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Herausgegeben

von Manfred Engel Kafka-


Handbuch
und Bernd Auerochs

Leben – Werk – Wirkung

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Die Herausgeber
Manfred Engel, geb. 1953, ist Professor für Neuere
deutsche Literaturwissenschaft an der Universität
des Saarlandes; 2006–2009 Taylor Chair an der
Universität Oxford.
Bernd Auerochs, geb. 1960, ist Privatdozent für
Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der
Universität Jena.

Bibliografische Information der Deutschen National-


bibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprü nglich erschienen bei J. B. Metzler’sche
Verlagsbuchhandlung
ISBN 978-3-476-02167-0 und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2010
ISBN 978-3-476-05276-6 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05276-6 www.metzlerverlag.de
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Für Ulrich Fülleborn
VII

Inhaltsübersicht

Inhaltsverzeichnis VIII 3.3 Das späte Werk


Vorwort XIII (ab September 1917) 281
Hinweise zur Benutzung XVII 3.3.1 Zürauer Aphorismen 281
3.3.2 <Brief an den Vater > 293
3.3.3 Das Schloss 301
1. Leben und Persönlichkeit 1 3.3.4 Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten 318
3.3.5 <Forschungen eines Hundes> 330
2. Einflüsse und Kontexte 29 3.3.6 <Der Bau> 337
3.3.7 Kleine nachgelassene Schriften
2.1 Kafkas Lektüren 29 und Fragmente 3 343
2.2 Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur
im Prag zu Kafkas Zeit 37 3.4 Werkgruppen 371
2.3 Judentum/Zionismus 50 3.4.1 Gedichte 371
2.4 Philosophie 59 3.4.2 Die Tagebücher 378
2.5 Psychoanalyse 65 3.4.3 Das Briefwerk 390
2.6 Film und Fotografie 72 3.4.4 Amtliche Schriften 402

3. Dichtungen und Schriften 81 4. Strukturen, Schreibweisen,


Themen 411
3.0 Drei Werkphasen 81
4.1 Kafka lesen – Verstehensprobleme
3.1 Das frühe Werk (bis September 1912) 91 und Forschungsparadigmen 411
3.1.1 Beschreibung eines Kampfes 91 4.2 Schaffensprozess 428
3.1.2 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 102 4.3 Kafka als Erzähler 438
3.1.3 Betrachtung 111 4.4 Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln,
3.1.4 Die Aeroplane in Brescia 127 Aphorismen 449
3.1.5 Richard und Samuel 130 4.5 Figurenkonstellationen: Väter/Söhne –
3.1.6 Literaturkritische und literaturtheoretische Alter Egos – Frauen und das Weibliche 467
Schriften 134 4.6 Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie:
3.1.7 Kleine nachgelassene Schriften Kunst und Künstler im literarischen
und Fragmente 1 143 Werk 483
4.7 Kafka und die moderne Welt 498
3.2 Das mittlere Werk
(September 1912–September 1917) 152
3.2.1 Das Urteil 152 Anhang 517
3.2.2 Die Verwandlung 164
3.2.3 Der Verschollene 175 Ausgaben und Hilfsmittel 517
3.2.4 Der Process 192
Siglen und Abkürzungen 528
3.2.5 In der Strafkolonie 207
3.2.6 Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 218 Literaturverzeichnis 532
3.2.7 <Der Gruftwächter > 240 Register 549
3.2.8 Der Kübelreiter 246
3.2.9 Beim Bau der chinesischen Mauer 250 Die Autorinnen und Autoren 561
3.2.10 Kleine nachgelassene Schriften
und Fragmente 2 260
VIII

Inhaltsverzeichnis

Vorwort XIII 2.6 Film und Fotografie (Carolin Duttlinger) 72


Hinweise zur Benutzung XVII Kafka und der Stummfilm 72 – Filmische Schreibweisen
Aufbau der Artikel XVII – Zitierweise XVII – 73 – Das Kaiserpanorama: Abwendung vom Kino 74 – Das
Registerteil XVIII Wahrnehmungsmodell der Fotografie 75 – Die Porträt-
fotografie: das uniformierte Subjekt 76 – Die Moment-
aufnahme: Ambivalenz und Manipulation 77 – Film
und Fotografie: das Modell einer Vereinigung? 78 – For-
1. Leben und Persönlichkeit 1 schung 78
(Ekkehard W. Haring)
Herkunft und Kindheit 1 – Schule und Autoritäten 3 – Die
Jahre des frühen Werkes: Studium und erste Berufsjahre;
Größere Reisen; Eine Jargonbühne in Prag 6 – Die Jahre
3. Dichtungen und Schriften 81
des mittleren Werkes: Der Durchbruch; Im Krieg 16 –
Die Jahre des späten Werkes: Krankheit und Neubeginn; 3.0 Drei Werkphasen (Manfred Engel) 81
Berlin, Kierling – die letzten Monate 21 – Forschung 26
Das frühe Werk (bis September 1912): Überblick;
Charakteristika 82 – Das mittlere Werk (September 1912
bis September 1917): Überblick; Charakteristika 85 –
Das späte Werk (ab September 1917): Überblick; Charak-
2. Einflüsse und Kontexte 29 teristika 88 – Forschung 89

2.1 Kafkas Lektüren (Dieter Lamping) 29


Vorüberlegungen 29 – Der empirische Leser: Kafkas 3.1 Das frühe Werk (bis September 1912) 91
Bibliothek; Interessen des Lesers Kafka; Lektüre-Zeiten;
Motive des Lesers Kafka 30 – Produktive Lektüren: 3.1.1 Beschreibung eines Kampfes
Produktive Rezeptionen; Zwei Vorbilder (Goethe; (Barbara Neymeyr) 91
Flaubert); Ein Beispieltext: Produktive Rezeptionen in
Der Verschollene 32 – Forschung 36 Entstehung und Veröffentlichung 91 – Textbeschreibung
92 – Forschung 93 – Deutungsaspekte: Konstruktion des
Phantastischen; Die Thematik des Kampfes vor dem
2.2 Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur Horizont der modernen Identitätskrise; E.T.A. Hoffmanns
im Prag zu Kafkas Zeit (Andreas B. Kilcher) 37 Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht als Modell für
Kafkas Beschreibung eines Kampfes; Fragmentierung als
Prag als narrativer Raum 37 – Literatur im Prag der moderne Erzählstrategie; Krisenhafte Interaktion 94
Jahrhundertwende: Ghettoliteratur, Concordia, Jung-Prag – Vergleich der Fassungen A und B 100
38 – Der ›Prager Kreis‹: Literatursoziologische Perspektive;
Literaturhistorische Perspektive; Ein Kapitel der deutsch-
3.1.2 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande
jüdischen Literatur? 42 – Forschung 47
(Jutta Heinz) 102
Entstehung 102 – Textbeschreibung 102 – Forschung 103
2.3 Judentum/Zionismus (Gerhard Lauer) 50 – Deutungsaspekte: Fassung A (Lakonischer Beginn: »Es
Biographisches: Assimilation und Zionismus; Das regnete wenig«; Vollständigkeit der Beschreibung: »Alles
jiddische Theater; Hebräischstudium 50 – Lektüren 52 rund herum zu sehn«; Innerer Monolog: »Die Gestalt eines
– Jüdische Stoffe, Motive und Themen 53 – Forschung 54 großen Käfers«; Misslingende Dialoge: »Ich habe Augen
niemals schön gefunden«; Das zweite Kapitel: Totenland-
schaften und Tribunal); Fassung B (Polarität und Perso-
2.4 Philosophie (Dirk Oschmann) 59 nalisierung des Erzählens: »ohne Absicht fremd, wie durch
Friedrich Nietzsche 60 – Søren Kierkegaard 62 – Arthur ein Gesetz«; Kommunikative Sackgassen: »Nun, es ist nicht
Schopenhauer 63 – Franz Brentano 63 – Forschung 63 so wichtig«); Fassung C – Beobachterdominanz und
Monumentalisierung: »Wie jeder sehen konnte«; Fort-
gesetzte Beobachtung: Zwei Tagebucheinträge vom
2.5 Psychoanalyse (Thomas Anz) 65 26. Februar 1912 und 12. März 1912; Zusammenfassung:
Kafkas Psychoanalyse-Rezeption bis 1912 65 – Kafka und Wechselwirkungen von Stabilisierung und Destabilisie-
der Psychoanalytiker Otto Gross 67 – Forschung 70 rung 104
Inhaltsverzeichnis IX

3.1.3 Betrachtung (Barbara Neymeyr) 111 3.2 Das mittlere Werk


Entstehung und Veröffentlichung 111 – Textbeschreibung: (September 1912 – September 1917) 152
Implikationen des Werktitels; Erzählerinstanzen; Moti-
vische Korrelationen; Gattungsproblematik; Logische 3.2.1 Das Urteil (Monika Ritzer) 152
Konstruktionen und Strategien der Verfremdung; Entstehung und Veröffentlichung: Vom Tagebuch zur
Perspektivische Experimente 112 – Forschung 115 – Dichtung; Prätext: Die städtische Welt; Biographische
Deutungsaspekte: Psychologische Konstellationen; Motive; Publikation 152 – Textbeschreibung 154 – For-
Kontrastive Figurationen; Instabile Wirklichkeiten: schung 155 – Deutungsaspekte: Lebensmuster: Nachfolge
Phantastik versus Realismus; Fluchtreflexe und Ver- contra Ausbruch; Beziehungen: Interesse, Taktik, Besitz;
mittlungsversuche 116 – Exemplarische Textanalysen: Vater und Sohn: Spiegelungen – Verdrängungen; Parabel
Die Bäume; Der plötzliche Spaziergang; Entschlüsse ; menschlicher Verschuldung 156
Die Vorüberlaufenden; Kinder auf der Landstraße 118
3.2.2 Die Verwandlung (Sandra Poppe) 164
3.1.4 Die Aeroplane in Brescia
Entstehung und Veröffentlichung: Entstehungsgeschichte;
(Ronald Perlwitz) 127 Mögliche Quellen; Veröffentlichung 164 – Textbeschrei-
Entstehung und Veröffentlichung 127 – Textbeschreibung bung: Erzählsituation und fiktionale Welt; Inhaltliche
127 – Forschung 128 – Deutungsaspekte 128 Entwicklung 165 – Forschung: Anti-Märchen oder
Tragödie – Traum oder Wirklichkeit; Erkenntnislosigkeit
und Schuld; Ausbeutung und Verdrängung; Vater-Sohn-
3.1.5 Richard und Samuel (Ronald Perlwitz) 130
Konflikt; Das Rätsel als Lösung 167 – Deutungsaspekte:
Entstehung und Veröffentlichung 130 – Textbeschreibung Entfremdung und Entindividualisierung; Das Motiv des
130 – Forschung 131 – Deutungsaspekte 131 Hungerns; Das »ungeheuere Ungeziefer«; Die Verwand-
lung der Familie: Vater-Sohn- und Bruder-Schwester-Ver-
hältnis 169
3.1.6 Literaturkritische und literaturtheoretische
Schriften (Jutta Heinz) 134
3.2.3 Der Verschollene (Manfred Engel) 175
Kafka und die Theorie 134 – Die Rezensionen: Ein Damen-
brevier (Franz Blei: Die Puderquaste); Ein Roman der Entstehung und Veröffentlichung: Entstehungs- und
Jugend (Felix Sternheim: Die Geschichte des jungen Os- Druckgeschichte; Quellen und Vorlagen 175 – Textbe-
wald ); Eine entschlafene Zeitschrift; »Das ist ein Anblick« – schreibung: Aufbau und Figurenkonstellation; Erzähl-
(<Über Kleists Anekdoten>); Fazit 134 – Literatur- und perspektive 178 – Forschung 183 – Deutungsaspekte:
sprachtheoretische Beiträge: <Über ästhetische Appercep- Amerika und Europa; Karl Roßmann; Das »Teater von
tion> (»Man darf nicht sagen«); <Über kleine Litteraturen> Oklahama« 184
(Rechtfertigung der Literatenexistenz; Literatur und
nationale Identität; Verstärkende Wirkungen im Literatur- 3.2.4 Der Process (Manfred Engel) 192
system; Weiterführung und Schematisierung; Reflexion Entstehung und Veröffentlichung 192 – Textbeschreibung:
der Schreiberfahrung); Einleitungsvortrag über Jargon 137 Bauprinzipien; Die zwei Textwelten und ihre Verbin-
– Forschung und Deutungsaspekte 141 dungen; Erzählperspektive 193 – Forschung 198 –
Deutungsaspekte: Wirklichkeitsebenen des Romans
3.1.7 Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente und Prozess/Gerichts-Metapher; Josef K.; Die Türhüter-
1 (Jutta Heinz) 143 legende 201
Überblick: Werkartige Teile im Nachlass 1–12 und in den
Tagebuchheften 1–6 143 – Fiktionalisierte Jugend: <Unter 3.2.5 In der Strafkolonie (Bernd Auerochs) 207
meinen Mitschülern>: Welteroberung durch Urteil; Der Entstehung und Veröffentlichung 207 – Quellen 208 –
kleine Ruinenbewohner: Die Unmöglichkeit von Vorwür- Textbeschreibung 209 – Forschung 211 – Deutungs-
fen (Der Erzählkern: Analytische Anklage und bildlicher aspekte 214
Gegenentwurf (I); Das Erziehungskartell: »einige Schrift-
steller, ein Schwimmeister, ein Billeteur« (II und III); 3.2.6 Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Dialektik des Vorwurfs: »aber zu meiner Zeit jetzt sind
(Juliane Blank) 218
nur die Vorwürfe richtig« (IV); Variation des Vorwurfs:
Körperliche Unvollkommenheit (V)); Urteil und Vorwurf: Entstehung und Veröffentlichung 218 – Textbeschreibung:
Zum Verhältnis der beiden Jugend-Fragmente; Forschung Motivliche Querverbindungen; Erzählform und Erzählver-
143 – Der Junggesellen-Komplex: Einsiedler vs. »vollen- halten; Antirealistisches Erzählen; Reihenfolge der Texte
dete Bürger«; Junggeselle und »vollendeter Bürger«: Grund 219 – Forschung 222 – Deutungsaspekte: Verantwortung?;
vs. Mittelpunkt; Das Doppelgesicht des Junggesellen: Unbestimmtheit und Verallgemeinerung; Die beunruhi-
Einsiedler oder Schmarotzer?; Eine Junggesellen-Poetik gende Frage der Identität; ›Wirklichkeit‹ und ›Täuschung‹;
148 Erkenntnis 223 – Einzelanalysen: Ein Landarzt; Schakale
und Araber ; Ein Bericht für eine Akademie 227
X Inhaltsverzeichnis

3.2.7 <Der Gruftwächter > (Bernard Dieterle) 240 hörden-Logik); Mögliche Einflüsse und Paralleltexte 303
Entstehung und Veröffentlichung 240 – Textbeschreibung – Zur Forschung: Allegorie, Parabel oder Symbol?;
240 – Forschung 242 – Deutungsaspekte: Paradoxien; Judentum; Schreiben, Subjekt und Geschlecht; Biographie,
Motive; Shakespeares Hamlet als Prätext?; Das Problem Verwaltung und Medien 308 – Deutungsaspekte: Vor-
des Dramatischen 242 bemerkung (Ambivalenz/Unbestimmtheit; Täuschung;
Akausalität, Paradoxie; Verschleppung, Verschiebung);
Der soziale Raum und seine Medien; Subjektivität
3.2.8 Der Kübelreiter (Hans Helmut Hiebel) 246
und Liebe; Schreiben und Judentum; Komik und Hu-
Entstehung und Veröffentlichung 246 – Textbeschreibung
mor 311
246 – Forschung 247 – Deutungsaspekte 248

3.2.9 Beim Bau der chinesischen Mauer 3.3.4 Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten
(Benno Wagner) 250 (Bernd Auerochs) 318
Entstehung und Veröffentlichung 250 – Textbeschreibung Entstehung und Veröffentlichung 318 – Textbeschreibung:
250 – Forschung 252 – Deutungsaspekte: Aktualhisto- Künstlergeschichten; Motive 319 – Einzelanalysen: Ein
rische Intervention; Narrative Struktur: Kafkas Poetik des Hungerkünstler (Forschung; Deutungsaspekte); Josefine,
Unfalls; Transtextuelle Dimension: Kafkas Kulturversiche- die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (Forschung;
rung; Selbstreferenz als Gebrauchsanweisung 253 Deutungsaspekte) 322

3.2.10 Kleine nachgelassene Schriften und Frag- 3.3.5 <Forschungen eines Hundes>
mente 2 (Bernard Dieterle) 260 (Nicolas Berg) 330
Überblick 260 – Textbeschreibung 261 – Gliederung: Entstehung und Veröffentlichung 330 – Textbeschreibung
Fragmente in Er-Form; Fragmente in Ich-Form 262 – 330 – Forschung: Vorbilder und Intertextualität; Ästhetik
Deutungsaspekte 265 – Einzelanalysen: <Ernst Liman>; und Kunsttheorie; Jüdische Existenz 331 – Deutungs-
Erinnerungen an die Kaldabahn; Der Dorfschullehrer aspekte 334
(<Der Riesenmaulwurf >); Der Unterstaatsanwalt;
<Elberfeld >-Fragment; <Blumfeld, ein älterer Junggeselle>; 3.3.6 <Der Bau> (Vivian Liska) 337
<Monderry>; <Die Brücke>; <Jäger Gracchus>-Fragmente
(Textkorpus; Deutungsaspekte); <Der Schlag ans Hoftor >; Entstehung und Veröffentlichung 337 – Textbeschreibung
Der Quälgeist; Eine Kreuzung 265 – Forschung 278 337 – Forschung 339 – Deutungsaspekte: Rationalität und
Moderne; Formale Aporien; Das Bau-Motiv; Ende und
Unendlichkeit 340
3.3 Das späte Werk (ab September 1917) 281
3.3.7 Kleine nachgelassene Schriften
3.3.1 Zürauer Aphorismen (Manfred Engel) 281 und Fragmente 3 (Manfred Engel) 343
Entstehung und Veröffentlichung: Zürauer Aphorismen;
Überblick 343 – Textbeschreibung: Vier Schreibphasen:
Die Reihe <Er > als zweites Aphorismenkonvolut? 281
(1) Zürau; (2) ›Konvolut 1920‹ (Schreibprozesse; Para-
– Textbeschreibung: Textkorpus; Aphorismen? Zur
bolisches und aphoristisches Schreiben versus ›selbstbio-
Gattungsfrage; Schreibweisen und Leseprobleme 283 –
graphische Untersuchungen‹: Zum werkgeschichtlichen
Forschung 286 – Deutungsaspekte: Die Zürauer
Aphorismen als Kryptotheologie?; Zentrale Themen Ort des ›Konvolut 1920‹); (3) Schloss-Jahr 1922; (4) Berlin
und Motive (Das ›Unzerstörbare‹; ›Sinnliche‹ und (und Prag) 344 – Einzelanalysen: Mythenkontrafakturen
›geistige Welt‹; Der Sündenfall; Die Kunst; Zusammen- im Umfeld der Zürauer Aphorismen (<Die Wahrheit über
fassung) 287 Sancho Pansa>; <Das Schweigen der Sirenen>; <Prome-
theus>); Aus dem ›Konvolut 1920‹ (<Poseidon>; <Kleine
Fabel>); Schloss-Jahr 1922 (Das Ehepaar; Ein Kommentar
3.3.2 <Brief an den Vater > (Daniel Weidner) 293 (<Gibs auf! >); <Von den Gleichnissen>) 354 – Forschung
Entstehung und Veröffentlichung 293 – Textbeschreibung 365
293 – Forschung: Biographische Interpretationen;
Psychoanalytische Interpretationen; Literarische 3.4 Werkgruppen 371
Interpretationen; Sozialgeschichtliche Interpretationen;
Dekonstruktive Interpretationen 294 – Deutungsaspekte: 3.4.1 Gedichte (Jutta Heinz) 371
Der kindliche Blick; Die Väter des <Brief>; Prozess, Kampf,
Schuld; Schwellen im Text; Der jüdische Vater; Schrift und Kafka und die Lyrik: Kafkas Gedichtlektüre: »Den Kopf
Brief 296 wie von Dampf erfüllt«; Kafkas Lieblingsgedichte: »Die
Tanne war wie lebend« 371 – Das Textkorpus: Frühe
Texte in Poesiealben, Briefen und im Nachlass; Lyrik im
3.3.3 Das Schloss (Waldemar Fromm) 301 Erzählwerk; Gedichte aus den Tagebüchern mit biogra-
Entstehung und Veröffentlichung 301 – Textbeschreibung: phischem Kontext; Sentenziöse Gedichte der Spätzeit;
Gliederung; Bildlichkeit und Erzähltechnik; Was ist das Tendenz zur Abstraktion; Funktionen der Lyrik bei Kafka
›Schloss‹? (Ankunft; Klamm; Die Dorfbewohner; Be- 372 – Forschung und Wirkung 377
Inhaltsverzeichnis XI

3.4.2 Die Tagebücher (Philipp Theisohn) 378 4.4 Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln,
Zur Textgruppe 378 – Veröffentlichung 380 – Strukturie- Aphorismen (Rüdiger Zymner) 449
rung des Materials 380 – Deutungsaspekte: Judentum; Zum systematischen und historischen Zusammenhang
Familie; Körperlichkeit 383 – Forschung 389 von Denkbild, Parabel und Aphorismus 450 – Kafkas
Denkbilder 452 – Kafkas Parabeln 456 – Kafkas Aphoris-
3.4.3 Das Briefwerk (Ekkehard W. Haring) 390 men 460 – Forschung 462
Kafka und die Briefkultur 390 – Briefe 1900 bis 1912 391
– Briefe 1912 bis 1917 393 – Briefe 1918 bis 1924 396 – 4.5 Figurenkonstellationen: Väter/Söhne −
Editionsgeschichte und Bestände 398 – Forschung 400 Alter Egos − Frauen und das Weibliche
(Elizabeth Boa) 467
3.4.4 Amtliche Schriften (Benno Wagner) 402 Fragestellungen: Exemplarische Textanalyse: <Kleine
Überblick zum Textkorpus 402 – Deutungsaspekte: Fabel > (Charakteranalyse – Leseridentifikation; Komik
Probezeit (1908–1910); Hauptamtliche Tätigkeit – Biographie und Diskursanalyse) 467 – Väter und Söhne:
(1910–1918) (Unfallverhütung; Gefahrenklassifikation Der ewige Sohn oder der unglückliche Junggeselle?; Das
der Betriebe; Öffentlichkeitsarbeit); Schriften aus der Zeit Urteil: Die imaginäre Macht des Vaters; Die Verwandlung :
Vater und Sohn, Schwester und Bruder 469 – Alter Egos
der Tschechoslowakischen Republik (1918–1922) 403 –
und Doppelgänger: Der Process – Machtstrukturen und
Forschung 408
Männlichkeitsmuster; Das Schloss: Wie man aus Helfern
Feinde macht 472 – Frauen und das Weibliche: Der
Verschollene : Geschlechterkampf in der Neuen Welt; Der
Process : Imaginierte Weiblichkeit; Das Schloss : Die Macht
4. Strukturen, Schreibweisen, Themen 411 der Imagination; Frauen und andere weibliche Tiere 477
4.1 Kafka lesen – Verstehensprobleme und
Forschungsparadigmen (Manfred Engel) 411 4.6 Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie:
Verstehensprobleme: (1) Anti-realistisches Erzählen – ab- Kunst und Künstler im literarischen Werk
solute Bildwelten; (2) Vertrackte Details – Weh denen, die (Manfred Engel) 483
Zeichen sehen?; (3) Aufhebungen und Umlenkungen – Vorüberlegungen 483 – Der ›Gerichtsmaler‹ Titorelli:
subvertierte Reflexion; (4) »Gibs auf!«? – Autoreflexivität Ambivalenzen in Kafkas Kunstauffassung 484 – Erstes Leid
und textinterne Deutungsversuche in perspektivischer und Ein Hungerkünstler: Kunst versus Leben 486 –
Begrenzung; (5) Werk oder Schrift?; (6) Meta-Texte und <Forschungen eines Hundes>: »Wahrheit« versus »Lüge«
Kontexte? 411 – Leseparadigmen/Forschungsparadigmen: 489 – Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse: Die
(1) Biographische Interpretationen; (2) Psychoanalytische Kunst aus der Sicht des Nicht-Künstlers 493 – »Versunken
Interpretationen; (3) Sozialgeschichtliche Interpretationen; in die Nacht«: Statt eines Fazits 496 – Forschung 497
(4) Poststrukturalistische/dekonstruktivistische Interpre-
tationen; (5) Religiöse/existenzialistische Interpretationen; 4.7 Kafka und die moderne Welt
(6) Jüdische Interpretationen 419 – Die Textoberfläche
(Manfred Engel) 498
und ihre Codes 424
Ästhetische versus soziale Moderne 498 – Kafkas ›west-
jüdische‹ Moderne 499 – Die Moderne und die »alten
4.2 Schaffensprozess (Waldemar Fromm) 428 großen Zeiten« – Kafkas historische Doppel- und
Kafkas Literaturbegriff 428 – Das Konzept der ›kleinen Hybrid-Welten: ›Europa‹ vs. ›Amerika‹ in Der Verschol-
Literaturen‹: Eine Sprache für die ›kleinen Literaturen‹; lene; Alte und neue Ordnung in der Strafkolonie; Gemein-
Darstellungsweisen einer ›kleinen Literatur‹ 429 – Das schaft und symbolische Ordnung in den China-Texten;
Urteil – traumhafter Durchbruch des Autors und Scheitern Spuren eines anderen Anfanges: <Das Stadtwappen> 502
der Figuren 431 – Schreiben als Existenzform (Selbstre- – Pathographien des modernen Ich: Die Angst vor dem
flexion) 431 – Erkundungen einer höheren, ästhetischen ›fremden‹ Leben und das Scheitern von Berechnung
Art der Beobachtung 432 – Selbstreflexivität der Prosa 433 und Verdrängung: <Der Bau>; Die letzte Grenze aller
– Forschung 434 Verdrängungen: <Der Jäger Gracchus> 508 – Statt eines
Fazits 512 – Forschung 514
4.3 Kafka als Erzähler (Dirk Oschmann) 438
Vorüberlegungen: ›Modernes‹ Erzählen; Erzählpoetolo-
gische Reflexionen 438 – Poetik der Reduktion 439 –
Formale Innovationen: ›Einsinniges Erzählen‹; ›Gleitendes Anhang 517
Paradox‹ 441 – Zur Entwicklung der Erzählverfahren 443
– Unanschauliche Moderne 446 – Forschung 447 Ausgaben und Hilfsmittel (Manfred Engel) 517
Werkausgaben und Editionsgeschichte: Publikationen zu
Lebzeiten und Nachlass; Postume Editionen; Exkurs zum
XII Inhaltsverzeichnis

Editionenstreit; Synopsen zwischen GW, KA und FKA; 3. Hilfsmittel: 3.1 Selbstdeutungen; 3.2. Kafkas Bibliothek;
Editionen des Briefwerkes 517 – Biographien, Bildbände, 3.3 Konkordanzen; 3.4 Kommentare; 3.5 Bibliographien
Lebenszeugnisse 523 – Hilfsmittel 524 – Institutionen der und Forschungsberichte; 3.6. Handbücher und Nach-
Kafka-Forschung – Kafka im Internet 525 schlagewerke; 3.7 Ausgewählte Einführungen 536 –
4. Forschungsliteratur: 4.1 Sammelbände; 4.2 Ausgewählte
Siglen und Abkürzungen 528 Monographien und Aufsätze 537 – 5. Zur Rezeptions- und
Wirkungsgeschichte: 5.1. Bibliographie; 5.2 Rezeption in
1. Werk- und Briefausgaben 528 – 2. Sekundärliteratur 531 Regionen und bei Autoren; 5.3 Verfilmungen; 5.4
– 3. Zeitungen und Zeitschriften 531 Illustrationen, Rezeption in der Bildenden Kunst 546

Literaturverzeichnis 532
Register 549
1. Ausgaben: 1.1 Werk- und Sammelausgaben (Auswahl in
Personen 549
chronologischer Folge), kritische Editionen; 1.2 Briefe;
Werke Kafkas 555
1.3 Werkauswahl; 1.4 Das zeichnerische Werk 532 –
2. Biographien, Bildbände, Lebenszeugnisse 535 – Die Autorinnen und Autoren 561
XIII

Vorwort

Kafka ist ohne Zweifel der heute weltweit meistgele- tere Germanisten werden sich vielleicht noch mit
sene Autor deutscher Sprache – und sicher der meist- leichtem Schaudern an Anzeigen der späten 1970er
umrätselte. Von seinem Nachruhm und seiner blei- Jahre erinnern, aus denen ihnen mit der Unterschrift
benden Aktualität zeugen zahllose Übersetzungen »Ich trinke Jägermeister, weil ich Kafkas Schloß nicht
ebenso wie Umgestaltungen seiner Erzähltexte in die geknackt habe« fröhlich zugeprostet wurde. Der Hö-
verschiedensten Genres und Medien: Hörspiel, Dra- hepunkt dieser Breitenwirkung liegt sicher darin,
ma, Film, Oper, Musik, Tanztheater, Malerei, Zeich- dass der Autor es sogar zu eponymischen Ehren ge-
nung, Comic, Zeichentrickfilm und Youtube-Video. bracht hat, indem er zum Stammvater für ein in vie-
Aus der langen Reihe von Literaten, die von Kafka len Sprachen verwendetes Adjektiv wurde: ›kafka-
zeitweise beeinflusst waren oder ihn sich intertex- esk‹ (dt. u. poln.), ›kafkaesque‹ (engl.), ›kafkaïen‹
tuell anverwandelt haben, seien hier nur einige (franz.), ›kafkiano‹ (ital., span. u. port.), ›Kafkastäm-
besonders bekannte genannt: Ilse Aichinger, Jürg ning‹ (schwed.), ›Ka-fu-ka-es-ku-su‹ (jap.).
Amann, Paul Auster, Ingeborg Bachmann, Samuel Hinter all dem steht eine stabile (und natürlich
Beckett, Saul Bellow, Thomas Bernhard, Maurice durch Kanonisierung und Schulbuchlektüre stabili-
Blanchot, Jorge Luis Borges, Bertolt Brecht, André sierte) Erfolgsgeschichte des Autors Kafka bei einer
Breton, Hermann Broch, Dino Buzzati, Albert Ca- breiten Lesergemeinde, die im angloamerikanischen
mus, Elias Canetti, Paul Celan, John M. Coetzee, und französischen Sprachraum schon in den späten
Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke, Joseph Heller, 1930er und 1940er Jahren, in Deutschland und Ös-
Eckhard Henscheid, Eugène Ionesco, Tommaso Lan- terreich bald nach 1945, in den Staaten des Ostblocks
dolfi, Bernard Malamud, Haruki Murakami, Harold erst ab den 1980er Jahren einsetzte und seitdem
Pinter, Thomas Pynchon, Alain Robbe-Grillet, Philip nicht abgerissen ist. Sucht man nach Indizien für die
Roth, Tadeusz Rózewicz, Jerome D. Salinger, fortdauernde Aktualität Kafkas bei zeitgenössischen
Eduardo Sanguinetti, Jean-Paul Sartre, Manuel Var- Lesern, so kann man im Internet leicht fündig wer-
gas Llosa, Martin Walser, Peter Weiss und Ror Wolf. den: Google bietet bei der Eingabe von »Kafka« fast
Zudem reicht die Kafka-Rezeption längst in unser 7 Millionen Treffer an!
Alltagsleben hinein. Auch wer nie einen Text des Au- Wer sich die Mühe macht, auch nur einige dieser
tors gelesen hat, mag (in vielen Städten) durch ›Kaf- Seiten zu besuchen (oder einige Texte aus der eben-
kastraßen‹ gegangen sein, sich einen Edelfüller der falls gewaltigen Bibliothek der Kafka-Sekundärlite-
Marke ›Franz Kafka‹ oder den Krimi Die Signatur ratur zu lesen), wird allerdings bald daran zweifeln,
des Mörders. Ein Serienkiller auf Kafkas Spuren (von dass sich all seine Lektüren wirklich auf den gleichen
Krystyna Kuhn; 2008) gekauft haben, den Font »Mis- Autor beziehen. Einer der Kafkas, die er so kennen-
ter K« zu Designzwecken verwenden (der Kafkas lernt, war ein scharfsinniger Zeitkritiker, der in sei-
Handschrift nachgebildet ist), CDs mit dem Titel nem Werk die Strukturen und Übel der Seins- und
»Kafka« der japanischen Band Deadman oder des Todesvergessenheit/ des Kapitalismus/ der verwalte-
englischen Violinisten Nigel Kennedy hören, die ten Welt/ der Moderne/ der Familie/ des Kolonialis-
Homepage der schottischen Band Josef K besuchen mus/ der ›Machtapparate‹ im Allgemeinen oder der
(www.josefk.net), sich eine Suppe à la Kafka kochen ›Biopolitik‹ im Besonderen bloßgelegt – oder gar
(Mark Crick: Kafka’s Soup. A Complete History of prophetisch den Holocaust/ die totalitären Systeme/
World Literature in 14 Recipes; 2006) oder eine kriti- alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorwegge-
sche Auseinandersetzung mit der Bush-Regierung nommen hat. Ein anderer Kafka scheint dagegen in
lesen, die den Titel trägt: Kafka Comes to America. völliger Weltlosigkeit immer nur mit sich selbst be-
Fighting for Justice in the War on Terror (von Stephen schäftigt gewesen zu sein: ein ›ewiger Sohn‹ im
T. Wax; 2008). Kafka ist zu einem Markenartikel der Schatten eines übermächtigen Vaters/ ein vom Ödi-
deutschsprachigen Literatur und Kultur geworden, puskomplex/ von einer schizoiden Persönlichkeits-
mit dem sich gut für alles Mögliche werben lässt; äl- struktur/ von abgrundtiefer Misogynie/ von Ess-
XIV Vorwort

und Schlafstörungen geplagter Psychotiker und ausgeber haben deswegen nach einem Mittelweg ge-
Neurotiker. Ein dritter Kafka muss ein asketischer sucht zwischen gebotener Pluralität und dem nicht
Gottessucher gewesen sein, ein heroischer Märtyrer minder gebotenen Bemühen um den Nutz- und Ge-
seines Glaubens und seiner hohen ethischen Maß- brauchswert, den der Leser eines Handbuchs mit
stäbe. Dieser Kafka lässt sich durchaus in Verbin- Recht erwarten kann.
dung bringen mit demjenigen, der die jüdische Reli- Daher wurde für den Aufbau der Werkartikel ein
gion erneuern wollte/ den Irrweg der Assimilation Schema festgelegt, das in vier Abschnitten sozusagen
kritisierte/ ein hervorragender Kenner der jiddi- vom ›Objektiveren‹ zum ›Subjektiveren‹ fortschrei-
schen Literatur, der Tora und Kabbala, des Talmud, tet: (1) Am Anfang stehen jeweils Basisinformatio-
der Haskala, Halacha, Haggada und/oder auch noch nen zu Entstehung und Veröffentlichung. (2) Es folgt
der entlegensten Schriften des Chassidismus war – ein Abschnitt Textbeschreibung, der zentralen the-
wesentlich schwerer aber mit dessen Stiefbruder, der matischen wie formalen Aspekten gewidmet ist, zu-
unter seinem Judentum in ›jüdischem Selbsthass‹ litt gleich aber auch schon die wichtigsten Deutungs-
und eben deswegen zum großen Hypochonder probleme benennt. (3) Das Kapitel Forschung soll
wurde. Vielleicht aber war der wahre Kafka auch möglichst nicht einfach ein chronologisch geordne-
Kafka Nr. 6, der sich eigentlich nur für den Schreib- tes Referat von Einzelinterpretationen bieten, son-
vorgang/ die Literatur/ das endlos ›differante‹ Spiel dern zeigen, wie bestimmte Interpretenschulen die
der Zeichen interessiert hat und vollauf damit zu- im Vorabschnitt benannten Interpretationsprobleme
frieden war, eben dieses in seinem Schreiben in end- zu lösen suchten. (4) Erst im Schlussteil Deutungsas-
loser Meta-Reflexivität immer wieder neu zu thema- pekte findet sich dann der jeweils eigene Deutungs-
tisieren. Relativ selten wird unser nun wohl schon versuch des Artikelautors.
reichlich desorientierter Kafka-Sucher allerdings auf Eine zweite Eigenheit des vorliegenden Kafka-
den Kafka stoßen, ohne dessen Existenz all die ande- Handbuches ist der Versuch, die Entstehungschro-
ren sicher zeitlebens unbekannt geblieben wären: nologie des Werkes (soweit sie sich aus den Schrift-
den Literaten, der die Formensprache der ästheti- trägern ablesen oder doch wenigstens erschließen
schen Moderne bereichert hat, den genialen Finder lässt) erstmals wirklich ernstzunehmen. Zwar
und Erfinder einprägsamer Bilder und Geschichten herrscht in der Forschung schon lange Konsens dar-
von quasi-mythischer Allgemeinheit und Sinntiefe, über, dass das in der Nacht vom 22. zum 23. Septem-
den Hochspezialisten der Literatur, der abstrakte Re- ber 1912 geschriebene Urteil einen signifikanten
flexionen nur mit literarischen Mitteln und nie in di- Einschnitt bildet, der das ›frühe‹ vom ›reifen‹ Werk
rekter Begriffssprache ausdrückte. trennt. Über weitere Werkeinschnitte gibt es aber
keine Einigkeit – und es ist allgemeiner Brauch, in-
Dass bei solch reichem Nachruhm des Autors die terpretationsleitende Parallelstellen einigermaßen
Publikation eines Kafka-Handbuches ein sinnvolles wahllos aus allen Werkabschnitten heranzuziehen.
Unterfangen darstellt, wird man wohl nicht um- So wird beispielsweise selbst die ›frühe‹ Beschreibung
ständlich begründen müssen. Wohl aber sind Zwei- eines Kampfes (Fassung A: 1904–1907) oft mit Zita-
fel erlaubt, ob es ein Kafka-Handbuch überhaupt ge- ten aus den ›späten‹ Zürauer Aphorismen (zumeist:
ben kann. Schließlich erwartet man von diesem 1917/18) erschlossen.
Genre die Präsentation solider Informationen und Trotz seiner kurzen Lebens- und Schreibzeit ist
gesicherten Wissens. Was aber könnte im Falle Kaf- Kafka aber alles andere als ein monolithischer Au-
kas und im Lichte einer notorisch zerstrittenen tor: Der angeblich so zentrale Vater-Sohn-Konflikt
Kafka-Forschung ›sicheres Wissen‹ sein – außer viel- bestimmt in Wahrheit nur die Schriften aus der ers-
leicht die Daten der Biographie und der Publikati- ten Phase des mittleren Werks; weltanschauliche
onen? Jedes Kafka-Handbuch gerät so in die Gefahr, Grundsatzreflexionen sind auf die Jahre zwischen
zu einer relativ beliebig zusammengestellten Samm- 1917 und 1920 konzentriert; nach einer Tendenz zu
lung unterschiedlichster Meinungen und Meinungs- zunehmender parabolischer Verallgemeinerung
bilder zu werden. In gewissen Grenzen ist eine sol- greifen die spätesten Texte wieder stärker auf die
che Pluralität natürlich durchaus wünschenswert – persönliche Existenz- und Künstlerproblematik zu-
und jedenfalls eindeutig besser als das gegenteilige rück, etc. Um solche formalen wie thematischen
Extrem eines monolithischen, damit aber auch not- Entwicklungen stärker als bisher zu berücksichtigen,
wendigerweise partikularen Kafka-Bildes. Die Her- wurde der Werkteil des Handbuches in drei Werk-
Vorwort XV

phasen unterteilt. Am Ende jedes dieser Abschnitte ausgewählten Einzelinterpretationen) in drei Sam-
findet sich eine zusammenfassende Abhandlung zu melartikeln zu den »kleinen nachgelassenen Schrif-
den nicht bereits in Einzelartikeln behandelten ten und Fragmenten« vorgestellt. Zur überblickswei-
Nachlasstexten, die auch die Schreibzeiten und Ent- sen Charakteristik der Werkentwicklung dient auch
wicklungstendenzen der Werkphase herauszuarbei- der vorangestellte Abriss zu den »drei Werkphasen«.
ten sucht. Den Abschluss bilden Werkgruppenartikel zu den
Textsorten, die das Gesamtwerk durchziehen: den
Der Aufbau des Handbuches folgt dem bewährten Gedichten, Tagebüchern, Briefen und den ›amtli-
Muster der Metzler Personen-Handbücher, aller- chen Schriften‹ aus Kafkas Berufstätigkeit. (4) Im
dings mit einer gewichtigen Ausnahme. Auf einen Abschnitt Themen, Strukturen, Schreibweisen wer-
eigenen Teil ›Wirkung‹, wie er im Serientitel der den zunächst die besonderen Verstehensprobleme
Reihe vorgegeben ist, wurde bewusst verzichtet. Kaf- Kafkascher Texte diskutiert und dann die wichtigs-
kas multimediale Wirkungsgeschichte ist einfach zu ten Ansätze der Forschung kritisch vorgestellt. An-
umfassend, um im Rahmen eines einbändigen schließend finden sich Artikel zum »Schaffenspro-
Handbuchs angemessen behandelt zu werden. Selbst zess« – Kafkas persönlicher Variante inspirationsori-
das zweibändige Kafka-Handbuch von 1979 (KHb entierten, ›automatischen‹ Schreibens –, zu formalen
1979), das über ein Drittel seines rund 900-seitigen Aspekten von Kafkas Erzählen und zu den ›kleinen
zweiten Bandes auf die »Wirkung« des Autors ver- Formen‹ ›Denkbild‹, ›Parabel‹ und ›Aphorismus‹.
wendet, ist dabei selten über bloßes ›name-dropping‹ Den Abschluss bilden drei thematisch orientierte
hinausgekommen. Ohne mindestens exemplarische Untersuchungen zu Figurenkonstellationen und Ge-
Einzelinterpretationen lässt sich über die Wirkung schlechterrollen, zur im literarischen Werk entfalte-
eines Autors wenig Substantielles aussagen. Außer- ten Kunst- und Literaturtheorie und zu der Kafkas
dem bringt eine Wirkungsgeschichte im Regelfall Gesamtwerk prägenden kritischen Auseinanderset-
ohnehin mehr Erkenntnisgewinne für die Ziel- als zung mit Problemen der sozialen Moderne.
für die Ursprungstexte. Daher hoffen die Herausge- Dem Leser, der eine erste Orientierung zum Au-
ber, dass ihre Entscheidung, den knappen Textraum tor sucht, wird vorgeschlagen, seine Lektüre mit den
dieses Buches ganz auf Kafka selbst zu konzentrie- Artikeln Leben und Persönlichkeit, Drei Werkphasen
ren, die Zustimmung der Benutzer finden wird. Im und Kafka lesen zu beginnen.
Literaturverzeichnis am Ende des Bandes finden sich Im Anhang werden die wichtigsten Ausgaben und
zahlreiche Einträge, die eigene weiterführende Lek- Hilfsmittel der Kafka-Forschung vorgestellt. Es folgt
türen zur Wirkungsgeschichte ermöglichen. ein Literaturverzeichnis, das – zusammen mit den
Das Handbuch ist in vier Abteilungen gegliedert: Bibliographien der Beiträge – einen repräsentativen
(1) Leben und Persönlichkeit bietet einen biographi- Überblick über Ausgaben; Biographien, Bildbände
schen Abriss und zugleich eine Vorstellung der wich- und Lebenszeugnisse; Hilfsmittel; Forschungslitera-
tigsten Bezugspersonen. (2) Einflüsse und Kontakte tur; Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zu bieten
untersucht Kafkas Lektüren, sein literarisches Um- versucht. Die Beiträge des Handbuchs werden durch
feld in Prag, sein Verhältnis zum Judentum, seine ein Personen- und ein Werkregister erschlossen, wo-
Beziehungen zur Philosophie und Psychoanalyse so- bei Letzteres zugleich helfen soll, Kafka-Texte in der
wie zu den neuen Medien von Film und Fotografie. Kritischen Ausgabe (KA) aufzufinden.
(3) Die Abteilung Dichtungen und Schriften bildet
das Zentrum des Bandes. Die Herausgeber haben Es ist eine angenehme Pflicht, all denen zu danken,
sich bemüht, das Gesamtwerk so umfassend wie die das Erscheinen dieses Buches ermöglicht haben:
möglich vorzustellen und dabei auch längere der Unserer Lektorin Ute Hechtfischer, die den langen
Fragment gebliebenen Texte in Einzelartikeln be- Entstehungsprozess mit großer Geduld und kompe-
rücksichtigt (wobei zur Bezeichnung auf die in Re- tenter Hilfe begleitet hat; den Autoren, die ihre Arti-
zeption wie Forschung etablierten Herausgebertitel kel den Zwängen des Gesamtkonzeptes angepasst
Max Brods zurückgegriffen wurde ä XVII f.). Wie haben; Sylvester Bubel, Gesche Roy, Mareike Voigt,
bereits erwähnt, sind die Werkartikel auf drei Werk- Lisa Wagner, Kathrin Weishaar und vor allem Caro-
phasen verteilt und innerhalb dieser, soweit möglich, line Frank, die mithalfen beim Redigieren und Kor-
chronologisch angeordnet. Die zahllosen Kurztexte rigieren der Beiträge und bei der Erstellung von Lite-
und Kurzfragmente werden im Überblick (und in raturverzeichnis und Registern.
XVI Vorwort

Die Herausgeber widmen dieses Handbuch ihrem »geistige Welt«. Zu Kafkas Romanen (1980) und das
gemeinsamen Lehrer und Mentor Ulrich Fülleborn Kafka-Kapitel in seiner Studie Besitzen als besäße
zum 90. Geburtstag. Seine Aufsätze Zum Verhältnis man nicht. Besitzdenken und seine Alternativen in der
von Perspektivismus und Parabolik in der Dichtung Literatur (1995; ä 541) gehören zu den Meilenstei-
Kafkas (1969), »Veränderung«. Zu Rilkes »Malte« nen der Kafka-Forschung.
und Kafkas »Schloß« (1975), Der Einzelne und die Manfred Engel / Bernd Auerochs
XVII

Hinweise zur Benutzung

Aufbau der Artikel tate, da die Briefbände der KA bei der Drucklegung
dieses Handbuches erst bis 1917 reichen. Für später
Das Schema für Werkartikel wurde bereits im Vorwort geschriebene Briefe mussten daher die älteren Stan-
erläutert (ä XIV). Artikel zu Sammelbänden und dardausgaben herangezogen werden (Siglen: Briefe
Nachlassgruppen, Kontexten und Themen/Strukturen [/GW], BE, BM, BMB, BO[/GW]). Da die KA die ein-
folgen diesem Schema in bedarfsgemäß modifizierter zige Textgrundlage ist, konnte bei Zitatnachweisen
Form. Jedem Beitrag ist ein bibliographischer Nach- auf das Ausgabenkürzel verzichtet werden (es steht
spann angefügt, der die folgenden Rubriken (bzw., je also z. B. DzL, statt: DzL/KA); auch die Siglen ›Briefe‹
nach Artikelthema, eine Auswahl daraus) enthält: und ›BO‹ werden ohne Ausgabenkürzel verwendet.
Ausgaben: Genannt werden in der Regel der Erst- Bei Zitaten folgt das Handbuch der Kritischen
druck und Abdrucke in den Brodschen Ausgaben Ausgabe in allen Details der Schreibweise. Eine
(GS u. GW), sowie in der Kritischen Ausgabe (KA) Ausnahme bilden die Werktitel, bei denen die KA
und, soweit bereits erschienen, in den Bänden der (wie auch sonst immer im Textteil) Kafkas ss-
Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe (FKA); Schreibung zu ss/ß normalisiert hat. Um Hybrid-
Nachweise erfolgen mit Hilfe von Siglen, die durch bildungen wie »Proceß« wenigstens hier zu ver-
das Siglenverzeichnis (ä 528–531) aufgeschlüsselt meiden, wurde die ursprüngliche ss-Schreibung
werden können. Weitere Drucke werden nur ange- wiederhergestellt (also: Process, Schloss).
führt, wenn sie editorisch oder durch Materialer- Wegen der werkgeschichtlichen Orientierung des
schließung und Kommentar besonders wichtig sind. Handbuches (ä XIV f.) sind alle Brief- und Tagebuch-
Bibliographien/ Materialien/ Quellen/ Kontexte: In zitate mit Datumsangaben versehen. Bei diesen
diesen (nur in Einzelfällen verwendeten) Abteilun- Datierungen – wie auch bei der Angabe von Entste-
gen finden sich Spezialbibliographien zum Arti- hungsdaten – folgen wir den Angaben bzw. Rekon-
kelthema, Sammlungen von Primärzitaten, von struktionsversuchen in der KA, wenn dies nicht aus-
Kafka gelesene Prätexte bzw. vom Artikelautor her- drücklich anders vermerkt ist. Bei Tagebucheinträ-
angezogenes Kontextmaterial. gen ist jedoch zu beachten, dass die exakte Datierung
Forschung: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit eines Einzeleintrages oft nicht möglich ist. In sol-
werden wichtige Forschungsbeiträge aufgelistet und chen Fällen wurde – der Einfachheit und der Kürze
(1) entweder mit vollen bibliographischen Angaben der Nachweise wegen – das letzte gesicherte dem Zi-
(2) oder – im Falle der beiden bereits erschienen tat vorausgehende Datum genannt, wenn dieses mit
Kafka-Handbücher – mit Siglen (3) oder mit Autor/ hoher Wahrscheinlichkeit zeitnah zum Eintrag ist.
Herausgebername(n) und Erscheinungsjahr nachge- Wer an taggenauen Datierungen interessiert ist, wird
wiesen. Im letzteren Fall ist der Volltitel über das Li- sich so immer im Tagebuch-Band der KA (T) rück-
teraturverzeichnis am Ende des Bandes zu ermitteln. versichern müssen. Bei Briefdatierungen wäre zu be-
Querverweise innerhalb des Bandes erfolgen mit denken, dass es bei den nach 1918 geschriebenen
dem Zeichen ä. Kafka-Briefen in den ausstehenden Briefbänden der
KA sicher noch einige Umdatierungen geben wird
(vor allem bei den Briefen an Milena Jesenská).
Zitierweise
Ein Sonderproblem stellen die in Kafka-Editio-
Von den beiden neuen, heute allein zitierfähigen nen und Kafka-Forschung lange verwendeten Her-
Kafka-Ausgaben (ä 519–523) – der Kritischen Aus- ausgebertitel dar, die zumeist von Max Brod stam-
gabe (KA) und der Historisch-Kritischen Franz Kafka- men (ä 519). KA und FKA haben diese durchgängig
Ausgabe (FKA) – ist zurzeit nur die KA (im Wesentli- getilgt. Dafür kann man aus philologischen Grün-
chen) abgeschlossen. Daher ist sie Textgrundlage für den Verständnis haben, wird aber zugleich beklagen
alle Primärzitate in diesem Handbuch. Die einzige müssen, dass diese Entscheidung die Orientierung
Ausnahme von dieser Grundregel bilden die Briefzi- in den Ausgaben und die Verständigung über die
XVIII Hinweise zur Benutzung

Texte nicht eben erleichtert hat. Wer wird schon systematischen und möglichst einfachen Verfahren
wirklich der FKA folgen und die (im Manuskript ti- aus den unterschiedlichen Ausgaben zu zitieren.
tellose) Fassung B der Beschreibung eines Kampfes als (2) Bei Nachweis über Autorenname (bei Ver-
Gegen zwölf Uhr […] zitieren wollen – und wer wechslungsgefahr ergänzt um das Erscheinungsjahr)
würde den Text unter diesem Titel wiedererkennen? und gegebenenfalls Seitenzahl: So wird auf For-
Zum Missvergnügen editorischer Fundamentalis- schungsliteratur und auf Primärtexte, die nicht von
ten haben sich Brods ›Werk‹-Titel bei Lesern wie Kafka stammen, verwiesen. Zumeist findet sich der
Forschern inzwischen nun einmal eingebürgert. Und vollständige Nachweis zu diesen Kurzangaben in der
zumeist stellen sie ja auch ein durchaus sinnvolles Artikelbibliographie. Nur bei häufiger zitierten (For-
Kurzverfahren dar, um sich auf titellose Texte zu be- schungs-)Publikationen wird durch Autorennach-
ziehen. Daher werden die Herausgebertitel im vor- name und Erscheinungsjahr weiter verwiesen auf
liegenden Handbuch weiter verwendet, aber mit das Literaturverzeichnis am Ende des Bandes: Sam-
Spitzklammern markiert. Das gilt natürlich nicht, melbände finden sich hier im Regelfall im Abschnitt
wenn diese Herausgebertitel eindeutig falsch sind – 4.1, Monographien und Aufsätze in 4.2. Häufiger zi-
wie im Falle von <Gibs auf> (Ein Kommentar) und tierte Werke aus anderen Abteilungen der Gesamtbi-
<Der Riesenmaulwurf> (Der Dorfschullehrer). Wer bliographie wurden in Abteilung 4 ein zweites Mal
von titellosen Textfunden in der KA oder FKA aus- aufgelistet, um das Nachschlagen zu erleichtern.
geht, kann den zugehörigen Herausgebertitel leicht (3) Die Gesamtbibliographie am Ende des Bandes
über das Werkregister ermitteln. sammelt (neben Ausgaben, Hilfsmitteln und einem
Allerdings muss man zugestehen, dass in einer Abschnitt zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte)
Reihe von Fällen eine exakte Unterscheidung von Au- all die Sekundärliteratur, die nicht eindeutig der Bib-
tor- und Herausgebertitulierungen ohnehin nicht liographie eines einzelnen Artikels zuzuordnen ist
möglich ist. Natürlich gibt es Titel, die eindeutig von und/oder von mehreren Artikel-Autoren zitiert
Kafka und solche die eindeutig von Max Brod stam- wurde. Wer Literatur zu einem bestimmten The-
men. Dazwischen liegt aber eine weite Grauzone von menbereich sucht, sollte also zunächst in der ent-
unsicheren Problemfällen: Etwa wenn Brod sich auf – sprechenden Artikelbibliographie nachschlagen.
angeblich – ›eindeutige‹ mündliche Aussagen Kafkas
beruft (wie im Fall der Hochzeitsvorbereitungen auf
Registerteil
dem Lande), oder wenn Kafka den Titel zwar nicht
der Textniederschrift vorangestellt, aber an anderer Autoren von Sekundärliteratur werden im Personen-
Stelle genannt hat (wie bei Der Verschollene). Ein gu- register nicht nachgewiesen. Lebensdaten sind im
tes Beispiel für die dabei entstehenden Probleme ist Regelfall bei der ersten Nennung angegeben. Nähere
die titellose Fragmentenfolge, die im vorliegenden Informationen zu Personen aus Kafkas Lebensum-
Handbuch als <Der kleine Ruinenbewohner> zitiert feld findet der Leser zumeist im Beitrag Leben und
wird (T 17–28). Diesen Titel nennt Kafka aber an ganz Persönlichkeit.
anderer Stelle (T 112), und in den sechs vorliegenden Das Werkregister erschließt nicht nur das vorlie-
Fragmenten kommt die titelgebende Figur des »klei- gende Handbuch, sondern erfüllt auch zwei zusätzli-
nen Ruinenbewohners« nur zweimal vor (in Nr. 1 u. che Aufgaben: (1) Es soll dem Leser ermöglichen,
3). Letztlich beruhen so Wahl und Auszeichnung der Texte mit (zumeist Brodschen) Herausgebertiteln
Nicht-Autorentitel auf zwar begründeten, aber natür- (in Spitzklammern gesetzt) in der Kritischen Aus-
lich immer anfechtbaren Einzelentscheidungen. gabe (KA) aufzufinden. Daher sind titellose Texte im
Werkregister auch mit ihren Anfangsworten aufge-
Um die Nutzung des Handbuches zu erleichtern, führt; von dort aus wird dann auf den jeweiligen He-
seien die Grundregeln der Zitat- und Literaturnach- rausgebertitel verwiesen. (2) Da die KA für den Be-
weise noch einmal kurz zusammengefasst: nutzer sehr unübersichtlich ist (ein Gesamtregister
(1) Bei Nachweis über Siglen erfolgt die Aufschlüs- fehlt noch), wird nach den Titeln jeweils auch – mit
selung über das Verzeichnis der Siglen und Abkürzun- Hilfe der in diesem Handbuch verwendeten Bandsi-
gen (ä 528–531). Dabei weicht das Handbuch in eini- glen – die Fundstelle in der KA angegeben. Das
gen Fällen von der bisher gängigen Siglierungspraxis dürfte besonders dort hilfreich sein, wo ein Text in
ab. Das Siglenverzeichnis ist daher auch als Vorschlag der KA mehrfach abgedruckt ist.
an die Kafka-Forschung zu verstehen, nach einem Manfred Engel / Bernd Auerochs
1

1. Leben und Persönlichkeit

Herkunft und Kindheit tember 1882 geschlossen; sie bildete den vorläufigen
Höhepunkt seiner Aufstiegsbemühungen.
»Wie sich mein Leben verändert hat und wie es sich Die Kafkas dürfen als exemplarische Vertreter ei-
doch nicht verändert hat im Grunde!«, schreibt am ner jüdischen Übergangsgeneration angesehen wer-
Ende seines Lebens der Schriftsteller Kafka in seiner den; sie blieben ihrer jüdischen Herkunft auf Le-
autobiografisch grundierten Erzählung <Forschun- benszeit verbunden, fanden jedoch auch Anschluss
gen eines Hundes> (NSF II, 485). Tatsächlich scheint an die neuen liberalen Werte und Entwicklungen ih-
die Vita des Dichters von außen betrachtet wenig rer Epoche. Wie für die meisten führte bei ihnen der
spektakulär und ist in ihrem lokalen Aktionsradius Kampf um sozialen Aufstieg aus dem Ghetto in die
auffallend begrenzt. Der enge Kreis, in dem Kafka Freiheit – somit aber auch in den Zustand einer un-
von 1883 bis 1924 – abgesehen von den wenigen ge- gewissen Schwebe zwischen Observanz und Assimi-
scheiterten Fluchtversuchen – sein Leben verbrachte, lation.
heißt Prag und ist Ende des 19. und Anfang des Sowohl Hermann Kafka als auch die Löwys hatten
20. Jahrhunderts Schauplatz tiefgreifender gesell- sich Mitte der 1870er Jahre in Prag angesiedelt, in ei-
schaftlicher Umbrüche und Konflikte. Die Stadt, die ner Phase, da die Stadt noch am Anfang ihrer Ent-
noch 100 Jahre zuvor ihrem äußeren Erscheinungs- wicklung zur modernen Metropole stand. Für auf-
bild nach den Eindruck einer ›deutschen‹ Stadt er- strebende, assimilationswillige Juden boten sich hier
wecken konnte, war am Ende des Jahrhunderts zu gute Chancen, die freilich auch ihren Preis hatten.
einem Brennpunkt erbitterter nationaler Graben- Persönliche soziale oder religiöse Rücksichten muss-
kämpfe geworden. Wenn die österreichische Monar- ten zugunsten gesellschaftlich vielversprechender
chie es als ihre Regierungskunst bezeichnete, die Perspektiven zurückgestellt werden. Bei aller Gegen-
Völker in ›wohltemperierter Unzufriedenheit‹ zu re- sätzlichkeit im Wesen von Hermann und Julie ent-
gieren, so fand dies im Zusammenleben der Prager sprachen beide den Anforderungen dieser Auf-
Deutschen, Tschechen und Juden einen symptoma- bruchsära auf geradezu mustergültige Weise: Fleiß,
tischen Ausdruck. Ausdauer, Zielstreben und Beständigkeit unter den
Die Vorfahren Franz Kafkas stammen aus der Bedingungen eines rücksichtslosen Existenzkampfes,
böhmischen Provinz. Beide Elternteile sind jüdi- die Fähigkeit zur Anpassung an ein komplexes politi-
scher Herkunft, wuchsen aber unter sehr unter- sches Umfeld, genügend Pragmatismus, um lebens-
schiedlichen sozialen Bedingungen auf. Julie Kafka, notwendige Entscheidungen zu treffen – Eigenschaf-
geb. Löwy (23.3.1856–27.9.1934), wurde in Podieb- ten, die vielleicht nicht gerade die tiefere Ausbildung
rad geboren. Ihre Familie galt als wohlhabend und eines Selbstbewusstseins, wohl aber die Gewissheit
konnte auf eine ansehnliche Ahnenreihe aus Ge- eigenverantwortlichen Handelns ausprägen halfen.
lehrten, Talmudisten, Ärzten, Kaufleuten und ei- Hermann Kafka, bekannt für sein impulsives und
nigen Sonderlingen verweisen. Hermann Kafka nicht zuletzt zielstrebiges Auftreten, repräsentierte
(14.9.1852–6.6.1931) dagegen, der in dem Dorf Wos- das typische Ethos eines Aufsteigers, der aus eigener
sek in Südböhmen geboren wurde, wuchs als viertes Kraft die Bedrängnisse seiner Zeit und Herkunft
von sechs Kindern eines jüdischen Fleischhauers un- überwindet. (Noch Jahrzehnte später beruft er sich
ter ärmsten Verhältnissen auf. Als 14-jähriger ver- darauf in fortgesetzten Litaneien – freilich ohne von
ließ er das Zuhause, um als Wanderhändler sein seinem Sohn die erhoffte Anerkennung dafür zu fin-
Glück zu versuchen. Ausgestattet mit einem starken den.) Ergänzend dazu verkörperte Julie, entschlos-
»Lebens-, Geschäfts- [und] Eroberungswillen« (NSF sen zwar, aber ebenso nachgiebig und zweifellos die
II, 146) sowie den leidvollen Erfahrungen seines Gebildetere von beiden, die sozialen Tugenden und
Dorfgeher-Gewerbes hatte er es schließlich dreißig- inneren Werte.
jährig geschafft, in Prag eine eigene Existenz zu Am 3. Juli 1883 kommt Franz Kafka in Prag als
gründen. Die Ehe mit Julie Löwy wurde am 3. Sep- erstgeborener Sohn Hermann und Julie Kafkas zur
2 1. Leben und Persönlichkeit

Welt und wird nach jüdischem Brauch am darauf Kafkas zweitgeborener Bruder Georg (11.9.1885–
folgenden achten Tag beschnitten. Die Eltern, inzwi- 15.12.1886) an Masern, 1888 stirbt der drittgeborene
schen zehn Monate verheiratet, haben eine Woh- Heinrich (27.9.1887–10.4.1888) an den Folgen einer
nung am Rande des alten Ghettos in erträglicher Meningitis. Erlebnisse, die für den Knaben Kafka
Lage am Kleinen Ring bezogen. Bezeichnenderweise einschneidende Spuren hinterlassen und das Gefühl
steht das Geburtshaus an der Ecke Karpfengasse/ des Alleinseins vertiefen. Seine Schwestern Gabriele
Engegasse (Konskriptions-Nr. 1/27, das Haus wird (Elli; 22.9.1889–1942), Valerie (Valli; 25.9.1890–
um 1900 abgerissen), eine Adresse, die auf beengte 1942) und Ottilie (Ottla; 29.10.1892–1943) rücken
Wohnverhältnisse schließen lässt – zudem in unmit- erst später in die Position ebenbürtiger Vertrauens-
telbarer Nachbarschaft zu einer Reihe von Bordel- personen auf, ohne dabei seinen Erfahrungshorizont
len, welche entlang der Engegasse in die alte Juden- zu teilen.
stadt führen. Das Geschäft des Vaters, nur wenige Im Hause der Kafkas wird vor allem deutsch, aber
Meter entfernt an der Nordseite des Altstädter Rings, auch tschechisch gesprochen, ebenso im Geschäft;
ist zweifellos günstiger gelegen; seinen Eingang ziert Anklänge an die jüdisch-tschechische bzw. jüdisch-
das Emblem einer Dohle (tschechisch: kavka) auf ei- deutsche Herkunft der Eltern im Jargon werden aus
nem deutschen Eichenzweig. Prestigegründen weitestgehend vermieden, schlagen
In den ersten Jahren nach Franz Kafkas Geburt aber zuweilen in der Redediktion Hermann Kafkas
wechselt die Familie einige Male den Wohnsitz in- durch. Zur Familie gehören im Weiteren eine Amme
nerhalb des eng begrenzten Altstadt-Areals (Mai (Anna Čuchalová, *1868), eine Köchin (Františka
1885 Wenzelsplatz 56; Dezember 1885 Geistgasse Nedvědová, *1855), wechselnde Dienstmädchen
27; 1887 Niklasstraße 6; 1888 Sixt-Haus Zeltnergasse und Erzieherinnen (u. a. Marie Zemanová, *1870;
2; 1889 Haus Minutá Altstädter Ring 2; 1896 Haus Anežka Ungrová; Elvira Sterk; Anna Pouzarová),
Zu den drei Königen Zeltnergasse 3; 1907 Niklas- eine Französisch-Gouvernante aus Belgien (Louise
straße 36) – gewiss auch ein Hinweis auf die merkan- Bailly) und später noch die Wirtschafterin Marie
tilen Fähigkeiten des Vaters, der es mit seinem Ga- Wernerová (1884–1942).
lanteriewaren-Handel im Laufe weniger Jahre zu be- Die Kindheit Kafkas, so wie sie sich aus Doku-
scheidenem Wohlstand gebracht hat. Doch die menten und Erinnerungen erschließen lässt, steht
stationären Wohnsitze und temporären Geschäfts- ganz im Zeichen einer für den Prager jüdischen Mit-
niederlassungen fassen auch eine Atmosphäre der telstand typischen Sozialisation. Entsprechend den
Rastlosigkeit ins Bild. Der unruhige soziale Aufstieg beachtlichen Erfolgen des Unternehmers Hermann
des Hermann Kafka vollzieht sich in kleinen Schrit- Kafka werden Mittel bereitgestellt und vorausbli-
ten, indes die Sorge eines möglichen Rückfalls stets ckend in die Erziehung und Ausbildung des Heran-
präsent bleibt. Aus der Sicht des Kindes Franz bringt wachsenden investiert. Bereits hier zeigen sich Risse:
dieser Aufstieg nicht nur die Segnungen mittelstän- Der introvertierte, scheue Sohn, der spärlich isst,
dischen Lebenskomforts mit sich, sondern nährt wenig lacht und meist schweigt, ist ein erster Selbst-
ebenso eine Vielzahl latenter Unsicherheitsgefühle. entwurf in Reaktion auf »die dumpfe, giftreiche, kin-
Die unvorhersehbare Gereiztheit des Vaters, unge- derauszehrende Luft des schön eingerichteten Fami-
löste Spannungen, häufiger Adressenwechsel, feh- lienzimmers« (An E. Hermann, Herbst 1921; Briefe
lende engere Bezugspersonen – die Mutter ist dem 347). Bei aller Skepsis, die man den späten, oftmals
Vater tagsüber im Geschäft und abends beim Kar- belastenden Erinnerungen Kafkas entgegenhalten
tenspiel unentbehrlich –, mangelnde Außenkontakte muss, lässt sich die Atmosphäre des Elternhauses
und nicht zuletzt ein Regime wechselnder Betreue- kaum als harmonisch bezeichnen. Das ohnehin stark
rinnen führen für Kafka zu einer Isolation, die früh eingeschränkte Familienleben blieb selbstverständ-
schon seine Selbstentwürfe beherrscht. In den Au- lich den Anforderungen des Geschäfts untergeord-
genblicken der Zurückgezogenheit sucht das intro- net, und der Vater erhielt sich sehr wachsam sein
vertierte Kind Schutz vor den Wechselfällen des All- Misstrauen gegen innere und äußere Rivalen. Ange-
tags und entwickelt eigene Stärken. stellte wurden mitunter als »Vieh«, »Hund« oder
So erlebt Kafka zunächst weniger die Spannungen »bezahlte Feinde« bezeichnet (NSF II, 155 u. 173),
seiner tschechisch-deutschen Umwelt als quälend, gleichwohl sie doch Aufgaben der Buchführung wie
als vielmehr die soziale Kälte seines Elternhauses. auch der Kinderbetreuung übernahmen. Und auch
Hinzu treten familiäre Katastrophen: 1886 stirbt Familienmitglieder waren dem Diktat täglichen
1. Leben und Persönlichkeit 3

Drangsalierens unterworfen. Im Hause Kafka wurde solviert Kafka im Mai die Aufnahmeprüfungen für
nicht geschlagen, dafür aber, in Ermangelung eines das Gymnasium – mit Erfolg. Von September 1893
erzieherischen Konzepts, mit wirksamen Redemit- bis Juli 1901 besucht er das Altstädter Deutsche Gym-
teln gedroht, verspottet und beklagt. Im äußersten nasium im Kinsky-Palais. Auch diese Schule wird
Falle – Kafka erinnert sich an dieses Schlüsselerleb- von Juden gern besucht, gilt aber nebenher auch als
nis noch 1919 – wurde das störende Kind zur Beru- strengstes Prager Gymnasium mit einer Abbrecher-
higung nachts vor die Tür, auf die Pawlatsche ge- quote von 72 %. Der hier waltende Geist konservati-
sperrt (NSF II, 149). ver Bildungstradition zeigt sich in Gestalt von Ka-
thedergehorsam, Prüfungsangst und sinnloser Pau-
kerei und hätte nicht besser repräsentiert werden
Schule und Autoritäten können als durch seine steinerne Barockfassade:
Kafka durchläuft das Programm ›humanistischer‹
Der Eintritt in die Deutsche Knabenschule am Fleisch- Exerzitien, d. h. in erster Linie klassische Altspra-
markt im September 1889 stellte für Kafka eine spür- chen und Geschichte des Altertums; weniger zeitin-
bare Erweiterung seines Gesichtskreises dar. Die tensiv werden bereits das Fach Deutsch sowie die na-
Schule fand insbesondere bei Prager Juden starken turwissenschaftlichen Gegenstände und Kafkas Pro-
Zulauf und galt trotz deutscher Namengebung als blemfach Mathematik behandelt. Neben den
gemäßigt nationale, liberale Bildungsstätte. Für Haupt-Fremdsprachen Latein und Griechisch wer-
Kafka hielt bereits der Weg vom neuen Familiendo- den in geringerem Umfang jedoch auch Tschechisch
mizil Haus Minutá zur Volksschule so manche Ent- und Französisch gelernt.
deckung bereit. Das Altstädter Interieur, die augen- Unter den Lehrern ragen besonders zwei Gestal-
fälligen Details und Schauplätze der Prager Innen- ten heraus: der Klassenordinarius Emil Gschwind,
stadt, regten die Fantasie des träumerischen Kindes »ein ausgezeichneter, aber strenger Lehrer« der Alt-
zweifellos an, während die Schule als nüchtern sprachen (Wagenbach 2006, 39) und Verfechter
zweckdienliche Bildungsanstalt eher Angst und mustergültigen deutschen Ausdrucks, bei dem Kafka
Schrecken auslöste. Natürlich standen auf dem Schul- sechs Semester lang das Privileg des Vorzeigeschü-
weg auch Prügeleien zwischen den Schülern der deut- lers genießt. In den zwei letzten Gymnasialjahren
schen Knabenschule und der vis-à-vis gelegenen unterrichtet er zudem Philosophie mit interdiszipli-
tschechischen Elementarschule auf der Tagesord- när angelegten Ausflügen in Forschungsbereiche der
nung, und so bot es sich an, dass Kafka den Weg im neuesten Psychologie und Wahrnehmungstheorie.
ersten Jahr in Begleitung der Köchin zurücklegte – Gschwind, der gleichzeitig Priester und Gelehrter
eine Beschützerin, die ihm freilich als despotische im Prager Piaristenorden ist, hinterlässt bei dem
Repräsentantin der Macht erschien und immer wie- Schüler großen Eindruck, nicht zuletzt wegen seiner
der mit Drohungen und Mahnungen zu Gehorsam- arbeitsintensiven Zurückgezogenheit in einer Klos-
keit anhielt. Auch diese Eindrücke werden im Rück- terzelle. Adolf Gottwald, die zweite prägende Leh-
blick als prägend festgehalten. Angstbesetzt wie alle rerpersönlichkeit des Gymnasiums, ragt besonders
Rituale der Ordnung und Maßregelung war erst durch seinen vergleichsweise unkonventionellen Na-
recht der schulische Unterricht. Bereits das Klingel- turkundeunterricht sowie die von ihm gepflegte
zeichen löste Beklemmungen aus. Die Lehrer, ein- Methode genauer Beschreibung hervor. Ihm ver-
drucksvolle, aber insgesamt gutmütige Autoritäten, dankt Kafka auch die Heranführung an Darwins
vermochten es nicht, den Knaben aus seiner Isola- Lehren und an Ernst Haeckels Welträtsel (1899).
tion zu befreien. Die auffällige Scheu des Kindes, Der Deutschunterricht hält für den Gymnasiasten
seine »Ängstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaf- wenig schöpferische Beschäftigungen bereit; im We-
tigkeit« (An M. Jesenská, 21.6.1920; BM 71), wurde sentlichen wird der klassizistische Bildungskanon
als die Eigenart eines sympathischen, stillen, be- abgearbeitet – wobei nicht so sehr der Inhalt, son-
scheidenen Schülers mit überdurchschnittlichen dern das jährliche Quantum auswendig gelernter
Leistungen gedeutet (vgl. Koch 1995, 33). Dichtungen entscheidend ist. Kafka begegnet hier
Obgleich der Klassenlehrer Matthias Beck den El- einem Literaturbegriff, der vor allem normativ und
tern am Ende der Volksschulzeit nahelegt, den Sohn in politischer Hinsicht national getönt erscheint; an-
wegen Schwäche und möglicher Überforderung ein dererseits wird eine breite literarische Basis an Tex-
fünftes Jahr auf die Volksschule gehen zu lassen, ab- ten (Goethe, Schiller, Hebel, Kleist, Mörike, Eichen-
4 1. Leben und Persönlichkeit

dorff, Grillparzer, Stifter u. a.) gelegt, die auch für die Augen der meisten jedoch erscheint er als unauffäl-
Folgejahre von Bedeutung sind. So veranlassen ge- lig. »Wir alle hatten ihn sehr gern und verehrten ihn
rade die Klassiker-Lektüren der Gymnasialzeit zu auch«, erinnert sich sein Klassenkamerad Emil Utitz
späteren selbständig kritischen Auseinandersetzun- (1883–1956), »aber wir waren mit ihm nie richtig
gen mit »Goethes entsetzlichem Wesen« (31.1.1912; vertraut: eine dünne Glaswand umgab ihn« (Koch
T 367) oder dem Konzept großer und kleiner Litera- 1995, 50). Trotz gläserner Abkapselung ist Kafka
turen. Unabhängig davon bleibt die »Angst vor kein ausgesprochener Einzelgänger. Engere Bezie-
Schule und Autoritäten« (NSF II, 10) bestehen und hungen entwickeln sich im Lauf der Gymnasialzeit
löst immer wieder Blockaden aus: »Oft sah ich im zu einigen Mitschülern: Hugo Hecht (1883–1970),
Geist die schreckliche Versammlung der Professoren Karl Feigl (1882–1942), Camill Gibian (1883–1907),
[…], um diesen einzigartigen himmelschreienden Paul Kisch (1883–1944), Rudolf Illový (1881–1943),
Fall zu untersuchen, wie es mir, dem Unfähigsten später dann zu Oskar Pollak (1883–1915) und Ewald
[…] gelungen war, mich bis hinauf in diese Klasse zu Přibram (1883–1940). Mit Hugo Bergmann dispu-
schleichen« (196 f.). tiert man gern und heftig in der »talmudischen
Literarische Inspirationen holt sich Kafka zu- Weise über Gott und seine Möglichkeit« (31.12.1911;
nächst außerhalb der Schule: vorrangig sind es Thea- T 333), mit Paul Kisch werden vornehmlich literari-
terbesuche, die ihn – wie viele Gymnasiasten – be- sche und mit Rudolf Illowý soziale Fragen erörtert.
geistern und zu eigenen Darbietungen im Fami- Nicht zuletzt erweisen sich diese intellektuellen Er-
lienkreis treiben. An den Geburtstagen der Mutter kundungen als befreiender Schritt aus dem Bann-
kommen kleinere adaptierte oder selbstverfasste Stü- kreis der Familie und Schule. Gemeinsam unter-
cke wie Der Gaukler, Georg von Podiebrad und Pho- nimmt man erste Exkursionen in die politischen La-
tographien reden (alle nicht überliefert) zur Auffüh- ger Prags. In Opposition zu seinem Umfeld und im
rung. Mit etwa 14 Jahren unternimmt Kafka seine Gegensatz zu seinem Freund Hugo Bergmann, der
ersten dichterischen Versuche – Arbeiten und Ent- sich mehr und mehr für die erwachende zionistische
würfe, die später zwar seinen literarischen Ansprü- Bewegung engagiert, fühlt sich Kafka besonders von
chen nicht mehr genügen und daher vernichtet wer- der Idee des Sozialismus angezogen, deren Wahrzei-
den, die aber erste Problemkonstellationen seines chen – die rote Nelke – er zeitweise trägt. Auch ei-
Schreibens andeuten. So plant er u. a. einen Roman, nem antiklerikalen (Wagenbach 2006, 60) bzw. völ-
»in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von kisch-nationalen (Binder 1979, 241) Verein Freie
denen einer nach Amerika fuhr, während der andere Schule und einer Farben tragenden, deutsch-natio-
in einem europäischen Gefängnis blieb« (19.1.1911; nalen Schülerverbindung Altstädter Kollegientag ge-
T 146). Die früheste erhaltene literarische Eintra- hört Kafka vorübergehend 1898/99 an, kann freilich
gung stammt aus dem Jahr 1897 und findet sich im zu diesen Vereinigungen keine tragfähige Bindung
Freundschaftsbuch Hugo Bergmanns (1883–1975): aufbauen.
»Es gibt ein Kommen und ein Gehn/ Ein Scheiden Die Sozialisation des jungen Kafka unter den
und oft kein – Wiedersehn« (NSF I, 7). binationalen assimilatorischen Verhältnissen in Prag
Am 13. Juni 1896 findet in der Zigeuner-Synagoge verlief widerspruchsvoll und entbehrte nicht gewis-
Kafkas Bar-Mizwa statt. Der Vater inseriert die Feier ser temporärer Tendenzen: Wechselnde Mitglied-
öffentlich als ›Confirmation‹ und deutet damit schaften, Besuche von politischen Versammlungen
gleichsam den zwiespältigen Charakter der Veran- und gelegentliche Visiten in verrufenen Etablisse-
staltung an: Kafka »mußte im Tempel ein mühselig ments zeigen lediglich seine Suche nach Orientie-
eingelerntes Stück vorbeten, oben beim Altar, dann rungen. Die ›Entdeckungen‹ Kafkas in antibürgerli-
zuhause eine kleine (auch eingelernte) Rede halten. chen Kreisen und Dimensionen entsprachen dabei
Ich bekam auch viele Geschenke« (An M. Jesenská, ganz dem intellektuellen Milieu seiner Altersgenos-
10.8.1920; BM 207). Eine tiefere Beziehung zur Reli- sen. Auf gemeinsamen Streifzügen wurde so nicht
gion der Väter konnte für den 13-jährigen ›Sohn des nur die sozialpolitische Karte Prags erkundet, son-
Gebots‹ daraus nicht entstehen. dern auch an den Grenzen einer streng behüteten
Auf seine Mitschüler wirkt Kafka zurückhaltend. Ordnung gerüttelt.
Nur zögerlich entstehen Freundschaften wie mit Kafka ist trotz Aufbegehrens ein unsicherer, ge-
Hugo Bergmann (1883–1975), mit dem er bereits hemmter Jugendlicher. Die Berührungen mit Zio-
gemeinsam in die Volksschule gegangen war. In den nismus, Sozialismus und nationalen Bewegungen
1. Leben und Persönlichkeit 5

mögen flüchtig und widersprüchlich sein, ziehen satzes heißt: Welche Vorteile erwachsen Österreich
nun jedoch erste weltanschauliche Orientierungen aus seiner Weltlage und seinen Bodenverhältnissen?
nach sich. Während Kafkas Freundschaft zu Berg- Es ist kaum anzunehmen, dass der Maturant mit sei-
mann unter den Stimmungen seiner »atheistischen nen Darlegungen die offizielle Rhetorik sprengte –
und pantheistischen Periode« (vgl. Koch, 27) ab- bescheinigte ihm doch das Abschlusszeugnis insge-
klingt, verbindet ihn seit den letzten beiden Jahren samt lobenswerte bis befriedigende Leistungen –,
des Obergymnasiums mit Oskar Pollak eine umso obgleich er bereits über Ausdrucksmöglichkeiten
engere Freundschaft. Ganz offensichtlich eine Alli- von subtiler Schärfe verfügte, wie Briefe und andere
anz zweier Non-Konformisten: Zusammen abon- Zeugnisse belegen.
niert man die von Ferdinand Avenarius (1856–1923) Der für die Zeit nach der Matura vorgeschriebene
herausgegebene Zeitschrift Kunstwart und liest die ›Einjährigfreiwilligen‹-Militärdienst bleibt Kafka er-
Schriften Darwins, Spinozas und Nietzsches, insbe- spart. Ein ärztliches Gutachten attestiert ihm
sondere Also sprach Zarathustra. Kafkas Nietzsche- »Schwäche« (Wagenbach 2006, 258) und sorgt so für
Begeisterung schlägt sich fortan in Briefen und Re- seine einstweilige Verschonung vor einer weiteren
flexionen nieder, in denen der angehende Schrift- Schule der Autoritäten. Befreit von dieser Last reist
steller an Sprache, Themen und Denkfiguren des Kafka am 27. Juli 1901 allein mit dem Zug nach Cux-
Philosophen anzuknüpfen sucht – so auch in einem haven, um die Sommerferien mit seinem Onkel aus
Poesiealbumeintrag für die 17-jährige Selma Robi- Triesch, dem Arzt Dr. Siegfried Löwy (11.3.1867–
tschek (geb. Kohn, *8.9.1883), die er in den Sommer- 20.10.1942), für einen Monat auf Helgoland und
ferien 1900 im nordböhmischen Roztok kennenlernt Norderney zu verbringen. Es ist die erste größere
und mit Lektüren des Philosophen unterhält selbständige Reise, die ihn über die Grenzen Böh-
(4.9.1900; NSF I, 8). Nietzsche, der skeptisch unzeit- mens und Mährens hinausführt, die ihm gleichzeitig
gemäße Betrachter, stiftet die Basis einer exklusiven aber auch eine Entscheidung über die Zukunftspläne
Weltanschauung. Das Vertrauen, das auf dieser Basis abverlangt. Ins Gästebuch auf Norderney trägt man
der vielseitige Freund und Ratgeber Oskar Pollak für bereits die Titulierung »stud. chem.« ein (Heintel,
einige Jahre genießt, zeigt sich nicht zuletzt in dem 20) – ein Hinweis, dass der für Kafka stets sehr maß-
Umstand, dass Kafka ihm seine Manuskripte zur Be- gebliche Onkel während der Reise an der Entschei-
urteilung vorlegt (6.9.1903; B00–12 26). Ihm erklärt dung mitgewirkt hat. Hinsichtlich des Aufschwungs
sich Kafka als Schriftsteller. Bereits in Briefform der chemischen Industrie in der näheren Umgebung
schickt er ihm im Dezember 1902 die Geschichte vom Prags und den daraus erwachsenden weltweiten Per-
schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem spektiven, erscheint ein Chemie-Studium tatsäch-
Herzen – die frühest überlieferte Prosa-Skizze des lich als aussichtsreiche Investition in die Zukunft
Schriftstellers Kafka (20.12.1902; B00–12 17–19). und kommt den träumerischen Berufsvorstellungen
Auch eine kleine Produktion eigener Gedichte wird Kafkas weit mehr entgegen als die ›jüdisch‹ prädesti-
vorgelegt. Zweifellos übernimmt Pollak die Rolle des nierten Fächer Jura und Medizin.
Welt-Vermittlers für den auftrittsscheuen Dichter. Dennoch zeigt sich bei der Wahl des richtigen Stu-
Doch noch etwas anderes verbindet die beiden diums sehr bald schon seine Entscheidungsschwä-
Freunde: der nüchterne, teils distanzierte, teils kon- che: Wie vorgesehen schreibt sich Kafka im Oktober
struierte Blick auf Prag als unentrinnbarer Bannkreis 1901, gemeinsam mit Oskar Pollak und Hugo Berg-
bzw. ›Mütterchen mit Krallen‹ – ein Motiv, das sich mann, an der Deutschen k.k. Carl-Ferdinand-Univer-
wie ein roter Faden durch Leben und Schreiben sität in Prag für Chemie ein. Bereits nach den ersten
Franz Kafkas zieht. zwei Wochen im Labor revidiert er seine Entschei-
dung und wechselt zu Jura. Dass diese Orientierung
pragmatische Gründe hat und beiläufig auch den Er-
Die Jahre des frühen Werkes wartungen der Familie genügt, steht außer Frage.
Die Möglichkeit, nach dem Studium einen freien Be-
Studium und erste Berufsjahre
ruf als Anwalt zu ergreifen, entspricht freilich nur
Als Kafka im Mai 1901 in Prag die schriftlichen Ma- bedingt Kafkas Lebensentwürfen. So ist es kaum ver-
turaprüfungen ablegte, schien die österreichisch-un- wunderlich, dass er im Sommersemester 1902 statt
garische Monarchie noch ein organisch intakter Be- Jura Vorlesungen in Germanistik und Kunstge-
standteil dieser Welt. Das Thema seines Deutschauf- schichte (Niederländische Malerei, Christliche Bild-
6 1. Leben und Persönlichkeit

hauerei) besucht. Die Alternative ›Germanistik‹ an senschaftlichen Kriminologie. Seine Vorlesungen


der Prager Universität erweist sich jedoch in anderer Strafrecht, Strafprozess, Rechtsphilosophie und
Hinsicht als problematisch. Geprägt durch die Per- nicht zuletzt sein mehrfach aufgelegtes Handbuch
sönlichkeit August Sauers (1855–1926) und dessen für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen
nationalistische Fixierung auf deutschstämmige Li- (1893), in dem er besonderes die psychologischen
teratur, lässt der Lehrstoff bei Kafka keine weittra- Ursachen von Verbrechen hervorhebt, haben aus-
genden Illusionen aufkommen. Statt dessen wird er- nahmsweise auch Kafkas Aufmerksamkeit gefun-
wogen, ob er nicht lieber – wie Paul Kisch – das Ger- den. Im Übrigen durchläuft der Student die acht Se-
manistikstudium in München fortsetzen sollte (An mester Jurastudium, indem er sich auf die notwen-
O. Pollak, vor oder am 24.8.1902; B00–12 14). digsten Verpflichtungen beschränkt.
Dazu allerdings kam es nicht. Kafka studierte im Die weitaus attraktiveren Angebote der Studien-
Wintersemester 1902/03 wieder regulär Jura: Römi- zeit bieten die Prager deutschen und tschechischen
sches Zivilrecht, Pandekten II, Obligationenrecht Bühnen sowie die Lese- und Redehalle deutscher Stu-
und Zwangsvollstreckung in unbeweglichen Vermö- denten. Als ein Tempel deutscher Kultur mit reich-
gen – ein trockenes Studium, dem er sich ohne in- haltig ausgestatteter Bibliothek (vor allem zeitgenös-
nere Beteiligung widmet und das lediglich verlangte, sischer Autoren und Zeitschriften) und anspruchs-
»daß ich mich in den paar Monaten vor den Prüfun- vollem Veranstaltungsprogramm findet die ›Halle‹
gen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig besonders unter jüdischen Studenten hohe Beteili-
förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies gung. Von den Aktivitäten des zionistischen Vereins
schon von tausenden Mäulern vorgekaut war« (NSF jüdischer Hochschüler Bar-Kochba grenzt man sich
II, 198). bewusst und entschieden ab. Insbesondere die Dar-
Verpflichtender Bestandteil des Jura-Studiums im bietungen namhafter Autoren (Friedrich Adler, von
2. Semester ist u. a. auch ein halbes Jahr Philosophie. Liliencron, Wiener, Salus, Meyrink, Leppin, u. a.)
Die Übergangsprüfung ›Deskriptive und genetische machen die Halle zu einem beliebten Anlaufpunkt.
Psychologie‹ bei dem bekannten Brentano-Schüler Von ihr gehen maßgeblich Impulse auf die Aktivitä-
Anton Marty kann Kafka nicht bestehen. Allerdings ten der Mitglieder aus. Kafka ist von Studienbeginn
nimmt er gemeinsam mit Pollak, Utitz und Berg- an Mitglied und wird als Nachfolger Oskar Pollaks
mann (später auch Brod und Weltsch) an den philo- 1904 Kunst- und schließlich Literaturberichterstat-
sophischen Runden des Salons Fanta teil, die von ter. Ende Oktober 1902 lernt er hier auch den um ein
Berta Fanta (1865–1918) und Ida Freund veranstal- Jahr jüngeren Jurastudenten und Kunstberichterstat-
tet werden. Auch an den Zusammenkünften des sog. ter Max Brod (27.5.1884–20.12.1968) kennen: Der
Louvre-Zirkels, einer akademischen Filiale der Bren- 18-jährige Brod referiert in einem leidenschaftlichen
tanisten in Prag, ist Kafka vorübergehend beteiligt – Vortrag über die Vorrangstellung von Schopenhau-
zumeist als stiller Zuhörer. Sein Interesse an theore- ers Philosophie. Nach dem Vortrag verteidigt Kafka
tisch abstraktem Denken ist eher gering, wenngleich im Gespräch auf dem Heimweg umso eindringlicher
das Spiel mit Begriffen, konkrete Fragestellungen Nietzsches Positionen, den Brod kurzerhand als
und die distanzierte Sicht auf alltägliche Handlungs- »Schwindler« bezeichnet hatte (Brod 1969, 159; vgl.
abläufe auch ihm nicht fremd sind. NSF I, 9–11). Es ist der Beginn einer ambivalenten
Unter den Professoren an der Universität wecken Freundschaft, die, trotz Entfremdungen in den spä-
nur wenige Kafkas Interesse. Eine Ausnahmeerschei- teren Jahren und trotz anhaltender Missverständ-
nung ist der exzentrische Ordinarius Christian von nisse, bis ans Lebensende für beide Seiten produktiv
Ehrenfels (1859–1932), der neben seiner Vorlesung bleibt. Die bis dahin prägende Freundschaft mit Os-
in ›Praktischer Philosophie‹ auch als Autor wissen- kar Pollak verliert hingegen zunehmend an Gewicht.
schaftlicher Schriften und philosophisch inspirierter Als Pollak 1903 Prag verlässt, resümiert Kafka in ei-
Stücke und Gedichte (Die Sternenbraut; Kosmogo- nem Brief an den Freund:
nie) in Erscheinung tritt. Noch 1913 besucht Kafka Unter allen den jungen Leuten habe ich eigentlich nur
eine Seminarveranstaltung des bekannten Begrün- mit Dir gesprochen, und wenn ich schon mit andern
ders der Gestaltpsychologie. Ebenso nachhaltige sprach, so war es nur nebenbei oder Deinetwegen oder
durch Dich oder in Beziehung auf Dich. Du warst, ne-
Eindrücke nimmt er auch aus den Vorlesungen des ben vielem andern, auch etwas wie ein Fenster für mich,
Grazer Strafrechtlers Hans Gross (1847–1915) mit. durch das ich auf die Gassen sehen konnte. Allein konnte
Gross gilt als einer der Pioniere der modernen wis- ich das nicht (8.11.1903; B00–12 28).
1. Leben und Persönlichkeit 7

Mit dem agilen Max Brod, der bereits erste musikali- seinen literarischen Entwürfen, die in ihren qualita-
sche und literarische Erfolge verbuchen kann, er- tiven Ansprüchen gestiegen sind.
schließen sich Kafka neue Horizonte. Gemeinsam Das Studium der Rechte, das Kafka nebenher be-
besucht man Kaffeehäuser der Stadt und andere ein- treibt, bedeutet in den Prüfungszeiten eine Qual. Für
schlägige Adressen der Boheme und Intelligentsia die Vorbereitungen auf das Examen muss er auf
Prags. Auch der literarische Kanon wird systema- Brods Mitschriften zurückgreifen. Die nach dem
tisch erweitert: Flauberts L’ Éducation sentimentale, Promotionsrecht erforderlichen drei Rigorosa ein-
Hofmannsthals Gespräch über Gedichte und Thomas schließlich Staatsexamen legt Kafka am 7. November
Manns Tonio Kröger werden als Offenbarungen gele- 1905, am 16. März 1906 und am 13. Juni 1906 ab und
sen und diskutiert, überdies beschäftigt sich Kafka wird schließlich – mit schwächstmöglicher Note –
eingehend mit Tagebüchern (Amiel, Hebbel und am 18. Juni im Prager Carolinum von Alfred Weber
Grillparzer) Briefen (Goethe, Grabbe und du Barry), (1868–1958) feierlich zum Doktor der Rechte pro-
Biographien (Schopenhauer, Goethe und Dostojew- moviert.
ski), Eckermanns Gesprächen, Marc Aurels Selbst- Wie schon 1903, nach bestandener erster Staats-
betrachtungen und Kügelgens Lebenserinnerungen. prüfung (Rechtsgeschichte) in Lahmanns Sanato-
Die jedoch wichtigste Entwicklung zeigt sich in Kaf- rium Dresden/Weißer Hirsch, erholt sich Kafka auch
kas sozialen Kontakten: »ich bin stärker geworden, 1905 und 1906 in einer Naturheilanstalt. Augen-
ich war viel unter Menschen, ich kann mit Frauen scheinlich liegen hier die Anfänge seiner Karriere als
reden« vermeldet er stolz im Sommer 1903 nach ei- nervöser Patient wie auch die seines ausgeprägten
ner Sanatorienreise nach Dresden/Weißer Hirsch Interesses für Naturheilkunde. Am 2. August 1905
und einem Ferienaufenthalt in Salesel bei Aussig (An trägt sich »Herr Franz Kafka, cand. ingr.« aus Prag
O. Pollak 6.9.1903; B00–12 25). Ausflüge wie diese – für einen vierwöchigen Aufenthalt in die Kurliste der
weg von Prag – bestärken Kafkas Selbstvertrauen. Wasserheilanstalt Dr. Ludwig Schweinburgs in Zuck-
Allmählich durchbricht er selbständig die Isolation mantel/Schlesien ein (Kur-Liste Nr. 9). Neben der
und geht auch Beziehungen mit dem anderen Ge- Behandlung seiner nervösen Beschwerden ist es vor
schlecht ein. Seine Liebschaften sind freilich nur von allem die abgelegen behütete Atmosphäre, die ihn
kurzer Dauer und rufen die stets vorhandenen Ge- neue Kräfte sammeln lässt. Ein episodisches Erlebnis
fühle von Scham und Reue, Lust und Abscheu wach. besonderer Art, die erste Liebe zu einer Frau – »sie
So auch nach einer Liebesnacht – seiner sexuellen eine Frau und ich ein Junge« (An M. Brod,
Initiation – mit einem tschechischen Ladenmädchen 12./14.7.1916; B14–17 173) –, veranlasst den Studen-
(An M. Jesenská, 8./9.8.1920; BM 196–199). Der auf ten im Sommer 1906 für ein zweites Mal auf das ver-
diesem Gebiet weit erfahrenere Max Brod gibt Kafka traute Arrangement von Zuckmantel zurückzukom-
praktische Ratschläge und erweist sich nicht zuletzt men (Eintrag 21.7.1906, Kur-Liste Nr. 9). Kafka be-
bei gemeinsamen Bordellbesuchen als vertrauens- wahrt über diese Episode Schweigen und deutet erst
würdiger Begleiter. Jahre später im Tagebuch seine nachhaltigen Ein-
Brod ist es auch, der anlässlich einer Lesung seiner drücke an: »Ich war noch niemals außer in Zuck-
Novelle Ausflüge ins Dunkelrote die Begegnung mit mantel mit einer Frau vertraut« (6.7.1916; T 795).
dem blinden Dichter Oskar Baum (21.1.1883– Zurückgekehrt nach Prag, beendet er am 30. Sep-
1.3.1941) arrangiert. Ähnlich erfolgreich hatte er be- tember 1906 das im April begonnene Praktikum als
reits 1903 im ›Louvre‹ Kafkas Freundschaft mit dem Advocatursconcipient bei seinem Onkel Dr. Richard
Philosophiestudenten Felix Weltsch (6.10.1884– Löwy (1857–1938) am Altstädter Ring und beginnt
9.11.1964) gestiftet. Die daraus resultierenden Lese- am 1. Oktober das für den Staatsdienst obligatorisch
runden des sog. ›Prager Kreises‹ werden ab Ende vorgeschriebene Gerichtsjahr beim Prager Landes-
1905 abgehalten und in den folgenden Jahren im bzw. Strafgericht. Während dieser Zeit schließt Kafka
Quartett regelmäßig fortgesetzt. Kafka verschweigt die erste Fassung seiner Beschreibung eines Kampfes
zunächst bis 1906 seine eigenen literarischen Ambi- ab – ein Erzählfragment, das konkrete Prager Lokali-
tionen. Bei den Zusammenkünften mit Brod, täten benennt – und arbeitet an Entwürfen zu Hoch-
Weltsch und Baum rezitiert er andere Autoren. Erst zeitsvorbereitungen auf dem Lande. Gemeinsam mit
ab 1910 wird er gelegentlich Proben aus eigenen Ma- Max Brod und Bekannten unternimmt man ausge-
nuskripten lesen. Angefeuert von Brod widmet er dehnte Streifzüge durch Nachtlokale und besucht
sich jedoch in der zweiten Studienhälfte verstärkt Weinstuben, Cafés, Seancen und Variétés. Das bunte
8 1. Leben und Persönlichkeit

Treiben erscheint Kafka im Nachhinein als »Bum- Erwartungsgemäß schwierig gestalten sich die Be-
melzeit« (An F. Bauer, 3./4.1.1913; B13–14 17). Max rufspläne Kafkas. Doch wieder einmal zeigt das Netz
Brod hingegen arbeitet bereits zu diesem Zeitpunkt der Löwyschen Verwandtschaft seine soziale Funk-
darauf hin, den Freund in literarischen Kreisen pub- tion. Dank der Vermittlung des Onkels Alfred Löwy
lik zu machen. In der Zeitschrift Gegenwart erwähnt aus Madrid (1852–1923) gelingt es, Kafka aushilfs-
er Kafkas Namen in einer Reihe mit Heinrich Mann, weise bei der Triester Versicherungsgesellschaft As-
Wedekind und Meyrink (Gegenwart 71 [1906] 6, 93). sicurazioni Generali in Prag unterzubringen. Er tritt
Der auf diese Weise wohlwollend angesprochene seine erste Stellung als Aushilfskraft in der Lebens-
Dichter hat bis dahin noch keine Zeile veröffentlicht. versicherungsabteilung an, »mit winzigen 80 K Ge-
Das Gerichtsjahr ist für Kafka in mehrfacher Hin- halt und unermeßlichen 8–9 Arbeitsstunden« (An
sicht nur ein Aufschub. Mit Beginn des Jahres 1907 H. Weiler, 8.10.1907; B00–12 72). Die unnachgiebi-
stehen neue Entscheidungen an – und die Sorge, lite- gen Regelungen des Arbeitsvertrags erlegen ihm
rarisch noch »nichts fertig gebracht« zu haben (An zahlreiche Zusatzverpflichtungen auf und gestatten
M. Brod, Mitte August 1907; B00–12 52). Hinsicht- nur 14 Tage Urlaub in jedem zweiten Jahr. Für litera-
lich der beruflichen Zukunft existieren zwar vage rische Nebenbeschäftigungen bleibt keine Zeit.
Pläne – Spanisch lernen, Auswandern nach Südame- Kafka versucht anfangs die Situation mit naivem
rika –, die aber alles andere als realistisch erscheinen Zweckoptimismus zu überspielen: »Ich bin bei der
und nur den Wunsch verraten, Prag den Rücken zu Assecuracioni Generali und habe immerhin Hoff-
kehren. nung selbst auf den Sesseln sehr entfernter Länder
Die Familie hat im Juni ein neues, mondänes Do- einmal zu sitzen, aus den Bureaufenstern Zucker-
mizil im Obergeschoss der Niklasstraße 39 bezogen. rohrfelder oder mohamedanische Friedhöfe zu sehn
Bei Kafka lässt der Anblick der nahe gelegenen und das Versicherungswesen selbst interessiert mich
Svatopluk-Čech-Brücke (erbaut 1906–08) zuweilen sehr, aber meine vorläufige Arbeit ist traurig« (ebd.).
Selbstmordgedanken aufkommen. Die Wohnung Obgleich ihn mit dem Direktor der Filiale, Ernst
empfindet der störungsempfindliche Dichter als Eisner (1882–1929), ein gemeinsames literarisches
»Hauptquartier des Lärms« (DzL 441), sie wird in Interesse verbindet, bemüht sich Kafka bald schon
den folgenden Jahren zum Ausgangspunkt zahlrei- um eine neue Arbeit mit gemäßigten Zeiten. Von Fe-
cher literarischer Einfälle. bruar bis Mai 1908 besucht er einen Abendkurs der
Wie schon oft verbringt er die Sommerferien 1907 Handelsakademie über Arbeiterversicherung, um
bei seinem Lieblingsonkel in Triesch. Siegfried Löwy, sich für eine Tätigkeit in einer staatlichen Einrich-
der eingefleischte Junggeselle auf dem Lande, mit tung zu qualifizieren. Mit der persönlichen Fürspra-
Neigungen zu Vegetarismus, Naturheilkunde und che des Anstaltspräsidenten Dr. Otto Přibram (1844–
Motorsport, repräsentiert für Kafka einen Lebens- 1917), dem Vater des Schulfreundes Ewald Felix, ge-
entwurf, dem er von Kindheit an Bewunderung zollt. lingt es Kafka schließlich, eine Stelle bei der
»Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich bade viel, ich Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das König-
liege lange nackt im Gras am Teiche«, berichtet er reich Böhmen in Prag (AUVA) zu erhalten: ein Pos-
Max Brod (Mitte Aug. 1907; B00–12 53). Die meiste ten mit hohem gesellschaftlichen Prestige in einer
Zeit verbringt er mit der aus Wien stammenden für Juden fast unzugänglichen Institution. Er kün-
Hedwig Weiler (1888–1953) und deren Freundin digt alsbald bei der Assicurazioni Generali – zur Be-
Agathe Stern – beide »sehr gescheidte Mädchen, Stu- gründung legt er ein ärztliches Attest vor über ge-
dentinnen, sehr socialdemokratisch« (ebd.). Zu sundheitliche Probleme, insbesondere Nervosität
Hedwig Weiler entsteht in den folgenden Monaten und Herzbeschwerden – und tritt, nach einem Kurz-
eine engere Beziehung, aus der u. a. literarische Mi- urlaub im Böhmerwald, am 30. Juli 1908 seinen
niaturen für das erste Buch Betrachtung (1912) und Dienst als Aushilfsbeamter der AUVA an.
einige nie veröffentlichte Gedichte hervorgehen. In Seine neuen Vorgesetzten, Dr. Robert Marschner
Briefen wird sogar der Plan entwickelt, zum Studium (1865–1934), Eugen Pfohl (1867–1919) und Dr.
an die Exportakademie nach Wien zu gehen bzw. für Siegmund Fleischmann, hatte Kafka bereits im Früh-
Hedwig eine Anstellung in Prag zu finden. Mit dem jahr 1908 im Kursus an der Prager Handelsakademie
Scheitern dieser Pläne findet auch die Beziehung im kennengelernt. Der neue Posten bringt ihm zwar zu-
Januar 1909 ihr frühzeitiges Ende (An H. Weiler, nächst keine finanzielle Verbesserung, wohl aber
7.1.1909; B00–12 95 f.). eine spürbare zeitliche Entlastung. Bei einer Dienst-
1. Leben und Persönlichkeit 9

zeit mit »einfacher Frequenz«, d. h. sechs Stunden sen jener Jahre noch nicht etablierter Begriff – be-
(8–14 Uhr) von Montag bis Samstag sowie einigen weisen ungewöhnliches Engagement für einen
Zusatzstunden, verrichtet Kafka die Arbeit eines literarisch ambitionierten AUVA-Beamten und nicht
Versicherungsbeamten: Korrespondenzen, Berichte, zuletzt auch ein geschultes realistisches Einschät-
Gutachten, Einreihungsrekurse. Darüber hinaus ver- zungsvermögen für Gefährdungen aller Art. Mit iro-
fasst er für die AUVA Artikel und übernimmt nisch gemildertem Entsetzen berichtet er Max Brod:
Dienstreisen in die nordböhmischen Verwaltungs- In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen […]
bezirke Gablonz, Friedland, Reichenberg, Rumburg wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in
und andere Orte. Das Vertrauen, das er sich bei sei- die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Bö-
nen Vorgesetzten schon bald als »vorzügliche Kon- schungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was
man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter
zeptionskraft« erwirbt, zahlt sich aus (Qualifikati- gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommt
onsliste 16.4.1909; Wagenbach 2006, 149). Kafka Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den
wird schon nach wenigen Monaten von der versiche- Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von
rungstechnischen in die Unfallabteilung versetzt, er- Geschirr sich auf die Treppen werfen (Sommer 1909;
B00–12 108).
hält mehr Eigenverantwortung und wird gelegent-
lich auch als wortgewandter Gebrauchsschriftsteller Als Anlaufstelle für die ›Verunfallten‹ hat Kafka die
und Festredner geschätzt. katastrophale Situation der Arbeiter sehr deutlich
Trotz der bald sich einstellenden Klagen über kräf- vor Augen: »Wie bescheiden diese Menschen sind«,
tezehrende dienstliche Beanspruchungen, war Kafka berichtet er Max Brod, »sie kommen zu uns bitten.
durchaus nicht unambitioniert bei seiner Arbeit. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein
Seine Kollegen zeichnen das Bild eines initiativrei- zu schlagen« (Wagenbach 2006, 317). Im Laufe sei-
chen Sachwalters für Unfallverhütung: »Dr. Kafka ist ner Einsätze als Versicherungsexperte überträgt man
ein eminent fleissiger Arbeiter von hervorragender ihm auch prekäre Missionen, die Diplomatie und
Begabung und hervorragender Pflichttreue«, heißt Verhandlungsgeschick erfordern. So hält er 1910 in
es in der Qualifikationsliste vom 10. September 1909 Gablonz einen Vortrag vor einer aufgebrachten Ver-
(AS:CD-ROM 860). In den Jahren seiner Tätigkeit sammlung von Unternehmern und Gewerbetreiben-
für die AUVA durchläuft Kafka eine erstaunliche den. Im täglichen Interessenkonflikt, der von den
Karriere vom Aushilfsbeamten mit einem Tagesgeld existentiellen Bedürfnissen der Arbeiter, den kosten-
von 3 Kronen zum Referatsleiter mit beamtenglei- senkenden Ansprüchen der Unternehmer und dem
chem Status und Jahresgrundgehalt von 12.900 Kro- schadensbegrenzenden Auftrag der AUVA geleitet
nen: 1909 noch Praktikant, 1910 bereits Aufstieg wird, spielt Kafka eine erstaunlich souveräne Rolle,
zum Konzipisten, 1913 Vizesekretär, 1920 Sekretär, zieht man seine persönliche Zerrissenheit zwischen
1922 Obersekretär (AS:CD-Rom 870–873). Brotberuf und Schriftstellerei in Betracht. Die Aner-
Die noch junge Versicherungsanstalt (gegründet kennung, die ihm in seiner Laufbahn als Beamter
1889) versicherte ca. ein Drittel aller gewerblichen zuteil wird, bleibt jedenfalls dem Dichter versagt.
Arbeitnehmer Österreich-Ungarns und war für Zweifellos durchkreuzten die neuen beruflichen
knapp 47 % aller Unternehmen zuständig. Für das – Verpflichtungen seine eigentlichen literarischen
oft einkalkulierte – Risiko eines Arbeitsunfalls muss- Pläne. Schon während seines kurzen Gastspiels an
ten die Unternehmer einen Beitrag an die AUVA der Assicurazioni Generali hatte Kafka sein Debüt als
entrichten, der sich nach den Gefahrenklassen der Schriftsteller in der Öffentlichkeit vollzogen. Die
jeweiligen Betriebe richtete. Da die Unternehmen in von Franz Blei (1871–1942) herausgegebene Zwei-
der Regel kein Interesse an hohen Beiträgen hatten, monatsschrift Hyperion druckte in ihrer ersten Aus-
versuchten sie auf verschiedenen, nicht immer lega- gabe im März 1908 unter dem Titel Betrachtung acht
len Wegen, die Beitragssätze zu verringern. Kafka kurze Prosastücke: Die Bäume, Kleider, Die Abwei-
hatte somit die Aufgabe, nicht nur die korrekten Ge- sung, Der Kaufmann, Zerstreutes Hinausschaun, Der
fahrenklassen und Zahlungseingänge zu überprüfen Nachhauseweg, Die Vorüberlaufenden und Der Fahr-
bzw. neu einzureihen, er musste auch die Vielzahl gast. Kafka kannte den Herausgeber über Brod, der
anfallender Klagen und Eingaben bearbeiten und an mit Blei zusammenarbeitete. Auch hatte man in den
den potentiell gefährdeten Arbeitsplätzen für ausrei- Vorjahren bereits Bleis frühere Zeitschriften abon-
chend Unfallschutz sorgen (ä 404–406). Seine Arti- niert (Amethyst 1905/06; Opale 1907). Die Kurzle-
kel zur ›Unfallverhütung‹ – ein im Versicherungswe- bigkeit dieser Zeitschriften hinderte den wendigen
10 1. Leben und Persönlichkeit

Herausgeber Blei nicht, neue literarische Wege, selbst Kafka hat zu diesem Zeitpunkt bereits ein breites
unter erheblichen finanziellen Belastungen, einzu- Programm an naturnahen Eigenaktivitäten entwi-
schlagen. So wurde Hyperion für kurze Zeit eine der ckelt, die er vor allem als Maßnahmen zur körperli-
ambitioniertesten deutschsprachigen Zeitschriften, chen Abhärtung versteht: Wandern, kalte Waschun-
die Avantgarde in bibliophilem Gewand vertrat. gen, ›Müllern‹ (eine Gymnastikmethode nach dem
Kafka steuert für die Ausgabe vom Mai 1909 zwei dänischen Arzt Jens Peder Müller), Nacktkultur, Rei-
weitere Stücke bei – Gespräch mit dem Beter und Ge- ten, Rudern, Schwimmen, Tennis. Nach 1910, unter
spräch mit dem Betrunkenen (Ausschnitte aus Be- dem wachsenden Einfluss der Naturheilbewegung,
schreibung eines Kampfes) und provoziert damit die kommen hinzu: vegetarische Ernährung, alkoholi-
von Willy Haas (1891–1973) überlieferte Bemer- sche Abstinenz, ›Fletschern‹ (Kauen nach Anleitun-
kung Franz Werfels: »Das kommt niemals über Bo- gen der Fletscher-Methode, benannt nach dem eng-
denbach hinaus« (Koch, 82). Als der exklusive Hy- lischen Ernährungsreformer Horace Fletcher, 1849–
perion nach zwei Jahren sein Erscheinen einstellen 1919).
muss, schreibt Kafka in der Prager Tageszeitung Bo- Trotz sichtlicher Bemühungen um eine gesunde
hemia einen Nachruf, in welchem er die Bedeutung Lebensweise wird Kafka immer wieder von nervö-
für randständige Autoren betont (DzL 416–418). sen Stimmungen eingeholt. So auch im Sommer
Über den Redakteur der Bohemia, Paul Wiegler 1909. Dank eines ärztlichen Gutachtens bewilligt
(1878–1949), kann Kafka einige Rezensionen und ihm die AUVA ausnahmsweise einen 8-tägigen Ur-
weitere Betrachtungen veröffentlichen. Damit ist ein laub, woraufhin Kafka die erste Septemberhälfte zu-
wichtiger Schritt getan. Wenn die Veröffentlichung sammen mit Max Brod und dessen Bruder Otto in
seiner Kurzprosa auch kein durchschlagender Erfolg Riva am Gardasee verbringt. Man wandelt auf Goe-
war, so bringt sie Kafka doch in Tuchfühlung mit an- thes Spuren, badet und trifft sich mit Carl Dallago
deren Autoren Prags. In den ersten Jahren der Berufs- (1869–1949), dem bekannten Naturphilosophen
tätigkeit besucht er mit Brod regelmäßig Caféhäuser und Vegetarier. Selbstverständlich wird auch die im
und Künstlerzirkel. Zu den neuen Bekanntschaften nahegelegenen Brescia veranstaltete Flugschau be-
gehören Otto Pick (1887–1940), Rudolf Fuchs (1890– sucht. Auf diese Weise werden Kafka und seine bei-
1942), Paul Kornfeld (1889–1942), Alfred Kubin den Begleiter am 11. September 1909 Zeugen einer
(1877–1959) und die im Café Arco residierenden ›Ar- Vorführung modernster Flugtechnik, inszeniert un-
conauten‹ Franz Werfel (1890–1945) und Willy Haas ter der Regie namhafter Piloten (Louis Blériot,
(1891–1973). Das literarische Leben dieser Kreise Henri Rougier, Glenn Curtiss, Alessandro Anzani,
zeigt seine Vielfalt in Lesungen, Diskussionen, Rezita- Mario Calderara) und anderer Prominenz (Gia-
tionen und zuweilen auch in Werfels Gesangseinlagen como Puccini, Gabriele D’Annunzio). Unter dem
oder in spiritistischen Sitzungen, die man spätabends Eindruck des Gesehenen beschließen Kafka und
im Caféhauskeller improvisiert. Zu den gern besuch- Brod eigene Reportagen zu verfassen. Der daraus
ten Attraktionen gehören aber auch große Theater- hervorgehende Artikel Kafkas Die Aeroplane in Bre-
ereignisse wie Arthur Schnitzlers Der Ruf des Lebens scia erscheint bereits am 29. September 1909 in der
sowie die von Angelo Neumann ins Leben gerufenen Prager Bohemia und ist die erste Schilderung einer
Maifestspiele, mit Auftritten der gefeierten russischen Flugschau in der deutschsprachigen Literatur (DzL
Tänzerin Jewgenja Eduardowa (1882–1960). 401–412).
Literarische Inspiration sucht man nicht zuletzt Nach seiner Rückkehr aus Riva wird Kafka – nun
durch die Flucht aus der Stadt in die ländliche Um- offiziell als Praktikant der AUVA – zurück in die ver-
gebung Prags zu erlangen. Zusammen mit Brod und sicherungstechnische Abteilung versetzt. Auf sein
Werfel bildet Kafka einen »Geheimbund froher Na- Gesuch hin bewilligt die Anstalt ihm den Besuch ei-
turanbeter«, der die bewusst physische Wahrneh- ner Vorlesung, die Prof. Karl Mikolaschek (1850–
mung von Natur zur Grundlage literarischer Aneig- 1920) im Wintersemester an der Deutschen Techni-
nung macht. Die drei Naturfreunde trafen sich, schen Hochschule über mechanische Technologie
Brods Erinnerungen zufolge, an den Flussufern der hält. Kafkas Interesse für die Innovationen seiner
Sazawa, entkleideten sich im Wald und »hörten als Epoche wird zweifellos durch seinen Beruf vertieft,
nackte Fluß- und Baumgötter die klingenden neuen einen greifbaren Ausdruck findet es aber auch in sei-
Verse des ›Weltfreunds‹ an, schwammen dann viele nen Freizeitbeschäftigungen – Motorsport und re-
Stunden in den Fluten« (Brod 1969, 23). gelmäßige Kinobesuche.
1. Leben und Persönlichkeit 11

Größere Reisen Schreibstrom reißt wieder ab mit den Vorbereitun-


gen der Hochzeit seiner Schwester: Am 27. Novem-
In den Jahren 1909 bis 1911 hat Kafka einige grö- ber 1910 heiratet Elli den aus Zürau stammenden
ßere, teilweise ausgedehnte Reisen durch Europa un- Handelsagenten Karl Hermann (1883–1939).
ternommen – vorwiegend in Begleitung Max Brods. Wenige Tage danach entschädigt Kafka sich für
Die Freundschaft erreichte hier zweifellos ihren Ze- den missglückten Paris-Aufenthalt mit sechs Tagen
nit. Brod war für Kafka nicht nur das Fenster (wie in Berlin, die vor allem dem Theaterleben gewidmet
vormals O. Pollak), sondern eine weit geöffnete Tür werden. Im Programm stehen: Heirat wider Willen
zur Welt. Ihm war es zu danken, dass Kafkas litera- (Molière), Anatol (Schnitzler), Komödie der Irrungen
rische Anlagen nicht im Glasgehäuse artifizieller (Shakespeare). Von Shakespeares Hamlet-Auffüh-
Selbstbetrachtungen steckenblieben oder in den rung ist Kafka überwältigt: Der Hauptdarsteller Al-
Schubläden des scheuen Versicherungsbeamten ver- bert Bassermann (1869–1952) ergreift ihn förmlich
schwanden. Zeitweise bekannte Kafka, »fast ganz und Gertrud Eysoldts (1870–1955) Stimme und We-
unter Maxens Einfluß« zu stehen (26.10.1911; T 198). sen beherrschen ihn nachhaltig (An F. Bauer, 16.1.
Mit Max Brod öffnete sich ihm eine Welt, die er frei- 1913; B13–14 43).
lich mit anderen Augen betrachtete als der Freund. In Prag erwarten ihn neue Aufgaben in der Versi-
1909 begann Kafka auch seiner politischen Umwelt cherungsanstalt. Ausgestattet mit der Vollmacht ei-
größere Aufmerksamkeit zu schenken: Eine – wenn nes gesetzlichen Vertreters der AUVA reist er in den
auch umstrittene – Bekanntschaft mit Michal Mareš folgenden Monaten mehrere Male in die nordböh-
(1893–1971) und dessen tschechischen Radikalen- mischen Verwaltungsbezirke Friedland, Grottau,
kreis Klub mladých führte zu Beschäftigungen mit Kratzau, Reichenberg. Während einer Dienstreise
der einschlägigen Literatur russischer Anarchisten nach Warnsdorf begegnet er dem Industriellen und
wie Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) und Naturheilkundigen Moriz Schnitzer (1861–1939),
Alexander Herzen (1812–1870). Darüber hinaus den er als Autorität bezüglich Lebensreform und Ve-
nahm Kafka an Kundgebungen tschechischer Par- getarismus und nicht zuletzt als eingeschworenen
teien mit Volksrednern wie Soukup, Klofáč und Gegner von Arznei und Impfbehandlung schätzen
Kramář teil, informierte sich in der tschechischen lernte. Begeistert berichtete er seinem Freund Max
Tageszeitung Čas und besuchte Versammlungen der Brod von dieser Begegnung, der am 4./5. Mai 1911
von Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) und Jan irritiert in seinem Tagebuch vermerkt:
Herben (1857–1936) vertretenen Realistenpartei.
Am 8. Oktober 1910 tritt Kafka, abermals mit Max Kafka erzählt sehr hübsche Dinge von der Gartenstadt
und Otto Brod, eine 14-tägige Parisfahrt an. Gut prä- Warnsdorf, einem »Zauberer«, Naturheilmenschen, rei-
chen Fabrikanten, der ihn untersucht, nur den Hals im
pariert mit Französischkenntnissen, die in den Wo- Profil und von vorn, dann von Giften im Rückenmark
chen zuvor mit Konversationsstunden und Flaubert- und fast schon im Gehirn spricht, die infolge verkehrter
Lektüren aufgefrischt wurden, macht man sich auf Lebensweise entstanden seien. Als Heilmittel empfiehlt
den Weg nach Nürnberg, um anderntags weiterzu- er: bei offenem Fenster schlafen, Sonnenbad, Gartenar-
reisen. In der französischen Metropole erwartet die beit, Tätigkeit in einem Naturheil-Verein und Abonne-
ment der von diesem Verein, respektive dem Fabrikan-
drei Touristen ein dicht gedrängtes Pensum an ten selbst, herausgegebenen Zeitschrift. Spricht gegen
Unterhaltung und Sehenswürdigkeiten: Tuilerien, Ärzte, Medizinen, Impfen. Erklärt die Bibel vegetarisch:
Louvre, Montmartre, Jardin du Luxembourg, Arc de Moses führt die Juden durch die Wüste, damit sie in vier-
Triomphe, Eiffelturm, Museen, Theater, Warenhäu- zig Jahren Vegetarianer werden (Brod 1966, 97 f.).
ser, Varieté, Pferderennen, Vaudeville, Lokale, Bars
und die unvermeidlichen Rotlicht-Etablissements Trotz dieser eigenwilligen Empfehlungen und Ausle-
von Montmartre. Kafka kann an den umfangreichen gungen erhält sich die Bewunderung für den »Zau-
Vergnügungen aufgrund eines Rückenabszesses nur berer« aus Warnsdorf über lange Jahre. »Hätte ich
bedingt teilhaben und beendet den Aufenthalt vor- doch die Kraft«, heißt es im Tagebuch März 1912,
zeitig, um den Brod-Brüdern nicht zur Last zu fallen »einen Naturheilverein zu gründen« (5.3.1912;
und sich in Prag behandeln zu lassen. T 395). Nicht weniger nimmt ihn das Prager Kultur-
Wie so oft nach seinen Reisen erfährt Kafka hier leben in Anspruch: Aufführungen von Grillparzer,
neue Schreibimpulse. Unter anderem entsteht in die- Karl Schönherr und (dem inzwischen weniger ge-
sem Herbst das Stück Unglücklichsein. Doch der schätzten) Schnitzler werden besucht. Ebenso die
12 1. Leben und Persönlichkeit

Vorträge von Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950; eines Eingangskapitels (Erste lange Eisenbahnfahrt)
Musik und Rhythmus, 7.3.1911), Karl Kraus (Heine in den Herder-Blättern im Mai 1912 (DzL 419–440),
und die Folgen u. a., 15.3.1911), Adolf Loos (Orna- unvollendet ad acta gelegt.
ment und Verbrechen, 17.3.1911), Rudolf Steiner Nachträglich sollte Erlenbach dennoch Spuren in
(Vortragszyklus zur Theosophie und Audienz, 19.– Kafkas Schreiben hinterlassen. Auf der Fahrt trifft
29.3.1911), Albert Einstein (Relativitätstheorie, der Kurgast einen jungen jüdischen Goldarbeiter aus
24.5.1911), ergänzt durch Lektüren Gerhart Haupt- Krakau, der zweieinhalb Jahre lang in Amerika war
manns, von Herbert Eulenbergs Brief eines Vaters und von seinen denkwürdigen Erlebnissen in New
unserer Zeit (1911), Goethes Tagebücher und Kleists York erzählt: Kafka skizziert ihn in seinem Reiseta-
Biographie in Selbstzeugnissen. Unter der Wirkung gebuch (ca. 14.9.1911; T 978–980) als Vorlage für
dieser vielfältigen Eindrücke entstehen im Frühjahr Karl Roßmann, den naiven Helden des Romans Der
Entwürfe wie Der kleine Ruinenbewohner und Die Verschollene (<Amerika>, erschienen 1927).
städtische Welt, die allerdings Fragment bleiben
(19.10.1910; T 17–28 u. 21.2.1911; T 151–158). Eine Jargonbühne in Prag
Am Ende des Sommers, vom 26. 8. bis 13. 9. reisen
Kafka und Brod gemeinsam nach Lugano. Auf Zwi- In den Jahren 1910 bis 1912 schürzt sich der Knoten,
schenstationen entdeckt man die Reize Münchens, der in der Folgezeit Kafkas Lebenssituation be-
Zürichs und erkundet das Spielcasino von Luzern. stimmt: Eine Zuspitzung der beruflichen Probleme
Angesichts des florierenden Tourismus wird der Ge- im Zusammenhang mit seinen literarischen Ambiti-
danke einer Reform der Reiseführer unter dem Na- onen, zunehmende Entfremdung in der Familie, die
men »Billig« erwogen (T:K 233 f.). Auch der Vor- drängende Aktualität der Junggesellenfrage, die Kon-
schlag einer gemeinsamen Reisearbeit, den man be- frontation mit grundlegend neuen Erfahrungswelten
reits in Riva in Form eines literarischen Wettbewerbs und Identitätsmustern, vertiefte Einsichten in die ei-
angeregt hatte, wird diskutiert – und 1912 mit dem gene Lebensproblematik, sowie fortgesetzte Selbst-
Romanprojekt Richard und Samuel – eine kleine Reise befragungen bilden die Voraussetzungen dafür.
durch mitteleuropäische Gegenden umgesetzt (DzL Die Engführung aller dieser Bereiche drückt sich
419–440). immer wieder in Kafkas empfindlicher Schreibver-
Zunächst aber führen beide Freunde nur Parallel- fassung aus: Schreib-Blockaden und -Öffnungen re-
tagebücher. Der Aufenthalt in Lugano, Mailand, sultieren daraus in oftmals dicht aufeinander folgen-
Stresa und am Lago Maggiore wird getrübt, als ver- den Phasen.
mehrt Meldungen einer in Norditalien grassieren- Aber auch körperliche Beschwerden sowie neur-
den Cholera-Epidemie eintreffen. Man beschließt asthenische Zustände sind die häufigen Begleiter-
daher, die verbleibende Zeit in Paris zu verbringen. scheinungen dieser Verfassung: »Ich will schreiben
Am 8. September treffen Brod und Kafka, über Mon- mit einem ständigen Zittern auf der Stirn«, proto-
treux und Dijon kommend, im Pariser Gare de Lyon kolliert Kafka in sein drittes Tagebuchheft (5./6.11.
ein. In dichter Folge absolviert man Louvre, Ver- 1911; T 225) – und fügt einige Zeilen weiter hinzu:
sailles, Opéra Comique, Metrosystem, Kino, Varieté
Würde ich einmal ein größeres Ganzes schreiben kön-
und badet in der Seine. Ein Besuch in einem von nen wohlgebildet vom Anfang bis zum Ende, dann
Brod geschätzten Bordell endet auch diesmal demü- könnte sich auch die Geschichte niemals endgiltig von
tigend für Kafka. Schließlich beobachtet man noch mir loslösen und ich dürfte ruhig und mit offenen Au-
einen Verkehrsunfall in der Rue de Louvre, dessen gen als Blutsverwandter einer gesunden Geschichte ih-
rer Vorlesung zuhören, so aber lauft jedes Stückchen der
Szenografie Kafka slapstickartig im Reisejournal Geschichte heimatlos herum und treibt mich in die ent-
festhält (11.9.1911; T 1012–1017). gegengesetzte Richtung (T 227).
Am 13. September trennen sich die Freunde.
Während Brod nach Prag zurück fährt, begibt Kafka Im Ganzen hat Kafka von Herbst 1911 bis Herbst
sich auf eine 6–tägige Kur ins Natursanatorium Fel- 1912 nur wenige kleinere Stücke fertiggebracht – ne-
lenberg in Erlenbach/Zürich, um sich bei nervenauf- benher aber entstanden rund 200 Seiten eines Ro-
bauendem Tagesprogramm dem Tagebuchroman zu manentwurfs: die erste (verlorene) Fassung des Ver-
widmen. Die literarische Ausbeute ist gering. Ri- schollenen.
chard und Samuel kommt über einige Skizzen nicht Mit den Reflexionen über das Schreiben formu-
hinaus und wird schließlich, nach Veröffentlichung liert Kafka nicht nur seine idealisierte Vorstellung,
1. Leben und Persönlichkeit 13

sondern deutet gleichsam auch sein dichterisches Fi- nisch die ostjüdischen Neigungen des Sohnes (und
nalisierungstrauma an. Das Problem Kafkas beim antizipiert damit gleichsam eine Verwandlung, die
Schreiben sind nicht die mangelnden Ideen, sondern Kafka wörtlich nimmt). Die ›Lemberger Gesell-
ihre Verarbeitung in einem abgeschlossenen ›größe- schaft‹ findet in Prag wie schon in Berlin keine wirk-
ren Ganzen‹. Statt Autorschaft, wie sie Max Brod an- liche Aufnahme. Auch Kafka überkommen zuweilen
strebt, sucht er nach Authentizität im Schreibpro- Zweifel an den eigenen Annäherungsversuchen:
zess.
Die Eindrucksfähigkeit für das Jüdische in diesen Stü-
Kafkas Überlegungen fallen zeitlich zusammen
cken verläßt mich […]. Bei den ersten Stücken konnte
mit Ereignissen, die seit Anfang Oktober des Jahres ich denken, an ein Judentum geraten zu sein, in dem die
einen neuen Akzent in seinem Leben setzen: die Be- Anfänge des meinigen ruhen und die sich zu mir hin
ziehung zum ostjüdischen Jargontheater. Vom 24. entwickeln und dadurch in meinem schwerfälligen Ju-
September 1911 bis zum 21. Januar 1912 gastiert dentum mich aufklären und weiterbringen werden, statt
dessen entfernen sie sich, je mehr ich höre, von mir weg
eine jüdische Theatertruppe aus Lemberg in Prag. (6.1.1912; T 349).
Kafka besucht ab Oktober regelmäßig die Vorstel-
lungen und lernt die Schauspieler kennen. Zu dem Löwy öffnet Kafkas Blick auf ein authentisches Ju-
Hauptakteur Jizchak Löwy (1887–1942) entsteht dentum, das in anderer Hinsicht auch der Prager
eine über Jahre währende, freundschaftliche Bezie- Kulturzionismus anstrebt. Freilich betrachten Zio-
hung, und zu der Aktrice Amalie Tschissik (auch: nisten wie Martin Buber (1878–1965) oder Hugo
Tschisik; *ca. 1881) entwickelt sich bald eine erotisch Bergmann das Judentum aus einer eher intellektuel-
gefärbte, schwärmerische Verehrung. Das Erlebnis len Perspektive. In den Vorjahren hatte man im
Jargonbühne überrollt Kafka mit einer Intensität, handverlesenen Kreis des Hochschüler-Vereins Bar-
dass seine Schilderungen den engen Rahmen des Ta- Kochba das Programm einer jüdischen Renaissance
gebuchs zu sprengen drohen. Die Jiddisch (Jargon) erörtert und damit eine brisante gesellschaftliche
sprechenden Schauspieler führen ein buntes, teil- Diskussion entfacht. Die Mehrzahl der Vorträge, die
weise bizarres Repertoire aus Rührstücken, Operet- Kafka im ersten Halbjahr 1912 besucht, stehen in
ten, Komödien, religiösen Legenden und eigenwilli- diesem Kontext: Sie sind auf die jüdische Frage ge-
gen Adaptionen der Weltliteratur auf. Mindestens richtet und beleuchten aus unterschiedlichen Blick-
12 Stücke davon sieht auch Kafka: Jakob Gordins winkeln Probleme der Assimilation, Emanzipation,
Der wilde Mensch und Gott, Mensch und Teufel, Josef Tradition und Auswanderung. So hört er den Mitini-
Lateiners Sejdernacht, Davids Geige, Die Perle von tiator der Czernowitzer Jiddischkonferenz Nathan
Warschau, Abraham Goldfadens Bar-Kochba, Sula- Birnbaum (Einleitungsvortrag zum jiddischen
mit, Abraham M. Scharkanskys Meschumed, Kol Volksliederabend), den jüdischen Arzt und Soziolo-
nidre, Moses Richters Moijsche Chajet, Herzele Meji- gen Felix Theilhaber (Untergang der deutschen Ju-
ches und Sigmund Feinmanns Der Vicekönig. Wie den), den Münchener Rabbiner Chanoch Heinrich
schon in der Berliner Hamlet-Aufführung zeigt sich Ehrentreu (Afike Jehuda), den zionistischen Heraus-
Kafka von den Darbietungen in einer Weise faszi- geber und Wirtschaftsexperten Davis Trietsch
niert, die über das bloße Theatererlebnis hinausgeht (1870–1935; Palästina als Kolonisationsland), den
und auf ein physisches Erleben zielt. tschechischen Sozialdemokraten František Soukup
Unter Löwys Einfluss liest er »gierig und glück- (1871–1940; Amerika und seine Beamtenschaft) und
lich« Heinrich Graetz’ Geschichte des Judentums den Generalsekretär des zionistischen Weltverban-
(1.11.1911; T 215), Meyer Isser Pinès’ Histoire de la des Kurt Blumenfeld (1884–1963; Die Juden im aka-
littérature judéo-allemande (1911) und Jakob Fro- demischen Leben) in jeweils eigenen Vortragsveran-
mers Der Organismus des Judentums (1909). Für den staltungen.
ostjüdischen Schauspieler organisiert er am 18. De- In diesen Monaten beginnt sich Kafka auch mit
zember 1912 einen Rezitationsabend und hält den Fragen seiner jüdischen Identität – nicht zuletzt als
Einleitungsvortrag über Jargon (NSF I, 188–193; einer Quelle seines Schreibens – zu beschäftigen –
ä 140 f.). Doch Löwy steht auch für die Unmög- eine Beschäftigung, die bis an sein Lebensende nicht
lichkeit dieses Vermittlungsversuches unter den abreißen wird. Der Zionismus, dem Kafka in Gestalt
westjüdischen Bedingungen in Prag. »Wer sich mit vieler seiner Bekannten noch begegnen und sich an-
Hunden zu Bett legt steht mit Wanzen auf« nähern wird, hält auf seine Fragen letztlich nur un-
(3./4.11.1911; T 223), kommentiert der Vater zy- zureichende Antworten bereit.
14 1. Leben und Persönlichkeit

Noch während der eindrücklichen Begegnungen schen Theater inszenierten Biberpelz, dessen Sujet
mit der ›Lemberger Gesellschaft‹ vollzogen sich in durchaus Anknüpfungsmöglichkeiten an die Stücke
der Familie Kafkas neue, folgenreiche Entwicklun- der Wanderbühne bietet, konstatiert Kafka beiläufig:
gen. Der Schwager Karl Hermann hatte die Geschäfts- »Lückenhaftes, ohne Steigerung abflauendes Stück«
idee einer – für Prag konkurrenzlosen – Asbestfab- (13.12.1911; T 289). Auch Hofmannsthal, der am
rik vorgebracht. Eine überzeugende zukunftsträch- 16. Februar 1912 (zwei Tage vor Kafkas Jargonvor-
tige Idee, die auch bei Hermann Kafka auf Resonanz trag) im Herder-Verein Gedichte vorträgt, »liest mit
stieß. Um das in Form einer beträchtlichen Mitgift falschem Klang in der Stimme« (25.11.1912; T 379).
einfließende Familienkapital gut, aber kontrolliert Und selbst der berühmte Rezitator Alexander Moissi
zu investieren, wurde Franz Kafka als stiller Teilha- (1879–1935) überzeugt bei seiner Lesung deutscher
ber der Firma eingesetzt. So wurde am 8. November Gegenwartsautoren im Rudolfinum nur mäßig.
1911 im Büro des Notars Dr. Robert Kafka (1881– Unter der Wirkungsmacht der jiddischen Litera-
1922) der Vertrag für die Prager Asbestwerke Her- tur können in diesen Monaten für Kafka nur wenige
mann & Co verlesen und unterschrieben (B00–12 deutschsprachige Autoren bestehen. So ist es be-
147–149). Das Unternehmen, eine eher bescheidene zeichnend, dass er seine Lektüren vorwiegend auf
Produktion von Asbestisoliermaterialien (vor allem den wirksamsten Exponenten – den Klassiker Goe-
Stopfbüchsenpackungen), lag im tschechischen the konzentriert. Die Tagebücher sowie Dichtung und
Stadtteil Žižkov im Hinterhof der Boriwogasse 27 Wahrheit werden Ende 1911, Goethes Gespräche (hg.
und erforderte weitaus mehr Engagement als Kafka v. W. v. Biedermann), Goethes Studentenjahre 1765–
einzubringen bereit oder fähig war. Die zu erwarten- 1771. Novellistische Schilderungen aus dem Leben des
den Vorwürfe des Vaters wurden schon Mitte Dichters und Stunden mit Goethe (hg. v. W. Bode)
Dezember laut, Kafkas Selbstvorwürfe folgten als- Anfang 1912 gelesen und teilweise im Tagebuch aus-
bald: »Die Qual, die mir die Fabrik macht. Warum gewertet. Dichtung und Wahrheit enthält für Kafka
habe ich es hingehen lassen als man mich verpflich- »eine durch keinen Zufall zu überbietende Leben-
tete, daß ich nachmittags dort arbeiten werde« digkeit« (26.12.1911; T 323). Zeitweise wähnt er sich
(28.12.1911; T 327). Als die ersten alarmierenden »ganz und gar von Goethe beeinflußt« (Jan. 1912;
Geschäftsbilanzen eintrafen, suchte er bei seinem T 358). Keineswegs jedoch entsprechen diese Lektü-
Madrider Onkel Alfred Löwy um Rat und finanzielle ren einem konventionellen Umgang mit dem Wei-
Hilfe an. Schließlich wurde Karl Hermanns Bruder marer Klassiker, wenn es heißt: »Goethe hält durch
Paul – ohne Wissen des alten Kafka – in der Funk- die Macht seiner Werke die Entwicklung der deut-
tion des Kompagnons eingesetzt, was die Lage nur schen Sprache wahrscheinlich zurück« (25.12.1911;
noch verschlimmerte. Die Gründung der Firma, der T 318). Aus diesen Bemühungen um die Wirkungen
rasche Verlust der wirtschaftlichen Kontrolle und einer durch Goethe geprägten großen Literatur im
der persönlich mitverschuldete Ruin in den ersten Vergleich zur jiddischen bzw. tschechischen Litera-
Kriegsmonaten konnten im Spannungsfeld Kafkas tur gehen auch Kafkas Skizzen zu den <Kleinen Lit-
nicht ohne Folgen bleiben. Seitens der Familie wird teraturen> vom Dezember 1911 hervor (25.-27.12.
der Druck zeitweise so stark, dass Kafka sich im 1911; T 312–326; ä 138–140).
März und Oktober 1912 mit Selbstmordgedanken Die Bannkraft der nationalen Ikone Goethe holt
trug und eine Intervention Max Brods bei der Mut- Kafka abermals ein, als er sich am 28. Juni 1912 mit
ter nötig wurde (An M. Brod, 7./8.10.1912; B00–12 Brod auf eine Urlaubsreise begibt. Bereits die Statio-
177–180). nen Leipzig – Weimar – Harz deuten die literarische
Die Faszination am Erlebnis Jargonbühne bringt Topografie des Dichterfürsten an. Kafka hatte sich
es mit sich, dass Kafka sein Theaterpensum an Pra- aufgrund eines neuen ärztlichen Attestes über seine
ger deutschen und tschechischen Bühnen seit Win- »krankhaften nervösen Zustände« bei der AUVA
ter 1911 deutlich einschränkt. Als drei der wenigen verlängerten Urlaub für vier Wochen genehmigen
Ausnahmen mögen die Aufführungen von Arthur lassen (An die AUVA, 17.6.1912; B00–12 154).
Schnitzler, Jaroslav Vrchlický und Gerhart Haupt- Auf der ersten Etappe in Leipzig bewältigen Brod
mann gelten: Zu Vrchlickýs Hippodamie heißt es: und er zunächst das obligatorische touristische Pro-
»Elendes Stück. Ein Herumirren in der griechischen gramm – Spaziergang, Auerbachskeller, Bordell, Ca-
Mythologie ohne Sinn und Grund« (18.12.1911; féhaus, Buchgewerbemuseum, Verlagsviertel. Für
T 298). Zu Gerhart Hauptmanns am Neuen deut- den zweiten Tag hat Max Brod, nach eigenen Ver-
1. Leben und Persönlichkeit 15

lagsverhandlungen, ein Treffen mit Ernst Rowohlt denn in Prag! Dieses Verlangen nach Menschen, das ich
(1887–1960), Kurt Pinthus (1886–1975), Walter Ha- habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt
wird, findet sich erst in den Ferien zurecht; ich bin gewiß
senclever (1890–1940) und Gerdt von Bassewitz ein wenig verwandelt (22.7.1912; B00–12 164).
(1878–1923) in Wilhelms Weinstube arrangiert. Der
junge Verlagsleiter Rowohlt kennt Kafkas Arbeiten Wie immer, wenn Kafka unterwegs ist, knüpft er eine
aus Hyperion und versucht, ihn als Autor zu gewin- Reihe von Bekanntschaften, außerdem liest er regel-
nen: »R. will ziemlich ernsthaft ein Buch von mir«, mäßig in der Bibel und in Flauberts L’ Éducation senti-
vermerkt Kafka überrascht, aber nicht ohne Stolz im mentale, beteiligt sich an geselligen Unternehmungen
Reisetagebuch (29.6.1912; T 1023). Später trifft man der Kurgäste und steht einem Hobbymaler, Dr. Fried-
im Verlag auch Kurt Wolff (1887–1963), der in den rich Schiller, nackt Modell. In Jungborn wird die Ar-
Folgejahren die Verlagsleitung übernehmen wird. beit am Manuskript des Verschollenen weitergebracht.
Nach der erfolgreichen Expedition wird die litera- Aber neue grundsätzliche Zweifel an der Qualität sei-
rische Tendenz der Reise in Weimar fortgesetzt. Die nes Schreibens holen ihn ein, so dass bald auch das
Freunde besichtigen Schillerarchiv, Goethe-Garten- geplante Buch bei Rowohlt in weite Ferne gerückt ist.
haus, Liszt-Haus, Fürstengruft, Schloss Belvedere
und treffen sich mit Kurt Hiller (1885–1972), Paul
Ernst (1866–1933) und Johannes Schlaf (1862– Die Jahre des mittleren Werkes
1941). Das für Kafka weitaus einprägsamere Ereignis
Der Durchbruch
ist jedoch die Bekanntschaft mit Margarethe Kirch-
ner (1896–1954) im Goethe-Haus. »Kafka kokettiert Die Buchveröffentlichung bei Rowohlt erweist sich
erfolgreich mit der schönen Tochter des Hausmeis- weitaus schwieriger als angenommen. Zurückge-
ters«, notiert Max Brod (RMB 226). »Grete«, wie es kehrt nach Prag beginnt Kafka zunächst mit der
bald schon vertraulicher heißt, verschafft den Prager Auswahl geeigneter Texte für die Sammlung Betrach-
Gästen Zugang zu sonst verschlossenen Orten des tung. Offenbar genügen selbst die bereits fertigen
Dichterdomizils. Gemeinsam unternimmt man mit Stücke seinen hohen Ansprüchen einer Neuveröf-
Gretes Familie einen Ausflug nach Schloss Tiefurt fentlichung nicht mehr. Resigniert erklärt er dem
und trifft sich am 3. Juli – Kafkas Geburtstag – im Freund Max Brod, dass er »das Buch nicht heraus
Garten, um ein Erinnerungsfoto aufzunehmen. Wei- geben werde« (7.8.1912; T 427). Dieser kann ihn
tere Rendezvous folgen, werden von Grete aber nicht schließlich dazu überreden, eine Auswahl von weni-
immer eingehalten. Die Erscheinung des Mädchens gen Seiten Kurzprosa vorzulegen.
und die suggestive Wirkung des Genius loci sorgen Als Kafka am 13. August 1912 in die Wohnung der
bei Kafka für anhaltende Irritationen und nehmen Familie Brod am Kohlenmarkt kommt, um mit dem
ihn noch für mehrere Wochen, in Form eines klei- Freund das endgültige Manuskript vor der Absen-
nen Briefwechsels, in Anspruch: »Wenn es wahr dung zu besprechen, begegnet er dort der 24-jähri-
wäre, daß man Mädchen mit der Schrift binden gen Felice Bauer (18.11.1887–15.10.1960) aus Ber-
kann!«, klagt er dem Freund in Prag (An M. Brod, lin, einer weitläufigen Verwandten der Brods. Ge-
13.7.1912; B00–12 160). meinsam verbringt man den Abend und legt die
Über Halberstadt, wo er das Gleimhaus besichtigt, Reihenfolge der Stücke endlich fest. Doch schon am
fährt Kafka am 7. Juli allein weiter ins Naturheilsa- folgenden Tag bittet Kafka den Freund, noch einmal
natorium bei Stapelburg im Harz. Der Leiter Adolf zu überprüfen, ob »unter dem Einfluß des Fräuleins«
Just (1859–1936) vertritt mit seiner Musteranstalt für eine »vielleicht nur im Geheimen komische Aufein-
reines Naturleben konsequent die Idee der ›heilen- anderfolge« seiner Texte entstanden sein könnte
den Kraft der Erde‹ – Nacktkultur, natürliches Son- (B00–12 166). Brod geht der Bitte nach und sendet
nenlicht, Lehmpackungen, streng überwachte ge- das Manuskript am gleichen Tag an den Rowohlt-
sunde Ernährung. Kafka findet hier eine Gesellschaft Verlag, wo es noch im selben Jahr mit Widmung
vor, die mit religiösem Eifer die Empfehlungen der »Für M. B.« erscheint. Als Kafka im Dezember 1912
Naturheilkunde umsetzt. Dem skeptischen Max die bibliophile Druckfassung seiner Betrachtung in
Brod schreibt er: den Händen hält, steht er bereits ganz unter dem
Sag nichts gegen Geselligkeit! Ich bin der Menschen we- ›Einfluss‹ des Berliner Fräuleins.
gen auch hergekommen und bin zufrieden, daß ich mich Die Motive, die Kafka bewogen haben, nach fünf
wenigstens darin nicht getäuscht habe. Wie lebe ich Wochen, am 20. September 1912 (am Vorabend des
16 1. Leben und Persönlichkeit

jüdischen Versöhnungstags Jom Kippur) einen Brief Das so gewonnene Selbstvertrauen sorgt in den fol-
an Felice Bauer zu schreiben, sind vielfältig und wi- genden Wochen für einen nie gekannten literarischen
dersprüchlich. Seinen eigenen, dem Tagebuch an- Schaffensrausch, der u. a. einen neuen Anfang des
vertrauten Eindrücken zufolge, erschien ihm Felice Romans Der Verschollene (erstes Kap. Der Heizer) so-
als eine selbstbewusste junge Frau, »lustig, lebendig, wie das Fragment <Gustav Blenkelt > (T 432, 462 f.)
sicher und gesund« (An F. Bauer, vermutl. 8. u. hervorbringt. Zeitweise hält sich Kafka gewaltsam
16.6.1913; B13–14 209). Ihre physische Gegenwart vom Schreiben zurück, um weitere eruptive Schreib-
ließ ihn freilich nüchtern bemerken: »Knochiges lee- Durchbrüche zu forcieren (T 463). »Kafka in un-
res Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. glaublicher Ekstase« notiert Brod am 1. Oktober in
Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen sein Tagebuch (Hermes 1999, 90). Doch nicht weni-
aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht ger nehmen ihn auch äußere Störungen – vor allem
war. […] Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas stei- Felicens Schweigen sowie die familiären Auseinan-
fes reizloses Haar, starkes Kinn«. – »Allerdings in dersetzungen um die Asbestfabrik – in Anspruch.
was für einem Zustand bin ich jetzt«, notiert sich Kafka reagiert zwischenzeitlich mit Selbstmordge-
Kafka mit sichtlicher Verwirrung über die junge Ber- danken und unterstreicht damit gleichsam die extrem
linerin (20.8.1912; T 432). empfindliche Balance seiner inneren Verfassung.
Felice Bauer war tatsächlich eine ungewöhnliche Bis Mitte November sind sechs Romankapitel des
Erscheinung. Als Frau ihrer Zeit weit voraus, hatte Verschollenen abgeschlossen. Auch der Briefwechsel
sie zunächst als Stenotypistin gearbeitet und war in- mit Felice Bauer lässt nun wieder deutlich Fort-
nerhalb weniger Jahre zur Prokuristin in einer Pro- schritte erkennen. Seit dem neuerlichen Zuspruch
duktionsfirma für Grammophone und Parlographen Felicens ist man rasch zum ›Du‹ übergegangen und
(Diktiergeräte) aufgestiegen – einer von Männern schreibt bereits Liebesbriefe. Der neue Kurs bricht
klar dominierten technischen Branche. Als Kafka sie sich auch im Schreiben eine Bahn. Am 17. Novem-
kennenlernte, war Felice bereits Direktrice der Carl ber wird die Arbeit am Amerika-Roman durch eine
Lindström A.G. mit eigenverantwortlichen Arbeits- »kleine Geschichte« unterbrochen, die Kafka »inner-
ressorts. Sie interessierte sich – wie Kafka – für das lichst bedrängt« und ihn, da sie sich mehr und mehr
Hebräische, sympathisierte mit der zionistischen Be- auswächst, bis zum 6. Dezember beschäftigt: Die
wegung und war belesen genug, um sich ein eigenes Verwandlung (An F. Bauer, 17. 11.1912; B00–12 241).
literarisches Urteil zu bilden. Im Gespräch mit Kafka Der Verschollene wird zwar noch im Dezember fort-
am 13. August hatte Felice ihr Interesse an Palästina gesetzt, doch nach einer Dienstreise und weiteren
erwähnt und seinem Vorschlag zugestimmt, sie im Unterbrechungen stellt Kafka die Arbeit am 24. Ja-
nächsten Jahr auf eine Reise dorthin zu begleiten. nuar 1913 vorläufig ein, in der Hoffnung, später noch
Jedenfalls hilft diese Begegnung, wie sich heraus- daran anknüpfen zu können. Neben kleineren Skiz-
stellt, dem Schriftsteller aus einer tiefen Schreibkrise zen entsteht allerdings bis Ende 1914 nur noch ein
und markiert in seiner Biographie einen Wendepunkt: letztes Kapitel – der Roman bleibt somit Fragment.
In der Nacht vom 22. zum 23. September 1912, zwei Das literarische Echo auf Kafkas Lesungen und
Tage nach seiner Brief-Initiative nach Berlin, schreibt auf das erste Buch Betrachtung ist durchaus positiv:
Kafka die Geschichte Das Urteil (T 442–460). Die in Besprechungen von Paul Wiegler (Bohemia), Hans
einem Zuge fertig gestellte Niederschrift erlebt er als Kohn (Selbstwehr), Kurt Tucholsky (Prager Tagblatt),
Durchbruch zum eigentlichen Schreiben: »Nur so Max Brod (März, Neue Rundschau), Albert Ehren-
kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zu- stein (Berliner Tageblatt) und Otto Pick (Bohemia,
sammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung Pester Lloyd, Aktion) – aus Kafkas engerem Bekann-
des Leibes und der Seele« (23.9.1912; T 461), und tenkreis – etablieren ihn als Prager Dichter.
noch Monate später umschreibt er diesen Vorgang Das Vorkriegsjahr 1913 beginnt mit zwei Hochzei-
als »eine regelrechte Geburt« (11.2.1913; T 491). ten. Am 12. Januar wird die zweitälteste Schwester
Auch die Lesungen, die Kafka nun etwas selbstbe- Valli mit Josef Pollak (1882–1942) nach jüdischer Ze-
wusster vor seinen Schwestern und Freunden remonie in der Synagoge Geistgasse getraut. Kafka
(25.9.1912) und schließlich öffentlich im Herder- hält die Begrüßungsansprache und flieht abends ins
Verein im Hotel Erzherzog Stephan (4.12.1912) hält, Caféhaus. Auch der Intimus Max Brod nimmt Ab-
bestätigen den Eindruck von der »Zweifellosigkeit schied vom Junggesellenleben. Dessen Hochzeit mit
der Geschichte« (25.9.1912; T 463). Elsa Taussig (1883–1942) am 2. Februar ruft Kafka
1. Leben und Persönlichkeit 17

schmerzlich die eigene Lebenssituation mit ihren eine Ehe in Aussicht. Der offizielle Heiratsantrag
drängenden Fragen ins Bewusstsein. Die Korrespon- Mitte Juni – »Willst Du unter der obigen leider nicht
denz mit Felice Bauer erhält daraus neue, freilich auch zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du
selbstquälerische Impulse. So erscheint ihm die Ver- meine Frau werden willst? Willst Du das?« (vermutl.
bindung bereits als eine Fessel; einerseits spürt er eine 8. u. 16.6.1913; B13–14 208) – und dessen positive
starke literarische Abhängigkeit der Freundin gegen- Aufnahme in Berlin läutet für Kafka ein neues Sta-
über, andererseits weicht er einem realen Treffen aus. dium der Sorgen und Ängstigungen ein: »Der Coi-
Mit dem Versiegen der schöpferisch-literarischen tus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins.
Kräfte beginnt für Kafka im Frühjahr 1913 eine lang Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Jung-
anhaltende Phase unbefriedigender Schreibversu- geselle, das ist die einzige Möglichkeit für mich, die
che. Im Rückblick werden die Ekstasen von 1912 im- Ehe zu ertragen«, notiert er wenig später ins Tage-
mer wieder als einmalige und verpasste Gelegenhei- buch (14.8.1913; T 574 f.).
ten betrachtet. Noch 1915 bemerkt Kafka, damals, Statt des gemeinsamen Sommerurlaubs mit Fe-
1912, hätte er Prag im Vollbesitz seiner Kräfte verlas- lice fährt der inzwischen zum Vizesekretär avan-
sen sollen, um sich eine eigene Existenz aufzubauen cierte Kafka nach Wien, um mit Eugen Pfohl und
(25.12.1915; T 776). Mittlerweile überzeugt von den Robert Marschner am II. Internationalen Kongress
Möglichkeiten seines Schreibens und der Qualität für Rettungswesen und Unfallverhütung teilzuneh-
der Arbeiten Das Urteil, Der Heizer und Die Ver- men. Nebenher trifft er mit Bekannten zusammen,
wandlung hat Kafka gegen eine Veröffentlichung u. a. mit Albert Ehrenstein (1886–1950), mit dem
nun keine größeren Einwände mehr. Das Urteil er- Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß (1882–1940),
scheint mit einer Widmung »Für Fräulein Felice B.« den er im Juni kennengelernt hat, sowie mit Lise
in Max Brods im Mai 1913 herausgegebenen Jahr- Weltsch (1889–1974), die er auf den XI. Internatio-
buch Arkadia im neu firmierten Kurt-Wolff-Verlag. nalen Zionistenkongress begleitet. Nach den ermü-
Im selben Verlag erscheint zeitgleich im Mai Der denden Empfängen, Vorträgen und Veranstaltun-
Heizer als dritter Band der Reihe Der jüngste Tag. gen in Wien setzt Kafka die Reise allein in Richtung
Kafkas »kleine Geschichte« Die Verwandlung wird Oberitalien fort. Jedoch schon in Venedig holen ihn
1915 in den Weißen Blättern veröffentlicht. stärkste Zweifel an seinen Eheplänen ein. Ratlos
Zum ersten Wiedersehen mit Felice kommt es erst schreibt er seiner Braut: »Wir müssen Abschied
Ostern 1913 in Berlin. Kafka stößt hier auch auf eine nehmen« (16.9.1913; B13–14 282). In diesem trost-
gelegentliche »Vollversammlung« der Kurt-Wolff- losen Zustand, unerreichbar für Felicens Briefe,
Autoren Albert und Carl Ehrenstein, Paul Zech und reist er nach Riva am Nordufer des Gardasees, wo er
Else Lasker-Schüler (An K. Wolff, 24.3.1913; B13–14 vom 22.9. bis 12.10. in der bekannten Wasserheilan-
143) und fährt gemeinsam mit Otto Pick und Franti- stalt Dr. von Hartungen Nervenberuhigung sucht.
šek Khol (1877–1930) über Leipzig, wo er sich mit Das Naturheilsanatorium wird besonders von wohl-
Franz Werfel, Kurt Wolff und Jizchak Löwy trifft, zu- habenden Neurasthenikern, nicht zuletzt in Litera-
rück nach Prag. tenkreisen geschätzt und bietet seinen Gästen ein
Eine zweite Begegnung mit der Freundin und breites Spektrum an Heilbehelfen an. Hier lernt er
diesmal auch mit ihrer Familie in Berlin findet über in der 18-jährigen Schweizerin »G.W.« (Gertrud
Pfingsten statt. Kafka möchte sich erklären, da er Wasner) »zum ersten Mal ein christliches Mäd-
glaubt, das Verhältnis leide unter seiner Briefflut an chen« verstehen und geht mit ihr während der Kur
Ungleichgewicht, doch die erhoffte Aussprache miss- eine innige Beziehung ein (15.10.1913; T 582). Au-
lingt angesichts der gleichzeitig stattfindenden Ver- ßerdem wird er Zeuge des Selbstmordes seines
lobungsfeier von Felicens Bruder Ferry (Ferdinand) Tischnachbarn. Später hat Kafka diese Eindrücke in
mit Lydia Heilborn und muss der Einsicht weichen: die <Jäger-Gracchus>-Fragmente (ä 273–276) ein-
»Ohne sie kann ich nicht leben und mit ihr auch fließen lassen.
nicht« (An F. Bauer, 12./13.5.1913; B13–14 186). Nach seiner Rückkehr nach Prag schaltet Felice
Um sich »von der Selbstquälerei zu befreien« ihre Freundin Grete Bloch (1892–1944) als Vermitt-
(An F. Bauer, 7.4.1913; B13–14 158), arbeitet Kafka lerin ein. Mit der rührigen Emissärin entwickelt sich,
seit April an freien Nachmittagen in der Gärtnerei ausgehend von einem Treffen in Prag Ende Oktober,
Dvorsky in Nusle. Unter Hinweis auf seine körper- bald ein intensiver Briefwechsel. Immerhin kommt
lich labile Verfassung stellt er Felice nun erstmals es auch wieder zu einer Annäherung zwischen Kafka
18 1. Leben und Persönlichkeit

und Felice, so dass im Frühjahr 1914 erneut Hoch- Freundin, der Tänzerin, Schauspielerin und Schrift-
zeitspläne geschmiedet werden und im Mai die offi- stellerin Rahel Sanzara (i.e. Johanna Bleschke; 1894–
zielle Verlobung in Berlin gefeiert wird. 1936), im dänischen Kurbad Marielyst an der Ost-
Seit November 1913 wohnt die Familie Kafka im see. Am 26. Juli, wenige Tage nach Österreich-Un-
Oppelt-Haus am Altstädter Ring Nr. 6. Kafka trägt garns Ultimatum an Serbien, reiste er über Berlin
sich mit dem Gedanken, seine Stellung zu kündigen, zurück nach Prag.
um sich mit seinen Ersparnissen als freier Schrift-
steller in Berlin anzusiedeln. Die Stadt lockt wegen Im Krieg
des kulturellen Lebens und der erwachenden jungen
expressionistischen Bewegung, aber auch in Gestalt Im Sommer 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus.
Felicens, Ernst Weiß’, Martin Bubers, den er inzwi- Kafka bleibt wegen konstitutioneller Schwäche und
schen persönlich kennengelernt hat, und Robert Unabkömmlichkeit in einem wichtigen Staatsbetrieb
Musils (1880–1942), der ihn zur Mitarbeit an der vorläufig vom Militärdienst freigestellt. Die in Prag
Neuen Rundschau eingeladen hat. einsetzende Kriegsbegeisterung der Massen betrach-
Eine leichte Entfremdung stellt sich hingegen im tet er distanziert mit einem »bösen Blick« (6.8.1914;
Verhältnis zu Max Brod ein, dessen wachsendes zio- T 547), auch von den literarischen ›Epiphanien des
nistisches Engagement den Freund zu mehr Gemein- Kriegsgottes‹, denen Brod, Buber, Pick und Rilke in
schaftssinn drängt. Bereits in einem Aufsatz im Sam- den ersten Tagen erliegen, bleibt er unberührt. Ge-
melband Vom Judentum (1913) hatte Brod die Frage genüber seiner ehemaligen Nachbarin Anna [Feigl]
nach echter jüdischer Dichtung zur Kardinalfrage Lichtenstern bescheinigt er den kriegerischen Ge-
seiner Epoche erhoben. Kafka zeigt sich um derartige sängen dieser Tage Verlogenheit und »falsches Pa-
Identitäts-Lizenzen wenig bemüht, wenngleich auch thos« (Koch 1995, 81). Dennoch zeichnet auch Kafka
er die Vorträge Bubers (Mythos der Juden) und Berg- Kriegsanleihen und glaubt an einen Sieg der deut-
manns (Moses und die Gegenwart) besucht und Ri- schen Truppen.
chard Lichtheims Programm des Zionismus (1913) Da der Schwager Karl Hermann eingezogen
kennt. Weitaus größeres Interesse bringt er den Re- wurde, zieht die Schwester mit ihrer Familie in die
formbemühungen von Émile Jaques-Dalcroze (1868– elterliche Wohnung. Kafka entflieht der Enge: zu-
1950) entgegen, dessen ganzheitliche Schule er im nächst in die leerstehende Wohnung Vallis (Bílek-
Juni 1914 zusammen mit den Deutschen Werkstätten gasse 10), dann, von September 1914 bis Februar
in der Gartenstadt Dresden-Hellerau besucht. 1915, in Ellis Wohnung in die Nerudagasse 48 und
Die im September geplante Hochzeit mit Felice ab März 1915 findet er in der Langen Gasse 18 Asyl.
bedeutete ein Äußerstes an Kompromissen, die Auch die Asbest-Fabrik fordert nun, mit Karl Her-
Kafka zu denken fähig war. Bereits die Verlobungs- manns (und wenig später auch Paul Hermanns) Ein-
feier in Berlin empfand er als »Folterung« (An Max berufung, verstärkt Kafkas Mithilfe. Schließlich stellt
Brod, 12.7.1916; B14–17 173). Für die gemeinsame auch die AUVA ihre Arbeit auf die Erfordernisse der
Zukunft mussten die literarischen Berlin-Pläne Kriegssituation um, was für die Mitarbeiter ein-
einstweilen zurückgestellt, Trauung, Wohnungsein- schneidende Veränderungen mit sich bringt.
richtung und soziale Absicherung besprochen wer- »Unannehmlichkeiten stärken mich merkwürdi-
den. Die unvermeidlichen Zweifel Kafkas stellten ger Weise« hatte er Grete Bloch versichert (3.7.1914;
sich rasch ein und wurden vor allem in Briefen an B14–17 96). So setzt für Kafka gerade im Sommer
Grete Bloch laut. ein intensiver Schreibschub ein. Schon Ende Juli be-
Am 12. Juli 1914 kam es im Berliner Hotel Askani- gann er unter der Einwirkung der traumatischen Er-
scher Hof zu einer Aussprache der Verlobten in An- lebnisse am »askanischen Gerichtshof« mit der Nie-
wesenheit von Ernst Weiß, Grete Bloch und Felicens derschrift des Romans Der Process. Gleichzeitig ar-
Schwester Erna (1885–1978), in deren Verlauf über beitete er an dem Erzählversuch Erinnerungen an die
Kafkas vermeintlich kompromittierende Briefe an Kaldabahn (T 549–553 u. 684–694; ä 266). »Um den
Grete Bloch Gericht gehalten wurde. Die Verlobung Roman vorwärtszutreiben«, nimmt Kafka im Herbst
wurde gelöst; anstatt des gemeinsamen Sommerur- zwei Wochen Urlaub (7.10.1914; T 678). In dieser
laubs mit Felice und Grete an der Kieler Bucht, fuhr Zeit entstehen weitere Texte, nicht zuletzt In der
Kafka allein nach Lübeck/Travemünde und ver- Strafkolonie (kriegsbedingt erst 1919 gedruckt) und
brachte einige Tage mit Ernst Weiß und dessen das Naturtheater-Kapitel des Verschollenen. Das pro-
1. Leben und Persönlichkeit 19

duktive Schaffen hält – mit Unterbrechungen – an wo ich wirklich krank zu werden anfange« (An F.
bis Januar 1915 und bringt einige wesentliche Ab- Weltsch, vermutl. 26.7.1915; B14–17 138). Mögli-
schnitte des Process voran. So auch die (später noch cherweise ist Kafka aber nicht nur Patient, sondern
isoliert veröffentlichte) Türhüterlegende Vor dem auch ›Testinsasse‹ der Anstalt. Im Rahmen seiner
Gesetz, die Kafka ein außerordentliches »Zufrieden- AUVA-Tätigkeit für die Staatliche Landeszentrale zur
heits- und Glücksgefühl« vermittelt (13.12.1914; Fürsorge für heimkehrende Krieger hat er 1915 zu-
T 707), sowie eine Reihe weiterer Fragment geblie- sammen mit seinem Vorgesetzten Eugen Pfohl die
bener Erzählversuche. Schließlich stagniert im Früh- Verantwortung für das Projekt einer ›deutschen
jahr der Schreibstrom. <Blumfeld, ein älterer Jungge- Volksnervenheilanstalt‹ zur Behandlung der heim-
selle> ist der letzte literarische Versuch auf lange Zeit kehrenden ›Kriegsneurotiker‹ übernommen (AS 80).
(NSF I, 229–266). Zu diesem Zweck schreibt er eine Reihe von Zei-
Bereits im zurückliegenden Oktober hatten Grete tungsartikeln und Aufrufen und beteiligt sich an den
Bloch und kurz darauf Felice die Korrespondenz Sitzungen des Komitees zur Auswahl einer geeigne-
wieder aufgenommen und ihr Entgegenkommen si- ten Einrichtung. Nach langwieriger Suche fällt die
gnalisiert. Das Verhältnis begann sich in der Folge Wahl schließlich auf Frankenstein, und im Verlaufe
zu normalisieren, freilich ohne die grundlegenden des Weltkriegs wird aus dem privaten Sanatorium
Differenzen ausräumen und die Intensität von 1913 eine staatliche Anstalt mit ›nationalem Auftrag‹.
wieder erreichen zu können. Auch die nervösen Be- Die Realität des Krieges holt Kafka in Prag nicht
schwerden, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, stellten zuletzt in Begegnungen mit ostjüdischen Flüchtlin-
sich wieder ein. Kafka traf Felice im Januar in der ös- gen ein. Er nimmt Teil an Max Brods Literaturunter-
terreichischen Grenzstadt Bodenbach. Über Pfings- richt für galizische Flüchtlingskinder, unternimmt
ten fährt man bereits zu viert, mit Grete Bloch und häufige Ausflüge mit der Lemberger Schülerin Fanny
deren Freundin Erna Steinitz, in die Böhmische Reiß, die ihn als ostjüdisches Mädchen in besonde-
Schweiz, und auch seinen Geburtstag verbringt rer Weise anzieht, und besucht gemeinsam mit Brod
Kafka mit Felice in Karlsbad. Zuvor hatte Kafka seine und dem chassidischen Freund Georg Mordechai
Schwester Elli, deren Mann in Ungarn als Offizier ei- Langer (1894–1943) zum ersten Mal einen galizi-
ner Versorgungseinheit stationiert war, auf eine Zug- schen Wunderrabbi (Rabbi von Grodeck) in der Pra-
reise über Wien – Budapest in einen vorgelagerten ger Vorstadt Žižkov. Der Rabbi beeindruckt ihn we-
Frontabschnitt der ungarischen Karpaten begleitet. gen seines starken väterlichen Wesens und der äu-
Im Juni erreicht ihn die Nachricht, dass sein Ju- ßerlich exotischen Erscheinung (14.9.1915; T 751 f.).
gendfreund Oskar Pollak gefallen sei. Kafka selbst In literarischer Hinsicht erfährt Kafka nun eine
wird infolge einer Musterung für den Landsturm- breitere öffentliche Wirkung als Autor. So wird ihm
dienst mit der Waffe als geeignet befunden. Doch im Dezember – auf Empfehlung Franz Bleis – die
auf Antrag der AUVA stellt man ihn für unbe- Prämie des Fontane-Preisträgers Carl Sternheim in
stimmte Zeit zurück. Auch eine Einteilung in die III. der Höhe von 800 Reichsmark zugesprochen, was
Ersatzkompanie des 28. Infanterieregiments kann ihn nicht zuletzt im Kurt-Wolff-Verlag zu einem Au-
durch die AUVA verhindert werden, obgleich Kafka tor von Rang und Namen macht. Neben der Ver-
nun selbst mit dem Gedanken spielt, sich »freiwillig wandlung (veröffentlicht in Die weißen Blätter und
zu melden« (An F. Bauer, 4.4.1915; B14–17 127). Un- der Buchreihe Der jüngste Tag) erscheint, wieder auf
ter den angespannten Lebensverhältnissen und in Betreiben Max Brods, die vom Ostjudentum inspi-
der verbreiteten Rhetorik des Krieges als ›Stahlbad rierte Legende Vor dem Gesetz in der zionistischen
für Nervenschwächlinge‹ sieht auch er im Militär- Selbstwehr. Im Weiteren veröffentlicht er das ur-
dienst ein Heilmittel. Als sich 1916 die persönlichen sprünglich für die Zeitschrift Der Jude bestimmte
Probleme zuspitzen, fordert er nach einer neuerli- Stück Ein Traum in der Selbstwehr-Sammelschrift
chen Musterung die AUVA dazu auf, seine Zurück- Das jüdische Prag. Max Brod erwähnt in einem kon-
stellung aufzuheben – ohne Erfolg. troversen Aufsatz Unsere Literaten und die Gemein-
Vorläufig jedoch begibt sich Kafka am 20. Juli 1915 schaft Kafkas Sonderstellung unter den jüdischen
für zehn Tage in das Naturheilsanatorium Franken- Dichtern. Als Martin Buber Kafka im November zur
stein bei Rumburg in Nordböhmen. Sein Vertrauen Mitarbeit an der neuen Zeitschrift Der Jude ermu-
in die bewährten Naturheilbehelfe weicht hier der tigt, lehnt dieser wegen seiner fehlenden Veranke-
Skepsis an der Heilbarkeit seines Zustandes: »Jetzt, rung in der jüdischen Gemeinschaft ab. In München,
20 1. Leben und Persönlichkeit

begleitet von Felice, hält er am 10. November 1916 grafische Darstellung für die Zeitschrift Der Jude zu
seine zweite (und letzte) öffentliche Lesung in der schreiben. Auf der Rückfahrt begegnet Kafka im Zug
Galerie Neue Kunst Hans Goltz. Die neben einigen dem Feuilletonisten Anton Kuh (1891–1941), Mari-
Brod-Gedichten vorgetragene Erzählung In der anne (›Mizzi‹) Kuh (1894–1948) und deren Lebensge-
Strafkolonie löst unter den Zuhörern eher verstörte fährten Otto Gross (1877–1920) – dem rebellischen
Reaktionen aus. Dafür macht Kafka die Bekannt- Sohn des Strafrechtlers Hans Gross. Letzterer plant
schaft des Lyrikers Gottfried Kölwel (1889–1958) eine gesamteuropäische Zeitschrift Blätter zur Be-
und des schweizerischen Schriftstellers und Rilke- kämpfung des Machtwillens und kann nach weiteren
Protegés Max Pulver (1889–1956). Treffen in Prag auch Kafka und Franz Werfel dafür
Aufgrund seiner anhaltend schlechten Verfassung gewinnen. Es bleibt bei der Idee, die im Wesentlichen
hatte Kafka schon im April 1916 einen Nervenarzt auf Gross’ starker persönlicher Ausstrahlung beruht.
aufgesucht. Die Diagnose einer ›Herzneurose‹ wurde
im August bei einer Konsultation des Internisten
Dr. Gustav Mühlstein bestätigt. Statt des probaten Die Jahre des späten Werkes
Sanatorienaufenthaltes war Kafka im Juli in den Kur-
Krankheit und Neubeginn
ort Marienbad gefahren, um mit Felice den ersten
gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Trotz vorher- In der Nacht vom 12./13. August 1917 und in der da-
sehbarer Spannungen entschließen sich die beiden rauf folgenden erleidet Kafka einen Blutsturz. Als
zu einer zweiten Verlobung. Man plant, nach dem nach mehreren Arztkonsultationen der Verdacht auf
Krieg zu heiraten und in Berlin eine Wohnung zu Lungentuberkulose bestätigt wird, kündigt er seine
nehmen. Bald holen Kafka aber neue Zweifel ein. Zimmer im Schönbornpalais und zieht zunächst in
Skrupulös wägt er nach seiner Konsultation bei die elterliche Wohnung am Ring. Mit dem Ausbruch
Dr. Mühlstein die Argumente ab: »Reinbleiben – der Krankheit sieht Kafka sich entbunden von allen
verheiratetsein« (20.8.1916; NSF II, 24). drängenden Fragen und Zweifeln: Unter Hinweis auf
Von Ende November 1916 bis April 1917 nutzt die ärztliche Diagnose bittet er am 6. September sei-
Kafka ein von Ottla angemietetes Häuschen in der nen Vorgesetzten Dr. Robert Marschner um Pensio-
Alchimistengasse auf dem Hradschin, um in Ruhe nierung, erreicht jedoch nur einen Erholungsurlaub
schreiben zu können. In dieser »Klosterzelle eines von der AUVA. Auf Anraten der Ärzte übersiedelt
wirklichen Dichters«, wie Max Brod nach seinem Kafka am 12. September 1917 aufs Land, ins nord-
Besuch im Tagebuch anmerkt (Hermes 1999, 141), böhmische Zürau, wo Ottla einen kleinen Bauernhof
entsteht bis weit in den Frühling 1917 hinein ein ihres Schwagers Karl Hermann bewirtschaftet. Zu-
Großteil jener Erzählungen, die Kafka 1919 unter vor, am 9. September – nach vierwöchigem Schwei-
dem Titel Ein Landarzt veröffentlicht: u. a. Ein Land- gen – weiht er Felice in die neue Situation ein und
arzt, Schakale und Araber, Ein altes Blatt, Auf der verwirft nun endgültig alle Heiratsabsichten.
Galerie, Ein Brudermord und Das nächste Dorf. Ab Abgesehen von gelegentlich notwendigen Visiten
April gelingt es ihm, zusätzlich im Schönborn-Pa- in Prag, zieht Kafka sich, umsorgt von Ottla, im
lais, unterhalb des Strahov-Klosters, Zimmer anzu- Herbst völlig zurück in die ländliche Abgeschieden-
mieten. Neben ausgedehnten Schopenhauer-Lektü- heit Züraus. Ottla trägt ihn »förmlich auf ihren Flü-
ren lernt er im Frühjahr intensiv Hebräisch und geln durch die schwierige Welt« (An M. Brod,
bringt es bis September im Lehrbuch von Moses 14.9.1917; B14–17 319). Kafka ist glücklich in der
Rath auf 45 Lektionen. Auf Martin Bubers Bitte hin ländlichen Einsamkeit und möchte als Kleinbauer
sendet er zwölf Texte für Der Jude ein, von denen auf dem Lande leben. Das Tagebuch wird für die
schließlich Schakale und Araber sowie Ein Bericht für folgenden zwei Jahre abgebrochen (10.11.1917–
eine Akademie ausgewählt werden. 27.6.1919), Freunde werden gebeten, von Besuchen
Die lang geplante Verlobung mit Felice findet im abzusehen, die Mitarbeit an Zeitschriften wird ein-
August statt. Anschließend an erste Besorgungen für gestellt. Sogar einen Rezitationsabend seiner Texte
den gemeinsamen Hausstand tritt das Paar eine Reise durch eine Frankfurter Schauspielerin lehnt Kafka
über Budapest nach Arad an, wo Felicens verheiratete ab: »Die Stücke […] bedeuten für mich wesentlich
Schwester Erna lebt. In Budapest trifft Kafka seinen gar nichts, ich respektiere nur den Augenblick, in
ostjüdischen Freund Jizchak Löwy in sichtlich schlech- dem ich sie geschrieben habe« (An M. Brod,
ter Verfassung wieder und ermutigt ihn, eine autobio- 6.11.1917; B14–17 358 f.).
1. Leben und Persönlichkeit 21

Die empfindliche, auf Wesentliches beschränkte Nicht Jüdin und nicht Nicht-Jüdin, insbesondere nicht
Zurückgezogenheit spiegelt sich in Reflexionen und Nichtjüdin, nicht Deutsche, nicht Nicht-Deutsche, ver-
liebt in das Kino, in Operetten und Lustspiele, in Puder
Notizen, die er in seinen Oktavheften einträgt. Nicht und Schleier, Besitzerin einer unerschöpflichen und un-
zuletzt entstehen hier Fragmente wie <Das Schwei- aufhaltbaren Menge der frechsten Jargonausdrücke, im
gen der Sirenen> (NSF II, 40–42) und eine Reihe von ganzen sehr unwissend, mehr lustig als traurig – so etwa
Eintragungen aphoristisch meditativen Charakters. ist sie (An M. Brod, 8.2.1919; BMB 263).
In Zürau liest Kafka vorwiegend Kierkegaard (Ent-
weder-Oder, Furcht und Zittern) und Tolstois Tage- Im Sommer 1919 verloben sich Kafka und Julie und
buch. Nach einem letzten Rettungsversuch Felicens planen die Hochzeit für November. Die Eheschlie-
in Prag wird das Verlöbnis Ende Dezember zum ßung scheitert schließlich nicht am Widerstand der
zweiten Mal gelöst. Gegenüber Max Brod heißt es: Eltern, die aufgrund von kompromittierenden Ge-
»Was ich zu tun habe, kann ich nur allein tun. Über rüchten über Julies sexuelle Freizügigkeit dem Sohn
die letzten Dinge klar werden. Der Westjude ist dar- das Abenteuer auszureden versuchen, sondern aus
über nicht klar und hat daher kein Recht zu heira- trivialem Anlass: Als dem Paar zwei Tage vor der
ten« (Brod 1966, 147). Trauung eine schon zugesicherte gemeinsame Woh-
Das Zürauer Landleben endet am 30. April 1918. nung in Wrschowitz abgesagt wird, beschließt man
Kafka hatte bereits in Briefen angedeutet, die Um- die Hochzeit auszusetzen.
risse seines Lebens nun »mit voller Entschiedenheit Wie schon bei Felice lösen die gescheiterten Ehe-
nachzuziehen« (An M. Brod, 14.11.1917 B14–17 pläne auch hier einen literarischen Produktions-
363). In Prag versucht er, in seiner Lebensführung schub aus. Aus der angstbesetzten Bindung wird eine
daran anzuknüpfen. Er arbeitet nun in den freien Befreiung, deren Impuls sich bis Anfang 1920 in den
Stunden im Institut für Pomologie, Wein- und Gar- <Er >-Aphorismen und kleineren Erzählversuchen
tenbau in Troja. Daneben lernt er Hebräisch – nach erhält. Noch im November fährt Kafka ein zweites
der Balfour-Erklärung 1917 gewinnt für ihn die Idee, Mal in die Pension Stüdl und schreibt seinen 103-sei-
nach Palästina auszuwandern, zunehmend an Be- tigen <Brief an den Vater >, eine Abrechnung in der
deutung. Beides, Hebräisch und Gartenbau, bezeich- Tradition der »selbstbiographischen Untersuchun-
net er »als die Positiva seines Lebens«, wie Brod im gen« (NSF II, 373), in der er über seine Erziehung
Tagebuch vermerkt (Hermes 1999, 155). Für den und das Scheitern seiner Lebensentwürfe unter dem
Dichter beginnt eine anderthalbjährige Phase des Einfluss eines übermächtigen Vaters berichtet. Wäh-
Schweigens. rend des Aufenthaltes schließt er Freundschaft mit
Am 2. Mai 1918 tritt Kafka seinen Dienst bei der der jungen Minze Eisner (1901–1972), die er auch in
AUVA wieder an. Vorübergehend, wie sich bald späteren Briefen bei ihren Selbständigkeitsbemü-
zeigt: Bis zu seiner definitiven Pensionierung am hungen unterstützt. Im November kehrt Kafka nach
1. Juli 1922 häufen sich die Anträge und Gesuche auf Prag zurück, um den Dienst – für diesmal vier Wo-
vorläufigen oder verlängerten Krankenurlaub, wie chen – anzutreten. Weiterhin mit Julie Wohryzek »in
auch die ärztlichen Gutachten, Entscheide und Neu- Treue und Liebe« verbunden, plant er einen gemein-
bewilligungen in fast monatlicher Frequenz. Bereits samen Erholungsurlaub in München bzw. Karlsbad
im Oktober 1918 erkrankt Kafka an der weltweit (Born 1965, 52). Doch die Beziehung lockert sich
grassierenden ›Spanischen Grippe‹ und erleidet nach und scheitert schließlich unter dem Einfluss Milena
kurzer Besserung Ende November einen fieber- Jesenskás (10.8.1896–17.5.1944).
artigen Rückfall. Die einschneidenden politischen Kafka hatte die junge Tschechin als Übersetzerin
Ereignisse – Sturz der österreichisch-ungarischen seiner Erzählungen im Frühjahr 1920 kennenge-
Monarchie, Proklamation der Tschechoslowakei als lernt. Milena, die Tochter des nationaltschechischen
Republik – vollziehen sich buchstäblich vor dem Arztes Prof. Jan Jesenský und Absolventin des Pra-
Fenster des Kranken. ger Elitegymnasiums Minerva, lebte gegen den Wil-
Zur Rekonvaleszenz verbringt Kafka einen vier- len ihres Vaters in einer Ehe mit dem Deutschjuden
monatigen Aufenthalt in der Pension Stüdl in Sche- Ernst Pollak (1886–1947) in Wien. Bereits im April
lesen bei Liboch. Hier lernt er die 27-jährige Julie erscheint ihre erste tschechische Übertragung, Der
Wohryzek (28.2.1891–26.8.1944) kennen. Julie, die Heizer, in der Zeitschrift Kmen. Als Kafka vom
Tochter eines tschechisch-jüdischen Synagogendie- 2. April bis 28. Juni auf Kur nach Meran/Südtirol
ners, fasziniert Kafka als vitale Erscheinung: fährt, entwickelt sich ein intensiver Briefwechsel, der
22 1. Leben und Persönlichkeit

bald zu einem von Leidenschaft und Offenheit ge- Da sich sein Gesundheitszustand nicht gebessert
prägten Zwiegespräch wird: »Sie ist ein lebendiges hat – der Anstaltsarzt Dr. Kodym konstatierte eine
Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe […]. Dabei Infiltration beider Lungenflügel –, reist Kafka am
äußerst zart, mutig, klug«, bekennt er Max Brod 18. Dezember ins Lungenheilsanatorium Matliary in
(Mai 1920; BMB 276). Die dreimonatige Kur in Me- die Hohe Tatra. Zum ersten Mal wird ihm hier, ange-
ran, die er im Kreise einer christlich deutschnationa- sichts der anderen Lungenpatienten, die Bedeutung
len Tischgesellschaft verbringt, bewirkt im Übrigen des eigenen Krankheitsbildes bewusst. Seine Über-
keine sichtbare Erholung. Viel mehr aber beschäftigt empfindlichkeit sorgt von Beginn an für innere Un-
ihn die Wiener Freundin. Um Milena zu sehen, ruhe und drückt sich zuzeiten größerer Störungen in
macht Kafka auf der Heimreise Zwischenstation in Hilflosigkeit aus. Auch glaubt er, »abgesehen von der
Wien und erlebt mit ihr vier glückliche Tage. In der Lunge und der Hypochondrie«, innerhalb der ersten
Folge übersendet er der neuen Geliebten seinen vier Monate »nicht zwei Tage hintereinander« voll-
<Brief an den Vater >. Obwohl Milena nun auch eine ständig gesund gewesen zu sein (An M. Brod, Ende
klärende Korrespondenz mit Julie Wohryzek auf- April 1921; BMB 341).
nimmt und Ernst Pollak über ihr Verhältnis ins Bild Wie stets auf seinen Kuraufenthalten schließt er
setzt, zeichnet sich ab, dass es für ein Zusammenle- aber auch in Matliary neue Bekanntschaften. Beson-
ben mit Kafka keine Perspektive gibt. Schon im deres Vertrauen fasst er zu dem 21-jährigen Medi-
Herbst schleicht sich die Ahnung ein, »daß wir nie- zinstudenten Robert Klopstock (1899–1972): »Bu-
mals zusammenleben werden« (An M. Jesenská, dapester Jude, sehr strebend, klug, auch sehr litera-
Sept. 1920; BM 276). Dennoch sucht man nach Lö- risch, äußerlich übrigens trotz gröberen Gesamtbildes
sungen, knüpft Kontakte mit Bekannten und nimmt Werfel ähnlich, menschenbedürftig in der Art eines
Anteil am Fall ›Reiner‹, einer ähnlich gelagerten geborenen Arztes, antizionistisch, Jesus und Dosto-
Dreiecksbeziehung aus dem engeren Freundeskreis, jewski sind seine Führer« (An M. Brod, Anf. Februar
die mit Selbstmord endet. Nach einer zweiten Zu- 1921; BMB 315). Klopstock vermittelt zwischen Kaf-
sammenkunft mit Milena im Grenzort Gmünd be- kas Rückzugsbedürfnissen und seiner Umgebung.
ginnt sich Kafka innerlich von der Geliebten zu lö- Gemeinsam liest und diskutiert man Kierkegaard
sen. Sein Vorschlag, den Briefwechsel einzustellen, und rezensiert spaßeshalber in einer Lokalzeitung
findet zwar vorerst kein Gehör, setzt aber ein klares die Tatra-Bilder eines Mitpatienten (DzL 443).
Signal. Wieder einmal folgt darauf eine größere lite- Daneben beschäftigt sich Kafka, angeregt durch
rarische Initiative, aus der Stücke wie <Das Stadt- Swifts Gullivers Reisen, eingehend mit Erziehungs-
wappen>, <Heimkehr >, <Gemeinschaft >, <Nachts> fragen und versucht, seine Schwester Elli in mehre-
oder <Die Prüfung > hervorgehen. ren Briefen davon zu überzeugen, ihren Sohn Felix
Gleichzeitig verrichtet Kafka für nahezu sechs zu- (1911–1940) auf die Hellerauer Schule zu geben.
sammenhängende Monate seinen Dienst bei der Sehr interessiert verfolgt er auch die zwischen Karl
AUVA, wo inzwischen radikale Umstrukturierun- Kraus (1874–1936) und Franz Werfel entbrannte Po-
gen eingesetzt haben. In dieser Zeit erlebt er die fa- lemik, in der es nicht zuletzt um den Vorwurf des
miliären Streitereien um Ottlas Hochzeit mit dem ›jüdischen Mauschelns‹ geht. Bezug nehmend auf
mittellosen tschechischen Juristen Josef David Kraus’ Parodie Literatur oder Man wird doch da sehn
(1891–1962), trifft sich gelegentlich mit Otto Pick, schreibt Kafka einen denkwürdigen Brief an seinen
Rudolf Fuchs, Arne Laurin (1889–1945) und dem Freund Max Brod, in dem er das Verhältnis der jun-
Gymnasiasten Gustav Janouch (1903–1968). Im No- gen jüdischen Schriftsteller zur deutschen Literatur
vember wird er in der Innenstadt Zeuge von Aus- zu skizzieren versucht und von »der schrecklichen
schreitungen tschechischer Chauvinisten gegen inneren Lage dieser Generation« meint: »Weg vom
Deutsche und Juden. An Milena schreibt er: »Die Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Vä-
ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen ter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten
und bade im Judenhaß. ›Prašivé plemeno‹ [räudige die meisten, die deutsch zu schreiben anfiengen, sie
Rasse] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hö- wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie
ren. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man noch am Judentum des Vaters und mit den Vorder-
von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionis- beinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Ver-
mus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)?« zweiflung darüber war ihre Inspiration« (Juni 1921;
(Mitte Nov. 1920; BM 288). BMB 359 f.).
1. Leben und Persönlichkeit 23

Für Unruhe sorgt auch Milena mit der Nachricht, Plan er schon in Prag gefasst hatte. In Spindlermühle
ihr Lungenleiden habe sich verschlechtert, so dass beginnt Kafka seinen letzten großen Romanversuch
der Vater ihr in einer überraschenden Versöh- Das Schloss.
nungsgeste vorgeschlagen habe, in die Hohe Tatra Am 17. Februar kehrt er zurück nach Prag, wo
zu fahren. Um eine Begegnung auszuschließen, bit- ihm die AUVA nicht nur eine weitere Urlaubsverlän-
tet Kafka Max Brod, ihn auf dem Laufenden zu hal- gerung gewährt, sondern ihn in Abwesenheit zum
ten und – »Wenn Du zu ihr über mich sprichst, Obersekretär befördert hatte. So kann er die ange-
sprich wie über einen Toten« (Anf. Mai 1921; BMB fangene literarische Arbeit am Schloss fortsetzen und
342). parallele Schreibvorhaben ausführen. Seine »selbst-
Aus der ursprünglich geplanten dreimonatigen biographischen Untersuchungen«, für die er seit ei-
Kur wird am Ende ein neunmonatiger Daueraufent- nem Jahr ein Notizheft angelegt hat, inspirieren ihn
halt in Matliary. Als Kafka am 26. August nach Prag zur Niederschrift von Erstes Leid und Ein Hunger-
zurückkehrt, versucht er, die alten Kontakte wieder- künstler (beide 1922 veröffentlicht) und weiteren Er-
zubeleben, trifft Otto Pick, Minze Eisner, Gustav Ja- zählversuchen.
nouch, Ernst Weiß und den Rezitator Ludwig Hardt Auch im ländlichen Planá an der Luschnitz, wo er
(1886–1947), der in Berlin, München und Prag Le- sich ab Ende Juni zusammen mit Ottla und deren
sungen mit Kafka-Texten veranstaltet. Nach den einjähriger Tochter Věra einlogiert, hält der litera-
Kursen in Althebräisch bei Friedrich Thieberger rische Impuls an. Bis Juli sind neun Kapitel des
(1888–1958) im Herbst 1919 nimmt Kafka jetzt ge- Romans geschrieben und es entstehen die <For-
meinsam mit Max Brod seinen Unterricht bei Georg schungen eines Hundes> – eine weitere literarische
M. Langer, der ihn mit Kabbala und Chassidismus Lebensbilanz aus der Sicht seines Judentums und
vertraut macht. Nicht zuletzt trifft er sich wieder mit Schreibens.
Milena, die jetzt zeitweilig in Prag lebt. Kafka bringt Nach neuerlichen Gutachten über die unverän-
ihr noch immer soviel Vertrauen entgegen, ihr seine derte Berufsunfähigkeit Kafkas hat die AUVA im
Tagebücher und wenig später auch das Manuskript Juni seine Pensionierung in die Wege geleitet. Zwei
des Verschollenen zu überlassen. Tage vor seinem 39. Geburtstag, am 1. Juli, tritt Kafka
Für seinen Freund Max Brod verfertigt er in dieser offiziell in den vorläufigen Ruhestand. Er kann sich
Zeit eine testamentarische Verfügung mit der Bitte, nun als freier Schriftsteller betätigen, aber schon
nach seinem Tode alle Tagebücher, Briefe und Ma- bald holen ihn neue Nervenzusammenbrüche und
nuskripte zu verbrennen (vermutl. Herbst/Winter Angstzustände ein. Im Brief an Max Brod spricht er
1921; BMB 365). von »Todesangst«. Als Schriftsteller habe er die Lust
Indes erlaubte sein Gesundheitszustand Kafka am Sterben bislang imaginativ ausgekostet: »Mein
kaum mehr, soziale Kontakte zu pflegen. Die Tuber- Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich
kulose bestimmte den äußeren Ablauf des Lebens. wirklich sterben« (5.7.1922; Briefe 385).
Auch den beruflichen Anforderungen fühlte er sich
nur noch bedingt gewachsen. Auf Betreiben der El- Berlin, Kierling – die letzten Monate
tern wurde ihm im Dezember von der Anstalt eine
Kur in Prag zugestanden. Doch schon im Januar er- Nach seiner Rückkehr nach Prag im September ist
leidet Kafka nervöse Zustände von bislang nicht ge- Kafka gänzlich auf die Fürsorge der Familie ange-
kanntem Ausmaß. Seine über Wochen anhaltende wiesen. Nur sporadisch gelingen ihm noch verein-
Schlaflosigkeit macht eine umgehende Veränderung zelte Erzählversuche wie Das Ehepaar, <Gibs auf!>
erforderlich. oder <Von den Gleichnissen>. In einer neuen testa-
Am 27. Januar 1922 fährt Kafka, begleitet von Dr. mentarischen Verfügung vom November 1922 be-
Otto Hermann, nach Spindlermühle im Riesenge- kräftigt Kafka seinen Wunsch, den gesamten Nach-
birge. Tagsüber wandert und rodelt er, in der Nacht lass post mortem zu verbrennen (An M. Brod,
›wartet‹ er auf die Lungenentzündung: »Jedem Kran- 29.11.1922; BMB 421 f.). Jetzt, am Ende der knapp
ken sein Hausgott, dem Lungenkranken der Gott des einjährigen Schreibphase, erreicht seine Isolation ih-
Erstickens« (31.2.1922; T 899). Die Luft- und Orts- ren Höhepunkt. Gelegentliche Besuche von Freun-
veränderung bringt keine wesentliche Besserung. den und Bekannten – u. a. Alfred Wolfenstein (1883–
Immerhin gelingt es ihm trotz der Beeinträchtigun- 1945), Otto Pick, Franz Werfel und Georg Kaiser
gen, eine neue literarische Arbeit anzufangen, deren (1878–1945) – belasten ihn aufs Äußerste.
24 1. Leben und Persönlichkeit

Erst im Frühjahr 1923 erlaubt sein Zustand wie- ßige Überweisungen der stündlich sich entwerten-
der eine Öffnung nach außen. Nach einem Vortrag den Pension, Zuwendungen und Lebensmittelpakete
seines Jugendfreundes Hugo Bergmann, der seit aus Prag sind daher unverzichtbar. Nach einer ersten
1920 in Eretz Israel Aufbauarbeit leistet, erwägt Unterkunft in Steglitz (Miquelstr. 8) wechselt man
Kafka den Plan, nach Palästina auszuwandern, um aus Kostengründen im November in die Grunewald-
dort unter klimatisch günstigeren Bedingungen zu str. 13 und – als zahlungsunfähiger Ausländer – im
leben. In diesem Zusammenhang nimmt er Stunden Februar in die Zehlendorfer Heidestr. 25/26.
bei Puah Ben-Tovim (1904–1991), einer jungen Stu- Trotz der materiellen Not und gesundheitlicher
dentin aus Jerusalem, die ihm lebendiges Hebräisch Schwächung entfaltet Kafka in Berlin eine ungeahnte
vermittelt. Produktivität. So entstehen Eine kleine Frau und das
Um seine Transportfähigkeit nach den Strapazen Fragment <Der Bau>, sowie eine Geschichte über
des letzten Jahres zu prüfen, fährt Kafka im Mai ei- den Ritualmordprozess und ein umfangreiches Dra-
nige Tage nach Dobřichovice und Anfang Juli mit menkonvolut (beide Texte verloren).
seiner Schwester Elli und ihren Kindern nach Müritz Berlin ermögliche »auch einen stärkeren Ausblick
an die Ostsee. Auf der Zwischenstation in Berlin nach Palästina als Prag«, hatte Kafka 1922 behauptet
spricht er im neugegründeten Verlag Die Schmiede (An R. Klopstock, Sept. 1922; Briefe 417). Tatsäch-
wegen eines Vertragsangebotes vor und trifft mit lich besucht er im Winter häufig Kurse an der Hoch-
Max Brods Berliner Geliebter Emmy Salveter zu- schule für Wissenschaft des Judentums, benutzt ihre
sammen. Während der vier Wochen in Müritz lernt gut geheizte Bibliothek und liest mit Dora das Alte
er in der benachbarten Ferienkolonie des Berliner Testament, den Raschi-Kommentar und sogar einen
jüdischen Volksheims die 25-jährige Helferin Dora hebräischen Roman Schechól wechischalón (dt. Un-
Diamant (4.3.1898–15.8.1952) kennen. Dora, die fruchtbarkeit und Scheitern, 1920) von J. C. Brenner.
Tochter eines ostjüdischen Chassid aus Polen, ist Kafka und Dora träumen davon, später in Tel Aviv
Anhängerin einer zionistischen Vereinigung, die ein kleines Restaurant zu betreiben.
sich neben sozialem Engagement auch der Vermitt- Krankheitsbedingt engt sich Kafkas Aktionsradius
lung der hebräischen Sprache widmet. Für Kafka weiter ein, Besuche, u. a. von Emmy Salveter, Puah
verkörpert sie ein authentisch sinnliches Judentum, Ben-Tovim, Rudolf Kayser (1889–1964), Willy Haas,
das ihn anzieht. Ähnlich wie Jizchak Löwy ist auch Ernst Weiß, Max Brod, Franz Werfel, Siegmund und
sie vor dem strengen Vater geflohen, ohne ihre Her- Lise [Weltsch] Kaznelson, Ludwig Hardt und seiner
kunft zu verleugnen. Schwester Ottla, kann Kafka nur noch in seiner
Dora wird die Begleiterin Kafkas in seinem letzten Wohnung empfangen. Als im Februar 1924 der
Lebensabschnitt. Mit ihr fasst er den Plan, gemein- Triescher Onkel Siegfried Löwy auf Visite kommt
sam nach Berlin zu gehen – und verwirklicht ihn im und angesichts des schlechten Gesundheitszustan-
Herbst. Die Auswanderung nach Eretz Israel ist des Alarm schlägt, muss die Berliner Eskapade end-
durch die neu gewonnene Aussicht vorläufig in die gültig aufgegeben werden.
Ferne gerückt: »es wäre keine Palästinafahrt gewor- Am 17. März 1924 begleitet Max Brod den Freund
den«, schreibt er an Else Bergmann, »sondern im zurück nach Prag. Für die kurze Zeit seines Aufent-
geistigen Sinne etwas wie eine Amerikafahrt eines haltes in der elterlichen Wohnung betreut ihn Ro-
Kassierers, der viel Geld veruntreut hat« (Juli 1923; bert Klopstock, der inzwischen in Prag studiert. Ob-
Briefe 437 f.). Nachdem er sich bei seiner Lieblings- wohl Kafka teilweise das Bett nicht verlassen kann,
schwester Ottla in Schelesen genügend Zuspruch schreibt er an seiner Erzählung Josefine, die Sängerin
und Bestärkung in seinen Plänen geholt hat, verlässt oder Das Volk der Mäuse, die er Klopstock gegenüber
er am 22. September Prag und begibt sich auf eine als seine »Untersuchung des tierischen Piepsens« be-
Berlin-Reise, »für welche man etwas Vergleichbares zeichnet (Briefe 521) und die noch im selben Jahr in
nur finden kann, wenn man in der Geschichte zu- der Osterbeilage der Prager Presse (20.4.1924) er-
rückblättert, etwa zu dem Zug Napoleons nach Ruß- scheint.
land« (An O. Baum, 26.9.1923; Briefe 447). Nach anfänglichen Überlegungen, den Schwer-
Die Lebensumstände, unter denen Dora Diamant kranken in ein Sanatorium in Davos oder Innsbruck
und Kafka in der deutschen Reichshauptstadt leben, zu verschicken, entscheidet man sich schließlich für
sind denkbar problematisch, und werden von Wirt- die Anstalt Wiener Wald in Niederösterreich, die von
schaftskrise und Inflation noch erschwert. Regelmä- zwei jüdischen, ehemals Prager Ärzten, Hugo Kraus
1. Leben und Persönlichkeit 25

und Arthur Baer, geleitet wird. Am 5. April begleitet Kafka. Eine Biographie (1937) stehe. Den Plan, eine
Dora Kafka über Wien nach Ortmann ins Sanato- »Selbstbiographie« zu schreiben, hatte Kafka selbst
rium. Dort angelangt, wird der geschwächte Patient gefasst (17.12.1911; T 298) – und dabei ein fragmen-
bald schon wegen Verdachts auf Kehlkopftuberku- tarisches Werk hinterlassen. Mit Folgen: Das Genre
lose an die laryngologische Klinik der Wiener Uni- ›Biographie‹ – für den Leser Kafka eine Königsdiszi-
versität überstellt, wo sich die Diagnose bestätigt. plin, für den Schriftsteller ein fortgesetztes Scheitern
Um die Schmerzen durch den angeschwollenen – musste schon aufgrund dieser besonderen Affini-
Kehlkopf zu lindern, wird Menthol-Öl gespritzt. Bis tät für seine Biografen zum Problem erwachsen. In
zum 19. April bleibt Kafka in der renommierten Kli- besonderer Weise gilt dies für Max Brod, der gleich
nik des Prof. Markus Hajek, eines Schwagers Arthur mehrfach zu Lebensbeschreibungen ansetzte: Zu-
Schnitzlers. nächst, aus der Perspektive des Dichter-Freundes,
Wegen des rauen Umgangstones und der wenig auf- mit seinem Roman Zauberreich der Liebe (1928), in
bauenden Atmosphäre bringt Dora den Freund welchem er Kafka in der Gestalt von Richard Garta
schließlich ins ländlich gelegene Sanatorium Dr. Hoff- zu neuem Leben erweckte, dann, als Supplement zur
mann in Kierling bei Klosterneuburg. Hier scheint ersten Kafka-Gesamtausgabe, mit der oben genann-
sich zunächst eine Besserung einzustellen, die zu ge- ten Biographie, die tatsächlich ihre Wirkung nicht
meinsamen Ausflügen ins Grüne berechtigt. Bald verfehlte, aber ebenso unter dem Eindruck Kafkas
aber verschlechtert sich Kafkas Zustand wieder. Der stand, und später mit weiteren Versuchen.
fortschreitende tuberkulöse Prozess, der den Kehl- Der Vorwurf, dass Brod seinen privilegierten Zu-
deckel erreicht hat, macht das Sprechen, wie auch griff auf den Nachlass des Freundes in den Dienst ei-
das Schlucken und Atmen zu einer Tortur, gegen die ner eigenwilligen Hagiografie stellte, wurde mehr als
nur noch betäubende Morphiuminjektionen helfen. einmal laut und rief schon bei Walter Benjamin Pro-
Im Mai verabreicht der behandelnde Arzt Dr. Oscar test hervor. Übersehen wird dabei allerdings, dass
Beck ihm Alkoholinjektionen in den nervus laryn- Ende der 20er Jahre bereits eine Legendenbildung
geus superior. Längst haben die Ärzte den Patienten eingesetzt hatte, die nach einem Korrektiv verlangte:
aufgegeben und schätzen seine Lebenserwartung auf Kafka galt, in psychologisch-existenzialistischer Les-
maximal drei Monate. Robert Klopstock betreut art, als der große Unglückliche und Hoffnungslose,
Kafka nun an der Seite Dora Diamants, statt der Un- der sein Leben in selbstauferlegter Isolation fristete
terhaltungen werden Gesprächszettel gereicht. Kafka (Müller 2006, 28). Max Brod schuf demgegenüber
erhält in diesen Tagen den Besuch Max Brods, Ott- einen lebensbejahenden Denker und Erneuerer alt-
las, des Schwagers Karl Hermann und seines Onkels jüdischer Religiosität und schreckte auch nicht da-
Siegfried Löwy. Seine Eltern bittet er, von einem Be- vor zurück, den Freund wider besseres Wissen zum
such vorerst abzusehen. Von Doras Vater, den er in glühenden Zionisten zu machen. Dank des zweifel-
einem Brief um die Hand der Tochter gebeten hatte, losen Näheverhältnisses und flankiert von weiteren
erhält Kafka in den ersten Maitagen die Antwort, in Augenzeugenberichten des Prager Umfeldes, nicht
welcher ihm die Zustimmung verweigert wird. zuletzt den teils authentischen, teils dubiosen Erin-
Nach einer leichten Besserung seines Gesund- nerungsprotokollen Gustav Janouchs, hatte Brods
heitszustandes Ende Mai kommt es schließlich zu Darstellung auf lange Zeit das letzte Wort. Dass ihm
Komplikationen. Am 3. Juni atmet Kafka so schwer, damals zahlreiche Quellen noch nicht zur Verfügung
dass er Klopstock um Morphium bittet: »Töten Sie standen und seine intime Kenntnis sich nur auf we-
mich, sonst sind Sie ein Mörder« (Brod 1966, 185). nige Jahre Kafkas beschränkte, fiel dabei weniger ins
Gegen Mittag stirbt Kafka. Am 11. Juni 1924 wird er Gewicht.
auf dem jüdischen Friedhof in Prag Straschnitz bei- Aus Forschungssicht ist Klaus Wagenbachs 1958
gesetzt. erschienene Monographie Franz Kafka. Eine Bio-
graphie seiner Jugend (2006 neu bearbeitet und um
4 Artikel erweitert) ein seltener Glücksfall. Sie bil-
Forschung dete das Fundament einer jeden weiteren wissen-
schaftlichen Beschäftigung mit dem Prager Autor
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass am Anfang und setzte Maßstäbe sowohl im Umfang des recher-
der problematischen Bemühungen um Kafkas Bio- chierten Quellenmaterials als auch in der Qualität
graphie Max Brods umstrittener Versuch Franz der Aufbereitung. Nicht zuletzt bot Wagenbach ein
26 1. Leben und Persönlichkeit

überzeugendes Kafka-Bild, an das faktisch anzu- ein »Lebensprinzip« herausgearbeitet, das Kafkas
knüpfen war. künstlerische Identität ebenso wie sein Scheitern an
Zahlreiche Studien fokussierten biografische Aus- der Wirklichkeit bestimmt (Alt, 15).
schnitte und Aspekte sowie das weitere Umfeld Kaf- Den gegenwärtig umfassendsten und gleichzeitig
kas – wie z. B. Anthony Northeys Kafkas Mischpoche fundiertesten Versuch, Kafkas Biographie zu schrei-
(1988), Evelyn Torton Becks Kafka and the Jewish ben, unternimmt Reiner Stach. Instruktiv ist bereits
Theatre (1971), Alena Wagnerovás Recherchen zur sein Einführungskapitel, in welchem er auf die Prob-
Familie Kafka aus Prag (1997), Rotraut Hackermül- lematik biografischer Synthesen eingeht und die Dis-
lers Kafkas letzte Jahre (1990), Giuliano Baionis proportionen zwischen wissenschaftlichem Inter-
Kafka – Literatur und Judentum (1994) oder Joachim esse und gesamtbiografischer Abstinenz hervorhebt.
Unselds Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die Ge- Der erste Band seines als Trilogie konzipierten Wer-
schichte seiner Veröffentlichungen (1982). Marthe Ro- kes beschränkt sich auf die Zeitspanne 1910–1915:
bert rückte 1979 in Einsam wie Franz Kafka die Iden- »Die Jahre der Entscheidungen« – sicher auch weil
titätssuche Kafkas ins Zentrum und akzentuierte da- hier die Quellenlage (nicht zuletzt dank Stachs eige-
mit eine bis heute anhaltende Diskussion. ner Recherchen zum Nachlass der Felice Bauer) eine
Einen weiteren Meilenstein in der Biografik Kaf- fast lückenlose biografische Erschließung zulässt. Im
kas setzte Hartmut Binder, ebenfalls 1979, mit sei- zweiten Band »Die Jahre der Erkenntnis« werden die
nem Kafka-Handbuch (Teil 1), eine aufgrund ihrer letzten Jahre des Dichters beschrieben, insbesondere
faktischen Datendichte noch heute unverzichtbare die Berliner Zeit und die Leiden der letzten Monate
Dokumentation. Binder erschloss akribisch alle zur erhalten hier eine ausführliche Darstellung, wobei
Verfügung stehenden und teilweise auch neue Quel- Stach teilweise auch auf familieninterne Briefe zu-
len über die gesamte Lebensdauer Kafkas. Seine Dar- rückgreifen kann.
legungen sind exakt und informativ; mit seinen psy- Biografische Entdeckungen werden in den kom-
chologischen Deutungsmustern prägte er aber auch menden Jahren vorrangig der späten Lebensphase
das Bild von einem Autor, der sich lebenslang an Kafkas – u. a. mit der stärkeren Einbeziehung der
denselben frühkindlichen Verhaltensmustern auf- Amtlichen Schriften, der Aufarbeitung der Hebrä-
rieb. Bleibt zu fragen: Gab es tatsächlich keine Ent- ischstudien und des zurzeit noch nicht zugänglichen
wicklung in Kafkas Biographie? Dessen ungeachtet Nachlasses Max Brods – vorbehalten bleiben. Die
konnte Binder in weiteren Studien die Lebenswelt eingangs aufgeworfene Frage nach Wenden, Brü-
Kafkas immer wieder mit neuen Facetten erhellen, chen und Kontinua könnte dabei unverhofft neue
so zuletzt in der reich illustrierten Lebenschronik Belebung finden.
Kafkas Welt.
Berufsbiographen wie Ernst Pawel (1990), Ronald Peter-André Alt: F.K. Der ewige Sohn. München 2005. –
Hayman (1983), Pietro Citati (1987) konnten auf Mark Anderson: K. ’ s Clothes. Oxford 1992. – Thomas
diesen Fundus zurückgreifen, fügten mit ihren po- Anz: F.K. München 1989. – Detlev Arens: F.K. München
pulären Lebensdarstellungen jedoch keine neuen 2001. – Giuliano Baioni: K. Literatur und Judentum.
biografischen Details hinzu. Ähnliches gilt für die Stuttgart 1994. – E. Torton Beck (1971). – Peter U. Bei-
als Überblick angelegten Monographien von Tho- cken: F.K. Leben und Werk. Stuttgart 1995. – Walter
Benjamin: F.K. Zur zehnten Wiederkehr seines Todesta-
mas Anz (1989), Peter U. Beicken (1995), Ludwig
ges. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiede-
Dietz (1975/90) und Detlev Arens (2001). Die von
mann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. II/2.
Chris Bezzel 1975 zusammengestellte Kafka-Chro-
Frankfurt/M. 1977. 409–438. – Samuel Hugo Bergmann:
nik mit Lebensdaten ist inzwischen durch die von Erinnerungen an F.K. In: Universitas 27 (1972), 746 f. –
Roger Hermes u. a. herausgegebene, an der Kriti- Chris Bezzel: K.-Chronik. Daten zu Leben und Werk.
schen Ausgabe orientierte Kafka-Chronik ersetzt München 1975 (Reihe Hanser 178). – Hartmut Binder:
worden (1999). Leben und Persönlichkeit F.K.s. In: KHb (1979) I, 103–
Mit Peter-André Alts Franz Kafka. Der ewige Sohn 584. – Ders.: K. in Paris. Historische Spaziergänge mit
liegt seit 2005 eine opulente Monographie vor, die alten Photographien. München 1999. – Ders.: Mit K. in
sich nicht nur biografisch auf dem neuesten Stand den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz
der Forschung zeigt, sondern auch im Gebrauch der und zu den oberitalienischen Seen. Prag 2007. – Ders.:
interpretatorischen Methoden. In der von Peter K.s Welt. Eine Lebenschronik in Bildern. Reinbek 2008.
Handke angeregten Formel vom ›ewigen Sohn‹ wird – Jürgen Born u. a. (1965). – Ders. (Hg.): F.K. Kritik und
1. Leben und Persönlichkeit 27

Rezeption 1912–1924. Frankfurt/M. 1979. – Max Brod 37–44. – Marek Nekula (Hg): F.K. im sprachnationalen
(Hg.): Unsere Literaten und die Gemeinschaft. In: Der Kontext seiner Zeit. Weimar, Wien 2007. – Bernd Neu-
Jude 1 (1916) 7, 457–464. – Ders.: Zauberreich der mann: F.K. Gesellschaftskrieger. Eine Biographie. Mün-
Liebe. Roman. Berlin, Wien 1928. – Ders.: F.K. Eine Bio- chen 2008. – Anthony Northey: K.s Mischpoche. Berlin
graphie. Erinnerungen und Dokumente. Prag 1937. – 1988. – Ders.: F.K.s Selbstmörder. In: Europäische Kul-
Ders.: Über F.K. [F.K. Eine Biographie; F.K.s Glauben turzeitschrift Sudetenland. Vierteljahreszeitschrift für
und Lehre; Verzweiflung und Erlösung im Werk F.K.s]. Kunst, Literatur, Wissenschaft und Volkskultur 49
Frankfurt/M., Hamburg 1966 (Fischer Bücherei 735). – (2007), 267–294. – Ulrich Ott (Hg.): K.s Fabriken. Be-
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torium & Wasserheilanstalt-A-G., Zuckmantel, österr. teils ungedruckten Briefen F.K.s. Wien 2003. – Hans
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nungen! Ausdruck der Verzweiflung? Zur K.-For- schwister. In: KHb (2008), 45–60. – Hanns Zischler:
schung. In: H.L. Arnold (2006 [1994]), 8–41. – Ders.: K. K. geht ins Kino. Reinbek 1996.
und sein Vater: Der Brief an den Vater. In: KHb (2008), Ekkehard W. Haring
29

2. Einflüsse und Kontexte

2.1 Kafkas Lektüren den Wegen in jenen inneren See gemündet waren,
aus dem dann die Geschichte entfloß« (Pasley, 107).
Deshalb hat Pasley auch bezweifelt, ob bei Kafka
»überhaupt noch im herkömmlichen Sinn von ›lite-
Vorüberlegungen rarischen Quellen‹« (107) die Rede sein könne.
Was Pasley beschreibt, ist jedoch allenfalls ein
Dass Lektüren für einen Autor besondere Bedeutung Typus literarischer Produktion bei Kafka, nicht je-
haben, versteht sich von selbst. Bei Kafka ist das doch der einzige. Auf den anderen hat Kafka selbst
nicht anders – auch wenn es auf den ersten Blick hingewiesen – wenn er etwa über seine Erzählung
vielleicht nicht den Anschein hat. Explizite Bezug- <Blumfeld, ein älterer Junggeselle> schreibt: »Ich
nahmen auf andere Schriftsteller sucht man in sei- schreibe Bouvard und Pecuchet sehr frühzeitig«
nen Erzählungen und Romanen vergebens. Dass es (9.2.1915; T 726) oder über den Heizer bemerkt:
gleichwohl solche Referenzen gibt, ja Kafka mit eini- »glatte Dickensnachahmung« (8.10.1917; T 841).
gen Autoren geradezu einen literarischen Dialog Und nachdem er in der Nacht vom 22. auf den
führte, teilweise sogar über einen längeren Zeitraum, 23. September 1912 in einem Zug Das Urteil ge-
hat die Forschung inzwischen vielfach nachgewie- schrieben hatte, notierte er sich in sein Tagebuch
sen. Durch diese Nachweise ist es gelungen, Kafkas Ähnlichkeiten u. a. mit einem Roman Max Brods
Ort in der Weltliteratur genauer zu bestimmen, über und einem Sketch Franz Werfels: »Gedanken an
die gängigen und naheliegenden Einordnungen etwa Freud natürlich, an einer Stelle an Arnold Beer, an
als Prager deutscher Schriftsteller hinaus (Lamping einer andern an Wassermann, an einer (zerschmet-
2006). tern) an Werfels Riesin« (23.9.1912; T 461). Kafka ist
Kafkas Lektüren haben schon früh das Interesse offenbar auch ein durchaus bewusst arbeitender,
von Literaturwissenschaftlern gefunden, zunächst Lektüren verarbeitender Autor gewesen, dessen
das seiner Biographen. Von Max Brod (Brod 1976 Texte in vielerlei literarischen Beziehungen stehen.
[1966]) über Hartmut Binder (Binder 1979) bis zu Auch sein Werk ist wesentlich Literatur aus Litera-
Reiner Stach (Stach 2002 u. 2008) haben sie zu er- tur.
mitteln versucht, was der Autor zu welcher Zeit gele- Allerdings hat Kafka über die Bücher und die Au-
sen hat, um so seinen Bildungsgang nachvollziehen toren, mit denen er sich beschäftigt hat, zumeist
zu können. Aber auch die Interpreten seiner Schrif- nicht viel verlauten lassen. Bedeutende literarische
ten (Politzer 1965; Anz 1989, 20–22) haben sich für Essays hat er nicht geschrieben, auch kaum Rezensi-
Kafkas Lektüren interessiert, zumindest soweit er sie onen. In seinen Notizheften gibt es zumeist bloß ver-
in seinem Werk verarbeitet hat. Dabei war ihnen da- streute, zudem oft nur kurze Äußerungen über ein-
ran gelegen, über intertextuelle Bezüge Aufschluss zelne Werke oder Autoren. Diesen Umstand darf
über die literarische Tradition zu bekommen, in die man aber nicht falsch deuten als Beleg für die ge-
er gehört. ringe Bedeutung, die er dem Lesen für sich als Autor
Der Nachweis intertextueller Bezüge in Kafkas beigemessen hätte. Denn dass Lesen für Kafka viel-
Werk hat insgesamt die Einschätzung seiner Arbeits- mehr ein Vorgang von großer existenzieller Bedeu-
weise verändert. Vor ihrem Hintergrund schwer auf- tung war, verraten viele emphatische Bemerkungen
rechtzuerhalten ist die Annahme, er habe mehr oder über Literatur und Lektüren: »ein Buch muß die Axt
weniger voraussetzungslos, ohne Vorbilder und im sein für das gefrorene Meer in uns«, schreibt er etwa
Wesentlichen ganz aus seiner Subjektivität heraus, ja in einem Brief vom 27. Januar 1904 an Oskar Pollak
unbewusst geschrieben. So hat etwa Malcolm Pasley (B00–12 36), der noch weitere prägnante Charakte-
behauptet, dass etwaige Lektüren Kafkas »schon risierungen von Lektüren enthält. »Ich habe kein lit-
längst vor dem Anfang der Werkentstehung auf den terarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur,
verschiedensten, gar nicht mehr genau aufzuspüren- ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein«,
30 2. Einflüsse und Kontexte

teilt er am 14. August 1913 Felice Bauer mit (B13–14 liothek, den die Wuppertaler Forschungsstelle für
261). Und im Tagebuch erwähnt er 1911, nachdem Prager deutsche Literatur 1982 von einem Münche-
er »eine ziemliche Zeit in oft über mir zusammen- ner Antiquar erworben hatte, insgesamt 274 Bände,
schlagender Litteratur gestanden« habe, sein dieses von denen sechs in der von Wagenbach publizierten
Mal fehlendes »ursprüngliches Verlangen nach Lit- Liste fehlen. Das Verzeichnis wird ergänzt durch die
teratur« (13.12.1911; T 292). insgesamt 10 Bücher-Listen, die Kafka »aus unter-
schiedlichen Anlässen« (174) zwischen 1912 und
1922 zusammengestellt hat, und um einen Index der
Der empirische Leser in Kafkas Schriften erwähnten Bücher, Almanache,
Zeitschriften und Zeitschriftenbeiträge.
Kafkas Bibliothek
Die Bedeutung dieses Indexes ist nicht schwer zu
Im Mittelpunkt der Forschung über den empirischen erkennen. Über Kafkas Lektüren geben neben den –
Leser Kafka steht die Rekonstruktion seiner Biblio- offensichtlich – gelesenen Bänden seiner kleinen Bi-
thek. Sie erlaubt manche Aufschlüsse über seine lite- bliothek auch die Erwähnungen von Autoren und
rarischen Interessen; sie sind allerdings zu verrech- Texten in seinen Briefen und Tagebüchern Auskunft.
nen mit den Lektürezeugnissen, die sich vor allem in Nur aus ihnen zu rekonstruieren sind etwa seine Be-
Kafkas Briefen und Tagebüchern finden. Das eine schäftigung mit manchen jiddischen Autoren wie
zusammen mit dem anderen gestattet erst eine Ein- Schalom Asch, Chajim Nachman Bialik, Josef Cha-
schätzung seiner literarischen Bildung. jim Brenner, David Frischmann, Abraham Goldfa-
Es gibt zwei große Versuche, Kafkas Bibliothek zu den, Jakob Gordin, Morris Rosenfeld oder Schomer
rekonstruieren, die letztlich nur geringfügig vonein- (d.i. Nahum Meir Schaikewitsch). Werke von ihnen
ander abweichen. Beide sind notwendig lückenhaft, sind in seiner Bibliothek, soweit sie erhalten ist, nicht
aufgrund des Schicksals der Bibliothek, die schon aufzufinden.
vor dem Krieg durch verschiedene Hände gegangen Reiner Stach hat Kafkas kleine, im Ganzen durch-
ist. Außerdem ist anzunehmen, dass Kafka auch aus heterogene Bibliothek prägnant so beschrieben
mehr Bücher gekannt hat, als in seiner Handbiblio- und gekennzeichnet:
thek noch aufzufinden sind. So oder so scheint seine Ein paar deutsche Klassiker standen da, Goethe, Kleist,
Bibliothek nicht groß gewesen zu sein. Wenn man zu Hebbel, Grillparzer, nichts davon vollständig, außerdem
den ungefähr 300 Büchern aus seinem Besitz, die er- Flaubert, Dostojewski und Strindberg, Tagebücher und
halten geblieben sind, die Titel hinzunimmt, die er Lebensbeschreibungen ohne erkennbare Ordnung, ei-
nige philosophische und juristische Werke aus den Stu-
in seinen Briefen und Tagebüchern erwähnt, kommt
dienjahren, natürlich Reiseführer, vielleicht auch noch
man auf nicht mehr als die doppelte Zahl. Jugendbücher und einige von ›Schaffsteins Grünen
Klaus Wagenbach hat als erster 1958 im Doku- Bändchen‹ mit Abenteuern aus exotischen Gegenden.
menten-Anhang seiner Biographie ein 297 Titel um- Und, nicht zu vergessen, vereinzelte Bücher, die Freunde
fassendes Verzeichnis der Handbibliothek Kafkas auf- verfasst hatten, Geschenkexemplare mit Widmungen
(Stach, 29–30).
genommen. Sie basiert auf einer Zusammenstellung,
die »erst ein Jahrzehnt nach Kafkas Tode« gemacht Nicht mehr lückenlos zu rekonstruieren ist die Ge-
worden und ausdrücklich als »fragmentarisch« ge- schichte der Bibliothek. Nach Kafkas Tod ist sie of-
kennzeichnet ist (Wagenbach, 251). Als ihr Verfasser fenbar im Besitz der Familie geblieben. Bei Kriegs-
gilt Karel Projsa, ein Freund der Familie von Kafkas ende gehörte sie wahrscheinlich Josef David, dem
Lieblingsschwester Ottla, den Wagenbach bei den Mann Ottlas, die nach Theresienstadt deportiert
Recherchen zu seinem Buch in Prag kennengelernt worden ist, nachdem er sich von ihr getrennt hatte.
hatte. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die Er starb 1962. »Ein Teil der Bücher muß allerdings
Liste später entstanden ist, als Wagenbach vermutet schon vor diesem Zeitpunkt in den Besitz Karel Proj-
(Born, 9). Dass sie notwendig lückenhaft ist, gilt da- sas übergegangen sein« (Born, 9). Die »Geschichte
gegen als sicher. Manche Autoren, die Kafka nach- dieser Bibliothek ist so«, wie Jürgen Born bemerkt
weislich gelesen hat, wie etwa Homer oder Charles hat, »aufs engste mit der leidvollen Geschichte der
Dickens, fehlen in ihr. Familie Kafka während des Zweiten Weltkriegs ver-
1990 hat Jürgen Born unter dem Titel Kafkas Bib- bunden« (8).
liothek ein »beschreibendes Verzeichnis« veröffent-
licht. Es erfasst den erhaltenen Teil von Kafkas Bib-
Kafkas Lektüren 31

Interessen des Lesers Kafka und Robert Musil, Upton Sinclair und Émile Verhae-
ren gekannt. Auch sein Interesse an der Literatur sei-
Anhand seines Verzeichnisses hat Jürgen Born Kafka ner Zeit ging über die deutsche und erst recht die
als Leser zu charakterisieren versucht. Dabei betont Prager deutsche Literatur hinaus.
er vor allem »die Bedeutung, die die Lektüre erzäh- Alles in allem ist W.H. Audens Behauptung: »there
lender Dichtung in deutscher Sprache für Kafka is no modern writer who stands so firmly and di-
hatte« (Born, 225); die »Vielzahl der Brief-, Tage- rectly in the European tradition« (Auden, 110), von
buch- und Memoirenbände, biographischer oder au- der Kafka-Forschung vielfach bestätigt worden. Dass
tobiographischer Schriften« (226); »Kafkas Desinte- er ein moderner Autor, vergleichbar mit Marcel
resse, zumindest seine Zurückhaltung, gegenüber Proust oder James Joyce (Gillespie) – wenn vielleicht
der literarischen Moderne« (231), zumal der expres- auch kein »radikaler Modernist« (Corngold) – ge-
sionistischen Avantgarde; schließlich seine »Vor- wesen sei, ist nicht ohne Grund oft behauptet wor-
liebe« für die »volkstümlich geschriebenen Bänd- den. Dass Kafka gleichwohl in der Tradition »des
chen« des Schaffstein Verlags, zumeist »Kriegsbe- modernen realistischen Romans, besonders des von
richte«, »Reise- und Abenteuerberichte« (228). ihm hochverehrten Flaubert« (Schillemeit, 354) ge-
Nicht alle Charakteristiken des Lesers Kafka, die schrieben hat, ist allerdings auch nicht zu übersehen.
Born versucht hat, sind jedoch überzeugend (Lam- Wie viele Autoren im ersten Drittel des 20. Jahrhun-
ping 2006, 16 f.). So hat er zwar Kafkas Lektüren derts steht er zwischen Moderne und Tradition.
»Goethes, Kleists, Grillparzers und Stifters« (Born,
226), schließlich auch Hebels betont, nicht jedoch Lektüre-Zeiten
die europäischer Autoren. Tatsächlich hat Kafka
auch viele nicht-deutsche Autoren eingehend stu- Die Geschichte des Lesers Kafka wird in der Abfolge
diert, insbesondere Charles Dickens, Fedor M. Dos- seiner Lektüren fassbar. Auch wenn er manche Auto-
tojewski, Gustave Flaubert, Knut Hamsun, August ren ungefähr gleichzeitig gelesen hat, manche auch
Strindberg und Leo Tolstoi. Inzwischen intensiv er- über Jahre hinweg oder immer wieder, so gibt es doch
forscht ist auch seine Beschäftigung mit jiddischem im Großen gewisse Schwerpunkte und bezeichnende
Theater (Beck; Baioni; Grözinger; Lamping 1998) Wechsel der Lektüren. Schon früh, als Schüler, hat
und jiddischer Literatur, schließlich sein Interesse an Kafka zuerst Goethe gelesen, wie er als Student mit
der tschechischen Literatur seiner Zeit. Die entspre- seiner Flaubert-Lektüre begonnen hat. »In den Jah-
chenden Lektüren haben sich meist über Jahre er- ren 1904 und 1905 ist die Lektüre von Tagebüchern
streckt. Hinzu kommt noch seine durchweg kürzere und Erinnerungen« nach Wagenbach »besonders
Beschäftigung mit Autoren wie Dante Alighieri oder auffallend« (Wagenbach, 118). Zeiten intensiver Dos-
mit chinesischer Lyrik. Kafkas literarischer Horizont tojewski-Lektüren sind die Jahre 1913 bis 1919 (Bin-
ging deutlich über die deutsche Literatur hinaus. der 1979, 370), Strindberg hat Kafka seit 1914 gelesen
Auch der Hinweis auf sein »Desinteresse« an der (Robertson 2006, 151–160). Wichtige Lektüren der
literarischen Moderne (Born, 231) bedarf der Diffe- späten Jahre sind Tolstoi, dem er sich besonders ab
renzierung. Aus Kafkas Distanz zum deutschen Ex- 1914 zuwendet (Schillemeit, 164–180), und Kierke-
pressionismus und besonders zu manchen Expressi- gaard, der ihn erneut 1918 beschäftigt (Anz 2006).
onisten, auf die sich diese Charakterisierung grün- Diese Lektüren sind nicht nur mit bestimmten Le-
det, lässt sich kaum folgern, dass er die moderne benssituationen Kafkas eng verbunden, etwa mit sei-
Literatur ignoriert hätte, ja ein anti-moderner nen Verlobungen und Entlobungen und dem Aus-
Schriftsteller gewesen sei. Die europäischen Auto- bruch der tödlichen Krankheit, sondern auch mit sei-
ren, die Kafka intensiv gelesen hat, sind wie Hamsun nen literarischen Arbeiten. So hat Binder etwa
und Strindberg moderne oder wie Dostojewski und zwischen Kafkas Lektüre von Octave Mirbeaus Le jar-
Tolstoi auf der Schwelle zur Moderne stehende und din des supplices (1899) und der Arbeit an In der Straf-
aus seiner Sicht, bis auf Flaubert, auch noch zeitge- kolonie eine Verbindung hergestellt (Binder 1977,
nössische Erzähler. Kafka hat darüber hinaus aber 174–175), Schillemeit etwa zwischen Kafkas später
z. B. auch Gedichtbände von Arthur Rimbaud, Paul Tolstoi-Lektüre und seinen Zürauer Aphorismen
Verlaine und Stefan George besessen, Prosabände (Schillemeit, 165), Robertson, wie andere vor ihm,
von Carl Sternheim und Peter Altenberg, er hat Gab- zwischen der Dostojewski-Lektüre der Jahre 1913 und
riele D’Annunzio und Paul Claudel, Maxim Gorki 1914 und dem Process (Robertson 1988, 124).
32 2. Einflüsse und Kontexte

