he- Faszination verborgenen Grauens in Literatur und Bildender
terogen«, d. h. widerständig in Bezug zu »ihren späte- Kunst. Göttingen 2006 (im Erscheinen)
Mahony, Patrick J.: Der Schriftsteller Sigmund Freud. Frankfurt
ren Transformationen« (Foucault 1969/1974, 26). a. M. 1989 (engl. 1982).
Dazu gehört, daß sich in periodischen Abständen der Muschg, Walter: Freud als Schriftsteller [1930]. München 1975.
Ruf nach der Rückkehr zum Autor als Rückkehr zum Pontalis, Jean-Bertrand: Das Beunruhigende an den Wörtern.
Ursprung geltend macht. Foucaults Erklärung für In: Ders.: Die Macht der Anziehung. Psychoanalyse des
Traums, der Übertragung und der Wörter. Frankfurt a. M.
dieses Phänomen läuft darauf hinaus, daß in diesen 1992, 79–93 (frz. 1990).
Texten ein »Riegel des Vergessens« eingebaut sei, der Zweig, Arnold: Freud und die Psychoanalyse. In: Ders.: Bilanz
sozusagen ein ständiges Spiel der Anziehung und Ab- der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch. Berlin 1998,
stoßung eröffnet, in dem man sagt: »[D]as war ja 178–181.
schon da, man brauchte nur zu lesen, alles steht da, Burkhardt Lindner
239

III. Themen und Motive


1. Kulturbegriff

Freud entwickelte seine Vorstellungen zur Kultur vor heißt: »all das, worin sich das menschliche Leben
allem in seinen kulturtheoretischen und gesell- über seine animalischen Bedingungen erhoben hat«
schaftskritischen Schriften, die er überwiegend erst (GW XIV, 326) und bleibt doch an eben diese Be-
nach den grundlegenden Arbeiten zur Individualpsy- dingungen immer gebunden. Denn es ist nicht nur
chologie in der Zeit vor und nach dem Ersten Welt- die äußere, sondern auch die innere, durch Triebe
krieg verfaßte. Ausgehend von der Erkenntnis, daß bestimmte Natur, die durch Kontrollinstanzen do-
der Mensch seine ursprüngliche, auf unmittelbare mestiziert und gelenkt werden muß, damit Kultur-
Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Existenzweise entwicklung überhaupt beginnen kann, wie es in Die
nur durch konflikthafte, nicht selten pathogene Pro- Widerstände gegen die Psychoanalyse gefaßt wird:
zesse umzustrukturieren vermag, fragt er nach den »Die menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die
gesellschaftlichen Zusammenhängen, welche den eine ist die Beherrschung der Naturkräfte, die andere
psychosozialen Entwicklungsprozeß erst ermögli- die Beschränkung unserer Triebe« (GW XIV, 106).
chen und doch so prekär werden lassen. Es geht ihm Nun ist der Mensch zwar durch seine Triebe be-
also um nichts weniger als um die Frage, wie sich stimmt, die Freud als »Repräsentanz[en] einer kon-
Kultur als unumgängliche Vergesellschaftungsform tinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle«
und Antagonismus zur Natur des Menschen fassen (GW V, 67) faßt, aber er ist auch das einzige Lebewe-
läßt. sen, das fähig ist, sie zu lenken und sozial erwünsch-
In einer zunächst ganz basalen Festlegung resü- ten Zielen zu unterstellen. Somit stehen die Triebe in
miert Freud in Das Unbehagen in der Kultur, »daß das Widerspruch zur Kultur und sind doch zugleich Be-
Wort ›Kultur‹ die ganze Summe der Leistungen und dingung ihrer Möglichkeit, da erst durch die Ein-
Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben schränkungen und Lenkung der Triebe Kulturlei-
von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die stungen überhaupt erbracht werden können.
zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen ge- Freuds Kulturbegriff ist in kritischer Absicht kon-
gen die Natur und der Regelung der Beziehungen der zipiert, da er die Reflexion auf die Gestehungskosten
Menschen untereinander« (GW XIV, 448 f.). Damit von Kultur für den Einzelnen mit einschließt und
wird Kultur in Gegensetzung zur Natur bestimmt von daher in enger Verbindung, teilweise auch syn-
und als Fähigkeit des Menschen gefaßt, seine natür- onym, mit ›Zivilisation‹ oder ›Gesellschaft‹ verwen-
liche Umwelt im Dienste der eigenen Subsistenzsi- det wird. Deshalb nimmt Freud mit seiner triebfun-
cherung durch zweckrationales Handeln zu unter- dierten Konzeption von Kultur auch eine dezidiert
werfen und zu kultivieren. Gegenüber einer als ur- skeptische Position gegenüber einem normativ-em-
sprünglich und vorgängig gedachten Natur wird Kul- phatischen Kulturbegriff ein, der nur jene ästhetisch-
tur aber nicht als deren prinzipiell Anderes, sondern künstlerischen und ethisch-moralischen Errungen-
evolutionstheoretisch als ihre spezifische Weiterent- schaften umfaßt, die den Idealforderungen einer Ge-
wicklung innerhalb der menschlichen Gattung ver- meinschaft zu entsprechen suchen. So ist auch in-
standen. Kultur setzt durch jenen gravierenden Ent- dividuelle Freiheit für ihn kein Wert, der durch
wicklungsschritt ein, mit dem der Mensch fähig wird, entsprechende kulturelle Organisation erreicht wer-
seine Natur zu beherrschen und zu kontrollieren, um den kann, da er von der Annahme ausgeht, daß die
dadurch auch verbindliche Regeln und Organisati- Möglichkeit zur ungehemmten Triebabfuhr für den
onsformen schaffen zu können, mit denen die Le- Einzelnen vor aller Kultur ohnehin am größten war.
bensmöglichkeiten innerhalb einer Gemeinschaft Im Konflikt zwischen individuellen Triebansprüchen
verbessert und gesichert werden. und kulturellen Forderungen verfangen, sind die
Kultur umfaßt, wie es in Die Zukunft einer Illusion Kulturleistungen des Menschen notwendigerweise
240 Themen und Motive

Kompromißbildungen. Gerade dadurch eröffnet sich Freud versuchte, mit dieser Idee kein reales Ge-
jedoch auch eine spezifische Lesbarkeit von Kultur, schehen zu rekonstruieren, sondern seinen triebfun-
denn insofern kulturelle Formen und Praktiken als dierten Ansatz von Kultur zu einer Gedächtnisge-
Ausdruck von Triebregelungen im Dienste sozialer schichte auszuweiten. Aus einer Reihe von Befunden
Verträglichkeit und Wertschöpfung verstanden wer- zur Menschheitsgeschichte konstruierte er eine kohä-
den, vermag psychoanalytische Deutung auch die in rente Ereignisfolge. Denn es war sein Anliegen, den
ihnen Form gewordenen Triebansprüche und Entste- epochalen Umbruch vom Naturzustand zur Kultur,
hungsbedingungen zu erschließen. Freuds Kulturbe- der sich real als kumulative kulturelle Evolution über
griff geht damit über enge definitorische Festlegun- eine lange Zeit und viele Generationen hinweg voll-
gen weit hinaus. Denn nach seinem Ansatz vermag zogen haben muß, in einer szenisch verdichteten Er-
erst die Analyse konkreter kultureller Objektivatio- zählung zu verdeutlichen (GW XIV, 458 f.). Dieses
nen Aufschluß über Entstehungsbedingungen und Narrativ entfaltet die Vorstellung von einem Urzu-
Bedeutungsdimensionen von Kultur zu geben. stand, der durch eine ›revolutionäre‹ gemeinschaft-
liche Tat beendet wurde: daß nämlich die Menschen
in einer vorhistorischen Frühzeit als Urhorde unter
Die Entwicklung von Kultur
der Herrschaft eines übermächtigen Vaters lebten,
aus dem Vatermord
der die heranwachsenden Söhne aus Eifersucht ge-
Da der Ursprung kultureller Entwicklung in einer hi- tötet oder vertrieben hat, bis sich eine Brüderhorde
storisch uneinholbaren Vorzeit liegt, der direkt »nir- gegen ihn verbündete, ihn tötete und verspeiste. Um
gends Gegenstand der Beobachtung« (GW IX, 171) die Brüderhorde zu stärken, wurden wechselseitige
werden kann, ist er nur indirekt erschließbar und so- Schonung und sexuelle Abstinenz gegenüber den
mit prinzipiell spekulativ. Freud geht in seinen kul- Frauen des Vaters beschlossen und das Gebot der
turkritischen Schriften jedoch von der Annahme aus, Exogamie durchgesetzt. Über das Tötungs- und In-
daß Kultur immer auch Gedächtnis ihrer selbst ist, zesttabu konnte so »die erste Form einer sozialen Or-
insofern sie über Artefakte auch ihre eigene Entste- ganisation mit Triebverzicht« (GW XVI, 188) eta-
hungsgeschichte speichert und dem rekonstruieren- bliert und eine Art »Gesellschaftsvertrag« (ebd.) ge-
den Verstehen grundsätzlich zugänglich macht. Nicht schlossen werden. »Diese Ersetzung der Macht des
allein durch Überreste und Funde früherer Kulturen Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der ent-
oder mündliche und schriftliche Tradition kann scheidende kulturelle Schritt« (GW XIV, 455), denn
demnach also Wissen um ursprüngliche Gescheh- die der Gruppe überantwortete Macht artikuliert sich
nisse und Erfahrungen tradiert werden, sondern nun in Normen und Regularien, durch die zum
auch durch symbolische Ausdrucksformen. Über ar- Schutz aller die triebgesteuerte Gewaltbereitschaft
chäologische und historische Erklärungsansätze zur und Sexualenergie eingedämmt werden. Freud be-
Entstehung von Kultur hinausgehend versuchte stimmt damit den Beginn von Kultur als Übergang
Freud, das kulturelle Gedächtnis zu erschließen, das von der freien Triebabfuhr zu einer sozialen Organi-
insbesondere in den Geboten des sozialen Miteinan- sationsform, die nur um den Preis der Triebbe-
ders seinen Ausdruck findet. So folgert er aus dem schränkung entstehen konnte. Neben diesen pragma-
ubiquitär gültigen Tötungsverbot als zentralem ge- tischen, den unmittelbaren Überlebenskampf betref-
sellschaftlichen Regulativ, daß ihm ein starkes Begeh- fenden Motiven, die zur Kultur führten, ist in Freuds
ren zugrundeliegen muß: »Was keines Menschen Narrativ des kulturellen Ursprungs aber entschei-
Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten, es dend, daß erst durch den Vatermord die für die kul-
schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung des turelle Entwicklung unabdingbare Instanz etabliert
Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß werden konnte: das Gewissen. Denn damit das durch
wir von einer unendlich langen Generationsreihe von die einmalige Tat erreichte kulturelle Niveau erhalten
Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie viel- werden kann, muß der äußeren Handlung eine Ver-
leicht noch uns selbst, im Blute lag« (GW X, 350). In innerlichung der neuen kulturellen Regularien fol-
seiner umfänglichen Schrift Totem und Tabu entwik- gen.
kelt Freud deshalb die Vorstellung, daß am Anfang Geschah der Vatermord noch ohne Rückbindung
der Kultur ein Mord stehen müsse und die Erinne- an moralische Gebote, so steht in Freuds Narrativ
rung daran mit großem Schuldgefühl besetzt wurde. bereits die körperliche Einverleibung des Vaters für
Diese Erinnerung sank im Laufe der Zeit ins kollek- die psychische Introjektion seines Gesetzes. In Rück-
tive Unbewußte ab und wird gerade deshalb von Ge- griff auf ethnologische Studien (u. a. Lang 1905; Fra-
neration zu Generation tradiert. zer 1910) folgert Freud, daß der Totenmahlzeit als
Kulturbegriff 241

erster Gedächtnisfeier für den Ermordeten in der sünde sei als unbewußte Erinnerung die »Versündi-
weiteren kulturellen Entwicklung die Totemmahlzeit gung gegen Gottvater« (GW IX, 185) bewahrt geblie-
folgt, bei der in Stellvertretung für den Vater ein ver- ben. Vergleichbar den neurotischen »Kompromißbil-
ehrtes, gefährliches Tier verzehrt wird. Erst durch dungen« (GW XVI, 181) werde in der Religion das
symbolische Wiederholung in Ritualen kann die Er- traumatische Ereignis verdrängt, wie auch zugleich
innerung an die ursprüngliche Tat bewahrt, Schuld- die Fixierung daran bekräftigt. Religiöse Rituale wer-
bewußtsein aufgebaut und das Tötungstabu sozio- den deshalb als Inszenierungen unter »Wiederho-
moralisch bekräftigt werden, denn »das Tabu ist ein lungszwang« (GW XVI, 180) verstanden, in denen
Gewissensgebot, seine Verletzung läßt ein entsetzli- die Bindung an eine ursprüngliche Familienge-
ches Schuldgefühl entstehen, welches ebenso selbst- schichte dargestellt wird, um in dieser Form im kul-
verständlich wie nach seiner Herkunft unbekannt turellen Gedächtnis bewahrt zu bleiben. Freud analy-
ist« (GW IX, 85). Aufschlußreich ist an Freuds Nar- siert die Religion aber nicht nur wie Symptome in
rativ vom Ursprung der Kultur jenseits seiner um- einer Fallgeschichte, sondern setzt auch sein Narrativ
strittenen historischen Evidenz, daß in ihm in der vom Ursprung der Kultur als Deutungsmuster für ein
Abfolge von Entwicklungsschritten ein Curriculum zugrundeliegendes kulturelles Trauma ein.
der Enkulturation entwickelt wird: Eine Tat (Tötung Die Religion gewinnt für Freuds Kulturanalysen
des Vaters), welche die Struktur des sozialen Mitein- herausragende Bedeutung, weil ihre normative Ver-
ander entscheidend verändert (Etablierung der Brü- faßtheit und rituelle Praxis in exemplarischer Weise
derhorde), geht mit der Reorganisation der psych- kulturelle Artefakte bereitstellt, aus denen Rück-
ischen Repräsentanzen einher (Triebverzicht) und schlüsse auf den Prozeß des Triebverzichts gezogen
zieht die Notwendigkeit der Erneuerung kultureller werden können. Insofern nämlich mit der Verinnerli-
Praxis mit sich (Rituale der Wiederholung), damit chung der Gebote im einzelnen eine Gewissensin-
die neuen kulturellen Gebote (Tabus) dem Gedächt- stanz aufgebaut wird, richtet sich die ursprünglich
nis eingeschrieben (Verinnerlichung) und vom Ge- auf äußere Objekte gerichtete Aggression nun gegen
wissen überwacht werden können. Dieses Narrativ das eigene Ich. Das Gewissen entwickelt mithin eine
vom Ursprung kultureller Entwicklung, bei der die kulturschaffende Eigendynamik, denn es wurde nicht
Herausbildung einer paternal fixierten, schuldbela- nur durch Triebverzicht aufgebaut, sondern fordert
denen Erinnerungskultur im Zentrum steht, war für diesen vom Ich auch immer weiter ein. Freud geht
Freud so grundlegend, daß er es auch in seinen späte- sogar davon aus, daß der Triebverzicht als unabding-
ren kulturtheoretischen Schriften immer wieder auf- bare Bedingung von Kultur in der Religion gefeiert
gegriffen und vor allem für seine Deutung der Reli- wird, daß er symbolisch einer Gottheit zum Opfer
gionsgeschichte eingesetzt hat. gebracht wurde, um verheiligt werden zu können. Er
liest aber nicht nur symbolische Formen und Riten
der Religion im Sinne einer kulturellen Gedächtnis-
Religion als Gedächtnisgeschichte
geschichte, sondern auch die psychosozialen Folgen,
von Kultur
die für den Einzelnen aus der Notwendigkeit der
Wie Freud in seiner umfänglichen Schrift Der Mann Kompromißbildung entstehen.
Moses und die monotheistische Religion darlegte, voll-
zieht sich die Entwicklung der Religion vom Totemis-
Kulturentwicklung und Kulturarbeit
mus über den Polytheismus bis zum Monotheismus
mit der »Wiederkehr des einen, einzigen, unum- Davon ausgehend, daß prinzipiell jedem Menschen
schränkt herrschenden Vatergottes« (GW XVI, 189). aufgrund seiner Triebausstattung kulturelle Anpas-
Bei dieser These stützt er sich auf Erkenntnisse aus sungsleistungen abverlangt werden müssen, nimmt
seiner Individualpsychologie, denn analog zu früh- Freud an, daß diese Kompromißbildungen immer
kindlichen Erfahrungen, die erst nach einer Latenz- schon an vorgängige kulturelle Entwicklungen an-
zeit wieder aktiviert werden, könne auch in der Ent- knüpfen: »In solcher Art steht der einzelne Mensch
wicklung der Religion der Urvater erst nach einer nicht nur unter der Einwirkung seines gegenwärtigen
Phase des Vergessens im monotheistischen Gott wie- Kulturmilieus, sondern unterliegt auch dem Ein-
der erinnert werden. Die Religion wird als Gedächt- flusse der Kulturgeschichte seiner Vorfahren« (GW X,
nisgeschichte kultureller Entwicklung gefaßt, denn 333 f.). Die Fähigkeit zur Kompromißbildung wird
die Menschheit habe sich mit der christlichen Lehre demnach biologisch ›erinnert‹, indem sie über gene-
»am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Ur- tische Dispositionen weitervererbt wird: »Die Men-
zeit« (GW IX, 185) bekannt und in der Idee der Erb- schen, die heute geboren werden, bringen ein Stück
242 Themen und Motive

Neigung (Disposition) zur Umwandlung der egoisti- und egoistische Strebungen in altruistische zu ver-
schen in soziale Triebe als ererbte Organisation mit, wandeln, je mehr die sittlichen Anforderungen stei-
die auf leichte Anstöße hin diese Umwandlung gen. Er befürchtet jedoch, daß innerhalb der Gesell-
durchführt« (GW X, 333). Die Kultureignung des schaft die Tendenz besteht, »die Anzahl der kulturell
Menschen verdankt sich also einem bereits angebo- veränderten Menschen arg zu überschätzen« (GW X,
renen Teil der Kulturtauglichkeit und einer aktuell 335), da nur einige die ethischen Normen akzeptiert
von den jeweiligen Zeitumständen geforderten An- und internalisiert haben und ein beträchtlicher Teil
passung. lediglich kulturell gemäß handelt, so lange sich dies
Diese Kompromißbildungen vollziehen sich, wie auch mit den eigenen Interessen in Einklang bringen
Freud dies in Das Unbehagen in der Kultur entfaltet läßt. Diese Form ›kultureller Mimikry‹ ist Produkt
hat, als Kampf »zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb der Kultur und unterminiert sie zugleich als Ideal-
und Destruktionstrieb« (GW XIV, 481). Kultur wird form der Vergesellschaftung: »Es gibt also ungleich
gleichsam als energetisches Triebausgleichsystem ge- mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Men-
dacht, denn ihre Aufgabe ist es, den Hauptvertreter schen, ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob
des Todestriebes, den Aggressionstrieb, einzudäm- ein gewisses Maß von Kulturheuchelei nicht zur Auf-
men und den Lebenstrieb kulturfördernd umzulei- rechterhaltung der Kultur unerläßlich sei, weil die
ten. Als Kulturarbeit faßt Freud die »Fähigkeit zur bereits organisierte Kultureignung der heute leben-
Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Ein- den Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zu-
flusse der Erotik« (GW X, 334). Da der Sexualtrieb reichen würde« (GW X, 336).
beim Menschen wegen fehlender Periodizität stärker In der Kulturheuchelei macht Freud eine Haupt-
ausgebildet ist als bei den meisten höheren Tieren, ist quelle des Leidens innerhalb sozialer Gemeinschaften
es ihm möglich, seine Sexualenergien zu verschieben, aus, da die Zurücknahme von aggressiven Strebun-
ohne daß sie an Intensität abnehmen. Die zur Kul- gen zwar Gebot des sozialen Miteinanders ist, aber
turarbeit notwendigen Kräfte werden größtenteils dennoch jeder mit unterschiedlichen Formen von
aus der Unterdrückung »der sogenannt perversen An- Aggression konfrontiert wird. Kultur kann zwar die
teile der Sexualerregung gewonnen« (GW VII, 151), unmittelbare Gewaltbereitschaft des Einzelnen teil-
also aus jenen, die kulturell nicht erwünscht sind, wie weise durch Rechtsvorschriften und eigene Gewalt-
dies durch Gebote oder Verbote wie etwa das Inzest- ausübung in Schach halten, »aber die vorsichtigeren
tabu angezeigt ist. Auch wenn die Stärke des Sexual- und feineren Äußerungen der menschlichen Aggres-
triebes individuell unterschiedlich ist und damit sion vermag das Gesetz nicht zu erfassen« (GW XIV,
auch der Anteil, der für die Kulturarbeit zur Verfü- 472). Gerade weil egoistische Strebungen des Einzel-
gung gestellt werden kann, sieht Freud in der Unter- nen durch kulturell akzeptierte Formen kaschiert
drückung der Aggression und Sublimierung libidinö- werden können und deshalb nicht ohne weiteres in
ser Energien doch »ein von der Kultur erzwungenes ihrer Kulturfeindlichkeit erkennbar sind, bilden sie
Triebschicksal« (GW XIV, 457). Ja, er nimmt sogar innerhalb der Gesellschaft ein unterschätztes Gewalt-
an, daß diese Formen der »›Kulturversagung‹« (GW potential, das jederzeit explodieren kann.
XIV, 457) das große Gebiet der sozialen Beziehungen Die Aggressionsbereitschaft innerhalb der Kultur
überhaupt beherrscht und hatte bereits in der Ana- wird, wie Freud in Zeitgemäßes über Krieg und Tod
lyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben gefordert, wie auch Massenpsychologie und Ich-Analyse ausführ-
»das Individuum mit der geringsten Einbuße an Ak- lich darlegt, besonders evident, wenn sie sich, wie be-
tivität kulturfähig und sozial verwertbar zu machen« sonders deutlich und kulturell sanktioniert, im Krieg
(GW VII, 376). Benannt wird damit das Dilemma, gegen Fremde außerhalb der eigenen Gruppe richten
daß auch der gesellschaftskritische Einzelne um der kann. Während also die Unterdrückung oder Ka-
sozialen Integration willen gezwungen ist, ein Gutteil schierung der Aggression nach innen Bindungsener-
der kulturellen Forderungen zu erfüllen. gien freisetzt, so stärkt selbst bei eng benachbarten
oder einander nahe stehenden Gemeinschaften die
wechselseitige Aggressionsneigung den »›Narzißmus
Kulturheuchelei und Anpassungsprozesse
der kleinen Differenzen‹« (GW XIV, 474). Denn
Freud wußte aus der therapeutischen Arbeit um die- wenn keine Empathie für den anderen aufgebaut
ses Dilemma und geht davon aus, daß sich Kultur- werden kann, so erscheint er als Fremder, dem gegen-
fortschritt und Triebunterdrückung reziprok zuein- über die Aggressionen zum Tragen kommen, welche
ander verhalten, insofern der Einzelne um so mehr innerhalb der eigenen Gruppe durch libidinöse Stre-
gezwungen wird, seine Triebwünsche zurückzustellen bungen gebunden werden können. Wie Freud aus-
Kulturbegriff 243

führt, können sich Kulturgemeinschaften nur eta- während andere dafür große Opfer bringen müssen
blieren und erhalten, wenn sich ihre Mitglieder in oder als Kulturheuchler eine »doppelte Moral« (GW
wechselseitigen Identifizierungen auch aneinander VII, 144) herausbilden. Er folgert, daß es bei der Un-
binden. Libidinöse Bindungsenergie könne dann terdrückung des Sexualtriebes für die meisten Men-
aufgebaut werden, wenn sich die Gruppenmitglieder schen eine Grenze gibt, über die hinaus ihre Kon-
nach festgelegten Kriterien als einander ähnlich er- stitution den Kulturanforderungen nicht folgen
kennen und sich auf gemeinsame Idealvorstellungen kann. Denn wenn es nicht gelingt, die sexuellen
verständigen können. Durch herausragende Persön- Triebe in kulturell erwünschter Form zu unterdrük-
lichkeiten oder Idealgestalten, mit denen repräsen- ken oder durch Sublimierung in Kulturleistungen zu
tiert wird, was in der Kulturentwicklung noch nicht transformieren, so komme es zum Ausbruch neuro-
erreicht wurde oder prinzipiell unerreichbar bleibt, tischer Störungen. Damit werde die kulturelle Sexu-
könne das »Über-Ich einer Kulturepoche« (GW XIV, almoral, die gerade zu intensiver und produktiver
501) aufgebaut werden. Freud kritisiert dabei jedoch, Kulturarbeit befähigen und anreizen soll, kontrapro-
daß sich die ethischen Forderungen des kulturellen duktiv, da der Einzelne so geschädigt wird, daß auch
Über-Ichs nicht genügend an der Konstitution des das kulturell gewünschte Ziel nicht mehr erreicht
Menschen orientieren, denn die Beherrschung der werden kann. Freud verdeutlicht diese These, indem
Triebe lasse sich nicht über eine bestimmte Grenze er darlegt, daß die kulturelle Sexualmoral seiner Zeit
hinaus steigern, ohne daß es zur Auflehnung oder »die Verpönung eines jeden Sexualverkehres mit Aus-
Neurose führt. nahme des ehelich-monogamen« (GW VII, 144) for-
dere und durch das Gebot vorehelicher Abstinenz die
Potenz der Männer schwächen und die Frigidität der
Die Fehlbarkeit von Kultur
Frauen begünstigen würde. Freud vermutet sogar,
Insofern die kulturelle Regelungsfunktion zur Trieb- daß sich die Folgen dieser kulturellen Sexualmoral
unterdrückung den Einzelnen in seinem Freiheitsbe- durch die ›nervösen‹ Mütter auch auf die nächste Ge-
dürfnis dauerhaft beschneidet und durch Zwang neration übertragen könnte und es somit insgesamt
kränkt, diagnostiziert Freud eine pathogene Grund- zu einer Schwächung der Kultur komme. Wie Freud
struktur der Kultur. Freud zeigt damit eine Dialektik dies in Zwangshandlungen und Religionsübungen, Die
der Kulturentwicklung auf, bei der das, was durch sie »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität
vermieden werden soll, auch von ihr erzeugt wird und Das Unbehagen in der Kultur dargelegt hat, ver-
und somit der Mensch der Kultur »das Beste, was wir steht er die durch die kulturelle Sexualmoral begün-
geworden sind, und ein gut Teil von dem, woran wir stigten Neurosen als Symptome einer Krankheit der
leiden« (GW XVI, 25 f.) verdankt. Denn der Einzelne, Kultur der Moderne. Denn wenn die Kulturanforde-
der durch Reaktions- und Kompensationsleistungen rungen innerhalb einer Sozietät so groß sind, daß die
die psychosozialen Kosten für die kulturellen Ideale Mitglieder in kulturspezifische Krankheiten gedrängt
zu tragen hat, richtet sich gegen Anforderungen, die werden, so müsse von einer »Pathologie der kulturel-
er nicht oder nur um den Preis der Verleugnung zu len Gemeinschaften« (GW XIV, 505) gesprochen
erfüllen vermag. Kultur produziert demnach ein Un- werden. Indem Freud also die triebregulierenden
behagen, das sich ganz besonders der kulturellen Se- Kompromißbildungen der Menschen wie personale
xualmoral verdankt, wie Freud dies explizit in seiner Objektivationen von Kultur versteht und deren pa-
Schrift Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne thologische Erscheinungsformen als Symptombil-
Nervosität ausführt. dungen der Kultur analysiert, führt er Individualpsy-
Mit sozial-anamnestischem Impetus führt er die chologie und psychoanalytische Kulturtheorie un-
Zunahme nervöser Erkrankungen auf den Epochen- mittelbar zusammen.
umschwung zur urbanen Moderne zurück und wird
damit zum dezidierten Zeitkritiker. Im Konkreten
Das Verfahren der Kulturanalyse
wird die wachsende Nervosität auf eine überkom-
mene kulturelle Sexualmoral zurückgeführt, die den Freud geht davon aus, dass sich die innerpsychischen
Anforderungen der modernen Gesellschaft gerade Antagonismen in der Kulturentwicklung wie auf ei-
nicht mehr gerecht wird. An diesem Beispiel illu- ner »weiteren Bühne« (GW XVI, 33) abspielen. Seine
striert Freud noch einmal eindringlich seine grund- Kulturtheorie ist wie seine Individualpsychologie
legende Erkenntnis, daß es nur einigen gelingen durch antagonistische Prinzipen bestimmt: Eine als
kann, sich mit ihrer triebdynamischen Ausstattung in natürlich gesetzte Grundausstattung des Menschen
Einklang mit den Kulturanforderungen zu bringen, gerät mit einem in der Entwicklung später hinzutre-
244 Themen und Motive

tenden Prinzip in konfliktreiche Auseinandersetzung. Freud schließt aus der Erkenntnis, daß im mensch-
So wird in der Individualentwicklung das Lust- gegen lichen Seelenhaushalt immer noch Bedürfnisse und
das Realitätsprinzip verhandelt, in der Kulturent- Artikulationsweisen aus früheren Entwicklungssta-
wicklung die Triebe gegen die kulturellen Gebote dien zu finden sind, daß auch in der Kultur jede frü-
und Ansprüche. Ausgehend von den Ergebnissen sei- here Entwicklungsstufe in verdeckter Form erhalten
ner therapeutischen Arbeit, schließt Freud von der bleibt. So kann Fortentwicklung zwar gehemmt sein,
Individualpsychologie auf die von ihm so genannte aber Regression jederzeit möglich werden, denn »das
Massenpsychologie. Die Kultur wird dabei wie die primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergäng-
Organisationsform eines Kollektivsubjekts gefaßt, lich« (GW X, 337).
das durch ein kulturelles Über-Ich, mehr aber noch So versteht Freud ›Kultur‹ letztlich als Kosmos, in
durch ein kollektives Unbewußtes gelenkt wird. dem alle Entwicklungsstufen aktualisiert werden, da
Während dem kulturellen Über-Ich die Repräsentan- sich die Sozialisierung des Einzelnen immer inner-
zen von Kultur-Idealen eingelagert sind, wird im kol- halb einer kulturellen Gemeinschaft vollzieht, in der
lektiven Unbewußten ein ursprünglich reales Erleben mehrere Generationen und alle Altersstufen gleich-
nach den Gesetzen der Verschiebung und Verdich- zeitig präsent sind. Die Beobachtung kindlichen Ver-
tung über Generationen hinweg tradiert. Analog dem haltens wird ihm ein Königsweg zur Kultur, denn er
analytisch-aufklärerischen Imperativ »Wo Es war, sieht darin ein reiches Anschauungsfeld für bereits
soll Ich werden« (GW XV, 86) konzentriert sich überwunden geglaubte und verdrängte kulturelle
Freud auch in seinen kulturkritischen Schriften auf Formen. So schöpft Freud aus der Analyse kindlicher
Analysemöglichkeiten des kollektiven Unbewußten Phobien und Ängste das Material, mit dem er uner-
und stützt sich dabei auf den Selbstäußerungsprozeß schlossene Phasen der Kulturgeschichte füllt: »und in
traumatischen Erlebens, wie er ihn in der Wieder- unerwarteter Reichhaltigkeit hat das analytische Stu-
kehr des Verdrängten von den frühen Schriften zur dium des kindlichen Seelenlebens Stoff geliefert, um
Individualpsychologie bis zu seiner späten Religions- die Lücken unserer Kenntnis der Urzeiten auszufül-
schrift Der Mann Moses und die monotheistische Reli- len« (GW XVI, 190). Die Intensität der Kastrations-
gion immer wieder zu beschreiben und zu bestim- angst wie auch Tierphobien deutet er als Zeugnisse
men suchte. Da er davon ausgeht, daß auch in den einer mit dem Vater verbundenen Urangst: »Das Ver-
kulturellen Praktiken, und hier insbesondere in den halten des neurotischen Kindes zu seinen Eltern im
Ritualen, wie in der Neurose Verdrängungen wieder- Ödipus- und Kastrationskomplex ist überreich an
kehren, entwickelt er ein genuin psychoanalytisches solchen Reaktionen, die individuell ungerechtfertigt
Verfahren zur Lesbarkeit von Kultur, insofern er kul- erscheinen und erst phylogenetisch, durch die Bezie-
turelle Objektivationen als Symptome analysiert. hung auf das Erleben früherer Geschlechter, begreif-
Darüber hinaus entwickelt Freud auch Ansätze zu lich werden« (GW XVI, 206). Den prinzipiell em-
einer psychoanalytischen Kulturkomparatistik, in- pirischen Mangel, welcher der Vorstellung von Kultur
dem er die Ungleichzeitigkeit von Kulturen im Sinne als triebdynamisch fundiertem Entwicklungsmodell
eines evolutionären Modells deutet, durch das aus inhärent ist, weil der präkulturelle Schwellenzustand
der kulturellen Praxis prämoderner Gesellschaften schlechterdings nicht direkt zugänglich ist, kompen-
auf frühere Entwicklungsstufen der eigenen Kultur siert Freud durch Anschauungsmaterial, das er aus
geschlossen werden kann (Waibl 1980). Um seine der Analyse der Individualentwicklung generierte.
These zu stützen, daß in Mythen, Riten und Glau- Eine Chance, »die Kluft zwischen Individual- und
bensvorstellungen früher Kulturen noch deutliche Massenpsychologie« (GW XVI, 207) überbrücken zu
Spuren einer unzugänglichen Vorzeit zu finden sind, können, sieht Freud also in der vergleichenden In-
die in verdeckter Form bis in die Gegenwart der Mo- dividualanalyse, da nur so frühere Dispositionen und
derne hineinreichen, zieht er zahlreiche kulturan- Inhalte von Kultur zu bestimmen sind, die keiner in-
thropologische und ethnologische Schriften (u. a. dividualgeschichtlichen, sondern phylogenetisch ar-
Smith 1894/1927; Wundt 1906; Storfer 1911) heran chaischen Erbschaft entstammen.
und stützt seine Idee vom Ursprung der Kultur auf Freud versuchte, in seinen kulturkritischen Schrif-
Darwins Theorem von der Urhorde und Hobbes’ ten gegen die Illusion anzugehen, daß die Kulturent-
Vorstellung vom Krieg aller gegen alle. Aber auch die wicklung zu einem größeren Glück der Menschen
seinerzeit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse führt, und formulierte unmißverständlich: »Die
werden mit Ergebnissen seiner eigenen individual- Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein,
psychologischen Forschungen abgeglichen und neu ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung
bewertet. gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens
Kulturbegriff 245

durch den menschlichen Aggressions- und Selbstver- sätze von Nietzsche und später Cassirer bei aller Un-
nichtungstrieb Herr zu werden« (GW XIV, 506). terschiedlichkeit des Erkenntnisinteresses vornehm-
Freuds kritische, ja teilweise sogar kulturpessimisti- lich gegenüber den Traditionen philosophischen
sche Haltung ist nicht allein seiner Enttäuschung Denkens und basieren die kultursoziologischen
über die zivilisatorische Entwicklung geschuldet, Theorien von Durkheim, Weber und Simmel im we-
sondern ergibt sich auch schlüssig aus seiner trieb- sentlichen auf Beobachtung und Analyse der sozialen
fundierten Konzeption von Kultur, mit der er die Ge- Lebenswelt, so hat Freud durch seine psychoanalyti-
stehungskosten für den Einzelnen ebenso aufzudek- sche Methode eine Zugangsweise zur Kultur gefun-
ken suchte wie die Kulturheuchelei innerhalb der Ge- den, die sich aus Erfahrungswissen im Umgang mit
sellschaft. So ist in seinem Begriff von Kultur der all- Patienten speiste und ihm deshalb erlaubte, nicht nur
zeit schwelende Konflikt zwischen egoistischen und zum kritischen Beobachter und Interpreten, sondern
altruistischen Strebungen mitthematisiert, welcher auch anamnestisch geschulten Diagnostiker von Kul-
die kulturelle Entwicklung zu einem zwar notwendi- tur zu werden. Sein Befund, daß Kultur als hoch-
gen, aber prinzipiell ambivalenten Unterfangen wer- komplexer Prozeß der Vergemeinschaftung wie auch
den läßt. der Symptombildung zu verstehen ist, aus dem die
Freuds kulturtheoretischen Ansätzen wurde nicht psychosozialen Gestehungskosten analysiert werden
die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie seiner thera- können, ist am einzelnen Menschen orientiert und
peutisch orientierten Individualpsychologie, die auch bleibt für die Kulturforschung aktuell.
konzeptionell vielfach weiterentwickelt wurde. In kri-
tischer Auseinandersetzung mit Freuds kulturtheore-
tischem Deutungsverfahren wurde in den Texten der Literatur
Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Stu-
Frankfurter Schule bis zu neueren Untersuchungen dien. München 2000.
der Kulturanthropologie besonders an seine Analyse Boesch, Ernst E.: Kultur und Handlung. Einführung in die Kul-
des Zusammenhangs von Aggression und Kulturent- turpsychologie. Bern u. a. 1980.
Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbe-
wicklung angeknüpft, wobei Adornos und Horkhei- wußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen
mers Dialektik der Aufklärung und Girards Das Hei- Prozeß. Frankfurt a. M. 1983.
lige und die Gewalt herausragende Marksteine inner- Frazer, James G.: Totemism and Exogamy. 4 Bde. London
halb dieses Rezeptions- und Diskussionszusammen- 1910.
Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 1994
hanges sind. Der Mann Moses und die monotheistische (frz. 1972).
Religion gehört nicht nur zu den neuerdings am häu- Horkheimer, Max u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklä-
figsten interpretierten Texten Freuds, sondern wurde rung [1947]. Frankfurt a. M. 1973.
auch in der kulturellen Gedächtnisforschung (u. a. Lang, Andrew: The Secret of the Totem. London 1905.
Lorenzer, Alfred: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In:
Assmann 2000) um neue Lesarten ergänzt. Entschei- Hans-Dieter König u. a.: Kultur-Analysen. Frankfurt a. M.
dend weiterentwickelt wurde die psychoanalytische 1988, 11–98.
Kulturtheorie durch den tiefenhermeneutischen An- Reichmayr, Johannes: Einführung in die Ethnopsychoanalyse.
satz zur Kulturanalyse (Lorenzer 1988), die kultur- Geschichte, Theorien und Methoden. Frankfurt a. M. 1995.
Schmid-Noerr, Gunzelin: Zur Kritik des Freudschen Kultur-
komparatistischen Studien der Ethnopsychoanalyse begriffs. In: Psyche 47 (1993), 325–343.
(Erdheim 1983; Reichmayr 1995), die Kulturpsycho- Smith, W. Robertson: Lectures on the Religion of the Semites
logie (Boesch 1980) und die kulturvergleichende Psy- [1894]. London 31927.
chologie (Thomas 2003). Jenseits der Kritik an Storfer, Adolf Josef: Zur Sonderstellung des Vatermordes: eine
rechtsgeschichtliche und völkerpsychologische Studie. Leipzig
Freuds Vorstellungen zur Kultur im einzelnen 1911.
(Schmid-Noerr 1993) gewinnen seine kulturtheoreti- Thomas, Alexander (Hg.): Kulturvergleichende Psychologie.
schen Ansätzen für die gegenwärtige kulturwissen- Göttingen u. a. 22003.
schaftliche Forschung jedoch nicht nur hinsichtlich Waibl, Elmar: Gesellschaft und Kultur bei Hobbes und Freud.
Wien 1980.
innerer Stimmigkeit oder im Bezug zu seinen indivi- Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie: eine Untersuchung der Ent-
dualpsychologischen Schriften ihre Bedeutung, son- wicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte; in 10 Bän-
dern auch im Kontext der Kulturtheorien der Mo- den. Leipzig 1906.
derne. Profilieren sich die kulturphilosophischen An- Ortrud Gutjahr
246

2. Antike und Mythos

Freuds Theorie über die Entstehungs- schränkt und in vollem Umfang durchsetzen, son-
bedingungen des Mythos dern unterliegen Abwehrvorgängen, z. B. Verdrän-
gungsprozessen, da es sich in der Regel auch um
Die ersten Andeutungen zu einer Theorie des Mythos verpönte Wünsche (ödipaler Art) handelt. Die Ab-
macht Freud in einem Brief an seinen Freund Wil- wehr bewirkt die Entstellung des primären Wunsch-
helm Fließ vom 12. 12. 1897, wo er von »endopsy- charakters und kann ihn letztlich auch auf »Über-
chischen Mythen« spricht. »Die unklare innere reste« reduzieren.
Wahrnehmung des eigenen psychischen Apparates« Da das Wunsch-Abwehr-Modell ebenso Freuds
rege »zu Denkillusionen an, die natürlich nach außen Auffassung der Neurosen zugrunde liegt, gibt es auch
projiziert werden und charakteristischerweise in die eine Strukturgleichheit zwischen Mythos und Neu-
Zukunft und in ein Jenseits. Die Unsterblichkeit, Ver- rose. Freud ist der Ansicht, die »mythenbildenden
geltung, das ganze Jenseits sind solche Darstellungen Kräfte der Menschheit« seien »nicht erloschen«, son-
unseres psychischen Inneren. Meschugge? Psycho- dern seien ursächlich daran beteiligt, »in den Neu-
Mythologie« (F, 311). Hier trennt der Begründer der rosen dieselben psychischen Produkte zu erzeugen
Psychoanalyse nicht zwischen Mythos und Religion. wie in den ältesten Zeiten« (GW VIII, 319). Die
Die mythologischen Anschauungen entspringen nur Strukturhomologie des Mythos mit dem Traum und
psychologischen Bedingungen, nämlich einer un- der Neurose läßt die Freudsche Mythenkonzeption
scharfen Wahrnehmung des »psychischen Appara- nun wieder so umfassend erscheinen wie in der zi-
tes«, d. h. der Gesamtheit der Psyche. Die nähere Be- tierten brieflichen Mitteilung an Fließ, jetzt aller-
stimmung der unklaren Wahrnehmung ist die man- dings mit dem Vorteil einer präziseren Definition.
gelnde Unterscheidung zwischen innen und außen, Die Strukturgleichheit von Mythos, Traum und
was sich im Abwehrmodus der Projektion äußert. Neurose fußt letztlich auch auf dem gemeinsamen
Durch projektive Vorgänge werden »Denkillusio- theoretischen Fundament des Ödipuskomplexes. Die
nen« – also unrealistische Vorstellungskomplexe oder Konflikte und Konfliktlösungsstrategien innerhalb
Phantasien – als Wahrnehmungen äußerer Vorgänge der ödipalen Triade sind die psychologische Struk-
empfunden. turdominante, die primär die psychische Entwick-
Hier deutet sich schon die Nähe zur Psychologie lung des Kindes und die Ausbildung der psychischen
der Traumvorgänge an, wie sie Freud zwei Jahre spä- Strukturen Ich, Es, Über-Ich, Ich-Ideal (GW XIII)
ter in seinem Werk Die Traumdeutung (GW II/III) vorantreibt. Die Auffassung des Ödipuskomplexes als
darlegen wird. Dort führt er einen speziellen Mythos, einer anthropologischen Konstante gibt Freud die
nämlich den von Ödipus, auf einen »uralten Traum- Möglichkeit, die Ontogenese mit der Phylogenese zu
stoff« (GW II/III, 270) kollektiven Charakters zu- parallelisieren. Dabei wird die Sozietät als kollektives
rück. Dieser Spezialfall wird 1908 dadurch zu einem Subjekt konzipiert und behandelt wie das Indivi-
prinzipiellen Vorgang, daß Freud die Mythen »den duum. Das Inzestverbot, das individuelle Entwick-
entstellten Überresten von Wunschphantasien ganzer lung erst ermöglicht, wird zur Conditio sine qua non
Nationen, den Säkularträumen der jungen Mensch- auch für die Entstehung menschlicher Kultur (GW
heit« (GW VII, 222) gleichsetzt. Wenn der Mythos IX). Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden,
dieselbe psychologische Struktur hat wie der Traum, daß Freuds Begriff der Phylogenese sowohl biologi-
dann ist er ein Kompromiß aus dem Wunsch und sche als auch historische Bedeutung hat (GW IX).
dessen Abwehr. »Die Wunschphantasien ganzer Na- Das große Gewicht des Ödipuskomplexes macht es
tionen« können sich wie die Wunschmotive indivi- verständlich, daß er nach Freuds Meinung der Kern
dueller Träume nicht einfach spontan, uneinge- der Neurosen und das wichtigste Motiv der Traum-
Antike und Mythos 247

entstehung ist. Als anthropologische Basisgröße bie- fantilen Erlebnisdeterminanten hinausgehen, sucht
tet der Ödipuskomplex für den Begründer der Psy- er eine Erklärung dafür und findet sie im phylogene-
choanalyse den archimedischen Punkt, von dem aus tischen Erbe aus der Urhordensituation. Der Begrün-
er die psychoanalytische Deutung der Menschheits- der der Psychoanalyse denkt 1939 in seinem letzten
entwicklung und der Mythen vornehmen kann. Er großen Werk Der Mann Moses und die monotheisti-
beschreibt 1923 die Entstehung seiner Anschauungen sche Religion (GW XVI) an direkte Vererbungsvor-
folgendermaßen: »Die Bedeutung des Ödipuskom- gänge aus der Urhordensozietät. Er habe eine »erer-
plexes begann zu gigantischem Maß zu wachsen, bte Tradition und nicht eine durch Mitteilung fort-
man gewann die Ahnung, daß staatliche Ordnung, gepflanzte im Sinne« (GW XVI, 207). »Das Verhalten
Sittlichkeit, Recht und Religion in der Urzeit der des neurotischen Kindes zu seinen Eltern im Ödipus-
Menschheit miteinander als Reaktionsbildung auf und Kastrationskomplex« sei »überreich an solchen
den Ödipus-Komplex entstanden seien« (GW XIII, Reaktionen, die individuell ungerechtfertigt erschei-
229). nen und erst phylogenetisch durch die Beziehung auf
Obwohl Freud hinsichtlich der Genese keine Diffe- das Erleben früherer Geschlechter begreiflich wer-
renz zwischen Mythos und Religion sieht – beide den«. Freud stellt weiterhin im vollen Wissen dar-
sind nach seiner Auffassung ödipalen Ursprungs –, über, daß »die gegenwärtige Einstellung der biologi-
unterscheidet er 1912/1913 in Totem und Tabu (GW schen Wissenschaft […] von der Vererbung erwor-
IX, 96) doch zwischen beiden. Dort vertritt er die bener Eigenschaften nichts wissen will« (GW XVI,
Ansicht, daß die Menschheit hinsichtlich der Wirk- 207), die Behauptung auf, »die archaische Erbschaft
lichkeitserfassung drei Denksysteme entwickelt habe: des Menschen« umfasse »nicht nur Dispositionen,
das animistische (primitive Weltdeutung durch die sondern auch Inhalte […], Erinnerungsspuren an
Annahme von Allbeseelung), das religiöse (differen- das Erleben früherer Generationen« (GW XVI, 206).
ziertere Weltdeutung durch die Annahme spezieller Mit dieser phylogenetischen Hypothese, die 1912/
für unterschiedliche Bereiche zuständiger Götterge- 1913 (GW IX) durchaus nicht so biologisch klingt
stalten) und schließlich das wissenschaftliche (ratio- wie 1939, hat Freud »die Kluft zwischen Individual-
nale Deutung bzw. Erklärung der Welt). Den Mythos und Massenpsychologie überbrückt« und kann nun
ordnet er der animistischen Stufe zu. »die Völker behandeln wie den einzelnen Neuroti-
Freud rekurriert in seinen späteren Schriften im- ker« (GW XVI, 207). Den Niederschlag dieses »ar-
mer wieder auf die in Totem und Tabu (IX, 171–175) chaischen Erbes« in den unbewußten Phantasien
dargelegte, an Darwin orientierte Urhordenhypo- nennt er »Urphantasien« (GW XI), die Phantasien,
these, wenn er sich Gedanken über den Ursprung des die die Urszene, d. h. den sexuellen Verkehr der El-
Mythos macht. In der Urhordensituation beherrschte tern, betreffen, »Kastration« und »Verführung«.
das stärkste Männchen die Gruppe. Es ist im Allein- Bei der Analyse des ›Wolfsmanns‹ verweist Freud
besitz der Frauen und zwingt die Söhne zur sexuellen auf einen regelrechten Konflikt in der Formung der
Abstinenz. Wer sich nicht an dieses Gebot hält, wird unbewußten Phantasien zwischen dem, was sein Pa-
mit Kastration und Tod bedroht. Eines Tages rotten tient in seiner frühen Kindheit wohl real erlebt hat,
sich die frustrierten Söhne gegen den Urvater zusam- und »dem hereditären Schema« mit seiner überin-
men, töten ihn und verzehren ihn, was Identifizie- dividuellen Symbolik. So z. B. sei in den Phantasien
rung mit seiner Stärke bedeutet und die erste To- des ›Wolfsmanns‹ dessen homosexuell geliebter, wei-
temmahlzeit darstellt. Da die Söhne den Vater nicht cher und depressiver Vater »zum Kastrator und Be-
nur hassen, sondern ihn auch lieben und seine Stärke droher der kindlichen Sexualität« (GW XII, 155) ge-
bewundern, entsteht in ihnen ein Schuldgefühl, das worden. Dieser unpersönliche und in der Monotonie
dazu führt, daß sie freiwillig und nachträglich sein seiner Erscheinungsweise unhistorisch anmutende
Gebot der sexuellen Abstinenz gegenüber den Frauen Kern der unbewußten Phantasien, wie er sich auch in
ihrer Gruppe befolgten. So entsteht das Inzestverbot der kollektiven Bedeutung vieler Traumsymbole äu-
auch als innerer Vorgang. Mit den Themen von Va- ßert, gehört zur alltäglichen psychoanalytischen Er-
termord und Inzest ist auch die Grundstruktur des fahrung und ist keinesfalls ein nebensächlicher
Ödipuskomplexes beschrieben. Aspekt der Freudschen Theorie. Obwohl man dem
Da Freud im Laufe seiner zunehmenden klini- Begründer der Psychoanalyse nicht eine besondere
schen Erfahrung immer mehr zu der Auffassung ge- Neigung unterstellen kann, er gehe bei seinen
langt, daß die unbewußten Phantasien seiner Analy- Traumanalysen sofort in eine kollektive Bedeutungs-
sanden eine kollektive Dimension haben, die weit schicht – geduldig forscht er bei entsprechenden
über die individuell gespeicherten unbewußten in- Symbolen immer auch nach einer damit verbunde-
248 Themen und Motive

nen persönlichen Motivierung –, so weicht er diesem realistischer sein, an eine »Ergänzungsreihe« (GW V,
Problem aber auch nicht aus und sucht nach einer 141) zwischen biologischen Determinanten und Pro-
Erklärung. Diese fällt nicht immer so kraß aus wie zessen des »kulturellen Gedächtnisses« im Sinne von
die von ihm postulierte hereditäre Übermittlung von Assmann zu denken. Dabei halte ich die von Freud
Inhalten im Mann Moses (GW XVI). Bei der Diskus- genannte unanschauliche apriorische Strukturie-
sion der ›Wolfsmann‹-Analyse spricht er von »phylo- rungstendenz, die die Erfahrungsinhalte in typischer
genetisch mitgebrachten Schemata, die wie philoso- Weise ordnet und formt, wie gesagt, für eine mögli-
phische ›Kategorien‹ die Unterbringung der Lebens- che Hypothese.
eindrücke besorgen«. Diese Schemata »seien Nieder- Die moderne Entwicklungspsychologie förderte
schläge der menschlichen Kulturgeschichte« (GW eine Reihe von erstaunlichen Fähigkeiten des Klein-
XII, 155). Anscheinend meint Freud mit »philoso- kindes zu Tage, die auf präformierende Strukturen
phischen ›Kategorien‹« unanschauliche Bedingungen zurückzugehen scheinen (vgl. Stern 1996). Eickhoff
apriorischer Art im Sinne Kants (1781), die die Er- nennt den Begriff des Präkonzeptes von Bion, der in
fahrungsinhalte im spezifischen Sinne als inhärente wesentlicher Hinsicht dem apriorischen Schema
Schemata strukturieren. Freuds entsprechen dürfte. C. G. Jung beschreibt
Solche Aspekte, die in den heutigen primär um die 1954 durch seine Unterscheidung in ›Archetypus an
Beteiligung von Sprache zentrierten Symboldebatten sich‹ und ›archetypisches Bild‹ eine der Freudschen
kaum eine Rolle mehr spielen, halte ich nach wie vor Konzeption ähnliche Struktur (vgl. Jung, Gesammelte
für diskussionswürdig. Selbst Erich Fromm, der Werke 8). Sein Bezugspunkt ist ebenfalls Kants Kate-
Freud jeden Millimeter Boden streitig macht, sobald gorienlehre. Das verwundert nicht, da die phylogene-
dieser die Biologie ins Spiel bringt, und sofort hi- tische Hypothese in dem Gedankenaustausch der
storische und gesellschaftliche Bedingungen für die beiden Pioniere, wie er durch deren Briefwechsel do-
Phänomene anzugeben weiß, anerkennt den unhi- kumentiert ist (F/J), eine große Rolle spielt. Obwohl
storischen Bodensatz der unbewußten Phantasien, Jung zu Recht behauptet, er sei der einzige von
wie er besonders in der Traumsymbolik sichtbar Freuds Schülern, der die Theorie des archaischen Er-
wird. Fromm nennt diese archaische Allgemeinheit bes in den tiefenseelischen Phantasiebildungen wei-
der Bedeutungsstruktur in seinem Werk Märchen, ter verfolgt habe (Jung 1961), ist sein Ansatz von dem
Mythen, Träume (Gesamtausgabe, Bd. IX) schlicht Freuds doch grundverschieden. Freud sieht in der
»die Sprache der Menschheit«, die den Menschen al- kollektiven unbewußten Symbolik ausschließlich die
ler Zeiten und Räume gemeinsam sei. Triebqualität, Jung bezeichnet die kollektiven unbe-
Wahrscheinlich ist der unhistorische Kern dieser wußten Symbole als archetypische Bilder, die Trieb
kollektiven Symbolbezüge teilweise auf die Gleichför- und Geist vereinen. Der Archetypus an sich ist die
migkeit der menschlichen Anatomie und Physiologie Selbstdarstellung des Geistes.
zurückzuführen, des weiteren auf die ebenfalls von 1921 greift Freud in seinem Werk Massenpsycho-
der Kultur nicht hervorgebrachten, sondern von ihr logie und Ich-Analyse (GW XIII, 151–155) noch ein-
nur spezifisch geformten relativ invarianten Grund- mal auf den »wissenschaftlichen Mythus« (ebd. 151)
züge menschlicher Existenz: die Tatsache des Ge- vom Mord am Urhordenvater durch seine Söhne zu-
trenntseins, die Geschlechterdifferenz und die Gene- rück. Demnach konnte sich keiner aus der Bruder-
rationenschranke. Um diese drei Themenkreise zen- horde an die Stelle des toten Vaters setzen, ohne neue
trieren sich die Entwürfe psychoanalytischer Krank- Kämpfe auszulösen und ohne Angst, das Schicksal
heitslehre. Trotzdem dürfte ein Rest bleiben, der des Urvaters erleiden zu müssen. Auf die Zeit der
durch diese Gesichtspunkte nicht abgedeckt ist. gleichberechtigten totemistischen Brüdergemein-
Freuds Versuch, die Ubiquität des Ödipuskomplexes, schaft folgte eine Epoche der Frauenherrschaft, die
der die drei genannten Bereiche weitgehend umfaßt wiederum durch die Männer beendet wurde. Ein ein-
und damit im Zusammenhang auch den kollektiven zelner mochte sich in sehnsüchtigem Gedenken an
Anteil der Traumsymbolik mitfundiert, theoretisch den toten Vater aus der Masse lösen und sich an des-
durch die phylogenetische Hypothese ausreichend zu sen Stelle setzen. Wenn das in der Phantasie geschah,
begründen, sollte noch nicht als obsolet ad acta ge- die entsprechend ausgestaltet und kommuniziert
legt werden. Friedrich Wilhelm Eickhoff (2004) ist wurde, war der erste epische Dichter geboren, der die
darin zuzustimmen, daß wir noch nicht in der Lage Wirklichkeit umlog im Sinne seiner Bedürfnisse. Da-
sind, Jan Assmanns verdienstvollen Begriff des »kul- mit war der heroische Mythos geschaffen. Heros war
turellen Gedächtnisses« unbedenklich an die Stelle derjenige, der den Vater alleine getötet hatte. Da-
des »phylogenetischen Faktors« zu setzen. Es dürfte durch wurde er möglicherweise zum Vorläufer des
Vatergottes.
Antike und Mythos 249

Zusammenfassend stellt sich die Stufenfolge der Verfahren nicht seine primäre Wahl, sondern wird
Entwicklung von Freuds Theorie des Mythos fol- ihm – wie er nicht müde wird zu versichern (vgl. GW
gendermaßen dar: Am Anfang steht die klinische I, 227) – durch die Eigenart seiner klinischen Erfah-
Erfahrung der kollektiven Bedeutung mancher unbe- rungen nahegelegt, die von sich aus ständig die Wur-
wußter Phantasien, wie sie sich in der Bildung neu- zeln der westlichen Kultur berühren.
rotischer Symptome und vor allem in der Traum- So entstammen folgerichtig die beiden Hauptper-
symbolik äußern. So ist die häufige männliche Geni- sonifikationen seiner klinischen Theorie, Ödipus
talbedeutung für geträumte längliche Gegenstände und Narziß, der griechischen Mythologie. Viele my-
eindringenden Charakters und die weibliche Genital- thologische Figuren tauchen in seinen Schriften auf.
bedeutung räumlich umschlossener Gebilde ein Bei- Aus der griechischen Mythologie sind dies – neben
spiel für diesen allgemeinen Sinnbezug, der sich auch Ödipus und Narziß – Zeus und Kronos, Medea und
im unterschiedlichen Bedeutungsspektrum vieler Kreusa, Sphinx, Hydra, Prometheus, Ariadne und
Wörter äußert. So z. B. ist im Deutschen das Wort das Labyrinth, die Titanen, Medusa, der platonische
Scheide sowohl die Bezeichnung für das weibliche Mythos vom Doppelmenschen (aus dem Symposion).
Genitale als auch für die Hülle des Schwertes, die Aus dem jüdischen Mythos: Adam, Jonas, Joseph und
Schwertscheide. Dieselben doppelsinnigen Verhält- seine Brüder, Tobias. Wenigstens teilweise würde
nisse drückt das lateinische Wort vagina aus. Im auch Moses in diese Reihe gehören. In der oft um ihn
Deutschen wie im Lateinischen ist die symbolische kreisenden Wahrnehmung Freuds ist Moses eine my-
Übersetzung von Scheide in Schwertscheide direkt thisch stark eingefärbte historische Figur (s. Kap.
ausgedrückt, die zweite Bedeutung des Schwertes als II.9.5).
Penis erscheint nur indirekt. Bei diesem Beispiel ist Die wichtigste mythologische Gestalt ist für Freud
die Ähnlichkeitsrelation hinsichtlich Form und Ödipus. Der Begründer der Psychoanalyse interes-
Funktion zwischen der menschlichen Anatomie und siert sich merkwürdigerweise nicht für den Ödipus-
der Symbolik so augenscheinlich, daß es keiner wei- mythos als ganzen, wozu alle griechischen Versionen
teren Zusatzannahmen bedurfte. Freud betont aller- gehören würden, sondern orientiert sich nur an dem
dings, daß es Symbolbildungen gebe, wo das »Ter- Ödipusdrama von Sophokles. Wo im Sophokles-
tium comparationis« nicht gegeben sei (GW VIII, drama Vatermord und Inzest allmählich deutlich
404). werden, läßt der Dichter Jokaste sagen: »Denn viele
Der nächste Schritt zu Freuds Mythentheorie ist Menschen sahen auch in Träumen schon sich zuge-
die Annahme von der Ubiquität des Ödipuskomple- sellt der Mutter: Doch wer all dies für nichtig achtet,
xes, der als »Kern der Neurosen« und wichtigste Mo- trägt die Last des Lebens leicht« (Sophokles, zit. nach
tivquelle des Träumens auch das dominante Motiv Freud GW II/III, 270).
der Phantasiebildung überhaupt und damit auch der An dieser Stelle des Dramas findet Freud den In-
kollektiven mythologischen Phantasien ist. Da die in- zest als »uralten Traumstoff«. Er bestätigt die Aussage
dividuellen unbewußten Phantasien im Unbewußten von Sophokles durch den Hinweis, daß sich unbe-
ständig eine schematisierende Bearbeitung im Sinne wußte Phantasien seiner Patienten von Inzest und
kollektiver mythologischer Erscheinungsformen Vatermord vor allem in Träumen äußern (GW II/III,
(z. B. der Vater als angsteinflößender Kastrator beim 262–273). Deshalb behandelt er diesen für seine
Wolfsmann) erhalten, glaubt Freud, eine phylogene- Theorie wichtigsten mythologischen Stoff 1900 in
tisch verankerte Tendenz postulieren zu müssen, aus der Traumdeutung (GW II/III). Ausgehend von sei-
der die Schemata und die schematisierende Aktivität ner emotionalen Betroffenheit stellt er fest, daß die
stammen. erschütternde Wirkung der Tragödie von Sophokles’
König Ödipus auf »eine Stimme in unserem Innern«
zurückgehe, »welche die zwingende Gewalt des
Freuds Bezug zur antiken Mythologie
Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist«, da
Die beiden Wurzeln der abendländischen Kultur, die sein Schicksal
griechisch-römische Antike und das Judentum, sind »auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor
dem aus einer jüdischen Familie stammenden und unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie
auch über eine solide humanistische Bildung verfü- über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die ersten
genden Freud von Kindesbeinen an vertraut. Vor sexuellen Regungen auf die Mutter, den ersten Haß und ge-
walttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume
dem Anschauungsraum des griechischen und des jü- überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laios
dischen Mythos beginnt er schon früh, seine klini- erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die
schen Erfahrungen zu reflektieren. Dabei ist dieses Wunscherfüllung unserer Kindheit. […] Vor der Person, an
250 Themen und Motive

welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, einfachen Nenner gebracht werden kann. In der Auf-
schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrän-
gung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten
fassung Freuds entsteht der Trieb – gemeint ist vor
haben« (GW II/III, 269). allem der Sexualtrieb – erst durch ein Beziehungser-
lebnis (GW V, 123) und wird dadurch geprägt im
Zwei Jahre früher, in einem Brief an W. Fließ vom Sinne eines »Triebschicksals« (GW X, 232).
15. 10. 1897, findet sich ein unmittelbarer Selbstbe- Jean Laplanche hat durch seine verdienstvollen In-
zug, wo Freud berichtet, daß er »die Verliebtheit in terpretationen zu Freuds »Verführungstheorie«, wo-
die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater« auch nach die infantilen Sexualkonflikte weitgehend auf
bei sich selbst gefunden habe und sie nun »für ein reale Verführungen durch erwachsene Bezugsperso-
allgemeines Ereignis früher Kindheit« halte (F, 293). nen zurückgehen, und zu Freuds Theorie des Ödi-
Folgende Eckdaten genügen Freud, um eine Ubi- puskomplexes der Triebtheorie einen Platz auch in
quität des Ödipuskomplexes anzunehmen: das Auf- der heutigen Psychoanalyse gegeben. Durch minu-
tauchen der Ödipusthematik bei seinen Patienten, tiöse Ausdeutungen des Freudschen Werkes, wie sie
vor allem in deren Träumen, bei sich selbst, in der nur französische Psychoanalytiker leisten können,
Tragödie des Sophokles und im Hamlet von Shake- hat er die objektbeziehungspsychologische Substanz
speare. Hamlet kann den Auftrag, den ihm die Er- der Triebtheorie erschlossen. In seinem Werk Die all-
scheinung seines toten Vaters gibt (nämlich den On- gemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze
kel zu erschlagen, der Hamlets Vater getötet, dessen (1988) legt er dar, daß der ödipale Konflikt nicht en-
Thron bestiegen und dessen Frau, die Mutter Ham- dogen aus dem Kind aufsteige, sondern dessen ver-
lets, geehelicht hat) nicht erfüllen. Den Grund von störte Reaktion auf die unbewußten, ihm geltenden
Hamlets Zögern, seinen Onkel, den neuen König von sexuellen Phantasien der Erwachsenen sei. Das stehe
Dänemark, umzubringen, sieht Freud in Schuldge- mit der klinischen Erfahrung auch im Einklang. Des
fühlen, da Hamlet in seinen ödipalen Phantasien ge- weiteren sei das Inzestverbot als etwas Sprachlich-
nau das getan hat, was er auf Geheiß seines Vaters am Kulturelles und Kollektives allen persönlichen Erleb-
Onkel rächen soll (GW II/III, 271). nisstrukturen vorgängig. Hier wird der Freudschen
Obwohl Freud den Begriff des Ödipuskomplexes Feststellung des Kollektiv-Vorgängigen gegenüber
erst 1910 in seinem Aufsatz Über Psychoanalyse ein- dem persönlichen Erleben zwar Rechnung getragen,
führt (GW VIII, 50), hat er ihn in der Sache offen- aber nicht mit phylogenetischen Begründungen.
sichtlich schon 1900 in der Traumdeutung konzipiert. Mit einer ähnlichen Intention wie Laplanche hat
Weitere Begründungen dafür, daß der Ödipuskom- Georges Devereux 1953 in seinem Aufsatz Why Oedi-
plex eine anthropologische Konstante sei, entnimmt pus killed Laius anhand verschiedener Versionen des
er zunächst zwei biologischen Tatsachen: der lange Ödipusmythos nachgewiesen, wie wenig Aktion und
dauernden infantilen Abhängigkeit des Kindes von wie viel Reaktion auf vorherige Festlegungen und
den Eltern und dem zweifachen Ansatz der Sexual- Konflikte seiner Eltern das Verhalten von Ödipus be-
entwicklung: einmal in der Frühblüte der Sexualität stimmen und wie sehr Ödipus wesentliche Anteile
zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, dann des Schicksals seines Vaters wiederholt. Außerdem
dem Neueinsatz in der Pubertät nach der Latenzzeit zieht Devereux Versionen des Mythos heran, die die
(GW XIII, 221). homosexuelle Seite des Ödipuskomplexes beleuch-
Die bisherigen Darlegungen sind in enger Orien- ten, die Liebe des Heros zu seinem Vater und die
tierung an der triebtheoretischen Sichtweise Freuds Rivalität mit seiner Mutter Jokaste um Laios.
erfolgt. Heute gilt die Triebtheorie nicht wenigen Ein Überblick über psychoanalytische Mythenin-
Psychoanalytikern als überholt. Von den vier Psycho- terpretationen ergibt, daß für Psychoanalytiker der
logien der Psychoanalyse: Triebtheorie, Ich-Psycho- Ödipusmythos nach wie vor unter allen mythologi-
logie, Objekt-Beziehungs-Theorie und Selbst-Psy- schen Motiven das wichtigste ist.
chologie ist sie die älteste. Heute dominiert die Das umfassendste psychoanalytische Werk über
Objekt-Beziehungs-Theorie. Ich selbst bin der Auf- Mythologie ist Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage
fassung, daß die Psychoanalyse nicht auf ihr trieb- (1912) von Otto Rank. Auch andere wichtige Schüler
theoretisches Fundament verzichten kann, ohne auf Freuds liefern Beiträge zum zentralen Mythos der
die Dauer auszutrocknen und ihre Identität zu ver- Psychoanalyse. Karl Abraham (1909) befaßt sich mit
lieren. Freuds Begriff des Triebes ist nie eine rein bio- der symbolischen Bedeutung der Dreizahl in der
logische Kategorie gewesen, sondern immer eine Ödipussage (ebd., 122); Sandor Ferenczi (1912) mit
Konzeption, die durch ihre vermittelnde Position der Ausformung des Lust- und Realitätsprinzips;
zwischen Biologie und Psychologie nicht auf einen Theodor Reik (1920) sieht in der Begegnung zwi-
Antike und Mythos 251

schen Ödipus und der Sphinx einen erneuten Zu- und seinem allgemeinen Wissen stammen. Die Stim-
sammenstoß zwischen Vater (Laios) und Sohn (Ödi- migkeit der Interpretationsansätze wird am mytholo-
pus), verbunden mit religiösen Aspekten (Sphinx); gischen Text überprüft.
Driek van der Sterren (1948/74) schreibt eine umfas- Beispielsweise deutet Freud in seiner posthum er-
sende psychoanalytische Deutung des Sophokles- schienenen Arbeit Das Medusenhaupt (GW XVII,
Dramas König Ödipus; Mark Kanzer (1950, 1964) 45–48) die Medusa wie das Traumbild eines seiner
analysiert die Ödipustrilogie von Sophokles (Anti- Patienten. Er versteht die züngelnden Schlangen am
gone, König Ödipus, Ödipus auf Kolonos) und weist Kopf der Medusa im Sinne des Traummechanismus
die Persistenz emotionaler Konflikte (Inzestliebe, ri- »Darstellung durch das Gegenteil« (GW II/III, 474)
valistische Aggression, Größenphantasien) in drei als eine ganze Anzahl von Penissen, die den fehlen-
Generationen nach; Erich Fromm kann, was bei ihm den Penis der Dämonin ersetzen und verdecken sol-
nicht verwundert, im König Ödipus keinen Hinweis len. Da es ja keinen Träumer und damit keine freien
für Inzestliebe entdecken und sieht darin vielmehr Assoziationen gibt, verwendet Freud eine eigene As-
einen Autoritätskonflikt, der auch die historische Di- soziation, die im Sinne der Zeitlosigkeit kollektiver
mension eines Kampfes zwischen Matriarchat und Symbolik ein literarisches Beispiel aus einer anderen
Patriarchat hat (vgl. Gesamtausgabe, Bd. VIII); Ava Zeit und Kultur, nämlich des französischen Dichters
Siegler (1983) untersucht die Übereinstimmung und Rabelais, betrifft. Dazu erfolgen Hinweise, weitere
Differenz zwischen dem Ödipusmythos und dem Bezüge zur Medusa in der griechischen Mythologie
Ödipuskomplex; Rolf Vogt (1986) legt unter Berück- und den Mythologien anderer Völker und Zeiten zu
sichtigung aller griechischen Versionen der Ödipus- suchen.
Sphinx-Thematik in Wort und Bild (Vasenmalerei, Aus heutiger Sicht bedient sich Freud bei seinen
Reliefs) eine systematische Studie über einen Teilbe- Mythendeutungen nicht der primär auf der Analyse
reich des Ödipusmythos vor; John Steiner (1990) der Übertragung und Gegenübertragung basieren-
analysiert in einer an Melanie Klein und Wilfred den psychoanalytischen Methode, sondern deduziert
Bion orientierten Untersuchung die Verleugnung der seine Deutungen aus seiner Theorie des Ödipuskom-
Wahrheit bei Ödipus auf Kolonos und sein Verfallen- plexes. Der Begründer der Psychoanalyse hat wenig
sein an ein umfassendes Gefühl von Omnipotenz; Interesse an speziellen Mythen. Nicht einmal der
Nicholas Rand (2001) kritisiert die Fixierung der Ödipusmythos ist ihm eine gesonderte Untersuchung
Psychoanalytiker auf Vatermord und Inzest und de- wert. Ihm geht es vor allem um die Demonstration
monstriert, wie sehr es im Ödipusmythos auch um der Allgemeingültigkeit seiner Theorie am mythi-
die Verhüllung und Enthüllung von Geheimnissen schen Material. Heute werden Theorieübersetzungen
geht. der beschriebenen Art in der Psychoanalyse sehr kri-
Diese Reihe der erwähnten Arbeiten zum Ödipus- tisch gesehen, da mit dieser Methodik wenig Neues
mythos ist natürlich nicht vollständig. Sie soll nur ein gefunden werden kann und am Anfang der theoreti-
Schlaglicht auf die kontinuierliche Auseinanderset- sche Rahmen so dominant ist, daß er das Resultat der
zung der Psychoanalytiker mit einem wichtigen my- Untersuchung in wesentlicher Hinsicht schon vor-
thologischen Ausgangspunkt ihres Denkens werfen. ausbestimmt. Als adäquate Art, sich Texten psycho-
analytisch zu nähern, gilt die möglichst strikte An-
wendung der psychoanalytischen Methode. Alfred
Freuds Methode der Mytheninterpretation
Lorenzer hat 1986 einen viel beachteten Entwurf vor-
Neben der Neurose ist vor allem der Traum das Para- gelegt, der die psychoanalytische Methode auf die
digma des Freudschen Mythenverständnisses. Die Analyse kultureller Inhalte anwendet. Hartmut Ra-
Methode der Traumdeutung besteht aus der Berück- guse (1991, 1993) stellt in Auseinandersetzung mit
sichtigung der »freien Assoziationen« des Träumers der Literaturwissenschaft und Bibelauslegung einen
zu seinem Traum und der Übersetzung von Symbo- noch intensiveren Bezug der psychoanalytischen Text-
len mit überindividueller Bedeutung durch das Sym- interpretation zur klinischen Methode der Psycho-
bolverständnis des Analytikers. Allerdings wird auch analyse her.
im zweiten Falle zunächst nach den persönlichen
Sinnbezügen dieser Symbole gesucht (GW II/III).
Auswirkungen von Freuds Mythentheorie
Die bei einer Mytheninterpretation fehlenden »freien
im kulturellen Raum
Assoziationen« eines Träumers werden ersetzt durch
die zielgerichteten Assoziationen des Deuters Freud, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno beziehen
die aus seiner klinischen Erfahrung, seiner Theorie sich in ihrem epochalen Werk Dialektik der Aufklä-
252 Themen und Motive

rung (1947) nachdrücklich auf Freud. Hierbei sub- tionen anzunehmen. Wie unentbehrlich ist der von Freud
erschlossene phylogenetische Faktor? In: Psyche 58 (2004),
sumieren sie, ebenso wie später auch Hans Blumen- 448–457.
berg, die religionspsychologischen Schriften Freuds Ferenczi, Sándor: Symbolische Darstellung des Lust- und Rea-
unter den Begriff des Mythos. Der Begründer der litätsprinzips im Ödipusmythos. In: Imago I (1912), 3,
Psychoanalyse betont am Mythos besonders den 276–284.
Fromm, Erich: Gesamtausgabe in zwölf Bänden. Hg. von Rainer
Machtaspekt, der sich im ständigen Versuch, sich der Funk. München 1999.
bedrohlichen äußeren und inneren Natur zu be- Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklä-
mächtigen, manifestiert. Diese Macht-Ohnmacht- rung. Amsterdam 1947.
Dialektik ist der zentrale Ansatzpunkt von Horkhei- Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 1–18. Hg. von Ma-
rianne Niehus-Jung u. a. Olten 1971.
mer und Adorno. Virtuos benutzen sie das differen- –: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Aufge-
zierte Instrumentarium, das ihnen Freud zur Analyse zeichnet und hg. von Aniela Jaffé. Olten/Freiburg i.Br.
der Macht- und Kontrollmechanismen gegenüber 1961.
der inneren (Trieb-)Natur zur Verfügung stellt. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781]. Sämtliche
Werke. Bd. 3. Leipzig 1924.
Der Philosoph Blumenberg orientiert sich in sei- Kanzer, Mark: The Oedipus Trilogy. In: Psychoanalytic Quar-
nem Buch Arbeit am Mythos (1979) noch strikter an terly 19 (1950), 561–572.
der Freudschen Theorie. Freuds Auffassung des My- –: On Interpreting the Oedipus Plays. In: The Psychoanalytic
thos als Kompromißbildung zwischen Triebwunsch Study of Society 3 (1964), 26–38.
Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen. II. Die Heroen-Ge-
und Abwehr erscheint bei Blumenberg als Konflikt schichten. Zürich 1958.
zwischen dem »Absolutismus des Wunsches« und Laplanche, Jean: Die allgemeine Verführungstheorie und andere
dem »Absolutismus der Wirklichkeit« (1979, 14). Aufsätze. Tübingen 1988.
Den kulturellen Bezug zum Mythos über die Jahr- Lorenzer, Alfred: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In:
Ders. (Hg.): Kultur-Analysen. Frankfurt a. M. 1986.
hunderte hinweg, seine implizite und explizite Aus- Raguse, Hartmut: Leserlenkung und Übertragungsentwick-
deutung, Neubearbeitung, Transformation und Wei- lung. In: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis
terführung auf allen relevanten Ebenen des gesell- 6 (1991), 106–120.
schaftlichen Prozesses nennt Blumenberg »Arbeit am –: Psychoanalyse und biblische Interpretation. Stuttgart 1993.
Rand, Nicholas: Psychoanalytische Literaturbetrachtung am
Mythos«. Dementsprechend ist die Auseinanderset- Beispiel von König Ödipus. In: Psyche 55 (2001),
zung Freuds und der anderen Psychoanalytiker mit 1307–1328.
dem Ödipusmythos und die weitere Differenzierung Rank, Otto: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage [1912].
der Theorie vom Ödipuskomplex »Arbeit am My- Darmstadt 1974.
Reik, Theodor: Ödipus und die Sphinx. In: Imago VI (1920), 2,
thos«. Dieser »Arbeit am Mythos« könne man nur 95–131.
nachgehen, wenn man die »Arbeit des Mythos« Siegler, Ava: The Oedipusmyth and the Oedipuscomplex: In-
»schon im Rücken« habe (1979, 295). tersecting Realms, Shared Structures. In: The International
Review of Psycho-Analysis 10 (1983), 205–215.
Steiner, John: The Retreat from Truth to Omnipotence in So-
Literatur phocles’ Oedipus at Colonus. In: The International Review of
Abraham, Karl: Zwei Beiträge zur Symbolforschung: Zur sym-
Psycho-Analysis 17 (1990), 227–239.
bolischen Bedeutung der Dreizahl; Der »Dreiweg« in der
Stern, Daniel: Die Lebenserfahrung des Säuglings [1985]. Stutt-
Ödipussage. In: Imago IX (1909), 1, 122–131.
gart 1996.
Assmann, Jan: Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis.
Sterren, Driek van der: Ödipus [1948]. München 1974.
In: Psyche 58 (2004), 1–25.
Traverso, Paola: »Psyche ist ein griechisches Wort …« Rezeption
Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.
und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Frank-
Devereux, Georges: Why Oedipus Killed Laius: A Note on the
furt a. M. 2003 (Italien. 2000).
Complementary Oedipus Complex. In: International Jour-
Vogt, Rolf: Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder
nal of Psychoanalysis 34 (1953), 132–141.
Das Rätsel der Sphinx. Frankfurt a. M./New York 1986.
Eickhoff, Friedrich Wilhelm: Über die »unvermeidliche Kühn-
heit«, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Genera- Rolf Vogt
253

3. Religion

Durch Freuds gesamtes Werk zieht sich wie ein roter Gleichwohl hat Freud nach eigenem Zeugnis nie
Faden das Thema Religion. Schon in voranalytischer an eine übernatürliche Welt geglaubt. Seine Auffas-
Zeit, in den Schriften über Kokain, findet sich ein sung der Religionen war rein anthropologisch. My-
ausführlicher kulturgeschichtlicher Exkurs über die then sind »in die Außenwelt projizierte Psychologie«
kultisch-religiöse Verwendung der »Cocablätter« bei (»Psychopathologie des Alltagslebens«, GW IV, 287),
den Indianern Perus: die »übersinnliche Realität« kann in weiten Stücken in
»Psychologie des Unbewußten« rückübersetzt werden.
»Die Sage erzählte, daß Manco Capac, der göttliche Sohn der
Sonne, in der Urzeit von den Felsen des Titicacasees herabge- »Metaphysik« kann demzufolge durch »Metapsycho-
stiegen sei und das Licht seines Vaters den armseligen Ein- logie« ersetzt werden (GW IV, 288). Doch damit war
wohnern gebracht habe, daß er sie die Kenntnis der Götter, die das Thema keineswegs abgetan. Wo in der Regel ein
Ausübung der nützlichen Künste lehrte und ihnen die Coca Punkt gesetzt wird, stand für Freud ein Doppel-
schenkte, diese göttliche Pflanze, welche den Hungrigen sät-
tigt, den Schwachen stärkt und sie ihr Mißgeschick vergessen punkt. Schon 1890, anläßlich der Beschäftigung mit
macht. Cocablätter wurden den Göttern zum Opfer gebracht, der Frage, wie ärztliche Behandlung wirkt, die immer
Cocablätter während der gottesdienstlichen Handlungen ge- auch Seelenbehandlung ist, war er auf das Phänomen
kaut, selbst den Toten Coca in den Mund gesteckt, um sie einer der »gläubigen Erwartung« gestoßen. Auch für das
günstigen Aufnahme im Jenseits zu versichern« (Freud 1884,
44). Phänomen der »Wunderheilungen« wollte er keine
anderen Kräfte als seelische gelten lassen. Dabei atte-
Vieles, was sich in Freuds späteren Schriften zur Reli- stierte er den »religiös Ungläubigen«, daß auch sie
gion findet, ist hier im Ansatz schon vorhanden: Die nicht auf Wunderheilungen zu verzichten bräuchten.
göttlichen Kräfte sollen der menschlichen Hilflosig- Das Ansehen der heilenden Person oder des Ortes
keit aufhelfen, mit der Grausamkeit der Natur und »und die Massenwirkung ersetzen ihnen vollauf den
dem Sterben versöhnen. Das Kultur-Ideal, wie es sich religiösen Glauben« (GW V, 299). Die gläubige Er-
in der heiligen Pflanze inkarniert, stillt stellvertretend wartung ist eine anthropologische Konstante. Sie fin-
die Vatersehnsucht und steht in engster Verbindung det sich »beim Kinde gegen die geliebten Eltern« (307)
zu Kunst, Kult und Opferritual. Deophagie führt zur und läßt sich auch in der Hypnose beobachten. Für
Identifikation mit dem Kulturheros und damit zur das Aufkommen von totalitären Herrschaftsformen,
Massenbildung. die sich als Ersatzreligionen verstehen lassen, ist die
Der Freud-Schüler Ernest Jones hat darauf hinge- gläubige Erwartung von großer Erklärungskraft.
wiesen (Jones I–III), daß Freud kaum ein Problem
mehr beschäftigte als die Frage, wie der Mensch zum
Religion als universelle Zwangsneurose
Menschen wurde. Das schloß die Beschäftigung mit
dem kulturell Frühen und den Religionen ein, die für Ein aus dem Jahr 1907 stammender Essay, Zwangs-
ihn immer auch erste psychologische und anthropo- handlungen und Religionsübungen (GW VII, 127–
logische Welterklärungen darstellten. In seiner Kind- 139), ist ein erster Schritt in Richtung auf Totem und
heit war ihm die Philippson-Bibel mit ihren 685 Illu- Tabu und wird in der Regel etwas einseitig als Angriff
strationen und dem zweisprachigen Text (Hebräisch- Freuds auf die Religion gelesen (Ricœur 1966/1977,
Deutsch) sowie den ausführlichen enzyklopädischen 211). Freud vergleicht in dieser originellen Arbeit die
Anmerkungen von großer Bedeutung: »Frühzeitige religiöse Praxis oder allgemeiner die religiösen Ri-
Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich tuale mit dem privaten Zeremoniell der Zwangskran-
die Kunst des Lesens erlernt hatte, hat, wie ich viel ken. Auf beiden Seiten findet sich die gleiche Sorge,
später erkannte, die Richtung meines Interesses alle Einzelheiten des Ritus zu beachten, nichts auszu-
nachhaltig bestimmt« (Nachtr., 763; Pfrimmer 1982). lassen, die gleiche Gewissensqual im Fall eines Ver-
254 Themen und Motive

säumnisses. Die besondere Gewissenhaftigkeit der gensinnigen Urworte und der sie bezeichnenden
Ausführung und die Angst bei Unterlassungen ma- Kräfte, was heute der ›Glutkern des Heiligen‹ ge-
chen das Zeremoniell zu so etwas wie einer ›heiligen nannt wird, kann ernsthaft nicht über Religion nach-
Handlung‹. Doch es gibt auch große Differenzen, da gedacht werden. Schließlich läßt sich dieser Text be-
das neurotische Zeremoniell, im Unterschied zur Öf- reits mit seinen Analogien oder ›Übereinstimmun-
fentlichkeit und Gemeinsamkeit der Religionsübung, gen‹ in Richtung auf Totem und Tabu. Einige Überein-
privat und verborgen bleibt. Auch bietet sich die reli- stimmungen im Seelenleben der Wilden und der
giöse Kulthandlung als symbolisch und sinnvoll dar Neurotiker (s. Kap. II. 9.1) lesen.
im Gegensatz zum läppischen und sinnlos erschei- Freud schrieb in einer Zeit, als die Komparatistik
nenden Zeremoniell der Neurose. In diesem ›sakrile- in den Kulturwissenschaften hoch im Kurs stand und
gischen Vergleich‹ erscheint die Zwangsneurose als die ritualtheoretischen Pioniere wie Robertson
»ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Smith, James Frazer, Emile Durkheim u. a. aufre-
Privatreligion« (GW VII, 132). Dieser Gegensatz löst gende anthropologische Befunde und theoretische
sich indes teilweise auf, wenn die Analyse den Sinn Erkenntnisse zu Tage förderten. Freuds Beitrag zu
des Zeremoniells erschließt. Dem ›heiligen Verbot‹ diesen Diskussionen läßt sich 1907 dahingehend zu-
und der ›heiligen Handlung‹ liegt in Neurose wie im sammenfassen, daß sich in der Psychoanalyse des In-
religiösen Ritual ein Schuldbewußtsein zugrunde, dividuums fossile oder archaische Ichsegmente fin-
eine äußerste Unreinheit im Zusammenhang einer den, die sich den Befunden, wie sie die Religionswis-
verdrängten Triebregung. Über den Mechanismus senschaften ans Licht gebracht haben, zur Seite stel-
der Verschiebung, wie Freud ihn erstmalig in der len lassen. Er wagte die These, daß das, was heute
Traumarbeit studierte, können Verbindungen zwi- Neurose genannt wird, in gewissem Umfang auf »Zu-
schen den oft ›läppischen Vorschriften‹ der Zwangs- standsphasen der Menschheit« verweist (F/Fer
neurose und den abgewehrten sexuellen Trieben auf- 12.7.15; Haas 2002, 38). Dabei muß dem Kult und
gezeigt werden. Auch in den Religionen kann es eine dem Ritual, wie es in Zwangshandlungen und Reli-
Verschiebung zu immer kleinlicheren Satzungen ge- gionsübungen geschieht, eine Schlüsselstellung einge-
ben, die jedoch eher aggressive und ›sozialschädliche räumt werden. Archaismen in Neurose und Psychose
Triebe‹ bannen sollen. Solche zeremoniellen Hyper- legen wie die Kiemenbögen in der Embryonalent-
trophien führen dann in Abständen – hier scheint wicklung Zeugnis von der Frühzeit des Menschen ab,
Freud u. a. an Luthers Reformation gedacht zu haben in der religiöse Riten eine Monopolstellung in Bezug
– zu »ruckweise einsetzenden Reformen, welche das auf die Kulturarbeit inne hatten. In einer Zeit, in der
ursprüngliche Wertverhältnis herzustellen bemüht von Komparatistik in den Kulturwissenschaften we-
sind« (ebd., 138). Die Zwangsneurose ist also nach nig erwartet wird, dominiert die Meinung, Freud sei
diesen Übereinstimmungen als »pathologisches Ge- mit solchen Analogieschlüssen »in eine Sackgasse ge-
genstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neu- raten« (Henseler 1995, 20).
rose als eine individuelle Religiosität, die Religion als
eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen«
Religion als Illusion
(ebd., 138 f.).
Einige Schlußfolgerungen lassen sich zu diesem Religionskritik im engeren Sinn findet sich in Die
Zeitpunkt und mit Blick auf weitere Entwicklungen Zukunft einer Illusion und in Das Unbehagen in der
bereits ziehen: Die menschliche Kulturentwicklung Kultur (s. Kap. II.9.3 und 9.4). Freud ging von der
beruht auf Trieb- und Gewaltverzicht, zu dem Reli- Ohnmacht und Hilflosigkeit des Menschen gegen-
gionen ihren wesentlichen Beitrag leisten. Religionen über den Naturgewalten aus. Elementare Katastro-
haben Schutzfunktion: Rache- und Vergeltungswün- phen forderten dazu heraus, die menschlichen Kräfte
sche müssen nicht mehr ausgelebt, sondern können zu vereinigen, innere Streitigkeiten vergessen zu ma-
»der Gottheit zum Opfer« gebracht werden: »›Die chen und auf eine noch näher zu beschreibende Art
Rache ist mein‹, spricht der Herr« (ebd., 139). Weiter kulturelle Schutzvorkehrungen zu erfinden. Dazu ge-
zeigt sich die enge Verbindung von Höchstem und hörte, daß die unpersönlichen Naturkräfte ver-
Niedrigstem. Das Heiligste, genauer das Sacer oder menschlicht wurden, um sich »heimisch im Unheim-
Tabu, leitet sich offenbar vom Unheiligsten ab. Dieses lichen« (GW XIV, 338) zu fühlen. So wurden die
Thema wird Freud in Über den Gegensinn der Ur- Ängste gegenüber den »gewalttätigen Übermen-
worte (1910) und danach weiterführen. Allgemeiner schen«, den Göttern, die sich im Grollen des Don-
ausgedrückt, verdankt sich Kultur der Transforma- ners, Toben des Sturms und anderen Naturgewalten
tion der Gewalt. Ohne Berücksichtigung dieser ge- kundtaten, ermäßigt. Auf diese Art gelingt es auch
Religion 255

dem Kind, seine Ängste gegenüber dem Elternpaar Freuds Religionskritik einen ernsthaften Versuch zur
zu zähmen. Läuterung der Religion sahen. Diese Ansicht findet
Wieder argumentiert Freud mit Hilfe von Analo- sich auch bei Ricœur und Küng, dem Die Zukunft
gien. So wie die kindliche Neurose sich in der Regel einer Illusion beinahe wie »ein pastoraler Glücksfall
auswachse, bestehe auch die Hoffnung, daß sich die vorkommt« (Küng 1987, 123).
›Menschheitsneurose‹, die aufs engste mit religiösen Gegenwärtig bietet sich ein verändertes Bild. Phi-
Wunschvorstellungen verbunden ist, auflöse und die losophen wie Habermas und Safranski befürchten,
Menschen erwachsen werden. Gerade jetzt befänden man könne die Desillusionierung zu weit treiben und
sich die Menschen der Neuzeit in einer quasi adoles- damit ein Vakuum entstehen lassen, und zwar dort,
zenten Ablösungsphase, von der zu hoffen sei, daß sie wo bislang Gemeinschaftsbildung und Wertorientie-
sich mit derselben »schicksalsmäßigen Unerbittlich- rung einer garantieleistenden göttlichen Instanz ob-
keit eines Wachstumsvorganges« (362) vollziehe wie lagen. Die erwachsene Mündigkeit, die Freud sich im
jene. Dabei setzte er auf »die Erstarkung des wissen- Licht des wissenschaftlichen Geistes erhoffte, hat sich
schaftlichen Geistes«, auf eine vom »Druck der reli- jedenfalls bis heute nicht eingestellt. Vielmehr ist un-
giösen Lehren befreiten Erziehung« (378), nur noch übersehbar, daß religiöse Bedürftigkeit ungebrochen
einem Gott folgend, der Vernunft oder dem Logos. fortbesteht. Wenn die Verbindlichkeit der Hochreli-
Wenn es gelinge, den schädigenden Einfluß der Reli- gionen außer Kraft gesetzt ist, besteht nicht nur die
gion auf die sexuelle Entwicklung zurückzudrängen, Gefahr, daß Spiritualität in den ›esoterischen Hobby-
wäre dies ein wichtiger Beitrag zur Volksgesundheit. keller‹ abwandert, sondern weit schlimmer, daß die
Vom sexuellen Druck befreit, könne sich der Intellekt Erlösungssehnsüchte in gefährlicher Weise pervertie-
weit besser entfalten, und tatsächlich entstanden in ren. Der Nationalsozialismus und der Stalinismus
der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg psychohygieni- waren solche pervertierten Ersatzreligionen, in wel-
sche Aufklärungsschriften und sexualpolitische Be- che die Glaubenssehnsüchte, die in den Kirchen
wegungen, die den Zusammenhang von autoritärer nicht mehr gebunden waren, eine neue Offenbarung
Gesellschaft, Sexualunterdrückung und Neurosen- fanden. Vielleicht waren Religionen, was die irdi-
entstehung zum Inhalt hatten. schen Glücksmöglichkeiten anlangt, immer schon
Dem Gläubigen bescheinigte Freud infantil, wirk- realistischer. Sie verwiesen auf eine Transzendenz, in
lichkeitsfremd und von den ›religiösen Tröstungen‹ der etwas zur Vollendung kommen konnte, das in der
wie von einem Narkotikum abhängig zu sein. In Das säkularisierten und sich polytheistisch gebenden Im-
Unbehagen in der Kultur sprach er davon, daß die manenz nicht nur nicht zu befriedigen ist, sondern
Teilhabe an einem »Massenwahn« vielen Menschen unerbittliche Rivalität und Eifersuchtskämpfe her-
die »individuelle Neurose« (GW XIV, 444) erspare. aufbeschwört oder moralische Selbstüberforderun-
Dabei sei der Gegenwartsmensch mit seiner Wissen- gen, die in Depressionen münden. Auf diese protek-
schaft und Technik auf dem besten Wege, den Göt- tive Funktion der Religion hatte schon seinerzeit Pfi-
tern, die einmal »Kulturideale« waren, als eine Art ster hingewiesen. Gleichzeitig setzte er sich kritisch
»Prothesengott« (451) immer ähnlicher zu werden. mit dem auseinander, was er Freuds »Messianität der
Dennoch fühle er sich in seiner »Gottähnlichkeit« Wissenschaft« (Pfister 1928/1977, 125) nannte und
keineswegs glücklich. Schließlich gipfelt sein Urteil in in der er ebenso viel Illusion erkannte.
dem Hinweis, daß die Religionen das Gepräge der Hier nun knüpft Habermas zu Beginn des 21. Jh.s
Zeit tragen, in denen sie entstanden sind, den »un- an. Er sieht mit der biologischen Desillusionierung
wissenden Kinderzeiten der Menschheit« (GW XV, so etwas wie einen ›Kulturkampf‹ in den ›postsäku-
181). Doch ihre Tröstungen verdienen kein Ver- laren Gesellschaften‹ heraufziehen. Wenn es um den
trauen, da nun die Welt eigentlich keine Kinderstube biotechnischen Umgang mit menschlichen Embryo-
ist und deswegen »der Wahrheitsgehalt der Religion nen gehe, könne der Hinweis aus den ersten Sätzen
überhaupt vernachlässigt werden darf« (ebd., 181). der Bibel, daß der Mensch Geschöpf und Ebenbild
Freuds Religionskritik provozierte in den nachfol- Gottes sei, auch dem »religiös Unmusikalischen et-
genden Jahrzehnten heftige Diskussionen. Dabei was sagen« (Habermas 2001, 30). Moralische Emp-
wurde immer wieder bemerkt, daß die Ansichten findungen, für die bislang nur eine angemessene ›Ar-
Feuerbachs, Marx’ und Nietzsches in vertiefender tikulationskraft‹ im Religiösen bestand, bedürften ei-
Weise fortgeführt wurden. Gleichzeitig verdient her- ner bewahrenden Übersetzung in eine säkulare Spra-
vorgehoben zu werden, daß nicht wenige Theologen che. »Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen
– angefangen mit dem aus Zürich stammenden Os- göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche
kar Pfister, der zugleich Psychoanalytiker war – in Gesetze verwandelte, ging etwas verloren« (ebd., 24).
256 Themen und Motive

Überhaupt zehre die Moderne, mehr als ihr bewußt kehrte, seinem »Interesse« an »kulturellen Problemen
sei, von »normativen Gehalten« (ebd., 20) religiöser […], die dereinst den kaum zum Denken erwachten
Überlieferungen. Fortschrittsoptimistische Deutun- Jüngling gefesselt hatten« (GW XVI, 32), zog ihn er-
gen, wie sie Freud im Anschluß an Kopernikus und neut die Frage an, was menschliche Kultur im Inner-
Darwin gab, werden der obdachlos gewordenen Mo- sten zusammenhält. Dazu mußte er den ablehnenden
derne in einer wissenschaftlich entzauberten Welt zu- Blick auf die Religion zurücknehmen, ihr »bessere
nehmend suspekt. Die verarmten Sprachspiele der Gerechtigkeit« erweisen, um aus ihrem »Wahrheits-
Neurophysiologen mit ihrer Naturalisierung des Gei- gehalt« (ebd., 33) grundlegende Einsichten zur Kul-
stes haben längst den aufklärerischen Gestus Freuds, turentstehung zu entwickeln. Der Ausgangspunkt
wonach das »Ich nicht Herr sei in seinem eigenen war Totem und Tabu. Doch auch auf dem Weg zu
Haus« (GW XII, 11), übertrumpft und dem ›Ich‹ seinem Spätwerk, dem Mann Moses, formulierte
überhaupt jegliche Freiheit abgesprochen, es zur »Il- Freud immer dann, wenn seine Schriften in die Nähe
lusion« erklärt (Habermas 2004, 890). dieses Themas gelangten, seine Kulturtheorie weiter
Auch Safranski kommt nicht umhin, bestimmte aus. So sehr die Psychoanalyse und andere Human-
Aspekte der Religion zu verteidigen. Er sieht in ihr wissenschaften ihm in seiner Religionskritik gefolgt
nicht nur den Ort der Moralbegründung, Behausung sind, so sehr verweigerten sie sich seinem kühnen
und Sinnerfüllung, sondern macht, wie einhundert Lieblingswerk, den Übereinstimmungen im Seelenle-
Jahre vor ihm William James, auf ihre belebenden ben der Wilden und der Neurotiker. »Immer klarer er-
und begeisternden Kräfte aufmerksam. Die entzau- kannte ich, daß die Geschehnisse der Menschheits-
berten säkularen Zivilisationen sind in ihrer Vitalität geschichte, die Wechselwirkungen zwischen Men-
so herabgekühlt, daß Depressionen und Süchte zu schennatur, Kulturentwicklung und jenen Nieder-
wichtigsten Volkskrankheiten angewachsen sind. Den schlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung
totalitären Ideologien, die das Paradies auf Erden sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der
versprechen, hält Safranski »menschenfreundliche dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-
Religionen« entgegen, die in ihrer besten Ausprägung Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmen-
so etwas wie »geniale kulturelle Erfindungen« (Sa- schen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer wei-
franski 2004, 138) sind. Nimmt man aus der Kunst- teren Bühne wiederholt« (ebd., 32 f.).
geschichte Europas alles weg, was mit religiöser und Die Geschichte dieser Ablehnung ist rasch skiz-
christlicher Inspiration zu tun hat, wird man sehen, ziert. 1920 unterzog der amerikanische Ethnologe
wie viel oder wie wenig übrig bleibt. Mit dem A. L. Kroeber Totem und Tabu einer vernichtenden
Schwinden der Transzendenz und einer warenförmig Kritik. Seitdem galt diese Schrift als ›ethnologisch wi-
werdenden Kunst, die sich dem Markt und den Me- derlegt‹, und das um so mehr, als Kroeber der Psy-
dienkonzernen, den gefürchteten Göttern unserer ge- choanalyse nahestand. Zwar milderte er 1939, dem
genwärtigen Hyperimmanenz, anzupassen beginnt, Todesjahr Freuds und dem Beginn des Zweiten Welt-
verlieren sich auch deren transformierende Kräfte. krieges, seinen wuchtigen Angriff in einer Retrospek-
Noch gibt es die vielfältigen synkretistischen Versu- tive ganz erheblich und bezog nun dessen kultur-
che, mit dem Entschwundenen in Fühlung zu blei- theoretische These nicht länger auf ein einmaliges
ben: museal, touristisch, kulturwissenschaftlich, eth- prähistorisches Ereignis, sondern in Übereinstim-
nologisch und psychoanalytisch. Auch bei Freud fin- mung mit dem Ödipuskomplex auf ein systemati-
det sich in seiner anthropologischen »Wißbegierde« sches Geschehen, das sich über Jahrtausende der Ho-
(GW XIV, 34) etwas von dem, was William James als minisation erstreckt. Es muß aber tiefere Gründe ge-
ursprünglichen Titel für seine religionspsychologi- ben, weswegen es der Psychoanalyse bisher kaum ge-
schen Vorlesungen vorgesehen hatte: »Man’s Reli- lang, diese grundlegenden Gedanken über die
gious Appetites and their Satisfaction through Phi- Kulturentstehung aufzugreifen und weiterzuentwik-
losophy« (James 1901–02/1979). keln.
Es fällt noch vergleichsweise leicht, die Götter als
Projektionen zu entlarven. Doch der nächste Schritt,
Die Wahrheit der Religion
das in den Himmel Projizierte in menschliche Ver-
In Der Zukunft einer Illusion ging es Freud nicht um hältnisse rückzuübersetzen, erscheint sehr viel
die »tiefsten Quellen des religiösen Gefühls, als viel- schwerer. Die Entmystifizierung fällt halbherzig aus,
mehr um das, was der gemeine Mann unter seiner weil Religion häufig als zu vernachlässigende Größe,
Religion versteht« (GW XIV, 431). In dem Maße, wie etwa als ›Überbau‹, verkannt wird. Freuds Kultur-
er zu seinem eigentlichen Lebensthema zurück- theorie wurde in der Folgezeit außerhalb der Psycho-
Religion 257

analyse ernster genommen, und das Jahr 1972 leitet mals eine Pest hervorrufen können. Entscheidender
mit den zeitgleich und unabhängig voneinander er- ist die Frage, warum Vatermord und Inzest aus-
schienenen Werken von Walter Burkert und René Gi- schließlich einem Protagonisten zugesprochen wer-
rard so etwas wie eine Renaissance ein. Homo necans den (Girard 1972/1992, 111). Auf Ödipus versam-
(1972) und Das Heilige und die Gewalt (1972/92) melt sich alle Unreinheit der Katastrophe, er wird
greifen Gedanken Freuds auf und führen sie weiter. ›sacer‹ im negativsten Wortsinn oder was dasselbe ist,
Danach enthüllen sich Religionen als gewaltverdau- zum moralischen Monstrum. Mit seiner Verstoßung
ende und transformierende soziale Institutionen. Im vermag sich im mythologischen Denken das Ge-
Opferritual, in dem nach Art des Wiederholungs- meinwesen zu reinigen. Doch später wird der ster-
zwangs traumatische oder unreine Gewalt in heilige bende Ödipus erhöht. In Sophokles’ Ödipus auf Kolo-
Gewalt überführt wird, assimilieren Kulturen in nos taucht ein veränderter Ödipus auf, von dessen
›spielerischer‹ Weise ihre Katastrophenerfahrungen Grab man sich nun Schutz erwartet, er ist auf dem
und sakralisieren oder divinisieren sie. So arbeitet Weg, ein Kulturheros zu werden. Im Grunde sind
auch die Trauer, und auf die gleiche Weise eignen Götter sakralisierte Sündenböcke (GW XVI, 238; Gi-
sich Kinder im Spiel ihre kulturelle Welt an. Was dort rard 1972/1992, 390).
die kulturellen Institutionen, die schutzbringenden Solche Tragödien sind wie das Ritual Reinszenie-
Ahnen und Götter sind, werden hier die seelischen rungen, sie verweisen auf eine Urtragödie. Was bei
Strukturen und Instanzen. Im Spiel wie im Ritual Freud Urvatermord oder Urverbrechen heißt, nennt
treffen Verstoßung, Sündenbockmechanismus, stell- der Literaturwissenschaftler Girard Gründungsge-
vertretendes Opfer und Übertragung zusammen, was walt. Er steht hier gewissermaßen auf Freuds Schul-
beispielsweise die »infantile Wiederkehr des Totemis- tern und kann dort, wo sein Vorgänger sich zunächst
mus« und die »Tierphobien der Kinder« (GW XIV, nur vorzutasten vermochte, systematisieren und
93) in eindrucksvoller Weise bestätigen. In den letz- dank seines minimalistischen Theoriegebrauchs wei-
ten Jahrzehnten wurden Freuds Übereinstimmungen ter präzisieren. Seine ›mimetische Theorie‹ ist inter-
durch die Arbeiten Melanie Kleins, Donald W. Win- subjektiv oder soziologisch. Ihr fehlt die intrapsychi-
nicotts und Wilfred Bions wie absichtslos weiter ver- sche Dimension, was gegenüber der Psychoanalyse
vollständigt, und auch das Prozeßgeschehen der eine Vereinfachung darstellt. Für Freud war das Ri-
Trauer fügt sich hier mühelos ein (Haas 2002). tual »die Gedächtnisfeier der ungeheuerlichen Tat,
Der Altphilologe Burkert hat das dem Opferritual von der das Schuldbewußtsein der Menschheit (die
innewohnende Paradox, wonach sakrale Gewalt un- Erbsünde) herrührte, mit der soziale Organisation,
reine Gewalt zu verhindern vermag, anhand altgrie- Religion und sittliche Beschränkung gleichzeitig ih-
chischer Opferriten und Mythen in illusionsloser ren Anfang nahmen« (GW XIV, 94). Girard läßt
Klarheit dargelegt. In dieser antiidealistischen Sicht seine Gründungsgewalt mit einer Krise beginnen, die
ist also nicht von den erbaulichen Seiten der Religion alles bisher Dagewesene übertrifft und deswegen mit
die Rede. Die britischen Ethnologen, die sog. Schule den herkömmlichen rituellen Mitteln, zu denen die
von Cambridge, wirkten mit ihrer Auffassung, daß Verbote als ›negative Riten‹ gehören, nicht mehr bei-
sich das Theater, in Sonderheit die Tragödie, vom Ri- zulegen ist. Ansonsten hätte ein rituelles Opfer vom
tus ableitet, äußerst anregend. Hier hat also das Rande des Gemeinwesens – ein Sklave, Fremder, In-
Theaterspiel den alten Opferstein ersetzt, nicht mehr valide, Kind oder Tier – genügt, um die Krise beizu-
versöhnendes Blut, sondern geweinte Tränen, Entset- legen und Frieden wiederherzustellen. Somit wäre
zen und Mitleid reinigen das Gemeinwesen. Im der Kreislauf der Gewalt nicht länger angeregt, son-
Schlußkapitel von Totem und Tabu ist von der »tragi- dern beendet worden, und die Gottheit hätte die böse
schen Schuld« die Rede, die der Held auf sich nimmt. Gewalt verdaut und zu guter Stabilität und Ordnung
Auf ihn wird das »Verbrechen« übertragen, das alle besänftigt. Die Gründungsgewalt hingegen ist funda-
bedrückt: »So wird der tragische Held – noch wider mental, und in der mimetischen Erregung wird
seinen Willen – zum Erlöser des Chors gemacht« schließlich das »versöhnende Opfer« (Girard
(GW IX, 188). 1972/1992, 104 ff.) nach Art des Sündenbocks in den
Ödipus ist ein solcher tragischer Held. In Theben eigenen Reihen gesucht und gefunden. Auf dieses
geht es um die Katastrophenerfahrung der Pest, für versammelt sich projektiv das gesamte Übel, in dieses
die es, gemäß den Forderungen der Orakel, einen hinein wird es evakuiert und mit seiner Ausstoßung
Schuldigen geben muß. Girard hat deutlich gemacht, oder Ermordung eliminiert. Mit der Beendigung der
daß Orakel Sündenbockfallen sind und Inzest und Krise sakralisiert sich der so Hingemordete zum
Vatermord, seien sie nun vorgefallen oder nicht, nie- Heilsbringer und göttlichen Wesen. Die an ihn ge-
258 Themen und Motive

knüpften Mythen verklären die Untat und lösen die schen von überwältigender Geisteskraft oder solche, in denen
eine der menschlichen Strebungen die stärkste und reinste,
Gewaltverhängnisse von den Menschen ab. »Das Re- darum oft auch einseitigste, Ausbildung gefunden hat. Die
ligiöse befreit die Menschheit tatsächlich, denn es Analogie geht in vielen Fällen noch weiter, indem diese Perso-
entlastet die Menschen von Vermutungen, die sie ver- nen – häufig genug, wenn auch nicht immer – zu ihrer Lebens-
giften würden, würden sie sich der Krise so erinnern, zeit von den anderen verspottet, mißhandelt oder selbst auf
grausame Art beseitigt wurden, wie ja auch der Urvater erst
wie sie tatsächlich stattgefunden hat« (ebd., 200). lange nach seiner gewaltsamen Tötung zur Göttlichkeit auf-
Wäre Freud noch einmal auf jenen Manco Capac stieg. Für diese Schicksalsverknüpfung ist gerade die Person
aus den Kokainschriften zurückgekommen, wäre er Jesu Christi das ergreifendste Beispiel, wenn sie nicht etwa dem
ohne Zweifel von einer entsprechenden Mythopoese Mythus angehört, der sie in dunkler Erinnerung an jenen Ur-
vorgang ins Leben rief« (GW XIV, 501 f.).
ausgegangen. Für ihn ist die Religionsbildung auf
den Boden des »Vaterkomplexes gestellt und über der Freud hat hier begonnen, Texte der Bibel anthropolo-
Ambivalenz aufgebaut« (GW XIV, 94). Statt »Ambi- gisch zu lesen und sich ihrer enthüllenden Wirkung
valenz« benutzt Girard den stärkeren Ausdruck der als Belege für seine Kulturtheorie zu bedienen. Diese
Sakralisierung. Der Doppelsinn dieses Urwortes wird biblische Anthropologie wird von Girard in weit grö-
dem religiösen Prozeßgeschehen gerechter. Da es ßerem Umfang fortgesetzt.
auch Brudermorde als Gründungsereignisse gibt, be- Religionen wird heute mancherorts mit größerem
streitet Girard den Primat des Vaters. Entscheidend Respekt begegnet; nicht zuletzt des zur Conditio hu-
sei vielmehr, daß es ein Kollektivmord aus Anlaß ei- mana gehörigen ›Glutkerns des sacer‹ wegen. Das Il-
ner lang anhaltenden Krise ist. Die Gründungsgewalt lusionäre wird heute – wie etwa bei Winnicott
eröffnet einen neuen Ritualzyklus oder führt, wie es (1971/1973, 21 ff.) – positiver gesehen. Man kann Re-
bei Freud heißt, zu einem neuen Kultur-Über-Ich. ligionen als kollektive und oft großartige Kunstwerke
Die Hominisation kann man sich als Kette oder Ab- auffassen. Im Archaischen wurzelnd und in die Zu-
folge solcher Gründungsereignisse vorstellen, die auf kunft offen, besitzen sie ein durch wiederkehrende
jeder Stufe zu mehr Verinnerlichung, kultureller Re- Not und Krisen geläutertes Wissen um Lebenstatsa-
flexivität und zu veränderten Verboten führt. Die Er- chen. Man fängt an zu begreifen und zu würdigen,
richtung des Mosaischen Gesetzes wie auch den An- was sie an anthropologischem Realismus aufzuwei-
fang des abendländischen Kultur-Über-Ichs sehen sen haben. Habermas (2001) beispielsweise aner-
Freud und Girard auf dem Boden solcher Grün- kennt das religionskritische Potential in der jüdisch-
dungsmorde. Hier, im ›Glutkern des Heiligen‹, wer- christlichen Tradition: ihre Fähigkeit zur »Entwei-
den alte Traditionen eingeschmolzen und neue zum hung des Sakralen« und zur Entzauberung der »Ma-
Leben erweckt. Doch es geschieht noch mehr, inso- gie«. Sie hat »den Mythos überwunden, das Opfer
fern in diesen Vorgängen auch die Kulturgesetze ent- sublimiert« (ebd., 28) und das Geheimnis des Opfer-
hüllt und durchdrungen werden. In der Art, wie in Sündenbock-Mechanismus gelüftet. War im mytho-
den Evangelien die Passion Christi dargestellt wird, logischen Denken der Getötete oder Verstoßene wie
geben sich in der Auffassung Freuds und Girards die Ödipus allein schuldig, so ist das Opfer in der Bibel,
Kulturmechanismen am Eindeutigsten zu erkennen. angefangen mit der Ermordung Abels bis hin zur
Wenn es im Augenblick des Kreuzestodes bei Mat- Passion Christi, ein Unschuldiger. Hier kehren sich
thäus heißt: »Und siehe der Vorhang im Tempel zer- die Verhältnisse um, dem Täter oder dem Kollektiv
riß in zwei Stücke von oben an bis unten aus« (Mt wird nun, wie Kain, die Rolle des Schuldigen zuer-
27, 51), so ist damit der Durchblick auf das Verbor- kannt. Das macht den eigentlichen Sinn dieser Zei-
genste der Kulturentwicklung freigegeben: Das Hei- tenwende aus. Eine so verstandene »frohe Botschaft«
lige gibt sein düsteres und janusköpfiges Geheimnis (GW XVI, 244), diese Wahrheit der Religion, stellt
preis. In der jüdisch-christlichen Tradition wird erst- immer noch eine Herausforderung und ein Ärgernis
malig die kulturstiftende Verbindung von Gewalt dar, für die profane Vernunft ebenso wie für das real
und Sakralem sichtbar, wird Religion um Religions- existierende Christentum. Dennoch darf man viel-
kritik bereichert. leicht für »die Zukunft der Menschheit optimistisch
Immer wieder, mitten in seiner heftigsten Religi- sein«, denn »die Stimme des Intellekts ist leise, aber
onskritik, so auch in Das Unbehagen in der Kultur, sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat« (GW
kommt Freud nicht umhin, sich dem Wahrheitsge- XIV, 377).
halt der religiösen Überlieferungen zuzuwenden:
»Das Über-Ich einer Kulturepoche hat einen ähnlichen Ur-
sprung wie das des Einzelmenschen, es ruht auf dem Eindruck,
den große Führerpersönlichkeiten hinterlassen haben, Men-
Religion 259

Literatur Küng, Hans: Freud und die Zukunft der Religion. München
Burkert, Walter: Homo Necans. Interpretation altgriechischer 1987.
Opferriten und Mythen. Berlin/New York 1972. Pfister, Oskar: Die Illusion einer Zukunft [1928]. In: Eckart
Freud, Sigmund: Über Coca [1884]. In: Albrecht Hirschmüller Nase/Joachim Scharfenberg (Hg.): Psychoanalyse und Reli-
(Hg.): Schriften über Kokain. Frankfurt a. M. 1996, 41–83. gion. Darmstadt 1977, 101–141.
Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 1992 Pfrimmer, Théo: Freud lecteur de la Bible. Paris 1982.
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Haas, Eberhard Th.: … und Freud hat doch recht. Die Entste- In: Eckart Nase/Joachim Scharfenberg (Hg.): Psychoanalyse
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Henseler, Heinz: Religion – Illusion? Eine psychoanalytische Eberhard Th. Haas
Deutung. Göttingen 1995.
James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Olten 1979
(engl. 1901–02).
260

4. Biologie und Materialismus

Trotz der überwältigend evidenten Tatsache, daß sich in Gefahr, als bizarre Randerscheinung abgetan zu
der psychoanalytische Diskurs im Reich von Texten werden, im Feld der Wissenschaft Anerkennung zu
und Zeichen, von Vergleichen, Metaphern und Met- verschaffen.
onymien bewegt und daß in ihm fortwährend ein
Text in einen anderen übersetzt und metabolisiert
wird, daß man es bei ihm, kurzum, mit einem durch Die Psychoanalyse als »gemischte Rede«
und durch literarisch-auslegenden Diskurs zu tun
hat, dessen ›Sinn‹ der subjektiven Zustimmung der Aber es dürfte dabei noch etwas anderes im Spiel ge-
Beteiligten bedarf und der also von ›Objektivität‹ im wesen sein. Von Anfang an war es Freud darum zu
strengen Sinne weit entfernt ist, kann man nicht be- tun, der Psychoanalyse ein haltbares Fundament zu
haupten, Freuds Rekurs auf die Naturwissenschaften, verschaffen, das in seinen Augen nur die Naturwis-
auf Neurologie und Biologie sei bloß episodisch ge- senschaft zu bieten vermochte. Die hermeneutische
wesen, und schon gar nicht, Freud habe sich nach Rede des ›Sinns‹, welche die Psychoanalyse einerseits
1895, also nach dem Entwurf einer Psychologie bestimmt, mußte daher immer wieder unterbrochen
(Nachtr., 387–486), wie Octave Mannoni nahelegt oder substituiert werden durch die Rede der ›Kraft‹,
(Mannoni 1968/1971, 18), ganz davon distanziert. d. h. des Physikalismus, und der Biologie. Eros und
Davon kann keine Rede sein. Thanatos etwa sind dann nicht nur Figuren des Ver-
Schon Freuds wissenschaftliche Biographie, der stehens und der (Re-)Konstruktion eines lebensge-
physikalistisch-materialistisch geprägte Hintergrund schichtlichen Sinns, sondern auch Gestalten des or-
seiner langen Lehrjahre am Brückeschen Institut, ganischen Bios mit seinen unhintergehbaren Not-
seine Kokain-Experimente in den 1880er Jahren (s. wendigkeiten. Paul Ricœur hat für diese Eigentüm-
Kap. II.1.2) und seine Aphasieforschungen zu Beginn lichkeit des Freudschen Diskurses die Bezeichnung
der 1890er Jahre (s. Kap. II.1.3), seine Hinwendung »gemischte Rede« gefunden (Ricœur 1965/1969, 79)
zum Lamarckismus, dessen Spuren sich in den meta- und diese als konstitutiv für das gesamte Werk er-
psychologischen Schriften aus der Zeit des Ersten klärt. So heißt es z. B. noch in Freuds spätem Abriß
Weltkriegs finden (s. Kap. II.5.4; Jones III, 365 ff.; der Psychoanalyse:
Grubrich-Simitis 1985, 105 ff.), und vieles andere »Die Phänomene, die wir bearbeiteten, gehören nicht nur der
machen es hochwahrscheinlich, daß diese Prägung Psychologie an, sie haben auch eine organisch-biologische
Seite und dementsprechend haben wir in unseren Bemühun-
für ihn lebenslang bedeutsam blieb (GW XVII, 80; gen um den Aufbau der Psychoanalyse auch bedeutsame bio-
Nachtr., 672, 764 u. ö.; vgl. generell Sulloway 1979/ logische Funde gemacht und neue biologische Annahmen
1982). Wie selbstverständlich war für Freud Wissen- nicht vermeiden können. […] Unsere Annahme eines räum-
schaft das, was unter dem dominanten Einfluß der lich ausgedehnten, zweckmäßig zusammengesetzten, durch die
Bedürfnisse des Lebens entwickelten psychischen Apparates,
zeitgenössischen Naturwissenschaft als ›eigentliche‹ der nur an einer bestimmten Stelle unter gewissen Bedingun-
Wissenschaft galt. Und da es Freuds erklärter Ehrgeiz gen den Phänomenen des Bewußtseins Entstehung gibt, hat
war, seine Erfindung, die Psychoanalyse, als Wissen- uns in den Stand gesetzt, die Psychologie auf einer ähnlichen
schaft auszuweisen, wollte sie denn dem vernichten- Grundlage aufzurichten wie jede andere Naturwissenschaft,
z. B. wie die Physik. Hier wie dort besteht die Aufgabe darin,
den Verdikt der Nichtwissenschaftlichkeit entgehen, hinter den unserer Wahrnehmung direkt gegebenen Eigen-
mußte er immer wieder versuchen, sie »beyond in- schaften (Qualitäten) des Forschungsobjektes anderes aufzu-
terpretation« (Gedo 1998) anzusiedeln. Man kann decken, was von der besonderen Aufnahmefähigkeit unserer
darin durchaus eine wissenschaftspolitische Maß- Sinnesorgane unabhängiger und dem vermuteten realen Sach-
verhalt besser angenähert ist« (GW XVII, 125 f.).
nahme sehen, die Freud dazu diente, der Psychoana-
lyse, durch die Neuartigkeit ihrer Entdeckungen stets In der Tat gab sich Freud der Hoffnung hin,
Biologie und Materialismus 261

»daß all unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf Wenn man sich die weitere Entwicklung nach Freud
den Boden organischer Träger gestellt werden sollen. […] Ge-
rade weil ich sonst bemüht bin, alles andersartige, auch das
vor Augen hält, die dazu geführt hat, daß die Psycho-
biologische Denken, von der Psychologie ferne zu halten, will analyse in den Händen vieler ein Instrument gewor-
ich […] ausdrücklich zugestehen, daß die Annahme gesonder- den ist, das sich für und gegen fast alles benutzen
ter Ich- und Sexualtriebe, also die Libidotheorie, zum wenig- läßt, kann man Freuds striktes Festhalten am Objek-
sten auf psychologischem Grunde beruht, wesentlich biolo-
gisch gestützt ist« (GW X, 144). Schließlich findet sich bei
tivitätsideal des Naturforschers besser verstehen. Es
Freud jene berühmte Formulierung, wonach »für das Psych- ist deshalb auch nur scheinbar paradox, daß Freud
ische […] das Biologische wirklich die Rolle des unterliegen- den Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker in einem
den gewachsenen Felsens [spielt]« (GW XVI, 99). bestimmten Fall auf das Problematische von Deutun-
gen aufmerksam machte, die in der ›Organsprache‹
Handelt es sich bei solchen Äußerungen, wie Jürgen vorgetragen werden: »Sie zeigten uns […] den feine-
Habermas meint, tatsächlich nur um ein »szientisti- ren Mechanismus der Störung, indem Sie auf ent-
sches Selbstmißverständnis« Freuds (Habermas 1968, gegengesetzte Innervationen hinweisen, die einander
300 ff.), um eine Art Selbstverkennung, die als solche aufheben oder beirren müssen. Von solchen Unter-
aufgeklärt und überwunden werden muß? Auf den suchungen mußte ich die Analytiker aus erziehlichen
ersten Blick könnte es so aussehen, denn nichts Gründen fernhalten, denn Innervationen, Gefäßer-
scheint unvereinbarer zu sein als die harte Begriffs- weiterungen, Nervenbahnen wären zu gefährliche
sprache des naturwissenschaftlichen Objektivismus, Versuchungen für sie gewesen, sie hatten zu lernen,
die auf generalisierbare Aussagen zielt, und die wei- sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken«
che und metaphorische Sprache des hermeneuti- (zit. nach von Weizsäcker 1955, 125).
schen Subjektivismus, die auf Verstehen, Intersubjek- Aus »erziehlichen Gründen« mußte Freud zu-
tivität und Selbstreflexion aus ist. nächst einmal darauf achten, daß die Protagonisten
Diese gewiß nachvollziehbare Einschätzung ver- der noch jungen Wissenschaft vom Unbewußten ak-
kennt allerdings, daß Freud mehrere gute Gründe zeptierten, die Tatsachen der Welt primär als psycho-
hatte, am Projekt der Psychoanalyse als Naturwissen- logische Tatsachen zu betrachten – denn dies war
schaft festzuhalten. Einer wurde schon erwähnt, der Freuds erste große innovatorische Leistung. Erst
wissenschaftspolitische: Freud mußte daran gelegen dann, in einem weiteren Schritt, konnte er die Psy-
sein, die Isolation, in der er sich mit seinen psycho- choanalytiker damit konfrontieren, daß das Seeli-
logischen Neuerungen befand, dadurch abzuschwä- sche, alles menschliche Verhalten, wie immer gesell-
chen, daß er sie offenhielt zur Naturwissenschaft hin, schaftlich-kulturell vermittelt, »in letzter Instanz«
die ja bis heute das Wissenschaftsparadigma (um eine berühmte Formulierung von Friedrich En-
schlechthin ist. In diesem Zusammenhang sei daran gels zu zitieren) in einem biologisch-organischen
erinnert, daß Freud zu seiner Zeit nicht der einzige Substrat verankert ist: »Nach vollzogener psychoana-
war, der naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle lytischer Arbeit müssen wir […] den Anschluß an die
auf andere Bereiche zu übertragen versuchte. So be- Biologie finden und dürfen zufrieden sein, wenn er
mühte sich Trofim D. Lyssenko in der damals jungen schon jetzt in dem einen oder anderen wesentlichen
Sowjetunion, der marxistischen Gesellschaftslehre Punkte gesichert scheint. […] In der Biologie tritt
naturwissenschaftliche Grundlagen zu verschaffen uns die umfassendere Vorstellung des unsterblichen
(Grubrich-Simitis 1985, 111). Auch Freud-Schüler Keimplasmas entgegen, an welchem wie sukzessiv
wie Otto Fenichel, Sándor Ferenczi, mit dem er sich entwickelte Organe die einzelnen vergänglichen In-
eine zeitlang intensiv über Fragen des Lamarckismus dividuen hängen; erst aus dieser können wir die Rolle
austauschte (ebd., 87 ff.), und Wilhelm Reich zeigten der sexuellen Triebkräfte in der Physiologie und Psy-
sich empfänglich, wenn es darum ging, die Freudsche chologie des Einzelwesens richtig verstehen« (GW
Psychoanalyse nicht auf das Feld einer reinen Herme- VIII, 410).
neutik zu beschränken.
Freuds hartnäckige und eigensinnige Option für
Eine narzißtische Kränkung
die Biologie mag auch daher rühren, daß er ein Ge-
spür dafür besaß, daß eine eher hermeneutische Les- Überdies muß man sich klarmachen, daß Freuds
art der Psychoanalyse einem Subjektivismus den Weg Biologismus ausgezeichnet dazu taugt, seine These
bahnt, der nicht nur den von ihm stets betonten wis- von den drei narzißtischen Kränkungen des Men-
senschaftlichen Charakter seiner Schöpfung bedroht, schengeschlechts durch Kopernikus, Darwin und ihn
sondern diese auch selbst gänzlich aushöhlt, indem selbst (GW XI, 294 f.; GW XII, 7 ff.) im Sinne der
sie dem subjektiven Belieben anheimgestellt wird. Darwinschen zu untermauern (Green 1991/1996,
262 Themen und Motive

180). Daß der Mensch zuallererst ein endliches Kör- Idee verfochten, es gebe eine Art Komplementarität
perwesen ist, das »mit allen Tieren« (Bertolt Brecht) von mentalen und körperlich-naturhaften Prozessen
sterben muß, und daß die Einsicht in die Animalität (vgl. ebd., 421 ff., 537). Für Spinoza ist der Geist bzw.
und Endlichkeit des Homo sapiens dazu verhilft, jene die Seele eine »idea corporis«; Denken und Fühlen
Kluft zu überwinden, »die frühere Zeiten mensch- gehen gleichsam durch den Körper hindurch, ent-
licher Überhebung allzuweit zwischen Mensch und falten sich jedenfalls nicht autonom von ihm als ein
Tier aufgerissen haben«, wie es im Mann Moses heißt rein Geistiges.
(GW XVI, 207) – dies gehörte gewiß zu den tiefsten Ähnlich definiert Freud die Affekte der Lust- und
Überzeugungen, die Freud nicht preiszugeben bereit Unlustreihe, wenn er sie als die nur bewußten Mani-
war. Wenn einmal vom »Menschentier« die Rede ist, festationen eines ihnen zugrundeliegenden quasi-
so ist das nicht metaphorisch gemeint, sondern wört- physiologischen Prozesses beschreibt. Der Trieb wie-
lich und entspricht exakt seiner lamarckistischen derum ist für ihn ein »Grenzbegriff zwischen See-
Auffassung, daß die Instinktausstattung des Tieres lischem und Somatischem«, er ist »psychischer Re-
und die »archaische Erbschaft« des Menschen (ebd., präsentant der aus dem Körperinnern stammenden,
208) gar nicht sehr weit auseinanderliegen. in die Seele gelangenden Reize, […] ein Maß der Ar-
beitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines
Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt
Dem Leib-Seele-Problem auf der Spur
ist«, wie es in der metapsychologischen Schrift über
Zuguterletzt, um Freuds affirmatives, aber keines- Triebe und Triebschicksale heißt (GW X, 214). Was
wegs naives Verhältnis zur zeitgenössischen Natur- Freud vage genug »Zusammenhang« nennt, führt bei
wissenschaft angemessen zu würdigen, sei auf den Spinoza den Titel »Komplementaritätsprinzip«. Zwar
wahrscheinlich wenig bekannten Sachverhalt verwie- kann das eine, das Mentale bzw. Psychische, nicht auf
sen, daß Freud, wenn auch eher kryptisch – vielleicht das andere reduziert werden, was auch vice versa gilt;
auf dem Umweg über seinen Lieblingsdichter Hein- aber beide weisen einen gemeinsamen ontologischen
rich Heine – ein Bewunderer Spinozas war, dem er Bezugspunkt auf. Wenn man Freud als heimlichen
eine »etwas scheue Hochachtung« entgegenbrachte Spinozisten nimmt – heimlich deshalb, weil er es be-
(Nachtr., 670). Die wenigen Male, die Freud den gro- kanntermaßen nicht schätzte, Philosophen als Ge-
ßen Häretiker des 17. Jh.s erwähnt, lassen erkennen, währsleute zu zitieren –, erscheint seine Anstren-
mit welcher Emphase er, der doch ansonsten eine gung, die Psychoanalyse naturwissenschaftlich zu
strikte Distanz zur Philosophie zu wahren trachtete – fundieren, in einem anderem Licht als dem eines
auch dies Ausdruck seiner kämpferischen antimeta- bloß »szientistischen Selbstmißverständnisses«: im
physischen und antispekulativen Haltung –, das Bild Licht des Versuchs nämlich, die neuzeitliche Frag-
des marranischen Juden, seines »Unglaubensgenos- mentierung von Leib und Seele, von Natur und Geist
sen« (GW VI, 83), hochhielt. Womöglich erkannte – und im wissenschaftlichen Feld von Natur- und
Freud in Spinoza einen fernen Vorläufer seines eige- Geisteswissenschaften – aufzuheben (Grubrich-Simi-
nen Denkens; dafür spricht, daß in der Spinoza-Lite- tis 1985, 111). Wer mag, kann diese Anstrengung
ratur häufig betont wird, der Holländer sei im ei- Freuds als gescheitert betrachten. Aber als solche ver-
gentlichen Sinne der erste wissenschaftliche Psycho- dient sie jeden Respekt.
loge der Neuzeit gewesen (in der Ausgabe der Ency-
clopedia Britannica von 1962 kann man sogar lesen, Literatur
Spinoza habe die Psychoanalyse vorweggenommen). Gedo, John E.: Überlegungen zur Metapsychologie, theoreti-
Wie Freud selber, wie Machiavelli, Hobbes, Darwin, schen Kohärenz, zur Hermeneutik und Biologie. In: Psyche
52 (1998), 1014–1040.
Marx und Nietzsche gehört auch Spinoza dem Typus Green, André: Der Trieb in Freuds späten Arbeiten. In: Über
des »Philosophen der dunklen Aufklärung« an (Yovel Freuds »Die endliche und die unendliche Analyse«. Bearb.
1989/1994, 421), d. h. einem intellektuellen Typus, von Johann Michael Rotmann. Stuttgart-Bad Cannstatt
der etwas Neues ans Licht gebracht hat, das als dun- 1996 (engl. 1991).
Grubrich-Simitis, Ilse: Metapsychologie und Metabiologie. Zu
kel, erschreckend und zuweilen auch widersprüchlich Sigmund Freuds Entwurf einer »Übersicht der Übertra-
empfunden wird. Wie Freud ging es Spinoza um die gungsneurosen«. In: Sigmund Freud: Übersicht der Über-
Naturalisierung des Menschen, die Ermächtigung des tragungsneurosen. Ein bisher unbekanntes Manuskript. Hg.
Naturhaft-Leiblichen, und wie Freud hat Spinoza, in von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1985, 83–128.
Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.
einer bezwingenden Gegenbewegung gegen den Car- 1968.
tesianismus und dessen strengen Dualismus von »res Mannoni, Octave: Sigmund Freud in Selbstzeugnissen und Bild-
cogitans« und »res extensa«, von Geist und Natur, die dokumenten. Reinbek 1971 (frz. 1968).
Biologie und Materialismus 263

Ricœur, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Weizsäcker, Viktor von: Natur und Geist. München 1955.
Frankfurt a. M. 1969 (frz. 1965). Yovel, Yirmiyahu: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göt-
Schmidt, Alfred/Bernard Görlich: Philosophie nach Freud. Das tingen 1994 (engl. 1989).
Vermächtnis eines geistigen Naturforschers. Lüneburg 1995. Hans-Martin Lohmann
Sulloway, Frank J.: Freud. Biologe der Seele. Jenseits der psycho-
analytischen Legende. Köln-Lövenich 1982 (engl. 1979).
264

5. Krankheit und Gesundheit

Psychisches Leiden als Folge von wurf eines szientistischen Selbstmißverständnisses


Verdrängung: Freuds revolutionäre Theorie ein (Habermas 1968, 300 ff.) ein. Sie schien aber
Freud wichtig zu sein, weil seine Theorie der Krank-
Erklärte man vor Freud psychische Erkrankungen, heitsentstehung ohnehin gegen alle damals gängigen
sofern man sie nicht als Simulation abtat, als Resultat Auffassungen verstieß.
eines unmoralischen Lebenswandels, einer vererbten, Angefangen von den ersten Überlegungen zur
organischen Disposition zum Irresein oder eines Be- Ätiologie der Hysterie bis hin zum späten Abriß der
sessenseins von Dämonen, so leitete Freud einen Psychoanalyse (GW XVII, 63–138) beschäftigte sich
grundlegenden Wandel im Verständnis psychischen Freud mit dem Thema Normalität und Pathologie,
Leidens ein. Neurosen und psychopathologische Gesundheit und Krankheit. War sein psychogeneti-
Symptome entstehen ihm zufolge aufgrund von Ver- sches Modell der Symptomentstehung zunächst af-
drängungen seelischer Inhalte. Verdrängte und damit fektpsychologisch begründet, so wurde das Symptom
unbewußt gewordene Vorgänge unterliegen einer zu einem späteren Zeitpunkt als Resultat einer trau-
Funktionsweise, die sich nicht mehr mit den Geset- matischen Einwirkung gefaßt. Nach der Revision der
zen des bewußten Denkens beschreiben lassen. Für Traumatheorie in den späten 1890er Jahren rückte an
das Verständnis seelischer Pathologien ist es notwen- die Stelle eines schlichten Ursache-Wirkungs-Mo-
dig, vom sog. Primärvorgang auszugehen, der sich dells ein überwiegend intrapsychisches Konfliktmo-
durch eine Tendenz zur unmittelbaren Wunscherfül- dell. In diesem, so Freud, bilden zwar konflikthafte
lung, die Dominanz des Lustprinzips gegenüber dem zwischenmenschliche Beziehungen in der Kindheit
Realitätsprinzip und die Mechanismen der Verdich- den Ausgangspunkt, aber im weiteren Verlauf ge-
tung, Verschiebung und Symbolisierung auszeichnet. winnt eine intrapsychische Eigendynamik der Verar-
Diese Arbeitsweise des Unbewußten erklärt die Irra- beitung des äußeren Konflikts die Oberhand.
tionalität der seelischen Operationen neurotischer Freud nahm seelische Erkrankungen ernst. Neu-
Leidenszustände gegenüber der Modalität bewußter rosen entstehen aus seelischen Ursachen und können
Verarbeitungsprozesse: Wieso muß sich z. B. jemand mit ausschließlich seelischen Mitteln geheilt werden.
immer wieder zwanghaft die Hände waschen, ob- Während die zeitgenössische Psychiatrie und Neuro-
wohl sein Verstand ihm sagt, daß sie sauber sind? logie in den »Nerven«, im Gehirn, in der Vererbung
Warum fürchtet ein Patient zu verarmen, obwohl er oder in einer bakteriellen Infektion nach den schädli-
real über große Reichtümer verfügt? chen Noxen suchte, postulierte Freud einen psy-
Freuds Theorie der Entstehung neurotischer Er- chischen Hintergrund als Krankheitsursache. Diesen
krankungen ist konsequent psychogenetisch ange- fand er im konflikthaften Triebschicksal, wobei er
legt. Somatische Faktoren werden von ihm zwar in den Begriff des Triebes zwar der Biologie entlehnte,
seinem Konzept der Ergänzungsreihe berücksichtigt, damit aber keineswegs eine physiologisch-naturwis-
bilden aber nur eine Disposition. Gleichwohl kon- senschaftliche Kategorie einführte, wie manche Kri-
zeptualisierte Freud seine Theorie in einem einheits- tiker behaupteten, sondern mit dem Trieb einen
wissenschaftlichen Rahmen. Denn eine ätiologische Grenzbegriff zwischen Körperlichem und Seelischem
und psychopathologische klinische Theorie benötigt postulierte. Die Psychoneurose ist somit auch keine
keine anderen Regeln der empirischen Sicherung ih- »Drüsenkrankheit«, wie C. G. Jung (1932) Freud po-
rer Annahmen als solche aus der bewährten Natur- lemisch unterstellte, sondern das Resultat einer »Bil-
wissenschaft. Diese methodologische Einstellung, zu dungsgeschichte«, einer Sozialisation, in der Erfah-
der Freud sich 1911 sogar in einem Manifest be- rungen mit Psychosexualität, Selbsterhaltung, Nar-
kannte (vgl. Kätzel 1990), trug ihm später den Vor- zißmus, Aggression sowie deren konflikthafte Nie-
derschläge von maßgeblicher Bedeutung sind.
Krankheit und Gesundheit 265

Während die strikte Unterscheidung von Patholo- von Gesundheit, die sich im medizinischen Sinn zwar
gie und Normalität wie selbstverständlich zum da- funktional als Abwesenheit von Krankheit beschrei-
maligen medizinischen und psychiatrischen Diskurs ben läßt, im psychologischen Sinne jedoch alsbald
gehörte, was zugleich implizierte, Krankheit und soziale Wertvorstellungen und ideologische Vorein-
Gesundheit anhand bestimmter Kriterien festzu- genommenheiten zu erkennen gibt. Freud vermied
schreiben, sprengte Freud die geläufige Dichotomie, deshalb allzu verhaltens- und erlebnisnahe Formulie-
indem er vorherrschenden medizinischen Auffassun- rungen und bevorzugte abstrakte klinische oder me-
gen die Idee eines Kontinuums entgegensetzte: Men- tapsychologische Charakterisierungen für die Errei-
schen unterscheiden sich nicht gänzlich, sondern nur chung psychischer Normalität bzw. Gesundheit: z. B.
graduell hinsichtlich ihrer seelischen Gesundheit. »die Amnesien aufzuheben« und »das Unbewußte
Denn Gesundheit und Krankheit seien eben »nicht dem Bewußtsein zugänglich zu machen« (GW V, 8),
prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine prak- oder wie es in Die endliche und die unendliche Analyse
tisch bestimmbare Summationsgrenze gesondert« heißt: »Die Analyse soll die für die Ichfunktionen
(GW V, 8). günstigsten psychologischen Bedingungen herstellen;
damit wäre ihre Aufgabe erledigt« (GW XVI, 96). Ge-
legentlich findet man bei Freud allerdings auch For-
»Das Unbewußte dem Bewußtsein
mulierungen, unter denen sich jedermann sofort et-
zugänglich machen«
was vorstellen kann, etwa in den populären Vorle-
Arbeits- und Liebesfähigkeit – so lautet die wohl am sungen zur Einführung in die Psychoanalyse: »[…] ein
häufigsten geäußerte Formel, wenn Psychoanalytiker genügendes Maß von Genuß- und Leistungsfähigkeit
gefragt werden, wie Freud das Ziel der analytischen […]« (GW XI, 476).
Behandlung und damit auch psychische Gesundheit Auch wenn Freud davon ausging, daß Gesundheit
definiert hat. Tatsächlich hat Freud diese Bestim- und Krankheit auf einem Kontinuum angesiedelt
mung aber nie schriftlich formuliert, und genau ge- sind, konnte er doch durchaus eine deutliche Ab-
nommen neigte er wohl eher der Auffassung zu, daß grenzung vornehmen, wenn der Abstand zu einem
erotischer Genuß und harte Arbeit sich tendenziell fiktiven Idealzustand seelischer Gesundheit allzu
ausschlössen. Die angebliche Äußerung Freuds über groß zu sein schien, wie z. B. im Falle bestimmter
Arbeits- und Liebesfähigkeit des »normalen Indivi- Perversionen. Obgleich Freud einräumte, daß auch
duums« wurde vielmehr von Erik H. Erikson kol- beim gesunden Individuum der Sexualität perverse
portiert (vgl. Elms 2005, 92) und entbehrt jeder Anteile beigemischt seien und man gerade auf dem
nachprüfbaren Grundlage. Gebiet des Sexuallebens auf unlösbare Schwierigkei-
Ein Laie könnte erwarten, daß ein Großteil des ten stoße, wenn man eine scharfe Grenze ziehen
Freudschen Werkes auch begrifflich von Gesundheit wolle, komme man nicht umhin, gewisse Perversio-
und Krankheit der Seele handelt. Tatsächlich aber nen »für ›krankhaft‹ zu erklären« (GW V, 60). Aller-
gibt es bei ihm nur selten direkte Bezugnahmen auf dings dürfe man nicht erwarten, daß derart perverse
diese Begriffe. Sehr wohl aber befaßte sich Freud mit Individuen in jedem Fall andersartige schwere Ab-
den Aufgaben und Zielvorstellungen der analytischen normitäten aufweisen. Nur im umgekehrten Falle
Kur, die zur Erlangung psychischer Normalität not- gebe es eine starke Korrelation.
wendig sind. Diese bereits bei Freud erkennbare Ten- Auch beim psychotischen Erleben sind die Zuord-
denz hat sich auch bei späteren Psychoanalytikern nungen nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick
durchgesetzt. So finden sich in einschlägigen psycho- zu sein scheint. Denn im nächtlichen Traum regre-
analytischen Wörterbüchern und Kompendien keine diert auch der sog. gesunde Mensch auf eine psycho-
Beiträge und, was auf den ersten Blick nicht minder tische Erlebniswelt. Allerdings weiß er beim Erwa-
erstaunlich ist, auch keine Einträge in den Sachwort- chen, daß er geträumt hat, und vermag Traumerle-
registern zu den Stichworten »Gesundheit« und ben und Realität auseinanderzuhalten. Und dennoch
»Krankheit«. gibt es auch hier wieder fließende Übergänge zwi-
Auch wenn im Alltag der Ausruf, »Das ist doch schen den verschiedenen Erlebniszuständen von
nicht mehr normal« ein sicheres Wissen um eine Neurose, Psychose und »Normalität«: »Neurose wie
Ideal- und Durchschnittsnorm vorauszusetzen Psychose sind also beide Ausdruck der Rebellion des
scheint, löst gleichwohl jeder Versuch einer Defini- Es gegen die Außenwelt, seiner Unlust oder wenn
tion von Gesundheit und Krankheit sehr schnell man will, seiner Unfähigkeit, sich der realen Not, der
nicht enden wollende Diskussionen aus. Denn »Nor- Ananke, anzupassen […] Die Neurose verleugnet die
malität« ist eine alltagspsychologische Umschreibung Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die
266 Themen und Motive

Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen. dynamischer Kräfte und biographisch bedingter Er-
Normal oder ›gesund‹ heißen wir ein Verhalten, wel- fahrungen ins Auge zu fassen.
ches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt,
die Realität so wenig verleugnet wie die Neurose, sich
Das Streben nach Wahrheit – Aufhebung
aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung be-
der Verdrängung als Gesundheitsziel
müht« (GW XIII, 365).
Nachdem Freud die Vorstellung verabschiedet hatte,
Heilung könne durch Hypnose und Katharsis statt-
Von den Studien über Hysterie
finden, ging es ihm in erster Linie um die Frage, wie
bis zum Abriß der Psychoanalyse:
unbewußte Wunschregungen bewußt gemacht wer-
Ungelöste Konflikte bilden das Pathogen
den können. Dies ließ sich weder durch Suggestion
Freuds früher Theorie zufolge waren es unterdrückte noch durch intellektuelle Beeinflussung, etwa mittels
traumatische Erlebnisse, welche die Kraft besaßen, einer Übersetzung des Unbewußten durch den Ana-
noch Jahre nach dem veranlassenden Vorgang Sym- lytiker, erreichen; aus diesem Grund mußte das Ziel,
ptome auszulösen. Freud erklärte diese Potenz damit, das Unbewußte bewußt zu machen, mit anderen
daß »die pathogen gewordenen Vorstellungen sich Mitteln erreicht werden. Da der Patient der Bewußt-
darum so frisch und affektkräftig erhalten, weil ihnen machung verdrängter Triebimpulse Widerstände ent-
die normale Usur durch Abreagieren und durch Re- gegensetzt, müssen diese Widerstände dem Patienten
produktion in Zuständen ungehemmter Assoziation zunächst bewußt gemacht werden. Dies geschieht am
versagt ist« (GW I, 90). In diesem frühen Stadium sinnvollsten in der Beziehung zum Analytiker. Der
der klinischen Theoriebildung führte er die Abwehr Kampf gegen den Widerstand kann somit nicht auf
von unerträglichen Vorstellungen noch auf Scham den längst verlassenen Schlachtfeldern der Kindheit
zurück. Aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der geführt werden, sondern nur im Hier und Jetzt der
Selbstachtung und dem Selbstbild einer Person müs- psychoanalytischen Behandlung. Aus der früheren
sen bestimmte affektiv besetzte Vorstellungen abge- Krankheit muß deshalb eine Übertragungsneurose
wehrt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt machte werden, die es gestattet, in der aktuellen Beziehung
Freud dann überwiegend die ödipal determinierte all die Schwierigkeiten zu thematisieren, die für die
Schuld für krankmachende Verdrängungsprozesse neurotischen Symptome verantwortlich sind. Die Be-
verantwortlich und blendete fortan das Schamerle- wußtmachung der bislang verdrängten Triebimpulse
ben und Themen der Selbstachtung bei der Betrach- mit Hilfe der Analyse des Widerstands in der Über-
tung von psychischer Gesundheit und Krankheit na- tragungsneurose läßt den Patienten erkennen, auf-
hezu völlig aus. grund welcher Ängste er seine Wünsche in der ge-
Ein ungelöster ödipaler Konflikt bleibt im Unbe- genwärtigen Beziehung, aber auch in der ursprüngli-
wußten als Disposition bestehen und bildet die not- chen Beziehung zu seinen Eltern verdrängen mußte.
wendige Bedingung für das Auftreten einer neuroti- Nunmehr steht es in seinem eigenen Ermessen, ob er
schen Erkrankung. Aber erst wenn eine entspre- diese Wünsche bewußt und willentlich unterdrücken
chende auslösende Situation auftritt, wird dieser wie- oder sie ausleben will.
der reaktiviert. Das akzidentelle Erleben, zumeist in Freud zufolge trägt die psychoanalytische Behand-
Form einer äußeren Versagung, bildet die hinrei- lung nicht nur dazu bei, Beschwerden und Sym-
chende Bedingung. Durch die äußere Versagung, die ptome zu lindern, sondern vor allem dazu, den in-
nicht durch einen Triebaufschub gemildert werden neren Entscheidungsspielraum einer Person zu er-
kann, entsteht ein innerer Konflikt; dieser führt via weitern und das, was bislang als Zwang empfunden
Regression zum Wiederauftauchen infantiler Trieb- wurde, zu überwinden. Dabei schmälert jede vor-
ziele (z. B. aggressive Phantasien), die aber vom schnelle Symptomheilung, die ohne das gründliche
Über-Ich mißbilligt werden. Die Folge ist der Ausweg Durcharbeiten von Konflikten in der Übertragungs-
mittels neurotischer Symptombildung. Das Sym- neurose stattfindet, die Möglichkeit, intentional über
ptom stellt zumeist einen Kompromiß aus einem eigene Wünsche und Affekte verfügen zu können.
Rest von Triebbefriedigung und Bestrafung durch Auch wenn die Linderung neurotischer Beschwerden
das Über-Ich dar. von nahezu jedem Patienten als sichtbares Anzeichen
Dieser Zusammenhang von neurotischem Sym- der Gesundung herbeigesehnt wird, stand für Freud
ptom sowie äußerem und innerem Konflikt erfor- vor jeder Heilung das Erkennen unbewußter Zusam-
dert, das Symptom nicht isoliert, sondern ganzheit- menhänge und Hintergründe der Erkrankung. Denn
lich unter Berücksichtigung miteinander ringender die zumeist nur vorübergehende Linderung der Sym-
Krankheit und Gesundheit 267

ptome ergibt sich nicht selten aufgrund von Sugge- Man hat oft gegen Freud vorgebracht, daß er in
stionseffekten, Übertragungsliebe und Placebowir- seiner Wertschätzung objektiven wissenschaftlichen
kungen und ist deshalb keineswegs von Dauer. Wich- Wissens den Versprechungen der Moderne, ihrem
tiger war deshalb für Freud das beharrliche Streben Szientismus allzu unkritisch aufgesessen sei. Denn
nach Erkenntnis: »In der Psychoanalyse bestand von die Menschen der sog. Postmoderne sind weitaus
Anfang ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, skeptischer hinsichtlich dessen geworden, was die Er-
die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht kenntnisse der Wissenschaften zu einem gesünderen
behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man ge- und psychisch befriedigenderen Leben beitragen
wann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wir- können: nicht nur weil wir inzwischen ahnen oder
kung zu erleben. Unser analytisches Verfahren ist das wissen, wie fehleranfällig Wissenschaft ist, wie theo-
einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen ge- rieimprägniert und paradigmengeleitet sie organi-
wahrt bleibt« (GW XIV, 293 f.). siert ist, sondern auch, weil nach einer Phase eupho-
Die Aufhebung der Verdrängung im Zuge der rischer Wissenschaftsbegeisterung die Begrenztheit
Durcharbeitung der Übertragungsneurose mit dem wissenschaftlicher Welterklärung und -erfassung of-
Ziel, Selbsttäuschungen zu erkennen und ein größe- fen zutage liegt. Gleichwohl galt jahrzehntelang bei
res Maß an innerer Freiheit und Selbstreflexivität zu Psychoanalytikern die Produktion von »Einsicht« als
gewinnen, war für Freud die unverzichtbare Voraus- das sine qua non einer analytischen Behandlung und
setzung für die Erlangung psychischer Gesundheit. als das oberste Ziel seelischer Gesundheit. Dement-
Mit der Annahme, daß dies bei einem geeigneten Pa- sprechend konnte Habermas (1968, 262) die Psycho-
tienten in der Zusammenarbeit mit einem genügend analyse »als das einzige greifbare Beispiel einer me-
gut analysierten Therapeuten, der ein ausreichendes thodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden
Maß an seelischer Reife aufweist, möglich sei, erwies Wissenschaft« bezeichnen.
Freud sich als genuiner Erbe der Aufklärung: »[D]ie Seit einigen Jahren gilt jedoch vielen Psychoana-
Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe lytikern die Produktion von Wahrheit nicht mehr als
sie sich Gehör geschafft hat«, heißt es in Die Zukunft Zielvorstellung einer psychoanalytischen Behand-
einer Illusion (GW XIV, 377). lung. Die Überzeugung, daß sich lediglich eine nar-
Wahrheit im Sinne des Hervortretens unliebsamer rative Wahrheit erzielen lasse, ist an die Stelle derje-
Wahrheiten, die bislang vor anderen Menschen, aber nigen getreten, die an eine historische Wahrheit
auch vor einem selbst verborgen blieben, war lange glaubt. Man bezweifelt, ob die Deutungen des Analy-
Zeit das Ziel aller psychoanalytischen Bemühungen. tikers überhaupt jemals mit der Wirklichkeit des Pa-
Bislang Unbewußtes, der Verdrängung Anheimgefal- tienten übereinstimmen können, was noch Freuds
lenes sollte in einem schmerzlichen Prozeß wieder – (GW XI, 473) erklärtes Ziel war. Vielmehr reiche es
oder erstmals – bewußt werden. Nur derjenige aus, wenn Deutungen ästhetischen Kriterien, z. B. der
Mensch könne Verantwortung für sein Leben über- Stimmigkeit oder Kohärenz, genügen. Wichtiger als
nehmen, der sich mit übernommenen Vorurteilen die Suche nach einer Übereinstimmung seien ohne-
und Ideologien, mit falschen Idealen und unrealisti- hin ein neuartiges Beziehungserleben, emotional
schen Erwartungshaltungen, mit seinen eigenen Le- korrigierende Erfahrungen mit empathischen Selbst-
benslügen und Selbsttäuschungen auseinandersetzt. objekten und überraschende Momente der Begeg-
Freuds Vorstellungen von den Wirkungen der ana- nung, in denen es zu Neukalibrierungen von Erfah-
lytischen Kur entsprachen seiner objektivistischen rungsmustern komme.
wissenschaftlichen Einstellung, die für ihn das reifste
Stadium des menschlichen Welt- und Selbstverständ-
Weitere Vorstellungen von Gesundheit:
nisses darstellte. Der aufgeklärte Patient, der seinen
Vom neurotischen Elend zum ganz
eigenen Lügen nicht mehr glaubt, die aus individuel-
gewöhnlichen Unglück
ler Verdrängung, aber auch aufgrund der Prägekraft
soziokultureller Anpassungszwänge geboren sind, Nur wenig bekannt und vermutlich auch nicht sehr
vermag sich kraft eigener Anstrengung immer stärker beliebt ist eine Charakterisierung des Ziels einer ana-
dem Typus des unvoreingenommenen, unbestechli- lytischen Behandlung, die sich erstaunlicherweise be-
chen und zur Objektivität verpflichteten Wissen- reits in einer frühen Schrift Freuds findet: die Ver-
schaftlers anzunähern. »Es ist unsere beste Zukunfts- wandlung von hysterischem Elend »in gemeines Un-
hoffnung, daß der Intellekt – der wissenschaftliche glück«. Mit dieser enigmatischen Formulierung über
Geist, die Vernunft – mit der Zeit die Diktatur im das Ziel der psychoanalytischen Kur enden Freuds
menschlichen Seelenleben erringen wird« (GW XV, zusammen mit Breuer verfaßte Studien über Hysterie
185).
268 Themen und Motive

(GW I, 312). Menschen müssen lernen, mit den rea- außer acht zu lassen, erscheint seine Einstellung nach
len Lebensumständen zu Rande zu kommen. Oft- wie vor als visionär.
mals erwarten sie von einer analytischen Kur, daß sie
zu neuen Menschen werden und ein ewiges Anrecht
Lebensziele und therapeutische Ziele – zur
auf Glücklichsein erwerben. Aber es ist Freud zufolge
Rehabilitierung neurotischer Symptome
schon viel erreicht und ein Anzeichen seelischer Ge-
sundheit, wenn jemand die Welt, in der er lebt, reali- Die Frage nach der psychischen Gesundheit wurde
stisch wahrnehmen kann. »Depressiven Realismus« im 20. Jh. von nahezu jedem psychoanalytischen Au-
hat man diese Einstellung später genannt, weil sie tor entsprechend seiner theoretischen Orientierung
den Betreffenden ohne Abwehr, irreführende Idea- zu beantworten versucht (Sandler/Dreher 1999).
lisierungen und Kinderträume die Realität so erfah- Deutlich über Freuds ödipale Konfliktpathologie
ren läßt, wie sie nun einmal ist: unberechenbar, hinausgehend, wandten sich spätere Autoren lebens-
voller Widersprüche und Ungerechtigkeiten, von äu- geschichtlich frühen Traumatisierungen und Kon-
ßerster Grausamkeit, aber auch hoffnungsvoll und flikten zu, etwa dem Grundkonflikt von Nähe, Bin-
ermutigend. dung und Autonomie (Rudolf 2000). Frühe Trauma-
tisierungen wirken sich beeinträchtigend auf die Ent-
wicklung von strukturellen Fähigkeiten des Ichs aus,
Psychische Gesundheit ist mit psycho-
was wiederum die Verarbeitung von Konflikten er-
logischen Mitteln zu untersuchen
schwert. Zwar hielten spätere Generationen von Psy-
Entgegen der Versuchung, die für zahlreiche Biologen choanalytikern nach wie vor am Ziel der Einsicht
und Neurophysiologen gerade auch unserer Gegen- und der Fähigkeit zur Selbstanalyse als Vorausset-
wart darin besteht, Aussagen über psychisches Erle- zung für seelische Gesundheit fest, räumten aber den
ben in einer neurowissenschaftlichen Sprache zu for- sog. Lebenszielen oder therapeutischen Zielen einen
mulieren, ohne dabei aber auf eine psychologische zunehmend größeren Stellenwert ein. Damit erhielt
Sprache zu verzichten, versuchte Freud statt dessen auch die Heilung neurotischer Symptome eine grö-
ein genuin psychologisches bzw. tiefenpsychologi- ßere Bedeutung. Psychische Gesundheit wurde nun
sches Konzept auszuarbeiten. Mit seinem Anspruch, stärker an Verhaltensmerkmalen festgemacht als am
auf psychologischem Boden zu bleiben, widerstand Streben nach Wahrheit. Mit der Konkretisierung die-
er z. B. in der Traumdeutung oder in den Drei Ab- ser Merkmale von Gesundheit wurde freilich unver-
handlungen zur Sexualtheorie dem Hang zum neuro- meidlicherweise auch deren kulturelle und gesell-
biologischen Reduktionismus, der in einem wissen- schaftliche Bedingtheit offenkundig.
schaftsgläubigen Zeitalter mehr Prestige zu verspre-
chen scheint als ein ausschließlich psychologisch ge-
»Gesundheit« und »Krankheit« blieben auch
führter Diskurs. Dabei stand Freud als ausgebildeter
nach Freud schwer zu fassende Kategorien
Neuroanatom und -physiologie der naturwissen-
schaftlichen Betrachtungsweise keineswegs ableh- Die Kritik am weit verbreiteten medizinischen
nend gegenüber, im Gegenteil. Denn gelegentlich Krankheitsmodell bei der Diagnostik psychischer Ge-
sprach er sogar die Hoffnung aus, seine neue Psycho- sundheit und Krankheit, die durch den sog. Labeling
logie eines Tages neurobiologisch begründen und approach (vgl. Keupp 1972; Scheff 1972) in den
seelische Krankheiten auch medikamentös heilen zu 1970er Jahren angestoßen wurde, zeigte eine Nähe zu
können. Dennoch galt ihm Zeit seines Lebens die der Haltung Freuds, Gesundheit und Krankheit als
psychologische Konzeptualisierung psychischer Phä- polare Konzepte einander gegenüberzustellen. Im
nomene als gleichberechtigte Sache. medizinischen Modell wird »abweichendes Verhal-
Gegen eine weit verbreitete psychologische Denk- ten« oder »Störung« als Abweichung von einem
und Introspektionsfaulheit beharrte Freud darauf, Apriori-Standard eines angeblich normalen und
mit der psychoanalytischen Methode die vielfältigen natürlichen Gesundheitszustandes aufgefaßt. Die
Bedeutungen zu erforschen, die Menschen in ihren Ursachen der als »Krankheit« diagnostizierten Be-
Beziehungen permanent erzeugen und die zu neu- findlichkeit werden ins Individuum verlegt, ohne ge-
rotischen Einschränkungen und Leidenszuständen genwärtige oder vergangene Auslösebedingungen zu
führen. Angesichts aktueller Bestrebungen, psy- berücksichtigen. Sofern letzteres doch geschieht, be-
chische Gesundheit und Krankheit, wie schon im zeichnet man sie mit der nichtssagenden Formu-
19. Jh., neurowissenschaftlich im Gehirn zu verorten lierung »Stress«. Symptome werden als Ausdruck ei-
und den psychologischen und kulturellen Kontext ner tieferliegenden Krankheitseinheit betrachtet, die
Krankheit und Gesundheit 269

letztlich auf endogene Faktoren biogenetischer Her- tur (neurotisch, borderline, psychotisch). Es ist an
kunft zurückzuführen sind. Bei der Suche nach ei- der Einschätzung der Identitätskonsolidierung, der
nem pathologischen Substrat wird das soziale Be- interpersonellen Beziehungen, des Gebrauchs von
ziehungsgefüge nicht mehr thematisiert, und die Abwehrmechanismen und Anpassungsstrategien, des
Bedeutung von gegenwärtigen und vergangenen In- Umgangs mit Aggression, des Vorhandenseins sowie
teraktionsprozessen bleibt völlig ausgeklammert. der Ausprägung moralischer Werte und der Qualität
Diagnosen werden zu stigmatisierenden Zuschrei- der Realitätsprüfung orientiert.
bungsprozessen, die einen verhängnisvollen Kreislauf Alle diese diagnostischen Einschätzungskategorien
von Selbststigmatisierung, Übernahme der Kranken- bleiben aber im Rahmen eines Modells, in dem Ab-
rolle und Unterwerfung unter das medizinische Sy- weichungen von einer als ideal definierten (nord-
stem zur Folge haben. amerikanischen/westeuropäischen) Norm (z. B. star-
In der klinischen Psychologie gab man sich nicht ke Abhängigkeit von anerkennenden Anderen ist
mit als zu vage empfundenen Empfehlungen wie »pathologischer« als eine geringere Abhängigkeit;
»Wo Es war, soll Ich werden« (GW XV, 86), zufrie- verdrängen zu können ist »gesünder«, als spalten zu
den, sondern versuchte, auf diagnostischer und test- müssen) als Kriterium für Krankheit/Gesundheit gel-
theoretischer Grundlage Kriterien für Gesundheit ten. Die Festlegung, wer oder was als gesund, krank
und Krankheit festzulegen. Es wurden Fragebögen oder pervers zu gelten hat, setzt sich auch weiterhin
entwickelt, um auf »objektiver« Basis »Neurotizis- dem Verdacht aus, daß damit in erster Linie soziale
mus«, »Ich-Resilienz«, »Depression«, »psychosoziales Kontrolle gemeint ist. Betrachtet man z. B. die jahr-
Wohlbefinden«, »Kohärenzerleben« u. a. m. als Fak- zehntelange Einschätzung der Homosexualität als
toren psychischer Angepaßtheit zu diagnostizieren. Perversion durch die nordamerikanische Psychoana-
Diese aufgrund von Selbsteinschätzung ermittelten lyse, wird die Kritik von Foucault (1961/1973) an der
Werte sollten die als zu subjektiv und fehleranfällig psychoanalytischen Diagnostik unmittelbar einsich-
ermittelten Daten klinischer, vor allem aber psycho- tig. Der Diskurs über Gesundheit und Krankheit
dynamisch orientierter Diagnostiker ergänzen, wenn bleibt deshalb stets ein äußerst prekäres Unterfangen.
nicht sogar ersetzen. Eine kritische Analyse zeigt frei- Freuds Absicht, daß ein Analysand in der Kur der
lich, daß Menschen sich bezüglich ihrer Einschät- Wahrheit über sich selbst näherkommen könne und
zung täuschen können: Sie halten sich selbst für ge- solle, ohne daß dabei vorschnell auf die Dichotomie
sund, obwohl sie aus der Sicht eines Klinikers neu- von »Gesundheit« und »Krankheit« zurückgegriffen
rotisch sind oder eine Persönlichkeitsstörung aufwei- wird, ist insofern immer noch von aktueller Bedeu-
sen. Vielleicht existieren auf keinem anderen Gebiet tung.
derart viele unbewußte Selbsttäuschungen wie im
Bereich von psychischer Gesundheit und Krankheit Literatur
(Shedler u. a. 1993). Joyce McDougall (1989/1991) Arbeitskreis OPD (Hg.): Operationalisierte psychodynamische
Diagnostik. Grundlagen und Manual. Bern 1996.
prägte den Ausdruck »Normopathie«, um damit In- Clarkin, John, F./Eve Caligor/Barry Stern/Otto F. Kernberg:
dividuen zu charakterisieren, die eine panische Angst STIPO – Structural Interview of Personality Organization.
davor haben, als »unnormal« eingestuft zu werden, New York: Unpublished manual, 2002.
und sich durch ein hohes Maß an Verleugnung ihrer Elms, A.C:. Der apokryphe Freud: Sigmund Freuds berühmte-
ste »Zitate« und ihre wahren Quellen. In: Luzifer-Amor 18
neurotischen Probleme auszeichnen. Die Nichtwahr- (2005), 82–108.
nehmung und Nichtbenennbarkeit ihrer tatsächlich Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte
unbewußt vorhandenen Affekte können bei solchen des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1973
Menschen zu massiven psychosomatischen Gefähr- (frz. 1961).
Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.
dungen führen. 1968.
Sinnvoller als Methoden, bei denen Menschen sich Jung, Carl Gustav: Die Beziehungen der Psychotherapie zur
selbst z. B. hinsichtlich ihres Neurotizismus charak- Seelsorge [1932]. In: Ders.: Zur Psychologie westlicher und
terisieren sollen, sind deshalb Fremdeinschätzungs- östlicher Religion. Gesammelte Werke Bd. XI. Olten 1948,
355–376.
verfahren, wie z. B. die Operationalisierte Psychodyna- Kätzel, Siegfried: Überlegungen zu einem »Freud-Dokument«.
mische Diagnostik (Arbeitskreis OPD 2000) und die In: Luzifer-Amor 3 (1990), 164–167.
darauf aufbauende Heidelberger Umstrukturierungs- Keupp, Heiner: Psychische Störungen als abweichendes Verhal-
skala (HUSS; Rudolf u. a.. 2000) oder das von Clar- ten. Zur Soziogenese psychischer Störungen. München 1972.
McDougall, Joyce: Theater des Körpers. München 1991 (engl.
kin u. a. (2002) entwickelte Strukturelle Interview der 1989).
Persönlichkeitsorganisation (STIPO) zur Erfassung Mertens, Wolfgang: Einführung in die psychoanalytische Thera-
unterschiedlicher Niveaus der Persönlichkeitsstruk- pie [1991]. Stuttgart 2005.
270 Themen und Motive

Mentzos, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung. Frankfurt Scheff, Thomas: Die Rolle des psychisch Kranken und die Dy-
a. M. 1982. namik psychischer Störungen: Ein Bezugsrahmen für die
Rudolf, Gerd: Psychotherapeutische Medizin und Psychosoma- Forschung. In: Heiner Keupp (Hg.): Der Krankheitsmythos
tik. Stuttgart 2000. in der Psychopathologie. München 1972, 136–156.
– /Tilman Grande/Claudia Oberbracht: Die Heidelberger Shedler, Jonathan/Martin Mayman/Melvin Manis: The Illu-
Umstrukturierungsskala. Ein Modell der Veränderung in sion of Mental Health. In: American Psychologist 37 (1993),
psychoanalytischen Therapien und seine Operationalisie- 1117–1131.
rung in einer Schätzskala. In: Psychotherapeut 45 (2000), Wolfgang Mertens
237–246.
Sandler, Josef/Anna Ursula Dreher: Was wollen die Psychoana-
lytiker? Das Problem der Ziele in der psychoanalytischen Be-
handlung. Stuttgart 1999.
271

6. Theater, Szene und Spiel

In Freuds Werk kommt dem Theater eine besondere Das Theater der Hysterie
Bedeutung zu, die sich allerdings dem systematischen
Zugriff weitgehend entzieht. Offenkundig ist Freud Bereits die Anfänge von Freuds Auseinandersetzung
bei der Entdeckung und methodischen Ausarbeitung mit psychisch bedingten Symptomen und Verhal-
der Psychoanalyse immer wieder auf Momente von tensweisen standen im Zeichen des Theaters. Sein
Inszenierung und Schauspiel gestoßen. So sind in sei- folgenreicher Aufenthalt in Paris 1885/86, bei dem er
ner Terminologie vielfältige Assoziationen zum in der Salpêtrière die Behandlungsmethoden von
Theater festgehalten und der psychoanalytischen Jean-Martin Charcot studiert und im Theater die
Theorie zur weiteren Bearbeitung aufgegeben: Be- Darstellungskunst der berühmten Schauspielerin Sa-
griffe wie ›Szene‹, ›Schauplatz‹, ›Darstellung‹, ›Rolle‹ rah Bernhardt bewundert hat, machte ihn vertraut
und ›Spiel‹ verweisen in unterschiedlichsten Kontex- mit dem die ganze Epoche beherrschenden Phan-
ten auf das Theater und werfen über ihre argumen- tasma der exaltierten unglücklich Liebenden. Die da-
tative und technische Funktion hinaus die Frage nach mals in Paris unternommenen Versuche, Hysterie als
der Relevanz von Theater und Theatralität für Freuds einheitlichen Krankheitskomplex zu erfassen und zu
Denken und für die Psychoanalyse insgesamt auf. behandeln, waren bei den Patientinnen wie auch bei
Dabei geht es aber nicht bloß um einige Theater- den Ärzten geprägt von Momenten der Inszenierung,
metaphern, deren Aussage jeweils schon selbstver- der mimischen und mimetischen Hervorbringung
ständlich wäre. Weite Teile der Freudschen Theorie eindrucksvoller Gesten und Posen. Darauf verweist
oszillieren zwischen einem metaphorischen und ei- Freud noch in dem 1913 erschienenen Artikel Das
nem ›eigentlichen‹ Bezug aufs Theater, stellen gerade Interesse an der Psychoanalyse, worin er die Leistung
diese Abgrenzung und mit ihr die kategorische Un- der Psychoanalyse von Charcot abgrenzt, der die hy-
terscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit so- sterischen Anfälle in »deskriptive Formeln« bannen
wie eine strikte Trennung von ›normaler‹, künstle- wollte, und von Pierre Janet, der immerhin die in
rischer und psychopathischer Phantasie in Frage. Um diesen Anfällen wirksame »unbewußte Vorstellung«
die Reflexion von Theateraspekten in Freuds Schrif- erkannt habe: »die Psychoanalyse hat dargetan, daß
ten zu skizzieren, wird daher auch der Wandlungs- sie mimische Darstellungen von erlebten und gedich-
prozeß des modernen Theaters zu berücksichtigen teten Szenen sind, welche die Phantasie der Kranken
sein und die bis heute anhaltende Auseinanderset- beschäftigen, ohne ihnen bewußt zu werden. Durch
zung des Theaters mit der Psychoanalyse. Von einer Verdichtungen und Entstellungen der dargestellten
Auflösung tradierter Modelle von Bewußtsein und Aktionen werden diese Pantomimen für den Zu-
Subjektivität ging bereits die um 1890 einsetzende schauer undurchsichtig gemacht« (GW VIII, 399).
Krise des Dramas als literarischer Gattung aus. Die Mit dieser Beschreibung der Hysterie als einer ob-
daraus resultierenden Neuansätze der »Theateravant- skuren theatralischen Aufführung unbewußter Sze-
garden« haben dann vor allem die Ablösung des nen gibt Freud ein spektakuläres Beispiel dafür, wie
Theaters vom Primat des dramatischen Textes zu- vermeintlich bloß physiologisch erklärbare Phäno-
gunsten neuer Formen von Körperinszenierung, Me- mene als »psychische Akte« zu deuten sind. Absehbar
dialität und Performanz vorangetrieben. Erst im wird damit zugleich die Problematik einer wissen-
Kontext dieser Infragestellung des traditionellen schaftlichen Bezugnahme auf das ›darstellerische‹
Theaterbegriffs, wie ihn die Bürgerkultur des 18. und Verhalten in der Hysterie. Um ihre vom mimischen
19. Jh.s hervorgebracht hatte, wird die Tragweite der Spiel untrennbaren Verschleierungsstrategien aufzu-
Wechselbeziehungen zwischen Theater und Psycho- decken, bedarf auch der analytische Diskurs mime-
analyse in Freuds Schriften absehbar. tischer Verfahren, welche die Darstellungen der kran-
272 Themen und Motive

ken Akteure als »Entstellungen« durchsichtig ma- die Einsicht in die theatralischen und performativen
chen, wiederum darstellen sollen. Aspekte menschlichen Verhaltens als auch der Einsatz
Weit über die Beobachtung der körperlichen von inszenatorischen Mitteln ein unverzichtbarer Be-
Selbstdarstellung der Patientinnen hinaus war Char- standteil psychoanalytischer Technik und Theorie.
cots Behandlungstechnik eine Inszenierung, die in
vieler Hinsicht als »Erfindung der Hysterie« zu be-
Katharsis und Spiel
zeichnen ist (Didi-Huberman 1982/1995). In einem
Brief an seine Braut vergleicht Freud die Wirkung Freud war auch vom Theater seiner Zeit beeinflußt.
Charcots auf ihn mit einer ästhetischen und szeni- Das zeigen seine häufigen Verweise nicht nur auf die
schen Erfahrung: »Mein Hirn ist gesättigt wie nach Dramen der Antike, auf Shakespeare und die deut-
einem Theaterabend« (B, 189). Und in seinem Nach- sche Klassik, sondern ebenso auf zeitgenössische
ruf erwähnt er den öfters gegen den Pariser Arzt er- Dramen, außerdem das Eingeständnis seiner »Dop-
hobenen »Vorwurf des Theatralischen« (GW I, 29). pelgängerscheu« gegenüber dem berühmten Schrift-
Anlaß dafür war nicht nur Charcots Geschick, Pa- steller und Theaterautor Arthur Schnitzler (vgl.
tientinnen zu Demonstrationszwecken effektvoll zu Worbs 1983, 179 ff.). Die von Jean Starobinski vorge-
inszenieren, sondern auch seine Angewohnheit, ihre schlagene Deutung, wonach Freuds scheinbare Ver-
›typischen‹ Gesten und Haltungen bei seinen Vorträ- achtung der modernen Kunst und Literatur dazu
gen nachzuahmen, die ästhetische Gestaltung dieses diente, als »Abwehrmechanismus« seine literarischen
Gestentheaters zu fördern und zu einem Repertoire Neigungen und die Angewiesenheit der Psychoana-
von Pathosformeln beizutragen. Die mit der Unter- lyse auf die Darstellungsformen und Einsichten der
suchung der Hysterie eng verknüpfte Technik der Dichter zu verschleiern (Starobinski 1970/1973, 99),
Hypnose wurde auf Theaterbühnen in ganz Europa bleibt aufschlußreich für den Ort des Theaters in
vorgeführt, noch bevor sie als Behandlungsmethode Freuds Denken, für sein Interesse an der Darstellung
zur Anwendung kam. Schon 1880 hatte Freud in und Analyse von »Szenen«. (Auch dieser Begriff, den
Wien eine solche Bühnenvorführung des berühmten Freud später vor allem auf den traumatischen Ein-
Hypnotiseurs Hansen besucht, die ihn von der druck bei frühkindlichen Beobachtungen sexueller
»Echtheit der hypnotischen Phänomene« überzeugte Kontakte zwischen den Eltern anwendete, reicht in
(GW XIV, 40). Die plötzliche Zunahme von Hyste- die Zeit der Hysterie-Studien zurück. Zur »Urszene«
rie-Fällen um die Jahrhundertwende ging wohl auch vgl. die Geschichte einer infantilen Neurose, GW XII,
auf diese Mode der hypnotischen Auftritte zurück, 65, aber auch den Brief an Fließ vom 2. Mai 1897, F,
die ganz neue Möglichkeiten für ein mehr oder we- 253). Umgekehrt war die Rezeption der psychoana-
niger öffentliches (Aus-)Agieren geschaffen hatte. lytischen Schriften durch die Dichter seiner Zeit ge-
Später hat Freud das Agieren genauer definiert als rade im Hinblick auf die Darstellung unbewußter
unbewußtes Ausleben eines Wiederholungszwangs, Triebkonflikte im Theater fruchtbar – exemplarisch
wobei die Einbeziehung anderer, zumal des Analy- bei Schnitzler wie bei Hugo von Hofmannsthal, der
tikers im Prozeß der Übertragung, an die Stelle einer seiner Elektra-Tragödie auf Anregung des Kritikers
bewußten Erinnerungsarbeit tritt (vgl. Erinnern, und Dramatikers Hermann Bahr die Studien über
Wiederholen und Durcharbeiten, GW X, 130 f.). Daß Hysterie zugrundelegte und damit die um 1900 in
sich gerade die Hysterie als übersteigertes theatrali- Wien aufkommende Faszination für die Antike ent-
sches Verhalten der analytischen Behandlung entzie- scheidend geprägt hat. So wurde die »kathartische
hen konnte, bemerkt Freud schon in den mit Josef Methode« der Hysterie-Behandlung über die Deu-
Breuer publizierten Studien über Hysterie. Im Ge- tung des tragischen Konflikts als Wiederkehr des Ver-
spräch mit einem anderen Arzt habe er die Resistenz drängten wieder zurückgeführt auf das Theater der
der Frau Emmy von N. einsehen müssen: »sie hatte Tragödie. Daß Freud mit der Entdeckung des Ödi-
mit ihm – und noch vielen anderen Ärzten – dasselbe pus-Komplexes auch seine Selbstanalyse in den Rah-
Stück aufgeführt wie mit mir« (GW I, 162). So zeigt men tragischer Erfahrung eingefügt hat, zeigt sein
sich im Kontext der Hysterie-Studien erstmals die Brief an Fließ vom 15. Oktober 1897, worin er erst-
Ambivalenz in Freuds Haltung gegenüber Theater, mals – auch schon mit Blick auf Shakespeares Hamlet
Mimesis und Spiel. Einerseits war er sich der täu- – »die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht
schenden Macht von Verstellung, Vorstellung und gegen den Vater [. . .] für ein allgemeines Ereignis
Darstellung (und damit ihrer ständigen Bedrohung früher Kindheit« hält (F, 293). Wichtig für Freuds
für die Behandlung und für das Ansehen der Psycho- Auffassung von Katharsis ist jedoch vor allem die
analyse) voll bewußt. Andererseits blieb aber sowohl Neudeutung des aristotelischen Katharsis-Begriffs,
Theater, Szene und Spiel 273

die Jacob Bernays (ein Onkel von Freuds Frau Mar- Die latenten Triebkonflikte sollen »mit abgewand-
tha) 1857 gegen die seit Lessing vorherrschende Idee ter Aufmerksamkeit« erfahren werden, so daß der
einer moralischen Reinigung der Leidenschaften Theaterbesucher »von Gefühlen ergriffen wird, an-
Furcht und Mitleid geltend gemacht hatte. Bernays statt sich Rechenschaft zu geben«. Bei dieser von
verstand Katharsis eher als Reinigungsprozeß im Shakespeares Hamlet eröffneten Art des modernen
physiologisch-medizinischen Sinne (vgl. Bernays Dramas bewirke das kollektive Durchleben der Neu-
1970, VIf. und 9 ff.), woran Breuer und Freud an- rose – als einer unbewußten Ersatzbefriedigung ver-
knüpfen konnten. drängter infantiler Wünsche – die Funktion einer
Freuds explizit dem Theater gewidmeter, 1906 ent- »Höherspannung« des psychischen Niveaus. Zur ka-
standener Text Psychopathische Personen auf der thartischen Abreaktion der innerlichen Spannungen
Bühne (Nachtr., 655–661) bestimmt den Zweck des muß die Nähe zum Helden emotional erfaßt werden.
Schau-Spiels nicht nur im Hinblick auf Furcht und Ähnlich aber wie Freud die Entwicklung der »eigent-
Mitleid, sondern zugleich als Erweckung von Lust lichen Psychoanalyse« gerade als Ablösung von einer
durch eine Steigerung und Abfuhr von Affektspan- Methode der Katharsis verstand (GW XIV, 47), fin-
nungen. Die alte Frage, warum in der Tragödie ge- den sich in seiner Auffassung des Theatervorgangs
rade die Vorführung von Leiden Vergnügen bereiten auch Momente, die gegen die Annahme eines bloß
könne, beantwortet Freud in der Tradition von Schil- auf Einfühlung basierenden Vergnügens sprechen. So
lers Ästhetik mit dem Spielcharakter der Kunst und erwähnt er »Widerstände« gegen das Vorgeführte,
einer Distanzierung der in erster Linie seelischen Lei- mit denen der Dichter bei Mit-Leidenden rechnen
den des Helden vom Betrachter (ebd., 657). In die- muß. An seiner nüchternen Schilderung fällt außer-
sem Sinne hat Freud mehrfach auch das Spielen von dem auf, daß er im Hinblick auf das moderne Drama
Kindern reflektiert, nicht nur als ein dem Tagtraum (wie auch sonst häufig) eher vom Zuhörer spricht. So
und der dichterischen Tätigkeit verwandtes Phanta- kommt der Betrachter des Spiels als »Hörer« in den
sieren, sondern als Wiederholung auch unangeneh- Blick, der eine gewisse Verantwortung für das Aufge-
mer Szenen, deren einst passives Erleben »in die Ak- führte trägt, gerade wenn er sich damit identifiziert.
tivität des Spielens übergeht« (Jenseits des Lustprin- Schon Freuds Beschreibung der für das Theater spe-
zips, GW XIII, 14 f.). Ähnlich verwandelt die Tragö- zifischen »Illusion« hält fest, daß Identifikation nur
die die schmerzlichsten Eindrücke in ästhetischen in der Gewißheit möglich sei, daß auf der Bühne ein
Genuß, so daß eine gewisse Nähe von kindlichem anderer handelt und daß es dabei um ein ungefähr-
Spielen und unbewußtem Agieren zur theatralen liches Spiel geht (Nachtr., 656). Zwar heißt es an an-
Aufführung absehbar wird, wenngleich die Funktion derer Stelle, anläßlich Shakespeares Richard III., daß
des Zuschauers jeweils eine andere ist. Im Kontext große Dichtungen durch Lücken in ihrer Motivie-
dieser anthropologischen Perspektive des Spiels steht rung unsere geistige Tätigkeit beschäftigen, so daß
bereits der Essay von 1906. So unterscheidet er die wir vom »kritischen Denken« abgelenkt würden
Typen des Dramas danach, ob sich der Kampf des (GW X, 369). Freud wollte sich aber auch und gerade
Helden gegen die Götter (und die auch dem Drama bei Theaterstücken nicht damit abfinden, »daß ich
zugrundeliegenden Opferriten), gegen soziale Insti- ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum
tutionen oder gegen andere Helden richtet oder ob es ich es bin und was mich ergreift«, wie es im Moses des
um einen Konflikt konträrer Tendenzen im Seelen- Michelangelo heißt (GW X, 172). So kommt zur ka-
leben des Helden geht. Im engeren Sinne psychopa- thartischen und regressiven Einfühlung immer wie-
thologisch sei erst das Drama, in dem sich unbe- der ein analytisches Moment, das die ›Ergriffenheit‹
wußte, verdrängte Regungen manifestieren könnten, durchkreuzt.
was aber eine neurotische Disposition auch auf Sei- Die Spannung zwischen diesen beiden Aspekten
ten des Zuschauers erfordere. Demnach entscheiden der Theaterwahrnehmung bleibt ungelöst, wo Freud
über die Verwendbarkeit psychopathischer Charak- explizit Aufbau und Wirkung dramatischer Werke
tere auf der Bühne die neurotische Labilität des Pu- beschrieben hat, zumal in den Aufsätzen Der Dichter
blikums und die »Kunst des Dichters, Widerstände und das Phantasieren, Das Motiv der Kästchenwahl
zu vermeiden und Vorlust zu geben«. Wichtig für das und Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen
Spiel mit dem Abnormen im Theater ist dann vor Arbeit. Weiter führen aber Freuds gelegentliche Hin-
allem, daß der neurotische Konflikt nicht schon als weise auf Theaterbesuche in seinen Briefen, in denen
Faktum, sondern in der Entwicklung gezeigt wird, er die eigenen Eindrücke und auch das Verhalten des
damit das Publikum in die Krankheit versetzt werden Publikums eher unter soziologischen und anthropo-
kann (ebd., 661). logischen Aspekten schildert. Da ist nicht nur von
274 Themen und Motive

schauspielerischen Leistungen die Rede, sondern dargestellten Situationen wird ein »halluzinatorisches
auch von Ablenkungen und Störungen der Wahrneh- Erleben« ermöglicht (GW XI, 364 und 218) als eine
mung, von unerträglicher Hitze und Enge selbst auf Projektion von Szenen, in denen der Träumende »die
teuren Plätzen. Daß Freud darauf öfters mit Migräne Hauptrolle« spielt (GW X, 413; vgl. auch Meister
reagiert hat, muß nicht unbedingt auf ›Theatropho- 1991, 295 ff.). Diese Anlehnung an theatrale Vor-
bie‹ schließen lassen (für die es im übrigen wenig gänge begegnet immer wieder in Freuds Traum-Dis-
Anhaltspunkte gibt), könnte aber auf gelegentliche kurs, der selbst als eine Inszenierung erscheint, die
Widerstände gegen übermäßiges Pathos hindeuten immer nur Bruchstücke von Träumen preisgibt und
(vgl. B 176, 185, 199). Hat er sonst doch eher die dabei vor allem die Chancen und Aporien der Deu-
komischen Seiten der Veranstaltung gewürdigt, eine tung vorführt. Auffällig ist in diesem Kontext, daß
zum Pathos ihrer Rolle mitunter quer stehende Kör- einer der am häufigsten und ausführlichsten bespro-
perlichkeit der Akteure und das respektlose Unter- chenen Träume einen Theaterbesuch darstellt: Die
haltungsbedürfnis des Publikums. Solche Wahrneh- Träumerin befindet sich mit ihrem Mann in einem
mungen lassen auch das szenische Spiel nicht mehr halbleeren Theater. Vor allem aus ihrem Ärger dar-
nur als ästhetische Einkleidung für unangenehme über, die Eintrittskarten zu früh und zu teuer gekauft
dichterische Wahrheiten erscheinen, sondern als ei- zu haben, entfaltet Freud ihre Unzufriedenheit mit
genständige Realität. So bleibt Theater bei Freud der voreilig geschlossenen Ehe (GW II/III, 419). Die
nicht, wie gelegentlich behauptet wurde, auf eine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Wirkungsästhetik der Tragödie beschränkt (vgl. Tho- kommen mehrfach auf diesen Traum zurück, deuten
ret 1988, e17), umfaßt zugleich Momente des Komi- das »Ins-Theater-Gehen« als Ersatzbildung fürs Hei-
schen und des kritischen Denkens. Was über den raten, das damit die Form einer früheren Wunscher-
Rahmen der tragischen Katharsis hinausgeht, ist füllung, der sexuell begründeten Schaulust, ange-
kaum aus dem Prinzip einer emotionalen Höher- nommen habe (vgl. GW XI, 122, 140, 227, 231). So
spannung durch Identifikation mit dem Leiden an- führt die Deutung dieses Traums weit über den Ar-
derer zu erklären, deutet vielmehr auf eine Verknüp- gumentationskontext hinaus auf das ›Ansehen des
fung von aggressiven und affirmativen wie auch von Verbotenen‹ als Lust des Theaterzuschauers.
kritischen und reflexiven Momenten im Verhalten Die Bedeutung von Schau- und Exhibitionslust als
des Betrachters. Vor diesem Hintergrund erweist sich zusammengehöriger Partialtriebe hat Freud in den
schließlich auch die ›metaphorische‹ Bezugnahme Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie skizziert (GW
auf Theateraspekte in Freuds Schriften weitaus viel- V, 66, 93 f.). Die libidinöse Besetzung des Sehens ist
schichtiger, als sie lange Zeit scheinen mochte (vgl. von daher immer in Zusammenhang zu denken mit
Conrad 2004, 105 ff.). der Lust oder auch der Angst davor, sich selbst (nicht
nur die Sexualorgane, sondern den Körper insge-
samt) auszustellen, zu zeigen. Diese Verknüpfung
Darstellbarkeit und Inszenierung
von aktiven und passiven Anteilen, Darstellung und
Die Traumdeutung, deren Zitatfülle Freuds Beschäfti- Wahrnehmung, verweist aber gleichfalls auf das
gung mit der dramatischen Weltliteratur erstmals Theater, in dem sie trotz der äußerlich fixierten Posi-
sichtbar gemacht hat (vgl. Worbs 1983, 91 f.), ver- tionen von Akteuren und Zuschauern jeweils auch
wendet technische Begriffe, die eher indirekt auf die auf der ›anderen Seite‹ eine wichtige Funktion hat:
theatrale Repräsentation verweisen. So gilt als drittes Im Theater wird nicht nur die Wunschvorstellung
Prinzip der Traumarbeit neben der Verdichtung und des Schauspielers, allein und restlos dem Blick des
Verschiebung von psychischem Material die »Rück- Publikums ausgesetzt zu sein, durch das Zusammen-
sicht auf Darstellbarkeit«. Durch seine Übersetzung spiel mit anderen Akteuren gebrochen. Auch das
des Begriffs mit Ȏgard aux moyens de la mise en voyeuristische Phantasma des Zuschauers, allein und
scène« hat Jacques Lacan den theatralen Aspekt des selbst ungesehen ›ganz Auge‹ zu werden, erweist sich
Traums betont, zugleich aber auf die Einbindung des durch die spürbare Mit-Anwesenheit vieler anderer
Spiel-Moments in eine Logik der Schrift und des Si- Zuschauer als Illusion. So sind gerade die Einsichten
gnifikanten verwiesen (Lacan 1966, 511). Freud zu- der Psychoanalyse in die szenische Bedingtheit von
folge produziert die Traumarbeit eine »gegenwärtige Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie von Darstel-
Situation«, die gerade durch ihre visuelle Anschau- lung überhaupt geeignet, die Angewiesenheit des tra-
lichkeit der Entstellung des latenten Traumgedankens ditionellen bürgerlichen Theaters des 19. Jh.s auf Ein-
dient (GW II/III, 538 ff.). Durch die Bildlichkeit, die fühlung und Voyeurismus aufzudecken. Freud selbst
Zensurfreiheit und den regressiven Charakter der hat diese Konsequenz noch am ehesten reflektiert,
Theater, Szene und Spiel 275

wo er sich durch Theatereindrücke oder bei der Ana- abermals, daß Freud ganz unterschiedliche Formen
lyse von Träumen, Fehlleistungen und nicht zuletzt von Theatralität im Blick hatte, die – sei es in tra-
Witzen mit Momenten der komischen Bloßstellung gischer, sei es in komischer Perspektive – die Ohn-
des Illusionsapparates befaßt hat. Die Grenze dieser macht des Subjekts vorführen, die unvermeidliche
Reflexion liegt aber, ähnlich wie schon bei Charcot, Einsicht, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eige-
gerade da, wo sich der theatrale Aufwand der psycho- nen Haus« (GW XII, 11).
analytischen Behandlung offenbart, bis hin zur tech- Gerade diese Erfahrung hat wesentlich dazu beige-
nischen Anordnung, sich dem Blick des Patienten zu tragen, daß im Laufe des 20. Jh.s neue Theaterfor-
entziehen – zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden men entstanden, die sich vom dramatischen Text
(GW XIV, 53). Auf diese nicht immer eingestandene emanzipiert haben, darüber hinaus aber auch auf
Nähe geht wohl auch die Ambivalenz in Freuds Ein- Einfühlung und Rollenspiel weitgehend verzichten.
stellung gegenüber dem Theater zurück. Seit den Anfängen der Performance-Kunst in den
Daß nicht nur die modernen Dramatiker, sondern 1950er Jahren sind die Theaterideen der historischen
ebenso die Praxis der Inszenierung von der Psycho- Avantgarden wieder aufgenommen worden, und in-
analyse profitieren konnte (die ihrerseits dem Thea- zwischen hat selbst die Auseinandersetzung mit dem
ter so viel zu verdanken hatte), konstatiert Freud in Repertoire häufig Performance-Charakter. Goethes
der Psychopathologie des Alltagslebens. Bei ihrem Auf- Faust beispielsweise, von Klaus Michael Grüber be-
tritt in einem Ehebruchsdrama hätte die große Eleo- reits 1975 in der Pariser Salpêtrière auf der Spur des
nora Duse durch das beiläufige Abstreifen des Ehe- Hysterie-Theaters inszeniert, ist seither immer weiter
rings vor der Begegnung mit dem »Versucher« eine analysiert/zerlegt, der Part des tragischen Helden von
Symptomhandlung angebracht, »die so recht zeige, mehreren Akteuren, im Chor oder gar vom Publi-
aus welcher Tiefe sie ihr Spiel heraufhole« (GW IV, kum aus gesprochen worden. Auch gegenwärtige
227). Die neuen Theaterformen aber, die über solche Theorien von Theater und Performance beziehen
Formen der Anwendung psychoanalytischen Wissens sich häufig auf Freud und die Wirkungsgeschichte
hinaus seit den 1920er Jahren auch den theatralen seiner Schriften (vgl. Campbell/Kear 2001). Schließ-
Vorgang als solchen aufs Spiel zu setzen begannen, lich haben sich seit 1980 zahlreiche internationale
auch die Lust und Grausamkeit des Zuschauers ex- Theater-Projekte mit Freud befaßt (u. a. Robert Wil-
plizit machten (hier seien nur Bertolt Brecht und An- son: The Life and Times of Sigmund Freud, 1969, und
tonin Artaud genannt), hat Freud nicht mehr zur Hélène Cixous: Portrait de Dora, 1978) oder an der
Kenntnis genommen – wenngleich er sich ihnen in Inszenierung von psychoanalytischen Fallbeispielen
manchen Punkten durchaus angenähert, ihren Theo- gearbeitet (Peter Brook: L’homme qui . . ., 1993, und
rien vorgearbeitet hat. Je suis un phénomène, 1999). Gerade solche Produk-
Daß eine explizit metaphorische Bezugnahme auf tionen, die nicht bei einer therapeutischen Einfüh-
das Theater hilfreich sein kann, um eine therapeuti- lung in Konfliktsituationen (›Psychodrama‹) stehen-
sche Auffassung der Subjektkonstitution zu formu- bleiben, sondern das Theater insgesamt als Spiel mit
lieren, zeigen die Studien Theater der Seele und Thea- der Situation von Akteuren und Zuschauern reflek-
ter des Körpers von Joyce McDougall (1982/1988 und tieren, zeigen das vielfältige, durchaus auch kritische
1989/1991). Samuel Weber hat jedoch geltend ge- Potential der szenischen Auseinandersetzung mit
macht, daß der diesem Ansatz zugrundeliegende Be- Freuds Werk und dem Projekt der Psychoanalyse.
griff des autonomen, tätigen und seiner selbst gewis-
sen Subjekts an der Komplexität von Freuds Theorie Literatur
und an der Wirklichkeit des Theaters vorbeigeht Bernays, Jacob: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Ari-
stoteles über Wirkung der Tragödie [1857]. Hg. von Karlfried
(Weber 2004, 252 ff.). Gegen die auch bei McDougall Gründer. Hildesheim 1970.
zu beobachtende Tendenz, das Ich als Helden, Autor Campbell, Patrick/Adrian Kear (Hg.): Psychoanalysis and Per-
und Regisseur seines Spiels zu behandeln, hält Weber formance. London/New York 2001.
eine Polemik Freuds, der einst Alfred Adler vorge- Conrad, Bettina: Gelehrtentheater. Bühnemetaphern in der Wis-
senschaftsgeschichte zwischen 1870 und 1914. Tübingen
worfen hat, dem Ich zuviel Macht eingeräumt zu ha- 2004.
ben, wo es bestenfalls reagieren kann: »Das Ich spielt Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photo-
dabei die lächerliche Rolle des dummen August im graphische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1995
Zirkus, der den Zuschauern durch seine Gesten die (frz. 1982).
Lacan, Jacques: L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la
Überzeugung beibringen will, daß sich alle Verände- raison depuis Freud. In: Ders.: Écrits. Paris 1966, 493–528.
rungen in der Manege nur infolge seines Komman- McDougall, Joyce: Theater der Seele. München 1988 (frz.
dos vollziehen« (GW X, 97). Der Vergleich erhellt 1982).
276 Themen und Motive

–: Theater des Körpers. München 1991 (frz. 1989). Weber, Samuel: Psychoanalysis and Theatricality. In: Ders.:
Meister, Monika: Die Zeichen des Traums und ihre szenische Theatricality as Medium. New York 2004, 251–276.
Repräsentation. In: Maske und Kothurn 37 (1991), H. 1–4, Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im
295–310. Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1983.
Starobinski, Jean: Psychoanalyse und Literatur. Frankfurt a. M. Patrick Primavesi
1973 (frz. 1970).
Thoret, Yves: Place du théâtre dans l’Œuvre de Freud. In: Deg-
rés 16 (1988) Nr. 56, e1–e20.
277

IV. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte


1. Psychoanalyse

1.1 Rezeption im deutsch- das die Geschicke der psychoanalytischen Bewegung


lenken sollte. Seine Mitglieder waren Hanns Sachs
sprachigen Raum (1881–1947), Ernest Jones (1879–1958), Karl Abra-
ham, Otto Rank (1884–1939) und Sándor Ferenczi
Karl Abraham (1877–1925) war einer der frühesten (1873–1933), später kam Max Eitingon (1881–1943)
Schüler Freuds und der erste Psychoanalytiker, der in hinzu. Der vermögende Eitingon finanzierte nach
Deutschland wirkte. Er hat ein umfangreiches wis- dem Ende des Ersten Weltkriegs den Aufbau des
senschaftliches Werk hinterlassen, das neben klini- Berliner Psychoanalytischen Instituts, der weltweit
schen Arbeiten auch theoretische Schriften und sol- ersten Einrichtung dieser Art, die zugleich als Poli-
che zur angewandten Psychoanalyse umfaßt (Abra- klinik und Ausbildungsstätte für angehende Psycho-
ham 1982). Er differenzierte das Verständnis der prä- analytiker fungierte. Hanns Sachs gilt als der erste
genitalen Entwicklungsstufen und nutzte diese professionelle Lehranalytiker der jungen psychoana-
Einsichten zur Vertiefung des psychoanalytischen lytischen Bewegung, auf ihn gehen die frühesten Re-
Psychoseverständnisses. Sowohl für die orale als auch geln für eine standardisierte qualifizierte Ausbildung
für die anale Phase nahm er Stufungen vor: Abraham von Analytikern zurück (Lohmann 1991, 159 ff.).
unterschied zwischen einer vorambivalenten oralen Noch in die Vorkriegszeit fällt die Gründung einer
Saugestufe und einer oral-sadistischen Stufe, in der Reihe psychoanalytischer Zeitschriften: des Jahrbuchs
die Einverleibung mit Vernichtung assoziiert wird, für psychoanalytische und psychopathologische For-
sowie einer früheren analen Stufe, in der das Fest- schungen, des Zentralblatts für Psychoanalyse und der
halten und Besitzen des Objekts, und einer späteren, Imago.
in der die Ausstoßung des Objekts im Zentrum steht. Sándor Ferenczi, wie Abraham und Jung Arzt, er-
Im Streit um die Laienanalyse stellte er sich eher ge- weiterte die psychoanalytischen Konzeptionen um
gen Freuds Auffassung, was diesen nicht hinderte, den Versuch einer Genitaltheorie (Ferenczi 1924), er
Abrahams bahnbrechende klinische Leistungen für verfaßte Schriften zur Technik der Psychoanalyse und
die Psychoanalyse ohne Einschränkung zu würdigen eröffnete einen neuartigen, strukturellen Blick auf
(GW XIV, 564). Abraham war der Lehrer zahlreicher die Verführungstheorie Freuds. Sein Begriff der
namhafter Analytiker, etwa Melanie Kleins. »Sprachverwirrung« zwischen Kindern und Erwach-
Zwei weitere frühe Wegbegleiter Freuds waren Al- senen als Verwirrung einer Sprache der Leidenschaft
fred Adler (1870–1937) und Carl Gustav Jung (1875– und einer Sprache der Zärtlichkeit (Ferenczi
1961). Mit beiden kam es noch vor dem Ersten Welt- 1932/1972), unter den damaligen Freudianern höchst
krieg zum Bruch. Während Adler die sog. Individual- umkämpft, wurde Vorbereiter der allgemeinen Ver-
psychologie begründete, aus der er die Libidotheorie führungstheorie von Jean Laplanche. Otto Rank, der
eliminierte und an deren Stelle das individuelle Stre- sich Mitte der 1920er Jahre ebenfalls von Freud
ben nach Geltung, Macht und Sicherheit setzte, kre- trennte, vertiefte das Konzept des »Familienromans«
ierte Jung eine vage analytische Psychologie, die sich und prägte den Begriff des »Geburtstraumas« (Rank
mehr mit Mythen und Symbolen befaßte als mit dem 1924/1998). Weitere wichtige Angehörige der ersten
Unbewußten von Triebkonflikten. Nach scharfen Generation von Freudianern in Deutschland, Öster-
Auseinandersetzungen mit Jung (vgl. F/J, 581 ff.), den reich und der Schweiz waren Paul Federn, Viktor
Freud zunächst als seinen Kronprinzen eingesetzt Tausk, Lou Andreas-Salomé und Helene Deutsch.
hatte, und nach Jungs Demission als Präsident der Das Werk Franz Alexanders (1891–1964) bildet ei-
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nen Meilenstein beim Aufbau der psychosomatischen
(IPV) 1914 gründete Freud ein geheimes Komitee, Medizin auf psychoanalytischer Grundlage. Er be-
278 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

schrieb die Zusammenhänge zwischen vegetativer ten Strömung innerhalb der Psychoanalyse, vor allem
Neurose, Konflikt und organischer Krankheit. Das in den Vereinigten Staaten, die nach dem Zweiten
Werk Thure von Uexkülls und die psychosomati- Weltkrieg auch die Freud-Rezeption im deutschspra-
schen Schriften Alexander Mitscherlichs fußen auf chigen Raum zunächst stark beeinflußte.
dieser Grundlage. Michael Balint (1896–1970) lenkte Diese war durch den »Kulturbruch«, den der Sieg
mit dem Konzept der primären Liebe die Aufmerk- des Nationalsozialismus bedeutete, seit 1933 faktisch
samkeit auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung. Die zum Stillstand gekommen. Die Ächtung Freuds und
sog. Grundstörung bezeichnet Fehlentwicklungen, seines Werks sowie die Vertreibung und Emigration
die aus Defiziten und konflikthaften Einschränkun- der jüdischen Analytiker aus Deutschland und Öster-
gen dieser Primärerfahrung resultieren (Balint reich führte zu einem verheerenden Aderlaß, der
1968/1970). Der Schweizer Psychiater Ludwig Bins- jahrzehntelang nicht kompensiert werden konnte
wanger (1881–1966) entwickelte die Daseinsanalyse. (vgl. Lohmann 1984/1994; Lockot 1985; Cocks
Siegfried Bernfeld (1892–1953), Otto Fenichel 1985). Erst in den 1960er und 70er Jahren gelang es
(1897–1950) und Wilhelm Reich (1897–1957) waren der Restgruppe deutscher Freudianer, die sich seit
nicht zuletzt politisch engagierte Psychoanalytiker, etwa 1950 vor allem um Alexander Mitscherlich
die sich in unterschiedlichem Maße um die Zusam- (1908–1982) und Margarete Mitscherlich-Nielsen ge-
menführung von marxistischer Theorie und Psycho- schart hatten, Freuds Psychoanalyse ins öffentliche
analyse bemühten (vgl. Fenichel 1998). Bernfeld trat Bewußtsein zurückzuholen und Anschluß an den in-
vor allem als Vermittler von Psychoanalyse und Päd- ternationalen Standard zu finden (Kurzweil 1993,
agogik (Bernfeld 1925/1967), später als Freud-Bio- 386 ff.). In diesem Prozeß der Wiederaneignung der
graph (Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981) hervor. Fe- Freudschen Psychoanalyse spielte die von Mitscher-
nichels Neurosenlehre (Fenichel 1945/1974–1977) lich 1947 mitgegründete Zeitschrift Psyche eine wich-
avancierte zum Klassiker des psychoanalytischen Ver- tige Rolle (Lohmann 1996), ebenso die Tatsache, daß
ständnisses der Neurosen. Die kontroverseste Posi- der Frankfurter S. Fischer Verlag 1960 die deutsch-
tion bezog Reich, indem er neurotische Deformation, sprachigen Rechte am Freudschen Werk erwarb und
sexuelle Unterdrückung, autoritäre Erziehung und für dessen Verbreitung sorgte. Die Unterstützung, die
ökonomische Verhältnisse in einen historisch-mate- die Freudianer durch die aus der amerikanischen
rialistischen Zusammenhang zu bringen versuchte – Emigration zurückgekehrten führenden Köpfe der
was am Ende zu seinem Ausschluß aus der IPV später sog. Frankfurter Schule, vorab Max Horkhei-
führte. Es bleibt sein Verdienst, daß er mitten im mer und Theodor W. Adorno, erfuhren, trug nicht
Zeitalter faschistischer Massenbewegungen das unwesentlich zum Erfolg des Unternehmens bei.
Thema der regressiven Führer-Massen-Bindung auf Vermutlich hat die Erfahrung der gewaltsamen
die Tagesordnung setzte und damit die Freudsche Vertreibung der Psychoanalyse aus Deutschland, frei-
Massenpsychologie (GW XIII, 71–161) politisch ak- lich auch die Renaissance marxistischen Denkens in
tualisierte (Reich 1933/1971). den 1960er und 70er Jahren, erheblich dazu beige-
Anna Freud (1895–1982) gilt als Begründerin der tragen, daß nicht wenige Vertreter der deutschspra-
Kinderpsychoanalyse. Mit ihrem Buch Das Ich und chigen Psychoanalyse ungewöhnlich offen waren für
die Abwehrmechanismen (1936/1980) wurde Freuds politische und gesellschaftstheoretische Fragestellun-
jüngste Tochter zur Theoretikerin und Vordenkerin gen – offener jedenfalls als der angelsächsisch ge-
der Ichpsychologie, deren eigentlicher Begründer prägte psychoanalytische Mainstream. So nimmt es
Heinz Hartmann (1894–1970) war. Die Ichpsycho- nicht wunder, daß kulturspezifische Persönlichkeits-
logie beinhaltet eine Interessenverlagerung in der Be- strukturen und Charakterformationen in den Mittel-
trachtung des psychischen Geschehens – weg von der punkt des Interesses rückten. Dem freudomarxisti-
Konfliktorientierung des Freudschen Ansatzes hin schen Ansatz verbunden, begründete der ebenfalls in
zum Anpassungsproblem, zu dessen Lösung das Ich die USA emigrierte Sozialphilosoph Erich Fromm
mit seinen Funktionen den zentralen Beitrag liefert. (1900–1980) die Neo-Psychoanalyse. Hierbei handelt
Ichleistungen werden als primär und sekundär kon- es sich um eine soziologisch-philosophische Neufor-
fliktfreie Sphären betrachtet, ihre Entwicklung ist als mulierung der psychoanalytischen Theorie. Das In-
allgemeine Entwicklungslehre formulierbar, wodurch dividuum gilt als sozial bestimmtes, es entwickelt
die Psychoanalyse nicht zuletzt Anschluß an die aka- sich in Interaktion mit sozialen Institutionen, vor al-
demische Psychologie fand. Ernst Kris, Rudolph Loe- lem der Familie (Fromm 1936/1970). Im Gegenzug
wenstein und David Rapaport machten die Ichpsy- wird die Triebtheorie aufgegeben, und der Ödipus-
chologie zu einer einflußreichen, zeitweise dominan- komplex erscheint jetzt als Produkt vaterrechtlich
Rezeption im deutschsprachigen Raum 279

verfaßter Gesellschaften und als Ausdruck eines Au- schen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, in
toritätskonflikts. Fromms Theorien waren außeror- der diese als Tiefenhermeneutik Darstellung findet
dentlich publikumswirksam und übten starken Ein- (Lorenzer 1974). In die Nähe von Lorenzers sozialisa-
fluß auf Autoren wie Karen Horney, Harry Stack Sul- tionstheoretischen und -kritischen Anstrengungen
livan und Gordon Allport aus. gehören vor allem die Arbeiten Klaus Horns zu einer
Herbert Marcuse, wie Fromm Sozialphilosoph und kritischen Theorie des Subjekts (Kutter 1989/2000,
einer der Hauptvertreter der Frankfurter Schule, wies 37 ff.). Hermann Argelander (1972) führte im klini-
Fromms Theorieansatz entschieden zurück, indem er schen Feld den Begriff der »Szene« und des »szeni-
darauf pochte, daß eine soziologische Orientierung schen Verstehens« ein, den sich auch Lorenzer zu-
nicht die Triebthematik verdrängen dürfe, da Freuds nutze machte. Wolfgang Lochs (1967) Arbeiten gal-
triebtheoretisches Denken zumindest implizit eine ten nicht zuletzt einer philosophischen Grundierung
gesellschaftstheoretische Tiefendimension enthalte der Psychoanalyse. Große Popularität auf dem Gebiet
(Marcuse 1955/1970). Im Umkreis des wiedererstan- der Sozialpsychologie erlangte Horst Eberhard Rich-
denen Freudomarxismus, der z. T. an die Debatten ter mit seinen auflagenstarken Büchern, die freilich
aus den Jahren vor 1933 anknüpfte, trat eine neue nicht selten dem verbreiteten öffentlichen Bedürfnis
Generation von Freudianern auf den Plan, die mit nach »Sinnorientierung« und »Lebenshilfe« entge-
Reimut Reiche (Sexualität und Klassenkampf, 1968/ genkamen und deshalb der Psychoanalyse Freuds nur
1971) und Helmut Dahmer (Libido und Gesellschaft, noch äußerlich verpflichtet waren.
1973/1982) die Verbindung von Freudscher Trieb- Die Schweizer Psychoanalytiker Fritz Morgentha-
theorie und marxistisch inspirierter Gesellschafts- ler, Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Mario Erd-
theorie zu forcieren trachtete. heim erweiterten die Freud-Rezeption im deutsch-
Quer zu dieser Tendenz, wenn ihr auch nicht völlig sprachigen Bereich um die ethnologische bzw. eth-
fremd gegenüber, stand das Werk Alexander Mit- nopsychoanalytische Perspektive. Durch die Einbe-
scherlichs. Die Titel seiner wichtigsten Publikationen ziehung des »Fremden« und eines kulturellen
– Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963), Die Unbewußten in den freudianischen Diskurs wurde
Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) und Die Unfä- dieser um eine Dimension bereichert, die der Psy-
higkeit zu trauern (1967, zusammen mit Margarete choanalyse bis dahin weitgehend verschlossen war
Mitscherlich) – signalisierten einerseits eine deutli- (Kurzweil 1993, 395 f.). Nicht zuletzt der dezidiert
che Orientierung an den traumatisierenden politi- politische Ton, den die Schweizer anschlugen, machte
schen und gesellschaftlichen Erfahrungen der jüng- sie zu Verbündeten der linken deutschen Freudianer
sten deutschen Geschichte, machten aber anderer- um Helmut Dahmer und Hans-Martin Lohmann
seits keine Konzessionen an den freudomarxistischen (vgl. Lohmann 1983/1985; 1984/1986; Kurzweil
Diskurs. Mitscherlichs Werk blieb ein Solitär ohne 1993, 397 ff.).
längerfristige Wirkung (Lohmann 1987), ausgenom- Eine singuläre Stellung innerhalb der deutschspra-
men seine psychosomatischen Arbeiten (Mitscherlich chigen Psychoanalyse nimmt die Psychoanalytikerin
1966/1967), während Margarete Mitscherlichs Hin- und Freud-Forscherin Ilse Grubrich-Simitis ein, die
wendung zum Feminismus der 1970er und 80er sich vor allem um die kritische Edition der Schriften
Jahre, den sie mit psychoanalytischen Versatzstücken und Briefwechsel Freuds verdient gemacht hat.
ausstattete, anhaltenden öffentlichen Widerhall fand Durch ihre bis heute bei weitem nicht abgeschlossene
(Kutter 1989/2000, 56). Arbeit – deren Ziel und »Ideal« eine Gesamtausgabe
Treue zur Freudschen Triebtheorie zeichnet das der Freudschen Schriften ist, die den strengen Maß-
Werk Alfred Lorenzers aus. Im Rahmen eines histo- stäben einer historisch-kritischen Edition genügt
risch-materialistischen Konzepts versuchte er, der (Grubrich-Simitis 1993, 303 ff.; vgl. auch Nachtr., 27)
Triebbestimmtheit des Subjekts Rechnung zu tragen. – hat sie maßgeblich dazu beigetragen, daß das be-
Das Triebgefüge sollte in den Schnittpunkt der einer- klagenswert niedrige Niveau, auf dem Freuds Werk
seits organismisch-biologischen und andererseits im deutschen Original lange verharrte, zumindest
kulturell-sozialen Determiniertheit des Menschen ge- partiell überwunden werden konnte.
rückt werden. Um dieses Programm einer kritischen Im übrigen war und ist die Freud-Rezeption im
Theorie des Subjekts einzulösen, bearbeitete Loren- deutschsprachigen Raum durch wechselnde Moden
zer eine große Bandbreite theoretischer und kultur- und Einflüsse determiniert. War es in den 1950er und
wissenschaftlicher Fragestellungen: Sie reichen von 60er Jahren vor allem die Ichpsychologie, die den
der Konstruktion einer materialistischen Sozialisati- Freudianismus prägte, so folgten in den 1970er und
onstheorie bis hin zu einer wissenschaftstheoreti- 80er Jahren die Selbstpsychologie Heinz Kohuts und
280 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

die Objektbeziehungstheorien Donald W. Winni- choanalytischen Verlags, die Imago Publishing Com-
cotts, Margaret Mahlers und Otto F. Kernbergs als pany gegründet. Hauptziel war, unter Mitwirkung
diskursbeherrschende Theorien. Von bis heute weg- von Marie Bonaparte, die Rettung der Wiener Ge-
weisender Bedeutung für die deutschsprachige Psy- samtausgabe, der Gesammelten Schriften, in der ver-
choanalyse ist das Werk Melanie Kleins (1882–1960). wandelten Gestalt der auf achtzehn Bände geplanten
Die Kinderanalytikerin, die in mehrfacher Hinsicht Gesammelten Werke. Es war eine imposante Wider-
als Antipodin Anna Freuds gelten kann (vgl. King/ standsgeste gegen Terror und Verfolgung, das Œuvre
Steiner 1991/2000), hat eine ganze Anzahl neuer im Exil in »der geliebten Muttersprache« (GW X,
Konzepte in die psychoanalytische Diskussion einge- 328) komplett verfügbar halten zu wollen. Band 1 bis
führt. Kleins Entwicklungslehre orientiert sich an der 17 dieser zweiten Gesamtausgabe erschienen, nach
Modalität von Objektbeziehungen. Sie unterscheidet Freuds Tod, zwischen 1940 und 1952. Das Manu-
eine paranoid-schizoide von einer depressiven Posi- skript des als Band 18 vorgesehenen Gesamtregisters
tion. In der paranoid-schizoiden Position erscheint gelangte jedoch nicht mehr zum Druck, ehe Imago
das Objekt als Partialobjekt, was in erster Linie die Publishing Company 1961 aufgelöst wurde. Als der
Brust betrifft, die als gespaltenes Objekt, als gute und Frankfurter S. Fischer Verlag 1960 die Freud-Rechte
böse Brust auftritt. In dieser Position des Subjekts erwarb, übernahm er neben dem Registermanuskript
herrscht persekutorische Angst, die durch Introjek- auch die Buchbestände der Gesammelten Werke. Wie
tion und Projektion abgewehrt wird. Mit der zuneh- im Falle der Gesammelten Schriften handelt es sich
menden Fähigkeit, das Objekt als ganzes zu erfassen bei den Bänden 1 bis17 nicht um eine kritische Edi-
und die Spaltung zu vermindern, tritt eine depressive tion; der editorische Apparat ist wiederum auf ein
Angst um das Objekt in den Vordergrund und för- Minimum beschränkt. Manche Unzulänglichkeit ist
dert die Hemmung der Aggressivität sowie die sta- nicht zuletzt Folge der erschwerten Arbeitsbedingun-
bilere Besetzung des Objekts und dessen Verinnerli- gen in Kriegs- und unmittelbarer Nachkriegszeit. Im
chung. Unterschied zur Wiener Gesamtausgabe sind die
Lothar Bayer/Hans-Martin Lohmann Bände chronologisch geordnet. Die Traumdeutung
wird in Gestalt ihrer achten, der letzten zu Freuds
Lebzeiten erschienenen Auflage, also samt den inte-
Editionen von Freuds Werken
grierten Zusätzen, präsentiert. Das Manuskript des
Freud war ein Mann des Buches und durch den 1919 Gesamtregisters wurde im S. Fischer Verlag grundle-
von ihm gegründeten Internationalen Psychoanalyti- gend überarbeitet und erschien 1968 als das bis zum
schen Verlag sogar fast ein Verleger. Neben vielen damaligen Zeitpunkt überhaupt erste Freud-Gesamt-
Einzelausgaben seiner Texte erschien dort auch seine register. In dem 1987 veröffentlichten unnumerierten
erste Gesamtausgabe, die Gesammelten Schriften Nachtragsband zu den Gesammelten Werken wurden
(Freud 1924–1934). Sie war unter dem Eindruck von schließlich alle jene psychologisch-psychoanalyti-
Freuds Krebserkrankung 1923 geplant worden und schen Texte gesammelt und mit einem umfangrei-
sollte zunächst zehn Bände umfassen. Da er jedoch chen kritischen Apparat versehen, die aus verschie-
produktiv blieb, kamen bis 1934 noch zwei weitere denen Gründen in den siebzehn Bänden fehlen,
Bände hinzu. Es handelt sich nicht um eine kritische darunter Schriften, die erst später auftauchten, wie
Edition. Eine gewisse Zufälligkeit der Gliederung die »Übersicht der Übertragungsneurosen« (GW
der Bände 11 und 12 ist die Folge ihrer nachträgli- Nachtr., 634–651), und welche teils sogar in der
chen Entstehung. Die zusammenhängend konzipier- Standard Edition of the Complete Psychological Works
ten Bände 1 bis 10 sind nach Themen geordnet, kri- of Sigmund Freud, der von James Strachey edierten
tischer Kommentar und editorischer Apparat auf ein englischen Gesamtausgabe, nicht enthalten waren.
Minimum beschränkt. Die einzige komplexe editori- Inklusive Nachtragsband, der thematisch gegliedert
sche Entscheidung, von Freud selbst getroffen, be- ist, innerhalb der Themenblöcke aber gleichfalls der
trifft die Traumdeutung: Band 2 präsentiert den Chronologie folgt, verkörpern die Gesammelten
Wortlaut der Erstausgabe des Opus magnum, wohin- Werke die bis heute umfassendste Präsentation des
gegen in Band 3 die zahlreichen, teils umfangreichen Œuvres in der Originalsprache.
Ergänzungen zu den späteren Auflagen vorgelegt Die Studienausgabe, die erstmals zwischen 1969
werden. und 1975 erschien, umfaßt zehn Bände und einen
Bald nach seiner Emigration nach London hatte unnumerierten Ergänzungsband. Sie ist thematisch
Freud 1939, als Nachfolge-Institution des von den gegliedert. Sofern sie nicht ein einzelnes umfangrei-
Nationalsozialisten aufgelösten Internationalen Psy- ches Werk präsentieren, gilt innerhalb der Bände, die
Rezeption im deutschsprachigen Raum 281

jeweils mehrere Schriften zu einem bestimmten melten Werke weit mehr als zwei Drittel dieses Werk-
Thema sammeln, die chronologische Reihenfolge. bereichs auch in solider kritischer Edition vor.
Die Studienausgabe ist die bislang einzige Edition in Bei einer Bewertung der Lage ist die historische
der Originalsprache, die insgesamt mit einem um- Tatsache zu berücksichtigen, daß, als Freud 1938 ins
fangreichen kritischen Apparat ausgestattet ist. Ne- Londoner Exil ging, die Editionsinitiative hinsicht-
ben neu hinzugefügten Passagen übernimmt der edi- lich seines Œuvres gleichsam mitemigrierte. James
torische Kommentar wesentliche Teile des für die Strachey und seine Helfer haben dann im Kontext
Standard Edition verfaßten Apparats. U. a. wurden ihrer Arbeit an der Standard Edition seit den späten
zahlreiche Revisionen, die Freud zumal an seinen 1940er Jahren eine Editionskultur entwickelt, für die
Hauptwerken, etwa der Traumdeutung oder den Drei es in den 1960er Jahren, als der S. Fischer Verlag
Abhandlungen zur Sexualtheorie, bei Neuauflagen Freuds Werk in den deutschen Sprachraum zurück-
vorzunehmen pflegte, also die sog. Druckvarianten, holte, hierzulande keine Entsprechung gab. So kam
rekonstruiert, datiert und kenntlich gemacht. Mehr es zu der paradoxen Situation, daß die ersten
als zwei Drittel der in der Standard Edition vorge- deutschsprachigen kritischen Editionen der Werke,
legten Freud-Texte sind auch in der Studienausgabe die Studienausgabe sowie der GW-Nachtragsband,
enthalten. Anläßlich von Freuds 50. Todesjahr er- ohne die Mitwirkung englischsprachiger Editoren
schien 1989 eine revidierte und aktualisierte Neuaus- nicht hätten entstehen können. Allerdings wurden in
gabe dieser kritischen Edition. Zugleich wurde, unter diesen Editionen bereits viele zusätzliche Bausteine
dem neuen Titel Freud-Bibliographie mit Werkkon- für eine zukünftige historisch-kritische Gesamtaus-
kordanz, die der Studienausgabe von Beginn an ange- gabe zusammengetragen. Um nur zwei zu nennen:
gliederte Sigmund Freud-Konkordanz und -Gesamt- der Nachtragsband enthält neue und verbesserte
bibliographie in erweiterter Fassung veröffentlicht, Transkriptionen des »Entwurfs einer Psychologie«
ein inzwischen auch international benutztes biblio- sowie der Originalnotizen über den Fall des »Ratten-
graphisches Arbeitsinstrument. An der großen mannes«. Erwähnenswert ist, daß nun, in umgekehr-
Freud-Rezeption der 1970er Jahre, in der es in der ter Kooperationsrichtung, viele dieser im deutschen
BRD, nach dem vom NS-Regime verursachten Bruch Sprachraum erarbeiteten Bausteine in die vor dem
in seiner Wirkungsgeschichte, zu einer Neuentdek- Abschluß stehende Revised Standard Edition einge-
kung des Œuvres kam, hatte die Studienausgabe ent- fügt werden.
scheidenden Anteil. Unterdessen ist als Eröffnung einer neuen Phase in
Eine elementare, thematisch gegliederte und di- der Geschichte der deutschsprachigen Freud-Editio-
daktisch kommentierte Einführung in Freuds Werk nen der Weg zu einer umfassenden historisch-kriti-
bietet seit 1978 die Werkausgabe in zwei Bänden, zu- schen Ausgabe gebahnt worden (Grubrich-Simitis
erst als gebundene Edition veröffentlicht, seit 2006 in 1993): Hierzu gehörte die detaillierte Rekonstruktion
Taschenbuchform. Gleichfalls in dieser Ausstattung der ersten drei Phasen (Wien, bis 1938; London,
wird seit 1991 in der Edition Sigmund Freud · Werke 1938–1960, Frankfurt, seit 1960). Eine innovative Er-
im Taschenbuch in insgesamt achtundzwanzig Bän- forschung der in der Library of Congress, Washing-
den der Großteil des Freudschen Œuvres, in thema- ton, aufbewahrten Handschriften Freuds eröffnete
tischer Gliederung, auf der Basis des GW-Wortlauts, zudem erstmals Einblicke in die drei Stufen seines
angeboten, freilich zusätzlich ausgestattet mit Be- kreativen Prozesses (Notizen, Entwürfe, Reinschrif-
gleittexten, in welchen zeitgenössische Wissenschaft- ten) sowie in den Reichtum der Entstehungsvarian-
ler die präsentierten Freud-Schriften mit der Psycho- ten. Es zeigte sich ferner, daß von einigen Werken,
analyse der Gegenwart verbinden. z. B. Jenseits des Lustprinzips, nicht veröffentlichte,
Freud war kein Autor, der für die Schublade bislang unbekannte Erstfassungen überliefert sind
schrieb. Fast alle seine Texte sind unter seiner Auf- usw. (Übrigens fällt auf, daß diese Forschungen über
sicht zu Lebzeiten veröffentlicht worden. Er hat sein den arbeitenden Freud im fremdsprachigen Ausland,
Werk also in respektgebietend klarer, abgeschlossener bei Psychoanalytikern wie bei Germanisten, auf wa-
Form hinterlassen. Wenn heute geklagt wird, es gäbe cheres Interesse stoßen als im deutschsprachigen Be-
in der Originalsprache noch keine historisch-kriti- reich.) Doch ist schon jetzt davon auszugehen, daß,
sche Gesamtausgabe, so wird mitunter der Eindruck bei aller Zunahme an Differenzierung, durch solche
erweckt, das psychoanalytische Œuvre als solches sei Funde und ihre editorische Verarbeitung die Kontur
gar nicht vollständig zugänglich. Dies ist unzutref- des Œuvres und das Bild des Autors sich nicht
fend. Überdies liegen in Gestalt der Studienausgabe grundstürzend verändern werden. Der im letzten Teil
und des umfangreichen Nachtragsbandes der Gesam- des Buches von Grubrich-Simitis veröffentlichten
282 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Skizze für eine zukünftige deutschsprachige histo- Alexander, Franz: Psychotherapeutische Medizin. Berlin 1951.
Andreas-Salomé, Lou: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines
risch-kritische Gesamtausgabe zufolge würde diese Jahres (1912/1913) [1958]. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt
umfassender sein als die Standard Edition, weil die a. M./Berlin/Wien 1983.
vorwiegend neurowissenschaftlichen Frühschriften Argelander, Hermann: Der Flieger. Eine charakteranalytische
und zumindest die zentralen Konvolute des gewal- Fallstudie. Frankfurt a. M. 1972.
Balint, Michael: Therapeutische Aspekte der Regression. Die
tigen Brief-Korpus einzubeziehen wären. Auch hätte Theorie der Grundstörung. Stuttgart 1970 (engl. 1968).
man die aussagekräftigen Entstehungsvarianten und Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung
frühen Textstufen zu berücksichtigen usw. Nicht zu- [1925]. Frankfurt a. M. 1967.
letzt wurden im Kontext jener Skizze die Prinzipien – /Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik.
Hg. von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1981.
reflektiert, welche die editorische Arbeit leiten könn- Cocks, Geoffrey: Psychotherapy in the Third Reich. The Göring
ten, sowie Mutmaßungen über Ergebnisse und Wir- Institute. New York/Oxford 1985.
kung einer solchen neuen Gesamtausgabe angestellt. Dahmer, Helmut: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud
Deren Verwirklichung freilich bleibt eine Aufgabe der und die Freudsche Linke [1973]. Frankfurt a. M. 1982.
– (Hg.): Analytische Sozialpsychologie. Frankfurt a. M. 1980.
Zukunft. Und es ist festzuhalten: solange die in Lon- Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbe-
don entstandenen Gesammelten Werke nach wie vor wußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen
die umfassendste deutschsprachige Edition sind, ist Prozeß. Frankfurt a. M. 1982.
der Autor Sigmund Freud gleichsam nicht aus dem Fenichel, Otto: Psychoanalytische Neurosenlehre. Freiburg/Ol-
ten 1974–1977 (engl. 1945).
Exil zurückgekehrt. –: 119 Rundbriefe (1934–1945). Hg. von Elke Mühlleitner und
Ilse Grubrich-Simitis Johannes Reichmayr. Frankfurt a. M./Basel 1998.
Ferenczi, Sándor: Versuch einer Genitaltheorie. Leipzig/Wien/
Zürich 1924.
Werkausgaben –: Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem
Gesammelte Schriften (12 Bde.). Bde. 1, 2, 3, 6, 9, 11 hg. von
Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft
Anna Freud und A. J. Storfer; Bde. 4, 5, 7, 8, 10 hg. von
[1932]. In: Ders.: Schriften. Bd. 2. Hg. von Michael Balint.
Anna Freud, Otto Rank und A. J. Storfer; Bd. 12 hg. von
Frankfurt a. M. 1972, 303–313.
Anna Freud und Robert Wälder. Wien 1924–34.
–: Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von
Gesammelte Werke (18 Bde. und unnumerierter Nachtrags-
1932. Hg. von Judith Dupont. Frankfurt a. M. 1988 (frz.
band). Bde. 1–8, 10–14, 16, 17 hg. von Anna Freud, Edward
1985).
Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris und Otto Isakower; Bde. 9,
Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen [1936]. In:
15 hg. von Anna Freud, Edward Bibring und Ernst Kris; Bd.
Die Schriften der Anna Freud, Bd. 1. München 1980,
18 (Gesamtregister, zusammengestellt von Lilla Veszy-Wag-
191–355.
ner) hg. von Anna Freud und Willi Hoffer; Nachtragsband
Fromm, Erich: Autorität und Familie. Sozialpsychologischer
hg. von Angela Richards, unter Mitwirkung von Ilse Grub-
Teil [1936]. In: Hans-Peter Gente (Hg.): Marxismus, Psycho-
rich-Simitis. Bde. 1–17 London 1940–52 (seit 1960 Frank-
analyse, Sexpol. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1970, 251–306.
furt a. M.); Bd. 18 Frankfurt a. M. 1968; Nachtragsband
–: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie.
Frankfurt a. M. 1987.
Frankfurt a. M. 1970.
Studienausgabe (10 Bde. und unnumerierter Ergänzungsband).
Grubrich-Simitis, Ilse: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Doku-
Bde. 1–10 hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards
mente sprechen machen. Frankfurt a. M. 1993.
und James Strachey; Ergänzungsband hg. von Alexander
Kernberg, Otto F.: Borderline-Störungen und pathologischer
Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey und Ilse
Narzißmus. Frankfurt a. M. 1978 (engl. 1975).
Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1969–75.
King, Pearl/Riccardo Steiner (Hg.): Die Freud/Klein-Kontrover-
Werkausgabe in zwei Bänden. Hg. von Anna Freud und Ilse
sen 1941–1945. Stuttgart 2000 (engl. 1991).
Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1978; Nachdr. 2006.
Klein, Melanie: Gesammelte Schriften. Hg. von Ruth Cycon.
Sigmund Freud · Werke im Taschenbuch (28 Bde.). Hg. von Ilse
Stuttgart-Bad Cannstatt 1995–2002.
Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. seit 1991.
Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen
The Standard Edition of the Complete Psychological Works of
Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frank-
Sigmund Freud (24 Bde.). Hg. von James Strachey in Zu-
furt a. M. 1973 (engl. 1971).
sammenarbeit mit Anna Freud, Alix Strachey und Alan Ty-
Kurzweil, Edith: Freud und die Freudianer. Geschichte und Ge-
son, unter Mitwirkung von Angela Richards; Bd. 24 (In-
genwart der Psychoanalyse in Deutschland, Frankreich, Eng-
dexes and Bibliographies) zusammengestellt von Angela Ri-
land, Österreich und den USA. Stuttgart 1993.
chards. London 1953–74.
Kutter, Peter: Moderne Psychoanalyse. Eine Einführung in die
Sigmund Freud-Konkordanz und -Gesamtbibliographie. Zusam-
Psychologie unbewußter Prozesse [1989]. Stuttgart 2000.
mengestellt von Ingeborg Meyer-Palmedo. Frankfurt a. M.
Loch, Wolfgang: Krankheitslehre der Psychoanalyse. Stuttgart
1975. Erw. Aufl.: Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz.
1967.
Bearbeitet von Ingeborg Meyer-Palmedo und Gerhard
Lockot, Regine: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte
Fichtner. Frankfurt a. M. 1989; neuerlich verb. und erw.
der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialis-
Aufl. 1999.
mus. Frankfurt a. M. 1985.
Lohmann, Hans-Martin (Hg.): Das Unbehagen in der Psycho-
Literatur analyse. Eine Streitschrift [1983]. Frankfurt a. M. 1985.
Abraham, Karl: Gesammelte Schriften in zwei Bänden. Hg. von – (Hg.): Die Psychoanalyse auf der Couch [1984]. Frankfurt
Johannes Cremerius. Frankfurt a. M. 1982. a. M. 1986.
Rezeption in Frankreich 283

– (Hg.): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur


Bearbeitung eines unbewältigten Traumas [1984]. Frankfurt
1.2 Rezeption in Frankreich
a. M. 1994.
–: Alexander Mitscherlich mit Selbstzeugnissen und Bilddoku- 1885–1924
menten. Reinbek 1987.
–: Laienanalytiker, Künstler, Bonvivant. Hanns Sachs und sein In Frankreich begann die Rezeption der Freudschen
»Bubi Caligula«. In: Hanns Sachs: Bubi Caligula [1930].
Weinheim 1991, 153–167.
Psychoanalyse mit Verzögerung, und das trotz bester
–: 50 Jahre »Psyche« (1947–1996). In: Tomas Plänkers u. a. Ausgangsbedingungen: Freud, der 1885/1886 bei
(Hg.): Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte An- Jean-Martin Charcot hospitiert hatte, veröffentlichte
fänge, Wiederannäherung, Entwicklungen. Tübingen 1996, zwischen 1893 und 1896 in den beiden renommierte-
753–756.
Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorar-
sten Fachzeitschriften jener Zeit (Archives de neuro-
beiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt logie, Revue neurologique) insgesamt vier französisch
a. M. 1970. geschriebene Artikel (GW I, 37–55, 343–353, 405–
–: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein histo- 422; Freud 1893), in denen er die Notwendigkeit ei-
risch-materialistischer Entwurf. Frankfurt a. M. 1974.
–: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches
ner psychologischen Behandlung hysterischer und
Grundverständnis und Neurowissenschaften. Hg. von Ulrike neurotischer Symptome darlegte. Die Beiträge fan-
Prokop. Stuttgart 2002. den jedoch kaum Resonanz, außer bei Pierre Janet,
Mahler, Margaret: Symbiose und Individuation. Stuttgart 1972 der bereits damals darin nur eine Bestätigung seiner
(engl. 1968).
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philoso-
eigenen Forschungen sah (Mordier 1981, 55). Schon
phischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M. 1970 mit den ersten Veröffentlichungen Freuds setzte also
(engl. 1955). jene heftige Rivalität zwischen Freud und Janet ein,
Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesell- die über Jahrzehnte immer wieder zu Prioritäten-
schaft. München 1963.
–: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden.
streitigkeiten und Plagiatsvorwürfen führen sollte.
Frankfurt a. M. 1965. Erst im Jahr 1907 kommt es in Frankreich zu er-
–: Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medi- sten Veröffentlichungen, die sich mit der Psychoana-
zin I und II. Frankfurt a. M. 1966/1967. lyse befassen. Der Schweizer Alphonse Maeder, Schü-
–: /Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern.
Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967.
ler von Jung, stellt in den Archives de Psychologie das
Mitscherlich, Margarete: Müssen wir hassen? Über den Konflikt Verfahren der Traumdeutung in arg vereinfachender
zwischen innerer und äußerer Realität [1972]. München Weise vor; so berücksichtigt er nicht den Unterschied
1980. zwischen Unbewußtem und Unterbewußtsein und
–: Die friedfertige Frau. Eine psychoanalytische Untersuchung
zur Aggression der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1985.
stellt das Freudsche Vorgehen noch in den Kontext
Parin, Paul/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy: Die Wei- einer hypnotischen Behandlung. Auch Charles La-
ßen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den dame, der 1908 dem französischen Publikum die
Dogon in Westafrika. Zürich 1963. Psychoanalyse als Verfahren der »Ideenassoziation«
–: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und
Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt
nahebringt, sieht darin ein Hilfsmittel für die »psych-
a. M. 1971. ische Begutachtung der Kranken«; auch er stammt
Rank, Otto: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für aus der Zürcher Schule. Weitere Veröffentlichungen
die Psychoanalyse [1924]. Gießen 1998. bis 1911 lassen eine gewisse Methode erkennen: Die
Reich, Wilhelm: Die Funktion des Orgasmus [1927]. Köln
1968.
Psychoanalyse wird verkürzt zu einem in unter-
–: Charakteranalyse [1933]. Köln 1968. schiedlichen Kontexten anwendbaren Verfahren
–: Die Massenpsychologie des Faschismus [1933]. Köln 1971. wahrgenommen; jede Erschütterung der herrschen-
Reiche, Reimut: Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr re- den traditionellen Psychiatrie wird vermieden; die
pressiver Entsublimierung [1968]. Frankfurt a. M. 1971.
Sachs, Hanns: Freud. Meister und Freund. Frankfurt a. M./Ber-
anstößigen Themen wie die Bedeutung der infantilen
lin/Wien 1982 (engl. 1944). Sexualität und die Funktion der Symbolik in der
Winnicott, Donald W.: Von der Kinderheilkunde zur Psycho- Deutung werden ausgeklammert. Dabei spielt die
analyse. München 1976 (engl. 1958). Zürcher Schule um Bleuler und Jung die Rolle eines
–: Familie und individuelle Entwicklung. München 1978 (engl.
1965).
»Filters« (Mordier 1981, 62).
Als erster unvoreingenommener französischer Re-
zipient ist der in Poitiers ansässige Arzt Pierre Ernest
René Morichau-Beauchant anzusehen, und er wird
auch als solcher von Freud gewürdigt (F/J, 417;
GW X, 72). Zwischen 1911 und 1922 verfaßt er meh-
rere Artikel über Homosexualität und Paranoia, über
die Übertragung, zur Epilepsiebehandlung und zur
284 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Autoerotik, wobei die frühen Arbeiten eindeutig und Das Erscheinen der Arbeiten von Régis und Hes-
enthusiastisch mit dem herrschenden Antifreudia- nard scheint die Londoner Niederlage Janets zu be-
nismus brechen, die verpönten Themen wie das der stätigen. Doch in Wirklichkeit vermischen sich in de-
Sexualität aufgreifen und sich im Prioritätsstreit zwi- ren Präsentation einer französischen Version der
schen Freud und Janet auf die Wiener Seite stellen, Freudschen Psychoanalyse Freudsche und Janetsche
die späteren Arbeiten hingegen eine Abwendung von Positionen; Elisabeth Roudinesco spricht von ei-
den Freudschen Positionen und eine Rückkehr zu ei- nem einsickernden »Gelegenheitsjanetismus« (Rou-
nem traditionellen psychiatrischen Verständnis zei- dinesco 1994, 206). Die Kriegs- und unmittelbaren
gen. Morichau-Beauchant hatte sich 1912 der Zür- Nachkriegsjahre bringen eine weitere Verschärfung
cher Gruppe angeschlossen, und obwohl das aus des Tons, in den sich vermehrt nationalistische, rassi-
pragmatischen Gründen geschah, scheint dieser stische und antisemitische Klänge mischen.
Schritt nicht ohne Einfluß geblieben zu sein.
Das Jahr 1913 ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam:
1925–1963
Emmanuel Régis und Angelo Hesnard veröffentli-
chen zunächst als Zeitschriftenartikel und im folgen- Erst Mitte der 1920er Jahre führt die Beschäftigung
den Jahr ausgearbeitet als Buch die erste ausführliche mit Freud in Frankreich zu ersten institutionellen
Darstellung der psychoanalytischen Neurosen- und Konsequenzen. 1925 gründet sich die Gruppe Évolu-
Psychosentheorie, die dennoch nicht minder verkür- tion psychiatrique (EP), die sich auch der Rezeption
zend und vorurteilsbehaftet ist wie die meisten der der Freudschen Ideen widmete; im Jahr 1926 kommt
frühen Stellungnahmen zur Freudschen Psychoana- es dann zur Gründung der Société Psychanalytique de
lyse auf französischem Boden. Sándor Ferenczi un- Paris (SPP), und im folgenden Jahr erscheint die erste
terzieht das Buch einer gründlichen Kritik (Ferenczi Nummer der Revue française de psychanalyse. Zu den
1985) und äußert den Verdacht, daß erkennbare In- zwölf Gründungsmitgliedern (von denen einige auch
konsistenzen darauf zurückzuführen sind, daß von an der EP beteiligt sind) gehören neben dem unbe-
dem einen Autor eine halbwegs redliche Darstellung, strittenen ›Pionier‹ der Psychoanalyse, Hesnard, als
vom anderen hingegen die wenig präzise, aber har- weitere Vertreter einer Psychoanalyse französischen
sche Kritik der Psychoanalyse stammt (ebd., 44). In Stils Édouard Pichon, der sich im weiteren Verlauf
der Tat sollte Hesnard, aus dem später einer der vor allem als Mitverfasser einer französischen Gram-
Gründer und führenden Repräsentanten der franzö- matik einen Namen machen wird, und René La-
sischen Psychoanalyse werden sollte, sich noch über forgue, der lange Zeit den Kontakt zu Freud hält, ehe
Jahre hinweg vor einer klaren Abgrenzung von der er durch Marie Bonaparte ausgestochen werden
unredlichen Kritik drücken, die aus der Feder seines wird, die auch unter den Gründern ist und zuneh-
akademischen Lehrers Régis stammte. mend die Wiener Linie zu vertreten versucht. Darin
Auf dem 17. internationalen Medizinerkongreß in wird sie unterstützt von dem in Polen geborenen und
London kommt es 1913 zur ersten direkten Konfron- in Berlin ausgebildeten Emigranten Rudolf Löwen-
tation zwischen den verschiedenen Vertretern der stein; ebenfalls aus Polen stammt Eugénie Sokol-
»psychodynamischen« Schulen aus Österreich, nicka, und auch sie wurde 1921 von Freud als »seine
Frankreich und der Schweiz. Janet trägt eine scharfe legitime Vertreterin« (Roudinesco 1982/1994, 246)
Gesamtkritik der Freudschen Psychoanalyse vor, wo- nach Paris geschickt. Sie arbeitet zeitweise am Kran-
bei er alles Beachtliche an ihr bereits im eigenen kenhaus Sainte-Anne, wird aber, weil sie keine medi-
Werk vorformuliert findet, alles andere aber um so zinische Ausbildung hat, entlassen. 1934 nimmt sie
umstandsloser verwirft (wozu Freud selbst mehrfach sich das Leben. Aus Genf kommen Raymond de
Stellung nehmen wird; GW X, 72; GW XIV, 37, 44, Saussure, der Sohn des Sprachwissenschaftlers Ferdi-
56). Eine zweite Abgrenzungsfolie, die von Janet und nand de Saussure, und Charles Odier, die sich für die
später auch von anderen immer wieder verwandt internationalistische Ausrichtung der Psychoanalyse
wird, ist die Stigmatisierung der Psychoanalyse als einsetzen.
»Spekulation«, (Ausdruck oder Rest der deutschen) Die zwölf Gründungsmitglieder waren allesamt
»Philosophie« oder sogar als »Metapsychiatrie«, ein keine Theoretiker oder Praktiker von hohem Rang.
von Kraepelin in Umlauf gebrachtes Schimpfwort Geprägt ist die Entwicklung der Gesellschaft von der
(Ferenczi 1985, 29), dem auf französischer Seite der Rivalität zwischen Marie Bonaparte, die mehr und
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit entspricht. Noch mehr die Stellung als legitime Vertreterin der Freud-
auf dem Londoner Kongreß erfährt Janet eine scharfe schen Position in Paris ausfüllt, und den Repräsen-
Replik durch Ernest Jones, der sich der Widersprüche tanten einer französisch-angepaßten Psychoanalyse,
in Janets Vortrag annimmt.
Rezeption in Frankreich 285

v. a. Pichon. Ihre Stellung hat Bonaparte v. a. mit dem einer theoretischen Auseinandersetzung, die sich um
Einsatz ihres Vermögens errungen; ihre größte Lei- die Funktion der Begriffe »Subjekt«, »Ich« und »Per-
stung dürfte der Erwerb der Briefe von Freud an sönlichkeit« in der Psychoanalyse dreht (Lagache
Fließ (inklusive des Entwurfs einer Psychologie) ge- 1961; Lacan 1966).
wesen sein, die sie zudem auch vor Freud selbst in Überschattet wird diese sehr produktive Phase von
Schutz brachte, der sie vernichten wollte. einem Konstruktionsfehler der SFP. Beim Verlassen
1932 schloß sich ein junger Arzt, der mit seiner im der alten SPP hatten die Neugründer auch die Mit-
selben Jahr veröffentlichten Dissertation Über die pa- gliedschaft in der IPA verloren; die neue SFP mußte
ranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persön- diese erst wieder beantragen. Wegen ihres Hasses auf
lichkeit den Nachweis erbracht hatte, sich nicht nur Lacan machte sich Bonaparte gegen eine bedin-
in der damaligen Psychiatrie und Psychopathologie gungslose Aufnahme stark. Das Verfahren zog sich
bestens auszukennen, sondern auch mit den zentra- über fast zehn Jahre hin und endete im Oktober 1963
len Werken Freuds vertraut zu sein, der SPP an: Jac- mit der Aufnahme der SFP in die IPA – unter der
ques Lacan (s. auch S. 357 ff.). Mit seinem Werk und Bedingung der Streichung Lacans und Doltos aus der
seinen Ideen stieß er freilich eher bei den Surrealisten Liste der zugelassenen Lehranalytiker (ersterer wegen
als bei den Pariser Psychoanalytikern auf Resonanz. seiner Kurzzeitsitzungen, letztere wegen anderer Re-
Seine Lehranalyse bei Löwenstein dauerte sechsein- gelverstöße).
halb Jahre und fand nur dadurch ein Ende, daß Lö-
wenstein ein weiteres Mal – Richtung USA – emi-
1964–2005
grieren mußte (Roudinesco 1993/1996, 118–124). Pi-
chon sorgte dafür, daß Lacan 1938 als Analytiker und Lacan war genötigt, eine neue Institution zu grün-
Vollmitglied der SPP anerkannt wurde. den. Das geschah im Jahr 1964: die École freudienne
Der Aufstieg Lacans begann nach dem Ende des de Paris. Begleitet wurde er von Serge Leclaire, Oc-
Zweiten Weltkrieges. 1945 war von den wichtigen tave Mannoni, Maud Mannoni, Moustapha Safouan
Protagonisten der Gründergeneration nur noch Bo- und vielen Jüngeren, die sich noch in Ausbildung be-
naparte in maßgeblicher Funktion tätig: Pichon war fanden. Wichtige Schüler wandten sich von ihm ab:
1940 gestorben; Hesnard geriet wegen seiner Weige- Jean Laplanche und J.-B. Pontalis schlossen sich der
rung, eine Lehranalyse durchzuführen, ins Abseits, gleichfalls aus der SFP hervorgegangenen Association
und Laforgue hatte sich durch Unstimmigkeiten in psychanalytique de France (AFP) an, der auch Laga-
seiner Haltung gegenüber der deutschen Besatzungs- che, Wladimir Granoff und Daniel Widlöcher ange-
macht in Mißkredit gebracht. Löwenstein und de hören. 1969 erfährt die Schule Lacans selbst eine Ab-
Saussure waren und blieben im amerikanischen Exil, spaltung: Wegen des Streit um die »passe« verlassen
Odier war in die Schweiz zurückgekehrt. Bonapartes François Perrier, Piera Aulagnier, Cornelius Castoria-
dezidierte Feindschaft gegen Lacan konnte nicht ver- dis und Jean-Paul Valabrega die EFP und gründen die
hindern, daß dieser brillante Kopf einer zweiten Ge- Organisation psychanalytique de langue françoise
neration französischer Psychoanalytiker auch institu- (OPLF) oder den Quatrième Groupe. Die »passe«
tionell eine führende Rolle in der Nachkriegspsycho- (wörtlich: »Übergang«) war Lacans Versuch einer Re-
analyse spielen sollte. form der Lehranalyse und des Zulassungsverfahrens
1953 kommt es zur Spaltung der SPP (der einzigen zum Analytiker. Als Konsequenz aus seinen Reflexio-
Spaltung in der französischen Psychoanalyse zu Leb- nen über das »Begehren des Analytikers« hatte er auf
zeiten Lacans, bei der dieser weder Subjekt noch Ob- der Selbstautorisierung des Analytikers bestanden
jekt war), und zwar wegen der Frage der Laienana- und nach einem Verfahren gesucht, das diese gewähr-
lyse. Zusammen mit Daniel Lagache und Françoise leisten konnte. In der »passe« hatte ein Kandidat, der
Dolto schließt sich Lacan der neugegründeten Société sich um den Titel eines Analytikers der École bewarb,
française de psychanalyse (SFP) an, in der sich auch ein sog. »passant«, gegenüber zwei Analytikern, »pas-
die Mehrzahl der Mitglieder der SPP einfindet, vor seurs« genannt, Rechenschaft von seiner Analyse ab-
allem die jüngeren, die zumeist bei Lacan in Analyse zulegen; die Aufgabe der »passeurs« war es, den In-
sind (der u. a. wegen seiner Praxis der Kurzsitzungen halt besagten Zeugnisses der letztlich entscheidenden
eine größere Anzahl an Analysanden aufnehmen Jury vorzutragen. Das Experiment geht gründlich
kann). Die Jahre 1953 bis 1963 sind wesentlich von schief, was Lacan 1978 eingesteht. 1980 löst Lacan die
der Lehre Lacans und seinem Seminar geprägt. 1958 EFP auf und gründet 1981 die École de la Cause freu-
kommt es zwischen Lagache, der die Verbindung von dienne, an deren Arbeit er selbst, alt und krank, nicht
Psychoanalyse und Psychologie sucht, und Lacan zu mehr teilnimmt. Lacan stirbt am 9. September 1981.
286 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Innerhalb des lacanianischen Zweigs der französi- tät dieser frühen Übersetzungen wurde vor allem von
schen Psychoanalyse ist es in den folgenden Jahren zu Lacan immer wieder bemängelt, der ihnen generell
vielen Abspaltungen und Neugründungen kleinerer ein fehlendes Theorie- und Begriffsgerüst sowie
Gruppen gekommen. Im Gegenzug zu dieser massi- schwere sachliche Fehler im einzelnen vorwarf, was
ven Zersplitterung ist der Schwiegersohn und Nach- aber erst in den 1980er Jahren dazu führte, daß es in
laßverwalter Lacans, Jacques-Alain Miller, um Inter- der von J.-B. Pontalis bei Gallimard geleiteten Reihe
nationalisierung bemüht. Am 1. Februar 1992 wird »Connaissance de l’inconscient« zu einer höheren
die Association mondiale de psychanalyse (AMP) ge- Ansprüchen genügenden Neuübersetzung einiger
gründet – ein sehr ambitioniertes Unterfangen ange- wichtiger Werke kam. Jean Laplanche, der zuvor
sichts dessen, daß der Lacanianismus psychoanaly- noch zusammen mit Pontalis das renommierte Voka-
tisch eigentlich nur in Lateinamerika hatte Fuß fas- bular der Psychoanalyse verfaßt hatte, verfolgte einen
sen können. anderen Weg, nämlich den einer Gesamtausgabe der
Einen ganz anderen Ansatz, um der Zersplitterung Werke Freuds. Seit 1992 erscheint, herausgegeben
der französischen Psychoanalytiker zu begegnen, un- von André Bourguignon (1996 verstorben), Pierre
ternimmt René Major. Mit der Gruppe und der Zeit- Cotet und Jean Laplanche, die auf 21 Bände ange-
schrift Confrontations Freud bietet er einen nicht in- legte Edition der Œuvres Complètes; bis 2005 sind 13
stitutionell gebundenen Raum an, in dem Mitglieder Bände publiziert worden; 1989 war bereits ein Be-
der unterschiedlichsten Gruppen und Vereinigungen gleitband traduire Freud herausgekommen. Die
sich austauschen können. Auch Jacques Derrida Übersetzungen werden in Dreierteams erstellt, zu-
nimmt daran teil. 1989 lanciert Leclaire einen Aufruf sammengesetzt aus einem Romanisten, einem Ger-
zur Gründung einer unabhängigen Association pour manisten und einem Psychoanalytiker (die sich an
une instance des psychanalystes (APUI), der folgenlos enge terminologische Vorgaben halten müssen), und
bleibt. Mehr Geschick in der Wahl des günstigen aufwendig revidiert. Auffällig ist das Bemühen, be-
Zeitpunkts beweist Major mit der Einberufung der stimmte idiomatische Eigenheiten der Freudschen
Generalstände der Psychoanalyse in Paris im Jahr Sprache auch auf Kosten der leichteren Verständlich-
2000; die Veranstaltung wird ein großer Erfolg. keit wiederzugeben, aber ebenso auch der Wunsch,
Das Leben der beiden der IPA angehörenden Ge- die Lacansche Terminologie zu unterlaufen: So wird
sellschaften, SPP und AFP, verläuft in weniger tur- etwa Wunsch nicht mehr wie in allen früheren Freud-
bulenten Bahnen. Immerhin hat der »rechtmäßige« Übersetzungen durch désir wiedergegeben, sondern
Zweig der französischen Psychoanalyse einen Präsi- durch das weit schwächere souhait. Entsprechend kri-
denten und einen Vizepräsidenten der IPA hervor- tisch wurde die Gesamtausgabe teilweise in Frank-
gebracht: Daniel Widlöcher und André Green. Und reich aufgenommen (Roudinesco/Plon 1997, 1066).
Frankreich kann für sich beanspruchen, die höchste
Rate an Psychoanalytikern, bezogen auf eine Million Literatur
Barande, Ilse/Robert Barande: Histoire de la psychanalyse en
Einwohner, zu haben (Roudinesco/Plon 1997, 325). France. Toulouse 1975.
Chatel, Marie-Magdeleine: Passe. In: Pierre Kaufmann (Hg.):
L’apport freudien. Éléments pour une encyclopédie de la
Freuds Werk in Frankreich psychanalyse. Paris 1993, 299–312.
Ellenberger, Henri: Die Entdeckung des Unbewußten [1973].
Die ersten Übersetzungen von Werken Freuds er- Zürich 1985 (engl. 1970).
schienen Anfang der 1920er Jahre. I. Meyersons Fages, Jean-Baptiste: Geschichte der Psychoanalyse nach Freud.
Übersetzung der Traumdeutung z. B. kam 1926 her- Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981 (frz. 1976).
aus. Nach der Gründung der SPP beschleunigte sich Ferenczi, Sándor: Die psychiatrische Schule von Bordeaux
über die Psychoanalyse. In: Ders.: Bausteine zur Psychoana-
der Prozeß des Übersetzens; eine Vielzahl von Wer- lyse IV [1938]. Frankfurt a. M./Wien/Berlin 1985, 12–45.
ken wurde von Marie Bonaparte allein oder in Zu- Freud, Sigmund: Les diplégies cérébrales infantiles. In: Revue
sammenarbeit mit A. Berman oder Rudolf Löwen- neurologique 8 (1893), 177–183.
stein übersetzt. Zwar wurde nach der Gründung der Hesnard, Angelo/Emmanuel Régis: La Psychanalyse des névro-
ses et des psychoses, ses applications médicales et extra-médi-
SPP eine Linguistische Kommission zur Vereinheitli- cales. Paris 1914.
chung des französischen psychoanalytischen Vokabulars Janet, Pierre: Etat mental des hystériques. Paris 1894.
eingerichtet, die aber der Uneinheitlichkeit der ter- –: La Psychanalyse. In: Journal de psychologie normale et pa-
minologischen Entscheidungen in diesen frühen thologique (1914), 1–36, 97–130.
Lacan, Jacques: Remarque sur le rapport de Daniel Lagache:
Übersetzungen nur bedingt abhelfen konnte – u. a. Psychanalyse et structure de la personnalité. In: Ders.:
weil Pichon, der diese Kommission leitete, selbst Écrits. Paris 1966, 647–684.
kaum als Übersetzer in Erscheinung trat. Die Quali- Ladame, Charles: L’Association des idées et son utilisation
Rezeption in den angloamerikanischen Ländern 287

comme méthode d’examen dans les maladies mentales. In:


L’Encephale (1908), 180–195.
1.3 Rezeption in den anglo-
Lagache, Daniel: Psychanalyse et structure de la personnalité.
In: La Psychanalyse (1961), 5–58.
amerikanischen Ländern
Maeder, Alphonse: Essai d’interprétation de quelques rêves. In:
Archives de psychologie (1907), 354–375.
Der Blick auf die Freud-Rezeption in den USA und in
–: Contribution à la psychopathologie de la vie quotidienne. Großbritannien ist nicht frei von Ambivalenz: Einer-
In: Archives de psychologie (1907) 149–152. seits bedeutete die Aufnahme Freuds und vieler sei-
Major, René (Hg.): États généraux de la psychanalyse. Juillet ner Anhänger und Schüler in den angloamerikani-
2000. Paris 2003.
Mijolla, Alain de: Freud en français jusqu’en 1940. In: Revue
schen Ländern zweifellos die Rettung der Psychoana-
internationale d’histoire de la psychanalyse (1991), lyse nach ihrer Vertreibung und Zerschlagung durch
283–289. den Nationalsozialismus in Deutschland, Österreich
Mordier, Jean-Pierre: Les débuts de la psychanalyse en France. und den okkupierten Ländern Europas. Andererseits
1895-1926. Paris 1981.
Morichau-Beauchant, Pierre Ernest René: Le ›Rapport affectif‹
hatte diese Rettung auch ihren Preis, indem sich das
dans la cure des psychonévroses. In: Gazette des hôpitaux psychoanalytische Denken in den neuen Kontexten
civils et militaires. 15. 11. 1911, 1845–1849. substantiell veränderte und sich ihnen anpaßte. Rus-
Prévost, Claude: Janet, Freud et la Psychologie clinique. Paris sell Jacoby spricht vom »Triumph des Konformis-
1973.
Roudinesco, Elisabeth: Histoire de la Psychanalyse en France. 1.
mus« (Jacoby 1983/1985).
1885–1939 [1982]. Paris 1994.
–: Histoire de la psychanalyse en France. 2. 1925–1985. Paris
1986. Freud-Rezeption in den USA
–: Wien – Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frank-
reich. Weinheim/Berlin 1994. Wie wohl kaum ein anderes Land zeichnen sich die
–: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines
Denksystems. Köln 1996 (frz. 1993).
USA durch einen offenen intellektuellen Diskurs aus,
– /Michel Plon: Dictionnaire de la psychanalyse. Paris 1997. der sich in hohem Maße neuen, außergewöhnlichen
Hans-Dieter Gondek Ideen gegenüber aufgeschlossen und zugänglich er-
weist. So gewann auch die Psychoanalyse in den Ver-
einigten Staaten rasch eine hohe Popularität und ver-
breitete sich in Psychiatrie und Medizin ebenso wie
später in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Be-
reits vor dem Ersten Weltkrieg fanden psychoanalyti-
sche Ideen und Themen große Resonanz beim »pro-
gressive movement«, einer Bewegung von Politikern
und Intellektuellen, welche die amerikanischen Wert-
und Moralvorstellungen durch Industrialisierung
und wirtschaftliche Prosperität bedroht sahen und
dieser Entwicklung sowohl durch soziale Reformen
als auch durch Veränderung des Individuums mit-
hilfe von Psychotherapie und Erziehung begegnen
wollten. So entstand in jenen Jahren eine Vielzahl
von psychotherapeutischen Schulen. Die Psychoana-
lyse wurde als Verfahren betrachtet, das zum einen
dem damaligen Trend zu einer »dynamischen Psych-
iatrie« entsprach und zum anderen einen Beitrag zur
moralischen Erziehung leistete, indem es die Subli-
mierungs- und Selbststeuerungsfähigkeit des einzel-
nen förderte (vgl. Putnam 1915). Zu dieser eigen-
willigen Rezeption der Psychoanalyse scheint auch
Freud selbst mit seinen Vorlesungen an der Clark
University (GW VIII, 1–60) im Jahr 1909 beigetragen
zu haben. Er bot darin eine theoretisch stark verein-
fachte, entsexualisierte Version der Psychoanalyse
und rückte vor allem ihren therapeutischen Nutzen
in den Mittelpunkt. Daß die Originalschriften Freuds
den meisten amerikanischen Lesern aufgrund von
288 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Sprachproblemen nicht zugänglich waren, führte zu senschaftlichen Stoff, psychologischen, kulturhistori-


weiteren Verständnisschwierigkeiten. Auch gaben die schen, soziologischen« (ebd., 288) zu den zentralen
englischen Übersetzungen das Original nicht immer Ausbildungsinhalten. Die wirkliche Scheidungs-
getreu wieder; so fügte etwa Abraham Arden Brill, grenze verlaufe nicht zwischen der ärztlichen Psycho-
ein junger, aus Österreich-Ungarn emigrierter Arzt, analyse und ihren Anwendungen, sondern »zwischen
der später viele Jahre als Präsident der New Yorker der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren An-
Psychoanalytischen Gesellschaft tätig war, Freuds wendungen auf medizinischem und nichtmedizini-
Texten hin und wieder Selbstgeschriebenes hinzu schem Gebiet« (ebd., 295). Diese Haltung wurde von
(May 1982, 491). Da Freud weder eine Klinik noch den amerikanischen Analytiker/innen nicht geteilt.
ein Forschungsinstitut leitete, reisten einige an der Ihre Ablehnung der Laienanalyse beruhte wohl im
Psychoanalyse interessierte amerikanische Psychiater wesentlichen auf pragmatischen Gründen, um z. B.
nach Zürich, um sich dort weiterbilden zu lassen. Sie die Zulassung und Anerkennung von Kliniken nicht
lernten die Psychoanalyse somit in der Fassung Carl zu gefährden. Das hatte erhebliche Konsequenzen für
Gustav Jungs kennen. Freud selbst ›analysierte‹ einige eine Reihe emigrierter europäischer Kolleg/innen, die
Kollegen auf Kongressen oder auf dem Wege des vor dem Nationalsozialismus geflohen waren und
brieflichen Austauschs. nun eine medizinische Ausbildung nachholen muß-
Die 1920er Jahre entwickelten sich zu einer Blüte- ten, um Mitglieder der psychoanalytischen Gesell-
zeit der Psychoanalyse in den USA. Sie diente nun schaften zu werden.
nicht mehr zu moralischen Zwecken, sondern viel- Diese Gesellschaften hatten sich inzwischen in vie-
mehr zur Legitimation von Befreiungs- und Emanzi- len großen Städten gebildet und zur American Psy-
pationsbewegungen und wurde Teil des liberalen öf- choanalytical Association (APA) zusammengeschlos-
fentlichen Diskurses; in dieser Lesart unterstützte sie sen, die ihre Unabhängigkeit in Ausbildungs- und
das amerikanische Ideal des pursuit of happiness Zulassungsfragen von der Internationalen Psycho-
(Roudinesco 2000/2004). Als Grund für die erstaun- analytischen Vereinigung (IPA) anstrebte und
liche Verbreitung der Psychoanalyse im ersten Drittel schließlich durchsetzte (zum komplexen Institutio-
des 20. Jh.s sieht Nathan G. Hale ihre Wandelbarkeit, nalisierungsprozeß in den USA vgl. Hale 1971; May
die nicht zuletzt auf Freuds widersprüchliche Theo- 1982). Doch nicht nur in Ausbildungsfragen, die im
riebildung zurückgeht: »Psychoanalysis could be seen übrigen auch den Theoriebildungsprozeß wesentlich
in its early guise as an optimistic movement of sexual beeinflußten, unterschied sich die amerikanische
and cultural reform or, from the perspective of Psychoanalyse von der europäischen; es wurden auch
Freud’s final papers, as a stoical and tragic vision of Patient/innen mit tiefgreifenderen, etwa psychoti-
unending conflict« (Hale 1995, 381). In dieser Zeit schen, Erkrankungen behandelt, was zu einer ent-
fand sie auch Eingang in die Sozialwissenschaften, sprechenden Änderung des therapeutischen Vorge-
z. B. in Psychologie, Soziologie und Anthropologie hens führte (geringere Behandlungsfrequenz, kürzere
(Cooley, Mead, Benedict, Kardiner, Parsons). Doch Therapiedauer, Behandlung im stationären Kontext)
verhinderte die zunehmende Medizinalisierung der (vgl. Roudinesco 2000/2004).
amerikanischen Psychoanalyse, daß die breite sozial- In den 1940er Jahren setzten Abgrenzungs- und
wissenschaftliche Rezeption auf die weitere Theorie- Spaltungsbewegungen ein. Im New Yorker Institut
bildung der Psychoanalyse Einfluß nahm. hatten sich bereits zwei entgegengesetzte Gruppie-
Während sich Freud noch in seiner »Selbstdarstel- rungen gebildet, eine der »klinischen Orthodoxie«
lung« von der Wertschätzung und Anerkennung der um Lawrence Kubie, Sándor Radó und Bertram Le-
amerikanischen Kolleg/innen begeistert zeigte (GW win und eine der »kulturalistischen Dissidenz« um
XIV, 78), traten zunehmend Konflikte auf. Diese ent- Karen Horney und Harry Stack Sullivan, der die in-
zündeten sich an der Frage der sog. Laienanalyse. In terpersonalen Beziehungen und das soziale Selbst in
Europa wurde dieses Problem durch die – später fal- Anlehnung an George Herbert Mead und William
lengelassene – Anklage gegen Theodor Reik wegen James in den Blickpunkt rückte. Nachdem Horney
»Kurpfuscherei« akut, und Freud befürwortete von keine Kandidat/innen mehr ausbilden durfte, verließ
Anfang an energisch die psychoanalytische Ausbil- sie das Institut und gründete ein neues. Ihre Bücher,
dung und Tätigkeit von Nichtmediziner/innen (GW mit denen sie einer biologistischen Lesart der Psy-
XIV, 207–296). Freud wollte verhindern, daß aus der choanalyse entgegentrat und aktuelle gesellschaftli-
Analyse ein Spezialfach der Medizin wird, und »ver- che Einflüsse auf die psychische Struktur und das
hütet wissen, daß die Therapie die Wissenschaft er- Verhalten und Erleben des einzelnen betonte, hatten
schlägt« (ebd., 291). So rechnete er auch »geisteswis- nicht nur erheblichen Wirkung bei amerikanischen
Rezeption in den angloamerikanischen Ländern 289

Intellektuellen, sondern entwickelten sich auch zu Ansätze von Freud, Hartmann und Erikson zu einer
Bestsellern, die eine große Leserschaft ansprachen ›allgemeinen Psychologie‹ zu verbinden und sich der
(Kurzweil 1992). akademischen Psychologie anzunähern. Die weitere
Die Erfahrung von Verfolgung, Krieg und Exil ichpsychologische Theoriebildung entfernte sich
führte zu einem Paradigmenwechsel der psychoana- durch Einbeziehung von Ergebnissen der Neurophy-
lytischen Theoriebildung: An die Stelle der innerpsy- siologie, der Psychologie und der Ethologie zuneh-
chischen Konflikte und des Triebantagonismus trat mend von der Psychoanalyse als Konfliktpsychologie
die Betonung des Ich und des Selbst als relativ auto- und den Freudschen metapsychologischen Annah-
nomen, realitätsadäquaten psychischen Instanzen. men, die als veraltet und zu stark an Physik und Bio-
Die menschlichen Fähigkeiten zur Adaptation und logie orientiert zurückgewiesen wurden. Von diesen
zur Restitution nach extremtraumatischen Erfahrun- theoretischen Kontroversen zunächst unberührt
gen standen im Zentrum dessen, was Ichpsychologie blieb die klinische Ichpsychologie (K. R. Eissler, Mer-
genannt wurde, deren Hauptvertreter Heinz Hart- ton Gill u. a.), die sich in den Auseinandersetzungen
mann, Rudolph Loewenstein und Ernst Kris waren. mit dem therapeutischen Vorgehen der ›Dissidenten‹,
Diese Richtung, die sich am positivistischen Wissen- das als suggestiv und manipulativ kritisiert wurde,
schaftsideal orientierte, blieb etwa zwei Jahrzehnte intensiv mit der ›klassischen‹ Behandlungspraxis be-
lang bestimmend für das psychoanalytische Denken schäftigten. Im Lauf der Zeit wurden auch bisher
in den USA. Wesentliche Veränderungen der Psycho- triebtheoretisch formulierte Krankheitsbilder ichpsy-
analyse gingen von der Chicagoer Gruppe um Franz chologisch revidiert.
Alexander aus, die Behandlungskonzepte für psycho- In diesem Kontext begann auch die Debatte um
somatische Erkrankungen und Kurzzeittherapien den Narzißmus, die zwischen Heinz Kohut und Otto
entwickelte und damit die Frage der Indikation für F. Kernberg geführt wurde. Kohut entwickelte aus der
die ›klassische‹ psychoanalytische Therapie aufwarf. Kritik an der Ichpsychologie die sog. Selbstpsycho-
Diese Debatten um Modifikationen der psychoana- logie, bei der weniger Anpassungsprozesse im Vor-
lytischen Theorie und Therapie wurden etwa 15 dergrund stehen als vielmehr die narzißtische Beset-
Jahre lang so intensiv geführt, daß Nathan Hale zung des Selbst, auf der die Persönlichkeitsentwick-
(1995) sie gar als psychoanalytische »Bürgerkriege« lung basiert (Kohut 1971/1973). Während Kohut
(»civil wars«) zwischen ›orthodoxen‹ bzw. ›klassi- narzißtische Größenphantasien im Rahmen einer
schen‹ Analytikern und ›Revisionisten‹ bezeichnete. ›normalen‹ Entwicklung thematisierte, befaßte sich
Innerhalb der Ichpsychologie spielen entwick- Kernberg vorwiegend mit den pathologischen For-
lungspsychologische Ansätze eine bedeutende Rolle, men des Narzißmus (Kernberg 1975/1978). Er be-
die sich aus der Beobachtung und Therapie von Kin- tonte, daß sowohl der normale als auch der patholo-
dern ergeben. So formulierte René A. Spitz wichtige gische Narzißmus in der Objektbeziehung wurzele,
Einsichten, indem er als erster auf die Bedeutung von wobei dies nicht eine interpersonale Beziehung
emotionalen Austauschprozessen zwischen Mutter meint, sondern in Anlehnung an Melanie Klein die
und Kind für die Bildung der psychischen Struktur internalisierte Beziehung von Selbst- und Objektre-
des Kindes hinwies und damit die Grundlagen für die präsentanzen. In seiner psychoanalytischen Objekt-
spätere Säuglingsforschung legte (Spitz 1959/1972). beziehungstheorie suchte er die Freudsche Triebtheo-
Margaret Mahler konzeptualisierte die psychische rie mit Kleinianischen Konzepten und Mahlers
Geburt des Menschen, bei der Individuation und Se- Entwicklungspsychologie zu verbinden (Kurzweil
paration komplexe Entwicklungsaufgaben für das 1992).
Kind darstellen (Mahler 1968/1972; Mahler/Pine/ Seit etwa 1960 wurde verstärkt von einer ›Krise‹
Bergman 1975/1978). Entwicklung als lebenslangen der Psychoanalyse in den USA gesprochen und viel-
Prozeß thematisierte Erik H. Erikson im Hinblick auf fältige Symptome und Mängel der psychoanalyti-
die Konstitution von Identität, mit der er auf das schen Organisationen, der Therapie sowie der Theo-
Wechselspiel von innerpsychischen und gesellschaft- rie benannt (May 1982). Das Interesse junger Me-
lichen Prozessen aufmerksam machte (Erikson diziner/innen an einer Ausbildung und an einer
1950/1961). Mitgliedschaft in der APA nahm ab; man beklagte die
Die Ichpsychologie in der Fassung von Heinz Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse, die Effek-
Hartmann (1964/1972) und David Rapaport tivität der Therapie blieb hinter den Erwartungen zu-
(1942/1977) setzte sich schließlich als dominante rück. Um dem Kandidatenmangel zu begegnen, wur-
Richtung durch und bildete den mainstream in der den auch Nichtmediziner/innen zur Ausbildung zu-
amerikanischen Psychoanalyse. Rapaport suchte die gelassen – zunächst Personen, die in der Forschung
290 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

besonders qualifiziert waren, später auch andere In- Er kam zunächst mit Freuds frühen Schriften in Be-
teressenten. Gleichwohl blieb die klinisch-therapeuti- rührung, bevor er in Zürich bei C. G. Jung hospitierte
sche Ausrichtung weiterhin dominant innerhalb der und schließlich eine Lehranalyse bei Sándor Ferenczi
amerikanischen Psychoanalyse. machte. Orientiert an der Tradition des britischen
Weitgehend unabhängig davon etablierten sich Empirismus, stimmte er nicht immer mit Freuds An-
psychoanalytische Konzepte auch in anderen Kontex- sichten überein, sah aber in solchen Differenzen das
ten. Seit den 1970er Jahren haben psychoanalytische Kennzeichen lebendiger Wissenschaft (King/Holder
Ansätze – v. a. in der Lesart Jacques Lacans – großen 1992). Im Londoner Institut wurden, gegen Jones’
Einfluß auf universitäre Diskurse, wobei die Rezep- Intentionen, auch Nichtmediziner/innen mit der
tion Lacans im wesentlichen in den literaturwissen- Psychoanalyse vertraut gemacht, z. B. Alix und James
schaftlichen Instituten stattfindet (Roudinesco 2000/ Strachey, der Übersetzer der Standard Edition der
2004). Der interdisziplinäre Genderdiskurs brachte Werke Freuds.
auch innerhalb der Psychoanalyse Bewegung in die Von besonderem Interesse in London war die Be-
Theoriebildung. So führte etwa die Kritik an der obachtung und Therapie von Kindern, die großen
Freudschen Weiblichkeitskonzeption durch Analyti- Einfluß auch auf die Behandlung von Erwachsenen
kerinnen wie Jessica Benjamin zur Begründung einer und die Entwicklung theoretischer Konzepte aus-
differenztheoretischen, ›relationalen‹ Psychoanalyse übte. Die beiden Pionierinnen Anna Freud und Me-
(Benjamin 1993/1996). Ebenso konstruktiv sind auch lanie Klein unterschieden sich v. a. in der Einschät-
Freud-Rezeptionen außerhalb der psychoanalyti- zung der Bedeutung von psychischer und äußerer
schen Community wie die von Judith Butler im Hin- Realität. Während Klein die unbewußten Phantasien
blick auf die Konzeptualisierung von Geschlechtsi- in den Mittelpunkt stellte, waren es bei Anna Freud
dentität und Objektwahl (Butler 1993/1995). Doch die Abwehrprozesse als Ich-Leistungen. Auch die Be-
war jenseits dieser positiven Aufnahme Ende der tonung aggressiver und sadistischer Manifestationen
1980er, Anfang der 1990er Jahre ein öffentliches in der infantilen Entwicklung und der Versuche ihrer
»Freud-bashing«, eine ebenso grundlose wie absurde Wiedergutmachung ist eine Besonderheit der Kleini-
Diffamierung Freuds und der Psychoanalyse insge- anischen Psychoanalyse (vgl. King/Steiner 1991/
samt zu verzeichnen, die ihren Ursprung in der sog. 2000; Grosskurth 1987/1993).
»recovered memory«-Bewegung besaß und der Psy- Doch führten diese unterschiedlichen Sichtweisen
choanalyse Indifferenz gegenüber sexuellem Miß- nicht, wie etwa in den Vereinigten Staaten, zu Spal-
brauch von Kindern vorwarf sowie das psychoana- tungen, sondern zu fruchtbaren theoretischen Kon-
lytische Konzept infantiler Sexualität angriff. Wenn- troversen, die auch viele ausländische Analytiker in-
gleich unter negativem Vorzeichen, scheinen derar- teressierte. Neben diese beiden Gruppierungen – die
tige öffentlichen Attacken der Psychoanalyse jedoch A-Gruppe um Melanie Klein und die B-Gruppe um
eine gewisse Bedeutsamkeit zuzusprechen und ihren Anna Freud – trat noch eine weitere: die Gruppe der
kritischen Stachel wiederzubeleben, den ihre Anhän- sog. »Independents« um Michael Balint, Ronald
ger häufig längst aufgegeben haben. Fairbairn und später Donald Winnicott, die der ur-
sprünglichen Freudschen Psychoanalyse nahestan-
den. Die Kleinianische Gruppe übte große Anzie-
Freud-Rezeption in Großbritannien
hung auf die lateinamerikanische Psychoanalyse aus
Im Unterschied zu den USA, in denen die Psycho- und erwies sich zudem als außerordentlich theorie-
analyse große Popularität erlangte und sich im gan- produktiv, wie etwa Hanna Segal, die das Werk
zen Land verbreitete, blieb sie in Großbritannien im Kleins einem größeren Kreis erschloß, oder Wilfred
wesentlichen auf ein Zentrum – London – be- Bion belegen, der sich dem unbewußten Denken und
schränkt, in dem sie allerdings eine enorme Produk- der Gruppenanalyse widmete. Prominent aus dem
tivität im Hinblick auf Theoriebildung und klinische Kreis der B-Gruppe wurde Joseph Sandler mit seinen
Praxis entfaltete. Dem hohen Ansehen des britischen Forschungen an der Hampstead Clinic. Im Kontext
Instituts innerhalb der internationalen psychoanaly- der »Unabhängigen« entwickelte Fairbairn seine
tischen Bewegung steht die eher zögernde Anerken- Theorie der Objektbeziehungen. Balint, der wie Fe-
nung in England selbst gegenüber – weder in der renczi aus Ungarn stammte und dessen Ansatz wei-
Psychiatrie noch in der Psychologie vermochte sich terführte, kritisierte das Konzept des primären Nar-
die Psychoanalyse durchzusetzen (Dare 1982). Als zißmus und betonte die Objektorientierung der
zentrale Figur gilt der Freud-Schüler und -Biograph Triebe. Damit näherte er sich den Vorstellungen
Ernest Jones, der die britische Gesellschaft gründete. Winnicotts, einem früheren Kinderarzt, der aus der
Rezeption in den angloamerikanischen Ländern 291