Motive des Lesers Kafka oder Gerhart Hauptmanns Biberpelz (13.12.1911;


T 289 f.) gewidmet, die er mit literarischem Sachver-
Nicht nur was, sondern auch wie Kafka gelesen hat, stand und Scharfsinn analysiert und diskutiert hat.
hat die Forschung zu ermitteln versucht. So hat Born Das bekannteste Beispiel für solche literarischen
etwa »Kafkas Interesse an Selbstzeugnissen« (Born, Analysen ist sein Entwurf einer Kritik von Brods Ro-
227) hervorgehoben: »Nicht zu verkennen ist die un- man Jüdinnen: die einlässlichste Auseinanderset-
trennbare Verbindung, die für Kafka zwischen dem zung mit dem Text eines anderen Autors, die von
Buch und dem Menschen bestand, der es hervorge- Kafka überliefert ist (26.3.1911; T 159 f.).
bracht hatte« (227). Außerdem hat Born bei Kafka Allerdings haben keineswegs alle Lektüre-Zeug-
eine »Unmittelbarkeit seiner Lektüre-Erlebnisse« er- nisse Kafkas diskursiven Charakter. Durchaus ty-
kannt: »Er liest immer auf sich bezogen, stellt Ver- pisch für ihn sind, neben knappen Hinweisen, meta-
gleiche an zwischen dem geschilderten und dem ei- phorische Beschreibungen von Lektüren. So notiert
genen Leben« (229). Ein solches existenzielles, oft er etwa, nachdem er Gedichte Werfels gelesen hat:
identifikatorisches Lesen ist für Kafka tatsächlich ty- »Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen ges-
pisch. Es ist vor allem in seine Lektüren der Biogra- trigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt«
phien, Autobiographien, Briefe und Tagebücher von (23.12.1911; T 308). Goethes Tagebücher hat Kafka
Schriftstellern eingegangen. Bekannt ist seine Äuße- gleichfalls mit einem literarischen Vergleich charak-
rung in einem Brief an Felice Bauer vom 2. Septem- terisiert: »Die Klarheit aller Vorgänge macht sie ge-
ber 1913, in dem er die Autoren nennt, denen er sich heimnisvoll, so wie ein Parkgitter dem Auge Ruhe
verwandt fühlte: gibt, bei Betrachtung weiter Rasenflächen und uns
von den vier Menschen, die ich (ohne an Kraft und Um- doch in unebenbürtigen Respekt setzt« (19.12.1910;
fassung mich ihnen nahe zu stellen) als meine eigentli- T 135). Seine Strindberg-Lektüre beschreibt Kafka
chen Blutsverwandten fühle, von Grillparzer, Dostojew- am 4. Mai 1915 in einem ausgearbeiteten poetischen
ski, Kleist und Flaubert, hat nur Dostojewski geheiratet Gleichnis:
und vielleicht nur Kleist, als er sich im Gedränge äußerer
und innerer Not am Wannsee erschoß, den richtigen Besserer Zustand weil ich Strindberg (Entzweit) gelesen
Ausweg gefunden (B13–14 275). habe. Ich lese ihn nicht um ihn zu lesen sondern um an
seiner Brust zu liegen. Er hält mich wie ein Kind auf sei-
Aus einem solchen Bedürfnis nach ›Blutsverwand- nem linken Arm. Ich sitze dort wie ein Mensch auf einer
Statue. Bin zehnmal in Gefahr abzugleiten, beim elften
ten‹ heraus hat Kafka Kierkegaard 1918 erneut gele-
Versuch sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große
sen, weil auch dessen Verlobung mit Regine Olsen Übersicht (T 742).
(1822–1904) gescheitert war, so wie eben erst seine
eigene mit Felice Bauer (Anz 2006). Solche metaphorischen Darstellungen von Lektüren
Kafkas Interesse an den Lebensumständen und zeigen, wie Kafka Lektüre in Literatur verwandelt
Krankheiten anderer Autoren war allerdings nicht hat: Das Lesen regt das Schreiben an.
nur psychologisch motiviert. Zwar suchte er immer
wieder in den Biographien großer Autoren nach
Analogien zu seinem eigenen Leben. Doch manche Produktive Lektüren
vorderhand bloß psychologisch aufschlussreichen
Produktive Rezeptionen
Lektüren von Biographien und Autobiographien
sind bei Kafka von einem poetologischen Interesse Poetische Beschreibungen von Lektüren sind von ih-
geleitet. Kennzeichnend für ihn ist, dass er »den lite- rer produktiven Rezeption innerhalb einzelner Texte
rarischen Text ganz eng an die Existenz seines Au- zu unterscheiden. Diese produktiven Rezeptionen
tors gebunden« sah (Anz 1989, 20). Insbesondere in sind jedoch in Kafkas Fall nicht immer leicht aufzu-
seinen Goethe- und Flaubert-Lektüren ist das Inter- spüren. Denn nur selten hat er Bezüge auf andere
esse am Zusammenhang zwischen Kreativität und Texte und Autoren markiert. Zu diesen wenigen
Persönlichkeit deutlich. Ausnahmen gehören seine Parabeln über Odysseus
Neben den psychologisch interessierten gibt es bei und die Sirenen (NSF II, 40 f.), der Max Brod den Ti-
Kafka durchaus auch professionelle Lektüren (zur tel <Das Schweigen der Sirenen> gegeben hat, und
Unterscheidung: Lamping 2006, 12–14). Sie sind zu- die über Don Quijote und Sancho Pansa, die Brod
meist einzelnen Werken wie Shakespeares Hamlet <Die Wahrheit über Sancho Pansa> genannt hat
(29.9.1915; T 756), Dostojewski (20.12.1914; T 711) (NSF II, 38). Ansonsten sind die Bezüge in der Regel
Kafkas Lektüren 33

unmarkiert. Kafka hat sich alles in allem auch nicht Welche Bedeutung er für Kafka erlangt hat, ist seit
oft zu seinen produktiven Lektüren geäußert (vgl. langem bekannt (vgl. etwa Nagel 1977). Seit seiner
etwa die einschlägigen Bemerkungen und Hinweise Schulzeit hat Kafka ihn immer wieder gelesen. Er
in der Sammlung der Selbstdeutungen, s. u. ›Materi- besaß verschiedene Werke Goethes, darunter drei
alien‹). Charakteristisch für ihn sind versteckte oder Bände der von Karl Goedeke bei Cotta verantworte-
verdeckte Rezeptionen, weniger Zitate oder einfache ten Sämtlichen Werke, die sechsbändige im Insel Ver-
Übernahmen als ästhetische Transformationen. lag erschienene Ausgabe Der junge Goethe, vier
Produktive Rezeptionen dieser Art zu ermitteln Bände der von Eduard von der Hellen besorgten Edi-
ist methodisch schwierig. Viele einschlägige Arbei- tion Goethes Briefe, schließlich wohl auch die vier-
ten, die ihnen gewidmet sind, sind mehr oder weni- bändige, von Biedermann herausgegebene Ausgabe
ger spekulativ, wie es etwa häufig gegen Bert Nagels Goethes Gespräche sowie Eckermanns Gespräche mit
Monographie vorgebracht worden ist (Nagel 1983). Goethe. Durch Aufzeichnungen dokumentiert sind,
Oft fehlen Beweise und Belege für angebliche inter- neben den Lektüren der Tagebücher und Briefe, ins-
textuelle Bezugnahmen. Die Behauptung solcher Be- besondere die verschiedener Gedichte und Epen wie
züge kann dann nur mehr oder weniger große Plau- Hermann und Dorothea, der Romane, zumal des
sibilität für sich beanspruchen. In einigen Fällen ist Werther, der Iphigenie, des Faust und von Dichtung
jedoch der Abgleich mit Kafkas Bibliothek und den und Wahrheit.
Erwähnungen von ihm offenbar bekannten Autoren Bedeutsam sind die Goethe-Lektüren nicht nur
und Werken hilfreich. durch ihre große Zahl und Dauer. Kafka hat bezeich-
nenderweise auch in Krisenzeiten Goethe gelesen.
Zwei Vorbilder »1911 und 1912, die Jahre seiner Selbstfindung als
Schriftsteller, waren zugleich Jahre intensiven Goe-
Die Reihe der Autoren, die Kafka produktiv rezipiert thestudiums« (Nagel 1983, 170). Das ist kein Zufall;
hat, ist insgesamt überschaubar (vgl. dazu die Aus- denn Kafka hat Goethe vor allem als Inbegriff des
wahlbibliographie von Kraus). Aus der deutschen kreativen Künstlers verehrt. In diesem Sinn zitierte
Literatur sind vor allem Johann Wolfgang Goethe, er ihn etwa am 8. November 1912 in seinem Tage-
Franz Grillparzer, E.T.A. Hoffmann und Heinrich buch: »Goethe: meine Lust am Hervorbringen war
von Kleist zu nennen, aus der französischen vor al- grenzenlos« (T 374).
lem Gustave Flaubert, aus der englischen Jonathan Ausdruck von Kafkas Goethe-Verehrung waren
Swift und Charles Dickens, aus der spanischen auch die beiden Reisen, die er auf dessen Spuren un-
Miguel de Cervantes, aus der skandinavischen Søren ternommen hat: 1909 zum Gardasee und 1912 nach
Kierkegaard, August Strindberg und Knut Hamsun, Weimar, jeweils zusammen mit Brod. Vor allem über
aus der tschechischen Božena Němcová, aus der rus- die Reise nach Weimar hat Brod ausführlich berich-
sischen Nikolai Gogol, Fedor M. Dostojewski und tet: »Kafka mit Andacht über Goethe sprechen zu
Leo Tolstoi. hören, – das war etwas ganz Besonderes; es war als
Kafkas Lektüren einzelner Autoren lassen sich an spreche ein Kind von seinem Ahnherrn, der in
zwei Beispielen verdeutlichen, denen er selbst be- glücklicheren, reineren Zeiten und in unmittelbarer
sondere Bedeutung beigemessen hat: Goethe und Berührung mit dem Göttlichen gelebt habe« (Brod,
Flaubert. Sie gehören zu seinen erklärten »Vorbil- 108).
dern«, wie Stach festgestellt hat: »Goethes univer- Bei aller Verehrung war Kafkas Verhältnis zu Goe-
selle Produktivität und Flauberts raffinierte Schlicht- the nicht unkritisch. 1912 erwähnt er im Tagebuch
heit, das war das Maß aller Dinge« (Stach, 72). einmal den »Plan eines Aufsatzes ›Goethes entsetz-
Dennoch ist sein Verhältnis zu ihnen von unter- liches Wesen‹« (31.1.1912; T 367), der allerdings
schiedlicher, dabei aber für ihn kennzeichnender nie zustande gekommen ist. Kafkas Kritik an Goethe
Art gewesen. ist aus einzelnen Aufzeichnungen zu rekonstruieren.
So hat er etwa die »offen fehlerhaften Stellen«
(16.11.1910; T 126 f.) in der Iphigenie erwähnt und
Goethe
sich am 25. Dezember 1911 notiert: »Goethe hält
Nach dem immer wieder zitierten Max Brod ist der durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der
von Kafka am häufigsten in Briefen oder Tagebuch- deutschen Sprache wahrscheinlich zurück« (T 318).
Aufzeichnungen erwähnte Autor tatsächlich Goethe. Diese viel beachtete Bemerkung, die man auch als
34 2. Einflüsse und Kontexte

Ausdruck eines Modernitäts-Bewusstseins lesen lesen, und schenkt ihr die Éducation sentimentale. In
kann, das den Bruch mit der Tradition sucht, hat Rit- den Tagebüchern finden sich nach 1912 Aufzeich-
chie Robertson so interpretiert: nungen zu Flauberts Briefe über seine Werke, Bou-
[Kafka] hielt Goethes Bedeutung für so überragend, daß vard et Pécuchet und der Éducation sentimentale. Be-
sie die weitere Entwicklung der deutschen Literatur zum sessen hat Kafka außerdem Madame Bovary in der
Stillstand brachte. Das schließt selbstverständlich ein, Übersetzung von René Schickele. Dass er zudem die
daß Kafkas eigene literarische Arbeiten von Goethe Drei Erzählungen in der Übersetzung Ernst Hardts,
schon vorweggenommen waren und daß er sich als
Salammbô, La tentation du St. Antoine und schließ-
Schriftsteller nur in einer literarischen Tradition entwi-
ckeln konnte, in der es keinen Goethe gab (Robertson lich die Tagebücher gekannt hat, lässt sich aus ver-
1988, 40). schiedenen Briefen, etwa an Felice Bauer, schließen.
Das Interesse, das Kafka an den Lebensumständen
Mit dieser Einschätzung mag zusammenhängen, Flauberts nahm, ist immer wieder betont worden,
dass sich in seinem Werk kaum Spuren einer pro- seit Max Brod berichtet hat, dass sie beide sich »in
duktiven Rezeption Goethes finden. Die Ähnlichkei- das Studium der Werke und der Briefe Flauberts, der
ten, auf die gelegentlich hingewiesen worden ist, Memoiren seiner Nichte und alles Biographischen
etwa zwischen K. und Faust − »Beide erstreben ein vertieften, das mit dem verehrten Mann zusammen-
unerreichbares Ziel, beide lassen gefühllos die Frauen hing« (Brod 1976, 232). So hat etwa Hartmut Binder
im Stich (Frieda, Gretchen)« (Robertson 1988, 306) über René Dumesnils Flaubert-Biographie (Flau-
− sind durchweg typologischer Art. Dazu gehört bert. Son hérédité – son milieu – sa méthode. Paris
auch die oft zu findende Charakterisierung des Ver- 1906), die Kafka intensiv gelesen und später Max
schollenen als Bildungsroman in der Nachfolge von Brod geschenkt hat, gesagt, dass sie Kafkas Eigenart
Wilhelm Meisters Lehrjahre (vgl. etwa Neumann). entgegengekommen sei, »eigene und fremde Werke
Dass Kafkas lange und intensive Goethe-Lektüre stets autobiographisch« zu verstehen, »also als Aus-
nicht so viele Spuren in seinen Texten hinterlassen druck der Lebensprobleme, mit denen der jeweilige
hat, wie man annehmen könnte, mag vor allem einen Schriftsteller zu kämpfen hatte« (Binder 1984, 282).
Grund haben: So sehr Kafka Goethe verehrte, so sehr Kafka hat bei Flaubert tatsächlich einige vergleich-
war er offenbar auch bemüht, ihn aus dem eigenen bare Lebensprobleme erkannt, insbesondere die
Werk herauszulassen, aus Angst, von diesem großen Junggesellenexistenz und die damit verbundene Ein-
Vorbild gleichfalls gelähmt zu werden. stellung zur Schriftstellerei als Beruf und zur Ehe.
Nach Monika Kühne gibt es zwei Phasen intensi-
ver Flaubert-Lektüren bei Kafka. Die eine ist die Zeit
Flaubert
von Kafkas Verlobung mit Felice Bauer, der er die
Komplexer noch als Kafkas Verhältnis zu Goethe Éducation sentimentale zur Lektüre empfiehlt und
stellt sich das zu Gustave Flaubert dar, das von einer ihr bedeutet, wie sehr er sich die »ambivalente Hal-
ähnlich tiefen Verehrung bestimmt war, die auch tung des Flaubertschen Protagonisten gegenüber der
von einigen Freunden, allen voran Max Brod, bestä- Geliebten« (Kühne, 299) zu eigen gemacht habe.
tigt worden ist. Wann Kafka begonnen hat, Flaubert Später führt Felice diese Kommunikation »ambiva-
zu lesen, ist allerdings nicht mehr genau festzustel- lenter Botschaften« (313) ihrerseits mit Salammbô
len. Klaus Wagenbach hat die Anfänge dieser Be- fort, die sie Kafka im Mai 1915 schenkt. Kühne be-
schäftigung in die Studienzeit verlegt, als Teil der trachtet dabei Flauberts Korrespondenz mit Louis
französischen Lektüren, die Kafka während dieser Colet als »Modell, wenn nicht gar als Anregung für
Jahre mit Max Brod pflegte (Wagenbach, 159). In Kafkas Briefwechsel mit Felice« (313).
seinen Tagebüchern erwähnt Kafka Flaubert das Die zweite Phase einer intensiven Flaubert-Lektüre
erste Mal 1912: »Flaubert zufrieden vorgelesen« fällt in den Winter 1916/17, in dem Kafka sich selbst
(16.3.1912; T 409). Das erste Zeugnis einer Flaubert- in einer Schreibkrise sah. Bei seinem Versuch, sie zu
Lektüre ist jedoch ein Brief von 1904 an Max Brod, überwinden, orientierte er sich an Flaubert, der seine
in dem im Übrigen auch Goethes Werther Erwäh- eigene Schreibkrise dadurch bewältigt hatte, dass er
nung findet (vermutl. vor 28.8.1904; B00–12 38). sich eine Novelle statt des Romans vornahm: La lé-
Vor allem in seinen Briefen an Felice Bauer kommt gende de Saint Julien l’hospitalier. Nach Kühne folgte
Kafka immer wieder auf Flaubert zu sprechen. Er er- Kafka diesem Vorbild, indem er die Erzählungen
muntert, ja drängt sie geradezu, den Franzosen zu schrieb, die er in dem Band Ein Landarzt sammelte.
Kafkas Lektüren 35

Spuren einer produktiven Rezeption Flauberts im Ein Beispieltext: Produktive Rezeptionen


Werk Kafkas sind nicht leicht zu identifizieren, aber in Der Verschollene
gleichwohl vorhanden, wenn auch an keiner Stelle
markiert. Mit Recht ist jedoch darauf hingewiesen Dass Kafka nicht nur in seinen Erzählungen, son-
worden, dass die Junggesellen-Thematik etwa in dern auch in seinen Romanen Lektüren verarbeitet
Das Unglück des Junggesellen oder in <Blumfeld, ein hat, ist Konsens der Forschung. Allerdings gibt es
älterer Junggeselle> auch – wenngleich sicher nicht manchen Dissens darüber, welche Texte er jeweils
nur – mit Kafkas Flaubert-Lektüre in Verbindung produktiv rezipiert hat. So hat Robertson etwa Kaf-
gebracht werden kann (Schmeling, 15). Das gilt noch kas Lektüre von Dostojewskis Schuld und Sühne eine
mehr für das Fragment <Forschungen eines Hundes>, ähnliche Bedeutung für die Entstehung des Process
das einige Motiv-Parallelen zu Bouvard et Pécuchet zugeschrieben, wie sie die Beschäftigung mit Di-
aufweist und sich gleichfalls als Kritik moderner ckens für den Verschollenen gehabt hat: Kafkas »Ant-
Wissenschaftsgläubigkeit lesen lässt. wort« auf Dostojewski habe darin gelegen, »einen
Nachdem zunächst Kafkas produktive Flaubert- Roman derselben Art zu schreiben, wie er ja auch
Rezeption nur für das frühe Werk, etwa für Hoch- Dickens eine Antwort gegeben hatte, indem er einen
zeitsvorbereitungen auf dem Lande nachgewiesen ›Dickens-Roman‹ schrieb – eben Der Verschollene«
worden ist (vgl. etwa Bernheimer), hat Monika (Robertson 1988, 124).
Kühne solche Aneignungen auch im späten Werk Für Das Schloss sind gleich unterschiedliche litera-
aufgespürt. »Die entscheidende Auseinandersetzung rische Bezüge diskutiert worden. Malcolm Pasley hat
mit dem französischen Autor«, behauptet sie, »hat als ›Inspirationsquellen‹ für Kafkas »Schloß-Bild«
ihren Niederschlag in den Texten des Prosabandes Schriften u. a. von Schopenhauer, Comenius und Sa-
Ein Landarzt gefunden« (Kühne, 294), außer in der lomon Maimon, die von Micha Josef bin Gorion be-
Titelgeschichte etwa in Schakale und Araber. Dabei arbeiteten Sagen der Juden (5 Bde., Frankfurt/M.
handelt es sich zumeist um Motive wie die Wunde in 1913–27) und Heinrich von Kleists Novelle Michael
Ein Landarzt oder die Tiere in Schakale und Araber, Kohlhaas genannt (Pasley, 7–20). Peter-André Alt
die die Tötung anderer Tiere rächen wollen. Bezugs- hat auf Bezüge zur zeitgenössischen Literatur ver-
text ist dabei jeweils La légende de Saint Julien l’hos- wiesen, etwa zu Ernst Weiß’ Roman Tiere in Ketten
pitalier. oder zu Božena Němcovàs Roman Babička (Alt,
Doch nicht nur thematische und motivische, auch 591 ff.). Robertson hat auf die zahlreichen Verbin-
stilistische Übernahmen Kafkas sind von der For- dungen zur jüdischen Literatur, vom Hohenlied Salo-
schung herausgearbeitet worden. So hat Ritchie Ro- monis bis zu Joseph Lateiners Der Meschumed, auf-
bertson, eine Argumentation Malcolm Pasleys auf- merksam gemacht (Robertson 1988, 344). Dass das
greifend, darauf hingewiesen, dass Kafka das »Ideal Schloss ein prominentes Motiv der europäischen
der präzisen, genauen Beschreibung von Flaubert Schauerliteratur von Horace Walpoles The Castle of
übernommen« habe, »insbesondere von dessen frü- Otranto bis zu Bram Stokers Dracula ist, hat Michael
hen Reisebeschreibungen« (Robertson 1988, 80), Müller (Müller, 253–259) nachgewiesen.
und ihm nicht nur im Verschollenen, sondern auch Besonders aufschlussreich in ihrer Komplexität
in den Tagebüchern nachgeeifert habe. sind jedoch die produktiven Rezeptionen in Kafkas
Manfred Schmeling hat schließlich Verbindungen erstem Roman Der Verschollene. Wenn man ihn vor
zwischen der »Erzählhaltung« (Schmeling, 120) der dem Hintergrund von Kafkas Lektüren betrachtet,
beiden Autoren hergestellt: »Die Modernität Flau- erscheint er nicht nur, wie die beiden anderen Ro-
berts, die Kafkas Romane formal – und was die Lei- mane auch, als ein dichtes Gewebe intertextueller
denssituation und Ausweglosigkeit der Helden be- Bezüge. Er lässt auch unterschiedliche Arten der
trifft auch konzeptuell – fortschreiben, versteht sich Lektüre-Verarbeitung erkennen, die gleichermaßen
auch vor dem Hintergrund der Überwindung der literarischen wie nicht-literarischen Texten gelten
Auffassung, der Erzähler sei dazu aufgerufen, die er- und die in ihrer Gesamtheit typisch für die produkti-
zählte Wirklichkeit reflektierend zu überspannen« ven Rezeptionen Kafkas sind.
(123). Kafka habe diese Haltung »auf noch konse- Schon Heinz Politzer hat behauptet, dass die »Em-
quentere Weise im Process und im Schloss fortgesetzt: pirie« im Verschollenen »eine Wirklichkeit zweiter
Verengung der Perspektive, Abbildung der Außen- Hand« sei (Politzer, 185). Er hat dabei gleich meh-
welt in den Augen des Helden« (123). rere literarische Quellen benannt:
36 2. Einflüsse und Kontexte

Neben Dickens’ David Copperfield kommen Benjamin mentale Flauberts«. Von der »Handlungsführung«
Franklins Autobiography, der Anfang von Edgar Allan
Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym und Kapitel
her sei Der Verschollene schließlich eine »Kontrafak-
aus Ferdinand Kürnbergers Der Amerikamüde als Quel- tur des klassischen Bildungsromans« (Alt, 357) nach
len in Betracht. Auch Arthur Holitschers Reiseerlebnisse dem Modell von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre.
Amerika – heute und morgen mögen Stimmungswerte Auf diese Verbindung hat vor Alt bereits Gerhard
beigetragen haben, zumal das Buch im Jahre 1912 er- Neumann hingewiesen (Neumann 1985). Der Begriff
schienen war (185).
der Kontrafaktur ist hier allerdings nicht glücklich ge-
Diese Liste hat Ritchie Robertson als spekulativ kri- wählt; doch von einer »negativen Bildungsgeschichte«
tisiert (Robertson 1988, 66). Sicher ist lediglich, dass (Alt, 359) zu sprechen, wie Alt das an anderer Stelle
Kafka David Copperfield, und wahrscheinlich, dass tut, ist inzwischen geradezu üblich geworden.
er Arthur Holitschers Reisebericht gekannt hat, Unabhängig davon, welche Lektüre im Einzelnen
ebenso wie Franklins Jugenderinnerungen, die er nachweisbar ist, hat sich in der Forschung die An-
wohl einmal besessen hat, allerdings erst in späteren sicht durchgesetzt, Kafkas Amerika sei ein »erlese-
Jahren. Für seine Beschäftigung mit Poe und Kürn- nes Amerika« (Alt, 347; vgl. außerdem Frick). Das
berger hingegen gibt es keine Zeugnisse. mag insofern schwer zu widerlegen sein, als Kafka
Viel Aufmerksamkeit gefunden hat Kafkas Tage- die Vereinigten Staaten nie selbst kennengelernt hat.
buch-Aufzeichnung vom 8. Oktober 1917, in der es Robertson hat jedoch behauptet, dass Kafkas »Inter-
heißt: esse an Amerika« bloß »zu einem geringen Teil aus
»Der Heizer« glatte Dickensnachahmung, noch mehr der der Beschäftigung mit fiktiver Literatur« herrührte,
geplante Roman. Koffergeschichte, der Beglückende und vielmehr »im wesentlichen« zurückgehe »auf per-
Bezaubernde, die niedrigen Arbeiten, die Geliebte auf sönliche Kontakte und Sachberichte« (Robertson
dem Landgut die schmutzigen Häuser u. a. vor allem aber 1988, 67). Auch Alt hat ähnlich bemerkt, dass Kafka
die Methode. Meine Absicht war wie ich jetzt sehe einen
ebenfalls aus dem »Familienmythos« als Quelle ge-
Dickensroman zu schreiben, nur bereichert um die
schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen und die schöpft habe: »Mehrere Cousins der väterlichen Li-
mattern, die ich aus mir selbst aufgesteckt hätte (T 841). nie hatten um die Jahrhundertwende Europa verlas-
sen und sich in den Vereinigten Staaten etabliert«
Dies ist eine der wenigen Bemerkungen Kafkas, die (Alt, 354).
belegen, wie sehr er selbst literarischen Mustern
folgte, ohne dies allerdings in den Texten zu markie-
ren. Forschung
Die »Abhängigkeit des Verschollenen von Di-
ckens« über das Motiv des verlorenen Koffers hinaus Eine theoretisch und methodisch überzeugende Ge-
hat Binder auch noch für weitere Motive und »Er- samtdarstellung der Lektüren Kafkas steht noch aus.
zählelemente« (Binder 1977, 56) behauptet. Die Di- Bert Nagels 1983 publizierte umfangreiche Mono-
ckens-Bezüge sind nicht die einzigen, die er erkannt graphie Kafka und die Weltliteratur ist trotz zahlrei-
hat. Neben Werken von Moses Richter und Morris cher Hinweise durch ihren Hang zu insbesondere
Rosenfeld, deren »Thematik sich ebenfalls mit dem psychologischen Spekulationen grundsätzlicher Kri-
Amerika-Roman berührt« (55), hat Binder auch tik ausgesetzt. Einen neuen Versuch, Kafkas Lektü-
deutliche Parallelen zwischen dem 8. Kapitel von ren wie die Rezeption seines Werks durch andere
Kafkas Roman-Fragment und dem 8. von Madame Autoren auf der Grundlage eines stärker philologi-
Bovary, der berühmten Beschreibung der Landwirt- schen Begriffs von Intertextualität zu beschreiben,
schaftsmesse, gesehen. stellt der 2006 erschienene, von Manfred Engel und
Bedenkenswert ist dieser Hinweis auch deshalb, Dieter Lamping herausgegebene Sammelband Franz
weil die literarische Reihe, in der Der Verschollene Kafka und die Weltliteratur dar, der auch eine Aus-
steht, mit den Kafka bekannten und von ihm gelese- wahlbibliographie neuerer Forschungsarbeiten zu
nen Amerika-Büchern allein nicht vollständig ist. einzelnen Bezügen enthält.
Dass neben Dickens insbesondere Flaubert als stilisti-
sche und strukturelle Referenz auch in diesem Fall in Materialien: Franz Kafka: Der Dichter über sein Werk.
Frage kommt, hat Peter-André Alt behauptet. »Die Hg. v. Erich Heller u. Joachim Beug. München 1977. –
Erzähldiktion des Verschollenen folgt« nach Alt »dem Herbert Blank (Hg.): »In K.s Bibliothek«. Werke der
von Kafka bewunderten Modell der Éducation senti- Weltliteratur und Geschichte in der Edition, wie K. sie
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 37

besaß oder kannte, kommentiert mit Zitaten aus seinen


Briefen und Tagebüchern. Stuttgart 2001.
2.2 Der ›Prager Kreis‹
Bibliographie: Esther Kraus: Auswahlbibliographie. und die deutsche
In: Engel/Lamping (2006), 351–378.
Forschung allgemein: P.-A. Alt (2005). − T. Anz Literatur in Prag zu
(1989). − H.L. Arnold (1994). − W.H. Auden: The Wan-
dering Jew. In. Ders.: Prose and Travel Books in Prose Kafkas Zeit
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G. Baioni (1994). − Evelyn Torton Beck: K.s ›Durch-
bruch‹. Der Einfluß des jiddischen Theaters auf sein
Prag als narrativer Raum
Schaffen. In: Basis 1 (1970), 204–223. − H. Binder
Auch daß wir keinen Lehrer und kein Programm hatten,
(1976). – H. Binder (1977 [1975]). − Ders.: Leben und habe ich schon hervorgehoben. Es sei denn, daß man
Persönlichkeit F.K.s. In: KHb (1979) I, 103–584. − Ders.: Prag selber, die Stadt, ihre Menschen, ihre Geschichte,
Zu K.s Flaubert-Lektüre. In: Hans-Henrik Krum- ihre schöne nahe und fernere Umgebung, die Wälder die
macher/Fritz Martini/Walter Müller-Seidel (Hg.): Zeit Dörfer, die wir eifrig in Fußmärschen durchwanderten,
der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhun- als unseren Lehrer und unser Programm ansehen will.
dertwende bis zur Gegenwart. Stuttgart 1984, 281–299. Die Stadt mit ihren Kämpfen, ihren drei Völkern, ihren
messianischen Hoffnungen in vielen Herzen (Brod 1966,
− J. Born (1990). − M. Brod (1976 [1966]). − Stanley
137).
Corngold: K.: The Radical Modernist. In: Graham Bar-
tram (Hg.): The Cambridge Companion to the Modern In Max Brods Portrait jener literarischen Gruppie-
German Novel. Cambridge u. a. 2004, 62–76. − Man- rung, die er als den ›Prager Kreis‹ bezeichnet und zu
fred Engel/Dieter Lamping (Hg.): F.K. und die Weltlite- dessen innerstem Kern er die Treffen der vier
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Ders. u. a. (Hg.): Orte der Literatur. Göttingen 2002, rechnet, wird erwähnt, was für die gesamte Prager
266–294. − Gerald Gillespie: Proust, Mann, Joyce in the deutsche Literatur der Moderne als charakteristisch
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angesehen werden kann: die Inselsituation der Drei-
ger (1987). − D. Lamping (1998). − Ders.: F.K. als Autor
völkerstadt Prag – Zentrum der böhmischen Pro-
der Weltliteratur. Einführung. In: Engel/Lamping
(2006), 9–23. − Michael Müller: Das Schloß. In: M. Mül-
vinz der alten österreichischen Donaumonarchie –
ler (1994), 253–283. − Bert Nagel: K. und die Weltlitera- im nationalen, kulturhistorischen und literaturge-
tur. Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Mün- schichtlichen Kontext. Diese bedingte wesentlich,
chen 1983. − Gerhard Neumann: Der Wanderer und dass Prag zu einem narrativen Raum werden konnte,
der Verschollene. Zum Problem der Identität in Goe- zu einer Matrix für literarische Produktion und In-
thes Wilhelm Meister und K.s Amerika-Roman. In: teraktion zwischen den Kulturen.
Stern/White (1985), 43–65. − M. Pasley (1995). − Insular war die deutsche Literatur in Prag schon in
H. Politzer (1965). − R. Robertson (1988). − Ders.: Der soziokultureller Hinsicht. Sie wurde es im Zuge der
Prozeß. In: M. Müller (1994), 98–145. − Ders.: K. und aufkommenden tschechischen Nationalisierung seit
die skandinavische Moderne. In: Engel/Lamping (2006), der Mitte des 19. Jahrhunderts, verstärkt noch durch
144–165. − J. Schillemeit (2004). − R. Stach (2002). − die industrielle Revolution, in deren Zuge sich tsche-
R. Stach (2008). – K. Wagenbach (1958). chische Arbeiter vor allem in den Vororten Prags an-
Zu einzelnen Autoren: Flaubert: Charles Bernheimer: siedelten, während der Stadtkern deutsch bzw.
Flaubert and K. Studies in Psychopoetic Structure. New deutsch-jüdisch war. So wurde im Zentrum Prags
Haven, London 1982. – Monika Kühne: »Es geht in ei- bis zu Kafkas Jugend mehrheitlich deutsch gespro-
nen über, sei man wie man sei«. K. als Leser Flauberts.
chen, in der übrigen Stadt sowie in der böhmischen
In: Archiv 149 (1997) 234, 293–313. − Klaus Pape:
Provinz (ausgenommen die sudetendeutschen Ge-
Sprachkunst und Kunstsprache bei Flaubert und K. St.
Ingbert 1996. – Manfred Schmeling: K. und Flaubert.
biete) vorwiegend tschechisch. Diese für die Prager
Perspektive, Wirklichkeit, Welterzeugung. In: Engel/ deutsche Literatur charakteristische Inselsituation
Lamping (2006), 109–124. −− Goethe: Bert Nagel: K. wurde mit dem Durchbruch der tschechischen Nati-
und Goethe. Stufen der Wandlung von der Klassik zur onalisierungsbewegung um den Ersten Weltkrieg
Moderne. Berlin 1977. −− Kierkegaard: Thomas Anz: noch weiter radikalisiert. Aus einer überwiegend
Identifikation und Abscheu. K. liest Kierkegaard. In: deutschen Stadt (1850 betrug der Anteil der Deut-
Engel/Lamping (2006), 83–91. schen zwei Drittel) wurde eine tschechische: Nach
Dieter Lamping dem Krieg und der Gründung der tschechoslowaki-
38 2. Einflüsse und Kontexte

schen Republik 1919 bildeten die Deutschsprechen- Substitut des großen, menschenverbindenden Bau-
den eine Minderheit von etwa 32.000 Personen, wo- werks entsteht so bei Kafka eine in sich zerstrittene
von mehr als die Hälfte Juden waren. Es war dies Stadt, eine disharmonische Gemeinschaft von ge-
eine Lage, die die deutschen Schriftsteller Prags von geneinander intrigierenden ›Landsmannschaften‹.
Fritz Mauthner (1849–1923) über Rilke bis hin zu Das universale, kosmopolitische Projekt (wie es
Brod, Franz Werfel (1890–1945) und Kafka unmit- gerade auch in Prag seine Apologeten hatte, ä 40)
telbar bestimmte und die sie auch vielfach und kon- scheitert in Kafkas Text an partikularen, individuel-
trovers thematisierten. Im Spannungsfeld von natio- len Interessen. So entsteht hier eine Stadt gerade
nalen, sozialen und religiösen Beziehungen inner- auch durch das Gegeneinander-Arbeiten der einzel-
halb der Monarchie entwickelte sich in Prag eine nen Landsmannschaften. Im kollektiven literari-
deutsche bzw. vorzugsweise deutsch-jüdische Litera- schen Unterbewusstsein jedoch dämmert der
tur und Kunst von Weltgeltung. Wunsch nach einer alles bereinigenden Ver-
Ausgehend von Kafkas Charakteristik ›kleiner Li- nichtungstat:
teraturen‹ (T 312–315, 321 f., 326; ä 138–140) haben Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstan-
Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer wegwei- den ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophe-
senden Schrift Kafka. Pour une littérature mineure zeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust
(1975; dt. 1976) Bedingungen für eine Literatur for- in fünf kurz aufeinander folgenden Schlägen zerschmet-
tert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust
muliert, die in einer kleinen isolierten Sprachge-
im Wappen (NSF II, 323).
meinschaft entsteht und in der im Gegensatz zu ih-
rer Umwelt die gesprochene Sprache nicht zugleich Als eigentliche Faust hat sich im Nachhinein die Ge-
auch offizielle Landessprache ist: schichte erwiesen. Sie gibt Kafkas literarischer Ver-
Ihr enger Raum bewirkt, daß sich jede individuelle An- nichtungsvision insofern Recht, als die Besetzung
gelegenheit unmittelbar mit der Politik verknüpft. Das Prags durch die Nazis 1938 und die nachfolgende
individuelle Ereignis wird um so notwendiger und un- Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölke-
verzichtbarer, um so mehr unterm Mikroskop vergrö- rung sowie die Vertreibung der übrigen deutschen
ßert, je mehr sich in ihm eine ganze Geschichte abspielt.
So verbindet sich das ödipale Dreieck der Familie mit Bevölkerung nach dem Krieg das alte vielsprachige
anderen, mit den geschäftlichen, ökonomischen, büro- Prag der drei Völker endgültig auslöschten.
kratischen, justiziären Dreiecken, die seine Werte be-
stimmen (Deleuze/Guattari, 25).
Für diese Involvierung des literarischen Schreibens Literatur im Prag der Jahrhundert-
in den kulturpolitischen Kontext, wie ihn Prag bil- wende: Ghettoliteratur, Concordia,
det, kann die Literatur Kafkas als paradigmatisch an- Jung-Prag
gesehen werden, da seine Texte einen permanenten
subtextuellen Diskurs mit jener spezifischen Prager Die moderne Prager deutsche Literatur des späten
Matrix führen (Kilcher 2008). 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist auch in ihrem
An eine textuelle Oberfläche gebracht ist diese insularen und transkulturellen Status keineswegs ho-
auch konfliktuöse Spannung unter anderem in Kaf- mogen. Vielmehr lassen sich höchst unterschiedli-
kas kurzem Text <Das Stadtwappen> (ca. 15.9.1920; che Gruppierungen unterscheiden, die im Vor- und
NSF II, 318 f., 323). Dieser Text ist mit seinen mythi- Umfeld jener Exponenten der Moderne liegen, die
schen und biblischen Anspielungen als eine allegori- Brod als ›Prager Kreis‹ bezeichnete: namentlich die
sche Erzählung der Geschichte der Stadt Prag und sogenannte Ghettoliteratur um die Mitte des 19.
ihrer spezifischen kulturellen Disposition zur Zeit Jahrhunderts, die Schriftsteller im Kontext des Con-
Kafkas zu lesen, wobei das transkulturelle Narrativ cordia-Vereins gegen Ende des 19. Jahrhunderts so-
Prags mit anderen Narrativen wie dem des babyloni- wie die auf diese folgende jüngere Generation um
schen Turmbaus verbunden wird. In Kafkas Text, in 1900, die sich ›Jung-Prag‹ nannte. Literaturge-
dem zunächst der babylonische Turmbau verhandelt schichtlich gehen dem sogenannten ›Prager Kreis‹
wird, geht es um den großen Plan eines idealen Ge- zu Kafkas Zeit damit mehrere Gruppierungen voran,
meinwesens, in dem »jede Landsmannschaft […] die auf sehr unterschiedliche Weise der speziellen
das schönste Quartier« haben wollte, weswegen sich Prager (nämlich eben transkulturellen und zugleich
auch »Streitigkeiten [ergaben], die sich bis zu bluti- insularen) Disposition von Literatur und Kultur an-
gen Kämpfen steigerten« (NSF II, 319). Förmlich als gehören.
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 39

(1) Zuerst zu nennen sind die in Prag und Böh- wichtigste Ghettoautor im Prager Kontext. Insbe-
men sehr präsenten Vertreter der sogenannten Ghet- sondere mit seiner Sammlung Prager Ghettosagen
toliteratur. Dieses literarische Paradigma ist ein ent- (1876), die das alte jüdische Prag thematisiert, stellte
scheidender Indikator dafür, dass im 19. Jahrhun- sich Kapper vor eine ganze Gruppe von Prager Ghet-
dert das Deutsche zur wichtigsten Umgangs- und toschriftstellern.
Literatursprache der liberalen Juden Mittel- und Getragen wurde diese Prager Ghettoliteratur nicht
Osteuropas wurde, insbesondere (wenn auch nicht zuletzt durch zwei Verleger: Wolf Pascheles (1814–
ausschließlich) in Metropolen wie Prag. Auch eine 1857) und Jakob Brandeis (1835–1912). Nicht nur
dem Inhalt nach klar ›jüdische‹ Themen anspre- Kappers Ghettosagen erschienen in der von ihnen
chende Literatur wie die Ghettoliteratur wurde in begründeten Jüdischen Universal-Bibliothek. Die bei-
deutscher Sprache verfasst. Historisch wie poetolo- den Prager Verleger verhalfen diesem deutsch-jüdi-
gisch im literarischen Realismus zwischen ca. 1840 schen Literaturparadigma mit einer von Pascheles
und 1900 angesiedelt, ist ihr hauptsächlicher Hand- herausgegebenen zweibändigen Sammlung zu nach-
lungsort allerdings das jüdische ›Shtetl‹, also die Pro- haltiger Wirkung, die auch in Kafkas Bibliothek
vinz, und weniger die westeuropäische Stadt mit ih- stand: Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Volkssa-
ren jüdischen Quartieren wie der Josephstadt in gen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdig-
Prag, in deren unmittelbarer Nachbarschaft Kafka keiten und Biographien berühmter Juden (1854–70).
aufwuchs. In deren ›Assanation‹ (1893–1917) − ei- (2) Von dieser Gruppe von Ghettoschriftstellern
ner prägenden Erfahrung von Kafkas Generation − unterscheiden sich die Schriftsteller um den 1871
wurde das alte jüdische Ghetto, angeblich aus hygie- gegründeten Verein ›Concordia‹ − mit vollem Na-
nischen Gründen, abgerissen und durch moderne men Verein deutscher Schriftsteller und Künstler in
Geschäftshäuser und breite Straßen ersetzt. Gustav Böhmen Concordia − grundlegend. Wenn auch viel-
Janouch (1903–1968), ein junger Prager Bewunderer fach von jüdischen Schriftstellern getragen, war
Kafkas, insinuiert in einem Gesprächsbericht, dass doch diese Literatur sehr fern vom Judentum. Der
auch Kafka das alte Ghetto vor Augen hatte: Verein gehörte zum Zentralverein der Prager Deut-
In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheim- schen mit dem Namen Deutsches Casino (1862–
nisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lär- 1943). Schon diese Zugehörigkeit macht seine Stel-
menden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir lung im böhmischen Nationalitätenkampf deutlich:
gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt. Im Deutschen Casino trafen sich die deutsch-böh-
Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich
mischen Politiker und Intellektuellen, darunter etwa
zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends.
Unser Herz weiß nichts von der durchgeführten Assa- David Kuh (1818–1879), der Verleger des Tagesboten
nierung. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel aus Böhmen, nach Fritz Mauthner, der dem Verein
wirklicher als die hygienische Stadt um uns (Janouch ebenfalls nahestand, einer der größten Verfechter
1968, 116). der ›deutschen Sache in Böhmen‹ (Mauthner, 189).
In den Texten der Ghettoliteratur wird – zwischen Der Concordia-Verein transportierte diese Haltung
realistischer Milieuschilderung, kritischer Darstel- in Literatur und Kunst. Im Zentrum stand die deut-
lung und elegischer Idealisierung – das jüdische Le- sche literarische Klassik seit Goethe und Schiller, die
ben in seiner konfliktreichen Schwellenlage zwi- zur unverrückbaren Norm wurde. Entsprechend kri-
schen Tradition und Moderne, zwischen Osteuropa tisch charakterisierte Brod diese Autoren als »Epigo-
und Westeuropa, zwischen Abgeschlossenheit und nen der Klassik«, mit Blick auf den ›Prager Kreis‹
Bildungsoptimismus durchgespielt. Böhmen bzw. aber auch als »älteren Kreis« (Brod 1966, 43).
Prag war, neben Galizien, ein Zentrum dieser Litera- Eine zentrale Gestalt dieses Vereins war Alfred
tur. Klaar (1848–1927), Organisator der Concordia von
Zu den ersten und maßgeblichen Autoren des 1871 bis 1899, Theaterkritiker der Deutschen Zeitung
Genres gehörten der böhmische Schriftsteller Leo- Bohemia und der eigentliche ›Prager Literaturpapst‹,
pold Kompert (1822–1886), der in Prag studierte, wie ihn Mauthner keineswegs ironisch nannte
und der in Prag geborene Siegfried Kapper (1821– (Mauthner, 188). 1900 charakterisierte Klaar in dem
1879), ein Vermittler zwischen jüdischer, deutscher Aufsatz Das deutsche Prag die Programmatik der
und tschechischer Literatur und − neben Salomon Concordia im kulturpolitischen Umfeld: Die jahr-
Kohn (1873–1945), Joseph Samuel Tauber (1822– hundertealte deutsche Kultur in Böhmen, die durch
1879) und Georg Leopold Weisel (1804–1873) − der den tschechischen Nationalisierungsprozess seit
40 2. Einflüsse und Kontexte

1848 bedroht und marginalisiert werde, solle durch zu seinem lyrischen Programm, das dem Jugendstil
ein weitverzweigtes Netz deutscher Institutionalisie- nahe war. Im Übrigen machte Salus auch biographi-
rungen gerettet werden, auch und gerade durch ei- sche Realien zum literarischen Gegenstand, etwa
nen Verein deutscher Schriftsteller und Künstler. seine Ehe in der Lyriksammlung Ehefrühling (1900)
Als Zweiter zu nennen ist Heinrich Teweles (1856– oder auch das auf dieses Glück folgende Warten auf
1928), Chefredaktor des Prager Tagblatts von 1900 die Geburt eines Sohnes im Trostbüchlein für Kinder-
bis 1920 und Direktor des Prager deutschen Thea- lose (1909).
ters. Den epigonalen Neoklassizismus brachte er auf An Adler und Salus wird beispielhaft deutlich, wie
Formeln wie: »Goethe bedeutet die deutsche Kultur« das Schreiben der Concordia-Schriftsteller auf die
(Teweles, 7). Von besonderer Bedeutung für die deutsch-tschechisch-jüdische Konstellation Prags
Concordia war seine Herausgabe des Prager Dichter- bezogen ist. Denn die hypertrophe Akkulturation an
buchs (1894). Es kann als repräsentativer Einblick in Paradigmen der deutschen Kultur erweist sich nicht
das Schaffen der hier vereinten Schriftsteller gelten. zuletzt als Strategie einer spezifisch jüdischen Mo-
Der Band versammelt Lyrik und Prosa u. a. von Al- derne zwischen zwei Konfliktparteien. So wurden
fred Klaar, Heinrich Teweles, Josef Willomitzer im böhmischen Nationalitätenkonflikt insbesondere
(1849–1900), Hugo Salus und Friedrich Adler. jüdische Intellektuelle zu Apologeten der deutschen
Friedrich Adler (1857–1938) war eine der prägen- Kultur in einem mehr und mehr slawisch bzw. tsche-
den Gestalten im kulturellen Leben des deutschspra- chisch dominierten Umfeld. Nicht zufällig wird
chigen Prag um 1900. Wie Kafka ein promovierter dann auch die zunehmende Infragestellung der Au-
Jurist (und mit ihm bekannt), verlegte er sein Haupt- torität der deutschen Kultur durch die jungtschechi-
interesse in Richtung romanischer und japanischer sche Bewegung für diese Gruppe zur Infragestellung
Sprache und Literatur. An seiner Tätigkeit als Lehr- des Projekts der jüdischen Moderne überhaupt. Pro-
beauftragter für romanische Studien an der Deut- grammatisch heißt es deshalb in Adlers Gedicht Der
schen Universität in Prag und als Dolmetscher für deutsche Jude: »Zu sehr an Dir mit allen Ranken,
die tschechoslowakische Nationalversammlung 1918 hängt meine Seele, deutsches Heim« (Adler, 96). Auf
zeigt sich nicht zuletzt auch ein verändertes Verhält- andere Weise stellt Salus die deutsche und die jüdi-
nis zur tschechischen Kultur. Durch zahlreiche sche Kultur unvermittelbar nebeneinander, wenn er
Übertragungen aus dem Tschechischen, darunter sein vorbehaltloses Bekenntnis zur Norm der deut-
die Werke des mit ihm befreundeten Jaroslav Vrch- schen Klassik durch ein partielles Spiel mit dem Pa-
lický (1853–1912), kam Adler die Rolle eines Litera- radigma der Ghettoliteratur konterkariert, so etwa
turvermittlers zu. Unter seinen Lyrik-Bänden ist ins- in Gedichten wie Altes Ghettoliedchen und Vom ho-
besondere Vom goldenen Kragen (1907) hervorzuhe- hen Rabbi Löw (beide in Ernte, 1903) oder in der
ben, in dem er auch in (selbst-)ironischer Form die ›Ghettogeschichte‹ Die Beschau (1920) − Texte, die
klassizistischen Ideale thematisierte und die Frage sich offenkundig von der Programmatik der Con-
der Rolle des Dichters als »Weltverbesserer« (Adler, cordia entfernten.
32) stellte. (3) Solche Texte rücken in die Nähe einer dritten
Der als Antipode Adlers wahrgenommene Arzt literarischen Gruppierung der Jahre zwischen ca.
und Dichter Hugo Salus (1866–1929) nahm im böh- 1898 und 1910: des sogenannten Jung-Prag, einer
mischen Nationalitätenkampf ebenso wie im Zionis- Gruppe, die das alte Prag – auch und gerade mit sei-
mus dagegen kompromisslos die deutsche Position nem jüdischen Ghetto und seinen vormodernen
ein. Brod zitiert im Prager Kreis ein polemisches Ge- Mythen – idealisierte. Gegen den Neoklassizismus
dicht, das Salus in einer Prager Zeitung veröffent- der Concordia-Schriftsteller stellte sie eine antibür-
lichte, nachdem die Zionisten mit einer eigenen Liste gerliche Neoromantik. Zu dieser Gruppe gehören
in die Stadtratswahlen gingen: Oskar Wiener (1873–1944) und Paul Leppin (1878–
1945), die hier die wichtigste Rolle spielten, sowie
Heute gibt es nur Deutsche!
u. a. Viktor Hadwiger (1878–1911), Leo Heller
Wer nicht deutsch wählt,
Verdient die Peitsche. (Brod 1966, 69) (1876–1949), Ottokar Winicky (1872–1943), Camill
Hoffmann (1878–1944), Oskar Schürer (1892–
Dieser hypertrophe, deutsch-assimilatorische Natio- 1949), aber auch Künstler wie Richard Teschner
nalismus ist jedoch in Salus’ Lyrik wenig prominent. (1879–1948), Hugo Steiner-Prag (1880–1945) sowie
Gerade ästhetische Norm und Einfachheit werden Alfred Kubin (1877–1959), die wiederholt auch die
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 41

Bücher der genannten Autoren – oft in bibliophiler Zeitschrift Wir. Deutsche Blätter der Künste folgen,
Ausfertigung – gestalteten. die er gemeinsam mit dem Künstler Richard Tesch-
Die literarischen Vorbilder der Jung-Prager waren ner herausgab. Hier publizierten nicht nur Had-
zwei etwas ältere Prager, die allerdings die Stadt wiger, Wiener, Hoffmann und Rilke, sondern bereits
schon um 1900 verlassen hatten: der junge Rilke so- der junge Brod, dessen erste Publikation Spargel
wie »der geniale Gustav Meyrink« (Brod 1966, 43). (1903) auf Vermittlung von Meyrink zustande kam.
Rilkes literarische Anfänge in Prag dokumentieren Neben diesen Zeitschriften formierten auch Sam-
sein erster Gedichtband Larenopfer (1896), der in ei- melbände das soziale und literarische Profil dieser
nem emphatischen Sinn Prager Stadt-Gedichte ent- Gruppe, die auf die Initiative Oskar Wieners zurück-
hält, sowie seine Zwei Prager Geschichten (1899), die gingen, allerdings teils schon im Rückblick und mit
Rilke nach seinem Weggang aus Prag 1897/98 in idealisierendem Gestus erschienen. 1914 edierte
Berlin verfasste und die die Prager Geschichte zu ih- Wiener gemeinsam mit Johann Pilz einen ›Alma-
rem Gegenstand machen. nach deutscher Dichtung und Kunst aus Böhmen‹
Von noch größerer Vorbildfunktion für das junge unter dem Titel Der Heimat zum Gruss sowie 1919
Prag war der in allen okkulten Wissenschaften expe- die wohl bedeutendste Anthologie dieser Art: Deut-
rimentierende Gustav Meyrink (i.e. Gustav Meyer; sche Dichter aus Prag. Beide gehen jedoch auch über
1868–1932), der Prager-Bürgerschreck des letzten die Generation der Jung-Prager hinaus und ent-
Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts, der wegen Betrugs- halten Texte sowohl der Concordia-Schriftsteller
verdachtes Prag 1902 verließ und ebenfalls nach Mauthner und Adler als auch einer seit ca. 1910 auf-
München ging. Mit seinem Kultroman Der Golem tretenden jüngeren Generation: Brod, Oskar Baum,
(1915) kanonisierte Meyrink die Mythisierung des Paul Kornfeld (1889–1942), Franz Werfel und Jo-
alten Prag und seines jüdischen Ghettos, als es schon hannes Urzidil (1896–1970). Sie vermittelten so ei-
nicht mehr bestand. Nicht nur für die Neuroman- nen übergreifenden Überblick über die deutsche
tiker, sondern noch für Kafkas Generation galt Literatur Prags der Moderne bis hin zum Ende der
Meyrink als großes Vorbild einer antibürgerlichen Donaumonarchie bzw. zur Gründung der tschecho-
Bohème-Literatur. Besonders Brod sah bei seinem slowakischen Republik. Kurz darauf fügte Wiener
›Lieblingsschriftsteller‹ Meyrink seine Anfänge, aber noch die Bände Böhmische Sagen (1919) sowie Alt-
auch in Kafkas Briefen werden dessen Texte erwähnt Prager Guckkasten (1922) hinzu, die eine späte Idea-
(so seine Sammlung von sieben Geschichten mit lisierung des alten ›romantischen Prag‹ durch einen
dem Titel Fledermäuse von 1916; An G.H. Meyer ehemaligen Jung-Prager leisten. Ähnlich generatio-
[Kurt Wolff Verlag], 10.8.1916; B14–17 199 u. An nenübergreifend und rückblickend waren auch die
den Kurt Wolff Verlag, 19.8.1916; B14–17 208). beiden 1926 und 1927 erschienenen Alt-Prager Al-
Symptomatisch für die nachhaltige Bedeutung manache von Paul Nettl (1889–1972), die ebenfalls
Meyrinks und der Jung-Prager ist nicht zuletzt auch, Texte dreier Generationen versammelten: der Con-
dass die ›Lese- und Redehalle der deutschen Studen- cordia-Gruppe, der Neuromantiker und der Brod/
ten‹ bzw. ihre literarische Sektion, deren Berichter- Werfel-Generation (Brod, Baum, Werfel, Kornfeld).
statter Kafka war, in dessen Studienjahren (1902– Dass allerdings Kafka in all diesen Sammelbänden
1906) Lesungen eben dieser Prager deutschen Auto- fehlte, zeigt, dass er kaum als ›Prager Autor‹ wahrge-
ren abhielt (darunter Texte von Meyrink, Leppin, nommen wurde.
Salus, Wiener). Das charakteristische ästhetische und intellektu-
Die Jung-Prager formierten sich als Gruppierung elle Profil der Jung-Prager war hauptsächlich durch
von Schriftstellern und Künstlern kurz vor der Jahr- eine Reihe individueller Publikationen markiert: Be-
hundertwende. Zwischen März 1900 und April 1901 stimmend waren neben Meyrinks phantastischen
erschien ihr erstes literarisches Organ: die am Ju- und satirischen Texten vor allem Schriften von Lep-
gendstil orientierten ›modernen Flugblätter‹ Früh- pin und Wiener. Leppins Romane Daniel Jesus
ling, als deren Herausgeber Paul Leppin firmierte (1905), in buchkünstlerischer Ausstattung von Ri-
und in denen Autoren wie Camill Hoffmann, Oskar chard Teschner (bzw. 1919 in neuer Ausstattung von
Wiener und Ottokar Winicky vornehmlich Lyrik pu- Alfred Kubin), sowie Severins Gang in die Finsternis
blizierten. Dabei unterstreicht eine Sondernummer (1914) mit dem Untertitel ein Prager Gespensterro-
zu Rilke dessen Bedeutung für die junge Prager Ge- man gehören zu den aufstörendsten Texten der Jung-
neration. 1906 ließ Leppin die nächste literarische Prager, mehr noch als Wieners Gedichte und seine
42 2. Einflüsse und Kontexte

das Prager Nachtleben zelebrierenden Verstiegene dung von vier Autoren, zu der dann später noch ein
Novellen (1907) oder sein Roman Im Prager Dunst- fünfter trat. Diese vier waren: Franz Kafka, Felix
kreis (1919). Weltsch, Oskar Baum und ich. Nach Kafkas Tod kam
Diese Texte machen den Willen der Jung-Prager Ludwig Winder hinzu« (Brod 1966, 39).
zum Neuanfang deutlich: Sie wollten keine Epigonen Damit wird nicht nur die vergleichsweise quanti-
von Schiller und Goethe mehr sein. Neben den Ro- tative Marginalität von Brods ›Prager Kreis‹ deutlich,
mantikern waren vor allem Nietzsche, Baudelaire sondern auch, dass mit seiner Zentralisierung noch
und Freud die Heroen dieser jungen Generation. Sie wenig Aufschluss über die tatsächlichen strukturel-
besangen nicht mehr den bürgerlichen Hafen der len, historischen und programmatischen Kompo-
Ehe, sondern thematisierten eine tabuisierte Sexua- nenten der Prager deutschen Literatur in der Zeit
lität, sie versammelten sich nicht mehr in gesell- von Kafkas Wirken gegeben ist; dieser Kontext ist
schaftlichen Vereinen, sondern in esoterischen Sub- zweifellos größer und disparater, als Brods enger Be-
kulturen, in theosophischen und spiritistischen Zir- griff des ›Prager Kreises‹ suggeriert. Aufschluss über
keln (namentlich um Meyrink und Leppin). Ihre diese Literatur ergibt sich in dreifacher Hinsicht: ers-
Texte führen in die Zone des Phantastischen, Gro- tens über die personelle und soziale Zusammenset-
tesken und Okkulten und zelebrieren Esoterik und zung einschlägiger literarischer und intellektueller
Erotik. Sie zeigen nicht mehr die schönen Prager Gruppierungen, zweitens über deren literaturhisto-
Kirchen und Burgen (wie bei Rilke), sondern verfal- rische Kontextualisierung, drittens über die kultu-
lene Hinterhöfe und modrige Gassen, und nicht relle Stellung dieser Literatur in einer spezifischen,
mehr Ärzte und Advokaten, sondern jüdische Tröd- deutsch-jüdischen Moderne.
ler, verführerische Zigeunermädchen und dekadente
Dandys. Das alte Prag wurde so zur Kulisse eines in Literatursoziologische Perspektive
Mythos und Magie verhüllten Eros. Außerdem
grenzten sich die Jung-Prager auch im Nationalitä- Für die personelle und soziale Struktur ist entschei-
tenkonflikt von ihren Vorgängern ab: Sie provozier- dend, dass der von Brod ›Prager Kreis‹ genannte
ten mit einer demonstrativen Annäherung an die Freundeszirkel keineswegs singulär war, sondern ne-
tschechischen Kollegen. ben weiteren Gruppierungen stand. Die Problematik
dieser selbstbezogenen Wahrnehmung lässt sich
auch an dem Versuch absehen, die Gruppe um Brod
Der ›Prager Kreis‹ und Kafka mit dem Namen ›Arconauten‹ zu verse-
hen − mit der Begründung, diese habe sich ab 1908
Anders als etwa bei ›Jung-Prag‹ handelt es sich bei im Café Arco getroffen, wo es gemäß einem Bonmot
der Bezeichnung ›Prager Kreis‹ um keine historische der Zeit ›brodelt und werfelt und kafkat und kischt‹.
Selbstbezeichnung einer literarischen Gruppe. Viel- In Wahrheit aber trafen sich die vier Freunde Brod,
mehr ist der Begriff wesentlich auf das retrospektive Kafka, Baum und Weltsch, die seit 1901 Studenten
Buch Der Prager Kreis (1966) von Max Brod zurück- der deutschen Universität Prags waren und sich 1902
zuführen, wo er auch den älteren Begriff der ›Prager bis 1904 nach und nach kennenlernten, in diesem
Schule‹ zurückweist. Brod entwirft dort kein unbe- Café nur selten. Vielmehr versammelten sie sich
streitbares konzentrisches Raster der Klassifizierung mehrheitlich in den Wohnungen von Baum oder
der Prager deutschen Literatur: Während ihm sämt- Brod, wo sie ihre Texte vorlasen und diskutierten,
liche vorangehenden Gruppierungen als eine Art wie Felix Weltsch in seinen Erinnerungen be-
Vorläufer erscheinen (als ›Generationen vor dem en- schreibt:
geren Prager Kreis‹), gilt ihm als ›der engere Kreis‹
Wir bildeten damals mit Oskar Baum eine kleine
nur jene Gruppe deutscher, genauer deutsch-jüdi- Gruppe, die viele Jahre hindurch mindestens alle vier-
scher Schriftsteller (die um ca. 1908 die Neuroman- zehn Tage zusammenkam, wobei Oskar Baum, Max
tiker des ›Jung-Prag‹ ablöste), in der er selbst als Brod und seltener Kafka vorlasen, was sie in dieser Zeit
Mentor eine entscheidende Funktion hatte und der geschrieben hatten. Kafka war ein wunderbarer Vorle-
ser, aber auch ein nicht minder guter Zuhörer (Weltsch,
Kafka – wenn auch nicht zu Lebzeiten, so doch ex 76).
post – geradezu weltliterarische Bedeutung verlieh.
Den Begriff ›Prager Kreis‹ verwendet Brod also ganz Weitaus öfter traf sich im Café Arco dagegen ein an-
konkret für die »innige freundschaftliche Verbin- derer, mit dem ersten verbundener Kreis von Schrift-
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 43

stellern, die wie Brod das Neustädter deutsche Gym- der Weggang Werfels aus Prag im Herbst 1912, zum
nasium besucht hatten − darunter Franz Werfel, Paul anderen der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nicht
Kornfeld, Willy Haas (1891–1973), die Brüder Franz wenige Autoren gingen an die Front, kamen (wie
(1892–1917) und Hans Janowitz (1890–1954), Nor- Franz Janowitz) gar dort um, so dass die Gruppe im-
bert Eisler, Rudolf Fuchs (1890–1942), Otto Pick mer kleiner wurde und sich zuletzt im Wesentlichen
(1882–1945) und Ernst Pollak (1886–1947). Werfel auf die vier Freunde Brod, Kafka, Baum und Weltsch
war der wichtigste Kopf der Gruppe im Arco; als er beschränkte.
Prag 1912 nach Leipzig verließ, übernahm Pollak, Mit diesen ineinander verwobenen Gruppierun-
der charismatische ›Dichter ohne Werk‹, diese Posi- gen um Brod und Werfel sind aber noch nicht alle li-
tion. Auch in diesem Kreis wirkte Brod gleicherma- terarischen Kreise Prags zu Kafkas Zeit aufgezählt.
ßen als Mentor, indem er insbesondere jenen ersten Zum einen wären auch jene Schriftsteller zu nennen,
Gedichtband lancierte, mit dem Werfel 1911 zum die zwar in Prag wirkten und mit den Prager Kol-
wichtigsten Protagonisten des entstehenden Expres- legen bekannt waren, jedoch aus Mähren stamm-
sionismus avancierte: Der Weltfreund. Mit diesem ten − etwa Max Zweig (1892–1992), Walter Seidl
sowie den nachfolgenden Gedichtbänden Wir sind (1905–1937), Hermann Grab (1903–1949), Auguste
(1913) und Einander (1915) formulierte Werfel den Hauschner (1850–1924) und Ernst Weiß (1882–1940),
expressionistischen Appell für eine kulturelle und mit dem Kafka zeitweise eine Freundschaft ver-
nationale Grenzen überschreitende Menschheitsver- band.
brüderung. Zum anderen veränderte sich nach dem Ersten
Mit dieser Gruppe verbunden war auch der von Weltkrieg und der Gründung der tschechoslowaki-
Willy Haas geleitete ›Herder-Verein in Prag‹, die Ju- schen Republik die soziale Rolle der Deutschschrei-
gendabteilung der jüdischen Loge des B’nai-Brith in benden erneut, indem sie sich nun unversehens in
Prag. Der auf Haas’ Vorschlag nach Herder, dem einem Land befanden, das Tschechisch zur Natio-
Liebhaber der ›hebräischen Poesie‹, benannte Verein nalsprache erhoben hatte und das Deutsche margi-
veranstaltete Lesungen mit Autoren wie Werfel, nalisierte. Dass etwa Kafka seine Position in der Ver-
Brod, Baum und Kafka, aber auch mit Hugo von sicherung halten und gar verbessern konnte, lag we-
Hofmannsthal. Und er präsentierte sich mit den Her- sentlich auch daran, dass er das Tschechische sehr
der-Blättern (1911/12), in denen u. a. auch Brods gut beherrschte und die amtlichen Schriften recht
und Kafkas gemeinsames Romanfragment Richard mühelos in der neuen Sprache verfassen konnte.
und Samuel erschien − dies neben Beiträgen der zeit- Dennoch restituierte sich in dieser verschärften
genössischen Prager Autoren Werfel, Brod, Baum, Randlage ein Kreis deutschschreibender Schriftstel-
Hugo Bergmann, Haas, Franz und Hans Janowitz, ler, als u. a. Haas und Pick aus dem Militärdienst zu-
aber auch (über Prag hinaus) von Albert Ehrenstein rückkehrten, sowie jüngere Kollegen dazustießen −
(1886–1950), Berthold Viertel (1885–1953), Ernst namentlich Johannes Urzidil (1896–1970), Hermann
Blass (1890–1939) und Kurt Hiller (1885–1972). Ungar (1893–1923), Ludwig Winder (1889–1946)
Die Herder-Blätter sind nicht die einzige Publika- und Franz Carl Weiskopf (1900–1950).
tion geblieben, in der sich der ›Prager Kreis‹ präsen- Neben diesen literarischen Zirkeln der Prager
tierte. Von weitreichender Bedeutung war auch das deutschen Schriftsteller zur Zeit von Kafkas Wirken
von Max Brod herausgegebene ›Jahrbuch für Dicht- sind zudem noch einige nicht primär literarische
kunst‹ Arkadia, das er gemeinsam mit Kafka im Juni Kreise zu nennen, an denen dennoch viele dieser
1912 in Leipzig dem Verleger Kurt Wolff vorgeschla- deutschen und deutsch-jüdischen Intellektuellen
gen hatte. Kurz darauf begann zudem Franz Werfel partizipierten: der philosophische Louvre-Zirkel,
als Lektor bei eben diesem Verlag, was auch zur der theosophische Kreis um Berta Fanta (1865–
Folge hatte, dass dort nicht wenige Prager Autoren 1918) sowie die zionistische Studentenvereinigung
publizierten. Brods Arkadia ist die einzige Sammel- ›Bar-Kochba‹.
publikation von Prager deutschen Autoren, in der Im Louvre-Zirkel, benannt nach dem Treffpunkt
Kafka vertreten war; hier erschien der Erstdruck von im Café Louvre, trafen sich zu Kafkas Studienzeit
Das Urteil − neben Beiträgen von Werfel, Baum, ehemalige Klassenkameraden wie Hugo Bergmann
Brod, den Brüdern Janowitz und Pick. (1883–1975) und Oskar Pollak (1883–1915). In den
Zwei entscheidende Faktoren veränderten das so- Treffen, die Kafka selbst zwischen 1903 und 1906
ziale Gefüge des ›Prager Kreises‹ deutlich: zum einen nur unregelmäßig besuchte, ging es in erster Linie
44 2. Einflüsse und Kontexte

um Franz Brentano (1838–1917), der die Prager Phi- sich auf kulturellem und literarischem Weg mitkon-
losophie zu der Zeit dominierte. Als Brentano-Apo- stituieren müsse (ä 46).
logeten galten namentlich die Philosophieprofesso-
ren Anton Marty (1847–1914) und Christian von Literaturhistorische Perspektive
Ehrenfels (1859–1932), bei denen Kafka als Student
Veranstaltungen besuchte. Der Louvre-Kreis wurde In der Terminologie der deutschen und österreichi-
von Martys Assistenten Oskar Kraus (1872–1942), schen Literaturgeschichte lässt sich die Prager deut-
Alfred Kastil (1874–1950) und Josef Eisenmeier sche Literatur zur Zeit von Kafkas schriftstelleri-
(1871–1926) dominiert. Zu ihm stießen 1903 neben schem Wirken (1907–1924) mit einiger Berechti-
Kafka auch weitere junge deutsch-jüdische Intellek- gung dem Expressionismus zuordnen. Das gilt
tuelle: Bergmann, Brod, Weltsch sowie die philoso- sowohl für den Kreis um Werfel – die Brüder Jano-
phische Autodidaktin Berta Fanta (1866–1918), bei witz, Eisler, Fuchs und Pick – als auch für den Kreis
der die Treffen teils auch stattfanden. Sie begründete um Brod mit Kafka, Baum und Weltsch.
zudem einen eigenen Salon in ihrem Haus, der die Dafür spricht zunächst die historische Lokalisie-
Interessen über die Philosophie hinaus auch in Rich- rung im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkriegs, also
tung Parapsychologie und Theosophie (Rudolf Stei- in jenem Jahrzehnt, das gemeinhin als das expressio-
ner, 1861–1925) thematisch ausweitete. Kafka, Brod, nistische bezeichnet wird. Dafür spricht im Weiteren
Weltsch, Baum und insbesondere Bergmann (der auch, dass, wie angesprochen, u. a. mit Werfels Wir
die Tochter des Hauses heiraten sollte) fanden sich sind (1913) epochemachende expressionistische Texte
auch hier ein. Der streng brentanistische Louvre- aus Prag kamen und dass Werfel auch vom Leipziger
Zirkel hingegen war weniger auf ihrer intellektuellen Kurt Wolff Verlag aus – besonders mit der Reihe Der
Wellenlänge, zumal Brod im Oktober 1905 wegen jüngste Tag (einer der wichtigsten expressionistischen
Verdachts einer Brentano-Kritik ausgeschlossen Buchreihen, in der auch Kafkas große Erzählungen
wurde. Das nahmen auch Weltsch und Kafka zum erschienen) – das intellektuelle und literarische Profil
Anlass, sich in der Folge zu absentieren. des Expressionismus wesentlich mitformte. Die Texte
Diese Gruppe fand sich dagegen nach 1910 umso dieser kleinformatigen Serie wurden von Werfel so-
mehr in dem Prager zionistischen Kreis, der zu Kaf- wie von Walter Hasenclever (1890–1940) und Kurt
kas Zeit vor allem eine Studentenbewegung war. Be- Pinthus (1886–1975) ausgewählt.
reits 1893 wurde in Prag unter dem Namen ›Ma- Für die Verbindung mit dem Expressionismus
kabäa‹ der erste jüdisch-nationale Studentenverein spricht sodann auch die inhaltliche und program-
gegründet, aus dem 1899 der Verein Bar-Kochba matische Orientierung der Prager deutschen Litera-
hervorging, die wichtigste zionistische Institution im tur zu Kafkas Zeit. Diese Literatur ist – in aller Kürze
Prag zu Kafkas Zeit. Kafkas engste Freunde spielten gefasst – gezeichnet von einer teilweise geradezu
hier die größte Rolle, allen voran sein langjähriger apokalyptischen Infragestellung des Projektes Mo-
Schulfreund Bergmann (der 1903 Präsident des Bar- derne, das konkret Phänomenen wie Großstadt, Ka-
Kochba wurde und sein führender Kopf war), Hans pitalismus, Staat, Familie und Krieg galt (die noch
Kohn (1891–1971), der Kafkas Texte rezensierte, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts meist apologe-
Friedrich Thieberger (1888–1958) (bei dem Kafka tisch verteidigt wurden). Dieser Moderne hält der
zeitweise Hebräisch lernte), sowie Siegmund Kaznel- Expressionismus – teils ausgehend von kritischen
son (1893–1959), Viktor Kellner (1887–1970) und Theorien wie Psychoanalyse, Marxismus und Zio-
Oskar Epstein (1888–1940). Diese zionistische Stu- nismus – mit idealistischer, wenn nicht utopischer
dentenbewegung war nicht bloß in politischer, son- Geste eine neue, universale Brüderlichkeit entgegen,
dern auch und vor allem in kultureller Hinsicht von eine ›Weltfreundschaft‹, um Werfels programmati-
Bedeutung; sie war wesentlich auch für die For- schen Titel aufzugreifen, jenseits der familiären, so-
mation eines Literaturbegriffs der Prager deutsch- zialen, ökonomischen und politischen Machtord-
jüdischen Schriftsteller verantwortlich. Sie folgten nungen.
darin – freilich auf sehr unterschiedliche Weise – zu Die Prager Literatur zu Kafkas Zeit, nicht zuletzt
wesentlichen Teilen Martin Bubers (1878–1965) kul- auch seine eigenen Texte, lassen sich in der Tat zu ei-
turzionistischem Programm, das dieser in drei be- nem beträchtlichen Teil, wenn auch keinesfalls aus-
rühmten Reden um 1910 in Prag vorgetragen hatte; schließlich, mit solchen expressionistischen Parame-
Buber forderte, dass eine neue jüdische Nationalität tern beschreiben. Abgesehen von Werfels Texten ist
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 45

dies etwa bei Kafka namentlich durch die Themati- um Brod und Kafka angesprochen hatte, zeigt sich
sierung von Familienkonstellationen sowie der Posi- daran, dass Brod, Weltsch, Kuh, Gross und Kafka
tion des Einzelnen in gesellschaftlichen Machtkon- nach dieser Bahnfahrt in Brods Wohnung zusam-
stellationen zu erkennen. Das zeigen insbesondere mentrafen, wobei Gross den Plan zu einer Zeitschrift
jene Texte Kafkas, die in der Reihe ›Der jüngste Tag‹ namens Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens
erschienen, so Der Heizer (1912), Die Verwandlung vorstellte, an der nicht nur Kuh und Werfel, sondern
(1915) und Das Urteil (1916) sowie, auch in Kurt auch Kafka mitarbeiten sollte; Letzterem erschien
Wolffs Reihe ›Neue Drugulin-Drucke‹, In der Straf- dieses Projekt sehr »verlockend« (An M. Brod,
kolonie (1919); in derselben Reihe erschienen übri- 14.11.1917; B14–17 364; vgl. auch Brod 1974, 140).
gens auch die im Schützengraben entstandenen Kurz darauf machte auch Anton Kuh in Prag Schlag-
Antikriegsgedichte von Franz Janowitz Auf der Erde zeilen, indem er 1919 in einer Reihe von höchst Auf-
(1919). Die Problemstellungen, die Kafka in diesen sehen erregenden Vorträgen mit dem Titel Juden
frühen Erzählungen entwickelte, lassen sich auf die und Deutsche Gross’ anarchistische Mutterrechts-
höchst unsichere Stellung von Söhnen in familiären vorstellung und Vaterrechtskritik auf das Judentum
wie ökonomisch-gesellschaftlichen Konstellationen übertrug und – gegen die zionistischen Vorstellun-
zusammenfassen: Vater-Mutter-Geschwister-Bezie- gen von Nation und Familie und mit anarchisti-
hungen, Freundschaften, Sexualität und Ehe, Berufs- schem Gestus – das Judentum als eine transnatio-
verhältnisse, gesellschaftliche Machtordnungen. Die- nale, genuin staatenlose und diasporische Gemein-
se Fragen haben auch eine historische Signatur, die schaft forderte. Für diese provozierende Position
den frühen Expressionismus wesentlich leitet (ohne zeigten Felix Weltsch und Max Brod, die sich in
damit Kafka dieser Strömung eindeutig zuordnen zu mehreren Artikeln zu Kuh äußerten, viel Verständ-
wollen). Zwei Titelvorschläge Kafkas für einen Band, nis (vgl. Kuh 2003).
der diese Erzählungen vereinen sollte, unterstrei- Fasst man die Prager Literatur zu Kafkas Zeit un-
chen dies: Die Söhne und Strafen. Dass es sich hier- ter dem Stichwort des Expressionismus, so erhellt
bei um Konstellationen aus der Perspektive von dies nicht zuletzt auch die Position dieser Schriftstel-
›Söhnen‹ handelt bzw. um Vater-Sohn-Konfliktla- ler im böhmischen Nationalitätenkonflikt. So ge-
gen, kann Kafkas erster Vorschlag Die Söhne bestäti- wannen etwa Werfels Appell »Dir, oh Mensch, ver-
gen. Mitte Oktober 1915 und noch im Sommer 1916 wandt zu sein« (An den Leser; Werfel 1953, 10) sowie
erwog Kafka sodann auch Das Urteil, Die Verwand- Gross’ und Kuhs anarchistische Aufrufe gegen Fami-
lung und In der Strafkolonie unter dem Titel Strafen lie und Staat und für eine universalistische Mensch-
in einem Band zusammenzufassen. Auch wenn diese heitsverbrüderung angesichts des nachhaltigen Na-
beiden Erzählbände nie zustande gekommen sind, tionalitätenkonflikts in Prag eine sehr konkrete Be-
wird doch in Kafkas Stichworten ›Söhne‹ und ›Stra- deutung als Überschreitung der Grenzen zwischen
fen‹ ein markanter thematischer und zugleich epo- Juden, Deutschen und Tschechen. In der Tat ver-
chaler Zusammenhang erkennbar. suchten einige der ›Arconauten‹ – im Gegensatz zu
Die zeitgeschichtliche expressionistische Signatur den früheren Generationen – eine Annäherung zwi-
eben dieser Stichworte ›Söhne‹, ›Strafen‹ bestätigt schen den Konfliktparteien auch literarisch umzu-
ein Fall, der wie kein anderer die expressionistische setzen, indem sie etwa als Vermittler und Förderer
Generation, auch in Prag, aufstörte: der Fall Otto der tschechischen Literatur auftraten und dabei ihr
Gross (1877–1920; ä 67–70). Kafka lernte den Psy- eigenes Schreiben in den Hintergrund stellten. Ver-
choanalytiker und sozialrevolutionären Denker mittler zwischen der deutschen und tschechischen
Gross im Sommer 1917 kennen, und zwar auf einer Literatur wurden etwa der sozialrevolutionäre ex-
Bahnfahrt zusammen mit dessen Schwager, dem pressionistische Lyriker Rudolf Fuchs oder der Re-
zwischen Prag und Wien lebenden Schriftsteller und dakteur der Prager Presse Otto Pick, der 1920 den
Journalisten (u. a. des Prager Tagblatts) Anton Kuh Band Tschechische Erzähler und 1922 die Sammlung
(1891–1941), der Gross’ sozialutopische Vorstellun- Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei edierte
gen auf das Judentum übertrug (Kilcher 2006). Von (mit Beiträgen von Adler, Brod, Baum, Fuchs, Egon
Nietzsche, Bachofen und Freud her argumentierend, Erwin Kisch, Leppin, Musil, Perutz, Rilke, Ungar,
weisen Gross und mit ihm Kuh die Ehe bzw. jegliche Urzidil, Ernst Weiß, Werfel, Winder).
vaterrechtliche Moral- und Machtstrukturen zurück. Dieser literaturhistorischen Verortung des Prager
Wie sehr Gross’ Vorstellung die Prager Schriftsteller Kreises im Expressionismus muss nicht widerspre-
46 2. Einflüsse und Kontexte

chen, dass sich ihr wichtigster Mentor Max Brod relevant machte: die Fundierung der politischen auf
bald davon distanzierte; dies beruhte auch auf per- eine kulturelle, vitalistische Erneuerung des Juden-
sönlichen Gründen, da Brods Kritik des Expressio- tums. Kultur und Literatur erhalten hier eine ent-
nismus hauptsächlich gegen Paul Kornfeld gerichtet scheidende Funktion. So verstand Buber den Zionis-
war (vgl. Brod 1966, 207). mus als eine kämpferisch-schöpferische Bewegung,
Der literaturhistorischen Fokussierung auf den die gegen das seiner Meinung nach unoriginelle,
Expressionismus muss auch nicht widersprechen, unkreative, bürgerlich-assimilierte Buch-Judentum
dass zwischen dem Expressionismus und der voran- des 19. Jahrhunderts ein neues, vitales, gemein-
gehenden neuromantischen Generation um Mey- schaftliches, durch das ›Blut‹ zusammengehaltenes
rink und Leppin engere programmatische wie per- Boden-und-Schwert-Judentum hielt. Die hebräische
sönliche Beziehungen bestanden und dass die Pra- Sprache sollte die Einheit auf geistiger Ebene stiften,
ger Neuromantik durch die Expressionisten intensiv und eine neue jüdische Kunst und Literatur sollte
rezipiert wurde. Ein Beispiel dafür ist die Veröffent- dies auf ästhetischem Weg umsetzen und im Dienst
lichung von Leppins Daniel Jesus als erster Roman jener neu zu bildenden jüdischen Gemeinschaft ste-
(in Fortsetzungen) in der 1910 gegründeten Zeit- hen.
schrift Sturm – bekanntlich zusammen mit der Ak- Die elektrisierende Wirkung von Bubers Reden
tion eines der wichtigsten expressionistischen Or- auf die jungen jüdischen Intellektuellen Prags wie
gane. Der Sturm-Herausgeber Herwarth Walden (i.e. Kafka war außerordentlich. Sie ist etwa in dem vom
Georg Lewin; 1874–1941) präsentierte so einen Ro- Bar-Kochba herausgegebenen, weit über Prag hinaus
man der Prager Neuromantik als Beispiel der neuen, wichtig gewordenen Sammelband Vom Judentum er-
expressionistischen Denk- und Ausdrucksweise. kennbar, der 1913 im Kurt Wolff Verlag erschien. Im
Vorwort beschwor Hans Kohn diese Wirkung mit
Ein Kapitel der deutsch-jüdischen dem Selbstbewusstsein, in Prag am Puls der Zeit zu
sein:
Literatur?
Seit Martin Buber, der seine drei Reden über das Juden-
Als drittes strukturelles Moment ist die kulturelle tum in unserem Verein gehalten hat und von dessen Ein-
Disposition des Prager Kreises zu nennen. Denn die fluß dieses Buch so vielfach Zeugnis ablegt und dessen
werktätiger Mitarbeit es sein Zustandekommen ver-
Autoren von Kafkas Generation waren nicht nur als dankt, wissen wir, daß der Zionismus, tief verwurzelt in
Vermittler zwischen den Konfliktparteien im böh- dem urjüdischen Geisteskampfe der Wollenden wider
mischen Kulturkonflikt aufgetreten. Sie taten dies die Geschehenlassenden, die sittliche Bewegung derer
zum weitaus größten Teil auch als deutsch-jüdische ist, die es mit ihrem Judentum und ihrem Menschentum
ernst nehmen (Vom Judentum 1913, VIII).
Schriftsteller. Es waren dies meist (mit Ausnahme
von Oskar Baum, der aus einer orthodoxen Familie Freilich war die Wirkung von Bubers Reden nicht in
stammte) Söhne assimilierter jüdischer Familien, die allen deutsch-jüdischen Kreisen gleich stark. Im
just in der Zeit, in der sie sich als Schriftsteller etab- Kreis um Werfel etwa spielte sie eine deutlich klei-
lierten, also um 1910, in unterschiedlichem Maße nere Rolle als im Kreis um Brod, der als der wich-
auch gegen die assimilierte Elterngeneration, zum tigste Mentor der Prager deutschen Literatur um 1910
Judentum bzw. genauer zu einem kulturell geleiteten zum Zionismus fand und einer seiner vehementesten
Zionismus fanden. Deutsch-jüdische Söhne waren Verteidiger auch weit über Prag hinaus wurde. Brod
Brod, Baum, Weltsch und Kafka ebenso wie Werfel, folgte diesem Wechsel von einem ›Indifferentismus‹,
Kuh, Haas, Kornfeld, Fuchs, Kisch und die Brüder wie er ihn in seinem Roman Schloss Nornepygge
Janowitz. (1908) vertrat, zu einer bewusst ›jüdischen Literatur‹
Dabei war das Auftreten Martin Bubers in Prag im Dienst der ›jüdischen Gemeinschaft‹ zuerst in
wegweisend. Buber traf sich zum ersten Mal 1903 dem Roman Jüdinnen (1911). Zwar unterstellten nicht
mit Vertretern des Bar-Kochba in Prag, um dann alle deutsch-jüdischen Schriftsteller ihr Schreiben
1909/10 seine berühmten drei Prager Reden über das gleichermaßen zionistischen Zielen wie Brod. Den-
Judentum zu halten (Jan. 1909, Apr. u. Dez. 1910). noch war die Frage der jüdischen Gemeinschaft –
Sie waren aufstörende Ereignisse für die deutsch-jü- auch vor dem Horizont des böhmischen Kulturkon-
dischen Söhne assimilierter Familien. Mit ihnen ge- flikts – unvermeidlich, und zwar auch für diejenigen,
wann die junge zionistische Jugendbewegung eine die darauf nicht oder nur verhalten die Antwort des
Richtung, die sie wesentlich auch für die Literatur Zionismus gaben (wie etwa Kafka).
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 47

Zudem wurde schon von den Zeitgenossen auch fer formuliert: als antibürgerliche, revolutionäre Ab-
ein geradezu programmatischer Zusammenhang sage an das verfehlte Programm der deutsch-jüdi-
von Expressionismus und Zionismus hergestellt. Ein schen Symbiose, wie es Tramer formulierte:
solcher Zusammenhang bedeutet eine gewisse Inter- Im Grunde waren sie [die jungen jüdischen Autoren um
pretationsleistung und mag gar als bestreitbar er- 1910] in der gleichen Lage [wie die Expressionisten]: das
scheinen. Dennoch kann er auf die Verknüpfung Vater-Sohn-Problem bestand auch für sie und vielleicht
von literarischen mit kulturellen, sozialen und poli- sogar in einer doppelten und dreifachen Hinsicht. Auch
ihre Väter gehörten zu den satten Bürgern, zugleich aber
tischen Fragen hinweisen, ohne die die Prager deut-
waren sie Vertreter einer völlig entseelten, assimilato-
sche Literatur nicht angemessen verständlich wird. risch-verwässerten Religionsidee oder Anhänger einer
So sah beispielsweise Brod nicht nur in Buber einen starren Gesetzesreligion, die in vielen Fällen den Kon-
expressionistischen Zionisten, der im Zionismus flikt nur verschärfte. Daß die Umgestaltung der gesell-
eine neue Gemeinschaft und eine neue Menschheit, schaftlichen und politischen Verhältnisse auch ein Fort-
schritt für das jüdische Schicksal darstellen müßte, da-
ein neues Judentum forderte. Auch in einem so un- von waren sie überzeugt. Es liegt auf derselben Linie,
konventionellen Zeitgenossen wie Anton Kuh sah er wenn einige der jüdischen Expressionisten jener Jahre
einen jüdischen Expressionisten, der aus einer Kritik (Max Brod, Ludwig Strauss, Arnold Zweig) aus den glei-
der bürgerlich-assimilierten Elterngeneration zu ei- chen Gründen der Opposition gegen Vaterhaus, Gesell-
schaft und politische Engstirnigkeit die zionistische
nem ebenso kontroversen wie aufstörenden anar-
Konsequenz zogen (Tramer 1958, 34 f.).
chistischen Judentum fand. Der Zionismus erscheine
bei Kuh als revolutionäre, expressionistische Bewe- Demnach dokumentiert die expressionistische Ge-
gung (Brod 1921). neration, namentlich diejenige Prags, nach Tramer
Die These vom Zusammenhang zwischen Zionis- beides: Untergang und Übergang – Untergang des
mus und Expressionismus formulierte 1958 auch der deutschen Judentums und Übergang zu einem na-
Historiker der ›Dreivölkerstadt Prag‹ Hans Tramer tionaljüdischen Judentum außerhalb von Deutsch-
in einem bedeutenden Aufsatz über den Expressio- land. Sie repräsentiert die letzte Blüte und zugleich
nismus, mit dem Untertitel Bemerkungen zum Anteil das nahe Ende des kulturellen Miteinanders von Ju-
der Juden an einer Kunstepoche. Tramer sah im Ex- den und Deutschen.
pressionismus eine literarische und künstlerische Be-
wegung, die wie kaum eine andere maßgeblich von
Juden getragen war. Für dieses Phänomen gab er Forschung
auch eine strukturelle, ›morphologische‹ Begrün-
dung: das Muster des Vater-Sohn-Konflikts. In die- Die Anfänge der Forschung zur Prager deutschen
sem für den Expressionismus grundlegenden sozio- Literatur liegen bei ihren Vertretern. Es sind dies
kulturellen Dispositiv befanden sich nach Tramer die Darstellungen mit einer Innensicht, d. h. aus der Per-
jüdischen Intellektuellen einer jüngeren Moderne spektive intimer Kenntnis, die gleichermaßen histo-
seit ca. 1910. Ihre Väter waren noch geleitet vom risch wertvoll wie subjektiv ist. Die Anthologien
optimistischen, bürgerlichen Liberalismus und for- etwa von Otto Pick und Oskar Wiener in den 1920er
derten deshalb eine kompromisslose Assimilation, Jahren hatten bereits einen rückblickenden, zusam-
während sie das Beharren auf das Judentum nicht menfassenden, interpretierenden Charakter.
nur als vormodernen Rückschritt, sondern auch als Die wichtigste Arbeit in der Hinsicht ist jedoch
eine den Antisemitismus heraufbeschwörende Ge- Max Brods Monographie Der Prager Kreis (1966).
fahr sahen. Ihre Söhne aber – die expressionistische Indem er den älteren Begriff der ›Prager Schule‹ zu-
Jugend (wie Brod, Kafka, Werfel, Kuh etc.) – stellten rückwies, legte er unter dem Begriff des ›Kreises‹
sich nach Tramer gegen diese Generation assimilier- eine Geschichte der Prager deutschen Literatur der
ter, deutschtreuer Väter. Sie provozierten mit einem Moderne vor, deren subjektive Perspektive, wie an-
neuen jüdischen Selbstbewusstsein, das sich politisch gesprochen, auf den ›engeren Kreis‹ fokussiert blieb.
entweder in einem revolutionären Diaspora-Kosmo- Brod war jedoch nicht der einzige Prager Chronist
politismus, oder aber – und hierauf legt Tramer den der Prager deutschen Literatur. Das gilt namentlich
Akzent – in einem ebenso revolutionär gedachten auch für Egon Erwin Kisch (1952), Gustav Janouch
Zionismus wiedererkannte. Der Expressionismus er- (1965), Johannes Urzidil (1965), Felix Weltsch
scheint hier als jungjüdische Morgendämmerung (1956), Hans G. Adler (1976) und Willy Haas (1960),
nach den Verirrungen der Assimilation, oder schär- um nur einige Beispiele zu nennen.
48 2. Einflüsse und Kontexte

Eine Nähe zum Gegenstand hatten sodann auch hoff/Schardt, 1992), andererseits literaturgeschicht-
die ersten Arbeiten von Literaturhistorikern, die liche Darstellungen wie der Ausstellungsband des
nicht unmittelbar zum Kreis gehörten. Das gilt etwa Literaturhauses Berlin: Prager deutsche Literatur vom
für Hans Tramers Pionierarbeit Die Dreivölkerstadt Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung (Wich-
Prag (1961), auf die sich selbst Brod stützte. Tramer ner/Wiesner 1995), der auch Bildmaterial enthält,
war in seiner Studienzeit in den 1930er Jahren in oder die Arbeiten von Kurt Krolop (zusammenge-
Prag, bevor er 1933 nach Palästina auswanderte. Die fasst in: Krolop, 2005) sowie der Sammelband von
Nähe zum Ort hatte sodann auch die historisch K.-H. Ehlers (2000).
wichtige ›Konferenz über die Prager deutsche Litera-
tur‹ im November 1965 auf dem Schloss Liblice un- Texte und Materialien zur Prager deutschsprachigen/jü-
ter der Leitung des Prager Germanisten Eduard dischen Literatur: Sammlungen: Das jüdische Prag. Eine
Goldstücker, aus der der Band Weltfreunde (1967) Sammelschrift. Hg. v. der Redaktion der Zeitschrift
hervorgegangen ist. Selbstwehr. Prag 1917; Neudruck, hg. v. Robert Weltsch.
Schon in dieser frühen Phase der Forschung zur Kronberg 1978. − Siegfried Kapper: Prager Ghetto-
Prager deutschen Literatur in den 1960er Jahren wird sagen. Prag 1876. – Paul Nettl (Hg.): Alt-Prager Alma-
deutlich, dass Franz Kafka eine leitende Perspektive nach. Prag 1926 u. 1927. − Wolf Pascheles (Hg.): Sip-
bildet. Diese Tendenz verstärkte sich in der Folge. purim. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzäh-
lungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und
Das gilt etwa für Ruediger Engerths Sammelband Im
Biographien berühmter Juden aller Jahrhunderte, be-
Schatten des Hradschin (1965), Christoph Stölzls Es-
sonders des Mittelalters. Prag 1854–70; Repr. Hildes-
say Kafkas böses Böhmen (1975), namentlich aber für
heim 1976. − Otto Pick (Hg.): Tschechische Erzähler.
die biographisch angelegten Arbeiten von Hartmut
Potsdam 1920. – Ders. (Hg.): Deutsche Erzähler aus der
Binder (1988, 1991, 1993). Unter den zahlreichen Tschechoslowakei. Ein Sammelbuch. Reichenberg
Arbeiten, die Kafka in den Prager Kontext stellen, 1922. − Dieter Sudhoff/Michael Schardt (Hg.): Prager
sind auch die beiden Sammelbände Kafka und Prag deutsche Erzählungen. Stuttgart 1992. − Heinrich Tewe-
(Krolop/Zimmermann 1994) und Prager deutsch- les (Hg.): Prager Dichterbuch. Prag 1894. − Vom Juden-
sprachige Literatur zur Zeit Kafkas (1991) zu nennen. tum. Ein Sammelbuch. Hg. v. Verein jüdischer Hoch-
Ausführliches Bildmaterial auch zu Prag bietet so- schüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 1913. − Oskar Wie-
dann die neueste Ausgabe von Wagenbachs Franz ner/Johann Pilz (Hg.): Der Heimat zum Gruss. Ein
Kafka. Bilder aus seinem Leben (2008) Almanach deutscher Dichtung und Kunst aus Böhmen.
Eine zweite Perspektive auf die Prager deutsche Berlin 1914. − Oskar Wiener (Hg.): Deutsche Dichter
Literatur bildete die des jüdischen Prag und damit aus Prag. Wien, Leipzig 1919. −− Einzelpublikationen:
das Verständnis der Prager deutschen Literatur als Friedrich Adler: Der deutsche Jude. In: Julius Moses
ein Kapitel der deutsch-jüdischen Literatur. Vor- (Hg.): Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage. Ber-
schub auf diese Perspektive leisten schon die ge- lin, Leipzig 1907, 93–97. − Ders.: Der goldene Kragen.
nannten Arbeiten von Brod (1966), Weltsch (1956) Prag 1907. − Max Brod: Der Nietzsche-Liberale. Bemer-
und Urzidil (1967). Nach Otto Muneles’ Bibliogra- kungen zu einem Buch von Anton Kuh Juden und Deut-
phical Survey of Jewish Prague (1952), der allerdings sche. In: Selbstwehr 15 (1921) 13, 1 f. u. 14, 1–3. – Ders.:
vor der Moderne ansetzt und auch die hebräische Der Prager Kreis. Stuttgart 1966. – Ders.: Über F.K.
Frankfurt/M., Hamburg 1974 [1966]. – Martin Buber:
und jiddische Literatur verzeichnet, setzten nament-
Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/M. 1911. –
lich die Arbeiten von Hans Tramer (1958, 1961) und
Rudolf Fuchs: K. und die Prager literarischen Kreise. In:
sodann von Margarita Pazi diesen Akzent (1978,
Hans-Gerd Koch (Hg.): »Als K. mir entgegenkam…«.
2001). Vor allem auf die Frage der Kultur- und Erinnerungen an F.K. Berlin 2005 [1995], 108–111. –
Sprachpolitik in Prag und Böhmen ausgerichtet sind Willy Haas: Die literarische Welt. Lebenserinnerungen.
sodann die Sammelbände von Nekula/Kaschmal München 1960, wieder: Frankfurt/M. 1983. – Gustav Ja-
(2006) und Nekula/Fleischmann/Greule (2007, da- nouch: F.K. und seine Welt. Eine Bildbiographie. Wien
rin speziell Kilcher 2007). 1965. – Ders.: Gespräche mit K. Aufzeichnungen und Er-
Unter den neueren, literaturbezogenen For- innerungen. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M. 1968. –
schungsarbeiten ist die Bibliographie von Born/Kry- Egon Erwin Kisch: Prager Pitaval. Berlin [Ost] 1952. −
walski (1991) zu nennen. An der Seite dieser Grund- Alfred Klaar: Das deutsche Prag. In: Hermann Bach-
lagenforschung liegen einerseits Anthologien wie mann (Hg.): Deutsche Arbeit in Böhmen. Berlin 1900,
der Reclam-Band Prager deutsche Erzählungen (Sud- 447–466. − Anton Kuh: Juden und Deutsche. Ein Re-
Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit 49

sumé. Berlin 1921; Neuausgabe hg. v. Andreas B. Kil- Winder). Oldenburg 2002. – Eduard Goldstücker (Hg.):
cher. Wien 2003. – Ulrike Lehner: Anton Kuh (1890– Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Litera-
1941). In: John M. Spalek u. a. (Hg.): Deutschsprachige tur. Prag 1967. – Peter Hilsch: Böhmen in der österrei-
Exilliteratur seit 1933. Bd. 4: Bibliographien, Schriftstel- chisch-ungarischen Monarchie und den Anfängen der
ler, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den tschechoslowakischen Republik. In: KHb (1979) I, 3–39.
USA. Bern, München 1994, 1019–1049. – Fritz Mauth- − Christian Jäger: Minoritäre Literatur. Das Konzept der
ner: Erinnerungen I: Prager Jugendjahre. München kleinen Literatur am Beispiel prager- und sudetendeut-
1918; wieder Frankfurt/M. 1969. – Hugo Salus: Ernte. scher Werke. Wiesbaden 2005. − Helena Kanyar-Becker:
München 1903. – Ders.: Die Beschau. Eine Ghettoge- Eine verhängnisvolle Liebe. Zur Pragerdeutschen Litera-
schichte. Wien 1920. – Heinrich Teweles: Goethe und tur. In: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.): Literatur
die Juden. Hamburg 1925. – Johannes Urzidil: Der le- der Grenze − Theorie der Grenze. Würzburg 1997, 67–
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geren Prager Kreises (Max Brod, Oskar Baum, Ludwig Andreas B. Kilcher
50 2. Einflüsse und Kontexte

2.3 Judentum/ Biographisches


Zionismus Assimilation und Zionismus
Franz Kafka wuchs in einer bürgerlichen Familie
Prags um 1900 auf. Wie in den meisten Familien die-
Franz Kafka war Schriftsteller in Zeiten ›weltan- ser Jahre meinte Verbürgerlichung auch in seiner:
schaulicher‹ Kontroversen um Judentum, Zionismus den Weg vom Land in die Stadt, Herauslösung aus
und die jiddischsprachige Welt des Ostjudentums. ständisch geprägten Lebensformen in urbane Ange-
Es ist dieser Kontext, der die Interpretation von stelltenverhältnisse und Loslösung aus tradierten
Werk und Biographie wesentlich mitbestimmt – und Mustern der Religion und Frömmigkeit.
das von Anfang an: Welches biographische Selbst- Kafkas Großvater Jakob Kafka (1814–1899) war
verständnis Kafka anleitet, wie sein Selbstbild als noch Schächter in der jüdischen Gemeinde aus dem
Autor im Feld konkurrierender Autorschaftskon- südböhmischen Wossek gewesen. Sein Vater Her-
zepte zu verstehen ist, welcher Auffassung vom mann Kafka konnte durch die Aussteuer seiner
Schreiben er folgt, welche Wirkung er der Literatur Braut Julie Löwy 1882 ein Galanteriewarengeschäft
zuschreibt und welche seine Leser ihrerseits zu er- im bürgerlichen Prag eröffnen, das sie beide mehr
warten haben, wird immer auch in diesem Zusam- als drei Jahrzehnte erfolgreich betreiben sollten. Wie
menhang gesehen. Als interpretationsrelevant wird in den meisten bürgerlichen Familien der Zeit wa-
dieser Kontext im Lauf der Lesegeschichte aber mit ren Kafkas Eltern die religiösen Traditionen ihrer ei-
unterschiedlicher Intensität herangezogen und kon- genen Elterngeneration kaum noch gegenwärtig.
kurriert mit anderen Kontexten seiner Werkbiogra- Der Vater hatte zwar noch neben dem Wenigen, was
phie. Kafka gilt daher nicht durchgängig als ein ›jü- er als früh arbeitendes Kind überhaupt lernen
discher‹ Autor, sein Werk gilt mal mehr, mal weniger durfte, etwas das Lesen des hebräischen Gebet-
als ›jüdisch‹. Biographie, Werk und Forschungs- wie buchs für die Teilnahme am Gottesdienst in der Sy-
Lesegeschichte lassen deutliche Unterschiede in nagoge beigebracht bekommen, wusste neben der
Hinsicht darauf erkennen, welche jüdischen The- Umgangssprache, dem Tschechischen, und der
men aufgegriffen werden, wie explizit das getan wird Schulsprache, dem Deutschen, auch das Jiddische
und welche Funktionen mit dieser Kontextualisie- noch etwas, hatte außerdem seine aus bürgerlicher
rung jeweils verbunden sind. Familie stammende Frau über einen traditionellen
Um hier Übersicht zu gewinnen, sind Unterschei- Heiratsvermittler kennengelernt (Alt, 68–73). Auch
dungen nützlich: Welche Themen, die im weitesten hielt man in der Familie Kafka an Festtagen wie Pes-
Sinne als jüdisch gelten können, werden in Kafkas sach, Jom Kippur und Neujahr die Koschervor-
Werkbiographie explizit wie implizit aufgegriffen? schriften ein. Aber in der Summe war die jüdische
Das umfasst Motive, Begriffe, Themen, aber auch Tradition beiden Eltern kaum von Bedeutung, so
Schreib- und Erzählweisen. Wie manifest ist dieses dass der Sohn mit den religiösen Vorstellungen des
Judentum in seiner Werkbiographie? Gemeint ist Judentums unvertraut aufwuchs und auch die Le-
damit die für eine Interpretation wesentliche Ein- benswelt der in den zaristischen Ansiedlungsrayons
schätzung, wie konturiert ein Wissen in einem Text lebenden Ghettojuden selbst nicht kannte. Auf die-
sein muss, um als Ko- und Kontext genutzt werden ses ›Fehlen‹ des Judentums wird Franz Kafka in sei-
zu können (Jannidis 2003). Und welche Funktionen nen autobiographischen Texten und in seinen Brie-
haben diese Themen, Kontexte und Schreibweisen fen immer wieder zu sprechen kommen. Als Mangel
für das Verständnis der Werkbiographie Kafkas? Mit ist es das Thema vieler seiner nicht öffentlichen Auf-
solchen Unterscheidungen sieht man sehr schnell, zeichnungen.
dass Judentum, Zionismus und das jiddischspra- Das Judentum war Kafka daher nicht als selbstver-
chige Ostjudentum unterschiedlich manifest und ständlich überlieferte religiöse Tradition gegenwär-
mit variierenden Funktionen für die Erschließung tig. Gegenwärtig war es für ihn dagegen in den ge-
der Werkbiographie Kafkas auszumachen sind. sellschaftlichen Ausgrenzungen und in der weltan-
schaulichen Radikalisierung des Nationalismus und
Antisemitismus in Prag wie in den aufkommenden
zionistischen und neureligiösen Bewegungen um die
Jahrhundertwende.
Judentum/Zionismus 51

Zum Thema wird das Judentum in Kafkas Werk- träge durch Felix Theilhaber, Adolf Böhm, Berthold
biographie zunächst in der Zeit am Altstädter Gym- Feiwel, Morris Rosenfeld und Davis Trietsch hatte
nasium. Hier, in der privilegierten, hochgebildeten Kafka besucht und die Reaktionen darauf in der Pra-
Umgebung, traf Franz Kafka auf Mitschüler wie ger Presse aufmerksam verfolgt, wie seine Aufzeich-
Hugo Bergmann (1883–1975), den späteren Grün- nungen wiederholt belegen; besonders haben ihn die
der der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusa- dort diskutierten politischen Ideen bis hin zu einer
lem und Gründungsrektor der Hebräischen Univer- zionistischen Familienpolitik beschäftigt (Voigts
sität. Bergmann vermittelte Kafka eine überzeu- 2007; Wagner 1998).
gende, erste Vorstellung vom Zionismus, der für
diesen zu einem lebenslangen Thema werden sollte Das jiddische Theater
(Gelber 2008, 294 f.). In seinen späteren Tagebü-
chern erinnert sich Kafka an die Diskussionen mit Der Zionismus ist der eine biographisch greifbare
dem gläubigen Hugo Bergmann, als sie in einer »ent- Kontext, andere, damit keineswegs deckungsgleiche,
weder innerlich vorgefundenen oder […] nachge- sind das jiddische Theater und die jiddische Sprache.
ahmten talmudischen Weise« über letzte Fragen wie Wiederum war es Brod, der Kafkas Interesse auf das
den Gottesbeweis oder die Schöpfung disputiert hat- jiddische Theater und damit auch auf die jiddische
ten (T 333). Das sind freilich stilisierte Rückerinne- Sprache gelenkt hatte – zunächst einfach dadurch,
rungen, die kaum erkennen lassen, wie gängig sol- dass beide bei ihren nächtlichen Streifzügen durch
che Debatten unter Gymnasiasten damals waren. die Vergnügungscafés 1910 zum ersten Mal auf eine
Andere Freundschaften, wie etwa die zu Oskar jiddische Gastspielgruppe getroffen waren (Lauer,
Pollak, brachten deutschnationale und Nietzschea- 125 f.). Ein halbes Jahr, zwischen Herbst 1911 und
nistische Themen auf, die ebenso leidenschaftlich Frühjahr 1912, war Kafka dann, wie seine Briefe und
und altklug diskutiert wurden wie dann auch sozia- Tagebücher belegen, intensiv mit dem »Jargonthea-
listische oder lebensreformerische Ideen. Auch die ter« (An F. Bauer, 3.11.1912; B00–12 210) beschäf-
Erinnerung Bergmanns, Kafka habe als Gymnasiast tigt. Mehr als 30 Aufführungen dürfte er besucht ha-
die ernsthafte Absicht geäußert, Schriftsteller wer- ben.
den zu wollen (Koch, 18), verläuft noch in den Bah- Das Interesse Kafkas war mehrfach motiviert.
nen des damals unter Gymnasiasten Üblichen. Zum einen trug er einer der verheirateten Schau-
Erst die Freundschaft mit Max Brod, beginnend spielerinnen seine Liebe an, zum anderen sah er in
am 23. Oktober 1902, hat die Auseinandersetzung dem Schauspieler Jizchak Löwy sein anderes Selbst,
mit jüdischen Themen und ästhetische Debatten zu- hatte dieser doch auch mit der Welt der Väter gebro-
sammengeführt (vgl. Shahar/Ben-Horin). Durch chen, um sich einer Kunst zu verschreiben, die keine
Brod lernte Kafka weitere Autoren wie Felix Weltsch, größere Anerkennung des Publikums fand (Stach
Oskar Baum, Franz Werfel und Paul Kornfeld ken- 2002, 59–65). Und drittens schien dieses wilde Thea-
nen, die ihre künstlerischen und intellektuellen Inte- ter in der Sprache des ›Jargons‹ alles Unbürgerliche
ressen mit dem Zionismus verbunden hatten. Durch zu vereinen, das zugleich mit der verlorenen jüdi-
Brod war Kafka auch auf die Vorträge des jüdischen schen Tradition eins zu sein schien. Auch wenn tat-
Vereins ›Bar-Kochba‹ aufmerksam geworden. Hier sächlich das jiddische Theater eine bürgerliche Er-
hatte er sehr wahrscheinlich 1910 auch zwei Vor- findung des 19. Jahrhunderts ist, das gerade gegen
träge Martin Bubers gehört (An F. Bauer, 16.1.1913; die Orthodoxie entstanden war, so glaubte Kafka,
B13–14 42), der auf Einladung Hugo Bergmanns hier jenes Judentum wiederzufinden, das ihm seine
gekommen war. Bubers Prager Vorträge, die 1911 Eltern nicht gegeben hatten. Die Jiddischisten wie
unter dem Titel Drei Reden über das Judentum er- Nathan Birnbaum (1864–1937), die das Jiddische als
scheinen sollten, verleihen den kulturzionistischen die Sprache der jüdischen Erneuerung propagierten,
Überzeugungen der Prager intellektuellen Zirkel lieferten Kafka dafür die kulturphilosophischen Be-
wortmächtigen Ausdruck, wenn sie das Ostjuden- gründungen. Eine seiner wenigen öffentlichen Re-
tum, den Chassidismus und das ›einfache‹ Leben auf den ist dann auch dem Jiddischen gewidmet (NSF I,
dem Lande dem Westjudentum, der Assimilation 188–193; ä 53).
und Großstadt entgegensetzen (ä 46 f.). Auch diese
thematische Konstellation kehrt in den Tagebüchern
und Briefen Kafkas wieder. Weitere zionistische Vor-
52 2. Einflüsse und Kontexte

Hebräischstudium Lektüren
Schließlich hatte Kafka im Spätherbst 1914 begon- Kafka las die verschiedensten und heterogensten Ju-
nen, bei dem fünf Jahre jüngeren Friedrich Thieber- daica, um sich eine Vorstellung vom Judentum zu
ger (1888–1958) Hebräischunterricht zu nehmen. verschaffen (vgl. Kilcher). Es handelt sich dabei um
Auch Thieberger war Mitglied des kulturzionisti- Bücher wie Heinrich Graetz’ Volkstümliche Ge-
schen ›Bar-Kochba‹-Kreises. 1915 lernte Kafka Ge- schichte der Juden, die Kafka 1911 »gierig und glück-
org Mordechaj Langer (1894–1943) kennen, der lich« gelesen haben will (T 215), Simon Dubnows
1913 im Bruch mit seiner Familie zum Chassidismus Neueste Geschichte des jüdischen Volkes oder auch
übergetreten war und als orthodoxer Ostjude Kafka Meyer Isser Pinès’ französische Histoire de la littéra-
mit den Grundbegriffen der chassidischen Gebräu- ture Judéo-Allemande (1911), die er »mit solcher
che und der talmudisch geprägten Lebenswelt des Gründlichkeit, Eile und Freude« studiert haben soll
orthodoxen Judentums vertraut gemacht hat. Durch wie sonst nur selten ähnliche Bücher (T 360). Den
Langer angeregt, hörte Kafka im Juni 1915 einen Talmud dürfte er in einer Übersetzung von Moses
Vortrag über die Mischna (die religionsgesetzliche Ephraim Pinner vorliegen gehabt haben. Die Lektüre
Sammlung, die im Zentrum des Talmuds steht) in von Jakob Fromers hoch umstrittener, weil radikal
der Altneusynagoge in Prag (T 774). Im September talmudkritischer Darstellung Der Organismus des
1915 besucht er zusammen mit Brod und Langer Judentums von 1909 ist ebenfalls bezeugt (ebd.).
den Hof des als Flüchtling nach Prag gelangten Gro- Literaturkritische Darstellungen wie Gustav Kro-
deker Wunderrabbis (Stach 2008, 122–124). Wie an- jankers Sammelband Juden in der deutschen Litera-
dere in seinem Kreis hatte sich auch Kafka das Heb- tur von 1922 oder auch die jüdische Themen auf-
räisch-Lehrbuch von Moses Rath gekauft und die greifende Literatur von Jakob Wassermann oder Ar-
Lektionen durchgearbeitet, war es doch Programm nold Zweig zählten zu Kafkas Lesestoffen. Brods
des Kulturzionismus, Hebräisch als Vorbereitung für erfolgreiche Romane Jüdinnen (1911) und Arnold
die Auswanderung nach Palästina zu lernen (ein Ge- Beer (1912) und seine kulturzionistischen Essays
genprogramm zu dem der Jiddischisten, ohne dass hatte Kafka ebenfalls gelesen. Die zionistische Lite-
diese Gegensätze für Kafka wesentlich geworden wä- ratur, angefangen bei Moses Hess’ Rom und Jerusa-
ren). lem und Theodor Herzls Altneuland, auch dessen
Kafka hat das Hebräisch-Lernen bis fast zu seinem Tagebücher, Hugo Bergmanns geschichtsphilosophi-
Tode weiterbetrieben, besonders intensiv im Som- sche Abhandlung Jawne und Jerusalem (1919), Sa-
mer 1923, als er ernsthaft Pläne einer Auswanderung muel Lublinskis Die Entstehung des Judentums
verfolgte. Noch als schwer Erkrankter hat er zusam- (1903), Richard Lichtheims Das Programm des Zio-
men mit seiner letzten Lebensgefährtin Dora Dia- nismus (1913), Adolf Böhms Darstellung Die zionis-
mant an der Berliner Hochschule für die Wissen- tische Bewegung (1920/21), oder Publikationen des
schaft des Judentums Hebräisch- und Talmudkurse Bar-Kochba-Kreises Vom Judentum (1913) werden
belegt, ohne jedoch in der hebräischen Sprache oder neben der Lektüre von Hans Blühers antisemitischer
in der Kenntnis der orthodoxen Welt über Anfangs- Schrift Secessio Judaica (1922) von ihm verzeichnet.
gründe hinausgekommen zu sein. Schließlich finden sich in Kafkas Bibliothek noch
An Kafkas nachhaltigem, zugleich sprunghaftem eine ganze Reihe Bücher der um die Jahrhundert-
Interesse an Judentum, Zionismus und der jiddi- wende aufblühenden jüdischen Volkskunde. Deren
schen Welt des Ostjudentums kann kein Zweifel be- Sammlungen von Erzählungen und Wunderge-
stehen. Als Thema kehrt es in seinen Briefen und schichten wie die von Micha Josef Bin Gorion, Mar-
unveröffentlichten Aufzeichnungen beständig wie- tin Buber, Alexander Eliasberg, Wolf Pascheles oder
der. Noch sein letzter Versuch, gegen den Willen Jizchak Leib Perez, dazu auch Abhandlungen wie
Dora Diamants bei deren orthodoxen Vater um ihre Fritz Mordechai Kaufmanns Essais über ostjüdische
Hand anzuhalten und sich damit die sichere Ableh- Dichtung und Kultur, stehen in Kafkas Regalen. Seit
nung einzuhandeln (Sokel, 854), zeugen von der Fas- 1911 hat Kafka die zionistische Zeitschrift Selbstwehr
zination Kafkas für ein Judentum, das für ihn gerade gelesen, sie seit 1917 sogar abonniert (Binder
keine Selbstverständlichkeit besaß. 1967a).
Schon diese keineswegs vollständige Auflistung
nur der Judaica zeigt, was auch die biographischen
Judentum/Zionismus 53

Daten belegt haben: Der Kontext von Judentum, Zi- tet sei dieser ›Jargon‹, zusammengehalten von den
onismus und ostjüdischer Welt ist nicht homogen, ihn umgebenden Sprachen, verwandt mit keiner
sondern in sich widersprüchlich. Die Schriften der Sprache so sehr wie mit der deutschen und doch
Zionisten, die für das Hebräisch-Lernen eintraten, wechselseitig nicht in sie zu übersetzen. Kafka ent-
und die der Jiddischisten, die im Jiddischen die wirft in seiner Rede eine romantische Vorstellung
wahre Sprache der Juden sahen, stehen in diametra- vom Jiddischen, das geradezu magische Kräfte ver-
lem Gegensatz zueinander. Die Verklärung des or- leihe, die den Zuhörer aus den bürgerlichen Sekuri-
thodoxen Schtetls hat ihr Widerlager in den zionis- täten freisetze:
tisch-sozialistischen Kolonieplänen. Das Lob des Wenn Sie aber einmal Jargon ergriffen hat – und Jargon
Ostjudentums ist nur das Ergebnis einer kultivierten ist alles, Wort, chassidische Melodie und das Wesen die-
und assimilierten Lebensweise und ihrer lebensre- ses ostjüdischen Schauspielers selbst, − dann werden Sie
formerischen Sehnsüchte. Ein gemeinsamer Nenner Ihre frühere Ruhe nicht mehr wiedererkennen. Dann
werden Sie die wahre Einheit des Jargon zu spüren be-
für diese widersprüchlichen Kontexte für Kafkas
kommen, so stark, daß Sie sich fürchten werden, aber
Werk kann über einen sehr allgemeinen Begriff von nicht mehr vor dem Jargon, sondern vor sich (193).
›jüdisch‹ und ›Judentum‹ hinaus nicht angegeben
werden. Auch der Prager Kulturzionismus ist mit Diese Rede ist das einzige öffentliche Bekenntnis
seiner Integration heterogener Traditionen nicht Kafkas zu einem jüdischen Thema, ohne dass ein für
ausreichend, um diese Unterschiede zu integrieren, die Zeitgenossen erkennbarer Werkanspruch für
so dass es den einen ›jüdischen‹ Kontext für das Ver- diese Rede erhoben worden wäre.
ständnis von Kafkas Werkbiographie nicht gibt. Im Unterschied zum veröffentlichten Werk sind
Kafkas Tagebücher, Briefe und autobiographische
oder scheinbar autobiographische Zeugnisse be-
Jüdische Stoffe, Motive drängend übervoll von Ausführungen über das Ju-
und Themen dentum und den behaupteten Typus ›Jude‹, den Zio-
nismus und den Chassidismus − auch über ihre Op-
Der Befund, dass Judentum, Zionismus und Jiddi- ponenten, die Antisemiten oder die Christen. Kafka
sches einen biographisch erst mühsam angeeigneten dokumentiert und stilisiert hier seine Begegnungen
und in sich heterogen Hintergrund für Kafkas Werk und Leseerfahrungen, diskutiert die poetischen
bilden, wird auch durch die Suche nach jüdischen (Un-)Möglichkeiten, in deutscher Sprache schreiben
Stoffen, Motiven und Themen im Werk nicht verän- zu müssen, führt wiederholt Religion und Sexualität
dert. eng und stellt seine eigenen Lebensentwürfe immer
Zunächst fällt deren fast vollständiges Fehlen in wieder zur Disposition. Dabei kehren typisierte
Kafkas zu Lebzeiten veröffentlichten Texten auf. We- Gegenüberstellungen aus den zionistischen und
der im Roman-Fragment Der Heizer, das 1913 als jiddischistischen Debatten wieder: hier das glau-
selbständige Erzählung bei Kurt Wolff erschienen benssichere Ostjudentum, dort das von Selbstzweifel
war, noch in den ab 1908 erscheinenden Erzählun- geplagte Westjudentum, hier Stereotypen über vor-
gen oder in den späten, 1924 publizierten Erzählun- geblich jüdisches Verhalten, dort Bilder von der kal-
gen wie Ein Hungerkünstler oder Josefine, die Sänge- ten, christlichen Mehrheit, hier Traditionsgewiss-
rin finden sich Motive oder auch nur Vokabeln, die heit, dort der Verlust jeder Gemeinschaft.
einem jüdischen Kontext sicher zuzuordnen wären. In seinem <Brief an den Vater > hat Kafka diese
Und auch die Prosa aus dem Nachlass kennt keine Typisierungen im Umgang mit dem Judentum auf-
eindeutig identifizierbaren Stoffe oder Motive. gerufen und damit zugleich für seine Werkbiogra-
Öffentlich geworden sind solche Ausführungen phie reklamiert, wenn dieser Brief denn als Teil sei-
nur an einer Stelle, in Kafkas kleiner <Rede über die nes Werkes aufzufassen ist:
jiddische Sprache>, gehalten im Festsaal des Jüdi- Du hattest aus der kleinen ghettoartigen Dorfgemeinde
schen Rathauses in Prag am 18. Februar 1912 (NSF I, wirklich noch etwas Judentum mitgebracht, es war nicht
188–193; ä 140 f.). Anlass war eine Lesung seines viel und verlor sich noch ein wenig in der Stadt und
Freundes Jizchak Löwy. In seiner einleitenden Rede beim Militär, immerhin reichten noch die Eindrücke
und Erinnerungen der Jugend knapp zu einer Art jüdi-
entwirft Kafka ein Bild des Jiddischen als einer ›un- schen Lebens aus, […] aber zum Weiter-überliefert-wer-
verregelten‹ Sprache: einem »verwirrten Jargon« den war es gegenüber dem Kind zu wenig, es vertropfte
(188), der nur aus Fremdwörtern bestehe. Missach- zur Gänze während Du es weitergabst (NSF II, 188 f.).
54 2. Einflüsse und Kontexte

Solche und verwandte Stellen finden sich in den Schakale und Araber und Ein Bericht für eine Aka-
nicht veröffentlichten Schriften Kafkas so vielfach, demie, beide 1917 in Bubers Monatsschrift Der Jude
dass sie geradezu ein Muster seiner Selbstdeutung erschienen, wären außerdem noch zu nennen − auch
bilden. Weitgehend folgen sie lebensphilosophischen sie sind an einem Ort gedruckt, der eine Auseinan-
Typisierungen, wie sie im Prag dieser Jahrzehnte al- dersetzung mit jüdischen Themen nahelegt. Zusam-
lenthalben zu finden sind, ohne dass sich Kafka mit mengezählt sind es dennoch nicht viele Texte Kaf-
ihnen auf eine der damals kurrenten Positionen ver- kas, die in einem solchen vereindeutigenden Kon-
pflichten lassen würde. In ihnen stilisieren sich die text publiziert worden sind. Und doch sind sie ein
Söhne gegen die Väter als Übergangsgeneration zu Hinweis, dass sich Kafka bei aller Distanz gegen
einem neuen, irgendwie befreiten Leben − ein Ver- weltanschauliche Festlegungen nicht strikt abseits
sprechen auf Befreiung, das nicht nur bei Kafka das eines solchen Umfeldes gehalten hat. Während also
eigene Scheitern schon mitbedenkt. »Wir kennen die biographischen Daten und autobiographischen
doch beide«, schreibt Kafka 1920 an Milena Jesenská, Texte vielfach Zeugnis von Kafkas intensiver Ausei-
seine tschechische Übersetzerin und Freundin, nandersetzung mit Judentum, Zionismus und dem
ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, Ostjudentum − und damit immer auch mit dem An-
ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, tisemitismus und Nationalismus seiner Jahre − able-
das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine gen, sind solche präzisen Kontexte für sein literari-
ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, sches Werk nicht auszumachen. Sie sind mit ver-
alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart
gleichsweise geringen skalierenden Varianzen nur
und Zukunft, auch noch die Vergangenheit (Nov. 1920;
BM 294). schwach manifest.

Beschreibungen der Entfremdung sind das wieder-


kehrende Thema dieser Zeugnisse, die die eigenen Forschung
Erfahrungen immer als prototypische Erfahrungen
der jüdischen Intellektuellen seiner Zeit hochrech- Das hat weder die Leser noch die Forschung abge-
nen: »Weg vom Judentum«, schreibt Kafka im Juni halten, nach stärkeren Vereindeutigungen zu su-
1921 an Max Brod, »wollten die meisten, die deutsch chen. Zu Lebzeiten Kafkas blieb der jüdische Kon-
zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den text seines Werkes allerdings auf seine näheren Leser
Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des beschränkt, die ihn und seine Biographie kannten.
Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie kei- Die Frage, ob Kafkas Erzählen Kleists Texten ähnele
nen neuen Boden« (Briefe 337). oder die Verwechselung mit der Prosa Robert Wal-
Die Reihe solcher und ähnlicher Formulierungen sers, die Einordnung als Vertreter der expressionisti-
ließe sich fortsetzen. Sie finden sich alle in nicht zu schen Autorengenerationen und allgemein gehaltene
Lebzeiten veröffentlichen und kaum zur Veröffentli- religiöse Grundfragen sind weit zahlreicher in der
chung vorgesehenen Texten. An der Frage, ob diese zeitgenössischen Kritik zu finden als etwa die weni-
Aufzeichnungen zu Kafkas Werk zu zählen sind, gen Bemerkungen Kasimir Edschmids zur jüdisch-
hängt allein die Entscheidung darüber, ob Judentum, intellektuellen Geistigkeit Kafkas, Karl Storcks litera-
Zionismus und ostjüdische Erneuerung Kontexte turhistorische Einordnungen der Prager deutschen
für Kafkas Werk sind oder nicht. Eben darüber aber Literatur oder Anton Kuhs literaturkritische Anmer-
schweigt sich das Werk selbst aus. kungen zur jungen Generation jüdischer Schriftstel-
Kafkas Auseinandersetzung mit dem Judentum ist ler (vgl. Born 1979). Kontextualisierungen, die auf
so ein für sein Werk nur schwach manifester Kontext. eine allgemeine religiöse Thematik in Kafkas Werk
An Prägnanz gewinnt er, wenn man die Publikations- abheben, betonen, wie etwa Benno Wiese, nicht das
orte der Texte mit einbezieht. Dass die Erzählungen Judentum, sondern eher die Widersprüchlichkeit
Vor dem Gesetz, Eine kaiserliche Botschaft und Die und Mehrdeutigkeit der religiösen Suche Kafkas
Sorge des Hausvaters in der zionistischen Wochen- (Wiese 1928).
schrift Selbstwehr zwischen 1915 und 1919 erschienen Es ist oft bemerkt worden, dass es Max Brod war,
sind, gehört zu dem Kotext, den Leser mitlesen. Hier der schon zu Lebzeiten Kafkas den Freund zu einem
bezieht, mindestens verrätselt, Kafka allein durch den religiösen Autor erhoben hat, für den der Zionismus
Ort der Veröffentlichung Position in den Debatten ein säkularer Glaube gewesen sei (Shahar/Ben Ho-
um Assimilation und kulturelle Erneuerung. rin). Aber auch Brods Deutung − wie er sie erstmals
Judentum/Zionismus 55

1921 in einer Würdigung in der Neuen Rundschau Sprachrohr einer ihn übersteigenden, rätselhaften
herausgestellt hat, dann 1937 in seiner Biographie Wahrheit ist, die durch ihn in allen seinen Äußerun-
Kafkas und in seinem Essay Franz Kafkas Glauben gen spricht. Kafka, der Autor und seine Texte, sind
und Lehre von 1948 − entfaltet erst nach Krieg und in dieser Interpretation Allegorien des modernen
Judenvernichtung ihre Wirkung, und es hat nicht Menschen – und das wirkt lange nach. Jede Äuße-
wenig Widerspruch – prominent durch Walter Ben- rung Kafkas ist dann von einem solchen Gewicht,
jamin und Gershom Scholem – erfahren, wenn Brod dass sich die Frage nach Werk und Kontext nicht ei-
schreibt: »Kafka ist als Erneuerer der altjüdischen gentlich mehr stellt. Entsprechend übergangslos
Religiosität aufzufassen, die den ganzen Menschen, zieht die Forschung Kafkas Selbstdeutungen für die
die sittliche Tat und Entscheidung des Einzelnen im Interpretation seines Werkes heran, ohne den Zwi-
Geheimsten seiner Seele verlangt« (Brod 1974, 279). schenschritt − warum Judentum, Zionismus und
Als ein solcher jüdischer Autor galt Kafka jahrzehn- Ostjudentum denn ein für das Werk bestimmender
telang gerade nicht. Das Judentum fungierte nicht Kontext seien − explizit zu diskutieren. Die Unter-
als der Kontext für sein Werk, den Brod postuliert lassung einer Unterscheidung zwischen dem Werk
hat, ja fehlt in den Besprechungen zu Lebzeiten Kaf- als Objekt und der Untersuchung eben dieses Wer-
kas. Noch zwischen 1924 und 1938 findet das Juden- kes führt denn auch dazu, in ganz unterschiedlichen
tum Kafkas nur vereinzelt Erwähnung, etwa in alle- Motiven, Schreibweisen und Figuren Anspielungen
gorischen Deutungen Kafkas als religiöser Autor und Chiffrierungen, wenn nicht sogar Allegorien für
(Born 1983). einen eigentlich ja kaum verborgenen jüdischen
Während also Kafka für die wenigen Leser, die er Kontext anzunehmen. Das Gesetz, aber auch Figu-
zu Lebzeiten über seine Prager Kreise hinaus gefun- ren wie der Hund, der Affe, die Schakale und Mäuse,
den hatte, kein Werk geschrieben hat, das einen prä- Räume wie die unterirdischen Bauten oder die Dik-
gnanteren jüdischen Kontext zum Verständnis tion werden als (zwar paradoxe) Verschiebungen aus
bräuchte, hat Brod die Möglichkeiten einer Kontex- einem sehr viel konkreteren Kontext der damaligen
tualisierung in den Grundzügen formuliert, die bei Debatten um Judentum, Zionismus und Ostjuden-
allen Unterschieden in Details und Wertungen bis tum interpretiert. Die Unbestimmtheit und damit
heute Wirkung zeitigen. So folgt Brod dem expressi- Mehrdeutigkeit, wenn nicht Unverständlichkeit ge-
onistischen Aufbruch, den Weg in die Verbürgerli- rade des jüdischen Kontextes ist damit aber weitge-
chung, wie ihn das 19. Jahrhundert gegangen ist, als hend verlorengegangen (vgl. Zimmermann 1985).
Entfremdung von einer positiv gesetzten, älteren Und das umso mehr, als die Forschung seit den
Tradition aufzufassen und Kafkas Suche nach Ge- 1980er Jahren (Grözinger/Mosès/Zimmermann)
meinschaft im Judentum als Rückkehr zu begreifen. verstärkt auf die werkbiographische Nähe von Kaf-
Selbst neuere Biographien Kafkas bleiben diesem kas Durchbruch als Schriftsteller zu seinen intensi-
Grundverständnis verpflichtet. Für sie ist Kafkas ven Auseinandersetzungen mit dem Zionismus und
Biographie Muster einer gegen die Einsargungen des dem jiddischen Theater um 1911/12 hingewiesen
säkularen bürgerlichen Lebens aufbegehrenden Ge- hat (vgl. Beck 1971). Kafka gilt daher als ein jüdi-
neration. Spiegelbildlich werden dann die jüdischen scher Autor, sein Werk als verständlich erst vor die-
Kontroversen der Zeit auf einen positiven Kollektiv- sem Hintergrund. Judentum, Zionismus und Ostju-
singular zusammengezogen, den sie zur Zeit Kafkas dentum scheinen einen zwingenden Kontext für sein
gar nicht gebildet haben. Die Opposition von quä- Werk zu bilden. Aber genau das sind sie nicht.
lender Vereinzelung, Heimatlosigkeit und Grenz- Kafka selbst hat möglicherweise diesen Interpre-
gängerei versus leidenschaftlicher Suche nach Ge- tationsansatz vorbereitet, weil er zwischen sich und
meinschaft und Heimat im realen wie übertragenen seinem Werk nicht unterschieden zu haben scheint –
Sinne, die Kafkas Werk bestimme, findet sich eben- ob aus dem Misserfolg heraus, seine Literatur als
falls schon bei Brod. Werk in der Öffentlichkeit platzieren zu können
Schließlich tut Brod das, was bis heute die Kafka- (Unseld 2008), oder aus neoromantischem Autoren-
Forschung nicht losgelassen hat (vgl. Kraus, 351– selbstverständnis, oder aus beiden Gründen. Das
354): Er versteht Kafkas private Notate als gleichwer- lässt sich heute nicht mehr abschließend klären.
tigen Teil des öffentlichen Werkes, unterstellt damit Auch unterliegt die kalkulierte Polyvalenz seiner
Kafkas Schreiben eine romantische Einheit von Le- Prosa unvermeidlich dem Funktionswandel von
ben und Werk, in der der Autor nur ohnmächtiges Kontexten, die sich mit den Lesern wandeln und die
56 2. Einflüsse und Kontexte

kein Autor regulieren kann. Waren Kafkas zeitge- tum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch. 2 Bde. München
nössische Leser noch vor allem an den literaturkriti- 1921. – David Cassel: Lehrbuch der jüdischen Ge-
schen Debatten um die junge Literatur ihrer Zeit in- schichte und Literatur. Leipzig 1879. – Otto Eißfeldt: Is-
teressiert, so hat die Philologisierung des Umgangs raels Geschichte. Tübingen 1914 (Religionsgeschichtli-
mit Kafkas Texten ›jüdische‹ Motive, Themen und che Volksbücher für die deutsche christliche Gegen-
Schreibweisen erst identifizieren können, weil sie wart. VI. Reihe. Begr. v. Friedrich Michael Schiele. Hg.
den Kontext weniger im Werk selbst sieht als eben in v. Karl Aner. 4. Heft). – Alexander Eliasberg: Sagen pol-
den Aufzeichnungen und Briefen Kafkas. Ob Kafka nischer Juden. Ausgewählt u. übertragen v. Alexander
das mitbedacht haben sollte, wird man nicht ganz Eliasberg. München 1916. – Paul Fiebig: Das Judentum
von Jesus bis zur Gegenwart. Tübingen 1916 (Religions-
ausschließen, aber auch nicht sicher bejahen kön-
geschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche
nen. Kafkas Werkästhetik ist hier offener, kalkuliert
Gegenwart. Begr. v. Friedrich Michael Schiele. 2. Reihe,
verrätselter und scheint auf Anderes gezielt zu ha-
21./22. Heft). – Flugschrift des Kartells zionistischer
ben, als es die gegenwärtige Forschungssituation er-
Verbindungen (K. Z. V.): Der zionistische Student. Ber-
kennen lässt. Erst in Abwägung gegenüber anderen lin 1912. – Moritz Friedländer: Die religiösen Bewegun-
Kontexten kann abgeschätzt werden, wie sehr Kafka gen innerhalb des Judentums im Zeitalter Jesu. Berlin
eine für die Moderne um 1900 nicht untypische ne- 1905. – Samuel Loeb Gordon: Halaschon [»Die Spra-
gative Kunstreligion für sich und sein Schreiben ge- che«, Hebräisch-Lehrbuch]. Warschau 1919. – Micha
sucht haben dürfte, die nicht mit dem Judentum zu- Josef bin Gorion: Die Sagen der Juden. Gesammelt u.
sammenfällt und die in der Unbedingtheit dieser bearb. v. Micha Josef bin Gorion. Frankfurt/M. 1913. –
Suchbewegung gerade ihre Besonderheit gewinnt. Ders.: Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzäh-
Judentum, Zionismus und das Ostjudentum sind lungen. Gesammelt u. bearb. v. Micha Josef bin Gorion.
daher ein, aber kein zwingender Kontext für ein an- Bd. 1 u. 3. Leipzig 1916 u. 1919. – Georg Hollmann:
gemessenes Verständnis von Kafkas Werk, noch gar Welche Religion hatten die Juden, als Jesus auftrat? Tü-
der allein bestimmende. Indem man andere Kon- bingen 2. Aufl. 1910 (Religionsgeschichtliche Volksbü-
texte heranzieht, ob Kafkas intensive Leseerlebnisse cher für die deutsche christliche Gegenwart. Hg. v.
(Engel/Lamping), andere weltanschauliche und äs- Friedrich Michael Schiele. 1. Reihe, 7. Heft). – Mor-
thetische Debatten seiner Zeit oder auch die im dechai Kaufmann: Vier Essais über ostjüdische Dich-
Werk manifesteren christlichen Motive und Figuren tung und Kultur. Berlin 1919. – Karl Kautzsch: Die Phi-
− in jedem Fall wird jene eigenwillige Mehrdeutig- losophie des Alten Testaments. Tübingen 1914 (Religi-
keit erkennbar, auf die Kafkas Texte zuerst angelegt onsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche
sind und die auf einen verrätselten Sinn abzuzielen christliche Gegenwart. Begr. v. Friedrich Michael
scheint, der sich schon im Aussprechen als Unmög- Schiele, hg. v. Karl Aner, 6. Reihe, 6. Heft). – Walther
lichkeit erweisen will. Diesen Anspruch an sich Köhler: Die Gnosis. Tübingen 1911 (Religionsgeschicht-
selbst und sein Werk zu verstehen und dafür Kon- liche Volksbücher für die deutsche christliche Gegen-
texte zu finden, ist die Aufgabe einer gelingenden In- wart. Hg. v. Friedrich Michael Schiele. 4. Reihe, 16.
Heft). – Gustav Krojanker: Juden in der deutschen Lite-
terpretation.
ratur. Berlin 1922. – Friedrich Küchler: Hebräische
Judaica I − in Kafkas Bibliothek (Auswahl): [Anon.:] Volkskunde. Tübingen 1906 (Religionsgeschichtliche
Moaus zur. Ein Chanukkahbuch. Berlin 1918. – Bar Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart.
Kochba: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hg. v. Ver- Hg. v. Friedrich Michael Schiele. 2. Reihe, 2. Heft). – Ri-
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Immanuel Benzinger: Wie wurden die Juden das Volk der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Berlin-
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Judentum/Zionismus 57

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58 2. Einflüsse und Kontexte

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59

2.4 Philosophie Darüber hinaus hat Kafka Anfang 1912, allerdings


in der für seine Selbstcharakteristiken typischen
Übertreibung, das existentielle Interesse an Schrei-
Kafka – um sogleich einem gelegentlich auftreten- ben und Literatur als Grund für die weitgehende
den Missverständnis vorzubeugen – war selbst kein Vernachlässigung anderer Gegenstände angeführt:
Philosoph, hat sich aber mit einigen wenigen Philo-
Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß
sophen auseinandergesetzt, etwa mit Blaise Pascal, das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens
Søren Kierkegaard und Arthur Schopenhauer, mit sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer
Friedrich Nietzsche und Franz Brentano. Betrachtet stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Es-
man umgekehrt die Bedeutung von Kafkas Werk für sens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens
der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen
die Philosophie, so zeigt sich im Gegenzug seine diesen Richtungen ab (3.1.1912; T 341).
schier unendliche Ausstrahlungskraft. Fast zahllos
sind die Theoretiker und Philosophen, denen sein Zu dieser ›Abmagerung‹ kommt eine prinzipielle
Œuvre als kontinuierliche Inspirationsquelle und als Skepsis gegenüber den an der Wirklichkeit offenbar
wiederkehrender Reflexionsraum gedient hat und meist scheiternden Erkenntnisverfahren und Syste-
weiterhin dient: Adorno, Günther Anders, Benja- matisierungsansprüchen philosophischer Reflexion
min, Bloch, Camus, Deleuze, Derrida, Rorty, Sartre hinzu, wie sie zum Beispiel ein Denkbild aus dem
etc. (vgl. Kim 2004). Doch nicht davon soll hier die Jahr 1920 zu verstehen gibt:
Rede sein, sondern ausschließlich von Kafkas eige-
Ein Philosoph trieb sich immer dort herum wo Kinder
nen Lektüren philosophischer Texte.
spielten. Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte
Inwiefern diese Lektüren freilich als gesichert gel- lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, ver-
ten können und in einem zweiten Schritt womöglich folgte ihn der Philosoph um ihn zu fangen. Daß die Kin-
Eingang in Kafkas Texte gefunden haben, darüber der lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten
besteht erhebliche Unklarheit (vgl. Binder 1984). Die suchten kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, so-
lange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich,
Tagebücher und Briefe des Autors liefern nur selten aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden
explizite Anhaltspunkte für eine tatsächliche Rezep- und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder
tion bestimmter philosophischer Positionen. Kon- Kleinigkeit, also z. B. auch eines sich drehenden Kreisels
kret dokumentierbar ist nur die Kenntnisnahme von genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum be-
schäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das
Pascal und Kierkegaard. Der wahrscheinliche Bezug
schien ihm unökonomisch, war die kleinste Kleinigkeit
zu Brentano verdankt sich dem biographischen Um- wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb be-
stand, dass Kafka bis zum Jahr 1906 regelmäßig an schäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel.
den philosophischen Diskussionsrunden im Café Und immer wenn die Vorbereitungen zum Drehen des
Louvre teilnahm, wo Brentanos Philosophie im Mit- Kreisels gemacht wurden, hatte er Hoffnung, nun werde
es gelingen und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im
telpunkt stand (vgl. Neesen 1972, 17–35; Wagenbach atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewiß-
2006, 107–118; Alt, 107–112). Doch bereits zu Kaf- heit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der
kas Beschäftigung mit Nietzsche existieren nur Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das
Zeugnisse aus zweiter und dritter Hand sowie ein er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in
die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel
scharfer Kommentar Max Brods, der jede Verbin-
unter einer ungeschickten Peitsche (<Der Kreisel >; NSF
dung in Abrede gestellt hat: II, 361 f.).
Denn Nietzsche ist ja in der Geschichte des letzten Jahr-
Der hier erkennbaren Skepsis entsprechen auch die
hunderts der fast mathematisch genaue Gegenpol Kaf-
kas. Es zeigt die Instinktlosigkeit mancher Kafka-Erklä- offenen, unsystematischen, aphoristischen Formen
rer, daß sie sich nicht scheuen, Kafka und Nietzsche […] in Kafkas Werk, mit denen sich der Autor gelegent-
auf einer Ebene zusammenzubringen, – als ob es hier ir- lich selbst auf der Grenze zwischen Philosophie und
gendwelche noch so vage Bindungen, Vergleichsmög- Literatur bewegt. Das betrifft vor allem die von Max
lichkeiten und nicht den puren Gegensatz gäbe (Brod
1966, 259). Brod zunächst so genannten Aphorismen-Konvolute
<Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den
Der Rekurs auf Schopenhauer schließlich stützt sich wahren Weg > (NSF II, 113–140), die in gleicherma-
auf den Nachweis, dass sich in Kafkas Handbiblio- ßen dialektischer wie bildhafter Form Grundfragen
thek neun Bände einer zwölfbändigen Schopen- menschlicher Existenz verhandeln (vgl. Gray 1987),
hauer-Ausgabe befanden (Reed, 162). aber auch Tagebuchnotate und andere, vorwiegend
60 2. Einflüsse und Kontexte

zum Nachlass gehörige Fragmente und Prosaminia- 2004, 167 f.) kann man im Falle der Beschreibung ei-
turen (NSF II, 29–112). Mit Ausnahme von Bren- nes Kampfes nicht von literarisch inszenierter
tano sind es also nicht zufällig prominente Aphoris- Sprachskepsis reden, allenfalls von »Sprachexperi-
tiker unter den Philosophen, die Kafka näher in Au- menten« (Neymeyr, 167), die bisweilen geradezu
genschein genommen hat. eine Lust an der sprachlichen Selbstermächtigung
Trotz der unabweislichen inneren Distanz zum des Subjekts zelebrieren (z. B. NSF I, 141 f.).
philosophischen Diskurs im engeren Sinne und der Der zweiten, mit Kriegsbeginn einsetzenden Phase
eher prekären Quellenlage gibt es an Kafkas produk- liegen vornehmlich Jenseits von Gut und Böse, die
tiver Aufnahme insbesondere von Nietzsches und Unzeitgemäßen Betrachtungen, Menschliches, Allzu-
Kierkegaards Schriften keinen Zweifel. Um und nach menschliches sowie Zur Genealogie der Moral zu-
1900 gerät bekanntlich nicht nur eine ganze Genera- grunde. Zwar vermag die Behauptung, dass nach
tion heute kanonischer Autoren in den Bannkreis 1914 die Welt von Nietzsches Ideen zur Gänze Kafkas
Nietzsches − darunter Thomas Mann, Gottfried Welt geworden sei (Bridgwater, 15), nicht zu über-
Benn und Hugo von Hofmannsthal −, sondern es zeugen, aber dass für Kafkas Spätwerk Zur Genealogie
setzt auch die breite Rezeption Kierkegaards im der Moral ein »›sourcebook‹ in one later work after
deutschen Sprachraum ein (Anz 1977, 4–7). Dass another« bildet (Bridgwater, 11), erscheint in mehre-
diese übergreifende Entwicklung nicht spurlos an ren, noch zu erläuternden Hinsichten plausibel.
Kafkas wachem Bewusstsein vorübergegangen sein Der Hauptgrund für Brods gegenteilige Einschät-
wird, leuchtet unmittelbar ein. Allerdings ist hier zung liegt zweifellos darin, dass Kafka sich Nietz-
Differenzierung geboten. Im Falle Kierkegaards sind sches Visionen des Dionysisch-Rauschhaften sowie
es in erster Linie biographische Parallelen und Kon- den mannigfaltigen Postulaten der Lebenssteigerung
stellationen, die Kafkas Interesse wecken (Anz 2006), verweigert, die seinerzeit eine ungeheure Wirkung
auch vereinzelte theologische Motive, im Falle Nietz- entfaltet haben. Weder teilt er die lebensphilosophi-
sches dagegen spezifische Formulierungen, Argu- schen Grundannahmen, wie sie von Nietzsche, Sim-
mentationsmuster und Sprachbilder, die sich häufig mel, Bergson und Dilthey formuliert worden sind,
nur in sehr vermittelter Form identifizieren lassen. noch lässt er sich maßgeblich von der vitalistischen
Ausrichtung der Epoche beeindrucken. Folglich
spielt für ihn Authentizität als Kunstprogramm auch
Friedrich Nietzsche keine Rolle.
Es sind vielmehr einzelne Texte, die konkrete Be-
Gleichwohl soll zunächst das »Ereignis Nietzsche« in zugnahmen auf Nietzsche erkennen lassen, so vor
den Blick genommen werden, weil es, erstens, be- allem die Erzählungen In der Strafkolonie und Ein
reits den jungen Kafka betrifft (Nagel, 301; Kurz, Landarzt, die bis in die Wort- und Metaphernwahl
17 f.; Alt, 92 f.), zweitens eine ganze Zeitströmung hinein auf Denkfiguren und Problemstellungen
charakterisiert und weil, drittens, beide Autoren lange Nietzsches aus der Genealogie der Moral und Mensch-
Zeit wesentlich als Nihilisten galten (Emrich 1958, liches, Allzumenschliches reagieren, indem sie diese
199; Ries 1973, 265–268; Lauterbach 2006, 306). narrativ entfalten. Für die Strafkolonie betrifft es so-
In Kafkas Auseinandersetzung mit Nietzsche las- wohl den Zusammenhang von Strafe und Gedächt-
sen sich zwei Phasen unterscheiden: In der ersten, nis, ebenso aber die Genealogie und suggerierte
im Umfeld der Beschreibung eines Kampfes anzusie- Ebenbürtigkeit verschiedener Moralvorstellungen,
delnden Phase stehen Also sprach Zarathustra, Die mit denen sich der Protagonist im Text konfrontiert
Geburt der Tragödie sowie der 1903 erstmals publi- sieht, während im Landarzt Nietzsches Überlegun-
zierte Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermo- gen zu Arzt und Priester als modernen, aber wir-
ralischen Sinne im Mittelpunkt und hier wiederum kungslosen Inkarnationen des Heilands ebenso eine
Reflexionen auf die Potentiale und Grenzen der Rolle spielen wie das Bild einer von Würmern zer-
Sprache. Damit partizipiert Kafka an dem von Nietz- fressenen Wunde, die zwar hässlich sein mag, jedoch
sche, Fritz Mauthner und Hofmannsthal geprägten immerhin als Indiz des Lebendigen aufgefasst wer-
sprachkritischen Diskurs der Jahrhundertwende, den kann (Menschliches, Allzumenschliches; KS 2,
ohne freilich in ihm aufzugehen. Denn trotz direkter 203 f.).
und indirekter Bezugnahmen auf Nietzsches wir- Darüber hinaus lassen sich natürlich gemeinsame
kungsmächtigen Aufsatz (Trabert 1987; Neymeyr Überzeugungen oder auch Strukturanalogien entde-
Philosophie 61

cken, die sich allerdings nicht notwendig einem un- K. heißt, er sei gestorben »wie ein Hund« (P 312).
mittelbaren Rekurs Kafkas auf Nietzsche verdanken, Daneben trifft man auf Akteure, die sich tatsächlich
sondern eher dem grundsätzlich skeptischen Milieu wie Tiere verhalten, so zum Beispiel der Verurteilte
der Moderne. Darauf hat auch die neuere Forschung in der Strafkolonie. Drittens schließlich bietet das
punktuell verwiesen (Ries 2007, 13–18; Alt 2005, Werk ein Panoptikum grotesker Kreaturen, da es mit
574–576), wie sie überhaupt vorsichtigere Urteile einer Vielzahl an Mischwesen und Kreuzungen auf-
über eine mögliche Korrelation der zwei Autoren wartet. Man begegnet Kreuzungen zwischen Men-
fällt. schen und Tier (wie im Falle der mit Schwimmhäu-
Sowohl Nietzsche als auch Kafka begreifen die ten zwischen den Fingern ausgestatteten Figur Leni
Moderne in der Tradition Rousseaus als Zeitalter der im Roman Der Process), man trifft auf Kreuzungen
Vermittelmäßigung und Verkleinerung des Men- zwischen Tieren verschiedener Gattungen (etwa in
schen (vgl. etwa Der neue Advokat), beide üben ve- dem Text Eine Kreuzung, in der »ein eigentümliches
hement Erkenntniskritik, beide sind vom unhinter- Tier, halb Kätzchen, halb Lamm« im Vordergrund
gehbaren Perspektivismus des Lebens sowie von der steht; NSF I, 372), aber auch zwischen belebten We-
Welt als permanentem Auslegungsgeschehen über- sen und unbelebten Objekten − wie bei Odradek in
zeugt und beide widmen sich mit großer Intensität Die Sorge des Hausvaters: Odradek sieht aus wie eine
dem, was Nietzsche die »Stufen der Scheinbarkeit« Zwirnspule auf zwei Beinen, aber wer oder was er ist,
nennt (Jenseits von Gut und Böse; KS 5, 53), die er für bleibt völlig offen. Als Figur der kategorialen Ver-
realer hält als alle Begriffe von wahr und falsch weigerung, an der jedes Sinnbegehren scheitert, re-
(Meese 1999, 174–178). Auffällig ist schließlich auch, präsentiert er die Unbestimmbarkeit selbst. Doch
dass Kafka zunehmend die Erinnerung als Darstel- auch der Mensch weist ein hohes Maß an Unbe-
lungselement aus dem Erzählprozess ausschließt – stimmbarkeit auf, sofern er sich offenbar auf dem
als habe er sich die zweite Unzeitgemäße Betrachtung schmalen Grat zwischen Mensch und Tier bewegt.
über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben Kafkas Texte erzählen ja nicht nur von Mischwesen
zueigen gemacht und in der Folge seinen Protago- und Kreuzungen aller Art, sie erkunden darüber
nisten die Last der Vergangenheit ersparen wollen hinaus die Grauzonen im Übergang von Mensch
(vgl. ä 442). und Tier, von Natur und Zivilisation – nicht zuletzt
Eine weitere, nicht minder relevante Übereinstim- indem sie von Transformationen und Substitutionen
mung besteht in der skeptischen Anthropologie, der als Veranschaulichungen fließender Übergänge be-
beide Autoren verpflichtet sind. Mit einer berühm- richten (Die Verwandlung, Ein Hungerkünstler).
ten Formulierung kennzeichnet Nietzsche den Men- Neben den Erzählungen In der Strafkolonie und
schen als das »noch nicht festgestellte Thier« (Jen- Ein Landarzt ist freilich Ein Bericht für eine Akade-
seits von Gut und Böse; KS 5, 81) und zieht damit mie derjenige von Kafkas Texten, in dem das stärkste
gleichsam die Konsequenz aus Darwins Evolutions- Echo von Nietzsches in der Genealogie der Moral und
lehre. Diese Formulierung hat Nietzsche selbst so in Menschliches, Allzumenschliches entwickelter skep-
sehr überzeugt, dass er sich fortan kontinuierlich da- tischer Anthropologie zu vernehmen ist. Nietzsche
rauf bezieht, insbesondere in der Genealogie der Mo- redet hier nämlich nicht nur allgemein vom Men-
ral, wobei seine Ausführungen keinen Zweifel lassen schen als Tier und im Verhältnis zum Tier, sondern
an der Depotenzierung des Menschen als vermeint- wiederholt in konkreter Hinsicht auf den Affen. Und
licher Krone der Schöpfung. ein Affe namens Rotpeter ist bekanntlich der Prota-
Kaum anders geht es bei Kafka zu. Auch er behan- gonist in Kafkas Erzählung. Vom »Kreislauf des
delt den Menschen im Grunde als das noch nicht Menschenthums« hatte Nietzsche behauptet:
festgestellte Tier. Sein Werk umfasst bekanntlich
Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwi-
eine Reihe von Tiergeschichten, zum Beispiel Scha- ckelungsphase einer bestimmten Thierart von begränz-
kale und Araber, <Der Bau>, <Forschungen eines ter Dauer: so dass der Mensch aus dem Affen geworden
Hundes> oder auch Josefine, die Sängerin oder Das ist und wieder zum Affen werden wird, während nie-
Volk der Mäuse. In all diesen Texten agieren Tiere als mand da ist, der an diesem verwunderlichen Komödien-
ausgang irgend ein Interesse nehme (Menschliches, All-
Protagonisten. Außerdem begegnet man im gesam- zumenschliches; KS 2, 205 f.).
ten Werk einer Fülle an Tiervergleichen und Tier-
metaphern, oftmals an exponierter Stelle, beispiels- Kafkas Erzählung nun spielt die reziproken Mög-
weise am Ende des Process-Romans, wo es von Josef lichkeiten zwar nicht als Komödie, wohl aber als Sa-
62 2. Einflüsse und Kontexte

tire durch, in welcher der Punkt des Umschlags prä- »Ich habe heute Kierkegaard Buch des Richters be-
zise markiert werden soll, wo Natur in Kultur über- kommen. Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesent-
geht, wo das Tier endet und der Mensch beginnt – und licher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich zu-
umgekehrt. In mancher Hinsicht erscheint der Text mindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er
dabei so eng an Nietzsches Wort- und Bildfeldern bestätigt mich wie ein Freund« (21.8.1913; T 578). In
orientiert, dass man diese förmlich als Kern der Nar- Kierkegaards schwierigem Verhältnis zu Regine Ol-
ration begreifen kann. sen schien sich Kafkas mehrjährige, von Anziehung
und Abstoßung geprägte Beziehung zu Felice Bauer
zu spiegeln (Anz 2006, 86).
Søren Kierkegaard Über die lebensgeschichtlichen Parallelen hinaus
hat Kafka eine Reihe grundlegender Aspekte an
Nietzsches christlicher Antipode im 19. Jahrhundert Kierkegaard gefesselt, wie sie insbesondere zwei
war bekanntlich Søren Kierkegaard, dessen umfang- Briefe an Max Brod vom März 1918 artikulieren
reiche Schriften ab 1909 in einer deutschen Gesamt- (Anf. März 1918, Briefe 234–236; Ende März 1918,
ausgabe beim Eugen Diederichs Verlag erscheinen Briefe 237–240). Das betrifft zum einen die verfüh-
und damit das allgemein wachsende Interesse am rerische stilistische Leichtigkeit des Dänen, seine
dänischen Philosophen und Theologen im deut- Differenzierung zwischen Sagen und Mitteilen
schen Sprachraum dokumentieren. Wie Pascal ist (Briefe 234), also Kierkegaards Modell der »indirek-
Kierkegaard ein religiöser Denker der Innerlichkeit, ten Mitteilung« (vgl. Abschließende unwissenschaftli-
insofern besteht hier von vornherein eine grundle- che Nachschrift, 65–72), die »Macht seiner Termino-
gende Affinität des zur Selbstbeobachtung neigen- logie, seiner Begriffsentdeckungen«, denen man sich
den Kafka zu beiden Autoren (Nagel 1983, 291 f.). »nicht entziehen kann« (Briefe 238), namentlich Be-
Während aber die Bezüge zu Nietzsche der skrupu- griffen wie jenen des ›Dialektischen‹ oder der ›Be-
lösen Rekonstruktion bedürfen und jene zu Pascal wegung‹. Von letzterem heißt es an Brod: »Von die-
spärlich bleiben (6.1.1914; T 622 und 2.8.1917; sem Begriff kann man geradewegs ins Glück des
T 816), spielt Kierkegaard ab etwa Ende 1917 eine Erkennens getragen werden und noch einen Flügel-
explizite, wenngleich äußerst ambivalente Rolle (Anz schlag weiter« (ebd.).
2006). »Kierkegaard ist ein Stern, aber über einer Kafka ist beeindruckt von Kierkegaards Radikali-
mir fast unzugänglichen Gegend« (An O. Baum, tät in religiösen Fragen, erblickt in ihr aber dennoch
Ende März/Anf. April 1918; Briefe 190, dort noch eine Art »Vergewaltigung« der für diese unbedingte
falsch datiert); oder ganz ähnlich: »Aus dem Zim- Form der Religiosität nicht gemachten Welt (Briefe
mernachbar ist irgendein Stern geworden, sowohl 239). Damit geht auch eine Kritik an Kierkegaards
was meine Bewunderung, als eine gewisse Kälte mei- Deutung von Abraham in Furcht und Zittern einher,
nes Mitgefühls betrifft« (An M. Brod, Anf. März über welcher der »gewöhnliche Mensch« vergessen
1918; Briefe 235). werde (Briefe 236; NSF II, 103).
Dabei hat Kafka vor allem einzelne, theologischen Die Sympathie für Kierkegaards von Ironie, Para-
Fragen zugewandte Werke wie Furcht und Zittern doxien und dialektischen Volten getragenes Darstel-
und Der Augenblick zur Kenntnis genommen (An lungsverfahren, für die Doppelbödigkeiten und Ab-
M. Brod, Anf. 1918; Briefe 235), Auszüge aus den Ta- gründe seines Witzes, kann angesichts von Kafkas
gebüchern – das sogenannte Buch des Richters eigenen Erzähltechniken nicht überraschen (Neu-
(21.8.1913; T 578) – sowie von den pseudonymen mann 1968, 704–714; Lange 1986, 300 f.) − Techni-
ästhetischen Schriften Die Wiederholung, Stadien auf ken freilich, die sich bereits vor der Kierkegaard-
des Lebens Weg (An M. Brod, Anf. März 1918; Briefe Rezeption ausgebildet haben, in ihr jedoch eine
235) und Entweder-Oder, das er als »abscheuliches, willkommene Bestätigung erhalten. Auch das Chan-
widerwärtiges« Buch bezeichnet, geschrieben »mit gieren Kierkegaards zwischen literarischen, philoso-
allerspitzigster Feder« (An M. Brod, Mitte/Ende Ja- phischen und religiösen Formen und Perspektiven,
nuar 1918; Briefe 224 f.). seine virtuose Fähigkeit, »dieses Leben nach vor-
Solchen distanzierenden bis negativen Urteilen wärts oder rückwärts und natürlich auch nach bei-
stehen freilich auch positive, oft mit biographischen den Richtungen zugleich untersuchen« zu können
Umständen zusammenhängende Einschätzungen (Briefe 235), bewundert er und findet dies im selben
gegenüber (Nagel 1983, 280–285; Anz 2006, 83): Augenblick ein wenig unheimlich.
Philosophie 63

Kafkas Nähe zu Kierkegaard gründet demnach Jordan 1980, 335–342), lässt sich die Begrenzung auf
hauptsächlich auf einer biographischen und einer im den figuralen, allererst die Wirklichkeit konstituie-
weitesten Sinne methodisch-darstellungstechni- renden Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Reflexions-
schen Verwandtschaft. Versuche im Horizont von und Sprachhorizont, die Kafkas Erzähltexte aus-
Existenzphilosophie und Existenzialismus, Kafkas zeichnet, vielleicht als darstellungstechnische Kon-
Spätwerk als literarische Umsetzung oder gar Einlö- sequenz von Brentanos Lehre von der Intentionalität
sung von Kierkegaards Philosophie zu deuten, ver- des Bewusstseins verstehen.
mögen nur bedingt zu überzeugen. Das zeigt der his-
torische Abstand ebenso wie das inzwischen vielfach
detailliertere und komplexere Verständnis von Kaf- Forschung
kas Texten.
Der Gang der Forschung im Blick auf Kafkas Ver-
hältnis zur Philosophie gleicht einer Ausnüchte-
Arthur Schopenhauer rungskur. Aufgrund der stark religiösen Kafka-Deu-
tung durch Max Brod sowie aufgrund der bereits bei
Im Falle Schopenhauers ist nicht nur wie bei Nietz- Kierkegaard dominanten Verknüpfung theologi-
sche die Quellenlage dürftig, auch die Forschung hat scher und philosophischer Motive hat sich die For-
dieser Korrelation bisher nur geringen Wert beige- schung zunächst vielfach auf theologisch-philoso-
messen. Am ehesten darf in den ab 1917 entstehen- phischem Grenzgebiet bewegt, wo sie mit geradezu
den Aphorismen-Konvoluten ein Echo der ein Jahr metaphysischem Pathos in den Schriften des Autors
zuvor beginnenden intensiveren Schopenhauer- Antworten auf die letzten Fragen zu finden meint
Lektüre erblickt werden (Reed 1965, 168; Alt 2005, (vgl. Beicken, 188–193). Das gilt auch für die bis in
465 f.). Doch muss man wohl von einem fernen Echo die 1970er Jahre reichenden Interpretationen im
sprechen, wie Kafka fast stets, als Virtuose der Ver- Banne von Existenzphilosophie und Existenzialis-
mitteltheit, direkte Bezugnahmen vermeidet. Das mus, die Kafkas Werk als Veranschaulichung von
gilt auch für die Rezeption Schopenhauers: »was er Weltangst, Nihilismus, Absurdität, Entfremdung
mitnahm, war eine starke Anregung; was er über- und Isolation zu begreifen suchen (Lauterbach 2006,
nahm, waren Bilder und Terminologie« (Reed, 168). 306). Diese Analysen sind nicht nur oft durch eine
Dennoch kann der skeptische Grundzug der Apho- Neigung zur Allegorese geprägt, sondern auch durch
rismen nicht allein der Auseinandersetzung mit eine erhebliche Ferne gegenüber Kafkas Texten.
Schopenhauer zugeschrieben werden (Alt, 466), weil In der neueren Forschung dagegen sind die Frage-
Skepsis die conditio sine qua non von Kafkas Schrei- stellungen versachlicht und die Texte wesentlich prä-
ben überhaupt darstellt. ziseren, die jeweilige ästhetische Faktur integrieren-
den Lektüren unterzogen worden. Überdies lässt
sich hier eine adäquate Skepsis gegenüber Bestre-
Franz Brentano bungen beobachten, Kafkas Werk als bloße Illustra-
tion philosophischer Denkmuster und Einsichten zu
Die Beschäftigung mit der Bewusstseinstheorie verrechnen.
Franz Brentanos gehört in Kafkas Studienzeit, wäh- Ein Forschungsdesiderat bildet trotz der vorhan-
rend der er regelmäßig an philosophischen Diskussi- denen Studien weiterhin die Klärung der mehr als
onsrunden im Hause Fanta und im Café Louvre teil- nur ideengeschichtlichen Konstellation Kafka −
nimmt (Neesen 1972, 17–35; Wagenbach 2006, 174– Nietzsche, die wohl erst unter der Voraussetzung zu
176; Alt 2005, 107–112); sie liegt also zu einem leisten ist, dass man sich genauer auf die Bildwelten
Zeitpunkt, da der Autor erst zu schreiben beginnt. beider Autoren einlässt.
Inwiefern er Brentanos auf der Grenze zwischen Psy-
chologie und Philosophie angesiedelte Arbeiten ge- Philosophische Kontexte: Søren Kierkegaard: Abschlie-
lesen hat, muss offen bleiben; dessen Grundüberle- ßende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philoso-
gungen zur Urteilsbildung und Bewusstseinskon- phischen Brocken. Erster Teil. In: Ders.: Gesammelte
struktion dürften ihm aber vertraut gewesen sein. Werke. Hg. v. Emanuel Hirsch u. a. 16. Abteilung. Gü-
Wenngleich hier Spuren in seinen Texten kaum tersloh 1988. − Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke.
nachweisbar sind (vgl. dagegen Neesen, 157–194; Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden [KS]. Hg.
64 2. Einflüsse und Kontexte

v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München (1980), 27–43. – Christa Meese: Wirklichkeit als Schein
1988. −− Zu Büchern in Kafkas Bibliothek vgl. Born und Deutung im Werke F.K.s und Friedrich Nietzsches.
(1990), 114–116 (Kierkegaard), 119 (Nietzsche), 128– Würzburg 1999. − Ralf R. Nicolai: Nietzschean Thought
130 (Schopenhauer). in K.’s A Report to an Academy. In: Literary Review 26
Forschung allgemein: P.-A. Alt (2005). − Thomas Anz: (1983), 551–564. − Ders.: Wahrheit und Lüge bei K. und
Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie Nietzsche. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 22
und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. (1981), 255–271. – Wiebrecht Ries: K. und Nietzsche.
Stuttgart 1977. − P.U. Beicken (1974). – Hartmut Bin- In: Nietzsche Studien: Internationales Jahrbuch für die
der: Jugendliche Verkennung. K. und die Philosophie. Nietzsche Forschung 2 (1973), 258–275.– Ders.:
In: WW 34 (1984), 411–421. − Ders.: Der Prager Fanta- Nietzsche/K. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Mo-
Kreis. K.s Interesse an Rudolf Steiner. In: Sudetenland derne. Freiburg, München 2007. − Lukas Trabert: Er-
38 (1996), 106–150. – Max Brod: Über F.K. Frankfurt/M. kenntnis- und Sprachproblematik in F.K.s Beschreibung
1966. − Ralph P. Crimmann: F.K. – Versuch einer kul- eines Kampfes vor dem Hintergrund von Friedrich
turphilosophischen Interpretation. Hamburg 2004. – Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermorali-
Wilhelm Emrich: F.K. Bonn 1958. − A. Heidsieck schen Sinne. In: DVjs 61 (1987), 298–324.
(1994). – Richard T. Gray: Constructive Destruction. Kierkegaard: Thomas Anz: Identifikation und Ab-
K.’s Aphorisms. Literary Tradition and Literary Trans- scheu. K. liest Kierkegaard. In: Engel/Lamping (2006),
formation. Tübingen 1987. − Friedmann Harzer: »Mehr 83–91. − Claude David: Die Geschichte Abrahams. Zu
als das, was man sieht, kann ich nicht sagen«. F.K. bei K.s Auseinandersetzung mit Kierkegaard. In: Günter
Rudolf Steiner. Prag, Ende März 1911. In: Georg Braun- Schnitzler u. a. (Hg.): Bild und Gedanke. München
gart (Hg.): Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den 1980, 79–90. − Wolfgang Lange: Über K.s Kierkegaard-
Seitenwegen der Literaturgeschichte. Tübingen 2004, Lektüre und einige damit zusammenhängende Gegen-
151–164. – Hyun Kang Kim: Ästhetik der Paradoxie. K. stände. In: DVjs 60 (1986), 286–308. − Helge Miethe:
im Kontext der Philosophie der Moderne. Würzburg Sören Kierkegaards Wirkung auf F.K. Motivische und
2004. − G. Kurz (1984). − Dorothea Lauterbach: »Unbe- sprachliche Parallelen. Marburg 2006. – Richard Shep-
waffnet ins Gefecht« – K. im Kontext der Existenzphilo- pard: K., Kierkegaard and the K.s. In: Literature and
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Assimilation. K. und der jüdische Nietzscheanismus.
In: Balke/Vogl/Wagner (2009), 201–230. – G. Kurz
65

2.5 Psychoanalyse 1912. Sie steht auf den losen Blättern seines Reisetage-
buchs, das er in diesen Wochen führte, und in einem
auch für sein Interesse an der Psychoanalyse durchaus
symptomatischen Rahmen. Denn vom 8. bis zum 27.
Kafkas Psychoanalyse-Rezeption Juli hielt sich der gerade 29 Jahre alt gewordene Autor
bis 1912 nach einer Ferienreise mit Max Brod im Naturheilsa-
natorium »Jungborn« im Harz auf, einem der damali-
Autoren und Autorinnen der literarischen Moderne gen Schauplätze jener Lebensreformbewegung, mit
zeigten sich von der Psychoanalyse fasziniert und der Kafka zeitlebens sympathisierte und in der auch
provoziert, seit es diese gab, zuerst um 1900 in Wien, die Psychoanalyse auf positive Resonanz stieß. In dem
spätestens seit 1910 in allen anderen deutschsprachi- Tagebucheintrag heißt es: »Nachmittag Spaziergang
gen Zentren des literarischen Lebens, seit den 1920er nach Ilsenburg mit einem ganz jungen Gymnasial-
Jahren in ganz Europa und in den USA. Es gibt kaum professor Lutz aus Nauheim; kommt nächstes Jahr
einen bedeutenden Autor im 20. Jahrhundert, der vielleicht nach Wickersdorf. Koedukation, Naturheil-
sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt kunde, Kohen, Freud« (10.7.1912; T 1042).
hat (vgl. Anz 2006). Franz Kafka ist da keine Aus- Neun Tage später antwortete Kafka aus dem Sana-
nahme. Wie die gesamte Literaturgeschichte der Mo- torium auf einen Brief des Prager Freundes Willy
derne lässt sich sein literarisches Werk ohne die zeit- Haas, der ihm offensichtlich begeistert über seine
gleichen Kontexte der Psychoanalyse kaum ange- Lektüre eines Buches von Freud berichtet hatte:
messen verstehen.
Von Freud kann man Unerhörtes lesen, das glaube ich.
Manche Autoren der Moderne waren durch ihre
Ich kenne leider wenig von ihm und viel von seinen
wissenschaftliche Ausbildung einschlägig auf die Re- Schülern und habe deshalb nur einen großen leeren Re-
zeption der Psychoanalyse vorbereitet: Robert Musil, spekt vor ihm. Wenn es sich um das Buch von Freud
Alfred Döblin und vor allem Arthur Schnitzler. Viele handelt, das Sie in Ihrer Bibliothek hatten, so verdanken
kamen als Patienten mit ihr in Berührung. Das Bei- Sie eigentlich die Lektüre mir, denn ich hatte, als ich bei
Ihnen war, die Hand schon danach ausgestreckt
spiel Rainer Maria Rilke, der im Winter 1911/12 eine (19.7.1912; B00–12 162).
psychoanalytische Behandlung erwog, doch dann
davon Abstand nahm, weil er fürchtete, mit seiner Unter den Zeitschriften, die Kafka las, hatte schon
Neurose auch seine Kreativität zu verlieren, ist kei- 1910 die Neue Rundschau mit einem Aufsatz des
neswegs typisch. Hugo von Hofmannsthal ließ sich Psychologen und Mediziners Willy Hellpach relativ
zeitweilig von Wilhelm Fließ behandeln, Hermann ausführlich über Psycho-Analyse informiert (Bd. 4,
Hesse unterzog sich 1916 bei einem Jung-Schüler, 1652–1660). Gesprächsgegenstand war sie nachweis-
nach 1920 bei C.G. Jung selbst einer Therapie. Auch lich in dem von Kafka sporadisch besuchten Prager
Arnold Zweig, Hermann Broch und sogar einer der Salon Berta Fantas, in dem vornehmlich über Philo-
heftigsten Kritiker (doch zugleich besten Kenner) sophie und Psychologie debattiert wurde, und nicht
Sigmund Freuds, Robert Musil, ließen sich psycho- zuletzt bei den regelmäßigen Treffen mit seinen
analytisch behandeln. Die meisten von ihnen litten Freunden Max Brod und Felix Weltsch. 1913 veröf-
unter schweren Arbeitsstörungen, und manche, so fentlichten diese zusammen ein Buch, das unter dem
Hesse und Broch, beschrieben ihre Analyse als Be- Titel Anschauung und Begriff eine ambitionierte
freiung zu neuer Kreativität. Wahrnehmungspsychologie menschlicher Urteils-
Für Kafka ist ähnlich wie für Thomas Mann oder bildung entwarf, die sich stellenweise auf Schriften
Rilke ein anderer, indirekterer Zugang zur Psycho- Freuds berief (vgl. Alt, 119).
analyse kennzeichnend: Er verläuft über Gespräche Zu den Schülern Freuds, von denen Kafka damals
mit Freunden oder Bekannten und über die Lektüre viel über die Psychoanalyse erfahren hatte, gehörte
von Zeitungen oder Zeitschriften. Die Wahrnehmung Wilhelm Stekel (1868–1940), der seit 1903 und noch
der Psychoanalyse ist dabei häufig vorgeprägt durch 1912 im Prager Tagblatt einige Artikel veröffentlicht
die in der literarischen Intelligenz damals intensiv be- hatte (hierzu und zum Folgenden: Binder 1966, 92–
triebene Auseinandersetzung mit Arthur Schopen- 114; Binder 1979, 410–412). Namentlich genannt
hauer und Friedrich Nietzsche (vgl. Kurz, 27–43). wird Stekel aber erst in einem Brief vom 23. Septem-
Kafkas erste, beiläufige Erwähnung Sigmund Freuds ber 1917, den Kafka an den Freund Willy Haas
(1856–1939) findet sich in einer Notiz vom 10. Juli schrieb:
66 2. Einflüsse und Kontexte

Übrigens noch eine Bitte die gut anschließt: Im 2ten Gedanken an Freud hatten später auch zahllose
Band der »krankhaften Störungen des Trieb- und Af- Kafka-Interpreten. Sie sind in ihre Interpretationen
fektlebens (Onanie und Homosexualität)« von Dr Wil- von Kafkas Werken, gerade auch in die der Erzäh-
helm Stekel oder so ähnlich (Du kennst doch diesen
Wiener, der aus Freud kleine Münze macht) stehn 5 Zei- lung Das Urteil, eingegangen. Und sie sahen sich
len über die »Verwandlung« Hast Du das Buch, dann sei durch Kafkas eigene Bemerkung gerechtfertigt.
so freundlich und schreib es mir ab (B14–17 328). Diese ist jedoch so vage, dass sie fast alle Fragen, die
man an sie stellen kann, offen lässt und wie Kafkas
Der Wortlaut der Briefpassage impliziert, dass Kafka gesamtes Werk zu immer neuen Deutungen einlädt.
schon früher Kenntnisse über Stekel hatte. Sympto- War es eine bestimmte Stelle oder Passage der Er-
matisch für die Psychoanalyse-Rezeption Kafkas zählung, bei der Kafka an Freud gedacht hat? Etwa,
und seiner literarischen Zeitgenossen ist er ansons- wie Binder (1979, 410) annimmt, bei der Verwen-
ten in zwei Aspekten: Im Vergleich zum Lehrer wer- dung des Wortes »Verkehr« im letzten Satz, mit dem
tete man Freuds Schüler häufig ab. Vor allem aber er nach einer von Max Brods biographischen Erin-
verweist der Brief auf einen typischen Sachverhalt in nerungen (Brod, 114) überlieferten Bemerkung
der Beziehung zwischen Literatur und Psychoana- »eine starke Ejakulation« assoziierte? Oder hatte er
lyse: Die Autoren der literarischen Moderne interes- bei den Gedanken an Freud die gesamte Konzeption
sierten sich nicht zuletzt deshalb für die Psychoana- des Textes, die Entfaltung der Handlung, die Kon-
lyse, weil diese sich für sie interessierte. Überhaupt stellation der Figuren, die Traumähnlichkeit des er-
hat das intensive Interesse Freuds und seiner Schüler zählten Geschehens oder auch den traumartigen
an Literatur erheblich dazu beigetragen, dass sich Zustand bei der Niederschrift im Sinn? An welche
um und nach 1900 ein publizistischer, brieflicher Bestandteile der psychoanalytischen Theorie könnte
oder zuweilen sogar mündlicher Dialog zwischen er dann gedacht haben? An die Mechanismen der
Psychoanalytikern und Schriftstellern entwickelte, Traumarbeit oder der freien Assoziation, an die Sym-
an dem auch Kafka teilhatte. boldeutung, die Theorie des ödipalen Konfliktes?
Ein an Literatur besonders interessierter Freud- Auf alle diese Fragen gibt es wohl nur eine haltbare
Schüler war Theodor Reik (1888–1969), der in der Antwort: Woran Kafka bei oder nach der Nieder-
von Kafka gelesenen Zeitschrift Pan seit dem Herbst schrift seiner Erzählung wirklich dachte, können wir
1911 etliche Artikel über Flaubert, Schnitzler und nicht wissen (vgl. Anz 2002). Die Geschichte von Ge-
Freud publizierte. 1912 erschien seine Dissertation org Bendemanns Umgang mit seinen ambivalenten
Flaubert und seine »Versuchung des heiligen Antonius«. Bindungen an den Freund, die Verlobte, die tote Mut-
Ein Beitrag zur Künstlerpsychologie, mit einer Vorrede ter und den Vater, die für diesen und für den Sohn
von Alfred Kerr, dem Reik das Buch gewidmet hatte. ein tödliches Ende hat, enthält zahlreiche Einladun-
Der Verfasser der Rezension dazu im Prager Tagblatt gen zu Vermutungen, was in ihr von der Psychoana-
vom 22. Dezember 1912 war Max Brod. Kafka hatte lyse angeregt sein könnte. Doch wie leicht man sich
seinen Freund schon Jahre vorher für Flaubert begeis- mit solchen Vermutungen täuschen kann, hatten
tert. Mit ihm zusammen las er über viele Monate hin- schon früh jene Psychoanalytiker erfahren, die sich
weg den Antonius-Roman. Ob er von Brod schon vor damals für zeitgenössische Literatur interessierten.
der Veröffentlichung der Rezension und vielleicht so- Als man in der von Freud geleiteten Wiener »Psy-
gar schon vor der Niederschrift seiner Erzählung Das chologischen Mittwoch-Gesellschaft« über Wilhelm
Urteil über Reiks Buch informiert war, ist nicht zu er- Jensens Novelle Gradiva (1903) debattierte, erklärten
mitteln. Etliches von dem, was Reik hier thematisiert sich manche die erstaunlichen Übereinstimmungen
− etwa den Hass des Sohnes auf den Vater, Schuld- dieser literarischen Krankheits- und Heilungsge-
komplexe oder mit masochistischen Lustkomponen- schichte mit den eigenen psychoanalytischen Vorstel-
ten durchsetzte Bestrafungsphantasien − gehört zu lungen durch die Annahme, der Autor habe Freuds
den zentralen Motiven in Kafkas Erzählung. In dem Traumdeutung gelesen und in seinem Text verarbei-
enthusiastischen Rückblick auf den rauschhaften tet. Sie irrten darin, wie sich schnell herausstellte (vgl.
Glückszustand der vorangegangenen Nacht, in der er Schönau). Auch wenn im Fall Kafkas Kenntnisse des
bei einer »vollständigen Öffnung des Leibes und der Autors über die Psychoanalyse zweifelsfrei belegt
Seele« Das Urteil in »einem Zug geschrieben« hatte, sind, ist mit ähnlichen Irrtümern bei spezifischeren
notierte Kafka am 23. September 1912 in sein Tage- Aussagen über diese Kenntnisse und ihre Transforma-
buch: »Gedanken an Freud natürlich« (T 460 f.). tion in seine literarischen Texte immer zu rechnen.
Psychoanalyse 67

Kafka und der Psychoanalytiker ren Übergriffen des Vaters und seiner Helfer im
Otto Gross wirklichen Fall Otto Gross gemeinsam hat: die Frag-
würdigkeit und die Undurchsichtigkeit. Einen Ein-
Etwas konkreter als bis 1912 werden die Quellen zu druck davon, wie sehr die Affäre von phantasieanre-
Kafkas Psychoanalyserezeption ab 1917, dem Jahr, in genden Ungewissheiten, dunklen Machenschaften
dem er den in den Bohemekreisen Wiens, Prags, und Gerüchten umrätselt war, vermittelt Arnold
Münchens und Berlins berühmt-berüchtigten Psy- Zweigs Beitrag dazu in der Schaubühne:
choanalytiker Otto Gross (1877–1920) kennenlernte, Warum hat die Polizei den Doktor Groß ausgewiesen?
begeistert Hans Blühers (1888–1955) psychoanaly- Nicht weil er Morphium nahm, heißt es jetzt, sondern
tisch orientierte Schrift Die Rolle der Erotik in der weil er keine Papiere besaß. In der Tat hatte Otto Groß
männlichen Gesellschaft (2 Bde., 1917/19) las und in seine Ausweispapiere nicht; sie lagen bei seinem Vater,
dem Kriminalisten Professor Hans Groß in Graz, und so
dem die mit einem Blutsturz zu Tage tretende Lun-
oft er ihrethalben an den Vater schrieb, erhielt er den Be-
gentuberkulose sein Leben veränderte. Er interpre- scheid, er brauche sie nicht, denn jederzeit könne sich
tierte sie als psychosomatisches Phänomen und die Berliner Polizei direkt an den Vater nach Graz wen-
folgte damit Wahrnehmungsmustern, in die auch den, so daß der Sohn Unannehmlichkeiten nie haben
seine Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse werde. Denn die Polizei aller Länder ist eine große Fami-
lie. Derselbe Vater aber hatte schon im Mai die berliner
involviert waren. Polizei gebeten, seinen Sohn zu beaufsichtigen (warum?)
Über Otto Gross dürfte Kafka schon vier Jahre – sollten ihr also von Graz keine Papiere, sondern Auf-
vorher einiges gehört und gelesen haben. ›Jemand träge, Bitten um eine kleine Gefälligkeit zugegangen
musste Otto G. verleumdet haben, denn ohne dass er sein? Sie leugnet. Sie hat nämlich, sagt sie, Otto Groß gar
nicht ausgewiesen; er habe sich selber freiwillig, sagt sie,
etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens ver-
in Begleitung eines befreundeten Arztes bis an die
haftet‹. Wie Der Process könnte eine Erzählung über Grenze und von dort aus, freiwillig, in eine Anstalt bege-
jenen aufsehenerregenden Fall beginnen, der sich im ben, damit man ihm dort das Kokain entziehe – sagt sie.
November 1913, etwa ein dreiviertel Jahr, bevor Nun, dem gegenüber gibt es Zeugen, die von der Beset-
Kafka an seinem Roman zu schreiben anfing, in Ber- zung der Wohnung durch mehrere Männer wissen
(Zweig, 125).
lin ereignete (vgl. Anz 1984). Der namhafte und ein-
flussreiche Professor für Strafrecht Hans Gross Mit der Besetzung von Josef K.s Zimmer durch
(1847–1915) ließ seinen aus der bürgerlichen Ord- fremde Männer beginnt Der Process. Und K. kann
nung ausgebrochenen Sohn Otto mit Hilfe der Poli- seine »Legitimationspapiere« (P 12) nicht finden.
zei aus Berlin in eine österreichische Irrenanstalt Doch wichtiger als vielleicht zufällige Übereinstim-
verschleppen. mungen oder oberflächliche Einflüsse sind die
Kafka muss von der Affäre gewusst haben. Meh- Analogien zwischen dem realen und dem fiktiven
rere expressionistische Zeitschriften, die hier ein re- Fall, die übereinstimmenden Konfliktkonstellatio-
ales und zugleich höchst anschauliches Beispiel für nen zwischen dem ohnmächtigen Einzelnen und
ihr literarisches Leitmotiv des Vater-Sohn-Konflikts den Repräsentanten patriarchalischer Macht, zwi-
vor Augen hatten, initiierten eine Protestkampagne schen Boheme und Bürgertum, Psychoanalyse und
(vgl. Jung/Anz). Sie fand so viel Resonanz, dass die etablierter Psychiatrie. Sie zeigen, dass Kafkas litera-
Zwangsinternierung in der Anstalt bald wieder auf- rische Straf-, Schuld- und Angstphantasien keines-
gehoben wurde. Kafka war Leser der Zeitschrift Die wegs so phantastisch und realitätsentrückt sind, wie
Aktion, die aus Anlass der Verhaftung einige Auf- uns das manche Interpreten einreden wollen − und
sätze von Otto Gross publizierte und ihm sogar eine dass die Motive und Denkformen dieses Autors kei-
Sondernummer widmete. Doch aufmerksam musste neswegs einzigartig sind, sondern weithin repräsen-
Kafka schon deshalb auf den Fall werden, weil er den tativ für die Erfahrungen in seiner Zeit und Genera-
Vater aus seinem Jurastudium kannte. Drei Semester tion.
lang hatte er in Prag, wo Hans Gross lehrte, bevor er Die Allianz von Vaterfiguren, Gerichtsbehörden
1905 nach Graz berufen wurde, dessen Vorlesungen oder Schlossherren in den fiktiven Textwelten Kaf-
belegt. kas hatte ganz ähnlich Arnold Zweig an dem realen
Hans Gross war jahrelang Untersuchungsrichter Fall Otto Gross im Blick, wenn er »die Synthese von
gewesen. Ein Untersuchungsrichter ist es auch, der Vaterschaft und Bürokratie« (Zweig, 126) anpran-
im Fall Josef K. Exponent jenes Gerichtswesens ist, gerte. Die Unzulänglichkeit und Unzugänglichkeit,
das neben anderem vor allem eines mit den autoritä- die Ignoranz oder auch banale Lächerlichkeit der
68 2. Einflüsse und Kontexte

gleichwohl mächtigen Behörden in Kafkas Textwelt Kafkas eigene Erinnerung an jenen Abend klang,
entspricht der Beschreibung Arnold Zweigs: »Ge- noch vier Monate später, weit begeisterter. An Brod
setzt den Fall, daß im österreichischen Reichsrat schrieb er:
über diesen Otto Groß geredet werden sollte, so wird
Wenn mir eine Zeitschrift längere Zeit hindurch verlo-
die Mehrzahl der Abgeordneten frühstücken, der ckend schien (augenblicksweise natürlich jede) so war es
Ministertisch wird leer sein, irgendein Ministerialrat die von Dr Gross, deshalb weil sie mir, wenigstens an je-
wird strengste und sorgfältige Prüfung zusichern« nem Abend, aus einem Feuer einer gewissen persönli-
(Zweig, 127). chen Verbundenheit hervorzugehen schien. Zeichen ei-
nes persönlich aneinander gebundenen Strebens, mehr
Josef K.s Fall ist allerdings über alle mimetischen kann vielleicht eine Zeitschrift nicht sein (14.11.1917;
Realitätsbezüge hinaus auch und vor allem Meta- B14–17 364).
pher für einen inneren Prozess, Bild eines vielschich-
tigen Schuldkomplexes, der Kafkas eigener war, den Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens sollte sie
er jedoch nie als ein bloß individuelles Problem ge- heißen. Was da bekämpft werden sollte, war nicht
sehen und dargestellt wissen wollte, sondern litera- zuletzt der Machtwille im eigenen Ich. Das entsprach
risch mit einem allgemeineren sozialen oder anthro- jener ethischen Maxime, die Gross in der Formulie-
pologischen Geltungsanspruch darstellte. Damit ent- rung zusammenfasste: »sich selbst nicht vergewalti-
sprach er durchaus Intentionen der Psychoanalyse, gen lassen und andere nicht vergewaltigen wollen«
zumal einer solchen, wie sie Otto Gross vertrat, in- (Gross, 28).
sofern diese innere Konflikte und Machtkämpfe Die Zeitschrift ist nie erschienen; doch das »Feuer
als Spiegelung von oder Folgen aus Konflikt- und einer gewissen persönlichen Verbundenheit« (B14–
Machtstrukturen in sozialen Beziehungen begriff. 17 364) mit Gross hat in Kafkas Werken schon vor
Der »Konflikt zwischen dem Individuum und der der Begegnung mit Gross deutliche Entsprechungen,
Allgemeinheit«, schrieb Gross im November 1913 in vor allem in den dargestellten Mechanismen der
der Aktion, »verwandelte sich unter dem Druck des Verinnerlichung ichfremder Urteilsinstanzen. Gross
sozialen Zusammenlebens naturnotwendig in einen hatte den Vater-Sohn-Konflikt in der ihm eigenen
Konflikt im Individuum selbst, weil sich das Indivi- Terminologie als den »ins Innere verlegten Kampf
duum sich selbst gegenüber als der Vertreter der All- des Eigenen gegen das Fremde« (Gross, 10) beschrie-
gemeinheit zu fühlen beginnt«. Die »ins eigene In- ben. In Kafkas Beschreibungen der Machtkämpfe
nere eingedrungene Autorität« führe in der Psyche seiner Protagonisten mit dem Vater und vaterähnli-
des Einzelnen zum »Konflikt des Eigenen und Frem- chen Autoritäten entfaltet die patriarchale Macht
den«, der individuellen, insbesondere sexuellen Be- erst ihre volle, siegreiche Wirksamkeit im Prozess
dürfnisse einerseits und des »Anerzogenen und Auf- ihrer Verinnerlichung. Georg Bendemann voll-
gezwungenen« andererseits (Gross, 14). streckt das Todesurteil des Vaters an sich selbst. Josef
Während einer nächtlichen Bahnfahrt von Buda- K. und Gregor Samsa verlieren ihren Kampf und
pest nach Prag lernte Kafka im Juli 1917 Otto Gross sterben erst, nachdem sie selbst damit einverstanden
zum ersten Mal persönlich kennen. Der Wiener Li- sind.
terat Anton Kuh und dessen Tochter, eine der Ge- Im Spätwerk Kafkas hat die Verbundenheit mit
liebten von Gross, waren mit dabei. Kuh, so berich- Gross vielleicht sogar noch eindeutigere Spuren hin-
tete Kafka später in einem Brief vom 25. Juni 1920 an terlassen: vor allem in dem <Brief an den Vater > und
Milena Jesenská, »sang und lärmte die halbe Nacht« in dem Romanfragment Das Schloss, in dem Kafka
(BM 78), während Gross ihm seine Lehre darzule- wohl nicht zufällig mit dem »Herrenhof« den Na-
gen versuchte. men jenes Wiener Cafés aufgegriffen hat, in dem
Noch im selben Monat, in dem Kafka Otto Gross sich Anton Kuh, Werfel und Gross zu treffen pfleg-
kennenlernte, trafen sich die beiden in der Wohnung ten. Zwei Begriffe in dem Titel der geplanten Zeit-
von Max Brod wieder. Dieser gab darüber später in schrift gehören jedenfalls zu den ständig wiederkeh-
seiner Kafka-Biographie einen kurzen Bericht: »Der renden Schlüsselwörtern beider Texte: Kampf und
23. Juli sieht dann noch eine größere Gesellschaft bei Macht. Brief und Roman sind nicht zuletzt subtile
mir, an der außer Kafka der Musiker Adolf Schrei- Beschreibungen eines Kampfes um und gegen die
ber, Werfel, Otto Groß und dessen Frau teilnahmen. Macht, in dem der Vater, beziehungsweise die
Groß entwickelte einen Zeitschriftenplan, für den Schlossherren hoffnungslos überlegen sind. Der An-
sich Kafka sehr interessierte« (Brod, 140). tagonismus von Sexualität und Moral, Unbewusstem
Psychoanalyse 69

und Bewusstem, Körper und Geist wird damals al- Einzelfälle einengt, muss Literatur über sie hinaus-
lerdings generell in der Literatur wie in der Psycho- gehen und das Zeittypische im Besonderen sichtbar
analyse immer wieder mit Metaphern des Kampfes machen. Neben dem Protagonisten Franz Schweiger,
dramatisiert (vgl. Anz 2006, 29–38). Zusammen mit dem Werfel nicht nur mit dem gewählten Vornamen
»Unterdrückung«, »Widerstand« oder »Abwehr« ge- Merkmale von Franz Kafka zuschrieb (vgl. Stach
hört auch »Kampf« zum festen Inventar des psycho- 2008, 519 f.), dürfte vor allem eine Figur, so wie der
analytischen Vokabulars. Vom »Kampf mit dem Autor sie auftreten und reden ließ, Kafkas Empö-
mächtigen Triebe« oder »Kampf gegen die Sinnlich- rung hervorgerufen haben: der Privatdozent und
keit« spricht Freud (1940, VII, 159) etwa in seiner Anarchist Dr. Ottokar Grund. Nicht nur mit dem
1908 erschienenen Schrift Die ›kulturelle‹ Sexualmo- Namen spielte Werfel auf Otto Gross an. Dr. Grund
ral und die moderne Nervosität. wird nicht nur als ein »höchst unangenehmer
Die Verbundenheit Kafkas mit Gross hatte noch Mensch« charakterisiert, als »abgerissen und gänz-
ein dramatisches Nachspiel, das seine Einschätzung lich verwahrlost«, ja, er ist nicht nur ein gefährlicher
der Psychoanalyse unmittelbar tangierte: in Kafkas Psychopath, der sich von der Autorität befreit, in-
nachhaltiger Empörung über ein 1922 erschienenes dem er seinen Psychiater erschießt, er ist ein Unge-
Drama seines sonst so bewunderten Freundes Franz heuer, das »den grenzenlosen Haß von Millionen
Werfel. Das Stück mit dem Titel Schweiger, so Kafka Kranken« auf die wohlgeordnete Welt der Gesunden
in einem Briefentwurf an Werfel, sei »ein Verrat an predigt. Und wahrhaft ungeheuerlich sind auch die
der Generation, eine Verschleierung, eine Anekdoti- Pläne, die er andeutet: »Bazillenkulturen in die Was-
sierung, also eine Entwürdigung ihrer Leiden« (Dez. serleitungen« (Werfel, 48, 116 u. 119).
1922; Briefe 424; vgl. auch NSF II, 529). Wenn man Die Figuren in dem Stück seien »keine Men-
nach 1920 in Prager Literatenkreisen von ›der Gene- schen«, schreibt Kafka an Max Brod (Dez. 1922,
ration‹ sprach, meinte man die eigene, die etwa um Briefe 423). Otto Gross ist hier zum Unmenschen
1910 mit Nachdruck in die literarische Öffentlich- gemacht, der die Humanität als Lüge entlarven will.
keit trat und von einigen schon am Ende des Jahr- Das musste den schockieren, der ihn einmal so hoch
zehnts als abgeschlossene, historische Angelegenheit schätzte wie Kafka. Zumal er eine Eigenschaft des
betrachtet wurde. Werfels Schweiger hatte die Ideen, Dr. Grund, auch wenn sie von Werfel wieder maßlos
Aktivitäten und auch die Leiden dieser Generation verzerrt wurde, als eigene wiedererkannt haben
noch einmal in Szene gesetzt, dabei freilich entstellt dürfte: das ambivalente Verhältnis zur Macht und
zu dümmlichen Heilslehren, psychopathischen Autorität. Dr. Grund schwankt gegenüber der Auto-
Phantastereien und psychiatrischen Einzelfällen. rität seines Psychiaters, der das rassistische und nati-
Werfels Drama degradierte nach Kafkas Einschät- onalrevolutionäre Gedankengut der Zeit verkörpert,
zung die leidvolle Krankheitsgeschichte der Titelfi- zwischen hündischem Gehorsam und heroischer
gur Franz Schweiger, die früher einmal in einem un- Auflehnung. Ähnlich zerrissen von einem geradezu
vermittelten Wahnsinnsanfall einen Mord begangen masochistischen Verlangen nach Unterwerfung und
hatte, zu einem »Einzelfall« (NSF II, 528), zu einer dem Willen zum Kampf gegen fragwürdige Autori-
»psychiatrischen Geschichte« (An M. Brod, Dez. täten hat Kafka sich wiederholt in seinen literari-
1922; Briefe 424): schen Figuren dargestellt. Als individuelle und the-
Sie erfinden die Geschichte von dem Kindermord. Das rapierbare Krankheitserscheinung mochte er solche
halte ich für eine Entwürdigung der Leiden einer Gene- Dispositionen jedoch nicht akzeptieren.
ration. Wer hier nicht mehr zu sagen hat als die Psycho- In einem Brief an seine Geliebte Milena Jesenská,
analyse dürfte sich nicht einmischen. Es ist keine Freude die ebenfalls Gross kannte und 1920 in einem Feuil-
sich mit der Psychoanalyse abzugeben und ich halte
leton seinen Tod angezeigt hatte, erklärte Kafka den
mich von ihr möglichst fern, aber sie ist zumindest so
existent wie die Generation. Das Judentum bringt seit je- »terapeutischen Teil der Psychoanalyse« für »einen
her seine Leiden und Freuden fast gleichzeitig mit dem hilflosen Irrtum« (Nov. 1920; BM 292). Menschli-
zugehörigen Raschi-Kommentar hervor, so auch hier ches Leiden habe eine Bedeutung, die über jene
(NSF II, 529 f.). »Krankheitserscheinungen, welche die Psychoana-
Die Psychoanalyse ist nach Kafkas Einschätzung lyse aufgedeckt zu haben glaubt« (ebd.), hinausgeht.
selbst ein Dokument ihrer Zeit, eine Art Begleitkom- Mit Nachdruck hatte dies auch Otto Gross betont.
mentar zu den »Leiden einer Generation« (NSF II, Die Analyse der Leiden seiner Generation mit ihren
529). Soweit sie jedoch ihren Blick auf individuelle sozialen, psychischen, existentiellen oder auch religi-
70 2. Einflüsse und Kontexte

ösen Aspekten zu einer umfassenderen Kulturana- wissenschaftler damalige oder später entwickelte
lyse ausgeweitet zu haben − darin vor allem bestand psychoanalytische Deutungsmuster zu eigen ma-
sein theoretisches Verdienst. Auch wenn Kafka nicht, chen und mit ihnen Kafkas Werke oder im Zusam-
zumindest nicht so radikal und offen wie er, den re- menhang damit auch seine Psyche beschreiben.
volutionären Kampf »gegen Vergewaltigung in ur- Einer der umfangreichsten Beiträge, die Das Urteil
sprünglichster Form, gegen den Vater und das Vater- im Rückgriff auf die Psychoanalyse deuten, trägt den
recht« (Gross, 16) propagierte, gibt es zwischen den Titel Erzählte Psychoanalyse bei Franz Kafka (Kaus
literarischen Macht-, Abhängigkeits-, Schuld- und 1998). Der Titel deutet die These an, Kafka habe sein
Ohnmachtsanalysen des einen und den theoreti- psychoanalytisches Wissen in eine Erzählung umge-
schen des anderen etliche Berührungspunkte. Affi- setzt. Die Interpretation verwendet dann jedoch psy-
nitäten zwischen Kafkas Literatur und der Psycho- choanalytische Begriffe, die Kafka noch nicht ken-
analyse seiner Zeit gibt es auch sonst in hohem Aus- nen konnte, weil Freud oder seine Schüler sie erst
maß. Eine davon ist die forcierte Selbstbeobachtung Jahre später verwendeten. Soll die Titel-These also,
und Selbstreflexion (vgl. Kurz, 44) – mit der Hoff- einer so beliebten wie problematischen Argumenta-
nung auf eine Befreiung von unbewusst wirkenden tionsweise folgend, besagen, Kafka habe spätere psy-
Zwängen. Kafka beendet im <Brief an den Vater > die choanalytische Einsichten narrativ vorweggenom-
Beschreibung seines Kampfes gegen ihn mit einer men? Oder verdeckt sie nur die häufig anzutreffende
versöhnlichen Bemerkung, die Anklänge an eine drei Praxis von Interpreten, bestimmte Erzählinhalte
Jahre vorher veröffentlichte Formulierung Freuds oder auch erzähltechnische Merkmale in die eigene
aufweist. Mit dem Brief sei, so Kafka, »doch etwas psychoanalytische Sprache zu übersetzen und di-
der Wahrheit so sehr Angenähertes erreicht, daß es verse Theorieversionen der Psychoanalyse am Bei-
uns beide ein wenig beruhigen und Leben und Ster- spiel literarischer Texte zu veranschaulichen?
ben leichter machen kann« (NSF II, 217). Freud hatte Jeder der oben unterschiedenen Aussagentypen
am Ende seiner Essays Zeitgemäßes über Krieg und ist wiederum mit spezifischen Problemen konfron-
Tod (1915) geschrieben, unsere unbewusste, sorgfäl- tiert: (1) Über die Quellen, die zu Kafkas Kenntnis-
tig unterdrückte Einstellung zum Tod bewusst zu sen der Psychoanalyse vorliegen, hat zuerst Hartmut
machen, habe »den Vorteil, der Wahrhaftigkeit mehr Binder (1966, 92–114) umfassend informiert. Seit-
Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder er- her haben sich die Kenntnisse zu den Quellen kaum
träglicher zu machen« (Freud 1940, X, 354). verändert, nur die Meinungen über sie. Auch die
Ob die Formulierungsähnlichkeiten zufälliger Art jüngeren großen Biographien von Rainer Stach
sind und ob Kafka diese Essays überhaupt gelesen (Stach 2002, 231 f., 309; 2008, 193–196, 517–520)
hat, lässt sich jedoch kaum klären. Das ist sympto- und Peter-André Alt (Alt, 308–312, 449 f.) greifen
matisch für manche Schwierigkeiten, die die Kafka- auf die von Binder präsentierten Materialien zu Kaf-
Forschung mit Aussagen über die Beziehung des Au- kas Psychoanalyse-Rezeption zurück, interpretieren
tors und seines Werkes zur Psychoanalyse hat. sie aber zum Teil anders. Zuverlässige Indikatoren
für eine literarische Verarbeitung psychoanalyti-
schen Wissens, wie sie etwa in Franz Werfels Novelle
Forschung Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1920),
Hermann Hesses Demian (1919) oder Thomas
Wo die Kafka-Forschung auf psychoanalytische The- Manns Der Zauberberg (1924) vorliegen, gibt es in
orien und Begriffe zurückgreift, verstricken sich ihre Kafkas Werken nicht − etwa Zitate aus psychoanaly-
Aussagen wiederholt in ähnliche Probleme. Diese tischen Texten oder deutlich markierte Anspielun-
entstehen nicht zuletzt dadurch, dass unterschiedli- gen auf sie, die Verwendung einschlägiger psycho-
che Typen solcher Aussagen oft nicht klar unter- analytischer Termini oder Figuren, die als Therapeu-
schieden werden, sondern sich auf nicht ausreichend ten mit psychoanalytischem Profil konzipiert sind.
reflektierte Weise vermischen: (1) Aussagen über Eine Fülle von unzuverlässigen Indikatoren für
Kafkas Kenntnisse der Psychoanalyse und deren Kafkas literarische Adaption psychoanalytischen
Spuren in seinen Werken; (2) Aussagen über histori- Wissens hat die Kafka-Forschung in einem kaum
sche Ähnlichkeiten oder Differenzen zwischen Kaf- noch überschaubaren Maß dazu stimuliert, sie im
kas literarischen Texten und denen damaliger Psy- Rückgriff auf ›frames‹ und ›scripts‹ psychoanalyti-
choanalytiker; (3) Aussagen, in denen sich Literatur- scher Schemata der Informationsverarbeitung zu er-
Psychoanalyse 71

gänzen und zu konkretisieren. Wenn sie mit der turell-konventionellen Sicherheiten« (Freud 1955,
Frage verbunden sind, ob Kafka selbst diese Sche- 97). Kafka und mit ihm die spätere Kafka-Forschung
mata zur Zeit der Niederschrift eines Textes kennen partizipierten an der damaligen, die Psychoanalyse
konnte, enthalten solche Versuche die Implikation, und Literatur verbindenden Gemeinschaft von Inte-
dass Kafka sie beim Schreiben mehr oder weniger ressen an allen Äußerungsformen des Unbewussten
bewusst verwendet und deren Kenntnis zum Teil (vor allem Träume und Wahnbildungen), sexuellem
auch bei seinen Adressaten vorausgesetzt hat. Etli- Handeln und Begehren, symbolischen Verschlüsse-
chen Kafka-Interpreten sind zum Beispiel die Ana- lungen tabubesetzter Inhalte, an der Genese von
logien zwischen Freuds Versuch in Totem und Tabu Schuldkomplexen, an pathologischen Befindlichkei-
(1913), eine Urgeschichte des Vatermordes und des ten (Nervosität, Angstneurose und Hysterie), an fa-
Schuldbewusstseins zu rekonstruieren, und der Er- milialen Liebes- und Konfliktkonstellationen oder
zählung Das Urteil aufgefallen (vgl. Sokel, 64). Wenn auch an psychischen Bedingungen künstlerischer
sie darauf hinweisen, dass Teile von Freuds Buch Kreativität.
schon vor der Niederschrift der Erzählung in der Hob Freud 1907 in seinem Vortrag Der Dichter
Zeitschrift Imago veröffentlicht wurden, liegt ihnen und das Phantasieren die Affinitäten zwischen Lite-
am Nachweis der Möglichkeit, dass Kafka sie gelesen ratur und Traum hervor und bemerkte er dabei unter
haben könnte und sich von ihnen hat anregen lassen. anderem die »Neigung des modernen Dichters, sein
Fehlen solche Hinweise, dann sind Feststellungen zu Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zer-
Ähnlichkeiten zwischen Freuds Schrift und Kafkas spalten und demzufolge die Konfliktströmungen sei-
Erzählung eher dem Aussagentypus (2) zuzuordnen. nes Seelenlebens in mehreren Helden zu personifi-
(2) Historische Vergleiche zwischen Literatur und zieren« (Freud 1940, VII, 211), so ist der literaturwis-
Psychoanalyse sind auf philologische Nachweise ge- senschaftlichen Forschung an Kafkas literarischen
genseitiger Kenntnis nicht angewiesen. Sie sind im Texten vielfach Ähnliches aufgefallen. Insbesondere
Falle Kafkas schon dadurch legitimiert, dass lite- die Traumartigkeit der Erzählung Ein Landarzt hat
rarische Moderne und Psychoanalyse zeitgleiche die Forschung immer wieder zu psychoanalytisch in-
Phänomene sind und daher beide an zeittypische, spirierten Deutungen oder zu Vergleichen mit psy-
Literatur, Kunst und Wissenschaft übergreifende In- choanalytischen Theorien der Phantasiebildung und
teressen, Problemlagen, Denk- und Wahrnehmungs- des Träumens veranlasst (vgl. besonders Hiebel, 83–
muster, Normen, Werte, Mentalitäten oder Diskurs- 123; Engel, 251–253; Alt, 501–510).
ordnungen gebunden sind. Sie sind partiell differie- Relativ selten geworden sind dabei inzwischen
rende Bestandteile der gleichen Kultur. Ob und wie Forschungsbeiträge, die sich (dem Aussagentypus 3
genau Kafka vor der Niederschrift seiner literari- entsprechend) damalige oder neuere psychoanalyti-
schen Texte Freuds Traumdeutung (1899), die Psy- sche Theoreme historisch und theoretisch distanzlos
chopathologie des Alltagslebens (1904), die Drei Ab- zueigen machen und Kafkas Texte ihnen anzuglei-
handlungen zur Sexualtheorie (1905) oder Totem und chen versuchen. In jeder Hinsicht diffuse Spekulati-
Tabu (1913) kannte oder ob er zum Beispiel Anfang onen über »die Begegnung mit dem lacanschen
1913 einen Vortrag von Alfred Adler (1870–1937) in Wirklichen, die Kafkas Fiktion uns gestattet« (Suss-
Prag zu seinem Buch Über den nervösen Charakter man, 355), wie sie unlängst noch, ganz ohne konkre-
(1912) hörte (vgl. den Bericht im Prager Tagblatt tere Verweise auf das Beziehungsgeflecht zwischen
vom 4.1.1913), ist in dieser Perspektive gegenüber Psychoanalyse und literarischer Moderne, veröffent-
der vergleichenden Frage nach Ähnlichkeiten und licht wurden, fallen jedenfalls hinter den erreichten
Differenzen sekundär. Stand der Forschung weit zurück. Ihnen entgeht
In dem berühmten Brief, mit dem Freud am 14. nicht zuletzt die Eigenwilligkeit und Eigenständig-
Mai 1922 Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag gra- keit, mit der Autoren der Moderne wie Kafka sich
tulierte, formulierte er zusammen mit dem Einge- das Wissen der Psychoanalyse aneigneten, es kriti-
ständnis seiner »Doppelgängerscheu« vor dem Au- sierten, modifizierten und in ihre literarischen Kon-
tor zutreffend, was Psychoanalyse und literarische zepte integrierten.
Moderne verband: »die nämlichen Voraussetzun-
gen, Interessen und Ergebnisse«, das »Ergriffensein Materialien/Quellen: Thomas Anz/Christina Jung (Hg.):
von der Wahrheit des Unbewußten, von der Trieb- Der Fall Otto Gross. Eine Pressekampagne deutscher
natur des Menschen« und der »Zersetzung der kul- Intellektueller im Winter 1913/14. Marburg 2002. – Sig-
72 2. Einflüsse und Kontexte

mund Freud: Briefe an Arthur Schnitzler. In: Neue


Rundschau 66 (1955), 95–106. – Ders.: Gesammelte
2.6 Film und Fotografie
Werke. Bd. I-XVIII. London, Frankfurt/M. 1940–52. –
Otto Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Kata- Der Themenbereich Film und Fotografie verweist
strophe. Hg. von Kurt Kreiler. Frankfurt/M. 1980. –
auf zwei miteinander verbundene Fragestellungen:
Franz Werfel: Schweiger. Ein Trauerspiel in drei Akten.
Zum einen geht es hier um tatsächliche Filme und
München 1922. – Arnold Zweig: Zwischenrede über
Fotografien, mit denen Kafka in Berührung kam
Otto Gross [zuerst in: Die Schaubühne 10 (1914) 9,
und die in seinen Texten entweder explizit themati-
235–238 (26.2.1914)]. In: Anz/Jung (s.o.), 124–128.
Forschung: P.-A. Alt (2005). – Thomas Anz: Jemand siert oder implizit reflektiert werden; zum anderen
mußte Otto G. verleumdet haben… K., Werfel, Otto jedoch stellt sich die Frage nach dem allgemeineren
Gross und eine »psychiatrische Geschichte«. In: Akzente Einfluss der beiden Medien auf Kafkas Imagination
31 (1984) 2, 184–191. – Ders.: Praktiken und Probleme und literarische Produktion, d. h. nach spezifisch fil-
psychoanalytischer Literaturinterpretation – am Bei- mischen oder fotografischen Wahrnehmungs- und
spiel von K.s Erzählung Das Urteil. In: Oliver Jahraus/ Schreibweisen im Kafkaschen Werk.
Stefan Neuhaus (Hg.): K.s Urteil und die Literaturtheo-
rie. Zehn Modellanalysen. Stuttgart 2002, 126–151. –
Ders.: Psychoanalyse und literarische Moderne. Be- Kafka und der Stummfilm
schreibungen eines Kampfes. In: Ders./Oliver Pfohl-
mann (Hg.): Psychoanalyse in der literarischen Mo- Kafka war ein enthusiastischer Kinobesucher, des-
derne. Eine Dokumentation. Bd. I: Einleitung und Wie- sen Interesse am Medium Film zwischen 1910 und
ner Moderne. Marburg 2006, 11–42. – Hartmut Binder: 1913 seinen Höhepunkt erreichte, der jedoch bis in
Motiv und Gestaltung bei F.K. Bonn 1966. – Ders.: Le- sein letztes Lebensjahr die filmische Entwicklung
ben und Persönlichkeit F.K.s. In: KHb (1979) I, 103– aufmerksam begleitete (Zischler, 155). In literari-
584. – Max Brod: F.K. Eine Biographie. Frankfurt/M. scher Hinsicht schlug sich Kafkas Kinobegeisterung
1974 [1937]. – Manfred Engel: Literarische Träume und explizit nur in den autobiographischen Texten nie-
traumhaftes Schreiben bei F.K. Ein Beitrag zur Oneiro-
der, und auch dort meist nur in elliptischen Bemer-
poetik der Moderne. In: Bernhard Dieterle (Hg.): Träu-
kungen. Die einzige Ausnahme stellt der fragmenta-
mungen. Traumerzählung in Film und Literatur. St. Au-
rische Roman Richard und Samuel dar, Kafkas litera-
gustin 1998, 233–261. – Georg Guntermann: K. und
rische ›Ko-Produktion‹ mit Max Brod, die jedoch
Freud? Grenzen der Sichtbarmachung des Unbewuß-
ten. Mit einigen Illustrationen zur Verwandlung. In: Mi- wiederum aus Tagebucheinträgen hervorging. Im
chael Braun (Hg.): »Hinauf und Zurück, in die herzhelle separat veröffentlichten Kapitel »Die erste lange Ei-
Zukunft«. Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhun- senbahnfahrt« beschreibt Kafkas Erzähler Richard
dert. Bonn 2000, 189–213. – Hans Helmut Hiebel: F.K. die Begegnung mit der jungen Dora Lippert, die von
Ein Landarzt. Paderborn 1984. – Rainer J. Kaus: Er- den Protagonisten zu einer gemeinsamen Stadtrund-
zählte Psychoanalyse bei F.K. Eine Deutung von K.s Er- fahrt im Taxi genötigt wird:
zählung Das Urteil. Heidelberg 1998. – Ders.: K. und Wir steigen ein, mir ist das Ganze peinlich, es erinnert
Freud. Schuld in den Augen des Dichters und des Ana- mich auch genau an das Kinematographenstück »Die
lytikers. Heidelberg 2000. – Ders.: Literaturpsychologie weiße Sklavin«, in dem die unschuldige Heldin gleich
und literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und F.K. am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern
Frankfurt/M. 2004. – Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. in ein Automobil gedrängt und weggeführt wird (DzL
428).
K.s literarische Existenzanalyse. Stuttgart 1980. – Wal-
ter Schönau: Die Bedeutung psychoanalytischen Wis- Die weiße Sklavin war ein erfolgreiches Melodrama
sens für den kreativen Prozeß literarischen Schreibens. über die Entführung einer jungen Frau, die in die
In: Thomas Anz (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Prostitution gezwungen werden soll, in letzter Mi-
Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg nute aber von ihrem Verlobten gerettet wird. In Kaf-
1999, 219–231. – Walter H. Sokel: F.K. Tragik und Iro- kas Erzählung werden Filmhandlung und (literari-
nie. Zur Struktur seiner Kunst. Frankfurt/M. 1976
sche) Realität durch eine textuelle Montagetechnik
[1964]. – R. Stach (2002). – R. Stach (2008). – Henry
miteinander verschränkt. Tatsächlich basiert jedoch
Sussman: K. und die Psychoanalyse. In: KHb (2008),
Kafkas Adaption auf einer Fehlerinnerung: Die bei-
353–370.
Thomas Anz
den Männer in der Filmsequenz sind harmlose Sta-
tisten, die im fraglichen Moment zufällig das Fahr-
Film und Fotografie 73

zeug passieren (Zischler, 56). Kafkas literarische An- wenn ich auch selbst nur sehr selten ins Kinematogra-
fenteater gehe, so weiß ich doch meistens fast alle Wo-
verwandlung des Filmmaterials basiert somit auf chenprogramme aller Kinematographen auswendig.
einer retrospektiven Umschreibung, die die erin- Meine Zerstreutheit, mein Vergnügungsbedürfnis sät-
nerte Sequenz in die (ebenfalls leicht melodramati- tigt sich an den Plakaten, von meinem gewöhnlichen in-
sche) Romanhandlung einfügt. Im gleichen Textab- nerlichsten Unbehagen, von diesem Gefühl des ewig
schnitt findet das Kino jedoch eine zweite, metapho- Provisorischen ruhe ich mich vor den Plakaten aus, im-
mer wenn ich von den Sommerfrischen […] in die Stadt
rische Erwähnung. Während der Stadtrundfahrt zurückkam, hatte ich eine Gier nach den Plakaten und
kommentiert Kafkas Erzähler: »Die Pneumatics rau- von der Elektrischen, mit der ich nachhause fuhr, las ich
schen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im im Fluge, bruchstückweise, angestrengt die Plakate ab,
Kinematographen« (DzL 429). Das Medium Film an denen wir vorbeifuhren (An F. Bauer, 13./14.3.1913;
B 13–14 132 f.).
fungiert hier nicht mehr als handlungsspezifischer
Intertext, sondern als abstrakte Geräuschkulisse. In Die filmische Fragmentierung der Wahrnehmung
dieser Funktion wird es zum Vehikel nicht nur der wird somit in der allgemeinen Technologisierung
literarischen Reisebeschreibung, sondern auch einer der modernen Lebenswelt sowohl widergespiegelt
tiefgreifenden Dynamisierung der menschlichen als auch verstärkt, wie denn auch der moderne Be-
Wahrnehmung im Zuge ihrer medientechnologi- trachter das Kinoerlebnis in die unvermittelte Wirk-
schen Modernisierung. lichkeitswahrnehmung überträgt. Entsprechend wird
Wie aus den Tagebüchern hervorgeht, besteht der in Kafkas literarischen Texten die in den persönli-
Reiz wie auch die Herausforderung des Films für chen Schriften mit einem Gefühl der Leere und Un-
Kafka in der flüchtigen Erscheinung seiner Bilder, ruhe assoziierte Kinoerfahrung für die literarische
die sich einer kontemplativen Rezeption, damit aber Produktion fruchtbar gemacht. Dabei rekurriert
auch einer detaillierten und akkuraten literarischen Kafka mit der oben erwähnten Ausnahme der Wei-
Wiedergabe entziehen. In einem Tagebucheintrag ßen Sklavin nicht auf spezifische Handlungsmuster
über den Abenteuerfilm Sklaven des Goldes aus dem oder thematische Vorlagen, sondern mobilisiert in
Jahr 1913 notiert Kafka: »Der Millionär auf dem Bild seinen Texten allgemeinere Handlungs-, Stil- und
im Kino ›Sklaven des Goldes‹. Ihn festhalten! Die Strukturmerkmale einer Stummfilm-Ästhetik.
Ruhe, die langsame zielbewußte Bewegung, wenn
notwendig rascher Schritt, Zucken des Armes« (1.7.;
T 563f.). Während hier die literarische Untergliede- Filmische Schreibweisen
rung der Filmhandlung in distinkte Einzelbilder und
Bewegungsfolgen noch gelingt, betont Kafka an an- Wenn sich also explizite Verweise auf das Medium
derer Stelle die grundsätzlichen Probleme der Film- Film mit der oben genannten Ausnahme auf die
rezeption. Im selben Jahr notiert er: nicht-literarischen Schriften beschränken, so reflek-
tieren dennoch vor allem die früheren Prosatexte
Im Kino gewesen. Geweint. »Lolotte«. Der gute Pfarrer. Kafkas Kinobegeisterung auf thematischer wie stilis-
Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maß- tischer Ebene. Dies lässt sich vor allem in der Samm-
lose Unterhaltung. Vorher trauriger Film »Das Unglück
im Dock« nachher lustiger »Endlich allein«. Bin ganz lung Betrachtung beobachten, deren Aneinanderrei-
leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat hung kurzer und thematisch heterogener Erzählun-
mehr lebendigen Sinn (20.11.1913; T 595). gen an die im frühen Film verbreitete Montagetechnik
erinnert. Texten wie Der Fahrgast oder Kleider liegt
Hier wie auch in anderen Einträgen thematisiert eine quasi voyeuristische Beobachtungstechnik zu-
Kafka das Problem der sensorischen Überladung. grunde, die Anleihen an der Optik der Großauf-
Das in disparaten Stichworten skizzierte Filmerleb- nahme macht, während thematische Verweise auf
nis hat keine kathartische Wirkung, sondern resul- Pferderennen, Indianer und Amerikaner an das be-
tiert vielmehr in einem Gefühl der Leere, in dem liebte Genre des Abenteuer- und Wildwestfilms er-
sich der menschliche Betrachter der modernen innern, das auch von Kafka aktiv rezipiert wurde.
Technik – vertreten durch die ›Elektrische‹ – nicht Neben dem oben genannten Film Sklaven des Goldes
über-, sondern rational wie emotional unterlegen erwähnt er in seinem Tagebuch auch Theodor Kör-
fühlt. An anderer Stelle projiziert Kafka diese frag- ner, einen »sentimental-reißerischen Film mit deut-
mentarische Wahrnehmungsweise auch auf die lich nationalistischer Tendenz« (Zischler, 91), der
Wirklichkeit außerhalb des Kinos: die Zuschauer vor allem durch seine spektakulären
74 2. Einflüsse und Kontexte

Reitszenen bestach. In Kafkas Tagebuch folgt auf die dial geprägten – Blick gefassten Wirklichkeit. Tat-
Eintragung über diesen Film unmittelbar das erste sächlich konstituieren verbale und visuelle, dialogi-
Kapitel des Verschollenen: Kinoerlebnis und literari- sche und beschreibende Elemente Kafkascher Texte
sche Inspiration sind in Kafkas erstem Roman aufs nicht ein homogenes Sinngefüge, sondern untermi-
Engste miteinander verknüpft. Zum einen verweisen nieren sich gegenseitig, wie auch der fokussierende
das amerikanische ›Setting‹ und Handlungselemente Blick auf die Erscheinungen der Außenwelt nicht in
wie Verfolgungsjagden und andere slapstickhafte einem Gefühl der Kontrolle und Vertrautheit resul-
Episoden auf den zeitgenössischen Kinogeschmack. tiert, sondern vielmehr in einer tiefgreifenden Ent-
Zum anderen ist auch die Erzählstruktur des Ro- fremdung von dem dabei ans Licht gebrachten »Op-
mans durch filmische Einflüsse geprägt. Der häufige tisch-Unbewußten« (Benjamin 1991b, 371) der mo-
Orts-, Personal- und Stimmungswechsel erinnert an dernen Lebenswelt.
die im frühen Film verbreitete Aneinanderreihung
kontrastierender Episoden oder Kurzfilme, und die-
ses Montageprinzip strukturiert den allgemeinen Er- Das Kaiserpanorama:
zählverlauf wie auch einzelne Episoden, in denen in Abwendung vom Kino
Anlehnung an die Filmtechnik der ›Zwischenbilder‹
visuelle Tableaus in den Handlungsverlauf einge- Insgesamt also liegt die primäre Bedeutung des Me-
schaltet werden. So werden des Heizers Verhandlun- diums Film für Kafka nicht in spezifisch inhaltlichen
gen mit dem Kapitän im ersten Kapitel mehrfach Bezügen, sondern gründet neben strukturellen An-
durch Beschreibungen des Hafenpanoramas unter- leihen bei dem filmischen Montageprinzip in einer
brochen, die gleichzeitig den Gesprächsverlauf im- filmisch inspirierten Veränderung literarischer
plizit reflektieren (Jahn 1965, 55). Wahrnehmungsweisen, deren Erweiterung durch
Für Theodor W. Adorno sind solche visuellen Ele- Techniken wie Großaufnahme, Zeitlupe, Schnitt und
mente Kennzeichen von Kafkas filmischer Seh- und Standbild jedoch zugleich eine tiefgreifende Distanz
Schreibweise: von der derart sezierten Realität erzeugt. Diese Am-
Kafkas Romane sind […] die letzten, verschwindenden bivalenz wird in Kafkas Schriften nicht nur implizit
Verbindungstexte zum stummen Film (der nicht um- reflektiert, sondern auch explizit thematisiert.
sonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod ver- In seinem Reisetagebuch widmet Kafka einen län-
schwand); die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen geren Abschnitt dem sogenannten Kaiserpanorama,
dem Versinken in Stummheit (mit der Destruktion der
einem 1880 von August Fuhrmann erfundenen Vor-
Sprache) und dem Sicherheben aus ihr in Musik
(Adorno/Benjamin, 95). läufer des Kinos, in dem Besuchern stereoskopische
Reisefotografien und Bilder aktueller Ereignisse vor-
In Anlehnung an den Stummfilm wird die explizit geführt wurden. In Kafkas Werk kommt diesem Me-
verbale Kommunikation Kafkascher Figuren durch dium eine wichtige Funktion zu, da es eine grundle-
eine expressive, gleichzeitig zutiefst ambivalente Se- gende visuell-literarische Neuorientierung initiiert
miotik der Körpersprache nicht nur begleitet sondern (Duttlinger 2005, 237–244). Die im Vergleich mit
auch unterminiert und sogar ersetzt. So ist Josef K. dem Kino veraltete Technik des Kaiserpanoramas
im Process aus Unkenntnis des vom italienischen bietet für Kafka wesentliche Vorteile gegenüber dem
Geschäftsfreund gesprochenen Dialekts gezwungen, dynamischeren Filmerlebnis: »Die Bilder lebendiger
den Gesprächsverlauf allein aus dessen Gestik und als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe
Mimik abzuleiten (P 274 f.). An anderer Stelle wie- der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt
derum werden Bewegungsabläufe in einem hyper- dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die
realistischen Zeitlupenmodus dargestellt, wie z. B. Ruhe des Blickes scheint wichtiger« (Jan./Febr. 1911;
während Karl Roßmanns Kampf mit Delamarche T 937).
nach seinem Ausbruchsversuch (V 336–338). Wäh- Angeregt durch das Kaiserpanorama entwickelt
rend zeitgenössische Filmtheoretiker wie Béla Balázs Kafka hier eine programmatische Kritik filmischer
vor allem den sinnkonstitutiven Effekt einer solchen, Ästhetik, indem er die Fotografie als das aus wahr-
filmisch inspirierten »Wendung zum Visuellen« her- nehmungspsychologischer Perspektive dem Film
vorheben (Balázs, 16), betonen Kafkas Texte gerade überlegene Medium präsentiert. Im Gegensatz zur
den zutiefst ambivalenten und oftmals geradezu her- unruhig bewegten Filmszene, die kaum Spielraum
metischen Charakter einer solcherart in den – me- für die kreative Anverwandlung bietet, gewinnt der
Film und Fotografie 75

menschliche Blick in der Begegnung mit dem foto- nen Nase, mit dem emporgehaltenem Arm und ei-
grafischen Bild eine imaginativ animierende Funk- ner Wendung aller Finger« (29.9.1911; T 43). Kafka
tion. Damit hat der Vergleich von Film und Fotogra- appliziert hier die Ästhetik der alten Porträtfotogra-
fie auch eine literarische Dimension, da er implizit fie auf eine (nicht-fotografische) Varietévorstellung.
die Bedingungen für die gelingende literarische Ad- Ein halbes Jahr später wird dieses fotografische Be-
aption von visueller Wirklichkeit thematisiert. In der schreibungsmodell in einem ähnlichen Zusammen-
Moderne erwächst der Literatur aus den technischen hang wieder aufgegriffen: »Kabaret Lucerna. […]
Medien, vor allem aber aus der hyperrealistischen Liebesszene im Frühling in der Art der Photogra-
Optik der Filmkamera, eine Konkurrenz, die ihre phieansichtskarten. Treue, das Publikum rührende
Vorrangstellung zu unterminieren droht. Die Foto- und beschämende Darstellung« (16.3.1912; T 407 f.).
grafie hingegen, die im 19. Jahrhundert im Zusam- In beiden Beispielen verwendet Kafka die Fotografie
menhang einer ähnlichen Medienkonkurrenz disku- als literarische Metapher, die es dem Betrachter er-
tiert wurde (Plumpe, Stiegler), ermöglicht in Kafkas möglicht, die flüchtigen Eindrücke einer Cabaret-
Augen eine ertragreichere Kooperation zwischen Vorführung textuell festzuhalten und zu verarbeiten.
Text und Bild. Während Kafkas Texte also Strategien Jedoch beschränkt sich Kafkas Beschäftigung mit
und Strukturen filmischer Ästhetik mobilisieren, der Fotografie nicht auf metaphorische Anverwand-
thematisieren sie gleichzeitig die Probleme einer sol- lungen, sondern gründet in einer lebenslangen kon-
chen Schreib- und Sehweise, der in der ›Ruhe‹ des kreten Auseinandersetzung mit dem Medium (Dutt-
fotografischen Mediums eine konstruktive Alterna- linger 2007). Kafka besaß selbst keine Kamera, foto-
tive entgegengesetzt wird. grafierte aber gelegentlich mit geliehenen Apparaten;
Vor dem Hintergrund von Kafkas Überlegungen während er in praktischer Hinsicht nur als fotografi-
zum Kaiserpanorama ist es kein Zufall, dass Kafkas scher Amateur bezeichnet werden kann, war er zu-
frühe Kinobegeisterung explizit so gut wie keine gleich ein leidenschaftlicher Sammler und Betrach-
Spuren im literarischen Werk hinterlassen hat. Im ter von Fotografien, die er von Freunden und Be-
Vergleich dazu spielt die Fotografie in Kafkas Schrif- kannten erhielt und zum Teil auch aktiv einforderte.
ten eine ungleich prominentere und, über das Ge- Vor allem in den Briefwechseln mit weiblichen Kor-
samtwerk gesehen, konstantere Rolle. In autobiogra- respondenten tritt wiederholt eine veritable Foto-
phischen und literarischen Texten entwickelt Kafka Obsession zutage, die die Beziehungsdynamik auf
Schreibstrategien, die sich sowohl thematisch wie nicht unproblematische Weise beeinflusst.
stilistisch an der Fotografie orientieren. Während je- Kafkas ausführlichste Beschäftigung mit dem Me-
doch die wiederholte und detaillierte Beschäftigung dium Fotografie findet sich in den Briefen an Felice
mit der Fotografie literarisch produktiv ist, bringt Bauer. Während der fünfjährigen Korrespondenz
diese Auseinandersetzung auch Probleme und Am- werden um die vierzig Bilder ausgetauscht, die Hälfte
bivalenzen ans Licht, die wiederum in die literari- davon in den ersten sechs Monaten. Für Kafka haben
sche Auseinandersetzung miteinfließen. diese Fotos eine widersprüchliche Stellvertreterfunk-
tion: Sie kompensieren mangelnde Nähe und Ver-
trautheit, betonen jedoch gleichzeitig die Abwesen-
Das Wahrnehmungsmodell heit – und Unfassbarkeit – der Geliebten. Obwohl
der Fotografie Kafka auf die Sendung immer neuer Bilder drängt,
ist er zugleich höchst kritisch sowohl Felices wie
Das Motiv der Fotografie zieht sich als roter Faden auch den eigenen Fotografien gegenüber. So betont
durch Kafkas Schriften, von den Tagebüchern und er wiederholt die entindividualisierende Konventio-
Briefen über die Erzählungen bis hin zu den drei Ro- nalität der Porträtfotografie, deren stilisierte Ästhe-
manen. tik die gesellschaftliche Konditionierung des bürger-
Bereits in den frühen Texten fungiert die Fotogra- lichen Subjekts nicht zur Schau stellt, sondern aktiv
fie als Medium der Wirklichkeitswahrnehmung und perpetuiert. Vor diesem Hintergrund stellen denn
-darstellung. So kommentiert Kafka in einer Tage- auch die ausgetauschten Bilder nicht immer ein Ge-
buchnotiz vom September 1911 über eine Cabaret- fühl der Nähe und Vertrautheit her; vielmehr kon-
Darbietung: »Cabaret Lucerna. Lucie König stellt kurrieren Kafkas Briefe in ihrer Detailbesessenheit
Photographien mit alten Frisuren aus. […] Manch- mit dem fotografischen Blick, indem sie die erhalte-
mal gelingt ihr etwas mit der von unten her gehobe- nen Bilder in minutiöser Kleinarbeit beschreibend
76 2. Einflüsse und Kontexte

sezieren. Hierbei wird jedoch der von Kafka wieder- suchung unterzogen wird, illustriert die auch über
holt betonte Eindruck eines durch die Fotografie ge- die Verstoßung hinweg andauernde Bindung des
schaffenen Gefühls der Nähe in der Interpretation Sohnes an die Eltern, erweist jedoch gleichzeitig die
sukzessive unterminiert. Kafka unterzieht Felices tiefgreifende Entfremdung, die dieser Kafkaschen
Bilder einer fetischistischen Lektüre, in der einzelne Modellfamilie zugrundeliegt. Der in klischeehaft pa-
Details im Sinne des Barthesschen punctum (Bar- triarchalischer Pose abgebildete Vater entzieht sich
thes, 36) als Bedeutungszentrum konstruiert, in der den imaginären Annäherungsversuchen seines Soh-
Folge jedoch mit einer grundlegenden, beunruhi- nes, während das gezwungene Lächeln der Mutter
genden Ambivalenz aufgeladen und somit entwertet einen besseren Anlaufpunkt für Karls identifikatori-
werden. Der analytische Fokus auf Teilobjekte kann sche Lektüre bietet. Diese fragile Annäherung wird
letztlich nicht von der für die Fotografie konstituti- jedoch wiederum durch ein zweites Bild der kom-
ven Abwesenheit des Referenten ablenken. Somit in- pletten Kleinfamilie in Frage gestellt, in dem beide
szenieren Kafkas Briefe ein fotografisches ›Fort-Da- Eltern Karl »scharf« ansehen, »während er nach dem
Spiel‹ (Freud), das einem tiefliegenden Gefühl der Auftrag des Photographen den Apparat hatte an-
Fremdheit und des Mangels Ausdruck verleiht schauen müssen« (V 134). Im Gegensatz zum Por-
(Duttlinger 2007, 125–172). trät der Eltern, das einen Einblick in das Machtge-
Kafkas Briefwechsel mit Felice Bauer, aber auch fälle zwischen Vater und Mutter bietet, vereinigen
mit anderen Korrespondentinnen wie Milena Je- die Eltern in diesem Familienfoto ihren disziplinä-
senská und Minze Eisner, kreisen letztlich um die- ren Blick mit dem entseelten Auge der Kamera. Im
selbe Frage: um die Übersetzbarkeit der Fotografie Roman wie auch in Kafkas Texten insgesamt fun-
in den Text, um Strategien der Versprachlichung und giert das Familienfoto gleichsam als Matrize ödipa-
literarischen Anverwandlung des fotografischen Me- ler Dynamiken, die im Laufe des Textes reproduziert
diums. Obwohl Fotografien Anreiz zur Analyse ge- und variiert werden, deren Grundstruktur jedoch
ben, widersetzen sie sich gleichzeitig diesem Unter- fotografisch invariabel bleibt.
fangen. Dieser Widerstand ist jedoch letztlich kein Aber auch außerhalb der Familie erweist sich das
Hindernis, sondern verstärkt vielmehr Kafkas Faszi- Subjekt als fotografisch konditioniert. Dies zeigt ein
nation durch das Medium. So werden in seinen Tex- verbreitetes Motiv in Kafkas Texten: das Soldaten-
ten diese elementaren Widerstände, wie auch spezi- bild. So repräsentiert für Karl Roßmann das Bild ei-
fische medienimmanente Probleme der Fotografie nes unbekannten jungen Soldaten das unerreichbare
für die literarische Anverwandlung fruchtbar ge- Ideal autonomer Männlichkeit, das er in seiner An-
macht. Wie in den Briefen oszilliert denn auch die stellung als Liftboy zumindest äußerlich zu imitieren
Rolle der Fotografie in den Romanen und Erzählun- sucht. Die desillusionierende Erfahrung der engen,
gen zwischen Attraktion und Restriktion. Fotogra- schweißfeuchten Liftboy-Uniform betont jedoch
fien üben eine immense Anziehungskraft auf die nicht nur die Kluft zwischen Bild und imitativer
Kafkaschen Figuren aus, nicht zuletzt weil sie eine Wirklichkeit, sondern stellt auch grundsätzlich die
theatralisch-ostentative Zurschaustellung von Rang Authentizität der fotografischen (Selbst-)Präsenta-
und Status ermöglichen und somit Macht im visuel- tion in Frage.
len Bereich nicht nur repräsentieren, sondern erst In Die Verwandlung wird diese Fragestellung auf-
eigentlich konstituieren. Vor allem die Porträtfoto- gegriffen und verstärkt, wenn im ersten Kapitel Gre-
grafie fungiert als Medium bürgerlicher Selbstprä- gor Samsas von der Tür gerahmter Insektenkörper
sentation, erweist jedoch gleichzeitig die Brüchigkeit einer gerahmten Fotografie aus seiner Militärzeit ge-
solcher konventionell-artifizieller Identitätsmodelle. genübersteht, die den Protagonisten als »sorglos lä-
chelnden« Leutnant darstellt (DzL 135). Der Text
konstruiert hier eine Dichotomie zwischen Bild und
Die Porträtfotografie: Wirklichkeit, die er gleichzeitig auf mehreren Ebe-
das uniformierte Subjekt nen in Frage stellt. So verweisen Gregors Erinnerun-
gen an seinen Vertreterberuf auf eine alles andere als
Ein Paradebeispiel hierfür ist das Familienporträt im sorglose Existenz, und wenn der Vater im zweiten
Verschollenen, das meistdiskutierte fotografische Teil durch seine Bankdiener-Uniform eine Aura der
Motiv in Kafkas Werk. Das Bild von Karl Roßmanns Autorität gewinnt, so beruht auch diese Rolle wiede-
Eltern, das vom Protagonisten einer genauen Unter- rum auf Dienstbarkeit und Unterwerfung. Die auf
Film und Fotografie 77

den ersten Blick charismatischen Tableaus soldati- Die Momentaufnahme:


scher Männlichkeit werden somit bei Kafka implizit Ambivalenz und Manipulation
dekonstruiert, indem seine Texte die Diskrepanz
zwischen fotografischer Oberfläche und den sich da- Während die Mehrzahl Kafkascher Texte sich an der
hinter verbergenden Strukturen der Ausbeutung artifiziellen Pose der Porträtfotografie oder des cho-
und Unterdrückung ans Licht bringen. Exempla- reographierten Pressefotos abarbeitet, spielt in den
risch für die Porträtfotografie im Allgemeinen be- beiden Romanen Der Process und Das Schloss die
tont das Soldatenbild die äußerliche wie innerliche Momentaufnahme eine prominente Rolle. Mehr
Uniformierung des Subjekts und seine Konditionie- noch als die Studioaufnahme exemplifiziert der
rung durch soziale und familiale Machtstrukturen. Schnappschuss die Entstellung der Wirklichkeit
<Blumfeld, ein älterer Junggeselle> (1915) proji- durch die technischen Medien, welche der menschli-
ziert diese Problematik in den politischen Bereich. chen Wahrnehmung unzugängliche Aspekte und
Hier ist der Soldat nicht mehr Hauptmotiv, sondern Perspektiven offenlegen. Der nach einem ›Wirbel-
lediglich Kulisse. In einer französischen Zeitschrift tanz‹ aufgenommene Schnappschuss von Josef K.s
stößt Blumfeld auf die Fotografie eines Staatsbesu- Geliebter Elsa hält zwar deren Lachen fest, aber
ches; der russische Zar und der französische Präsi- »wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild
dent schütteln sich eingerahmt von salutierenden nicht erkennen« (P 144).
Matrosen die Hand (NSF I:A, 206). In der Moderne Die grundsätzliche Ambivalenz fotografischer Re-
ist politische Autorität nur abbildbar vor der Kon- präsentation, die nur einen begrenzten – und der
trastfolie einer uniformen Masse. Analyse nur bedingt zugänglichen – Wirklichkeits-
Die für Kafkas Verhältnisse ungewöhnlich spezifi- ausschnitt zeigt, wird in Kafkas späten Texten auf die
sche Beschreibung, die auf historische Personen re- Spitze getrieben. Im Schloss interpretiert K. eine Fo-
kurriert, lässt sich historisch genau verorten: Sie ver- tografie, die ihm die Wirtin des Brückenhofs zeigt,
weist auf den Staatsbesuch des französischen Präsi- als das Bild eines ruhenden Mannes, muss sich je-
denten Raymond Poincaré bei Zar Nikolaus II. von doch von der Besitzerin eines Besseren belehren las-
Russland im Juli 1914, kurz vor der österreichischen sen: »›Sehen Sie doch genauer hin‹, sagte die Wirtin
Kriegserklärung an Serbien. Kafkas 1915 entstande- ärgerlich, ›liegt er denn wirklich?‹ ›Nein‹, sagte nun
ner Text enthält somit einen Schnappschuss Europas K., ›er liegt nicht, er schwebt und nun sehe ich es, es
am Rande des Weltkriegs (Duttlinger 2007, 207– ist gar kein Brett, sondern wahrscheinlich eine
219). Gleichzeitig jedoch unterzieht Kafka seine fo- Schnur und der junge Mann macht einen Hoch-
tografische Vorlage strategischen Veränderungen. sprung‹« (S 125). Indem die Fotografie Bewegung
Im <Blumfeld>-Fragment folgen Zar und Präsident arretiert und das zeitliche Kontinuum in statische
jeweils zwei ›Begleiter‹, die die Begegnung der bei- Einzelbilder zerlegt, unterminiert sie gleichzeitig ele-
den Regierenden einrahmen und in eine trianguläre mentare Kategorien menschlicher Wahrnehmung
Doppelstruktur einschreiben, damit aber zugleich wie Bewegung und Stillstand, Wachsein und Schlaf
die charismatische Individualität der beiden Haupt- und, letztendlich, Leben und Tod. Tatsächlich ist K.s
figuren subtil in Frage stellen. Diese Struktur ver- Verwirrung angesichts der Fotografie symptoma-
netzt die politische Begegnung mit dem Rest der Er- tisch für eine grundlegende Wahrnehmungs- und
zählung: Wie die beiden Staatshäupter so sieht sich Interpretationskrise im Roman, in deren Zuge sich
auch Blumfeld im Lauf des Textes mit verschiedenen der Protagonist sowohl von seiner Umgebung wie
Doppelgänger-Paaren konfrontiert, die seine Indivi- auch von sich selbst zunehmend entfremdet.
dualität subtil unterminieren. Die Beschreibung die- Ein ähnlicher Vorgang wird auch in Ein Hunger-
ses politischen Schnappschusses wurde von Kafka künstler thematisiert, wo Fotografien des erschöpf-
im Manuskript nachträglich gestrichen (NSF I:A, ten Protagonisten an seinem 40. Fastentag vom Im-
205–207), vielleicht als Reaktion auf den für seine presario als Beweis für die natürlichen Grenzen sei-
Verhältnisse ungewöhnlich direkten, unverschlüs- nes Hungervermögens präsentiert werden. Der
selten Bezug auf zeitgenössische Ereignisse. Gleich- Hungerkünstler selbst sieht die Sache etwas anders:
zeitig jedoch repräsentiert diese Passage Kafkas kon- »Was die Folge der vorzeitigen Beendigung des Hun-
kreteste literarische Auseinandersetzung mit der gerns war, stellte man hier als die Ursache dar! Ge-
Zeit des Ersten Weltkriegs und erweist sein reges In- gen diesen Unverstand, gegen diese Welt des Unver-
teresse an der damaligen Tagespolitik. standes zu kämpfen, war unmöglich« (DzL 342). Des
78 2. Einflüsse und Kontexte

Hungerkünstlers Kampf gegen die zeitliche Begren- und verschiebbar sind. Repräsentativ für dieses Ver-
zung seiner Kunst wird somit auf das Terrain der Fo- fahren ist Kafkas häufige Verwendung des Terminus
tografie verlegt: Wie bereits im Schloss steht hier die ›Bild‹, der in vielen Fällen eine genaue Bestimmung
grundsätzliche Ambivalenz des fotografischen Bil- der medialen Form verhindert und der bei aller
des im Mittelpunkt, das nach einer supplementären medienspezifischen Reflexion auch auf universale,
– aber potentiell fehlgeleiteten – Interpretation ver- traditionellen wie technologischen Medien zugrun-
langt. Im Fall des Hungerkünstlers kommt erschwe- deliegende Charakteristika verweist. Wenn also Fo-
rend hinzu, dass das fotografische Subjekt nicht nur tografie und Film in Kafkas Texten sowohl gegenein-
durch die Auslegung der Fotografie missverstanden ander wie auch gegen vortechnische Bildgattungen
und manipuliert wird, sondern dass darüber hinaus abgegrenzt werden, so verbindet sie doch die tiefver-
sein Körper – des Hungerkünstlers Kunstwerk und wurzelte, oftmals prärationale Faszination des Visu-
Kapital – durch beliebig reproduzierbare Simulakra ellen, die eng mit dessen Widerstand gegen narrativ
ersetzt wird, die den Referenten nicht nur von sei- analytische Durchdringung gekoppelt ist. Tatsäch-
nem Publikum, sondern auch von sich selbst distan- lich arbeiten sich Kafkas Texte und seine Figuren an
zieren. Wie Walter Benjamin in seinem Kafka-Essay genau dieser Ambivalenz von Faszination und Un-
anmerkt: »Im Film erkennt der Mensch den eigenen durchdringlichkeit ab, an Bildern, die Interpretation
Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene ebenso herausfordern wie zurückweisen. Bei aller
Stimme. Experimente beweisen das. Die Lage der Verschiedenheit verbindet diese paradoxe Anzie-
Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas hung die verschiedenen Spielarten des Visuellen in
Lage« (Benjamin 1991a, 436). Kafkas Schriften, wo sie die literarische Auseinan-
dersetzung mit Film und Fotografie sowohl er-
schwert wie auch motiviert.
Film und Fotografie: das Modell
einer Vereinigung?
Forschung
Kafkas Auseinandersetzung mit Film und Fotografie
basiert somit auf einer anhaltenden Faszination, Die Rolle von Film und Fotografie in Kafkas Werk
gleichzeitig jedoch auf einer grundlegenden Kritik wurde in der Forschung immer wieder gestreift, je-
der technischen Medien. Obwohl Fotografie und doch erst in jüngerer Zeit systematisch untersucht.
Film die Welt zugänglich und verfügbar machen, Während mehrere Studien die Rolle von Malerei und
sind sie zugleich Teil eines tiefgreifenden medienso- Bildhauerei thematisieren (Binder 1972, 1985; La-
ziologischen Wandels, der eine kritische Auseinan- dendorf), oder Kafkas allgemeine Bezüge zum Visu-
dersetzung mit der Realität weniger ermöglicht denn ellen ansprechen (Sudaka-Bénazéraf), hat Kafkas
verhindert. In dieser Hinsicht hat die zur Schau ge- Auseinandersetzung mit den technischen Bildme-
stellte Verblendung Kafkascher Figuren durch foto- dien – im Gegensatz zu den entsprechenden Schrift-
grafische Identitäts- und Bedeutungskonstruktionen medien – erst relativ spät Aufmerksamkeit erregt,
auch eine implizit subversive Funktion, indem sie ei- wenngleich dieser Aspekt schon früh von Theoreti-
ner kritischen Lesart Vorschub leistet. kern wie Adorno und Benjamin hervorgehoben
Obwohl Kafkas Texte Fotografie und Film ge- wurde. In der Forschung wurde Kafkas Bezug zum
trennt thematisieren und mitunter auch kontrastie- Kino immer wieder angesprochen (Jahn 1962; Au-
ren, gründet seine Beschäftigung mit den techni- gustin), jedoch erst von Hanns Zischler in detaillier-
schen Medien immer auch auf einer ganzheitliche- ter Archivrecherche genauer untersucht (vgl. auch
ren Vorstellung der Korrelation und Kooperation. Alt 2009). Ähnlich stellt sich die Lage im Fall der Fo-
So sinniert er im Tagebucheintrag über das Kai- tografie dar, die in der Forschung immer wieder am
serpanorama: »Warum gibt es keine Vereinigung Rande erwähnt, nach einigen kürzeren Beiträgen
von Kinema und Stereoskop in dieser Weise?« (Jan./ (Collomb, Neumann) aber erst kürzlich zum Gegen-
Febr. 1911; T 937). Wenn auch unklar bleibt, was für stand einer ausführlichen Untersuchung gemacht
eine Form der Vereinigung Kafka hier vorschwebte, wurde (Duttlinger 2007).
so zeigt dieser Kommentar, dass die Grenzen zwi-
schen verschiedenen Bildmedien in Kafkas Schriften Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu K. In: Ders.:
keineswegs absolut, sondern vielmehr durchlässig Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann.
Film und Fotografie 79

Frankfurt/M. 1997. Bd. 10, 254–87. – Ders./Walter Ben- Kaiserpanorama. In: Christian Emden/David Mid-
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Über kinematographisches Erzählen. München 2009. − Photography. Oxford 2007. – Leena Eilittä: K. and Visu-
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»Die Ruhe des Blickes«. Brod, K., Benjamin and the Carolin Duttlinger
81

3. Dichtungen und Schriften

3.0 Drei Werkphasen Interpreten von einem fixen Texterklärungsmodell


ausgehen – etwa vom psychoanalytischen, das über-
all den Ödipuskomplex findet, oder vom dekon-
Die allerersten Anfänge von Kafkas Schreiben – struktivistischen, das immer nur eine selbstreferenti-
»Kindersachen« wird er sie später nennen (An elle Thematisierung der Nichtverstehbarkeit der
O. Pollak, 6.9.1903; B00–12 26) – mögen um 1896 Texte entdeckt –, desto weniger Erkenntnisgewinn
liegen (Alt, 130). Der früheste erhaltene Text ist die werden sie, ganz zu Recht, von einer werkgenetischen
in einem Brief an den Jugendfreund Oskar Pollak Betrachtung erwarten. Wer aber gerade am histo-
überlieferte Kurzprosa Geschichte vom schamhaften risch Differenten und Spezifischen interessiert ist,
Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen wird aus werkgeschichtlichen Unterteilungen heuris-
(20.12.1902; B00–12 17–19) – aus den vorausgehen- tisch ebenso viel Nutzen ziehen wie aus literaturge-
den Jahren kennen wir nur einen unbedeutenden schichtlichen. Die kurze Zeitspanne des Kafkaschen
Zweizeiler (NSF I, 7), der 1896 in ein Poesiealbum Werkes überschneidet sich immerhin mit nicht we-
eingetragen wurde. Um den 9. März 1908 debütiert niger als drei Subepochen der Moderne – der Jahr-
Kafka in der Zeitschrift Hyperion mit acht Texten, hundertwende, dem Expressionismus und der Wei-
die später in den Sammelband Betrachtung aufge- marer Republik. Aber selbst wenn man den Autor –
nommen werden (DzL:A 15); der älteste Text der wie Kafka-Interpreten es gerne zu tun pflegen – als
Sammlung mag 1904, vielleicht auch schon 1902 literarhistorisch unzurechenbaren Solitär behandelt,
entstanden sein, die meisten aber wohl erst ab 1907. lassen sich werkbiographische Veränderungen in
Auch die Entstehungsgeschichte der Beschreibung ei- Thematik wie Form der Texte kaum übersehen. Sich
nes Kampfes dürfte bis mindestens 1904 zurückrei- auf diese Prozesse mehr einzulassen als bisher, könnte
chen. Eine halbwegs kontinuierliche Textüberliefe- der Kafka-Forschung neue Perspektiven auf das
rung setzt erst um 1907 ein und reicht dann bis zu Werk eröffnen und neue Grundlagen für formale wie
Kafkas letztem Werk Josefine, die Sängerin oder Das thematische Ausdifferenzierungen, aber auch für In-
Volk der Mäuse, das zwischen Mitte März und An- terpretationsentscheidungen im Einzelfall liefern.
fang April 1924 geschrieben wird. Das ergibt, summa Schnell würde dabei auch deutlich werden, wie sehr
summarum, eine Schreibzeit von rund 28 Jahren, unser Kafka-Bild noch immer von den Texten aus
von denen allerhöchstens 22 durch überlieferte Texte dem mittleren Werk geprägt ist – von Urteil, Ver-
belegt sind. Bei einer so knapp bemessenen Werk- wandlung, Process und vielleicht allenfalls noch der
biographie lässt sich mit Recht fragen, ob deren Un- Strafkolonie – und wie sehr diese Perspektivierung
terteilung in Werkphasen überhaupt sinnvoll und den Blick auf das frühere wie spätere Werk verzerrt.
heuristisch ertragreich sein kann. Jedenfalls sind die Voraussetzungen für werkbio-
Die bisherige Kafka-Forschung scheint hier eher graphische Betrachtungen heute so günstig wie nie
skeptisch gewesen zu sein. Zwar besteht allgemeiner zuvor. Jahrzehntelang war die Forschung auf die
Konsens darüber, dass die Niederschrift des Urteil in hochverdienstvolle Datierung sämtlicher Texte Franz
der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 eine Kafkas angewiesen, die Malcolm Pasley und Klaus
Grenzlinie zwischen ›frühem‹ und ›reifem‹ Werk Wagenbach 1965 vorgelegt hatten (Pasley/Wagen-
markiert. Das hat aber Interpreten nie davon abge- bach 1969 [1965]). Heute bietet uns die Kritische
halten, auch frühe Texte mit Hilfe von Parallelstellen Ausgabe (KA) mit dem Gesamtwerk in einer hand-
aus dem späten Werk zu deuten oder Passagen aus schriftennahen Fassung nicht nur ein wesentlich
der Beschreibung eines Kampfes für die Interpreta- größeres Textkorpus (ä 519 f.); dank des detektivi-
tion des Gesamtwerkes in Anspruch zu nehmen. schen Scharfsinnes der Herausgeber finden sich in
Natürlich ist das Interesse an Werkgeschichte mit den Apparatbänden auch zahlreiche Vorschläge zu
einer gewissen Notwendigkeit an ein ganz allgemein Neu- und Umdatierungen im Detail, die noch kaum
historisches Erkenntnisinteresse gebunden. Je stärker je konsequent genutzt wurden.
82 3. Dichtungen und Schriften

Um zu einem werkgeschichtlichen Blick auf Kafka Korrespondenz) hat Kafka selbst vernichtet – sicher
anzuregen, ist der Werk-Teil dieses Handbuches in einer ganzen Serie von Autodafés; noch am 11.
nicht nur (soweit möglich) chronologisch geordnet, März 1912 notiert er im Tagebuch »Heute viele alte
sondern auch in drei Werkphasen untergliedert; drei widerliche Papiere verbrannt« (T 400).
Artikel zu den »Kleinen nachgelassenen Schriften Von den Werken und Werkplänen vor 1904 ist da-
und Fragmenten« (ä 3.1.7; 3.2.10; 3.3.7) versuchen her nur wenig bekannt (vgl. Alt, 130–138). Rückbli-
zudem, wenigstens erste Überblicksdarstellungen ckend berichtet Kafka von einem frühen Romanpro-
für die schwer überschaubaren Werkteile anzubie- jekt, das vermutlich in die Jahre 1898/99 zu datieren
ten, die sich in den beiden KA-Bänden mit dem Ver- ist:
legenheitstitel Nachgelassene Schriften und Frag- Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder
mente (NSF I/II) bzw. in den Tagebuch-Heften fin- gegeneinander kämpften, von denen einer nach Ame-
den. rika fuhr, während der andere in einem europäischen
Gefängnis blieb (19.1.1911; T 146).
Dabei sei allerdings gleich vorweg eingeräumt,
dass die Grobeinteilung in ausgerechnet drei Werk- Um 1903 arbeitet er an einer Prosasammlung Das
phasen sich letztlich eher der traditionsmächtigen Kind und die Stadt, was natürlich, von Titel wie
Magie der Zahl ›Drei‹ verdankt, als einer sachlich- Genre her, an ein Vorläuferprojekt zum späteren
zwingenden Notwendigkeit. Wie bei den meisten Band Betrachtung denken lässt (An O. Pollak,
stark inspirationsorientiert arbeitenden Autoren 8.11.1903; B00–12 29). In dieser Zeit hat er dem Ju-
zeigt sich auch in Kafkas Werk ein zyklischer Wech- gendfreund Oskar Pollak auch »ein Bündel« mit
sel zwischen Zeiten intensiver Produktivität und sol- »allem […], was ich bis jetzt geschrieben habe«, bis
chen, in denen wenig oder überhaupt nicht geschrie- auf die »Kindersachen« (6.9.1903; B00–12 26), ge-
ben wird. Diese von Pausen unterbrochenen Schreib- schickt und wenig später folgendermaßen kommen-
phasen (wie sie sich für das mittlere und späte Werk tiert:
klar nachweisen lassen) sind das Grundgerüst, an Unter den paar tausend Zeilen, die ich dir gebe, könnte
dem sich jede werkgeschichtliche Betrachtungsweise ich vielleicht noch zehn duldsam anhören […]. Der
orientieren muss. Deren Gruppierung zu drei Werk- größte Teil ist mir widerlich […] (z. B. »Der Morgen«
phasen bleibt dagegen eine heuristisch-hermeneuti- und anderes), es ist mir unmöglich, das ganz zu lesen
[…]. Du mußt aber daran denken, daß ich in einer Zeit
sche Konstruktion, die zwar nicht einfach willkür-
anfing, in der man »Werke schuf«, wenn man Schwulst
lich erfolgt ist, aber natürlich auch anders vorge- schrieb; es gibt keine schlimmere Zeit zum Anfang. Und
nommen werden könnte. ich war so vertollt in die großen Worte. Unter den Papie-
Als Grenzpunkte zwischen den drei Werkphasen ren ist ein Blatt, auf dem ungewöhnliche und besonders
werden im vorliegenden Handbuch angesetzt: (1) feierliche Namen aus dem Kalender ausgesucht stehn.
Ich brauchte nämlich zwei Namen für einen Roman und
die Entstehung des Urteil am 22./23. September 1912 wählte endlich die unterstrichenen: Johannes und Beate
– was sicher konsensfähig sein dürfte – und (2) Aus- (Renate war mir schon weggeschnappt) wegen ihres di-
bruch und Diagnose der Lungenkrankheit im Au- cken Glorienscheins [auch von diesem Romanprojekt
gust 1917 bzw. der am 12. September 1917 begin- fehlt jede Spur]. Das ist doch fast lustig (An O. Pollak,
vermutl. nach 6.9.1903; B 00–12 27; nur in einem Brief-
nende, fast acht Monate dauernde Erholungsaufent-
exzerpt von Max Brod überliefert).
halt im nordböhmischen Zürau, den Kafka zu einer
weltanschaulich weit ausgreifenden Grundsatzrefle- Von dem hier kritisierten ›hohen Ton‹ in Kafkas
xion nutzt. Schreibanfängen zeugen heute nur noch die frühen
Briefe (vgl. etwa B00–12 32–42), mit bereits deutli-
cher Distanzierung auch die Beschreibung eines
Das frühe Werk Kampfes.
(bis September 1912) Dass es zwischen 1903 und 1911 noch weitere
Textverluste gegeben haben muss, belegt schließlich
Überblick die verschollene Erzählung Himmel in engen Gassen,
die Kafka im Winter 1906 (erfolglos) für ein Preis-
Über Kafkas frühes Werk wissen wir nur so viel – ausschreiben der Wiener Zeitung Die Zeit einge-
oder besser gesagt: so wenig –, wie die erhaltenen reicht haben soll (Unseld, 125).
Schriften aussagen. Den überwältigenden Teil der in Das erhaltene frühe Werk besteht im Wesentlichen
dieser Zeit entstandenen Texte (einschließlich der aus zwei Projekten, die über längere Zeit verfolgt
Drei Werkphasen 83

wurden – der Beschreibung eines Kampfes (die Ar- deutlichsten den Neuansatz des mittleren Werkes
beitszeit reicht von mindestens 1904 bis zum Okt./ präludieren: die noch unsicher zwischen autobiogra-
Nov. 1910) und den Hochzeitsvorbereitungen auf dem phischer Reminiszenz und phantastischer Fiktiona-
Lande (Frühjahr 1907 bis Sommer 1909) –, sowie lisierung schwankende Fragmentenreihe Der kleine
dem erst im November 1912 erschienenen Sammel- Ruinenbewohner (ca. Sommer 1910; T 17–28; ä 145–
band Betrachtung, den Kafka durch eine Auswahl 148), das zu Recht als Vorstufe zum Urteil geltende
aus seiner bisher verfassten Kurzprosa zusammen- Bruchstück Die städtische Welt (21.2.-26.3.1911; T
gestellt hatte. Die frühesten Stücke dürften, wie be- 151–158; ä 152 f.) und eine erste Reihe von Texten
reits erwähnt, bis 1902/4 zurückreichen, die beiden und Fragmenten zum ›Junggesellen‹ (Ende 1909, T
jüngsten (Der plötzliche Spaziergang und Entschlüsse) 113–116 u. 118 f.; Anf. Nov. 1910, T 125 f.; 14.11.1911,
entstehen erst Januar/Februar 1912. Schon in die T 249 f.; Anf. Dez. 1911, T 279 f.; ä 148–151), zu de-
erste Fassung der Beschreibung eines Kampfes mögen nen auch das später in Betrachtung aufgenommene
unabhängig von ihr entstandene Prosastücke einge- Unglück des Junggesellen gehört (14.11.1911; T
gangen sein – so wie Kafka umgekehrt später wieder 249 f.).
Textelemente aus beiden Fassungen herausgelöst Das wichtigste Fragment aus der Spätphase des
und in Betrachtung übernommen hat. Schwierigkei- frühen Werks ist leider verlorengegangen: die erste,
ten mit Großprojekten und eine Neigung zu kleinen bereits recht umfangreiche Fassung des Verscholle-
Formen haben Kafkas Schreiben also von Anfang an nen, die zwischen Dezember 1911 und Juli 1912 ge-
begleitet. schrieben wurde. Dies ist umso bedauerlicher, als
Ein wesentlicher Impuls für den Neuansatz des ein Vergleich mit der zweiten Fassung eine wesent-
mittleren Werkes geht sicher vom Tagebuchschrei- lich präzisere Bestimmung von Kafkas literarischer
ben aus, das Kafka erst von August/September 1911 Entwicklung in der ›Durchbruchs‹-Phase ermögli-
an mit einiger Regelmäßigkeit betreibt (etwa ab T 37 chen würde.
bzw. 120); die vorangehenden, wohl gegen Ende Mai Angemerkt sei noch, dass sich im frühen Werk
1909 einsetzenden Einträge erfolgen nur sporadisch, auch Gattungen finden, die später keine oder nur
sind häufig noch nicht datiert und tragen zunächst noch eine marginale Rolle spielen werden: eine
eher den Charakter von Werknotizen. Selbstrefle- kleine Zahl von Rezensionen – meist vermittelt von
xion wie Tagebuch erhalten ihrerseits wiederum Max Brod, der seinen Freund so in die literarische
wichtige Impulse durch das Gastspiel einer Lember- ›Szene‹ einführen wollte –, ›literaturtheoretische‹
ger Theatergruppe in Prag vom 24. September 1911 Schriften im weiteren Sinne wie die Aufzeichnungen
bis zum 21. Januar 1912 (ä 12–14): Kafka besucht <Über kleine Litteraturen> (Anf. Dez. 1911) und der
die Vorstellungen regelmäßig, freundet sich mit dem Einleitungsvortrag über Jargon (17.2.1912) – sowie
Prinzipal und einigen Schauspielern an – und be- eine ganze Reihe von Gedichten.
richtet im Tagebuch darüber ebenso ausführlich wie Am 23. August 1912 begegnet Kafka zum ersten
über das durch den Kontakt mit dem jiddischen Mal Felice Bauer (ä 15 f.), und zwar – in fast schon
Theater in ihm neu erwachte Interesse an jüdischer schicksalhafter Koinzidenz von Autoren- und Werk-
Kultur und an seiner eigenen jüdischen Identität. biographie – an eben dem Abend, an dem er mit
Wie in der Forschung vor allem von Glinski (2004) Max Brod die letzten Entscheidungen zur Zusam-
und Rother (2008) gezeigt haben, wird das Tagebuch menstellung der Texte für Betrachtung treffen will.
in der Spätphase des frühen Werkes zum wichtigen Die krisenhafte Beziehung zu Felice wird zum wich-
›literarischen Laboratorium‹. Seine eminente Bedeu- tigsten lebensgeschichtlichen Faktor des mittleren
tung ist schon durch die bloße Quantität der Eintra- Werkes werden.
gungen belegt: Von den rund 1060 Druckseiten, die
die Tagebuchhefte in der KA einnehmen, entfällt Charakteristika
ziemlich genau die Hälfte (einschließlich fast aller
Reisetagebücher) auf das frühe Werk. Im Werk eines jungen Autors manifestieren sich
In den als Tagebuch verwendeten ›Quartheften‹ – Zeiteinflüsse meist deutlicher als in den reifen
die bei Kafka von Anfang an auch Werkstattcharak- Schriften. Das ist bei Kafka nicht anders – und wäre
ter haben – findet sich ebenfalls der Hauptteil der sicher noch auffälliger, wenn auch die Schreiban-
(erhaltenen) kleineren Fragmente des frühen Wer- fänge erhalten wären. Schon das große Gewicht der
kes. Und hier stößt man auch auf die Texte, die am Kurzprosa entspricht eben nicht nur Kafkas ganz ei-
84 3. Dichtungen und Schriften

gener Schreibpraxis, sondern auch der ungewöhnli- (für Details vgl. Engel 2010) –, so leicht lassen sich
chen Hochschätzung dieses Genres in der Jahrhun- auch für das Syndrom ontologischer Bodenlosigkeit
dertwende. zeitgenössische Parallelen finden: Thematisiert wird
Bei der brüchigen Überlieferungslage wäre es pro- hier ein Grundgefühl, das – in Jahrhundertwende
blematisch, für das frühe Werk Entwicklungsten- wie Frühexpressionismus – gleich zwei Autorenge-
denzen beschreiben zu wollen. Die ungewöhnlich nerationen geprägt hat. Schopenhauer und Nietz-
stark ins Weltanschaulich-Philosophische ausgrei- sche können als seine Cheftheoretiker gelten; nie-
fende Fassung A der Beschreibung eines Kampfes bie- dergeschlagen hat es sich in zahllosen Texten der
tet jedoch die Möglichkeit, sowohl die Grundthema- Zeit, wie etwa (um nur ganz wenige Beispiele zu nen-
tik wie auch den Zeitbezug von Kafkas literarischen nen) in Hofmannsthals Erzähl- und Reflexionstex-
Anfängen besser zu begreifen. ten Reitergeschichte (1899), Ein Brief (1902), und Die
Zentral ist hier weniger die in der Epoche vielbe- Briefe des Zurückgekehrten (1907), in Musils Die Ver-
schworene ›Sprachkrise‹ oder die der Zeit zuge- wirrungen des Zöglings Törleß (1906), Rilkes Die Auf-
schriebene Neigung zur ›Ich-Dissoziation‹, auf die zeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) oder
sich die Forschung gerne konzentriert hat, sondern Benns Novellenzyklus Gehirne (1914–16).
eher ein Lebensgefühl, das Kafka im Text als »See- Thematisch hat sich dieses krisenhafte Lebens-
krankheit auf festem Lande« bezeichnet (NSF I, 89) gefühl in Kafkas Frühwerk vor allem in dem Symp-
– Sprachkrise und Ich-Dissoziation sind nur deren tomkomplex niedergeschlagen, den alle Protago-
Epiphänomene. Was mit dieser ›Seekrankheit‹ ge- nisten teilen: Vitalitäts- und Willensschwäche,
meint ist, erklärt sich am besten aus der Gegenposi- Entschlusslosigkeit, Selbstzweifel, Minderwertig-
tion. Veranschaulicht wird sie in der Beschreibung keitsgefühl, Lebensangst und Lebensekel, Einsam-
mit Hilfe einer Anekdote, die in einer der vielfach keit aus Beziehungsunfähigkeit bei zugleich tiefer
verschachtelten Binnenerzählungen des Textes der Sehnsucht nach Kontakten und Beziehungen (die je-
›Beter‹ dem ›Dicken‹ mitteilt (bezeichnenderweise doch, wenn sie denn überhaupt gelingen, sofort zu
handelt es sich dabei um ein Erlebnis von Kafka Macht- und Selbstbehauptungskämpfen entarten) –
selbst, das dieser etwa zeitgleich auch Max Brod be- ein Symptomenkatalog, den man in der Zeit gern
richtet): unter dem Oberbegriff der ›Décadence‹ zusammen-
als ich als Kind einmal nach einem kurzen Nachmittags- fasst.
schlaf die Augen öffnete hörte ich noch ganz im Schlaf Das formale Pendant zu diesem Lebensgefühl ist
befangen meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon ein verunsicherter Realismus: Dem unmittelbaren
hinunterfragen: »Was machen Sie meine Liebe. Es ist so Erleben zugänglich ist allein die ›Innenwelt‹, deren
heiß.« Eine Frau antwortete aus dem Garten: »Ich jause
Erfahrungen allerdings nicht in konventioneller Be-
im Grünen.« Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht
allzu deutlich, als müßte es jeder erwartet haben (91 f.). griffssprache ausgedrückt werden können; die ›Au-
ßenwelt‹ ist, mindestens auf der uns vertrauten
Im Brief an Max Brod schloss die Passage, noch ex- Oberfläche der Alltagswahrnehmung, mit diesem
pliziter, mit dem Fazit »Da staunte ich über die Fes- Inneren unvermittelbar, kann es daher auch nicht
tigkeit mit der die Menschen das Leben zu tragen symbolisch repräsentieren. Die drei größeren Werk-
wissen« (28.8.1904; B00–12 40). Eine solche reflexi- projekte in Kafkas Frühwerk lassen sich vor diesem
onslos-naive Selbst- und Weltgewissheit ist den an (grob skizzierten) Hintergrund als drei ganz unter-
»Seekrankheit auf festem Lande« laborierenden Fi- schiedliche Versuche begreifen, das Grundproblem
guren des Textes ebenso abhanden gekommen wie eines Erzählens von der ›inneren Welt‹ zu lösen:
ihrem Autor. Sie beruht auf dem naiven Vertrauen in (1) Verabsolutierte Innenwelt: In der Beschreibung
die lebensermöglichenden Alltagskonventionen für eines Kampfes wird die ›innere Welt‹ im Mittelteil als
Wahrnehmen, Denken und Handeln, dem »Einver- eigener Erzählraum abgespalten und in freier Phan-
ständnis«, dank dessen wir »auf unserer Erde einge- tastik behandelt; außerdem teilt sich hier das Ich in
richtet« sind (NSF I, 109) – Rilke nannte dies in der mehrere Personen auf, um seine Innenwelt in ihren
Ersten Duineser Elegie die »gedeutete Welt«. widersprüchlichen Positionen erzählbar zu machen.
So leicht wie sich in den Binnenfiguren des Textes Der Text demonstriert freilich auch die Problematik
zeitgenössische Positionen erkennen lassen – im Di- dieser Freisetzung von der Außenwelt: Alle Figuren,
cken etwa der ›Ästhetizist‹, im ›Beter‹ ein Vertreter die sich vom ›Realitätsprinzip‹ dispensieren wollen,
der (prä-expressionistischen) grotesken Phantastik scheitern hoffnungslos.
Drei Werkphasen 85

(2) Doppelte Buchführung I: In den Hochzeitsvor- tischen Erzählkonventionen (am stärksten in Be-
bereitungen gibt es ein eigentümliches Nebeneinan- schreibung eines Kampfes, am schwächsten in den
der von ›objektiver‹ Außenweltbeschreibung und Hochzeitsvorbereitungen); (6) personales Erzählen,
›subjektivem‹ Inneren. Der in der (im Frühwerk sel- hier noch in der Ich-Form (das vor allem in Beschrei-
tenen) Er-Form erzählte Text zerfällt geradezu in Be- bung eines Kampfes bereits die für das spätere Werk
schreibungsprosa von einer in Kafkas Gesamtwerk charakteristischen Distanzierungssignale aufweist);
nie wiederkehrenden Intensität und in Innenwelt- (7) erste Ansätze zu ›parabolischem‹ Erzählen in der
Wiedergabe, die zumeist im ›inneren Monolog‹ prä- bildlich verdichteten Reflexionsprosa der Betrach-
sentiert wird (wodurch sich der Text passagenweise tung. Aus der Sicht des reifen Werkes sind all dies
der das Frühwerk prägenden Ich-Form angleicht). Bausteine, die man in den späteren Schreibgebäuden
(3) Doppelte Buchführung II: In den Texten des leicht wiedererkennen kann.
Sammelbandes Betrachtung gibt es ein ähnliches,
aber ganz anders gestaltetes Nebeneinander, das
schon die Doppelbedeutung des Titels (›Wahrneh-
mung‹/›Reflexion‹) signalisiert: Es finden sich Refle-
Das mittlere Werk (September 1912
xionstexte mit minimaler Narration und starker bis September 1917)
bildlicher Verdichtung (z. B. Entschlüsse, Wunsch, In-
Überblick
dianer zu werden) und Außenwahrnehmungstexte,
die allerdings – anders als in den Hochzeitsvorberei- Die Grenzen des mittleren Werkes sind durch die
tungen − ›symbolistisch‹ auf den ›Seelenzustand‹ Niederschrift des Urteil und durch den Ausbruch
(›état d’âme‹) des Beobachters bezogen bleiben (z. B. der Lungenkrankheit markiert. Aus dieser Epoche
Zerstreutes Hinausschaun, Der Fahrgast). Daneben stammen, bis auf den Hungerkünstler-Band, alle
gibt es einige wenige ausgeprägt narrative Texte, die, wichtigen Publikationen zu Lebzeiten (auch wenn
mehr oder minder deutlich, die ›phantastischen‹ diese teilweise erst nach 1917 erschienen sind), so
Schreibverfahren der Beschreibung eines Kampfes dass schon damals (aber auch noch in der späteren
fortführen (z. B. Kinder auf der Landstraße, Unglück- Breitenrezeption und weitgehend bis zum heutigen
lichsein). Tag) das Kafka-Bild vor allem durch das mittlere
Schon an dieser Kurzcharakteristik dürfte auffal- Werk geprägt scheint.
len, dass im (erhaltenen) Frühwerk – trotz sehr ähn- Biographisch ist die Werkphase vor allem be-
licher ›Protagonisten‹-Figuren – ganz verschiedene stimmt durch die Beziehung zu Felice Bauer, die für
Schreibweisen verwendet werden. Kafka experimen- Kafka schon bald zu einem zermürbenden Dauer-
tiert also, wie das in den Anfängen eines Œuvres ja konflikt zwischen ›Kunst‹ und ›Leben‹ gerät. Am 12.
oft geschieht, mit unterschiedlichen formalen Lö- Juli 1914 wird die Verlobung während des ›Gerichts-
sungen, probiert Verfahren aus. hofes‹ im Berliner Hotel ›Askanischer Hof‹ (ä 18)
Wie immer, wenn man von der späteren Werkent- zum ersten Mal gelöst, aber schon Ende Oktober/
wicklung auf die Anfänge eines Autors zurückblickt, Anfang November setzt der Briefwechsel wieder ein;
lassen sich auch in Kafkas Frühwerk retrospektiv die am 23./24. Januar trifft man sich im Grenzort Bo-
literarischen Themen und Verfahren erkennen, die denbach und es beginnt die zweite Phase der Bezie-
das meiste Entwicklungspotential hatten. Es sind hung, die nur deswegen als weniger krisenhaft er-
dies vor allem: (1) das Grundthema der ›Desorien- scheint, weil die Hoffnungen und Erwartungen ge-
tierung‹ durch ein Herausfallen aus bisher fraglos ringer geworden sind.
akzeptierten Alltagskonventionen; (2) der zwang- Den zeitgeschichtlichen Kontext für die zweite
hafte Selbstbehauptungskampf der verunsicherten Hälfte des mittleren Werkes bildet natürlich der
Protagonisten (vor allem in Beschreibung eines Erste Weltkrieg, der Kafka sicher mehr beschäftigt
Kampfes); (3) die ›objektive‹ Phantastik, die nicht hat, als die lakonische (vielzitierte) Tagebucheintra-
mehr, wie die ›subjektive‹, an die phantastische Erle- gung vom 2. August 1914 glauben macht: »Deutsch-
bensperspektive eines Ich gebunden ist (vor allem land hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag
im letzten Text von Betrachtung und in Beschreibung Schwimmschule« (T 543). Die aktuellen Biographien
eines Kampfes); (4) die Aufspaltung des Ich in selb- von Alt (2005) und Stach (2002 u. bes. 2008) liefern
ständige Figuren (besonders in Beschreibung eines wichtige und zum Teil neue Materialien zu den Ein-
Kampfes); (5) diverse Ansätze zum Bruch mit realis- flüssen des Krieges auf Kafkas Leben und Denken.
86 3. Dichtungen und Schriften

Verglichen mit den langen Schreibpausen im spä- Apr. 1915; NSF I, 229–266) setzt das literarische
ten Werk ist die Produktion des mittleren etwas kon- Schreiben fast völlig aus – die wenigen Ausnahmen
tinuierlicher. Es lässt sich aber auch hier schon deut- sind <Monderry> (27.5.1915; T 746–748) und ei-
lich zwischen Zeiten unterscheiden, in denen ge- nige zwischen 19. April und 30. Oktober 1916 ent-
schlossene Werke gelingen oder Großprojekte zügig standene Fragmente (T 777, 780–784, 790, 793–
vorankommen, und solchen, in denen nur stockend 801, 810). Dann brechen literarische Produktion
und kleinteilig oder gar nicht geschrieben werden und Tagebuch gleichzeitig ab.
kann. Im mittleren Werk gibt es drei Phasen intensi- (3) Im Alchimistengässchen (›Landarzt-Phase‹;
ver Produktivität, die jeweils zugleich werkbiogra- Ende November 1916 bis Mitte Mai 1917): Die letzte
phische Entwicklungsstufen markieren. Schreibphase des mittleren Werkes ist sowohl
(1) Die sogenannte ›Durchbruchs‹-Phase (22.9. an einen neuen Schreib-Ort gebunden – das Häus-
1912 bis Anf. März 1913): Fast unmittelbar nach chen in der Alchimistengasse, das Ottla angemietet
der Niederschrift des Urteil beginnt Kafka mit dem und dem Bruder von etwa 24. November 1916 bis
Heizer-Kapitel eine Neufassung des Verschollenen, Mitte Mai 1917 zur Verfügung gestellt hatte – wie
an der er zunächst bis zum 24. Januar 1913 schreibt. auch an ein neues Schreib-Medium: die kleinforma-
In einer Arbeitspause entsteht die Verwandlung tigeren, daher auch leichter transportablen ›Oktav-
(17.11.-6.12.1912). Mit dem <Ernst Liman>-Frag- hefte‹ (von denen mindestens eines verlorengegan-
ment (28.2.-3.3.1913; T 493–499) gerät die Produk- gen sein muss; DzL:A 320). In dieser überaus pro-
tion jedoch ins Stocken; auch das Tagebuch wird duktiven Zeit entstehen u. a.: <Der Gruftwächter >
für zwei Monate unterbrochen. Bis zur ersten Au- (Ende Nov. 1916 bis Anf. 1917; NSF I, 267–303), die
gusthälfte 1914 entstehen nurmehr kurze bis sehr meisten der später in den Landarzt-Band aufgenom-
kurze Fragmente; am weitesten entfaltet ist noch menen Texte (bis auf Vor dem Gesetz und Ein Traum,
die Verlockung im Dorf (Ende Juni 1914; T 643– die sicher älter sind), <Die Brücke> (Dez. 1916 u.
656). Jan. 1917; NSF I, 304 f.), die <Jäger-Gracchus>-Frag-
(2) »Process«-Umfeld (Ende Juli 1914 bis Anfang mente (Mitte Jan. bis Anf. Apr. 1917; NSF I, 305–313,
April 1915): War der erste Produktionsschub an die 378–384 u. T 810 f.), Der Kübelreiter (Monatswechsel
Euphorie der ersten Liebesmonate gebunden, so Jan./Febr. 1917; NSF I, 313–316 u. DzL 444–447),
speist sich der zweite aus der traumatisch verlaufe- Beim Bau der chinesischen Mauer (März 1917; NSF I,
nen Trennung in Berlin. Hauptprojekt ist nun der 337–357) – woraus Eine Kaiserliche Botschaft und
Process (11.8.1914–20.1.1915). In einer für Kafka Ein altes Blatt verselbständigt werden –, <Der Schlag
neuen Produktionsweise wird der Roman – inner- ans Hoftor > (März 1917; NSF I, 361–363), Der Quäl-
halb des durch Anfangs- und Schlusskapitel gesetz- geist (März 1917; 367 f.), <Der Nachbar > (März/
ten Rahmens – diskontinuierlich geschrieben, wo- April 1917; 370–372) und Eine Kreuzung (März/
bei Kafka mitunter auch an mehreren Kapiteln April 1917; 372–374). Mit dem Verlassen der Alchi-
gleichzeitig arbeitet. Mehr noch: Die Arbeit am Ro- mistengasse bricht die Produktion fast komplett ab;
man wird von der an gleich mehreren parallel ver- von Juni bis August 1917 entstehen wieder nur we-
folgten Projekten begleitet. So entstehen u. a. die nige und meist sehr kurze Fragmente.
Erinnerungen an die Kaldabahn (15.8. u. Anf. Nov. Das Tagebuch wird bis zum Ende des ›Zehnten
1914; T 549–553 u. 684–694), der Schlussteil des Heftes‹ am 27. Mai 1915 relativ kontinuierlich ge-
Verschollenen-Fragmentes um das ›Teater von Ok- führt, tritt allerdings in Zeiten intensiver literari-
lahama‹ (Aug./Okt.; V 370–419), In der Strafkolo- scher Produktion stark in den Hintergrund. Das
nie (5.-18.10.), Der Dorfschullehrer (<Der Riesen- ›Elfte Heft‹, das erst wieder am 13. September 1915
maulwurf >; 18.12.1914–6.1.1915; NSF I, 194–216), einsetzt, weist dagegen zwei große Unterbrechun-
Der Unterstaatsanwalt (Ende Dez. bis 6.1.; NSF I, gen auf (26.12.1915–18.4.1916 u. 7.4.1917–28.7.
217–224) und wohl auch noch das <Elberfeld>- 1917) und wird auch ansonsten nur sporadisch ge-
Fragment (vor 20.1.; NSF I, 225–228). Mit dem Ab- führt. Die Tagebuchhefte des mittleren Werkes ent-
bruch des Process am 20. Januar 1915 (der fast ge- halten auch einen großen Teil der literarischen Pro-
nau mit der ersten Wiederbegegnung mit Felice duktion der Zeit, haben also starken Werkstattcha-
nach der Trennung zusammenfällt) versiegt auch rakter. Erst mit den Oktavheften wird die literarische
die übrige Produktion allmählich. Nach dem Frag- Produktion stärker vom diaristischen Schreiben ab-
ment <Blumfeld, ein älterer Junggeselle> (8.2. bis getrennt.
Drei Werkphasen 87

Charakteristika der ersten Phase des späten Werkes zu ihrem formal-


logischen End- und Extrempunkt geführt werden
Entscheidend für die Beschreibung des mittleren wird). In nuce lässt sich diese Entwicklung schon an
Werkes ist natürlich die Frage nach den Innovatio- der Reihe nicht realisierter Werktitel für Sammel-
nen, die das Urteil zu einem veritablen Neuansatz band-Projekte ablesen: (1) Die Söhne – (2) Strafen –
werden ließen. Hier ist zunächst der zentrale Vater- (3) Verantwortung. (1) war gedacht für eine Sammel-
Sohn-Konflikt zu nennen, der natürlich, zum einen, publikation von Das Urteil, Der Heizer und Die Ver-
die Frucht der intensiven Selbsterforschung im Ta- wandlung (An K. Wolff, 11.4.1913, B13–14 166); (2)
gebuch ist; Kafka verlässt damit die sozusagen aus für eine Sammlung von Das Urteil, Die Verwand-
zweiter Hand übernommenen Krisenbegründungen lung, In der Strafkolonie (in genau dieser Reihen-
und -modellierungen des frühen Werkes und geht folge; An G.H. Meyer 15.10.1915, B14–17 142); (3)
nun von der Deutung eigener (individualbiographi- als ursprünglicher Titel-Einfall für den Landarzt-
scher wie ›westjüdischer‹) Erfahrungen aus. Ebenso Band (An M. Buber, 22.4.1917; B14–17 297). Der
wichtig ist aber, zum anderen, dass dieser Konflikt in erste Titel steht kürzelhaft für die Verallgemeinerung
modellhafter Allgemeinheit dargestellt wird und des Familienmodells zum Sozialmodell, das die Ent-
über nicht offen ›zugestandene‹ »Abstraktionen« wicklungslinie vom Urteil über die Verwandlung
(An F. Bauer, 10.6.1913; B13–14 205) an trans-indi- zum Verschollenen markiert. Der zweite demon-
viduelle Problemfelder wie ›Macht‹, ›Familie‹, ›Ge- striert den Übergang vom Familienmodell (und den
sellschaft‹ anschließbar ist. Gerade diese Qualitäten es fundierenden Größen ›Vater-Sohn-Konflikt‹ und
– die Verbindung von biographischer Authentizität, ›Macht-Thematik‹) zu einer allgemeineren Ebene, in
archetypischer Allgemeinheit und zeitkritischem der sich Rechtfertigungs-Thematik und ›westjüdi-
wie anthropologischem Bedeutungspotential – ma- sche‹ Zeitkritik miteinander verbinden. Dafür ste-
chen den Vater-Sohn-Konflikt ja in dieser Zeit zum hen vor allem Der Process – mit seinem ›vaterlosen‹
neuen Selbsterklärungs-Passepartout der jungen ex- Helden – und In der Strafkolonie. Der dritte Titel
pressionistischen (und häufig auch jüdischen) Auto- vollendet diese Entwicklung, indem sich, nicht zu-
rengeneration. Formal entscheidend für das Gelin- letzt unter dem Einfluss des Weltkrieges, Zeitkritik
gen des Urteil ist (1) der sparsam dosierte und ge- und ›Gemeinschafts‹-Verantwortung miteinander
schickt funktionalisierte Einsatz der Phantastik – der verbinden.
Leser wird sozusagen von seiner realistischen Er- Der so skizzierten thematischen Verschiebung
wartungshaltung abgeholt und parallel zum Helden entsprechen formale Veränderungen, die Kafka vor
desorientiert. Ebenso wohlfunktionalisiert ist (2) der allem in einem Tagebucheintrag vom 9. Februar
Gebrauch des personalen Erzählverhaltens, das nun 1915 reflektiert hat:
erstmals in der Er-Form (mit geschicktem, in der Wenn sich die beiden Elemente – am ausgepägtesten im
wenig später entstandenen Verwandlung perfektio- »Heizer« und »Strafkolonie« – nicht vereinigen, bin ich
niertem Einsatz der ›erlebten Rede‹) verwendet wird. am Ende. Ist aber für diese Vereinigung Aussicht vor-
Die so entstehende Dialektik von formal erzwunge- handen? (T 726).
ner Identifikation des Lesers mit dem Helden bei Diese »beiden Elemente« sind, wie die Textbeispiele
gleichzeitigen Distanzierungssignalen gegenüber verdeutlichen, eine noch rudimentär realistische
dessen beschränkter Welt- und Selbstwahrnehmung (Heizer) und eine parabolisch geprägte Schreibweise
ist der wohl wichtigste Positionsgewinn für das reife (Strafkolonie). Zu ihrer ›Vereinigung‹ kommt es bei-
Werk. Schließlich ist auch das neue, inspirationsori- spielweise im Zwei-Ebenen-Modell des Process, wo
entierte Schreibverfahren als Kafkas persönliche Va- die wiedererkennbar ›realistische‹ Welt von K.s All-
riante ›automatischen Schreibens‹ (ä 4.2 u. 347–350) tags- und Geschäftsleben verschränkt wird mit der
zu nennen, das sich im Urteil geradezu idealtypisch ›gleichnishaften‹ Ebene des Gerichts-Bereiches. In
bewährt: Die Geschichte wird in einer einzigen den parallel zum Process geschriebenen Schlusskapi-
Nacht in einem Zug ›durchgeschrieben‹ und rundet teln des Verschollenen-Fragments hat Kafka offen-
sich, trotz der Planlosigkeit der Niederschrift, zu ei- sichtlich versucht, seinem ersten Romanversuch mit
nem in sich geschlossenen und zugleich formal kühn dem ›Teater von Oklahama‹ eine ähnlich struktu-
innovativem Text. rierte ›zweite Ebene‹ einzuziehen (weiß man dies,
Die drei Phasen des mittleren Werkes weisen eine wird das natürlich Konsequenzen für eine Interpre-
durchgängige Entwicklungstendenz auf (die dann in tation dieser umstrittenen Textpassagen haben – ein
88 3. Dichtungen und Schriften

gutes Beispiel für den heuristischen Ertrag einer ril bis Ende 1920) und Dora Diamant (15.7.1923 bis
werkgeschichtlichen Betrachtungsweise). zum Tode). Verglichen mit der schon sehr früh in
Allerdings lief Kafkas weitere Werkentwicklung eine Dauerkrise geratenen Beziehung zu Felice be-
nicht auf die (im Tagebucheintrag erhoffte) ›Vereini- ginnen die neuen Liebeserlebnisse viel hoffnungs-
gung‹ der Elemente hinaus, sondern auf die zuneh- voller. Das dritte scheint diese Hoffnungen wohl
mende Dominanz, ja Verselbständigung der ›para- auch tatsächlich eingelöst zu haben: Mit Dora Dia-
bolischen‹ Ebene, die die Texte aus dem Alchimis- mant gelingt es Kafka, Prag und dem Elternhaus zu
tengässchen bestimmt. Hier lässt sich eine weitere entkommen und ein gemeinsames Leben in Berlin
Reduktion des Basis-Realismus beobachten, die al- zu beginnen (24.9.1923 bis 17.3.1924), das nur die
lein schon an der Ersetzung (individualisierender) drastische Verschlechterung des Gesundheitszustan-
Figurennamen durch generische (und bedeutungs- des vorzeitig beendet.
trächtige) Bezeichnungen abzulesen ist, wobei diese Geht man vom Wechsel von Schreibzeiten und
oft auch noch mit dem unbestimmten Artikel kom- Schreibpausen aus, so ergeben sich vier Teilphasen
biniert sind (etwa ›ein Landarzt‹ in der Titelge- des späten Werkes (zu Details ä 3.3.7).
schichte, ›ein Fremder‹/›ein Reisender aus dem Nor- (1) Zürau (12.9.1917 bis Anf. Mai 1918): In die
den‹ in Schakale und Araber). Dieser zunehmenden ›Oktavhefte G und H‹ trägt Kafka die Zürauer Apho-
›Parabolisierung‹ der erzählten Welten entspricht rismen ein; eingelagert sind einige wenige paraboli-
der Übergang zu kürzeren Formen (der sich also kei- sche Kurztexte (<Eine alltägliche Verwirrung >, <Die
neswegs nur aus dem Scheitern größer angelegter Wahrheit über Sancho Pansa>, <Das Schweigen der
Projekte erklärt). Sirenen>, <Prometheus>), angefügt der sozialutopi-
sche Entwurf Die besitzlose Arbeiterschaft.
(2) ›Konvolut 1920‹ (ca. 20.8. bis Mitte Dezember
1920): Aus dieser Loseblatt-Sammlung (NSF II, 223–
Das späte Werk 362) hat Max Brod zahlreiche Kurztexte herausge-
(ab September 1917) löst: <Nachts>, <Die Abweisung >, Zur Frage der
Gesetze, <Die Truppenaushebung >, <Poseidon>,
Überblick
<Gemeinschaft >, <Das Stadtwappen>, <Der Steuer-
Der Ausbruch der Lungenkrankheit im August 1917, mann>, <Die Prüfung >, <Der Geier >, <Kleine Fa-
der fast achtmonatige Erholungsaufenthalt in Zürau bel >, <Der Kreisel >.
und die Auflösung der Beziehung zu Felice Bauer (3) »Schloss«-Jahr 1922 (ca. 27.1. bis Mitte Dezem-
markieren einen unübersehbaren Einschnitt in Kaf- ber 1922): Im Zentrum der ersten, bis zum 20. Au-
kas Leben. Werkbiographisch signifikant werden gust reichenden Arbeitsphase steht Kafkas drittes
diese Ereignisse, indem sie zunächst eine Phase der und umfangreichstes Romanprojekt Das Schloss. Pa-
weltanschaulich-anthropologischen Grundsatzrefle- rallel dazu entstehen u. a. Erstes Leid (vermutl. März),
xion in aphoristischer Form, dann eine der kriti- <Fürsprecher > (Frühjahr; NSF II, 377–380) und Ein
schen Selbstreflexion einleiten, die – mit Ausnahme Hungerkünstler (um 23.5.). Nach Abbruch des
des nur halbliterarischen <Brief an den Vater > (Mitte Schloss-Romans schreibt Kafka u. a. die <Forschun-
Nov. 1919) – weitestgehend im Medium der Litera- gen eines Hundes> (ca. 18. Sept. bis Ende Okt.; NSF
tur erfolgen. Tagebuch hat Kafka im späten Werk II, 423–459, 460–482 u. 485–491), Das Ehepaar
nur noch sporadisch geführt; lediglich das zwölfte (Okt./Nov.; NSF II, 516–524 u. 534–541), Ein Kom-
der Tagebuchhefte (mit weniger als 10 Prozent des mentar (Brod: <Gibs auf! >; Nov.; NSF II, 530) und
diaristischen Gesamttextes) fällt in diese Phase. Da- <Von den Gleichnissen> (Nov.; NSF II, 531 f.).
für ist hier die Zahl der literarischen Fragmente noch (4) Berlin (und Prag; ca. 24. September 1923 bis
weit größer als in den beiden anderen Werkphasen. Anfang April 1924): In dieser Schreibphase dürfte es
Lebensgeschichtlich steht das späte Werk ganz im größere Textverluste gegeben haben (ä 517 f.). Zu
Zeichen der Krankheit: Zahlreiche Kur- und Sanato- den erhaltenen Texten zählen u. a.: <Heimkehr >
riumsaufenthalte an verschiedenen Orten wechseln (wohl Nov. 1923; NSF II, 572 f.), Eine kleine Frau
mit Wiederaufnahmen der Berufstätigkeit in Prag (zwischen Ende Nov. 1923 u. Jan. 1924; NSF II, 634–
(bis zur Frühpensionierung am 30.6.1922). An die 646, DzL 321–333), <Der Bau> (zwischen 23.11.1923
Stelle von Felice Bauer treten nun: Julie Wohryzek u. Ende Jan. 1924; NSF II, 576–632), das <Men-
(Febr. 1919 bis Ende Juli 1920), Milena Jesenská (Ap- schenfresser >-Fragment (ca. März 1924; NSF II, 646–
Drei Werkphasen 89

649) und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der verschränkt sich mit den abstrakteren ›Rechtfer-
Mäuse (Mitte März bis Anf. April 1924, nach der tigungs‹-Überlegungen der Zürauer Aphorismen.
Rückkehr von Berlin nach Prag; NSF II, 651–678, (2) Als Gegentendenz dazu lässt sich eine neue
DzL 350–377). Wendung ins Autobiographische beobachten, die
Zwischen (1) und (2) entsteht mit dem <Brief an Kafka einmal auf den Begriff der ›selbstbiographi-
den Vater > (Mitte Nov. 1919; NSF II, 143–217) au- schen Untersuchungen‹ gebracht hat (wohl Febr.
ßerdem die (nach den Zürauer Aphorismen) zweite, 1921; NSF II, 373). Deren Anfänge zeigen sich be-
diesmal autobiographische Grundsatzreflexion des reits im ›Konvolut 1920‹; in den beiden letzten
späten Werkes. Vom 6. Januar bis zum 29. Februar Schreibphasen, in denen nun auch wieder längere
1920 schreibt Kafka die Aphorismenreihe <Er > Erzähltexte entstehen, wird sie zur dominanten Ten-
(T 847–862), die vor allem das Scheitern der Bezie- denz. Das gilt – wenn auch mit Einschränkungen,
hung zu Julie Wohryzek reflektiert. die sich nicht zuletzt aus der Großform ›Roman‹ er-
Zu Lebzeiten veröffentlicht werden aus diesem geben – sogar für Das Schloss, das nicht nur in Ich-
Textkorpus nur die vier Erzählungen des Hunger- Form begonnen worden war, sondern sich auch,
künstler-Bandes (Erstes Leid; Eine kleine Frau; Ein ganz anders als der Process, zur Verschränkung einer
Hungerkünstler; Josefine, die Sängerin). Vielzahl von Individualgeschichten gestaltet. Diese
späte Konzentration auf ›selbstbiographische Unter-
Charakteristika suchungen‹ bedeutet keine Rückkehr zur For-
mensprache der Anfänge des mittleren Werkes, da
»Jahre der Erkenntnis« hat Reiner Stach das späte deren rudimentärer sozialer Realismus im späten
Werk genannt (Stach 2008); vielleicht sollte man et- Werk keine Entsprechung findet. Und trotz einer
was vorsichtiger von ›Jahren der Erkenntnissuche‹ Dominanz der Ich-Form (seit dem ›Konvolut 1920‹)
sprechen. Zentral ist auf jeden Fall das Thema der – fehlen auch unmittelbar lebensgeschichtliche Be-
ganz persönlichen wie allgemein menschlichen – züge oder Reminiszenzen fast völlig. Stattdessen ent-
›Rechtfertigung‹. stehen parabolisch verallgemeinerte Lebensbilan-
Die vier Schreibzeiten des späten Werkes lassen zen. Die Künstlerthematik, die mindestens drei der
sich von ihren thematischen wie formalen Grund- vier Erzählungen des Hungerkünstler-Bandes be-
tendenzen in Zweiergruppen zu zwei Phasen zusam- stimmt und so ins Zentrum des veröffentlichten Spät-
menzufassen, wobei das ›Konvolut 1920‹ bereits werkes getreten ist, bildet vor dem Hintergrund der
deutliche Übergangstendenzen zur zweiten aufweist. Gesamtüberlieferung nur einen Sonderfall der allge-
Dieser Zweiteilung entsprechen zwei Schreibweisen, meinen ›Rechtfertigungs‹-Thematik.
die das späte Werk bestimmen:
(1) Mit der Neuaneignung des aphoristischen
Schreibens in Zürau erreicht die Tendenz zu zuneh- Forschung
mender formaler Parabolisierung und thematischer
Verallgemeinerung, die schon das ganze mittlere Ausgesprochen werkgeschichtlich angelegte Ge-
Werk bestimmt hatte, ihren Höhepunkt. Auch wenn samtdarstellungen von Kafkas Œuvre wird man bis
das genretheoretisch sehr seltsam anmuten mag, ist heute vergebens suchen. Sozusagen ihre ›Platzhalter‹
für Kafka der – bei ihm stark bildgeprägte und oft sind die lesenswerten Überblicksversuche von Henel
rudimentär narrative – Aphorismus sozusagen die (1979) und Schillemeit (2004 [1995]).
äußerste Verdichtungsform der Parabel. Die apho- Während Schillemeit nur die Schreibphasen cha-
ristische Schreibweise reicht von den Zürauer Apho- rakterisiert, hat Ingeborg Henel deren Gruppierung
rismen über ihre direkte selbstreflexive Anwendung zu vier Werkphasen vorgeschlagen: (a) das Früh-
in der Reihe <Er > bis ins ›Konvolut 1920‹. Vielleicht werk; (b) Vom Urteil zum Process; (c) Die Landarzt-
ließe sich in der generell zu beobachtenden Verstär- Phase; (d) Das Spätwerk (Henel 1979). Der den Er-
kung des reflexiv-diskursiven Gestus sogar eine noch zählungen gewidmete Werkteil in Binders Kafka-
weiter reichende Prägungswirkung der aphoristi- Handbuch (KHb 1979) ist gar in fünf Abschnitte
schen Phase für das gesamte späte Werk sehen. Das untergliedert: (a) Das Frühwerk (1904–1912);
Thema der ›Gemeinschaft‹, nun verstärkt über die (b) Die Phase des Durchbruchs (1912–1915); (c) Die
Opposition zwischen den »alten großen Zeiten« und Arbeit im Alchimistengässchen (1916–1917);
der ›modernen‹ Gegenwart (ä 502–508) gestaltet, (d) Das Schaffen in den ersten Jahren der Krankheit
90 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

(1917–1920); (e) Die Spätzeit (1922–1924) (KHb Forschung: P.-A. Alt (2005). – Manfred Engel: Beschrei-
1979 II, VII-IX). Vergleicht man diese Werkeinhei- bung eines Kampfes: Narrative Integration und phantas-
ten miteinander und mit den im vorliegenden Hand- tisches Erzählen. In: Engel/Robertson (2010). – Sophie
buch vorgeschlagenen, so wird man den Eingangs- von Glinski: Imaginationsprozesse. Verfahren phantas-
befund bestätigt sehen: Konsensfähig, da einigerma- tischen Erzählens in F.K.s Frühwerk. Berlin, New York
ßen eindeutig belegbar, ist zunächst einmal eine 2004. – Ingeborg Henel: Periodisierung und Entwick-
Untergliederung nach Schreibzeiten. Werkphasen lung. In: KHb (1979) II, 220–241. – Heinz Hillmann:
F.K. Dichtungstheorie und Dichtungsgestalt. Bonn 1964,
als diese Vielzahl zu heuristischen Zwecken verein-
2. Aufl. 1973. – Roy Pascal: K.’s Narrators. A Study of his
fachende Großkonstruktionen müssen dagegen um-
Stories and Sketches. Cambridge 1982. – Malcolm Pas-
stritten bleiben. Man könnte beispielsweise durch-
ley/Klaus Wagenbach: Datierung sämtlicher Texte F.K.s.
aus auch an eine Vierteilung denken, sollte dann
In: Jürgen Born u. a. (Hg.): K.-Symposion. München
aber besser die Landarzt-Zeit, die Zürauer Schreib- 1969 [zuerst 1965], 43–66. – Andrea Rother: »Hier muß
phase und vielleicht auch noch das ›Konvolut 1920‹ ich mich festhalten…«. Die Tagebücher von F.K. − Ein
zu einer dritten Einheit zusammenfassen. literarisches Laboratorium 1909–1923. Berlin 2008. –
Werkgeschichtliche Betrachtungen liegen heute Jost Schillemeit: F.K. Werk, Nachlaß, Edition. Versuch
allenfalls zu einigen Schreibphasen vor. Noch bedau- eines Überblicks. In: Margit Raders/Luisa Schilling
erlicher ist, dass es keine neueren Untersuchungen (Hg.): Studien zur deutschen Literatur. Gattungen –
zu Veränderungen in Kafkas Schreibverfahren gibt. Motive – Autoren. Madrid 1995, 73–88; wieder in: J.
Diese wären ein besonders dringendes Desiderat, da Schillemeit (2004), 348–364. – Walter H. Sokel: Das
die Arbeiten von Sokel (1967) und Pascal (1982) Verhältnis der Erzählperspektive zu Erzählgeschehen
schon allein durch die neu-edierten Nachlass-Texte und Sinngehalt in Vor dem Gesetz, Schakale und Araber
überholt sind und Hillmanns Überblick eher typolo- und Der Prozess. In: ZfdPh 86 (1967), 267–300. – R.
gisch orientiert bleibt (Hillmann 1973 [1964], 161– Stach (2002). – R. Stach (2008). – Joachim Unseld: K.s
194). Publikationen zu Lebzeiten. In: KHb (2008), 123–136.
Manfred Engel
Beschreibung eines Kampfes 91

3.1 Das frühe Werk eines Kampfes 1969 in einer von Ludwig Dietz erar-
beiteten textkritischen Parallelausgabe nach den
(bis September 1912) Handschriften erschien, die eine Synopse der Fas-
sungen A und B bietet, existierte allein die von Max
Brod 1936 herausgegebene Textversion (BeK/GS;
wieder in BeK/GW, 1954). Brod integrierte auch
3.1.1 Beschreibung Partien, die der Autor gestrichen hatte, und wollte
vor allem »eine lesbare, in sich geschlossene Fas-
eines Kampfes sung« herstellen (Brod, 157); allerdings vollzog er in
seiner Edition eine eigenmächtige, editionsphilolo-
Entstehung und Veröffentlichung gisch fragwürdige Kontamination der Fassungen
(Brod, 155 f.; vgl. dazu Dietz 1973 u. 1973a, sowie
Die Erzählung Beschreibung eines Kampfes, Kafkas NSF I:A, 45).
frühestes erhaltenes Werk, blieb zu Lebzeiten des Zwar wurde der gesamte Text dieses komplexen
Autors unpubliziert. Der Text existiert in zwei ver- Frühwerks erst postum publiziert, aber einzelne Par-
schiedenen Versionen: Die sogenannte »Fassung A« tien hatte der Autor selbst zuvor bereits separat ver-
entstand zwischen 1904 und 1907, die erhaltene öffentlicht: Die Parabel Die Bäume, die sich mit Vari-
Reinschrift (NSF I, 54–120) vermutlich zwischen anten in beiden Fassungen der Beschreibung eines
September und Dezember 1907. Ab 1909, wohl nicht Kampfes findet (NSF I, 110, 166), erschien 1912 in
vor Anfang Mai, verfasste Kafka eine zweite, titellose der Buchfassung von Kafkas Betrachtung (DzL 33).
Variante des Textes, die laut Brod (Brod, 153, 155) Zu den achtzehn Prosaminiaturen der Betrachtung
unvollendet gebliebene »Fassung B« (NSF I, 121– gehören noch drei weitere Texte (DzL 28 f., 9–14,
169). Die letzten Teile des Manuskripts dürften vor 20), die ursprünglich dem Konvolut der Beschrei-
Okt./Nov. 1910 entstanden sein (NSF I:A 55). Kafkas bung eines Kampfes entstammen: Kleider (NSF I,
Versuche, die Fassung B in Tagebuchheften fortzu- 114 f.) aus der Fassung A, sowie Kinder auf der Land-
führen, reichen mindestens bis zum 20. August 1911 straße (145–150) und Der Ausflug ins Gebirge (141 f.)
(zu den Manuskripten und ihrer Entstehungsge- aus der Fassung B. Zwei dieser Texte, nämlich Die
schichte vgl. NSF I:A, 43–56). Bäume und Kleider, hatte Kafka schon 1908, noch
In der Forschung gilt die Fassung A, auf die sich vor der Veröffentlichung seines ersten Buches Be-
auch der vorliegende Artikel primär bezieht, zu trachtung, in der Zeitschrift Hyperion publiziert. Im
Recht als die differenziertere und interessantere Ver- Jahr 1909 erschienen dort aus dem Komplex der Be-
sion der Erzählung; schon Kafkas Freund Max Brod schreibung eines Kampfes (NSF I, 84–95, 101–107)
bezeichnet sie als das »allein vollständige« Manu- auch die Texte Gespräch mit dem Beter und Gespräch
skript und hält sie auch für »wesentlich gelungener, mit dem Betrunkenen (DzL 384–394, 395–400).
farbenreicher« als die später entstandene Fassung B Aus dieser Textgeschichte sind in der Forschung
(Brod, 153). Kafkas existenzielles Ringen mit dem voreilige Schlüsse gezogen worden: So deutet Glin-
Projekt der Beschreibung eines Kampfes zeigt eine Ta- ski die Vorveröffentlichung einzelner Passagen aus
gebuchnotiz vom 15. November 1910: »Ich werde der Beschreibung eines Kampfes als Indiz für »das
mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Scheitern des ursprünglichen Projekts«, das »anstelle
Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht einer Entwicklung eine Art fortgesetztes Auf-der-
zerschneiden sollte« (T 126). Zur Problematik der Stelle-Treten« hervorbringe (Glinski, 29, 87). Diese
Datierung sowie zur Text- und Druckgeschichte vgl. These radikalisiert die Spekulation Max Brods, Kafka
Dietz 1973 und NSF I:A, 46–56; zum Vergleich der habe aus der Erzählung, die er »später wohl als Gan-
beiden Fassungen vgl. den Schlussteil dieses Artikels zes verworfen haben mag«, ausgegliedert und wei-
sowie Ryan, 547–552, 564–571 und Schillemeit, 121– terverwendet, was ihm »wert blieb« (Brod, 156).
127. Zwei Argumente sind dieser Auffassung entge-
Außer der Hermetik der schwer zu erschließen- genzuhalten: Erstens veröffentlichte Kafka auch Teile
den Erzählung trug auch die problematische Editi- anderer Werke als Miniaturen separat, ohne dass da-
onsgeschichte dazu bei, dass eine hinreichend diffe- durch ein Negativurteil über den Gesamtkomplex
renzierte Analyse dieses Werkes bis vor kurzem als gerechtfertigt wäre (etwa die Parabel Eine kaiserliche
Desiderat der Forschung galt. Bis die Beschreibung Botschaft aus der Erzählung Beim Bau der chinesi-
92 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

schen Mauer und das Gleichnis Vor dem Gesetz aus hält die Beschreibung eines Kampfes für »die Erzäh-
seinem Roman Der Process). Zweitens lässt sich zei- lung Kafkas, die am deutlichsten Prager Lokalkolorit
gen, dass Kafka die Beschreibung eines Kampfes aufweist« (Brod, 158). Der in sich vielfältig differen-
kunstvoll komponiert und bis ins Detail durchdacht zierte Binnenteil entfaltet phantasmagorische Innen-
hat. Durch die Konstruktion phantastischer Imagi- welten. Kafka entwarf für seine ›Novelle‹ ein dreistu-
nationsräume entfaltet er ein psychologisch genau figes Gliederungsschema:
differenziertes Geschehen. Indem er Doppelgänger- I.
Konstellationen inszeniert, gestaltet er die spezifi- II. Belustigungen oder Beweis dessen, daß es
sche Symptomatik einer Identitätskrise. Dabei greift unmöglich ist zu leben
er auf einen romantischen Subtext sowie auf zeitge- 1. Ritt
2. Spaziergang
nössische Diskurse der Philosophie und Psychologie
3. Der Dicke
zurück (Neymeyr 2004, 9, 14–36). Von Bedeutung a. Ansprache an die Landschaft
ist Kafkas ›Novelle‹ auch insofern, als sie »in thema- b. Begonnenes Gespräch mit dem Beter
tischer und formaler Hinsicht das Gesamtwerk in c. Geschichte des Beters
nuce« enthält (Sokel 1984, 133). d. Fortgesetztes Gespräch zwischen dem
Dicken und dem Beter
4. Untergang des Dicken
III.
Textbeschreibung
Das wichtigste Strukturprinzip der Beschreibung ei-
Die frühe Erzählung Beschreibung eines Kampfes ge- nes Kampfes ist der Antagonismus. Durch die Dar-
hört zu den »rätselhaftesten« Werken Kafkas und stellung einer Persönlichkeitsspaltung reflektiert
galt bis vor kurzem sogar als »eine Crux der Kafka- Kafka psychologisch differenziert die moderne Iden-
Forschung« (Schillemeit, 102). Die besonderen her- titätsproblematik. Schon der Titel seiner ›Novelle‹
meneutischen Schwierigkeiten, mit denen sich der betont die Konfliktkonstellationen (Sokel 1964, 33–
Interpret konfrontiert sieht, lassen sich aus der editi- 45; Beicken, 230), die durch die Fragmentierung ei-
onsphilologischen Problematik allein bei weitem nes Ich in antagonistische Bestandteile entstehen.
nicht hinreichend erklären. Vielmehr sind sie vor al- Ein ›Kampf‹ um Vorherrschaft mit wechselnden
lem durch die spezifische Modernität dieses Werkes Kräfteverhältnissen bestimmt das Verhalten der Fi-
selbst bedingt: Kafka löst die Identität der Figuren guren, die Kafka im Rahmenteil und in den Binnen-
und die Konturen der fiktionalen Wirklichkeit auf geschichten miteinander konfrontiert. Dass die vier
und stellt die etablierten Begriffe von Realität, Indi- Hauptgestalten der Fassung A, der Ich-Erzähler, sein
vidualität, Bewusstsein und Sprache vor dem Hin- Bekannter, der Dicke und der Beter, namenlos blei-
tergrund zeitgenössischer Krisenerfahrungen und ben, ist im Hinblick auf die für die Beschreibung ei-
philosophischer Diskurse radikal in Frage. Span- nes Kampfes konstitutive Identitätsproblematik kon-
nungsreich verbindet er psychopathologische Symp- sequent (Neymeyr 2004, 142–148, 172–173).
tome mit modernen sprachskeptischen Reflexionen; Aus der Psychodynamik, die sich in der Figuren-
dem zeitgenössischen Problemniveau trägt er auch konstellation entfaltet, ergibt sich ein Prozess, der
formal durch das avantgardistische Erzählverfahren Selbstbehauptungsstrategien, Dominanzansprüche
Rechnung. und aggressive Überwältigungsversuche, Verdrän-
Die folgende Textbeschreibung bezieht sich auf gungsimpulse und Fluchtreflexe ebenso einschließt
die Fassung A der Beschreibung eines Kampfes (zu wie vorübergehende, durch Empathie oder Faszina-
Fassung B ä 100 f.). Kafka konzipierte sie dreiteilig tion bestimmte Annäherungen an den jeweils Ande-
und gliederte den mittleren Komplex überdies in ren. Schon geringfügige Irritationen rufen Selbst-
acht Abschnitte, die er mit Überschriften versah. zweifel, regressive Sehnsüchte, paranoide Phobien
Brod, der die Funktion dieser Struktur nicht durch- und Aggressionen hervor, die sich in der »Ritt«-Epi-
schaute, fühlte sich dadurch an den Typus »Deutsche sode bis zu gewalttätiger Okkupation des Alter Ego
Hausarbeit« erinnert (Brod, 156). Im Rahmenteil steigern. Oft sind die Figuren, die verschiedene exis-
der Erzählung begegnen sich der Ich-Erzähler und tenzielle Dimensionen repräsentieren, durch kom-
ein Bekannter zuerst bei einer Abendgesellschaft, pensatorische Bedürfnisse motiviert, die aus ihrer
um dann gemeinsam einen nächtlichen Spaziergang einseitigen Ausrichtung entspringen. Mit der Disso-
auf den Prager Laurenziberg zu unternehmen. Brod ziation des Ich geht daher eine unaufhebbare Assozi-
Beschreibung eines Kampfes 93

ation seiner Komponenten einher. Daraus ergibt sich blematik wählt, welchen Stellenwert die zahlreichen
die Komplexität der Interaktionen (Neymeyr 2004, Ambivalenzen und perspektivischen Brechungen in
43–220). diesem Zusammenhang erhalten und welche Funk-
Der erste Rahmenteil (I) der Beschreibung eines tion der Pluralität der Figuren zukommt.
Kampfes konzentriert sich auf das komplementäre
Verhältnis zwischen einem Ich-Erzähler, der zur In-
nerlichkeit tendiert, zugleich aber dem Leben ent- Forschung
fremdet, isoliert und daher unglücklich ist, und dem
›Bekannten‹, der sich als realitätsbezogen, lebenslus- Dass Kafkas anspruchsvolles Frühwerk jahrzehnte-
tig, erotisch erfolgreich und glücklich präsentiert lang im Schatten seiner späteren Werke stand und
(NSF I, 55 f.). Der zweite Rahmenteil (III) stellt diese von der Forschung in erstaunlichem Maße vernach-
Konstellation in Frage und lässt die Selbstinszenie- lässigt wurde, hängt mit der zum Topos gewordenen
rung des Bekannten als inauthentisch erscheinen Einschätzung zusammen, erst die Erzählung Das Ur-
(113–117). In dem umfangreichen Binnenkomplex teil aus dem Jahre 1912 markiere Kafkas eigentlichen
der »Belustigungen« (II) treten der Dicke und der literarischen Durchbruch. Daraus ergaben sich un-
Beter als derivierte Ich-Komponenten in Erschei- zureichend fundierte Prämissen literarischer Wer-
nung. Die Grundproblematik prägt sich in den Kon- tung: Vorschnell disqualifizierte man die vor 1912
figurationen dieses Mittelteils noch radikaler aus als entstandenen Werke Kafkas, indem man sie als Er-
in der Rahmenerzählung. gebnis eines experimentellen Stadiums betrachtete,
Der gesamte Binnenkomplex ist als projektiver in dem der junge Autor noch nach adäquaten litera-
Bewusstseinsinhalt des Ich-Erzählers zu verstehen, rischen Ausdrucksformen gesucht habe. Für seine
der aus einer frustrierenden Gegenwartssituation Prosasammlung Betrachtung galt dies ebenso wie für
»gleichsam hinter der Szene« (Schillemeit, 110) in seine ›Novelle‹ Beschreibung eines Kampfes, deren
phantasmagorische »Belustigungen« (72) flieht. Auf- hermetischer Charakter den Zugang nachhaltig er-
grund einer Abspaltung bestimmter Persönlichkeits- schwerte (Cersowsky, 58); zur Forschungssituation
komponenten erscheint ihm Eigenes wie Fremdes. vgl. die kritischen Referate bei Beicken (226–234)
Das Changieren zwischen Nähe und Distanz zum und Glinski (1–5). Auch die problematische Textsi-
jeweiligen Alter Ego führt zu einer ambivalenten In- tuation (vgl. dazu den Anfangsteil des vorliegenden
teraktion, die zum Indiz tief reichender Selbstent- Artikels) trug zur Vernachlässigung der Beschrei-
fremdung wird. Die Identitätsproblematik findet in bung eines Kampfes bei. Editionsphilologisch (nicht
empathischer Verschmelzung mit dem Gegenüber hermeneutisch) verdienstvoll sind hier die präzisen
ebenso Ausdruck wie in radikaler Abgrenzung von Aufsätze von Ludwig Dietz.
ihm. Darin liegt die Aporie der Krisensituation be- Die Ratlosigkeit vieler Interpreten angesichts der
gründet, die Kafka in seiner Beschreibung eines Beschreibung eines Kampfes kam immer wieder in
Kampfes als Antagonismus entfaltet. Ambivalenzen erstaunlichen Fehlurteilen zum Ausdruck. So hielt
sind nicht nur an den zwischen Größenwahn und es Martin Walser zwar für »bemerkenswert […],
Minderwertigkeitsempfindungen oszillierenden daß Kafka hier versucht, verschiedene Gestalten als
Selbstbildern der Figuren zu erkennen, sondern Ich-Erzähler einzuführen«; dann aber erklärte er
auch an ihrer variablen Einstellung zum jeweiligen apodiktisch: »Dieser Versuch mißglückt völlig«
Alter Ego und an der Auflösung einer stabilen (Walser, 37). Ingeborg Henel kritisierte die »un-
Grenze zwischen Ich und Welt (Neymeyr 2004). glückliche Struktur« der Erzählung, »das ungezü-
Kafkas Erzählstrategie erzeugt eine wirkungsäs- gelte Phantasieren, das Groteske und die Übertrei-
thetische Provokation: Durch die Konstruktion bungen« und meinte, der Text sei durch sich über-
phantastisch verfremdeter Imaginationsräume for- stürzende Einfälle »in Verwirrung geraten« und
dert die Beschreibung eines Kampfes dazu heraus, die »weder durch Straffung noch durch Konkretisie-
Textoberfläche zu durchdringen, sie auf einen Sinn rung zu retten« gewesen (Henel, 223–225, 228).
jenseits der fiktionalen Realität hin zu befragen und Ähnlich äußerte sich Baumgart: Durch »Wirrnis
dabei auch vordergründig Inkohärentes in einen und Flüchtigkeiten« biete die Beschreibung eines
Sinnhorizont zu integrieren. Außerdem ist zu unter- Kampfes ein Konglomerat aus heterogenen Elemen-
suchen, welche narrativen Verfahren Kafka zur Ge- ten: »die Erzähltöne und -ebenen der Einzelstücke
staltung der für den Text konstitutiven Identitätspro- passen so wenig zueinander wie die Beliebigkeit ih-
94 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

rer Phantastik zum raunenden Ernst ihrer Reflexio- Deutungsaspekte


nen« (Baumgart, 169).
Konstruktion des Phantastischen
Im Kafka-Handbuch von 1979 überbot James Rol-
leston diese negativen Urteile, indem er sogar den Kafka entwirft die phantastischen Dimensionen der
Werkstatus der frühen, seit 1904 entstandenen Texte Beschreibung eines Kampfes, indem er psychische Pro-
Kafkas, also auch der Beschreibung eines Kampfes, in zesse in physische Bewegungen transformiert (Sokel
Frage stellte. Er glaubte eine bloße »Werkstatt-Situa- 1964, 12, 17). So löst er die Grenzen zwischen Innen-
tion« konstatieren zu können und folgerte daraus, leben und Außenwelt auf und lässt eine inkohärente,
man solle »es vermeiden, das Frühwerk herabzuset- durch groteske Effekte verfremdete Welt entstehen,
zen […], indem man es als nicht realisiert bezeich- in der die Gesetze der Wahrscheinlichkeit ebenso we-
net. Kafka macht hier Versuche, experimentiert mit nig gelten wie die Kategorie der Möglichkeit und das
den Möglichkeiten der Sprache, und es ist sinnlos, Prinzip der Kausalität. Auf diese Weise gestaltet Kafka
solche Tätigkeit literarisch beurteilen zu wollen« surreale Seelenlandschaften, in denen das Fluktuie-
(Rolleston, 242). ren psychischer Befindlichkeiten auch die physischen
Judith Ryan hingegen, die eine »Zersplitterung der Verhältnisse in der Außenwelt dynamisiert. Wunsch-
Perspektive in der ersten Fassung« der Beschreibung vorstellungen und Angstprojektionen des Ich treten
eines Kampfes mit der Beschränkung auf die »Sicht durch die Konstruktion phantastischer Imaginations-
des Einzelnen« in der zweiten Fassung kontrastierte, räume konkret in Erscheinung. Mitunter verliert die
bezeichnete den Text als »erstes Stadium einer äußere Realität sogar ihre intertemporale Konstanz
konsequenten Entwicklung« und sah in Kafkas er- und Stabilität; sie erscheint dann wie eine vom Thea-
zähltechnischen Experimenten bereits wesentliche terregisseur nach Belieben arrangierbare Bühnenku-
Voraussetzungen für seine spätere Prosa (Ryan, 568– lisse (Glinski, 41 f.; Neymeyr 2004, 11 f., 80 f.).
572). Zuvor hatte schon Sokel in seiner psycho- Kafka projiziert sein eigenes Verfahren phantasti-
analytisch orientierten Kafka-Monographie von scher Konstruktion auch auf den Ich-Erzähler: In
1964 die Beschreibung eines Kampfes als Kafkas »Ur- den Kapiteln 1 und 2 »Ritt« und »Spaziergang« lässt
modell des Kampfes« betrachtet, in dem erstmals er ihn sogar in einen Größenwahn geraten, der sich
das »Grundthema seiner Dichtung« erscheine (Sokel bis zu rauschhaften, an archaische Magiekonzepte
1964, 33). Beicken sah in dieser Erzählung »die wich- erinnernden Allmachtsphantasien steigert. Mithilfe
tigsten Strukturen des Kafkaschen Werkes in thema- autosuggestiver Selbstermächtigung geriert sich der
tischer und formaler Hinsicht« vorgegeben (Bei- Ich-Erzähler als Schöpfer von Szenerien, die er nach
cken, 233); Schillemeit bezeichnete sie als »eine poe- seinen persönlichen Vorlieben gestaltet (NSF I,
tische Summe des ganz frühen Kafka« und hob die 72–78 u. 140–144). Solchen imaginativen Exzessen
neue Schreibweise hervor, die zum Szenischen, folgen radikale Ohnmachtserfahrungen. Sie bilden
Traumhaft-Phantastischen und Allegorisch-Symbo- die Kehrseite der jeweils vorangegangenen Omnipo-
lischen tendiere (Schillemeit, 103, 125). Cersowsky tenz-Anwandlung. Der Selbstgenuss des Ich, das sich
betonte die Bedeutung der Décadence für Kafka und in narzisstischer Allmachtspose über seine Leidens-
exemplifizierte deren Einflüsse an seiner »Novelle« situation erhebt, endet schockartig mit dem Absturz
(Cersowsky, 15–60). in eine desolate Verfassung.
Im Frühjahr 2004 erschien die bislang einzige Mo- In den Kapiteln 3 und 4 der Fassung A entwirft
nographie, die eine Gesamtanalyse von Kafkas Be- der an einer existenziellen Aporie leidende Ich-Er-
schreibung eines Kampfes bietet, zeitgenössische Dis- zähler kompensatorische Phantasiewelten, indem er
kurse der Philosophie und Psychologie einbezieht den Dicken und den Beter als projektive Spiege-
und so auch den kulturhistorischen Horizont er- lungsfiguren durch einen eskapistischen »Einfall«
schließt (Neymeyr 2004). Eine wenige Monate später (NSF I, 78) aus sich selbst hervorbringt. Als Kompo-
veröffentlichte Dissertation enthält sehr detaillierte, nenten des Ich repräsentieren sie seine innere Ge-
allerdings »ausschließlich immanente« Sprachunter- spaltenheit. Diese auch poetologisch relevante Me-
suchungen zu Kafkas frühen Werken (Glinski, 29): thode phantastischer Entgrenzung (Glinski, 48 f.)
Außer einigen Texten der Betrachtung und ausge- lässt an eine bekannte Tagebuchnotiz Kafkas den-
wählten Tagebuchaufzeichnungen Kafkas behandelt ken, in der er seinen literarischen Impuls als »Sinn
sie exemplarische Partien der Beschreibung eines für die Darstellung meines traumhaften innern Le-
Kampfes. bens« bezeichnet (6.8.1914; T 546).
Beschreibung eines Kampfes 95

Aus der Erkenntnis, dass der äußere Handlungs- lagerung durch Angstphantasien oder narzisstisch-
verlauf innere Vorgänge abbildet und die Figuren- magische Omnipotenz-Anwandlungen (Sokel 1984,
konstellation aus einer Projektion seelischer Dispo- 133–138, 143) zu unterscheiden. Der Beter, der als
sitionen entspringt, lässt sich ein hermeneutisches Vorstellungsinhalt des Dicken wie dieser zugleich
Verfahren ableiten. Daraus ergeben sich Möglichkei- Projektionsfigur des Ich-Erzählers ist (NSF I, 78, 86),
ten, auch disparate Textelemente auf psychologische repräsentiert ein Extremstadium, in dem die Gren-
Tiefendimensionen hin zu durchleuchten. zen zwischen Innen- und Außenwelt völlig ver-
Kafkas bildhafte Verfremdungen, die das Obses- schwimmen. Der Dicke diagnostiziert den Zustand
sive einer problematischen Psychodynamik beson- des extrem labilen Beters als »eine Seekrankheit auf
ders intensiv zum Ausdruck bringen, weisen Affini- festem Lande« (89) und bringt die Situation damit
täten zur Literatur des Expressionismus auf, die pointiert zum Ausdruck.
durch die Kombination heterogener Bildelemente
auf die moderne Dissoziation der Wahrnehmung re- Die Thematik des Kampfes vor dem
agiert. Grenzüberschreitungen ergeben sich, wenn
Horizont der modernen Identitätskrise
Objekte belebt und dynamisiert erscheinen, wäh-
rend das Subjekt in verdinglichenden Beschreibun- Die von Kafka inszenierten vielfältigen Destabilisie-
gen gleichsam erstarrt. Die literarische Strategie rungssymptome stehen im kulturhistorischen Kon-
komplementärer Verfremdung durch Personifizie- text einer Krise des Subjekts, die vom Fin de Siècle
rung von Dingen und Verdinglichung von Personen über den Expressionismus bis in die 1920er Jahre
erzeugt eine doppelte Irritation. reicht und in der zeitgenössischen Philosophie, Psy-
In der Beschreibung eines Kampfes zeigt sich die chologie und Literatur eingehend reflektiert wurde
Personifikation der Außenwelt in einer Fülle von (Neymeyr 2004, 14–29). So stellt Nietzsche die Be-
Anthropomorphismen – etwa wenn landschaftli- griffe ›Subjekt‹, ›Seele‹, ›Substanz‹ und ›Wille‹ radi-
chen oder meteorologischen Phänomenen mensch- kal in Frage; »das Ich« betrachtet er als bloße »Fik-
liche Gefühle, Eigenschaften und Intentionen zuge- tion« (KSA 6, 77, 91), die »Seele als Subjekts-Viel-
sprochen werden: So erscheint der Berg als »hin- heit« (KSA 5, 27).
terlistig« (NSF I, 79), »eitel«, »zudringlich« und Aus der Pluralität der Persönlichkeitskomponen-
»rachsüchtig« (80), der Fichtenwald als »verwirrt« ten ergeben sich Konflikte. Die antagonistischen
(76), der Wind als »unzufrieden« (113), der Mond Konstellationen, in die Kafka die unterschiedlichen
als »zürnend« (75) und »das Mondlicht« als »unge- Ich-Figurationen der Beschreibung eines Kampfes ge-
schickt« (69). Der Ich-Erzähler hingegen vergleicht raten lässt, entsprechen Nietzsches These vom »In-
sich in entfremdeter Selbstwahrnehmung mit einer dividuum selbst als Kampf der Theile« (KSA 12,
»Stange in baumelnder Bewegung auf die ein […] 304). Kafkas Prämisse, es gebe »verschiedene Sub-
Schädel ein wenig ungeschickt aufgespießt ist« (62). jekte im gleichen Menschen« (NSF II, 129), bildet
Die wechselseitige Durchdringung der Sphären, die Ausgangsbasis für den Antagonismus zwischen
die sich in der Verdinglichung von Personen und in den Ich-Komponenten in der Beschreibung eines
der Personifizierung von Dingen manifestiert, ge- Kampfes. Sie stimmt mit Nietzsches Auffassung vom
hört zu den phantastischen Entgrenzungs- und Auf- »Subjekt als Vielheit« überein, dessen »Zusammen-
lösungstendenzen, die für die surreale Gestaltung spiel und Kampf« sich in »unserem Bewußtsein«
der Identitätsproblematik in Kafkas Erzählung cha- manifestiere (KSA 11, 650).
rakteristisch sind. Wenn die Figuren eigene Struktu- Kafka realisiert dieses Konzept in seiner Beschrei-
ren auf die Wirklichkeit projizieren, verkennen sie bung eines Kampfes, indem er die Auseinanderset-
das kategoriale Anderssein der Dinge. In der ver- zung zwischen verschiedenen Ich-Komponenten als
zerrten Wahrnehmung des Beters spitzt sich die prozessuale Dynamik psychologisch transformierter
Identitätsproblematik auf groteske Weise zu. Seiner Macht-Konstellationen gestaltet. Angesichts der
irrationalen Angst vor dem Selbstverlust entspricht schon von Schopenhauer und Nietzsche exponier-
die Irrealität einer verfremdeten, sich ins Phantasti- ten Thematik des Kampfes ist es bezeichnend, dass
sche auflösenden Objektsphäre (Neymeyr 2004, Kafka, der sich nachweislich mit beiden Philosophen
163–185). Im Beter potenzieren sich die Defizite des auseinandergesetzt hat, den Begriff des ›Kampfes‹
Ich-Erzählers, der oft außerstande ist, zwischen au- nicht nur in den Titel seines Erstlingswerks auf-
thentischer Wirklichkeitserfahrung und deren Über- nimmt, sondern auch in zahlreichen Notizen Er-
96 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

scheinungsformen des Kampfes zum Thema macht schachtelte Binnenerzählungen; in ihnen wird die
(NSF II, 29 f., 288; 17.1.1920, T 851 f.; 19.10.1921, Grundkonstellation des Rahmenteils durch Projekti-
T 867; 2.12.1921, T 875; An F. Bauer, 1.12.1912, B00– onsfiguren des Ich-Erzählers ausdifferenziert und
12 287). Die existenzielle Bedeutung der Thematik variiert. Die Multiplikation der personalen Instan-
zeigt eine Tagebuchnotiz vom 31. Juli 1914, in der zen erlaubt es, die verschiedenen Komponenten ei-
Kafka das Schreiben als seinen »Kampf um die ner fragmentierten Persönlichkeit nacheinander als
Selbsterhaltung« bezeichnet (T 543). Ich-Erzähler vorzuführen und zugleich den Abspal-
Der von Philosophen und Schriftstellern reflek- tungsvorgang immer weiter fortzusetzen.
tierten Identitätsauflösung und Ich-Dissoziation Schon E.T.A. Hoffmann bringt in den Abenteuern
entspricht der zeitgenössische psychiatrische Dis- der Sylvester-Nacht die strukturbildende Identitäts-
kurs (Morton Prince, Théodule Ribot), der sich auch problematik auch durch eine Suspendierung zeitli-
mit der Symptomatik der sogenannten ›multiplen cher Kontinuität und räumlicher Kohärenz zum
Persönlichkeit‹ beschäftigt. Sie galt im Fin de Siècle Ausdruck. Entsprechendes gilt für die narrative Ge-
als pathologischer Extremfall, der die prinzipielle In- staltung der Persönlichkeitsspaltung in Kafkas Be-
stabilität des Ich bestätige. schreibung eines Kampfes. Auch hier verbinden sich
Symptome psychischer Dissoziation mit einer Auf-
E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer lösung raumzeitlicher Einheit. In der Fassung A ver-
lässt der Beter bei der Begegnung mit einem Betrun-
der Sylvester-Nacht als Modell für Kafkas
kenen (NSF I, 103–107) die Prager Gegenwart und
Beschreibung eines Kampfes gerät durch einen surrealen Gedankensprung in die
Psychische Grenzphänomene und die Auflösung des Pariser Szenerie des Ancien Régime. Infolge wach-
konsistenten Selbst bis hin zur Persönlichkeitsspal- sender Desorientierung vermag er Hier und Dort,
tung sind nicht erst seit dem Fin de Siècle relevant, Jetzt und Einst nicht mehr zu unterscheiden.
sondern bereits in der Literatur der Romantiker, die Außer den zentralen konzeptionellen und kom-
mit verschiedenen Identitäten experimentierten, um positorischen Übereinstimmungen fallen analoge
seelische Konflikte intensiv zu gestalten. Durch Figurenkonstellationen auf, die bis zu polaren physi-
Phantasie-Exzesse lassen sie sogar die Grenzen zwi- schen Typisierungen reichen: Kafka kontrastiert die
schen Innenleben und Außenwelt verschwimmen. stangenartige Statur des Ich-Erzählers (NSF I, 62)
Schon der romantische Subjektivismus erhält sein mit dem gedrungenen Körperbau des sehr viel klei-
zerstörerisches Potential durch Depersonalisierung neren Bekannten (61) und stellt der abnormen Fett-
und Wirklichkeitsverlust zugleich. Die aus psycho- leibigkeit des Dicken (78 f.) die Fragilität des extrem
pathologischen Alterationen resultierende Instabili- mageren, nahezu körperlosen Beters (85, 97, 109)
tät des Ich kommt besonders markant in E.T.A. Hoff- gegenüber; E.T.A. Hoffmann entwirft in seinen Bin-
manns Werken zum Ausdruck, die durch zahlreiche nengeschichten die Figuren des Großen und des
Doppelgänger-Figuren auch die Literatur der Jahr- Kleinen als Imaginationen des Ich. Auch die auf Pro-
hundertwende beeinflussten. jektion beruhenden Phantasmagorien, die sich in
Obwohl die Forschung schon wiederholt darauf Phänomenen der Entgrenzung und Entwirklichung
hingewiesen hat, dass die Phantastik von E.T.A. manifestieren, sind sowohl für E.T.A. Hoffmanns
Hoffmanns Prosa, die den Leser durch traumhaft-ir- Abenteuer der Sylvester-Nacht als auch für Kafkas Be-
reale Szenerien irritiert, bereits ›kafkaeske‹ Erzähl- schreibung eines Kampfes konstitutiv.
verfahren antizipiert (Wöllner, 51–53; Nagel, 258– Das in den Jahrzehnten um 1900 für Schriftsteller,
277), blieb ein zentraler intertextueller Bezug bis vor Philosophen und Psychologen zentrale Thema der
kurzem unentdeckt: E.T.A. Hoffmanns Erzählung Ich-Dissoziation schrieb Kafka bei der Konzeption
Die Abenteuer der Sylvester-Nacht fungierte geradezu seiner Beschreibung eines Kampfes dem bereits seit
als literarisches Modell für Kafkas Beschreibung eines der Romantik etablierten Genre der Doppelgänger-
Kampfes, und zwar sowohl durch die Gesamtkon- geschichte ein. Dabei ließ er sich von der Doppel-
zeption als auch durch das ihr zugrunde liegende gänger-Konstellation in E.T.A. Hoffmanns Erzäh-
Kompositionsprinzip (Neymeyr 2004, 31–36; 2007, lung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht inspirieren
112–128). und benutzte ebenfalls Formen perspektivischen Er-
Die Entsprechungen sind ausgeprägt: Eine Rah- zählens und Verfahren surrealer Entgrenzung zur li-
mengeschichte umgibt kunstvoll ineinander ver- terarischen Vermittlung einer krisenhaften Destabi-
Beschreibung eines Kampfes 97

lisierung. Dem in der Moderne intensivierten jeweiligen Ich-Erzählers wider (Neymeyr 2004, 148–
Interesse am Psychopathologischen entsprechend, 198). Indem die von Erinnerungsfetzen bestimmten
überformte Kafka das romantische Modell: Indem er und lediglich durch momentane Assoziationen mit-
die Gestaltung der Identitätsproblematik mit Nietz- einander verbundenen Episoden fragmentarisch
sches Konzeption des Willens zur Macht und mit bleiben, signalisieren sie den Vorgang der Deperso-
sprachskeptischen Reflexionen seiner Zeit verband, nalisierung.
hob er sein Werk auf das anthropologische Problem- Indem Kafka auch Handlungszusammenhänge
niveau der Epoche. zerbrechen lässt und die rationale Ordnung logisch-
semantischer Strukturen in inkohärente Bewusst-
Fragmentierung als moderne seinselemente auflöst, schafft er eine suggestive In-
tensität, die den Leser in die Konfusionen der Figur
Erzählstrategie
hineinzieht. Die fragmentarisch dargebotenen Er-
Kafka entwickelte in seiner ›Novelle‹ innovative Er- lebnisse des Dicken und des Beters bringen deren
zählverfahren, die die umfassende Desorientierung dissoziierte Persönlichkeit zum Ausdruck. Auf der
auch formal konsequent zum Ausdruck bringen. So narrativen Ebene entsprechen der Diffusion des Fi-
folgte er genau dem Postulat, das Hermann Bahr gurenbewusstseins eine Collage von Bewusstseins-
(1863–1934) in seinen Essays formuliert hatte: eine splittern und Gedankenfetzen sowie der Zerfall des
der Identitätsproblematik der Moderne angemes- Textes in immer kleiner werdende Sinneinheiten.
sene Prosa, die das dissoziierte Ich und die Vielfalt Dabei verflüchtigt sich die thematische Kohärenz
seiner heterogenen Empfindungen durch »psycho- der ›Geschichte‹ des Beters in dem Maße, wie die lo-
logische Mikroskopie« oder »psychologische Mono- gisch-semantischen Relationen ins Diffuse entglei-
logie« so gestaltet, dass dem »neuen Inhalt der Psy- ten.
chologie auch eine neue Methode« entspricht (Bahr, In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Vor-
82 f., 56 f.). liebe des Dicken und des Beters für uneigentliche
In der Beschreibung eines Kampfes stellt Kafka die Äußerungen und für abstruse Sprachexperimente
Identitätsauflösung dar, indem er die einzelnen (NSF I, 76, 88–90, 102) ihre spezifische Bedeutung:
Komponenten einer fragmentierten Persönlichkeit Die Auflösung klarer Bezüge in vage Assoziationen
nacheinander als Ich-Erzähler auftreten lässt. Die und kühne Metaphorik bis hin zu einer Autonomie
Abfolge der in die Fassung A integrierten Binnenge- der Sprache (Glinski, 55, 80–83) erscheint als sprach-
schichten vervielfältigt nicht nur die personale Pers- liches Pendant einer psychischen Dissoziation und
pektive. Diese narrative Strategie eignet sich auch einer schwindenden Ich-Welt-Beziehung (Neymeyr
besonders gut dazu, die Ich-Dissoziation als sukzes- 2004, 143–147, 156–158, 165–170). Durch phantas-
sive fortschreitenden Zerfall der Identität zu gestal- tische Konstruktionen wird die Realität verfremdet
ten; sie erinnert an Nietzsches Konzept des Perspek- und zugleich poetisch aufgehoben. Wenn der (nur in
tivismus und an den ebenfalls von Nietzsche dia- der Fassung A vorkommende) Dicke ausdrücklich
gnostizierten Verlust der Ganzheit als ein Symptom den Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch sei-
der Décadence (Cersowsky, 46–49, 53–60). ner Aussagen negiert (NSF I, 110), dann droht sich
Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen den vier die Kommunikation tendenziell sogar in spielerische
Hauptfiguren, dem Ich und seinem Bekannten sowie Autoreferentialität aufzulösen.
dem Dicken und dem Beter, besteht darin, dass sie Die narrative Darstellung spiegelt den mentalen
bei ihren Bemühungen um Selbstkonstitution auch Zersetzungsprozess so konsequent wider, dass für
die Möglichkeit nutzen, im Vollzug des Erzählens den Leser mitunter der Eindruck einer Selbstaufhe-
ihr labiles Ich zu stabilisieren. Der narrative Prozess bung des Erzählflusses in actu entsteht. Kafkas Poe-
wird mithin psychologisch funktionalisiert. Wie die tologie der Dissoziation ist adäquater Ausdruck ei-
dialogischen Textpartien scheinen auch die monolo- ner psycho(patho)logischen Konstellation. Indem er
gischen Sequenzen auf Identitätsbildung im Erzäh- den traditionellen Textbegriff aufgibt und Inkonsis-
len der eigenen Geschichte abzuzielen – im Sinne ei- tenz passagenweise zum konzeptionellen Prinzip
ner narrativen Autobiographie, die allerdings wie die macht, verabschiedet er sich aber keineswegs von
Perspektivfiguren selbst nur ausschnittartig darge- sprachlich vermittelten und hermeneutisch zugäng-
boten wird. Dabei spiegeln die bruchstückhaft prä- lichen Sinnzusammenhängen, wie dekonstruktivis-
sentierten Erlebnisse die Identitätsproblematik des tische Interpreten meinen (Lehmann, 214–221, 233–
98 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

240). Denn aus übergeordneter Perspektive ist seine Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Kon-
Erzählung durch eine Kohärenz des Inkohärenten fliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren
bestimmt (Neymeyr 2004, 183–185). Die mit der Helden zu personifizieren« (Freud X, 177). Kafkas
Identitätsauflösung verbundene hermeneutische Tagebuch-Notiz »Gedanken an Freud natürlich«
Problematik hat Kafka sogar eigens thematisiert: (23.9.1912; T 461) dokumentiert zweifelsfrei, dass
Bisweilen vermögen die Figuren im Gespräch einen auch er mit Freuds Theorien vertraut war.
»Zusammenhang« nicht zu erkennen; ausdrücklich
artikulieren sie die Schwierigkeit des Verstehens Krisenhafte Interaktion
(NSF I, 90, 96 f.).
Kulturhistorisch relevant sind diese Konstellatio- Die kommunikativen Sequenzen, aus denen die Be-
nen insofern, als sich in der erzählerischen Desinte- schreibung eines Kampfes besteht, hat Kafka in der
gration die bereits von Ernst Mach (1838–1916) dia- Fassung A als Reigen von ›Paar‹-Konstellationen
gnostizierte Problematik des ›unrettbaren Ich‹ ab- zwischen einem Sprecher-Ich und seinem jeweiligen
zeichnet. Wenn der unter dem Fehlen unmittelbarer Alter Ego konzipiert. Im Einzelnen kommt es dabei
Existenzgewissheit und selbstverständlichen Welt- zu folgenden Begegnungen: Bekannter – Ich, Ich –
bezugs leidende Beter über Zentralthemen wie Iden- Dicker, Dicker – Beter, Beter – Betrunkener, Beter –
tität, Wirklichkeit, Wahrheit und Sprache nachdenkt Dicker, Dicker – Ich, Ich – Bekannter. Mit einem er-
(NSF I, 91, 96–98, 102), verbindet sich die psychopa- neuten Gespräch zwischen dem Ich und dem Be-
thologische Symptomatik mit philosophischer Re- kannten kehrt Kafkas Beschreibung eines Kampfes
flexion, in der ein Bedürfnis nach apriorischer Le- exakt zur Ausgangskonstellation zurück, mit der
bensorientierung zum Ausdruck kommt (Neymeyr dann die Rahmenerzählung endet. Die beteiligten
2004, 130–132, 163–165). Hier zeigt Kafkas Er- Hauptfiguren treten allesamt sowohl in der ersten
zählung Affinitäten zur Sprachskepsis Nietzsches als auch in der dritten Person in Erscheinung: Einer-
und Hofmannsthals, dessen ›Chandos-Brief‹ Kafka seits präsentieren sie sich als sprechende Subjekte,
schätzte (Brod, 152). Außerdem gibt es Indizien für andererseits werden sie aber auch zum Gedankenin-
eine kritische Auseinandersetzung Kafkas mit der halt, Reflexionsgegenstand oder Gesprächsobjekt
Psychologie Franz Brentanos (vgl. Neesen, 138, 160, anderer Figuren.
169–179, 189–194). Zwar unterscheiden sich die vier Hauptakteure
Die Suche des Beters nach einer Stabilität und schon in ihrer physischen Konstitution, und auch in
Sinnerfahrung vermittelnden Erkenntnis der Dinge ihrem Verhalten grenzen sie sich immer wieder ent-
in ihrem Ansichsein bleibt vergeblich; stattdessen lö- schieden voneinander ab. Doch inszeniert Kafka die
sen sich in seinem labyrinthischen Bewusstsein logi- Differenzen nur, um sie anschließend kunstvoll auf-
sche Zusammenhänge und semantische Korrelatio- zuheben, vor allem durch sporadisch eingestreute
nen immer weiter auf – bis zur phantastischen Über- analoge Charakterisierungen, die sich allmählich
formung der Wirklichkeit. Die mentale Diffusion, summieren und so an Bedeutung gewinnen. Trotz
die sich auch in Vergesslichkeit und Verwirrung ma- der karikaturistisch pointierten Unterschiedlichkeit
nifestiert, tritt im Zerfall von Argumentationsstruk- geraten die Figuren in analoge Krisensituationen. Sie
turen besonders markant zutage. Gedankliche Brü- leiden an auffälligen Schwankungen ihres Selbstbil-
che spiegeln die fragile Geistesverfassung des Beters des, an projektiven Verzerrungen der Perspektive auf
wider. Seine inkohärenten Äußerungen sind für die das jeweilige Gegenüber und an einem labilen Ver-
chaotische Psyche einer sich zersetzenden Persön- hältnis zur Realität.
lichkeit symptomatisch, die konfusen Impulsen und Indem Kafka den Prozess der Ich-Dissoziation mit
Phantasmagorien hilflos ausgeliefert ist. Dass die psychologischem Kalkül als Auseinandersetzung
Substanz von Welt und Ich gleichermaßen ins Dif- zwischen den Figuren inszeniert, die vergeblich um
fuse entschwindet, verrät die Angst des Beters vor Selbststabilisierung ringen, dramatisiert er die Iden-
dem eigenen Unwirklichsein (NSF I, 102). titätsproblematik. Den gesamten Erzählzusammen-
Analog zu Kafkas narrativem Verfahren charakte- hang gestaltet er als kommunikatives Mit- und Ge-
risiert Freud den modernen »psychologischen Ro- geneinander, in dem sich nicht einmal die Einzelfi-
man«: In seiner Schrift Der Dichter und das Phanta- guren selbst als homogen erweisen; denn sie
sieren von 1908 vertritt er die These, der Dichter ten- oszillieren immer wieder zwischen konträren Zu-
diere dazu, »sein Ich durch Selbstbeobachtung in ständen und Empfindungen. In der Interaktion fun-
Beschreibung eines Kampfes 99

giert Sprache auch als Mittel zum Machterwerb und Er repräsentiert eine bis zum Verlust der Selbstbe-
als Medium der Täuschung (Trabert, 303). Die Phä- stimmung reichende Labilität und Depersonalisie-
nomene surrealer Entgrenzung in der Beschreibung rung.
eines Kampfes erscheinen als Signum von Wirklich- In dem Maße, wie der von Selbstentfremdung und
keitsverlust und Identitätsauflösung. Identitätsverlust bedrohte Ich-Erzähler die Fähigkeit
Der Ich-Erzähler erlebt seine Labilität geradezu einbüßt, sich souverän in seinem Umfeld zu bewe-
als existenzgefährdend und reagiert darauf mit gen, wird seine forcierte Selbstinszenierung auf eine
Selbstheilungsversuchen: Er neigt zu eskapistischer tiefreichende Verunsicherung hin transparent. Halt-
Regression oder zu narzisstischer Ich-Aufblähung los zwischen Omnipotenz-Attitüde und ohnmächti-
bis hin zu Omnipotenz-Vorstellungen (Neymeyr ger Passivität sowie zwischen widersprüchlichen
2004, 53, 69–73, 81 f., 85 f., 94). Diese Tendenzen Selbstbildern und Alter-Ego-Imagines oszillierend,
können in Gestalt seiner Projektionsfiguren sogar verfällt er einer desaströsen Exzentrik.
als körperliche Deformation manifest werden. Wiederholt inszeniert Kafka nicht nur körperliche
Als plastischer Ausdruck einer dialektischen Psy- Deformation und Fragmentierung, sondern auch
chodynamik erscheint beispielsweise die phantasti- sprunghafte Bewegungen und Stürze als Symptome
sche Entgrenzung am Ende des Binnenteils. Hier seelischer Labilität. Da stabile Wirklichkeitserfah-
nimmt Kafka den Begriff ›Extremitäten‹ wörtlich, rung eine gefestigte Identität voraussetzt, hat die
indem er die Gliedmaßen des Ich-Erzählers ins Un- fortschreitende Ich-Dissoziation auch eine Auflö-
ermessliche expandieren lässt (NSF I, 111 f.). Szenen sung der konsistenten Wahrnehmung zur Folge, so
wie diese transponieren die psychische Dissoziation dass der krisenhaften Labilität des Subjekts eine
in die physische Dimension. Am Beispiel der grotes- Destabilisierung der Objektwelt entspricht. Diese
ken Fettleibigkeit des Dicken, der trotz seiner bud- Interdependenz von Depersonalisierung und Reali-
dhaähnlichen Selbstinszenierung letztlich im Fluss tätsverlust veranschaulichen mehrere Episoden der
untergeht, wird deutlich, dass sich die Identitätspro- Beschreibung eines Kampfes mit surrealistischer In-
blematik durch eine auf Selbstbehauptung zielende tensität. Exemplarische Bedeutung hat eine Szene, in
Ich-Expansion keineswegs beheben lässt, sondern deren Zentrum das »Standbild Karl des Vierten«
sich durch die ihr immanente Tendenz zur Maßlo- steht (NSF I, 69): Hier versucht der schwankende
sigkeit sogar noch potenziert. Sie führt zur Entgren- Ich-Erzähler zunächst, seine Position durch einen fi-
zung und trägt daher zu einer weiteren Auflösung xierenden Blick auf die Statue zu stabilisieren, dann
der Persönlichkeitsstrukturen bei, statt ihr entgegen- aber bringt seine eigene Labilität groteskerweise
zuwirken (Neymeyr 2004, 81, 97–103, 200–204). auch Karl IV. zu Fall. Die Verantwortung dafür dele-
Kulturhistorische Bezüge sind hier insofern zu er- giert er anschließend an das Mondlicht (zu dieser
kennen, als Kafka mit der markanten Opposition Episode vgl. Glinski, 34–38; Neymeyr 2004, 66–68).
von Dickem und Beter den dialektischen Zusam- Auch das auffällige Bedürfnis der Protagonisten,
menhang zwischen dem um 1900 ausgeprägten Kult sich durch Halt bietende Außenweltphänomene wie
des großen Individuums und der zur gleichen Zeit Mauern, Geländer und Banklehnen (NSF I, 59, 63,
virulenten Krise des ›unrettbaren Ich‹ reflektiert: Die 115, 117) oder sogar durch eine sinnstiftende meta-
Deformation des Dicken bildet die Bedrohung der physische Instanz (60) zu stabilisieren, verrät eine
potentatenhaft aufgeblähten ›Persönlichkeit‹ durch krisenhafte Labilität. Die Motive des Fliegens, Flie-
psychische Entgrenzung in der physischen Dimen- ßens, Schwimmens und Schwebens, die sich mit
sion ab; mit seiner abnormen Leibesfülle (NSF I, Vorstellungen von Wind, Wolken und Wasser ver-
78 f.) repräsentiert der mit orientalischen Kulturzita- binden, signalisieren eine Tendenz zur Entgrenzung
ten ausgestattete Dicke (Brod, 157; Goebel, 288 f., und Diffusion. Das zeigt beispielsweise das Bild der
293 f.) in der Fassung A die Überkompensation, mit »wolkenhaften Berge« (63 f., 70, 117). Besonders in-
welcher der Ich-Erzähler auf seine eigene Instabilität tensiv bringt die Szenerie einer nächtlichen Fluss-
reagiert. Das andere Extrem dieser Identitätskrise landschaft Konturverlust und Identitätsauflösung
bringt der nahezu körperlose, das Verschwinden des der Figuren zum Ausdruck. Als Symbol einer ent-
Subjekts veranschaulichende Beter zum Ausdruck, individualisierenden universellen Lebensströmung
dessen ›Beten‹ (NSF I, 85, 89) keineswegs religiös verweist der Fluss zugleich auf den Kontext der le-
motiviert ist, sondern allein dem Zweck dient, im bensphilosophischen Rationalitäts- und Individuali-
Spiegel fremder Blicke Selbstgewissheit zu erlangen: tätskritik, die seit Nietzsches Geburt der Tragödie das
100 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

geistige Klima bestimmte (Neymeyr 2004, 97 f., hend den beiden Episoden 1 »Ritt« und 2 »Spazier-
103). gang« im Mittelteil der A-Fassung; allerdings enthält
Insgesamt zeigen die Binnengeschichten der Be- Teil I der B-Fassung zusätzlich eine Textpartie (NSF
schreibung eines Kampfes, dass den Figuren auch im I, 141 f.), die Kafka unter dem Titel Der Ausflug ins
Medium von Sprache und Kommunikation keine Gebirge in seine Prosasammlung Betrachtung integ-
dauerhafte Selbststabilisierung gelingt. Wenn sie das riert hat (DzL 20).
Erzählen der eigenen Geschichte psychologisch Das Kapitel III der Fassung B hingegen besteht aus
funktionalisieren, um ihr labiles Ich zu festigen, einer Textpartie (NSF I, 145–150), die in der Fassung
scheitern sie ebenso wie bei der Flucht in Erinnerun- A nicht existiert: Sie ist identisch mit dem Prosa-
gen, die eine aktuelle Leidenssituation kompensie- stück Kinder auf der Landstraße (DzL 9–14), das den
ren sollen. Letztlich bleibt die Identitätskrise apore- Zyklus Betrachtung eröffnet. Anders als in der Be-
tisch. So gewinnt die Titelhypothese des gesamten trachtung wird diese Retrospektive einer Erzählerfi-
Binnenkomplexes, »daß es unmöglich ist zu leben« gur auf Kindheitserlebnisse in der Beschreibung eines
(NSF I, 72), textimmanent vollkommene Evidenz. Kampfes allerdings durch einen kurzen einleitenden
Abschnitt in einen Traumkontext gestellt (NSF I,
145).
Vergleich der Fassungen A und B Da Kafka in der Fassung B die Gestalt des Dicken
eliminiert hat, entfällt hier auch dessen komplexe In-
Hatte Max Brod 1936 bei der erstmaligen Publika- teraktion mit dem Beter. Aufgrund dieses tiefrei-
tion von Kafkas Beschreibung eines Kampfes die bei- chenden Eingriffs wird die Perspektivenvielfalt der
den Versionen der Erzählung noch auf editionsphi- früheren Textversion in der späteren deutlich redu-
lologisch unzulässige Weise kontaminiert, indem er ziert. Gestrichen hat Kafka in der Fassung B die Ka-
in die Fassung A Textvarianten und Ergänzungen pitel 3a »Ansprache an die Landschaft«, 3c »Ge-
aus der späteren Fassung B integrierte, so bot Lud- schichte des Beters«, 4 »Untergang des Dicken« so-
wig Dietz 1969 in seiner Parallelausgabe nach den wie das unbetitelte Kapitel III, den zweiten
Handschriften eine sorgfältig erstellte Synopse bei- Rahmenteil der Beschreibung eines Kampfes.
der Versionen, die dem Leser Einblick in die Textge- Zwar bleibt die Beterfigur auch in der Fassung B
nese gibt. erhalten, da Kafka den Stoff der Kapitel 3b und 3d
Festzuhalten ist Folgendes: Über weite Strecken aus der A-Fassung hier weiterverwendet und in Ka-
der Erzählung dominieren die inhaltlichen Entspre- pitel IV mit einigen Ergänzungen kombiniert, die
chungen zwischen den Fassungen A (NSF I, 54–120) den Gesamtduktus allerdings nicht wesentlich ver-
und B (NSF I, 121–169), passagenweise gibt es sogar ändern. Aber abweichend von der Fassung A wird
wörtliche Korrespondenzen. Allerdings finden sich die mehrstufige Komposition gleichsam eingeebnet:
in beiden Fassungen auch Textpassagen, die in der Nun tritt nicht mehr der Dicke als projektiver Ge-
jeweils anderen Version nicht vorhanden sind. So sprächspartner des Erzählers in Erscheinung, dem er
existieren die Episoden, die den Dicken betreffen, in der Fassung A noch selbst über seine Erlebnisse
nur in der Fassung A. Die wichtigste konzeptionelle mit dem Beter berichtet, vielmehr ist es jetzt der Ich-
Differenz besteht darin, dass Kafka das dreistufige Erzähler, dessen Begegnung mit dem Beter das Kapi-
Gliederungsprinzip der Fassung A, in deren um- tel IV der B-Fassung thematisiert.
fangreichem Mittelteil II »Belustigungen« sämtliche Aufgrund der Verflachung des kompositorischen
Kapitel (1, 2, 3a, b, c, d, 4) mit Überschriften verse- Reliefs findet in der B-Fassung auch die Rückkehr
hen sind, in der späteren Fassung B durch eine zur Rahmenerzählung nicht mehr statt, die in der
schlichtere Komposition ersetzt hat: durch eine line- früheren A-Fassung (in Gestalt von Kapitel I und III)
are Reihung von fünf titellosen Kapiteln (I, I, II, III, als ›reale‹ Szenerie die phantastischen Dimensionen
IV). der (in Kapitel II präsentierten) Binnenerzählungen
Dem ersten Abschnitt I, der (wie in Kapitel I der umschließt. Anstelle der älteren Version, in welcher
Fassung A) die Begegnung des Ich-Erzählers mit sei- der Ich-Erzähler und sein Bekannter ihr in Teil I be-
nem Bekannten darstellt, folgen in der Fassung B die gonnenes, aber durch die »Belustigungen« im Bin-
mit römischen Ziffern versehenen Kapitel I bis IV nenkomplex unterbrochenes Gespräch auf ihrem
(die Ziffer I kommt hier also zweimal vor). Teil I und nächtlichen Spaziergang in Teil III fortsetzen, hat
II der B-Fassung entsprechen inhaltlich sehr weitge- Kafka für die B-Fassung eine andere Möglichkeit zur
Beschreibung eines Kampfes 101

Abrundung gewählt: Durch den Beter an eine bereits 1905. – Théodule Ribot: Les maladies de la personna-
vergessene Abendeinladung erinnert, animiert der lité. Paris 1885; dt.: Die Persönlichkeit. Pathologisch-
Ich-Erzähler diesen dazu, ihn dorthin zu begleiten psychologische Studien. Übers. v. F.Th.F. Pabst nach der
(NSF I, 167). Mit dem Abschied der beiden Figuren 4. Aufl. Berlin 1894.
vor dem Haus der Gastgeber endet die Fassung B der Forschung: M. Anderson (1992), 36–47. – Reinhard
Beschreibung eines Kampfes. Dem Leser wird da- Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk:
durch der Eindruck nahegelegt, hier deute sich eine Thomas Mann, F.K., Bertolt Brecht. München, Wien
zirkuläre Struktur der Erzählung an: Man könnte 1983, wieder: Frankfurt/M. 1993. – P.U. Beicken (1974),
nämlich den Schluss der B-Fassung mit der Anfangs- 226–234. – Max Brod: Nachwort zu F.K.: BeK. Die
zwei Fassungen [s.o.], 148–159. – P. Cersowsky (1983),
partie in der Weise vermittelt sehen, dass hier gegen
15–60. – Ludwig Dietz: Die Datierung von K.s BeK und
Mitternacht genau die Abendeinladung endet, deren
ihrer vollständigen Handschrift A. In: JDSG 17 (1973),
Beginn die Schlusspassage einzuleiten scheint. Zwar
490–503. – Ders.: Max Brods Hand in K.s Manuskrip-
bietet der Text keine eindeutigen Indizien für die
ten der BeK und seine Kontamination dieser Novelle.
Identität der in der Anfangs- und Schlusspartie dar- Ein Beitrag zur Textgeschichte und Textkritik. In: GRM
gestellten Abendeinladungen, aber er schließt sie 23 (1973a), 187–197. – Ders.: Editionsprobleme bei K.
auch nicht definitiv aus. Über einen kritischen Text der BeK. In: JDSG 18 (1974),
Zur Bedeutung, die Kafkas Experimente mit Mög- 549–558. – Kurt Druckenthaner: Kommunikation zwi-
lichkeiten perspektivischen Erzählens in der Be- schen Masken – K.s BeK im Lichte des symbolischen
schreibung eines Kampfes für seine spätere literari- Interaktionismus. In: Aichmayr/Buchmayr (1997),
sche Entwicklung haben, vgl. Ryan (571 f.). 19–36. – Manfred Engel: BeK: Narrative Integration
Ausgaben: Teilpublikationen in Betrachtung (ä 112) und und phantastisches Erzählen. In: Engel/Robertson
in der Zeitschrift Hyperion: Gespräch mit dem Beter, (2010). – Davide Giuriato: Kleine Randszene. Komische
Gespräch mit dem Betrunkenen. In: Hyperion. Eine Marginalien in F.K.s BeK. In: Christiane Henkes u. a.
Zweimonatsschrift. 2. Folge, Bd. 1 (1909) H. 8 [März/ (Hg.): Schrift – Text – Edition. Fs. für Hans Walter Gab-
April-Heft; erschienen zweite Junihälfte], 126–131 u. ler. Tübingen 2003, 253–264. – Sophie von Glinski: Ima-
131–133. – ED des Konvolutes in der von Max Brod er- ginationsprozesse. Verfahren phantastischen Erzählens
stellten Fassung: BeK/GS (1936), 7–66, wieder BeK/ in F.K.s Frühwerk. Berlin, New York 2004, 26–83. – Rolf
GW (1954), 7–66.− BeK. Die zwei Fassungen. Parallel- J. Goebel: Constructing China. K.’s Orientalist Dis-
ausg. nach den Handschriften. Hg. u. mit einem Nach- course. Columbia 1997, 32–51. – Ders.: Orientalismus,
wort v. Max Brod. Textedition v. Ludwig Dietz. Homoerotik und ethnographische Parodie: K.s BeK. In:
Frankfurt/M. 1969. − NSF I/KA (1993), 54–120 [Fas- Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hg.): Das Fremde.
sung A], 121–169 [Fassung B]; zu Kafkas Versuchen, Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wis-
diese Fassung in den Tagebüchern fortzusetzen: NSF sen. Bern 1999 (Zeitschrift für Germanistik. Beiheft 2),
I:A/KA, 55. – BeK/FKA (1999). 285–302. – Ingeborg Henel: Periodisierung und Ent-
Epochenkontexte: Hermann Bahr: Die Überwindung wicklung. In: KHb (1979) II, 220–241. – Arne Höcker:
des Naturalismus [1891]. In: Ders.: Zur Überwindung Literatur durch Verfahren. BeK. In: Höcker/Simons
des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. (2007), 235–254. – Hans-Thies Lehmann: Der buch-
Ausgew., eingel. und erl. v. Gotthart Wunberg. Stuttgart stäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur
1968, 33–102. – Sigmund Freud: Der Dichter und das bei F.K. In: G. Kurz (1984), 213–241. – B. Nagel (1983). –
Phantasieren. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexan- Peter Neesen: Vom Louvrezirkel zum Prozeß. F.K. und
der Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. die Psychologie Franz Brentanos. Göppingen 1972. –
Bd. X: Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt/M. Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen.
1982, 169–179. – Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Die Krise der Identität in K.s BeK. Heidelberg 2004. –
Empfindungen. Jena 1886; ab der 2. Aufl. (1900) unter Dies.: Phantastische Literatur – intertextuell. E.T.A.
dem Titel: Die Analyse der Empfindungen und das Ver- Hoffmanns Abenteuer der Sylvester-Nacht als Modell für
hältnis des Physischen zum Psychischen; Repr. der K.s BeK. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 15 (2007), 112–
9. Aufl. (1916): Stuttgart 1985. – Friedrich Nietzsche: 128. – Markus Rassiler: Schreiben als unmögliche Mög-
Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bän- lichkeit. Dynamisierte und entgleitende Beobachtun-
den [=KSA]. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Monti- gen in F.K.s BeK. In: N.A. Chmura (2008), 179–202. –
nari. München, Berlin, New York 1980. – Morton James Rolleston: Das Frühwerk (1904–1912). In: KHb
Prince: The Dissociation of a Personality. A Biographi- (1979) II, 242–262. – Judith Ryan: Die zwei Fassungen
cal Study in Abnormal Psychology. New York, London der BeK. Zur Entwicklung von K.s Erzähltechnik. In:
102 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

JDSG 14 (1970), 546–572. – Shimon Sandbank: The 3.1.2 Hochzeitsvorbereitungen


Unity of K.’s BeK. In: Archiv 210 (1973), 1–21. – Jost
Schillemeit: K.s BeK. Ein Beitrag zum Textverständ- auf dem Lande
nis und zur Geschichte von K.s Schreiben. In: G.
Kurz (1984), 102–132; wieder in Schillemeit (2004), Entstehung
181–211. – Hans Rainer Sepp: Verschiebungen. F.K.s
BeK. In: Ders.: Literatur als Phänomenalisierung. Phä- Die drei fragmentarischen Textversionen der Hoch-
nomenologische Deutungen literarischer Werke. Wien
zeitsvorbereitungen auf dem Lande ermöglichen ei-
2003, 98–115. – W.H. Sokel (1964), bes. 33–45. − Ders.:
nen guten Einblick in die Werkstatt des Autors Kafka
Narzißmus, Magie und die Funktion des Erzählens in
während seiner Frühzeit. Die erste und umfang-
K.s BeK. Zur Figurenkonzeption, Geschehensstruktur
reichste Fassung A (NSF I, 12–42) aus 33 losen Blät-
und Poetologie in K.s Erstlingswerk. In: G. Kurz
(1984), 133–153; engl. Fassung in: W.H. Sokel (2002), tern, überliefert in zwei Teilkonvoluten mit einigen
166–180. – Lukas Trabert: Erkenntnis- und Sprachpro- Textlücken, entstand wahrscheinlich im Frühjahr
blematik in F.K.s BeK vor dem Hintergrund von Fried- 1907 (terminus post quem: August 1906; ante quem:
rich Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermora- 20. Juli 1907). Es handelt sich also um einen der ers-
lischen Sinne. In: DVjs 61 (1987), 298–324. – Benno ten erhaltenen Versuche Kafkas, eine längere Erzäh-
Wagner: Kampf mit dem Durchschnittsmenschen. Ein- lung zu schreiben. Danach wandte er sich der Wei-
führung in K.s Welt. In: Károly Csúri u. a. (Hg.): Erzähl- terarbeit an Beschreibung eines Kampfes zu, bevor er,
strukturen II. Studien zur Literatur der Jahrhundert- wohl um Anfang Juli 1909, noch einmal zu einer
wende. Szeged 1999, 134–144. – M. Walser (1961). – Überarbeitung des Hochzeitsvorbereitungen-Frag-
Günter Wöllner: E.T.A. Hoffmann und F.K. Von der mentes ansetzte. Die dabei entstandene Fassung B
»fortgeführten Metapher« zum »sinnlichen Paradox«. (NSF I, 43–50) umfasst neun Blätter mit vielen Kor-
Bern, Stuttgart 1971. rekturen; ein zweiter Neuansatz, die wohl nur wenig
Barbara Neymeyr später geschriebene Fassung C (NSF I, 51–53), bringt
es nur noch auf drei Blätter. Anschließend gibt Kafka
das Projekt endgültig auf. Er übersendet die Manu-
skripte Brod, mit dem er das Vorhaben offensicht-
lich diskutiert hatte; dieser notiert auf dem Um-
schlag: »Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande |
Franz Kafka« sowie »Anfänge | Titel von mir, nach
sicherer Erinnerung« (NSF I:A, 37). In seinem Be-
gleitschreiben von Anfang Juli 1909 erklärt Kafka
den unvollständigen Text zu einem »Fluch« für ihn;
er habe ein »Centrum«, »das ich in sehr unglückli-
chen Stunden noch irgendwo in mir spüre« (An
M. Brod; B00–12 104). Der von Brod überlieferte
Hochzeits-Titel legt dabei sehr nahe, dass dieses
Textzentrum eng mit Kafkas Ängsten vor einer ehe-
lichen Bindung verknüpft ist.

Textbeschreibung
Die erste Textfassung schildert den Aufbruch des
Protagonisten Eduard Raban von seiner Wohnung
in Prag an einem regnerischen Nachmittag zu einer
Eisenbahnfahrt; Raban will seine Verlobte Betty auf
dem Land besuchen. Detailliert werden die Stra-
ßeneindrücke auf dem Weg zum Bahnhof beschrie-
ben. In der ersten Fassung trifft Raban außerdem ei-
nen Bekannten namens Lement, führt eine Unter-
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 103

haltung mit ihm und fährt ein Stück mit der zulegen. Wegen der langen Entstehungszeit lässt sich
Straßenbahn, bevor er sich zum Bahnhof begibt. hier besonders gut die Entwicklung der Arbeit im
Dort erwirbt er eine Fahrkarte und setzt sich in den Einzelnen verfolgen; die Überarbeitungen könnten
Zug. Seine Mitfahrer im Abteil werden ausführlich zudem einen ersten Erklärungsansatz dafür bieten,
beschrieben, ihre Unterhaltungen teilweise wörtlich warum Kafka mit dem Text in eine Sackgasse gerät.
wiedergegeben. Das erste Kapitel endet mit dem
Einschlafen Rabans, der im zweiten Kapitel zur An-
kunft auf dem Dorfbahnhof wieder erwacht. Inzwi- Forschung
schen ist es Nacht geworden, es regnet immer noch
heftig, und Raban muss sich mühsam den Weg zum Die Forschung hat sich, von einzelnen Aufsätzen ab-
Omnibus erfragen. Dieser setzt ihn nach kurzer gesehen, noch nicht intensiv mit dem Text beschäf-
Fahrt vor einem Gasthof ab. Bevor er jedoch seiner tigt. Wagenbach hat zunächst auf die möglichen bio-
Verlobten nun wirklich gegenüber treten kann, en- graphischen Hintergründe verwiesen: Kafkas Auf-
det das Fragment mitten im Satz; Betty, der Flucht- enthalt im Sanatorium Dr. Ludwig Schweinburg in
punkt der Reise, darf den Text nicht einmal mehr Zuckmantel im Jahr 1905, während dessen er sich in
betreten. eine ältere Frau verliebte (Wagenbach 2006, 283). Alt
Die zweite Fassung nimmt die Anfangspassagen hat auf die Bedeutung der Eisenbahnfahrt hingewie-
mit nur geringen Variationen auf, führt dann aber sen, die ein »ideales Vehikel für den leidenschaft-
als neuen Dialogpartner einen älteren Herrn ein, mit lichen Beobachter Kafka« (Alt 2005, 157) gewesen
dem Raban eine nur bruchstückhaft überlieferte Un- sei. Binder hat die topographischen Details der Stra-
terhaltung führt, die ebenfalls abrupt endet. Die ßenbeschreibungen in Prag lokalisiert (Binder 1975,
dritte Fassung enthält gar nur noch die gestraffte 64–66).
Eingangspassage; schon beim ersten, nur noch indi- Einflüsse wurden geltend gemacht: Wagenbach
rekt wiedergegebenen Wortwechsel mit dem älteren sieht in der zentralen Rolle, die die Beschreibung in
Herrn endet das letzte und kürzeste Fragment. diesem Text spielt, eine Nachwirkung der Beschäfti-
Die Textsubstanz ist damit in allen Fassungen äu- gung Kafkas mit den empiriokritizistischen Lehren
ßerst handlungsarm; die im Titel genannten Hoch- Ernst Machs, vermittelt durch den Naturgeschichts-
zeitsvorbereitungen sind in den überlieferten Frag- lehrer Adolf Gottwald am Gymnasium (Wagenbach
menten kaum wiederzufinden, sondern verweisen 2006, 54). Bezüglich der formalen Gestaltung des
offenbar auf spätere Entwicklungen, die nicht mehr Textes wurde wiederholt der Einfluss von Gustave
ausformuliert wurden. Insofern hat eine Interpreta- Flaubert hervorgehoben (vgl. Binder 1975, 63).
tion zu klären, warum das Erzählprojekt scheitert, Charles Bernheimer hat einzelne Passagen aus den
und zwar in jeder Stufe einzeln und insgesamt. Zu- Hochzeitsvorbereitungen mit Textstellen aus der Édu-
dem ergibt sich die Frage, wodurch das beinahe cation sentimentale und Madame Bovary verglichen.
völlige Fehlen äußerer Handlung kompensiert Er sieht darüber hinaus zwei polare Tendenzen in der
wird. Erzählung verkörpert, die er als »self-displacement«
Das verweist auf die verwendeten Darstellungs- und »self-dissolution« bezeichnet (Bernheimer 1986,
mittel. In allen drei Fassungen nimmt die Beschrei- 9). Entsprechend kontrastiere auch der Versuch einer
bung der äußeren Wirklichkeit eine dominante Rolle sprachlichen Beschreibung als Allmachtsphantasie
ein. Sie wechselt jeweils mit Dialogpartien in direk- mit den vergeblichen Bemühungen des Protagonis-
ter wörtlicher Rede. Allein in der ersten Fassung fin- ten Raban, den Ereignissen irgendeinen Sinn zu ver-
den sich zudem eine Reihe innerer Monologe Ra- leihen. Damit liegt eine erste wichtige These zur Ver-
bans, in denen dieser seine Wahrnehmungen einer bindung von dargestellter Welt und dem Einsatz ver-
ständigen Deutung unterzieht, seine momentane Si- schiedener Darstellungstechniken vor.
tuation reflektiert und den weiteren Verlauf der Im Einzelnen unterschiedlich bewertet wird die
Reise imaginiert. Zentral für die Deutung sind damit erzählerische Gestaltung im Blick auf das Gesamt-
die Funktionen der drei unterschiedlichen Erzähl- werk. Binder kritisiert, dass äußere Details zwar ex-
weisen für sich sowie darüber hinaus ihr innerer Zu- akt beschrieben werden, aber noch keine direkten
sammenhang. Ausdrucksfunktionen für die Darstellung des Seeli-
Schließlich ist die Stellung des Textes sowohl im schen übernehmen (1975, 64). Für geglückt hinge-
Frühwerk als auch im Blick auf das Gesamtwerk dar- gen hält er die Gestaltung der Dialoge. Demgegen-
104 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

über befindet Wagenbach: »In Hochzeitsvorbereitun- Vollständigkeit der Beschreibung:


gen auf dem Lande liegen bereits die wesentlichsten »Alles rund herum zu sehn«
Elemente der späteren Dichtung Kafkas enthalten«
(Wagenbach 2006, 115). Das erzählerische Potential des Anfangssatzes wird
bereits in den ersten beschreibenden Textpassagen
breit entfaltet. Kafka zeichnet hier in großer Detail-
Deutungsaspekte fülle, gleichwohl nicht realistisch, sondern gestisch-
expressiv überhöht eine Straßenszene, die man sich
Fassung A
auch gut im bewegten Ausdrucksstil des Expressio-
nismus gemalt vorstellen könnte:
Lakonischer Beginn: »Es regnete wenig«
Auf dem Trottoir gleich vor ihm gab es viele Menschen
Man weiß, dass Anfangssätze bei Kafka eine beson- in verschiedenartigem Schritt. Manchmal trat einer vor
dere Bedeutung haben. Die Hochzeitsvorbereitungen und durchquerte die Fahrbahn. Ein kleines Mädchen
beginnen denkbar lapidar mit zwei Sätzen, die in al- hielt in den vorgestreckten Händen ein müdes Hünd-
len drei Fassungen nur wenig verändert erscheinen chen. Zwei Herren machten einander Mittheilungen, der
eine hielt die Hände mit der innern Fläche nach oben
und schon deshalb einen Handlungs- und Erzählnu- und bewegte sie gleichmäßig als halte er eine Last in
kleus enthalten müssen: Schwebe. Da erblickte man eine Dame, deren Hut viel
Als Eduard Raban durch den Flurgang kommend, in die beladen war mit Bändern, Spangen und Blumen. Und es
Öffnung des Thores trat sah er, daß es regnete. Es reg- eilte ein junger Mensch mit dünnem Stock vorüber, die
nete wenig (NSF I, 12). linke Hand als wäre sie gelähmt platt auf der Brust. Ab
und zu kamen Männer welche rauchten und kleine auf-
Dass man »Raban« wegen der Vokalfolge als Krypto- rechte längliche Wolken vor sich her trugen. Drei Her-
gramm des Namens »Kafka« lesen kann, ist häufig ren – zwei hielten leichte Überröcke auf dem geknickten
bemerkt worden, zeigt aber nur, dass diese Art der Unterarm – giengen oft von der Häusermauer zum
Autofiktionalisierung nicht erst mit dem Urteil er- Rande des Trottoirs vor, betrachteten das was sich dort
ereignete und zogen dann sprechend sich wieder zurück
funden wurde. Bezeichnender ist die beschriebene (NSF I, 12).
räumliche Situation, die sich immer wieder im Kaf-
kaschen Frühwerk findet: der Übergang vom Inne- Charakteristisch ist, erstens, die Bewegtheit der Szene,
ren des Hauses auf die Straße; eine Schwellensitua- die im häufig wiederholten Hin- und Hergehen der
tion im wörtlichen Sinn, die schon durch die Wort- Figuren nachgezeichnet wird. Dabei wird eine räum-
wahl mit der Polarität von ›Offenem‹ (Tor) und lich genau abgestufte Matrix von Hauswänden, Trot-
›Geschlossenem‹ verbunden ist. Dazu kommt eine toir und Fahrbahn entworfen, innerhalb derer sich
einfache sinnliche Wahrnehmung – es regnete –, der die Figuren beinahe abgezirkelt bewegen und in der
ihre Präzisierung auf dem Fuße folgt: »Es regnete die Fahrbahn die größte Gefahrenzone gegenüber
wenig«. Der Regen wird im gesamten Fragment und der sicheren Hauswand darstellt. Zweitens ist eine
in allen Fassungen niemals aufhören; er spielt, zeitliche Bewegung unterlegt, die von »manchmal«
könnte man überspitzt sagen, streckenweise eine et- über »ab und zu« bis hin zu »oft« variiert wird. Auf-
was größere Rolle für die Handlung als ihr Protago- fällig ist, drittens, die Gruppierung des Personals. Es
nist, der im Übrigen seinen Regenschirm ebenso we- gibt Einzelfiguren, die über ein auffälliges Klei-
nig wie seinen Reisekoffer aus der Hand gibt, die ihn dungsstück (wie die Dame mit dem Hut) oder eine
beide ikonographisch als archetypischen Reisenden besonders charakteristische Geste (wie der »junge
markieren. Mensch«) beschrieben werden. Es gibt Kleingruppen,
Die Tatsache, dass es regnet, markiert dabei auf deren Beziehung untereinander beschrieben wird:
der Inhaltsebene den ersten, äußeren Widerstand das Mädchen mit dem müden Hündchen (hier er-
gegen ein Unternehmen, dem Raban sowieso jede laubt sich Kafka eine kleine Lautmalerei), die stumm
Menge innerer Widerstände entgegensetzt. Auf der und gestisch miteinander kommunizierenden »zwei
formalen Ebene stellt die zweifache Erwähnung des Herren«, sowie die »drei Herren« mit den Überzie-
Regens einen beinahe subkutanen Übergang von ei- hern. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Darstel-
ner allgemeinen auktorialen Wahrnehmung zu einer lung der Hände gelegt; sie allein tauchen dreimal auf.
personalen Präzisierung und Wertung dar; »es reg- Die auf den ersten Blick unsystematisch und zu-
nete wenig« ist eine Aussage in erlebter Rede aus der fällig wirkende Straßenszene wird also durch strenge
inneren Perspektive Rabans. räumliche, zeitliche und figürliche Kompositions-
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 105

schemata gegliedert. Die ständige Bewegung im brochen, über die nächsten Seiten und mündet in
Straßenbild verhindert allerdings, dass die Beschrei- die wahrscheinlich bekannteste Stelle des Textes, die
bung jemals an ihr Ende kommt. In einer späteren Käferphantasie. Raban erwägt, sich vor den vorge-
Textpassage wird es heißen, dass sich der Platz unter stellten Schrecken des Landaufenthalts durch ein
dem Einfluss der in den Pfützen reflektierenden surreales Mittel zu drücken, das er als Kind an-
Straßenlampen »unaufhörlich« »änderte«, während wandte: »Ich schicke meinen angekleideten Körper
Raban ständig bemüht ist, »alles rund herum zu nur« (17). Dieser vom eigentlichen inneren Selbst
sehn« (19). Gleichwohl ist diese äußerlich so sehr abgespaltene Körper leidet nun auf dem Lande, wäh-
um erzählerische Objektivität und Vollständigkeit rend das Ich in der Stadt geschützt in seinem Bett
der Beschreibung bemühte Darstellung einer Stra- liegt, »glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke, ausge-
ßenszene natürlich nichts weniger als das Produkt setzt der Luft, die durch das wenig geöffnete Fenster
einer auktorialen Erzählinstanz, sondern vielmehr weht«; es hat dabei »die Gestalt eines großen Käfers,
durch die personale Wahrnehmung Rabans gefiltert. eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers glaube ich«
Das zeigt sich am stärksten in der ungewöhnlichen (18).
Auswahl der dargestellten Gesten sowie in der dabei Natürlich liegt hier die Keimzelle für die Verwand-
verwendeten Bildlichkeit. Es ist Raban, dem die äu- lung, die zudem den positiven Kern dieser Vorstel-
ßere Welt trotz sorgfältigster Beobachtung ständig in lung für Kafka klarmacht; es ist eine Fluchtphanta-
Bewegung, instabil, unsicher, rätselhaft, verschlüs- sie, die keinesfalls als bedrohlich erlebt wird, son-
selt erscheint. dern das Ich in eine gewohnte Atmosphäre, geschützt
vor allzu starken Einflüssen der Außenwelt – das
»wenig geöffnete Fenster« (18) – versetzt. In diesem
Innerer Monolog:
»Die Gestalt eines großen Käfers« Text bleibt dies jedoch ein unverbundenes Phan-
tasma, da Raban sofort wieder in zermürbende Grü-
Dass dies ebenso Rabans innerem Zustand ent- belei wegen seines Landaufenthalts verfällt. Er
spricht, macht Kafka in Fassung A noch sehr explizit nimmt dabei regelmäßig das schlechtestmögliche
deutlich. Raban wird nicht nur als »müde« beschrie- Verhalten der anderen Gäste als gesichertes Faktum
ben, sondern auch die Blässe seiner Lippen und das vorweg und gerät so letztlich in die Ausweglosigkeit
dieser korrespondierende »ausgebleichte Roth« der des Paradoxons. So stellt er sich beispielsweise vor,
Krawatte mit dem »maurischen Muster« (NSF I, 13) seine Abneigung gegen körperliche Berührung bei
symbolisieren seinen Seelenzustand, den er in einem der Begrüßung könnte gegen ihn ausgelegt werden;
daran anschließenden inneren Monolog dann selbst folglich müsse er dann versuchen, die solchermaßen
darlegt. Dieser innere Monolog entwickelt sofort Gekränkten »zu begütigen«. Das allerdings werde sie
eine starke Dynamik – »man« ist müde wegen der noch mehr »böse machen«: »Wenn ich sie durchaus
Arbeit »im Amt« (13); »man« wird trotzdem nicht böse machen könnte, beim Versuch sie zu begüti-
geliebt, sondern »ist […] allen gänzlich fremd« (14) gen« (19). Ergo: Wenn Raban er selbst ist, macht er
–, die in ihrer Konsequenz sogar zu einem unvermit- andere Menschen böse; wenn er versucht, sie wieder
telten Sprung aus der Geschichte auf die Erzählebene zu versöhnen, macht er sie noch böser; wenn er es
selbst führt: lässt, sind sie ja immer noch böse. Es gibt keinen
Ausweg – außer dem Käfer oder dem Verbleib in der
Und solange Du »man« sagst an Stelle von »ich«, ist es
Stadt.
nichts und man kann diese Geschichte aufsagen, sobald
Du aber Dir eingestehst daß Du selbst es bist, dann wirst
Du förmlich durchbohrt und bist entsetzt (ebd.).
Misslingende Dialoge:
»Ich habe Augen niemals schön gefunden«
Hier spricht also in erster Instanz Raban zu sich
selbst, und in zweiter Instanz der Erzähler zu sich Die gleichen Regeln gelten für Rabans Kommunika-
selbst. Der innere Monolog wendet sich anschlie- tionsversuche mit seinem Bekannten Lement. Die
ßend wieder Rabans momentaner Situation zu, der Unterhaltung beginnt mit Floskeln; man tauscht sich
sich nun alle wahrscheinlichen und unwahrscheinli- aus über gemeinsame Bekannte, Frauen vor allem:
chen Kränkungen des von ihm geplanten Landauf- Frau Gillemann, so Lement, habe »die schönsten
enthalts einfallsreich imaginiert. Die Reflexion zieht Augen, die ich je gesehen habe« (24). Raban aber,
sich, von Beschreibungsszenen immer wieder unter- der selbst in der trivialsten Unterhaltung von einer
106 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Unsicherheit in die nächste fällt, insistiert plötzlich Ragte ein Stock oder die beschlagene Kante eines Koffers
auf den wörtlichen Gehalt der Redewendung: »Ich vor, dann wurde der Besitzer darauf aufmerksam ge-
macht. Er gieng dann hin und stellte die Ordnung wie-
bitte Dich, wie sehn schöne Augen aus, nicht wahr, der her. Auch Raban besann sich und schob seinen Kof-
das Auge selbst kann doch nicht schön sein. Ist es fer unter seinen Sitz (30).
der Blick? Ich habe Augen niemals schön gefunden«
(24). Damit allerdings widerruft er eine Aussage, die Im Zug wird die ständige Veränderung der Umwelt
er selbst nur wenige Absätze vorher in seinem inne- durch die Geschwindigkeit noch potenziert. Demge-
ren Monolog bei der insgesamt wenig wohlwollen- genüber wird wiederum eine vermeintliche Stabilität
den Betrachtung eines Fotos seiner Verlobten ge- einer floskelhaften Alltagskonversation der Mitrei-
macht hatte: »Aber ihre Augen sind schön, sie sind senden beschworen, die sich jedoch immer wieder
braun, wenn ich nicht irre. Alle sagen, daß ihre Au- als trügerisch herausstellt: Alle Annahmen, die Ra-
gen schön sind« (22). Gibt es nun schöne Augen ban aus den ersten Beobachtungen seiner Mitreisen-
oder nicht? Oder ist Raban – ähnlich wie sich die den ganz sicher abgeleitet hatte, erweisen sich als
Umgebung unter der Beschreibung bereits wieder falsch; sein vom Kassierer herausgegebenes Wech-
verändert – schon wenige Minuten später in einer selgeld war doch richtig abgezählt, der Handelsrei-
anderen äußeren Konstellation selbst womöglich ein sende, dem er seinen »angenehmen« (ebd.) Beruf
anderer? Wie soll man aber miteinander sprechen, zugute gehalten hatte, ist von seiner tatsächlichen
wenn doch nichts sicher ist, noch nicht einmal – beruflichen Erfahrung so frustriert, dass er ins Wei-
oder schon gar nicht – die eigene Identität? nen gerät und so fort.
Tatsächlich gelingt in der Unterhaltung mit Le-
ment nicht einmal die geringste Verständigung. In
Das zweite Kapitel:
Rabans nachträglicher Reflexion der Unterhaltung Totenlandschaften und Tribunal
im inneren Monolog tritt seine fundamentale Unsi-
cherheit gegenüber anderen Menschen offen zu- Das erste Kapitel endet mit dem Einschlafen Rabans;
tage: das zweite beginnt unvermittelt mit seiner Ankunft
Denn selbst alter Bekannter ist man gar nicht sicher. War im Dorf. In diesem Teil des Fragments wird etwas
nicht Lement heute freundlich zu mir, er hat mir doch kontinuierlicher erzählt, da Raban nun aktiver wird.
einiges erklärt und er hat alles so dargestellt wie es mir Gleichwohl bleiben bedrohliche Verwandlungsmo-
erscheinen wird (28). mente allgegenwärtig. So sieht Raban dem abfahren-
Die gesamte Kommunikation ist ständig von der den Zug nach; relativ fließend gleitet dabei die Er-
Deutung von Machtverhältnissen innerhalb der Be- zählung über ein Bild in die erlebte Rede, die nun als
ziehung, von kommunikativen Strategien, von mög- erzählerisches Mittel stärker in den Vordergrund
lichen Bedeutungsvarianten der kleinsten Äußerun- drängt:
gen überlagert. Das höchste Entgegenkommen be-
Der Zug fuhr an, verschwand wie eine lange Schiebethür
steht schon darin, dass eine Sache so dargestellt wird, und hinter den Pappeln jenseits der Geleise war die
wie sie dem Gesprächspartner »erscheinen wird«, Masse der Gegend daß es den Athem störte. War es ein
also in einer speziellen Ausrichtung der Kommuni- dunkler Durchblick oder war es ein Wald, war es ein
kation auf den Empfänger. Alles Weitere, sei es nun Teich oder ein Haus, in dem die Menschen schon schlie-
fen, war es ein Kirchthurm oder eine Schlucht zwischen
ein vermeintlich zu kurzer Abschied oder ein einfa- den Hügeln; niemand durfte sich dorthin wagen, wer
ches kommunikatives Missverständnis, ist bereits aber konnte sich zurückhalten (NSF I, 36 f.).
»Kränkung« (ebd.).
Der Wechsel von beschreibenden Szenen und in- Die nächtliche Landschaft wird von Raban als To-
neren Monologen Rabans prägt auch den zweiten tenlandschaft wahrgenommen und manifestiert sich
Teil des ersten Kapitels, die Erzählung von Rabans körperlich als Alpdruck. Sie stellt eine ungeordnete
Zugfahrt. Wiederum werden die Mitreisenden sorg- Masse dar, der verschiedene, sogar gegensätzliche
fältig in Gruppen formiert; wiederum werden vor al- Vorstellungskomplexe (Wald-Teich-Haus; Kirch-
lem die ständige Bewegung und Veränderung der Si- turm-Schlucht) untergeschoben werden können.
tuation beschrieben. Das Ziel der Beschreibung ist, Das mindert jedoch ihre bedrohliche Attraktivität
so macht ein unscheinbares Detail deutlich, die Her- nicht, die Verlockung, selbst in dieser amorphen
stellung einer zuverlässigen Ordnung im alltäglichen Masse, der Unordnung, der Veränderlichkeit unter-
Wahrnehmungschaos: zugehen.
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 107

In der von allen äußeren Eindrücken isolierten Si- sieht man »einmal flüchtig, dann bequem« (44); die
tuation gerät Raban dabei seine Imagination immer eiligen Geschäftsleute lassen sich von den Leuten
mehr außer Kontrolle. Schließlich gipfeln seine in- »stoßen und stießen auch« (ebd.). Zum zweiten wer-
neren Monologe in einem Tribunal: den neue Bilder verwendet: Der Hut der Dame ist
nun nicht mehr beladen mit Spangen und Bändern,
Konnte man das alles nicht als Vorwürfe gegen Raban
gebrauchen? Viele Pfützen wurden unerwartet erhellt sondern »mit unkenntlichen Dingen bis zum Rande«
von der an der Deichsel zitternden Laterne, ertrugen den (43); sie erscheint dadurch »ohne Absicht fremd, wie
Hufschlag und zertheilten sich Wellen treibend unter durch ein Gesetz« (ebd.). Und sogar seine hübsche
dem Rad. Das geschah nur deshalb, weil Raban zu seiner Lautmalerei hat sich der Erzähler verboten: Das
Braut fuhr (40).
Hündchen darf nicht mehr »müde« (12) sein, son-
Das ›Leiden‹ der brutal erleuchteten Pfützen und das dern ist nur noch »grau« (43). Insgesamt ist die Be-
Zittern der Laterne werden gegen Rabans fiktive schreibung damit noch stärker auf Vollständigkeit
»Verdienste« (40) aufgerechnet. Das Ergebnis kann des Eindrucks ausgerichtet – durch Einbeziehung al-
kein positives sein; denn sein größtes Verdienst ist es ler, selbst der gegensätzlichen Möglichkeiten –,
schon, so Raban, dass er Vorwürfe erträgt, die ihm gleichzeitig aber weiter entpersönlicht, beispiels-
allerdings niemand macht, so dass es auch hier zu weise durch die Vergleiche von Menschen mit Din-
keinem Verdienst kommen kann. Und wieder ist das gen. Schließlich wird schon frühzeitig im Gesetzes-
Ende der Sackgasse erreicht. Eine marginale Stabili- Vergleich eine moralische Ebene von Schuld und
tät kann Raban allein daraus beziehen, dass sein El- Verantwortung eingezogen.
lenbogen, als ihm seine Hand unachtsam vom Ober- Der sich in der Erstfassung an die beschreibenden
schenkel rutscht, »in dem Winkel zwischen dem Szenen anschließende innere Monolog mit dem
Bauch und dem Bein« (41) bleibt, was offensichtlich ›Sprung‹ in die Erzählebene entfällt völlig; offen-
als tröstliche Ordnungserfahrung auf Minimalni- sichtlich hat sich der Erzähler hier bereits von An-
veau gewertet werden kann. fang an das »man« untersagt. Stattdessen gleitet die
Die Ankunft vor dem Gasthaus schließlich führt Erzählung nun über die erlebte Rede direkt in einen
noch einmal zu einer sentimentalen Erinnerung an Dialog mit einer neuen Figur, einem »älteren Herrn«
Rabans vertrautes Lebensmilieu in der Stadt, wohin- (45). Dieser sieht abwechselnd Raban an und die
gegen der Aufenthalt auf dem Land nicht nur mit Umgebung:
fremden Menschen, sondern auch mit »unheimli-
Doch tat er dies nur aus dem natürlichen Bedürfnis, da
chen fetten Speisen«, »fremder Zeitung« und einer er nun einmal unbeschäftigt war alles in seiner Umge-
Lampe »für alle« verbunden wird. Nur logisch bricht bung wenigstens genau zu beobachten. Die Folge dieses
das Fragment in einem offenen Satz ab, der von der zwecklosen Hin- und Herschauens war, daß er sehr vie-
Bedrängung Bettys durch die »lüsternen Männer« les nicht bemerkte. So entgieng es ihm, daß Rabans Lip-
pen sehr bleich waren und nicht viel dem ganz ausge-
(42) auf dem Lande berichtet; hier ist offenbar das bleichten Rot seiner Kravate nachstanden, die ein ehe-
Maximum des Bedrohungspegels erreicht. mals auffallendes maurisches Muster zeigte (ebd.).

Fassung B In dieser Passage ist im Vergleich mit der Erstfassung


sehr gut der Wechsel in der Erzählperspektive zu be-
Polarität und Personalisierung des Erzählens: obachten. Zum einen wird dem älteren Herrn das
»ohne Absicht fremd, wie durch ein Gesetz« »natürliche Bedürfnis« (natürlich) von Raban unter-
Auch in der zweiten Fassung bleibt der Anfangssatz stellt; aber eben durch das »natürlich« wird diese per-
bis auf eine winzige syntaktische Ergänzung unver- sonale Wahrnehmung vordergründig als vermeint-
ändert, die stärker die Perspektive Rabans berück- lich objektive und überhaupt nicht zu bezweifelnde
sichtigt: »da konnte er sehn, wie es regnete« (NSF I, Tatsache insinuiert. Zum zweiten wird die Aussage
43). Die anschließenden beschreibenden Passagen direkt in ein Paradox überführt: Gerade dadurch,
werden etwas gekürzt bei ungefährer Beibehaltung dass der Herr alles sehen will, entgeht ihm vieles –
der Personengruppen, aber unter Einführung neuer nämlich ausgerechnet das sprechende Farbverhältnis
Beschreibungselemente. Deren erstes ist eine stär- zwischen Rabans Lippen und seiner Krawatte, das
kere Strukturierung durch Polaritäten: Auf dem nun nicht mehr einfach als »Müdigkeit« (vgl. 13) ti-
Trottoir gingen »nicht höher, nicht tiefer« (ebd.) Pas- tuliert, sondern in eine komplexe Selbstwahrneh-
santen; die Lücken zwischen den Vorübergehenden mung Rabans überführt wird: Wie kann einem Be-
108 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

obachter nur entgehen, dass er so unendlich müde ist die Zweideutigkeit ruhig beim Wort nehmen – »be-
wie die Farbe seiner ehemals zweifellos durch Farbe rührt« durch alles, was ein Gesprächspartner sagt.
und Muster geradezu Exzentrizität signalisierenden Zwar fehlen im weiteren Dialogverlauf mehrfach
Krawatte? Und selbst wenn er es bemerkt hätte – so Blätter im Text, aber der Dialog endet im offenen
der Text weiter in sicherer Zielrichtung auf die Sack- Machtstreit, bei dem Raban sinnigerweise gleich
gasse –, hätte er »sicherlich« doch nur die falschen beide Positionen selbst führt: »Sie würden mir Vor-
Schlüsse daraus gezogen, »denn Raban war immer würfe machen daß ich Sie jetzt nicht besser widerlegt
bleich« (45). Daraus folgt: Egal, ob der ältere Herr die habe« (50). Bis zu diesem Punkt ist im Übrigen von
Krawatte und die Lippen wahrnimmt, egal, welche Betty niemals, von den Reiseabsichten Rabans nur
Schlüsse er daraus zieht – er wird der komplexen, sehr kurz und andeutungsweise die Rede gewesen.
veränderlichen und widersprüchlichen innerlichen
Realität Rabans sowieso nie gerecht. Fassung C – Beobachterdominanz
und Monumentalisierung:
Kommunikative Sackgassen: »Wie jeder sehen konnte«
»Nun, es ist nicht so wichtig«
Die dritte Fassung strafft die beschreibenden An-
Die Fruchtlosigkeit des sich anschließenden Dialogs fangspassagen noch weiter und verstärkt die Ten-
hat sich gegenüber der Erstfassung eher noch ver- denz zur Vollständigkeit der Beschreibung. Ein
schärft. Diesmal beginnt sie gar mit einer Floskel neues Beschreibungselement gleich im zweiten Ab-
über das Wetter, droht nach den ersten beiden Wort- satz ist der Blick Rabans auf einen Kirchturm, der
wechseln ganz zu versiegen und führt anschließend zum einen die Zeitknappheit schon zu Beginn des
zu immer längeren monologischen Ausführungen Textes stärker in den Fokus rückt. Zum zweiten wird
Rabans, der ständig bemüht ist, eingebildete Miss- hier die erste der endlosen Reihe von Polaritäten er-
verständnisse auszuräumen. Besonders deutlich öffnet, die den kurzen Text nun beinahe manisch
wird das Nicht-Gelingen dieser Kommunikation prägen: Der »ziemlich hohe Turm« steht in einer
durch die Häufung von defensiven Redewendungen »tiefer gelegenen Gasse« (NSF I, 51); die vorbeiflie-
wie »Nichts meine ich damit« (46), »nun es ist nicht genden Vögel sind gleichzeitig »fest aneinander ge-
so wichtig« (48) oder einfach »bitte, bitte« (48). Da- schlossen und auseinander gespannt« (ebd.); Raban
bei gibt ein kurzer Passus noch einmal eine rückge- denkt »das Gesicht bald gesenkt, bald gehoben«
wendete Innensicht, die auch wegen ihres beinahe (ebd.) an gar nichts. Die Reihe ließe sich fortsetzen
kausal erklärenden Charakters aus dem personalen, bis zum letzten Satz, in dem der alte Herr über Ju-
gegenwartsorientierten Erzählmuster herausfällt: gend und Alter reflektiert (53).
Nun glaubte Raban, seit einiger Zeit könne ihn nichts Bei der Beschreibung der Passanten wird in dieser
berühren, was andere über seine Fähigkeiten oder Mei- Fassung jeder beschriebenen Gruppe ein eigener
nungen sagten; vielmehr habe er eben förmlich jene Absatz zugeteilt. Dadurch entsteht eine beinahe sta-
Stelle verlassen, wo er ganz hingegeben auf alles gehorcht tuarische Aneinanderreihung von gegeneinander
hatte, so daß Leute jetzt doch nur ins Leere redeten, ob
abgeschlossenen Einzelbildern, die mit der darge-
sie nun gegen oder für ihn waren (47).
stellten Bewegung kontrastiert. Zudem wird Raban
Diese Stelle ist in mehrfacher Hinsicht verräterisch. als souveräner eingeführt: Das befriedigte Stellen der
Sie demonstriert, dass Raban geradezu manichäisch Uhr, seine Freude darüber, dass er noch Zeit für den
zwei Kategorien von Menschen unterscheidet, näm- Weg zum Bahnhof hat, das Grüßen vorbeieilender
lich solche, die für, und solche, die gegen ihn sind. Bekannter zeigen ihn gleichzeitig stärker eingebun-
Dabei ist es gleichgültig, welcher Kategorie sein Ge- den in die Straßenszene und distanziert in deren Be-
sprächspartner zuzuordnen ist; sein verzweifeltes trachtung. Schließlich kommt es sogar zu einem La-
Bemühen, sich selbst als unabhängiges Ich von bei- chen, das keinem der Rabans der zwei vorigen Fas-
den Gruppen abzugrenzen, war ganz offensichtlich sungen vergönnt war. Es geht aus von einer
erfolglos. Nicht nur, dass er auch in diesem Gespräch Miniaturskizze, die in den ersten Fassungen nur an-
(das Wort ist ein spezieller Verräter) »gehorcht« hat gedeutet war, nun aber breiter gezeichnet wird:
im doppelten Sinn und jederzeit bereit ist, beim ge- Von der Gouvernante gezogen lief mit kurzen Schritten
ringsten Widerspruch seine Stelle zu verlassen; er den freien Arm ausgebreitet ein Kind vorüber, dessen
wird auch immer noch – hier kann man wiederum Hut, wie jeder sehen konnte, aus rotgefärbtem Stroh ge-
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 109

flochten auf dem gewellten Rande ein grünes Kränzchen jedoch beinahe choreographisch aufeinander abge-
trug. stimmt: So bewegen sich beispielsweise die Mädchen
Raban zeigte ihn mit beiden Händen einem alten
Herrn […]. nach einer »in ihren Kehlen unterdrückten Melodie«
Raban lachte. Kindern passe alles, er habe Kinder und »im Tanzschritt ihrer Beine« (380 f.); Familien
gerne. (53) halten trotz Zerstreuungsgefahr »gut zusammen«
Auch diese Szene ist geprägt von den allgegenwärti- (381). Ausgenommen von dieser allseitigen Harmo-
gen Polaritäten – einmal fällt der Regen »gesam- nie sind lediglich die »allein gelassenen Männer«.
melt«, dann »unsicher« (53); die Analogie zu mögli- Von ihnen distanziert sich das Ich folgerichtig in er-
chen menschlichen Verhaltensweisen ist im Übrigen lebter Rede: »Das war kleinliche Narrheit« (ebd.).
naheliegend. Als Gegenpol zur diffusen Anfangsfar- Als Reaktion darauf verstärkt es seine Beobachter-
bigkeit von Rabans Überzieher werden die starken position und sucht sogar physischen Kontakt mit
Komplementärfarben rot und grün eingeführt. Das den Vorübergehenden, indem er die Mädchen an-
Kind bewegt sich »frei«, obzwar von der Gouver- fasst. Das wird ihm jedoch von einem Passanten ver-
nante gezogen; das entspricht der Ausnahmestellung, wehrt, worauf das Ich beginnt, aus der – bezeichnen-
die Kindern im Frühwerk, am stärksten in den Kin- derweise wortlosen – Bestrafung des Passanten her-
dern auf der Landstraße in Betrachtung, zugespro- aus eine Allmachtsphantasie zu entwickeln: »Von
chen wird. Am bemerkenswertesten ist schließlich jetzt an rief ich natürlich öfters Leute zu mir her, ein
wiederum die untergeschobene Personalisierung: Winken mit dem Finger genügte oder ein rascher,
Warum muss eigentlich erwähnt werden, dass jeder nirgends zögernder Blick« (381). Darauf folgt das
den bunten Hut sehen konnte? Doch offensichtlich abrupte Ende und ein vernichtender Eintrag: »In ei-
nur, weil die starke Farbigkeit und der hervorgeho- ner wie mühelosen Schläfrigkeit ich dieses Unnütze,
bene Schmuckcharakter in Rabans Kopf in einem Unfertige geschrieben habe« (ebd.).
solch provozierenden Kontrast zur grauen verregne- Unter dem 12. März 1912 steht ein zweiter Ein-
ten Geschäftswelt der Erwachsenen stehen, dass sie trag, der nun die Hochzeitsthematik wieder auf-
eigentlich verheimlicht werden müssten. Sie symbo- nimmt. Erzählt wird diesmal in Er-Form: Ein »jun-
lisieren die »Begeisterung« der Jugend, die der alte ger Mann in offenem um ihn sich aufbauschendem
Herr dann in einer Floskel aufgreift, um sie sogleich Überzieher«, gerade verlobt, macht eine Fahrt mit
abzuwerten: »und es hat, wie man im Alter sieht kei- der Elektrischen und erlebt ebenfalls, »gut aufgeho-
nen Gewinn gebracht, darum ist man sogar« (ebd.) – ben im Zustand eines Bräutigams« (T 406), eine
und wieder endet der Text abrupt mitten im Satz. rauschhafte Einigkeit mit sich und seiner Umge-
bung, in der ihm alles gelingt. Gleichwohl folgt der
Fortgesetzte Beobachtung: Widerruf diesmal bereits auf den ersten Absatz:
»Nur der sich aufbauschende Überzieher bleibt be-
Zwei Tagebucheinträge vom 26. Februar
stehn, alles andere ist erdacht« (407).
1912 und 12. März 1912 Das Interessante an diesen ›Fortsetzungen‹ ist,
Im Februar und März des Jahres 1912 notiert Kafka dass der Protagonist in beiden Einträgen das Ge-
zwei Tagebucheinträge, die aufgrund vielfältiger the- schehen um ihn herum nicht nur passiv wahrnimmt,
matischer, inhaltlicher und darstellungstechnischer sondern selbst gestaltet; dadurch fällt der Übergang
Parallelen als Wiederaufnahme des Hochzeitsvorbe- ins Surreale, der in beiden Texten am Ende angedeu-
reitungen-Komplexes gelesen werden können. An tet wird, sehr viel fließender aus. Gleichwohl passie-
ihnen wird besonders deutlich, wie lange Kafka be- ren beide Texte die nun sehr viel stärkere innere
stimmte Situationen und Erzählkerne innerlich be- Selbstzensur nicht.
arbeitet; sie können offensichtlich nicht abgeschlos-
sen werden, bevor sie nicht eine befriedigende Er- Zusammenfassung: Wechselwirkungen
zählform gefunden haben.
von Stabilisierung und Destabilisierung
Der erste Eintrag vom 26. Februar 1912 beginnt
damit, dass das erzählende Ich seine Haustür öffnet Insgesamt kann man mit einer Formel von Gunter-
und prüft, »ob das Wetter zu einem Spaziergang ver- mann auch in Bezug auf die Hochzeitsvorbereitungen
locke« (T 380); daran schließt sich wiederum die de- von der »Erzählung einer Verwandlung« sprechen
taillierte Beschreibung einer Straßenszene an. Auch (Guntermann, 307). Kafka greift das ihn in dieser
die bekannten Figurengruppen tauchen auf, diesmal Zeit bereits umtreibende Hochzeits-Thema auf und
110 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

imaginiert sich in der Figur Eduard Rabans die sich Die späteren Fassungen vollziehen einige nicht
daraus ergebenden konkreten Entwicklungen. Die unwesentliche Veränderungen: Die Beschreibung
resultierende fundamentale Verunsicherung über wird erheblich gestrafft und sowohl von der verwen-
seine Stellung in der Welt und zur Welt findet ihre deten Bildlichkeit her wie auch von der dargestellten
erzählerische Umsetzung in verschiedenen Stabili- Welt selbst stärker auf die Innenwelt des Protagonis-
sierungsversuchen und -techniken. ten bezogen; der Text gewinnt dadurch an Geschlos-
So soll die äußere Welt zunächst durch intensivste senheit, er verliert aber an lebendiger impressionisti-
Beschreibung gleichsam stillgestellt und gezähmt scher Detailfülle. Gleichzeitig werden die Dialoge
werden. Ihre detaillierte Darstellung, die auf Voll- noch floskelhafter und missverständlicher, ja gehen
ständigkeit und Lückenlosigkeit der Eindrücke bis beinahe nur noch auf die Etablierung und Darstel-
zur Einbeziehung aller möglichen Polaritäten aus- lung von Machtstrukturen aus. Kafka erreicht da-
geht und eine exakte Vermessung von einzelnen Si- durch das, was seine späteren Texte so besonders
tuationen sowohl in räumlicher wie auch zeitlicher auszeichnet: eine engere Verzahnung von Innen und
Hinsicht vornimmt, soll gleichermaßen die ständige Außen durch die strikte Anwendung des personalen
Dynamik beispielsweise einer bewegten Straßen- Erzählprinzips, in dem vermeintlich objektive Beob-
szene zeigen und die Stabilität ihrer sprachlichen achtungen subjektive Ausdrucksqualitäten gewin-
Umsetzung verbürgen. Gleiches gilt für den Dialog, nen und vermeintlich subjektive Dialoge für objek-
in dem zwar die Beweglichkeit und unendliche po- tive Machtverhältnisse stehen − eine subtile Ver-
tentielle Bedeutungsfülle eines mündlichen, situativ wechslung, der der Leser genauso ausgeliefert ist wie
verhafteten Gesprächs eingefangen werden, aber die Figur.
gleichzeitig die Beziehung der Gesprächspartner in Auffällig ist schließlich, dass Raban in den Fassun-
einem Machtverhältnis stabilisiert werden soll. gen von 1909 etwas gestärkt und seiner Umwelt nicht
Das führt letztendlich jedoch dazu, dass die er- mehr ganz so ausgeliefert erscheint; eine Entwick-
sehnte Stabilisierung niemals gelingen kann. Das Ich lung, die die ›Fortsetzungen‹ fortschreiben und die
findet keinen Raum mehr für sich selbst: Im voll- darauf zurückgeführt werden könnte, dass Kafka die
ständigen Beschreiben der äußeren Welt bleibt es Notwendigkeit einer stärkeren fiktionalen Ablösung
ebenso ausgespart wie im vollständigen Deuten der Figur von sich selbst erkannt hatte. Das wiede-
kommunikativer Äußerungen anderer. Je mehr es rum würde auch das Scheitern der weiteren Versuche
deutet, desto mehr gelangt es ins Subjektiv-Unge- erklären: Denn wenn es Kafka wirklich gelungen
wisse und in die Veränderlichkeit der eigenen Psy- wäre, die fiktiven Hochzeitsvorbereitungen bis zu ei-
che; je mehr es beschreibt, desto stärker wird ihm die nem Punkt zu beschreiben, wo eine Hochzeit tat-
von ihm unabhängige Veränderlichkeit der Außen- sächlich stattgefunden hätte – hätte er genauso gut
welt deutlich. Die vermeintliche Allmacht der (ob- gleich heiraten können. Das zeigt nicht zuletzt dieje-
jektiven) Beschreibung wird mit dem Verlust der nige Figur Kafkas, die als nächste dieses Stadium er-
persönlichen Identität bezahlt; die vermeintliche reicht: Noch vor der Verwirklichung der Käferphan-
Allmacht der (subjektiven) Deutung im Dialog mit tasie wird Georg Bendemann im Urteil – nicht nur,
dem Entzug der Gegenstände. aber auch – an seiner Verlobung zugrundegehen wie
Die fundamentale Unsicherheit des Ich zeigen in die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande an ihrem
der ersten Fassung noch die inneren Monologe, die aussichtslosen Unterfangen einer Stabilisierung der
eine Art Offenlegung des Erzählerbewusstseins dar- inneren und äußeren Welt durch vollständige Be-
stellen – und eben deshalb in den weiteren Fassun- schreibung und vollständige Deutung.
gen verschwinden müssen. Der Leser soll in der glei-
Ausgaben: ED: Fassung A und B in: Neue Rundschau
chen Unsicherheit bezüglich der Bewertung äußerer 62 (1951), 1–20 [19 f. Auszug aus C]; − Ausgaben:
Wahrnehmungen wie kommunikativer Situationen Hzv/GW (1953), 7–38. – Fassung A: NSF I/KA (1993),
schweben; nur so ist gewährleistet, dass er die glei- 12–42; Fassung B: 43–50; Fassung C: 51–53.
chen Stabilisierungsprozesse vollziehen muss wie Forschung: P.-A. Alt (2005), 155–160. − P.U. Beicken
der Protagonist, dass er selbst einer fundamentalen (1974), 234–237. − Charles Bernheimer: Psychopoetik.
Verunsicherung der Perspektive ausgeliefert ist, aus Flaubert und K.s HadL. In: G. Kurz (1984), 154–183. −
der er sich entweder in einem distanzierenden Akt Ders.: The Splitting of the »I« and the Dilemma of
befreien kann – oder wie Raban in ausweglosen Pa- Narration: K.’s HadL. In: Struc/Yardley (1986), 7–24. −
radoxien enden wird. H. Binder (1975) II, 62–67. − W. Emrich (1958),
Betrachtung 111

115–118. − S. v. Glinski (2004). − G. Guntermann 3.1.3 Betrachtung


(1991). − Herbert Kraft: HadL als Alltagsgeschichte ge-
lesen. In: Dirk Jürgens (Hg.): Mutual Exchanges. Shef-
field-Münster Colloquium II. Frankfurt/M. u. a. 1999, Entstehung und Veröffentlichung
230–235. − Judith Ryan: K. before K.: The Early Stories.
In: J. Rolleston (2002), 61–84. − K. Wagenbach (2006 Die Prosasammlung Betrachtung, Kafkas erste Buch-
[1958]). publikation, erschien um den 10. Dezember 1912
Jutta Heinz
(mit der Jahreszahl 1913) im Verlag Ernst Rowohlt
(DzL:A 16, 33). Unter demselben Titel hatte Kafka
bereits im März 1908 acht der insgesamt achtzehn
Prosaminiaturen mit römischen Ziffern, aber noch
ohne Überschriften in der von Franz Blei und Carl
Sternheim herausgegebenen Zeitschrift Hyperion
veröffentlicht (DzL:A 15).
In der Buchfassung von 1912 finden sich die fol-
genden Texte:
(1) Kinder auf der Landstraße [zuerst NSF I, 145–150,
zwischen 14.3. u. 11.6.1910; ED: Betrachtung];
(2) Entlarvung eines Bauernfängers [zwischen Oktober
1910 u. 8.8.1912 (Endredaktion, vgl. T 427); ED:
Betrachtung]
(3) Der plötzliche Spaziergang [zuerst T 347 f., 5.1.1912;
ED: Betrachtung];
(4) Entschlüsse [zuerst T 371 f., zwischen 5. u. 7.2.1912;
ED: Betrachtung];
(5) Der Ausflug ins Gebirge [zuerst NSF I, 141 f., wohl
kurz vor 14.3.1910; ED: Betrachtung];
(6) Das Unglück des Junggesellen [zuerst T 249 f.,
14.11.1911; vgl. auch T 279, 3./8.12.1911; ED: Be-
trachtung];
(7) Der Kaufmann [vermutl. zwischen Juni u. Ende
1907; ED März 1908];
(8) Zerstreutes Hinausschaun [Datum der Niederschrift
unbekannt, jedenfalls vor Ende 1907; Binder da-
tiert auf Frühjahr 1907; ED März 1908];
(9) Der Nachhauseweg [Datum der Niederschrift un-
bekannt, jedenfalls vor Ende 1907; Binder datiert
auf zweite Jahreshälfte 1907; ED März 1908];
(10) Die Vorüberlaufenden [Datum der Niederschrift un-
bekannt, jedenfalls vor Ende 1907; ED März 1908];
(11) Der Fahrgast [Datum der Niederschrift unbekannt,
jedenfalls vor Ende 1907; ED März 1908];
(12) Kleider [zuerst NSF I, 114 f., Sept./Dez. 1907; ED
März 1908];
(13) Die Abweisung [ca. Ende 1906, vgl. An H. Weiler,
nach 9.10.1907, B00–12 74; ED März 1908];
(14) Zum Nachdenken für Herrenreiter [vermutl. zwi-
schen Ende 1907 u. Anf. 1910; Binder datiert auf
Winter 1909/10; ED 27.3.1910];
(15) Das Gassenfenster [vermutl. zwischen Okt. 1910 u.
Anf. Aug. 1912, DzL:A 71; ED: Betrachtung];
(16) Wunsch, Indianer zu werden [Datum der Nieder-
schrift unbekannt; ED: Betrachtung];
(17) Die Bäume [zuerst NSF I, 110, Sept./Dez. 1907;
wieder NSF I, 166; ED: März 1908];
(18) Unglücklichsein [T 107–112, entstanden über einen
längeren Zeitraum, wohl Nov. 1909 bis Ende Febr./
Anf. März 1911; ED: Betrachtung].
112 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Kurzverweise auf die Einzeltexte erfolgen im Artikel 168 u. DzL:A 33). So nähert sich das Druckbild die-
durch Angabe der Textnummer nach obiger Durch- ser Miniaturprosa der graphischen Gestaltung von
zählung mit vorangestelltem B. Lyrik an (Kurz 1994, 50). Die Auflage des Buches be-
trug 800 Exemplare; der Verkaufserfolg war gering
Nur bei wenigen, dem Tagebuch entstammenden (DzL:A 33 f.; Binder, 120, 122).
und dort datierten Texten ist es möglich, den Zeit- Die ersten Rezensenten reagierten positiv auf Kaf-
punkt der Niederschrift genau zu bestimmen (B 3, 4, kas erstes Buch und verglichen die in ihm versam-
6; 1911/12). Kleider und Die Bäume gehören wie melten Texte mit Impressionen von Robert Walser
Kinder auf der Landstraße und Der Ausflug ins Ge- oder Peter Altenberg. Otto Pick würdigte Kafka als
birge ursprünglich zum Konvolut der Beschreibung eine »neue Art von Betrachter«, der »die Welt als et-
eines Kampfes. Das schließt allerdings nicht aus, dass was unendlich Rätselhaftes« präsentiere (Born, 22).
sie bereits deutlich früher entstanden sind. Die oben Kurt Tucholsky sah in der »Melodie« von Kafkas
angegebenen Datierungen beziehen sich mit Sicher- »singender Prosa« zwar »noch Einflüsse«, zugleich
heit nur auf die Niederschrift im Manuskript der Be- aber auch »schon sehr viel Neues« (Born, 19 f.). Ro-
schreibung eines Kampfes (die Reinschrift der Fas- bert Musil betonte in einer Sammelrezension Analo-
sung A, deren Anfänge bis 1904 zurückreichen, er- gien und Differenzen zwischen Kafka und Walser;
folgt Sept./Dez. 1907). Für B 9, 10, 11, 16 gibt es im Hinblick auf die Betrachtung attestierte er Kafka
keinerlei Datierungshinweise. »sehr große künstlerische Herrschaft über sich«
Im Begleitbrief zum Widmungsexemplar der Be- (Born, 34). Kafka selbst distanzierte sich später von
trachtung an Felice Bauer vom 10./11. Dezember seinem ersten Buch (vgl. die Belege in: Binder, 122).
1912 schreibt Kafka, dass »sich die einzelnen Stück-
chen im Alter von einander unterscheiden. Eines ist
z. B. darunter, das ist gewiß 8–10 Jahre alt« (B00–12 Textbeschreibung
319). Demzufolge wäre der älteste Text der Samm-
Implikationen des Werktitels
lung noch vor 1902/4 entstanden. Der älteste datier-
bare Text (B 13) stammt jedenfalls aus dem Jahre Trotz der Unterschiedlichkeit der Einzeltexte legte
1906. Zur Druckgeschichte der Betrachtung vgl. Kafka Wert auf den singularischen Titel Betrachtung;
DzL:A 35–47. auf die Pluralform Betrachtungen, die im März 1910
Kafkas Widmung »Für M. B.« in der Buchversion in der Prager Zeitung Bohemia von einem Redakteur
der Betrachtung gilt seinem Freund Max Brod als Titel für fünf seiner Prosaminiaturen verwendet
(DzL:A 33), der ihm den Verlagskontakt vermittelt wurde, reagierte Kafka verärgert (Brod, 149 f.). Für
hatte. Nach Vorgesprächen schickte Kafka das Ma- Max Brod lag die Einheit der Betrachtung in »einer
nuskript am 14. August 1912 an den Verleger Ro- innig zusammenhängenden Stimmungswolke, von
wohlt und offerierte ihm seine »kleine Prosa« im Be- individuellstem Blickpunkt aus gesehen« (ebd.).
gleitbrief mit dem wenig pragmatischen Hinweis, Zu fragen ist, ob der Titel Betrachtung (gemäß der
»auch bei größter Übung und größtem Verständnis« vom Verlag produzierten Banderole des Buches:
sei »das Schlechte in den Sachen nicht auf den ersten DzL:A 34) eine »innere Einheit« des Differenten be-
Blick zu sehn« (14.8.1912; T 429 u. An E. Rowohlt; tonen oder – ganz im Gegenteil – deren Zerfall in-
B00–12 167). Bereits sechs Tage später scheint Kafka szenieren soll. Fungiert der Titel als Konvergenz-
seine Entscheidung zur Veröffentlichung zu bereuen; punkt heterogener literarischer Entwürfe, oder ent-
im Tagebuch formuliert er den Wunsch: »Wenn spricht er einem Prisma, das die unterschiedlichen
Rohwolt [sic] es zurückschickte und ich alles wieder Perspektiven bündelt, um sie zu brechen und diffun-
einsperren und ungeschehen machen könnte, so daß dieren zu lassen?
ich bloß so unglücklich wäre, wie früher« (20.8.1912; Die Diskontinuität von Kafkas Frühwerk Betrach-
T 431). Nachdem Max Brod ihn gleichwohl zur Pub- tung entspricht der zeitgenössischen Krise der Iden-
likation überredet hatte (DzL:A 37), wurde die Be- tität. Ähnlich wie bei der Multiplikation des Ich in
trachtung, deren Texte in der KA nur 32 Seiten um- der Beschreibung eines Kampfes scheint Kafka auch
fassen (DzL 9–40), auf Kafkas Wunsch hin durch ei- hier an Nietzsches These vom Ich als bloßer Fiktion
nen außergewöhnlich großen Schriftgrad (Tertia) und an Ernst Machs Diktum anzuschließen, das Ich
auf 99 Seiten gestreckt und mit breitem Rand publi- sei »unrettbar« (Neymeyr, 14–24). So könnte man
ziert (An den E. Rowohlt Verlag, 7.9.1912; B00–12 im Verzicht auf Kohärenz geradezu ein einheitsstif-
Betrachtung 113

tendes Metaprinzip von Kafkas Betrachtung erbli- raus. Kafka selbst scheint darauf anzuspielen, wenn
cken. Indem der singularische Titel Homogenität in- er die Texte 1912 in einem Brief als »Lichtblicke in
szeniert, weist er zugleich auf den Zerfall traditionel- eine unendliche Verwirrung« bezeichnet und die
ler Einheitskonzepte hin. Lektürestrategie formuliert: »man muß schon sehr
Der Begriff ›Betrachtung‹ hat zwei Bedeutungs- nahe herantreten, um etwas zu sehn« (An F. Bauer,
komponenten. Einerseits bezieht er sich konkret auf 29./30.12.1912; B00–12 372).
die optische Wahrnehmung von Außenwelt, ande- Einige Grundkonstellationen bestimmen die Be-
rerseits zielt er auf abstrakte Reflexion oder kontem- trachtung durch leitmotivische Wiederholung und
plative Verinnerlichung (Kurz 1994, 58 f.). Auch in Variation. Schauplätze des Geschehens ergeben sich
den Texten selbst finden sich wiederholt Wörter aus zu Hause (B 4, 6, 8, 15, 18), in der Situation des Auf-
dem Bereich des Sehens und der Beobachtung, aber bruchs (B 3, 5, 18), auf nächtlichen Straßen (B 2, 9,
auch aus der Sphäre des Nachdenkens. Das gilt schon 10) und bei der Heimkehr (B 7, 9). Mehrfach wird
für die Überschriften der Texte Zerstreutes Hinaus- die Stadt-Land-Relation zum Thema (bes. in B 1).
schaun und Zum Nachdenken für Herrenreiter. Ver- Auch die Motive des Indianers (B 1, 13, 16), des Rei-
mutet wurde bereits, Kafka habe den Titel Betrach- tens und des Pferdes (B 7, 14, 15, 16, 18) kommen in
tung »programmatisch« mit dem der früher entstan- der Betrachtung wiederholt vor. Das Erscheinen des
denen Beschreibung eines Kampfes kontrastieren Mädchens (B 8, 11, 12) ist mit dem Motiv der Klei-
wollen (Dietz, 40). der (B 7, 11, 12, 13) und dadurch – wie in Beschrei-
bung eines Kampfes – auch mit gesellschaftlicher
Erzählerinstanzen Konvention sowie mit Rollenspiel und Maskerade
verbunden. Nicht zufällig bezeichnet der Ich-Erzäh-
Indem Kafka die beiden semantischen Hauptas- ler in der Miniatur Kleider das menschliche Gesicht
pekte des Begriffs ›Betrachtung‹ realisiert, kann er als »einen natürlichen Maskenanzug« (DzL 28 f.).
in seinem Werk spannungsreiche Konstellationen Spannungsverhältnisse zwischen gesteigerter Ak-
von Innenleben und Außenwelt gestalten. Den tivität und einem Versinken in Lethargie werden in
Standpunkt der Erzählerinstanz variiert er dadurch, mehreren Varianten durchgespielt (vgl. B 2, 3, 4, 10).
dass er das als Perspektivfigur auftretende Ich zum Als Figurationen des Übergangs vermitteln Fenster
Wir erweitert oder in ein diffuses Man auflöst. Aber (B 1, 7, 8, 9, 15, 18), Türen und Tore (B 3, 6, 7, 18)
selbst der Ich-Erzähler ist als Figur kaum konkret zu zwischen Innen und Außen; der einsamen Perspek-
fassen, weil er in der Anonymität verharrt. Sogar als tivfigur, die zwischen Hoffnung (B 15) und Resigna-
er sich in Unglücklichsein im Gespräch selbst vor- tion (B 18) schwankt, eröffnen sie die Aussicht auf
stellt, vermeidet er auf artifizielle Weise die konkrete Integration in eine Gemeinschaft. Das Spiegelmotiv
Angabe seiner Identität: »Ich heiße Soundso« (DzL (B 7, 12, 18) markiert Chancen und Abgründe der
35). In Entschlüsse sind andere Individuen proviso- Selbstbegegnung.
risch durch die Initialen A., B., C. repräsentiert (19). Immer wieder treten Momente einer Destabilisie-
Ausdrücklich negiert wird die individuelle Persona- rung hervor (B 4, 5, 6, 7, 11, 15, 18). Sie zeigt sich in
lität, wenn in Der Ausflug ins Gebirge sogar eine Verfremdungen der Wahrnehmung (etwa wenn der
»Gesellschaft von lauter Niemand« erscheint (20). Erzähler bei der Beobachtung auffliegender Vögel
In der Beschreibung eines Kampfes macht Kafka die »nicht mehr glaubte, daß sie stiegen, sondern daß
Namensproblematik zum Indikator einer tiefrei- ich falle«; DzL 9), im irritierenden Körpergefühl,
chenden Identitätskrise (vgl. Neymeyr, 142–148, »die Beine schiefgeweht« (11), »selbst fortgeblasen«
172–173). zu werden (19), oder in der traumatischen Empfin-
dung fehlender Existenzgewissheit und Daseinslegi-
Motivische Korrelationen timation (B 11, 18). Wenn das durch Einsamkeit ver-
unsicherte Ich die Realität projektiv überformt, kann
Trotz der Unterschiedlichkeit der Einzeltexte ist eine die Sehnsucht nach Kommunikation sogar gespens-
Vielzahl von thematischen Elementen und Motiven terhafte Phänomene generieren (B 18). Mit dem Mo-
festzustellen, die auf eine zyklische Komposition der tiv des Kindes, das in Unglücklichsein als Gespenst
Betrachtung verweisen (Kurz 1994, 53 f.). Durch ihre erscheint, verbinden sich Angstgefühle, Abwehrre-
Strukturdichte fordern die Prosaminiaturen der Be- flexe und Erinnerungen an die verdrängte Vergan-
trachtung zu intensiver mikroskopischer Lektüre he- genheit (»Ihre Natur ist meine«; DzL 37).
114 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Über die vielfältigen Vernetzungen einzelner Mo- Allerdings lassen solche lyrisierenden Partien kein
tive hinaus bildet sich durch das Motiv des Kindes (B poetisches Naturgefühl entstehen (Kurz 1994, 52).
1, 6, 7, 8, 18) sowie der Müdigkeit und des Schlafes Den Charakteristika des Prosagedichts entspricht
(B 1, 2, 10, 15, 18) auch eine Rahmenstruktur: Der Kafkas Betrachtung schließlich auch durch eine lako-
erste Text Kinder auf der Landstraße, der in der Be- nische Sprache, die kaleidoskopische Konfiguratio-
trachtung als Realität erscheint (DzL 9–14), im Kon- nen schafft (Kemp, 55).
text der Beschreibung eines Kampfes jedoch in einen
Traumkontext gestellt wird (NSF I, 145), ist dadurch Logische Konstruktionen und Strategien
mit dem letzten Text Unglücklichsein verbunden.
der Verfremdung
Abgesehen von Angaben zur Tageszeit bleiben die
Raum-Zeit-Koordinaten in der Betrachtung weitge- Im Unterschied zum Typus des Prosagedichts ist die
hend unbestimmt. Obwohl die Korrelation zwischen Syntax einiger Texte der Betrachtung von logischen
Dorf und Stadt in den Texten Kinder auf der Land- Strukturen bestimmt. Mit der markanten wenn-
straße und Entlarvung eines Bauernfängers hervor- dann-Korrelation in Der plötzliche Spaziergang anti-
tritt, verweisen zahlreiche Textelemente auf techni- zipiert Kafka die konditionale Grundstruktur seiner
sche Errungenschaften der Moderne: Eisenbahnzug, Parabel Auf der Galerie.
Grammophon, Lift, Panzerschiff, Automobil und In anderen Texten der Betrachtung wählt er Ver-
Straßenbahn (DzL 13, 15, 22, 23, 24, 27, 29). fremdungsstrategien, die einen bloßen Schein von
Selbstverständlichkeit inszenieren, um ihn durch
Gattungsproblematik auffällige Leerstellen zugleich ad absurdum zu füh-
ren. Das gilt etwa für die Aussage in der Miniatur
Schon Kafkas eigene Begriffswahl zeigt, wie schwie- Der Ausflug ins Gebirge, es verstehe sich von selbst,
rig eine präzise Gattungsbestimmung ist: So bezeich- dass »alle in Frack sind« (DzL 20). Hermetische Ele-
net er die Texte der Betrachtung als »kleine Prosa«, mente finden sich auch in der Parabel Die Bäume,
»Stückchen«, »Sachen« (7.8.1912; T 427 u. 14.8.1912; die mit einem rätselhaften kausalen Rückbezug ein-
T 429) und »meine kleinen Winkelzüge« (An F. setzt: »Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee«
Bauer, 8.11.1912; B00–12 222). Legitim sind die Be- (DzL 33). Indem Kafka Leerstellen inszeniert, ver-
griffe ›Prosaminiaturen‹, ›Skizzen‹ oder ›Studien‹, fremdet er die Wirklichkeit. So eröffnet er neue, un-
die Distanz zu einem Werkbegriff traditionellen Zu- erwartete Perspektiven, die sich rational nicht ein-
schnitts signalisieren und dem Aspekt des Subjektiv- deutig fassen lassen. Wenn logische Korrelationen
Impressionistischen oder Vorläufigen in der Betrach- ins Leere laufen, entsteht ein Sinnvakuum.
tung ebenso Rechnung tragen wie der reflexiven
Komponente. Perspektivische Experimente
Für einige der Texte erscheint auch der Begriff
›Prosagedicht‹ (›poème en prose‹) adäquat, der seit Durch unterschiedliche Gestaltungsprinzipien er-
1900 auf Texte von Baudelaire, Rimbaud, Wilde, scheint Kafkas Betrachtung als facettenreiches Experi-
Nietzsche, Brecht, Trakl, George, Hofmannsthal, mentierfeld (Kurz 1994, 51). Lyrisch-evokative Ele-
Rilke, Walser, Polgar, Altenberg und Kafka bezogen mente (wie in Zerstreutes Hinausschaun) wechseln
wurde. Zu den Charakteristika des Genres gehören mit narrativen Sequenzen, dialogischen Szenen und
Kürze und eine elaborierte stilistische Gestaltung monologischen Partien (z. B. in Kinder auf der Land-
mithilfe von Wiederholungen, Allusionen, musikali- straße, Entlarvung eines Bauernfängers sowie Der Aus-
scher Rhythmisierung und evokativer Metaphorik flug ins Gebirge). Während einige Texte der Betrach-
(Kurz 1994, 50 f.). tung monoperspektivisch gestaltet sind (z. B. Der
Das Kriterium der Kürze erfüllen die Texte in Kaf- plötzliche Spaziergang), kontrastiert Kafka in anderen
kas Betrachtung, da die meisten von ihnen in der KA mehrere Standpunkte, z. B. in Kinder auf der Land-
maximal 1,5 Seiten umfassen. Nicht alle der Prosa- straße. Der Status des Selbstgesprächs kann aber selbst
miniaturen sind allerdings gleichermaßen kunstvoll dort erhalten bleiben, wo sich der Monolog zum Dia-
komponiert. Den Spezifika eines Prosagedichts ent- log zu erweitern scheint: etwa wenn dieser als bloße
spricht vor allem Zerstreutes Hinausschaun; hier fällt Imagination der Perspektivfigur fiktiven Charakter
im zweiten Absatz sogar ein rhythmisierter, zum hat (wie in Die Abweisung) oder einer projektiven
Daktylus tendierender Sprachduktus auf (DzL 24). Phantasie entspringt (wie in Unglücklichsein).
Betrachtung 115

Zur Pluralität epischer Verfahren, die Kafka in Diese auffällige Forschungslücke lässt sich damit
seiner Betrachtung experimentell erprobt, gehört erklären, dass Kafkas erste Schaffensphase über
auch ein Wechsel zwischen sinnlich-konkreter Le- lange Zeit im Schatten seiner späteren Werke stand.
bendigkeit und abstrakteren Gedankengängen. So In der ansonsten oft kontroversen Kafka-Forschung
folgen auf anschaulich gestaltete Handlungssequen- ist die Einschätzung weit verbreitet, die Erzählung
zen mitunter Reflexionen von eher kontemplativem Das Urteil aus dem Jahre 1912 markiere seinen ei-
Charakter. Und mit realistischer Darstellung kon- gentlichen literarischen Durchbruch. Infolgedessen
trastiert Kafka Verfremdungsstrategien, die surreale galt die Aufmerksamkeit zumeist primär den nach
Sonderwelten entstehen lassen. Ihnen entspringen dieser Zäsur entstandenen Texten. Kafkas Frühwerk
projektive Phantasien der Perspektivfigur, die sich – hingegen wurde weitgehend vernachlässigt und in
wie in der Beschreibung eines Kampfes – sogar zu Einzelfällen sogar künstlerisch nicht einmal ernst
konkreten Gestalten verdichten können (etwa zur genommen. Die Ursache dafür liegt in unzureichend
gespensterhaften Erscheinung des Kindes in Un- fundierten Prämissen literarischer Wertung. Vor-
glücklichsein). In Der Ausflug ins Gebirge steigert schnell wurde behauptet, Kafkas erste Produktions-
sich die surreale Phantastik bis zu einer grotesken phase sei lediglich als Stadium einer »verzweifelten
Totalität. Suche« nach adäquaten literarischen Formen zu
klassifizieren (so Politzer, 45). Daher betrachtete
man die Werke aus dieser Phase noch als bloße Ex-
Forschung perimente, mithin als unvollkommen oder unreif
(vgl. Glinskis kritisches Referat zur Forschungssitua-
Die Unterschiedlichkeit der in Kafkas Betrachtung tion, 1–25, besonders 1–3).
versammelten Einzeltexte und die Variabilität der in Extremurteile finden sich in dem von Hartmut
ihnen inszenierten Perspektiven haben in der For- Binder herausgegebenen Kafka-Handbuch von 1979:
schung zu konträren Einschätzungen geführt. Ab- Hier reduziert James Rolleston das gesamte »Früh-
hängig davon, auf welche Aspekte sich der Interpret werk (1904–1912)« auf eine rein experimentelle,
jeweils konzentriert, ändert sich auch die Gesamt- künstlerisch jedoch irrelevante »Werkstatt-Situa-
einschätzung. So findet sich in der einschlägigen Se- tion«, der kein eigentlicher Werkstatus zukomme; er
kundärliteratur einerseits die These, die Themen- vertritt explizit die These, es sei »sinnlos, solche Tä-
komplexe und Motive in Kafkas Betrachtung seien tigkeit literarisch beurteilen zu wollen« (Rolleston
lediglich »loosely connected« (White, 86), anderer- 1979, 242). Und Ingeborg Henel meint, die vor dem
seits wird ein dichtes, sorgfältig komponiertes Mo- Urteil entstandenen Werke Kafkas seien, »als Kunst-
tivgeflecht festgestellt, durch das Kafka die Prosami- werke betrachtet, bloße Versuche und nicht einmal
niaturen intensiv miteinander vernetzt habe (Binder, besonders geglückte«; sie konzediert ihnen lediglich,
118 f. u. Kurz 1994, 58). Positivistische Detailinfor- dass sie »entwicklungsgeschichtlich […] auf die fol-
mationen zur Entstehungsgeschichte der Betrach- genden Werke« vorbereiten (Henel, 221).
tung in der Buchfassung von 1912, zu ihren Vorstu- Reinhard Baumgart hingegen betont in einer 1989
fen sowie zu einzelnen Motiven und ihrem biogra- erschienenen Monographie über Thomas Mann,
phischen Kontext bietet Binders Kafka-Kommentar Kafka und Brecht mit Nachdruck das künstlerische
(Binder, 57–62, 67–75, 84–88, 108–122). Potential des jungen Kafka und verwendet den Be-
Trotz der Vielzahl von Publikationen, die sich seit griff ›Meisterschaft‹ auch für seine frühen Werke.
Jahrzehnten mit Kafkas facettenreichem Œuvre aus- Deren spezifischen Charakter umschreibt er mit
einandersetzen, ist sein anspruchsvolles Frühwerk dem Oxymoron »vorsichtige Kühnheit« (Baumgart,
bislang erstaunlicherweise nur selten zum Gegen- 170). Schon in der Betrachtung habe Kafka ein »meis-
stand wissenschaftlicher Analysen geworden. Das terhaft beherrschtes Erzählmodell« entwickelt; mit
gilt für die Beschreibung eines Kampfes ebenso wie ihm führe er »in immer neuer Variation […] die un-
für die Betrachtung. So konstatiert bereits Gerhard endliche, doch in sich abgeschlossene Bewegung«
Kurz, die Forschungsliteratur zur Betrachtung sei im Spannungsfeld von »aufschwellender Sprach-
»auffallend schmal« (Kurz 1994, 64). Und noch im phantastik und trostloser Alltagsernüchterung« vor
Jahr 2004 kann Sophie von Glinski in ihrer Disserta- (Baumgart, 173, 175). Zuvor hatte bereits Gerhard
tion feststellen, die Anzahl der Arbeiten zu Kafkas Kurz mit einem 1984 publizierten Sammelband das
Frühwerk sei »gering« (von Glinski, 2). von der Forschung vernachlässigte Frühwerk Kafkas
116 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

stärker in den Fokus des Interesses zu rücken ver- (20), zeigt eine andere Dissertation, die sich weitge-
sucht. Kurz beschreibt die »Jahre zwischen 1909 und hend darauf beschränkt, Textparaphrasen zur Be-
1912« als eine für Kafka »literarisch produktive trachtung mit Ergebnissen der bisherigen Forschung
Phase« (Kurz 1984, 7) und betont die Kontinuität in zu korrelieren, passagenweise auch Affinitäten zum
seinem Werk, die man an der Weiterführung früher Expressionismus auf (Kübler-Jung, 47–61).
Motive und Erzählmuster in der späteren Prosa er- Das Gesamtkorpus der Betrachtung ist Gegen-
kenne (Kurz 1984, 8). Die in Kafkas Betrachtung zen- stand eines Sammelbandes mit dekonstruktivisti-
tralen Erfahrungen von Entfremdung und Verloren- scher Tendenz, der 2003 aus einem Münsteraner
heit korreliert er mit Paradigmen des expressionisti- Oberseminar hervorgegangen ist. Die Aufsätze re-
schen Jahrzehnts (Kurz 1984, 24). flektieren die innere Dynamik der in den Texten re-
Auch die literarische Selbstreflexion reicht bis in präsentierten Imaginationsprozesse unter drei Prä-
Kafkas früheste Werke zurück. Hans-Thies Leh- missen: Sie gehen von einer »Intensivierung der
mann formuliert die dekonstruktivistische These, Wahrnehmung« sowie von der »Monumentalisie-
»Kafkas Schreiben« ziele auf den »Entzug der Refe- rung der Schrift« und von der Auflösung einer sujet-
renz« und konzentriere sich dabei so sehr »auf die bezogenen Schreibweise bei Kafka aus (H.-J. Scheuer
Sprachbewegung«, dass sich »der dem Leser sugge- u. a., XIII).
rierte Gegenstand« sukzessive auflöse (Lehmann,
214). Exemplarisch erprobt Lehmann seine These,
die sich allerdings schwerlich generalisieren und auf Deutungsaspekte
Kafkas gesamtes Œuvre beziehen lässt, u. a. an den
Psychologische Konstellationen
Texten Wunsch, Indianer zu werden und Der Ausflug
ins Gebirge. Die hier vorgestellte »Gesellschaft von Der formalen Heterogenität von Kafkas Betrachtung
lauter Niemand« (DzL 20) deutet er als Schriftsym- steht eine weitreichende Homogenität auf der In-
bolik: als »eine kaum verhüllte Allegorie der Buch- haltsebene gegenüber. Immer wieder wird das span-
staben«, die auf eine Autoreferentialität der Zeichen nungsvolle Verhältnis des Individuums zu seinem
verweise (Lehmann, 216, 236). sozialen Umfeld evident. Die jeweilige Perspektivfi-
Bernhard Böschenstein vergleicht Kafkas Betrach- gur, die sich direkt als Ich artikuliert, sich in eine
tung mit Robert Walsers Berliner Skizzen, sieht Ana- Wir-Gruppe einreiht oder hinter einem diffusen
logien in einer »Rollenparadigmatik«, die das Er- Man verschwindet, erscheint zumeist als einsames
zählkontinuum aufhebe, betont zugleich aber Kafkas Wesen, unglücklich, haltlos, »vollständig unsicher«
größere Radikalität bei der Darstellung maskenhaf- (DzL 27), von Angst, Scham oder Reue gequält und
ter Inszenierungen (Böschenstein, 203, 209 f.). von Sehnsucht nach Integration in eine Gemein-
Sophie von Glinski konzentriert sich in ihrer 2004 schaft erfüllt. Mehrfach erhellt diese negative Be-
erschienenen Dissertation auf die spezifischen Ver- findlichkeit bereits aus den Überschriften: In dem
schränkungen von Traum und Realität, die das Text Das Unglück des Junggesellen beschreibt die Per-
Phantastische in Kafkas Frühwerk sowie in seinen spektivfigur ihre eigene Isolation als demütigende
experimentellen Tagebuch-Skizzen kennzeichnet. und entwürdigende Erfahrung, die sich in Unglück-
Ausgehend von der These, das Phantastische sei »ein lichsein sogar bis zu klaustrophobischen Anwand-
Rezeptionseffekt, der durch Kafkas Schreibweise be- lungen steigert. Wenn ein anonymes Man mit An-
wirkt« werde, analysiert sie präzise die »Mikrostruk- spruch auf Allgemeingültigkeit inszeniert wird (wie
turen einzelner Sätze«, um die Erzähltechniken zu in Der plötzliche Spaziergang), erhält der Text exem-
erschließen, durch die Kafka »Irrealisierungseffekte« plarischen Charakter und legt den Lesern Reflexio-
entstehen lasse (von Glinski, 14, 18, 15). Durch die nen über die conditio humana nahe.
Entscheidung für eine »mikrologische Lektüre« (21) Die psychologische Dynamik von Kafkas Betrach-
ist es bedingt, dass von Glinski von den achtzehn tung ähnelt in mancherlei Hinsicht dem Duktus sei-
Texten der Betrachtung lediglich vier analysiert: Klei- ner Beschreibung eines Kampfes. Auch hier ringt ein
der, Der Kaufmann, Der Fahrgast und Die Vorüber- labiles Ich um Selbststabilisierung – mit manischen
laufenden (von Glinski, 92–161). Größenphantasien, die in Unsicherheit und Resi-
Während von Glinski Kafkas Texte auf Kosten der gnation umschlagen. Mitunter lässt Kafka die Ambi-
für ihre moderne Signatur wesentlichen kulturhisto- tionen seiner Perspektivfigur noch innerhalb dessel-
rischen Horizonte »ausschließlich immanent« liest ben Textes scheitern (so in Entschlüsse) oder auf ver-
Betrachtung 117

borgene Unsicherheiten hin transparent werden (wie Ähnlich wie in Entschlüsse scheitert der Versuch
in Der Nachhauseweg). Wenn das forcierte Selbstbe- hybrider Selbstermächtigung in Der Nachhauseweg.
wusstsein des Ich kollabiert, wird deutlich, dass Ge- Auch hier gerät das Ich schließlich in eine passiv-
fühle von Hybris und Inferiorität auf dieselbe resignative Haltung. In Der Fahrgast erlebt die Er-
Grundproblematik verweisen: auf eine labile Identi- zählerfigur einen radikalen Absturz in das Gefühl
tät. Indem die Figuren Kontakt zu ihrem sozialen eigener Nichtigkeit. Nur die Beobachtung eines
Umfeld aufnehmen, entstehen abwechslungsreiche Mädchens in der Straßenbahn ermöglicht eine vor-
Konstellationen; fiktionale und reflexive Textpartien übergehende Ablenkung vom Leiden an der eigenen
erhalten hier ihre spezifische Funktion. Unsicherheit.
Wiederholt schwankt die Perspektivfigur zwischen Wie Kafkas Zyklus Betrachtung ist auch seine Er-
energischer Aufbruchsbereitschaft und Rückzugs- zählung Beschreibung eines Kampfes durch ambiva-
tendenzen. Kafka lotet diese Ambivalenzen durch lente Grundstrukturen gekennzeichnet. Der psychi-
Spannungsfelder zwischen Dynamik und Statik, schen Dynamik der zwischen Aufbruchsimpulsen
Energie und Lethargie, Bewegung und Ruhe oder und Rückzugstendenzen changierenden Perspektiv-
Erstarrung aus. Dem labilen und ängstlichen Ich er- figuren entsprechen physische Aktionen in der Au-
scheint mitunter sogar Vertrautes als fremd und irri- ßenwelt. Kafka exponiert sie in der Beschreibung ei-
tierend. Motive des Fallens, Schaukelns, Schwebens nes Kampfes schon durch die Kapitelüberschriften
und Fliegens (DzL 9–12, 16, 23 f., 29, 32, 34) signali- »Ritt« und »Spaziergang« (NSF I, 72 u. 74), in der
sieren eine fundamentale Instabilität, die bis zur Auf- Betrachtung durch Titel wie Der plötzliche Spazier-
lösung des Raum-Zeit-Kontinuums reichen kann: gang, Der Ausflug ins Gebirge und Der Nachhause-
etwa dann, wenn sich während eines imaginierten weg.
Ritts das Umfeld des Reiters sukzessive zu verflüchti-
gen scheint (DzL 32 f.), oder wenn es heißt: »Es gab Instabile Wirklichkeiten:
keine Tages- und keine Nachtzeit« (10 f.). Der Text
Phantastik versus Realismus
Zum Nachdenken für Herrenreiter zeigt, wie sich so-
gar die positiv konnotierte Vorstellung eines Sieges Surreale Inszenierungen bestimmen Kafkas Minia-
beim Reitturnier allmählich in die Imagination einer turtexte Der Ausflug ins Gebirge und Wunsch, India-
Niederlage verwandeln kann (30 f.). ner zu werden. Hier nutzt er Ausdrucksformen des
Phantastischen: für »einen Ausflug mit einer Gesell-
Kontrastive Figurationen schaft von lauter Niemand« (DzL 20). Ein Parado-
xon inszeniert Kafka im Gestus der Negativität: Weil
Immer wieder korreliert Kafka die Einzeltexte seiner er mathematische Gesetzmäßigkeiten der Addition
Betrachtung, indem er unterschiedliche Sichtweisen (0+0=0) auf kurios-provokante Weise aufhebt, ent-
experimentell erprobt und alternative Lebensent- steht eine phantastische Gruppenformation von
würfe miteinander konfrontiert. So wird der positive »lauter Niemand«. Dass sie eine universelle Bezie-
Impuls zum Aufbruch in Der plötzliche Spaziergang hungslosigkeit signalisiert, erhellt daraus, dass schon
im folgenden Text Entschlüsse mit vergeblichen An- am Anfang des Textes ein isoliertes Ich ratlos in
strengungen kontrastiert, eine Leidenssituation mit- Szene gesetzt wird.
hilfe purer Willensenergie zu überwinden. Weil dar- Dieser Grundstruktur von Negativität entspricht
aus eine inauthentische Inszenierung entspringt, en- im Wunsch, Indianer zu werden ein umfassender
det der Text mit einem resignativen Gestus: Hinter Gestus der Annihilation: Die projektive Vorstellung
der Fassade forcierten Selbstbewusstseins lauert die eines befreienden Ritts, die sich mit kindlicher Sehn-
Leere. sucht nach Freiheit und Abenteuer in der Lebens-
Wenn die Perspektivfigur ihr Leben sogar als ge- welt der Indianer verbindet, löst sich buchstäblich
spensterhaft unwirklich empfindet, werden Affinitä- ins Nichts auf. Diese Konstellation gestaltet Kafka
ten zum Gespenstermotiv in Unglücklichsein, dem genau invers zur Ritt-Episode in seiner Beschreibung
letzten und längsten Text des Zyklus, evident: Hier eines Kampfes: Hier lässt er den Ich-Erzähler »in das
evoziert ein Verzweiflungsanfall die Erscheinung ei- Innere einer großen, aber noch unfertigen Gegend«
ner nostalgischen Projektionsfigur; als fremd-ver- reiten (NSF I, 73), die er in einer phantastischen
trautes »Gespenst« wird das Kind zum Symbol ver- creatio ex nihilo erschafft und seinen spontanen
fehlten Lebens. Wünschen gemäß modifiziert.
118 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Parabolische Verdichtung kennzeichnet die Pro- dem als »Bauernfänger« (15, 17) bezeichneten Mann
saminiatur Die Bäume (DzL 33), in der Kafka zwei gelingt.
gegenläufige Deutungen der Wirklichkeit so korre- Wie in anderen Texten Kafkas ist hier eine enge
liert, dass sie einander dementieren – bis zur herme- Korrelation zwischen Eigenem und Fremdem fest-
neutischen Aporie. zustellen, zumal sich die Grenzen zwischen Ich und
Welt aufzulösen scheinen: Mehrmals lässt der Ich-
Fluchtreflexe und Vermittlungsversuche Erzähler eine untergründige Identifikation mit dem
von ihm verabscheuten Bauernfänger erkennen,
Das für die gesamte Betrachtung zentrale Spannungs- etwa dort, wo er ihn als »meinen Begleiter« (15) oder
feld von Individuum und Gesellschaft konkretisiert sogar als »meinen Mann« (17) bezeichnet und von
sich in unterschiedlichen Konfigurationen von seinen »ersten städtischen Bekannten«, den Bauern-
Innenleben und Außenwelt. Zumeist entsprechen fängern, spricht (16). Nachdem er den Fremden end-
räumliche Verhältnisse von Enge und Weite der je- lich abgeschüttelt hat, erlebt der Ich-Erzähler gerade
weiligen psychischen Befindlichkeit. In Innenräu- den Eintritt in Innenräume als Akt seelischer Befrei-
men kann sich das Unglück des Ich bis zum Extrem ung – eine für Kafkas Texte eher untypische Konstel-
steigern (so mit gewissen Differenzen in den Texten lation. Anders als bei den für seine Werke so typi-
Entschlüsse, Das Unglück des Junggesellen, Der Kauf- schen Junggesellenszenerien handelt es sich hier al-
mann, Das Gassenfenster und Unglücklichsein). lerdings nicht um die Rückkehr in die Tristesse der
Der Blick aus dem Fenster, den Kafka in der Be- eigenen Wohnung, sondern um die Einladung zur
trachtung immer wieder inszeniert, erhält im Text Abendgesellschaft in ein herrschaftliches Haus.
Das Gassenfenster nahezu therapeutischen Charak-
ter: Hier wird dem Ich eine Aussicht auf Integration
in die Gemeinschaft eröffnet. Dabei fungiert das Exemplarische Textanalysen
Fenster als Medium der Vermittlung zwischen In-
Die Bäume
nen- und Außenwelt. Am Ende von Der Nachhause-
weg lässt sich der Kollaps eines hybriden Selbstbe- Die spezifische Raffinesse dieses Gleichnisses, das
wusstseins allerdings selbst durch das Öffnen des auch dem Textkonvolut der Beschreibung eines
Fensters nicht verhindern. Auch in Unglücklichsein Kampfes angehört und sich dort mit einigen Abwei-
verhilft das Fenster nicht zur Bewältigung einer apo- chungen von der Version der Betrachtung (DzL 33)
retischen Situation. sowohl in der Fassung A (NSF I, 110) als auch (er-
Während die Enge von Innenräumen klaustro- neut variiert) in der Fassung B (166) findet, liegt in
phobische Anwandlungen begünstigt, schafft die der Doppelbödigkeit, mit der Kafka eine Konfusion
unermessliche Weite der Außenwelt im ersten Text der Beziehung zwischen Schein und Sein inszeniert.
Kinder auf der Landstraße immerhin Gelegenheiten, Durch seinen parabolischen Charakter bietet sich
Schranken des Gewohnten spontan zu durchbre- dieser Text in besonderer Weise an, um paradigma-
chen und authentische Vitalität zu erfahren (Kurz tische Strukturen der Betrachtung aufzuweisen.
1994, 54 f. u. Geulen, 5–15). In dem Text Der plötzli- Kafka spielt hier zwei konträre Deutungsmöglich-
che Spaziergang führt das Verlassen der Wohnung keiten durch, die er anschließend jedoch beide revi-
dazu, dass die Lethargie des Individuums in eine diert, so dass sich die dargestellte Realität vollends
Freiheitseuphorie umschlägt; mit ihr ist das singu- ins Diffuse verflüchtigt. Der äußere Schein täuscht
läre Erlebnis ›eigentlicher‹ Identität verbunden. über die tatsächliche Beschaffenheit der Dinge hin-
Invers gestaltet Kafka die Innen-Außen-Korrela- weg. Allerdings führt die Diagnose des Irrtums selbst
tion allerdings in Entlarvung eines Bauernfängers noch keineswegs via negationis zur Wahrheit. Denn
(DzL 14–17). Hier sehnt sich der Ich-Erzähler nachts auch die zweite, gegenläufige Hypothese wird
auf der Straße nach Befreiung von einem aufdringli- schließlich verworfen, so dass sich die von ihr be-
chen Fremden, den er als lebendiges Hindernis auf hauptete Faktizität überraschenderweise nachträg-
dem Weg zu einer Abendgesellschaft empfindet. Mit lich ebenfalls als bloß scheinbar erweist.
der Weite der nächtlichen Szenerie korrespondiert Durch die Rätselhaftigkeit der in der Parabel in-
das Gefühl seelischer Beengung hier gerade nicht; szenierten Situation mündet der hermeneutische
seine Scham und Beklemmung vermag der Ich-Er- Prozess in eine für den Leser irritierende Entwirkli-
zähler erst zu überwinden, als ihm die Ablösung von chung: Die Perspektiven auf die »Baumstämme im
Betrachtung 119