Behandlung von Kindern wichtige Anregungen für Klein, Melanie: Gesammelte Schriften. Stuttgart 1995 (engl.
1975).
die Psychoanalyse bezog. Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen
Die wohl wertvollste wissenschaftlich-publizisti- Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frank-
sche Aktivität des Londoner Instituts liegt in der För- furt a. M. 1973 (engl. 1971).
derung der Übersetzung des Freudschen Werkes Kris, Ernst: Die Aufdeckung von Kindheitserinnerungen in der
Psychoanalyse. In: Psyche 31 (1977), 732–768 (engl. 1956).
durch James Strachey, deren Resultat die 24bändige Kubie, Lawrence: Psychoanalyse ohne Geheimnis. Hamburg
Standard Edition ist, die der Edition der deutschen 1956 (engl. 1936).
Gesammelten Werke Freuds in mancherlei Hinsicht Kurzweil, Edith: USA. In: Kutter 1992, 186–234.
überlegen ist. Seit vielen Jahren wird freilich über –: Freud und die Freudianer. Geschichte und Gegenwart der
Psychoanalyse in Deutschland, Frankreich, England, Öster-
eine Revision dieser Übersetzung diskutiert, weil ei- reich und den USA. Stuttgart 1993.
nige zentrale psychoanalytische Konzepte wie etwa Kutter, Peter (Hg.): Psychoanalysis International. Bd. 1. Stutt-
der Begriff des »Triebes« oder der »Nachträglichkeit« gart 1992.
mißverständlich ins Englische übertragen wurden. Lewin, Bertram: Das Hochgefühl. Zur Psychoanalyse der geho-
benen, hypomanischen und manischen Stimmung. Frankfurt
Eine zweite, die Revised Standard Edition, die um die a. M. 1982 (engl. 1950).
zwischenzeitlich aufgefundenen Texte Freuds erwei- Loewenstein, Rudolph M.: Das Problem der Deutung. In: Psy-
tert wird und die Debatte um strittige Übersetzungs- che 22 (1968), 187–198 (engl. 1951).
fragen aufnimmt, steht vor dem Abschluß. Mahler, Margaret: Symbiose und Individuation. Stuttgart 1972
(engl. 1968).
– /Fred Pine/Anni Bergman: Die psychische Geburt des Men-
Literatur schen. Frankfurt a. M. 1978 (engl. 1975).
Balint, Michael: Die Urformen der Liebe und die Technik der May, Ulrike: Psychoanalyse in den USA. In: Eicke 1982,
Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1966 (engl. 1947). 482–527.
Benjamin, Jessica: Phantasie und Geschlecht. Psychoanalytische Putnam, James Jackson: Human Motives. Boston 1915.
Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz. Rapaport, David: Gefühl und Erinnerung. Stuttgart 1977 (engl.
Frankfurt a. M. 1996 (engl. 1993). 1942).
Bion, Wilfred R.: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. – /Merton Gill: The Points of View and Assumptions of Meta-
Stuttgart 1971 (engl. 1961). psychology. In: International Journal of Psychoanalysis 40
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Eicke, Dieter (Hg.): Tiefenpsychologie. Bd. 2. Weinheim 1982. Segal, Hanna: Wahnvorstellung und künstlerische Kreativität.
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Horney, Karen: Neue Wege in der Psychoanalyse. München
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Jacoby, Russell: Die Verdrängung der Psychoanalyse oder Der
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1983).
Kernberg, Otto F.: Borderline-Störungen und pathologischer
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gart 1981 (engl. 1976).
King, Pearl/Alex Holder: Great-Britain. In: Kutter 1992,
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King, Pearl/Ricardo Steiner (Hg.): Die Freud/Klein-Kontrover-
sen 1941–1945. Stuttgart 2000 (engl. 1991).
292 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

1.4 Institutionalisierung ist oft durch Untergliederung oder durch Institutsbil-


dungen mit deutlich unterschiedlichen theoretischen
der Psychoanalyse Orientierungen eine große Meinungsvielfalt gegeben.
Die über hundertjährige Institutionsgeschichte der Neben den Fachgesellschaften und Instituten der IPA
Psychoanalyse spiegelt die Ausbreitung einer notwen- bestehen noch weitere psychoanalytische Gesellschaf-
dig kritischen Idee, ihre Fortschreibung und zugleich ten, oft aus Spaltungs- und Sezessionsbewegungen
ihre Entschärfung wider. Die Freudsche Psychoana- hervorgegangen, die sich dennoch durchaus als Trä-
lyse mit ihrer Auswirkung auf die Geschichte des ger und kompetente Vermittler des psychoanalyti-
20. Jh.s ist zugleich Produkt und Symptom dieser schen Gedankens verstehen.
Geschichte und war wie diese von Spaltungen und Schon bald nach der Gründung der IPA folgten
Verwerfungen geprägt. erste Spaltungen: 1911 traten Adler und andere aus
der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus,
1912 folgte ihm Stekel (und mit ihm das Zentral-
Frühgeschichte der psycho- blatt), 1913 erfolgte die Trennung von Freuds Hoff-
analytischen Bewegung nungsträger Jung. Sie führte zur Gründung des »Ge-
heimen Komitees« (bestehend aus Abraham, Freud,
Freuds erste psychoanalytische Erfahrungen waren Ferenczi, Jones, Rank und Sachs, ab 1919 auch Ei-
nicht in den kollegialen Austausch einer Gruppe ein- tingon), das sich die Aufgabe gesetzt hatte, künftig
gebettet. Nach der Entfremdung von Breuer und dem über die Reinheit der Freudschen Lehre zu wachen.
Ende des Austauschs mit Fließ 1897 folgte eine Phase Bis zum Zerwürfnis mit Ferenczi und Rank, das zu
der Selbstanalyse, die in die Publikation der Traum- seiner Auflösung 1924 führte, wirkte das Komitee
deutung mündete. Erst 1902 bildete sich ein Kreis in- nachhaltig auf die institutionelle Entwicklung der
teressierter Kollegen, die »Psychologische Mittwochs- Psychoanalyse, konnte aber weder weitere Spaltun-
gesellschaft«, die, auf 22 Mitglieder vergrößert, 1908 gen noch eine Weiterentwicklung der Psychoanalyse
in »Wiener Psychoanalytische Vereinigung« umbe- verhindern (Jones 1955/1962; Wittenberger 1988a, b,
nannt wurde (Jones 1955; Nunberg/Federn 1976 ff.; 1995; Grosskurth 1991; Fallend 1995).
Fallend 1995). In den USA spaltete vor allem die Frage der Laien-
analyse die schnell gewachsene psychoanalytische
Gemeinschaft. 1938 erklärte sich die APsaA in Aus-
Internationalisierung und Spaltungen
bildungs- und Zulassungsfragen unabhängig von der
Auch im Ausland bildeten sich Arbeitsgruppen: 1907 IPA. Erst nach einem Rechtsstreit 1988 konnte die
in Zürich die Freudsche Gesellschaft (Jung), 1908 die IPA auch Gesellschaften in den USA wieder anerken-
Berliner Psychoanalytische Gesellschaft (Abraham), nen, die die Ausbildung von Nichtmedizinern zulie-
1911 die New York Psychoanalytic Society (Brill) und ßen (Wallerstein 1998). Weitere Spaltungen betrafen
die American Psychoanalytic Association (APsaA) den Auszug der Neonanalytiker um Karen Horney
(Putnam), 1913 die London Psychoanalytical Society aus der New York Psychoanalytic Society und – gegen
(Jones) und die Ungarische Psychoanalytische Ver- ihren Willen – auch aus der APsaA (Rubins 1978).
einigung (Ferenczi). Die vorübergehend aufgelöste 1942 trat eine Gruppe von Analytikern um Radó aus
Londoner Gesellschaft wurde 1919 in British Psycho- der New Yorker Gesellschaft aus, konnte allerdings in
analytical Society umbenannt. der APsaA verbleiben (ebd.). 1947 verließen Sullivan
Die Gründung der Internationalen Psychoanalyti- und andere die Washington-Baltimore Society; aus
schen Vereinigung (International Psychoanalytic As- dieser Sezession entstand später das William Alanson
sociation, IPA) wurde in Nürnberg im März 1910 be- White-Institut in New York (Thompson 1995). Auch
schlossen. Erster Präsident wurde C. G. Jung, den in Frankreich kam es nach der Ära von Marie Bona-
Freud als Nachfolger betrachtete und dessen Ernen- parte in den Jahren 1953, 1964 und 1969 zu folgen-
nung zugleich die junge Psychoanalyse vom Odium reichen Spaltungen, verbunden vor allem mit dem
der jüdischen Wissenschaft befreien sollte. Heute Namen Jacques Lacan (de Mijolla 1995).
zählt die IPA weltweit um die 11.000 Mitglieder. Sie Mit den Spaltungen der psychoanalytischen Ge-
umfaßt 66 Teilgesellschaften und fünf Studiengrup- sellschaften in Deutschland (s. u.) und Amerika ent-
pen in 36 Ländern. Die Ausbildung folgt einem inter- standen neben der IPA auch andere internationale
national geregelten Mindeststandard, trägt jedoch Zusammenschlüsse wie 1962 die International Feder-
unterschiedlichen nationalen Gepflogenheiten Rech- ation of Psychoanalytic Societies (IFPS). Die IFPS,
nung. Auch innerhalb nationaler Fachgesellschaften die sich als pluralistisches Forum versteht, umfaßt in-
Institutionalisierung der Psychoanalyse 293

zwischen 24 Mitgliedsgesellschaften aus Europa und (1924–1934). Der Verlag bot die Möglichkeit, psy-
Amerika mit etwa 2000 Mitgliedern. choanalytische Titel unabhängig von ihrer Rentabili-
Die erste reguläre psychoanalytische Ausbildung tät zu publizieren. Verlagsleiter war Otto Rank bis zu
wurde an der 1920 von Eitingon und Simmel eröff- seinem Rücktritt 1925 nach der Krise des »Geheimen
neten Berliner Poliklinik eingerichtet. Die dort ent- Komitees«, später Storfer und ab 1932 Martin Freud
wickelten Ausbildungsrichtlinien wurden 1925 in bis zur erzwungenen Auflösung des Verlags 1938 (vgl.
Bad Homburg für international verbindlich erklärt. Fallend 1995; Hall 1988; Sigmund Freud-Gesellschaft
Diese Kodifizierung der Ausbildung ist einerseits als 1995; Freud-Eitingon 2004). Die Gründung einer
Abgrenzung gegen die schon seit den Anfangsjahren Londoner Tochter, der International Psycho-Analytic
üppig ins Kraut schießenden Formen der wilden Psy- Press, erfolgte ebenfalls bereits 1919, nach Spannun-
choanalyse verständlich – doch hat ihre Starre immer gen zwischen Jones und Rank 1922 wurde die Inter-
wieder Kritik an der Verflechtung von Ausbildung national Psycho-Analytic Press unabhängig.
und Institutionserhalt wachgerufen (Balint 1948; Als erstes psychoanalytisches Periodikum erschien
Mannoni 1970/1973; Cremerius 1986; 1987). ab 1909 das Jahrbuch für Psychoanalytische und Psy-
Der psychoanalytischen Bewegung inhärente Spal- chopathologische Forschungen (Hg.: Freud und Bleu-
tungstendenzen ergeben sich aus der Angst vor Aus- ler, Redakteur: Jung) bei Heller in Wien (1914 fortge-
stoßung (Brecht 1992), dem genealogischen Modell setzt bei Deuticke als Jahrbuch der Psychoanalyse.
der Gruppenzugehörigkeit und dem für die Psycho- Neue Folge d. Jahrbuchs für psychoanalytische u. psy-
analyse typischen intensiven Paarverhältnis (Pines chopathologische Forschungen, Hg.: Freud). Als wei-
1995), aber auch aus ihrem spezifischen Gegenstand: tere Zeitschrift entsteht 1910 mit der Gründung der
dem Widerspruch, eine der Aufdeckung gesellschaft- IPA bei Bergmann in Wiesbaden das Zentralblatt für
lich produzierter Unbewußtheit im Subjekt dienende Psychoanalyse. Medizinische Monatsschrift für Seelen-
Praxis in der Form eines Vereins zu tradieren, der kunde. Organ der Internationalen Psychoanalytischen
notwendig neue Unbewußtheit reproduziert (vgl. Vereinigung (Hg.: Freud, Redaktion: Adler und Ste-
Dahmer 1982, 1988, 1989; Erdheim 1987). Dieser kel), nach der Trennung von Stekel, der über Rechte
Widerspruch und die aus ihm entstehende notwen- am Zentralblatt verfügte, seit 1913 fortgesetzt als In-
dige Dissidenz (Cremerius 1982) müssen entweder ternationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse. Of-
selbstanalytisch erinnert und durchgearbeitet wer- fizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen
den, oder sie führen zum Agieren in Sezessionen und Vereinigung. 1912 erscheint bei Heller in Wien Imago.
Spaltungen. Wo beides unterdrückt wird, münden sie Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die
in den Verlust der kulturkritischen Potenz, wie etwa Geisteswissenschaften (Hg.: Freud, Red.: Rank und
in der Medizinalisierung der Psychoanalyse. Sachs) sowie bei Guilford Press in New York The Psy-
Die Geschichte der Institutionskritik selbst zeigt choanalytic Review. An American Journal of Psycho-
aber auch das Reflexionspotential der psychoanalyti- analytic Psychology Devoted to the Understanding of
schen Gesellschaften. Wenn sich Analytiker der eige- Behavior and Culture (Hg.: National Psychological
nen Geschichte stellen, spüren sie die Macht der in- Association for Psychoanalysis, NPAP). Seit 1920 er-
terpersonellen Abwehr in der eigenen Institution. So scheint in London bei Baillière, Tindall and Cox The
hat etwa die schmerzhafte Spaltung der deutschen International Journal of Psychoanalysis. Official Organ
Psychoanalyse nach dem Dritten Reich nach jahr- of the International Psycho-Analytical Association
zehntelanger Verleugnung heute in der deutschen (Hg.: Glover für die IPA).
Psychoanalyse zu einer Kultur historischer Reflexion Im März 2005 weist die ZDB (Zeitschriften-Daten-
geführt (Brecht u. a. 1985; Lockot 1985, 1994). bank der Berliner Staatsbibliothek) zum Titelstich-
wort »Psychoanal*« weltweit 269 Periodika nach.
Eine Auswahl für den angloamerikanischen Sprach-
Verlag und Zeitschriften
raum: The Psychoanalytic Quarterly (seit 1932),
Die frühen Schriften der Psychoanalyse erschienen American Imago (seit 1939), The American Journal of
meist bei Deuticke oder Heller in Wien. 1919 konnte Psychoanalysis (seit 1941), Journal of the American
Freud dank einer großzügigen Spende von Anton Psychoanalytic Association (seit 1953), The Psycho-
von Freund den Internationalen Psychoanalytischen analytic Study of the Child (seit 1945), Psychoanalysis
Verlag in Wien gründen, ein Unternehmen von gro- and Contemporary Science (seit 1972), Psychoanalysis
ßer Bedeutung für die internationale Verbreitung der and Contemporary Thought – A Quarterly of Integra-
Psychoanalyse und des Freudschen Werks. Hier er- tive and Interdisciplinary Studies (seit 1978), Interna-
schienen Freuds Gesammelte Schriften in 12 Bänden tional Forum of Psychoanalysis (seit 1992); für Frank-
294 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

reich: Revue Française de Psychanalyse (seit 1927), standen sich als Retter der Psychoanalyse in innerer
Nouvelle Revue de Psychanalyse (seit 1970); für Emigration und betrachteten die neoanalytische For-
Deutschland: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse mulierung der psychoanalytischen Metapsychologie
und ihre Anwendungen (seit 1947), Jahrbuch der Psy- und Behandlungstechnik durch Schultz-Hencke als
choanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis (seit Weiterentwicklung, während die anderen die in der
1960), Forum der Psychoanalyse (seit 1985). Zeit der Gleichschaltung vertretenen Positionen für
unanalytisch hielten und die Rückkehr zu den in der
internationalen Diskussion herrschenden Positionen
Spezielle Entwicklung in Deutschland
forderten. Es kam schließlich zur Spaltung der deut-
Um Abraham bildete sich in Berlin ab 1908 ein schen Psychoanalyse. Die neugegründete Deutsche
schnell wachsender Kreis von Psychoanalyse-Interes- Psychoanalytische Vereinigung (DPV) wurde 1951
senten, der sich nach Gründung der IPA 1910 als Ber- von der IPA anerkannt, die vorläufige Anerkennung
liner Ortsgruppe der Internationalen Psychoanalyti- der DPG nicht verlängert. Es bedurfte Jahrzehnte der
schen Vereinigung konstituierte, 1926 umbenannt in Auseinandersetzung und historischen Aufarbeitung
Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG). (Brecht u. a. 1985; Lockot 1985, 1994), um diesen
1920 eröffnet Eitingon die weitgehend von ihm selbst Prozeß transparent zu machen und eine Diskussion
finanzierte erste psychoanalytische Poliklinik. Wei- zwischen den gespaltenen Fachgesellschaften wieder
tere Schritte waren die Gründung der Südwestdeut- zu ermöglichen. Inzwischen ist die DPG wieder (teil-
schen Arbeitsgemeinschaft (Frankfurt 1926), aus der weise) in die IPA aufgenommen.
1929 das erste Frankfurter Psychoanalytische Institut Die DPV verfügt inzwischen in Deutschland über
hervorging, das durch enge Kooperation mit dem 13 Ausbildungsinstitute und hat etwa 1.100 Mitglie-
Frankfurter Institut für Sozialforschung weltweite der; die DPG mit ca. 800 Mitgliedern betreibt ihrer-
Bedeutung erlangen sollte. seits 14 Ausbildungsinstitute. Einen Sonderweg sind
Seit der Machtergreifung der Nazis 1933 wurden seit Kriegsende die »freien Institute« gegangen. Sie
die jüdischen Psychoanalytiker verfolgt und vertrie- sind mit den Fachgesellschaften DPG und DPV, der
ben: 1935 wurden die jüdischen Mitglieder der DPG jungianischen Deutschen Gesellschaft für Analytische
zum Austritt gezwungen. Psychologie (DGAP), der adlerianischen Deutschen
Die bis heute umstrittene, von Freud wohl gebil- Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) und
ligte Politik des Überwinterns der meisten nichtjüdi- einigen neugegründeten freien Instituten im 1949 ge-
schen Psychoanalytiker führte 1936 zur Eingliede- gründeten berufspolitischen Dachverband DGPT
rung ins Deutsche Institut für psychologische For- (Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tie-
schung und Psychotherapie, das spätere Reichsinsti- fenpsychologie) organisiert, der heute die wesentli-
tut für Psychotherapie. 1938 wurde die DPG che Interessenvertretung der ärztlichen und nicht-
aufgelöst und die Psychoanalyse als »Arbeitsgruppe ärztlichen Psychoanalytiker darstellt. Die DGPT ver-
A« mit Jungianern und Adlerianern der »Deutschen tritt bundesweit 53 Institute, davon 17 »freie« Insti-
Seelenheilkunde« des Institutsleiters M. H. Göring tute, 3 Jung-Institute der DGAP (sowie Beteiligung
gleichgeschaltet. Die Verbindung zur internationalen an einem DPG-Institut), 6 Adler-Institute der
psychoanalytischen Diskussion brach ab, und auch DGIP), 13 Institute der DPV und 14 der DPG. Die
im Inneren der Arbeitsgruppe verschoben sich die DGPT zählt 2.806 ordentliche und 356 außerordent-
Machtverhältnisse zugunsten der Neopsychoanalyse liche Mitglieder (Stand 2005).
Schultz-Henckes.
Neben Versuchen, nach dem Krieg in Anknüpfung Literatur
Balint, Michael: Über das psychoanalytische Ausbildungssy-
an das Reichsinstitut neue Organisationsformen zu stem. In: Ders.: Die Urformen der Liebe. Frankfurt a. M.
finden, konnte 1960 das Frankfurter Institut dank 1981, 307–332 (engl. 1948).
der Unterstützung von Max Horkheimer als For- Bernfeld, S.: Über die psychoanalytische Ausbildung [1952].
schungs- und Ausbildungszentrum für Psychoana- In: Psyche 38 (1984), 437–459 (engl. 1962).
Brecht, Karen: Paranoid-schizoide Aspekte im Institutionali-
lyse wieder errichtet werden. Eine zentrale Rolle sierungsprozeß der Psychoanalyse und seiner Kritik. In:
spielte dabei Alexander Mitscherlich. Heute ist das Wiesse 1992, 51–55.
Sigmund-Freud-Institut ein renommiertes Zentrum – /Volker Friedrich u. a. (Hg.): »Hier geht das Leben auf eine
psychoanalytischer Forschung. sehr merkwürdige Weise weiter …« Zur Geschichte der Psy-
choanalyse in Deutschland. [o. O.] 1985.
Die Anknüpfung an das Reichsinstitut nach 1945 Cremerius, Johannes: Die Bedeutung des Dissidenten für die
hatte bald zu einem Trennungskonflikt zwischen des- Psychoanalyse. Psyche 36 (1982), 481–514.
sen ehemaligen Mitgliedern geführt: Die einen ver- –: Spurensicherung. Die ›Psycho-analytische Bewegung‹ und
Institutionalisierung der Psychoanalyse 295

das Elend der psychoanalytischen Institution. In: Psyche 40 Nunberg, Hermann/Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener
(1986), 1063–1091. Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. I-IV. Frankfurt a. M.
–: Wenn wir als Psychoanalytiker die psychoanalytische Aus- 1976–1981.
bildung organisieren, müssen wir sie psychoanalytisch or- Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hg.): Between the devil
ganisieren! In: Psyche 41 (1987), 1067–1096. and the deep blue sea. Psychoanalyse im Netz. Freiburg i.Br.
Dahmer, Helmut: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud 1987.
und die Freudsche Linke. Frankfurt a. M. 1982. Rubins, Jack L.: Karen Horney – sanfte Rebellin der Psycho-
–: Psychoanalyse und Organisation. In: Werkblatt. Zeitschrift analyse. München 1980 (engl. 1978).
für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 16–17 (1988), Sigmund Freud-Gesellschaft (Hg.): Internationaler Psychoana-
7–14. lytischer Verlag 1919–1938: Ausstellung im Sigmund Freud-
–: Psychoanalyse ohne Grenzen. Freiburg i.Br. 1989. Museum 13.6–15. 11. 1995. Wien 1995.
Erdheim, Mario: Das Verenden einer Institution. In: Psyche 40 Thompson, Nellie L.: Spaltungen in der psychoanalytischen
(1986), 1092–1103. Bewegung Nordamerikas. In: Hermanns, Ludger M. (Hg.):
Fallend, Karl: Eine Wissenschaft im Aufschwung. Psychoana- Spaltungen in der Geschichte der Psychoanalyse. Tübingen
lyse 1918–1934. In: Karl Fallend/W. Kienreich (Hg.): Zur 1995, 205–218.
Geschichte der Psychoanalyse. Von ihren Anfängen bis zur Ge- Wallerstein Robert R.: The IPA and the American Psychoana-
genwart. Salzburg 1986, 27–35. lytic Association: a Perspective on the Regional Association
–: Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Psychoanalyse auf dem Weg Agreement. In: International Journal of Psycho-Analysis 79
zur Institution und Profession. Protokolle der Wiener Psycho- (1998), H. 3, 553–64.
analytischen Vereinigung und biographische Studien. Wien Wiesse, Jörg (Hg.): Chaos und Regel. Die Psychoanalyse in ihren
1995. Institutionen. Göttingen 1992, 76–131.
Fenichel, Otto: Hundertneunzehn Rundbriefe (1934–1945).
2 Bde. Mit CD-ROM. Frankfurt a. M. 2002.
Freud, Sigmund/Max Eitingon: Briefwechsel 1906–1939. Hg. Abkürzungen:
von Michael Schröter. 2 Bde. Tübingen 2004.
Grosskurth, Phyllis: The Secret Ring. Freud’s Inner Circle and APsaA American Psychoanalytic Association
the Politics of Psychoanalysis. Reading 1991. DGAP Deutsche Gesellschaft für Analytische
Jacoby, Russell: Die Verdrängung der Psychoanalyse oder Der
Triumph des Konformismus. Frankfurt a. M. 1990.
Psychologie
Jones, Ernest: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 2: DGIP Deutsche Gesellschaft für Individualpsycho-
Jahre der Reife 1901–1919. Bern 1962 (engl. 1955). logie
Lockot, Regine: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte DGPT Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie
der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialis-
mus. Frankfurt a. M. 1985.
und Tiefenpsychologie
–: Die Reinigung der Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoana- DPG Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft
lytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeit- DPV Deutsche Psychoanalytische Vereinigung
zeugen (1933–1951). Tübingen 1994. IFPS International Federation of Psychoanalytic
Mannoni, Maud: Der Psychiater, sein Patient und die Psycho-
analyse. Olten 1973 (frz. 1970).
Societies
Mijolla, Alain de: Die Spaltungen in der psychoanalytischen IPA International Psychoanalytic Association,
Bewegung Frankreichs. In: Ludger M. Hermanns (Hg.): Internationale Psychoanalytische Vereini-
Spaltungen in der Geschichte der Psychoanalyse. Tübingen gung
1995, 168–191.
Nitzschke, Bernd: »… im Interesse unserer psychoanalytischen
NPAP National Psychological Association for
Sache in Deutschland«. Die Ausgrenzung Wilhelm Reichs Psychoanalysis
aus der ›Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung‹ – ZDB Zeitschriften-Datenbank der Berliner Staats-
Marginalien zu einer Vereinsgeschichte oder Paradigma für bibliothek
den Prozeß der Institutionalisierung der Psychoanalyse un-
ter (politisch) erschwerten Bedingungen? In: Wiesse 1992,
Andreas Hamburger
76–131.
296

2. Psychologie

Geschichtliche Aspekte verorten. Sie haben auch die psychoanalytische Ent-


wicklung vor allem in der Metatheorie teilweise un-
Die Zuschnitte der Fakultäten waren zu Freuds Zei- bemerkt bzw. ungewollt sehr stark beeinflußt. Dazu
ten von der heutigen Aufteilung recht verschieden. gehören vor allem die Gesetze der Bahnung und
Die Psychologie war damals ein Teilgebiet der Philo- Hemmung von neuronalen Aktivitäten, die mit einer
sophie, wenn sie nicht gänzlich von Philosophen be- Psychologie der Wahrnehmung, des Gedächtnisses,
trieben wurde. Es gab eine beginnende empirische der Affekte und vor allem des Verlustes von Informa-
Psychologie, die mit den damaligen experimentellen tionen verbunden sind (GW II/III). Im Vorgriff auf
Methoden vorwiegend Gedächtnis- und Lernfor- sehr moderne Auffassungen über das Nervensystem
schung betrieb. postuliert Freud verschiedene Neuronen, die sich
Im bibliographischen Register der Gesammelten durch ihre Durchlässigkeit unterscheiden. Dies sei
Werke Freuds (GW XVIII, 977 ff.) kann man von den Folge der unterschiedlichen chemischen Prozesse an
794 erwähnten Autoren 37 im engeren Sinne psycho- den sogenannten Kontaktschranken – das sind Vor-
logisch nennen, 16 von ihnen sind mir zumindest läufer der Synapsen. Solche Neuronen, die die Erre-
namentlich bekannt. Die zitierten Autoren decken ei- gung nicht oder nur schwer durchließen, würden zu
nen Zeitraum von 1862 (Schleiermacher: »Psycho- Trägern des Gedächtnisses, sogenannte Psy-Neuro-
logie«, ebd., 1020) bis 1920 (McDougall: »A note on nen, und damit aller psychischen Vorgänge. Das Her-
Suggestion«, ebd. 1009) ab. Die meisten Zitate stam- einbrechen oder die Überflutung mit Reizen endoge-
men aus der Zeit vor der Jahrhundertwende. Dies nen oder exogenen Ursprungs oberhalb einer biolo-
liegt daran, daß Freud beim Sammeln der Literatur gisch durch die Sinnesorgane vorgegebenen Reiz-
für sein Werk über die Traumdeutung am ehesten schwelle setze neuronale Prozesse in Gang, die nach
wissenschaftlich (im heutigen Sinn) vorging. Immer- Entladung drängten, vor allem in die motorischen
hin werden einige große Wissenschaftler der Psycho- Neuronen. Auf dem Innervationsweg zu den motori-
logie wie Wilhelm Wundt an 29 verschiedenen Stel- schen Neuronen geschehe eine innere Veränderung
len zitiert und Theodor Fechner an acht. (»Ausdruck der Gemütsbewegungen Schreien, Ge-
Im offiziellen Register der Gesammelten Werke sind fäßinnervation«; Nachtr., 410 f.), die dann als Affekt
die frühen Schriften Freuds zum Entwurf einer Psy- auch für andere wahrnehmbar würde. Die gesamte
chologie von 1895, die posthum 1952 veröffentlicht Logik der Besetzung von Repräsentanzen, der Ver-
wurden, nicht erwähnt. Das genaue Studium der frü- schiebung von Affektbeträgen, kurzum das dynami-
hen Schriften zeigt, daß sie neben der damaligen sche und ökonomische Modell ist ohne diesen Rück-
Neurologie sehr stark auf die empirischen Arbeiten griff auf die Neuropsychologie des Lernens und auf
über die Lern- und Gedächtnisforschung fokussie- Fechners Psychophysik nicht denkbar.
ren, speziell auf Fechners Elemente der Psychophysik Andere heute ebenfalls hochaktuelle Autoren, die
von 1860. Dies ist nicht unerheblich für die heutige Freud maßgeblich beeinflußt haben, zitiert er, aus
Rezeption, weil gerade diese Arbeiten die engste Ver- welchen Gründen auch immer, nicht. Dazu gehören
bindung zur heutigen Neuropsychologie aufzuweisen Franz von Brentano (1874), der mit seiner Lehre von
haben (Panksepp 1999; Spitzer 2000; Nersessian/ der Intentionalität, nach der alle seelischen Erschei-
Solms 1999). nungen auf außerhalb des Bewußtseins liegende Ge-
Nachdem diese frühen Arbeiten bis vor ungefähr genstände gerichtet sind, Begründer einer Theorie
15 Jahren als szientistisches Selbstmißverständnis unbewußten Handelns wurde, die Narziss Ach (1905)
Freuds diskreditiert wurden, sind sie im Moment an empirisch umzusetzen versuchte. Die gesamten Ar-
vorderster Front der theoretischen Entwicklung zu beiten über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der
Psychologie 297

Zuordnung einer eigenen intentionalen Welt zu den Gesetzliche Rahmenbedingungen


Bindungspartnern stützen sich auf diese frühen Ar-
beiten. Auch sie haben ein sehr lebhaftes Korrelat in In der Praxis dauerte es noch 20 Jahre, ehe sich eine
der neuropsychologischen Forschung, wo die Frage genuin psychologische Therapie durchsetzen konnte.
des Verständnisses von Fremdseelischem über die Er- In der Theorie verlor der modifizierte Behaviorismus
forschung der Spiegelneuronen einen gewaltigen von Hull, Tolman und Mowrer an Terrain, in der
Schritt nach vorne getan hat. wissenschaftlichen Gemeinschaft ebenso wie die Psy-
Freuds oben angeführte Lese- und Zitierpräferen- choanalyse, die sich einerseits aufspaltete und ande-
zen werden in einem Abschnitt der Arbeit Zur Frage rerseits – nach einer Blütezeit in der Psychiatrie der
der Laienanalyse von 1926 verdeutlicht. Er erklärt USA um 1950 und der Psychosomatik der Bundes-
hier die medizinischen Curricula, bis auf die Sym- republik in den Jahren bis zur Jahrtausendwende –
ptomatologie der Psychiatrie, für überflüssig. Biolo- heute nach Umfragen unter Studierenden oft als un-
gie und Sexualwissenschaft seien für das Studium der modern und wissenschaftsfeindlich verstanden wird
Psychoanalyse an einer zukünftigen Universität (Leuzinger-Bohleber 2005). Die Psychologie als aka-
ebenso relevant wie Geschichts-, Religions- und Lite- demische Disziplin war davon unberührt. Durch das
raturwissenschaften. An anderer Stelle wird immer- Verbot der Laienanalyse in den USA gab es nur For-
hin Psychologie als Voraussetzung erwähnt. Insge- schungsanalytiker mit psychologischer Schulung. Ei-
samt war Freud eher an der allgemeinen Psychologie ner davon war David Rapaport (1973), der mit sei-
interessiert. nen Schriften eine unglaubliche Integrationskraft
Von den Anwendungswissenschaften war es vor al- entwickelte.
lem die Heilpädagogik, die ihm ein Denk- und Betä- Man kann sich vorstellen, welch anderen Ausgang
tigungsfeld eröffnete. Eine praktische klinische Psy- die Psychoanalyse nicht nur in den USA genommen
chologie jenseits der Psychoanalyse selbst gab es nur hätte, wenn die sehr lebendige akademische Gruppe
in Ansätzen, so daß bis nach dem Zweiten Weltkrieg der Psychologen nicht von vorneherein einem Be-
der Export der psychoanalytischen Ideen in die Psy- rufsverbot unterlegen wäre. In Deutschland hat die
chologie größer war als umgekehrt. akademische Psychologie über das Psychotherapeu-
tengesetz die angewandte psychotherapeutische Psy-
choanalyse weitgehend übernommen. Es gibt in den
Integrationsversuche
Weiterbildungsinstitutionen der Psychoanalytischen
Der erste und letzte systematische Versuch, die bei- Verbände kaum noch Ärzte. Die gesetzlich vorge-
den Systeme Psychologie und Psychoanalyse mitein- schriebenen Zugangsvoraussetzungen sind ein aka-
ander zu verbinden, erfolgte dementsprechend 1949 demisch anerkannter Abschluß in Psychologie mit
in einem monumentalen Entwurf durch Dollard/ Schwerpunkt in klinischer Psychologie. Damit besitzt
Miller (1950). Sie versuchten das damals bekannte die akademische Psychologie ein Monopol für den
psychoanalytische Wissen, das sich im Gegensatz zu Zugang zur Krankenbehandlung, denn die Durch-
heute als einigermaßen kohärent darstellte, in die führung einer solchen ohne Approbation ist strafbar.
Sprache der Lerntheorien, die damals als deckungs- Nur die Kinder- und Jugendtherapeuten können
gleich mit der Psychologie betrachtet wurden, umzu- über einen Pädagogikabschluß in die Ausbildung
formulieren. Sie stützen sich dabei vor allem auf den einsteigen.
sehr umfassenden Formalismus des moderaten Be-
havioristen Clark Leonhard Hull, dessen Formeln
Psychoanalytische Curricula
den Lernmodellen Freuds sehr nahe kamen. Am be-
an den Universitäten
sten gelang dies mit den Abwehrmechanismen und
einer Art Aktualgenese der Entstehung der neuroti- Psychoanalytisches Wissen ist aus den Curricula der
schen Konflikte. Es handelte sich nicht um einen Ver- akademischen Psychologie weitgehend verschwun-
such, das klinische psychoanalytische Wissen zu wi- den. Ab 1968 wurde das 1955 eingeführte Prüfungs-
derlegen, sondern die Autoren wechselten die Be- fach »Tiefenpsychologie und Psychagogik« sukzessive
schreibungsebene, indem sie meist sprachfreies Mi- durch das Fach »Klinische Psychologie« ersetzt, was
kroverhalten analysierten und damit sehr nahe an in den meisten Fällen auch bedeutete, daß der psy-
recht moderne Auffassungen über das Übertragungs- choanalytische Gegenstand verschwand. Die neuge-
und Gegenübertragungsgeschehen sowohl im All- schaffenen Lehrstühle für klinische Psychologie wur-
tagshandeln als auch in der Behandlung kamen den überwiegend mit verhaltens- bzw. gesprächsthe-
(Krause 2003). Der Versuch blieb aber für die Praxis rapeutisch forschenden Kollegen besetzt, was nicht
und die Theorie weitgehend folgenlos.
298 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

weiter verwundern mußte, da ein habilitierter psy- liche allgemeinpsychologische wissenschaftliche


chologisch-psychoanalytischer Nachwuchs nicht vor- Theorie nicht mehr erkennbar. Hamilton hat in in-
handen war. tensiven Interviews mit 65 psychoanalytischen Prak-
Das Problem hat sich seitdem eher verschlimmert. tikern der Großräume London und Los Angeles mit
Das durchschnittliche Abschlußalter der Absolventen statistischen Methoden – faktorenanalytisch – fünf
der psychoanalytischen Verbände liegt bei 40 Jahren. unterschiedliche Gruppen eruiert, nämlich die
Bis in die späten 1960er Jahre wurde der tiefenpsy- Selbstpsychologen, die klassischen Freudianer, die
chologische Stoff von philosophisch und manchmal Objektbeziehungstheoretiker, die Kleinianer. In
auch psychoanalytisch geschulten Psychologen ge- neuerer Zeit sind die Bindungstheoretiker dazuge-
lehrt. Die Veranstaltungen waren vor allem auch wis- kommen. In Deutschland haben wir noch Eigenent-
senschaftstheoretisch recht anspruchsvoll. Durch den wicklungen, wie die Interaktionellen Psychoanalyti-
gleichzeitigen Wegfall des Pflichtprüfungsfaches ker, die man in Teilen mit den Objektbeziehungs-
»Philosophie« verschwand nicht nur der psychoana- theoretikern amerikanischer Prägung vergleichen
lytische Gegenstand, sondern auch eine bestimmte kann.
Form der Methodologie (systematische Introspek- Dann gibt es die französisch geprägte hermeneu-
tion) und des Schlußfolgerns (hermeneutische Vor- tische Gruppierung vor allem um den verstorbenen
gehensweise) aus der akademischen Psychologie. Da- Jacques Lacan, die in Deutschland, aber auch in an-
mit ging der Bezug zu den Geisteswissenschaften in deren Ländern ähnliche Entwicklungen stimuliert
weiten Bereichen verloren (Krause 1987). hat. Die gegenseitige Wahrnehmung und Zitierbe-
Gegenwärtig wird die Psychoanalyse, von wenigen reitschaft der Gruppen hat in den letzten Jahren mas-
Ausnahmen abgesehen, als eine von vielen Persön- siv abgenommen, so daß die Binnendifferenzierung
lichkeitstheorien im ersten Studienteil abgehandelt. der unterschiedlichen Gruppen so groß ist, daß man
Im allgemeinen werden metapsychologische Kon- auf der Ebene der Metatheorie eher von disparaten
zepte, die innerhalb der modernen Psychoanalyse Gruppen ausgehen sollte, deren Gemeinsamkeit zu-
entweder keine Bedeutung mehr haben oder umstrit- mindest nicht in der präferierten wissenschaftlichen
ten sind, dargestellt. Neuentwicklungen werden nicht Theorie liegt. Die unterschiedlichen Gruppen haben
referiert. ihre bevorzugten akademischen Partner, mit denen
sie in engem Kontakt stehen. Die Hermeneutiker, die
Literatur- und Geschichtswissenschaften, die Objekt-
Psychoanalytische Einrichtungen
beziehungstheoretiker, die Affekt- und Sozialpsycho-
und Schulen
logie, die Bindungsanalytiker, die Entwicklungspsy-
Im Jahr 2003 wurden im Internet unter »deutsch- chologie mit dem Schwerpunkt auf der Bindungsfor-
sprachige psychoanalytische universitäre Einrichtun- schung und andere akademische Wissensgebiete (in
gen« 36 Institutionen aufgeführt (http://www.rzuser. neuerer Zeit sind dies die Gedächtnisforschung und
uni-heidelberg.de/~iy0/links/uni.htm). Davon waren Neuropsychologie) haben in alle Bereiche hineinge-
sechs im engeren Sinn psychologische Lehrstühle, die wirkt. Direkte akademische Forschungsprogramme
nicht zu den medizinischen Fakultäten gehörten. Die zur Untersuchung von Hypothesen psychoanalyti-
anderen waren Lehrstühle für psychosomatische Me- scher Metatheoriebestandteile sind selten. Häufig
dizin und Psychotherapie oder seltener solche für kli- sind diese zu ungenau, um untersucht werden zu
nische Psychologie in den medizinischen Fakultäten. können. Am ehesten findet man solche in der Bin-
Von den 36 sind gegenwärtig (August 2005) 25 übrig- dungsforschung, der Interaktionsforschung und in
geblieben, darunter alle psychologischen Lehrstühle, neuerer Zeit in der Neuropsychologie. Im Allgemei-
die sich sogar um zwei erweitert haben. Die eigent- nen erfordert die Untersuchung psychoanalytischer
lichen Leidtragenden waren sehr renommierte Lehr- Hypothesen, die aus der Metatheorie stammen, eine
stühle und Forschungseinrichtungen für Psychoso- Umformulierung in den bestehenden Wissenskorpus
matik und Psychotherapie, die mit der Psychiatrie der akademischen Psychologie.
zwangsfusioniert wurden, oder die medizinische Psy- Der Glaube, es gäbe eine eigene fertige kohärente
chologie, die ganz abgeschafft wurde. Die allgemeine wissenschaftliche Theorie, die sich Psychoanalyse
Neuropsychologie hat allerdings mit den psychoana- nennt, war immer ein Selbstmißverständnis. Die Psy-
lytischen Theorien keine Probleme, im Gegenteil, sie choanalyse war und ist eine Theorie, die mit mehr
werden in vielen Bereichen als affin beschrieben oder weniger gutem Erfolg versucht hat, das vorhan-
(Kandel 1996; LeDoux 1999; Damasio 1997). dene Wissen aller relevanten Wissenschaften aus dem
In der psychoanalytischen Praxis ist eine einheit- Blickwinkel der Behandlungen zu integrieren. Das
Psychologie 299

Spezielle der Theorie ist der Blickwinkel, aus dem keine Spitzeninstitution dabei, vier sind als gutes
heraus versucht wurde zu integrieren. Diese Theorie Mittelfeld bekannt. Die anderen sind eher unbekannt
muß sich ebenso verändern wie die anderen wissen- (http://www.umdnj.edu/psyevnts/psa.Schools.html).
schaftlichen Theorien, wenn es denn neue Erkennt- Die Krankheitslehre der Psychoanalyse, die der-
nisse gibt. Dies ist auch mit Einschränkungen gesche- einst stil- und sprachbildend für den gesamten Be-
hen. Mit Haynal (1994) nehme ich an, daß – wie die reich der Psychiatrie gewesen ist, hat durch die Er-
anderen großen theoretischen, kohärent erscheinen- arbeitung der großen diagnostischen Manuale an
den Systeme – ein Psychoanalismus als eigene Theo- Bedeutung verloren (Wittchen/Saß u. a. 1989). Der
rie über den Menschen außerhalb von kleinen Zir- Bereich der im engeren Sinne psychodynamischen,
keln keine Überlebenschance hat. konfliktorientierten Krankheitsvorstellungen hat
Alles in allem hat die Psychoanalyse wohl minde- durch die Ausgrenzung aus den psychiatrisch psy-
stens so viel Wissen in die Nachbargebiete exportiert chologischen Alltagsdiagnosen aber eher an Schärfe
wie sie importiert hat. So sind viele entwicklungs- und Präzision gewonnen (Arbeitsgruppe OPD 1996).
psychologische Fragestellungen von Psychoanalyti- Die verhaltenstherapeutischen Psychologien sind da-
kern in die Wege geleitet worden. Ich erinnere an bei, einige Essentials psychoanalytischen Wissens
Bowlby, Spitz, Ainsworth, Stern etc. Einen Überblick wieder zu entdecken. Dazu gehören die unbewußten
dazu gibt Seiffge-Krenke (1994). Oft ist der Import Pläne, die maladaptiven Schemata als Formen des
verschämt verschwiegen worden. Die wissenschafts- Wiederholungszwanges und der Übertragung, der
theoretische Diskussion über die Bedeutung der Her- Widerstand und die Abwehr (Grawe 1998). Was aus-
meneutik gilt nicht für die Theorie als Ganzes, son- steht, ist eine Systematik der Beziehungsgestaltung,
dern für das Verständnis des therapeutischen Gesche- die die Gegenübertragung einschließt (Krause 1999).
hens (Haynal 1994). Daran wird allerdings gearbeitet (Grawe 2004).

Gegenwärtige psychoanalytische Zukunftsperspektiven


Forschungsinstitutionen
Die Dynamik der Entwicklung ist an die kognitive
Was die Implantierung des Wissens an den psycho- Verhaltenstherapie übergegangen. Sie macht aller-
logischen Forschungsinstitutionen betrifft, gibt es in dings über wesentliche Bereiche (noch) keine Aus-
der deutschsprachigen klinischen Psychologie die sagen. Als Beispiel seien nur identifikatorische Pro-
oben erwähnten vier Vertreter. Psychoanalytische zesse und deren Gesetzmäßigkeiten als Bausteine der
Universitätsambulanzen gibt es zwei gegenüber 30 Persönlichkeitsentwicklung einerseits und der Be-
verhaltenstherapeutischen. Da es zusätzlich kaum handlung andererseits erwähnt, oder der Zusammen-
habilitierten Nachwuchs gibt, müssen wir in der Kli- hang von Gewissensbildung und Symptomentwick-
nischen Psychologie mit einem baldigen Ableben die- lung. Von psychoanalytischer Seite wird es zu einer
ses Wissens rechnen. Es gibt einen Verbund der psy- Systematisierung der Lernprozesse kommen müssen,
choanalytischen Forscher, die sich dagegen wehren die traditionell in der psychoanalytischen Krank-
(http:// www.uni-koeln.de / phil-fak / psych / klin/ikpp/ heitslehre nur in Form von Alltagstheorien abgehan-
projekt/agppu.htm). Die psychoanalytischen Ver- delt wurden. Hier ergibt sich eine Fülle von noch zu
bände haben keinerlei Anstrengungen erkennen las- rezipierendem Wissen. Die Auseinandersetzungen
sen, den akademischen Nachwuchs zu fördern. Im über die Bedeutung der neuropsychologischen und
Gegenteil, er wurde systematisch behindert. Das än- allgemeinpsychologischen Befunde, z. B. der Affekt-
dert sich im Moment. Es werden Forschungsstipen- forschung, erfordern ein konstantes Überprüfen der
dien ausgelobt, »summer schools« für Praktiker ein- Krankheitslehre. Auch hier hat die Psychoanalyse
gerichtet und Forschungsprojekte ausgeschrieben. noch mehr zu exportieren als viele gegenwärtig mo-
Die Studierenden an der Universität bekommen derne psychologische Theorien. Grawe, Donati und
nur noch wenig über Psychoanalyse zu hören; wenn Bernauer (1994) bestätigen, daß die psychoanalyti-
überhaupt, dann Berichte über deren spekulativen sche Therapie wissenschaftlich gut fundiert sei, ihre
Überbau (Krause 1987). Die Mehrzahl von ihnen bescheidene Wirkungsbilanz jedoch auf den verkru-
würde auch bei einer Eigenerkrankung keine psycho- steten Ausbildungsstrukturen beruhe mit der Folge,
analytische Behandlung beginnen (Leuzinger-Bohle- daß die übliche Praxis viel weniger wissenschaftlich
ber 2005). fundiert sei als der Ansatz als solcher.
Im englischsprachigen Raum wurden 41 psycho- Die Psychoanalyse als empirisch bestätigte psycho-
analysefreundliche Institutionen aufgeführt. Es ist logische Behandlungstechnik gibt es in Reinform
300 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

auch nicht. Allein die gesetzlichen Krankenkassen auf absehbare Zeit auf die halbstaatlichen Formen
unterscheiden fünf Formen von tiefenpsychologisch von Weiterbildung angewiesen, die dazu tendieren,
fundierten Verfahren neben der psychoanalytischen die Verbindung zur Wissenschaft aufzugeben.
Psychotherapie. Nach einer beträchtlichen (narzißti- Die Tradierung und Erneuerung des psychoana-
schen) Erschütterung, die durch Arbeiten wie die von lytischen ›Know Hows‹ und Wissens ist gegenwärtig,
Grawe u. a. (1994) hervorgerufen wurden, hatten zu- wie in mehreren soziologischen Analysen festgestellt
mindest die tiefenpsychologisch fundierten Techni- wurde, eine Mischung von wissenschaftlichem theo-
ken den empirischen Elchtest bestanden. Nicht nur – logischem Seminar, Kunst- und Verwaltungshoch-
wie vom wissenschaftlichen Beirat des Psychothera- schule (Kernberg 1986). Wahrscheinlich müssen alle
peutengesetzes gefordert – in fünf der zwölf Indika- Psychotherapieweiterbildungen in einem gewissen
tionsgebiete des International Classification of De- Ausmaß eine solche Art von Binnengliederung auf-
sease Nr. 10, sondern in elf liegt der Wirksamkeits- weisen. Auch die Verhaltenstherapeuten sind bei wei-
nachweis nach den im Moment rechtsverbindlichen tem theologischer als sie selbst meinen. Ich denke
empirischen Maßstäben vor (Leichsenring 2001, auch, man sollte den Ausbildungsteilnehmern die
2002; Brandl u. a. 2004). Wahl lassen, welche Art von Zielen sie innerhalb ih-
Im Moment stellt sich das Verhältnis von Psycho- rer Ausbildung und mit ihren Patienten verfolgen
logie und Psychoanalyse so dar, daß durch den Ver- möchten. Dem Konsumentenschutz zuliebe müßte
lust der Anbindung an die Universitäten die psycho- allerdings dann auch deutlich gemacht werden, wel-
analytischen Institutionen reine Ausbildungsstätten che Ziele dies sind und ob sie mit dem Verfahren
geworden sind. Dies hat in Folge zu einer mangel- erreicht werden können.
haften Durchmischung und Erneuerung durch die
Konfrontation mit den Nachbarwissenschaften sowie Literatur
Ach, Narziss: Über die Willenstätigkeit und das Denken: Eine
den anderen Therapieformen geführt. Dieser Zu- experimentelle Untersuchung; mit einem Anhang: Über das
stand ist auf Dauer nicht erträglich und sollte ziel- Hipp’sche Chronoskop. Göttingen 1905.
strebig beendet werden. Dies kann einerseits durch Arbeitsgruppe OPD: Operationalisierte Psychodynamische Dia-
den Ausbau einer Forschungslandschaft innerhalb gnostik. Grundlagen und Manual. Bern 1996.
Brandl, Yvonne/Georg Bruns u. a.: Psychoanalytische Therapie.
der Ausbildungsinstitute geschehen und andererseits Stellungnahme für den Wissenschaftlichen Beirat Psycho-
durch die Rückgewinnung psychoanalytischer Essen- therapie. In: Forum der Psychoanalyse 20 (2004), 13–125.
tials in den universitären Einrichtungen. Das erste Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt
scheint im Moment einfacher als das zweite. Die In- [1874]. Hamburg 1955.
Damasio, Antonio R.: Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und
ternationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV) das menschliche Gehirn. München/Leipzig 1997.
hat eine ständige Forschungskonferenz, die jährlich Dollard, John/Neal Miller: Personality and Psychotherapy: Ana-
in London tagt, sowie eine Summerschool am Lon- lysis in Terms of Learning, Thinking and Culture. New York
don City College eingerichtet. Die deutsche Psycho- 1950.
Fechner, Gustav Theodor: Elemente der Psychophysik. Leipzig
analytische Gesellschaft hat ein ähnliches Vorhaben 1860.
gestartet. Grawe, Klaus: Psychotherapieforschung zu Beginn der neun-
Die Rückgewinnung psychoanalytischer Essentials ziger Jahre. In: Psychologische Rundschau 43 (1992),
an die Universitäten scheint schwierig. In der Um- 132–162.
–: Neuropsychotherapie. Göttingen 2004.
frage von Jürgen Margraf (1994) haben von den über – /Ruth Donati/Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wan-
27 Beratungsstellen an den klinisch-psychologischen del – von der Konfession zur Profession. Göttingen/Bern
Instituten nur drei eine psychoanalytische Ausrich- 1994.
tung, so daß auf absehbare Zeit eine psychoanalyti- Gray, Paul: The Assault on Freud. In: Time, November 1993,
29, 37–47.
sche Ausbildung unter dem Dach bzw. dem Schutz Haynal, André: Psychoanalytische Erkenntnis. Stuttgart 1994.
der klinischen Psychologie nicht denkbar und nicht Kächele, Horst/Rainer Richter: Germany and Austria. In: Ste-
möglich ist. Dementsprechend sind auch alle Weiter- fan de Schill/ Serge Lebovici (Hg.): The Challenge of Psycho-
bildungsinstitutionen, die innerhalb von Universitä- analysis and Psychotherapy. London/Philadelphia 1999,
48–63.
ten akkreditiert worden sind – bis auf eine –, ver- Kandel, Eric R.: Neurowissenschaften. Heidelberg 1996.
haltenstherapeutisch orientiert. Kernberg, Otto: Institutional Problems of Psychoanalytic Edu-
Da in den ärmeren Ländern mit einer Finanzie- cation. In: Journal of American Psychoanalytic Association 34
rung – einer wie auch immer gearteten staatlichen (1986), 799–834.
–: Der gegenwärtige Stand der Psychoanalyse. In: Psyche 48
Weiterbildung – definitiv nicht zu rechnen ist und (1994), 483–508.
die Psychologie als strenges Numerus-Clausus-Fach Krause, Rainer: Psychologie und Psychoanalyse. In: Zeitschrift
keine Lehre nach Außen exportieren darf, bleiben wir für Klinische Psychologie 16 (1987), 2–10.
Psychologie 301

–: Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre – Band 1: Murray, Henry A.: Psychology and the University. In: Edwin S.
Grundlagen. Stuttgart 1997. Shneidman (Hg.): Endeavors in Psychology. Selections from
–: Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre – Band 2: Mo- the Psychology of Henry A. Murray. Neuaufl. New York 1988,
delle. Stuttgart 1998. 337–351.
–: Rez. von Grawe, Klaus (1998): Psychologische Therapie. Nersessian, Edwin/Mark Solms: Concluding Remarks. In:
Göttingen: Hogrefe. In: Der Psychotherapeut (1999), Neuro-Psychoanalysis – An Interdisciplinary Journal for Psy-
198–200. choanalysis and the Neurosciences 1.1 (1999), 91–96.
–: Störungen der Emotionalität. In: Jürgen H. Otto/Hans A. Panksepp, Jaak: Emotions as Viewed by Psychoanalysis and
Euler/Heinz Mandl (Hrsg.): Emotionspsychologie. Weinheim Neuroscience: An Exercise in Consilience. In: Neuro-psycho-
2000, 545–555. analysis – An Interdisciplinary Journal for Psychoanalysis and
Leichsenring, Falk: Comparative Effects of Short-term Psycho- the Neurosciences 1.1 (1999), 15–39.
dynamic Psychotherapy and Cognitive Behavioral Therapy Rapaport, David: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie,
in Depression. A Meta-analytic Approach. In: Clinical Psy- Versuch einer Systematik. Stuttgart 1973.
chology Review 21 (2001), 401–419. Seiffge-Krenke, Inge: Psychoanalytische Entwicklungspsycholo-
–: Zur Wirksamkeit psychodynamischer Therapie. Ein Über- gie. Vortrag auf dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft
blick unter Berücksichtigung von Kriterien der Evidence- für Psychologie. Hamburg 1994.
based Medicine. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin Spitzer, Manfred: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken
und Psychotherapie 48 (2002), 139–162. und Handeln. Heidelberg/Berlin 2000.
LeDoux, Joseph: Psychoanalytic Theory: Clues from the Brain: Wallerstein, Robert S.: Psychoanalysis and Academic Psychia-
Commentary. In: Neuro-Psychoanalysis – An Interdiscipli- try-Bridges. In: The Psychoanalytic Study of the Child, 35
nary Journal for Psychoanalysis and the Neurosciences 44 (1980), 419–448.
(1999), 44–49. Wittchen, Hans-Ullrich/Henning Saß u. a.: Diagnostisches und
Leuzinger-Bohleber, Marianne: Developing Psychoanalytic Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM-III-R.
Practice and Training. Vortrag in Rio de Janeiro 2005. Weinheim 1989.
Margraf, Jürgen: Mitteilungen der Fachgruppe klinische Psy- Rainer Krause
chologie. In: Zeitschrift für klinische Psychologie 23 (1994),
324–333.
302

3. Kulturwissenschaft

Schon früh hat Freud erkannt, daß das Unbewußte des Unbewußten wie auch seine Mechanismen in al-
nicht nur eine Dimension des Individuums, sondern len Gebieten des Alltags herausgearbeitet worden.
auch von Kollektiven, von kulturellen und sozialen Die von Ellenberger herausgestellten vier Grün-
Prozessen oder von Kunstwerken sei. Das Unbewußte dungsväter der Psychologie des Unbewußten – P. Ja-
gehöre zu den steuernden Kräften der Geschichte. net, C. G. Jung, S. Freud und A. Adler – sind ohne
Freud dehnte bald nach 1900 den Geltungsanspruch diese Vorgeschichte nicht denkbar. Wie oft, so ruht
der Psychoanalyse bis in die Urgeschichte aus (Totem auch hier der wissenschaftliche Diskurs auf vorpara-
und Tabu, 1912/13) und legte die Grundlagen für digmatischen Wissenskulturen. Doch noch heute ste-
die Ethnopsychoanalyse, für eine psychoanalytische hen das Unbewußte und seine Diskurse im Ruch, das
Kulturtheorie, für die Psychohistorie und für die An- Widervernünftige zu fördern. Das Gegenteil ist der
wendung der Psychoanalyse in der Sozialwissen- Fall: nicht die Anerkenntnis, sondern die Einkreisung
schaft. und Ausschließung des Unbewußten treiben das Irra-
Seit Jahrhunderten gibt es ein protopsychoanaly- tionale hervor. Freud hat dies in seinen ersten kultur-
tisches Wissen vom Unbewußten. Das hat Henry F. analytischen Schriften erkannt (Die kulturelle Sexual-
Ellenberger in seinem klassischen Werk Die Entdek- moral und die moderne Nervosität, 1908), vor allem
kung des Unbewußten (1961) dargestellt. Seit dem unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs im Er-
Ende des 18. Jh.s taucht in der Philosophie, der Psy- sten Weltkrieg (Zeitgemäßes über Krieg und Tod,
chologie, der Anthropologie und in der Ästhetik die 1915). Das Unbewußte ist eine Kraft, die, wenn sie
Kategorie des Unbewußten auf. Sie war historisch fäl- nicht in zivile Formen eingebettet wird, selbst hoch-
lig, weil die Philosophie der Aufklärung von Descar- entwickelte Kulturen barbarisieren kann.
tes bis Kant eine Bewußtseinsphilosophie war, die ih- Freud war bis zuletzt der Überzeugung, daß das
ren Umschlag geradezu hervortrieb. Seit der Roman- Unbewußte das Ergebnis einer urgeschichtlichen Ver-
tik war unabweisbar, daß das Unbewußte kein unbe- drängung sei, durch die Kultur erwächst (Totem und
kannter Kontinent ist, den man nur zu besetzen Tabu, 1908; Die Zukunft einer Illusion, 1927; Das Un-
habe, um ihn dem selbstgewissen Geist einzugemein- behagen in der Kultur, 1939; Der Mann Moses und die
den. Das Unbewußte läßt sich nicht kolonisieren. monotheistische Religion, 1939). Das Unbewußte sei
Das ist eine Einsicht, die sich nicht einmal bei Freud eine Urtatsache, so sehr seine Inhalte sich historisch
völlig durchsetzte. Auch bei ihm gilt, daß das Unbe- wandeln mögen.
wußte der bewußtmachenden Kritik zuzuführen sei. Dafür ist der Ödipus-Komplex der klassische Fall.
Zugleich aber fügt Freud sich in die Einsicht, wonach Bei Freud wird die Tragödie König Ödipus des So-
die Macht des Unbewußten niemals zu brechen sei. phokles (497/6–404 v. Chr.) gleichsam zu einer
Die Reife eines Ich oder einer Kultur ist am Maß der Maske von zeitlosen Konflikten zwischen unbewuß-
Anerkennung des Unbewußten zu erkennen. tem Begehren und kulturellen Tabus. Für Freud sind
Mit Franz Anton Mesmer (1734–1817) und A.- dies Trieb-Konflikte, die in Theben ebenso wie im
M. J. de Puységur (1751–1825), der 1784 die hypno- Wiener Bürgersohn oder in einer Stammeskultur
tische Kur erfand, beginnt ein Diskurs, der den quali- auftreten. Freud hat damit einer ahistorischen Uni-
tativen Status des Unbewußten demonstriert. In der versalisierung Vorschub geleistet. Das Wiedererken-
romantischen Philosophie und Wissenschaft (Schel- nen der unbewußten Konflikte von Patienten der
ling, G. H. Schubert, C.A.F. Kluge, C. A. v. Eschen- Wiener Gesellschaft um 1900 in den mythischen For-
mayer, D. G. Kieser u. a.) wie in der Literatur (L. men der Antike ist jedoch nicht einfach ein projekti-
Tieck, Novalis, Jean Paul, A. v. Arnim, E.T.A. Hoff- ver Kurzschluß; sondern zugleich wird damit der
mann u. a.) sind zudem die kategoriale Autonomie Einsicht Tribut gezollt, daß im Inneren des zeitge-
Kulturwissenschaft 303

nössischen Subjekts archaische Muster stillgestellt jektion, Introjektion, Identifizierung und andere Ab-
und dem Fluß der Zeit entzogen sein können. Diese wehrmechanismen stellen Initialsituationen still, de-
achrone Struktur, welche im Individuum einen be- ren verallgemeinerte Darstellung (in Form von Göt-
herrschenden Einfluß auf Verhalten, Objektwahl und tern, Mythen, Dämonen, Ursprungserzählungen,
Selbstverständnis erlangen kann, wird von Freud Träumen, magischen Ritualen etc.) eine kulturelle
auch mit der Metapher des »inneren Auslandes« be- Gemeinschaft gerade gegen historischen Wandel ab-
legt. Davon wird die Topik des Ich bestimmt. Sie er- dichtet und somit zusammenhält. Die Freudsche In-
faßt die qualitativen Brüche von Vertrautheit und tuition weist für kulturhistorische Forschung in die
Fremdheit, von Bewußt und Unbewußt, von Traum richtige Richtung, wenn er religiöse Ursprungserzäh-
und Wachen, von Begehren und moralischer Kon- lungen oder ethnische Gebräuche als psychische
trolle, vor allem aber von Zeitformen im Subjekt Konflikt- oder Schlichtungsverläufe auslegt, die sym-
selbst. Der Einsicht entzogene, mächtige Triebforma- bolisch geronnen sind.
tionen gehorchen dem Gesetz der Wiederholung: Es Freud war klar, daß er dabei nicht positive Ge-
sind zeitlich stillgestellte, gleichwohl wirksame, schichtsschreibung betrieb, sondern historische
quasi-mythische Muster. Zugleich stehen die bewuß- Quellen interpretierte. Das unterscheidet ihn von
ten Ich-Anteile im Takt zur historischen Zeit und än- C. G. Jung (1875–1961). Nach seiner Trennung von
dern sich mit ihr. Dieses prekäre Verhältnis von Freud befestigte Jung seine Überzeugung, daß der
Struktur und Geschichte, das auch für den späteren Vielfalt der symbolischen Formen ein überzeitliches
Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und seiner Archiv von Archetypen zugrundeliege. Diese stellten
Nachfolger zentral ist, angemessen zu bestimmen, ist den steuernden Code von kulturellen Praktiken dar.
nicht nur für die Psychoanalyse, sondern für eine Jung glaubte, die überzeitlichen Symbole entziffert zu
Theorie der kulturellen Systeme von größter Bedeu- haben, welche die Konflikte von Individuen und kul-
tung. turellen Einheiten steuern; während Freud umge-
Viele ›Ausdehnungen‹ des Ödipus-Komplexes auf kehrt die für Kulturen basalen Konflikte zu rekon-
außereuropäische oder urgeschichtliche Zustände struieren suchte, welche in symbolischen Formen ih-
haben sich, obwohl Freud sich in Ethnologie, Ägyp- ren Ausdruck fanden. Zum anderen unterscheidet
tologie und Religionswissenschaft abzusichern sich Freud aber auch von Nachfolgern wie etwa von
suchte, vor der Geschichtsforschung nicht bewährt. Otto Rank (1884–1939), dessen Werk Das Inzest-Mo-
Der Totemismus, in den Freud seine auf dem Vater- tiv in Sage und Dichtung (1912/1926) eine kulturell
mord beruhende Kulturentstehungstheorie eintrug, wie historisch indifferente Synopse über das Inzest-
war schon zu seinen Zeiten ein überdehntes Para- Motiv enthält. Bereits von den 1910er Jahren an fin-
digma, mit dem Ethnologen glaubten, universale det man in der psychoanalytischen Bewegung eine
Kulturmuster identifiziert zu haben. Gerade dieser Fülle von Studien, welche im kulturellen Feld die
falsche Universalismus, den Lévi-Strauss dekonstru- psychoanalytischen Symptome aufsammelten – kon-
ierte (Das Ende des Totemismus, 1962/1965), gab text- und geschichtslos. Freud war vorsichtiger. Er
Freud die Möglichkeit, den Ödipus-Komplex zu ei- wußte, daß Psychoanalyse zur Projektion werden
ner basalen Struktur von Kultur zu generalisieren. kann. Dies ist Freud bei der Herleitung des Mono-
Ähnlich hat Freud den Ursprung der monotheisti- theismus selbst widerfahren: Die Freudsche Ur-
schen Religion im ägyptisch-jüdischen Überschnei- sprungserzählung des Judentums wurde unter der
dungsraum aus einer scharfsinnigen, aber unhaltba- Hand zu seiner Auseinandersetzung mit dem eigenen
ren Anwendung des Ödipus-Komplexes und seiner Volk (vgl. Yerushalmi 1991/1992).
Verschuldungsdynamik gewonnen (Der Mann Moses Freud zeigt eine nach ihm niemals wieder erreichte
und die monotheistische Religion, 1939). Offenheit der Psychoanalyse für Ethnologie, Religi-
Trotz der im einzelnen überholten Aussagen sind onswissenschaft und Kulturanalyse. Trotz der späte-
die kulturgeschichtlichen Ansätze Freuds produktiv. ren Reduzierung der Psychoanalyse auf das Indivi-
Sie sind nicht ohne Nachfolger geblieben. Die im duum und sein engstes Feld, die Familie, ist diese
19. Jh. in der Religionskritik – z. B. bei Ludwig Feuer- Wirkung Freuds nie zum Erliegen gekommen. Wie
bach oder Karl Marx – verbreitete Annahme, wonach differenziert eine Religionswissenschaft mit dem
religiöse und mythische Mächte aus kollektiven Pro- Ödipus-Syndrom umgehen kann, zeigt heute etwa
jektionen im Interesse der Herrschaftsstabilisierung Klaus Heinrich (Arbeiten mit Ödipus. Begriff der Ver-
hervorgegangen seien, ergänzt Freud um eine wich- drängung in der Religionswissenschaft, 1995). Wie
tige Dimension: danach verdanke sich die Resistenz kreativ die Auseinandersetzung mit dem Freudschen
der Religion ihrem unbewußten Funktionieren. Pro- Ödipus ausfallen kann, ist an Gilles Deleuze und Fé-
304 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

lix Guattari abzulesen, deren Anti-Ödipus (1972/ turwissenschaftlicher Perspektive bleiben die Freud-
1977) für eine junge Generation, die sich vom ödipa- schen Einsichten in das kulturelle und biographische
len Gesetz zu befreien suchte, zum Grundbuch ›Gemachtsein‹ von geschlechtlichen Identitäten der
wurde. Der Anti-Ödipus stand auch im Hintergrund entscheidende Ausgangspunkt.
von Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78), Die sozialpsychologischen Arbeiten Freuds regten
worin dieser das ödipale Verhängnis hochstilisierte ferner sozialwissenschaftliche Adaptionen an, die er
zur Langzeit-Ursache für die präödipalen kollektiven freilich kritisch bewertete: Siegfried Bernfeld (1893–
Ekstasen, welche das unbewußte Unterfutter für 1952) wurde für den Bereich einer emanzipatori-
männliche Gewaltregimes aller Couleur und Zeiten schen Jugendforschung und Pädagogik einflußreich;
darstellten. Die Ethnopsychoanalyse dagegen fand in während Wilhelm Reich (1897–1957) zum Ausgangs-
Georges Devereux sowohl theoretische wie prakti- punkt für eine kulturrevolutionäre Befreiung wurde
sche Ausformungen (Angst und Methode in den Ver- (SexPol-Bewegung der 1920er, 30er und 70er Jahre).
haltenswissenschaften, 1967/1984; Ethnopsychoana- Für die Kulturwissenschaft bedeutsamer wurden die
lyse, 1972/1978). Devereux entwickelte auch eine empirischen Untersuchungen, welche von der frühen
komparatistische Psychoanalyse der Mythenfor- Frankfurter Schule geleistet wurden. Hier gelang die
schung (Baubo. Die mythische Vulva, 1981) und eine Verbindung der interpretativen Psychoanalyse mit
ethnopsychoanalytische Variante der Traumdeutung Gesellschaftstheorie und sozialwissenschaftlicher
(Träume in der griechischen Tragödie, 1976/85), wel- Empirie. In Konsequenz dessen wurde eine kritische
che die große Tradition der antiken und neuzeitli- Theorie des Subjekts sowie der Gesellschaft geleistet:
chen Traumbücher bis hin zu Freuds Traumdeutung im Zusammenwirken von Ökonomie, politischer
(1900) fortsetzt. Hier sind auch die Einflüsse der Psy- Herrschaft, Klassenschichtung und Ideologiebildun-
choanalyse auf die Ethnologie von Michel Leiris oder gen wurde erstmals auch die Dimension unbewußter
Claude Lévi-Strauss zu nennen. Auch in der Feld- Dynamiken beachtet (Max Horkheimer/Theodor W.
arbeit hat sich die Ethnopsychoanalyse bewährt, wo- Adorno: Dialektik der Aufklärung, 1947; Zeitschrift
für Arbeiten aus dem Kreis um Paul Parin stehen für Sozialforschung, 1932–41; Erich Fromm/Max
(Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Unter- Horkheimer u. a.: Studien über Autorität und Familie,
suchungen bei den Dogon in Westafrika, 1963; Fürchte 1936).
deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Im Hintergrund solcher Studien stand neben den
Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika, 1971). sexualwissenschaftlichen Arbeiten Freuds dessen kul-
Sozialtheoretische Konsequenzen für das Zusam- turtheoretische Schrift Das Unbehagen in der Kultur
menspiel von Gesellschaft und Unbewußtem entwik- (1930) sowie Massenpsychologie und Ich-Analyse
kelt Mario Erdheim (Die gesellschaftliche Produktion (1921). Darin hatte Freud zuerst sein Konzept kollek-
von Unbewußtheit, 1982). tiv irrationaler Reaktionsbildungen als Funktionen
In der Religionswissenschaft sind Forschungsrich- eines Triebversagung erfordernden Kulturprozesses
tungen wie die von René Girard (Das Heilige und die entwickelt. Norbert Elias übertrug die Freudsche Psy-
Gewalt, 1972/1994) oder von Walter Burkert (Homo choanalyse auf seine langwelligen Prozeßanalysen
Necans, 1972) ohne den Einfluß Freuds kaum denk- von Genese und Verlauf der europäischen Zivilisa-
bar. Eine Kulturwissenschaft, die die symbolischen tion (Über den Prozeß der Zivilisation, 1939). Die
Formen und Pathosformeln (Aby Warburg), die Ri- psychoanalytische Kulturforschung fand ihre Fortset-
tuale und Imaginationen der Religionen untersucht, zung im Kreis um Alfred Lorenzer (Psychoanalyse als
kann auf die von Freud initiierten Traditionen nicht Sozialwissenschaft, 1971; Kultur-Analysen, 1986). Lo-
verzichten. Doch auch von C. G. Jung gingen Anre- renzer hatte sich lange um Vermittlungen von Psy-
gungen aus, wofür die klassische Studie von Erich choanalyse, Sprachhandlungstheorien und Soziolo-
Neumann über Die Große Mutter (1956/85) exem- gie in mikro- wie makrosozialer Perspektive bemüht.
plarisch ist. Darin war Jürgen Habermas (Erkenntnis und Inter-
Wie sinnvoll eine gender-Forschung sich mit der esse, 1968) mit seiner kommunikationstheoretischen
Psychoanalyse ergänzt, kann man an Hermann Bau- Reformulierung des Freudschen Modells vorange-
mann (Das doppelte Geschlecht, 1955/1980) ablesen. gangen.
Lange vor feministischen Arbeiten in Nachfolge von Für die gegenwärtige Kulturwissenschaft nicht nur
Jacques Lacan (Judith Butler: Körper von Gewicht, in Frankreich, sondern auch in den USA, England,
1993/1995) hat Baumann auf die kulturelle Verflüssi- Südamerika und Deutschland war Jacques Lacan
gung der dualen gender-Ordnung hingewirkt. Für (1901–1981) außerordentlich wirkungsvoll. Die Kon-
eine (feministische) Geschlechterforschung in kul- zeption Lacans ist es, das Unbewußte »wie eine Spra-
Kulturwissenschaft 305

che« zu denken. Zwar widerspricht Lacan dem carte- bieten scheint. Freud indes hätte solche Spielarten
sianischen Logozentrismus mit seiner Fundierung des Posthumanismus abgelehnt.
des Ich in der kontrollierten Handhabe der Begriffs- Ein sichereres Terrain bieten zwei andere Anwen-
sprache. Und doch bleibt Lacan im Feld der Sprache dungsfelder der Psychoanalyse. Das eine ist mit den
und damit auf vertrautem Gelände. Lacan schließt an Stichworten ›Idolenkult‹ und ›Fetischismus‹ zu um-
Bestimmungen Freuds an, die dieser für die Gram- reißen. Es scheint so, daß die politischen Herrschafts-
matik des Unbewußten konstatiert hatte. So kennt systeme wie die Massenmedien der Moderne ohne
das Unbewußte keine Negation, keine Frageform, die Erzeugung von Idolen keine verläßliche Massen-
keine Hypotaxe, keine zeitlichen Modalisierungen; loyalität erzeugen. Die quasireligiösen Bindungen an
dafür wird es wesentlich durch Verdichtung (Meta- erhöhte, projektive Figuren der Verehrung und Ver-
pher) und Verschiebung (Metonymie) bestimmt. Da- kultung schaffen homogene Identifizierungsmuster,
mit fehlen dem Unbewußten wesentliche Merkmale deren ungeheure Integrationskraft nur mittels einer
der Sprache, während die tropischen Figuren (Meta- kulturhistorischen Psychoanalyse zureichend ver-
pher, Metonymie) wiederum nicht dem Unbewußten standen wird. Ähnlich schaffen die massenhaft das
allein zukommen, weil sie auch bewußte Sprechakte Ich umgebenden Dinge, zu Fetischen des Begehrens
sein können, z. B. in der Literatur. Auch scheint nicht mutiert, unbewußte Abhängigkeiten (ohne die Ding-
geklärt, warum die Sprache und nicht etwa die Logik Fetische verliert das Ich seinen Halt), welche als so-
von Bildern das Unbewußte charakterisiert. So folgt ziale Bindungsmittel strategisch eingesetzt werden.
der Traum einer Bildlogik mehr als einer sprachli- Hier gewinnt die psychoanalytische Kulturwissen-
chen Grammatik. schaft konkrete Forschungsaufgaben.
Lacan gewinnt mit der von F. de Saussure beein- Zum zweiten leistet die Psychoanalyse gute Dienste
flußten Konzeption die Möglichkeit, eine nicht-sub- bei der Entzifferung ästhetischer Prozesse der Pro-
stantialistische, dezentrierte Fassung des Subjekts zu duktion wie Rezeption von Kunst, allgemeiner von
konstruieren. Das Subjekt unterliegt der Sprache und Objekten des Gefallens oder Mißfallens. Kunst ist
dem in der symbolischen Ordnung sedimentierten, nicht nur, aber doch auch, so Freud, die Freigabe des
im Phallus konzentrierten Gesetz des Vaters. Durch sonst Verbotenen (Der Dichter und das Phantasieren,
dieses Gesetz wird das unbewußte Begehren unlös- 1908) – so ist jedes ästhetische Objekt ein Response
lich an seinen Mangel, die Unerreichbarkeit des Ob- des Begehrens im Kampf mit den Orthodoxien der
jekts und des imaginären Selbst gefesselt. Darauf be- Kultur. Das Imaginäre, und dazu gehören heute die
ruht der »Mangel an Sein«, der Subjektwerdung und Massenmedien, ist ein sich ständig umwälzendes und
Begehren strukturiert. In manchen Zügen verewigt anreicherndes Archiv des Unbewußten, sozusagen
Lacan damit die ödipalen und patriarchalistischen seine medial externalisierte Gestalt, die in dieser Ge-
und antifeministischen Züge der Freudschen Theo- ronnenheit – als Kunstobjekt, Film, Roman, Tanz –
rie. Dies ist oft kritisiert worden. Wirksam aber entzifferbar wird für eine psychoanalytische Kultur-
wurde ebenso die andere Seite seines Modells, wo- wissenschaft. Mit Freud ist die mediale Maschine zu
nach man dem konstruktiven Charakter aller Identi- bestimmen, die mit unheimlicher Produktivität heute
täten die Pointe geben und diese als Funktionen des die unbewußten Phantasmen und Imaginationen ge-
Kulturprozesses erscheinen lassen kann. Das Unbe- neriert, welche unsere Kultur darstellen und unsere
wußte, als generative semiotische Maschine, ist dann, Gesellschaft zusammenhalten – vor ihrem Kollaps im
anders als in der Ödipus-Tragödie, kein Schicksal Realen.
mehr, sondern ein Code sich verschiebender Bedeu-
tungen, der den historischen Subjekten auch die
Chance bietet, sich den Festlegungen der symboli- Literatur
Baumann, Hermann: Das doppelte Geschlecht. Ethnologische
schen Ordnung zu entziehen. Das ist zwar jenseits Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos [1955]. Berlin
2
von Lacan gedacht, der auf der Unhintergehbarkeit 1980.
des Gesetzes des Vaters besteht, nutzt aber die Lacan- Burkert, Walter: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer
Opferriten und Mythen. Berlin/New York 1972.
sche Pointe, das Unbewußte und die symbolische Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des
Ordnung als Konstrukt zu verstehen. Damit werden, Geschlechts. Berlin 1995 (amerik. 1993).
vor allem in den USA (z. B. Donna Haraway: Die Deleuze, Gilles/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und
Neuerfindung der Natur, 1991/95), Anschlüsse an die Schizophrenie. Frankfurt a. M. 1977 (frz. 1972).
Devereux, Georges: Ethnopsychoanalyse. Frankfurt a. M. 1978
Cyberkultur gefunden, da diese eine postnaturale (frz. 1972).
und tropische Modellierung von Selbstformationen, –: Baubo – Die mythische Vulva. Frankfurt a. M. 1981 (frz.
kulturellem Sinn und kommunikativen Prozessen zu 1983).
306 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

–: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frank- Lacan, Jacques: Schriften I – III. Olten 1973–1980 (frz. 1966).
furt a. M. 1984 (frz. 1962). Lévi-Strauss, Claude: Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M.
–: Träume in der griechischen Tragödie. Eine ethnopsychoana- 1965 (frz. 1960).
lytische Untersuchung. Frankfurt a. M. 1985 (frz. 1979). Lorenzer, Alfred: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkennt-
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische nis. Ein historisch-materialistischer Entwurf [1976]. Frank-
und psychogenetische Untersuchungen [1939]. 2 Bde. Frank- furt a. M. 1985.
furt a. M. 211997. – (Hg.): Kultur-Analysen. Frankfurt a. M. 1986.
Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Ge- – /Helmut Dahmer/Klaus Horn/Karola Brede/Enno Schwa-
schichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von nenberg: Psychoanalyse als Sozialwissenschaft. Frankfurt
den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Bern/ a. M. 1971.
Stuttgart/Wien 1973 (engl. 1970). Neumann, Erich: Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der
Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbe- weiblichen Gestaltungen des Unbewußten [1956]. Olten/Frei-
wußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen burg i. Br. 1985.
Prozeß. Frankfurt a. M. 1982. Parin, Paul/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy: Die Wei-
Fromm, Erich/Max Horkheimer u. a.: Studien über Autorität ßen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den
und Familie. Paris 1936. Dogon in Westafrika [1963]. Frankfurt a. M. 1991.
Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 1994 –: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und
(frz. 1972). Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika [1971]. Frank-
Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. furt a. M. 1991.
1968. Rank, Otto: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage [1912].
Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cy- Darmstadt 1974 [= Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig/Wien
borgs und Frauen. Frankfurt a. M. 1995 (amerik. 1991). 1926].
Heinrich, Klaus: Arbeiten mit Ödipus. Begriff der Verdrängung Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt a. M.
in der Religionswissenschaft. Frankfurt a. M. 1993. 1977/78.
Horkheimer, Max (Hg.): Zeitschrift für Sozialforschung. Jg. 1–9 Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unend-
(1932–1941), Neudruck München 1980. liches Judentum. Berlin 1992 (engl. 1991).
– /Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophi- Hartmut Böhme
sche Fragmente. Amsterdam 1947.
307

4. Kunst und Kunsttheorie

Manche Kunstwerke der Romantik, des Symbolismus Psychoanalytiker in die Irre zu führen. Im Steinbruch
und der Dekadenz, lange vor dem Auftreten der Psy- der Kulturgeschichte liegen in ausreichender Zahl
choanalyse geschaffen, lesen sich nachträglich wie ge- Stereotype aus der psychoanalytischen Enthüllungs-
malte, gezeichnete und in Bronze gegossene Kom- ära bereit. Das heißt nicht, daß eine solche Kunst, die
mentare zu Freuds Traumdeutung. Max Klingers Zy- sich, wie die appropriation art, die Kunst-Figuren ih-
klus »Ein Handschuh«, um 1880 entstanden, ist ein rer Vorgänger aneignet, frei von unbewußten Bedeu-
zugleich erzählter und analysierter Traum. Ohne den tungen wäre; aber diese liegen gewiß nicht in den
einzelnen Bildern des Zyklus Gewalt anzutun, kann Symbolen und Figuren aus der Asservatenkammer
man ›unterhalb‹ des gemalten manifesten Traums die der Psychoanalyse.
Arbeit der gemalten Traumentstellung, die Mecha-
nismen der Traumarbeit und den latenten Traum-
Psychoanalyse als Kunst
gedanken erkennen und diese Bereiche voneinander
scheiden. Das gleiche gilt für Odilon Redons »Dans le Der Wirkungsgeschichte des Verhältnisses von Psy-
rêve« von 1879. Nachträglich kann man wohl sagen, choanalyse und Kunst nähert man sich heute nur
daß Die Traumdeutung ohne das Klima, in dem diese noch, wenn man das Stichwort Psychoanalyse und
Bilder entstanden, ihrerseits nicht hätte entstehen Kunst zugleich als ein Psychoanalyse als Kunst liest.
können. Nachträglich wirken diese visuellen Vorläu- Denn die Psychoanalyse hat auf die Kunst nicht da-
fer Freuds aber auch schrecklich naiv und plakativ. durch besonders fruchtbar eingewirkt, daß Künstle-
Das ändert sich mit den Surrealisten, die, an der rinnen und Künstler psychoanalytische Werke gele-
neuen Wissenschaft der Psychoanalyse geschult, de- sen oder sich einer Psychoanalyse unterzogen hätten.
ren Erkenntnisse bewußt in ihre literarischen und Das haben Künstler zwar immer auch getan – heute
bildnerischen Produktionstechniken einbauen. Das nicht weniger als vor hundert Jahren. Viel entschei-
Verschwinden, die Lücke, die Verneinung, die kon- dender ist, daß die Psychoanalyse für eine subjektive
vulsivische Zuckung der Hysterie werden bei André Dimension der Erfahrung steht, die vielerlei struk-
Breton oder Salvador Dalí zum Formprinzip der turelle Gemeinsamkeiten mit der ästhetischen Erfah-
künstlerischen Gestaltung. rung der Moderne teilt. Ein psychoanalytischer Pro-
Mit der Veralltäglichung der Psychoanalyse ebbt zeß stellt sich ebenso nur in der Muße des Sichfrei-
die Begeisterung der Künste für die nun nicht mehr machens vom Heilungszwang ein, wie ein Kunstwerk
neue Wissenschaft auch rasch wieder ab. Es hätte nur in der Muße des Sichfreimachens vom Bedeu-
nicht der nationalsozialistischen Barbarei bedurft, tungszwang (was soll denn das bedeuten, was ich da
um die junge Allianz zu trennen. Das zeigt die ame- herstelle, sehe oder höre?) sich einstellt. Beide brau-
rikanische Kunstgeschichte. Wenn sich nach 1950 chen eine gewisse Entlastung vom ökonomischen
Künstlerinnen und Künstler für die Psychoanalyse Praxisdruck. Ebenso brauchen beide eine gewisse
interessieren, dann nicht mehr für irgendwelche Zeitlosigkeit, einen Zeitaufschub, eine Verweigerung
Traumsymbole oder inzwischen langweilig geworde- der Antwort auf die Frage, wozu das gut sein soll.
nen Enthüllungen aus dem Reich des verdrängten Se- Kunst funktioniert ebenso wie ein psychoanalyti-
xuellen – nach dem Muster: lackierte Zehennägel = scher Prozeß nur innerhalb eines gesellschaftlich de-
erigierter Penis; blicklose Augen der Statue = leere finierten und von den Beteiligten akzeptierten Rah-
Depression. Wenn heute ein Künstler Elemente aus mens. Wie zum psychoanalytischen Prozeß die Fest-
dem Vokabular der Psychoanalyse in sein Werk ein- legung der Stunde, des Honorars und der jeweiligen
baut, dann nicht, wie noch Alfred Hitchcock, um et- Aufgaben der beiden Partner des Geschehens gehört,
was zu enthüllen, sondern eher, um den gutgläubigen so gehört zum Kunstwerk seine Präsentation in ei-
308 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

nem festgelegten Rahmen von Markt, Museum und zur nächsten Armbeugen- und Schultersequenz, so
der normativen Festlegung: Dies ist Kunst. Und vor wie wir etwa die Erscheinungsformen eines Angst-
allem: In der Kunst wird wie in der Psychoanalyse äquivalentes in der Phobie, in der Bulimie und in der
nach jeweils internen Regeln ein vorhandenes, be- Perversion in ihrem Bewegungsablauf differentialdia-
kanntes Etwas (die Ansicht eines Baums, ein Bezie- gnostisch-hypertroph herausarbeiten.
hungskonflikt) in ein neues, noch unbekanntes Etwas
umgeformt.
Vier Zugänge der Psychoanalyse
Eine ziemlich gute Antwort auf die schwierige
zur Kunst
Frage »Was ist ein Bild?« hat Michael Polanyi gege-
ben. Danach umfaßt ein Bild »sowohl die perspek- Am Beitrag der Psychoanalyse zur Kunst lassen sich
tivische Tiefe seiner Malerei als auch die Flachheit vier Felder unterscheiden: die Psychopathographie
seiner Leinwand, wobei diese kontradiktorischen Ei- des Künstlers, die Interpretation von konkreten
genschaften als eine verbundene Qualität gesehen Kunstwerken mittels der sogenannten Gegenübertra-
werden; und in der Tat ist eben diese Qualität für ein gung, der Beitrag der Psychoanalyse zu einer Philo-
normales Bild charakteristisch« (Polanyi 1970/1994, sophie der Kunst und die Erforschung der künstleri-
154). Diese Bestimmung des Bildes als der Einheit schen Kreativität. Im Werk einzelner psychoanalyti-
des Widerspruchs von Flachheit und Tiefe, von Rah- scher Autoren überlagern sich natürlich diese Felder,
men und Stoff, läßt sich vom Bild auf die Kunst über- wie schon bei Freud, auf vielfache Weise. Dennoch
haupt und von da auf die Psychoanalyse übertragen: kann man einige Zugänge unterscheiden.
Wenn wir die Trauben auf dem Bild so sehr für wirk-
liche halten, daß wir sie »wirklich« essen wollen,
Ein psychopathographischer, über die
bricht das Bild zusammen, und wenn wir den Mord
Künstler-Psyche laufender Zugang
auf der Bühne für so wirklich halten, daß wir von
unserem Sessel aufspringen und die Polizei rufen, Dieser Zugang hat seine Urform in Freuds Leonardo-
bricht das Stück zusammen. Derselbe Grundkonflikt Arbeit (GW VIII, 127–211). Dabei wird ein Element
von Flachheit und Tiefe bestimmt auch den psycho- X aus dem Leben des Künstlers, vorzugsweise ein
analytischen Prozeß. Eine Stunde dauert 50 Minuten Kindheitskonflikt oder ein frühes Trauma, mit einem
und kostet 70 Euro; und innerhalb dieses »flachen« Element Y aus seinem Kunstschaffen derart in eine
Rahmens drängt jetzt ein »tiefer« Triebwunsch zu Er- Passung gebracht, daß die psychoanalytische Deu-
füllung und äußert sich in allen möglichen Formen tung Z plausibel erscheint. Im Falle von Freuds Leo-
von Liebe und Haß, Erwartung und Enttäuschung. nardo sind das X die »zwei Mütter« und die »Geier-
Und wenn die Patientin ihren Analytiker nun wirk- Phantasie«, das Y ist die zweifache Eigentümlichkeit
lich küßt, oder schlimmer, der Analytiker mit seiner in der Motivwahl und Motivgestaltung von Anna
Patientin Sex macht, dann bricht noch etwas mehr und Maria (zwei Mütter, die in schöner Harmonie
zusammen als nur der Rahmen. im Schoß ineinander übergehen), und schließlich die
Kurz gesagt besteht die gemeinsame Schnittmenge psychoanalytische Engführung Z in einer Aussage
von Psychoanalyse und Kunst in der Erschaffung ei- über Leonardos nicht gelebte Homosexualität. Im
nes intermediären oder imaginären Raumes – der Moment seiner Erschaffung war dieser Verknüp-
Sprache, der Klänge, der Formen, der Bedeutungen – fungsmodus revolutionär – und so wirkte er auch,
eines Raumes, in dem Sprache, Klänge, Formen und auf die Zeitgenossen und noch lange danach.
Bedeutungen von etwas in etwas anderes transfor- Die Faszinationsgeschichte dieses Essays – und des
miert werden. Die intuitive Erfahrung dieser struk- in ihm paradigmatisch entwickelten Zugangs – ist
turellen Gemeinsamkeit wiegt stärker als solche in- immer noch nicht an ihr Ende gelangt (vgl. Reiche
haltlichen Motive wie »die Hysterie in der Kunst«, 2001, 9 ff.), aber die Faszination hat sich inzwischen
»der Traum in der Kunst« oder am Ende gar »der vielfach in hagiographische Dogmatik und redun-
Ödipuskomplex in der Kunst«. Falls sich der Choreo- dante Langeweile verwandelt. Es stellte sich nämlich
graph William Forsythe für die Psychoanalyse inter- heraus, daß der Geier, auf den Freud seine Deutung
essiert, dann wegen ihrer Potenz, die Elemente einer über Leonardos homosexuelle Fellatio-Phantasie auf-
psychischen Ablaufbewegung von einander zu isolie- gebaut hatte, eine Gabelweihe war, die auf einem
ren, einzelne Elemente stillzustellen und den Blick Übersetzungsfehler beruhte. Das war für K. R. Eissler,
hypertroph auf sie einzustellen. Er zeigt dann eine – der später durch eine Goethe-Biographie bekannt
für unseren konventionellen Blick – verdrehte Arm- wurde (die höchst interessant und lehrreich, wenn
beuge oder Schulter in ihrer diagnostischen Differenz auch oft exzessiv mit dem genannten Verknüpfungs-
Kunst und Kunsttheorie 309

modus X:Y=Z operiert) ein Anlaß, diesen Typus der Der Zugang über die sogenannte
Psychopathographie des Künstlers autoritär als psy- Gegenübertragung auf das Kunstwerk
choanalytisches Monopol festzuschreiben. Diese
Festschreibung operiert in etwa mit der Zusatzfigur: Auch dieser Zugang hat seine Urform in einer Arbeit
Als Psychoanalytiker wissen wir, daß im Unbewußten Freuds, nämlich im Moses des Michelangelo (GW X,
eine Gabelweihe doch ein Geier ist, denn nur wir 171–201). Dort interessiert sich Freud überhaupt
Psychoanalytiker haben die klinische Erfahrung … In nicht für die psychopathologische oder auch nur im
diese Debatte griffen in den 1950er Jahren sowohl weitesten Sinn psychogenetische Verknüpfung von
prominente Kunstwissenschaftler ein – unter ihnen Autor und Werk. Er geht vielmehr aus von seiner
Meyer Shapiro – als auch Psychoanalytiker, die ihrer- eigenen anhaltenden affektiven Reaktion auf das
seits ausgebildete Kunsthistoriker waren, wie z. B. Werk und versucht dann, diese am Werk verständlich
Ernst Kris. Mit guten Argumenten vertraten sie vor- zu machen und aufzulösen. Er stellt in dieser klassi-
sichtig einen Zugang über die Psychoanalyse der schen Arbeit sein »Ergriffensein« im Angesicht der
künstlerischen Form. Dabei wurden sie von Eissler Statue an den Anfang. Moses scheint im Begriff, die
brüsk zurückgewiesen: »Im Unbewußten aber, ge- Gesetzestafeln im Zorn auf den Boden zu schleudern
nauer: im Es und dem Verdrängten, findet sich von – und Freud schreibt, er habe sich aus seinem Blick
Ästhetik auch nicht eine Spur, es beschäftigt sich viel- »geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel,
mehr mit Inhalten und archaischen Impulsen« (Eis- auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeu-
sler 1961/1992, 66). Diese kleine Probe Pulverdampf gung festhalten kann, das nicht warten und nicht
aus den 1950er Jahren mag genügen, um die Fronten vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des
in einem Krieg zu skizzieren, der untergründig im- Götzenbildes wieder bekommen hat« (ebd., 175).
mer noch andauert. Dieser affektiven Reaktion lag – darüber ist sich die
Adorno hat an den Anfang seiner Ästhetischen Freud-Biographik heute einig – eine unbewußte Mo-
Theorie, etwa zehn Jahre später, eine weitausholende ses-Identifizierung zugrunde. Aber Freuds wirkliche
Kritik an Freuds Kunsttheorie gestellt. Ohne irgend- oder nur als literarischer Kunstgriff gebrauchte affek-
wie zu leugnen, daß im künstlerischen Produktions- tive Reaktion und ihre Ausschmückung mit dem
vorgang unbewußte Regungen im Werk sind – das ist Wort »Gesindel« ist nicht selbst schon die Gegen-
für Adorno wie für uns eine Selbstverständlichkeit –, übertragung.
beharrte er doch auf dem Vorrang des Werks, auf Je nachdem wie der Begriff der Übertragung ge-
seiner Autonomie jenseits aller möglichen indivi- handhabt wird, sprechen unterschiedliche Autoren
duellen Motive des künstlerischen Subjekts. Adornos und Schulen entweder von der Übertragung des Be-
Grundgedanke vom Vorrang des Objekts – er spricht trachters/Lesers/Hörers auf das Werk oder aber, häu-
von »der dem lebenden Subjekt vorgängigen Objek- figer, von seiner Gegenübertragung. Diejenigen, die
tivität des Werkes an sich« (1970, 39) – ist für die von Gegenübertragung sprechen, müssen die Werk-
meisten Psychoanalytiker offenbar eine unzumutbare Betrachter-Beziehung stark intersubjektiv aufladen
Kränkung. Anders ist es nicht zu erklären, daß auch und supponieren, daß das Werk eine Beziehung zu
heute noch so viele psychoanalytische Arbeiten über uns aufnimmt, nämlich eine Übertragungsbezie-
Kunst und Künstler in ihrem Zentrum letztlich die hung, auf die wir mit einer Gegenübertragung rea-
von mir auf ihre Grundbestandteile heruntergekürzte gieren. Das sind jedoch Feinheiten, die die gemein-
Formel X:Y=Z aufweisen. Mit dieser Formel werden same Schwäche dieses Zugangs nur verdecken. Wenn
Kunst und Künstler als einander gleich behandelt, der Begriff der Übertragung nicht jeden Sinn ver-
Objekt und Subjekt regressiv miteinander in Dek- lieren soll, dann beschreibt er die unbewußte Wurzel
kung gebracht. Dabei fängt es erst da an, interessant einer affektiven Reaktion auf eine Tätigkeit oder Ei-
zu werden, wo man sich der künstlerischen Form genschaft des Objekts. Nicht jede affektive Reaktion
und den Formgesetzen als dem »Ungleichen« zuwen- ist eine Übertragung. Sobald ich diese Wurzel be-
det, als dem, das uns offenbar »als Kunst« so sehr wußt gemacht habe, handelt es sich streng genom-
anzieht und das nicht in der Psychologie des Subjekts men nicht mehr um eine Übertragung, denn diese
aufgeht. löst sich ja mit der Bewußtmachung virtuell auf. Das
gleiche gilt für die Gegenübertragung. Wenn ich sage:
»Dieses Bild ist schön«, dann ist das ein ästhetisches
Urteil, und diesem Urteil kann, wenn man diesen
Terminus unbedingt verwenden will, eine unbewußte
Disposition zugrunde liegen. Das ist aber eine letzt-
310 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

lich sinnlose Zusatzaussage, denn alle Urteile auf die- in jenem hinsterbenden Bogenstrich die ganze Lei-
ser Welt haben eine unbewußte Dimension. Das glei- denschaft. Es ist eine Angst in jenem Aufblitzen, es
che gilt für eine Aussage wie: »Dieses Bild löst völlige ist, als würde es in der tiefen Finsternis in Angst
Orientierungslosigkeit und Ängste vorm Alleingelas- geboren, und solchergestalt ist Don Juans Leben«
sen- und Fallengelassen-Werden aus«. Auch das ist (Kierkegaard 1960, 156). Aus den Augenwinkeln er-
zunächst ein ästhetisches Urteil, wenn auch ein in kennt man bereits, daß Don Giovannis »Angst« hier
den üblichen Psycho-Jargon »löst aus« verpacktes unter die Existenzangst-Theorie Kierkegaards subsu-
Urteil. miert wird – und daß wir, mit dieser Theorie ausge-
Alfred Lorenzer hat die Deutung von Werken der stattet, das Kunstwerk »nachvollziehen« sollen und
Literatur und Kunst mithilfe eines Einstiegs über die mit ihm wiederum die Auffassung Kierkegaards. Bei
Gegenübertragung systematisiert und diesen Zugang einem modernen psychoanalytischen Autor könnten
unter dem Namen »tiefenhermeneutische Kulturana- wir den zitierten Satz leicht in folgender Variation
lyse« (1968) in den psychoanalytischen Diskurs ein- antreffen: »Der erste selbständige Melodiebogen in
geführt. Besonders im deutschen Sprachraum ist die den Violinen löst im Hörer eine Angst aus.« Stereoty-
Verwendung des Titels Tiefenhermeneutik zur perweise würde dieser Autor dann fortfahren, das
Selbstbeschreibung des eigenen Tuns bei Autoren, die psychoanalytische Angst-Konzept zu referieren, dem
der Psychoanalyse verpflichtet sind, sehr beliebt. Bei er anhängt – und er würde dann garantiert die An-
genauerem Hinsehen dient die Benennung einer so- schlußstelle finden, an der Giovanni genau in dieses
genannten Übertragung/Gegenübertragung jedoch Konzept paßt.
nur der literarischen Einstimmung in die Ausbrei-
tung der Deutung, die schon vorher im Kopf des In-
Die Frage nach der künstlerischen
terpreten bereitlag. Die inflationäre Rede von Psy-
Kreativität
chotherapeuten und Psychoanalytikern über »meine
Gegenübertragung« – gleichgültig ob in bezug auf Zu Freuds Zeit gab es das eingedeutschte Wort »Krea-
Patienten, Kunstwerke oder andere Objekte – ist ein tivität« noch nicht. Freud sprach von »schöpferisch«
sicherer Indikator für eine Verschluderung des Den- und von »Begabung« und war noch der Ansicht: »Die
kens. In der Anwendungspraxis betreibt die Tiefen- Analyse kann nichts zur Aufklärung der künstleri-
hermeneutik denselben systematischen Mißbrauch schen Begabung sagen und auch die Aufdeckung der
mit der psychoanalytischen Methode, den sie am Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, der künst-
psychobiographischen Zugang kritisiert. lerischen Technik, fällt ihr nicht zu« (GW XIV, 91).
Diesen gesamten, hier nur angedeuteten Komplex Obwohl es also damals noch keine Kreativitätsfor-
hat der Soziologe Ulrich Oevermann unter dem schung gab, war das eine bescheidene Untertreibung.
Stichwort Subsumtionslogik versus Rekonstruktionslo- Denn in der Kindheitserinnerung des Leonardo da
gik bearbeitet und damit die von ihm entwickelte ob- Vinci war Freud auf der Suche nach dem künstleri-
jektive Hermeneutik als Gegenspielerin der Lorenzer- schen Impuls, der Leonardo antrieb, und er glaubte
Schule etabliert (Oevermann 1993). Sein Vorwurf diesen Impuls in Leonardos unbewußtem Verlangen
geht im Kern dahin, die Tiefenhermeneutik »subsu- nach der Vereinigung der zwei Mütter gefunden zu
miere« das Kunstwerk unter schon bereitliegende haben. Auf jeden Fall beruht die große Attraktivität
psychoanalytische Kategorien und Konzepte, unter- des Leonardo-Essays in dem suggestiven Verspre-
werfe das Kunstwerk also der »Logik« der Psycho- chen, die Wurzeln der künstlerischen Begabung zu
analyse, anstatt es in seinem Eigengehalt, gemäß sei- entschlüsseln.
ner ihm eigenen Logik, allererst sprachlich zu »re- Schon in der Traumdeutung hatte Freud die Ent-
konstruieren«. Oevermann hat eine eigene Methode stehung des Traums immer wieder mit der Entste-
der »sequenziellen Rekonstruktion« von kulturellen hung eines Kunstwerkes verglichen. Und gewiß hat er
Ausdrucksgestalten entwickelt – gleichgültig, ob es auch den Vergleich von Kunst und Spiel gebraucht,
sich hierbei um Kunstwerke, um massenkulturelle so wenn er mutmaßt: »Jedes spielende Kind be-
events oder um Gesetzestexte handelt. Zu Recht hält nimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene
er der Tiefenhermeneutik entgegen, sie betreibe die Welt schafft« (GW VIII, 213). Aber er hat die ge-
gleiche »Nachvollzugshermeneutik« wie die Philolo- meinsamen Struktureigentümlichkeiten dieser »eige-
gie des 19. Jh.s. Nehmen wir zur Verdeutlichung ei- nen Welt« von Kunst und Traum, Kunst und Spiel,
nen zentralen Satz aus Kierkegaards berühmter Ana- Künstler und Kind nicht ins Zentrum der Aufmerk-
lyse von Mozarts Don Giovanni. In seiner Beschrei- samkeit gerückt. Das ist eigentlich erst D. W. Winni-
bung der Ouvertüre heißt es: »[…] so ahnt das Ohr cott mit seiner Lehre der Übergangsobjekte und Über-
Kunst und Kunsttheorie 311

gangsphänomene gelungen. Um dies tun zu können, hen – den Zwängen der Professionalisierung inner-
mußte er sich erst von der orthodoxen psychoana- halb des vorgefundenen Kunstsystems aussetzen.
lytischen Lehre frei machen und dieser bescheinigen, Eine psychoanalytische Theorie der Kreativität muß
daß sie »den Blick für das Wesentliche verloren« dieses gesamte äußere Feld berücksichtigen, sonst
habe, »nämlich die Frage nach dem kreativen Im- fällt sie zurück in den Geniekult des vorletzten Jh.s
puls« (1953/1973, 82). (vgl. die Übersichtsarbeit von Clemenz 2005). Auf
Als Übergangsobjekt bezeichnet Winnicott ein ma- dessen Spuren treffen wir immer wieder in der psy-
terielles Etwas, das vom kleinen Kind zu einer be- choanalytischen Literatur. Ob wir überhaupt sinnvoll
stimmten Zeit aus »objektiv« vorgefundenen Gegen- zwischen Genie und (gewöhnlichem) Künstler unter-
ständen »subjektiv« erschaffen und mit besonderer Be- scheiden sollen, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls
deutung ausgestattet wird. Fortan schafft das Über- hat K. R. Eissler, der eisern am Geniebegriff festhält
gangsobjekt eine Zeitlang eine Brücke von der und Leonardo und Goethe als Genies bezeichnet –
subjektiven zur objektiven Welt und zurück. Ur- warum nicht Caravaggio oder Tizian oder Tinto-
sprünglich mag es aus der Not geboren sein, das ab- retto? –, kein Kriterium für diese Superlativbildung
wesende Objekt (Mutter) zu ersetzen. Man würde es angeben können: »Sie waren Menschen mit der Fä-
sich aber zu einfach machen, seine Wurzel und seine higkeit, den menschlichen Kosmos, oder einen Teil
Funktion nur in der Ersetzung von abwesend/anwe- davon, in einer Weise wiederzuerschaffen, die be-
send zu sehen. Bettzipfel, Tücher, Stoffpuppen mö- deutsam war und die sich nicht mit irgendeiner frü-
gen sich dafür wegen ihrer haptischen und olfaktori- heren Wieder-Erschaffung vergleichen läßt« (Eissler
schen Eigenschaften besonders eignen. Es dürfen 1963/1985, 1485). Implizit gibt Eissler damit als Kri-
aber auch durchaus harte, kantige Gegenstände sein. terium die Entstehung des Neuen an. Dieses Krite-
Wenn seine Zeit um ist, wird das Übergangsobjekt rium bildet tatsächlich eine zentrale Achse für die Be-
wieder aufgegeben. Winnicott sagt über das Über- stimmung von Kunst überhaupt. Aber bereits die
gangsobjekt, es sei das erste reguläre Objekt, das »zu- Frage, wie »bedeutsam« dieses Neue sein müsse, um
gleich Nicht-Ich und doch niemals ganz Nicht-Ich als neu gelten zu können, führt die Frage selbst ad
ist« – wobei dieser Gegensatz nicht stört, sondern absurdum.
vielmehr weltbildend ist. Was sich in diesem »inter- Eine zweite Achse zur Bestimmung der künstleri-
mediären Bereich« ereignet, nennt Winnicott »pri- schen Kreativität bildet, wie schon angedeutet, das
märe Kreativität«. Von besonderer Wichtigkeit ist, Obligatorische des Schaffens, das Müssen. Vom
daß dieser Bereich nicht im Hinblick auf seine Zuge- Übergangsobjekt her gefragt: Was befähigt und –
hörigkeit zur inneren oder äußeren Realität in Frage gleichzeitig – was zwingt den Künstler dazu, andau-
gestellt wird. Und nur, wo diese Fähigkeit erhalten ernd ein Objekt, das zugleich Ich und Nicht-Ich ist,
bleibt, eine neue Realität zu erschaffen, ohne daß – neu zu erschaffen. Auf diese Frage nach dem Neuen
wie in der Psychose – innere und äußere Realität in- ist die Psychoanalyse nicht gut vorbereitet. Sie ist
einanderfließen oder deren Grenzen zusammenbre- nämlich konträr hierzu auf »das Alte« geeicht, näm-
chen, wird man dann im späteren Leben von künst- lich auf biographische Determination und auf unbe-
lerischer Kreativität sprechen können. Mit dieser wußten Wiederholungszwang. Die meisten psycho-
Schnittstelle ist zugleich eine große Gefährdung der analytischen Ansätze sind, auch wenn sie das nicht
künstlerischen Produktivkraft bezeichnet. wollen und sogar bestreiten, davon geprägt, daß der
Winnicott hat sich freilich nicht für die Frage in- Künstler, auch wenn er das Neue schafft, eine alte
teressiert, was die künstlerische von der primären psychodynamische Konstellation wiederholt. In dem
Kreativität unterscheidet. Aber mit seiner Art, die immer gleichen Nachweis, daß hier doch das Alte am
Dinge in einer von Freud so unterschiedlichen Art Werk ist, geht die Frage verloren, wie gerade dadurch
und Weise und mit einem ganz anderen begrifflichen Neues entsteht. Die Antwort auf diese Frage führt in
Rahmen anzugehen, waren plötzlich viele Türen auf- die Richtung der Arbeit an der Form. Wenn wir den
gestoßen, nicht nur die Tür zur künstlerischen Krea- Begriff des Übergangsobjekts als Metapher für das
tivität. Aus der Vielzahl gehaltvoller Arbeiten seien unbekannte X nehmen, an dem die künstlerischen
hier nur die von Phyllis Greenacre (1971) und John Kreativität ihren Anfang hat, dann können wir sagen:
Gedo (1996) genannt. Der Künstler hat die Umformung des Übergangsob-
Nicht jeder, der ein schönes Bild malt, ist ein jekts so hoch besetzt, daß sie zu seiner Lebensaufgabe
Künstler. Zum Künstler wird er erst, wenn zwei wei- wird. Damit sind wir bei der Frage nach der Form
tere Gründe hinzukommen: Er muß malen müssen angelangt.
und er muß sich – ganz unpsychologisch zu verste-
312 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Auf dem Weg zu einer Psychoanalyse in der Ökonomie der Mittel, die zur Lösung eines
der Form Problems führen. Hier stoßen wir wie nirgends sonst
an die Grenzen der Psychoanalyse. Offenbar lassen
Natürlich finden sich bei Freud vereinzelte Hinweise sich der Bereich ästhetischer Urteile und der Bereich
auf die Frage der Form. Die wohl prägnanteste For- der Herstellung wohlgeformter Gebilde – Sätze,
mel, in die er das interne Verhältnis von Künstler Klänge, Figuren, Sequenzen – nur sehr partiell mit
und Werk faßte, lautet: der Künstler »[…] stellt zwar psychoanalytischen Bordmitteln erfassen. Die offen-
seine persönlichen Wunschphantasien als erfüllt dar, kundige Freude eines einjährigen Kindes an einer
aber diese werden zum Kunstwerk erst durch eine Melodie, die auch die Erwachsenen als schön beur-
Umformung, welche das Anstößige dieser Wünsche teilen, läßt sich nicht mit desexualisierter oder neu-
mildert, den persönlichen Ursprung derselben ver- tralisierter Ich-Energie erklären. Denn welche sexuel-
hüllt, und durch die Einhaltung von Schönheitsre- len Besetzungen oder Triebwünsche sollten das wohl
geln den anderen bestechende Lustprämien bietet« sein, die im Alter von einem Jahr zu Geschmacksur-
(GW VIII, 417). Hier ist also allgemein von Umfor- teilen sublimiert sind? Das hat Waelder schon 1965
mung und von Schönheitsregeln die Rede. Freud be- festgestellt und damit sehr vorsichtig am damals
tont immer wieder die Struktureigentümlichkeiten, noch sehr starren Gehäuse der psychoanalytischen
die den Traum und das Kunstwerk sowohl vonein- Trieblehre gerüttelt.
ander unterscheiden als auch miteinander verbinden. Pinchas Noy hat diesen Zugang weiter vorangetrie-
Im Unterschied zu den »asozialen, narzißtischen ben und herausgearbeitet, daß und warum der
Traumproduktionen« sind Kunstwerke »auf die An- Künstler die »vollkommene Form« anstreben muß.
teilnahme anderer Menschen berechnet, konnten bei Diese vollkommene Form ist seine ganz persönliche
diesen die nämlichen unbewußten Wunschregungen subjektive Gleichung, geboren aus der Notwendig-
beleben und befriedigen. Überdies bedienten sie sich keit, eine innere Ordnung der Selbstintegration wie-
der Wahrnehmungslust der Formschönheit als ›Ver- derherzustellen, die sonst durch Fragmentierung und
lockungsprämie‹« (GW XIV, 90). Gemeinsam haben Zerfall bedroht wäre. Im Prozeß der Werkerschaffung
Traum und Kunstwerk vor allem eine Umformung wird mit der »äußeren« Ordnung des Werkes zu-
nach Regeln. Für die Traumarbeit, also den Prozeß gleich die innere Ordnung wiedererschaffen. Die
der Umformung des latenten Traumgedankens in vollkommene Form ist nach Noy durch »Harmonie,
den manifesten Traum, hat Freud einige solcher Re- Ausgeglichenheit, Symmetrie und die Versöhnung
geln benannt: Verdichtung, Verschiebung, Darstel- von Gegensätzen« (1984, 200) gekennzeichnet. Das
lung durch das Gegenteil, Reihenbildungen (Serien). klingt einerseits ziemlich banal – und verlangt an-
Es überrascht nicht, daß sich besonders für die mo- dererseits die Bereitschaft, die Begriffe der Harmonie,
derne Kunst analoge Regeln der Transformation des der Ausgeglichenheit usw. so weit auszulegen, daß sie
Bildgedankens aufzeigen lassen. auf die großen Werke der Moderne und der Gegen-
Robert Waelder (1965/1973) hat in einer sehr in- wartskunst anwendbar werden. Die Rätselfrage bleibt
teressanten Arbeit auf die drei Achsen des Freud- dabei weiterhin ungelöst: Offenbar gelingt es dem
schen Strukturmodells von Es-Ich-Überich drei Zu- Künstler, uns Betrachtern (oder Hörern oder Lesern)
gänge zum Kunstwerk eingetragen, die zugleich drei eine neue Form als »bezwingend« und damit schließ-
Zugänge zum Verständnis dessen sind, was wir lich als schön »aufzuzwingen«, die nach konventio-
Schönheit nennen. Im »Es-Zugang« geht es natürlich nellen Gesichtspunkten »eben noch« als unharmo-
um die Wunscherfüllung, um das, was Freud in die nisch, unausgeglichen und zerklüftet oder sogar häß-
zitierte Formel faßt: Der Künstler stellt seine persön- lich gegolten hätte. Wie also gelingt es dem Werk,
lichen Wunschphantasien als im Kunstwerk erfüllt unsere Widerstände zu überwinden und uns, wie der
dar. Um diese Formel plausibel zu machen, müssen Name sagt, zu zwingen, es als bezwingend schön an-
wir den Begriff der Wunschphantasien freilich etwas zuerkennen? Das ist die Rätselfrage, die bei Freud mit
weiter fassen, so weit, daß darin auch der lebensge- den zitierten Stichworten der »Verlockungsprämie«
schichtlich relevante traumatische Kern aufgehoben und der »Lustprämie« anklingt. Zurecht war ihm
ist. Im »Überich-Zugang« geht es bei Waelder um diese Formulierung so wichtig, daß er sie immer wie-
Formen des ästhetischen Genusses – um Humor, der verwendete.
Witz, Komik und dergleichen. Beim »Ich-Zugang«,
der uns hier besonders interessiert, steht die Befriedi-
gung über die Lösung von »unlösbaren« Aufgaben
im Mittelpunkt, also die »Eleganz« oder »Perfektion«
Kunst und Kunsttheorie 313

Vier Transformationsregeln 1997) in einer wiederum eigenen Theoriesprache


weiterentwickelt worden. Bion hat zwar keine expli-
In der Psychoanalyse wie in der Kunst werden innere zite psychoanalytische Kunst-Theorie vorgelegt, aber
Bilder, Vorstellungen und Affekte freigesetzt, trans- er denkt in einem Transformations-Paradigma, das
formiert und neu gebunden. Die Art und Weise, wie sich sehr nahe an dem bewegt, was in der künstleri-
dies geschieht, wird von unterschiedlichen psycho- schen Tätigkeit und in der ästhetischen Wahrneh-
analytischen Autoren und Schulen unterschiedlich mung stattfindet. Darum ist dieses Paradigma zu
konzeptualisiert. Die Modi und die Fokussierungen Recht in vielen neueren psychoanalytischen Beiträ-
dieser Transformation und die hierbei verwendete gen zur Kunst präsent.
Terminologie lassen sich zwanglos zu Formeln ver- Bion zufolge beginnt das psychische Leben damit,
dichten. Zum tieferen Verständnis müßte die gesamte daß quälende, schmerzhafte Gefühle – in erster Linie
Theorie der entsprechenden Schule referiert werden; also der Hunger – ursprünglich als »böse Objekte«
das kann hier gewiß nicht geschehen. Vier solcher außerhalb des Selbst wahrgenommen werden. Diese
Formeln sind im Schaubild (s. S. 314) dargestellt. Die bösen Objekte drängen darauf, ausgestoßen zu wer-
Beiträge von Freud und Winnicott sind oben schon den, so die Grundannahme der Theorie. Im Stillvor-
so weit entwickelt worden, daß deren »Formeln« aus gang werden diese »bösen Objekte« vom Baby in die
dem Schaubild unmittelbar hervorgehen. Nicht so Mutter »ausgeschieden« (evacuated). Die normal-
die Beiträge der Melanie Klein-Schule und ihrer Wei- empathische Mutter wandelt diese ausgestoßenen
terentwicklungen; diese seien hier wenigstens in ih- bösen Objekte, die Bion unverdauliche Fakten oder
ren Grundzügen gestreift. b-Elemente nennt, sukzessive in a-Elemente um. a-
Die Bewegung der Wiedergutmachung (repara- Elemente sind das, was die Mutter dem Kind zurück-
tion), der Wiederherstellung des zerstörten Objektes gibt, früher hätte man von primordialen guten Par-
bildet der Kleinianischen Theorie zufolge den unbe- tialintrojekten gesprochen. Zu diesem Zweck stellt
wußten Kern einer jeden gelungenen Entwicklung – die Mutter in einem traumartigen Zustand, den Bion
einer menschlichen Entwicklung, eines psychoanaly- »reverie« nennt, einen »container« bereit, in dem sie
tischen Prozesses oder eines Kunstwerks. Die Rekon- die b-Elemente (»unverdauliche Fakten«) aufnimmt.
struktion dieser Bewegung bildet dann das, worin die Die Transformation von b in a wird also durch einen
Kleinianische Sicht nach ihrem eigenen Selbstver- doppelten Ausscheidungsvorgang eingeleitet: Die
ständnis über die Auffassung Freuds hinausweist Mutter scheidet Milch aus = gibt dem Kind die Brust
(vgl. Segal 1996). In der Kleinianischen Terminologie (das gute Objekt). Aber das weiß das Kind nicht, es
formuliert: In der paranoid-schizoiden Position wird nimmt omnipotenterweise zunächst an, die Milch
das geliebte und zugleich gehaßte Objekt aus Neid komme aus seinem aktiv-saugenden Vorgehen an der
und Wut – in der Phantasie – zerstört; die depressive Brust. Das Kind scheidet quälende Spannungen
Position wird dadurch eingeleitet, daß das – in der (Hunger usw.) in die »böse« Brust aus. Hieraus ergibt
Phantasie – zerstörte Objekt betrauert, die Tat als sich das Transformationsparadigma: Das Kind verin-
schuldhaft erlebt und die – innere – Beziehung zum nerlicht ganz allmählich den Umwandlungsvorgang,
Objekt nunmehr auf höherer Stufe wiederhergestellt den die Mutter ursprünglich mit den unverdaulichen
wird. Diese Bewegung erscheint in der Form der Fakten vornimmt. Dadurch lernt es Schritt um
Selbsterschaffung der Theorie wieder: Das psycho- Schritt, Abwesenheit und Spannung zu ertragen.
analytische Erkenntnisobjekt wird als Freud-Code Was hat dies nun mit Kunst zu tun? Zunächst ha-
zerstört und als Melanie Klein-Code wiederherge- ben wir mit der Bion-Formel eine elegante und das
stellt. Jedoch ist die in Frage stehende Bewegung der heißt zugleich eine in sich konsistente psychoanalyti-
Zerstörung und Wiederherstellung, bei ausreichen- sche Theorie der »subjektiven« Entstehung von
der Formalisierung, gewiß schon in der Freudschen Raum und Zeit vor uns: Das mich befriedigende Ob-
Lehre enthalten; ödipale Struktur meint genau dies. jekt ist jetzt nicht da, wird aber wiederkommen
Die Bewegung der Zerstörung und Wiederherstel- (Zeit). Es ist jetzt an einem anderen Ort als ich, wird
lung kommt ihrerseits in jeder Kunstbeschreibung aber wiederkommen (Raum). Dieser Transformati-
noch einmal vor. Indem wir beschreiben, ordnen onsvorgang ist zugleich ein Erkenntnisvorgang; er
und Diagramme herstellen, zerstören wir die Syn- bereitet Lust. Denken und Fühlen entstehen dieser
chronie der ästhetischen Wahrnehmung. Diese Zer- Lehre zufolge aus ein und derselben Matrix.
störung läßt sich nur durch die Gelungenheit der In der Erzeugung von künstlerischen Objekten
Wiederherstellung des Werkes als Text rechtfertigen. nimmt der Künstler – ebenso wie später der Betrach-
Diese Grundfigur ist von Wilfred Bion (1965/ ter im Genuß dieser Objekte – zugleich beide Posi-
314 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

tionen ein: die des Kindes, das mit »unverdaulichen wenn er sich, wie oben expliziert, selbstgenügsam
Fakten« konfrontiert ist, und die der »containenden« dem Objekt überläßt, sukzessive in irgendeine Form
Mutter, die diese ß-Elemente in Kunst umwandelt. von Verstehen und Genuß transformiert.
Insbesondere in der modernen Kunst ist der konven- Die vier hier schematisch dargestellten Formeln
tionell-voreingenommene Betrachter seinerseits mit operieren jeweils mit einer Transformations-Regel,
»unverdaulichen« b-Brocken konfrontiert, die er, die in der Kunst wirksam ist:

Autor Formel Paradigma Transformations-


Kriterium

Freud Der Künstler stellt einen Trieb- Sublimierung Privater asozialer Trieb
wunsch als erfüllt dar. wird in sozial verfügbaren
Die Einhaltung von Schönheits- Genuß umgewandelt.
regeln wirkt dabei als Verlockungs-
prämie.
Melanie Klein Wiederherstellung des zerstörten Depressive Position Umwandlung von
Objekts. paranoid-schizoiden in
Im Spiel (Kind) und im Traum depressive Mechanismen.
werden (destruktive) Phantasien in
symbolischer Weise zur Darstellung
gebracht.
Winnicott Spielen. Übergangsobjekt Ein Objekt, das zugleich
Alleinsein in Anwesenheit der (real Ich und Nicht-Ich ist.
abwesenden) good enough mother.
Bion Ermöglichung (containing) des Container-Contained Umwandlung von nicht-
Ertragens des Unaushaltbaren. verdaulichen b-Elementen
Dies bahnt den Weg zum Genießen in a-Elemente.
des Unverstehbaren.

Leider sieht man vielen psychoanalytischen Publi- ein Patient – behandelt wird. Das Werk aber ist etwas
kationen, die sich mit einem konkreten Kunstwerk anderes. Adorno sprach von diesem Anderen als dem
befassen, schon von weitem an, welcher Formel sie »Vorrang des Objekts« (1970, 217, 477 f.).
folgen – und wie sie das Werk unter diese Formel Allmählich setzt sich im psychoanalytischen Dis-
subsumieren. Es stellt sich dann das schale Gefühl kurs der Gedanke durch, daß auch die Psychoanalyse
ein, daß nicht das Werk verstanden, sondern dazu noch etwas anderes ist. Dieses Andere wird mit Meta-
gebraucht oder sogar mißbraucht wurde, um ein phern wie potential space, intermediärer Raum oder
psychoanalytisches Sprachspiel zu explizieren und Das Dritte bezeichnet. Wir richten unser Erkenntnis-
das Weltbild eines Autors zu festigen. interesse zunehmend nicht mehr auf »die« Neurose x
des Analysanden y, sondern auf das Dritte, das ent-
steht, wenn die zwei Subjekte Analytiker und Analy-
Psychoanalyse als ästhetische Erfahrung
sand zusammenkommen. Dieses Dritte kann man
Von den vielen psychoanalytischen Autoren, die sich auch mit dem dürren Wort »analytischer Prozeß« be-
mit Kunst beschäftigen, stellt nur eine ganz kleine zeichnen, aber in diesem Ausdruck kommt offenbar
Minderheit die Formfrage – und innerhalb dieser eine bestimmte Eigenschaft dieses emergenten Neuen
kleinen Minderheit geht die große Mehrheit wie- nicht ausreichend zur Geltung. Profan taucht dieses
derum vom »schaffenden Subjekt« aus und nicht Dritte im Gespräch schon immer in der Umschrei-
vom »erschaffenen Objekt«, also vom Werk. Und bung »in meiner Analyse« auf – wenn ein Mensch
wenn vom Werk ausgegangen wird, dann oftmals einem anderen Menschen etwas von der besonderen
nur, um dies in eine anthropomorphe Gestalt zu Eigenschaft seiner Erfahrung »in« der Analyse mit-
bringen, die dann wie ein Mensch – im Regelfall wie teilen will, oder noch einfacher als »hier«, wenn der
Kunst und Kunsttheorie 315

Analysand seinem Analytiker mitteilen möchte, daß gebundene Paar nimmt in der ästhetischen wie in der
es etwas gibt, was eben nur »hier« in der Analyse analytischen Erfahrung gleichermaßen eine zentrale
stattfindet. Thomas Ogden nennt dieses emergente Stelle ein und eröffnet darum einen neuen Zugang
Dritte auch das »subject of analysis« (Ogden 1996, zur Psychoanalyse der Form, der strikt vom Werk
884) – eine ins Deutsche nicht übersetzbare Meta- ausgeht. Daß Kunsterfahrung oder Werkaneignung
pher, denn »subject« oder »sujet« bedeutet im Eng- nur im Zustand der Muße möglich sind, gehört zur
lischen und Französischen sowohl das Subjekt wie Struktureigenschaft der ästhetischen Erfahrung, also
den Gegenstand. Und genau darum handelt es sich: zu einer Eigenschaft, die durch alle Zeiten und für
ein Subjekt-Objekt, das vom Analytiker und vom alle Kulturen gleichbleibt (Oevermann 1991; 1993).
Analysanden zwar ins Leben gerufen wird, aber eine Nur in dieser Befindlichkeit kann das Subjekt in die
von beiden unabhängige Gestalt annimmt, die nicht Krise geraten, in die es geraten muß, um das Neue
willkürlich gesteuert oder verändert werden kann. des Werks für sich selbst aufschließen zu können. Die
Von hier aus stellen wir fest: Die Psychoanalyse hat entsprechende kunstgeschichtliche Semantik hierzu
einen ganz eigenen Zugang zur ästhetischen Erfah- ist: Erschütterung, Ergriffenheit. Muße heißt also
rung und zur künstlerischen Form (oder zur Schön- zweierlei: freigesetzt von Entscheidungs- und Praxis-
heit, was dasselbe ist). Dieser Zugang besteht gerade druck und frei von normativen und Klassifikations-
nicht in irgendeiner Anwendung irgendwelchen psy- zwängen. Der Betrachter soll die Krise, in die er ge-
choanalytischen Wissens auf irgendwelche Kunst- rät, nicht wie eine konventionelle Entscheidungskrise
werke, sondern er besteht in ihr selbst. So wenig das alsbald beheben müssen (»Dieses Bild finde ich nicht
Gelungene eines gelungenen Kunstwerks darin be- so gut«), und er soll das Werk auch nicht, wie in der
steht, daß der abgebildete Apfelbaum »realitätsge- alltäglichen Wirklichkeit, unter normativen Gesichts-
recht« und die Perspektive »unverzerrt« wiedergege- punkten betrachten müssen (»Dies ist ein Hauptwerk
ben sind, so wenig besteht eine gelungene Analyse des Manierismus«). Der Betrachter bringt sich also in
darin, daß eine sexuelle oder charakterliche Hem- einen Zustand, in dem er sich selbstgenügsam dem
mung von einem »pathologischen« in einen »reali- Gegenstand überlassen kann. Zu diesem Zweck
tätsgerechten« Zustand umgewandelt worden sind. wurde idealerweise die Institution des Museums ge-
Wenn ein psychoanalytischer Prozeß zu sich selbst schaffen. Hier simuliert das Subjekt die Krise unter
findet, kommen Inhalt und Form tendenziell zur den krisenfreien Bedingungen der Muße. In einer
Deckung. Diese Konvergenz wird von beiden Betei- knappen Gegenüberstellung wird sofort deutlich, wie
ligten in einem ganz elementaren Sinn als schön diese Struktureigenschaften der ästhetischen Erfah-
empfunden. Inhalt: Das sind in diesem Fall die Pro- rung in der psychoanalytischen Erfahrung wieder-
bleme, Traumen und Konflikte, derentwegen der kehren (siehe Tabelle S. 316).
Analysand ursprünglich gekommen war. Form: Das
ist die Art und Weise, wie diese Inhalte innerhalb des
Das Bild als Text und sein Unbewußtes
psychoanalytischen Behandlungsrahmens sukzessive
in die Übertragung gelangen, dort zur Darstellung, So wie wir zum geträumten Traum keinen unmittel-
zur Auflösung oder Umformung gelangen, auf jeden baren Zugang haben, sondern, aus strukturlogischen
Fall: eine neue Gestalt annehmen. Gründen, immer nur zum erzählten – gleich, ob uns
Diese Konvergenz wird in Falldarstellungen selten selbst oder dem Analytiker erzählten – Traum haben,
oder nie in den Mittelpunkt gerückt, teils aus Scham so haben wir auch keinen unmittelbaren Zugang
vor der Preisgabe eines intimen summum bonum, zum gemalten Bild oder zur gespielten Musik, son-
teils aus Unvermögen, teils aus neurotischer und teils dern wir müssen immer über die Brücke der Ver-
auch aus realer Angst vor der Zerstörung des Schö- sprachlichung gehen. Sobald ich sage: »Dieses Bild ist
nen, sobald dieses vor der Öffentlichkeit zur Darstel- schön«, habe ich auch schon ein textförmiges Proto-
lung gebracht wird. Am stärksten wiegt wohl das Un- koll einer, falls sie denn stattgefunden hat, unmittel-
vermögen; denn nach hundert Jahren Psychoanalyse baren ästhetischen Erfahrung angefertigt. Das Bild ist
fangen wir gerade erst an, zu verstehen, was wir hier dann schon zum Text geworden. Zwischen dem
treiben. Künstler und seinem fertigen Werk besteht hier
grundsätzlich die gleiche unüberschreitbare Kluft wie
zwischen dem Werk und dem Betrachter. Der ge-
Krise und Muße
schaffen habende Künstler ist von seinem Werk
Zwei Stichworte zum Verständnis dessen, was hier ebenso getrennt wie der »ergriffene« Betrachter.
geschieht, sind Krise und Muße. Dieses aneinander Über diese Trennung vom Werk sind der Künstler
316 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Ästhetische Erfahrung Psychoanalytischer Prozeß

Muße Setting und Abstinenzregel erzeugen eine besondere, mußeähn-


liche Befindlichkeit.
Sich selbstgenügsam dem Auf seiten des Analytikers: Schwingen zwischen gleichschweben-
Gegenstand überlassen der Aufmerksamkeit und Deutung (Eingriff).
Auf seiten des Patienten: freie Assoziation (»… alles sagen, was
Ihnen einfällt«).
Freigesetzt von Praxisdruck Freigesetzt von Handlungsdruck; im Unterschied zu einer
und Entscheidungszwang konventionellen therapeutischen Situation muß weder gehandelt
noch »ein Rat gegeben« werden.
Simuliert die Krise unter den Die spontan sich einstellende Übertragung belebt (»simuliert«)
krisenfreien Bedingungen der Muße. eine lebensgeschichtliche Krise wieder. Produktion und Lösung
der Krise fallen eineins.
Die Asymmetrie von Künstler Strukturelle Asymmetrie von Analytiker (dessen persönliche
und Betrachter wird vorausgesetzt. Belange und Begehren abgeschattet bleiben) und Patient
(dessen Belange und Begehren fokussiert werden).

und der Betrachter miteinander verbunden, und ge- chen, so liegen diese nicht in irgendeiner Tiefe des
nau diese Trennung können wir uns durch eine mög- Werks verborgen, sondern an der Oberfläche. An der
lichst genaue sprachliche Rekonstruktion des Werkes Radikalität dieser Forderung zerschellt die soge-
zunutze machen. Hierin besteht die Chance der Psy- nannte Gegenübertragung auf das Werk, von der die
choanalyse: das Werk so weit aufzuschließen, daß tiefenhermeneutische Kulturanalyse ausgeht. Die Ge-
und bis sich psychoanalytische Anschlußstellen ohne genübertragung muß sich an der Beschreibung ab-
Zwang ergeben. arbeiten und löst sich dann, wenn die Beschreibung
Wir müssen also von dem Kunstwerk eine Be- gelingt, in ihr auf. Wenn man so vorgeht, löst man
schreibung (ein Protokoll) anfertigen – und das tun zugleich Adornos Forderung nach dem »Vorrang des
wir, indem wir, der technischen Regel Freuds fol- Objekts« ein.
gend, von der »Oberfläche zur Tiefe« vordringen. In
einer philosophisch abgründigen Weise analysieren
Was ist schön?
wir immer nur unser Protokoll des Bildes und nicht
das Bild selbst. Daß dem so ist, kommt auch in der Wenn wir das gesamte Spektrum der durch die Phy-
Bestimmung Adornos des Kunstwerks als des zu- siologie – des Gleichgewichts, des binokularen Se-
gleich Identischen und Nichtidentischen zum Aus- hens, des Achsenkreuzes von Wirbelsäule und Schul-
druck: Jedes Bild ist ein Bild von etwas – und dieses terblatt, des Farbenspektrums usw. – vorgegebenen
durch das Bild bestimmte Etwas ist etwas anderes als »Schönheitsregeln« (Freud) als gegeben vorausset-
das Bild selbst. Jedes Bild läßt einen Gegenstand er- zen, dann gibt es auf der Basis dieser Voraussetzun-
scheinen, der nicht das Bild selbst ist. Weil dies so ist, gen einen noch lange nicht ausgeschöpften Bereich,
ist es auch die gewöhnliche Unterscheidung von »ge- auf dem in Zukunft der Beitrag der Psychoanalyse
genständlich« und »abstrakt« irreführend und sinn- zur Kunst liegen wird: die Explikation der gemein-
los. Es gibt keine abstrakten Bilder. Das erfahren wir samen Schnittmenge von Ergriffenheit, Denken und
geradezu mit Gewalt, wenn wir versuchen, ein soge- Schönheit.
nanntes abstraktes Bild zu beschreiben. Was immer Freud, um ein letztes Mal mit ihm zu beginnen,
wir beschreiben und wie unvollkommen diese Be- hat hier etwas forciert den Standpunkt der Hingabe-
schreibung ausfällt: Dies ist sein Gegenstand. Wenn verweigerung eingenommen. »In der Musik», sagte
wir konsequent in der Beschreibung verfahren, stel- er, »bin ich fast genußunfähig. Eine rationalistische
len wir unweigerlich fest: Ein Werk besteht nur aus – oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir
immer neu zu erschließenden – Oberflächen. Falls es dagegen, daß ich ergriffen sein und nicht wissen
so etwas gibt wie eine unbewußte Mitteilung im solle, warum ich es bin, und was mich ergreift« (GW
Kunstwerk, einen unbewußten Gehalt oder derglei- X, 172). Natürlich wußte Freud auch dort, wo er von
Kunst und Kunsttheorie 317

der Moses-Statue des Michelangelo ergriffen war, ge- die oben zusammengefaßt wurden, bestehen im Kern
rade nicht, was ihn so ergreift. Wir sind immer von aus einem solchen Transformationskriterium – und
dem Rest er-griffen, den wir nicht be-griffen haben versuchen, sich mithilfe dieses Kriteriums der Frage
und den wir nicht begreifen können. In diesem Sinn der Schönheit zu nähern.
sprach Adorno vom »Rätselcharakter« des Kunst- Es liefe auf konkretistischen Kitsch hinaus, dem
werks. Es kann kein Zufall sein, daß Freud die Gren- unerträglichen Lärm – um bei der Musik zu bleiben
zen des psychoanalytischen Kunstverstehens, so wie – die gehaltvolle Stille oder die harmonische Form
er dies Verstehen verstand, an der Musik festmachte. oder die postharmonische Serialität oder irgendein
In einer hier nicht weiter zu bestimmenden Hinsicht anderes vergängliches Seiendes als das Schöne ent-
ist die Musik die Mutter aller Künste. Von einer Me- gegenzusetzen. Schön ist das, was wir immer aufs
lodie sagen wir umstandslos, was wir von einem Bild Neue erträglich machen, was wir dennoch oder ge-
niemals sagen würden: Wir fühlen uns von ihr ver- rade deshalb zu genießen gelernt haben. Die in sol-
standen. Wir kehren also, und dies nur bei der Mu- chem Genuß aufgehobenen Wahrnehmungs- und
sik, die Subjekt-Objekt-Relation um. Aus diesem ein- Denkprozesse verweisen auf Internalisierungen, die
fachen Grund verstummen auch vor der Musik die bis zum Genießbarmachen des Unverdaulichen, wie
dummen Fragen nach der Bedeutung. Niemand oben beschrieben, zurückreichen.
fragt, was man unter diesem oder jenem Stück von Das Schöne hat viele Oppositionen: das Gefällige,
Beethoven oder Coltraine oder den Rolling Stones zu das Kitschige, die Nachahmung, das Beliebige, das
verstehen habe und was diese oder jene Figur in ei- Konventionelle, das Erhabene. Das Schöne an der Sa-
nem Musikstück bedeuten solle. che ist nun: Alle Positionen auf dieser endlosen Reihe
Möglicherweise kommt das Gefühl, verstanden zu von Oppositionen können ihrerseits das »in sich
werden – das uns so ergreift –, daher, daß wir früher selbst Gehaltvolle zu adäquater sinnlicher Gegenwart
hören als sehen, jedenfalls in dem Sinn, wie wir im herausstellen« (Hegel), also ihrerseits so durchge-
Mutterleib die Bewegungen und Töne der Mutter formt sein, daß Schönheit neu entsteht. Schönheit ist
»hören», und daß, von der Mutter bewegt zu werden eine sich andauernd entziehende Bestimmung. So-
und ihr dabei zuzuhören die elementare Form so- bald man auf sie weist, verschwindet sie auch schon
wohl des Verstandenwerdens als auch des Nichtver- wieder, und es entsteht eine Lücke, eine Leere, die
stehens ist. durch keine Definition, sondern nur durch das Be-
Intuitiv verhalten wir uns, wenn wir Musik hören gehren nach Schönheit gefüllt werden kann. Das ist
und von ihr ergriffen sind, so, wie es Hegel für die das Feld, zu dem uns Lacan den Weg weist. Damit
»klassische Schönheit« der griechischen Antike wäre dann eine fünfte Transformationsformel für die
wollte: sie ist »nicht die Bedeutung von irgendetwas, Psychoanalyse der Kunst angedeutet.
sondern das sich selbst Bedeutende und damit auch
das sich selber Deutende« (1986, 13). So wie es die Literatur
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schrif-
Aufgabe der Kunst ist, »das in sich selbst Gehaltvolle ten Bd. 7. Frankfurt a. M. 1970.
zu adäquater sinnlicher Gegenwart herauszustellen«, Bion, Wilfred R.: Transformationen. Frankfurt a. M. 1997 (engl.
so ist es die Aufgabe der Philosophie der Kunst – und 1965).
wir ergänzen: der Psychoanalyse –, »was dies Gehalt- Clemenz, Manfred: Psychoanalyse und künstlerische Kreativi-
tät. In: Psyche 59 (2005), 444–464.
volle und seine schöne Erscheinungsweise ist, den- Eissler, K. R.: Goethe. Eine psychoanalytische Studie.1775–1786.
kend zu begreifen« (1986, 242). Es hat keinen Sinn, Frankfurt a. M. 1985 (engl. 1963).
den Begriff der Schönheit, wie Luhmann dies tut, mit –: Leonardo da Vinci. Psychoanalytische Notizen zu einem Rät-
einem Tabu zu belegen, nur weil die Opposition sel. Frankfurt a. M. 1992 (engl. 1961).
Gedo, John E.: The Artist and the Emotional World. Creativity
schön-häßlich sich geschichtlich überholt hat (1995, and Personality. New York 1996.
309 ff.). Wer dies tut, dem geht es wie mit dem Glau- Greenacre, Phyllis: Emotional Growth. Psychoanalytic Studies of
ben: Wenn man ihm die Türe weist, dann kommt er the Gifted and a Great Variety of other Individuals. 2 Bde.
als Aberglaube zur Hintertür wieder herein. New York 1971.
Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke 14.
Was wir Schönheit nennen, ist vielfach determi- Frankfurt a. M. 1986.
niert. Eine Determinante liegt in der Befriedigung Kierkegaard, Sören: Entweder-Oder. Köln/Olten 1960.
über die vollzogene Transformation von etwas Un- Lorenzer, Alfred: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In:
verstandenem in Verstehen, von etwas Bedrohlichem Hans-Dieter König u. a. (Hg.): Kultur-Analysen. Frankfurt
a. M. 1986, 11–98.
in Bekanntes, von Fremdem in Wiedererkanntes, von Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.
Unerträglichem in Ertragbares, von Zerstörung in 1995.
Versöhnung, von Ekel in Genuß. Die vier Formeln, Noy, Pinchas: Die formale Gestaltung in der Kunst: Ein ich-
318 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

psychologischer Ansatz kreativen Gestaltens. In: H. Kraft Polanyi, Michael: Was ist ein Bild? [1970]. In: Gottfried Boehm
(Hg.): Psychoanalyse, Kreativität und Kunst heute. Köln (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, 148–162.
1984,180–205. Reiche, Reimut: Mutterseelenallein. Kunst, Form und Psycho-
Oevermann, Ulrich: Genetischer Strukturalismus und das so- analyse. Frankfurt a. M. 2001.
zialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung Segal, Hanna: Traum, Phantasie und Kunst. Stuttgart 1996
des Neuen. In: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Jenseits der (engl. 1991).
Utopie. Frankfurt a. M. 1991, 267–336. Waelder, Robert: Psychoanalytische Wege zur Kunst. In: He-
–: Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodolo- lene Deutsch/Phyllis Greenacre/Robert Waelder: Die Sig-
gische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zu- mund Freud Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1973 (engl. 1965),
gleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik. In: Thomas Jung/ 161–238.
Stefan Müller-Doohm (Hg.): ’Wirklichkeit’ im Deutungspro- Winnicott, D. W.: Übergangsobjekte und Übergangsphäno-
zeß. Frankfurt a. M. 1993, 106–189. mene. In: Ders.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1973,
Ogden, Thomas: Reconsidering three aspects of the psycho- 10–36 (engl. 1971).
analytical technique. In: Int. Journal of Psychoanalysis 77 Reimut Reiche
(1996), 883–900.
319

5. Literatur

Psychoanalyse in Europa und in den USA ser von André Gide, dem Mitherausgeber der Nou-
velle Revue Française, gebeten, die Veröffentlichung
Die Autoren und Autorinnen der literarischen Mo- seiner Schriften in französischer Übersetzung zu ge-
derne zeigten sich von der Psychoanalyse fasziniert nehmigen.
und provoziert, seit es diese gab, zuerst um 1900 in Die literarische Psychoanalyserezeption setzte in
Wien, spätestens seit 1910 in allen anderen deutsch- Italien später und verhaltener ein. Im Unterschied
sprachigen Zentren des literarischen Lebens, seit den zur dadaistischen und surrealistischen Avantgardebe-
1920er Jahren in ganz Europa und in den USA. wegung hatte der italienische Futurismus noch kein
In England wurde die Psychoanalyse-Rezeption Interesse an der Psychoanalyse gezeigt. Der erste Ro-
maßgeblich von Angehörigen der Londoner »Blooms- man, der sie in Italien thematisch und formal adap-
bury Group« initiiert und getragen, zu der neben tierte, Italo Svevos La coscienza di Zeno (1923), fand
dem Freud-Übersetzer James Strachey u. a. Virginia in Frankreich, protegiert durch James Joyce, weit
Woolf und Lytton Strachey, der Begründer der psy- mehr Anerkennung als in Italien. Svevo war schon
choanalytisch inspirierten ›New Biography‹, gehör- vor 1910 über den Triester Analytiker Edoardo Weiss
ten (vgl. Munsch 2004). Schon 1913, als Ernest Jones auf Freuds Schriften gestoßen, kannte den psycho-
die Londoner Psychoanalytische Vereinigung grün- analytischen Roman Der Seelensucher (1921) des Arz-
dete, war die Psychoanalyse auch in den literarischen tes Georg Groddeck und war mit dem Freudianer
Kreisen permanentes Gesprächsthema, nicht nur in Wilhelm Stekel befreundet.
Bloomsbury. Sons and Lovers (1913) von D. H. Law- In den USA wurde Abraham A. Brill als Übersetzer
rence ist vermutlich der erste Roman, der in England Freuds und Begründer der American Psychoanalyti-
unter dem Eindruck der Psychoanalyse geschrieben cal Association ab 1908 zum Promotor der psycho-
wurde; Lawrence hatte durch seine Geliebte Frieda analytischen Bewegung. 1909 präsentierte Freud
von Richthofen die Psychoanalyse in der Version des selbst in Worcester (Massachusetts) die Psychoana-
in Bohemekreisen nach 1900 einflußreichen Psycho- lyse mit vier Vorlesungen. Um 1920 beeinflußte sie in
analytikers und Kulturrevolutionärs Otto Gross den USA das psychiatrische Denken in einem Aus-
kennengelernt. maß wie sonst nirgendwo, seit den 1920er Jahren
Im Zusammenhang mit Gross nahm die literari- (den »Freudian Twenties«) sämtliche Bereiche der
sche Intelligenz die Psychoanalyse im Januar 1914 Elite- und Massenkultur, nicht zuletzt die Literatur.
auch in Frankreich wahr, als sich Guillaume Apolli- Die Dramen Eugene O’Neills (Strange Interlude,
naire in der Zeitschrift Mercure de France (16. 1. 1928) oder Philip Barrys, wichtige Werke von Ludwig
1914) an der Pressekampagne deutscher Expressio- Lewisohn (The Island Within, 1928), Conrad Aiken
nisten gegen die rechtswidrige Verhaftung des Psy- (Great Circle, 1933; King Coffin, 1935) oder Scott
choanalytikers und seine Deportation in eine Anstalt Fitzgerald (Tender Is the Night, 1934) und die Lite-
beteiligte. André Breton, ein Bewunderer Apollinai- ratur von Thornton Wilder, Clifford Odet, Lillian
res, experimentierte zusammen mit Philippe Sou- Hellmans, Paul Green, Tennessee Williams oder Ar-
pault in Die magnetischen Felder (1920) mit jener thur Miller sind ohne die Psychoanalyse kaum zu
›automatischen Schreibweise‹, die, von Freud ange- verstehen.
regt, zu einer der ästhetisch radikalsten Formen der
literarischen Adaption psychoanalytischen Wissens
Psychoanalyse in der deutschen Literatur
und bald darauf zum Programm des französischen
Surrealismus wurde. Anfang der 1920er Jahre, als Im deutschsprachigen Raum hatte Hermann Bahr,
Breton Sigmund Freud in Wien besuchte, wurde die- der Programmatiker der Wiener Moderne, 1904 in
320 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

seinem »Dialog vom Tragischen« die aristotelische aber Arthur Schnitzler. Als Wissenschaftler nahm
Katharsislehre im expliziten Rückgriff auf Josef Breu- dieser, u. a. mit Rezensionen zu den von Freud An-
ers und Sigmund Freuds Studien über Hysterie (1895) fang der 1890er Jahre übersetzten und kommentier-
in ein psychoanalytisches Verständnis überführt. ten Schriften Jean-Martin Charcots sowie Hippolyte
Hugo von Hofmannsthals Tragödienpraxis partizi- Bernheims, bereits am Entstehungsprozeß der Psy-
pierte etwa zur gleichen Zeit ebenfalls am damaligen choanalyse intensiv Anteil. Die Traumdeutung las er
Stand psychoanalytischen Wissens. Die Protagonistin wenige Monate nach ihrem Erscheinen.
seiner Tragödie Elektra konzipierte er als Hysterikerin Mancher Autor lernte die Psychoanalyse als Patient
und lehnte sich dabei an Breuers Krankengeschichte kennen. Das Beispiel Rainer Maria Rilke, der im
der Anna O. an. Die 1906 uraufgeführte Tragödie Winter 1911/12 eine psychoanalytische Behandlung
Ödipus und die Sphinx verarbeitet Elemente der zu erwog, doch dann davon Abstand nahm, weil er
diesem Zeitpunkt noch kaum verbreiteten Traum- fürchtete, mit seiner Neurose auch seine Kreativität
deutung. Zum ersten Mal stand ein mit psychoana- zu verlieren, ist keineswegs typisch. Hofmannsthal
lytischem Wissen konzipierter Ödipus auf der Bühne. ließ sich zeitweilig von Wilhelm Fließ behandeln,
Wie Freud interpretierte Hofmannsthal die äußeren Erich Mühsam 1907 von Otto Gross. Nicht zuletzt
Schicksalsmächte, von denen die tragischen Figuren Franz Kafka und Franz Werfel haben sich mit dem
antiker Literatur abhängig sind, in Triebschicksale später in Vergessenheit geratenen Kulturrevolutionär
um und begriff die mythische Welt als Projektionen Gross intensiv auseinandergesetzt. Hermann Hesse
psychischen Geschehens. unterzog sich 1916 bei einem Jung-Schüler, nach
Ihre breiteste und stärkste Akzeptanz unter den 1920 bei C. G. Jung selbst einer Therapie. Auch Ri-
Autoren der Moderne erreichte die Psychoanalyse in chard Huelsenbeck, Arnold Zweig, Hermann Broch
Deutschland im Verlauf der 1920er Jahre. Thomas und sogar einer der heftigsten Kritiker (doch zu-
Mann bescheinigte ihr 1929 in seiner ersten großen gleich besten Kenner) Freuds, Robert Musil, ließen
Freud-Rede, »Die Stellung Freuds in der modernen sich psychoanalytisch behandeln. Die meisten von
Geistesgeschichte«, die Bedeutung einer »Weltbewe- ihnen litten unter schweren Arbeitsstörungen, und
gung«, von der »alle möglichen Gebiete des Geistes manche, so Hesse und Broch, beschrieben ihre Ana-
und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten« (Mann lyse als Befreiung zu neuer Kreativität. Hesse schrieb
1991, 48). Die Psychoanalyse sei, so resümierte er, den Roman Demian (1919), der eine neue Phase sei-
»einer der wichtigsten Bausteine, die beigetragen ner literarischen Produktivität einleitete, in der Zeit
worden sind zum Fundament der Zukunft, der Woh- und unter dem nachweisbaren Eindruck seiner Psy-
nung einer befreiten und wissenden Menschheit« chotherapie bei J. B. Lang.
(Mann 1991, 54). Solche literarischen Lobreden auf Die Spuren, die die Psychoanalyse in der Literatur
Freud und die Psychoanalyse finden sich bei Schrift- des ganzen 20. Jh.s hinterlassen hat, sind seit den
stellerinnen und Schriftstellern dieser Zeit zuhauf. 1920er Jahren in ihrer Vielfalt kaum noch überschau-
Als 1930 in Frankfurt hinter den Kulissen heftig bar. Literarisch eher konventionelle Autoren wie Ste-
darum gestritten wurde, wer den Goethe-Preis erhal- fan Zweig zeigten sich an ihr genauso interessiert wie
ten sollte, war es vor allem den Repräsentanten der Repräsentanten der surrealistischen Avantgarde in
literarischen Moderne, namentlich Alfred Döblin, zu Frankreich (allen voran André Breton) oder der
verdanken, daß Freud die Auszeichnung erhielt. Von sprachexperimentellen Poesie nach dem Zweiten
erheblicher Bedeutung war, daß in der zweiten Sit- Weltkrieg. Arno Schmidt versuchte in der Auseinan-
zung der Jury ein Antrag auf Verleihung des Nobel- dersetzung mit James Joyce und mit Freuds Assozia-
preises an Sigmund Freud verlesen wurde. Dreißig tionstheorie dem Einfluß des Unbewußten auf die
Schriftsteller hatten ihn unterzeichnet. Auf der ein- Sprache Rechnung zu tragen und eine unter der kon-
drucksvollen Liste standen u. a. Lou Andreas-Salomé, trollierten Bewußtseinssprache liegende Bedeutungs-
Alfred Döblin, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Her- schicht aufzudecken. Mit einer systematischen »Ver-
mann Hesse, Georg Kaiser, Thomas Mann, Walter schreibkunst« (der Begriff steht im Untertitel zu
Mehring, Romain Rolland, Ernst Toller, Ernst Weiß, Abend mit Goldrand, 1975) griff Schmidt auf, was
Franz Werfel, Virginia Woolf, Paul Zech und Arnold Freud sprachlichen ›Fehlleistungen‹ an aufschließen-
Zweig. der Kraft zuschrieb.
Viele Autoren der Moderne waren durch ihre wis- Die in der Psychoanalyse maßgeblich von Jacques
senschaftliche Ausbildung einschlägig auf die Rezep- Lacan vollzogene linguistische Wende mit ihrem Dik-
tion der Psychoanalyse vorbereitet: Robert Musil, Al- tum, daß das Unbewußte wie eine Sprache struktu-
fred Döblin oder Richard Huelsenbeck, vor allem riert sei, kam den sprachexperimentellen Versuchen
Literatur 321

entgegen, das Unbewußte sprechen zu lassen und da- daß die Selbstaussagen der an dem Beziehungsge-
mit die logozentrische Macht der ›symbolischen flecht zwischen Literatur und Psychoanalyse Betei-
Ordnung‹ (Lacan), die sprachlich vermittelte patriar- ligten oft ungenau, widersprüchlich, ambivalent oder
chalische Struktur sozialer Beziehungen, zu unterlau- sogar irreführend sind. Die mitunter hochdramati-
fen. Was die französische Literaturtheoretikerin und sche Beziehung zwischen Literatur und Psychoana-
Psychoanalytikerin Julia Kristeva in diesem Sinne lyse ist bei aller gegenseitigen Wertschätzung durch
programmatisch als Revolution der poetischen Sprache starke Rivalitäten gekennzeichnet. Hofmannsthal
(1974) beschrieb, die die rhythmischen Qualitäten schrieb 1908 in einem Brief: »Freud, dessen Schriften
der Sprache, ihre körperlichen und materiellen Ei- ich sämtlich kenne, halte ich […] für eine absolute
genschaften, ihre assoziativen Mehrdeutigkeiten, ihre Mediocrität voll bornierten, provinzmäßigen Eigen-
Widersprüche und Sinnwidrigkeiten zur Geltung dünkels« (Hofmannsthal-Blätter 7 [1971], 74). Die
bringt und damit die Logik der sprachlichen Ord- polemischen Bemerkungen von Karl Kraus gegen die
nung durch den sinnlichen Exzeß erweitern will, Psychoanalyse sind bekannt, vor allem sein Bonmot:
fand im deutschsprachigen Bereich seine Entspre- »Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren
chungen u. a. in der literarischen Praxis von Friede- Therapie sie sich hält« (Die Fackel, Nr. 376/277, 30. 5.
rike Mayröcker (mein herz mein zimmer mein name, 1913, 21).
1988) oder den Theater- und Hörstücken sowie den Neben derartigen Äußerungen, die sich mühelos
Performances von Ginka Steinwachs. Wenn diese Au- um viele andere ergänzen ließen, stehen jedoch, so-
torin in g-l-ü-c-k (1991) eine ihrer Figuren »Anna gar bei Kraus und erst recht bei Hofmannsthal, sol-
Lyse« nennt, erweist sie neben Kurt Schwitters’ che, die von gehörigem Respekt gegenüber Freud
Avantgarde-Gedicht »Anna Blume« der Psychoana- zeugen. Sogar bei einem Autor wie Thomas Mann,
lyse ihre Referenz. dessen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse
Die Literaturgeschichte des 20. Jh.s ist ohne die durch einschlägige Forschungen relativ umfassend
Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse nicht ange- beschrieben ist, bleiben viele offene Fragen. Ob er
messen zu begreifen – so wie umgekehrt die Psycho- schon vor oder bei der Niederschrift der Erzählung
analyse nicht ohne ihre Auseinandersetzung mit Lite- Tod in Venedig (1912), die eine Vielzahl psychoana-
ratur. Ob Schnitzler, Hofmannsthal oder Kraus, lytischer Interpretationen an sich zog, Freud gelesen
Franziska zu Reventlow oder Lou Andreas-Salomé, hatte, ist ähnlich umstritten wie im Fall von Musils
Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Hesse, Kafka Törleß (1906). Die erste Erwähnung Freuds bei Mann
oder Musil, Döblin, Tucholsky oder Brecht, sie alle findet sich in einer Notiz von 1916. Das vermutlich
haben sich, mit mehr oder weniger kritischer Di- im Sommer 1915 entstandene »Analyse«-Kapitel im
stanz, von der Psychoanalyse prägen lassen. Für die Zauberberg zeigt jedoch deutliche Lektürespuren von
meisten hatte sie eine geradezu existentielle Bedeu- Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905).
tung. Psychoanalyse und literarische Moderne rea- Daß Mann sie schon bald nach ihrem Erscheinen zur
gierten gleichzeitig und in wechselseitiger Abhängig- Kenntnis genommen hat, ist wahrscheinlich. Die
keit auf gravierende Identitätsprobleme des moder- frappierenden Parallelen der Novelle Tod in Venedig
nen Subjekts angesichts zunehmend diskrepanter, zu Wilhelm Jensens Gradiva legen nahe, daß er nicht
schwer zu integrierender Ansprüche in ausdifferen- nur diesen Roman, sondern auch Freuds 1907 er-
zierten Gesellschaften. Psychoanalyse und Literatur schienene Studie darüber kannte. Auch wenn dies
kooperierten und konkurrierten dabei miteinander. nicht der Fall sein sollte, trifft doch Thomas Manns
spätere Bemerkung zu, psychoanalytische Fragestel-
lungen und Gedanken hätten um 1910 in der Luft
Diskrepanzen in der literarischen
gelegen, und man habe von der Psychoanalyse beein-
Psychoanalyserezeption
flußt werden können, ohne direkten Kontakt mit ihr
Zum gewichtigen und nachhaltig aufgegriffenen Ge- zu haben. Er selbst bemerkte darüber hinaus, wie
genstand literaturwissenschaftlicher und zum Teil sehr man damals über die Lektüre von Schopenhauer
auch psychoanalytischer Forschung wurde die lite- und Nietzsche mit Freudschen Denkmodellen ver-
rarische Rezeption der Psychoanalyse erst seit den traut wurde.
1970er Jahren. Es gibt jedoch bis heute keine umfas- Irritierend widersprüchlich erscheinen die Aussa-
sende und systematische Darstellung oder Doku- gen Alfred Döblins über die Psychoanalyse (vgl. Anz
mentensammlung zu dem Thema, nur eine Vielzahl 1997b; die folgenden Zitate sind dort nachgewiesen).
verstreuter und heterogener Einzelstudien. Erschwert Er artikulierte unter Berufung auf seine naturwissen-
wurden und werden die Untersuchungen dadurch, schaftlich-psychiatrische Ausbildung und auf seine
322 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

medizinische Praxis wiederholt sein Unbehagen an pflichteten Roman Hamlet oder Die lange Nacht
den ihm allzu spekulativ erscheinenden Elementen nimmt ein Ende (1956) kommentierte Döblin mit der
der Psychoanalyse, las indes seit etwa 1919 intensiv in Bemerkung: »Es wurde eine Art psychoanalytischer
Freuds Schriften und berief sich zu Beginn der Roman.«
1920er Jahre in mehreren publizistischen Auseinan- Wie immer man die Äußerungen von Autoren der
dersetzungen mit der Psychoanalyse wiederholt zu- Moderne über die Psychoanalyse oder ihre literari-
stimmend auf Freud. 1926 pries er Freud in einer schen Transformationen psychoanalytischen Wissens
Rede zu seinem 70. Geburtstag als einen »Wohltäter im einzelnen angemessen bezeichnen mag: als wider-
der Menschheit«, wies jedoch gleichzeitig nachdrück- sprüchlich, ambivalent oder differenziert, in jedem
lich alle Prioritätsansprüche der Psychoanalyse ge- Fall sind die erheblichen Diskrepanzen in ihren Ein-
genüber einer ihr entsprechenden Literatur zurück: schätzungen bemerkenswert. Ein frappierendes lite-
»Man hat gesagt: Die Freudsche Tiefenpsychologie rarisches Beispiel lieferte wiederum Thomas Mann.
wird eine Tiefendichtung zur Folge haben, ein kom- Als er Hermann Hesses Demian (1919) gelesen hatte,
pletter Unsinn. Noch immer hat Dostojewskij vor notierte er mit Bewunderung in sein Tagebuch (29. 5.
Freud gelebt, haben Ibsen und Strindberg vor Freud 1919), »das psychoanalytische Element [sei] darin
geschrieben. Und wir wissen ja, Freud hat selbst an entschieden geistiger u. bedeutender verwendet […]
ihnen gelernt und an ihnen demonstriert.« Ihm per- als im ›Zauberberg‹« (Mann 1991, 19). Da unter-
sönlich habe Freud »nichts Wunderbares gebracht«, schätzte er den eigenen Roman erheblich. Dieser ist
erklärte er ein Jahr darauf, berief sich jedoch später einerseits in seiner durchgehenden Sexualsymbolik,
mehrfach auf seine psychoanalytischen Erfahrungen, in den Schilderungen von Träumen oder auch von
um die seinem Roman Berlin Alexanderplatz unter- Lachanfällen sowie in der literarischen Psychopatho-
stellten Abhängigkeiten von James Joyce zurückzu- logie innerer Konflikte zwischen zivilisierter Selbst-
weisen. Die »Assoziationstechnik« kenne er genauer beherrschung und anarchischen Leidenschaften eine
als Joyce, »nämlich vom lebenden Objekt, von der Hommage an die Psychoanalyse. Sogar jener Schlüs-
Psychoanalyse«. selsatz, der als einziger im Druck hervorgehoben ist,
Für die Annahme, daß sich Döblin selbst in seiner greift eine Formulierung Freuds wörtlich auf (vgl.
ärztlichen Tätigkeit als praktizierender Psychoanaly- Pfeiffer 1997, 203–219). »Wäre es nicht besser, dem
tiker begriffen und auch so bezeichnet habe, gibt es Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren
etliche Belege. In seiner Autobiographischen Skizze er- Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt« (GW X,
klärt er Ende 1921: »Von meiner seelischen Entwick- 354), schrieb Freud am Ende seines zweiten Kriegs-
lung kann ich nichts sagen; da ich selbst Psychoana- Essays. Thomas Mann modifizierte den Satz so: »Der
lyse treibe, weiß ich, wie falsch jede Selbstäußerung Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode
ist.« In einem Brief spricht er später von seiner »psy- keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken«
choanalytischen Tätigkeit«. Einer der heftigsten An- (Mann 2002, 748). Der im Roman auftretende Psy-
griffe Döblins gegen die Person Freud findet sich in choanalytiker Dr. Krokowski ist andererseits so dar-
einem Artikel, der im Februar 1939, etwa ein halbes gestellt, daß die Psychoanalyse durch ihn einen ziem-
Jahr also vor Freuds Tod, in der Pariser Exilzeitschrift lich unsympathischen Repräsentanten erhält. Als du-
Die Zukunft erschien. Über Freud, den Döblin sonst biose, quasi religiöse Heilslehre eines fanatisierten
eher von seiner Kritik am psychoanalytischen Dog- jüdischen Einzelgängers wird sie diskreditiert und im
matismus einiger Schüler ausnahm, heißt es da: »An- Romanverlauf dann auch noch in die obskure Nähe
griffe, besonders witzige, ironische auf Freud sind zu okkultistischer Praktiken gerückt. Thomas Mann
begrüßen. Er ist von einer aschgrauen Dogmatik und selbst hatte diese Diskrepanz gesehen und beschrie-
von einer fanatischen Härte und Unerbittlichkeit in ben, wenn auch in entschärfenden Formulierungen:
der Handhabung seiner Doktrin, daß man von vorn- Dr. Krokowski sei zwar »ein bißchen komisch«, er-
herein einer Attacke auf ihn mit dem Ruf ›in tyran- klärte er 1925. »Aber seine Komik ist vielleicht nur
nos‹ applaudieren soll. Diktatoren sind nicht nur po- eine Schadloshaltung für tiefere Zugeständnisse, die
litisch unerträglich.« Die Psychoanalyse nimmt er in der Autor im Inneren seiner Werke der Psychoanalyse
dem Artikel jedoch gegen die kontinuierliche Pole- macht« (Mann 1991, 23). Schärfer läßt der Autor
mik aus der Schule seines akademischen Lehrers, des seine Figur Settembrini die Diskrepanz der eigenen
Psychiaters Alfred Hoche, in Schutz. Und Freuds Ver- Einschätzung artikulieren. Auf die Frage »Sind Sie
sion der Psychoanalyse schätzt Döblin hier sehr viel schlecht auf die Analyse zu sprechen?« antwortet er:
höher ein als die Tiefenpsychologie Jungs. Seinen »Sehr schlecht und sehr gut, beides abwechselnd«.
späten, der analytischen Erinnerungstechnik ver- Die Psychoanalyse sei gut als ein »Werkzeug der Auf-
Literatur 323

klärung und der Zivilisation«, das »dumme Überzeu- kenntnisqualitäten der Kunst und Literatur an, die
gungen erschüttert«, »die Autorität unterwühlt« und von den Naturwissenschaften des 19. Jh.s für obsolet
»Knechte reif macht zur Freiheit«. Sie sei schlecht, erklärt worden waren.
»insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Die Verwissenschaftlichung des literarisch moder-
Wurzeln schädigt, unfähig, es zu gestalten« (Mann nen Diskurses korrespondierte, zumindest was die
2002, 338). Psychoanalyse angeht, um 1900 mit einer Literarisie-
Sehr schlecht und sehr gut zu sprechen auf die Psy- rung der Wissenschaft. Zum einen illustrierte und le-
choanalyse war ebenfalls Robert Musil. Er gehört zu gitimierte Freud seine Theorien permanent mit lite-
jenen Autoren, die den Ursachen für die dramati- rarischen Texten. Sie sind zum Teil in seine Termino-
schen Spannungen zwischen moderner Literatur und logie eingegangen. Der »Ödipus-Komplex« ist dafür
Psychoanalyse vielleicht am dichtesten auf der Spur nur das prominenteste Beispiel. In seiner Studie über
waren. Denn diese standen sich damals so nahe, daß Wilhelm Jensens 1903 erschienenen Roman Gradiva
die Nähe immer wieder in Rivalität umschlug. Eine nennt er die Dichter »wertvolle Bundesgenossen«
»finster drohende und lockende Nachbarmacht« sei (GW VII, 33) der wissenschaftlichen Psychologie.
die Psychoanalyse für den Dichter, befand Musil. Zum anderen näherte sich die Psychoanalyse durch
Doch nur so lange, fügte er hinzu, wie »er wenig von ihre narrativen Darstellungen von Lebens- und
ihr versteht u[nd] sie ein Durcheinander von wissen- Krankengeschichten selbst der Literatur an. Kranken-
schaftl[icher] Genialität und Journalismus bildet« geschichten wiederum, wenn auch fiktive, sind für
(Musil 1978, 1404). Beunruhigt und gelockt zugleich die psychopathophile literarische Moderne konstitu-
haben ihn die literarischen Elemente, die der Psycho- tiv. Ihnen begegnete Freuds klassizistisches Literatur-
analyse von Beginn an eigen waren. Es gebe, so no- verständnis mit erheblicher Skepsis. Psychopathische
tierte er, »psychologische Arbeiten, die wie Dichtun- Personen auf der Bühne, so der Titel seines 1906 ver-
gen sind. Es sind Beschreibungen pathologischer See- faßten Aufsatzes, lehnte er ab, und nicht nur auf der
lenabläufe, die von einer wunderbaren Eindringlich- Bühne, sondern in literarischen Texten generell. Und
keit […] sind« (Musil 1978, 1347). Mit ähnlicher diese Abneigung ging mit Ressentiments gegenüber
Bewunderung hatte Alfred Döblin in seiner Rede zu pathologischen Charakterzügen von Autoren einher.
Freuds 70. Geburtstag die inzwischen berühmte Be- Dostojewskij beispielsweise hat er, wie ein Brief an
merkung des Analytikers aus den Studien über Hy- Theodor Reik erklärt, »bei aller Bewunderung« nicht
sterie zitiert: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gemocht. »Das kommt daher, daß sich meine Geduld
gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elek- mit pathologischen Naturen in der Analyse er-
trodiagnostik erzogen worden wie andere Neuropa- schöpft« (zit. nach Jones 1984, Bd. 3, 494).
thologen, und es berührt mich selbst noch eigentüm- Am Kampf gegen die »entarteten«, »kranken«
lich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, Kunstwerke und Künstler der Moderne, wie er um
wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen und nach 1900 mit Argumenten sozialdarwinisti-
des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit ent- scher und psychiatrischer, sozialistischer, deutschna-
behren« (GW I, 227). Gerade die Affinitäten der Psy- tionaler und rassistischer, heimatkunstbewegter und
choanalyse zur Literatur waren es jedoch, die bei Ro- neoklassizistischer Provenienz geführt wurde, hat
bert Musil ähnlich wie bei Döblin Aggression auf die sich Freud allerdings nie beteiligt. Viele Autoren der
»Pseudodichter« Freud, Jung oder auch Adler her- Moderne kannte er persönlich, schätzte, was sie
vorriefen. schrieben (vor allem die Prosa Schnitzlers, Thomas
Manns, Arnold Zweigs), und wechselte mit ihnen
zahlreiche Briefe. Daß Stefan Zweig an Freuds Grab
Beziehungskonstellationen zwischen
eine Rede hielt, ist für die persönliche Ebene der Be-
Psychoanalyse und Literatur
ziehung zwischen Literatur und Psychoanalyse von
Psychoanalyse und literarische Moderne begegneten ähnlich symptomatischer Bedeutung wie der Nach-
sich um und nach 1900 in einer kultur- und diskurs- ruf Freuds auf Lou Andreas-Salomé. Die literarische
geschichtlichen Konstellation, in der Literatur den Moderne stand ihm indes näher als er ihr. Expressio-
Anspruch der naturalistischen Generation, den Fort- nismus und Dadaismus wurden von ihm ignoriert.
schritten der Wissenschaften mit literarischen Mit- Die Bewunderung, die ihm später die Surrealisten
teln Rechnung zu tragen, auf die Erkenntnis und entgegenbrachten, registrierte er, mochte diesen in-
Darstellung psychischer Prozesse übertrug. Umge- des seinerseits wenig Verständnis entgegenbringen.
kehrt näherten sich einflußreiche Segmente der Wis- Bezeichnend für das gespannte Verhältnis Freuds
senschaft, unter ihnen die Psychoanalyse, den Er- zur Literatur und zu Autoren der Moderne ist sogar
324 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

der überaus freundliche Brief, mit dem Freud am 14. scheu« vor Schnitzler formulierte Freud in dem zi-
Mai 1922 Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag gra- tierten Brief allerdings zutreffend, was Psychoanalyse
tulierte. Er ist in dem Versuch, Prioritätsstreitigkeiten und literarische Moderne verband: »die nämlichen
gar nicht erst aufkommen zu lassen, generös, doch an Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse«, das
der folgenden Passage ist fast alles falsch: »So habe »Ergriffensein von der Wahrheit des Unbewußten,
ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intui- von der Triebnatur des Menschen« und der »Zerset-
tion – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrneh- zung der kulturell-konventionellen Sicherheiten«
mung – alles das wissen, was ich in mühseliger Weise (Freud 1955, 97). Auf der Basis solcher Gemeinsam-
an anderen Menschen aufgedeckt habe« (Freud 1955, keiten ist psychoanalytisches Wissen in die Figuren-
97). Schnitzler hatte, und Freud war das keineswegs konstellationen, die Themen und Motive sowie in die
unbekannt, sein psychologisches Wissen keineswegs Handlungsmuster, in die Formen, die Bildlichkeit
allein durch Intuition und Selbstbeobachtung erwor- und in die Sprache literarischer Texte transformiert
ben. Der Arzt ist vielmehr durch dieselbe Wiener me- worden.
dizinische Schule gegangen wie Freud und hatte sich
wie er auf das Gebiet der Nervenkrankheiten spezia-
Indikatoren und Arten literarischer Adaption
lisiert, insbesondere auf Hysterie und Neurasthenie,
der Psychoanalyse
und darüber auch publiziert. Freud wiederum hatte
sein psychoanalytisches Wissen keineswegs nur aus Zwischen bloßen Ähnlichkeiten oder Übereinstim-
der mühseligen Auseinandersetzung mit anderen mungen von Literatur und Psychoanalyse und be-
Menschen erworben, sondern ebenfalls in Folge in- wußten Transformationen psychoanalytischer Kennt-
tensiver, durch eigene Krisen stimulierter Selbstbe- nisse in literarische Texte zu unterscheiden ist oft
obachtung. nicht leicht. Doch historisch vergleichende Aussagen
Jenseits solcher persönlich motivierten Spannun- über ungefähr zeitgleich entstandene Texte der Psy-
gen zwischen Literatur und Psychoanalyse ging es choanalyse und der Literatur haben einen anderen
freilich um gegenseitige Selbstbehauptungen und Ab- Status als Aussagen über psychoanalytisches Wissen,
grenzungen eines eigenen Terrains. Gleichsam als das ein Autor hatte, das in seine Texte eingegangen
Einmischung in innere Angelegenheiten wies Freud ist, das die Texte beim Leser zum adäquaten Ver-
das Interesse der literarischen Moderne an psycho- ständnis voraussetzen oder auf das sich literarische
pathologischen Stoffen zurück. Umgekehrt reagier- Texte beziehen. Unabhängig von der Frage, ob ein
ten Autoren der Moderne hochempfindlich, wenn Autor psychoanalytisches Wissen hatte und was er
Psychoanalytiker in ihrem Interesse an der Kunst und davon in seine literarischen Texte übertragen hat, ist
an Künstlerpersönlichkeiten gegenüber dem Autor es zwar durchaus legitim und sinnvoll, nach Ähnlich-
und seinem Werk von vornherein einen vaterähnli- keiten und Differenzen zwischen psychoanalytischen
chen Überlegenheitsanspruch behaupteten, während und literarischen Diskursen zu fragen. Solche Fragen
sie dem Autor die Rolle eines quasi neurotischen, be- können der historischen Rekonstruktion zeitgleicher
wußtseinsmäßig unterlegenen Patienten zuschrieben. und zeitsymptomatischer Interessen, Wahrnehmun-
Den produktiven Anstößen, für die man der Psycho- gen, Mentalitäten oder Diskursordnungen dienen.
analyse dankbar war, stand die Bedrohung gegen- Die Antworten bedürfen keiner philologischen oder
über, die von ihren Kunstinterpretationen ausging. biographischen Nachweise gegenseitiger Beeinflus-
Denn jeder Autor konnte durch sie, und zwar un- sung. Ähnlichkeiten zwischen psychoanalytischen
freiwillig und sogar öffentlich, mit seinen Werken und literarischen Texten können aber auch Indika-
zum pathologischen Fall und Untersuchungsobjekt toren dafür sein, daß diejenigen Autoren, die sie ver-
werden. »Ich bin […] unvermögend mich gegen In- faßt haben, gleichsam personifizierte Schnittstellen
terpretationen der vagsten Art zu wehren […], wenn bei der Interpenetration heterogener Diskursord-
morgen ein Freudianer meine sämtlichen Arbeiten nungen sind. Antworten darüber bedürfen der Refle-
bis aufs I-Tüpferl als infantil-erotische Hallucinatio- xion unter anderem darüber, was in literarischen
nen ›erkennt‹« (zit. nach Urban 1978, 120), schrieb Texten als Indikator für eine Verarbeitung psycho-
Hofmannsthal in einem Brief. Und Karl Kraus wü- analytischen Wissens gelten kann.
tete: »Nervenärzten, die uns das Genie verpathologi- Man kann dabei zwischen zuverlässigen und unzu-
sieren, soll man mit dessen gesammelten Werken die verlässigen Indikatoren unterscheiden. Zuverlässige
Schädeldecke einschlagen« (Die Fackel, Nr. 256, 5. 6. liegen vor,
1908). – wenn literarische Texte in markierter Form (durch
Mit dem Eingeständnis seiner »Doppelgänger- gekennzeichnete Zitate) oder auch unmarkierter
Literatur 325

Form (wörtliche, doch nicht in Anführungszei- in die Erzählformen und in die Sprache literarischer
chen gesetzte Zitate, Peri- und Paraphrasen, An- Texte übertragen werden. Eine einfache, häufig und
spielungen) auf psychoanalytische Texte Bezug variationsreich gehandhabte Technik literarischer
nehmen; Verarbeitung psychoanalytischen Wissens besteht
– wenn sie einschlägige psychoanalytische Termini darin, es zu personifizieren, also Repräsentanten die-
verwenden; ses Wissens (vor allem Ärzte, Psychiater, Psychoana-
– wenn sie literarische Figuren einführen, die als lytiker) als literarische Figuren auftreten und spre-
professionelle Repräsentanten psychoanalytischen chen zu lassen.
Wissens erkennbar sind. In Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) erscheint
Unzuverlässige Indikatoren sind hingegen Bestand- einigen jungen, offensichtlich psychoanalytisch ori-
teile literarischer Texte, die ein hohes Maß an Über- entierten Ärzten das Leiden Franz Biberkopfs als
einstimmung mit typischen Bestandteilen psycho- »krankhafter Zustand von Hemmung und Gebun-
analytischer Diskurse aufweisen, zum Beispiel eine denheit, den eine Analyse schon klären würde«
ähnliche Konzentration auf das Interesse an (Döblin 1996, 425). Namentlich oder verschlüsselt
– ödipalen Figurenkonstellationen; taucht der unorthodoxe Freud-Schüler Otto Gross in
– Manifestationen des Unbewußten und nicht be- zahlreichen Erzähltexten und literarisierten Erinne-
wußtseinsfähigen psychischen Prozessen (Nacht- rungen auf: als Doktor Askonas in Max Brods Das
und Tagträume, individuelle Wahn- oder kollek- große Wagnis (1918), Dr. Gebhart in Franz Werfels
tive Phantasiegebilde, Fehlleistungen oder Sym- Barbara oder Die Frömmigkeit (1929), Dr. Hoch in
ptombildungen); Johannes R. Bechers Abschied (1945), Dr. Kreuz in
– symbolischen Verschlüsselungen tabubesetzter In- Leonhard Franks Links wo das Herz ist (1952), Dr.
halte; Othmar in Karl Ottens Wurzeln (1963). Franz Jung
– pathologischen Konfliktmustern und Befindlich- stellte ihn unverschlüsselt in den Mittelpunkt seines
keiten (Angstneurosen, Hysterie usw.); Romans Sophie (1916).
– sexuellem Handeln und Begehren; Otto Gross bot den literarischen Zeitgenossen mit
– Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit; seinen öffentlich ausgetragenen Vaterkonflikten ein
– psychischen Bedingungen literarischer und künst- anschauliches Exempel für jene Figurenkonstellatio-
lerischer Kreativität; nen, die Psychoanalyse und Literatur gleichermaßen
– Mustern der Individuation und Identitätsbildung. und in wechselseitigem Interesse für einander immer
Solche Indikatoren können in einzelnen literarischen wieder beschrieben haben. Eher selten liegen zuver-
Texten vorliegen oder in größeren Textcorpora eines lässige Indikatoren dafür vor, daß die literarische Ge-
Autors, einer Autorengruppe, einer Autorengenera- staltung von Vater-Sohn-Konflikten psychoanalyti-
tion oder eines Zeitabschnitts mit signifikanter Re- sches Wissen transformiert hat. Ob beispielsweise der
gelmäßigkeit wiederkehren. Schlüssige Belege für die Psychoanalytiker Hanns Sachs, als er 1917 der ödipa-
Verarbeitung psychoanalytischen Wissens bieten sie len Konstellation in Walter Hasenclevers Drama Der
nicht, solange keine zuverlässigen textinternen Indi- Sohn (1914) nachspürte, etwas aufdeckte, was der ex-
katoren oder textexternen (in Form von biographi- pressionistische Autor ganz bewußt und mit psycho-
schen und autobiographischen Zeugnissen) hinzu- analytischem Wissen oder eher intuitiv oder gar un-
treten. bewußt konzipiert hatte, ist wie in vielen vergleich-
Die literaturwissenschaftliche Reflexion über Indi- baren Fällen (etwa Musils Törleß oder Kafkas Urteil)
katoren, die es erlauben, von einer literarischen Ad- genauer zu klären. Im Fall von Kafkas 1912 geschrie-
aption psychoanalytischen Wissens zu sprechen, ist bener Erzählung liegt immerhin ein textexterner In-
Voraussetzung zur Klärung der poetologischen dikator, wenn auch ein relativ vager, vor, insofern der
Frage, mit welchen literarischen Techniken dieses Autor nach eigener Aussage bei der Niederschrift der
Wissen in poetische Texte transformiert wird. Diese Erzählung »Gedanken an Freud« (Tagebucheintrag
kann nur sinnvoll im Hinblick auf solche Texte ge- vom 23. 9. 1912) gehabt hat. Ob er wirklich an Freud
stellt werden, von denen sich einigermaßen zweifels- oder an was er dabei genau gedacht hat, können Lite-
frei sagen läßt, daß in ihnen psychoanalytisches Wis- raturwissenschaftler nicht wissen. Aber sie können
sen verarbeitet worden ist. sich durch Kafkas Tagebuchnotiz zu der Hypothese
Psychoanalytisches Wissen kann in die Figuren- anregen lassen, daß der Autor sein psychoanalyti-
konzeption, die Themen und Motive, die semanti- sches Wissen über den ödipalen Konflikt in den lite-
schen Oppositions- und Äquivalenzrelationen der rarischen Text eingeschrieben hat, und davon ausge-
Textelemente sowie in die Handlungskonstellationen, hend untersuchen, wie er das gemacht hat.
326 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Nicht immer werden in der literarischen Ausge- Formalismusverdikte, Ernst Weiß im Blick, als er
staltung ödipaler Beziehungen die Zeichen einer Psy- über den unter dem Titel Zeno Cosini 1929 ins Deut-
choanalyserezeption so deutlich gesetzt wie in Franz sche übersetzten Roman Italo Svevos schrieb: »Jede
Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist einigermaßen intensive Beschäftigung mit dem eige-
schuldig (1920), in der einer literarischen Figur un- nen Ich wird seit einigen Jahren unter dem Sammel-
verkennbar die Theorien von Otto Gross in den begriff Psychoanalyse zusammengefaßt. Svevo war ei-
Mund gelegt werden und der Protagonist am Ende ner von denen, die den großen literarischen Wert die-
den Fall eines Vatermordes, der mit der eigenen Le- ser Methode erkannten und es ist anzunehmen, daß
bensgeschichte eng verwoben ist, mit dem ausdrück- Joyce ihm den ersten Hinweis darauf verdankt«
lichen Verweis auf Ödipus kommentiert. Werfels No- (Weiß-Blätter, 2. Folge, Nr. 3, 5). Schnitzler, der Die
velle ist weiterhin typisch für viele psychoanalytisch Traumdeutung wenige Monate nach ihrem Erschei-
inspirierte Darstellungen und Erklärungen kriminel- nen gelesen hatte und bald nach der Lektüre seine
len Verhaltens sowie für die Beliebtheit von literari- Novelle Leutnant Gustl (1901) schrieb, verdankte sei-
schen Motiven unbewußter und dadurch das Verhal- nem Wissen über die psychoanalytische Inszenierung
ten der Figuren um so wirksamer prägender Kind- der freien Assoziation die gegenüber früheren lite-
heitstraumata. Schon vor Werfel hatte sich Leonhard rarischen Ansätzen perfektionierte Kunst des Inneren
Frank in seiner psychiatrie- und justizkritischen Er- Monologs.
zählung Die Ursache (1916) entsprechender Wissens-
elemente der Psychoanalyse ausdrücklich bedient.
Funktionsunterschiede zwischen
Der des Mordes an seinem Lehrer angeklagte Pro-
Literatur und Psychoanalyse
tagonist erklärt hier seine Tat vor Gericht mit ver-
gessenen Kindheitserlebnissen. Nach dem Todesurteil Innerer Monolog und freie Assoziation haben eine
ergänzt ein »Psychologieprofessor« diese Argumenta- partiell ähnliche Funktion, nämlich Aufschlüsse über
tion mit den Sätzen: »Diese Theorie der vergessenen psychische Prozesse zu verschaffen, die das kontrol-
Kindheitserlebnisse ist eine erst vor wenigen Jahren lierte Bewußtsein stärker entstellt als das ungehemmt
aufgekommene neue Richtung. Modernste Seelen- monologisierende. Dennoch hat die freie Assoziation
analyse« (Frank 1988, 88). Psychoanalytisches Wissen in der psychoanalytischen Theorie und Praxis zu-
wird hier wie in vielen anderen Texten in der Weise gleich auch eine andere Funktion als der Innere Mo-
literarisiert, daß ein Text erklärungsbedürftiges Ver- nolog in literarischen Diskursen. Ziel eines literari-
halten seiner literarischen Figuren in Szene setzt und schen Textes kann es nicht sein, die Figur, der der
im Rekurs auf psychoanalytische Erklärungsmuster innere Monolog zugeschrieben wird, zu therapieren.
explizit motiviert. Wo dies nicht explizit geschieht, Mit welchen Intentionen und Funktionen Literatur
kann der Text beim Leser die Kenntnis solcher Erklä- psychoanalytisches Wissen verarbeitet, hat Folgen für
rungsmuster auch voraussetzen. die Art der Wissensverarbeitung.
Eine weitere Technik der literarischen Umformung Forschungen über die Beziehung zwischen Psycho-
psychoanalytischen Wissens besteht darin, semanti- analyse und Literatur haben neben den Affinitäten
sche Oppositionen, die für psychoanalytische Dis- die Differenzen zwischen beiden zu beachten. Dich-
kurse konstitutiv sind, in den literarischen Text zu tung, so notierte schon Robert Musil, »ist etwas an-
übernehmen oder ihnen in literarischen Diskursen deres als Psychologie, so wie eben Dichtung etwas
schon vorher verbreitete Oppositionsbildungen an- anderes als Wissenschaft ist […]. Die Unterschei-
zugleichen. Zu den semantischen Leitdifferenzen der dung selbst ist einfach: Dichtung vermittelt nicht
Psychoanalyse gehören die Gegenüberstellungen von Wissen und Erkenntnis. / Aber: Dichtung benutzt
Bewußtsein und Unbewußtem sowie, damit verbun- Wissen u. Erkenntnis« (Musil 1978, 967).
den, von Moralität und Sexualität, Geist und Körper. Auch da, wo literarisch erzählte Geschichten über
Freuds Schriften selbst haben diese Oppositionen psychische Krankheiten im Bemühen um wissen-
wiederholt in Metaphern des Kampfes verbildlicht schaftlich abgesicherte Wahrscheinlichkeit das psy-
und damit ihrer Literarisierung vorgearbeitet. chiatrische oder psychoanalytische Wissen ihrer Zeit
Eine subtilere Technik der Transformation psycho- kenntnisreich in sich aufgenommen haben, folgen sie
analytischen Wissens ist die literarische Simulation anderen Intentionen als psychopathologischen Dia-
von psychoanalytisch beschriebenen Mechanismen gnosen und Fallbeschreibungen, zielen auf Emotio-
der Traumarbeit und der freien Assoziation. Diese nalisierung der Rezipienten, integrieren das Wissen
hatte, ähnlich wie Brecht in seiner Verteidigung des in kultur- und sprachkritische Perspektiven oder ver-
Inneren Monologs im Ulysses gegen marxistische mitteln mit ihm ethische und ästhetische Konzepte.
Literatur 327

In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh.s wird bald zu seinem engsten Kreis gehörte, schrieb 1915,
psychoanalytisches Wissen in literarischen Texten wohl nicht zufällig also während der Kriegszeit, in
und ihren vitalistischen Kontexten (insbesondere einem ihrer zahlreichen Beiträge zur Psychoanalyse
Friedrich Nietzsches) dominant zum Funktionsträ- vom »Krieg und Widerstreit der Triebe gegeneinan-
ger von Vermittlungen der Werte des ›Lebens‹ (vgl. der« (Imago 4, 1915/16, 257).
Titzmann 1999, 216 f.). Psychoanalytische und literarische Texte um und
nach 1900 erzählen in unterschiedlichen Variationen
immer wieder die gleiche Geschichte des von frem-
Psychoanalytische und literarische
den Mächten im eigenen Inneren bedrohten und um
Beschreibungen eines Kampfes
seine Autonomie kämpfenden Subjekts. »Blätter zur
Ungeachtet der fundamentalen Differenzen zwischen Bekämpfung des Machtwillens« hieß bezeichnender-
Literatur und Psychoanalyse ist die Interessenge- weise jenes Zeitschriftenprojekt, durch das Franz
meinschaft beider nicht zu übersehen. Sie ist auf Kafka sich Otto Gross verbunden sah. Und was damit
einen Problemkomplex hin zentriert: die seit der bekämpft werden sollte, war nicht zuletzt der Macht-
Aufklärung forciert in Anspruch genommene Auto- wille im eigenen Ich.
nomie des Subjekts. Durch die Psychoanalyse, so Gross hatte den Vater-Sohn-Konflikt in der ihm
konstatierte Freud, werde der menschlichen »Grö- eigenen Terminologie als den »ins Innere verlegten
ßensucht« eine noch größere Kränkung zugemutet Kampf des Eigenen gegen das Fremde« (Gross 1980,
als durch Kopernikus und Darwin. Nachdem die 28) beschrieben, als Kampf zwischen den individuel-
Menschheit von der Astronomie erfahren mußte, daß len, insbesondere sexuellen Bedürfnissen und der ins
ihr Ort nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, und eigene Innere eingedrungenen väterlichen Autorität.
von der Biologie auf ihre Abstammung aus dem Tier- In Kafkas Beschreibungen der Machtkämpfe seiner
reich verwiesen wurde, zeige ihr nun die Psychologie, Protagonisten mit dem Vater und vaterähnlichen Au-
daß das Ich »nicht einmal Herr ist im eigenen Hause« toritäten entfaltet die patriarchale Macht erst ihre
(GW XI, 295). Das autonome, sich selbst bewußt volle, siegreiche Wirksamkeit im Prozeß ihrer Verin-
kontrollierende Subjekt ist nicht mehr, wie in der na- nerlichung. Georg Bendemann vollstreckt das Todes-
turwissenschaftlichen Psychiatrie Wilhelm Griesin- urteil des Vaters an sich selbst. Joseph K. und Gregor
gers oder der literarischen Psychologie des Realis- Samsa verlieren ihren Kampf und sterben erst, nach-
mus, der Normalfall, sondern eine Illusion oder al- dem sie selbst damit einverstanden sind.
lenfalls das nie ganz zu erreichende Ziel selbstrefle- Mit den semantischen Oppositionen, die sich in
xiver Anstrengungen. In der freien Assoziation wie die dramatisierende Metaphorik des Kampfes mit ih-
im Inneren Monolog, im Traum wie im Wahn oder ren dichotomischen Freund-Feind-Schemata eingela-
in pathologischen Symptomen zeigt es sich ge- gert finden, werden bestimmte Werthierarchien kon-
schwächt, offenbaren sich auf erschreckende oder struiert, aber mit den gleichen Oppositionen können
lustvoll entfesselte Weise die Wahrheiten des Unbe- sie auch umgekehrt werden. Die Metaphorik des
wußten. Beschreibungen von Subjekten, die mit ihrer Kampfes, die die ausdifferenzierten Diskursordnun-
Autonomie auch ihre Kohärenz verloren haben, die gen in den Künsten und Wissenschaften übergreift,
in zwei und mehr Teile gespalten sind, liefern Psy- wird in der Moderne zum Medium sowohl der Kon-
choanalyse, Psychiatrie (Eugen Bleuler führte 1911 sens-, weit mehr aber noch der Dissensbildung. Sie
den Begriff »Schizophrenie«, Karl Jaspers 1913 den läßt ganz unterschiedliche Positionen in der Bewer-
der »Depersonalisation« ein) und literarische Mo- tung des beschriebenen Kampfgeschehens zu. Die li-
derne in vergleichbarem Ausmaß. Und insofern die terarische Moderne ist dabei wie die Psychoanalyse
Teile des dissoziierten Ich häufig gegeneinander agie- keineswegs durch ein einheitliches Paradigma ge-
ren, werden hier Kämpfe beschrieben, deren Schau- prägt, sondern durch ein Neben- und kämpferisches
platz die menschliche Psyche ist. Gegeneinander von unterschiedlichen, bei einzelnen
Den Antagonismus von Sexualität und Moral, Un- Autoren zuweilen rasch wechselnden oder sich unter-
bewußtem und Bewußtem, Körper und Geist wird in laufenden Positionen. Moral- und rationalitätskriti-
Literatur und Psychoanalyse gleichermaßen immer sche Appelle zur Befreiung libidinöser und unbe-
wieder mit Metaphern des Kampfes dramatisiert. Zu- wußter Energien konkurrieren mit aufklärerischen
sammen mit »Unterdrückung«, »Widerstand« oder Programmen zur Stärkung des autonomen, mann-
»Abwehr« gehört auch »Kampf« zum festen Inventar haften Subjekts und mit klassisch-idealistischen Po-
des psychoanalytischen Vokabulars. Lou Andreas-Sa- stulaten zur befriedenden Aufhebung der Gegensätze
lomé, die 1911 Freud persönlich kennenlernte und durch die integrative Kraft der Selbstreflexion. Die
328 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

konfliktreiche Beziehung zwischen literarischer Mo- Gross, Otto: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe.
Mit einem Textanhang von Franz Jung. Hg. von Kurt Krei-
derne und Psychoanalyse beruht zu einem nicht ge- ler. Frankfurt a. M. 1980.
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329

6. Literaturwissenschaft

Freud im Kontext der Geisteswissen- keit seiner Gestalten« (Dilthey 1924 VI, 98). Freud
schaften seiner Zeit stellt in seinem ersten dichtungstheoretischen Auf-
satz Der Dichter und das Phantasieren (1908) ähn-
Die große kulturtheoretische Bedeutung von Freuds liche Überlegungen an.
Entdeckungen war früh offensichtlich, ebenso deren Trotz dieser Aufgeschlossenheit für psychologische
Bedeutung für die Literaturwissenschaft. Der neue Fragestellungen haben die Geisteswissenschaften –
Zugang zum Menschen, den die systematische Erfor- und insbesondere die Germanistik – zunächst ableh-
schung des Unbewußten ermöglichte, mußte auch ei- nend auf Freuds Theorien reagiert. Der Grund hier-
nen neuen Zugang zu den Kulturphänomenen eröff- für ist in einer seltsamen Ungleichzeitigkeit zu su-
nen: besonders zu den Kreationen im Bereich von chen, welche die Entwicklungen der Geisteswissen-
Literatur und Kunst, die eng mit der menschlichen schaften und der Psychoanalyse kennzeichnet. Ge-
Psyche verknüpft sind (Reh 1986, 19 f.). Freud war rade zu dem Zeitpunkt, da Freud die Grundlagen
sich der Affinität von Dichtung und Psychoanalyse seines Theoriegebäudes legt, befreit sich die Litera-
von Anfang an bewußt und hat sie immer wieder turwissenschaft vom naturwissenschaftlichen An-
thematisiert: Unter den Dichtern finde man »die tief- spruch des Positivismus und greift die Diltheysche
sten Kenner des menschlichen Seelenlebens« (GW Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaf-
VII, 34), sie seien »wertvolle Bundesgenossen«: »ihr ten auf, die das »Erklären« (Naturwissenschaften)
Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine vom »Verstehen« (Geisteswissenschaften) sondert.
Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu Dilthey ist davon überzeugt, daß es eine unüber-
wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch brückbare und in der Sache begründete Differenz
nicht träumen läßt. In der Seelenkunde gar sind sie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gebe –
uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus eine Überzeugung, die jene mühevollen Versuche der
Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wis- Literaturwissenschaft im 19. Jh. konterkariert, sich in
senschaft erschlossen haben« (GW VII, 33). ihren Prämissen und ihrem methodischen Vorgehen
Dieses große Interesse an der »Seelenkunde«, das die objektivierenden Methoden der Naturwissen-
Freud den Schriftstellern zuspricht, findet sich auch schaften anzueignen und sich als strenge Wissen-
in den um 1900 vorherrschenden geisteswissen- schaft zu etablieren.
schaftlichen Richtungen, die in Wilhelm Dilthey In der Literaturwissenschaft war es vor allem Wil-
(1833–1911) ihren prominentesten Vertreter fanden. helm Scherer (1841–1886), der – in strenger Anleh-
Die Auffassung der Nähe von Literatur zu Traum nung an die naturwissenschaftliche Methodik – die
und Spiel, die wichtiger Bestandteil von Freuds Dich- Beschränkung auf die Erforschung von Kausalzu-
tungstheorie wurde, ist ein wesentlicher Aspekt auch sammenhängen forderte (deswegen wurden in seiner
von Diltheys Dichtungsauffassung: Der Dichter, so Schule Biographismus und Quellenforschung so
schreibt Dilthey, »trennt von der Wirklichkeit dies wichtig). Scherer war der Ansicht, daß eine Totaler-
Reich des schönen Scheins. So bildet sich eine kenntnis des literarischen Werks durch Ursachenana-
Traumsphäre der Dichtung, innerhalb deren im Au- lyse möglich sei: durch die Analyse des vom Dichter
genblick der Begeisterung die Bilder volle Realität ha- biographisch Erlebten, des biologisch Ererbten und
ben. Die Art von Illusion, die hier stattfindet, ist der des in bewußter Arbeit Erlernten (vgl. von Matt
vergleichbar, die wir am spielenden Kinde gewahren. 2001, 40). Das starke Interesse der frühen Psycho-
Die Kunst ist ein Spiel. Der Dichter und das spie- analyse am Biographismus mag auch hierin begrün-
lende Kind glauben beide, das Kind an das Leben det sein: in den Paradigmen des Positivismus, der in
seiner Puppen und Tiere, der Poet an die Wirklich- der Erforschung biographischer Determinanten ei-
330 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

nen Weg der Annäherung an die Naturwissenschaf- semitismus, der ihm bereits in der zweiten Hälfte des
ten erblickte. Als Freud die Grundsteine der Psycho- 19. Jh.s begegnete: »Die Universität, die ich 1873 be-
analyse legte, war jedoch in der Literaturwissenschaft zog, brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäu-
die Absetzbewegung vom Positivismus voll im schungen. Vor allem traf mich die Zumutung, daß
Gange; die Verstehenslehre Diltheys, die von der un- ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig
überwindbaren Subjektivität des Verstehensaktes fühlen sollte, weil ich Jude war« (GW XIV, 34). Er
ausging und die Eigenständigkeit der Geisteswissen- mußte sich gegen antisemitische Beschimpfungen
schaften forderte, hatte sich durchgesetzt. zur Wehr setzen und stieß wegen seines Judentums
Ein entscheidender Grund für die anfängliche Ab- auf Schwierigkeiten bei der Ernennung zum Profes-
lehnung Freuds in der Literaturwissenschaft ist sicher sor (Schrey 1975, 112; s. auch GW II/III, 144). Der
in seiner Entscheidung für einen positivistischen teils latente, teils offene Antisemitismus, der die Ger-
Wissenschaftsbegriff zu suchen. Das wissenschafts- manistik lange vor der Machtergreifung Hitlers
theoretische Dilemma, in dem er sich von Anfang an prägte, gehört zu den dunkelsten Kapiteln ihrer Ge-
befand, konnte er nicht wirklich auflösen: Immer schichte. Klaus Ziegler stellt in seiner Untersuchung
wieder schwankt sein Denken zwischen objektivie- Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft im Drit-
renden szientistischen und kritisch-hermeneutischen ten Reich fest, »daß sogar während der Weimarer Re-
Ansätzen (vgl. Habermas 1968, 262 ff.). Diesem Di- publik in der Regel ein Jude kaum eine Chance hatte,
lemma sind auch die beiden Richtungen geschuldet, in unserem Fach zum Ordinarius aufzusteigen – und
die die psychoanalytische Literaturbetrachtung in ih- mochte er, wie ein Fritz Strich oder Martin Sommer-
rer ersten Phase einschlägt: Der Biographismus ei- feld, der Begabung und Leistung nach noch so über-
nerseits, der von der untrennbaren Einheit von Autor ragend sein« (Ziegler 1965, 144).
und Werk ausgeht, wurzelt noch ganz in der posi- Im wesentlichen sind es zunächst die Psychoana-
tivistischen Tradition Wilhelm Scherers; von der de- lytiker selbst, vor allem die der Mittwoch-Gesell-
taillierten Einsicht in die Autorbiographie (ein- schaft, die sich für Literatur und Kunst interes-
schließlich deren unbewußten Konstituenten) wer- sieren – allerdings verwenden sie künstlerische
den wichtige Aufschlüsse für das Verständnis des Produkte oft nur zur Illustration oder als Beleg psy-
Werks erwartet. Die andere Richtung psychoanaly- choanalytischer Theorien. Dieses Legitimationsbe-
tischer Literaturbetrachtung folgt dem hermeneuti- dürfnis findet sich in etlichen Aufsätzen Freuds und
schen Modell der Traumdeutung, das mit der Rekon- seiner Schüler; die Literatur hat für Freud jedoch kei-
struktion des verborgenen (latenten) Trauminhalts neswegs nur illustrative Funktion, sie gehört viel-
aus dem manifesten Traum einen hermeneutischen, mehr zu den Konstitutionsbedingungen der Psycho-
auf Sinnverstehen ausgerichteten Ansatz bietet und analyse und wird immer wieder heuristisch – er-
als psychoanalytische Vorgabe für Textinterpretatio- kenntnisleitend – eingesetzt (Marx/Wild 1984, 167).
nen dienen kann. Freud findet in der Literatur Muster psychoanalyti-
scher Erkenntnisse: Dafür spricht schon die Begriff-
lichkeit des Grundtheorems vom »Ödipuskomplex«,
Zur Frühgeschichte psychoanalytischer
die aus dem Sophokleischen Drama abgeleitet ist.
Textinterpretation
Bereits in der Traumdeutung (1900) liefert Freud
Die Frühphase psychoanalytischer Literaturbetrach- literaturpsychologische Textinterpretationen und
tung ist, wie schon erwähnt, durch die ablehnende zieht sein Ödipus-Konzept zur Deutung von Shake-
Haltung der Literaturwissenschaftler gekennzeichnet. speares Hamlet heran: Er erklärt Hamlets seltsames
Ausnahmen gibt es freilich, wie z. B. die positive Re- Zögern, den Mörder seines Vaters zu töten, mit ei-
zeption der Traumdeutung bereits im Jahr 1901 nem unbewußten Todeswunsch gegenüber dem Va-
durch Friedrich von der Leyen, der in seiner Arbeit ter – wobei dieser Wunsch wiederum mit einer libidi-
Traum und Märchen Freuds Modell der Traumdeu- nösen Beziehung zur Mutter korreliere (GW II/III,
tung zur Deutung von Märchen heranzieht und da- 271 f.). Freuds Deutung stützt sich auf zahlreiche
bei auch auf die Theorie des Ödipuskomplexes re- Textdetails und liefert wirkungsästhetische Überle-
kurriert (Schrey 1975, 85). Insgesamt dominiert je- gungen und Hinweise zum verdeckten Subtext des
doch die Ablehnung – was neben den schon genann- Dramas – es ist bemerkenswert, daß in dieser frühen
ten wissenschaftstheoretischen Gründen auch mit Deutung die Autorpsychologie überhaupt keine Rolle
dem latenten Antisemitismus zu tun hat, von dem spielt. Leider gewinnt in der Folgezeit das biographi-
die deutschsprachigen Universitäten damals durch- stische Interesse Freuds die Oberhand, an die Stelle
zogen waren. Freud selbst schreibt über den Anti- von Form- und Inhaltsanalysen treten vermehrt Auf-
Literaturwissenschaft 331

sätze zur Psychologie des Autors (etwa zu Dostojew- teraturpsychologie bis heute an. Freud empfahl drin-
ski, Goethe, Leonardo da Vinci); die szientistisch-po- gend, bei der Beschreibung von Dichterpersönlich-
sitivistische Orientierung Freuds scheint sich hier keiten vom Werk auszugehen. Es ist sicher kein Zu-
durchzusetzen. fall, daß gerade die »Geisteswissenschaftler« der Wie-
Dies gilt zum Teil auch für die Beiträge in der Zeit- ner Psychoanalytischen Vereinigung (Max Graf, Otto
schrift Imago, die seit 1907 von Hanns Sachs und Rank, Hanns Sachs) Einwände gegen die vorschnelle
Otto Rank herausgegeben wird (und immerhin bis Pathologisierung der Künstler erhoben und die For-
1937 erscheint). Diese Zeitschrift für Anwendung der derung aufstellten, die psychoanalytische Beschäfti-
Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften bezeugt gung mit Künstlerpersönlichkeiten müsse sich von
das geisteswissenschaftliche Interesse der Psychoana- der Pathographie des 19. Jh.s klar unterscheiden.
lyse von ihrer Gründungszeit an; im Vorwort der Auch Freud versucht sich immer wieder von der
Herausgeber zum ersten Heft heißt es programma- Pathographie-Tradition alten Stils abzugrenzen; er
tisch: setzt sogar die Annahme einer Kausalität im Psy-
chischen außer Kraft, wenn er etwa am Ende der
»Da das Unbewußte an der Entstehung aller psychischen und
Kulturgebilde, an Religion und Sitte, an Sprache und Recht Leonardo-Arbeit schreibt:
mitgearbeitet hat, ist ihre völlige Durchleuchtung ohne Kennt-
»Aber selbst bei ausgiebigster Verfügung über das historische
nis der Arbeit des Unbewußten unmöglich. [. . .] Eine wirk-
Material und bei gesichertster Handhabung der psychischen
liche Seelenkunde, die den aus den Tiefen des Unbewußten
Mechanismen würde eine psychoanalytische Untersuchung an
immer neu hervorsprudelnden Phantasien den ihnen gebüh-
zwei bedeutsamen Stellen die Einsicht in die Notwendigkeit
renden weiten Geltungsbereich zuweist und sie durch alle ihre
nicht ergeben können, daß das Individuum nur so und nicht
Schichtungen und Bedeutungswandlungen hindurch auf ihre
anders werden konnte. [. . .] Wir müssen hier einen Grad von
eigentlichen Wurzeln zurückzuführen vermag, muß deshalb
Freiheit anerkennen, der psychoanalytisch nicht mehr aufzu-
alle Geisteswissenschaften befruchten und ihnen neue Pro-
lösen ist. Ebensowenig darf man den Ausgang dieses Verdrän-
bleme und neue Lösungen bringen« (zit. nach Fischer 1980,
gungsschubes als den einzig möglichen Ausgang hinstellen
9).
wollen. Einer anderen Person wäre es wahrscheinlich nicht ge-
glückt, den Hauptanteil der Libido der Verdrängung durch die
Dieser Text steht beispielhaft für die kulturtheoreti- Sublimierung zur Wißbegierde zu entziehen.«
sche Fundierung der Psychoanalyse und für ihren all-
gemeinen kulturwissenschaftlichen Anspruch. Und dann geht Freud noch einen entscheidenden
Die Aufsätze der Zeitschrift Imago konzentrieren Schritt weiter und gesteht ein, daß »auch das Wesen
sich in ihrer Frühphase vor allem auf die Frage nach der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch
der Künstler-Pathographie und die nach der Ver- unzugänglich ist« (GW VIII, 208 f.).
wandtschaft von Künstler und Neurotiker. Anknüp- Vor dem Hintergrund der faschistischen Verun-
fungen an die psychiatrische Pathographie des glimpfung von Künstlern als »entartet« ist Freuds
19. Jh.s, die mit den Degenerationsthesen eines Lom- Einschränkung besonders bedeutungsvoll. Statt pa-
broso ihren Höhepunkt erreichte, sind offensichtlich: thographische Analysen durchzuführen, konzentriert
Der italienische Arzt Cesare Lombroso hatte in seiner er sich darauf, den Prozeß künstlerischer Kreativität
Schrift Genie und Irrsinn (1864) die These vertreten, zu durchleuchten. Dies geht aus den Protokollen der
daß Genialität ein Ausfluß von Degeneration sei und Mittwoch-Gesellschaft ausdrücklich hervor: Die Pa-
daß die Entwicklung zum Genie oft von einer Form thographie, so Freud, sei »nicht imstande, etwas
der Psychose ihren Ausgang nehme (Fischer 1980, Neues zu zeigen. Die Psychoanalyse dagegen gibt
10). Der literarische Text wird hier zum Krankheits- Auskunft über den Schaffensprozeß. Die Psychoana-
produkt, die Kreativität wird in enger Korrelation lyse verdient einen Platz vor der Pathographie«
zum Persönlichkeitszerfall gesehen; die These unter- (Nunberg/Federn 1962/1976, 250). Die heftige Kon-
stellt auf jeden Fall, daß Kunst immer durch Leiden troverse, die sich um Sadgers pathographische Theo-
erkauft sei. rien spann, scheint nicht ohne Wirkung auf den Au-
In der Mittwoch-Gesellschaft war es vor allem der tor geblieben zu sein, da er 1912 einen Aufsatz in der
Arzt Isidor Sadger, der (z. B. im Blick auf C. F. Meyer Imago mit dem Titel veröffentlichte: Von der Patho-
oder Heinrich von Kleist) pathographische Analysen graphie zur Psychographie (abgedruckt in Fischer
lieferte, zum Teil gegen den heftigen Widerspruch der 1980, 64–85).
anderen Mitglieder. Auch Freud äußerte sich kritisch Insgesamt scheinen die Diskussionen der Mitt-
zu Sadgers Thesen; er befürchtete offensichtlich, daß woch-Gesellschaft eine langfristige Wirkung erzielt
dieser dem Ruf der Psychoanalyse schaden könne – zu haben. Autoren wie Ernst Kris und Edmund Berg-
eine Befürchtung, die sich bewahrheiten sollte: Das ler veröffentlichen 1933 und 1934 Künstler-Psycho-
Klischee vom »Dichter auf der Couch« haftet der Li- graphien in der Imago (zu Messerschmidt und
332 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Grabbe), die Freuds Beispiel im Leonardo-Aufsatz Witz und künstlerisches Werk auf dieselben Grund-
folgen und, noch über Freud hinausgehend, dem We- mechanismen zurückzuführen sind: auf eine Kom-
sen der künstlerischen Leistung nachspüren (Fischer promißbildung, die den Konflikt zwischen Trieb-
1980, 16). wunsch und Realität auf jeweils unterschiedliche
Der zweite Themenkomplex, der in der Psycho- Weise bewältigt und dem versagten Wunsch auf Um-
analytischen Vereinigung eine Rolle spielt, ist die wegen zur Geltung verhilft. Freud scheint hier dem
Frage nach dem Zusammenhang von Künstlertum Anspruch an das Glück, das im Plan der Schöpfung
und Neurose. Auch hier finden sich leider krude Ver- nicht vorgesehen sei (GW XIV, 434), eine Durchset-
einfachungen, wie in dem Text von Wilhelm Stekel zungsfähigkeit zu bescheinigen, als deren beständiger
Dichtung und Neurose (1909), in dem er schlichtweg Garant die Kunst anzusehen ist.
die These aufstellt, alle Dichter seien Neurotiker. Dies ist auch ein Grundgedanke von Freuds Auf-
Auch wenn Stekel von einem fortschrittlichen Neu- satz Der Dichter und das Phantasieren (1908) (s. Kap.
roseverständnis ausgeht und unter Neurose ein man- II.10.2), der den literarischen Schaffensprozeß als
gelndes seelisches Gleichgewicht versteht, das die Fortführung des Tagtraums versteht und ihn aus der
Qualität der künstlerischen Leistung nicht tangiere, Erinnerung an das Glück des kindlichen Spiels (und
ist hier doch die Quelle vieler Anfeindungen zu su- dessen Ersetzung durch die Produktion des Kunst-
chen, denen die Psychoanalyse bei Literaturwissen- werks) erklärt. Freuds Aufsatz ist deswegen so wich-
schaftlern lange Zeit ausgesetzt war. Dabei werden tig, weil er hier zum ersten Mal die These vom gleich-
differenziertere Positionen unterschlagen, die sich sam utopischen und realitätskritischen Charakter des
bereits in den Anfängen Geltung verschafft hatten, Kunstwerks aufstellt und zugleich eine wirkungsäs-
wie z. B. Otto Ranks Arbeit Der Künstler von 1907: In thetische Erklärung für die Form des literarischen
dieser wichtigen frühen Untersuchung (die noch vor Textes liefert: Literatur könne auch verbotene Wün-
Freuds Der Dichter und das Phantasieren erschien) sche rezipierbar machen, weil sie über den »ästhe-
postuliert Rank die Ähnlichkeit von Traumarbeit tischen Lustgewinn«, über die »Verlockungsprämie«
und künstlerischer Arbeit und legt dar, daß der der Form die »Entbindung größerer Lust aus tiefer
Künstler im Vergleich zum Träumer zu einer weiter- reichenden psychischen Quellen« ermögliche (GW
gehenden kontrollierten Triebabfuhr und zu einer VII, 223).
anspruchsvolleren Form der Sublimation in der Lage Diese Gedanken Freuds stehen einer anderen Ar-
sei: Im Gegensatz zum Neurotiker finde der Künstler beit nahe, die er schon 1905 verfaßt hatte und die
aus der Regression wieder in die Realität zurück, ebenfalls für die Literaturwissenschaft besondere
seine Wunscherfüllung gestalte sich aktiv und unter Geltung erlangte: Der Witz und seine Beziehung zum
Hervorbringung eines gesellschaftlich kommunizier- Unbewußten (s. Kap. II.5.2). Darin legt Freud dar, wie
baren Produkts. sich die Phantasie auf Umwegen über Verbote und
Wie sehr Freud das künstlerische Schaffen dem Zwänge der Realität hinwegsetzen kann. Im Vorder-
Dunstkreis der Pathologisierung entziehen wollte, grund von Freuds Witz-Analyse steht vor allem die
zeigt seine Leonardo-Arbeit, in der er noch einen we- Form, die den Charakter des Witzes wesentlich mit-
sentlichen Schritt über die Entpathologisierung hin- bestimmt. Der Witz kann sich gegen Autoritäten auf-
ausgeht. Er stellt die Dichotomie von Gesundheit lehnen, er ermöglicht die »Aufhebungen eingewur-
und Krankheit, Normalität und Neurose überhaupt zelter Hemmungen und Verdrängungen« (GW VI,
in Frage: 151).
»Heben wir ausdrücklich hervor, daß wir Leonardo niemals zu Die beiden letztgenannten Arbeiten Freuds wur-
den Neurotikern oder ›Nervenkranken‹, wie das ungeschickte den zu wichtigen Ausgangspunkten weiterführender
Wort lautet, gezählt haben. Wer sich darüber beklagt, daß wir Studien der psychoanalytischen Literaturinterpreta-
es überhaupt wagen, aus der Pathologie gewonnene Gesichts- tion – allerdings ließen solche Arbeiten lange auf sich
punkte auf ihn anzuwenden, der hält noch an Vorurteilen fest,
die wir heute mit Recht aufgegeben haben. Wir glauben nicht warten. Zuerst kam die lange Zwischenzeit, die durch
mehr, daß Gesundheit und Krankheit, Normale und Nervöse, den Nationalsozialismus bedingt war; erst in den
scharf voneinander zu sondern sind und daß neurotische Züge 1960er Jahren erholte sich die Literaturpsychologie
als Beweise einer allgemeinen Minderwertigkeit beurteilt wer- von dem Schlag, der fast jegliche literaturpsychologi-
den müssen« (GW VIII, 203).
sche Forschung – jedenfalls in Deutschland – zum
Dies ist Freuds entschiedenste Absage an die alte Erliegen gebracht hatte.
Form der Pathographie: Er enthebt die Pathologie
dem Pathologischen, indem er nachweist, daß
Traum, Tagtraum, Phantasie, Fehlleistung, Neurose,
Literaturwissenschaft 333

Zwischenzeiten (bis 1960) wenige Autoren, die das Berührungstabu gegenüber


der Psychoanalyse brachen. Dazu gehörte vor allem
Die ablehnende Haltung gegenüber der Psychoana- der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg, der
lyse war besonders in Deutschland spürbar und hat 1930 in seiner Antrittsvorlesung programmatisch
auch die Position der Germanistik nachhaltig – noch forderte, die Literaturwissenschaft müsse sich end-
lange über das ›Dritte Reich‹ hinaus – bestimmt. Gi- lich mit der Psychoanalyse auseinandersetzen. Die
sela Schrey (1975) hat die Gründe im einzelnen auf- Vorlesung wurde unter dem Titel Literaturwissen-
geführt; neben den bereits genannten Faktoren fiel schaft und Psychoanalyse publiziert (1930; auch in
besonders der Materialismus-Vorwurf ins Gewicht, Urban 1973, 156–177). Muschg weist darauf hin, daß
ebenso die Skepsis gegenüber einer vermeintlich die Schriftsteller sich schon längst mit der Psycho-
»zergliedernden« Psychoanalyse, die dem geistes- analyse beschäftigten und daraus Anstöße für ihr
wissenschaftlichen (hermeneutischen) Postulat der Schreiben bezögen; er erwähnt Thomas Mann, Her-
Ganzheit, des Verstehens aus Sinnzusammenhängen mann Hesse, Kafka und Döblin, insbesondere die
zuwiderzulaufen schien. Reserviert reagierte die Lite- Dichter Frankreichs, »wo der Name Freuds das Lo-
raturwissenschaft auch auf die Figurenpsychologie, sungswort ganzer literarischer Gruppen geworden
die sich ausschließlich am Inhalt orientierte und die ist« (ebd., 160). Muschg äußert sich kritisch zur Pa-
Formanalyse vernachlässigte. Diese Inhaltsorientie- thographie Sadgers, wird aber den Freudschen Inten-
rung mag ein Grund dafür sein, daß die frühen psy- tionen in überzeugender Weise gerecht und erwähnt
choanalytischen Textinterpretationen sich nicht um insbesondere die These von den Tagträumen als Er-
den literarischen Wert der Texte kümmerten – an Tri- satz des kindlichen Spiels und als Vorstufe der dich-
vialtexten ließen sich psychische Phänomene manch- terischen Arbeit (ebd., 166 f.). Literarische Texte ver-
mal sogar besser aufzeigen als an der sog. Höhen- steht er als sprachliche Manifestationen unbewußter
kammliteratur, was sich in Freuds Studie über Wil- Prozesse, als Projektionen »seelischer Tatsachen und
helm Jensens Gradiva (s. Kap. II.10.1) bestätigt: Vorgänge nach außen«, als »verführerisch schöne
Freud fand zwischen dem (literarisch eher an- Verkleidung des immer gleichen armen dichtenden
spruchslosen) Romantext und der psychoanalyti- Ichs« (ebd., 168).
schen Methode verblüffende Ähnlichkeiten: die Bis in die 1960er Jahre hinein legen sich die Litera-
große Bedeutung der Träume, die therapeutische turwissenschaftler äußerste Zurückhaltung auf. Es
Wirkung der Bewußtmachung des Verdrängten, den sind vor allem Nicht-Germanisten, die sich der psy-
Zusammenfall von Aufklärung und Heilung (des choanalytischen Literaturinterpretation widmen: der
Wahns). Arzt und Psychoanalytiker Simenauer mit einer Stu-
Die detaillierte Inhaltsanalyse Freuds geht auf Fra- die über Rilke (1953); der Psychiater Rattner mit sei-
gen der ästhetischen Form und der literarischen Wer- ner Kafka-Studie (1964), noch sehr stark an den psy-
tung nicht ein, sondern erfreut sich an der Intuition chopathologischen Dichterbiographien orientiert;
des Dichters, der psychoanalytische Einsichten vor- schließlich Peter Dettmering (z. B. 1976, 1978), der in
weggenommen hatte, ohne es zu ahnen. Die Inter- seinen zahlreichen Analysen zwar weitgehend noch
essen Freuds schienen sich hier von denen der Litera- von den Triebkonflikten des Autors ausgeht, das
turwissenschaft weit zu entfernen; auf der anderen Werk jedoch in seiner Eigenständigkeit ernst nimmt
Seite jedoch war Freud mit seinen Ausführungen und – ganz im Sinne Freuds – Werkstruktur und Au-
über die Phantasietätigkeit des Dichters auch auf torbiographie vermitteln will.
Fragen der Form (etwa auf ihre Vorlust-Funktion) Ähnlich verläuft die Geschichte der Literaturpsy-
eingegangen. Die Literaturwissenschaft griff diese chologie in Frankreich, wo sie sich erst seit den
Vorgaben zunächst nicht auf; es war wiederum ein 1960er Jahren – dann allerdings sprunghaft – ent-
Psychoanalytiker, der Freuds Analogiebildung von wickelt. Auch dort findet die Psychoanalyse zunächst
Dichtung und Tagtraum weiterführte. Hanns Sachs unter den Schriftstellern wesentlich größeren An-
veröffentlichte 1924 seine bemerkenswerte Arbeit klang als unter den Literaturwissenschaftlern; sie in-
über Gemeinsame Tagträume, in der er die soziale spiriert die literarische Avantgarde, vor allem die Sur-
wirkungsästhetische Dimension des Kunstwerks be- realisten um André Breton, die mit ihrer Methode
tonte: Der dichterischen Arbeit gelinge es, eine aso- der freien Assoziation (écriture automatique) dem
ziale Tätigkeit (Tagtraum) durch Formgebung kom- Unbewußten einen unmittelbaren Zugang zur Spra-
munizierbar zu machen und dabei auch tabuisierte che ermöglichen wollen. Apollinaire war der erste
Inhalte gesellschaftlich zu vermitteln. Schriftsteller, der auf Freud hinwies (1914); Albert
Im Bereich der Literaturwissenschaft gab es nur Thibaudet wird als eigentlicher Initiator der französi-
334 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

schen Literaturpsychologie bezeichnet (Schönau/ Deutschland noch ganz darniederlag und unter den
Pfeiffer 2003, 142) – auch wenn sein Aufsatz Psych- Nachwirkungen des Nationalsozialismus ebenso wie
analyse et critique von 1921 viele Mißverständnisse unter der Ausschließung durch die werkimmanente
enthält. Das Hauptwerk der frühen Literaturpsycho- Methode zu leiden hatte, wurden in den Vereinigten
logie in Frankreich stammt jedoch von einer Freud- Staaten bahnbrechende Arbeiten verfaßt, die die For-
Schülerin, der Psychoanalytikerin Marie Bonaparte, schung bis heute beeinflussen. 1952 erschien die Stu-
die in drei umfangreichen Bänden eine Psychobio- die Psychoanalytic Explorations in Art von Ernst Kris,
graphie Edgar Poes lieferte (1933, dt. 1934), in der sie einem Repräsentanten der amerikanischen ich-psy-
– als gelehrige Freud-Adeptin – den Texten Poes das chologischen Ästhetik, also jener psychoanalytischen
Hauptgewicht einräumte (die Bände 2 und 3 enthal- Richtung, die sich mehr für die Anpassungs- und Ab-
ten überwiegend Werkanalysen). Ihr Werk zielt nicht wehrleistungen des Ich als für die Triebdynamik des
auf eine Pathographie des Dichters, auch wenn es Es interessiert. Im Unterschied zu den pathologi-
dem heutigen Leser spekulativ und holzschnittartig schen Arbeiten herrscht hier die optimistische Über-
erscheinen mag. Freud billigte jedenfalls die Synthese zeugung, daß kreative Äußerungen Manifestationen
aus Werk und Biographie und verfaßte ein kurzes der Ich-Stärke, nicht der krankhaften Schwäche einer
Vorwort, in dem er schrieb: Person sind. Auch die Regression, die Kris im künst-
»Dank ihrer Deutungsarbeit versteht man jetzt, wieviel von lerischen Schaffensprozeß konstatiert, steht im
den Charakteren seines [Poes] Werks durch die Eigenart des »Dienst des Ich«, unterscheidet sich also von patho-
Mannes bedingt ist, erfährt aber auch, daß diese selbst der logischen Formen der Regression gerade dadurch,
Niederschlag starker Gefühlsbindungen und schmerzlicher Er-
lebnisse seiner frühen Jugend war. Solche Untersuchungen sol-
daß ein Rückweg zur Realität immer möglich ist. Das
len nicht das Genie des Dichters erklären, aber sie zeigen, wel- Buch enthält auch die erste psychoanalytische Unter-
che Motive es geweckt haben und welcher Stoff ihm vom suchung zur Karikatur, ausgehend von Freuds Witz-
Schicksal aufgetragen wurde« (Bonaparte 1981, Bd. 1, Vor- theorie.
wort).
Ein weiteres Standardwerk der amerikanischen Li-
Auch hier betont Freud, daß sich die dichterische teraturpsychologie erschien 1957: Fiction and the Un-
Produktivität kausalen Erklärungen entziehe – ein conscious von Simon O. Lesser. Es untersucht die
erneuter Abgrenzungsversuch gegenüber den Patho- Funktionen der Literatur, die in der Bewältigung von
logisierungen der Psychiater, verbunden mit dem inneren Konflikten, in der Versöhnung von Realitäts-
Anspruch, Aufschlüsse über die künstlerische Krea- und Lustprinzip und in der Entlastung von Schuld-
tivität zu gewinnen. gefühlen bestünden. Ein bemerkenswertes Kapitel
Stärker als in Frankreich hat die Psychoanalyse daraus wurde später unter dem Titel Funktionen der
und auch die psychoanalytische Literaturwissen- Form veröffentlicht (in Beutin 1972, 277–299) – hier
schaft in den USA ein Refugium gefunden, das auch wurden nach langer Zeit zum ersten Mal wieder die
während der Interruptionen des Dritten Reichs eine Ansätze Freuds aufgegriffen, die sich mit der ästhe-
Kontinuität garantierte. Die Psychoanalyse wurde tischen Form und ihrer Funktion auseinandersetzen.
dort begeistert rezipiert, nicht zuletzt deswegen, weil Für Lesser befriedigt die Form Ansprüche des Über-
sie von der heuchlerischen repressiven Moral be- Ich, sie steht im Dienst von Beherrschung (mastery)
freite, welche der Puritanismus mit sich brachte. Es und Kontrolle der Phantasien und Triebimpulse:
ist erstaunlich, wie früh die Anwendung der Psycho-
»Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Kunst ein-
analyse auf Literatur und Kunst einsetzte. 1912 publi- schließlich der Dichtung ebenso wie die Träume, neurotische
zierte Frederick C. Prescott seine Studie Poetry and Symptome und Witz eine Kompromißbildung ist, die auf
Dreams, die Freuds Theorie von der Literatur als mehr oder weniger verzerrte Weise sowohl unseren Trieben als
Fortführung des Tagtraums aufgriff und weiterent- auch unserer Abwehr gegen sie Ausdruck gibt. Unsere
Wunschvorstellungen werden wahrscheinlich zum großen Teil,
wickelte. Bereits 1913 gewann ein Harvard-Student, wenn auch nicht ausschließlich, durch den Inhalt befriedigt,
Albert R. Chandler, einen Preis für eine rezeptions- unsere Abwehrmaßnahmen gegen sie durch die Form. Die Be-
ästhetische Arbeit, die unter dem Titel Tragic Effects griffsbestimmung der Form als Bestreben, das Über-Ich zu be-
in Sophocles Analyzed According to the Freudian Mind friedigen, erhellt viele Eigenschaften der Form und sogar die
Fachausdrücke, mit denen sie in der Ästhetik beschrieben wer-
veröffentlicht wurde. Auch Pathographien blieben den« (in Beutin 1972, 284 f.).
nicht aus: zu Mark Twain (Brooks 1920), Edgar A.
Poe (Krutch 1926) – manchmal gefährlich nahe an In dem psychoanalysefreundlichen Klima der USA
der Theorie vom neurotischen oder kranken Künst- gediehen, neben produktions- und rezeptionsästhe-
ler. tischen Untersuchungen, zahlreiche Studien, die sich
Zu einer Zeit, da die Literaturpsychologie in den vernachlässigten Werkstrukturen zuwandten; im
Literaturwissenschaft 335

Anschluß an Freuds Traumtheorie wurden in den lern der Kritischen Theorie gehörte. 1968 erschien
Texten die Mechanismen der Verdichtung, Verschie- Erkenntnis und Interesse von Jürgen Habermas, des-
bung und Verbildlichung aufgezeigt und Symbol- sen Auseinandersetzung mit Freud (Habermas 1968,
strukturen analysiert. Exemplarisch läßt sich dies an 262–332) die wissenschaftstheoretische Diskussion
der Kafka-Forschung aufzeigen, wo die »psychoana- nachhaltig bestimmte. Auch die Freudkritik Adornos
lytische Durchdringung« von Kafkas Werk »wahre in seiner Ästhetischen Theorie (Adorno 1973; zuerst
Orgien« feierte (Politzer 1973, 220), angefangen mit 1970) fand Eingang in die literaturpsychologische
Hellmuth Kaisers Deutung von Kafkas Strafphantasie Diskussion und beförderte die Methodenreflexion.
(1931), die in der Zeitschrift Imago veröffentlicht Adorno hatte der psychoanalytischen Kunstbetrach-
wurde, über Charles Neiders The Frozen Sea (1948) tung vorgeworfen, sie verkenne – durch die einseitige
bis hin zu den differenzierten, die Psychoanalyse be- Bindung des Werks an den Autor – den Widerstand,
hutsam einsetzenden Studien von Heinz Politzer und der dem Werk innewohne. Psychoanalyse verstehe
Walter H. Sokel. Ist Politzers Parable and Paradox Kunst als Kompromißbildung, als Anpassungslei-
(1962/65) dezidiert der Untersuchung von Kafkas Stil stung an die Realität, und damit verfehle sie deren
gewidmet, so weist der Untertitel von Sokels Kafka- realitätskritischen Anspruch: »Mitschuldig an solcher
Arbeit Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst Amusie ist der Kultus, den die Psychoanalyse mit
(1964) ebenso ausdrücklich auf seine strukturanaly- dem Realitätsprinzip treibt: [. . .] Anpassung an die
tische Absicht hin. Manche dieser Kafka-Deutungen Realität wird zum summum bonum« (Adorno
sind von der Gefahr bestimmt, die der psychoanalyti- 1970/1973, 21). Diese Kritik war der Stachel, an dem
schen Textinterpretation allgemein und der Kafka- sich folgende literaturpsychologische Theorien und
Deutung im besonderen droht: daß Symbole gedeu- Interpretationen abzuarbeiten hatten. Die 1970er
tet, vereindeutigt und in die Begriffssprache der Psy- Jahre boten dazu reichlich Gelegenheit. Sie sind das
choanalyse übersetzt werden. Die psychoanalytische Jahrzehnt, in dem die psychoanalytische Literatur-
Textdeutung bedient sich hierbei gern eines festen wissenschaft, zusammen mit sozialhistorischer und
Symbolkanons oder der Dechiffriermethode (vor al- literatursoziologischer Forschung, einen außerge-
lem bezüglich der Sexualsymbolik), die Freud aber wöhnlichen Aufschwung zu verzeichnen hat.
selbst als unwissenschaftlich verworfen hatte (GW II/
III, 101 ff.). Freud warnt vor der Anwendung der
Das Grundparadigma: Traumanalogie
Symbolübersetzung losgelöst vom assoziativen Ver-
fahren: »Die auf Symbolkenntnis beruhende Deu- Wieder war es eine Antrittsvorlesung, die sich auf
tung ist keine Technik, welche die assoziative ersetzen vergessene Ansätze Freuds zurückbesann, diese wei-
oder sich mit ihr messen kann« (GW XI, 152). terentwickelte und in die literaturwissenschaftliche
Debatte zu integrieren versuchte. Carl Pietzcker pu-
blizierte seine Antrittsvorlesung 1974 mit dem Titel
Die Zeit nach 1968
Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunst-
Die Zeit der Studentenrevolte brachte Bewegung in werk. Freud war in Der Dichter und das Phantasieren
die Methodendiskussion der Germanistik, die sich davon ausgegangen, daß Traum und Dichtung den-
einseitig am Paradigma der Werkimmanenz orien- selben Mechanismen (Verdichtung, Verschiebung,
tiert hatte. Die werkimmanente Methode bedeutete Verbildlichung) folgten und daß sich deswegen das
nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl Rückzug in den Literaturmodell am Traummodell orientieren lasse.
Binnenraum ästhetischer Strukturen und Formen als Pietzcker betont neben der Analogie besonders die
auch Flucht vor den verheerenden Aus- und Nach- Unterschiede von Traum und Kunstwerk – eine Ab-
wirkungen nationalsozialistischer Politik. Mit der grenzung, die für die Literaturwissenschaft grundle-
neuen Auffächerung des Methodenspektrums und gend sein muß, will sie das Spezifische des Kunst-
der gesellschaftstheoretischen Ausrichtung des Fa- werks begreifen und eine Theorie des literarischen
ches nach 1968 erlangte auch die Psychoanalyse neue Werks entwickeln. Freud selbst hatte rückblickend
Beachtung in den Geisteswissenschaften, die nun als auf die Unterschiede hingewiesen: Die Kunstwerke
Gesellschaftswissenschaften verstanden wurden. Der seien »Phantasiebefriedigungen unbewußter Wün-
Rückgriff auf die Kritische Theorie (Adorno, Hork- sche, ganz wie die Träume, mit denen sie auch den
heimer, Habermas) verschaffte Freudschem Gedan- Charakter des Kompromisses gemein hatten, denn
kengut Eingang in die Theoriedebatte, da die Psycho- auch sie mußten den offenen Konflikt mit den Mäch-
analyse neben der Hegelschen Dialektik und der ten der Verdrängung vermeiden. Aber zum Unter-
Marxschen Gesellschaftstheorie zu den Grundpfei- schied von den asozialen, narzißtischen Traumpro-
336 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

duktionen waren sie auf die Anteilnahme anderer Realität nicht geschichtslos verstanden werden, kann
Menschen berechnet, konnten bei diesen die nämli- auch deren Vermittlungsprozeß (die Kunstarbeit)
chen unbewußten Wunschregungen beleben und be- nur unter Einbeziehung sozialhistorischer Überle-
friedigen« (GW XIV, 90). Die Traumanalogie bezieht gungen analysiert werden. Der Zwang zur Mitteilbar-
sich also auf die Phantasiebefriedigung unbewußter keit verändert die Kunstarbeit und verstärkt ihren
Wünsche – hier gehen das dichtende Individuum wie differentiellen Charakter gegenüber der Traumarbeit.
der Träumer beharrlich ihrem Lustgewinn nach, die Die Verschiebung darf z. B. nicht bis zur Unverständ-
dichterische Phantasie ist »eine Korrektur der unbe- lichkeit getrieben werden; der Bezug zur Realität ist
friedigenden Wirklichkeit« (GW VII, 216), keines- implizit immer mitgedacht, selbst da, wo sich der
wegs nur eine Anpassung an die Realität. Das Kunst- Text subversiv gegen die gesellschaftliche Realität
produkt ist jedoch nicht narzißtisch wie der Traum, wendet und seine Unverständlichkeit gegen die Ver-
sondern auf Kommunizierbarkeit, auf gesellschaftli- ständlichkeit des »Normalen« ausspielt. Das Werk
che Anteilnahme hin angelegt. Die Kunstarbeit (in konstituiert sich im fortgesetzten Konflikt von Be-
die vielfältige literarisch-sprachliche und kulturspezi- dürfnis und Realität und in der Vermittlung beider:
fische Elemente eingehen) ist neben der Mitteilbar- »Mit jeder weiteren Begrenzung vom unbewußten
keit auch darauf ausgerichtet, die unbewußten Wün- Bedürfnis hin zur äußeren Realität nehmen die Ich-
sche des Lesers zu befriedigen und dessen innere leistungen und damit das Realitätsbewußtsein zu.
Zensur zu umgehen. Dazu dient dem Kunstwerk die Die literarische Form ist dann als letzte Begrenzung
Form als »Vorlust« oder »Verlockungsprämie« (GW dieser Reihe die höchste Ichleistung des Werks. Sie ist
VII, 223). die letzte Begrenzung der ins Werk eingegangenen
Hier, an der Freudschen Funktionsbestimmung Konflikte und Vermittlungen gegen eine historisch
und Definition der literarischen Form, setzt Pietz- bestimmte äußere Realität. Sie ist eine historisch spe-
ckers Kritik an: Die Qualität des Ästhetischen werde zifische Begrenzung historisch spezifischer Konflikte
dadurch nur unzureichend bestimmt. Nach Freuds und Vermittlungen, also keine beliebige versüßende
Theorie steht der Inhalt im Dienst der Wunschbe- Verhüllung über beliebig Verbotenem« (ebd., 63). In
friedigung, die Form ist nur Vorlustlieferant, der der Interpretation läßt sich dann zeigen, inwiefern
»Zuckerguß über beliebig Verbotenem« (Pietzcker der Text auf eine innere oder äußere Realität reagiert,
1974, 60). Außerdem seien die Prozesse der Verdich- wie er den Konflikt zwischen Trieb und historischer
tung, Verschiebung und Verbildlichung beim (Tag-) Realität gestaltet, in welche Rollen er seinen Erzähler
Traum und beim literarischen Text nicht einfach die- schlüpfen läßt, was er offen darstellt und was er
selben (da die äußere Realität das literarische Werk verdeckt.
viel stärker mitkonstituiert). Die Realität ragt stärker Pietzcker versucht hier nichts weniger, als eine
in das Kunstwerk hinein, es unterliegt den Forderun- Theorie des literarischen Werks unter psychoanalyti-
gen nach Verständlichkeit und Kommunizierbarkeit, schen Vorzeichen zu entwickeln, welche die Unge-
ist von dem Widerspruch zwischen individuellem schichtlichkeit der Freudschen Begriffe überwindet
Anspruch und äußerer Realität geprägt, der nach dia- und sie als geschichtlich veränderbare neu versteht.
lektischer Auflösung drängt: »So ist das Kunstwerk Zugleich wertet er die bewußten Anteile der Kunst-
kritisch gegen die äußere Realität und hält ihr den arbeit (die immer in Traditionen und Diskurse ein-
Anspruch der Bedürfnisse in einer vorweggenomme- gebettet ist) auf und setzt dabei die ästhetischen
nen Befriedigung polemisch entgegen. Zugleich aber Aspekte des Kunstwerks ins Licht.
ist es trotz dieses kritischen und utopischen Mo- Dieses Anliegen verfolgt Pietzcker auch in seinen
ments affirmativ und versöhnt das Individuum mit weiteren Schriften, zuallererst in der Einführung in
jener Realität, insofern es Befriedigung trotz ihr und die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks (1983).
sogar in ihr eben doch gewährt« (ebd., 62 f.). Spätestens hier ist die Psychoanalyse in der Literatur-
Als eigentliche Aufgabe der psychoanalytischen Li- wissenschaft angekommen und in ihr Systemgebäude
teraturbetrachtung bestimmt Pietzcker die Rekon- integriert. Die Fragestellung ist nicht mehr nur eine
struktion der Kunstarbeit – eines Prozesses, in den produktions- oder rezeptionsästhetische, sondern
viele Momente der äußeren Realität eingegangen eine dezidiert literaturtheoretische: Es geht nicht nur
sind. Dem individualpsychologischen und ahistori- um die Frage, wie sich die dichterische Phantasie in
schen Ansatz Freuds setzt er ein sozialpsychologi- einzelnen Figuren und Figurenkonstellationen ausge-
sches und historisches Modell entgegen und fordert, staltet und entwickelt, sondern wie der Kunstcharak-
daß die historische Analyse konstitutiver Bestandteil ter eines Werks psychoanalytisch zu erschließen ist.
der Interpretation sein müsse: Wenn Bedürfnisse und Pietzcker möchte zeigen, daß die Psychoanalyse kon-
Literaturwissenschaft 337

stitutiv für den wissenschaftlichen Umgang mit dem duelle Struktur, die als »abstrakte Statik« des Werks
literarischen Werk ist, daß ohne sie dessen gesell- fungiert, dieses aus sich hervortreibt und in der In-
schaftliche und historische Bestimmtheit nicht ange- terpretationsarbeit als eine verborgene Substruktur
messen begriffen werden kann. des Textes erschlossen werden kann (ebd., 77) – wie
Freuds kunst- und kulturtheoretische Schriften eine Art Energiefeld, das entscheidenden Anteil an
sind (mehr als seine klinischen Werke) durchaus von der »ästhetischen Strahlung« des Werks hat (ebd.,
historischem Bewußtsein geprägt – darauf weist Peter 67). Peter von Matt erläutert seinen Grundbegriff am
von Matt in seinem einführenden Text Literaturwis- Beispiel des Tell-Dramas, von dessen widersprüchli-
senschaft und Psychoanalyse (1972/2001) hin. Freud cher Anlage er zunächst ausgeht: der Zusammen-
untersucht in seiner Traumdeutung die sich im Lauf hanglosigkeit zwischen Tells Einzelaktion (dem Mord
der Geschichte verändernden ödipalen Strukturen an Gessler) und der Kollektivaktion der Staatsgrün-
von Sophokles’ Ödipus und Shakespeares Hamlet, die dung (dem Rütlischwur). Diese Zusammenhanglo-
jeweils unterschiedlich über die dichterische Phanta- sigkeit falle umso stärker ins Gewicht, als die Abwe-
sie vermittelt sind: »Im Ödipus wird die zugrundelie- senheit Tells beim Rütlischwur von Schiller gegen die
gende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum historischen Quellen gestaltet wurde.
ans Licht gezogen und realisiert; im Hamlet bleibt sie In seiner Deutung dieser Leerstelle greift von Matt
verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz – dem auf Freuds Kulturtheorie in Totem und Tabu
Sachverhalt bei einer Neurose ähnlich – nur durch (1912/13) zurück, wonach die »Urhorde« den über-
die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen« mächtigen Vater erschlägt und danach von Schuld-
(GW II/III, 271). Aus dieser Einsicht zieht Freud eine gefühlen gepeinigt wird – entscheidend ist hier die
kulturtheoretische Folgerung. Er erkennt darin eine zugrundeliegende (kollektive) Phantasie, nicht die
historisch sich verändernde und stets wachsende Ver- historische Realität. Dem Drama Schillers gelinge es,
drängung, die dem Kulturprozeß zugrundeliege: »In das Schuldbewußtsein von der »Brüderhorde« in ei-
der veränderten Behandlung des nämliches Stoffes nem ersten Schritt auf Tell und dann auf die Figur
offenbart sich der ganze Unterschied im Seelenleben des Parricida umzulenken: Die »Brüder« dürfen von
der beiden weit auseinanderliegenden Kulturperio- seinem Mord an Gessler zunächst nichts wissen,
den, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im »deshalb distanziert er sich so entschieden vom Ver-
Gemütsleben der Menschheit« (ebd.). Freud geht da- brüderungsritual auf dem Rütli und gilt schließlich
von aus, daß es eine Über-Ich-Bildung auch für Kol- als der Befreier von allen« (von Matt 1972/2001,
lektive und für historische Epochen gibt, daß sich 71).
eine fundamentale psychische Struktur im Verlauf »Für das psychodramatische Substrat des Tell-Stücks will das
der Epochen transformiert und unterschiedlich in nun besagen, daß dieses am Schluß notwendigerweise freige-
Erscheinung tritt. Freud geht in seiner Theoriebil- setzte oder ausbrechende Schuldbewußtsein auf irgendeine
Weise aufgefangen oder im voraus ökonomisch umgeleitet
dung jedoch nicht so weit, die Struktur des Ödipus- werden muß. Das Stück muß ja nun einmal triumphal schlie-
komplexes, an dem sich die Über-Ich-Bildung kri- ßen und nicht mit einem allgemeinen Katzenjammer. Ein sol-
stallisiert, selbst in Frage zu stellen und als historisch cher Katzenjammer ist jedoch, dem Modell gemäß, unver-
bedingt anzusehen. meidlich, wenn der Brüderclan gemeinsam Gessler tötet. Folg-
lich hat es ein einzelner zu tun; stellvertretend für alle andern
muß er die Vatergestalt töten, aber jene andern dürfen davon
Das psychodramatische Substrat gar nichts wissen. Und so verhält es sich mit Tell; deshalb di-
stanziert er sich so entschieden vom Verbrüderungsritual auf
In dem erwähnten Text Literaturwissenschaft und dem Rütli und gilt schließlich trotzdem als Befreier von allen«
(ebd.).
Psychoanalyse (2001), der bereits 1972 erschienen ist,
entwickelt Peter von Matt ein heuristisches Theorem, Im Dramentext sei also – neben vielem anderem –
das von späteren Autoren wiederholt aufgegriffen ein Muster erkennbar, das die Bewältigung von kol-
und für die Literaturanalyse fruchtbar gemacht lektiven Schuldgefühlen vorführt (nicht die des Au-
wurde. Es geht ebenfalls von der Traumanalogie des tors). Peter von Matts Interpretation vermag eine
literarischen Werks aus; anstatt von latenten Traum- Leerstelle des Textes zu besetzen, die bis dahin nicht
gedanken oder von Phantasiestruktur zu sprechen, beachtet wurde – ohne daß andere Deutungen des
verwendet von Matt den Begriff des »psychodramati- Dramas dadurch ungültig würden. Einmal mehr
schen Substrats« (ebd., 68); dadurch wird das Miß- wird deutlich, daß Freuds dichtungstheoretische Ar-
verständnis vermieden, es handle sich um die psy- beit Der Dichter und das Phantasieren von 1908 lange
chische Struktur des Autors. Von Matt versteht unter wirksam blieb und in den 1970er Jahren literatur-
»psychodramatischem Substrat« eine überindivi- wissenschaftliche Theorien anzustoßen vermochte.
338 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Die psychokritische Methode (Mauron) geben. Die Konstanz der Bilder (die mit der Wieder-
kehr von Traumbildern vergleichbar ist) läßt auf eine
Phantasiestruktur des Werks, psychodramatisches dramatische Grundsituation (z. B. eine konflikthafte
Substrat – beide Begriffe gehen von der psychoana- Urszene) schließen, die sich in den wandelbaren Mo-
lytischen Einsicht aus, daß es Strukturen, Motivkom- tiven des Werks endlos variiert.
plexe und Bildbereiche in einem literarischen Text Bemerkenswert an Maurons Methode ist der
gibt, die wie ein unbewußter Subtext fungieren, aus streng wissenschaftliche Anspruch, der mit Maurons
dem heraus sich das »manifeste« Werk generiert. Der erster beruflicher Karriere als Ingenieur zu tun haben
Deutungskunst des Literaturwissenschaftlers ist es mag. Die Methode orientiert sich jedoch nicht am
überlassen, die subtextuelle Werkstruktur zu ermit- Positivismus und dessen biographistischem, an Kau-
teln. Der französische Literaturwissenschaftler Char- salbeziehungen interessierten Verfahren, sie nimmt
les Mauron (1899–1966) hat, beginnend in den vielmehr die Werkstruktur zum Ausgangspunkt und
1950er Jahren, einen streng wissenschaftlichen em- ist eher mit der strukturalistischen Methode ver-
pirischen Ansatz entwickelt, der die Gefahr der Be- wandt, die sich erst später in Frankreich durchsetzen
liebigkeit solcher Interpretationen überwinden soll. wird.
Mit seiner »Psychokritik« entwirft Mauron ein Ver- An Maurons Methode wird einmal mehr deutlich,
fahren, mit dem er die Äußerungen des Unbewußten daß sich produktionsästhetische, rezeptionsästheti-
in den sprachlichen Manifestationen erforschen und sche und interpretatorische Fragestellungen häufig
auf ihren Ursprung zurückführen will: auf den mythe miteinander verschränken: Die Methode setzt bei der
personnel des Autors. Dieser persönliche Mythos wird Lektüre an, die nach wissenschaftlichen Regeln zu er-
nach wissenschaftlichen Maßstäben aus einem Asso- folgen hat, führt zur Werkstruktur (den »obsessiven
ziationsnetz (réseau d’associations) erschlossen, das Metaphern«) und gelangt von dort zu Fragen des
durch »obsessionelle Metaphern« (métaphores obsé- kreativen Prozesses und der Biographie, die als letzte
dantes) geformt ist. Mauron geht davon aus, daß sich Beglaubigungsinstanz eingesetzt wird.
in jedem Werk durch Überlagerung (superposition) So originell Maurons Ansatz sein mag, so ist doch
von Texten Assoziationsnetze erkennen lassen, die zu Recht eingewandt worden, daß der wissenschaft-
wiederum die Konstruktion eines mythe personnel er- liche Anspruch empirischer Überprüfbarkeit im
lauben: Durch diesen erschließe sich die unbewußte Grunde nicht haltbar ist (Lentzen 1975, 99 f.): Die
Persönlichkeit des Autors. Erst nach allen Textana- Erarbeitung der réseaux associatifs ist immer von
lysen und Rekonstruktionen läßt Mauron einen Ver- subjektiven Einstellungen abhängig, so daß jeder Le-
gleich mit der Autorbiographie zu – entscheidend für ser zu anderen Ergebnissen gelangen und einen an-
dieses Verfahren ist, daß der mythe personnel allein deren mythe personnel konstruieren wird. Dies mag
aus den Strukturen des Werks abgeleitet wird. auch der Grund dafür sein, daß Maurons psycho-
Was Mauron unter »Superposition« von Texten kritisches Verfahren kaum Nachfolger gefunden hat.
versteht, zeigt er am Beispiel von drei Sonetten Mal-
larmés auf, die alle um das Haar der Geliebten krei-
Die Rezeptionstheorie Norman N. Hollands
sen (Mauron 1962, 37 ff.; Lentzen 1975, 88). Beim
Vergleich der Texte kristallisiert sich ein Netz von Be- Einen anderen »persönlichen Mythos« versucht Nor-
griffen, ein »assoziatives Netz« heraus, das Mauron man N. Holland (geb. 1927), ein amerikanischer
als Geflecht von mort, combat, triomphe, grandeur Literaturwissenschaftler, zu rekonstruieren: den des
und rire bestimmt: Dies sind die »obsessionellen Me- Lesers. Holland hat, neben vielen anderen Untersu-
taphern«, die dem Text als Motivstruktur zugrunde- chungen, als erster eine empirische Rezeptionstheo-
liegen. Die Hypothese, daß sich auch alle anderen rie entworfen, die die unterschiedlichen Reaktions-
Gedichte aus dieser obsessionellen Struktur generie- weisen verschiedener Leser auf den selben Text unter-
ren, muß durch weitere »Superpositionen« – die sich sucht. Die Übertragung des Begriffs »persönlicher
wie eine Partitur lesen lassen – nachgewiesen werden. Mythos« auf den Leser findet sich in Hollands Buch
Das assoziative Netz erweist sich – so Mauron – als Poems in Persons (1973) ausdrücklich: »We can know
konstant und ist somit Ausdruck einer Obsession, die more about the writer and about the way he set down
sich als Ausdruck unbewußter Strukturen des Autors a fragment of his personal myth. By the same token,
verstehen läßt. Die obsessionellen Metaphern sind we can also know more about the reader’s personal
aber nicht auf reale Begebenheiten oder Erfahrungen myth and we can discover from his associations with
zurückzuführen; sie entsprechen unbewußten Bil- a text how he is responding to the writer’s original
dern, die den Hintergrund bewußter Phantasien ab- creation« (ebd., 60). Inwiefern Maurons Psychokritik
Literaturwissenschaft 339

im Hintergrund stand, bleibt unklar; die inhaltliche Gegenübertragung als Modell


Nähe ist jedoch nicht zu übersehen. In beiden Fällen literarischer Kommunikation
geht es um die Persönlichkeitsstruktur, die durch un-
bewußte Muster, durch Abwehr- und Anpassungslei- In der Literaturwissenschaft vollzog sich in den
stungen, die oft in die frühe Kindheit zurückreichen, 1970er Jahren ein Paradigmenwechsel von der Text-
geprägt ist. zur Leserorientierung, der im Entwurf einer neuen
Holland verwendet neben dem Begriff des personal Rezeptionsästhetik (Jauß, Iser) zum Ausdruck kam.
myth auch den des identity theme (mit Identität ist Dieser Wechsel machte sich auch in der psychoana-
hier nicht eine fixe Größe gemeint, sondern eine lytischen Literaturwissenschaft bemerkbar; neben äl-
Strategie der Selbst- und Fremddeutung): Jeder Leser teren Ansätzen (wie der empirischen Rezeptionsfor-
schafft beim Lesen das Werk neu, indem er es seinen schung Norman N. Hollands) entwickelten sich neue
(unbewußten) Strukturen, seinem Identitätskonzept Paradigmen, die den Text in seiner kommunikativen
anpaßt. Die empirische Versuchsanordnung Hol- Struktur untersuchten und im Akt des Lesens – ana-
lands besteht darin, daß über einen Zeitraum von ca. log zum therapeutischen Setting – den Aspekt der
zehn Wochen mehrere Personen einmal wöchentlich Gegenübertragung hervorhoben.
epische, lyrische oder dramatische Texte lesen und Wenn der Interpret in Shakespeares Hamlet den
sich mit dem Versuchsleiter darüber unterhalten, der Wunsch der Vatertötung (und dessen Hemmung) als
das Gespräch aufzeichnet. Sie sollen keine literari- psychodramatisches Substrat ermittelt, dann ent-
schen Analysen liefern, sondern ihre Assoziationen deckt er damit ein (unbewußtes) Übertragungsange-
und Gefühle äußern, die der Text in ihnen auslöst. bot des Textes, das seine eigenen Ängste, Schuldge-
Die große Menge an Interviewmaterial (etwa 500 Sei- fühle oder Tötungswünsche reaktiviert. Die Wir-
ten pro Person) dient als Primärquelle für die Per- kungsstrategie des Textes, die im Werk mit der
sönlichkeitsanalyse. Holland glaubt zeigen zu kön- »Opus-Phantasie« (von Matt) angelegt ist und die
nen, daß jeder Leser das literarische Werk seinem darauf zielt, die Rezeption des Lesers zu steuern,
identity theme anpaßt, indem er in der Begegnung kann auch als Übertragungsangebot verstanden wer-
mit dem Text seine eigenen Anpassungs- und Ab- den – analog zu dem Begriff, der die Eigenart des
wehrmechanismen rekonstruiert, so daß die Phanta- psychoanalytischen Settings beschreibt: Der Analy-
sie- und Abwehrstruktur des Werks auch zu der des sand »überträgt« Erfahrungen, Einstellungen und
Lesers wird: »The question ›Where ist the fantasy and Gefühle aus früheren Objektbeziehungen auf die
defense, in the work or in the reader?‹ ceases to have Szene mit dem Analytiker und reagiert damit inad-
any meaning« (ebd., 98). Hollands Verdienst ist es, äquat auf die aktuelle Kommunikationssituation.
nachgewiesen zu haben, wie sehr die individuellen Solche Prozesse laufen in allen zwischenmenschli-
Rezeptionsweisen divergieren und wie sehr sie mit chen Beziehungen mehr oder weniger unbewußt ab:
dem personal myth des Lesers zusammenhängen – bis Wir stehen immer im Bann der Vergangenheit, und
hin zu dessen Bereitschaft, den Textsinn solange zu unsere gegenwärtigen Beziehungen werden durch
verzerren, bis er mit dem Identitätsthema überein- frühere Erfahrungen kontaminiert.
stimmt. Holland gelangt so zu einer radikal indivi- Seit den 1980er Jahren finden sich in der psycho-
dualisierten Auffassung der Leserreaktion, die keine analytischen Literaturwissenschaft verstärkt Theo-
überindividuelle Verbindlichkeit mehr beanspruchen rien, die den Text als Übertragungsangebot begreifen,
kann. auf das der Leser seinerseits mit Gegenübertragungen
Zu beachten ist jedoch, daß es Holland um die all- reagiert (also mit Projektion, Identifikation usw.). Im
tägliche, vorwissenschaftliche Lektürepraxis geht, psychoanalytischen Setting bedeutet die Analyse der
nicht um das Geschäft der Literaturwissenschaft Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse ei-
(auch wenn die Identitätskonzepte sicher auch die li- nen Erkenntnisfortschritt, der unbewußtes psy-
teraturwissenschaftliche Rezeption beeinflussen). Die chisches Material dem Bewußtsein zugänglich macht
Literaturwissenschaft weiß zwar, daß die Subjektivi- (dies gilt für den Analysanden wie für den Analy-
tät konstitutiv in den Leseakt mit eingeht, aber auch, tiker). Analog hierzu gewinnt der Leser Erkenntnisse,
daß es ihr gelingen muß, die Interpretation durch wenn er seine »Gegenübertragung« als spezifische
Belege an Quellen, an Textmerkmalen und Struktu- Reaktion auf das Übertragungsangebot des Textes
ren überindividuell zu beglaubigen. versteht – er beschreitet dann den Weg hin zu einer
(selbst)kritischeren Lektüre. Herma und Sebastian
Goeppert haben die typischen Gegenübertragungs-
probleme beschrieben, die bei der Literaturinterpre-
tation auftreten können:
340 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