Schnee«, die zwischen einer stabilen Lage und einer Kampfes durch das nachgestellte »nämlich« weniger
labilen Position zu changieren scheinen, lösen sich markant zum Ausdruck kommt, scheint ins Leere zu
letztlich in vage Unverbindlichkeit auf. Nicht zufällig laufen. Jedenfalls sucht man vergeblich nach einer
endet die nur aus viereinhalb Zeilen bestehende Mi- hermeneutisch ergiebigen Beziehung zum vorange-
niatur mit dem Modaladverb »scheinbar«, das den gangenen Text Wunsch, Indianer zu werden. Nur der
Realitätsstatus des Ganzen summarisch negiert. In Naturkontext und die Tendenz zur Entwirklichung
dieser Hinsicht sind Affinitäten zu einer program- lassen eine gewisse Affinität entstehen. Indem Kafka
matischen Partie in Nietzsches Götzen-Dämmerung hier eine Kausalität suggeriert, deren Bezug opak
zu erkennen: »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fa- bleibt, inszeniert er eine Leerstelle.
bel wurde«; hier wird die Dichotomie von Schein
und Sein auf analoge Weise aufgelöst: »Die wahre Der plötzliche Spaziergang
Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig?
die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wah- Schon die syntaktische Struktur dieses Textes (DzL
ren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!« 17 f.) ist auffällig: Disproportionalität entsteht durch
(KSA 6, 81; vgl. Baker, 188 f.). zwei invers gestaltete Konditionalsätze unterschied-
Der Uneindeutigkeit des Gegenstandes entspricht lichen Umfangs. Die erste Satzperiode beginnt mit
der hypothetisch-indefinite Duktus der Darstellung einer hypertrophen, in einem Gestus kunstvoller
selbst. Sie führt mit subversiver Konsequenz in einen Selbstüberbietung immer wieder neu ansetzenden
logischen Zirkel, der sich auch in der Rahmenstruk- Nebensatzkonstruktion, durch die das Satzende bis
tur abbildet: Die Explikation der Anfangsthese be- kurz vor dem Abschluss des Textes retardiert wird.
ginnt und endet mit »scheinbar«. Indem sich die Erst jetzt folgt doch noch der mit »dann« eingeleitete
Grenzen zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit Hauptsatz. Der zweite, überraschend kurze Satz hin-
auflösen, gerät das Verhältnis zwischen Schein und gegen fängt mit dem Hauptsatz an, der durch einen
Sein in eine symptomatische Diffusion. Sie zeigt, ebenfalls konditionalen Nebensatz fortgeführt wird.
dass diese Parabel als Paradox konzipiert ist (Kobs, Indem die konditionale Struktur den Rahmen des
12). gesamten Textes bildet, wird das Moment des Hypo-
Hinzu kommt noch ein weiterer wesentlicher As- thetischen betont. Allerdings gerät die hier angelegte
pekt: Schon im ersten Satz wird die Position der Symmetrie schon durch das quantitative Ungleich-
»Baumstämme im Schnee« durch das Personalpro- gewicht der beiden Sätze aus der Balance.
nomen »wir« mit der conditio humana analogisiert. Mit dem im Titel angekündigten »plötzlichen Spa-
Dieser Vergleich überträgt die zwischen Labilität ziergang« verbindet sich die Konnotation des Ab-
und Stabilität changierende Lage der Bäume auf die rupten und Unerwarteten. Ihr entspricht die dem
Situation des Menschen, so dass die Auflösung der Text eingeschriebene markante Zäsur. Der Stagna-
Perspektiven in bloßen Schein dazu Anlass gibt, das tion in häuslicher Enge steht der vorgestellte Auf-
Gleichnis auch als Konzentrat einer Identitätspro- bruch in eine verheißungsvolle Freiheit diametral
blematik zu lesen (Neymeyr, 195–197). In besonde- gegenüber. Die im familiären Kontext etablierten
rem Maße gilt dies für die Funktion des Textstücks Verhaltensrituale verraten Adverbien wie »gewohn-
innerhalb der Beschreibung eines Kampfes: In der heitsgemäß« und »selbstverständlich« (17). Sie wer-
Fassung A lässt es sich nicht eindeutig der Figur des den mit »einem plötzlichen Unbehagen« (18) kon-
Dicken oder der Gestalt des Beters zuordnen; in der trastiert, aus dem sich dann die Motivation zum Auf-
Fassung B macht Kafka es zur Äußerung des extrem bruch ergibt.
labilen, an einer fundamentalen Identitätsproblema- Trotz dieser Opposition gerät der gesamte Text in
tik leidenden Beters. einen eigentümlichen Schwebezustand. Schon die
Von der in den Kontext der Beschreibung eines insgesamt zehnmal vorkommende Konjunktion
Kampfes integrierten Miniatur unterscheidet sich die »wenn« betont den rein hypothetischen Charakter
in das Corpus der Betrachtung eingeordnete Version der Szenerie. Hier zeigt die Prosaminiatur Analo-
durch eine Intensivierung der lapidaren Aussage. gien zu Kafkas später entstandener Parabel Auf der
Das gilt auch für die Gestaltung des Anfangs: In der Galerie (262 f.), die in zwei extrem ausgedehnten
Sammlung beginnt der Text – anders als in der Er- Satzgebilden widersprüchliche Perspektiven auf die
zählung – mit einem prononcierten »Denn«. Dieser Realität einer Zirkusvorstellung entwirft und die
kausale Rückbezug, der in der Beschreibung eines vorgeführte Wirklichkeit durch diese kunstvolle
120 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Konfrontation zusehends ins Diffuse geraten lässt. ums, das sich im Erleben seiner Willensenergie der
Während dieser Text aber durch eine genau in der eigenen Möglichkeiten erst bewusst wird, neue Di-
Mitte platzierte Zäsur in zwei gleichgroße Komplexe mensionen an sich entdeckt und auf diese Weise
unterteilt ist, erzeugt der Einschnitt in Der plötzliche echte Identität gewinnt. Man mag sich hier an Kleists
Spaziergang Irritationen, weil semantischer Gehalt Novelle Die Marquise von O… erinnert fühlen, in der
und syntaktische Gestaltung divergieren. die Protagonistin durch ein wahrhaft unerhörtes Er-
Obwohl eigentlich erst am Ende der ausladenden eignis und dessen prekäre Konsequenzen dazu ver-
Konditionalperiode der Entschluss zum Aufbruch anlasst wird, sich von konventionellen Verhaltens-
zu erwarten wäre, beginnt die innere Entwicklung normen der Familie entschieden zu emanzipieren.
schon vorher umzuschlagen, nämlich bereits nach Kleist, dessen Werke zu Kafkas Lektüre zählten, lei-
dem vierten »wenn«: Schon hier leitet eine summa- tet diese biographische Zäsur für die Marquise mit
rische Retrospektive auf die geschilderten Verhält- der Formulierung ein: »Durch diese schöne An-
nisse die Zäsur ein: »und wenn man nun trotz alle- strengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie
dem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht« sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der
(17 f.). Von dieser Stelle an wird das monotone ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabge-
Gleichmaß des Satzrhythmus innerhalb der parallel stürzt hatte, empor« (Kleist, 167).
geschalteten konditionalen Syntax durch Dynami- In Kafkas Text Der plötzliche Spaziergang bleiben
sierung aufgehoben. Hatte »man« die eigene Lethar- trotz der markanten Zäsur allerdings Unklarheiten
gie zunächst durch eine mehrgliedrige Argumenta- und offene Fragen. Ob der Begriff der ›Freiheit‹ hier
tion zu legitimieren versucht, so ergibt sich nun uneingeschränkt im Sinne von voluntativer Selbst-
»trotz alledem« (18) ein Impuls zum Aufbruch. bestimmung zu verstehen ist, kann bezweifelt wer-
Die Vorstellung, den Entschluss »sofort« in die Tat den. Auffälligerweise erscheint ›Freiheit‹ nämlich
umzusetzen, hat erstaunliche Auswirkungen auf die nur ex negativo und wird zudem auf die physische
eigene Befindlichkeit. Denn die Imagination der Dimension reduziert: So ist nicht etwa von der Auto-
konkreten Entscheidung stimuliert einen plötzlichen nomie der Person die Rede, sondern bloß von der
Energieüberschuss, der mit einer grotesk anmuten- »Beweglichkeit« ihres Körpers (DzL 18).
den Übertreibung beschrieben wird: »wenn man Das in der Prosaminiatur 14mal auftretende Inde-
durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähig- finitpronomen ›man‹ legt überdies die Frage nahe,
keit in sich gesammelt fühlt« (18). Das anonyme warum hinter dem neugewonnenen emphatischen
Man geriert sich also geradezu als Energiekonzentrat Selbstgefühl des anonymen Sprechers – trotz der Er-
oder als Instanz zur Maximierung von Willenskraft. hebung »zu seiner wahren Gestalt« – kein Ich her-
Indem der zum Aufbruch Entschlossene in seiner vortritt und sich selbstbewusst in Szene setzt. So
mehrgliedrigen Argumentation die der Aktivität bleibt auch der Subjektstatus der Erzählerinstanz in
entgegenstehenden Hindernisse, nämlich Verhal- der Schwebe. An dieser Stelle bietet sich ein Seiten-
tensrituale, schlechte Witterungsverhältnisse und blick auf Kafkas Parabel Die Sorge des Hausvaters
die zu erwartende Verärgerung auf Seiten der Fami- (DzL 282–284) an, in der eine ambivalente Doppel-
lie, gedanklich beiseite räumt, scheint ihm die Kraft strategie des Zeigens und Verbergens dominiert: Der
zur »schnellsten Veränderung« zuzuwachsen. Da- Hausvater, der seine persönliche Betroffenheit und
durch steigert sich das Selbstgefühl bis zur Grandio- Verunsicherung angesichts der Konfrontation mit
sität: »gänzlich aus seiner Familie ausgetreten«, sieht der eigenen Endlichkeit zunächst zu kaschieren
»man« die Verwandten und damit implizit auch die suchte, indem er sich hinter einem diffusen Man ver-
eigene Zugehörigkeit zu ihnen »ins Wesenlose« ent- schanzte, tritt erst ganz am Ende als besorgtes Ich
gleiten. So verschafft sich der anonyme Erzähler ei- ungeschützt hervor.
nen im Wortsinn ab-soluten Status. Während der Kafkas Text Der plötzliche Spaziergang unterläuft
Familienverband aus seiner Perspektive ins Diffuse die Erwartungshaltung des Lesers dadurch, dass er
entschwindet, heißt es über den Aufbrechenden, ein konkretes Individuum als Erzählerfigur verwei-
dass er »selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, gert und für das fiktional Dargestellte nicht einmal
[…] sich zu seiner wahren Gestalt erhebt« (18). einen textimmanenten Faktizitätsanspruch erhebt.
Auf den ersten Blick scheint hier geradezu ein op- Was bleibt, ist lediglich das Hypothetische eines kon-
timistisches Autonomiekonzept wirksam zu sein: in ditionalen wenn-dann-Gefüges. Auch die Formulie-
der Vorstellung einer Selbstfindung des Individu- rung »schwarz vor Umrissenheit« (18) erscheint be-
Betrachtung 121

fremdlich, weil sie eher an eine zweidimensionale hafte Bewegung ohne Anspruch auf umfassende
Fläche als an einen stabilen Körper denken lässt. Be- »Veränderung« (DzL 18). Da dem Spaziergang die
zeichnenderweise wird die extrem labile, fortwäh- Heimkehr folgen wird, tendiert das gesamte Unter-
rend um Selbststabilisierung ringende Betergestalt nehmen ohnehin zur Zirkularität. Durch diese Kreis-
in Kafkas Beschreibung eines Kampfes durch eine an- bewegung gerät die »Entschlußfähigkeit« (18) und
dere Figur folgendermaßen charakterisiert: »Sie sind Energie der Man-Instanz in einen teleologischen
Ihrer ganzen Länge nach aus Seidenpapier herausge- Leerlauf. In diesem Sinne scheint der Text bereits die
schnitten […], so silhuettenartig [sic]« und »müssen resignative Quintessenz der unmittelbar folgenden
sich nach dem Luftzug biegen, der gerade im Zim- Miniatur Entschlüsse vorwegzunehmen: »ich werde
mer ist« (NSF I, 97). mich im Kreise zurückdrehen müssen« (19). Gleich-
Noch weitere Irritationen geben Anlass, die Ober- sam interaktiv aufeinander bezogen, entfalten Kaf-
flächenstruktur von Kafkas Text Der plötzliche Spa- kas Texte Der plötzliche Spaziergang und Entschlüsse
ziergang zu hinterfragen. So wird der anfängliche das Spannungsverhältnis zwischen Lethargie und
Eindruck einer Idylle von häuslicher Gemütlichkeit Willensenergie mit jeweils unterschiedlichem Ak-
in Frage gestellt: durch die Erwartung, »das Haustor zent: als Alternativen, die letztlich aber auf eine ähn-
gesperrt« vorzufinden, und durch die spürbare Un- liche Grunddisposition verweisen.
geduld dessen, der »schon so lange […] stillgehalten
hat« (DzL 17). Problematisch erscheint der globale Entschlüsse
Rückbezug, mit dem der zweite Satz die im Vorange-
gangenen beschriebene Konstellation aufnimmt: In mehrfacher Hinsicht lässt die vierte Prosaminia-
»Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser spä- tur (DzL 19) Analogien und Differenzen zum voran-
ten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzuse- gegangenen Text Der plötzliche Spaziergang (17 f.)
hen, wie es ihm geht« (18). Das Pronomen »alles« er- erkennen. Hier wie dort steht die Erhebung über
zeugt einen logischen Bruch (Willer, 42). Denn sein eine negative Befindlichkeit im Zentrum. Dem
Totalitätsanspruch bezieht sich auf die Gesamtheit »plötzlichen Unbehagen« (18) im dritten Text der
des zuvor Dargestellten, also auf die Opposition von Betrachtung entspricht der Status quo, den der An-
Lethargie und Entschlusskraft. Demzufolge umfasst fangssatz der Entschlüsse als »elenden Zustand« be-
es die Reflexion über die Hinderungsgründe ebenso schreibt (19), mit der zuvor betonten »Entschlußfä-
wie die Entscheidung zum Aufbruch »trotz alle- higkeit« (18) korrespondiert der Einsatz »gewollter
dem«. Durch den Besuch bei einem Freund kann Energie« (19). Auch die Plötzlichkeit des mentalen
sich aber nicht »alles« potenzieren, sondern allen- Aufschwungs, die physische Beweglichkeit und die
falls der euphorische Aufschwung. hypothetische Grundstruktur sind in beiden Texten
Durch diese Paradoxie unterläuft der Text seine ei- relevant.
gene Grundstruktur und beginnt zu oszillieren, bis Die Prämisse, die der erste Satz formuliert, besteht
seine semantischen Bezüge implodieren: Und dies um in der Annahme, durch Willensenergie und ratio-
so mehr, als die Man-Instanz ohnehin »mehr Kraft als nale Selbstformierung lasse sich ein Leidenszustand
Bedürfnis« (18) zur Veränderung in sich verspürt. leicht beseitigen. Die beschriebene Strategie ähnelt
Der Impuls zum Aufbruch entsteht also via negatio- den vom Postulat der Selbstbeherrschung ausgehen-
nis: Die Flucht vor dem eigenen »Unbehagen« (18) den stoischen Rezepten zur Leidensbewältigung und
dominiert über positive Handlungsmotive. Diese Affektabwehr: »Arbeite jedem Gefühl entgegen«
Konstellation wird auch durch die im zweiten Satz hy- (19). Die Entscheidung, daraus praktische Konse-
pothetisch formulierte Zielrichtung nicht in Frage ge- quenzen abzuleiten, mündet allerdings sofort in den
stellt, lässt sie doch an die Imago des fernen Freundes Leerlauf einer grotesken Inszenierung: Der inneren
in Petersburg denken, dessen Existenz in Kafkas Er- Misere steht ein kraftstrotzender Aktionismus dia-
zählung Das Urteil bis zum Schluss ungesichert bleibt. metral gegenüber, so dass die forcierte Selbstdarstel-
Bezeichnenderweise betont Kafka in der ursprüngli- lung des Leidenden als inauthentisches Theater er-
chen Fassung seines Textes Der plötzliche Spaziergang scheint.
das »Erlebnis« der »äussersten Einsamkeit«, das man Obwohl Kafka in Entschlüsse zweimal eine perso-
»nur russisch nennen kann« (DzL:A 56). nale Sprecherinstanz exponiert, bleibt dieses Ich
Die bloß hypothetische Zielangabe kaschiert, dass ebenso gesichtslos wie die von ihm imaginierten Ge-
ein Spaziergang eigentlich ziellos ist: als selbstzweck- sprächspartner. Bloß durch die Initialen A., B. und
122 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

C. voneinander unterschieden, lassen sie an das ano- grabmäßige Ruhe« bis zur Totalität zu steigern (19).
nyme Man in Der plötzliche Spaziergang und an die Diese melancholische Aussage lässt an den Euphe-
»Gesellschaft von lauter Niemand« denken, die Der mismus ›Hand an sich legen‹ denken, mithin an den
Ausflug ins Gebirge inszeniert (20). Suizid (über die autobiographische Relevanz dieses
Sobald der Ich-Erzähler in Entschlüsse die Künst- Themas für Kafka selbst gibt ein Brief vom 12. März
lichkeit seines theatralischen Gebarens erkennt, stellt 1910 an Max Brod Aufschluss; B00–12 118 f.). In der
er sein Verhaltenskonzept auch selbst in Frage. Das Vorstellung des Todes ist das bipolare Spannungsfeld
emphatische Selbstgefühl wird ad absurdum geführt, zwischen manischem Aufschwung und depressiver
wenn schon der bloße Gedanke an mögliche »Feh- Erstarrung aufgehoben.
ler« die innere Dynamik »stocken« lässt und eine Kafka hat die Entschlüsse anders strukturiert als
aporetische Situation zur Folge hat: »ich werde mich den vorangegangenen Text Der plötzliche Spazier-
im Kreise zurückdrehen müssen« (19). Die Zäsur in gang. Optisch gegliedert und rhythmisiert ist die
der Textmitte resultiert aus dieser Zirkularität und Prosaminiatur dadurch, dass den längeren Abschnit-
führt zur Revision der anfänglichen Entscheidung ten 1 und 3 die deutlich kürzeren Absätze 2 und 4
für energische Aktivität. An ihre Stelle tritt der Ent- folgen. Dabei ist die Syntax unterschiedlich gestaltet:
schluss, in einer lethargischen Haltung zu verharren, Während drei Sätze den ersten Abschnitt bilden, be-
in einer resignativen Apathie ohne Reue. Die Hand- stehen die folgenden drei Absätze aus jeweils einem
lungsblockade scheint aus einer kritischen Selbstbe- Satz; von ihnen erweist sich der vorletzte als beson-
obachtung zu resultieren, die mit der Problematik ders komplex. Nachdem ein adversatives »Aber« (19)
der Hyperreflexivität verbunden ist. Wiederholt hat den eingangs geschilderten autotherapeutischen
Kafka über die ambivalenten Implikationen intensi- Versuch des Ich in Frage gestellt hat, sich mithilfe
ver Selbstbeobachtung nachgedacht (vgl. z. B. von Willenskraft selbst zu stabilisieren, zieht der mit
7.11.1921 u. 16.1.1922, T 874 u. 877; NSF II, 32, 42). »Deshalb« (19) eingeleitete dritte Absatz das Fazit
Dem ersten Entschluss, der alle Energien stimu- aus dem plötzlichen Einbruch einer Skepsis, die jede
lieren sollte, folgt als dessen Negation der zweite Ent- Schwungkraft lähmt.
schluss, der das vorherige Handlungsprinzip gleich- Die allein durch Skepsis erzeugte mentale Aporie
sam durchstreicht. Der Versuch, einen emphatischen in dieser kontrastiv gestalteten Prosaminiatur wird
Aufschwung »mit gewollter Energie« (DzL 19) zu im letzten Satz mit einer »charakteristischen« (19)
vollziehen, wird schon durch die gedankliche Anti- Bewegung korreliert, die angesichts der zuvor be-
zipation möglicher Stagnation gelähmt und mündet schriebenen extremen Turbulenzen durch ihre De-
in eine imaginative Kreisbewegung. Hier zeichnet zenz geradezu provozierend unauffällig wirkt. Der
sich eine Analogie zu den inkompatiblen Perspekti- Kontrast zur Ausgangskonstellation ist evident: Nach
ven auf die Baumstämme im Schnee ab, die Kafka in der anfangs beschriebenen Divergenz von Sein und
der Parabel Die Bäume entwirft (33). Schein, von psychischer Leidenssituation und thea-
Die mit »Deshalb« (19) einsetzende Conclusio der tralisch überanstrengter Gebärdensprache, scheinen
Entschlüsse blendet das zunächst vorgestellte Modell Innen und Außen am Ende zu konvergieren: Der ge-
voluntativer Leidensbewältigung, emphatischer radezu letalen Erstarrung entspricht die reduzierte
Selbstdarstellung und souveräner Interaktion in Geste.
kompromissloser Entschiedenheit aus. Die Radikali-
tät des zweiten Entschlusses zeigt sich in seiner Ver- Die Vorüberlaufenden
absolutierung zum angeblich »besten Rat« (19). Mit
rigorosem Allgemeingültigkeitsanspruch wird nun Der zehnte Text der Betrachtung trägt den Titel Die
die totale Lethargie empfohlen, der Rückzug in eine Vorüberlaufenden (DzL 26 f.). Er greift auf die bereits
Resignation, die von allen vitalen Vollzügen so weit in Der plötzliche Spaziergang realisierte wenn-dann-
entfernt ist, dass der künstlich inszenierte Energie- Konstellation zurück und ließe sich sogar als narra-
fluss jäh abreißt. tive Weiterführung des dort beschriebenen abrupten
Der im ersten Absatz geschilderten hektischen Be- Aufbruchs lesen. Hier wie dort besteht der ganze
triebsamkeit folgt nun eine unheimliche Erstarrung. erste Absatz aus einem ausladenden syntaktischen
Der vermeintlich »beste Rat« zielt nämlich darauf, Gefüge. Der Anfang ist auffälligerweise sogar iden-
»das, was vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit tisch gestaltet: »Wenn man« (26). Obwohl der Text
eigener Hand nieder[zu]drücken« und »die letzte durch die Konjunktion ›wenn‹ den Status des Hypo-
Betrachtung 123

thetischen erhält, suggeriert er dem Leser eine Fakti- Entscheidungsphase ändert an der passiven Haltung
zität des Erlebnisses. Während das Indefinitprono- der Wir-Instanz ebenso wenig wie die Vorstellung,
men ›man‹ in Der plötzliche Spaziergang bis zum dass der Verfolger des zerlumpten Fliehenden im
Ende dominiert, ist in Die Vorüberlaufenden ein ra- Recht sein könnte.
scher Wechsel der Erzählerinstanz vom anonymen Durch Überschlagungseffekte von subversiver
»man« zu einem personalen »wir« festzustellen, das Komik lässt Kafka die intendierte Logik der Argu-
vielleicht sogar den impliziten Leser selbst mit ein- mentation aus der Balance geraten. Wenn der zweite
schließen könnte (von Glinski, 145). Absatz mit der schlichten Feststellung der Tageszeit
In einer mehrgliedrigen Argumentation entwirft »Denn es ist Nacht« (26) beginnt, bietet er eine zu-
der Text Strategien zur Selbstexkulpierung. Zwar nächst trivial anmutende Wiederholung der Rah-
wird durch die Bezugnahme auf objektive Gegeben- menbedingungen. Diese semantische Oberflächen-
heiten ein Anspruch auf Plausibilität erhoben, aber ebene wird allerdings auf die hilflosen Bemühungen
zugleich lassen bereits auffällige Inkonsequenzen die der Wir-Instanz hin transparent, sich durch das In-
apologetischen Absichten des Sprechers erkennen. sistieren auf unbezweifelbaren Tatsachen wie den lo-
Die einzelnen Argumente ergänzen und überbieten kalen und temporalen Gegebenheiten, die tatsäch-
einander nicht nur, sondern erweisen sich mitunter lich außerhalb seiner Verantwortung liegen, einem
auch als inkompatibel. Indem Kafka den tendenziö- Impuls zum Engagement zu entziehen. Die Ernst-
sen Gesamtduktus durch groteske Zuspitzungen ad haftigkeit dieser Pseudo-Argumentation führt Kafka
absurdum führt, markiert er den Primat subjektiver durch eine geradezu subversive Komik kunstvoll ad
Interessen. absurdum. Angestrengt ringt der Sprecher darum,
Zu vermuten ist, dass sich hier ein ängstliches Ich die ihn durch einen impliziten Handlungsappell her-
hinter einem Stabilität gewährleistenden Gruppen- ausfordernde Situation aus dem Bewusstsein zu ver-
Wir versteckt oder sogar eine Allianz mit dem Leser bannen. Dabei treibt er seine Versuche, die eigene
eingeht, um sich der individuellen Verantwortung Passivität zu rechtfertigen, bis ins Groteske. So gene-
für das eigene Handeln zu entziehen. Offensichtlich riert er immer neue Deutungen für das unerklärliche
zielt die Intention darauf, sich selbst eine akzeptable Geschehen auf der nächtlichen Straße, das als Leer-
Begründung für das Verharren in reiner Passivität zu stelle des Textes ein Sinnvakuum entstehen lässt. Sie-
verschaffen. Verräterisch erscheint am Schluss die ben Spekulationen, die jeweils mit »vielleicht« einge-
unverhohlene Erleichterung darüber, dass die Zeit leitet sind, bieten extrem unterschiedliche Erklärun-
zur Intervention endlich verstrichen ist und nun gen für das Rätselhafte: Sie reichen von der Annahme
keine Gelegenheit mehr besteht, in das beobachtete einer harmlosen Koinzidenz, die nur zufällig einer
Geschehen, eine letztlich mysteriös bleibende Ver- Verfolgungsjagd ähnelt, bis zur Vermutung krimi-
folgungsjagd, doch noch einzugreifen. So erübrigt neller Machenschaften, durch die eine Intervention
sich auch jeder weitere Versuch, über Strategien zur geradezu lebensgefährlich werden könnte.
Selbstexkulpierung nachzudenken. Da alle Deutungen ins Leere laufen und das Ereig-
Der Rückzug in die Lethargie hat in der Miniatur nis letztlich unerklärlich bleibt, suspendiert die Wir-
Die Vorüberlaufenden also eine ganz andere Bedeu- Instanz im dritten Absatz sogar jedweden Versuch
tung als am Ende der Entschlüsse. Dominierte dort hermeneutischer Erschließung, indem sie sich nun
eine melancholische Resignation mit suizidaler Ten- in das zur Passivität berechtigende Refugium der ei-
denz, so wird hier der Verlust jeder Möglichkeit zum genen Müdigkeit zurückzieht. Da aber selbst diese
Engagement »froh« zur Kenntnis genommen (DzL apologetische Deutung als unzulänglich empfunden
27). Trotz des untergründig spürbaren Eindrucks, wird, soll schließlich auch noch der zur Trägheit dis-
dass gerade hier eine Intervention gerechtfertigt, ja ponierende Alkoholkonsum als Argument dienen,
geboten sein könnte, wurde sie unterlassen. Bis zum um die eigene Lethargie zu rechtfertigen. Ähnliche
Schluss bleibt diese Ambivalenz so präsent, dass ein Strategien finden sich übrigens in Kafkas Beschrei-
zweifach gestufter konzessiver Einschub förmlich in bung eines Kampfes: Hier versucht sich der Dicke im
die konditionale Satzperiode einbricht und den lapi- Gespräch mit dem Beter von der Verantwortung für
daren Nachdruck des Satzes stört (»selbst wenn […], seine Äußerungen zu dispensieren, indem er fest-
selbst wenn«). Die durch äußere Rahmenbedingun- stellt: »Es ist Nacht und niemand wird mir morgen
gen, das Straßengefälle und die Vollmond-Beleuch- vorhalten, was ich jetzt sagen könnte, denn es kann
tung, verlängerte, ja geradezu optimierte Dauer der ja im Schlaf gesprochen sein« (NSF I, 110).
124 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

In der Miniatur Die Vorüberlaufenden erweist sich vor. Deutlich ist zu erkennen, dass er sich Kontakt-
die Problematik der Verantwortung letztlich als ent- angeboten notorisch entzieht und sich auch auf den
scheidendes Stimulans der Reflexion und damit zu- späteren Handlungsimpuls von Seiten der Spielka-
gleich als Kristallisationszentrum der gesamten Ar- meraden eher widerstrebend einlässt (DzL 10). Das
gumentation. Während der hybride Ich-Erzähler in Kind, das im elterlichen Garten ein Refugium für
Der Nachhauseweg sein Gefühl von Verantwortlich- träumerischen Müßiggang findet, integriert sich nur
keit in grotesker Weise expandieren lässt (DzL 25 f.), zögernd und unter Vorbehalt in die Gruppe.
wird die Thematik der Verantwortung in Die Vor- In auffälligem Maße ist die kurze Erzählung von
überlaufenden bezeichnenderweise nur im Medium Spannungsfeldern bestimmt: Besonders markant er-
psychischer Verschiebung zugelassen und erscheint scheint die Polarität zwischen Bewegung und Ruhe,
durch Umadressierung bis zur Unkenntlichkeit ver- Erlebnisoffenheit und Lethargie, Isolation und Kom-
fremdet: in der Spekulation »vielleicht wissen die munikation; ergänzt wird sie durch den Kontrast
zwei nichts von einander, und es läuft nur jeder auf zwischen Beschränkung und Entgrenzung, Gewohn-
eigene Verantwortung in sein Bett« (26). Müdigkeit heit und Abenteuer.
als Disposition zum Schlaf, die den Menschen aus Schon der Wechsel der Personalpronomina ist im
allen Verpflichtungen entlässt, ihn von den Anstren- Hinblick auf die dem Text inhärenten Gegensätze
gungen des Wachbewusstseins entbindet und ihm aufschlussreich: Die Korrelation von Ich und Du, Ihr
die Hoffnung auf Entlastung von jeder Verantwor- und Wir bestimmt nicht nur die spontanen Wort-
tung im Traum eröffnet, wird auch in anderen Tex- wechsel zwischen den Kindern, sondern prägt sich
ten aus Kafkas Betrachtung zum Thema: Auffälliger- auch im Sozialverhalten des Ich-Erzählers aus, der
weise enden die beiden atmosphärisch sehr unter- im Verlauf des Textes mehrmals zwischen Rückzugs-
schiedlichen Rahmentexte Kinder auf der Landstraße bedürfnis und Gemeinschaftssinn changiert. Das in
und Unglücklichsein mit dem Motiv des Schlafes. auffälliger Weise wiederholte »man« (11 f.) repräsen-
tiert eine Teilgruppe, der offensichtlich auch der Ich-
Kinder auf der Landstraße Erzähler angehört.
Schon zu Beginn inszeniert er sich im Refugium
Dieser Text, mit dem Kafka seine Betrachtung eröff- seiner Gartenidylle als Individuum: durch die pro-
net (DzL 9–14), bildet zusammen mit Unglücklich- noncierte Anfangsstellung des Personalpronomens
sein (33–40) einen Rahmen um die übrigen sech- »Ich«, mit dem sowohl der erste als auch der zweite
zehn Prosaminiaturen, die deutlich kürzer sind. Absatz einsetzt (9). Mit ähnlichem Nachdruck insze-
Während sich die Szenerie in Unglücklichsein auf die niert Kafka später das »Wir« am Anfang von Absatz
klaustrophobische Enge von Innenräumen be- 9, 11 und 16. Mit dem »Ich« des ersten und zweiten
schränkt, entwirft Kinder auf der Landstraße einen Absatzes korrespondieren zwei mit »Ich« begin-
alternativen Schauplatz: ein weiträumiges Aktions- nende Sätze am Ende des Textes, als der kindliche
feld in dörflichem Ambiente, das vielfältige Unter- Erzähler seinem Impuls folgt, die dörfliche Szenerie
nehmungen unter freiem Himmel ermöglicht. The- zu verlassen und eine durch das unkonventionelle
matische Korrelationen entstehen durch das Motiv Verhalten ihrer Einwohner rätselhaft-verlockende
des Kindes, des Abends und des Schlafes. Verglichen »Stadt im Süden« (13) aufzusuchen. Das normwid-
mit der aporetischen Situation des an seiner Einsam- rige Verhalten der Städter, die nicht schlafen, »weil
keit verzweifelnden Ich-Erzählers, die Kafka in Un- sie Narren sind« (14), wird gerade für das Kind zum
glücklichsein präsentiert, scheint der Text Kinder auf Faszinosum, das die Nacht nicht verschlafen will
der Landstraße durch die lebendige Schilderung von und daher sogar die Zeitlichkeit negiert: »Es gab
Gemeinschaftsaktivitäten geradezu eine paradiesi- keine Tages- und keine Nachtzeit« (10 f.).
sche Idylle zu bieten. Durch die ihm immanente Dy- Im Gesamtduktus des Textes sind zwei Tendenzen
namik steht er der Konstellation in Unglücklichsein festzustellen. Unter sozialem Aspekt dominiert eine
diametral gegenüber. dialektische Struktur: Das Ich, das sich zunächst le-
Eine genauere Betrachtung gibt jedoch Anlass, thargisch und beziehungslos im Garten aufhält, lässt
diese Einschätzung etwas zu relativieren: Obwohl sich anschließend zu gemeinschaftlichen Unterneh-
der kindliche Ich-Erzähler phasenweise durchaus im mungen überreden, nach deren Ende es sich wieder
Wir der Gruppe aufgeht, tritt schon in der Anfangs- auf sich selbst zurückzieht. In der räumlichen Di-
partie des Textes seine einzelgängerische Natur her- mension wird dieses Konzept unterlaufen und er-
Betrachtung 125

gänzt durch die Tendenz zu allmählicher Erweite- Der Zenit eines kollektiven Identitätsgefühls indes
rung des Horizonts: vom beschränkten Raum des el- kaschiert nur vorübergehend, dass sich der Ich-Er-
terlichen Gartens über die Aktivitäten im dörflichen zähler bloß oberflächlich in die Gemeinschaft inte-
Umland bis hin zur Durchbrechung des vertrauten griert hat; tatsächlich bleibt er weiterhin seiner ein-
Ambientes durch den Aufbruch in unbekanntes Ter- zelgängerischen Mentalität verhaftet. Der Abschied
rain. von der Gruppe markiert dann die eigentliche Zä-
Diese Gesamtdynamik des Textes weist intern ei- sur: Statt der erwarteten Heimkehr folgt nun ein er-
nige Modifikationen auf. Das anfangs zurückgezo- neuter Aufbruch, der zugleich den Aktionsradius
gen hinter dem Gartengitter verharrende Kind ver- beträchtlich erweitert. Die Normen der Erwachse-
mag das Geschehen in seiner Umgebung zunächst nen, ihre Abendrituale und ihre Vorbehalte gegen-
nur phasenweise und ausschnitthaft wahrzunehmen: über den nonkonformistischen Städtern missach-
»durch die schwach bewegten Lücken im Laub« tend, folgt der Ich-Erzähler einem untergründigen
(DzL 9). Den beschränkten akustischen und opti- Impuls, der ihn »zu der Stadt im Süden hin« (13)
schen Sinneseindrücken, aus denen sich schließen zieht, motiviert von Vorstellungen, die jede realisti-
lässt, dass die Dorfbewohner gerade eine Getreide- sche Erwartung sprengen: Der offene Schluss schil-
ernte einbringen, folgen Erfahrungen innerer Desta- dert den Aufbruch in das Phantasma einer märchen-
bilisierung: Der in einer Position labiler Balance von haft verfremdeten Gutenachtgeschichte (Geulen,
der Schaukel aus den Vogelflug beobachtende Ich- 12), die jetzt – gegen die Intention der sie erzählen-
Erzähler glaubt selbst zu fallen, während er die Vögel den Erwachsenen im Dorf – plötzlich eine utopische
aufsteigen sieht, und ist durch diese verfremdete Aura entfaltet.
Wahrnehmung offensichtlich irritiert.
In die gemeinschaftlichen Aktivitäten Lauf, Spiel Ausgaben: Einzelpublikationen vor Erstdruck der
und Kampf, die der zweite Teil des Textes beschreibt, Sammlung: Betrachtung. In: Hyperion. Eine Zweimo-
finden in auffälliger Weise Elemente des Exotischen natsschrift Folge 1, Bd. 1 ([ca. 9. März] 1908), 91–94
und Archaisch-Kriegerischen Eingang, die vielleicht [enthält B 7, 8, 9, 10, 12, 11, 13, 17]; Betrachtungen. In:
von Lektüreeindrücken stimuliert sind. Sie schaffen Bohemia 83 ([27. März] 1910) Nr. 86, Osterbeilage, 39
eine Atmosphäre, die von den Kindern als abenteu- [enthält: B 8 (Titel: Am Fenster), 10 (Titel: In der Nacht),
erliche Sonderwelt inszeniert und genossen wird: Sie 12, 11, 14]; Betrachtung. In: Bohemia 85 ([25. Dez.]
glauben zu laufen »wie Tiere in den Tropen. Wie Kü- 1912) Nr. 356, Weihnachtsbeilage, 12 (unpag.) [enthält:
rassiere in alten Kriegen« (11). B 1]; spätere Einzelpublikationen 1913–24: DzL:A 35. –
Dabei entstehen variable Wir-Konstellationen: So ED der Sammlung: Franz Kafka: Betrachtung. Leipzig:
zerfällt das Kollektiv vorübergehend in gegnerische Ernst Rowohlt Verlag 1913 [erschienen ca. 10.12.1912];
Gruppen, die einander spielerisch bekämpfen; eine der Band trug eine Banderole, auf deren Vorderseite ge-
Reihe von Kindern macht den Angriff offenbar nur, druckt war: »Der durchaus neuartige Ton dieses Bu-
um sich anschließend besiegt ins warme »Gras des ches, eine von Heiterkeit gebändigte Schwermut, verleiht
Straßengrabens« legen zu können: »fallend und frei- dem Werke, das Leben und Sehnsucht eines jungen
willig« (11). Aus Lethargie und Müdigkeit entspringt Mannes unserer Tage zum Thema hat, einen außerge-
der Wunsch, immer tiefer zu fallen – eine Assozia- wöhnlichen Reiz. Die seltene Verbindung von Liebens-
würdigkeit und tiefem Ernst erhebt die sich durch ihre
tion, die außer einem latenten Schlafbedürfnis viel-
innere Einheit zu einer einzigen ›Betrachtung‹ zusam-
leicht sogar Todeskonnotationen einschließt (Kurz
menschließenden klangschönen Prosastücke zu einer
1994, 55). Von einem »indianischen Kriegsruf« ani-
großen Hymne, die für Viele symbolische Geltung er-
miert, findet sich die Gruppe wieder zusammen langen dürfte« (DzL:A 33 f.). – Franz Kafka: Betrach-
(DzL 12). In der geschlossenen Formation des ge- tung. Leipzig: Kurt Wolff [Herbst] 1915 [Restauflage
meinsamen Galopps stellt sich ein Gemeinschaftser- der Erstausgabe mit neugedrucktem Titelblatt]. – Erz/
lebnis ein, das sich wenig später im kollektiven Ge- GS (1935), 25–49. – Erz/GW (1952), 23–50. − DzL/KA
sang noch intensiviert. Der Gassenhauer, den die (1994), 7–40.
Kinder beim Anblick eines vorüberfahrenden Zuges Kontexte: Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…
singen, gilt in einer diffusen, möglicherweise zwi- In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden.
schen Abwehr und Faszination oszillierenden Ge- Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften.
fühlslage »den fernen Reisenden« hinter den er- Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990, 143–
leuchteten Fenstern (13). 186. – Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische
126 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Studienausgabe in 15 Bänden [=KSA]. Hg. v. Giorgio Zu einzelnen Texten: Der plötzliche Spaziergang: John
Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin, New M. Grandin: K.’s DpS. In: MLN 89 (1974), 866–872. –
York 1980. Stefan Willer: Der Lauf der Schrift und das Gefälle des
Forschung allgemein: P.-A. Alt (2005), bes. 237–261. – Satzes. In: H.-J. Scheuer u. a. (s.o.), 34–43. –– Die
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Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas K.s DB. In: H.-J. Scheuer u. a. (s.o.), 184–194. – László
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Frankfurt/M. 1993. – Hartmut Binder: K.-Kommentar u. a. (Hg.): Die Unzulänglichkeit aller Engel. Fs. f. Zsu-
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Landschaften der Doppelgänger. In: G. Kurz (1984),
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Krallen« – F.K. und das alte Prag. Betrachtendes Den-
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J. Rolleston (2002), 61–83. – Shimon Sandbank: Uncer-
tainty as Style. K.’s Betrachtung. In: GLL 34 (1981), 385–
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tina Salmen/Georg Höfner (Hg.): K.s Betrachtung. Lek-
türen. Frankfurt/M. 2003. – John J. White: The Cyclical
Aspect of K.’s Short Story Collections. In: Stern/White
(1985), 80–97.
127

3.1.4 Die Aeroplane in Brescia tel gekürzten Fassung. Die ungekürzte Fassung sollte,
mit einem Vorwort von Max Brod versehen, in des-
sen Buch Über die Schönheit häßlicher Bilder. Ein Va-
Entstehung und Veröffentlichung demecum für Romantiker unserer Zeit erscheinen
(Leipzig: Kurt Wolff 1913). Zwar wurden die Aero-
Kafkas Artikel über die Flugschau, die vom 8. bis plane-Artikel später für die Publikation bei Rowohlt
zum 20. September 1909 in Brescia stattfand, er- wieder entfernt, eine Typoskriptabschrift der unge-
schien am 29. September in der Morgenausgabe der kürzten Fassung belegt jedoch die Arbeit an diesem
Prager Tageszeitung Bohemia. Zusammen mit den Projekt. Die bedeutendste vorgenommene Kürzung
Brüdern Max und Otto Brod hatte Kafka für das betraf den Anfang des Berichts, in dem Kafka zu-
Ende des Sommers 1909 eine Reise in den Süden ge- nächst einige Klischees über Italien bedient
plant, obwohl ihm nach gerade mal einem Jahr bei (schlechte Organisation von Großereignissen, ver-
der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt noch kein spätete Züge, schmutzige Hotels) − die er dann je-
Urlaub zustand. Mit Hilfe des Attestes eines befreun- doch zum Teil widerlegt −, um dann die schwierige
deten Arztes war er dann in der Lage, am 4. Septem- Anfahrt zum Flugplatz zu beschreiben. Der sehr ef-
ber seine beiden Freunde nach Riva ans nördliche fektive Einsatz des publizierten Textes (»Wir sind
Ufer des Gardasees zu begleiten. Durch eine Zei- angekommen«; DzL 401) ist also der Kürzung zu
tungsnotiz vom 9. September wurde die Gruppe, wie verdanken.
von Kafka selbst erwähnt (vgl. DzL:A 515 f.), auf die
Veranstaltung einer Flugwoche im nahe gelegenen
Brescia aufmerksam. Max Brod erinnert sich, dass Textbeschreibung
die Freunde besonders auf Betreiben Kafkas be-
schlossen, ihren Badeurlaub zu unterbrechen, um in Die Flugschau, dies sei vorab gesagt, wurde ein be-
Brescia zum ersten Mal in ihrem Leben Aeroplane deutendes Ereignis, selbst für die reiche Stadt Bre-
zu bewundern (Brod 1966, 92). Am 10. September scia. Wahre Menschenmengen strömten zu dem öst-
trafen sie in Brescia ein und besuchten am 11. das in- lich der Stadt eigens für den Wettbewerb eingerich-
ternationale Flugmeeting. teten Flugplatz. Der italienische König, Vittorio
Dabei beschloss Max Brod, Kafka, der zu diesem Emmanuele III. wohnte dem Ereignis ebenso bei wie
Zeitpunkt über seine Unfähigkeit zu schreiben klagte die gesamte Hautevolée Italiens. Die zunächst wegen
(vgl. T 12 f.), durch einen Wettkampf zu neuer Pro- ihrer Automobilrennen berühmte Stadt hatte es ver-
duktion anzuregen: Beide sollten ihre Eindrücke mocht, auch für ihre Flugschau einige der größten
über die Ereignisse niederschreiben und dann die Fliegernamen der Zeit zu gewinnen: Prominente Pi-
Ergebnisse vergleichen. Brod, der bereits einige Wo- loten wie die Franzosen Louis Blériot (1872–1936)
chen zuvor über Blériots Querung des Ärmelkanals und Henri Rougier (1876–1956) und der Amerika-
geschrieben hatte, verfasste einen eher lyrischen Text ner Glenn H. Curtiss (1878–1930) waren ebenso am
über die glamoureusen Seiten des gesellschaftlichen Start wie die italienischen Lokalmatadoren Mario
Ereignisses, den die Münchner Halbmonatsschrift Calderara (1879–1944) und Guido Moncher (1873–
März druckte. Später verarbeitete er in seinem Ro- 1945). Alle werden von Kafka erwähnt, wobei der
man Arnold Beer (1912) die Eindrücke des Brescia- Umstand, dass er dem Fliegen nur an einem Tag bei-
Meetings erneut. wohnen konnte, die Anzahl der beschriebenen Flüge
Kafkas präziserer, im distanzierten Reportagestil reduziert. So fokussiert Kafka seine etwas über zehn
verfasster Text, in dem nicht nur auf das anwesende Seiten umfassende Reportage, die auch nach der
Publikum und auf die Damenbekleidung (»Das Mie- Kürzung zunächst mit einer Beschreibung der
der liegt tief, kaum noch zu fassen; die Taille scheint schwierigen Ankunft im Aerodrom und mit einem
breiter, als gewöhnlich, weil alles schmal ist; diese unfreundlichen Kutscher beginnt, vor allem auf drei
Frauen wollen tiefer umarmt sein«; DzL 408), son- Hauptfiguren: Blériot, Rougier und Curtiss.
dern auch auf technische Details geachtet wird (»Der Blériot wird fast theatralisch in Szene gesetzt: Be-
Motor wird von allen Seiten geölt; verborgene geistert gehen die Freunde von einem Hangar zum
Schrauben werden gelockert und zugeschnürt«; anderen und suchen doch nur einen: »Und Blériot?
406), erschien zunächst in einer von Paul Wiegler, fragen wir. Blériot, an den wir die ganze Zeit über
dem Feuilletonredakteur der Bohemia, um ein Fünf- dachten, wo ist Blériot?« (DzL 403). Ihm kommt
128 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

dann auch die Ehre zu, dass er − nach zahlreichen Dennoch wurde das Werk bisher eher als Gele-
Fehlversuchen − als Erster fliegt. Bei Kafka eignet genheitsarbeit gesehen, die lediglich als »erste ästhe-
ihm jedoch nichts Übermenschliches – seine junge tisch ambitionierte Schilderung eines Flugmeetings,
Frau hat Angst um ihn (406) –, was ihn auszeich- welche die deutschsprachige Literatur kennt« (Alt
net, ist sein Verständnis für Technik, ja seine Fähig- 2005, 196), zu würdigen sei. Als müsste Kafkas ab-
keit, mit der Maschine eins zu werden: »Blériot ist schätziges Urteil über seinen Bericht den Blick auch
in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper weiterhin verstellen (»Er [M. Brod] will in das Buch
über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil auch mein Brescia aufnehmen. Alles Gute in mir
der Maschinerie« (408). Auch die anderen beiden wehrt sich dagegen«; T 242, 11.11.1911), spricht so-
sind nur Menschen; Rougier, der an diesem Tag gar noch die heutige Forschung vom »untergeordne-
einen neuen Höhenrekord aufstellte, ist für Kafka ten Status der Texte« (von Glinski 2004, 208).
nur »ein kleiner Mensch mit auffallender Nase, in Bedeutende Ausnahmen sind in dieser Hinsicht
Hemdärmeln« (403), und Curtiss, dessen »Sieges- Felix Philipp Ingold, der die am Himmel kleiner wer-
flug« Kafka eingehend beschreibt, wirkt auf ihn wie denden Aeroplane als ambivalente Metapher des
ein einsamer Mensch, dem das Zeitunglesen schwer Verschwindens liest (Ingold 1978, 24 f.), Hartmut
fällt (404). Binder, der wichtige Informationen zum Flugtag des
Überhaupt beharrt Kafka in seiner Beschreibung 11. September liefert (Binder 1982, 75–81), und vor
durchgehend auf der Inkongruenz zwischen Lust am allem Peter Demetz, dessen umfangreiche Doku-
Fliegen und menschlicher Schwäche. So vermag mentation nicht nur das historische Ereignis der
auch die Zuschauer-Prominenz nur wenig zu beein- Flugschau detailgetreu beleuchtet, sondern auch
drucken. Zwar beschreibt Kafka eingehend »die Ge- Kafkas Bericht in einen intertextuellen Zusammen-
sellschaft des italienischen Adels« (407) auf den Tri- hang stellt und dabei den Akt der Levitation und des
bünen und zählt gleich mehrere wohlklingende Na- Fliegens als »literarische Angelegenheit« des um
men auf, doch weder bei dem gesellschaftlichen Ausdruck ringenden frühen Kafka ausmacht. Mehr
Heros Gabriele d’Annunzio (1863–1938) – »klein noch: Das Fliegen oder besser seine langfristige Un-
und schwach, tanzt [er] scheinbar schüchtern vor möglichkeit ist für ihn eine zentrale Metapher des
dem Conte Oldofredi« (407) – noch bei dem damals Kafkaschen Œuvres: »Kafkas Charaktere (er selbst
bereits vergötterten Giacomo Puccini (1858–1924) – inbegriffen) erheben sich nie frei in die Lüfte, immer
»mit einer Nase, die man eine Trinkernase nennen blockiert jemand oder etwas ihren Weg, sei es der
könnte« (408) – macht Kafkas scharfer, die Hinfäl- Schnee auf dem Weg zum Schloß, der hermeneuti-
ligkeiten der Außenwelt schonungslos aufdeckender sche Türhüter oder die gesamte Hierarchie, die das
Blick eine Ausnahme. Einzig die Flüge der Piloten Gesetz verteidigt« (Demetz 2002, 126).
lösen seine wahre Bewunderung aus: Als Curtiss,
Rougier und Blériot am späten Nachmittag fliegen,
würdigt er ihre »vollkommenen Leistungen« (409), Deutungsaspekte
und noch beim Verlassen des Flugfelds blicken die
Freunde sehnsüchtig in den Himmel empor. Demetz’ Bemerkung deutet bereits an, dass Kafkas
Bericht allein aufgrund seines metaphorischen
Reichtums gesteigerte Aufmerksamkeit verdient.
Forschung Entscheidend ist hierbei das Oszillieren im Artikel
zwischen dem neutralen Scharfblick für physiogno-
Trotz der Veröffentlichung des kurzen Textes noch mische, technische und gestische Details und der vi-
zu Lebzeiten Kafkas hat die Forschung bisher nur sionären Macht einiger Bilder. Immer wieder wird
wenig Notiz von ihm genommen. Dabei liegt den die Ereignisoberfläche, die der fast unbeteiligte Be-
Aeroplanen, wie bereits erwähnt, ein gedankliches obachter präzise schildert, von Bildern durchbro-
Muster zugrunde, das in der Gegenüberstellung von chen, die nicht nur aufgrund ihrer metaphorischen
menschlicher, materieller Unzulänglichkeit und dem Tiefe das Genre der schlichten Reportage überstei-
Willen nach Höherem durchaus einer Grundkon- gen: »Ungeheure in ihren Wägelchen fettgewordene
stellation von Kafkas Frühwerk entspricht (zu dieser Bettler strecken uns ihre Arme in den Weg« (DzL
Konstellation beim frühen Kafka vgl. z. B.: Wagen- 401) − und dabei wie die Verkörperung jener
bach 2006 [1958], 48 f.). menschlichen Schwere und Schwäche wirken, die
Die Aeroplane in Brescia 129

selbst das ganze Flugspektakel mit seinem Höhen- Forschung: P.-A. Alt (2005), 195–197. – H. Binder
rausch nie wird überwinden oder negieren können. (1982 [1975]), 75–81. – Max Brod: Über F.K. Frank-
Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang auch, furt/M, Hamburg 1966, 92–95. − Peter Demetz: The Air
dass die Aeroplane noch nie in die Nähe jenes Textes Show at Brescia, 1909. New York 2002; dt.: Die Flug-
gerückt wurden, den sie am ehesten ankündigen und schau von Brescia. K., d’Annunzio und die Männer, die
erklären: die als Fortsetzungsstück für den Verschol- vom Himmel fielen. Übers. v. Andrea Marenzeller.
lenen konzipierte Passage vom Teater von Oklahama. Wien 2002. – S. v. Glinski (2004). – Felix Philipp Ingold:
Literatur und Aviatik: Europäische Flugdichtung 1909–
Fast chiastisch sind beide Texte aufeinander bezo-
1927. Basel 1978. – Reinhard Lettau: Nachwort. In: F.K.:
gen, da das als Rennbahn konzipierte Flugfeld auch
Die Aeroplane in Brescia und andere Texte. Hg. v. Kurt
von seinen Ausmaßen her auf den »Rennplatz in
Beck. Frankfurt/M. 1977, 135–143. – James Rolleston:
Clayton« vorausweist (V 387), während dessen thea-
Das Frühwerk. In: KHb (1979) II, 242–262, bes. 248 f. –
tralischer Charakter (»Es ist das größte Teater der K. Wagenbach (2006 [1958]). – Robert Wohl: A Passion
Welt«; V 394) wiederum Kafkas frühen Theater-Ver- for Wings. Aviation and the Western Imagination. New
gleich in ein ganz anderes Licht rückt: »Wir kom- Haven 1994.
men an den Hangars vorüber, die mit ihren zusam- Ronald Perlwitz
mengezogenen Vorhängen dastehen, wie geschlos-
sene Bühnen wandernder Komödianten« (DzL 403).
Rennplatz und Theater gehen in beiden Texten in-
einander über; dabei zeigt sich, dass auch in der frü-
hen Reportage jener Grundton vom Absturz der
Hoffnung in die Desillusion vorherrscht, der auch
das spätere Verschollenen-Kapitel bestimmt. Wird
dort die Attrappe eines mystischen Welttheaters auf-
gebaut und mit pathetischen Plakaten eine zukünf-
tige Herrlichkeit angekündigt, die für Karl Roßmann
nur im endgültigen Selbstverlust mündet, so kann
sich auch in Aeroplane der neutrale Berichterstatter
am Ende nicht der Vergeblichkeit der Flug-Illusion
entziehen und den tiefen Rückfall ins Irdische ver-
meiden: »Wir hören nicht auf, uns umzudrehen; ge-
rade steigt noch Rougier, mit uns aber geht es end-
gültig tiefer in die Campagna« (412). Bis ins kleinste
Detail, von der Übernahme der Engelsgestalt auf
dem Brescia-Plakat, bis zur An- und Abfahrt mit Zü-
gen vom Flugplatz reichen die Parallelen, deren ge-
naue Untersuchung im Besonderen und ihrer Impli-
kationen im Allgemeinen ein Desiderat der Kafka-
Forschung bleibt.
Ausgaben: Bohemia 82 (1909) Nr. 269, Morgenausgabe
[29. September], 1–3 [ED in stark gekürzter Form]. −
Max Brod: F.K. Erinnerungen und Dokumente. Prag
1937, 269–280 [ED des ungekürzten Textes]. – Ders.:
F.K. Eine Biographie. 2. Aufl. 1946, 269–280. − Max
Brod: Über F.K. Frankfurt/M, Hamburg 1966, 359–
367. − Max Brod/Franz Kafka. Eine Freundschaft. Bd. 1:
Reiseaufzeichnungen. Frankfurt/M. 1987, 17–26. –
DzL/KA (1994), 401–412; DzL:A/KA (1994), 515–518
[im Erstdruck unterdrückter Textanfang]. −− Brods
Paralleltext: Max Brod: Flugwoche in Brescia. In: März
3 ([Okt./Dez.] 1909) 4, 219–226; wieder in: Max Brod/
Franz Kafka. Eine Freundschaft. Bd. 1 (s.o.), 9–16.
130 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

3.1.5 Richard und Samuel richtig zehn Tage später, »aus ›Robert und Samuel‹
könne nichts werden« (T 211). Dennoch wird die
Zusammenarbeit in den nächsten zwei Monaten auf
Entstehung und Veröffentlichung Drängen Brods, der bereits mehrere Gemeinschafts-
vorhaben unternommen hatte (Übersetzung von Ju-
Wie Die Aeroplane in Brescia ist auch der Fragment les Laforgues Pierrot mit Franz Blei; Arbeit mit Felix
gebliebene gemeinsame Roman Richard und Samuel Weltsch an der philosophischen Studie Anschauung
ein literarisches Produkt der von 1909 bis 1912 re- und Begriff), aber nur »mit einer widerwilligen Kon-
gelmäßig mit Max Brod unternommenen Ferienrei- cession« (19.11.1911; T 258) von Kafkas Seite fortge-
sen. Und wiederum handelt es sich um ein Gemein- führt. Zwar wird Robert aus nicht ersichtlichen
schaftsprojekt: Max Brod erinnert sich, dass Kafka Gründen in Richard umgetauft, die Abneigung ge-
bereits am 26. August, also gleich zu Anfang der gen die literarische Aufarbeitung des jeweils anderen
1911 unternommenen vierwöchigen Reise über Zü- bleibt jedoch bestehen.
rich und Luzern nach Lugano, Mailand, Stresa und Besonders schwierig, gar unmöglich, erweist sich
Paris, den Vorschlag einer »gemeinsamen Reisear- die Zusammenarbeit, da es darum ging, wie Max
beit« gemacht habe, einer »gleichzeitigen Beschrei- Brod später berichtet, »daß das Ganze nicht aus Tei-
bung der Reise, indem man die Stellung des andern len besteht, die A oder B ausgearbeitet hat, sondern
zu den Dingen beschreibt« (26.8.1911; Max Brod/ an der ganzen Arbeit sind beide, A und B, ununter-
Franz Kafka: Eine Freundschaft, Bd. 1, 73). Angeregt scheidbar beteiligt« (Brod 1962, VIII). Beide Schrift-
wurde dies möglicherweise durch die von Gustave steller mögen sich gegenseitig noch so sehr bewun-
Flaubert und Maxime Du Camp gemeinsam ver- dert haben (vgl. 19.11.1911; T 258) – der Versuch
fasste Reisebeschreibung Par les champs et par les des gemeinsamen Schreibens endet leider im Fiasko.
grèves (Erstdruck 1910). Das einzige je fertiggestellte Kapitel erschien im Juni
Die Reiseaufzeichnungen Kafkas und Brods zeu- 1912 im Vereinsorgan der Jugendvereinigung der
gen von der anfänglichen Entschlossenheit, das Pro- Prager Loge des jüdischen Ordens B’nai Brith, den
jekt in die Tat umzusetzen. Kafka hatte bereits wäh- Herder-Blättern, die vom Brod-Freund Willy Haas
rend der beiden Dienstreisen nach Reichenberg und herausgegeben wurden. Das für den Druck verwen-
Friedland Anfang 1911 begonnen, systematisch Ta- dete 8-seitige Manuskript stammt, dem Projekt ent-
gebuch zu führen. Zusätzlich zu seinen Reiseauf- sprechend, zum Teil aus Kafkas, zum Teil aus Brods
zeichnungen entstehen also zahlreiche Bemerkun- Hand.
gen und ausformulierte Notizen, die, im Hinblick
auf das gemeinsame Vorhaben verfasst, gleichzeitig
Kafkas Detailgenauigkeit und Beobachtungsgabe Textbeschreibung
zeigen. So bemerkt der Herausgeber der Reisetage-
bücher Hans-Gerd Koch sehr zutreffend: »Während Dem einzigen vollendeten Kapitel des Richard und
im Tagebuch die Innenschau des Schreibenden vor- Samuel-Romans ist eine kurze Einleitung aus der Fe-
herrschend ist, richtet sich in den Reisetagebüchern der beider Autoren vorgeschaltet, die das Werk als
der Blick auf die jenseits des Gewohnten liegende »parallele Reisetagebücher zweier Freunde verschie-
Außenwelt. Auf Reisen tritt deutlich Kafkas Gabe denartigen Charakters« vorstellt und eine kurze Be-
hervor, sich in der Darstellung des Beobachteten auf schreibung jener so unterschiedlichen Persönlich-
das Besondere zu konzentrieren und es in literari- keiten liefert. Der kunstinteressierte, »weltläufige
scher Ausformung nachvollziehbar zu machen« junge Mann« Samuel trägt die Züge Brods, während
(Koch 1994, 249). der eher schüchterne Richard mit seiner »naiven
In den Monaten nach der Rückkehr belegen Kaf- Selbständigkeit« an Kafka erinnert (DzL 419).
kas Tagebücher die Beschäftigung mit dem gemein- Auch wenn die Tendenz zur Literarisierung eine
samen Projekt, aber auch seine zunehmende Ableh- genaue Zuschreibung verbietet, bleibt das gemein-
nung des fragwürdigen, da einengenden Verfahrens. same Romanprojekt sehr nahe am Reiseerlebnis der
Am 20. Oktober 1911 räumt er ein, er habe »schlecht beiden Freunde und an den Materialien aus den Ta-
geschrieben, ohne eigentlich in das Freie der eigent- gebüchern. Literarisch interessant ist das Wechsel-
lichen Beschreibung zu kommen, die einem den Fuß spiel der Perspektiven, das jede Situation im Spiegel
vom Erlebnis löst« (T 87), und eröffnet Brod folge- der jeweils individuellen Sichtweise schildert. So bil-
Richard und Samuel 131

den die fiktiven Tagebücher von Richard und Samuel Forschung


auch die stilistischen und atmosphärischen Unter-
schiede in den Aufzeichnungen Kafkas und Brods Der fragmentarische Charakter, die relative Banali-
ab: »Wo […] Max Brod bemüht ist, ein getreues Bild tät des überlieferten Romanfragments und die unge-
des Wahrgenommenen und Erlebten zu liefern, ver- nau definierte Überlappung zweier sehr unterschied-
mag Kafka eine Stimmung wiederzugeben, die im licher Sicht- und Schreibweisen sind genug Gründe
Zusammenhang mit wenigen, präzise beschriebenen dafür, dass Richard und Samuel auch heute noch
Details ein Bild entstehen läßt und es ermöglicht, kaum Beachtung gefunden hat. Nicht ganz zu Un-
sich in die Szenerie hineinzuversetzen« (Koch 1994, recht weist Peter-André Alt darauf hin, dass »Kafkas
249). spätere Zweifel« an der literarischen Qualität des
Fast wie eine literarische Übung mutet bereits der gemeinsamen Erzeugnisses »fraglos ihre Berech-
Anfang des Kapitels an, der sinngemäß mit einer tigung« hatten (Alt 2005, 239). Vor allem die schwie-
›mise en abîme‹ einsetzt: Gerade ist der Zug abge- rige Genese des Werks wird als Grund für seinen
fahren, da schlägt Richard seinem Freund vor, ein untergeordneten Rang in Kafkas Gesamtwerk ange-
Paralleltagebuch zu schreiben. Der mit diesem Ent- führt: »Dieses Unternehmen scheiterte deshalb, weil
schluss verbundene Verlust an Reisekomfort wird für Kafka die Vorstellung unerträglich war, dass der
gerne hingenommen, und das »sehr große, quadrati- Fortgang seines Schreibens davon abhängig sein
sche« Notizbuch (DzL 420) deutet bereits die Alteri- sollte, wie weit sein Freund in seinem Schreibprozess
tät des Tagebuch-führenden Reisenden an, der sich vorangekommen war« (Jahraus 2006, 44).
jedoch unmöglich dem Zwang, den fremden Alltag Allgemein gilt, dass das Fragment bisher meist aus
bis ins kleinste Detail schriftlich festzuhalten, entzie- dokumentarischer Sicht wahrgenommen wurde, da
hen kann: »Unverantwortlich ohne Notizen zu rei- es Informationen zur Reise der beiden Freunde lie-
sen, selbst zu leben« (5.9.1911; T 970). fert (Wagenbach, Dietz). Eine der wenigen Ausnah-
Die dünne Handlung des kurzen Kapitels ist men bildet hier Sophie von Glinski, die in Richard
schnell erzählt: Zentrales Ereignis ist die Begegnung und Samuel eine entscheidende Etappe auf Kafkas li-
im Zug mit einer hübschen Wagnerianerin, Dora terarischem Weg von der Beschreibung zur Selbstre-
Lippert genannt [i.e. Alice Rehberger], die beide flexion und zum eigenständigen Erschaffen von Ge-
Männer in ihren Bann zieht. Die gemeinsame, zu schichten sieht: »Erst mit dem seit Herbst 1911 ver-
Verführungszwecken erdachte Stadtrundfahrt folgten Plan zu einem Reise-Aufzeichnungs-Roman
durchs nächtliche München verschreckt aber die […] wird Beschreibung schließlich zum eigenen lite-
junge Dame, die kurz darauf in einen anderen Zug rarischen Projekt« (von Glinski 2004, 208).
steigt und beide Männer unverrichteter Dinge auf
dem Bahnsteig zurücklässt.
Während Samuel seine Aufzeichnungen immer Deutungsaspekte
wieder mit literarischen Anspielungen versieht –
beim Anblick der Schweizer Häuser fühlt er sich z. B. So zutreffend die Bemerkung ist, dass der schwierige
an Robert Walsers Roman Der Gehülfe (1908) erin- Entstehungsprozess des Werkes sicherlich auch im
nert (DzL 434) –, herrschen bei Richard eher Innen- Endprodukt durchschimmert und dass Richard und
sicht und perspektivische Beobachtung vor, die dann Samuel zweifelsohne keinen bedeutenden literari-
bei der Weiterfahrt von München nach Zürich in schen Rang beanspruchen kann, so falsch erscheint
eine Erzählung seines Halbschlafs münden. Am es jedoch, das Fragment zu unterschätzen.
Ende des Kapitels stehen beide am Zugfenster und Beeindruckend ist es vor allem deswegen, weil es
blicken hinaus in die vorbeiziehende Schweizer mit einer entwaffnenden Naivität das in Kafkas spä-
Landschaft. Dabei taucht in Richard das Bild Doras terem Werk vorherrschende Thema aggressiv erleb-
wieder auf, deren zarte, teilweise mütterlich, teil- ter weiblicher Sexualität sowie das hiermit zusam-
weise erotisch gefärbte Nähe er herbeisehnt. Sogar menhängende Leiden an der sexuellen Schizophre-
die engste männliche Beziehung vermag den Reisen- nie der Zeit behandelt. Die bürgerliche Doppelmoral,
den hier nicht mehr über das Fehlen einer weibli- die vom Manne einerseits erwartete, dass er sich als
chen Präsenz hinwegzutrösten. honoriger Familienvater verhielt, ihn aber gleichzei-
tig dazu anhielt, seine Männlichkeit durch zahlrei-
che Affären unter Beweis zu stellen, wird von Kafka
132 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

auch in den großen Romanen immer wieder aufge- sich aber auch dazu, sich anhand ihres Beispiels aus-
griffen und als eine der Hauptursachen für die ei- zumalen, wie Frauenkörper unter der täglichen
gene, ambivalente Haltung dem anderen Geschlecht Büro-Arbeit zu leiden haben: »Und so werden diese
gegenüber ausgewiesen. runden Popos gedrückt, und zugleich die Brust an
Kafkas Tagebücher von der Reise belegen zur Ge- der Schreibtischkante« (DzL 427). Bei der Fahrt
nüge, dass es den beiden Männern auf ihrer Reise durch Berlin fühlt sich Richard dann sogar an den
auch darum ging, erotische Abenteuer zu erleben. Film Die Weiße Sklavin (Dänemark, 1910) erinnert,
Bordelle wurden regelmäßig besucht, wobei sich den Kafka 1910 im Kino gesehen hatte (An Max
Kafkas Haltung darin äußert, dass er sowohl in Mai- Brod, 25.2.1911; B00–12 134; vgl. Zischler, 47–60).
land als auch in Paris beim Anblick der posierenden Hier wird die unschuldige Protagonistin von frem-
Prostituierten die Flucht ergreift. Bezeichnender- den Männern entführt und dann zur Prostitution
weise winkt gleich zu Beginn von Richard und angehalten. Doras Verklärung durch Richard in der
Samuel eine von zwei Bäuerinnen aus einem gegen- melancholisch-sinnlichen Schlussszene ist jedoch
überstehenden Zugwaggon den beiden Männern zu. weniger ein Zeichen für sein Verliebtsein als für Kaf-
Doch während Samuel das Gefühl hat, »als verspotte kas Tendenz zur konsequenten Literarisierung des
sie uns, weil wir nicht hinüberkönnen«, ärgert sich Geschehenen. Dora wird lediglich deswegen zum
Richard über des Freundes »liebedienerischen Brennpunkt der poetischen Reflexion des Dichters,
Gruß« an die Mädchen (DzL 421). weil sie das »nächste Mädchen meiner Erinnerung«
Fast holzschnittartig entwirft der Text die charak- ist (DzL 439). Im Vordergrund steht nicht die
terlichen Unterschiede der beiden vor dem Hinter- konkrete Reisebekanntschaft, sondern der poeto-
grund des sexuellen Verhaltens. Auf der einen Seite logische Aspekt, denn das abschließende Tableau
steht Samuel, dem es – man erstaunt fast, dass sich gewinnt erst dadurch an Bedeutung, dass es den
Brod so eindimensional hat zeichnen lassen – ganz Übergang von der Betrachtung der Wirklichkeit –
einfach darum geht, erotische Abenteuer zu haben. zusammen mit Samuel – zur subjektiven Verarbei-
Den Bäuerinnen, die neben den Bediensteten und tung dieser Wahrnehmung inszeniert. Das Leiden
den Prostituierten für beide Männer zu jener Ziel- an Liebessehnsucht wird erst dadurch interessant,
gruppe gehören, die ihnen das Beweisen ihrer Virili- dass sich an ihm die Trennung von Ich und Welt ab-
tät ermöglicht, winkt er gerne zurück. Und die Wag- lesen lässt.
nerianerin Dora Lippert ist für ihn nur so lange von Besonders eindrücklich ist die Thematisierung
Interesse, als sie für eine Affäre in Frage kommt. Er des Bezugs, den das Dichter-Ich zu der ihm unge-
beschreibt sie schlicht als »hübsch, dicknasig, kleiner wohnten Umgebung herstellt, in den Landschaftsbe-
Halsausschnitt in weißer Spitzenbluse« (DzL 422); schreibungen, die Richard im Halbschlaf liefert:
als sich herausstellt, dass sie sich dann doch entzieht,
Samuel weckt mich angeblich beim Anblick einer se-
bemerkt er nur noch lakonisch: »ich hatte gar keine henswerten Brücke, die aber schon vorbei ist, ehe ich
Lust auf das fade Frauenzimmer« (DzL 430). Bei Ri- aufschaue, und verschafft sich durch diesen Griff viel-
chard hingegen erscheint sie als ›femme fragile‹, de- leicht den ersten starken Eindruck von der Schweiz. Ich
ren künstlerische Neigung mit einer schwachen sehe sie zuerst, viel zu lange Zeit, aus innerer in äußerer
Dämmerung an (DzL 435).
Konstitution einhergeht, wodurch sie der berühm-
ten Wagnerianerin Gabriele Klöterjahn aus Thomas Die syntaktische Konstruktion des Satzes ist so ange-
Manns Tristan (1903) zum Verwechseln ähnlich legt, dass das Verschwinden der Brücke in die Bewe-
wird: gung des Satzes hinein verlegt wird. Langsam, im
grammatikalischen Aufbau, geht die Außenwelt un-
Dora L. hat runde Wangen mit viel blondem Flaum; sie
sind aber so blutleer, daß man sehr lange die Hände in ter, zieht am Fenster vorbei; übrig bleibt nur die in-
sie drücken müßte, ehe sich eine Röthung zeigte. Das nere Bewegung, die diffuse Auferstehung der Land-
Mieder ist schlecht, über seinem Rande auf der Brust schaft als inneres Bild. Wie sooft auch in seinen Ta-
zerknittert sich die Bluse; davon muß man absehn (DzL gebüchern aus dem Jahre 1911 (vgl. von Glinski,
424).
225 ff.), sondiert Kafka die literarischen Möglichkei-
Bezeichnend ist auch die weitere Beschreibung des ten der Vertauschung von Innen und Außen, prüft
Mädchens, die zwischen erotischer Faszination und die Mittel, nicht nur der künstlerischen Fixierung
intellektueller Bewunderung oszilliert: Richard be- von Wirklichkeit, sondern auch der Verwandlung
wundert sie, weil sie »so musikalisch« ist, versteigt von Wirklichkeit aus der Perspektive des Ich heraus.
Richard und Samuel 133

Richard und Samuel darf also auch in den Kontext Ludwig Dietz: F.K. Stuttgart 1990. – Sophie von Glinski:
jener frühen Schriften Kafkas gestellt werden, die Imaginationsprozesse. Verfahren phantastischen Er-
der systematischen Erforschung der literarischen zählens in F.K.s Frühwerk. Berlin, New York 2004. –
Arbeit und der thematischen Konturierung der ima- O. Jahraus (2006), 43 f. – Hans-Gerd Koch: Nachbemer-
ginierten Welt gewidmet sind. In den Tagebüchern kung. In: F.K.: Reisetagebücher (KA/Tb 12, 1994), 246–
entzündet sich die Reflexion über die Beschreibung 250. – Ders.: Brods erlesener K. In: Engel/Lamping
der Wirklichkeit an Goethes Reise in die Schweiz (2006), 169–178. – Hannelore Rodlauer-Wenko: Die Pa-
ralleltagebücher K.-Brod und das Modell Flaubert. In:
(29.9.1911; T 42 f.); seit 1909 beschäftigt sich Kafka
Arcadia 20 (1985), 47–60. – James Rolleston: Die erste
intensiv mit Flaubert, dessen anachoretisches Rin-
lange Eisenbahnfahrt. In: KHb (1979) II, 405–407. −
gen um Kunst ihn restlos fasziniert. Biographisches
Klaus Wagenbach: F.K. Eine Biographie seiner Jugend.
und Autobiographisches laufen in dieser Zeit paral-
Berlin 2006 [1958], bes. 169–172. – John Zilcosky:
lel, und es steht außer Zweifel, dass auch Richard und Transcending the Exotic. Nostalgia, Exoticism, and K.’s
Samuel diesem Bemühen geschuldet ist, auch wenn Early Travel Novel Richard und Samuel. In: J. Zilcosky
hier ansatzweise eine Fabel um die vielschichtige (2003), 19–40. – Hans Dieter Zimmermann: K. für
Freundschaft zweier Männer gesponnen wird. Die Fortgeschrittene. München 2004, bes. 9–15. – Hanns
Wahrnehmung der Außenwelt – vorzugsweise einer Zischler: K. geht ins Kino. Reinbek 1996, bes. 47–60.
fremdartigen Außenwelt – wird zum Anlass genom- Ronald Perlwitz
men, über das beobachtende Ich und sein Ringen
um Ausdruck nachzudenken. Weniger die Unfähig-
keit zur produktiven Zusammenarbeit mit dem
Freund, als die Zentrierung der autobiographischen
Arbeit auf die Konstitution des Dichter-Ich und sei-
nes subjektiven Bezugs zur Wirklichkeit dürfte also
der Grund für das Scheitern des Gemeinschaftspro-
jekts gewesen sein. Gleichwohl darf aber angemerkt
werden, dass einige charakteristische Züge von Kaf-
kas künstlerischer Persönlichkeit wohl selten so klar
zum Vorschein gekommen sind wie in dem kurzen
Kapitel um die Zugfahrt von Prag nach Zürich.

Ausgaben: ED: Erstes Kapitel des geplanten Buches Ri-


chard und Samuel von Max Brod und Franz Kafka: Die
erste lange Eisenbahnfahrt. In: Herderblätter 1 ([Juni]
1912) 3, 15–25. – Erz/GS (1935), 264–278 [Anhang]. –
Erz/GW (1952), 296–312 [Anhang]. – Max Brod/F.K.:
Eine Freundschaft. Bd. 1: Reiseaufzeichnungen. Hg. v.
Malcolm Pasley u. Hannelore Rodlauer. Frankfurt/M.
1987, 143–188 (Reise Lugano-Mailand-Paris-Erlen-
bach), 193–208 (Erstes Kapitel des Buches Richard und
Samuel), 278–292 (Erl. u. Komm. des Hgs.) u. 303–305
(Itinerarium zur Reise 1911). – DzL/KA (1994), 419–
440; vgl. auch: NSF I/KA (1993), 183–186 (Skizze zur
Einleitung für Richard und Samuel); NSF I:A/KA
(1993), 64 f. (Brods Skizze zur Einleitung); T/KA (1990),
941–1017 (Reisetagebuch zur Reise August/September
1911). − Texte Max Brods: Max Brod/F.K.: Eine Freund-
schaft (s.o.), Bd. 1, 73–142 (Reise Lugano-Mailand-Pa-
ris).
Forschung: P.-A. Alt (2005), 199–204, 237–239. – Max
Brod: Zusammenarbeit mit F.K. In: Herder-Blätter. Fak-
simile-Ausgabe zum 70. Geburtstag von Willy Haas.
Hamburg 1962; wieder in: Tribüne 2 (1963), 527–529. –
134 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

3.1.6 Literaturkritische und Die Rezensionen


literaturtheoretische Kafkas literaturkritische Tätigkeit beginnt im Um-
Schriften feld der vielfältigen Aktivitäten seines Freundes Max
Brod und dessen Freundes Franz Blei (1871–1942).
Blei und Brod hatten zusammen Werke des französi-
Kafka und die Theorie schen Symbolisten Jules Laforgue (1860–1887) ins
Deutsche übertragen; Blei hatte Brods erste Buch-
Kafka hat sich nur selten zu literaturtheoretischen veröffentlichung rezensiert und gab eine erotische
Fragen geäußert. Aus den Jahren zwischen 1908 und Zeitschrift mit dem Titel Der Amethyst heraus, in der
1911, also der Phase, in der sich Kafka wohl am in- auch Brod veröffentlichte. 1908 kam das erste Heft
tensivsten und am umfangreichsten mit dem litera- einer neuen Zeitschrift von Blei mit dem Titel Hy-
rischen Leben in Prag und mit zeitgenössischer Lite- perion auf den Markt; in diesem »luxurierenden,
ratur auseinandersetzte, datieren einige Rezensio- überformatigen, zweimonatlich erscheinenden Or-
nen, die meisten davon Auftragsarbeiten im Kreis gan des literarischen Ästhetizismus« (Stach, 6) er-
um Max Brod und Franz Blei. Eine eigene Stelle schien auch die erste literarische Veröffentlichung
nimmt der Einleitungsvortrag über Jargon ein, ein Kafkas, die acht Prosastücke der Betrachtung. Kafka
Vortrag über die jiddische Sprache, den Kafka an- wiederum rezensierte dafür Bleis Puderquaste sowie
lässlich einer Gedichtlesung 1912 hielt. Von beson- einen Roman Felix Sternheims, eines Protegés von
derem Interesse sind darüber hinaus die relativ weit Blei, und er schrieb nach nur drei Jahren den Abge-
ausformulierten Überlegungen zu den sogenannten sang auf den Hyperion. Reiner Stach resümiert lako-
»kleinen Literaturen« im Tagebuch aus dem Jahr nisch: »es deuten sich da die zarten Umrisse einer li-
1911. terarischen Seilschaft an« (ebd.).
Es ist jedoch müßig, aus diesen wenigen, verstreu- Gleichwohl kann man im Blick auf Kafkas Rezen-
ten Zeugnissen eine Kafkasche Literaturtheorie im sionen nicht von Gefälligkeitsrezensionen im eigent-
strengen Sinn herauspräparieren zu wollen. Man lichen Sinn sprechen; zu eigenwillig ist ihr sprachli-
sollte allerdings auch nicht sofort Kafkas Äußerun- cher Duktus, zu wenig argumentativ ihr kritischer
gen auf den Leim gehen, in denen er sich selbst als Zugriff. Es handelt sich streckenweise eher um Lese-
schwachen Denker und als zur Theorie von Grund assoziationen denn um Literaturkritik, und der Le-
auf unfähig darstellt (so Binder 1982, 12). Natürlich ser weiß am Schluss wohl kaum, ob ihm das Buch
hat Kafka, wie sollte es bei seiner Fixierung auf die nun eigentlich empfohlen wurde oder nicht. Ande-
Literatur und seiner intensiven Lektüre der Weltlite- rerseits sind die Texte auch als äußerlich nicht-fikti-
ratur auch anders möglich sein, bestimmte Auffas- onale literarische Werke Kafkas von Interesse. Wie
sungen vom Schreiben, von literarischer Qualität, für die Selbstzeugnisse gilt auch hier, dass eine
von poetischen Techniken, Verfahren, Wirkungs- kategoriale Trennung zwischen fiktionalem und
weisen, die er wohl kaum nur seinem halbjährigen nicht-fiktionalem, pragmatischem und poetischem
germanistischen Studium im Sommersemester 1902 Schreiben kaum existiert, sondern jegliche Texte
verdankte. Sie haben unverkennbare Spuren in den Kafkas mehr oder weniger literarische Äußerungen –
genannten Zeugnissen hinterlassen, die zumindest mit einem mal größeren, mal kleineren Fiktionali-
ansatzweise Aufschluss über seine Haltung zu litera- sierungsanteil – sind.
turtheoretischen Fragen geben können. Dabei be-
schränkt sich der Aussagewert jedoch vor allem auf Ein Damenbrevier
die Frühzeit seines literarischen Schaffens; späterhin
(Franz Blei: Die Puderquaste)
verzichtet Kafka vollständig auf eine Tätigkeit als Li-
teraturkritiker, und auch in den Tagebüchern finden Als erstes bespricht Kafka Franz Bleis Buch Die Pu-
sich ›nur‹ noch Äußerungen über die Lebensnot- derquaste. Ein Damenbrevier. Aus den Papieren des
wendigkeit des Schreibens für ihn ganz persönlich. Prinzen Hippolyt, das Ende 1908 im Münchner Ver-
lag Hans von Weber erschienen war; die Rezension
wird in der von Herwarth Walden herausgegebenen
Zeitschrift Der neue Weg am 6. Februar 1909 veröf-
fentlicht. Bleis Buch enthält eine lockere Folge von
Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften 135

Erzählungen, Skizzen und Betrachtungen über Liebe telt also keine diskursiv begründete Kritik, sondern
und Leben im Allgemeinen, auf die der Rezensent ein vergleichbar verwirrendes Lektüreerlebnis.
mit keinem Wort eingeht. Vielmehr springt der eif-
rige Schwimmer Kafka sozusagen mit einem Kopf- Ein Roman der Jugend (Felix Sternheim:
sprung in die Rezension:
Die Geschichte des jungen Oswald )
Wenn man sich in die Welt aufatmend entläßt, wie vom
hohen Gerüst der Schwimmer in den Fluß, gleich und Auch Kafkas zweite Rezension beginnt gleich mit
später manchmal von Gegenstößen wie ein liebes Kind dem Bezug auf die Leser. Es handelt sich um Felix
verwirrt, aber immer mit schönen Wellen zur Seite in Sternheims Die Geschichte des jungen Oswald. Ein
die Luft der Ferne treibt, dann mag man wie in diesem Roman in Briefen, veröffentlicht Weihnachten 1909
Buch ziellos mit geheimem Ziel die Blicke über das Was-
ser richten (DzL 381).
wiederum im Verlag Hans von Weber; die Rezension
erscheint in der deutschsprachigen Prager Zeitung
Der lange Satz, der in seiner Syntax die dargestellte Bohemia vom 16. Januar 1910. Kafka schreibt:
Wellenbewegung simuliert, fasst eine mögliche Vielleicht muß der Leser, während er diesen Roman in
Lektürehaltung in ein bewegtes, ziemlich überlade- Briefform zu lesen beginnt, aus Not ein wenig einfältig
nes Bild. Der unmittelbar daran anschließende Ab- werden, denn ein Leser kann nicht gedeihen, beugt man
satz skizziert demgegenüber eine zweite, gegensätz- seinen Kopf sogleich mit dem ersten Ruck über den un-
veränderlichen Strom eines Gefühls (DzL 413).
liche Lesehaltung, nämlich eine auf »Erkenntnis«
und »Überzeugung« ausgerichtete, die nur derje- Seine daran anschließenden Reflexionen über die
nige gewinnt, der sich nicht vom Text willenlos Gattungsform, den Briefroman, entbehren allerdings
überwältigen lässt und in seinem Sog mitschwimmt. nicht nur jeglicher Naivität, sondern sind diesmal
Diesem nun offenbaren sich zum einen die »förm- ungewohnt theoretisch. Die Briefform, so Kafka,
lich ungestillte Energie« des Verfassers, zum ande- überwältige den Autor in gewisser Weise dadurch,
ren die »Kanten zum Erschrecken« (ebd.) im Text dass sie ihre eigenen Gesetze mit sich brächte; diese
selbst. bestimmt er als ein dialektisch zu fassendes Verhält-
Doch kaum sind die damit angedeuteten Bildkon- nis von »raschem Wechsel« im Erleben selbst und
traste verarbeitet, wechselt Kafka schon wieder die distanzierter »Dauer« in der Niederschrift. Wie ein
Bildfelder: Die »Materie« des Buches vergleicht er vorweggenommenes Selbstporträt wirkt an dieser
mit den »Versuchungen« (381) der Einsiedler in der Stelle die Beschreibung des nächtlichen Briefschrei-
Wüste – ein Reflex der Lektüre von Flauberts Tenta- bers, der »bei Ruhigsein des ganzen Körpers«
tion du Saint Antoine (Wagenbach 2006, 159) –, im »gleichmäßig seine Hand über das Briefpapier«
nächsten Schritt jedoch schon mit einem »kleinen schiebt (414). Auf weitere biographische Bezüge der
Ballettcorps« (DzL 381). Nicht nur der Autor des Hauptgestalt zu Kafka hat im übrigen Binder hinge-
Buches ist offenbar in seinen Text »verstrickt« (382), wiesen (Binder 1982, 378).
sondern auch der Rezensent verstrickt den Leser in Von den Briefen aus nähert Kafka sich nun dem
ein Gewirr von Bildern, die sich gegenseitig aufzu- Schwerpunkt seiner Rezension an, und das ist nicht
heben scheinen und schließlich in eine ebenso un- etwa die kunstvolle, wenn auch ein wenig allzu sehr
vermittelte Gattungsreflexion münden: Um einen an Goethes Werther gemahnende Machart, sondern
»Beichtspiegel« für Damen handele es sich nämlich. die weibliche Hauptfigur: ein Gretchen, das für
Gekonnt spielt Kafka dabei mit der Gattungstraves- Kafka in ihrer Einfachheit und Natürlichkeit die
tie des ›Beichtspiegels‹ wie auch des ›Breviers‹ durch »tiefste Stelle des Romans« (DzL 415) markiert. Der
die erotische Literatur, indem er den Text unvermit- Roman entfernt sich zwar wieder von dieser Gestalt,
telt wiederum in einer Lektüresituation, »in der ge- in Richtung auf eben jenen Oswald und dessen durch
wohnten mitternächtlichen Beleuchtung während Werther vorgezeichneten unvermeidlichen Selbst-
eines leisen Gespräches (leise, weil es heiß ist) nahe mord; der Rezensent jedoch bleibt bei Gretchen, ent-
beim Bett!« (382 f.) enden lässt. scheidet sich eben nicht für »den Ruhm, die Dicht-
Werner Hofmann geht wohl zu Recht davon aus, kunst, die Musik« (414), sondern für die »Liebe« und
dass hier ein Ansteckungsphänomen vorliegt, indem die »Treue« und »alle guten Dinge«, die das Buch
sich der lockere Aufbau und die improvisierte Form durch seine oberflächliche Dichtkunst »geradewegs
der Gedankenführung von Bleis Buch auf Kafkas Be- totschlägt« (415). Am Ende siegt damit das einfache,
sprechung überträgt (Hofmann, 472). Kafka vermit- weibliche, unreflektierte Leben über die kunstvolle,
136 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

männliche, reflexiv gebrochene Dichtkunst – und 1950), erschien zu Kleists 100. Todestag am 21. No-
letztendlich die Rezension über das damit doch recht vember 1911 im Ernst Rowohlt Verlag (Leipzig);
grundlegend verurteilte Epigonen-Werk. vorausgegangen war im Jahr 1910 eine fünfbändige
Kleist-Ausgabe im Leipziger Tempel-Verlag (Hg. Ar-
Eine entschlafene Zeitschrift thur Eloesser, 1870–1938), die Kafka wohl besaß und
auf die er sich im Text auch bezieht. Kafkas Rezen-
Zwiespältig ist auch der Eindruck, den Kafkas Nach- sion ist vermutlich kurz nach dem Erscheinungsda-
ruf auf den Bleischen Hyperion unter dem Titel Eine tum des Anekdoten-Bandes entstanden.
entschlafene Zeitschrift (abgedruckt wiederum in der Kleist war bekanntlich einer von Kafkas Lieblings-
Bohemia, Ausgabe vom 19. März 1911) vermittelt. autoren (ä 32); er war dazu, ebenso wie beispiels-
Der erste Absatz nimmt die Beerdigungsmetaphorik weise Flaubert, nicht nur durch sein Werk, sondern
auf, indem er die »großen, weißen Hefte« der über- zudem durch die Parallelen zu Kafkas Lebensproble-
dimensionierten Publikation mit zwölf Steinplatten matik qualifiziert. Dazu kommt Kafkas besonderes
assoziiert und die Almanache der Jahre 1910 und Interesse an autobiographischen Schriften insge-
1911 mit »unterhaltenden Reliquien eines unbeque- samt, das sich allenthalben in seinen Tagebüchern
men Toten« (DzL 416). Danach wird, weiter im Ton äußert. Beides zusammen erklärt die enorme Bedeu-
der Totenrede, die Genealogie des Blattes aufgerollt; tung und die hohe Wertschätzung, die Kafka in die-
als Vorfahren werden der Pan und die Insel genannt. ser kurzen Rezension einem kleinen Anekdoten-
Beide hätten jedoch, und nun nimmt der Text eine Band zuschreibt. Nicht wenig pathetisch hebt die
Kafkasche Wendung, in ihrer Existenz eine zwar un- Rezension an:
terschiedliche, aber immerhin vorhandene »Not-
Das ist ein Anblick, wenn die großen Werke, selbst bei
wendigkeit« (417) für das kulturelle Leben ihrer Zeit
willkürlicher Zerteilung, aus ihrem unzerteilbaren In-
gehabt, jedoch: »Der ›Hyperion‹ hatte keine« (ebd.). nern immer wieder leben, dann vielleicht ganz beson-
Der Grund dafür ist letztendlich, um einen bekann- ders in unsere trüben Augen schlagend (NSF I, 187).
ten Ausspruch von Groucho Marx über die Mitglied-
schaft in Clubs zu variieren, dass eine Zeitschrift, die Das gestische Bild steht für ein hermeneutisches Ar-
Autoren wie Kafka publiziert, keinen Lebenszweck gument: Es geht davon aus, dass »großen Werken«
haben kann; im Hyperion waren bekanntermaßen eine organische Ganzheit innewohnt, die sich durch
seine Betrachtung (ä 125) sowie das Gespräch mit die Isolation einzelner Teile nicht aufheben lässt; im
dem Beter und das Gespräch mit dem Betrunkenen Gegenteil, gerade die »Einzelausgabe« (ebd.) – und
(ä 101) erschienen. Denn der Autortypus, den Kafka sei es nur eine von vielleicht sogar schon bekannten
im Folgenden als repräsentativ für den Hyperion un- Anekdoten – verweist in ihrer Begrenzung unver-
terstellt, trägt deutlich seine eigenen Züge: Der Hy- meidlich auf das Ganze, dem sie angehört, ja steigert
perion habe »denen, die an den Grenzen der Litera- den Eindruck von dessen unzerstörbarer Lebendig-
tur wohnen, eine große lebendige Repräsentation« keit noch. Offensichtlich ist Kafkas Werkideal, zu-
(DzL 417) geben wollen; solche Autoren aber, »die mindest in dieser Zeit, klassizistisch geprägt. Das
ihre Natur von der Gemeinschaft fernhält« (ebd.), ›große Werk‹ übersteigt damit aber letztendlich die
würden eine solche Vertretung weder benötigen, Möglichkeiten des Lesers. Hier zeigt sich einmal
noch würde sie ihnen gerecht. Der Autor als prototy- mehr Kafkas Grundüberzeugung, dass die Qualität
pischer Junggeselle kann auch in der Zeitschrift die von Büchern sich danach bemisst, wie stark ihre Ge-
Nachbarschaft anderer Arbeiten nicht ertragen. wissheiten verstörende, ja geradezu körperlich ver-
letzende Wirkung ist; diese Wirkung formuliert
»Das ist ein Anblick« Kafka durch die aggressive Metapher »in unsere trü-
ben Augen schlagend« (ebd.).
(<Über Kleists Anekdoten >)
In einer Art Anti-Klimax preist Kafka danach vor
Noch näher an Kafkas Überzeugungen über den allem die Ausstattung; Alt hat darauf hingewiesen,
Wert literarischer Werke führt eine in einem Einzel- dass Kafka den Band als Druckvorlage für seine erste
konvolut überlieferte, nach Hofmann vielleicht für eigene Veröffentlichung, die Betrachtung, verwendet
das Prager Tagblatt bestimmte Rezension über einen hat (Alt, 144).
Anekdoten-Band (Hofmann, 473). Heinrich von Kleist’s
Anekdoten, herausgegeben von Julius Bab (1880–
Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften 137

Fazit schied zwischen ästhetischen und wissenschaftli-


chen Menschen« (10).
Insgesamt kann über die Rezensionen gesagt wer- Zum zweiten diskutiert Kafka das Kriterium der
den, dass sie weniger an einer Bewertung der Texte physiologischen »Thatsache« der »Ermüdung« (9)
in Begriffen von ästhetischer Qualität als vielmehr beim Kunstgenuss. Abgesehen davon, so Kafka, dass
an der Herstellung einer den Werken adäquaten Le- eine solche Ermüdung auch beim Genuss vom Kalb-
sehaltung arbeiten. Die Rezension schafft sozusagen fleisch beim Mittagessen eintreten könne, sei Brods
das Milieu, in dem die besprochenen Werke ihr ide- Begriff der Neuheit insgesamt so weit gefasst, dass er
ales Rezeptionspotential – zumindest für Kafka – sich schließlich selbst aufhebe:
entfalten. Dieses ist jedoch unabhängig von ihrer denn da alle Gegenstände in immer wechselnder Zeit
Größe, ihrem Bedeutungsanspruch, ihrer Gattungs- und Beleuchtung stehn und wir Zuschauer nicht anders,
form und liegt wesentlich in dem Kriterium der Le- so müssen wir ihnen immer an einem andern Orte be-
benswahrheit und der von ihnen ausgelösten pro- gegnen (10).
duktiven Verstörung des Lesenden begründet. Das Argument ist vor allem deshalb interessant, weil
es darauf hinweist, dass Kafka vom Empiriokritizis-
mus seiner Zeit beeinflusst war (vgl. Wagenbach
Literatur- und sprachtheoretische 2006, 54). Kafka verwendet das Argument jedoch
Beiträge nicht weiter, sondern überführt die Diskussion über
die Müdigkeit schließlich von einer begrifflichen in
<Über ästhetische Apperception> eine bildliche: Der Gegenstand »schwebe« in der äs-
(»Man darf nicht sagen«) thetischen Apperzeption »über der ästhetischen
Kante und Müdigkeit«; er habe »das Gleichgewicht
Kafkas erste überlieferte literaturtheoretische Schrift verloren und zwar im üblen Sinn« (NSF I, 10). Das
in engerem Sinne ist ein Konvolut aus dem Jahr 1906, Gleichgewicht muss jedoch, das zeigen die folgen-
das sich mit Max Brods Artikel Zur Ästhetik, erschie- den Zeilen, auf jeden Fall wieder hergestellt werden.
nen in der Wochenschrift Die Gegenwart in zwei Tei- Die »ästhetische Apperzeption« sei nämlich kein
len am 17. und 24. Februar 1906, auseinandersetzt; »Zustand«, sondern »eine Bewegung«; aber eben
Kafka bezieht sich in seinen Ausführungen nur auf deshalb »muß sie sich vollenden« (10). Diese Vollen-
den ersten Teil des Brod-Textes (vgl. NSF I:A, 36). dung beschreibt Kafka in einem zwischen Beängsti-
Die dreiseitige, mit Bleistift notierte Schrift zeigt gung und Befriedigung schwebenden Bild: »Es ent-
akademische Züge im verwendeten philosophischen steht ein wenig Lärm, dazwischen dieses bedrängte
Begriffsarsenal – Kafka reflektiert im Wesentlichen Lustgefühl, aber bald muß alles in seinen gehöhlten
über die »ästhetische Apperzeption« – ebenso wie in Lagern ruhen« (ebd.). Der ästhetischen Erfahrung
der Nummerierung der Paragraphen von a bis e. bleibt damit ein sehr schmaler Zwischenraum zwi-
Gleichwohl ist der Text vor allem im Frageduktus schen verunsichernder Destabilisierung und Wie-
formuliert und richtet sich zeitweilig direkt an Brod derherstellung des geschützten Ruhezustandes vor-
als »Du«. behalten.
Kafka geht es bei der Auseinandersetzung mit Kafkas abschließendes Alltagsbeispiel für eine
dem seit Leibniz etablierten Terminus der ›Apper- nicht-ästhetische Apperzeption – nämlich das tat-
zeption‹ – die Ergänzung der sinnlichen Wahrneh- sächliche Finden eines nur beschriebenen Wegs in
mung, der ›Perzeption‹, durch die bewusste Durch- Prag – ist ein schlechtes Beispiel, und das Interessan-
dringung des Wahrgenommenen – vor allem um teste daran ist, dass es in einem Kaffeehaus und mit
verschiedene Abgrenzungen. Zum einen soll geklärt der Aufgabe des ganzen Versuchs endet. Der Artikel
werden, welche Vorstellungen eine spezifisch ästhe- selbst endet mit dem Vorwurf rhetorischer »Kunst-
tische Lust, die »ästhetische Apperception« (NSF I, stückchen« und unzulässiger apriorischer Unterstel-
9) erwecken. Als Unterscheidungskriterium fungiert lungen an Brod: Das argumentative Sprechen zwinge
bei Brod die Neuheit; dies allein ist für Kafka jedoch den Leser von vornherein, sich an Begriffe zu halten
nicht hinreichend, da zum Beispiel auch wissen- »wie an ein Geländer« (11). Dem versucht Kafka
schaftliche Entdeckungen neu sein können, ohne nicht zuletzt durch seine alltagsweltlichen Beispiele
ästhetisch rezipiert werden zu müssen. In Absatz d und seine bildliche Beschreibung von Erfahrungszu-
heißt es deshalb kategorisch: »giebt es einen Unter- ständen zu entkommen. Hier zeigt sich tatsächlich
138 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

ein bildhaftes Denken direkt am Werk, das den Be- einer verstärkten »Bewegung der Geister« (T 312)
griff selbst zwar eher verunklart, aber bei der Be- als einem allgemeinen Vorteil literarischer Arbeit
schreibung von Zwischenzuständen wie der ästheti- aus, der zu einer »detaillierten Vergeistichung [sic]
schen Erfahrung eine größere Plausibilität eben des großflächigen öffentlichen Lebens« (313) führen
durch Verunsicherung der gewohnten diskursiven müsse; damit verbunden sei eine erhöhte »Achtung
Sichtweise erreicht. vor litterarisch tätigen Personen« und die »nachwir-
kende Erweckung höheren Strebens unter den Her-
<Über kleine Litteraturen> anwachsenden« (ebd.). Hier skizziert Kafka sich eine
Jugend und ein Lebensumfeld, in dem er sein er-
Die zwei umfangreichsten literaturtheoretischen Äu- träumtes Leben in der Literatur nicht nur hätte
ßerungen Kafkas stehen zeitlich im direkten Zu- verwirklichen können, sondern in dem gerade dies
sammenhang seiner intensiven Auseinandersetzung sogar ein besonderes Verdienst gewesen wäre. Un-
mit ostjüdischer Kultur und jiddischer Sprache, die übersehbar wird der lebenspraktische Charakter
durch die Begegnung mit dem jiddischen Theater schließlich, als Kafka der kleinen Literatur auch die
Jizchak Löwys 1911 ausgelöst wurde. Die Einleitung »Veredlung und Besprechungsmöglichkeit des Ge-
zu seinen Überlegungen über die »kleinen Litteratu- gensatzes zwischen Vätern und Söhnen« zugute hält;
ren« im dritten Tagebuchheft vom 25. Dezember im gleichen Atemzug folgen »die Darbietung der na-
1911 (T 312–315) nimmt Bezug sowohl auf den tionalen Fehler« sowie die Rechtfertigung der »Gier
durch Löwy vermittelten Kontakt mit der jiddischen nach Büchern« (ebd.). All dies bildet offenbar einen
Literatur sowie die eigenen Erfahrungen mit der relativ geschlossenen Vorstellungskomplex, bei dem
tschechischen Literatur. Der negative Bezugspunkt, ursprünglich schuldbeladene Eigenschaften – der
das Exempel einer »großen« Literatur ist, wie ein Vaterkonflikt, dessen Einbindung in einen mentali-
kurz darauf folgender Eintrag zeigt, die deutsche, tätsgeschichtlichen und soziokulturellen Hinter-
insbesondere der Einfluss Goethes, mit dem sich grund und die Gegenreaktion des aufbegehrenden
Kafka in den Tagebüchern häufig auseinandersetzt. Sohnes – nun positiv gewendet werden können; eine
Das Problem kleiner Literaturen ist also eng mit Möglichkeit, die gleichzeitig als »besonders schmerz-
dem kleiner Sprachräume und dem Verhältnis ver- lich, aber verzeihungswürdig und befreiend« emp-
schiedener Literatursprachen verbunden; Wagen- funden wird (ebd.).
bach hat wiederholt auf die Abhängigkeit Kafkas Schließlich, und das ist wohl das ultimative Argu-
vom Prager Deutsch und dessen Mängeln und Ein- ment, ist bei kleinen Literaturen das Weiterleben im
schränkungen hingewiesen (2006, 83 ff.). Bei Kafkas Andenken der Nachwelt ungleich stärker gesichert.
Behandlung der »kleinen Litteraturen« jedoch ste- Dabei erlangt nicht der Dichter als Person Unsterb-
hen vor allem allgemeine politische und kulturelle lichkeit, sondern er wird immer stärker mit seinen
Phänomene im Vordergrund. Geradezu akribisch Werken »vertauscht« (315), bis Leben und Werk
sammelt Kafka in einer Art Brainstorming hier mög- endlich zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen.
liche Vorteile »kleiner Litteraturen« zusammen; er Wenigstens im Tod ist damit erreicht, was Kafka im
spricht gar explizit von der »schöpferischen und be- Leben vergeblich erstrebte: das vollständige Aufge-
glückenden Kraft einer im einzelnen schlechten Lit- hen im Werk, das nun als »unveränderlicher vertrau-
teratur« (T 314). Dabei verbindet er drei verschie- enswürdiger Block« (ebd.) ein Monument für die
dene Argumentationslinien: (1) eine allgemeine Ewigkeit bildet.
Rechtfertigung der Intellektuellen- und Literaten-
existenz – und damit seiner eigenen ersehnten Le-
Literatur und nationale Identität
bensform −, (2) eine engere Beziehung zwischen Li-
teratur und nationaler Identität sowie (3) eine Reihe Damit eng verbunden ist die starke Bindung des Li-
diskursinterner Vorteile für das Literatursystem terarischen an die nationale Identität bei den kleinen
selbst. Literaturen. Kafka geht davon aus, dass das »Natio-
nalbewußtsein« (T 315) des Einzelnen sozusagen
umgekehrt proportional zur Größe der politischen
Rechtfertigung der Literatenexistenz
Nation ist; in kleinen Nationen, die sich ungleich
Der erste ist naturgemäß der persönlichste Punkt. stärker auf ihre Geschlossenheit besinnen und gegen
Kafka geht gleich zu Beginn der Ausführungen von alles Fremde abgrenzen müssen als große, trage je-
Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften 139

der Einzelne deshalb eine größere Verantwortung Weiterführung und Schematisierung


für das Ganze. Für die Nationalliteratur bedeutet
das: Kafka führt seine Überlegungen zu den »kleinen Lit-
Es werden zwar weniger Litteraturgeschichtskundige be- teraturen« am folgenden zweiten Weihnachtstag
schäftigt, aber die Litteratur ist weniger eine Angelegen- weiter; der Eintrag ist explizit als »Fortsetzung«
heit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Vol- (T 321) markiert. Zunächst wird der reihende Duk-
kes und darum ist sie wenn auch nicht rein so doch si- tus äußerlich beibehalten; einige Argumente – Deu-
cher aufgehoben (315).
tungsvielfalt im kulturellen Gedächtnis, unschädli-
Im »nicht rein« macht Kafka natürlich ein Zuge- che Verbindung der Literatur mit »politischen
ständnis; ein ideales Volk der Leser müsste den »auf Schlagworten« (322), Streitwert »kleiner Themen«
ihn entfallenden Teil der Litteratur« nicht nur »je- (322) – werden aufgenommen und weitergeführt.
denfalls […] verfechten«, sondern ihn auch »ken- Dabei verliert sich Kafka aber zunehmend in Einzel-
nen« und »tragen« (ebd.). Gleichwohl hat die kleine überlegungen und Zweifeln, bis hin zu dem Punkt,
Nationalliteratur als permanentes Reflexionsme- wo er direkt im Anschluss an einen Satz in Klam-
dium, als »Tagebuchführen einer Nation« (313), so- mern »Falsch« (321) notiert. An anderer Stelle geht
wohl sozialhygienische als auch ökonomische und die begriffliche Argumentation wieder unvermittelt
politische Vorteile. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der in eine bildliche über. So heißt es im Anschluss an
Nation auf sich selbst und erlaubt eine »Aufnahme die Überlegungen zum literarischen Streit in kleinen
des Fremden nur in der Spiegelung« (313); sie bindet und großen Literaturen:
dabei »unzufriedene Elemente« und führt zu einer
Was innerhalb großer Litteraturen unten sich abspielt
»Gliederung des Volkes« vor allem durch die Entste- und einen nicht unentbehrlichen Keller des Gebäudes
hung einer ausdifferenzierten Zeitschriftenland- bildet, geschieht hier im vollen Licht, was dort einen au-
schaft (ebd.). Dass Kafka hier ebenfalls ein Idealbild genblicksweisen Zusammenlauf entstehen läßt, führt
zeichnet, ist wohl offensichtlich; interessant daran ist hier nichts weniger als die Entscheidung über Leben und
Tod aller herbei (322).
vor allem das damit verbundene Gesellschaftsbild,
das auch eine Reihe tendenziell nationalistischer Die freie Diskursgemeinschaft im lebendigen Streit
und autoritärer Züge aufweist. aus dem ersten Eintrag ist hier zu einer Schicksalsge-
meinschaft auf Leben und Tod geworden. Bezeich-
nenderweise endet der Text an dieser Stelle.
Verstärkende Wirkungen im Literatursystem
Zum Themenkomplex gehört noch eine weitere
Die dritte Argumentationslinie arbeitet eine Reihe Aufzeichnung vom 27. Dezember, in der Kafka nach-
systeminterner Effekte heraus, die besonders be- träglich versucht, seine Gedanken in ein »Schema
zeichnend für Kafkas Literaturauffassung sind. So zur Charakteristik kleiner Litteraturen« (326) zu sys-
geht er davon aus, dass in einer »kleinen Litteratur« tematisieren. Er stellt dabei auf die Hauptpunkte
das literarische Talent gleichmäßiger verteilt ist als »Lebhaftigkeit«, »Entlastung« und »Popularität«
in einer großen und »talentreichen« (314): »Die von (ebd.) ab, also eher psychologische Gesichtspunkte.
keiner Begabung durchbrochene Literatur zeigt des- Neu erscheint nur der letzte Punkt unter »Populari-
halb auch keine Lücken, durch die sich Gleichgültige tät«: »c Glaube an die Litteratur, ihre Gesetzgebung
drücken können« (ebd.). Es gibt also weder Genies wird ihr überlassen« (326). Die Formulierung kann
noch Dilettanten – die ja von großen Vorbildern als eine Variante des Autonomiepostulats gelesen
zehren –, sondern eine Reihe gleich begabter, gleich werden; sie wird aber bezeichnenderweise mit dem
ambitionierter, relativ selbständiger Autoren; es gibt »Glauben« zusammengebracht, ist also eher ein Er-
eben deshalb mehr »Lebhaftigkeit« (ebd.) und mehr gebnis persönlicher Überzeugungen oder psycholo-
»litterarischen Streit«. Die Literatur, so wird hier gischer Notwendigkeiten denn einer stringent ästhe-
suggeriert, erhält auch dadurch mehr Bedeutung im tisch-philosophischen Argumentation.
gesamten Lebenszusammenhang, dass sie Gegen-
stand einer öffentlichen Auseinandersetzung wird,
Reflexion der Schreiberfahrung
die nicht auf den ersten Blick durch Machtstruktu-
ren bestimmt wird, sondern eine Art freier Diskurs Dies gilt schlussendlich für Kafkas Aufzeichnungen
unter Gleichen ist. zu den »kleinen Litteraturen« insgesamt. Ihre sachli-
che ›Richtigkeit‹ oder ihre argumentative Stringenz
140 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

sind im Einzelnen zweifelhaft; ihr apologetischer ihn erstmals 1953 unter dem Titel »Rede über die
Wert für den Verfasser ist demgegenüber relativ klar. jiddische Sprache« (Hzv/GW).
Darüber hinaus scheint allein die Niederschrift eine Kafka hatte sich auf seine Rede durch die Lektüre
Art therapeutische Wirkung auf ihn gehabt zu ha- von Heinrich Graetz’ Volkstümliche Geschichte der
ben; das Schema schließt mit dem Satz: »Es ist Juden (Leipzig 1888) und Meyer Isser Pinès’ Histoire
schwer sich umzustimmen, wenn man dieses nützli- de la littérature judéo-allemande (Paris 1911) vorbe-
che fröhliche Leben in allen Gliedern gefühlt hat« (T reitet (vgl. Neumann 1992, 49). In seinem Einlei-
326). Noch am 29. Dezember treibt ihn diese Erfah- tungsvortrag versucht er, das Publikum – das des
rung um. Nun reflektiert er das Problem des Endes Jiddischen, zeitgenössisch auch als ›Jargon‹ bezeich-
eines theoretischen Textes, den Übergang vom net, ebenso wenig mächtig war wie Kafka – auf die
Schreiben zur »Luft des gewöhnlichen Tages« (328). Rezitation dreier jiddischer Gedichte durch Löwy
Der Schlusspunkt wird hier mit einem Zwangsakt einzustimmen. Dabei zeigt er sich als durchaus ge-
gleichgesetzt: Es kommt nicht von sich aus zu einer wandter Rhetoriker. Die Rede wird mit einer ge-
runden Geschlossenheit, sondern zu einer aktiven, schickt kalkulierten captatio benevolentiae eingelei-
gewaltsamen Beendigung mit Händen, »die nicht tet, die zunächst unterstellt, dass trotz der Fremdheit
nur arbeiten sondern sich auch festhalten müssen« des westeuropäischen Judentums im Umgang mit
(329). Kafka ist nach seinem Ausflug in die Theorie dieser ostjüdischen Sprachform ein Verständnis
endgültig wieder bei sich selbst und seinen bekann- nicht nur möglich, sondern sogar bereits gewiss sei.
ten Schreibproblemen angekommen. Zur Illustration bedient Kafka sich zunächst einer
schroffen Antithese von West- vs. Ostjudentum in
Einleitungsvortrag über Jargon den Termini von Ordnung vs. Chaos, Deutlichkeit vs.
Verwirrung. Demgegenüber wird der Jargon im Fol-
Einige Wochen später beschäftigt sich Kafka erneut genden rehabilitiert, indem Kafka ihn in einem wis-
im Kontext der Auseinandersetzung mit dem jiddi- senschaftlichen Exkurs als zwar »jüngste europäische
schen Theater mit einem theoretischen Thema. Max Sprache« (NSF I, 189), aber trotzdem historisch ge-
Brod hatte unter dem Patronat des zionistischen Stu- wachsene Form etabliert. Diese wird vor allem nega-
dentenvereins Bar-Kochba einen Rezitationsabend tiv charakterisiert: Der Jargon habe keine Gramma-
zur Förderung Jizchak Löwys organisiert, der am 18. tik; er bestehe nur aus fremden, eingebürgerten Wor-
Februar 1912 im Festsaal des Jüdischen Rathauses ten, sei gleichsam das Ergebnis einer sprachlichen
stattfand. Der Vortrag jiddischer Gedichte sollte zu- »Völkerwanderung« (189); er habe zwar seine An-
nächst von Oskar Baum moderiert werden; als die- fänge im Mittelhochdeutschen, werde danach aber
ser absagte, sprang Franz Kafka ein. Zwei Wochen nicht zum Neuhochdeutschen weiterentwickelt, son-
quälte er sich, einer Eintragung im Tagebuch vom dern verbleibe im »Ghetto« (190). All dies habe zu
25. Februar zufolge, mit Skrupeln und Zweifeln, ent- seiner Missachtung ebenso beigetragen wie seine
wickelte kompensatorisch ungeahnte organisatori- Nähe zur »Gaunersprache« (189). Kurz: Das Jiddi-
sche Talente und war kurz davor, das Ganze abzusa- sche spiegelt in seinen sprachlichen Eigenheiten letzt-
gen, bis ihm am Abend vor dem Ereignis der Vortrag lich das Schicksal des ewigen Juden in der Sprache.
plötzlich gelang (vgl. T 377). All dies verzeichnet das An dieser Stelle unterbricht Kafka die Argumenta-
Tagebuch neben schlaflosen Nächten unter dem tion, um kurz den Inhalt der Gedichte zu skizzieren,
Stichwort »Aufregungen«, um anschließend jedoch die Löwy nun vortragen werde, und die sich mit den
den »Nutzen« entgegenzuhalten: »Freude an L. und Themen der jüdischen Emigration nach Amerika,
Vertrauen zu ihm, stolzes, überirdisches Bewußtsein der biblischen Verheißung der Vertreibung und ei-
während meines Vortrages« (378). Die persönliche ner Liebesgeschichte befassen. Damit, so Kafka, sei
Bilanz ist offensichtlich positiv; die finanzielle war, jedoch wenig zu ihrem eigentlichen Verständnis ge-
so Kafka in einem Brief an Felice vom 6. November sagt, das sich unabhängig vom Inhalt erst durch ihre
1912, trotz erfreulich vielzähligem Besuch »nicht sprachliche Ausdrucksform erschließe. Die Texte
entsprechend unzählig« (B00–12 215). könnten nämlich nicht, und zwar gerade wegen der
Der Text ist nur in einer titellosen Abschrift durch Nähe des Jiddischen zum Deutschen, einfach über-
Max Brods Frau Elsa überliefert (NSF I, 188–193); setzt werden, da der Bedeutungsgehalt jiddischer
im Tagebuch spricht Kafka selbst vom »Einleitungs- Worte durch die phonetische Nähe zu den entspre-
vortrag über Jargon« (T 376). Brod veröffentlichte chenden deutschen Wörtern überlagert und ver-
Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften 141

drängt werde. Die Verwandtschaft beider Sprachen setzung mit dem jiddischen Theater und der jiddi-
muss also vergessen werden, um den Jargon wirklich schen Literatur im Vorfeld des Einleitungsvortrags.
als eigene Ausdrucksform erleben zu können. Dort sind auch die Gedichte in transkribierter Fas-
Damit ist Kafka bei seinem eigentlichen Argu- sung abgedruckt, auf die sich Kafka bezieht (Binder
ment angelangt, nämlich der Forderung, den Jargon 1976, 400–403), sowie die entsprechenden Stellen in
nicht diskursiv, beispielsweise durch Übersetzung Pinès’ Historie de la littérature judéo-allemande nach-
oder Erläuterung, begreifen zu wollen, sondern ihn gewiesen, die Kafka verwendet.
»fühlend zu verstehen« (193). Das sich dabei einstel- Bezüglich des Einleitungsvortrag sowie des Frag-
lende Sprach-Erlebnis beschreibt Kafka analog zu ei- ments zu den »kleinen Litteraturen« wurde zu Recht
ner Epiphanie-Erfahrung: Sie setzt zunächst Ab- der Projektionscharakter der Texte betont. Das Ver-
schalten des bewussten Denkens, der »Klage« über hältnis von Ost- und Westjudentum sowie die Be-
das Unverständnis, und »Stille« (ebd.) voraus; man deutung der damit verbundenen Frage nach der Prä-
wird dann vom Erlebnis, dem Jargon selbst, »plötz- ferenz des Hebräischen oder Jiddischen für die neue
lich« »ergriffen«; es ist ein Erlebnis einer überwälti- zionistische Identität skizziert Haring in einem in-
genden »wahren Einheit«, das begleitet wird von formativen Beitrag. Der Jargon sei für Kafka in die-
»Furcht«, aber auch von »Selbstvertrauen«, das »über sem Zusammenhang eine »Antithese auf die westeu-
Sie käme« (193). ropäische Kultur« schlechthin (Haring, 2). Auch
Wie alle Epiphanien kann auch diese leider nicht Lauer sieht hier vor allem eine regressive neoroman-
andauern; aber selbst dafür hält der Conferencier ei- tische Sprachauffassung verkörpert; das Jiddische
nen Trost bereit: werde stilisiert zu »einer Sprache des Ganz Anderen,
die allen Kategorien romantischer Poesie entspricht«
Genießen Sie es, so gut Sie können! Wenn es sich dann
(Lauer, 141). Neumann hingegen akzentuiert den
verliert, morgen und später […] dann wünsche ich Ih-
nen aber, daß Sie auch die Furcht vergessen haben möch- utopisch-projektiven Charakter des Entwurfs; es
ten. Denn strafen wollen wir Sie nicht (193). handele sich um das »Konzept einer neuen, erst zu
erfindenden poetischen Sprache« (Neumann 2002,
Dieses Ende kommt sehr unvermittelt. Es setzt einen 54).
verunsichernden Kontrapunkt zu einer Rede, deren Auch das Konzept der »kleinen Litteraturen« hat
apologetischer Charakter bis zu genau diesem Punkt einige Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden.
ungebrochen und erfolgreich schien. Dass sie doch Deleuze/Guattari stellen in der gleichnamigen Pub-
wieder in eine Strafphantasie mündet, hängt wohl likation ihre gesamte Kafka-Deutung unter dieses
letztlich mit dem mangelnden Selbstvertrauen des Motto. Sie isolieren drei »charakteristische Merk-
Redners zusammen, der zum »Genuß« zwanghaft male« einer kleinen Literatur: »Deterritorialisierung
die folgende Bestrafung assoziieren muss; nur so der Sprache, Koppelung des Individuellen ans un-
kann seine eigene »wahre Einheit« (193) gewahrt mittelbar Politische, kollektive Aussageverkettung«
bleiben. (Deleuze/Guattari, 27). Dies jedoch seien nicht nur
»revolutionäre Bedingungen jeder Literatur« (ebd.),
sondern Merkmale, die durchgängig in Kafkas poe-
Forschung und Deutungsaspekte tischem Werk nachweisbar seien. Demgegenüber
betont Lauer auch hier die romantischen Wurzeln
Die Forschung ist auf die Rezensionen Kafkas außer- der Literaturauffassung Kafkas; es handele sich um
halb ihres biographischen Entstehungskontextes das »Wunschbild einer Literatur«, das sich Kafka aus
kaum eingegangen; mögliche Gründe dafür nennt genuin persönlichen Erwägungen zurechtgezimmert
Binder (1976, 11), der jedoch ebenfalls hervorhebt, habe und mit dem er sich als »Stratege der Autor-
dass die Texte »die einzige direkte und sogar reich- schaft« erweise (Lauer, 143).
lich fließende Quelle für die Erkenntnis seiner poeti- Zweifellos sind die hier behandelten literaturkriti-
schen Verfahrensweise« (12) bieten. In seinem Kom- schen und literaturtheoretischen Texte für Kafka un-
mentar finden sich ausführlichere Inhaltsangaben mittelbar identitätsrelevant, vielleicht auch von stra-
der besprochenen Werke sowie weitere Angaben tegischer Bedeutung. Seine Sehnsucht nach einer en-
zum Veröffentlichungskontext. geren Verbindung zwischen Literatur und nationaler
Ebenfalls in Binders Kommentar enthalten sind kultureller Identität, geistigem Schöpfertum und so-
ausführliche Informationen zu Kafkas Auseinander- zialer Anerkennung sowie nach Eingemeindung des
142 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Autors ins Volk seiner Leser teilt er darüber hinaus mut Binder: K.s literarische Urteile. Ein Beitrag zu
mit zeitgenössischen Autoren wie Rilke – der sich seiner Typologie und Ästhetik. In: ZfdPh 86 (1967),
Vergleichbares in Russland imaginierte. 211–249. − Ders.: K.-Kommentar zu den Romanen, Re-
Die Texte enthalten zudem einige ästhetische Über- zensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater.
legungen Kafkas, die das Bild einer im Grunde klassi- München 2. Aufl. 1982 [1976], 375–386. − Werner Hof-
zistisch orientierten Ästhetik zeichnen. Dazu gehören mann: Rezensionen. In: KHb (1979) II, 470–474. − Paul
die Überzeugung von der organischen Geschlossen- Raabe: F.K. u. Franz Blei. Samt einer wiederentdeckten
Buchbesprechung K.s. In: J. Born (1965), 7–20. −− Ein-
heit des »großen Werks« und von seinem Überdauern
leitungsvortrag über Jargon [<Rede über die jiddische
über die Zeit hinweg, seine Verschmelzung mit der
Sprache>]: G. Baioni (1994), 49–53. – Hartmut Binder:
Figur des Autors im kulturellen Gedächtnis, ja die Un-
Rede über die jiddische Sprache. In: KHb (1979) II,
terscheidung zwischen ›großen‹ und ›kleinen‹ Litera-
503–505. − H. Binder (1976, s.o.), 387–403. − Ekkehard
turen überhaupt. Die Vorstellung einer poetischen W. Haring: »alle Sprachen kann ich…«. Evidenzen
Ursprache und einer sprachlich vermittelten Epipha- des Jargon in der Prager deutschen Literatur. In:
nie-Erfahrung hat zwar ebenso wie die Idee einer Ver- TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften
wurzelung der Literatur in der politischen und kultu- 16 (2005), www.inst.at/trans/16Nr/06_6/haring16.htm
rellen Identität des Volkes romantische Züge; aber (17.7.2008). − Gerhard Neumann: »Eine höhere Art der
beide Aspekte lassen sich relativ mühelos in ein klassi- Beobachtung«. Wahrnehmung und Medialität in K.s
zistisches Paradigma integrieren, indem man stärker Tagebüchern. In: Sandberg/Lothe (2002), 33–58. −
ihre rationalen denn ihre irrationalen Potentiale be- Bernhard Siegert: Kartographien der Zerstreuung.
tont. Zudem versucht sich Kafka ja selbst nicht etwa Jargon und die Schrift der jüdischen Tradierungsbewe-
in jiddischer Volksdichtung, sondern bemüht sich im gung bei K. In: Kittler/Neumann (1990), 222–247. −
Gegenteil in der klassischen deutschen Hochsprache Claudia Vitale: F.K.s Rede über die jiddische Sprache.
zu einer maximalen Sprachreinheit zu gelangen, ar- Nomadismus und Vitalität der Sprache. In: Brücken.
beitet sich also am Vorbild Goethes oder Kleists ab. Germanistisches Jb. Tschechien-Slowakei 16 (2008),
Die Kafka-Rezeption hat ihm darin schließlich recht 209–218. − Vgl. auch ä 57 f. −− <Über kleine Litteratu-
gegeben: Zweifellos gilt Kafkas Werk der Nachwelt ren>: Réda Bensmaïa: On the Concept of Minor Litera-
nicht als ›kleine‹, sondern als ›große‹ Literatur in dem ture from K. to Kateb Yacine. In: Constantin Boundas/
von ihm selbst definierten Sinn. Dorothea Olkowski (Hg.): Gilles Deleuze and the The-
ater of Philosophy. New York 1994, 213–20. − Stanley
Corngold: K. and the Dialect of Minor Literature. In:
Ausgaben: Rezensionen: Ein Damenbrevier [Franz Blei:
Collège Littérature 21 (1994), 89–101. − Gilles Deleuze/
Die Puderquaste]: ED: Der neue Weg 38 ([6. 2.] 1909),
Félix Guattari: K. Pour une littérature mineure. Paris
62. − J. Born (1965), 11 f. − DzL (1966), 381–383. −− Ein
1975; dt.: Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M. 1976.
Roman der Jugend [Felix Sternheim: Die Geschichte des
− Gerhard Lauer: Die Erfindung einer kleinen Literatur.
jungen Oswald]: ED: Bohemia 83 ([16. 1.]1910) Nr. 16,
K. und die jiddische Literatur. In: Engel/Lamping
33. − Erz/GS2 (1946), 279–281. − Erz/GW (1952), 313–
(2006), 125–143. − M. Nekula (2003), 216–219. − Ger-
315. – DzL/KA (1996), 413–415. −− Eine entschlafene
hard Neumann: Hungerkünstler und singende Maus.
Zeitschrift [Max Brods Titel: Hyperion]: ED: Bohemia 84
F.K.s Konzept der »kleinen Literaturen«. In: Gunter E.
([19. 3.]1911) Nr. 78, 33. − Erz/GS2 (1946), 282–284. −
Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das
Erz/GW (1952), 316–318. − DzL/KA (1996), 416–418.
Rollenverständnis deutscher Schriftsteller von der
−− »Das ist ein Anblick« <Über Kleists Anekdoten>: ED:
Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1992,
Erz/GS2 (1946), 281. − Erz/GW (1952), 315 f. − NSF I/
227–247. − Walter H. Sokel: Two Views of Minority
KA (1993), 187. −− <Über ästhetische Apperception>
Language. K., and the German Enclave of Prague. In:
(»Man darf nicht sagen«): ED: NSF I/KA (1993), 9–11.
Quarterly World Report 1 (1983), 5–8.
−− Schriften: <Über kleine Litteraturen>: ED: T/GW
Jutta Heinz
(1951), 206–210. − T/KA (1990), 312–315, 321 f., 326
[Schema zur Charakteristik kleiner Litteraturen]. −−
Einleitungsvortrag über Jargon: vorgetragen am
18.2.1912; ED unter dem Titel Rede über die jiddische
Sprache in: Hzv/GW (1953), 421–426. − NSF I/KA
(1993), 188–193.
Forschung allgemein: P.-A. Alt (2005). − Stach (2002). –
Wagenbach 2006 [1958]. –– Zu den Rezensionen: Hart-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 1 143

3.1.7 Kleine nachgelassene 1–6. In den ersten beiden Heften versucht Kafka
noch, Tagebucheinträge und kleine literarische Ent-
Schriften und würfe in zwei verschiedenen Heften getrennt zu no-
Fragmente 1 tieren, weshalb die größtenteils undatierten Einträge
in den Heften 1 und 2 der Tagebücher teilweise zeit-
lich parallel verlaufen (ä 379 f.). In den weiteren Hef-
Überblick: Werkartige Teile ten 3 bis 6, also bis zum ›Durchbruch‹ mit dem Ur-
im Nachlass 1–12 und in den teil, das in Heft 6 niedergeschrieben wird, sind dann
Tagebuchheften 1–6 wiederum Erstfassungen seiner frühen Publikatio-
nen neben autobiographischen Eintragungen zu fin-
Dass Kafka selbst seine ersten Tagebuchaufzeich- den: Teile von Beschreibung eines Kampfes und von
nungen samt seinen ersten literarischen Versuchen Richard und Samuel; die Niederschrift des Heizer-
vernichtet hat, gilt als sicher (vgl. Binder 1976, 41 f.). Kapitels, das später in den Verschollenen einging, so-
Überliefert sind aus der frühesten Zeit ab 1897 bis wie einige der Kurztexte aus der Betrachtung (Un-
hin zur Niederschrift des Urteils lediglich Konvolute glücklichsein, Das Unglück des Junggesellen, Der
von unterschiedlichem Umfang, die im Nachlass- plötzliche Spaziergang, Entschlüsse) und Großer Lärm
band der Kritischen Ausgabe unter den Nummern (vgl. DzL 441 f.).
1–12 abgedruckt wurden (vgl. NSF I:A, 35–67), so- Daneben gibt es in den frühen Tagebüchern nur
wie die Tagebuchhefte 1 bis 6, die wohl im Jahr 1909 wenige selbständige Erzählanfänge. Dazu gehören
einsetzen, aber erst seit August/September 1911 die vor allem sechs Fragmente im ersten Heft, die um
Form regelmäßiger, datierter Tageseinträge anneh- die Figur des »kleinen Ruinenbewohners« kreisen
men (vgl. T:A 33–41). und eine Art fiktionale Erziehungskritik Kafkas auf
In den Nachlasskonvoluten sind vor allem ver- autobiographischer Basis bilden. Sie werden im Fol-
schiedene Fassungen von Kafkas frühesten Werken genden gemeinsam mit dem Nachlasskonvolut 6
enthalten: die drei Fassungen der Hochzeitsvorberei- (<Unter meinen Mitschülern>) ausführlich behan-
tungen auf dem Lande (Nr. 4; ä 3.1.2), die zwei Fas- delt. Weitere Einträge in verschiedenen Heften krei-
sungen der Beschreibung eines Kampfes (Nr. 5; sen um den Komplex des Junggesellentums, der da-
ä 3.1.1) sowie eine Skizze für ein Einleitungskapitel nach untersucht werden soll.
zu Richard und Samuel (Nr. 10; ä 3.1.5). Es gibt zwei
Gedichte: ein Zweizeiler für ein Poesiealbum (Nr. 1;
NSF I, 7; ä 372 f.) und das Gedicht Kleine Seele (Nr. 8; Fiktionalisierte Jugend
ä 374 f.). Ebenso finden sich hier einige literatur-
<Unter meinen Mitschülern >:
kritische und literaturtheoretische Texte: eine Notiz
zu einem Artikel von Max Brod über Ästhetik Welteroberung durch Urteil
(<Über ästhetische Apperception>, Nr. 3; ä 137 f.), Wohl um die Jahresmitte 1909 entstand ein Konvo-
eine Rezension zu Kleists Anekdoten (Das ist ein lut von sechs Blättern (NSF I, 172–176), in dem ein
Anblick, Nr. 11; ä 136), ein Rezensionsfragment Ich-Erzähler seine Schulzeit reflektiert. Nicht nur in
anlässlich eines Besuchs des Kabaretts »Lucerna« der Art der Niederschrift im Manuskript (vgl. NSF
(Nr. 9) sowie der Einleitungsvortrag über Jargon I:A, 57 f.), sondern auch in der Erzählweise teilt es
(Nr. 12; ä 140 f.). Das Konvolut Nr. 7, eine Laudatio charakteristische Züge mit den ungefähr gleichzeitig
zur Wahl eines neuen Vorstandes in der Arbeiter- entstandenen späteren Fassungen B und C der Hoch-
Unfall-Versicherungs-Anstalt (Diese Wahl ist sehr zeitsvorbereitungen auf dem Lande (ä 102 f.).
begrüßenswert) gehört zu den Amtlichen Schriften Der Text beginnt mit einer abwertenden Selbst-
(ä 3.4.4). Als eigenständiges Erzählfragment außer- einschätzung des Ich-Erzählers – er sei unter seinen
halb anderer Werkkontexte verbleibt damit aus dem Mitschülern »dumm, doch nicht der dümmste« ge-
Nachlasskonvolut 1–12 einzig eine Skizze über wesen (NSF I, 172) –, die gleich darauf mit den noch
Schulzeit und Jugend (Unter meinen Mitschülern, negativeren Aussagen der Lehrer und Eltern vergli-
Nr. 6). chen wird, um schließlich in eine allgemeine Aus-
Weitere Entwürfe sowohl zu veröffentlichten wie sage über Urteile schlechthin überzugehen: Das ver-
unveröffentlichten literarischen Texten Kafkas aus nichtende Urteil der anderen über seine Schulzeit
seiner Frühzeit finden sich in den Tagebuchheften entspringe »dem Wahne vieler Leute«, »welche glau-
144 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

ben, sie hätten die halbe Welt erobert, wenn sie ein Dieser Gesellschaft entzieht sich das Kind durch
so äußerstes Urteil wagen« (ebd.). Rückzug in seinen »natürlichen Zustand« (174): Am
Damit ist das zentrale Thema des Fragments ge- liebsten bleibt es passiv, wartet, legt sich ins Bett.
nannt, um das alle folgenden Textpassagen kreisen, Kinder, so der Erzähler, hätten es sowieso nicht nö-
die vordergründig einzelne Kindheitserfahrungen tig, durch äußere Urteile in ihrem Wesen bestätigt zu
erzählen: Es geht um die kommunikative Macht- werden:
struktur des Urteilens, die exemplarisch an dem Ver-
Denn entweder noch völlig in sich ruhend oder doch
hältnis von Kindern und Erwachsenen dargestellt immerfort in sich zurückgeworfen fühlen sie ihr Wesen
wird. Beurteilt wird das Kind von »fremden Leuten« laut und stark, wie eine Regimentsmusik (176).
(173), die es anstarren, und von einem einzelnen Be-
sucher im Elternhaus, mit dem es versucht hatte, ei- Der Vergleich mit der »Regimentsmusik« ist nur ei-
nen direkten Blickkontakt aufzunehmen. Beurteilt nes der vielfältigen Bilder, die beinahe jeden Absatz
wird es zudem, noch mit 17 Jahren, von seinem Va- des kurzen Textes schließen und jeweils, nahezu
ter. Die Beschwörung, gerade dieses Urteil habe schematisch, eine diskursive Aussage ins Bildliche
»nicht im kleinsten« Eindruck auf ihn gemacht, wird übersetzen. Das Verhältnis des Kindes gegenüber
dadurch widerrufen, dass es sich »die Worte« (175) der Außenwelt wird mit einem Schauspieler vergli-
im Einzelnen gemerkt hat. Noch im <Brief an den chen, der in seinem Auftreten »Unsicherheit« und
Vater > wird Kafka einzelne wörtliche Äußerungen »Leidenschaft« (173) vereinigt; das Scheitern des
seines Vaters zitieren, die ihn traumatisch geprägt Blickkontakts mit dem fremden Mann mit dem Aus-
haben. gleiten »ungeschickter Schlittschuhläufer« (175).
Dabei wird das Urteil der Erwachsenen mit einer Das Fragment schließt mit einem Vergleich, der die
oberflächlichen Art von Alltagskommunikation ver- allgemeine Urteilskritik des Anfangs aufnimmt:
bunden, in der »lächerliche Behauptungen«, »statis-
Das allgemeine Urteil aber hat ihnen [den Kindern] un-
tische Lügen, geographische Irrthümer« ebenso wie bekannte Voraussetzungen, unbekannte Absichten, wo-
»tüchtige politische Ansichten, achtbare Meinungen durch es von allen Seiten unzugänglich ist; es gibt sich
über actuelle Ereignisse, lobenswerte Einfälle« (173) als Spaziergänger auf der Insel im Teich, wo nicht Boote
vorgebracht werden − eine Aneinanderreihung, de- noch Brücken sind, hört die Musik, wird aber nicht ge-
hört (176).
ren ironischer Charakter offensichtlich ist und die
auch die spätere Einschätzung des Vaters (»ein be- Die verwendeten Vergleiche sind nicht gerade nahe-
sonders in der politischen Welt meines Vaterlandes liegend und eben deshalb vielschichtig; sie haben
sehr angesehener und erfolgreicher Mann«, 175) eine Tendenz, sich zu verselbständigen und den dis-
zweifelhaft erscheinen lässt. All diese vermeintlichen kursiven Gehalt der Aussagen, die sie doch eigent-
Machtsprüche der Erwachsenen werden zudem, so lich »beweisen« sollen – das Wort findet sich immer
der Erzähler, allein durch eine entsprechende Kör- wieder im Text –, zu verflüssigen, teilweise ihnen so-
persprache, durch physische Gesten der Machtaus- gar zu widersprechen. Untereinander werden die
übung, »bewiesen« (173), während gleichzeitig ihr Vergleiche nur vage durch ihre Herkunft aus dem
»Blick« von den Kindern »abgleitet«, »wie ein erho- Bereich der künstlerischen Unterhaltung und Frei-
bener Arm niederfällt« (174). zeitgestaltung verbunden. Letztlich läuft der Text al-
Der Versuch des Kindes, mit dem fremden Mann lerdings durch den Kontrast des immer wieder ange-
einen Blickkontakt aufzubauen, scheitert: Es hatte schlagenen reflexiven Tons mit seiner ausgeprägten
»länger in seine guten blauen Augen zu schauen ver- Bildlichkeit ein wenig in zwei Richtungen wie der
sucht«, damit jedoch »förmlich die Gesellschaft« »ungeschickte Schlittschuhläufer« (175). Er bildet
(175) – als Gesprächs- und Urteilsgemeinschaft der jedoch eine wichtige frühe Quelle zum Komplex des
Erwachsenen – verlassen. Der nicht-sprachliche ›Urteils‹, das hier vor allem in seinen gesellschaftli-
Blickkontakt wird damit als Merkmal einer ur- chen und sozialen Kontexten thematisiert wird, so-
sprünglich menschlichen, nicht durch Herrschafts- wie zur Verarbeitung von Kindheitserfahrungen in
strukturen überlagerten Beziehung beschrieben; er Kafkas Werk überhaupt.
steht im Gegensatz zu der erregten Körpersprache
und dem durch vermeintliches Faktenwissen unter-
mauerten Machtanspruch der urteilenden Erwach-
senen.
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 1 145

Der kleine Ruinenbewohner: Direkt nach dem analytischen Beginn führt Kafka
Die Unmöglichkeit von Vorwürfen also ein eindrucksvolles Bild ein. Die Vorstellung ei-
ner quasi-rousseauistischen, unentfremdeten Kind-
Ein zweiter Textkomplex, der sich mit Kindheit und heit wird in einem stark rhythmisierten Satz mit lyri-
Jugend beschäftigt, entsteht 1910, wahrscheinlich schen Bildqualitäten entfaltet. Im vollständigen Ein-
während eines Sommeraufenthalts auf dem Land. klang mit der nicht-menschlichen Natur entwickelt
Es handelt sich um sechs Textfragmente im Tage- sich ein Wesen, dessen Gattungszugehörigkeit – ob
buchheft 1 (T 17–28; zwischen datierten Einträgen Mensch, ob Tier – nicht ganz klar ist, das jedoch
vom 19.6.1910 und vom 19.2.1911). Die ersten bei- seine offensichtlich von Natur aus »guten Eigen-
den umfassen nur jeweils einen Absatz, das dritte, schaften« nur unbehindert von jeglichen äußeren er-
vierte und fünfte erweitern diesen Anfangsabsatz zieherischen Einflüssen hätte entwickeln können.
und führen teilweise neue Erzählelemente ein, das In Fassung III ergänzt Kafka das Bild noch um ei-
sechste ist wiederum sehr kurz (diese Fragmente nen weiteren Bestandteil: Der kleine Ruinenbewoh-
werden im Folgenden römisch durchnummeriert). ner lebt »horchend ins Geschrei der Dohlen, von ih-
Die Überschrift »Der kleine Ruinenbewohner« no- ren Schatten überflogen, auskühlend unter dem
tiert Kafka getrennt davon in Heft 2 der Tagebücher Mond, abgebrannt von der Sonne« (19 f.). Kafka
(T 112). spielt dabei mit dem Bezug der Dohlen (tschechisch:
kavka) zu seinem Namen. Das anfangs noch stati-
sche Bild gerät hier stärker in Bewegung bzw. wird
Der Erzählkern: Analytische Anklage
und bildlicher Gegenentwurf (I) vervollständigt: Im natürlichen Wechsel von Sonne
und Mond, »Ausbrennen« und »Auskühlen« voll-
Ähnlich wie bei den Hochzeitsvorbereitungen auf zieht sich auch das Leben des kleinen Ruinenbewoh-
dem Lande erprobt Kafka hier wiederum die Trag- ners.
kraft eines Anfangssatzes, der in allen sechs Fassun-
gen mit nur wenigen Variationen wiederkehrt. Seine
Das Erziehungs-Kartell: »einige Schriftsteller,
ursprüngliche Formulierung ist: ein Schwimmeister, ein Billeteur« (II und III)
Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine
Das Bild vom kleinen Ruinenbewohner und der ana-
Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat
(T 17). lytische Eingangssatz bilden in ihrem scharfen Kon-
trast den Nukleus, um den sich die Ergänzungen der
In weiteren Fassungen wird dann der Aspekt des anderen Fassungen anordnen. Den rational formu-
»Bedenkens« noch verstärkt: »Oft überlege ich es lierbaren Teil der Erziehungskritik verdeutlicht auch
und immer muß ich dann sagen«, heißt es in III (18); eine längere Eintragung in einem späteren Notizheft
»Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren (NSF II, 7–13, vermutl. Sommer 1916), die wie eine
Lauf ohne mich einzumischen und immer, wie ich es Art verspäteter Kommentar zum Kleinen Ruinenbe-
auch wende, komme ich zum Schluß« in IV (20). wohner wirkt:
Der Text beginnt also wie Unter meinen Mitschülern Jeder Mensch ist eigentümlich und kraft seiner Eigen-
mit einem Urteil des Ich-Erzählers. Dabei wird ver- tümlichkeit berufen zu wirken, er muß aber an seiner Ei-
sucht, dieses Urteil als ein sehr wohl abgewogenes, gentümlichkeit Geschmack finden. Soweit ich es erfah-
vielfach bedachtes, quasi-objektives darzustellen: Je- ren habe, arbeitete man sowohl in der Schule als auch
zuhause darauf hin die Eigentümlichkeit zu verwischen
der vernünftige Mensch müsste bei genauer Betrach-
(NSF II, 7).
tung zu diesem Schluss kommen.
Explizit ist damit die »Erziehung« als Thema be- Was Kafka hier geltend macht, ist ein klassisches
nannt. Bereits im zweiten Absatz aber wird ihr Ge- Konzept von Individualität; ebenso klassisch ist die
genteil etabliert, die Nicht-Erziehung nämlich: Anklage gegen die beiden großen Erziehungsinstan-
gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbe- zen, Schule und Eltern, alles getan zu haben, um
wohner gewesen, abgebrannt von der Sonne, die da zwi- diese Individualität zu unterdrücken.
schen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Im Kleinen Ruinenbewohner wird dieser leitmoti-
Epheu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang
schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten vische ›Vorwurf‹ in den Fragmenten II bis V auf eine
Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir ganze Reihe weiterer Schuldiger ausgedehnt, die teil-
emporgewachsen wären (17). weise biographisch identifiziert werden können. Sie
146 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

beginnt im häuslichen und familiären Umfeld mit haupt an die ihnen vorgeworfenen Missetaten erin-
den »Eltern« und »einigen Verwandten«; es folgen nern könnten. Seien die Betroffenen inzwischen gar
»einzelne Besucher unseres Hauses«, »verschiedene tot, zeige sich sofort die Unsinnigkeit des ganzen
Schriftsteller«, »eine ganz bestimmte Köchin«. Erst Unterfangens:
danach kommt die Schule mit »einem Haufen Leh-
Denn solche Vorwürfe sind schon von Mensch zu
rer« und »einem Schulinspektor« (T 18). Die Fas-
Mensch unbeweisbar. Weder das Dasein von vergange-
sungen III und IV nennen weitere Angeklagte aus nen Fehlern in der Erziehung ist zu beweisen wie erst die
immer weiter gezogenen Kreisen: »einige Mädchen Urheberschaft (22).
aus Tanzstunden«, »ein Schwimmeister, ein Bille-
teur« (19); »Eingeborene der Sommerfrischen, ei- Da die Herstellung kausaler Wirkungszusammen-
nige Damen im Stadtpark denen man es gar nicht hänge also schon in der gegenwärtigen menschli-
ansehn würde, ein Friseur eine Bettlerin, ein Steuer- chen Beziehung kategorisch ausgeschlossen wird,
mann der Hausarzt« (20). Schließlich wird der Vor- muss ein anderer Weg gefunden werden, um zumin-
wurf gar universalisiert: »langsam gehende Passan- dest die Haltung des Vorwurfs aufrechterhalten zu
ten kurz dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch können. Deshalb wendet der Erzähler nun in einer
durch die Gesellschaft« (18). wahrhaft sophistischen Volte den Inhalt des Vor-
Schuldig geworden am Erzähler, so wird damit wurfs selbst. Er klagt seine Erzieher nämlich nicht
unterstellt, ist jeder, der ihn in irgendeiner Art und mehr an, dass sie aus ihm einen anderen Menschen
Weise daran gehindert hat, er selbst zu sein; jeder, gemacht hätten, als er von Natur aus gewesen wäre
der ein bestimmtes gesellschaftlich angepasstes Ver- (nämlich einen »kleinen Ruinenbewohner«, der hier
halten in einer bestimmten Situation erwartet hat; aber gar nicht mehr auftaucht), sondern dass sie
jeder, der in seinem eigenen Verhalten die Anpas- nicht einmal den sich selbst entfremdeten Menschen
sung an soziale Normen vorführte; jeder, der über aus ihm gemacht haben, den sie aus ihm doch hätten
seinen Geist oder seinen Körper geurteilt hat. Kafka machen wollen. Anschließend jedoch gesteht er
übt hier, im weitesten Sinne und bildlich verkleidet, selbst den taktischen Charakter des Manövers: Der
tatsächlich einmal Gesellschaftskritik. ursprüngliche »große« Vorwurf – »daß sie mir doch
ein Stück von mir verdorben haben ein gutes schö-
nes Stück verdorben haben« – soll als »ehrlicher
Dialektik des Vorwurfs: »aber zu meiner Zeit
jetzt sind nur die Vorwürfe richtig« (IV) Vorwurf« dadurch gerechtfertigt werden, dass er den
»Kleinen« – das Versagen der Erzieher gemessen an
Dabei erkennt der Erzähler jedoch schnell selbst die ihren eigenen Zielen – »bei der Hand« nimmt
Absurdität eines solchen ins Unendliche ausgeweite- (22 f.):
ten Vorwurfs. Er entwickelt verschiedene, sowohl geht der große hüpft der Kleine, ist aber der kleine ein-
bildliche als auch logische Strategien, um ihn trotz- mal drüben, zeichnet er sich noch aus, wir haben es im-
dem aufrechterhalten zu können. In II und III ver- mer erwartet und bläst zur Trommel die Trompete. (23)
bittet er sich die »Widerrede« (18 u. 19) der Beschul-
digten, indem er auf die unendliche Regression Beide Vorwürfe sind damit unabhängig von ihrem
hinweist, die sich durch Widerreden, erneute Wider- real unerweisbaren Gehalt ins Bildliche gerettet. Es
reden gegen diese Widerreden und so fort ergibt, ist, als habe die ganze dialektische Herleitung eigent-
und bezieht deshalb gleich die Widerreden als neuen lich nur dazu gedient, dieses seltsam anrührende
Bestandteil des fortgesetzten Erziehungs- und Be- Bild heraufzubeschwören – mit dem das Fragment
einflussungsprozesses in den Vorwurf ein. Dabei IV dann auch unvermittelt endet.
entsteht eine paradoxe Figur, in der Anklage und
Gegenanklage zusammenfallen: Der Erzähler erklärt
Variation des Vorwurfs:
nun, »meine Erziehung und diese Widerlegung ha- Körperliche Unvollkommenheit (V)
ben mir in mancherlei Richtung sehr geschadet«
(18). In Fassung V wird der Inhalt des Vorwurfs noch ein-
In Fassung IV hingegen beweist er die Unmög- mal in eine neue Richtung präzisiert, indem der Er-
lichkeit eines solchen Vorwurfs schlechthin in einer zähler zwischen seinem »gewöhnlichen« Körper und
Art vollständiger Induktion: Zum ersten sei es kaum der dazugehörigen, ebenso gewöhnlichen »körperli-
möglich, dass sich die von ihm Angeklagten über- chen Erziehung« und seiner »innern Unvollkom-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 1 147

menheit« (23) unterscheidet. Diese sei weder »ange- Schulglocken und die nicht-vergröberte Naturszene-
boren« (23) noch »verdient« (24). Vielmehr habe je- rie des »kleinen Ruinenbewohners« hinzudenkt.
der Mensch »von Geburt aus [einen] Schwerpunkt« Schließlich ist der Polizist als Höllenwächter bereits
in sich, »den auch die närrischste Erziehung nicht ganz und gar eine Ausgeburt der durchgängig perso-
verrücken konnte« (23 f.). In diesem Satz versteckt nalen Perspektive des Erzählerbewusstseins, das den
sich nun der Erzählkern des Kleinen Ruinenbewoh- Polizisten als Vertreter der Urteilsgemeinschaft von
ners: Das ursprüngliche Ich konnte durch Erziehung Staat und Gesellschaft zwangsläufig mit auf die An-
nicht ganz vernichtet werden; es lebt im Zwiespalt klagebank setzen muss.
mit seinem hinreichend abgerichteten Körper, der An diese Passage schließt sich deshalb nur logisch
jedoch gerade durch seine Durchschnittlichkeit in die bereits bekannte Aufzählung derer an, die dem
besonderem Kontrast zum ursprünglichen »guten Ich in seiner Erziehung geschadet haben. Damit en-
Schwerpunkt« des nicht bzw. falsch ausgebildeten det jedoch auch das fünfte Fragment; das sechste
Inneren steht. nimmt nur noch einen kurzen Anlauf, um sogleich
Aus diesem Widerspruch heraus jedoch bezieht abzubrechen.
das Erzähler-Ich seine »Kräfte« (24), er allein ver-
schafft ihm noch Zugang zu dem verschütteten in- Urteil und Vorwurf: Zum Verhältnis
neren Schwerpunkt: »Was ich jetzt noch bin, wird
der beiden Jugend-Fragmente
mir am deutlichsten in der Kraft mit der die Vor-
würfe aus mir herauswollen« (25). Andererseits setzt Nimmt man den Kleinen Ruinenbewohner zusam-
an diesem Punkt erneut eine fatale Dialektik der men mit dem davor besprochenen Nachlasskonvolut
Vorwürfe ein: Das Ich wird nämlich »die beste Hilfs- 6 über die Schulzeit in den Blick, so ergeben sich
kraft meiner Angreifer« (26), indem es versucht, vielfache Parallelen und Ergänzungen. Während das
diese unbequemen Vorwürfe zu verdrängen, da sie Nachlasskonvolut 6 vor allem die äußerlichen Ur-
doch nicht sinnvoll begründet werden können. Es teile anderer über den Erzähler behandelt, wehrt sich
flieht dazu in eine von Kafkas Lieblingstätigkeiten, der Erzähler im Kleinen Ruinenbewohner aktiv und
nämlich die Beobachtung aus der sicheren Distanz von seinem Inneren ausgehend, indem er Vorwürfe
des Fensters: gegen die Außenwelt erhebt; ›Urteil‹ und ›Vorwurf‹
Wer leugnet es, daß dort in ihren Booten die Angler sit- stehen also in einem Korrespondenzverhältnis von
zen, wie Schüler, die man aus der Schule auf den Fluß ge- außen und innen. Beide werden jedoch im Verlauf
tragen hat; gut, ihr Stillehalten ist oft unverständlich wie der jeweiligen Texte als analytische Formen zuneh-
jenes der Fliegen auf der Fensterscheiben. Und über die mend in Frage gestellt; beide erheben letztlich im
Brücke fahren natürlich die Elektrischen wie immer mit
Menschlichen unbegründbare Machtansprüche, da
vergröbertem Windesrauschen und läuten wie verdor-
bene Uhren, kein Zweifel, daß der Polizeimann schwarz die Außenwelt und ihre Beobachterperspektive mit
von unten bis hinauf mit dem gelben Licht der Medaille der Innenwelt und ihrer Darstellungsperspektive
auf der Brust an nichts anderes als an die Hölle erinnert nicht vereinbar ist.
(26). Beide Texte arbeiten deshalb kontrastierend zu ih-
Der hier dargestellte Flussausschnitt deutet in vielem rem analytischen Gehalt mit einer Vielzahl von Ver-
bereits auf das Urteil hin, vor allem in seiner Ambi- gleichen, die die diskursiven Aussagen illustrieren
valenz. Zwar wird anfangs noch an die Selbstver- und vertiefen, aber auch demontieren und widerle-
ständlichkeit einer quasi objektiven Beobachtung gen können. Dabei werden die verwendeten Bilder
appelliert – »Wer leugnet es«? –, doch schon die Be- in beiden Texten noch eher willkürlich gereiht. Eine
schreibung der Angler gerät zu einer ganz persönli- Ausnahme bildet die relativ konsistente Phantasie
chen Angelegenheit des Erzählers. Er imaginiert die vom »kleinen Ruinenbewohner« – die aber bereits in
Angler zunächst als »Schüler«, die zum Stillsitzen der vierten Fassung verschwindet, weil sie durch ihre
gezwungen werden müssen – was sich allein aus dem Geschlossenheit und Andersartigkeit dem Text rela-
Kontext der Erziehungskritik erklärt. Dem gleichen tiv eigenständig gegenübersteht. Demgegenüber
Muster folgt die Einführung der Elektrischen mit ei- kann die Beschreibung des Flusses am Ende der
nem verräterisch appellativen »natürlich«; denn dass fünften Fassung fließend in den Text integriert wer-
ihr Geräusch ein »vergröbertes Windesrauschen« ist den, weil sie konsequent die personale Perspektive
und ihr Geläut an »verdorbene Uhren« erinnert, aufrecht erhält und die scheinbar objektive Beobach-
macht nur Sinn, wenn man das verhasste Läuten der tung nun in das innere Geschehen einbezieht: Der
148 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Blick aus dem Fenster ist zwar als Therapie gegen die ben Deleuze/Guattari seine poetologische Relevanz
»Lust zu Vorwürfen« (T 26) eingesetzt, führt ihre behauptet: »Niemand ist weniger Ästhet als der
Logik aber letztlich konsequent weiter. Junggeselle in seiner Mittelmäßigkeit, und doch ist
niemand mehr Künstler als er« (Deleuze/Guattari,
Forschung 98). Schließlich hat Gerhard Kurz darauf hingewie-
sen, dass das Thema des Junggesellen in der Litera-
Neumann hat bereits auf den Mischcharakter des tur der Jahrhundertwende generell weit verbreitet ist
Komplexes hingewiesen, der erstmals die »Kontami- (Kurz 1979, 116).
nation von autobiographischer Diagnose und litera-
rischer Fiktion« erprobe (Neumann, 45). Dabei Junggeselle und »vollendeter Bürger«:
werde die Sozialisationserfahrung des Stadtkindes
Grund vs. Mittelpunkt
zu einem rousseauistisch geprägten Naturbild in Be-
ziehung gesetzt. Auf die wiederkehrende Präsenz des Die ersten Einträge zur Junggesellen-Thematik fin-
Stadt-Land-Gegensatzes in Kafkas frühen Erzählun- den sich in Heft 2 (T 113–116; 118 f.), geschrieben
gen verweist Kurz (1984, 94). vermutlich Ende 1909, nach der Niederschrift von
Guntermann, der die Fragmente in seiner Mono- Unglücklichsein, das später als letztes Stück die Be-
graphie zu den Tagebüchern ausführlich behandelt, trachtung abschließen wird. Hier wird von einem
gibt eine detaillierte und instruktive Analyse ihres »Ich« erzählt, das mit dem »Junggesellen«, von dem
Aufbaus und ihrer Entwicklung. Ausgehend vom der Text spricht, nicht identisch ist. Vielmehr befin-
ersten Satz als »archimedischem Punkt« und der im det sich das Ich in einer Phase, in der es um Orien-
zweiten Satz entworfenen Utopie einer anderen Exis- tierung noch ringt; das demonstriert der Anfangs-
tenz (Guntermann, 198 f.) schreibe sich der Text in satz:
einem ständigen Verwandlungs- und Selbstreflexi- Ich will ja weg, will die Treppe hinauf, wenn es sein muß
onsstrom fort. Grundfiguren dieser Entwicklung unter Purzelbäumen. Von der Gesellschaft verspreche
seien die Sofortkorrektur des Geschriebenen im ich mir alles was mir fehlt, die Organisierung meiner
nächsten Satz (Guntermann, 215), die Verselbstän- Kräfte vor allem (T 113).
digung der Details (219), die Entstehung von Anti- Als Gegenmodell zu einer solchen gesellschaftlich
thesen (237), die durch die aporetische Bewegung nützlichen »Organisierung« individueller Kräfte
des Widersprechens schließlich zum Paradoxon zu- wird nun der Junggeselle vorgestellt. Gekennzeich-
gespitzt werden (239). Dieses Verfahren der ständi- net ist er durch einige Äußerlichkeiten, die, mehr
gen »Verwandlung« im Schreiben selbst sieht Gun- oder weniger variiert, in allen Texten zu diesem
termann als paradigmatisch für die Tagebücher so- Thema wiederkehren werden. Er hat, zum Ersten,
wie für das literarische Werk an: »Kafkas Erzählungen eine »allerdings schäbige, aber feste Körperlichkeit«
sind Erzählungen einer Verwandlung seit der frü- (T 113); besonders hervorgehoben werden die »aus-
hesten erhaltenen Fassung der Beschreibung eines dauernden Beine« (ebd.), die mit seiner Heimatlo-
Kampfes« (Guntermann, 307). sigkeit konnotativ verbunden werden. Zum Zweiten
sind seine »dünnen Kleider« (ebd.) ebenso schäbig
und vernachlässigt wie sein Körper, da sich niemand
Der Junggesellen-Komplex: um sie kümmert. Zum Dritten sind seine Mahlzeiten
Einsiedler vs. »vollendete Bürger« nicht sorgfältig selbst bereitet, sondern eintönig und
freudlos (ebd.). Zum Vierten wohnt er ständig in ei-
Wie sich in einem Nebensatz in Fassung V heraus- ner »gefürchteten Mietwohnung« (ebd.), also in ei-
stellt, ist auch der Erzähler des Kleinen Ruinenbe- nem eingeschränkten Raum ohne sozialen Zusam-
wohners ein »Junggeselle« (T 25). Das Thema zieht menhalt und den Tücken der Nachbarn ausgesetzt.
sich durch beinahe alle Texte Kafkas; einige tragen es All dies zusammengenommen ergibt das Bild eines
direkt im Titel, so Das Unglück des Junggesellen in Menschen, der in seiner alltäglichen Existenz, seinen
der Betrachtung und die spätere Erzählung <Blum- einfachsten Lebensverrichtungen stark einge-
feld, ein älterer Junggeselle> (1915; ä 270–272). Ne- schränkt ist – aber gerade dadurch dem Leben selbst
ben seiner biographischen Relevanz – Reiner Stach näher und seinen Gefährdungen ausgeliefert.
hat Kafka gar als den prototypischen »Junggesellen Die Beschreibungsebene wird in diesem Eintrag
der Weltliteratur« (Stach 2002, 32) bezeichnet – ha- überlagert von einer eher abstrakten Ebene, die
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 1 149

durch das komplexe Verhältnis der Begriffe ›Eigen- von Schiff und Meer, steht aber für einen gefährli-
tum‹, ›Mittelpunkt‹ und ›Grund‹ geprägt ist. So ist chen Abstieg von der Oberfläche in die Tiefe. Da-
der Junggeselle angewiesen auf sein, wie auch immer durch ist er verbunden mit einer Wendung vom Äu-
belangloses, ›Eigentum‹: ßeren ins Innere, die explizit dem Junggesellen als
Denn ohne einen Mittelpunkt zu haben, ohne einen Be- Merkmal zugeschrieben wird. Dieser muss sich
ruf, eine Liebe, eine Familie, eine Rente zu haben d. h. nämlich, in einer Art mythischer Alternative am
ohne sich im Großen gegenüber der Welt versuchsweise Scheideweg seiner Existenz, zwischen der Orientie-
natürlich nur zu halten ohne sie also durch einen großen rung am Sinnlich-Greifbaren – »die Arbeit unserer
Komplex an Besitztümern gewissermaßen zu verblüffen
Hände […] das Gesehene unserer Augen, […] das
kann man sich vor augenblicklich zerstörenden Verlus-
ten nicht bewahren (T 113). Gehörte unserer Ohren« (115) – und dem Abstieg
zum »Grund« entscheiden. Entscheidet er sich für
Dem Junggesellen fehlt also der integrierende »Mit- den (passiven) Abstieg zum »Grund« und nicht für
telpunkt« seines Lebens; er hat dementsprechend das (aktive) »Weglaufen« in die Welt, so ist er ein-
nur ein »gestückeltes« Wesen und ist den schädli- für allemal verloren: »statt dessen hat er sich hinge-
chen Einflüssen der »auflösenden Welt« (ebd.) legt, wie sich im Winter hie und da Kinder in den
schutzlos ausgeliefert. Schnee legen, um zu erfrieren« (115). In diesem Mo-
Andererseits jedoch führt auch der »vollendete ment ist sein weiteres Schicksal als Junggeselle unwi-
Bürger«, das nun eingeführte Gegenteil des sozial derruflich festgeschrieben.
zusammenhanglosen Junggesellen, keine risikolose Nach einem eingeschobenen Fragment aus dem
Existenz: Kontext der Beschreibung eines Kampfes folgt ein
Denn wer wirklich als vollendeter Bürger auftritt, also weiterer Eintrag, der direkt an die Passage mit dem
auf dem Meer in einem Schiff reist mit Schaum vor sich Kinder-Vergleich anschließt (T 118 f.). Noch einmal
und mit Kielwasser hinter sich also mit vieler Wirkung wird hier die Konzentration des Junggesellen auf den
ringsherum ganz anders als der Mann auf seinen paar »Augenblick« betont, die sich logisch daraus ergibt,
Holzstückchen in den Wellen, die sich noch selbst ge-
dass er keine Zukunft hat – weshalb ihm auch seine
genseitig stoßen und herunterdrücken, er dieser Herr
und Bürger ist in keiner kleineren Gefahr (114). Vergangenheit verloren ist (114). Diese völlige Ge-
genwärtigkeit ist es, die ihn endgültig aus dem
Die Gefahr, die dem »vollendeten Bürger« droht, ist »Volk«, ja aus der »Menschheit« (118) insgesamt
der Verlust seines viel größeren Eigentums. Ihr ist er ausschließt, in der jeder einzelne – das Erzähler-Ich
umso stärker ausgesetzt, weil er mit seinem Eigen- eingeschlossen – immerfort damit beschäftigt ist,
tum nicht in der gleichen Weise existentiell verbun- den »Kreis« (119) der eigenen Vergangenheit und
den ist wie der Junggeselle, der sich an seinen mage- Zukunft in der Imagination zu durchlaufen, beides
ren Besitz klammern muss, da er im Menschlichen »im Gleichgewicht auf und abschweben zu lassen«
nichts hat, an das er sich halten kann. (118). Verlässt man jedoch, wie der Junggeselle, die-
An diese Überlegungen anschließend versucht das sen Kreis, verlieren sich mit Raum und Zeit alle an-
Ich nun, sich selbst in seinem Verhältnis zum Jung- deren Gesetze: »Wir sind außerhalb des Gesetzes,
gesellen – zu dem »kaum ein Unterschied« bestehe keiner weiß es und doch behandelt uns jeder da-
(T 114) – zu situieren. Vor allem vereine beide eine nach« (119). Er ist, so könnte man von hier aus
Fähigkeit, die dem oberflächlich auf dem Meer rei- schließen, der ewige Junggeselle, der ›vor dem Ge-
senden »vollendeten Bürger« gänzlich abgehe: Sie setz‹ und vor dem Tor steht; und er hatte eben des-
können ihren »Grund« (ebd.) spüren. Wer sich je- halb nie eine Chance, (wieder) eingelassen zu wer-
doch auf diesen Grund begibt und dort verharrt, so den.
der Ich-Erzähler, dem werde die »giftige Welt […] in
den Mund fließen wie das Wasser in den Ertrinken- Das Doppelgesicht des Junggesellen:
den« (ebd.).
Einsiedler oder Schmarotzer?
Am Beispiel des »Grundes« lässt sich besonders
gut zeigen, wie sich auch in diesem Eintrag die an- Der nächste Eintrag zum Junggesellen-Thema (»Ich
fangs noch teilweise begriffliche Argumentation bin ja nahe daran«; T 125 f., Anf. Nov. 1910) nimmt
über die Einführung eines Bildes immer wider- den vorigen Eintrag auf, in dem sich das Ich an seine
sprüchlicher und komplexer gestaltet. Der »Grund« »Jugend im Dorfe« (114) erinnert hatte, und zeigt es
ergibt sich bildlogisch zunächst aus dem Bildbereich nun in seinen »ersten Tagen« (125) in der Stadt.
150 3. Dichtungen und Schriften – Das frühe Werk

Ebenso aufgenommen wird der Begriff der »auflö- len« (279) enthält, die Kafka als Titel für die Veröf-
senden Welt« (113); das Ich beschreibt eine solche fentlichung des vorigen Eintrags wählen wird.
Auflösung, die ihm in der Stadt widerfuhr, jedoch Wieder wird die äußere Erscheinung beschrieben,
nun positiv als »Apotheose, wo alles was uns am Le- diesmal jedoch auf einen Gegensatz von Innen und
ben erhält uns entfliegt, aber noch im Entfliegen uns Außen bezogen: Sie ist die äußere Hälfte eines »Dop-
mit seinem menschlichen Licht zum letztenmal be- pelgesichtes«, dessen »traurigere andere Hälfte« in
strahlt« (125). Die Loslösung von allen menschli- das Innere schaut, wo nichts als »Kühle« (280)
chen Bindungen wird sowohl durch die verwendete herrscht. Und wieder erscheint der Junggeselle als
Lichtbildlichkeit als auch durch die religiöse Termi- eine Art lebender Toter: Seine soziale Existenz des
nologie als mystisches Erlebnis dargestellt. Sie ver- »unaufhörlichen« Übersiedelns führt zu einer im-
bindet das Ich nun wiederum mit dem gesellschaft- mer stärkeren Verengung des ihm zur Verfügung
lich und sozial haltlosen Junggesellen. stehenden Raumes auf Kosten der größeren Raum-
Allerdings wird dem Junggesellen auch in dieser ansprüche der »Lebenden«:
Hinsicht nur eine Schwundstufe einer solchen losge-
er, dieser Junggeselle bescheidet sich aus scheinbar eige-
lösten Existenz zugesprochen: Sobald er nämlich
nem Willen schon mitten im Leben auf einen immer
von seinem »Zwang« erlöst würde, als »Einsiedler« kleineren Raum und stirbt er, ist ihm der Sarg gerade
zu leben, mutierte er sofort zum »Schmarotzer« recht (280).
(125), der sich von den Lebensenergien der anderen
nährt. Das illustriert ein drastisches Schlussbild, das Nachdem der Junggeselle mit einer gewissen Logik
den Bildbereich von Wasser und Ertrinken wieder und sozusagen zu Recht zu Grabe getragen worden
aufnimmt: Der Junggeselle gleiche einer »Leiche ei- ist, könnte das Thema eigentlich abgeschlossen wer-
nes Ertrunkenen«, der vom Grund nach oben treibt den. Ein Dreivierteljahr später und kurz nach Nie-
und dabei auf einen »müden Schwimmer« stößt, derschrift des Urteils erscheint jedoch unter dem
sich an ihm festhalten möchte, aber ihn mit seinem Datum vom 23. September 1912 ein letzter Jungge-
toten Gewicht mit in die Tiefe ziehen kann (126). selle (»Gustav Blenkelt war ein einfacher Mann…«,
Der Junggeselle stellt also weiterhin eine perma- T 462 f.). Er heißt »Gustav Blenkelt« und unterschei-
nente und konkrete Bedrohung für das Ich dar. Das det sich dadurch schon von seinen namenlosen Vor-
zeigt auch der nächste Junggesellen-Eintrag vom 14. fahren; er ist zudem offensichtlich der negativen Va-
November 1911 (T 249 f.), der unter dem Titel Un- riante des »Schmarotzers« (125) zuzuordnen. Seine
glück des Junggesellen mit kleinen Veränderungen in Beschreibung erinnert an die täuschende Selbstge-
die Betrachtung (DzL 20 f.) eingegangen ist. Der fälligkeit von Georg Bendemann zu Beginn des Ur-
Junggeselle wird hier wiederholt mit den bekannten teils. Das Fragment endet bereits nach zwei Absät-
äußeren Attributen, Lebensumständen und der spe- zen; Kafka lenkt seine durch die Niederschrift des
zifischen Perspektivlosigkeit versehen; der Text en- Urteils geweckten produktiven Energien bald darauf
det jedoch mit einer Wendung, die all dies auf das ei- auf den Heizer.
gene Erleben bezieht und vielleicht sogar die Mög-
lichkeit einer Lebenswende eröffnet: Eine Junggesellen-Poetik
während man doch in Wirklichkeit heute und später
Dass das Thema des Junggesellentums lebensge-
selbst dastehen wird, mit einem wirklichen Körper und
einem wirklichen Kopf also auch einer Stirn um mit der schichtlich für Kafka nie ganz bedeutungslos wurde,
Hand an sie zu schlagen (T 250). zeigt noch <Blumfeld, ein älterer Junggeselle> (ä 270–
272). Die frühen Texte demonstrieren die Genese
Der publizierte Text wirkt durch die Konsistenz der der Auseinandersetzung mit diesem heiklen Prob-
Perspektive und die bewegte Syntax am geschlos- lemkomplex. Anfangs versucht das Ich noch, sich
sensten, letztlich aber, trotz der pointierten Schluss- vom Junggesellen, trotz starker Ähnlichkeiten, zu di-
wendung, auch am unpersönlichsten. stanzieren; dazu gehört seine Diffamierung als
Doch schon einen halben Monat später, am 3. De- »Schmarotzer« (T 125) oder jämmerliches Abbild
zember 1911, findet sich im Tagebuch der nächste des »vollendeten Bürgers« (114). Im Unglück des
Junggesellen-Eintrag (»Das Unglück des Junggesel- Junggesellen ist es jedoch immerhin möglich gewor-
len ist …«, T 279 f.; Anf. Dez. 1911), der nun wört- den, die eigene Identität als Junggeselle zumindest
lich die Formulierung vom »Unglück des Junggesel- hypothetisch einzugestehen.
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 1 151

Gleichzeitig müssen die potentiell künstlerischen Vergessen ist hier kein richtiges Wort…«); 180 f. (»Das
Facetten des Junggesellentums gerettet werden. Die Unglück des Junggesellen ist…«); 294 f. (Gustav Blen-
Gemeinsamkeit des Künstlers und des Junggesellen kelt-Eintrag). − T/KA (1990), 113–116 (»Ich will ja weg,
liegt in ihrem gegenüber dem sozial eingegliederten, will die Treppe hinauf…«); 118 f. (»Aber Vergessen ist
beruflich engagierten, familiär gebundenen »vollen- hier kein richtiges Wort…«); 125 f. (»Ich bin ja nahe da-
deten Bürger« ungleich direkteren Verhältnis zum ran…«; fehlte in T/GW und in T/GS); 279 f. (»Das Un-
Leben in seiner grundlegendsten und einfachsten glück des Junggesellen ist…«); 462 f. (Gustav Blenkelt-
Eintrag). – OQ1&2/FKA (2001), H. 2, 18–25 (»Ich will
Form; deshalb spielt die Beschreibung von Kleidung,
ja weg, ich will die Treppe hinauf…«); 30 f. (»Aber Ver-
Essgewohnheiten und Wohnverhältnissen des Jung-
gessen ist hier kein richtiges Wort…«); 45 f. (»Ich bin
gesellen eine so große Rolle in den Texten. Der Jung-
nahe dran…«).
geselle wird nicht »verdeckt« von seinen familiären
Forschung: Hartmut Binder: K. in neuer Sicht. Mi-
und beruflichen Verpflichtungen; er hat einen un- mik, Gestik und Personengefüge als Darstellungsfor-
mittelbareren Zugang zum »Grund« des Menschli- men des Autobiographischen. Stuttgart 1976. − Peter
chen, den die Kinder noch haben, den die Künstler Cersowsky: Die Geschichte vom schamhaften Langen
haben sollten und den der Bürger nicht mehr wahr- und vom Unredlichen in seinem Herzen. Zu Fremdein-
nehmen kann. flüssen, Originalität und Erzählhaltung beim jungen K.
Damit verbunden ist eine Poetik des Entzugs. Auf In: Sprachkunst 7 (1997), 1–19. – Deleuze/Guattari
dem kleinsten Raum der Existenz, so wird immer (1976). − S. v. Glinski (2004). – G. Guntermann (1991),
wieder in verschiedenen Varianten der Raummeta- bes. Kap. III.A. − M. Kleinwort (2004), bes. 62–106. –
phorik formuliert, muss der Junggeselle sein redu- G. Kurz: Figuren. In: KHb (1979) II, 108–130. – Ders.:
ziertes Leben aushalten und gestalten. Das erfordert, Schnörkel und Schleier und Warzen. Die Briefe K.s an
so zeigt es besonders der Vergleich mit dem »Tra- Oskar Pollak und seine literarischen Anfänge. In:
pezkünstler im Variete« im allerersten Eintrag (118; G. Kurz (1984), S. 68–101. − Gerhard Neumann: »Eine
vgl. Erstes Leid), eine gewisse Kunst; keine besonders höhere Art der Beobachtung«. Wahrnehmung und Me-
schöne und keine besonders reiche, und eine lebens- dialität in K.s Tagebüchern. In: Sandberg/Lothe (2002),
gefährliche dazu, da im Unterschied zum Trapez- S. 33–58. − R. Stach (2002).
künstler niemand sich die Mühe gemacht hat, ein Zum Gesamtkorpus der Nachlasstexte der frühen
»Fangnetz« (ebd.) über ihrem Grund aufzuhängen. Werkphase vgl. in diesem Handbuch auch die Artikel:
3.1.1 (Beschreibung eines Kampfes), 3.1.2 (Hochzeitsvor-
Aber nur in der Umsetzung des Lebensentzugs in
bereitungen auf dem Lande), 3.1.6 (»Literaturkritische
Kunst ist das Leben des Junggesellen gerechtfertigt;
und literaturtheoretische Schriften«), 3.2.1 (zu Die städ-
im Leben selbst stirbt er verdient schon zu Lebzei-
tische Welt: 151 f.], 3.4.1 (»Gedichte«) u. 3.4.2 (»Die Ta-
ten.
gebücher«, bes. 378 f.).
Jutta Heinz
Ausgaben: ED des Gesamtkorpus: NSF I/KA (1993),
7–193 (Nrn. 1–12), T/KA (1990), 7–442 (Heft 1–6 [bis
Beginn der Niederschrift des Urteils]); in der FKA sind
für das Textkorpus bis jetzt relevant OQ 1&2/FKA
(2001) [entspricht den ersten beiden Tagebuch/
Quartheften in T/KA] und BeK/FKA (1999); in Aus-
wahl erschienen die Nachlassfragmente zuerst in:
BBdCM (1931), BeK/GS (1936) u. Hzv/GW (1953), die
zu den Tagebüchern gerechneten Texte in: T/GS (1937)
u. T/GW (1951). – Einzeltexte: »Unter meinen Mitschü-
lern« ED: NSF I/KA (1993), 172–176. − Der kleine Rui-
nenbewohner ED: T/GS (1937), 14 f. [nur I u. II]. –
T/GW (1951), 14–16 [I-III], 685–691 [IV-VI], vgl. auch
695 f. [Anm. Brods zum Titel]. − T/KA (1990), 17–28. –
OQ1&2/FKA (2001), H. 1, 23–52. − <Junggesellen-
Komplex > ED: T/GS (1937), 15 f. (»Aber Vergessen ist
hier kein richtiges Wort…«); 87 (»Das Unglück des
Junggesellen ist…«). − T/GW (1950), 19–22 (»Ich will
ja weg, will die Treppe hinauf…«, enthält auch »Aber
152 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

3.2 Das mittlere Werk die Tiefe des Papiers hinein oder es so niederzu-
schreiben daß ich das Geschriebene vollständig in
(September 1912 – mich einbeziehen könnte« (8.12.1911; T 286).
Mit dem Urteil löst sich Kafkas Schreiben aus die-
September 1917) ser Befangenheit des Persönlichen. Es springt, wie
der Dichter in einer späten, aber für seine Poetik
grundlegenden Tagebuch-Notiz formuliert, »aus der
Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobach-
3.2.1 Das Urteil tung, indem eine höhere Art der Beobachtung ge-
schaffen wird«, und zwar »je unerreichbarer von der
Entstehung und Veröffentlichung ›Reihe‹ aus, […], desto mehr eigenen Gesetzen der
Bewegung folgend« (27.1.1922; T 892). Die konkrete
Diese Geschichte »das Urteil« habe ich in der Nacht vom Lebenssituation: das gespannte Verhältnis zum Va-
22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem ter, das im Erzählfragment Die städtische Welt (ent-
Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine standen zwischen 21.2. u. 26.3.1911; T 151–158)
konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn.
Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die
noch in Teilen nachgestellt wurde, die Annäherung
Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewäs- an Felice, mit der Kafka selbst vitale Hoffnungen
ser vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich verband, fungieren nun als bloße Motive. Sie gehen
mein Gewicht auf dem Rücken. […] Nur so kann ge- auf in einem künstlerischen Modell, das jene Situa-
schrieben werden, nur in einem solchen Zusammen- tion ›gleichnishaft‹ als Grundfigur entwirft, wäh-
hang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und
der Seele (23.9.1912; T 460 f.). rend die Geschichte selbst mit der Lust am Fabulie-
ren eine eigene Dynamik gewinnt. Wenn man diese
Kafkas eindringliche Dokumentation seines nächtli- Modellbildung als das Charakteristikum von Kafkas
chen Dichtens, am Tag nach der Niederschrift no- Schreiben begreift, kann man von einem Durch-
tiert, gehört zu den berühmtesten Selbstzeugnissen bruch zu den eigenen Fähigkeiten sprechen. Gegen-
seines Schaffens. Wie diesen Bericht schreibt er die stand ist nun nicht mehr die persönliche Welterfah-
Erzählung selbst ins Tagebuch (Sechstes Heft); sie rung, sondern die Reflexion eines Weltverhältnisses.
folgt, ohne Überschrift, auf eine Eintragung vom 20. Nach Kafkas Bekunden war das markante Thema
September 1912. Entwürfe oder Vorarbeiten gibt es der Erzählung gar nicht geplant. Er habe, wie er am
nicht; die Geschlossenheit des Textes entspricht dem 3. Juni 1913 an Felice schreibt, »nach einem zum
Duktus der psychisch andrängenden Schreibhand- Schreien unglücklichen Sonntag« im Familienkreis
lung. »einen Krieg beschreiben« wollen, »ein junger Mann
Erstmals seiner literarischen Fähigkeiten gewiss, sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über
liest Kafka den Text noch am Morgen nach der Nie- die Brücke herankommen sehn, dann aber drehte
derschrift den Schwestern vor. Wenig später folgen sich mir alles unter den Händen« (B13–14 201 f.).
weitere Lesungen im Freundeskreis wie auch, im Diese ›Drehung‹ betrifft nicht nur die Themenstel-
Rahmen eines Autorenabends, vor Publikum (DzL:A lung, sondern auch den Protagonisten: Aus dem Be-
87). obachter wird mit Beginn der Erzählung ein Akteur
und damit mutiert die ›Beschreibung‹ zur Analyse
Vom Tagebuch zur Dichtung der Interaktion zwischen Konfliktparteien.

Ende 1911 häufen sich bei Kafka Hinweise auf das Prätext: Die städtische Welt
Schreiben als Lebensplan. Noch aber zeigt sich die-
ses Schreiben-Wollen nicht getrennt vom inneren Thematische Parallelen bestehen zu dem im März
Bedürfnis nach einer Rekapitulation des eigenen Le- 1911 im Tagebuch notierten Fragment Die städtische
bens, die das Tagebuch in dieser Zeit so aufschwellen Welt (T 151–158), an das sich Kafka während des
lässt und hier wie in den literarischen Versuchen Schreibens erinnert (23.9.1912; T 461). Im Zentrum
(Betrachtung) zur Zentrierung auf ein ›Ich‹ führt. So steht hier bereits der Konflikt zwischen Sohn und
dienen alle Notizen zuerst dem Verlangen, »meinen Vater; doch bleibt die Darstellung ohne narrative
ganzen bangen Zustand ganz aus mir herauszu- Raffinesse. Erzählt wird latent auktorial mit Außen-
schreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in perspektive, so dass es in der Figurenzeichnung zu
Das Urteil 153

direkten Charakterisierungen kommt (»schweres beim Rock«), die seitens des Protagonisten Domi-
Fleischgesicht« des Vaters; T 151) und die Konfron- nanz und Egoismus einspielt – also seine bis dahin
tation der Figuren im szenisch vermittelten Dialog markante Opferrolle deutlich relativiert –, ohne dass
weitgehend unrelativiert bleibt. Noch fehlt dem Au- diese Spannung narrativ ausgewertet würde (157).
tor mit der eigenen inneren Distanz jene ›höhere Art Hier liegt denn auch die Schwäche des Textes, der
der Beobachtung‹, die im Konflikt zugleich die In- den im Frühwerk virulenten Themenkomplex
terdependenz der Konfliktpartner realisieren würde. ›Söhne‹ um eine Facette ergänzt, aber noch keine
Oskar M., »ein älterer Student«, dem der Vater Modellsituation auszuprägen vermag.
»Lotterleben« vorwirft, ist eben dabei, sich nach ei-
nem im Wortsinn lebenswendenden »Einfall« Biographische Motive
(»Tanzdrehung«) – vielleicht die Besinnung auf die
Kunst – gegen die geschäftige und sozialisierte ›städ- Zwischen der Städtischen Welt und dem Urteil steht
tische‹ Vaterwelt abzugrenzen und auf derart verän- der ›Heiratsversuch‹, der den Autor mit dem Prota-
derter Basis, doch mit gleicher Leistungsbereitschaft gonisten des Urteils verbindet. Am 13. August war
und daher dem Wunschbild des Vaters entspre- Kafka erstmals Felice Bauer begegnet; am 20. Sep-
chend, »zu einem tätigen Menschen« zu werden tember schreibt er den ersten Brief an das ›verehrte
(151 f.). Die Geschichte zeigt die Unfähigkeit des Fräulein‹, dessen bloße Existenz ungeahnte Mög-
Protagonisten, diesen sich formierenden ›einsamen‹ lichkeiten zu eröffnen scheint: Verlobung, Heirat,
Entschluss dem Vater, der Familie, ja ›allen‹ zu ver- Familiengründung – ein Status, den Kafka als Zei-
mitteln. Die Mitteilung scheitert zunächst an der chen der sozialen Konsolidierung ersehnt und mit
»Wut« des zu Hause wartenden Vaters, der seine unverhohlenem Neid an anderen registriert.
massiven Vorwürfe gegenüber dem untauglichen Der bevorstehende Statuswechsel ist für Kafka so
Sohn auf seine Autorität als Familienoberhaupt einschneidend, dass er sich zur Überprüfung des ge-
stützt und dies gestisch durch das Verschieben und samten Lebensplans entschließt. »Bis zu den Hei-
Besetzen des leeren Tisches versinnbildlicht (151). ratsversuchen bin ich aufgewachsen etwa wie ein
Verbunden damit ist ein anscheinend aus der »Ver- Geschäftsmann, der […] ohne genaue Buchführung
gangenheit« (154) resultierendes, jedenfalls aber de- in den Tag hineinlebt«, schreibt Kafka im <Brief an
monstrativ zur Schau getragenes Misstrauen gegen den Vater >; jetzt komme »der Zwang zur Bilanz«
den Sohn (»Geschwätz«; 152), das diesen fixiert (NSF II, 213 f.). Diese Bilanzierung führt ihn aller-
(»ich kenne Dich«; 154) und ihm von daher jede dings zur Einsicht in das Dilemma einer Heirat, die
Entfaltungsmöglichkeit, jede »Zukunft« (155) einerseits als Familiengründung »das Äußerste
nimmt, ja ihm in verbildlichter Metaphorik die Le- [wäre], das einem Menschen überhaupt gelingen
bensluft abschnürt. Dieses paradoxe Verhalten ist es kann« (200), und insofern Bürgschaft für »die
denn auch, das dem aufmerksam gewordenen Sohn schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit« ge-
den leiblichen Vater ›entfremdet‹ und ihn einen genüber dem Vater – »ich wäre Dir ebenbürtig« –,
»wirklichen« einklagen lässt, der in seiner Zunei- die andererseits aber gerade in diesem Streben nach
gung dem Begriff ›Vater‹ gerecht würde (156). Ebenbürtigkeit »in engster Beziehung« zur Lebens-
Getragen wird das Aufbegehren des Sohnes vom welt des Vaters bleibt. (209). Im Lebensmuster Georg
Zustrom seiner »Ideen«, deren Distanz zur Vaterwelt Bendemanns gestaltet Kafka erstmals diese im Ver-
ihm zunehmend bewusst wird, ohne dass er sich von hältnis zu Felice erkannte Aporie. So verdanke er die
dieser jedoch lösen könnte. Denn nur »im Allein- Geschichte »auf Umwegen ihr«, wie er im Tagebuch
sein« wären die Gedanken zu ordnen. Weil aber das notiert, während Georg – der in der Lebenswelt des
Verlangen nach Anerkennung unabweisbar bleibt, Vaters verharrt – an der Braut zugrundegehe
kommt es zur Auseinandersetzung mit der Außen- (14.8.1913; T 574).
welt und infolge dessen nicht zur Ausreifung des ei- Mit der Dedikation würdigt Kafka diese indirekte
genen »Plans« (154 f.). Dieser Zwiespalt prägt auch Anregung. So berichtet er im Brief an Felice vom
den ausgedehnten Schlussteil der Städtischen Welt, 24. Oktober 1912 vom Titel und der Widmung »für
in dem Oskar den Freund Franz, von Beruf Ingeni- Fräulein Felice B.« (später verkürzt zu »Für B.«), die
eur, mit undeutlichen Absichten und einer offen- er allerdings als bloße Liebesgabe verstanden wissen
sichtlich rücksichtslosen Verhaltensweise aus dem will, da »die Geschichte in ihrem Wesen« nicht in
Bett holt (»faßte den schwachen Menschen vorn Zusammenhang mit ihrer Person stehe, »außer daß
154 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

ein darin flüchtig erscheinendes Mädchen« namens Publikation


Frieda Brandenfels ihre Anfangsbuchstaben trage
(B00–12 188). Wie sehr die Figuren dennoch die Bereits während der Niederschrift freut sich Kafka,
konkrete Situation mit allgemeiner Bedeutung nach- »daß ich etwas Schönes für Maxens Arcadia haben
spielen, zeigt Kafkas Kommentar: werde«, Brods ambitioniertes Jahrbuch-Projekt
Georg hat soviel Buchstaben wie Franz. In Bendemann (23.9.1912; T 461). Unmittelbar nach dem Abschluss
ist »mann« nur eine für alle noch unbekannten Möglich- bereitet er daher die Druckvorlage mit einer (verlo-
keiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von renen) Maschinenabschrift vor, wobei der Titel fest-
»Bende«. Bende aber hat ebensoviele Buchstaben wie zustehen scheint. Mai 1913 erscheint Das Urteil im
Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen
Jahrbuch Arkadia.
Stellen wie der Vokal a in Kafka (11.2.1913; T 492).
In der Korrespondenz mit Kurt Wolff diskutiert
Auch »Frieda« und »Felice« hätten die gleiche Buch- Kafka zugleich eine Publikation in Buchform, die
stabenzahl, Vor- und Nachnamen die gleichen Initi- neben dem Urteil auch die kurz danach fertiggestell-
alen. Und vielleicht, sinniert Kafka weiter, hätte in ten Texte Der Heizer und Die Verwandlung enthalten
der Wahl des Namens »Brandenfeld« sogar die Erin- sollte. Zwischen den Texten bestehe, so Kafka, »eine
nerung an die »Mark Brandenburg« eingewirkt offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung,
(492). auf deren Darstellung durch Zusammenfassung in
Biographische Motive spielen auch in die Gestal- einem etwa ›Die Söhne‹ betitelten Buch ich nicht
tung des ›Vaters‹ hinein. So erinnert nicht nur die verzichten möchte« (11.4.1913; B13–14 166). Mit
Statur an Hermann Kafka, sondern auch Verhaltens- dem Aufschub des Projekts verlieren sich allerdings
formen wie das Entblößen der »Narbe« (in der diese thematischen Konturen; 1915 denkt Kafka an
Handschrift »Wunde«; T:A 290) an den Beinen (DzL eine wesentlich lockerere Zusammenstellung von
57), führte dieser seinen Kindern doch, wie es im Urteil, Verwandlung und Strafkolonie »unter dem ge-
<Brief an den Vater > heißt, an den »offenen Wun- meinsamen Titel ›Strafen‹« (An G. H. Meyer,
den« seiner Jugend vor Augen, wie sehr sie die Un- 15.10.1915; B14–17 142 f.). Schließlich bittet er doch
beschwertheit ihres Daseins seiner lebenslangen um eine Einzelpublikation, die das ›Gedichtartige‹
Plage verdankten (NSF II, 169). Im Gegensatz zur der Erzählung herausstellen soll: »Sie ist auch die
Städtischen Welt fehlen im Urteil jedoch die Alltags- mir liebste Arbeit und es war daher immer mein
reminiszenzen der familiären Existenz. Zu Kafkas Wunsch, daß sie, wenn möglich, einmal selbststän-
Zufriedenheit mit der eigenen Leistung gehört daher dig zur Geltung komme« (An den K. Wolff Verlag,
gerade, dass die häuslichen Erfahrungen nur noch 19.8.1916; B14–17 207). 1916 erscheint das Buch;
Motive bilden. Als die Schwester im Blick auf die Zu- 1919 folgt eine zweite, leicht revidierte Auflage als
ordnung von Privat- und Hinterzimmer die Famili- Ausgabe letzter Hand.
enwohnung identifizieren zu können glaubt, zeigt er
sich erstaunt darüber, »wie sie die Örtlichkeit miß-
verstand« (12.2.1913; T 493). Textbeschreibung
Die ›Gedanken‹, die die Niederschrift des Urteils
nach Kafkas Bekunden begleiteten (23.9.1912; Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, teilt
T 461): an Sigmund Freud, an Max Brods Roman brieflich einem Freund in Russland seine Verlobung
Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden (1912) – des- mit und geht mit diesem Brief zum Vater, den er seit
sen Protagonist im Gegensatz zu Georg Bendemann langem nicht mehr aufgesucht hatte. Während sich
selbstbewusst aus der Fremde zurückkehrt – oder an Georg um die Pflege des Vaters bemüht zeigt, ge-
eine Textpassage aus Franz Werfels Die Riesin. Ein winnt dieser zunehmend an Statur; er macht ihm
Augenblick der Seele (Herder-Blätter 1, 1912, 4/5, 41– den Freund streitig, verspottet die Braut und stellt
43), zeigen, wie sehr er das erzählte Sohn-Vater-Ver- sein berufliches wie familiäres Verhalten als Verrat
hältnis schon im Schreiben als literarisches Para- dar. Schließlich verurteilt er den Sohn zum Tod
digma begriff (461). durch Ertrinken, den dieser eilfertig vollzieht. –
Diese in ihrer Abfolge wenig verständliche äußere
Handlung stellt Kafka auf eine Weise dar, die die
Strukturen der Handlungswelt transparent werden
lässt.
Das Urteil 155

Auktorial erzählt, doch bereits mit latenter Wahr- des Freundes – und damit ein Weltverhältnis zu ver-
nehmungsperspektive, exponiert die Einleitungspas- gegenständlichen, das ›Verurteilbarkeit‹ implizieren
sage den Protagonisten in charakteristischer Situa- kann.
tion: Privatraum, Blick aus dem Fenster, der Brief an Derart vorbereitet, beginnt nach einer kurzen, sti-
den Freund und der Gestus seiner Handhabung be- listisch an die Expositionspassage anschließenden
kunden innere Souveränität; Fluss und Brücke drau- Überleitung – Georg geht zum Vater – als umfang-
ßen bilden eine zeichenhaft verdichtete Topogra- reichste Textpassage die Auseinandersetzung zwi-
phie, die den Spannungspol der Handlung markiert schen Sohn und Vater. Dominant ist hier die szeni-
und im Vorverweis auf das Ende die Finalität des sche Darstellung via Dialog in direkter Rede, wobei
Verlaufs signalisiert. der Text bereits durch die Art der Redeführung
Mit dem Übergang zur Introspektion – »Er dachte (sprachliche Präsenz, Artikulationsvermögen, Treff-
darüber nach, wie dieser Freund […]« (DzL 43) – sicherheit der Repliken bzw. Sprachverlust) die Posi-
beginnt ein Textteil, der mittels Gedankenbericht, tion und Interaktion der Kontrahenten demons-
indirekter wie zitierter Rede oder Briefzitat Georgs triert. Ergänzt wird diese Charakterisierung durch
Wahrnehmungsspektrum erschließt. Im Fokus steht Hinweise zu Erscheinungsbild und Habitus. Sie rei-
der ›Freund‹, dessen rudimentär gegenständliche chen von einfachen Regieanweisungen (»ohne Be-
Lebensform Kafka so völlig in Georgs Reflexion auf- wegung«; DzL 53) über physiognomische Signale
gehen lässt, dass sich auf der Textebene keine konsis- (»zog den zahnlosen Mund in die Breite«; 51) bis zu
tente Figur bildet – keine »wirkliche Person«, wie ausführlich dargestellten Handlungen, die in ihrer
Kafka schreibt (An F. Bauer, 10.6.1913; B13–14 204) Zeichenhaftigkeit (Zudecken/Aufdecken) die Inten-
–, sondern ein personaler Bezugspunkt entsteht, an tionalität der Auseinandersetzung verbildlichen.
dem sich Habitus und Attitüde des Protagonisten Aufseiten Georgs setzt sich dabei die Perspektivie-
auskristallisieren. Es liegt daher kein Widerspruch rung fort, während das Gegenüber nur über diese
vor, wenn der Vater später ein gegensätzliches Bild Spiegelung bzw. in Bild und Gesten sichtbar wird,
dieses ›Freundes‹ zeichnet, indem er ihn für sich re- die immer neu zu objektivieren wären. Bedingt
klamiert: Beide Bilder sind gleichermaßen mentale durch diese Darstellungsweise bleibt die Figur des
Funktionen. Derart funktional eingebunden in die Vaters weitgehend opak, sodass das Todesurteil eine
Innensphäre der Figuren bleibt auch die mittels zi- von seiner Person abgelöste Geltung erhalten kann.
tiertem Dialog dargestellte ›Braut‹ Frieda (DzL Stilistisch wiederum der Eingangspassage zuge-
47 f.). ordnet, berichtet die Schlusspassage vom Vollzug
Indem der Text einerseits durch Sachinformatio- des Urteilsspruchs. Indem der Protagonist in dem
nen oder Bericht (»im Laufe dieser drei Jahre hatte eingangs von fern ›gesehenen‹ Fluss leibhaftig unter-
sich […] für Georg vieles verändert«; DzL 45) den geht, gewinnt die Erzählung die Dimension einer
Anschein von Objektivität erzeugt, andererseits aber immanent begründeten Handlung.
zugleich alles scheinbar Objektive durch die Reflexi-
vität der Figuren relativiert (»wohl«), entsteht eine
Spiegelung der Welt im Geist. Charakteristikum Forschung
dieses für Kafka stilbildenden Erzählens ist die
(pseudo-mimetische) Manifestation und zugleich Kafkas pseudo-mimetisches Erzählen gestattet nicht
(perspektivisch bedingte) Transzendierung der selten eine direkte Lesart, die sich an den Sachver-
wahrnehmungstheoretisch fundierten Opposition halten orientiert. Dieser Lesart kommt Das Urteil auf
von Gegenstand und Reflexion. So entsteht keine ge- besondere Weise entgegen, thematisiert es doch den
schlossene Bewusstseinswelt, aber auch kein artis- für den Autor bekanntlich selbst komplexhaften Va-
tisch autonomes Bild. Vielmehr wird Subjektivität ter-Sohn-Konflikt. Die Erzählung verdankt ihre Be-
als Medium des Weltverhältnisses etabliert und da- liebtheit bei den Lesern bis hin zur Schullektüre da-
mit in ihren Dispositionen und Strategien themati- her dieser Nähe zur Biographie, wobei sich die Posi-
sierbar. Das Urteil praktiziert damit erstmals Kafkas tion der Konfliktpartner meist sehr vereinfacht
Technik einer relativierenden Darstellung, die es er- darstellt (z. B. Scholz 1993).
möglicht, im Entwurf der fiktiven Welt zugleich die Das Interesse der Forschung, das über zweihun-
vorgängigen mentalen Prozesse der Weltbildung dert Arbeiten dokumentieren, stützt sich vor allem
deutlich zu machen – hier konkret Georgs ›Bildung‹ auf die werkbiographische Relevanz der dem Autor
156 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

›liebsten Arbeit‹, wobei auch hier dem Vater-Sohn- Deutungsaspekte


Konflikt eine Schlüsselstellung zukommt. Da der
Lebensmuster: Nachfolge contra Ausbruch
Generationenkonflikt zugleich zu den Grundstruk-
turen des menschlichen Lebens gehört, zeichnet sich »Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten
ein Spektrum interdisziplinär unterschiedlichster Frühjahr«: Der Beginn der Geschichte zeigt den jun-
Deutungsmuster ab. So könne man Das Urteil, wie gen Kaufmann Georg Bendemann auf dem Höhe-
Fingerhut resümiert, »biographisch als Konflikt zwi- punkt seiner bürgerlicher Existenz. In »seinem Pri-
schen Franz und Hermann Kafka, psychoanalytisch vatzimmer« sitzend, beendet er »einen Brief an ei-
als ödipale Strafphantasie […], historisch-typolo- nen sich im Ausland befindenden Jugendfreund«
gisch als Kampf zweier Zeitalter […], philosophisch (DzL 43), in dem er diesem, wie später zu erfahren
als Kampf zweier Prinzipien (Geist – Leben, Bürger- ist, seine Verlobung mitteilt. Der Protagonist genießt
tum – Kunstexistenz)« interpretieren (Fingerhut diese Situation beruflicher wie gesellschaftlicher Ar-
1979, 294). Hinzu kommt die soziologische bzw. so- riviertheit, denn er zögert den Abschluss des Briefes
zialhistorische Interpretation, die etwa die Krise des »in spielerischer Langsamkeit« hinaus, ehe er, die
Subjekts im Machtapparat der bürgerlichen Familie Ellbogen wie sich vergewissernd auf seinen soliden
herausarbeitet (Neumann 1981), oder die theologi- Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf die Szene-
sche, die dem Urteil des Vaters einen religiösen Stel- rie des äußeren Lebens, Fluss, Brücke und grüne An-
lenwert zuschreibt (z. B. Hartwig 1993). höhen, »sah« (43).
Einen Überblick über die Erkenntnisinteressen Mit diesem ›Sehen‹, der optischen Distanz zwi-
und entsprechenden Interpretationsmethoden neu- schen Häuslichkeit und Ferne, spielt der Text nicht
erer und älterer Literaturwissenschaft bietet der nur auf das konträre Ende an – aus dem Haus gejagt,
›Modellanalysen‹ zum Urteil vorstellende Band von wird Georg im Fluss versinken –, sondern verbild-
Jahraus/Neuhaus (2002). So erschließt sich etwa sys- licht zugleich die Voraussetzungen, die zu diesem
temtheoretisch, im Blick auf die Enigmatik des Ur- Ende führen. Die gleiche Spannung zwischen Häus-
teils, eine Destruktion gesellschaftlicher Ordnungs- lichkeit und Ferne prägt nämlich auch Georgs nun
modelle. Poststrukturalistische Forschung dekon- in den Fokus rückende ›Korrespondenz‹ – verstan-
struiert (im Rekurs auf Kafkas Aussage, im Urteil den als ›Briefwechsel‹ wie unterschwelliger ›Zusam-
keinen ›geraden Sinn‹ zu finden) die Thematisie- menhang‹ – mit dem nach Russland ausgewanderten
rung von Sinnvorstellungen und stößt zu einer Freund. Indem der Protagonist diese Korrespondenz
Transformation der Ordnungen vor. Die Diskurs- in Erinnerungen und Reflexionen umkreist, mit de-
analyse lenkt den Blick auf die kulturellen, juristi- nen er zugleich Erklärungen und Rechtfertigungen
schen oder politischen Facetten des Generationen- verbindet, wird deutlich, wie sehr der ferne Freund
konflikts, dem im historischen Diskurs des frühen als Bezugspunkt zum eigenen Leben fungiert.
20. Jahrhundert variierende Positionen zugewiesen Kernpunkt bildet das Exil in Russland: einem
wurden. Für die Geschlechterforschung bilden Kaf- Land, mit dem Kafka in einem Tagebuch-Text vom
kas Texte generell einen lohnenden Gegenstand, wo- 5. Januar 1912, der unter dem Titel Der plötzliche
bei die Marginalität der Frauenfiguren im Urteil zur Spaziergang in Betrachtung aufgenommen wird, »äu-
Konzentration auf die Männerbilder führt, die Vater, ßerste Einsamkeit« verbindet (T 348). Er habe, kom-
Sohn und Freund explizieren. mentiert er später, »bei der Beschreibung des Freun-
Desiderat der Forschung wäre demgegenüber eine des in der Fremde« an den Jugendfreund Otto Steuer
stärkere Konzentration auf die narratologische Kom- (*1881) gedacht, dessen Weggang aus Prag sich ihm
plexität des Textes, weil hierdurch die Fixierung auf wohl als Kontrast zum eigenen Verbleiben im Fami-
ein vermeintlich Objektives (wie den Freund) aufzu- lienkreis eingeprägt hatte (12.2.1913; T 492 f.). Wäh-
heben wäre, das in seiner Widersprüchlichkeit jedes rend Kafka allerdings als angehender Dichter mit
Textverständnis zu unterminieren scheint. So wären solcher Einsamkeit vor allem Vorstellungen des
die Grundprobleme des Textes – die Figur des Freun- Selbstseins verbindet, beschränkt sich sein Protago-
des, der Impuls des Konflikts und die Bewertung der nist, der als Kaufmann dem Lebensweg des Vaters
Partner, vor allem aber Georgs Schuld und die Legi- folgt, auf den Aspekt des Unbehaust-Seins und recht-
timität des Urteils – in diesem Rahmen neu zu dis- fertigt damit sein Verharren. »Fremde« meint für
kutieren. Georg eine ›Entfremdung‹ von Haus und Heimat,
die den Fernen unabdingbar zum Ausgeschlossenen
Das Urteil 157

macht: »Allein – weißt du, was das ist?«, fragt Georg und so ist auch Georgs Genugtuung über den Brief
die Braut, wie um das Gewicht dieser Situation wis- zu verstehen, in dem er seine bevorstehende Heirat
send (DzL 47). »Verloren im weiten Rußland« sieht mitteilen kann. Im Vergleich mit dem Ausgewander-
er den Petersburger Freund, als der Vater dessen ten weiß er, der zu Hause blieb und die Firma vom
Existenzform zu befürworten scheint (56). Vater übernahm, sich in allen Bereichen als der Er-
Hinzu kommt die Exponiertheit des Exilanten: das, folgreichere. Vor allem als der Vater sich nach dem
wie Kafka in einem Tagebuch-Kommentar schreibt, Tod der Mutter zurückzog – als Witwer sozial ge-
»Revolutionen Ausgesetzte« (11.2.1913; T 492), das schwächt wie ein Junggeselle –, hatte Georg »so wie
auf Zeitungsberichte über den blutigen Petersburger alles andere, auch sein Geschäft mit größerer Ent-
Aufstand gegen den Zaren vom 21. Januar 1905 zu- schlossenheit angepackt« und dabei unbestreitbar
rückgehen dürfte. Für den Protagonisten verdichtet kommerzielle Fortschritte erzielt (DzL 46). Und na-
sich dieses historische Wissen zur Sorge um die »Un- türlich weiß er sich durch seine vor einem Monat
sicherheit der politischen Verhältnisse«, wie sie der »erfolgte« (48) Verlobung, die schon verbal jenen
Freund zur Begründung seines Verbleibens anführt »geschäftlichen Erfolgen« (46) zugeordnet ist, vor
(DzL 45). Wenn Georg ihn ›sieht‹ im »leeren, ausge- dem traurigen Schicksal des Junggesellen bewahrt.
raubten Geschäft« (56), dann sieht er in diesem Georg sieht sich also gerade im Vergleich mit dem
Schicksal die Lebensgefahren ausgeprägt, die mit der Freund in seinem Lebensweg bestätigt. Ja, dessen to-
Entfernung von der sicheren Heimat drohen. tales Scheitern sollte das Lebensmuster der Nach-
Durchgängig legen Georgs Überlegungen den folge endgültig absichern.
Freund auf das Gegenbild zur eigenen häuslichen
Erfolgsgeschichte fest. Dieser habe sich, heißt es, Beziehungen: Interesse, Taktik, Besitz
»mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden«,
nach Russland »förmlich geflüchtet«, freilich ohne Die ›Korrespondenz‹ mit dem fernen Freund zeigt
»in der Fremde« den erhofften Erfolg realisieren zu sich für den Protagonisten in zweierlei Weise zweck-
können (43); sein Geschäft gehe schlecht, so dass er dienlich: Sie bietet ihm den (für Kafka stets interes-
sich nutzlos abarbeite. So betrachtet, gebührt der ei- santen) sozialen Mehrwert alles ›Gemeinschaftli-
gentliche Fortschritt den »zu Hause gebliebenen chen‹ – daher kann der Vater dem Sohn später mit
Freunden«, wogegen der erfolglose Emigrant als »ein der Aneignung des Freundes soziales Kapital entzie-
altes Kind« stagniert (44). hen –, und sie liefert ihm zugleich die nötige Selbst-
Den beruflichen Misserfolg komplettieren, wie bestätigung. Der Text verdeutlicht diese Funktiona-
Georg erkennt, erste Anzeichen einer Krankheit und lisierung der Beziehung, indem er Georgs Verhalten
vor allem eine so weitgehende soziale Isolation (»fast auf die latente Intentionalität und die daraus resul-
keinen gesellschaftlichen Verkehr«), dass dem tierende Taktik transparent macht.
Freund »ein endgültiges Junggesellentum« beschie- So dokumentiert die rhetorisch lückenlose Argu-
den sein dürfte (43 f.). Damit ist in der bürgerlichen mentationskette, in der Georg sein Verhältnis zum
Werteskala der Zeit der Tiefpunkt des Scheiterns er- Korrespondenzpartner rationalisiert, vor allem das
reicht. Denn die Heirat wäre Signum dafür, dass das primäre Interesse, den fernen Freund auch tatsäch-
Leben in jeder Hinsicht gemeistert wurde: Sicherung lich fern zu halten. »Was wollte man einem solchen
des familiären Lebensunterhalts und damit die Auf- Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte,
nahme in eine gesellschaftlich wie genealogisch zu den man bedauern, dem man aber nicht helfen
verstehende Lebensgemeinschaft, nicht zuletzt die konnte« (DzL 44). Der Rat, zurückzukehren und
›Sozialisierung‹ der Sexualität. ›Endgültiges Jungge- dem Beispiel der häuslichen Karrieren zu folgen,
sellentum‹ meint daher mehr als Vereinsamung: Es würde ihm seinen Misserfolg vor Augen führen.
wäre gleichbedeutend mit dem Herausfallen aus al- Derart »niedergedrückt« – »natürlich nicht mit Ab-
len Formen des Lebens, wie es Kafka in dem kurzen sicht«, wie es bezeichnenderweise heißt, »aber durch
Tagebuchtext vom 14. November 1911 skizziert die Tatsachen« –, fände er sich »nicht in seinen
(T 249 f.), den er unter dem Titel Das Unglück des Freunden und nicht ohne sie zurecht« und verlöre
Junggesellen in Betrachtung veröffentlicht. damit erst recht Heimat und Freunde. Die Logik
Er fühlte sich »gut aufgehoben im Zustand eines scheint zwingend: ›Man‹ konnte zweifellos an keine
Bräutigams«, heißt es demgemäß in Kafkas Tage- Rückkehr des Freundes denken, und so war es »bes-
buch über einen jungen Mann (12.3.1912; T 406), ser für ihn, er blieb in der Fremde« (45).
158 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Zeichnet sich in dieser Unpersönlichkeit der For- Korrespondenzverhältnis« sprach (47), beurteilt die
mulierung bereits eine erste Störung der Freund- Freundschaft – in (formal) zitierter Rede, die die Re-
schaft ab, so führt die Belastung mit persönlichen flexivität dieser zwischen Außen- und Innensicht
Interessen schließlich zur Pervertierung der Kom- changierenden Beurteilung markiert – entsprechend
munikation. »Aus diesen Gründen« folgt nämlich, richtig. »Wenn du solche Freunde hast«, sagt Frieda,
wie es heißt, die Korruption des Briefwechsels, die und spricht damit Georgs mangelnde soziale Kom-
der Vater dann als ›Verrat‹ verurteilt: ›Man‹ konnte petenz an, dann »hättest du dich überhaupt nicht
dem Freund ja »keine eigentlichen Mitteilungen ma- verloben sollen« (48). Verbal wie figurativ artikuliert
chen« (45). Bestätigt sieht sich Georg durch die nach die ›Braut‹ – die, so Kafka, »nur durch die Beziehung
mehrjähriger Trennung wachsende Entfremdung zum Freund […] lebt« (11.2.1913; T 491 f.) – den
des Freundes, dem die häusliche Situation »unvor- Konnex zwischen Georgs Domestizierung des
stellbar« zu werden schien (46). Das belegte dessen Freundes und dem Akt der Verlobung, den später
›trockenes‹ Kondolenzschreiben zum Tod der Mut- auch der Vater entsprechend beurteilt, wenn er die
ter wie der damit verbundene Versuch, Georg zu ei- Inbesitznahme des Freundes (»auf ihn setzen«), d. h.
ner Auswanderung zu überreden, deren geschäftli- die Abqualifizierung seines Lebensmusters, als Vor-
che Perspektive doch »verschwindend« war im Ver- aussetzung für die Heirat bezeichnet (DzL 56). In
gleich mit den Chancen, die sich für Georg mit dem seiner Entgegnung bestätigt Georg indirekt diese
Rückzug des Vaters boten (46). Des Freundes öko- Funktion der Verlobung (»unser beider Schuld«),
nomische Fehleinschätzung korrigierte Georg be- bekräftigt aber zugleich seine Handlungsweise (»ich
wusst nicht. »Er wollte nichts anderes«, heißt es mit wollte es auch jetzt nicht anders haben«; 48). Wie
latenter Charakterisierung, als des Fernen negative sehr die Verlobte in der Tat seine Position stützt,
Vorstellungen von den Möglichkeiten in der Heimat zeigt der Umstand, dass Georg erst im erotischen
»ungestört lassen«, die diesen ja in seiner Entschei- Besitz der Braut (»unter seinen Küssen«) die Verlo-
dung zur Emigration bestätigen mussten. »Ich will bungsanzeige für »unverfänglich« hält (48). Der zi-
ihn nicht stören«, sinniert Georg wenig später er- tierte Wortlaut des Briefs resümiert noch einmal
neut im Zusammenhang mit Überlegungen, die er- seine Strategie, sich dem besiegten Konkurrenten als
klären sollen, warum er auch den bisherigen Gipfel der ›Glückliche‹ zu präsentieren und dessen Besuch
seines Erfolgs, die Verlobung, bislang nicht »zuge- hinauszuzögern (»handle ohne alle Rücksicht«),
standen« hat (47). Die Strategie seiner Argumenta- ohne den Besitz der Freundschaft zu gefährden
tion dokumentiert, wie selbst solche Fürsorglichkeit (48 f.).
den eigenen Interessen dienen kann. So stellt der Text bereits im Vorfeld der Auseinan-
Die Präzision des Vorgehens impliziert Intentio- dersetzung mit dem Vater das Lebens- wie die Ver-
nalität und Rationalität, aber nicht notwendiger- haltensmuster des Protagonisten dar und charakteri-
weise auch Willen und Bewusstheit. Vielmehr agie- siert ihn dadurch in allen nun relevant werdenden
ren Kafkas Figuren in einem Zwischenbereich von Aspekten.
Absichtlichkeit und Unwillkürlichkeit, die sie nur
bedingt schuldfähig macht (s. u.). Dass der Protago- Vater und Sohn: Spiegelungen –
nist die Inszenierung seiner Freundlichkeit ›spielt‹
Verdrängungen
und also ein »Spaßmacher« ist, wie ihm der Vater
später vorwirft (53), ändert daher nichts an dem in- Der Konflikt mit dem Vater beginnt nicht unvermit-
neren Automatismus, mit dem diese Funktionalisie- telt. Wenn Georg zum Vater kommt, um ihm die
rung der Freundschaft, ja die Manipulation aller Anzeige der Verlobung zu »sagen« (DzL 50), dann
menschlichen Beziehungen – die der Vater später als impliziert dies bereits eine spannungsgeladene Ver-
›teuflisch‹ verurteilen wird (60) – im Rahmen von schränkung von Anerkennungsbedürfnis und De-
Georgs Lebensentwurf geschieht. Der Text verbild- monstrationsgestus, auch wenn der damit verbun-
licht diese Inhärenz der Egozentrik in Georgs Be- dene doppelte Anspruch auf Abschluss der Nach-
merkung, er könne aus sich nicht »einen Menschen folge und Übernahme der väterlichen Position
herausschneiden«, der für die Freundschaft geeigne- vorerst noch latent bleibt.
ter wäre (48). Im Privatbereich des Vaters, in dem er »seit Mona-
Die Braut »aus wohlhabender Familie«, mit der ten nicht gewesen war«, trifft Georg auf ein anderes
Georg oft »über diesen Freund und das besondere Bild, als er es aus dem ›Verkehr‹ im Geschäft oder
Das Urteil 159

dem ›gleichzeitigen‹ Aufenthalt im Speisehaus oder Russlands wäre, wie der Vater im besseren Wissen
Wohnzimmer zu haben glaubt (49). Sein ›Erstaunen‹ um Georgs konträren Lebensentwurf sinniert, ein
über die gedrückten Lebensverhältnisse im ›uner- Freund ›unglaubwürdig‹ (53).
träglich dunklen‹ Hinterzimmer spiegelt zeichenhaft Georg reagiert auf dieses In-Frage-Stellen des
sowohl das vorgängige Ausblenden des Vaters, das Freundes »verlegen« (52) – und verlagert sein Inter-
dieser in der Schlusspassage verurteilen wird, wie esse nun direkt auf den Vater, wobei sich Stilisierung
die augenblickliche Irritation über die visuelle Un- und Absichtlichkeit seines Handelns überlagern. So
durchdringlichkeit dieses Privatraums, die dem Va- zeigt sich vordergründig der besorgte Sohn in den
ter hingegen durchaus ›lieb‹ ist. Denn gerade hier Überlegungen, den Vater zur Verbesserung der Le-
kann ihm der Vater schon im Moment der Begeg- bensumstände vom »Dunkel« ins »Licht« zu bringen
nung mit einer ungebrochenen Dominanz entgegen- (52 f.) oder in den zukünftigen Hausstand ›mitzu-
treten, die Kafka im physischen Erscheinungsbild nehmen‹ (55). Suspekt aber wird solch ›überzärtli-
quasi naturalisiert (»mein Vater ist noch immer ein ches‹ Verhalten durch die Gesten des Hochhebens,
Riese«; 50). Das aber bedeutet, dass der in der Öf- Entkleidens, Niedersetzens: Metaphern des Sich-Be-
fentlichkeit bereits entschieden geglaubte Kampf des mächtigens, der Entblößung, der Unterordnung, de-
potentiellen ›Nachfolgers‹ mit der Person des Vaters ren Intentionalität der Text durch eine zunehmend
nun erst beginnt. zeichenhafte Darstellung lesbar macht. Zum Wende-
Unwillkürlich verfällt Georg sofort wieder der Do- punkt wird schließlich das Bemühen, den Vater ins
minanz des Vaters: Fixiert auf sein Gegenüber, folgt Bett, den Ort der Privatheit, zu legen und zuzude-
er selbstlos (»ganz verloren«; 50) dessen Bewegun- cken, das dieser – mit den Spielregeln offensichtlich
gen, der sich der ihm zugedachten Rolle des ›alten bestens vertraut – als Versuch der Nivellierung ver-
Mannes‹ durch seine Massivität widersetzt. Im Ge- steht und entsprechend konterkariert: »Du wolltest
schäft, wo er bereits an Einfluss verloren hat, er- mich zudecken […], mein Früchtchen, aber zuge-
schien er Georg »doch ganz anders«, während er deckt bin ich noch nicht« (56).
hier, im Kreis des innersten Lebens, seinen Platz Auch an diesem Punkt kann der Vater die Absicht
noch immer behauptet, »breit sitzt und die Arme des Sohnes ›aufdecken‹, ja ›lauernd‹ erwarten, weil
über der Brust kreuzt« (51). Georgs hilflose Geste – er sein ihm nachkommendes ›Früchtchen‹ kennt.
er »zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ Ihn müsse, wie es heißt, »glücklicherweise niemand
ihn wieder zurückfallen« (50) – lässt erkennen, wie lehren, den Sohn zu durchschauen« (56). Dessen
schnell die mitgebrachten Sicherheiten im Umfeld Habitus spiegelt ja in jedem Punkt das Weltverhält-
des Vaters an Wert verlieren, der die Situation bereits nis einer ökonomisch orientierten Vaterwelt: Der
mit der Umdeutung des geplanten ›Sagens‹ in eine ›junge Kaufmann‹ teilt mit seinem Vorgänger das
›Beratung‹ (51) an sich zieht. Denken in Konkurrenz, Macht und Besitz. Den hier-
Den eigentlichen Impuls für die Verunsicherung durch bedingten Kampf aber kann der Vater gerade
des Sohnes aber gewinnt der Vater daraus, dass er deshalb für sich entscheiden, weil der Sohn keine ei-
dessen Zielsetzung wie Strategie durchschaut. So gene Existenz fern dieser Vaterwelt besitzt. Im viel-
entkräftet er Georgs Rede durch den sicheren Blick deutigen Spiel des (wie ein ›altes Kind‹ zum Bett ge-
für das ›Täuschende‹ (52), das Intentionale seiner tragenen) Vaters mit Georgs Uhrenkette, dem Sym-
Argumentation. Auf Georgs Erläuterungen zur Re- bol bürgerlicher Arriviertheit, zeichnet sich diese
vision seiner ursprünglichen Absicht, dem Freund Möglichkeit des (für den Sohn ›schrecklichen‹)
»aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde ›Festhalten-Könnens‹ ab (55).
sonst«, die Verlobung zu verschweigen (51), entgeg- Das Aufbegehren des Vaters gegen den Usurpati-
net ihm der Vater daher abrupt mit der Forderung onsversuch des Sohns eröffnet daher eine Gegenbe-
nach der »vollen Wahrheit« und einer Frage, die die wegung, in der er seinem Nachfolger in allen rele-
Freundschaft radikal in Frage stellt: »Hast du wirk- vanten Positionen die Grundlagen des vermeintli-
lich diesen Freund in Petersburg?« (52). Die Frage chen Erfolgs entzieht.
betrifft nicht die Existenz des Freundes – die Georg Die erste Position ist der ›Freund‹, den der Vater
dem Vater wortreich in Erinnerung ruft, während er nun seinerseits zu einem Gegenbild des Sohnes auf-
ihm zugleich den imposanten Schlafrock auszuzie- baut. Georg habe geglaubt, »den Vater in sich zu ha-
hen sucht –, sondern den Anspruch, den Georg da- ben«, notiert Kafka anlässlich der Korrektur des Ur-
mit verbinden möchte. »Gerade dort«, in der Ferne teils im Tagebuch. Dann aber zeige die Entwicklung
160 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

der Geschichte, wie aus dem »Gemeinsamen, dem Sohnes entzieht, sondern ihm nach und nach auch
Freund, der Vater hervorsteigt und sich als Gegen- familiär wie geschäftlich alle Errungenschaften strei-
satz Georg gegenüber aufstellt« (11.2.1913; T 491). tig macht, auf die dieser seinen Erfolg stützen zu
Indem der Vater nämlich nun den Emigranten see- können glaubte. Der Rückzug des mit dem Tod der
lisch adoptiert – »er wäre ein Sohn nach meinem Mutter vereinsamten Vaters ins Hinterzimmer, Ge-
Herzen« (DzL 56) –, entwertet er Georgs familiär- orgs Einzug ins Chefbüro, die Übernahme der vom
ökonomisches Lebensmuster und entzieht ihm da- Vater akquirierten Kundschaft und der Abschluss
mit den Anspruch auf eine gebührende Nachfolge. von Geschäften, »die ich vorbereitet hatte«: In jedem
Glaubte der Sohn mit dem Freund erfolgreich jede Punkt scheint der Erfolg, ja die Existenz des Sohnes
Konkurrenz seines Lebensmusters ausgeschaltet zu von der Verdrängung dessen zu zehren, »von dem
haben, so macht der Vater diese Absicht zunichte, du ausgingst« (58). Es ist diese direkte, nicht durch
indem er sich als dessen »Vertreter hier am Ort« (57) den Weggang des Sohnes gebrochene Linie des
bezeichnet und als solcher nun Forderungen erhebt, Nachfolgens, wodurch der Vater leichtes Spiel hat –
wie sie gerade des Freundes Ausbruch aus dem Le- »man hätte von zuhause ausbrechen müssen«, sin-
benskreis der Familie zu repräsentieren scheint: Wa- niert Kafka im <Brief an den Vater >, um das Beispiel
gemut, Eigenwille, Selbständigkeit. Mit der so »wech- des lebenstüchtigen Vaters recht eigentlich umzuset-
selnden Gestalt« des Freundes, der ja nur einen ge- zen (NSF II, 169). Die Erzählung klammert die
meinsamen Bezugspunkt markiere, vollziehe sich, Selbstvorwürfe der Entschlusslosigkeit, die Kafka im
wie Kafka kommentiert, ein »perspektivischer Wech- <Brief > damit verbindet, ebenso aus wie das psy-
sel« (An F. Bauer, 10.6.1913; B13–14 205), der das chisch belastende Double-Binding, mit dem Her-
Verhältnis der Generationen in verändertem Licht mann Kafka seinen Kindern den Mangel einer Ei-
zeigt: Ins Blickfeld rücken nun plötzlich die Enttäu- genständigkeit vorwarf, die er gleichzeitig als Un-
schung des Vaters über die Kraftlosigkeit des Soh- dankbarkeit, Ungehorsam, ja Verrat brandmarkte
nes, der eigener Lebensbewährung auswich, und die (169 f.). Im Protagonisten des Urteils gestaltet Kafka
Belastung durch seine Unselbständigkeit. vielmehr ganz den Typus des Sohns, der die Erfolgs-
Demgegenüber bleibt es bloßer Teil des durchgän- geschichte des Vaters durch ›Folgsamkeit‹ fortzu-
gig wechselseitig geführten Machtkampfes, wenn schreiben gedenkt und gerade deshalb am Vater
der Vater als ›wahrer‹ Korrespondenzpartner des scheitert.
Freundes den Wert dieser sozialen Allianz für sich Dem Zugriff des Sohnes entwunden, »steht« der
beansprucht oder durch Hyperbeln (»er weiß alles Vater »vollkommen frei« (DzL 57). Indem er, durch
tausendmal besser«; DzL 59) seinen wachsenden den Tod der Mutter scheinbar ›niedergeschlagen‹
Triumph über den Sohn noch zu steigern versucht. (52), nun deren ›Kraft‹ zurückgewinnt, den Freund
Die zweite Position ist die Verlobung. Indem der für sich reklamiert und Georgs Braut ›wegfegt‹ (58 f.)
Vater die Braut kraft seiner sozialen Autorität auf – also, wie Kafka kommentiert, »Gemeinsames« wie-
ihre sexuelle Attraktivität reduziert (»weil sie die Rö- der um sich »auftürmt« (T 492) –, positioniert sich
cke so gehoben hat«; 57) und das Heiratsversprechen der vermeintlich Geschwächte mit manifester Ag-
als bloßes Mittel Georgs zur Bedürfnisbefriedigung gressivität als »noch immer der viel Stärkere« (DzL
desavouiert, nimmt er der Verlobung die gesell- 58). Und in dem Maß, wie der so zum »Schreckbild«
schaftliche Geltung. So betrachtet, bildet sie gerade (56) aufwachsende Vater an Terrain gewinnt, weicht
nicht den erhofften Einstieg in eine konsolidierte der Sohn zurück (»in einem Winkel, möglichst weit
bürgerliche Existenz, sondern bleibt pubertäres Sur- vom Vater«; 57) und verliert die zu Beginn noch op-
rogat. Der Sohn vermag diesem väterlichen Urteil tisch wie intellektuell intendierte Kontrolle über die
nichts entgegenzusetzen, weil die Heirat, wie Kafka Situation. Georgs Versuch, »alles zu fassen«, stockt;
im <Brief an den Vater > erklärt, trotz der damit ver- schließlich entfällt ihm sogar sein Entschluss, »alles
bundenen Selbständigkeit zur Vaterwelt gehört (NSF vollkommen genau zu beobachten« (57).
II, 212 f.). Dass der Protagonist des Urteils dem Vater Nicht nur mental zeigt Georg damit die Symp-
auf diesem Weg ebenbürtig zu werden hofft, zeigt, tome wachsender Selbstauflösung (»immerfort ver-
wie selbstverständlich er in den Strukturen dieser gaß er alles«; 59). Auch im Gespräch, das beide Sei-
Welt denkt und agiert. ten als Rededuell begreifen und führen, verliert der
Die dritte und wichtigste Position ist der Vater zunehmend ›unmündigere‹ Sohn an Boden, wenn er
selbst, der sich nicht nur als Person dem Zugriff des sich mit einer verbalen Attacke auf den Vater Chan-
Das Urteil 161

cen zu vergeben meint – der Vorwurf des ›Komödi- benszusammenhängen, denen sich Georg im Wort-
antentums‹ (58) wird von diesem sofort für sich ver- sinn beharrlich entzogen hatte und die er im Para-
wendet – oder er vom Vater »mitleidig« (60) auf eine digma des Freundes zu verdrängen suchte. Indem
verfehlte Entgegnung hingewiesen werden kann. Kafka den Vorwurf des Vaters auf diese Lebensver-
Georgs ohnmächtige Abwehrgesten, der pauschale fehlung zuspitzt, kann sich dieser als Richter präsen-
Wunsch, den Vater durch eine Bemerkung lächer- tieren, ohne die Rahmenbedingungen der Figur zu
lich, ja »in der ganzen Welt unmöglich« zu machen verletzen. Sein Vorwurf der Selbstbefangenheit –
(59), die hilflose Hoffnung auf den ›Fall‹, das ›Zer- »bisher wußtest du nur von dir« (60) – gewinnt Gel-
schmettern‹ des übermächtigen Gegners (58) zeigen tung daraus, dass er die bereits durchgängig darge-
die beginnende Erschöpfung seiner Reaktionsmög- stellte Taktik in Georgs Verhalten auf den Begriff
lichkeiten, ohne dass er vom Vater abzulassen ver- bringt.
mag. Im <Brief an den Vater > spricht Kafka vom Des Vaters scheinbar paradoxes Resümee – »Ein
»Kampf des Ungeziefers«, das sticht, während es zu unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch
seiner Lebenserhaltung noch immer Blut saugt (NSF eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!« (60) –
II, 215). Das Resultat ist eine so umfassende Depo- fasst daher präzise die beiden einander bedingenden
tenzierung, dass der Vater dem Sohn das Leben ent- Grundtendenzen in Georgs Lebensmuster zusam-
ziehen zu können scheint, das er ihm einst gab: Nur men: die Treuherzigkeit, mit der der folgsame Sohn
»für den Augenblick der Antwort« sei Georg, wie es den Lebensentwurf des Vaters nachvollzieht, und zu-
heißt, »noch mein lebender Sohn« (DzL 58). gleich die Perfidie, mit der er im Vollzug dieses Le-
Die Möglichkeit einer Verurteilung resultiert aus bensentwurfs, aggressiv und rücksichtslos seine
dieser Situation. Da der Fokus der Darstellung auf Zwecke verfolgend, menschliche Beziehungen kor-
Georg liegt, ist die autogene Problematik des Vaters rumpiert. Der Aspekt, dass das ›Teuflische‹ bereits in
– sein lauerndes Warten, seine Aggressivität und der den Praktiken dieses Lebensentwurfs liegt – der,
unverhohlene Genuss der wiedererrungenen Macht wie Kafka im <Brief > am Modell des geschäftstüch-
– nur als Zeichen des charakterlichen Erbes präsent. tigen Vaters zeigt, vitale Interessen und ökonomi-
Dass der sich zum »Richter« erhebende Vater selbst sche Zwecksetzungen kombiniert –, ist im Urteil auf-
»schwache und verblendete Partei« ist, wie Kafka im gehoben in der Kritik an Georgs willfähriger Nach-
<Brief an den Vater > schreibt (NSF II, 181), wird in folge.
der Erzählung nicht thematisiert. Hier zeichnet Die Synthese von ›eigentlicher‹ Unschuld und
Kafka das Urteil als Konsequenz einer Entwicklung, ›noch eigentlicherer‹ (60) Schuld umschreibt zu-
die ihre Stringenz aus dem systematischen Verfall ei- gleich eine moralische Ambivalenz, die die Prädis-
ner sich als abhängig erweisenden Lebensform ge- position der Figur einbezieht, ohne ihre Verantwort-
winnt. lichkeit zu reduzieren. Kafkas Figuren haben keine
»Schuld« in jenem im <Brief > bezeichneten Sinn,
Parabel menschlicher Verschuldung dass sie »etwa mit einer Steuerdrehung das Ganze
anders einrichten können« (NSF II, 144); Georgs
Mit Georgs passiver Auflehnung wäre, in der Meta- ›Naivität‹ bezeichnet diese Immanenz der Hand-
phorik des Textes, der ›Abfall‹ des ›Früchtchens‹ er- lungsprämissen. Gleichwohl fällen Urteil und Tod –
reicht. Von einem lang hinausgezögerten ›Reif-Wer- für den Protagonisten des Urteils wie dann des
den‹ spricht der Vater (DzL 60) und leitet damit die Processes – den legitimen Schuldspruch über eine
zum Urteil führende Argumentationsphase ein. Lebenspraxis, die den Agierenden in seiner Selbst-
So führt er dem nun potentiell selbständigen Sohn befangenheit zum ›teuflischen Menschen‹, zum
seine lebenslange Selbstbefangenheit vor Augen: das ›Verworfenen‹ macht. Im Blick auf die Ambivalenz
Nicht-Sehen des Freundes wie des Vaters (»Dafür der Schuld wie auf den Begründungszusammenhang
hast du doch Augen!«; 60), die Georg durch die Fi- von Verfehlung und Untergang zeigen Kafkas Texte
xierung auf das väterliche Vorbild (»schau mich an«; tragische Strukturen, wenn auch seinen epischen Fi-
57) und die so bedingte Ausrichtung des Blicks auf guren jedes tragische Bewusstsein mangelt.
die eigenen Interessen verfehlt hatte. In der zuneh- Der Urteilsspruch erfolgt explizit aufgrund von
mend moralisch konnotierten Argumentation des Georgs Verschuldung (»Und darum wisse: Ich ver-
Vaters bedeutet die Reife also das späte ›Wissen‹ von urteile dich jetzt«), und er reflektiert in der Art der
dem, »was es noch außer dir gab« (60): von jenen Le- Strafe, dem »Tode des Ertrinkens« (DzL 60), sehr ge-
162 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

nau dessen Lebensverfehlung. Des häuslichen Rück- einer menschheitsgeschichtlichen Erlösung vom
halts beraubt, wird der Sohn jenem ›äußeren Leben‹ ›Teuflischen‹ gegenseitiger Verschuldung zu lesen
ausgesetzt, in dem er sich, wie der Urteilsspruch vor- wäre. Denn enthebbar wäre diese Verschuldung so
aussetzt, nicht wird behaupten können. Aus dem vä- wenig wie die Erbsünde. Darauf bezieht sich Kafkas
terlichen Zimmer »gejagt« (60), geht Georg augen- Kommentar, dass er im Urteil keinen »verfolgbaren
blicks unter im Element des Lebens, in dem er sich Sinn« fände, der auf Veränderbarkeit ziele (An F.
nicht ›schwimmend‹ über Wasser zu halten vermag. Bauer, 3.6.1913; B13–14 201). Der Text verbindet
Der berühmte Schlusssatz des Urteils – »In diesem vielmehr, auch hierin tragischen Strukturen ver-
Augenblick ging über die Brücke ein geradezu un- wandt, die handlungsimmanente Begründbarkeit
endlicher Verkehr« (61) – verbildlicht das Herausfal- der Katastrophe mit der Unabdingbarkeit des zu-
len des ›Selbstmord‹ begehenden, d. h. identitätslos grunde liegenden Problems.
endenden Protagonisten aus den vielfältigen Kom- Nur für einen Moment scheint in Kafkas <Brief an
munikationsprozessen, die das menschliche Leben den Vater > die Vision einer entspannten Beziehung
durchziehen. auf: zwischen dem innerlich ›freien‹ Sohn, der als
Der freiwillige Vollzug des Urteils betont die Ak- solcher dankbar, schuldlos und aufrecht wäre, und
zeptanz durch den Verurteilten. Doch gibt es im Text dem ›unbedrückten‹ Vater, der als solcher untyran-
keine Anzeichen dafür, dass der Protagonist die Be- nisch, zufrieden und mitfühlend wäre. »Aber zu dem
gründung seiner Verurteilung tatsächlich versteht. Zweck«, heißt es weiter, »müßte eben alles Gesche-
Georg absolviert die Vollstreckung vielmehr mit der hene ungeschehen gemacht, d. h. wir selbst ausge-
gleichen bedenkenlosen Eilfertigkeit – berichtet wird strichen werden« (NSF II, 210). Die literarische Ge-
von der ›Getriebenheit‹ seines Laufs wie auf »schie- staltung dokumentiert diese Inhärenz der Konflikt-
fer Fläche« (60), dem Bedürfnis des Vollzugs (»wie situation. Indem Das Urteil die aktionale als eine
ein Hungriger die Nahrung«; 61) –, mit der er le- wesensmäßige Verstrickung von Vater und Sohn
benslang dem Vorbild des Vaters folgte. Ja, man kann darstellt, wird Kafkas erste gültige Arbeit zur Parabel
die Sportlichkeit der Bewegung, in der sich Georg für eine Grundsituation menschlichen Handelns.
noch einmal als der »ausgezeichnete Turner« prä- Dies zu verstehen, bleibt freilich nur ein erster
sentiert, der er »in seinen Jugendjahren zum Stolz Schritt, solange ›wir selbst‹ uns nicht ›ausstreichen‹
seiner Eltern gewesen war« (61), als Akt der Regres- können.
sion in die Lebensphase der selbstverständlichen
Anerkennung durch die Eltern lesen. Auch die Rück- Ausgaben: ED: Das Urteil. Eine Geschichte von Franz
sicht, mit der er sich um die Geräuschlosigkeit seines Kafka. In: Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst. Hg. v.
Falls bemüht, schließlich das finale Liebesbekennt- Max Brod. Leipzig: Kurt Wolff Verlag [zweite Maihälfte]
nis für die Eltern (»ich habe euch doch immer ge- 1913, 53–65 [mit Widmung: »Für Fräulein Felice B.«]. –
liebt«) zeigen, wie sehr der Protagonist bis ans Ende Das Urteil. Eine Geschichte von Franz Kafka. Leipzig:
als ›Sohn‹ handelt (61). Nur weil Georg am Ende Kurt Wolff Verlag [Okt./Nov.] 1916 (Der jüngste Tag
»selbst nichts mehr hat, als den Blick auf den Vater«, 34) [mit Widmung: »für F.«]; 2. Aufl.: Franz Kafka: Das
kommentiert Kafka im Tagebuch, »wirkt das Urteil, Urteil. Eine Geschichte. München: Kurt Wolff Verlag
[Herbst] 1919 [mit einer Reihe von Textänderungen;
das ihm den Vater gänzlich verschließt so stark auf
Druckvorlage für DzL/KA]. – Erz/GS (1935), 53–66. −
ihn« (11.2.1913; T 492).
Erz/GW (1952), 53–68. − DzL/KA (1994), S. 41–61; T/
Mit der Rolle des ›Sohns‹ endet zugleich die des
KA (1990), 442–460.
›Vaters‹: Seines Widerparts beraubt, stürzt dieser
Materialien/Kommentare: Hartmut Binder: K.-Kom-
aufs Bett (DzL 60). Indem der Text so noch einmal mentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1975,
die Interdependenz der Kontrahenten verdeutlicht – 123–152. – Michael Müller: Erläuterungen und Doku-
die innere Notwendigkeit ihres Konflikts und daher mente: F.K. Das Urteil. Stuttgart 1995 (RUB 16001). –
die Relativität ihrer ›Schuld‹ –, bezieht er die Grund- Gerhard Neumann: F.K. Das Urteil. Text, Materialien,
struktur der Konfliktsituation in den Untergang ein. Kommentar. München, Wien 1981.
So könnte es sein, dass das Wort, mit dem die Be- Forschung: P.-A. Alt (2005), 320–329. − Martin Bar-
dienstete auf die Überrumpelung durch den hastig tels: Der Kampf um den Freund. Die psychoanalytische
vorbeieilenden Georg reagiert – »›Jesus!‹ rief sie und Sinneinheit in K.s Erzählung Das Urteil. In: DVjs 56
verdeckte mit der Schürze das Gesicht« (DzL 60) –, (1982), 225–258. − Frederick J. Beharriel: K., Freud und
als Anspielung auf die quasi religiöse Dimension Das Urteil. In: Manfred Durzak/Eberhard Reichmann/
Das Urteil 163

Ulrich Weisstein (Hg.): Texte und Kontexte. Fs. für Nor- Judgement and The Interpretation of the Dream. In: GR
bert Fuerst. Bern, München 1973, 146–167. − P. U. Bei- 48 (1973), 212–228. − Sonja Nerad: Das teuflische
cken (1974), 241–250. − Russell A. Berman: Tradition Früchtchen und die widerliche Gans. Wer ist wer in K.s
and Betrayal in Das Urteil. In: J. Rolleston (2002), 85– Erzählung Das Urteil? In: Literatur für Leser 26 (2003)
99. – Jürgen Born: K.s Erzählung Das Urteil: Schuld 2, 63–81. − Christine Palm: »Wir graben den Schacht
oder Schuldgefühle. In: Ders.: »Daß zwei in mir kämp- von Babel« oder K.s Urteil. Versuch einer semasiolo-
fen…« und andere Aufsätze zu K. Furth i.W., Prag 2001, gisch-textlinguistischen Analyse. Uppsala, Stockholm
123–135. – Peter Brandes: Falsche Freunde. Zu K.s Ur- 1989 (Studia Germanistica Upsaliensia 30). − Edgar
teil. In: Ulrich Kinzel (Hg.): An den Rändern der Moral. Piel: Die Schwäche, der Eifer und die Ich-Sucht. K.s Er-
Studien zur literarischen Ethik. Würzburg 2008, 89– zählung Das Urteil als ›Gesellschaftsroman‹. In: Spra-
102. − Stanley Corngold: The Hermeneutics of The che im technischen Zeitalter 62 (1977), 167–179. −
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satz zum Verstehen der Dichtung K.s, dargestellt an der Kimpel/Beate Pinkerneil (Hg.): Methodische Praxis
Erzählung Das Urteil. München 1973. − Edmund Edel: der Literaturwissenschaft. Modelle der Interpretation.
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mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur.
München, Wien 1995, 264–275; wieder in: C. Liebrand
(2005), 102–115. − V. Murrill/W.S. Marks: K.’s The
164 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

3.2.2 Die Verwandlung nug friedlich und mit allen ausgesöhnt gestorben ist. Die
Geschichte selbst ist noch nicht ganz fertig, ich habe
keine rechte Lust jetzt mehr für sie und lasse den Schluß
bis morgen (An F. Bauer, 5./6.12.1912; B00–12 303).
Entstehung und Veröffentlichung
In der folgenden Nacht teilte er Felice dann mit:
Entstehungsgeschichte
»Liebste, also höre, meine kleine Geschichte ist be-
Am 17. November 1912 kündigte Kafka seiner späte- endet, nur macht mich der heutige Schluß gar nicht
ren Verlobten Felice Bauer in einem Brief an, dass er froh, er hätte schon besser sein dürfen, das ist kein
später noch »eine kleine Geschichte niederschreiben Zweifel« (B00–12 306).
werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist Die handschriftlichen Manuskripte, die der
und mich innerlichst bedrängt« (B00–12 241). Wie Stroemfeld Verlag 2003 in einer Faksimileausgabe
angekündigt beginnt er in der gleichen Nacht seine veröffentlicht hat (OQ17 (Vw)/FKA), zeigen, dass
Geschichte, deren Titel er ein paar Tage später eben- Kafka Die Verwandlung in chronologischer Reihen-
falls in einem Brief an Felice nennt: »Verwandlung« folge der Handlung und Kapitel verfasste und nur
(B00–12 256). Diesem Brief vom 23. November lässt wenige Korrekturen während des Schreibens vor-
sich entnehmen, dass die Geschichte umfangreicher nahm. Nachdem er die Erzählung abgeschlossen
wurde als gedacht und dementsprechend mehr Zeit hatte, nahm er die Arbeit an seinem ersten Roman-
beanspruchte: »Es ist sehr spät in der Nacht, ich habe projekt Der Verschollene wieder auf, das er Ende Sep-
meine kleine Geschichte weggelegt, an der ich aller- tember begonnen hatte.
dings schon zwei Abende gar nichts gearbeitet habe
und die sich in der Stille zu einer größern Geschichte Mögliche Quellen
auszuwachsen beginnt« (B00–12 255). Trotz dieser
Verzögerung konnte Kafka bereits am 24. November In der Forschung wurden verschiedene mögliche
den ersten Teil seinem Freundeskreis vorlesen (vgl. Quellen für Kafkas Erzählung angeführt. Die deut-
B00–12 262). Seinem Ideal des Schreibens entsprach lichsten Parallelen sieht Mark Spilka zu Dostojews-
der Fortgang der Geschichte dennoch nicht, wie ei- kis Der Doppelgänger und Charles Dickens’ David
nem weiteren Brief an Felice aus der gleichen Nacht Copperfield. Es ist davon auszugehen, dass Kafka
zu entnehmen ist: beide Werke kannte. Die Gemeinsamkeit zu Dosto-
jewskis Roman liegt in der Materialisierung unbe-
Mit den nicht allzu schlimmen Folgen meine ich, daß
die Geschichte schon genug durch meine Arbeitsweise wusster Vorgänge, die ihre Ursache in der Ausübung
leider geschädigt ist. Eine solche Geschichte müßte man sozialen Drucks haben (vgl. Spilka, 294). Jedoch
höchstens mit einer Unterbrechung in zweimal 10 Stun- auch die Anfänge der Geschichten weisen konkrete
den niederschreiben, dann hätte sie ihren natürlichen Gemeinsamkeiten auf: Beide Helden erwachen aus
Zug und Sturm, den sie vorigen Sonntag in meinem
Kopfe hatte (B00–12 265).
unruhigen Träumen, fühlen sich krank und stellen
eine Veränderung ihrer Realität fest, die mit Ein-
Eine Dienstreise hinderte ihn zwei Tage lang am schränkung, Schwäche und Schmerz einhergeht (vgl.
Weiterschreiben und als er sich die Geschichte ab Spilka, 295 f.). Sowohl Golyadkin als auch Gregor
dem 27. November wieder vornahm, wurde er im- Samsa fürchten durch ihre Beeinträchtigung ihre
mer unzufriedener. In der Nacht vom 29. auf den Arbeit zu verlieren. Während Dostojewski fort-
30. November schrieb er: »Könnte ich doch die Sei- schreitende Geisteskrankheit schildert, sind in Kaf-
ten, die ich seit 4 Tagen geschrieben habe so vernich- kas Erzählung alle Aspekte in der Insektenmetapho-
ten, als wären sie niemals da gewesen« (An F. Bauer; rik verdichtet.
B00–12 284). Bereits am 1. Dezember war er jedoch Etwas anders gelagert sind die Übereinstimmun-
bei dem dritten und letzten Teil angelangt und teilte gen mit Dickens’ Roman: Spilka verweist hier auf das
Felice zwei Tage später mit, dass er »knapp vor dem vierte Kapitel des David Copperfield, in dem der Pro-
Ende« (3.12.1912; B00–12 295) sei. Am 6. Dezem- tagonist von seinem Stiefvater geschlagen und dann
ber, etwa zweieinhalb Wochen nach der ersten Er- fünf Tage in seinem Zimmer eingesperrt wird. Auch
wähnung der Verwandlung, schrieb er: hier zeigt Spilka Gemeinsamkeiten auf der inhaltli-
Weine, Liebste, weine, jetzt ist die Zeit des Weinens da! chen Ebene: Beide Helden werden von ihren Fami-
Der Held meiner kleinen Geschichte ist vor einer Weile lien verstoßen, beide werden misshandelt, beide se-
gestorben. Wenn es Dich tröstet, so erfahre, daß er ge- hen sich als verunstaltet, beide bekommen die glei-
Die Verwandlung 165

che Nahrung – Milch und Brot. Die entscheidende auf diesen Vorschlag nicht einging, schrieb Kafka am
Verbindung zwischen beiden Autoren sieht Spilka 11. April nochmals:
u. a. in der kindlichen Perspektive und der Behand-
Nur eine Bitte habe ich, die ich übrigens schon in mei-
lung familiärer Verhältnisse (vgl. Spilka, 301 u. 306). nem letzten Briefe ausgesprochen habe. »Der Heizer«,
Als weitere Quelle wurde Gogols Erzählung Die »die Verwandlung« […] und »das Urteil« gehören äu-
Nase diskutiert. Spilka vertritt die Auffassung, die ßerlich und innerlich zusammen, es besteht zwischen
Erzählung sei keine Vorlage für Kafkas Werk, son- ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheime Ver-
bindung, auf deren Darstellung durch Zusammenfas-
dern viel eher für Dostojewskis Roman gewesen. sung in einem etwa »Die Söhne« betitelten Buch ich
Dies weist er anhand einiger Textstellen nach und nicht verzichten möchte (11.4.1913; B13–14 166).
erklärt damit auch die Ähnlichkeiten zwischen Kafka
und Gogol, die v. a. in der Eingangssituation aller Wolff stimmte diesem Vorschlag zwar grundsätzlich
drei Werke bestehen würde (vgl. Spilka, 291). Hart- zu, jedoch war die Publikation des Heizers bereits in
mut Binder sieht dagegen einen direkten Einfluss Vorbereitung, während Die Verwandlung noch nicht
Gogols auf Kafkas Erzählung, und zwar in der Selbst- vorlag und somit eine Sammelveröffentlichung auf
verständlichkeit, mit der Unmögliches und Unwirk- einen unbestimmten Termin verschoben wurde (vgl.
liches in die fiktionale Welt integriert wird, wodurch OQ17(Vw)/FKA, Beiheft 4). Kafka brauchte bis An-
ein »hintergründiger Humor« entsteht (Binder 2004, fang 1914, um ein Manuskript der Verwandlung an-
77). In Gogols Erzählung besteht die Unwirklichkeit zufertigen. Aus Tagebuchaufzeichnungen vom Ok-
darin, dass die Nase des Kollegienassessors Kowalew tober 1913 geht hervor, dass er die Geschichte bei er-
eines Morgens verschwunden ist, um in eine Staats- neuter Lektüre nicht mehr überzeugend fand. Als er
ratsuniform gekleidet in St. Petersburg spazierenzu- das Manuskript dann abgeschlossen hatte, schickte
gehen. Ob Kafka die Erzählung gelesen hat, ist unge- er es jedoch nicht an Kurt Wolff, sondern an Franz
wiss; es lässt sich jedoch nachweisen, dass er Werke Blei, der die Monatsschrift Die weißen Blätter her-
von Gogol kannte (ebd., 77). ausgab. Zudem interessierte sich Robert Musil, der
Binder weist zudem auf die Erzählung Das Unge- im Auftrag des S. Fischer Verlags für die Neue Rund-
ziefer des dänischen Autors Johannes V. Jensen schau junge Autoren suchen sollte, für die Erzäh-
(1873–1950) hin, in der ein Ich-Erzähler detailliert lung. Im April erhielt Kafka dann auch positive
schildert, wie er in einem Keller sitzend von Bett- Rückmeldung von der Neuen Rundschau, sollte den
wanzen gequält wird. Einige Details wie das Von- Text allerdings um ein Drittel kürzen. Darauf schlug
der-Decke-fallen-Lassen der Insekten stimmen mit Kafka vor, entweder nur das erste Kapitel oder eben
den Beschreibungen Kafkas überein (vgl. Binder doch die Erzählung im Ganzen zu veröffentlichen,
2004, 63). worauf sich der Verlag aber nicht einließ. Es verging
wieder einige Zeit, bis sich die Redaktion der Weißen
Veröffentlichung Blätter unter René Schickele im Oktober 1915 schließ-
lich zur Publikation der Verwandlung entschloss.
Franz Werfel, der als Lektor im Kurt Wolff Verlag ar- Zugleich kam das Angebot, die Erzählung anschlie-
beitete, traf in Prag mehrmals mit Kafka zusammen ßend auch in der Reihe Der Jüngste Tag des Kurt
und gab seinem Verleger einen Hinweis auf Die Ver- Wolff Verlags, der mit den Weißen Blättern koope-
wandlung. Am 20. März 1913 bat Wolff Kafka brief- rierte, herauszubringen (vgl. OQ17(Vw)/FKA, Bei-
lich um das Manuskript. Dieser antwortete, er werde heft 7). Damit endete der lange Publikationsvorlauf,
eine Abschrift anfertigen lassen und sie ihm zukom- und Die Verwandlung erschien im Oktober 1915 in
men lassen. Anfang April schrieb Wolff nochmals, den Weißen Blättern und Ende 1915 in der Reihe Der
Kafka solle ihm das erste Kapitel des Verschollenen, jüngste Tag als Doppelband.
das im Mai 1913 unter dem Titel Der Heizer publi-
ziert wurde, zusenden, und bat zugleich nochmals
um das Manuskript und die Handschrift der Ver- Textbeschreibung
wandlung. Kafka vertröstete Wolff zwar, was die Er-
zählung anbelangte, noch einmal, machte jedoch zu- Die Verwandlung umfasst ungefähr 100 Druckseiten
gleich den Vorschlag, die Prosastücke Der Heizer, und ist damit das längste vollendete Prosawerk des
Das Urteil und Die Verwandlung in einem Band un- Autors. Sie ist in drei gleichgroße Teile gegliedert,
ter dem Titel Die Söhne herauszubringen. Als Wolff die eine inhaltliche Entwicklung markieren. Die ei-
166 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

gentliche Verwandlung Gregor Samsas in ein »unge- Am Ende der Geschichte wird die interne Fokali-
heueres Ungeziefer« (DzL 115), wie es im ersten Satz sierung aufgegeben, um die Geschehnisse nach Gre-
heißt, ist bereits vor Beginn der Erzählung gesche- gors Tod berichten zu können (vgl. DzL 194–200).
hen. Die Verwandlung handelt demnach nicht von Die Erzählung muss mit dem Tod des Protagonisten
der Metamorphose in ein nicht näher bestimmtes sowie dem Bild der befreiten und Hoffnung schöp-
Ungeziefer, sondern viel eher von dem Umgang der fenden Familie formal zwar als abgeschlossen ange-
Samsas mit dieser Veränderung. sehen werden, dennoch bleiben wichtige Fragen
vollkommen offen. Diese Offenheit kommt dadurch
Erzählsituation und fiktionale Welt zustande, dass weder Gregor selbst noch seine Fami-
lie eine Begründung für die Verwandlung haben, ja
Die Geschehnisse werden von einem personalen Er- noch nicht einmal nach einer Erklärung suchen oder
zähler aus der Perspektive Gregor Samsas geschil- sich zumindest über das Ereignis wundern. Die Ver-
dert. Mit dieser internen Fokalisierung geht einher, wandlung wird von allen Beteiligten als gegeben hin-
dass keinerlei objektive Kommentierung der Situa- genommen. Da auch kein Erzähler für eine Einord-
tion stattfindet. Bereits der erste Satz macht die Er- nung oder Klärung der Ereignisse zur Verfügung
zählperspektive und die mit ihr zusammenhängende steht, bleibt die Frage nach dem ›Warum‹ vollkom-
Problematik der Deutung sichtbar: »Als Gregor men dem Leser überlassen und stellt bis heute das
Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen er- größte Interpretationsproblem der Erzählung dar.
wachte, fand er sich in seinem Bett zu einem unge- Diese Überlegungen führen sogleich zu einer wei-
heueren Ungeziefer verwandelt« (DzL 115). Die For- teren Frage: Wie ist die Verwandlung in ein Ungezie-
mulierung »fand er sich« erscheint relativ vage und fer zu deuten? Handelt es sich dabei um eine Meta-
lässt vorerst offen, ob er sich tatsächlich in ein Unge- pher und wenn ja, um was für eine Art von Meta-
ziefer verwandelt hat oder sich nur so fühlt. pher? Wie auch in anderen Werken Kafkas wird die
Obwohl im Laufe der Handlung deutlich wird, Metapher zur innerfiktionalen Wirklichkeit und
dass Gregor äußerlich tatsächlich zu einem insekten- kann somit schwerlich als Traum oder reine Einbil-
ähnlichen Tier geworden ist, wurde die Verwand- dung des Protagonisten abgetan werden. Das Auf-
lung immer wieder als rein mentale interpretiert. treten eines überdimensionierten Insekts mit
Dass Gregor seine menschliche Identität beibehält menschlichem Verstand bewirkt einen Einbruch des
und sich lediglich körperlich verwandelt, lässt die Unmöglichen und damit Phantastischen in die Rea-
Frage, ob und wie die Ungeziefergestalt metapho- lität des Erzählten, denn bis auf den Menschen im
risch oder allegorisch zu verstehen sei, nur noch Insektenkörper ist die fiktionale Welt nach realisti-
deutlicher hervortreten. Auch die äußerliche Er- schen Regeln gestaltet. Dieses Aufeinandertreffen
scheinung Gregors bleibt vage. Es ist nicht klar, ob er von realer und phantastischer Welt macht einerseits
sich in einen Käfer, eine Bettwanze, eine Küchen- einen Teil der verstörenden und zugleich humoristi-
schabe oder ein anderes Ungeziefer verwandelt hat. schen Wirkung der Erzählung aus und lässt anderer-
Diese Offenheit wird noch dadurch verstärkt, dass seits die Frage nach ihrem Sinn und ihrer Bedeutung
sich Kafka in einem Brief an den Verlag strikt gegen umso dringlicher werden.
eine Illustration des verwandelten Gregors ausge-
sprochen hat: Inhaltliche Entwicklung
Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann
aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden. […] Die drei Kapitel der Erzählung entsprechen einer
Wenn ich für eine Illustration selbst Vorschläge machen Steigerung und Zuspitzung der Situation. Im ersten
dürfte, würde ich Szenen wählen, wie: die Eltern und der Teil blickt Gregor auf seine Tätigkeit als Handelsrei-
Prokurist vor der geschlossenen Tür oder noch besser
die Eltern und die Schwester im beleuchteten Zimmer, sender zurück, ohne recht zu realisieren, dass er die-
während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer of- sen Beruf in Zukunft nicht mehr ausführen wird.
fen steht (An G.H. Meyer [Kurt Wolff Verlag], 25.10. Die erste Begegnung mit der Familie und dem Pro-
1915; B14–17 145). kuristen der Firma endet mit der gewaltsamen Ein-
Diese Aussage gibt sowohl Spekulationen über Gre- sperrung Gregors in seinem Zimmer. Der zweite Teil
gors tatsächliches Aussehen als auch über den even- schildert das veränderte Verhältnis und die daraus
tuell doch nur mentalen Charakter der Verwandlung entstehenden Konfrontationen mit der Schwester
Raum. und den Eltern, die wiederum in einem Akt der Ge-
Die Verwandlung 167

walt gegen Gregor endet (der wieder eingesperrt vom altersschwachen Greis zum erneut potenten Be-
wird). Im dritten Teil verlässt Gregor abermals, von rufstätigen. Diese Verkehrung des Verhältnisses lässt
der Musik der Schwester gelockt, sein Zimmer, wor- sich u. a. im Kontext des Parasiten- und Ungeziefer-
aufhin diese sein Todesurteil ausspricht. Wiederum bildes interpretieren.
in seinem Zimmer eingesperrt, stirbt der mittler- Inwiefern die Verwandlung Gregors Wesen än-
weile verwahrloste und verhungernde Gregor frei- dert, bleibt unbestimmt, da man, obwohl aus seiner
willig. Die Geschichte endet mit einer Befreiung der Perspektive erzählt wird, wenig über seine Gedan-
Familie durch Gregors Tod. ken erfährt. Das Violinspiel der Schwester bildet eine
Die inhaltlichen Entwicklungen sind eng mit der Ausnahme. Hier werden Empfindungen Gregors
Zeit- und Raumgestaltung der Erzählung verbun- mitgeteilt, weswegen die Szene einer genaueren In-
den. Der erste Teil, in dem sich Gregor noch in sei- terpretation bedarf, um ihre Bedeutung für Gregors
ner beruflichen Funktion wahrnimmt, ist zeitlich Entwicklung zu bestimmen. Die Passage kann als ein
straff gegliedert und begrenzt: Er dauert nur eine Höhepunkt vor dem Endpunkt der familiären Kon-
Stunde, nämlich von halb sieben Uhr morgens bis frontation verstanden werden, da Gregors Todesur-
halb acht; innerhalb dieser Stunde werden immer teil hier ausgesprochen wird.
wieder Zeitangaben gemacht, wenn Gregor auf sei-
nen Wecker sieht. Auch räumlich bleibt die Hand-
lung fast ausschließlich auf Gregors von innen ver- Forschung
riegeltes Zimmer beschränkt. Ab dem zweiten Teil
dehnt sich die Zeit immer mehr, und die Zeitanga- Die Verwandlung gehört zu den am häufigsten und
ben werden diffuser (»manchmal«, »es war wohl am kontroversesten gedeuteten Werken Kafkas. Es
schon ein Monat seit«, »über einen Monat«; DzL lässt sich kaum eine Deutung finden, zu der es keine
153, 157, 172). Auch der Raum, der im ersten Teil Gegenposition gibt. Der größte Konsens besteht in
noch etwas Vertrautes hatte, wird von Gregor nun der Aussage, dass die Erzählung nicht mit einem
als zu groß und zu hoch empfunden. Anstatt von in- Deutungsansatz erfasst werden kann, sondern im-
nen wird er jetzt von außen verschlossen. Die Möbel mer von mehreren Standpunkten aus gelesen wer-
werden entfernt, so dass Gregor besser über die den muss. Einige dieser Standpunkte seien hier kurz
Wände krabbeln kann – die letzten Hinweise auf referiert.
Gregors menschliche Identität verschwinden damit.
Im dritten Teil wird das Zimmer von der Familie Anti-Märchen oder Tragödie –
schließlich als Rumpelkammer genutzt (180 f.). Der
Traum oder Wirklichkeit
Fensterblick, den Gregor früher als befreiend emp-
fand, wird mehr und mehr zum Zeichen seiner Iso- Die Kontroverse beginnt bereits bei der Form der
lation, da er immer weniger sieht (155 f.). Sowohl die Erzählung: Einige Interpreten haben sie aufgrund
zeitlichen als auch die räumlichen Details geben der symmetrischen Teilung in drei Abschnitte (vgl.
Hinweise auf Gregors Befindlichkeit sowie auf die Robertson, 102) sowie des »objektiven Widerspruchs
sich verändernde Haltung der Familie ihm gegen- der Lage eines Menschen und seiner Einsicht in sie«
über. Hiermit verbunden sind die wichtigen thema- (Matz, 75) mit der antiken Tragödie verglichen. An-
tischen Aspekte der Isolation und des Verlusts der dere sahen in ihr ein Anti-Märchen, das sich v. a. da-
menschlichen Identität. durch auszeichnet, dass keine Rückverwandlung
Mit Gregors Verwandlung geht auch eine Ver- und keine Erlösung erfolgen – wie etwa in Die Schöne
wandlung seiner Familie einher. Nachdem Gregor und das Biest (vgl. Angus; Rudloff 1988, 325–328).
als Ernährer und Verantwortlicher der Familie aus- Fortgesetzt wird die Kontroverse bei der Frage, ob
fällt, entwickelt sich seine bis dahin verwöhnte und es sich bei der Verwandlung um eine tatsächlich
unreife Schwester Grete zur Verantwortungs- und stattfindende äußerliche oder um eine geträumte,
Hoffnungsträgerin der Familie. Während sie sich an- nur mentale handelt. Während ein Großteil der In-
fangs um Gregor kümmert, fordert sie am Ende terpreten davon ausgeht, dass die Verwandlung in-
umso bestimmter sein Verschwinden. Das Verhält- nerhalb der fiktionalen Welt tatsächlich stattfindet
nis Bruder-Schwester ist daher ein wichtiger Inter- und darin eine Besonderheit der Kafkaschen Kom-
pretationsaspekt. Ebenso zentral für die Deutung er- bination aus Realität und Irrealität sieht, gibt es ei-
scheint das Vater-Sohn-Verhältnis. Der Vater wird nige Forscher, die das Ungezieferbild als Gregors
168 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Fantasie ansehen (vgl. u. a. Beißner, 138). Das andere ner höheren Daseinsstufe. Da sich Gregor in seiner
Extrem zu dieser Position findet sich in den Versu- Funktion als Ernährer vollkommen von sich selbst
chen, aus dem Erzählten exakt herzuleiten, um was entfremdet hat, erlöst ihn die Verwandlung aus die-
für eine Art von Ungeziefer es sich bei Gregor han- ser Funktionalität und ermöglicht ihm Erkenntnis
delt. Paul Heller hält es für sehr wahrscheinlich, dass und Erfüllung im Zugang zur Musik während des
Gregor eine Bettwanze sei, da diese damals zu den Violinspieles der Schwester (vgl. Edel, 226, 219; Rud-
lästigsten Ungeziefern gehörte, lange hungern kann loff 1988, 333; Kobligk, 401 f.). Die Auffassung, dass
und sich zudem gerne von der Zimmerdecke fallen die Verwandlung dem Protagonisten eine Möglich-
lässt, wie es auch Gregor tut (vgl. Heller, 108 f.). keit der Reflexion und Erkenntnis geboten hätte,
vertreten einige Forscher, die meisten sind jedoch
Erkenntnislosigkeit und Schuld der Auffassung, dass Gregor diese Erkenntnismög-
lichkeit nicht nutzt, da er zu sehr in seinen alten
Der größte Teil der wissenschaftlichen Deutungen Strukturen verbleibt (vgl. Eschweiler, 140 f.; Pfeiffer,
beschäftigt sich mit dem Sinn und der Bedeutung 301). In diesem Zusammenhang wird der in Gregors
der Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer. Rücken verfaulende Apfel häufig als Zeichen schwin-
Dabei wurden immer wieder ähnliche Deutungsan- dender Erkenntnis interpretiert (vgl. Eschweiler,
sätze verfolgt. Heinz Politzer und Wilhelm Emrich 139; Politzer, 117).
vertreten die Auffassung, dass es bereits in Die Ver-
wandlung um die Schuldfrage gehe, die im Roman Ausbeutung und Verdrängung
Der Process im Mittelpunkt steht. Ähnlich wie die
Schuld Josef K.s bestehe auch die Gregors in seiner Es wurde ebenfalls versucht, den Text politisch-öko-
Verantwortungslosigkeit und mangelnden Erkennt- nomisch und psychoanalytisch zu deuten. Unter po-
nisfähigkeit gegenüber sich selbst (vgl. Politzer, 104; litisch-ökonomischen Gesichtspunkten lässt sich
Emrich, 121; Robertson, 118). Ingeborg Henel sieht feststellen, dass Gregor Samsa von seiner eigenen Fa-
die Schuld in Gregors geheimem Wunsch, seiner Ar- milie finanziell ausgenutzt wird, indem sie die Me-
beit und der Verantwortung zu entkommen – die chanismen ökonomischer Ausbeutung übernimmt
Verwandlung wäre dann zugleich Flucht, Schuld (vgl. Abraham, 26 f.). In diesem Zusammenhang soll
und Strafe (vgl. Henel, 72, 83; Sokel 1973 [1956], 277, Gregor den »Warencharakter« des verdinglichten
283). Gregor Samsa könnte jedoch auch ein Beispiel und entfremdeten Menschen verdeutlichen (Dopp-
für die prinzipielle Schuldhaftigkeit des Menschen ler, 95, 99). Aus marxistischer Perspektive wäre er
sein. Nach Helmut Kobligk macht er sich schuldig, ein ausgebeutetes und sich selbst entfremdetes Opfer
da er seine Familie durch seine Fürsorge in die Ab- des Kapitalismus (vgl. Sokel 1985, 159 f.). Psycho-
hängigkeit treibt; er hätte sich jedoch ebenso schul- analytisch betrachtet, agiert Gregor v. a. durch Ver-
dig gemacht, wenn er sich seiner Familie nicht durch drängen und Funktionieren, womit er eine falsche
Fürsorge angenommen hätte (vgl. Kobligk, 395). Da Harmonie und Lebenslüge nährt, an der er letztlich
das Schuldproblem wie auch in Das Urteil und Der zugrundegeht (vgl. Abraham, 26); seine Verwand-
Process nicht lösbar sei, enden alle drei Geschichten lung kann so als psychotischer Ausbruch, der ihn
mit dem Tod des Protagonisten (vgl. ebd., 396). Der aus dieser Rolle befreit, verstanden werden (vgl. Mi-
Aspekt der Schuld spielt innerhalb der Erzählung je- chel, 84–87).
doch noch in einer anderen Hinsicht eine Rolle: Gre-
gor arbeitet bei seinem Chef die finanzielle Verschul- Vater-Sohn-Konflikt
dung ab, die der Vater durch den Konkurs seines
Geschäfts verursacht hat. Diese Schuldübertragung Die Verwandlung ist immer auch im Kontext der Er-
scheint allerdings viel weiter zu gehen. Gregor wird zählungen Der Heizer und Das Urteil gelesen wor-
zur Personifikation dieser Schuld innerhalb der Fa- den, da Kafka den Wunsch hatte, dass alle drei Er-
milie, die sich durch Distanzierung dann von dieser zählungen unter dem Titel Die Söhne gesammelt ver-
befreien kann, bis sie nach Gregors Tod vollkommen öffentlicht werden. Dabei wird das Augenmerk auf
von ihr erlöst ist (vgl. Michel, 83, 85; Sokel 1985, 159, den Vater-Sohn-Konflikt gerichtet, der darin be-
164; Walser, 167). stehe, dass Gregor den Vater durch seine Ernährer-
In eine ganz andere Richtung geht die Deutung funktion aus der Vaterrolle drängt und die Verwand-
der Verwandlung als Weg zur Erkenntnis oder zu ei- lung dieses Ungleichgewicht wieder rückgängig
Die Verwandlung 169

macht (vgl. Öhlschläger, 170 f.; Ruf, 62–65, 70 f., gunsten eines künstlerischen Lebens verstanden, die
87 f.). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Kafka nie gewagt hätte und daher schriftstellerisch
Rolle der Schwester verwiesen worden, die Gregor durchspielt (vgl. Abraham, 24 f.; Fingerhut, 60 f.;
anfangs versorgt, sich jedoch immer mehr von ihm Matz, 80 f.).
distanziert und am Ende seinen Tod fordert, um
selbst zur Hoffnung der Eltern zu werden (vgl.
Eschweiler, 137; Fingerhut, 53 f.; Politzer, 113, 116, Deutungsaspekte
129; Weninger, 274 f.).
Gerade hinsichtlich des Vater-Sohn-Konflikts Da die meisten von außen an das Werk herangetra-
wurde immer wieder auf Kafkas schwieriges Ver- genen Interpretationsansätze schnell zu weit vom
hältnis zu seinem Vater verwiesen, in dem Parallelen Text wegführen, werden im Folgenden einzelne As-
zu den Figuren der Erzählung gesehen wurden (vgl. pekte noch einmal anhand des Textes diskutiert. Da-
u. a. Binder 2004, 78 ff.). Das gilt auch für das Ver- bei stehen die beiden zentralen Deutungsprobleme
hältnis zur Schwester. Zur Zeit der Entstehung soll der Erzählung im Mittelpunkt: das vieluntersuchte
Kafka sich von seiner Lieblingsschwester Ottla in ›Warum‹ der Verwandlung und das Vater-Sohn- so-
Bezug auf seine Verpflichtungen in der Familie und wie das Bruder-Schwester-Verhältnis.
der Asbestfabrik des Schwagers, an der Kafka An- Wenn man nach dem ›Warum‹ von Gregors Ver-
teile besaß, im Stich gelassen gefühlt haben (vgl. u. a. wandlung fragt, fragt man automatisch nach zwei
Binder 2004, 94). Dingen: (1) Warum nimmt Gregor Samsa eine Tier-
Das Ende der Erzählung wurde in diesem Zusam- gestalt an? (2) Warum ist diese Gestalt ein nicht nä-
menhang häufig als sarkastische oder ironische Dar- her bestimmtes Ungeziefer? Zugleich ist zu berück-
stellung eines kleinbürgerlichen Ideals verstanden, sichtigen, dass die Verwandlung nur äußerlich statt-
in dem Gregor keinen Platz mehr hatte (vgl. Dopp- findet – Gregor also ein Mensch im Insektenkörper
ler, 98; Nabokov, 38; Politzer, 129). ist.

Das Rätsel als Lösung Entfremdung und Entindividualisierung


Von einigen Interpreten ist betont worden, dass die Bereits im ersten Teil der Erzählung wird Gregor
Verwandlung gar nicht als Metapher oder Symbol Samsa vor allem als tüchtiger Handlungsreisender
aufgelöst werden könne, sondern gerade in ihrer beschrieben. Charakterisiert wird er sowohl durch
Mehrdeutigkeit und Rätselhaftigkeit belassen wer- seine Reaktionen auf die neue Situation als auch
den müsse (vgl. Binder 2004, 8 f.) So formuliert Em- durch die seines Umfelds. Zunächst ist auffällig, dass
rich knapp: »Er [der Käfer] ist interpretierbar nur als er seine neue Gestalt, obwohl sie »kein Traum« (DzL
das Uninterpretierbare« (Emrich, 127). Der einzig 115) ist, nicht ernstzunehmen scheint und Weiter-
mögliche Weg zum Verständnis wird dabei in der schlafen als beste Lösung ansieht. Verdrängung ist
immanenten und biographischen Methode gesehen. demnach die erste Reaktion. Sein zweiter Gedanke
Binder sieht in der Verwandlung Kafkas eigene Iso- gilt seinem Beruf als Handelsreisender, den er auf
lation und Unfähigkeit, sich mitzuteilen, verdichtet diffuse Art mit seinem neuen Zustand in Verbin-
(vgl. Binder 2004, 501–515; Weninger, 267–270). dung bringt. Er empfindet ihn als strapaziös und ruft
Dass das Paradox des Menschen im Ungezieferkör- sich in Erinnerung, dass er ihn nur angenommen
per, der ihm alle Kommunikationsmöglichkeiten hat, um die finanzielle Schuld der Eltern abzutragen.
mit der Umwelt nimmt, mehr als alles andere ein Dies tut er mit großem Pflichtbewusstsein, denn an-
Bild der Isolation ist, kann sicherlich als der größte statt sich um seinen Zustand Gedanken zu machen,
Konsens innerhalb der verschiedenen Deutungen sorgt er sich um seine Verspätung auf der Arbeit. Er
gelten (vgl. Henel, Michel, Sokel, Ruf). In diesem scheint sich dem ungeliebten Berufsleben vollstän-
Zusammenhang ist auch auf die Bedeutung des dig hingegeben zu haben, denn von der Mutter er-
tschechischen Wortes ›Samsa‹ verwiesen worden, fährt man, dass er »nichts im Kopf als das Geschäft
das mit ›der Einsame‹ übersetzt werden kann (vgl. hat« (126). Gregor Samsa stellt sich dem Leser als ein
Doppler, 92; Michel, 83). Im Kontext biographischer pflichtbewusster Sohn dar, der das eigene Leben op-
Deutung wurde die Verwandlung zudem als eine Er- fert, um die Schuld der Eltern abzutragen. Neben
probung der Ausstoßung aus Familie und Beruf zu- dem Handlungsmuster des Verdrängens scheint er
170 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

demnach auch das des Funktionierens verinnerlicht nicht zu existieren, sondern nur in seiner Funktion
zu haben. Diese Eigenschaften scheinen die Privat- als Familienernährer und Handelsreisender. Die
person Gregor Samsa vollkommen ersetzt zu haben. Verwandlung in eine Tiergestalt ist Zeichen seiner
So ist das aus einer Illustrierten ausgeschnittene Entfremdung und Entindividualisierung.
Bild einer Dame im Pelzmantel, für das er einen Zugleich hat die Verwandlung eine Funktion: Sie
Holzrahmen geschnitzt hat, der einzige Hinweis auf soll Gregor auf seine inadäquate persönliche Situa-
eine private Beschäftigung. Das Bild wird in der ers- tion hinweisen. Daher findet sie rein äußerlich statt
ten Beschreibung von Gregors Zimmer genannt und lässt ihn zum Menschen im Insektenkörper wer-
(115 f.), kurz darauf wird der selbstgeschnitzte Holz- den. Ihm bleibt also der menschliche Verstand, um
rahmen nochmals von der Mutter erwähnt (126). über seine Situation nachzudenken. Es findet jedoch
Dieses Bild ist es schließlich, das Gregor bei der Räu- weder ein Nachdenken über die Situation noch eine
mung seines Zimmers als letzten Gegenstand, der an Gefühlsreaktion gegenüber sich selbst statt. Gregor
seine menschliche Existenz erinnert, retten will macht sich über die Reaktionen seines Arbeitgebers
(165). Diese Handlung sowie die wiederholte Er- und seiner Familie sowie die familiären Geldprob-
wähnung zeigen den besonderen Stellenwert der leme Sorgen, jedoch nicht über sein eigenes Schick-
Dame im Pelz an. Sie ist v. a. als Hinweis auf Gregors sal. Ich sehe hier, wie Robertson und Politzer, Paral-
junggesellenhafte Erotik (vgl. Politzer), teilweise lelen zu Josef K. im Process. Ebenso wie die unwirkli-
auch als Ausdruck pervertierter und von Besitzden- che Gerichtswelt mit ihren Dachböden, Aufsehern,
ken geprägter Sexualität (vgl. Doppler) gedeutet dem Prügler und den Henkern in die Realität Josef
worden. Dabei ist wiederholt auf Leopold von Sa- K.s einbricht, bricht die Unwirklichkeit der Ver-
cher-Masochs Novelle Venus im Pelz (1870) verwie- wandlung über Gregor Samsa ein. In beiden Fällen
sen worden, in der sich der Protagonist masochisti- wird eine ›Metapher‹ zur innerfiktionalen Wirklich-
schen Spielen mit einer in Pelz gekleideten Domina keit und bringt in ihrer Unwirklichkeit die Wahrheit
hingibt und sich in seiner Rolle als Sklave Gregor zum Vorschein. Dies geschieht in der Verwandlung
nennt (vgl. Robertson, 108). Der Bezug bleibt speku- in viel direkterer Weise als im Process, da sich die
lativ; das Bild in Bezug auf Gregors verdrängte und Veränderung hier am Protagonisten selbst vollzieht,
daher gestörte Sexualität zu deuten, ist naheliegend. während der Prozessapparat im Roman abstrakter
Gerade Gregors Rettungsversuch des Bildes, bei dem und diffuser bleibt. Der bevorstehende Prozess soll
er seinen heißen Bauch an das kühlende Glas des Josef K. zum Nachdenken über sich, sein Leben und
Bildes drückt, hat etwas von einer erotischen Hand- seine mögliche Schuldigkeit bringen, genauso wie
lung. die Verwandlung Gregor auf sein menschliches Ver-
Neben dieser erotischen Konnotation bleibt das sagen gegenüber sich selbst verweisen soll. Beide
Illustriertenbild jedoch v. a. der einzige Verweis auf Protagonisten sind sich jedoch bereits so entfrem-
Gregor als Privatperson. Dieser Mangel an individu- det, dass sie eine Reflexion des eignen Wesens nicht
eller Präsenz zeigt sich auch in den Reaktionen auf leisten können und daher scheitern müssen. In bei-
seine Verwandlung, die ausschließlich auf sein Be- den Texten kann die im Laufe der Handlung abneh-
rufsleben und seine Familie ausgerichtet sind und mende Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit der Pro-
jegliche persönliche Involvierung verdrängen: tagonisten als Hinweis auf ihre mangelnde Fähigkeit
zur Selbsterkenntnis gedeutet werden. Als Lösung
er war begierig zu erfahren, was die anderen […] bei sei-
nem Anblick sagen würden. Würden sie erschrecken, bleibt in beiden Fällen nur der Tod.
dann hatte Gregor keine Verantwortung mehr und
konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig hinneh-
men, dann hatte auch er keinen Grund sich aufzuregen, Das Motiv des Hungerns
und konnte, wenn er sich beeilte, um acht Uhr tatsäch-
lich auf dem Bahnhof sein (DzL 130).
Der Tod wird in Gregors Fall durch Hungern und
den Willen zum Sterben erreicht. Das Hungern ist
Abgesehen von dem humoristischen Effekt, den die ein wiederkehrendes Motiv in Kafkas Werken Ein
Vorstellung eines mit Tuchwaren ausgestatteten In- Hungerkünstler und <Forschungen eines Hundes>. In
sekts auf seinem Weg zum Bahnhof hat, zeigt dieser diesem Zusammenhang liegt es nahe, auch Gregors
Gedanke Gregor als reagierenden, funktionierenden Hungern auf das Fehlen der richtigen, d. h. einer
und die Verantwortung für sich selbst abgebenden ›geistigen‹ Nahrung zurückzuführen. Wie bereits ge-
Menschen. Gregor Samsa scheint als Individuum zeigt wurde, fehlt Gregor in seinem Berufs- und Fa-
Die Verwandlung 171

milienleben eine tiefergehende Beschäftigung mit winnen ist. Innerhalb seiner Familie war Gregor auf
sich selbst, aber auch prinzipiell mit geistigen oder seine Funktion als Verdiener reduziert. Das erste Ge-
musischen Gegenständen. Unterstützt wird diese In- halt wurde von einer »erstaunten und beglückten Fa-
terpretation durch den kurzfristigen Genuss, den das milie« entgegengenommen, danach »nahm man das
Violinspiel der Schwester Gregor bereitet. Hier heißt Geld dankbar an […], aber eine besondere Wärme
es: »Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der er- wollte sich nicht mehr ergeben« (152). Bereits hier
sehnten unbekannten Nahrung« (DzL 185). Die Mu- scheint Gregor von seiner Familie nicht besonders
sik wird hier demnach als unbekannte Nahrung be- geliebt. Ohne seine Funktion als Ernährer erscheint
schrieben, die nur geistiger, eventuell sinnlicher und er vollkommen wertlos.
emotionaler Natur sein kann. Sie steht für eben jene Ungeziefer sind häufig Parasiten, die sich auf Kos-
zweckfreie, individuelle Beschäftigung, die Gregor ten anderer ernähren. Allerdings ist es vor Gregors
so sehr fehlt und mit der er hier zum ersten Mal in Verwandlung seine Familie, die sich parasitär von
Berührung kommt. Bevor er diese ›Nahrung‹ in ir- ihm ernährt. Sein eigenes ›Parasitentum‹ beginnt
gendeiner Weise auskosten kann, fällt er in seine al- erst mit der Verwandlung, die ihn dazu bringt, sich
ten Strukturen zurück, die v. a. durch materielles Be- von den Abfällen der Familie zu ernähren. Sein Zim-
sitzdenken bestimmt sind. Seine Sehnsucht richtet mer wird schnell zur Rumpelkammer umfunktio-
sich auf die Person der Schwester, die er für sich ha- niert und Gregor selbst verwahrlost: »Fäden, Haare,
ben will: Speiseüberreste schleppte er auf seinem Rücken und
an den Seiten mit sich herum« (184). Die Verbin-
Er wollte sie nicht mehr aus seinem Zimmer lassen, we-
dung zwischen Ungeziefer und Parasitentum bleibt
nigstens nicht, solange er lebte; seine Schreckgestalt
sollte ihm zum erstenmal nützlich werden; an allen Tü- demnach zweideutig, bzw. erfährt eine Umkehrung:
ren seines Zimmers wollte er gleichzeitig sein und den Der Ernährer wird von den früheren Parasiten sei-
Angreifern entgegenfauchen (186). nerseits auf diese Rolle reduziert. Das Bild des im
Indem er auf seine Schwester zukriecht, wird er von Dreck verkümmernden Ungeziefers steht für das un-
den neuen Untermietern der Samsas, den drei ›Zim- geliebte Familienmitglied, das auf die Funktion des
merherren‹, entdeckt; damit ist nicht nur ein Genuss Ernährers reduziert ist und ohne das Ausüben dieser
der »ersehnten unbekannten Nahrung« (185) un- Funktion nichts als ein lästiges Insekt zu sein
möglich geworden, sondern kurz darauf wird Gre- scheint.
gor seine Existenzberechtigung durch die Schwester Diese Wahrnehmung, die bisher unterschwellig
entzogen. geblieben ist, artikuliert sich nun in der plötzlichen
Dieser kurze Moment neuer Sinneswahrnehmung Verwandlung. Bestätigt wird sie nun v. a. durch das
in der Musik zeigt, dass es auch für Gregor Samsa al- grobe Auftreten des Vaters, den Gregor aus seiner
ternative Daseinsformen gegeben hätte, die er je- Position des Familienoberhaupts verdrängt hatte.
doch nie in Erwägung gezogen hat und die ihm da- Die Schwester, die anfangs noch besorgt und für-
her auch nun sofort wieder entgleiten. Damit wird sorglich erscheint, nähert sich dieser Haltung im
noch einmal deutlich, dass Gregor der Weg zu einer Laufe der Erzählung immer weiter an, worauf im
Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung nächsten Abschnitt näher eingegangen wird. Die
versperrt bleiben muss. Die Verwandlung zeigt ei- Mutter erinnert als Einzige noch daran, wer das Un-
nen Zustand an, für dessen Veränderung es bereits geziefer eigentlich ist: »Laßt mich doch zu Gregor, er
zu spät ist. ist ja mein unglücklicher Sohn!« (159). Die kurz dar-
auf stattfindende Begegnung endet jedoch in neuer-
lichem Entsetzen und der Ohnmacht der Mutter.
Das »ungeheuere Ungeziefer« Gregors Verwandlung in ein Ungeziefer kann dem-
nach als Ausdruck seiner Position in der Familie und
Nach diesen ersten Klärungsversuchen stellt sich die der unterschwelligen Wahrnehmung durch diese in-
Frage, warum Gregor Samsa sich gerade in ein nicht terpretiert werden.
näher bestimmtes Ungeziefer verwandelt. Für das Die Verwandlung findet nachts während unruhi-
Motiv des Ungeziefers sprechen gleich mehrere As- ger Träume statt, d. h. in einer Phase, in der der
pekte. Mit einem »ungeheueren Ungeziefer« (DzL Mensch offen für Impulse aus dem Unterbewusstsein
115) wird gemeinhin etwas Lästiges, Ungeliebtes, ist. Daraus könnte man schließen, dass auch Gregor
Ekelhaftes verbunden, dem wenig Positives abzuge- selbst sein entfremdetes verkümmertes Ich unterbe-
172 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

wusst spürt und die Verwandlung u. a. eine Artikula- zer. Damit geht auch eine Hilflosigkeit einher, die ihr
tion dieser unterbewusst vorhandenen Selbstwahr- treffendes Bild gleich zu Beginn in dem auf dem Rü-
nehmung ist. Da das Bett mit dem Zustand des Schla- cken liegenden Insekt findet, das die Beinchen wild
fens und damit des Träumens verbunden ist, denkt in der Luft bewegt, ohne etwas ausrichten zu kön-
Gregor zu Beginn auch, seine Befindlichkeit würde nen. In die Monstrosität und Hilflosigkeit mischt
sich ändern, wenn er das Bett verlässt: sich wiederum Ironie, wenn der strampelnde Gregor
Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen viel- selbst lächeln muss bei der Vorstellung, Vater und
leicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Dienstmädchen könnten ihm zur Hilfe kommen
Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Auf- (124).
stehen als reine Einbildung herausstellte, und er war ge- Vor allem bewirkt die Verwandlung in ein Unge-
spannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich
ziefer Gregors vollständige Isolation. Damit materia-
auflösen würden (120 f.).
lisiert sich jedoch nur, was bereits vorher seine seeli-
Hier erweist sich Gregor einmal mehr als Verdrän- sche Befindlichkeit war. Die Verbindung aus Ekel,
ger, der längst von seinem verdrängten Zustand ein- Unbestimmtheit, Monstrosität, Isolation und Ironie
geholt wurde und auf diesen wiederum mit Verdrän- wäre kaum mit einem anderen Tierbild zu erreichen
gung reagiert. gewesen. Während Gregor in seinem Panzer fest-
Für die Unbestimmtheit des Ungeziefers, die im- steckt, verändert sich jedoch um ihn herum einiges:
mer wieder zu verschiedenen Spekulationen über Seine eigene Verwandlung zieht eine Veränderung
die Insektenart, der Gregor angehören könnte, ge- in seiner Familie nach sich.
führt hat, lassen sich zwei mögliche Erklärungen an-
führen. Einerseits erscheint Gregor Samsa mehr als Die Verwandlung der Familie: Vater-Sohn-
arbeitsamer Handelsreisender, dessen Sorgen und
und Bruder-Schwester-Verhältnis
Gedanken vollständig nach außen gerichtet sind,
denn als Individuum. Zugespitzt könnte man sagen, Nachdem Gregor seiner Position als Ernährer und
dass er keine Persönlichkeit oder Individualität be- Familienoberhaupt nicht mehr nachkommen kann,
sitzt – als Mensch nicht und als Insekt eben auch ist die vorher von ihm abhängige Familie nun auf
nicht. Andererseits steigert der Ausdruck »ungeheu- sich selbst gestellt – was sie zu neuer Selbstständig-
eres Ungeziefer« (115) die Wirkung dieser monströ- keit bringt. Je länger Gregor in seinem Zustand bleibt
sen Verwandlung mehr, als wenn von einer Bett- und je unwahrscheinlicher eine Rückverwandlung
wanze oder Kellerassel die Rede wäre. Gemeinhin erscheint, desto vitaler wird sein Vater, der vorher
hat man Gregor auch als Käfer bezeichnet, was nicht von ihm als alter Greis wahrgenommen wurde.
korrekt ist, da Kafka nur die Bezeichnung »Ungezie- Fortan trägt er Tag und Nacht seine Uniform des
fer« (115) oder »Insekt« (An G.H. Meyer, 25.10.1915; Bankdieners, als wolle er die Position des arbeiten-
B14–17 145) verwendet und diese Unbestimmtheit den Familienvaters nicht eine Sekunde freigeben.
gerade auch mit seiner Weigerung gegen eine Illus- Diese Veränderung wird von Gregor deutlich wahr-
tration offensichtlich gewollt hat. genommen: »Der gleiche Mann, der müde im Bett
Gerade weil Ungeziefer so unliebsame und meist vergraben lag […]; der ihn an Abenden der Heim-
als ekelhaft empfundene Tiere sind, möchte man mit kehr im Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte«
ihnen nicht in Kontakt sein, schon gar nicht mit ei- (DzL 168 f.), steht nun »recht gut aufgerichtet […] in
nem überlebensgroßen Insekt – man denke an den einer straffen blauen Uniform« und mit frischen,
Widerwillen mit dem die Schwester Gregor versorgt. aufmerksamen Augen und einer »leuchtenden Schei-
Als Ungeziefer lebt Gregor von seiner Umwelt iso- telfrisur« (169) über ihm, und Gregor staunt aus der
liert. Diese Isolation geht mit strikter Kommunikati- Untersicht »über die Riesengröße seiner Stiefelsoh-
onslosigkeit einher, da Gregor seine Stimme verlo- len« (170). Der Vater behandelt Gregor von Beginn
ren hat, obwohl er seinen menschlichen Verstand an grob, er droht mit der Faust, befördert ihn mit
behalten hat. Bildlich wird diese vollkommene Isola- Fußtritten in sein Zimmer und verletzt ihn schließ-
tion durch den Panzer verdeutlicht, der zugleich für lich durch das Werfen des Apfels. Dies kann als Be-
Unbeweglichkeit und Erstarrung steht. Gregors »Ge- strafung dafür verstanden werden, dass Gregor den
fangenschaft« (DzL 151) ist demnach eine zweifa- Vater aus seiner Rolle als Familienoberhaupt ver-
che: Die innerhalb seines von außen verschlossenen drängt hatte, in die dieser nun umso potenter zu-
Zimmers und die in seinem neuen Körper, bzw. Pan- rückkehrt.
Die Verwandlung 173

Das Verhältnis zwischen Gregor und seiner Kadaver wird durch die Haushälterin entsorgt, die
Schwester schien früher von gegenseitiger Fürsorge sogleich entlassen wird; ebenfalls gekündigt werden
bestimmt zu sein. Im ersten Teil der Erzählung die drei Zimmerherren, die zur Miete wohnten; die
nimmt sie die Veränderungen an Gregor wahr, bevor noch von Gregor ausgesuchte Wohnung wird man
er das erste Mal sein Zimmer verlässt, und bemüht ebenfalls kündigen – man scheint sich also von al-
sich auch danach, für ihn zu sorgen. Das gelingt ihr lem Ballast zu befreien und einem Neuanfang entge-
jedoch immer weniger, da sie Gregor immer mehr genzusehen. Gregors freiwilligem Verenden werden
als Ungeziefer und immer weniger als Bruder sieht. ein neuer Lebenswille, eine Vitalität und auch ein
Gleichzeitig scheint sie, ähnlich wie der Vater, an der Egoismus gegenübergestellt, der sein Schicksal im
neuen Herausforderung zu wachsen. Aus dem nai- Nachhinein als einseitige, naive und unnötige Auf-
ven, verwöhnten Kind wird eine junge Frau, die ei- opferung zeigt.
nen Beruf erlernt, mit dem sie Geld verdienen wird.
Grete nimmt langsam, aber sicher ebenfalls einen Ausgaben: Die Verwandlung. Eine Erzählung. In: Die
Teil von Gregors früherer Position ein. Sie stellt sich weißen Blätter. Eine Monatsschrift 2 (1915) 10 [Okto-
immer mehr auf die Seite des Vaters und übernimmt ber], 1177–1230. – Die Verwandlung. Leipzig: Kurt
teilweise auch dessen Gestik. So droht sie Gregor Wolff [vermutl. Anf. Dez.] 1915 (Der jüngste Tag 22/23)
[Broschurausgabe mit Titelblattillustration von Otto-
nun ebenfalls mit der Faust (166). Zudem wird sie
mar Starke]; 2. Aufl. [vermutl. zw. Anf. Sept. u. Ende
zur Beraterin des Vaters und in dieser Funktion ent-
Nov.] 1918 [ohne Titelblattillustration]; Faksimile der
scheidet sie, nachdem sie Gregor durch das Räumen
Erstausgabe 1915: Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle.
seines Zimmers bereits den letzten Rest seiner frü-
Frankfurt/M. 2003. – Erz/GS (1935), 69–130. – Erz/GW
heren Identität genommen hat, dass Gregor sterben (1952), 71–142. – DzL/KA (1994), 113–200. – OQ17
muss. Mit Gregors Hinscheiden scheint sie aufzu- (Vw)/FKA (2003).
blühen, um am Ende der Erzählung seine Position Illustrationen: Rolf Escher: Die Verwandlung. 7 Ra-
als Hoffnungsträgerin der Familie einzunehmen. dierungen zur gleichnamigen Erzählung F.K.s. Burg-
Mit diesen Veränderungen in der Familie wird dorf 1974. –– Johanna Dahm: Indiskrete Blicke. Die
überdeutlich, dass Gregors Aufopferung ganz unnö- Sprachbilder aus F.K.s Verwandlung in der Bildsprache
tig gewesen ist und dass er sich längst auf sein eige- der Illustration. Berlin 2003.
nes Leben hätte konzentrieren können. Bereits als Bühnenadaption: George Tabori: Unruhige Träume.
Gregor an der Tür lauschend von den Rücklagen der Aufgeführt: Wien, Burgtheater 1992.
Familie erfährt, die diese ohne sein Wissen von sei- Verfilmungen: Carlos Atanes: The Metamorphosis of
nem Einkommen gemacht hatte, ahnt man, dass er F.K. 1994; www.carlosatanes.com/metamorphosis_
schon früher in der Position gewesen wäre, sich aus franz_kafka_online.html, 26.3.2010. – Ivo Dvorák: För-
der Abhängigkeit seines Berufs zu lösen. Die Familie wandlingen. Schweden 1976. – Caroline Leaf: The
sah in Gregor jedoch augenscheinlich nur ihren Metamorphosis of Mr. Samsa. Kanada 1977 [Zeichen-
Geldgeber, der mit dem Verlust dieser Funktion auch trick]. – Jan Nemec: Die Verwandlung. Deutschland/
menschlich nicht mehr existiert. Erst als das Insekt Österreich [ZDF/ORF] 1975. – Jim Goddard: Metamor-
tot vor der Familie liegt, erinnert sich diese wieder phosis. Großbritannien 1987.
Forschung: Ulf Abraham: F.K.: Die Verwandlung. In:
daran, dass es sich um ihr verlorenes Familienmit-
Sabine Schneider (Hg.): Lektüren für das 21. Jahrhun-
glied handelt. Hatte die Schwester vorher noch ge-
dert. Frankfurt/M. 1993, 17–36. – Ders.: F.K.: Die Ver-
fordert: »Ich will vor diesem Untier nicht den Na-
wandlung. Grundlagen und Gedanken der Interpre-
men meines Bruders aussprechen, und sage daher
tation. Frankfurt/M. 1993. – Ders.: Die Verwandlung.
bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden« (DzL In: KHb (2008), 421–437. – P.-A. Alt (2005), bes. 329–
189), scheint ihr nach seinem Tod zumindest kurz- 340. – M.M. Anderson (1992), 123–144. – Douglas An-
zeitig klar zu werden, dass es sich hier um ihren Bru- gus: K.s Metamorphosis and The Beauty and the Beast
der handelt: »Seht nur, wie mager er war. Er hat ja Tale. In: JEGPh 53 (1954), 69–71. – F. Beißner (1983). –
auch schon so lange Zeit nichts gegessen« (195). Hartmut Binder: Metamorphosen. K.s Verwandlung im
Die Veränderungen in der Familie waren Kafka so Werk anderer Schriftsteller. In: Benjamin Bennet/An-
wichtig, dass er im letzten Teil der Erzählung einen ton Kaes/William J. Lillyman (Hg.): Probleme der Mo-
Perspektivwechsel vornimmt, um auch die Gescheh- derne. Tübingen 1983, 247–305; in erweiterter Form in:
nisse nach Gregors Tod erzählen zu können. Die Fa- H. Binder (2004), 519–589. − Ders.: K.s Verwandlung
milie scheint nach kurzer Trauer wie befreit. Gregors Entstehung, Deutung, Wirkung. Frankfurt/M., Basel
174 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

2004. – Stanley Corngold: The Commentator’s Despair. tödliche Utopie ihrer Überschreitung. Zu F.K.s Die Ver-
The Interpretation of K.’s Metamorphosis. Port Washing- wandlung. In: Jb. für internationale Germanistik 332
ton 1983. – Alfred Doppler: Entfremdung und Famili- (2001) 2, 165–185. – Johannes Pfeiffer: Über F.K.s No-
enstruktur. F.K.s Erzählungen Das Urteil und Die Ver- velle Die Verwandlung. In: Die Sammlung 14 (1959),
wandlung. In: Ders.: Wirklichkeit im Spiegel der Spra- 297–302. – H. Politzer (1965 [1962]), bes. 104–129. –
che. Aufsätze zur Literatur des 20. Jhs. in Österreich. Thomas Rahner: Die Verwandlung. München 1997. – R.
Wien 1975, 79–99. – Edmund Edel: F.K.: Die Verwand- Robertson (1988), bes. 56–119. – Holger Rudloff: Zu
lung. Eine Auslegung. In: WW 8 (1958), 217–226. – K.s Erzählung Die Verwandlung. Metamorphose-Dich-
W. Emrich (1964 [1957]), bes. 118–127. – C. Eschweiler tung zwischen Degradation und Emanzipation. In: WW
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M. Müller (1994), 42–74. – Uwe Grund: F.K.s Die Ver- Brüder. K. – Sacher-Masoch – Thomas Mann. Würz-
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und Film. In: Eduard Schaefer (Hg.): Medien und Verwandlung. Transformation, Metaphor, and the Perils
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mann Harzer: Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epi- Safarschik: F.K.: Die Verwandlung. Stuttgart 2004. –
scher Metamorphosen (Ovid, K., Ransmayr). Tübingen Jürgen Schubiger: F.K., Die Verwandlung. Eine Interpre-
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Eßbach: Ein moderner Körper – zum Beispiel Gregor Alienation in K.’s Metamorphosis. In: Literary Review 26
Samsa. In: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): (1983), 485–495; wieder in: Elling (1985), 153–167. –
Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in Mark Spilka: K.’s Sources for The Metamorphosis. In: CL
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wandlung und Das Urteil. In: WW 6 (1982), 391–405. – Literaturstil – sprachwissenschaftlich. Heidelberg 2008,
Dorothea Lauterbach: Das befreite und das gefangene 143–169. – Martin Walser: Selbstbewußtsein und
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Erzähltexten der Moderne (Einstein, K., Aichinger, Io- Andrew Webber: K.s Verwandlungskunst. In: N.A.
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ästhetische Moderne/Continuing Metamorphoses. Ovid Dys-Communication. In: Studies in Twentieth Century
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Aspekte eines schizophren-psychotischen Zusammen- Sandra Poppe
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the Fantastic in K.’s Die Verwandlung. In: DVjs 65
(1991), 304–317. – Vladimir Nabokov: K.s Erzählung
Die Verwandlung. In: Neue Rundschau 93 (1982) 1, 11–
39. – Norbert Oellers: Die Bestrafung der Söhne. Zu K.s
Erzählungen Das Urteil, Der Heizer und Die Verwand-
lung. In: ZfdPh 97 (1978), 70–87. – Claudia Öhlschlä-
ger: Protokoll einer Passion. Familiale Gewalt und die
175

3.2.3 Der Verschollene für den Roman bestimmten Heften und Konvoluten
notiert (zur Beschreibung der Handschrift vgl. V:A
31–50).
Entstehung und Veröffentlichung Die erste, stürmische Arbeitsphase reicht bis zum
12. November, als Kafka das 6. Kapitel »Der Fall Ro-
Entstehungs- und Druckgeschichte
binson« »mit Gewalt und deshalb roh und schlecht
Amerika als Romansujet hat Kafka schon früh be- beendet« (An M. Brod, 13.11.1912; B00–12 229; zu
schäftigt. Im Tagebuch berichtet er von einem Pro- Details des Schreibfortschritts vgl. V:A 56–67). In ei-
jekt, das vermutlich in die Jahre 1898/99 zu datieren nem Brief an Felice Bauer bilanziert Kafka:
ist (Binder 1976, 54 f.): Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins
Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen
gegeneinander kämpften, von denen einer nach Ame- Begriff zu geben »Der Verschollene« und handelt aus-
rika fuhr, während der andere in einem europäischen schließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Gefängnis blieb (19.1.1911; T 146). Vorläufig sind 5 Kapitel fertig, das 6te fast. Die einzelnen
Kapitel heißen: I Der Heizer II Der Onkel III Ein Land-
Nicht viel mehr als über diesen frühen Plan − in dem haus bei New York IV Der Marsch nach Ramses V Im
amerikanische Freiheit gegen das ›europäische Ge- Hotel occidental VI Der Fall Robinson [leicht abwei-
fängnis‹ zu stehen schien − wissen wir über die erste chende Titelformulierungen: V:A 65]. − Ich habe diese
Titel genannt als ob man sich etwas dabei vorstellen
Arbeitsphase am Verschollenen (vgl. Binder 1983, könnte, das geht natürlich nicht, aber ich will die Titel
93–106). Sie fällt vermutlich in die Zeit zwischen solange bei Ihnen aufheben, bis es möglich sein wird. Es
Dezember 1911 und Juli 1912, wobei die Hauptphase ist die erste größere Arbeit, in der ich mich nach 15 jäh-
zwischen März und Mai gelegen haben dürfte (Bin- riger bis auf Augenblicke trostloser Plage seit 1½ Mona-
der 1983, 93–100). In einem Brief vom 9./10. März ten geborgen fühle (11.11.1912; B00–12 225).
1913 schreibt Kafka rückblickend von »etwa 200 Eine zweite Arbeitsphase, in der der Schreibverlauf
[Manuskriptseiten] einer gänzlich unbrauchbaren sehr viel stockender voranschreitet, beginnt am
im vorigen Winter und Frühjahr geschriebenen Fas- 14. November 1912, wird dann aber gleich durch die
sung der Geschichte« (An F. Bauer; B13–14 128) − Niederschrift der Verwandlung unterbrochen (17.11.
das entspräche vom Umfang her immerhin weit bis 6.12.1912). Der zögerliche weitere Arbeitsfort-
mehr als einem Drittel der Endfassung. Das Manu- schritt ist in den Briefen an Felice gut dokumentiert
skript hat Kafka offensichtlich vernichtet; Spuren hat (vgl. V:A 67–74; Binder 1976, 61–65); es entstehen
es nur in einigen Tagebucheinträgen (z. B. 9.5.1912, die beiden überschriftlosen Kapitel »Es mußte wohl
T 421; 23.9.1912, T 461) und Briefen hinterlassen eine entlegene…« und »›Auf! Auf!‹ rief Robinson«
(An M. Brod, 10.7.1912; B00–12 158; vgl. auch 163). (V 271–371). Am 24. Januar 1913 bricht Kafka die
Das ist umso bedauerlicher, als ein Vergleich der Arbeit ab:
Fassungen wesentliche Einsichten in die Unter- Mein Roman! Ich erklärte mich vorgestern abend voll-
schiede zwischen dem frühen und dem mittleren ständig von ihm besiegt. Er läuft mir auseinander, ich
Werk hätte vermitteln können. kann ihn nicht mehr umfassen, ich schreibe wohl nichts,
Denn die Arbeit an der zweiten, allein erhaltenen was ganz außer Zusammenhang mit mir wäre, es hat
sich aber in der letzten Zeit doch allzusehr gelockert,
Fassung beginnt um den 25. September 1912 (prälu-
Falschheiten erscheinen und wollen nicht verschwinden,
diert durch ein Traumnotat, das in das »Heizer«-Ka- die Sache kommt in größere Gefahr, wenn ich an ihr
pitel einging; 11.9.1912, T 436), also unmittelbar weiterarbeite, als wenn ich sie vorläufig lasse. […] Kurz
nach der das mittlere Werk eröffnenden Nieder- ich höre gänzlich mit dem Schreiben auf und werde vor-
schrift des Urteil. Diese löst eine intensive Schaffens- läufig nur eine Woche, tatsächlich vielleicht viel länger,
nichts als ruhn (An F. Bauer, 26.1.1913; B13–14 63).
phase aus: In das schon für das Urteil verwendete
Tagebuchheft (6. Quartheft) schreibt Kafka, offen- Die Arbeitsunterbrechung sollte in der Tat »viel län-
sichtlich in einem völligen Neubeginn seines Ro- ger« dauern. Kafka hält das Romanprojekt zunächst
manprojekts, den ersten Teil des ersten Kapitels »Der für endgültig gescheitert, nimmt allerdings, als er
Heizer« (T 464–488); da das Heft nicht ausreicht, das Manuskript am 8. März 1913 überliest, das An-
fährt er im zuletzt im Oktober 1911 benutzten fangskapitel von diesem Verdikt aus:
Quartheft 2 fort, schließt das Kapitel ab und beginnt [ich] las zuerst mit gleichgültigem Vertrauen als wüßte
ein zweites (T 168–191). Dessen Fortsetzung und ich aus der Erinnerung genau die Reihenfolge des Guten,
alle folgenden Kapitel werden dann in eigenen, nur Halbguten und Schlechten darin wurde aber immer er-
176 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

staunter und kam endlich zu der unwiderlegbaren Über- verwertung‹ betrieb Kafka eigentlich nur bei ge-
zeugung daß als Ganzes nur das erste Kapitel aus innerer
Wahrheit herkommt, während alles andere, mit Aus-
scheiterten Projekten. Überraschenderweise nahm
nahme einzelner kleinerer und größerer Stellen natür- er die Arbeit aber 1914 noch einmal auf. In dieser
lich, gleichsam in Erinnerung an ein großes aber durch- dritten Arbeitsphase (zu Details vgl. V:A 75–82) ent-
aus abwesendes Gefühl hingeschrieben und daher zu standen zwischen August und Oktober: der Schluss-
verwerfen ist (An F. Bauer, 9./10.3.1913; B13–14 128). passus von »›Auf! Auf!‹ rief Robinson« (ab »Das war
Diese Einschätzung führt dazu, dass Kafka eine Ein- sehr ungerecht«; V 370), die Teile »Ausreise Brunel-
zelpublikation des ersten Kapitels zu erwägen be- das« und »Karl sah an einer Straßenecke« (mögli-
ginnt und eine Maschinenabschrift anfertigen lässt. cherweise im Rückgriff auf einen früheren Ansatz:
Am 4. April schickt er dieses Typoskript an seinen Juni 1914 (?), T 643), sowie der kurze Kapitelanfang
Verleger Kurt Wolff (der darum gebeten hatte). Im »Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte« (V 370–
Begleitbrief heißt es: 419).
Besonders die (wohl im Oktober geschriebenen)
Ob es selbständig veröffentlicht werden kann, weiß ich
nicht; man sieht ihm zwar die 500 nächsten und vollstän- Passagen zum »Teater von Oklahama« signalisieren
dig mißlungenen Seiten nicht gerade an, immerhin ist es einen Neuansatz im Schreibverfahren, da sie von der
wohl doch nicht genug abgeschlossen; es ist ein Fragment bisherigen, grosso modo ›realistischen‹ Amerika-
und wird es bleiben, diese Zukunft gibt dem Kapitel die Darstellung abweichen. Offensichtlich orientierte
meiste Abgeschlossenheit (4.4.1913; B13–14 156).
sich Kafka hier an neu entwickelten Textmodellen −
»Für späterhin« schlägt Kafka eine Sammelpublika- vom 11. August 1914 bis zum 20. Januar 1915 schrieb
tion unter dem Titel »die Söhne« vor, die neben dem er am Process, in der zweiten Augusthälfte am Kalda-
Heizer auch das Urteil und die Verwandlung umfas- bahn-Fragment, vom 5. bis 18. Oktober an der Straf-
sen soll (ebd.). kolonie − und hoffte so, seinen Roman doch noch
Während diese Sammlung nie zustande kommt, beenden zu können.
erscheint Der Heizer, mit dem Untertitel »Frag- Wie wir wissen, hat sich diese Hoffnung nicht er-
ment«, bereits um den 24. Mai 1913 als Band 3 der füllt. Eine letzte, vielleicht ja auch nur mittelbare
Buchreihe Der jüngste Tag. Der Druck enthält ein Spur des Romanprojekts findet sich in einem Bruch-
Frontispiz, das einen vom Lektor Franz Werfel aus- stück im Tagebuchheft 11 aus dem Juli 1916 (T 793),
gewählten Stahlstich William Henry Bartletts (1809– das sich allerdings nicht leicht in den uns bekannten
1854) mit dem Titel View of the Ferry at Brooklyn, Handlungsverlauf einordnen lässt (denkbar wäre ein
New York von 1838 (Abb. DzL:A 120) reproduziert − Anschluß an V 417).
was bei Kafka sehr gemischte Empfindungen aus- Max Brod publizierte das Fragment 1927, bezeich-
löst: nenderweise erst als letzten der drei Romane, unter
Als ich das Bild in meinem Buche sah, bin ich zuerst er- dem Titel Amerika − Kafka habe, so führt er im
schrocken, denn erstens widerlegte es mich, der ich doch Nachwort zur Erstausgabe aus, das im Manuskript
das allermodernste New Jork dargestellt hatte, zweitens titellose Werk »im Gespräch« gewöhnlich als »sei-
war es gegenüber der Geschichte im Vorteil, da es vor ihr nen ›amerikanischen Roman‹« bezeichnet (Brod
wirkte und als Bild koncentrierter als Prosa und drittens
1953 [1927], 356). Der in den Briefen an Felice be-
war es zu schön; wäre es nicht ein altes Bild, könnte es
fast von Kubin sein. Jetzt aber habe ich mich schon längst zeugte Titel Der Verschollene wurde erst durch die
damit abgefunden […]. Ich fühle mein Buch durchaus Kritische Ausgabe wieder endgültig etabliert (V/KA
um das Bild bereichert und schon wird Kraft und Schwä- 1983).
che zwischen Bild und Buch ausgetauscht (An K. Wolff, Wie bei all seinen Romanersteditionen war Brod
25.5.1913; B13–14 196 f.).
auch bei Amerika darum bemüht, dem Fragment
Wie die anderen Bände der Reihe − die alle in einer möglichst große Geschlossenheit zu verleihen. So
Auflage von bis zu 10.000 Stück erschienen und 0.80 fügte er für die letzten, im Manuskript überschriftlo-
Mark kosteten − war auch Der Heizer recht erfolg- sen Teile Kapiteltitel ein − »Ein Asyl« (»Es mußte
reich: Das Büchlein wurde u. a. von Robert Musil wohl eine entlegene…«) und »Das Naturtheater von
und Oskar Walzel rezensiert; bereits im Herbst 1916 Oklahoma« (»Karl sah an einer Straßenecke«, »Sie
erschien eine zweite Auflage, im Frühjahr 1918 eine fuhren zwei Tage«) − und grenzte die Partien »›Auf!
dritte. Auf!‹ rief Robinson« und »Ausreise Bruneldas« ganz
Mit dieser Teilpublikation schien das Schicksal aus. Diese wurden erst ab der zweiten Ausgabe (A/
des Romans endgültig besiegelt, denn solche ›Reste- GS 1935) als nachgestellter Anhang abgedruckt.
Der Verschollene 177

Quellen und Vorlagen gro« geändert hat; V:A 263–265). Soukup und Holit-
scher verdankt Kafka sicherlich zahlreiche Hinweise
Dass Kafkas Amerika ein »erlesenes« sei, ist (seit auf Details aus der amerikanischen Lebenswelt (zu
Hartmut Binder die Formulierung geprägt hat; Bin- detaillierten Nachweisen vgl. Binder 1976 u. 1983;
der 1983, 75) in der Forschung zum allgegenwärti- Fingerhut 1989; Jahn 1965a, 144–150; Wirkner 15–
gen Topos avanciert. Und natürlich stimmt es, dass 24 u. 46–51). Sein Amerika-Bild ist aber wesentlich
ein Autor, der die USA nie selbst bereist hatte, bei ei- komplexer als das beider Autoren. Soukup und Ho-
nem solchen Projekt in besonderem Maße auf Sach- litscher schildern die USA aus sozialistischer Per-
und Realieninformationen, auf Berichte über die spektive. In Soukups Bericht dominiert die Kapita-
amerikanische Lebenswelt und Mentalität angewie- lismuskritik; Holitschers Fazit fällt, trotz aller Vorbe-
sen war. Dennoch ist Kafkas Amerika zuallererst ein halte, positiver aus:
imaginiertes, wie noch zu zeigen sein wird − und die
Amerika ist das Schicksal und die Erfüllung des Men-
Hoffnung, Kafkas Texte über Quellenstudien zu ent- schengeschlechts. Amerikas Energie, die das absurde
schlüsseln beim Verschollenen genauso vergebens Wachstum einiger weniger Mächtigen verursacht hat,
wie bei allen anderen seiner Werke. besinnt sich heutigentags schon und sucht sich die Bahn
Die Forschung hat sich vor allem auf drei Quellen zu dem Rechte Aller. Die Weltordnung, unter der wir [in
Europa] heute leben, wird dieser Sturmflut des siegrei-
konzentriert (genaue Nachweise im Literaturver- chen Menschheitsgewissens nicht standhalten können
zeichnis): (Holitscher, 429).
(1) Die Novelle Der kleine Ahasverus des däni-
schen Schriftstellers Johannes Vilhelm Jensen (1873– Doch selbst was die Realien angeht, würden auch
1950), die im Juni 1909 in der Neuen Rundschau er- beide Reiseberichte zusammengenommen nicht aus-
schien. Erzählt wird von dem vierjährigen ostjüdi- reichen, um das von Kafka imaginativ verarbeitete
schen Emigrantenkind Leo, das in New York beide Amerika-Wissen zu erklären. Dafür gab es sicher
Eltern verliert und mit seiner Schwester nach langer noch andere und weit diffusere Quellen: Binder hat
Wanderung durch die Stadt ein Kinderasyl erreicht. eindrucksvoll gezeigt, dass die USA in der deutsch-
(2) Ein Amerika-Reisebericht des tschechischen sprachigen (und besonders auch in der Prager)
sozialdemokratischen Politikers František Soukup Presse der Vorkriegszeit ein hochaktuelles Thema
(1871–1940): Ob Kafka die gedruckte Fassung von war; die Zahl einschlägiger (oft mit Abbildungen
1912 kannte, ist ungewiss, auf jeden Fall aber be- versehener) Zeitungsberichte ist entsprechend groß
suchte er am 1. Juni 1912 Soukups Vortrag Amerika (vgl. Binder 1983). Außerdem konnte Kafka auch auf
a jeji úřednictvo (Amerika und seine Beamtenschaft) familiäres Wissen zurückgreifen; nicht weniger als
(2.6.1912; T 424). drei Angehörige der Familie, Vettern Kafkas, waren
(3) Ein Amerika-Reisebericht des Schriftstellers um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewan-
Arthur Holitscher (1869–1941): Dieser erschien dert (Alt, 354–356; Northey; Robertson, 67 f.).
1912 (mit zahlreichen Fotografien) unter dem Titel Ebenfalls nicht überschätzt werden sollte eine
Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse. Vorab- Spur, die Kafka selbst gelegt hat. Am 8. Oktober 1917
drucke waren bereits von November 1911 bis Mai notiert er zu Charles Dickens Roman David Copper-
1912 in der Neuen Rundschau veröffentlicht worden field (1849/50), den er wahrscheinlich 1911 (wie-
(ohne Abbildungen), ein kurzer Auszug im Fischer der-?)gelesen hatte (4.10.1911, T 55):
Almanach (Okt. 1912, mit Abbildungen; in Kafkas »Der Heizer« glatte Dickensnachahmung, noch mehr
Bibliothek vorhanden). Kafka besaß die Buchaus- der geplante Roman. Koffergeschichte [auch David wird
gabe in der 7. Auflage (1913), im Buch steht das Da- der Koffer entwendet], der Beglückende und Bezau-
tum »8. V. 14«. Brod berichtet, Kafka habe immer bernde [James Steerforth als Vorbild für Mack], die nied-
rigen Arbeiten, die Geliebte auf dem Landgut [eine eher
wieder auf den Text hingewiesen und mehrfach dar-
vage Parallele zwischen Davids Fahrt zu einem Landgut,
aus vorgelesen (vgl. Brods Anmerkung in: Briefe wo er Dora kennen lernt, und Karls Begegnung mit
519). Klara] die schmutzigen Häuser u. a. vor allem aber die
Jensens Novelle mag Anregungen für Thereses Er- Methode. Meine Absicht war wie ich jetzt sehe einen Di-
zählung ihrer Familiengeschichte geliefert haben (V ckensroman zu schreiben, nur bereichert um die schär-
feren Lichter, die ich der Zeit entnommen und die mat-
196–203); außerdem nennt sich Karl bei der Auf- tern, die ich aus mir selbst aufgesteckt hätte. Dickens’
nahmeprozedur für das ›Teater‹ im Manuskript zu- Reichtum und bedenkenloses mächtiges Hinströmen,
nächst »Leo« (was Kafka dann systematisch zu »Ne- aber infolgedessen Stellen grauenhafter Kraftlosigkeit,
178 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

wo er müde nur das bereits Erreichte durcheinander- beitet, wird lange geradeaus gehn, ehe es sich zum
rührt. Barbarisch der Eindruck des unsinnigen Ganzen, noch so sehr erwünschten Kreise wendet« (An
ein Barbarentum, das allerdings ich dank meiner Schwä-
che und belehrt durch mein Epigonentum vermieden M. Brod, 22.7.1912; B00–12 163). In der zweiten Fas-
habe. Herzlosigkeit hinter der von Gefühl überströmen- sung versuchte er diese Probleme durch das Verfah-
den Manier. Diese Klötze roher Charakterisierung die ren der Serialisierung in den Griff zu bekommen, das
künstlich bei jedem Menschen eingetrieben werden und sowohl den Handlungsaufbau wie auch die Figuren-
ohne die Dickens nicht imstande wäre, seine Geschichte
konstellation bestimmt (erstmals in Grundzügen he-
auch nur einmal flüchtig hinaufzuklettern. [Robert]
Walsers Zusammenhang mit ihm in der verschwimmen- rausgearbeitet von Jahn 1965a, bes. 12–20).
den Anwendung von abstrakten Metaphern (8.10.1917, Die Handlung des Verschollenen beruht auf der
T 841; vgl. auch 20.8.1911, T 38). vielfachen Variation eines einheitlichen Grundsche-
Von einer »glatten Dickensnachahmung« zu spre- mas, das in seiner vollen Gestalt drei Teile umfasst:
chen ist natürlich eine maßlose Übertreibung − es ist (1) Aufnahme in eine Gemeinschaft (und Anpas-
sehr zu bezweifeln, dass sich viele Leser des Verschol- sung an deren Regeln); (2) Normverstoß (der aller-
lenen ausgerechnet an Dickens erinnert fühlen wer- dings nie als ein wirklich ernst zu nehmendes Verge-
den. Am ehesten träfe dies vielleicht noch auf die hen erscheint); (3) Vertreibung aus der Gemein-
(für Kafka ungewöhnlich sentimental ausgefallene) schaft.
Binnenerzählung Thereses zu (V 196–203). Was Die erste Variante dieses Sündenfall/Vertreibungs-
Kafka im Rückblick mit deutlich kritischem Unter- Schemas geht dem Romanbeginn zeitlich voraus und
ton an seinem ersten Romanversuch zu beobachten wird als Vorgeschichte im ersten Kapitel nachgeholt
glaubt, bezieht sich in der Tat weniger auf Einzelmo- (V 7, 38–43): Karl Roßmann, der zu Romanbeginn
tive als auf die »Methode«: das vom Standpunkt der knapp 16- oder schon 17-jährige Held des Romans
späteren Texte (und nur von dort aus) ungewöhnlich (V 7, 175) wurde in seiner Heimatstadt Prag von Jo-
große Vertrauen auf standardisierte Plot-Elemente hanna Brummer, dem 35-jährigen Dienstmädchen
und realistisches Detail (vgl. Czoik; Binder 1976; der Familie, verführt − in Karls Erinnerung gleicht
Hillmann, 146–150; Jahn 1965a, 138–143; Spilka). der Vorfall allerdings eher einer Vergewaltigung. Da
Doch auch wenn Züge von Entwicklungsroman und dies zur Geburt eines Sohnes führt, schicken die El-
pikaresk-naivem Erzählen im Verschollenen gele- tern, »zur Vermeidung der Alimentenzahlung oder
gentlich durchscheinen mögen, bleibt dieser Text ein sonstigen bis an sie selbst heranreichenden Skanda-
genuin Kafkasches Werk. les« (V 40), den Sohn per Schiff nach Amerika.
Im ersten Romankapitel wird dieses Schema mit
umgekehrter Rollenverteilung nachgespielt: Beim
Textbeschreibung Verlassen des Schiffes bemerkt Karl, dass er seinen
Schirm vergessen hat. Auf der Suche nach diesem −
Aufbau und Figurenkonstellation
die ihn seinen auf Deck zurückgelassenen Koffer
Nach den früh gescheiterten Hochzeitsvorbereitungen kosten wird – stößt er in einer Kabine auf den deut-
war Der Verschollene Kafkas erster Versuch in der schen Schiffsheizer, der sich vom rumänischen
epischen Großform des Romans. Dass umfangreiche Obermaschinisten Schubal schikaniert fühlt und da-
Texte mit seiner extrem inspirationsorientierten und her das Schiff verlassen will. Ohne den Fall zu prü-
bewusst planlosen Schreibweise nur schwer gelingen fen, macht sich Karl sofort zum Anwalt des von Ver-
konnten, liegt auf der Hand, zumal sich Kafka ja stoßung Bedrohten − sicherlich in Erinnerung an
auch nicht von der inneren Dynamik einer starken das ihm selbst geschehene Unrecht und mit dem nur
Handlungslinie und/oder dem Entfaltungspotential halb bewussten Wunsch, in der Rehabilitation des
komplexer Charaktere tragen lassen konnte. Daher Heizers zugleich seine Selbstrehabilitation zu betrei-
sind seine Romanprojekte nicht zuletzt durch die ben (V 33). Er begleitet den überraschend schnell
unterschiedlichen Techniken zu beschreiben, mit gewonnenen »Freund« (V 10) in die Kapitänskajüte
denen er versucht, ein möglichst geschlossenes epi- und vertritt dessen Sache beredt (aber wenig erfolg-
sches Ganzes aus kleinen Erzähleinheiten aufzu- reich) gegenüber dem Kapitän. Dabei wird er von
bauen. seinem vor langer Zeit nach Amerika ausgewander-
Selbstkritisch schrieb Kafka über die erste Fassung ten und dort zum erfolgreichen Geschäftsmann und
des Verschollenen: »Es [das Geschriebene] ist in klei- Senator avancierten Onkel Edward Jakob erkannt,
nen Stücken mehr an einander als ineinander gear- den ein Brief Johannas auf das Schicksal seines Nef-
Der Verschollene 179

fen hingewiesen hatte. So verlässt Karl die Freundes- der 18-jährigen »Schreibmaschinistin« (V 170) The-
Gemeinschaft mit seinem Schützling (und die usur- rese Berchthold an. (Diese war mit ihrer Mutter aus
pierte ›Vater‹-Rolle) und geht mit seinem Onkel von Pommern eingewandert. In Amerika hatte der Vater
Bord. die Familie verlassen, und Thereses kranke und ver-
Im zweiten Kapitel versucht Karl zunächst, mit ei- armte Mutter starb bei einem Unfall, der Züge eines
nigen Schwierigkeiten, sich in die neue Lebens- wie Selbstmordes trug.) Kaum im Hotel eingewöhnt,
›Vater‹-Welt einzufügen, die Chance seiner zweiten wird Karl »anderthalb Monate« (V 195) später auch
»Geburt« (V 56) zu nutzen und zum veritablen Ame- aus diesem Lebensraum vertrieben (6. Kapitel).
rikaner zu werden − so nimmt er etwa Unterricht im Diesmal begeht er einen eindeutigen Regelverstoß –
Englischen und im Reiten. Da ereignet sich ein er- er verlässt als Liftjunge seinen Posten. Allerdings tut
neuter, besonders harmlos erscheinender Normver- er dies in einer Zwangslage, da er sich des betrunke-
stoß: Gegen den Willen seines Onkels akzeptiert nen Robinson annehmen muss, den Delamarche ins
Karl die Einladung eines Geschäftsfreundes des Se- Hotel geschickt hat. Es kommt zu einer ›Gerichtsver-
nators namens Pollunder, mit ihm auf sein außer- handlung‹, bei der der in die Oberköchin verliebte
halb New Yorks gelegenes Landgut zu fahren, um Oberkellner Isbary und der ebenfalls aus Ungarn
seine Tochter Klara kennenzulernen. Das Zusam- stammende Oberportier Feodor als Richter und An-
mensein mit ihr − der Verlobten seines Reitpartners, kläger, die Oberköchin und Therese als wenig über-
des Millionärssohnes Mack − gerät im dritten Kapi- zeugte und überzeugende Verteidiger agieren. So
tel nahezu zur Reprise der Vergewaltigung durch Jo- muss Karl das Hotel fluchtartig verlassen.
hanna. Durch die Intrige des Herrn Green, eines Im siebten Kapitel bringt Robinson ihn zu De-
weiteren Geschäftsfreundes des Onkels, versäumt lamarche − wie dieser es von Anfang an geplant
Karl zudem ein vom Onkel gesetztes Ultimatum: hatte. Denn der Franzose ist inzwischen mit der
Erst nach der um Mitternacht ablaufenden Frist er- »übermäßig dicken« (V 296) ehemaligen Opernsän-
hält er dessen Brief, der ihm nun seine erneute Ver- gerin Brunelda liiert und lebt mit ihr − halb als Die-
stoßung verkündet. Mit seinem (wieder gefunde- ner, halb als Geliebter − in ihrer kleinen Wohnung in
nen) Koffer und etwas Geld versehen, bricht er al- einem Arbeiterviertel. Da Robinson sich als ineffek-
leine auf. tiver Dienstbote erwiesen hat, soll Karl ihn unter-
Im vierten Kapitel macht Karl in einem Wirtshaus stützen (V 314–316). Dieser weigert sich und ver-
die Bekanntschaft zweier Vagabunden: des Irländers sucht vergeblich zu fliehen. So vollzieht sich die Auf-
Robinson und des Franzosen Delamarche. Man be- nahme in die neue Gemeinschaft diesmal eher als
schließt, zusammen nach Butterford zu gehen, um Gefangennahme. Vom Balkon der Wohnung aus be-
dort Arbeit zu finden. Die neue Gemeinschaft ent- obachtet Karl auf der Straße eine Wahlveranstaltung
spricht freilich von Anfang an nur wenig Karls Ideal für eine Richterwahl und unterhält sich mit dem
einer guten »Kameradschaft« (V 163). Seine neuen hart arbeitenden Studenten Josef Mendel, der in ei-
Freunde nutzen ihn aus und brechen sogar seinen ner Nachbarwohnung lebt. Das Ende der sich über
Koffer auf. Karl vermisst vor allem die Fotografie sei- zwei Kapitel hinziehenden Episode hat Kafka nie ge-
ner Eltern, die ihm »wichtiger« ist als all sein anderer schrieben, so dass nicht gesichert ist, ob auch sie mit
Besitz (V 167), beschuldigt die schlechten Kamera- einer Verstoßung endet.
den des Diebstahls − wohl zu Unrecht (V 168) − und Auch das handlungschronologisch nächste Kapi-
verlässt sie. Wiederum liegt also eine starke Varia- tel »Ausreise Bruneldas« ist zu fragmentarisch, um
tion des Grundmusters vor. Diesmal endet die Ge- das Schema zu erfüllen. Karl bringt Brunelda in ei-
meinschaft durch beidseitige Normverstöße: die nem Wägelchen von ihrer Wohnung in das dubiose
zahlreichen Betrügereien von Delamarche und Ro- »Unternehmen Nr. 25« (V 383), vermutlich ein Bor-
binson und Karls zwar durchaus berechtigtes, aber dell. Was in der Zeitlücke zum vorangehenden Kapi-
gegen die selbstaufgestellte Norm der ›guten Kame- tel geschehen ist, lässt sich nur vermuten: Denkbar
radschaft‹ verstoßendes Misstrauen. wäre etwa, dass Delamarche den Besitz der Woh-
Durch Vermittlung der aus Wien stammenden nung usurpiert und Karl und Brunelda aus dem
50-jährigen Oberköchin Grete Mitzelbach findet Karl Haus gewiesen hat. Völlig offen bleibt der weitere
im fünften Kapitel eine Stellung als Liftjunge in dem Handlungsverlauf des Fragments. Aus dem nächsten
nahe der Stadt Ramses gelegenen riesigen »Hotel oc- Kapitel ist jedenfalls zu erschließen, dass Karl min-
cidental« und freundet sich mit deren Schützling, destens in diesem einen Etablissement eine Stellung
180 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

angenommen und wieder verloren haben muss nen: (1) eine autoritative und autoritäre Vaterfigur;
(V 406) und dass sein »Rufname« »Negro« war (V (2) eine dieser zu- und zugleich untergeordnete, so-
402). Irgendwo muss er auch ein junges Mädchen wohl schwächere wie freundlichere Autoritätsperson
namens Fanny kennengelernt haben (dem er im (›Mutter‹); (3) der von beiden abhängige ›Sohn‹;
»Teater«-Kapitel wieder begegnen wird). (4) eine sexuell attraktive, oft auch aggressive Frau-
Die letzte überlieferte Handlungssequenz ist dem enfigur (›Geliebte‹); (5) eine asexuelle, eher ›schwes-
»Teater von Oklahama« gewidmet − der Schreibfeh- terliche‹ Frauenfigur; (6) ein Freund, der mit dem
ler im Namen des Bundesstaates dürfte von einem ›Sohn‹ stark kontrastiert und alternative Persönlich-
Bildtitel in Holitschers Amerika-Buch übernommen keitskonzepte vertritt. Die Positionen (1)−(3) sind
worden sein, das eine Lynchszene zeigt (Holitscher, (fast) immer besetzt, die anderen nur optional. Im
367: »Idyll aus Oklahama«; auch in: Jahraus, 259). Prinzip ist dieses familiäre Figurenschema ja bereits
Der wieder einmal stellungslose Karl liest »an einer aus Urteil und Verwandlung bekannt.
Straßenecke« ein Plakat: Im Verschollenen ist die Position (3) natürlich im-
Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute […] Personal mer von Karl Roßmann besetzt (der nur im ersten
für das Teater in Oklahama aufgenommen! […] Jeder ist Kapitel dem Heizer gegenüber auch eine andere
willkommen! Wer Künstler werden will melde sich! Wir Rolle einnimmt − man könnte sagen: die des ›väter-
sind das Teater, das jeden brauchen kann, jeden an sei- lichen Freundes‹). Für die anderen Positionen ste-
nem Ort! (V 387).
hen (um nur die wichtigsten Besetzungen in roman-
Karl folgt dem Aufruf, fährt nach Clayton − und chronologischer Folge zu nennen): (1) Karls Vater,
wird in der Tat aufgenommen. Viele Umstände sind der Kapitän/Oberkassier, der Onkel, Herr Green,
allerdings seltsam und widersprüchlich: ein Begrü- Delamarche, Oberkellner/Oberportier, Personal-
ßungsorchester aus 100 als Engel kostümierten und chef/Kanzleileiter/Führer der Theater-Werbertruppe
Trompete blasenden Frauen (darunter auch Fanny), (rudimentär auch zwei Polizistenfiguren; V 272–
die alle zwei Stunden von ebenso vielen Teufeln ab- 285, 380 f.); (2) Karls Mutter, Herr Pollunder, Robin-
gelöst werden (V 392); eine Überfülle von Aufnah- son, die Oberköchin, Brunelda (die, doppelkonno-
mekanzleien für alle möglichen Berufsgruppen tiert, auch Position 4 repräsentiert), Kanzleischrei-
(auch eine für »europäische Mittelschüler« fehlt ber der Theater-Werbertruppe (V 401–403);
nicht; V 401); Karl wird zunächst als »Schauspieler« (4) Johanna Brummer, das Küchenmädchen Line
aufgenommen (V 407), dann aber nur als »techni- vom Auswandererschiff (V 18, 52), Klara Pollunder,
scher Arbeiter« (V 409; was allerdings kein Wider- Brunelda; (5) Therese Berthold, wohl auch Fanny
spruch sein muss, wenn ›Schauspieler‹ der Oberbe- (V 392–395, 409 f.); (6) Karl (gegenüber dem Hei-
griff für alle im Theater Tätigen sein sollte); die Re- zer), der Millionärssohn Mak/Mack (V 62–65, 92,
gistrierung erfolgt ohne Legitimationspapiere und 101, 119 f.), die Liftjungen Rennel/Renell (V 187,
unter dem von Karl angegebenen Namen »Negro« 205 f., 209, 216, 217, 223, 264, 315) und Giacomo
(V 402 f.). Bei einem festlichen gemeinsamen Mahl (V 174 f., 185 f., 246, 250, 252), der Student Mendel
der Aufgenommenen begegnet Karl einem alten Be- (V 341–352, 377–379) und noch einmal Giacomo
kannten: dem Italiener Giacomo, der ebenfalls Lift- (V 413–418).
junge im Occidental gewesen war. Nimmt man die beiden Schemata zusammen, so
Das letzte Kapitelfragment enthält kurze Szenen bilden sie eine Grundkonstellation, die den Status ei-
vom ersten Tag einer zweitägigen Bahnreise, deren nes Mythos hat (so schon Jahn 1965a, 16–20). Zu-
Ziel offensichtlich ›Oklahama‹ ist. Es endet mit dem sammengesetzt ist er aus einer Variante des Sünden-
Blick auf die Szenerie eines erhaben bedrohlichen fall-Mythos (auf den u. a. durch das Schwert der
Felsengebirges, das an die Rockies erinnert (vgl. Ho- Freiheitsstatue und das Apfelmotiv angespielt wird;
litscher, 222 f.). Seine »breiten Bergströme« »waren V 7, 206, 208, 209, 382) und einem Familien-My-
so nah daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht er- thos, der Freuds Ödipus-Mythos homolog (aber kei-
schauern machte« (V 419; Textschluss). neswegs einfach mit diesem identisch) ist.
Dem vielfach variierten Handlungsgrundschema Dieser Mythos generiert, strukturiert und inte-
entspricht ein ebenso vielfach variiertes Grund- griert den Roman; außerdem vermittelt er zwischen
schema der Figurenkonstellation, das immer fami- seinen zwei Hauptebenen: der Geschichte Karls (die
liär konnotiert und oft auch so ausgeprägt ist. In sei- keine Entwicklungsgeschichte ist, da der Held sich
ner voll entfalteten Gestalt umfasst es sechs Positio- nicht wesentlich verändert) und der Darstellung der
Der Verschollene 181

amerikanischen Welt (die eben wegen dieser mythi- wird immer wieder in ein »mächtiges«, überklares
schen Grundierung keinen realistischen Gesell- Sonnen-»Licht« (V 55; vgl. auch 7, 56, 65, 412) oder
schaftsroman konstituiert). Dass der Mythos ein in »sprühendes elektrisches Licht« (V 66) getaucht.
Subtext der dargestellten Romanwelt bleibt und sich Diese Elemente von Kafkas ›Amerika‹ (wie auch
nicht direkt als zweite Wirklichkeitsebene in ihr ma- die beschriebene mythische Strukturierung des Ro-
nifestiert, unterscheidet den Verschollenen deutlich mans) legen bereits eine Antwort auf eine zweite
von den späteren Romanprojekten Process und zentrale Interpretationsfrage nahe: Ist Kafkas Ame-
Schloss. Die Spannung zwischen dem hochallgemei- rika ein − und sei es: literarisch verfremdetes, sati-
nen Mythos und der spezifisch ›amerikanischen‹ risch überzeichnetes − Abbild der sozialen und his-
Romanwelt verweist auf ein erstes zentrales Inter- torischen Realität der USA oder eine zu entschlüs-
pretationsproblem des Verschollenen: Wie hängen selnde Großmetapher (wie später die Gerichts- und
der Held und seine Individualgeschichte mit dem die Schlosswelt)?
Sozialmodell ›Amerika‹ zusammen − und welche Ein drittes Interpretationsproblem ergibt sich aus
dieser beiden Ebenen ist die für die Textbedeutung dem Romanschluss. Das Verfahren der Serialisie-
primäre? rung ermöglichte es Kafka zwar, mittels des Bauprin-
Der ›Amerika‹-Part des Romans konfrontiert uns zips der ›Selbstähnlichkeit‹ einen Großtext aus klei-
u. a. mit Beschreibungen des amerikanischen Auto-, nen, für sein Schreibverfahren leichter zu bewälti-
Schiffs- und U-Bahn-Verkehrs (V 19 f., 26 f., 55, 74 f., genden Erzähleinheiten zusammenzufügen. Das
139–141, 160, 194, 266 f., 270), der modernen Ar- Problem des Romanschlusses blieb dadurch aber un-
beitswelt – »Kommissions- und Speditionsgeschäft« gelöst − ja man könnte sagen, dass es eher noch ver-
des Senator Jakob (V 65–68), Hotel Occidental (bes. schärft wurde. Zum Gesetz der Serie gehört es, dass
186–194 u. 254–61), Warenhaus Montly (V 347 f.) −, Karls Weg durch Amerika zum ständigen sozialen
mit Großstadtpanoramen (z. B. V 54 f., 144 f.), einer Abstieg gerät; dies lässt es als wahrscheinlich er-
Richterwahlveranstaltung (V 322–334), modernen scheinen, dass der Text mit dem Untergang des Hel-
Kommunikationsmedien – Telegraphen- und Tele- den enden sollte, der sich dann wohl in der Welt des
fonsaal (V 66 f.), Auskunftssystem im Hotel (254– »Teaters von Oklahama« ereignet hätte. Andererseits
261) −, aber auch mit Details wie einem »amerika- stellt dessen fiktionaler Entwurf mit seinen phantas-
nischen Schreibtisch bester Sorte« (V 57–59), einer tischen Elementen und seinen metaphysischen
amerikanischen Badewanne (V 63) oder ameri- Obertönen einen offensichtlichen Bruch mit dem
kanischen Essgewohnheiten (z. B. Steak und Cola; bisherigen Wirklichkeitskonzept des Romans dar −
V 147). was auf eine (wie immer zu denkende) Wendung im
Mindestens ebenso wichtig wie diese imaginierten Schicksal des Helden hinweisen könnte.
›Realien‹ sind aber, zum einen, die ständigen Hin- Die Entscheidung zwischen diesen Hypothesen
weise auf eine spezifisch amerikanische Mentalität wird noch dadurch erschwert, dass beide sich durch
in ebenso ständiger Konfrontation mit ihrem euro- Aussagen Kafkas stützen lassen. Dieser notiert am
päischen Gegenbild (s. u.) und, zum anderen, eine 30. September 1915:
das ganze amerikanische Leben durchziehende Roßmann und K. [aus dem Process], der Schuldlose und
Energie, Unruhe, Dynamik. Kafkas Amerika er- der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos straf-
scheint als »eine neue, vervielfältigte wildere Mi- weise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand,
schung von Lärm, Staub und Gerüchen« (V 55), mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen
(30.9.1915; T 757).
seine dynamische Energie manifestiert sich in zur
Masse verschmolzenen Menschenmengen, »deren Dagegen hat Max Brod überliefert:
Gesang einheitlicher war als der einer einzigen Men-
Aus Gesprächen weiß ich, daß das vorliegende unvollen-
schenstimme« (V 74), ebenso wie im Nachrichten-
dete Kapitel über das »Naturtheater in Oklahoma«, ein
und Verkehrsstrom oder in der Bewegung der Ele- Kapitel, dessen Einleitung Kafka besonders liebte und
mente. So ließe sich der über die Meer- und Schiffs- herzergreifend schön vorlas, das Schlußkapitel sein und
bewegungen im New Yorker Hafen formulierte Satz versöhnlich ausklingen sollte. Mit rätselhaften Worten
− »eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertra- deutete Kafka lächelnd an, daß sein junger Held in die-
sem »fast grenzenlosen« Theater Beruf, Freiheit, Rück-
gen von dem unruhigen Element auf die hilflosen halt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch para-
Menschen und ihre Werke« (V 27) − leicht auf Ame- diesischen Zauber wiederfinden werde (Brod 1953
rika überhaupt beziehen. Seine entfesselte Dynamik [1927], 356 f.).
182 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Erzählperspektive tanz zum Helden gehen (was ihm auch ermöglicht,


die Komik von dessen Fehlleistungen zu entdecken).
Wie das Urteil, die Verwandlung und die beiden an- Oft ist dieser Rezeptionsmechanismus sogar noch
deren Romanprojekte ist auch der Verschollene eine etwas komplizierter angelegt: Die besondere Erzähl-
personale Er-Erzählung (nach der von Jürgen H. Pe- weise Kafkas verführt den Leser geradezu, sich zu-
tersen reformulierten Terminologie Franz Karl Stan- nächst mit der Denkweise des Helden zu identifizie-
zels) bzw. ein extradiegetisch-heterodiegetischer ren − und so den K(arl) in sich zu entdecken. Dann
Text mit interner Fokalisierung (nach der überkom- ist die im zweiten Schritt erfolgende Distanzierung
plexen Terminologie Gérard Genettes). Beides auch eine Selbstdistanzierung, die Kritik am Helden
meint, dass der Erzähler im Regelfall (der gelegentli- auch eine Selbstkritik. Diese zweite, kompliziertere
che, durch die erzählerische Ökonomie gebotene Variante des induzierten Rezeptionsprozesses ist im
auktoriale Passagen natürlich nicht ausschließt) Verschollenen noch deutlich schwächer ausgeprägt
nicht mehr sagt, als eine oder mehrere seiner Ro- als in den beiden späteren Romanen − dazu ist Karl
manfiguren wissen (bei Kafka erfolgt die Perspekti- Roßmann noch zu sehr ein besonderes Individuum
vierung fast immer ausschließlich über die Zentral- −, in Ansätzen vorhanden ist sie aber durchaus.
figur). Das bisher allgemein Beschriebene kann hier nur
Wie in den meisten reifen Erzähltexten Kafkas ist an zwei kurzen Textstellen exemplifiziert werden.
so auch im Verschollenen alles Geschehen durch den Die erste ist der Beginn des berühmten Anfangssat-
Helden perspektiviert: mit seinen Augen gesehen, zes des Romans:
mit seinem Wissenshorizont und seinen Denkmus- Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen
tern gedeutet und mit seinem Wertesystem bewer- armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil
tet; Innensicht erhalten wir nur für seine Gedanken- ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm
und Gefühlswelt, nicht aber für die anderer Figuren. bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen
Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr … (V 7).
Kafkas besondere Form des personalen Erzählens
liegt nun freilich darin, dass der Leser dennoch mehr Interessant ist in unserem Zusammenhang nur das
erfährt, als der Held weiß – entweder dadurch, dass Prädikat ›arme‹. Wer den Roman zum ersten Mal
er wenigstens dessen Wirklichkeitsdeutungen und liest, mag vermuten, dass Karls Eltern materiell arm
-bewertungen als falsch, da offensichtlich nicht situ- seien − später wird ihn dann sehr verwundern, dass
ationsadäquat erkennt, oder dadurch, dass der Held diese ›armen‹ Leute sich ein Dienstmädchen leisten
mittelbar mehr über sich verrät, als er selbst durch- können, also mindestens zum Kleinbürgertum ge-
schauen kann oder will. Das kommt auch bei ande- hören. Auch Milena Jesenská hat in ihrer Überset-
ren Autoren, die personal erzählen, gelegentlich vor zung des Heizers diesen Verständnisfehler gemacht.
− bei Kafka aber hat dieses Verfahren Methode, ist Kafka korrigiert sie (sehr schonend) und macht da-
eine systematisch verfolgte ständige Praxis. bei zugleich sein Erzählverfahren deutlich:
Dem Leser stellt sich so eine doppelte Aufgabe: arm hat hier auch den Nebensinn: bedauernswert, aber
Zum ersten muss er erkennen, wo Karls Sehweise ohne besondere Gefühlsbetonung, ein unverstehendes
und seine Bewertung die Darstellung bestimmen. Mitleid das auch Karl mit seinen Eltern hat (An M. Je-
Das ist natürlich einfach, wenn direkte Rede des Hel- senká, Mai 1920; BM 16).
den, Gedankenbericht, innerer Monolog oder ein- Für ›bedauernswert‹ wird Karls Eltern nur halten
deutige Perspektivsignale vorliegen (wie »wahr- können, wer ihren Moralkodex teilt und ihre brutale
scheinlich«, »wohl«, »mochte sein«, »offenbar«, etc.). Abschiebung des Sohnes für gerechtfertigt hält. Der
Schon eine erlebte Rede − die Gedanken/Empfin- Leser mag dies zunächst dem Erzähler des Romans
dungen einer Figur durch Erzählerrede vermittelt − als Werthaltung unterstellen, wird aber, wenn er sich
lässt sich aber nicht immer leicht identifizieren. in den Text und sein Erzählverfahren eingelesen hat,
Noch mehr Scharfsinn ist nötig, wenn Deutungen bald begreifen, dass sich in dieser Erzählerrede −
und Wertungen des Helden ohne jede äußere Mar- ohne jede formale Markierung − die Sehweise Karls
kierung in die Erzählerrede eingewandert sind, sie ausdrückt. Was lernen wir daraus über den Helden?
gewissermaßen infiziert haben. Zum zweiten muss Karl scheint in seinem »unverstehenden Mitleid«
der Leser dann aus den erkannten Fehldeutungen überhaupt nicht wahrzunehmen, wie grausam ihn
des Helden Konsequenzen ziehen, nach ihren Ursa- seine Eltern behandelt haben – dass sie ihn, wie der
chen fragen und – gegebenenfalls − auf kritische Dis- Onkel es durchaus zutreffend formulieren wird,
Der Verschollene 183

»einfach beiseitegeschafft« haben, »wie man eine nicht nur sachlich ungedeckten, sondern offenkun-
Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert« (V 38). Ge- dig schlichtweg falschen Unterstellung, der Heizer
nauer betrachtet, ist die Sachlage sogar noch verwi- erwarte nichts mehr von ihm.
ckelter: Karl nimmt diese Ungerechtigkeit und Grau- Was bedeutet diese Erzählweise nun für die Inter-
samkeit sehr wohl wahr (wie spätere Textstellen zei- pretation des Verschollenen? Im Process und im
gen, etwa sein Entschluss, den Eltern nicht zu Schloss ist der skrupellose Egoismus der Helden of-
schreiben; V 135, vgl. auch 12) − er weigert sich aber, fensichtlich (so möchte man wenigstens meinen, bis
sich dieses Wissen einzugestehen, verdrängt es also man sich durch anders ausfallende Lektüren der For-
(darin ist er ein enger Verwandter Gregor Samsas schung eines Besseren belehrt sehen muss). Das er-
aus der Verwandlung). Nicht umsonst erfahren wir klärt auch den Sinn der durch die Erzählweise indu-
am meisten über das Verhältnis zwischen Karl und zierten Distanz zu den K.s. Karl Roßmann ist nun
seinen Eltern aus der Beschreibung zweier Familien- zwar vielleicht nicht einfach ›unschuldig‹ − zumin-
fotografien (V 134–136) − eine von Kafkas vielen dest erwies er sich in den beiden analysierten Text-
raffinierten Techniken, dem Leser Informationen stellen als ebenso unfähig zur Emanzipation wie zur
gewissermaßen hinter dem Rücken des Helden zu moralischen Selbstkritik −, aber doch deutlich un-
vermitteln. schuldiger als seine Nachfolger. Und er ist ganz
Mein zweites Textbeispiel stammt ebenfalls aus zweifellos ein Opfer, da seine streng bestraften ›Ver-
dem Heizer-Kapitel. Nahe an dessen Ende findet sich gehen‹ keine oder allenfalls marginale Schuld indi-
eine längere Passage, die in erlebter Rede die Gedan- zieren. Damit ergibt sich als viertes Interpretations-
ken des Heizers berichtet, der sich in sein Schicksal problem des Verschollenen die Frage nach der Be-
ergeben zu haben scheint. Hier steht auch der fol- wertung des Helden.
gende Satz: Jedenfalls aber liefert Kafkas Perspektiventechnik
ein Entscheidungskriterium für die erste unserer In-
Dieser Neffe [also Karl] hatte ihm [dem Heizer] übri-
gens vorher öfters zu nützen gesucht und daher für sei- terpretationsfragen, also die nach dem Verhältnis
nen Dienst bei der Wiedererkennung längst vorher ei- zwischen Individual- und Sozialroman: Dass Ame-
nen mehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer rika zur Gänze aus der Sicht des Helden geschildert
fiel gar nicht ein, jetzt noch etwas von ihm zu verlangen und bewertet wird, lässt eine einseitige Deutung des
(V 47).
Romans als Kritik der amerikanischen Gesellschaft
Ein ungeschulter Leser mag dies für eine Wieder- erneut als höchst fragwürdig erscheinen. Eine dem
gabe der tatsächlichen Gedanken des Heizers in er- Text angemessene Vermittlung der beiden Roman-
lebter Rede halten, als die sie ja formal auch eindeu- aspekte wird der formalen Priorisierung der Figu-
tig markiert sind. Misstrauisch sollte er aber spätes- renperspektive Rechnung tragen müssen.
tens dann werden, wenn es wenig später heißt:
So wie es seiner Meinung entsprach versuchte auch der
Heizer nicht zu Karl hinzusehn, aber leider blieb in die- Forschung
sem Zimmer der Feinde kein anderer Ruheort für seine
Augen (V 47 f.). Der Verschollene ist immer ein Stiefkind der Kafka-
Das »leider« indiziert wieder erlebte Rede; wirklich Forschung gewesen − und dies bis heute geblieben.
Sinn macht es aber nur aus der Perspektive Karls, der Schon Max Brod hielt den Roman offensichtlich für
den auf ihn fallenden Blick des Heizers als Störung unbedeutender – wohl: da weltanschaulich weniger
der soeben aufgebauten Illusion empfindet. So wird allgemein ausdeutbar − als die beiden späteren Texte.
signalisiert − und auf solche verdeckten Perspektiv- In seinem Nachwort zur Erstausgabe wusste er we-
signale wird der Leser bei Kafka zu achten lernen nig mehr hervorzuheben als das Thema der »Ein-
müssen −, dass auch die vorangegangene erlebte samkeit« − als »Fremdheit, Isoliertheit mitten unter
Rede nicht die Empfindungen des Heizers aus- den Menschen« − und die in diesem Text angeblich
drückte (was eine singuläre Abweichung von der offener zutage tretende »Anteilnahme« des Autors
durchgängigen internen Fokalisierung des Gesche- am Schicksal seines Helden, seine »schlichte, mit-
hens über Karl wäre), sondern Karls Wunschbild fühlende Menschlichkeit« (M. Brod 1953 [1927],
dieser Empfindungen. Da er gerade im Begriff ist, 357 u. 359).
den vorher leichtfertig zur Revolte aufgestachelten Natürlich haben sich auch an der Interpretation
Heizer im Stich zu lassen, sucht er Entlastung in der des Verschollenen alle bekannten Schulen der Kafka-
184 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Interpretation versucht: Der Roman ist biographisch tung, soziologisch fixiert bleibt: als »Machtapparat
gelesen worden (bes. Binder 1976 u. 1983; Hillmann der (kapitalistischen) Gesellschaft« (Jahraus, 268).
1976), psychoanalytisch (etwa von Sokel 1976 Die Perspektivik des Romans − auf die frühere Inter-
[1964]), und in jüngster Zeit ist ihm das Schicksal ei- preten geradezu überfixiert waren (etwa Kobs 1970)
ner ausschließlich selbstreflexiven Lektüre, nach der − wird heute kaum mehr beachtet.
auch dieser Text nur vom Schreiben selbst handle Am dramatischsten hat sich in der Deutungsge-
(z. B. Kremer 1994; Wolfradt 1996; Fingerhut 1997; schichte des Verschollenen jedoch die Einschätzung
Schößler 1998), ebenso wenig erspart geblieben wie des ›Teaters von Oklahama‹ verändert. In älteren In-
eine postkolonialistische Deutung (Goebel 2002). terpretationen galt es, bei allen kleineren Vorbehal-
Neue Teilaspekte wurden nur vereinzelt themati- ten, insgesamt als Gegenbild zur amerikanischen
siert: etwa die Gender-Frage (Lange-Kirchheim Moderne; allmählich hat sich dann aber eine immer
1993; Menninghaus 1999; Boa 2005), die Rolle der negativere Lesart durchgesetzt. In den durchaus re-
Fotografie (Schettino 1987; Biendarra 2006; Duttlin- präsentativen Interpretationen von Alt und Jahraus
ger 2006) und die jüdische Thematik (Greiner 2003; erscheint es nun als »eine weitere Spielart der anony-
Metz 2004; B. Neumann 2007 u. 2008; P. Theisohn misierten Arbeitswelt, des irrwitzigen Verkehrs, des
2008). Von den drei großen, im Wesentlichen wer- Großstadtlebens und der Werbung« (Alt, 373) oder
kimmanent ausgerichteten Monographien (Jahn schlichtweg als »eine Metapher für ein Gericht«
1965a; Thalmann 1966; Nicolai 1981) ist die Arbeit (Jahraus, 260); Anz hat es sogar mit Musterungs-
von Jahn insgesamt noch immer lesenswert. praktiken am Beginn des Ersten Weltkriegs in Bezie-
Mit Abstand dominant war beim Verschollenen je- hung gebracht (Anz 2000).
doch − vermutlich auch bedingt durch den weichen-
stellenden Brodschen Romantitel Amerika − die so-
zialgeschichtliche Interpretation (zunächst bei Deutungsaspekte
Hermsdorff 1961, und, noch existenzialistisch ein-
Amerika und Europa
gefärbt, bei Emrich 1957; dann etwa: Wirkner 1976;
Burwell 1979; Plachta 1994 u. 2008; Alt 2005), die in Dass Kafkas ›Amerika‹ ein imaginiertes ist, wird be-
den letzten Jahrzehnten zunehmend zur Foucault- reits im ersten Absatz des Romans deutlich; Karl »er-
inspirierten ›Macht‹-Kritik wurde (Hiebel 1986 u. blickte«, heißt es da,
1999; Jahraus 2006). Erschien Amerika dabei zu- die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin
nächst als Inbegriff der kapitalistischen Welt, so do- [nicht: Freiheitsstatue] wie in einem plötzlich stärker ge-
miniert heute dessen Deutung als Synonym für die wordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert [nicht:
Moderne. Das ist durchaus nachvollziehbar. Bedau- der Fackel] ragte wie neuerdings empor und um ihre
Gestalt wehten die freien Lüfte (V 7).
erlich ist allerdings, dass dies nicht zum Versuch ei-
ner Bestimmung von Kafkas Moderne-Begriff ge- Ein gestrichener Zusatz beweist, dass es sich hier
führt hat. Stattdessen beschränkt man sich meist da- nicht um ein Versehen Kafkas handelt (von denen es
rauf, die für uns gängigen Klischees von sozialer im Roman in der Tat viele gibt): »Er [Karl] sah zu ihr
›Modernität‹ im Text wieder zu finden (Alt 2005, [der Freiheitsgöttin] auf und verwarf das über sie
347–351), wobei die Bedeutung der Kommunikati- Gelernte« (V:A 123).
onsmedien oft überbetont wird (z. B. Jahraus 2006, Was diese offensichtliche Abweichung aber genau
265). signalisieren soll, bleibt strittig: (1) es könnte sich
Für die im vorigen Kapitel formulierten Interpre- um einen einfachen Austausch von Attributen han-
tationsfragen heißt dies, dass der Verschollene heute deln: (strafendes? kriegerisches?) Schwert statt Frei-
mehrheitlich als Amerika/Moderne-Roman gelesen heit und Aufklärung signalisierender Fackel; (2)
wird, wobei Karl dann als unschuldiges Opfer gilt. durch das neue Attribut könnte die Freiheits-Statue
Amerika entspricht entweder einfach den kapitalis- in eine der Gerechtigkeit (›Justitia‹) transformiert
tischen USA oder erscheint als Metonymie für die worden sein (der allerdings Waage und Augenbinde
Moderne, die meist konventionell im Sinne des so- fehlen − was den strafenden Aspekt einseitig beto-
ziologischen ›Moderne‹-Begriffes gedeutet wird − nen würde); (3) es könnte eine Anspielung auf den
oder, im Sinne Foucaults, als ein Machtsystem (z. B. Engel mit dem (Feuer-)Schwert sein, der nach der
Jahraus 2006, 266–277), wobei diese ›Macht‹ aller- Vertreibung das Paradies bewacht (was auf eine
dings, anders als in Foucaults viel generellerer Deu- Fehleinschätzung Amerikas durch Karl hinwiese, sie
Der Verschollene 185

vielleicht auch kritisch kommentierte, da ins Para- plinierung korrespondiert. Deren Musterrepräsen-
dies kein Weg zurück führt). Die Formulierung tant ist der Onkel (später auch der Student Mendel),
»Freiheitsgöttin« deutet jedenfalls darauf hin, dass es der »mit ganzer Seele« zum »amerikanischen Bür-
hier um eine Aussage über die ›Freiheit‹ geht, die ger« geworden ist (V 38). Sein Abschieds- und Ver-
sich offensichtlich als weit weniger ideal erweist, als stoßungsbrief an den Neffen beginnt folgenderma-
emanzipatorische Hoffnungen sie einst entworfen ßen:
hatten. Geliebter Neffe! Wie Du während unseres leider viel zu
Die Perspektivfigur für das vom Roman gestaltete kurzen Zusammenlebens schon erkannt haben wirst,
›Amerika‹ ist ein Europäer − und auch die meisten bin ich durchaus ein Mann von Principien. Das ist nicht
Figuren, denen Karl begegnet, sind europäische nur für meine Umgebung sondern auch für mich sehr
unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen
Emigranten, deren europäische (nationale) Identität
Principien alles was ich bin und niemand darf verlangen
immer wieder ausdrücklich markiert wird. So ist daß ich mich vom Erdboden wegleugne, niemand, auch
auch das ›Amerika‹-Bild des Verschollenen ein kon- Du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch Du gerade
trastives und nur aus dem Kontrast zu Europa zu der erste in der Reihe wärest, wenn es mir einmal einfal-
konturieren. Besonders instruktiv sind dafür die len sollte, jenen allgemeinen Angriff gegen mich zuzu-
lassen. Dann würde ich am liebsten gerade Dich mit die-
Versuche des Onkels, Karl zum Amerikaner zu er- sen beiden Händen mit denen ich das Papier halte und
ziehen, indem er ihm europäische Gewohnheiten beschreibe, auffangen und hochheben (V 122).
ab-erzieht, und das stadtferne, erst teilweise ›moder-
nisierte‹ Landhaus Pollunders, das kulturtopogra- Hinter der amerikanischen Zweckrationalität und
phisch eine seltsame Zwischenwelt zwischen den Leistungsethik steht also eine zwanghaft-selbstdiszi-
Kontinenten bildet. plinierte Subjektstruktur − Robert Musil nannte es
Nimmt man diese und andere, über den Roman ein »gepanzertes«, Walter H. Sokel ein »konzentrier-
verstreute, Informationen zusammen, so ließe sich tes Ich« (Sokel 1976, 299–310). Dieses Subjekt ist
das folgende Bild skizzieren (wobei ›Amerika‹ und quasi ein Bollwerk gegen die äußere wie innere An-
›Europa‹ natürlich durchgängig nicht reale geogra- archie, in die die amerikanische Ordnung immer
phische und kulturelle Entitäten, sondern fiktionale wieder umzuschlagen droht (das ausführlichste Bei-
Konstruktionen bezeichnen): spiel dafür ist im Roman die Auflösung der zunächst
(1) In zweierlei Hinsicht erscheint Amerika tat- wohlgeordneten Wahlveranstaltung ins völlige
sächlich als Ort der Emanzipation: Enge Moralvor- Chaos; V 321–334).
stellungen und Konventionen, wie sie sich besonders Recht eigentlich sind Disziplin und Anarchie aber
in der Sexualmoral konzentrieren, spielen hier keine nicht Gegensätze, sondern gewissermaßen die bei-
Rolle mehr: Karls Verführung und uneheliche Vater- den Seiten der gleichen Medaille. ›Macht‹ ist in Kaf-
schaft gelten für den Onkel als lässliches »Verschul- kas Amerika (wie in seinem Gesamtwerk überhaupt)
den«, »dessen einfaches Nennen schon genug Ent- nie einfach das Ergebnis von subjektexternen ›sozia-
schuldigung enthält« (V 39), und die ›vorehelichen‹ len‹ Strukturen, sondern die Manifestation einer vi-
Sexualbeziehungen zwischen Klara und Mack er- talen Energie, die sich im Onkel − wie in den durch-
scheinen nur Karl bemerkenswert und peinlich organisierten amerikanischen Arbeitswelten − nur
(V 120). Und auch die europäischen Standesgrenzen in ihrer geordneten, im doppelten Sinne ›rationali-
sind in Amerika aufgehoben; jeder kann, in der Tat, sierten‹ Form manifestiert. Der Verschollene entfal-
zum Senator werden (›Tellerwäschermythos‹) oder tet eine komplexe und vielgestaltige Phänomenolo-
doch, immerhin, zu gehobenen Stellungen (Oberkö- gie des Machtwillens, die selbstbeherrschte Leis-
chin, Oberkellner, Oberportier) aufsteigen − was na- tungsethiker wie den Onkel und den Studenten
türlich nicht heißt, dass dies auch jedem gelingen ebenso umfasst wie offene, egoistische Machtkämp-
wird. fer (Delamarche), und selbstkontrollierte wie un-
(2) Diese ›Freiheit‹ ist aber keineswegs gleichbe- kontrollierte Tyrannen (Oberkellner/Oberportier).
deutend mit der Aufhebung von Machtstrukturen Sie alle treibt die gleiche vitale Energie an, die sich
und Normsetzungen. Eher trifft das Gegenteil zu. auch in der aggressiven Sexualität Klaras und Bru-
›Disziplin‹ ist ein Schlüsselwort des amerikanischen neldas äußert (die, anders als die Johannas, den
Codes − als vollkommene Einfügung des Einzelnen Überbau der ›Liebe‹ nicht mehr braucht) − oder in
in ein zweckrationales System mit klaren Hierarchie- den Bewegungen der Masse und den Strömen des
strukturen, der auch eine entsprechende Selbstdiszi- realen und medialen Verkehrs.
186 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Das verleiht Kafkas ›allermodernstem‹ Amerika für Karl bedeutet: Ausdruck und Objektivierung des
seltsam archaische Züge. Der Roman erklärt sie im- Gefühls (›Leid‹) und mitmenschliche Gemeinschaft,
plizit daraus, dass in Amerika die vitalen Energien die sich aus dem geteilten Gefühl ergibt (vgl. auch
gewissermaßen frei- und bloßgelegt sind »wie in ei- 118 f.) − auch Gregor Samsa aus der Verwandlung
nem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht« empfindet ja gerade im Musikhören seine Mensch-
(V 7) − Energien, die der europäische Code einer- lichkeit (DzL 185). Später, bei der ›Teater‹-
seits zu camouflieren, andererseits aber auch, wie Werbetruppe, wird Karl, anders als die bloß lärmen-
immer unzureichend, in Grenzen zu halten sucht. den Werberinnen, so gut und engagiert Trompete
(3) Der europäische Code ist in Amerika am spielen, dass ihm Fanny bescheinigt, »ein Künstler«
stärksten durch seine Absenzen markiert. An Gel- zu sein (V 393) − ein in Amerika eher zweifelhaftes
tung verloren haben hier (a) die großen Wortmün- Lob. Denn, wie Karl richtig erkannt hat: »Künstler-
zen des europäischen Wertevokabulars, die Karl bei werden wollte [in Amerika] niemand, wohl aber
seiner Verteidigung des Heizers so leicht über die wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden« (388).
Lippen kommen: das ›Gute‹ (z. B. V 33), ›Wahrheit‹ Ausgeschlossen, ja geradezu verdrängt ist im
(39), ›Recht‹/›Gerechtigkeit‹ (z. B. 14, 23, 24, 28). ›amerikanischen Code‹ schließlich (d) die ›europäi-
Barsch weist ihn der ›amerikanische‹ Onkel zurecht: sche‹ Metaphysik. Zum in der ›Modernisierung‹ be-
»Mißverstehe die Sachlage nicht […], es handelt sich findlichen Landhaus Pollunders gehört auch eine
vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber Kapelle. Obwohl sie den Wert des Gebäudes begrün-
gleichzeitig um eine Sache der Disciplin« (V 48). det − ohne sie wäre es nicht gekauft worden −, soll
Ebenso sind (b) die europäischen Höflichkeits- und sie »später unbedingt von dem übrigen Haus abge-
Umgangsformen obsolet geworden: In der Spedition sperrt werden«, da »die Zugluft«, die ihrer »dunklen
Jakob »war das Grüßen abgeschafft« (V 67), und Leere« entströmt, »gar nicht auszuhalten ist« (V 98,
Karl wird auch »in höheren Kreisen« »zugeredet, mit 101). In New York ist die »ungeheure« Kathedrale
seiner übertriebenen [europäischen] Höflichkeit nur in der Ferne zu sehen und von »vielem Dunst«
aufzuhören« (V 227; vgl. auch 49, 153). verschleiert (55). Der deutschstämmige Heizer auf
Wichtiger noch ist (c) die Depotenzierung von seinem deutschen Schiff dagegen schmückt seine
Bildung und Kunst. Was erstere angeht, hat sich Karl, Kajüte noch ganz selbstverständlich mit einem
der ja ohnehin Ingenieur werden wollte (V 11 f., 349, »Muttergottesbild« (17).
399), schnell angepasst: Er strebt nach »einer geord- Eine weitere, hochsignifkante Textstelle geht von
neten Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und einem erz-amerikanischen Möbel aus: einem
die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb Schreibtisch, dessen Fächeraufbau durch eine Kur-
gibt« (V 106). Die europäische Kunst aber vermisst bel zweckgerecht verändert werden kann. Zum Är-
er durchaus − wenn auch nur in Form der Musik. ger seines Onkels bedient Karl gerne die Kurbel, um
Widerwillig gibt der Onkel dem Wunsch des Neffen sich am bloßen Spiel der Veränderung zu erfreuen.
nach Anschaffung eines Klaviers nach − und sucht Er fühlt sich dadurch an ein Kindheitserlebnis erin-
sogleich, dessen Gebrauch in ›amerikanische‹ Bah- nert: Auf dem Christmarkt sah er mit seiner Mutter
nen zu lenken, indem er Noten für »amerikanische mechanisch bewegte Krippenspiele, die ebenfalls mit
Märsche und natürlich auch [die] Nationalhymne« einer Kurbel bedient wurden. Es folgt der merkwür-
besorgt (V 61) − so wie ihm auch Gedichte vor allem dige Satz: »Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht
als Mittel zur Beförderung der amerikanischen Assi- um an solche Dinge zu erinnern, aber in der Ge-
milation nützlich scheinen (V 62). Karl aber »er- schichte der Erfindungen bestand wohl ein ähnlich
hoffte […] viel von seinem Klavierspiel und schämte undeutlicher Zusammenhang wie in Karls Erinne-
sich nicht wenigstens vor dem Einschlafen an die rungen« (V 57 f.). Die »Geschichte« der menschli-
Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der chen »Erfindungen« verbindet also einen Mechanis-
amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavier- mus, der zur Darstellung der Heilsgeschichte diente,
spiel zu denken« (V 60). Sein Lieblingsstück ist »ein mit einem der puren Zweckrationalität, mit dessen
altes Soldatenlied seiner Heimat […], das die Solda- Hilfe sich die Schreibtischfächer den Nutzerbedürf-
ten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern nissen anpassen lassen. Die Verbindung dieser ge-
liegen und auf den finstern Platz hinausschauen, von gensätzlichen Zwecke vollzieht sich nur in Karls ›Au-
Fenster zu Fenster einander zusingen« (60 f.). Eine genlust‹, dem spielerischen, ästhetisch-distanzierten
seltsame Vorliebe − die aber signalisiert, was Musik Verhalten, das er beiden Objekten gegenüber ein-
Der Verschollene 187

nimmt. Ein solches Verhalten ist in der amerikani- er auch, ganz wie der Onkel, sorgfältig auf Wah-
schen Lebenswelt des Onkels dezidiert unerwünscht rung seiner Ich-Grenzen − es ist deren Verletzung,
(58 f.), wurde in Europa aber auch nur gerade noch die ihn bei der Vergewaltigung durch Johanna am
geduldet: Die Mutter hatte es zwar nicht geradezu meisten entsetzt hatte: »ihm war als sei sie ein Teil
verboten, nahm aber nicht daran teil und fühlte sich seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte
durch Karls Begeisterung eher belästigt (58). ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen«
Fasst man die bisherigen Einzelergebnisse zusam- (V 43).
men, so könnte es scheinen, dass sich der Amerika- Was Karl aber vor allem zum Leistungsethiker
Europa-Gegensatz des Romans in seinen Grundzü- prädestiniert, ist seine geradezu erschreckende Em-
gen sehr gut in die Topik einer kulturkonservativen pathieunfähigkeit. Sie zeigt sich etwa in seiner Be-
Moderne- und Amerika-Kritik einfügen ließe – wo- schreibung der − durchaus in ihn verliebten − Jo-
bei allerdings die Welt Alt-Europas um keinen Deut hanna in reiner Außensicht (V 41 f.), und auch The-
besser erscheint (vgl. auch ä 502–504). Dieser Be- reses traurige Kindheitserzählung führt bei ihm
fund kompliziert sich noch, wenn wir die Figur Karls weder zu Mitleidsregungen noch gar zu einem Trös-
einbeziehen, der im Roman ja als − grundsätzlich tungsversuch (V 202 f.). Nur seine verinnerlichten
durchaus assimilationsbereiter − Vertreter Europas europäischen Ideale hindern Karl so daran, die kon-
auftritt. Die daher nötige Erweiterung des Bildes zentrierten Energien seines Ich gezielt einzusetzen
durch einen Blick auf den Helden im nächsten Ab- und zum erfolgreichen ›Selfmademan‹ zu werden.
schnitt ist zugleich ein Vorschlag zur Verbindung Allerdings demonstriert Kafka nicht nur die Er-
zwischen den ›Gesellschafts-‹ und den ›Figurenro- folglosigkeit dieser Ideale, sondern auch ihre unmo-
man‹-Elementen des Textes. ralische Rückseite (was sehr an Nietzsches bekannte
Kritik der »asketischen Ideale« erinnert). Dies wurde
Karl Roßmann für Karls durchaus selbst-interessierte Verteidigung
des Heizers bereits angedeutet, es zeigt sich aber
Auf den ersten Blick scheint Karl mit den K.s der auch an vielen anderen Stellen – etwa im Verhältnis
späteren Romane wenig Gemeinsamkeiten zu ha- zu Delamarche und Robinson. Karl stellt diese Be-
ben. Dass durchaus eine Familienähnlichkeit be- ziehung unter das ›europäische‹ Ideal der Kamerad-
steht, zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen, wobei, schaft/Freundschaft (V 163); andererseits misstraut
paradoxerweise, gerade der amerikanische Onkel als er seinen ›Kameraden‹ (durchaus zu Recht) von An-
Vermittler dienen kann. fang an, verbirgt sein Geld vor ihnen (V 148–151),
Denn dessen Leistungsethik ist Karl durchaus empfindet ihnen gegenüber Ekel und Überheblich-
nahe. Nicht nur, weil er nun in Amerika entschlos- keit (z. B. V 136, 159). So aber entstehen nur Halb-
sen Karriere machen will, nach einem »Posten« heiten: Weder kann Karl dem europäischen Code
sucht, »in dem er etwas leisten und für seine Leis- der ›Kameradschaft‹ genügen, noch kann er, nach
tung anerkannt werden könnte« (V 352; auch: 143, amerikanischem Code, entschlossen seine Interes-
184, 193, 203 f., 388), sondern vor allem weil ihm ein sen verteidigen. Das Ergebnis sind versteckte Ag-
entsprechendes Verhalten bereits in seine europäi- gressionen, die er weder sich noch den anderen ein-
sche Wiege gelegt wurde. Dieser Verhaltenskomplex zugestehen wagt (»die Galle regte sich ihm«; V 142).
wurde in der Forschung als »Musterknabensyn- Gewaltbereitschaft ist so ein stetes Pendant von
drom« beschrieben (Engel, 544–546): Immer will Karls selbstbeherrschter Unterordnung − etwa in ei-
Karl alles besonders perfekt erledigen, »zweifellose ner drastischen, bezeichnenderweise auf den Heizer
Arbeit« zeigen (V 370): projizierten Gewaltphantasie: »Wenn man ihm [dem
Karl dachte gern, wenn er irgendwohin kam, darüber Heizer] den Schubal [den Obermaschinisten] hinge-
nach, was hier verbessert werden könne und welche halten hätte, hätte er wohl dessen gehaßten Schädel
Freude es sein müßte, sofort einzugreifen, ohne Rück- mit den Fäusten aufklopfen können, wie eine dünn-
sicht auf die vielleicht endlose Arbeit die es verursachen schalige Nuß« (V 32 f.; vgl. auch 95).
würde (V 384).
Damit soll Karl nicht in ein einseitig negatives
Um dies zu erreichen, ist Karl zu Lustverzicht (»ein Licht gerückt werden. Der europäische Code hilft
wenig Verzichtleistung«) durchaus bereit – so sehr ihm, seine Aggressionen einigermaßen im Zaum zu
es ihn auch locken mag, »an den Unterhaltungen halten (hindert ihn allerdings auch daran, seine Inte-
der andern teilzunehmen« (V 193). Daher achtet ressen durchzusetzen und verstrickt ihn in Schuld-
188 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

bewusstsein). Was am deutlichsten für Karl spricht, kas Lebzeiten jüngste Bundesstaat der USA (1907 als
sind seine Opferrolle − er ist immer viel mehr Opfer 46. Bundesstaat der USA beigetreten); zunächst war
als Täter −, sein ästhetisch-unschuldiger, da ›interes- es ein für die Besiedelung durch Weiße gesperrtes
seloser‹ Blick auf die Dinge und seine Sehnsucht Indianerterritorium. Von daher markiert es einen
nach Gemeinschaft und menschlicher Nähe. Aller- extremen Gegenpol zur hochmodernen Stadtwelt
dings führt letztere nur im Fragment »Ausreise Bru- von New York (in Kafkas Kulturgeographie sozusa-
neldas« zu solidarischem Handeln und einer Soli- gen den ›Osten‹, den man erreicht, wenn man nur
dargemeinschaft der Opfer (die Passage bleibt zu lange genug nach ›Westen‹ geht) − und zugleich ei-
vereinzelt, um daraus eine Entwicklung Karls zu ei- nen denkbar seltsamen Ort für ein »Teater«. Eher als
ner solchen Haltung hin ableiten zu können). Schauspieler dürfte Oklahoma damals Siedler und
Die knappe Analyse Karls (ausführlicher: Engel, Handwerker benötigt haben. Bei Holitscher liest
542–548) vervollständigt das Gesamtbild − und kor- man aber − interessanterweise im Kapitel »Notizen
rigiert es zugleich: Amerika ist die ›Moderne‹ − und über die Literatur, die Zeitung, das Theater« − zur
damit Europas Zukunft; in den späteren Romanen amerikanischen Substitution von Kunst durch Na-
werden ›amerikanische‹ Verhaltensweisen daher tur:
auch unmittelbar im europäischen Raum auftau- Der amerikanische Romantiker, der dem Alltag entflie-
chen. Aber auch Alt-Europa taugt nur sehr bedingt hen möchte, zieht sich lieber in die unerforschten Ge-
als werthaftes Gegenbild zu dieser Moderne. Sicher biete seines ungeheuren Kontinents zurück als in die un-
ist allerdings, daß die ›amerikanische‹ Emanzipation erforschten Gebiete seiner Seele. […] Der Zusammen-
hang mit jenen Primitiven [den Ureinwohnern und
vom ›europäischen‹ Wertecode keinen Fortschritt
Pionieren] erklärt ihm sein Verhältnis zur Weltseele
bedeutet, da sie den Machtwillen nicht aufhebt, son- deutlicher, als es das Los des europäischen Schmerzens-
dern geradezu freisetzt. Die Düsternis des Romans mannes ist, den ein gleicher Hang durch alle Epochen
ist so mehr eine anthropologische als eine soziale. der Weltgeschichte, Kulturen und Stile jagt (Holitscher,
Damit ist zwar eine Vermittlung zwischen dem Fi- 402).
guren- und dem Amerika-Aspekt des Romans auf- Unabhängig von allen Überlegungen zum Hand-
gezeigt, dennoch bleibt zu konstatieren, dass Kafka lungsausgang muss jedoch darauf insistiert werden,
im Verschollenen die Tragfähigkeit des familialen dass die heute in der Forschung dominierende nega-
Mythos − der sich im begrenzten Raum von Urteil tive Bewertung des »Teaters von Oklahama« vom
und Verwandlung noch bewährt hatte − an die Gren- Text her sicher nicht gedeckt ist.
zen ihrer Leistungsfähigkeit oder sogar darüber hin- Natürlich erscheint hier nicht einfach das ›Ganz-
aus führt (vgl. auch Robertson, 101 f.). Der Process Andere‹ zur Romanwelt − aber bei Kafka sind auch
mit seinem dezidiert vaterlosen Helden wird eine die in der Literatur entworfenen Gegenwelten im-
andere Modellbildung versuchen. mer hineingespiegelt in das Hier-und-Jetzt, weil des-
sen Denk- und Verhaltensweisen zwar als falsch er-
Das »Teater von Oklahama« kannt, nicht aber einfach suspendiert werden kön-
nen (ä 201 f.; vgl. auch Robertson, 85 f.). So ist auch
Alle Spekulationen über den für den Romanschluss die ›Amerikanisierung‹ des »Teater von Oklahama«
geplanten Handlungsverlauf stoßen schnell an ihre nicht zu übersehen − etwa in der marktschreieri-
Grenzen − man kann durchaus bezweifeln, dass schen Werbesprache seiner Plakate, seiner Giganto-
Kafka selbst dafür ein klares Konzept hatte. Wenn manie, seiner Situierung auf einer »Rennbahn« und
man den ungewöhnlichen Romantitel ernst nimmt der grotesken Bürokratie seiner Kanzleien (sowie,
− näher gelegen hätten etwa ›Der Auswanderer‹ oder textextern, in der Verbindung zur Lynchszene bei
›Der Verstoßene‹ −, wird man sich am ehesten ein Holitscher, ä 180). Aber es bleibt ein, zudem mit
(wie auch immer konkretisiertes) Verloren-Gehen zahlreichen biblischen Metaphern überhöhtes (Jahn
in der »Größe« (V 418) des amerikanischen Raumes 1965a, 94–97), ›Theater‹ und eben kein ›Gericht‹
vorstellen; der Verlust des Namens dürfte ein erster (Jahraus, 277) − unbegrenzt lassen sich Textmeta-
Schritt dazu sein. phern nicht zurechtbiegen −, damit aber sowohl der
Wer unbedingt weiter spekulieren will, könnte Welt der Kunst überhaupt wie speziell dem alten To-
sich an Realien-Informationen zum Bundesstaat pos des ›Welttheaters‹ verpflichtet. Beides wird zi-
Oklahoma orientieren, die gut zur Naturszenerie des tiert im für die Deutung zentralen Bild der erhabe-
Fragmentschlusses passen: Oklahoma ist der zu Kaf- nen Präsidentenloge, deren »Vordergrund« »weißes
Der Verschollene 189

und doch mildes Licht« umstrahlt, »während ihre Adaptionen: Dramatisierung: Max Brod: Amerika.
Tiefe […] als eine dunkle rötlich schimmernde Komödie in zwei Akten (16 Bildern) nach dem gleichna-
Leere« erscheint« (V 413 f.) – was an Nietzsches Vor- migen Roman von F.K. Frankfurt/M. 1957 [Urauffüh-
stellung von der apollinischen Funktion der Kunst rung: Schauspielhaus Zürich, 28.2.1957]. –– Verfilmun-
vor dem chaotisch-dionysischen Urgrund des Le- gen: Zbynek Brynych: Amerika oder der Verschollene.
bens erinnern mag. »Man konnte sich in dieser Loge Fernsehfilm ZDF 1969, Drehbuch: Heinrich Carle. –
kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah al- James Ferman: Theatre 625: Amerika. GB 1966. – Vladi-
les aus« (V. 413 f.). mir Michálek: Amerika. GB 1994; Drehbuch: Hugh
Jenseits aller inhaltlichen Lösungen für den Hel- Whitemore. – Jean-Marie Straub/Danièle Huillet:
Klassenverhältnisse/Rapport de classes. BRD/Frank-
den steht das ›Teater‹ so für den einzigen Wirklich-
reich 1983. – Wolfram Schütte (Hg.): Klassenverhält-
keitsbereich, in dem sich für Kafka, wie mittelbar
nisse. Von Danièle Huillet u. Jean-Marie Straub nach
auch immer, ein ›Anderes‹ zum Machtwillen mani-
dem Amerika-Roman Der Verschollene von F.K.
festieren kann. Rein poetologisch gesehen, repräsen-
Frankfurt/M. 1984. – Oper: Roman Haubenstock-Ra-
tiert das ›Teater‹ außerdem den Übergang zu einem mati: Amerika – eine Oper in zwei Teilen nach dem
neuen Erzählmodell, dessen Tragfähigkeit Kafka von gleichnamigen Roman von F.K. und der Bühnenbear-
nun an erproben wird. beitung von Max Brod. Wien 1965. –– Nicola Albrecht:
Verschollen im Meer der Medien. K.s Romanfragment
Ausgaben: Der Heizer. Ein Fragment. Leipzig: Kurt Amerika. Zur Rekonstruktion und Deutung eines Me-
Wolff Verlag [um den 24. 5.] 1913 (Der jüngste Tag, Bd. dienkomplexes. Heidelberg 2007.
3) [Frontispiz: Stahlstich mit Bildunterschrift »Im Ha- Forschung: Nicola Albrecht (s.o.), bes. 16–80. – P.-A.
fen von New York«, Abb. DzL:A 120]; 2. Aufl.: [Okto- Alt (2005), 344–374. − Michael Andermatt: F.K.: Der
ber] 1916 [ohne Frontispiz, mit einer Reihe höchst- Verschollene (Amerika): In: Ders.: Haus und Zimmer im
wahrscheinlich von Kafka stammender Textänderun- Roman. Die Genese des erzählten Raumes bei E. Mar-
gen; Druckvorlage für DzL]; 3. Aufl.: [ca. Frühjahr] litt, Th. Fontane und F.K. Bern u. a. 1987, 169–228. –
1918 [ebenfalls ohne Frontispiz, mit kleineren redaktio- Mark M. Anderson (1992), 98–122. – Ders.: The
nellen Änderungen, die wohl nicht vom Autor stam- Shadow of the Modern. Gothic Ghosts in Stoker’s Dra-
men]. − DzL/KA (1996), 63–111. −− Amerika. Mün- cula and K.’s Amerika. In: Caroline Romahn (Hg.): Das
chen: Kurt Wolff 1927. − A/GS (1935) [ergänzt um Paradoxe. Literatur zwischen Logik und Rhetorik.
Fragmente]. − A/GW (1953). − V/KA (1983) u. T/KA Würzburg 1999, 382–398. – Thomas Anz: K., der Krieg
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morgen. Reiseerlebnisse. Berlin 1912 [in Kafkas Biblio- Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg 2000,
thek befindet sich die 7. Aufl. von 1913 mit Bleistiftver- 247–262. – P.U. Beicken (1974), 251–261. – Anke S.
merk: »8. V. 14«]; Vorabdruck in sieben Folgen: Reise Biendarra: »Man photographiert Dinge, um sie aus dem
durch den Staat Neuyork; Reise durch Kanada; Reise Sinn zu verscheuchen«. Zu den Motiven der Photo-
durch Kanada II; Reise durch Kanada III; Zwischen graphie und des verstellten Blicks in K.s Romanfrag-
Pacific und Mississippi I; Chicago; Westlich von der ment Der Verschollene. In: Orbis Litterarum 61 (2006),
Freiheitsstatue. In: Neue Rundschau 22 (1911), 1570– 16–41. − H. Binder (1976), 54–160. − Ders.: Erlesenes
1590 u. 23 (1912), 346–367, 518–548, 640–668. 954– Amerika: Der Verschollene. In: H. Binder (1983),
970, 1098–1122, 1221–1245; ein weiterer Vorabdruck 75–135. – Elizabeth Boa: Karl Rossmann, or The Boy
(mit mehreren Fotografien) in: S. Fischer Verlag das Who Wouldn’t Grow Up. The Flight from Manhood in
26. Jahr [Almanach S. Fischer Verlag] 1912 [ausgege- K.’s Der Verschollene. In: Mary Orr/Lesley Sharpe (Hg.):
ben Ende Oktober 1912], 142–158 [Exemplar in Kafkas From Goethe to Gide. Feminism, Aesthetics and the
Bibliothek]. − Johannes V. Jensen: Der kleine Ahas- French and German Literary Canon 1770–1936. Exeter
verus. In: Neue Rundschau 20 (1909), 862–875. − 2005, 168–183. – P. Bridgwater (2003), 27–104. – Max
František Soukup: Amerika. Řada obrazů amerického Brod: Nachwort zu ersten Ausgabe. In: A/GW (1953)
života [Amerika. Eine Reihe von Bildern aus dem ame- [Wiederabdruck des Textes von 1927], 356–360. − Mi-
rikanischen Leben]. Prag 1912 [Auszüge in dt. Über- chael L. Burwell: K.’s Amerika as a Novel of Social Criti-
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1.6.1912 einen Vortrag Soukups mit dem Titel »Ame- Melissa De Bruyker: Das resonante Schweigen. Die
rika a jeji úřednictvo« (Amerika und seine Beamten- Rhetorik der erzählten Welt in K.s Der Verschollene,
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Der Verschollene 191

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Fragment im Horizont eines nationaljüdischen Diskur-
ses. In: DVjs 82 (2008), 631–653. – Philippe Wellnitz
192 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

3.2.4 Der Process standen«, ein Deckblatt, Kapitel, die »weit davon ent-
fernt waren, abgeschlossen zu sein«, ein Einschlag-
blatt (P:A 124 f.). Beim ersten Konvolut ist das Deck-
Entstehung und Veröffentlichung blatt vermutlich verlorengegangen; außerdem um-
fasst es als Einziges wohl zwei, durch einen Querstrich
Begonnen hat Kafka mit der Arbeit am Process um getrennte Kapitel; »Verhaftung« und »Gespräch mit
den 11. August 1914, abgebrochen wurde sie am Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner« sind also
20. Januar 1915 (T 721; was eine spätere Überarbei- Herausgebertitel (seit Max Brods Erstedition).
tungsphase allerdings nicht völlig ausschließt; vgl. Diese Manuskriptlage macht die Edition des Pro-
Reuß 1997, 9). Unmittelbarer biographischer Kon- cess zum schwierigsten und umstrittensten Projekt
text ist also die erste Trennung von Felice Bauer in der Kafka-Philologie: Der Autor hat uns keinerlei
Berlin am 12. Juli 1914 (mit Auflösung der Verlo- Hinweise auf die Reihenfolge der Kapitel gegeben;
bung) und die Wiederaufnahme der Beziehung im zudem ist die Unterscheidung von fertigen/unferti-
Januar 1915 (ä 18 f.). In der Entstehungszeit des Ro- gen Kapiteln keineswegs eindeutig (Reuß 1997, 12).
mans arbeitet Kafka unter anderem auch an Erinne- Ein ›Roman‹ Der Process muss also – wie immer
rungen an die Kaldabahn (ä 266), dem Dorfschulleh- auch seine Textgestalt aussehen mag –, auf jeden Fall
rer (ä 266), dem Unterstaatsanwalt (ä 268), der Straf- ein Herausgeberkonstrukt bleiben, in dem die Kapi-
kolonie (ä 207), dem Teater-von-Oklahama-Teil des telanordnung nach Wahrscheinlichkeiten von Hand-
Verschollenen (ä 176) und möglicherweise schon am lungsstruktur und Zeitangaben und die Gruppie-
<Elberfeld >-Fragment (ä 269 f.). rung in Roman-Kapitel oder ›Fragmente‹ nach letzt-
Trotz intensiver Forschungsanstrengungen sind lich pragmatischen Erwägungen festgelegt wurde.
die Eckdaten immer noch alles, was von der Nieder- Ein Überblick über alle in Editionen praktizierten
schrift mit einiger Sicherheit bekannt ist. Nur der und von Interpreten vorgeschlagenen Anordnungs-
Anfang des Mutter-Kapitels (8. 12.) und des Deu- versuche (Uyttersprot, Elema, Eschweiler) findet
tungsgespräches zur Türhüterlegende (13.12.1914) sich bei Reuß (Reuß 1997, 33–36).
lassen sich über Tagebucheinträge zuverlässig datie- Den ersten (und lange Zeit forschungsprägenden)
ren. Fast alles Übrige ist mehr oder weniger unsicher: Konstruktionsversuch legte Max Brod in seiner Erst-
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Kafka zunächst ausgabe von 1925 vor. Wie bei all seinen Editionen
den Romananfang geschrieben − also das Kapitel war er auch hier darum bemüht, einen möglichst
»<Verhaftung>« −, unmittelbar danach (vielleicht so- ›fertig‹ erscheinenden Text zu präsentieren, den er –
gar gleichzeitig) den Romanschluss (»Ende«). Über auch das entsprechend seiner üblichen Editionspra-
die Niederschrift der übrigen Kapitel wissen wir letzt- xis – in den späteren Ausgaben (P/GS, 1935; P/GW,
lich nur, dass sie sicher nicht in der Reihenfolge eines 1950) um ›unvollständige Kapitel‹ ergänzte. Die Kri-
linearen Handlungsverlaufes erfolgte; vermutlich hat tische Ausgabe (P/KA, 1990) folgt im Wesentlichen
Kafka verschiedentlich an mehreren Kapiteln gleich- Brods Kapitelanordnung, ordnet allerdings das bei
zeitig gearbeitet. Den genauesten Datierungsversuch Brod an vierter Stelle stehende Konvolut »B[ürstner]’s
zu den Kapitelniederschriften hat Malcolm Pasley Freundin« unter die »Fragmente« ein. Der Heraus-
vorgelegt (P:A 111–123 – allerdings können nicht alle geber Malcolm Pasley präsentiert den Text also in
seiner Indizienbeweise überzeugen). folgender Gestalt:
Die Niederschrift erfolgte in großformatigen [K 1] Verhaftung
Quartheften (ca. 24,5 x 20 cm). Vermutlich nach Ab- [K 2] Gespräch mit Frau Grubach /
bruch der Arbeit trennte Kafka die Hefte auf und Dann Fräulein Bürstner
ordnete die losen Blätter in 15 Konvoluten, die ent- [K 3] Erste Untersuchung
[K 4] Im leeren Sitzungssaal / Der Student /
weder mit einem Deckblatt versehen (9x) oder in ein
Die Kanzleien
gefaltetes Einschlagblatt gelegt wurden (5x); in bei- [K 5] Der Prügler
den Fällen hat Kafka auf diesen ›Titelblättern‹ stich- [K 6] Der Onkel / Leni
wortartig den Inhalt notiert (diese Formulierungen [K 7] Advokat / Fabrikant / Maler
werden heute üblicherweise als Kapitelüberschriften [K 8] Kaufmann Block [tatsächlich schrieb Kafka auf
dem Titelblatt: Kaufmann Beck] /
verwendet). Kündigung des Advokaten
Nach Pasleys Deutung erhielten »abgeschlossene [K 9] Im Dom
Kapitel oder […] solche, die kurz vor dem Abschluss [K10] Ende
Der Process 193

Fragmente: Schreibverfahren handhabbaren, Einheiten zu kon-


[F1] B.’s Freundin struieren: Am Morgen seines 30. Geburtstages wird
[F2] Staatsanwalt
[F3] Zu Elsa Josef K., ein unauffälliger Bankprokurist, in seinem
[F4] Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter Pensionszimmer »verhaftet«. Das zumindest ist der
[F5] Das Haus Begriff, den Kafka verwendet (im Manuskript stand
[F6] Fahrt zur Mutter zunächst »gefangen«; P:A 161) − obwohl der Vor-
gang mit einer ›Verhaftung‹ im uns vertrauten Sinne
Konsequent der Manuskriptgestalt folgt nur die Fak- ebenso wenig zu tun hat wie der folgende ›Prozess‹
simile-Ausgabe (P/FKA, 1997). Ihr Process-›Band‹ mit einem uns vertrauten Gerichtsverfahren. Genau
besteht aus einem etwa DINA4–formatigen Karton- ein Jahr später, also am Vorabend seines 31. Geburts-
schuber, der als Romantext 16 einzeln gebundene tages, wird K. von zwei »bleichen und fetten« Män-
Hefte enthält, die den Manuskriptkonvoluten ent- nern in »Gehröcken« und mit »Cylinderhüten«
sprechen. Der Leser könnte sie mischen wie Spiel- (P 305) in seiner Wohnung abgeholt, in einen vor
karten − wobei sich natürlich auch erweisen würde, der Stadt gelegenen Steinbruch geführt und hinge-
dass nicht jede Reihenfolge eine sinnvolle Lektüre richtet.
ergibt. Kafkas Process hat also sehr wohl einen Anfang
und ein Ende (und sogar einen zeitlich präzise auf
ein Jahr terminierten Handlungszeitraum). Dass
Textbeschreibung Kafka den Romanschluss höchstwahrscheinlich un-
mittelbar nach dem Anfang niederschrieb, war of-
Bauprinzipien
fensichtlich eine Sicherheitsmaßnahme, um sein
Erzähltexte von größerem Umfang zu vollenden, be- neues Projekt vor dem Schicksal des abschlusslos ge-
reitete Kafka aus zwei Gründen Schwierigkeiten. Der bliebenen Verschollenen zu bewahren: Kafka begann
erste war seine Schreibweise als persönliche Variante die Niederschrift mit einer Rahmenkonstruktion,
›automatischen‹ Schreibens (›écriture automatique‹): die dann nur noch ausgefüllt werden musste.
Spontan seiner Inspiration folgend, verzichtete er Einfach war das Problem der ausgesparten ›Mitte‹
bewusst auf jede Form von Vorplanung. Der zweite allerdings nicht zu lösen. Es lag im Wesen von Kaf-
Grund war von viel allgemeinerer Art, da Kafka ihn kas eigentümlichem ›Gericht‹, dass die lineare ›Ge-
mit vielen anderen Autoren der literarischen Mo- schichte‹ eines Strafprozesses nicht erzählt werden
derne teilte: Moderne Erzähltexte sind nicht mehr konnte. Denn dieses Gericht erhebt keine klare An-
primär nach dem Prinzip organisiert, das Robert klage, betreibt keine schulgerechte Ermittlungsarbeit
Musil einmal das »Gesetz erzählerischer Ordnung« − außer seltsam leer laufenden ›Verhören‹ −, kennt
genannt hat (Mann ohne Eigenschaften, Zweiter Teil, kein Gerichtsverfahren im uns vertrauten Sinne (ob-
Kap. 122). Dieses gründet Erzählen auf eine zur wohl es Richter und Verteidiger gibt) und verkündet
Handlung geordnete Folge von Ereignissen, deren kein Urteil.
Minimalstruktur (mit Aristoteles) die Einheit von Um die leere Mitte zwischen ›Anfang‹ und ›Ende‹
Anfang, Mitte und Ende ist und deren minimale dennoch zu füllen, verwendet Kafka vier Verfahren,
Verknüpfungsprinzipien (Syntagmen) die chronolo- von denen nur die ersten beiden zum Repertoire tra-
gische Folge und der kausale Zusammenhang sind. ditioneller (also erzählorientierter) Epik gehören.
Viele Autoren haben größere Erzählwerke ohne vor- (1) Entwicklung des Helden: Mit der »Verhaftung«
gegebenen Plan begonnen (oder ihre Pläne im Ver- bricht in Josef K.s wohlgeordnetes Leben ein
lauf des Schreibens geändert) − dann war es aber schlechthin ›Anderes‹ ein. Es wäre daher mehr als
eben die Handlung (einschließlich der sich in ihr plausibel, dass er durch diesen Einbruch selbst zu ei-
entfaltenden und sie bestimmenden Charaktere), die nem Anderen würde. Dies geschieht − und es ge-
den Erzählfluss trug und die Ereignisse und Ereig- schieht nicht. Nicht zufällig findet sich erst im
nissequenzen integrierte. Dieses Sicherheitsnetz der Schlusskapitel eine Passage, in der der Held seinen
erzählerischen Integration fehlt bei Kafka (und an- ›Prozess‹ als einen Veränderungsprozess imaginiert:
deren Autoren der Moderne) weitgehend.
Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hin-
Am Process lässt sich anschaulich demonstrieren,
einfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden
wie Kafka versucht, einen nicht primär erzählerisch Zweck. Das war unrichtig, soll ich nun zeigen, daß nicht
organisierten Text aus kleinen, also in seinem einmal der einjährige Proceß mich belehren konnte? Soll
194 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

ich als ein begriffsstütziger Mensch abgehen? Soll man gang und besucht einen Honoratiorenstammtisch,
mir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Processes zu dessen Mitgliedern auch der Staatsanwalt Haste-
ihn beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder begin-
nen will. Ich will nicht, daß man das sagt (P 308). rer gehört (vgl. auch F2).
Zum andern erweitert sich unser Wissen über das
Der Roman weiß von einer solchen Veränderung al- rätselhafte Gericht: K. wird von den »Wächtern«
lerdings nur wenig zu erzählen: Der Prozess zer- Franz und Willem und einem »Aufseher« verhaftet,
streut und ermüdet den Helden zusehends; er lenkt wird zu einem Verhör einbestellt (K3), sucht densel-
ihn ab von der bisher sein Leben einseitig bestim- ben Sitzungssaal eine Woche später noch einmal auf
menden Fixierung auf die Geschäftswelt, so dass und gelangt dabei in die Gerichtskanzleien (K4). Er
seine Stellung in der Bank zunehmend von seinem beauftragt den Advokaten Huld mit seiner Verteidi-
Erzrivalen, dem »Direktor-Stellvertreter«, untermi- gung (K6) und entzieht ihm später das Mandat wie-
niert wird. Und ihn befallen zunehmend Zweifel an der, wobei er einen anderen Angeklagten, den Kauf-
seiner Schuldlosigkeit − schließlich erwägt er sogar, mann Block, kennenlernt (K8). Durch Vermittlung
als »Verteidigungsschrift« eine »Lebensbeschrei- eines Fabrikanten sucht er Rat und Hilfe beim Ge-
bung« anzufertigen und dabei »bei jedem irgendwie richtsmaler Titorelli (K7, vgl. auch F5; zu Titorelli
wichtigern Ereignis [zu] erklären, […] ob diese ä 484–486). Im Kapitel »Im Dom« (K9) begegnet K.
Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil schließlich noch dem »Gefängniskaplan«.
zu verwerfen oder zu billigen war und welche Bei diesem Ausschreiten des epischen Raumes er-
Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte« geben sich natürlich auch Ansätze zu kleineren
(P 149). Aber diese Selbstzweifel bleiben halbherzig Handlungssequenzen und zu Nebenhandlungen: So
und punktuell und können sich nicht wirklich gegen haben etwa die beiden Wächter in K1 K.s Wäsche an
die Grunddominanten in K.s Verhalten durchsetzen: sich genommen (P 10); in K3 klagt sie K. deswegen
Abwehr des Prozesses und Verdrängung jedes Ge- öffentlich an (P 65), in K5 werden sie dafür bestraft
dankens an Schuld. (P 109). Wichtiger noch sind zwei sich anscheinend
(2) Aufbau einer fiktionalen Welt: Der Process be- anbahnende ›Liebesgeschichten‹: Die erste ist die
ginnt in medias res und mit dem Einbruch eines ra- zwischen K. und Fräulein Bürstner, die allerdings jäh
dikal ›Anderen‹, ›Fremden‹. Damit sind sozusagen abbricht. Ursprünglich sollte sie wohl ein zentrales
zwei Vektoren gegeben, in deren Richtungen der epi- Handlungselement sein − nicht umsonst tritt Fräu-
sche Raum des Romans auszuschreiten (bzw. zu kon- lein Bürstner (oder eine ihr ähnlich sehende Frau)
stituieren) ist. Wir erfahren, quasi als nachgetragene im Schlusskapitel noch einmal auf, was K. dazu be-
Exposition, Details über K.s ›außer-gerichtliche‹ wegt, jeden Widerstand aufzugeben (P 307–309; vgl.
Existenz: Wir erleben ihn in der Geschäftswelt, im auch P 167). Im Fortgang des Schreibens scheint
Umgang mit anderen Beamten, mit Kunden, mit Fräulein Bürstners Rolle allerdings zunehmend an
dem ihm wohlgesinnten Direktor und dem feindse- Leni, die Bedienstete des Advokaten, überzugehen
ligen Direktor-Stellvertreter. Wir lesen, dass sein Va- (vgl. bes. P 278) – was die Entscheidung der KA
ter früh gestorben ist, seine alte und fast erblindete stützt, das die Bürstner-Handlung fortsetzende Ka-
Mutter auf dem Land lebt (und von ihrem Sohn nur pitel »B.’s Freundin« aus dem Haupttext zu entfer-
selten besucht wird), und dass die sonstige Ver- nen. Auch diese zweite Liebesbeziehung zu Leni
wandtschaft allein aus einem Onkel [K6] und dessen bleibt aber weitgehend unentfaltet; das mag am Frag-
17-jähriger Tochter Erna (P 120–122) besteht. Wir mentcharakter des Textes liegen oder, wahrscheinli-
lernen K.s Pensionswirtin Frau Grubach kennen cher, daran, dass K. zu einer wirklichen Liebesbezie-
[K2], eine Mitbewohnerin namens Fräulein Bürst- hung unfähig ist.
ner, die K. bisher ignoriert hat, die für ihn am Abend (3) Serialisierung: Die beschriebenen Ansätze zur
des Verhaftungstages aber auf seltsam abrupte Weise Bildung erzählerischer Syntagmen erzeugen so nur
zu einem Objekt des Begehrens wird (K2; vgl. auch schwache Bindungen. Stärker integrierend wirken
F1). Und wir erfahren, dass K. eine »Geliebte« na- daher eine Reihe von paradigmatischen Bezügen,
mens Elsa hat − eine Kellnerin in einem Weinlokal, deren Grundlage vor allem konstante Verhaltens-
die er einmal wöchentlich aufsucht (P 30, 86 f., 144 f.; muster K.s sind: seine Versuche, das Gericht (und je-
ausführlich vorgestellt worden wäre sie wohl in F3). des Nachdenken über ›Schuld‹) abzuwehren und an
Weitere Sozialkontakte pflegt K. kaum: Er arbeitet seiner bisherigen Lebensweise festzuhalten, sein ins-
bis 9 Uhr abends, macht dann meist einen Spazier- trumentell-rationales Denken und sein Argumentie-
Der Process 195

ren und Agieren in Macht- und Kampfkonstellatio- aber die paradigmatische Struktur, die sowohl den
nen. Da all dies der Welt des Gerichtes gegenüber of- Verschollenen wie den Process (in etwas geringerem
fensichtlich unangemessen ist, ergeben sich daraus Maße auch das Schloss) bestimmt. Ein solches
ebenso konstante Fehleinschätzungen seiner Lage. Schreiben in selbstähnlichen Einheiten impliziert
Auf diesen Konstanten basieren spezifischere Seri- nicht die Aufgabe des Werk-Strebens, sondern einen
enbildungen, wie sie etwa die Figurenkonstellation nicht-linearen, nicht erzählerisch integrierten Be-
des Textes bestimmen: die Reihe der Vermittlerfigu- griff des epischen Werkes (der in der Moderne alles
ren, der Helfer und Ratgeber, deren Unterstützung andere als ungewöhnlich ist).
K. in seinem Prozess geradezu zwanghaft sucht (der
Advokat Huld, der Gerichtsmaler Titorelli, der Ge- Die zwei Textwelten
fängnisgeistliche), und die Reihe der Frauenfiguren
und ihre Verbindungen
(Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners,
Leni), die für K. zugleich Objekte des Begehrens wie Ein zentraler Zug von vielen Erzähltexten Kafkas −
»Helferinnen« (P 143) in seinem Prozess sind. Auf den man mit gleichem Recht und gleicher Proble-
ähnlich paradigmatische Weise integrierend wirken matik als ›phantastisch‹ und ›parabolisch‹ beschrie-
schließlich Schlüsselmotive, die den Text durchzie- ben hat − besteht darin, dass die Textwelten zu ei-
hen, etwa das Motiv des Fensters − oft verbunden nem wesentlichen Teil aus reifizierten Metaphern
mit dem des Beobachtet-Werdens −, das Hand- konstruiert sind, also aus Metaphern, die innerhalb
schlag- und das Licht-Motiv. der fiktionalen Welt keinen metaphorischen Status
(4) Abymisierung: Verschiedentlich sind in den mehr haben, sondern schlicht und einfach ›wirklich‹
Roman Elemente eingefügt, die dessen Essenz zu sind. Das gilt im Prinzip bereits für Urteil und Ver-
kondensieren scheinen, auf jeden Fall aber eine wandlung. Im Process hat Kafka aber erstmals den
dichte und weit ausstrahlende Semantik aufweisen. ›phantastischen‹, anti-realistischen Erzählbereich zu
Am wichtigsten ist hier natürlich die Türhüterle- einem eigenständigen und eigengesetzlichen zwei-
gende (P 292–295); zu nennen wären aber auch ei- ten Wirklichkeitsbereich ausgestaltet, der dem
nige Gemälde: die Richterbilder beim Advokaten wiedererkennbar-›realistischen‹ Teil der Roman-
(P 141 f.) und bei Titorelli (P 195–197) sowie die wirklichkeit auf seltsame Weise eingeschachtelt ist.
Grablegungsszene im Dom (P 280). Das ›Gericht‹, das K. verhaften und schließlich
Für den Herausgeberstreit bedeutet diese erste hinrichten lässt, ist eine weitverzweigte Behörde mit
Textbeschreibung, dass der Process zwar als vollen- dem ganzen institutionellen Repertoire und Umfeld,
deter Roman in der Tat nicht existiert, sein Frag- das Gerichtsinstanzen zu haben pflegen. Offensicht-
mentcharakter jedoch Geschlossenheit und Lesbar- lich aber widerspricht ihr Agieren all unserem Welt-
keit erstaunlich wenig beeinträchtigt. Die dominant wissen über Gerichte – obwohl die im Text entwor-
paradigmatische Organisation des Textes bewirkt, fene Welt keineswegs in toto anders ist als die uns
dass Erweiterungen (›Vervollständigungen‹) das Ge- vertraute. In Josef K. haben wir als Leser einen in-
samtbild zwar bereichert, ›amplifiziert‹, aber wohl nerfiktionalen Stellvertreter, der unser Erstaunen
nicht wesentlich verändert hätten. Insofern hat der und Befremden über Abweichungen vom Vertrau-
Kunstgriff der Rahmenbildung durchaus funktio- ten immer wieder artikuliert − so schon in der Reak-
niert: Unter den drei Romanfragmenten Kafkas ist tion auf seine Verhaftung:
der Process, trotz seiner ungewöhnlichen Überliefe- Was waren denn das [die ihn verhaftenden »Wächter«]
rung, der geschlossenste Text. für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde
Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Grund- gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat,
these von Roland Reuß (und anderen) als fragwür- überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden auf-
recht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?
dig, nach der »Kafkas Schreiben im Schreibvorgang
(P 11)
selbst, nicht in dessen Resultat, dem Text, einem
Werk, sein Telos hatte« (Reuß 1997, 24). In einem Im Verlauf des Romans erweist sich das Gericht, das
rein existenziellen Sinne mag die Aussage zwar zu- zunächst in die Armensiedlungen der »Vorstadt«
treffen − Schreiben war für Kafka eine Existenzmög- (P 50) ausgelagert zu sein schien, als geradezu ubiqui-
lichkeit (was allerdings keineswegs heißen muss, tär; nach Auskunft des Malers Titorelli gilt: »Es gehört
dass er nicht nach geschlossenen Werken gestrebt ja alles zum Gericht« (P 202), und: »Gerichtskanz-
hätte, die allein er für gelungen hielt). Sie verfehlt leien sind doch fast auf jedem Dachboden« (P 222).
196 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Das »Prügler«-Kapitel zeigt zudem, dass auch in K.s unverändert, […] der Prügler mit der Rute, die noch
Bank Gerichtsaktivitäten stattfinden, bezeichnender- vollständig angezogenen Wächter, die Kerze auf dem
weise in einer »Rumpelkammer« (P 108). Regal« (P 117).
Die Lebenswelt K.s – sein (rudimentäres) Privat- Solch seltsame Korrespondenzen zwischen Innen-
leben und die Geschäftswelt der Bank – ist uns und Außenwelt kennen wir sonst nur aus Träumen
durchaus vertraut. Mit der Verhaftung hat sich je- (die in der Tat zu den wichtigsten Inspirationsquel-
doch in dieser Wirklichkeit plötzlich eine zweite auf- len für Kafkas Schreiben gehören; vgl. Engel 1998) −
getan, die allerdings integraler Bestandteil der ersten aber der Process ist nirgendwo als Traum markiert.
zu sein scheint. Diese Zweiwelten-Struktur prägt Und doch ist das Gericht über K. gekommen wie ein
auch die Figurenkonstellation: Das Romanpersonal Gedanke aus verdrängten Tiefen des eigenen Inne-
gehört entweder der Privat-/Geschäfts- oder der Ge- ren, den abzuwehren man nur nicht geistesgegen-
richtssphäre an. Eine Sonderposition kommt dem wärtig genug war. So meint auch K. über seine Ver-
Kaufmann Block zu (K8), der offensichtlich als Par- haftung: »Wäre ich gleich nach dem Erwachen […]
allel- wie Kontrastfigur zu Josef K. fungiert. Aller- aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgendjemand,
dings tun sich auch auf der Figurenebene immer der mir in den Weg getreten wäre, […] gegangen,
wieder überraschende Verbindungen zwischen den […] es wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles,
Welten auf, wie K. zu Recht konstatiert: »So viele was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so
Leute sind mit dem Gericht in Verbindung!« (P 180). wenig vorbereitet« (P 34). Die darauf zunächst fol-
So scheinen etwa sowohl K.s Onkel (K6) wie auch gende Erklärung für K.s mangelnde Geistesgegen-
der »Fabrikant«, einer von K.s Bankkunden (K7), wart hat Kafka allerdings (bezeichnenderweise) ge-
über die Gerichtswelt wohlorientiert zu sein. Und strichen: »Man ist doch im Schlaf und im Traum we-
schon bei der Verhaftung sind ja auch drei ›Beamte‹ nigstens scheinbar in einem vom Wachen wesentlich
aus der Bank präsent (K1). verschiedenen Zustand gewesen […]. Darum [ist]
Die verblüffendste Verbindung zwischen den bei- auch der Augenblick des Erwachens der riskanteste
den Romanwelten liegt jedoch in den geheimnisvol- Augenblick im Tag« (P:A 168).
len Bezügen, die zwischen K.s Innerem und der Ge- Die bisher beschriebene Zweiwelten-Struktur ist
richtswelt bestehen: Als K. zu seinem ersten Verhör uns aus der phantastischen Literatur durchaus ver-
bestellt wird, erfährt er zwar Tag (Sonntag) und Ort traut. Allerdings fehlt bei Kafka das dort gängige
(ein Haus in einer Vorstadt), nicht aber den Zeit- Motiv-Repertoire des ›Wunderbaren‹. Stattdessen
punkt. Er entscheidet sich, um 9 Uhr einzutreffen verbindet sich das Gericht mit hochsignifikanten
(P 50–52), verspätet sich jedoch um etwas über eine Leitbegriffen wie ›Gesetz‹ und ›Schuld‹ und mit Be-
Stunde – und der Richter begrüßt ihn mit den Wor- deutungskondensaten (wie den bereits erwähnten
ten: »Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten Bildern und der Türhüterlegende), die die Lesekon-
erscheinen sollen« (P 59). Auch das Eintreffen seiner ventionen von ›uneigentlichen‹ (allegorischen oder
Henker kommt für K. nicht unerwartet: »Ohne daß parabolischen) Texten aufrufen − allerdings ohne
ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K. dass der übliche Deutungsschlüssel mitgeliefert oder
[…] schwarz angezogen in einem Sessel in der Nähe doch wenigstens impliziert würde.
der Türe […], in der Haltung wie man Gäste erwar- Der Deutungsimpuls, der von dieser reifizierten
tet« (P 305). Nicht weniger mysteriös sind die Ab- Metapher ausgeht − genauer: der uns überhaupt erst
läufe im »Dom«-Kapitel: K. soll »einem italienischen dazu bringt, die Textwelt für metaphorisch (›unei-
Geschäftsfreund der Bank« (P 270) den Dom zeigen; gentlich‹) zu halten −, wird durch weitere Eigenhei-
der Italiener bleibt jedoch aus − und K. wird durch ten von Kafkas Erzählen noch verstärkt: zum einen
einen Kirchendiener zu einer »Nebenkanzel« ver- durch überscharf fokussierte Details (einzelne Ob-
wiesen (P 282–285), von der ihn dann der Gefäng- jekte, Eigenheiten von Aussehen und Kleidung, Mi-
nisgeistliche mit seinem Namen anruft (P 286). Und mik und Gestik), die in ihrer Selektivität keinen ›Re-
ein letztes, besonders bezeichnendes Beispiel: In ei- alismus‹-, sondern einen Signifikanz-Effekt bewir-
ner Rumpelkammer der Bank hat K. miterlebt, wie ken; zum anderen durch Verhaltensweisen von
die beiden Wächter wegen seiner Anschuldigung be- Romanfiguren, die unserem Weltwissen widerspre-
straft wurden (K5). Am Abend des nächsten Tages chen, seltsam oder sogar ›grotesk‹ anmuten – etwa
öffnet er die Kammertür erneut; doch hinter ihr wenn sich der »Aufseher« im Verhaftungskapitel »ei-
scheint die Zeit stehengeblieben zu sein: »Alles war nen harten runden Hut, der auf Fräulein Bürstners
Der Process 197

Bett lag«, »vorsichtig mit beiden Händen« aufsetzt, den »drei jungen Leute« Beamte aus seiner Bank
»wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut« (P 25). sind (P 20, 23, 24, 26 f.). Wie oft im Roman ist K.s
All dies trägt dazu bei, den Roman ›uneigentlich‹ Fehlleistung explizit markiert − hier in erlebter Rede:
und ›bedeutend‹ wirken zu lassen − und erzeugt das »Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte er
Wechselspiel von Deutungsprovokation und -frust- doch hingenommen sein müssen, von dem Aufseher
ration, das für Kafkas Texte so charakteristisch ist und den Wächtern, um diese drei nicht zu erken-
(ä 412–415). nen« (P 27). Das belegt zugleich, wie haltlos K.s Be-
Das erste und zweifellos zentrale Deutungspro- teuerungen waren, in der Verhaftungssituation im-
blem des Process ist natürlich die Frage nach der ›Be- mer souverän und überlegen gewesen zu sein (z. B.
deutung‹ des seltsamen Gerichtes und seines Ein- »Er fühlte sich wohl und zuversichtlich«; P 16 f.).
bruchs in K.s Lebenswelt. Damit verbindet sich, Als zweites Beispiel sei auf K.s erstes Verhör ver-
zweitens, die Frage nach der Schuld des ›Angeklag- wiesen. Von dem Augenblick an, da er den Sitzungs-
ten‹ − ist Josef K. Opfer oder Täter? Wer K. für schul- saal betritt, schätzt er die Situation falsch ein: Er
dig hält, wird darüber hinaus, drittens, fragen müs- fühlt sich an eine politische Versammlung erinnert
sen, ob es sich dabei um eine konkrete und vermeid- und meint, dass es im Publikum zwei Parteien gebe
bare Schuld handelt (womit der Roman eine Moral (P 58). Entsprechend agiert er auch und hält eine po-
bekäme: Handle nicht wie Josef K.!) oder um eine litische Rede, in der er sich zum uneigennützigen
Verschuldung, die dem Menschen (vielleicht: dem Anwalt der öffentlichen Sache stilisiert:
Menschen der Moderne) generell oder doch wenigs-
was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und
tens tendenziell eigen ist (dann würde der Roman als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer
eine anthropologische, philosophische, kulturge- nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens wie es
schichtliche, vielleicht auch religiöse Aussage ma- gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht
chen). Ein viertes Problem liegt schließlich in der ei- für mich. […] Was ich will, ist nur die öffentliche Be-
sprechung eines öffentlichen Mißstandes (P 64 f.).
gentümlichen Verschränkung von Außen- und In-
nenwelt: Wieso ist das Gericht so unmittelbar mit Damit − wie schon in Details der Darstellung der
K.s Innerem (seinem Unbewussten?) verbunden? Verhaftung − lügt K. schamlos (nur sein Namensvet-
ter K. aus dem Schloss wird ihn darin noch übertref-
Erzählperspektive fen). Das Beispiel illustriert die wichtigste Eigenheit
von Kafkas personalem Erzählen: Obwohl uns der
Wie in vielen Erzähltexten Kafkas liegt auch im Pro- Roman (von wenigen auktorialen Einsprengseln ab-
cess personales Erzählverhalten vor (in der von Jür- gesehen) nur K.s Wahrnehmungen und Interpretati-
gen Petersen reformulierten Terminologie Franz K. onen vermittelt (explizite Informationen), signali-
Stanzels; nach Gérard Genette wäre von ›heterodie- siert der Text uns dennoch auf raffinierte Weise, dass
getischem Erzählen‹ mit ›interner Fokalisierung‹ zu K.s Weltdeutungen wie Selbstdarstellungen – als di-
sprechen): Alle Romanereignisse werden aus dem rekte (taktische) Lügen oder als unbewusste Selbst-
Wahrnehmungs-, Wissens- und Deutungshorizont täuschungen – falsch sind (implizite Informationen),
Josef K.s erzählt. Nur in Bezug auf ihn haben wir ›In- ohne uns freilich mit einer ›richtigen‹ Deutung zu
nensicht‹, nur seine Gedanken und Gefühle lernen versehen.
wir kennen; alle anderen Romangestalten sind uns − Zumeist geschieht dies auf die beschriebene mit-
wie der Perspektivfigur − bloß in Außensicht zu- telbare Weise. Nur an einer Stelle werden wir da-
gänglich. durch über K.s Fehleinschätzung der Situation be-
Diese Perspektivierung erfolgt bei Kafka oft un- lehrt, dass wir eine romaninterne Gegenperspektive
markiert − und ist vom Leser umso sicherer zu er- erhalten: Bei seinem Gang durch die Gerichtskanz-
schließen je vertrauter er mit K.s Denk- und Wer- leien war K. anderen Angeklagten begegnet, die
tungsgewohnheiten geworden ist. Am leichtesten zu angstvoll auf ihn reagierten; K., der sich ihnen weit
erkennen ist die Wahrnehmungsbegrenzung (die überlegen glaubt, meint in seinem Hochmut, dass
daher häufig als Perspektivsignal fungiert). So wis- man ihn wohl für einen Richter halte (P 93–95).
sen wir im Verhaftungskapitel ebenso wenig wie K., Kaufmann Block aber war unter den Angeklagten
was vor seiner Zimmertüre vor sich geht, bevor K. und kann K. später aufklären: Diese hatten vielmehr
sie geöffnet hat (P 8), oder erkennen erst mit ihm, zu erkennen gemeint, dass K. »gewiß und bald ver-
dass die schon die ganze Zeit beim Verhör anwesen- urteilt« würde (P 237).
198 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Nur sehr selten gibt es Textpassagen, an denen der distanzieren, sein Verhalten nicht nur als irrig und
Erzähler das personale Erzählen durch einen direk- unangemessen, sondern oft auch als unmoralisch, ja
ten Kommentar durchbricht (in Genettes Termino- skrupellos zu erkennen. Das könnte ein wichtiger
logie wären dies ›Paralepsen‹). Ein Beispiel dafür Ansatz für die Interpretation des Textes sein: Sollen
findet sich etwa am Ende des ersten Kapitels, als Jo- wir so vielleicht den Josef K. in uns entdecken – und
sef K. die drei bei der Verhaftung anwesenden Bank- uns von ihm distanzieren?
beamten dazu auffordert, nicht so auffällig nach ei-
nem eben auf die Straße tretenden Nachbarn zu se-
hen, »ohne zu bemerken, wie auffallend eine solche Forschung
Redeweise gegenüber selbständigen Männern war«
(P 28). Solche (seltenen) Kommentare, in denen sich Die Uneinigkeit der Kafka-Forschung ist längst no-
der Erzähler nicht mit der Rolle eines bloßen ›Re- torisch. Und in der Tat lassen sich auch zum Process
flektors‹ zufriedengibt, erklären sich wohl, ganz die vielfältigsten (und abwegigsten) Deutungen fin-
pragmatisch, aus erzählökonomischen Überlegun- den. In ihrer großen Mehrheit gehören die Interpre-
gen: Kafka wählt hier das einfachere direkte statt des tationen allerdings fünf Hauptrichtungen zu, die im
aufwendigeren indirekten Distanzierungssignals. Folgenden kurz typologisch charakterisiert werden
Beides liegt ja schließlich im Möglichkeitsspektrum sollen.
einer Er-Erzählung. (1) Biographische, psychologische und psychoanaly-
Der Leser, der den direkten wie mittelbaren Kon- tische Deutungen: Im Zentrum steht hier meist der
ditionierungssignalen des Autors folgt, wird schnell bekannte Vaterkonflikt Kafkas, was auch die ›Schuld‹
lernen, K.s Worten wie Gedanken zu misstrauen – Josef K.s als bloßes Schuldgefühl dem übermächti-
und wird dieses Verhalten dann auch auf Textstellen gen Vater gegenüber lesbar macht (wie es autobio-
übertragen, wo keine Markierungen vorliegen. So- graphisch etwa der <Brief an den Vater > beschreibt).
zusagen rückwirkend wird damit auch der berühmte Im Fall des Process lässt sich das noch ergänzen um
erste Satz des Romans in ein neues Licht gestellt: »Je- das Schuldgefühl gegenüber der Verlobten Felice
mand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne Bauer (so etwa Politzer, 1965 [1962]; Canetti, 1969):
daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Mor- Am 12. Juli 1914, also kurz vor Beginn der Nieder-
gens verhaftet« (P 7). Nur der Konjunktiv könnte da- schrift, war die Verlobung im Berliner Hotel »Aska-
rauf hindeuten, dass es sich bei Unschuldserklärung nischer Hof« (ein erstes Mal) gelöst worden, und
und Verleumdungsvermutung nicht um Erzähler- zwar unter Umständen, die Kafka im Tagebuch als
aussagen, sondern um Gedanken Josef K.s handelt. »Gerichtshof im Hotel« bezeichnete (23.7.1914;
Formal ist die Stelle aber ganz eindeutig als Erzähler- T 658).
rede gestaltet. Dass sie dennoch die Perspektive K.s Solch biographische Deutungen sind bei Kafka
ausdrückt, wird der Leser erst erkennen, wenn ihm immer zutreffend – und immer unzureichend. Wie
beim Weiterlesen K.s obstinates Leugnen jeder bei zahlreichen Autoren der Moderne wurzelt Kaf-
Schuld (und dessen Zweifelhaftigkeit) aufgefallen ist kas Schreiben ganz im Existenziellen als Authentizi-
und er bemerkt hat, dass der Erzähler sonst nir- tät wie Geltung verleihendem Wahrheitsgrund. Die-
gendwo Aussagen zu K.s Schuld oder Unschuld ses Persönliche wird jedoch als (anthropologisch wie
macht. Der Anfangsatz ist also ein Beispiel für den historisch) repräsentativ aufgefasst und daher kon-
am schwersten zu durchschauenden Sonderfall per- sequent verallgemeinert.
sonalen Erzählens bei Kafka: die nicht-markierte So mag der Ursprung der Gerichtsmetapher (als
Perspektivierung, die sich formal als ›Ansteckung‹ Inspirationsimpuls) durchaus im genannten Tage-
(Leo Spitzer) der Erzählerrede durch Figurenrede bucheintrag liegen, und die Figurenkonstellation Jo-
beschreiben ließe. sef K. − Fräulein Bürstner − Fräulein Montag dürfte
Kafkas personales Erzählen hat so einen doppel- ihren Ursprung durchaus im Beziehungsdreieck
ten Wirkungsmechanismus: Zum einen werden wir Kafka – Felice Bauer – Grete Bloch gehabt haben.
hineingezogen in Josef K.s Denk- und Erlebens- Offensichtlich bewegt sich der Roman jedoch so weit
weise, sehen die Romanwelt mit seinen Augen und von diesen Inspirationsanlässen weg, wie das litera-
tendieren daher dazu, uns mit ihm zu identifizieren. rische Texte meist zu tun pflegen − weswegen sol-
Zum anderen jedoch sind wir, wenn wir nur genau cher Biographismus in der Literaturwissenschaft
lesen, immer wieder gezwungen, uns von ihm zu längst als obsolet gilt, in der Kafka-Forschung aber
Der Process 199

immer noch fröhliche Urstände feiert (vgl. etwa Bin- zur Gestaltung der verwalteten Welt, der vielfältigen
der 1976; Bridgwater 2003). Einengungen und Bedrohungen, die das Individuum
Psychoanalytische Lektüren erklären, in ihrer heute durch anonyme Mächte erfährt, zur Anklage
dogmatischen Variante, dieses (wie jedes) biographi- des Kapitalismus, zur prophetischen Vorwegnahme
sche Substrat mit ihrem Passepartout des Ödipus- der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts oder, ak-
komplexes − dann ist das Gericht eben eine Vaterin- tueller und à la Foucault, zur Verbildlichung der das
stanz, mit der K. in seinem sexuellen Begehren ver- Begehren unterdrückenden ›Macht‹. Gemeinsam ist
geblich kämpft, und alle Frauenfiguren werden zur all diesen Interpretationen ihre unverbrüchliche So-
Mutter-Imago. Das wird nur der Leser nachvollzie- lidarität mit Josef K., dem unschuldigen Opfer (vgl.
hen können, der die Freudsche Lehre nicht für ein etwa Beicken 1974; Abraham 1985; Lubkoll 1990;
historisches Konstrukt, sondern für schlechterdings Werber 1998).
wahr hält. Auch solche Lektüren haben ihr offensichtliches
Aber natürlich gibt es auch undogmatischere Va- Recht. Natürlich bezieht sich Kafka auf Strukturen
rianten, die an die im Text unübersehbaren Thema- der modernen Welt (Bürokratie, Geschäftswelt) und
tisierungen von Begehren und Macht anknüpfen: natürlich ist Macht ein Grundthema seiner Texte. Zu
Peter-André Alt hat etwa in seiner 2005 erschiene- fragen wäre nur, wo diese Macht für Kafka ihren Ur-
nen Kafka-Monographie vorgeschlagen, die Welt des sprung hat – wirklich in gesellschaftlichen Struktu-
Process als Objektivierung des psychischen Systems ren, die unschuldige (und per se gute) Individuen
und seiner Strukturen zu lesen. Das ist eine höchst unterjochen? – und ob die seltsame Gerichtsinstanz
bedenkenswerte These; nur müsste bei ihrer Anwen- wirklich mimetisch (›Justizsystem‹) oder vielleicht
dung das im Roman entfaltete psychische System doch semiotisch zu lesen ist.
(und damit Kafkas Auffassung von ihm) erst einmal Auch wenn sozialgeschichtliche Literaturwissen-
rekonstruiert werden, wenn man den literarischen schaft heute gründlich aus der Mode gekommen ist
Text und seinen heuristischen Wert wirklich ernst (soweit ihr Grundansatz nicht in den Cultural Stu-
nimmt. Psychoanalytische Interpreten lesen den dies, der Kulturwissenschaft und den an Foucault
Process aber einfach als Illustration vorgegebener orientierten Varianten des Poststrukturalismus über-
psychoanalytischer Theoreme (bei Alt handelt es lebt hat) – in vielen Interpretationen des Process
sich um eine poststrukturalistisch reformulierte Psy- klingt ihre Grundüberzeugung wie ein basso conti-
choanalyse: Freud mit Foucault und einem Schuss nuo noch immer mit: Josef K. ist das schuldlose Op-
Derrida vermischt). Das führt dann zu allegorischen fer anonymer Machtstrukturen.
Lesarten, nach denen beispielsweise die Advokaten (3) Dekonstruktivistische Deutungen: Dieses (die
»den Wächtern« »entsprechen«, »die nach Freud an Kafka-Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten
der Schwelle zum Bewusstsein stehen und die dominierende) Forschungsparadigma hat zwei ein-
Mächte des Unbewussten – als Repräsentanten der fache Leseregeln, die sich auf jeden Text anwenden
Anklagebehörde − zurückzudrängen suchen« (Alt lassen: (a) Literarische Texte handeln immer nur
2005, 404 f.). Auf jeden Fall aber ist für den psycho- vom Schreiben, sind also totaliter selbstbezüglich;
logischen/psychoanalytischen Interpreten klar, dass (b) dabei thematisieren sie immer nur die »diffé-
es im Process nicht um ›Schuld‹ gehen kann, sondern rance«, die Nicht-Präsenz von Sinn und Bedeutung
nur um »Schuldgefühl« und »Strafphantasie« (Alt, − und damit das unabweisliche Scheitern aller Sinn-
392). Mit apodiktischer Gewissheit formuliert etwa stiftungs- bzw. Deutungsakte.
Hans Helmut Hiebel: »Das (in moralischer Hinsicht) Jacques Derrida, der Vater des Dekonstruktivis-
unbegründete Schuldgefühl ist strikt von begründe- mus, hat selbst eine Interpretation der Türhüterle-
ter Schuld zu scheiden« (Hiebel 2008, 459). gende vorgelegt und darin – niemanden wird es
(2) Sozialgeschichtliche Deutungen: Kafkas Werk überraschen – eine Gestaltung des ›Aufschubs‹, also
sozialgeschichtlich zu lesen, heißt, es als (verfremde- eben der ›différance‹ gefunden (Derrida 1992 [1985];
tes) dichterisches Abbild unserer Lebenswelt zu deu- vgl. dazu Kolb 1999). Entsprechend liest etwa Jezior-
ten. Das tun wir alle, wenn wir etwa einen Verwal- kowski den Process als einen Text ȟbers Nichtver-
tungs- oder Behördenakt als ›kafkaesk‹ bezeichnen. stehen von Text […] zur Einübung in die grundsätz-
In einer solchen Lektüre, die die Eigentümlichkeiten liche und prinzipielle Nichtverstehbarkeit von (Le-
der Gerichtswelt als satirisch-kritische Verfremdun- bens-)Schrift« (Jeziorkowski 1994, 215), und Detlef
gen realer Verhältnisse interpretiert, wird der Process Kremer beschreibt den Roman als »eine Schreib-
200 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

form, die beinahe jede inhaltliche Spezifikation mit existenzialistischen Deutungen (z. B. Emrich
dankbar aufnimmt, die aber jede ebenso schnell wie- 1957; Kaiser 1958; Allemann 1963; Sokel 1978) −
der abwirft«, weil sie letztlich nur von »Funktion hier liegt K.s Schuld in seiner seinsvergessenen, an
und Bedeutung der Schrift und ihrer Entzifferung« das ›man‹ verlorenen, ›uneigentlichen‹ Existenz-
handelt (Kremer 1992, 198 u. 190). weise − dominierten solche Interpretationen von der
So problematisch dekonstruktivistische Interpre- Erstpublikation bis in die 1960er Jahre die Lektüre
tationen generell sein mögen (wie die psychoanalyti- Kafkas im Allgemeinen wie die des Process im Be-
schen sind sie radikal ahistorisch und in der Anwen- sonderen. Gerade das aber macht sie für historisch
dung ihres interpretatorischen Passepartouts gleich- orientierte Interpreten interessant: Sie sind, schon
gültig gegenüber jeder Textspezifität) − bei Kafka rein zeitlich gesehen, einfach ›näher‹ am Text bzw.
haben sie ein offensichtliches fundamentum in re an der Selbstdeutung Kafkas, der seine historische
(bzw. in textu), wie besonders das auf die Türhüterle- Repräsentanz gerade in seinem säkularisierten
gende folgende Deutungsgespräch belegt (P 295– ›Westjudentum‹ sah (vgl. An M. Jesenská, Nov. 1920;
303; Kafka nannte es eine »Exegese«; T 707). Der BM 294). Zudem nehmen nur religiöse und existen-
Glaube, dass Literatur immer nur von Literatur zialistische Interpreten die (mindestens im »Dom«-
(›Schrift‹) oder vom Deuten handle, klingt allerdings Kapitel offensichtliche) religiöse Metaphorik des
verdächtig nach einer déformation professionnelle Textes ernst – und nur sie halten K. für schuldig.
von Literaturwissenschaftlern; sollten sich solche Allerdings haben religiöse Interpretationen à la
Deutungen durchsetzen, würde sich das allgemeine Brod auch mindestens zwei unübersehbare Schwä-
Leserinteresse an Kafka wohl bald drastisch reduzie- chen: Zum einen war Kafka sowohl vom immer
ren. Außerdem wäre zu fragen, welche Art von Deu- noch gläubigen Ostjudentum wie auch vom neuen,
tungsakten im Process an welchen Deutungsobjekten zionistischen Versuch einer jüdischen Identitätsfin-
scheitert – nur so ließe sich überprüfen, ob Josef K.s dung zwar ganz offensichtlich fasziniert − wurde da-
hermeneutisches Scheitern auch das des Lesers sein durch aber selbst weder zum gläubigen Juden noch
muss (ä 415–417). Im Falle des Deutungsgespräches zum Zionisten. Zum anderen erscheint die Gerichts-
etwa ist das sicher nicht der Fall, da sich hier K.s welt im Roman als viel zu schäbig und korrupt, um
Nicht-Verstehen eindeutig aus seiner ganz persönli- einfach als Offenbarung des ›Göttlichen‹ aufgefasst
chen ›hermeneutischen‹ Prädisposition erklären zu werden.
lässt (ä 203). (5) Jüdische Deutungen: Interpreten dieser Rich-
Natürlich gibt es auch bei dekonstruktivistischen tung versuchen, zum einen, den Process als literari-
Interpretationen undogmatischere (und eklekti- sche Umsetzung jüdischen (Glaubens-)Wissens zu
schere) Varianten. So sucht etwa Oliver Jahraus im lesen. So verweist etwa Ulf Abraham, durchaus plau-
Process-Kapitel seiner Kafka-Monographie nach ei- sibel, auf eine Midrasch-Legende als mögliche »Vor-
nem Mittelweg zwischen den Extremen einer rein lage« zur Türhüter-Erzählung (Abraham 1983); Karl
inhaltlichen und denen einer rein dekonstruktivisti- Erich Grözinger findet im Process (mit deutlich ge-
schen Lektüre (Jahraus 2006, 299). Allerdings ist ringerer Evidenz) eine Überfülle ›jüdischer‹ Subtexte
schwer einzusehen, wie sich seine höchst diskutable, und legt auf dieser Basis eine recht konventionell re-
schon aus existenzialistischen Deutungen (s.u.) be- ligiöse, nur eben nun jüdisch akzentuierte Interpre-
kannte These, Josef K.s Schuld bestehe »gerade da- tation des Romans vor (Grözinger 2003 [1992]).
rin, an seine Unschuld zu glauben und seinen Pro- Immerhin wird in diesen Deutungen die heute an-
zess nur um des Freispruchs willen zu führen« (301), sonsten geradezu tabuisierte religiöse Dimension des
vermitteln lässt mit seiner Deutung des Gerichts als Textes – und damit Kafkas jüdischer Kultur- und
»sozialer Machtapparat« (296) und seiner von Lacan Denkhintergrund – noch ernst genommen. Proble-
inspirierten Herleitung der Macht aus triadischen matisch ist jedoch die Einseitigkeit solcher Lektüren:
Personenkonstellationen, die wiederum auf ver- Parallelen zu jüdischem Wissen werden betont (mit-
wehrtem sexuellem Begehren beruhen. unter überbetont) – die erheblichen Differenzen blei-
(4) Religiöse und existenzialistische Deutungen: Re- ben unerörtert. Eine wesentlich differenziertere ›jüdi-
ligiöse Deutungen des Process wurden vor allem von sche‹ Deutung bietet Ritchie Robertson; hier werden
Max Brod inauguriert, der im Gericht eine Erschei- jüdische Bezüge mit den verschiedensten anderen
nungsform der »richtenden Gottheit« sah (Brod Kontexten in einer ausgewogenen Interpretation ver-
1973 [1926], 41; z. B. R. Sutner 1976). Zusammen mittelt (Robertson 1988; vgl. auch 1993 u. 1994).
Der Process 201

Die andere Hauptrichtung jüdischer Interpreta- Hybride zwischen ›Gesetz‹ und Alltagswelt, in der
tion konzentriert sich auf die Säkularisierungspro- sich ›Anderes‹ und Wohlvertrautes auf eigentümli-
blematik im Allgemeinen (z. B. Zimmermann 1992a) che Weise verbinden. Anders sind sie, weil mit ihnen
und die Assimilationsproblematik im Besonderen. in K.s Leben ein absoluter Maßstab, ein (Selbst?-)
Bernd Neumann etwa sieht (in einer freilich extre- Rechtfertigungsappell tritt, der in seiner Radikalität
men Variante jüdischer Kafka-Deutung) den assimi- über alle bloß gesetzlichen oder moralischen Verhal-
lierten Juden (??) Josef K. dem sich formierenden tensregeln weit hinausreicht. Wohlvertraut ist die
Nationalsozialismus unterliegen, der beginnt den Gerichtswelt der unteren Instanzen dagegen, weil sie
kakanischen Rechtsstaat zu unterhöhlen (B. Neu- in ihren Grundzügen nichts anderes zu sein scheint
mann 2007). als das zur Kenntlichkeit entstellte Zerrbild unserer
Lebenswelt.
Diese Dreiteilung der Romanwelt ermöglicht es
Deutungsaspekte uns, das Gericht als ethische Instanz ernst zu neh-
men, die mit einem so absoluten Maßstab urteilt, wie
Wirklichkeitsebenen des Romans
wir ihn allenfalls aus religiös geprägten Gesellschaf-
und Prozess/Gerichts-Metapher ten kennen. Denn die unteren Instanzen, die wir al-
Im Kapitel »Textbeschreibung« wurde die Roman- lein kennenlernen, sind schäbig, armselig und
welt des Process, wie in der Forschung üblich, als schmutzig (z. B. P 88, 93, 103), ihre Vertreter erschei-
Doppelwirklichkeit aus Privat-/Geschäfts- und Ge- nen als eitel und prätentiös (z. B. P 142, 196) und
richtswelt beschrieben. Liest man genauer, wird man agieren in rigiden Hierarchie- und Machtstrukturen.
aber von drei Wirklichkeitsbereichen sprechen müs- Selbst wenn K.s Behauptung, das Gericht bestehe
sen. Über den unteren Gerichtsinstanzen, die wir al- »fast nur aus Frauenjägern« (P 290), überspitzt sein
lein kennenlernen, steht noch ein ›oberstes‹ ›hohes‹ mag, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass
Gericht, das wegen seines ganz andersartigen ontolo- sexuelles Begehren sich hier ebenso häufig wie offen
gischen Status als eigener, dritter Raum gelten muss. manifestiert. All diese Verhaltensweisen kennen wir
K. erinnert sich an diese Instanz kurz vor seinem auch aus K.s Lebenswelt, nur dass sie dort unter
Tode: »Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie Konventionen und Höflichkeitsformeln versteckt
gekommen war?« (P 312). Titorelli weiß zu berich- bleiben. Man vergleiche etwa den subtilen Macht-
ten, dass nur dieses »oberste, für Sie, für mich und kampf zwischen K. und dem Direktor-Stellvertreter
für uns alle ganz unerreichbare Gericht« »das Recht mit der brutalen Demütigung des Kaufmanns Block
endgiltig freizusprechen [hat]. Wie es dort aussieht durch den Advokaten – oder das erotische Geplän-
wissen wir nicht und wollen wir nebenbei gesagt kel zwischen K. und Fräulein Bürstner, das in einem
auch nicht wissen« (P 213) – vermutlich, weil dort leidenschaftlichen Kuss gipfelt (P 39–48), mit dem
›Helfer‹ und ›Vermittler‹ wie er keinen Einfluss ha- Verhalten des Untersuchungsrichters, der sich die
ben. Auch Advokaten sind hier nicht mehr zuge- begehrte Frau gewaltsam ins Bett holen lässt (P 85 f.,
lassen (P 162 f.; nach einem von Kaufmann Block 89 f.). Ähnlich kategorial geschieden sind der Ag-
überlieferten Gerücht gibt es aber auch »große Ad- gressionsakt, in dem K. einem Untergebenen einen
vokaten«, die allerdings wiederum unerreichbar Brief aus der Hand nimmt und zerreißt (P 354 f.) –
bleiben, P 242–244). dabei »das allerdings [unterlässt] was er am liebsten
Diese Unerreichbarkeit teilt das hohe Gericht mit getan hätte«, nämlich »Kullych zwei laute Schläge
dem ›Gesetz‹. Beide sind das ganz ›Andere‹ zu unse- auf seine bleichen runden Wangen zu geben« (P 355)
rer Lebenswelt − und damit radikal unzugänglich – und die brutale Gewalt und der offene Sadismus
und unverstehbar. In der Terminologie traditioneller der Prüglerszene.
Metaphysik wären sie das ›Absolute‹ genannt wor- Einerseits ist das Gericht also ein Gegenentwurf
den; Kafka wird in den rund drei Jahre später in zur Alltagswelt − so radikal anders, dass er nicht nur
Zürau entstandenen Aphorismen dafür stark Meta- ihren Denkkategorien größten Widerstand leistet,
physik-lastige Begriffe wie »die geistige Welt« oder sondern sich in ihr nicht einmal in Reinform mani-
»das Unzerstörbare [in uns]« verwenden (vgl. NSF festieren kann (also eben als ›Gesetz‹ oder ›hohes
II, 31, 59; 55, 58, 65, 66). Gericht‹). Zugleich fungiert es jedoch, in seinen un-
Dagegen sind die unteren Gerichtsinstanzen, die teren Instanzen, als eine Art Zerrspiegel der Lebens-
wir im Roman allein kennenlernen, eine Art von welt, der diese in zur Kenntlichkeit entstellter Form
202 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

reflektiert, in ihr Macht-, Gewalt- und Triebstruktu- und ›böse‹ definiert wurde, lässt dieses Verhalten al-
ren bloßlegt, die sonst unauffällig blieben. Über den lerdings in einem ganz anderen Licht erscheinen −
metaphysischen oder quasi-metaphysischen Status ebenso wie die rücksichtslose Instrumentalisierung
des ›Gesetzes‹ lässt sich nur spekulieren, seine Funk- von Menschen als Mittel zum Zweck (in der der
tion in Bezug auf die Alltagswelt ist jedoch präzise Landvermesser K. aus dem Schloss seinen Vorgänger
beschreibbar. Daher sollte eine Interpretation von noch weit übertreffen wird). Und die kategorische
dieser Funktion ausgehen. Das aber heißt, nach dem Abwehr jedes Nachdenkens über ›Schuld‹ erscheint
›Angeklagten‹ Josef K. zu fragen, der der offensicht- im Horizont der Ethik bereits als implizites Schuld-
liche Repräsentant der Alltagswelt und daher auch bekenntnis.
das prädestinierte Objekt zur Manifestation der Ein- Obwohl K. den Gedanken an Schuld stets zu ver-
wirkungen des ›Gesetzes‹ ist. drängen sucht, gerät er in seinem neuen Leben im-
mer wieder in Situationen, in denen er sich ethi-
Josef K. schen Überlegungen nicht entziehen kann: etwa
wenn er selbst zum Objekt ›unethischen‹ Verhaltens
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Josef K. wird (so in seiner vielfältig moralisch argumentie-
kaum als ausdifferenziertes Individuum gelten darf. renden Verteidigungsrede beim ersten Verhör; P 64–
Er ist ein Typus, der Repräsentant einer Mentalität, 70) oder dies an Personen erlebt, mit denen er sich
die für Kafka die der säkularisierten Moderne ist. identifizieren kann (wie etwa bei der Demütigung
Deren Oberfläche ist bestimmt durch sozial ange- Blocks durch den Advokaten; P 259–269). Die Prüg-
passtes Agieren in etablierten Rollen und Konven- lerszene, in der K. mit nackter Gewalt und elementa-
tionen, das geleitet wird von Aufstiegsstreben, Durch- rem physischen Leiden konfrontiert wird, führt so-
setzungsstärke, Selbstkontrolle und (instrumenteller) gar dazu, dass er, zum ersten und einzigen Mal im
Rationalität. Die Problematik dieser Verhaltenswei- Roman, ein radikal ethisches Verhalten zumindest
sen, ihre Defizite wie ihre Motivationen, werden erst erwägt: eine »Aufopferung«, in der er sich »selbst
deutlich, wenn sie in das verfremdende Licht der an- ausgezogen und dem Prügler als Ersatz für die Wäch-
dersartigen Gerichts-Welt rücken. Betrachten wir ter angeboten« hätte (P 115). Natürlich weist K. die-
etwa die folgende Reflexion K.s, die ein wichtiger sen Gedanken – wie auch jede Schuld (»es war nicht
Schlüssel zum Verständnis des Romans ist: seine Schuld«, P 114) − auch hier weit von sich. Si-
Er hatte es verstanden, sich in der Bank in verhältnismä- gnifikant ist jedoch, dass er dergleichen nun über-
ßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbei- haupt denken kann.
ten und sich von allen anerkannt in dieser Stellung zu er- Im Raum des Gerichtes wird K. jedoch nicht nur
halten, er mußte jetzt nur diese Fähigkeiten, die ihm das mit der Schuldfrage konfrontiert; hier werden auch
ermöglicht hatten, ein wenig dem Proceß zuwenden und
andere Defizite und Leerstellen in seinem Leben ma-
es war kein Zweifel, daß es gut ausgehn mußte. Vor allem
war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig je- nifest, die ihm verborgen blieben, solange »die Ge-
den Gedanken an eine mögliche Schuld von vornherein danken an die Bank […] ihn […] ganz […] erfüll-
abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Proceß war nichts ten« (P 338): die emotionale Leere und soziale Be-
anderes, als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit zugslosigkeit seiner Existenz und das Ausblenden
Vorteil für die Bank abgeschlossen hatte, ein Geschäft,
innerhalb dessen, wie dies die Regel war, verschiedene ›geistiger‹ Welten wie der der Kunst (P 272) oder der
Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden mußten. Religion.
Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Ge- Für K.s Säkularisierung hat Kafka im »Dom«-Ka-
danken an irgendeine Schuld spielen, sondern den Ge- pitel evidente Bilder gefunden: K. plant eine kunst-
danken an den eigenen Vorteil möglichst festhalten
historische Besichtigung der Kirche. Deswegen hat
(P 167 f.).
er sich mit einem »Album der städtischen Sehens-
Dass jemand im Geschäftsleben sachlogisch und würdigkeiten« ausgerüstet – das er erschrocken weg-
zielorientiert agiert, ist uns nicht nur vertraut, son- wirft, als der Geistliche ihn fragt, ob es sich um ein
dern gilt uns auch als (mehr oder weniger) akzepta- »Gebetbuch« handle; »Laß das Nebensächliche«,
bel, zumindest wenn wir die Ausdifferenzierung der hatte er K. zuvor aufgefordert (P 288). Ebenso emb-
Moderne in unterschiedliche Teilsysteme mit je ei- lematisch für den Traditionsbruch der modernen
genen Wertlogiken verinnerlicht haben. Die Trans- Kultur ist der Kontrast zwischen dem »ewigen Licht«
ferierung in einen Raum, der schon im ersten Satz in der Kirche, das K.s kunsthistorische Betrachtung
des Romans als der einer Entscheidung über ›gut‹ des Altarbildes stört, und der »elektrischen Taschen-
Der Process 203

lampe«, derer er sich bedient (P 280 f.). Dass K. sich sondern ebenso eine Sehnsucht nach menschlicher
im Dom geradezu reflexhaft »bekreuzigt« (P 284) Nähe und »Fürsorge«, die K. jetzt »bezaubert«, wäh-
belegt übrigens, dass er christlich erzogen wurde. rend er sie früher »eher abgelehnt als hervorgelockt
K.s Konfrontation mit der Gerichtswelt legt hatte« (P 335). Durchaus selbst darüber verblüfft,
schließlich auch die unbewussten Triebregungen muss er sich Leni gegenüber eingestehen: »Nun ja,
bloß, die den vermeintlich rationalen und sachlogi- ich habe sie lieb« (P 246).
schen Oberflächen seiner Lebenswelt zugrunde lie- Wenn die Oberflächlichkeit von K.s Existenz auf-
gen. Das betrifft, erstens, die Hierarchie- und Macht- gebrochen wird, treten also nicht nur Machtwille
strukturen, die eben nicht einfach objektive Struktu- und (ebenfalls stark Macht-affines) Begehren her-
ren sind, sondern Produkte eines durchaus vor. Zu Kafkas (von Freud klar geschiedener) Tiefen-
triebhaften Machtstrebens der Subjekte, eines ›Wil- psychologie der modernen Identität gehört ebenso
lens zur Macht‹, in dem sich eine elementare vitale die Annahme eines verdrängten Strebens nach dem
›Kraft‹ manifestiert, über die K. in seinen besten – ›Gesetz‹, also so etwas wie ein Gewissen, ein elemen-
oder schlimmsten − Zeiten auch verfügte und die tar ethisches Streben (das für Freud nur im kulturell
nun an den Direktor-Stellvertreter übergangen ist induzierten ›Über-Ich‹ gründet). Das wird in der
(P 187). Bezeichnenderweise erscheint der humane Haupthandlung des Romans erst evident, wenn man
und mitfühlende Direktor dagegen als krank und Kafkas (oben beschriebene) Verschränkung von In-
»leidend« (z. B. P 276). nen- und Außenwelt ernst nimmt. In dieser Roman-
Macht ist bei Kafka das Resultat von Macht-Kämp- welt gibt es nichts einfach nur Äußeres – dann kann
fen, in denen sich der vital Stärkere durchsetzt − aber auch die Verhaftung keine bloße Fremdeinwir-
praktisch alle Gesprächsszenen des Romans und alle kung externer Mächte sein. Darauf weisen Gerichts-
sozialen Interaktionen demonstrieren dieses Macht- personen K. wiederholt hin – so etwa der Gefängnis-
streben, den Kampf um die ›Plus-Situation‹ (Alfred geistliche: »Das Gericht will nichts von Dir. Es
Adler), die Position der »Überlegenheit« (z. B. P 16), nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entläßt
die es ermöglicht, mit dem Anderen zu »spielen« Dich wenn Du gehst« (P 304). Selbst auf der Hand-
(z. B. P 26, 347). Je mehr K. seine Selbstkontrolle ver- lungsebene ruft K. ja durch sein »Läuten« den Wäch-
liert, desto deutlicher wird die nackte und brutale ter erst herbei (P 7) – in eben dem Zustand Schlaf-
Aggression bloßgelegt, die hinter diesem Machtwil- naher mangelnder Geistesgegenwart, in dem seine
len steckt. So reflektiert K. etwa im Sitzungssaal: rationalen Verdrängungen und Ausgrenzungen
»Wenn er zuhause bliebe und sein gewohntes Leben (noch) nicht funktionieren. Unmittelbar thematisch
führen würde, war er jedem dieser Leute tausend- wird das Begehren nach dem Gesetz in der Türhü-
fach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt terlegende.
von seinem Wege räumen« (P 86). In solchen im Ro-
man immer wieder aufblitzenden Gewaltphantasien Die Türhüterlegende
zeigt sich, wie dünn die Decke der Kultur ist.
Offensichtliches Pendant des vitalen Machtstre- Eigentlich ist diese viel umrätselte Geschichte (Kafka
bens ist, zweitens, ein ebenso aggressives sexuelles nannte sie eine »Legende«; T 707) im Kontext des
Begehren. Vor seinem Prozess hatte K. sein Trieble- Romans eine geradezu schulgerechte Parabel mit ei-
ben genauso rational organisiert wie den Rest seiner ner evidenten Moral. Der Geistliche erzählt sie K.,
Existenz − wöchentliche Besuche bei der Kellnerin weil dieser sich über das Wesen des Gerichtes
Elsa, mit der ihn keine emotionale Beziehung ver- »täuscht« (P 292) − und K. beweist die Berechtigung
bindet, genügten zur Triebabfuhr. Mit der Locke- dieses Vorwurfs sofort dadurch, dass er im Deu-
rung seiner Fixierung auf die Bankwelt steigt jedoch tungsgespräch das Gericht hartnäckig als eine ›täu-
auch die Intensität seines sexuellen Begehrens − etwa schende‹ Instanz begreift (P 295), die den Angeklag-
in der jähen Faszination durch die Frau des Gerichts- ten feindselig und aggressiv entgegentrete und sie
dieners, die ihn imaginieren lässt, dass »dieser üp- verfolge und jage. Der »Mann vom Lande« dagegen
pige gelenkige warme Körper im dunklen Kleid aus sucht das ›Gesetz‹ aus eigenem Antrieb auf.
grobem schweren Stoff durchaus nur [ihm] gehörte« Diese sozusagen ›äußerliche‹ Botschaft – ›Täusche
(P 83). Dich nicht im Wesen des Gerichts!‹ – lässt freilich
Es ist jedoch nicht nur sexuelles Begehren, das das zentrale Rätsel der Geschichte ungelöst, das in
sich nun machtvoll aus seiner Verdrängung befreit, einem Paradoxon besteht: Dem zum Gesetz streben-
204 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

den »Mann vom Lande« wird der Eintritt verwehrt, und Selbstbehauptungsstrategien eine Selbstmani-
obwohl der Türhüter dem Sterbenden schließlich er- festation des Gesetzes als »Licht«.
klärt: »Dieser Eingang war nur für Dich bestimmt« Auch K.s beglückender Halbtraum im Fragment
(P 294 f.). Naheliegenderweise haben viele Interpre- »Das Haus« ist wohl eine Todesvision; hier die be-
ten versucht, dieses Paradoxon aufzulösen. Das Ver- zeichnenderweise gestrichene (und von der neueren
halten des »Mannes vom Lande« stellt offensichtlich Forschung hartnäckig ignorierte) Passage, der der
keine gültige Auflösung dar: Er verwartet sinnlos Text Ein Traum aus dem Landarzt (der zwar nicht
sein Leben – und beschränkt seine Aktivitäten auf zum Process-Manuskript gehört, aber ein Paralipo-
vergebliche Versuche, den Türhüter zu beeinflussen. menon im weiteren Sinne ist) an die Seite zu stellen
Für ihn wie für K. (und viel mehr noch für Kauf- wäre:
mann Block) gilt somit der Vorwurf des Geistlichen: Gleich waren sie [Josef K. und Titorelli] im Gerichtsge-
»Du suchst zuviel fremde Hilfe« (P 289). bäude und eilten über die Treppen, aber nicht nur auf-
Welche anderen Optionen hätte es jedoch gege- wärts, sondern auf und ab ohne jeden Aufwand von
ben? Natürlich hätte der Mann einfach weggehen Mühe leicht wie ein leichtes Boot im Wasser. Und gerade
als K. […] seine Füße beobachtete und […] zu dem
können. Übertragen auf Josef K. hieße das: ein Le-
Schlusse kam, dass diese schöne Art der Bewegung sei-
ben zu führen, wie vor dem Prozess − was zwar eine nem bisherigen niedrigen Leben nicht mehr angehören
mögliche, aber kaum eine gültige Lösung sein dürfte. könne, gerade jetzt über seinem gesenkten Kopf erfolgte
Die andere Option wäre gewesen, sich um die War- die Verwandlung. Das Licht, das bisher von rückwärts
nungen des Türhüters nicht zu scheren und einfach eingefallen war wechselte und strömte blendend von
vorn. […] Wieder war K. auf dem Korridor des Gericht-
durch das Tor zu gehen (was vor allem autoritätskri- gebäudes, aber alles war ruhiger und einfacher, es gab
tische Interpreten gerne empfehlen). Hier gilt aber keine auffallenden Einzelheiten, K. umfasste alles mit ei-
wohl die simple Alltagsmaxime: Wer kann, der tut. nem Blick, machte sich von T. los und gieng seines We-
Der Mann vom Lande konnte offensichtlich nicht – ges. K. [trug?] heute ein neues langes […] Kleid, […] es
war wohltuend warm und schwer. Er wusste, was mit
und da er ein parabolischer Held ist, also eine Figur
ihm geschehen war, aber er war so […] glücklich darü-
von großer Allgemeingeltung, gibt es keinen ver- ber, dass er es sich noch nicht eingestehen wollte. In dem
nünftigen Grund anzunehmen, dass eine solche Tat Winkel des Korridors, an dessen einer Wand grosse
Menschen-möglich wäre (vgl. auch ein erst 1920 ent- Fenster geöffnet waren, fand er auf einem Haufen seine
standenes ›Paralipomenon‹, das zeigt, wie fruchtlos frühern Kleider, das schwarze Jakett, die scharf gestreif-
ten Hosen […] und darüber das Hemd mit zittrigen Är-
ein »Überlaufen« des »ersten Wärters« gewesen meln ausgestreckt (P:A, 346 f.).
wäre; NSF II, 343).
Man hat zu Recht darauf verwiesen, dass ein spä- Das ist ein ›Tod‹, der nicht in ein Jenseits führt, wohl
terer Aphorismus Kafkas sich wie eine direkte Ant- aber zu einem neuen, anderen Leben. Sterben müsste
wort auf das Türhüter-Paradoxon liest: »Theoretisch dafür das alte Ich – das aber ist offensichtlich nur
gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An schwer zu erreichen. Wie auch immer jedoch die Lö-
das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm sung, falls es denn eine geben sollte, aussehen mag –
streben« (NSF II, 128; in der ersten Niederschrift ist es wird eine individuelle sein, eine, die das Indivi-
das Wort »nicht« unterstrichen; NSF II, 65). Das ist duum für sich selbst finden muss: Jeder hat sein ei-
freilich nur eine »theoretische« Möglichkeit, die zu- genes Tor zum Gesetz.
dem das Paradoxon nicht auflöst, sondern nur ein
Ausgaben: ED: Der Prozeß [auf Titelblatt: Der Prozess].
ihm adäquat paradoxes Verhalten empfiehlt. Diese
Hg. von Max Brod. Berlin: Die Schmiede 1925 (Die Ro-
wäre ein Mittelweg zwischen der Lösung, die K. kurz
mane des XX. Jahrhunderts); Nachdruck in der »Biblio-
vor Romanschluss erwägt – »Die Logik [der Schuld?] thek der Erstausgaben«: Hg. v. Joseph Kiermeier-Debre.
ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen der München 1997 (dtv 2644); Faksimile der Erstausgabe:
leben will, widersteht sie nicht« (P 312) – und dem F.K.: Der Prozess. Hg. u. mit Nachwort v. Roland Reuß.
Tod, dessen Nahen den »Mann vom Lande« »den Supplementbd. zur Historisch-Kritischen F.K.-Ausgabe.
Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes Frankfurt/M. 2008. – P/GS (1935) [erstmals mit frag-
bricht«, gerade wegen seines »schwach« gewordenen mentarischen Kapiteln]. – P/GW (1950) [um ein weite-
»Augenlichtes« erkennen lässt (P 294). Dass wir mit res Fragment erweitert]. – P/KA (1990). – P/FKA
dem Tod ins ›Gesetz‹ eingehen, ist in Kafkas Welt (1997).
nirgendwo garantiert; wohl aber ermöglicht das Ster- Adaptionen: Dramatisierungen: André Gide/Jean-Louis
ben als Los-Lassen aller gewohnten Denkkategorien Barrault: Le Procès. Pièce tirée du roman de K. Urauf-
Der Process 205

führung Paris 1947. – Jan Grossman: F.K.: Der Prozeß. in the German Novel. Oxford 2007, 133–150. – Hans
Dt. v. L. Taubová. Frankfurt/M. 1970; Uraufführung Elema: Zur Struktur von K.s Prozeß. In: Sprachkunst 8
Prag 1966. – Peter Weiss: Der Prozeß. Stück in zwei Ak- (1977), 301–322. – Theo Elm: Der Prozeß. In: KHb
ten nach dem gleichnamigen Roman von F.K. In: Spec- (1979) II, 420–441. – W. Emrich (1970 [1957]), 259–
taculum 24 (1976), 237–303; Uraufführung Bremen 297. – Manfred Engel: Traumnotat, literarischer Traum
1975. –– Alexander Honold: Der Schau-Prozeß. K.s Ro- und traumhaftes Schreiben bei F.K. Ein Beitrag zur
man und seine dramatische Bearbeitung durch Peter Oneiropoetik der Moderne. In: Bernard Dieterle (Hg.),
Weiss. In: Praxis Deutsch 20 (1993) 120, 56–60. – Paul Träumungen. Traumerzählungen in Literatur und Film.
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lippi: »K. lebte doch in einem Rechtsstaat«. F.K.s Der (1994; s. u.), 90–103. – Els Andringa: Wandel der Inter-
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In der Strafkolonie 207

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veticum 19 (1994), 19–44. – Hartmut Binder: Vor dem
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Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien in der
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2. Aufl. Göttingen 2005. – Jürgen Born: K.s Türhüterle- Urlaub, »um den Roman [den Process] vorwärtszu-
gende. In: Mosaic 3 (1970), 153–162. – Ders.: K.s Tür-
treiben«. Das misslingt, und er notiert am 7. Okto-
hüterlegende. Versuch einer positiven Deutung. In:
ber: »Ich habe wenig und schwächlich geschrieben«.
Lamberechts/de Vos (1986), 170–181; wieder in: J. Born
Nach einer Verlängerung des Urlaubs um eine wei-
(1993), 155–173. – Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem
tere Woche sieht das Resümee am 15. Oktober je-
Gesetz. Hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Detlef Otto u.
Axel Witte. Wien 1992 [aus: J.D.: La faculté de juger. Pa- doch schon anders aus: »14 Tage, gute Arbeit zum
ris 1985]. – Ulrich Gaier: Vor dem Gesetz. Überlegun- Teil, vollständiges Begreifen meiner Lage« (T 678).
gen zur Exegese einer »einfachen Geschichte«. In: In dieser Urlaubszeit entsteht, in der Wohnung der
Ders./Werner Volke (Hg.): Fs. für Friedrich Beißner. Schwester Elli in der Nerudagasse 48, neben dem
Bebenhausen 1974, 103–120. – Karl Erich Grözinger: Fragment bleibenden Oklahama-Kapitel des Ver-
K. und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken schollenen, auch die Erzählung In der Strafkolonie, zu
von F.K. Frankfurt/M. 1992; erweiterte Neuausgabe: der Kafka von Anfang an eine ambivalente Haltung
Berlin, Wien 2003, bes. 53–72. – Aage Hansen-Löve: einnimmt. Am 2. Dezember 1914 liest er Franz Wer-
Vor dem Gesetz. In: M. Müller (1994), 146–157. – Inge- fel, Max Brod und Otto Pick den Text vor und no-
borg Henel: Die Türhüterlegende und ihre Bedeutung tiert anschließend im Tagebuch: »Nachmittag bei
für K.s Prozeß. In: DVjs 37 (1963), 50–70. – Roger Jan- Werfel mit Max und Pick. ›In der Strafkolonie‹ vor-
sen: Gesetz, Text und Literatur. Derridas K.-Lektüre. In: gelesen, nicht ganz unzufrieden, bis auf die über-
Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (1993), 624–636. – deutlichen unverwischbaren Fehler« (T 703).
Rolf-Peter Janz: F.K., Vor dem Gesetz und Jacques Der- Im Oktober 1915 schlug Kafka dem Verlag Kurt
rida, Préjugés. In: JDSG 37 (1993), 328–340. – Georg Wolff einen Band mit dem Titel Strafen vor, der die
Kolb: Erzählung und Gesetz. K.s Türhütergeschichte auf Erzählungen Das Urteil, Die Verwandlung und In der
Derridas Auslegungstheater. In: DVjs 73 (1999), 352– Strafkolonie enthalten sollte. Im Juli 1916 kommt er
384. – Gerhard Kurz: Meinungen zur Schrift. Zur Exe-
auf diesen Vorschlag erneut zurück. Da der Verlag
gese der Legende Vor dem Gesetz im Roman Der Pro-
das Projekt jedoch nicht für ein »verkäufliches Buch«
zeß. In: Grözinger/Mosès/Zimmermann (1987), 209–
hält (An G.H. Meyer, 10.8.1916; B14–17 198), dringt
223. – David Roberts: The Law of the Text of the Law.
Kafka auf eine Einzelpublikation sowohl für das Ur-
Derrida Before K. In: DVjs 69 (1995), 344–367. – Fried-
rich Schmidt: Text und Interpretation. Zur Deutungs- teil wie für die Strafkolonie innerhalb der Verlags-
problematik bei F.K. – dargestellt in einer kritischen reihe Der jüngste Tag. Er möchte nun, jedenfalls
Analyse der Türhüterlegende. Würzburg 2007. – Man- nicht ohne die vermittelnde Verwandlung, das hoch-
fred Voigts: Von Türhütern und von Männern vom geschätzte Urteil und die weniger geschätzte Strafko-
Lande. Traditionen und Quellen zu K.s Vor dem Gesetz. lonie nicht zusammen sehen:
In: Neue deutsche Hefte 36 (1989/90), 590–604. – Ders. Hinzufügen möchte ich nur, daß »Urteil« und »Strafko-
(Hg.): F.K. Vor dem Gesetz. Aufsätze und Materialien. lonie« nach meinem Gefühl eine abscheuliche Verbin-
Würzburg 1994. –– Eine umfassende Bibliographie zu dung ergeben würden; »Verwandlung« könnte immer-
Vor dem Gesetz findet sich in: Elmar Locher/Isolde hin zwischen ihnen vermitteln; ohne sie aber hieße es
Schillermüller (Hg.): F.K. Ein Landarzt. Interpretatio- wirklich zwei fremde Köpfe mit Gewalt gegen einander
schlagen (An K. Wolff Verlag, 19.8.1916; B14–17 207).
nen. Innsbruck 2004, 301–303; vgl. auch ä 458–460 u.
465 f. Im selben Brief erwägt Kafka eine Publikation der
Manfred Engel Strafkolonie in den Weißen Blättern (wo Die Ver-
wandlung erschienen war); auch diese Option zer-
schlägt sich. Kurt Wolff schätzt den Text, hat aber
gewisse Bedenken wegen des ›Peinlichen‹ der Erzäh-
lung – und bringt damit eine Vokabel ins Spiel, die
im Deutschen in vollkommener Zweideutigkeit die
beiden Bedeutungsdimensionen von ›Schmerz‹ und
208 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

›Scham‹ zugleich anspricht. Kafka antwortet am Kafka bittet Wolff, die Geschichte »wenigstens vor-
11. Oktober 1916: läufig nicht herauszugeben« (4.9.1917; B14–17 312).
Ihre freundlichen Worte über mein Manuskript sind mir Ein Jahr später – im Oktober 1918 – fragt Wolff dann
sehr angenehm eingegangen. Ihr Aussetzen des Peinli- nochmals an:
chen trifft ganz mit meiner Meinung zusammen, die ich
allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was Ich möchte Ihnen […] gern vorschlagen, daß wir diese
bisher von mir vorliegt. […] Zur Erklärung dieser letz- Dichtung, die ich ganz außerordentlich liebe, wenn sich
ten Erzählung füge ich nur hinzu, daß nicht nur sie pein- meine Liebe auch mit einem gewissen Grauen und Ent-
lich ist, daß vielmehr unsere allgemeine und meine be- setzen über die schreckhafte Intensität des furchtbaren
sondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und Stoffes mischt, jetzt im Rahmen einer kleinen Gruppe
meine besondere sogar noch länger peinlich als die all- neuer Dichtungen, die als ›Drugulin-Drucke‹ erschei-
gemeine (B14–17 253). nen sollen, herausgeben (DzL:A 276).