»1. Komplexe Inhalte eines Werkes werden, ohne eine genauere Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept
Vorstellung von historischen, kommunikativen und situativen
Kontexten zu haben, auf einfache Grundmuster (etwa den
wurde so ein Interpretationsmodell entwickelt, das
Ödipuskomplex) reduziert. Der literarische Text dient dann die hermeneutische Theorie Gadamers von der Vor-
vorwiegend dazu, zentrale Hypothesen der Metapsychologie urteilsstruktur des Verstehens (wonach das Vorver-
zu bestätigen und darüber hinaus den Anspruch der Gültigkeit ständnis konstitutiv in den Verstehensakt eingeht)
psychoanalytischer Interpretationen außerhalb der psychoana-
lytischen Behandlungssituation zu legitimieren. 2. Literarische
um die unbewußten Anteile des Vorverständnisses
Texte werden überdeutet im Sinne einer willkürlichen Aufla- und des Verstehenden erweitert. Für Pietzcker wird
dung mit psychoanalytischen Bedeutungen, die sich aber we- nun anstelle der Traumdeutung die Gegenübertra-
niger an den Bedingungen des Textes selbst als vielmehr am gungsanalyse zum Paradigma psychoanalytischer
aktuellen Stand der psychoanalytischen Hypothesenbildung
orientieren« (Goeppert 1981, 75 f.).
Textdeutung und zu einem neuen Modell eines er-
fahrungsbezogenen Literaturunterrichts (ebd., 66).
Es kann für den wissenschaftlichen Leser also sehr
wichtig sein, sich seine Gegenübertragungsreaktio-
Literatur als Interaktionsform
nen bewußt zu machen, um einengende oder ver-
(Alfred Lorenzer)
fälschende Reaktionen auf den Text zu vermeiden
oder zumindest unter Kontrolle zu halten. Von dem lebenspraktischen Bezug der Psychoanalyse
Interpretationen, die der Gegenübertragung unre- und der Literatur geht Alfred Lorenzer (1922–2002)
flektiert verhaftet bleiben, gelangen leicht zu einem aus, der seit den 1970er Jahren der psychoanalyti-
verzerrten Bild ihres Gegenstandes, seien sie psycho- schen Literaturwissenschaft neue Impulse gegeben
analytisch orientiert oder nicht (Pietzcker 1992, 33). hat. Durch eine schwere Krankheit wurde er an der
Gegenübertragungsanalyse bedeutet, daß die Inter- Weiterarbeit gehindert, seine fruchtbaren Ansätze
pretierenden sich gewissermaßen selbst analysieren, haben nicht die Fortführung erfahren, die sie ver-
sich ihrer Faszination, ihrer Verunsicherung oder ih- dient hätten. Im Rahmen seiner kritischen Theorie
rer Abwehr gegenüber dem Text bewußt werden – des Subjekts versteht er die Psychoanalyse als kriti-
nicht, um die Gegenübertragung als erkenntnisver- sches Verfahren, das an der problematischen Lebens-
hindernd auszuschalten und eine klinisch ›reine‹ Text- praxis ansetzt, um hinter die Fassade falscher Har-
interpretation zu liefern, sondern um Gegenübertra- monie zu gelangen und die Widersprüche zwischen
gung als Erkenntnisinstrument zu nutzen (ebd., 35). anerkannten, bewußtseinsfähigen und unterdrückt-
Subjektive Reaktionen werden zugelassen, um die verbotenen Lebensentwürfen aufzudecken (Lorenzer
Wirkungspotentiale des Textes aus der Kommunika- 1978, 73). Er setzt die psychoanalytische Praxis in
tionssituation Text-Leser zu erschließen: Analogie zu literarischen Entwürfen: In beiden gehe
»Forschungsgegenstand ist also nicht in erster Linie der Text es um den Widerstreit zwischen verbotenen und an-
als abgegrenztes und für sich bestehendes Objekt. Forschungs- erkannten (im Bewußtsein zugelassenen) Lebensent-
gegenstand ist vorzüglich das Verhältnis zwischen dem Text würfen – und darum, die unterdrückte Lebenspraxis
[. . .] und den Rezipierenden. Als deren reflektierenden Ver- bewußt zu machen. Das Entscheidende am psycho-
treter versteht sich der Interpret. Er erkundet den Text von
diesem Verhältnis her so, daß dessen Figuren und Szenen, analytischen Verfahren ist für ihn die Interaktion
Handlung und Sprache als Wirkungspotentiale der Rezepti- zwischen Analysand und Analytiker: Die Psychoana-
onsprozesse sichtbar werden: als Strategien des Erzählens, des lyse sei keine Beobachtungswissenschaft, sondern,
lyrischen Sprechens oder des Spiels auf der Bühne« (ebd., wenn man so will, eine Beziehungswissenschaft:
36).
»Untersucht wird nicht der Patient als umschriebenes
Untersucht Norman N. Holland die Rezeptionsvor- Gegenüber, sondern das Verhältnis zwischen dem Pa-
gänge in unterschiedlichen Leser/innen, so zielt die tienten und dem Analytiker« in der Absicht, auf die-
Gegenübertragungsanalyse auf eine Selbsterfor- sem Wege die Beziehungsformeln (die Interaktions-
schung bei der Lektüre, die einerseits den Lesevor- form) kennenzulernen (ebd., 74).
gang vor verfälschenden Übertragungen bewahren Lorenzer betont die Ähnlichkeit zwischen den In-
kann, andererseits in der Analyse der subjektiven Re- teraktionsformen der Analyse und der literarischen
aktionen die Wirkungsstrategien des Textes er- Kommunikation: Der Leser (bzw. der Literaturwis-
schließt und den Text nicht isoliert, sondern als Ele- senschaftler) tritt dem Text nicht gegenüber, um ihn
ment einer Kommunikationssituation begreift. Dies distanziert zu untersuchen, sondern um mit den Fi-
setzt voraus, daß der Interpret sich sowohl auf die guren des Textes in Interaktion (in eine Szene) zu
vom Text hervorgerufenen Reaktionen einläßt als treten. Ziel dieses »szenischen Verstehens« ist ein
auch in analysierender Beobachtung zu ihnen auf Di- emanzipatorisches: Sowohl im psychoanalytischen
stanz geht. Ausgehend von dem psychoanalytischen Prozeß als auch in der psychoanalytischen Literatur-
Literaturwissenschaft 341

interpretation sollen neue »bewußtlos unmittelbare« ment der Form hingewiesen, die Vergnügen bereite
lebenspraktische Entwürfe zur Anerkennung ge- und – dem Spiel ähnlich – auf vielfache Weise zur
bracht und in das Gesamtsystem der symbolischen Aufwandsersparnis beitrage. Dies gilt für Phänomene
Interaktionsformen eingefügt werden. Es geht Loren- wie den Reim, der nicht nur als lustvolle Regression
zer also nicht darum, latente Sinnzusammenhänge zu zu kindlichem Sprachverhalten verstanden werden
entschlüsseln oder unbewußte Textstrukturen be- kann, sondern auch als »Aufmerksamkeitsersparnis«,
wußt zu machen, sondern um die Dynamik der Be- die sich beim Wiedererkennen des Gleichen in Lust
ziehung zwischen Text und Interpret und um die le- umsetzt (Pietzcker 1990, 13). Im Unterschied zu die-
benspraktische Erweiterung unbewußter Wahrneh- ser triebpsychologisch-ökonomischen Betrachtungs-
mungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. Dieser Ansatz weise betonen Autoren wie Lesser (1957) oder Ehren-
wurde verschiedentlich für die Literaturinterpreta- zweig (1953) die Über-Ich-Funktion der Form, die
tion fruchtbar gemacht: Jürgen Belgrad widmete die im Dienst der Bändigung verbotener Triebe stehe,
Festschrift für Lorenzer den »Dimensionen szeni- Angst und Schuldgefühle besänftige, Kontrolle, Ord-
schen Verstehens« (Belgrad 1987); Achim Würker nung und Sicherheit garantiere – und unter diesen
untersuchte die »unbewußten Lebensentwürfe« Vorzeichen doch wieder ein Nachlassen der Ich-Auf-
E.T.A. Hoffmanns und Max Frischs (Würker 1991, merksamkeit und die Hingabe an unbewußte Wün-
1993) mit dem Anspruch, zu einer »Erneuerung der sche ermögliche.
psychoanalytischen Literaturinterpretation« (so der Eine Akzentverschiebung nahmen amerikanische
Untertitel der Hoffmann-Studie) beizutragen. Leider Ich-Psychologen vor, die der literarischen Form un-
hat das Interesse an den Kultur-Analysen Lorenzers terschiedliche Ich-Funktionen zuschrieben; dabei
in der letzten Zeit nachgelassen, wohl im selben wurden besonders die ichfunktionalen Abwehrme-
Maße, wie das Interesse an einer kritischen psycho- chanismen der Form hervorgehoben, die dem Ich ih-
analytischen Sozialforschung zurückging. rerseits Vergnügen oder Befriedigung verschafften:
Beherrschung der Triebe und der äußeren Realität,
Ordnung, Übersicht und Verständlichkeit. Es sei
The Power of Form
nicht verschwiegen, daß diese Form ich-psychologi-
Die Erforschung literarischer Formen (und Struktu- scher Ansätze heute mit Skepsis betrachtet wird, da
ren) blieb lange Zeit ein Stiefkind der psychoanalyti- sie die Funktionen der Ich-Kontrolle und der Anpas-
schen Forschung, was die Literaturwissenschaft im- sung an die Realität überbetonen. Gerade die Lite-
mer wieder zu ihrer ablehnenden Haltung legiti- ratur entfaltet im Gegensatz hierzu oft eine anarchi-
mierte. Freud hatte sich Gedanken zur Funktion der sche, subversive Energie, die in solchen Ansätzen
literarischen Form gemacht, die für ihn darin be- schwer in ihr Recht gesetzt werden kann.
steht, zur angstfreien Wunscherfüllung zu verlocken, Selbstpsychologen in der Nachfolge von Hanns
indem sie das Anstößige des verbotenen Wunsches Sachs und Melanie Klein betonen die narzißtische
mildert und dem Leser zur »Vorlust« verhilft. Pietz- Funktion der Form: Der Schriftsteller liebt in der
cker (1978) hatte versucht, die von Freud beschrie- Schönheit des Werks sich selbst, genießt seine All-
bene Funktion im Hinblick auf einen psychoanalyti- macht in einem Medium, das er anderen zur Bewun-
schen Literaturbegriff zu erweitern. Insgesamt blieb derung anbietet. Fairbairn, ein Schüler Kleins, geht
jedoch die psychoanalytische Auseinandersetzung einen Schritt weiter und vertritt eine These, die auf
mit der literarischen Form bescheiden und stellte der Freiburger Tagung von 1989 zu heftigen Kontro-
lange Zeit eine Lücke literaturpsychologischer For- versen führte: Er versteht künstlerische Form als Ver-
schung dar. Erst im Jahr 1989 fand eine Tagung des such des Subjekts, die in der depressiv-paranoiden
Freiburger Arbeitskreises »Literatur und Psychoana- Position zerstörten Objekte wiederherzustellen und
lyse« statt, die sich ausdrücklich diesem Thema wid- sich so gegen Schuldgefühle und Objektverlust zu si-
mete und die Ergebnisse in Band 9 der Freiburger chern. »Alle Formkriterien – Einheit, Vollständigkeit,
literaturpsychologischen Gespräche veröffentlichte. Selbstgenügsamkeit, Harmonie, Vollkommenheit
Dieser Band beginnt mit einem Forschungsbericht usw. – sind Mittel zur Sicherstellung der Integrität
(Pietzcker 1990), der detailliert den Forschungsstand und der Unsterblichkeit des Objekts« (Bush 1984,
beschreibt und bis heute der einzige dieser Art geblie- 168). Die literarische Form hat somit die Funktion
ben ist. Er zeigt, daß sich doch zahlreiche Arbeiten einer Restitution: In der ästhetischen Produktion
finden lassen, die Freuds These von der »Vorlust- werden zerstörerische Wünsche abgewehrt, indem
funktion« der Form aufgegriffen und weitergeführt ihnen durch das ästhetisch geformte Werk ein idea-
haben. Dabei wird häufig auf das spielerische Mo- lisiertes Objekt entgegengesetzt wird. Diese an Mela-
342 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

nie Klein orientierten Thesen erscheinen außeror- gehört nach Winnicott sowohl dem Selbst als auch
dentlich spekulativ, gehen sie doch von der unbewie- der äußeren Realität an und bezeichnet einen wichti-
senen Existenz einer »paranoiden Position« des gen Entwicklungsschritt in der Subjekt-Objekt-Dif-
Kleinkindes aus, in der aggressive und zerstörerische ferenzierung.
Impulse die Oberhand gewinnen. Oral-sadistische Während die meisten der erwähnten Theorien
und libidinöse Triebe sind nach dieser Theorie schon produktions- und rezeptionsästhetisch orientiert
in einer sehr frühen Phase gleichzeitig vorhanden sind, versucht Fritz Gesing (1990) eine Synthese, in
und führen zu einer Ambivalenz, die eine Objekt- welche die unterschiedlichen Aspekte der Trias Au-
spaltung in »gut« und »böse« zur Folge hat. Das Ich tor-Werk-Leser eingehen. Für ihn hat die Form ins-
in dieser Phase ist sehr wenig integriert und besitzt besondere eine kommunikative Funktion; sie baut
nur eine begrenzte Fähigkeit, die Angst zu ertragen. eine spezifische Kommunikationsstruktur auf, in der
Die Existenz einer »paranoiden Position« des Klein- Inhalte vermittelt werden können. Gesing verwendet
kindes, die in späteren Phasen wieder virulent wer- hierzu den Begriff der »Opus-Phantasie«, der auf Pe-
den könne, ist, wie gesagt, unter Psychoanalytikern ter von Matt zurückgeht (damit ist das im Schreiben
sehr umstritten – und deswegen auch die Theorie der vorphantasierte und auf einen fiktiven Leserkreis hin
Form, die daraus abgeleitet wird. imaginierte Werk gemeint): Das Werk appelliert auf
Einen selbstpsychologischen Ansatz verfolgt auch bewußter wie auf unbewußter Ebene an den Leser
Pinchas Noy (1979), für den die Funktion der Form und ist Auslöser von Übertragungen und Gegenüber-
darin besteht, die desintegrierten Teile des Selbst zu tragungen – dabei spielen Elemente der literarischen
einer integrierten Einheit zu ordnen und die Bezie- Form eine wichtige Rolle: Sie vermitteln und steuern
hung zwischen Selbst, seinen Objekten und der Rea- die kommunikativen Akte (ebd., 45). Auch wenn Ge-
lität sicherzustellen; dies gelingt in der »dialektischen sing am Ende seines Beitrags die Form-Elemente des
Form«, die widersprüchliche Gefühle darstellt und Werks detailliert untersucht, gelingt ihm nur ansatz-
miteinander vermittelt – mit dem Ziel, Harmonie, weise, was Pietzcker als bleibendes Desiderat der Li-
Gleichgewicht und die Integration des Selbst herzu- teraturpsychologie bezeichnet: die Erforschung des
stellen, indem sie die unterschiedlichsten Entwick- Zusammenhangs von Form und Inhalt, der sich als
lungsstufen dieser Integration in sich aufnimmt – Prozeß fortschreitender Vermittlung von Lust- und
von den frühen bis hin zu den kompliziertesten Realitätsprinzip darstellen läßt, wobei die Form sich
Strukturen des gereiften Selbst (Pietzcker 1990, 23). als Grenze im Wechselspiel von Ich, Es und Über-Ich
Die umfangreichste psychoanalytische Studie zur erweist. An dieser Grenze werde das Geschichtlich-
ästhetischen Form hat Gilbert J. Rose mit seinem Gesellschaftliche von Literatur am deutlichsten er-
Buch The Power of Form (1980) vorgelegt – es ist die kennbar (Pietzcker 1990, 28).
erste und bisher einzige Monographie, die ganz der
Form gewidmet ist. Rose erblickt in der künstleri-
Die Neulektüre Freuds durch Jacques Lacan
schen Formgebung ein schöpferisches Wechselspiel
und ihre Bedeutung für die Literatur-
zwischen Primärprozeß (Auflösung) und Sekundär-
wissenschaft
prozeß (Restitution), zwischen der Aufweichung der
Grenzen von Selbst und Objekt und einer neuen Die folgenreichste Neuinterpretation und Weiterent-
Selbstkonstitution, die sich durch die Form »drau- wicklung der Freudschen Psychoanalyse verdanken
ßen« als neues Selbst verbildliche. In den Formpro- wir Jacques Lacan (1901–1981), einem französischen
zeß können alle Momente der Selbstkonstitution ein- Mediziner und Psychoanalytiker, der auch auf die
gehen, die für die Entwicklung des Künstlers von Be- psychoanalytische Literaturwissenschaft maßgebli-
deutung waren, von den verschwimmenden Grenzen chen Einfluß ausübte. Nachdem Lacan mit der natio-
des Primärprozesses über Körpererfahrungen (wie nalen und internationalen Gesellschaft für Psycho-
die motorische Identifikation mit Rhythmen und analyse gebrochen hatte, gründete er eine eigene
Klängen) bis hin zur Ausbildung des »Übergangsob- Freud-Schule in Paris (Ecole Freudienne), die er 1980,
jekts«: Dieses Konzept des Übergangsobjekts, das auf kurz vor seinem Tod, wieder auflöste. Die wichtig-
Winnicott zurückgeht, nimmt in Roses Theorie eine sten seiner Theorien wurden unter dem Titel Ecrits
zentrale Stellung ein. In der formalen Strukturierung 1966 (dt. Schriften 1973 ff./31991) veröffentlicht. La-
des Werks können die Grenzen zwischen Selbst und cans Arbeit stellt eine Neulektüre Freuds im Licht
Welt verschoben und – je nach Strukturierungs- strukturalistischer und poststrukturalistischer Theo-
grad – als mehr der äußeren Realität oder dem Selbst rien dar.
zugehörig empfunden werden. Das Übergangsobjekt Zwei Gedanken Lacans sind im weiteren Verlauf
Literaturwissenschaft 343

für die psychoanalytische Literaturinterpretation be- der Umkehrung der Relation von Signifikant und Si-
sonders bedeutsam geworden. Einmal die Theorie gnifikat und der Zuweisung der Toplage an den Si-
vom imaginären Charakter der menschlichen Selbst- gnifikanten – besteht Lacans »wirkungsgeschichtli-
findung im Spiegelstadium des Kindes (Das Spie- cher Geniestreich« (Bossinade 2000, 32).
gelstadium als Bildner der Ichfunktion, 1991; frz. Der psychoanalytische Hintergrund dieses lingui-
1936/49): Das Kind bilde zum ersten Mal ein Ich im stischen Paradigmenwechsels ist ein Verdrängungs-
sog. Spiegelstadium aus, wenn es seine Gestalt als und Verschiebungsvorgang: Durch das ödipale Ge-
ganze, vollkommene im Spiegel erblickt, wobei (dies setz (das »Gesetz des Vaters«) wird die ursprüngliche
ist entscheidend) der bewundernde Blick der Mutter Liebe zur Mutter verboten und verdrängt; der Vater
diese Wahrnehmung der Ganzheit zustimmend be- ist der Dritte, der die symbiotische Beziehung zwi-
stätigt. Infolge dieser Wahrnehmung glaube das Sub- schen Mutter und Kind untersagt und die Trennung
jekt an seine Einheit und Vollkommenheit, die je- vom mütterlichen Objekt verordnet. Das (mütterli-
doch nur im Imaginären vorhanden sei; Lacan che) Objekt des Begehrens gilt von da an als verloren
spricht deshalb auch von einer »wahnhaften Identi- und muß durch andere Objekte substituiert werden.
tät« (ebd., 67). Lacans Theorie verändert die Subjekt- Das Verbot des Vaters, das Inzestverbot, das Lacan
auffassung radikal, denn nach seiner Ansicht ist die auch als »symbolische Kastration« bezeichnet, setzt
Subjektgenese von Selbstüberschätzung und All- eine endlose Substitution und einen Prozeß des Be-
machtsphantasien geprägt und ständig vom Zerfall gehrens in Gang, der nicht gestillt werden kann. Im-
bedroht. Damit erteilt er dem selbstreflexiven Subjekt mer wieder kommt Lacan auf die Analogie zwischen
cartesianischer Prägung (»Ich denke, also bin ich«) psychischen und sprachlich-linguistischen Prozessen
eine entschiedene Absage. Das Spiegelstadium ist für zurück: Der Entthronung des Signifikats entspricht
Lacan letzten Endes kein realer Vorgang, sondern die die Unterordnung des Subjekts unter den Signifikan-
Metapher eines fiktiven Selbstkonzepts, das keines ten oder die »Dominanz des Signifikanten über das
konkreten Spiegels bedarf: Es verweist auf eine Vor- Subjekt« (Schriften I, 60). Der metonymische Prozeß
stellung, die Selbsterkenntnis gerade ausschließt der Verschiebung verweist stets auf andere Signifi-
(Wright 1985, 36 f.). Der Begriff umschreibt meta- kanten und damit auf die Unmöglichkeit eines sta-
phorisch jenenVorgang, nach dem das Ich aus einer bilen Sinns. Das Unbewußte gleicht der Sprachstruk-
imaginären Projektion entsteht, aus einer Identifizie- tur, weil das Begehren (der Inhalt des Unbewußten)
rung mit einem anderen ganzen Objekt (einem Ideal- die Struktur einer unendlichen und unabschließba-
Ich). ren Signifikation hat.
Eine stabilere Subjektkonstitution erfolgt erst mit Das endlose Verweisungssystem bedeutet für Lacan
dem Eintritt in die Sprache – doch auch hier ist die jedoch keine Bedeutungsanarchie, »denn die bei
Stabilität trügerisch, da die Sprache aus einem un- Saussure angelegte Bevorzugung des Signifikats ist
endlichen Verweisungssystem von Zeichen besteht, bei Lacan in den Primat eines einzigen Signifikanten
das der Struktur des menschlichen Begehrens ent- verschoben« (Bossinade 2000, 32), nämlich den des
spricht. Hieraus folgert Lacan sein zweites grundle- ›Phallus‹: der symbolischen Repräsentation des
gendes Theorem, daß nämlich das Unbewußte wie männlichen Penis. Der Mangel der Frau (ihre Penis-
eine Sprache (comme un langage) strukturiert, ja, daß losigkeit) prädestiniert den Phallus dazu, so Lacan,
es sogar ein Produkt der Sprache sei. Diese Auffas- zum Signifikanten des Mangels schlechthin zu wer-
sung hängt mit seiner Zeichentheorie zusammen, den, zum privilegierten Signifikanten, dem keinerlei
welche die strukturalistische Theorie überschreitet: Signifikat mehr entspricht (ebd., 58). In der proble-
Im Sprachzeichen erfolgt nach Saussure eine Verbin- matischen Bezeichnung der Penislosigkeit der Frau
dung und Strukturierung zweier chaotischer Konti- als »Kastration« folgt Lacan der Begriffsvorgabe
nuen, der Laute (Signifikanten) und der Begriffe Freuds – es leuchtet ein, daß die feministische Theo-
(Signifikate). Für Saussaure bilden Signifikant und riebildung und Diskurskritik, die sich seit den 1970er
Signifikat eine Einheit, nämlich das Zeichen, das un- Jahren entwickelte, den Ansatz Lacans als zwiespältig
sere (chaotische) Wahrnehmung allererst struktu- empfand. Einerseits wurde als positiv gewertet, daß
riert. Lacan jedoch geht davon aus, daß es eine feste der »Geschlechtsbiologismus« Freuds durch eine
Verbindung von Signifikant und Signifikat nicht Sprachsymbolik ersetzt wurde; andererseits wurde
gebe; er bestreitet die linguistische These, daß sich die Fixierung von Frauen auf die Position ›nicht-
der Signifikant nach einem vorgegebenen Signifikat phallisch‹ – in Verbindung mit dem Kastrationsbe-
richte, im Gegenteil: »Das Signifikat, das ist der Ef- griff Freuds – als inakzeptabel empfunden. Die psy-
fekt des Signifikanten« (Schriften II, 22). Hierin – in choanalytische Literaturwissenschaft hat von dieser
344 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Verschiebung auf die Sprach- und Symbolebene pro- Mangels, der durch Phalluslosigkeit markiert ist.
fitiert; zugleich war der Paradigmenwechsel Aus- Doch durch die Verankerung des Begriffs »Phallus«
gangspunkt für eine Ausdifferenzierung der psycho- im Symbolischen der Sprache (Phallus als privilegier-
analytischen Geschlechtertheorie. ter Signifikant) und durch seine symbolische Bedeu-
Lacan selbst hat seine Theorie auf einen literari- tung (Integrität, Vollkommenheit) ist er sowohl dem
schen Text angewandt, auf E. A. Poes Der entwendete Bereich des Organischen als auch dem des biologi-
Brief, an dem er die Unendlichkeit des Begehrens, die schen Geschlechts enthoben. Phallus ist nicht Organ,
Rolle des Signifikanten und den Zusammenhang bei- sondern Symbol: Er verweist auf jenen grundlegen-
der aufzeigte. In Poes Text geht es um einen kompro- den Mangel, der darin besteht, daß man zur Befriedi-
mittierenden Brief an die Königin von Frankreich, gung des Begehrens immer auf ein Anderes angewie-
der von einem Minister entwendet und dann dem sen bleibt, das sich – wie die unendlichen Verschie-
Dieb wiederum geraubt wird. Für Lacan nimmt der bungen des Signifikanten – stets entzieht. Insofern
Brief (frz. la lettre!) die Stelle des privilegierten Si- bezeichnet der Phallus auch keinen Vorrang eines
gnifikanten ein, der die Bahn des Begehrens und Geschlechts vor dem anderen.
seine Wende hin zum Ort des Anderen als Ort der Diese Rückführung des Geschlechts auf eine
Sprache beschreibt (Bossinade 2000, 60). Gerade der Sprachfunktion ließ den Lacanschen Ansatz gerade
Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache ist im Bereich der literaturwissenschaftlichen Gender
es ja, der die Abkehr vom Symbiosewunsch, die Hin- Studies produktiv werden und näherte ihn dekon-
wendung zum Anderen und damit den Eintritt in die struktiven Ansätzen an, die essentialistische Vorstel-
unendliche Zirkulation des Begehrens (der symboli- lungen von Geschlecht und Subjekt verwarfen (Mül-
schen Ersatzbildungen) ermöglicht. Im Anschluß an ler 1995, 302).
Lacans Poe-Studie hat sich eine heftige und zugleich Die feministische Literaturwissenschaft interessierte
fruchtbare Debatte entwickelt, die auch die psycho- sich zunächst für die Frauenbildforschung, für die
analytische Literaturwissenschaft weiter vorantrieb »imaginierte Weiblichkeit« (Bovenschen 1979) und
(Felman 1987, Haselstein 1991). die »verborgene Frau« (Stephan/Weigel 1983), für die
Lacans Theorien sind ausgesprochen anregend für Suche nach verschütteten Traditionslinien und ver-
die Literaturwissenschaft geworden – zuerst in gessenen Autorinnen und für die Revision des lite-
Frankreich und Amerika, nach zögernder Rezeption rarischen Kanons – immer mit dem Ziel, die domi-
dann auch innerhalb des deutschsprachigen Raums. nante Männerperspektive, den einseitigen männli-
Eine der ersten Arbeiten, die sich an Lacan orien- chen Blick auf Texte und in Texten transparent zu
tierte und zu seiner Verbreitung beitrug, war Helga machen und zu überwinden. Die Legitimationskrise
Gallas’ Kleist-Studie Das Textbegehren des ›Michael dieser Forschungsrichtung hing mit ihrem Theorie-
Kohlhaas‹ (1981). Die Novelle Kleists wird dort als defizit zusammen, das in den 1970er Jahren vor allem
»Textbegehren« gedeutet: Im Kern der Interpretation französische Wissenschaftlerinnen mit poststruktu-
erscheinen die Pferde als Phallussubstitute – also als ralistischen Ansätzen (besonders im Rückgriff auf
Ersatz dessen, was zur Vollständigkeit fehlt, was als Lacan) zu kompensieren versuchten.
Signifikant der imaginären Ganzheit des Ichs figu- Hélène Cixous, Luce Irigaray, Julia Kristeva und
riert. Ihre Degradation wäre dann als Bedrohung der Monique Wittig waren bestrebt, die Bedeutung des
imaginären Einheit des Ichs zu verstehen. Das Begeh- Weiblichen im Bereich der Sprache (der écriture fémi-
ren, das sich auf etwas richte, was es nie gegeben hat nine) zu verorten und es von seiner Bindung an den
(den Phallus der Mutter), treibe wechselnde Ersatz- Körper her zu begreifen. Auf jeden Fall wird – bei
bildungen im Text hervor, schließlich die Kapsel mit allen Unterschieden – Weiblichkeit nie außerhalb
dem Zettel, Substitut fehlender Ganzheit für Kohl- sprachlicher Strukturen gedacht, und für alle Auto-
haas wie für den Kurfürsten. Zahlreiche andere Inter- rinnen ist das bestimmende Ziel die Dekonstruktion
pretationen folgten Lacans Ansatz oder reflektierten des abendländischen Logozentrismus und die Befrei-
ihn theoretisch, u. a. Wright (1987/88), Hagestedt ung der Sprache aus vorgegebenen (männlich deter-
(1988), Hofmann (1996). minierten) Bedeutungszusammenhängen. Deswegen
müsse sich eine écriture féminine der heterosexuellen
Metaphorisierung und Fetischisierung des weibli-
Dekonstruktivistische Ansätze, Gender Studies
chen Körpers widersetzen und eine Subversion der
und Literaturwissenschaft
patriarchalischen Aneignung von Sprache und der
Die Theorie Lacans erscheint zunächst eher frauen- symbolischen Ordnung betreiben – etwa durch die
feindlich, ist für ihn die Frau doch der Ort eines Anbindung der Sprache an Stimme und Körper der
Literaturwissenschaft 345

Mutter. Für Cixous (*1937) ist weibliches Schreiben torischen, die das Semantische und dessen Sinnset-
nicht an die Autorschaft von Frauen gebunden, es ist zungen unterlaufen.
vielmehr ein Schreiben von der dezentralisierten Po- Zählt man typische Merkmale der écriture féminine
sition der Frau und vom Rand der symbolischen auf, so zeigt sich, daß es sich keineswegs um Merk-
Ordnung her, aus der die Frauen seit langem ausge- male ›weiblichen‹ Schreibens im biologischen Sinn
schlossen sind. Weiblich schreiben können in diesem handelt, sondern um Merkmale vieler Texte der lite-
Sinn auch männliche Autoren, sofern sie sich bis in rarischen Moderne: Auflösung von Gattungsgrenzen,
die Sprachstruktur hinein dem dominanten patriar- Unabgeschlossenheit, nichtlineares Erzählen, Diaolo-
chalischen Diskurs entziehen. gizität, syntagmatische und grammatikalische Brü-
Besonders Irigaray (*1932) betont die Ortlosigkeit che, Betonung der Materialität der Sprache wie
der Frau in der sprachlichen Ordnung, der sie eine Rhythmus und Homophonie (Kroll 2002, 132). De-
weibliche Ökonomie des Flüssigen, Spielerischen, konstruktive Prozesse, die das essentialistische Ver-
Unabschließbaren, der Nicht-Einheit entgegensetzt. ständnis der Geschlechter in Frage stellen, sind längst
Indem sie die Sprache an Körper und Sexualität bin- Teil jener literarischen Moderne geworden, die das
det, sucht sie das binäre Denken zu unterlaufen. La- Erbe der Aufklärung kritisch beleuchtet. Poststruk-
cans Auffassung, daß sich das Weibliche über den turalistische Ansätze der Gender Studies haben die
Mangel (des Phallus) definiere, setzt sie ein gegen- Sensibilität für solche literarischen Phänomene ge-
teiliges Verständnis der Beziehung von Selbst und schärft oder sie überhaupt erst ins Bewußtsein ge-
Anderem entgegen: eine Ökonomie des Überschusses hoben. Dekonstruktivistische Lektüren haben auto-
und der Verausgabung (Art. »Écriture féminine« in nome Subjektkonzeptionen und feste Vorstellungen
Nünning 2004, 132). von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ unterlaufen
Den wohl größten Einfluß auf die feministische Li- (Vinken 1992) und die kulturelle Konstruiertheit der
teraturwissenschaft hat Julia Kristeva (*1941) ausge- Kategorie ›Geschlecht‹ bewußt gemacht (Butler
übt, die französische Literaturwissenschaftlerin und 1990/1991).
praktizierende Psychoanalytikerin, die in ihren zahl- Schon Freud hatte festgestellt, das Ich sei nicht
reichen Untersuchungen psychoanalytische, lingui- Herr im eigenen Haus. Die Dekonstruktion radikali-
stische und kulturtheoretische Fragestellungen ver- siert diese Einsicht auf zeichentheoretischer Ebene
knüpft. Ihr Studium bei Roland Barthes und Jacques und stellt mit dem metaphysischen Substanzbegriff
Lacan markiert schon die Hauptrichtungen ihres auch die begriffliche Einheit von Subjekt und Ge-
späteren Forschungsinteresses, die poststrukturalisti- schlecht in Frage. Judith Butler treibt das dekon-
sche Orientierung ihrer literaturwissenschaftlichen struktive Denken radikal weiter und versteht den Ge-
und psychoanalytischen Schriften. Ihr früher Text schlechterdualismus grundsätzlich als sozio-kulturel-
Die Revolution der poetischen Sprache (1974/1978) les Konstrukt, das sich als natürlich ausgibt, aber im
gilt immer noch als bedeutendstes Werk der femini- Grunde in einem Netz von Diskurs und Macht ent-
stischen Literaturwissenschaft. Kristeva ergänzt und steht. Der heterosexuell determinierte Dualismus der
modifiziert darin die Kategorien Lacans vom Imagi- Geschlechter erscheint so als Zwangssystem und Ko-
nären und Symbolischen, indem sie ihnen den Be- mödie, als Parodie und Imitation seiner selbst, als
griff des »Semiotischen« an die Seite stellt. Während »Performanz« (Kroll 2002, 45). Eine dekonstruktive
das Symbolische auf die dominante sprachliche Ord- Lektüre von Texten kann die Performativität der Ge-
nung und auf das Gesetz des Vaters bezogen ist, wird schlechterkonstruktionen sichtbar machen und zu-
das Semiotische dem Präödipalen der frühen Mutter- gleich ihre subversive Destabilisierung vorantreiben.
Kind-Dyade zugeordnet (wichtig ist, daß Mutter und Mit diesen Ansätzen, deren kritische Rezeption in
Vater hier als zeichentheoretische Positionen, nicht der Literaturwissenschaft erst am Anfang steht, liegt
als biologische Wesenheiten begriffen werden); des- eine der entschiedensten Korrekturen des Freudschen
wegen kann sich das Semiotische den Strukturgeset- psychoanalytischen Modells vor. Freud war sich
zen und Determinanten der Sprache entziehen und selbst seiner unzulänglichen Kenntnisse der weibli-
so zur Destabilisierung und Subversion der symboli- chen Sexualität bewußt, er sprach vom »dark conti-
schen Ordnung beitragen. Kristeva findet das Semio- nent« (GW XIV, 241) und vom »Rätsel der Weib-
tische besonders in avantgardistischen Texten der lichkeit« (GW XV, 120). Zentraler Bezugspunkt war
klassischen Moderne (bei Lautréamont und Mal- für ihn die männliche Sexualität, von der er die weib-
larmé) wieder, an denen sie die Funktionsweise, die liche ableitete. Die erwähnten Ansätze feministischer
»Revolution« der poetischen Sprache erläutert: die Autorinnen besinnen sich sowohl auf die symboli-
Dominanz des Klanglichen, Rhythmischen und Rhe- sche Funktion der Sprache als auch auf die kulturelle
346 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Konstruktion von Geschlecht, die über die Sprache Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.
1991 (engl. 1990).
vermittelt ist. Die feministische Literaturwissenschaft Dettmering, Peter: Dichtung und Psychoanalyse. 2 Bde. Esch-
erkannte das subversive Potential der poetischen born 1976, 1978.
Sprache, die in bestimmten Texten eine Bastion ge- Dilthey, Wilhelm: Dichterische Einbildungskraft und Wahn-
gen den Logozentrismus und die patriarchalische sinn. In: Ders.: Gesammelte Schriften VI. Leipzig/Berlin
1924, 90–102.
Herrschaft des Diskurses, gegen die Konzeption eines Ehrenzweig, Anton: The Psycho-analysis of Artistic Vision and
autonomen Subjekts und gegen feste Vorstellungen Hearing. An Introduction to a Theory of Unconscious Percep-
von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ darstellt. tion. London 1953.
Ganz offensichtlich – dies zeigen die angeführten Fairbairn, W. Ronald D.: The Ultimate Basis of Aesthetic Ex-
perience. In: British Journal of Pychology 29 (1938/39),
Beispiele – verbindet sich die psychoanalytische Lite- 167–181.
raturwissenschaft in letzter Zeit mit zahlreichen an- Felman, Shoshana: The Case of Poe. Applications/Implications
deren Ansätzen und Fragestellungen, die ihr erneut of Psychoanalysis. In: Dies.: Jacques Lacan and the Adventure
ein gesellschaftskritisches und innovatives Potential of Insight. Psychoanalysis in Contemporary Culture. Cam-
bridge/Massachusetts/London 1987, 27–51.
zueignen. Die Gendertheorien haben psychoanalyti- Fischer, Jens Malte (Hg.): Psychoanalytische Literaturinterpre-
sche Ansätze aufgenommen, sie aber von biologisti- tation. Aufsätze aus ›Imago. Zeitschrift für Anwendung der
schen und essentialistischen Elementen gereinigt. Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften‹ (1912–1937).
Durch die Verbindung mit neueren Kategorien wie Tübingen 1980.
Flaake, Karin: Psychoanalyse. In: Christina von Braun/Inge
›Fremdheit‹, ›Rasse‹, ›Klassenzugehörigkeit‹ vermö- Stephan (Hg.): Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart/
gen sie die psychologischen Phänomene etwa des Weimar 2000, 169–179.
Rassismus, des Ethnozentrismus, des Postkolonialis- Gallas, Helga: Das Textbegehren des ›Michael Kohlhaas‹. Die
mus (Bhabha 2000) und der ihnen innewohnenden Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur. Reinbek
1981.
Gewalt zu durchleuchten. Im Zusammenhang mit Gesing, Fritz: Annäherung an eine psychoanalytische Theorie
solchen Fragestellungen wird die psychoanalytische der literarischen Form. In: Freiburger literaturpsychologische
Literaturinterpretation auch zukünftig einen Ort ha- Gespräche 9 (1990), 64–91.
ben. Sie entgeht dadurch der Reduktion auf indivi- Goeppert, Herma/Sebastian Goeppert: Zum Verständnis von
Sprache und Übertragung in Becketts Endspiel. In: Bernd
dualpsychologische Theoreme oder auf eine reine Urban/Winfried Kudzus (Hg.): Psychoanalytische und psy-
Zeichentheorie, öffnet sich vielmehr neuen kultur- chopathologische Literaturinterpretation. Darmstadt 1981,
theoretischen und anthropologischen Fragestellun- 72–86.
gen und kehrt damit gewissermaßen an den Ort der Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.
1968.
Kulturtheorie zurück, den Freud der Psychoanalyse Hagestedt, Jens: Die Entzifferung des Unbewußten. Zur Herme-
von Anfang an zugedacht hatte. neutik psychoanalytischer Textinterpretation. Frankfurt a. M.
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348

7. Philosophie

Die französische Phänomenologie eine Verdopplung der physischen Natur durch eine
und die Freudsche Psychoanalyse mythologische Innenwelt zum Vorwurf macht (Wal-
denfels 1983/1987, 398 f.). Für das von ihm postu-
lierte Projekt einer »konkreten Psychologie« wendet
Die Anfänge: Politzer, Minkowski, Lacan
er sich u. a. an die Freudsche Psychoanalyse, zu der er
Die frühe philosophische Rezeption Freuds in Frank- jedoch nicht mehr als eine »ambivalente Einstellung«
reich ist eng mit der Rezeption der Phänomenologie gewinnt, die noch für die phänomenologische Tradi-
von Husserl und Heidegger verbunden, was verwun- tion der Freud-Rezeption, v. a. für Sartre und Mer-
dern mag, da weder Husserl noch Heidegger die Aus- leau-Ponty, mitprägend sein sollte (ebd., 399, 464).
einandersetzung mit der Psychoanalyse suchten. Hier Der 1885 in Sankt Petersburg in einer jüdischen
kommen als Vermittler Karl Jaspers, Max Scheler und Familie polnischer Herkunft geborene Eugène Min-
später der Husserl- und Heidegger-Rezipient Ludwig kowski gibt mit seinem 1933 veröffentlichten Haupt-
Binswanger ins Spiel, die insbesondere für all jene werk Die gelebte Zeit den nächsten Anstoß zur wei-
mit Interesse an Fragestellungen der Psychopatholo- teren philosophisch orientierten Freud-Rezeption,
gie einen phänomengesättigteren Zugang boten. und zwar in einem noch engeren Bezug zur deut-
Schelers 1912 erstmals erschienenes, 1922 stark über- schen phänomenologischen Tradition, die Minkow-
arbeitetes und erweitertes Werk Wesen und Formen ski während seines Philosophiestudiums in München
der Sympathie, das sich methodisch dem Husserl- kennengelernt hatte. Im Grunde ist das Buch eine
schen Verfahren der phänomenologischen Reduktion Untersuchung zur Psychopathologie des Raum- und
verschrieben hatte, würdigt die Freudsche Psycho- Zeitbewußtseins, und der Ausgangspunkt ist stärker
analyse als ernstzunehmenden Ansatz (z. B. Scheler von der Philosophie Bergsons, des élan personnel, als
1973, 34 f., 195), der allerdings unter einer zu genera- von der Phänomenologie geprägt. Der Psychoanalyse
listischen und unreflektiert eingesetzten Begrifflich- wird ein legitimes ›ethisches‹ Anliegen zugebilligt; sie
keit leide. Zentrale Zielscheibe dieser Kritik ist insbe- steht in der antiken Tradition des »Erkenne Dich
sondere Freuds Konzept der libido (ebd., 198 ff.). selbst«. Anstoß genommen wird nicht etwa am Be-
Scheler lehnt Freuds Beitrag am Ende als eine Spiel- griff des Unbewußten, sondern an seiner Erschöp-
art »naturalistischer Theorie« mit einer Tendenz zur fung durch eine von außen her erfolgende Deutung,
Reduktion der vielfältigen Phänomene der Liebe auf die Minkowski als »Rationalisierung« bezeichnet und
Trieb und Geschlechtsliebe ab (ebd., 175). Das Buch der er eine durch Bergson motivierte Selbstäußerung
liegt seit 1928 in französischer Übersetzung vor und des Unbewußten als »unversiegbare Quelle des Le-
wird von Minkowski, Lacan, Sartre und Merleau- bens« gegenüberstellt (Minkowski 1933/1971, 62 f.).
Ponty ebenso wie andere Werke desselben Autors Damit ist ein Interpretationsschema vorgezeichnet,
ausgiebig rezipiert; gleiches gilt für Karl Jaspers, ins- das die Psychoanalysekritik auch bei Sartre, Merleau-
besondere für seine Allgemeine Psychopathologie Ponty u. a. im Grundzug bestimmen wird: Die Psy-
(1913), die seit 1928 auf französisch zugänglich ist. choanalyse wird abgelehnt, weil sie in angeblich äu-
Für die erste ausführliche philosophische Stellung- ßerlicher, objektivierender und verdinglichender Ma-
nahme zur Psychoanalyse in französischer Sprache nier dem Subjekt den Sinn seines Tuns oder Lassens,
zeichnet der in Paris lebende gebürtige Ungar seiner Fehlhandlungen, Träume und Symptome na-
Georges Politzer verantwortlich: Er legt 1929 eine ve- hezubringen sucht und es damit eines Zugangs zu
hemente Kritik der akademischen Psychologie vor sich selbst entfremdet.
(Politzer 1929/1974), der er eine Subsumtion psy- Jacques Lacan hatte 1935 Minkowskis Buch aus-
chischer Phänomene unter abstrakte Entitäten und führlich in einer Rezension gewürdigt (Lacan gehörte
Philosophie 349

der von Minkowski mitbegründeten Gruppe Évolu- als Jean-Paul Sartre, dessen erstes großes Werk Das
tion psychiatrique an), ihm jedoch die Vernachlässi- Sein und das Nichts 1943, also noch zur Zeit der deut-
gung von Freuds genetischer Theorie vorgehalten schen Besatzung, erschien. Sartre hatte sich, nicht zu-
(Lacan 1935/1936). Sein Haupteinwand war freilich letzt befördert durch einen vierjährigen Aufenthalt in
ein ganz anderer: die Nichtbeachtung Heideggers, Berlin (1933–1937), während der 1930er Jahre zu-
insbesondere von Sein und Zeit. Zu diesem Zeitpunkt nächst ausgiebig mit dem Werk Husserls (»Husserl
hatte Lacan bereits seine eigene Rezeption der Freud- hatte mich gepackt, ich sah alles durch die Perspekti-
schen Theorie in der 1932 veröffentlichten medizini- ven seiner Philosophie [. . .] Ich war ›Husserlianer‹
schen Dissertation Über die paranoische Psychose in und sollte es auch lange bleiben«; Sartre 1983/1984b,
ihren Beziehungen zur Persönlichkeit (1975/2003) do- 267), weiter mit Heidegger sowie mit Scheler und
kumentiert. Lacan arbeitet darin eine eigenständige Jaspers befaßt. Die Einwände gegen die Freudsche
Theorie der (gesunden wie kranken) Persönlichkeit Psychoanalyse, die man erstmals 1939 in der Skizze
heraus, die er gegen das jeweilige Krankheitsver- einer Theorie der Emotionen zu lesen bekommt, lie-
ständnis und die ätiologischen Grundansätze der gen ganz auf der v. a. von Scheler und Jaspers vorge-
zeitgenössischen psychiatrischen Pathologien vertei- zeichneten Linie. Die Psychoanalyse deute einen je-
digt. Die eigentliche Bewährung erfolgt indes am Fall den »Bewußtseinszustand« als für etwas anderes ste-
Aimée, der psychiatrischen Beurteilung der Vorgänge hend, nämlich für ein von der Zensur verdrängtes
um eine alleinerziehende Angestellte, die sich schrift- Begehren; damit liege die »Bedeutung« dieses Be-
stellerisch berufen fühlt, scheitert und schließlich wußtseins in etwas, von dem das Bewußtsein selbst
eine beliebte Theaterschauspielerin mit einem Mes- nichts weiß, worin Sartre ebenso einen »flagranten
ser attackiert, was ihre zwangsweise Psychiatrisierung Widerspruch« sieht wie in der gleichzeitigen Anset-
zur Folge hat. Lacan diagnostiziert eine von ihm zung einer »Kausalitätsverbindung« und einer »Ver-
selbst so genannte Selbstbestrafungsparanoia und stehensverbindung« zur Erklärung psychischer Phä-
zeigt sich in diesem Kontext als in hohem Maße von nomene (Sartre 1982, 282 ff.). Die einzige konkrete
der Psychoanalyse angeregt. Das Spektrum der dis- Untermauerung für seine Kritik sucht Sartre nicht
kutierten Schriften reicht von den zentralen Werken etwa bei Freud, sondern in Wilhelm Stekels Buch
Freuds (v. a. den Arbeiten zur Metapsychologie und über Die Geschlechtskälte der Frau (1921), nicht wis-
zur Begründung der zweiten Topik) über die Schrif- send oder nicht beachtend, wie wenig repräsentativ
ten der wichtigsten Schüler (Abraham, Fenichel, Fe- das enfant terrible Stekel für die psychoanalytische
renczi, Rank, Simmel) bis zu den einschlägigen Un- Theorie ist (dessen Buch in französischer Überset-
tersuchungen zur Psychoanalyse des kriminellen Ver- zung freilich ein Bestseller war und bis 1945 22 Auf-
haltens. Auch wenn Lacan sehr um eine Integration lagen erreichte).
psychiatrischer und psychoanalytischer Herange- Die gegen die Psychoanalyse gerichteten Argu-
hensweisen bemüht ist und einseitige Würdigungen mente sind dieselben in Das Sein und das Nichts, aber
oder Bevorzugungen vermeidet (neben Freud werden sie gewinnen dadurch eine größere Schärfe, aber
auch Bleuler, Clérambault, Jaspers, Kretschmer und auch einen neuen Stellenwert, daß Sartre nun explizit
Kraepelin hervorgehoben), ist doch nicht zu verken- ein Alternativprojekt entwirft: eine »existentielle Psy-
nen, daß die Analyse des Falls Aimée im großen und choanalyse« (Sartre 1943/1991, 956 ff.). »Die empiri-
ganzen auf psychoanalytischem Boden steht. Gegen sche Psychoanalyse [= die Freudsche Psychoanalyse]
Lacans Intention, aber nicht ganz unbegreiflich, geht ja von dem Postulat eines unbewußten Psy-
wurde Lacans Dissertation stärker im literarisch-sur- chismus aus, der sich der Intuition des Subjekts prin-
realistischen Milieu (z. B. von Dalí) als innerhalb der zipiell entzieht. Die existentielle Psychoanalyse ver-
Psychiatrie wahrgenommen (Roudinesco 1993/1996, wirft das Postulat des Unbewußten: das psychische
102 ff.). Faktum erstreckt sich für sie auch auf das Bewußt-
sein« (ebd., 978, vgl. 983). Mit dem Unbewußten
werden zugleich Status und Funktion des Analytikers
Sartres Abwehr des Freudschen
verworfen. Sartre verwahrt sich gegen die künstliche
»Unbewußten«
Trennung mittels einer »Zensur, die wie eine Demar-
Lacan selbst erhob erst 1936, vielleicht sogar erst ab kationslinie mit Zoll, Paß- und Devisenkontrolle
1945 den Anspruch, als ein genuiner Angehöriger der usw.« wirkt (124) und die zugleich insofern einen
psychoanalytischen Gemeinschaft gehört zu werden. objektivierenden Zugriff bedeutet, als das psychische
In den Jahren des Zweiten Weltkriegs vermied er jede Faktum auf äußere »mehr oder weniger wahrschein-
öffentliche Stellungnahme oder Publikation. Anders liche Hypothesen« (125) zurückgeführt wird (etwa
350 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

dem »Ödipuskomplex«), statt dem Bewußtsein an- sche Voraussetzung, daß alles Bewußtsein »Bewußt-
heimgestellt zu bleiben. Sartre glaubt, nicht »auf die sein von etwas« ist (19), wird von Sartre zur These
Mitwirkung eines Psychoanalytikers« angewiesen zu eines »nicht-thetischen Bewußtseins« und schließlich
sein, »der als der Vermittler zwischen meinen unbe- eines »präreflexiven Cogito« gesteigert, denen gegen-
wußten Trieben und meinem bewußten Leben er- über die Annahme eines unbewußten Wissens keinen
scheint«, und er weist die Psychoanalyse sogar mit Bestand haben kann (22 f.). Entsprechend schließt
Blick auf das Projekt einer Selbstanalyse zurück, in- Sartre auch die Differenz zwischen »Wahrnehmungs-
sofern auch da noch ein Mißtrauen gegen jede »Art bewußtsein« und »Wahrnehmung«; beide sind eins
von Intuition« vorausgesetzt wird, »wenn ich von au- (ebd., 27).
ßen her auf meinen Fall abstrakte Schemata und er- Die eigentliche Rekonstruktion und Überwindung
lernte Regeln anwende« (126). Die Psychoanalyse des Freudschen Unbewußten ist jedoch der »mau-
führe eine Spaltung herbei – zwischen »Täuscher und vaise foi«, der »Unaufrichtigkeit« vorbehalten. Sartre
Getäuschtem« (124) – und ende damit bei einer beschreibt mit ihr den Grundvorgang jener Selbst-
»Lüge ohne Lügner« (126); Ziel der »existentiellen objektivierung, der auch die Prozedur einer psycho-
Psychoanalyse« ist es dagegen, »die Dualität von Täu- analytischen Behandlung überhaupt erst ermöglicht,
scher und Getäuschtem wiederherzustellen« (124). und zwar am Beispiel unserer Angst, zu der wir nicht
Weitere Nobilitierungen erfährt die »existentielle stehen: »So fliehen wir vor der Angst, indem wir ver-
Psychoanalyse« von Jaspers und von Heidegger her: suchen, uns von außen her als Anderen oder als ein
Sartre reklamiert für sich das »Verstehen« (ebd., Ding zu erfassen« (114). In einer an Heideggers Un-
960), das Jaspers vom naturwissenschaftlichen, auf eigentlichkeit/Eigentlichkeit erinnernden Argumen-
Kausalität bezogenen »Erklären« abhebt (Jaspers tation bin ich nach Sartre auch dann immer noch
1913), und zu dem er die »empirische Psychoana- meine Angst, wenn ich ihr entkommen, von ihr
lyse« und die Psychologie überhaupt in ihrer »unauf- nichts wissen will; »[. . .] wenn ich meine Angst bin,
hörlichen Jagd nach der Ursache« (962) nicht fähig um vor ihr zu fliehen, setzt das voraus, daß ich mich
sieht. Die »empirische Psychoanalyse« bleibt einem gegenüber dem, was ich bin, dezentrieren kann, daß
»vorontologische[n] grundlegende[n] Verständnis, ich die Angst sein kann in der Form, ›sie nicht zu
das der Mensch von der menschlichen Person hat« sein‹, daß ich über ein nichtendes Vermögen inner-
verhaftet (975); die »existentielle Psychoanalyse« zielt halb der Angst verfügen kann. Dieses nichtende Ver-
mittels einer »phänomenologischen Ontologie« (so mögen nichtet die Angst, insofern ich sie fliehe, und
der Untertitel des Werkes) auf die »menschliche nichtet sich selbst, insofern ich sie bin, um sie zu flie-
Wahrheit der Person« (974). »Doch was die Onto- hen. Das ist das, was man Unaufrichtigkeit [mauvaise
logie der Psychoanalyse lehren kann, ist zunächst der foi] nennt. Es geht also nicht darum, die Angst aus
wahre Ursprung der Bedeutungen der Dinge und dem Bewußtsein zu vertreiben oder sie als unbewuß-
ihre wahre Beziehung zur menschlichen-Realität« tes psychisches Phänomen zu konstituieren: sondern
(1031). Diese Wahrheit ist die menschliche Freiheit, ich kann mich ganz einfach unaufrichtig in das Er-
vor die die »existentielle Psychoanalyse« zurückzu- fassen der Angst begeben, die ich bin, und diese Un-
gehen nicht bereit ist; »die empirische Psychoanalyse aufrichtigkeit, die das Nichts, das ich mir gegenüber
dagegen behauptet, daß die primäre Affektivität des bin, ausfüllen soll, impliziert gerade dieses Nichts,
Individuums ein jungfräuliches Wachs vor dessen das durch sie aufgehoben wird« (ebd., 115 f.).
Geschichte ist« (976). »Die empirische Psychoanalyse Für Elisabeth Roudinesco ist Sartre »der erste fran-
sucht den Komplex zu bestimmen, dessen Name zösische Theoretiker, der eine wirkliche phänomeno-
schon die Polyvalenz aller sich darauf beziehenden logische Lesart des Freudschen Unbewußten vorlegt«
Bedeutungen anzeigt. Die existentielle Psychoanalyse (Roudinesco 1990, 591).
sucht die ursprüngliche Wahl zu bestimmen« (977). Allerdings ist dies nicht der einzige Berührungs-
Mit der phänomenologisch motivierten methodi- punkt von Sartres »phänomenologischer Ontologie«
schen Grundannahme, daß »nichts Ursache des Be- mit dem Freudschen Werk. Die Analysen der Angst
wußtseins ist«, daß vielmehr das Bewußtsein »Ursa- und Scham begeben sich ebenso auf genuin psycho-
che seiner eigenen Seinsweise« ist, wird auch kon- analytisches Terrain wie die Rekonstruktionen der
sequent jede Möglichkeit einer Genese des Bewußt- Einstellungen des »Masochismus« und des »Sadis-
seins »aus den Dunkelzonen des Unbewußten oder mus«. Daß es dabei zu keiner innigeren Auseinander-
des Physiologischen« zurückgewiesen (ebd., 26, vgl. setzung mit freudianischen Positionen kommt,
313). Vielmehr wird das Bewußtsein selbst zu diesem dürfte letztlich an fehlenden materialen Kenntnissen
»Nichts«. Die weitere phänomenologische methodi- Sartres liegen. Jedenfalls ist das einzige Werk eines
Philosophie 351

Psychoanalytikers, aus dem zitiert wird, auch hier Rolle zu spielen sucht; nur die Psychoanalyse kann
Stekels Die Geschlechtskälte der Frau (ebd., 131 f.). uns zeigen, wie es an dieser Rolle erstickt, wie es sie
Folglich verwundert es auch nicht, daß Sartre da, wo abzustreifen versucht oder wie es gänzlich in sie hin-
er in geschlechtlichen Fragen konkret wird und etwa einwächst.« Die gesuchte Verbindung mit dem Mar-
über das weibliche Geschlecht sinniert, sich zu einem xismus setzt aber auch sogleich der Psychoanalyse
Assoziationsbogen versteigt, der auch intellektuell in enge Grenzen: »Wie oft hat man es nicht unternom-
einen Abgrund namens Loch führt und bei dem man men, Robespierre psychoanalytisch zu untersuchen,
hart an sich halten muß, um nicht vorschnell die ohne überhaupt zu verstehen, daß die Widersprüche
Angst vor einer vagina dentata zu attestieren (ebd., in seinem Verhalten durch die objektiven Widersprü-
1047 ff.; vgl. Sartre 1983/1984, 219 ff.). Um so we- che seiner Lage bedingt waren?« (Sartre 1960/1964,
niger sollte man es als Koketterie nehmen, wenn Sar- 51). Letztlich plädiert Sartre sogar dafür, das Prinzip
tre von seinem eigenen Projekt der »existentiellen des dialektischen Widerspruchs in die Topik von Es,
Psychoanalyse« sagt: »Diese Psychoanalyse hat ihren Ich und Über-Ich einzutragen (Sartre 1960/1967, 18);
Freud noch nicht gefunden; allenfalls vermitteln ge- doch praktisch bleibt das Vorhaben folgenlos. Extrem
wisse besonders geglückte Biographien eine Ahnung kenntnisreich zeigt sich Sartre auch hier nicht.
davon« (ebd., 986). Und kündigt sofort anschließend Bei einem anderen Projekt konnte Sartre es sich
sein Flaubert-Projekt an. nicht leisten, ohne ausreichende materiale Kennt-
Andererseits darf nicht übersehen werden, daß be- nisse Position zu beziehen: 1958 wird Sartre von John
stimmte Darstellungen Sartres äußerst anregend für Huston mit der Abfassung eines Drehbuchs für einen
die Psychoanalyse waren. Das gilt besonders für die Film über die frühen Entdeckerjahre im Leben
Analyse des Blicks. Wenn Sartre als Wahrheit des Freuds beauftragt. Was Sartre schließlich abliefert,
»Den-Andern-sehens« das »Vom-Andern-gesehen- hätte für einen siebenstündigen Film gereicht; Hu-
werden« herausarbeitet, und zwar als »permanente ston und Sartre überwerfen sich. Der Film wird auf
Möglichkeit, von ihm gesehen zu werden« (ebd., der Grundlage einer umgearbeiteten Version von
464), dann ist daran nicht nur die Nähe zu einem, Sartres erstem treatment gedreht; er erweist sich als
freilich trivial aufgefaßten, Modell des Über-Ichs auf- Flop. Sartre verweigert die Nennung seines Namens
fällig, sondern auch die damit gegebene Möglichkeit im Abspann (Pontalis 1984/1993; Koch 1990; Roudi-
einer Ablösung des Blicks von konkreten schauenden nesco 1990, 597–610). Sartre zog den ersten Band der
Anderen. So manifestiert sich das Phänomen Blick Freudbiographie von Ernest Jones sowie den 1950 in
bereits im Geräusch von Schritten, im Knacken von zensierter Fassung veröffentlichten Freud-Fließ-
Zweigen, ja im Fenster eines Hauses: Daß ich es bin, Briefwechsel heran; die Dramaturgie, der er den Stoff
der diesen Blick gleichsam imaginiert, tut dem Phä- unterwarf, war allerdings die konventionelle eines
nomen keinen Abbruch (465 f.). Sartres Analyse kul- klassischen Helden der Wissenschaft, der sich im
miniert im Blick durch das Schlüsselloch und dem Ringen um die Wahrheit ebenso gegen bornierte wie
sich einstellenden Affekt der Scham beim – tatsäch- bösartige Widerstände durchzusetzen vermag. J.-B.
lichen oder vorgestellten – Ertapptwerden in dieser Pontalis sieht den Charme der Veröffentlichung des
Situation (467 ff.). Lacan hat in seiner eigenen Re- Freud-Drehbuchs denn auch mehr in dem, was es
konstruktion des Blicks als eines Objekts im psycho- über Sartre auszusagen vermag: »Ich glaube nicht
analytischen Sinne an Sartres Analyse die Dichte der [. . .], daß Sartre mit seinem Drehbuch eine origi-
Beschreibung gelobt, als ihren Mangel den Nicht-Be- nelle, persönliche ›Deutung‹ Freuds bietet. Dagegen
zug auf das Begehren des Subjekts getadelt (Lacan würde ich eher glauben, daß Freud Sartre gedeutet
1973/1978, 89 ff.; Gondek 1998; Cremonini 2003). hat [. . .]« (Pontalis 1984/1993, 25). Pontalis führt als
Sartres zweites großes Werk, die Kritik der dialekti- Beleg an, daß Sartre nach dem Abenteuer mit der
schen Vernunft, genauer, die als »Methodenkapitel« Drehbuch-Abfassung seine eigene Autobiographie
vorweg veröffentlichte Schrift Marxismus und Exi- beginnt, die in eine »Selbstanalyse« umschlägt, und
stentialismus, zeigt eine gewisse Verschiebung an, daß er zu diesem Zweck beginnt, seine eigenen
denn im Rahmen eines Freudo-Marxismus kann Sar- Träume aufzuzeichnen (ebd., 26). Roudinesco sieht
tre der Freudschen Psychoanalyse nun eine positive gar eine enge Verbindung zwischen der Unterschla-
Funktion zugestehen: »Allein die Psychoanalyse er- gung von Freuds Vaterkonflikt in Sartres Freud und
möglicht heute ein wirklich eingehendes Studium dessen eigener Behauptung, nicht wie die Anderen
der ersten Versuche, in denen ein Kind noch ganz im einem Über-Ich zu unterstehen (Roudinesco 1990,
Dunkeln tappend – ohne es zu begreifen – die ihm 607 f.): »Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel;
von den Erwachsenen auferlegte gesellschaftliche die Schuld daran soll man nicht den Menschen ge-
352 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

ben, sondern dem Band der Vaterschaft, das faul ist. Merleau-Ponty: Vom Leib zum Fleisch
[. . .] Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte mich mit
seiner ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Für den frühen Merleau-Ponty der 1940er Jahre läßt
Glücklicherweise starb er sehr früh [. . .] War es ein sich bezüglich seines Verhältnisses zur Psychoanalyse
Glück oder ein Unglück? Ich weiß es nicht; aber ich ungefähr dasselbe konstatieren wie für den Sartre
stimme gern der Deutung eines bedeutenden Psycho- derselben Phase – was nicht zu verwundern braucht,
analytikers zu: ich habe kein Über-Ich« (Sartre da Merleau-Ponty wie Sartre intellektuell mit Hus-
1965/1984a, 18). Dieser bedeutende Psychoanalytiker serl, Heidegger, Jaspers und Scheler sowie den füh-
kann Lacan mit Sicherheit nicht gewesen sein; im renden Autoren der Gestalttheorie (Goldstein, Koffka,
Gegenteil, gerade Lacan hat mit einer strukturalen Wertheimer) groß geworden ist: Die materialen
Version des Ödipus- und Kastrationskomplexes und Kenntnisse psychoanalytischer Schriften sind be-
der Konzeption eines Namen-des-Vaters als symbo- scheiden; die Abwehr wenig fundiert, aber massiv. In
lischer (von Leben und Tod unbetroffener) Vaterin- Die Struktur des Verhaltens, im Original 1942 erschie-
stanz einer solchen konkretistischen Ausflucht aus nen, wird Freud kein einziges Mal wörtlich zitiert.
dem Drama einen Riegel vorgeschoben. Vorgeworfen wird ihm dennoch der »Mißbrauch des
Sartres ebenso monumentale wie unvollendete kausalen Denkens« (1942/1976, 202), die Verwen-
Studie über Flaubert, Der Idiot der Familie (1971– dung problematischer »energetische[r] Metaphern«
1972/1977–1980), kann mit Fug und Recht als die sowie das überzogen verallgemeinerte Konzept der li-
Ausführung des Projekts der existentiellen Psycho- bido (ebd., 205). Generell vermißt Merleau-Ponty das
analyse gelten, wiewohl sich auch viele Übereinstim- Normale bei Freud – »Das Werk Freuds ist nicht eine
mungen mit dem in Frankreich gepflegten Verfahren Darstellung der menschlichen Existenz, sondern ein
der Psychokritik finden lassen (Mauron 1963). Es be- Verzeichnis von Anomalien, so häufig sie auch auf-
dürfte eingehender Analysen, um festzustellen, in- treten mögen« – und damit die Grundlage für eine
wieweit die Verwendung psychoanalytischer Begriff- Transzendierung der »Freudschen Mechanismen«
lichkeit hier noch einen Rest Freudschen Denkens (ebd.). Transzendenz wird generell zum Gegenent-
gewähren läßt – oder gar rehabilitiert – bzw. in wel- wurf zu Freuds (verkürzt aufgefaßtem) Konzept der
chem Umfang das Projekt der existentiellen Psycho- Regression (Gondek 2000, 183). Ansonsten be-
analyse es vermag, diese Begrifflichkeit in einen schränkt sich der Autor darauf, die Kritiken von Po-
neuen geschlossenen und eigenständigen Denkzu- litzer und Goldstein beifällig zu referieren.
sammenhang so zu integrieren, daß sie, einen gänz- Gegenüber dem Erstlingswerk weist die Phänome-
lich neuen Sinn annehmend, darin aufgehen. Gegen nologie der Wahrnehmung von 1945 einen klaren
Manfred Franks Mutmaßung, Sartres »eigentlicher Wechsel in der Perspektive auf: Denn nun wird der
Gesprächspartner« in diesem Werk sei Lacan (Frank Leib nicht mehr aus psychologischer Außenbetrach-
1980, 93), spricht freilich weniger dessen genau ein- tung, sondern aus der inneren Erfahrung heraus be-
malige Nennung (Sartre, Bd. 1 1971/1977, 24) als trachtet. Daß damit indes »eine intensivere Freud-
vielmehr die Tatsache, daß dessen zentralen Begriffe Auslegung spürbar« werde (Stoller 1999, 55), scheint
»Signifikant«, »Signifikat« und »Signifikation« bei- kaum belegbar. Daß Freud erstmals im Wortlaut zi-
nahe bis hin zur Parodie umgedeutet werden (ebd., tiert wird – dreimal aus zwei verschiedenen Schriften
59). (Merleau-Ponty 1945/1966, 189, 194) –, dürfte das
Die postum veröffentlichten Entwürfe für eine Mo- kaum bestätigen; denn außer einer erkennbaren Zu-
ralphilosophie bringen keine substantiell neuen Ein- stimmung zu Freuds Begriff der Überdeterminierung
sichten (vgl. z. B. Sartre 1983/2005, 347 f.). Und Sar- und einer Zurücknahme des alten »Mechanismus«-
tres Veröffentlichung des Manuskripts von dem Narr Verdikts über Freuds materiale Untersuchungen gibt
mit dem Tonbandgerät 1969 in Les Temps Modernes dies nichts her. Und das Zugeständnis einer Nähe
(1969/2001) kann man ebenso getrost als den »Tief- Freuds zu phänomenologischen Methoden wird
punkt« von »Sartres Auseinandersetzung mit der durch das Adverb »unwissentlich« klar unterlaufen
Psychoanalyse« ansehen (Cremonini 2003, 190), wie (ebd., 189). In diesem Kontext erhält auch der
man Sartres Zurückweisung der Behauptung, er habe scheinbar unvermeidliche Freud-Schüler Stekel (von
sich damit über die Psychoanalyse nicht lustig ma- Merleau-Ponty selbst als »abtrünnig« bezeichnet) sei-
chen wollen, für eine gute Illustration der »mauvaise nen Auftritt; ausgerechnet dessen Buch über Die Ge-
foi« halten kann. schlechtskälte der Frau wird als Beleg dafür genom-
men, daß es der Psychoanalyse nicht um eine »Bio-
logisierung der Psychologie«, sondern um das Auf-
Philosophie 353

zeigen einer »dialektische[n] Bewegung« gehe, in der ken Verkürzung und Verleugnung. So wird der
»die Geschlechtlichkeit wieder dem Ganzen des »Trieb« um all das gebracht, was ihn als Trieb bei
Menschseins integriert« werde (ebd., 189). Polemisch Freud auszeichnet, und stellt sich am Ende als die
formuliert, könnte man sagen, daß die auffälligste »geistige Bindung« heraus, die das Kind mit seinen
Veränderung in Merleau-Pontys Einstellung zur Psy- Eltern unterhält. »Das Wesen der Theorie Freuds be-
choanalyse in der Auswechslung der angeführten Kri- steht jedoch in dem Nachweis, daß der Mensch in
tiker besteht: An die Stelle von Politzer und Goldstein diesem Sinne keinen Sexualtrieb hat [. . .]« (Merleau-
treten nun Sartre und Binswanger (Gondek 2000, Ponty 1960, 1961/1984, 118). Ähnliches widerfährt
185 ff.). dem »proteushaften Begriff« des Unbewußten, der
Ein anderes Bild vermitteln die Vorlesungen, die sich schon bei Freud selbst anerkanntermaßen als
postum in Form von Mitschriften und Aufzeichnun- »unausgereift« dargestellt habe, und für den Mer-
gen zugänglich gemacht wurden. In den Vorlesun- leau-Ponty nach einer an Sartres Das Sein und das
gen, die Merleau-Ponty 1949–1952 am Lehrstuhl für Nichts erinnernden Argumentation die Ersetzung
Kinderpsychologie und Pädagogik an der Sorbonne durch den Ausdruck »perception ambiguë«, »doppel-
hält, werden nicht nur die Entwicklung des Ödipus- sinnige Wahrnehmung« empfiehlt (ebd., 120 f.). Das
komplexes und die Stadien der prägenitalen Sexuali- Gesetz dieser Übersetzung(sbedürftigkeit) der Psy-
tät, die Triebtheorie und die zweite Topik Freuds choanalyse und die Grundlage für das eingenom-
kompetent dargestellt, sondern auch Anna Freud mene vormundschaftliche Verhältnis formuliert Mer-
und Melanie Klein mit ihren jeweiligen Ansätzen zur leau-Ponty in seinem »Vorwort« zu Angelo Hesnards
Psychoanalyse des Kindes, Jacques Lacan mit seiner L’Œuvre de Freud et son importance pour le monde
Theorie des Spiegelstadiums und dem Enzyklopädie- moderne von 1960. Es gilt, »die Psychoanalyse von
Aufsatz von 1938 über die Familie (Lacan 1938/1980) der szientistischen oder objektivistischen Ideologie
sowie namhafte Vertreter der zweiten und dritten Ge- [zu] trennen, das Freudsche Unbewußte als ein ar-
neration nach Freud (Erikson, Glover, Lagache, O. chaisches oder primordiales Bewußtsein an[zu]se-
Mannoni usw.) kommen zu Wort. Die Darstellung ist hen, das Verdrängte als einen Erfahrungsbereich, den
frei von jeder Polemik, in der Sache geht es um einen wir nicht integriert haben« usw.; kurzum: »Die Phä-
Theorievergleich mit psychologischen Ansätzen. So nomenologie stellt hier der Psychoanalyse Kategorien
wird etwa Lacans Spiegelstadium mit den psycholo- und Ausdrucksmittel zur Verfügung, deren sie be-
gischen Überlegungen Henri Wallons zum Verhalten darf, um ganz sie selbst zu sein« (Merleau-Ponty
des Kleinkindes gegenüber dem Spiegel konfrontiert, 1960/2000b, 325). Eine Alternative wäre, »Freud wie
und Merleau-Ponty arbeitet sehr präzise den Zuge- einen Klassiker lesen zu lernen«; in dem Fall wäre es
winn der Lacanschen Version heraus (Merleau-Ponty angebracht, das Unbewußte »weiterhin das Unbe-
1995/2000a, 324 f.). Merleau-Ponty unterscheidet wußte zu nennen – unter der Bedingung allerdings,
zwischen einer »Psychoanalyse im engeren Sinne« daß man weiß, daß dieses Wort auf ein Rätsel ver-
und einer »im weiteren Sinne«: Zur ersten Kategorie weist« (ebd., 330). Pontalis stellt zu Recht fest, daß
zählt er Freuds Werk mit seiner Theorie der infanti- Merleau-Ponty Freud sehr selektiv wahrgenommen
len Sexualität (die allerdings noch die Sexualität des habe, mit klaren Vorlieben für jene Passagen, in de-
Erwachsenen prägt) und der Hypothese des Unbe- nen Freud am phänomenologischsten erschien (etwa
wußten, zur zweiten sollen die Arbeiten von Politzer, mit dem sehr allgemeinen Sinnbegriff der Traumdeu-
Bachelard (der freilich mehr von Jungs Archetypen- tung oder in dem in archäologischer Metaphorik
lehre beeinflußt war), Sartre (die existentielle Psy- schwelgenden Text über Jensens Gradiva [GW VII,
choanalyse) und schließlich Lacan mit seinem Artikel 29–125]), daß aber das Freudsche Unbewußte als ei-
über Die Familie (der in der Tat einen Ausflug in die genes System, und zwar als ein System des (unbe-
Ethnologie/Soziologie der Familie beinhaltet) gehö- wußten) Denkens, für Merleau-Ponty stets ein Stein
ren (Merleau-Ponty 1995/2000a, 108). des Anstoßes blieb (Pontalis 1965/1974, 72 ff.). Die
Der vielversprechende Ansatz der Sorbonne-Vor- 2003 veröffentlichten Notizen der Vorlesung über
lesungen wird von Merleau-Pontys einschlägigen Passivität, auf die sich Pontalis stützt, bestätigen dies
Aufsätzen aus den 1950er Jahren nur bedingt einge- vollkommen (Merleau-Ponty 2003, 202 f., 220 f.).
löst. So reiht der Vortrag von 1951, »Der Mensch und Einen weiteren Schritt der Annäherung an die
die Widersetzlichkeit der Dinge«, zwar Freud in die Freudsche Psychoanalyse findet man – in Spuren – in
Phalanx der wesentlichen Autoren der ersten Hälfte den postum veröffentlichten Schriften. Das unter
des 20. Jh.s ein – neben Gide, Valéry, Proust, Husserl dem Titel Das Sichtbare und das Unsichtbare veröf-
und Heidegger –, allerdings um den Preis einer star- fentlichte unabgeschlossene Manuskript plus Ar-
354 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

beitsnotizen zeigt den Phänomenologen bei der Aus- einer »ontologische[n] Psychoanalyse« (338) Merleau-
arbeitung eines Unternehmens, das er selbst als »On- Ponty in seinem Verhältnis zur Freudschen Psycho-
tologie des Inneren« (Merleau-Ponty 1964/1986, analyse noch geführt hätte. Den Bemühungen um
299) oder »Intra-Ontologie« (ebd., 288) bezeichnet. eine strukturalistische Reformulierung der Beziehun-
Es steht nicht länger die aktive Erfahrung der Wahr- gen von Sprache und Psyche hat sich Merleau-Ponty
nehmung in ihren den Leib bestimmenden Qualitä- versagt – trotz seiner Freundschaft mit Jacques Lacan
ten im Zentrum, sondern ihr vorausgehend die onto- (vgl. Lévi-Strauss/Eribon 1988/1989, 112 f.). Das hat
logische Rekonstruktion jener quasi infrastrukturel- Lacan mitnichten daran gehindert, das Erscheinen
len Beziehungen, die Berühren und Berührbarkeit, von Das Sichtbare und das Unsichtbare in seinem Se-
Sehen und Sichtbarkeit usw. zueinander verhalten. Es minar 1964 ausführlich zu würdigen und auf dieser
geht Merleau-Ponty um das Aufdecken einer »Zwi- Folie seine eigene Auffassung vom Sehen, vom Sicht-
schenleiblichkeit« (ebd., 185), eines »Fleisches der baren und vom Blick zu entwickeln (1973/1978, 77;
Welt« (181 f.), das als »Stoff« oder »Element« für Baas 1998).
übergreifende Beziehungen zwischen Sichtbarem
und Sehendem, Berührbarem und Berührendem
Paul Ricœur: Archäologie des Subjekts
herhalten kann, die Merleau-Ponty als Überlappung,
und Teleologie des Bewußtseins
Verflechtung, Höhlung, Einrollung, ja als »Einfal-
tung«, »Einstülpung« (199) und »Reversibilität« Paul Ricœur ist der erste unter den französischen
(187 ff., 201 ff., 330 f.) beschreibt: z. B. das Sehende Phänomenologen, der sich auf das Unternehmen ei-
als Ausstülpung des Sichtbaren, als eine aus dem ner Gesamtdeutung der Freudschen Theorie einläßt.
Sichtbaren hervorgehende »Selbst«bezüglichkeit. Bereits 1950 hatte er in Le Volontaire et l’Involontaire,
Folglich ist der (menschliche) Leib selbst von diesem dem ersten einer auf drei Bände geplanten Philoso-
»Fleisch der Welt« her zu denken und nicht umge- phie des Willens, die Auseinandersetzung mit der Psy-
kehrt. choanalyse gesucht; doch hier war das Resultat noch
Für diese »Philosophie des Fleisches« reklamiert eine massive Ablehnung, da die Psychoanalyse auf-
Merleau-Ponty als Vorläufer die Freudsche Psycho- grund ihrer »mechanistischen« Auffassung und dem
analyse (ebd., 335, 338): »Die Philosophie von Freud daraus resultierenden »Realismus« des Unbewußten
ist also nicht Philosophie des Körpers, sondern Phi- keinen wertvollen Beitrag zu der von Ricœur ange-
losophie des Fleisches – Das Es, das Unbewußte, – strebten Philosophie des Willens als Philosophie der
und das Ich (Korrelate) vom Fleisch aus zu begreifen Freiheit leisten könne: Sie verschaffe nicht nur keinen
[. . .]« (ebd., 338 f., vgl. 335). Es ist nicht immer ganz oder bloß einen reduktiven Zugang zu den höheren
klar, in welchem Maße entweder die frühkindlichen, Kulturleistungen, sondern führe auch wegen ihrer
zu einem guten Teil phantasmatisch geprägten Bezie- »Vorliebe für Abstiege in die Unterwelten« außerhalb
hungen des kleinen Kindes zum mütterlichen Leib, ihres therapeutischen Wirkens zur kulturellen Er-
wie bei Melanie Klein beschrieben, oder die Bezie- niedrigung (Ricœur 1950, 352 ff.; Waldenfels 1983/
hungen zu den Elementen gemeint sind, über die 1987, 285 f.; Welsen 1986, 20 ff.).
sich Gaston Bachelard seine Gedanken gemacht hat Die im Gegensatz zwischen einem Realismus des
(Bachelard 1938/1959; 1957/1975; 1960). Das gilt Unbewußten und einem Idealismus des Bewußtseins
selbst noch für die konkreten Bezugnahmen, etwa verwirklichte Frontstellung sollte auch die spätere
auf die Analyse des Wolfsmanns (die sich generell un- Beschäftigung mit Freud prägen – nur daß Ricœur
ter Phänomenologen großer Beliebtheit erfreut) und nun die einseitige Zuordnung aufgibt, die Polarität
der »Assoziationen«, die vom Schmetterling zur ins Freudsche Werk hineinversetzt und sich darauf
Birne und zur Amme Gruscha führen bzw. der Asso- beschränkt, das unzureichend ausgeprägte Moment
ziation der Espe [(W)espe] mit den Initialen des Pa- des Bewußtseins bzw. des Geistes gegen die herkömm-
tienten (S. P.) (GW XII, 27–157): Diese »sind in liche Freud-Deutung stärker zu machen. Das ist die
Wirklichkeit ›Strahlen‹ der Zeit und der Welt« (Mer- Ausgangslage der großen Freud-Interpretation, die
leau-Ponty 1964/1986, 303), und das »Unglaubliche« Ricœur 1965 unter dem Titel Die Interpretation. Ein
der Freudschen Analysen rührt daher, daß man sie Versuch über Freud vorlegt. Das Werk besteht aus drei
fälschlicherweise »in einem Denker realisiert«; indes: »Büchern«: einer Problematik oder Exposition von
»Alles spielt sich im nicht-konventionellen Denken »Freuds Situation«, einer Analytik oder »Freud-Lek-
ab« (ebd., 304). türe«, die eine ungemein material- und kenntnisrei-
Man kann nicht abschließend beurteilen, wohin che Untersuchung zentraler Texte des Freudschen
das durch den frühen Tod unterbrochene Vorhaben Werks und der Sekundärliteratur enthält, und einer
Philosophie 355

Dialektik, worunter der Autor eine »philosophische den Strang einer »Archäologie des Subjekts« bestens
Freud-Interpretation« versteht. Freuds Situation sieht ausgeführt habe, sei der Strang einer »Teleologie des
Ricœur durch den »Streit der Interpretationen« ge- Bewußtseins« vernachlässigt worden. Ricœur zeigt
prägt, in dem sich etwa eine »Phänomenologie der das, gut nachvollziehbar, an bestimmten Ambivalen-
Religion«, die auf eine »Remystifizierung der Rede zen und Leerstellen in der Theorie der Identifizie-
(discours)« abhebt, und eben die Psychoanalyse als rung und der Sublimierung. Freuds eigene Beschrei-
eine »Entmystifizierung der Rede« gegenüberstehen bung dreier Formen der Identifizierung stützt sich
(Ricœur 1965/1974, 55). Streitpunkt ist insbesondere implizit auf eine Unterscheidung zwischen einem
das Verständnis des Symbols, das entweder als Ent- Wunsch, zu sein wie und einem Wunsch zu haben;
stellung eines verborgenen und gar nicht heiligen doch der Wunsch zu sein wie wird nur vermeintlich
Sinns oder aber als Offenbarung eines tiefen mensch- aus dem Wunsch zu haben hergeleitet (490 ff.).
lichen Sinns gelesen werden kann. Freud rückt so in Und Freuds Theorie der Sublimierung krankt
eine Reihe mit Marx und Nietzsche als Vertreter einer daran, daß sie zwar die Quelle der Triebkräfte be-
»Schule des Zweifels« oder Argwohns (ebd., 46). nennen kann, aus denen sich die Sublimierung
Aber Ricœur liest Freud mitnichten nur unter ei- speist, aber nichts über die Richtung und die ethische
ner hermeneutischen Perspektive. Vielmehr baut er Qualität des Sublimierungsvorgangs zu sagen weiß
sich eine geschickte Konstruktion auf, die es ihm er- (495 ff.). Ricœur liest diese spezifischen Schwierigkei-
möglicht, weit tiefer in die Freudsche Problematik ten, in die Freud sich bringt, im Interesse, an ihnen
einzudringen, ohne dafür gänzlich seinen phänome- aufzuzeigen, wie sich bei Freud »eine thematische Ar-
nologisch-hermeneutischen Boden aufzugeben: Er chäologie des Unbewußten mit einer nicht themati-
rekonstruiert den Freudschen Diskurs als einen »ge- sierten Teleologie des ›Bewußtwerdens‹ (verbindet)«
mischten, ja ambigen Diskurs« (79), und das nicht (472).
nur im Sinne des Zwiespalts im Symbolbegriff, son- Man kann sich natürlich fragen, ob Hegels Phäno-
dern in einer Spannung, die sich als ein »offenbares menologie des Geistes als »teleologische Dialektik«
Dilemma« darstellen wird: »[. . .] die Psychoanalyse (477) der Praxis der Psychoanalyse jene Prozessuali-
wird uns abwechselnd als die Erklärung psychischer tät eintragen kann, die ihr nach Ricœur angeblich
Phänomene durch Kräftekonflikte erscheinen, folg- fehlt. Hier stößt der Philosoph sicherlich an Grenzen
lich als Energetik, und als die Exegese des manifesten seiner Kompetenz. Dennoch kann man seinen »Ver-
Sinns durch einen latenten Sinn, folglich als Herme- such über Freud« mitnichten einfach abtun. Erstaun-
neutik« (76). Es geht darum, die angemessene Bewe- licherweise sind genau die Philosophen, auf die er
gungsform zu finden: »[. . .] die Aufgabe [. . .] wird sich in seiner Initiative stützt – neben Hegel vor al-
darin bestehen, die Kluft der beiden Diskursordnun- lem Spinoza – auch bei Lacan, zumindest im Werk
gen zu übersteigen und den Punkt zu erreichen, an der 1950er und frühen 1960er Jahre, ähnlich präsent.
dem zu begreifen ist, daß die Energetik durch eine Der Unterschied ist vielleicht geringer, als es die Be-
Hermeneutik hindurchgeht und daß die Hermeneutik griffstitel »Dialektik des Bewußtseins« und »Dialek-
eine Energetik entdeckt« (79). So steht etwa der tik des Begehrens« vermuten lassen, und wäre auf
Traum, wie Freud ihn analysiert und deutet, »zwi- jeden Fall eine nähere Auslotung wert.
schen Sinn und Kraft« – zu ersterem zieht ihn sein Ricœur ist im weiteren Verlauf seiner Auseinander-
Erzählcharakter, zu letzterem zielt ihn sein Bezug setzung mit dem »Streit der Interpretationen« noch
zum »Wunsch« bzw. Begehren, das Ricœur in eine des öfteren präzisierend, erweiternd und verteidigend
Reihe mit Spinozas conatus, Leibniz’ appetitus und auf seine Freud-Interpretation eingegangen (Ricœur
Nietzsches Willen zur Macht stellt (104). 1969a/1973; 1969b/1974). In seiner späteren Erzähl-
Eine zentrale Schwäche, die Ricœur bei Freud er- theorie (Ricœur 1983–1985/1988–1991) oder in sei-
kennt, ist die Abstraktheit (insbesondere) der (er- nem Alterswerk über Geschichte und Gedächtnis
sten) Topik. Ricœur führt das auf eine »solipsisti- (Ricœur 2000/2004) spielen Freud oder die Psycho-
sche« Grundanlage bzw. das Fehlen einer Theorie der analyse kaum mehr eine Rolle.
Intersubjektivität bei Freud zurück (75). Dies gilt vor
allem für die theoretische Konzeption der psycho-
Ausblick auf die neuere französische
analytischen Praxis, die nach Ricœur nur als ein Vor-
Phänomenologie
gang zwischen zwei Bewußtseinen gedacht werden
kann. Und so bildet die Hegelsche Phänomenologie Der für die französische Phänomenologie äußerst
des Geistes die Folie für eine bedeutsame Ergänzung wichtige jüdische Denker Emmanuel Lévinas hat
der Freudschen Theorie: Während Freud vor allem selbst keinen über Andeutungen hinausgehenden Be-
356 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

zug auf die Freudsche Psychoanalyse genommen. Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer
Ethik. München 1998, 197–217.
Dennoch hat seine Konzeption eines (metaphysi- –: Das traumatisierte Subjekt. In: Matthias Fischer/Hans-Die-
schen) Begehrens und einer Ethik des Anderen als ter Gondek/Burkhard Liebsch (Hg.): Vernunft im Zeichen
anderen Menschen, der mich ethisch immer schon des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels.
angeht, bevor ich überhaupt selbst als Ich initiativ Frankfurt a. M. 2001, 225–252.
Cabestan, Philippe: Sartre und Lévinas: Die Frage des Subjekts.
werde, Interpretationen provoziert, die eine gewisse In: Thomas Bedorf/Andreas Cremonini (Hg.): Verfehlte Be-
Nähe zu Freud und/oder Lacan zu erkennen glaub- gegnung. Lévinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen.
ten. Vor allem mit seinem zweiten Hauptwerk, Jen- München 2005, 123–137.
seits des Seins, hatte Lévinas durch die Verwendung Cremonini, Andreas: Die Durchquerung des Cogito. Lacan con-
tra Sartre. München 2003.
psychopathologisch besetzter Termini wie ›Verfol- Frank, Manfred: Das Individuum in der Rolle des Idioten. Die
gung‹, ›Trauma‹ und ›Psychose‹ solchen Überlegun- hermeneutische Konzeption des Flaubert. In: Traugott Kö-
gen Vorschub geleistet (Lévinas 1961/1987, 1974/ nig (Hg.): Sartres Flaubert lesen. Essay zu Der Idiot der Fami-
1992; Weber 1990; Schneider 1991; Gondek 1992; As- lie. Reinbek 1980, 84–108.
Gondek, Hans-Dieter: Cogito und Séparation – Lacan/Lévinas.
soun 1993). Auch Michel Henry, der sich in einer In: Fragmente 38/39 (1992), 43–76.
Vielzahl von Werken darum bemüht, die Phänome- –: Der Blick – zwischen Sartre und Lacan. In: RISS 1 (1998),
nologie auf eine »Selbstbewegung« und »Selbstaffek- 175–196.
tivität« des Lebens zu gründen, hat in seiner Généa- –: Der Leib, das Unbewußte und das Fleisch. Merleau-Ponty
und die Psychoanalyse. In: Regula Giuliani (Hg.): Merleau-
logie de la psychanalyse die Freudschen Grundbegriffe Ponty und die Kulturwissenschaften. München 2000,
entsprechend zu rekonstruieren versucht (Henry 178–198.
1985). Harasym, Sarah (Hg.): Lévinas and Lacan. The Missed Encoun-
Der Merleau-Ponty nahestehende Alphonse de ter. Albany 1998.
Henry, Michel: Généalogie de la Psychanalyse. Le commence-
Waelhens hat allen Vorbehalten gegen die Freudsche ment perdu. Paris 1985.
Auffassung vom Unbewußten zum Trotz u. a. ein –: Ricœur et Freud: entre psychanalyse et phénoménologie.
Buch über Die Psychose (1972) geschrieben, in dem In: Jean Greisch/Richard Kearnay (Hg.): Paul Ricœur. Les
neben daseinsanalytischen Ansätzen auch solche der Métamorphoses de la raison herméneutique. Paris 1991,
127–143.
Psychoanalyse, darunter Lacan, ausführlich disku- Hodard, Philippe: Sartre. Entre Marx et Freud. Paris 1979.
tiert werden. Unter den jüngeren Autoren ist neben Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913.
Rudolf Bernet, der sich in diversen Arbeiten von der Juranville, Alain: La philosophie comme savoir de l’existence.
Husserlschen Phänomenologie her der Freudschen 3 Bde. Paris 2000.
–: Der Andere und das Wissen. In: Thomas Bedorf/Andreas
und Lacanschen Psychoanalyse nähert (Bernet 1998, Cremonini (Hg.): Verfehlte Begegnung. Lévinas und Sartre
2001), vor allem Marc Richir zu nennen. Phénoméno- als philosophische Zeitgenossen. München 2005, 139–163.
logie et institution symbolique (1988) läßt sich explizit Koch, Gertrud: Sartre projette Freud sur l’écran. In: Les Temps
von Freuds Wiederholungszwang und Todestrieb und modernes 4 (1990), 569–588.
Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Bezie-
deren spezifisch Lacanschen Variationen anregen (Ri- hungen zur Persönlichkeit. Wien 2003 (frz. [1932] 1975).
chir 1988). Phénoménologie en esquisses (2000) bietet –: Rezension von E. Minkowskis Le temps vécu. Études phéno-
eine phänomenologische Rekonstruktion des Freud- menologiques. In: Recherches philosophiques 5 (1935/36),
schen Primärvorgangs an. Und die Hinwendung zu 424–431.
–: Die Familie. In: Schriften III. Olten/Freiburg i.Br. 1980,
den Grundproblemen der Psychopathologie im jüng- 39–100 (frz. 1938).
sten Werk des Autors, Phantasia, imagination, affec- –: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Olten/Freiburg
tivité (2004), wird von einem von Husserl her ausge- i.Br. 1978 (frz. 1973).
arbeiteten Begriff von Einbildung und Phantasie mit Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Freiburg/
München 1987 (frz. 1961).
Hilfe von Freud und Binswanger in Angriff genom- –: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/
men. München 1992 (frz. 1974).
Lévi-Strauss, Claude/Didier Eribon: Das Nahe und das Ferne.
Literatur Frankfurt a. M. 1989 (frz. 1988).
Assoun, Paul-Laurent: Le sujet et l’autre chez Lévinas et Lacan. Mauron, Charles: Des métaphores obsédantes au mythe person-
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Philosophie 357

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Person und Werk von Jacques Lacan im Kontext der
–: Phantasia, imagination, affectivité. Grenoble 2004. philosophischen Beschäftigung mit Freud in Frank-
Ricœur, Paul: Le volontaire et l’involontaire. Paris 1950. reich zu diskutieren, ist problematisch. Seinem
–: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud [1969]. Frankfurt Selbstverständnis als praktizierender Psychoanalyti-
a. M. 1974 (frz. 1965).
–: Hermeneutik und Strukturalismus. München 1973 (frz.
ker, der sich in Theorie und Praxis stets als Freudia-
1969a). ner verstanden hat, wird man damit keineswegs ge-
–: Hermeneutik und Psychoanalyse. München 1974 (frz. recht. Andererseits hat Lacan unbestreitbar die
1969b). Freudsche Psychoanalyse massiv und gezielt in einer
–: Zeit und Erzählung. 3 Bde. München 1988–91 (frz.
1983–85).
Weise reformuliert, daß sie für die philosophischen
–: Gedächtnis Geschichte Vergessen. München 2004 (frz. und geisteswissenschaftlichen Theoriedebatten der
2000). 1950er bis 1980er Jahre anschlußfähig und selbst be-
Roudinesco, Elisabeth: Sartre lecteur de Freud. In: Les Temps fruchtend wurde; so hat auch die Lacan-Rezeption
modernes 4 (1990), 589–613.
–: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines
zumindest in der frühen Phase vor allem in den Gei-
Denksystems. Köln 1996 (frz. 1993). steswissenschaften stattgefunden (Gondek/Schmid/
Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Es- Widmer 1996). Zudem hat sich Lacan mit nahezu
says 1931-1939. Reinbek 1982a. allen anderen hier diskutierten Denkern auseinan-
–: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbil-
dungskraft. Reinbek 1971 (frz. 1940).
dergesetzt; mit einigen war er befreundet (Roman Ja-
–: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen kobson, Claude Lévi-Strauss, Maurice Merleau-
Ontologie. Reinbek 1991 (frz. 1943). Ponty).
–: Saint Genet, Komödiant und Märtyrer. Reinbek 1982b (frz. Für Lacans Reformulierung der Freudschen Psy-
1952).
–: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik.
choanalyse lassen sich (die frühe Phase der Aneig-
Reinbek 1964 (frz. 1960). nung der Psychoanalyse – 1930–1939 – bleibt hier
–: Kritik der dialektischen Vernunft. 1. Band: Theorie der gesell- ausgeklammert) summarisch drei Phasen unterschei-
schaftlichen Praxis. Reinbek 1967 (frz. 1960). den, die sich allerdings mehr nach äußeren Parame-
–: Die Wörter [1968]. Reinbek 1984a (frz. 1965).
–: Der Idiot der Familie. 5 Bde. Reinbek 1977–1980 (Paris
tern richten, als daß sich intern zwingend eine solche
1971–1972). Untergliederung abzeichnet: die Neubegründung der
–: Tagebücher. November 1939 – März 1940. Reinbek 1984b Psychoanalyse als strukturale Theorie (1945–1963);
(frz. 1983). die Theorien der Sexuierung und der Subjektivierung
–: Entwürfe für eine Moralphilosophie. Reinbek 2005 (frz.
1983).
(1964–1973); die späten Versuche der Formalisierung
–: Freud. Das Drehbuch. Reinbek 1993 (frz. 1984). (1974–1979).
–: Der Narr mit dem Tonband oder Die psychoanalysierte
Psychoanalyse. In: Peter Knopp/Vincent von Wroblewsky
(Hg.): Jean-Paul Sartre. Carnets 2000. Berlin/Wien 2001,
131–147 (frz. 1969).
358 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Die Jahre 1945–1953 Signifikantmachens innerhalb der Übertragung –


und damit Lacans unorthodoxer, scheinbar willkür-
Die erste Phase von Lacans Durcharbeitung und Re- licher Umgang mit der Sitzungsdauer, der ihm
formulierung des Freudschen Werkes setzt systema- ständige Schwierigkeiten einbrachte bis hin zum
tisch im Jahr 1953 ein, als nach der Spaltung der So- schließlichen Bruch mit der Internationalen Psycho-
ciété psychanalytique de Paris (SPP) Lacan als führen- analytischen Vereinigung 1963 (Roudinesco 1986,
der, für die Ausbildung zuständiger Vertreter der neu 288–377).
gegründeten Société française de psychanalyse (SFP) Man hat das »Sophisma« von den drei Gefangenen
sein bislang seit 1951 privat betriebenes Seminar zum zeitgeschichtlich mit Blick auf die Befreiung Frank-
offiziellen Ausbildungsseminar umwidmet und zu- reichs von der deutschen Besatzung gedeutet, aber
dem durch zwei wegweisende Vorträge seine Position auch auf den psychoanalytischen Prozeß bezogen so-
als Erneuerer der Psychoanalyse geltend macht. Die- wie als Replik auf Sartres Mystifizierung der indivi-
ser institutionellen wie theoretischen Zäsur gehen duellen Freiheit gelesen (Roudinesco 1993/1996,
(neben weiteren) zwei Texte voraus, deren Wirkung 271–274). Ausholendere Werkinterpretationen haben
sich durch das weitere Werk hindurchzieht und die die Wirkung dieses Theorems bis hin zu den späten
selbst dabei immer wieder neue Einbindungen und Analysen der Subjektivierung und Sexuierung ver-
Überarbeitungen erfahren. folgt (Porge 1989; Gondek 1997; Langlitz 2005,
Für sich genommen scheint der 1945 unmittelbar 62–70; Bergande 2006). Es läßt sich daran auch ein
nach der Befreiung veröffentlichte Text über Die logi- Interesse an spieltheoretischen Erwägungen ablesen,
sche Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit das Lacan mit Claude Lévi-Strauss teilt, der noch an-
(1966/1980a – Lacans erste öffentliche Wortmeldung ders anregend auf ihn wirkt.
seit 1938) eher einen Ausflug in die gehobene Kultur Der zweite wesentliche Text aus der Zeit vor 1953
intellektueller Rätsellust darzustellen. Ein Gefängnis- ist der 1949 gehaltene Vortrag über Das Spiegelsta-
direktor verspricht jedem von drei Gefangenen die dium als Bildner der Ichfunktion (Lacan 1966/1973a),
Freiheit, wenn dieser auf logisch schlüssige Weise – der eine bis in die 1930er Jahre reichende Vorge-
und nicht nach Wahrscheinlichkeitserwägungen! – schichte hat. Das kleine Kind zeigt im Alter zwischen
darlegen kann, welche Farbe die Scheibe hat, die für 6 und 18 Monaten einen plötzlichen Gestaltwandel
ihn selbst unsichtbar auf seinem Rücken angebracht in seiner Reaktion auf sein Spiegelbild: Es nimmt die-
ist: Zur Verfügung stehen drei weiße und zwei ses in einer jubilatorischen Geste auf. Lacan greift die
schwarze Scheiben. Es stellt sich heraus, daß alle drei Beobachtungen und auch für sich beachtenswerten
Gefangenen gleichzeitig bei dem Direktor vorstellig psychologischen Interpretationen dieses Vorgangs
werden und darlegen können, daß sie eine weiße durch Henri Wallon (1934) auf, gibt ihnen aber ei-
Scheibe auf dem Rücken tragen: Dies ist der einzige nen anderen Stellenwert, indem er den gesamten
hinreichend komplexe Fall, bei dem ausgeschlossen Vorgang als Stiftung des Ichideals aus dem Spiegel-
ist, daß es einen gibt, der sofort evident erkennen bild begreift: Was dem kleinen Kind als solches ge-
kann, daß er weiß sein muß, weil er zwei mit schwar- genübertritt, ist das Bild einer Ganzheit und Ge-
zen Scheiben auf dem Rücken sieht, oder der er- schlossenheit an Gestalt, die es selbst innerlich weder
kennt, daß er weiß sein muß, weil der eine mit der von seiner eigenen motorischen Beherrschung her
weißen Scheibe nicht sofort losläuft, obwohl der noch in seiner triebmäßigen Zerrissenheit »intero-
dritte, den er selber sieht, schwarz ist. Im strengen zeptiv« verifizieren kann. Das Spiegelstadium ist der
Sinne ›logisch‹ ist die gegebene Erklärung freilich Startpunkt einer »asymptotischen« Annäherung, die
nicht: Sie muß Bezug nehmen auf ein zweimaliges aber niemals zu einer vollständigen Schließung der
Innehalten der drei Subjekte im Prozeß der Selbst- Kluft führen wird. Der Vorrang des Imaginären in
vergewisserung, oder, in Lacans Worten: Was nicht der Herstellung des Ichs kompensiert die für den
im Augenblick eines Blicks erfahrbar ist, braucht eine Menschen typische »Vorzeitigkeit der Geburt«, be-
Zeit zu begreifen und schließlich zu seiner Versiche- stärkt aber auch die dem Ich eigene »Verkennung«.
rung einen Moment des Schließens. Keine Logik, kein
Werden einer Gewißheit ohne Zeit (was eine Revolu-
1953 und die Folgen.
tionierung des Verständnisses von Logik bedeutet),
Lacan und die Philosophie
was aber auch einen Ausblick auf die spezifische
praktische Arbeit Lacans mit der Zeit im psychoana- Der eigentliche Beginn der spezifischen Umarbeitung
lytischen Prozeß erlaubt: der »Skansion« genannte der Freudschen Psychoanalyse durch Lacan fällt aber
Abbruch der Sitzung zum Zwecke der Betonung, des in das Jahr 1953. Am 8. Juli 1953 spricht Lacan vor
Philosophie 359

der neugegründeten SFP über Das Symbolische, das Die erste Anknüpfung ist die an die Sprachwissen-
Imaginäre und das Reale (2005b). Die Psychoanalyse schaften, und zwar analog der Art und Weise, wie
»heilt« den »Patienten« nicht dadurch, daß sie ihm Claude Lévi-Strauss in seinem Entwurf zu einer
seine Einbildungen – Produkte eines aus der Bahn Strukturalen Anthropologie und seiner Reformulie-
geworfenen Imaginären – austreibt und ihn so zu ei- rung des Inzestverbots als in Verwandtschaftsbezie-
nem adäquaten Verhältnis zur Realität zurückführt. hungen niedergelegtes kulturstiftendes Gesetz auf die
Für Lacan ist ein solches Verständnis psychothera- Linguistik Saussures und ihre Grundbegriffe zurück-
peutischer Intervention »human engineering«, wobei gegriffen hat (Lévi-Strauss 1958/1967; 1947/1981).
der Grundfehler bereits in einem instrumentellen Man kann Lacans Unternehmen zunächst einmal als
Mißverständnis der Sprache liegt – generell theore- die entsprechende Parallelkonzeption für das Feld
tisch, aber vor allem in ihrer Funktion als Medium der Psychoanalyse ansehen (Zafiropoulis 2003a).
der praktizierten Psychoanalyse. Nach Lacan ist die Dazu gehört auch das Interesse an Kybernetik, Sto-
Sprache als privilegierter Zugang zum Symbolischen chastik, Wahrscheinlichkeits- und Spieltheorie. Ins-
zu verstehen; sie eröffnet eine auf Wahrheit, wechsel- besondere in den frühen 1950er Jahren bemüht sich
seitige Anerkennung und intersubjektive Ordnung Lacan, mithilfe sog. Markow-Ketten Effekte unbe-
abhebende Überwindung imaginärer Verhaftungen wußter Determination zu erklären (Lacan 1966/
und quälender Wiederholungen eines unabgegolte- 1973c, 44 ff.; 1977/1980c, 227 ff.; Charraud 1997;
nen Realen. Schmidgen 1997). Von Saussure übernimmt Lacan
Ziel der Analyse ist nicht die Wiederherstellung ei- die zentralen Begriffspaare (langue/parole [Sprache/
ner an einer äußeren Norm bemessenen geistigen Sprechen], signifiant/signifié, synchronisch/diachro-
Gesundheit oder die Erlangung eines entsprechenden nisch) (Saussure 1916), verleiht ihnen allerdings,
Wohlgefühls, sondern das gemeinsame Erreichen ei- zentriert auf die Theorie des Unbewußten, einen ra-
ner Wahrheit des Subjekts, mag diese seiner Gesund- dikal anderen Sinn. Während bei Saussure Signifi-
heit auch abträglicher sein als der gegenwärtige Zu- kant und Signifikat analytisch-methodische Abstrak-
stand. Eine Instrumentalisierung der Psychoanalyse tionen am Grundkonzept des als ihre Einheit ver-
zu äußerlich gesetzten Zwecken gibt es nicht: Wer standenen Zeichens (signe) darstellen, behauptet
eine Psychoanalyse beginnt, weil er seine Ehe retten Lacan eine Autonomie des Signifikanten, zu dem es
will, wird in Kauf nehmen müssen, daß sich ihm eine kein adäquates Signifikat gibt, als Elementareinheit
Wahrheit erweist, die genau diese Ehe endgültig für die Positivität unbewußter Sinnwirkungen (Gon-
sprengt. Vielmehr ist dieser Wunsch bereits Sym- dek 2001, 151 ff.; Khurana 2003). Und mit der Kon-
ptom, hinter dem sich möglicherweise ein ganz an- zeption einer »Rhetorik des Unbewußten« ersetzt er
deres Begehren verbirgt. In seinem berühmten Rom- die energetische Terminologie in Freuds Traumdeu-
Vortrag vom 27. September 1953 über Funktion und tung (»Verschiebung« und »Verdichtung« als die
Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoana- »Werkmeister« der Traumarbeit) durch die Tropen
lyse (1966/1973b) zeigt Lacan, wie die »Zeit zu be- »Metapher« und »Metonymie« (Lacan 1966/1975a,
greifen« und die »Momente des Schließens« den psy- 34 ff., Gondek 2000c, 205 ff.).
choanalytischen Prozeß als Wiederaneignung einer Die Parallele zur Strukturalen Anthropologie von
verlorenen Geschichtlichkeit strukturieren. Lévi-Strauss hat eine entscheidende Grenze. Anders
In den beiden Vorträgen von 1953 trägt Lacan zwei als Lévi-Strauss hält Lacan an einem starken, philo-
Grundforderungen vor, die seine gesamte Arbeit und sophisch aufgeladenen Subjektbegriff fest. Das ist
die seiner Schüler in den kommenden Jahren be- auch der Grund, warum man ihn trotz einer zumin-
schäftigen: 1. die Rückkehr zu den Texten Freuds und dest temporären Nähe zum Strukturalismus nicht als
2. der Anschluß der Psychoanalyse an die avancierten Strukturalisten im strengen Sinne ansehen kann (vgl.
Wissenschaften der damaligen Zeit. Der Impetus der dagegen Dosse Bd. 1, 1991/1996, 145). Anders als
ersten Forderung ist gegen Tendenzen der Verfla- Lévi-Strauss (vgl. Lévi-Strauss 1973/1975; Delruelle
chung, der theorielosen Pragmatik in der Ausübung 1989) hat sich Lacan durchgehend an Schlüsseltexten
der Psychoanalyse und gegen ihre Medizinalisierung und -problemen der philosophischen Tradition ori-
und die Aufweichung ihrer Grenzen gegenüber al- entiert und diese für die Reformulierung der Freud-
ternativen Therapieformen gerichtet. Daß dies nicht schen Psychoanalyse nutzbar gemacht. Das hat zwar
auf die blinde Wiederherstellung einer Orthodoxie nicht den Stellenwert einer systematischen Ausein-
hinausläuft, dafür steht der zweite Anspruch: die Re- andersetzung mit der Philosophie, die Lacan als sol-
formulierung der Psychoanalyse auf einem Niveau, che ablehnt (vgl. Juranville 1984/1990), ist aber auch
das ihr den Anschluß an die zeitgenössisch arrivier- nicht als reiner Eklektizismus oder gar als »Plagiaris-
ten Wissenschaften erlaubt. mus« abzutun (Borch-Jabobsen 1990/1999, 12).
360 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Die Bezugnahmen reichen von Platon bis Heideg- ber zu nennen sind außerdem Augustinus, Thomas
ger und darüber hinaus: Platons Menon dient Lacan von Aquin, Cusanus, Angelus Silesius und Pascal; im
zur Erörterung des Problems der »Wiedererinne- Spätwerk werden dann vor allem Frege, Russell,
rung« eines unbewußten Wissens (Lacan 1977/1980c, Wittgenstein und Kripke wichtig. Außerdem hat sich
22 ff.), und anhand von Platons Symposion arbeitet Lacan vielfach sowohl auf die antike und die klassi-
Lacan am Beispiel des Sokrates die Situation des sche als auch auf die moderne Literatur bezogen –
Analytikers in der Übertragung heraus (Lacan von Homer und Ovid über Molière und Racine bis
1991a). Von Aristoteles werden die »vier Ursachen« hin zu James Joyce und Marguerite Duras.
(Lacan 1966/1975d), das Verhältnis von automaton Die 1950er Jahre sind wesentlich durch die Aus-
und tyche für ein psychoanalytisches Verständnis des arbeitung des Verhältnisses von Symbolischem und
Verhältnisses von Zufall und Notwendigkeit (Lacan Imaginärem bestimmt: Lacan erweitert seine Kon-
1973/1978, 59 ff.) und im späteren Werk das »logi- zeption des Spiegelstadiums zu einem komplexen
sche Viereck« (Lacan 1965–66; 1966–67) aufgenom- Modell, das die Integration von Symbolischem und
men. Descartes kommt ein ganz ausgezeichneter Imaginärem erlauben soll, indem in die Position des
Stellenwert zu, da das cartesische Subjekt – Subjekt Subjekts nicht nur die Konfrontation mit dem Spie-
des Zweifels und der Gewißheit und letztlich der gelbild als Ichideal (a, der kleine andere), sondern
Wissenschaft – von Lacan mit dem unbewußten Sub- auch die symbolische Anerkennung durch den gro-
jekt der Psychoanalyse identifiziert wird (Lacan ßen Anderen (A) eingeht. Der große Andere kann
1973/1978, 41 f., 49; Gondek 1992). Spinoza ist ein sowohl personifiziert als jenes Elternteil angesehen
Denker, der Lacan seit seiner Jugend begleitet (Lacan werden, das den Blick des kleinen Kindes erwidert,
1975a/2002; 1973/1978, 289 f.). das bei dem es haltenden oder begleitenden Erwach-
Die Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik senen eine Bestätigung für seine jubelnde Begrüßung
ist besonders folgenreich für Lacan, und zwar über des Spiegelbildes sucht, als auch Symbol für die Di-
die plakative Konfrontation von Kant mit Sade hin- mension der Andersheit sein, auf die sich alle Re-
aus (Lacan 1966/1975b; 1986/1996), denn sie mün- gungen des Subjekts einlassen müssen, weil sie letzt-
det in die Konzeption eines Gesetzes des Begehrens lich durch die Dimension der sprachlichen Mittei-
und einer Ethik der Psychoanalyse (Lacan 1986/1996; lung hindurchgehen müssen. Er »verkörpert« indes
Baas 1992). Mit Hegel hat sich Lacan die gesamten zugleich die Dimension der Wahrheit, insofern selbst
1950er Jahre befaßt; im Mittelpunkt steht die Herr- noch die Lüge an eine solche appelliert. Im Lacan-
Knecht-Dialektik aus dem Selbstbewußtseinskapitel schen Werk findet zunächst eine Verschiebung vom
der Phänomenologie des Geistes, die Lacan vor allem personalen zum abstrakt-sprachlichen Aspekt des
über die wirkungsmächtige Interpretation Alexandre Anderen statt, der die Vorgegebenheit der Sprache als
Kojèves rezipierte. Kierkegaard spielt nicht nur eine einer »Batterie von Signifikanten« ausdrückt; der
große Rolle in Lacans eigener Überwindung des an- darin liegenden Tendenz zu einer gewissen Idealisie-
fänglichen Hegelianismus (Lacan 2005c, 75), son- rung dieses Anderen (Instanz des Dritten, des Paktes
dern gab auch für das Denken der Wiederholung oder Bundes, der übergreifenden Ordnung) wird
(Lacan 1973/1978), die Ausarbeitung der Theorie der spätestens Ende der 1950er Jahre dadurch abgehol-
Angst (Lacan 2004) und die Erörterung der jüdisch- fen, daß der Status dieses Anderen selbst als von Fik-
christlichen Tradition (Lacan 2005d, 90 ff.) wesent- tionen gestützt und nicht letztbegründbar erwiesen
liche Anstöße (Adam 2005). Heidegger schließlich wird.
war für Lacan wegen seiner Konzeption der Zeitlich-
keit, des Primats der Zukunft und der Geschichtlich-
Das Seminar am Krankenhaus
keit von Interesse (Juranville 1984/1990); Lacan legte
Sainte-Anne (1953–1963)
sogar eine eigene Übersetzung von Heideggers Vor-
trag Logos vor (Gondek 1997b). Von Sartre und Mer- In den ersten beiden Seminaren wird die Theorie des
leau-Ponty setzte sich Lacan deutlich ab; vor allem Ichs näher ausgearbeitet (Lacan 1975b/1978; 1977/
letzterer aber dürfte mit seinem späten Projekt einer 1980c). Das Seminar III von 1955–56 (Lacan 1981/
»Intra-Ontologie« und der Unterlaufung der klassi- 1997) ist den Psychosen gewidmet. Hier nimmt La-
schen Subjekt-Objekt- und Aktiv-Passiv-Schemati- can seine 1951 mit der Analyse des Rattenmanns be-
sierungen im Denken von Sehen und Sichtbarkeit gonnene, 1952 mit der des Wolfsmanns fortgesetzte
Lacan wesentliche Anregungen für seine eigene Auseinandersetzung mit den großen Fällen Freuds
Theorie des Objekts gegeben haben (Lacan 1961/ wieder auf: Das Seminar dreht sich um Daniel Paul
1980b; 1973/1978). Als wiederkehrende Stichwortge- Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Philosophie 361

und Freuds paranoiatheoretische Beschäftigung mit grifflichkeit, darunter die Abgrenzung von Begehren
dieser Schrift. Sein Stellenwert für die Theorie des vs. Genießen und Begehren vs. Anspruch. Lacan
Symbolischen ist beträchtlich: Für das Symbolische nimmt einen ersten Anlauf zu einer bestimmten For-
ist eine bestimmte Verknüpfung von Signifikant und malisierung, nämlich die in vier Schritten vollzogene
Signifikat (die Lacan ja als separate, autonome Ketten Konstruktion des »Graphen des Begehrens«, der
bestimmt hatte) an besonderen Stellen erforderlich, nicht nur die Dimensionen des Imaginären und
die er (der Sprache des Polsterers entnommen) als Symbolischen als Gliederungsebenen in einer umfas-
»Steppunkte« bezeichnet. Einer dieser Steppunkte senden Struktur darstellt, sondern auch so komple-
betrifft die Funktion des Vaters. Ohne solche Ver- xen Gebilden wie dem Phantasma einen theoretisch-
knüpfungen ist die Instanz des Anderen und damit formalen Ort zuweist. Immerhin kann Lacan zeigen,
eine gründende Rede wie in Akten des Versprechens daß sich dieser »Graph« auch als analytisches Instru-
oder des Schwurs, aber auch institutionell in solchen ment in der Unterscheidung von Zwangsneurose und
der Taufe oder der Heirat haltlos; ihr Ausfall – be- Hysterie bewährt (Lacan 1998, 469 f.; 1966/1975c,
dingt durch die Verwerfung eines zentralen Signifi- 179 ff.).
kanten – kennzeichnet die Psychose. Für das Seminar VI (1958–59) über Das Begehren
Mit dem Theorem vom »Namen-des-Vaters« be- und seine Deutung sind die beiden Begriffe nicht an-
ginnt Lacan eine laufend verfeinerte Differenzierung tithetisch gemeint: Die Positivität des Begehrens ist
von Position und Gestalt des Vaters nach den drei seine Deutung, und diese kann ein Begehren auch als
Seinsregistern ›real‹, ›imaginär‹ und ›symbolisch‹, die eine Abwehr gegen das Begehren erweisen, wie Lacan
vor allem zu einer Revision des Freudschen Ödipus- mit der Reinterpretation eines bereits von Freud ge-
und Kastrationskomplexes führt (Lacan 1998). Dem deuteten Traumes zeigt (GW VIII, 238). Eine ontolo-
vorgelagert ist allerdings die Revision der psychoana- gische »Substanz« des Begehrens gibt es nicht. Dar-
lytischen Theorie von Objekt und Objektbeziehung, gelegt wird das an Shakespeares Hamlet, der als eine
die im Seminar IV (1994/2003) anhand von Freuds »Tragödie des Begehrens« gelesen wird. Deren Hoff-
Arbeit über den kleinen Hans (GW VII, 241–377) nungslosigkeit wird darauf zurückgeführt, daß Ham-
durchgeführt wird. Das psychoanalytische »Objekt« lets als Geist umherirrender ermordeter Vater auf-
ist im Grunde ein »Objektmangel«, den es entspre- grund seines unerlösten Zustands nicht mehr als An-
chend den drei Seinsdimensionen differenziert zu be- derer und damit als Garant von Wahrheit fungieren
stimmen gilt. Die Kastration wird um zwei Entzugs- kann; der Auftrag, den er Hamlet mitgibt, nämlich
modi erweitert, »Privation« und »Frustration« (als seinen Mörder mitten ›in der Blüte seiner Sünden‹ zu
Übersetzung der Freudschen »Versagung«): Die Ka- töten, ist selbst eine vergiftete Botschaft, die Hamlet
stration ist selbst symbolisch und zieht eine »symboli- erst erfüllen kann, als er sich mit seinem imaginären
sche Schuld« nach sich; ihr Gegenstand, der bedrohte anderen, Laertes, der auch sein Rivale in der Trauer
Phallus, ist imaginär, ihr Agent ist der reale Vater; die um Ophelia ist (die er selbst in den Tod geschickt
imaginäre Frustration, die in einem imaginären hat), zu identifizieren vermag – was dazu führt, daß
Schaden zum Ausdruck kommt, hat die reale Brust die beiden sich gegenseitig töten. Ansonsten ist das
als Objekt, ihr Agent ist die symbolische Mutter; die Seminar ein Meilenstein in der Ausarbeitung des Ob-
reale Privation, die sich in einem »realen Loch« an- jekt a, jenes Prototyps aller Objekte, das in einer fik-
zeigt, gilt dem symbolischen Phallus, ihr Agent ist der tiven Genese gebildet wird, indem das Subjekt einen
imaginäre Vater (Lacan 1994/2003, 40 f., 67, 317). Teil seiner selbst von sich »abtrennt«, und das fortan
Letzteres ist Lacans Reformulierung der Grundlagen als »Ursache« für das Begehren des Subjekts fungiert
des Freudschen Penisneids. Für die Phobie des klei- (Lacan unterscheidet vier solche Objekte a: Brust,
nen Hans macht Lacan massiv die Mutter wegen ihrer Fäzes, Blick und Stimme).
sexuellen Vereinnahmung des Kindes verantwort- Im Seminar VII (1986/1996) über Die Ethik der
lich. Psychoanalyse werden die Konsequenzen aus der bis-
Das Seminar V (1998) über Die Bildungen des Un- herigen Neuausarbeitung der Freudschen Theorie in
bewußten rekonstruiert Freuds Theorie des Witzes praktisch-ethischer Hinsicht gezogen. Lacan setzt
mit den Mitteln der Signifikantentheorie und der sich mit den drei großen abendländischen Ethikent-
Rhetorik des Unbewußten (Metapher/Metonymie). würfen auseinander: der aristotelischen Tugendethik,
Es enthält weiter die umfassendste Darstellung von der kantischen Pflichtethik und dem Utilitarismus
Lacans Revision des Freudschen Ödipus- und Kastra- (als am »größten Nutzen für die größte Zahl« orien-
tionskomplexes, eine Theorie des Symptoms und tiert), deren Gemeinsamkeit die ist, daß der Ethik-
wichtige Ausdifferenzierungen in der Lacanschen Be- entwurf auf einem Ideal beruht. Dem stellt Lacan
362 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

eine Ethik des Realen, genauer eine Ethik des Begeh- allen anderen Signifikanten bestimmt; damit ist der
rens gegenüber: Das Begehren wird als eine ethische Signifikant endgültig als ein rein formales Element
Materie nobilitiert, die nicht in einem grundsätzli- begriffen. Die Differenz zum Verständnis des Signifi-
chen Gegensatz zum Ethischen steht. Als höchstes kanten bei Saussure könnte nicht größer sein. In die-
ethisches Gebot der Psychoanalyse gilt für Lacan, sem Seminar greift Lacan erstmals auf topologische
»nicht in seinem Begehren nachzugeben«. Einer der Konstruktionen (Möbiusband, Torus, crosscap) zur
neu eingeführten Zentralbegriffe des Seminars ist Darstellung wesentlicher Subjektbeziehungen zu-
»das Ding«. Das Ding ist das, was als absoluter Refe- rück.
rent allen signifikanten Bildungen und damit auch Im Seminar X (2004) über Die Angst wagt sich La-
dem Lustprinzip vorausliegt und jenes Moment an can nicht etwa auf das schlüpfrige Feld der Affekte
irreduzibler Fremdheit darstellt, das nicht nur dem und Emotionen, sondern weist dem ausgezeichneten
Zugang zum Anderen Grenzen setzt, sondern auch Affekt der Angst eine Funktion zu, die philosophisch
zum Innersten seiner selbst. Darüber hinaus ist La- bisher dem cartesischen Cogito zugesprochen wird:
can bemüht, Heideggers Auffassung vom Ding als Die Angst wird zur Instanz der Gewißheit, insofern
»Geviert« zu integrieren, in dem Erde und Himmel, sie das ist, »was nicht täuscht« (Gondek 1990; 1992).
die Göttlichen und die Sterblichen ins Verhältnis ge- Tritt sie auf, so signalisiert sie dem Subjekt, daß es
setzt werden (Heidegger 1954a, 170). Als Realisie- um sein Sein und um die Kastration, nämlich um die
rung eines unbedingten, eines »reinen« Begehrens Begegnung mit jenem ausgezeichneten Objekt a geht,
stellt Lacan in einer ausführlichen Interpretation die das Lacan nun immer mehr als seine originäre Ent-
Antigone des Sophokles dar. deckung innerhalb der Freudschen Psychoanalyse
Das Seminar VIII (1991a) über Die Übertragung darstellt. Entsprechend bietet das Seminar auch die
zieht aus den zeitgenössischen Debatten über die Ge- umfassendste Darlegung der Konstitution der vier
genübertragung eine andere Konsequenz: Es handelt Objekte, die als solche mit dem Phallus ins Verhältnis
sich dabei nicht um eine Regung des Analytikers, die gesetzt werden.
der vom Analysanten ausgehenden Übertragung Das folgende Jahr ist von einem Einschnitt ge-
komplementär ist, sondern um die grundsätzliche zeichnet: Lacan bricht sein Seminar über Die Namen-
Implikation des Analytikers in der Übertragung, es des-Vaters nach der ersten Sitzung ab (Lacan 2005d,
handelt sich um sein Begehren (und zwar nicht um 65–104), nachdem er am Vorabend erfahren hatte,
sein persönliches Begehren, sondern um das Begeh- daß er aus der Liste der ausbildenden Analytiker ge-
ren, das seiner Funktion als Analytiker entspricht). strichen worden war. Damit endet auch sein Wirken
Die Problematik der Übertragung entfaltet Lacan im Hörsaal des Hospitals Sainte-Anne, in dem er seit
denn auch nicht an der psychoanalytischen Diskus- 1953 sein Seminar durchführte. Im Januar 1964 be-
sion, sondern an Platons Symposion, in dem die Teil- ginnt Lacan an neuer Wirkungsstätte, nämlich der
nehmer aufgefordert werden, eine Lobrede auf den École normale supérieure, unter dem Titel Die vier
Eros zu halten, darunter Sokrates, der als einziger Grundbegriffe der Psychoanalyse ein ganz neues Semi-
den Gott der Liebe nicht idealisiert. Mit dem Auftritt nar. Die vier Grundbegriffe sind das Unbewußte, die
des betrunkenen Alkibiades kommt es zu einer per- Wiederholung, die Übertragung und der Trieb. La-
formativen Zuspitzung, insofern dieser eine Lobrede can stellt noch deutlicher die konstitutive Verantwor-
auf Sokrates hält, der allerdings nicht der Adressat tung des Psychoanalytikers für die Eröffnung des Un-
des Begehrens des Alkibiades ist; dies ist vielmehr bewußten heraus (»das Unbewußte [. . .] ist ethisch
Agathon, was Sokrates genau deshalb zu erkennen verfaßt«; Lacan 1973/1978, 39 f.), arbeitet in Ausein-
vermag, weil er sich aus diesem Spiel des Begehrens andersetzung mit Merleau-Ponty und Sartre den
heraushält und so eine quasi analytische Position Blick als Objekt a stärker heraus und legt eine strikt
übernehmen kann. Im Schlußteil des Seminars wird nicht-biologische Triebtheorie vor, nämlich als krei-
anhand dreier Stücke von Paul Claudel die Vater- sende Bewegung um jenes Objekt a, das so kontu-
schaft neu bedacht. riert, aber niemals erreicht wird.
Das Seminar IX (1961–62) über Die Identifizierung
arbeitet ausgehend vom unterschiedlichen Status der
Das Seminar in den Jahren des Erfolgs.
Eins, einmal als Totalität, dann als Element der Ab-
Lacan an der Universität (1964–1979)
zählbarkeit verstanden, sowohl die Theorie des Sub-
jekts als auch die Theorie des Signifikanten um die Sechs Jahre lang wird Jacques Lacan sein Seminar als
Frage der Identität herum stärker heraus. Der Status Lehrbeauftragter an der École normale supérieure
des Signifikanten ist durch eine absolute Differenz zu durchführen können; 1969 werden ihm die Räume
Philosophie 363

entzogen. Es sind die Jahre, in denen Lacan auch zentrismus begegnete er mit einer provozierenden
über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmt wird, Neubestimmung des Verhältnisses der Geschlechter –
sein Seminar aber auch durch den großen Zulauf an ausgehend von den Kernsätzen, daß es »ein Ge-
die Grenze seiner Durchführbarkeit gerät. 1966 er- schlechtsverhältnis nicht gibt« (Lacan 1975c/1986,
scheinen unter dem Titel Écrits Lacans gesammelte 39) und daß »Die Frau nicht existiert« (ebd., 79 f.).
Schriften, ein Band von 900 Seiten Umfang, der den- Das bedeutete nun gerade nicht eine Erniedrigung
noch zum Bestseller wird, weil Lacan den richtigen oder Ausschließung der Frauen, sondern zunächst
Zeitpunkt für die Publikation abgewartet hat, näm- einmal ihre Freisetzung aus allen Eingliederungen in
lich das ›Strukturalismuswunderjahr‹, in der besagte Komplementärverhältnisse: Die Frau ist nicht die Er-
Strömung ihren höchsten Wirkungsgrad erreicht. gänzung oder das Gegenstück zum Mann, weil es
Die Seminare dieser Jahre sind durch fortschreitende keine die beiden Geschlechter übergreifende Bezie-
Formalisierungsbemühungen bestimmt, die Lacan hung, weil es kein für beide geltendes gemeinsames
sich vor allem von der mathematischen Topologie Maß gibt. Mit den »Formeln der Sexuierung« ver-
verspricht; das »Möbiusband« oder die »Kleinsche sucht Lacan, die unterschiedliche und unvergleich-
Flasche« sind vielversprechende Modelle für die Cha- bare Einschreibung der Positionen von Mann und
rakterisierung des Subjekts in seinen vor allem unbe- Frau im Verhältnis zu Kastration, Objekt a und Ge-
wußten Beziehungen zum Objekt, zum Anderen, nießen logisch zu formalisieren. Dabei erweist sich
zum Symptom usw. die Frau als »nicht-ganz«, was heißen soll, daß sie
1966–67 im Seminar XIV unternimmt Lacan einen nicht ganz der phallischen Funktion und damit der
weiteren Anlauf zur Bestimmung der Logik des Phan- Universalität des Gesetzes der Kastration unterliegt,
tasmas, und wieder steht eine Neubearbeitung der Si- was ihr wiederum den Zugang zu einem nicht-phalli-
tuation des cartesischen Cogito im Mittelpunkt. Erst- schen Genießen gewährt.
mals macht Lacan direkte Anleihen bei Marx; die Die späte Phase der Lacanschen Lehre steht unter
Unterscheidung von Gebrauchswert, Tauschwert und dem Signum des Borromäischen Knotens, was auf
Mehrwert nutzt er für eine Neubestimmung der Be- das Familienwappen des Grafen Borromeo zurück-
ziehungen zwischen Lust und Genießen durch Er- geht, das drei derart ineinander verschlungene Ringe
weiterung um eine Mehrlust oder ein Mehrgenießen aufweist, daß man jeweils zwei dieser Ringe zer-
[plus-de-jouir]. 1969 im Seminar XVII, Die Kehrseite schneiden muß, um den dritten freizusetzen. Der
der Psychoanalyse, machte er dieses Mehrgenießen zu Borromäische Knoten ist das Emblem für die Inte-
einem der vier Elemente einer Konstruktion von vier gration der drei Seinsdimensionen des Realen, des
Diskursen, die Lacan als grundlegende Typen der Imaginären und des Symbolischen, für deren »Kon-
Produktion von Wissen und Wahrheit ansah: Der sistenz«. Mißratene Knoten oder Ketten können
»Diskurs des Herrn« war der Diskurs der autoritären durch einen supplementären Ring oder ein supple-
Setzung eines sog. Herrnsignifikanten; dem »Diskurs mentäres Glied eine neue Konsistenz erhalten; diese
der Universität« unterstand die konservative Verwal- Funktion erfüllt nach Lacan das »Symptom« oder
tung des Wissens; der »Diskurs der Hysterischen« »sinthome«, wie Lacan es nach alter Version und mit
war eine Herausforderung des universitären Wissens, einer Joyceschen Anspielung auf den »saint homme«
der aber letztlich den Herrn stützte, und der »Diskurs oder den »heiligen Thomas« schreibt.
der Analyse« ist derjenige, der die Wahrheit des Wis- Von 1969 an kann Lacan sein Seminar als Lehr-
sens erweisen will und kann. Für Versuche, dieses beauftragter in Räumen der Rechtsfakultät der Sor-
Modell der vier Diskurse auf die Analyse sozialer und bonne abhalten. Den Charakter eines Ausbildungs-
ideologischer Beziehungen anzuwenden, erwies es seminars hat das Seminar schon lange verloren.
sich allerdings als zu speziell. Lacan beschäftigt in seinem Bemühen, formale Lö-
Lacan ließ sich indes nicht für die Ziele der diver- sungen für die Konsistenzprobleme der Seinsdimen-
sen politischen Bewegungen, insbesondere nicht für sionen zu finden, topologisch geschulte Mathemati-
den Maoismus in der Phase seiner Radikalisierung, ker, die ihm zuarbeiten. Die darum geführten Dis-
einspannen. Den aufbegehrenden Studenten in Vin- kussionen prägen den Stil der späten Seminare.
cennes, die ihn bei einem Vortrag provozieren woll- Vom Lacanschen Seminar der Jahre 1953 bis 1979
ten, sagte er, daß das, was sie »als Revolutionäre an- sind bislang die Seminare I, II, III, IV, V, VII, VIII, X,
streben« würden, ein »maître«, ein »Herr« oder XI, XVI, XVII, XX und XXIII erschienen (ins Deut-
»Meister« sei, und daß sie ihn auch bekommen wer- sche übersetzt sind die Seminare I, II, III, IV, VII, XI
den (Lacan 1991b, 239 f.). Der feministischen Kritik und XX). Von den 1966 erschienenen Écrits ist eine
an der Psychoanalyse und ihrem angeblichen Phallo- Teilübersetzung in drei Bänden erschienen. 2001 ist
364 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

unter dem Titel Autres écrits eine Sammlung der ren keinen substantiellen Unterschied mehr machten
Schriften Lacans nach 1966 veröffentlicht worden; zwischen Freud und Lacan. Das extrem polemische
eine deutsche Übersetzung steht aus. Werk – mit einer ebenso extremen kulturell-politi-
schen Wirkung – propagierte und zelebrierte im Na-
men einer »Schizoanalyse« Fluchtbewegungen der
Radikalisierungen nach Lacan
Deterritorialisierung, der organlosen Körper und der
Die 1960er und 1970er Jahre waren auch die Hoch- neuen Konnektionen subjektloser »Wunschmaschi-
zeit eines reaktivierten Freudomarxismus, und einige nen«. Demgegenüber hatte die Psychoanalyse nur die
Initiativen nahmen in der Umgebung Lacans ihren familiale Territoralisierung der Wünsche anzubieten
Ausgang. Der Philosoph und Marxist Louis Althusser (Deleuze/Guattari 1972/1974).
hatte 1964 einen Text über Freud und Lacan veröf- Jean-François Lyotard legte 1974 mit einem nicht
fentlicht, in dem er sein an Marx erprobtes Konzept weniger verrückten Werk nach, Économie libidinale
eines »epistemologischen Bruchs« auf die Psychoana- oder Ökonomie des Wunsches (1974/1984), das die
lyse anwendete. Bei Marx hatte Althusser auf diese Natur des Kapitalismus aus der Prostitution ableiten
Weise zwischen einer ideologischen Frühphase und wollte. Die Kritik der Psychoanalyse erfolgt im Na-
einer reifen Zeit der echten Wissenschaft unterschie- men der sich ergebenden »Intensitäten«, unabhängig
den und so zu unterbinden versucht, daß man im von den Ordnungen Lust- und Realitätsprinzip, und
Namen eines Humanismus etwa aus den Ökono- einer – mit und gegen Lacan – behaupteten »Azepha-
misch-Philosophischen Manuskripten von 1844 An- lie« oder »Kopflosigkeit« des Unbewußten (ebd.,
sprüche gegen die Hauptwerke wie Das Kapital ab- 33).
leiten konnte (Althusser u. a. 1965). In seinem Artikel Sowohl Deleuze als auch Lyotard hatten zu der Zeit
über Freud und Lacan repräsentiert Lacan die Ver- schon eine respektable Anzahl von Werken vorgelegt;
wissenschaftlichung der Psychoanalyse, Freud dage- doch nur Lyotard hatte sich zuvor schon intensiv mit
gen die ideologische Vorgeschichte. Lacans »Rück- der Freudschen Psychoanalyse beschäftigt. Discours
kehr zu Freud« ist indes nicht die Rückkehr zur noch Figure (Lyotard 1971) setzt sich im Gegenentwurf zu
kompromittierten Jugend einer Wissenschaft, son- den damals dominanten Textsemiotiken für eine Äs-
dern die Hebung Freuds auf das Niveau der Reife, das thetik ein, die sich einem »Sehen ohne Subjekt«, ei-
Lacan dadurch erreicht, daß er dem wissenschaftli- nem »herrenlosen Auge« (Waldenfels 1983/1987,
chen Objekt der Psychoanalyse, dem Unbewußten, 362) und einem sich im bildlichen Figuralen nieder-
mittels der Linguistik eine haltbare theoretische Fun- schlagenden Begehren verschrieb. In diesem Zusam-
dierung gibt (Althusser 1993, 26 ff.). In postum ver- menhang setzt sich Lyotard nicht nur ausführlich mit
öffentlichten Schriften, insbesondere in den Briefen Freuds Traumdeutung, insbesondere den Darstel-
an D. . . (seinen Analytiker R. Diatkine), weist Alt- lungsmitteln, auseinander, sondern befaßte sich auch
husser die Funktion des epistemologischen Bruchs im Rahmen einer Diskussion von Referenztheorien
deutlicher aus. Er stellt die »definitive Teilungslinie« mit Freuds Aufsatz über die Die Verneinung (GW
dar: »Man kann nur mit denen diskutieren, die diese XIV 9–15), den er sogar selbst übersetzte (Lyotard
Teilungslinie überschritten haben, denn erst jenseits 1971, 131 ff.). Das Buch enthält auch eine eingehende
dieser Linie beginnt das. . . Heil, ich meine der Be- Auseinandersetzung mit Lacans Ersetzung der beiden
reich, in dem eine theoretische Reflexion mit ihrer Mechanismen der Traumarbeit, Verdichtung und
Ausübung beginnen kann« (ebd., 58 f.). Verschiebung, durch Metapher und Metonymie.
Es verwundert nicht, daß Althusser privat einge-
stand, »in Freudscher und Lacanscher Theorie völlig Literatur
Adam, Rodolphe: Lacan et Kierkegaard. Paris 2005.
unwissend« zu sein, »außer vom Hörensagen« (ebd., Althusser, Louis: Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen. Frank-
220). Althussers Stellungnahme ist aus anderem furt a. M. 1993 (frz. 1992).
Grund interessant: Mit ihr nobilitiert er die Hinwen- –: Écrits sur la psychanalyse. Freud et Lacan. Paris 1993.
dung einiger seiner Schüler zu Lacan, darunter die –: Sur la philosophie. Paris 1994.
– u. a.: Lire Le Capital. 2 Bde. Paris 1965.
von Jacques-Alain Miller, dem späteren Schwieger- Baas, Bernard: Le désir pur. Louvain 1992.
sohn und Nachlaßverwalter Lacans, die nicht ohne –: De la Chose à l’objet a. Louvain 1998.
Einfluß auf die Lehre Lacans geblieben ist. Bergande, Wolfram: Synkope der Existenz. Die Logik des Unbe-
1972 wurde Lacan selbst das Opfer einer Absetz- wußten in der Kunst. Diss. Wuppertal 2006.
Boehme, Tim Caspar: Ethik und Genießen. Kant und Lacan.
bewegung: Der Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Wien 2005.
Félix Guattari brach im Namen eines radikalisierten Borch-Jacobsen, Mikkel: Lacan. Der absolute Herr und Meister.
Marxismus mit der Psychoanalyse, wobei die Auto- München 1999 (frz. 1990).
Philosophie 365

Charraud, Nathalie: Lacan et les Mathématiques. Paris 1997. –: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Schrif-
Copjec, Joan: Lies mein Begehren. Lacan gegen die Historisten. ten I. Olten/Freiburg i.Br. 1973a, 61–70 (frz. 1966).
München 2004 (engl. 1994). –: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der
Cremonini, Andreas: Die Durchquerung des Cogito. Lacan con- Psychoanalyse. In: Schriften I. Olten/Freiburg i.Br. 1973b,
tra Sartre. München 2003. 71–169 (frz. 1966).
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 1992 –: Das Seminar über E. A. Poes »Der entwendete Brief«. In:
(frz. 1968). Schriften I. Olten/Freiburg i.Br. 1973c, 7–60 (frz. 1966).
–: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993 (frz. 1969). –: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die
–: Woran erkennt man den Strukturalismus? [1974]. Berlin Vernunft seit Freud. In: Schriften II. Olten/Freiburg i.Br.
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366 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