Am 10. November 1916 las Kafka In der Strafkolonie Kafka gibt nun seinen Widerstand auf. »Hinsichtlich
im Rahmen der Vortragsreihe »Abende für neue Li- der Veröffentlichung der ›Strafkolonie‹«, schreibt er
teratur« in der Galerie Goltz in München vor. Für am 11. November 1918 an seinen Verleger, »bin ich
diese einzige Lesung, die Kafka jemals außerhalb mit allem gerne einverstanden, was Sie beabsichti-
Prags abhielt, musste er kriegsbedingt eigens einen gen. Das Manuscript habe ich bekommen, ein klei-
Pass beantragen und seinen Text der bayerischen nes Stück herausgenommen und schicke es heute
Zensur vorlegen. Der Titel Tropische Münchhausi- wieder an den Verlag zurück« (Briefe 245).
ade, unter dem er In der Strafkolonie in München Nach dem Impressum wurde In der Strafkolonie
seinem Publikum präsentierte, scheint sich der im Mai 1919 in der Reihe der »Drugulin-Drucke« –
Rücksicht auf eben diese Zensur zu verdanken. Die in gediegener Ausstattung, hergestellt von der re-
Lesung, der Felice Bauer und wohl auch Rainer Ma- nommierten Offizin Drugulin – in einer Auflage von
ria Rilke beiwohnten, stieß nach den vorliegenden 1000 Exemplaren gedruckt, erschien aber erst im
Presseberichten auf ein eher negatives Echo. Ein in Oktober 1919.
ziemlich renommistischem Ton gehaltener und von
daher kaum glaubwürdiger Bericht Max Pulvers ver-
zeichnet drei Damen, die durch die Gewalt von Kaf- Quellen
kas Worten in die Ohnmacht getrieben worden sein
sollen (Koch 2005, 142). Als Hauptquelle für die Strafkolonie wurde – zuerst
Ganz zufrieden ist Kafka mit seiner Erzählung von Wayne Burns (1957) – der vielgelesene Roman
weiterhin nicht. Im August 1917 – kurze Zeit vor sei- Le jardin des supplices (1899) von Octave Mirbeau
nem Blutsturz – finden sich im Tagebuch mehrere (1848–1917) identifiziert, ein reißerisches Fin de
fragmentarische Ansätze, die für den Schluss der Er- Siècle-Produkt, das sich aus der französischen Tradi-
zählung ein anderes Ende suchen und zum Teil aus- tion der Verbindung von Pornographie und Gesell-
gesprochen spielerischen Charakter haben (T 822– schaftskritik speist. Man findet hier die Figur eines
827). Auf keinen einzigen dieser kurzen experimen- europäischen Reisenden, eines ›illustre savant‹, der
tierenden Texte greift Kafka später zurück. Aber mit einen Foltergarten in China besucht. Der chinesi-
der Veröffentlichung tut sich etwas. Im September sche Folterer beklagt den Verfall der Kultur des lang-
1917 macht Kurt Wolff persönlich den Vorschlag, In samen, individuellen Tötens und macht dafür die
der Strafkolonie »in der gleichen für mein Gefühl gleichmacherische europäische Moderne verant-
wunderschönen Druckausstattung, in der seinerzeit wortlich. Die sadistische Begleiterin des Reisenden,
›Die Betrachtung‹ erschien«, herauszubringen, also eine Engländerin mit Namen Clara, hat kein Äqui-
als großformatigen, bibliophilen Druck (An F. Kafka, valent in Kafkas Erzählung. Eine Fülle von Parallel-
1.9.1917; B14–17 747). Die Antwort Kafkas ist ab- stellen aus Mirbeau (auch von solchen, die es wahr-
lehnend: scheinlich nicht sind) hat Hartmut Binder nachge-
Hinsichtlich der Strafkolonie besteht vielleicht ein Miß- wiesen (Binder 1975, 176–181).
verständnis. Niemals habe ich aus ganz freiem Herzen Walter Müller-Seidel hat auf die zeitgenössische
die Veröffentlichung dieser Geschichte verlangt. Zwei juristische Diskussion über Strafkolonien im deut-
oder drei Seiten kurz vor ihrem Ende sind Machwerk,
ihr Vorhandensein deutet auf einen tieferen Mangel, es schen Sprachraum aufmerksam gemacht (Müller-
ist da irgendwo ein Wurm, der selbst das Volle der Ge- Seidel 1986). Hans Gross (1847–1915), Kriminologe
schichte hohl macht. und einer der akademischen Lehrer Kafkas an der
In der Strafkolonie 209

Prager Universität, hatte die Deportation von ›Dege- In Nietzsches zweiter Abhandlung aus Zur Genealo-
nerierten‹ als sozialhygienische Maßnahme gefor- gie der Moral (1887) spielt der Gedanke einer unvor-
dert. Die Diskussion führte in Deutschland schließ- denklichen schmerzhaften Einschreibung, einer
lich dahin, dass 1909 Kolonialamt und Reichsjustiz- grausamen Festsetzung der Moral in Leib und Ge-
amt einen jungen Juristen mit Namen Robert Heindl dächtnis der Menschen eine zentrale Rolle. Hier
(1883–1958) beauftragten, die wichtigsten (außereu- kann man (und konnte Kafka) den Verweis auf ar-
ropäischen) Strafkolonien zu besichtigen und darü- chaische grausame Strafpraktiken finden und Sätze
ber zu berichten. 1913 erschien dieser Bericht in lesen wie: »›Man brennt etwas ein, damit es im Ge-
Buchform unter dem Titel Meine Reise nach den dächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun,
Strafkolonien. Heindl legt Wert auf eine distanzierte bleibt im Gedächtnis‹ – das ist ein Hauptsatz aus der
Haltung, die sich mehr wissenschaftlich am Justizap- allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie
parat als menschlich an den Verurteilten interessiert auf Erden«. Oder: »Alle Religionen sind auf dem un-
zeigt. Anlässlich seines Besuchs der französischen tersten Grunde Systeme von Grausamkeiten« (Nietz-
Strafkolonie in Neukaledonien schildert er unter an- sche, 802).
derem einen Henker mit Namen Macé und charak-
terisiert ihn als einen »Künstler, der in seine Kunst
verliebt ist« (Ausg. v. Wagenbach 2010, 103). Textbeschreibung
Auf eine weitere französische Strafkolonie fiel
während der Dreyfus-Affäre die Aufmerksamkeit Wir sehen einen Forschungsreisenden auf einem
der Weltöffentlichkeit: die sogenannte Teufelsinsel öden, sonnenverbrannten Eiland, weit weg von Eu-
vor der Küste von Französisch-Guyana, auf der Al- ropa, auf dem eine militärische Strafkolonie einge-
fred Dreyfus (1859–1935) gefangen gehalten – und richtet ist, einer Hinrichtung beiwohnen. Der ver-
gefoltert – wurde. Zudem hat Peter F. Neumeyer auf antwortliche Offizier erklärt dem Reisenden das
einen in Südamerika spielenden kleinen Abenteuer- Strafverfahren, das einem komplizierten Foltergerät,
roman mit dem Titel Der Zuckerbaron. Schicksale ei- welches zunächst nur der »Apparat«, später dann die
nes ehemaligen deutschen Offiziers in Südamerika »Maschine« genannt wird (Kirchberger 1986, 25),
(1914) hingewiesen (Neumeyer 1971). Der Text er- anvertraut ist. Der Offizier beschreibt umständlich
schien in der von Kafka geschätzten und gelegent- und voller Stolz den Apparat mit seinen drei Teilen:
lich gelesenen populären Reihe Schaffsteins Grüne dem Bett, dem Zeichner und der Egge. Das Urteil
Bändchen (vgl. An F. Bauer, 31.10.1916; B14–17 wird so vollzogen, dass der Verurteilte auf das Bett
271). festgebunden und ihm mit feinen Nadeln von der
Zusammenfassend kann man festhalten, dass ei- Egge das Urteil auf den Leib geschrieben wird, nach
nige zentrale Elemente der Erzählung In der Strafko- dem Programm eines Blattes, das man in den Zeich-
lonie in der Kafka zugänglichen Literatur über Straf- ner einzulegen hat. Die eigentliche Schrift ist dabei
kolonien und exotische Folter bereits vorgeprägt wa- von unzähligen Ornamenten umgeben, so dass sich
ren: die Figur eines auf Neutralität und Beobachtung eine – im Effekt tödliche – Ganzkörpertätowierung
bedachten europäischen Reisenden, die Vorstellung ergibt. Dieser Prozess dauert mehrere Stunden und
von einer raffinierten Kunst des Folterns sowie der endet schließlich mit dem Tod des Verurteilten, der
Gegensatz von Tradition und Moderne. allerdings zuvor, ab der sechsten Stunde, langsam die
Darüber hinaus ist verschiedentlich in durchaus Schrift und damit sein Urteil auf seinem Leib entzif-
suggestiver Weise auf Schopenhauer und Nietzsche fern lernt. Die Wende um die sechste Stunde ist mit
als mögliche Quellen für die parabolische Dimen- dem Stillwerden des Verurteilten, dem Verlust des
sion von Kafkas Erzählung hingewiesen worden. »Vergnügens am Essen« sowie einer grundsätzlichen
Schopenhauer notierte in den Parerga und Paralipo- Wandlung seines Gesichtsausdrucks verbunden
mena (1851) den Satz: (»Um die Augen beginnt es«; DzL 219).
Um allezeit einen sichern Kompaß, zur Orientirung im Die enthusiastische Stellung des Offiziers zu die-
Leben, bei der Hand zu haben, und um dasselbe, ohne je sem Hinrichtungsverfahren wird deutlich, zugleich
irre zu werden, stets im richtigen Lichte zu erblicken, ist aber zeichnet sich auch ab, dass das Verfahren offen-
nichts tauglicher, als daß man sich angewöhne, diese
Welt zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleich- sichtlich in der Gegenwart eine etwas schwerere Stel-
sam als eine Strafanstalt, a penal colony (Schopenhauer, lung hat als früher. Während unter dem alten Kom-
273). mandanten die Hinrichtung geradezu ein Volks-
210 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

ereignis war und jede Menge begeisterter Zuschauer und schließlich abreist, wobei er sich gegen den frei-
anzog, ist der neue Kommandant ein Gegner des gelassenen Verurteilten und dessen Bewacher, die
Verfahrens, das sich nun nahezu unter Ausschluss sich zusammengetan haben, wehren muss, um sie
der Öffentlichkeit vollzieht. Der Apparat kann auch daran zu hindern, mit ihm ins Boot zu springen.
nicht mehr in der gleichen sorgfältigen Weise wie Die betont nüchterne und von Erzählerkommen-
früher gewartet werden, die traditionellen Hinrich- taren freigehaltene, an Flaubert geschulte personale
tungen werden an allen Ecken und Enden schlei- Erzählweise, die Kafka im Urteil und in der Ver-
chend sabotiert. wandlung praktiziert hatte, ist in der Strafkolonie ei-
Zu seinem Staunen erfährt der Reisende vom Offi- nerseits beibehalten, andererseits modifiziert wor-
zier auch, dass es weder ein Gerichtsverfahren gab, den. Die wichtigste Modifikation betrifft den Aus-
noch der Verurteilte Gelegenheit hatte, sich zu recht- tausch der Perspektivfigur der Erzählung, an deren
fertigen; er kennt auch sein Urteil nicht. »Die Schuld Wahrnehmungshorizont der Leser gebunden ist.
ist immer zweifellos« ist der Grundsatz, dem der Of- Diese Figur ist in der Strafkolonie ein auf Neutralität
fizier folgt (212). Der Verurteilte, eine verwahrloste bedachter Beobachter des Geschehens, der Reisende,
und »hündisch ergebene« Kreatur (203), war von sei- der über die befremdlicheren Aspekte der fiktiven
nem Vorgesetzten schlafend angetroffen worden, als Welt auch in Staunen geraten kann und sie nicht –
er wachen sollte. Zur Rede gestellt, hatte er den Vor- wie die Perspektivfiguren im Urteil und in der Ver-
gesetzten beleidigt (»Wirf die Peitsche weg, oder ich wandlung – fraglos akzeptiert. Die Gedankenwelt
fresse dich«; 213) und wurde daraufhin zum Tode des Offiziers lernt der Leser hingegen vorwiegend
verurteilt. »Ehre deinen Vorgesetzten« (210) ist das über dessen eigene Reden oder über die Interpretati-
Urteil, das ihm auf den Leib geschrieben werden soll. onen des Reisenden kennen. An einer Stelle gewinnt
Die Vorbereitungen zur Hinrichtung werden ge- man schließlich auch Einblick in das Denken des
troffen. Nun stellt sich jedoch auch heraus, dass der Verurteilten – wobei es unklar bleibt, ob es sich um
Offizier in der Ankunft des Reisenden einen letzten einen tatsächlichen Perspektivwechsel handelt oder
Hoffnungsschimmer für die Rettung seines Hinrich- man sich auch hier den Reisenden als interpretieren-
tungsverfahrens erblickt: Der Reisende soll beim den Vermittler gemutmaßter fremder Gedanken
neuen Kommandanten im Sinne des Offiziers inter- denken muss (241).
venieren. Nach reiflicher, sehr zögerlicher Überle- Die für Kafka typische Dekonkretisierung der em-
gung – eigentlich hatte er sich zuvor auf bloßes Be- pirisch-historischen Welt zeigt sich an In der Straf-
obachten, Neutralität festgelegt – lehnt der Reisende kolonie in besonders auffälliger Weise. Der Verzicht
diesen Vorschlag ab. Der Offizier bindet daraufhin auf bürgerliche Namen für die Figuren hatte sich in
den Verurteilten los, legt ein Blatt mit dem Urteil den vorangehenden Erzählungen zwar bereits gele-
»Sei gerecht« (238) in den Zeichner ein und legt sich gentlich angedeutet (»der Heizer«, »der Prokurist«,
unter den Apparat, der von selbst zu arbeiten be- »die Zimmerherren«), jetzt werden jedoch konse-
ginnt. Nicht jedoch in der üblichen Weise; er zerstört quent und ausnahmslos Namen durch Funktionsbe-
sich selbst, ein Rädchen der komplizierten Maschi- zeichnungen (»der Soldat«, »der Verurteilte«, »der
nerie nach dem anderen steigt herauf und fällt her- Offizier«, »der Reisende«) ersetzt. Auch die Örtlich-
aus. Auch vollzieht der Apparat das Urteil in rasen- keit, an der sich das Geschehen abspielt, bleibt be-
der Schnelle. Der Offizier wird schließlich von der wusst vage. Weder erfährt der Leser, welcher Nation
Egge aufgespießt und hängt an ihr über der Grube. der Reisende bzw. der Offizier angehören (dass sie
Der Reisende sieht sich untereinander auf Französisch verständigen,
fast gegen Willen das Gesicht der Leiche. Es war, wie es muss nichts bedeuten, zumal es deutlich wird, dass
im Leben gewesen war; kein Zeichen der versprochenen sie unterschiedlichen Nationen angehören); noch
Erlösung war zu entdecken; was alle anderen in der Ma- wird die Insel, abgesehen von dem Verweis auf die
schine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht; die »Tropen« und dem fernöstlichen Ambiente, das
Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren
durch das »Teehaus« bereitgestellt wird, geogra-
offen, hatten den Ausdruck des Lebens, der Blick war ru-
hig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des phisch genau lokalisiert. Obwohl ein Teil der For-
großen eisernen Stachels (245 f.). schung hier anderer Ansicht ist, dürfte sich diese
kalkulierte Vagheit auch auf die Frage der ethnischen
Es folgt noch ein kurzes Nachspiel, in dem der Rei- Zugehörigkeit des Verurteilten erstrecken. Ein wich-
sende das Grab des alten Kommandanten besucht tiger Effekt der Dekonkretisierung ist die durch sie
In der Strafkolonie 211

hervorgerufene Stärkung der parabolischen Dimen- Forschung


sion des Textes.
Kafka selbst hat in dem bereits angeführten Brief Dass man als Leser versucht ist, sich vor der Erzäh-
an Kurt Wolff vom 11. Oktober 1916 die beiden lung und vor ihrer ›Peinlichkeit‹ zu schützen, zählt
Möglichkeiten angedeutet, In der Strafkolonie einer- bereits zu den frühesten Erfahrungen, die man am
seits als Zeitdiagnose, andererseits als apokryphe Text gemacht hat. Kurt Tucholsky berichtet in seiner
Privatgeschichte (mit dem Fokus auf Kafkas eigene Rezension von 1920 davon, dass er bei der Lektüre
Existenz und sein Schreiben) zu lesen – eine Auf- einen »faden Blutgeschmack« hinunterzuschlucken
spaltung ihrer Bedeutungshorizonte, die sie z. B. mit hatte und nach einer »Entschuldigung« suchte und
der Verwandlung teilt. Die Forschung ist diesen bei- dachte: »Allegorie… Die Militärgerichtsbarkeit…«
den Deutungsmöglichkeiten meist gesondert nach- (Tucholsky 1965 [1920], 373). Merkwürdigerweise
gegangen. So hat etwa Elizabeth Boa davon gespro- werden hier sowohl das Wörtlichnehmen der Erzäh-
chen, dass In der Strafkolonie dem Leser eine »global lung – sie aufzufassen, als sei sie ein realistischer Text
vision of modernity in crisis« übermittle (Boa 1996, über ferne, exotische Strafkolonien – wie auch die al-
133); während Oliver Jahraus festzuhalten versuchte, legorisierende Lektüre als ein Ausweichen vor der
dass »das Thema des Schreibens […] den eigentli- nachdrücklichen, unangenehme körperliche Reakti-
chen Bezugspunkt der Interpretation« des Textes zu onen hervorrufenden Provokation des Textes darge-
bilden habe (Jahraus 2006, 338). Es liegt auf der stellt.
Hand, dass sich Interpretationen des erstgenannten Das Naheliegende für die ältere Forschung war die
Typs am Gesellschaftsmodell der Strafkolonie, ins- religiös-metaphysische Allegorie. Dabei zeigte man
besondere am Gegensatz von ›Alt‹ und ›Neu‹ und nur allzu oft die Neigung, im Geiste einer (gelegent-
den an ihn angeschlossenen Bedeutungshorizonten lich auch noch christlich kontaminierten) negativen
abarbeiten und Interpretationen, die das Schreiben Theologie Kafkas Lehre im unfassbaren Jenseits ir-
als Thema des Textes in den Blick nehmen, sich vor- gendwie doch noch zu positivieren. So meinte Heinz
wiegend auf den Vollzug des Urteils als Einschrei- Politzer, in der Strafkolonie sei Kafka »der Welt der
bung in den Körper des Verurteilten richten werden. Metaphysik so nahe gekommen, wie ihm dies seine
Eine Schlüsselfunktion kommt dabei in beiden Fäl- persönliche Lage je erlaubte« (Politzer 1978 [1962],
len der Einschätzung der Figuren des Reisenden und 166), und Wilhelm Emrich kam zu dem Ergebnis,
des Offiziers zu. die Strafkolonie handle von der »Erkenntnis« der
Ein besonderes Interpretationsproblem des Tex- »Daseinsschuld« und der Erlangung der »inneren
tes, dem gerne ausgewichen wird, stellt die Peripetie Freiheit und Erlösung« (Emrich 1970 [1957], 222).
des Textes dar – als der Offizier resigniert und sich Differenzierter argumentierte Sokel, der zwar aner-
zum Selbstopfer entscheidet: »Warum begeht der kannte, dass der Offizier lieber einen Sinn »aus
Offizier Selbstmord?« (Zimmermann 2003, 167). Schrecken und Grauen zu gewinnen« trachtete, »als
Schließlich ist auf die heikle Frage nach dem Cha- in Frivolität und Utilitarismus, bei Damengesell-
rakter der dem Text zugrundeliegenden Haltung sei- schaft und Hafenbauten seelisch zu versumpfen«, je-
nes Autors hinzuweisen. Vieles spricht dafür, die Er- doch auch betonte, dass – im genauen Gegensatz
zählung sei aus dem Geist einer bitteren Fundamen- zum Urteil – in der Strafkolonie »der Tod die Wahr-
talironie geschrieben, wie Der Process, als dessen heit nicht enthüllt« (Sokel 1976 [1964], 134). Immer-
»dreamt commentary« Stanley Corngold die Straf- hin konnte bereits die ältere Forschung etablieren,
kolonie bezeichnet hat (Corngold 2004, 67). Indes dass es einen klar konturierten religiösen Anspie-
haben doch auch einige Interpreten gezögert, die lungshorizont in der Erzählung gibt. Sokel meinte,
Verlockung des Sinnversprechens, das in der Erzäh- in der Strafkolonie sei »das allegorische Prinzip viel
lung selbst so nachhaltig dementiert wird, ganz ab- reiner vertreten als im Landarzt« (Sokel 136), und
zuschreiben. Walter Benjamins ursprünglich auf den Adorno nahm eben daran Anstoß, dass die Strafko-
Process gemünztes Wort vom »Zwitter aus Satire und lonie eine gewisse – für Kafka nicht eben typische –
Mystik« (Benjamin 1977, 1260) könnte auch für In »idealistische Abstraktheit« aufweise (An W. Benja-
der Strafkolonie gelten. min, 17.12.1934; Adorno/Benjamin 1994, 94).
Im Einzelnen lassen sich die wichtigsten religiösen
Anspielungen der Erzählung wie folgt beschreiben:
Der frühere Kommandant in seiner allumfassenden
212 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Kompetenz (»Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemi- lösungs-Theologie oder Verwandtes«; Müller-Seidel,


ker, Zeichner«; DzL 210) ähnelt einer Gründergestalt 87) und gab der Neigung nach, In der Strafkolonie
wie Moses oder, wenn man noch höher greifen wie eine realistische Erzählung des 19. Jahrhunderts
möchte, Gottvater selbst. Die Hervorhebung der und damit »als eindimensionale Kritik an den Straf-
sechsten Stunde im Verlauf der Hinrichtung lässt an kolonien und an der Justiz zu lesen« (Zimmermann
Christi Kreuzigung denken (Mk. 15.33 par). Die 2003, 166). Nach Müller-Seidel hat man versucht,
»Verzierungen« (DzL 218) wurden mit der reichen den Gegensatz von europäischen Kolonisatoren und
Kommentarliteratur, die sich in der jüdischen Tradi- unterworfenen Kolonisierten als Thema der Erzäh-
tion an die Heilige Schrift anschließt, in Verbindung lung auszumachen. So fand Elizabeth Boa in der
gebracht. Unter all diesen Verzierungen ist die Schrift Breitmäuligkeit des Verurteilten (DzL 203), mehr
des Urteils selbst nicht leserlich für den Reisenden, noch aber in seinen »wulstig aneinander gedrückten
also verschollen wie für den assimilierten Westjuden Lippen« (211) einen »racist marker suggesting Afri-
die Tradition. Und die Prophetie über die Wiederer- can features«. Aber Boa musste auch zugeben: »the
oberung der Kolonie durch den alten Kommandan- tea house on the island points more to an Asian loca-
ten nimmt offensichtlich das Motiv der religiösen tion« (Boa 1996, 139). Ihr Verdienst war es jeden-
Wiederkehr einer messianischen Erlöserfigur auf. falls, gegen Müller-Seidels im Grunde humanisti-
Nicht durchsetzen können hat sich der Versuch, im sche Perspektive auf die Strafkolonie auf dem verstö-
alten Kommandanten ein Äquivalent zum (alttesta- renden Charakter der Erzählung zu beharren. Diese
mentlichen) Judentum und im neuen Kommandan- sei nun einmal nicht »politically correct«, und es sei
ten eines zum (neutestamentlichen) Christentum er- nicht Kafkas Anliegen, Liberale zu befriedigen »by
blicken zu wollen. Zu sehr werden bei dieser Inter- showing a white enlightened traveller saving a (pos-
pretation die modern-aufklärerischen Züge des sibly) brown man from a backward colonial admin-
neuen Regimes vernachlässigt. Plausibler scheint es istrator« (145 f.).
da, im vom alten Kommandanten errichteten System Sander Gilman ging in seiner Interpretation der
ein Syndrom zu sehen, das mit Bestandteilen sowohl Strafkolonie von der Dreyfus-Affäre als traumati-
aus der jüdischen wie aus der christlichen Tradition scher Schlüsselerfahrung für alle europäischen Ju-
konfiguriert wird. In diesem Syndrom erscheint das den der Jahrhundertwende und eben auch für Kafka
›Alte‹ als eine autoritative Institutionalisierung der aus und sah sowohl im Verurteilten wie im Offizier
Folter zu Erlösungszwecken. Wiebrecht Ries hat die- eine Dreyfus-Figur, einmal den deportierten, einmal
sen Zug der Erzählung auf die suggestive Formel den degradierten Dreyfus: »Each is Dreyfus. The lat-
»Transzendenz als Terror« gebracht (Ries 1977). ter is Dreyfus as uniformed French soldier; the
Die Erzählung wörtlich und ihr koloniales Setting former, Dreyfus in rotting rags in his cell. They turn
ernst zu nehmen, ist angesichts der Einladungen zur out to be interchangeable« (Gilman 1995, 82).
Allegorese im Text den Interpreten zunächst kaum Jüngst hat John Zilcosky die postkoloniale Inter-
in den Sinn gekommen. Erst das Aufkommen der pretationstradition wieder aufgenommen und In der
postkolonialen Studien hat hier eine Änderung be- Strafkolonie als Allegorie der Selbstzerstörung des
wirkt und innerhalb dieser Studien den – freilich Kolonialismus gedeutet: »Der Kolonialismus erzeugt
vom Rest der Kafkaforschung nur selten akzeptier- in Kafkas Erzählung seinen eigenen Untergang«
ten – Topos etabliert, Kafka habe, in welcher Weise (Zilcosky 2003, 45). Der Ertrag all dieser Interpreta-
auch immer, eine ›critique of colonialism‹ geleistet. tionen, die den Kolonialismus in den Mittelpunkt
Als Initialzündung für diese Forschungsrichtung stellen, für die kulturhistorische Kontextualisierung
kann – nach Klaus Wagenbachs Edition der Strafko- von Kafkas Erzählung ist gelegentlich durchaus be-
lonie von 1975, die in dem, was sie an Materialien achtlich gewesen. Dennoch wird man ihnen auch ei-
ausbreitete, ihren Schwerpunkt bereits in der zeitge- nen Kategorienfehler vorwerfen müssen. Sie ver-
schichtlichen Dimension der Erzählung hatte – Wal- wechseln Quellen mit Themen, Bildspender mit
ter Müller-Seidels Studie Die Deportation des Men- Bildempfänger. Mag sein, dass das Bild von Dreyfus’
schen von 1986 bezeichnet werden. Müller-Seidel er- Degradierung mit dem zerbrochenen Degen, das
warb sich große Verdienste um die Quellenforschung. durch die Presse der zivilisierten Welt ging, auch
Er bestritt jedoch auch doktrinär die parabolische Kafka inspirierte und in ihm lange nachwirkte. Muss
Dimension der Strafkolonie (»Es ist Zeitgeschichte, darum die Dreyfus-Affäre das geheime Thema der
über die hier zu handeln war, nicht Metaphysik, Er- Strafkolonie sein?
In der Strafkolonie 213

Margot Norris und Peter Cersowsky haben Versu- Stichworte für Kafkas Unternehmen (Deleuze/Guat-
che unternommen, Kafka und speziell In der Straf- tari 1976 [1975]).
kolonie in die sadomasochistische Tradition (und die Näher an Kafkas Text, aber geistig verwandt mit
mit ihr zusammenhängende Tradition der ›schwar- Deleuze und Guattari war Hans Helmut Hiebels in
zen Romantik‹) einzuordnen (Norris 1978; Cer- der Kafkaforschung bis heute nachhaltig wirkende
sowsky 1983). Sie griffen damit ein wichtiges Merk- Studie Die Zeichen des Gesetzes. Hiebel erinnert an
mal von Kafkas psychischer Struktur auf, das heute das »Fest der Martern« (die Hinrichtung des geschei-
noch vielen Interpreten ›peinlich‹ zu sein scheint. terten Königsmörders Robert François Damiens
Trotzdem ist die Verrechnung Kafkas mit großer (1715–1757) im Jahre 1757), mit dessen Darstellung
Pornographie nicht ganz einfach. Das ihm zuge- Foucaults Studie Überwachen und Strafen (1975)
schriebene Wort über den Marquis de Sade als »ei- einsetzt (Hiebel 1983, 130), liest jedoch letztlich die
gentlichen Patron unserer Zeit« ist apokryph und vormoderne Gewalt am Delinquenten als verklausu-
nur von dem notorisch unzuverlässigen Gustav Ja- lierte Darstellung der modernen Disziplinargesell-
nouch überliefert (Janouch 1968 [1961], 180). Die schaft, die ihr unerkennbares Gesetz in die Körper
typisch Sadesche Einheit von Arrangeur und Beob- einschreibt: »Was dem Verurteilten der Strafkolonie
achter des Foltergeschehens ist in Kafkas Erzählung eingeschrieben wird, scheint demnach weniger eine
gerade nicht gegeben, und die sexuelle Besessenheit bestimmte Strafe für eine bestimmte Schuld zu sein
des Autors scheint im Falle Kafkas unvergleichlich als vielmehr das ›Gesetz‹ generell; […] das Dasein
mehr sublimiert zu sein als bei dem Franzosen. Zu- überhaupt ist eine Schuld geworden« (Hiebel 1983,
dem kann von einer Lust am aktiven Foltern kaum 137). Die Linien der von Deleuze/Guattari und Hie-
die Rede sein; sowohl die erotische Lust wie auch die bel vorgegebenen Interpretation sind später ver-
sie überhöhende Erlösungshoffnung richten sich auf schiedentlich noch weiter verfolgt worden, ohne
das Gefoltertwerden, der Offizier fühlt sich verführt, dass sich substantiell Neues ergeben hätte (vgl. etwa
»sich mit unter die Egge zu legen« (DzL 219). Auch Vogl 1990). Im weiteren Feld der cultural studies ist
in Briefen und Tagebüchern ist es in der Regel die es weitgehend zur Selbstverständlichkeit geworden,
masochistische Komponente, die anlässlich von Fol- In der Strafkolonie unter eine Foucaultsche Perspek-
terszenarien selbstquälerisch lustvoll von Kafka her- tive zu stellen und mit der Erzählung Foucaults Leh-
vorgehoben wird – so in der Tagebuchaufzeichnung ren zu bebildern (vgl. etwa Butler 2006 [1990], 177 u.
vom 3. August 1917 (»Dann stieß man mir den Kne- 215).
bel ein fesselte Hände und Füße und band mir ein Die meisten bislang vorgestellten Interpretationen
Tuch vor die Augen« etc.; T 816) oder in jenem von sehen Kafka im Grunde als Kritiker des von ihm dar-
einer drastischen Handzeichnung begleiteten Brief gestellten Strafsystems des alten Kommandanten. Es
an Milena vom September 1920, der sich in der war das Verdienst von Ritchie Robertsons Studie
Phantasie einer zur Vierteilung eines Menschen kon- Kafka. Judaism, Politics and Literature, aus für Kafka
struierten Maschine ergeht (BM 271). relevanten zeitgenössischen Kontexten heraus auf
Nachhaltiger gewirkt haben Versuche, die sado- die Möglichkeit einer anderen Wertung aufmerksam
masochistischen Motive – statt sie gattungsge- zu machen. Die grundsätzliche Einsicht Robertsons
schichtlich zu verorten – in eine ›schwarze‹ Gesell- war: »In der Strafkolonie turns on the antithesis of
schaftsgeschichte der Moderne einzubauen. In die- Gemeinschaft and Gesellschaft« (Robertson 1985,
sem Sinne haben einige Interpreten auf dem langen 153). In dieser semantischen Opposition – wie in der
Weg von Nietzsches Zur Genealogie der Moral hin strukturidentischen von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ –
zur Lehre Michel Foucaults von einer diffusen und war im frühen 20. Jahrhundert regelmäßig ›Gemein-
gut verteilten Macht, die die Körper und Seelen der schaft‹ positiv besetzt; im Zionismus und speziell im
modernen Menschen besetzt, die Strafkolonie als Kreis um Martin Buber konnte Kafka immer wieder
wichtige Zwischenstation erkannt. Deleuze und Gu- Instanzen dieser Hochschätzung von ›Gemeinschaft‹
attari haben in ihrer sehr einflussreichen Studie antreffen. Zudem war das Erleiden von Schmerz für
Kafka. Für eine kleine Literatur die ›Maschine‹ als Kafka eine »royal road to spiritual insight« (155).
Metapher für die moderne Gesellschaft insgesamt Statt dass sich also, wie bei Roy Pascal, das Regime
verstanden und Kafka als deren radikalsten Unter- des alten Kommandanten als »a disturbing parody of
wanderer: ›Deterritorialisierung‹ und ›Demontage‹ religious faith« (Pascal 1982, 82) darstellte, ergab
der maschinenmäßigen ›Verkettungen‹ sind ihre sich für Robertson ein ganz anderes Bild:
214 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

On the one hand, the closely knit community of the past, dem Soldaten und dem Verurteilten, die Damenta-
united by the focus of a ceremony which administered schentücher, das Erbrochene, etc. (Corngold 2004,
absolute justice in an atmosphere of religious awe; on the
other, present-day society, in which religious practices 67–73). Sie untergraben – in einer Weise, die an die
are conceded a marginal place but no longer give mean- Tradition der menippeischen Satire denken lässt –
ing even to the voluntary deaths of their adherents […], die Tragik, die im Schicksal des Offiziers liegen
and in which a half-hearted and ineffectual humanitari- könnte, und den ernsthaft allegorischen Charakter
anism accompanies an inhuman devotion to large-scale
der Erzählung, so wie das Erbrochene die saubere
technological schemes (Robertson, 154).
Maschine beschmutzt. Auch scheint die Dysfunktio-
Zu dieser Interpretation Robertsons passt eine Auf- nalität der Maschine in geheimer Solidarität mit dem
fassung des Reisenden, die sich in bemerkenswerter Überleben des Verurteilten zu stehen, der die Spra-
Konstanz und Ubiquität durch die gesamte For- che seiner Oberen nicht versteht und mit dem hohen
schungsgeschichte zieht. Schon Politzer sah in ihm Ziel einer Erlösung nichts anzufangen weiß.
ein »Kind der Aufklärung« (Politzer 1978 [1962], Schließlich sind auch die semantischen Oppositi-
176). Bert Nagel sprach von »ironischer Skepsis«, onen von Alt und Neu, von Tradition und Moderne,
mit der die »neue Humanität« und speziell die chao- von Europa und Kolonie durch Ironien an den ver-
tische Flucht des Reisenden von der Insel gezeichnet schiedensten Stellen in Unordnung gebracht. Ein
sind (Nagel 1974, 266 f.). Sokel nannte das »untragi- Offizier, der an der europäischen Uniform festhält,
sche Ende des Reisenden« »menschlich schäbig« weil sie die Heimat bedeutet (DzL 204), enthusias-
(Sokel 1976 [1964], 153). Generell werden die Zu- miert sich für ein exotisches Hinrichtungsverfahren,
rückhaltung und das Zögern des Reisenden eher als das den Körper der Verurteilten über und über mit
Feigheit und Ängstlichkeit denn als wirkliche aufge- Ornamenten bedeckt, wie man sie um die Jahrhun-
klärte Überlegenheit verstanden. Der Satz über den dertwende am Körper von ›Primitiven‹ oder von tä-
Reisenden »Er war im Grunde ehrlich und hatte towierten Verbrechern erwartete (vgl. Anderson
keine Furcht« (DzL 235) kann kaum als Gegenargu- 1992, 178–181). Ebenso sehr wie ein Agent der Tra-
ment geltend gemacht werden. Denn aufgrund der dition scheint der Offizier ein Vertreter modernster
Erzählverhältnisse der Strafkolonie vernehmen wir Rationalität mit einem ausgesprochenen Faible für
hier nicht die verlässliche Stimme eines auktorialen technische Effizienz zu sein. Und dann die plötzliche
Erzählers, sondern erfahren perspektivisch gebro- Entscheidung des Offiziers, sich selbst unter die Ma-
chen etwas über die Selbsteinschätzung des Reisen- schine zu legen: Sokel, der viel Sinn für Kafkas Iro-
den. Dass sie trügerisch ist, belegen seine Tatenlosig- nien hatte, hat darauf aufmerksam gemacht, dass der
keit während der Tötung des Offiziers und seine Offizier schon allein deshalb keine Erlösung von der
Flucht. Es sind keine starken eigenen Prinzipien der Maschine zu erwarten hat, weil er sein Urteil bereits
Moderne (wie Freiheit, Gleichheit oder Rechtssi- kennt (Sokel 1976 [1964], 140). Usw.
cherheit), von denen das Verhalten des Reisenden Bemerkt man diese Ironien, so wird man Zweifel
Zeugnis ablegt. Die Moderne, für die er – wie der an der Vorstellung zu hegen beginnen, der Gegen-
neue Kommandant und seine Damen – steht, ist eine satz von Tradition und Moderne sei in der Strafkolo-
Moderne der Schwäche und Verweichlichung, der nie wirklich klar konturiert. Weder wird vom Stand-
nur scheinbaren Humanität. punkt der Moderne die Tradition eindeutig als bar-
barisch denunziert, noch wird ein von der Moderne
nicht kontaminierter Standpunkt der Tradition be-
Deutungsaspekte zogen. Vielmehr erscheint die Tradition durchgän-
gig so, wie sie einzig in der Moderne noch zur Er-
Weniger (und das soll heißen: zu wenig) Aufmerk- scheinung kommen kann: grausam und hart, weil
samkeit haben die abgründigen Ironien gefunden, die Moderne schwach und verweichlicht ist. Die Mo-
die In der Strafkolonie durchziehen und ein beachtli- derne ist nichts anderes als der Kollaps der Tradi-
ches Gegengewicht zu jener Ernsthaftigkeit darstel- tion. Benjamins Diktum über Kafkas Werk als »Er-
len, die dem Text vielfach allzu vorbehaltlos von der krankung der Tradition« (An G. Scholem, 12.6.1938;
Forschung unterstellt wird. Stanley Corngold hat zu Benjamin 2000, 112) hätte in der Strafkolonie einen
Recht auf die bedeutende Rolle hingewiesen, die, wie seiner besten Belege gehabt.
er es nennt, »Allotria« und »Excreta« in der Erzäh- Zu einer freundlicheren Sicht auf die terroristi-
lung spielen: die slapstickartigen Szenen zwischen schen Züge der Erzählung gelangt man in der Regel,
In der Strafkolonie 215

wenn man die Allegorese auf die Suche nach Spuren dere an ein Einswerden des eigenen Körpers mit
von Kafkas Metaphysik des Schreibens schickt. Der dem Schreiben (dem Geschriebenwerden) gebun-
auffälligste Hinweis auf diesen Bedeutungshorizont den. Am 8. Dezember 1911 notierte Kafka:
besteht in der Analogie des »eigentümlichen Appa-
Ich habe jetzt und hatte schon Nachmittag ein großes
rats« zu einer monströsen, mörderischen, wunder- Verlangen, meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir
baren ›Schreibmaschine‹, die inzwischen aus der herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe
Forschung kaum mehr wegzudenken ist (vgl. etwa kommt in die Tiefe des Papiers hinein oder es so nieder-
Kremer 1989, 149 f.). In diesem Anspielungsbereich zuschreiben daß ich das Geschriebene vollständig in
mich einbeziehen könnte (T 286).
finden die Ambivalenzen der Erzählung zwischen
Strafe und Lust, zwischen Gelingen und Misslingen, Sehr nachdrücklich wird diese Utopie auch in Kaf-
zwischen Euphorie und tiefster Ernüchterung ein kas Darstellung der Nacht, in der Das Urteil ent-
besonders reiches Echo. Dies gilt weniger für Versu- stand, artikuliert: mit dem »Schmutz und Schleim«
che, anlässlich der Strafkolonie frei über beliebte einer »Geburt«, mit dem Gefühl, »in einem Gewäs-
Theoriestücke der modernen und postmodernen Li- ser« vorwärtszukommen (T 491, 460), oder in Ge-
teraturtheorie (wie ›Unlesbarkeit‹, ›Einschreibung‹, schichten wie dem Wunsch, Indianer zu werden (DzL
›Körper‹, ›Schrift‹) zu spekulieren, als vielmehr für 32 f.) oder Ein Traum (295–298). Jeweils ist das
Forschung, die das Sinnerzeugungsarrangement der glückhafte Sinnversprechen an ein mehr oder weni-
Strafkolonie mit der sonstigen Überlieferung von ger gewalttätiges Ergriffenwerden gebunden: »Kann
Kafkas Nachdenken übers Schreiben zusammen- ich schon nicht der Schreibende sein, der mit der
bringt. Maschine schreibt, so will ich wenigstens das Papier
Die Vorstellung eines Lebens, das sich in der sein, das von der Maschine beschrieben wird« (De-
Schaffung einer absoluten Schrift verbraucht, eines leuze/Guattari 1976, 78). Allerdings: Die Sinnerfah-
Zugangs zur eigensten innersten Wahrheit im Tode rung durch ein euphorisches Geschriebenwerden
– wie sie etwa der Held von Leo Tolstois Erzählung kennen der Reisende wie der Leser der Erzählung
Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) erfuhr – hat ihre letztlich nur aus der (möglicherweise unzuverlässi-
Verlockungen ja nicht nur für den Offizier (und für gen) Erzählung des Offiziers; das Ausbleiben der Er-
den Reisenden) gehabt, sondern auch für Kafka lösung aber hat der Reisende vor Augen. In dieser ei-
selbst. Bereits Walter H. Sokel machte darauf auf- gentümlich verschränkten Kombination von Nicht-
merksam, dass der Offizier – wie der Petersburger evidenz und Sinn einerseits und Evidenz und
Freund im Urteil oder wie das Insekt in der Ver- Sinnentzug andererseits artikuliert sich ironisch das
wandlung – ein Repräsentant jenes »reinen Ichs« ist, Dilemma des inspirierten Schreibens, das Kafka un-
das kompromisslos auf die ästhetische Existenz setzt metaphorisch und klar Felice Bauer in einem Brief
und dafür in Isolation und Erfolglosigkeit gerät (So- aus der frühen Phase ihrer Beziehung vor Augen
kel 1976 [1964], 130–132). Mark M. Anderson ging rückte:
sogar – angeregt von einer möglichen Ambivalenz Gibt es also eine höhere Macht, die mich benützen will
der Vokabel ›Urteil‹ in der Strafkolonie – so weit, im oder benützt, dann liege ich als ein zumindest deutlich
Hinrichtungsverfahren einen fiktiven Nachvollzug ausgearbeitetes Instrument in ihrer Hand; wenn nicht,
der euphorischen Nacht der Niederschrift der Er- dann bin ich gar nichts und werde plötzlich in einer
fürchterlichen Leere übrig bleiben (1.11.1912; B00–12
zählung Das Urteil zu sehen. Den nicht verklärten
203).
Tod des Offiziers kann Anderson dann – mit Ver-
weis auf den späteren wichtigen Brief Kafkas an Max Ein Wort schließlich noch zur Stellung des Textes in-
Brod vom 5. Juli 1922 (Briefe 382–387) – als Beginn nerhalb von Kafkas Gesamtwerk: Seit Hellmuth Kai-
der Selbstkritik Kafkas am narzisstischen absoluten ser 1931 mit seiner psychoanalytischen Abhandlung
Schreiben lesen (Anderson 1992, 185–190). über Kafka in der Zeitschrift Imago den Terminus
Die Ambivalenz des eigenen Schreibens ist wohl »Strafphantasie« in die Kafka-Forschung eingeführt
in der Tat eines der zentralen Themen der Strafkolo- hat, ist In der Strafkolonie gerne mit den der Erzäh-
nie. Zweifellos findet sich immer wieder im Werk lung vorangehenden Werken zusammengestellt wor-
Kafkas die positive Utopie einer Verwandlung von den. Wie Der Heizer behandelt In der Strafkolonie –
Leben in Schrift. Sie ist häufig an ein passives Mitge- exemplarisch abzulesen an den beiden Urteilen, die
nommenwerden von einer übermächtigen Gewalt in der Erzählung namhaft gemacht werden – das
sowie an Verschmelzungsphantasien und insbeson- Verhältnis von Disziplin und Gerechtigkeit und die
216 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Überlagerung der Gerechtigkeit durch eine extraju- Performance von Cecilie Ullerup Schmidt mit Ana Ber-
ridische Disziplin. Wie in Das Urteil lässt sich ein kenhoff. Uraufführung am 24.9.2008 in Stockholm. –
Protagonist, dessen Lebensprojekt sich nicht durch- Narges Kalhor: Darkhish [Die Egge]. Iran 2008 [Kurz-
setzen lässt, bereitwilligst auf sein eigenes Todesur- film]. – Raúl Ruiz: La colonia penal. Chile 1970.
teil ein. Zudem wird die Konstellation von autoritä- Quellen und Materialien: Robert Heindl: Meine Reise
rer, übermächtiger Vatergestalt und unterwürfigem nach den Strafkolonien. Berlin, Wien 1913. – Hans-
Sohn in der Behandlung des Verhältnisses von altem Gerd Koch (Hg.): »Als K. mir entgegenkam…«. Erinne-
Kommandanten und Offizier fortgeführt. Diese Zu- rungen an F.K. Berlin 2005 [1995]. – Gustav Janouch:
gehörigkeit zum unbarmherzigen Kosmos der Strafe Gespräche mit K. Frankfurt/M. 1961, 2. Aufl. 1968. –
Octave Mirbeau: Le jardin des supplices. Paris 1899; dt:
im Werk Kafkas von 1912 bis 1914 ist zweifellos rich-
Der Garten der Qualen. Übers. v. Franz Hofen. Buda-
tig beobachtet. Zugleich finden sich jedoch in der
pest 1901. – Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der
Erzählung auch Elemente, die auf das spätere Werk
Moral. Eine Streitschrift. In: Ders.: Werke in drei Bän-
Kafkas vorausweisen. Die distanzschaffende Figur
den. Hg. v. Karl Schlechta. München 1966, Bd. 2, 763–
des Reisenden, der in eine letztlich dichotomisch 900. – Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipo-
(um die Pole des alten und des neuen Kommandan- mena. Bd. 1, Kap. XII (»Nachträge zur Lehre vom Lei-
ten) organisierte Welt eingeführt wird, ist eine wich- den der Welt«). In: Ders.: Werke in fünf Bden. Nach den
tige Voraussetzung für die parabolische Dimension Ausgaben letzter Hand hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich
der Erzählung; sie wird von Kafka z. B. in Schakale 1988. Bd. 5, 264–274. – Kurt Tucholsky: In der Strafko-
und Araber (DzL 270–275) wieder aufgenommen. lonie. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Reinbek 1965,
Insofern kann man sagen, dass In der Strafkolonie 373–375 [zuerst in: Die Weltbühne, 3.6.1920]. – Oskar
die stark parabolisch geprägte Schaffensphase Kaf- Weber: Der Zuckerbaron. Schicksale eines ehemaligen
kas (mit ihrem Zentrum in den Texten des Landarzt- deutschen Offiziers in Südamerika. Mit Zeichnungen
Bandes) einleitet. Aber auch die späten Künstler- von Max Bürger. Köln 1914 (Schaffsteins Grüne Bänd-
erzählungen werden von In der Strafkolonie in chen 54).
gewisser Weise präfiguriert. Wie die Kunst des Hun- Forschung: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin:
gerkünstlers ist auch die Folterkunst des Offiziers Briefwechsel 1928–1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frank-
eine performative, am Körper ausgeführte Kunst, für furt/M. 1994. – Claudia Albert/Andreas Disselnkötter:
die das zeitgenössische Publikumsinteresse stark zu- »Inmitten der Strafkolonie steht keine Schreibma-
rückgegangen ist. Und wie der Blick des Offiziers schine«. Eine Re-Lektüre von K.s Erzählung. In: IASL
noch im Tode »ruhig und überzeugt« ist (DzL 246), 27 (2002), 168–184. – P.-A. Alt (2005), 475–489. – M.M.
so zeigen die gebrochenen Augen des Hungerkünst- Anderson (1992), bes. 173–193. – P.U. Beicken (1974),
lers »die feste, wenn auch nicht mehr stolze Über- 287–293. – Walter Benjamin: F.K. Zur zehnten Wieder-
zeugung, daß er weiterhungre« (349). kehr seines Todestages [1934]. In: Ders.: Gesammelte
Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schwep-
Ausgaben: ED: In der Strafkolonie. Erzählung. Leipzig: penhäuser. Bd. 2. Frankfurt/M. 1977, 409–438 u. 1153–
Kurt Wolff [Ende Okt.] 1919; Faksimilenachdruck der 1276. – Ders.: Brief an Gershom Scholem, 12. Juni 1938.
Erstausgabe. Hg u. mit einem Nachwort v. Roland Reuß. In: Ders.: Gesammelte Briefe. Bd. 6. Hg. v. Christoph
Frankfurt/M., Basel 2009 (Supplement zur FKA). – Erz/ Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt/M. 2000, 105–118. –
GS (1935), 181–213. – Erz/GW (1952), 199–237. – In Hartmut Binder: K.-Kommentar zu sämtlichen Erzäh-
der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914. lungen. München 1975, 174–181. – E. Boa (1996), bes.
Mit Quellen, Chronik und Anmerkungen hg. v. Klaus 133–147. – Wayne Burns: In the Penal Colony. Varia-
Wagenbach. Berlin 1975, erweiterte Neuausg. 1995, tions on a Theme by Octave Mirbeau. In: Accent 17
wieder 2010. – DzL/KA (1996), 201–248; T/KA (1990), (1957), 45–51. – Judith Butler: Gender Trouble. Femi-
822–824 u. 825–827. nism and the Subversion of Identity. New York, London
Adaptionen: Giuliano Betti: K.: colonia penale. Italien 2006 [zuerst 1990]. – Peter Cersowsky: Phantastische
1988. – Janet Cardiff/George Bure Miller: The Killing Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Unter-
Machine. Installation. 2007. – Charlie Deaux: Zoetrope. suchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen
USA 2000. [Kurzfilm] – Philip Glass: In the Penal geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradi-
Colony. A Chamber Opera (2000). Libretto Rudolph tion der ›schwarzen Romantik‹ insbesondere bei Gus-
Wurlitzer. Uraufführung am 31.8.2000 in Seattle. – tav Meyrink, Alfred Kubin und F.K. München 1983,
Sibel Guvenc: In the Penal Colony. Kanada 2006. [Kurz- bes. 181–209. – S. Corngold (2004), bes. 67–80. – Gilles
film] – Heiner Müller: In der Strafkolonie nach F.K. Deleuze/Félix Guattari: K. Für eine kleine Literatur.
In der Strafkolonie 217

Frankfurt/M. 1976 [frz. Erstausg. 1975]. – Jens Dreis- Wertung. Berlin 1974. – Peter F. Neumeyer: F.K., Sugar
bach: Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Kon- Baron. In: Modern Fiction Studies 17 (1971), 5–16. –
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In der Strafkolonie im europäischen Kontext. Stuttgart
1986. – Bert Nagel: F.K. Aspekte der Interpretation und
218 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

3.2.6 Ein Landarzt. henfolge der Texte (DzL:A 292), Korrekturfahnen


wurden mit beträchtlicher Verspätung ausgeliefert,
Kleine Erzählungen und schließlich ging gar die Abschrift der Erzählung
Ein Traum verloren und musste erneut angefordert
Entstehung und Veröffentlichung werden (297). Dies alles bewog Kafka zu der ernst-
haften Überlegung, den Verlag zu verlassen. In ei-
Der Erzählband Ein Landarzt erscheint im Frühjahr nem Brief an Max Brod schreibt er: »Darum wollte
1920 (das Impressum nennt 1919) mit dem Unterti- ich, da Wolff sich so gegen mich sperrt, nicht ant-
tel Kleine Erzählungen beim Kurt Wolff Verlag in wortet, nichts schickt und es doch mein wahrschein-
Leipzig (DzL:A 299) und trägt auf dem Vorsatzblatt lich letztes Buch ist, die Manuskripte an [Erich] Reiss
die Widmung »Meinem Vater«. Der Band enthält die schicken, der sich mir freundlich angeboten hat«
folgenden 14 Erzählungen: (Ende März 1918; BMB 246).
Die meisten der 14 Erzählungen entstammen einer
(1) Der neue Advokat (zuerst NSF I, 326 f., Variante in
sehr produktiven Phase Kafkas, die nach mehr als ein-
NSF I, 324–326, um den 10.2.1917; ED: Mitte Sept.
1917 in Marsyas). jähriger Stagnation im Winter 1916/17 einsetzte. Sie
(2) Ein Landarzt (zwischen dem 14.12.1916 und Mitte wurde u. a. durch die Möglichkeit zum ruhigen Arbei-
Januar 1917; ED: Jan. 1918 in Die neue Dichtung). ten gefördert, die sich durch die räumliche Trennung
(3) Auf der Galerie (zwischen dem 14.12.1916 und von der Familie ergab. Seit dem 26. November 1916
Mitte Januar 1917; ED: Landarzt).
(4) Ein altes Blatt (zuerst NSF I, 358–361, zweite Hälfte konnte Kafka in einem von seiner Schwester Ottla an-
März 1917; ED: Mitte Sept. 1917 in Marsyas). gemieteten Häuschen in der Alchimistengasse schrei-
(5) Vor dem Gesetz (zwischen dem 18.10. und dem ben. Dort entstanden wahrscheinlich 12 der 14 im
13.12.1914; ED: 7.9.1915 in Selbstwehr). Landarzt-Band veröffentlichten Prosastücke (L5 ent-
(6) Schakale und Araber (zuerst NSF I, 317–322, An-
stammt dem Process-Manuskript, L13 wohl einer Pro-
fang Febr. 1917; ED: Mitte Okt. 1917 in Der Jude).
(7) Ein Besuch im Bergwerk (nach 22. Apr. 1917; ED: cess-nahen Arbeitsphase; DzL:A 288).
Landarzt). Anscheinend denkt Kafka bereits im Februar
(8) Das nächste Dorf (vermutl. zwischen Mitte Dez. 1917, als die meisten der in den Landarzt-Band auf-
1916 und Mitte Jan. 1917; ED: Landarzt). genommenen Texte vorliegen, an eine Publikation in
(9) Eine kaiserliche Botschaft (zuerst NSF I, 351 f., als
Bestandteil von Beim Bau der chinesischen Mauer, Form eines Sammelbandes und fertigt hierzu Listen
Mitte März 1917; ED: 24.9.1919 in Selbstwehr). an, die mögliche Reihenfolgen der Titel durchspie-
(10) Die Sorge des Hausvaters (Datierung unsicher, jeden- len (siehe DzL:A 289; Faksimile in OO1&2/FKA,
falls vor Aug. 1917; ED: 19.12.1919 in Selbstwehr). H. 2, 146 u. OO3&4/FKA, H. 3, 161; vgl. auch DzL:A
(11) Elf Söhne (Datierung unsicher, jedenfalls vor letz-
291 u. 295 f.). In einem Brief an Martin Buber, dem
ter Märzwoche 1917; ED: Landarzt).
(12) Ein Brudermord (zwischen 14.12.1916 und Mitte Kafka am 22. April 1917 zwölf der in dieser Zeit ent-
Januar 1917; ED: Mitte September 1917 in Marsyas standenen Erzählungen für die Zeitschrift Der Jude
unter dem Titel Der Mord ). zur Auswahl anbietet, erwähnt er den bereits relativ
(13) Ein Traum (Datierung unsicher, jedenfalls zwi- konkret klingenden Plan eines Prosabandes: »Alle
schen 11.8.1914 u. 21.6.1916; ED: Mitte Dezember
1917 in Das jüdische Prag). diese Stücke und noch andere sollen später einmal
(14) Ein Bericht für eine Akademie (zuerst NSF I, 390– als Buch erscheinen unter dem gemeinsamen Titel:
399, vgl. auch 384 f., 385–388 u. 415 f., zwischen 6. ›Verantwortung‹« (B14–17 297).
und 22.4.1917; ED: um den 8.11.1917 in Der Jude). Das Projekt wird in dieser Form nicht verwirk-
[Kurzverweise auf die Einzeltexte erfolgen im Artikel
licht; auf Anforderung durch Kurt Wolff schickt
durch Angabe der Textnummer nach obiger Durchzäh-
lung mit vorangestelltem L.] Kafka jedoch am 7. Juli 1917 dreizehn der während
des Winters und Frühjahrs entstandenen Texte an
Die Druckvorbereitungen von Kafkas zweitem Sam- den Verleger und kommentiert diese (für seine Ver-
melband nach Betrachtung nahmen fast drei Jahre in hältnisse) einigermaßen wohlwollend: »Mir war in
Anspruch, wobei die Verzögerung ausschließlich auf diesem Winter, der allerdings schon wieder vorüber
den Verlag zurückzuführen war. Nicht nur, dass die ist, ein wenig leichter. Etwas von dem Brauchbaren
Kommunikation mit Wolff immer wieder abbrach – aus dieser Zeit schicke ich, dreizehn Prosastücke«
anscheinend ging der Verlag auch nicht sonderlich (B14–17 301). Auf Wolffs Vorschlag einer »verlege-
sorgsam mit Kafkas Manuskripten um: Man hielt rischen Verwertung« geht Kafka gern ein (An F.
sich zunächst nicht an die vom Autor festgelegte Rei- Kafka, 20.7.1917; B14–17 746).
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 219

Als Titel des Bandes bestimmt Kafka am 20. Au- Textbeschreibung


gust 1917 Ein Landarzt. Kleine Erzählungen (An
K. Wolff; B14–17 307). Bereits zu diesem Zeitpunkt Eine Subsumierung unter ein einziges Thema fällt
steht sowohl die Textauswahl als auch die Reihen- bei der Heterogenität der Perspektiven und Figu-
folge fest (DzL:A 291). Die Auswahl, die Kafka an renarrangements schwer, auch wenn einige Interpre-
Wolff schickt, entspricht fast der später gedruckten. ten eine solche in Bezug auf den von Kafka ur-
Lediglich Vor dem Gesetz und Ein Traum werden sprünglich angedachten Sammlungstitel Verantwor-
nachgereicht; die Erzählung Der Kübelreiter wird tung zu konstruieren versucht haben (z. B. Kauf
hingegen aus der Sammlung wieder herausgenom- 1972). Wie ernst es Kafka mit dem Plan eines Bandes
men (DzL:A 291). Verantwortung war und wann er den Titel aufgab
Der Band ist die dritte Publikation Kafkas, die eine und sich für die Umbenennung entschied, ist unklar.
Widmung trägt. Während Das Urteil Kafkas Verlob- Am 20. August 1917 schreibt Kafka jedenfalls an
ter Felice Bauer und Betrachtung als Dank für die Wolff: »Als Titel des neuen Buches schlage ich vor:
Verlagsvermittlung dem Freund Max Brod gewid- ›Ein Landarzt‹ mit dem Untertitel: ›Kleine Erzählun-
met sind, trägt Ein Landarzt die Widmung »Meinem gen‹« (B14–17 307). Die Entscheidung gegen den Ti-
Vater«. Dies war für Kafka offensichtlich von großer tel Verantwortung mag von Bedenken getragen ge-
Bedeutung: Als er Korrekturfahnen ohne Widmung wesen sein, dem Leser mit einem Titel, der derartig
erhält, erinnert er ausdrücklich daran, dass diese explizit auf eine ›tiefere‹ Bedeutungsschicht verweist,
einzufügen sei (1.10.1918, Briefe 245; vgl. DzL:A eine zu eindeutige Interpretationsrichtung vorzuge-
297). Da Hermann Kafka seinem Sohn die erhoffte ben (Stach, 201). Die Benennung des Bandes nach
Anerkennung für frühere Publikationen immer ver- einer der in ihm enthaltenen Erzählungen dagegen
sagt und lediglich mit einem lapidaren »Leg’s auf den verbleibt auf der Ebene der konkreten Texte und ent-
Nachttisch!« reagiert hatte (NSF II, 192), ist die Wid- hält sich jeder Deutungsanweisung.
mung wohl eher als ironische ›Trotzreaktion‹ denn An die Frage nach einem thematischen ›Kern‹
als Zeichen eines fortdauernden Buhlens um Aner- schließt unmittelbar die nach einer möglichen Grup-
kennung zu verstehen (Binder 1975, 234). In einem pierung der einzelnen Erzählungen an. Zwischen
Brief an Brod betont Kafka nochmals die Bedeutung den Texten des Bandes bestehen vielfältige motivli-
der Widmung, weiß aber gleichzeitig um deren Inef- che und formale, aber auch einfach produktionssei-
fektivität: tige Verbindungen. Eine erste Orientierung kann
hier bereits die Frage nach dem Entstehungskontext
Seitdem ich mich entschlossen habe, das Buch meinem
Vater zu widmen, liegt mir viel daran, daß es bald er- bieten. So sind beispielsweise Vor dem Gesetz und
scheint. Nicht als ob ich dadurch den Vater versöhnen Ein Traum eindeutig Texte aus dem zeitlichen (und
könnte, die Wurzeln dieser Feindschaft sind hier unaus- motivlichen) Umfeld der Process-Niederschrift.
reißbar, aber ich hätte doch etwas getan, wäre, wenn schon Während ersterer eine zentrale Rolle im Roman
nicht nach Palästina übersiedelt, doch mit dem Finger auf
der Landkarte hingefahren (März 1918; Briefe 237).
spielt, ist letzterer über den Namen der Hauptfigur
Josef K. mit dem Process verknüpft. In ähnlicher
Die Widmung ist also als Verweis auf die eigene Un- Weise stehen Eine kaiserliche Botschaft und Ein altes
abhängigkeit von den Vorstellungen des Vaters zu Blatt mit dem Erzählfragment Beim Bau der chinesi-
verstehen und signalisiert eine Emanzipation auch schen Mauer in Verbindung: Der erste Text wurde
im Schreiben (Neumann 1982, 131). von Kafka aus dem Zusammenhang des Fragments
Durch die beträchtliche Verzögerung bei der isoliert, der zweite ist über zentrale Motive (den Kai-
Druckvorbereitung waren die meisten der im Land- serpalast, die Nomaden aus dem Norden) mit die-
arzt-Band versammelten Texte bei dessen Erschei- sem verbunden (ä 250).
nen bereits in verschiedenen Zeitungen, Zeitschrif-
ten, Anthologien und Almanachen veröffentlicht Motivliche Querverbindungen
worden, manche allerdings ohne Autorisierung des
Autors oder seines Verlags (zur detaillierten Druck- Im Kontext unsicherer Identitäten und Realitäten
geschichte der Einzeltexte siehe DzL:A 300–315). (siehe Deutungsaspekte) spielt im Landarzt-Band
Der Band erscheint in einer Auflage von 1000 Stück u. a. das Motiv der ›Verwandlung‹ eine große Rolle:
in derselben bibliophilen Aufmachung wie die eben- Tiere sind zu Menschen geworden (L1, 14), Gegen-
falls von Wolff verlegte Betrachtung. stände werden zu Lebewesen (L10; als grammatische
220 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

›Verwandlung‹ auch in L2), Hypochonder werden (L3) über den Todeswunsch (L2), Todestraum (L13)
zu Todkranken (L2). Jedoch ist nicht der Prozess der und die Vorstellung vom Lebensende (L8, 10) bis
Transformation selbst beleuchtet (auch Gregor zum ›natürlichen‹ (L5, 9) oder erzwungenen Tod
Samsa in Die Verwandlung ist ja bei Beginn der Er- (L12). Es ist verführerisch, diesen Motiven einen
zählung bereits ein Käfer); der zwiespältige Charak- biografischen ›Bildspender‹ zu unterstellen und sie
ter der genannten Phänomene wird vielmehr meist auf eine idée fixe des Tuberkulosekranken zurückzu-
im Nebeneinanderschalten von verschiedenen führen. Der fatale Blutsturz, der die Diagnose auf
Wahrnehmungsebenen gezeigt. Tuberkulose beider Lungenspitzen nach sich zog, er-
Ein wiederkehrendes Motiv ist auch das der folgte jedoch erst am 13. August 1917, also nach Ab-
›Fremdheit‹ bzw. ›Fremdartigkeit‹ (L2 in der Kon- schluss der Landarzt-Erzählungen. Dennoch bezieht
stellation Arzt/Dorfbewohner, L4, 6, 7, 10) und das Kafka das Motiv der Wunde im Landarzt nachträg-
ergänzende der ›Anpassung‹ (L1, 14). In Ein altes lich selbst auf seine Erkrankung. An Max Brod
Blatt tritt außerdem noch die Frage nach der Mög- schreibt er am 5. September 1917: »Auch habe ich es
lichkeit von Kommunikation mit den Fremden in selbst vorausgesagt. Erinnerst Du Dich an die Blut-
den Vordergrund. Dem gegenüber steht der Fami- wunde im ›Landarzt‹?« (B14–17 314).
lien- oder Stammeskontext, der von einigen Erzäh-
lungen evoziert wird (L6, 8, 10, 11); hier wird z. T. Erzählform und Erzählverhalten
deutlich auf das Feld der Tradition angespielt (L6).
Massiv vertreten ist die Erfahrung des ›Schei- Eine auffällige Veränderung im Vergleich zu frühe-
terns‹. Sie zeigt sich in Ein Landarzt in Form fehl- ren Werkphasen ist Kafkas häufige Verwendung der
schlagender Rettungsversuche, in der Unmöglich- Ich-Erzählsituation in den Texten des Landarzt-Ban-
keit, ein Ziel zu erreichen (L5, 9) oder der eigenen des. Von den 14 Texten bedienen sich neun der ers-
Natur zu entkommen (L14), aber auch in der ent- ten Person Singular oder Plural (L1, 2, 4, 6, 7, 8, 10,
täuschten Hoffnung auf ›Erlösung‹ aus einem uner- 11, 14), eine spricht zu einem »Du« (L9) und vier Er-
träglichen Zustand (L2, 6). Dieses Motiv ist nicht auf zählungen werden in der dritten Person vermittelt
den Landarzt-Band beschränkt, sondern erscheint (L3, 12, 13). Von letzteren stammen zwei jedoch aus
auch in anderen Texten Kafkas (man denke nur an der Zeit vor der intensiven Arbeitsphase im Winter
Josef K.s vergebliche Versuche, das Wesen des Ge- und Frühjahr 1916/17. In den bis dahin vorliegen-
richts zu ergründen). den Romanfragmenten (Der Verschollene, Der Pro-
Ebenso wenig singulär ist die Vorstellung eines cess) sowie den größeren Erzählungen der Zeit vor
›Nicht-Wiedergutzumachenden‹, das als Versäumnis 1916/17 (z. B. Das Urteil, Die Verwandlung, In der
(L5), als Fehlsignal (L2) oder als ›Missverständnis‹ Strafkolonie) bedient sich Kafka ausschließlich der
(L4) auftritt. Für die Titelerzählung ist dieses Motiv Er-Form. Allerdings macht er bereits in den Texten
als eines der ›gefährlichen Ausfahrt‹ zu konkretisie- im ersten Erzählband Betrachtung vermehrt Ge-
ren (»Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt brauch von der ersten Person. In der häufigeren Ver-
– es ist niemals gutzumachen«; DzL 261), das in den wendung der Ich-Perspektive scheint sich ein neues
Bedenken des Großvaters in Das nächste Dorf ein literarisches Selbstbewusstsein auszudrücken, das
Echo findet. Das ins Unendliche verlängerte Herum- sich u. a. durch die verbesserte Arbeitssituation ent-
irren des Landarztes korrespondiert motivlich außer- wickeln konnte (Fickert 1988, 14).
dem dem des ewig wandernden Jäger Gracchus im Die (naheliegende) Schlussfolgerung, eine ›per-
Fragmentkomplex von 1916/17 (ä 273–276). sönlichere‹ Erzählform weise auf persönlichere In-
Spielten Familienstrukturen in den frühen Erzäh- halte hin, ist jedoch nicht angebracht. Keineswegs ist
lungen noch eine bedeutende Rolle, sind sie für den der Wandel in der Erzählperspektive als Ausdruck
Landarzt-Band nur bedingt von Bedeutung. Aller- einer stärkeren Bekenntnishaftigkeit der Texte zu
dings ist auffällig, dass dort, wo solche angesprochen werten. Im Gegensatz zu der durchaus noch biogra-
werden, aus der Perspektive des Vaters erzählt wird fisch zu verortenden Schuld- und Strafthematik des
(L10, 11). Das Vaterschaftsmotiv ist vielfach in Rich- Frühwerks (z. B. in Das Urteil ) hat hier eher eine Ent-
tung einer literarischen Vaterschaft gedeutet worden individualisierung der Themen stattgefunden. Wohl
(s. u. »Forschung«). lassen sich im Einzelnen Spuren eines »Strukturmo-
Häufig werden ›Krankheit‹ und ›Tod‹ themati- dells der privaten Erfahrung« finden, sie sind jedoch
siert: von der Wunde (L2, 14) und der ›Lungensucht‹ ins Überpersönliche und Unbestimmte verwischt
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 221

(Beicken, 295). Dementsprechend sind die Ich-Er- durch die sich alles, was dem Landarzt begegnet, als
zähler im Landarzt-Band keineswegs immer persön- »Außenwelt seiner Innenwelt« (Engel, 248) darstellt.
lich in das erzählte Geschehen involviert. Einige der ›Traumhaft‹ im engeren Sinne ist außerdem die Dar-
Texte weisen Erzähler auf, die zwar in der ersten Per- stellung von Bewegung in Ein Traum. Deren (nun-
son sprechen, dem Geschehen jedoch als Beobachter mehr nicht als Traum markiertes) Echo ist auch in
und Berichterstatter gegenüberstehen. Schon in der Ein Landarzt zu finden: Hier sind die Gesetze von
ersten Erzählung spricht ein Ich, von dem wir nichts Zeit und Raum scheinbar außer Kraft gesetzt, so dass
wissen – nicht einmal seine Einstellung zum pferde- eine Entfernung von zehn Meilen innerhalb weniger
artigen Dr. Bucephalus ist klar festzustellen. Momente zurückgelegt werden kann.
Ebenso unmarkiert ist die Erzählerstimme in Ein Dem Vokabular antirealistischen Erzählens ent-
Besuch im Bergwerk. Der Sprecher gehört offenbar stammen auch stilistische Besonderheiten wie die
nicht zur Gruppe der Ingenieure, die er beschreibt. teilweise grotesk anmutende Überzeichnung von Be-
Insofern ist seine Haltung repräsentativ für viele der wegungen und Gesten, die bereits Walter Benjamin
Ich-Erzähler im Landarzt-Band. Explizit themati- als ein Charakteristikum von Kafkas Texten hervor-
siert wird der Rückzug in die distanzierte Beobach- gehoben hat (Benjamin, 418). Gesten treten bei
terposition in der letzten Erzählung. Da der zivi- Kafka durch eine Art kurze Detailfokussierung in
lisierte Affe Rotpeter hier seine ›Rettung‹ durch den Vordergrund und erwecken durch ihre Deut-
Menschwerdung erzählt, ist zumindest ein persönli- lichkeit den Eindruck, sie meinten eigentlich etwas
ches Bekenntnis zur eigenen Geschichte erwartbar. anderes, hinter der Geste Liegendes. Im Landarzt-
Dennoch heißt es im letzten Satz: »ich berichte nur, Band sind es besonders die Dorfbewohner in der Ti-
auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe telerzählung, deren »pantomimische« Gesten den
ich nur berichtet« (DzL 313). Auch hier wird durch Leser befremden (Rösch 1973, 224). Aber auch in
einen Rückzug des Ich-Erzählers in sichere Distanz Ein Brudermord, einem Text, der stilistisch ohnehin
zum Geschehen eine bewusste Entindividualisie- stark dem Expressionismus verpflichtet ist, scheinen
rung vorgenommen. die Gesten der Figuren, um mit Benjamin zu spre-
chen, »zu laut« (Benjamin, 418):
Antirealistisches Erzählen Betrachtete das Messer gegen das Mondlicht; die
Schneide blitzte auf; nicht genug für Schmar; er hieb mit
Die Texte des Landarzt-Bandes sind in mehrfacher ihr gegen die Backsteine des Pflasters, daß es Funken
Hinsicht einem Muster antirealistischen Erzählens gab; bereute es vielleicht; und um den Schaden gut zu
machen, strich er mit ihr violinbogenartig über seine
verpflichtet, das sich beispielsweise, ganz basal, im
Stiefelsohle, während er, auf einem Bein stehend, vorge-
Auftreten sprechender Tiere zeigt. Auch tritt im beugt, gleichzeitig dem Klang des Messers an seinem
Landarzt-Band als Prinzip antirealistischen Erzäh- Stiefel, gleichzeitig in die schicksalsvolle Seitengasse
lens deutlich das Muster des Traumes hervor. Nicht lauschte (DzL 292 f.).
nur für die Erzählung Ein Traum, die explizit als
Traum Josef K.s markiert ist, auch für Ein Landarzt
ist mehrfach eine Traumstruktur in Anspruch ge- Reihenfolge der Texte
nommen worden. Es ist jedoch unabdingbar, zwi-
schen einem allgemein ›kafkaesken‹, sich der alltäg- Die Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen,
lichen Logik widersetzenden Szenario und einer dass Kafka auf die Reihenfolge der Texte innerhalb
spezifisch traumhaft angelegten Handlungsstruktur des Bandes größten Wert gelegt hat (z. B. Triffitt, 13;
zu unterscheiden. Wie Engel dargelegt hat, haben Rudloff, 31). Diese These wird durch mehrere in den
Träume mit ihrer spezifischen Subjekt-Objekt- Oktavheften und in einem Brief an Buber enthaltene
Struktur eine große Bedeutung für Kafkas Poetik ei- Auflistungen gestützt. Auffällig an der endgültigen
nes modernen Schreibens (Engel, 253). Sichtbar Anordnung der Texte ist zunächst, dass die erste und
wird dies z. B. im Landarzt in der seltsamen Bezo- die letzte Erzählung des Bandes eine thematische
genheit des Geschehens auf den Protagonisten und Klammer darstellen: Beide berichten von Figuren,
die auf rationale Weise nicht erklärbaren Einsichten die sowohl menschliche als auch tierische Züge auf-
der anderen Figuren in seine Gedanken (»als wisse weisen. Innerhalb dieser Klammer sind thematisch
er von meinen Gedanken, nimmt er [der Pferde- miteinander verbundene Erzählungen jedoch nicht
knecht] meine Drohung nicht übel«; DzL 254), in Blöcken angeordnet, sondern jeweils durch an-
222 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

dersartige Texte voneinander getrennt. Die Titeler- die Erfassung von Eigentümlichkeiten einzelner Er-
zählung steht nach einer ›Ouvertüre‹ an zweiter zählungen. Eine Interpretation des Bandes als Ge-
Stelle und lässt in Komprimierung bereits zentrale samtkonzept legt Heinz Politzer vor: Er liest die
Themen des Bandes anklingen. Texte als Illustrationen einer »Entmenschlichung«
Die frühen Planungsstufen des Landarzt-Bandes, (Politzer 1965 [1962], 143): Menschen verwandeln
die Inhaltsverzeichnisse in Oktavheft B und C, ent- sich in leblose Dinge, Tiere verlassen ihren natürli-
halten Titel, die in der gedruckten Sammlung nicht chen Platz und werden zu Zwischenwesen, und aus
mehr auftauchen: An zweiter Stelle der Liste in Ok- einer »zweiten Wirklichkeit« (154) tauchen gänzlich
tavheft B steht der Titel Kastengeist, an vierter Ein außermenschliche Dinge wie Odradek auf, die als
Reiter und an fünfter Ein Kaufmann (DzL:A, 289; Symptome einer ›unheilen Welt‹ zu deuten sind
OO1&2/FKA, H. 2, 146). Man kann entweder an- (155). In der formalen Gestaltung des Bandes kon-
nehmen, dass die Titel auf nicht fertiggestellte oder statiert Politzer eine immer stärkere Entwicklung
später verworfene und nicht erhaltene Texte verwei- hin zum parabolischen Schreiben (131).
sen oder, wie Binder das getan hat, die Titel mit Er- Gerhard Neumann ordnet die Erzählungen aus
zählungen, die in den Landarzt-Band aufgenommen dem Landarzt-Band in ein alle Texte aus dem Pro-
wurden, in Verbindung bringen. Binder geht davon duktionszeitraum Winter und Frühjahr 1916/17
aus, dass sich Kastengeist auf Ein Besuch im Bergwerk umfassendes Schema ein und stellt als gemeinsames
und Ein Reiter auf Das nächste Dorf bezieht (Binder zentrales Thema das der Identität bzw. Identifikation
1975, 212 u. 213). In der zweiten Liste auf den ersten heraus. Er unterscheidet vier Bereiche, in denen das
Seiten von Oktavheft C findet sich außerdem der Thema Identifikation verhandelt wird: familialer
nicht zuzuordnende Titel Die kurze Zeit (DzL:A, Kontext (z. B. in L12); sozialer Kontext (L3, 4, 8, 9);
289; OO3&4/FKA, H. 3, 161), der sich ebenso wie Tierwelt (L1, 6, 14); Kunst (L7, 10, 11; Neumann
Ein Reiter auf Das nächste Dorf beziehen ließe 1979, 315 f.).
(DzL:A, 290). Robert Kauf diskutiert eine Frage, die die Kafka-
Der Brief an Wolff vom 20. August 1917 nennt die Forschung bis heute beschäftigt: Welche Bedeutung
Erzählungen bereits in der Reihenfolge, in der sie hat der ursprünglich angedachte Titel Verantwor-
auch im Landarzt-Band erscheinen werden; lediglich tung für den Zusammenhang der einzelnen Erzäh-
Der Kübelreiter, ursprünglich an dritter Stelle zwi- lungen? Das Problem der Verantwortung fasst er ge-
schen Ein Landarzt und Auf der Galerie eingeordnet, nauer als die (durchaus ›religiös‹ zu nennende) Auf-
wird von Kafka zurückgezogen (B14–17 307). gabe, ein verantwortungsvolles Leben zu führen. Die
Erzählung Ein Landarzt lässt sich so als eine Refle-
xion über den Konflikt zwischen Beruf und Beru-
Forschung fung deuten – und dieser Konflikt ist natürlich der
des Autors (Kauf 1972, 426). Das Thema der Wahl
Einen ersten Versuch der motivlichen Verknüpfung des richtigen Weges werde in Ein Bericht für eine
der Textoberflächen, wie sie heute noch gern ge- Akademie zum Abschluss geführt: Hier entscheide
handhabt wird, unternimmt Binder in seinem Kom- sich der Affe nicht etwa für die Freiheit, sondern für
mentar zu den Erzählungen (Binder 1975). Einen den »Ausweg«, wodurch der problematische Cha-
Überblick über die Forschungspositionen bis in die rakter, den Verantwortung für Kafka gehabt habe,
70er Jahre bietet Peter U. Beicken (Beicken 1974, deutlich werde (432).
293–312); mit dem Veröffentlichungskontext der Stärker auf das Problem von »Schrift und Druck«
einzelnen Landarzt-Erzählungen und des Bandes zugespitzt ist Gerhard Neumanns Deutung des Ban-
befassen sich Joachim Unseld (Unseld 1982, 141– des. Er konzentriert sich auf das »Kompositionsprin-
191) und der Kommentar in DzL:A. Stärker auf Kaf- zip« der Sammlung und setzt sie in Beziehung zum
kas Lebens- und Arbeitssituation zur Zeit der Ent- früheren Werk. Die Texte stellten teils eine »Re-Écri-
stehung des Bandes bezogen ist Reiner Stachs ein- ture« von im Werk bereits angeklungenen Themen
fühlsame, aber trotzdem sachliche Darstellung im dar (Neumann 1982, 130), teils seien sie als Versuche
zweiten Teil seiner Kafka-Biographie (Stach 2008, einer »auktorialen Selbstkonstruktion im literari-
189–206). schen Werk« aufzufassen (132). Der ursprüngliche
Das Interesse am Landarzt-Band setzt in den Titel Verantwortung sei in diesem Zusammenhang
1950er Jahren ein und konzentriert sich zunächst auf als »Frage nach der Legitimationsinstanz der produ-
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 223

zierten Rede« zu verstehen (127). Das Problem, um Landarzt und Ein Bericht für eine Akademie, betont
das die 14 Texte des Bandes kreisen, sei das von Kaf- aber darüber hinaus eigentümlicherweise ausgerech-
kas Schreibsituation, das »ungelöste Problem der net die Bedeutung von Ein Traum, da sich in diesem
Verantwortung eigener Rede« (135). Text die »großen Themen des Landarzt-Bandes«
Malcolm Pasley legt bereits 1964 die These vor, komprimierten (Jagow 2008, 504) – obwohl gerade
Die Sorge des Hausvaters und Elf Söhne reflektierten diese Kurzprosa doch wahrscheinlich aus einer frü-
in enigmatischer Form Kafkas Verhältnis zu seinen heren Werkphase übernommen wurde.
eigenen Texten (Pasley 1964). Hierin stützt er sich Ritchie Robertson zeigt, wie einzelne Texte des
auf eine von Brod kolportierte Aussage Kafkas: »die Bandes (L1, 2, 6, 14) von Kafkas Auseinandersetzung
elf Söhne sind ganz einfach elf Geschichten, an de- mit dem Judentum beeinflusst worden sein könnten.
nen ich jetzt gerade arbeite« (Brod, 171). Nach Pas- Dies sind besonders die in der Zeitschrift Der Jude
leys 1965 weiter ausgearbeiteter und auf Ein Besuch erschienenen »Tiergeschichten« Schakale und Ara-
im Bergwerk erweiterter These rekurriert Kafka hier ber und Ein Bericht für eine Akademie, die sich auf
auf die Vorstellung von Autorschaft als Vaterschaft die Themen Messianismus und Assimilation bezie-
(Pasley 1965, 21). Die Ingenieure, die das Bergwerk hen lassen (Robertson 1988 [1985], 219), aber auch
besuchen, werden als die Texte bzw. Autoren von die Titelerzählung, die sich an Motive der chassidi-
Kurt Wolffs Almanach Der neue Roman (1917) ge- schen Tradition zurückbinden lässt (243).
deutet, die Kafkas Arbeit im Alchimistengässchen Zu den Einzeltexten des Bandes sind unzählige
mit ihrem ›Besuch‹ unterbrachen (31). Die An- Untersuchungen aus den verschiedensten Perspekti-
nahme eines selbstreflexiven Charakters sämtlicher ven vorgelegt worden. Es ist jedoch eine größere For-
Texte des Landarzt-Bandes kennzeichnet auch den schungsdichte in Bezug auf bestimmte Erzählungen
von Locher/Schiffermüller herausgegebenen Sam- festzustellen, während andere geradezu zu ›Stiefkin-
melband. Er bietet Aufsätze zu allen Einzeltexten (je- dern‹ der Forschung geworden sind. So liegen z. B.
doch nicht zum Band als Gesamtkonzept) unter ei- deutliche Schwerpunkte auf Ein Landarzt und Ein
ner gemeinsamen Perspektive: Die Landarzt-Erzäh- Bericht für eine Akademie; auch Auf der Galerie hat
lungen werden hier ausschließlich als selbstreflexive sich zum Paradestück der Kafka-Interpretation ent-
Texte gelesen, die sich ausnahmslos auf das Problem wickelt und wird häufig im schulischen Unterricht
des Schreibens beziehen. Der durch diese einseitige behandelt. Ebenfalls verstärkte Aufmerksamkeit gilt
Fokussierung beschränkte Gebrauchswert des Ban- Vor dem Gesetz, wobei ein guter Teil der Äußerun-
des wird z. T. durch die umfassende Bibliographie gen hierzu in das Umfeld der Process-Forschung ein-
ausgeglichen (Locher/Schiffermüller 2004). zuordnen ist. Weniger Beachtung gefunden haben
In der ersten Monographie zum Landarzt-Band die ›reihenden‹ Texte Ein Besuch im Bergwerk und
geht es Gregory Triffitt vor allem darum zu zeigen, Elf Söhne sowie Ein Brudermord; deutliche For-
wie grundsätzliche Strukturprinzipien Kafkas (Alle- schungslücken bestehen in Bezug auf die sehr kurze
gorik, Parabolik, Einsinnigkeit, Paradoxie) in den Erzählung Das nächste Dorf und auf Ein Traum.
Texten umgesetzt werden. Als zentrale Problematik
des Bandes erkennt er die Herausforderung empiri-
scher Realität durch den ›Einbruch‹ eines dieser Re- Deutungsaspekte
alität widersprechenden Phänomens (Triffitt, 103).
Verantwortung?
Dieses Muster macht er (problematischerweise)
auch für Erzählungen geltend, in denen gar keine ex- Die Frage nach der Implikation des ursprünglich an-
plizit ›unrealistischen‹ Elemente vorkommen, wie gedachten Bandtitels hat die Forschung nachhaltig
z. B. Ein Besuch im Bergwerk. Eine narratologische beschäftigt. Da der Titel jedoch nur in einem einzi-
Untersuchung, die insofern aufschlussreich ist, als gen Brief an Buber erwähnt wird, Kafka dagegen auf
Kafka im Landarzt-Band erstmals massiv von der der ›richtigen‹ Titelgebung Ein Landarzt gegenüber
Ich-Form Gebrauch macht, liefert Kurt Fickert dem Verlag mehrfach bestand, erscheint es beinahe
(1988); eine gattungsorientierte Verortung in den aufschlussreicher, dass der ursprüngliche Titel ver-
Zusammenhang von Märchen und Sagen findet man worfen wurde, als dass es ihn überhaupt gab. Ein
bei Holger Rudloff (1998). derartig über die Textebene hinausweisender Titel
Bettina von Jagow legt den Schwerpunkt im 2008 wie Verantwortung erweckt sehr stark den Eindruck
erschienenen Kafka-Handbuch auf die Texte Ein eines Werkzyklus – und das ist der Landarzt-Band in
224 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

dieser Form einfach nicht. Auch die Tatsache, dass eine Gattungsbezeichnung anmutenden Untertitel
Kafka die meisten der im Landarzt-Band erschiene- anscheinend, eine Brücke zu dem 1913 ebenfalls bei
nen Texte separat veröffentlichen ließ, scheint dafür Kurt Wolff erschienenen Band Betrachtung zu schla-
zu sprechen, dass der ›Werkcharakter‹ des Bandes gen. Aufschlussreich ist darüber hinaus die vom Ver-
nicht überbetont werden sollte. lag eigenmächtig vorgenommene Konkretisierung:
Zwar hat Kafka der Reihenfolge der Texte viel Auf- Aus Ein Landarzt wurde Der Landarzt. Gerade der
merksamkeit gewidmet und darauf geachtet, dass unbestimmte Artikel charakterisiert jedoch außer
der Verlag seine Vorstellungen möglichst genau um- der Titelerzählung noch sechs weitere Texte des
setzte. Allerdings sind diese Bemühungen um den Landarzt-Bandes (L4, 7, 9, 12, 13 und 14, dort sogar
Band eher als der nachträgliche Versuch zu bewer- doppelt). Auch die Kunstreiterin in L3 ist nur »ir-
ten, aus dem Textmaterial, das im Winter und Früh- gendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin«
jahr 1916/17 entstanden war, die bestmögliche Form (DzL 262; Hervorhebung Verf.). Bezeichnend ist in
herauszukristallisieren (vgl. Neumann 1982, 123). diesem Zusammenhang auch, dass nur wenige der
Es ist zu bezweifeln, dass der Gedanke an einen Band im Landarzt-Band auftretenden Figuren Namen ha-
Verantwortung für den Produktionszusammenhang ben und noch weniger davon ›echte‹ Namen sind,
von Bedeutung war. Vielmehr zeigt sich in Kafkas die Aufschluss über die Identität einer Figur geben
Bemühungen um eine adäquate Veröffentlichungs- können. So ist es z. B. gerade der Name des geheim-
form ein Muster, das auch in seinen Plänen auf- nisvollen Dingwesens Odradek, an dem sich die be-
scheint, verschiedene Erzählungen in Sammelbän- sorgniserregende Frage nach seiner Identität und
den namens Söhne bzw. Strafen zu veröffentlichen, seinem ›Leben‹ entzündet. Auch der Name des
(An K. Wolff, 11.4.1913, B13–14 166; An G.H. Meyer »neuen Advokaten« ist eher geeignet, die Paradoxie
15.10.1915, B14–17 142). Nach dem Scheitern des seines Wesens zu verschärfen als sie aufzulösen: Ist
Process-Projektes stellte die Zusammenfassung meh- er nun promovierter Anwalt oder das Schlachtross
rerer Erzählungen eine Möglichkeit dar, doch noch Alexander des Großen? Selbst der Affe Rotpeter,
zu einer größeren Form zu gelangen, die Kafka dessen Name ja einen konkreten Ursprung hat (die
›wertvoller‹ erschien als die Veröffentlichung von Narbe in seinem Gesicht), betont, wie ›falsch‹ diese
einzelnen kleinen Texten in verschiedenen Kontex- Bezeichnung sei: Den »widerlichen, ganz und gar
ten. unzutreffenden, förmlich von einem Affen erfunde-
Es ist zweifellos möglich, das Thema ›Verantwor- nen Namen Rotpeter« kann er nicht als Bezeichnung
tung‹ als Schablone auf den Landarzt-Band anzule- seiner selbst akzeptieren (301). All diese Namen ver-
gen. Mit dem ursprünglichen Titel hat man jedoch hindern also eher eine Erkenntnis über die Figuren,
noch keinen Schlüssel zur Bedeutung des Buches in sie stellen sich der reflektierenden Figur in den Weg
der Hand; möglicherweise, um im Bild zu bleiben, und nähren Zweifel an der Einheit des benannten
weist er noch nicht einmal den Weg zu einer Tür. Wesens.
Wenn man ohne Schablone arbeitet, lassen sich statt Weitaus häufiger werden die Figuren im Land-
einem mehrere zentrale Aspekte des Bandes aufzei- arzt-Band nur über ihre soziale Funktion gekenn-
gen, die zwar nicht die angenehme Illusion eines ho- zeichnet (Triffitt, 112). Im Zentrum der Titelerzäh-
mogenen Werkzyklus erzeugen können, dafür aber lung steht ein ›Landarzt‹, der sich mit einem ›Pferde-
möglicherweise dem Landarzt-Band in seiner ver- knecht‹ und einem namenlosen kranken ›Jungen‹
wirrenden Vielfältigkeit eher gerecht zu werden ver- auseinandersetzen muss; in L4 leidet ein ›Schuster‹
mögen. unter dem Einfall der Nomaden in seine Heimat-
stadt (die ebenfalls unbenannt bleibt); ein ›Mann
Unbestimmtheit und Verallgemeinerung vom Lande‹ diskutiert in L5 mit einem ›Türhüter‹.
Selbst die potenziell persönliche Beziehung des Ich-
Aus den ersten Druckfahnen, die Kafka am 27. Ja- Erzählers zu seinen elf Söhnen in L11 wird durch das
nuar 1918 korrigiert an den Verlag zurückschickte, Reihungs- und Aufzählungsprinzip parodiert. In
geht hervor, dass dieser seine Wünsche bezüglich des ironischer Zuspitzung findet sich das Prinzip der
Titels mit der gleichen Nachlässigkeit behandelte wie Unbestimmtheit in Schakale und Araber: Hier wird
die einzelnen Manuskripte: Der Titel in den Fahnen die Tatsache, dass es sich nur um einen Reisenden
lautete fälschlicherweise Der Landarzt. Neue Be- handelt, auf der Handlungsebene reflektiert, indem
trachtungen. Der Verlag beabsichtigte mit dem wie deutlich gemacht wird, dass die Schakale ihre Erlö-
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 225

sungshoffnung auf jeden beliebigen Europäer proji- fangen« beschrieben; DzL 283). Auch verwandelt er
zieren, der »nur zufällig« in ihre Gegend kommt sich im Laufe der Erzählung unmerklich von einem
(DzL 270). Gegenstand in ein Lebewesen, worauf z. B. seine Fä-
Kafka vermeidet also bewusst eine Individualisie- higkeit zu sprechen, aber auch der Wechsel vom Neu-
rung der Figuren. Dieses Verfahren, oder eher Nicht- trum zum Maskulinum hindeuten.
Verfahren, zeichnet sich bereits in früheren Texten Es stellt sich in den Landarzt-Erzählungen nicht
ab (in der Strafkolonie werden die Figuren z. B. auch nur immer wieder die Frage, wer oder was die ›Frem-
lediglich als ›der Reisende‹, ›der Offizier‹ und ›der den‹ sind, sondern auch, wie ihre Existenz den Er-
Verurteilte‹ bezeichnet) und wird in den späten Er- zähler betrifft. In Schakale und Araber wird diese
zählungen im Duktus des Landarzt-Bandes fortge- Frage direkt artikuliert: »Was wollt ihr denn, Scha-
führt: Im Zentrum des letzten von Kafka initiierten kale?« (271) fragt der Reisende und spricht damit
Erzählbandes steht ein Hungerkünstler. In der sehr aus, was auch den Schuster in Ein altes Blatt um-
produktiven Schaffensphase des Winters und Früh- treibt: Was sind die Absichten der Nomaden aus dem
jahrs 1916/17 stellt sich dieses Verfahren offenbar als Norden? Was werden sie tun, wenn sie kein Fleisch
funktionstüchtig heraus und wird deshalb beibehal- bekommen, was, wenn sie ausreichend versorgt
ten. Die stärkere Anwendung des Prinzips der Unbe- sind? Auch die Ingenieure in Ein Besuch im Bergwerk
stimmtheit auf Figuren (und auch auf Handlungs- bleiben dem Ich-Erzähler in ihrer Tätigkeit rätsel-
orte) markiert so auch formal eine Loslösung vom haft und »unverständlich« (278). Über eine Be-
früheren Werk. Im Gegensatz zu den häufig als ›ty- schreibung der einzelnen Ingenieure versucht der
pisch‹ für Kafkas Erzählen geltenden früheren Tex- Erzähler, dieser Fremdheit Herr zu werden. Dabei ist
ten wie dem Urteil, sind die Geschehnisse des Land- er jedoch auf den Augenschein angewiesen und sich
arzt-Bandes eben nicht auf ein konkretes Indivi- der Ungültigkeit seiner Beobachtungen durchaus
duum (und schon gar nicht auf den Autor) zu bewusst: »Man wagt über solche Herren kaum ein
beziehen. Das Festhalten im Unbestimmten hebt die bestimmtes Urteil abzugeben« (277). Das Prinzip
Fragen, die in den Erzählungen aufgeworfen wer- der aneinandergereihten Charakterisierungen wen-
den, auf eine allgemeinere Ebene und sollte an sich det Kafka ebenfalls in Elf Söhne an. Hier ist die Be-
schon Warnung genug vor einer allzu persönlich- ziehung zwischen Beschreibendem und dem Gegen-
keitsverhafteten Deutung der Texte sein. stand seiner Beschreibung nicht von Fremdheit, son-
dern im Gegenteil von Bekanntschaft, ja gar
Die beunruhigende Frage der Identität Verwandtschaft gekennzeichnet. Trotzdem scheint
in Bezug auf das Wesen der Söhne eine Unsicherheit
Gerhard Neumann stellt als zentrales Thema, das zu bestehen, die der Erzähler in seinen aneinander-
sich in verschiedener Weise in allen Texten des Ban- gereihten Charakterisierungen auszuräumen sucht.
des niederschlage, das der Identität heraus: »Der In der ersten und der letzten Erzählung des Ban-
Landarzt-Band scheint […] der Versuch zu sein, Re- des lässt sich die Frage nach der Identität des Pro-
deordnungen zu erproben, die der Frage ›Wer bin tagonisten nicht einmal in Bezug auf grundlegende
ich?‹ und der Gegenfrage ›Wer bist du?‹, ›Wer seid Kategorien entscheiden. Der »neue Advokat« Dr. Bu-
ihr?‹ angemessen sind« (G. Neumann 1979, 347). cephalus trägt noch den Namen des Streitrosses Ale-
Diese Frage entzündet sich immer wieder an der xander des Großen, das er einmal war. Auch kann
Konfrontation mit dem Anderen, Fremdartigen. Als der Beobachter Spuren der früheren Existenz in sei-
undurchschaubar Fremdes tritt dem Hausvater das nem Gang wahrnehmen:
äußerst komplexe, dabei aber sinnlose Dingwesen Doch sah ich letzthin auf der Freitreppe selbst einen
mit dem nicht auflösbaren Namen Odradek entgegen ganz einfältigen Gerichtsdiener mit dem Fachblick des
(L10). Die Fragen, was dieses Wesen eigentlich sei kleinen Stammgastes der Wettrennen den Advokaten
und was es tue, sind für den Hausvater nicht zu be- bestaunen, als dieser, hoch die Schenkel hebend, mit auf
dem Marmor aufklingendem Schritt von Stufe zu Stufe
antworten und werden so zur ›Sorge‹. Vorläufigen
stieg (251).
Erkenntnissen über sein Wesen entzieht sich Odra-
dek. Er verändert nicht nur seine Gestalt in der Wahr- Der neue Advokat stellt sich dem beobachtenden Er-
nehmung des Erzählers (so kann er z. B. zuerst kaum zähler als ein Halbwesen dar, das sowohl menschli-
»wie auf zwei Beinen aufrecht stehen«, wird später je- che als auch tierische Züge aufweist. Während der
doch als »außerordentlich beweglich und nicht zu Zwiespalt zwischen menschlicher und tierischer
226 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Identität in Der neue Advokat jedoch lediglich als Mann vom Lande hätte tun können, um ihr zu ent-
Auslöser einer Reflexion über die Richtungslosigkeit kommen, wird im Text nicht aufgelöst. In der länge-
der modernen Zeit dient (»viele halten Schwerter, ren Auslegung der ›Legende‹, die im Process vorge-
aber nur um mit ihnen zu fuchteln«; 252), steht er in nommen wird, diskutieren Josef K. und der Gefäng-
Ein Bericht für eine Akademie im Zentrum. Hier ist niskaplan die Frage der ›Täuschung‹, die die Parabel
es der Ich-Erzähler selbst, der sich im Rahmen eines provoziert: Wer hat wen getäuscht? Oder lag nur
›Berichtes‹ seiner eigenen Identität zu versichern Selbsttäuschung vor? Täuschung als Resultat einer
sucht (siehe »Einzelanalysen«). verfehlten Wirklichkeitsaneignung ist auch der Kern
der nur teilweise geglückten Verwandlung des Affen
›Wirklichkeit‹ und ›Täuschung‹ in den Varietékünstler Rotpeter in Ein Bericht für
eine Akademie: »sollte der Ausweg auch nur eine
An das Thema der Identität schließt sich die Frage Täuschung sein; die Forderung war klein, die Täu-
nach Wirklichkeit und Schein an, die in Auf der Ga- schung würde nicht größer sein« (305).
lerie besonders deutlich angesprochen wird. Hier
werden in zwei Absätzen einander widersprechende Erkenntnis
Realitäten vorgestellt: einmal ein erbarmungswürdi-
ges Ausbeutungsszenario im Konjunktiv (»Wenn ir- An den Fragen nach Wesen und Beschaffenheit der
gendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in Dinge offenbart sich eine grundlegende Erkenntnis-
der Manege auf schwankendem Pferd vor einem […] problematik. Im Kern vieler Texte des Landarzt-
erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbre- Bandes klafft eine ›Wissenslücke‹, die nicht zu schlie-
chung im Kreise rundum getrieben würde«; 262); ßen ist. Benjamin hat von der »wolkigen Stelle« im
einmal die blendende, beglückende Show, die der Zentrum von Vor dem Gesetz gesprochen (Benja-
Leser, trotz des Indikativs, verdächtigen muss, nur min, 420). Eine solche »wolkige Stelle« verhindert
Schein zu sein. Eine von beiden Szenerien scheint auch in vielen anderen der Landarzt-Texte die Er-
den Galeriebesucher (und den Leser) zu täuschen. kenntnis. So kann der Schuster in Ein altes Blatt über
Es muss kaum betont werden, dass die interessante den Charakter der Nomaden aus dem Norden und
Frage nicht diejenige ist, was denn nun ›wirklich‹ sei, die genauen Umstände ihrer Ankunft in der Haupt-
sondern vielmehr die, wie Kafka die Konzepte Wirk- stadt nur spekulieren. In ihrem Wesen sind sie ihm
lichkeit (oder gar Wahrheit), Schein und Täuschung fremd, so fremd, dass es nicht einmal möglich ist,
auf die Probe stellt. mit ihnen zu kommunizieren: »Sprechen kann man
Eine ›hypothetische‹ Wirklichkeit steht auch im mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie
Vordergrund von Eine kaiserliche Botschaft: Zwar nicht, ja sie haben kaum eine eigene« (DzL 264). Die
›gibt‹ es die Botschaft des sterbenden Kaisers, aber es Wissenslücke wird hier zur Ursache eines Gefühls
ist unmöglich, dass sie ihren Adressaten, das ange- von Bedrohung. Da die Nomaden in ihrer Fremd-
sprochene »Du«, erreicht. Diese Erkenntnis wird im heit absolut undurchschaubar sind, bietet selbst die
Text durch einen Wechsel in den Konjunktiv mar- Beschwichtigungsstrategie der Stadtbewohner keine
kiert: »Öffnete sich freies Feld, wie würde er [der Sicherheit, sondern eröffnet vielmehr die Möglich-
Bote] fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche keit einer neuen Unsicherheit: »Bekämen die Noma-
Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür« (281). Dass den kein Fleisch, wer weiß, was ihnen zu tun einfiele;
das Warten vergeblich ist, drückt sich im Indikativ wer weiß allerdings, was ihnen einfallen wird, selbst
der letzten Sätze aus: »Niemand dringt hier durch wenn sie täglich Fleisch bekommen« (265).
und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber Auch in Bezug auf das Wesen der rätselhaften
sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn Zwirnspule Odradek besteht eine grundlegende Un-
der Abend kommt« (282). sicherheit. Besonders besorgniserregend für den
In Vor dem Gesetz werden zwei sich gegenseitig Hausvater ist die absolute Sinnlosigkeit des Gebildes,
ausschließende Wirklichkeiten als gleichermaßen an der das Zusammenfügen von Augenscheinlichem
gültig präsentiert: Der Mann vom Lande erhält Zeit zu einer Erkenntnis scheitern muss: »Das Ganze er-
seines Lebens keinen Eintritt zum Gesetz, dennoch scheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlos-
ist der Eingang, vor dem er wartet, nur für ihn be- sen« (283). Diese Sinnlosigkeit – so wird durch den
stimmt und wird mit seinem Tode geschlossen. Wie Verweis auf zukünftige Generationen angedeutet –
diese Paradoxie zustande gekommen ist und was der ist anscheinend absolut. Abschließend heißt es:
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 227

Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner nen der Wunde ausweicht, wird offenbar, dass er die
Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirns- Bedeutungsschwere der verborgenen Zusammen-
faden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar
niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch hänge ahnt, aber sich schlichtweg der Erkenntnis
noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche verweigert.
(284).

Bezeichnenderweise basiert jedoch auch diese letzte, Einzelanalysen


größte Sorge auf einer Vermutung. Nicht einmal die
Ein Landarzt
Sinnlosigkeit ist eindeutig nachweisbar.
Wie der Hausvater an der Undurchschaubarkeit Die Erzählung Ein Landarzt gehört zu den am häu-
Odradeks, so leidet der Affe Rotpeter an der Uner- figsten interpretierten Texten des Bandes – und zu-
klärbarkeit seines eigenen Zustandes. Selbst durch gleich zu denen, die der Kafka-Forschung die meis-
die verzweifeltsten Maßnahmen wird der »Grund« ten Rätsel aufgegeben und sich einer eindimensiona-
für seine Ausweglosigkeit nicht greifbarer: »Warum len Deutung am vehementesten gesperrt haben.
das? Kratz dir das Fleisch zwischen den Fußzehen Dafür sind in erster Linie ihre scheinbar unendlich
auf, du wirst den Grund nicht finden. Drück dich deutbare Symbolik und ihre ›traumlogische‹ Hand-
hinten gegen die Gitterstange, bis sie dich fast zwei- lungsstruktur verantwortlich, die in einem einzigen,
teilt, du wirst den Grund nicht finden« (304). In der nicht unterbrochenen Absatz am Leser vorbeistürzt.
Selbstanrede, die den Leser quasi in die Perspektive In Anspielung auf den ersten Satz der Erzählung be-
des gefangenen Affen zwingt, zeigt sich, dass auch merkt Beicken: »Die ›Verlegenheit‹ des Landarztes
die implizierte Hoffnung, die Erkenntnis komme wird die seiner Interpreten, wenn sie sich an die Auf-
mit der Selbstkasteiung, trügerisch ist. lösung des Symbolgeflechts machen« (Beicken, 296).
Im aus dem Entstehungszusammenhang des Pro- Zu Zwecken der Auflösung wird häufig die Theorie
cess herausgelösten Text Ein Traum ist das Thema der Psychoanalyse herangezogen (z. B. Hiebel 1984);
der Erkenntnis auf eine konkrete ›Aufgabe‹ des Prot- dies kann jedoch dazu führen, dass der Text in ein
agonisten zugespitzt. Um die bedrückende Situation »ödipales Kuriositätenkabinett« verwandelt wird
aufzulösen, in der er sich befindet, muss er erken- (Valk, 352).
nen, dass das Geschehen ausschließlich ihn betrifft Kafka selbst schätzte die Erzählung verhältnismä-
und daraus schlussfolgern, was er zu tun hat. Josef ßig hoch ein. Im Tagebuch notiert er am 25. Septem-
K.s träumendem Ich gelingt dies (wenn auch nur im ber 1917: »Zeitweilige Befriedigung kann ich von
Traum, wie man mit Blick auf den Process anmerken Arbeiten wie ›Landarzt‹ noch haben, vorausgesetzt,
muss): »Endlich verstand ihn [den Künstler] K.; ihn daß mir etwas derartiges noch gelingt (sehr unwahr-
abzubitten war keine Zeit mehr; mit allen Fingern scheinlich) Glück aber nur, falls ich die Welt ins
grub er in die Erde, die fast keinen Widerstand leis- Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann« (T 838).
tete; alles schien vorbereitet« (298). In ähnlicher Im Vergleich mit der sonst geradezu notorisch kriti-
Weise scheint auch der Landarzt von den traumhaft schen Einstellung Kafkas gegenüber seinem literari-
anmutenden Ereignissen betroffen zu sein (vgl. auch schen Werk lässt die Bemerkung über »zeitweilige
»Einzelanalysen«). Er weicht jedoch der möglichen Befriedigung« deutlich eine positive Bewertung der
Erkenntnis wiederholt aus und flüchtet schließlich Erzählung erkennen. Als ein weiteres Indiz für Kaf-
vor der Wunde, die ihn so eindeutig angeht (Rösch kas Wertschätzung des Textes kann auch die Tatsa-
1973, 230). Dass mit dem Anerkennen der verborge- che gelten, dass er ihn zur Titelerzählung des Bandes
nen Zusammenhänge ein bedeutsamer Punkt er- machte (Binder 1975, 209).
reicht wäre, zeigt sich in der eigentümlich unmoti- Die Erzählung setzt mit einer festgefahrenen Situ-
viert erscheinenden Bemerkung des Landarztes: ation ein: Der Protagonist und Ich-Erzähler ist zu ei-
»Noch für Rosa muß ich sorgen, dann mag der Junge nem Kranken gerufen worden, kann aber seinen Hof
recht haben und auch ich will sterben« (DzL 257). nicht verlassen, da sein Pferd verendet ist:
Im Oktavheft G reflektiert Kafka ebenfalls über den Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise
Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Todes- stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in
einem zehn Meilen entfernten Dorfe; […] in den Pelz
wunsch: »Ein erstes Zeichen beginnender Erkennt- gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich
nis ist der Wunsch zu sterben« (NSF II, 43). An der reisefertig schon auf dem Hofe, aber das Pferd fehlte, das
Entschiedenheit, mit der der Landarzt dem Erken- Pferd (DzL 252).
228 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Diese erste, gleichsam festgefrorene Szene dient als Die ›Verlegenheit‹ des Arztes resultiert aus seiner
Prolog für eine Handlungsabfolge, die maßgeblich Unfähigkeit, dem Läuten der Glocke Folge zu leis-
durch das Prinzip der Bewegung im Raum struktu- ten, die ihn zur Erfüllung seiner Pflicht (und seiner
riert wird. Bestimmung?) ruft. »Zerstreut, gequält« (253) stößt
Eine wiederkehrende Bewegung ist etwa die des er mit dem Fuß die Tür zum Schweinestall auf, ohne
Sich-Öffnens (Busch, 37; Rösch 1973, 222): Unter dahinter eine Lösung für seine Situation zu erwar-
dem gedankenlosen Tritt des Landarztes öffnet sich ten. Wie in anderen Texten Kafkas ist aber gerade die
eine Möglichkeit zur Ausfahrt; die Tür des Hauses unbewusste, unbeabsichtigte Handlung entschei-
öffnet sich dem »Ansturm des Knechtes« (DzL dend für das Geschick des Protagonisten. Auch der
255); die Wunde hat sich vor den Augen des Arztes folgenreiche Schlag ans Hoftor in der gleichnamigen
»aufgetan« (258). Dem entspricht die Bewegung Erzählung (NSF I, 361–363) ist eine solche unbe-
des Landarztes im winterlichen Raum der erzähl- wusste Handlung (Rösch 1973, 222). In Ein Landarzt
ten Welt: Die grundlegende Bewegung ist die von eröffnet der gedankenlose Tritt gegen die Stalltür ei-
Aufbruch und Rückkehr (wobei letztere verhindert nen neuen Handlungsspielraum: In dem viel zu en-
wird). Auf den ersehnten Aufbruch zum Kranken, gen Schweinestall verbergen sich zwei prächtige
der zugleich eine Bewegung vom ›eigenen Hause‹ Pferde, die den Landarzt nicht nur zum Patienten
und Rosa weg ist, folgt unmittelbar die Ankunft auf bringen können, sondern dies auch in atemberau-
dem Hof des Kranken. Das dortige Geschehen wird bender, traumhafter Geschwindigkeit tun. Dass der
durch eine dreifache (innerliche wie äußerliche) Pferdeknecht und die geheimnisvollen Pferde auf ir-
Bewegung von Annäherung und Rückzug rhyth- gendeine Art und Weise mit dem Landarzt, der von
misch strukturiert, wobei jede dieser Annäherun- ihrer Existenz nichts zu wissen scheint, verbunden
gen ein anderes Ergebnis zeitigt. Während der sind, wird in der Bemerkung des Dienstmädchens
Landarzt zunächst zu der Erkenntnis gelangt, dass deutlich: »Man weiß nicht, was für Dinge man im ei-
der Junge »gesund, lediglich ein wenig schlecht genen Hause vorrätig hat« (DzL 253).
durchblutet und am besten mit einem Stoß aus dem Eine konkrete Zuordnung der verschiedenen Fi-
Bett zu vertreiben« sei (256), ist er nach einem guren nach Freudscher Terminologie (etwa der Pfer-
zweiten Blick auf den Patienten doch »irgendwie deknecht als Es-Anteil) würde bedeuten, Kafkas Be-
bereit, unter Umständen zuzugeben, daß der Junge kanntschaft mit der Theorie der Psychoanalyse und
doch vielleicht krank ist« (258). Die dritte Annähe- die Bedeutung, die er ihr beimaß, überzubewerten.
rung an den Kranken resultiert schließlich im Er- Dennoch kann der Pferdeknecht, der ja Teil des »ei-
kennen der tödlichen Wunde. Mit der Flucht des genen Hauses« ist, als ein verdrängter, ausgelagerter
Arztes vom Hof des Kranken kommt die vorher Persönlichkeitsanteil des Landarztes gelesen werden,
noch einmal beschleunigte Bewegung zum Erlie- der nur durch eine unbewusste Handlung aus sei-
gen: Statt der erhofften rasanten Rückfahrt zum ei- nem ›Versteck‹ hervorgerufen werden konnte. Die-
genen Hof scheint dem Landarzt eine ewige Irr- ser Pferdeknecht kommt aus dem Schweinestall her-
fahrt in der »Schneewüste« bevorzustehen: »›Mun- vorgekrochen wie ein Tier (die Metaphorik ist recht
ter!‹ sagte ich, aber munter ging’s nicht; langsam eindeutig), er bezeichnet die Pferde als »Bruder« und
wie alte Männer zogen wir durch die Schneewüste« »Schwester« (253) und wird vom Landarzt als »Vieh«
(261). bezeichnet (254). Auch sein Verhalten gegenüber
Die Handlung lässt sich grob in sieben Abschnitte dem Dienstmädchen ist triebhaft und animalisch.
untergliedern, die jeweils durch einen Wechsel in Seine sexuelle Begierde drückt er durch ein gewalt-
der Bewegung des Landarztes markiert sind: (1) ›Ver- sames ›Markieren‹ des Mädchens aus:
legenheit‹ und Festsitzen auf dem eigenen Hof; »Hilf ihm«, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem
(2) Entdeckung der Pferde und des Pferdeknechts Knecht das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum
im Schweinestall, Bedrohung Rosas; (3) Fahrt und war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein
erste Annäherung an den Patienten; (4) zweite An- Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir;
rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens
näherung; (5) dritte Annäherung (Entdeckung der
Wange (254).
Wunde); (6) ›Ritual‹ des Ausziehens und Ins-Bett-
Legens; (7) Flucht vom Hof des Kranken (vgl. mit Mit dem Übergriff des Pferdeknechts, der auch
leichter Abweichung in Bezug auf die Gliederung durch einen Wechsel im Erzähltempus als bedeutsa-
der Untersuchungssequenzen Hiebel 1984, 36). mes Ereignis markiert wird, verändert sich der Blick
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 229

des Landarztes auf das Mädchen. Während es zu Be- keine Distanz zwischen der Sphäre des Landarztes
ginn der Erzählung nur als Neutrum bezeichnet und dem Hof des Kranken zu geben: »als öffne sich
wurde, macht es der Pferdeknecht, dessen Interessen unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof meines
eindeutig sexueller Natur sind, gewissermaßen Kranken, bin ich schon dort« (255). Treffend be-
(grammatisch gesehen) zur Frau: »Ich fahre gar nicht merkt Rösch: »Ein Kranker, den man so erreicht, ist
mit, ich bleibe bei Rosa« (254). Von nun an ist sie kein Fremder« (Rösch 1973, 227). Auch die Wunde
auch für den Ich-Erzähler eine ›sie‹ und wird bei ih- des Jungen scheint den Arzt persönlich anzugehen.
rem Namen genannt. Im Verlauf der Erzählung tritt Dafür spricht, dass er der Erkenntnis der Krankheit
»dieses schöne Mädchen, das jahrelang, von mir des Jungen ausweicht und erst beim dritten Hinse-
kaum beachtet, in meinem Hause lebte« (257), als hen die offenbar tödliche Wunde in der Seite des
das gewissermaßen verspätet erkannte Objekt der Jungen »auffindet« (DzL 258). Die erste Annähe-
Begierde des Landarztes in Erscheinung und stellt rung an den Patienten hingegen lässt den Arzt kei-
sich ihm als die Aufgabe dar, deren Lösung seine nerlei Krankheit erkennen. Dem unverhofft geäu-
Rückkehr dringend notwendig macht. ßerten Todeswunsch des Jungen, der ja bereits auf
Der Landarzt lässt sich von der Pracht des Pferde- eine schwerwiegende Erkrankung hinweist, begeg-
gespanns gleichsam ›verführen‹, seinen Hof zu ver- net er mit Ausweichen in das Gebaren des Arztes:
lassen, obwohl Rosa durch den Pferdeknecht Gefahr »Ich öffne die Tasche und suche unter meinen In-
droht. Das Mädchen und die Fahrt stellen hier zwei strumenten; der Junge tastet immerfort aus dem Bett
Chancen dar, zwischen denen sich der Landarzt ent- nach mir hin, um mich an seine Bitte zu erinnern;
scheiden muss. Rosa wird so zum »Kaufpreis« (254), ich fasse eine Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und
den er für die Fahrt bezahlen muss. Die zwingende lege sie wieder hin« (255).
Bedingung, die der Aufbruch des Landarztes für das Zu Beginn der Erzählung ist es der dringendste
Schicksal Rosas erzeugt, wird deutlich in der Gleich- Wunsch des Landarztes, zu seinem Patienten zu ge-
zeitigkeit der Bewegung des Gespanns und des Ge- langen, der als »Schwerkranker« bezeichnet wird
waltaktes gegen das Mädchen: »der Wagen wird fort- (252). Nun, wo er angekommen ist, drängen sich zu-
gerissen, wie Holz in die Strömung; noch höre ich, nehmend Gedanken an die von ihm zurückgelas-
wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des sene Rosa in den Vordergrund: »Jetzt erst fällt mir
Knechtes birst und splittert« (255). wieder Rosa ein; was tue ich, wie rette ich sie, wie
Die Opposition, die hier angedeutet wird, er- ziehe ich sie unter diesem Pferdeknecht hervor, zehn
scheint als die zweier einander ausschließender Le- Meilen von ihr entfernt, unbeherrschbare Pferde vor
bensentwürfe. Auf Kafkas Biographie bezogen mag meinem Wagen?« (256). Erst hier, wo sich ihm eine
man hier an den Zwiespalt zwischen der Sehnsucht andere Aufgabe stellt, erkennt der Landarzt, dass er
nach einer bürgerlichen Existenz (die die Ehe ein- in seinem »eigenen Hause« etwas versäumt hat.
schloss) und dem Bedürfnis, sich seiner literarischen Auch das wie eine Strafe anmutende Schlussszenario
›Berufung‹ zu widmen, denken (Fingerhut 1997, 48). scheint darauf hinzuweisen, dass im Laufe der Er-
Jedoch wird beim Versuch, Rosa als Zeichen der ers- zählung ein Fehler begangen wurde, der nicht wie-
teren und die Fahrt zum Kranken als Zeichen der der gutzumachen ist – diese Konstellation ist aus an-
letzteren Existenzweise zu konkretisieren, deutlich, deren Erzählungen Kafkas vertraut (Busch 25). Aber
dass gerade die Perspektivierung der ›Berufung‹ worin besteht dieser Fehler? Wäre es die Pflicht des
doppelbödig ist. Zwar ist es von Anfang an erklärtes Landarztes gewesen, bei Rosa zu bleiben? Hätte er
Ziel des Landarztes, dem Ruf der Nachtglocke zu fol- sich der Ausfahrt wirklich entziehen können?
gen, jedoch wird die Ausübung des Berufs auch als Bezeichnenderweise ist es nicht nur Rosa, die der
unangenehme Pflicht charakterisiert (256). Schließ- Landarzt zu ›retten‹ versäumt. Auch der Junge mit
lich wird der Vorgang der Berufung mittels der seiner Wunde hat vom Landarzt nichts zu erwarten.
Nachtglocke durch den seltsamen Neologismus Zynisch entzieht sich der Arzt seiner Verantwortung
»Fehlläuten« (261) im letzten Satz in ein zwiespälti- für den Patienten: »So sind die Leute in meiner Ge-
ges Licht gerückt. gend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen«
So wie der Pferdeknecht in einem geheimnisvol- (DzL 258 f.). Das Motiv der missglückten Rettung
len Verhältnis zum Landarzt zu stehen scheint, ist tritt insgesamt drei Mal auf: Einmal in Bezug auf
auch der Patient als eine Figur markiert, die auf den Rosa (Rettung vor dem Pferdeknecht), einmal in Be-
Landarzt verweist. Schon allein räumlich scheint es zug auf den kranken Jungen (vor dem Tod durch die
230 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

›Wunde‹) und zuletzt als Rettung des Arztes selbst Tiefe Rechtfertigung heißt« (T 831). Auch wenn auf
(vor dem absehbaren Ausgang des archaischen Ritu- biografische Interpretationen hier weitgehend ver-
als, das die Dorfbewohner mit ihm veranstalten? vor zichtet werden soll, liegt doch der Verdacht nahe,
dem endgültigen Verlust Rosas und der Praxis, der ja dass sich in der Konstruktion der Landarzt-Figur ein
zum Schluss doch eintritt?) (Valk, 366). persönliches Erfahrungsmuster Kafkas nieder-
Rosas Rettung ist in dem Moment verwirkt, in schlägt. Vor diesem Hintergrund scheint auch der
dem der Arzt zum Hof des Patienten aufbricht. Auch ›persönliche‹ Aspekt der Landarzt-Erzählung we-
wenn die Vergewaltigung durch den Pferdeknecht sentlich bedeutsamer zu sein als das durchaus vor-
später in der Imagination des Landarztes als noch zu handene zeitkritische Moment, das man nicht über-
verhinderndes Ereignis aufscheint (»wie rette ich sie, betonen sollte. Zwar wird der Verlust des Glaubens
wie ziehe ich sie unter diesem Pferdeknecht hervor«; (259) und der »Frost […] dieses unglückseligsten
DzL 256), ist das Präsens der Wiedergabe in diesem Zeitalters« beklagt (261); diese Moderne-kritisch
Fall trügerisch: Was der Arzt durch seine schnelle konkretisierbaren Details dienen jedoch lediglich als
Rückkehr verhindern zu können glaubt, ist ja schon Grundierung des eigentlichen Konfliktes, der sich
längst geschehen. Wie aber verhält es sich mit den im ›eigenen Hause‹ abspielt.
Chancen des Jungen? Nachdem der Arzt mehrfach Die Rettung des Jungen soll nicht durch eine Ope-
von Familienmitgliedern an den Jungen herange- ration oder ein Medikament vollzogen werden, son-
führt worden ist, erkennt er dessen Krankheit in dern durch den Körper des Arztes selbst. Dass dieser
Form einer Wunde, die seinen Patienten offenbar quasi als ›Kaufpreis‹ für die Heilung des Jungen hin-
von Geburt an quält. Diese Wunde ist von seltsamer gegeben werden soll, wie Rosa der ›Kaufpreis‹ für die
Beschaffenheit: Sie befindet sich in der »Hüftenge- Fahrt war, wird in den Überlegungen des Landarztes
gend« (wie die Wunde Rotpeters im Bericht). Im Ge- deutlich: »verbraucht ihr mich zu heiligen Zwecken,
gensatz zu dieser ist sie jedoch nicht vernarbt, son- lasse ich auch das mit mir geschehen« (DzL 259;
dern dauerhaft offen »wie ein Bergwerk [vgl. L7] Hervorhebung Verf.). Begleitet wird das archaisch
obertags« (258). Obwohl diese Wunde offensichtlich anmutende Ritual, bei dem der Arzt entkleidet und
das Verderben des Jungen bedeutet (zu allem Über- dem Kranken an die verwundete Seite gelegt wird,
fluss befinden sich in ihr auch noch Würmer), wird von einem Lied, das anscheinend bekannte Wahr-
sie in erster Linie als ästhetisches Phänomen be- heiten verbreitet, denn es heißt:
schrieben: Der Arzt spricht von der »Blume« (258)
ein Schulchor mit dem Lehrer an der Spitze steht vor
in der Seite des Jungen, der Patient selbst bezeichnet dem Haus und singt eine äußerst einfache Melodie auf
sie als »schöne Wunde« (260). In der abschließenden den Text:
Ansprache des Arztes wird sie gar zum Zeichen ei- »Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
nes Auserwähltseins, das nicht jedem zuteil wird: Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt«
»Viele bieten ihre Seite an und hören kaum die Ha- (259; Herv. Verf.).
cke im Forst, geschweige denn, daß sie ihnen näher
kommt« (260). Unter der Decke kommt es zu einem vertrauensvol-
Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Wunde len Gespräch zwischen Arzt und Patient, das sich als
des Jungen in der »Hüftengegend« mit der Wunde eine Art »Abrechnung« (Valk, 365) des Jungen mit
Jakobs aus dem Kampf mit dem Engel in Verbindung dem Arzt gestaltet. Bezeichnenderweise thematisie-
gebracht werden kann (Emrich 1970 [1957], 131); ren auch die Vorwürfe des Jungen die Unfähigkeit
auch auf die Seitenwunde Christi wurde verwiesen des Arztes, selbstständig ›voranzukommen‹: »mein
(Sokel 1964, 280). Diese traditionellen Deutungs- Vertrauen zu dir ist sehr gering. Du bist ja auch nur
möglichkeiten des Symbols der Wunde scheinen je- irgendwo abgeschüttelt, kommst nicht auf eigenen
doch nicht sehr belastbar zu sein. Wesentlich tragfä- Füßen« (DzL 259 f.). Der Landarzt erkennt die Vor-
higer ist die Verbindung zwischen der Wunde und würfe des Jungen an, legitimiert sein Verhalten je-
dem zurückgelassenen Dienstmädchen, die durch doch wieder einmal mit dem Verweis auf seinen Be-
das Wort »rosa« aufgerufen wird. Das Wortspiel evo- ruf: »es ist eine Schmach. Nun bin ich aber Arzt. Was
ziert gewissermaßen die Vorstellung der Frau als soll ich tun?« (260).
Wunde, als ›Stachel im Fleisch‹ des Arztes. Im Tage- Selbst jetzt, wo der Landarzt zur Berührung mit
buch spricht Kafka am 15. September 1917 von der der Wunde gezwungen ist, weigert er sich, den Zu-
»Wunde, deren Entzündung F. [Felice] und deren stand der Verwundung als eine auch ihn betreffende
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 231

Grunddisposition zu erkennen. Zwar ist ihm be- Schakale und Araber


wusst, dass der Junge an seiner Wunde sterben wird,
er versucht jedoch, diese zum Stigma des Auser- Die Erzählung erschien im Oktober 1917 zusammen
wählten aufzuwerten (260). Kaum hat er den Kran- mit dem Bericht in der Zeitschrift Der Jude. Martin
ken, der ihm unangenehme Wahrheiten sagt, so zum Buber hatte die beiden Texte aus einer Auswahl von
Schweigen gebracht, ergreift er vor der Wunde die zwölf Erzählungen, die ihm Kafka zuschickte, für die
Flucht. In deren Zielpunkt wird noch einmal die Publikation ausgesucht und vorgeschlagen, sie unter
Verbindung von Wunde und Frau offenbar: »beeil- der Gattungsbezeichnung ›Gleichnisse‹ zu präsen-
ten sich die Pferde wie auf der Herfahrt, sprang ich ja tieren. Diesem Versuch, die Rezeption der Texte in
gewissermaßen aus diesem Bett in meines« (260). eine allegorisierende Richtung zu lenken, entzieht
Die rätselhafte schnelle Verbindung, die die »unirdi- sich Kafka jedoch: »Gleichnisse bitte ich die Stücke
schen« Pferde (261) zwischen den beiden Höfen ge- nicht zu nennen, es sind nicht eigentlich Gleichnisse;
schaffen haben, konkretisiert sich in der Vorstellung wenn sie einen Gesamttitel haben sollen, dann am
des Landarztes zu einer Verbindung zwischen dem besten vielleicht ›Zwei Tiergeschichten‹« (12.5.1917;
Krankenbett und dem Bett als Ort sexueller Hand- B14–17 299). Kafkas höfliche Ablehnung schließt
lungen. die Möglichkeit, die Texte als Gleichnis zu lesen,
Die Flucht erweist sich jedoch als Fehlschlag; die nicht ganz aus: Sie seien nur »nicht eigentlich Gleich-
Rückkehr ins eigene Bett ist nach dem Versäumnis nisse«, also nicht Gleichnisse im üblichen Sinn. Wie
nicht mehr möglich, der Landarzt scheint zum ewi- viele von Kafkas Texten scheinen sie parabolisch zu
gen Herumirren ›verflucht‹. Dieser Zustand wird sein und daher auf etwas Anderes zu verweisen als
durch das Erzähltempus in besonderer Weise akzen- das, was sie benennen. Oft jedoch ist die Zuweisung
tuiert. Nach einer kurzen Passage im Imperfekt (zu zu einem konkreten Gegenstandsbereich unmöglich,
den Bruchstellen im Tempusgebrauch vgl. Cohn da die dafür im Text angebotenen Hinweise mehr-
1968) wechselt der Erzähler nämlich in der abschlie- deutig und widersprüchlich sind. Auch der urtei-
ßenden Klage wieder ins Präsens: lende Duktus, der Gleichnissen meist eigen ist, fehlt
in Kafkas Texten häufig (Kauf 1972, 422).
Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende
Praxis ist verloren; ein Nachfolger bestiehlt mich, aber Was ist aber durch die Bezeichnung ›Tiergeschich-
ohne Nutzen, denn er kann mich nicht ersetzen; in mei- ten‹ gewonnen, die beiden Texten vorangestellt
nem Hause wütet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist sein wurde? Man könnte sagen, sie biete ein für Kafka an-
Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste genehmes Maß an Unbestimmtheit, eine Möglich-
dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdi-
schem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter
keit, der Erwartungshaltung zu entkommen, die die
Mann umher (DzL 261). Gattungsbezeichnung ›Gleichnis‹ ungleich stärker
aufrufen würde. Außerdem verzichtet sie darauf, die
Das Erzähltempus ist hier mit Cohn (1968) als ein Erzählung explizit an einen hinter dem Text liegen-
»eternal present« aufzufassen, das die Beschreibung den Sinn anzuschließen und damit den Leser aufzu-
der Situation des herumirrenden Landarztes ins fordern, nach diesem zu suchen. Stattdessen bleibt
Überzeitliche, Ewige zu heben vermag. sie beim Text: Es wird von Tieren erzählt, also sind
Der Weg, der am Anfang der Erzählung beschrit- es in erster Linie ›Tiergeschichten‹. In welcher Weise
ten wurde, führt also nirgendwohin. Es ergibt sich die Tiere, hier eben die ›Schakale‹, symbolisch auf-
eine fast kreisförmige Struktur: Zwar verfügt der geladen sind und so dennoch als parabolische Si-
Landarzt am Ende über ein Pferd, sogar deren zwei, gnale funktionieren, ist eine Frage, die der Lektüre
trotzdem ist seine Situation mindestens ebenso ›ver- nicht vorangehen, sondern ihr folgen soll.
legen‹ wie sein Festsitzen auf dem eigenen Hof zu In dieser speziellen Tiergeschichte wird ein Rei-
Beginn der Erzählung. Die Reise, die der Landarzt sender aus dem »Norden« (DzL 270) von einer
antritt, erfüllt einzig und allein die Funktion, ihn die Gruppe Schakale zu ihrem Retter auserkoren. Wäh-
Bewegungslosigkeit, die bereits am Anfang angedeu- rend der Rast in einer Oase wird er von den Tieren
tet wurde, als unausweichliches Schicksal anerken- ›gestellt‹; sie bedrängen ihn mit ihren Körpern (»ei-
nen zu lassen (Rösch 1973, 218). ner kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem
Arm durch, eng an mich«; 270) und mit ihren For-
derungen. Der Reisende wird – obwohl betonterma-
ßen »nur zufällig« in der Wüste (270) – von den
232 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Schakalen als zentrale Figur eines Erlösungsmythos sich das Schreiben immer irgendwie aus dem Leben,
verehrt, der fester Bestandteil der Tradition der aber was das Werk letztlich enthält, sind nur Spuren
Schakale zu sein scheint: Sie sehen in ihm eine Art dieses Lebens und nicht die konkreten Selbstthera-
Messias (Rubinstein 1967, 14; Sokel 1986, 200; Tis- pien, die die Forschung so häufig in Kafkas Texten
mar, 309). Sowohl die jüdische als auch die christli- gesehen hat.
che Tradition kennt die Prophezeiung vom Erschei- Gegen die schmutzige Körperlichkeit der Araber,
nen des Messias, der die Welt ›erlösen‹ (und das der die Schakale ausgesetzt sind, wollen sie den »Ver-
heißt: für immer verändern) wird. In der jüdischen stand« in Anschlag bringen, als dessen Vertreter der
Geschichte traten auch immer wieder ›falsche‹ Mes- Reisende aus dem Norden ihnen gilt (DzL 271). Der
sias-Anwärter auf; als ein solcher, der die Erlösungs- Reisende, der als Ich-Erzähler auch das Geschehen
hoffnung der Schakale nicht erfüllen kann und will, vermittelt, lässt sich jedoch in den Konflikt nicht hin-
erscheint auch der Reisende. einziehen. In seiner Distanziertheit gegenüber dem
Der Zustand, aus dem die Schakale erlöst sein Geschehen, in das er eingreifen soll, ist er dem Rei-
wollen, ist ihr ›Verstoßensein‹ (DzL 271) unter das senden in der Strafkolonie vergleichbar (Tismar, 318;
Volk der Araber. Sie befinden sich anscheinend in Triffitt, 152). Er betont seine Beobachterposition,
einer Art Diaspora-Situation, in der ihr Volk ge- seine Distanz zur Welt, die angeblich vom Streit zwi-
zwungen ist, nach den Gesetzen einer anderen, ih- schen Schakalen und Arabern »entzweit« wird (273).
nen widerwärtigen Gemeinschaft zu leben. Der Höchstens versucht er, dem Streit durch den Verweis
Grund für die Abneigung der Schakale gegen ihr auf seine Dauer die Brisanz zu nehmen: »ich maße
›Wirtsvolk‹ ist die ›Unreinheit‹ der Araber. Diese mir kein Urteil an in Dingen, die mir so fern liegen;
zeigt sich aus Sicht der Schakale zum einen in der es scheint ein sehr alter Streit; liegt also wohl im Blut;
Gewohnheit, Tiere gewaltsam zu töten, um sie zu es- wird also vielleicht erst mit dem Blute enden« (271).
sen, zum anderen einfach im ›Schmutz‹ ihrer Kör- Die Bemerkung über das Blut wird jedoch von den
perlichkeit: Schakalen nicht als Verweis auf die Vererbbarkeit
des Streits, sondern als Signalisierung einer Bereit-
ruhig soll alles Getier krepieren; ungestört soll es von
uns leergetrunken und bis auf die Knochen gereinigt schaft zum Blutvergießen fehlgedeutet (Sokel 1986,
werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir […]. 199 f.).
Schmutz ist ihr Weiß; Schmutz ist ihr Schwarz; ein Nun wird deutlich, was die Schakale von dem Rei-
Grauen ist ihr Bart; speien muß man beim Anblick ihrer senden wollen. Lag der Fokus vorher auf dem Leiden
Augenwinkel; und heben sie den Arm, tut sich in der
Achselhöhle die Hölle auf (273).
an der Unreinheit der Araber, wird nun eine kon-
krete Aktion eingefordert, die dieses beenden soll.
Die Kritik der Schakale an den Essgewohnheiten der Mit einer kleinen rostigen Nähschere soll der Rei-
Araber und ihre Forderung nach »Reinheit« lässt die sende den Arabern die Hälse durchschneiden. Die
jüdischen Speisegesetze anklingen, die z. B. das Ver- Forderung ist schlichtweg absurd – ebenso wie das
zehren von Blut untersagen (Tismar, 312). Instrument zu dieser Erlösung. In ihrer erbärmli-
Generell sind (Un-)Reinheit und die Überwin- chen Untauglichkeit ist die rostige alte Schere, die
dung der Körperlichkeit bei Kafka Themen, die sich die Schakale nicht einmal selbst bedienen können,
besonders in den Briefen an Felice und Milena im- da sie »nur das Gebiß« (273) haben, ein Zeichen für
mer wieder zum Problem gestalten. An Milena den trügerischen Charakter dieser Erlösungshoff-
schreibt er am 26. August 1920: »Schmutzig bin ich nung (Tismar, 309).
Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein sol- Das Anbieten der Schere markiert einen Wende-
ches Geschrei mit der Reinheit. Niemand singt so punkt in der Erzählung. Bevor der Reisende auf die
rein, als die welche in der tiefsten Hölle sind« (BM Forderung der Schakale reagieren kann, übernimmt
228). Hiermit soll jedoch keineswegs behauptet wer- ein Araber die Szene und verscheucht die Tiere mit
den, dass Kafka nur eine persönliche Problematik in der Peitsche. Im Dialog zwischen Araber und Rei-
das Gewand einer parabolischen Tiererzählung klei- sendem tritt nun eine ganz andere Wirklichkeit zu-
det. Zwar ist das Kernproblem der Schakale eines, tage als die von den Schakalen beklagte. Die Begeg-
für das man eine Entsprechung in den persönlichen nung zwischen ihnen und dem Europäer stellt sich
Äußerungen Kafkas finden kann. Weder diese noch im Nachhinein als keineswegs so geheim und ein-
andere Texte sollten jedoch als ›Illustrationen‹ der malig heraus, wie sie sich aus der Perspektive des
Lebensproblematik gelesen werden. Natürlich speist Ich-Erzählers zunächst darstellte. Klage und Forde-
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 233

rung der Schakale sind vielmehr ein sich wiederho- also doch in den ›Juden‹ und habe es immer für un-
lendes Schauspiel, dessen zweite Hauptrolle an jeden möglich gehalten« (B14–17 299). Es muss jedoch
beliebigen Europäer vergeben wird. Die Beziehung hervorgehoben werden, dass der Text selbst unge-
zwischen Schakalen und Arabern wird von den Ara- wöhnlich viele und ungewöhnlich deutliche jüdische
bern dominiert und ist derjenigen von Herr und Motive enthält: Zu nennen sind hier besonders die
Hund vergleichbar (»wir lieben sie deshalb; es sind Vererbung über die weibliche Linie (DzL 270), die
unsere Hunde«, DzL 274; vgl. Tismar 310). Dies wird Diaspora-Situation (271), die Forderung nach Rein-
nicht allein durch die Züchtigung mit der Peitsche heit in Bezug auf den Verzehr von Tieren (273) und
demonstriert, sondern auch durch die ›Fütterung‹ die messianische Erlösungshoffnung (270 u.ö.).
mit einem toten Kamel. Beides wird als visuelle Evi- Vor diesem Hintergrund muss natürlich auch
denz einer ›objektiven‹ Realität dem Reisenden vor nach den Implikationen der Tiersymbolik gefragt
Augen gestellt. »Sieh nur«, fordert der Araber den werden. Die wenig schmeichelhafte Verbindung von
Reisenden auf (DzL 274), während die Ausführun- Juden und Schakalen findet in der Literaturge-
gen der Schakale über den Erlösungsmythos mit den schichte ihre Vorgänger (z. B. bei Heine, Grillparzer,
Worten »Glaube es!« enden (270). So wird bereits Stifter; siehe Tismar, 310 f.). Das Bild des Juden als
auf der sprachlichen Ebene markiert, welche die ob- Schakal kann aus zwei unterschiedlichen Perspekti-
jektivere Wirklichkeit ist, die sich mit derjenigen des ven zugänglich gemacht werden: Einmal spricht es
Reisenden vereinbaren lässt. das antisemitische Stereotyp der parasitären Exis-
Angesichts des Kadavers, der ihnen vorgeworfen tenz an. Zum anderen kann es auch die zionistische
wird, vergessen die Schakale den Konflikt und ihren Vorstellung vom ehemals herrlichen, in der Unter-
Hass auf die Araber (275). Das triebhafte Verlangen drückung jedoch degenerierten Volk aufrufen (Tis-
nach Blut ist unbezwingbar und verdrängt das Rein- mar, 312).
heitsideal und die Erlösungshoffnung. Im Nachhin- Schakale und Araber ist einer der wenigen Texte
ein stellt sich so die Behauptung der Schakale (»Rein- Kafkas, vielleicht sogar der einzige, der eine jüdische
heit, nichts als Reinheit wollen wir«) als eine Täu- Deutung nicht nur zulässt, sondern sogar provoziert.
schung – auch eine Selbsttäuschung – heraus. Der Jedoch drückt sich in ihm nicht das von Brod ge-
angebliche Dienst an der Reinheit, das Leertrinken wünschte Bekenntnis zum Judentum und zur zionis-
von Kadavern, ist in Wirklichkeit nichts als Blutgier. tischen Bewegung aus. Vielmehr setzt sich Kafka in
In der Befriedigung dieses Triebs hängen sie von den ironisch-kritischer Weise mit dem Thema des jüdi-
Arabern ab, die sie jedoch im Namen eines konstru- schen Messianismus auseinander, der in Form einer
ierten Reinheitsideals verachten können. Das ist bit- Hoffnung auf ›Erlösung‹ aus der Diaspora auch im
terböse Ironie, die sich in einem doppelten Wider- Kern der zionistischen Bewegung zu finden ist (Ro-
spruch verdichtet: Zum einen werden die Schakale bertson, 219).
im letzten Teil der Erzählung selbst als blutgierig
und somit schmutzig entlarvt – sie müssten somit Ein Bericht für eine Akademie
ihrer eigenen Forderung nach Reinheit als erste zum
Opfer fallen. Zum anderen richten sie ihre Erlö- Ebenfalls eine ›Tiergeschichte‹ ist die letzte Erzäh-
sungshoffnung auf den ›Verstand‹, begründen diese lung des Landarzt-Bandes, die überdies durch das
Hoffnung und ihre Forderungen aber mit vollstän- Motiv der menschlich-tierischen Halbexistenz an
dig irrationalen Argumenten, so dass eine Erfüllung den ersten Text des Bandes zurückgebunden werden
ihrer Wünsche von vornherein unmöglich ist (Sokel kann. Während dort über ein zum Anwalt geworde-
1986, 200). nes Streitross reflektiert wird, spricht in der letzten
Die Erzählung ist, wie Tismar gezeigt hat, in einem ein »gewesener Affe« (DzL 300) über den Prozess
zionistischen Kontext lesbar (Tismar 316). Diese seiner mehr oder weniger gelungenen Menschwer-
›Anschließbarkeit‹ dürfte auch für Martin Bubers dung. Die Adressaten des Berichts, die »hohen Her-
Auswahl des Textes entscheidend gewesen sein. Es ist ren von der Akademie« (299), bleiben unsichtbar
allerdings zu bezweifeln, dass Kafka selbst den Text und sind lediglich assoziativ mit dem (der naturhaf-
als einen Beitrag zur Zionismusdebatte betrachtete. ten tierischen Existenz gegenüberliegenden) Pol der
Seine Bemerkung im Brief an Buber vom 12. Mai Bildung verbunden (Philippi, 124). Bereits die Form
1917 spricht dafür, dass er sich selbst nicht einer ex- der Berichterstattung, die durch den Titel evoziert
plizit jüdischen Literatur zuordnet: »So komme ich wird, führt jedoch zu Widersprüchen: Der Affe kann
234 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

der Aufforderung zur Berichterstattung in entschei- ausscheidet. Der »Menschenausweg« stellt lediglich
denden Punkten nicht nachkommen, da ihm ein Zu- die einzige Möglichkeit dar, sich ›in die Büsche zu
rückgehen hinter die Grenze seiner gegenwärtigen schlagen‹: »Ich hatte keinen anderen Weg, immer
Existenz schlichtweg unmöglich ist. Aus der Per- vorausgesetzt, daß nicht die Freiheit zu wählen war«
spektive des ›menschlichen‹ Lebens lässt sich nicht (DzL 312). Zwischen Affenfreiheit und Menschen-
in ein »äffisches Vorleben« (299; Hervorhebung freiheit besteht offenbar eine nicht zu überbrückende
Verf.) zurückkehren: Kluft. Das ›Halbwesen‹ Rotpeter jedoch gibt den An-
spruch auf »Freiheit nach allen Seiten« (304) ganz
der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies,
sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug, der mir die und gar auf; folgerichtig wird seine Existenz unter
Fersen kühlt; und das Loch in der Ferne, durch das er den Menschen mit Metaphern aus dem Bereich Ver-
kommt und durch das ich einstmals kam, ist so klein ge- schlossenheit und Verfestigung beschrieben (»woh-
worden, daß ich, wenn überhaupt die Kräfte und der ler und eingeschlossener fühlte ich mich in der Men-
Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzulau-
fen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durch-
schenwelt«, 299; Martens, 723).
zukommen (299 f.). Der Affe Rotpeter rettet sich vor dem tierischen
Verenden in einem Zoo, indem er sich als Quasi-
Vor diesem Hintergrund kann der angebliche Be- Mensch neu erfindet. Diese Selbstschöpfung ist mit
richt als etwas ganz anderes entlarvt werden: als die einem langsamen und qualvollen Lernprozess ver-
Verteidigung von Rotpeters Menschenexistenz ge- bunden. In dessen Verlauf werden nicht nur mehrere
gen den Verdacht andauernden Affentums (Mar- Lehrer ›verschlissen‹ (DzL 311 f.), sondern er erfor-
tens, 724). Auch wenn der Erzähler abschließend dert auch ein erhebliches Maß an Selbstkasteiung:
noch einmal den objektiv-beobachtenden Anspruch »Man lernt rücksichtslos. Man beaufsichtigt sich
des Berichts geltend macht (»ich berichte nur«; DzL selbst mit der Peitsche; man zerfleischt sich beim ge-
313), verdeutlicht der Text, dass seine Perspektive ringsten Widerstand« (311).
eine subjektive und eingeschränkte ist. Aus der Dis- Die ersten Kunstgriffe der rettenden ›Perfor-
krepanz zwischen dem gelehrt-reflektierten Spre- mance‹ erlernt Rotpeter bereits auf dem Schiff nach
chen des Affen und seinem Verhalten entsteht für Europa. Ironischerweise sind die Verhaltensweisen,
den Leser (aber nicht für den Affen) eine subtile Ko- die dem nachahmenden Affen als typisch mensch-
mik (Philippi, 145). lich erscheinen, nicht unbedingt solche, die mit
Die Menschwerdung des Affen ist eine Notlösung menschlichem, vernunftgeleitetem Handeln assozi-
und keine ›freie‹ Entscheidung: Der Affe erkennt die iert werden: Neben dem Ritual des Handschlags
Selbstdressur als seinen einzigen »Ausweg« (DzL lernt der Affe zu spucken, zu rauchen und Alkohol
304). Dieser ist ausschließlich negativ bestimmt zu trinken (308–311). Durch die Augen des Tieres
durch den Ort, von dem er wegführen soll; das Ziel tritt dem Leser das Verhalten der Menschen also sa-
bietet sich quasi zufällig an (Philippi, 129). Genau ge- tirisch verfremdet entgegen.
nommen besteht dieses auch gar nicht darin, Mensch Die schwerste Probe, die des Schnapstrinkens, be-
zu werden, sondern nur darin, sich in der Menschen- steht der Affe erst nach mehreren Anläufen, aber sie
welt ›festzusetzen‹ (DzL 300) – dies kann dem Affen ist es, durch die er zum ›Künstler‹ wird. Der Höhe-
nur über die Nachahmung gelingen, über eine ›Men- punkt dieser ersten Vorführung auf dem Schiff ist
schenperformance‹, wenn man so will. Das Mensch- der ›Ausbruch‹ in die menschliche Sprache, der ge-
Sein an sich mit seiner Vorstellung von ›Freiheit‹ ist radezu als eine ›Entgleisung‹, als ein Kontrollverlust
keineswegs als positiv und erstrebenswert gekenn- dargestellt wird. Der Anspruch auf einen Platz in der
zeichnet. In zwei der Vorformen zum Bericht im Ok- Menschenwelt wird gleichsam performativ durch
tavheft D leidet der Affe nach seiner Eingliederung in den Sprechakt als ultimativen Menschlichkeitsbe-
die menschliche Gesellschaft sogar unter ›Anfällen‹ weis vollzogen (Elmarsafy, 165; Neumann 2004,
von Ablehnung und Widerwillen gegen die Men- 278). Der Affe spricht, »weil ich nicht anders konnte,
schen und gegen den »Menschengeruch«, den er weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten«
selbst angenommen hat (NSF I, 385 u. 386). (DzL 311). Hier drängt sich eine Parallele zu einem
Auch geht es ausdrücklich nicht um Freiheit – dies anderen Künstler aus innerem Zwang bei Kafka auf:
ist ein Konzept, das vielleicht allenfalls auf die Af- zum Hungerkünstler. Auch dieser hungert, weil er
fenexistenz anwendbar gewesen wäre, mit der Ge- hungern muss, weil er nicht die richtige Speise fin-
fangennahme jedoch unwiderruflich als Möglichkeit den konnte (349; vgl. Martens, 723).
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 235

Die Künstlerthematik, die hier angesprochen chen Verhaltens bis hin zur Sprache – nicht das ge-
wird, greift Kafka in den späten Erzählungen wieder worden, was er spielt. Rotpeter ist kein richtiger
auf. Wie z. B. in Josefine, die Sängerin oder Das Volk Mensch und kein richtiger Affe, er ist ein Halbwe-
der Mäuse wird über das Kunstschaffen eines Tieres sen, ein gespaltenes Wesen (Martens, 724). Seine tra-
reflektiert. Allerdings darf nicht vernachlässigt wer- gische Paradoxie liegt darin, dass es für ihn unter der
den, dass der Künstler im Bericht (1) ausgerechnet Maske des Menschen auch kein ›wahres‹ äffisches
ein Affe ist (und somit symbolisch stärker vorbelas- Selbst mehr gibt. Besonders in den letzten Absätzen
tet als beispielsweise eine Maus) und dass (2) seine des Textes wird die ›Halbheit‹ des Affen deutlich ge-
Geschichte trotz seiner Beliebtheit beim Publikum macht: Ȇberblicke ich meine Entwicklung und ihr
keine Erfolgsgeschichte ist (vgl. Neumann 1975, bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zu-
175). frieden. Die Hände in den Hosentaschen, die Wein-
Zu (1): In der Literaturgeschichte tritt der Affe in flasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im
verschiedener Weise als satirischer Spiegel des Men- Schaukelstuhl« (DzL 312 f.; Hervorhebungen Verf.).
schen auf (Neumann 1996); im frühen 20. Jahrhun- Auch das Verhältnis zu der »halbdressierten Schim-
dert kann die Figur des Affen vor dem Hintergrund pansin« ist von der Zerrissenheit zwischen mensch-
der darwinistischen Abstammungslehre auf die tie- licher und tierischer Existenz gekennzeichnet: Er er-
rische Seite des Menschen verweisen. Eine konkrete trägt ihre Gesellschaft nur bei Nacht, weil ihm in ih-
Inspiration für Kafka war wohl E.T.A. Hoffmanns rem Blick wie in einem Spiegel der »Irrsinn des
Erzählung Nachricht von einem gebildeten jungen verwirrten dressierten Tieres« (313) entgegentritt
Mann, in der das Schreiben Milos, eines gebildeten Af- (Elmarsafy, 167). Der Menschenaffe Rotpeter ist
fen, an seine Freundin Pipi in Nordamerika enthalten zwar insofern erfolgreich, als seine Rettung vor dem
ist (Philippi, 116). Der Prozess der Menschwerdung, Tod geglückt ist. Jedoch erforderte es die ›ausweg-
der ja Gegenstand des Berichtes sein soll, spielt je- lose‹ Situation, dass der Affe sich vom Affendasein
doch in Hoffmanns Erzählung keine Rolle. Eine verabschiedet, ohne sicher sein zu können, dass der
mögliche Quelle dafür ist der Artikel Consul, der viel Übertritt ins Menschentum gelingt. Hierin ist er
Bewunderte. Aus dem Tagebuch eines Künstlers, der dem Mann vom Lande in der Parabel Vor dem Ge-
am 1. April 1917 in der Kinderbeilage des Prager setz vergleichbar, der das Risiko eines Überschrei-
Tagblatts erschien (Faksimile-Abdruck in Bauer- tens der Schwelle zum Gesetz ohne Garantie nicht
Wabnegg 1986, 134–136, 137–139). Gewisse motiv- eingeht (Neumann 1975, 170). Erst nachträglich
liche Parallelen machen es denkbar, dass Kafka der wird hier durch den Affen ein Sinngebungsschema
Artikel bekannt war. Als wahrscheinlich kann auch aus »Versprechung« und »Erfüllung« konstruiert,
Kafkas Kenntnis von Friedrich Hagenbecks Memoi- das an das bibelexegetische Prinzip der Typologie er-
ren Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfah- innert (Neumann 1975, 167):
rungen (1908) gelten (Bauer-Wabnegg 1986, 130).
Ein hohes Ziel dämmerte mir auf. Niemand versprach
Indirekt spielen wohl auch die Vorführungen von mir, daß, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter
dressierten Menschenaffen in die Konzeption von aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar
Rotpeter hinein. Selbst wenn man jedoch Kafkas unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst
stark inspirationsorientierte Schreibweise bedenkt, man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich
auch die Versprechungen genau dort, wo man sie früher
erscheint es müßig, das konkrete äffische ›Anfangs- vergeblich gesucht hat (DzL 307).
bild‹ des Berichts ausfindig machen zu wollen. Sati-
rische Tradition und zeitgenössischer Kontext spie- Für eine gleichsam pessimistische Lesart spricht
len hier zusammen und ergeben das Zerrbild nicht auch, dass die Figur Rotpeter als ›Versehrter‹ ange-
einfach nur des Menschen in seiner verborgenen legt ist. Bei seiner Gefangennahme empfängt er zwei
Tierhaftigkeit (wie dies die Tradition hergibt), son- Wunden, eine im Gesicht und eine »unterhalb der
dern auch des Künstlers, dessen Identität in seiner Hüfte« (301). Der Verdacht, der Schuss habe den Af-
›Performance‹ begründet ist. fen kastriert, wird von ihm noch genährt (Hiebel
Zu (2): Rotpeter ist zwar ein gefeierter Varieté- 1999, 67 f.). Gegen den Vorwurf, seine Affennatur
künstler, seine künstlerische Existenz wird jedoch zeige sich noch in der Gewohnheit, sich seiner Hose
durch die ironische Darstellung auf ein tieferes Pro- zu entledigen und die Narbe vorzuführen, wendet
blem hin transparent gemacht: Der Affe ist – trotz Rotpeter ein: »man wird dort nichts finden als einen
künstlerisch meisterhafter Beherrschung menschli- wohlgepflegten Pelz und die Narbe […] nach einem
236 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

frevelhaften Schuß. Alles liegt offen zutage, nichts ist schung zum Opfer fällt. Bei seiner Selbstschöpfung
zu verbergen« (DzL 302). Das Leben Rotpeters in greift Rotpeter auf zwei grundlegende künstlerische
der menschlichen Gesellschaft beginnt mit den zwei Prinzipien zurück: das Prinzip der Mimesis (Neu-
Schüssen – also von Anfang an als das Leben eines mann 1975, 166) und das des Performativen (Elmar-
Verletzten und Entstellten. Bezeichnenderweise ist safy, 160; Neumann 2004, 278). Beide erweisen sich
es gerade die Narbe im Gesicht, die dem Affen sei- im Kontext der Erzählung letztlich als ungenügend.
nen menschlichen Namen Rotpeter verleiht. Mit dem Bericht für eine Akademie endet der
Der Kern der selbstgewählten Existenz des Affen Landarzt-Band auf einer satirischen Note: Der Be-
ist eine Täuschung, wie von ihm selbst betont wird. richt über die Menschwerdung eines Affen ist ei-
Eine Wirklichkeit wurde durch eine andere ausge- gentlich ein Bericht über das Scheitern einer künst-
tauscht – aber nur scheinbar, denn auch die ›Men- lerischen Selbstbestimmung. Das Licht dieser Ironie
schenfreiheit‹ stellt sich nur aus einem bestimmten fällt auch auf Kafkas Versuch einer literarischen
Blickwinkel als Freiheit dar – nämlich aus dem ›Existenzgründung‹, der der Entstehung und Veröf-
menschlichen. Der Affe verurteilt die Kunststücke fentlichung der Landarzt-Texte zugrunde lag.
der Trapezkünstler, die als Schwingen und Schau-
keln den ›natürlichen‹ Bewegungsabläufen von Af- Ausgaben: ED der Sammlung: Ein Landarzt. Kleine Er-
fen vergleichbar sind – aber im Gegensatz zu diesen zählungen. München, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1919
[erschienen im Frühjahr 1920]; Faksimile der Erstaus-
keinen ›Sinn‹ erfüllen –, als »selbstherrliche Bewe-
gabe: F.K.: Ein Landarzt. Hg. v. Roland Reuß u. Peter
gung«: »Du Verspottung der heiligen Natur! Kein
Staengle. Supplementbd. zur Historisch-Kritischen K.-
Bau würde standhalten vor dem Gelächter des Af-
Ausgabe. Frankfurt/M. 2006. – Erz/GS (1935), 133–177;
fentums bei diesem Anblick« (305). Somit hat sich BeK/GS2 (1946), 320–324 (Fragmente zu L14). – Erz/
bestätigt, was der Affe schon wusste: Um Freiheit GW (1952), 145–196; BeK/GW (1954), 323–327 (Frag-
geht es nicht. Der scheinbar menschgewordene Affe mente zu L14). – DzL/KA (1996), 249–313; vgl. auch:
repräsentiert ein gescheitertes Modell der Wirklich- NSF I/KA (1993), 326 f. (L1), 358–361 (L4), 317–322
keitsaneignung, eine »mißlingende imitatio« (Neu- (L6), 351 f. (L9), 384 f., 385–388, 390–399, 415 f. (L14) u.
mann 1975, 172). Der Gegenstand des Berichts, die P/KA (1990), 292–295 (L5). – OO1&2/FKA (2006), H.
erfolgreiche Verwandlung eines Affen in einen Men- 2, 107–115 (L1), 66–93 (L6); Druckfassungen von L1 u.
schen, wird im Laufe der Erzählung als nicht existent 6 in: Franz Kafka-Heft 5, 39 f. u. 33–38. – OO3&4/FKA
entlarvt. Stattdessen führt der Affe das Scheitern sei- (2007), H. 3, 112–127 (Anschluss 159) (L4), 76–81 (L9);
ner Selbstschöpfung vor, die sich als Selbstverlust he- H. 4, 78–101, 110–133, 136–163, 166 f. (L14); Druck-
rausstellt. fassungen von L4, 9 u. 14 in: Franz Kafka-Heft 6,
Trotz dieser deprimierenden Bewertung des 29–31, 33 f., 35–46. – OO5&6/FKA (2009), H. 5, 58–61
scheinbaren Verwandlungsprozesses wird er doch (L14). –– Einzelpublikationen vor Erstdruck der Samm-
als absolut notwendig, als einziger Ausweg darge- lung (in Reihenfolge der Erstdrucke): Vor dem Gesetz:
stellt. Aus der ›freien‹ Affenexistenz wird Rotpeter ED in: Selbstwehr 9 (7.9.1915), 2 f.; wieder in: Vom
durch einen Akt der Gewalt herausgerissen und von jüngsten Tag. Ein Almanach neuer Dichtung. Leipzig:
seiner natürlichen und naturbestimmten Umgebung Kurt Wolff Verlag 1916, 126–128, 2. veränd. Ausg. 1916,
des Urwaldes in das kulturbeherrschte Gebiet der 124–126. – Ein Traum: ED in: Das jüdische Prag. Eine
Sammelschrift. Prag: Verlag der ›Selbstwehr‹ 1917 [ca.
westlichen Zivilisation transportiert. Die ›Anpas-
15.12.1916], 32 f.; wieder in: Prager Tagblatt 42
sungsnot‹, unter der der Affe in seinem Käfig leidet,
(6.1.1917, Morgenausgabe), erste Seite der unpaginier-
ist wegen des Kontextes der Erstveröffentlichung in
ten Unterhaltungs-Beilage Nr. 1; wieder in: Der Alma-
der Zeitschrift Der Jude auf die Problematik des assi- nach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917. Hg. v. Heinz
milierten Juden oder gar des Konvertiten bezogen Barger. Berlin: Verlag Neue Jugend 1917, 172–174. –
worden (Rubinstein 1952). Die Erzählung ist gewiss Ein altes Blatt: ED in: Marsyas 1 (September 1917) 1,
an den Assimilationsdiskurs anschließbar – aber 80 f. – Der neue Advokat: ED in: Marsyas 1 (Sept. 1917)
diese Tatsache wirft, wie schon bei Schakale und Ara- 1, 81. – Ein Brudermord: ED in: Marsyas 1 (Sept. 1917)
ber, eher Licht auf die Gründe, aus denen Buber die 1, 82 f.; wieder als: Der Mord. In: Die neue Dichtung.
Erzählung aussuchte als auf die, aus denen Kafka sie Ein Almanach. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1918,
schrieb. Im Bericht liegt der Fokus allgemeiner auf 72–76. – Schakale und Araber: ED mit L14 als: Zwei
der Notlage des Individuums, das sich selbst erschaf- Tiergeschichten. In: Der Jude. Eine Monatsschrift 2
fen muss und dabei einer grundlegenden Selbsttäu- (Oktober 1917), 488–490; wieder in: Österreichische
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen 237

Morgenzeitung 3 (12.1917), Beilage »Literaturzeitung«, Alchimistengäßchen (1916–1917). In: KHb (1979) II,
3 [unautorisierter Nachdruck]; wieder in: J. Sandmeier 313–350. – Ders.: Schrift und Druck. Erwägungen zur
(Hg.): Neue deutsche Erzähler. Bd. 1. Berlin: Furche Edition von K.s Landarzt-Band. In: ZfdPh 101 (1982),
Verlag 1918, 233–240. – Ein Bericht für eine Akademie: 115–139. – H. Politzer (1965), 130–156. – Claudine Ra-
ED mit L6 als: Zwei Tiergeschichten. In: Der Jude 2 boin: Ein Landarzt und die Erzählungen aus den ›Blauen
(November 1917), 559–565; wieder als: Ein Bericht für Oktavheften‹. In: Arnold (1994), 151–172. – R. Robert-
die Akademie [sic]. Eine Tiergeschichte. In: Österrei- son (1988 [1985]), 177–243. – Holger Rudloff: F.K.s
chische Morgenzeitung 3 (25.12.1917), Weihnachts-Bei- ›Arme-Seelen-Sagen‹. Anmerkungen zur Textzusam-
lage, 9 f. – Ein Landarzt: ED in: Die neue Dichtung. Ein menstellung Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. In: WW
Almanach. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1918, 17–26. – 48 (1998), 31–53. – R. Stach (2008), 189–206. – Gregory
Eine kaiserliche Botschaft: ED in: Selbstwehr 13 Triffitt: K.’s Landarzt Collection. Rhetoric and Interpre-
(24.9.1919 [Neujahrs-Festnummer]), 4. – Die Sorge des tation. New York 1985. – J. Unseld (1982), 141–191.
Hausvaters: ED in: Selbstwehr 13 (19.12.1919 [Chanuk- Zu einzelnen Texten (in Band-Reihenfolge):
ka-Nummer]), 5 f. –– Spätere Einzelpublikationen zu (1) Der neue Advokat: Gerhard Kurz: Der neue Advo-
Lebzeiten: DzL:A 288 (D19–21). kat. Kulturkritik und literarischer Anspruch bei K. In:
Adaptionen: Szenische Lesung von Ein Bericht für Schmidt-Dengler (1985), 115–128. – Roland Reuß: F.K.:
eine Akademie: Inszenierung: Willi Schmidt; Darsteller: Der neue Advokat. In: Locher/Schiffermüller (2004;
Klaus Klammer; Uraufführung: Berlin 1962; CD: Ham- s.o.), 9–20. – Walter H. Sokel: K.’s Law and Its Renuncia-
burg: Litatron 1995. –– Verfilmungen von »Ein Land- tion. A Comparison of the Function of the Law in Be-
arzt«: Tobias Frühmorgen: Menschenkörper (2004), 17 fore the Law and The New Advocate. In: Ders./Albert H.
min. – Cyril Tuschi: Nachtland (1995), 22 min. – Koji Kipa/Hans Ternes (Hg.): Probleme der Komparatistik
Yamamura: Kafka: Inaka Isha (2007), 21 min. — Musik: und Interpretation. Bonn 1978, 193–215. – Ralf-Hen-
Hans Werner Henze: Ein Landarzt. Rundfunkoper. ning Steinmetz: K.s neuer Advokat. In: WW 41 (1991),
1951 (Bühnenfassung 1964). — Bildende Kunst: Alfred 72–80.
Kubin: Ein Landarzt. Sechs lavierte Federzeichnungen (2) Ein Landarzt: Walter Busch: Die Krankheit der
(1932). – Jeff Wall: Odradek. Táboritská 8, Prag, Metaphern. Über die Wunde in K.s Ein Landarzt. In:
18.7.1994. Hinterleuchtetes Großdia, 229 x 289 cm. Mu- Locher/Schiffermüller (2004; s.o.), 23–40. – Karen J.
seum für Moderne Kunst, Frankfurt/M. — Comic: Peter Campbell: Dreams of Interpretation. On the Sources of
Kuper: A Fratricide. In: Ders.: Give it Up! And Other K.’s Landarzt. In: GQ 60 (1987), 420–431. – Dorrit C.
Short Stories. New York 1995, 35–40. Cohn: K.’s Eternal Present. Narrative Tense in A Coun-
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dokumentieren sie einen schöpferischen Neubeginn
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Machttheorien von Hegel und Foucault. In: Neue Ger-
in der Alchimistengasse zu arbeiten, zusammen-
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Die Kunst der Trunkenheit: F.K.s EBfeA. In: Thomas hängt. Die unterschiedlichen, zeitlich nahe beiein-
Strässle/Simon Zumsteg (Hg.): Trunkenheit. Kulturen ander liegenden, erstmals in den Oktavheften statt-
des Rausches. Amsterdam 2008, 175–190. – Erhard findenden Schreibanläufe sowie die für Kafka ein-
Schüttpelz: Eine Berichtigung für eine Akademie. In: malige Annäherung an die dramatische Form weisen
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330–355. – Walter H. Sokel: Identität und Individuum gleich auf die Schwierigkeit hin, eine Kernsituation
oder Vergangenheit und Zukunft. Zum Identitätspro- überhaupt einzufangen und im Rahmen einer ihr
blem in F.K.s EBfeA in psychoanalytischem und zeithis- genuin eigenen, tendenziell nicht romanartigen
torischem Kontext. In: Alice Bolterauer/Dieter Goltsch- Form zu entfalten.
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sien. In: Liebrand/Schößler (2004), 273–290. nes Kampfes – Novellen, Skizzen, Aphorismen aus
Juliane Blank dem Nachlass (BeK/GS). Es handelt sich dabei um
eine zusammengefügte, von Kafka so nie vorgese-
hene Fassung, in der Brod das ihm vorliegende Text-
material durch Kompilationen und Konjekturen ver-
bindet und ergänzt; dabei fügt er den Teil, der in der
KA nur im Varianten-Apparat verzeichnet ist (NSF
I:A, 253–257) sowie Regieanweisungen als Schluss-
szene an. Auch der Titel stammt von ihm; Kafka soll
laut seinem Freund Oskar Baum Die Grotte oder Die
Gruft erwogen haben (Alt, 439).

Textbeschreibung
Das Geschehen wird in unterschiedlichen Anläufen
und Perspektiven, sowohl narrativ (einmal in aukto-
rialer, einmal in Ich-Form) wie dramatisch umris-
sen. Die Fragmente ergeben allerdings, ob einzeln
oder zusammen genommen, keine nacherzählbare
Handlung (also auch kein Drama), man muss eher
von einer spannungsgeladenen Situation sprechen,
die den narrativen wie den dialogisiert-szenischen
Teilen einen gemeinsamen Hintergrund verleiht.
Dabei wird aber kaum über eine Art Exposition hin-
ausgegangen, und es ist auch nicht ersichtlich, in
welche Richtung die Handlung sich hätte bewegen
können. Kafkas offenkundiger Rekurs auf das fan-
tastische Genre (während der etwa gleichzeitig ent-
<Der Gruftwächter > 241

stehende <Jäger Gracchus> auf mythologischem erscheinenden) Obersthofmeister tritt hier im Ge-
Muster basiert) hilft uns nur insofern weiter, als er gensatz zu B der alte Wächter auf. Er kommt im Ge-
das nächtliche Geschehen nicht von vorneherein als spräch mit dem Fürsten ausführlich zu Wort, aller-
pure Gesichter eines zerrütteten Wächters deklariert. dings in einem erschöpften Zustand, so dass er auf
Die Begegnung mit Toten – auch hier befindet man dem Ruhebett Platz nehmen muss und am Ende auf
sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum <Jäger einer Bahre aus dem Raum getragen wird. Den Kern
Gracchus> – wird zunächst erzählt und nicht sze- des Entwurfes bildet seine Schilderung des schweren
nisch dargestellt, aber dies kommt – wenn man Gen- und unheimlichen Nachtdiensts, in dem er gegen
rekonventionen hinzuzieht − der Ankündigung ei- um Mitternacht erscheinende Tote zu kämpfen hat.
ner weiteren Begegnung gleich. Literarhistorisch E (NSF I, 290–303): Diese Fassung ist eine Rein-
sind Bezüge zu den handlungsarmen Dramen Mau- schrift, die Kafka offenkundig zum Vorlesen herge-
rice Maeterlincks (1862–1949) vorhanden, in denen stellt hat. Es handelt sich jedoch nicht um eine einfa-
ominöse, oft durch Schweigen vertiefte Grenzsitua- che Abschrift. Gewisse Abänderungen betonen die
tionen dramaturgisch entfaltet werden. dramatische Form, indem Bühne und Personae dra-
matis eingangs beschrieben und auch einige (bereits
Es lassen sich fünf handschriftliche Gestaltungsan- in B vorhandene) Redepausen deutlich signalisiert
sätze unterscheiden, die alle im Oktavheft 1 (bzw. A) werden. Der Verlauf der Szene ähnelt der Fassung D,
enthalten sind: nur dass insgesamt die Dialoge etwas ausführlicher
A (NSF I, 267 f.): ein Zerrissener Traum über- werden, so dass man langsamer fortschreitet und
schriebenes Erzählfragment. Es schildert die auf eine dass für den vergleichbaren Textumfang weniger zur
fürstliche Laune zurückgehende Anordnung eines Sprache kommt (das Typoskript ist allem Anschein
Wachdienstes im Mausoleum; ein alter und einsa- nach unvollständig überliefert).
mer Kriegsinvalide namens Friedrich hat sich für Varianten (NSF I:A, 228–238 und 244–269): Weite
den Posten gemeldet und begibt sich mühsam dort- Teile von B und D hat Kafka durchgestrichen, sie
hin. Ein Zusammenhang mit der Überschrift ist wurden von Max Brod jedoch zur Vervollständigung
nicht ersichtlich. seiner Fassung des Dramoletts herangezogen. Es
B (NSF I, 268–270): ein unmittelbar nach A ste- handelt sich um weitere Wortwechsel zwischen dem
hender, in der Forschung als »Gruftwächter-Frag- Fürsten und dem Wächter, den er Kastor nennt, so-
ment« bezeichneter dramatischer Anlauf. Er beginnt wie um eine Szene in Abwesenheit des Fürsten, in
mit einer Regieanweisung, die ein »kleines Arbeits- der der auf der Seite der Fürstin stehende Obersthof-
zimmer« (268) zum Ort der Handlung bestimmt. meister seine starke Abneigung gegen den Wächter
Der Protagonist, ein am Schreibtisch sitzender Fürst, und die unvernünftige, ja gefährliche Einstellung des
unterhält sich mit einem Adjutanten und dem Kam- Fürsten klar zum Ausdruck bringt. Die müde, me-
merherrn über eine zusätzliche Bewachung des lancholisch gestimmte Fürstin wird ebenfalls einge-
Mausoleums direkt in der verschlossenen Gruft. führt.
C (NSF I, 270–272): eine unmittelbar nach B ste-
hende, narrative, als Rückblick konzipierte und die Wenn man davon ausgeht, dass die Fassungen auch
Erzählung des Großvaters überschriebene Fassung. die Genese des Stoffes dokumentieren (aber kein ab-
Dieser Großvater und ehemalige Mausoleumswäch- gerundetes Dramolett in Max Brods Manier darstel-
ter berichtet von seiner ersten Begegnung mit dem len) und also die überwiegenden szenischen Anläufe
Mausoleum, wohin er als Laufbursche Milch brin- richtungsweisend sind, lässt sich folgende Situation
gen musste. Eine alte, schwache Frau holte ihn am skizzieren: Ein Fürst namens Leo befindet sich im
Gittertor des Parks ab und führte ihn, an einem bei Arbeitszimmer seines Schlosses, welches mitten in
der Tür sitzenden riesigen Mameluck vorbei, ins einem großen Park steht, in dem sich wiederum ein
Wachhaus, wo in einer kleinen Stube ein an einem kleiner Park (der Friedrichspark) befindet, wo die
mit Büchern bedeckten Tisch sitzender alter Herr Familiengruft liegt. Die Eingänge des großen Parks
auf ihn wartet. werden militärisch bewacht, der kleine Park (d. h.
D (NSF I, 276–289): eine etwas längere, von C die Umfriedung des Mausoleums) dagegen hat le-
durch zwei Erzählanläufe getrennte, erneut in dra- diglich und vor allem aus Ehrengründen einen ein-
matischer Form verfasste Szene. Neben dem Fürs- zigen alten Wächter, der seit dreißig Jahren in einem
ten, dem Kammerherrn und dem (nur kurz am Ende kleinen Wachthaus wohnt (nun mit seiner jungen
242 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Tochter). Der junge Fürst wünscht sich zusätzliche gewissen Kohärenz versehenes Drama auslegen, so
Wachtposten in der Gruft selber, um die »Grenze« lässt sich nun kaum über das Kommentieren von
des »Menschlichen« in seiner Familie zu sichern Einzelaspekten hinaus gelangen, da jede übergrei-
(NSF I, 276, 293). Da der Kammerherr den Sinn die- fende, die Teile verbindende Interpretation der
ser zusätzlichen Wache nicht einsieht, lässt der Fürst Bruchstücke in philologischer Hinsicht angreifbar
den Gruftwächter holen. Dieser ist alt, zerbrechlich ist.
und völlig erschöpft; der Fürst bittet ihn, auf dem Es gab in den 1950er/60er Jahren wenig überzeu-
Ruhebett Platz zu nehmen. Im Verlauf eines immer gende, weil das Drama (in der Brod-Fassung) zu sehr
wieder stockenden Gesprächs erfährt man den allegorisierende Auslegungsversuche im Hinblick
Grund seiner Zerrüttung: Er trägt jede Nacht in sei- auf die Philosophie der Existenz (im Rückgriff auf
nem Wachthaus Ringkämpfe mit den Toten, vor- Kierkegaard und Heidegger; vgl. Jaeger 1952; Ide
nehmlich mit dem riesigen Fürsten Friedrich aus; 1961). In den wegweisenden Gesamtinterpretatio-
diese wollen aus dem Friedrichspark entkommen nen wird das Fragment nicht einbezogen, es gewinnt
und behaupten, beim Fürsten eingeladen zu sein. eigentlich erst an Interesse im Rahmen der Erfor-
Nach ihrem Abzug bei Tagesanbruch tritt dann noch schung von Kafkas Verhältnis zum Theater: Meinel
die Gräfin Isabella kurz auf, um mit Schmeicheleien hat vorwiegend die dialogisierten Teile im Hinblick
den Wächter umzustimmen, doch vergeblich. Sein auf das Dramatische und das Theater bei Kafka und
Tagdienst hat sich also in einen ebenso sonderbaren unter Hervorhebung autoreferentieller Momente,
wie anspruchsvollen, eingehend beschriebenen ago- also als Text über das eigene Schreiben analysiert
nalen Nachtdienst verwandelt. Obwohl das allnächt- (worauf bereits Robertson hinwies, 182–185); Rieck
liche Ringen gegen die ihm an Größe und Stärke weit ging vor allem auf den Kampf gegen die Geister der
überlegenen Toten ihn erschöpft, lehnt der Wächter Vergangenheit aus psychoanalytischer Perspektive
die vom Fürsten erwogene Wachtverstärkung strikt ein; Cersowsky verteidigte erneut eine philosophi-
ab, denn er fasst sein schweres Amt als Aufgabe und sche Lesart (diesmal jedoch im Hinblick auf Scho-
Auszeichnung auf. penhauer); Dierks ging detailliert dem Motiv der
In der Erzählung des Großvaters (B) wird diese mit Grenze, bzw. der Grenzüberschreitung nach; Alt hat
dem Mausoleumsdienst einhergehende Ehre bekräf- als Erster das Augenmerk deutlich auf die politi-
tigt, der Junge ist stolz, Milch in das Totenrevier zu schen Zeitbezüge und damit auf satirische Momente
bringen. Davon weicht die Position des Obersthof- gelenkt (439–441). Dem Problem der unterschiedli-
meisters deutlich ab; dieser spricht von einem chen Fassungen ist Claudine Raboin vorwiegend de-
schwerwiegenden politischen Dissens zwischen An- skriptiv nachgegangen; einen den Bruchstückcha-
hängern der Vernunft und dem seltsamen »Launen« rakter einbeziehenden Deutungsansatz hat Reuß
nachhängenden Fürsten (NSF I:A, 262). Die Affini- vorgelegt.
tät zwischen Fürst und Gruftwächter (der wiederum
eng mit Traum, Vergangenheit und Tod zusammen-
hängt) scheint in den Kern des Problems zu führen. Deutungsaspekte
Es lohnt sich, bei den in sämtlichen Anläufen vor-
Forschung handenen Paradoxien anzusetzen. Der fast aus-
schließlich in den Varianten zur Sprache kommende
Aufgrund der schwierigen, weil lange zweifelhaften Konflikt am Hof des Fürsten wird hier allerdings zu-
Textgrundlage, aber auch wegen ihrer wenig kohä- rückgestellt, da die von Kafka gestrichenen Seiten
renten dramatischen Substanz wurden die Frag- doch als weniger relevant zu betrachten sind. Aus
mente nur selten untersucht. Seit dem Erscheinen Platzgründen werden ferner die Fassungen B und D
der kritischen Ausgaben (NSF I u. OO1&2/FKA) ist privilegiert, weil die Genese des Textes Kafkas pri-
nun der Textbestand endgültig gesichert, was jedoch mär dramatische Intention dokumentiert (und in
aufgrund der bleibenden Unklarheit im Hinblick auf der Tat kommt ja die Konfrontation von Fürst und
Genese und Autorenabsicht und der spürbaren Dis- Wächter erst hier zum Tragen).
paratheit der Fassungen den interpretatorischen
Umgang mit dem <Gruftwächter >-Konvolut eher er-
schwert. Konnte man früher ein kleines, mit einer
<Der Gruftwächter > 243

Paradoxien Überhaupt fällt es schwer, den Realitätsgehalt des-


sen, was der Gruftwächter vorträgt, zu bestimmen:
Auffallend ist der paradoxe Wille der beiden Kontra- Handelt es sich um Erlebtes, um Geträumtes, um
henten: Der Wächter will trotz der Schwere des Am- Wahngebilde? Eine spätere Notiz, deren Zugehörig-
tes seinen Posten auf keinen Fall aufgeben, als stellte keit zum Gruftwächter-Komplex ungewiss ist, wirft
die Vertrautheit mit den Toten eine Auszeichnung die Möglichkeit auf, dass der Parkwächter verrückt
dar, während der Fürst umgekehrt (wie in Vorah- sei (NSF I, 405). Da das nächtliche Treiben zunächst
nung des nächtlichen Treibens und Drohens) die To- nur durch seine Schilderung existiert, kann darauf
ten besser bewacht wissen will. Die Vorfahren schei- keine definitive Antwort gegeben werden, auch spielt
nen für den Fürsten eine Bedrohung, für den Wäch- gerade die Fantastik bekanntlich mit dieser Unent-
ter dagegen eine Lebensnotwendigkeit darzustellen. scheidbarkeit. Es steht jedenfalls fest, dass der Wäch-
Dieser Umstand verrätselt das Geschehen und rückt ter verwirrt und nur bedingt vertrauenswürdig er-
es deutlich von einer banalen Gespenstergeschichte scheint. Zu seiner Seltsamkeit gehört zudem, dass er
ab. (In C übt das Mausoleum oder die Mausoleums- als 60-jähriger mit seiner jungen Tochter lebt (in A
wache eine seltsame Faszination auf den Jungen aus, ist er dagegen Vater dreier im Krieg gefallener
und diese wird noch durch die Frage des Erzählers, Söhne), welche sich nach jedem Kampf mütterlich
ob denn jemand genau wisse, was ein Mausoleum um ihn kümmert (288). Befremdlich ist ferner das
sei, um eine weitere – metaphysische? – Dimension Verhältnis zwischen ihm und dem jungen Fürsten:
ergänzt; NSF I, 270). Einmal nimmt der Fürst »seinen kleinen Schädel«
Die Beziehung des Wächters zum Fürsten Leo z. B. tröstend in »die Hände«, ein anderes Mal ist er es,
ist ebenfalls voller Widersprüche: Er scheint ihn mit der die Wange des Fürsten streichelt (279, 289). Der
früheren Herrschern zu verwechseln, ja sogar ein- Wächter scheint also Paradoxien in sich zu konzen-
mal mit dem toten und besonders kampflustigen trieren, doch färben diese auch auf den Fürsten ab,
Friedrich, dem er im Verlauf seines Berichts die insofern dieser durch den Wächter und sein nächtli-
Faust zeigt, de facto aber dem lebenden Leo zu dro- ches Erleben auf seltsame Weise angezogen wird.
hen scheint (282). Er erkennt ferner seit dreißig Jah-
ren den um mitternächtlichen Ausgang bittenden Motive
Herzog Friedrich, obwohl dieser erst seit fünfzehn
Jahren gestorben ist (284). Sein Ringen selber ist pa- Etliche motivisch-thematische Bestandteile verwei-
radox: Er besiegt Nacht für Nacht eine weit überle- sen auf Kafkas Œuvre, bzw. lassen sich durch Paral-
gene Macht und dies in einem Kampf, der »nur mit lelstellen erhellen oder zeigen zumindest, wie stark
den Fäusten, oder eigentlich nur mit der Atemkraft« Kafka an ihn bedrängenden Themen arbeitet. Im ge-
ausgetragen wird (286) und dessen sieghafter Aus- genständlichen Bereich kann man das Schloss, die
gang eigentlich alle Anzeichen einer Niederlage Schwelle (Parkumfriedungen, Wachthäuschen, Fens-
trägt… Erstaunlich ist ferner die Verachtung, die der ter und Tür), die Gestalt des Wächters, den Schreib-
Geist ausgerechnet für den ›liegenden‹ Wächter tisch und das Bett nennen. Motivisch sind die Über-
zeigt: »Gegen Betten haben sie nämlich immer schreitung einer Grenze, der Kampf, die Nacht und
Zorn«; der alte Mann, der sich übrigens bei dem die Müdigkeit besonders hervorzuheben. Die Hand-
Fürsten entschuldigt, weil er nachts im Bett liegt, lung selber – die Geistererscheinung oder die Begeg-
wird als »alter Hund« in seinem »Schmutzbett« und nung mit Toten – gehört zu den ›gotischen‹ Momen-
als »Bettvieh« beschimpft (284 f.). Man kommt nicht ten, auf die Kafka z. B. auch noch im Schloss rekur-
umhin, an die im <Brief an den Vater > erwähnten riert.
»Bettsünden« zu denken sowie an die sog. Pawlat- Am greifbarsten ist die bereits erwähnte Ver-
sche-Szene, wo der ganz junge Kafka nachts von sei- wandtschaft mit dem <Jäger Gracchus>, der eine
nem »riesigen« Vater aus dem Bett gerissen worden analoge Personenkonstellation aufweist: Jäger und
war (NSF II, 202 u. 149). Und es fällt in diesem Zu- Bürgermeister erinnern deutlich an das durch Gruft-
sammenhang eine höchst paradoxe Aussage: Als der wächter und Fürsten gebildete Paar. In beiden Fällen
Geist den Wächter anschreit, »erweckt« er ihn (NSF wird eine fest im Leben stehende, mit offizieller
I, 285), obwohl er davor nicht schlief. Ein Verspre- Würde bekleidete Gestalt mit einem Menschen kon-
cher? Wird ein wie auch immer geartetes Erwe- frontiert, der einen intensiven Umgang mit dem Tod
ckungserlebnis angedeutet? pflegt. Es fällt denn auch relativ leicht, die jeweiligen
244 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Paarungen als zwei auseinander strebende Seiten ei- Bei Shakespeare spielen die Wächter eine reine
ner Persönlichkeit zu betrachten und die längeren Mittlerrolle, während Kafka im Gegenteil den Gruft-
Gespräche als Dramatisierung eines inneren Kon- wächter zum rätselhaften Protagonisten erhebt, der
fliktes zu statuieren, zumal die Unterhaltungen in die Lebenden (d. h. zunächst seine eigene Tochter
beiden Fällen die Grenzen der Personen aufweichen, und den jungen Fürsten) Nacht für Nacht verteidigt.
bzw. die Gesprächspartner sich als vertraut erwei- Hier hängt alles von ihm ab − und je nachdem, ob
sen. man ihn als eigenständige Gestalt oder als die (so-
Die Bühnenrequisiten Schreibtisch und Bett un- wohl erschöpfte wie schöpferische) ›Nachtseite‹ des
terstützen eine solche Auffassung, zumal wenn man Fürsten auffasst, wird das Fragment einen ganz an-
sie als autoreferentielle Symbole deutet, also sie mit deren Sinn bekommen.
dem Schreiben einerseits, mit Traum und Schlaf In Hamlet befindet sich bekanntlich das König-
andrerseits assoziiert. Man weiß, dass Kafka des Öf- reich Dänemark in einem schlechten Zustand, was
teren sein Schreiben mit eben diesen Möbelstücken auf die politische Dimension des <Gruftwächters>
verband. Das Bett suggeriert auch die Analogie mit verweist: Am 21. November 1916, mitten im Ersten
dem Tod, so dass man die Fragmente, vor allem Weltkrieg, war Franz Joseph I. nach einer 68-jähri-
wenn man den nächtlichen Kampf mit ›Erscheinun- gen Regierungszeit gestorben, und sein Großneffe
gen‹ einbezieht, als poetologische Dramatisierung Karl wurde sein Nachfolger (da Kronprinz Rudolph
der engen Verwandtschaft von Literatur, Traum und sich 1889 das Leben genommen und der erste Thron-
Tod lesen kann (diese Nachbarschaft hat Maurice folger Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo getötet wor-
Blanchot im Hinblick auf Kafka am eindruckvollsten den war). Die von Kafka inszenierte Krisenerfah-
ausgelotet). rung des jungen Fürsten Leo lässt sich durchaus als
Reflex auf eine aussterbende Dynastie und ein maro-
Shakespeares Hamlet als Prätext? des Kakanien lesen. In dieser Beziehung bekommt
sogar der Name Friedrich einen zeitlichen Anklang,
Es wurde in der jüngeren Forschung verschiedent- da der Erzherzog Friedrich bis Ende 1916 Armee-
lich auf den Vorbildcharakter von Hamlet hingewie- oberkommandant der k.u.k. Streitkräfte war. Und
sen (z. B. Alt, 439–440). Ein Vergleich mit der Expo- dass die Gruft die berühmte Kapuzinergruft (oder
sition von Shakespeares Drama, in dem die mitter- Kaisergruft) der Habsburger evoziert, liegt auf der
nächtliche Erscheinung des Geistes von Hamlets Hand. Insgesamt ist also die historische Umbruchsi-
Vater das Geschehen ins Rollen bringt, erlaubt es, tuation von diesen Entwürfen nicht wegzudenken.
Kafkas Entwurf schärfer zu konturieren. Bei Shake- Ein letzter Vergleich lässt sich aufgrund von Ham-
speare erscheint allein der Vater, während bei Kafka lets berühmter Feststellung »The time is out of joint«
sich gleichsam die ganze Familie (die Dynastie) ma- (I, 5) herstellen. Während dies bei Shakespeare auf die
nifestiert, wenn auch der Fürst Friedrich als Anfüh- Zeitumstände zu beziehen ist, spielt Kafka mit einer
rer der Toten-Meute gelten kann. Und Hamlets Va- tatsächlichen Störung der Zeitlichkeit, denn das Zeit-
ter kommt lediglich, um die Rache seiner Ermor- maß des Wächters durchkreuzt systematisch dasje-
dung zu verlangen, während die Ahnen des Fürsten nige des Fürsten. So meint er, dem Fürsten Leo seit
in die Welt der Lebenden und vorzugsweise zum dreißig Jahren zu dienen, obwohl dieser erst seit ei-
Fürsten selber vordringen wollen. Die Toten fordern nem Jahr herrscht, meint ferner, die Kampfnächte
kein Zurechtbiegen eines Unrechts, sie scheinen seien viel länger als die normalen Nächte. Er macht
selbst eher eine Form von Rache des Vergangenen nolens volens den Tag zur Nacht und die Nacht zum
(eine Wiederkehr des Verdrängten?) darzustellen Raum einer reinen Wiederholung, die der Ewigkeit
und das Daseinsrecht des Todes zu verlangen. gleicht. Die Position des Wächters auf der Schwelle
Während Hamlet eine Begegnung mit dem nicht zwischen den Bezirken der Lebenden und der Toten
zur Ruhe kommenden Gespenst organisiert, ver- löst generell die rationalen Alltagskategorien auf; so
spürt Fürst Leo keine Lust, dem nächtlichen Treiben ist zu erklären, dass im Fragment C der Mausoleums-
beizuwohnen oder in Kontakt mit den Toten zu tre- wächter sogar behauptet, nicht mehr zu wissen, was
ten. Liegt es vielleicht daran, dass die Geister – ange- ein Mausoleum sei und zudem meint, der Leser werde
führt von der riesigen Gestalt des Herzogs Friedrich es demnächst auch nicht mehr wissen (NSF I, 270).
– kein geehrtes, sondern ein gefürchtetes väterliches Der Wächter stellt also tatsächlich den ›Ort‹ dar,
Prinzip darstellen? wo ein Kampf oder eine Agonie der Ordnungen aus-
<Der Gruftwächter > 245

getragen wird; dass er – in den dramatischen Frag- fes schwankte. Die im auktorialen Erzählstil verfasste
menten – erstmals in das Zimmer des Fürsten zuge- Fassung A und die in der Ich-Form entfaltete Fas-
lassen wird, deutet darauf hin, dass dessen raumzeit- sung C beschäftigen sich jedoch mit der Gestalt und
liches Ordnungsgefüge ausgerenkt ist, dass die der Vergangenheit des Wächters, nicht mit seinen
Kampfstätte sich ausdehnt. In und mit dem Wächter nächtlichen Ringkämpfen. Diese kommen als Ereig-
verdichten und verwirren sich Zeit und Raum. nisse erst in den dramatischen Anläufen, also in der
dialogischen Begegnung zwischen dem Fürsten Leo
Das Problem des Dramatischen und seinem Gruftwächter zur Sprache, möglicher-
weise weil sie allein in dieser Personenkonstellation
<Der Gruftwächter> ist kein Drama im (zumal in Kaf- Sinn machen. Es ist kein Zufall, wenn die narrativen
kas Zeit) herkömmlichen gattungsspezifischen Sinne Teile nur den Wächter betreffen: Er ist eindeutig der
des Wortes, es entfaltet kein ›gegenwärtiges zwischen- Fokalisierungspunkt des gesamten Komplexes (was
menschliches Geschehen‹ (so Peter Szondis immer übrigens erklären könnte, warum Kafka den ›politi-
noch griffige Formel, 74). Dass Kafka offenkundig schen Strang‹ vernachlässigte), doch was mit ihm
kein Dramatiker ist, ist klar, doch <Der Gruftwächter> geschieht, spielt sich auf einer inneren Ebene ab.
zeigt etwas genauer, warum: Er dramatisiert etwas Die narrativen Fragmente weichen spürbar von
Undramatisches, was sich kaum in Bühnenhandlung den dramatischen ab. In A ist der Wächter, der Fried-
umsetzen lässt. Das allnächtliche Ringen kann dialo- rich heißt, ein Witwer und Kriegsinvalide, der im
gisch erzählt, aber nicht dargestellt werden: Über- »letzten Krieg« (NSF I, 267) seine drei Söhne verlo-
haupt sind Fürst und Gruftwächter nur bedingt eigen- ren hat. Das Fragment setzt mit der Szene seiner An-
ständige Gestalten, sie scheinen eher die getrennten stellung als Mausoleumswächter ein. In C geht es
Teile einer komplexen Persönlichkeit oder genauer: ebenfalls um den ersten Kontakt mit dem Mauso-
Aspekte einer ›Problematik‹ zu bilden. Diese lässt sich leum, nur dass hier der Ich-Erzähler rückblickend
verschiedentlich charakterisieren: Man kann Kafkas seine Annäherung schildert: Er wird als Milchjunge
eigenen Schreibdrang, seinen nächtlichen Kampf mit zur Mausoleumswache geschickt, welche aus einem
dem Schreiben und mit den Phantomen seiner inne- riesigen Mameluck und einem älteren, mit Büchern
ren Welt anführen, ferner die Spannung von Schreib- beschäftigten Herrn sowie einer alten Dienstfrau be-
tisch und Bett, von hellem Tagesbewusstsein und steht. Der Entwurf gründet sich auf einem starken
träumerischem Wachsein, die Spaltung zwischen ord- Kontrast zwischen dem mit seinem Milcheimer
nungsgemäßer Welt, in der die einzelnen Bereiche fröhlich durch den Park ›galoppierenden‹ Jungen
sorgfältig getrennt und bewacht sind, und Heimsu- und dem eher behäbig-steifen Personal des Wacht-
chung durch Gespenster (und auch durch die Forde- hauses. Auffallend ist jedoch, dass in sämtlichen Fäl-
rung des Vaters oder der Familie) usw. len eine erste Begegnung mit einem anderen Bereich
Einen besonderen Zugang zu den Entwürfen bie- stattfindet: in den narrativen Teilen nur mit dem
tet deshalb die gattungspoetische Frage. Der <Gruft- Mausoleum, in den dramatischen Entwürfen zusätz-
wächter > ist Kafkas einziger Versuch im Bereich des lich mit dem Bezirk der weltlichen Macht, in den der
Dramas. Zwar gibt es in seinem Œuvre zahlreiche alte Wächter zum ersten Mal überhaupt eindringt –
theatralische Momente (szenische Darstellung, Re- immer geht es um den Tod. So wird die Konfronta-
kurs auf Slapsticks, längere dialogisierte Partien, the- tion mit dem radikal Fremden und das Ineinander-
atralische Auftritte, komödiantisches Verhalten greifen von Leben und Tod aus mehreren Perspekti-
usw.), doch hat er sich nur dieses einzige Mal – und ven durchgespielt.
zaghaft genug – an eine Bühnendichtung gewagt.
Möglicherweise war, wie soeben angeführt, der dra- Ausgaben: ED: BeK/GS (1936), 288–305. − BeK/GW
matische Kern allzu schwach ausgeprägt oder es war (1954), 301–319. – NSF I/KA (1993), 267–272, 276–
das Wichtigste, nämlich der nächtliche Kampf des 289, 290–303. – OO1&2/FKA (2006).
Wächters, zwar erzähl- aber nicht bühnenmäßig um- Forschung: P.-A. Alt (2005), S. 439–441. – Maurice
setzbar. Jedenfalls kommen die Anläufe nicht über Blanchot: De K. à K. Paris 1981; dt.: Von K. zu K.
eine Art Exposition hinaus, die das Narrative leicht Frankfurt/M. 1993. – Patrick Bridgwater: K., Gothic
zur Geltung kommen lässt. and Fairytale. Amsterdam 2003. − Peter Cersowsky: K.s
Es ist freilich bezeichnend, dass Kafka zwischen philosophisches Drama: Der Gruftwächter. In: GRM 40
narrativer und dramatischer Darbietung seines Stof- (1990), 54–65. – Richard T. Gray (2005), 113–115. −
246 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Heinz Ide: F.K., Der Gruftwächter und Die Truppenaus- 3.2.8 Der Kübelreiter
hebung. Zur religiösen Problematik in K.s Werk. In:
Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 6 (1961), 19–57. −
Hans Jaeger: Heidegger’s Existential Philosophy and Entstehung und Veröffentlichung
Modern German Literature. In: PMLA 67 (1952), 655–
683. − Katharina Meinel: Der Gruftwächter oder Pro- Kafka schrieb Ein Landarzt wie auch die meisten an-
bleme des Dramatischen im Werk F.K.s. In: Poetica 27 deren Texte des gleichnamigen Bandes im Alchemis-
(1995), 339–373. – Claudine Raboin: Ein Landarzt und
tengässchen 22, das seine Schwester Ottla während
die Erzählungen aus den ›Blauen Oktavheften‹ 1916–
des extrem kalten Winters 1916/17 mit seiner Koh-
1918. In: H.L. Arnold (1994), 151–172. – Roland Reuß:
lennot in Prag gemietet hatte. Zwischen dem 26. Juni
Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte F.K.s. Eine Ein-
1916 und Mai 1917 erlebte er, dort schreibend, eine
führung. In: OO1&2/FKA, Franz Kafka-Heft 5, 3–26. –
G. Rieck (1999). – R. Robertson (1988), 181–184. – Jost höchst produktive Phase. Der Kübelreiter entstand
Schillemeit: Der Gruftwächter. In: KHb (1979) II, 497– zum Monatswechsel Januar/Februar 1917. Überlie-
500. − A. Schütterle (2002), 71–84 u. 89–105. − Peter fert ist er im Oktavheft B sowie in einem Typoskript
Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). (ihm folgt die Wiedergabe in DzL); es existiert auch
Frankfurt/M. 1974. ein Korrekturbogen als Teil des Umbruchabzugs des
Bernard Dieterle Landarzt-Bandes, in dem der Text ursprünglich er-
scheinen sollte. Aus nicht überlieferten Gründen zog
ihn Kafka im Frühjahr 1919 zurück. Der Erstdruck
erfolgte in der Weihnachts-Beilage der Prager Presse
vom 25. Dezember 1921 (DzL:A 542–544).