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zur »Ästhetik der Existenz«
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–: Strukturale Anthropologie II. Frankfurt a. M. 1975 (frz. Michel Foucault hat sich von seiner ersten Veröffent-
1973). lichung an vehement mit der Freudschen Psychoana-
–: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt
a. M. 1981 (frz. 1947, 1967).
lyse auseinandergesetzt. Die 1954 erschienene Ein-
Lyotard, Jean-François: Die Phänomenologie. Hamburg 1993 führung in die französische Ausgabe von Ludwig
(frz. 1954). Binswangers Traum und Existenz zeigt einen Fou-
–: Discours Figure. Paris 1971. cault, der – mit Binswanger – gleichsam schon über
–: Des dispositifs pulsionnels. Paris 1973a.
–: Dérivé à partir de Marx et Freud. Paris 1973b.
die Psychoanalyse hinaus ist: Während Binswanger
–: Ökonomie des Wunsches. Bremen 1984 (frz. 1974). mit seinem Verfahren der Deutung von Träumen den
Marini, Marcelle: Lacan. Paris 1986. Zugang zu den »Modalitäten der Existenz« bahnt,
Maury, Liliane: Wallon. Autoportrait d’une époque. Paris 1995. soll sich die Freudsche Traumdeutung in einer »Her-
Moulier-Boutang, Yann: Louis Althusser. Une biographie. Paris
1993.
meneutik von Symbolen« erschöpfen und in einer
Porge, Erik: Se compter trois. Le temps logique de Lacan. Tou- »äußerlichen, noch im Bereich der Entschlüsselung
louse 1989. verbleibenden Deutung« verharren (Foucault 1954a/
–: Jacques Lacan, un psychanalyste. Ramonville Saint-Agne 2001, 111). Freud sei allein an der »semantischen
2000.
Rölli, Marc: Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen
Funktion« der Träume interessiert und vernachläs-
Empirismus. Wien 2003. sige darüber ihre »morphologische und syntaktische
Roudinesco, Elisabeth: Histoire de la psychanalyse en France. 2 Struktur« (ebd., 113); unzureichend sei sein Begriff
(1925–1985). Paris 1986. des Bildes bzw. des Imaginären, und aufgrund einer
–: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines
Denksystems. Köln 1996 (frz. 1993).
»unzureichende[n] Ausarbeitung des Symbolbe-
Safouan, Moustapha: Lacaniana. Les séminaires de Jacques La- griffs« (116) verfehle er die »mit der Gesamtheit ihrer
can. 1953-1963. Paris 2001. signifikativen Implikationen erfaßte imaginäre
– (Hg.): Lacaniana. Les séminaires de Jacques Lacan. Struktur« (117). (Foucault bezieht sich neben der
1964-1979. Paris 2005.
Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Genf
Traumdeutung vor allem auf die Analysen von Schre-
1916. ber und Dora.) Freud sei ȟber ein von der Psycho-
Schmidgen, Henning: Das Unbewußte der Maschinen. Konzep- logie des 19. Jahrhunderts fest errichtetes Postulat«
tionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan. nicht hinausgekommen: »daß der Traum eine Rhap-
München 1997.
Simonis, Yvan: Claude Lévi-Strauss ou »la passion de l’inceste«.
sodie von Bildern sei« (126); er habe den »Traum
Paris 1968. psychologisiert« (126). In diese Kritik werden auch
Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich [1983]. Melanie Klein und Jacques Lacan einbezogen, die
Frankfurt a. M. 1987. komplementärer Fehler geziehen werden (117 f.).
Wallon, Henri: Les origines du caractère chez l’enfant. Paris
1934.
Und auch die Husserlsche Phänomenologie wird als
Waltz, Matthias: Ethik der Welt – Ethik des Realen. In: Gon- ungenügend zurückgewiesen (122 ff.).
dek/Hofmann/Lohmann 2001, 97–129. Es ist schnell erkennbar, daß sich Foucault in sei-
Weber, Samuel: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung nem Verständnis des Traums und seiner Deutung an
der Psychoanalyse. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978.
Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in
C. G. Jung bzw. Gaston Bachelard orientiert. Der
Jacques Lacans Werk. Wien 1997. Traum ist für ihn der Zugang zu den Mythen – und
Zafiropoulos, Markos: Lacan et Lévi-Strauss ou le retour à letztlich zum Tod: »Am tiefsten Punkt seines Trau-
Freud. 1951-1957. Paris 2003a. mes begegnet der Mensch seinem Tod [. . .]. Der Tod
– (Hg.): Les années Lacan. Paris 2003b.
Žižek, Slavoj: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und
trägt nun den Sinn der Versöhnung, und der Traum,
die Philosophie des deutschen Idealismus I. Wien 1991. in dem sich dieser Tod bildlich dargestellt findet, ist
–: Verweilen beim Negativen. Psychoanalyse und die Philosophie damit das Grundlegendste, das man tun kann: Er be-
des deutschen Idealismus II. Wien 1993. sagt nicht mehr die Unterbrechung des Lebens, son-
–: Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die
damit zusammenhängenden Gegenstände. Wien 1996 (engl.
dern die Vollendung der Existenz […]« (143 f.). Daß
1996). Foucault diese Beziehung zum Tod mit Freuds To-
–: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a. M. 2001 (engl. 1999). desverständnis für unvereinbar hält, ist gut nachvoll-
Hans-Dieter Gondek ziehbar, die von Foucault genannten Gründe weni-
ger.
So psychologisch ihm die Freudsche Psychoanalyse
hier als Deutungsverfahren erscheint, so eindeutig
grenzt er sie in anderem Kontext von der Psychologie
Philosophie 367

ab. Im 1957 verfaßten Überblick über Die wissen- noch die Zeichen des Irrsinns für sich selbst zu ent-
schaftliche Forschung und die Psychologie nimmt er ziffern« vermag (Foucault 1961a/1969, 535).
Freud vor dem Vorwurf in Schutz, mit seiner Theorie 1966 legt Foucault Die Ordnung der Dinge vor, mit
des Unbewußten bloß eine Ausweitung der Psycho- dem Untertitel: Eine Archäologie der Humanwissen-
logie vorzunehmen, und arbeitet sehr genau die Um- schaften. Der Psychoanalyse wird in diesem Zusam-
wälzung heraus, die im Konzept des Unbewußten menhang eine »kritische Funktion« zugesprochen,
liegt, da von ihm her das Bewußtsein als »Abwehr- die sie genau deshalb erfüllen kann, weil sie nicht
verhalten gegen das Unbewußte« anzusehen ist. Die zum Kanon besagter Humanwissenschaften gehört
Psychoanalyse repräsentiere das Potential für ein (in erster Linie Biologie, Ökonomie und Philologie):
»Sich-Losreißen von den konstituierten Formen des »ein ständiges Prinzip der Unruhe, des Infragestel-
Wissens« (Foucault 1957/2001, 203). Ambivalent lens, der Kritik, des Bestreitens dessen [zu] bilden,
liest sich freilich das Lob der Psychoanalyse, sie habe was sonst hat als erworben gelten können« (Foucault
in der »Krankheit« die »psychologische Wahrheit der 1966/1971, 447). Mehr noch, ihre Leistung ist es, ei-
Gesundheit« bzw. in der »Sexualität« die »natürliche nen Zugang herzustellen zu »jenem Tod«, »jenem Be-
Positivität des Menschen« entdeckt (ebd., 216). gehren« und »jenem Gesetz«, zu dem ein von Posi-
In Psychologie und Geisteskrankheit hatte Foucault tivität und Empirie bestimmtes Wissen keinen Zu-
eine sehr allgemeine Darstellung der psychoanalyti- gang hat – eben weil sie »die Bedingungen der Mög-
schen Theorie der Abwehrformen vorgelegt (1954b/ lichkeit jeglichen Wissens über den Menschen«
1968, 51 ff.). Im zweiten Teil des Buches (der 1962 bezeichnen (ebd., 449). Doch wird die Psychoanalyse
neu ausgearbeitet wurde und eine frühere, stark an daraus niemals eine »allgemeine Theorie des Men-
Pawlow orientierte Fassung ersetzte) wird Freud mit schen oder eine Anthropologie« machen, weil sie
Hinblick auf den Wahnsinn gewürdigt: »Freud eröff- durch ihre »Praxis«, »diese Verengung des Verhältnis-
net als erster wieder die Möglichkeit einer Kommu- ses zwischen zwei Individuen«, an einer solchen Ver-
nikation zwischen der Vernunft und der Unvernunft allgemeinerung gehindert wird.
im Wagnis einer gemeinsamen Sprache, die jederzeit 1966 bewegte sich Foucault in einem immanenten
abbrechen, sich im Unzugänglichen auflösen konnte« Feld der Wissensordnungen, der episteme. In den
(ebd., 106). Foucaults große Untersuchung über Die Analysen der 1970er Jahre sollte ein anderes Konzept
Geschichte des Wahnsinns im klassischen Zeitalter einen immer größeren Stellenwert erlangen: Eine
[Wahnsinn und Gesellschaft] war explizit von der »Analytik der Macht« wird die noch ideengeschicht-
These eines historisch situierbaren Bruchs – zwi- lich erscheinenden Ansätze des frühen Foucault
schen Montaigne und Descartes – ausgegangen, mit durch die Analyse von Diskursen, Praktiken, Appara-
der Folge, daß sich seitdem der Wahnsinn »im Exil« ten, »Dispositiven« und ihren Verflechtungen in
befinde (Foucault 1961a/1969, 70). Trotz dieses für »Macht-Wissen-Komplexen« ablösen. Der 1976 ver-
die Neuzeit geltenden Bruchs erhebt Foucault den öffentlichte erste Band einer auf sechs Bände geplan-
Anspruch, nicht »eine Geschichte der Psychiatrie, ten, in der Form aber nicht verwirklichten Geschichte
sondern des Wahnsinns selbst« zu schreiben (Fou- der Sexualität: Der Wille zum Wissen, ist ein für Fou-
cault 1961b/2001, 229), für deren Möglichkeit Freud cault sehr atypisches Buch, insofern es in sehr ele-
als Zeuge aufgerufen wird: »Deshalb muß man ge- mentaren Thesen ein der Ausführung harrendes Pro-
recht sein mit Freud. [. . .] Freud nahm den Wahn- gramm umreißt, Material nur beispielhaft hinzuzieht
sinn auf der Ebene seiner Sprache wieder auf, rekon- und in der Zuspitzung zuweilen ins Polemische um-
stituierte eines der wesentlichen Elemente einer vom schlägt. Im Zentrum steht die Kritik der »Repressi-
Positivismus auf das Schweigen reduzierten Erfah- onshypothese«, die Annahme einer Unterdrückung
rung; er fügte der Liste der psychologischen Behand- der Sexualität in der bürgerlichen Moderne. Dem
lungen des Wahnsinns nicht eine Erweiterung hinzu; setzt Foucault entgegen, daß keine Periode von einer
er stellte innerhalb des medizinischen Denkens die solch großen Geschwätzigkeit gekennzeichnet sei wie
Möglichkeit eines Dialogs mit der Unvernunft wieder eben diese Moderne, eingeschlossen das sog. »vikto-
her« (Foucault 1972, 360). Und dennoch ist das rianische Zeitalter«. Die Psychoanalyse wird zum ei-
letzte, in diesem Buch über Freud gefällte Urteil nen in eine lange Geschichte der Beichte und des
höchst ambivalent, denn eine letzte Schwelle habe die (mehr oder weniger erzwungenen) »Geständnisses«,
Psychoanalyse nicht überwinden können: Sie habe der »diskursiven Orthopädie« eingebunden (Fou-
diese »letzte Struktur« nicht abgestreift, daß nämlich cault 1976/1977, 42; 1977/2003, 412–414) und damit
der Psychoanalytiker immer noch als »Arzt« fungiere für eine allgemeine Sexualisierung der Diskurse und
und so weder »die Stimmen der Unvernunft zu hören gar für die Einpflanzung von Perversionen mitver-
368 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

antwortlich gemacht (Foucault 1976/1977, 50 f.); –: Die wissenschaftliche Forschung und die Psychologie. In:
Dits et écrits. Schriften. Bd. I. Frankfurt a. M. 2001, 196–222
zum anderen habe es allein die Psychoanalyse ver- (frz. 1957).
mocht, dem Diskurs der Heredität, dem »zeitgenössi- –: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im
schen Aufstieg des Rassismus« und letztlich auch Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1969 (frz. 1961a).
dem Faschismus zu widerstehen – und zwar, weil sie –: Vorwort (zu Histoire de la folie). In: Dits et écrits. Schriften.
Bd. I. Frankfurt a. M. 2001, 223–234 (frz. 1961b).
der Sexualität das »Gesetz« gab: »das Gesetz der Alli- –: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1971 (frz. 1966).
anz, das Gesetz der verbotenen Blutschande, das Ge- –: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973 (frz. 1969).
setz des Vater-Souveräns. Um das Begehren sollte –: Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1972.
wieder die ganze alte Ordnung der Macht zusam- –: Sexualität und Wahrheit. Bd. I: Der Wille zum Wissen.
Frankfurt a. M. 1977 (frz. 1976).
mengerufen werden.« Doch sei sie deshalb auch an –: Das Spiel des Michel Foucault. In: Dits et écrits. Schriften.
»eine bestimmte historische Konjunktur gebunden« Bd. III. Frankfurt a. M. 2003, 391–429 (frz. 1977).
(ebd., 179). Gerechterweise ist festzuhalten, daß –: Lacan, der »Befreier« der Psychoanalyse. In: Dits et écrits.
letztlich weniger Freud als vielmehr Wilhelm Reich Schriften. Bd. IV. Frankfurt a. M. 2005, 248–249 (frz.
1982).
der Adressat von Foucaults Angriff auf die »Repres- –: Sexualität und Wahrheit. Bd. II: Der Gebrauch der Lüste. Bd.
sionshypothese« ist – und mit ihm die früheren wie III: Die Sorge um sich. Frankfurt a. M. 1986 (frz. 1984).
aktuellen Ansätze eines Freudomarxismus (ebd., Gondek, Hans-Dieter: Traum, Bild und Tod. Michel Foucault
157). Doch enthält das Buch auch eine klare Pointe als Leser von Freud und Binswanger. In: RISS 2 (2000),
169–188.
gegen Lacan, indem bestritten wird, daß ein »Begeh- Lagrange, Jacques: Lesarten der Psychoanalyse im Foucault-
ren« außerhalb der Macht denkbar sei (Foucault schen Text. In: Marcelo Marques (Hg.): Foucault und die
ebd., 101; Eribon 1994/1998, 259 ff.). Psychoanalyse. Tübingen 1990, 11–74.
Die 1984 kurz vor Foucaults Tod veröffentlichten Miller, Jacques-Alain: Michel Foucault und die Psychoanalyse.
In: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der
Bände II und III der Geschichte der Sexualität zeigen Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a. M. 1991,
fast keine Berührungspunkte mehr zu psychoanalyti- 66–73 (frz. 1989).
schen Fragestellungen: Foucault ist bis in die griechi- Miller, James: Die Leidenschaft des Michel Foucault. Eine Bio-
sche und römische Antike zurückgegangen, um an graphie. Köln 1995 (engl. 1993).
den Praktiken des sexuellen Umgangs mit Frauen Hans-Dieter Gondek
und Knaben ein »Ästhetik der Existenz« genanntes
Konzept männlicher Selbstbeherrschung zurückzu-
Jacques Derrida – von der psychischen
gewinnen, das augenscheinlich keiner »Hermeneutik
Schrift zum Archiv der Psychoanalyse
des Begehrens« bedarf, sondern sich auf den »Ge-
brauch der Lüste« konzentriert (Foucault 1984/ Jacques Derrida ist unter den französischen Philo-
1986). Am Gegensatz der mit »Begehren« und »Lust« sophen derjenige gewesen, der mit größtem Nach-
verbundenen unterschiedlichen Perspektiven macht druck für sich den Anspruch erhob, sich als beken-
sich auch der Bruch mit dem langjährigen Freund nender Nicht-Analysierter nicht nur zur Psychoana-
Gilles Deleuze fest (Deleuze 1994/1996). lyse äußern zu dürfen, sondern dies auch in einer
Weise zu tun, die nicht von vornherein als der Psy-
Literatur choanalyse bloß äußerlich zurückzusetzen ist (Der-
Deleuze, Gilles: Foucault. Frankfurt a. M. 1987 (frz. 1986). rida 1980/1987c). Mehr noch nahm er dies zum An-
–: Begehren und Lust. In: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.):
Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie. München 1996,
laß, die daran sichtbar werdende institutionelle Poli-
230–240 (frz. 1994). tik der Psychoanalyse zu befragen – die durchaus et-
Derrida, Jacques: »Gerecht sein gegenüber Freud«. Die Ge- was mit dem spezifischen Charakter ihrer Gründung,
schichte des Wahnsinns im Zeitalter der Psychoanalyse. In: ihrer Praxis und ihrer Ausbildung zu tun hat: Für
Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt a. M.
1998, 59–127 (frz. 1996).
Derrida gilt es, den »Filiationen« in der Geschichte
Eribon, Didier: Michel Foucault. Eine Biographie. Frankfurt der Psychoanalyse abzulesen, wie sehr in ihnen ein
a. M. 1991 (frz. 1989). Unanalysiertes in Freud fortwirkt (Derrida 1980/
–: Michel Foucault und seine Zeitgenossen. München 1998 (frz. 1987a, 20, 59, 91). Andererseits ist Derrida der Aus-
1994).
Forrester, John: Michel Foucault und die Geschichte der Psy-
einandersetzung mit der Psychoanalyse auch über
choanalyse. In: Marcelo Marques (Hg.): Foucault und die jene besondere Phase der 1970er bis 1980er Jahre
Psychoanalyse. Tübingen 1990, 75–128 (engl. 1980). hinaus treu geblieben, in denen ein Intellektueller,
Foucault, Michel: Einführung (in L. Binswanger: Traum und vor allem in Paris, es sich gar nicht erlauben konnte,
Existenz). In: Dits et écrits. Schriften. Bd. I. Frankfurt a. M.
2001, 107–174 (frz. 1954a).
der Psychoanalyse keine Beachtung zu schenken.
–: Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt a. M. 1968 (frz. Diese Auseinandersetzung setzte 1966 in einem
1954b, 1962). theoretisch-philosophischen Horizont mit Derridas
Philosophie 369

Vortrag über Freud und der Schauplatz der Schrift ein, entgehen. Doch die Finte entgeht dem nicht. [. . .]
gehalten auf Einladung von André Green am Institut Ein Fetischismus entfaltet sich so grenzenlos, inner-
de Psychanalyse (Derrida 1967/1972, 302–350). In ei- halb dessen die Umrisse eines strikten Fetischismus
nem Durchgang durch das Freudsche Werk, der vom zu umgrenzen sind: der Fetischismus, in welchem die
Entwurf einer Psychologie von 1895 bis zur Notiz über Metaphysik sich stets windet« (Derrida 1972,
den »Wunderblock« von 1925 (GW XIV, 1–8) und 235 f.).
darüber hinaus reicht, arbeitet Derrida zwei im 1980 hat Derrida eine ausführliche Satz-für-Satz-
Freudschen Werk separat wirksame Metaphernreihen Interpretation von Freuds Jenseits des Lustprinzips
von Schrift und Text heraus, die sich in der Tat erst (GW XIII, 1–69) vorgelegt. Neben brillanten Einzel-
im Modell des Wunderblocks zu einem funktionie- deutungen (Fort-Da-Spiel; Lust- und Realitätsprin-
renden Ganzen fügen, einem Gedächtnisapparat, der zip; Leben-Tod-Überleben) leistet sie etwas gänzlich
zwei divergente Eigenschaften vereint: die jederzeitige Neues: Sie liest Freuds Text autobiographisch und te-
Aufnahmebereitschaft für neue Impressionen bei stamentarisch – als Text, in dem Freud selbst speku-
gleichzeitiger unvergeßlicher Speicherung alles je- liert, und zwar auf das Überleben und das Geschick
mals Aufgenommenen. Derrida zeigt genau die Ver- der Psychoanalyse in seinem Namen und mit seinem
schiebung und Verspätung im Spiel dieser Meta- Namen, auf das Ankommen einer Sendung und das
phernreihen am Werk, die von der Psychoanalyse Zurückholen einer Sendung (wie im Fort-Da-Spiel),
selbst in ihrer Theorie des psychischen Apparates und in dem er selbst Schwierigkeiten mit seinem ei-
und ihrer Praxis der Deutung thematisiert werden. genen Gang, mit dem jeweiligen »einen Schritt wei-
Die Metaphern erweisen sich als keineswegs willkür- ter« hat, den er unaufhörlich in seinem Text fordert
lich gewählt: In ihnen spielt sich bereits ein Prozeß (Derrida 1980/1987a).
der Technisierung der Psyche ab, und zwar so, daß Lacans Reformulierung der Freudschen Psycho-
techne und psyche einander niemals äußerlich sind, analyse wird von Derrida einer massiven Kritik un-
und das mit Implikationen für das Denken des Ver- terzogen, die der sophistizierten Naivität gilt, mit der
hältnisses von Leben und Tod. sich Lacan bei Hegel und Heidegger bedient und da-
Freud wird gewisser metaphysischer Reste in der mit höchst verdächtige Konstruktionen in die Psy-
Begrifflichkeit geziehen, etwa in seinem Begriff von choanalyse hereinholt wie etwa das idealistische Kon-
Zeit, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit (der unbewußten zept der »Aufhebung« bei Hegel oder die klassisch
Wünsche). Doch geht es Derrida dabei nicht um Be- metaphysische Entgegensetzung des Sinnlichen und
lehrung oder um Einholung der psychoanalytischen des Intelligiblen (Derrida 1980/1987b).
Theorie in die Philosophie, sondern um ein Zweck- Dem Archiv verschrieben von 1995 widmet sich ne-
bündnis, das mit dem übergreifenden Projekt na- ben einer Fortführung der 1966 aufgenommenen Er-
mens Dekonstruktion zu tun hat. Dekonstruktion als örterung der Gedächtnistheorie bei Freud einer Aus-
metaphysikkritisches Projekt setzt nicht nur auf in- einandersetzung mit Yosef Hayim Yerushalmi und
nerphilosophische Auseinandersetzungen, sondern seiner Behauptung, die Psychoanalyse sei eine (auch
auch auf äußere Herausforderungen in Form frem- nach Freudscher Intention) »jüdische Wissenschaft«
den oder dissidenten Denkens, wozu Derrida auch (Derrida 1995/1997; Yerushalmi 1991/1992). Derrida
die Psychoanalyse zählt – eben soweit sie sich von arbeitet die Implikationen dieser These heraus, dar-
metaphysischen Begriffsresten zu trennen weiß. unter die zu stellende Frage nach dem Verhältnis von
Ein Lehrstück ist Derridas Umgang mit Freuds Wissenschaft und Beschneidung. Auf einer anläßlich
Theorie vom Fetischismus in Glas. Was Freud als eine des dreißigsten Jahrestags des Erscheinens von Fou-
Ausnahme darstellt, nämlich als eine Beschreibung caults Geschichte des Wahnsinns von Elisabeth Roudi-
von »ganz raffinierten Fällen«, in denen die Bejahung nesco und René Major initiierten Tagung war Der-
und die Verleugnung der Kastration zugleich vollzo- rida Foucaults schwierigem Verhältnis zur Psycho-
gen wird (GW XIV, 316), wird von Derrida gegen analyse nachgegangen. Dieser Beitrag ging später zu-
einen bestimmten Ernst der Kastration gewendet, sammen mit einer erneuten Stellungnahme zu Lacan
von dem sich die Psychoanalyse nicht zu lösen weiß: in den Band Résistances – de la psychanalyse ein, der
Man kann die Kastration spielen (und dieses Spiel auf deutsch in leicht variierter Zusammenstellung
mit der Kastration sollte auch in der schwierigen per- unter dem Titel Vergessen wir nicht – die Psychoana-
sönlichen Beziehung von Derrida und Lacan eine lyse! erschien (Derrida 1996/1998). Im Jahr 2000
Rolle spielen; Roudinesco 1986, 418 f.): »Die Finte wurde Derrida die Ehre zuteil, den Eröffnungsvor-
besteht darin, so zu tun, als verliere man, als kastriere trag für die in Paris veranstalteten Generalstände der
man sich, als gebe man sich den Tod, um ihm zu Psychoanalyse zu halten: Seelenstände der Psychoana-
370 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

lyse (2000/2002) ist eine Reflexion über den Begriff –: Limited Inc. Wien 2001 (frz. 1990).
–: Falschgeld. Zeit geben I. München 1993 (frz. 1991).
Grausamkeit in Freuds Theorie, insbesondere seine –: Auslassungspunkte. Wien 1998 (frz. 1992).
Nähe und Distanz zum Todes- oder Aggressions- –: Marx’ Gespenster. Frankfurt a. M. 1996 (frz. 1993).
trieb. –: Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. 2000 (frz. 1994).
De quoi demain. . . (Woraus wird Morgen gemacht –: Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997 (frz. 1995).
–: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt a. M. 1998
sein?) ist die Aufzeichnung eines langen Gesprächs, (frz. 1996).
das Elisabeth Roudinesco und Jacques Derrida mit- –: Seelenstände der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 2002 (frz.
einander führten (Derrida/Roudinesco 2001/2006). 2000).
Das letzte und umfangreichste Kapitel heißt (auf –: Le toucher, Jean-Luc Nancy. Paris 2000.
–: Et si l’animal repondait? In: L’Herne 83: Derrida. Paris 2004,
Merleau-Ponty anspielend) Lob der Psychoanalyse. 117–129.
Derrida zeigt sich sehr zufrieden mit dem ihm ange- – /Geoffrey Bennington: Jacques Derrida. Ein Portrait. Frank-
dienten Titel eines »Freundes der Psychoanalyse«. furt a. M. 1994 (frz. 1991).
Der Freund unterliegt keiner institutionellen Bin- – /Elisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein?
Ein Dialog. Stuttgart 2006 (frz. 2001).
dung, obgleich die Freundschaft doch größter Ver- Gondek, Hans-Dieter: »La séance continue«. Jacques Derrida
pflichtungen fähig ist; zudem ist sie frei von allen und die Psychoanalyse. In: Derrida 1996/1998, 179–232.
Bezügen der Verwandtschaft oder gar des Blutes, wie – /Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Phi-
sie etwa in der vielfach beschworenen Brüderlichkeit losophie von Jacques Derrida. Frankfurt a. M. 1997.
Kofman, Sarah: Die Kindheit der Kunst. München 1993 (frz.
zum Tragen kommt (ebd., 271 ff.; Derrida 1996/1998, 1985).
304 ff.). Doch als Freund braucht er keine Rücksicht Lacoue-Labarthe, Philippe/Jean-Luc Nancy: Le titre de la lettre.
zu nehmen, ja, er darf es gar nicht: Er hält die Freud- Paris 1973.
sche Begrifflichkeit, etwa die der zwei Topiken, nicht Roudinesco, Elisabeth: Histoire de la psychanalyse en France. 2
(1925–1985). Paris 1986.
für überlebensfähig – es sind »vorläufige Waffen, ja Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unend-
zusammengebastelte rhetorische Werkzeuge gegen liches Judentum. Berlin 1992 (engl. 1991).
eine Philosophie des Bewußtseins, der transparenten Hans-Dieter Gondek
und voll verantwortlichen Intentionalität« (Derrida/
Roudinesco 2001/2006, 279 f.). Das wird nicht mit
Klinische Implikationen der Lacanschen
der Intention vertreten, daß die Psychoanalyse sich
Psychoanalyse
anzupassen habe, etwa an die Vorgaben der Neuro-
biologie, sondern daß sie vielmehr ihr Schreiben »im Jacques Lacan hat Theorie und Technik der Freud-
Namen eines Wissens ohne Alibi«, im Namen »theo- schen Psychoanalyse, die für ihn nicht zu trennen
retischer ›Fiktionen‹« zu pflegen und weiterzuführen sind, erheblich modifiziert. Ab 1951 führte er, um
habe (ebd., 281). der atemporalen Struktur des Unbewußten besser
In Derridas Umgebung sind einige wichtige Arbei- Genüge zu tun und der Sklerotisierung der Kur
ten zur Psychoanalyse entstanden, vor allem von Sa- durch zeitlich limitierte Sitzungen entgegenzuwirken
rah Kofman, Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc – niemand kann wirklich begründen, warum eine
Nancy. analytische Sitzung genau 45 Minuten zu dauern hat,
obwohl dies bis heute als heilige Regel gilt –, Sitzun-
Literatur gen von variabler Dauer ein, die von Lacans Kritikern
Bernet, Rudolf: Derrida – Husserl – Freud. Die Spur der Über-
tragung. In: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels
in pejorativer Absicht als »kurze Sitzungen« bezeich-
(Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques net werden. Hintergrund dieser technischen Neue-
Derrida. Frankfurt a. M. 1997, 99–123 (engl. 1994). rung ist zunächst Lacans Konzeption des Ichs, das als
Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. Objekt, wie bei Freud, vor allem aber aufgrund seiner
1972 (frz. 1967).
–: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974 (frz. 1967).
Entstehung im sog. Spiegelstadium (Lacan 1966/
–: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M. 2003 (frz. 1973c) und seiner imaginären Identifizierungen als
1972). eine Instanz der systematischen Verkennung dem Zu-
–: Dissemination. Wien 1995 (frz. 1972). gang zum Unbewußten (Ich und Subjekt sind ek-
–: Randgänge der Philosophie. Wien 2000 (frz. 1972).
–: Glas. Paris 1972.
zentrisch) im Wege steht und deshalb nicht noch ge-
–: Spekulieren – über/auf »Freud«. In: Die Postkarte. 2. Liefe- stärkt werden darf. Die entfremdenden, weil extern
rung. Berlin 1987a, 7–181 (frz. 1980). induzierten Identifizierungen des Ichs müssen Lacan
–: Der Facteur der Wahrheit. In: Die Postkarte. 2. Lieferung. zufolge dekonstruiert werden, wozu nicht zuletzt der
Berlin 1987b, 183–281 (frz. 1980).
–: Du Tout. In: Die Postkarte. 2. Lieferung. Berlin 1987c,
veränderte zeitliche Rahmen der Kur dienen soll. Für
283–310 (frz. 1980). Lacan fördert die traditionelle Handhabung des Zeit-
–: Psyché. Inventions de l’autre. Paris 1987. rahmens in seiner zwanghaften Applikation geradezu
Philosophie 371

die Widerstandsfunktionen des Ichs, das sich in die- die Ursache des Begehrens in der Analyse ist und das,
ser garantierten Zeitzuteilung bequem installieren am Ende der Kur, vom Analysanten aufgegeben wer-
kann, und verhindert damit die Arbeit an den kost- den kann und muß. Dies gilt Lacan zufolge für die
baren Momenten der Öffnung des Unbewußten. Behandlung von Neurosen.
Aber auch Lacans Deutungstechnik, die sich vor Anders als Freud hat sich Lacan zeit seines Lebens
allem, freilich längst nicht nur auf die Betonung und auch der Theorie und Behandlung der Psychosen ge-
Hervorhebung von Signifikanten stützt, verstärkt, widmet, die neben Neurosen und Perversionen eine
ebenso wie die unkalkulierbare Dauer einer Sitzung, ganz eigene klinische Struktur bilden. Die Psychose
den erwünschten Überraschungseffekt. Das Gewicht, als Struktur beruht für Lacan im wesentlichen auf
das Lacan der Signifikantendeutung beilegt, ist einer- dem Mechanismus der Verwerfung. In ihr fehlt der
seits eine direkte Folge seiner Annahme, daß das Un- »Name des Vaters«, der die erste Metapher – und mit
bewußte wie eine Sprache strukturiert ist (Lacan ihr die Voraussetzung für das Funktionieren von
1966/1975d). Die einzelnen Zeichen der Sprache er- Sprache – und die symbolische Kastration – also den
halten ihren Wert aber andererseits nur durch Diffe- Mangel, der dem Begehren zugrundeliegt – einführt.
renz und Opposition zu anderen Zeichen, so daß al- Mit dieser Verwerfung sind eigentlich die Grundvor-
lein Deutungen, die das Differenzspiel der Signifi- aussetzungen für eine psychoanalytische Behandlung
kanten aufnehmen, der Signifikantenkette entlang- nicht gegeben, denn der Wunsch nach einer Kur ent-
gleiten und diese von verdrängten Signifikanten steht allein aus dem Mangel, und Deutungen sind
unterbrochene Kette wiederherstellen können, um nur möglich, wenn die linguistischen Mechanismen
dergestalt zum Begehren des Analysanten zu gelan- der Metaphorisierung und Metonymisierung funk-
gen. In seiner späten Schrift Konstruktionen in der tionieren. Gleichwohl hat Lacan (und viele seine
Analyse (GW XVI, 41–56) hatte Freud bereits darauf Nachfolger) nicht aufgehört, mit psychotischen Pa-
hingewiesen, daß es in der Kur nicht immer zu wie- tienten zu arbeiten, indem er den Schwerpunkt der
dergewonnenen Erinnerungen kommt, daß aber die Behandlung auf die Arbeit am Symbolischen legte
Wahrheit der Konstruktion therapeutisch dasselbe und z. B. ein Nein einzuführen versuchte, mit der Ab-
leisten könne wie jene Wiedergewinnung. sicht, einen zumindest partiellen Mangel zu konstitu-
Einen noch weiteren Schritt weg von der Herme- ieren (Borens 1993).
neutik als der Wissenschaft von der Entschlüsselung Schließlich hat sich Lacan auch der dritten klini-
von Bedeutungen, die auf einem transzendentalen Si- schen Struktur, den Perversionen, zugewandt. In An-
gnifikat beruhen, tut Lacan, wenn er immer wieder lehnung an Freud betont er die Verleugnung in der
festhält, dass das Begehren seine Deutung ist (vgl. Perversion und zeigt, daß, wenn sich die Neurose als
z. B. Lacan 1958/59). Die modifizierte Handhabung Frage zu erkennen gibt, die Perversion sich durch das
des Rahmens und – freilich nicht ausschließliche – Fehlen einer Frage auszeichnet. Der Perverse weiß,
Signifikantendeutungen dienen zum anderen dazu, daß seine (perversen) Akte dem Genießen des An-
das Wissen des Analytikers wie dasjenige des Analy- deren dienen. Dieses Wissen in Verbindung mit einer
santen (seines Ichs) zugunsten einer unbewußten wenig verläßlichen Einschreibung des Namens des
Wahrheit schrittweise zurückzunehmen. Damit Vaters, die ihn zu einer permanenten Umgehung des
kommt eine neue Auffassung der Übertragung ins Gesetzes veranlaßt, behindert die Möglichkeit der
Spiel. Ausgangspunkt der Übertragung ist die Liebe, Behandlung des perversen Subjekts fundamental,
die von Anfang an ambivalent, d. h. mit Haß ge- scheint es sich doch nicht auf die notwendige Voraus-
mischt ist, zu jenem Subjekt, dem Wissen unterstellt setzung zur Übertragung einzulassen, da es als wis-
wird. Der Analytiker ist natürlich nicht im Besitz die- sendes keinem anderen Subjekt Wissen unterstellen
ses Wissens. Aber er kann dem Analysanten durch kann. Lacan selbst hat zu der Frage der Behandel-
den Abbau von dessen imaginärem Wissen und barkeit keine eindeutige Stellung genommen; er
durch die Auflösung (Analyse) von dessen imaginä- selbst arbeitete, wie die meisten Analytiker, mit Per-
ren Identifikationen den Zugang zu seiner Wahrheit, versen, doch gilt es zu bedenken, daß aufgrund der
nämlich seinen singulären Umgang mit dem Mangel schon von Freud festgehaltenen Spaltung in der Per-
und dem Bezug zu seinem Begehren, eröffnen. In- version, wenn überhaupt, dann nur der neurotische
dem das Subjekt dazu ermutigt wird, in bezug auf Anteil des perversen Subjekts sich auf die Arbeit der
sein Begehren nicht nachzugeben – womit Lacan die Kur einzulassen vermag.
ethische Dimension der Psychoanalyse heraus-
streicht –, wird der Analytiker nicht zu einer weiteren
Identifikationsfigur, sondern zu einem Objekt a, das
372 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Literatur Lacan, Jacques: Le désir et son interprétation. Seminar 1958/59


Borens, Raymond: Das fehlende Nein. Ein Beitrag zum Ver- [unveröffentlicht].
ständnis der Psychose. In: Günter Lempa/Elisabeth Troje –: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Schrif-
(Hg.): Psychoanalytische Technik, ihre Anwendungen und ten I. Olten/Freiburg i.Br. 1973, 61–70 (frz. 1966).
Veränderungen in der Psychotherapie, Göttingen 2004, –: Die Wissenschaft und die Wahrheit. In: Schriften II, Olten/
50–65. Freiburg i. Br. 1975, 231–257 (frz. 1966).
–: Fragmentarische Überlegungen zur Psychose. In: RISS 8 Raymond Borens
(1993), 40–49.
373

8. Marxismus

Im historischen Rückblick kann man die Geschichte ren Verhältnissen unter den Menschen führe. »Mit
des Verhältnisses von Marxismus und Freudscher der Aufhebung des Privateigentums«, schreibt Freud
Psychoanalyse getrost als die eines weitgehenden in Das Unbehagen in der Kultur, »entzieht man der
Mißverständnisses, aber auch wechselseitiger Igno- menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge,
ranz bezeichnen. Auch wenn es in den 1920er und gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste«
frühen 1930er Jahren und dann noch einmal um (ebd., 473), denn es bleibe dabei, daß Aggressions-
1968 mehr oder minder ernsthafte Versuche gab, hi- neigung und -lust beim Menschen unbezwingbar
storischen Materialismus und Freudianismus einan- seien (ebd.). Im ganzen sieht Freud im Marxismus
der anzunähern, bleibt unterm Strich die Erkenntnis, eine geistige und politische Gestalt, die sich Illusio-
daß jene Versuche als gescheitert betrachtet werden nen über die menschliche Natur und deren »Unbän-
müssen. Zu groß und bedeutend waren die Unver- digkeit« hingebe (GW XV, 197; GW XIV, 504), indem
einbarkeiten zwischen einer psychologischen Theo- sie an das Verbesserungsfähige und Gute im Men-
rie, die die Irrationalität unbewußter Prozesse und schen glaube. Von heute her kann man sagen, daß
die Eigenmächtigkeit und Unverfügbarkeit des Trieb- Freud das Scheitern des sowjetmarxistischen Gesell-
lebens in den Mittelpunkt ihres Welt- und Men- schaftsmodells, das ja nicht nur ökonomische, son-
schenverständnisses stellt, und einer Sozialtheorie, dern auch andere, z. B. sozialpsychologische, Ursa-
die auf die Rationalität und Aufgeklärtheit der Ak- chen hatte, mit enormer Klarsicht vorausgesehen hat
teure gesellschaftlicher Veränderung setzt, als daß (vgl. z. B. GW XIV, 369).
eine plausible Vermittlung beider, die mehr als bloßer
Wunsch oder bloße Behauptung ist, möglich gewesen
Die erste Freud-Marx-Debatte
wäre.
So ist es denn auch keineswegs verwunderlich, daß Freuds distanzierter, allenfalls skeptisch neutraler
Freud selber so gut wie keine Notiz von Marx und Haltung gegenüber Marxismus und Bolschewismus
dem zeitgenössischen Marxismus genommen hat zum Trotz gab es zu Beginn der 1920er Jahre in der
(Jones III, 403). Eher beiläufig erledigt er, der notori- jungen Sowjetunion gewisse Bemühungen seitens ei-
sche Materialist, in der Neuen Folge der Vorlesungen ner aufgeschlossenen linken Intelligenzija, Freud und
zur Einführung in die Psychoanalyse den Marxismus Marx einander näherzubringen (Etkind 1993/1996,
mit dem Hinweis, dessen dialektische Geschichtsauf- 219 ff.). Dieser sog. Freudomarxismus kaprizierte
fassung sei »ein Niederschlag jener dunklen Hegel- sich in erster Linie darauf, aus dem Freudschen Lehr-
schen Philosophie, durch deren Schule auch Marx gebäude einen Extrakt an Leitlinien zu destillieren,
gegangen ist«, und insofern alles andere als materiali- die dazu taugen sollten, auf dem Gebiet der Erzie-
stisch (GW XV, 191 f.). Außerdem mokiert sich Freud hung Anwendung zu finden. So wurde 1921 in Mos-
über den Marxismus als eine Art Religionsersatz und kau ein psychoanalytisches Kinderheim eröffnet, das
»Quelle einer Offenbarung«, die für seine Anhänger von der Pädagogin Wera Schmidt geleitet wurde und
an die Stelle von Bibel und Koran getreten sei (ebd., an dem bekannte Psychoanalytiker wie Iwan Jerma-
195). Auch im Hinblick auf »das große Kulturexperi- kow und Mosche Wulff arbeiteten. Als »Freudismus«
ment« (GW XIV, 330) im bolschewistischen Rußland mutierte Freuds Lehre zu einer Art Psychotechnik,
zeigt sich Freud eher skeptisch, indem er anmerkt, es »Pädologie« genannt, zur Konditionierung des so-
sei doch höchst fraglich, ob die vom Marxismus ge- wjetischen Nachwuchses. Freilich zeigte sich relativ
forderte und vom sowjetischen Kommunismus prak- bald, daß der der Psychoanalyse unterstellte »Sexua-
tizierte Abschaffung des Privateigentums an Produk- lismus« und »Pansexualismus« mit den Zielen des
tionsmitteln tatsächlich zu besseren und friedliche- Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung und der
374 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Aufzucht eines »neuen Menschen« unvereinbar war nirgends als Sozialist, aber ebensowenig irgendwo als
und von daher bekämpft werden mußte. Insgesamt, Gegner des Sozialismus bekannt« (ebd., 18).
so kann man resümieren, erwies sich die Psychoana- Während also Linksfreudianer wie Bernfeld, Reich
lyse aus Sicht der neuen bolschewistischen Macht- (zumindest in einer frühen Phase seines Denkens)
haber und der Mehrheit der Parteiintellektuellen als und Otto Fenichel darum bemüht waren, Triebtheo-
zu individualistisch, eigenbrötlerisch und »bürger- rie und Sozialtheorie in eine gemeinsame Perspektive
lich«, als daß sie mit den utopischen Vorstellungen zu rücken, gab es, ähnlich wie in der Sowjetunion der
vom egalitären Kollektiv kompatibel gewesen wäre 1920er und frühen 1930er Jahre, auch in der deut-
(vgl. die in Sandkühler 1970 dokumentierte De- schen Debatte entschiedene Gegenstimmen. So warf
batte). Mit der politischen Entmachtung und der Fritz Sternberg (1932) der Psychoanalyse generell ge-
Verbannung Lew Trotzkijs Ende der 1920er Jahre, der schichtliche Blindheit und »A-Historizität« vor (ebd.,
sich für eine Rezeption der Psychoanalyse stark ge- 121) und dekretierte: »Freud weiß nichts von Klassen
macht hatte, war ihr Schicksal in der Sowjetunion und Klassenkämpfen« (ebd., 123). Auch der einfluß-
faktisch besiegelt. Spätestens Mitte der 1930er Jahre, reiche marxistische Theoretiker Georg Lukács, Autor
als Stalin seine Machtstellung im sowjetischen Partei- von Geschichte und Klassenbewußtsein (1923),
und Terrorapparat endgültig gefestigt hatte, war wandte sich vehement gegen jeden Versuch, die
sie dort wieder von der Bildfläche verschwunden Freudsche Theorie in das Lehrgebäude des Marxis-
(Nitzschke 1989, 113). Fortan galt: »Freudismus: eine mus zu integrieren (vgl. Dahmer 1973, 299 ff.). Die
reaktionäre idealistische Richtung, die in der bour- heute als ›klassisch‹ zu bezeichnende Debatte zwi-
geoisen wissenschaftlichen Psychologie weit verbrei- schen Psychoanalyse und Marxismus, wie inhaltlich
tet ist […] Freudismus wie Neo-Freudismus stehen unbefriedigend sie auch immer geführt wurde, da sie
jetzt im Dienste des Imperialismus, welcher diese stets von politischen Großwetterlagen mitdetermi-
›Lehren‹ von der Unterordnung des Bewußtseins un- niert war (Nitzschke 1989, 122), geriet durch den
ter das Unbewußte dazu benutzt, die niedrigsten und Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland und
widerwärtigsten Triebe zu rechtfertigen und zu ent- Mitteleuropa sowie durch den Triumph des Stalinis-
wickeln« (zit. nach ebd., 115). mus in der Sowjetunion und Osteuropa für Jahr-
Die ernsthaftesten Versuche einer Vermittlung von zehnte vollständig in die Defensive und verstummte
Psychoanalyse und Marxismus gab es im deutsch- schließlich ganz.
sprachigen Raum – dem Mutterboden sowohl der ei-
nen wie des anderen. Marxistisch orientierte Freudia-
Die zweite Freud-Marx-Debatte
ner wie Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich erhoff-
ten sich von einer auf psychoanalytischen Erkennt- Erst Ende der 1960er Jahre kam es im Zuge der Wie-
nissen basierenden Pädagogik (Bernfeld) und von deraneignung freudianischer und marxistischer Tra-
einer die herrschende oppressive Sexualmoral spren- ditionen durch eine neue Generation von Intellektu-
genden Politisierung des Sexus (Reich) weitreichende ellen, die mit den Denkverboten und Tabus der
revolutionäre Konsequenzen, denen Freud selber Nachkriegsgesellschaft brach, zu einer, wenn auch
freilich eher skeptisch abwartend gegenüberstand. So nur kurzzeitigen, Renaissance der Freud-Marx-De-
versuchte Bernfeld (1926) auch theoretisch, eine in- batte. Freilich zeigte sich schon an den publizisti-
nere Nähe von Marxismus und Psychoanalyse zu schen Strategien dieser zweiten Debatte (Sandkühler
konstruieren. Es gebe, so sein Argument, eine »Iden- 1970; Gente 1970; Dahmer 1972; 1973, 257–304),
tität der Denkweise« (ebd., 14) von Freud und Marx daß im wesentlichen nur die alten Positionen refe-
insofern, als beide materialistisch, antiidealistisch, riert und rekapituliert wurden. In einer Flut von
»destruktiv« und gegen alle »Werte« seien. Die innere Drucken wurden die Schriften von Reich, Bernfeld
Verwandtschaft beider Lehren bestehe weiterhin in und Fenichel aus den 1920er und 1930er Jahren ver-
der Parallele der Geschichte des Seelenlebens und der breitet, ohne daß inhaltlich neue Argumente vorge-
Geschichte der Gesellschaft – die von Freud diagno- tragen wurden. Wie schon in jenen Jahren diente der
stizierte Neurose sei auch eine »soziale Erkrankung« erneute Versuch der Vermittlung von Psychoanalyse
(ebd., 26). Wie Freud postuliere, daß es Kriege geben und Marxismus hauptsächlich dazu, einen als pro-
müsse, solange die Existenzbedingungen der Völker gressiv geltenden pädagogischen und sozialisatori-
so verschieden seien (GW X, 325), so postuliere der schen Stil zu propagieren, der als »antiautoritär« und
Marxismus die Notwendigkeit des Klassenkampfs, »antirepressiv« markiert wurde und auf eine umfas-
solange die Existenzbedingungen der Klassen so ver- sende sexuelle Befreiung zielte. In dem Maße aller-
schieden seien. Bernfelds Fazit lautet: »Freud hat sich dings, wie die allgemeinen revolutionären Hoffnun-
Marxismus 375

gen der Generation von 1968 sich bald als illusionär 300 ff.) folgend – und plädierte dementsprechend für
erwiesen, stürzten auch die sozialpädagogischen Hö- eine Transformation der Psychoanalyse in ein kon-
henflüge einer antiautoritären Erziehung mit all ih- sequent »dialektisch-hermeneutisches Verfahren«
ren skurrilen und abstoßenden Begleiterscheinungen (Dahmer 1973, 25) – was immer das sei. Der unge-
wie Ikarus ins Bodenlose ab. klärte wissenschaftstheoretische Status der Psycho-
Allerdings gab es auch einige wenige ambitionierte analyse zwischen Biologie, Soziologie und Geistes-
theoretische Versuche, Marx und Freud, historischen wissenschaften verhindere, daß ihr »gesellschaftlicher
Materialismus und Triebtheorie miteinander zu ver- Erfahrungsgehalt« (ebd., 26) zum Tragen komme.
söhnen und die Debatte auf dem Niveau gegenwär- Diesen von Dahmer angemahnten Erfahrungsgehalt
tiger gesellschaftlicher Konflikte und Fragestellungen – den der Bedürftigkeit und des Leidens der gesell-
zu führen. So wies Reimut Reiche in seiner vielge- schaftlichen Individuen, den beide, Freud und Marx,
lesenen Schrift Sexualität und Klassenkampf (1968) im Blick gehabt hätten – versuchte Karola Brede zu
darauf hin, daß sich im »Spätkapitalismus« (wie es einer Zeit, als die Freud-Marx-Debatte in Westeu-
damals hieß) die Funktion der Sexualität grundle- ropa bereits weitgehend abgeflaut war, im Anschluß
gend gewandelt habe. Während in historisch frühe- an ein Streitgespräch zwischen dem Psychoanalytiker
ren Phasen des Kapitalismus (»Konkurrenzkapitalis- André Green und dem marxistischen Philosophen
mus«) eine repressive Funktion der Sexualität domi- Lucien Sève über »Marxisme et psychanalyse« inhalt-
niert habe (ebd., 32 ff.), könne der zeitgenössische lich herauszuarbeiten (Brede 1984/1986).
Kapitalismus auf diese Funktion weitgehend verzich- Demgegenüber gab sich Peter Brückner wesentlich
ten und eine liberalisierte und warenförmig zuge- nüchterner und skeptischer. Denn, so sein Monitum,
richtete Sexualität propagieren, die freier und unge- der Kapitalismus sei so wenig aus Triebschicksalen
bundener sei denn je zuvor: »Die Sexualität wird ein herzuleiten und zu erklären wie umgekehrt psy-
Stück weit ›freigelassen‹«, aber, so Reiche, gerade auf chische Abwehrmechanismen klassenanalytisch in-
diese Weise »in den Dienst der Herrschaftssicherung terpretiert werden könnten (Brückner 1972, 393).
genommen« (ebd., 41). Deshalb glaubte er im An- Damit ließ Brückner letztlich nur erkennen, daß je-
schluß an Herbert Marcuse, vor einer »repressiven der noch so gutgemeinte Versuch, Freud und Marx in
Entsublimierung« der Sexualität, wie sie in seinen eine gemeinsame Perspektive zu zwingen, zum Schei-
Augen auch Teile der antiautoritären Bewegung tern verurteilt sei. Implizit folgte er damit der me-
praktizierten, nachdrücklich warnen zu müssen. thodischen Vorgabe der Kritischen Theorie, vor al-
Helmut Dahmers Debattenbeiträge konzentrierten lem Adornos (vgl. Kap. IV.9), die Gegenstandsberei-
sich im wesentlichen auf die schon in den 1920er Jah- che von Psychologie und Gesellschaftstheorie bis auf
ren aufgeworfene Frage nach den möglichen Ge- weiteres strikt auseinanderzuhalten und sie in dieser
meinsamkeiten von Freudscher und Marxscher Getrenntheit gemäß ihrer je eigenen Sachlogik zu
Theorie. Wenn es bei ihm heißt, Freuds Psychologie untersuchen – gegen jede »erpreßte Versöhnung«
sei zwar »sozialhistorisch unaufgeklärt – aber sie sagt (Adorno 1958/1974; vgl. auch Adorno 1955/1974,
viel darüber, was unter diesen [den kapitalistischen, 13).
HML] Verhältnissen aus den Menschen wird« (Dah- Einen – hier allerdings zu vernachlässigenden –
mer 1972, 106), so war damit in solcher Pauschalität Sonderfall des Freudomarxismus stellt die in den
freilich wenig gewonnen. Ebensowenig wie mit dem 1960er Jahren in Frankreich geführte Debatte über
Hinweis, die sachliche Nähe von Psychoanalyse und das Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse
Marxismus ergebe sich aus der Verwandtschaftlich- dar, an dem u. a. Philosophen wie Jean-Paul Sartre
keit des Konflikts der seelischen Instanzen und des (Sartre 1960/1964; 1960/1967) und Louis Althusser
Konflikts der sozialen Klassen – als ob beide Kon- beteiligt waren (zu dieser Debatte vgl. Kap. IV.7).
flikte irgendeinen gemeinsamen Bezugspunkt hätten Auch das von Marxismus und (Lacanscher) Psycho-
(vgl. Lohmann 1996/2005) – und daraus, daß Freud analyse gleichermaßen inspirierte Werk des sloweni-
und Marx gegen den »gesunden Menschenverstand« schen Philosophen Slavoj Žižek gehört ins Register
verstoßen (Dahmer 1972, 107), was wohl wahr ist, des Freudomarxismus (Žižek 1999/2001).
aber genauso auf Platon, Kant und Nietzsche zutrifft.
Als ein zentrales Widerstandsmoment der Freud-
Geld und Trieb
schen Psychoanalyse gegen ihre geschichtsmateriali-
stische Vermittelbarkeit diagnostizierte Dahmer ihr Einen originellen Seitentrieb der Debatte zwischen
»szientistisches Selbstmißverständnis« als Naturwis- Marxismus und Psychoanalyse bildet die Diskussion
senschaft der Seele – darin Jürgen Habermas (1968, über Geld und Geldinteresse – oder hätte sie bilden
376 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

können, wenn sie je geführt worden wäre (vgl. Bor- zum sechzigsten Geburtstag gewidmet. Frankfurt a. M./Köln
1974, 11–45.
neman 1973/1977). Seit Freuds kleiner Arbeit über –: Erpreßte Versöhnung [1958]. In: Ders.: Noten zur Literatur.
Charakter und Analerotik (GW VII, 201–209) hat es Gesammelte Schriften 11. Frankfurt a. M. 1974, 251–280.
seitens der Psychoanalyse immer wieder Ansätze und Bernfeld, Siegfried: Sozialismus und Psychoanalyse [1926]. In:
Versuche gegeben, dem Geheimnis des »Geldfe- Gente 1970, 11–29.
Borneman, Ernest: Psychoanalyse des Geldes. Eine kritische Un-
tischs« (Marx) triebtheoretisch auf die Spur zu kom- tersuchung psychoanalytischer Geldtheorien [1973]. Frank-
men und damit ein Thema anzuschlagen, das in der furt a. M. 1977.
marxistischen Theorie eine überragend prominente Brede, Karola: Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Arbeit
Stellung besetzt: Geld/Kapital als sich selbst verwer- und Trieb: Marx und Freud im Vergleich. In: Hans-Martin
Lohmann (Hg.): Die Psychoanalyse auf der Couch [1984].
tender Wert, d. h. als die irrationale Ursprungsset- Frankfurt a. M. 1986, 47–59.
zung par excellence, auf dem der Kapitalismus bis Brückner, Peter: Marx, Freud. In: Gente 1972, 360–395.
heute beruht. Erinnert sei an die Arbeiten etwa von Dahmer, Helmut: Psychoanalyse und historischer Materialis-
Karl Abraham (Das Geldausgeben im Angstzustand, mus. In: Alfred Lorenzer u. a. (Hg.): Psychoanalyse als So-
zialwissenschaft. Frankfurt a. M. 1971, 60–92.
1917), Bernhard Dattner (Gold und Kot, 1913), Otto –: Wilhelm Reich – seine Stellung zu Freud und Marx. In:
Fenichel (Der Trieb der Geldakkumulation, 1938), Gente 1972, 80–115.
Sándor Ferenczi (Zur Ontogenie des Geldinteresses, –: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freud-
1914; Pecunia – olet, 1916), Susan Isaacs (Besitz und sche Linke. Frankfurt a. M. 1973.
Etkind, Alexander: Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der
Besitzgier: Eine Kleinianische Deutung, 1948), René Psychoanalyse in Rußland. Leipzig 1996 (russ. 1993).
Laforgue (Gold und Kapital. Psychoanalytische Be- Gente, Hans-Peter (Hg.): Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol.
merkungen, 1931) und Theodor Reik (Gold und Kot, Frankfurt a. M. Bd. 1 1970, Bd. 2 1972.
1915). Auch wenn die Psychoanalyse mit ihren Bei- Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.
1968.
trägen keine historische Kapitalismusanalyse liefern Harsch, Wolfgang: Die psychoanalytische Geldtheorie. Frankfurt
konnte und wollte, so sind doch ihre Erkenntnisse a. M. 1995.
über die dem Kapitalismus in seiner bürgerlich-libe- Lohmann, Hans-Martin: Die Konflikttheorie der Psychoana-
ralen Phase günstigen Charaktereigenschaften und lyse. In: Thorsten Bonacker (Hg.): Sozialwissenschaftliche
Konflikttheorien. Eine Einführung [1996]. Wiesbaden 2005,
Zwangsneurosen, d. h. über ›Tugenden‹ wie Sparen, 447–459.
Sammeln, Sauberkeit, Ordnungssinn und Gründlich- Nitzschke, Bernd: Marxismus und Psychoanalyse. Historische
keit, für eine materialistische Geschichts- und Gesell- und aktuelle Aspekte der Freud-Marx-Debatte. In: Luzifer-
schaftstheorie alles andere als belanglos (vgl. Harsch Amor 2 (1989), 108–138.
Osborne, Reuben: Marxismus und Psychoanalyse. Frankfurt
1995). Der insgesamt hyperrationale Zug, der dem a. M. 1975 (engl. 1937).
Marxismus seit jeher anhaftet und ihn hindert, die Reiche, Reimut: Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr re-
irrationalen und ›triebhaften‹ Seiten der kapitalisti- pressiver Entsublimierung. Frankfurt a. M. 1968.
schen Vergesellschaftung angemessen wahrzuneh- Sandkühler, Hans-Jörg (Hg.): Bernfeld, Reich, Jurinetz, Sapir,
Stoljarov: Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation ei-
men, führte dazu, daß eine wirklich inhaltliche Aus- ner Kontroverse. Frankfurt a. M. 1970.
einandersetzung über die Sonderbarkeit des »Geldin- Sartre, Jean-Paul: Marxismus und Existentialismus. Versuch ei-
teresses« zwischen Marxismus und Psychoanalyse nie ner Methodik. Reinbek 1964 (frz. 1960).
stattfand. Ironischerweise hat der Marxismus in Ge- –: Kritik der dialektischen Vernunft. Reinbek 1967 (frz. 1960).
Sternberg, Fritz: Marxismus und Verdrängung [1932]. In:
stalt der kommunistischen Volksrepublik China jenes Gente 1970, 115–128.
einstmals von ihm verpönte Interesse inzwischen zur Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a. M. 2001
obersten Staatsräson erhoben. (engl. 1999).
Hans-Martin Lohmann
Literatur
Adorno, Theodor W.: Zum Verhältnis von Soziologie und Psy-
chologie [1955]. In: Sociologica I. Aufsätze. Max Horkheimer
377

9. Kritische Theorie

Schon in den ausgehenden 1920er und frühen 1930er eine das Bewußtsein verfälschende Triebmotorik be-
Jahren ließen die Vertreter der später sog. Kritischen stimmt« wird (Horkheimer 1932/1988, 59), das ge-
Theorie bzw. Frankfurter Schule ein ausgeprägtes In- gen ihre eigenen Lebensinteressen verstößt, dann be-
teresse an Freud und der Psychoanalyse erkennen. dürfe es einer Psychologie, die diesen Widerspruch
Das mag zum einen damit zusammenhängen, daß zu erklären und aufzulösen in der Lage ist. »Es wäre
die Protagonisten dieser Schule, bevor sie 1933 zur zu erforschen, wie die psychischen Mechanismen zu-
Emigration gezwungen wurden, enge Kontakte zu stande kommen, durch die es möglich ist, daß Span-
den in Frankfurt a. M. tätigen Psychoanalytikern un- nungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, die
terhielten (Lohmann 1989, 94 f.). Dies waren u. a. auf Grund der ökonomischen Lage zu Konflikten
Karl Landauer, Heinrich Meng, Frieda Fromm- drängen, latent bleiben können« (ebd., 60). Und:
Reichmann und Erich Fromm, Mitglieder des 1929 »Das Ökonomische erscheint als das Umfassende
gegründeten Frankfurter Psychoanalytischen Insti- und Primäre, aber die Erkenntnis der Bedingtheit im
tuts, die, da sie über kein eigenes Domizil verfügten, einzelnen, die Durchforschung der vermittelnden
die Gastfreundschaft des von Carl Grünberg gegrün- Hergänge selbst und daher auch das Begreifen des
deten und seit 1930 von Max Horkheimer geleiteten Resultats hängen von der psychologischen Arbeit ab«
Instituts für Sozialforschung genossen, in dessen (ebd., 65). Damit waren die Umrisse eines an-
Räumen sie ihre Veranstaltungen abhielten. Fromm spruchsvollen Theorieprogramms skizziert, das sich
und Landauer gehörten zu den späteren Mitarbeitern auf der Basis der Freudschen Theorie des Unbewuß-
und -autoren der vom Institut initiierten Studien ten als Politische Psychologie etablierte (s. Kap.
über Autorität und Familie, während Horkheimer IV.15) und in den 1930er und 1940er Jahren zu fol-
wiederum in Analyse bei Landauer war, um sich genreichen, großenteils empirischen Forschungspro-
seine Hemmung, ohne vorbereiteten Text Vorlesun- jekten über Autorität und Familie (Fromm 1936/
gen zu halten, »wegtherapieren« zu lassen (Wiggers- 1970), den autoritären Charakter (Adorno 1950/
haus 1986, 61). 1973), über Antisemitismus und Vorurteil (Horkhei-
Ausschlaggebend für das Interesse Horkheimers, mer/Flowerman 1949–1950) und die Struktur der
Theodor W. Adornos und Herbert Marcuses – faschistischen Propaganda (Adorno 1951/1971)
Fromm war beides: Mitglied des Instituts und ausge- führte.
bildeter Psychoanalytiker – an der Freudschen Theo-
rie war indessen etwas anderes. Im Gegensatz zum
Mit Freud gegen Freud
Offizialmarxismus jener Jahre, der die Konstitution
von Klassenbewußtsein bei den ausgebeuteten Mas- War die Freud-Rezeption der Kritischen Theorie
sen mit deren ›objektiver Klassenlage‹ im kapitalisti- während der 1930er Jahre noch wesentlich von dem
schen Produktionsprozeß verknüpfte, erkannten sie, praktisch-politischen Impuls bestimmt, mit den Mit-
daß objektive Lage und subjektives Bewußtsein kei- teln der Psychoanalyse die Kluft zwischen objektiven
neswegs übereinstimmen müssen. Im Gegenteil. Des- gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnissen und
halb war für sie die Situation anders und wesentlich subjektiven Bewußtseinslagen der betroffenen Indivi-
komplizierter. Wenn, wie Horkheimer am Vorabend duen auszuleuchten und so einen Beitrag zur politi-
des Nationalsozialismus notierte, »die Wirtschaft bis schen Aufklärung zu leisten, so sollte sich dies im
weit in die geheiligten innerseelischen Bezirke hin- Verlauf der 1940er Jahre ändern (vgl. Reiche 1993/
einspielt« (Horkheimer 1934/1987, 416) und wenn 2002, 27; Krovoza/Schneider 1996, 636). Mit der
»das Handeln numerisch bedeutender sozialer Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno
Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch 1947), entstanden im Schlagschatten der nationalso-
378 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

zialistischen Vernichtungspolitik und unter dem Ein- hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst,
druck geschichtlich neuer technischer Zerstörungs- der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter
potentiale, trat ein Werk auf den Plan, dessen des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird
Sprengkraft sich vor allem darin erwies, daß es den noch in jeder Kindheit wiederholt« (ebd., 47). Das
noch von Freud, etwa in der Zukunft einer Illusion richtet sich frontal gegen Freud, für den der Prozeß
(GW XIV, 323–380), postulierten Zusammenhang vernünftiger gesellschaftlicher Rationalisierung nach
von Illusionszerstörung und Vernunftfortschritt jenem sozialisatorischen Modell verläuft, in dem sich
grundsätzlich infragestellte. Die Zertrümmerung z. B. das ›triebhafte‹, narzißtische, in Illusionen verstrickte
religiöser Vorstellungen, die Freuds Psychoanalyse ins Kind zum aufgeklärt sprechenden und handelnden
Auge faßt, erscheint jetzt nicht mehr als notwendiger Erwachsenen läutert – für die Autoren der Dialektik
Schritt einer Entmythologisierung auf dem Weg zu der Aufklärung eher ein Akt der Gewalt als einer der
vernunftgeleiteter Aufklärung und Selbstbestimmung Emanzipation.
der Gattung, sondern selber als Teil eines Pro- Trotz dieser ohne Zweifel fundamentalen Kritik an
gramms, das Vernunft und Fortschritt vollends zu Freuds Kulturtheorie, sofern diese sich einem linea-
ruinieren droht. Reimut Reiches Beobachtung, daß ren Fortschrittsdenken verpflichtet weiß, ist gleich-
seit dem Ende des Nationalsozialismus Religionskri- wohl schwerlich zu übersehen, daß zumal das Odys-
tik praktisch kein psychoanalytisches Thema mehr seus-Kapitel mit seiner geschichtsphilosophischen
ist, weil Religion sich weitgehend von selbst erledigt Rekonstruktion eines bürgerlichen Urtypus durchaus
hat (Reiche 1993/2002, 24), hält die Ambivalenz oder nach dem Muster der frühen Freudschen Sexualtheo-
›Dialektik‹ dieses Fortschritts fest: Weil im Zeitalter rie argumentiert. Allenthalben hat sich eine trieb-
aufgeklärter Vernunft alle Religion, überhaupt die freundliche Version des Freudianismus in den Text
Reste prä-rationaler, mythischer Weltbilder ausge- eingeschrieben (vgl. Lohmann 1989, 100). Gegen den
dient haben, kann eine wissenschaftlich-technisch natur- und selbstbeherrschenden Zug der mythen-
vereinseitigte Ratio triumphieren (vgl. Horkheimer brechenden Aufklärung, der an der Figur des Odys-
1947/1967), die, wie der Nationalsozialismus, buch- seus und an den von ihm bestandenen Abenteuern
stäblich über Leichen geht. Im Licht dieser Diagnose, prototypisch entfaltet wird, nominieren Horkheimer
die Aufklärung als Selbstillusion, als eine Art neue und Adorno ein nicht-asketisches Ich, das der Lust
Mythologie begreift, gerät auch das Freudsche Den- das Ihre gibt, statt sie mit Fluch zu belegen.
ken mit seinem zentralen Gegensatz von Illusion und Wenn Adorno noch zwanzig Jahre später schreibt:
Aufklärung ins Zwielicht. »Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben
Zumal im Odysseus-Exkurs der Dialektik der Auf- asketisch; umgekehrt wäre es besser« (Adorno 1970,
klärung entfaltet die Freud-Kritik von Horkheimer 27), dann nimmt er damit nicht nur ein Leitmotiv
und Adorno ihre volle Wucht. So wie Freud in Totem aus der Dialektik der Aufklärung wieder auf, sondern
und Tabu (GW IX) oder in der Illusionsschrift eine auch eines des frühen Freud, der der herrschenden
kulturkonstitutive Reihe beschreibt, in dem die Suk- kulturellen Sexualmoral im Namen des Lustprinzips
zession von Mord am Urvater, von Reue und Schuld- eine Absage erteilt (GW VII, 143–167). Mit Freud
gefühlen der Brüderhorde und von der anschließen- wird die »Geschichte der Entsagung« (Horkheimer/
den Errichtung von Verboten und Geboten bzw. der Adorno 1947, 71), d. h. die Geschichte der westlichen
Übergang von Religion/Illusion zur Vernunft ohne Zivilisation von ihren griechischen Anfängen bis zur
Wenn und Aber als Gewinn und Fortschritt verbucht Gegenwart, nicht länger als ›Fortschritt‹ rationali-
wird, so illuminieren Horkheimer/Adorno die Irr- siert, sondern in ihrer ganzen ärmlichen Nacktheit
fahrten des Odysseus, gleichsam des ›ersten Bürgers‹, bloßgestellt. Daß Odysseus sich nicht jenem Weib-
zwar ebenfalls, im Gegensatz zu Freud freilich als lichen überläßt, das den Autoren der Dialektik der
eher evolutionär angelegten Prozeß eines zivilisatori- Aufklärung zufolge eine »größere Affinität zur Natur«
schen Fortschritts, ohne aber den Preis zu verschwei- (ebd., 135) aufweist, daß er vielmehr schlaue Vorkeh-
gen, den solcher Fortschritt verlangt. Der im doppel- rungen trifft, den Gesang der Sirenen zwar zu hören,
ten Sinn ›verschlagene‹ Odysseus ist im Dienst seiner ihm aber nicht zu erliegen, ist der Sündenfall des
unbedingten Selbsterhaltung dazu verdammt, all das (männlichen) Geistes schlechthin, ja ist überhaupt
zu tun, was er eigentlich lassen möchte, und all das erst der Konstitutionsakt verstümmelter Subjektivi-
zu lassen, was er eigentlich tun möchte. Seine müh- tät. »Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten,
sam zusammengehaltene ›Identität‹, sein Selbst ver- haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die
zehrt sich, indem es »das Leben versäumt, das es ret- Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlos-
tet« (Horkheimer/Adorno 1947, 71): »Furchtbares senheit zu seiner Erhaltung gepaart« (ebd., 47). Sol-
Kritische Theorie 379

che Sätze kann nur schreiben, wer ›durch Freud hin- standhielte. In Freuds Werk aber reproduziert sich
durch‹ gegangen ist. wider Willen die Doppelfeindschaft gegen Geist und
Lust, deren gemeinsame Wurzel zu erkennen Psycho-
analyse gerade das Mittel geliefert hat« (72). Adornos
Adorno und die ›amerikanisierte‹
Kritik gipfelt in dem Satz, an der Psychoanalyse sei
Psychoanalyse
nichts wahr als ihre Übertreibungen (56), die sie ge-
Die Erfahrungen des amerikanischen Exils, aus dem rade vor dem bewahren könnten, was ihre Erstarrung
Horkheimer und Adorno Ende der 1940er, Anfang zur Konvention ausmache.
der 1950er Jahre in die Bundesrepublik Deutschland Eine weitere Gelegenheit, sich kritisch mit der Psy-
zurückkehrten, bildeten nicht zuletzt für Adorno ei- choanalyse zu befassen, bot die populäre Neo-Psy-
nen Einschnitt hinsichtlich seiner Freud- und Psy- choanalyse Karen Horneys (Adorno 1952/1973). In-
choanalyse-Rezeption. Die stets vorhandene Nähe teressanterweise wird hier wiederum Freud, und
der amerikanischen Psychoanalyse zu Medizin und zwar unter Einschluß seines biologischen Materialis-
Psychiatrie, die schon Freud in den 1920er Jahren im mus, als orthodoxer Kronzeuge gegen einen ›Kultura-
Namen der Laienanalyse bekämpft hatte, der Vorrang lismus‹ instrumentalisiert (z. B. ebd., 96 f., 107 f.,
der Therapeutik gegenüber der wissenschaftlichen 111), der bereits in den späten 1930er Jahren zur
Seite der Psychoanalyse sowie schließlich die intel- Trennung des Instituts für Sozialforschung von Erich
lektuelle Dominanz, die die Ichpsychologie in den Fromm geführt hatte, der ähnlich wie Horney eine
1940er und 1950er Jahren in den USA gewann (s. um die Trieb- und Sexualtheorie kastrierte Version
Kap. IV.1.3), verstärkten bei Adorno nunmehr den des Freudianismus propagierte. Im Kulturalismus à
Verdacht, die Psychoanalyse sei auf dem besten Weg, la Horney und Fromm, der für neurotische Defor-
zu einer reinen Anpassungspsychologie zu denatu- mationen und Konflikte in erster Linie das soziale
rieren. Seine noch weitgehend im Exil entstandenen Milieu und Umweltfaktoren verantwortlich macht
und 1951 unter dem Titel Minima Moralia veröffent- und damit eine banale »Soziologisierung der Psycho-
lichten Gedanken und Aphorismen (Adorno analyse« betreibt (ebd., 94), erkennt Adorno den Ver-
1951/1969) thematisieren ein ums andere Mal eine such, die Psychoanalyse zu entskandalisieren und sie
Entwicklung, die Adorno zufolge einem Selbstverrat mit dem Pragmatismus amerikanischer Lebensein-
der Psychoanalyse gleichkommt. Im Zentrum der stellungen zu versöhnen: »Die Gesundheit, die ihr
Kritik steht nun Freud als Sachwalter einer Lehre, [Horney] vorschwebt, ist vom Schlag der gleichen
die, so Adorno, das Diktat von psychischer Gesund- Gesellschaft, die sie für die Entstehung der Neurosen
heit und Normalität propagiere, das von der Psycho- verantwortlich macht« (ebd., 105 f.). Mit ähnlicher
analyse praktisch exekutiert werde. Während Adorno Schärfe wird Marcuse im Epilog zu Triebstruktur und
auf polemische Distanz zum amerikanischen Norma- Gesellschaft (Marcuse 1955/1970, 234 ff.) gegen den
litätsideal geht, indem er »die zeitgemäße Krankheit kulturalistischen Revisionismus zu Felde ziehen.
gerade im Normalen« sieht (ebd., 69), betreibt die Wie jede Theorie hat auch die Kritische Theorie
konventionalisierte Psychoanalyse (79) in seinen Au- Adornos einen geschichtlichen Index, einen Zeitkern.
gen bloß noch seelische Hygiene im Dienste sozialer Aus der (wie immer berechtigten) Kritik an Freud
Anpassung: »Der regular guy, das popular girl müs- und der ›amerikanisierten‹ Psychoanalyse – die
sen nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse ver- Adorno zuweilen kurzerhand zusammenwirft, als
drängen, sondern auch noch alle die Symptome, die hätte Freud nie den american way of life abgelehnt
in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten. und vor dem Einfluß der amerikanischen Analytiker
[…] Bestätigt ist der Argwohn, den die Psychoana- auf die Psychoanalyse gewarnt – spricht auch die
lyse hegte, ehe sie selber zu einem Stück Hygiene sich Enttäuschung des Emigranten über ein Land, das ihn
machte« (79). zwar aufgenommen hat, das aber zugleich mentale
Nicht weniger rigoros gibt sich Adornos Kritik, Eigenarten kultiviert, die einem Europäer schwer ver-
wenn sie Freud »unaufgeklärte Aufklärung« vorhält ständlich und erträglich sind. Hinzukommt die Er-
(ebd., 72), insofern dieser das Lustprinzip zum blo- fahrung des Kalten Krieges und der aufziehenden
ßen Mittel der Arterhaltung erniedrige und damit ei- McCarthy-Ära mit ihren politischen Zumutungen
ner übergeordneten Ratio unterwerfe, die auf den gerade für die linken Emigranten. Vielleicht hängt
Namen ›Rationalisierung‹ hört: »Nur wer es ver- der massive Ideologieverdacht, unter den Adorno die
möchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Psychoanalyse stellt, aber auch damit zusammen, daß
Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu be- der Freudianismus in den USA aus jenem Kontext
stimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die herausgerissen war, der seine Rezeption in den
380 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

1920er und 1930er Jahren seitens der Kritischen psychische Struktur und Funktion andererseits zer-
Theorie begünstigt hatte – aus dem Kontext politi- bricht, die jeweils getrennt untersucht werden müs-
scher Kämpfe, in denen es um die legitimen Emanzi- sen, wobei Adorno die Hoffnung nicht aufgibt, daß
pationsinteressen konkreter Gesellschaftsindividuen gerade die »monadologische« Betrachtungsweise des
geht (Krovoza/Schneider 1996, 636), was ja übrigens Individuums dessen reine Inwendigkeit sprengt und
genauso auch für die soziologische Theorie gilt (vgl. das »Allgemeine«, das Gesellschaftliche am Indivi-
Adorno/Horkheimer 2005, 427 f.). duum zum Vorschein bringt (ebd., 18).
Mit Blick auf Adornos Differenzpostulat hält Rei-
che fest, »daß die Psychoanalyse vom Primat des Un-
Soziologie und Psychologie
bewußten und der Triebnatur ausgehen muß und
Mitte der 1950er Jahre war für Adorno der Traum daß die Gesellschaftswissenschaften von dem An-
von der Vermittlung von Psychoanalyse und Gesell- spruch ausgehen müssen, Gesellschaft sei das logische
schaftstheorie endgültig ausgeträumt. In dem pro- Apriori von Individualität« (Reiche 1993/2002, 23;
grammatischen Aufsatz Zum Verhältnis von Soziologie vgl. auch Reiche 1995/2004, 26). Die Getrenntheit
und Psychologie (Adorno 1955/1974) stellte er gänz- von Psychologie und Soziologie ist also nicht einer
lich in Abrede, Psychoanalyse und Gesellschaftstheo- beliebigen Entscheidung geschuldet, sondern der Sa-
rie könnten sich wechselseitig integrieren oder ergän- che selbst. – In einem späten Postscriptum hat
zen. Waren die Vertreter der Kritischen Theorie in Adorno seine strenge Position hinsichtlich des ›Ver-
den 1930er Jahren noch stillschweigend davon ausge- altens des Individuums‹ insoweit relativiert, als er
gangen, daß die Freudsche Theorie zumindest den konzedierte, daß es Grenzen der Vergesellschaftung
Status einer Hilfswissenschaft für die Soziologie in im Subjekt gebe, die Psychologie nicht gänzlich über-
Anspruch nehmen könne – wie der späte Freud um- flüssig machten, und daß seine Kritik am Indivi-
gekehrt in der Soziologie »nichts anderes […] als an- duum nicht dessen Abschaffung meine (Adorno
gewandte Psychologie« sah (GW XV, 194) –, so wird 1966/1972, 91 f.; Müller-Doohm 2003, 593).
diese Annahme nun kategorisch zurückgewiesen: Adornos Rezeption Freuds und der Psychoanalyse
»Nur durch die Bestimmung der Differenz hindurch, ist ebenso komplex wie vielschichtig. Feststeht aber,
nicht durch erweiterte Begriffe, wird ihr Verhältnis daß niemand aus dem Umfeld der Kritischen Theo-
angemessen ausgedrückt […]« (Adorno 1955/1974, rie, auch nicht Herbert Marcuse, Freud intensiver
13). beim Wort genommen hat als Adorno. Ohne es im-
Dieser von Adorno postulierten Differenz liegen mer eigens zu deklarieren, finden sich in Adornos
zwei Sachverhalte zugrunde. Zum einen bewirke die materialen Ausführungen sei es zu philosophisch-er-
faktische Herrschaft der objektiven sozioökonomi- kenntnistheoretischen, sei es zu ästhetischen oder ge-
schen Verhältnisse, d. h. des vollendeten kapitalisti- sellschaftstheoretischen Fragen, die er ohnehin nicht
schen Tauschsystems, über die gesellschaftlichen In- strikt auseinanderhält, vielfältige implizite Bezug-
dividuen deren zunehmende Ohnmacht und Bedeu- nahmen auf die Theorie des Unbewußten. Vielleicht
tungslosigkeit: »Die gesellschaftliche Macht bedarf kommt man seinen Freud-Lektüren am nächsten,
kaum mehr der vermittelnden Agenturen von Ich wenn man sich klarmacht, daß es ein Denkmotiv bei
und Individualität« (ebd., 43) und deshalb auch kei- Adorno gibt, das sich wie ein roter Faden durch sein
ner Psychologie mehr, es sei denn als Reparaturbe- gesamtes Werk zieht und darauf zielt, das zivilisatori-
trieb: »Die vorbürgerliche Welt kennt Psychologie sche principium individuationis selber, sofern es sich
noch nicht, die total vergesellschaftete nicht mehr« mit gesellschaftlichem Zwang verbündet, zu sabotie-
(ebd.). Zweitens und unabhängig von dieser Tatsache ren. Man kann auch sagen, daß Adorno sich wei-
konstatiert Adorno, daß trotz Freuds gelegentlicher gerte, erwachsen zu werden (vgl. Hörisch 2003,
Annahme von psycho-sozialen Großeinheiten, wie 38 ff.), wovon unzählige Äußerungen in seinem Werk
sie z. B. in Formulierungen wie »libidinöse Struktur zeugen. Dies aber ist ein genuin freudianisches Motiv
einer Armee« oder »Massenseelen« (GW XIII, 103, (das Freud selber freilich immer wieder zugunsten
144) zum Ausdruck kommt, Psychologie und Sozio- einer bestimmten Vorstellung von ›Kultur‹ unterlau-
logie immer wieder auseinanderfallen, weil und inso- fen hat). Wenn es bei Freud z. B. heißt, Geld sei kein
fern sie es mit unterschiedlichen Gegenstandsberei- Kinderwunsch (F, 320) und »das Interesse am
chen zu tun haben (Adorno 1955/1974, 25 f.). Bei ge- Gelde« sei eines, »welches der Kindheit noch gefehlt
nauerem Hinsehen zeigt sich nämlich stets, daß, was hat« (GW VII, 208), dann wird damit das Bild einer
als ›gesellschaftliches Unbewußtes‹ imponiert, am Individualität beschworen, die sich nicht der Logik
Ende in Gesellschaftliches einerseits und individuelle des Äquivalententauschs, für Adorno der Sündenfall
Kritische Theorie 381

der Gattung schlechthin (Hörisch 2003, 47), ver- ist (ebd., 47), dann könnten die aggressiven und de-
schrieben hat. Wer diesseits oder jenseits des Tausch- struktiven Tendenzen, die wiederum durch eine herr-
prinzips steht, vermag sich jenes Staunen und Wün- schaftsbedingte »zusätzliche Unterdrückung« (ebd.,
schen zu bewahren, das nur Kindern eigen ist und 40) verstärkt werden, endlich neutralisiert werden.
von dem Adorno nicht lassen wollte. War für Freud der Ausgang des Kampfs zwischen
Im Abschnitt »Metaphysik und Kultur« in der spä- Eros und Thanatos grundsätzlich offen (GW XIV,
ten Negativen Dialektik findet sich ein Bekenntnis, 506), so glaubt Marcuse im Kulturprozeß eine gleich-
wie es abgründig-freudianischer kaum sein könnte: sam unterirdische erotische Potenz am Werk zu se-
»Kindheit ahnt etwas davon [von den Fragen des ma- hen, die immer wieder zum Durchbruch drängt:
teriellen Daseins, HML] in der Faszination, die von »Daß das Realitätsprinzip in der menschlichen Ent-
der Zone des Abdeckers, dem Aas, dem widerlich sü- wicklung stets von neuem befestigt werden muß,
ßen Geruch der Verwesung, den anrüchigen Aus- deutet darauf hin, daß sein Sieg über das Lustprinzip
drücken für jene Zone ausgeht. Die Macht jenes Be- niemals vollständig und niemals sicher ist. […] Was
reichs im Unbewußten mag nicht geringer sein als die Kultur bändigt und unterdrückt – die Ansprüche
die des infantil sexuellen; beide überblenden sich in des Lustprinzips –, das lebt weiterhin in der Kultur
der analen Fixierung, sind aber kaum dasselbe. Un- selbst fort. Das Unbewußte behält die Ziele des über-
bewußtes Wissen flüstert den Kindern zu, was da von wundenen Lustprinzips bei« (Marcuse 1955/1970,
der zivilisatorischen Erziehung verdrängt wird, 21). Wie bei Adorno sind es nicht zuletzt »die ver-
darum ginge es: die armselige physische Existenz botenen Bilder und Impulse der Kindheit« (ebd., 24),
zündet ins oberste Interesse, das kaum weniger ver- die Marcuse zu der Annahme bringen, das Lustprin-
drängt wird, ins Was ist das und Wohin geht es. Wem zip sei gewissermaßen unsterblich. Vor diesem opti-
gelänge, auf das sich zu besinnen, was ihn einmal aus mistischen Hintergrund, den Marcuse im zweiten
den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang, Teil seines Buches unter dem Titel »Jenseits des Reali-
wäre wohl näher am absoluten Wissen als das Hegel- tätsprinzips« vor allem als ästhetischen Entwurf mit
sche Kapitel, das es dem Leser verspricht, um es ihm kräftigen Pinselstrichen ausmalt, verschwindet aller-
überlegen zu versagen« (Adorno 1966/1970, 356 f.). dings die nicht nur von Freud gestellte Frage, ob man
Wer Adornos Traumprotokolle (2005) liest, wird sich sich überhaupt eine Zivilisation vorstellen könne, die
schwerlich dem Urteil verschließen können, daß hier vollkommen auf Zwang und Triebeinschränkung
einer der Sache nach mehr von Freud begriffen hat verzichtet, ob z. B. jemals die gesellschaftlich notwen-
als die allermeisten Psychoanalytiker. dige Arbeit, Marx’ »Reich der Notwendigkeit«, in
welcher Organisationsform auch immer, unter der
Herrschaft des Eros gedacht werden könne. Bei Mar-
Herbert Marcuses revolutionärer Eros
cuse wird diese Frage mit einem Satz erledigt (ebd.,
Marcuses Freud-Rezeption steht unter einem ande- 133).
ren Stern als diejenige Adornos und Horkheimers. Um so bemerkenswerter ist, daß Marcuse in den
Während die Frankfurter sich weigerten, aus dem 1960er Jahren einen Aufsatz vorlegte, der in Ton und
Bannkreis von Kritik und ›Negativität‹ herauszutre- Gestus zunächst ganz anders ausfällt als Triebstruktur
ten – es sei denn in gelegentlichen quasi-theologi- und Gesellschaft. Bereits in seiner Studie Der eindi-
schen Andeutungen »vom Standpunkt der Erlösung« mensionale Mensch (Marcuse 1964/1967) hatte er
aus (Adorno 1951/1969, 333) –, ging Marcuse, der in dargelegt, daß die sozioökonomischen Veränderun-
Amerika geblieben war, in den 1950er Jahren daran, gen und ›Rationalisierungen‹ der modernen Indu-
in Eros and Civilisation (in deutscher Übersetzung striegesellschaften grundlegende Veränderungen
zunächst unter dem Titel Eros und Kultur, später als auch der psychischen Verfassung der Individuen
Triebstruktur und Gesellschaft veröffentlicht) einen nach sich ziehen. Diese Veränderungen betreffen in
positiven Begriff von Aufklärung zu formulieren erster Linie die Autonomie des Ich, die Marcuses
(Marcuse 1955/1970). Gegen Freuds These, daß ohne Diagnose zufolge immer stärker zugunsten einer dif-
Triebverzicht und Triebunterdrückung, ohne Aner- fusen, sozialtechnisch gelenkten und manipulierten
kennung des Realitätsprinzips keine Zivilisation aus- Masse eingezogen wird. Wo es aber kein autonomie-
kommen könne, macht er die These stark, daß eine fähiges Ich mehr gibt, »veraltet« auch die Psychoana-
repressionsfreie Kultur durchaus möglich sei. Wenn lyse (Marcuse 1965/1984), ist diese doch sowohl als
der durch die bisherige Kultur gefesselte Eros so ent- Behandlungsmethode wie als gesellschaftskritische
bunden würde, daß er »dauerhafte kulturelle gesell- Idee, die zwischen dem, was ist, und dem, was sein
schaftsbildende Beziehungen« zu schaffen imstande könnte, unterscheidet, elementar auf ein konfliktbe-
382 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

wußtes Ich angewiesen (Reiche 1993/2002, 26). Auf –: Traumprotokolle. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lo-
nitz. Frankfurt a. M. 2005.
dem gesellschaftlichen Programm stehen nunmehr – /Max Horkheimer: Briefwechsel 1927–1969. Bd. III:
die Entsublimierung libidinöser Energien (»repres- 1945–1949. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz.
sive Entsublimierung«) durch soziale Agenturen, Frankfurt a. M. 2005.
Schwächung der Vaterimago, die den ödipalen Kon- Fromm, Erich: Autorität und Familie. Sozialpsychologischer
Teil [1936]. In: Hans-Peter Gente (Hg.): Marxismus, Psycho-
flikt zunehmend obsolet macht, und die Übertra- analyse, Sexpol. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1970, 251–306.
gung des Ichideals auf ein kollektives Ideal (Marcuse Hörisch, Jochen: Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen.
1965/1984, 76). Dieser düsteren sozialpsychologi- Frankfurt a. M. 2003.
schen Diagnose, die grosso modo mit derjenigen des Horkheimer, Max: Geschichte und Psychologie [1932]. In:
Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. von Al-
späten Adorno konvergiert, stellt Marcuse nun aller- fred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, 48–69.
dings eine ›Idee‹ von Psychoanalyse gegenüber, die – [unter dem Pseudonym Heinrich Regius]: Dämmerung. No-
diese zwar als objektiv überholt, zugleich aber als tizen in Deutschland [1934]. In: Ders.: Gesammelte Schriften.
Pfand auf die Zukunft erscheinen läßt: »Was veraltet Bd. 2. Hg. von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.
1987, 309–452.
ist, ist deswegen nicht falsch« (ebd., 77). Denn die –: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Hg. von Alfred
Freudschen Begriffe beschwören nicht nur eine Ver- Schmidt. Frankfurt a. M. 1967 (engl. 1947).
gangenheit, sondern, so Marcuse, auch »eine neu zu – /Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophi-
gewinnende Zukunft«: »Die Wahrheit der Psycho- sche Fragmente. Amsterdam 1947.
– /Samuel H. Flowerman: Studies in Prejudice. New York
analyse liegt darin, daß sie ihren herausforderndsten 1949–1950.
Hypothesen die Treue hält« (ebd., 78). Mit diesem Krovoza, Alfred/Christian Schneider: Politische Philosophie –
Ausblick kehrt Marcuse zu jenem optimistischen, die politische Psychologie. Über das Verhältnis von Kritischer
Macht des Eros anrufenden Tableau zurück, das er Theorie und Psychoanalyse nach 1945. In: Tomas Plänkers
u. a. (Hg.): Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte
schon in Triebstruktur und Gesellschaft errichtet Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen. Tübingen
hatte. Von diesem erotisierten Optimismus ließ sich 1996, 630–653.
nicht zuletzt die Protestgeneration von 1968 entzün- Lohmann, Hans-Martin: Frankfurter Kreuz – Frankfurter
den, die in Marcuse ihren wahren Mentor fand. Crux. Zur Freud-Rezeption der frühen Kritischen Theorie
Horkheimers und Adornos. In: Luzifer-Amor 2 (1989),
93–107.
Literatur Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philoso-
Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. phischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M. 1970
Frankfurt a. M. 1973 (engl. 1950). [Teil von: Theodor W. (engl. 1955).
Adorno u. a.: The Authoritarian Personality. New York –: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fort-
1950]. geschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied/Berlin 1967
–: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen (engl.1964).
Propaganda [1951]. In: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur –: Das Veralten der Psychoanalyse. In: Ders.: Schriften in 9
Gesellschaft. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1971, Bänden. Bd. 8. Frankfurt a. M. 1984, 60–78 (engl. 1965).
34–66. Müller-Doohm, Stefan: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt
–: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben a. M. 2003.
[1951]. Frankfurt a. M. 1969. Reiche, Reimut: Einleitung zu: Sigmund Freud: Massenpsycho-
–: Die revidierte Psychoanalyse [1952]. In: Max Horkheimer/ logie und Ich-Analyse/Die Zukunft einer Illusion [1993].
Theodor W. Adorno: Sociologica II. Reden und Vorträge. Frankfurt a. M. 2002, 7–30.
Frankfurt a. M./Köln 1973, 94–112. –: Von innen nach außen? Sackgassen im Diskurs über Psy-
–: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie [1955]. In: choanalyse und Gesellschaft [1995]. In: Ders.: Triebschicksal
Sociologica I. Aufsätze. Max Horkheimer zum sechzigsten Ge- der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche. Frank-
burtstag gewidmet. Frankfurt a. M./Köln 1974, 11–45. furt a. M./New York 2004, 9–39.
–: Postscriptum [1966]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoreti-
Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1972, 86–92. sche Entwicklung, politische Bedeutung. München/Wien
–: Negative Dialektik [1966]. Frankfurt a. M. 1970. 1986.
–: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hg. von
Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1970.
Hans-Martin Lohmann
383

10. Feminismus/Gender Studies

Phasen der Rezeption Freuds Annahmen zur weiblichen Entwicklung und


und Wirkungsgeschichte Sexualität, die als Festschreibung der Minderwertig-
keit von Frauen über anatomische und damit unver-
Die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Feminis- änderbare Gegebenheiten verstanden wurden. Schon
mus ist durch unterschiedliche Phasen gekennzeich- Simone de Beauvoir setzte sich in ihrem in der Frau-
net: enbewegung breit rezipierten Werk Das andere Ge-
– Zu Beginn der Frauenbewegung Ende der 1960er, schlecht mit der Freudschen Psychoanalyse auseinan-
Anfang der 1970er Jahre wurden Freuds Annah- der. Sie fand darin »gewisse fruchtbare Ideen« (Beau-
men zur weiblichen Entwicklung und Sexualität voir 1949/1951, 60), kritisierte jedoch die den An-
heftig kritisiert, von einigen wenigen Theoretike- nahmen zur weiblichen Entwicklung und Sexualität
rinnen aber auch in differenzierterer Weise rezi- zugrundeliegende Orientierung am Modell des Man-
piert. nes und die darin enthaltene Entwertung der Frau.
– In der zweiten Hälfte der 1970er bis Anfang der Ähnlich stand in anderen feministischen Argumen-
1990er Jahre war die Beziehung zwischen Feminis- tationen die Ablehnung von Formulierungen Freuds
mus und Psychoanalyse – insbesondere in ihrer im Zentrum, in denen er von einer »organischen
objektbeziehungstheoretischen Weiterentwicklung Minderwertigkeit« (GW XIV, 524) des kleinen Mäd-
und ihrer Lacanschen Reformulierung – geprägt chens spricht, vom fehlenden Penis als einem organi-
von einem Verhältnis wechselseitiger Bereicherung. schen »Defekt« (526), der die »Tatsache der Kastra-
– Seit den 1990er Jahren hat die Psychoanalyse an tion« (522) anzeigt, den Penisneid von Mädchen und
Bedeutung für feministische Diskussionen verlo- Frauen begründet und Auslöser für Entwicklungs-
ren. Ins Zentrum rückten dekonstruktivistische prozesse ist, die hinführen zu einer Weiblichkeit, die
theoretische Ansätze, in denen Zweigeschlechtlich- sich bestimmt über die Anerkennung der »Überle-
keit als sozial hergestelltes, nicht aber biologisch genheit des Mannes« (522) und der entsprechenden
verankertes Phänomen verstanden und die Nähe »Entwertung« des eigenen Geschlechts (526), über
der Psychoanalyse zur geschlechtlichen Körper- Passivität und das Angewiesensein auf narzißtische
lichkeit damit als obsolet begriffen wurde. Den- Bestätigung durch den Mann. In solchen Formulie-
noch hat es weiterhin eine Reihe auch an Freud- rungen wurde der Versuch einer Legitimierung der
sche Annahmen anknüpfende psychoanalytische gesellschaftlichen Vorherrschaft der Männer und Un-
Forschungen unter einer Geschlechterperspektive terdrückung der Frauen auf der Basis biologischer
gegeben, die einzelne Aspekte der Entwicklung Gegebenheiten gesehen. So kritisierten US-amerika-
von Mädchen und vereinzelt auch von Jungen zum nische Feministinnen wie Kate Millett (1969/1971)
Thema hatten. Sie bewegen sich jedoch eher am und Shulamith Firestone (1970/1975) in ihren auch
Rand aktueller Diskussionen der Frauen- und in der deutschsprachigen Frauenbewegung breit rezi-
Geschlechterforschung. pierten Publikationen die Psychoanalyse als ideolo-
gisches Gedankengebäude einer sexuellen Gegenre-
volution und als Instrument erneuter Frauenunter-
Freuds Weiblichkeitstheorie als Provokation
drückung. In eine ähnliche Richtung zielte die Kritik
für den Feminismus
von Betty Friedan in einer damals ebenfalls bedeutsa-
Feministische Diskussionen zu Beginn der Frauen- men Veröffentlichung: »Der Weiblichkeitswahn
bewegung Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre schöpfte seine Kraft aus dem Freudschen Denken«
haben sich – soweit sie auf die Psychoanalyse Bezug (Friedan 1963/1970, 68).
genommen haben – insbesondere entzündet an In der Vehemenz der Kritik an der Freudschen
384 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Weiblichkeitstheorie und ihrem polemischen Grund- Freudschen Psychoanalyse besteht für sie darin, einen
ton zeigt sich das emotionale Engagement, mit dem methodischen Zugang zur Geschichte unterdrückter
Feministinnen zu dieser Zeit gegen gesellschaftliche Bedürfnisse (ebd., 85) zu eröffnen, der es ermöglicht,
Verhältnisse kämpften, als deren Zentrum die Unter- auch die Ebene der Sehnsüchte, Ängste und Phanta-
drückung der Frau durch den Mann gesehen wurde. sien einzubeziehen. Damit wird ein Wunschreservoir
Freuds Annahmen zur weiblichen Entwicklung und thematisierbar, das ebenso auf Befreiung von männ-
Sexualität wurden in diesem Zusammenhang als Pro- licher Vorherrschaft abzielende Elemente enthält wie
totyp einer Position angegriffen, die die bestehenden solche, die eine Bindung an entsprechende Verhält-
Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern nisse – z. B. eine »Anziehungskraft der Männerge-
durch einen Rückbezug auf Naturhaftes und damit walt« (ebd., 79) – implizieren.
unveränderbare Gegebenheiten zu rechtfertigen und Diese positive Rezeption der Spezifika der Freud-
festzuschreiben versucht, die die »Inferiorität der schen Psychoanalyse durch feministisch orientierte
Frau als eine gottgegebene, unabänderliche Tatsache« Wissenschaftlerinnen bereitete den Boden für eine
(ebd., 77) ansieht. Daher ging es in dieser Kritik we- systematische Reformulierung seiner Annahmen zur
niger um eine differenzierte Auseinandersetzung mit weiblichen Entwicklung und Sexualität im Kontext
Freuds theoretischen Annahmen, sondern primär der in den 1970er Jahren sich zunehmend etablie-
um geschlechterpolitisch motivierte Argumentatio- renden universitären bzw. wissenschaftsbezogenen
nen im Namen einer sich als unterdrückt verstehen- Frauenforschung und Frauenbewegung.
den Gruppe.
Es gab jedoch auch eine feministisch orientierte Reformulierungen der Annahmen zu weib-
Kritik an der undifferenzierten Rezeption der Freud- licher Sexualität und geschlechts-
schen theoretischen Annahmen durch die Frauenbe- spezifischen Entwicklungsverläufen aus
wegung. So betonten Juliet Mitchell, eine in England feministischer Perspektive in der zweiten
lebende Feministin, deren Publikation Psychoanalyse Hälfte der 1970er und den 80er Jahren
und Feminismus (1974/1976) auch in der Bundesre-
publik Deutschland rezipiert wurde, und Carol Ha-
Gemeinsamkeiten der Positionen
gemann-White (1979), Soziologin und Aktivistin der
westdeutschen Frauenbewegung, die produktiven Schon in den 1920er und 1930er Jahren stießen
Potentiale der Freudschen Psychoanalyse für femini- Freuds Annahmen zur weiblichen Sexualität insbe-
stische Positionen. Mitchell wies darauf hin, daß sondere bei Psychoanalytikerinnen wie Karen Hor-
Freuds Analysen durch entsprechende uneindeutige ney und Melanie Klein auf Widerspruch, eine syste-
Formulierungen zwar als Rechtfertigung der Minder- matischere Neuformulierung von geschlechtsspezifi-
wertigkeit von Frauen mißverstanden werden kön- schen Entwicklungsverläufen aus psychoanalytischer
nen, ihre Bedeutung aber darin zu sehen sei, daß die und zugleich frauenbezogener Sicht erfolgte jedoch
psychische Verankerung frauenunterdrückender Ver- erst im Kontext feministischer Diskussionen, die im
hältnisse in Frauen und Männern analysiert wird. Gefolge der Frauenbewegung in der zweiten Hälfte
Die von Freud beschriebenen Wege der Entwicklung der 1970er und Anfang der 1980er Jahre an Bedeu-
von Mädchen und Frauen werden verstanden als ge- tung gewannen. Entscheidende Anstöße dazu gaben
sellschaftlich nahegelegte Sozialisationsprozesse un- in Deutschland insbesondere die Übersetzung des
ter Bedingungen von ›patriarchalischen Gesellschaf- von der französischen Psychoanalytikerin Janine
ten‹, d. h. Gesellschaften, die auf der Vorherrschaft Chasseguet-Smirgel herausgegebenen Aufsatzbandes
der Männer und Zweitrangigkeit der Frauen beru- Psychoanalyse der weiblichen Sexualität (1964/1974),
hen. Ähnlich argumentierte Hagemann-White in ei- in dem vorsichtige Reformulierungen der Freud-
nem 1975 in Berlin gehaltenen Vortrag, in dem sie schen Weiblichkeitstheorie vorgenommen wurden,
ihre Zugehörigkeit zur autonomen Frauenbewegung dann die sich ebenfalls kritisch mit psychoanalyti-
mit ihren psychoanalytisch orientierten Erkenntnis- schen Weiblichkeitsvorstellungen auseinandersetzen-
interessen zu verbinden versuchte (Hagemann-White den Analysen von Psychoanalytikerinnen wie Marga-
1979, 8). Hagemann-White betonte die Bedeutung, rete Mitscherlich (1975, 1978) und Marina Gamba-
die die Annahme eines Unbewußten, d. h. einer Di- roff (1984) sowie die umfassende Studie der Kultur-
mension menschlichen Verhaltens und Handelns jen- und Religionswissenschaftlerin Renate Schlesier
seits intentionaler und rationaler Erwägungen, für (1981). Schlesier wendet die von Freud entwickelten
das Verstehen von auf Ungleichheit beruhenden Ge- Konzepte der Verdrängung, des Unbewußten und der
schlechterverhältnissen hat. Das Produktive der Mythologie sowie die von ihm begründeten metho-
Feminismus/Gender Studies 385

dischen Verfahren auf seine eigene Weiblichkeitskon- Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den beiden
struktion an und zeigt die Ambivalenz dieser Kon- zentralen Diskussionssträngen innerhalb der femini-
struktion: In ihr sind Entmythologisierung und da- stischen Psychoanalyse, den objektbeziehungstheore-
mit Aufklärung gleichermaßen enthalten wie eine tisch argumentierenden und den an einer kritischen
Remythologisierung, die insbesondere ihren Aus- Reformulierung der Lacanschen Psychoanalyse ori-
druck findet im Kastrationsmodell der Weiblichkeit, entierten Ansätzen:
das von Freud nicht weiter auf verdrängte Inhalte be- – Differenz- statt Defizitperspektive: Es wurden Un-
fragt wurde. Für Schlesier ist die »Kehrseite des Weib- terschiede zwischen den Geschlechtern herausge-
lichkeitstabus, das in Freuds entsexualisierender Be- arbeitet, ohne dabei eine Seite als defizitär oder
stimmung der Weiblichkeit zum Ausdruck kommt« überlegen bewerten zu wollen. Für Frauen typi-
(ebd., 12), eine »Vergöttlichung der Weiblichkeit« sche Entwicklungen und damit verbundene Ori-
(ebd.) und damit eine erneute Mythologisierung. entierungs- und Verhaltensmuster wurden nicht
Schlesiers Studie war insbesondere bedeutsam für mehr – wie es bei Freud und in vielen anderen
Frauen, die – entweder therapeutisch oder wissen- psychoanalytischen Studien der Fall war – an de-
schaftlich – mit den Mitteln der Psychoanalyse ar- nen der Männer gemessen und vor diesem Hinter-
beiteten und dem Stand der Diskussion zur weib- grund als abweichend charakterisiert, sondern in
lichen Sexualität und Entwicklung unzufrieden wa- ihrer Andersartigkeit, ihren eigenen Bedeutungs-
ren. gehalten und Regelhaftigkeiten beschrieben.
In der deutschsprachigen feministischen Bewe- – Systematische Berücksichtigung früher Entwick-
gung hatten die von den amerikanischen Sozialwis- lungen für beide Geschlechter: Die frühe Mutter-
senschaftlerinnen Nancy Chodorow (1978/1985) und Kind-Beziehung rückte stärker in den Mittelpunkt
Dorothy Dinnerstein (1976/1979) entwickelten theo- psychoanalytischen Interesses und damit die große
retischen Ansätze zu geschlechtsspezifischen Ent- Bedeutung von Frauen und die besondere affektive
wicklungsverläufen eine größere Bedeutung. Diese Qualität ihrer Beziehung zum Kind.
Studien argumentieren wesentlich auf der Basis einer – Komplementaritätsperspektive: Für Frauen und
objektbeziehungstheoretischen – d. h. frühe Bezie- für Männer typische Orientierungs- und Verhal-
hungsmuster einbeziehenden – Weiterentwicklung tensmuster wurden nicht als voneinander unab-
psychoanalytischer Ansätze zur Untersuchung indivi- hängig gesehen, sondern als systematisch aufein-
dueller Entwicklungen. Ein anderer wesentlicher Dis- ander bezogen und miteinander verwoben. Sie
kussionsstrang bezog sich auf eine feministische Wei- wurden verstanden als Ausdruck eines Geschlech-
terentwicklung der Lacanschen Reformulierung der terarrangements, in dem Zusammengehöriges
Freudschen Psychoanalyse durch französische Theo- auseinandergerissen und auf unterschiedliche Ge-
retikerinnen, z. B. Luce Irigaray, Hélène Cixous und schlechter verteilt wird und beide Geschlechter auf
Julia Kristeva. diese Weise aufeinander angewiesen und vonein-
In der zweiten Hälfte der 1970er bis zum Beginn ander abhängig sind.
der 1990er Jahre war die Beziehung zwischen Femi- – Sozialer Bezug: Für Frauen und für Männer typi-
nismus und Psychoanalyse auf der Basis dieser bei- sche Entwicklungsverläufe und Muster von Identi-
den Argumentationsrichtungen geprägt von einem tät wurden verstanden als Ergebnis konkreter ge-
Verhältnis wechselseitiger Bereicherung. Sowohl in sellschaftlicher Verhältnisse, die Resultat histori-
frauenbewegten universitären und wissenschaftli- scher Entwicklungen und damit auch veränderbar
chen Diskussionen als auch einer sich als feministisch sind.
verstehenden Psychoanalyse waren differenztheoreti-
sche Sichtweisen von Bedeutung: Ausgehend von der
Objektbeziehungstheoretische Ansätze
Notwendigkeit, Frauen und für Frauen Spezifisches
zu geschlechtsspezifischen Entwicklungs-
innerhalb einer traditionell von männlichen Defini-
verläufen
tionen und Denkweisen geprägten wissenschaftlichen
Forschung und Theoriebildung überhaupt erst ein- Grundlegend für viele differenztheoretisch orien-
mal sichtbar und als Nichtdefizitäres deutlich zu ma- tierte Studien der Frauenforschung war die objektbe-
chen, galt das Erkenntnisinteresse vor allem den Dif- ziehungstheoretisch orientierte Untersuchung von
ferenzen zwischen Frauen und Männern, insbeson- Nancy Chodorow Das Erbe der Mütter (1978/1985).
dere auch den Unterschieden in den subjektiven Ori- Es war die erste und ausführlichste Studie zu ge-
entierungs- und Verhaltensmustern. Auf dieser Basis schlechtsspezifischen Entwicklungsverläufen sowie
gab es – trotz aller theoretischen Unterschiede – eine entsprechenden Mustern von Identität. Chodorow
386 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

bezieht sich positiv auf Freuds Annahme eines Unbe- dem entsprechenden psychischen Strukturen – für
wußten, der Bedeutung von Wünschen, Ängsten und Frauen spezifische, die auf Verbundenheit mit ande-
Phantasien, die eine eigene innerpsychische Welt ren beruhen, und für Männer typische, die auf Tren-
schaffen, die nicht umstandslos als Widerspiegelung nung, Abgrenzung und Distanzierung basieren –
äußerer Verhältnisse zu verstehen ist. Sie hält jedoch sind dann wieder genau jene, die den traditionellen
eine Ergänzung der Freudschen triebtheoretischen Aufgabenverteilungen zwischen den Geschlechtern
Argumentationen durch die Einbeziehung der Quali- entsprechen. Um diesen Kreislauf der Stabilisierung
tät der Beziehung zu den frühen Bezugspersonen für bestehender Verhältnisse aufzulösen, müssen sich –
notwendig, um die Komplexität individueller Ent- so die Veränderungsperspektive, die von vielen psy-
wicklungsprozesse beschreiben zu können. Sie grenzt choanalytisch orientierten Studien dieser Zeit geteilt
sich dabei nicht von Freudschen Annahmen ab, son- wurde – Männer und Frauen gleichermaßen an der
dern sieht die Möglichkeit einer Vermittlung beider frühen Betreuung und Versorgung ihrer Kinder be-
Positionen. In ihrem theoretischen Ansatz »finden teiligen, so daß Mädchen und Jungen ihre ersten Be-
sowohl Triebe als auch soziale Beziehungen Platz« ziehungserfahrungen ebenso mit Personen männli-
(ebd., 66). chen wie weiblichen Geschlechts machen. Erst dann
Wie in objektbeziehungstheoretischen Argumen- wird die Möglichkeit als gegeben gesehen, die Pola-
tationen generell stehen dann jedoch Aspekte der risierung der Geschlechtscharaktere – die Verkörpe-
frühen Beziehungsmuster im Zentrum. Ausgangs- rung von Nähebedürfnissen und Abhängigkeitswün-
punkt der Studie ist eine frauenpolitische Frage: Die schen in den Frauen und die von Wünschen nach
Frage nach den Ursachen der Stabilität einer Arbeits- Distanz und Autonomie in den Männern – aufzu-
teilung zwischen den Geschlechtern, in der Frauen heben und beiden Geschlechtern weniger vereinseiti-
zuständig sind für die Betreuung der Kinder und ge- gende Entwicklungen zu eröffnen (vgl. Dinnerstein
nereller für ›Gefühlsarbeit‹, also für emotionale Un- 1976/1979; Schmauch 1987).
terstützung und Zuwendung, während Männern ver- Während die Untersuchung von Chodorow in fe-
meintlich von Rationalität dominierte Bereiche – wie ministischen Diskussionen große Bedeutung hatte,
der der öffentlich sichtbaren Einflußnahme – zuge- wurde eine andere Studie, die ebenso – allerdings we-
ordnet bleiben. Diese Arbeitsteilung zwischen den niger umfassend und differenziert – auf eine Analyse
Geschlechtern ist – so die Annahme – deshalb so sta- der Reproduktion bestehender Geschlechterverhält-
bil, weil sie tief in den psychischen Strukturen von nisse zielte und ähnliche Veränderungsperspektiven
Frauen und Männern verankert ist. entwarf, außerhalb frauenbewegter Zusammenhänge
Im Zentrum des Interesses steht eine Analyse die- populärer: die unter dem Titel Jokastes Kinder
ser psychischen Verankerung und der Möglichkeiten (1980/1984) veröffentlichte Untersuchung der fran-
einer Veränderung. Die Argumentationslinie der Stu- zösischen Psychoanalytikerin Christiane Olivier. Oli-
die läßt sich vereinfachend so darstellen: Eine be- vier grenzt sich nachdrücklich von Freuds Annah-
stimmte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern men zur weiblichen Entwicklung und Sexualität ab,
legt für Mädchen und Jungen differierende Entwick- die für sie eine wissenschaftliche Fundierung der Un-
lungsprozesse nahe, die unterschiedliche psychische umgänglichkeit einer Minderwertigkeit der Frau dar-
Strukturen zur Folge haben, die es wiederum wahr- stellen (ebd., 19). Dagegen setzt sie – ähnlich wie
scheinlich machen, daß später beide – Frauen und Chodorow – die Bedeutung früher Beziehungsmu-
Männer – die Aufgaben im Geschlechterarrangement ster. Während Chodorow jedoch von einem prinzipi-
übernehmen, die traditionell für sie vorgesehen sind. ell positiven Verhältnis zwischen Mutter und Tochter
Als zentrales, die Sozialisationsprozesse von Mäd- ausgeht, ist diese Beziehung für Olivier geprägt durch
chen und Jungen strukturierendes Prinzip wird die einen Mangel: Die Kraft des sexuellen Begehrens – so
Tatsache gesehen, daß es unter gegenwärtigen gesell- die zentrale Annahme – läßt nur den Sohn für die
schaftlichen Bedingungen Frauen sind, die für die Mutter zum narzißtisch hochgeschätzten Objekt wer-
Betreuung ihrer Kinder in den ersten Lebensmonaten den, die Tochter dagegen erfährt keine entsprechende
und -jahren zuständig sind: Die damit verbundene Wertschätzung. Die Mutter kann ihr kein Lustem-
Gleichgeschlechtlichkeit zwischen Mutter und Toch- pfinden gegenüber ihrem Körper vermitteln, und
ter und unterschiedliche Geschlechtlichkeit zwischen vom Vater gehen ebenfalls keine entsprechenden Im-
Mutter und Sohn schafft – unabhängig von den In- pulse aus, da er nicht an der frühen Versorgung und
tentionen und Erziehungsvorstellungen der Mütter – Betreuung seiner Tochter beteiligt ist und sie deshalb
strukturell unterschiedliche Bedingungen für die ohne sein Begehren bleibt. Die Folge ist nach Olivier
Entwicklungsprozesse von Mädchen und Jungen. Die ein Gefühl der Leere und der unstillbare Hunger
Feminismus/Gender Studies 387

nach Liebe, der Frauen lebenslang davon abhängig Feministische Argumentationen im Kontext
macht, für Männer ein begehrenswertes Objekt zu der Lacanschen Reformulierung
sein. der Freudschen Psychoanalyse
Diese ganz unterschiedlichen Argumentationsrich-
tungen in den Studien von Chodorow und Olivier – Ebenso wie die objektbeziehungstheoretisch argu-
die beide psychoanalytisch orientiert sind und ähn- mentierenden Feministinnen hatten die an einer
liche Ziele verfolgen – machen die Problematik von Reformulierung der Lacanschen Psychoanalyse ori-
Analysen deutlich, die mit dem Anspruch auftreten, entierten Theoretikerinnen das Interesse, gegen die
Aussagen für ›die Frauen‹ und ›die Männer‹ machen Definition der Frau als Mängelwesen das Sichtbar-
zu wollen. Beide Autorinnen scheinen in ihren Stu- machen eines eigenen Weiblichen zu setzen. Sie argu-
dien jeweils unterschiedliche Gruppen von Frauen mentieren auf der Basis der strukturalistischen Inter-
vor Augen gehabt zu haben: Chodorow – entspre- pretation der Psychoanalyse durch Jacques Lacan
chend ihrem feministischen Engagement – Frauen, und stellen dementsprechend die Bedeutung der
die ihr eigenes Geschlecht und damit auch ihre Töch- symbolischen Ordnung, der Sprache und der Dis-
ter positiv besetzen können, Olivier dagegen Frauen, kurse in den Vordergrund. Anders als in den objekt-
für die Weiblichkeit entwertet und Männlichkeit beziehungstheoretisch argumentierenden Ansätzen
idealisiert ist. geht es weniger um das Nachzeichnen individueller
Die Studie von Chodorow gab – trotz der für diffe- und geschlechtsspezifischer Entwicklungen, als viel-
renztheoretische Untersuchungen typischen, die Po- mehr um die Aufklärung über kulturelle Definitions-
larisierung der Geschlechter festschreibenden Verall- und Konstruktionsprinzipien, die als konstitutiv an-
gemeinerung von Aussagen auf ›die Frauen‹ und ›die gesehen werden für die Kategorien ›Frau‹ und
Männer‹ – wichtige Impulse für eine Analyse der ›Mann‹ als den Einzelnen übergeordnete Struktur.
strukturellen Bedingungen der Sozialisation der Ge- Ausgespart bleiben in dieser Argumentationsrich-
schlechter unter bestimmten gesellschaftlichen Ver- tung jene Prozesse, über die die symbolische Ord-
hältnissen. Zugleich wurde jedoch die Notwendigkeit nung und die Diskurse individuelle Entwicklungen
differenzierterer Perspektiven deutlich, insbesondere gestalten (zu den Unterschieden und den Möglich-
bezogen auf keiten einer Verknüpfung beider Positionen vgl.
– eine Sichtweise auf Mütter, die konkrete Lebens- Liebsch 1994). Eine solche strukturalistisch orien-
bedingungen, Familienkonstellationen und mit tierte feministische Rezeption und Reformulierung
dem Kind verbundene Phantasien, Wünsche und der Psychoanalyse war in den 1970er und 1980er Jah-
Ängste einbezieht und auf diese Weise Unter- ren insbesondere in Frankreich von großer Bedeu-
schiedlichkeiten stärker berücksichtigt, tung, sie hat jedoch auch angloamerikanische Dis-
– eine systematischere Einbeziehung auch der Väter kussionen stark geprägt und wurde in der westdeut-
– die für Chodorow lediglich ›emotional sekundär‹ schen Frauenbewegung und Frauenforschung breit
waren – in die Analysen, rezipiert. Insbesondere hat sie in philosophischen,
– eine Untersuchung auch sexueller Entwicklungen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskussionen
die von Chodorow aufgrund des von ihr vertre- Bedeutung gehabt.
tenen, sich auf frühe Beziehungsmuster konzen- Von besonderer Relevanz waren dabei zunächst die
trierenden objektbeziehungstheoretischen Ansat- Publikationen der französischen Psychoanalytikerin
zes kein Thema waren, und Philosophin Luce Irigaray, z. B. Speculum (1974/
– eine stärkere Berücksichtigung von Widersprüch- 1980), Das Geschlecht das nicht eins ist (1977/1979)
lichem und Ambivalentem in Entwicklungen von und Die Ethik der sexuellen Differenz (1984/1991).
Mädchen und Jungen. Ausgangspunkt der Argumentation von Irigaray war
Diese eine Geschlechterperspektive in der Psycho- eine Kritik an der abendländischen Philosophie und
analyse differenzierenden Momente wurden in späte- insbesondere auch an Freuds Annahmen zur weib-
ren Arbeiten mit unterschiedlicher Schwerpunktset- lichen Entwicklung und Sexualität. Die darin enthal-
zung wieder aufgegriffen. tenen Defizitbeschreibungen machen es – so Irigaray
– unmöglich, Frauen als zweites eigenständiges Ge-
schlecht überhaupt wahrzunehmen. Indem weibliche
Existenz nur als Mangel von Qualitäten begrifflich
gefaßt ist, wird Weiblichkeit als Spiegelfunktion zum
Mann konstruiert. In der symbolischen Ordnung
existiert die Frau als eigenständige nicht, sie kann
388 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

sich sprachlich nicht repräsentieren, damit gibt es schieden ist, wurde eine Formulierung der Gemein-
auch keine sexuelle Differenz. Zunächst ist es nicht samkeit aller Frauen möglich, die die Basis sein
Irigarays Intention, diese Leerstelle Freuds zu füllen konnte für die Herausbildung eines politischen Sub-
und ein Modell eigenständiger Weiblichkeit zu ent- jekts ›wir Frauen‹.
wickeln, denn die patriarchale Dominanz in Sprache Weniger eine in diesem Sinne frauenpolitische als
und Kultur wird für alles durchdringend und so un- eine literaturwissenschaftliche Bedeutung hatten die
entrinnbar gehalten, daß jede Beschreibung dessen, Analysen der französischen Literaturwissenschaftle-
was ›Frau‹ ist, einer männlich definierten Festschrei- rin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva und von
bung gleichkäme. Irigaray setzt dagegen auf die Ef- Hélène Cixous, einer ebenfalls in Frankreich leben-
fekte eines parodierenden Nachahmens des um den den Literaturwissenschaftlerin und Literatin. Kri-
Phallus als Symbol männlicher Macht zentrierten steva verbindet kulturgeschichtliche, literaturtheore-
Diskurses, eines spielerischen und verwirrenden Um- tische und linguistische Fragestellungen – orientiert
gangs mit dem Diskurs, durch den Zwischenräume an einer poststrukturalistischen Texttheorie – mit
und Verschiebungen in den Bedeutungen erscheinen psychoanalytischen, an Lacan orientierten Annah-
können. Sie betont das ›Noch-Nicht‹ des weiblichen men. Zwar hatte sie ein distanziertes Verhältnis zur
Seins (Irigaray 1974/1980; 1977/1979). Dennoch sind feministischen Theorie und Bewegung, ihre Texte
in Irigarays Schriften – und in den späteren immer wurden jedoch insbesondere in literaturwissenschaft-
deutlicher – Bestimmungen dessen enthalten, was lichen feministischen Zusammenhängen – mehr im
das Eigene und Andere der Weiblichkeit ist. Dabei angloamerikanischen als im deutschsprachigen
haben die besonderen Qualitäten eines weiblichen Raum – rezipiert und diskutiert (vgl. Liebsch 1994,
Begehrens und der Mutter-Tochter-Beziehung eine 142). Mit Lacan geht Kristeva davon aus, daß jede
besondere Bedeutung. Gegen das bedeutungs- und sprachliche Bezeichnung durch das ›Gesetz des Va-
machtverleihende Symbol des Phallus setzt sie eine in ters‹ und damit der Bedeutungsdominanz des Phal-
der weiblichen Morphologie – den sich berührenden lus gekennzeichnet ist, so daß Weibliches sprachlich
Schamlippen – verankerte besondere weibliche Lust, nicht repräsentiert und repräsentierbar ist. Mit Lacan
die umfassend, autoerotisch und vielfältig ist (Iriga- teilt sie auch die Annahme, daß Voraussetzung für
ray 1977/1979). Der in der patriarchalischen symbo- die kulturelle Entstehung von Bedeutung die Ver-
lischen Ordnung, insbesondere der Sprache, dem drängung der ersten Beziehung zum Körper der
Recht und der Religion verankerten männlichen Ge- Mutter ist. Anders als Lacan nimmt sie jedoch an,
nealogie setzt Irigaray eine in der Mutter-Tochter-Be- daß die frühe Mutter-Kind-Beziehung eine spezifi-
ziehung begründete weibliche Genealogie entgegen. sche Sprachform hervorbringt, die auch im Erwach-
Der frühen Mutter-Tochter-Beziehung mit ihren le- senenalter neben der Dimension sprachlicher Sym-
bensbestätigenden Elementen der Pflege, der Rezi- bolik erhalten bleibt, aber unbewußt ist: das Semi-
prozität und der Rücksichtnahme, die in der sym- otische, das Vorsprachliche, unmittelbar Sinnenbezo-
bolischen Ordnung und damit auch psychoanalyti- gene, das mit den »Primärvorgängen« (Kristeva
schen Diskursen nicht repräsentiert ist, wird eine 1978/1974, 36) verbundene Prozesse der Sinngebung
transformierende Kraft zugesprochen, der auf Identi- umfaßt.
fikationen beruhenden Beziehung zwischen Mutter Semiotisches und Symbolisches stehen für Kristeva
und Tochter und genereller zwischen Frauen unter- im Prozeß der Sinngebung in einer dynamischen Be-
einander ein die um den Phallus zentrierte symboli- ziehung zueinander, dem Semiotischen wird dabei
sche Ordnung erodierendes Potential (Irigaray 1989). eine subversive Kraft zugesprochen, da es die Sinn-
Die in solchen Bestimmungen enthaltene Idealisie- setzungen des auf die dominante sprachliche Ord-
rung des Weiblichen wurde in feministischen Diskus- nung bezogenen Symbolischen durchkreuzt und de-
sionen – ebenso wie Irigarays Tendenz zu biologisti- stabilisiert. Entsprechende Prozesse werden an lite-
schen und essentialistischen Bestimmungen – zuneh- rarischen Texten aufgezeigt. Ebenso wie andere
mend kritisiert. Sie hatten jedoch in der Anfangs- Theoretikerinnen, die feministische mit psychoana-
phase der Frauenbewegung – ebenso wie andere lytischen Ansätzen verbinden, unternimmt Kristeva
differenztheoretische Ansätze – durch ihr positives mit der Konzeptualisierung eines aus der frühen Be-
Verständnis des weiblichen Körpers, der weiblichen ziehung der Mutter zum Kind stammenden eigenen
Sexualität, der Mutter-Tochter-Beziehung sowie von Systems der Sinngebung den Versuch, gegen die
Frauenbeziehungen generell eine wichtige frauenpo- Sichtweise auf Frauen als Mängelwesen die positive
litische Bedeutung: Durch den Bezug auf ein posi- Bedeutung des Weiblichen in psychoanalytische Kon-
tives Eigenes, das vom ›Männlichen‹ deutlich unter- zepte einzubringen.
Feminismus/Gender Studies 389

Eine ähnliche Intention verfolgte Hélène Cixous mit einem ›Körperpanzer‹ ebenso zu schützen ver-
(1975/1976a; 1974/1976b). Auch sie betont die große sucht wie gegen seine Wünsche nach Entgrenzung
Bedeutung der Beziehung der Mutter zu ihrem Kind, und Verschmelzung. Damit verbunden ist ein gespal-
insbesondere auch den körperlichen Aspekt, der für tenes Frauenbild, das eine ›weiße‹, unschuldige Frau
sie Ursprung des Schreibens ist. Der durch die phalli- und eine bedrohlich sexualisierte, ›rote‹ Frau vonein-
sche Ordnung geprägten ›männlichen Ökonomie‹, ander unterscheidet. Es entsteht ein paradoxer Zu-
die gemäß binärer und hierarchischer Oppositionen stand von Männlichkeit, in dem ein regressiver
strukturiert ist, setzt sie eine ›weibliche libidinöse Wunsch nach Wiedervereinigung mit der ursprüngli-
Ökonomie‹ entgegen, die alogisch, lebendig, beweg- chen Weiblichkeit und eine aggressive Aufrichtung
lich und uneigennützig ist und ohne Selbstverlust zu einer phallischen Identität zusammenkommen. Die
geben vermag. Ihre Utopie ist das kreative Ausleben Aggression, die mit dieser Form von Identität ver-
einer für jede Person konstitutiven Bisexualität, de- bunden ist, richtet sich gleichermaßen gegen die Ver-
ren Annahme sie mit Freud teilt. Darin werden beide lockungen des weiblichen Körpers wie gegen die ei-
Ökonomien miteinander verbunden. Auch wenn als genen Wünsche. Erst seit den 1990er Jahren sind
weiblich und als männlich kategorisierte ›Ökono- Entwicklungsprozesse männlicher Identitäten dann
mien‹ für Cixous prinzipiell bei beiden Geschlech- wieder zum Zentrum psychoanalytischer Studien
tern auftreten können, ist in diesem Ansatz die Idea- geworden.
lisierung des Weiblichen, die in allen differenztheo-
retischen Konzepten latent enthalten ist, besonders
Feministische Psychoanalyse
deutlich: Der in der Psychoanalyse Freuds und La-
und Frauenforschung zu Beginn
cans enthaltenen Definition der Frau als defizitär
der 1990er Jahre
wird eine Positivierung des Weiblichen entgegenge-
halten, die nicht selten auf Wünsche und Phantasien Zu Beginn der 1990er Jahre gab es eine Reihe von
rekurriert, die an die Mutter gebunden sind und z. B. psychoanalytisch orientierten Studien, die in der sich
uneigennützige Liebe, Geben ohne zu nehmen, kon- zunehmend an Universitäten und anderen wissen-
fliktfreie und sprachlose Zuneigung und Nähe ent- schaftlichen Einrichtungen etablierenden feministi-
halten. Damit haben diese Ansätze entgegen ihrer In- schen Wissenschaft bzw. Frauenforschung verankert
tention eine Nähe zu traditionellen Weiblichkeits- waren. Zu dieser Zeit wurden psychoanalytisch ori-
und Mutterbildern. entierte Argumentationen noch als ein produktiver
Theoriestrang der feministischen Wissenschaft bzw.
Frauenforschung angesehen. Im Lauf der 1990er
Entstehungsbedingungen von Männlichkeit
Jahre verlagerten sich die theoretischen Bezüge je-
Eine der wenigen Studien, die sich in den 1970er Jah- doch hin zu theoretischen Ansätzen, in denen der
ren ausführlich mit männlicher Identität beschäftigt starke Körperbezug der Psychoanalyse als problema-
hat, ist die von Klaus Theweleit über Männerphan- tisch angesehen wurde.
tasien (1977/1978). Sie wurde in der westdeutschen In der deutschsprachigen Frauenforschung hatte
Öffentlichkeit breit rezipiert und insbesondere in den die 1990 erschienene Studie der US-amerikanischen
sich im Gefolge der Frauenbewegung in einigen Städ- Psychoanalytikerin Jessica Benjamin Die Fesseln der
ten bildenden kritischen ›Männergruppen‹ disku- Liebe (1988/1990) große Bedeutung. Benjamin ori-
tiert. Theweleit versucht – sich eher assoziativ auf entiert sich an einem Verständnis von Psychoanalyse,
unterschiedliche Elemente der Freudschen theoreti- in dem sie die Freudschen triebtheoretischen Annah-
schen Annahmen beziehend – am Beispiel faschisti- men mit objekttheoretischen Positionen zu verbin-
scher Männlichkeit zentrale Elemente der Herausbil- den suchte. Im Vordergrund stehen jedoch objektbe-
dung männlicher Identität generell zu beschreiben. ziehungstheoretisch orientierte Argumentationen.
Zentral ist für ihn die Annahme, daß Männlichkeit Benjamins Analysen zielen insbesondere ab auf:
sich unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen – eine an den Ergebnissen der neueren Säuglingsfor-
Frauen die ersten wichtigen Bezugspersonen für ihre schung orientierte Kritik an bisherigen theoreti-
Kinder sind, als Abwehrreaktion gegen Weiblichkeit schen Positionen in der Psychoanalyse,
entwickelt. Damit argumentiert er ähnlich wie Nancy – eine Neuformulierung geschlechtsspezifischer
Chodorow, jedoch sehr viel zugespitzter die proble- Entwicklungen.
matischen Seiten einer solchen Identitätsbildung be- Benjamin zeigt, daß die bisher in psychoanalytischen
tonend. Angenommen wird eine Haßliebe gegen das Diskussionen vorherrschenden theoretischen An-
Weibliche, gegen dessen Verlockungen sich der Mann sätze – und damit auch die feministisch orientier-
390 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

ten – zu einer Verfestigung von Mutterbildern bei- unterschiedliche Geschlechter übertragen werden –
tragen, in denen Idealisierung und zugleich Entwer- Männer weiterhin für ›Autonomie‹, aktive Hand-
tung des Weiblichen angelegt sind. Die Konzeptuali- lungsfähigkeit und ›Begehren‹ stehen und Frauen
sierung von Entwicklungsverläufen über eine dementsprechend für ›Abhängigkeit‹ und mangelnde
Entgegensetzung von Symbiose, einem Einssein mit Subjektivität. Es ist das Verdienst dieser Studie, für
der Mutter, dem potentiell paradiesische Qualitäten zentrale frühe lebensgeschichtliche Phasen – z. B. die
zugesprochen werden, einerseits und Autonomie als von der Psychoanalytikerin Margaret Mahler so ge-
schmerzlichem Prozeß der Ablösung von der Mutter nannte ›Wiederannäherungsphase‹ im Alter von 18
andererseits, beinhaltet Phantasien von Mütterli- Monaten – gezeigt zu haben, wie die Entfaltung eines
chem, in denen eine eigene Subjektivität der Frauen, ›eigenen Begehrens‹ bei Mädchen schon früh ge-
ein eigenes Leben keinen Raum haben: Verfestigt bremst und die Entwicklung illusionärer Autonomie
wird ein Bild des Mütterlichen als potentieller Quelle bei Jungen gefördert wird. Ähnlich wie bei anderen
alles Guten, und – als Kehrseite nach den notwen- objektbeziehungstheoretisch orientierten Autorinnen
digerweise sich einstellenden Enttäuschungen – auch wird allerdings auch hier eine Reproduktion beste-
als Ort alles Schlechten und Bösen. Benjamin ent- hender Geschlechterverhältnisse beschrieben, die we-
wickelt – gestützt auf Ergebnisse der in den USA ins- nig Differenzierungen innerhalb der Geschlechter
besondere mit dem Namen von Daniel Stern verbun- zuläßt.
denen neueren Säuglingsforschung – ein anderes Ähnlich breit rezipiert wie Benjamins Studie
Konzept von individuellen Entwicklungen: ein Kon- wurde zu Beginn der 1990er Jahre in der deutsch-
zept, in dem ein lustvolles In-die-Welt-Gehen ebenso sprachigen Frauenforschung die Untersuchung der in
wichtig ist wie Verschmelzungserlebnisse mit der Frankfurt am Main lehrenden Psychoanalytikerin
Mutter, in dem das Weggehen von der Mutter ebenso Christa Rohde-Dachser Expedition in den dunklen
lustvoll sein kann wie die Nähe zu ihr. Eine solche Kontinent (1991). Rohde-Dachser erarbeitete eine
Sichtweise auf Entwicklungen ermöglicht einen an- umfassende Kritik an psychoanalytischen Konzepten
deren Blick auf Mütter: Sie dürfen nicht nur ein eige- zur weiblichen Entwicklung, in deren Zentrum die
nes Leben außerhalb des Kindes haben, es ist für ge- Auseinandersetzung mit Freuds Weiblichkeitstheorie
glückte kindliche Entwicklungen sogar erforderlich, steht. Mit dem methodischen Instrumentarium der
daß Mütter sich als ›Andere‹, als Frauen mit einem Psychoanalyse – der tiefenhermeneutischen Textin-
›eigenen Begehren‹, mit eigenen, vom Kind unab- terpretation – werden von ihr die unbewußten Ge-
hängigen Wünschen und Interessen zeigen, denn nur halte theoretischer psychoanalytischer Texte heraus-
so können Kinder das Glück genießen, mit einer äu- gearbeitet. Bezogen auf Freuds Annahmen zur weib-
ßeren, von ihnen unabhängigen Realität in Kontakt lichen Entwicklung kann sie zeigen, daß die ihr zu-
zu treten. grundeliegenden unbewußten Phantasien geprägt
Von einer solchen neuen Sicht auf Mütter erhoffte sind von für Männer spezifischen Wünschen und
Benjamin sich auch eine Veränderung geschlechts- Ängsten und wesentlich die Funktion haben, die Vor-
spezifischer Entwicklungsverläufe. Damit richtete sie stellung von männlicher Einzigartigkeit und Über-
ihre Veränderungsperspektive nicht mehr nur – wie legenheit zu stützen. Deutlich wird, daß die den psy-
es bei den meisten der objektbeziehungstheoretisch choanalytischen Diskurs fundierenden Phantasien
orientierten Autorinnen der Fall war – auf eine Neu- dem gleichen kollektiven Unbewußten entstammen,
organisation der Elternschaft, insbesondere die auf dem auch die Weiblichkeitsbestimmungen der
Beteiligung der Väter an der frühen Betreuung und patriarchalischen Gesellschaft und das patriarchali-
Versorgung der Kinder, sondern auch auf eine Re- sche Geschlechterverhältnis beruhen. Rohde-Dach-
formulierung des ›Mütterlichen‹. So zeigt Benjamin sers Ansatz, die theoretischen Texten zugrundelie-
in ihren Analysen zu geschlechtsspezifischen Ent- genden unbewußten Phantasien herauszuarbeiten,
wicklungsverläufen, daß kulturelle Bilder von Weib- hat der Frauenforschung zu Beginn der 1990er Jahre
lichkeit und Männlichkeit und die ihnen entspre- neue und produktive Perspektiven auf Möglichkeiten
chende auch innerpsychisch verankerte Arbeitstei- einer kritischen Analyse wissenschaftlicher Produk-
lung zwischen den Geschlechtern in individuellen tionen eröffnet. Deutlich wurde, wie stark die die
Entwicklungsprozessen immer wieder eine Polarität bestehenden Geschlechterverhältnisse fundierenden
der Geschlechter schaffen, in der die Spannung zwi- psychischen Strukturen auch wissenschaftliche Er-
schen Autonomie und zugleich Angewiesensein auf kenntnismöglichkeiten – auch die der Frauen – prä-
andere nicht in jeder und jedem einzelnen ausbalan- gen.
ciert werden muß, sondern – indem beide Pole auf Eine andere zu Beginn der 1990er Jahre in der
Feminismus/Gender Studies 391

deutschsprachigen Frauenforschung rezipierte Studie Konventionen sieht. In bundesrepublikanischen fe-


setzt sich noch einmal intensiv mit Freuds Annah- ministischen wissenschaftlichen Arbeiten stehen zwei
men zur weiblichen und männlichen Entwicklung unterschiedliche theoretische Ansätze – die sich beide
und dem Konzept des ›Penisneides‹ von Mädchen auf angloamerikanische Diskussionen beziehen – im
auseinander. Die amerikanische Psychoanalytikerin Zentrum dieser als ›dekonstruktivistisch‹ bezeichne-
Irene Fast fand in ihrer Untersuchung Von der Einheit ten, weil auf die Dekonstruktion der Zweigeschlecht-
zur Differenz (1984/1991) einen Weg, die Entwick- lichkeit zielenden, Debatten:
lung beider Geschlechter gleichermaßen ins Auge zu – eine interaktionstheoretisch fundierte Sichtweise,
fassen und zu zeigen, daß für Kinder beiderlei Ge- die die Zweigeschlechtlichkeit als Ergebnis sozialer
schlechts das Bewußtwerden der anatomischen Ge- Zuschreibungs- und Darstellungsprozesse, eines
schlechtsunterschiede im zweiten Lebensjahr mit der ›doing gender‹ in sozialen Interaktionen begreift
Kränkung verbunden ist, über nur ein Geschlecht zu (Gildemeister/Wetterer 1992),
verfügen, und den entsprechenden Neid auf das an- – ein diskurstheoretisch orientierter Ansatz, der mit
dere Geschlecht zur Folge hat. Damit wurden die dem Namen von Judith Butler (1993/1995) ver-
Diskussionen um die Freudschen Annahmen zur bunden ist und von der Annahme ausgeht, daß
weiblichen Entwicklung entdramatisiert: Fast gelang ›Geschlecht‹ und ›Zweigeschlechtlichkeit‹ allein
es, Erfahrungen von Kränkung und Neid auf das je- das Ergebnis entsprechender gesellschaftlicher
weils andere Geschlecht als konstitutiv für Entwick- Diskurse, d. h. vornehmlich sprachlich organisier-
lungsprozesse von Mädchen und Jungen aufzuzeigen ter Formen des Wissens sind.
und so die Blickrichtung auf beide Geschlechter zu Beide Ansätze verfolgen eine radikal auf die Bedeu-
erweitern – eine Perspektive, die in den 1990er Jah- tung sozialer und kultureller Deutungen und Defini-
ren in der Frauenforschung zunehmend an Bedeu- tionen zielende Sichtweise: Die Dimension innerer
tung gewann und zu einer Veränderung der Benen- Entwicklungen, psychischer Strukturen und Prozesse
nung dieser Forschungsrichtung in ›Frauen- und Ge- sowie geschlechtlicher Körperlichkeit mit den an sie
schlechterforschung‹, ›Geschlechterforschung‹ oder geknüpften unbewußten Wünschen, Phantasien und
›gender studies‹ führte. Ängsten – zentrale Themen psychoanalytisch orien-
tierter Forschungen – haben darin wenig Raum. So
haben sich im Lauf der 1990er Jahre feministische
Die Dominanz dekonstruktivistischer
Diskussionen und psychoanalytische Theoriebil-
Perspektiven in der Frauen- und
dungsprozesse auseinanderentwickelt. Es gibt weiter-
Geschlechterforschung und der
hin wichtige psychoanalytische Forschungen unter
Bedeutungsverlust der Psychoanalyse
einer Geschlechterperspektive, aber diese sind kaum
in den 1990er Jahren
mehr – wie noch bis zu Beginn der 1990er Jahre –
Im Verlauf der 1990er Jahre wurden feministische von Bedeutung für feministische und Gender-Debat-
theoretische Ansätze, in denen der Nachweis von Dif- ten. Den Versuch einer Vermittlung beider Positionen
ferenzen zwischen Frauen und Männern im Zentrum unternimmt Nancy Chodorow (1999/2001) in einer
stehen, zunehmend kritisiert. Das betraf auch die an Studie, in der sie die Bedeutung kultureller Defini-
einer feministischen Reformulierung psychoanalyti- tionen und Konstruktionen für die Ausgestaltung
scher Konzeptionen interessierten objektbeziehungs- unbewußter Dynamiken hervorhebt, in der sie um-
theoretischen Analysen zu geschlechtsspezifischen gekehrt aber auch auf die Relevanz der Dimension
Entwicklungsverläufen und die an der Lacanschen des Innerpsychischen für kulturelle und gesellschaft-
Psychoanalyse orientierten Argumentationen. Im liche Prozesse hinweist (vgl. Liebsch 1997; Winter-
Zentrum der Kritik stand die schon im Ansatz dieser hager-Schmid 2004). Aus der Perspektive der Lacan-
Forschungsrichtung angelegte Tendenz, die beiden schen Psychoanalyse verknüpfte Barbara Rendtorff
Geschlechtergruppen ›Frauen‹ und ›Männer‹ ohne (1996) dekonstruktivistische Annahmen zur Ge-
interne Differenzierungen einander gegenüberzu- schlechterdifferenz mit der insbesondere für die ödi-
stellen, damit unzulässige Verallgemeinerungen zu pale Phase als notwendig angesehenen Einsicht in die
formulieren und binäre, polarisierende Geschlech- geschlechtliche Begrenztheit der eigenen Körper-
terkonstruktionen festzuschreiben. Dagegengesetzt lichkeit, die zugleich die Konfrontation mit Nicht-
wurde eine Perspektive, die die Annahme einer Zwei- Vollständigkeit, Vergänglichkeit, Abhängigkeit von
geschlechtlichkeit, von zwei und nur zwei Geschlech- anderen und der Unerfüllbarkeit des Begehrens be-
tern, selbst als soziale Konstruktion, als Ergebnis ge- deutet.
sellschaftlicher und kultureller Definitionen und
392 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Psychoanalyse und Genderforschung von kleinen Mädchen. Da nur wenige Mütter – we-
seit den 1990er Jahren sentlich aufgrund homoerotischer Tabus – bestäti-
gend und liebevoll mit dem aktiven Werben ihrer
Psychoanalytische Forschungen unter einer Ge- kleinen Tochter umgehen können, erhalten die Re-
schlechterperspektive wurden in den 1990er Jahren aktionen der Väter auf das sich entfaltende Begehren
zunächst überwiegend von Frauen und bezogen auf der Tochter eine große Bedeutung. Poluda-Korte ver-
Probleme und Themen der Entwicklung von Mäd- mutet, daß ein Mädchen die ›heterosexuelle Ver-
chen durchgeführt. Zunehmend haben dann auch kehrsordnung‹, mit der sie in der ödipalen Phase
Männer über Prozesse der Entwicklung von Jungen konfrontiert wird – die Mutter wehrt das erotische
gearbeitet. Werben ihrer kleinen Tochter ab und bezieht sich
Es erschien eine Reihe von wichtigen Studien, die erotisch und sexuell nur auf den Mann –, als starke
sich mit bisher vernachlässigten Aspekten der Ent- Kränkung von seiten der Mutter erlebt, als eine ent-
wicklung von Mädchen beschäftigten. Sexualität und wertende Zurückweisung, die auch Folgen für das
Körperlichkeit – in früheren Untersuchungen wie de- Selbstbewußtsein hat (vgl. Heigl-Evers/Weidenham-
nen von Chodorow (1978/1985) und Benjamin mer 1988). Eine alle Entwicklungsphasen umfas-
(1988/1990) durch die für sie spezifische theoretische sende und sich intensiv auch mit den Freudschen
Orientierung ausgespart – wurden zu wichtigen The- Annahmen auseinandersetzende Darstellung der ho-
men (zu entsprechenden Tendenzen in der Psycho- moerotischen Wünsche, Phantasien und Ängste in
analyse generell vgl. Gast 1992). Dabei wurde auf der Mutter-Tochter-Beziehung wurde von Johanna
neue Weise an Freudsche Ideen angeknüpft: Das von Schäfer (1999) vorgelegt (vgl. auch Koellreuter
ihm entwickelte Konzept des »negativen Ödipus- 2000).
komplex« (GW XIV, 517–537) wurde wieder aufge- Eine andere in bisherigen Studien vernachlässigte
griffen und damit die Annahme, daß die ödipale Dimension in der Entwicklung von Mädchen war die
Phase auch die Liebe zum gleichgeschichtlichen El- der Aggression. Formulierte Margarete Mitscherlich
ternteil und den eifersüchtigen Haß auf den gegen- (1985) noch ihre These von der ›friedfertigen Frau‹,
geschlechtlichen beinhaltet. Bezogen auf die entspre- so standen in den 1990er Jahren auch die bedrohli-
chenden Entwicklungen von Mädchen – die Freud chen, zerstörerischen Potentiale weiblicher Aggressi-
ähnlich wie Jeanne Lampl-de Groot (1927) formu- vität im Zentrum (Hamburger Arbeitskreis für Psy-
lierte – wird angenommen, daß eine homosexuelle choanalyse und Feminismus 1995; vgl. Christian-
Orientierung an der Mutter den erotischen Wün- Widmaier 2000). In einer umfassenden Studie zum
schen an den Vater vorausgeht. Diese erotische Di- Thema zeigt Tamara Musfeld (1997) die aus der Mut-
mension in der Mutter-Tochter-Beziehung geriet ter-Tochter-Beziehung stammenden unbewußten
dann aus dem Blickfeld psychoanalytischer Diskus- Phantasien auf, die Aggression mit archaischen ver-
sionen, bis sie in den 1990er Jahren wieder aufge- nichtenden Qualitäten ausstatten und verhindern,
griffen wurde. Sexuelle Entwicklungen werden – daß sie produktiv genutzt werden kann als Kraft für
ähnlich wie bei Freud – nicht mehr nur als von he- ein eigenes Wünschen und Wollen, für eine aktive
terosexuellen Wünschen und Phantasien geprägt ge- Handlungsfähigkeit.
sehen: In der Entwicklung von Mädchen sind auf das Verbunden mit der Wiederentdeckung von Kör-
eigene und das andere Geschlecht bezogene Wünsche perlichkeit, Sexualität und Erotik in der Entwicklung
und Phantasien gleichermaßen von Bedeutung. Da- von Mädchen rückte eine lebensgeschichtliche Phase
bei werden Entwicklungsprozesse in dieser Perspek- ins Zentrum des Interesses, die für entsprechende
tive mitbeeinflußt von Tabuisierungen homosexuel- Entwicklungen eine große Bedeutung hat: die Ado-
ler Wünsche und Phantasien. Karin Bell spricht vom leszenz, die Zeit des Übergangs von der Kindheit
›erotischen Glanz im Auge der Mutter‹, der die frühe zum Erwachsensein, zum Frausein, in der Ge-
Lust der Tochter an ihrem Körper bestätigen könnte, schlechtlichkeit, Sexualität und weibliche Körperlich-
der oft aber fehlt, weil Schamgefühle und homose- keit zu zentralen Themen werden. Es erschienen ei-
xuelle Ängste dominieren (Bell 1991; vgl. auch Flaake nige Studien, die sowohl die mit den körperlichen
1992; Moré 1997). Veränderungen, z. B. der ersten Menstruation ver-
Unter dem Stichwort ›lesbischer Komplex‹ unter- bundenen Wünsche, Phantasien und Ängste unter-
suchte Eva Poluda-Korte (1993) für die ödipale Phase suchten als auch die Einbindungen dieser Entwick-
– deren Beginn sie mit Melanie Klein sehr früh, ab lungen in bestimmte soziale Definitionen und Be-
dem ersten Lebensjahr ansetzt – das Schicksal des auf wertungen darstellen, durch die gesellschaftliche
die Mutter gerichteten aktiven erotischen Werbens Weiblichkeitsbilder die Körperwahrnehmung und
Feminismus/Gender Studies 393

das Körpererleben prägen, und auf diese Weise in der toren in der Betonung der potentiell positiven Funk-
Adoleszenz ›in den Leib geschrieben‹ werden (Dalsi- tionen von Vätern im Prozeß des Heranwachsens ih-
mer 1986/1993; die Beiträge in Flaake/King 1992; rer Söhne und der Notwendigkeit einer stärkeren
Flaake 2001; King 2002; Waldeck 1988). Präsenz, die nicht nur auf äußere Anwesenheit, son-
Um die Möglichkeiten der Aneignung des ›inneren dern auf emotionale Anteilnahme abzielt. Vor diesem
Geschlechts‹, des ›genitalen Innenraums‹ mit seinen Hintergrund konzeptualisiert Blos (1985/1990) ver-
schöpferischen Potenzen geht es in einer umfassen- schiedene Vatertypen in Abhängigkeit vom Entwick-
den Studie von Vera King (1995). Ausgangspunkt ist lungsstadium des Sohnes. Schon (2000) beschreibt –
eine intensive Auseinandersetzung mit Freuds Fall- auf der Basis der Erfahrungen von Jungen und Män-
geschichte der »Dora« (GW V, 161–286). Auf dieser nern mit nicht oder kaum anwesenden Vätern – für
Basis wird die Bewegung von Erkenntnis und Ab- unterschiedliche lebensgeschichtliche Phasen die po-
wehr von Erkenntnis, die »halbierte Aufklärung im sitiven Funktionen einer väterlichen Präsenz. Aigner
Ursprung der Psychoanalyse« (King 1995, 1 ff.), die (2001) erarbeitet – in intensiver Auseinandersetzung
in Freuds Weiblichkeitstheorie zum Ausdruck mit psychoanalytischen Annahmen zur Vater-Sohn-
kommt, rekonstruiert und die Nähe zu seinen eige- Beziehung beginnend bei Freud – theoretische An-
nen adoleszenten Themen aufgezeigt, die eine nar- nahmen zu neuen Väterlichkeitsdimensionen in
zißtische Verabsolutierung des eigenen Geschlechts, präödipalen und ödipalen Entwicklungsphasen. Da-
die Dominanz eingeschlechtlicher Schöpfungsphan- bei bezieht er sich – ähnlich wie Psychoanalytikerin-
tasien und die angstbesetzte und ambivalente Sehn- nen hinsichtlich der weiblichen Entwicklung – posi-
sucht nach dem anderen Geschlecht zur Folge hatte. tiv auf Freuds Konzept des ›negativen Ödipuskom-
Zugleich werden für die weibliche Adoleszenz am plexes‹, in dem für Jungen die zärtliche, erotisch ge-
Beispiel der Fallgeschichte der »Dora« die Bedeutung färbte Haltung gegenüber dem Vater betont wird,
der schöpferischen Potenzen des weiblichen inner- hält jedoch eine Definition dieser Gefühle als ›femi-
genitalen Raums und die Notwendigkeit entspre- nin‹ – wie es bei Freud geschieht – für problematisch,
chender Aneignungsprozesse in der Adoleszenz be- da sie Geschlechterpolaritäten verstärkt und einer In-
schrieben. tegration solcher homoerotischen Beziehungsquali-
Vereinzelt haben immer auch Männer zu Proble- täten in positiv besetzte Männlichkeitsbilder entge-
men der männlichen Entwicklung und Aspekten des gensteht.
Geschlechterverhältnisses gearbeitet (vgl. die zusam- In einem zweiten Schwerpunkt der auf männliche
menfassende Darstellung in Mertens 1992/1993, zu- Entwicklungen bezogenen Forschungen geht es – wie
dem z. B. Benz 1989; Bosse 1994; Reiche 1990), seit schon ähnlich bei Theweleit (1977/1978) – um die
Ende der 1990er Jahre gibt es jedoch vermehrt ent- Verknüpfung von männlicher Geschlechtsidentität
sprechende Studien, die diesen bisher in der Gen- mit Gewalt. Die umfassendste Studie zu diesem
derforschung unterrepräsentierten Bereich auszufül- Thema ist dabei die von Rolf Pohl (2004; zum Thema
len beginnen. Deutlich wird dabei, daß die Psycho- vgl. auch Königseder 2003; Nitzschke 2003). Pohl
analyse zwar dazu tendiert hat, den männlichen Kör- analysiert die Konstitution der männlichen Sexualität
per und die männliche Entwicklung zur Norm zu im Medium primärer Objekterfahrungen und ver-
erheben und Weibliches demgegenüber als defizitär bindet damit triebtheoretisch orientierte mit objekt-
zu erklären, daß in einer solchen Perspektive aber beziehungstheoretischen Annahmen. Gezeigt wird,
nicht nur weibliche Entwicklungen, sondern auch daß für männliche Geschlechtsidentität unter den
männliche nicht angemessen begriffen werden kön- bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen eine
nen. ambivalente bis feindselige Einstellung zu Frauen
In Studien zu männlichen Entwicklungen stehen kennzeichnend ist. Weibliches wird unbewußt als Be-
wesentlich zwei Themen im Vordergrund: drohung erlebt und deshalb abgewehrt, Sexualität er-
– die Vater-Sohn-Beziehung, hält eine phallisch-aggressive Ausrichtung. Sexualität
– die Verknüpfung von Männlichkeit mit Gewalt. und Aggressivität sind damit untrennbar miteinan-
Mit der Vater-Sohn-Beziehung haben sich insbeson- der verwoben und haben so eine latente Nähe zu Ge-
dere Peter Blos (1985/1990), Lothar Schon (2000) walt und Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen. Diese
und Josef Christian Aigner (2001) auseinanderge- entspringt einer aus Begierde, Angst, Neid, Wut und
setzt. Im Vordergrund steht dabei der Aspekt eines Haß bestimmten unbewußten Einstellung zum
Mangels in dieser Beziehung: Es geht um die Sehn- Weiblichen. Pohl illustriert die Verflechtung von
sucht nach dem Vater (Schon 2000), zum Thema wird männlicher Sexualität und Aggressivität am Beispiel
Der ferne Vater (Aigner 2001). Einig sind sich die Au- der Massenvergewaltigungen in Kriegen des 20. und
394 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

21. Jh.s und stellt damit einen aktuellen politischen Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des
Geschlechts. Frankfurt a. M. 1995 (engl. 1993).
Bezug her, der das produktive Potential dieser psy- Chasseguet-Smirgel, Janine (Hg.): Psychoanalyse der weiblichen
choanalytischen, auf die Untersuchung männlicher Sexualität. Frankfurt a. M. 1974 (frz. 1964).
Geschlechtsidentität bezogenen Forschungsrichtung Chodorow, Nancy J.: Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und
der Gender Studies zeigt. Soziologie der Geschlechter. München 1985 (engl. 1978).
–: Die Macht der Gefühle. Subjekt und Bedeutung in Psycho-
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß eine analyse, Geschlecht und Kultur. Stuttgart 2002 (engl. 1999).
psychoanalytische Orientierung, wie sie von Freuds Christian-Widmaier, Petra: Aggression in Frau-Frau-Analysen.
theoretischen Konzepten ihren Ausgangspunkt ge- In: Forum der Psychoanalyse 16 (2000), 231–246.
nommen hat, in der Genderforschung seit den Cixous, Hélène: Schreiben und Begehren. In: Alternative 19
(1976), 155–159 (frz. 1974).
1990er Jahren zwar nicht mehr die Bedeutung hat, –: Schreiben, Feminität, Veränderung. In: Alternative 19
wie sie für die Frauen- und Geschlechterforschung in (1976), 134–147 (frz. 1975).
der zweiten Hälfte der 1970er bis Anfang der 1990er Dalsimer, Katherine: Vom Mädchen zur Frau. Literarische Dar-
Jahre kennzeichnend war, daß sie aber – wenn auch stellungen – psychoanalytisch betrachtet. Berlin/Heidelberg
1993 (engl. 1986).
neben anderen, z. T. dominanteren theoretischen An- Dinnerstein, Dorothy: Das Arrangement der Geschlechter.
sätzen – immer noch wichtige Beiträge zum Ver- Stuttgart 1979 (engl. 1976).
ständnis von Geschlechterverhältnissen und ge- Fast, Irene: Von der Einheit zur Differenz. Psychoanalyse der
schlechtlichen Identitäten liefert. Kontrovers disku- Geschlechtsidentität. Berlin/ Heidelberg/New York 1991
(engl. 1984).
tiert wurden immer wieder Freuds Annahmen zur Firestone, Shulamith: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution.
weiblichen Entwicklung, zunehmend bedeutsam ge- Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1970).
worden ist jedoch eine Perspektive, in der an Kern- Flaake, Karin/Vera King (Hg.): Weibliche Adoleszenz. Zur Sozia-
stücke Freudscher theoretischer Konzepte ange- lisation junger Frauen. Frankfurt a. M./New York 1992.
Flaake, Karin: Ein Körper für sich allein. Sexuelle Entwicklun-
knüpft wird, um aktuelle Themen zu bearbeiten. gen und körperliche Weiblichkeit in der Mutter-Tochter-Be-
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396

11. Pädagogik

Von Anfang an waren Psychoanalyse und Pädagogik ziehungslehre an der Psychoanalyse stützt sich auf ei-
eng aufeinander bezogen, auch wenn sie – jedenfalls nen zur Evidenz gebrachten Satz. Ein Erzieher kann
für Freud – getrennte Wissenschaftsbereiche darstell- nur sein, wer sich in das kindliche Seelenleben ein-
ten. Bis heute ist strittig, ob es in wissenschaftstheo- fühlen kann [. . .]« (GW VIII, 419). Es ist interessant,
retischer Hinsicht eine »Psychoanalytische Pädago- daß Freud im Kontext seiner pädagogischen Über-
gik« als eigenständige Forschungsdisziplin gibt oder legungen zu einer radikaleren Gesellschaftskritik ge-
ob die Psychoanalyse nicht lediglich als Hilfswissen- langt als in anderen Theoriezusammenhängen; man
schaft für die Pädagogik anzusehen ist. Außer Zweifel bekommt den Eindruck, daß die Pädagogik das so-
steht jedoch, daß die Psychoanalyse gerade durch die zialkritische Sensorium der Psychoanalyse schärft
Berührung mit pädagogischen Fragestellungen zu ge- und diese zu deutlicheren Stellungnahmen veranlaßt.
sellschafts- und kulturkritischen Auseinandersetzun- Freud kritisiert denn auch vehement die repressive
gen veranlaßt wurde, die sie im Rückzug auf indivi- Erziehung seiner Zeit, die ihre Aufgabe schlecht er-
dualpsychologische Positionen immer wieder ver- fülle und den Kindern großen Schaden zufüge: Die
nachlässigte. So konnte Hans Füchtner formulieren, Erziehung »hat sich bisher immer nur die Beherr-
die Psychoanalytische Pädagogik sei der ›fortschritt- schung, oft richtiger Unterdrückung der Triebe zur
lichste Zweig der Psychoanalytischen Bewegung‹ Aufgabe gestellt; der Erfolg war kein befriedigender
(Füchtner 1978, 197) – die Arbeit mit Heimkindern, und dort, wo es gelang, geschah es zum Vorteil einer
Verwahrlosten und Deklassierten habe die gesell- kleinen Anzahl bevorzugter Menschen, von denen
schaftspolitische Wahrnehmung der Psychoanalyse Triebunterdrückung nicht gefordert wird. Man fragte
geschärft. auch nicht danach, auf welchem Wege und mit wel-
Freud hat sich selbst nie als Pädagoge verstanden, chen Opfern die Unterdrückung der unbequemen
er war aber immer davon überzeugt, daß die psycho- Triebe erreicht wurde« (GW VII, 376). Die Erziehung
analytischen Erkenntnisse von eminenter Bedeutung stehe also im Dienst der Mächtigen, die die Trieb-
für die Pädagogik seien. unterdrückung der Schwachen für ihre Zwecke
funktionalisierten.
In der Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930)
Freud und die Pädagogik
präzisiert er seine Vorwürfe, wenn er schreibt, die Er-
Schon in Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ziehung bereite den jungen Menschen schlecht auf
(1905) finden sich lange Ausführungen über die in- das Erwachsenenleben vor: »Daß sie dem jugendli-
fantile Sexualität und die »Umgestaltungen der Pu- chen Menschen verheimlicht, welche Rolle die Sexua-
bertät« – Studien, die einer intensiven Beobachtung lität in seinem Leben spielen wird, ist nicht der ein-
der kindlichen Entwicklung entspringen: »Verstün- zige Vorwurf, den man gegen die heutige Erziehung
den es die Menschen, aus der direkten Beobachtung erheben muß. Sie sündigt außerdem darin, daß sie
des Kindes zu lernen, so hätten diese ›Drei Abhand- ihn nicht auf die Aggression vorbereitet, deren Ob-
lungen‹ überhaupt ungeschrieben bleiben können« jekt er zu werden bestimmt ist« (GW XIV, 494). Für
(GW V, 32). Freud kritisiert hier implizit die Vorein- Freud war die zeitgenössische Erziehungspraxis defi-
genommenheit der Pädagogen, die z. B. vom Sexual- zitär, da sie von einem falschen Menschenbild aus-
leben des Kindes nichts wissen wollen oder sogar ging und dem Heranwachsenden mehr Schaden als
dessen Existenz abstreiten. Einen Hauptgrund hier- Nutzen zufügte.
für sieht er in der Verdrängung der eigenen Kind- Bei der umstrittenen Frage, inwieweit die Erzie-
heitserfahrungen und in der Unfähigkeit, sich in das hung die psychische Entwicklung des Menschen
Kind einzufühlen: »Das gewichtige Interesse der Er- überhaupt beeinflussen könne, nimmt Freud einen
Pädagogik 397

klaren Standpunkt ein: Er ist der Überzeugung, daß Begriff der »Nacherziehung« für die Neurosenbe-
sie »einen mächtigen Einfluß geltend machen kann« handlung, er versteht ihn aber in uneigentlichem
zu der Entstehung bzw. Vermeidung von Störungen Sinn und setzt ihn keineswegs in Analogie zur er-
(GW VII, 376) – und daß deswegen auch die Psycho- zieherischen Praxis: »Man darf sich nicht durch die
analyse einen beträchtlichen Beitrag zur Aufklärung übrigens vollberechtigte Aussage irreleiten lassen, die
der Erzieher und zur Verbesserung der Erziehungs- Psychoanalyse des erwachsenen Neurotikers sei einer
praxis leisten könne. Nacherziehung desselben gleichzustellen. Ein Kind,
Die grundlegende Schwierigkeit jeder Erziehungs- auch ein entgleistes und verwahrlostes Kind, ist eben
praxis sieht Freud in der Ausbalancierung von Be- noch kein Neurotiker und Nacherziehung etwas ganz
friedigung und Versagung: »Die Erziehung hat also anderes als Erziehung des Unfertigen. Die Möglich-
ihren Weg zu suchen zwischen der Scylla des Ge- keit der analytischen Beeinflussung ruht auf ganz be-
währenlassens und der Charybdis des Versagens. stimmten Voraussetzungen, die man als ›analytische
Wenn die Aufgabe überhaupt nicht unlösbar ist, muß Situation‹ zusammenfassen kann« (GW XIV, 566).
ein Optimum für die Erziehung aufzufinden sein, Die ›analytische Situation‹ beruht wesentlich auf
wie sie am meisten leisten und am wenigsten schaden Übertragung und Gegenübertragung; eine Grund-
kann. [. . .] Wenn sie das Optimum findet und ihre frage der späteren Diskussion wird es sein, ob die
Aufgabe in idealer Weise löst, dann kann sie hoffen, Formen der Übertragung und ihre Bewußtmachung
den einen Faktor in der Ätiologie der Erkrankung, auch den Erziehungsprozeß konstituieren.
den Einfluß der akzidentellen Kindheitstraumen,
auszulöschen« (GW XVI, 160). Freud knüpft somit
Die Anfänge der Psychoanalytischen
große Hoffnungen an die Möglichkeit, eine psycho-
Pädagogik
analytisch orientierte Pädagogik könne Neurosen
verhindern, also »neurosenprophylaktisch« wirksam Der Optimismus Freuds, die Erziehung könne die
sein. Spätere psychoanalytische Pädagogen, insbe- psychische Entwicklung positiv beeinflussen, wirkte
sondere seine Tochter Anna Freud, werden diesen auf die erste Psychoanalytikergeneration äußerst sti-
Optimismus nicht mehr teilen und die Einflußmög- mulierend und führte zu zahlreichen Versuchen, eine
lichkeiten der Erziehung geringer einschätzen. Psychoanalytische Pädagogik praktisch und theore-
Skeptischer ist Freud jedoch bezüglich der Kon- tisch zu begründen. Bereits der erste »Internationale
stituierung einer Psychoanalytischen Pädagogik als Psychoanalytische Kongreß« im Jahr 1908 (Salzburg)
eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin. Er mißt war dem Thema »Psychoanalyse und Erziehung« ge-
der Psychoanalyse eher den Status einer Hilfswissen- widmet; Sándor Ferenczi hielt auf der Tagung einen
schaft für die Pädagogik zu, eine wissenschaftstheo- Vortrag, in dem er den Optimismus der Gründer-
retisch begründbare Synthese beider Wissenschaften generation zum Ausdruck brachte: »Eine diesen Leh-
hält er für unmöglich. So schreibt er in seinem Vor- ren entsprechende rationellere Kindererziehung wird
wort zu August Aichhorns Buch Verwahrloste Jugend. einen großen Teil der drückenden psychischen Lasten
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung (1925): wegräumen« (Ferenczi 1970, 7).
»Die zweite Mahnung klingt eher konservativ, sie be- In den 1920er Jahren erlebte die Psychoanalytische
sagt, daß die Erziehungsarbeit etwas sui generis ist, Pädagogik ihre Blütezeit. Pädagogische Experimente
das nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung ver- wurden durchgeführt, Institutionen gegründet: Die
wechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Wiener Psychoanalytische Vereinigung richtete 1923
Die Psychoanalyse des Kindes kann von der Erzie- eine Erziehungsberatungsstelle ein und organisierte
hung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie Kurse für Pädagogen; Siegfried Bernfeld gründete
ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten. Nicht 1919 das »Kinderheim Baumgarten«, in dem er jüdi-
nur praktische Gründe verbieten es, sondern auch schen Kindern, meist verwahrlost und ohne Ange-
theoretische Überlegungen widerraten es« (GW XIV, hörige, eine Heim- und Schulerziehung angedeihen
566). Freud beharrt auf der Eigenständigkeit beider ließ (Bernfeld 1969); Wera Schmidt betreute 1924
Wissenschaften und bezieht schon früh Stellung in fünfjährige Kinder in einem Moskauer »Kinderheim-
einer Debatte, die besonders in den 1970er Jahren Laboratorium« nach psychoanalytischen Grundsät-
virulent werden sollte. Er benennt die differentia spe- zen; in Wien rief die Amerikanerin Dorothy Burling-
cifica von psychoanalytischer Behandlung und erzie- ham eine psychoanalytisch-pädagogische Versuchs-
herischer Praxis: das psychoanalytische Setting, das schule ins Leben, die »Burlingham-Rosenfeldschule«,
sich nicht einfach auf die Beziehungsform Erzieher – an der Psychoanalytische Pädagogen unterrichteten;
Kind übertragen lasse. Zwar verwendet Freud den 1925 erschien August Aichhorns Studie Verwahrloste
398 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Jugend; ein Jahr später wurde die Zeitschrift für Psy- sollte, analog zum psychoanalytischen Setting, die
choanalytische Pädagogik gegründet (sie mußte 1937 Übertragungsbeziehung genutzt werden, um dem
ihr Erscheinen aus politischen Gründen einstellen). Schüler zur Aufrichtung eines Ich-Ideals zu verhelfen
Lili Roubiczek stellte eine Verbindung zwischen der (wobei der Lehrer sich als Hilfs-Ich, als Ich-Ideal eta-
Psychoanalyse und der Montessori-Pädagogik her blieren sollte). Leider hatten gerade die Arbeiten mit
und eröffnete das erste Montessori-Heim für Arbei- elternlosen Kindern und Jugendlichen (Bernfeld,
terkinder in Wien. Das Psychoanalytische Volksbuch, Zulliger, Wera Schmidt) oft nicht den erhofften Er-
1926 von Federn und Meng in zwei Bänden heraus- folg – auch deswegen, weil die Verwaltungen der
gegeben, verkündete im Vorwort programmatisch: Heime den neuen Erziehungsmethoden ablehnend
»Die Psychoanalyse findet ihren letzten Sinn und ih- gegenüberstanden.
ren reinsten Erfolg als Erziehungswissenschaft« Der erfolgreichste Zweig der Psychoanalytischen
(Kaufhold 2001, 31). Wie sehr die Psychoanalyti- Pädagogik wurde die Kinderanalyse, die vor allem
schen Pädagogen auf die Psychoanalyse der dama- von Anna Freud weiterentwickelt wurde. Im Unter-
ligen Zeit einwirkten, zeigt die Feststellung von He- schied zu der orthodoxeren Melanie Klein vertrat
lene Deutsch, der Leiterin des Wiener Psychoanalyti- Anna Freud die Ansicht, daß die psychoanalytische
schen Lehrinstituts: Psychoanalytische Pädagogen Erinnerungsarbeit in der Kindertherapie nicht aus-
hätten den größten Anteil am »Aufblühen« der Psy- reiche oder sogar problematisch sei, auf jeden Fall
choanalytischen Bewegung (ebd., 42). aber durch pädagogische Maßnahmen ergänzt wer-
Neben dem Seelsorger Oskar Pfister und dem Leh- den müsse. Wegen der unabgeschlossenen Entwick-
rer Hans Zulliger machte sich besonders Siegfried lung des Kindes müsse der Kinderanalytiker (im Un-
Bernfeld um die Psychoanalytische Pädagogik ver- terschied zum Erwachsenenanalytiker) eine ichstüt-
dient; er war nicht nur einer der begabtesten, son- zende und ichstärkende Funktion haben und die
dern auch radikalsten Schüler Freuds – wenn er sich Stelle des Ich-Ideals einnehmen.
etwa für eine grundlegende Veränderung der Erzie- Dem Optimismus der Anfänge, der die Psychoana-
hungsinstitutionen aussprach. Er radikalisierte lytische Pädagogik an die Möglichkeit einer vollstän-
Freuds Gesellschaftskritik und schlug als erster eine digen Neurosenprophylaxe glauben ließ, folgte bald
Brücke zur Soziologie, in Konsequenz seiner sozia- die Ernüchterung. Anna Freud führt neben den Er-
listischen Einstellung (Wagner-Winterhager 1988, folgen der »psychoanalytischen Erziehungslehre«
114 ff.). Bernfelds Grundthese ist noch heute beden- (neues Verständnis für die orale Phase, Toleranz für
kenswert: Jeder Erzieher scheitere an seiner eigenen autoerotische Betätigungen, größere Nachsicht bei
Erziehungsideologie: dem Glauben, es gebe einen der Reinlichkeitserziehung, Freiheit für Schau- und
Handlungsspielraum pädagogischer Autonomie au- Zeigelust, größere Aufrichtigkeit in sexuellen Din-
ßerhalb gesellschaftlicher Machtfaktoren; jeder Erzie- gen) auch deren Mißerfolge an: Die Anfälligkeit für
her sei Opfer der gesellschaftlichen Zurichtung seiner Neurosen habe nicht wirklich verringert werden kön-
Triebwünsche, und deswegen reproduziere er unbe- nen, da diese »der Preis sind, den die Menschheit für
wußt das, was ihm selbst durch Erziehung angetan die Kulturentwicklung zahlt« (A. Freud 1968, 18).
wurde – und nur die Psychoanalyse könne diesen Auch die sexuelle Aufklärung habe oft nicht das be-
verhängnisvollen Zusammenhang überwinden, in- absichtigte Ziel erreicht – was mit der Unreife der
dem sie ihn bewußt mache (ebd., 116). Noch heute infantilen Sexualkonstitution zusammenhänge (ebd.,
ist die Beschreibung der Erziehungsversuche im 17).
»Kinderheim Baumgarten« eine faszinierende Lek- Bei allen Übersteigerungen oder Irrwegen ver-
türe: Formen einer emanzipatorischen Erziehung mochte die Psychoanalytische Pädagogik jedoch der
werden hier vorgestellt, die von großem Respekt ge- Psychoanalyse wichtige gesellschaftspolitische An-
genüber den Kindern getragen sind und antiautori- stöße zu geben und ihr kritisches Potential zu ak-
täre Erziehungsmodelle der 1970er Jahre vorwegneh- tivieren. Innerhalb der Psychoanalyse stellte sie eine
men. Der aufklärerische Impuls von Freuds Werk entschiedene Protestbewegung dar, die sich nicht nur
überträgt sich hier auf die erzieherische Praxis (vgl. gegen veraltete Erziehungsmethoden, sondern gegen
Bernfeld 1969, 84 ff.). die bestehende Gesellschaftsordnung überhaupt
Schulpädagogische Studien unternahm Hans Zul- wandte. Anstelle des privaten Arzt-Patienten-Verhält-
liger, der das Prinzip der »pädagogischen Analyse« nisses interessierte sie sich für den »sozialen Ort«
entwickelte. Er wandte psychoanalytische Methoden (Bernfeld), der zu einer Kritik der Erziehungsprinzi-
auf den Umgang mit schwierigen Schülern, Stotte- pien und -institutionen herausforderte. Die Psycho-
rern und verhaltensauffälligen Kindern an. Dabei analytische Pädagogik hielt sich damit an Freud, der
Pädagogik 399

von den »Mängeln unserer gegenwärtigen sozialen Psychoanalyse zur Kleinkindererziehung haben sich
Einrichtungen« überzeugt war und in der Neuen inzwischen als selbstverständlich in der Pädagogik
Folge der Vorlesungen Kritik an der ›parteiischen‹ Er- durchgesetzt: etwa die große Bedeutung der frühen
ziehung übte, die anstrebe, »daß sich das Kind der Mutter-Kind-Beziehung auf der Basis des Konzepts
bestehenden Gesellschaftsordnung einordne, ohne frühkindlicher Objektbeziehungen (Entwicklung von
Rücksicht darauf, wie wertvoll oder wie haltbar diese Urvertrauen und Selbstwertgefühl); die liberale Hal-
an sich sei« (GW XV, 162). tung in der Sauberkeitserziehung (ausgehend von der
psychoanalytischen Theorie der analen Partiallust);
die wichtige Rolle von »Übergangsobjekten« bei der
Psychoanalyse und Pädagogik nach 1968:
Bewältigung von Verlust- und Trennungsängsten auf
Entwicklungen, Probleme, Kontroversen
der Grundlage von Winnicotts Objektbeziehungs-
Auch für die Psychoanalytische Pädagogik (wie für theorie (Wagner-Winterhager 1988, 112). Trotz der
die Psychoanalyse selbst) bedeutete das ›Dritte Reich‹ Aufnahme psychoanalytischer Erkenntnisse in die
einen Rückschritt, von dem sie sich nur schwer er- Pädagogik blieb es jedoch – hier ist Füchtner zuzu-
holte. Viele Pädagogen gingen ins Exil, das Erschei- stimmen – bei einer eher marginalen Rezeption psy-
nen der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik choanalytischer Theoreme; insgesamt verhielt sich
wurde eingestellt; in den USA erschien als Nachfolge- die Pädagogische Psychologie abweisend gegenüber
organ The Psychoanalytic Study of the Child, das aber der Psychoanalyse und deren kritischem Potential,
fast ausschließlich kindertherapeutisch orientiert was u. a. mit den bürgerlich individualistischen Ori-
war. entierungen der Pädagogischen Psychologie zu tun
Vor allem die von der Kritischen Theorie beein- haben mag (Füchtner 1978, 203).
flußte Studentenbewegung und die gesellschaftskriti- Vor allem gelang es der Psychoanalytischen Päd-
schen Theoretiker, die nach 1968 die Diskussion be- agogik nicht, »die Integration von Psychoanalyse und
stimmten, begannen sich auf die emanzipatorische Pädagogik auf der Ebene der Theorie zu vollziehen«
Pädagogik Siegfried Bernfelds, Sándor Ferenczis oder (Körner 1980, 779). Jürgen Körner stellte 1980 die
anderer Autoren der 1920er Jahre zurückzubesinnen These von der Unmöglichkeit einer Psychoanalyti-
und gaben deren Schriften neu heraus. Hans Fücht- schen Pädagogik als eigener Wissenschaft auf. Er ver-
ner stellte 1978 in der Zeitschrift Psyche jedoch skep- suchte das wissenschaftstheoretische Defizit der Psy-
tisch fest: »Keine Psychologie hat uns soviel über das choanalytischen Pädagogik aufzudecken und zog da-
Kind gelehrt wie die Psychoanalyse. Die Annahme, es bei das psychoanalytische Setting als Grundlage der
müßte folglich auch heute so etwas wie eine Psycho- psychoanalytischen Theorie in seine Überlegungen
analytische Pädagogik geben, ist naheliegend, aber mit ein. Er geht von der Annahme der Psychoanalyti-
leider falsch. [. . .] Es stellt sich die Frage, wo die Psy- schen Pädagogik aus, daß sie neurosenprophylaktisch
choanalytische Pädagogik abgeblieben ist, warum es wirksam sein könne: daß also die »regrediente« psy-
sie nicht mehr gibt und wodurch sie ersetzt worden choanalytische Therapie zu einer »progredienten«
ist« (Füchtner 1968, 193). Für ihr »Verschwinden« (prophylaktischen) Erziehung umgewendet werden
führt er unterschiedliche Gründe an: einmal die Ent- könne. Diese Ansicht habe mit dem szientistischen
täuschung der optimistischen Annahme, infantile Selbstmißverständnis Freuds zu tun, der an einer na-
Neurosen ließen sich prinzipiell durch die Vermei- turwissenschaftlichen Begründung der Psychoanalyse
dung von Erziehungsfehlern beseitigen. Zum ande- festhielt: Die Psychoanalytische Pädagogik setze vor-
ren die Medizinalisierung der Psychoanalyse in der aus, daß es eine kausale Ätiologie der Neurosen gebe
Situation des Exils: Viele psychoanalytische Pädago- und entsprechend auch einen auf Kausalitätsbezie-
gen konnten im Exil nur überleben, indem sie sich hungen gegründeten Zusammenhang von pädagogi-
aus der pädagogischen in eine (kinder-)therapeuti- schem Handeln und zukünftiger psychischer Ent-
sche Arbeit zurückzogen. Dazu kommt, daß andere wicklung. Das sinnkritische Verfahren der Psycho-
psychologische Richtungen nach dem Krieg erfolg- analyse lasse jedoch »keine Voraussagen über zukünf-
reicher waren als die Psychoanalyse (z. B. Lerntheo- tiges Erleben und Verhalten analytisch behandelter
rie, humanistische Psychologie) und diese aus der Individuen zu« (ebd., 778) Wenn man davon aus-
Pädagogik verdrängten. In der Gegenwart machen geht, daß die Psychoanalyse eine historisch-herme-
empirische Richtungen den psychoanalytischen An- neutische Wissenschaft ist, kann das Konzept der
sätzen das Feld streitig. Neurosenprophylaxe, so Körner, nicht aufrechterhal-
In mancher Hinsicht erscheint Füchtners Ein- ten werden. Auch die Anwendung des Übertragungs-
schätzung zu pessimistisch: Wichtige Einsichten der konzepts auf die pädagogische Situation erscheint
400 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

ihm problematisch: Da Übertragung und Gegen- die Schule fruchtbar gemacht wurden. Hier klafft
übertragung in der pädagogischen Situation nicht eine Lücke, die sich nur zum Teil durch die Proble-
mit Erinnerungen verknüpft sind (was im psycho- matik einer Übertragung des Arzt-Patienten-Settings
analytischen Setting eine Voraussetzung für erfolgrei- auf die pädagogische Situation erklären läßt. Das
ches Durcharbeiten ist), könne man sie kaum päd- Aufdecken unbewußter Konflikte im Lehrer-Schüler-
agogisch anwenden. »Die Heimlichkeit, mit der die Verhältnis stößt offensichtlich auf Ängste, die sich ei-
Übertragungsprozesse aktuelle soziale Beziehungen ner systematischen Analyse der Übertragungs- und
prägen, fördert ihre Wirksamkeit und erschwert ihre Gegenübertragungsbeziehungen in den Weg stellen.
Bearbeitung in der Schüler-Lehrer-Interaktion« Bernfeld hat schon vor langem darauf hingewiesen,
(ebd., 781). Das Fazit: »Beharrt die Psychoanalyse auf daß die Lehrer im Unterricht das reproduzierten, was
ihrem Selbstverständnis, so scheint es für sie keine ihnen selbst in der Erziehung angetan wurde – und
Möglichkeit zu geben, sich auf eine Pädagogik ein- daß man diesen verhängnisvollen Zirkel nur durch
zulassen – zu verschieden sind die Ziele, Methoden psychoanalytische Prozesse und Erfahrungen durch-
und Handlungskompetenzen« (ebd., 786). Eine Lö- brechen könne. Im Unterschied zur Arzt-Patienten-
sung sieht Körner in der strikten Trennung von päd- Beziehung müßte in einer zukünftigen psychoanaly-
agogischen und psychoanalytischen Kompetenzen, tischen Schulpädagogik deshalb die Lehrperson in
die er im Fall des kleinen Hans (Analyse der Phobie den Vordergrund treten; im Rahmen eines ›szeni-
eines fünfjährigen Knaben, GW VII, 241–377) para- schen Verstehens‹ sollte sie Einsicht in ihre (positiven
digmatisch verwirklicht sieht: Dort sind Erzieher und und negativen) Gegenübertragungsreaktionen erhal-
Analytiker nicht in einer Person vereinigt; Freud ten. Das Scheitern gut vorbereiteter Unterrichtsstun-
hatte keinen regelmäßigen Kontakt mit dem Jungen, den, die emotionalen Verstrickungen von Lehrern
er begleitete den ›Therapieverlauf‹ mit dem Vater. und Schülern (bis hin zu unterschwelligen erotischen
Gerade aus der Distanz schöpfe die Psychoanalyse ihr Abhängigkeiten), die Unberechenbarkeit massenpsy-
kritisches Potential als »reflexive, hermeneutische chologischer Schülerreaktionen – all dies wären
Kritik pädagogischer Praxis« (ebd., 786). wichtige Themen einer psychoanalytisch orientierten
So anregend Körners Überlegungen in wissen- schulischen Pädagogik. Doch die Institution Schule
schaftstheoretischer Hinsicht sind, so problematisch gibt hier nur unzureichende Hilfestellungen. Es
sind manche seiner Argumente und Schlußfolgerun- scheint ein Geburtsfehler der Pädagogik als Wissen-
gen. Im Grunde reduziert er Psychoanalyse auf ein schaft zu sein, daß sie das Augenmerk primär auf den
therapeutisches Verfahren; Psychoanalytische Päd- Schüler lenkt und Übertragungs- und Gegenübertra-
agogik beschränkt er auf instrumentelles Handeln gungsphänomene vor allem unter der Perspektive der
und auf »Neurosenprophylaxe« (vgl. auch Neuge- Störung wahrnimmt (vgl. hierzu Büttner/Finger-Tre-
bauer 1992, 382 f.). Körner (1992) selbst scheint seine scher 1991; Hirblinger 2001).
ursprüngliche Position später relativiert zu haben. Die Diskussion über die Möglichkeit oder Unmög-
Die gegenwärtige Situation ist von vorsichtiger An- lichkeit einer Psychoanalytischen Pädagogik ist noch
näherung bestimmt. Entscheidend dabei ist, daß die keineswegs an ein Ende gekommen; sie setzt sich in
Pädagogik nicht mehr primär zum therapeutischen dem seit 1989 erscheinenden Jahrbuch für Psychoana-
Modell, sondern zum Menschenbild und zur Kultur- lytische Pädagogik fort. Auf jeden Fall können sich die
theorie der Psychoanalyse in Beziehung gesetzt wird beiden Disziplinen wertvolle Anstöße geben, wenn
(Bittner 1985; Figdor 1993). Autoren, die weiterhin sie weiterhin im Dialog bleiben: Die Pädagogik kann
für eine Abgrenzung der beiden Disziplinen plädie- von der psychoanalytischen Anthropologie, ihrer
ren, tun dies, um das Selbstverständnis der einen Kritischen Theorie des Subjekts und der objektbezie-
oder anderen Wissenschaft zu schützen: Auf seiten hungstheoretischen Erweiterung der psychoanalyti-
der Pädagogen herrscht die Angst vor, Psychoanalyse schen Entwicklungstheorie profitieren (Figdor 1993,
degradiere die Pädagogik zu einem Instrument der 81); die Psychoanalyse von der Pädagogik, wenn sie
Anpassung, wenn sie erwarte, daß sie neurotisches offen bleibt für gesellschaftliche Prozesse von Erzie-
Verhalten gesellschaftskonform korrigiere – und da- hung (die von ihr andere Handlungskonzepte erfor-
bei unterschlage, daß neurotische Symptome auch dern als das therapeutische Setting). An einer Begeg-
eine Form des sozialen Protests oder ein subversiver nung von Psychoanalyse und Pädagogik werden auch
Ausdruck des Unbewußten sein können (Figdor in Zukunft all jene interessiert sein, die der Über-
1993, 77). zeugung sind, daß die Erziehung von unbewußten
Es ist bemerkenswert, in welch geringem Maß psy- Prozessen in der menschlichen Entwicklung ausge-
choanalytische Einsichten und Methoden bisher für hen muß und ihnen Rechnung zu tragen hat.
Pädagogik 401

Literatur Hasenclever, Wolf-Dieter (Hg.): Pädagogik und Psychoanalyse.


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schwinden einer Wissenschaft und die Folgen. In: Psyche 32
(1978), 193–210.
402

12. Film- und Kinotheorie

Einleitende Vorbemerkungen vielfältige Regressionsformen zurück. Seit dem Be-


ginn der 1970er Jahre wird gern die Kohutsche und
Bereits in historischer Perspektive gibt es eine un- Kernbergsche Theorie narzißtischer Störungen in
übersehbare Nähe zwischen Psychoanalyse und Kine- Dienst genommen. In der Verlagerung vom ödipalen
mathographie. Beide erblickten um 1900 das Licht Geschehen zur narzißtischen Dynamik spiegelt sich
der Welt und haben das 20. Jh. in kultureller Hinsicht eine innerpsychoanalytische Entwicklung wider, bei
nicht unwesentlich geprägt. Freud hat die unbewußte der die Narzißmustheorie und ihre klinische Anwen-
Verankerung bewußter Handlungen, Gefühle, Ein- dung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Auch das
stellungen und Gedanken beim Menschen entdeckt Konzept der Urszene findet bei der Analyse von Film-
und dessen Träume analysiert. Der Film hat mit sei- produktion und -rezeption gelegentlich Verwen-
nen technischen Mitteln die Möglichkeit eröffnet, dung.
daß wir kollektive Zeugen eben dieser menschlichen Seit den späten 1990er Jahren kann man verstärkt
Äußerungen im Kino werden. ein wiedererwachtes Interesse der Psychoanalyse am
Der Film reproduziert jedoch keineswegs unmit- Film verzeichnen. Aus dem »Aschenbrödel der ästhe-
telbar unbewußt motiviertes menschliches Fühlen tischen Kunstbetrachtung« (Andreas-Salomé, zit.
und Verhalten. Mit Hilfe seiner technischen Mittel nach Baudry 1975/1994, 1049) ist eine prächtige
stellt er vielmehr – so der französische Filmtheore- Prinzessin geworden, die der Literatur inzwischen
tiker Jean-Louis Baudry (1975/1994) – die »Simula- ernstzunehmende Konkurrenz macht. Seit 1995, als
tion« von Fühlen und Verhalten her. Das Medium auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kon-
vermag es, den im dunklen Kinosaal still dasitzenden greß in San Francisco und im Rahmen eines an-
Zuschauern, den Gefangenen in Platons Höhle gleich schließenden Filmkongresses in Santa Mónica dem
(vgl. ebd.), die Abbilder der Abbilder der Realität als Film im psychoanalytischen Diskurs breiter Raum
Realität auszugeben, in den Zuschauern einen »Reali- zuerkannt wurde, vergeht kaum eine internationale
tätseindruck« (ebd., 1052) hervorzurufen, der sie oder nationale psychoanalytische Tagung, die sich
Wahrnehmungen mit Vorstellungen verwechseln nicht mit der Analyse einzelner Filme beschäftigt. Die
läßt, als sei das, was zu sehen ist, »das Mehr-als- Zeitschrift Psyche hat im Jahr 2000 eine eigene Film-
Reale« (ebd., 1070). Pontalis (1984/1993) verweist rubrik eingerichtet, in der in unregelmäßigen Ab-
darauf, daß das Unbewußte den Bildern äußerlich ist, ständen Filminterpretationen gedruckt werden. Das
ihnen komme nur dann eine unbewußte Bedeutung International Journal of Psychoanalysis veröffentlichte
zu, wenn die Zuschauer ihr unbewußtes Erleben auf ab 1997 Filminterpretationen, die später in einem
sie projizieren (vgl. Baudry 1975/1994, 1067; Zeul Sammelband publiziert wurden (Gabbard 2001). Der
2006). englische Analytiker Andrea Sabbadini (2003) gab
Trotz Freuds skeptischer Haltung dem neuen Me- ein Buch heraus, in dem diverse Vorträge, die auf
dium Film gegenüber haben sich Psychoanalytiker einem Filmfestival in London gehalten wurden, zu-
seit dem Bestehen des Kinos immer wieder mit ihm sammengestellt sind. Das Thema des Festivals war
beschäftigt (Zeul 1994). Im Zentrum der meisten dem europäischen Kino gewidmet. Die versammel-
psychoanalytischen Texte steht die Untersuchung der ten Texte bestehen überwiegend aus Filminterpreta-
strukturellen Ähnlichkeit von Traum und Film (vgl. tionen und aus Statements der Regisseure zu ihren je
Montani/Pietranera 1946) sowie die Interpretation eigenen Filmen. Die aktuellen Veröffentlichungen
einzelner Filme, die sich an klinischen Theorien ori- und Vorträge zum Thema ›Psychoanalyse und Film‹
entiert. Bis in die 1960er Jahre greifen die Autoren sind geprägt von inhaltlicher Vielfalt und theoreti-
überwiegend auf den Ödipuskomplex und dessen scher Heterogenität. Anders als in der sog. ersten
Film- und Kinotheorie 403

Phase, die den Zeitraum von 1917 bis etwa 1990 um- sich für letztere als wenig befriedigend. Neumann
faßt, gibt es heute einen intensiven Austausch im war Filmproduzent der UFA und Ross ein bekannter
Rahmen der Veröffentlichungen und Tagungen. Reiseschriftsteller, der wenig von Psychoanalyse ver-
stand. »Die Bezeichnung ›psychoanalytischer‹ Film,
Verfilmung von Psychoanalyse das Auftreten eines behandelnden Psychoanalytikers
im Film täuschten darüber hinweg, daß es den bei-
den Mitarbeitern [Abraham und Sachs, M. Z.] nur in
Kontroversen: Freud, Abraham, Sachs
bescheidenem Maße möglich war, psychoanalytische
und Bernfeld
Erkenntnisse im Film unterzubringen und auszu-
Es gibt Filme, deren Absicht es ist, mit filmischen drücken und die dem neuen technischen Medium in-
Mitteln über Behandlungsmethode und Klinik der newohnenden Gestaltungsmöglichkeiten für die Dar-
Psychoanalyse aufzuklären. Von diesen Filmen sind stellung psychoanalytischen Denkens zu nutzen« (Fal-
solche zu unterscheiden, in denen die Psychoanalyse lend/Reichmayr 1992, 134; kursiv von mir, M. Z.).
Teil der Filmerzählung ist, wie z.B in Alfred Hitch- Siegfried Bernfeld hatte im selben Jahr, in dem der
cocks Klassikern Spellbound (Ich kämpfe um Dich) Filmproduzent Hans Neumann an Abraham und
aus dem Jahr 1945, Vertigo (1958; Aus dem Reich der Sachs herangetreten war, seinerseits ein Drehbuch für
Toten) und Marnie (1964; Marnie). Freud hat aus sei- einen psychoanalytischen Films mit dem Titel Ent-
ner ablehnenden Haltung dem neuen Medium ge- wurf zu einer filmischen Darstellung der Freudschen
genüber nie einen Hehl gemacht. Die Auseinander- Psychoanalyse im Rahmen eines abendfüllenden Spiel-
setzung zwischen Freud auf der einen, Karl Abraham, films (vgl. Sierek/Eppensteiner 2000, 37 ff.) verfaßt.
Hanns Sachs und Siegfried Bernfeld auf der anderen Schon im Titel deutet sich die doppelte Anlage des
Seite über das Projekt einer Verfilmung von Psycho- Drehbuchs an: Einerseits entwirft Bernfeld Szenen
analyse ist immer wieder dokumentiert worden (vgl. für einen narrativen, abendfüllenden Spielfilm, an-
Eppensteiner u. a. 1987; Fallend/Reichmayr 1992; dererseits will er die Zuschauer didaktisch über Psy-
Zeul 1994; Ries 2000). Freud hat sich bekanntlich choanalyse aufklären, wenn er einen Analytiker auf-
vehement gegen das Filmprojekt gestellt, nicht zu- treten läßt, der dem Träumer-Protagonisten den Auf-
letzt aufgrund bürgerlicher Vorurteile. So heißt es in bau und die Funktionsweise seiner Träume erklärt –
einem Brief an Sándor Ferenczi: »[… D]ie Verfil- ein Unterfangen, das die gestalterischen Eigenarten
mung [der Psychoanalyse, M. Z.] läßt sich so wenig des Mediums zu wenig berücksichtigt. »Die vom Au-
vermeiden wie – scheint es – der Bubikopf, aber ich tor gewählte Form, in der sich die Problematik des
lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit Träumers enthüllen wird, ist die der kreisförmigen
keinem Film in persönliche Verbindung gebracht Darstellungsweise, innerhalb derer sich Erinnerun-
werden« (F/Fer III/2, 49). Zugleich machte Freud gen, Träume, Tagträume und gegenwärtige Realität
aber auch einen ernstzunehmenden Einwand Abra- Spiralen gleich überlagern und sich wechselseitig be-
ham gegenüber geltend, als er schrieb: »Mein Haupt- einflussen. Darüber stellt sich […] eine filmische
einwand bleibt, daß ich es nicht für möglich halte, Realität her« (Zeul 1997, 183). Mit dem Auftreten des
unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Analytikers zeichnet sich ein Bruch in der filmischen
Weise plastisch darzustellen. Zu etwas Insipidem Narration ab. Wie ein Lehrer macht Bernfeld den po-
wollen wir ja unsere Zustimmung nicht geben« (F/A, tentiellen Zuschauer mit der Psychoanalyse vertraut
357). und verfehlt so das Eigentümliche des Mediums, aber
Trotz Freuds ablehnender Haltung dem Abraham/ auch die Sache der Psychoanalyse selbst.
Sachsschen Filmprojekt gegenüber wurde unter der Insofern wurden Freuds Einwände gegen eine Ver-
wissenschaftlicher Beratung der beiden Analytiker filmung der Psychoanalyse durchaus bestätigt. Ponta-
1925 der erste psychoanalytische Film Geheimnisse lis zufolge (Pontalis 1984/1993, 28) fehlt den Geheim-
einer Seele unter der Regie von G. W. Pabst gedreht. nissen einer Seele die spezifische »Verfälschung« men-
Im Zentrum der Filmhandlung steht ein impotenter taler Träume in filmische Materialität, weil sie ohne
Professor, der von krankhafter Eifersucht auf seine Rücksicht auf die dem Medium eigene Ästhetik ge-
Frau geplagt wird, der er eine heimliche Liebesaffäre staltet werden und sich der Ablichtung eines sprach-
mit ihrem Vetter unterstellt. Seine mörderischen lichen Diskurses und nicht der Eigenart des filmi-
Phantasien werden in mehreren psychoanalytischen schen Diskurses verdanken. Baudry (1975/1994) ver-
Sitzungen erfolgreich behandelt. Die Zusammenar- tritt die Auffassung, daß der Traum im Kino »ebenso
beit der beiden Drehbuchautoren Karl Neumann funktioniert wie der Traum im Traum, indem er den
und Collin Ross mit Abraham und Sachs gestaltete Realitätseindruck genau auf die gleiche Weise zer-
404 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

stört, wie der Gedanke, den man träumt, sich in den plätzen des Zweiten Weltkriegs zurückgekehrten psy-
Traum einfügt: als Mittel der Abwehr gegen den chisch schwer erkrankten amerikanischen Soldaten zu
Wunsch […] des Traums. Die Entrückung des drehen (vgl. Zeul 2000). Der Film ist unter dem Titel
Traums in die Projektion hat unweigerlich zur Folge, Let there be Light in die Filmgeschichte eingegangen.
den Zuschauer auf sein Bewußtsein als Zuschauer zu Die für 1946 geplante Uraufführung fand erst 35
verweisen, eine Distanz herzustellen, die das Artefakt Jahre später, im Jahr 1981, statt. Das Aufführungsver-
bloßstellt« (ebd., 1060 f.). Freilich gibt es durchaus bot wurde damit begründet, daß nicht von allen ehe-
gelungene Trauminszenierungen im Film, wenn sie maligen Betroffenen eine Einwilligungserklärung für
zum Teil der Filmerzählung selbst werden. Pedros die Darstellung ihrer Krankengeschichte vorgelegen
Traum von der Mutter in Luis Buñuels Los olvidados habe. In seiner Autobiographie äußert sich Huston
(Die Vergessenen) bricht nicht mit dem Rest der Film- (1980/1986) beeindruckt von den Heilungserfolgen,
erzählung, sondern sie ist Teil von ihr und verstärkt die im Militärkrankenhaus Mason auf Long Island
den vom Film verursachten Realitätseindruck beim erzielt wurden, und verweist auf die psychische Ätio-
Zuschauer. logie der Erkrankungen. »Männer, die nicht mehr
In seinem Vorwort zu Sartres Freud-Drehbuch laufen konnten, waren plötzlich wieder in der Lage,
schreibt Pontalis: »Nichts aus dem psychischen Leben ihre Beine zu bewegen, Männer, die nicht mehr spre-
kann ohne Verfälschung im Bild wiedergegeben wer- chen konnten, hatten plötzlich ihre Stimme wieder.
den. Die Annahmeverweigerung, die Freud Abraham Natürlich handelte es sich bei diesen Einschränkun-
entgegenhält, bringt nur eine ursprüngliche Annah- gen um hysterische Symptome; es war deshalb wich-
meverweigerung zum Ausdruck: Das Bild nimmt das tig, ihre Besserung mit großer Sorgfalt zu verfolgen«
Unbewußte nicht an« (Pontalis 1984/1993, 28). Ge- (ebd., 154; Übers. M. Z.). Huston hatte sich, wie
nauso unmißverständlich heißt es: »Das Unbewußte Freud ein halbes Jahrhundert früher, nicht von der
läßt sich ebenso wenig sehen wie das Sein der Philo- lärmenden Körpersymptomatik irritieren lassen,
sophen« (ebd.). Hanns Sachs hatte bereits auf die vielmehr mit seiner Kamera ihre psychische Verur-
kreative Umwandlung (Pontalis’ »Verfälschung«) sachung enthüllt, die in belastenden Kriegserlebnis-
hingewiesen, welche die psychische Realität erfahren sen, aber auch in unbewußten infantilen Konflikten
müsse, wenn sie in filmische Materialität überführt und psychosexuellen Traumatisierungen bestand.
werden soll (Sachs 1929). Die filmische Gestaltung Sein Film dokumentiert die Hysterie – entgegen der
von psychischen Erlebnisweisen besteht für ihn vorherrschenden Meinung, es handele sich dabei
darin, diese in äußerlich wahrnehmbare, in gestal- ausschließlich um eine typisch weibliche Erkrankung
tete, sich bewegende Bilder zu übersetzen. Diese Bil- – auch als männliche Störung. In seiner Freud-Verfil-
der zeichnen sich im Gegensatz zu den Bildern des mung hingegen, die den frühen Freud bis zum Tod
Traums durch Dreidimensionalität, Materialität und seines Vaters zum Gegenstand hat, verweist Huston
beliebige Wiederholbarkeit aus. Den Bildern des das Unbewußte strikt in einen vom bewußten Er-
Films kommt im Vergleich mit der Flüchtigkeit des leben getrennten Bereich, indem er es als etwas Dä-
Traumbildes Organisation und Konstanz zu. Zusam- monisches inszeniert. Dieses Dämonische war Hus-
menfassend kann man sagen, daß die Darstellung ton zufolge etwas, »das Schwefel speien sollte. Wir
von Psychoanalyse im Film, sei es in Form von Träu- stellten uns vor, daß der Abstieg Freuds ins Unbe-
men oder von Behandlungssequenzen, die bereits wußte ebenso schreckenerregend sein müßte wie der
von Freud formulierte Unmöglichkeit der unmittel- Dantes in die Hölle« (ebd., 352). Der Abstieg Freuds
baren Darstellung psychischer Abstraktionen bestä- ins Unbewußte seiner Träume gestaltet sich in Hus-
tigt. Die Inszenierung von psychoanalytischer Didak- tons Film denn auch eher unfreiwillig komisch und
tik zerstört den Realitätseindruck, zieht die Zu- macht die Zuschauer zu gelangweilten oder amüsier-
schauer nicht in das filmische Geschehen hinein, ten Beobachtern. Die Heilung der Protagonistin Cä-
sondern degradiert sie zu nüchternen, unbeteiligten cilie durch Freud erfolgt über detektivisches Ausfra-
Beobachtern. gen. Huston verbindet infantile Traumatisierung mo-
nokausal mit der Entwicklung des Symptoms.
John Huston und die Psychoanalyse
Psychoanalyse bei Hitchcock und Buñuel
20 Jahre nach der Uraufführung von Geheimnisse ei-
ner Seele erteilte das War Department der Vereinigten In ähnlicher Tradition wie Hustons Freud stehen
Staaten dem Regisseur John Huston den Auftrag, ei- auch die Psychoanalyse-Filme Alfred Hitchcocks, die
nen Dokumentarfilm über die von den Kriegsschau- ebenfalls das Ausfrageverfahren und die Verbindung
Film- und Kinotheorie 405

des kindlichen Traumas, die Ursprungsszene, mit der nur Opfer der sozialen Verhältnisse in den Slums der
psychischen Symptomatik ins Zentrum der Erzäh- mexikanischen Hauptstadt. Ihr Handeln, ihr Schei-
lung rücken. Die Aufklärung über diese monokausale tern und ihr Sterben verdanken sich auch der Wir-
Verursachung führt zur Heilung. Gertrud Koch kungsweise des Todestriebes. Auch die Situation ei-
(1987) hat auf die Tradition der Hitchcock-Filme ner Abendgesellschaft von Angehörigen der mexika-
hingewiesen, die nicht zu trennen sei von jener Ver- nischen Oberschicht in El ángel exterminador (1962;
sion der Psychoanalyse, die seinerzeit in den USA Der Würgeengel), die das Haus des Gastgebers nicht
überwiegend den Stempel einer Technik trug und verlassen können, obgleich keine äußeren Hinder-
pragmatisch ausgerichtet war. Die Filme Spellbound, nisse bestehen, wird beherrscht vom Todestrieb. Die-
Vertigo und Marnie stehen in dieser Hollywood-Tra- ses Triebgeschehen manifestiert sich in totaler Kom-
dition. Wenngleich es sich bei diesen Filmen um die munikationslosigkeit und in der Unfähigkeit zur Er-
Inszenierung des psychoanalytisch-detektivischen innerung der Eingeschlossenen. Als eine junge Frau
Ausfrageverfahrens handelt, in dessen Verlauf das in- die Anwesenden auffordert, sich zu erinnern, kom-
fantile Urerlebnis rekonstruiert wird, sind Spellbound men die Gäste schließlich frei, um allerdings später in
und Vertigo gleichwohl gelungene Filme, während der Kathedrale wiederum eingeschlossen zu werden.
Marnie deutlich schwächer ist. Harris und Lasky Buñuels berühmte, in Spanien entstandene Filme
(1979/1982) vertreten die Auffassung, daß es sich bei Viridiana (1961) und Tristana (1970) sind ebenfalls
den Aufklärungsversuchen des neurotischen Verhal- gekennzeichnet durch ein destruktives Triebgesche-
tens von Marnie um dilettantische Versuche mit der hen auf seiten der Protagonistinnen und Protagoni-
Freudschen Psychoanalyse handele. Die Faszination sten, wenngleich insbesondere Viridiana sich durch
von Spellbound und Vertigo liegt umgekehrt weniger Buñuels spezifischen, vom Surrealismus geprägten
in der Inszenierung des psychoanalytischen Verfah- schwarzen Humor auszeichnet. Die Persiflage der
rens als vielmehr im Suspense, der das Agieren der Bettler auf das Letzte Abendmahl Christi legt davon
Protagonisten bestimmt und zur Auflösung des Rät- Zeugnis ab. So unterschiedliche Filme wie Ensayo de
sels um den falschen Dr. Edwards und die falsche un crimen (1955; Das verbrecherische Leben des Archi-
Madeleine drängt. Es ist eindrucksvoll, wie es Hitch- baldo de la Cruz) und Belle de Jour (1967) stellen psy-
cock gelingt, eine überzeugende Mischung von – zu- choanalytische Porträts der Protagonisten dar, die
gegebenermaßen verkürzter – Psychoanalyse und ebenfalls stark von Buñuels speziellem Humor ge-
Krimi herzustellen. Wie in Vertigo inszeniert Hitch- prägt sind. Während der Protagonist Archibaldo de la
cock in Rear Window (Das Fenster zum Hof) einen Cruz ein verhinderter Frauenmörder ist, dem immer
psychisch behinderten Protagonisten, Jeff, der sich dann, wenn er in seiner Phantasie darauf aus ist, eine
nicht für die Frau entscheiden kann, die er liebt. Zu- Frau töten, ein anderer zuvorkommt und die phanta-
gleich aber ist Jeff physisch durch seinen Beinbruch sierte Tat in Realität umsetzt, zeichnet Buñuel Belle
behindert, der ihn an den Rollstuhl fesselt. Hitchcock de Jour als verhinderte Prostituierte, der keine se-
verknüpft nun die neurotisch geprägte Liebesge- xuelle Praktik fremd ist.
schichte zwischen Jeff und Lisa mit der Arbeit des
Meisterdetektivs Jeff, der mit Lisas Hilfe einen Mord
Parallelisierung der Gestaltung
im Hinterhaus seines Appartements aufklärt. Sowohl
von Traum und Film
in Rear Window als auch in Vertigo ist die Psycho-
analyse eingelassen in die Inszenierung der Protago- Psychoanalytische Autorinnen und Autoren, die sich
nisten als neurotisch beschädigter Menschen. mit dem Thema Traum und Film beschäftigen (Pratt
Im filmischen Werk Luis Buñuels bildet die Psy- 1943; Montani/Pietranera 1946; Chasseguet-Smirgel
choanalyse einen integralen Bestandteil des Buñuel- 1971/1988; Projections 1996), heben in der Regel
schen Surrealismus, der sich wie die Psychoanalyse hervor, daß Mechanismen wie Verschiebung, Ver-
nicht mit dem Schein der Dinge zufrieden gibt. In dichtung, Rücksicht auf Darstellbarkeit sowohl für
seinen Filmen kommt der Psychoanalyse ein aufklä- psychisches Erleben als auch für den Film Gültigkeit
rerischer Charakter über menschliches Fühlen und haben. Sie registrieren traumähnliche Zustände, die
Handeln zu: Der Regisseur hat im Entwurf seiner im Zuschauer beim Sehen eines Films ausgelöst wer-
Protagonisten menschliche, überwiegend destruktive den, und verweisen auf den regressiven, halluzinato-
Triebhaftigkeit und den Wiederholungszwang, von risch-befriedigenden Aspekt beim Betrachten von
denen auch die Freudsche Psychoanalyse spricht, fil- Filmen, der dem des Traums ähnlich ist. Montani
misch meisterhaft dargestellt. Die verlorenen Kinder und Pietranera (1946) greifen für ihre Kinotheorie
in Los olvidados (1950; Die Vergessenen) sind nicht die von Freud in der Traumdeutung formulierte An-
406 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

nahme auf, daß ein abstrakter Gedanke im Traum Erwägung betrifft den Umstand, daß, selbst wenn von bloßem,
oberflächlichstem Vergnügen geredet werden kann, die Fülle
seine bildliche Darstellung erfahre, und postulieren, des Verschiedenartigen einen ganz eigentümlich mit Formen,
daß es ein tiefes phylogenetisch verankertes Bedürf- mit Bildern und Eindrücken der Sinne beschenkt: und sowohl
nis im Menschen gebe, sich bildlich auszudrücken. für den in seiner Einseitigkeit stumpf gewordenen Tagesarbei-
Weiterhin gehen sie davon aus, daß Traum und Film ter als für den Geistesarbeiter in seiner beruflichen und ge-
danklichen Tretmühle bedeutet das allein und an sich schon
beide dieselbe regressive Technik benutzen und daß eine Spur künstlerischen Erlebens der Dinge. Beides läßt be-
der »reine Film« sich der Sprache des Unbewußten, denken, ob nicht diese Rücksicht auf unsere seelische Kon-
die Literatur hingegen der des Bewußtseins bediene. stitution die Zukunft des Filmtheaters bedeuten könnte – den
Auch Chasseguet-Smirgel (1971/1988) vertritt die kleinen goldenen Pantoffel für das Aschenbrödel der Kunst«
(zit. nach Baudry 1975/1994, 1049 f.).
These, daß im Film und im Traum aufgrund der
Bildhaftigkeit beider und ihrer Nähe zum Primär- Dieses Zitat nimmt die von Baudry festgestellte Ein-
prozeß den Filmbildern Unbewußtes inhärent sei, heit von Projektion und dem Subjekt vorweg, auf das
und schreibt: »Ich glaube, daß der Film – wegen des diese sich richtet. Bei Andreas-Salomés Überlegun-
großen Gewichts, das er dem Bild gibt – ein bevor- gen handelt es sich nicht um die »seelische Konstitu-
zugtes Mittel darstellt, das phantasmatische Leben tion« des Films oder der Zuschauer, sondern viel-
auf unmittelbarste Weise vorzustellen« (ebd., 82). mehr um ein Zusammenpassen von beiden.
Die Annahme eines Parallelismus von Traum und Baudry (1975/1994) hat mit seiner Apparatus-
Film blendet allerdings das filmisch Hergestellte der Theorie, die er philosophisch in Platons Höhle und
Bilder aus. Von den Erklärungsansätzen, die die Bild- psychoanalytisch in Lewins Traumleinwand (1946)
haftigkeit von Traum und Film ins Zentrum ihrer ansiedelt, eine primitive, in der oralen Phase behei-
Argumentation rücken, unterscheiden sich die An- matete Weise der Projektion und des Sehens von
sätze von Pratt (1943) und Mauerhofer (1958). Für Film entworfen. Ausgehend von Platons Höhlen-Me-
diese Autoren ist »die Traumähnlichkeit des Films et- tapher macht er auf die Ähnlichkeit von psychischem
was über den kinematographischen Apparat Herge- und filmischem Apparat aufmerksam, indem er dar-
stelltes, das aus dem Zusammenspiel von regressiven auf verweist, daß das filmische »Dispositiv« (ebd.,
Prozessen im Zuschauer, der Dunkelheit des Kino- 1047 ff.), »das alleine die Projektion betrifft, bei der
saals, der Ästhetik und der Technizität des Films re- das Subjekt, an das sich die Projektion richtet, einge-
sultiert« (Pratt zit. nach Zeul 1994, 984). schlossen ist« (ebd., 1052), eine künstliche Regres-
sion auszulösen in der Lage ist, die die psychische
Regression imitiert. Baudry vergleicht die Bewe-
Traum als regressiver Bewußtseins- gungslosigkeit der Gefangenen in Platons Höhle mit
zustand der Unbeweglichkeit des Neugeborenen, dessen Mo-
Der Versuch, gemeinsame Gestaltungsmechanismen torik noch nicht ausgebildet ist, und mit der Unbe-
von Traum und Film zu benennen, führt zu keinem weglichkeit des Schlafenden, der, so Lewin (1950/
befriedigenden und überzeugenden Ergebnis. Der 1982), diesen frühen Entwicklungszustand wieder-
Film ist kein Traum, er kann jedoch traumähnliche holt. Der Kinobesucher ähnelt Baudry zufolge dem
Zustände auslösen. Die Verwendung der Traumme- motorisch eingeschränkten Säugling oder dem Schlä-
tapher erweist sich als äußerst ergiebig für die Mar- fer. Nun gehen die Zuschauer freilich nicht ins Kino,
kierung unterschiedlicher regressiver Bewußtseinszu- um zu schlafen; die motorische Unbeweglichkeit und
stände beim Zuschauer, in denen es zu einer Ver- die Dunkelheit im Kinosaal rufen jedoch schlafähn-
wechslung von Wahrnehmung und Vorstellung liche Reaktionen hervor. Der Schlaf bedingt Um-
kommt (vgl. Baudry 1975/1994; Koch 2002; Zeul wandlungen im psychischen Apparat, Besetzungen
2006). Hellsichtig hatte Lou Andreas-Salomé bereits werden labil, es findet eine passagere Rückkehr zum
1912 auf die psychologische Bedeutung des Films für Narzißmus statt, die Mobilität ist eingeschränkt. In
den Zuschauer aufmerksam gemacht. dieser regressiven Situation haben die Träume ihren
Platz, in denen Wahrnehmungen zu Vorstellungen
»Wie denn das Kino überhaupt keine kleine Rolle für uns
spielt – worüber ich nicht erst jetzt nachdenklich geworden
werden, zu einem »mehr als-Reale[m], etwas Rea-
bin. Zu dem vielen, was man über dieses Aschenbrödel der lere[m] als-real […], um es von dem Realitätsgefühl
ästhetischen Kunstbetrachtung an Ehrenrettendem sagen zu unterscheiden, das die Realität in der Normal-
könnte, gehören auch ein paar rein psychologische Erwägun- situation des Wachzustandes vermittelt« (ebd., 1064).
gen. Die eine betrifft den Umstand, daß allein die Filmtechnik
eine Raschheit der Bildfolge ermöglicht, die annähernd un-
An anderer Stelle beeilt sich Baudry richtigzustel-
serem eigenen Vorstellungsvermögen entspricht und auch ge- len, daß es ihm nicht um eine Gleichsetzung von
wissermaßen dessen Sprunghaftigkeit imitiert. […] Die zweite Kino und Traum geht: Der Unterschied bestehe
Film- und Kinotheorie 407

darin, daß beim Filmsehen ein reales Wahrneh- typisch. In der Stillsituation »vereinigen sich […] die
mungsobjekt (vgl. ebd., 1073) vorhanden sei, das im taktilen und die visuellen Wahrnehmungen, die ja
Traum fehle. Hier geben sich die Vorstellungen als Wahrnehmungen einer Gesamtsituation sind, zu ei-
Realität aus. »Während nämlich in den Träumen und ner undifferenzierten Einheit, einer ›Gestalt‹, in wel-
Halluzinationen die Vorstellungen als wahrgenom- cher jedes Teilerlebnis für das Gesamterlebnis steht«
mene Realität auftreten, gibt es im Kino hingegen (ebd., 648). Die Projektion von Film, die Dunkelheit
eine reale Wahrnehmung […] der Realität. […] Im des Kinosaals und die erzwungene Unbeweglichkeit
Traum und in der Halluzination geben sich die Vor- rufen Regressionen hervor, die die Zuschauer vor-
stellungen unter Abwesenheit der Wahrnehmung als übergehend zu Säuglingen werden lassen (Zeul
Realität aus« (ebd., 1073). Er betont, daß der Film 2006). Während sie den Film sehen, saugen sie zu-
einen »Kino-Effekt« (ebd.) auslöst, der mit dem Rea- gleich die Filmbilder auf und genießen die Film-Füt-
litätseindruck, den der Traum vermittelt, zu verglei- tersituation, die die primitive Säuglingsfütterung si-
chen sei. Kino und Traum rufen auf unterschiedliche muliert. Film wird, dieser Argumentation folgend,
Weise regressive Bewußtseinszustände im Zuschauer nicht nur gesehen, sondern auch aufgesogen und ge-
auf. Im Wunsch nach Kino sieht Baudry das Bedürf- gessen »introjiziert« (vgl. Torok 1968/1983).
nis des Subjekts, vorübergehend zu jenem Entwick-
lungsstadium zurückzukehren, in dem die Grenzen
Tagtraum und Film
zwischen Innen und Außen, zwischen Körper und
Außenwelt noch fließend sind. Das Subjekt hat den Der französische Filmtheoretiker Christian Metz
Kino-Apparat erschaffen, der es in die Lage versetzt, (1975/1994) beschäftigt sich ebenfalls mit Ähnlich-
mit seiner Projektion verlorene und zugleich er- keiten und Verschiedenheiten von Traum und Film.
sehnte Lust kurzzeitig bereitzustellen. Er tut dies von zwei Seiten her: vom Bewußtseinszu-
Um das Ausmaß der von der Projektion herbeige- stand der Zuschauer, dem »filmischen Zustand«
führten Regression zu kennzeichnen, rekurriert Bau- (ebd., 1031), und von der Eigenart des diegetischen
dry auf das Konzept der Traumleinwand, das der Films. »Es gibt außerhalb des filmischen Zustands
amerikanische Psychoanalytiker Bertram Lewin in nur wenige Situationen, in denen ein Subjekt beson-
die Psychoanalyse eingebracht hat (Lewin 1946; ders dichte und durchorganisierte äußere Eindrücke
1953), das als früheste visuelle Erinnerungsspur die eben in dem Augenblick empfängt, da seine Unbe-
Fütterung des Säuglings an der Mutterbrust, die weglichkeit [im Kinosessel, M. Z.] es innerlich dafür
Mutterbrust selbst, die den Schlaf ermöglicht, reprä- disponiert sie ›über-zu-empfangen‹« (ebd., 1021).
sentiert. In der Füttersituation können sich orale Schlaf- und Wachzustand bilden das Bezugssystem
Wünsche – essen, gegessen werden und schlafen – für die Thesen von Metz, die er nach drei Aspekten
manifestieren. Die Anwesenheit der Traumleinwand gliedert. Der filmische Zustand und der Traumzu-
im Traum repräsentiert halluzinatorische Bedürfnis- stand sind nicht identisch, da der Träumende nicht
befriedung eben dieser drei Wünsche. René Spitz weiß, daß er träumt, der Filmzuschauer sich aber be-
(1955) hat Lewin insofern widersprochen, als für ihn wußt ist, daß er sich im Kino aufhält. Für das Kino
die früheste visuelle Wahrnehmung nicht die Mutter- gelte anders als für den Traum, daß nicht von einer
brust darstellt, sondern das Gesicht der Mutter. Die echten Täuschung die Rede sein könne. Das Kino
primäre, primitivste Wahrnehmung situiert Spitz in rufe vielmehr einen bestimmten Realitätseindruck
der Mundhöhle. Diese Wahrnehmung rechnet er der hervor. Der zweite von Metz festgehaltene Unter-
Tastwahrnehmung zu, die ursprünglicher sei als die schied hängt eng mit dem ersten zusammen insofern,
Fernwahrnehmung, die sich erst im Prozeß der Ent- als Filmwahrnehmung eine reale Wahrnehmung sei
wicklung des Säuglings mit Hilfe der Objektbezie- (ebd., 1012), die von allen Zuschauern geteilt werde,
hungen herausbildet. Dieser Phase rechnet Spitz die während der Traum nur vom Träumenden wahrge-
Traumleinwand zu. Beim Trinken an der Mutterbrust nommen werde. Als drittes Unterscheidungsmerk-
oder an der Flasche vermischen sich beide Wahrneh- mal grenzt der Autor den Filmtext vom Traumtext
mungsformen, weil das Kind die Brustwarze oder die ab. Der Filmtext sei konstruierter und logischer als
Flasche im Mund spürt und zugleich das Gesicht der der Traumtext. »Der diegetische Film ist im allge-
Mutter anblickt. Die Lewinsche Traumleinwand sie- meinen sehr viel ›logischer‹ und ›konstruierter‹ als
delt Spitz nun in diesem Übergangsstadium an, in der Traum« (ebd., 1023). Der Unterschied zwischen
dem Tast- oder Kontaktwahrnehmung und visuelle beiden besteht darin, daß der Film nie in der Lage ist,
Wahrnehmung noch miteinander vermischt sind. die erinnerte oder auch die erzählte Absurdität eines
Für dieses Stadium ist das »Überfließen« (ebd., 648) Traums wiederzugeben. Auf die Strukturiertheit und
408 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

die Organisation des erzählenden Charakters des Feministische Filmtheorie


Filmtextes verweisend, schreibt Metz: »Die Ge-
schichte eines Films verläuft immer klar […]: Sie ist Die feministische Filmtheorie nimmt ihren Ausgang
eine erzählte Geschichte, oder kurz gesagt, eine in der neuen Frauenbewegung in den USA, die u. a.
Geschichte, die in einer Erzählung enthalten ist. […] die Frage nach der Darstellung von Weiblichkeit in
Die Geschichte des Traums ist eine ›reine‹ Ge- der Kunst aufgeworfen hatte. Eine der bedeutendsten
schichte, eine Geschichte ohne Erzählung, die im Filmtheoretikerinnen der 1970er Jahre ist Laura Mul-
Aufruhr oder in der Finsternis entsteht, eine vey, die mit ihrer bahnbrechenden Arbeit Visuelle
Geschichte, die durch keinerlei narrative Instanz ge- Lust und narratives Kino (1978/1980) den Ausschluß
formt (oder deformiert) wird, eine Geschichte von von Weiblichkeit als handelndes Subjekt im Film
nirgendwo, die niemand niemandem erzählt. Den- theoretisch faßt und zugleich kritisiert. Mulvey for-
noch ist sie eine Geschichte: Im Traum ebenso wie im muliert die These von der Verschweißung des Ka-
Film gibt es nicht nur Bilder, sondern ganz offen- mera-Blicks mit dem männlichen Zuschauerblick,
sichtlich durch die Bilder gewebte, organisierte oder die sie im Rückgriff auf Lacans Spiegelstadium und
chaotische Abfolge von Orten, Handlungen, Augen- das Freudsche Konzept der Schaulust aufstellt. Über
blicken, Gestalten« (ebd., 1028). die universell gültige Blickorientierung, die Mulvey
Metz, der von der Nähe des Films zum Wachzu- insbesondere für das narrative Hollywood-Kino po-
stand sowohl beim Regisseur wie beim Zuschauer stuliert, wird eine vorgängige Beziehung zwischen
ausgeht, vergleicht den hochorganisierten Film mit Kamera (Film) und Zuschauer festgeschrieben, die
einem Tagtraum, der zu seiner Entstehung nicht den zwischen den Polen des voyeuristischen Filmvergnü-
Schlaf als Voraussetzung hat und konstruierter und gens von Männern und der exhibitionistischen Zur-
weniger absurd ist als der nächtliche Traum. Tag- schaustellung von Frauen im Film aufgespannt ist.
traum und Filmsehen ereignen sich in einem Zu- Exemplarisch illustriert sie ihre Thesen anhand einer
stand herabgesetzter Wachheit. »Wenn Film und Tag- Analyse von Hitchcock- und Sternberg-Filmen, wo-
traum in einer direkteren Konkurrenz stehen als Film bei die Bedeutung der Pole von Sehen und Gesehen-
und Traum, wenn sie dauernd aufeinander übergrei- werden den zentralen Platz ihrer Argumentation ein-
fen, dann deshalb, weil sie beide an einem Punkt der nimmt. Das aktive Sehen, das die Filmerzählung vor-
Realitätsanpassung eingreifen – oder an einem Punkt antreibt, ist die Sache des Mannes, das Gesehenwer-
der Regression. Der Traum gehört der Kindheit und den die der Frau, die zum begehrten Objekt und zum
der Nacht, der Film und der Tagtraum sind erwach- Angstobjekt des Mannes wird. Mit dieser Annahme
sener und gehören dem Tag; allerdings nicht dem aber geht die Autorin davon aus, daß der Film aus-
hellen Tag, sondern vielmehr dem Abend« (ebd., schließlich phallische Identifizierungen in den Zu-
1040). Im Tagtraum können durchaus primärpro- schauern mobilisiert.
zeßhafte Vorstellungen ausgelöst werden, es kommt Die Kritik an Mulveys Ansatz zentrierte sich im
jedoch nicht zu einer Verwechslung von Wahrneh- wesentlichen um die Frage, wie die Begeisterung der
mung und Vorstellung. Anders als für Baudry Frauen für das »Männerkino« (Koch 1981) zu erklä-
(1975/1994) erreichen für Metz aufgrund der Struk- ren sei. Renate Lippert (1994) hat in einem Literatur-
turiertheit des Films die in den Zuschauern ausge- überblick über feministische Filmtheorien die
lösten Regressionen nie das Stadium der halluzinato- Themen des Blicks, der Schaulust und der Identifizie-
rischen Wunscherfüllung. Die Festigkeit des diegeti- rungen aufgeführt, die innerhalb feministischer
schen Films erlaubt es den Zuschauern nicht, ihn be- Filmtheorien kontrovers diskutiert werden. Die aus-
liebig für die eigene Wunscherfüllung zu benutzen. schließliche Betonung der Bedeutung des männli-
Der Traum hingegen stellt bekanntlich eine genaue, chen Blicks, die Festlegung der Schaulust auf das
zuverlässige und befriedigende Antwort auf den männliche Kinopublikum und die Annahme der
Wunsch dar. phallischen Identifizierungen werden von verschiede-
Der französische Filmtheoretiker Bellour disku- nen Autorinnen und Autoren relativiert oder infrage
tiert den Vergleich des Kinos mit dem Traum bei gestellt. Koch (1981) geht z. B. davon aus, daß es
Baudry und Metz und geht von einer Kongruenz von durchaus einen weiblichen Voyeurismus gebe und
Kino und Hypnosedispositiv aus. Er verweist auf die daß es für Frauen lustvoll sei, andere Frauen anzu-
aktiv gestaltende Kraft der Hypnose und verbindet schauen. Rodowick (1982), Studlar (1985) und Berg-
diesen Hinweis mit Sterns Ansatz vom aktiven Säug- strom (1979) vertreten die These, daß sich beim
ling (Bellour 2004; 2006) Filmsehen eine Vielzahl von Identifizierungen ein-
stellt, die das lustvolle Erleben, männlich und weib-
Film- und Kinotheorie 409

lich zugleich sein zu wollen, provoziere. Studlar und die Triebkonflikte ans Licht zu ziehen. Demnach
(1985) geht davon aus, daß die Zuschauer im Kino sollten in einem analogen Verfahren jene pathogenen
auf eine frühe präodipale Phase regredieren und mit Elemente im Kunstwerk aufgespürt werden, auf die
dem Film verschmelzen. Koch (1988) macht darauf man durch die Kenntnis biographischer Daten hin-
aufmerksam, daß die These von der Verschweißung geführt wird« (ebd., 802). Was Chasseguet-Smirgel
des männlichen Kamerablicks mit dem männlichen insgesamt für das Kunstwerk geltend macht, kann
Zuschauerblick das weibliche Vergnügen am Film man auch auf den Film übertragen bzw. auf die Ver-
nicht erklären könne, indem sie auf die vorsprach- suche, ihn auf dem Wege der Entschlüsselung der
liche Qualität der Filmbilder verweist: »Die Rolle des Psychopathologie seines Autors zu analysieren. Die
Publikums wäre dann gar nicht so festgeschrieben Autorin moniert, daß die Verwendung von Lebens-
auf die spätere des Voyeurs hin, der ja einen inten- daten eines Künstlers nicht lege artis psychoanaly-
tional gerichteten Blick hat (auf die phallische Frau tisch sei und daß diese den Informationen gleich-
hin), sondern ebenso vergleichbar dem sprachlosen kämen, die während einer analytischen Behandlung
Säugling, der sich in die Arme der Mutter gelehnt an an den Analytiker von Dritten herangetragen wür-
einer Welt vorbeitragen läßt, zu der er sich um- den. Es werde deshalb ganz und gar nicht subjektives
standslos dazuzählt. Vielleicht ist die Kamera nicht Erleben analysiert, wie dies in der Psychoanalyse üb-
erst vorm Schlüsselloch, sondern schon im Kinder- lich sei. Wende man das biographische Verfahren an,
wagen erfunden worden« (ebd., 26). Weibliches lege man den Künstler zwangsweise auf die Couch.
Filmvergnügen speist sich unter der Annahme prä- Ein weiterer Einwand Chasseguet-Smirgels liegt in
ödipaler Identifizierungen aus Regressionen, die eine der Einseitigkeit, ja in der Verfälschung einer Inter-
frühe Stufe in der weiblichen Entwicklung wieder- pretation. Ein in einem Kunstwerk immer wieder
beleben, in der es zu einem überaus befriedigenden auftauchendes Thema müsse nicht notwendigerweise
halluzinatorischen Wiederfinden der frühen libidinös mit einem Ereignis im Leben des Künstlers in Ver-
besetzten Mutter kommt, die dem Subjekt Gleichheit bindung gebracht werden, in ihm könne sich auch
der Körper und des Empfindens widerspiegelt. eine Wunschphantasie manifestieren (vgl. Zeul 1994,
978). Der Inhalt einer so gewonnenen Interpretation
ist zufälligen Charakters. Sie ist unhinterfragbar und
Psychoanalytische Filminterpretationen
entzieht sich der Überprüfung anhand der formalen
Neben der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Gestaltung und der Ästhetik der Bildersequenzen.
Traum und Film haben psychoanalytische Autoren Die Psychopathologie des Regisseurs im Film wie-
ihre Aufmerksamkeit der Analyse je konkreter Filme derfinden zu wollen, läßt zudem außer acht, daß der
gewidmet. Es lassen sich drei Ansätze psychoanaly- fertige Film nicht das Produkt eines einzelnen, son-
tischer Filminterpretation unterscheiden: dern eines ganzen Ensembles (Kameramann, Be-
1. der biographisch-pathographische, der von unbe- leuchter, Cutter etc.) ist. Auch die Interpretation des
wußten Konflikten des Filmemachers auf den un- Mediums unter der Verwendung ödipaler Konflikt-
bewußten Gehalt eines Films schließt. konstellationen mit ihren regressiven Bewegungen
2. der inhaltliche, der am manifesten Inhalt eines und verschiedener Selbstpathologien nimmt dem
Films ansetzt, um von dort unter Verwendung Film seine konkrete ästhetische Aussagekraft und
psychoanalytisch-klinischer Theoriestücke dessen macht ihn zum Ausschnitt einer psychoanalyti-
unbewußten symbolischen Gehalt aufzuspüren, schen Krankenbehandlung. Die Psychoanalytikerin
und Adrienne Harris und der Filmhistoriker Robert Sklar
3. der formale, der an der ästhetischen Gestaltung (1998) kritisieren ebenfalls die Verwendung von psy-
eines Films zunächst unter Außerachtlassung von choanalytischen Theorien bei der Analyse von Fil-
Inhalten ansetzt und den symbolischen Gehalt ei- men und merken dazu an: »Psychoanalytiker expor-
nes Filmes entschlüsselt (vgl. Sachs 1929; Chasse- tieren ihren theoretischen Apparat in andere Wissen-
guet-Smirgel 1969/1970; Zeul 1997). schaften (hier auf die Analyse von Filmen, M. Z.),
Chasseguet-Smirgel (1969/1970) hat den biographi- ohne ihr Unternehmen in der Komplexität des Medi-
schen Zugang zur Interpretation eines Kunstwerks ums, seinem Kontext, seiner Ästhetik und seiner Pra-
grundsätzlich kritisiert. »Eine solche Methode, das xis zu verankern« (ebd., 223; Übers. M. Z.). Dekon-
Kunstwerk psychoanalytisch zu betrachten, ent- textualisiertes psychoanalytisches Interpretieren von
spricht der Auffassung, die psychoanalytische Be- Film bezeichnen die Autoren als »wilde Analyse«
handlung sei ein Ermittlungsverfahren, um gewisse, (ebd.).
oft verdrängte, traumatische Elemente zu eruieren Methodisch erschließt sich der Film über die Ver-
410 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

wendung der Übertragung. Dieses psychoanalytische auf eine ›konstruktivistische‹ Betrachtung der Über-
Verfahren bedarf einer Modifikation im Hinblick auf tragung hinbewegt, die gespeist wird aus der Reak-
den Erkenntnisgegenstand Film, der kein psy- tivierung unbewußter Konflikte aus der Vergangen-
chisches, sondern ein materielles Gebilde ist. Der heit des Patienten und seiner realistischen Reaktion
Film ist im Gegensatz zum Patienten in der psycho- auf die Persönlichkeit, die Interventionen und die
analytischen Behandlung nicht zum Mitspielen in ei- Gegenübertragung des Analytikers« (ebd., 246 f.;
ner gemeinsamen Aufführung bereit, so wie es sich Übers. M. Z.). Auf Filmanalyse bezogen bedeutet
im Zusammenspiel von Übertragung und Gegen- dies, daß beim Sehen eines Films zwar unbewußte
übertragung konstelliert. Dieser Umstand macht die Phantasien, Ängste und Objektbeziehungen im In-
Verwendung der Dynamik von Übertragung und Ge- terpreten mobilisiert werden, die allerdings schon
genübertragung im Dienst des Erschließens unbe- immer überlagert und geprägt sind durch die aktu-
wußter Botschaften im Film unbrauchbar. Der Film elle Begegnung mit dem Medium. Aufgrund der Be-
überträgt nicht, ihm ist das Unbewußte äußerlich, deutsamkeit dieser aktuellen Konfrontation können
deshalb kann bei den Reaktionen der Interpreten Filme neue Erfahrungen auslösen, die nicht in Mani-
nicht von Gegenübertragung gesprochen werden, sie festationen unbewußter infantiler Konflikte des In-
übertragen vielmehr auf den Film ihre eigenen unbe- terpreten bestehen.
wußten Wünsche, Phantasien und ihre Abwehr. Die
Analyse dieser Übertragungsreaktion kommt einer
Selbstanalyse gleich, in der die vom Film evozierten Literatur
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schaffen eine Filmstory, die geprägt ist durch unbe- Jahres (1912/13) [1958]. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983.
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wußtes Erleben der Interpreten, das wiederum aus merkungen des Realitätseindrucks. In: Psyche 48 (1994),
der aktuellen Begegnung mit dem Film und der Wie- 1047–1074 (frz. 1975).
derbelebung von Objektbeziehungen, Ängsten und Bellour, Raymond: Wie man mit Daniel Stern das Kino besser
Abwehr gespeist wird. fühlen/denken kann. In: Ludwig Nagl (Hg.): Film denken/
Thinking Film. Wien 2004, 213–236.
Übertragung ist kein Mechanismus, der nur in der –: Hypnose und Film. In: Christiane Voss/Gertrud Koch
psychoanalytischen Behandlung zu beobachten ist, er (Hg.): … Kraft der Illusion. München 2006 (im Druck).
ist vielmehr ubiquitär. Die psychoanalytische Me- Bergstrom, Janet: Enunciation and sexual difference. In: Ca-
thode macht ihn sich aber zunutze, um fremdpsy- mera Obscura 3–4 (1979), 33–70.
Bernfeld, Siegfried: Drehbuch »Entwurf zu einer filmischen
chisches Erleben im Hier und Jetzt der Behandlung Darstellung der Freudschen Psychoanalyse im Rahmen ei-
zu verstehen und seine Verankerung in der Biogra- nes abendfüllenden Spielfilms« [1925]. In: Sierek/Eppen-
phie der Patienten vorzunehmen. Freud war der Auf- steiner 2000, 37–98.
fassung, daß Übertragung in der Wiederholung frü- Chasseguet-Smirgel, Janine: »Letztes Jahr in Marienbad«. Zur
Methodologie der psychoanalytischen Erschließung eines
her Wünsche und Ängste der Patienten besteht, die Kunstwerks. In: Psyche 24 (1970) 801–826 (frz. 1969).
die aktuelle analytische Beziehung entsprechend ver- –: Unterhaltung über das Kino. In: Dies.: Kunst und schöp-
zerren und einen Widerstand gegen das Erinnern ferische Persönlichkeit. München/Wien 1988, 82–87 (frz.
darstellen. Nach heutiger Auffassung steht die Dyna- 1971).
Eppensteiner, Barbara/Karl Fallend/Johannes Reichmayr: Die
mik der Beziehung zwischen Analytiker und Patient Psychoanalyse im Film 1925/26 (Berlin/Wien). In: Psyche 41
im Zentrum psychoanalytischer Arbeit. Aus dieser (1987), 129–139.
Sicht manifestiert sich in der Übertragung nicht nur Fallend, Karl/Johannes Reichmayr (Hg.): Siegfried Bernfeld
eine Wiederholung der Vergangenheit. In ihr manife- oder die Grenzen der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1992.
Gabbard, Glen O. (Hg.): Psychoanalysis and Film. London
stieren sich auch neue Erfahrungen, die aus den Ant- 2001.
worten des Patienten auf Angebote, die vom Analy- Harris, Adrienne/Robert Sklar: Wild Film Theory, Wild Film
tiker kommen, resultieren. Kernberg (2004) hält die Analysis. In: Psychoanalytic Inquiry 18 (1998), 222–237.
beiden Verständnisansätze von Übertragung, den Harris, Robert A./Michael A. Lasky: Alfred Hitchcock und seine
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klassischen und den konstruktivistischen, gegenein- Huston, John: A libro abierto (An open book). Madrid 1986
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lytische Beziehung als einer Interaktion zwischen Kernberg, Otto: The Influence of the Gender of Patient and
Übertragung und Gegenübertragung hat sich von Analyst on the Psychoanalytic Relationship. In: Ders.: Con-
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der klassischen ›objektivistischen‹ Definition der niques and their Applications. New Haven/London 2004
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412

13. Ethnopsychoanalyse

Die Psychoanalyse Sigmund Freuds enthält ein Mo- zentrierten sich bis in die Jahre vor dem Zweiten
dell des Fremden, des Anderen, des alter ego. Dieses Weltkrieg um die Frage der »Universalität des Ödi-
Modell kann auch auf Erscheinungen ausgedehnt puskomplexes«.
werden, die außerhalb unseres gesellschaftlich-kultu- Die Fragestellung hat sich als überholt erwiesen.
rellen Lebens und seiner Konventionen liegen. Dies »Niemand wird heute mehr bestreiten, daß es Gesell-
hat Freud in der theoretisch-spekulativen Schrift To- schaftsformen mit ganz unterschiedlichen Familien-
tem und Tabu versucht (GW IX, 1–194). Er argu- strukturen und voneinander abweichenden Inzest-
mentiert aus einem Blickwinkel, den wir heute evolu- Verboten gibt, die sich auf keinen Fall allein aus den
tionistisch, ethnozentrisch und androzentrisch nen- biologischen Tatsachen der Paarung und Fortpflan-
nen würden. Die »Universalität des Unbewußten« zung erklären lassen« (Parsons 1974, 209). Otto Feni-
blieb dennoch das leitende theoretische Prinzip. Da- chel, der wie Sigmund Freud die wissenschaftsge-
durch wurde ein Abgleiten in ein Arten- oder Rassen- schichtliche Bedeutung der Psychoanalyse in ihrer
Unbewußtes verhindert, Vorstellungen, die zum Bei- Anwendung in den Kultur- und Gesellschaftswissen-
spiel Carl Gustav Jung vorschwebten. In der psycho- schaften sah, gab den entsprechenden Veröffentli-
analytischen Bewegung wurde jedoch das Vorurteil chungen in seinen »geheimen Rundbriefen«, die er
tradiert, daß ihre Methode und Technik auf Ange- von 1934 bis 1945 verfaßte, breiten Raum (Fenichel
hörige fremder Kulturen nicht anwendbar seien. 1998). Er war mit Freud der Meinung, daß bei Ange-
Darum brauchte es lange, bis die psychoanalytische hörigen nicht-europäischer Kulturen die psychoana-
Praxis ihre universalistische Theorie einholte und lytische Methode und Technik nicht anwendbar
eine psychoanalytische Beschäftigung mit Angehöri- seien.
gen nicht-europäischer Kulturen beginnen konnte. In den USA begann gegen Ende der 1930er Jahre
Dem Vorurteil wirkten diejenigen Psychoanalytiker mit der kulturrelativistisch orientierten »Culture and
entgegen, die sich um die Bestimmung des Verhält- Personality«-Forschung eine erste praktische Integra-
nisses von Individuum, Unbewußtheit, Kultur und tion der Psychoanalyse in die Ethnologie. Psychoana-
Gesellschaft bemühten und soziologische und ethno- lytiker kooperierten bei Feldforschungen, die von
logische Fragestellungen aufnahmen, um sie mit psy- Kulturanthropologen und Psychoanalytikern ge-
choanalytischen Mitteln zu beantworten. Einige un- meinsam durchgeführten Untersuchungen wurden
ter ihnen, als erster Géza Róheim, haben die psycho- durch psychoanalytische Vorstellungen angeleitet.
analytische Ethnologie geschaffen, aus der sich eine Georges Devereux konzipierte nach seinen ethnolo-
interkulturelle psychoanalytische Psychotherapiepra- gischen Forschungen in verschiedenen Kulturen und
xis und die Forschungspraxis der Ethnopsychoana- seiner psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten,
lyse entwickelten. die aus einer indianischen Kultur stammten, eine
methodische Verbindung von Ethnologie und Psy-
choanalyse (Devereux 1951/1985, 1967/1973). Es gab
Zur Geschichte der psychoanalytischen
neben Devereux ethnologisch ausgebildete Psycho-
Ethnologie
analytiker, die mit ihren Forschungen in den 1950er
Die von Freud eröffnete Perspektive, die Bedeutung und 1960er Jahren zur methodischen Annäherung
des Unbewußten in Kultur und Geschichte zu be- zwischen Psychoanalyse und Ethnologie beitrugen.
stimmen, hat zahlreiche Konzepte hervorgebracht, Die Untersuchungen von L. Bryce Boyer und seiner
mit denen die Vorstellungen über die Wechselwir- Frau, der Ethnologin Ruth Boyer, und Mitarbeitern
kung zwischen Individuum, Kultur und Unbewuß- begann 1957 und waren als langfristiges Projekt bei
tem differenziert und erweitert wurden. Diese kon- den Apachen des Mescalerostammes angelegt. Wer-
Ethnopsychoanalyse 413

ner Muensterberger hat wesentlich dazu beigetragen, rapiepraxis wird in Frankreich an verschiedenen Or-
daß sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine konti- ten weiterentwickelt. Marie Rose Moro leitet in der
nuierliche Beschäftigung mit Fragen der Anwendung Nachfolge von Nathan eine Einrichtung für Kinder-
der Psychoanalyse im Bereich der Sozialwissenschaf- und Jugendlichenpsychopathologie an der psychia-
ten und im besonderen auf dem Gebiet der psycho- trischen Ambulanz Avicenne und entwickelte ein ei-
analytischen Ethnologie herausbildete. Prominente genes ethnopsychoanalytisches Gruppensetting. Sie
Psychoanalytiker wie Marie Bonaparte, Erik Erikson hat sich vor allem mit den psychologischen Proble-
und John Flugel haben auf dem Gebiet der psycho- men der zweiten Generation und mit der transkul-
analytischen Ethnologie gearbeitet und gehören mit turellen Eltern-Kind-Therapie beschäftigt (Moro
Ethnologen und Kulturanthropologen wie Richard 1999).
Thurnwald, Margaret Mead und Erika Bourguignon Im deutschsprachigen Raum geht die Bezeichnung
und zahlreichen anderen zu ihren Wegbereitern »interkulturelle psychoanalytische Therapie« auf die
(Spain 1992, Heald/Deluz 1994, Reichmayr u. a. Publikation von Peter Möhring und Roland Apsel
2003). aus dem Jahr 1995 zurück (Möhring/Apsel 1995).
Etwa dieser Zeitpunkt markiert ein neues Anwen-
dungsfeld der deutschsprachigen Psychoanalyse, in
Psychoanalytische interkulturelle
das Erfahrungen und Wissen aus der psychoanalyti-
Psychotherapiepraxis
schen Ethnologie, der Ethnopsychoanalyse, der
Die Erfahrungen von Pionieren der transkulturellen transkulturellen Psychiatrie, der Medizinanthropolo-
Psychiatrie wie Frantz Fanon und Henri Collomb gie, der Ethnomedizin und verwandten Disziplinen
sind für die Entwicklung der ethnopsychoanalyti- eingeflossen sind. Diese klinisch-praxisbezogene eth-
schen Psychotherapiepraxis grundlegend. In Frank- nopsychoanalytische oder ethnopsychiatrische Rich-
reich entstand schon Ende der 1970er Jahre, bedingt tung wird vor allem von Psychoanalytikern, Ethno-
durch die Zuwanderung nach dem Ende der kolonia- logen, Psychotherapeuten, Psychiatern und Klini-
len Herrschaft Frankreichs in Nord- und Westafrika schen Psychologen getragen, die psychotherapeuti-
und durch seine Integrationspolitik, ein Bedarf an sche und beraterische Erfahrungen mit Migranten
einer psychosozialen und psychotherapeutischen Ar- gesammelt haben. Ein weiterer Sammelband zur in-
beit mit Migranten. Die theoretischen Arbeiten von terkulturellen psychoanalytischen Therapie wurde
Georges Devereux und die sozialpsychiatrischen In- unter dem Titel Kultur, Migration, Psychoanalyse von
novationen von Henri Collomb und Mitarbeitern im Fernanda Pedrina, Vera Saller, Regula Weiss und
Senegal bildeten Grundlagen für die verschiedenen Mirna Würgler vorgelegt (Pedrina u. a. 1999).
Richtungen der französischen ethnopsychoanalyti-
schen Therapiepraxis.
Ethnopsychoanalyse
Es ist bezeichnend für die neue Situation der psy-
chotherapeutischen Arbeit mit einer verschiedenen In den Arbeiten von Devereux, Muensterberger und
Kulturen zugehörigen Patientenschaft, daß »Kultur« Boyer in den 1950er und 1960er Jahren wurde das
und »Migration« einen prominenten Stellenwert in methodisch-technische Instrumentarium der Psy-
der psychotherapeutischen Praxis erhalten. Psycho- choanalyse in der interkulturellen Psychotherapie
analytiker und Psychotherapeuten, meist mit eigenen eingesetzt und für Forschungszwecke genutzt. Die
Migrationserfahrungen, suchten nach Möglichkei- vorausgehenden Verbindungen von Psychoanalyse
ten, um den Zugang zu ihren Patienten zu erleichtern und Ethnologie hatten das ethnologische Material
– ähnlich wie der Ethnopsychoanalytiker als Forscher nur auf der Basis psychoanalytischer Erfahrungen
in der fremden Kultur es tat. Tobie Nathan entwik- und Theorien neu interpretiert. Nun wurde eine ge-
kelte ein psychotherapeutisches Setting, bei dem die nuin psychoanalytische Auseinandersetzung mit An-
Herkunftskultur durch ein multikulturelles Team, die gehörigen nicht-europäischer Gesellschaften und
Einbeziehung von Übersetzern und den Einsatz von Kulturen möglich.
Elementen aus traditionellen Heilverfahren beson- Der Ausdruck ›Ethnopsychoanalyse‹ wurde von
ders akzentuiert wurde. Der transkulturelle Psycho- Georges Devereux bei seinen theoretischen Bemü-
therapeut muß in der Lage sein, sich von den Nor- hungen verwendet, eine kulturübergreifende Psy-
malitätsvorstellungen seiner eigenen Kultur distan- chiatrie und Psychotherapie zu konzipieren. Im
zieren zu können, um das Fremde aus seinem eige- deutschsprachigen Raum ist der Begriff vor allem mit
nen kulturellen und sozialen Kontext heraus den psychoanalytischen Forschungen der Zürcher
verstehen zu können. Die interkulturelle Psychothe- Psychoanalytiker Paul Parin, Fritz Morgenthaler und
414 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Goldy Parin-Matthèy in Westafrika verbunden. Als den Dogon in Mali in Westafrika auf der dritten For-
zeitgeschichtlicher und politischer Kontext der fran- schungsreise erstmals eingesetzt. 1963 erschien die
kophonen und deutschsprachigen Tradition der Eth- Studie Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische
nopsychoanalyse sind die Befreiungsbewegungen Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika (Parin/
und -kämpfe der Kolonialzeit und der Zeit der Deko- Morgenthaler u. a. 1993). Das Forschungsziel bestand
lonisierung auf dem afrikanischen Kontinent zu se- darin, »zu prüfen, ob sich die Technik der Psycho-
hen. Kosmopolitisch und antikolonialistisch einge- analyse dazu eignet, das Innenleben von Menschen
stellte Psychoanalytiker und psychoanalytisch den- zu verstehen, die in einem traditionsgeleiteten west-
kende Psychiater und Ethnologen, die in fremden afrikanischen Gesellschaftsgefüge leben« (Parin 1965,
Kulturen arbeiteten und forschten, lösten die vor al- 342), sowie Kenntnisse darüber zu erwerben, in wel-
lem durch rassistische Vorurteile gesetzten Grenzen cher anderen Art und Weise sich bei ihnen das »Ich«
für psychologisches Verstehen auf. Frantz Fanon aus dem »Es« entwickelt hat. »Der Sinn der Unter-
kommentierte diesen Prozeß mit dem Satz »Das ko- suchung ist der, Afrikaner so zu uns sprechen zu las-
lonisierte Ding wird Mensch« (Fanon 1986). Die kul- sen, wie sie selber fühlen und denken, und sie dabei
turellen Unterschiede wurden psychoanalytisch zu- zu verstehen« (Parin/Morgenthaler u. a. 1993, 34).
gänglich »Wir haben zwei dicke Bände und viele Ein- Aus den psychoanalytischen Erfahrungen bei den
zeldarstellungen benötigt, um darzustellen, wie es Dogon konnte abgeleitet werden, »daß die Psycho-
uns gelang, die Kulturunterschiede schrittweise zu logie des abendländischen Menschen nur einen Spe-
überwinden. Danach aber drängten die gleichen zialfall der Möglichkeiten beschreibt, wie das
Themen ins Gespräch wie bei Europäern: Kindheit, menschliche Seelenleben beschaffen sein kann«
Pubertät, Sexualität, Familie, Beruf, Krankheit, Alter, (ebd., 534).
Tod. Die Dynamik unbewußter Kräfte, Icheinstellun- Das umfangreiche Material, das bei den Agni, die
gen oder Forderungen des Überich sind von den glei- im tropischen Regenwald an der Elfenbeinküste le-
chen Wünschen und Ängsten bestimmt wie bei uns« ben, von Dezember 1965 bis Mai 1966 erhoben wer-
(Parin 2005, 163). den konnte, wurde in dem Band Fürchte deinen
Die Hindernisse bei der Ausarbeitung des Verfah- Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesell-
rens lagen nicht auf der theoretischen Ebene oder in schaft am Modell der Agni in Westafrika (1971) ver-
den Grundannahmen der psychoanalytischen Theo- arbeitet (Parin/Morgenthaler u. a. 1971). Im Unter-
rie, die in ihren Ansätzen (etwa dem Konzept der schied zur Untersuchung über die Dogon, in deren
Verdrängung oder der Auffassung des Über-Ich) die Mittelpunkt die Erfassung der psychischen Struktur
Wirkung gesellschaftlicher Kräfte immer berücksich- einzelner Personen stand, wird in der Studie über die
tigt hatte, sondern vielmehr in den Umständen, un- Agni die Wechselwirkung zwischen individuellen
ter denen die psychoanalytische Forschung in der ei- und gesellschaftlichen Strukturen besonders beachtet
genen Kultur betrieben wurde. und die Stellung des Individuums im Rahmen seiner
Kultur hervorgehoben. Ausgehend von den unter-
»Der psychoanalytische Beobachter gehörte immer der glei-
chen Gesellschaft und oft der gleichen Klasse an wie sein Ana- schiedlichen Bedingungen bei den Agni im Vergleich
lysand, den er untersuchte, und beide hatten mehr oder we- zu den Dogon kamen die Forscher zu der Annahme,
niger die gleiche Sozialisation durchgemacht. Die nötige Di- daß sich auch bei der Psychologie der Agni tiefgrei-
stanz zur Erfassung gesellschaftlicher Prozesse war kaum zu fende Unterschiede ergeben würden, und sie sahen
gewinnen. Zumindest diese eine Schwierigkeit fällt weg, wenn
man das Instrument der Psychoanalyse auf Angehörige eines darin auch eine »Herausforderung an die direkte An-
anderen Volkes anwendet, besonders wenn man sich damit au- wendung der psychoanalytischen Methode: Kann sie
ßerhalb dessen begibt, was man den ›abendländischen Kultur- dazu beitragen, Menschen aus matrilinear organi-
kreis‹ genannt hat. Dann tritt der Zusammenhang gesellschaft- sierten Sozietäten zu verstehen, obzwar sie aus der
licher Einrichtungen und Prozesse mit psychischen Strukturen
und Funktionen ungleich klarer hervor« (Parin 1976, 2). Psychologie patrilinear geordneter entstanden ist
und eine ihrer Grundkonzeptionen, der ödipale
Die Psychoanalytiker lösten die psychoanalytische Konflikt – angeblich oder wirklich – ausschließlich
Technik aus ihrem klinischen Setting und setzten sie der patriarchalen Familienorganisation entstammt?«
auf ethnologischem Untersuchungsgebiet als For- (Parin/Morgenthaler u. a. 1971, 13).
schungsmethode ein. Diese Fragestellung wurde in ein übergeordnetes
Die Hauptinstrumente, die Analyse der Übertra- Forschungsziel eingebettet: Mit Hilfe der Ethnopsy-
gung und Gegenübertragung, die Bearbeitung der choanalyse bei den Agni sollte ein Beitrag zum Ver-
Widerstände und die Benutzung von Deutungen hältnis von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften
wurden bei den psychoanalytischen Gesprächen mit geleistet werden, indem das Ineinandergreifen indivi-
Ethnopsychoanalyse 415

dueller und gesellschaftlicher Kräfte mit den techni- anzusehen. Das hat auch auf unsere theoretischen
schen und methodischen Mitteln der Psychoanalyse Anschauungen zurückgewirkt« (Parin/Morgenthaler
aufgezeigt wird, unter Einbeziehung eines dialek- u. a. 1993, 18).
tisch-materialistischen Gesellschaftsmodells. Für die ethnopsychoanalytischen Erfahrungen ist
Das Ergebnis war, daß vor allem die Wirkungen es charakteristisch, daß mit ihnen die Grenzen zum
der gesellschaftlichen Kräfte im Individuum zum Verständnis von Individuen in fremden Kulturen
Ausdruck kommen und im Vordergrund stehen und überwunden und in eine Pendelbewegung zwischen
daß die biologischen Momente gegenüber den kultu- der eigenen und der fremden Kultur eingebunden
rellen und sozialhistorischen Bedingungen zurück- wurden. Diese Leistung ist mit der von Freud ver-
treten. Die Wirkung der gesellschaftlichen Kräfte im gleichbar, mit der er erstmals in der Traumdeutung
Individuum wurde mit den Begriffen des »Gruppen- die starre Abgrenzung zwischen dem, was als psy-
Ich« und des »Clangewissens« theoretisch gefaßt, mit chisch normal und krank in Psychiatrie, Psychopa-
denen eine spezifische Ich und Über-Ich Entwicklung thologie und Psychologie gegolten hatte, auflöste.
beschrieben wurde. Auch bei der Formierung der Damit konnte sich die Psychoanalyse von einer psy-
ödipalen Konflikte und der Aggression zeigten sich chopathologischen Theorie zu einer allgemeinen
wesentliche Unterschiede zu Erfahrungen in der eu- Psychologie erweitern. Das fruchtbare Ergebnis der
ropäischen psychoanalytischen Praxis (Parin 1992; ethnopsychoanalytischen Grenzüberschreitung war:
Parin/Parin-Matthèy 1988). »Erst die Ethnopsychoanalyse hat eine Theorie des
Die Erfahrungen der Psychoanalytiker in West- Subjekts mit dem bestehenden Wissen um die ver-
afrika standen im Wechselverhältnis mit denjenigen schiedenen Kulturen zu einem neuen Wissen vom
in der eigenen Gesellschaft. Die psychoanalytische Menschen und seinen so vielfältigen Lebensformen
Arbeit bei den Dogon und den Agni hat die Wahr- und -möglichkeiten verbunden« (Parin 1982, 11).
nehmung für die Verhältnisse in der eigenen Gesell- Die ethnopsychoanalytischen Erfahrungen der
schaft geschärft. Durch diese Distanzierung konnten Zürcher Wissenschaftler haben zu weiteren Untersu-
bei der psychoanalytischen Arbeit in der eigenen Kul- chungen angeregt, die sich die neuen methodischen
tur komplexe gesellschaftliche Prozesse erfaßt und in und technischen Errungenschaften mit der Psycho-
die psychoanalytische Theorie und Praxis miteinbe- analyse in der Feldforschung zunutze machten
zogen werden. Auf der theoretischen Ebene wurde (Reichmayr 2003). Es entstanden Arbeiten von Psy-
diesen kulturvergleichenden Erfahrungen mit dem choanalytikern mit ethnologischem Interesse (Rodrí-
Modell der Anpassungsmechanismen des Ichs Rech- guez Rabanal 1990, 1995; Maier 1996; Gerlach 2000)
nung getragen. Die Anpassungsmechanismen entla- und von Ethnologen mit psychoanalytischen Qualifi-
sten »das Ich in ähnlicher Weise von der ständigen kationen (Nadig 1986; Weiss 1991; Kubik 2003,
Auseinandersetzung mit der Außenwelt […] wie die 2004), um nur auf einige Autoren hinzuweisen.
Abwehrmechanismen das gegenüber den abgewiese- In der seit 1990 erscheinenden Reihe Ethnopsycho-
nen Triebansprüchen leisten« (Parin 1977, 485). Da- analyse werden neuere Arbeiten vorgestellt. Es gibt
mit konnte die soziale Umwelt nicht mehr wie bisher theoretische Arbeiten zur Ethnopsychoanalyse, die
bei Freud und in den Modellen der psychoanalyti- sich mit ihrer Wissenschaftsgeschichte, der Rolle des
schen Ich-Psychologie als unveränderliche Größe an- Unbewußten im Verhältnis von Individuum, Kultur
gesetzt werden, sondern es war möglich, unterschied- und Gesellschaft und mit methodischen Fragen be-
liche soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten und fassen (Hauschild 1981; Erdheim 1982, 1988; Nadig
Verhältnisse in der Struktur und für die Funktion des 1992). Für die Entwicklung von genuin psychoana-
Ichs zu studieren und so die Leistungen des Ichs in lytischen Methoden und Techniken, die bei der eth-
einer sich verändernden und auf es einwirkenden nologischen Anwendung der Psychoanalyse in der
Umwelt zu bestimmen. Feldforschung eingesetzt werden können, plädiert
Die Zürcher Psychoanalytiker haben mit ihrer Kri- auch der psychoanalytisch geschulte Ethnologe An-
tik des Medicozentrismus in der Psychoanalyse eine dras Zempléni, der über lange Jahre in Westafrika
ethnozentrische Selbstaufklärung der Psychoanalyse forschte und der Gruppe um den Ethnopsychiater
in Theorie und Praxis geleistet. »Als Psychoanalytiker Henri Collomb angehörte, der in den 1960er Jahren
sind wir wegen der lebendigen Erfahrung mit Afrika- in Dakar ein gemeindenahes psychiatrisches Behand-
nern freier und mutiger geworden, besser im Stande, lungs-, Forschungs- und Ausbildungs-Zentrum schuf
auf die sozialen Beziehungen unserer Analysanden in (Zempléni 1977, 87 f.).
Europa einzugehen, und weniger geneigt, ein Verhal- Heute können wir beobachten, daß sich die For-
ten, das von unserem eigenen abweicht, als krankhaft schungsparadigmen in der Ethnologie, den Kultur-
416 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

und Sozialwissenschaften den wissenschaftstheoreti- jekt in der feministischen Wissenschaft. In: Gudrun-Axeli
Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Traditionen Brüche. Ent-
schen und methodischen Positionen der Ethnopsy- wicklungen feministischer Theorie. Freiburg i. Br. 1992.
choanalyse annähern. – /Johannes Reichmayr: Paul Parin, Fritz Morgenthaler und
»Dies hängt auf methodologischer Ebene mit der psychoana- Goldy Parin-Matthèy. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/
lytischen Technik zusammen, die dem Unbewußten, der Sub- Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch.
jektivität, dem Beziehungsverlauf und dem spezifischen Kon- Reinbek bei Hamburg 2000, 72–84.
text (Rahmen/Setting) eine große Bedeutung beimißt, mit der Parin, Paul: Orale Eigenschaften des Ich bei Westafrikanern.
Methode der freien Assoziation an konflikt- und prozeßhafte In: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwen-
Verläufe anknüpft und an orts- und situationsspezifische Be- dungen 24 (1965), 342–347.
dingungen und Beziehungen gebundenes Material erhebt und –: Das Mikroskop der vergleichenden Psychoanalyse und die
deutet. Je eindeutiger Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy Makrosozietät. In: Psyche 30 (1976), 1–25.
diesen methodischen Ansatz in ihren ethnopsychoanalytischen –: Das Ich und die Anpassungs-Mechanismen. In: Psyche 31
Untersuchungen praktizierten, umso präziser nahmen sie da- (1977), 481–515.
mit die Konkretisierung poststrukturalistischer Forschungs- –: Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Boyer, L. Bryce: Kind-
postulate vorweg. Mit dem systematischen Einsatz der Technik heit und Mythos. Eine ethno-psychoanalytsche Studie der
der Psychoanalyse als Forschungsmethode im Feld wurde das Apachen. Stuttgart 1982, 9–12.
sozialwissenschaftliche Tabu gegenüber der kontext-, der zeit- –: Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Stu-
und standortbezogenen Interpretation gebrochen« (Nadig/ dien. Hamburg 1992.
Reichmayr 2000, 78 f.). –: Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. 245 Texte
auf CD-ROM. Hg. von Johannes Reichmayr, Willem van
den Broek und Michael Reichmayr. Gießen 2004.
Literatur –: Ethnopsychoanalytische Erfahrungen mit einer Kulturdiffe-
Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswis- renz. Mitteleuropa trifft Westafrika. In: Psyche 59 (2005),
senschaften. München/Wien 1973 (engl. 1967). 162–168.
–: Realität und Traum. Psychotherapie eines Prärie-Indianers. Parin, Paul/Goldy Parin-Matthèy: Subjekt im Widerspruch.
Frankfurt a. M. 1985 (engl. 1951). Frankfurt a. M. 1988.
Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbe- Parin, Paul/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy: Fürchte
wußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesell-
Prozeß. Frankfurt a. M. 1982. schaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt a. M.
–: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufsätze 1971.
1980–1987. Frankfurt a. M. 1988. –: Die Weissen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchun-
Fanon, Frantz: Das kolonisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte gen bei den Dogon in Westafrika. Hamburg 1993.
Schriften. Leipzig 1986. Parsons, Anne: Besitzt der Ödipuskomplex universelle Gültig-
Fenichel, Otto: 119 Rundbriefe. Bd.1. Europa (1934–1938). Hg. keit? Eine kritische Stellungnahme zur Jones-Malinowski-
von Johannes Reichmayr/Elke Mühlleitner. Bd. 2. Amerika Kontroverse sowie die Darstellung eines süditalienischen
(1938–1945). Hg. von Elke Mühlleitner/Johannes Reich- Kernkomplexes. In: Werner Muensterberger (Hg.): Der
mayr. Frankfurt a. M. 1998. Mensch und seine Kultur. Psychoanalytische Ethnologie nach
Gerlach, Alf: Die Tigerkuh. Ethnopsychoanalytische Erkundun- »Totem und Tabu«. München 1974, 206–259.
gen. Gießen 2000. Pedrina, Fernanda/Vera Saller/Regula Weiss/Mirna Würgler
Hauschild, Thomas: Ethno-Psychoanalyse. Symboltheorien an (Hg.): Kultur, Migration und Psychoanalyse. Therapeutische
der Grenze zweier Wissenschaften. In: Wolfgang Schmied- Konsequenzen theoretischer Konzepte. Tübingen 1999.
Kowarzik/Justin Stagl (Hg.): Grundfragen der Ethnologie. Reichmayr, Johannes: Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Kon-
Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion. Berlin 1981, zepte, Anwendungen. Gießen 2003.
151–168. – /Ursula Wagner/Caroline Ouederrou/Binja Pletzer: Psycho-
Heald, Suzette/Ariane Deluz (Hg.): Anthropology and Psycho- analyse und Ethnologie. Biographisches Lexikon der psycho-
analysis. An encounter through culture. London/New York analytischen Ethnologie, Ethnopsychoanalyse und interkultu-
1994. rellen psychoanalytischen Therapie. Gießen 2003. Siehe auch:
Kubik, Gerhard: Zur ontogenetischen Basis der Inzestscheu. Ein www.chambre.at/lex-epsa
kulturvergleichender Ansatz. Münster/Hamburg/London Rodríguez Rabanal, César: Überleben im Slum. Psychosoziale
2003. Probleme in peruanischen Elendsvierteln. Frankfurt a. M.
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und Interpretationen aus Ost- und Zentralafrika, 1962–2002. –: Elend und Gewalt. Eine psychoanalytische Studie aus Peru.
Münster/Hamburg/London 2004. Unter Mitarbeit von Celina Rodriguez Drescher. Frankfurt
Maier, Christian: Das Leuchten der Papaya. Ein Bericht von den a. M. 1995.
Trobriandern in Melanesien. Mit einem Vorwort von Paul Pa- Spain, David. H. (Hg.): Psychoanalytic Anthropology after
rin. Hamburg 1996. Freud. Essays Marking the Fiftieth Anniversary of Freud’s
Möhring, Peter/Roland Apsel (Hg.): Interkulturelle psychoana- Death. New York 1992.
lytische Therapie. Frankfurt a. M. 1995. Weiss, Florence: Die dreisten Frauen. Ethnopsychoanalytische
Moro, Marie Rose: Aufwachsen im Exil. Ethnopsychoanalyse Gespräche in Papua-Neuguinea. Frankfurt a. M./New York
mit Eltern und Kindern. In: Pedrina u. a. 1999, 149–186. 1991.
Nadig, Maya: Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoana- Zempléni, Andras: From Symptom to Sacrifice. The Story of
lytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Subjektivität Khady Fall. In: Vincent Crapanzano/Vivian Garrison: Case
und Gesellschaft im Alltag von Otomi-Frauen. Frankfurt Studies in Spirit Possession. New York u. a. 1977, 87–139.
a. M. 1986. Johannes Reichmayr
–: Der ethnologische Weg zur Erkenntnis. Das weibliche Sub-
417