Textbeschreibung
Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel; sinnlos die Schau-
fel; Kälte atmend der Ofen; […] der Himmel, ein silber-
ner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will. Ich muß
Kohle haben; ich darf doch nicht erfrieren; hinter mir
der erbarmungslose Ofen, vor mir der Himmel ebenso;
infolgedessen muß ich scharf zwischendurch reiten und
in der Mitte beim Kohlenhändler Hilfe suchen (DzL
444).
Als »Bettler« will der Ich-Erzähler den Händler ein
letztes Mal um eine »Schaufel« Kohle bitten, auf das
Gebot »Du sollst nicht töten!« bauend. Er reitet »auf
dem Kübel« zu ihm (444). »Als Kübelreiter, die
Hand oben am Griff […] drehe ich mich beschwer-
lich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kübel
auf« (444 f.). Oft wird der Reiter bis zur »Höhe der
ersten Stockwerke gehoben«, niemals sinkt er »bis
zur Haustüre« hinab. Kafkas Bilderfindung, die an
Märchenmotive und Trickfilme erinnert, führt in
für Kafka typischer Weise ins Phantastische, Über-
natürliche; damit stellt sich – wie stets bei derarti-
gen Bilderfindungen – die Frage nach einer verbor-
genen, metaphorischen Bedeutung. Sind Armut, ge-
sellschaftliche Isolation, Mangel an Inspiration
gemeint? Der Kohlenhändler hat seine Tür geöffnet,
»um die übergroße Hitze abzulassen«. Der Kübel-
reiter, in »Rauchwolken des Atems gehüllt«, bittet
um Kohle: »Mein Kübel ist schon so leer, daß ich auf
Der Kübelreiter 247

ihm reiten kann«. Der Händler hört den Kübelreiter Forschung


rufen: »Hör ich recht?«, fragt er; seine Frau aber er-
klärt: »Ich höre gar nichts« (445). Ist der Kübelreiter An der Oberfläche handelt es sich beim Kübelreiter
für sie nicht existent, die Reise auf dem Kübel also um einen Antagonismus von Arm und Reich. Die
nur eine subjektive Imagination? Als der Händler Erzählung ist nach H. Richter eine »anklagend-sati-
sich anschickt, vor die Tür zu kommen, hält ihn die rische Widerspiegelung einer unausgereiften Front-
Frau zurück mit dem Hinweis auf seinen »Husten«, stellung, in der die Verschärfung der gesellschaftli-
seine »Lungen« (446). Um eine »Schaufel von der chen Widersprüche noch nicht zum offenen Klas-
schlechtesten« bittet der Ich-Erzähler die Frau, die senkampf geführt hat« (Richter, 135). Aber Kafkas
er jedoch »nicht gleich« bezahlen könne (446 f.). Texte schweben stets zwischen Eigentlichkeit und
»Was für ein Glockenklang sind die zwei Worte Uneigentlichkeit; die Dimension des Metaphori-
›nicht gleich‹ und wie sinnverwirrend mischen sie schen, Parabolischen, Allegorischen wird stets eröff-
sich mit dem Abendläuten« (447). Noch einmal also net, wenn auch niemals eindeutig bestätigt. Daher
ein Hinweis auf den »Himmel«, das christliche Ge- sind wohl die christlichen und die sozialkritischen
bot der Nächstenliebe. Die Frau beruhigt den Koh- Signale nur grobschlächtige Denotate, deren konno-
lenhändler: »ich sehe nichts, ich höre nichts; nur tative Implikationen schwerer wiegen.
sechs Uhr läutet es«. Dennoch »löst sie das Schür- Heinz Politzer liest den Kübelreiter als eine »Win-
zenband und versucht mich mit der Schürze fortzu- terelegie über die Verlorenheit des Menschen in un-
wehen« (447). Kafkas Werk ist voller Gesten; in der serer Welt«. Dieser zu abstrakte Befund wird ein we-
Funktion von Detailrealismen finden sie sich so- nig spezifiziert durch die – allerdings wiederum zu
wohl in realistischen als auch in phantastischen Par- generellen – Aussagen, Kafka habe die Winterkälte
tien. Hier verbindet sich die Geste der Verständnis- zu einem »Bild der kosmischen Kälte erweitert, in
losigkeit angesichts der erbarmungslosen Kälte mit der seine Welt erstarrt war. Das Feuer erloschen;
der phantastischen und traumartigen Bilderfindung Heizstoff, Energie und Vitalität vergeudet« (Politzer,
vom Kübel, der so leer ist, dass er wie ein Luftballon 149). Immerhin wird angedeutet, dass Kälte und so-
davonfliegt. Mit dieser Geste wird aber auch klar, ziale Situation nicht wörtlich zu nehmen sind. Kru-
dass der Kübelflug real und nicht imaginär ist und sche diagnostiziert mit Politzer »kosmische Kälte«
dass die Frau ihn wahrnimmt und also lügt. »Du und »›ontische Einsamkeit‹« (Krusche, 108). Nach
Böse!« ruft der Kübelreiter. »›Um eine Schaufel von Fingerhut entspricht die »Situation des Landarztes«
der schlechtesten habe ich gebeten und du hast sie der des »Kübelreiters am Ende seines Ritts in die
mir nicht gegeben‹. Und damit steige ich in die Re- nordische Wüste«. Er interpretiert die Figuren als
gionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nim- »Bildzeichen für den Dichter selbst« (Fingerhut,
merwiedersehn« (447). Von den unmenschlichen 136), ohne diese These näher zu spezifizieren.
Menschen treibt es den Kübelreiter in die men- Gerhard Neumann zufolge schildert der Kübelrei-
schenleere Region der »Eisgebirge«, in die Region ter die »Zwangslage des hilflosen Selbstversorgers
gesteigerter Isolation. Diese Vision klingt deutlich (Junggesellen), dessen Kontaktversuche mit der so-
an den resignativen Schluss von Ein Landarzt an, zialen Umwelt scheitern«. Der »momentanen Mit-
wo der Ich-Erzähler, »dem Froste dieses unglückse- tellosigkeit« entspreche auf höherer Ebene die »exis-
ligsten Zeitalters ausgesetzt«, nackt durch die tentielle Isolation und Kälte« (Neumann, 317, vgl.
»Schneewüste« treibt (DzL 261). Der auf dem Kor- Krusche, 107–109). Darstellungsziel sei die »aporeti-
rekturbogen gestrichene Schluss lautet: sche Selbstdiagnose des Ich-Erzählers zwischen all-
täglicher Verstrickung und phantastischer Autono-
Ist hier wärmer, als unten auf der winterlichen Erde? mie« (Neumann, 317). Der Schluss könne entweder
Weiss ragt es rin(k>g)s, mein Kübel [ist] das einzig als »Zeichen einer starren, menschenfeindlichen
Dunkle. War ich früher hoch, bin ich jetzt tief, der Blick
zu den Berg(- >en) [hängen] renkt mir den Hals aus. Welt« gesehen werden oder als »Vergegenwärtigung
Weissgefrorene Eis(bahn>fläche), [durchs] <der Him- der asketischen Befreiung vom Zwang der Dinge«
mel,> strichweise durchschnitten von den Bahnen ver- (317). Das »reine Ich«, mit Sokel zu sprechen (Sokel,
schwundener Schlittschuhläufer. Auf dem hohen keinen 38 ff.), flieht das »soziale Ich« – wenn man die Flucht
Zoll breit einsinkenden Schnee folge ich der Fusspur der
kleinen arktischen Hunde. Mein Reiten hat den Sinn
in die »Eisregionen« als unbewussten Wunsch sieht
verloren, ich bin abges(essen>tiegen) (x>u)nd [ziehe] –, doch sein Aufenthaltsort ist mehr oder weniger
trage den Kübel auf der Achsel (DzL:A 550 f). tödlicher Frost, wie in Ein Landarzt. »Eislandschaft
248 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

oder Wüste wie auch die Eisgebirge des Kübelreiters« D. Kremer hat – ohne Sussmans allegorische Les-
sind Sokel zufolge die »Heimstätte« des »reinen Ich« art des Landarztes zu kennen – die Erzählung als
(Sokel, 119). chiffrierte Form literarischer Anstrengung gelesen
Sabine Schindler verglich Landarzt und Kübelreiter (Kremer 1989, 26–29; vgl. Alt, 442). »Reiten und
unter den Aspekten »Winterzeit«, »Religion« und Schreiben« sind für ihn Prozesse, »die sich gegensei-
»Familie« (Schindler, 231–251). Trotz offensichtli- tig zitieren« (Kremer 1994, 198). Im »ebenmäßigen
cher Parallelen bedeute die Loslösung des Kübelrei- Trab« (DzL 445) des Kübelreiters sieht er das »gleich-
ters vom »wirklichen Leben« »eine Erlösung«, wenn mäßige Auf und Ab der Schriftbewegung« (Kremer
auch eine, die nur »im Traum« möglich sei; der Land- 1989, 28) gespiegelt. Auch der Kohlenhändler
arzt hingegen scheitere an der »unlösbaren Lebens- schreibe (28). Der harte Schnee der »weißgefrorenen
aufgabe«, »Einsamkeit und Gemeinschaft« miteinan- Eisfläche« erinnere an die »Unnachgiebigkeit des
der in Einklang zu bringen (251). In beiden Erzäh- weißen Blatt Papiers« (28 f.).
lungen gebe ein eisiger Winter »Bedingungen vor, Peter-André Alt griff dies auf und meinte, wenn
aus denen sich die Geschichten entwickeln«, die je- der Kübelreiter beschwerlich die Treppe hinabgleite
weils in »irreale Räume« führen und schließlich in und dann rasch hochsteige, reflektiere dies das sto-
»Schneewüste« bzw. »Eisgebirge« enden (242 f.). In ckende Schreiben von abwärts führenden Zeilen und
beiden Erzählungen werde klar, dass es »Erlösung die rasche Aufwärtsbewebung der Hand zu einem
und Gnade vom Himmel (von der Religion) nicht ge- neuen Blatt. Im Kübel-»Griff« erkennt er den »Grif-
ben kann« (245). Dem Kübelreiter hält der abwei- fel« (Alt, 442; vgl. die Andeutung bei Kremer 1989,
sende Himmel seinen »silbernen Schild« entgegen, 28). Kälte und Kohlennot wären demnach Ausdruck
ihn auf sich selbst zurückwerfend; der Landarzt ver- stockender Inspiration, die der menschlichen Isola-
mag die ehemalige Aufgabe des Pfarrers, der jetzt die tion und dem Mangel an mitmenschlicher Wärme
Messgewänder »zerzupft« (DzL 259), nicht zu über- geschuldet ist. Die Schürze der Kohlenhändlersgat-
nehmen. Die Gegenüberstellung von Kübelreiter und tin interpretiert Alt als – aus dem Process bekanntes
Kohlenhändlerehepaar thematisiert Schindler zu- – erotisches Motiv. Der Erdgebundenheit der Frau,
folge »die Abgrenzung des Künstlers gegenüber der die Alt auch mit Felice Bauer assoziiert, werde der
Gemeinschaft« (Schindler, 245). Der »außergewöhn- »luftige Charakter der Einbildungskraft« entgegen-
lich hoch« (DzL 445) über dem Kellergewölbe des gesetzt (442). Überzeugender ist die Deutung, dass
Händlers schwebende Reiter als Allegorie des »künst- die Frau hier Repräsentantin der »Welt des norma-
lerischen Ich« hat sich von diesem als »weltlicher, ge- len Alltags« ist, in der die Stimme des Schriftstellers
schäftstüchtiger Person« weit abgesondert; er ist dem in seiner gesellschaftlichen Isolation »ungehört ver-
»realen Leben gegenüber« untauglich (Schindler, hallt« (443). Als »Allegorie der Schrift« sei der Kü-
247). Dass der Händler Frau und Kind besitzt und die belreiter eine Figur aus Kafkas »Magazinen des
ganze Stadt mit Kohlen versorgt, signalisiere, dass auf Traums«; die Bildphantasie vom fliegenden Reiter
dieser Seite »menschliche Beziehungen« existieren, deute auf den »Quellgrund«, den dieses Schreiben in
von denen der Kübelreiter ausgeschlossen sei (246). den »Sprachen des Unbewussten findet« (443). Die-
Die von den Mitmenschen isolierte »Künstlerpersön- ser Befund eröffnet eine Parallele zu Ein Landarzt, in
lichkeit« stehe dem Kohlenhändler gegenüber, der dem die »Reise« mit den Pferden ähnlich wie der
die »von Kafka immer wieder angestrebte, aber nie Kübel-Flug zu einer bitteren Erkenntnis des Unbe-
verwirklichte Figur des Ehemanns« repräsentiere. So wussten führt und schließlich in einer »Schnee-
spiegle die Erzählung »zwei Seiten von Kafkas Per- wüste« endet.
sönlichkeit« und manifestiere den »unlösbaren Wi-
derstreit« zwischen »dem reinen Künstlertum und
dem Leben in der Gemeinschaft« (246). Aus dem Pa- Deutungsaspekte
ralipomenon liest Schindler, dass die Kälte des Eisge-
birges, »Sinnbild für die absolute und unwiderrufli- Der scharfe soziale Kontrast (leerer Kübel versus
che Isolation«, »natürlicher« »Qualität« sei und »Frei- überheizter Raum) ist mit Sicherheit nur ein Bild für
heit« bedeute, während die »Kälte auf der Erde« »eine die psychische Situation des isolierten und ausge-
zwischen Menschen aufkommende Befindlichkeit« brannten Ich. Auch die christlichen, besser: anti-
sei, die dem »Einzelnen als Gefühlskälte deutlich« christlichen Anspielungen (erbarmungsloser »Him-
werde (241). mel«, »Du sollst nicht töten!«, »Abendläuten«, »Du
Der Kübelreiter 249

Böse!«) sind auf die gottverlassene Einsamkeit dieses Umbruchabzug des Landarzt-Bandes [zunächst war
Ich zu beziehen; sie implizieren auch ein auf mit- Der Kübelreiter vorgesehen für die Sammlung Ein Land-
menschliche Emotionen (bei anderen und in sich) arzt, wurde aber während der Bogenkorrektur im Früh-
hoffendes Schriftsteller-Ich. Bei Kafka ist die Außen- jahr 1919 gestrichen, DzL:A/KA (1996), 544]. − ED:
welt meist auch eine allegorisch extrapolierte Innen- Prager Presse 1 ([25.12.]1921) Nr. 270, Weihnachtsbei-
welt. Was der Kübel-Reiter erfährt, ist auch sein in- lage. − BeK/GS (1936), 124–126. − BeK/GW (1954),
neres Bild der Welt. Also wünscht der Kübelreiter 120–123. – DzL/KA (1994), 444–447; NSF I/KA, 313–
316. − OO1&2/FKA (2006), H. 2, 47–63 u. 151–155
auch in sich eine wärmere Gefühlswelt. Die Paralleli-
[Typoskript].
sierung von Kübel-Bewegung und Schreib-Bewe-
Forschung: P.-A. Alt (2005), bes. 441–443. – Deleuze/
gung (Kremer, Alt) entspricht durchaus Kafkas häu-
Guattari (1976). − S. Dierks (2003), 73–80. – W. Emrich
fig von der Materialität der Sprache ausgehender
(1970 [1957]), bes. 112 f. – K.-H. Fingerhut (1969), bes.
Denkbewegung, doch wird man sie nicht als das 136. – Ludwig Hahn: F.K.: Der Kübelreiter. In: Inter-
letztlich ›Gemeinte‹ sehen dürfen. pretationen moderner Prosa. Hg. v. der Fachgruppe
Kafkas Texte sind ins Phantastische gehende Ima- Deutsch-Geschichte im Bayerischen Philologenverband.
ginationen, »Metamorphosen« (Deleuze/Guattari, Frankfurt/M. 1968, 49–54. – H.H. Hiebel (1983). − D.
32), und sie sind immer zugleich auch Metaphern, Kremer (1989), bes. 26–29. – Ders.: Ein Landarzt. In:
meist polyvalente Metaphern bzw. »gleitende Meta- M. Müller (1994), 197–214. – D. Krusche (1974), bes.
phern« (Hiebel 1983, 54 ff.). Das Bild vom sich erhe- 107 f. – Gerhard Neumann: Der Kübelreiter. In: KHb
benden, leeren Kübel ist ein in mehrere Richtungen (1979) II, 316 f. – H. Politzer (1978), bes. 149. – H. Rich-
ausstrahlendes Symbolgebilde. Dass der Kübel-Flug ter (1962), bes. 135. – Johannes Roskothen: Bodenlosig-
– neben anderem – auch die ans Unbewusste füh- keit. Überlegungen zu K.s Erzählung Der Kübelreiter.
rende Inspiration impliziert, legt die parallele Reise In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 29 (1999),
des Landarztes zur unheilbaren Wunde seines Pati- 29–33. – Sabine Schindler: Der Kübelreiter. In: M. Mül-
enten nahe. Obwohl die Frau des Kohlenhändlers ler (1994), 231–251. – W.H. Sokel (1964).
den Kübelreiter mit der Schürze fortweht, ihn also Hans Helmut Hiebel
sieht, steckt in ihren Worten auch etwas Wahres: »ich
sehe nichts, ich höre nichts«. Auch die Eltern des
Jungen in Ein Landarzt scheinen ja seine Wunde
nicht wahrgenommen zu haben. Als Repräsentantin
des Alltags und der Wohlsituiertheit hat die Frau des
Kohlenhändlers kein Auge für den dem »Frost« des
Zimmers (DzL 444) und schließlich dem arktischen
»Eisgebirge« Ausgelieferten.
Der Text kontrastiert eindeutig Familie bzw. Ge-
meinschaft und zölibatären Junggesellen. Die Frau
des Händlers als Glied der Familie hat kein Ver-
ständnis für den isolierten Einzelnen bzw. den einsa-
men Schriftsteller. »Was mich gehindert hat [zu hei-
raten], war ein erdachtes Gefühl, im vollständigen
Alleinsein liege eine höhere Verpflichtung für mich«
(An F. Bauer, 29.12.1913; B13–14 311). Der Kübelrei-
ter legt indes nahe, dass dieses Alleinsein immer
auch den Aspekt der Unfreiwilligkeit hatte. Der Ritt
zum Kohlenhändler, Bild der Inspiration, geschieht
noch freiwillig, der Aufenthalt in den »Eisregionen«
ist erzwungen; das Gleiche gilt für die »Reise« des
Landarztes und sein auswegloses Treiben in der
»Schneewüste«.

Ausgaben: Handschrift im Oktavheft B; Typoskript


(Frühjahr 1917; ihm folgt die Wiedergabe in DzL). −
250 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

3.2.9 Beim Bau der steins Grüne Bändchen erschienener Reisebericht Im


neuen China (vgl. Goebel 1997) und die Anthologien
chinesischen Mauer chinesischer Lyrik von Heilmann (1905) und Bethge
(1907).
Entstehung und Veröffentlichung
Die im Artikel zu behandelnde Textgruppe (NSF I, Textbeschreibung
337–361) ist im dritten (»Oktavheft C«) der acht Ok-
tavhefte überliefert, die Kafka seit dem Herbst 1916 Bei beiden Erzähltexten des Oktavheftes handelt es
für seine literarische Arbeit verwendete. Sie besteht sich um fiktionale Berichte. Bereits durch ihre jewei-
aus dem Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer ligen Erzählinstanzen geraten sie in eine spezifische
und der Erzählung Ein altes Blatt, zwei Texten, die Gegenstellung. Im ersten Falle (Beim Bau der chine-
hier wegen ihres engen motivischen wie erzähltech- sischen Mauer) ist der Erzähler ein chinesischer Ar-
nischen Bezugs aufeinander im Zusammenhang be- chitekt (ein »Bauführer […] untersten Ranges«; NSF
handelt werden. Die beiden Texte sind durch ein nur I, 340), der aus der ungewöhnlichen professionellen
wenige Zeilen umfassendes Erzählfragment getrennt Doppelperspektive des Experten für Schutzbauten
(357 f.). Auf Ein altes Blatt folgt der Entwurf einer und für »vergleichende Völkergeschichte« (348)
Einleitungsnotiz: über die Nomadengefahr, schutztechnische Aspekte
des Mauerbaus und die politische Konstitution des
Diese (vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung
chinesischen Reiches teils berichtet, teils räsoniert.
einiger alter chinesischer Manuscriptblätter stellt uns ein
Freund der Aktion zur Verfügung. Es ist ein Bruchstück. Da der Berichterstatter zum einen seine historische
Hoffnung, daß die Fortsetzung gefunden werden könnte Distanz zu seinem Gegenstand betont, diese aller-
besteht nicht. dings zugleich durch einige autobiographische Ein-
< > schübe wieder relativiert, lässt sich hier, in der Ter-
Hier folgen noch einige Seiten, die aber allzu beschädigt
sind, als daß ihnen etwas bestimmtes entnommen wer- minologie Gérard Genettes, von einer heterodiegeti-
den könnte (NSF I, 361). schen (außerhalb der erzählten Welt liegenden)
Erzählerposition mit Tendenz zur Homodiegese
Die Entstehungszeit der Texte ist auf März 1917 da- sprechen.
tiert worden; sie gehören also in die hoch produktive Bei der zweiten Erzählinstanz (Konvolutteil: Ein
Phase der ›Arbeit in der Alchimistengasse‹ (Dezem- altes Blatt) handelt es sich um das Opfer eines No-
ber 1916 bis April 1917), wo Kafka die von seiner madenüberfalls. Die Weitwinkelperspektive des über
Schwester Ottla gemietete Wohnung im Haus Nr. 22 das ganze Reich und seine Grenzen hinaus schwei-
für einige Monate als ›Werkstatt‹ für seine literari- fenden Blicks des gebildeten Architekten-Völker-
schen Aufzeichnungen nutzte. kundlers ist ersetzt durch die Nahperspektive des
Der fragmentarisch gebliebene Haupttext erschien halbgebildeten Augenzeugen, eines Schusters, der
zuerst als Titelstück des 1931 veröffentlichten Nach- aus seinem Laden heraus das orgiastische Treiben
lassbandes (Beim Bau der Chinesischen Mauer). Die der Nomaden auf dem Platz vor dem Kaiserpalast
aus dem Fragment herausgelöste Binnenerzählung beobachtet und sorgenvoll erörtert. Sein hilfloser
von der Botschaft des Kaisers (Eine kaiserliche Bot- Versuch, sich den überwältigenden Tatsachen durch
schaft) wurde 1919 in der Prager Wochenschrift sein Verschwinden unter »Kleider, Decken und Pöls-
Selbstwehr erstveröffentlicht, während Ein altes Blatt ter« (360) zu entziehen, lässt hier eine homodiegeti-
(im Titel des Manuskripts wurde der Zusatz »aus sche Erzählerposition mit Tendenz zur Heterodie-
China« gestrichen) bereits 1917 in der Zweimonats- gese entstehen, d. h. der Erzähler, obwohl tief in die
schrift Marsyas erschien (zusammen mit Der neue Handlung verstrickt, strebt danach, sich eine Posi-
Advokat und Ein Brudermord). Beide Texte nahm tion außerhalb ihrer zu verschaffen.
Kafka in den spätestens Anfang Mai 1920 gedruckt Es ist der permanent mitlaufende Zweifel an dem
vorliegenden Landarzt-Band auf. im ersten Satz verkündeten Sicherheitsversprechen –
Als ›Quellen‹ (wobei Kafkas hoch reflektierter »Die chinesische Mauer ist an ihrer nördlichsten
und ästhetisch kalkulierter Umgang mit Intertextua- Stelle beendet worden« (337) –, der den Architek-
lität diese Kategorie höchst problematisch erschei- ten-Bericht voran- und mithin den Text aus sich
nen lässt) gelten: Julius Dittmars in der Reihe Schaff- selbst hervortreibt. Schon die Perfektform deutet die
Beim Bau der chinesischen Mauer 251

Differenz zwischen Vollendung und Beendung, zwi- ren als realen Charakter der Nomadengefahr
schen historischer Abgeschlossenheit und in die Ge- angesichts der Größe des Landes wendet sich der Be-
genwart hineinwirkender Offenheit an. Bereits der richt der politischen Verfassung (der »Einrichtung«
zweite Satz, der den vermeintlich letzten Akt des des »Kaisertums«) zu, wobei zunächst nicht »die
Baues schildert, führt auf die Erörterung jenes »Sys- Lehrer des Staatsrechtes und der Geschichte an den
tems des Teilbaues« – »Es geschah dies so, daß Grup- hohen Schulen«, sondern »das Volk« befragt werden
pen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet wurden, soll (349).
welche eine Teilmauer von etwa fünfhundert Metern Dies geschieht zum einen durch den Rekurs auf
Länge aufzuführen hätten, eine Nachbargruppe die »Sage« (351), in der sich wiederum, wenn auch
baute ihnen dann eine Mauer in gleicher Länge ent- auf neue Weise, der Raum als entscheidender Faktor
gegen« (ebd.) –, dessen Lückenhaftigkeit die Sorge erweist. In der gleichnishaften Binnenerzählung von
des Berichterstatters auf den eigentlichen Zweck der der kaiserlichen Botschaft ist es nicht die Ausdeh-
Mauer lenkt: den Schutz des Landes und seiner Be- nung des Raumes (das »freie Feld«, 351), die den Bo-
wohner gegen die Nomadenvölker des Nordens. Sie, ten des Kaisers daran hindert, den Adressaten der
die »mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie Heuschre- Nachricht, den einzelnen Untertanen, zu erreichen.
cken ihre Wohnsitze wechselten«, haben »vielleicht Es ist vielmehr die Faltung des Raumes, die unüber-
einen bessern Überblick über die Baufortschritte windbare Staffelung der Gemächer, Höfe und Trep-
[…] als selbst wir die Erbauer« (339). Doch wird die- pen des Kaiserpalastes, die es unmöglich macht, die
ser vermeintliche Vorteil wilder Wahrnehmung ge- ebenso unüberwindbare Staffelung der Wohnstätten
genüber kultiviertem Wissen sogleich wieder einge- der Hauptstadtbewohner auch nur zu erreichen. Wie
schränkt, indem die Notwendigkeit des Teilbauver- im Falle der Nomaden bleibt so auch das Verhältnis
fahrens als Resultat aus technischem Know-how, der Chinesen zu ihrem Schutzherren ein imaginäres
professioneller Ausbildung, Arbeitsteilung und Ar- (›erträumtes‹, 352).
beitspsychologie hergeleitet wird. Zum anderen stützt sich die Volksbefragung des
Die zunächst nüchterne, logistisch-ergonomische Architekten auf empirisches Wissen (auf »Schriften«
Abhandlung steigert sich freilich bald in einen pa- und »eigene Beobachtungen«, 355). Hierbei erweist
thetisch-heroischen Ton, der, gleichsam am Gegen- sich, dass der Lückenhaftigkeit des Schutzes nach
pol des Schutzes gegen die Bedrohung von Außen, außen eine mangelhafte administrative und symbo-
als anderen möglichen Zweck des Mauerbaus die in- lische Durchdringung des Reiches nach innen ent-
nere Einigung der Bevölkerung zum Volk durch das spricht: Beinahe jedes Dorf hegt seine ganz eigene
gemeinsame Werk erscheinen lässt. In einer un- Vorstellung vom Kaiser, dem so, zusätzlich zu den
mittelbar anschließenden Reflexionsschleife gerät beiden Körpern, die die klassische Souveränitäts-
schließlich ein dritter Zweck des Mauerbaues in den lehre ihm zuschreibt (dem leiblichen und dem sym-
Blick, wenn nämlich die Mauer als erstmals »siche- bolischen), ein vielgestaltiger dritter Körper hinzu-
res Fundament für einen neuen Babelturm« (343) gefügt wird, der aus dem Geflecht der mannigfalti-
angesehen wird, mithin als Teil einer sprachlich-kul- gen lokalen Vorstellungen besteht. Und doch
turellen Einigung des Volkes durch ein Gleichnis. erscheint, kurz vor dem Abbruch des Fragments (in
Nach diesen technologisch-funktionalen Erwä- einer unvollendeten Kindheitserinnerung des Er-
gungen geht der Bericht in eine politische Blickrich- zählers an das Eintreffen der Nachricht vom Beginn
tung über, indem er die Verbindung einer jedenfalls des Mauerbaus in seinem Dorf), gerade diese Schwä-
fragwürdigen Schutzvorrichtung mit dem Willen ei- che eines einheitliches Bildes der Macht als »eines
ner von »göttlichen Welten« erleuchteten und der der wichtigsten Einigungsmittel unseres Volkes«
menschlichen Wahrnehmung entzogenen »Führer- (356).
schaft« prüft (244). Auch dieses Problem wird letzt- Wenn im Falle des Berichts vom Bau der chinesi-
lich nicht gelöst, sondern wiederum durch ein schen Mauer eine Berichtsinstanz, die durchaus als
Gleichnis stillgestellt: Im hydrographischen Bild des zuverlässig gelten darf, selbst immer wieder auf die
über die Ufer tretenden und dann austrocknenden quellenbedingt allenfalls begrenzte Zuverlässigkeit
Flusses wird dem Einzelnen nahegelegt, beim Nach- ihres Berichts verweist, so ruft in der anschließen-
denken über die Führerschaft die Grenzen der eige- den Erzählung Ein altes Blatt der durch Augenzeu-
nen Denkfähigkeit nicht zu überschreiten. Nach ei- genschaft verbürgte Bericht des Schusters aufgrund
nem versichernden Exkurs über den eher imaginä- seiner drastischen Beschreibungen berechtigte Zwei-
252 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

fel an der Zuverlässigkeit des Berichterstatters her- Forschung


vor. Zu konstatieren ist zunächst ein radikaler Wech-
sel der politischen Lichtordnung. Bleiben im Bericht Da das Fragment vom Bau der Chinesischen Mauer
des Architekten Bedrohung und Schutzmacht virtu- zugleich das Titelstück des 1931 erschienenen Nach-
elle Größen, die gerade auf diese Weise so etwas wie lassbandes bildete, diente es sehr bald als Bezugs-
politische Normalität ermöglichen, so wird nach punkt der durch diesen Band motivierten Reflexio-
dem Einfall der Nomaden in die Hauptstadt die poli- nen über den Autor Kafka und sein Schreibprojekt.
tische Konstellation unmittelbar auf ihre physische Walter Benjamins zuerst 1931 im Rundfunk aus-
Körperlichkeit reduziert: Nicht mehr im Kinder- gestrahlte Anzeige des Nachlassbandes erzählt die
buch, sondern leibhaftig verwüsten die Raubtier- Parabel von der Kaiserlichen Botschaft nach, um vor
Nomaden den Platz vor dem Kaiserpalast und plün- allegorisierenden, insbesondere religionsphilosophi-
dern die Geschäfte; nicht mehr im Traum, sondern schen Deutungsreflexen zu warnen und auf die Be-
leibhaftig erscheint der Kaiser hinter dem vergitter- sonderheiten der Kafkaschen Erzählweise hinzuwei-
ten Fenster: der geneigte Kopf als Zeichen seiner sen, die »mit einer rein dichterischen Prosa gebro-
Machtlosigkeit (360). Freilich bleibt die Faktualität chen habe« (Benjamin, 41). In seinem drei Jahre
auch dieses Berichts von Traum und Einbildung in- später erschienenen Essay zu Kafkas zehntem Todes-
fiziert: Der Schuster beobachtet die Nomaden zu- tag zieht Benjamin die Erzählung von der Chinesi-
nächst »in der Morgendämmerung« (358), also in schen Mauer als Beleg für seine These heran, dass
der für Kafkas Erzählwelten des Öfteren maßgebli- für Kafka, anders als für Napoleon, das Fatum nicht
chen Zeitspanne zwischen Schlaf und Erwachen, durch die Politik, sondern durch die Organisation
und auch das Erscheinen des Kaisers im Palastfens- ersetzt sei (Benjamin, 20). Die Rolle der Organisa-
ter bleibt mit dem Index des Scheins versehen (»dies- tion spielt auch in Siegfried Kracauers Aufsatz zum
mal aber stand er, so schien es, an einem Fenster«; Anlass des erwähnten Nachlassbandes eine wichtige
360). Rolle, ebenso wie die Differenz zwischen dem ›dich-
Wenn auch in diesem Szenario die Bevölkerung ten‹ und dem ›lockeren Gefüge‹ der Gemeinschaft;
und die neuen Machthaber nicht miteinander kom- beide Figuren werden hier werkintern-intertextuell,
munizieren können, so liegt das nicht mehr an der also quer durch verschiedene Erzählungen des Nach-
Weite oder der Faltung des Raums, sondern an der lasses gelesen und zeitdiagnostisch pointiert.
Sprachlosigkeit der tierhaften Nomaden, die sich le- Nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch für den
diglich durch Gesten und Schreie verständigen China-Stoff die in Friedrich Beißners maßgeblicher
(359). Dem offenen Ende des Berichts von der chi- Arbeit über den Erzähler Franz Kafka konstatierte
nesischen Mauer auf der Ebene des fragmentari- Tendenz zu beobachten, zugunsten möglichst ge-
schen ersten Teils entspricht hier das offene Ende schlossener philosophischer oder theologischer
der erzählten bzw. berichteten Welt: »›Wie wird es Deutungen die Untersuchung poetologischer As-
werden?‹ fragen wir uns alle« (360). pekte zu vernachlässigen. So verbildlicht für Walter
Die referierten Geschichten zeigen beispielhaft, H. Sokel die weltanschaulich heterogene Lebens-
dass bei Kafka die Problematik der Deutung vor je- weise des chinesischen Volkes die Negation absolu-
der methodischen Entscheidung über die eine oder ter Verpflichtung (Sokel, 367–370), während für
andere Lesart in ihrer Reflexivität steht, dass also zu- Wilhelm Emrich aus gegenläufigem Blickwinkel die
nächst die seinen Geschichten eingeschriebene Pro- Distanz zwischen dem Einzelnen und dem Kaiser
blematisierung der Deutung selbst in den Blick zu den Hiatus zwischen Gott und Mensch darstellt
nehmen wäre. Hier sei zunächst nur auf die Erörte- (Emrich, 187–204). In einer weiteren einflussreichen
rungen des Nachbuchstabierens der Anordnungen Lesart sieht Clement Greenberg in Kafkas China ein
der Führerschaft, des Nachdenkens über sie, und die Symbol für die jüdische Diaspora, der ihrerseits eine
Vorstellungen über das Kaisertum in den Dörfern menschheitlich-existenzielle Bedeutung innewohne
und Provinzen hingewiesen (ä 258 f.). (Greenberg, 77).
Eine zentrale Rolle spielt die Mauer für die ein-
flussreiche Neubestimmung des Kafkaschen Schreib-
verfahrens durch Gilles Deleuze und Félix Guattari.
Die architektonische Konstellation des Mauerbaus –
die Segmente der kreisförmigen Mauer mit dem
Beim Bau der chinesischen Mauer 253

Turm im Zentrum – ist hier Ausdruck des »tran- Geschichte hinweist, ihre autopoietische Bewegung,
szendenten« bzw. »paranoischen Gesetzes«, das stets in der hier wie stets bei Kafka der Erzählprozess sich
»nur Fragmente beherrschen kann« (Deleuze/Guat- selbst hervorbringt, kontinuiert und ggf. vollendet
tari 100 f.). Sein Gegensatz ist das Schizo-Gesetz, (C.L. Hart Nibbrig 1977, 459).
dessen Ausdruck das Kontinuum benachbarter Ele- Von den Untersuchungen jüngeren Datums wäre
mente ist (etwa der Büros entlang eines Korridors). zunächst die maßgebliche Deutung Joseph Vogls zu
Die beiden Gesetze sind mit den beiden Bürokratien nennen, der ausgehend von der Rousseau-Lektüre
verbunden, die sich in Kafkas Versicherungsanstalt Derridas Kafkas bifokales chinesisches Szenario als
treffen und überlagern: »der traditionellen chinesi- Inszenierung des doppelten Bruchs »zwischen dem
schen, kaiserlichen und despotischen Bürokratie unvermessenen Land und dem in sich gegliederten
und der modernen kapitalistischen und sozialisti- und angeeigneten Territorium« bzw. zwischen dem
schen Bürokratie« (104), d. h. in concreto: der zen- »unartikulierten Schrei der Natur« und »der artiku-
tralistischen Wiener k.k. Bürokratie, der die Staats- lierten Sprache« liest, es mithin als Problembild für
aufsicht über die Anstalt oblag, und dem autonomen den »kritischen Ort« versteht, »an dem sich die Ent-
Management der Anstalt nach den Kriterien der So- stehung von Gemeinschaft gerade als Dekomposi-
zialversicherungstechnik. tion ihrer Darstellung immer von neuem vollzieht«
In die 1970er und 1980er Jahre fallen einige Un- (Vogl, 204). Wegweisend ist auch Friedrich Balkes
tersuchungen, die den China-Stoff als kulturelles Nachweis des »epistemologischen Spinozismus«
und politisches Szenario der Subjekt-Genese lesen Kafkas, den er an der Handhabung der Differenzen
(Goodden, Neumann, Rapaport, Whitlark). zwischen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit sowie
Mit dem Aufkommen der Cultural Studies ent- zwischen »endlichem und unendlichem Denken« in
stand eine Reihe von Untersuchungen, die Kafkas der Mauer führt (Balke, 398). Malte Kleinwort re-
China-Erzählungen von ihren historischen und kul- flektiert anhand der Differenz der beiden Babel-Mo-
turellen Kontexten aus zu erschließen suchten. Hier tive in der Genesis und in den Prophetenbüchern die
ist zunächst R. Robertsons große Untersuchung über spannungsreiche Verknüpfung zweier – insbeson-
den jüdischen Kontext des Kafkaschen Werks zu dere dem ›chinesischen‹ Szenario eingeschriebenen
nennen, der, im Bezug auf die Botschaft und hier fo- – Schreibtendenzen bei Kafka, einer fragmentari-
kussiert auf den Chassidismus, auch G. Baioni als schen, zerstückelten, widerständigen, und einer auf
Bezugshorizont dient. Vor diesem Hintergrund legt Einheit gerichteten, gleichsam selbsttätig sich entfal-
R. J. Goebel überzeugend dar, dass sich insbesondere tenden.
die hier in Rede stehenden Erzählungen – im Span-
nungsverhältnis zwischen der Mauer und dem Blatt
– mit erheblicher Tiefenschärfe auch im Kontext der Deutungsaspekte
chinesischen Geschichte sowie vor allem der ›orien-
talistischen‹ Diskurse über China lesen lassen. Der Dem Textkonvolut kommt in Kafkas Werk eine poe-
Kontext der Geschichte Österreichs wird im Band tologische Schlüsselstellung zu. Insbesondere Benja-
von Walter Weiß und Ernst Hanisch aufgerufen. mins Hinweis auf die transästhetische Logik der
In den beiden vergangenen Jahrzehnten häufen Schreibweise Kafkas (ä 252) lässt sich an diesem Bei-
sich Untersuchungen, die sich aus diskursanalyti- spiel in ihrer ganzen Tragweite konkretisieren.
scher, systemtheoretischer oder dekonstruktivisti-
scher Perspektive mit Kafkas Schreibverfahren bzw. Aktualhistorische Intervention
Schreibprojekt befassen. Im Hinblick auf die in Rede
stehenden Erzählungen sind zu erwähnen: die Dis- Wenn nach einem weitreichenden Konsens unter
sertation Wolf Kittlers, die in Kafkas China eine In- Historikern der Erste Weltkrieg als die »Urkatastro-
szenierung der institutionellen und medialen Relais phe« des ›kurzen‹ 20. Jahrhunderts (1914–1989) gel-
gesellschaftlicher Kommunikation und ihrer Macht- ten kann (so etwa Wolfgang J. Mommsen, im An-
effekte freilegt (Kittler, 11–110); die u. a. an Deleuze schluss an George F. Kennan), so wäre das Frühjahr
und Guattari anschließende Habilitationsschrift 1917 vermutlich als die vorentscheidende Phase in
Hiebels; Christiaan L. Hart Nibbrigs Lektüre der ihrem Verlauf zu verzeichnen.
Botschaft, die auf die Vielstimmigkeit (den »Partitur- Zwischen Ende Januar und Mitte März war mit
charakter«) und die »besondere Reflexivität« dieser der Verkündung der Wilson-Doktrin, der U-Boot-
254 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Krise und dem Eintritt der Vereinigten Staaten in Dem Gleichnis von der »kaiserlichen Botschaft«
den Krieg, und mit der Russischen Februarrevolu- wiederum ist offenbar Hobbes Warnung vor der
tion auch für zeitgenössische Beobachter die Endzeit »übermäßigen Größe einer Stadt« eingeschrieben,
der europäischen Monarchien überdeutlich ange- die einen eigenen Machtraum im Inneren eines Staa-
brochen. In der Donaumonarchie hatte sich nach tes bilden könnte, und in der »im Kot des Volkes«
dem Tod des Kaisers Franz Joseph I. sein Nachfolger Menschen entstehen, die sich nicht scheuen, die »ab-
Karl I. geweigert, den Eid auf die alte Reichsverfas- solute Gewalt in Worten anzugreifen« (Hobbes,
sung abzulegen; zugleich zögerte er, einen neuen 254). So versandet die absolute Gewalt des Kaisers,
Verfassungsentwurf, dessen Kernpunkt in einer ter- seine Fähigkeit, den Untertanen zu erreichen und
ritorialen Lösung der nationalen Verhältnisse zwi- gar zu befehlen, bereits im für seinen Boten unüber-
schen Tschechen und Deutschen im Kronland Böh- windbaren Raum der »Residenzstadt […], hochge-
men bestand, den die Verhandlungen boykottieren- schüttet voll ihres Bodensatzes« (NSF I, 352), wäh-
den Tschechen per Oktroi aufzuzwingen. Es ist alles rend sie bereits durch den Akt des Erzählens ›in
andere als Zufall, dass Kafka gerade am Kollisions- Worten angegriffen‹ wird.
punkt aller dieser Ereignisse und Tendenzen erst- Vor allem aber antwortet Kafkas chinesischer Be-
mals eine im vollen Sinne historisch-politische Ma- richt präzise auf die doppelte Furcht des Hobbes,
trix (Nation, Staat, Territorium, Volk) an die Stelle dass das »Gift aufruhrstiftender Theorien« die Men-
der bis dahin vorherrschenden familial-sozialen Ma- schen dazu bringen könne, »die staatlichen Befehle
trix seiner erzählten Welten setzt. untereinander zu diskutieren und zu kritisieren«,
Aus diesem Blickwinkel fällt zunächst auf, dass die und so den »Staat in Verwirrung« stürzen könne,
Geschichten des Textkonvoluts einen intensiven oder dass es durch die Eigenständigkeit der kirch-
Dialog, eine kalkulierte Mit- und Wider-Rede mit lichen Gewalt gegenüber der staatlichen »in ei-
einem Begründungstext der neuzeitlichen Staats- nem Staat mehr Seelen […] als eine« geben könne
lehre führen. Unter dem Eindruck jener anderen his- (Hobbes, 246 f.). In Kafkas China wird das Buch des
torischen ›Urkatastrophe‹, des Dreißigjährigen Krie- Babelbau-Experten als Beispiel für die »Verwirrung
ges, stellt Thomas Hobbes (1588–1679) im zweiten der Köpfe« (NSF I, 344) angeführt, und gerade aus
Teil seines Leviathan eine Reihe von Sicherheitsmaß- Misstrauen gegenüber den »Lehrern des Staatsrech-
regeln für die Errichtung und Erhaltung von Staaten tes« (349) stützt der Mauerbau-Architekt seine Re-
auf, die wie Kafkas China-Geschichten zwischen ar- flexionen über das Kaisertum lieber auf die Erkennt-
chitektonischer und physiologischer Bildlichkeit os- nisse seiner berufsbedingten Reise durch »die Seelen
zillieren. Seine politisch-anthropologische Grund- fast aller Provinzen«, auf der er das zwar »unbe-
annahme – dass nämlich die kriegsmüden Men- herrschte«, aber »keineswegs sittenlose« Leben sei-
schen »von ganzem Herzen« wünschten, »sich zu ner Landsleute mit ihren zahllosen lokalen Religio-
einem festen und dauernden Gebäude zusammen- nen und Kaiser-Imaginationen erkundet (NSF I,
zuschließen«, wobei sie freilich »ohne die Hilfe ei- 354 f.).
nes sehr tüchtigen Architekten nur zu einem baufäl- Vergleicht Hobbes Zustände, in denen nicht mehr
ligen Gebäude zusammengefügt werden« könnten »das Gesetz das öffentliche Gewissen ist«, »mit der
(Hobbes, 245) – ruft nicht nur die Erzählinstanz des Epilepsie oder Fallsucht bei einem natürlichen Kör-
chinesischen Berichts herauf, sondern sie bezeichnet per […], die die Juden für eine Art Besessenheit von
als ihren Einsatz auch die für Kafka zentrale Unter- Geistern hielten« (Hobbes, 251), so sieht Kafkas chi-
scheidung zwischen ›fester‹ und ›lockerer‹ Fügung nesischer Erzähler in ihnen »eines der wichtigsten
der Gemeinschaft (Kracauer, 265 f.). Letztere führt Einigungsmittel unseres Volkes […], ja […] gera-
dann in der politischen Physiologie des Hobbes zu dezu den Boden auf dem wir leben. Hier einen Tadel
den »Gebrechen […] aus mangelhafter Zeugung«, ausführlich begründen, heißt nicht an unserem Ge-
wie etwa der Stauung des »Blutes« im »Brustfell« wissen, sondern was viel ärger ist an unsern Beinen
(Hobbes, 253). Im Bericht des chinesischen Archi- rütteln« (NSF I, 356).
tekten kann die lückenhafte Konstruktion der Scheint im Bericht des chinesischen Architekten
Schutzmauer gerade umgekehrt dadurch verdrängt der transtextuelle Dialog mit und gegen Hobbes die
werden, dass durch die gemeinsame Arbeit am Werk explizite Verwerfung der »Lehrer des Staatsrechts«
das »Blut« aus dem »kärglichen Kreislauf des Kör- durch die Erzählinstanz implizit zu wiederholen und
pers« (NSF I, 342) befreit wird. zu bestätigen, so ist für den Bericht des Schusters das
Beim Bau der chinesischen Mauer 255

Gegenteil zu konstatieren. Die Situation nach der In- Bekenntnis und Verfassung völlig verschieden sind
vasion der Nomaden markiert gleichsam die Grenze und nur eines gemeinsam haben: die Person ihres
der Wider-Rede gegen das Hobbessche Postulat ei- Herrschers. Eine solche Macht kann nicht anders als
ner absoluten Gewalt: »Verträge ohne das Schwert schwach sein; aber sie ist ein geeignetes Bollwerk ge-
sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem gen die Barbaren – und ein notwendiges« (zit. nach
Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bie- Münch, 663), sei es an die Zeitdiagnostik der Welt-
ten« (Hobbes, 131). Die Nomaden hingegen erschei- kriegszeit: »Österreich wuchs wild auf, Stück um
nen an dem vorsprachlichen und (daher) vormorali- Stück, lauter Einzelbauten, ohne Plan. […] Jedes
schen Ort, den Hobbes den »Tieren« zuweist (133). Stück hat seinen eigenen Zweck, dem dient es, den
Wenn auch schließlich die Kaufleute von der Frei- erfüllt es, weiter soll es nichts, weiter will es nichts,
heit eines jeden Gebrauch machen, sich beim Zu- weiter denkt es nichts« (Bahr, 917). Außerdem lässt
sammenbruch der souveränen Macht »in der Weise sich Kafkas Text gerade in seinen ›rätselhaften‹, deu-
zu schützen, die ihm sein eigener Verstand anrät« tungsträchtigen Details Punkt für Punkt auf die De-
(254), indem sie durch einen rudimentären Versi- batten beziehen, die der die Monarchie bedrohende
cherungsvertrag die kontinuierlichen Fleischliefe- Nationalitätenkonflikt schon in den Jahrzehnten vor
rungen an die hungrigen Nomaden sicherstellen dem Weltkrieg ausgelöst hatte. So bezeichnet das
(NSF I, 360), so kann dieser Selbstschutz den Kollaps ›orientalische‹ Verhältnis zwischen der »kaiserlichen
der Staatsmacht im Angesicht des bewaffneten Fein- Sonne« und dem »einzelnen, dem jämmerlichen Un-
des nicht kompensieren. tertanen« (NSF I, 351) präzise das »zentral-atomisti-
Entscheidend für ein Verständnis des Kafkaschen sche« Modell der habsburgischen Verfassung, nach
Schreibverfahrens ist jedoch sein aktualhistorischer dem es »außer dem Staat nur Individuen« gibt, wes-
Bezugsrahmen. Wenn Kafka in einer für den Be- halb »zwischen der höchsten Allgemeinheit des
stand der politischen Ordnung kritischen Situation allsorgenden Staates und der das Volk bildenden
über das österreichisch-ungarische Kaiserreich im Summe einzelner Individuen keine Mittelglieder ir-
Zeichen des chinesischen schreibt, so wiederholt er gendwelcher Art« stehen (Bauer, 328).
damit nicht nur die beruhigende Distanzierungsbe- Auch für andere zentrale Figuren des Textkonvo-
wegung seines Erzählers (»Meine Untersuchung ist lutes bieten sich aus dieser Perspektive verblüffend
doch nur eine historische, aus den längst verfloge- präzise Resonanzpunkte an. Der Blick des erwachen-
nen Gewitterwolken zuckt kein Blitz mehr«; NSF I, den Schusters auf das Treiben der fleischhungrigen
346), sondern er stellt sich in eine böhmische Tradi- und sprachlosen Nomaden vor dem Palast kopiert
tion der Krypto-Staatskritik, die der Begründer der den Blick, den nach Bauer der Kleinbürger in den
tschechischen Presse, Karel Havlíček Borovský deutschen Industriestädten auf die der Arbeit fol-
(1821–1856), in den Jahren nach 1848 aus seinem genden tschechischen Arbeiter wirft, und dessen
Tiroler Exil in vermeintlichen Auslandskorrespon- »Trägheit der Apperzeption«, »Unlust an allem […]
denzen aus Irland und China veröffentlicht hatte. Fremden«, dessen Fokussierung nicht auf »das
Auch Kafkas ablehnende Antwort an eine Kunsthalle Volk«, sondern »immer nur seine Stadt« ihm die mi-
für Groß-Österreich, die im Oktavheft seinen ›chi- grationsbedingte nationale Durchmischung der Ge-
nesischen‹ Aufzeichnungen unmittelbar vorausgeht, meinden »so schrecklich erscheinen lässt« (Bauer,
lässt diese als geographisch ›verschobene‹ Entfaltung 306).
seiner Weigerung lesbar werden: »ich bin nämlich In dieser Lesart wird schließlich auch »die unbe-
nicht imstande, mir ein im Geiste irgendwie einheit- greifliche Weise« begreiflich, in der die Nomaden
liches Groß-Österreich klarzumachen und noch we- letztlich doch »bis in die […] sehr weit von der
niger allerdings, mich diesem Geistigen ganz einge- Grenze entfernt« liegende Hauptstadt vordringen
fügt zu denken« (NSF I, 336 f.). konnten (NSF I, 358): »Die großen Veränderungen
Tatsächlich schließt Kafkas chinesisches Szenario im Zusammenwohnen der Nationen gehen in den
bis in seine Details an die Bildlichkeit und den Pro- Industriegebieten vor sich. […] Daher können wir
blembestand der habsburgischen Staatsmythologie an beobachten, dass die folgenschwersten Veränderun-
– sei es an den Brief Talleyrands (1754–1838) an Na- gen der Nationalität der Bevölkerung sich nicht dort
poleon nach der Schlacht von Austerlitz: »Die Habs- ereignen, wo die Siedlungsgebiete der Nationen an-
burgische Monarchie ist eine Anhäufung schlecht einander grenzen, sondern weit entfernt von der
zueinander passender Staaten, die an Sprache, Sitte, Sprachgrenze, mitten im geschlossenen Sprachge-
256 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

biet« (Bauer, 375). Und auch das Vertrauen, das im der transzendenten Macht des Souveräns zu han-
Bericht des Architekten die Dorfbewohner in die deln, so bezeichnet sie in der Geschichte des Vorsor-
schiere Ausdehnung des Raums setzen (»bleiben wir gestaates einfach jene Adresse, mit der Bismarck bei
in unserem Dorfe, werden wir sie niemals sehen«; der Eröffnung des II. Deutschen Reichstags im No-
NSF I, 347), wird in Bauers Klassenanalyse des Nati- vember 1881, gleichsam als Bote des bettlägerigen
onenkonflikts nahezu wörtlich antizipiert, wenn es Kaisers Wilhelm, den Volksvertretern die Verab-
über den »Bauer alten Schlages« heißt: »In sein Dorf schiedung jener später für Europa als wegweisend
dringt der tschechische Arbeiter und Kleinbürger geltenden Sozialgesetze verkündete, die »dem Vater-
nicht. […] Die Bauern im Innern des geschlossenen lande neue und dauernde Bürgschaften seines inne-
Sprachgebietes aber, die den nationalen Gegner nie- ren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Si-
mals sehen, kümmern sich auch um den nationalen cherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie
Kampf nicht« (Bauer, 348). Anspruch haben, […] hinterlassen« sollten (Bis-
marck, 85). In Österreich entsprach dieser Botschaft
Narrative Struktur: Kafkas Poetik eine Mitte der 1880er Jahre einsetzende Serie von
Thronreden zu Fragen der Sozialgesetzgebung, die,
des Unfalls
als Verbindung von Gnadenakt und Sozialplanung,
Kafkas Bruch mit der ›rein dichterischen Prosa‹ wird die hybride Diskursivität der ›chinesischen‹ Reflexi-
allerdings nicht nur und nicht einfach durch den ak- onen Kafkas vorwegnehmen.
tualhistorischen Einsatz seines Schreibens bewirkt. Besonders in Österreich wird bis zum Untergang
Vielmehr gewinnen seine ›Dichtungen‹ ihren Cha- des Reiches im Weltkrieg die Vergeblichkeit deutlich
rakter als traditionssensible, diachronisch aufgela- werden, mit der die Bevölkerung auf die Verwirkli-
dene Protokollierungen aktueller sozialer und kultu- chung des kaiserlichen Schutzversprechens wartet:
reller Problemstellungen erst durch ihre eigentümli- Wie in der chinesischen Parabel sind es die bürokra-
che Verknüpfung mit den Diskursen und tische Faltung der Staatsmacht (des ›Palastes‹) und
Regulierungstechniken der Bio-Macht in ihrer ers- der Widerstand der politischen Parteiungen (der
ten globalen Transformationskrise. ›Massen‹), die das Ankommen der Botschaft beim
Die hiermit behauptete Verknüpfung zwischen einzelnen Bürger verhindern. So ist denn auch die
Kafkas schriftstellerischer Arbeit und seiner berufli- Rede des Architekten, der die Parabel wiedergibt,
chen Tätigkeit wird bereits durch die Figur des Er- mehr als bloß ein Vorsorge-Diskurs, entfaltet viel-
zählers des ersten Textteils vollzogen, deren spezifi- mehr bereits eine Meta-Perspektive auf den Vor-
sche Beobachterposition (wie diejenige ihres Schöp- sorge-Gedanken, indem sie »die Vorsorge selbst zum
fers) auf der singulären Kombination von Gegenstand einer Sorge [macht] – der um die rich-
Experten-Wissen für Schutzvorrichtungen mit Di- tige Erkenntnisbeziehung« (Wolf, 13).
lettanten-Wissen auf dem Gebiet der »vergleichen- Doch nicht nur als sorgender Diskurs über die
den Völkergeschichte« beruht (zu Kafkas Charakte- Vorsorge stehen die chinesischen Erzählungen in
risierung seiner Literatur über das Verfahren des unmittelbarer Kontinuität zu Kafkas amtlichen
Völkervergleichs vgl. Wagner 2006, 105). Schriften für die böhmische Arbeiter-Unfall-Versi-
Tatsächlich lässt Kafka in den Reflexionen des Ar- cherungsanstalt (vgl. etwa AS Nr. 8a, 244–254; 8b,
chitekten zwei durchaus ungleichzeitige Macht-Mo- 254–268). Es ist insbesondere die Figur des Unfalls
delle aufeinanderstoßen bzw. sich überlagern: zum und des Unfallschutzes, die die narrative Organisa-
einen das ›traditionelle‹ Modell der transzendent be- tion des chinesischen Szenarios von 1917 bis ins De-
gründeten Macht des Souveräns, zum anderen das tail informiert. So lässt sich zeigen, dass das räum-
›moderne‹ Modell einer wissensbasierten Für- und lich-strategische Verhältnis zwischen den mauer-
Vorsorge-Macht: »die Führerschaft […] kennt uns. bauenden Chinesen und den beweglichen und daher
Sie, die ungeheuere Sorgen wälzt weiß von uns, mit einem »bessern Überblick über die Baufort-
kennt unser kleines Gewerbe, sieht uns alle zusam- schritte« ausgestatteten Nomaden (NSF I, 339) prä-
mensitzen in der niedrigen Hütte« (NSF I, 347). zise dem Problemdiagramm folgt, das Kafka in zwei
In diesem diskurshistorischen Zusammenhang Reden für den »II. Internationalen Kongress für Ret-
gewinnt die Binnenerzählung von der Kaiserlichen tungswesen und Unfallschutz« (Wien, September
Botschaft erheblich an innerer Spannung: Scheint die 1913; AS 11a,b; 276–293 u. 293–300) für die Ent-
chinesische Parabel von der faktischen Begrenztheit wicklung des Unfallschutzes angesichts immer neuer
Beim Bau der chinesischen Mauer 257

technischer Gefahrenquellen in Österreich gezeich- tabu- und zensurverstärkenden Effekten lässt Kafka
net hat (Sorge um die fragmentarische und lücken- seinen spontanen »Nachahmungstrieb« (30.12.1911;
hafte Entwicklung des österreichischen Unfallschut- T 255) politisch werden, indem er eine Schrift konzi-
zes; Hinweis auf den permanenten Vorsprung, den piert, die aus nichts anderem zu ›bestehen‹ scheint
die immer voranschreitende Produktionstechnik ge- als aus Zitaten und Umschriften der Medien, Dis-
genüber den gesetzlichen Regelungen und Einrich- kurse und Texte der Tradition und der Gegenwart.
tungen der Unfallverhütung hat). Diese kryptologische Dimension des Kafkaschen
Mehr noch, auch die diegetische Makrostruktur Schreibens, seine »Geheimniskrämerei«, bildet kei-
der beiden Geschichten in ihrer besonderen Kom- neswegs einen nur privaten Hinter- oder Untergrund
plementarität folgt präzise den beiden Perspektiven, seiner ansonsten »brauchbaren« Bilder (Brecht, laut
die die Unfallversicherung auf den Versicherungsfall Benjamin, 151). Vielmehr lässt sich deren volles und
eröffnet. Der Blickwinkel des Architekten kopiert eigentliches Potential erst begreifen, wenn man sie
den des Unfallverhütungsexperten: Für diesen ist nicht länger auf die Funktion eines symbolischen
das Unfallereignis eine bloße Eventualität, seine oder allegorischen Bedeutungsträgers reduziert,
Sorge gilt der technischen Minimierung der ihn er- sondern sie als Matrix von Signalen rekonstruiert,
möglichenden Umstände. Hingegen führt der Schus- deren Funktion zum einen in der Auslösung und
ter die Rede des traumatisierten Unfallopfers: Das Einschaltung anderer Stimmen (Echos) in die Rede
Ereignis des Unfalls ist für ihn nur im Modus der des Erzähltextes besteht, zum anderen in der Er-
Nachzeitigkeit zugänglich, die Nomaden sind ›im- zeugung vielfältiger – den Akt der Lektüre gleicher-
mer schon da‹, und sein einziges Gegenmittel scheint maßen affizierender wie von ihm abhängiger –
in posttraumatischer Verdrängung zu liegen. Wie in Resonanzen zwischen diesen diskurs- und wissens-
der Unfallstatistik bleibt das Ereignis selbst unda- logisch oftmals einander entfernten oder widerspre-
tierbar, es verharrt in einer virtuellen Existenz jen- chenden Echos.
seits des Zeitkontinuums. Zugleich sind hiermit die Wählt man beispielsweise das zentrale Element
beiden Schreibsituationen bezeichnet, aus deren der Schutzmauer (mit all seinen Teilaspekten) als
Spannungsverhältnis die Geschichten resultieren: Eingang in diese ›babylonische‹ bzw. ›paragramma-
die Arbeit des Versicherungsbeamten im Büro der tische‹ (Julia Kristeva) Dimension des Texts – also in
Unfallversicherungsanstalt mit ihrem schrift- und einen ›offenen‹, nicht mehr durch die Autorinten-
datengestützten Überblick über das Kronland Böh- tion begrenzten und geregelten intertextuellen Raum
men und das ganze Reich, und die Arbeit des auf –, so konkretisieren sich hier zunächst Praxis und
sich gestellten Schriftstellers in seiner ›Werkstatt‹ in Projekt jener »vergleichenden Völkergeschichte«,
der Alchimistengasse, in unmittelbarer Nähe des der im Bericht des chinesischen Architekten ein so
Hradschin. maßgeblicher Stellenwert beigemessen wird. Denn
die Serie der Völker, deren Lage sich im Protokoll
Transtextuelle Dimension: des Architekten (kon)notiert findet, weist weit über
den Rahmen einer ›wörtlichen‹ (China) und einer
Kafkas Kulturversicherung
›metaphorischen‹ Referenz (Österreich) hinaus.
Ihr volles Potential als den Bereich des Ästhetischen Nicht nur bezeichnete bereits vor dem Krieg der na-
überschreitende bzw. entgrenzende Intervention in tionalpolitische Diskurs der Tschechen die deut-
die Machteffekte der zeitgenössischen Diskurse ent- schen Siedlungsgebiete in Nordböhmen als ›chinesi-
faltet Kafkas Schreibweise freilich erst durch die spe- sche Mauer‹, sondern umgekehrt definierten
zifische Art und Weise, in der sie den Raum einer deutschnationale Politiker ihr Projekt affirmativ in
transtextuellen Vielstimmigkeit eröffnet und bewirt- dieser Bildlichkeit (vgl. etwa den Artikel Deutsch-
schaftet. böhmen in der Prager Tageszeitung Bohemia,
Erst die transtextuelle Dimension seiner Aufzeich- 9.10.1917, 1).
nungen bringt jene zweite Spezialisierung des chine- Neben solcher vornehmlich an automatisierte
sischen Erzählers auf die »vergleichende Völkerge- Kollektivsymbolik gebundener und mithin auf un-
schichte« (NSF I, 348) ins Spiel, die in Verbindung scharf definierte Mengen von Texten beziehbarer In-
mit der anderen, schutzbautechnischen, seine eigen- terdiskursivität konstituieren Kafkas Geschichten je-
tümliche Beobachterposition ermöglicht. Mit dem doch auch eine häufig offenbar bis ins Detail kalku-
Losbrechen der Weltkriegspropaganda und ihren lierte, auf dem Dialog mit spezifischen Texten
258 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

basierende Intertextualität. So ruft Kafkas Textkon- Es schließt sich an die Stigma-Metaphern der Kriegs-
volut Theodor Herzls (1860–1904) politische Pro- propaganda an, um diese von Medien der Dissozia-
grammschrift über den Judenstaat nicht nur über tion (hier: Kultur vs. Barbarei) in Medien der Assozi-
das Motiv des Schutzwalles der kultivierten Chine- ation zu verwandeln – indem gerade die Diskursfi-
sen gegen die tierhaften Nomaden auf – »Für Europa gur der Abgrenzung (mit allen ihren internen
würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien Verzweigungen) als die gemeinsame Grundlage aller
bilden, wir würden den Vorpostendienst der Cultur Völker und der Kultur überhaupt wahrnehmbar
gegen die Barbarei besorgen«, heißt dort die Legiti- wird.
mationsformel für die Landnahme in Palästina
(Herzl 1896, 29) – sondern treibt ein komplexes und Selbstreferenz als Gebrauchsanweisung
enges Geflecht von Zitaten und Anspielungen so-
wohl durch Herzls Judenstaat (Wagner, 2004) wie Das freilich stellt Bedingungen an die Art und Weise
auch durch seinen Roman Altneuland (1902). der Lektüre. Die China-Geschichten können als bei-
Und auch das internationale Schutzprojekt der So- spielhaft für die Präzision gelten, mit der Kafkas
zialversicherung tritt, wiederum in nationalisierter Texte ihre eigentümliche Bewegung selbst erzählen,
Fassung, in den transtextuellen Raum der ›chinesi- mit der ihr poetologisches Programm auf sich selbst
schen‹ Sorge ein, wenn in einem wiederum Kafka zurückweist.
unmittelbar zugänglichen Aufsatz der reichsdeut- Dies betrifft die Seite der Produktionsästhetik, in-
sche Versicherungsexperte von Frankenberg die sofern die ungewöhnliche Positionierung des Erzäh-
deutsche Sozialversicherung »zum festen Bollwerk, lers der Mauer im Feld der Diskurse als ›autobiogra-
zum Sammelplatz der planmäßigen Abwehr« erklärt, phische Spur‹ des Autors entziffert werden kann,
und die entsprechenden Gesetze »in ihrer Gesamt- während die beiden Dimensionen und Verfahren
heit und in allen Einzelteilen einen Teil der ehernen des Bauens (horizontal – Mauer; vertikal – Turm
Schutzwehr gegen unsere Feinde« (von Franken- bzw. Tempel) das für Kafkas Schreiben konstitutive
berg, 364 u. 367) nennt. Spannungsverhältnis zwischen positivem Wissen
Schließlich bildet die gegenidentifikatorische und Intuition, zwischen Empirie und Ekstase notie-
Chiffre der ›schützenden Mauer‹ nicht nur eine ver- ren. Es betrifft aber auch die rezeptionsästhetische
bindende Transversale quer durch die Völker, son- Seite, insofern das Verhältnis zwischen Kaisertum
dern sie schaltet auch maßgebliche Diskurse über und Volk das Verhältnis zwischen Text und Leser
die Grundlagen jeglicher Kultur in den Resonanz- notiert.
raum des Erzähltexts ein. In Karl Kraus’ Essay von In beiden Fällen ist die zweite Seite der Unter-
1910 mit dem Titel Die chinesische Mauer, einem an- scheidung für die erste recht eigentlich konstitutiv,
deren wichtigen Echo-Text des gesamten chinesi- basiert die Fiktion der Einheit des Kaisertums bzw.
schen Komplexes bei Kafka, ist das die Kritik an der Textes auf der Vielheit der Imaginationen bzw. Lek-
repressiven Funktion der »großen chinesischen türen, kann die Stabilität der Beziehung nur als stän-
Mauer der abendländischen Moral« (Kraus, 292). dige Bewegung gedacht werden. Der Leser findet
In Nietzsches Geburt der Tragödie sind es unter eine explizite und einfache Gebrauchsanweisung in
anderem die apollinische, »mit Bollwerken um- dem hydrologischen Gleichnis, in dem der Architek-
schlossene Kunst« oder auch »ein mit Mythen um- ten-Erzähler das richtige Nachdenken über das Kai-
stellter Horizont«, die das Staatswesen gegen das »ti- sertum veranschaulicht: Die Maßregel, nach der al-
tanisch-barbarische Wesen des Dionysischen« si- lein der mittlere Wasserstand des großen Flusses –
chern. Hier schließt, wiederum innerhalb der Kunst, zwischen Überschwemmung und Austrocknung – die
»der Chor als eine lebendige Mauer […] die Tragö- Felder befruchtet (NSF I, 346), lässt sich ohne weite-
die […] von der wirklichen Welt rein ab« (Nietzsche res in eine Deutungen mittlerer Reichweite favorisie-
1988a, 41; 145), während an anderer Stelle der Staat rende Sinnbildungs-Diätetik umformulieren.
selbst »mit furchtbaren Bollwerken«, u. a. den Stra- In einer für Kafka typischen Gegenbewegung of-
fen, »gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte« feriert der Bericht des Architekten freilich auch eine
(Nietzsche 1988b, 322). sehr viel aufwändigere, transhermeneutische Option
An diesen Beispielen mögen der Einsatz und die der Textverwendung. Will man den Text auf dem
Funktionsweise des Kafkaschen Schreibens am Wen- Niveau seiner eigenen Funktionslogik, also im enge-
depunkt des Weltkriegs anschaulich geworden sein. ren Sinne literaturwissenschaftlich erschließen, so
Beim Bau der chinesischen Mauer 259

käme es darauf an, die beiden in ihm hinterlegten Rundschau 26 (1915), 916–933. – Otto Bauer: Die Nati-
Wahrnehmungsweisen und Wissenstechniken im onalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien 1975. –
Hinblick auf das Kaisertum – die transversale des Karl Otto von Bismarck: Die politischen Reden des
reisenden Beamten und die lokale des Dorfbewoh- Fürsten von Bismarck. Krit. Ausgabe. Hg. v. Horst
ners – miteinander zu verknüpfen. Eine solche Er- Kohl. Bd. 9: Die Reden des Ministerpräsidenten und
schließungsbewegung hätte demnach die Fokussie- Reichskanzlers Fürsten von Bismarck im Preußischen
rung auf monokontexturale Lektüren (der Landtage und im Deutschen Reichstage 1881–1883.
›Dorfbewohner‹-Modus) mit der querlaufenden Be- Stuttgart 1894; Neudruck Aalen 1970. – Karel Havlíček
wegung durch diese Lektüren hindurch (der Borovský: Polemische Schriften. Ausgew. u. mit einem
Geleitwort v. Peter Demetz, übers. v. Minne Bley. Stutt-
›Beamten‹-Modus) zu kreuzen. Indem an die Stelle
gart 2001. – Hermann von Frankenberg: Sozialversiche-
der reflexhaften Bewegung vom Matrix-Text zum
rung und Wehrkraft. In: Zeitschrift für die gesamte Ver-
Echotext und zurück die Bewegung zwischen den
sicherungs-Wissenschaft 10 (1910), 363–375. – Theo-
Echotexten ins Blickfeld rückt, indem, mit anderen
dor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen
Worten, der virtuelle Konferenzraum, den Kafkas Lösung der Judenfrage. Leipzig, Wien 1896. – Ders.:
Texte eröffnen, wieder mit Gesprächen erfüllt wird, Altneuland. Roman. Leipzig 1902. – Thomas Hobbes:
wird auch der eigentümliche Kurzschluss zwischen Leviathan oder Form, Stoff und Gehalt eines kirchli-
Ästhetik und Politik, den Kafkas Literatur betreibt, chen und bürgerlichen Staates [zuerst als: Leviathan, or
in seiner Positivität wie in seiner Virtualität beob- the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth, Ec-
achtbar und erfahrbar. clesiasticall and Civil. London 1651]. Hg. u. eingel. v.
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Weiyan Meng: K. und China. München 1986. – Wolf-
gang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands.
Im Hinblick auf den zeitlichen Rahmen lassen sich
Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Stuttgart 2002. – Ger-
die Texte dieses Kapitels durch die Schriftträger ei-
hard Neumann: Die Arbeiten im Alchimistengäßchen.
nerseits, durch Eckdaten andrerseits bestimmen.
In: KHb (1979) II, 313–349. – Ralf R. Nicolai: K.s BB-
dcM im Lichte themenverwandter Texte. Würzburg Gemäß der Nummerierung der KA handelt es sich
1991. – Herman Rapaport: An Imperial Message. The um Textmaterial, das vom Mai 1912 bis September
Relays of Desire. In: MLN 95 (1980), 133–137. – M.L. 1917 reicht und sich in NSF I (Nr. 13 bis 18) und in T
Rettinger (2003), 71–130. – Roland Reuß: Die ersten (Hefte 6 bis 11) befindet. In T sind es Quarthefte und
beiden Oxforder Oktavhefte F.K.s. Eine Einführung. In: Konvolute, in NSF I unterschiedliche Träger: Konvo-
F.K.-Heft 5 (2006), 3–26. – J.M. Rignall: History and lute (Nr. 13, 14, 16, 18), das sogenannte »Elberfeld-
Consciousness in BBdcM. In: Stern/White (1985), 111– heft« (Nr. 15) und das »Oktavheft A« (Nr. 17). In
126. – R. Robertson (1988), bes. 228–233. – Armin biographischer Hinsicht befinden wir uns in der Pe-
Schäfer: Die Grammatik der Macht. Überlegungen zu riode der Beziehung zu Felice Bauer, genauer zwi-
Hugo von Hofmannsthals Gedicht Der Kaiser von China schen der Bekanntschaft mit Felice und der Feststel-
spricht. In: Walter Gebhard (Hg.): Ostasienrezeption im lung der Lungentuberkulose. Nach dem Titel des
Schatten der Weltkriege. Universalismus und Nationa- zweiten Bandes von Reiner Stachs Biographie sind
lismus. München 2003, 131–146. – Jost Schillemeit: Der wir noch teilweise in den »Jahren der Entscheidun-
unbekannte Bote. Zu einem neuentdeckten Widmungs- gen«.
text K.s. In: Stéphane Moses/Albrecht Schöne (Hg.): In literarischer Hinsicht ist diese Phase des mittle-
Juden in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1986, ren Werks durch zwei besonders intensive Arbeits-
269–280; wieder in: J. Schillemeit (2004), 245–256. – perioden markiert: (1) Kafkas ›Durchbruch‹ erfolgt
W.H. Sokel (1964), bes. 367–370. – J. Vogl (1991), bes.
im September 1912 mit der Niederschrift des Urteil,
196–218. – Benno Wagner: »Ende oder Anfang?« K.
einer Erzählung, die per se aber auch hinsichtlich ih-
und der Judenstaat. In: M.H. Gelber (2004), 219–238. –
res äußerst verdichteten Schreibvorgangs einen ge-
Ders.: Insuring Nietzsche. K.’s Files. In: New German
radezu exemplarischen Charakter für ihn hat und
Critique 99 (2006), 83–119. – Ders.: »Sprechen kann
man mit den Nomaden nicht«. Sprachenpolitik und seinen extrem hochgesteckten Anspruch an sich
Verwaltung bei Otto Bauer und F.K. In: Nekula/Greule selbst verständlich macht. (2) Im Winter 1916–17
(2007), 109–128. – Ders.: »No lightning flashes any lon- kommt es zu einer intensiven Schreibphase in der
ger«. K.’s Chinese Voice and the Thunder of the Great Alchimistengasse, wo Zurückgezogenheit und Ruhe
War. In: Lothe/Sandberg/Speirs (2010). – Walter Weiß/ die Produktivität ankurbeln; zudem verwendet
Ernst Hanisch (Hg.): Vermittlungen. Texte und Kon- Kafka hier handlichere Schreibmaterialien (Oktav-
texte österreichischer Literatur und Geschichte im heft und Bleistift), die eine leichtere, vielleicht expe-
20. Jahrhundert. Salzburg 1990. – J. Whitlark (1991), rimentellere Schreibweise ermöglichen (Reuß 3–5).
bes. 118–130. – Burkhardt Wolf: Die Sorge des Souve- Die hier vorgestellten Entwürfe machen freilich
räns. Eine Diskursgeschichte des Opfers. Berlin, Zürich nur einen Teil des mittleren Werkes aus (die zu Leb-
2004. – Michael Wood: K.’s China and the Parable of zeiten publizierten Erzählungen sowie die Roman-
Parables. In: Philosophy and Literature 20 (1996), 325– entwürfe werden in eigenen Kapiteln abgehandelt).
337. Wichtig ist, sich bewusst zu sein, dass die gängigen
Für Forschungsliteratur zu Ein altes Blatt vgl. auch Ausgaben (auch die KA) eine säuberliche Trennung
ä 238. zwischen ›Tagebüchern‹ und anderen Aufzeichnun-
Benno Wagner gen vornehmen, die Kafka de facto in seinen Heften
so nicht praktiziert. Ein Tagebuch im herkömmli-
chen Sinn eines nur mit kalendarisch fixierten, das
eigene Leben im Fluss der Zeit verankernden Einträ-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 261

gen (wie es z. B. Kafkas Zeitgenosse Schnitzler jahre- 1936). 1953 erweiterte Brod den Blickwinkel, indem
lang geführt hat), liegt bei Kafka nicht vor. Und dass er in Hzv/GW Prosa aus dem Nachlass einbezog.
die sogenannten ›Tagebuch‹-Hefte durchaus auch Die KA legt sich hier noch weniger fest, indem sie
die Funktion einer literarischen Werkstatt haben, von Schriften und Fragmenten spricht. In der Tat hat
wird am besten durch den Umstand belegt, dass in die überwiegende Mehrheit der Texte Fragmentcha-
diesen Heften für die hier behandelte Phase über 130 rakter. Der Begriff ›Fragment‹ kann zweierlei bedeu-
fiktionale Einsätze verzeichnet und zum Teil entfal- ten: eine bewusst verwendete, dem Aphorismus sich
tet sind (vgl. deren Auflistung in T:K 297–301). An- nähernde, in sich ruhende Kurzform ohne fiktiona-
gesichts des Umstands, dass in den ›Tagebüchern‹ len Charakter wie sie z. B. die Frühromantiker
insgesamt gut 150 Erzählansätze vorzufinden sind schätzten, oder aber eine Form, die durch den Ab-
(die Zahl kann je nach Definition von ›fiktionalem bruch des Schreibvorgangs (ja manchmal einfach
Einsatz‹ etwas variieren), spricht die Zahl von 130 in durch materielle Probleme wie z. B. Papiermangel
der mittleren Werkphase für sich: Die ›Tagebuch‹- oder auch wegen Imponderabilien der Überliefe-
Hefte dieser Periode sind offensichtlich durch be- rung) entsteht, und bei der Abgerissenheit oder Un-
sonders intensive fiktionale Schübe charakterisiert. abgeschlossenheit (aber nicht unbedingt Kürze) kein
Aus möglicherweise rein praktischen Gründen hat ästhetisches Mittel darstellt, sondern das Stocken
Kafka also seine unterschiedlichen Hefte keinesfalls oder den Abbruch eines Arbeitsvorgangs dokumen-
je strikt zu nur diaristischen Zwecken benutzt. Wenn tiert. Kafkas ›Fragmente‹ gehören meist zur zweiten
in NSF I eine große Lücke zwischen Mai 1912 und Gruppe.
dem Dorfschullehrer-Konvolut vom Dezember 1914 Die exakten Grenzen des Textkorpus bleiben prin-
klafft, so ist daher zu bedenken, dass Kafka in dieser zipiell unbestimmt, weil sich oft schwer entscheiden
Zeit durchaus Erzählungen entwirft, sie eben nur lässt, ob etwas im Hinblick auf eine mögliche litera-
nicht in ein speziell hierfür reserviertes Arbeitsheft rische Verwendung, d. h. eine erzählerische Entfal-
niederschreibt. tung niedergeschrieben wurde − und also ästheti-
Eine besonders intensive Entwurfsphase fällt in schen Charakter hat − oder es sich um das bloße
die Monate Februar bis April 1914, in denen Kafka Festhalten von Eindrücken oder Gedanken ohne li-
sich mit Zweifeln über die Verlobung mit Felice terarische Absicht handelt. Bei einem Autor, der Le-
Bauer plagt; nach der beschlossenen Verlobung krei- ben und Literatur als eng verschränkt erfährt, und
sen die Anläufe thematisch um das ›Wohnen‹, weil für den generell jegliche Notiz (ein Gedanke, eine
der Gedanke ans Zusammenwohnen mit demjeni- Alltagsbeobachtung, ein Traum oder Tagtraum, ein
gen der Verlobung einhergeht. Es lassen sich also Einfall usw.) den Auftakt einer Erzählung bilden
von Zeit zu Zeit Überlappungen zwischen literari- kann, ja per se schon ›Erzählung‹ ist, bleibt jede ein-
schen Entwürfen und persönlichen Problemen fest- deutige Zuordnung schwierig. Trotzdem ist es legi-
stellen (was natürlich nicht zu einer rein biogra- tim, eine Auswahl zu treffen, denn nicht alles Nie-
phisch-detektivischen Lesart verführen sollte). dergeschriebene hat von vornherein literarische
Qualität − und gerade für Kafka war keineswegs alles
Geschriebene schon Literatur. Er hat z. B. die her-
Textbeschreibung kömmlichen Gattungen als solche durchaus respek-
tiert (wie es sein lebenslanger Kampf um den Roman
Welche Texte aus den genannten Notizheften kön- deutlich dokumentiert) und strenge ästhetische
nen nun zum ›literarischen‹ Werk im engeren Sinne Maßstäbe an seine Produktion angelegt. Nicht der
gerechnet werden? Zum einen natürlich diejenigen, offene Entwurf, das Fragmentarische, Abgebrochene
die bereits Max Brod als ›Novellen‹ und ›Skizzen‹ für oder sich Verlaufende, sondern die abgeschlossene
publikationswürdig hielt − und auch publikationsfä- narrative Fiktion war sein Ideal und Ziel als Schrift-
hig machte, indem er sie mit einem Titel versah und steller (vgl. etwa seine diesbezüglichen Äußerungen:
gelegentlich auch in eine einheitliche Form zwängte. T 711, 19.12.1914; T 714 f., 31.12.1914).
Seine Kriterien waren, je nachdem, die ästhetische Natürlich finden wir ›Kafka‹ überall, zumal wir im
Abgeschlossenheit oder die weltanschaulich-biogra- Rahmen der literarischen Moderne Fragmentari-
phische Relevanz der Texte; es ging ihm zudem um sches und Unfertiges per se zu schätzen gelernt ha-
Lesbarkeit sowie um Kafkas mutmaßliche Intention ben. Dies sollte jedoch keine Einebnung der qualita-
(vgl. sein Nachwort zur ersten Ausgabe, in BeK/GS, tiven Differenzen zur Folge haben: Eine Vorüberle-
262 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

gung oder Vorstufe zu einem Werk ist in genetischer men und einem Beruf sowie mit raumzeitlichen Ko-
Hinsicht immer interessant, doch ist es durchaus le- ordinaten ausgestattet wird. Die Anfangszeilen des
gitim, Gestaltungsstufen auch in qualitativer Hin- Urteil (22.9.1912; T 442) sind hierfür exemplarisch:
sicht zu unterscheiden. Man erfährt den Namen des Protagonisten (Georg
Bei der Konstatierung einer literarischen Absicht Bendemann), seinen Beruf (Kaufmann), was er ge-
wird im vorliegenden Artikel von der folgenden Prä- rade tut (Briefschreiben) und wann und wo er es tut
misse ausgegangen: Da Kafkas Vorzugsgattungen (Sonntag, Frühling, Zimmer, Fluss, Brücke); das al-
Erzählung und Roman sind, gilt als ›Werkfragment‹ les im Präteritum (mit dem formelhaften incipit »Es
jegliche Aufzeichnung, die einen narrativ-fiktiona- war«) − kurzum: Es wird eindeutig eine Geschichte
len Kern oder eine minimale fiktionale Konsistenz erzählt. Dasselbe gilt für den Beginn der Geschichte
hat. Diese ist gegeben, wenn eine Gestalt als Protago- von Karl Roßmann (T 464, siehe Der Verschollene)
nist in einem autonomen, sich selbst tragenden und ebenso für eine ganze Reihe von nicht zur Ent-
Raum-Zeit-Kontinuum steht, was besonders klar zu- faltung gekommenen Fragmenten, die mit demsel-
tage tritt, wenn noch das Fiktionalität signalisie- ben Muster anheben. Zwei Beispiele: »Ernst Liman
rende epische Präteritum hinzukommt. kam auf einer Geschäftsreise am Morgen eines reg-
nerischen Herbsttages in Konstantinopel an«
(28.2.1913; T 493) oder »Rense gieng paar Schritte
Gliederung [sic!] durch den halbdunklen Gang« (9.3.1914; T
502). Subjekt, Verb und Ortsbestimmung: Daraus
Eine Gliederung des umfangreichen Materials lässt besteht das an Einfachheit kaum zu überbietende In-
sich aus unterschiedlichen, vor allem aus chronolo- cipit etlicher Fragmente in der Er-Form. Im Fall von
gischen und thematischen Gesichtspunkten vorneh- Rense wird vier Aufzeichnungen weiter präzisiert:
men (wobei eine genaue Datierung der Entwürfe »Rense, ein Student« (T 503). In der Tat werden ge-
nicht immer möglich ist). Hier wird noch – wie in wisse Entwürfe in mehreren Anläufen festgehalten,
erzähltheoretischen Ansätzen üblich – die Unter- wobei es meist schwer zu sagen ist, ob es sich um
scheidung nach Ich- oder Er-Erzählungen als Unter- Fortführungen, Einzelkorrekturen oder Neuansätze
scheidungskriterium herangezogen, weil es gerade handelt. Der Rense-Entwurf wird z. B. noch in zwei
hinsichtlich der Fiktion spezielle Fragen aufwirft weiteren Notizen, in denen der Held allerdings nicht
und interessante Aufschlüsse über Kafka als Erzähler mehr namentlich genannt, sondern nur noch als
gibt; er hat bekanntlich für Das Schloss die Er- der »Student« bezeichnet wird, aufgegriffen (und zwar
Ich-Form vorgezogen und den größeren Teil seines in dialogischer Form, T 509–511). Das kann zu er-
narrativen Werkes in der dritten Person verfasst. heblichen Deutungsschwierigkeiten führen, z. B.
Diese zwei Gruppen müssten eigentlich noch er- wenn die Fragmente, wie etwa im Fall von <Jäger
gänzt werden um die der Fragmente ohne Erzähler, Gracchus> (ä 273–276), deutlich divergierende Per-
also der Entwürfe in rein dialogischer Form. Davon spektiven oder Inhalte anbieten, und sogar zwischen
gibt es jedoch allzu wenige, um eine relevante Kate- Er- und Ich-Form schwanken. Manchmal ist zudem
gorie zu bilden; die bedeutendsten sind diejenigen, die Zugehörigkeit zu demselben Komplex fragwür-
die im Rahmen des Dramenfragments <Der Gruft- dig. Gründe für den Abbruch der einzelnen Frag-
wächter > entstanden (NSF I, 268–270, 276–289, mente sind kaum auszumachen. In einer Notiz vom
290–303, November 1916 – Anfang 1917; für ein an- 4. Januar 1915 deutet Kafka das allgemeine Problem
deres Beispiel vgl. T 818–822, 4.-7.8.1917). Dieser an: »Kann ich die Geschichten nicht durch die
Befund ist insofern interessant, als Kafkas Werk und Nächte jagen, brechen sie aus und verlaufen sich«
vor allem seine Romane viele, oft lange, dialogische (T 715). Es ist bekannt, dass Kafkas Art zu schreiben
Partien enthalten; doch scheint seine Imagination sich schlecht mit den Anforderungen des Tages und
eindeutig eine narrative Stoßkraft, also die Etablie- der geregelten Arbeit vertrug. Die Metapher der Jagd
rung einer Situation und einer Personenkonfigura- (im Sinn der Verfolgung) dokumentiert auch, dass
tion zu benötigen (die Dialoge sind offenkundig für seine Erfindungen fliehen, zu entkommen drohen,
ihn Bausteine des Narrativen und nicht Keimzellen und nur durch gezieltes Nachsetzen Konsistenz be-
des Dramatischen). kommen können.
Die fiktionale Beschaffenheit eines Entwurfes liegt
offen zutage, wenn ein Protagonist mit einem Na-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 263

Fragmente in Er-Form beamter namens Bruder, der von einer verlorenen


Schlacht weiß (drei Anläufe; 532–534); ein im
Beschränkt man sich auf die auktorialen Fragmente, Türspalt erscheinender Revolver (632); der Stu-
so kommt im mittleren Werk eine recht große Aus- dent Kosel, der nachts durch einen neuen Nach-
wahl potentieller, oft mit Namen versehener Hand- barn stark gestört wird (641 f.); Josef K., Sohn ei-
lungsträger vor, die hier in einer umfassenden Aus- nes reichen Kaufmanns, der nach einem Streit mit
wahl stichwortartig vorgestellt werden, um einen seinem Vater zum Hafen geht (666 f.); Banz, der
Direktor einer Versicherungsgesellschaft, der ei-
Überblick über das erstaunliche ›Personal‹ der Kaf-
nen Arbeitsuchenden mit grober Verachtung be-
kaschen Werkstatt zu geben. Die Auflistung soll auch
handelt (669–671); ein vom Unglück verfolgter
einen Eindruck von der großen Vielfalt an Situatio-
und von einem Gesetzeskundigen beratener
nen vermitteln, die teils einen novellistischen Kern
Kaufmann (713 f.).
andeuten und zur Entfaltung einer Handlung einla- 1915: Ein kleiner Junge in einer Badewanne (T 754 f.);
den, teils ein seltsames Bild festhalten, das auf An- einer, der mit einer verschlossenen Tür kämpft,
hieb keine narrative Energie zu besitzen scheint. Ne- die plötzlich jeden Widerstand aufgibt (777); ein
ben komischen oder fantastischen Konstellationen Mieter, der einen Brief von seiner Nachbarin, der
hat man es auch mit vielen banalen Szenen zu tun, Witwe Halka, empfängt (778 f.).
die lediglich durch ein schräges Detail Aufmerksam- 1916: Hans und Amalia, die Kinder eines Fleischers, die
keit wachrufen. Abgesehen von den oben bereits er- von einem Fremden in ein Magazin gelockt wer-
wähnten sowie von den weiter unten genauer behan- den (T 780–784); ein Schwerkranker, der Hilfe
delten Protagonisten tauchen auf: aus Bregenz bekommen soll (793); Neger, die aus
dem Gebüsch erscheinen und um einen Holz-
1912: Gustav Blenkelt, ein durchaus geselliger Jungge-
pflock tanzen (794); ein einsamer Gast, der in der
selle (T 462 f.).
Kaffeewirtschaft eines Heilbades auftaucht (795);
1913: Ein durchpfählter Ehemann (T 559); auf der
einer, der eifrig Hilfe in Wäldern sucht (796); ein
Lauer stehende und mit Hellebarden bewaffnete
zu Tode Verurteilter, der in seinem eigenen Zim-
Männer (565); ein junger Mann bzw. ein Student,
mer vom Henker erstochen wird (797 u. 800 f.);
nachts an seinem Fenster etwas verspürend (584);
ein kleiner ungewöhnlicher Vogel (798); zwei sich
Alltagsszene in einem Fischerdorf (587); eine Fa-
über ein Pferd namens Atro unterhaltende Her-
milie beim Abendessen in tropischer Nacht (589);
ren (810); ein Invalide namens Friedrich, der
Wilhelm Menz, ein junger und schüchterner
Mausoleumswächter wird (vgl. <Der Gruftwäch-
Buchhalter, der das Mädchen seines Herzen an
ter >); der junge Hans, der auf dem Dachboden
der Jacke zupft (590 f.); Messner, ein alter Kauf-
dem Jäger Hans Schlag begegnet (NSF I, 272–
mann, der von einem Studenten namens Kette in
273); Hans, ein nach dem Tod seines gehassten
der Nacht belästigt wird (598–601 u. 618 f.); ein
Vaters aus der Fremde Zurückkehrender (274–
junger Mann auf der Treppe einer Singspielhalle
276).
(609 f.); ein alter Mann in öden winterlichen Gas-
1917: Ein Mensch in einer Waldlichtung, dem My-
sen auf dem Weg zu seinem Freund (618).
thisch-Religiöses begegnet (T 813); Kaspar Hau-
1914: Ein verschlungenes Paar im Winter (T 510); ein
ser (814); ein müder Reisender (sieben Anläufe;
junger Mann namens Haß, der sich beeilt auf ein
822–827 als Varianten zu In der Strafkolonie, siehe
Schiff zu kommen und sich verkriecht (512); ein
dort); ein amerikanischer General namens Sam-
Herr von Grusenhof, Besitzer von fünf nament-
son (827; dann in Ich-Form fortgeführt.); eine in
lich erwähnten Pferden, die wie Gefangene nachts
der Falle zerdrückte, von der Mäusegemeinschaft
entkommen (512 f.); Anna, die in das vermietete
samt Eltern »beäugte« kleine Maus (NSF I, 336);
Zimmer eines Studenten dringt (513); ein Adliger
ein Fürst, der einen Mörder in seiner Zelle be-
namens Herr von Griesenau und sein Kutscher
sucht (364); ein Araber, der einer Reisegesell-
Joseph, der viel Zeit auf seinem Ruhebett ver-
schaft das achte Weltwunder verspricht (375); be-
bringt, fett und unglücklich ist (zwei Entwürfe;
rühmte Stierkämpfer, die ihren Beruf in der tiefen
514–516); ein sich komisch verhaltender Bräuti-
Provinz ausüben (377 f.); ein unbesorgt um das
gam (516 f.); eine als hässlich geschilderte, doch
Kap der Guten Hoffnung Segelnder namens Hoff-
einem jungen Mann anziehend erscheinende
nungslos (413).
Zimmervermieterin (517 u. 521); ein weißes
Pferd, das frei durch die Stadt trabt (518 f.; auch T
463 taucht ein weißes Pferd auf); ein Magistrats-
264 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Fragmente in Ich-Form 1915: Aufwachen mit einem großen, im Traum von ei-
nem Ritter in das Genick gebohrten Schwert, das
Es gibt etwa ebenso viele Fragmente in der Ich-Form. von zwei Freunden im Wachzustand herausgezo-
Hier wird freilich der Protagonist nicht getauft (man gen wird (T 719 f.).
erfährt seinen Namen höchstens aus einer Anrede, 1916: Ein Großvater erinnert sich an seine erste Bege-
was nur zweimal vorkommt). Gelegentlich wird der hung eines fürstlichen Mausoleums (NSF I, 270–
Erzähler allerdings in der Überschrift genannt, was 272; vgl. <Der Gruftwächter >).
1917: Arbeit im Dunkeln einer Werkstatt (T 811); etwas
darauf hinweisen könnte, dass dessen Rede in einem
über einen unscheinbaren König, der den Ich-Er-
breiteren, auktorialen Zusammenhang gedacht ist.
zähler (namens Franz) mit auf sein Schloss nimmt
Aber generell stellt sich der Ich-Erzähler nicht vor −
(812); Folter (816); rasanter und verzweifelter
teils wegen Kafkas Vorliebe für ›körperlose‹, wenig
winterlicher Stadtritt auf einem Kohlenkübel (vgl.
markierte, ja monologisierende Erzählerfiguren, Der Kübelreiter); das Leben als Bettler an einer
teils weil die Informationen im Verlauf des Textes Straßenkreuzung (817); nächtliche Unterhaltung
einfließen und der Leser indirekt, aus den Umstän- mit Schakalen in der Wüste (vgl. Schakale und
den etwas über Charakter und gesellschaftliche Stel- Araber); ein alter, kränklicher und riesiger, einen
lung des Ich erfährt. Chinesen unwillig empfangender Mensch (NSF I,
Das gilt freilich nur für die etwas umfangreicheren 323 f.); eine Ohnmacht kommt zu Besuch (327 f.);
Fragmente: Je knapper der Erzählanlauf, desto schwie- Bericht über einen seltsam kindlich-kriegerischen
riger ist es, sich ein Bild von dem Erzähler-Protago- Aufruf in einer Mietskaserne (329 f.); Wohnge-
nisten zu machen, bzw. in gewissen Fällen ihn über- meinschaft in einem Zimmer zusammen mit ei-
haupt vom Ich eines Tagebucheintrags zu unterschei- nem Beamten und den beiden jungen Töchtern
den. Im Gegensatz zu den Fragmenten in der dritten des Vermieters, Herrn Krummholz (333); der Er-
Person ist also hier der fiktionale Charakter nicht im- zähler als zukünftiger Angler (334); Ausführli-
mer offenkundig, oft weisen allein auffallend fremd- ches über die chinesische Mauer (vgl. Beim Bau
artige, ja der Empirie widersprechende Umstände die der chinesischen Mauer) und eine weitere, Ein al-
Situation als erdachte aus (eine Unterhaltung mit tes Blatt überschriebene chinesische Phantasie
Schakalen ist notwendigerweise Fiktion). Prinzipiell (358–361); liebevoller Umgang mit einem viel-
ist aber hierbei die Grenze zwischen Traum, Tag- versprechenden, soeben aus einem überdimensi-
onalem Ei ausgeschlüpften storchartigen Vogel
traum, Erinnerung und Fiktion durchlässig.
(365–367); eine rasende Schlittenfahrt (368 f.);
In der Folge werden nur Stellen genannt, deren
unangenehme Erfahrung mit einem geschäftli-
fiktionale Beschaffenheit weitgehend außer Zweifel
chen Konkurrenten und Nachbarn namens Har-
ist. Ein genaueres Hinschauen lohnt sich, um zu se-
ras (370–372; vgl. <Der Nachbar >); Zweikampf
hen, wie Kafka Handlungen, Haltungen und Ich-Ge- der eigenen Hände unter der Aufsicht des Ich-Er-
stalten erdenkt und in Ansätzen durchspielt; die Be- zählers als Schiedsrichter (389 f.); Erinnerung an
tonung liegt in dieser Auflistung notgedrungen mehr einen großen Taschenspieler namens »K.« (406 f.);
auf den Situationen und Handlungskeimen (weiter das erste Vorbringen einer Beschwerde in einer
unten eigens behandelte Fragmente werden nicht Direktionskanzlei (408–410); Szenen in einer
angeführt). fremden Versammlung (410 f.); die drei Hunde
1913: Regelmäßige, leicht kämpferische Begegnung im des Erzählers: »Halt ihn, Faß ihn und Nimmer-
Zimmer mit einem Unbekannten (T 589 f.); durch mehr« (412, 414); intimer Umgang mit »Nimmer-
einen unbestimmten Lärm verursachtes mittägli- mehr« (413 f.); etliche Szenen mit Pferden (415,
ches Aufwachen im Gebüsch (608). 417 u. a.); das kranke oder hungernde Ich (412 f.);
1914: Allabendlicher Ringkampf mit dem Zimmer- Übernachtung in einer großen Herberge (415);
nachbarn, einmal in Anwesenheit einer Frau und der zivilisierte Affe Rotpeter (415; vgl. Bericht für
beim Schreiben eines Briefes (T 523–526); nächt- eine Akademie); Unterhaltung mit einer Schlange
liches Briefschreiben (532); ausführliche Schilde- (416 f.).
rung der Ankunft in einem fremden Dorf (643–
656); nächtliche Verfolgung durch sechs fremde
Männer (657 f.); falsche und dann doch wahre
Anschuldigung wegen eines sinnlosen Diebstahls
(667 f.); Verweilen auf einem Pferd (671 f.).
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 265

Deutungsaspekte Das ›Substantielle‹ ist oft eine Frage der Länge, da


die Tragfähigkeit eines Einfalls oder sein Entwick-
Der Umfang der Fragmente ist höchst unterschied- lungspotential sich an seiner tatsächlichen Ausfüh-
lich; einige gehen über mehrere Seiten, oft aber hat rung messen lässt (mehrmalige Anläufe dokumen-
man es mit kurzen Texten zu tun, die Kafka selber als tieren dagegen eher die Schwierigkeit in der Umset-
»hübsche Szenen« charakterisiert: »Es hat Sinn, ist zung der zündenden Idee); kurze und abgerundete
aber matt, das Blut fließt dünn, zu weit vom Herzen« Texte wie <Die Brücke> oder Der Quälgeist belegen
(27.5.1914; T 520). Es fehlt also zum Teil an ›innerer allerdings, dass die metaphorische Dichte verbun-
Substanz‹ und die Funktion des Aufschreibens be- den mit einem gezielt lakonischen Stil ebensogut
steht dann wohl darin, »das Gelenk zu lockern« den Ausschlag geben kann. Kafka sprach diesbezüg-
(27.5.1914; T 522). Wann aber ist die Substanz eines lich einmal von ›Berechtigung‹: Eine Novelle, »falls
Einfalls befriedigend? Wenn man mit einer »voll- sie berechtigt ist«, trage ihre fertige Organisation in
ständigen Öffnung des Leibes und der Seele« schreibt sich und könne sich dann in der »fertigen Organisa-
(23.9.1912; T 461)? Wenn der Autor »vollständig er- tion der Welt« erhalten (19.12.1914; T 711).
griffen« ist (30.8.1914; T 675)? Vielleicht auch, wenn
es möglich ist, den narrativen Faden soweit zu spin-
nen, bis die Fiktion einen gewissen Grad an Konsis- Einzelanalysen
tenz oder an gedanklicher Stringenz erhält. Das lässt
<Ernst Liman>
sich natürlich kaum allgemein bestimmen, sondern
höchstens am Maßstab der von Kafka publizierten Ernst Limans Abenteuer beginnt Kafka – ohne einen
Erzählungen messen. Titel zu verwenden – am 28. Februar 1913 (T 493–
Thematisch kreisen die Entwürfe oft um Motive, 499, siebentes Heft), bereits am 3. März schreibt er
Gestalten und Situationen, die man aus Kafkas sons- an Felice unter Verwendung einer für ihn typischen
tigem Werk kennt: manchmal spielerische, oft be- Reitmetapher, er sei von seiner Geschichte fast gänz-
drohliche, agonale Situationen, Verrückungen des lich abgeworfen worden. Das Fragment wurde bis-
Alltags, schräge Lagen, Probleme der Unbehaustheit her nur im Rahmen der Tagebücher-Ausgaben pu-
(man findet etliche Variationen vor allem des Ich in bliziert (erstmals in T/GW 1951). Es ist interessant,
einem teils seltsamen, teils bedrängend-unheimli- zum einen weil der Protagonist Kaufmann ist, also
chen häuslichen Umfeld), Konfrontation mit Frem- einen bei Kafka öfters vorkommenden Beruf ausübt,
den, nächtliche Szenerien, seltsame Tiere (auffallend zum anderen weil die grundlegenden Motive von
viele Pferde). Zum Teil gibt es jedoch auch Erfindun- Ankunft und Verfremdung eingesetzt werden. Der
gen, die vom herkömmlichen Korpus der publizier- müde Liman (auch diese Müdigkeit ist für Kafka-
ten Texte abweichen. Was die Protagonisten betrifft, Protagonisten typisch) wird nämlich gleich mit einer
hat man es mehrheitlich mit einsamen männlichen massiven Veränderung der ihm bekannten Welt
Gestalten zu tun (Politzer hat das zweite Kapitel sei- konfrontiert: Das Hotel Kingston, in dem er in Kon-
ner Kafka-Monographie der Figur des Junggesellen stantinopel üblicherweise absteigt und zu dem er
gewidmet; Politzer, 45–83), oft auch mit Sonderlin- sich kutschieren lässt, ist fast vollständig niederge-
gen. brannt. Man nötigt ihn jedoch, dem Etablissement
In einer poetologischen Phantasie spricht Kafka treu zu bleiben und mit einem Zimmer in einer sich
vom »ungeheueren Wagen meiner Pläne« (29.5.1914; in der Nähe befindenden Privatwohnung Vorlieb zu
T 527). Seine Entwürfe sind, wie man es an den obi- nehmen; um ihn vollends zu überrumpeln, wird ihm
gen minimalistischen Inhaltsangaben sehen kann, ein verführerisches Mädchen als Begleiterin aufge-
durchaus vielfältig und belegen seine Lust am Fest- zwungen.
halten der Einfälle wie sein Suchen nach immer Das Geschehen kombiniert das Thema der Unbe-
neuen Erzählkeimen. Um diese Vielfalt genauer zu haustheit mit demjenigen der Hinderung des freien
bestimmen und, vor allem, um zu sehen, welche Art Willens; der Kaufmann wird entgegen jeglicher Lo-
von Einfällen etwas weiter gedeihen konnten, scheint gik vom Kutscher zu einem niedergebrannten Hotel
es angebracht, auf einige Texte näher einzugehen. gefahren und durch den Vertreter des Hotels am
Dabei werden vorzugsweise Fragmente behandelt, freien Gehen gehindert. Was sich nach der schlech-
die bereits Max Brod für ›substantiell‹ genug hielt, ten Erfahrung eines Reisenden mit südländischen
um sie ab 1936 zu publizieren (BeK/GS; Hzv/GW). Gaunern anhört, bekommt jedoch – wie etwa in
266 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Thomas Manns Tod in Venedig – den unheimlichen Am ausführlichsten schildert der Erzähler, wie er
Zug eines Kontrollverlustes über das eigene Dasein. gegen die großen Ratten kämpft und sich in seinem
Die Erfahrung der Fremdheit wird als Sog konzi- Verschlag gegen sie verbarrikadiert; hier ist man
piert, der im realistischen Stil geschildert wird und nicht mehr sehr weit von einer paranoiden Phantasie
ohne irrationales oder phantastisches Beiwerk aus- entfernt, wie sie später in <Der Bau> ausgeführt wer-
kommt. den wird. Das Fragment bricht mit der Schilderung
der deutlich angeschlagenen Gesundheit des Erzäh-
Erinnerungen an die Kaldabahn lers und seiner allmählichen Vertierung ab, in dem
Augenblick, wo seine Lebenskurve sich offensicht-
Das Erzählfragment Erinnerungen an die Kaldabahn lich zu Ende neigt. Dadurch erweist sich der Text
wurde ebenfalls erstmals von Max Brod 1951 im deutlich als Entfaltung einer schwer stringent in der
Rahmen seiner Ausgabe der Tagebücher veröffent- Ich-Form zu Ende zu erzählenden Phantasie − denn
licht (T/GW). Es beginnt nach dem Eintrag vom sein eigenes Sterben zu erzählen, ist wahrlich kein
15. August 1914 (T 549–553) und wird in einem aus einfaches, wiewohl von Kafka geschätztes, Unterfan-
sechs Blättern bestehenden Konvolut weitergeführt gen. Das dokumentieren etwa die ›toten‹ Erzähler
(3.11.1914; T 684–694). Kafka erwähnt die Erzäh- im <Jäger Gracchus> oder in <Die Brücke> (s. u.),
lung einmal als »russische Geschichte« (21.8.1914; zwei weiteren Werken der mittleren Phase also, die
T 675) und dann unter dem jetzigen Titel (31.12.1914; allerdings offen allegorischen bzw. traumhaften Zu-
T 715). Der Name der Ortschaft Kalda im Innern schnitts sind. Das relativ lange Kaldabahn-Fragment
Russlands ähnelt natürlich demjenigen des Autors ist als dicht gewobene Groteske per se faszinierend,
und auch die Situation des Ich-Erzählers, diese radi- aber auch weil es den Kafka-Leser an andere Werke
kale Einsamkeit in der Fremde, lässt sich stimmungs- denken lässt − wegen der existentiellen Grenzsitua-
mäßig auf Kafkas damalige persönliche Lage zurück- tion eines in der Fremde sterbenden Protagonisten
führen. Nicht zufällig besteht das Mobiliar der Hütte etwa an Das Schloss. In literarhistorischer Hinsicht
(der Ich-Erzähler wohnt, gleichsam unbehaust, in ei- mahnt die Schilderung der Existenz als unbestimmt-
nem Holzverschlag, der gleichzeitig als Bahnstation erbärmlicher Wartezustand in unbehauster Öde und
fungiert) aus einem Schreibpult und einer Pritsche – Fremde an den Expressionismus, aber auch an spä-
d. h. genau den Möbelstücken, die Kafka als Schrift- tere Werke aus dem Umkreis des Existenzialismus
steller zum Schreiben und Phantasieren braucht. und des Absurden (u. a. Dino Buzzati und Samuel
Der Erzähler erinnert sich an die Zeit, als er beim Beckett).
Bau einer Bahn nach Kalda angestellt war. Es handelt
sich um ein völlig sinnloses Unternehmen, weil in Der Dorfschullehrer
diesem öden und entlegenen östlichen Gebiet keine
(<Der Riesenmaulwurf >)
Bahnlinie, sondern eine Straße gebraucht wird; au-
ßerdem kommen die Bauarbeiten wegen fehlender Entstanden ist dieses Fragment zwischen dem 18.
Mittel nicht mehr voran. Der Ich-Erzähler hat die Dezember 1914 und dem 6. Januar 1915 (an diesem
Einsamkeit selber ersehnt, doch wird ihm die im In- Tag vermerkt Kafka die Unterbrechung der Arbeit
nern Russlands liegende, namenlose Ortschaft, in an dieser Erzählung; T 715).
der er verweilen muss, immer unerträglicher und er Äußerer Anlass mag eine im Tagebuch wiederge-
verkommt allmählich in der monatelangen Gleich- gebene seltsame Begebenheit gewesen sein, die Kaf-
förmigkeit seiner Grenzsituation, die lediglich durch kas Schwager Josef Pollak von der Front mitbrachte.
den monatlichen Besuch eines Inspektors unterbro- Er habe im Schützengraben einen bohrenden Maul-
chen wird. Dieser stellt die Unwirtschaftlichkeit des wurf vernommen und dies als Warnung gedeutet.
Unternehmens fest und stimmt dann zwei Lieder an. Kaum von der Stelle entfernt, sei der ihm nachge-
Man trinkt nicht nur Schnaps zusammen, sondern krochene Soldat von einem Schuss tödlich getroffen
wird sich »ganz einig« und fällt in einer stundenlan- worden (4.11.1914; T 697). Man findet in der For-
gen Umarmung auf die Pritsche (T 684 f.) – selten schung auch die Vermutung, dass der Fall der soge-
hat Kafka eine homoerotische Phantasie so unver- nannten intelligenten Pferde von Elberfeld (s. u.) in-
brämt (und in so seltsamer Form) dargestellt (vgl. sofern Pate für die Erzählung gestanden habe, als
das Stichwort ›Homosexuality‹ in: Gray 2005, 128– dort ein Industrieller in den Fall involviert war und
130). hier ein Kaufmann als Erzähler auftritt (Heller, 127).
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 267

In diesem Fall wäre die Debatte um den Riesenmaul- Motive und Charakterzüge wären vor allem zu er-
wurf im Hinblick auf die Kontroverse um die rech- wähnen: die Gestalt des Kaufmanns, die Gegenüber-
nenden und kommunizierenden Pferde von Elber- stellung von Stadt und Dorf, die ›forschende‹ Le-
feld zu lesen. benshaltung sowie die trotzige Verabsolutierung der
Max Brod veröffentlichte den Text erstmals 1931 Suche, das überzogene Überlegenheitsgefühl der
unter dem Titel <Der Riesenmaulwurf > im Band vermeintlich Kundigen im unwissenden Umfeld
Beim Bau der Chinesischen Mauer (BBdCM), dann (Schullehrer und städtischer Kaufmann im dörfli-
nahm er ihn im Rahmen seiner Edition von Kafkas chen Kontext). Emrich würdigt die Erzählung im
gesammelte Schriften in BeK/GS auf. Die Forschung »Fremde Dinge und Tiere, das ›Selbst‹ des Men-
von Emrich (1975, 146) über Politzer (1965, 465) bis schen« überschriebenen Kapitel seiner Monographie
zu Gray (2005, 72 f.) hält Brods Titel für irreführend, und fragt nach der Funktion des Wissenschaftskritik
weil der Maulwurf nur eine marginale Erscheinung bei Kafka (Emrich, 145–151), wobei er jedoch den
in dieser Geschichte darstelle. Abgesehen davon, Text als bare Münze, als In-Frage-Stellung der herr-
dass ein Titel nicht unbedingt das Hauptthema eines schenden Wissenschaft nimmt und seine komisch-
Buches anzugeben hat, stellt sich die Frage, worin groteske Dimension völlig beiseite lässt.
das Thema hier überhaupt besteht. Geht es um einen Überhaupt wurde die Komik dieser Erzählung –
Dorfschullehrer, um einen unmöglichen Maulwurf u. a. die intendierte Analogie von Schreiben über
oder um einen Dorfschullehrer als Maulwurffor- eine Maulwurfserscheinung und Schreiben als Maul-
scher? Das einzige Argument für den jetzigen Titel wurfarbeit – in der Forschung bisher nicht gewür-
ist, dass Kafka selbst ihn einmal gebraucht hat digt. Der städtisch-kaufmännische Ich-Erzähler so-
(19.12.1914; T 710). wie der »alte Dorflehrer« verfassen beide Berichte
Die fragmentarische, aber abgerundete Geschichte über die zweifelhafte »Erscheinung« oder das »Ge-
ist einfach: Der Erzähler berichtet von den Recher- rücht« (NSF I, 195) eines Riesenmaulwurfes, dessen
chen, die er angestellt hat, um die ebenso sensatio- Realität sie gleichsam mit Hilfe eines Schriftstücks
nelle wie ungewisse Erscheinung eines Riesenmaul- bezeugen (oder erzeugen) wollen, so dass ihre Un-
wurfes wissenschaftlich zu belegen. Die von der Öf- ternehmen in Konkurrenz geraten. Der Titel des
fentlichkeit nicht geglaubte Existenz dieses Tieres Lehrertraktates »Ein Maulwurf, so groß, wie ihn
wurde bereits durch den Lehrer des Dorfes, in des- noch niemand gesehen hat« (199) ist in seiner Dop-
sen Nähe das Tier dem Vernehmen nach gesichtet peldeutigkeit unfreiwillig präzise, denn in der Tat
worden sei, eingehend dokumentiert, doch ohne jeg- wurde das Tier nicht gesichtet. (Ob Kafka vielleicht
lichen Erfolg. Der Ich-Erzähler unternimmt es also, dabei an den Geist von Hamlets Vater dachte, der in
den Fall noch einmal aufzurollen, um den Dorf- Hamlet I,5 als »alter Maulwurf« bezeichnet wird?)
schullehrer zu unterstützen bzw. seine Schrift zu ver- Der Schreib- und Erzählanlass ist hier keine ›un-
teidigen. Obwohl er Maulwürfe äußerst widerlich erhörte Begebenheit‹, die novellistisch auszuspinnen
findet, verfasst er einen neuen Bericht über das Tier. wäre, sondern eine unerhörte Erscheinung, die sich
Doch der Dorfschullehrer meint, dass der Erzähler – lediglich dem Vernehmen nach in einem hinter-
ein städtischer Kaufmann – sich mit fremden Federn wäldlerischen Dorf ereignet haben soll. Die bemüh-
schmücken und die Entdeckung für sich beanspru- ten Forscher wollen schreibend, untersuchend,
chen wolle. Daraufhin zieht der Erzähler seine dem nachforschend das Tier als ›gewesenes‹ belegen, ins
Maulwurf gewidmete Publikation aus dem Verkehr Leben rufen. Die Wissenschaftssatire ist spürbar:
− und alles fällt wieder in gänzliche Vergessenheit Die Beweisführung braucht nicht empirisch gestützt
zurück. Weder Dorfschullehrer noch Ich-Erzähler zu sein, sie wird, fern von jeglicher Realität, zum
haben den Maulwurf je gesehen, doch sie fassen Selbstzweck oder auch, anders betrachtet, zur Fik-
beide die Empirie als belangloses, entbehrliches An- tion. Der kaufmännische Erzähler ist, wie oft bei
hängsel des wissenschaftlichen Diskurses auf: Der Kafka, selbstsicher und bitterernst, die Skurrilität der
Gegenstand wird gleichsam durch die über ihn statt- Unternehmung kommt ihm nicht in den Sinn, auch
findende Nachforschung beglaubigt. wenn er den Lehrer, der »der erste öffentliche Für-
Die Erzählung ist in der Forschung nicht oft und sprecher des Maulwurfes« sein will, durchaus lächer-
vorwiegend im Zusammenhang mit anderen Wer- lich findet (NSF I, 200).
ken behandelt worden, also aufgrund von thema- Gegenstand der Erzählung wäre also die Meta-
tisch-motivischen Analogien. Als wiederkehrende Existenz dieses Tieres, d. h. die Verwandlung eines
268 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

Gerüchtes in schriftliches Belegmaterial. Der Ich- Perspektive des städtischen Kaufmanns geschildert
Erzähler berichtet von der Entstehung seiner eige- wird, der sein Hobby-Forschen als großzügige Geste
nen Schrift, die als Unterstützung einer anderen dem Dorfschullehrer gegenüber ausgibt und nicht
Schrift konzipiert, ja zur Verbreitung der Maulwurf- merkt, wie sehr er sich dabei selbst als Amateur ent-
Schrift des Lehrers dienen soll (NSF I, 201). Da sie larvt und in seinem blinden Glauben an die Macht
dies jedoch nicht vollbringen kann, ohne zum Ge- eines sich wissenschaftlich gerierenden Berichts dem
genstand (also zur Entdeckung des Maulwurfes) vor- Lehrer (und wie dieser) der Spezies des blind-boh-
zudringen, schiebt sie sich tendenziell nolens volens renden und von ihm verabscheuten Maulwurfs sel-
an die Stelle der anderen Schrift, weshalb sie auch ber ähnelt (die beiden werden ja metaphorisch selbst
vom Lehrer als die »Sache« selbst entwertend kriti- zu Riesenmaulwürfen).
siert wird (202). Im Verlauf der Erzählung verfängt Die tendenziell unendliche Rede über den Riesen-
sich die Argumentation beider Kontrahenten immer maulwurf, die den grotesken Ertrag einer wühlen-
mehr in gegenseitigen Anschuldigungen. Die Publi- den Tätigkeit darstellt, produziert einen prinzipiell
kation des Erzählers stößt auf allgemeines Desinter- unendlichen Schriftwurf in Form von kleinen Ak-
esse (»öde Sache«; 204) und wird gar für eine bloße tenhäufchen. Wie in anderen Texten Kafkas gerinnt
Neuauflage der Abhandlung des Lehrers gehalten. die Untersuchung zur fixen Idee und die Kontrahen-
Der Erzähler wird also zum Doppelgänger des Leh- ten werden geradezu zu Prototypen von skurril-frus-
rers (und Verdopplung ist bei Kafka immer mit Ko- trierten Besserwissern in Thomas Bernhardscher
mik verbunden). Manier. Die Satire auf eine pseudowissenschaftliche,
Vergleicht man den Text mit Flauberts Bouvard et vielleicht auch literarische Betriebsamkeit scheint
Pécuchet (posthum 1881), so zeigt sich, dass abgese- hier jedenfalls wichtiger als der im Text selber nicht
hen von den offenkundigen und gewichtigen Unter- nachzuweisende Bezug zum Ersten Weltkrieg. Dass
schieden in Umfang und Zielrichtung beider Texte, die eingangs angeführte merkwürdige Begebenheit
Kafka die Situation auf einen einzigen Punkt redu- um einen nicht gesehenen, aber als Warnung gedeu-
ziert: Bei ihm geht es nicht um das Wissenssystem teten Maulwurf, das zündende Moment darstellt, ist
oder den Wissensbetrieb – bei Flaubert immerhin durchaus plausibel, doch bedeutet das nicht (wie Alt
die gesamte Wissenslandschaft des 19. Jahrhunderts suggeriert; Alt, 437), dass das Fragment einen Bezug
–, sondern um den Forschertrieb im Leerlauf, gleich- zum Krieg (als Stellungskrieg, Grabenkampf und
sam um eine wissenschaftliche Artistik, die sich auf Maulwurftaktik) enthält.
der Grundlage eines reinen Gerüchtes entfaltet. Am 26. Dezember 1914 vermerkt Kafka in seinem
Forschen heißt: sich tief in einen Gegenstand ein- Tagebuch, die Erzählung trage schon am Anfang
bohren, grübeln, bohren, wühlen, etwas aufdecken »zwei unheilbare Fehler in sich« (T 713). Möglicher-
oder untersuchen (darunter suchen). Diese meta- weise ist ihre satirische, den Sinn stark verdeutli-
phorischen Umschreibungen werden durch das chende Ausrichtung einer von ihnen. Der andere
Fragment wachgerufen und ironisiert. Man weiß, könnte darin bestehen, dass hier der Protagonist
dass die ›nachbohrende‹ Tätigkeit ein Charakteristi- nicht auf eine Gegenwelt, sondern auf ein Alter Ego
kum vieler Kafkascher Protagonisten ist. Der Maul- stößt, das er überheblich und doch schonend behan-
wurf ist ein schwer zu sehendes und selber fast blin- delt. Es fehlt somit die Grundlage für einen richtigen
des Tier. Was man von ihm sieht, sind Erdaufwüh- Kampf.
lungen. Die Analogie zu den Produkten der beiden
wühlenden Forscher ist offenkundig − und auf die- Der Unterstaatsanwalt
ser unterschwelligen Metaphorik beruht Kafkas Hu-
mor. Die Erzählung nimmt sich aus wie eine Insze- Das Fragment entstand zwischen Ende Dezember
nierung der ›Wühlarbeit‹ derjenigen, die blind nach 1914 und dem 6. Januar 1915. Der Arbeitstitel wird
irgendeiner Wahrheit suchen, ohne sich im gerings- am 31. Dezember 1914 genannt (T 715), eine letzte
ten um das Faktische zu kümmern, weil sie einzig Erwähnung findet sich am 17. März 1915 (T 733).
und allein der Macht eines argumentierenden, die Bereits am 4. Januar 1915 notiert Kafka, dass sich die
Stelle der Realität einnehmenden Schriftstückes ver- Geschichte verläuft (T 715).
trauen. Der Text hebt mitten in einem überraschenden
Die Motivation der beiden Laien-Wissenschaftler Satz an (»überdrüssig geworden ist, Jagden auf Miss-
ist dabei schwer auszumachen, zumal alles aus der geburten zu veranstalten«; NSF I, 217) und lässt ins-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 269

gesamt ein Handlungsgefüge kaum erkennen. Dage- Der Student aus Kafkas Erzählung will die Intelli-
gen ist der Protagonist deutlich konturiert, es geht genz von Pferden noch deutlicher und methodisch
um einen Unterstaatsanwalt, der einen Kampf gegen geschickter belegen als »seine Vorgänger« in Elber-
die Dummheit – und aus seiner Sicht insbesondere feld (NSF I, 225), indem er sich vornimmt, den Un-
diejenige des Oberstaatsanwalts – unternehmen terricht der Tiere intensiver zu gestalten und ihn
möchte. Im Rahmen einer in seiner Vorstellung deshalb nachts stattfinden zu lassen, da dies allein
stattfindenden Verhandlung erfolgt eine Rückwen- eine außerordentliche Konzentration ermögliche.
dung auf einen fünfzehn Jahre zurückliegenden Ma- Außerdem muss der Student selber tagsüber für sei-
jestätsbeleidigungsprozess, bei dem er anscheinend nen Lebensunterhalt sorgen. Sein Forschungstrieb
großartig auftrumpfen wollte, auch um in seiner beruht auf einer ihn beinahe verunsichernden »tie-
Karriere vorwärts zu kommen. Diese Erinnerung fen und geradezu wilden Überzeugung« (228). Was
wird nur angerissen; man erfährt aber, dass das Vor- aus dem Experiment wird, erfährt man nicht, da das
haben misslang und der ehrgeizige Unterstaatsan- Fragment bereits nach der Schilderung des Pro-
walt sein Ziel nicht erreichte. Auffallend ist, dass in gramms abbricht.
diesem Entwurf die politische Dimension recht Man hat des Öfteren auf die von Kafka verwen-
deutlich zur Sprache kommt (der Angeklagte wird dete Metapher des Pferdes für die Erzählung bzw.
vom Protagonisten als »politischer Streber« gehasst, vom Reiter oder Dresseur für den Erzähler hinge-
NSF I, 220). wiesen (so z. B. Kremer, 1994). »Ich spanne die Zügel
Die Geschichte spielt in der (Kafka wohlvertrau- an« lautet eine isolierte Tagebuchnotiz (1.8.1917;
ten) Welt des Gerichtes, bezieht sich aber auf die ge- T 815), und in der Tat wird die Analogie zwischen
sellschaftliche Sphäre, die in seinem Werk immer Schreibarbeit und Pferdebeherrschung bzw. Pferde-
wieder (bis zum Schloss) einbezogen wird; auch dressur, die Verwandtschaft zwischen ›Zähmung‹
wenn er sich persönlich spärlich über Politik äußert, und Kanalisierung der Kreativität in etlichen Äuße-
werden politische oder gesellschaftliche Beweg- rungen Kafkas suggeriert. In diesem Fragment liegt
gründe bei etlichen seiner Gestalten als Kampfmoti- sie insofern auf der Hand, als Schreiben aus pragma-
vation angedeutet. tischen und fundamentalen Gründen für Kafka eine
nächtliche Tätigkeit ist (»Nur die Nacht ist die Zeit
<Elberfeld >-Fragment der eindringenden Dressur«; NSF I, 416). Das Frag-
ment hat demzufolge autoreferentiellen Charakter,
Das Fragment um die Pferdeerziehung ist wahr- impliziert eine Allegorie des Schreibens, zumal in ei-
scheinlich vor dem 20. Januar 1915 entstanden (NSF ner Zeit, in der Kafka am Process arbeitet.
I:A, 74). Es bezieht sich auf die damals Aufsehen er- Prinzipiell können viele von Kafka erdachte Sze-
regenden Versuche und Theorien über tierische In- narien als textliche, d. h. auf das Schreiben oder die
telligenz, die zunächst der Berliner Elementarschul- Literatur bezogene Metapher gelesen werden, doch
lehrer Wilhelm von Osten (1838–1909) um 1904 mit sollte diese autoreferentielle Seite nicht verabsolu-
seinem Pferd, dem »klugen Hans«, anstellte. Han- tiert werden und zu einer Vernachlässigung der an-
sens Rechenkünste wurden jedoch durch eine Kom- deren, z. B. der komischen Aspekte führen: Wie in
mission als Betrug entlarvt und das Tier wurde dem dem zeitlich parallelen Dorfschullehrer wird hier ein
Industriellen Karl Krall (allein dieser Name musste hypertrophes, absurdes, pseudo-wissenschaftliches
Kafkas Aufmerksamkeit erregen!) in Elberfeld über- Vorhaben geschildert, das mit Selbstüberschätzung
geben. Dieser publizierte 1912 ein Buch über Den- und einer gehörigen Dosis Sturheit einhergeht. Der
kende Tiere und behauptete, seinen Versuchspfer- Protagonist erweist sich von vornherein als ein von
den Rechnen und eine Art Morseschrift beigebracht einer fixen Idee geleiteter Sonderling. Wie verhält
zu haben. Etliche Berichte erschienen über den sich diese komische Seite zur Metapher des Schrei-
Fall; auch der symbolistische Schriftsteller Maurice bens? Sind die skurril-verbissenen, wiewohl in ihrer
Maeterlinck (1862–1949), der sich mit ähnlichen ruhigen Überzeugung wiederum einnehmend-
Fragen beschäftigte (sie wurden im Kontext von harmlosen Gestalten wie der Student oder der Dorf-
Darwins Theorien ernsthaft erwogen), verfasste schullehrer Figurationen einer spöttischen Selbst-
nach einem Besuch in Elberfeld einen Aufsatz über spiegelung Kafkas? Gehört das Schreiben zu den von
diese Pferde, der 1914 auf Deutsch erschien und den einer fixen Idee geleiteten Tätigkeiten? Darin könnte
Kafka möglicherweise kannte. ein Grund für die Nicht-Ausführung dieser Frag-
270 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

mente liegen, denn eine Analogie bildet nicht unbe- weise und Lebensauffassung zwangsläufig zur Ein-
dingt eine tragfähige narrative Grundlage − und samkeit führen. Die Pointe der Erzählung liegt da-
selbst wenn Selbstverspottung mit im Spiel sein rin, dass gerade der kurz gehegte, aber dann wieder
sollte, lässt sich das, was für Kafka mit dem Schrei- mit Gedanken an die eigene Bequemlichkeit wegra-
ben auf dem Spiel steht, sicherlich nicht genuin mit tionalisierte Wunsch nach einem Begleiter mit dem
solchen skurrilen Unternehmungen und Gestalten Auftauchen der Bälle rätselhaft verbunden ist (viel-
artikulieren. leicht auch über ein Wortspiel, da der kleine Hund
mit »Bellen, Springen, Händelecken« gleichgesetzt
<Blumfeld, ein älterer Junggeselle> wird; NSF I, 232).
Die zwei Bälle sind vital, anhänglich und zum ne-
Das Fragment entstand zwischen dem 8. Februar ckischen Spiel aufgelegt, hyperaktiv wie Kinder oder
und April 1915. Im Tagebuch wird es einmal als junge Tiere. Das manifestiert sich im Springen, was
»Hundegeschichte« (9.2.1915; T 726), später als bei Zelluloid-Bällen auch ein aufreizendes Geräusch
»Junggeselle« (nach 6.7.1916; T 794) bezeichnet. Der erzeugt. So stellt die Belebung vor allem eine Stö-
obige Titel stammt von Max Brod, der den Text erst- rung dar. Klar ist, dass jegliche Veränderung für den
mals in BeK/GS (1936) publizierte. pedantischen Angestellten lästig ist.
Der Held, Blumfeld, kommt eines Abends müde Der Status der Erzählung hängt eng mit der Deu-
nach Hause, denkt, während er die sechs Stockwerke tung der beiden Bälle zusammen. Haben sie mär-
zu seiner Wohnung hinaufsteigt, über seine Einsam- chenhaften Charakter, existieren sie wirklich oder
keit nach und erwägt die Anschaffung eines kleinen sind sie Produkte von Blumfelds Einbildung, d. h.
Hundes, um diese zu bekämpfen, kommt aber zum entspringen sie letzten Endes seinem Wunsch nach
Schluss, dass ein Haustier letzten Endes nur Belästi- einer Begleitung? Gegen das Märchenhafte spricht
gung bedeutet. In seiner Wohnung findet er zwei die Erzählanlage, denn man befindet sich im platten
hüpfende Celluloid-Bälle, die einen störenden Lärm Alltag eines Angestellten. Doch ließe sich in Anleh-
verursachen. Er schafft es, sie für die Nacht zu beru- nung an den von Volker Klotz im Hinblick auf Die
higen und sie am nächsten Morgen sogar einzusper- Verwandlung und Ein Landarzt vorgeschlagenen
ren, mit der Absicht, sie bei dem Sohn des Haus- Rückgriff auf die Gattung des Kunstmärchens (Klotz,
meisters los zu werden. Auf dem Weg zu seiner Ar- 339–355) auch hier die Kategorie des ›Wunderba-
beitsstelle (einer Wäschefabrik) denkt er nach über ren‹ einführen − geht es doch darum, dass in vielen
seine Situation, über die unerträgliche tägliche Be- Kunstmärchen dem Helden innerhalb des Alltags
lästigung durch zwei kindische Praktikanten und ge- Wunderliches begegnet. Aber wie reagiert man dar-
nerell über die mangelnde Anerkennung seiner Leis- auf? Während etwa der Student Anselmus in E.T.A.
tung vor allem seitens des Fabrikdirektors. Hoffmanns Der goldene Topf (1814) mit zwei nicht
Blumfeld ist in Vielem ein prototypischer Kafka- übereinstimmenden, ja einander widersprechenden
scher Held: Er geht pflichtbewusst seiner von ihm al- (allein in der Poesie eventuell harmonierenden) Wel-
lein für bedeutungsvoll gehaltenen Arbeit nach, lebt ten konfrontiert wird, erinnert Blumfelds Haltung
zurückgezogen in einer armseligen Wohnung und in zunächst an diejenige eines Volksmärchenhelden,
der kleinbürgerlichen Gleichförmigkeit eines durch denn das Wunderliche erscheint ihm kaum als sol-
und durch geregelten Alltags. Seine Müdigkeit und ches, es bricht keine andere Welt in seinen Alltag ein,
seine Eingangscharakterisierung als »älterer Jungge- die Bälle sind einfach kindische, hüpfende Wesen
selle« (NSF I, 229) geben zu verstehen, dass dieses (oder Poltergeister), die eines Tages auftauchen und
ebenmäßige, ermüdende Leben schon länger andau- an deren Existenz er nicht den geringsten Zweifel
ert. Er ist ein Angestellter (auch hierin mit etlichen hegt (genauso wenig etwa wie Gregor Samsa seine
Gestalten des Autors verwandt), lebt zurückgezogen, Verwandlung hinterfragt). Auch stellen diese Bälle
ja sogar abgeschottet in seiner Gedankenwelt, wel- Blumfelds Welt nicht in Frage, sie sind »ungewöhn-
che nicht eskapistischer Natur ist, sondern weitge- lich« (NSF I, 238), doch widersprechen sie physikali-
hend aus Überlegungen über seine von den anderen schen Gesetzen nur in Grenzen, stiften somit keine
nicht in ihrem Wert geschätzte berufliche Tätigkeit wirkliche Beunruhigung. Ob es sich um »Lebensbe-
besteht und generell um sein ödes Leben kreist. Sein gleiter« oder »Spielbälle« handelt, ist letzten Endes
Nachdenken über Maßnahmen gegen die Einsam- eine Frage der »Meinung« (248). Aber Blumfelds na-
keit am Textanfang zeigt überdies, dass seine Denk- ives Verhalten provoziert eine irritierende Verfrem-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 271

dung, da der Text keinerlei Merkmale des Volksmär- nen Textes verantwortlich ist: Wenn die Bälle den
chens aufweist und die alltäglichen Wahrscheinlich- Angestellten Blumfeld in seinen eigenen vier Wän-
keitskategorien nicht außer Kraft setzt. den necken und stören wie die Praktikanten im Büro
Entspringen die Bälle dagegen nur Blumfelds oder die Mädchen im Hausflur, so müssen beinahe
Wunsch oder Ängsten, ja fasst man sie lediglich als zwangsläufig berufliche und private Sphäre aufein-
Halluzination auf, dann wäre der Protagonist – ein ander bezogen werden − sei es im Rahmen eines sys-
durchgehendes Thema in der Epoche des Expressio- tematischen Vergleichs (einer intendierten, wiewohl
nismus – von einem sanften Wahn befallen. (Man nicht expliziten Allegorie), sei es als Engführung bei-
vergleiche dies etwa mit der neurotischen Deutung, der Stränge in der Handlung selber. Beides ist im
der imaginären Aufblähung eines Geräusches in Ril- Hinblick auf Kafkas sonstiges Schaffen recht schwer
kes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge − dass vorstellbar.
Kafka selber höchst lärmempfindlich war, ist be- Dazu kommt noch das Problem von Blumfelds
kannt). Blumfelds geistige Anlage spricht durchaus Lächerlichkeit: Ob man die Erzählung als modernes
für eine solche Deutung: Er ist durch und durch in Märchen ansieht oder ob man die Bälle als Produkte
sich involviert, versteht jegliche ihm widerspre- einer paranoiden Veranlagung betrachtet (wobei die
chende Erscheinung oder Auffassung als Angriff auf zweite Hypothese durch den Umstand gestützt wird,
seine Person, so dass die Bälle durchaus als halluzi- dass einzig und allein der Held, durch dessen Per-
natorische amplifizierende ›Umdeutung‹ eines klei- spektive alles geschildert und gedeutet wird, die
nen Geräusches gelten könnten. Da Blumfeld im Existenz der Bälle konstatiert), in jedem Fall ist eine
Büro zwei anscheinend kindliche und lästige Prakti- deutlich satirische Stoßrichtung vorhanden: eine
kanten unter seiner Aufsicht hat, wiederholen die durchaus zeitgebundene, auch im Expressionismus
beiden Bälle in grotesker Form das Motiv der paar- gepflegte Verulkung kleinbürgerlicher Lebensfüh-
weise in Erscheinung tretenden ›Störung‹. Blumfelds rung und pedantischer Ordnungssucht, die den Ent-
Verhalten ist beiden Paaren gegenüber dasselbe, d. h. wurf insofern etwas schwächt, als sie seinen Sinn
eine väterlich-duldsame, wiewohl zugleich gereizte einengt.
und mit brutalen Regungen durchsetzte Einstellung. In diese Richtung geht auch die vielleicht inten-
Die Bälle nehmen sich in der Tat wie ironische, näm- dierte Kritik der modernen, das ganze Dasein ein-
lich hypertroph-ideale Begleiter aus, sie sind stets zwängenden und verödenden Arbeitswelt: Enges
folgsam (sind »Gefolge«; NSF I, 250), ohne Alte- Büro, ödes Zimmer, steiles Treppenhaus, Dauerbe-
rungsgefahr, sauber, fröhlich. Kurz: Sie vereinigen in lästigung und sich steigernde Müdigkeit bilden ei-
sich alle Vorteile, die Blumfeld sich von einem Hund nen perfekten Gegensatz zum – sein nomen ist hier
erhoffte, ohne dessen Nachteile zu haben. ein umgekehrtes omen – Leben als ›Blumenfeld‹.
Das Erzählfragment ist vor allem bekannt, weil (Eine Anspielung auf den Namen des Sekretärs der
Blumfelds Praktikanten die beiden lästig-komischen zionistischen Weltorganisation – vgl. T 379 – ist
Gehilfen Arthur und Jeremias im Schloss vorweg- nicht anzunehmen.)
nehmen. In beiden Fällen erweisen sich die zur Un- Die Komik rührt hier wie oft bei Kafka von einer
terstützung vorgesehenen jungen Männer als un- mechanischen Bewegung her, doch während Berg-
nütze, unzuverlässige, ja kontraproduktive, meist in son in seiner Analyse des Komischen (Le Rire, 1900)
Slapstick-Manier agierende Gestalten. Doch das vor allem die Überlagerung des Organischen durch
wunderliche Moment der doppelten Verdopplung ist Mechanisches im physikalischen Bereich vor Augen
dem Blumfeld-Fragment eigentümlich, ja man muss hatte, geht es hier mehr um geistige Mechanismen:
eigentlich von Verdreifachung reden, da es neben Anstatt höchst Sonderbares, ja gar Unmögliches als
den Praktikanten noch die beiden vital-hüpfenden solches wahrzunehmen, reagiert der Protagonist so,
Mädchen des Hausmeisters gibt (248 f.). als gäbe es keinen Grund zum Kopfschütteln, keinen
Doppelte Erscheinungen treten dem vom Mangel Anlass zur Hinterfragung des Phänomens, d. h. er
an Zweisamkeit geplagten Junggesellen als wider- denkt mechanisch und einfältig mit hergebrachten
spenstige Wirklichkeit entgegen. Der Figurenparal- Alltagskategorien weiter. Guido Crespi beschreibt es
lelismus steigert einerseits den Slapstick-Charakter so: Kafka behandelt eine surreale Situation mit logi-
der Erzählung und gibt den Protagonisten der Lä- schen und realistischen Mitteln (Crespi, 106). In der
cherlichkeit preis, schafft andererseits ein Problem, Diskrepanz zwischen Wunder und alltäglichen
das vielleicht für den Abbruch dieses wunderschö- Denkmustern und Verhaltensweisen, in der Redu-
272 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

zierung des vollkommen Absurden zur geringfügi- Hintergrund abspielt, ist hier das Berichten selber
gen Sonderbarkeit liegt die erheiternde aber auch ir- als eine Realität festhaltende und erzeugende Akten-
ritierende vis comica vieler derartiger Szenen. sprache Thema des Textes − und man kommt nicht
umhin, darin auch eine Art parodistische Stilübung
<Monderry> des Juristen Kafka zu sehen.

Die im Tagebuch nach einem vom 27. Mai 1915 da- <Die Brücke>
tierten Eintrag stehende und das 10. Heft abschlie-
ßende <Monderry >-Geschichte nimmt sich wie ein Diese Phantasie entstand zwischen Dezember 1916
Experiment im sachlich-berichtenden Schreibstil und Januar 1917 in der Alchimistengasse. Ihr Titel
aus. »Der Tatbestand der rücksichtlich des plötzli- stammt von Max Brod, der den Text 1931 in der
chen Todes des Advokaten Monderry zunächst fest- Sammlung Beim Bau der Chinesischen Mauer veröf-
gestellt wurde war folgender« (T 746) − mit diesem fentlichte und 1936 in BeK/GS aufnahm.
an einen trockenen Polizeibereicht oder an die von In dieser knappen Erzählung evoziert ein Ich-Er-
Kafka gut beherrschte juristische Sprache mahnen- zähler in wenigen Sätzen sein Dasein und Sterben als
den Satz hebt der Text an. Doch die angekündigte menschliche, mit einer Weste bekleidete und mit
Sachlichkeit wird sofort durch novellistisch anmu- recht dichtem Haar versehene Brücke. Diese Brücke
tende Momente durchkreuzt. Die Zeitangabe lautet ist eine sinnlose Konstruktion, weil sie in einer »un-
»eines Morgens«, und dann wird präzisiert: »es war wegsamen Höhe« (NSF I, 304) liegt, auf keiner Karte
ein schöner Junimorgen und schon ganz hell« (746). verzeichnet und außerdem von höchst fragwürdiger
Mit dieser ausschmückenden Beigabe wird der Stil Stabilität ist. Als sie zum ersten Mal Verwendung
vollends unsachlich. findet und betreten wird, will sie den ihren Rücken
Und gerade in punkto Sachlichkeit lässt dieser in Anspruch nehmenden Wanderer anschauen und
amtliche Bericht sehr zu wünschen übrig, da er sich fällt aufgrund dieses unsinnigen Wunsches in den
genüsslich auf die Einzelheiten der ersten Minuten Abgrund.
nach dem Tod oder der Ermordung Monderrys ein- Der Text hat teilweise Traumcharakter. Sein erster
lässt, obwohl man weiß, dass schon Wochen vergan- Satz: »Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke«
gen sind und etliche Verhöre stattgefunden haben. (304) könnte ohne weiteres einen Traumbericht ein-
Der Text, der aufgrund der nicht klaren Zeugenaus- leiten, während der abschließende (freilich nicht zu
sagen der Witwe Monderry und eines damals gerade Ende erzählte) Sturz in den Abgrund sich wie die
Semmeln bringenden Bäckerjungen verfasst wird, Klimax eines Alptraums anhört. Doch die gesamte
erweist sich als unstrukturiert, geht an den Einzel- Schilderung erweist sich als so stringent und sinn-
heiten entlang und ist genüsslich narrativ gehalten, voll, dass man nicht umhin kann, etwas anderes als
er bildet eine Art protokollierendes Nacherleben ein traumartiges, von Angst- und Wunsch-Bildern
dessen, was sich zwischen der entsetzten Frau Mon- und verdrängten Konflikten getragenes Szenarium
derry und dem von ihr zur Hilfe gerufenen Bäcker- zu vermuten.
jungen abspielt. Kurzum: Der Sachbericht wird ein- Das Stichwort der ›Parabel‹ – in der Kafka-For-
deutig von einem Erzähler umgeleitet und verliert schung vor allem seit Heinz Politzers Monographie
sich in der Schilderung von Umständen. Man kann von 1962 geläufig – drängt sich auf, um einen Er-
jedoch auch einfach sagen: Das Erzählen nimmt zähltext zu fassen, in dem es um mehr als nur eine
überhand; was als (notwendigerweise) rückblicken- ausgesponnene Phantasie geht. Ob allerdings ein in
der Bericht angelegt ist, wird zur eben entstehenden radikaler Weise das metaphorische Potential der
Fiktion. Die kriminalistische Fahndung – »Mein gu- Sprache einsetzender Stil konstitutiv für die Parabel
ter Mann ist ermordet worden!« schreit Frau Mon- ist, sei dahingestellt; sicher ist, dass diese metaphori-
derry (T 746) –, gerät bei diesem Interesse für Ne- sche Eigenschaft des Textes zur Vermehrung, ja zur
bensächliches außer Kontrolle, der Erzählanlauf Schichtung der Lesarten führt. Daher wurden viel-
wird – und diese Bewegung ist konstitutiv für viele fältige, jeweils in sich schlüssige Interpretationen
Erzählungen Kafkas – in raschen Schritten einge- vorgeschlagen bzw. jeweils vorherrschende Deu-
schränkt oder sogar ausgehöhlt. tungsmethoden auf dieses Fragment angewandt. Al-
Anders als im Process, an dem Kafka seit Juli 1914 lein schon das per se so überaus symbolträchtige
arbeitet und in dem sich alles vor einem juristischen Motiv der Brücke in diesem fantastisch-rätselhaften
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 273

Rahmen lädt zu Auslegungen ein. Im Laufe der Zeit der Brücke, Eisenspitze des Stockes vom Wanderer,
wurde das anthropomorphe Bauwerk in autobio- zugespitzte Kiesel (als hätten sich diese aufgerichtet)
graphischer, psychoanalytischer, philosophischer, verklammern das Beschriebene und suggerieren ei-
sprach-, gendertheoretischer und poetologischer nen Zusammenhang der Dinge (spitze, in den Kör-
Hinsicht interpretiert − je nachdem, ob es in Verbin- per eindringende Gegenstände kommen in Kafkas
dung zu Kafkas Biographie, als Ort eines homosexu- Tagebüchern öfters vor). Es liegt nahe, das mit der-
ellen Verkehrs, als autoreflexives sprachliches Kon- artigen Spitzen versehene Szenarium mit Sexualität
strukt, als Allegorie des Künstlertums oder als Da- in Verbindung zu bringen − aber man kann es auch
seinsmetapher aufgefasst wurde. Weniger beachtet als bildliche Ausformulierung einer sich wahrhaftig
wurden seine Bezüge zu Kafkas Gesamtwerk, in dem zuspitzenden Situation verstehen, deren Wende-
es ja etliche Brücken-Szenen gibt (man denke u. a. punkt (oder Pointe) in dem Augenblick eintritt, wo
den Konnex von Brücke und Selbstmord im Urteil die Brücke sich drehen will, um den Touristen zu se-
oder an die Brücke am Beginn des Schloss-Romans). hen und sich der Absurdität ihres Vorhabens be-
Und fasst man die Brücke als Schwelle oder als Ver- wusst wird.
bindungsglied auf, vermehren sich die möglichen Erst dieses Bewusstsein, das gleichzeitig das Be-
Analogien um das Zehnfache. wusstsein ihrer Materialität ist, bewirkt ihren Fall
<Die Brücke> erzählt – auch das kommt bei Kafka (oder den Zusammenbruch der Fiktion). Das ist die
öfters vor – eine Verwandlung und ein Sterben: Der logische Folge eines kurz davor lakonisch formulier-
Ich-Erzähler »war« (304) (vielleicht nur im Raum ei- ten Naturgesetzes: »ohne abzustürzen kann keine
nes Traumes) eine Brücke, die in den Abgrund ge- einmal errichtete Brücke aufhören Brücke zu sein«
stürzt ist. Diese wunderliche Vorstellung eines Brü- (NSF I, 304). Die Banalität dieses Satzes wirkt ko-
ckendaseins, die man sich durchaus bildlich im Stil misch-abgründig, wenn er ausgerechnet von einer
einer fantastischen Zeichnung Alfred Kubins vor- Brücke gedacht wird (die jedoch paradoxerweise,
stellen kann, ist mit komischen Momenten durch- aber anthropomorph korrekt, vom Ab- und nicht
setzt. Allein schon der Einfall eines erlebenden, re- vom Einstürzen spricht). Durch ein Geflecht von
flektierenden und erzählenden Bauwerkes ist sur- wechselseitig sich fördernden und aufhebenden
real-witziger Natur, wie auch die bieder-menschliche Sinnbezügen, durch das ständige Gleiten zwischen
Denkweise der ›Brücke‹ und ihr Selbstgespräch bei metaphorischem und buchstäblichem Sinn und
der Ankunft des Wanderers. durch das Vexierbild der Doppeldeutigkeiten ist die-
Komik und Absurdes steigern sich gegenseitig: ser Text ein Musterbeispiel für die Fähigkeit Kafkas,
Eine Brücke, die sich vornimmt, einen sie Betreten- in wenigen Zeilen eine Schwindel erregende Fiktion
den, falls er wankt, ans Land zurückzuschleudern ist zu errichten.
eine wunderschön abstruse Vorstellung, die man si-
cherlich in eine Deutung integrieren kann, die aber < Jäger Gracchus >-Fragmente
nichtsdestotrotz abgründiger Nonsense bleibt − und
man tut Kafka Unrecht, wenn man diese Kompo- Textkorpus
nente ausklammert. Zur Komik trägt auch die An- Die Fragmente um die Gestalt vom Jäger Gracchus
schaulichkeit gewisser Details bei, wie etwa die Er- sind zwischen Dezember 1916 und April 1917 ent-
wähnung des eisigen Forellenbachs, das Sichfestbei- standen, in einer Zeit also, in der Kafka zahlreiche
ßen in den bröckelnden Lehm, die Hypothese über Erzählungen zu Papier brachte. Max Brod publi-
die kontemplative, die Landschaft genießende Hal- zierte eine aus unterschiedlichen Textteilen gebildete
tung des Touristen oder die spitzen Kiesel (!) auf die Fassung 1931 im Band Beim Bau der Chinesischen
sich die Brücke pfählen wird. Es werden anschei- Mauer, sie wurde 1936 in BeK/GS übernommen.
nend belanglose Umstände evoziert, die der Fiktion Den vollständigen Textbestand bietet erst die KA
konkrete Züge, Anschaulichkeit und eine gewisse Ei- (NSF I, 305–313, 378–384 u. T 810 f.).
genständigkeit verleihen. Dank dieser banalen Ele- Die Gracchus-Fragmente lassen sich in die folgen-
mente kann das Phantastische bestehen, und das Pa- den acht Erzählansätze bzw. Bruchstücke aufteilen
rabolische wird wenn nicht zurückgedrängt, so doch (wobei die beiden letzten von fraglicher Relevanz
zumindest gedämpft. sind; A und G stammen aus dem Tagebuch, B, C, D,
Auch operiert Kafka mit insistierenden Motiven E aus dem Oktavheft B, F aus dem Oktavheft D, H
wie vor allem mit demjenigen der Spitze: Fußspitzen aus dem Oktavheft A):
274 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

A: Eine Szene in einem kleinen Hafen (6.4.1917; T mir zu helfen« (311). Das Schreiben ist geprägt vom
810 f.): Der Ich-Erzähler beschreibt ein fremdes Wunsch nach Hilfe und vom Bewusstsein der Aus-
Schiff, das in sehr verwittertem, ja seeuntauglichem sichtslosigkeit der eigenen Situation, so dass der Jä-
Zustand ist, und erfährt, dass es dem alle zwei, drei ger seinen Hilferuf unterdrückt, indem er sich seine
Jahren vorbeikommenden Jäger Gracchus gehört. Umstände vergegenwärtigt: Er schreibt in seiner
B: Eine mehrseitige Erzählung in der Er-Form (ca. Barke (die er auch, vielleicht aus der ›Dohlen‹-
Mitte Jan. 1917; NSF I, 305–310, unmittelbar nach Perspektive, als »Holzkäfig« (312) bezeichnet), beim
der <Brücke>), die recht detailliert die Ankunft einer Licht einer Kirchenkerze, auf einer Holzpritsche, auf
Barke im kleinen Hafen, die Entladung einer Bahre, der er seit Jahrhunderten liegt. Er geht auf seinen
ihren Transport in das erste Stockwerk eines Hauses Tod im Schwarzwald beim Verfolgen einer Gemse
sowie die Ankunft eines alten Mannes mit Zylinder- ein und betont das Glück seines Lebens und Todes
hut schildert. Erst als alle das Zimmer, in dem sich als Jäger. Das Fragment bricht ab, als er ein Ereignis
die Bahre befindet, verlassen haben und der alte zu schildern beginnt, das diesem Glück – er schlüpfte
Herr allein mit dem vermeintlich Toten ist, schlägt in das Totenhemd wie ein Mädchen ins Hochzeits-
dieser die Augen auf und beginnt eine Unterhaltung. kleid – ein Ende setzte.
In deren Verlauf erfährt man, dass sich die Szene in F: Eine Unterhaltung zwischen dem Jäger und ei-
Riva (am Gardasee) abspielt und die Kontrahenten nem nicht näher charakterisierten Besucher (ver-
der Jäger Gracchus und Salvatore, der Bürgermeister mutl. Anf. April 1917; NSF I, 378–384): Ob es sich
von Riva sind. Der offensichtlich nicht gänzlich tote dabei um den Bürgermeister handelt, ist nicht aus-
Jäger schildert die Umstände seines Sterbens (den zumachen. Er steht fest im Leben, kennt den Jäger
Sturz im Schwarzwald bei einer Gemsenjagd) und nur vom Hörensagen und nimmt (mit einer gewis-
nennt mögliche Erklärungen dafür, dass sein Todes- sen Furcht; 379) die Gelegenheit seiner Anwesenheit
kahn die Fahrt verfehlte und er seither auf den irdi- im Hafen wahr, um Genaueres über diesen seit dem
schen Gewässern herumirren muss. Das Fragment 4. Jahrhundert auf seiner Barke irrenden Toten zu
bricht mitten in der Erörterung der Frage nach der erfahren. Der etwas rohe Jäger empfängt ihn, um sei-
Schuld des Jägers ab. Die erste Hälfte des Textes stellt nerseits Erkundigungen einzuholen. Die Unterhal-
eine Ausnahme in Kafkas Werk dar, insofern sie rein tung findet bei einem Glas Wein in der Kajüte der
beschreibend gehalten ist und durch die völlige Ab- Totenbarke statt. Der Besucher stellt dem Jäger Fra-
wesenheit von Gesprächen und Geräuschen sowie gen über sein Wesen, will »kurz aber zusammenhän-
durch die Konzentration auf Visuell-Gestisches den gend« wissen, wie es um ihn steht (381). Das Ge-
Eindruck weckt, der Kinogänger Kafka beschreibe spräch ist geprägt von der Diskrepanz zwischen dem
eine Stummfilmsequenz. Der ruhige und die Szene- Nicht-Wissen des Besuchers und der innigen Über-
rie gleichsam abtastende Blick führt zu einer leich- zeugung des Jägers, dass er ebenso bedeutsam als be-
ten Verfremdung und verleiht den unkommentier- rühmt sei. Er ist (oder wähnt sich) Schutzgeist der
ten Einzelheiten eine große Suggestivkraft, was na- Matrosen, eine transhistorische Jäger-Gracchus-We-
türlich zu symbolischen Interpretationen einlädt. senheit (»Wie es auch sein mag, Jäger Gracchus bin
C: Eine kurze Antwort des Jägers auf die Frage des ich«; 379), von dem die Geschichtsschreiber wissen,
Bürgermeisters über seinen Verbleib in Riva (ca. während sein Besucher lediglich ein Nichts sei, das er
Mitte Jan. 1917; NSF I, 310 f.): Hier fällt dessen be- mit einem reichlich auf der Barke vorhandenen, vom
rühmte Äußerung »Mein Kahn ist ohne Steuer, er als »Patron« (379) bezeichneten, aus Hamburg stam-
fährt mit dem Wind der in den untersten Regionen menden und gerade heute gestorbenen Besitzer der
des Todes bläst« (311). Barke zur Verfügung gestellten Wein anfülle (383).
D: Ein einzelner, die Identität des Sprechers fest- Umgekehrt ist der Besucher von der Bedeutungslo-
haltender Satz: »Ich bin der Jäger Gracchus, meine sigkeit einer Irrfahrt, die den Gang der Welt nicht
Heimat ist der Schwarzwald in Deutschland« (ca. tangiere, überzeugt. Am Ende des Fragments hebt
Mitte Jan. 1917; NSF I, 311). Gracchus mit seiner Geschichte an, wobei er hier be-
E: Eine längere Schilderung in Ich-Form, wobei tont, dass sein Sturz im Schwarzwald erfolgte, weil er
hier der Jäger als Schreibender in Erscheinung tritt der Lockung einer Gemse gefolgt sei. In diesem mit-
(ca. Mitte Jan. 1917; NSF I, 311–313): Der Text hebt ten in einem Satz abbrechenden, im eher lockeren
mit einer paradoxen Aussage an: »Niemand wird le- Gesprächstonfall gehaltenen Fragment wird die dop-
sen, was ich hier schreibe; niemand wird kommen, pelte Natur von Gracchus – ganz im Leben stehend
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 275

und doch seit Langem gestorben – besonders deut- handlungsmäßig noch atmosphärisch mit dem Ge-
lich. Er ist übrigens wissend und unwissend zugleich, spräch zwischen Gracchus und dem Besucher in der
was für die Stiftung von »Zusammenhang« (382) un- Kajüte (F). Während in B der Jäger empfangen, ja
günstig ist, wie es seine Äußerung dokumentiert: dem Bürgermeister sogar durch eine Taube ange-
»Frag nicht weiter. Hier bin ich, tot, tot, tot. Weiß kündigt wird, scheint seine Präsenz in F unbemerkt
nicht, warum ich hier bin« (383; vgl. auch ä 511 f.). zu bleiben. Der Textbestand ist also heterogen und
Zu erwähnen sind noch zwei mögliche Vorstufen: verbietet eine Deutung ›der‹ Gracchus-Geschichte.
G: Die Schilderung einer ruhigen Szene in einem Die maßgeblichen Interpretationen, die auf der
kleinen Fischerhafen nach dem Eintrag vom 21. Ok- Grundlage von Max Brods ›synthetischer‹ Fassung
tober 1913 (T 587 f.): Sie liegt allerdings zeitlich fern erfolgten, sind also mit Vorsicht zu lesen. Emrich hat
und ist lediglich in der Szenerie vergleichbar; Grac- der Erzählung eine Schlüsselposition in seiner
chus taucht hier nicht auf. Kafka-Deutung eingeräumt: Die Position des Jägers
H: Mitten in den <Gruftwächter >-Fragmenten in einer Sphäre zwischen Leben und Tod sei für das
(die in derselben Zeit, also Ende 1916 – Anfang 1917 ganze literarische Vorhaben Kafkas repräsentativ
entstehen) steht eine Auf dem Dachboden betitelte (Emrich 1970, 13–19). Überhaupt wird die Grac-
Geschichte (NSF I, 272–274), in der der junge Hans chus-Geschichte oft in Kafka-Interpretationen ein-
auf dem Dachboden, »in einem tiefen Winkel inmit- bezogen, weil sie wie die Gruftwächter-Fragmente
ten des Gerümpels eines ganzen Jahrhunderts« (272) explizit die Durchlässigkeit von Leben und Tod ge-
einen staubigen, schlaffen Fremden entdeckt, der staltet, aber auch wegen ihrer deutlich mythologi-
sich als badischer Jäger namens Hans Schlag zu er- schen Ausrichtung, ihrer symbolischen Aussagen
kennen gibt. Allerdings zeigt seine Uniform, dass es (der Jäger sei »immer auf der großen Treppe die hin-
sich um einen »Jäger« im militärischen Sinn handelt. aufführt«; NSF I, 309 – was in krassem Kontrast zum
Der junge Hans ist auch der Protagonist des nachfol- Irren in einer Barke steht) und ihrer biographischen
genden Erzählfragments, wo von diesem Jäger nicht Anklänge. Einige Punkte werden dabei stets unter-
mehr die Rede ist (274–276). Ein u. a. von Gerhard strichen, besonders die autobiographische Kompo-
Neumann (1979, 336) angenommener Zusammen- nente, die sich im Namen des Jägers verbirgt: Grac-
hang mit dem Gracchus-Komplex ist eher unwahr- chus, vom italienischen gracchio, heißt ›Dohle‹, ge-
scheinlich. nau wie »kavka« im Tschechischen, so dass Gestalt
Auch bei einem späteren, wohl auf Ende 1922 zu und Geschichte des Jägers auf ihren Urheber zurück-
datierenden Fragment (NSF II, 524) ist ein Bezug verweisen – vielleicht insofern, als für Kafka Schrei-
zum Fragmentenkreis nicht zwingend. ben in einem Zwischenbereich zwischen Leben und
Tod stattfindet? Die Barke weckt Erinnerungen my-
thologischer Art an die Totenbarke des Charon, an
Deutungsaspekte
den fliegenden Holländer und, im Motiv der Wan-
Es stellen sich bei diesen Fragmenten ähnliche Prob- derung, an den Ewigen Juden (ein vergleichbares
leme wie beim <Gruftwächter >: Auch wenn es in Wanderschicksal trifft u. a. den Landarzt in der
den Fassungen A bis F (einzig diese sind als ›Fassun- gleichnamigen späteren Erzählung).
gen‹ profiliert) durchaus Übereinstimmungen gibt Das im Text selber aufgeworfene Problem der
und man die ewige Irrfahrt des im Schwarzwald ge- Schuld (das lediglich in B Gesprächsthema ist) wird
storbenen und doch nicht ganz toten Jägers zum ebenfalls oft zum Angelpunkt der Deutungen erho-
Kernmotiv erklären kann, lässt sich keine einheitli- ben: Worin besteht die Schuld des Jägers, dessen
che Erzählung bilden. Das verbietet schon der Ent- Aufgabe es nicht ist, Gemsen (also weibliche Wesen)
wurf E, denn die durch die Ichform unterstützte Ein- zu verfolgen, sondern Wölfe zu töten? Wer hat die
samkeit des Protagonisten ist einfach nicht mit den Fehlleitung der Barke zu verantworten? Was heißt
auf Begegnung angelegten auktorialen Fassungen zu es, wenn »ein Augenblick der Unaufmerksamkeit«
vereinbaren. Aber auch die auktorialen Entwürfe (NSF I, 309) als Grund für die Irrfahrt genannt wird?
driften auseinander: Die Aufbahrung des Jägers im Damit einhergehend stellt sich die Frage nach der
ersten Stock eines gelblichen Hauses im Hafen von Erlösung − dies umso mehr, als der Bürgermeister
Riva und das bedeutende Zeremonial bei der An- von Riva Salvatore (›Retter‹, ›Erlöser‹) heißt. Derar-
kunft des Bürgermeisters, überhaupt die Bedeutsam- tige Fragen von Schuld und Erlösung weisen ihrer-
keit der ganzen Szenerie (B) vertragen sich weder seits auf einen möglichen religiösen Hintergrund,
276 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

wobei der durch die Verlockung einer Gemse verur- die jedoch wie eine Folterkammer aussieht – der
sachte (Sünden-)Fall in eine Schlucht und die eher Kafka-Leser denkt unweigerlich an die drei Jahre zu-
romantische Strafe des ewigen Irrens kulturelle Tra- vor entstandene Erzählung In der Strafkolonie.
ditionen der antiken Mythologie, der Romantik und Einiges trägt dazu bei, diesem Entwurf Traumcha-
der christlichen Religion auf den Plan rufen. rakter zu verleihen. Sein Anfang ist unbestimmt und
In den Fassungen B und F sind sich die Gesprächs- abrupt, man erfährt nicht, wo sich Bruder und
partner – der Jäger und der Bürgermeister – seltsam Schwester befinden und woher sie kommen, son-
nah, so dass man sie gar als die Teile einer einzigen dern nur, dass sie nach Hause gehen und dass dieser
Person aufgefasst hat (Valk, 336); die Ich-Dissozia- Weg nach Hause (in die häusliche Sicherheit?) lang
tion ist tatsächlich eine bei Kafka (und im Expressio- ist (363). Das Dorf, in das sie gelangen, kennen sie
nismus) fundamentale Erfahrung. Die traumartig- nicht, sie scheinen sich in der Fremde aufzuhalten
präzise Einführung der Fassung B diente in diesem oder verirrt zu haben. Metaphorisch gesprochen be-
Fall als Einstimmung auf ein Geschehen, das sich finden sie sich in einem Gebiet der Angst, denn die
nicht im Realen, sondern im Innern, zwischen einer Dorfbewohner sind alle »gebückt vor Schrecken«
wild in der freien Natur auf Abwegen ›jagenden‹ und (362). Das Ende des Fragmentes ist ebenso unbe-
einer mitten im Leben stehenden, soziale Verant- stimmt, es wird lediglich Schlimmes angedeutet.
wortung tragenden Instanz abspielt. In dieser Kon- Auch das Tempo der Ereignisse hat Ähnlichkeiten
frontation zwischen Sozialem und Ungebundenem mit der Ereignisabfolge in einem Traum.
kann man durchaus, zumal wenn man die Fassung E Diese Erzählweise wirft eine prinzipielle Frage im
einbezieht, eine Reflexion über die Stellung des Zusammenhang mit dem Fragmentcharakter vieler
Schriftstellers in einer unsinnigen, ja unwürdigen Entwürfe auf: Traumartige Schilderungen sind von
und aussichtslosen Lage am Rande der Menschheit Natur aus fragmentarisch, weil der Traum per se ein
erblicken. ›unfertiges‹ nächtliches Erlebnis, ein Geschehen
ohne Anfang und Ende darstellt. <Der Schlag ans
<Der Schlag ans Hoftor > Hoftor > ist in dieser Beziehung nicht fragmentari-
scher als die ›abgeschlossene‹ Erzählung Ein Land-
Die Erzählung stammt aus dem März 1917. Sie arzt, deren Anfang und Schluss abrupt und ›offen‹
wurde 1936 von Max Brod mit dem von ihm hinzu- sind. Wie im Landarzt ist übrigens auch hier die Zeit
gefügten Titel herausgegeben (BeK/GS, 108 f.). traumartig dehnbar, teils läuft alles gemütlich lang-
Vom eben angesprochenen Thema der Schuld her sam, dann wieder blitzschnell ab. Vor allem herrscht
ließe sich <Der Schlag ans Hoftor > zum paradigmati- ein unheimlicher Sog, der dem Geschehen nicht al-
schen Text erklären − denn einfacher und unerklärli- lein Traum-, sondern Alptraumcharakter verleiht:
cher als in dieser Geschichte ist Verschuldung kaum Der banale Weg nach Hause wendet sich zwingend,
denkbar. Der Erzähler befindet sich mit seiner folgerichtig und unabwendbar in eine Verurteilung.
Schwester außerhalb der Stadt auf dem Nachhause- Dabei steuert die Erzählung auf ein gravierendes er-
weg. Sie kommen an einem (wohl fürstlichen) Hof zähltechnisches Problem zu, da der Erzähler seinen
vorbei, die Schwester schlägt ohne ersichtlichen eigenen Tod zu schildern haben würde. Diese Situa-
Grund ans Tor (oder macht vielleicht nur eine dro- tion, die Kafka immer wieder hervorruft, ist aber in
hende Gebärde) − und löst dadurch eine Katastrophe Ichform nur als Traum plausibel erzählbar – oder
aus. In dem in unmittelbarer Nähe liegenden Dorf mittels einer ›jenseitigen‹ Stimme (wie in der Fas-
macht man sie auf die ernsthaften Folgen dieser ver- sung E vom <Jäger Gracchus>) – und das Spiel mit
meintlich unschuldigen Geste aufmerksam, doch der einer solchen abgeschiedenen Stimme ist es mögli-
Erzähler wähnt sich, auf herkömmliche Rechtsvor- cherweise, was Kafka literarisch an dieser Grenzsitu-
stellung vertrauend, in Sicherheit. Bald werden Reiter ation reizt.
beim Hof erblickt, der Erzähler schickt vorsichtshal- Hofmannsthal hätte einen solchen Ereignissog die
ber seine Schwester nach Hause (»um in einem bes- ›Unentrinnbarkeit des Schicksals‹ genannt, und tat-
sern Kleid vor die Herren zu treten«; NSF I, 363). Als sächlich waltet hier ein dunkles Fatum. Deshalb aber
die vom Hof ausgeschickten Reiter, vor allem ein hat man es ebenso wenig wie bei den traumartigen
Richter und sein Gehilfe Assmann eintreffen, nimmt Erzählungen Hofmannsthals mit der Nachahmung
man mit dem Erzähler vorlieb und bringt ihn unter eines authentischen Traums zu tun – was übrigens
sich verdüsternden Umständen in eine Bauernstube, ein Blick auf Traumaufzeichnungen aus Kafkas Ta-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 277

gebüchern sofort deutlich macht (vgl. Engel 1998). Es ist also die Rede von einem paradoxen Wesen,
Es werden Mechanismen, Färbung oder Stimmung das eine seinem Namen diametral entgegengesetzte,
des Traumes eingesetzt, doch mit einer realistischen völlig unschädliche und abgesonderte Existenz führt,
Szenerie und einem durchaus realistischen Szena- ja sich in die Nicht-Existenz verkriecht. So zumin-
rium verknüpft. Dieses besteht aus zwei Geschwis- dest bahnt sich der Text in den fünf knappen ersten
tern, einer unvorsichtigen Handlung in der Herr- Sätzen an, doch Kafka dreht die Schraube der Para-
schaftssphäre eines brutalen Hofherren, einer Flucht doxie weiter, indem er einen anderen, ja den ent-
und einer raschen Bestrafung. Die einzelnen Motive scheidenden Protagonisten einführt: das ›Du‹. Das
der Erzählung sind dem Kafka-Leser vertraut: rätsel- bewerkstelligt er in zwei Schritten. Zunächst wird
hafte Schuld, undurchsichtige Gerichtsprozeduren, das unbestimmte Fürwort ›man‹ verwendet: »Tritt
Unbehaustheit und Verirrung, unumschränkte, will- man [in die Hütte] ein, merkt man nur einen unaus-
kürliche, an Totalitarismus mahnende Macht. Es fällt treibbaren Modergeruch« (367). Dann schmuggelt
insbesondere auf, dass die durch Furcht geprägte er das ›du‹ im Rahmen einer erlebten Rede ein: »Wie
Konstellation von Hof und Dorf die Gegenüberstel- einsam ist es hier und wie kommt Dir das gelegen«
lung von Schloss und Dorf im Schloss-Roman vor- (368). Möglicherweise handelt es sich um eine Form
wegzunehmen scheint. Ungewohnt ist allerdings, des Selbstgesprächs, zumal der gesamte Text im ite-
dass der Protagonist nicht allein ist und dass die rativ-durativen Präsens steht, doch kann das ›du‹
Schuld zu einer Familienangelegenheit wird (auch (das Kafka gelegentlich in Aufzeichnungen verwen-
hier kann man an Das Schloss denken, wo Amalia det) durchaus einen verallgemeinernden Charakter
ihre ganze Familie schuldig macht). haben, den Leser als Instanz potenziell ansprechen
oder implizieren.
Der Quälgeist Ein ›Du‹ betritt also die Bühne, oder genauer: den
Wald. Da diesem Du-Menschen die Hütte gelegen
Diese Geschichte aus dem März 1917 – die kürzeste kommt, wird er sich »im Winkel« (368) schlafen le-
der in diesem Kapitel vorgestellten – wurde erstmals gen – genau wie der Quälgeist. Er nimmt dessen Stel-
von Max Brod in Hzv/GW (1953) veröffentlicht. lung und dessen Stelle ein, so dass man schließlich
Kafka hat den Text selber mit dem Titel überschrie- einer Art Verwandlung beiwohnt: Das zufällig im
ben. Wald sich befindende, in die Hütte des Quälgeistes
Der Quälgeist ist ein Musterbeispiel für Kafkas eingetretene ›man/du‹ wird zum Quälgeist. Und das
Kunst, eine fiktionale Welt zu errichten, indem er ihr heißt doch, wenn man die anfänglichen Zeilen des
gleichzeitig den Boden unter den Füßen wegzieht, Textes mit einbezieht, dass dieses ›Du‹ im Winkel
die Geltung des Gesagten zurücknimmt und aus- dieser vermoderten und vergessenen Hütte seinem
höhlt. Der Titel wird gleich im ersten Satz verfrem- eigenen Schwund entgegengeht. Übrig bleibt dann
det, man erwartet von einem unerträglichen Men- eine Fiktion, die sich selber involviert, d. h. ihren
schen zu hören, aber es heißt: »Der Quälgeist wohnt Protagonisten in dem von ihr geschaffenen Wald-
im Walde« (NSF I, 367). Kafka fasst den Quälgeist winkel verschwinden lässt. Wenn man das ›Du‹ als
also nicht in seiner herkömmlichen Bedeutung als monologisierendes ›Ich‹ versteht (wofür vieles
ein seine Mitmenschen belästigendes Wesen, son- spricht), errichtet hier der Erzähler für seinen Quäl-
dern als Spezies. Bereits im zweiten Satz wird dies je- geist eine vermoderte, vergessene und windige
doch zurückgenommen: Der Quälgeist ist ein Ein- Hütte, die ihm selber zur Ruhestätte wird. Requiescat
zelwesen, das in einer Hütte wohnt und von dem in pace! Ganz ohne Tragik, im Rahmen einer mit
man nicht weiß, welche physikalische Präsenz er hat teils witzigen Paradoxien operierenden ebenso ruhi-
– das ist immer das Problem mit Geistern –, denn er gen wie dichten Erzählung imaginiert (einmal mehr)
wohnt in einer »längst verlassenen Hütte« (367), mit ein Erzähler seinen eigenen Schwund – das Ende sei-
anderen Worten in einem unbewohnten Gebäude. ner geistigen Qualen? – in vollkommener Einsam-
Wen soll er unter solchen Umständen quälen? Und keit und Vergessenheit.
wieso heißt er Quälgeist, wenn er niemanden quält?
Seine Präsenz in dieser Hütte ist jedoch lediglich im Eine Kreuzung
Modergeruch spürbar, denn er selber ist winzig
klein, ja unsichtbar – das haben Geister an sich –, Die von Kafka selber mit Eine Kreuzung überschrie-
zumal er sich noch dazu in einen Winkel verkriecht. bene Erzählung, die aus dem März/April 1917
278 3. Dichtungen und Schriften – Das mittlere Werk

stammt, wurde erstmals 1931 in der Literarischen chen Stringenz gehört, dass der Besitzer dieses Tie-
Welt publiziert und in die Sammlungen BBdCM res sich Gedanken über seine Kreuzung macht und
(1931) und Hzv/GW (1953) aufgenommen. vermerkt, dass es sich vielleicht doch als Lamm in ei-
Ihr Inhalt ist mit dem ersten Satz geschildert: »Ich ner etwas engen Katzenhaut nicht wohl fühlt und
habe ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb deshalb das Messer des Metzgers als Erlösung emp-
Lamm« (NSF I, 372). Die von Kafka gepflegte mo- finden könnte (NSF I, 374). Doch als »Erbstück«
derne Form von Phantastik basiert auf einem neuar- (374) ist die Kreuzung für ihren Besitzer unantast-
tigen ›suspension of disbelief‹. Während der Roman- bar. (Im nächsten Fragment (374) wird mit der Vor-
tiker Coleridge darunter eine Poetisierung der Welt stellung eines tierischen väterlichen Erbstückes so-
durch Einbeziehung von lyrisch-übernatürlichen gar eine große Erwartung verbunden.)
Momenten verstand, geht es bei Kafka um die irritie- Der Vortragsstil trägt zur Wirkung des Textes we-
rende selbstverständliche Einfügung einer rein sentlich bei: Kafka verwendet das iterativ-durative
punktuellen abstrusen Vorstellung in die Banalität Präsens eines sozusagen vor sich hin plaudernden
des Alltags. Es kann sich dabei um eine kleine Ver- Erzählers. Diese Form, die in der Literatur des 20.
schiebung, eine Verwandlung oder eine schimäri- Jahrhunderts eine breite Entfaltung erfahren hat, bil-
sche Kreuzung handeln. In unserem Fall hat man es det übrigens selber eine Art Kreuzung zwischen
mit einem widernatürlichen Produkt zu tun, einer richtigem Erzählen und innerem Monolog (vgl.
Kombination zwischen Katze und Lamm. So ein Le- Cohn, 173–216).
bewesen könnte im Traum entstehen, wo des Öfte-
ren Inhalte doppelt determiniert sind – Kafka
träumte z. B. im Oktober 1911 von einem »wind- Forschung
hundartigen Esel« (29.9. <Oktober> 1911; T 205).
Generell kommen Kreuzungen überall dort vor, wo Eine systematische Untersuchung der zahlreichen
die Kombinationslust vorherrscht: im Manierismus, kleineren fiktionalen Erzählansätze steht noch aus.
im Surrealismus, in Kinderspielen, in Fantasy und in Sie müsste thematische und erzählperspektivische
bio-genetische Phantasien entfaltender Science-Fic- Fragen berücksichtigen und außerdem nach Mög-
tion. lichkeit den jeweiligen Kontext einbeziehen, um zu
Das Eigentümliche an Kafkas Fragment (und an einem genaueren Bild von Kafkas ›möglichen Wel-
seiner Weiterführung phantastischer Literatur über- ten‹ und deren Entwicklung im Verlauf der Jahre zu
haupt) besteht in der radikalen Entschärfung des an gelangen. So ist z. B. der in der obigen Auflistung er-
und für sich Unmöglichen. Das bewerkstelligt er wähnte allabendliche Ringkampf mit Notizen über
durch die Erzählperspektive: Die abstruse Erschei- eine bevorstehende Berlinreise umrahmt, so dass die
nung wird durch einen Erzähler beschrieben, der ein Vermutung nahe liegt, dass der ›Kampf‹ um Felice
durch nichts zu erschütterndes, ja an Wahn grenzen- die kleine Erfindung mitbestimmt (zumal noch die
des stabiles Weltbild hat. In diesem Universum ha- Tätigkeit des Briefeschreibens evoziert wird).
ben unerklärte Wesen wie Riesenmaulwürfe, Riesen- Die Motive ›Kampf‹ und ›Schreiben‹ sowie das
ungeziefer, singende Mäuse, denkende Brücken, aus Thema der Unbehaustheit müssten dann mit (zahl-
einem Schweinestall hervorkriechende Pferde oder reichen) anderen Stellen verknüpft werden, um ih-
sich menschlich verhaltende Bälle ebenso ihren Platz ren Ort in Kafkas imaginärer Welt zu bestimmen.
wie eine Lamm-Katze. Von Interesse wäre sicherlich auch ein literarhis-
Man erfährt im Fragment nichts über die Her- torischer Vergleich mit den Entwürfen anderer Au-
kunft des neuartigen Tieres, außer dass es vom Vater toren. Einige, wie z. B. Henry James, kümmern sich
geerbt wurde und früher etwas mehr Lamm als Katze intensiv um die Erfindung von Namen, andere be-
war. Das sanftmütige (phonetisch an Klamm aus mühen sich mehr um die Fabel, Kafka (aber sicher-
dem Schloss gemahnende) Monstrum wird vom Ich- lich nicht nur er) braucht ein frappantes Initialbild
Erzähler einfach geschildert, dem Leser genauso wie oder eine Initialsituation.
den ihn regelmäßig am Sonntag besuchenden Kin- Ein solches vergleichendes Unterfangen ist des-
dern vorgeführt (Monstrum: monstrare = zeigen), halb schwierig, weil die Literaturwissenschaft für
sein Dasein wird sozusagen durchgespielt, als handle Fragmentanalyse keine Methodik bereit stellt und
es sich um ein durchaus mögliches, wenn auch nicht der per se fundamental offene Charakter des Frag-
alltägliches kuscheliges Haustier. Zur weltanschauli- ments nur hypothetische Lesarten zulässt, die schnell
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2 279

ins rein Spekulative zu kippen drohen. Am ehesten KA (1990), 746–748. –– <Die Brücke>: ED: BBdCM
noch wäre die genetische Methodik zu mobilisieren (1931), 57 f. – BeK/GS (1936), 113 f. – BeK/GW (1954),
(also das, was Hartmut Binder als »Schaffensweise« 111 f. – NSF I/KA (1993), 304 f. – OO1&2/FKA (2006),
bezeichnet; Binder 1983), allerdings geriete der Ver- H. 2, 4–9. –– <Jäger Gracchus>-Fragmente: ED: BBdCM
such, Kafkas Entwürfe inhaltlich und formal mit an- (1931), 43–50 – BeK/GS (1936), 102–107 u. T/GS
deren Textstellen und schriftlichen Zeugnissen zu (1937), 179–184 (»Wie ist es, Jäger Gracchus…«). –
verknüpfen schnell ins Uferlose und Willkürliche. BeK/GW (1954), 99–105 u. 334–339 (»Wie ist es, Jäger
Auf jeden Fall sind die Fragmente aber für jede Gracchus…«) u. T/GW (1951), 518 (»Im kleinen Hafen
Kafka-Interpretation unentbehrlich. Gerade die Er- …«). – T/KA (1990), 810 f. (»Im kleinen Hafen …«; vgl.
auch T 587 f.) u. NSF I/KA (1993), 305–313 (»Zwei Kna-
zähleinsätze können z. B. der Forschung erlauben,
ben saßen auf der Quaimauer«), 378–384 (»Wie ist es,
werkphasenspezifische Züge besser zu erkennen. So
Jäger Gracchus…«; vgl. auch NSF II, 524); OO1&2/FKA
erprobt Kafka in seiner mittleren Phase offensicht-
(2006), H. 2, 11–47 (»Zwei Knaben sassen auf der Quai-
lich die im Urteil musterhafte zur Geltung gekom-
mauer…«). – OO3&4/FKA (2008), H. 4, 47–79 (»Wie
mene personale Schreibweise sowie phantastische ist es, Jäger Gracchus…«). –– <Der Schlag ans Hoftor >:
Situationen, die oft zur metaphorisch überhöhten ED: BBdCM (1931), 51–53. – BeK/GS (1936), 108 f. –
Darstellung seiner eigenen Lebensproblematik zu BeK/GW (1954), 106 f. – NSF I/KA (1993), 361–363. –
dienen scheinen. OO3&4/FKA (2008), H. 3, 127–135. –– Der Quälgeist:
Von der Forschung wurden bisher lediglich we- ED: Hzv/GW (1953), 145 f. – NSF I/KA (1993), 367 f. –
nige (vor allem die in diesem Kapitel besprochenen) OO3&4/FKA (2008), H. 3, 151–157. –– <Eine Kreu-
Texte untersucht, allen voran – und zwar bereits in zung >: ED: Literarische Welt 7 (1931), 13. – BBdCM
Emrichs bedeutender Monographie – der (Max (1931), 54–56. – BeK/GS (1936), 110–112. – BeK/GW
Brodsche) <Jäger Gracchus> – und die Blumfeld-Ge- (1954), 108–110. – NSF I/KA (1993), 372–374. –
schichte. Über die oben gewürdigten Texte gibt es OO3&4/FKA (2008), H. 4, 16–33.
freilich einzelne Beiträge (bei dem Umfang der Forschung allgemein: P.-A. Alt (2005). – Bay/Hamann
Kafka-Forschung wäre das Gegenteil erstaunlich), (2006). – Hartmut Binder: Motiv und Gestaltung bei
aber im Gegensatz zu den Haupterzählungen hat F.K. Bonn 1966. – Ders.: K. in neuer Sicht. Mimik, Ges-
sich keine regelrechte Diskussion um sie herauskris- tik und Personengefüge als Darstellungsformen des Au-
tallisiert. tobiographischen. Stuttgart 1976. – Ders.: K. Der Schaf-
fensprozeß. Frankfurt/M. 1983. – Dorrit Cohn: Trans-
Ausgaben: Textkorpus: ED in vollständiger Form: NSF I/ parent Minds. Narrative Modes for Presenting
KA (1993), 194–418; T/KA (1990), 442 [Beginn der Consciousness in Fiction. Princeton 1983. – Guido Cre-
Niederschrift des Urteils] – 828; in der FKA sind für das spi: K. umorista. Mailand 1983. – S. Dierks (2003). –
Textkorpus bis jetzt relevant: OO1&2 (2006), OO3&4 W. Emrich (1970 [1947]). − Manfred Engel: Traumno-
(2008) u. OO5&6 (2009); in Auswahl erschienen die tat, literarischer Traum und traumhaftes Schreiben bei
Nachlassfragmente zuerst in: BBdCM (1931), BeK/GS F.K. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne. In:
(1936) u. Hzv/GW (1953), die zu den Tagebüchern ge- Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen. Traum-
rechneten Texte in: T/GS (1937) u. T/GW (1951). ––– erzählungen in Literatur und Film. St. Augustin 1998,
Einzeltexte in chronologischer Folge: <Ernst Liman>: ED: 233–262. − Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Ein
T/GW (1951), 298–303. – T/KA (1990), 493–499. –– Motiv und sein Text. Frankfurt/M. 1979. – Waldemar
Erinnerungen an die Kaldabahn ED: T/GW (1951), 422– Fromm: Artistisches Schreiben. Ks. Poetik zwischen
435; T/KA (1990), 549–553 u. 684–694. –– Der Dorf- Proceß und Schloß. München 1998. – Sophie von Glin-
schullehrer <Der Riesenmaulwurf >: ED: BBdCM (1931), ski: Imaginationsprozesse. Verfahren phantastischen
131–153. – BeK/GS (1936), 215–232. – BeK/GW (1954), Erzählens in F.K.s Frühwerk. Berlin, New York 2004. –
220–239. – Fritz Martini: Ein Manuskript F.K.s: Der Claudine Raboin: Ein Landarzt und die Erzählungen
Dorfschullehrer. In: JDSG 2 (1958), 266–300. – NSF I/ aus den ›Blauen Oktavheften‹ 1916–18. In: H.L. Arnold
KA (1993), 194–216. –– Der Unterstaatsanwalt: ED: (1994), 151–172. – R.T. Gray (2005). – G. Guntermann
Hzv/GW (1953), 367–373. – NSF I/KA (1993), 217– (1991). − Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung.
224. –– <Elberfeld>-Fragment: ED: Hzv/GW (1953), Stuttgart 1957. – Dieter Hasselblatt: Zauber und Logik.
412–415. – NSF I/KA (1993), 225–228. –– <Blumfeld, Eine K.-Studie. Köln 1964. – Paul Heller: F.K., Wissen-
ein älterer Junggeselle>: ED: BeK/GS (1936), 142–171. – schaft und Wissenschaftskritik. Tübingen 1989. – Vol-
BeK/GW (1954), 141–172. – NSF I/KA (1993), 229– ker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Stuttgart
266. –– Monderry: ED: Hzv/GW (1953), 415–417. – T/ 1985, 339–355. – G. Kurz (1980). – Gerhard Neumann:
280 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Die Arbeit im Alchemistengässchen (1916–1917). In: Hase: K.’s Jäger Gracchus. Fragment or Figment of the
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P. Rehberg (2007). – Roland Reuß: Die ersten beiden Krock: Oberflächen- und Tiefenschicht im Werk F.K.s.
Oxforder Oktavhefte F.K.s. Eine Einführung. In: Der Jäger Gracchus als Schlüsselfigur. Marburg 1974. –
OO1&2/FKA, (2006), Franz Kafka-Heft 5, 3–26. – Dietrich Krusche: Die kommunikative Funktion der
Wiebrecht Ries: K. zur Einführung. Hamburg 1993. – Deformation klassischer Motive: Der Jäger Gracchus. In:
Scherpe/Wagner (2006). − R. Stach (2002). – Henry DU 25 (1973) 1, 128–140. − Frank Möbus: Theoderich,
Sussman: K.’s Aesthetics. A Primer from the Fragments Julia und die Jakobsleiter. F.K.s Erzählfragmente zum
to the Novels. In: J. Rolleston (2002), 123–148. – An- Jäger Gracchus. In: ZfdPh 109 (1990), 253–271. – F. Mö-
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selle and the First World War. In: MAL 39 (2006), 29– ger-Gracchus-Aufzeichnungen. In: Battegay/Christen/
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Vom Unglück verwirklichter Hoffnung. In: ZfdPh 120 chus. In: Oxford German Studies 14 (1983), 92–110. –
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Impersonal Narrator: Blumfeld, an Elderly Bachelor. In: Hunter Gracchus. In: Studies in Short Fiction 15 (1978),
R. Pascal (1982), 90–104. −− Der Dorfschullehrer (<Der 307–317. – Thorsten Valk: Der Jäger Gracchus. In:
Riesenmaulwurf >): W. Emrich (1975 [1957]), 146–152. − M. Müller (2004), 333–345.
Catherine Grimm, Getting Nowhere. Images of Self and Zum Gesamtkorpus der Nachlasstexte der mittleren
the Act of Writing in K.’s Der Dorfschullehrer. In: New Werkphase vgl. in diesem Handbuch auch die Artikel:
Germanic Review 10 (1994), 119–132. − James Rolle- 3.2.3 (Der Verschollene), 3.2.4 (Der Process), 3.2.9 (Beim
ston: The Functional and the Arbitrary. The Village Bau der chinesischen Mauer), u. 3.4.2 (»Die Tagebü-
Schoolteacher and The Great Wall of China. In: J. Rolle- cher«, bes. 359 f.).
ston (1974), 101–111. −− <Der Schlag ans Hoftor >: Bernard Dieterle
Christophe Bourquin: K.s Der Schlag ans Hoftor. In:
Arcadia 43 (2008), 257–269. – Gerhard Neumann.
In: KHb (1979) II, 319. −− <Die Brücke>: Ruth V. Gross:
Fallen Bridge, Fallen Woman, Fallen Text. In: Literary
Review 26 (1983), 577–587. − Clayton Koelb: The Turn
of the Trope. K.’s Die Brücke. In: MAL 22 (1989),
57–70. − Gerhard Neumann. In: KHb (1979) II, 335 f. –
Blake Lee Spahr: F.K.: The Bridge and the Abyss. In:
Modern Fiction Studies 8 (1962), 3–15; dt. als: F.K.: Die
Brücke und der Abgrund. In: H. Politzer (1973), 309–
327. −− <Eine Kreuzung >: Gerhard Neumann. In: KHb
(1979) II, 331 f. − Blake Lee Spahr: The Bridge and the
Abyss. In: Modern Fiction Studies 8 (1962), 3–15. −−
Erinnerungen an die Kaldabahn: Michael Müller: »Wo-
hin gehst du kleines Kind im Walde?«. In: H.D. Zim-
mermann (1992), 75–83. −− <Jäger Gracchus>: H. Bin-
der (Schaffensprozeß, 1983), 191–270. – Guy Davenport:
The Hunter Gracchus. In: The New Criterion 14 (1996)
6, 27–35. − W. Emrich (1975 [1957]), 13–40 u. passim. −
Martin Endres: Chronographie des Todes. Die utopi-
sche Zeitlichkeit der Sprache in K.s Jäger Gracchus. In:
Battegay/Christen/Groddeck (2010), 25–36. – David
Giuriato: »Kinderzeit«. Zu F.K.s Jäger Gracchus. In: Bat-
tegay/Christen/Groddeck (2010), 101–118. – Donald P.
Zürauer Aphorismen 281

3.3 Das späte Werk Oder – als Frage formuliert, die Kafka selbst am
4. Februar 1918 notierte –: »Worauf nimmst Du Be-
(ab September 1917) zug? Was rechtfertigt Dich?« (NSF II, 82).
Diese Suche nach einer ›Rechtfertigung‹ im fun-
damentalen Sinne ist der Anlass für die Entstehung
3.3.1 Zürauer Aphorismen der Zürauer Aphorismen, die Kafka zwischen dem
19. Oktober 1917 und Ende Februar 1918 in zwei
dunkelblaue Schulhefte im Oktavformat schreibt
Entstehung und Veröffentlichung (›Oktavheft G‹: 18.10.1917 bis Ende Jan. 1918; ›Ok-
tavheft H‹: 31.1. bis vermutl. Ende Febr. 1918; NSF
Zürauer Aphorismen
II, 29–105). Sie sind das einzige große Werkprojekt
Kein Ereignis in Kafkas Leben war ein so tiefer Ein- der Zürauer Zeit; fiktionale Texte entstehen nur ganz
schnitt wie Ausbruch und Diagnose der Tuberkulose wenige (s. u.) und auch das Tagebuch, das Kafka
im August/September 1917. In seiner symbolischen noch eine Zeitlang parallel zum Oktavheft führte
Weltsicht sah Kafka darin keine physische, sondern (»ich fließe noch in zwei Armen«; 10.11.1917;
eine »geistige Krankheit« (An Ottla, 29.8.1917; B14– T 843), bricht etwa Mitte November ab (T 844).
17 309), in der »Lungenwunde« (An Max Brod, Die beiden Oktavhefte enthalten, in meist exakt
14.9.1917; ebd., 319) nur ein »Sinnbild der Wunde, datierten Einträgen, knapp 240 Kurztexte, die (im
deren Entzündung Felice und deren Tiefe Rechtfer- weitesten Sinne) als ›Aphorismen‹ gelten können;
tigung heißt« (15.9.1917; T 831). Entsprechend radi- dazwischen stehen wenige, auf Faktisches ver-
kal waren die Konsequenzen, die Kafka zog: Er ließ knappte Tagebucheinträge (z. B.: »Abend Spazier-
sich in der Versicherungsanstalt beurlauben, berei- gang nach Oberklee«, NSF II, 34) und einige fiktio-
tete den Abbruch der fünfjährigen Beziehung zu Fe- nale Fragmente und Texte, vor allem: <Eine alltägli-
lice Bauer vor und reiste zu seiner Schwester Ottla, che Verwirrung > (21.10.1917; 35 f.), <Die Wahrheit
die im nordböhmischen Zürau (Siřem) einen klei- über Sancho Pansa> (21./22.10.; 38 f.), <Das Schwei-
nen Bauernhof ihres Schwagers Karl Hermann be- gen der Sirenen> (23.10.; 40–42) und <Prometheus>
wirtschaftete. Dort lebte er, mit nur kleineren Unter- (vermutl. 16.12.; 69 f.). Im letzten, durch einen Dop-
brechungen, fast acht Monate lang (12.9.1917 – pelstrich abgetrennten und zwischen Anfang März
30.4.1918). und Anfang Mai 1918 verfassten Teil des Oktavhef-
Befreiung von der Arbeit und vom Dauerkonflikt tes H finden sich der sozialutopische Entwurf Die
zwischen Ehe und Werk, den die Beziehung zu Fe- besitzlose Arbeiterschaft (105–107), zahlreiche kurze
lice bedeutet hatte, ein von Ottla liebevoll umsorgter Erzählanfänge und ein kleiner Gedichtkomplex
Landaufenthalt – das sollten eigentlich ideale Rah- (110 f.). Bezeichnend ist der Schlusseintrag, verfasst
menbedingungen für ungestörtes Schreiben sein. nach der Rückkehr aus Zürau: »Prag/Die Religionen
Aber Kafka stand der Sinn nicht nach Literatur. Am verlieren sich wie die Menschen« (112).
25. September notiert er im Tagebuch: Noch in Zürau fertigt Kafka, beginnend vermut-
Zeitweilige Befriedigung kann ich von Arbeiten wie lich deutlich vor dem 24. Februar, eine Reinschrift
»Landarzt« noch haben, vorausgesetzt daß mir etwas der Aphorismen an. Am 25. Februar notiert er eine
derartiges noch gelingt (sehr unwahrscheinlich) Glück ausführliche Selbstreflexion, die wiederum als Kom-
aber nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unverän- mentar zum Werkprojekt gelesen werden kann:
derliche heben kann (T 838),
Es ist nicht Trägheit, böser Wille, Ungeschicklichkeit
und am 10. November: »Die wartende Arbeit ist un- […] welche mir alles mißlingen oder nicht einmal miß-
geheuerlich« (T 843). lingen lassen: Familienleben, Freundschaft, Ehe, Beruf,
Worum es in dieser Arbeit gehen soll, verdeutlicht Litteratur, sondern es ist der Mangel des Bodens, der
Luft, des Gebotes. Diesen zu schaffen ist meine Aufgabe,
eine Aussage vom 26. Dezember, die Max Brod über- nicht damit ich dann das Versäumte etwa nachholen
liefert hat: kann, sondern damit ich nichts versäumt habe, denn die
Was ich zu tun habe, kann ich nur allein tun. Über die Aufgabe ist so gut wie eine andere. Es ist sogar die ur-
letzten Dinge klar werden. Der Westjude ist darüber sprünglichste Aufgabe oder zumindest ihr Abglanz […].
nicht klar und hat daher kein Recht zu heiraten (Brod Ich habe von den Erfordernissen des Lebens gar nichts
1974, 147). mitgebracht, so viel ich weiß, sondern nur die allgemeine
menschliche Schwäche, mit dieser – in dieser Hinsicht
ist es eine riesenhafte Kraft – habe ich das Negative mei-
282 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

ner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämp- legen. Zusammen mit der intensiven Überarbei-
fen sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, tungs- und Auswahlarbeit macht dies eine mindes-
kräftig aufgenommen, an dem geringen Positiven sowie
an dem äußersten, zum Positiven umkippenden Negati- tens zeitweilige Publikationsabsicht äußerst wahr-
ven hatte ich keinen ererbten Anteil. Ich bin nicht von scheinlich.
der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Chris- Veröffentlicht wurde das Konvolut jedoch erst
tentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und 1931 durch Max Brod im Sammelband Beim Bau der
habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdi-
Chinesischen Mauer, und zwar unter dem Herausge-
schen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten.
Ich bin Ende oder Anfang (NSF II, 97 f.). bertitel <Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung
und den wahren Weg > (einzelne Aphorismen waren
Für die Reinschrift teilt Kafka Briefbögen in vier bereits ab 1924 in Zeitungen und Zeitschriften er-
gleich große Teile. Auf diese Zettel im Format 14,5 × schienen). Die Oktavhefte H und G wurden (mit ei-
11,5 cm schreibt er je einen ausgewählten Aphoris- nigen Kürzungen und Abweichungen) erst 1953 ver-
mus aus dem Textbestand ab (oft nach starker vorhe- öffentlicht (Hzv/GW). Erstdruck und alle Nachdru-
riger Überarbeitung) und nummeriert dabei die Zet- cke der <Betrachtungen> durch Brod folgen dem
tel, gemäß der Entstehungsreihenfolge, mit einer Zettelkonvolut (wobei Kafkas Streichungen nur mar-
Zahl in der rechten oberen Ecke (sogenanntes ›Zet- kiert, nicht aber vollzogen sind), weisen allerdings
telkonvolut‹; NSF II, 113–140). Die Nummerierung eine ganze Reihe kleinerer Abweichungen auf. So
weist allerdings drei Eigentümlichkeiten auf: Zwei stimmen etwa Reihenfolge und Nummerierung in
Nummern fehlen (Nr. 65 u. 89); drei Zettel tragen Einzelfällen nicht mit dem Manuskript überein; vor
eine Doppelnummerierung, weisen jedoch nur ei- allem aber wurde Nr. 8/9 nicht aufgenommen, da
nen Eintrag auf (Nr. 8/9, 11/12, 70/71 – die zweite der Text offensichtlich dem Kafka-Bild nicht ent-
Nummer soll vielleicht Nummerierungslücken auf- sprach, das Brod vermitteln wollte (ä 286 f.).
füllen); ein Zettel wurde auch auf der Rückseite mit
einem Aphorismus beschrieben (Nr. 39 u. 39a). Die Reihe <Er > als zweites Aphorismen-
Mehr als eineinhalb Jahre später greift Kafka das
konvolut?
Projekt noch einmal auf: Im Spätjahr 1920 – wohl
zwischen Oktober und Mitte Dezember 1920 – sieht Die Zürauer Aphorismen sind zwar kein Werk, aber
er das sogenannte ›Konvolut 1920‹ (ä 346) durch, das zweifellos ein Werkprojekt. Dagegen stellt die Text-
zahlreiche Aphorismen enthält, und nimmt acht gruppe, die Max Brod im Sammelband Beim Bau der
Texte daraus in das Zettelkonvolut auf, indem er sie Chinesischen Mauer den <Betrachtungen> unter dem
auf bereits beschriebenen Zetteln hinzufügt und Titel <Er. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920> vor-
vom bestehenden Eintrag durch einen Querstrich anstellte, ein reines Herausgeberkonstrukt dar.
abtrennt (Nr. 26.2 = NSF II, 322; Nr. 29.2 = 344; Nr. Grundlage ist eine Reihe von Texten, die Kafka
39.2 = 322; Nr. 54.2 = 332; Nr. 76.2 = 279; Nr. 99.2 = zwischen dem 6. Januar und 29. Februar 1920 in sei-
253; Nr. 106.2 = 253; Nr. 109.2 = 254). Außerdem nem Tagebuch notierte (Zwölftes Heft; T 847–862;
werden – in dieser oder einer früheren Überarbei- vgl. auch NSF II, 221 f.). Biographischer Hintergrund
tungsphase – im Zettelkonvolut 23 Aphorismen ge- war diesmal das Scheitern des zweiten Heiratspro-
strichen (Nr. 3, 7, 14, 26, 30, 33, 39a, 40, 41, 50, 51, jektes: Trotz des Widerstandes der Eltern hatte Kafka
52, 58, 59, 61, 72, 75, 80, 90, 91, 93, 95, 98; in der KA sich im September 1919 mit Julie Wohryzek verlobt;
sind diese Streichungen durch * am Textende mar- Ende Oktober 1919 wurde das Aufgebot beantragt.
kiert). In der letzten Bearbeitungsstufe stehen auf Als sich jedoch überraschend herausstellte, dass eine
den 104 (geschriebenen?/erhaltenen?) Zetteln des in Aussicht genommene gemeinsame Wohnung
Konvoluts also 113 Aphorismen, von denen 23 ge- nicht mehr zur Verfügung stand, nahm Kafka dies
strichen wurden (zu weiteren Details vgl. NSF II:A, zum Anlass, die Hochzeit abzusagen. Er hielt die Be-
41–53). ziehung allerdings bis in den Juli 1921 hinein auf-
Mit seinen Nummerierungslücken, Ergänzungen recht, obwohl da sein eigentliches Interesse längst
und Streichungen gibt das Zettelkonvolut zahlreiche Milena Jesenská galt (ä 21 f.).
Rätsel auf, die wohl nicht zu lösen sind. Der Sinn der So vergleichbar diese biographische Konstellation
Zettelanlage ist jedoch offensichtlich: So konnte mit der von Zürau ist, so deutlich andersartig sind
Kafka die Einzeltexte, wie ein Kartenspiel, beliebig die aus ihr hervorgegangenen Texte. Auch sie tragen
umsortieren, um eine endgültige Reihenfolge festzu- in ihrer formalen Verdichtung, im reflexiven Grund-
Zürauer Aphorismen 283

gestus, der (meist bildlichen) Verdichtung und der (vgl. etwa T 851 u. 862) und das spannungsvolle Ver-
Ko-textisolierung aphoristischen Charakter (ä 284). hältnis von Gemeinschaft und Einzelnem (vgl. bes.
Aber fast allen fehlt der weltanschauliche Allgemein- T 858 f.).
geltungsanspruch, der die Zürauer Aphorismen aus- Brods Versuch, ein Werkkorpus <Er > zu konstitu-
zeichnet. Trotz aller formalen Verallgemeinerung ieren, ist so sachlich nicht gerechtfertigt; was hier
dient diese Textgruppe primär der biographischen vorliegt, ist einfach eine spezifisch dem Spätwerk zu-
Selbstreflexion. Kafka nutzt hier die in Zürau entwi- gehörige Form des Tagebuchschreibens in aphoristi-
ckelte aphoristische Schreibweise als eine Alterna- scher Form. Aber auch philologisch ist Brods Text-
tive zur Selbstbeobachtung im Tagebuchstil, derer er konstitution schwer nachzuvollziehen: Aus den über
längst müde ist – zögerlich hatte er das Tagebuch- 40 Einzeltexten wählt er für den Erstdruck in Beim
schreiben im Juni 1919 wieder aufgenommen, brach Bau der Chinesischen Mauer (1931) 30 aus und er-
es dann am 29. Februar 1920 wieder ab und übergab gänzt sie erst in der Abteilung Paralipomena des Ge-
um den 8. Oktober 1921 »alle Tagebücher« an Mi- sammelte Werke-Bandes Hochzeitsvorbereitungen auf
lena (T 863). Als ebenso unergiebig hatte sich die dem Lande (1953) um acht nachgetragene Texte (ei-
diskursive, quasi-autobiographische Selbstreflexion ner davon bei Kafka gestrichen) und zwei korrigierte
im <Brief an den Vater > erwiesen, den Kafka im No- bzw. erweiterte Textfassungen des Erstdruckbestan-
vember 1919 verfasst hatte. des. Die ersten vier Einträge (T 847 f.) bleiben ausge-
Die Textgruppe, aus der Brod die ›Reihe‹ <Er > bil- spart.
dete, stellt so eine späte Variante von Kafkas lebens-
langen Selbstreflexionsversuchen dar, in der die Ver-
allgemeinerungstendenzen des späten Werkes (ä 89) Textbeschreibung
als Distanzierungstechniken wie als Reflexionsme-
Textkorpus
dium genutzt werden. Zu diesem Zweck kombiniert
Kafka das in Zürau entwickelte Schreibverfahren des Da kein eindeutig umrissenes Textkorpus vorliegt,
Aphorismus mit der einfachen, sicher vielen Tage- wird jeder Interpret sich erst einmal entscheiden
buchschreibern wohlvertrauten Distanzierungsgeste müssen, von welcher Textgrundlage er ausgeht.
einer Transposition von der ersten in die dritte Per- Denkbar wäre es, alle Aphorismen als eine Werk-
son. Dass eine solche Transponierung vorliegt, wird gruppe zu analysieren, deren Blütezeit bei Kafka ein-
vor allem dort offensichtlich, wo Kafka mitten im deutig zwischen Oktober 1917 und Dezember 1920
Text vom ›ich‹ zum ›er‹ wechselt (vgl. etwa T 855) liegt. Eine solche Untersuchung hat Rüdiger Zymner
oder eine Ich-Eintragung in einen Er-Text um- im Artikel Kleine Formen: Denkbild, Parabel, Apho-
schreibt (vgl. T 846 u. 848). rismus des vorliegendes Bandes unter einer gattungs-
Die wichtigste heuristische Funktion der soge- poetologischen Fragestellung vorgenommen (ä 460–
nannten <Er >-Gruppe besteht also darin, zugleich 462).
die Auswirkungen der aphoristischen Schreibweise Die gegenteilige Extremlösung bestünde darin,
auf andere Werkbereiche wie die unverwechselbare sich auf die 90 nicht gestrichenen Texte des Zettel-
Eigenart der Zürauer Aphorismen (und ihrer punk- konvoluts zu beschränken. Das hieße allerdings, den
tuellen Fortführung im ›Konvolut 1920‹) zu erwei- Werkwillen für die Tat zu nehmen: Weder hat Kafka
sen. Nur ganz wenige Texte aus der <Er >-Reihe lie- eine Reihenfolge der Aphorismen festgelegt, noch ist
ßen sich problemlos in das Zürauer Konvolut ein- seine Textauswahl als endgültig zu erachten; zudem
ordnen, etwa: würde ein Interpret sich durch die Nichtbeachtung
Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch began- von Textstreichungen einer wesentlichen Erkennt-
gen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht nisquelle berauben, da Kafka ja ganz grundsätzlich
und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht ge- häufig gerade die Texte oder Textstellen tilgt, die am
schehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde ehesten einen Verständniszugang eröffnen können.
(T 857).
Daher werden diesem Artikel das Gesamtkorpus
Die überwiegende Mehrheit der Notate aber kreist aus den Oktavheften G und H und das Zettelkonvo-
um Themen, die ganz auf Kafkas Persönlichkeits- lut zugrunde gelegt. Um dem Leser die Erkenntnis
struktur und ihre Probleme zugeschnitten sind: etwa der Korpuszugehörigkeit zu erleichtern, werden
die negativen Konsequenzen übersteigerter Selbstre- Aphorismen des Zettelkonvoluts mit ihrer Nummer
flexion und der mit ihr verbundenen Ich-Spaltung zitiert (unter Verwendung des im Eingangskapitel
284 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

eingeführten erweiterten Notationssystems), Apho- Werk (ä 62 f.). Seinen Einfluss auf die Zürauer Apho-
rismen oder Textvarianten aus den Oktavheften mit rismen hat man aber lange deutlich überschätzt, da
der Seitenzahl aus NSF II. Kafkas intensive Kierkegaard-Lektüre in Zürau et-
was später datiert, als früher angenommen. Erstmals
Aphorismen? Zur Gattungsfrage erwähnt wird sie im Brief an Max Brod vom 23./24.
November 1917 (B14–17, 369), die Hauptlektürezeit
Einer aktuellen, systematisch-deduktiven Definition fällt aber erst in die zweite Februarhälfte 1918. Di-
nach ist der Aphorismus durch die folgende Kombi- rekte Kierkegaard-Bezüge finden sich in den Oktav-
nation von obligatorischen und alternativen Merk- heften nicht vor dem 27. Februar (NSF II, 103–105).
malen bestimmt: An in Zürau gelesenen Texten Kierkegaards nennt
Kafka: Entweder – Oder (An M. Brod, Mitte/Ende
(1) nichtfiktionaler Text in (2) Prosa in einer Serie
gleichartiger Texte, innerhalb dieser Serie aber jeweils Jan. 1918; Briefe 224), Der Augenblick, Furcht und
(3) von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihen- Zittern, Die Wiederholung. Ein Versuch in der experi-
folge ohne Sinnveränderung vertauschbar; zusätzlich mentierenden Psychologie und die Stadien auf dem
(4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderweitig Lebensweg (An M. Brod, Anf. März 1918; Briefe 235;
in konziser Weise formuliert oder auch (4c) sprachlich
pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert (Fricke 1997,
vgl. auch 237–240).
104). Kafka selbst verwendet den Begriff ›Aphorismus‹
nicht; im ›Konvolut 1920‹ bezeichnet er eines seiner
Wie alle systematischen Definitionen ist auch diese aphoristischen Notate als »Spruch« (NSF II, 344),
von nur begrenzter historischer Tragfähigkeit. So was natürlich sowohl auf die Bibel (Buch der Sprü-
haben schon die Frühromantiker in ihren Fragmen- che) wie auf die talmudische und chassidische Tradi-
ten wie auch Nietzsche in seinen philosophischen tion des ›māšāl‹ verweist und damit einen weiteren
Schriften den Aphorismus zu einer besonderen Textraum von Anregungsmöglichkeiten eröffnet.
Denkform zu erweitern gesucht, die sich weder All diese möglichen Bezüge (vgl. Gray 1983 u.
durch ›Kürze‹ noch durch ›sprachliche Pointierung‹ 1987, bes. 172–209; zusammenfassend Alt 2005,
auszeichnet und deren ›sachliche Pointierung‹ vor 462–469) wären aber allenfalls solche zur aphoristi-
allem in der spekulativen bzw. thetischen, argumen- schen Form überhaupt – nur ganz selten auch zu
tativ nicht gedeckten Kühnheit ihrer Gedankenfüh- einzelnen Themen und Motiven –, nicht aber Anre-
rung besteht. Ein zweiter Innovationsschub ergibt gungen für die spezifische Ausprägung, die Kafka
sich in der literarischen Moderne, die ja ganz grund- ihr gegeben hat und die ganz auf seine ureigenen
sätzlich alle etablierten Gattungsgrenzen in Frage Schreibverfahren zurückgeht.
stellt (und so alle strengen Gattungssystematiker in Die Mehrzahl der Zürauer Aphorismen erfüllt die
die Verzweiflung treibt). Diese moderne Form der oben genannten Gattungskriterien jedenfalls durch-
Aphoristik kündigt sich in der spezifisch österreichi- aus. Grenzfälle ergeben sich (a) durch die Einfüh-
schen Blüte des Aphorismus zu Beginn des 20. Jahr- rung eines erzählerisch-fiktionalen Elements (das in
hunderts an und hat im deutschsprachigen Raum in den <Er>-Texten natürlich von vornherein mindes-
Kafka, in Frankreich in den Surrealisten ihre wich- tens latent vorhanden ist und dort mitunter so stark
tigsten Vertreter (vgl. Gray 1983 u. 1987; Spicker ausgestaltet wird, dass sich auch ein weit gefasster
2004). Gattungsbegriff von ›Aphorismus‹ nicht mehr an-
Insofern darf es nicht verwundern, dass die Suche wenden lässt), und (b) durch die Intensität bildli-
nach spezifischen Quellen und Anregern auch im chen Sprechens, die bis zum reinen Bildaphorismus
Falle des Aphorismus bei Kafka wenig Erkenntnis- führen kann. Das aber sind eben Spezifika von Kaf-
gewinn verspricht. Man hat auf Blaise Pascal verwie- kas aphoristischer Schreibweise, die sowohl die pro-
sen, dessen Pensées (1669) Kafka im August 1917 ge- blemlose Eingemeindung des Aphorismus in sein
lesen hatte (T 816, vgl. auch 622), sowie auf die zeit- Schreibrepertoire wie auch die prägende Wirkung
näheren Aphorismen von Schopenhauer, Nietzsche des Aphorismus auf das späte Werk ermöglichen:
und Karl Kraus. Und natürlich wurde Sören Kier- Kafkas Aphorismen haben ein offenes Grenzfeld zu
kegaard genannt – etwa die aphoristischen Diapsal- seinem parabolischen Schreiben und entsprechen
mata im ersten Teil von Entweder – Oder (1843). seiner Priorisierung des bildlichen über den begriff-
Nun ist Kierkegaard sicher ein wichtiger philosophi- lichen Ausdruck; umgekehrt verstärkt die Aneig-
scher Bezugspunkt für Kafka, vor allem im späten nung der aphoristischen Schreibweise die Abstrak-
Zürauer Aphorismen 285

tions- und Reflexionstendenz im späten Werk. Was rung oder Zurücknahme lassen sich am Vergleich
den Aphorismus aber vor allem zur für Kafka gera- zweier Beispieltexte studieren.
dezu kongenialen Form macht, ist, dass er eine opti- Das Wort »sein« bedeutet im Deutschen beides: Dasein
male Verbindung zwischen (dem inspirationsorien- und Ihm-gehören (Nr. 46).
tierten Schreiben Kafkas gemäßer) Kürze einerseits
und (seinem Werkstreben gemäßer) formaler Ge- Hier handelt es sich um einen relativ konventionel-
schlossenheit (›closure‹) andererseits ermöglicht. len Aphorismus, der eine originelle Beobachtung
Zudem erlaubt der Aphorismus eine Erweiterung präsentiert und ihre ›Nutzanwendung‹ dem Leser
der geschlossenen Kurz-›Werke‹ zur Großform überlässt. Der folgende, durchaus motivverwandte
durch Reihenbildung. Aphorismus fällt dagegen wesentlich komplexer aus:
Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem
Schreibweisen und Leseprobleme Atem, nach Ersticken verlangendes Sein (Nr. 35).

Selbst wenn man über die Gattungszugehörigkeit Mehrfach sieht sich hier der Leser gezwungen,
von Einzeltexten streiten mag – insgesamt bilden die seine Denkrichtung in Frage zu stellen oder gar zu
Zürauer Notate ein Textfeld, in dem der Aphorismus wechseln: Problematisch ist schon das Wertverhält-
eindeutig die dominante produktions- und rezepti- nis von ›Haben‹ und ›Sein‹. Der Textanfang scheint
onsbestimmende Form ist. das Haben zu priorisieren (»nur«) – das aber wi-
Die erste und elementare Schwierigkeit einer derspricht sowohl unserem Vorwissen über das
Aphorismenreihe liegt für den Leser immer darin, Wertverständnis von ›Weisheitstexten‹ wie auch
sich die impliziten Zusammenhänge zwischen den dem übernächsten Aphorismus: »Seine Antwort
Einzeltexten explizit zu machen. Im berühmten auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber
Athenäum-Fragment Nr. 53 schrieb Friedrich Schle- nicht, war nur Zittern und Herzklopfen« (Nr. 37).
gel: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu Wer so, trotz der Eingangsformulierung, ›Sein‹ für
haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl wertvoller als ›Haben‹ hält, wird allerdings vom
entschließen müssen, beides zu verbinden«. Die weiteren Textgang wieder verunsichert. Dass man
Aphorismenreihe ist eine solche Verbindung, die ›nach Atem verlangt‹, ist uns vertraut – so vertraut,
den Leser dazu provoziert, den vielfältigen, aber nie dass wir das ungewöhnliche Adjektiv ›letztem‹
explizierten Bezügen zwischen den Einzeltexten überlesen mögen. Der Schlussteil des Satzes, der
nachzuspüren. Inwieweit sich aus Kafkas Zürauer ›letzter Atem‹ durch ›Ersticken‹ ersetzt, unter-
Aphorismen aber wenigstens Ansätze eines weltan- streicht das Adjektiv aber unübersehbar deutlich,
schaulichen ›Systems‹ rekonstruieren lassen, ist in ohne doch den Widerspruch von ›Atem‹ und ›Er-
der Forschung heftig umstritten geblieben. sticken‹ einfach aufzuheben. Das lässt den Leser
Die Rekonstruktion eines solchen ›Systems‹ wird mit der paradox anmutenden Vorstellung eines
natürlich noch dadurch erschwert, dass schon die ›Seins‹ zurück, das nach Ersticken, also nach Tod
Einzeltexte dem Verständnis oft größten Widerstand verlangt. Ein solches ›Sein‹ ist allerdings durchaus
entgegensetzen. Diese Widerständigkeit gegen be- denkbar – zumindest wenn man alle gewohnten
griffliche Vereindeutigung charakterisiert wiederum Vorstellungen vom vitalen Selbsterhaltungstrieb
schon den Aphorismus als Gattung; in Kafkas Hand- aufgibt und andere Aphorismen zu ›Tod‹ und ›Ster-
habung der Form werden diese Verstehensprobleme ben‹ einbezieht (z. B. Nr. 13, 27, 88).
aber noch deutlich vergrößert. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zwi-
In räsonierenden Aphorismen bewirkt dies vor al- schen den Aufhebungs-/Verschiebungs-Strukturen
lem eine für Kafkas reifes Werk charakteristische in den Zürauer Aphorismen und denen in fiktiona-
Schreibweise, die Gerhard Neumann auf den Begriff len, personal erzählten Texten Kafkas: Wenn dort
des ›gleitenden Paradoxons‹ gebracht hat: »es han- gewohntes/logisches Denken frustriert wird, blei-
delt sich […] um Abweichungen vom Normalver- ben der veränderungsunfähige Held und der Leser
ständnis, von der normalen Denk- und Bilderwar- gleichermaßen ratlos zurück. In den Aphorismen
tung, vom normalen logischen Ablauf; es erfolgen dagegen ist der Leser frei, dem Textappell zum Ver-
Schwenkungen, aber diese verklammern sich nie zu lassen aller konventionellen Denkbahnen zu fol-
krassem Widerspruch« (Neumann, 468). Diese Ver- gen, ohne dabei in unendlichen Rekursschleifen zu
fahren der Entstellung und/oder partiellen Umkeh- landen.
286 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Wesentlich schwieriger als die räsonierenden vom unmittelbaren Schreibkontext und von weite-
Texte sind so die, die Vergleiche und Metaphern ein- ren motiv-, themen- und situationsverwandten Pas-
schließen, wie etwa: sagen) aus anderen Aphorismen hypothetisch kon-
Je mehr Pferde Du anspannst, desto rascher gehts – näm- struieren müssen. Was der Text selbst dabei vorgibt,
lich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, ist die Hoffnungslosigkeit der in ihm entworfenen
was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und Handlung: Dass ein starrer Käfig je einen höchst be-
damit die leere fröhliche Fahrt (Nr. 45). weglichen Vogel wird fangen können, ist äußerst un-
wahrscheinlich.
Die Eingangsbehauptung ist leicht nachvollziehbar: Soweit eine kleine Skizze der Verstehensprobleme
Je mehr Pferde man vor eine Kutsche spannt, desto (ausführlichere Darstellungen bei: Gray 1987, 233–
schneller wird die Fahrt sein. Dann aber findet auch 263; Neumann; Sandbank). Einige Sonderformen
hier eine Umlenkung statt, nur diesmal eben inner- aphoristischen Schreibens bei Kafka seien abschlie-
halb der Bildvorstellung: Die Pferde sind nicht vor ßend wenigstens erwähnt:
eine Kutsche gespannt, sondern sollen einen Stein- (1) auf die Möglichkeit zur erzählerischen Aus-
block bewegen, der allerdings, verwirrenderweise, weitung wurde bereits hingewiesen – damit wird die
ein Fundamentstein ist – und daher eigentlich besser Grenze zur Parabel überschritten (z. B. Nr. 47);
nicht entfernt werden sollte. Diese Entfernung ist (2) eine zweite Ausweitungsmöglichkeit ist die
aber ohnehin unmöglich – wozu also der Versuch? zum (›philosophischen‹) Dialog wie etwa in Nr. 109;
Dann werden beide Bildvorstellungen zusammenge- (3) weitere Sonderfälle sind ›Du‹-Aphorismen
nommen: Es kommt nun also doch zur Fahrt, die (z. B. »Lächerlich hast Du Dich aufgeschirrt für diese
dann als »leer« (denn es wird nichts bewegt oder Welt«, Nr. 44), Er-Aphorismen (z. B. Nr. 66, 67) und
transportiert), aber auch als »fröhlich« bezeichnet eine spezielle Variante davon, in deren Mittelpunkt
wird. Zu diesen Verständnisproblemen der Umkeh- ein anonymer »A.« steht (z. B. »A. ist ein Virtuose
rungen/Verschiebungen kommen hier jedoch die und der Himmel ist sein Zeuge«, Nr. 49). Wie bei
noch weit grundlegenderen der Bildauflösung hinzu: den <Er >-Texten gibt es auch hier Indizien, dass es
Denn wofür stehen ›Fundament‹, ›Block‹ und die sich dabei um Transpositionen aus der ersten Person
›leere fröhliche Fahrt‹? Immerhin aber gibt es im handeln könnte (vgl. etwa NSF II:A, 239); Max Brod
Text noch Rudimentelemente gleichnishafter Rede, hatte dagegen an einigen Stellen – einen Bezug zu
die einem Deutungsversuch zumindest Anhalts- Kierkegaards Furcht und Zittern unterstellend – »A«
punkte geben können: ›Fundament‹ etwa ist ja auch zu »Abraham« aufgelöst (vgl. NSF II, 104 u. Hzv/
eine gängige lexikalisierte Metapher für das Grün- GW 125).
dende schlechthin, für das, was uns im Boden (der
›sinnlichen Welt‹? ä 288 f.) verankert. Die Schwierigkeiten, die die Zürauer Aphorismen
Solche Richtungsweisungen gleichnishaften Spre- dem Verständnis des Lesers entgegensetzen, sind of-
chens sind in den Zürauer Aphorismen nicht selten fensichtlich. Die zentrale Interpretationsfrage be-
(vgl. etwa Nr. 38, wo eine Wegmetapher mit der alle- steht jedoch darin, ob sich aus der Textreihe so etwas
gorisierenden Auflösung »Weg der Ewigkeit« verbun- wie ein weltanschauliches System erschließen lässt
den ist). Es gibt jedoch auch Texte, wo die Bildhälfte und, falls ja, wie es um einen möglichen religiösen
zur ›absoluten Metapher‹ verselbständigt wurde: Gehalt der Aphorismen steht.
Ein Käfig ging einen Vogel suchen (Nr. 16).