14. Soziologie

Beide Wissenschaften verbindet eine lange und wältigung der Probleme möglich ist, so daß Freud
schwierige Geschichte, voll von Mißverständnissen, zumindest die Chance einer Zukunft ohne sozial for-
Streit und Kontaktproblemen. Trotzdem zeigen so- matierten Wahn und Repression sieht. – Was in der
wohl die Resultate ihrer Kooperation als auch eine Sache aus verschiedenen Gründen problematisch ist,
systematische Analyse, daß ihre Kooperation sinnvoll war jedoch ein neuer Blick auf Gesellschaft: Daß ihre
ist – was wiederum die Probleme erklärungsbedürf- Institutionen psychodynamische Ursachen haben
tig macht. Entsprechend werden im Folgenden zu- können und latente psychodynamische Bedürfnisse
nächst die bisherigen Kontakte skizziert und an- behandeln, war eine neue, produktive Sichtweise, die
schließend die strukturellen Schwierigkeiten der Ko- von Freud selbst zunächst rudimentär und mit psy-
operation diskutiert. Darauf folgt noch ein Ausblick chologischer Schlagseite verwendet wurde.
auf Möglichkeiten des Diskurses. In Freuds Nachfolge spaltete sich diese Perspektive.
Die »Rechtsfreudianer« übernahmen vor allem die
Idee, daß soziale Institutionen Ausdruck unbewußter
Die Beziehungsgeschichte von Psycho-
Konflikte sind und machten sich auf die Suche nach
analyse und Soziologie
universellen Zusammenhängen. So sah beispielsweise
Freud kannte die Soziologie kaum. Er hatte nur von Róheim (1977) den Ursprung der Tauschwirtschaft
Marx gehört (Durkheim zitiert er lediglich als Ethno- in der Mutter-Kind-Beziehung: Der Säugling be-
logen), dessen Werk er für einseitig und politisch kommt Milch und gibt dafür Kot. Dieses reduktioni-
utopisch hielt. Unabhängig davon hatte er ein Welt- stische Programm wurde von den »Linksfreudia-
bild, in dessen Mittelpunkt die Psychologie des Men- nern« heftig kritisiert. Sie versuchten stattdessen, die
schen stand. Aus ihr heraus entwickelte sich soziale Dialektik von psychischer und sozialer Entwicklung
Wirklichkeit – als Symptom, als bewußte oder unbe- (meist mit Hilfe marxistischer Konzepte) bezogen
wußte Bewältigung. Daher war für ihn Soziologie auf spezifische Themen darzustellen. So argumen-
auch (nur) »angewandte Psychologie«. So beschreibt tierten etwa Fromm (1932) und Fenichel (1938), daß
er in Die Zukunft einer Illusion die Welt als Jammer- die ökonomische Entwicklung die Entstehung spezi-
tal, voller Unzulänglichkeiten, vor allem auch psy- fischer Verhaltensweisen fördere und honoriere, de-
chischer Art. Der Mensch sei (ähnlich wie bei Hob- ren Vorhandensein wiederum die Dynamik der Öko-
bes und Schopenhauer) ein nicht zum Glück gebo- nomie fördere – die New Economy braucht Aben-
renes und sozial nur mäßig angepaßtes bzw. begabtes teurer; sie zieht sie an und wird dadurch beschleu-
Wesen. Die Regelung der sozialen Beziehungen sei nigt.
notwendig, aber unerfreulich, weil sie zusätzliche Die öffentliche Auseinandersetzung um die Psy-
Einschränkungen und Druck mit sich bringt. Alles in choanalyse führte dazu, daß sie auch von Soziologen
allem sei das Leben daher wenig angenehm – man zur Kenntnis genommen und kommentiert wurde.
muß arbeiten, gehorchen und seine Triebe beherr- In der deutschsprachigen Soziologie wurde die Psy-
schen. Hier setzt für Freud die doppelte Funktion der choanalyse nur zögerlich rezipiert; die Versuche, so-
Religion an: Sie diszipliniert und kanalisiert Trieb- ziale Sachverhalte psychoanalytisch zu erklären, lö-
impulse und sie bietet (halluzinierte) Befriedigung sten meist Verärgerung aus und wurden energisch
von Erlösungs- und Schutzbedürfnissen. Dies ge- zurückgewiesen. Das Niveau der Auseinandersetzung
lingt, weil Religionen Projektionen einer mächtigen schwankte dabei erheblich. In der Zeit bis 1933 gab es
Vaterimago sind, also einem (unbewußten) inneren eine Reihe von Äußerungen, die vor allem durch
Bild entsprechen. Allerdings sind Religionen nur so massives Unverständnis und affektive Ablehnung
lange nötig, wie keine bessere, sprich: bewußte Be- auffallen. So stellt Spann im Rahmen seines gene-
418 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

rellen Feldzugs gegen »moralische Mörder und Frev- Die Entwicklung in den USA
ler« Freud in eine Reihe mit Marx, Büchner, Darwin,
Haeckel, J. St. Mill: »Heute stürmen ihre Nachfolger Insgesamt litt die deutschsprachige Auseinanderset-
fast ungedeckt vor, nicht zum mindesten die Un- zung nicht nur an einer gewissen Oberflächlichkeit,
holde der Geldgier und gar jene der Sexualität, die sondern auch an Schwerblütigkeit. Die Diskussionen
sich mit Männern wie Freud an der Spitze zur Füh- gehen meist schnell ins Prinzipielle: Ob man so über-
rung der Welt anschicken (wie schwach stand doch haupt denken darf und kann, ob die Freudsche Psy-
der Sexualverbrecher Rousseau gegen Freud da!)« choanalyse nicht »die Krankheit ist, für deren Hei-
(Spann Bd. 12, 288). Entsprechend zufrieden war er, lung sie sich hält« (so bekanntlich Karl Kraus). Da-
daß »man die Bücher des Unholdentums öffentlich von unterscheidet sich der amerikanische Diskurs
ins Feuer warf« (ebd. Bd. 7, 181). ganz erheblich. Auch in den USA hat die Freudsche
Einige Autoren wollten sichtlich nichts mit den Theorie für erhebliche Kontroversen gesorgt, aber die
von der Psychoanalyse angesprochenen Themen zu Reaktion des akademischen Betriebs war – entspre-
tun haben. So schrieb etwa Sombart, daß der Bereich chend der stärkeren Bereitschaft in den USA, Neues
des Erkennbaren überschritten werde, wenn »Beweg- auszuprobieren – neugierig und aufgeschlossen. Man
gründe […] aus den Bereichen der rationalen Über- schaute sich an, was geboten wird, und überlegte,
legung auf der Treppe der Tiefenpsychologie in die was davon zu nutzen sei. So ergab sich eine wesent-
dunklen Gebiete des menschlichen Gefühls und lich differenziertere und entspanntere Auseinander-
Trieblebens, in die Katakomben und Kloaken der setzung, in deren Verlauf eine ganze Reihe von Au-
menschlichen Seele (Psychoanalyse!), ins Fabelreich toren im Theorieangebot der Psychoanalyse bei aller
des ›Unbewußten‹ hinabführen, wo kein Licht der Kritik sinnvolle Anknüpfungspunkte sah: Lasswell,
Ratio mehr leuchtet, wo wir nichts mehr ›verstehen‹, Ogburn, Burgess und andere bescheinigten ihr Rele-
sondern nur Regelmäßigkeiten registrieren und ord- vanz für die Entwicklung der Methoden empirischer
nen können (wie bei aller Naturerkenntnis)« (Som- Sozialforschung. Lasswell sah Freuds wichtigste me-
bart 1956, 13). Andere reagierten eher mit Kopf- thodische Leistung in der Entwicklung einer neuen
schütteln und Unverständnis (etwa Geiger 1928). An- Sichtweise interpersonalen Geschehens, der er me-
dere Autoren zeigten distanzierte Neutralität (Sche- thodisch wie theoretisch große Bedeutung zumaß:
ler, Jerusalem) oder bemühten sich um vorsichtige »It seems safe to conclude […] that we are on the
Annäherung (Mannheim, Oppenheimer). Max We- threshold of rapid advance throughout the entire
ber hat Freuds Schriften zur Kenntnis genommen, range of social scientific research, and that this ad-
sich aber nicht öffentlich zu ihnen geäußert. In ei- vance will be enormously faciliated in the future, as
nem Brief anerkannte er die Bedeutung, die eine ge- in the past, by the work of Freud« (1939, 390). Eine
reifte psychoanalytische Theorie gewinnen könnte, ganze Reihe von Autoren sah im psychoanalytischen
wenn es ihr gelänge, ihre Behauptungen auf eine Denken wichtige Bausteine einer modernen Gesell-
breitere empirische Basis zu stellen. Er schreibt an schaftstheorie. Ogburn (1922) übertrug einige von
Else Jaffé: Es »unterliegt keinem Zweifel, daß Freuds Freuds Konzepten auf soziale und ökonomische Ver-
Gedankenreihen für ganze Serien von kultur-, spe- änderungen – nicht zuletzt auch deswegen, weil er
ziell religions-historischen und sittengeschichtlichen eine ähnliche Weltsicht vertrat und Freud ihm als
Erscheinungen zu einer Interpretationsquelle von willkommener Bündnisgenosse erschien. Burgess
sehr großer Bedeutung werden können« (Weber Bd. (z. B. 1939) billigte der Psychoanalyse eine wichtige
11/5, 394). Sehr kritisch kommentierte er dagegen Erklärungsleistung zu und skizzierte gemeinsame
Versuche, aus ihr eine »Weltanschauung« zu entwik- Projekte von Soziologie und Psychoanalyse. Talcott
keln. Eine ähnliche Position vertrat Scheler (»Die Parsons integrierte sie schließlich in prominenter
junge psychoanalytische Wissenschaft hat uns – trotz Funktion in seine strukturell-funktionale Theorie.
ihrer Übertreibungen – […] noch viel zu sagen über Parsons gehörte zu den wenigen Theoretikern mit
die Schicksalsbildung des Menschen«, Scheler 1923, Doppelqualifikation. Auf Grund einer Lehranalyse
272). Noch positiver waren die Einschätzungen bei- und intensiver theoretischer Beschäftigung war er ei-
spielsweise von Jerusalem (1925) und Vleugels ner der wenigen, die über Anwendungen vor allem
(1923/24), der im Rahmen der in den 1920er Jahren der Kulturtheorie auf soziologische Fragestellungen
florierenden »Soziologie der Masse« eine Koopera- hinauskamen. Von ihm stammt die – neben den Ent-
tion von Soziologie und Psychoanalyse für produktiv würfen der Theoretiker im Umfeld der Kritischen
erachtete. Theorie – einzige systematische Kooperations- und
Integrationsmatrix von Soziologie und Psychoana-
Soziologie 419

lyse: Er untersuchte, wie Gesellschaften über die For- Einseitigkeiten enthielten, sie jedoch zur Entwick-
matierung von Ich, Es und Über-Ich passende Per- lung und Verbesserung der Soziologie beitragen kön-
sönlichkeitsmerkmale zu erzeugen versuchen, und nen – sowohl v. Wiese (1950/51) als auch König
wie erst durch die Internalisierung von sozialen Pro- (1973) und Adorno (1955) äußerten sich in diesem
grammen Handeln »gesellschaftsfähig« wird. (z. B. Sinne (und meinten damit jeweils Verschiedenes). In
1951, 1953; eine nähere Diskussion dieses bemer- gewisser Weise bestätigt wurde dieser Optimismus
kenswerten Entwurfs würde diesen Rahmen spren- dadurch, daß sowohl in den USA als auch in
gen.) Deutschland einige psychoanalytisch orientierte Zeit-
In einem Rück- und Überblick im Jahr 1957 sah diagnosen zu Bestsellern wurden. Riesmans Die Ein-
Hinkle noch eine blühende Kooperation und frucht- same Masse (1958) mit ihrer griffigen Unterschei-
bare Perspektiven. Es kam jedoch anders. Der Dis- dung zwischen dem traditionsgeleiteten, dem innen-
kurs erlahmte. Auch wenn noch weiterhin Monogra- geleiteten und dem außengeleiteten Menschen als
phien wie die von Weinstein und Platt erschienen Modellen traditioneller, frühmoderner und fortge-
(1975) – den Eindruck einer vielversprechenden Ko- schrittener Industriegesellschaften gewann ebenso
operation gewinnt man schon lange nicht mehr. Orientierungswert wie die Interpretation der Nach-
Dazu hat nicht nur die anhaltende Kritik an psycho- kriegszeit und ihrer Verleugnung des Nationalsozia-
analytischen Vorstellungen beigetragen. Unter dem lismus als Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich/Mit-
Vorzeichen des Methodologischen Empirismus führ- scherlich 1967) oder die Vaterlose Gesellschaft (Mit-
ten wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen scherlich 1963) als Stichwort für eine Kultur, in der
naturgemäß zu einer strikten Ablehnung der Psycho- die väterliche Autorität blaß und durch Systemlogik
analyse. Erinnert sei nur an Poppers und Nagels Ver- ersetzt wird.
dikt: Was keine (eindeutig) prüfbaren Hypothesen Dann kamen die wilden 1960er Jahre (ich verein-
hervorbringt, ist keine Theorie. (Auch) diese Kritik fache), die die Soziologie ebenso überraschten wie
an der Psychoanalyse war von wenig Sachkenntnis die Nachkriegsgesellschaft. Mit der »bürgerlichen
getrübt und ging in keiner Weise auf die Erkennt- Gesellschaft« geriet auch die »bürgerliche Soziologie«
nisprobleme psychodynamischer Prozesse ein (vgl. unter Beschuß einer eruptiven Opposition. Eine der
Schülein 1999). Stärker noch mag die Generations- vielen Frontlinien war dabei die Auseinandersetzung
folge gewirkt haben – die »postparsonische« Sozio- um die normative Ordnung der Nachkriegszeit, die
logie trennte sich konsequent von vielem, was vorher mit der strukturellen Modernisierung nicht mitge-
wichtig und richtig erschien. Auf jeden Fall war die halten hatte. Die damit verbundenen Konflikte wur-
Psychoanalyse inzwischen auch in gewisser Weise den als Gegensätze von restaurativ/konservativ und
zum Normalinventar an Theorien geworden; andere fortschrittlich/revolutionär aufgefaßt und dargestellt,
Theoriemodelle hatten die Position einer vielverspre- wobei nicht zuletzt den Themen ›Sexualität‹ und
chenden Innovation eingenommen, während die ›Konsum‹ eine Schlüsselstellung zugewiesen wurde.
Psychoanalyse (zu) eng dem Denken der Vorkriegs- Im Kampf gegen »repressive Sexualmoral« und den
zeit verwandt schien. Parsons’ Nutzung der »Über- »Konsumterror« dienten dabei nicht zuletzt die frü-
Ich«-Theorie als Modus der Anpassung des Indivi- hen Schriften von Wilhelm Reich und die späten von
duums an soziale Strukturen machte sie zu einer Herbert Marcuse als theoretisches Rüstzeug. Der
Zielscheibe in der Auseinandersetzung am »overso- frühe Reich war ein ungewöhnlicher Kliniker und en-
cialized concept of man« (Wrong 1961, 183–193). In gagierter Sozialpolitiker, der unter schwierigen Um-
den 1990er Jahren hat dann die »neurobiologische ständen und mit plakativen Mitteln versuchte, psy-
Wende« durch die Entwicklung der Gehirnforschung choanalytische Erkenntnisse gegen die Borniertheit
erheblich dazu beigetragen, daß die psychodynami- des zeitgenössischen Verständnisses von psychodyna-
sche Semantik als obsolet eingeschätzt wurde. mischen Problemen zu setzen. Der späte Marcuse
hatte den Schwung eines großen, scharfsinnigen Vi-
sionärs, dessen Idealisierungen gut zum Selbstver-
Die Diskussion in Deutschland
ständnis (von Teilen) der Studentenbewegung paß-
Die deutschsprachige Diskussion der Thematik ver- ten. Das Erklärungspotential ihrer Schriften war na-
lief in der Nachkriegszeit zunächst vorsichtig, aber turgemäß doppelt limitiert, aber der damit verbun-
im Prinzip positiv. Kenntnisse der Psychoanalyse ge- dene Vereinfachungseffekt kam dem Bedürfnis
hörten auch zur Grundausstattung der Soziologie. ebenfalls entgegen.
Die Exponenten verschiedener Richtungen waren Dadurch geriet auch die Psychoanalyse in den Sog
sich einig, daß ihre Lehren zwar Verzerrungen und der Auseinandersetzungen. Sie wurde als Zeuge und
420 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Helfer gegen die Repressivität der bürgerlichen Ge- feldes und methodischer Kooperation. Für Soziologie
sellschaft und die Unfähigkeit der Soziologie, diese und Psychoanalyse gilt dies in aller Schärfe, weil es
Themen zu behandeln, angeführt und eingesetzt – erhebliche Schnittmengen gibt: Beide beschäftigen
oft mehr als Schlaginstrument denn als Argument. sich mit der Steuerung von Handeln und den damit
Ein Titel wie Die Funktion des Orgasmus (Reich) – ein verbundenen Auswirkungen, aber sie tun dies mit
im übrigen weitgehend klinischer Text – reichte oft, gänzlich verschiedenen, sich prima vista ausschlie-
um die gewünschte Signalwirkung zu erreichen. Ana- ßenden und negierenden Strategien. Dadurch gera-
loges spielte sich in bestimmten Kreisen gesellschafts- ten sie leicht, fast unvermeidlich in eine Erklärungs-
kritischer Diskussion ab. Um die (angeblich) ange- konkurrenz.
paßte und ideologisch verzerrte bürgerliche Sozio- Dazu kommt erschwerend eine strukturelle interne
logie zu ersetzen, wurde die Marxsche Theorie mit Ähnlichkeit. Beide Fächer haben jedes für sich ganz
psychoanalytischen Konzepten kombiniert. Es ent- erhebliche Balanceprobleme: Sie besitzen keine ein-
wickelte sich eine Art Neuauflage der Freud-Marx- deutige Identität, keinen harten Kern an sicheren
Debatte der 1920er Jahre (vgl. Kap. IV.8). Methoden und Theorien, nicht einmal ein eindeu-
tiges Thema. Es gibt weder »die« Soziologie noch
»die« Psychoanalyse. Beide sind multiparadigmatisch
Strukturelle Schwierigkeiten
und präsentieren sich als ein vergleichsweise dispa-
der Kooperation
rates Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze und
Wie immer, wenn Themen und Paradigmen Kon- Denkschulen. Das belastet die innere Stabilität und
junktur haben, entwickelte sich daraus eine Litera- damit auch die Außenkontakte auf beiden Seiten,
tur-Blase aus Texten, die schnell und inkompetent aber auch die Ansprechbarkeit und Zurechenbarkeit
produziert wurden (vgl. z. B. die Texte von Schneider von außen. Zumindest ergibt sich etwa für die Sozio-
und Duhm) – eine Fülle von selbsternannten Exper- logie das zusätzliche Problem, es nicht mit einer ein-
ten machte sich daran, aus Freud und Marx ein Wun- zigen Theorie, sondern mit einem Spektrum an ob-
derelexier zur Erklärung (und Lösung) aller Pro- jektpsychologischen, bindungstheoretischen, ich-
bleme zu brauen. Und wie meistens bekam auch die- psychologischen, orthodoxen, kleinianischen, laca-
ses Strohfeuer der Entwicklung der Theorien nicht. nianischen oder anderen Ansätzen zu tun zu haben
Sowohl ihre Instrumentalisierung für sachfremde und mit Eigenmitteln weder deren Dissens noch
Zwecke als auch die damit verbundenen wenig Konsens behandeln zu können.
durchdachten Zugriffe auf sensible Theorieangebote Entsprechend schwierig ist hier ein Diskurs. Er
bewirkten einen Bumerangeffekt. Die Nachfolgedis- verlangt ein hohes Maß an Bereitschaft und Fähig-
kurse wollten mit der Asche des Strohfeuers nichts zu keit, Dezentrierungen (möglicherweise sogar Depo-
tun haben. Seitdem ist das Zitieren von Marx und tenzierungen) auszuhalten, sich auf heterodoxe
Freud in der deutschsprachigen Mainstream-Sozio- Sichtweisen einzulassen, was entsprechende Absiche-
logie kaum mehr möglich und gilt als degoutant, rungen und Vorkehrungen verlangt. Daran mangelte
mindestens aber als Zeichen der Zugehörigkeit zu es jedoch auf beiden Seiten. Die Psychoanalyse hat
veralteten und marginalen Diskursen. sich weitgehend als klinische Institution etabliert, die
Aber auch unabhängig von dieser Logik von Theo- ihre Aktivitäten auf (eine bestimmte Art von) Thera-
rieverschleiß und nachfolgender Abstoßungsreaktion pie konzentriert. Dies hat Innen- wie Außeneffekte.
wäre eine Fortsetzung des Dialogs zwischen Sozio- Die Einseitigkeit der Ausrichtung und der fehlende
logie und Psychoanalyse eher unwahrscheinlich ge- Kontakt zu externen Entwicklungen führten dazu,
wesen. Denn die dazu erforderlichen strukturellen daß der Freudsche Anspruch, die Psychoanalyse als
Bedingungen hatten sich nicht hinreichend entwik- Allgemeine Psychologie zu entwickeln, nicht in glei-
kelt. Generell sind interdisziplinäre Diskurse schwie- chem Maße realisiert wurde wie die therapeutischen
rig. Vor allem, wenn sich Überschneidungen im Er- Möglichkeiten. Gleichzeitig hat die Psychoanalyse es
klärungsanspruch ergeben, werden die Beteiligten in versäumt, sich in der (Wissenschafts-)Öffentlichkeit
ihrer Fachidentität erschüttert (vgl. dazu ausführli- hinreichend deutlich zu präsentieren und auf sich
cher Schülein 2002). Das verschärft die Konkurrenz aufmerksam zu machen. Es fehlt ihr an akademischer
und damit die Tendenz, sich auf sicheres Terrain (das Präsenz, was zu einer weitgehenden Binnenorientie-
eigene) zurückzuziehen und die andere Seite abzu- rung mit entsprechenden Isolationsschäden beitrug.
weisen und abzuwerten. Es gibt also keine problem- Umgekehrt sind dadurch Weiterentwicklungen im
lose Grenze, keine problemlose Schnittmenge. Dies Arkanum der berufsständischen Vereinigungen ver-
erschwert den Aufbau eines gemeinsamen Themen- blieben und kaum nach außen gedrungen. Die Iso-
Soziologie 421

lation der Psychoanalyse ist dabei ein Effekt wechselseitigen Ergänzung gibt, weil die Dynamik
beidseitiger Bemühungen. Während seitens der von Organisationen nur unter Einbezug der Akteure
akademischen Wissenschaften die Angebote der Psy- und das Handeln der Akteure wiederum nur unter
choanalyse häufig ignoriert oder ohne ernsthafte Einbeziehung ihrer bewußten und unbewußten Im-
Auseinandersetzung abqualifiziert wurden, zog sich pulse verständlich wird. Rangkämpfe und Mobbing,
die Psychoanalyse weitgehend hinter die Mauern der destruktive Gruppenlähmungen und Führungskon-
Profession zurück und verzichtete lange auf Außen- flikte sind nicht (allein) auf Fehler der formalen
kontakte. Erst in den 1990er Jahren wurde diese Poli- Struktur zurückzuführen. Was als »Mikropolitik«
tik zumindest teilweise korrigiert. Bis dato ist davon oder als strategische Spiele bezeichnet wird, ist häufig
jedoch keine allzu externe Wirkung ausgegangen. imprägniert von psychodynamischen Programmen
Die Soziologie hat es ihrerseits versäumt, sich ge- der Beteiligten. Hier kann psychoanalytisches Den-
nauer über die Psychoanalyse zu informieren. Zu- ken helfen, ein differenzierteres und qualifizierteres
nächst hat die externe Bedeutung der Psychoanalyse Bild der Problemlage zu gewinnen und Interven-
(als Teil der Allgemeinbildung und der öffentlichen tionsstrategien zu entwickeln. Daher gibt es hier eher
Diskurse) abgenommen, so daß von dort wenige An- viele Grenzgänger und Kooperationsformen.
regungen kommen und auch nur noch sehr begrenzt Das ändert nichts daran, daß der Diskurs im Kern
Basiskenntnisse über Freud und die Psychoanalyse der Fächer darniederliegt bzw. nicht vorhanden ist.
vorhanden sind. Aber auch die interne Auseinander- Daran wird sich nichts ändern, wenn sich nicht die
setzung hat sich nicht weiterentwickelt. Daß die frü- Rahmenbedingungen ändern: Die Soziologie muß
hen Äußerungen der Soziologie zum Thema das Po- verstehen, daß sie allein mit eigenen Mitteln nicht
tential der Psychoanalyse verkannten bzw. auf pro- imstande ist, hinreichende subjekttheoretische Vor-
blematische Weise zu nutzen versuchten, hing nicht stellungen hervorzubringen und die dafür erforder-
nur mit geringer Sachkenntnis bzw. oberflächlicher liche Kontaktfähigkeit zu entwickeln. Mutatis mutan-
Lektüre zusammen. Entscheidend war nicht zuletzt, dis gilt dies auch für die Psychoanalyse. Sie muß zu-
daß beide Sichtweisen noch in Frühphasen ihrer Ent- sätzlich ihre ›Außenpolitik‹ grundsätzlich ändern. Sie
wicklung steckten. Besonders die Psychoanalyse be- muß offensiver werden, ihren Platz im Feld der Wis-
fand sich ganz am Anfang und war zwangsläufig in senschaften aktiv suchen, statt sich auf ihre therapeu-
vieler Hinsicht krude und unterentwickelt. Ihr Lei- tischen Anwendungen zu beschränken. – Was wäre
stungsvermögen mußte daher aus in den von Freud dabei zu gewinnen? Für beide Seiten eine Ausweitung
vorgelegten Ansätzen erst herausgearbeitet werden, ihres Reflexionspotentials. Nimmt man das Thema
was entsprechend intensive Auseinandersetzung vor- ›Handlung‹ (vgl. Schülein 1998), so zeigt sich die
ausgesetzt hätte. Dies wiederum war für viele – vor Möglichkeit, zunächst genetisch einen differenzierte-
allem die von Themen und Methoden irritierten – ren Zugang zu gewinnen. Die Soziologie spricht von
Leser zu schwierig. Spätere Entwicklungen sind dage- Sozialisation und meint damit, daß Sprache, Denken,
gen kaum oder nicht zur Kenntnis genommen wor- Handeln und Fühlen unter dem Einfluß der sozialen
den. Dadurch bleibt die Auseinandersetzung mit ihr Bedingungen (vermittelt durch die primären Bezugs-
auf dem Niveau ihrer Frühphase. Die Psychoanalyse, personen) entwickelt und geformt werden. Wenn
zumal die moderne, ist in der Soziologie weitgehend man nicht von einer bloßen Einprägung sozialer Be-
unbekannt. dingungen ausgehen will, gehört dazu eine Vorstel-
lung, was denn da beeinflußt wird, wie externe Be-
dingungen in interne Verhältnisse umgesetzt werden
Zukünftige Möglichkeiten des Diskurses
und interne Impulse sich auf die Bedingungen aus-
Kurz: Die Psychoanalyse existiert gegenwärtig in der wirken. Eine solche Theorie der Psyche und der psy-
Soziologie nur als Gerücht, um nicht zu sagen: als chodynamischen Entwicklung bietet die Psychoana-
Gespenst aus vergangenen Zeiten – mit einer Aus- lyse. Zusammen können beide Theorien klären, wie
nahme, die jedoch einen bestimmten Sonderbereich es möglich ist, daß jeder Sozialisationsprozeß indivi-
betrifft: die Organisationsanalyse. Hier gibt es seit duell ist und dennoch sowohl sozial als auch psy-
längerem – sozusagen ungestört von den sonst herr- chisch ein spezifisches Profil gewinnen kann – wie
schenden Störungen – eine intensivere Kooperation biopsychische Ausstattung und sozialer Kontext in-
von Organisationstheorie und Psychoanalyse (vgl. terferieren und zur Entwicklung etwa eines »außen-
z. B. Sievers u. a. 2003). In diesem Grenzbereich hat geleiteten« Menschen führen, der sein Handeln an
sich – vor allem bei Praktikern – gezeigt, daß es nicht dem orientiert, was er für sozial opportun hält. We-
nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit der der Soziologie noch Psychoanalyse können ein
Thema dieser Art allein behandeln.
422 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Darüber hinaus könnte in Kooperation der Ablauf Fromm, Erich: Die psychoanalytische Charakterologie. In:
Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), 28–54.
von Handlungen wesentlich besser analysiert werden. Geiger, Theodor: Die Gestaltung der Gesellung. Karlsruhe
Die Soziologie kann erklären, wie eine Situation, in 1928.
der gehandelt wird, aussieht: Was sie für soziale Vor- Hinkle, Gisela J.: Sociology and Psychoanalysis. In: H. Becker/
gaben (von Statushierarchien bis zu den materiali- A. Boskoff (Hg.): Modern Sociological Theory. New York
1957, 574–603.
sierten Normen) enthält, welche Erwartungen und Jerusalem, Franz W.: Soziologie des Rechts I. Gesetzmäßigkeiten
Handlungsalternativen wirksam sind, was die Auf- und Kollektiv. Jena 1925.
rechterhaltung von Sozialordnung und sozialer Iden- König, René: Psychoanalyse und sozialer Wandel. In: Kölner
tität verlangt. Sie kann auch die soziale Ausstattung Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 25 (1973),
611–618.
der Akteure beschreiben – was typische Kognitionen, Lasswell, Harold D.: The Contribution of Freud’s Insight Inter-
Dispositionen, Ausdrucksformen sind. Die Psycho- view to the Social Sciences. In: American Journal of Sociology
analyse kann beschreiben, in welcher Form die äuße- 45 (1939), 375–390.
ren Gegebenheiten intrapsychisch verarbeitet werden Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Berlin 1967.
Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesell-
und wie umgekehrt intrapsychische Gegebenheiten – schaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963.
Bedürfniskonfigurationen, Ängste, Hoffnungen, – /Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grund-
Sehnsüchte – sich an Situationen festmachen. Aus lagen kollektiven Verhaltens. München 1967.
beiden Vorgaben läßt sich das Profil einer intrapsy- Ogburn, William F.: Social Change. New York 1992.
Parsons, Talcott: The Social System. Glencoe, Ill. 1951.
chischen Verarbeitung von Handlungsaufforderun- –: Psychoanalysis and Social Science. In: F. Alexander/H. Ross
gen entwickeln: Welche bewußten und unbewußten (Hg.): Twenty Years of Psychoanalysis. New York 1953,
inneren Assoziationen und Dispositionen durch die 186–215.
Situation aktiviert werden, wie die daraus resultie- Reich, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus. Kopenha-
gen/Wien/Zürich 1933.
rende psychische Dynamik erlebt und zugleich be- Riesman, David: Die einsame Masse. Reinbek 1958 (engl.
wußt (auf der Basis vorhandenen Wissens) reflektiert 1953).
und abgewogen wird (z. B.: welche Handlungsalter- Róheim, Géza: Psychoanalyse und Anthropologie. Frankfurt
nativen werden entwickelt und welche Konsequenzen a. M. 1977.
Scheler, Max: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Leipzig
erwartet man sich von ihnen?). Es ließe sich dann das 1923.
Ergebnis dieser inneren Verhandlungen, der Hand- Schneider, Michael: Neurose und Klassenkampf. Reinbek 1973.
lungsentwurf als Resultat eines »Kräfteparallelo- Schülein, Johann August: Handlungstheorie und Psychoana-
gramms« beschreiben und verstehen, was seine Um- lyse: In: A. Balog/M. Gabriel (Hg.): Soziologische Hand-
lungstheorie. Einheit oder Vielfalt. Opladen 1998, 285–315.
setzung in Handlungen manifest und latent zum –: Die Logik der Psychoanalyse. Eine erkenntnistheoretische Stu-
Ausdruck bringt und wie dadurch die Situation ver- die. Gießen 1999.
ändert und die anderen Akteure auf spezifische (mul- –: Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Ba-
tiple) Weise stimuliert werden. lanceprobleme sozialwissenschaftlichen Erkennens. Weilers-
wist 2002.
Analog lassen sich auch weitere Ebenen der sozia- Sievers, Burkard u. a. (Hg.): Das Unbewusste in Organisatio-
len Realität behandeln – Interaktionen, konkrete So- nen. Gießen 2003.
zialorganisationen, abstrakte Sozialstruktur und Sombart, Werner: Der Bourgeois [1913]. München 1956.
schließlich auch die der Gesellschaft als Gesamtzu- Spann, Othmar: Gesamtausgabe. Graz 1965 ff.
Vleugels, Wilhelm: Zu Freuds Theorie von der Psychoanalyse.
sammenhang der sozialen wie der psychischen Fak- In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 3 (1923/24),
toren. Entsprechende Versuche sind nicht leicht, sie 42–75.
sind riskant, aber sie lohnen sich. Weber, Max: Gesammelte Werke. Tübingen 1986 ff.
Weinstein, Fred/Gerald M. Platt: Psychoanalytische Soziologie.
München 1975.
Literatur Wiese, Leopold v.: Soziologie und Psychoanalyse. In: Kölner
Adorno, Theodor W.: Zum Verhältnis von Soziologie und Psy-
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (950/51),
chologie. In: Sociologica. Frankfurt a. M./Köln 1955.
459–469.
Burgess, Ernest W.: The Influence of Sigmund Freud upon So-
Wrong, Dennis H.: The Oversocialized Concept of Man in Mo-
ciology in the United States. In: American Journal of Socio-
dern Sociology. In: American Sociological Review 26 (1961),
logy 45 (1939), 356–375.
183–193.
Duhm, Dieter: Angst im Kapitalismus. Lampertheim 1972.
Fenichel, Otto: The Drive to Amass Wealth. In: Psychoanalytic Johann August Schülein
Quarterly 7 (1938), 69–95.
423

15. Politische Psychologie

In der 35. und abschließenden Vorlesung der Neuen Was ist Politische Psychologie?
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psycho-
analyse (»Über eine Weltanschauung«) äußert sich Die Politische Psychologie ist keine – zumindest noch
Freud im Jahr 1932 über den Marxismus, dessen Ent- keine – wissenschaftliche Disziplin oder Teildisziplin.
wicklung von einer materialistischen Wissenschaft Das gilt in besonderer Weise für eine Politische Psy-
zur religionsähnlichen Weltanschauung und die Er- chologie, die sich an der Lehre Freuds und der Psy-
folgsaussichten des an sich begrüßenswerten sozialen choanalyse orientiert. Die Frage ist, ob sie in dieser
Experiments der bolschewistischen Revolution in Form, nämlich als wissenschaftliche Disziplin, insbe-
Rußland (GW XV, 193 ff.). Derartige Äußerungen sondere für eine psychoanalytische Politische Psy-
sind sehr selten in Freuds Werk und stehen an dieser chologie überhaupt ein erstrebenswertes Ziel wäre
Stelle der Vorlesungen eigentlich schon außerhalb des oder ob gerade ihr der Status eines auf spezifische
wissenschaftlichen Werks im engeren Sinne. Freud historisch-gesellschaftliche Konstellationen bezoge-
scheint sich, was politische Themen angeht, distan- nen wissenschaftlichen Analyse- und Arbeitsfeldes
ziert, fast schon abstinent verhalten zu haben. Dieser nicht angemessener wäre. Das schlösse ein, daß eine
Eindruck ändert sich, wenn man seine letzte große nicht vollständig von den Idiosynkrasien der beson-
Abhandlung Der Mann Moses und die monotheisti- deren Lebensgeschichte eines einzelnen Forschers,
sche Religion, geschrieben in den Jahren 1934 bis 38 wie Freud ihn im übrigen selber repräsentierte, abge-
und 1939 (GW XVI) publiziert, als eine Antisemi- zogene Sichtweise zum Einsatz kommen könnte. Der
tismustheorie liest, die sie ohne Zweifel auch ist, wie Preis von Abstrichen vom wissenschaftlichen Ideal ei-
etwa Richard J. Bernstein (1998/2003) zeigt. Eine ner vollkommenen methodischen Übertragbarkeit
derartige »politische Lektüre« legen durchaus auch und einer restlosen Intersubjektivität wäre angesichts
andere Schriften Freuds nahe. Und kürzlich ist sogar des zu erwartenden Erkenntnisgewinns vielleicht
die These vertreten worden, der Gehalt des Freud- nicht zu hoch. Noch über diese Gestalt einer wissen-
schen Werks insgesamt erschließe sich überhaupt erst schaftlichen (Teil-)Disziplin hinausgehend schwebte
in einer politischen Lektüre (Brunner 1995/2001). es Klaus Horn (1975) offenbar vor, eine psychoana-
Auf die richtige Spur, was eine Politische Psychologie lytisch informierte Politische Psychologie als eine Art
angeht, geraten wir endgültig, wenn wir uns an die Meta- oder Vermittlungsdisziplin für andere Sozial-
Bemerkung Helmut Dahmers erinnern, in Otto Feni- wissenschaften auszubauen, während Peter Brückner
chels streng systematischem Lehrbuch der Psycho- (1967, 1970) sie etwa zeitgleich in einem Zirkel von
analytischen Neurosenlehre, dessen allgemeiner Teil eigenem praktisch-politischem Engagement, das er
erst in der amerikanischen Emigration verfaßt gleichsam als action research verstand, und der psy-
wurde, finde sich ein bedeutsamerer politischer Ge- chologisch-psychoanalytischen Reflexion auf dieses
halt als in den Schriften seiner freudo-marxistischen Handeln angesiedelt sah – als eine Art Medium der
Phase, wenn man einmal von seiner Kritik am psy- Selbstverständigung Einzelner oder einer Gruppe, die
choanalytischen Psychologismus absehe. Für Freud sich für die Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse
gilt das natürlich ganz genau so, d. h. gerade der einsetzt. »Politik« bleibt, gerade in der Perspektive
Kernbereich seiner Lehre bietet einer Politischen Psy- einer Politischen Psychologie, auch in der wissen-
chologie ein immer noch unausgeschöpftes Konzept- schaftlichen Betrachtungsweise ein spezifischer Ge-
und Methodenarsenal. Die Möglichkeit seiner ent- genstand. Sie muß sich ihrer wie immer gearteten
sprechenden Verwendung hängt allerdings vom Ver- Verbindung zu Handelnden, Hoffenden und Leiden-
ständnis dessen ab, was Politische Psychologie sei. den sicher sein, was den wissenschaftlichen Betrach-
ter selber einschließt, ohne sich dabei jedoch von den
424 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

sie tragenden wissenschaftlichen Ressourcen abzu- Punkt bestünde dann kein Widerspruch mehr zwi-
schneiden: Natürlich muß der Unterschied zur blo- schen Marx und Freud. Im Eindimensionalen Men-
ßen Meinung und zur politischen Tagesschriftstelle- schen (1964/1967) wird deutlich, in welchem Aus-
rei markierbar bleiben. Das heißt aber auch, daß sie maß für Marcuse in der »fortgeschrittenen Industrie-
im Kontext kritischer, nicht traditioneller Theorie gesellschaft« die Eindimensionalisierung der Gesell-
(Horkheimer 1937) den ihr eigentümlichen Ort findet. schaft, d. h. auch eine bestimmte Form der
Wenn Politische Psychologie kein eigenständiges politischen Verfassung, von psychologischen Fakto-
wissenschaftliches Fach ist, aber auch keine Teil- oder ren abhängig geworden ist. Im übrigen haben wir in
Unterdisziplin eines Faches, etwa der Psychologie, Horkheimers Aufsatz über »Geschichte und Psycho-
der Soziologie oder der Politischen Wissenschaft, auf logie« (1932) das entfaltete Programm einer psycho-
das sie sich als ihr Fundament im Sinne einer ange- analytischen Politischen Psychologie vorliegen.
wandten Wissenschaft beziehen könnte und wenn sie Die gegenwärtige Phase der gesellschaftlichen Ent-
als Sichtweise und Arbeitsrichtung zu betreiben ist, wicklung – wir befinden uns am Vorabend von 1933
so folgt daraus ihre Inter- bzw. Transdisziplinarität – sei dadurch gekennzeichnet, daß »das Handeln nu-
und vielleicht auch die Tatsache, daß sie stärker als merisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch
andere wissenschaftliche Anstrengungen »außerwis- die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewußtsein
senschaftlichen Bestimmungsgründen« (P. Brückner) verfälschende Triebmotorik bestimmt« (ebd., 59) sei,
sowie praktisch-politisch motivierten Erkenntnisin- d. h. es verstoße massiv gegen ihre mittel- und lang-
teressen unterliegt. Zu den genannten Wissenschaf- fristigen Lebensinteressen. Eine Psychologie, die
ten tritt sie als Sichtweise in ein kritisches und/oder diese »irrationalen, zwangsmäßig die Menschen be-
kompensatorisches Verhältnis, um dort, wie Hork- stimmenden Mächte psychologisch« aufdecken
heimer (1932) es genannt hat, »hilfswissenschaftli- wolle, müsse »weitgehend Psychologie des Unbewuß-
che« Funktionen zu übernehmen. Seiner Auffassung ten sein«. Das sei die »durch die gegebenen gesell-
nach könnte sie sogar, einen bestimmten Zustand der schaftlichen Verhältnisse bedingte Gestalt« des poli-
Gesellschaft vorausgesetzt, in dem wesentlich noch tisch-psychologischen Denkens, die allerdings nicht
psychologische Faktoren die Bindung der Menschen unterschiedslos auf alle gesellschaftlichen Schichten
an die politische Form der Herrschaft bestimmen, in gleicher Weise anzuwenden sei. Daraus leitet sich
zur Bezugs- und Leitwissenschaft der kritischen Ge- die Forderung nach einer »differenzierten Gruppen-
sellschaftstheorie werden, so daß gleichsam eine psychologie« anstelle einer »Massenpsychologie« ab.
»Kritik der politischen Psychologie« die »Kritik der Allgemein gilt, daß der Psychologie vornehmlich
politischen Ökonomie« ablöste – eine Änderung des in Gestalt der Psychoanalyse, die Aufgabe zufällt, die
»Rangverhältnisses von Ökonomik und Psychologie psychischen Vermittlungen zwischen der ökonomi-
hinsichtlich der Geschichte« (ebd., 58) eintreten schen und den sonstigen kulturellen, gesellschaftli-
könnte. chen und politischen Entwicklungen aufzudecken.
Einen derartigen Paradigmenwechsel hat Herbert Der Gegenstand der Psychologie ist, wie Horkheimer
Marcuse übrigens in seiner erst spät und nach der es ausdrückt, »in die Geschichte verflochten« (ebd.,
Trennung vom Institut für Sozialforschung einset- 57). In einer derartigen Politischen Psychologie kann
zenden Freud-Rezeption perspektivisch angedeutet. sich, folgen wir noch ein Stück weit dieser Auffas-
In Eros und Kultur bzw. Triebstruktur und Gesellschaft sung, ein emanzipatives Erkenntnisinteresse, das zu-
(1955/1957) versucht er zu zeigen, daß man alle me- mindest ja auch den methodischen Kern der Freud-
tapsychologischen Grundlagen der Psychoanalyse schen Psychoanalyse trägt, letztlich nur durchsetzen,
einschließlich der Todestriebhypothese aufrecht er- wenn sie in eine Gesellschaftstheorie oder Ge-
halten kann, ohne deswegen, wie Freud es tat, ein schichtsauffassung eingespannt ist, zu der sie in ein –
gattungsgeschichtliches Verhängnis annehmen zu nicht zuletzt empirisch – ergänzendes, korrigierendes
müssen, in dessen Verlauf, wie es aus dem Unbehagen oder kompensatorisches, alles in allem kritisches Ver-
in der Kultur (1930, GW XIV) hervorgeht, die Kultur hältnis tritt und wenn sie nach Maßgabe dieses Ver-
an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zugrunde hältnisses auf psychologisch erklärungsbedürftige,
geht. Nach Marcuse gibt es – auf der Grundlage der krisenhafte Entwicklungen der Gesellschaft ihren
Freudschen Theorie selber konzipierbar – ein »Jen- Blick richtet. Darüber hinaus ist sie ein von emanzi-
seits des Realitätsprinzips«, so daß die selbstdestruk- pativen sozialen Bewegungen nur allzuoft – zum ei-
tiven Tendenzen der Menschen wieder in die Bin- genen Schaden – verschmähtes Medium der Selbst-
dung an eine spezifische Gesellschaftsformation zu- reflexion der politisch Handelnden. Sind diese Krite-
rückgeführt werden können. In diesem zentralen rien nicht erfüllt, kann Politische Psychologie als Bin-
Politische Psychologie 425

destrich-Psychologie allenfalls Verfügungswissen haupt. Gleichzeitig ist seine Massenpsychologie je-


bereitstellen, das jedoch jenseits der technisch-in- doch im präzisen Sinne Politische Psychologie, inso-
strumentellen Handlungsdimension keinen Erklä- fern sie autoritätsgeführte Massen analysiert und in
rungswert besitzt. In jedem Fall ist einer psychoana- atemberaubender Weise die psychologischen Mecha-
lytischen Politischen Psychologie ein weiter Begriff nismen bloßlegt, die vor allem in einem der drei sog.
des Politischen und ein umfassendes Verständnis von reinen Typen legitimer Herrschaft, die Max Weber in
Politik zugrunde zu legen. Anderenfalls könnte die seiner Soziologie der Herrschaft unterscheidet, näm-
Psychoanalyse für eine Politische Psychologie nicht lich dem der charismatischen Herrschaft, am Werke
jenes Arsenal an Methoden und Konzepten bieten, sind – atemberaubend deswegen weil mit diesem In-
das sie tatsächlich darstellt. strumentarium aufs genaueste sich die Arbeits- und
Wirkungsweise des faschistischen Demagogen be-
schreiben lassen, der in Deutschland erst Jahre nach
Massenpsychologie
dem Erscheinen von Freuds Schrift auf den Höhe-
Was nun die Wurzeln einer Politischen Psychologie punkt seiner Wirksamkeit gelangte. Das hat Adorno
bei Freud selber angeht, so ist vorab darauf hinzu- in seiner Schrift »Die Freudsche Theorie und die
weisen, daß in seinen Schriften und in seinem Den- Struktur der faschistischen Propaganda« eindringlich
ken die Grenzen zwischen Kulturtheorie, Sozialpsy- dargelegt. Allerdings nimmt er abschließend eine
chologie und Politischer Psychologie unbestimmt Geltungseinschränkung des psychoanalytischen Ana-
sind und, wenn ihre Unterscheidung überhaupt sinn- lysetypus vor, wenn er fragt, »ob der Faschismus als
voll sein sollte, im Geiste des eben skizzierten Ver- Massenphänomen überhaupt psychologisch erklärt
ständnisses von Politischer Psychologie zu ziehen wä- werden kann« (1951, 62) und diese Frage entschie-
ren. So zeigt die hier in besonderer Weise einschlä- den verneint. Diese Geltungseinschränkung bleibt je-
gige Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921, denfalls so lange in Kraft, wie der von Horkheimer
GW XIII) einen Doppelcharakter von Sozialpsycho- ins Auge gefaßte Paradigmenwechsel von einer Kritik
logie und Politischer Psychologie. Freud analysiert der politischen Ökonomie zu einer Kritik der politi-
genau genommen eigentlich gar keine »Massen«, schen Psychologie historisch nicht auf der Tagesord-
wenn ihm die »künstlichen Massen« Kirche und nung steht. Auf der anderen Seite hat Serge Mosco-
Heer vor Augen stehen – jedenfalls nicht im land- vici mit seinem Zeitalter der Massen (1981/1986) en-
läufigen Sinne von Massenpsychologie. Die Massen, gagiert für eine wissenschaftliche Erneuerung der
an die wir denken und die seine Vorgänger analysiert Massenpsychologie plädiert, zu der er mit seiner »lo-
haben – unorganisierte, spontane, panische –, sind gischen Rekonstruktion« der einschlägigen Theorien
Freud zufolge bereits Zerfallsprodukte jener Massen, von Gustave Le Bon, Gabriel Tarde und Sigmund
denen sein Interesse gilt. Sein Blick ist auf den psy- Freud beizutragen hoffte, hatte sich diese doch nach
chologischen Kitt konzentriert, der soziale Gebilde Freud in eine unsystematische Vielfalt wie Klein- und
überhaupt zusammenhält, aber auch die Desintegra- Großgruppenpsychologie, Massenkommunikations-
tions- und Transformationskräfte, die der Psychologe forschung etc. wissenschaftlich aufgelöst. Sein Argu-
beobachten kann. Er findet sie sowohl in den libidi- ment für diese Erneuerung ist, daß die Massenpsy-
nösen Bindungen der Massenmitglieder untereinan- chologie neben der politischen Ökonomie eine der
der als auch in ihren libidinösen Bindungen an eine beiden Humanwissenschaften gewesen sei, deren
Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie (Führer, Ideen Geschichte gemacht hätten, d. h. sie hätten den
Ideen, Symbole etc.), in denen je spezifische und an- Ereignissen unserer Epoche den Stempel aufge-
sonsten sehr differente Formen von Objektbeziehun- drückt, während Soziologie, Anthropologie oder Lin-
gen (Identifizierung, Introjektion eines äußeren Ob- guistik lediglich von der Geschichte gemacht worden
jekts ins Ich bzw. Ich-Ideal) zum Zuge kommen. seien (ebd., 13). Darüber hinaus werden Massenphä-
Insofern ist Freuds Massenpsychologie Sozialpsy- nomene die Zukunft der Menschen bestimmen, wie
chologie oder sogar die psychologische Grundlage aus der globalen Verstädterung, der Migration, der
von Soziologie schlechthin, die darüber hinaus noch Zerstörung traditionaler Lebenszusammenhänge
eine kulturtheoretische Begründung erfährt, wenn und der demographischen Entwicklung hervorgeht.
Freud sagt, daß der Urvater seine Söhne in Gestalt Sie werde allerdings ihren sehr provisorischen wis-
der gegen ihn aufbegehrenden Brüderhorde in die senschaftlichen Charakter nur verändern können,
Massenpsychologie »gezwungen« habe (ebd., 138) – wenn sie ihre Mißachtung ökonomischer und gesell-
nach seiner Auffassung ein zentrales Element des Be- schaftlicher Faktoren aufgeben und die historische
ginns menschlicher Kultur und Gesellschaft über- Spezifität berücksichtigen werde (ebd., 480 ff.)
426 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Antisemitismus und autoritäre ist. Dem in die rassistische Dimension säkularisierten


Persönlichkeit Antisemitismus war dann das berühmte »Psychiatri-
sche Symposion zum Antisemitismus« 1944 in San
Selbst wenn man die Politische Psychologie auf eine Francisco (Simmel 1946/1993) gewidmet. Hieran
besondere Sichtweise beschränkt, die allerdings im nahmen neben Horkheimer auch die Autoren der
Falle der Psychoanalyse nur in einem bestimmten Studie über die Authoritarian Personality teil, und
theoretisch-wissenschaftlichen Kontext, d. h. in ei- hier wurde auch die Frage erörtert, ob der Antisemi-
nem sehr breiten Verwendungszusammenhang, ihr tismus eine Massenneurose oder -psychose sei. Wäh-
tatsächliches Potential entfalten kann, haben sich hi- rend Otto Fenichel die Bezeichnung ›Massenneurose‹
storisch doch so etwas wie fast »natürliche« Gegen- schon wegen der antisozialen Konsequenzen der neu-
stände und Arbeitsfelder einer psychoanalytischen rotischen Erkrankung ablehnt, gelingt es Ernst Sim-
Politischen Psychologie (und selbstverständlich einer mel, die Bezeichnung ›Massenpsychose‹ insofern
analytischen Sozialpsychologie) entwickelt: Soziales plausibel zu machen, als er im Antisemitismus einen
Vorurteil, Antisemitismus, Rassismus, Fremden- psychotischen, v. a. auf primitiven projektiven Me-
feindlichkeit, Autoritarismus u. a. Das sind fast aus- chanismen beruhenden Massenwahn sieht, der dem
nahmslos Arbeitsfelder, die nicht in separaten Ab- einzelnen Antisemiten als sekundären Krankheitsge-
handlungen Freuds wie etwa das Verhalten in und winn gleichsam die normale psychische Funktions-
von Massen in der Massenpsychologie vorgebildet fähigkeit sichere und unter Umständen individuelle
sind. Vielmehr kommen in ihnen zentrale Annah- Erkrankung erspare.
men der Psychoanalyse insgesamt wie Trieb, Abwehr Die vielleicht avancierteste Theorie des Antisemi-
und Widerstand, der Lehre von den Abwehrmecha- tismus, das Kapitel über die »Elemente des Antisemi-
nismen und der dynamischen Betrachtungsweise, die tismus« aus der Dialektik der Aufklärung (1947/
psychische Phänomene als Resultate von Konflikten 1987), ist ohne Freuds Psychoanalyse im wahrsten
und ihrer mißglückenden Bearbeitung sieht, zur An- Sinne des Wortes undenkbar. Die »Elemente« zeigen
wendung (vgl. Krovoza 1996). So konnte insbeson- allerdings in Thesenform nur Umrisse einer derar-
dere mit den Mitteln der Psychoanalyse gezeigt wer- tigen Theorie. Die sechste These, die man als anthro-
den, daß der Antisemitismus kein soziales Vorurteil pologisch-erkenntnistheoretisch bezeichnen könnte,
wie jedes andere ist, sondern tief in der europäisch- kreist um die Begriffe Projektion, falsche bzw. pathi-
christlichen Kultur- und Zivilisationsgeschichte so- sche Projektion und Paranoia. Horkheimer und
wie der ihr entsprechenden psychohistorischen Ent- Adorno gehen davon aus, daß die projektiven Anteile
wicklung und Sozialisationsgeschichte, ja im europä- von Wahrnehmen, Denken und Erkennen, die im
isch-abendländischen Rationalitätstypus schlechthin übrigen jeder Einsicht als Brücke zwischen Eigenem
verankert ist. In diesem Punkt allerdings liegt als und Fremdem, Bekanntem und Unbekanntem vor-
späte Initialanalyse Freuds Mann Moses vor, der die ausgehen, langsam – sowohl phylo- wie ontogene-
tiefe psychische Verankerung eines reinen Mono- tisch – durch die Entwicklung und Stärkung von Ich-
theismus im Judentum darlegt. Unter Aktualisierung Funktionen kontrolliert werden. Antisemitismus als
seines Traumakonzepts, der Annahme unbewußter pathische Projektion ist eine immer gegenwärtige
Erinnerungsspuren, die eine generationenübergrei- Möglichkeit des Denkens, das wie der abendländi-
fende Kommunikation steuern und zu einer wieder- sche Rationalitätstypus zu großen Anteilen in den
holten »Wiederkehr des Verdrängten« führen, zeich- Funktionskreis von Selbsterhaltung und Naturbe-
net Freud den psychohistorischen Weg zur reinen herrschung gebannt bleibt und die an bestimmte Ich-
»Geistigkeit« der jüdischen Religion nach, der gegen- Leistungen gebundene Stufe der Reflexion nicht er-
über einzelne Züge des Christentums als polytheisti- reicht. Vernichtungsantisemitismus steht dann Ende
sche Regression erscheinen müssen. Aus dieser Diffe- eines Denkens, in dem die Projektion nicht durch die
renz speise sich der religiös motivierte Antisemitis- »bewußte Arbeit des Gedankens« (1947/1987, 224)
mus. sublimiert und die »durch Reflexion ungebrochene
Rudolph M. Loewenstein zeigt dann in seiner Psy- Selbstbehauptung« (ebd., 230), die in der instrumen-
choanalyse des Antisemitismus (1952/1967), die übri- tellen Vernunft vorherrscht, nicht transzendiert wird.
gens Adorno in einer Rezension »als eine Art Kom- Die falschen Projektionen schließen sich dann zu ei-
pendium der Forschungen über das Rassevorurteil« ner paranoiden Struktur zusammen, die Ideologie
bezeichnet hat, wie unheilvoll diese Differenz gerade und Gesellschaft beherrscht. So wird gesellschaftliche
deswegen wirken mußte, weil in »Israel und Chri- Destruktivität in großem Maßstab frei. Wie immer
stenheit« ein, wie er es nennt, »Kultur-Paar« zu sehen diskussionsbedürftig diese sechste These der »Ele-
Politische Psychologie 427

mente« sein mag, zeigt sie doch erneut den kaum zu schen Denkens in der Psychoanalyse exklusiv Freud-
unterschätzenden Einfluß der Freudschen Lehre auf scher Provenienz teilt er also mit den Frankfurtern.
die kritische Theorie der Gesellschaft und ihren Bei- Mitscherlichs »klinischer«, individualisierender, ins-
trag zu einer Politischen Psychologie. besondere auf die Pathogenese des »Sozialkörpers«
Als das erfahrungswissenschaftliche Paradigma ei- und des »politischen Körpers« gerichteter Blick un-
ner Politischen Psychologie können im übrigen die terscheidet ihn prinzipiell vom gesellschafts- und –
empirischen Studien des Instituts für Sozialfor- aus einem bestimmten Gesellschaftsverständnis her-
schung gelten, von denen teilweise schon die Rede rührenden – totalitätskritischen Blick der »Frankfur-
war: Autorität und Familie (1936), v. a. wegen des ter«. Das verändert natürlich auch gegenüber diesen
»Sozialpsychologischen Teils« von Erich Fromm der Position und Verwendungsart der über das therapeu-
im Zusammenhang dieser Studie entstandenen, aber tische Handeln hinausgreifenden Psychoanalyse. Für
nicht bzw. nur sehr bruchstückhaft in ihm publizier- Mitscherlich bleibt das Behandlungszimmer, wie er
ten empirischen Studien Fromms (1980), die in der in Die Unfähigkeit zu trauern (1967) hervorhebt, die
vorliegenden Fassung allerdings nicht weit über die Erfahrungsbasis der politisch-psychologischen Ana-
Präsentation des Datenmaterials hinausgekommen lyse. Vornehmlich an Genese und Erscheinungsbild
sind, aber wegen des psychoanalytisch-sozialpsycho- der sozialen Pathologie interessiert, interveniert er
logischen Erhebungsansatzes und als zeitgeschichtli- mit großer öffentlicher Resonanz in die politischen
ches Dokument ihre Bedeutung haben; die Studies in und sozialen Formierungsprozesse der westdeut-
Prejudice (1950) mit dem Zentrum der Authoritarian schen Nachkriegsgesellschaft. Er ist es, der mit dem
Personality (1950/1973), wobei die zeitgleiche Entste- Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963), der Unwirt-
hung der »Elemente« und der empirischen Studien lichkeit unserer Städte (1965), der Unfähigkeit zu
zum Antisemitismus ein Licht auf das für die kriti- trauern (1967, gemeinsam mit Margarete Mitscher-
sche Theorie eigentümliche Verhältnis von Empirie lich) und schließlich dem Kampf um die Erinnerung
und Theorie wirft; und schließlich das Gruppenex- (1975), das allerdings bereits auf eine neue Phase po-
periment (1955) des nach dem Zweiten Weltkrieg litisch-psychologischen Denkens in der Bundesrepu-
nach Frankfurt zurückgekehrten Instituts, das die blik hindeutet, die Stichworte gibt, die im kritischen
Bewußtseins- und Unbewußtseinsverfassung der Selbstverständnis dieser Epoche eine zentrale Rolle
westdeutschen Nachkriegsbevölkerung zu ermitteln spielten.
versuchte. Daß diese Studien in der Nachkriegsent- Ein herausragendes Beispiel politischer Psycholo-
wicklung der akademischen Politischen Psychologie gie ist ohne Zweifel die im Bezugsrahmen von Freuds
nicht als ein derartiges Paradigma wirksam geworden Trauer und Melancholie (1917, GW X, 427–446) er-
sind, hatte Gründe, bleibt aber bedauerlich (dazu folgende Analyse der westdeutschen Nachkriegsent-
und zum Folgenden vgl. Krovoza/Schneider 1988). wicklung: Die Deutschen waren in ihrer Mehrheit
unfähig, Trauerarbeit über die mit NS-Herrschaft
und Krieg verlorenen Objekte zu leisten. Das Risiko
Die Unfähigkeit zu trauern
des Abgleitens dieser Trauer in die Depression (›Me-
Mit Alexander Mitscherlich tritt in den 1950er und lancholie‹) war selbstverständlich gegeben. Aber nur
1960er Jahren eine Gestalt mit einer ganz anderen in einem Prozeß der Trauer hätten die Menschen sich
intellektuellen Physiognomie als Repräsentant einer von diesen Objekten trennen können, um dann
politischen Psychologie hervor. Von den nach psychisch in der Lage zu sein, die Schuld für die tat-
Deutschland zurückgekehrten Vertretern der Frank- sächlichen Opfer des Gewaltexzesses anzuerkennen.
furter Schule, mit denen er gerne in einem Atemzug Das depressive Risiko wurde mit einer manischen
genannt wird und mit denen er in der Tat wissen- materiellen Wiederaufbauleistung überspielt, die al-
schaftlich und wissenschaftspolitisch eng koope- lerdings psychodynamisch zu einer Wahrnehmungs-,
rierte, unterscheidet ihn Prinzipielles. Aus der psy- Reflexions- und Handlungseinschränkung auf so gut
chosomatischen Medizin Viktor von Weizsäckerscher wie allen anderen gesellschaftlichen Lebensgebieten
Prägung herstammend und von einer zunächst an- führte, so daß die westdeutsche Nachkriegsrestaura-
thropologisch verstandenen synkretistischen Psycho- tion, Ergebnis von Immobilismus und Einschrän-
analyse ausgehend, sollte er zum Protagonisten der kung, als Symptom einer psychosozialen Pathologie
Rückholung der Freudschen Psychoanalyse, wie sie erscheinen konnte. Das konvergiert im übrigen mit
sich v. a. im angelsächsischen Bereich entwickelt Ergebnissen des bereits erwähnten Gruppenexperi-
hatte, nach Deutschland werden. Die Grundlage des ments: Adorno hatte seiner qualitativen Auswertung
politisch-psychologischen wie des sozialpsychologi- von Materialien aus der Erhebung den Titel »Schuld
428 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

und Abwehr« gegeben. Der Interpretationshorizont sachten Phänomen der Kriegsneurosen des Ersten
für eine psychoanalytisch-traumatheoretische Ana- Weltkriegs wurde das Traumakonzept klinisch wieder
lyse derselben Symptomatik sollte sich erst etwas spä- aktuell und mit der Entdeckung eines Wiederho-
ter eröffnen. lungszwanges, der in der endlosen Wiederholung
psychisch traumatisierender Einbrüche der äußeren
Realität bestehen konnte und einen nicht auf die
Aggression und Trauma
konflikthafte Dynamik in der Lust/Unlust-Dimen-
Auf zwei ihrer ›natürlichen‹ Gegenständen muß eine sion reduzierbaren Faktor darzustellen schien und
psychoanalytische Politische Psychologie zukünftig zur Annahme eines Jenseits des Lustprinzips (1920)
ihre Aufmerksamkeit konzentrieren, die Martin zwang, wurde das Trauma auch metapsychologisch
Wangh in seinem »Psychoanalytischen Selbstbild« reflektiert. Freud selber hat es in Der Mann Moses
von 1995 folgendermaßen markiert: »Zu zwei The- (1939) zur Erklärung der jüdischen Religionsent-
men sollte die heutige Psychoanalyse nach meiner wicklung herangezogen. Die therapeutische und gut-
Ansicht ihren wissenschaftlichen und gesellschaftli- achterliche Beschäftigung mit den Überlebenden des
chen Beitrag leisten: erstens zur […] Erforschung der Holocaust führte dann zu beträchtlichen Erweiterun-
Entstehung und Fortdauer von Vorurteilen, zweitens gen des Trauma-Begriffs in Richtung auf ›kumula-
zur Erforschung der Ursachen menschlicher Aggres- tives Trauma‹, ›Extremtraumatisierung‹ etc. Eine
sion. Obgleich der ›Kalte Krieg‹ zu Ende ist, ist die wichtige Entdeckung in diesem Zusammenhang, die
Menschheit noch immer durch atomare Selbstzerstö- auch für eine Politische Psychologie von größtem In-
rung bedroht. […] Da der Geist, der die totale Selbst- teresse ist, war der intergenerationelle Transfer des
zerstörung der Menschen bewerkstelligen kann, mitt- Traumas in Familien von Überlebenden. Die Pionier-
lerweile aus der Flasche heraus ist, ist wohl auch der arbeit auf diesem Gebiet stammte von einer langjäh-
Impuls, ihn zu beschwören (das heißt, Thanatos die rigen New Yorker ›Group for the Psychoanalytic
Oberhand über Eros gewinnen zu lassen) heute all- Study of the Effect of the Holocaust on the Second
gegenwärtig, und deshalb hat kaum etwas unsere Generation‹ (vgl. Bergmann u. a. 1995).
Aufmerksamkeit dringenden verdient als dieses Dies alles zusammengenommen führte zu ganz
Thema« (Wangh 1995, 405 f.). neuen psychoanalytischen Einsichten in die Natur
Mit einer leichten thematischen Parameterver- des psychischen Traumas (vgl. Bohleber 2000), das
schiebung bleibt diese Schwerpunktsetzung gültig: eine Politische Psychologie sich zunehmend zunutze
Zur fortbestehenden atomaren Bedrohung kommen machen wird, fokussieren sie doch konzeptuell wie
regionale und sog. ›vergessene‹ Kriege, die oft mit behandlungspraktisch eine traumatisierende poli-
genozidalen Prozessen verbunden sind, sowie die tisch-gesellschaftliche Realität, wie wir sie in Kriegen,
globale terroristische Destruktivität. Und es geht genozidalen Prozessen, Diktaturen und Gewaltherr-
nicht nur um die »Fortdauer von Vorurteilen« – wo- schaften antreffen. Im übrigen hatte Ilse Grubrich-
bei der Begriff ›Vorurteil‹ für sich genommen immer Simitis, die auch einen Beitrag zur deutschen Fas-
etwas verharmlosendes und angesichts der mögli- sung des Berichts der eben erwähnten Study Group
chen destruktiven Konsequenzen beschwichtigendes beigesteuert hatte, in einer Abhandlung bereits 1987
hat –, sondern um ihren, ihre Gefährlichkeit stei- gezeigt, daß Trauma-Modell und Trieb-Modell neu-
gernden aktuellen Gestaltwandel: Fremdenfeindlich- rosentheoretisch und metapsychologisch durchaus
keit, Rassismus, Nationalismus, Ethnisierung politi- integrierbar sind und sich weniger konflikthaft zu-
scher und sozialer Konflikte, Fundamentalismus. einander verhalten, als Freud vielleicht angenommen
Gerade im Hinblick auf diese Aufgabenstellung ist hat. Politische Psychologen haben sich dieses erwei-
die Aktualisierung und Rehabilitierung des psycho- terte psychoanalytische Traumakonzept bereits zu-
analytischen Traumakonzepts von besonderer Be- nutze gemacht, so etwa Vamik D. Volkan für das Ver-
deutung. Freud hatte mit der Entwicklung seiner ständnis bewaffneter Konflikte und der praktischen
Lehre vom voranalytischen Stadium zur eigentlichen Beratungstätigkeit in Friedensverhandlungen (vgl.
Psychoanalyse, die mit der Traumdeutung (1900) Volkan 2000).
vollzogen wird, das Traumakonzept, das noch die Angesichts einer derart weit ins Praktische gehen-
Studien über Hysterie (1895) bestimmt hatte, zwar den psychoanalytischen Politischen Psychologie sei
nicht aufgegeben. Es war aber zugunsten des Trieb- abschließend noch einmal an Horkheimers Positi-
konzepts und damit der psychischen Realität, der onsbestimmung der Psychoanalyse im Bezugsrah-
Phantasietätigkeit und des inneren Konflikts in den men einer kritischen Theorie der Gesellschaft erin-
Hintergrund getreten. Mit dem traumatisch verur- nert, die weder mit dem Wandel dieser Theorie noch
Politische Psychologie 429

mit ihrem Zerfall als eine regulative Idee preisgege- Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Bearbeitet von Fried-
rich Pollock. Frankfurt a. M. 1955.
ben werden muß, nämlich die Position der Kritik. Horkheimer, Max: Geschichte und Psychologie [1932]. In: GS
Mit dem Wandel der kritischen Theorie insbesondere 3. Hg. von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, 48–69.
in der Folge der Dialektik der Aufklärung (1947) und –: Traditionelle und kritische Theorie [1937]. In: GS 4. Hg.
der Aufgabe des Projekts eines ›interdisziplinären von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, 162–216.
– /Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophi-
Materialismus‹ bleibt die Psychoanalyse für Adorno sche Fragmente [1947]. In: M. Horkheimer GS 5. Hg. von
als eine negative Theorie hochbedeutsam (vgl. Kro- Gunzelin Schmid-Noerr. Frankfurt a. M. 1987, 12–290.
voza 2003, 928). Und die epistemische Konvergenz – /Samuel H. Flowerman: Studies in Prejudice. New York
beispielsweise von Geschichtswissenschaft und Psy- 1949/50.
Horn, Klaus: Sozialpsychologie versus politische Psychologie
choanalyse angesichts des Holocaust wird ebenfalls [1975]. In: Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts I:
von jener regulativen Idee gespeist: Beide haben die Politische Psychologie. Hg. von Hans-Joachim Busch. Frank-
Aufgabe, das Ungetane der Vergangenheit zu befreien furt a. M. 1989, 89–105.
und ihre nicht eingelösten Versprechen wieder zu be- Krovoza, Alfred/Christian Schneider: Politische Psychologie in
der Bundesrepublik. Positionen und methodische Pro-
leben. Dieser Weg führt, wie Paul Ricœur es formu- bleme. In: H. König (Hg.): Politische Psychologie heute. Op-
liert, zu einer »Geschichtsschreibung der Opfer« (zit. laden 1988, 13–35.
nach ebd., 931) und – zu einer Heilung des Traumas. Krovoza, Alfred: Politische Psychologie. Ein Arbeitsfeld der Psy-
So wird die Psychoanalyse auch in Gestalt einer Poli- choanalyse. Stuttgart 1996.
–: Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft. Anmerkungen
tischen Psychologie ab und an und weit entfernt von zu Stationen eines Projekts. In: Psyche 57 (2003), 904–937.
normalwissenschaftlicher Konstanz die Position der Loewenstein, Rudolph M.: Psychoanalyse des Antisemitismus.
Kritik einnehmen. Frankfurt a. M. 1967 (frz. 1952).
Marcuse, Herbert: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag
zu Sigmund Freud. Stuttgart 1957 (engl. 1955, seit 1965 in
Literatur Frankfurt a. M. unter dem Titel Triebstruktur und Gesell-
Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter.
schaft).
Frankfurt a. M. 1973 (engl. 1950, in den GS in der engl.
–: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fort-
Originalfassung).
geschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied/Berlin 1967
–: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen
(engl. 1964).
Propaganda. In: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft.
Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesell-
Frankfurt a. M. 1971, 34–66 (dt. Übersetzung der engl. Ori-
schaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963.
ginalfassung von 1951, die sich auch in den GS findet).
–: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt a. M. 1965.
Bergmann, Martin S. u. a.: Kinder der Täter - Kinder der Opfer.
–: Der Kampf um die Erinnerung. Psychoanalyse für fortge-
Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M. 1995 (engl.
schrittene Anfänger. München 1975.
1982).
– /Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grund-
Bernstein, Richard J.: Freud und das Vermächtnis des Moses.
lagen kollektiven Verhaltens. München 1967.
Berlin/Wien 2003 (engl. 1998).
Moscovici, Serge: Das Zeitalter der Massen. Eine historische Ab-
Bohleber, Werner: Die Entwicklung der Traumatheorie in der
handlung zur Massenpsychologie. Frankfurt a. M. 1986 (frz.
Psychoanalyse. In: Psyche 54 (2000), 797–839.
1981).
Brückner, Peter: Die Transformation des demokratischen Be-
Simmel, Ernst (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a. M. 1993
wußtseins. In: Johannes Agnoli/ Peter Brückner: Die Trans-
(engl. 1946).
formation der Demokratie. Berlin 1967, 89–194.
Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem
–: Provokation als organisierte Selbstfreigabe. In: Hermann
Institut für Sozialforschung. Paris 1936.
Giesecke u. a.: Politische Aktion und politisches Lernen. Mün-
Volkan, Vamik D.: Großgruppenidentität und auserwähltes
chen 1970, 175–235.
Trauma. In: Psyche 54 (2000), 931–953.
Brunner, José: Psyche und Macht. Freud politisch lesen. Stutt-
Wangh, Martin: Ein psychoanalytisches Selbstbild. In: Ludger
gart 2001 (engl. 1995).
M. Hermanns (Hg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen.
Fromm, Erich: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Drit-
Bd. 3. Tübingen 1995, 331–418.
ten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Hg. von
W. Bonß. Stuttgart 1980. Alfred Krovoza
Grubrich-Simitis, Ilse: Trauma oder Trieb – Trieb und Trauma.
Lektionen aus Sigmund Freuds phylogenetischer Phantasie
von 1915. In: Psyche 41 (1987), 992–1023.
431

V. Anhang
1. Zeittafel

1856 6. Mai Geburt von Sigismund Schlomo 1902 Ernennung zum außerordentlichen Titu-
Freud in Freiberg (heute Příbor) in Mäh- lar-Professor. Erste Schüler (Alfred Adler,
ren. Eltern: Kallamon Jacob Freud und Max Kahane, Rudolf Reitler, Wilhelm Ste-
Amalia, geb. Nathanson kel) und Beginn der Mittwoch-Gesell-
1859/60 Umzug der Familie erst nach Leipzig, schaft (ab 1908: Wiener Psychoanalytische
dann nach Wien Vereinigung)
1865 Eintritt ins Gymnasium 1904 Ende der Beziehung zu Fließ
1873 Schulabschluß, Beginn des Medizinstu- 1905 Der Witz und seine Beziehung zum Unbe-
diums wußten, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
1876 Zwei Studienreisen nach Triest. Eintritt ins 1906 Beginn der Briefwechsels mit C. G. Jung
Labor Ernst Brückes 1907 Karl Abraham und Max Eitingon schlie-
1878 Beginn der Freundschaft mit Josef Breuer ßen sich dem Kreis um Freud an, Freund-
1879/80 Einjähriger Militärdienst schaft mit Ludwig Binswanger
1881 Abschluß des Studiums mit Promotion 1908 Beginn der Zusammenarbeit mit Sándor
1882 Freud verlobt sich mit Martha Bernays Ferenczi, erste Begegnung mit Ernest
1883 Tätigkeit am Wiener Allgemeinen Kran- Jones. Die »kulturelle« Sexualmoral und die
kenhaus moderne Nervosität
1884 Experimente mit Kokain 1909 Vortragsreise in die Vereinigten Staaten
1885 Ernennung zum Privatdozenten 1910 Psychoanalytischer Kongreß in Nürnberg,
1885/86 Studienaufenthalt in Paris an Charcots Gründung der Internationalen Psychoana-
Salpêtrière lytischen Vereinigung. Eine Kindheitserin-
1886 Eröffnung einer Privatpraxis. Heirat mit nerung des Leonardo da Vinci
Martha 1911 Beginn der Freundschaft mit Lou An-
1887 Geburt der Tochter Mathilde. Erster Kon- dreas-Salomé. Bruch mit Adler.
takt mit Wilhelm Fließ 1912 Wachsende Spannungen mit Jung. Grün-
1889 Geburt des Sohnes Jean-Martin. Besuch dung des »geheimen Komitees«
von Hippolyte Bernheim in Nancy 1912/13 Totem und Tabu. Bruch mit Jung
1891 Zur Auffassung der Aphasien 1914 Zur Geschichte der psychoanalytischen Be-
1892 Geburt des Sohnes Oliver. Bezug der wegung, Zur Einführung des Narzißmus,
Wohnung in der Berggasse 19 Der Moses des Michelangelo
1893 Geburt des Sohnes Ernst. Enge Zusam- 1915 Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Abhand-
menarbeit mit Breuer lungen zur Metapsychologie
1894 Geburt der Tochter Sophie 1916/17 Vorlesungen zur Einführung in die Psycho-
1895 Geburt der Tochter Anna. Studien über analyse
Hysterie (gemeinsam mit Breuer), Entwurf 1918 Psychoanalytischer Kongreß in Budapest
einer Psychologie und Erfolge bei der Behandlung der
1896 Tod des Vaters. Sexuelle Traumatheorie »Kriegsneurosen«
(Verführungstheorie) 1920 Tod von Freuds Tochter Sophie. Eröffnung
1897 Aufgabe der Verführungstheorie des Berliner Psychoanalytischen Instituts
1899 Die Traumdeutung, im Titelblatt vordatiert mit Poliklinik. Gründung des Internatio-
auf 1900 nalen Psychoanalytischen Verlags. Jenseits
1901 Zur Psychopathologie des Alltagslebens des Lustprinzips
432 Anhang

1921 Massenpsychologie und Ich-Analyse 1939 Gründung der Imago Publishing Com-
1923 Krebsdiagnose. Das Ich und das Es pany, in der ab 1940 Freuds Gesammelte
1925 Konflikt mit Otto Rank. Tod von Breuer Werke erscheinen. Der Mann Moses und
und Abraham. »Selbstdarstellung« die monotheistische Religion. Am 23.9. Tod
1926 Hemmung, Symptom und Angst, Die Frage Freuds
der Laienanalyse 1950 Aus den Anfängen der Psychoanalyse
1927 Die Zukunft einer Illusion 1951 Tod von Martha Freud
1930 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt a. M. 1953 Der erste Band der Freud-Biographie von
Tod der Mutter. Das Unbehagen in der Ernest Jones. Beginn der englischen
Kultur Freud-Ausgabe, der Standard Edition of
1932 Briefwechsel mit Albert Einstein über das the Complete Psychological Works of Sig-
Thema Warum Krieg? mund Freud
1933 Im Mai in Deutschland Verbrennung der 1960 Der Frankfurter S. Fischer Verlag erwirbt
Bücher Freuds und anderer jüdischer und von Imago Publishing die Rechte an
linker Autoren durch die Nazis. Tod von Freuds Werk
Ferenczi. Neue Folge der Vorlesungen zur 1969 Beginn der von Alexander Mitscherlich,
Einführung in die Psychoanalyse Angela Richards und James Strachey her-
1936 80. Geburtstag, zu dem Thomas Mann in ausgegebenen Studienausgabe des Freud-
privatem Kreis den Festvortrag hält schen Werkes
1938 Im März »Anschluß« Österreichs an Nazi- 1982 Tod von Anna Freud
deutschland. Im Juni Abreise Freuds und 1987 Erscheinen des Nachtragsbandes zu den
seiner Familie ins Londoner Exil Gesammelten Werken. Freud-Biographie
von Peter Gay
433

2. Siglen und Abkürzungen

GW (mit römischer Bandnummer) = Sigmund F/B = Sigmund Freud und Ludwig Binswanger:
Freud: Gesammelte Werke Bd. I-XVIII. Unter Mit- Briefwechsel 1908–1938. Hg. von Gerhard Ficht-
wirkung von Marie Bonaparte hg. von Anna ner. Frankfurt a. M. 1992.
Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris F/E = Sigmund Freud und Max Eitingon: Briefwech-
und Otto Isakower. London/Frankfurt a. M. sel 1906–1939. Hg. von Michael Schröter. Tübin-
1940ff. gen 2004.
Nachtr. = Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Nach- F/Fer = Sigmund Freud und Sándor Ferenczi: Brief-
tragsband. Hg. von Angela Richards unter Mitwir- wechsel. Hg. von Eva Brabant, Ernst Falzeder und
kung von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. Patrizia Giampieri-Deutsch unter der wissensch.
1987. Leitung von André Haynal. Wien/Köln/Weimar
1993ff.
B = Sigmund Freud: Briefe 1873–1939. Hg. von Ernst F/G = Sigmund Freud und Georg Groddeck: Briefe
und Lucie Freud. Frankfurt a. M. 1980. über das Es. Hg. von Margaretha Honegger. Mün-
F = Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ chen 1974.
1887–1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. F/J = Sigmund Freud und C. G. Jung: Briefwechsel.
Bearb. der deutschen Fassung von Michael Schrö- Hg. von William McGuire und Wolfgang Sauer-
ter. Frankfurt a. M. 1986. länder. Frankfurt a. M. 1974.
S = Sigmund Freud: Jugendbriefe an Eduard Silber- F/P = Sigmund Freud und Oskar Pfister: Briefe
stein 1871–1881. Hg. von Walter Boehlich. Frank- 1909–1939. Hg. von Ernst L. Freud und Heinrich
furt a. M. 1989. Meng. Frankfurt a. M. 1980.
C = The Complete Correspondence of Sigmund Gay = Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere
Freud and Ernest Jones 1908–1939. Hg. von R. An- Zeit. Frankfurt a. M. 1989.
drew Paskauskas. Cambridge/London 1993. Jones I-III = Ernest Jones: Das Leben und Werk von
F/A = Sigmund Freud und Karl Abraham: Briefe Sigmund Freud, Bd. I-III. Bern/Stuttgart/Wien
1907–1926. Hg. von Hilda C. Abraham und Ernst 1960–1962.
L. Freud. Frankfurt a. M. 1980.
F/AS = Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé:
Briefwechsel. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt
a. M. 1980.
434

3. Freuds Schriften chronologisch nach den


Gesammelten Werken (GW + Nachtragsband)

GW I (1892–1899) GW V (1904–1905)
Ein Fall von hypnotischer Heilung, nebst Bemerkun- Die Freudsche psychoanalytische Methode (1904),
gen über die Entstehung hysterischer Symptome 1–10
durch den »Gegenwillen« (1892/1893), 1–17 Über Psychotherapie (19o5), 11–26
Charcot (1893), 19–35 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905),
Quelques considérations pour une étude compara- 27–145
tive des paralusies motrices organiques et hystéri- Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der
ques (1893), 37–55 Ätiologie der Neurosen (1905), 147–159
Die Abwehr-Neuropsychosen (1894), 57–74 Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905), 161–286
Studien über Hysterie (1895), 75–312 Psychische Behandlung (Seelenbehandlung) (1905),
Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen 287–315
bestimmten Symptomenkomplex als »Angst-Neu-
rose« abzutrennen (1895), 313–342 GW VI (1905)
Obsessions et phobies. Leur mécanisme psychique et Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten
leur étiologie (1895), 343–353 (1905), 1–269
Zur Kritik der »Angstneurose« (1895), 355–376
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsy- GW VII (1906–1909)
chosen (1896), 377–403 Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse (1906),
L’hérédité et l’étiologie des névroses (1896), 1–15
405–422 Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (1907), 17–27
Zur Ätiologie der Hysterie (1896), 423–459 Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«
Inhaltsangaben der wissenschaftlichen Arbeiten des (1907), 29–125
Privatdocenten Dr. Sigm. Freud 1877–1897 (1897), Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907),
461–488 127–139
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen (1898), Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Ner-
489–516 vosität (1908), 141–167
Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit Über infantile Sexualtheorien (1908), 169–188
(1898), 517–527 Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bise-
Über Deckerinnerungen (1899), 529–554 xualität (1908), 189–199
Zusatz zum VII. Bande: Vorwort zur ersten Auflage Charakter und Analerotik (1908), 201–209
der »Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen- Der Dichter und das Phantasieren (1908), 211–223
lehre aus den Jahren 1893–1906« (1906), 555–558 Der Familienroman der Neurotiker (1909), 225–
Zusatz zum XIV. Bande: Einige Nachträge zum Gan- 231
zen der Traumdeutung (1925), 559–573 Allgemeines über den hysterischen Anfall (1909),
233–240
GW II/III (1900–1901) Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben
Die Traumdeutung (1900), V-XV, 1–642 (1909), 241–377
Über den Traum (1901), 643–700 Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose
(1909), 379–463
GW IV (1901) Vorwort zu »Nervöse Angstzustände und ihre Be-
Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901), handlung« von Dr. Wilhelm Stekel (1908), 467–
1–310 468
Freuds Schriften chronologisch nach den Gesammelten Werken 435

Vorwort zu »Lélekelemzés, értekezések a pszichoana- GW X (1913–1917)


lizis köréböl, irta Dr. Ferenczi Sándor« (1910), Märchenstoffe in Träumen (1913), 1–9
469 Ein Traum als Beweismittel (1913), 11–22
Das Motiv der Kästchenwahl (1913), 23–37
GW VIII (1909–1913) Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Pra-
Über Psychoanalyse (1910), 1–60 xis (1913), 39–42
Zur Einleitung der Selbstmord-Diskussion. Schluß- Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
wort (1910), 61–64 (1914), 43–113
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens: Über Fausse Reconnaissance (»Déjà raconté) wäh-
I Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim rend der psychoanalytischen Arbeit (1914),
Manne (1910) 115–123
II Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebesle- Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914),
bens (1912), 65–91 125–136
Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Zur Einführung des Narzißmus (1914), 137–170
Auffassung (1910), 93–102 Der Moses des Michelangelo (1914), 171–201
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Zur Psychologie des Gymnasiasten (1914), 203–207
Therapie (1911), 103–115 Triebe und Triebschicksale (1915), 209–232
Über »wilde« Psychoanalyse (1910), 117–125 Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie wi-
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci dersprechenden Falles von Paranoia (1915),
(1910), 127–211 233–246
Über den Gegensinn der Urworte (1910), 213–221 Die Verdrängung (1915), 247–261
Brief an Dr. Friedrich S. Krauss über die »Anthropo- Das Unbewußte (1915), 263–303
phyteia« (1910), 223–225 Bemerkungen über die Übertragungsliebe (1915),
Beispiele des Verrats pathogener Phantasien bei Neu- 305–321
rotikern (1911), 227–228 Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), 323–355
Formulierungen über die zwei Prinzipien des psy- Vergänglichkeit (1916), 357–361
chischen Geschehens (1911), 229–238 Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen
Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobio- Arbeit (1916), 363–391
graphisch beschriebenen Fall von Paranoia (De- Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem
mentia Paranoides) (1911), 239–320 Symptom (1916), 393–395
Über neurotische Erkrankungstypen (1912), Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangs-
321–330 vorstellung (1916), 397–400
Zur Einleitung der Onanie-Diskussion. Schlußwort Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analero-
(1912), 331–345 tik (1916), 401–410
Die Bedeutung der Vokalfolge (1912), 347–348 Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre
Die Handhabung der Traumdeutung in der Psycho- (1916), 411–426
analyse (1912), 349–357 Trauer und Melancholie (1916), 427–446
»Groß ist die Diana der Epheser« (1912), 359–361 Geleitwort zu »Die psychoanalytische Methode« von
Zur Dynamik der Übertragung (1912), 363–374 Dr. Oskar Pfister (1913), 448–450
Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Vorwort zu »Die psychischen Störungen der männ-
Behandlung (1912), 375–387 lichen Potenz« von Dr. Maxim. Steiner (1913),
Das Interesse an der Psychoanalyse (1913), 389–420 451–452
Zwei Kinderlügen (1913), 421–427 Geleitwort zu »Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben
Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewuß- und Gewohnheitsrecht der Völker« von John
ten in der Psychoanalyse (1913), 429–439 Gregory Bourke (1913), 453–455
Die Disposition zur Zwangsneurose (1913), Brief an Frau Dr. Hermine von Hug-Hellmuth
441–452 (1915/1919), 456
Zur Einleitung der Behandlung (1913), 453–478
GW XI (1916–1917)
GW IX (1912–1913) Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Totem und Tabu (1912–1913), 1–194 (1916–1917), 1–482
436 Anhang

GW XII (1917–1920) Kurzer Abriß der Psychoanalyse (1924), 403–427


Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), 1–12 Nachschrift zur Analyse des kleinen Hans (1922),
Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahr- 429–432
heit« (1917), 13–26 Dr. Anton v. Freund (1920), 435–436
Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918), Preface to »Addresses on Psycho-Analysis« by J. J.
27–157 Putnam (1921), 437–438
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens: III Das Geleitwort zu J. Varendonck »Über das vorbewußte
Tabu der Virginität (1918), 159–180 phantasierende Denken« (1921), 439–440
Wege der psychoanalytischen Therapie (1919), 181– Vorwort zu Max Eitingon »Bericht über die Berliner
194 psychoanalytische Poliklinik« (1923), 441
»Ein Kind wird geschlagen«. Beitrag zur Kenntnis der Brief an Luis Lopez-Ballesteros y de Torres (1923),
Entstehung sexueller Perversionen (1919), 442
195–226 Dr. Ferenczi Sándor (Zum 50. Geburtstag) (1923),
Das Unheimliche (1919), 227–268 443–445
Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Zuschrift an die Zeitschrift »Le Disque Vert« (1924),
Homosexualität (1920), 269–302 446
Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes
(1920), 303–306 GW XIV (1925–1931)
Zur Vorgeschichte der analytischen Technik (1920), Notiz über den »Wunderblock« (1925), 1–8
307–312 Die Verneinung (1925), 9–15
James J. Putnam † (1919), 315 Einige psychische Folgen des anatomischen Ge-
Victor Tausk † (1919), 316–318 schlechtsunterschieds (1925), 17–30
Einleitung zu »Zur Psychoanalyse der Kriegsneuro- »Selbstdarstellung« (1925), 31–96
sen« (1919), 321–324 Die Widerstände gegen die Psychoanalyse (1925),
Vorrede zu »Probleme der Religionspsychologie« von 97–110
Dr. Theodor Reik (1919), 325–329 Hemmung, Symptom und Angst (1926), 111–205
Internationaler Psychoanalytischer Verlag und Preis- Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit ei-
zuteilungen für psychoanalytische Arbeiten nem Unparteiischen (1926), 207–286
(1919), 331–336 Nachwort zur »Frage der Laienanalyse« (1927), 287–
296
GW XIII (1920–1924) Psycho-Analysis (1926), 297–307
Jenseits des Lustprinzips (1920), 1–69 Fetischismus (1927), 309–317
Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), 71–161 Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelan-
Traum und Telepathie (1922), 163-191 gelo (1927), 319–322
Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Die Zukunft einer Illusion (1927), 323–380
Paranoia und Homosexualität (1922), 193–207 Der Humor (1928), 381–389
»Psychoanalyse« und »Libidotheorie« (1923), 209– Ein religiöses Erlebnis (1928), 391–396
233 Dostojewski und die Vatertötung (1928), 397–418
Das Ich und das Es (1923), 235–289 Das Unbehagen in der Kultur (1930), 419–506
Die infantile Genitalorganisation (1923), 291–298 Über libidinöse Typen (1931), 507–513
Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traum- Über die weibliche Sexualität (1931), 515–537
deutung (1923), 299–314 Das Fakultätsgutachten im Prozeß Halsmann (1931),
Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert 539–542
(1923), 315–353 Goethe-Preis 1930 (1930), 543–550
Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes An Romain Rolland (1926), 553
(1923), 355–359 Ernest Jones zum 50. Geburtstag (1929), 554–555«
Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose Brief an den Herausgeber der »Jüdischen Presszen-
(1924), 361–368 trale Zürich« (1925), 556
Das ökonomische Problem des Masochismus (1924), To the Opening of the Hebrew University (1925),
369–383 556–557
Neurose und Psychose (1924), 385–391 Brief an Maxim Leroy über einen Traum des Carte-
Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924), 393– sius (1929), 558–560
402 Brief an den Bürgermeister der Stadt Přı́bor (1931),
561
Freuds Schriften chronologisch nach den Gesammelten Werken 437

Josef Breuer † (1925), 562–563 Eine erfüllte Traumahnung (1899/1941), 19–23


Karl Abraham † (1926), 564 Psychoanalyse und Telepathie (1921/1941), 25-44
Geleitwort zu »Verwahrloste Jugend« von August Das Medusenhaupt (1922/1940), 45–48
Aichhorn (1925), 565–567 Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith
Bemerkung zu E. Pickworth Farrow’s »Eine Kind- (1926), 49–53
heitserinnerung aus dem 6. Lebensmonat« (1926), Die Ichspaltung im Abwehrvorgang (1938/1940),
568 57–62
Vorrede zur hebräischen Ausgabe von »Totem und Abriß der Psychoanalyse (1938/1940), 63–138
Tabu« (1934), 569 Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis
Geleitwort zu »The Medical Review of Reviews«, Vol. (1938/1940), 139–147
XXXVI (1930), 570–571 Ergebnisse, Ideen, Probleme (1938/1941), 149–152
Vorwort zu »Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches
Institut« (1930), 572 GW Nachtr. (Texte aus den Jahren 1885–1938)
Geleitwort zu »Elementi di Psicoanalisi« von Bericht über meine mit Universitäts-Jubiläums-Rei-
Edoardo Weiss (1931), 573 sestipendium unternommene Studienreise nach
Paris und Berlin Oktober 1885-Ende März 1886
GW XV (1933) (1886/1960), 31–44
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Anhang: Habilitationsgesuch, Curriculum vitae,
Psychoanalyse (1933), 1–197 Lehrplan, Reisestipendiumsgesuch (1885/1960),
45–50
Vorwort des Übersetzers von J. M. Charcot, Leçons
GW XVI (1932–1939) sur les maladies du système nerveux, faites à la Sal-
Zur Gewinnung des Feuers (1932), 1–9 pêtrière (1886), 50–53
Warum Krieg? (1933), 11–27 Beobachtung einer hochgradigen Hemianästhesie bei
Nachschrift 1935 zur »Selbstdarstellung« (1935), einem hysterischen Manne (1886), 54–64
29–34 Referat über Averbeck, Die akute Neurasthenie, Berlin
Die Feinheit einer Fehlhandlung (1936), 35–39 1886 (1887), 65–66
Konstruktionen in der Analyse (1937), 41–56 Referat über Weir Mitchell, Die Behandlung gewisser
Die endliche und die unendliche Analyse (1937), Formen von Neurasthenie und Hysterie, Berlin 1887
57–99 (1887), 67–68
Der Mann Moses und die monotheistische Religion Hysterie (1888), 69–90
(1939), 101–246 Hysteroepilepsie (1888), 91–92
Thomas Mann zum 60. Geburtstag (1935), 249 Referat über Berkhan, ›Versuche, die Taubstummheit
Brief an Romain Rolland (Eine Erinnerungsstörung zu bessern und die Erfolge dieser Versuche‹ (1887),
auf der Akropolis) (1936), 250–257 103–104
Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus (1932), Referat über Obersteiner, Der Hypnotismus mit be-
261–266 sonderer Berücksichtigung seiner klinischen und fo-
Sándor Ferenczi † (1933), 267–269 rensischen Bedeutung, Wien 1887 (1888), 105–106
Lou Andreas-Salomé † (1937), 270 Vorrede des Übersetzers zu H. Bernheim, Die Sugge-
Geleitwort zu »Allgemeine Neurosenlehre auf psy- stion und ihre Heilwirkung, 1888 (1888/1889),
choanalytischer Grundlage« von Hermann Nun- 107–120
berg (1932), 273 Vorwort zur zweiten Auflage (1896), 121–122
Vorrede zur hebräischen Ausgabe der »Vorlesungen Rezension von Auguste Forel, Der Hypnotismus,
zur Einführung in die Psychoanalyse« (1934), Stuttgart 1889 (1889), 123–139
274–275 Hypnose (1891), 140–150
Vorwort zu »Edgar Poe, étude psychanalytique« par Vorwort und Anmerkungen zur Übersetzung von
Marie Bonaparte (1933), 276 J. M. Charcot, Leçon du mardi á la Salpêtrière
(1887–8) (1892–1894), 151–164
GW XVII (Schriften aus dem Nachlaß 1892–1938) Bericht über einen Vortrag ›Über Hypnose und Sug-
Brief an Josef Breuer (1892/1941), 3–6 gestion‹ (1892), 165–178
Zur Theorie des hysterischen Anfalles (gemeinsam [Vortrag:] Über den psychischen Mechanismus hy-
mit Josef Breuer) (1892/1940), 7–13 sterischer Phänomene (1893), 181–195
Notiz »III« (1892/1941), 15–18 Die Beiträge Josef Breuers zu den Studien über Hy-
438 Anhang

sterie: ›Frl. Anna O …‹ und ›Theoretisches‹ (1893– Anhang: Brief an D. E. Oppenheim (1909/1958),
1895) 601–603
›Vorwort‹ [zur ersten Auflage] (J. Breuer und S. Nachträge zur Traumdeutung (1911), 604–611
Freud) (1895), 217–218 Nachfrage des Herausgebers über Kindheitsträume
›Vorwort zur zweiten Auflage‹ (J. Breuer und S. (1912), 612
Freud) (1908), 219–220 Kindheitsträume mit spezieller Bedeutung (1913), 613
›Beobachtung I Frl. Anna O …‹ (J. Breuer) (1895), Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Pra-
221–243 xis (1913), 614–619
›Theoretisches‹ (J. Breuer) (1895), 244–310 Darstellung der »großen Leistung« im Traum (1914),
Vier Dokumente über den Fall »Nina R.« 620–621
Anamnese »Nina R.« (S. Freud) (1891/1978), Ergänzungen zur Traumlehre (1920), 622–623
313–315 Übersicht der Übertragungsneurosen (1915/1985),
Krankengeschichte »Nina R.« (S. Freud) 627–651
(1893/1978), 316–319 Psychopathische Personen auf der Bühne (1905–
Bericht über »Nina R.« (J. Breuer) (1893/1978), 320 1906/1942), 655–661
Brief an Robert Binswanger (S. Freud) (1894/1978), Antwort auf die Rundfrage Vom Lesen und von guten
321 Büchern (1906), 662–664
Zwei zeitgenössische Berichte über den dreiteiligen Brief an Lytton Strachey (1928/1967), 665–667
Vortrag ›Über Hysterie‹ (1895), 322–351 Auszug eines Briefs an Theodor Reik (1929/1930),
Autoreferat des Vortrags ›Mechanismus der Zwangs- 668–669
vorstellungen und Phobien‹ (1895), 352–357, und Brief an Siegfried Hessing (1932/1933), 670
Anhang: Auszüge aus der Diskussion, 357–359 Brief an Juliette Boutonier (1930/1955), 671–672
Besprechung von P. J. Möbius, Die Migräne, Wien Drei Briefe an Georg Hermann (1936/1987),
1894 (1895), 360–369 673–678
Autobiographische Notiz (1901), 370–371 Brief an Thomas Mann (1936/1941), 679–682
Entwurf einer Psychologie (1895/1950), 373–477 Einleitung zu S. Freud und W. C. Bullitt, Thomas
Anhang A: Auszug aus Freuds Brief an Wilhelm Fließ Woodrow Wilson (1930/1966), 683–692
vom 1. Januar 1896, 478–480 Anzeige [der Schriften zur angewandten Seelenkunde]
Anhang B: Die Natur von Q, 480–486 (1907), 695–696
Besprechung von A. Hegar, Der Geschlechtstrieb; Eine [Zweite Fassung] (1908), 696
sozial-medizinische Studie, Stuttgart 1894 (1895), Brief an Frederik van Eeden (1914/1915), 697–698
489–490 Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt
Besprechung von Georg Biedenkapp, Im Kampfe ge- werden? (1918/1919), 699–703
gen Hirnbazillen, Berlin 1902 (1903), 491–492 Gutachten über die elektrische Behandlung der
Besprechung von John Bigelow, The Mystery of Sleep, Kriegsneurotiker (1920/1955), 704–710
London 1903 (1904), 493 Preiszuteilungen (1921), 711
Besprechung von Alfred Baumgarten, Neurasthenie. Preisausschreibung (1922), 712
Wesen, Heilung, Vorbeugung, Wörishofen 1903 Mitteilung des Herausgebers [der Internationalen
(1904), 494 Zeitschrift für Psychoanalyse] (1924), 713–714
Besprechung von R. Wichmann, Lebensregeln für Dr. Reik und die Kurpfuschereifrage (1926),
Neurastheniker, Berlin 1903 (1905), 495 715–717
Besprechung von Leopold Löwenfeld, Die psy- Brief an Professor Tandler (1931), 718–719
chischen Zwangserscheinungen, Wiesbaden 1904 Über Grundprinzipien und Absichten der Psycho-
(1904), 496–499 analyse (1911/1913), 723–729
Besprechung von Dr. Wilh. Neutra, Briefe an nervöse Etwas vom Unbewußten (1922), 730
Frauen, Dresden und Leipzig 1909 (1910), 500 Nachruf auf Professor S. Hammerschlag (1904),
Besprechung von G. Greve, ›Sobre psicologia y psico- 733–734
terapia de ciertos estados angustiosos‹, 1910 Zum Ableben Professor Brauns (1936), 735
(1911), 501–502 Vorwort zur zweiten Auflage [der Drei Abhandlungen
Originalnotizen zu einem Fall von Zwangsneurose zur Sexualtheorie] (1910), 739
(»Rattenmann«) (1907–1908/1955), 505–569 Einleitungspassagen zu ›Über einige Übereinstim-
Träume im Folklore (von Sigmund Freud und David mungen im Seelenleben der Wilden und der Neu-
Ernst Oppenheim) (1911/1958), 573–599 rotiker‹ (1912), 740–745
Freuds Schriften chronologisch nach den Gesammelten Werken 439

Vorwort zur dritten (revidierten) Auflage der eng- Anmerkung zu James J. Putnam, ›Über Ätiologie und
lischen Ausgabe der Traumdeutung (1932), 746– Behandlung der Psychoneurosen‹ (1911), 766
747 Anmerkung zu Ernest Jones, ›Psycho-Analysis Roo-
Vorwort zur tschechischen Ausgabe der Vorlesungen sevelts‹ (1912), 767
zur Einführung in die Psychoanalyse (1936), 748 Anmerkung zu Ernest Jones, ›Professor Janet über
Vorwort zum Abriß der Psychoanalyse (1938/1940), Psychoanalyse‹ (1916/1917), 768
749 E.T.A. Hoffmann über die Bewußtseinsfunktionen
Auszug eines Briefs an Claparède (1921), 750–751 (1919), 769
Geleitwort zu Raymond de Saussure, La méthode Anmerkung über Ewald Hering (1926), 770–771
psychanalytique (1922), 752–753 Brief an Israel Cohen (1938/1954), 775–776
Brief an Fritz Wittels (1923/1960), 754–758 Ein Wort zum Antisemitismus (1938), 777–781
Auszug eines Briefs an Georg Fuchs (1931), 759– Brief an die Herausgeber von Time and Tide (1938),
760 782–783
Vorwort zu Richard Sterba, Handwörterbuch der Psy- Einführung zu Yisrael Doryon, Lynkeus’ New State
choanalyse (1932/1936), 761 (1938/1940), 784–785
Ergänzungen zur Selbstdarstellung (1935), 762–764 Auszüge aus zwei Briefen an Yisrael Doryon (1938/
Anmerkung zu Wilhelm Stekel, ›Zur Psychologie des 1945–1946), 786–788
Exhibitionismus‹ (1911), 765
440

4. Die Autorinnen und Autoren

Aichhorn, Thomas: Psychoanalytiker in Privatpraxis Grubrich-Simitis, Ilse: Psychoanalytikerin in Privat-


in Wien praxis in Frankfurt a. M.
Anz, Thomas: Professor für Neuere deutsche Litera- Gutjahr, Ortrud: Professorin für Neuere deutsche Li-
tur an der Universität Marburg teratur und Interkulturelle Literaturwissenschaft,
Assmann, Jan: Professor em. für Ägyptologie an der Mitherausgeberin des Jahrbuchs für Literatur und
Universität Heidelberg und Honorarprofessor für Psychoanalyse
allgemeine Kulturwissenschaft und Religionstheo- Haas, Eberhard Th.: Arzt für Psychiatrie, Psychoana-
rie an der Universität Konstanz lytiker in eigener Praxis
Bayer, Lothar: habilitierter Soziologe und Psychoana- Hamburger, Andreas: Privatdozent an der Universität
lytiker in Privatpraxis in Frankfurt a. M. Kassel, niedergelassen als Psychoanalytiker in
Böhme, Hartmut: Professor für Kulturtheorie und München und Murnau
Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universi- Hock, Udo: Psychoanalytiker in Privatpraxis in Ber-
tät Berlin lin
Borens, Raymond: Psychoanalytiker in Privatpraxis Krause, Rainer: Professor am Lehrstuhl für klinische
in Basel Psychologie und Psychotherapie an der Universität
Buchholz, Michael B.: Apl. Professor am Fachbereich des Saarlandes (Saarbrücken)
Sozialwissenschaft der Universität Göttingen, o. Krone-Bayer, Kerstin: Künstlerin in Frankfurt a. M.
Professor an der Sigmund-Freud-Privat-Universi- Krovoza, Alfred: Professor für Sozialpsychologie am
tät Wien Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der
Deserno, Heinrich: Sigmund-Freud-Institut in Universität Hannover
Frankfurt a. M. Leiter der Psychotherapeutischen Lange-Kirchheim, Astrid: Privatdozentin für Neuere
Sprechstunde und der Spezialsprechstunde für de- deutsche Literaturgeschichte an der Universität
pressive Erkrankungen und Facharzt für Psycho- Freiburg
therapeutische Medizin, Psychoanalytiker Lindner, Burkhardt: Professor für Geschichte und
Dierks, Manfred: Professor em. für Neuere deutsche Ästhetik der Medien an der Johann Wolfgang Goe-
Literaturwissenschaft an der Carl von Ossietzky- the-Universität Frankfurt a. M.
Universität Oldenburg Lohmann, Hans-Martin: Freier Publizist in Frankfurt
Flaake, Karin: Professorin für Soziologie mit dem a. M.
Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung Mertens, Wolfgang: Professor für Psychologie und
an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg Psychoanalyse an der Universität München
Fliedl, Konstanze: Professorin für Neuere deutsche Pfeiffer, Joachim: Professor für Neuere deutsche Lite-
Literatur an der Universität Salzburg ratur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen
Früh, Friedl: Psychoanalytikerin in Privatpraxis in Hochschule Freiburg
Wien Pietzcker, Carl: Professor i. R. für Neuere deutsche Li-
Giefer, Michael: Arzt für Psychotherapeutische Medi- teratur an der Universität Freiburg
zin und Psychoanalytiker in Bad Homburg Plänkers, Tomas: Mitarbeiter des Sigmund-Freud-In-
Gödde, Günter: Psychologischer Psychotherapeut in stituts und Psychoanalytiker in Privatpraxis in
eigener Praxis, Dozent, Supervisor und Lehrthera- Frankfurt a. M.
peut an der Berliner Akademie für Psychothera- Primavesi, Patrick: Wissenschaftlicher Assistent am
pie Institut für Theater-, Film- und Medienwissen-
Gondek, Hans-Dieter: Freier Publizist, Übersetzer schaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität
und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergi- Frankfurt a. M.
schen Universität Wuppertal
Die Autorinnen und Autoren 441

Quindeau, Ilka: Psychoanalytikerin in Privatpraxis Sigusch, Volkmar: Direktor des Instituts für Sexual-
und Professorin an der Fachhochschule Frankfurt wissenschaft des Klinikums der Johann Wolfgang
a. M. Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Reiche, Reimut: Privatdozent und Psychoanalytiker Staufenberg, Heidi: Analytische Kinder- und Jugend-
in Privatpraxis in Frankfurt a. M. lichenpsychotherapeutin in Privatpraxis in Frank-
Reichmayr, Johannes: Professor an der Sigmund- furt a. M.
Freud-Privat-Universität Wien und Psychoanalyti- Vogt, Rolf: Professor em. für Psychologie mit dem
ker am dortigen Ambulatorium Schwerpunkt Psychoanalyse an der Universität
Rohde-Dachser, Christa: Emeritierte Professorin für Bremen und praktizierender Psychoanalytiker in
Psychoanalyse und Psychoanalytikerin in Privat- Heidelberg
praxis in Frankfurt a. M. Will, Herbert: Psychoanalytiker in Privatpraxis in
Schröter, Michael: Freier Autor in Berlin München
Schülein, Johann August: Professor für Soziologie am Zeul, Mechthild: Psychoanalytikerin in Privatpraxis
Institut für Soziologie und Empirische Sozialfor- in Madrid und Frankfurt a. M.
schung der Wirtschaftsuniversität Wien. Honorar-
professor an der Universität Gießen
442

Personenregister

Abraham, Karl 60ff., 66ff., 72, 77, 149, 157, 166, Balint, Michael 211, 278, 290, 293
189, 207, 223 f., 226, 230, 250, 277, 292, 294, 349, Balzac, Honoré de 29, 75
376, 403 Barry, Philip 319
Adam, Rodolphe 360 Bartels, Martin 121
Adler, Alfred 60, 62 f., 73, 111, 156, 162, 215 f., 218, Barthes, Roland 345
224, 227, 275, 277, 292 f., 302, 323 Baudelaire, Charles 29, 35
Adorno, Theodor W. 24, 47, 251 f., 278, 304, 309, Baudry, Jean-Louis 402 f., 406ff.
314, 316 f., 335, 375, 377ff., 380ff., 419, 425ff., Baumann, Hermann 304
Aichhorn, August 397 Bayer, Lothar VI
Aigner, Josef Christian 393 Beard, George 35
Aiken, Conrad 319 Beauvoir, Simone de 383
Ainsworth, Peter B. 299 Becher, Johannes R. 325
Alexander, Franz 202, 227, 277, 289 Bechterew, Wladimir 217
Allport, Gordon 279 Beer-Hofmann, Richard 27, 29, 34
Altenberg, Peter 3, 34 f. Belgrad, Jürgen 341
Althusser, Louis 364, 375 Bell, Karin 392
Amiel, Henri Frédéric 28 Bellour, Raymond 408
Andreas-Salomé, Lou 61, 72, 158, 182 f., 201, 225, Benjamin, Jessica 290, 389 f., 392
230, 277, 320 f., 323, 327, 406 Bergande, Wolfram 358
Andrian, Leopold von 34 f., Bergler, Edmund 331
Anz, Thomas 211 Bergmann, Martin 154
Anzengruber, Ludwig 26 f., Bergson, Henri 81, 119, 348
Anzieu, Didier 106 Bergstrom, Janer 408
Apollinaire, Guillaume 319, 333 Berman, A. 286
Apsel, Roland 413 Bernauer, Friederike 299
Arendt, Hannah 2, 6 Bernays, Edward 49, 221
Argelander, Hermann 279 Bernays, Isaac 53
Arieti, Silvano 120 Bernays, Jacob 53, 210, 273
Aristoteles 119, 210, 360 Bernays, Martha s. Freud, Martha
Arnim, Bettina von 204 Bernays, Minna 56, 80, 221
Artaud, Antonin 275 Bernet, Rudolf 356
Assmann, Jan 187, 248 Bernfeld, Siegfried 69, 78, 278, 304, 374, 397ff.,
Assoun, Paul-Laurent 356 400, 403
Augustinus, Aurelius 360 Bernhardt, Sarah 271
Aulagnier, Piera 285 Bernheim, Hippolyte 28, 54, 55, 77, 101, 217, 320
Bernstein, Richard 187
Baader, Franz von 189 Bettauer, Hugo 3, 9
Baas, Bernard 354 Beutin, Wolfgang 334
Bachelard, Gaston 353 f., 366 Bhabha, Homi 346
Bachofen, Johann Jakob 33 Binswanger, Ludwig 24, 59, 225, 230, 278, 348, 353,
Bacon, Francis 11 356, 366
Bahr, Hermann 13, 27ff., 30, 32, 36, 210 f., 272, 319 Bion, Wilfred 251, 257, 290, 313 f.
Personenregister 443

Bischof, Norbert 169 Burgess, Ernest W. 418


Bittner, Günther 400 Burkert, Walter 257, 304
Blanton, Smiley 69 Burkholz, Roland 18
Blaschko, Albert 43 Burling, Robbins 99
Blass, Rachel 177 Burlingham, Dorothy 69, 103, 397
Bleuler, Eugen 59, 205, 216, 222, 226, 283, 293, Bush, Marshall 341
327, 349 Butler, Judith 290, 304, 345, 391
Bloch, Iwan 42ff., 45 f., Büttner, Christian 400
Blos, Peter 393
Blüher, Hans 227 Capac, Manco 253, 258
Blumenberg, Hans 235, 252 Carus, Carl Gustav 10, 189
Blumenberg, Yigal 168 Cassirer Bernfeld, Suzanne 78
Böhme, Hartmut 170 Cassirer, Ernst 245
Bollas, Christopher 100 Castoriadis, Cornelius 285
Boltzmann, Ludwig 13 Cervantes Saavedra, Miguel de 222
Bonaparte, Marie 56, 69, 72, 75, 221, 280, 284ff., Chambard, Ernest 45
292, 333, 413 Chandler, Albert R. 334
Borch-Jabobsen, Michel 359 Charcot, Jean-Martin 28, 37, 54 f., 57, 77, 84, 92,
Borens, Raymond 371 101, 217, 220, 271 f., 275, 283, 320
Bori, Pier Cesare 187 Charraud, Nathalie 359
Bossinade, Johanna 343 f. Chasseguet-Smirgel, Janine 122, 384, 406,
Bourget, Paul 32 409
Bourguignon, André 286 Chodorow, Nancy 385ff., 389, 391 f.
Bourguignon, Erika 413 Cixous, Hélène 275, 344, 385, 388 f.
Bovenschen, Silvia 344 Claudel, Paul 362
Bowlby, John 299 Claus, Carl 52
Boyer, L. Bryce 169, 412 Clemenz, Manfred 199
Boyer, Ruth 412 Clérambault, Gaétan Gatian de 349
Braun, Hans-Dieter 169 Cohen, Hermann 190
Braun, Heinrich 52, 228 Collomb, Henri 413
Braun-Vogelstein, Julie 228 Comte, Auguste 21, 23, 171
Brecht, Bertolt 262, 275, 321, 326 Cotet, Pierre 286
Brede, Karola 375 Craig, Gordon 4
Brentano, Franz 11 f., 14 f., 17, 23, 296 Crawley, Ernst 153
Breton, André 195, 234, 307, 319 f., 333 Cremerius, Johannes 197, 293
Breuer, Josef 26 f., 33, 54ff., 84ff., 94 f., 210 f., 216ff., Cremonini, Andreas 351 f.
272 f., 292, 320 Crespo, Ulrike VI
Brill, Abraham Arden 61, 221, 288, 292, 319 Creveld, Martin van 189
Broca, Pierre Paul 81 Critchley, Simon 207
Broch, Hermann 13, 320 Cusanus, Nicolaus 360
Brod, Max 325
Brook, Peter 275 Dahmer, Helmut 279, 293, 375
Brooks, Van Wyck 334 Dalí, Gala 195
Brücke, Ernst Wilhelm von 11, 16, 23, 52ff., Dalí, Salvador 69, 75, 195, 307, 349
77 Darwin, Charles 10ff., 17, 46, 53, 73, 168, 189, 244,
Brückner, Peter 375, 423 256, 261 f., 327, 418
Brun, Rudolf 77, 81 Dattner, Bernhard 376
Buber, Martin 73 Deleuze, Gilles 303, 364, 368
Buchholz, Michael B. 92 Delgado, Honorio F. 227
Büchner, Ludwig 418 Delruelle, Édouard 359
Bullitt, William 228 Deneke, Friedrich-Wilhelm 122
Buñuel, Luis 404 f. Derrida, Jacques 24, 187, 235, 286, 368ff.
Burckhardt, Jacob 3 Descartes, René 14, 302, 360, 367
444 Personenregister

Deserno, Heinrich 115 Fairbairn, Ronald 290, 341


Dettmering, Peter 333 Fallend, Karl 292
Deutsch, Helene 166, 277, 398 Fanon, Frantz 413
Devereux, Georges 250, 304, 412 Fast, Irene 391
Diatkine, René 364 Fechner, Gustav Theodor 15, 159, 296
Diderot, Denis 12, 72 Federn, Paul 60, 171, 222, 277, 331, 398
Dierks, Manfred 195 Felman, Shoshana 344
Dilthey, Wilhelm 196, 329 Fenichel, Otto 69, 73, 139, 150, 166, 261, 278, 349,
Dinnerstein, Dorothy 385 374, 376, 412, 417, 423, 426
Döblin, Alfred 320 ff., 323, 325, 333 Ferenczi, Sándor 7, 60ff., 66, 68, 72 f., 94, 128, 139,
Dollard, John 297 141, 149, 158, 190, 224, 226, 229 f., 250, 261, 277,
Dollfuß, Engelbert 9 284, 290, 292, 349, 376, 397, 399
Dolto, Françoise 285 Feuerbach, Ludwig 11 f., 73, 177, 255, 303
Donati, Ruth 299 Fichtner, Gerhard 78, 220, 229, 231
Doolittle, Hilda 69, 226 Figdor, Helmuth 400
Dörmann, Felix 27, 34 f. Findley, Timothy 199
Dosse, François 359 Finger-Trescher, Urte 400
Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 20, 193, 208, Firestone, Shulamith 383
209, 322 f. Fischer, Gottfried 112, 115
Dreyfus, Alfred 5 Fischer, Jens Malte 331
Driesch, Hans 18 Fischer, Samuel 29, 35
Du Bois-Reymond, Emil 11, 53 Fischer-Colbrie, Arthur 226
Duchamp, Marcel 195 Fitzgerald, Scott 319
Duhm, Dieter 420 Flaubert, Gustave 72, 92, 351 f.
Duras, Marguerite 360 Fließ, Wilhelm 4, 15, 23, 50, 55ff., 58 f., 67, 69,
Durig, Arnold 104, 228 88 f., 107, 109, 120, 123, 146, 147, 203, 221 f.,
Durkheim, Emile 245, 254 225, 227ff., 230, 246, 250, 272, 292, 320
Durkheim, Karl 417 Flugel, John 413
Duse, Eleonora 275 Fluss, Emil 52, 226
Fluss, Gisela 52
Ebner-Eschenbach, Marie von 25ff. Forel, August 45, 217
Echnaton 73 Forrester, John 82
Eckstein, Emma 226 Forsythe, William 308
Ehrenfels, Christian v. 150 Foucault, Michel V, 40, 47, 54, 237, 269, 366ff.
Ehrenzweig, Anton 341 Frank, Leonhard 325
Eickhoff, Friedrich Wilhelm 170, 248 Frank, Manfred 352
Einstein, Albert 24, 69, 74, 190 f., 220, 228 Frank, Philipp 17
Eissler, Kurt Robert 50, 59, 70, 77, 139, 159, 204, Franz Joseph I. 1
223, 308, 311 Franzos, Karl Emil 26
Eitingon, Max 60, 62, 68ff., 73 f., 119, 177, 223, Frazer, James 201, 254
226, 230, 277, 293 f. Frege, Friedrich Ludwig Gottlob 360
Elias, Norbert 304 French, Thomas 114
Eliot, T. S. 177 Freud, Alexander 221
Ellenberger, Henry F. 78, 107, 218, 302 Freud, Amalia 50, 51
Ellis, Havelock 35, 43, 44ff., 154, 227 Freud, Anna (Schwester) 49
Engels, Friedrich 171, 261 Freud, Anna (Tochter) 50 f., 55, 69, 71 f., 75, 78,
Erdheim, Mario 106, 168ff., 279, 293, 304 221, 225ff., 228ff., 278, 280, 290, 353, 397 f., 398
Eribon, Didier 354, 368 Freud, Emanuel 49ff., 221
Erikson, Erik H. 222, 265, 289, 353, 413 Freud, Ernst (Sohn) 55, 66, 221, 230
Erlenmeyer, Albrecht 80 Freud, Heinele (Enkel) 70
Ernst, Max 195 Freud, Jean-Martin (Sohn) 55
Eulenburg, Albert 43 Freud, John 50
Exner, Siegmund 16 Freud, Julius (Bruder) 50, 203
Personenregister 445

Freud, Kallamon Jacob 2, 49, 51 Green, André 50, 286, 369, 375
Freud, Maria 221 Green, Paul 319
Freud, Martha (Ehefrau, geb. Bernays) 53, 55 f., 79, Greenacre, Phyllis 311
210 f., 220 f., 273 Greenson, Ralph 139
Freud, Martin (Sohn) 66, 293 Griesinger, Wilhelm 327
Freud, Mathilde (Tochter) 55, 221 Grinstein, Alexander 79
Freud, Oliver (Sohn) 55, 66, 221 Groddeck, Georg 18, 227, 319
Freud, Philipp 49, 51 Groos, Karl 196
Freud, Rosa 221 Groot, Jeanne Lampl-de 221
Freud, Sam 221 Gross, Otto 319 f., 325ff.
Freud, Sophie (Tochter) 55, 70, 221 Grossman, William I. 170
Freund, Anton von 67, 70 Grote, Louis R. 217
Friedan, Betty 383 Grotjahn, Martin 120 f., 220
Frings, Willi 207, 208 Grüber, Klaus Michael 275
Frisch, Max 341 Grubrich-Simitis, Ilse 123, 159, 170, 223, 232, 279,
Fromm, Erich 248, 251, 278 f., 304, 377, 379, 417, 281, 428
427 Grünbaum, Adolf 119
Fromm-Reichmann, Frieda 377 Grünberg, Carl 377
Füchtner, Hans 396, 399 Grunberger, Béla 158
Guattari, Félix 303, 364
Gadamer, Hans-Georg 340 Guilbert, Yvette 228
Gallas, Helga 344
Galton, Francis 108 Haas, Eberhard Th. 169, 254, 257
Gambaroff, Marina 384 Habermas, Jürgen 255 f., 258, 261, 267, 304, 330,
Gay, Peter 3, 4, 49, 62, 64, 70, 75, 177 335
Gedo, John 311 Haeckel, Ernst 10 f., 73, 193, 195, 206, 418
Geiger, Theodor 418 Hagemann-White, Carol 384
Genazino, Wilhelm 120 Hagestedt, Jens 344
Gesing, Fritz 342 Halberstadt, Max 221
Gide, André 319, 353 Halberstadt, Sophie, geb. Freud 221
Gill, Merton 115, 141 Hale, Nathan G. 288 f.
Gilles de la Tourette 84 Hall, G. Stanley 61, 94
Gilman, Sander L. 168 Hamann, Brigitte 6
Girard, René 169, 170, 245, 257 f., 304 Hamburger, Andreas 168, 170
Glover, Edward G. 293, 353 Hannibal 5, 51
Goeppert, Herma 339 Haraway, Donna 305
Goeppert, Sebastian 339 Harris, Adrienne 405, 409
Goethe, Cornelia 203 Hartmann, Eduard von 13ff.
Goethe, Elisabeth 203 Hartmann, Heinz 122, 278, 289
Goethe, Hermann Jakob 203 Haselstein, Ulla 344
Goethe, Johann Wolfgang 10, 186, 203 f., 233, 275 Hasenclever, Walter 320, 325
Goldenweiser, Alexander A. 169 Hauptmann, Gerhart 29, 321
Goldschmidt, Georges-Arthur 235 Häussler, Joseph 44
Goldstein, Kurt G. 81, 352 f. Haynal, André 299
Goll, Iwan 320 Hebbel, Friedrich 153
Gomperz, Heinrich 228 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 41, 47, 317, 355,
Gomperz, Theodor 11, 77 360, 369
Gondek, Hans-Dieter 351ff., 356ff., 359 f., 362 Heidegger, Martin 190, 348ff., 352 f. 360, 362, 369
Göring, Mathias Heinrich 294 Heine, Heinrich 20, 74, 262
Graf, Max 60, 210, 331 Heinrich, Klaus 303
Graf, Rosa, geb. Freud 221 Heller, Hugo 60, 68, 195
Granoff, Wladimir 285 Hellman, Lillian 319
Grawe, Klaus 299 f. Hellpach, Willy 227
446 Personenregister

Helmholtz, Hermann 11, 15, 53, 73 Jacoby, Russell 287


Henry, Michel 356 Jaffé, Else 418
Henseler, Heinz 254 Jakobson, Roman 81 f., 357
Herbart, Johann Friedrich 14ff. James, William 256, 288
Herder, Johann Gottfried 226 Janet, Pierre 33, 37, 84, 283 f., 302
Hering, E. 18 Jaspers, Karl 327, 348ff., 352
Hermann, Georg 228 Jauß, Hans Robert 339
Herzl, Theodor 5 Jelliffe, Smith Ely 78, 81
Hesnard, Angelo 284 f., 353 Jens, Walter 229
Hesse, Hermann 320ff., 333 Jensen, Wilhelm 64, 193, 195, 321, 323, 333, 353
Hiebel, Hans 121 Jermakow, Iwan 373
Hinkle, Gisela J. 419 Jerusalem, Franz W. 418
Hirblinger, Heiner 400 Jerusalem, Wilhelm 13
Hirsch, Mathias 202 Jesus Christus 258
Hirschfeld, Magnus 43ff. Jones, Ernest 60ff., 66, 68, 70ff., 75, 78, 81, 163,
Hitchcock, Alfred 307, 403ff., 408 166, 218, 224ff., 230, 253, 277, 284, 290, 292 f.,
Hitler, Adolf 4 f., 9, 74, 232 319
Hitschmann, Eduard 60, 203 Joyce, James 319 f., 322, 326, 360, 363
Hobbes, Thomas 190, 262, 244, 417 Jung, Carl Gustav 18, 33, 56, 59, 60ff., 63, 65, 73,
Hoche, Alfred Erich 217, 322 111, 139, 155, 156, 161, 168, 176, 193, 197ff.,
Hoffmann, E.T.A. 205 f., 341 200 f., 213, 215 f., 218, 222ff., 225, 227, 229 f.,
Hoffmann, S. O. 92 248, 264, 277, 283, 288, 290, 292 f., 302ff., 320,
Hofmann, Roger 344 322 f., 353, 366
Hofmannsthal, Hugo von 7, 13, 27 f., 32ff., 272, Jung, Franz 325
320 f., 324 Juranville, Alain J. 359 f.
Holbach, Paul-Henri Thiry d’ 177
Hölderlin, Friedrich 38 Kaan, Heinrich 44
Holland, Norman N. 338ff. Kafka, Eduard Michael 27
Hollitscher, Mathilde, geb. Freud 221 Kafka, Franz 74, 320 f., 325, 327, 333
Homer 189, 360 Kahane, Max 60
Horkheimer, Max 24, 245, 251 f., 278, 294, 304, Kaiser, Georg 320
335, 377ff., 381, 424, 426 Kaiser, Hellmuth 334
Horn, Klaus 279, 423 Kant, Immanuel 14 f., 40, 127, 177, 195, 248, 302,
Horney, Karen 69, 163, 166, 279, 288, 292, 379, 360, 375
384 Kanzer, Mark 251
Horthy, Miklós 68 Kaplan-Solms, Karen 114, 132
Hötzendorf, Conrad von 6 Kardiner, Abram 69
Huelsenbeck, Richard 320 Kassowitz, Max 55, 77
Hug-Hellmuth, Hermine von 203 Kästner, Ingrid 78
Hughlings Jackson, John 82 Kaufhold, Roland 398
Hull, Clark Leonhard 297 Kelsen, Hans 3
Hume, David 11, 177 Kentler, Helmut 41
Husserl, Edmund 23, 348 f., 352 f., 356, Kernberg, Otto F. 154, 280, 289, 300, 402, 410
366 Khurana, Thomas 359
Huston, John 351, 404 Kierkegaard, Sören A. 310, 360
Huysmans, Joris-Karl 29 King, Vera 393
Klein, Melanie 63, 69, 148 f., 158, 162 f., 166, 225,
Ibsen, Henrik 20, 27ff., 201 f., 322 251, 257, 277, 280, 289 f., 313 f., 341, 353 f., 366,
Ietswaart, Willem 207 384, 392
Irigaray, Luce 344 f., 385, 387 f. Kleist, Heinrich von 38, 331, 344
Isaac, Susan 376 Klinger, Max 307
Iser, Wolfgang 339 Koch, Gertrud 351, 405, 408 f.
Israel, Han 199 Koestler, Arthur 75
Personenregister 447

Koffka, Kurt K. 352 Leibniz, Wilhelm 15, 355


Kofman, Sarah 120, 370 Leiris, Michel 304
Köhler, Wolfgang 114 Lenk, Gisela 113
Kohut, Heinz 107, 202, 208, 279, 289, 402 Lentzen, Manfred 338
Kojèves, Alexandre 360 Leonardo da Vinci 50, 64, 193, 198, 199, 203, 331,
Kollbrunner, Jürg 71 332
Koller, Carl 54, 80 f., 226 Leonhard, Frank 326
König, René 419 Lesser, Simon O. 334, 341
Kopernikus 46, 256, 261, 327 Leuschner, Wolfgang 81
Körner, Jürgen 399 f. Leuzinger-Bohleber, Marianne 114
Koukkou, Martha 114 Lévinas, Emmanuel 355 f.
Kraepelin, Emil 284 Lévi-Strauss, Claude 169, 303 f., 354, 357ff.
Krafft-Ebing, Richard von 28 f., 42ff., 45 f., 57 Lewin, Bertram 108, 115, 288, 407
Kraus, Karl 2 f., 7, 35ff., 60, 190, 228, 321, 324, Lewin, Kurt 114
418 Lewisohn, Ludwig 319
Krause, Rainer 298 Leyen, Friedrich von der 330
Kreaepelin, Emil 349 Lichtenberg, Joseph D. 95
Kretschmer, Ernst 349 Lichtheim, Ludwig 82
Kripke, Saul Aaron 360 Liébault, Ambrose Auguste 54
Kris, Ernst 211, 230, 278, 289, 309, 331, 334 Lindner, Gustav Adolf 13 f.
Kristeva, Julia 321, 344 f., 385, 388 Lipp, Theodor 15, 17, 119
Kroeber, Alfred L. 169, 256 Lippert, Renate 408
Kroll, Renate 345 Loch, Wolfgang 279
Krüll, Marianne 203 f. Locke, John 11
Krutch, Joseph Wood 334 Loewald, Hans 177
Kubie, Lawrence 288 Loewenstein, Rudolph M. 278, 289, 426
Küng, Hans 255 Lohmann, Hans-Martin 279
Kun, Béla 68 Lombroso, Cesare 28, 331
Lorenzer, Alfred 24, 82, 89, 95, 112, 251, 279, 304,
La Mettrie, Julien Offray de 16 310, 340
Lacan, Jacques 24, 63, 82, 121, 158, 162, 202, 206, Löwenfeld, Leopold 43
274, 285 f., 290, 292, 298, 304 f., 317, 320 f., 342, Löwenstein, Hermann Joseph 44
344, 348 f., 351–363, 366, 368ff., 371, 385, 387ff., Löwenstein, Rudolf 284ff.
408 Ludwig, Carl 11
Lacoue-Labarthe, Philippe 370 Lueger, Karl 4ff.
Ladame, Charles 283 Luhmann, Niklas 96, 317
Laforgue, René 227, 284 f., 376 Lukács, Georg 374
Lagache, Daniel 285, 353 Luther, Martin 254
Lamarck, Jean-Baptiste de Monet, Chevalier de 17, Lyotard, Jean-François 364
224 Lyssenko, Trofim D. 261
Lampl-de Groot, Jeanne 166, 392
Landauer, Karl 377 Mach, Ernst 13, 23 f., 31, 37
Lang, J. B. 320 Machiavelli 262
Langlitz, Nicolas 358 Madaura, Apuleius von 200
Laplanche, Jean 149, 154, 159, 162, 250, 277, 285, Maeder, Alphonse 283
286 Maeterlinck, Maurice 29
Lasky, Michael A. 405 Mahler, Gustav 3. 289
Lasswell, Harold D. 418 Mahler, Margaret 280, 289
Lautréamont, Isidor Ducasse, comte de 345 Mahony, Patrick J. 232 f.
Lawrence, D. H. 319 Major, René 286, 369
Le Bon, Gustave 172 f., 425 Malinowski, Bronislaw 75
Leclaire, Serge 285 f. Mallarmé, Stéphane 345
Lehmann, Dietrich 114 Mandeville, Bernard 53
448 Personenregister

Mann, Thomas 69, 74, 182, 195, 228, 320ff., 323, Mitscherlich(-Nielsen), Margarete 278 f., 384, 392,
333 419
Mannheim, Karl 418 Moebius, Paul Julius 43
Mannoni, Maud 285 Möhring, Peter 413
Mannoni, Octave 260, 285, 353 Molière 360
Mantegazza, Paolo 41ff. Moll, Albert 43, 44 f., 46
Marcus, Steven 53 Montaigne, Michel de 367
Marcuse, Herbert 279, 375, 377, 379ff., 382, 419, Montani, Angelo 405
424 Mordier, Jean-Paul 283
Marcuse, Max 43, 45 f. Moreau de Tours, Paul 44
Margraf, Jürgen 300 Morelli, Giovanni 213
Mark Twain 334 Morgenthaler, Fritz 115, 279, 413
Marquard, Odo 19, 24 Morichau-Beauchant, Pierre Ernest René 283, 284
Marx, Karl V, 46, 73 f., 97, 171, 173, 177, 255, 262, Moro, Marie Rose 413
303, 330, 363 f., 373ff., 381, 417, 418, 420 Moscovici, Serge 425
Marxow, Ernst Fleischl von 54, 80 Moser, Ulrich 114 f.Moses 258
Masson, André 195 Mowrer, Orval Hobart 297
Masson, Jeffrey 89 Muensterberger, Werner 169, 412 f.
Matt, Peter von 197, 329, 336 f., 339, 342 Mühsam, Erich 320
Mauerhofer, Hugo 406 Müller, Josine 163
Mauron, Charles 337 f., 352 Müller, Marlene 344
Mauthner, Fritz 13 Mulvey, Laura 408
May, Ulrike 78, 150 Muschg, Walter 233 f., 333
Mayröcker, Friederike 321 Musfeld, Tamara 392
McCarthy, Joseph Raymond 379 Musil, Robert 1 f., 6, 13, 37, 320 f., 323, 325 f.
McDougall, Joyce 269, 275 Mussolini, Benito 9
Mead, George Herbert 288 Muthmann, Arthur 228
Mead, Margaret 413
Mehring, Walter 320 Näcke, Paul 43, 154, 226
Meiner, Felix 216 Nagel, Ernest 419
Mendel, Gregor 237 Nancy, Jean-Luc 370
Meng, Heinrich 227, 377, 398 Napoleon 1
Mentzos, Stavros 92 Nassif, Jacques 82
Merleau-Ponty, Maurice 348, 352ff., 356 f., 360, 370 Nathan, Tobie 413
Mertens, Wolfgang 114, 140, 143 Nathanson, Amalia 49
Mesmer, Franz Anton 85, 302 Neider, Charles 335
Metz, Christian 407 f. Neugebauer, Helmut 400
Meyer, Conrad Ferdinand 331 Neumann, Karl 403
Meyer-Palmedo, Ingeborg 77 f., 220 Neurath, Otto 3
Meyerson, I. 286 Newson, John 99
Meynert, Theodor 28, 54, 77, 81 Nietzsche, Friedrich V, 10, 12 f., 19ff., 23, 26, 38,
Michelangelo 50, 65, 73, 211 ff. 52, 61, 172, 177, 201, 245, 255, 262, 321, 327,
Mijolla, Alain de 292 355, 375
Mill, John Stuart 11, 53, 77, 418 Nin, Anaïs 72
Miller, Alice 89 Nothnagel, Hermann 54 f.
Miller, Arthur 319 Noy, Pinchas 312, 342
Miller, Jacques-Alain 286, 364 Nunberg, Herman 331
Miller, Neal 297 Nünning, Ansgar 345
Millett, Kate 383
Minkowski, Eugène 348 O’Neill, Eugene 319
Minsky, Rosalind 169 Oberholzer, Emil 227
Mitchell, Juliet 384 Odet, Clifford 319
Mitscherlich, Alexander 78, 278 f., 294, 419, 427 Odier, Charles 284
Personenregister 449

Odier, Raymond 285 Putnam, James 53, 227, 292


Oevermann, Ulrich 310, 315 Puységur, Armand-Marc J. de 85, 302
Ogburn, William F. 418
Ogden, Thomas 315 Raabe, Wilhelm 193
Olivier, Christiane 386 f. Rabelais, François 251
Oppenheim, David Ernst 228 Racine, Jean 360
Oppenheimer, Franz 418 Radó, Sándor 227, 288, 292
Oring, Elliot 120 Raguse, Hartmut 251
Ossipow, Nikolai 227 Ramachandran, Vilayanur 143
Otten, Karl 325 Rand, Nicholas 251
Ovid 360 Rank, Otto 33, 60, 62, 72 f., 129, 137, 141, 151,
201, 221, 223 f., 226, 229, 250, 277, 292 f., 303,
Pabst, G. W. 403 331 f., 349
Palombo, Stanley 109 Rapaport, David 278, 289, 297
Pálos, Elma 224 Rattner, Josef 333
Paneth, Josef 14 Redon, Odilon 307
Pappenheim, Bertha 55 Régis, Emmanuel 284
Parin, Paul 279, 304, 413 Reh, Albert 329
Parin-Matthèy, Goldy 279, 413 f. Reich, Wilhelm 69, 73, 75, 150, 227, 261, 278, 304,
Parson, Talcott 418 f. 368, 374, 419 f.
Pascal, Blaise 360 Reiche, Reimut 154, 279, 375, 378, 380
Pawlow, Iwan Petrowitsch 367 Reichmayr, Johannes 168 f.
Pedrina, Fernanda 413 Reik, Theodor 29, 38, 72 f., 103, 120 f., 202, 227,
Peirce, Charles Sanders 97 250, 323, 376
Penta, Pasquale 44 Reitler, Rudolf 60
Perrier, François 285 Rendtorff, Barbara 391
Pfeiffer, Joachim 197, 333 Reve, Karel van het 209
Pfister, Oskar 61, 75, 176 f., 225, 230, 255, 398 Reventlow, Franziska zu 321
Pfrimmer, Théo 253 Richir, Marc 356
Pichler, Hans 70 Richter, Horst Eberhard 279
Pichon, Édouard 284ff. Richter, Johann Paul Friedrich 119
Pierre, Janet 271 Richthofen, Frieda von 319
Pietranera, Guilio 405 Ricœur, Paul 24, 113, 124, 177, 253, 255, 260,
Pietzcker, Carl 197, 335, 340ff. 354 f., 429
Plänkers, Tomas 137 Riedesser, Peter 112, 115
Platon 161, 360, 362, 375, 402, 406 Rieger, Konrad 217
Platt, Gerald 419 Riesman, David 419
Plon, Michel 286 Rilke, Rainer Maria 7, 61, 320
Poe, Edgar Allan 69, 333 f., 343 Ritvo, Lucille B. 168, 169
Pohl, Rolf 393 Riviere, Joan 68, 227
Polanyi, Michael 308 Robertson Smith, William 169, 254
Politzer, Georges 308, 334, 348, 352 f. Rodowick, D. N. 408
Politzer, Heinz 189, 335 Rohde, Erwin 33
Pollak, Max 228 Rohde-Dachser, Christa 133, 390
Poluda-Korte, Eva 392 Róheim, Géza 169, 173, 412, 417
Pontalis, J.-B. 285 f., 351, 353, 402, 404 Rohleder, Hermann 43
Popper, Karl 419 Rolland, Romain 69, 74, 228, 320
Popper-Lynkeus, Josef 24 Rose, Gilbert J. 342
Porge, Erik 358 Rosegger, Peter 26 f.
Pratt, John 406 Ross, Collin 403
Prescott, Frederick C. 334 Roubiczek, Lili 398
Princip, Gavrilo 6 Roudinesco, Elisabeth 284ff., 349 ff., 358, 369 f.
Proust, Marcel 353 Rousseau, Jean-Jacques 418
450 Personenregister

Rückert, Friedrich 69 Schrey, Gisela 330, 332


Rudolf, Gerd 142 Schröder, Christina 78
Rupprecht-Schampera 92 Schröter, Klaus 77
Russell, Bertraud 360 Schülein, Johann August 419ff.
Schultz-Henckes, Harald 294
Saar, Ferdinand von 26 f. Schur, Max 70, 75, 227
Sabbadini, Andrea 402 Schuschnigg, Kurt von 9
Sacher-Masoch, Leopold Ritter von 26, 29 Schwitters, Kurt 321
Sachs, Hanns 62, 73, 197, 203, 277, 292 f., 325, 331, Searle, John 96
333, 341, 403 f. Segal, Hanna 290
Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de 360 Seiffge-Krenke, Inge 299
Sadger, Isidor 60, 154, 331, 333 Sellin, Ernst 186
Safouan, Moustapha 285 Sève, Lucien 375
Safranski, Rüdiger 255 f. Seyß-Inquart, Arthur 9
Saling, Michael 78 Shakespeare, William 20, 41, 200 f., 206, 209, 233,
Saller, Vera 413 250, 272 f., 330, 337, 339, 361
Salten, Felix 27 Shotter, John 99
Sandler, Joseph 134, 290 Siegler, Ava 251
Sartre, Jean-Paul 348ff., 351, 353, 358, 360, 375, Sievers, Burkhard 421
404 Silber, Herbert 33
Saussure, Ferdinand de 284, 305, 343, 359, 362 Silberstein, Eduard 23, 52, 72, 222, 230
Saussure, Raymond de 227, 284 f. Silesius, Angelus 360
Schäfer, Johanna 392 Simenauer, Erich 333
Schapiro, Meyer 199, 309 Simmel, Ernst 66, 68, 227, 293, 349, 426
Schegloff, Emanuel 98 Simmel, Georg 171, 245
Scheler, Max 348 f., 352, 418 Sklar, Robert 409
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 13, 189 Smith, Robertson 168
Scherer, Wilhelm 329 f. Sokel, Walter H. 335
Scheuch, Manfred 7 Sokolnicka, Eugénie 284
Schiller, Friedrich 196, 273, 337 Sokrates 360, 362
Schlesier, Renate 384 Solms, Mark 78, 114, 132
Schliemann, Heinrich 195 Sombart, Werner 418
Schmid, Michael 357 Sommerfeld, Martin 330
Schmidgen, Henning 359 Sophokles 209, 233, 249, 251, 257, 302, 330, 337,
Schmidt, Arno 320 362
Schmidt, Wera 373, 397 Spann, Othmar 418
Schmitt, Carl 190 Spector, Jack 211
Schneider, Michael 420 Spencer, Herbert 11, 119
Schneider, Monique 356 Spielrein, Sabina 69, 227
Schneider, Peter 170 Spinoza, Baruch de 262, 355, 360
Schnitzler, Arthur 3, 13, 20, 27ff., 30ff., 38, 72, 228, Spitz, René A. 289, 299, 407
272, 320 f., 323 f., 326 Starobinski, Jean 272
Schnitzler, Johann 30 Staub, Hugo 202
Schon, Lothar 393 Steiner, John 251
Schönau, Walter 197, 333 Steinwachs, Ginka 321
Schönerer, Georg von 4, 6 Stekel, Wilhelm 60, 63, 73, 193, 218, 224, 292 f.,
Schopenhauer, Arthur 12 f., 19ff., 26, 31, 189, 193, 319, 332, 349, 352
321, 417 Stendhal 20
Schöpf, Alfred 17, 191 Stephan, Inge 344
Schorskes, Carl 4 Stern, Daniel 99, 299, 390
Schott, Heinz 107 Stern, William 113
Schreber, Daniel Paul 63, 360, 366 Sternberg, Fritz 374
Schrenck-Notzing, v. 43 Sterren, Driek van der 251
Personenregister 451

Stevos, Italo 319 Vest, Anna von 226


Stöcker, Helene 43, 45 Viereck, George Sylvester 228
Stoecker, Alfred 4 Villaret, Alfred 81
Stoller, Silvia 352 Vinken, Barbara 345
Storfer, Adolf 293 Virchow, Rudolf 53
Storm, Theodor 193 Vischer, Friedrich Theodor 227
Strachey, Alix 68, 290 Vleugels, Wilhelm 418
Strachey, James 68, 141, 280 f., 290, 319 Voegelin, Eric V
Strachey, Lytton 319 Vogt, Rolf 251
Strauß, David Friedrich 11 f. Volkan, Vamik D. 428
Strich, Fritz 330 Voltaire 12, 72
Strindberg, August 322
Stroczan, Katherine VI Waelder, Robert 312
Strotzka, Hans 207 f. Waelhens, Alphonse de 356
Struck, Hermann 228 Wagner, Richard 12 f.
Stucken, Eduard 200 Wagner-Winterhager, Luise 398 f.
Studlar, Gaylyn 408 f. Waldenfels, Bernhard 348, 354, 364
Sullivan, Harry Stack 279, 288, 292 Wallace, Edwin 168
Sulloway, Frank J. 18, 45, 78, 170, 218 Wallon, Henri 353, 358
Svevo, Italo 201, 319, 326 Wangh, Martin 428
Swaan, Abram de 141 Warburg, Aby 304
Swoboda, Hermann 227 Wassermann, Jakob 3
Weber, Elisabeth 356
Taine, Hippolyte 15 Weber, Max V, 73, 171, 245, 418, 425
Tarde, Gabriel 425 Weber, Samuel 275
Tarnowsky, Benjamin 44 Weigel, Sigrid 344
Tausk, Viktor 66, 277 Weininger, Otto 3, 37
Theweleit, Klaus 304, 389, 393 Weinstein, Fred 419
Thibaudet, Albert 333 Weismann, August 161
Thomas von Aquin 360 Weiss, Edoardo 69, 227, 319
Thurnwald, Richard 413 Weiß, Ernst 320, 326
Timms, Edward 60 Weiss, Regula 413
Timpanaro, Sebastiano 119 Weizmann, Chaim 75
Tissot, Samuel Auguste David 40 Weizsäcker, Viktor von 228, 261
Tögel, Christfried 199 Wells, H. G. 74
Toller, Ernst 320 Welsen, Peter 354
Tolman, Edward 114, 297 Werfel, Franz 320, 325 f.
Treitschke, Heinrich von 4 Wernicke, Carl 81
Treusch-Dieter, Gerburg 201 Wertheimer, Max W. 352
Trotzkij, Lew 374 Westphal-Hellbusch, Sigrid 169
Tucholsky, Kurt 74, 321 Weygandt, Wilhelm 61
Turnheim, Michael 190 Widlöcher, Daniel 285 f.
Tylor, Edward Burnett 21 Widmer, Peter 357
Wiese, Leopold v. 419
Uexküll, Thure von 278 Wild, Reiner 330
Uhland, Ludwig 119 Wilde, Oscar 59
Ulrichs, Karl Heinrich 41 f. Wilder, Thornton 319
Urban, Bernd 333 Williams, Tennessee 319
Wilson, Robert 228, 275
Vaihinger, Hans 12 Wilson, Thomas Woodrow 228
Valabrega, Jean-Paul 285 Winnicott, Donald W. 158, 177, 197, 204, 257 f.,
Valéry, Paul 353 280, 290, 310, 313 f., 342
Vergil 118 Wittels, Fritz 36, 60, 62 f., 80, 159, 227
452 Personenregister

Wittgenstein, Ludwig 5, 13, 23, 27, 31, 96, Zafiropoulis 359


360 Zajíc, Monica 50
Wittig, Monique 344 Zech, Paul 320
Woolf, Leonard 68 Zempléni, Andras 415
Woolf, Virginia 68, 74, 319 f. Zeppelin, Ilka von 114, 115
Wright, Elizabeth 343 f. Ziegler, Klaus 330
Wrong, Dennis H. 419 Žižek, Slavoj 152, 375
Wulff, Mosche 373 Zola, Emile 5, 29
Wundt, Wilhelm 15, 193, 201, 296 Zulliger, Hans 398
Würgler, Mirna 413 Zweig, Arnold 61, 69, 181, 183, 225 f., 230, 233,
Würker, Achim 341 320, 323
Zweig, Stefan 12, 27, 37, 38, 69, 74 f., 228, 320,
Yerushalmi, Yosef Hayim 187, 369 323

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