Eine Verschiebung liegt hier nicht vor: Jeder nach Forschung


Erfüllung seines Existenzsinnes strebende vogellose
Vogelkäfig würde einen Vogel suchen gehen – wenn Bei kaum einem Kafka-Text hat Max Brod die For-
er es nur könnte (und wollen könnte). Dass er es bei schung so nachhaltig geprägt, wie bei den Zürauer
Kafka kann, ist zunächst einmal nichts anderes als Aphorismen – allerdings weniger in der Nachfolge,
eine gängige Lizenz poetischer Rede (Anthropomor- sondern vielmehr im Widerstand gegen seine The-
phisierung), die (ebenfalls gängigerweise) als Unei- sen.
gentlichkeitssignal fungiert. Für die Auflösung der Für Brod stehen die <Betrachtungen> im Mittel-
Bildebene aber gibt der Aphorismus keinerlei Hin- punkt seiner Kafka-Deutung (vgl. bes. Brod 1974,
weise mehr – der Leser wird sie sich also (ausgehend 150–155, 214 f., 235–241, 303–323):
Zürauer Aphorismen 287

In den Erzählungen zeigt Kafka, wie der Mensch ver- raus werden auch heute noch gerne zur Untermaue-
wirrt wird und seinen Weg verfehlt, in den Aphorismen
wird dieser Weg selbst gezeigt und Entwirrung kündigt
rung von Deutungsthesen zitiert – und da viele der
sich an. Selbstverständlich soll und kann man diese bei- Aphorismen äußerst hermetisch sind, lässt sich mit
den Weltsichten bei Kafka nicht mechanisch sondern. ihnen vieles belegen. Die Sammlung als Ganzes ist
Auch in den Aphorismen steht viel, wobei einem vor jedoch zunehmend aus dem Blickpunkt der Kafka-
Weh und Ratlosigkeit der Atem stehen bleibt […] hat Forschung geraten – wie ein Blick auf aktuelle Publi-
man aber dies gesagt […], so bleibt es einem letzten En-
des doch nicht benommen, im ›Kafka der Aphorismen‹ kationen zeigt: Alt widmet ihr nur sieben Seiten von
stärker seine lehrende, helfende Qualität hervorleuchten fast 800 (Alt 2005), und bei Oliver Jahraus (2006)
[…] zu sehen (Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. und im Kafka-Handbuch von Jagow/Jahraus (2008)
Nachwort zur 3. Aufl. In: Brod 1974, 214). kommt sie gar nicht mehr vor. Mit neueren For-
schungstendenzen sind diese Texte also anscheinend
Die Zürauer Aphorismen sind so Brods wichtigster besonders inkompatibel.
Beleg dafür, dass Kafka »kein Dichter des Unglau-
bens und der Verzweiflung«, sondern einer »der
Prüfung des Glaubens, der Prüfung im Glauben« sei Deutungsaspekte
und dass sich aus seinem Werk »ein ganzes Kafka-
Die Zürauer Aphorismen als Krypto-
Brevier des positiven Lebens, ein Trostbüchlein, ein
Kompendium der rechten Weisung« zusammenstel- theologie?
len ließe (Max Brod: Verzweiflung und Erlösung im Die Frage zwingt dazu, sie sogleich mit ›Nein‹ zu be-
Werk Franz Kafkas. In: Brod 1974, 303 u. 307 f.). antworten: Natürlich geht es in den Zürauer Apho-
Dass Brod Kafka als »Erneuerer der altjüdischen rismen nicht um eine Theologie, ein Glaubensbe-
Religiosität« (Brod 1974, 279) gesehen haben wollte, kenntnis oder gar eine ›Wegweisung‹ im Sinne von
hat Interpretationen, die das Religions-Thema bei Max Brod. Aber es geht – und darauf ist gerade ge-
Kafka ernst zu nehmen suchen, nachhaltig diskredi- genüber der neueren Kafka-Forschung energisch zu
tiert. Auch Brods Deutung der Zürauer Aphorismen insistieren – in der Tat um »letzte Fragen«, um »Bo-
fand kaum Nachfolger – am ehesten (und mit deutli- den« und »Gebot«, um Religion in einem funda-
chen Nuancierungen) etwa bei Herbert Tauber mentalen und dezidiert modernen, wenn man so
(1941), Werner Hofmann (1975, 1979 u. 1984), will: post-Nietzscheanischen Sinne. Die Aphorismen
Christa Deinert-Trotta (1975), Helen Milfull (1982), sind eine weltanschauliche Grundsatzreflexion Kaf-
Konrad Dietzfelbinger (1987) – und, wesentlich dif- kas im Medium der Literatur – und wer sie ernst
ferenzierter, bei Ritchie Robertson (1983, 1988, 1998 nimmt, wird dies nicht ohne Folgen für seine Lek-
u. 2002a). türe des Kafkaschen Werkes (mindestens in seiner
Zunehmend dominant waren aber eher die Ge- späten Phase) tun können. Das mag dann zwar zum
genreaktionen, die, grob gesprochen, in drei Grup- Scheitern aktualisierender Aneignungsversuche füh-
pen zerfallen: ren – aber was für ein Sinn läge in der Beschäftigung
(1) Wenn der religiös-weltanschauliche Gehalt mit historischen Gegenständen (wozu literarische
von Kafkas Zürauer Aphorismen überhaupt ernst Werke vom Anfang des 20. Jahrhunderts für uns
genommen wurde, so betonte man vor allem dessen zweifellos gehören), wenn sie uns nur das sagen wür-
negative Ausrichtung – so etwa Hans-Günther Pott den, was wir ohnehin schon wissen.
(1958), Wiebrecht Ries (1977) oder auch Sabina Im Folgenden soll versucht werden, anhand eini-
Kienlechner in ihrem (höchst lesenswerten) Deu- ger zentraler Themen Grundzüge einer Interpreta-
tungsversuch (Kienlechner 1981). tion zu skizzieren, die sich auf den weltanschauli-
(2) Eine Reihe von Forschern konzentrierte sich, chen Gehalt der Texte einlässt, aber zugleich der
unter Aussparung von Gehaltsinterpretationen, be- Komplexität von Kafkas Denken und Schreiben ge-
vorzugt auf die formale Seite der Texte und ihren Be- recht zu werden sucht. (Eine umfassendere mono-
zug zur aphoristischen Tradition; beides kann daher graphische Deutung des Textkorpus wäre ein drin-
heute als gut erforscht gelten (vgl. etwa Neumann gendes Desiderat der Kafka-Forschung.)
1968; Sandbank 1970; Gray 1987; Spicker 2004).
(3) Die radikalste Form der Abwendung von Brods
Interpretation besteht jedoch in der völligen Igno-
rierung der Zürauer Aphorismen. Einzelne Texte da-
288 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Zentrale Themen und Motive kann auch ein nicht bewusst gemachtes sein – man
könnte sich etwa vorstellen: ein einfach nur gelebtes.
Am Anfang der Niederschrift (NSF II, 29–32) und Schließlich ist das ›Unzerstörbare‹ im Menschen an-
kurz vor ihrem Ende (97 f.) finden sich Notate, die gesiedelt (so hat Kafka gegenüber der Erstnieder-
sich metareflexiv lesen lassen. Die Schlussreflexion schrift klargestellt, vgl. NSF II, 58) – es als ›Gott‹ zu
wurde oben bereits zitiert (ä 281 f.); ebenso wichtig personifizieren erfüllt zwar ebenfalls seinen prakti-
sind aber die Anfangspassagen. Kafka scheint sich schen, lebensermöglichenden Zweck, ist aber als
hier geradezu zu ermutigen, sich einer reflexiven theoretische Erkenntnis falsch, da es das Unzerstör-
Sprache und einer allgemeinen weltanschaulichen bare im Menschen verbirgt. Von ›Gott‹ zu reden,
Terminologie zu bedienen, die ihm beide bisher wäre sozusagen die exoterische Variante des Ge-
fremd waren: Im »geistigen Kampf« – den er, »ange- meinten – wie sie Kafka selbst praktiziert hat, als er
griffen von der letzten Frage«, nun offensichtlich in einem brieflichen Selbstzitat »das Unzerstörbare«
führen will – sind »Eigenes und Fremdes« nicht zu durch »das entscheidend Göttliche« ersetzte (An
trennen, muss man allgemeine und damit »fremde« Max Brod, 7.8.1920; Briefe 279 f.).
Waffen benutzen. Auch »ist keine Angst vor dem Schon diese ansatzweise Ausdeutung eines einzi-
eindeutig Metodischen nötig. Es ist Hülse, aber nicht gen (nicht übermäßig schwer verständlichen) Apho-
mehr« (NSF II, 29; vgl. auch Aphorismus Nr. 1, der rismus macht deutlich, dass Kafkas Position mit eta-
in direktem Zusammenhang mit diesen Überlegun- blierten Religionskonzepten wenig zu tun hat. Ihm
gen stehen dürfte). scheint es um eine extrem reduzierte, aller dogmati-
Das ist ein wichtiger Hinweis für das Verständnis schen Gehalte entkleidete Religion als ›re-ligio‹ zu
der Zürauer Aphorismen. Sie bedienen sich häufig gehen, als Rückbindung an ein nicht näher spezifi-
einer eingespielten (›fremden‹) weltanschaulichen ziertes trans-empirisches Prinzip. Kafka hat den
Terminologie, verwenden diese aber sozusagen nur Aphorismus Nr. 50 – seiner Deutlichkeit wegen? –
›gleichnishaft‹, als nötiges, aber letztlich unzurei- im Zettelkonvolut gestrichen, die folgenden zwei
chendes Mittel. Aphorismen aber beibehalten, die Bedeutung und
Funktion des ›Unzerstörbaren‹ weiter ausführen:
Das ›Unzerstörbare‹ Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglich-
keit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Ver- ihm streben (Nr. 69).
trauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl Das Unzerstörbare ist eines; jeder einzelne Mensch
das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die
verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglich- beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen (Nr.
keiten dieses Verborgen-Bleibens ist der Glaube an ei- 70/71).
nen persönlichen Gott (Nr. 50).
Zu ergänzen wäre der nicht ins Zettelkonvolut auf-
Liest man den Aphorismus zum ersten Mal, so genommene Aphorismus:
scheint es naheliegend, das ›Unzerstörbare‹ mit dem Glauben heißt: das Unzerstörbare in sich befreien oder
uns vertrauten jüdisch-christlichen Konzept der von richtiger: sich befreien oder richtiger: unzerstörbar sein
Gott verliehenen Seele gleichzusetzen. Solchen Ver- oder richtiger: sein (NSF II, 55).
suchungen aber sollte der Leser der Zürauer Apho-
rismen konsequent widerstehen. Das »Unzerstör-
›Sinnliche‹ und ›geistige Welt‹
bare« ist – zunächst einmal – das ›Unzerstörbare‹,
und alles, was sich darüber sagen lässt, muss auf Kaf- Eine ganze Reihe der Zürauer Aphorismen erörtert
kas Texten beruhen und nicht auf unserem Vorwis- den Unterschied zwischen der ›sinnlichen‹ und der
sen. ›geistigen Welt‹. Wiederum liegt es nahe, an traditio-
›Unzerstörbar‹ im Menschen kann nur etwas sein, nelle Dualismus-Konzepte zu denken: wie etwa
was von seiner empirisch-physischen Existenz ge- Diesseits/Jenseits, Körper/Geist oder Erscheinung/
schieden ist (denn die ist bekanntermaßen zerstör- Idee. Sammelt man die Prädikationen und Syno-
bar). Dass es ein solches ›Unzerstörbares‹ gibt, wird nyme, die Kafka für die beiden Bereiche verwendet,
nicht gesagt, nur dass dem Menschen ein Vertrauen so wird dieser Traditionsbezug zunächst eher noch
dazu lebens-notwendig sei, weil er eines solchen Be- verstärkt: Die ›sinnliche Welt‹ wird auch die »kör-
zugspunktes offensichtlich bedarf. Dieses Vertrauen perliche«, »irdische« (NSF II, 31), »sichtbare« (Nr.
Zürauer Aphorismen 289

86) genannt, die geistige auch die »himmlische« Da die ontologische Differenz in Wirklichkeit eine
(NSF II, 32) und »ein höheres Leben« (Nr. 96); ein- epistemologische ist, wurzelt die Dualität von ›geisti-
mal ist gar direkt vom Gegensatz »Diesseits« – »Jen- ger‹ und ›sinnlicher Welt‹ in einer entsprechenden
seits« die Rede (NSF II, 62). Dualität des Subjekts:
Kafka dekonstruiert die konventionelle Semantik Es gibt im gleichen Menschen Erkenntnisse, die bei völ-
der gewohnten Begriffe jedoch geradezu systema- liger Verschiedenheit doch das gleiche Objekt haben, so-
tisch. So heißt es etwa: »Dem Diesseits kann nicht daß wieder nur auf verschiedene Subjekte im gleichen
ein Jenseits folgen, denn das Jenseits ist ewig, kann Menschen rückgeschlossen werden muß (Nr. 72; vgl.
auch Nr. 81).
also mit dem Diesseits nicht in zeitlicher Beziehung
stehn« (62), und, noch erhellender, in einer gestri- Um ganz in der ›geistigen Welt‹ zu leben, wäre daher
chenen Vorfassung dazu: »Jedem Augenblick ent- eine geradezu unvorstellbar radikale Veränderung
spricht auch etwas Ausserzeitliches« (NSF II:A, des Ich nötig:
214). Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt du die
Genauso wenig wie eine zeitliche lässt Kafka eine Schuhe ausziehn, aber nicht nur die Schuhe, sondern al-
räumliche/ontologische Differenz zu: les, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit,
und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich
Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir unter diesem verbirgt, und dann den Kern und den Kern
sinnliche Welt nennen ist das Böse in der geistigen und des Kerns, dann das Übrige und dann den Rest und dann
was wir böse nennen ist nur eine Notwendigkeit eines noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das
Augenblicks unserer ewigen Entwicklung (Nr. 54; vgl. Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und
auch Nr. 62) läßt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann
Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist Schein, son- dem widerstehen (NSF II, 77).
dern ihr Böses, das allerdings für unsere Augen die sinn-
liche Welt bildet (aus Nr. 85). Das radikalste Bild für eine solche Veränderung ist
in den Zürauer Aphorismen der Tod:
Die in traditionellen Dualismus-Konstruktionen on-
Niemand kann sich mit der Erkenntnis [des Guten und
tologisch streng getrennten Welten fallen bei Kafka Bösen] allein begnügen, sondern muß sich bestreben,
also in einem Seinsbereich zusammen; ontologisch ihr gemäß zu handeln. Dazu aber ist ihm die Kraft nicht
gesehen, gibt es keinen Unterschied zwischen ›sinn- mitgegeben, er muß daher sich zerstören, selbst auf die
licher‹ und ›geistiger‹ Welt. Daher ist es »möglich, Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu
erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig als die-
daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben ser letzte Versuch (aus Nr. 86).
könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind,
gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht« (Nr. Gemeint ist damit allerdings nicht einfach der physi-
64). sche Tod (»Unsere Rettung ist der Tod, aber nicht
Getrennt sind die Welten also nur durch die je ver- dieser«; NSF II, 101), sondern eine radikale Umge-
schiedene epistemologische (und handlungsprakti- staltung des Subjekts.
sche) Disposition des Menschen. Von den Grenzen Eine mildere Variante der Ich-Veränderung läge
der Erkenntnis – und auch damit von denen der bereits im Bewusstsein, nicht in seiner physisch-em-
Sprache (vgl. Nr. 57) – ist in den Zürauer Aphoris- pirischen Existenz aufzugehen: »Dieses Gefühl: ›hier
men häufig die Rede; man vergleiche etwa: ankere ich nicht‹ und gleich die wogende tragende
Flut um sich fühlen« (Nr. 76).
Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erken-
nen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein (Nr. 80).
Der Sündenfall
Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist allerdings
dennoch nicht nur unhintergehbar, sondern auch Wie bereits gezeigt, verwendet Kafka in den Zürauer
notwendig, sie »ist gleichzeitig beides: Stufe zum ewi- Aphorismen häufig vertraute weltanschauliche
gen Leben und Hindernis vor ihm« (NSF II, 78; vgl. Grundfiguren, gibt ihnen aber einen ganz eigenen
auch 42). Es muss nur eben eine Erkenntnis sein, die Sinn. Das gilt auch für seinen Umgang mit Mytholo-
nicht im rein rationalen Erklären des Empirischen gemen, die zumeist dem jüdisch-christlichen, mit-
verbleibt; Musterbeispiel für eine solche falsche, da unter auch dem griechischen (NSF II, 33 f., 80) Be-
wahrheitsblinde Erkenntnis ist in den Zürauer Apho- reich entstammen. Dieser kontrafaktische Umgang
rismen die Psychologie (vgl. Nr. 93 u. NSF II, 31 f., 61, mit Mythen prägt auch die eingelagerten Erzähltexte
100) als bloßer »Anthropomorphismus« (32). <Die Wahrheit über Sancho Pansa> (38), <Das
290 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Schweigen der Sirenen> (40–42) und <Prometheus> ben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, un-
(69 f.). Im letztgenannten Text wird er direkt thema- abhängig von Schuld (Nr. 83).
tisiert: »Die Sage versucht das Unerklärliche zu er- Vom ›Baum des [wahren] Lebens‹ essen heißt, die
klären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, zweite, transempirische Dimension unserer Existenz
muß sie wieder im Unerklärlichen enden« (69). wahr- und anzunehmen:
Das wichtigste dieser Mythologeme ist in den Es gibt für uns zweierlei Wahrheit, so wie sie dargestellt
Zürauer Aphorismen das des Sündenfalls (als dessen wird durch den Baum der Erkenntnis und den Baum des
griechisches Pendant der Prometheus-Mythos ja an- Lebens. Die Wahrheit des Tätigen und die Wahrheit des
gesehen werden könnte). Schon im Juni 1916 hatte Ruhenden, in der ersten teilt sich das Gute vom Bösen,
die zweite ist nichts anderes als das Gute selbst, sie weiß
sich Kafka bei seiner Lektüre des Alten Testament
weder vom Guten noch vom Bösen. Die erste Wahrheit
fast ausschließlich für den Sündenfall-Bericht inter- ist uns wirklich gegeben, die zweite ahnungsweise (NSF
essiert (T 789 f.; vgl. auch T 753 u. 796) und notiert: II, 83 f.).
»Nur das alte Testament sieht – nichts darüber noch
sagen« (6.7.1916; T 792). Die Zürauer Aphorismen Die Kunst
können als Einlösung dieser aufgeschobenen Nie-
derschrift gelesen werden. Von Kunst/Literatur ist in den Zürauer Aphorismen
Im biblischen Kontext ist der Sündenfall ein ätio- nur selten die Rede. Der bekannteste und meistzi-
logischer Mythos, der die sündig-erlösungsbedürf- tierte Aphorismus scheint sie auf eine Ästhetik der
tige Existenz des Menschen auf Erden erklärt. Auch Negativität festzulegen:
Kafka setzt ihn ätiologisch ein, dementiert aber zu-
Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein:
gleich die Vorzeitigkeit des Ereignisses: »Die Vertrei- Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist
bung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig« wahr, sonst nichts (Nr. 63).
(aus Nr. 64) – also ein außerzeitliches Geschehen.
Das ist aber nicht die einzige Abweichung vom Um einige Nuancen stärker und positiver liest sich
jüdisch-christlichen Sinnhorizont. Kafka konzen- die folgende Passage:
triert sich fast ausschließlich auf den Gegensatz
Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschie-
zwischen dem ›Baum der Erkenntnis‹ und dem des denen Absicht sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit
›Lebens‹. Dieser ist in der Bibel nur von unterge- besteht darin in der dunklen Leere einen Ort zu finden,
ordneter Bedeutung und dient dort hauptsächlich wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erken-
dazu, die Vertreibung aus dem Paradies zu begrün- nen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann
(NSF II, 75 f.).
den: »Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch
ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Das spricht der Kunst immerhin eine Aufgabe zu,
Dass er jetzt nicht [auch noch] die Hand ausstreckt, die allerdings auch verfehlt werden kann:
auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und Selbstvergessenheit und Selbstaufhebung der Kunst: Was
ewig lebt! […] Er vertrieb den Menschen und stellte Flucht ist, wird vorgeblich Spaziergang oder gar Angriff
östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und (NSF II, 64).
das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg Trotzdem sind Kunst/Literatur in den Zürauer
zum Baum des Lebens bewachten« (Gen. 3,22 u. Aphorismen offensichtlich marginalisiert (vgl. noch:
24). An diese Begründung knüpft Kafka unmittel- NSF II, 75). Nun gibt es bei Kafka immer ein Schwan-
bar an: ken zwischen Kunstkritik und Kunstmetaphysik; in-
Warum klagen wir wegen des Sündenfalls? Nicht seinet- sofern wird man sich hüten müssen, eine Seite dieser
wegen sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden, geradezu komplementären Positionen zur definiti-
sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht ven Aussage Kafkas zu verabsolutieren. Im ›Konvo-
von ihm essen (Nr. 82). lut 1920‹, also in einer Zeit, in der sich Kafka wieder
Was aber im jüdisch-christlichen Kontext als Tat der Literatur zugewandt hatte, findet sich dann auch
menschlicher Hybris (die ja schon dem Sündenfall die gegenteilige Position: »Schreiben als Form des
zugrunde lag) verhindert werden sollte, wird für Gebetes« (NSF II, 354).
Kafka zur existenziellen Aufgabe:
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum
der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb,
weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen ha-
Zürauer Aphorismen 291

Zusammenfassung bares Kleid u. s. f. gereicht. Das ist jedes Menschen


Rechtfertigung. Es hat den Anschein als unterbaue er
seine Existenz mit nachträglichen Rechtfertigungen, das
Mit dieser kurzen Skizze sind die Themen der ist aber nur psychologische Spiegelschrift, tatsächlich er-
Zürauer Aphorismen natürlich bei weitem nicht er- richtet er sein Leben auf seinen Rechtfertigungen. Aller-
schöpft. Deutlich geworden sein sollte aber eine dings muß jeder Mensch sein Leben rechtfertigen kön-
grundlegende Denkfigur: Kafka postuliert eine nen (oder seinen Tod, was dasselbe ist), dieser Aufgabe
kann er nicht ausweichen (NSF II, 99).
zweite, transempirische Seite des Menschen als ver-
pflichtenden Grund seiner Existenz – was die empi- Die Sozialutopie Die besitzlose Arbeiterschaft (NSF
rische Welt und alle mit ihr zusammenhängenden II, 105–107) kann durchaus als ein – wiederum sehr
lebenspraktischen Erwägungen zu einem sekun- radikaler – Entwurf für ein ›gerechtfertigtes‹ Leben
dären Gut macht, genauer: zu einem Gut, das nur gelesen werden. Dies ist aber sicher nicht die einzig
durch Verbindung mit seinem Gegenbereich Sinn mögliche Antwort. Kafka hat in seinen Reflexionen
und Wert gewinnt. Wie Kafka knapp und bündig und in seinem Schreiben viele Lösungsversuche er-
formuliert: probt; besonders im späten Werk ist die Frage nach
›Rechtfertigung‹ das Grundthema überhaupt.
Du leugnest in gewissem Sinn das Vorhandensein dieser
Welt (NSF II, 90). Deutlich sollte auch Kafkas Distanz von jeder or-
thodoxen Religion geworden sein. Dies verbindet
Was sind nun die praktischen Konsequenzen dieser ihn mit zahlreichen anderen Autoren der literari-
Weltsicht? Die erste ist ein sehr radikaler ethischer schen Moderne ebenso wie die Bemühung, so etwas
Rigorismus, der ja in der Tat zu den wichtigsten Ei- wie eine Basis-Religiosität neu zu begründen, die
genheiten von Kafkas Werk gehört: dem Machtwillen des Subjekts eine Grenze setzt. Da-
rin können Kafka und seine Zeitgenossen als Erneu-
Es war einmal eine Gemeinschaft von Schurken, d. h. es
waren keine Schurken, sondern gewöhnliche Menschen, erer des ähnlich unorthodoxen Religionskonzeptes
der Durchschnitt. Sie hielten immer zusammen. Wenn der Frühromantik (etwa bei Novalis, F. Schlegel und
z. B. einer von ihnen etwas schurkenmäßiges ausgeübt auch Hölderlin) verstanden werden. Die konkrete
hatte, d. h. wieder nichts schurkenmäßiges, sondern so Ausgestaltung dieser Basisreligion bleibt der Freiheit
wie es gewöhnlich, wie es üblich ist, und er dann vor der
Gemeinschaft beichtete, untersuchten sie es, beurteilten
des Individuums überlassen, die so auch keinesfalls
es, legten Bußen auf, verziehen udgl. Es war nicht historisch hintergangen werden soll:
schlecht gemeint, die Interessen der einzelnen und der Der Messias wird kommen, bis der zügelloseste Indivi-
Gemeinschaft wurden streng gewahrt und dem Beich- dualismus des Glaubens möglich ist, niemand diese
tenden wurde das Komplement gereicht, dessen Grund- Möglichkeit vernichtet, niemand die Vernichtung dul-
farbe er gezeigt hatte. So hielten sie immer zusammen, det, also die Gräber sich öffnen. Das ist vielleicht auch
auch nach ihrem Tode gaben sie die Gemeinschaft nicht die christliche Lehre, sowohl in der tatsächlichen Auf-
auf, sondern stiegen im Reigen zum Himmel. Im ganzen zeigung des Beispieles dem nachgefolgt werden soll, ei-
war es ein Anblick reinster Kinderunschuld wie sie flo- nes individualistischen Beispieles, als auch in der sym-
gen. Da aber vor dem Himmel alles in seine Elemente bolischen Aufzeigung der Auferstehung des Mittlers im
zerschlagen wird, stürzten sie ab, wahre Felsblöcke (NSF einzelnen Menschen (NSF II, 55).
II, 42 f.).
Ausgaben: Zürauer Aphorismen: ED des Zettelkonvoluts
Als zweite Konsequenz hat man in der Forschung
als: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den
gerne eine Haltung der radikalen Askese, der Le-
wahren Weg, in: BBdCM (1931), 225–249. – T/GS (1937)
bens- und Weltverneinung unterstellt. Das ist nicht
198–217 [Betrachtungen], 158 u. 166 f. [ergänzte Einzel-
ganz falsch, geht aber deutlich zu weit. Kafka fordert
notate, entsprechend NSF II, 97 f. u. 108–110], 218–239
nicht dazu auf, dem Leben zu entsagen – dass er [enthält unter dem Titel »Meditationen« u. a. ausgewählte
selbst das mitunter getan hat, sah er eher als Konse- Aphorismen aus den Oktavheften G u. H]. – Hzv/GW
quenz seiner ganz eigenen Lebensuntüchtigkeit an –, (1953), 39–54 [Betrachtungen] u. 70–130 [Drittes u.
sondern das Leben so zu leben, dass es ›gerechtfer- Viertes Oktavheft, entspricht KA: Oktavheft G u. H.]. –
tigt‹ werden kann: NSF II/KA (1992), 29–112 [Oktavheft G u. H] u. 113–
140 [Zettelkonvolut]. –– <Er>: ED: »Er«, in: BBdCM
Niemand schafft hier mehr als seine geistige Lebens-
(1931), 212–224. – BeK/GS (1936), 279–287. – BeK/GW
möglichkeit; daß es den Anschein hat, als arbeite er für
seine Ernährung, Kleidung u. s. w. ist nebensächlich, es (1954), 291–300, Hzv/GW (1953), 281 f. u. 418–421 [Pa-
wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein un- ralipomena/ Zu der Reihe ›Er‹] u. T/GW (1953), 541. –
sichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsicht- T/KA (1990), 847–862 u. NSF II/KA (1992), 221 f.
292 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

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293

3.3.2 <Brief an den Vater > Textbeschreibung


Unmittelbar knüpft der <Brief > an ein Gespräch
Entstehung und Veröffentlichung zwischen Vater und Sohn an: »Liebster Vater, Du
hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich be-
Nach dem Scheitern des Eheversuchs mit Julie haupte, ich hätte Furcht vor Dir«. Er hätte diese
Wohryzek und einer längeren Schreibpause ver- Frage, so der Sohn, nicht beantworten können und
brachte Kafka den November 1919 auf einem Erho- wolle dies nun schriftlich tun, wiewohl auch das
lungsurlaub in Schelesen, einem kleinen Ort nörd- »unvollständig« bleiben müsse, »weil auch im
lich von Prag. Bereits im Sommer hatte er versucht, Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir ge-
dem Vater einen Brief zu schreiben (Entwurf in der genüber behindern und weil überhaupt die Größe
Ausgabe von Unseld, 207–209), jetzt schrieb er wäh- des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Ver-
rend dreier Wochen einen Text, von dem er Ende des stand weit hinausgeht« (NSF II, 143). Der Autor re-
Monats in Prag eine (unvollendete) Schreibmaschi- kapituliert dann zunächst die Vorwürfe des Vaters
nenfassung erstellte; beide Fassungen sind erhalten und räumt ein, dieser sei »gänzlich schuldlos« (144)
(zur Entstehungsgeschichte und Manuskriptbestand an ihrer wechselseitigen Entfremdung, beansprucht
vgl. Binder, 422–426 u. NSF II:A, 55–61). aber selber zum einen, »ebenso gänzlich schuldlos«
Nach Max Brod wollte Kafka den Brief seinem Va- (144 f.) zu sein, zum anderen, dass der Vater erkenne,
ter tatsächlich übergeben: »Franz hatte eine Zeitlang dass er die Zerrüttung des Verhältnisses »mitverur-
die Meinung, durch diesen Brief eine Klärung der sacht« habe, »aber ohne Schuld« (145).
peinlich stockenden, schmerzhaft verharschten Be- Der erste Hauptteil erzählt Kindheit und Jugend
ziehung zum Vater herbeizuführen. Tatsächlich wäre des Sohnes. Dessen mütterliche Züge aus der Löwy-
wohl eher das Gegenteil erzielt, die Absicht des Brie- Familie werden den väterlichen Kafkas gegenüber-
fes, sich dem Vater begreiflich zu machen, keines- gestellt und die drakonischen »Erziehungsmittel«
wegs erreicht worden« (Brod, 22 f.). Der Vater hat (148) des Vaters beschrieben: Dazu gehört die Szene,
den Brief dann auch nie erhalten; ob dabei eigene in dem der Sohn nachts auf den Balkon (in Prag:
Bedenken Kafkas oder der Rat von Mutter und ›Pawlatsche‹) gesperrt wird (149), aber auch allge-
Schwester den Ausschlag gaben, lässt sich nicht mehr meiner der Spott und die Ironie des Vaters. Die als
rekonstruieren. diktatorisch erlebte Gewalt des Vaters in Familie und
Kafka erwähnt gegenüber Milena mehrfach den Geschäftsleben lässt ihn als unverständliche Herr-
»Riesenbrief« (An M. Jesenská, 21.6.1920; BM 73), schaftsinstanz erscheinen (»In Deinem Lehnstuhl
der »doch zu sehr auf sein Ziel hin konstruiert« sei regiertest Du die Welt«; 152), von der selten eine
(An M. Jesenská, 23.6.1920; BM 75), nennt ihn »das Gnade, öfter eine Strafe und immer das Gefühl aus-
Rütteln der Fliege an der Leimrute« (An M. Jesenská, geht, die Zuwendung nicht wirklich verdient zu ha-
31.7.1920; BM 165) und verspricht mehrfach, Mi- ben: »Ich hatte vor Dir das Selbstvertrauen verloren,
lena den Text zu schicken, was aber nie geschieht: dafür ein grenzenloses Schuldbewußtsein einge-
Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, tauscht« (184).
heb ihn bitte gut auf, ich könnte ihn vielleicht doch ein- Der zweite Hauptteil des Textes erzählt von den
mal dem Vater geben wollen. Laß ihn womöglich nie- Versuchen des erwachsenen Sohnes, sich der Über-
mand lesen. Und verstehe beim Lesen alle advokatori- macht seines Vaters zu entziehen. Das Judentum
schen Kniffe, es ist ein Advokatenbrief (An M. Jesenská,
habe für ihn keinen Ausweg geboten, weil er es nur
4./5.7.1920; BM 85).
als vom Vater überlieferte Sammlung sinnloser Ge-
Brod zitierte 1937 in seiner Biographie erstmals aus bräuche erlebte. Im Schreiben habe er eine gewisse
dem Brief, ungekürzt wurde er zuerst (mit dem heute Selbständigkeit gewonnen, letztlich habe aber auch
gängigen Titel) 1952 in der Neuen Rundschau ge- es vom Vater gehandelt. Auch beruflich habe er sich
druckt und dann in die Hochzeitsvorbereitungen auf nicht vom Vater und dessen Dominanz befreien
dem Lande (1953) aufgenommen − also in den Kon- können. Vor allem aber seien seine Heiratsversuche
text der literarischen Texte Kafkas, obwohl Brods gescheitert, insbesondere durch die Erkenntnis, dass
Kommentar weiterhin den ursprünglich intendier- gerade die väterlichen Eigenschaften für eine Ehe
ten Briefcharakter hervorhob. wesentlich seien, die dem Sohn abgehen:
294 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Der <Brief > entsprach einerseits Brods besonderem
Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir Interesse an der Person seines Freundes, widersprach
dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in
Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht aber andererseits offensichtlich seinem Bild eines
in Deiner Reichweite liegen (NSF II, 210). durchaus positiven, lebenszugewandten Kafka, wes-
halb er seine Authentizität sogleich relativierte: »Die
Diese Ausführungen werden am Schluss des <Brief > Perspektive erscheint mir da und dort verzerrt, un-
durch einen fiktiven Einwand des Vaters unterbro- bewiesene Voraussetzungen laufen mit unter und
chen: Der Sohn mache es sich zu einfach, indem er werden den Fakten koordiniert; aus scheinbar ganz
nicht nur alle eigene Schuld zurückweise, sondern geringfügigen Aperçus wird ein Bau getürmt, dessen
»gleichzeitig ›übergescheit‹ und ›überzärtlich‹« auch Komplikation gar nicht zu überblicken ist, ja der sich
noch den Vater von jeder Schuld freisprechen wolle zum Schluß ausdrücklich um die eigene Achse dreht,
(214). Während der Vater mit dem Sohn einen »rit- sich selbst widerlegt und dennoch aufrechterhalten
terlichen Kampf« führe, gebe dieser nur vor, allen zu bleibt« (Brod, 24).
verzeihen, lebe aber tatsächlich von ihnen wie ein Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in den meis-
»Ungeziefer« (215): »Wenn ich [so die imaginierte ten anderen biographischen Deutungen wider, die
Rede des Vaters] nicht sehr irre, schmarotzest Du an zwar die Verzerrung des <Brief > einräumen, aber
mir auch noch mit diesem Brief als solchem« (216). auf ihn als Quelle für Kafkas Jugend und Erziehung
Aber auch dieser Einwurf bleibt nicht das letzte doch nicht verzichten wollen, wobei in der Regel
Wort, auf ihn antwortet wieder der Autor des auch die sehr kritische Beurteilung Hermann Kafkas
<Brief >, »daß zunächst dieser ganze Einwurf, der übernommen wird. Dagegen hat Peter von Matt ge-
sich zum Teil auch gegen Dich kehren läßt, nicht von zeigt, dass Kafkas Selbstpositionierung als ›ewiger
Dir stammt, sondern eben von mir« (216). Trotzdem Sohn‹ auch als Teil einer durchaus bewussten Strate-
sei der Einwand nicht unberechtigt, denn »so kön- gie betrachtet werden kann: »Künstlich, als eine Art
nen natürlich die Dinge in Wirklichkeit nicht anein- Spielanlage, baut und bewahrt sich Kafka die Le-
anderpassen, wie die Beweise in meinem Brief«; da- benssituation des mißratenen Sohnes vis-á-vis eines
her sei er eine wichtige »Korrektur«, die »meiner richtenden Vaters von endlos kompakter Autorität«
Meinung nach doch etwas der Wahrheit so sehr An- (von Matt, 287).
genähertes erreicht, daß es uns beide ein wenig be-
ruhigen und Leben und Sterben leichter machen Psychoanalytische Interpretationen
kann« (217).
Schon Brod merkte an, wie nahe eine psychoanalyti-
sche Lektüre des <Brief > liege (Brod, 26 f.). Tatsäch-
Forschung lich ist diese keineswegs so häufig, wie man erwarten
könnte und kommt auch nicht unbedingt zu den er-
Der <Brief an den Vater > zählt sicherlich zu den be- warteten Ergebnissen.
kanntesten Texten Kafkas und wird auch in Gesamt- Josef Rattner will aus dem <Brief > die Geschichte
darstellungen immer wieder herangezogen, nicht eines offensichtlich neurotischen Dichters biogra-
selten als Schlüsseltext. Dennoch sind die explizit phisch rekonstruieren. Er betont dabei, dass Her-
ihm gewidmeten Untersuchungen wenig zahlreich, mann Kafka keineswegs ein »Unmensch« gewesen
wohl auch deshalb, weil der Text gerade in seinem sei (Rattner 1964, 41), sondern eher dem Durch-
faktual-fiktionalen Zwitterstatus offenkundig die schnitt eines autoritären und patriarchalen Vaters
Grenzen überschreitet, in denen sich die verschiede- entspreche. Durch dessen Erziehung bilde das Kind
nen Schulen der Kafka-Forschung eingerichtet ha- in »Ursituationen« wie der Pawlatschenszene eine
ben. bleibende »Grundhaltung« heraus (Rattner, 21), um
so mehr als der Sohn in seiner »Urwahl« den Vater
Biographische Interpretationen zum Maßstab der Mitmenschen mache (Rattner, 56).
Die vor allem an den konkreten Erziehungsmaßnah-
Max Brod, Kafkas Freund und erster Herausgeber men orientierten Beobachtungen Rattners sind dabei
des <Brief >, las diesen primär biographisch als »eine nur in sehr allgemeinem Sinne psychoanalytisch.
Selbstanalyse schärfster Art, die sich episodenhaft zu Auch die sehr viel präzisere Untersuchung von
einer kleinen Selbstbiographie weitet« (Brod, 23). Margarete Mitscherlich-Nielsen (1977) kommt ge-
<Brief an den Vater> 295

rade nicht zum erwarteten Ergebnis eines dominan- können ein aufschlussreiches Licht auf das Verwirr-
ten Vaters, sondern sieht hinter dem neurotischen spiel der textuellen Instanzen von Kafkas <Brief >
Vaterbild eine narzisstische Kränkung des Sohns werfen (vgl. Gordimer 1984 und den Sammelband
durch die ambivalente und depressive Mutter. von Hierdeis 1997, hieraus besonders Beiträge von
Rathmayr, Trobitius, Gilli).
Literarische Interpretationen
Sozialgeschichtliche Interpretationen
In bewusster Absetzung von den biographischen
Deutungen wird oft der literarische Charakter des Als Ausweg aus der schlechten Alternative von Bio-
Textes in den Vordergrund gerückt. Heinz Politzer graphie und reiner Literatur konnte die sozialge-
untersucht Kafkas Bildlichkeit, die in ihrer Ambigui- schichtliche Konkretion des Vater-Sohn-Verhältnis-
tät alle klaren Zuordnungen untergrabe: »the very ses gelten, in der Stölzl 1979 die »künftige Richtung
idea of guilt and forgiveness upon which the letter is der Forschung« sah (Stölzl, 530). Charakteristisch
built is being tossed around until it has lost any spe- für dieses Verhältnis sei, dass Vater und Sohn zum
cific meaning« (Politzer 1953, 178). Auch Wilhelm aufstrebenden jüdischen Bürgertum gehörten, aber
Emrich will die geläufige psychobiographische In- jeweils verschiedene Aufstiegsstrategien verfolgten;
terpretation umkehren: »Nicht das Werk ist aus dem der <Brief > agiert das wechselseitige Missverständ-
Vaterkomplex kausal abzuleiten und zu ›erklären‹, nis aus und lässt Hermann Kafka zum »Spiegelbild
sondern umgekehrt der Vaterkomplex durch das jener halbgelungenen Assimilation« werden (Stölzl,
Werk zu interpretieren« (Emrich 1965, 312). Denn 533).
Kafkas Werk trage keinesfalls »das Stigma des Neu- Auch andere Kontexte ließen sich hinzuziehen,
rotischen«, sondern vermittle »universelle Erkennt- etwa der Vater-Sohn Konflikt des ›fin de siècle‹ und
nis«, es handele vom »Endzustand einer patriarcha- seine Verbindung mit dem Sozialdarwinismus (Mül-
lischen Welt, die der Katastrophe zutreibt« (Emrich, ler-Seidel, 365–370). Dabei bestehe das »Dilemma«
317) Hier geht die literarische Interpretation offen- von Kafkas Text darin, dass ihm die »Abhängigkeit
sichtlich in weltanschauliche Ausdeutung über. vom gesellschaftlichen Wertesystem« keine offene
Die meisten ›literarischen‹ Interpretationen zie- Anklage gegen den Vater ermögliche (Unseld, 198).
hen dagegen den <Brief an den Vater > vor allem als Als besonders fruchtbar hat sich die jüdische Lek-
(wenn auch literarisiertes) Zeugnis eines Vaterkom- türe erwiesen: Sander Gilman etwa hat Kafkas Stra-
plexes heran, der als gleichermaßen wichtig für die tegie des ›Othering‹ untersucht, indem er den <Brief
Selbstzeugnisse wie die fiktionale Prosa Kafkas be- an den Vater> im Rahmen von antisemitischen und
trachtet wird; charakteristisch ist etwa die weit ver- zionistischen Diskursen über den jüdischen Körper
breitete interpretative Zusammenschaltung des als »elaborate fiction about Kafka’s anxiety about his
<Brief > mit der Verwandlung (vgl. Pfeiffer 1998) own body’s predestination to become his father’s«
und dem Urteil (vgl. mit expliziter Reflexion auf die- interpretiert (Gilman 1998, 175). Nach Stéphane
ses Verfahren Gibion 1957, zu einem Abgrenzungs- Mosès (1994) ist die Krise der jüdischen Vaterschaft
versuch Engel 2006). auch eine Krise der jüdischen Tradition, die der Re-
Demgegenüber sind konkrete Beobachtungen li- bellion der Söhne und ihrem Versuch der Renais-
terarischer Techniken verhältnismäßig selten: Björk- sance des Judentums einen grundsätzlichen und pa-
lund arbeitet die Paradoxie der negierten Sprechakte radoxen Charakter verleihe.
des <Brief > heraus, der immer wieder betont, er
wolle etwas bestimmtes nicht sagen, meine damit Dekonstruktive Interpretationen
nicht, etc.: »On a fictional level, ›saying‹ is a perfor-
mative verb […], and if the narrator is not saying it, Dekonstruktive Ansätze verorten solche Paradoxien
then how does it get said?« (Björklund 1979, 85). direkt in Kafkas Schreiben. Am folgenreichsten war
Fois-Kaschel (1992) untersucht, wie die zahlreichen Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Idee einer ›klei-
nominalisierten Verbformen des <Brief > die Pro- nen Literatur‹, die nicht danach trachte, selber die
zesshaftigkeit des Aussagens gewissermaßen zum Stelle des Vaters und des autoritären Diskurses ein-
Stillstand in abstrakten Begriffen bringen und ent- zunehmen, sondern diese gerade subvertiere. Kafka
scheidend zum Eindruck des ›Advokatenbriefs‹ bei- arbeite mit unbewussten und primär prozesshaften
tragen. Auch die Fiktionen einer Antwort des Vaters Strukturen, die er aber letztlich vom starren ödipa-
296 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

len Schema ablösen wolle: »Um die Sackgasse zu öff- Deutungsaspekte


nen, die Blockade zu durchbrechen, um Ödipus in
Der kindliche Blick
die Welt zu deterritorialisieren […] war es allerdings
notwendig, Ödipus ins Absurde, ja ins Komische zu Für die Deutung des Textes muss sein Schwellen-
vergrößern, den Brief an den Vater zu schreiben« charakter immer im Blick behalten werden. Die
(Deleuze/Guattari 1976, 17). Frage nach dem literarischen oder autobiographi-
Kafka zerstöre die mythische Einheit und Not- schen Charakter des <Brief > sollte dabei nicht mehr
wendigkeit der ödipalen Konstellation, mache die textextern entschieden werden, da dessen literari-
vielfältigen anderen (ökonomischen, juridischen sche Gestaltung so wenig wegzudiskutieren ist wie
etc.) Machtstrukturen erkennbar und zeige auch seine ursprünglich ›außerliterarische‹ Absicht. Statt
Auswege, für die die außerhalb der Familie lebenden einer polemischen Alternative oder dem routinemä-
Tiere, aber vor allem die Schreibbewegung selbst ste- ßigen Verweis auf Kafkas Rede vom ›Advokaten-
hen. Denn gerade indem die ödipale Problematik brief‹ – die eigentlich auf den ›gemachten‹, aber nicht
auf die ganze Welt projiziert werde, könne die eigene unbedingt auf den literarischen Charakter des
Schreibarbeit frei von deren Gesetz und ihrer auf die <Brief > hinweist – sollte man eher den Text selbst zu
Welt projizierten Schuld bleiben. Rate ziehen.
In engem Anschluss an Deleuze und Guattari liest Eine wichtige Rolle vor allem in der ersten Hälfte
auch Carlo Brune den <Brief an den Vater > als Aus- des <Brief > spielen etwa die auch sonst von Kafka
weichbewegung vor dem scheinhaften »Spiegelge- gern verwendete Technik interner Fokalisierung und
setz« des Vaters (Brune 2000, 37). Wenn er dabei im- ihre verfremdenden Effekte, durch die etwa aus ei-
mer wieder den literarischen Charakter des <Brief > nem wohl eher harmlosen Fangenspielen eine
betont, ohne zu berücksichtigen, dass der »biogra- furchtbare Jagd wird: »Schrecklich war es auch, wenn
phische Hinterhalt« (Brune, 93), in den sämtliche Du schreiend um den Tisch herumliefst, um einen
Vorgänger getappt seien, ja von Kafka selbst gelegt zu fassen, offenbar gar nicht fassen wolltest, aber
worden ist, erweist sich die kategoriale Trennung der doch so tatest und die Mutter einen schließlich
Vaterwelt vom emphatisch beschworenen ›Schrei- scheinbar rettete« (NSF II, 161).
ben‹ allerdings als eher schematisch und erklärt sich Allerdings wird der kindliche Blick anders als in
in ihrer Zuspitzung letztlich weniger durch Kafkas Kafkas anderen Texten meist mit der reflektierenden
Texte als durch eine politisch-ästhetische Program- Perspektive des Erwachsenen kombiniert, etwa in
matik. der Erzählung der Pawlatschenszene: Nicht nur
Nicht nur als Schreiben, sondern präziser als schaltet der Autor hier die Einschränkung vor, er
Brief liest Jonckheere (1986) mit Lacan Kafkas Text könne sich die Ereignisse jener Zeit nur »durch
als unbewussten Signifikanten, der immer seinen Rückschluß« (148) vorstellen, er bemüht sich auch
Bestimmungsort erreicht; dementsprechend gehört um rückblickend-distanzierte Reflexion (»ich hatte
die Nicht-Übergabe eigentlich zu seinem Sinn, er- einen innern Schaden davon«; 149), bevor er schließ-
weist er sich doch weniger an den ödipalen Vater lich in die Innensicht wechselt, aus welcher der »rie-
als an Mutter, Schwester und Geliebte gerichtet. sige Mann, mein Vater« zu übergroßen Maßen her-
Goozé (1997) dagegen deutet den <Brief > mit Der- anwächst und der Sohn »also ein solches Nichts für
rida als wesentlich aufgeschobene Mitteilung, die ihn war« (149). Den entscheidenden Übergang bil-
den wirklichen Vater durch einen ›epistolarischen det dabei ein Satz, dessen grammatische Konstruk-
Vater‹ ersetze. Am Schluss des <Brief > erringe der tion in ihrer unkoordinierten Häufung von Substan-
Autor zwar den Sieg über jenen Vater, aber eben tiven die Orientierungslosigkeit präzise abbildet:
nur um den Preis der eigenen Spaltung als Subjekt Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Ums-
der Schrift. Damit dekonstruieren diese Lektüren Wasser-bittens und das außerordentlich Schreckliche
nicht nur den Anspruch des <Brief > auf Authenti- des Hinausgetragen-werdens konnte ich meiner Natur
zität, sondern relativieren zumindest auch die Ge- nach niemals in die richtige Verbindung bringen (149;
vgl. auch Fois-Kaschel).
genposition des ihn schreibenden Autors. Aller-
dings geschieht das mit Hilfe eines deutlichen Wie auch sonst in Kafkas Prosa führt dieses Nicht-
Übergewichts der Theorie über den Text, der mehr Verstehen zur Produktion von Bildern, die scheinbar
oder weniger zum bloßen Anlass eigenständiger die Differenz zwischen der begrenzten Perspektive
Diskurse wird. und dem ihr offensichtlich unverständlichen Gegen-
<Brief an den Vater> 297

stand überbrücken, sie faktisch aber ausstellen. So lung der Heiratsversuche deutlich. Deren Wichtigkeit
bekommt der übermächtige Vater für den Sohn »das beruht nicht nur auf dem Anlass des <Brief >, auf
Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht Kafkas Verklärung der Ehe oder auf der Tatsache,
auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet dass Vaterschaft im psychoanalytischen Sinn die
ist«, bezeichnenderweise mit der Ergänzung: »We- durchaus eifersüchtige väterliche Kontrolle der Sexu-
nigstens schien es mir so« (152). Gerade die Unver- alität der Söhne bedeutet. Sie erklärt sich auch aus
ständlichkeit des Vaters erlaubt seine Überhöhung, der Logik des <Brief >: Wenn der Sohn selbst heiraten
denn alle ›Übertreibungen‹ des <Brief > sind teils auf und zum Vater werden würde, würde sich der Unter-
die kindliche Perspektive zurückzuführen, teils ge- schied von Vater und Sohn wo nicht auflösen, so
rade auf deren Konfrontation mit der nachträglichen doch relativieren: »ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte
Einsicht in die Begrenztheit jener Sichtweise. und ewig neue Schande und Tyrannei wäre bloß noch
Besonders prägnant schlägt sich das in dem aus Geschichte« (NSF II, 209). Damit würde aber auch
Vor dem Gesetz bekannten Bild eines individuellen die Struktur des Textes aufgehoben, der jetzt eben
Gesetzes und dem diesem unterworfenen Subjekt ›bloß noch Geschichte‹ wäre.
nieder: Indem der Vater sich nicht an die selbst ge- Das sucht der Autor zu verhindern, indem er zum
setzten Gebote hält, zerfällt die Welt für den Sohn in einen behauptet, dass der Vater diesen Schritt in
»drei Teile«: In einem lebt der Sohn unter dem uner- Wirklichkeit verhindere, »wie das Kinderspiel, wo
füllbaren Gesetz, im zweiten ist der Vater mit der einer die Hand des andern hält und sogar preßt, und
»Regierung«, der Gabe des Gesetzes beschäftigt, dabei ruft: ›Also geh doch, geh doch, warum gehst
schließlich gibt es auch »eine dritte Welt, wo die üb- Du nicht?‹« (207). Vor allem aber wird das Heiraten
rigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Ge- selbst zu einer Sache des Vaters erklärt, weil sie all
horchen lebten« (156). Das Gesetz wird hier zum In- jene väterlichen Eigenschaften erfordere, die dem
begriff der Unverständlichkeit und des permanenten Sohn abgehen: »das Heiraten ist zwar das Größte
Schuldspruches und damit zum Band, das Vater und […], aber es ist auch gleichzeitig in engster Bezie-
Sohn verbindet. hung zu Dir« (209). Heirat ist somit nicht mehr der
Ausweg aus dem väterlichen Bereich, sondern ge-
Die Väter des <Brief > winnt die mythischen und wesentlich rätselhaften
Züge der Vaterwelt, die bezeichnenderweise sofort
Angesichts der Forschungsgeschichte sollte man ein Gleichnis nach sich ziehen: Der Heiratsversuch
vorsichtig sein zu präzisieren, wer der ›Vater‹ im entspreche dem paradoxen Versuch, zugleich aus
<Brief > ist. Man wird ihn jedenfalls nicht mehr vor- seinem Gefängnis zu fliehen und es in ein Lust-
behaltlos mit dem ›wirklichen‹ Hermann Kafka und schloss umzubauen.
seiner vermeintlichen ›Unmenschlichkeit‹ identifi- Literarische Bildlichkeit dient der Mythisierung
zieren; korrektiv wären einmal umgekehrt eher des- der Situation des Subjekts und der Überführung der
sen freundliche Züge hervorzuheben, wie sein »gut- eigenen Geschichte in Schrift. Denn Vaterschaft in
heißendes Lächeln« und die Tatsache, dass er seine starkem Sinne lässt sich nur darstellen, indem man
Kinder nicht schlug (165, vgl. auch 163, 168). den generationellen Prozess anhält und entweder auf
Ebenso unbefriedigend ist es, sich auf eine be- einen mythischen ungezeugten Urvater zurückgreift,
stimmte Theorie der Vaterschaft festzulegen; charak- oder sich selbst zum ewigen Sohn erklärt. In einer
teristisch für den <Brief > ist eher das Durchspielen aufschlussreichen Passage schließt der Autor daher
verschiedener Instanzen der Vaterschaft: der biogra- auch die Gefahr aus, er könne sein übergroßes
phischen, symbolischen, biologischen, ökonomi- Schuldgefühl an eigene Kinder weitergeben: »dieses
schen, religiösen etc. Charakteristisch ist es auch, Gefühl der Einzigartigkeit gehört zu seinem quälen-
dass Vaterschaft im <Brief > verschiedene Funktionen den Wesen, eine Wiederholung ist unausdenkbar«
hat: Der Vater ist eine subjektgeschichtlich wirksame (211). Nur gegenüber einem mythischen Vater ist
Instanz (s.o. »Der kindliche Blick«), er ist in der Ge- das Subjekt absolut.
genwart Inhaber einer Machtposition, schließlich ist
er eine Figur in einem grundsätzlich dialogisch ange- Prozess, Kampf, Schuld
legten Text (s. u. »Prozess, Kampf, Schuld«). Der
zweite Aspekt und mit ihm die Topologie des Vater- Der <Brief an den Vater > tritt auch als Auseinander-
Sohn-Verhältnisses wird besonders bei der Darstel- setzung mit dem Vater auf, die entscheidend für das
298 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Gelingen des <Brief > und die Arbeit des Textes ist. die Welt mir noch unverständlicher gemacht«
Im Text wird die Beziehung zum Vater nicht nur (166).
durch die formal dialogischen Elemente wie die Die Ehe schließlich stellt einen »Zwang zur Bi-
zahlreichen direkten Adressierungen an den Vater lanz« dar und enthüllt den Totalbankrott des Soh-
hergestellt, sondern sie wird auch figuriert: als Pro- nes: »eine einzige große Schuld« (214). Diese Schuld
zess wechselseitiger Verschuldung. Dabei wird das verbindet nicht nur Vater und Sohn über den Text
Schuldthema zunächst negativ eingeführt, als Zu- hinweg, sondern gibt diesem auch eine rückwir-
rückweisung von Vorwürfen des Vaters: »Undzwar kende Kohärenz: »allmählich bekamst Du in gewis-
wirfst Du es mir so vor, als wäre es meine Schuld, als ser Hinsicht wirklich Recht« (162). Gerade in ihrer
hätte ich etwa mit einer Steuerdrehung das Ganze semantischen Flexibilität ist die ›Schuld‹ daher ent-
anders einrichten können, während Du nicht die ge- scheidend für die Performanz des Textes, denn sie
ringste Schuld daran hast« (144). Die eigenwillige bindet nicht nur Vater und Sohn aneinander, son-
Betonung – ›meine Schuld‹ statt des zu erwartenden dern entwirft auch einen allumgreifenden Zusam-
›meine Schuld‹ – weist darauf hin, dass der Autor im menhang von ›Ursachen‹.
Folgenden zwei Unterscheidungen kombiniert: die
von ›Schuld‹ und ›Unschuld‹ und die von ›meiner‹ Schwellen im Text
und ›deiner‹ Schuld/Unschuld. Ihre Verbindung so-
wie die in der Perspektivierungstechnik (s.o. »Der Eine Untersuchung der literarischen Form des
kindliche Blick«) angelegte Möglichkeit der Ver- <Brief > muss zuallererst seinen Schluss interpretie-
schleifung des Unterschieds von ›Schuld‹ und ren, an dem der Vater zu Wort kommt, dessen Ein-
›Schuldbewusstsein‹ ermöglicht es, trotz explizit im- rede dann aber wieder durch den Sohn zurückge-
mer wieder behaupteter Unschuld des Vaters, immer wiesen wird. Das Abbrechen der Schreibmaschinen-
mehr Schuld in den Text fließen zu lassen. Denn aus niederschrift an dieser Stelle (nach den Worten
der Perspektive des Kindes ist die Unschuld des Va- »Lebensuntüchtig bist Du; um es Dir aber«, 215)
ters gerade keine Selbstverständlichkeit, sondern ein zeigt deren Bedeutung, kann aber ganz verschieden
mythisches Faktum: »Deine rätselhafte Unschuld interpretiert werden: Ist Kafka an dieser Stelle end-
und Unangreifbarkeit« (161). gültig die Fragwürdigkeit seines Unternehmens klar
Die Verbindung von moralischer Unschuld und geworden (Unseld) oder treibt er hier die Fiktionali-
mythischer Schuld wird durch eine Reihe von Mo- sierung zum Äußersten und löst sich damit endgül-
dellen dargestellt. Eines von ihnen ist der Rechts- tig vom realen Vater (Brune)? Eine gewisse Hilfe
streit, der »Proceß, in dem Du immerfort Richter zu kann dabei darin bestehen, die Schlussgeste in einen
sein behauptest, während Du […] ebenso schwache größeren Kontext einzubetten, denn sie korrespon-
und verblendete Partei bist wie wir« (181). Dyna- diert kompositionell mit dem Anfang des <Brief >.
misch ist dieses Modell durch die Unbestimmtheit Es ist nicht unwichtig, dass der Text mit einer dem
der Plätze: Der Vater richtet über den Sohn, der das Vater in den Mund gelegten Frage beginnt. Sie stellt
umkehren kann, indem er den Richter zur Partei er- nicht nur einen Übergang vom Dialog zum Brief dar
klärt. Ein zweites, sogleich relativiertes Modell ist (s. u. »Schrift und Brief«), sondern präsentiert die
das des Kampfes, denn »zwischen uns war es kein ei- Positionen von Vater und Sohn auch von vornherein
gentlicher Kampf; ich war bald erledigt; was übrig als verschränkte. Denn die Frage des Vaters ist ihrer-
blieb, war Flucht, Verbitterung, Trauer, innerer seits nicht direkt (›warum hast Du Angst vor mir?‹),
Kampf« (NSF II, 179). sondern dem Sohn in den Mund gelegt (›Warum
Ein drittes, ökonomisches Modell der Gabe oder sagst Du: ›Ich habe Angst vor Dir?‹). Das Verhältnis
des Tausches schlägt sich nicht nur in der ökonomi- von Sagen (bzw. Schreiben) und Furcht folgt dabei
schen Potenz des Vaters nieder, sondern auch in der einer selbstimplikativen Logik, die eine Antwort aus-
Disproportion von väterlichen Wohltaten und der schließt (»eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe«,
ausbleibenden Dankesschuld des Sohnes, der durch 143), aber auch ihren eigenen Anfang vergessen
seine Unsicherheit »in Wahrheit ein enterbter Sohn« lässt. Denn die ursprüngliche Frage wird im <Brief >
wird (194). Seine ursprüngliche Schwäche führt zu permanent aufgeschoben, der Autor erzählt zwar,
einer beständigen Akkumulation der Schuld, daher warum er Furcht habe, nicht aber, warum er das ›ge-
haben auch die Gaben des Vaters »nichts anderes sagt‹ habe und eigentlich ja permanent sage. Die un-
erzielt, als mein Schuldbewußtsein vergrößert und mittelbar an den Anfang anknüpfende Schlusspas-
<Brief an den Vater> 299

sage hat diese Verschiebung vom Sagen zur Furcht tum«, ja »genug Judentum« für den Vater gewesen
scheinbar endgültig vollzogen: »Du könntest, wenn sei, »aber zum Weiter-überliefert-werden war es ge-
Du meine Begründung der Furcht, die ich vor Dir genüber dem Kind zu wenig, es vertropfte zur Gänze
habe, überblickst, antworten« (214). Aber die Ant- während Du es weitergabst« (188 f.). Offensichtlich
wort des Vaters thematisiert nicht die Furcht und die dient dabei (im zweiten Schritt) das Judentum als
Schuld, sondern das Reden des Sohnes über sie, das Instanz, die gegen den Vater ausgespielt werden
»viel einträglicher« ist als die direkte Anklage (214). kann, weil es diesen selbst in die Position des schwa-
Dabei kehrt er die Situation aber nicht nur um – was chen Erben versetzt. Aber diese Instanz bleibt in die-
wiederum seinerseits durch den Sohn umgekehrt sem Prozess nicht unbeschädigt: Weil das Judentum
wird –, sondern geht noch einen Schritt weiter (»Das ja selbst wesentlich vom Vater zum Sohn überliefert
könnte Dir jetzt schon genügen, aber es genügt Dir wird, kann auch der Sohn das Judentum dem Vater
noch nicht«, 215), indem er den weiteren Vorwurf nicht mehr gegenüberstellen, sondern muss es als
des »Schmarotzertums« (216) erhebt. Wenn aber verlorenes erkennen (vgl. Mosès). Im Text drückt
dieser Vorwurf noch fehlt und ergänzt werden kann sich das darin aus, dass sich das Judentum des Vaters
und wenn der Vater eigentlich nicht auf den <Brief > und das Judentum selbst immer wieder vermischen,
antwortet, sondern nur zu dessen Anfang zurück- etwa in der infantil fokalisierten Schilderung der
geht, bleibt die Struktur paradox. Bundeslade, die den Sohn an »Schießbuden« erin-
Auch die Antwort des Autors, dass der Einwurf nert, »wo auch, wenn man in ein Schwarzes traf, eine
»nicht von Dir stammt, sondern eben von mir« Kastentüre sich aufmachte, nur daß dort aber immer
(216), ist daher kein einfaches Fiktionssignal. Zwar etwas Interessantes herauskam und hier nur immer
wendet sich der Text auf sich selbst zurück – am wieder die alten Puppen ohne Köpfe« (186 f.). Offen-
deutlichsten im Wechsel der Modi: das »Du könntest sichtlich wird hier jede Beziehung auf ›Schuld‹ und
[…] antworten« des Vaters wird zum »Darauf ant- ›Gesetz‹ vermieden und das Gesetz selbst zu einem
worte ich« (214, 216) des Sohnes –, aber das eröffnet unverständlichen Gebrauch. Dadurch werden die
nur einen Spiegelraum, in dem eine Reihe weiterer Zweifel des Sohnes, ob »die paar Nichtigkeiten, die
Einreden jederzeit möglich ist. Die strukturelle Du im Namen des Judentums mit einer ihrer Nich-
Nachträglichkeit der Fiktion, die hier eindrucksvoll tigkeit entsprechenden Gleichgültigkeit ausführtest,
inszeniert wird, macht den <Brief > allenfalls zu einer einen höheren Sinn haben konnten« (189), zu aufge-
umgekehrten Fiktion, in der die Erfindung nicht der klärten Zweifeln am Judentum selbst. Indem das Ju-
Ausgangspunkt, sondern der Schluss des Schreibens dentum mit kindlichem Blick zugleich vergrößert
ist. wird und als ein ›Nichts‹ behandelt wird, kann der
Autor nicht nur den Vater kritisieren, sondern durch
Der jüdische Vater diese Kritik hindurch auch eine Kritik der ›westjüdi-
schen‹ Zeit entwickeln.
Die Form des <Brief > sollte dessen Sachgehalte nicht
in den Hintergrund treten lassen. Eine besonders Schrift und Brief
wichtige Rolle unter ihnen spielt das Judentum, das
im Text die Reihe der Rettungsversuche eröffnet und Wie viele andere Texte Kafkas spricht der <Brief an
für Kafka bekanntlich eine besondere Bedeutung den Vater > auch über das Schreiben und damit über
hat, betrifft nach ihm doch die Psychoanalyse »nicht sich selbst. Schon eingangs konstatiert der Autor,
den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des dass er dem Vater allenfalls schriftlich antworten
Vaters« (An M. Brod, Juni 1921; Briefe 337). könne, weil er die vielen »Einzelheiten« niemals »im
Das jüdische Vater-Sohn-Verhältnis wird in meh- Reden halbwegs zusammenhalten könnte« (143).
reren Schritten dargestellt: Zunächst habe der Sohn Mehrfach betont der Sohn, dass ein Dialog mit dem
die Synagoge nur aus schlechtem Gewissen besucht, Vater grundsätzlich unmöglich sei und dass ihm die-
dann habe er sich gefragt, »wie Du mit dem Nichts ser »schon früh das Wort verboten« habe (159; vgl.
von Judentum, über das Du verfügtest, mir Vorwürfe auch: »Disputieren kann ich jedenfalls mit meinem
machen konntest« (NSF II, 186), weil der assimi- Vater darüber nicht, da muß eine bessere Zunge
lierte Vater am Judentum nur noch sehr oberfläch- kommen«; An F. Bauer, 25.7.1913; B13–14 242). Zur
lich festgehalten habe. Schließlich habe er aber be- Stummheit verurteilt habe der Sohn früh begonnen
griffen, dass auch diese Praxis »noch etwas Juden- »kleine Lächerlichkeiten, die ich an Dir bemerkte, zu
300 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

beobachten, zu sammeln, zu übertreiben« (NSF II, schen dem Territorium des Vaters (der vielen Vater-
166) und zitiert aus diesen Aufzeichnungen: »Das schaften) und den Bewegungen des Schreibens über-
werde ich ihm immer entgegenhalten können« schreitet.
(154). Weder durch Dialog noch durch direkte Erör-
terungen, sondern nur durch »Aufhäufung des Ma- Ausgaben: ED in: Die Neue Rundschau 63 (1952) 2,
terials« (153) kann daher das Verhältnis zum Vater 191–231. − Hzv/GW (1953), 162–223. − NSF II/KA
dargestellt werden. (1992), 143–217. − Brief an den Vater. Faksimile [mit
Scheinbar führt dabei das Schreiben in die Frei- Transkription]. Hg. u. mit Nachwort v. Joachim Unseld.
heit und der <Brief > deutet auch an, dass der Sohn Hamburg 1986, wieder: Frankfurt/M. 1994. − Brief an
im Schreiben »ein Stück selbstständig von Dir weg- den Vater. Hg. u. komment. v. Michael Müller. Stuttgart
gekommen« ist (NSF II, 192). Das väterliche Desin- 1995. − Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Be-
teresse am Schreiben des Sohnes (»Leg’s auf den richt über K.s Vater als Lehrherr und anderen Materia-
Nachttisch!«, ebd.) macht dieses zum Bereich jen- lien. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Nachwort v. Alena Wag-
seits des Vaters (»Jetzt bist Du frei!«, ebd.). Aber die- nerová. Berlin 2004.
ses Desinteresse, die Tatsache, dass der Vater nicht Forschung: P.-A. Alt (2005), 563–566. − Hartmut Bin-
liest, bedeutet eben auch, dass er den <Brief > nicht der: BadV. In: Ders.: K.-Kommentar zu den Romanen.
lesen wird und es damit keinen Unterschied zwi- Rezensionen, Aphorismen und zum BadV. München
schen Vater und Sohn gäbe. Daher beeilt der Autor 1990 [1976], 422–451. − Beth Björklund: Cognitive
Strategies in a Text. In: Journal of Literary Semiotics 7
sich, den Vater doch noch für das Schreiben zu inte-
(1979), 84–97. − Max Brod: Über F.K. Frankfurt/M.
ressieren und die Freiheit des Schreibens als bloße
1974 [1966]. − Carlo Brune: »Ein enterbter Sohn«. Stu-
»Täuschung« zu erklären: »Mein Schreiben handelte
die zu F.K.s BadV. Essen 2000. − Deleuze/Guattari
von Dir«, es ist insgesamt nur »ein absichtlich in die (1976). − Wilhelm Emrich: K.s BadV. In: Ders.: Geist
Länge gezogener Abschied von Dir« (192). Das und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur.
Schreiben muss also gleichzeitig vom Vater und Frankfurt/M. 1965, 311–317. − Manfred Engel: K. und
nicht vom Vater sein. Es kann daher nicht selbst die die Poetik der klassischen Moderne. In: Engel/Lamping
Struktur der Vaterschaft haben, die Texte aus auto- (2006), S. 247–262. − Gabriele Fois-Kaschel: Heiraten-
nomer Schöpferkraft produziert, es ist aber auch Wollen und Nichtheiraten. Vom Infinitiv zum Nomen
kein reines Schreiben, sondern eben ein Brief, und in F.K.s BadV. In: Nouveaux Cahiers d’Allemand 10
zwar ein Brief an den Vater. (1992), 393–404. − George Gibion: Dichtung und Wahr-
Statt auf allgemeine Theorien über das Schreiben heit. Three Versions of Reality in F.K. In: GQ 30 (1957),
sollte man den <Brief > eher auf Kafkas eigene Brief- 20–31. − Sander Gilman: K.’s ›Papa‹. In: Lieve Spaas
theorie beziehen (vgl. Goozé): Briefeschreiben »ist ja (Hg.): Paternity and Fatherhood. London 1998, 175–
ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit 185. − Marjanne E. Goozé: Creating Neutral Territory.
dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit F.K.’s Purloined Letter to his Father. In: Journal of the K.
dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Society of America 11 (1997), 28–39. − Nadine Gordi-
Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt« mer: Letter from His Father. In: Dies.: Something Out
(An M. Jesenská, Ende März 1922; BM 302). Das im- There. London 1984, 39–56. − Helmwart Hierdeis
pliziert aber nicht nur, dass der <Brief > eine imagi- (Hg.): »Lieber Franz! Mein lieber Sohn!« Antworten auf
näre Bühne des Vater-Sohn-Verhältnisses ist, son- F.K.s BadV. Wien 1997. − O. Jahraus (2006), 111–121. −
Lieven Jonckheere: Postlagernd. K.s BadV. Eine neue
dern auch, dass diese Gespenster die Lebenden aus-
Öffnung für die Psychoanalyse nach Freud. In: Lamb-
saugen, wie der <Brief > in der Einrede des Vaters
rechts/de Vos (1986), 196–214. − Clayton Koelb: The
den Vorwurf des Schmarotzertums ja nicht nur the-
Goethean Model of the Self in K.’s BadV. In: Journal of
matisiert, sondern auch vorführt. Es gibt daher wohl the K. Society of America 8 (1984), 14–19. − Peter von
einen Briefvater – den gespenstischen Vater, den der Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Famili-
<Brief > entwirft –, aber keinen Vater des <Brief >, endesaster in der Literatur. München, Wien 1995, bes.
niemand, der oberhalb des Textes angesiedelt ist und 289–297. − Margarete Mitscherlich-Nielsen: Psycho-
ihn beherrscht, und sei es auch als Waffe gegen den analytische Bemerkungen zu F.K. In: Psyche. Zeitschrift
überstarken ödipalen Vater. Wenn man die ›deterri- für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 31 (1977),
torialisierende‹ Kraft von Kafkas Schreiben ernst 60–83. − Stéphane Mosès: Die Krise der Tradition. K.,
nimmt, so ist der <Brief an den Vater > gerade des- Freud und die Frage der Väter. In: Ders.: Der Engel der
halb interessant, weil er permanent die Grenze zwi- Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin,
Das Schloss 301

Gershom Scholem. Frankfurt/M. 1994, 185–214. − Mi- 3.3.3 Das Schloss


chael Müller: K. und sein Vater: Der BadV. In: KHb
(2008), 37–44. − Walter Müller-Seidel: F.K.s BadV. Ein
literarischer Text der Moderne. In: Orbis Litterarum 42 Entstehung und Veröffentlichung
(1987), 353–374. − Joachim Pfeiffer: F.K., Die Verwand-
lung, BadV. Interpretation. München 1998 (Olden- Nach einer langen Schreibpause seit Herbst 1920
bourg-Interpretationen, 91). − Ders.: Ausweitung der arbeitet Kafka am Schloss von Januar bis August
Kampfzone. K.s BadV. In: DU 52 (2000) 5, 36–47. –
1922. Vom 27. Januar bis zum 17. Februar 1922 ver-
Heinz Politzer: F.K.’s Letter to His Father. In: GR 28
bringt er einen Erholungsurlaub in Spindelmühle
(1953), 165–179. − Josef Rattner: K. und das Vater-Pro-
(auch: Spindlermühle) im böhmischen Riesenge-
blem. Ein Beitrag zum tiefenpsychologischen Verständ-
birge. Die Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt ge-
nis der Kinder-Erziehung. Interpretation von K.s BadV.
München, Basel 1964. − Christoph Stölzl: BadV. In: nehmigt ihm aufgrund des Gesundheitszustandes
KHb (1979) II, 519–539. − Joachim Unseld: Nachwort. eine Verlängerung des Urlaubs bis Ende April;
In: F.K.: BadV. Faksimile. Hamburg 1986, 185–238. Kafka nimmt dann seinen Jahresurlaub und bean-
Daniel Weidner tragt schließlich seine Versetzung in den vorläufi-
gen Ruhestand. Vom 23. Juni bis 18. September hält
er sich in Planá an der Luschnitz bei seiner Schwes-
ter Ottla auf.
Ob Kafka bereits am ersten Tag der Ankunft in
Spindelmühle mit der Abfassung des Textes begon-
nen hat, wie es Pasley annimmt (S:A 62 f.), ist nicht
gesichert. Hinweise darauf liefern Einträge im Tage-
buch am 27. Januar 1922 mit Bleistift und die Ver-
wendung des Bleistifts bei der Niederschrift einer
Variante zum Romanfragment, denn nur am An-
kunftstag habe Kafka mit Bleistift geschrieben. Die
sogenannte »Fürstenzimmer«-Passage (S:A 115) ent-
hält einen Erzählansatz, den Kafka nicht wieder auf-
gegriffen hat. Der Text exponiert eine Ankunfts-
szene, die auf Themen des Romanfragments anspielt.
Er wurde von Kafka nicht gestrichen, woraus ge-
schlossen werden kann, dass er ihn als nicht zum
Schloss gehörig angesehen hat (vgl. Kölbel, 23 ff.). Es
handelt sich dabei um ein für Kafka übliches Vorge-
hen, nach einem Erzählanfang zu suchen, der den
Schreibprozess weiter trägt.
Hartmut Binder zufolge hat Kafka den Text noch
in Prag am 25. Januar begonnen; er erwägt auch, ob
Kafka mit dem Schreiben erst im März angefangen
haben könnte (Binder 1983, 309). Für den Beginn im
Januar 1922 spricht ein übergeordneter thematischer
Zusammenhang: Kafka reflektiert sein Schreiben
und notiert z. B. im Tagebuch am 16. Januar 1922 in
Hinsicht auf einen vor kurzem erlittenen Zusam-
menbruch: »Ansturm gegen die letzte irdische
Grenze«. Im nächsten Tagebucheintrag spezifiziert
er den Ansturm durch die »ganze Litteratur« im
Kontext des Zionismus (16.1.1922; T 878). Diese poe-
tologischen Überlegungen stützen die Annahme ei-
nes Beginns in der zweiten Januarhälfte; Kafka denkt
nach der langen Schreibpause intensiv über die lite-
302 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

rarische Produktion nach − entweder weil er einen 481 f.). Die Beschreibung Brods lässt sich mehreren
Plan hat oder schon schreibt. Geschichten zuordnen, in denen Kafka den Schluss
Tagebuch und Schloss werden in Spindelmühle pa- mit dem Tod gleichsetzt: Seit dem Urteil enden die
rallel geführt, es finden sich dennoch relevante Figuren im Tod, nicht nur im Process, in Hunger-
Überschneidungen bei der Engführung von Selbst- künstler oder in der Strafkolonie. Zudem weist das
reflexion und Schreiben. Binders Vermutung, Kafka Ermüden in der Bürgel-Episode – K. ist »grenzenlos
habe mit dem Romanfragment »Zustandsbeschrei- schlafbedürftig« (S 426) – auf das Ende voraus, so-
bungen seiner inneren Situation« abgebildet, würde fern man den Schlaf als den Bruder des Todes anse-
sich so schon in der Ausgangssituation des Schrei- hen will (Sebald, 82). Bezweifelbar ist aber die Deu-
bens bestätigen (Binder 1983, 325). Folgt man den tung, die Brod in seinem Bericht gibt: Berücksichtigt
Hinweisen aus den Tagebüchern und Briefen, ent- man die Todesszenen der anderen Texte und den
steht Das Schloss in einem dichten Zusammenhang zeitnah zum Schloss entstandenen Hungerkünstler,
der Überlegungen über Ehe und Junggesellentum, so erhält K. im Tod keine »teilweise Genugtuung«
die Verortung des Einzelnen in der Gesellschaft, die (S/GW 481). Der Hungerkünstler erklärt seinen Tod
Instabilität des Ichs, Literatur und Schreiben und vor mit der Ausweglosigkeit seiner Lage:
allem über das Judentum. Das Romanfragment ver- weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.
dichtet diese Themen, so dass die Abfassung als Pro- Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufse-
behandeln im fiktionalen Raum verstanden werden hen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle
könnte. (DzL 349).
Kafka hat die Arbeit am Schloss Ende August ein- Das Schloss ist in sechs Quartheften überliefert
gestellt. In einem Brief an Brod mit dem Ankunfts- (Schlosshefte I-VI), die 1961 zusammen mit ande-
stempel vom 11. September 1922 hält er fest: ren Texten aus dem Nachlass an die Bodleian Lib-
rary in Oxford übergeben wurden (vgl. die Hand-
ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen
lassen müssen, konnte sie seit dem »Zusammenbruch«, schriftbeschreibung durch Pasley, S:A 31–58). Der
der eine Woche vor der Reise nach Prag begann, nicht Titel stammt von Max Brod, demzufolge Kafka
wieder anknüpfen trotzdem das in Planá geschriebene mündlich vom Schloss gesprochen habe (vgl. die Ta-
nicht ganz so schlecht ist wie das was Du kennst (BMB gebuchnotiz Brods vom 15.3.1922, S:A 61). In einem
415).
Brief vom 11. September 1922 an Brod schreibt
In der Forschung herrscht die Meinung vor, Kafka Kafka von der »Schloßgeschichte« (BMB 415). Die
habe das Schloss-Manuskript abgebrochen, da die Veränderungen in den Ausgaben hat zuletzt Shep-
Erzählstränge nicht mehr zu integrieren waren (vgl. pard (1979, 444) dokumentiert.
Binder 1983, 38). Max Brod hingegen vermutet, Die erste Ausgabe publizierte Max Brod 1926, ein
Kafka habe den Roman wenn schon nicht abge- Jahr nach dem Process- und ein Jahr vor dem
schlossen, so doch »innerlich restlos bewältigt« <Amerika>-Romanfragment im Kurt Wolff Verlag.
(Nachwort, S/GW 483). Der Text endet mitten in ei- Diese ist vom Bemühen gekennzeichnet, der Öffent-
nem Gespräch über die Bedeutung der Kleider im lichkeit ein möglichst abgeschlossen wirkendes Werk
Dorf, ein Thema, das im Romanfragment schon auf- zu präsentieren: Brod hat in den Text eingegriffen,
genommen worden war. Zwischen der Aufnahme zwei Passagen ausgelassen und das Ende des Manu-
des Themas und der Fortführung liegt ein Gespräch skripts nicht wiedergegeben (nach der Kapitelzäh-
mit Pepi, in dem Kafka K. einen für das Schloss unge- lung in S/KA fehlen Kap. 23–25). Im Nachwort legt
wöhnlichen Satz sagen lässt: »ich weiß nicht ob es so er jedoch Rechenschaft über die Texteingriffe ab.
ist, aber daß es eher so ist, als wie Du es erzählst, das Eine zweite, mit weiteren Veränderungen und
weiß ich gewiß« (S 485). Damit hätte K. einen Stand Eingriffen versehene Ausgabe, die im fortlaufenden
erreicht, der narrativ zwar noch hätte entfaltet wer- Text um die zwei gekürzten Passagen ergänzt und im
den können. Der plot allerdings würde dann festste- Anhang um weitere von Kafka gestrichene Passagen
hen: Die Vorläufigkeit aller Bemühungen wäre bis erweitert wurde, gibt Brod mit Unterstützung Heinz
zum Schluss auszuhalten gewesen. Politzers 1935 im Schocken-Verlag (Berlin) als vier-
Über den Ausgang des Romans berichtet Brod, ten Band der Gesammelten Schriften heraus (S/GS).
Kafka habe den Text mit der Aufenthaltsgenehmi- Die nächste Ausgabe erscheint 1946 im Schocken-
gung für K. enden lassen wollen, die ihn im Augen- Verlag (S/GS2); sie ist identisch mit der Ausgabe von
blick seines Todes vom Schloss erreicht (S/GW 1935, Brod fügt aber ein weiteres Nachwort hinzu,
Das Schloss 303

das das Ende des Fragments und weitere gestrichene Gründe für die Einschnitte: Querstriche zeigen die
Varianten enthält. Unterbrechung des Schreibaktes an: Einer steht ver-
Die erste wiederum von Brod verantwortete Li- mutlich an der Stelle, an der die Arbeit am Schloss
zenzausgabe für den europäischen Markt aus dem unterbrochen wurde, um Erstes Leid zu schreiben,
Jahr 1951 im Rahmen der Gesammelten Werke im einer markiert einen Ortswechsel, sieben entstehen
S. Fischer Verlag (S/GW) ist text- aber nicht seiten- aus »dem fehlgeschlagenen Versuch, den Text über
identisch mit den Ausgaben von 1935 und 1946 und eine in sich abgeschlossene Szene hinaus im selben
bildet die Grundlage aller weiteren Ausgaben bis Schreibakt fortzusetzen« (Hohoff, 577). Hohoff
1982. Sie enthält im Nachwort zusätzlich zu den frü- kommt zu dem Ergebnis, dass Pasley eine editions-
her mitgeteilten Varianten fünf weitere. philologisch vertretbare Kapiteleinteilung vorge-
Die erste textkritische Ausgabe (nach der im Fol- nommen hat, der Text aber mit Kapiteleinteilungen
genden zitiert wird) entstand im Rahmen der Kriti- und -überschriften erscheint, »die sich im Manu-
schen Ausgabe und wurde von Malcolm Pasley 1982 skript so nicht finden« (Hohoff, 576). Ergänzend
herausgegeben (S/KA). Pasley hatte bereits 1965 auf müsste angefügt werden, dass Kafka mit der Kapitel-
die Schwächen der Brod-Ausgaben hingewiesen: einteilung erst begonnen hat, nachdem er von der
Weder Text noch Kapiteleinteilung entsprächen dem Ich- zur Er-Erzählung überging, also während des 3.
Manuskriptbefund. Die Ausgabe von Pasley trägt Kapitels oder danach. Dieses Kapitel enthält zugleich
dem Rechnung und bietet den gesamten Text in ei- die Liebesszene zwischen K. und Frieda. Kafka dis-
ner kritischen Edition. tanziert sich hier vom literarischen Probehandeln,
die Fiktionalisierung gewinnt an Eigendynamik. Ab-
lesbar ist dies auch an den Einträgen im Tagebuch, in
Textbeschreibung dem er den Wunsch äußert, keine Frauen in seinen
Lebenskreis einzubeziehen (25.1.1922; T 891).
Gliederung
Im strengen Sinne des Wortes ist die Formulierung Bildlichkeit und Erzähltechnik
Das Schloss kein Werk-, sondern ein Arbeitstitel
(Kölbel, 16). Pasley zufolge wurde der Text nach dem Als Kafka das zweite Heft (S 108–183) Brod 1922 zu
»Ideal der streng linearen Konzeptionsmethode« lesen gab, war ihm das Geschriebene peinlich. Der
(S:A 73) geschrieben. Zur Gliederung des Roman- Text sei zum »Geschrieben-, nicht zum Gelesenwer-
fragments verwendet er zwei Stichwortlisten von den« da (An M. Brod, 21.7.1922; BMB 389); Kafka
Kafkas Hand (abgebildet in S:A 88 f.). Die erste be- hatte jedoch Brod am 15. März den Beginn vorgele-
findet sich auf dem herausgetrennten vorderen sen. Nimmt man diese Intention ernst, dachte Kafka
Schutzblatt des ersten Manuskriptheftes (durch- beim Schreiben nicht an Rezipienten. Das Schloss-
nummerierte Stichwörter), die zweite auf dem Fragment wäre dann vielmehr eine Art der Selbstan-
Schutzblatt des zweiten Heftes (Stichwörter zu den sprache, deren Auswirkungen bei der Feststellung
ersten beiden Kapiteln). Zudem nutzt Pasley die von des Erzählerkonzepts bedacht werden müssen, denn
Kafka vorgenommenen Querstriche oder Einfügun- ein solcher Erzähler der Geschichte müsste nicht alle
gen »Kapitel« im fortlaufenden Text. notwendigen Informationen explizit mitteilen.
Übergeordnete Priorität hat für Pasley die erste Rätselhaft erscheint Das Schloss vor allem wegen
Liste, die er wie ein Inhaltsverzeichnis liest. Er ver- der autonomen Bildlichkeit (vgl. Richter u. Engel).
wendet bei 19 von 25 Kapiteln Überschriften (Brod Kafka entlehnt der uneigentlichen Rede die Ge-
hatte nur Abschnitte innerhalb eines Kapitels damit schlossenheit des ›Bildbereichs‹ gegenüber dem
versehen). Diese Lesart der ersten Stichwortliste ›Sachbereich‹: Die Sache, um die es geht, bleibt
zwingt dann dazu, die vorhandene Binnengliede- traumartig verschlüsselt. Kurz spricht von einer
rung Kafkas durch Querstriche zu marginalisieren; Form der Allegorie, die »nicht die semantische Geste
so zieht Pasley das 11. und 12. Kapitel nach der Brod- ›dies bedeutet nur‹ erfüllt, sondern eine Tiefenper-
Ausgabe zu einem zusammen (obwohl ein Quer- spektive an Bedeutungen evoziert« (Kurz 1980, 132).
strich vorhanden ist), weil die Überschrift den Inhalt Die Bezüge im Bildbereich sperren sich gegen eine
beider Textabschnitte betrifft (»In der Schule«). Laut Übersetzung in den Sachbereich. Begriffe, die solch
Hohoff ist die Gliederung Kafkas jedoch nicht nur ein Sprachverständnis umkreisen, sind »gleitende
inhaltlich motiviert. Sie markiert unterschiedliche Signifikation« (Kremer 1987, 148) oder »Allusivität«
304 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

(vgl. Emrich 1981, 75 f.; Pfaff, 12; Fromm, 82); Pasley Was ist das ›Schloss‹?
spricht von einer »Sinn-Richtung« (Pasley 1995, 9).
Kafka versucht, die Kluft zwischen Fiktion und Rea- Der Roman stellt jeden Leser vor Beschreibungs-
lität zu vergrößern, dieser antimimetische Impuls probleme. Um sagen zu können, wovon er handelt,
wird durch eine »perspektivische Auffächerung« er- braucht man ein Vorverständnis des Schlosses, auf
reicht (Richter, 283 f.). das hin und von dem her sich jede Handlung ent-
Friedrich Beißner zufolge sind Erzähler und Figur wickelt oder zu legitimieren scheint: Das Schloss ist
bei Kafka kongruent (Beißner 1952). Diese These die zentrale Unbestimmtheitsstelle im Roman. Eine
von der »Einsinnigkeit« des Erzählens ist durch Ver- vorschnelle Festlegung führt zu einem vorzeitigen
weise auf die Differenzen zwischen Figur und Erzäh- Abbruch der Entfaltung des Sinnhorizontes. Will
ler mehrfach relativiert und kritisiert worden (Über- man dieser Grundschwierigkeit entgehen, bietet es
sichten bei Beicken, Sheppard 1973, Zeller). Kafka sich an, zunächst die Facetten des Schloss-Bildes zu
erzählt eben nicht ›einsinnig‹. Lothar Fietz konnte entfalten. Die Interpretation des Romans ist auf die
plausibel machen, dass der Bewusstseinsraum K.s Interpretation der Figuren des Romans angewie-
wesentlich auf die Darstellung einwirkt (Fietz 1963). sen, der Praxis der Deutung geht also die Deu-
Von hier aus ließen sich verallgemeinernd die Figu- tungspraxis der Figuren in der fiktiven Welt vor-
ren als ›kleine Konstruktivisten‹ beschreiben, die aus.
ihre Welt mit dem Blick sehen, in dem sie sie erschaf- Das Schloss enthält einen hohen Anteil szenischer
fen haben. Diese Figuren haben ein jeweils eigenes Darstellung. Den Fortgang der Narration bestim-
Problembewusstsein vom Schloss und den Verhält- men Dialoge, in denen Gründe für die Stellung der
nissen im Dorf. Die meisten Dorfbewohner halten Figuren im Dorf und ihr Verhältnis zum Schloss Ge-
K. für naiv im Umgang mit dem Schloss und leisten genstand sind: K. schreitet einzelne Stationen ab, in
in den Gesprächen ›Aufklärungsarbeit‹, versuchen denen die unterschiedlichen Sichtweisen auf das
K.s Sichtweise zu verändern. K. tritt dadurch in ei- Schloss und die Ereignisse im Dorf aus den verschie-
nen argumentativen Wettbewerb mit ihnen. Erst im denen Lebensläufen der Figuren erklärt werden;
Konflikt der Interpretationen des Schlosses wird jede Handlungen führen zu Deutungen K.s, die dann in
einzelne Perspektive deutlich konturiert – das ist den darauf folgenden Gesprächen über die vergan-
nicht zuletzt deshalb wichtig, um den Humor und genen Handlungen durch Re-Interpretationen ande-
die Komik im Fragment zu verstehen. rer Figuren anders perspektiviert werden.
Kafka hat bereits 1912 in Hinblick auf das Urteil,
seinen ›Durchbruchstext‹, vom »perspektivischen
Ankunft
Wechsel« (An F. Bauer, 10.6.1913; B13–14 205) ge-
schrieben, der sich anhand des Freundes aus Peters- K. kommt in ein Dorf, das zu Füßen eines Schlosses
burg ereignet. Der Freund personifiziert Bezie- liegt. Das Schloss gehört einem Grafen »Westwest«
hungsmuster und -verhältnisse zwischen Vater und (S 8), über den im Verlauf der Handlung nur noch
Sohn. Innerhalb der diegetischen Welt hat er keinen vom Lehrer der Dorfschule gesagt wird, dass vor den
Realitätsgehalt, sondern die Funktion, etwas anzu- Schulkindern über ihn zu reden anstößig sei (20) –
zeigen. Der Freund delinearisiert und entrealisiert er ist offenbar mit Scham besetzt. Der Graf ist nicht
das Erzählte; es entsteht ein mehrdimensionaler se- weiter Thema im Text, dafür aber wird die Anstößig-
mantischer Raum, der die einzelnen Perspektiven keit in einer späteren Episode mit Schlossbeamten
aufhebt, die ihn mitkonstituieren. Vergleichbar sind erneut relevant.
die Chiffrierungen im Schloss-Roman gebildet. Auch K. bringt ein Vorwissen mit, über das der Text nur
der Roman nutzt die Technik des ›perspektivischen partiell Auskunft gibt. Die Absichten K.s werden in
Wechsels‹: Das Schloss ist eine Chiffrierung für die den Gesprächen mit den Figuren nach einem Prin-
Verhältnisse der Romanfiguren zueinander, zu sich zip der sparsamen und strategischen Informations-
und zu ihrem Leben. Die Chiffrierungen erhalten vermittlung weitergegeben. Einleitend muss K. von
ihre Bedeutungen in der gleichzeitigen Gültigkeit einem Schloss etwas wissen, da er konkret nichts
oder Ungültigkeit der Perspektiven. sieht und in die »scheinbare Leere« emporblickt: Er
sieht den Schlossberg nicht, der von »Nebel und
Finsternis« verhüllt wird, setzt also das Schloss als
vorhanden voraus (7).
Das Schloss 305

K. sucht eine Unterkunft im Wirtshaus zum Brü- er aber in direkten telefonischen Kontakt mit dem
ckenhof, einem Gasthaus, in dem einfache Leute ver- Schloss treten will, hört er zuerst ein »Summen« (36,
kehren. Er bittet Schwarzer, den Sohn des Dorfkas- 116), von dem es heißt, es sei einem Gesang, einer
tellans, um die Erlaubnis, im Dorf übernachten zu starken Stimme vergleichbar, die tiefer einzudringen
dürfen. Als er zur Legitimierung seiner Handlungen verlange, »als nur in das armselige Gehör« (36).
aufgefordert wird, erklärt er, der vom Grafen be-
stellte Landvermesser zu sein.
Klamm
Im ersten Gespräch fragt K. den Sohn des Dorf-
kastellans: »Ist denn hier ein Schloß?« (S 8). Solche Eine erste Nachricht, die K. von den Schlossbehör-
Verschiebungen, die der Text zunächst den Bewoh- den erhält, stammt von Klamm. Da die Unterschrift
nern des Dorfes als »gewissermaßen diplomatische unleserlich ist, müsste korrekterweise gesagt werden,
Bildung« zuschreibt (11), kennzeichnen alle Gesprä- dass Barnabas, der Bote, den Namen Klamm ins
che. Die Figuren sind durch eine kommunikative Spiel bringt, lesbar ist nur »Vorstand der X. Kanzlei«
Strategie der Zurückhaltung relevanter Informatio- (40). Der Brief enthält die Nachricht, K. sei, wie er
nen gekennzeichnet. Sie verhalten sich wie Personen wisse, »in die herrschaftlichen Dienste aufgenom-
im öffentlichen Raum. Man erfährt von K., dass er men« (ebd.). Der Dorfvorsteher wird zum nächsten
sich mit bestimmten »Absichten« im Dorf aufhält Vorgesetzten erklärt, Barnabas zum Boten. Diese
(80), diese werden dem Leser aber nicht im Detail Aufnahme im Dorf wird von K. so verstanden, dass
mitgeteilt. Das erste Kapitel verdächtigt eine solche der Brief nur sein Selbstverständnis bestätigt – der
Art der Dialogführung als »Komödie« (9, 38): Man Dorfvorsteher wird dagegen später von einem priva-
spiele einander etwas vor. Dennoch gibt es Hinweise ten, nicht-amtlichen Schreiben Klamms sprechen
auf ein Vorwissen: K. sieht den Gebäudekomplex des (114). K. interpretiert die Nachricht weiterhin so,
Schlosses, der »im Ganzen« »seinen Erwartungen« dass sie ihn vor die Entscheidung stelle, Dorfarbeiter
»entsprach« (17). mit einer scheinbaren Beziehung zum Schloss oder
Der Grund für die Verschleierung der Absichten scheinbarer Dorfarbeiter zu werden (42). Er ent-
K.s wird mit der Hoffnung auf Freiheit (12, 14 u.ö.) scheidet sich für Letzteres, also dafür, möglichst weit
angegeben, wobei der Text suggeriert, dass diese weg vom Schloss seine Ziele im Schloss zu erreichen.
durch das Eindringen ins Schloss erreichbar sei (27). Damit ordnet er sich einem Stand im Dorf zu, von
Tatsächlich aber bewegt sich K. von Beginn an in der dem es wiederum heißt, es würden sich ihm dadurch
Spannung von Freiheit und Fremdheit, oder später »alle Wege« jenseits der Gnade der »Herren oben«
Freiheit und Sinnlosigkeitsverdacht (169); berück- öffnen (ebd.).
sichtigt man zusätzlich den sozialen Raum der Figu- Am Ende eines Ganges mit Barnabas, der zu K.s
ren, steht K. zugleich in Opposition zum dörflichen Enttäuschung in dessen Heim und nicht ins Schloss
Leben, das von der Macht der Schlossbehörde(n) ge- geführt hat, lernt K. die Familie des Boten kennen.
kennzeichnet ist. Mit dessen Schwester Olga geht er in den Herrenhof,
Mit K.s Ankunft reagieren zwei Seiten aufeinan- ein Wirtshaus, in dem vor allem die Schloss-Beam-
der, wobei der Status beider, K.s und des Schlosses, ten verkehren. Dort erfährt er, dass Klamm im Her-
unklar bleibt. Unklar bleibt auch, ob K., der sich als renhof übernachtet. Frieda, die Frau aus dem Aus-
Landvermesser vorstellt (9 f.), derjenige ist, der er zu schank, ermöglicht es ihm, durch ein Schlüsselloch
sein vorgibt. Er kündigt das Kommen seiner Gehil- einen Blick auf Klamm zu werfen. Diese Szene ist in-
fen an, die ihm vom Schloss dann zur Verfügung ge- sofern zentral, als sie die wesentlichen Momente
stellt werden, ohne dass er sie erkennen würde (31 f.). zum Fortgang der Handlung enthält, zugleich aber
In einem Gespräch mit den Schlossbehörden wird er die Verhältnisse über den Blick kodiert: Klamm hatte
als der »ewige Landvermesser« identifiziert, stellt in seiner Nachricht geschrieben: »Trotzdem werde
sich dabei aber unter dem (erfundenen) Namen sei- aber auch ich Sie nicht aus den Augen verlieren«
nes Gehilfen Josef vor (37; eine Anspielung auf Josef (40); nun aber blickt K. auf Klamm, wie Frieda ihn
K. aus dem Process). Die Kommunikation mit dem vorstellt und sieht. Vorher schon erschien es K., als
Schloss folgt derselben Logik wie dessen Wahrneh- ob Friedas Blick »K. betreffende Dinge erledigt hatte,
mung: Solange K. den anderen Figuren des Romans von deren Vorhandensein er selbst noch gar nicht
vertrauen muss, scheint z. B. der Telefonapparat in wußte, von deren Vorhandensein aber der Blick ihn
Hinblick auf das Schloss zu funktionieren (11 f.). Als überzeugte« (60); später erst offenbart sich Frieda als
306 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

»Klamms Geliebte« (62). Aus diesen Blickkonstella- cher Weise war ja nichts mehr zu sehn, der Kutscher
tionen heraus entsteht zwischen K. und Frieda eine hatte auch die Fußspuren im Schnee glattgekehrt«
Liebesgeschichte. Die romantische Disposition des (172).
Blicks entfaltet sich bei K. allerdings (und wohl auch Die Eigenschaften, die Klamm zugesprochen wer-
in der Sicht des Erzählers) in einer Beischlafszene den, wie Vergesslichkeit (281) und Schlaf (65), kor-
aus der Opposition von Nähe und körperlicher respondieren mit den Beschreibungen über ihn.
Fremdheit (69). Dennoch entwickeln K. und Frieda Olga erklärt das Wissen über Klamm aus dem (my-
Heiratspläne. thischen) Bewusstsein der Wahrnehmenden:
Eine zweite Nachricht, die K. erreicht, lobt ihn für Er soll ganz anders aussehn, wenn er ins Dorf kommt
seine Arbeit als Landvermesser (187). Nach Barna- und anders wenn er es verläßt, anders ehe er Bier ge-
bas hat die zweite Nachricht Klamms seine Schwes- trunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders
ter Amalia aus dem Schloss geholt. Der Bote, der im im Schlafen (278).
ersten Brief noch von Klamm als direkte Übermitt- Die Reihe der Unterschiede in der Wahrnehmung
lungsmöglichkeit eingesetzt worden ist, ist beim ließe sich beliebig fortsetzen; sie hängen von dem
zweiten Brief nur noch mittelbar beteiligt, die Sach- »Grad der Aufregung, [den] unzähligen Abstufun-
lage wird verdunkelt. gen der Hoffnung oder Verzweiflung, in welcher sich
Für K. stellt sich bald heraus, dass kein Weg ins der Zuschauer […] befindet« ab. Einheitlich ist nur
Schloss führt. Sein Versuch, vor das Schlosstor zu das »Kleid«, »ein schwarzes Jackettkleid mit langen
gelangen, scheitert an dem gewählten Weg (21). Schößen« (278). Mit diesem Kleid, das bloß die äu-
Frieda und die von den Dorfbewohnern akzeptier- ßere Form, nicht aber die Individualität festhält, ist
ten Vertreter des Schlosses sind sich dessen sicher: Klamm immerhin eindeutiger als das Schloss, von
Im Dorf herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass dem es heißt, es gebe mehrere Zufahrten zu ihm;
man nicht ins Schloss gelangen kann. Ebenso un- einmal sei die eine in Mode, ein anderes Mal eine an-
möglich soll ein direktes Gespräch mit Klamm sein dere (342). Die Regularien im Dorf sind ebenso
(z. B. 78). Eine Ausnahme bildet K., der die Annah- Wechseln unterworfen, wie die Deutungen des
men der Dorfbewohner und deren Vertreter bezwei- Schlosses. Diese wechselnden ›Moden‹ scheinen ein
felt. Frieda hält es für unmöglich, dass K. Klamm Anlass für die Entfernung zum Schloss zu sein. Nahe
sprechen könne, er sei nicht in der Lage Klamm sind die Figuren Klamm hingegen, wenn sie unbe-
»wirklich zu sehn« (80). Dennoch versteht sie die stimmt und undifferenziert fühlen, z. B. in der Liebe,
Liebe zu K. als Klamms Werk. in der Erinnerung oder in der Cognac-Episode, als
Der narrative Raum erlaubt es aber sehr wohl, aus K. vergeblich auf Klamm wartet, aber nach dem Ge-
dem Schloss zu kommen. Selbstbehauptungen wie nuss des Cognacs in dessen mit Pelzen ausgestatte-
die, »ein Mädchen aus dem Schloss« zu sein (25), ten Schlitten einen Rausch erlebt (163 f.).
lassen an Eindeutigkeit keinen Zweifel, auch wenn
sie vom Erzähler, der in dieser Szene die Ekphrasis
Die Dorfbewohner
eines Marienbildes betreibt, konterkariert wird.
Auch bei anderen Figuren wird die Abkunft aus dem Zwei größere Gruppen lassen sich im Dorf unter-
Schloss suggeriert – wie bei den beiden Gehilfen, die scheiden: Von Olga erfährt K., dass drei Jahre vor
den Weg vom Schloss herunterlaufen (26). seinem Eintritt ins Dorf ihre Familie aus der Dorfge-
Die Deutungen der Romanfiguren kreisen um die meinschaft verstoßen wurde. Ihre Schwester Amalia
Personifikation der Unsichtbarkeit des Schlosses, hatte auf einem Feuerwehrfest ein zweideutiges An-
Klamm, von dem man nicht weiß, ob er es sei, wenn gebot vom Schlossbeamten Sortini erhalten, das sie
er scheinbar sichtbar ist. Denn Klamm wird von den ablehnte. Daraufhin wurde die Familie von den an-
Romanfiguren auf unterschiedliche Weise wahrge- deren Dorfbewohnern marginalisiert und stigmati-
nommen und ›erkannt‹. Auch Barnabas, der Klamm siert. Hoffnung, die Beziehungen zum Dorf zu ver-
auf der Behörde gesehen zu haben meint, ist sich bessern, setzt die Familie in eine erneute Aufnahme
nicht sicher, ob es tatsächlich Klamm war (276); Pepi der Beziehungen zum Schloss. Der Vater Olgas und
behauptet über Klamm, man müsse Friedas Erzäh- ihr Bruder Barnabas versuchen, die Ablehnung
lungen über ihn glauben (461 f.); Momus, Klamms Amalias zu kompensieren. Das Auftreten K.s scheint
Dorfsekretär, eröffnet die Spannung zwischen des- zu einer ersten Beachtung von Seiten der Schlossbe-
sen Materialität und Immaterialität: »Nun, glückli- amten zu führen, da Barnabas für K. wichtige Nach-
Das Schloss 307

richten übermitteln soll. Sein bisher eher privates K. ist auch in der Liebe einer Unmöglichkeit ausge-
Verhältnis zum Schloss erhält so einen amtlichen setzt: Es gibt etwas, das Liebe zu sein verspricht, in
Anstrich. der konkreten Erfüllung aber verfehlt wird.
Die zweite Gruppe lässt sich um Frieda und die
Wirtin anordnen, die beide ein Angebot von Schloss-
Behörden-Logik
vertretern erhalten und es, im Gegensatz zu Amalia,
angenommen haben. Die Wirtin ist drei Mal dem Die Romanfiguren werfen K. eine gewisse Einfältig-
Ruf Klamms gefolgt; Frieda ist die Geliebte Klamms, keit im Umgang mit dem Schloss und seinen Behör-
die zeitweise mit K. zusammenlebt, dann aber wie- den vor. Der häufigste Vorwurf lautet, er verstünde
der zu Klamm zurückkehrt. Auf Seiten der Männer die Vorgänge nicht. Innerhalb der erzählten Welt
gehören zu Frieda und der Wirtin der Lehrer, der wird ein Unterschied zwischen Befund und Deutung
Dorfvorsteher und der Wirt. (Möglicherweise hätte gezogen. Das Gespräch K.s mit dem Vorsteher (92–
der vollendete Roman noch eine dritte Gruppe um 120) lässt sich am ehesten paradigmatisch in Hin-
Gerstäcker und Lasemann ausführlicher gestaltet.) sicht auf den Befund lesen.
Die entscheidenden, das Dorfleben strukturieren- Es gibt im Umgang mit dem Schloss nur wenig
den Ereignisse sind die Angebote der Schlossbeam- schriftlich festgelegte Ordnungen oder Verfahrens-
ten an Frauen aus dem Dorf. Der Status dieser weisen. Schlossbehörden und Dorf erscheinen als
(schriftlich erfolgenden) Angebote ist nicht eindeu- zwei nicht synchronisierte Bereiche, die nicht inein-
tig: Amalia, die ablehnt, stellt das Ansinnen als trieb- ander greifen. Im Gespräch macht K. dem Vorsteher
haftes Geschehen dar, die Wirtin (124–135) und den Vorwurf, er kenne wohl nur das Mobiliar des
Frieda, die es annehmen, als eine Erhöhung. Nähe Schlosses, was dieser bestätigt – nicht ohne in dem
und Erfüllung oder Gewalt und Triebhaftigkeit – das Gespräch auf den hervorgehobenen Einfluss der
sind die Deutungen, um die sich größere Dorfver- Frauen im Umgang mit den Schlossbehörden hinzu-
bände gruppieren. weisen.
Die sozialen Gruppen verbindet das Geschlecht. Die Kenntnisse des Vorstehers über das Schloss
Die Frauen aus beiden Gruppen stehen in der Nähe lassen sich an der Spekulation über die Gründe der
zum Schloss, sie sind, wie die Wirtin oder Frieda un- Berufung K.s ablesen. Der Vorsteher deutet die Vor-
mittelbar an das Schloss gebunden, während die Män- kommnisse aus der Logik eines unfehlbaren Buchs
ner Teil der Hierarchie sind, also funktional abhängig. des Lebens. Er versucht, dieses Buch unter der Be-
Die funktionale Relation zum Schloss lässt sich unter- dingung auszulegen, dass selbst ein Fehler nichts an-
teilen in private und amtliche Beziehungen (wobei deres sei als eine Fügung. Die Berufungsverhältnisse
zwischen beiden natürlich Übergänge existieren). sind unklar, da die Äußerungen des Schlosses nicht
Nachdem K. die Geschichte Amalias erfahren hat, wörtlich zu nehmen sind (118); der Vorsteher weist
verlässt ihn Frieda, weil sie ihm »Verrat« vorwirft K. darauf hin, dass der Kontakt mit den Behörden
(369), und kehrt in den Herrenhof zurück, aus dem »nur scheinbar«, nicht wirklich stattfindet (115).
sie wiederum Pepi, die Friedas Stelle übernommen Diese Kategorie ist sowohl erkenntnistheoretisch als
hat, vertreibt. Im Gespräch mit Pepi, die K. eindeu- auch ästhetisch aufschlussreich, denn die Figuren
tige Angebote macht, stehen zwei Deutungen der machen Scheinerfahrungen höherer Art und ver-
Zusammenkunft und Trennung von Frieda und K. wenden sie in ihren Argumentationen als Ausgangs-
zur Disposition: K. soll aus der Sicht Friedas und der basis für Aussagen über scheinbar reale Entitäten.
Wirtin Gardena Frieda getäuscht haben, indem er in Die Verbindung zum Schloss oder zumindest die
die Beziehung nur eingewilligt habe, um Klamm na- Hoffnung darauf ist laut der Wirtin Gardena das
hezukommen; Pepi hingegen deutet die Zusammen- Protokoll (181); solche Protokolle seien vom »Geiste«
kunft so, dass Frieda nur in die Beziehung mit K. Klamms »erfüllt« (183). Momus, der Dorfsekretär
eingewilligt habe, um Klamms erneute Aufmerk- Klamms, will in einem Verhör ein Protokoll entwer-
samkeit zu gewinnen. Im Gespräch mit Pepi vertei- fen, gewissermaßen um für K.s Erlösung ein gutes
digt K. aber Friedas Haltung: Wort bei der Behörde abzugeben. Protokolliert wer-
den soll K.s Warten auf Klamm in der Cognac-Epi-
Selbst jemand der gar nicht von dem Verhältnis zu
sode. K. lehnt jedoch ab.
Klamm wüßte, müßte an ihrem Wesen erkennen, daß es
jemand geformt hat, der mehr war als Du und ich und Die scheinbare Berührung mit den Behörden
alles Volk im Dorf (484). durchlebt K. dann in der Bürgel-Episode (403–426).
308 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Sie bildet den Punkt der größten Annäherung an das Angriffe auf dem Weg im Schnee am Abend. Immer die
Schloss: K. ist zu Erlanger gerufen worden, gelangt Vermischung der Vorstellungen etwa so: In dieser Welt
wäre die Lage schrecklich, hier allein in Sp., überdies auf
aber zunächst in den Schlaf- und Büroraum Bürgels. einem verlassenen Weg, auf dem man im Dunkel im
Während des Gesprächs mit ihm schläft K. zweimal Schnee fortwährend ausgleitet, überdies ein sinnloser
ein. Zunächst träumt er noch, mit homoerotischen Weg ohne irdisches Ziel (zur Brücke? Warum dorthin?
Konnotationen, von der Überwindung aller Hinder- Außerdem habe ich sie nicht einmal erreicht) (T 894 f.).
nisse: Er kämpft gegen die »Statue eines griechischen
Gottes« (415). Vom zweiten Schlaf weiß K. schon im Die Darstellung der isolierten Situation eines Einzel-
voraus, dass er »diesmal ohne Traum und Störung« nen in der Gesellschaft vor dem Hintergrund zweier
verlaufen wird (419). Erst dieser Schlaf, aus dem K. Dimensionen (›hier‹, ›dort‹, vgl. Müller 2006, 233)
»grenzenlos schlafbedürftig« erwacht, führt K. die kennzeichnet auch die Situation K.s im Romanfrag-
»völlige Nutzlosigkeit« des Gesprächs mit Bürgel vor ment. Die »Vermischung der Vorstellungen« er-
(426). scheint transformiert in eine Wahrnehmungsszene,
Der Traum wird als der mimetische Nachvollzug in der etwas gesehen wird, was nicht sichtbar ist, der
dessen vorgestellt, was mit den Sinnen und der »sinnlose Weg ohne irdisches Ziel« führt nun zu ei-
Sprache bewusst nicht mehr in Erfahrung zu brin- ner Brücke, die statt das »Hier« vom »Dort« die Ver-
gen ist. Der Traum verweist durch das Moment der gangenheit von der Gegenwart trennt.
Ausschaltung des Bewusstseins auf sprachlich un- Solche »Vermischungen«, die vermutlich auf eine
einholbare Bereiche: den ewigen Schlaf, den Traum, erfahrungs- aber nicht begriffsorientierte Rezepti-
den Tod. Damit ist dann jede Erfahrungsmöglich- onshaltung zurückgehen, kennzeichnen auch die in-
keit des Schlosses in der anthropologischen Be- tertextuellen Bezüge. In der Forschung sind philoso-
grenztheit des Subjekts erfasst und verneint. Bürgel phische Einflüsse beschrieben worden, u. a. von
kommentiert die Vorgänge mit den Worten: »Es gibt Nietzsche und Schopenhauer, oder religiöse bzw.
Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst schei- theologische, u. a. von Kierkegaard, Micha Josef Bin
tern« (426; vgl. auch: »Die Leibeskräfte reichen nur Gorion sowie literarische, u. a. von Brod, Kleist, Al-
bis zu einer gewissen Grenze, wer kann dafür, daß fred Kubin, Knut Hamsun, Božena Nĕmcová (vgl.
gerade diese Grenze auch sonst bedeutungsvoll ist«, Sheppard 1979, 442 f.). Michael Müller zufolge zi-
425). Die »gewisse« Grenze, die nicht mehr be- tiert Kafka Topoi aus der phantastischen Literatur
stimmbar ist, ist der Körper – und damit die materi- und dem Schauerroman, in denen z. B. das Schloss
elle Verfassung K.s, dem Klamms gleichzeitige Im- als Ort des Bösen erscheint (Müller 2004, 257).
materialität fehlt. Für die Deutung des Romanfragments ebenso
wichtig wie mögliche Vorlagen sind die weiteren
Mögliche Einflüsse und Paralleltexte Texte, die während und nach der Arbeit am Schloss
entstanden sind: Erstes Leid, Ein Hungerkünstler,
Direkte Einflüsse von Vorlagen und Vorbildern sind <Forschungen eines Hundes> und andere Fragmente
kaum belegbar. Pasley (1995), Sheppard (1979) und (NSF II, 369 ff.).
Alt (2009) erwähnen mögliche Vorlagen zum Schloss
(vgl. z. B. die Abbildungen in BMB 164 und Alt 2009,
167). Auf der Reise nach Weimar und Jungborn im Zur Forschung
Juni/Juli 1912 lernt Kafka einen ›Landvermesser‹ na-
Allegorie, Parabel oder Symbol?
mens Hitzer kennen, der Vertreter der »Christl. Ge-
meinschaft« ist, und im Disput mit einem Atheisten Max Brod hat mit dem Nachwort zur ersten Aus-
namens Dr. Friedrich Schiller steht (14.7.1912; gabe von 1926 die Rezeption entschieden gelenkt
T 1045 f.). (vgl. M. Müller 2006, 218). Er bezieht das Roman-
Einflüsse sind nicht zuletzt deshalb schwer aufzu- fragment auf den Process. Beide Romane enthielten
zeigen, weil Kafka sein Material im Akt der Imagina- Varianten der Beschäftigung mit religiösen The-
tion dem Schreibprozess einpasst. Ein Beispiel dafür men: Der Process stelle im Sinne der Kabbala eine
ist ein Eintrag im Tagebuch über einen Spaziergang Erscheinungsform der Gottheit dar, nämlich das
am 29. Januar 1922 (vgl. K.D. Müller 2007), der mit Gericht, Das Schloss eine zweite: die Gnade (S/GW
der Eingangsszene des Romans eigentümlich inter- 484). Brod liest den Roman zudem von Kierke-
agiert: gaards Furcht und Zittern aus als Darstellung der
Das Schloss 309

»Inkommensurabilität irdischen und religiösen Klamms herbeizubringen. Was aber K. nicht ver-
Tuns« (S/GW 488). steht, kann der Leser im Nachvollzug der paraboli-
Die Deutungen des Romanfragments bis 1945 schen Handlung verstehen. Kafka schreibe demnach
sind meist allegorisch geblieben, die Differenzen be- an einer »Poetik des Unsagbaren«. Die Müdigkeit
trafen lediglich den Ausgangspunkt: Den religiösen K.s z. B. in der Bürgel-Episode sei im religiösen Kon-
Lesarten in christlicher oder jüdischer Perspektive text als Metapher für einen Durchgang zur Trans-
schließen sich psychologische oder psychoanalyti- zendenz zu betrachten (266 ff.) und Bürgels Position
sche an (vgl. die Übersichten bei Beicken u. Shep- Nietzsches Atheismus vergleichbar. K. versteht die
pard 1979). Widerspruch erfahren diese Ansätze zu- Einwände nicht, er versteht aber auch nicht, dass er
nächst durch soziologische Deutungen. Hans Sahl sie im Traum außer Kraft gesetzt hat. Dieses Signal
schreibt in Das Tagebuch, der Roman verriete »nie wird jedoch nur dem Leser gegeben, der die parabo-
seine gleichnishafte Absicht« (22.1.1927; zit. nach lische Handlung verstehen kann.
Born, 154). Siegfried Kracauer erkennt im Roman
vor allem die »Abgesperrtheit des Menschen vor der Judentum
Wahrheit«, die er als »Matrize des Märchens« wie-
dergegeben findet (zit. n. Born, 141). Sahl und Kra- Eine Fortsetzung der symbolischen Deutung, die
cauer betonen die Gleichnishaftigkeit des Romans nun stärker auf den jüdischen Kontext bezogen wird,
und sind damit textnäher als existenzialistische Deu- entwickelt beispielsweise Zimmermann (zuletzt
tungen, die aus dem Roman die Absurdität des Men- 2004, 163 ff.). Für ihn ist bereits der Name des
schen und die moderne Krise des Subjekts herausle- Schlossbesitzers, des Grafen Westwest, ein Hinweis,
sen. den Roman historisch und heilsgeschichtlich auf
Die Diskussion in den 1960er Jahren entfaltet das West- und Ostjudentum zu beziehen. Der symboli-
Spektrum uneigentlichen Redens (vgl. die konzise schen Deutung werden auch allegorische Tendenzen
Übersicht bei Sokel 2005). Politzer erkennt paraboli- eingefügt, etwa, wenn Olga und Amalia als Ecclesia
sche Tendenzen, die paradox strukturiert seien. Laut und Synagoga verstanden werden. Klamm wiede-
Emrich ist der »Hintergrund der Kafkaschen ›Para- rum sei eine Allegorie der Täuschung. Insgesamt, so
beln‹« leer (Emrich, 77). Vor allem die Verabschie- Zimmermann, handele es sich im Roman um den
dung einer metaphysischen Grundierung führt zur Versuch einer Erneuerung der Tradition (Zimmer-
Annahme, dass Kafka im Konkreten Fragestellungen mann 1985, 191).
des Allgemeinen verhandelt und in negativer Form Ritchie Robertson erkennt im Anschluss an Sokel
gleichnishaft und symbolisch verfährt, indem er le- vor allem eine metaphorische Relation des Romans
diglich andeutet, was nicht mehr auszudrücken ist zur empirischen Welt und beschreibt die jüdischen
(Emrich 81, 84): Bewusstsein verhindert bei Kafka bzw. chassidischen Spuren im Roman, ohne den of-
das, was es will; die Konzentration auf die Wahrheit fenen Sinnhorizont einzuschränken (Robertson
führt zu deren Verlust. 1988, 284 f.). Demnach geht die Berufsbezeichnung
Die Untersuchungen zum Verhältnis von Imma- K.s auf ein Wortspiel zwischen hebräisch maschoach
nenz und Transzendenz sind aber nicht aufgegeben (Landvermesser) und hebräisch maschiach (Messias)
worden. Nach Ries zeigt Kafka eine Verfallsge- zurück (297). Um K. eröffnet sich der Vorstellungs-
schichte der Metaphysik. Die Einlösung von Tran- raum falscher Messiasgestalten, über deren Eigen-
szendenz führt zum Tod, der im Leben als Terror er- schaften er verfüge. Die damit verbundene Zwangs-
scheinen muss. Greß versteht Das Schloss parabo- vorstellung, ins Schloss zu gelangen, führt dann zum
lisch als Vermessung des Landes des Glaubens, Scheitern K.s (306). Das Vorbild für das Schloss sei
Wissens und der Erkenntnis (Greß, 175). Nicht nur das alttestamentarische Zion (307); Burg oder Stadt
die Schreibweise, auch die Handlungsverläufe seien seien alttestamentarische Bilder des Wohnsitzes Got-
parabolisch und müssten entsprechend gelesen wer- tes. Den Grafen Westwest versteht Robertson als Be-
den (42): Kafka verweise parabolisch auf eine unsag- zeichnung für eine nicht rationale Interpretation von
bare Transzendenz. Die besonderen Verhältnisse der Religion, weil er im Roman mit Tabus besetzt wird,
Frauen zum Schloss versteht Greß als Darstellungen ähnlich wie in vormodernen Herrscherauffassungen
unterschiedlicher Religionsauffassungen in der Mo- (318 f.). Der Zusammenhang zwischen Triebhaftig-
derne (257). K.s Scheitern wiederum folge aus der keit und Glauben würde sich entsprechend aus die-
Unmöglichkeit, empirische Belege für die Existenz sen vorrationalen Glaubensauffassungen herleiten.
310 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Im jüdischen Kontext ist Kafkas Romanfragment Gerhard Neumann sieht im Schloss den Versuch,
auch vor dem Hintergrund der Schriften Franz Ro- »den Lebensraum durch Herstellen einer sprachli-
senzweigs und Martin Bubers als Darstellung und chen Ordnung, durch das Erzählen von Lebensge-
Überwindung einer religiösen Krise verstanden wor- schichten zu organisieren«; K. gelinge die Organisa-
den. Die Akzeptanz, die K. angesichts der Unerreich- tion einer Ordnung jedoch nur unzureichend, da
barkeit des Schlosses entwickelt, ist für Grimm ein mit dem Wunsch nach Ordnung in einer »Verkno-
Anlass, das Romanfragment im Kontext der Reli- tung« immer zugleich die Dissoziation mitgegeben
gion zu situieren (Grimm, 314). Grimm erkennt im ist (Neumann 1990, 218). Der Roman bespreche nun
Schloss eine Antwort auf die Krise des Judentums aus die fehlende Vermittlung in einem Dritten, der K.s
existenzphilosophischer Sicht (313 f.). Im Gegensatz Liebe und Beruf beglaubigen könnte (212). So
zum Process betont das Schloss im Kontext der Tat- komme es zu einem Zugleich von Identitätsbildung
Philosophie der Jahrhundertwende die Selbstbe- und -verhinderung, mit erheblichen Konsequenzen
hauptung. Das Ausbleiben der Vermittlung von In- für Psyche und Kommunikation. Sofern der vermit-
dividuellem und Allgemeinem durch das Schloss telnde Dritte unidentifizierbar bleibt, müsse auch al-
wird im Rahmen des jüdischen Glaubens verstan- les, was über ihn Identität erhalten könnte, dunkel
den. Es ermöglicht eine Erneuerung des Glaubens bleiben. Klamm, der im Roman die Figur dieses ver-
(321). Die »Reetablierung eines ursprünglichen mittelnden Dritten abgibt, sei sowohl Konkurrent
Glaubensverhältnisses« setzt Unmittelbarkeit voraus (ödipales Muster) als auch Nutznießer (parasitäres
(Grimm, 326). Muster) der Struktur der Romanwelt. Er wird zum
Bernd Neumann zufolge ist Das Schloss ein Mo- perspektivierenden Medium (215), das zwischen
dellroman in Hinsicht auf die Ziele und das Schei- Privatheit und Öffentlichkeit keine Unterbrechung
tern der Assimilation (Neumann 2002 u. 2007). Be- der paradoxen Struktur mehr zulässt. Berufung zum
reits die Gehilfen sind entsandt worden, um K.s Be- Landvermesser und Begehren nach Liebe blockieren
mühungen zu karikieren. K.s Position im Dorf, die sich gegenseitig. In letzter Konsequenz befindet sich
Botschaften von Klamm, die von den Verstoßenen K. in der Situation Kafkas, für den Leben und
überbracht werden, aber auch die Weigerung des Schreiben in strukturanaloger Weise zusammenge-
Schlosses, K. anzublicken und anzuerkennen, zeigen hören und sich dennoch ausschließen. Die Macht
das Scheitern der Assimilation in der Dorfwelt auf, des Blicks (vgl. Adamzik) und die Macht des man-
wie auch die Ziele K.s auf Anerkennung durch eine gelnden Dritten zeitige im Roman auch einen Unter-
fremde Macht scheitern. Hoffnung, Enttäuschung schied zwischen Dorfkultur (Kodierungen der
und Resignation sind dann die Stationen des verwei- Schlossbeamten) und Figurennatur (Triebhaftig-
gerten Assimilationsprozesses (zur Darstellung der keit). Kultur entpuppe sich als Natur.
Diskussion der jüdisch-deutschen Assimilation vgl. Aus dieser Differenz ließen sich nun Geschlechts-
auch Baioni, Grözinger). konstruktionen ableiten, die den Roman mitstruk-
turieren. Liebrand beschreibt den Roman als »Re-
Schreiben, Subjekt und Geschlecht und Defiguration einer ›phallizistisch‹ organisierten
symbolischen Ordnung« nach Lacan (Liebrand
Wo die Dorfbewohner Erlösung erkennen, sehen 1998, 310 f.), da die phallische Metapher, durch die
Amalia und K. Gewalt. Man kann solche Umbeset- z. B. die Macht der Schlossbeamten gekennzeichnet
zungen oder Umschreibungen als Ausdruck einer ist, einen biologischen Rest mitführe (etwa in den
religiösen Haltung lesen oder wie Ries als Terror der unsittlichen Anträgen, die die symbolische Ordnung
Transzendenz verstehen. Eine dekonstruktive Lesart subvertieren). Liebrand untersucht zunächst exemp-
wird hingegen den Umschwung von Sinn in Macht- larisch die »Feuerspritze« (S 298) und das kultisch
anspruch und Gewalt in den Vordergrund stellen. verstandene Ritual des Feuerwehrfestes (Liebrand,
Was den Dorfbewohnern als sinnstiftendes Moment 312 f.): Amalia entziehe sich auf dem Fest der sym-
in ihrem Dorfleben erschiene, wäre eigentlich Ge- bolischen Ordnung. Im Zusammenhang mit K.s
walt. K. und Amalia stünden dann für dieses Ver- Traum in der Bürgel-Episode, der mit guten Grün-
ständnis ein. Auf das Zirkulieren der Zeichen im den als ein homoerotischer aufgefasst wird, zeige
Schloss übertragen, ließe sich annehmen, Sinn sei sich nun, dass der Roman Geschlechterdifferenz
paradox an einen sinnverzerrenden Machtanspruch nicht konstituiert, sondern verundeutlicht (320). K.
gebunden. verfüge über eine Reihe von um 1900 Frauen zuge-
Das Schloss 311

wiesenen Eigenschaften, wodurch wiederum die tungen der Vorschriften erschwerten auch die Kom-
männlich dominierte Form des Bildungsromans pa- munikation innerhalb und zwischen Behörden. Es
rodiert werde. Möglich werde diese Entlarvung nicht war für Beamte nicht unüblich, sich ›Privat- und Ne-
zuletzt durch das Zeigen und Entlarven der romanti- benregister‹ anzufertigen, Gedächtnisprotokolle, die
schen Liebe, die im Roman auf ihre (männlich) nar- von Amts wegen wieder entfernt werden mussten.
zisstischen Wurzeln zurückgeführt wird. Astrid Die Schlossverwaltung ist von den Problemen der
Lange-Kirchheim untersucht mit vergleichbarer Per- Behörden zu Kafkas Lebenszeit gekennzeichnet, die
spektive die Erosion der »Ideologie der Privilegie- Darstellung der Geschäftsordnung und des Ge-
rung des Phallus« im Roman: Die Entwürfe von schäftsgebarens mit satirischen Implikationen verse-
Männlichkeit und Weiblichkeit enthalten ein komi- hen. K.s Kontakt zu Klamm baut auf einer amtlichen
sches Potential; Kafka schreibe den Mythos des Wan- Unterscheidung auf, der zwischen Privat- und Amts-
derers, des »ewigen Landvermessers« travestierend brief. Aber nicht nur der Inhalt, auch die Form des
um (Lange-Kirchheim 2002, 115 u. 119). Romans ließe sich als eine Reihe von Gedächtnis-
protokollen auffassen: Es wird im Schloss nicht nur
Biographie, Verwaltung und Medien verhört, um Protokolle anzufertigen, auch die Be-
richte der Figuren sind, aufgrund unsicherer Fakten-
Biographische Lektüren des Schloss-Romanfrag- lage, nichts anderes als Gedächtnisprotokolle. Dar-
ments sind seit den 1960er Jahren als Alternative zu aus ließe sich wiederum schließen, dass Kafka die
spekulativen philosophischen und theologischen Speicher- und Übertragungsmodelle der Behörden
Ansätzen aufgekommen. Werkgeschichte und Le- satirisch auf das Erzählen von Lebensläufen über-
bensgeschichte werden darin so aufeinander bezo- trägt, in der Art einer literarischen doppelten Buch-
gen, dass das Werk aus den Ereignissen des Lebens führung (vgl. Fromm 1998, 75), die mit Foucaults
erläutert wird. Binder (1976) hat zum Schloss eine ›empirisch-transzendentaler Doublette‹ erfasst wer-
solche Interpretation vorgenommen, in denen z. B. den könnte. Empirisch-bürokratische Notation der
der Herrenhof für die Cafés einsteht, in denen Mi- Existenz als transzendente Beglaubigung würde
lena Jesenskás Mann, Ernst Pollak, verkehrte. Neben dann ununterbrochen Paradoxes formulieren. Der
anderen ist zuletzt Peter André Alts Biographie er- Bote K.s zum Schloss, Barnabas, verbindet beides, er
schienen, die Das Schloss psychoanalytisch deutet ist Speicher- und Übertragungsmedium (Kittler)
und dabei auch die literatur- und kulturgeschichtli- und er vereinigt Eigenschaften von Mann und Frau
chen Kontexte mit einbezieht. Demnach schreibt (Liebrand).
Kafka nach dem Prinzip der »Veräußerlichung inne-
rer Zustände« (Alt 2005, 599), wobei im Schloss eine
Analogie zwischen Psyche und Verwaltung besteht Deutungsaspekte
(608), da die »unbeherrschbaren Energien des Un-
Vorbemerkung
bewussten als Determinanten des administrativen
Apparates« gelten (606). Das Romanfragment sei so Das Schloss zeigt Möglichkeiten der Deutung von
nach der »Logik des Traums« eingerichtet (600). Im Existenz. Zwei der Fragen, die K. mit seiner Ankunft
Gegensatz zu G. Neumann sieht Alt jedoch zunächst stellt und auf die der Roman Antworten in Form von
»nur dyadische Beziehungsfelder« wirken (600), um Deutungen entwickelt, lauten: Wie kann man von
dann später in Klamm eine Figur des Dritten zu er- etwas wissen, das man nicht sieht, und wie kann es
kennen (608). sein, dass man nicht erreichen kann, was man sieht?
Einen anderen Aspekt der Biographie untersucht Die Deutungen referieren alle auf einen unbekannt
Benno Wagner. Er verortet das Werk innerhalb der bleibenden Grund, wobei die Kodierungen des
Beamtenwelt des Autors und liest die Texte als Fort- Blicks zu beachten sind, da sie von Sehen, Erkennen
setzung des Schreibens von amtlichen Schriften im und Sexualität handeln (vgl. Gen. 4.1 f.). Die Deu-
Literarischen (Wagner 2006, 111). Auch wenn zum tungen werden subjektiv, da sie keinen gemeinsa-
Schloss keine explizite Analyse vorliegt, muss der men Grund finden können (so verhalten sich Ama-
Ansatz erwähnt werden, um die Behördenstruktur lia, Olga, Barnabas und ihr Vater unterschiedlich,
besser zu erfassen. Kafka war in seinem Beruf mit obwohl sie mit der sozialen Stigmatisierung einen
Behörden befasst, deren Geschäftsordnung bis zum gemeinsamen Ausgangspunkt haben). In der narra-
Jahr 1855 zurückreichte. Die unterschiedlichen Deu- tiven Verknüpfung der einzelnen Sinnschichten ent-
312 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

steht eine Ordnung, die auf eigentümlichen Ver- ginn ist auch am Ende des Fragments das Problem
schränkungen basiert und das Ganze des Lebens in nicht gelöst: »Warum sagst Du denn nicht die Wahr-
seiner Unordnung abbildet – angesichts des lebens- heit?«, fragt die Wirtin K., und er antwortet: »Auch
philosophischen Hintergrunds nach 1900 kein un- Du sagst sie nicht« (S 492).
gewöhnlicher Vorgang.
Ein solcher Deutungsansatz baut auf der An-
Akausalität, Paradoxie
nahme auf, dass das Reflexionsniveau der Figuren
nicht das des Erzählers ist. Er leitet sich nicht zuletzt Dorf und Schloss sind aufeinander bezogen, schei-
von Kafkas Aussage im Tagebuch über den »merk- nen aber unterschiedlichen Zeiträumen anzugehö-
würdigen, geheimnisvollen, vielleicht gefährlichen, ren. Die narrativen Verknüpfungen erscheinen als
vielleicht erlösenden Trost des Schreibens« ab: »das paradox: K. erhält eine Bestätigung von Klamm, er
Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Be- komme mit der Landvermessung voran, obwohl er
obachtung, Tat – Beobachtung, indem eine höhere die faktische Arbeit nicht aufgenommen hat; die
Art der Beobachtung geschaffen wird« (27.1.1922; Vorladungen werden ausgesprochen, bevor das Er-
T 892). Der Erzähler steht über seinen Figuren und eignis, das zur Vorladung führt, stattgefunden hat;
inszeniert ein ›Welttheater‹. K. erhält einen Befehl von Erlanger, Frieda in den
Zu den Themen, die bei dieser Beobachtung im Herrenhof zurückzuschicken, obwohl Frieda sich
Folgenden betrachtet werden sollen, gehören: die schon von K. getrennt hat. Das Schloss scheint keine
Organisation des sozialen Raums, die Regulation der Zeit zu kennen.
Beziehungen über den Blick, Subjektivität, Liebe, Se- Fasst man wiederum alle Bestimmungen aller Fi-
xualität und Medialität sowie Komik und Humor. Zu guren im Dorf zusammen, ist das Schloss Einbildung
diesen Themen kann man wiederkehrende Anord- und als Anlass der Einbildung mehr als nur Einbil-
nungsmuster finden, die die diegetische Welt im dung. Je näher die Figuren Klamm oder dem Schloss
Sinne des »perspektivischen Wechsels« (An F. Bauer, kommen, desto unspezifischer wird ihr Verhalten
10.6.1913; B13–14 205) verschränken. und ihre Kognition der erzählten Welt. Die Nähe zu
den hohen Herren ist nur über die Triebhaftigkeit zu
erreichen. Selbst K., der sich dem Schloss im Traum
Ambivalenz/Unbestimmtheit
scheinbar annähert, muss Bürgel homoerotisch
Wie bei Figur-Grund-Bildern enthalten Ereignisse überwinden. Diese Strukturen enthalten Reste eines
verschiedene Fokussierungen, die zu unterschiedli- romantischen Verfahrens mit Idealrealem, allerdings
chen Motivierungen aus der Sicht der Figuren füh- ohne metaphysischen Schutzraum (vgl. Böning).
ren. Sexualität und Körper sind solche Kippfiguren:
Wo die einen Obszönität und Triebhaftigkeit sehen,
Verschleppung, Verschiebung
erkennen die anderen Formen religiöser oder zu-
mindest kultischer Handlungen. Das Schisma, die Die Berufung zum Landvermesser wird verzögert.
Trennung der Familie Amalias vom übrigen Dorf, K. will mit Klamm sprechen und dann weiter ins
beruht z. B. auf solch einer Kippfigur, aber auch K.s Schloss vordringen. Tatsächlich aber wird das Ge-
Sicht ist im Vergleich mit der Sicht der Dorfbewoh- spräch nicht stattfinden. Sein eigentliches Hand-
ner nach einem ähnlichen Figur-Grund-Schema lungsziel wird – man möchte meinen: über den Tod
ausgebildet, das nicht entschieden werden kann; die hinaus – verschleppt.
Wahrnehmung findet im Modus des »Als ob« statt. Der Vorsteher entwickelt eine Deutung der Vor-
kommnisse auf der Grundlage der Schloss-Adminis-
tratur, die angelegt ist wie das Buch des Lebens. Sie
Täuschung
umfasst jeden Vorgang und kontrolliert die Erfas-
Zimmermann (2004) weist darauf hin, dass tsche- sung durch Kontrollbehörden bis ins Unendliche.
chisch klam Betrug heißt. Täuschungen bestimmen Mit der Struktur des Buches des Lebens ausgestattet,
von Beginn an den Roman, sie werden unter dem kann es keine Fehler geben. Jede noch so zufällig er-
Stichwort der »Komödie« explizit hervorgehoben scheinende Bewegung, jeder noch so klein erschei-
(vgl. noch S 246). Kafka hat dieses Wort schon frü- nende Fehler steht unter dem Generalverdacht, kau-
her im Sinne von ›Vortäuschung‹ verwendet, z. B. im sal und notwendig zu sein. Auf dieser gesetzten un-
Process (P 12) oder im Urteil (DzL 58). So wie zu Be- hintergehbaren ›Kausalität‹, die für den Vorsteher
Das Schloss 313

durch Mizzis Gedächtnis verbürgt wird, also nicht Im Schloss gibt Kafka den Figuren solche ungelös-
schriftlich fixiert ist, entwickelt der Vorsteher nun ten Bereiche der Erfahrung zum Verstehen auf. An
seine Deutung der Probleme mit der Berufung eines dem Ort, an dem sich die Ansichten über einen Sach-
Landvermessers. K. hat sich vielleicht selbst berufen, verhalt verlieren, d. h. unabwägbar werden und rhizo-
vielleicht hat ihn auch die Behörde berufen, wie auch matisch ausufern (Deleuze/Guattari), steht eine Chif-
immer es im Detail gewesen sein mag, es hat seine frierung des Eigentlichen, das in den Einzelperspekti-
höhere Ordnung, die nicht in den Akten steht, son- ven verfehlt wird. Ein Aphorismus Kafkas aus der
dern aus dem Prinzip der Akten folgt (S 94–120). Zürauer Zeit bietet das Konzept dazu an: »Wirklich
urteilen kann nur die Partei, als Partei aber kann sie
Der soziale Raum und seine Medien nicht urteilen. Demnach gibt es in der Welt keine Ur-
teilsmöglichkeit, sondern nur deren Schimmer« (NSF
Die Topographie der Schloss-Dorf-Landschaft ist II, 52). Eine solche Ansicht hat auch Auswirkungen
akausal eingerichtet. Private und öffentliche, aber auf die Romanform, die an ein Ende gelangt, da die
auch vorindustrielle, atavistische Welt und moderne Subjektwerdung scheitert (K.D. Müller 2007, 140).
Welt der elektronischen Übertragungsmedien (Kitt- Der ›Landvermesser‹ K. vermisst den einzigen
ler) überlagern sich bis zur Ununterscheidbarkeit. Raum, der im Roman zur Vermessung ansteht − das
K.s Privatleben findet in öffentlichen Räumen statt; sichtbare und erfahrbare Land zwischen Dorf und
Klamm ist eine öffentliche Figur, lebt im Herrenhof Schloss −, durch seine Existenz. Das fehlende, tran-
wie ein Privatier. szendente Signifikat ›Schloss‹ führt allerdings nur zu
Ein Grund für diese Topographie mag die Anleh- nachträglichen Bestimmungen des Schlosses. Es
nung an das ›Buch des Lebens‹ sein, denn es enthält handelt sich um eine sprachliche Vermessung des
die Gleichzeitigkeit aller Vorgänge und verschränkt Bereichs zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem,
Raum und Zeit. Die Medien des Mediums ›Schloss‹ Materiellem und Immateriellen, man könnte auch
sind Erinnerung und Protokoll, die selbst ein archi- sagen: zwischen Diesseits und Jenseits.
varisches System enthalten, das die Abfolge der Zei- Der Sprachraum des Romanfragments vermisst
ten in einem Raum aufnimmt. Auch das Telefon den Abstand von leerer Mitte und nachträglicher Be-
scheint die unendliche Gleichzeitigkeit der Verwal- zeichnung und er verhandelt, ob die Wahrnehmun-
tung des Lebens auszudrücken, denn das Rauschen, gen dieses Landes plausibel sind – sei es faktisch, sei
das dem Vorsteher zufolge aus der unendlichen Ar- es in der Imagination. Eine Verbindungsmöglichkeit
beit der Beamten entsteht, erscheint K. als Gesang des Abstandes zwischen Leere und Bezeichnung er-
(S 36). öffnen z. B. die Wirtin, Momus und der Vorsteher. K.
In der Lebenswelt des Dorfes wirken zumindest käme als (Protokoll-)Text zu Klamm, denn Klamm
zwei Perspektiven, in deren Zentrum eine eigentüm- kam schon als (Brief-)Text zu K. (dessen Alter un-
liche Leere steht: die kaum mehr lesbare, sondern klar und dessen Herkunft nicht verbürgt ist; S 283).
aus dem Gedächtnis zitierte Tradition und die Im Text also könnten sich beide treffen, – und man
sprachkritische Moderne. Will man beides aufeinan- könnte hier substituieren: in der Bibel – aber K. will
der beziehen, oder eine übergeordnete Sicht einneh- die Bestätigung durch das mündliche Gespräch.
men, muss man von einer Erkenntniskritik und ei-
nem Prinzip der Negativität im Text ausgehen (vgl. Subjektivität und Liebe
Kienlechner): Das Schloss enthält Bilder des Entzugs.
Wenn der Roman nicht von der Welt erzählen kann, Das Subjekt, das dieserart in der Dorfwelt entsteht,
kann Erzählen heißen, die Bilder, die im Erzählvor- ist disloziert, es hat die Aufgabe, sich einzufinden
gang konstruiert werden, nach und nach wieder zu- und zu behaupten. Die Strategien dieser Selbstbe-
rückzunehmen. Diese Prozesse entfaltet die Prosa: hauptung beruhen auf Identitäts- und Differenzan-
Walter Benjamin hat diesbezüglich von »wolkigen nahmen. Letztere stiftet das Bewusstsein, die Erste-
Stellen« in der Prosa gesprochen (Benjamin, 20), die ren stiftet der Erzähler, indem er an den reflektieren-
eine zusammenhängende Lesart verhindern. In die- den Figuren zeigt, dass sich unterhalb ihrer Reflexion
sen diffundieren die einzelnen Perspektiven, die auf etwas ereignet, das die Reflexion motiviert und an-
eine Sache geworfen werden. Das Romanfragment treibt.
führt so Einzelaussagen auf eine aporetische Grund- Das Romanfragment liefert Hinweise darauf über
struktur zurück. ein Versprechen, das als Zeichen des Schlosses ge-
314 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

deutet wird: der Klang einer Glocke, der eine Erfül- aber wenn solch eine Trübung auftaucht, so verschwin-
lung in Aussicht stellt (S 29); ein Turm, der irdisch det der unendliche Horizont dieser Beziehung — eigent-
lich so: es verschwindet der Blick auf die Dauerhaftig-
ist, aber ein höheres Ziel hat (18); K. erinnert sich an keit, der bei mir mit zu meiner Art von Erotik gehört
eine exponierte Glückserfahrung aus seiner Kind- (BMB 375).
heit (49 f.); in der Nähe Klamms werden Einheitser-
fahrungen virulent, die Zeit wird »unendlich vor Vergleichbar sucht K. nach der Begründung seiner
[…] Liebe« (68); Klamms Cognac berauscht K.; die Liebe und landet bei der Erotik (der Macht). Kafka
Wirtin bekommt einen verklärten Blick, usw. Etwas hatte in der Beziehung zu Milena Ähnliches erfah-
Unsagbares lässt Wahrnehmungsakte zu Erkennt- ren, nur in umgekehrter Richtung: Die Liebe ist ein
nissen werden, die aus dem Inneren der Figuren re- »Traum-Schrecken«, die bloße Simulation des »als
sultieren und nicht objektiv gegeben sind (vgl. z. B. ob man zuhause sei« (An M. Jesenská, 14.9.1920;
das Gespräch über die Fotografie Klamms, 124 f.): K. BM 263), weil der unendliche Horizont in der Liebe
stößt auf Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen, aufscheint, sich aber nicht erfüllt.
die von Affekten und Emotionen moduliert werden; Frieda und K. verhandeln ein vergleichbares Lie-
die Romanfiguren sehen Klamm und das Schloss beskonzept. Frieda trachtet nach der Einheit mit
unter nicht objektiven und nicht reflektierten Klamm, von der sie die Erfüllung mit K. erhofft, wo-
Grundvoraussetzungen. Solche Grundierungen (zur von K. nun Abstand nehmen will, oder zumindest
potentia passiva vgl. Fromm, 72 ff.) sucht K. zu ver- gewillt ist, dieses zu tun. K. bezieht im Gespräch mit
stehen und in letzter Instanz zu verifizieren oder zu Frieda eindeutig Stellung und votiert für eine Liebe
falsifizieren. Er geht der Landvermessung zwischen ohne unendlichen Horizont. Frieda sei einer Täu-
dem ›Hier‹ und dem ›Dort‹ nach. Sie gleicht einem schung erlegen,
Gleiten zwischen Symbolischem und Imaginärem daß das, was nur Augenblicke waren, Gespenster, alte
(nach Lacan), das ein ›Mehr‹ in Aussicht stellt, das Erinnerungen, im Grunde vergangenes und immer
wiederum den Grund der Bindung an das Schloss mehr vergehendes einstmaliges Leben, daß dieses noch
ausmacht. Dieses ›Mehr‹ nennt der Text ›Freiheit‹. Dein wirkliches jetziges Leben sei (S 398).
Für die meisten Figuren endet das Gleiten darin, K. votiert also für den Versuch, die Beziehung durch
dass es in der Bindung als Versprechen aufleuchtet, die Loslösung von der Tradition ohne einen Dritten
es scheint sogar, dass die Figuren eine Akzeptanz da- zu gestalten. Ungünstigerweise bricht das Roman-
für entwickeln, Freiheit nur im Prozess der Bindung fragment das Thema an einem entscheidenden Wen-
an das Schloss erfahren. K. ist dafür unempfindli- depunkt ab. Betrachtet man aber die Entwicklung
cher, weil er die Auflösung paradoxer Fesselungen bis zu diesem Punkt, hat die Liebe die Tendenz, im
einfordert. Sinne von K.s Zielen Freiheit einzulösen und die
Dies ist von Kafka als Alternative zu Freuds Unbe- ›Gespenster‹ der Vergangenheit zu überwinden.
wusstem konzipiert. Die Figuren handeln nicht aus
dem Unbewussten, sondern aus einem nicht erreich- Schreiben und Judentum
baren Grund, der sie in der Welt, wie eine Kippfigur,
entstellt: Aus Nähe wird Triebhaftigkeit, aus Geist Das Fragment ist nicht zuletzt eine Inszenierung
oder Bewusstsein wird Körper. Der Körper, von dem über die ›Gespenster‹ des Schreibens. Kurz versteht
alles ausgeht, ist nicht die (darwinistische) Antwort, das Schloss als eine Metapher »für den hermeneuti-
sondern die Konkretion einer umfassenderen Moti- schen Ort des Werkes«, es konnotiere die Überle-
vation oder Lebensenergie. Der Körper erscheint genheit des Schreibens, »aber auch das Schimärische
z. B. in der Liebe als ein (schlechtes) Konstrukt. dieses Ortes, die Innenwelt […], die Nähe zum Tod«
Das Terrain, auf dem die versuchte Selbstbehaup- (Kurz, 87). Die Ziele der Selbstreflexion mit literari-
tung überwiegend stattfindet, ist die Liebe; man schen Mitteln lassen sich dann durch den Stellen-
kann Das Schloss deshalb auch als Liebesroman lesen wert des Schreibens näher angeben. Zu Beginn der
(G. Neumann, 219). Diese Liebe hat zwei Gesichter: Schreibphase am Schloss thematisiert Kafka die Be-
Sie ist ›endlich‹ und ›unendlich‹ (vgl. S:A 273). Der deutung des Schreibens für sein Leben; es gibt also
Zusammenhang beider Aspekte kann über den bio- Hinweise auf eine Koinzidenz von Produktion und
graphischen Kontext plausibel gemacht werden; Inhalt. Wie diese genau zu bestimmen ist, lässt sich
Brod schreibt am 3. Juli 1922 an Kafka über Schwie- den Briefen entnehmen. Das Schreiben ist darin eine
rigkeiten mit seiner Geliebten: Ersatzheimat – »Ich bin von zuhause fort und muß
Das Schloss 315

immerfort nachhause schreiben, auch wenn alles gleich stellt das Romanfragment Sinnfragen in den
Zuhause längst fortgeschwommen sein sollte in die Horizont der Bürokratie: Die Transformation von
Ewigkeit« (An M. Brod, 12.7.1922; BMB 385) – und Lebensvollzügen in behördliche Bearbeitungsvor-
es ist zugleich ein »Teufelsdienst«, ein »Hinabgehn gänge von unabsehbarer Länge und unkalkulierba-
zu den dunklen Mächten«, »Eitelkeit und Genuß- rem Ausgang birgt bereits strukturell komisches Po-
sucht« (An M. Brod, 5.7.1922; BMB 378). tential, da zwei Lebensbereiche aufeinander bezogen
Das Schloss enthält dann die Geschichte eines Au- werden, die im Alltag um 1900 unter der distinkten
tors, der »fremd dem Glauben« ist (An M. Brod, Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit funktio-
30.7.1922; BMB 396) und sein Leben als ein »Zögern nierten. Dazu bieten die zur Unterhaltung abgestell-
vor der Geburt«, vor dem Eintritt in die Gesellschaft ten Gehilfen Slapstickeinlagen (vgl. Vogl 2006), die
versteht (24.1.1922; T 888). Es gibt gute Gründe an- ethnologisch betrachtet der Figur des Tricksters na-
zunehmen, dass Kafka im Schloss sein Judentum mit hekommen.
dem Mittel ausprobiert, das er am besten beherrscht: Die Komik des Romans ist in hohem Maße selbst-
der Literatur. K. jedenfalls praktiziert eine Annähe- reflexiv. Aus dem Anspruch auf Genauigkeit oder
rung an das Judentum, nicht zuletzt durch den Hin- Wahrheit entsteht eine Konzentration, die in Verfeh-
weis, man habe ihn früher »das bittere Kraut« ge- lungen endet. Wo zwischen Phantasma und Realität
nannt (S 229) − eine Anspielung auf die Verwendung im Diskursiven nicht mehr zu unterscheiden ist,
der Kräuter beim Passah-Fest. Er erschließt sich eine bleibt bei Kafka zuletzt noch die Komik der Gleich-
Lebenswelt, wenn auch nicht wie Max Brod in Hei- zeitigkeit zweier Bereiche bestehen: von Verfehlung
dentum, Christentum, Judentum von 1922, der ein und zu Recht gestelltem Anspruch. Kafka spricht
anderes Verständnis von Freiheit beschreibt. Für von einer Komik des Minutiösen: »Die Geschichte
Kafka bleibt Freiheit eine Schimäre, zu der auch die selbst ist aber zu komisch, hört zu: Das eigentlich
potentia passiva nicht führt, da diese »Glücksmög- Komische ist freilich das Minutiöse und darin wird
lichkeit ebenso Blasphemie, wie unerreichbar« ist Euch in meiner Nacherzählung viel entgehn« (S:A
(An M. Brod, Nov./Dez. 1920; Briefe 281 f.; vgl. Ha- 424).
ring, 193 ff.). Man kann an ein anderes Fragment Ausgaben: Das Schloß. Hg. v. Max Brod. München: Kurt
Kafkas denken, das Brod mit dem Titel <Nachts> Wolff 1926 [Text reicht bis Ende Kap. 22 KA]. – S/GS
versehen hat, und in dem sich der Erzähler, nicht (1935) [Text vervollständigt]. − S/GS2 (1946). – S/GW
seine Figur, als »Wächter« des Passah-Festes ausgibt: (1951). – S/KA (1982); vgl. auch NSF II/KA (1992),
»Warum wachst Du? Einer muß wachen, heißt es. 421.
Einer muß dasein« (NSF II, 260 f.). Adaptionen: Dramatisierung: Max Brod: Das Schloß.
Schauspiel in zwei Akten (9 Bildern) nach F.K.s gleich-
namigem Roman in freier Bearbeitung [Uraufführung
Komik und Humor
12. Mai 1953 im Schloßpark-Theater Berlin]. Frank-
Die Komik ist das eigentliche Moment der Freiheit furt/M. 1964. –– Oper: André Laporte: Das Schloß.
bei Kafka. Es ist die Komik des Erzählers, nicht der Oper in 3 Akten nach F.K. Wiesbaden 1986. − Aribert
Figuren. Die Figuren gleiten zwischen Symboli- Reimann: Das Schloß. Oper in zwei Teilen (neun Bil-
schem und Imaginärem, zwischen der Obszönität dern). Nach dem Roman von F.K. und der Dramatisie-
der Forderungen Klamms oder Sortinis und der rung von Max Brod. Mainz 1992. –– Verfilmungen: Ru-
dolf Noelte: Das Schloß. 1968. – Jaakko Pakkasvirta:
Nähe zu ihnen; der Erzähler aber kann anhand ihres
Linna/Das Schloß. 1986. – Aleksei Balabanov: Zamol/
Gleitens aus dem Abstand die komischen Figuren
Das Schloß. 1994. – Michael Haneke: Das Schloß. 1997.
ablesen, die innerhalb der symbolischen und imagi-
−− Martin Brady/Helen Hughes: K. Adapted to Film.
nären Ordnung entstehen. Das Schloss ist diesbezüg- In: Preece (2002), 226–241. – Waldemar Fromm/Chris-
lich in mehreren Hinsichten komisch: Es ist im er- tina Scherer: Kino nach K. Zu Verfilmungen der Ro-
kenntniskritischen Sinne komisch, da es Figuren mane F.K.s nach 1960. In: Lothar Blum/Christine
zeigt, die Schimären nachjagen und auf »scheinbare Schmitt (Hg.): Kopf-Kino. Gegenwartsliteratur und Me-
Berührungen« (S 115) eingehen, die ihre Unfreiheit dien. Fs. f. Volker Wehdeking zum 65. Geburtstag. Trier
verdecken. Die Ereignisse sind komisch, weil sie die 2006, 145–165. – Sandra Poppe: Visualität in Literatur
Geschlechterordnung verwirbeln, die symbolische und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung
Ordnung parodieren oder romantische Liebeskon- moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen. Göttin-
zepte desavouieren (vgl. Lange-Kirchheim). Zu- gen 2007.
316 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

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318 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

3.3.4 Ein Hungerkünstler. lags, in der vor dem Ersten Weltkrieg auf Initiative
Robert Musils hin eigentlich Die Verwandlung hätte
Vier Geschichten erscheinen sollen und in der Max Brod ein Jahr zu-
vor, im November 1921, einen für die frühe Rezep-
Entstehung und Veröffentlichung tion Kafkas wichtigen Aufsatz über den Dichter
Franz Kafka veröffentlicht hatte (vgl. Unseld 1982,
Der Erzählband Ein Hungerkünstler erscheint (we- 199–203).
nige Monate nach Kafkas Tod) Ende August 1924 In dieser Publikationspolitik deutet sich bereits die
mit dem Untertitel Vier Geschichten beim Verlag Die Loslösung vom Kurt Wolff Verlag an, die Kafka dann
Schmiede in Berlin; er enthält die folgenden vier Er- im Winter 1923 tatsächlich vollzog. Die Übersied-
zählungen: lung nach Berlin im September 1923 hatte er u. a. in
der »Hoffnung« gewagt, »in Deutschland mit meiner
(1) Erstes Leid (zwischen Februar und April 1922, wahr-
scheinlich um den 10. März; ED in: Genius. Zeitschrift Pension leichter das Auskommen finden zu können,
für werdende und alte Kunst, ca. Ende Jan. 1923); als in Prag« (An O. u. J. David, Mitte Dez. 1923; BO
(2) Eine kleine Frau (zuerst NSF II, 634–646; zwischen 150). Dies hatte sich allerdings auf Grund der galop-
November 1923 und Ende Januar 1924, wahrscheinlich pierenden Inflation als trügerisch herausgestellt.
noch Ende 1923; ED in: Prager Tagblatt, 20.4.1924);
(3) Ein Hungerkünstler (zuerst NSF II, 384–400, Variante
Schon aus finanziellen Gründen stand darum Kafka
in NSF II, 646–649; um den 23. Mai 1922; ED in: einem neuen Publikationsprojekt aufgeschlossen ge-
Neue Rundschau, um 7.10.1922); genüber. Max Brod brachte ihn Ende 1923 oder An-
(4) Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (zuerst fang 1924 mit dem (1921 neu gegründeten) Berliner
NSF II, 651–678; Ende März/Anfang April 1924; ED Verlag Die Schmiede zusammen, der zu dieser Zeit
in Prager Presse, Osterbeilage »Dichtung und Welt«,
20.4.1924, unter dem Titel Josefine, die Sängerin). auch Zulauf von weiteren Autoren des Auflösungser-
scheinungen zeigenden Kurt Wolff Verlages erhielt
Nach einer langen unproduktiven Phase findet sich (zur Verlagsgeschichte der Schmiede, die 1930 schon
für den 22. Januar 1922 in Kafkas Tagebüchern die wieder liquidiert wurde, vgl. Unseld 1982, 209–220).
lakonische Notiz: »Nächtlicher Entschluß« (T 885). Man einigte sich auf einen Vertrag (datiert vom
In den folgenden Wochen und Monaten nimmt er, 7. März 1924) für einen Erzählband mit dem Titel Ein
bei schwindenden körperlichen Kräften, mit Das Hungerkünstler. Neben der titelgebenden Erzählung
Schloss zum letzten Mal ein Romanprojekt in An- sollten Erstes Leid sowie die zwischenzeitlich (wahr-
griff. Erstes Leid und Ein Hungerkünstler verdanken scheinlich noch 1923) entstandene Erzählung Eine
sich, wie manch andere Erzählung Kafkas, Krisensi- kleine Frau – deren biographischer Anlass nach Aus-
tuationen in der Fortführung eines Großprojekts. kunft Dora Diamants die erste Berliner (Steglitzer)
Wahrscheinlich in der ersten Märzhälfte 1922, als Zimmerwirtin Kafkas und Doras war (Diamant 198)
Kafka beim vierten Kapitel des Schlosses angelangt – in den Band aufgenommen werden.
und erstmals ratlos ist, wie die Romanhandlung wei- Zu diesen drei Erzählungen gesellte sich noch Jo-
tergetrieben werden solle, entsteht Erstes Leid. In ei- sefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, die
ner ähnlichen Situation, ungefähr zwei Monate spä- Kafka begonnen hatte, als die Tuberkulose auf sei-
ter, schreibt Kafka den Hungerkünstler nieder (»Vor- nen Kehlkopf überzugreifen begann. Robert Klop-
gestern ›H.-K.‹«; 25.5.1922, T 922). Am 3. November stock überlieferte, dass Kafka ihm nach der Fertig-
1921 und am 1. März 1922 hatte Kurt Wolff seinem stellung der Geschichte (wohl Anfang April 1924)
Autor durchaus eindringlich werbende Briefe zu- gesagt habe: »Ich glaube, ich habe zur rechten Zeit
kommen lassen (DzL:A 401–403). Kafka überließ mit der Untersuchung des tierischen Piepsens be-
daraufhin Wolff Erstes Leid für dessen kränkelnde gonnen. Ich habe soeben eine Geschichte darüber
Zeitschrift Genius – ohne den Text sonderlich zu fertiggestellt« (Briefe 521, Anm. 12). Die rasch, noch
schätzen, wie die Bemerkung auf einer Postkarte an im April 1924, auf Vermittlung Brods in der Prager
Max Brod von der »widerlichen kleinen Geschichte« Presse erstveröffentlichte Erzählung trug zunächst
dokumentiert (26.6.1922; Briefe 375). Der Hunger- nur den Titel Josefine, die Sängerin. Als Kafka sich im
künstler sagte Kafka mehr zu, er nannte ihn »erträg- Sanatorium Kierling nur noch schriftlich mit den
lich« (An M. Brod, 30.6.1922; Briefe 379) – und gab ihm Nahestehenden verständigen konnte, verfügte
ihn an die angesehenste deutschsprachige Literatur- er für die Buchpublikation im Mai 1924 die Ände-
zeitschrift, die Neue Rundschau des S. Fischer Ver- rung des Titels in Josefine, die Sängerin oder Das Volk
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten 319

der Mäuse: »Solche oder-Titel sind zwar nicht sehr xion verbindet; insbesondere Josefine wirft sogar die
hübsch/ aber hier hat es vielleicht besondern/ Sinn, Frage auf, ob nicht die Reflexion als die grundle-
es hat etwas von einer Wage« (DzL:A 463). gende Geste der Erzählung gelten muss. Josefine hat
Die Fahnenkorrektur des Erzählbandes hat Kafka einen dem Volk der Mäuse angehörigen (also in der
noch selbst durchgeführt, an der Korrektur der Bö- Terminologie der modernen Narratologie: homo-
gen des ersten Umbruchabzuges noch am 2. Juni und diegetischen) Erzähler, der mit einer unverkennba-
womöglich auch noch am Morgen seines Todesta- ren Intention auf Gerechtigkeit die Ansprüche Jose-
ges, dem 3. Juni 1924, gearbeitet. Zu Ende gebracht finens und des Mäusevolks gegeneinander abzuwä-
wurde die Bogenkorrektur von Max Brod. Am gen versucht. Über sein Geschlecht – das mancher
27. August 1924 zeigte das Börsenblatt des deutschen Leser für irrelevant oder jedenfalls nicht feststellbar
Buchhandels das Erscheinen von Ein Hungerkünstler halten mag – ist gestritten worden. Günter Saße
an. nannte – ohne seine Wahl zu begründen – die Er-
zählmaus eine »Musikwissenschaftlerin« (Saße 2003,
386 u.ö.), während Elizabeth Boa zuversichtlich vom
Textbeschreibung männlichen Geschlecht des Erzählers ausging, eines
»ironic narrator who evinces the complacent superi-
Künstlergeschichten
ority of a normal male mouse indulgently observing
Gegenüber den anderen beiden Sammelbänden mit an abnormal female« (Boa 1996, 178). Für den
Erzählungen, die Kafka veröffentlichte (Betrachtung, männlichen Erzähler spricht die Kontinuität mit
Ein Landarzt), weist Ein Hungerkünstler eine deut- zwei Erzählertypen, von denen Kafka bereits zuvor
lich stärkere thematische Konzentration auf. Drei Gebrauch gemacht hatte: dem ›sorgenvollen‹, väter-
der vier Erzählungen haben Künstlerfiguren zum lichen Erzähler (Die Sorge des Hausvaters, Elf Söhne)
Gegenstand. Diese üben jeweils eine performative und dem Erzähler, der sich – in der Tradition der
Kunst aus, die den vollen Einsatz ihres Körpers ver- menippeischen Satire – die Maske der Wissenschaft
langt und die dazu geführt hat, dass sie ihr Leben überzieht (Ein Bericht für eine Akademie, < Forschun-
ganz nach den Bedürfnissen ihrer Kunst ausgerich- gen eines Hundes>, Beim Bau der chinesischen Mauer).
tet haben. Die Maßlosigkeit des Verlangens nach Zugleich wohlwollend und spottend und sowohl
künstlerischer Vollendung, die damit einhergeht, er- mit Verständnis wie mit Ironie für beide Parteien
hält in den Erzählungen allerdings ein Gegengewicht versehen wirkt auch der Erzähler des Hungerkünstler
durch eine Reihe von den Absolutheitsanspruch iro- (anders Pascal 1982, 105–135, der ihn, wohl etwas
nisch relativierenden Elementen. einseitig, als vulgären ›showman‹ oder ›salesman‹
Als Erstes wäre hier für den Hungerkünstler und sieht). Allerdings handelt es sich bei ihm (wie auch
für Josefine die innere Paradoxie ihrer Kunst anzu- beim Erzähler von Erstes Leid) um einen als Figur
sprechen, jene Dialektik, die das Außerordentliche der erzählten Welt nicht fassbaren (also: heterodie-
als das Übliche enttarnt und (nur in Josefine) im Üb- getischen) Erzähler – was zur Folge hat, dass er nicht
lichen dann doch das Außerordentliche sehen lässt. der Repräsentant des (textinternen) Publikums ist
Die Schlusspointe des Hungerkünstler gibt zu verste- und seine verständnisvolle Haltung gegenüber dem
hen, dass die außerordentliche Leistung, die er als Hungerkünstler damit nicht zugleich vom Kollektiv
»größter Hungerkünstler aller Zeiten« (DzL 339) er- ausgeht. Er präsentiert dem Leser, »scheinbar unbe-
bracht hatte, nur darauf zurückzuführen sei, dass er teiligt« (Müller 2003, 301), den sarkastischen Kon-
die Speise nicht finden konnte, die ihm geschmeckt trast zwischen dem Hungerkünstler und seinem Pu-
hätte (349). Josefinens Gesang stellt sich nach und blikum und vermittelt nicht zwischen beiden Par-
nach als nicht unterscheidbar vom üblichen Pfeifen teien. Dem entspricht, dass es mit dem Impresario
der Mäuse heraus, wie es »ein gewöhnlicher Erdar- (den wir auch in Erstes Leid haben) eine ironisch ge-
beiter« zustandebringen könnte (352), – was die sehene Vermittlerfigur im Hungerkünstler gibt, die
Frage nach der trotzdem eingestandenen Wirkung mit ihren Inszenierungstricks aus der Sicht des Hun-
ihres Gesangs umso dringlicher macht. gerkünstlers zu groben Missverständnissen Anlass
Als Zweites wäre die erzählerische Präsentation gibt. Die Differenz im Ton zwischen der bitteren Iro-
der Künstlerfiguren zu nennen. Alle drei Künstler- nie des Hungerkünstler und dem milden Humor der
geschichten des Bandes lassen einen Erzähler auftre- Josefine hat auch mit dem unterschiedlichen Charak-
ten, der die Geste des Erzählens mit der der Refle- ter der Erzählerfiguren zu tun.
320 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Als drittes Moment der ironischen Relativierung ner weiteren Stange, das nur zu weiteren, immer we-
sollte man die exzeptionelle Schwäche der Künstler- niger erfüllbaren Wünschen führen kann; das endlos
figuren betonen, die vom Männlichkeitsideal des fortgesetzte Hungern des Hungerkünstlers, das nur
normalen erwachsenen Mannes stark absticht: durch seinen Tod abgebrochen wird; die Zuspitzung
»Measured against the human norm of adult mascu- des ›Kampfes‹ zwischen Josefine und ihrem Volk, bis
linity Kafka’s performers are all peculiar in one way Josefine schließlich verschwindet.
or another. They are childish, female, or animal; they Eine Ausnahme in mancherlei Hinsicht stellt – zu-
are wounded or injured, consumptive or emaciated« mindest auf den ersten Blick – die Erzählung Eine
(Boa 1996, 176). Sander Gilman sah gerade in Kaf- kleine Frau dar. Von Kunst ist – zumindest auf der
kas Verbindung des ausgemergelten mit dem femini- Textoberfläche – nicht die Rede. Die beiden Par-
sierten Körper die Spuren jenes kulturellen Kon- teien, die sich in latenter Feindseligkeit gegenüber-
strukts, das im Diskurs der Jahrhundertwende der stehen, sind nicht ein Individuum und ein Kollektiv,
Körper des Juden war (Gilman 1995, 167). Jedenfalls sondern der Ich-Erzähler und eben die ›kleine Frau‹,
sind gegen die Schwäche des Künstlers (»dieses die sich an ihm stört, mit der ›Welt‹ bzw. ›Öffentlich-
Nichts an Stimme, dieses Nichts an Leistung behaup- keit‹ als Richter zwischen ihnen. Da die Besonnen-
tet sich«; DzL 362) selbst wieder ironisch gesehene heit ganz auf der Seite des Ich-Erzählers zu sein
Instanzen eines munteren, zuversichtlich weiterle- scheint und die Maßlosigkeit auf Seiten der kleinen
benden (Josefine) bzw. kraftvollen und aggressiven Frau, hat man diese als Allegorie von Kafkas Ideal
Lebens (Hungerkünstler) gesetzt: Der den Tod in der Literatur zu verstehen versucht und sogar eine
Kauf nehmenden Konzentration steht die ›Ablen- gewisse Ähnlichkeit der kleinen Frau mit Kafkas No-
kung‹ gegenüber: »Das Leben ist eine fortwährende tizheften bemerkt (Pasley 1971/72, 128; vgl. auch
Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung darüber Hillmann 1964, 73–82). Dass die Erzählung ein halb
kommen läßt, wovon sie ablenkt« (NSF II, 340). Für privates, amüsantes Spiel mit dem eigenen Schreiben
Erstes Leid kann hier der im Vorfeld der Entstehung sein könnte, wie Pasley meint, leuchtet jedenfalls ein.
des Textes im Tagebuch notierte Satz einstehen: Auch die Misogynie, die die Gegengewalten zum ei-
»Man kann ein Leben nicht so einrichten wie ein genen Dasein als weiblich fasst, ist bei Kafka älteren
Turner den Handstand« (27.1.1922; T 892); für den Datums. Man sollte jedoch auch die aus anderen
Hungerkünstler wäre an die »Fleischhauer« zu den- Texten Kafkas belegte Möglichkeit nicht ausschlie-
ken, die nachlässig ihr Wächteramt ausüben, an das ßen, dass der Ich-Erzähler als satirische persona ge-
getriebene, auf dem Weg zu den Ställen nicht aufzu- zeichnet ist. Der Text eines Sterbenden, der seinen
haltende Publikum oder an den kraftstrotzenden Ich-Erzähler am Ende seiner Erzählung treuherzig
Panther, der am Ende der Geschichte den Hunger- versichern lässt, dass er sein »bisheriges Leben ruhig
künstler ersetzt; für die Josefine an die nicht einmal werde fortsetzen dürfen, trotz allen Tobens der Frau«
einer Begründung bedürftige pädagogische Gleich- (DzL 333), könnte diesen in einem ironischen Licht
gültigkeit der Mäuseschaft. erscheinen lassen wollen.
Auch die abstrakteren Strukturen der Handlungs- Kafkas letzter Erzählband trägt in vielem die Züge
führung zeigen bei den drei Künstlergeschichten be- einer abschließenden, auf Werk und Leben aus der
merkenswerte Übereinstimmungen. Die Erzählun- Perspektive eines Schriftstellers, der weiß, dass es
gen setzen mit der Beschreibung eines Zustandes mit ihm zu Ende geht, zurückschauenden Reflexion.
ein, der iterativ – also unter Hervorhebung des wie- Besonders ausgeprägt ist dieses Moment der resü-
derkehrenden Charakters der einzelnen Ereignisse – mierenden Rückschau im Hungerkünstler und in der
erzählt wird: das ganz dem Dasein auf dem Trapez Josefine (ähnlich wie in der späten Erzählung <Der
untergeordnete Leben des Trapezkünstlers, die Bau >). Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat
Glanzperiode des Hungerkünstlers mit ihrem vier- sich denn auch – mit wenigen Ausnahmen – zuneh-
zigtägigen Schauhungern, die Reflexionen über den mend skeptisch gegenüber Versuchen gezeigt, in den
Charakter von Josefinens Gesang und ihre Auffüh- Erzählungen des Bandes von Kafkas Werk und Le-
rungen vor dem Volk der Mäuse. In diesem Zustand ben ablösbare Reflexionen über Künstlertum über-
macht sich jedoch jeweils ein instabiles Moment gel- haupt oder über das Verhältnis von Kunst und mo-
tend, das eskaliert und in die Katastrophe mündet derner Gesellschaft zu erblicken (in Bezug auf den
oder deren Kommen zumindest andeutet: das (noch Hungerkünstler vgl. Müller 2003, 309 oder Boa 1996,
erfüllbare) Verlangen des Trapezkünstlers nach ei- 172: »the story is surely not about art in general«),
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten 321

und angemahnt, fürs Verständnis der Texte den Um- nach ›Drüben‹ kündigt sich der gnostische Dualis-
weg über die autobiographischen Spuren, die Kafka mus der Zürauer Aphorismen an, der diese sinnliche
gelegt hat, nicht zu meiden. Diese betreffen insbe- Welt preisgibt und sie wesentlich als schwer, nur um
sondere die zentralen Motive des Hungerkünstler den Preis des Todes oder auch gar nicht zu überwin-
und der Josefine (Hungern, Musik und Mäuse) sowie dendes Hindernis auf dem Weg zur ›geistigen‹ Welt
deren auf intrikate Weise miteinander verknüpfte versteht. Im Vorfeld der Entstehung der Hunger-
Vorgeschichte in Werk und Leben Kafkas. künstler-Erzählung wird dieser gnostisch eingefärbte
Motivkomplex dann wieder aufgenommen. »Nur
Motive vorwärts hungriges Tier führt der Weg zur eßbaren
Nahrung, atembaren Luft, freiem Leben, sei es auch
Als Bildspender für Isoliertheit und eine zu schmale hinter dem Leben«, notiert Kafka am 10. Februar
Ausgangsbasis für das Leben finden sich sowohl das 1922 (T 903 f.). Und eine andere Notiz spricht vom
Ausgehungertsein wie auch der Trapezkünstler be- »Hungerstrike auf allen Gebieten des Lebens« und
reits in einem literarischen Entwurf des Tagebuchs bietet im Anschluss den Chor mehrerer potentiell
über den Junggesellen von 1910 (T 118). Danach ist erlösender Stimmen, die den ›unersättlichen‹ Aske-
Kafkas Interesse für Varieté, Zirkusartisten und ten befreien könnten (NSF II, 341).
Freaks, Kunst und Existenzen am Rande der Gesell- Die Musik wird in der eben angeführten Tage-
schaft für seine gesamte Schaffensperiode kontinu- buchnotiz als einer der Bereiche menschlicher Exis-
ierlich belegt (Übersicht sämtlicher relevanten Texte tenz benannt, die in Kafkas Leben unter dem Herr-
bei Bauer-Wabnegg 1986, 84–89 u. 1990, 331–334). schaftsanspruch des Schreibens zu leiden hatten und
Zentrale Texte des Œuvres wie Auf der Galerie, Ein verkümmerten. Dies passt zu Kafkas Eingeständnis
Bericht für eine Akademie oder <Forschungen eines der eigenen Unmusikalität, wie er es etwa gegenüber
Hundes> handeln von Zirkusartistik und verwand- Milena Jesenská machte (14.6.1920, BM 65;
ten Schaustellungen. Die Frage der Nahrungsauf- 25.6.1920, BM 79). Dennoch ist es kaum angezeigt,
nahme steht, wie Tabakspfeife und Schnapsflasche die Musik in Kafkas Welt vorrangig auf der Seite des
im Bericht für eine Akademie zeigen (DzL 308–311), verkümmerten Lebens zu positionieren. Im Ein-
mit diesem Interesse durchaus in Verbindung und klang mit einem Zwei-Welten-Modell, das seit der
hatte für Kafka, den überzeugten Vegetarier, große Romantik – sehr deutlich etwa bei Schopenhauer –
existentielle Bedeutung: Mehr als fünfhundert Stel- die kulturelle Auffassung der Musik bestimmt (Valk
len im Werk Kafkas beziehen sich auf das Essen 2008), ist die Musik vielmehr eher so etwas wie ein
(Neumann 1990b, 399). fernes Zeichen jener fernen ›geistigen Welt‹, die es in
Eine frühe Tagebuchnotiz aus dem Januar 1912 einem gnostischen Kosmos zu erreichen gilt und für
fasst die eigene Konzentration auf das Schreiben me- die Tiere ironischerweise empfänglicher zu sein
taphorisch als ›Abmagern‹: scheinen als Menschen. »War er ein Tier, da ihn Mu-
sik so ergriff?«, heißt es über Gregor in der Verwand-
In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schrei-
ben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus lung (DzL 185). Dass sie in der ›sinnlichen Welt‹ un-
klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste verständlich und befremdlich ist, gehört mit zu die-
Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und sem Konzept von Musik – man denke an das
ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden Summen der Telefone im Schloss, ein »Summen zahl-
des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philoso-
phischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten.
loser kindlicher Stimmen«, das zugleich »Gesang
Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab (T 341). fernster, allerfernster Stimmen« ist (S 36). So betrifft
die Unmusikalität der Mäuse auch Josefine selbst als
Im dritten Teil der Verwandlung wird die zuneh- Angehörige ihres Volks; trotzdem hat sie Erfolg bei
mende Appetitlosigkeit Gregors zu einem leitenden ihrem Unterfangen, ihr schwaches Pfeifen als Musik
Motiv, und nur bei Musik, beim Geigenspiel der auszugeben (»Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht
Schwester, ist es Gregor, »als zeige sich ihm der Weg die Macht des Gesanges«; DzL 350). In gnostischer
zu der ersehnten unbekannten Nahrung« (DzL 185). Perspektive wären diese Gegebenheiten als Ausdruck
Auch in der Strafkolonie wird der Verlust des Appe- der Spannung und Entfernung zwischen zwei Wel-
tits als entscheidendes Indiz für den Beginn der Er- ten zu lesen, die es zu einem Rätsel macht, wie in ei-
kenntnis des Verurteilten gewertet (DzL 219). In die- ner durch und durch ›unmusikalischen‹ Welt sich
sen literarischen Motiven eines Sich-Durchhungerns überhaupt ›Musik‹ hörbar machen könne.
322 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Auch die ›Tiere‹ gehören in den skizzierten Mo- merk galt jedoch der Erzählung Ein Hungerkünstler
tivkomplex. Als zukünftiges literarisches Motiv mel- (vgl. auch ä 487 f.) und, mehr noch, Josefine, die Sän-
den sich speziell die Mäuse während Kafkas Land- gerin. Diesen beiden Texten widmen sich darum
aufenthalt in Zürau im Herbst 1917 in Gestalt der auch die beiden folgenden Einzelanalysen (vgl. auch
»Mäuseplage« (An M. Brod, 23. u. 24. November ä 493–496).
1917; B14–17 367), die Kafka schlaflose Nächte be-
reitet und von der er Felix Weltsch, Max Brod und Ein Hungerkünstler
Oskar Baum brieflich in Kenntnis setzt. Besonders
aufschlussreich ist eine Passage aus einem Brief an Forschung
Felix Weltsch vom 15. November 1917: In den 1950er Jahren war Ein Hungerkünstler einer
der wenigen Texte Kafkas, den man leicht an die da-
Was für ein schreckliches stummes lärmendes Volk das
mals im Schwange befindlichen Vorstellungen von
ist. Um 2 Uhr wurde ich durch ein Rascheln bei meinem
Bett geweckt und von da an hörte es nicht auf bis zum Autonomie der Kunst und vom Gegensatz zwischen
Morgen. Auf die Kohlenkiste hinauf, von der Kohlen- Kunst und Leben anschließen konnte. Benno von
kiste hinunter, die Diagonale des Zimmers abgelaufen, Wiese interpretierte Kafkas Erzählung in diesem
Kreise gezogen, am Holz genagt, im Ruhen leise gepfif- Sinn mit Hilfe der Topoi der konservativen Kultur-
fen und dabei immer das Gefühl der Stille, der heimli-
chen Arbeit eines gedrückten proletarischen Volkes, kritik, sprach von der »tragisch-wahren Existenz des
dem die Nacht gehört (B14–17 365). Hungerkünstlers« (v. Wiese 1956, 336) und sah in
der Hauptfigur »die groteske Metapher für den iso-
Störung und Ablenkung, immer nur scheinbar zum lierten Durchbruch zum Geist in einer verfremdeten
Stillstand kommende, fortwährende Unruhe werden Welt« (337). Obwohl von Wiese durchaus Sinn für
hier von Kafka hervorgehoben, und auch das Motiv die Ironien der Erzählung hatte, las er den Hunger-
der Unterdrückung und Verfolgung eines unter dem künstler letztlich doch als ein novellistisches Lehr-
Zwang zu unaufhörlicher ›Arbeit‹ stehenden ›prole- stück über die Weltlosigkeit des Geistigen und der
tarischen Volkes‹ ist bereits da. Auch Kafkas gene- Kunst. Wer selbst Geist hatte, musste sich auf die
relle Motivation für die Wahl von Tiergeschichten ist Seite des Hungerkünstlers schlagen. Kafka hat, so re-
für die Josefine relevant. Erstens lässt sich vom Tier sümierte von Wiese in heideggerisierender Sprache
aus vielleicht der entscheidende verfremdende Blick seine Interpretation, »das Unerhörte mit kunstvoller
auf die Menschengemeinschaft werfen. Wie man an Absicht verhüllt, ja, ins Groteske verzerrt, damit es
der hierarchiefreien Mäusegesellschaft sehen kann, in unserer uneigentlichen und unwahren Welt als
verkennen Tiere, zweitens, anders als Menschen, das Eigentliche und Wahre von neuem unter uns an-
nicht ihre beispiellos untrennbare Verbindung. Drit- wesend sein kann« (342).
tens lässt sich an Tieren leichter als an Menschen Auch manch anderer früher Interpret stürzte sich
Freiheit als Illusion darstellen: Die Mäuse leben in bei der Interpretation des Hungerkünstler auf das Si-
Arbeit, Sorge und Angst und kennen kaum anderes gnifikat ›Kunst‹ und übte unbewusste Askese im
als die harte Notwendigkeit. Und schließlich kann Hinblick auf den Signifikanten ›Hungern‹ (vgl. etwa
Kafkas Neigung zur Kleinheit und zum Minimalis- Politzer 1978 [1962], 465–473). Das änderte sich erst
mus in der Darstellung von Kleingetier ein geradezu mit Walter Bauer-Wabneggs Studie Zirkus und Artis-
ideales Vehikel finden: »Du sagst, ich solle mich an ten in Franz Kafkas Werk (1986), die im Rahmen der
Größerem zu erproben suchen. Das ist in gewissem sozialgeschichtlichen Wende der Kafka-Forschung
Sinne richtig, andererseits aber entscheiden doch in den 1970er und 1980er Jahren entstand. Bauer-
die Verhältniszahlen nicht, ich könnte mich auch Wabnegg wies auf die Rolle der Hungerkunst in den
in meinem Mauseloch erproben« (An M. Brod, Varietédarbietungen der Jahrhundertwende hin und
11.9.1922; Briefe 415). zeigte einige bemerkenswerte Parallelen zwischen
ihnen und Kafkas Erzählung auf: »der Impresario,
die Wächter, Gespräche des Akteurs mit ihnen, Wet-
Einzelanalysen ten, Wutanfälle des Hungerkünstlers, der medizini-
sche Rahmen, die sensationelle Beendigung der
Erstes Leid (ä 486 f.) hat in der Forschung etwas Hungerperiode als feierlicher Akt mit Damen und
mehr Aufmerksamkeit gefunden als die ziemlich einer ersten Mahlzeit, die Isolierung hinter Gittern,
vernachlässigte Eine kleine Frau. Das Hauptaugen- die Popularität des Hungernden« (Bauer-Wabnegg
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten 323

1986, 168). Die Bauer-Wabnegg folgende Forschung begriffs des französischen Anthropologen Roger
hat sich auf den in den 1890er Jahren berühmtesten Caillois (409, mit Verweis auf Caillois 1967). Der
Hungerkünstler, den aus Cesenatico gebürtigen Ita- Hungerkünstler lässt die noch sozial vermittelbaren
liener Giovanni Succi (*1853) konzentriert, der von Spielformen des Wettkampfs, des Glücksspiels und
1886 bis 1904 in den Großstädten der zivilisierten des Rollenspiels schließlich hinter sich und überlässt
Welt – wie man sagte – ›gastierte‹. Über Succi wurde sich dem ›vertige‹, der schwindelnden Rauscherfah-
u. a. ausführlich im Jahr 1896 in der Wiener Neuen rung des eigenen Körpers: »Nur das Spiel des sich
Freien Presse berichtet, und er fand Eingang in ein selbst ›aufs Spiel setzenden‹ Körpers eröffnet die
zeitgenössisches ernährungsphysiologisches Stan- Möglichkeit einer Ablösung von jenen Zwängen, die
dardwerk: Luigi Lucianis Fisiologia del Digiuno die anderen im Spiel ihrer Wünsche errichten, in so-
(1889), die bereits 1890 unter dem Titel Das Hun- zialen Zeichen verfestigen und als Regeln des Ver-
gern ins Deutsche übersetzt wurde (Lange-Kirch- haltens in Geltung setzen« (411).
heim 1999). Obwohl der konkrete Nachweis einer In diesem radikalen Modell der Selbstaufzehrung
oder mehrerer Quellen nach wie vor aussteht, scheint im Dienst der Eigentümlichkeit sieht Neumann auch
es doch klar, dass Kafka Informationen über die ein, wie er betont, »bislang in der Geschichte der Li-
große Periode der Hungerkunst um 1900 und den teratur kaum zur Geltung gelangtes Prinzip der Äs-
Charakter der Fastendarbietungen auf Jahrmärkten, thetik« (418). Anders als eine in christlicher Tradi-
Variétés oder Zirkusvorführungen zugänglich gewe- tion stehende Ästhetik des Symbolischen, die dem
sen sein müssen. Prinzip der ›Verklärung des Leibes‹ folgt, setzt Kaf-
kas antisymbolische Ästhetik auf das Prinzip der
›Verweigerung‹ (419). Die auch von anderen Inter-
Deutungsaspekte
preten bemerkten Christusparodien im Hunger-
Die Erregung darüber, dass »almost every detail of künstler (etwa die Anspielungen auf die Kreuzesab-
A Hunger Artist is historically accurate with regard nahme bei der Beendigung des Schauhungerns; DzL
to the actual profession of fasting for pay« (Mitchell 339 f.) können daher von Neumann als »Versuche
1987, 238), sollte trotzdem nicht darüber hinwegtäu- der Etablierung einer umgekehrten Heilsgeschichte«
schen, dass Kafka die Hungerkunst in einen symbo- gelesen werden, einer »Rückführung des durch den
lischen Rahmen transferiert, der sowohl mit seinem Sündenfall vom Körper getrennten Zeichens in die-
eigenen langjährigen Nachdenken über sein Schrei- sen selbst, so, als sei der Sündenfall nie geschehen«
ben als auch mit seiner privaten Obsession mit As- (Neumann 1990b, 419). Und der Panther, der am
kese zu tun hat. Die umfassendste und gründlichste Ende der Erzählung den Hungerkünstler ersetzt, er-
Interpretation der Erzählung in diesem Rahmen hat scheint nicht als eine Figur des gewöhnlichen, freu-
Gerhard Neumann geliefert. Er thematisierte in sei- digen Lebens, das einer durch Hinfälligkeit geadel-
nem Aufsatz Hungerkünstler und Menschenfresser ten Kunst gegenübersteht, sondern als »von der um-
das Essen und das Erlernen von Essensregeln als ele- gebenden Kultur gut lesbares Zeichen« (412). Der
mentaren Schritt in die symbolischen Ordnungen Hungerkünstler hingegen verkörpert das absolute
hinein, in denen man als Erwachsener sein Leben Zeichen, das seine Absolutheit nurmehr in seinem
verbringen wird. »Die Essensverweigerung des Hun- Erlöschen, das zur Unlesbarkeit führt, zeigen kann.
gerkünstlers erscheint in diesem Kontext als ver- In ihrer vorbildlichen Integration der einzelnen
zweifelter Versuch einer Behauptung der Eigentüm- Textmomente stellt Neumanns Interpretation des
lichkeit des Subjekts gegen die Doppelstrategien der Hungerkünstler eine der wenigen definitiven Leis-
Familienerziehung (die ja eine Erziehung ›für das tungen der Kafka-Forschung dar; sie ist in der Folge
Leben‹ ist) durch Regeln des Essens« (Neumann nicht wieder erreicht worden.
1990b, 404). Die Anorexie hat regressiven Charakter,
sie möchte vor die Gesellschaft, vor den Sündenfall Josefine, die Sängerin oder
des Essens zurück (414), im Bewusstsein, »daß Sub- Das Volk der Mäuse
jektivität in der vorgefundenen Kultur sich nicht so-
zial bewahrheiten läßt: daß sich das Für-Sich und das Forschung
Für-Andere nicht mehr vermitteln lassen« (413). Die Überraschend einig ist sich die Forschung zu Jose-
zunehmende Radikalisierung des Hungerkünstlers fine über den heiteren Charakter der Erzählung. Jo-
beschreibt Neumann unter Zuhilfenahme des Spiel- seph P. Stern nannte – in einem klugen, insgesamt zu
324 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

wenig beachteten Beitrag – den Text Kafkas »most Christine Lubkoll, Kafka greife zwar das »überlie-
serene – indeed his only serene – story« (Stern 1984, ferte Modell einer weiblichen Musikalität« auf,
1298), wies dabei aber zugleich auch auf das Unfeier- schreibe es jedoch nicht fort, sondern gebe im
liche der Josefine (1303) und ihren nicht zu leugnen- Grunde die »Analyse eines Phantasmas«, indem er
den kontrolliert melancholischen Unterton hin die »Funktionsweise und die Funktion des Weiblich-
(1300). Auch Politzer sprach von den »unvergleich- keitsmythos im gesellschaftlichen Zusammenhang
lich heitereren Tönen« der Josefine (Vergleichspunkt beschreibe« (Lubkoll 1992, 756). Eine solche Sicht
bei dieser Bemerkung war ihm Das Schloss), hob die auf Kafka als kritischen Analytiker des Geschlech-
»besondere Milde« des Erzählers hervor und attes- terdiskurses entfernt sich nicht nur von Kafkas eige-
tierte dem Dichter Farben, »die paradoxerweise nen Denkhorizonten, sie legt auch eine große Kluft
freundlicher sind als Kafkas sonstige Palette« (Polit- zwischen Josefine und ihren Autor und lässt die
zer 1978 [1962], 475). Ritchie Robertson nannte den Frage kaum mehr zu, warum Kafka gegen Ende sei-
Humor der Josefine »subtle and poignant« (Robert- nes Lebens erstmalig auf eine weibliche Figur als
son 1985, 279) und glaubte eine abschließende Stim- Medium der literarischen Artikulation seines Selbst-
mungswende im Werk Kafkas erkennen zu können: verständnisses verfallen ist.
»the self-tormenting spirit of Kafka’s earlier works Diese Frage wird interessanterweise auch nicht
has been succeeded by a mood of self-effacement« von den dekonstruktivistischen Interpreten der Er-
(283). Elizabeth Boa bezeichnete das beobachtende zählung aufgeworfen, die sich naturgemäß auf die
Auge des Erzählers der Josefine als »much gentler ›Absenz‹ Josefinens am Ende des Textes, die chan-
than that of the cruelly mocking narrator of A Hun- gierende Identität ihres ›Gesanges‹, die Gleichgültig-
ger-Artist« und gestand ihm zu, trotz seiner männli- keit des Mäusevolkes gegenüber Josefinens ›Diffe-
chen Herablassung »an affectionate portrait of a fe- renz‹ und weitere leicht auffindbare Momente der
male creature« geliefert zu haben (Boa 1996, 180). Negativität konzentrieren (Norris 1983; Menke 2000;
Größere Uneinigkeit herrscht, wo das Angebot auch Lubkoll 1992).
der Erzählung von verschiedenen thematischen Pro- Man hat solche Versuche, Josefine, die Sängerin in
blemhorizonten (Musik bzw. Kunst; Judentum, Indi- die vertraute Welt der modernen und postmodernen
viduum und Gesellschaft; Weiblichkeit) zu entspre- Literaturtheorie einzubürgern, gelegentlich dadurch
chend unterschiedlichen Fokussierungen der Inter- zu stützen gemeint, dass man andere Texte oder
preten geführt hat. Ob Weiblichkeit über die präzis Kunstwerke zur Erhellung herangezogen hat – mit
angebbaren Funktionen hinaus, die Josefinens Ge- bemerkenswerter Erfolglosigkeit. Immer wieder
schlecht für die Charakterisierung der Hauptfigur zu wurden Kafkas eigener kurzer Text <Das Schweigen
erfüllen hat (Exzentrizität, Schwäche, Attraktivität), der Sirenen>, Heinrich von Kleists Erzählung Die
auch zentrales Thema der Erzählung ist, ist kontro- heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik oder (selte-
vers diskutiert worden. Ruth V. Gross erinnerte da- ner) Arnold Schönbergs Pierrot lunaire (mit der For-
ran, dass Josefine »an intersection of discourses« sei derung einer Sprechmelodie, die nicht Gesang sein
und »gender« im Text weit weniger auffällig zur darf und es dann unvermeidlich doch ist) genannt.
Sprache komme als in der Forschung: »The road Bettine Menke hat nacheinander den Rattenfänger
most heavily travelled is the discourse on her gender, von Hameln, die ägyptische Memnon-Statue, Kleists
which, in fact, is hardly explicitly invoked at all« Heilige Cäcilie und Schillers Gedicht Die Macht des
(Gross 1985, 64). Trotzdem sah sie, ausgehend von Gesanges als relevant für Josefine erklärt, ohne dass
Widersprüchlichkeiten in der Charakterisierung Jo- jemals klar wurde, wovon die Interpretin überhaupt
sefinens, die Erzählung als einen Metadiskurs »about zu sprechen gedachte (Menke 2000, 729–765). Und
the discourse on women« (66). Zwar enthalte der Christine Lubkoll glaubte, in einem Vergleich mit
Schlussabschnitt der Erzählung einen »narrative René Magrittes berühmtem Gemälde Ceci n’ est pas
trick«, mit dem eine Frau zum Verschwinden ge- une pipe mehr als einen »bloßen spielerischen Jux«
bracht werde und ein (männlicher) Erzähler übrig sehen zu dürfen und ihm »wichtige Aufschlüsse für
bleibe. Dennoch sei Kafka nicht »another sacrificer eine poetologische Standortbestimmung Kafkas«
of women«, sondern ein »demystifier who fore- entnehmen zu können (Lubkoll 1992, 751; 761–763):
grounds for us the artificiality of his tools« (67); der als heuristisch wertvollen Hinweis auf »die uner-
Autor praktiziere seinen Trick weniger, als dass er müdliche und radikale Zeichenreflexion des Erzäh-
ihn exponiere. Mit verwandtem Ansatz behauptete lers« (763) der Josefine.
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten 325

Mehrheitlich ist die Forschung allerdings doch der Die strenge Nachsicht des Mäusevolkes verhindert
Ansicht, dass die unermüdliche Reflexion – des Er- es freilich – im Sinne von Kafkas Devise »Im Kampf
zählers wie auch diejenige Kafkas – in Josefine mit zwischen Dir und der Welt sekundiere der Welt«
anderen als mit epistemologischen Fragen der Kunst (NSF II, 124) –, dass dieser Wunsch tatsächlich er-
befasst war. Walter Sokel zog die älteren Konfliktli- füllt wird. Indes ist es auffällig, dass der Wunsch Jo-
nien in Kafkas Werk bis hin zur Josefine aus und sah sefinens, befreit von den Bedingungen, die sie stellt,
– in Übereinstimmung mit seiner Ansicht, dass die sich auf eine andere Ebene verschiebt, nämlich auf
»Ableugnung des Kampfes« die »furchtbare Ironie« die eines zweiten Wunschtraumes. Das grundsätzli-
bildet, »die Kafkas Spätwerk durchzieht« (Sokel 1976 che Davonkommen, das ihr nicht gewährt sein kann,
[1964], 528) – das Mäusevolk in Kontinuität mit den wird dem Volk zuteil, und es ist gerade Josefine, die
furchterregenden Gestalten der Macht in Kafkas frü- dabei als Medium dient. Ihr Pfeifen kommt – anders
herem Werk: »Deshalb sind die Mäuse für Kafka als in der unerfüllten Situation in Eine kaiserliche
auch mit dem Furchtbaren und Unheimlichen asso- Botschaft – »fast wie eine Botschaft des Volkes zu
ziiert, das die Vatergestalt für ihn nie verlor« (567). dem Einzelnen«, mehr noch, sie repräsentiert das
Da zugleich jedoch, anders als früher, ein Vertreter Volk: »das dünne Pfeifen Josefinens mitten in den
der ›Macht‹ in Josefine die Erzählerrolle übernimmt schweren Entscheidungen ist fast wie die armselige
und damit die ›Macht‹ von innen sehen lässt, wird Existenz unseres Volkes mitten im Tumult der feind-
Josefine für Sokel das umfassend tragische Ab- lichen Welt« (DzL 362). Josefinens Auftritte sind
schlusswerk Kafkas: »nicht so sehr eine Gesangsvorführung als vielmehr
Josefine zeigt die Tragik des Ichs, die ja die meisten eine Volksversammlung« (361). Zeitweilig ist das
Werke Kafkas darstellen, vereinigt mit der Tragik der Volk vom Daseinsdruck befreit: »Hier aber ist das
Kunst, die manche seiner Werke zeigen, und mit der Pfeifen freigemacht von den Fesseln des täglichen
Tragik der Machtgestalt, der Wirklichkeit selbst, die zu Lebens und befreit auch uns für eine kurze Weile«
zeigen sich Kafka auf dieses letzte Werk aufgespart. Erst
die Vereinigung aller drei Aspekte der Tragik machte Jo- (367). Die Forschung hat in dieser ›Befreiung‹ eine
sefine zum würdigen Testament und Krönung seines Le- »hymn to art«, »unparalleled in Kafka’s work« (Pas-
benswerkes, das ja die Beschreibung eines Kampfes war cal 1982, 227) gesehen und – im Jargon der Litera-
(584 f.). tursoziologie – eine Hervorhebung der Leistung der
Mit dieser konsequent tragischen Interpretation der »Entpragmatisierung« (Saße 2003, 396) der Kunst.
Josefine ist Sokel nicht durchgedrungen. Man hat Das ist zu wenig. Angesichts der »feierlichen Stille,
ihm, wohl zu Recht, die Zeichen der Versöhnlichkeit von der das schwache Stimmchen umgeben ist«
entgegengehalten, die Kafkas Text zur Genüge ent- (DzL 354), und des »Bechers des Friedens«, der (me-
hält. »Kafka’s story«, schrieb etwa Roy Pascal, »in taphorisch) bei Josefinens Vorführungen geleert
which it is true the ultimate authority is ascribed to wird (361), angesichts des ›Träumens‹ des Volks und
the community, in no sense presents this as a terrify- des Gefühls, »als lösten sich dem Einzelnen die Glie-
ing enemy« (Pascal 1982, 230). Ja, mehr noch, gerade der« (366), »als wären wir des ersehnten Friedens
in der Spannung zwischen Josefine und ihrem Volk teilhaftig geworden« (354), spräche man wohl besser
geht es um zwei grundsätzliche und lang gehegte von der Sabbatfunktion der Kunst.
Wunschträume Kafkas, die in Josefine gerade in ihrer
Gegensätzlichkeit einer merkwürdig ironischen Er-
Deutungsaspekte
füllung zugeführt werden.
Der erste Wunschtraum richtet sich auf absolute Einen jüdischen Anspielungshorizont hatte bereits
Exzeptionalität: »daß Josefine fast außerhalb des Ge- Max Brod in Josefine vermutet (Brod 1948, 58–62).
setzes steht, daß sie tun darf, was sie will, selbst wenn Merkwürdigerweise drehte sich die Diskussion um
es die Gesamtheit gefährdet, und daß ihr alles ver- diese Frage zunächst darum, ob das Fehlen von Ge-
ziehen wird« (DzL 368; die Formulierung »außer- schichtsschreibung im Volk der Mäuse (DzL 360 f.,
halb des Gesetzes« bereits in T 119). Man kann hier 377) nicht ausschließe, dass Kafka mit den Mäusen
an Kafkas Wunsch denken, auch sein eigenes Volk gemeint haben könnte. Polit-
zer hielt das darum für unwahrscheinlich, weil das
daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließ-
Judentum »extrem geschichtsbewußt« sei und »eine
lich, als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die
mir innewohnenden Gemeinheiten, offen, vor aller Au- bedeutende Anzahl historiographischer Texte zur
gen ausführen dürfte (Oktober 1917, T 839 f.). Geschichtsschreibung der Menschheit beigesteuert«
326 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

habe (Politzer 1978 [1962], 484). Karl-Heinz Finger- is, the generation of ›Western Jews‹ between emanci-
hut übernahm die Meinung Politzers ungeprüft und pation and Zionism to which Kafka felt he belonged«
schrieb: »Der große Einzelne als ›kleine Episode in (205 f.). Hierfür spricht u. a., dass die Tradition – so
der ewigen Geschichte unseres Volkes‹, den man in wie in anderen Diagnosen der westjüdischen Situa-
›gesteigerter Erlösung‹ vergißt, ein solches Phäno- tion durch Kafka – auch in Josefine in der Jetztzeit
men ist dem jüdischen Geschichtsbewußtsein völlig unverstanden bleibt: »in den alten Zeiten unseres
fremd« (Fingerhut 1969, 203). Demgegenüber hat Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und so-
Ritchie Robertson zu Recht darauf hingewiesen, dass gar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr
sich gerade im nachbiblischen, rabbinischen Juden- singen kann« (DzL 351). Indes gibt es einige Ele-
tum die Geschichtsschreibung nach Josephus bis mente der Erzählung, die nur schwer mit dem West-
zum 19. Jahrhundert weitgehend verliert und die ge- judentum zu vereinbaren sind. So wurde die »Frucht-
schichtliche Erfahrung als ein immergleicher, nicht barkeit unseres Stammes« (364) im frühen 20. Jahr-
enden wollender »catalogue of persecutions« er- hundert immer wieder dem Ost- und gerade nicht
scheint (Robertson 1985, 281 f., Zitat: 282; vgl. auch dem Westjudentum zugeschrieben. Kafka selbst
Yerushalmi 1996, 17–42) – also genauso, wie sie auch hatte in Prag am 28. Januar 1912 den Vortrag eines
in Josefine dargestellt wird: als eine Folge von »Op- gewissen Dr. Felix Aaron Theilhaber besucht, der
fern, über die der Geschichtsforscher […] vor Schre- mit seinem Buch Der Untergang der deutschen Juden.
cken erstarrt« (DzL 360 f.). Eine volkswirtschaftliche Studie (1911) Furore ge-
Robertson machte auch auf einige andere Punkte macht hatte und diesen Untergang auf die zuneh-
aufmerksam, in denen die Existenzweise der Mäuse menden Mischehen und Taufen und die niedrige
auf jüdisches Leben hinzudeuten scheint: die Zer- Geburtenrate der ins Bürgertum aufgestiegenen jü-
streuung (363), die »gewisse praktische Schlauheit, dischen Familien zurückführte (T 370 f.). Auch der
die wir freilich auch äußerst dringend brauchen« proletarische Charakter eines arbeitenden Volkes
(350), die Unfähigkeit zu bedingungsloser Ergeben- weist eher auf das Ost- wie auf das Westjudentum
heit (358), die mangelnde Musikalität (350 f.), das hin – wie es überhaupt zu den Topoi der innerjüdi-
»leise Lachen«, das »bei uns gewissermaßen immer schen Selbstverständigungsdebatte um 1900 zählt,
zu Hause« ist (358) – also: der Humor –, die Neigung dass man von einem jüdischen ›Volk‹ eigentlich nur
zu Gerücht und »Tratsch« (358). Dass in einigen die- noch in Osteuropa sprechen könne (Aschheim 1999,
ser Volksmerkmale ein spielerisch-ironischer Um- 80–99).
gang Kafkas mit antijüdischen Stereotypen zu erken- Einige Interpreten haben auf die Verwandtschaft
nen ist, hat Mark Anderson dazu geführt, speziell der Erzählung mit Kafkas frühen Reflexionen über
den Zusammenhang von Judentum und Unmusika- eine ›kleine Literatur‹ aufmerksam gemacht (Polit-
lität als kulturelles Stereotyp der Jahrhundertwende zer 1978 [1962], 481–483; Schillemeit 1979, 399 f.).
und als relevanten Hintergrund für Kafkas Erzäh- Insbesondere die Auffassung von Kunst als Medium
lung auszuweisen. Richard Wagners bekannte und des Gemeinschaftsgefühls erinnert an Kafkas Begeg-
nachhaltig wirksame Schrift Das Judenthum in der nung mit dem jiddischen Theater im Jahre 1911 und
Musik (1850, 2. Aufl. 1869) und insbesondere der die dort gemachten Gemeinschaftserfahrungen:
auch sonst für Kafka bedeutsame, den jüdischen
Bei manchen Liedern, der Aussprache »jüdische Kinder-
Selbsthass exemplarisch repräsentierende Otto loch«, manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Po-
Weininger mit seiner Dissertation Geschlecht und dium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind
Charakter (1903) sind Andersons wichtigste Belege. an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Chris-
Das Syndrom, das Weininger sich aus Judentum, ten, gieng mir ein Zittern über die Wangen (5.10.1911;
T 59).
Unmusikalität und Weiblichkeit zusammenbastelt,
passt in auffälliger Weise auf die Heldin der Erzäh- Karl Erich Grözinger wies auf die traditionelle Be-
lung: »theatrical, deceitful, alternately hysterical and deutsamkeit der Frage der Alimentierung der geisti-
coldly calculating, without a true musical personal- gen Elite im Ostjudentum hin (Grözinger 1992, 190–
ity and therefore all the more dangerously seductive« 192) und versuchte – weniger plausibel –, Josefine in
(Anderson 1992, 210). die Nähe chassidischer Wunderrabbis zu rücken.
Anders als manch anderer Interpret sah Anderson Das auch von Kafka selbst – z. B. in Marienbad in
den jüdischen Fokus der Josefine in »the German- Gestalt des Belzer Rabbis und seines Gefolges (vgl.
Jewish people at a particular moment in history, that An M. Brod, 17./18.7.1916, B14–17 177–181; An
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten 327

F. Bauer, 18.7.1916, B14–17 182) – in Augenschein 634–646 (Eine kleine Frau), 384–400 (Ein Hunger-
genommene »Leben des um seine Wunderrabbis ge- künstler), 646–649 (<Menschenfresser >-Fragment),
scharten Volkes« lege den Gedanken nahe, die Er- 651–678 (Josefine, die Sängerin). –– Vorabpublikatio-
zählung als eine »Persiflage dieser ostjüdischen Sym- nen einzelner Erzählungen: Erstes Leid: ED in: Genius.
biose« zu lesen (Grözinger 1992, 192). Wie auch Zeitschrift für werdende und alte Kunst 3 (1921) 2,
immer es sich damit verhalten möge, so haben doch 312 f. [erschienen ca. Ende Januar 1923]; wieder in: Pra-
Interpretationen, die den jüdischen Anspielungs- ger Presse, Morgen-Ausgabe 3 (25.12.1923), III [Weih-
horizont ausblenden und die Erzählung als bloße nachts-Beilage »Dichtung aus der Tschechoslowakei«];
Reflexion über den Status des Künstlers in der mo- wieder in: Berliner Börsen-Courier 56 (1.7.1924), 5
[erste Beilage]. – Eine kleine Frau: ED in: Prager Tag-
dernen Gesellschaft lesen (Saße 2003; Jahraus 2006),
blatt 49 (20.4.1924), 5 [Oster-Beilage]. – Ein Hunger-
den gravierenden Nachteil, übersehen zu müssen,
künstler: ED in: Die neue Rundschau 33 ([Oktober]
dass es in Josefine, anders als im Hungerkünstler,
1922) 10, 983–992; wieder in: Prager Presse, Morgen-
nicht um ein diffuses modernes Publikum, eine
Ausgabe 2 (11.10.1922), 4–6; wieder in: Sonntagsblatt
»vergnügungssüchtige Menge« (DzL 342), sondern der New Yorker Volkszeitung 45 (5.11.1922) 2, 6 f.; wie-
eben um ein ›Volk‹, und zwar um Josefinens Volk der in: Vorwärts. Wochenblatt der New Yorker Volks-
geht. Warum sollte sich die scharfe Entfremdungs- zeitung 45 (11.11.1922) 2, 6 f.; wieder in: Vorbote. Un-
diagnose, die noch für den Hungerkünstler gilt, nicht, abhängiges Organ für die Interessen des Proletariats 49
wie Ritchie Robertson meinte, im Zusammenleben (15.11.1922), 5. – Josefine, die Sängerin oder Das Volk
mit Dora Diamant gemildert haben und Kafkas der Mäuse: ED in: Prager Presse, Morgen-Ausgabe 4
»sense of belonging to the Jewish people« gewachsen (20.4.1924), 4–7 [Osterbeilage »Dichtung und Welt«].
sein (Robertson 1985, 275)? Materialien: Dora Diamant: Mein Leben mit F.K. In:
Dafür spricht der Schlussabschnitt der Josefine, H.-G. Koch (2005 [1995]), 194–205. – Felix Weltsch:
der eine genaue Lektüre verdient hat. Der Erzähler F.K. gestorben. In: H.-G. Koch (2005 [1995]), 10–12.
prophezeit Josefine und ihrem Gesang unterschied- Forschung: Walter Bauer-Wabnegg: Zirkus und Ar-
liche Schicksale. Die Schwäche des Gesangs wird zu tisten in F.K.s Werk. Ein Beitrag über Körper und
seinem Vorzug: Eben weil Josefinens Gesang schon Literatur im Zeitalter der Technik. Erlangen 1986, bes.
zu ihren Lebzeiten nicht »mehr als eine bloße Erin- 159–165 [zu Erstes Leid], 166–176 [zu Ein Hungerkünst-
nerung« (DzL 376) war, wird er in der Erinnerung ler]. – Ders.: Monster und Maschinen, Artisten und
bleiben: Er ist »in dieser Art unverlierbar«. Josefine Technik in F.K.s Werk. In: Kittler/Neumann (1990),
aber wird »in gesteigerter Erlösung vergessen sein 316–382. – Hartmut Binder: K.-Kommentar zu sämtli-
wie alle ihre Brüder« (377). Warum bedeutet das chen Erzählungen. München 1975, 333–336 [zum Band
Vergessenwerden die Steigerung der Erlösung? insgesamt], 252–256 [zu Erstes Leid], 257–261 [zu Ein
Kafka hat ›Erlösung‹ – Felix Weltsch nannte in sei- Hungerkünstler], 300–301 [zu Eine kleine Frau], 323–
nem Nachruf auf den Dichter Kafkas Seele »jüdisch 333 [zu Josefine]. – E. Boa (1996), 148–180. – Max Brod:
durch und durch« (Weltsch 2005, 11) – nicht als Ver- F.K.s Glauben und Lehre. München 1948. – Ludwig
Dietz: K.s letzte Publikation. Probleme des Sammel-
klärung, sondern, in Übereinstimmung mit dem
bandes Ein Hungerkünstler. In: Philobiblon 18 (1974),
Geist seiner Religion und seines Volkes, als Entrin-
119–128. – Heinz Hillmann: F.K. Dichtungstheorie und
nen, als »Ausweg; rechts, links, wohin immer« ge-
Dichtungsgestalt. Bonn 1964, 2. Aufl. 1973, bes. 68–
dacht (DzL 305). Endgültig entronnen aber kann
112. – O. Jahraus (2006), 425–455. – Ders./Bettina von
man erst dann sein, wenn man nicht nur verschwun- Jagow: K.s Tier- und Künstlergeschichten. In: KHb
den, sondern auch vergessen ist. So ist Josefine, die (2008), 530–552. – Hans-Georg Pott: Allegorie und
Sängerin in ihrer erhabenen Heiterkeit Kafkas Ab- Sprachverlust. Zu K.s Hungerkünstler-Zyklus und der
schied und sein Triumph: Die Trauer des Abschieds Idee einer ›Kleinen Literatur‹. In: Euphorion 73 (1979),
wird beschwichtigt durch den Triumph, und der Ju- 435–450. – Ritchie Robertson: Der Künstler und das
bel des Triumphs wird beschwichtigt durch den Ab- Volk. K.s Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. In: H.L.
schied. Arnold (1994), 180–191. – Jost Schillemeit: Die Spätzeit
(1922–1924). In: KHb (1979) II, 378–402. – J. Unseld
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330 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

3.3.5 <Forschungen eines che des Artistenlebens« getreten ist (Alt 2005, 644;
Alt 2008, 115).
Hundes > Den <Forschungen> fehlt jene Düsternis, die häu-
fig als Kennzeichen des Kafkaschen Schreibens gilt.
Entstehung und Veröffentlichung Dabei sind sie das Dokument einer besonderen pri-
vaten wie künstlerischen Krise. Er habe, so schrieb
In der äußerst produktiven Arbeitsphase zwischen Kafka rückblickend in einem Brief an seinen Freund
1920 und 1922 verfasste Franz Kafka nach einer lan- Robert Klopstock aus dem Frühjahr 1922, um sich
gen Schreibpause eine Reihe von Texten, zu denen »vor dem, was man Nerven nennt, zu retten«, seit ei-
auch das Fragment gehört, das heute unter dem Titel niger Zeit wieder zu schreiben angefangen (Briefe
<Forschungen eines Hundes> bekannt ist. Kafka be- 374). Wenige Monate nach dieser Mitteilung, im
gann die Erzählung im sogenannten »braunen Sommer 1922 – also kurz vor der Entstehung der
Quartheft« (KA: »Hungerkünstlerheft«; NSF II, 423– <Forschungen> –, wurde Kafka aufgrund seines
459), vermutlich kurz nach seiner Rückkehr nach schlechten Gesundheitszustandes pensioniert. Sein
Prag am 18. September 1922, die einen längeren Er- großes, ihn Zeit seines Lebens beschäftigendes
holungsaufenthalt im Sommerhaus seiner Schwester Thema der Kunstarbeit kehrte nun mit der ihm eige-
Ottla im böhmischen Planá beendete. Als das Heft nen existentiellen Dringlichkeit zweifach wieder:
voll war, setzte er die Arbeit im zwölften Tagebuch- erstens durch die Verschlimmerung der Krankheit
heft fort (460–482). Im Oktober begann er eine revi- und zweitens durch die neu gewonnene Freistellung
dierende Reinschrift im sogenannten »Forschungen- von jeglicher beruflichen Alltagspflicht. Kafka hatte
Heft«, die aber schon mitten in der »Musikhunde«- nun plötzlich unfreiwillig den ganzen Tag ungestörte
Episode abbrach (485–491). Muße für sein Schreiben, dies jedoch im Bewusst-
Das Manuskript der <Forschungen> liegt heute in sein der gleichsam abgelaufenen Sanduhr seiner Le-
der Bodleian Library (Oxford). Es wurde in seiner benszeit. Auf diese Weise verschärften sich die Be-
exzeptionellen Bedeutung für das Gesamtwerk Kaf- dingungen, unter denen der Autor sich erneut fragte,
kas bereits von Max Brod erkannt, der den Text un- wie die vermeintlich antinomischen Welten der
ter dem bis heute verwendeten Titel in den Band wertschöpfenden, produktiven Arbeit auf der einen
Beim Bau der Chinesischen Mauer (1931) aufnahm. und der künstlerischen Existenz als Erkenntnissu-
Wiederabdrucke erfolgten im Band Beschreibung ei- chender auf der anderen Seite neu zu denken und
nes Kampfes der Gesammelten Schriften (1936) und schriftstellerisch zu fassen wären.
der Gesammelten Werke (1954). Alle diese Abdrucke
kontaminieren Entwurf und Reinschrift; den Text
der Handschrift bietet erstmals die Kritische Ausgabe Textbeschreibung
(NSF/KA II, 1992). Heute fehlt das Fragment in
kaum einer Ausgabe der Erzählungen Kafkas; die Hauptfigur des Textes ist ein alter Hund, der als Ich-
Forschungsarbeiten dazu sind kaum noch zu über- Erzähler auf sein individuelles Leben zurückblickt
blicken. und dabei immer wieder auf die Frage nach der Zuge-
Die Schreibhaltung Kafkas in jener Zeit war ange- hörigkeit zu seiner Herkunftsgruppe – als »ein Hund
sichts seines sich zunehmend verschlechternden Ge- unter Hunden« (NSF II, 423) – zu sprechen kommt.
sundheitszustandes davon geprägt, Bilanz zu ziehen Voller persönlicher Neugier und Anteilnahme, zu-
und dabei Klarheit über den von ihm zurückgeleg- gleich aber auch mit einer Art wissenschaftlich-syste-
ten künstlerischen Weg gewinnen zu müssen (Bin- matischem Zugriff versucht er, die von ihm konsta-
der 1975, 261; Alt 2005, 622–643; Kilcher 2008, 63; tierten und im Text dargelegten Geheimnisse der
Schillemeit 1979, 382). Die meisten Texte dieser spä- »Hundeschaft« (423) zu enträtseln: Ein »leichtes Un-
ten Schreibphase gehören einem gemeinsamen for- behagen« befalle ihn »inmitten der ehrwürdigsten
malen und thematischen Kontext an: Erstes Leid, Ein volklichen Veranstaltungen« und bei näherer Be-
Hungerkünstler, Josefine, die Sängerin und <Der trachtung falle ihm auf, dass in seinem Verhältnis zur
Bau> sind, wie die <Forschungen>, Erzählungen, in Hundeschaft »seit jeher etwas nicht stimmte, eine
denen an die Stelle der früher dominierenden kleine Bruchstelle vorhanden« sei (423).
Schuld- und Strafthematik (etwa in Die Verwand- Ausgelöst hat diese Entfremdung eine Begegnung
lung) »die bohrende Reflexion über die Widersprü- mit sieben rätselhaften »Musikhunden« in der Ju-
<Forschungen eines Hundes > 331

gend des Erzählers (426–433), von denen er erstaunt »eine Art Schlüsselerzählung« gesehen, einen Kom-
berichtet, wie sie ihre Musik »aus dem leeren Raum« mentar Kafkas zu seinem Schreiben insgesamt
hervorzaubern (428). Diese Erfahrung lässt ihn zum (Steinmetz 1977, 122). Auch Winfried Kudszus be-
›Forscher‹ werden. Zunächst widmet er sich den Fra- zog 1983 den Text mit guten Argumenten auf die
gen nach der Herkunft der Nahrung des Hunde- Methode des Kafkaschen Schreibens, indem er ihn
kollektivs und nach der Bedeutung der von den als ein »Gedankenexperiment« des Autors charakte-
Hunden für die Nahrungsgewinnung verrichteten risierte, das den Widerstreit von Ichbewusstsein und
Arbeit. Dabei reflektiert er auch über den »Beruf« kollektiven Prägungen und Verhaltensformen vor-
der »Lufthunde« (446), die ihre Reproduktion nicht führe und dabei zugleich in seiner Form abbilde, was
im Austausch mit der Erde (437) finden, sondern der Autor in seiner Literatur erkenntnistheoretisch
sich »selbstgenügsam oben in der Luft« (450) bewe- selbst beabsichtigte, nämlich im Prozess des Schrei-
gen, »dabei aber keine sichtbare Arbeit machen son- bens zu forschen, schreibend »Wissenschaft zu be-
dern ruhn« (447). treiben« und somit Einsichten und Erkenntnis zu
Die Nahrungsforschung kulminiert in einem gewinnen (Kudszus 1983, 300 u. 302).
Hungerexperiment, das fast zum Tod des Erzählers Insgesamt gruppieren sich die Interpretationen
führt. Nur die Begegnung mit einem (wiederum der <Forschungen> zu drei größeren thematischen
Musik hervorbringenden) »Jäger«-Hund (475–479) Kommentarkreisen, die einander in mancherlei Hin-
treibt den ›Forscher‹, »von der Melodie gejagt«, ins sicht ergänzen und auch meist in gemischten Versio-
Leben zurück (479). Nun erweitert er seine Untersu- nen anzutreffen sind. Der erste dieser Zugriffe arbei-
chungen »auf die Musik der Hunde« (480), vor allem tet den Bezug zu Schriften anderer Autoren oder zu
auf jene geheimnisvolle »Lehre von dem die Nah- früheren Texten Kafkas heraus, die nachweislich
rung herabrufenden Gesang« (481). Der Text bricht oder möglicherweise für <Forschungen eines Hun-
ab mit einer Reflexion des Erzählers über die Bedeu- des> prägend gewesen sein könnten. In diesen Zu-
tung von »Instinkt« und Freiheitsliebe für seine ganz sammenhang gehören auch die zeitgenössischen Re-
persönliche Form der »Wissenschaft« (482). alien, die Kafka zur Idee der Erzählung und zur Art
Das Kollektiv der »Hundeschaft« scheint nur ihrer Durchführung inspiriert haben mögen. Der
durch eine Reihe von paradoxen Bestimmungen zweite Deutungsansatz hebt auf ästhetische Darle-
charakterisierbar. So wird etwa ihr besonderer Zu- gungen und auf literaturtheoretische Schreibpro-
sammenhalt erwähnt, zugleich aber auch ihre größt- gramme Kafkas ab, während der dritte einen spezifi-
mögliche Zerstreuung (425 f.); bezeichnend sei es, schen jüdischen Erfahrungsgehalt ins Zentrum der
dass ihre besonders wichtigen Berufe von anderen Deutung stellt.
als »unverständlich« wahrgenommen würden (426);
nicht zuletzt erwähnt der Erzähler ihr Festhalten an Vorbilder und Intertextualität
»Vorschriften«, die eher gegen sie gerichtet zu sein
scheinen, als ihnen Nutzen zu bringen (426). Ein Werk der Weltliteratur, mit dem die <Forschun-
Die auffälligste Eigenheit der Hunde besteht je- gen> immer wieder in Zusammenhang gebracht
doch darin, dass sie von der Existenz der Menschen wurden, ist E.T.A. Hoffmanns Novelle Nachricht von
nichts zu wissen scheinen, sie weder wahrnehmen den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza
noch in ihre Weltdeutung einbeziehen können (Ro- (1814), die nach dem Vorbild aus Cervantes’ Novelas
bertson 1988 [1985], 358–361). Ejemplares von 1613 ebenfalls einen sprechenden
Hund vorführt (Binder 1975, 262). Die Forschung
ist häufig motivischen, symbolischen oder auch nur
Forschung lebensgeschichtlichen Entsprechungen zu anderen
Texten über Hunde nachgegangen, nicht zuletzt dem
Der Erzählung wurde in der literaturwissenschaftli- entsprechenden Abschnitt in Brehms Tierleben. Die
chen Forschung immer wieder eine besondere Rolle beispielgebenden Vorbilder für die literarische Form
in Kafkas Gesamtwerk zugewiesen. Eric Williams der Fabel, die hierbei aufgerufen wurden, sind unge-
nannte <Forschungen eines Hundes> jüngst »one of zählt. Jianming Zhou hat vor einigen Jahren sogar
his most accomplished and intricately reflexive sto- eine besondere Beziehung zwischen der chinesi-
ries« (Williams 2007, 92). Horst Steinmetz hatte be- schen Literatur und Kafka herauszuarbeiten ver-
reits vor drei Jahrzehnten in den <Forschungen> sucht und das Verbindende darin gesehen, dass die
332 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Tier-Erzähler hier wie dort um »ihre eigene Rolle als Allegorien der Kunst und des Kunst- und Literatur-
Nichtwissende« wüssten und dieses Wissen dem Le- betriebes ausgelegt wurden − so die über Jahrzehnte
ser darlegten. Die enigmatischen »Lufthunde« deu- dominante Deutung von Wilhelm Emrich aus den
tet Zhou als Ausdruck einer »verkehrten Welt« späten 50er Jahren, die von vielen anderen über-
(Zhou 1996, 160 f. u. 248). nommen wurde. Die »Lufthunde« etwa wurden bei
Zu den semantischen oder motivischen Vorbil- Hillmann und Fingerhut als Ausdruck des »radika-
dern gehört natürlich auch die Vielzahl an Verwei- len Zweifels am ›Beruf‹ des Künstlers« gedeutet
sen auf das Motiv des Hundes in Kafkas eigenen Ro- (Hillmann 1964, 56; Fingerhut 1969, 154). Sie hät-
manen, Erzählungen, Briefen und Tagebucheinträ- ten, so Emrich, keinen Bezug zur Realität, repräsen-
gen. Als frühe Summe der in diesem Kontext tierten lediglich den »schönen Schein«, seien somit
diskutierten Bezüge zur Symbolik der Hundefigur in »Sinnbilder für einen Bereich, der im Irdischen zu-
der Geistes- und Ideengeschichte im Allgemeinen gleich unirdisch« sei. Es handele sich, so Emrich,
und im Werk Kafkas im Besonderen kann das Buch »nicht um konkrete lebendige Kunst und Künstler,
von Karlheinz Fingerhut verstanden werden (Fin- sondern um eine rätselhafte Sphäre, die kein ›Leben‹
gerhut 1969, zum Motiv des Hundes bes. 215–223 u. und keinen ›Zweck‹ hat, aber immer wieder auftritt«,
287–289). Noch Anfang der 1990er Jahre wurden die sozusagen »um eine unbegreifliche Geistigkeit und
Grenzen dieses Ansatzes deutlich, als Kurt Fickert zwecklose Genialität« (Emrich 1975 [1957], 166).
die These von der Fortführung des Bericht für eine In der Motivuntersuchung von Karlheinz Finger-
Akademie durch die <Forschungen eines Hundes> zu hut wird betont, dass Kafka das Bild des Hundes ne-
belegen versuchte, indem er auf die vermeintlich au- gativ gesehen und mit Eigenschaften wie Neugier,
genfällige Parallelität der Titel verwies, obwohl letz- Hartnäckigkeit, Sinnlichkeit und Unterwürfigkeit
terer gar nicht vom Autor stammte (Fickert 1993, verbunden habe; Fingerhut deutet die Kafkaschen
189). »Lufthunde« nur als »unsinnig-grotesk« (Fingerhut
1969, 288). Thomas Anz sprach im Hinblick auf die
Ästhetik und Kunsttheorie Hunde-Metapher von Kafkas »Selbstverkleinerungs-
und Selbstherabsetzungsrhetorik« (Anz 1989, 150).
Seit den späten 1950er Jahren zielten die literatur- Jost Schillemeit fragte Ende der 1970er Jahre, »ob
wissenschaftlichen Deutungen dieses Textes vor al- und in welchem Sinne die Äußerungen des For-
lem in Westdeutschland in einem für die Kafka-Phi- scherhundes über die ›Wissenschaft‹ als Äußerung
lologie insgesamt typischen Sinne auf vage und ver- Kafkas über die geistige Situation seiner eigenen
allgemeinernde Botschaften. Dies gilt gerade auch Zeit« zu verstehen und die Beschreibung der »Luft-
für bedeutende Beiträge dieser Jahre, etwa für die hunde« und ihrer schwebenden Lebensweise »auf ir-
von Martin Walser und Ingeborg Henel. Walser gendwelche Erscheinungen der zeitgenössischen Re-
sprach von der »hermetischen Transzendentalität«, alität zu beziehen seien«; offenbar handele es sich, so
Henel vom »transzendenten Sinn« der Texte Kafkas, Schillemeit, um »Schoßhunde« (Schillemeit 1979,
deren autonome, ›geschaffene‹ Logik keinen rele- 397 f.).
vanten Bezug zur Wirklichkeit aufweise (Walser Nicht nur Untersuchungen der 1960er und 1970er
1961, 65; Henel 1973, 413). Schlüsselbegriffe dieser Jahre, auch jüngere Forschungsbeiträge haben in der
Interpretationstendenz waren ›Entgrenzung‹, ›Ver- Erzählung – vor allem in den Gestalten der »Luft-
rätselung‹ und ›Paradoxon‹ (exemplarisch: Emrich hunde« – den Ausdruck einer ästhetischen Konzep-
1975 [1957], 78–84). Auch die <Forschungen> wur- tion Kafkas gesehen. Exemplarisch hierfür sei die
den in dieser tendenziell ontologisierenden Traditi- Untersuchung von Jürgen Zink angeführt, der in den
onslinie als Ausdruck eines metaphysischen Indivi- schwebenden Hunden eine Synthese des vegetativen
dualismus gedeutet – eine Lesart, die der Kafka-Bio- Daseins des Tieres mit »einem Dasein in der ›Luft‹,
graph Peter André Alt jüngst nur noch »absurd« also einer Orientierung nach ›oben‹, in den Bereich
nannte (Alt 2005, 656). des Geistigen, das sich vom ›Boden‹ als dem Orien-
Deutungen älteren Datums zielten dabei nicht zu- tierungspunkt logisch-rationalen Bewusstseins ge-
letzt an der jüdischen Thematik vorbei und nahmen löst hat«, ausgemacht hat. Auf eine Äußerung Was-
vornehmlich Allgemein-Menschliches oder dessen sily Kandinskys verweisend, der das Kunstwerk als
künstlerische Universalmetaphern in den Blick, in ein »in der Luft schwebendes Wesen« bezeichnete,
welchen die »Musik-«, »Luft-« und »Jägerhunde« als sieht er in den »Lufthunden« geradezu das »Ideal-
<Forschungen eines Hundes > 333

bild einer primitivistischen Kunstkonzeption« sym- schen«, wie sie im innerjüdischen Diskurs um 1900
bolisiert (Zink 2005, 191). zur stehenden Rede geworden war (Robertson 1988,
360 f.; Reiter 1987, 34 [mit Bezug auf Theodor Les-
Jüdische Existenz sing]).
Heute werden die späten Erzählungen insgesamt
Die zeitgenössischen jüdischen Kommentare zu den wieder stärker biographisch als »zentrale Le-
<Forschungen> waren viel weniger vage als diejeni- benstexte« gedeutet, so etwa jüngst von Bernd Neu-
gen nach 1945 in der deutschsprachigen Nachkriegs- mann in seiner Kafka-Biographie (Neumann 2008,
germanistik. So hat etwa Hans-Joachim Schoeps 598) oder von Andreas Kilcher, der die überragende
1931 im Nachwort des Nachlassbandes mit explizi- Bedeutung betonte, die Kafka den innerjüdischen
tem Hinweis auf den Text und auf die jüdische Her- Diskussionen in der Zeit des Übergangs von der
kunft Kafkas argumentiert, dass hier das Problem Habsburger Monarchie zu den nationalstaatlich ver-
der »negativen Religion« gestaltet würde, in der das fassten Nachfolgestaaten beimaß (Kilcher 2008, 62).
Gesetz zwar vergessen, nicht aber aufgehoben sei Auch im englischsprachigen Raum wird, wie am
und somit seine Wirkung immer noch ausübe; seine Beispiel der Ausdeutung der Kafkaschen »Luft-
Gültigkeit für den Menschen, so Schoeps, dauere so- hunde« im Einzelnen zu zeigen wäre, die von Kafka
zusagen an, obwohl es nicht mehr verstanden werde. genau verfolgte innerjüdische Diskussion einbezo-
Die literarischen Rätsel Kafkas verweisen auf »eine gen, die in den Jahren um den Ersten Weltkrieg he-
zugespitzte religiöse Problematik«, wenn auch einer rum über das frühzionistisch politisierte und pole-
in säkularisierter Form (BBdCM 182–201, 196 u. misch verstandene, vermeintlich jüdische »Luftmen-
200). Max Brod hat diese Deutung später auf den Be- schentum« geführt wurde (Anderson 1992, 90 ff.;
griff gebracht, wenn er von einer »melancholischen Williams 2007, 111 u. 121). Kafkas Kenntnisse der
Travestie des Atheismus« schrieb (Brod 1959, 9). jüdischen Debatten werden durch die beiden schon
In den 1980er Jahren wurde dieser Ansatz in der klassischen Aufsätze von Hartmut Binder über die
Forschung noch einmal aufgenommen, etwa in den Hebräischstudien und die Lektüre der jüdischen
Arbeiten von Michael Ossar, Andrea Reiter und Rit- Wochenschrift Selbstwehr dokumentiert (Binder
chie Robertson, die die Erzählungen <Der Bau> und 1967a, Binder 1967b und die Pionierstudie von Struc
<Forschungen eines Hundes> als Teil einer nicht ge- 1962).
schriebenen Autobiographie interpretieren. Ossar Natürlich soll mit dem Rückbezug der von Kafka
nannte die Kafkaschen »Lufthunde« »a humorous literarisch entfalteten Themen auf die prekär gewor-
analogue of the Yiddish appellation ›Luftmensch‹« dene Existenz der europäischen Juden in Europa
(Ossar 1987, 326). Robertson zählte den Text zu den nach dem Ersten Weltkrieg keinem Biographismus
jüdischen »Meditationen« des Spätwerks, die eine im banalen Sinne das Wort geredet werden. Solange
Zeit einleiten, in der der Autor versuchte, sich seines sich die biographische Erkenntnismethode noch in
Judentums neu zu versichern (Robertson 1988, 354– Sackgassen des Verstehens begibt, erscheint ein sol-
362). Reiter schloss ihre Deutung der <Forschungen> cher Hinweis vonnöten; denn die spezifisch jüdische
an eine Formulierung Kafkas an, der einmal mit Be- Existenzmetaphorik, deren Logik Kafka seinem Text
zug auf sein Schreiben generell von seinen »selbst- mitgab, wird natürlich nicht durch den Nachweis
biographischen Untersuchungen« sprach, die unter- plausibler, dass der Schriftsteller in der Zeit, in der
nommen worden seien, um »möglichst kleine Be- die Erzählung entstanden war, Spaziergänge mit dem
standteile« seines Lebens aufzufinden und zu Hund der Vermieterin gemacht habe (Binder 1975,
verstehen (NSF II, 373; Reiter 1987, 23). Mit ihrer 262 f.). Jenseits solcher eher kontingent anmutenden
Auslegung knüpfte die Autorin explizit an die zeitge- empirischen Entsprechungen zwischen literarischen
nössischen Kommentare von Brod, Schoeps – aber Motiven und dem Alltag des Schriftstellers sind jene
auch von Johannes Urzidil, Baruch Kurzweil oder Zugänge am aufschlussreichsten, in denen der Um-
Johannes Strich – an und nannte das schriftstelleri- schlag von Erfahrung in Erkenntnis reflektiert wird.
sche Verfahren Kafkas »symptomatische Detaildeu- Eine Deutungsachse, die sich für das ›wie‹ einer sol-
tung«: Er forsche nach Details und über diese nach chen Wandlung interessiert, wurde zuletzt in den
deren Sinnbildlichkeit für das Leben (Reiter 1987, Büchern von Peter André Alt oder von Andreas Kil-
37). Auch Robertson und Reiter bezogen sich in ih- cher vorgeschlagen, die die epistemologische Ambi-
ren Analysen auf die Metapher vom »Luftmen- tion der Erzählung als »hochironische Travestie der
334 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Erkenntnis« mit vielfältigen Bezügen zur Rolle des kisch radikalisierten Diskursformationen der Jahr-
zeitgenössischen westlichen Judentums (Alt 2005, hundertwende einen jüdischen Erfahrungsgehalt
657) oder als Versuch gedeutet haben, »ein verlore- zum Ausdruck zu bringen vermögen, ohne sich da-
nes Wissen und eine vergessene Tradition zu erneu- bei den zeitgleich radikal gewordenen antisemiti-
ern« und dabei die Vergeblichkeit dieser Erneuerung schen Angriffen gegen die diasporische Existenz der
mitzudenken (Kilcher 2008, 63 f.). Juden in Europa insgesamt anzunähern (im Text fal-
len die Begriffe ›volklich‹ oder ›Art‹ weniger in völ-
kischer als vielmehr in kollektivhistorischer Seman-
Deutungsaspekte tik; der Begriff ›Rasse‹ wird von Kafka ganz vermie-
den, vgl. NSF II, 423 f., 426 u.ö.). Die Frage, ob Kafka
Walter Benjamin schrieb Anfang der 1930er Jahre in Zionist war (Carmely 1979), reicht zum Verständnis
seinem später berühmt gewordenen Essay über des Textes eben nicht aus. Kafkas »Lufthunde« wer-
Kafka, in welchem er eine »Deutung des Dichters den aber plausibel als eine Metapher für den Ver-
aus der Mitte seiner Bilderwelt« forderte, bei aller such, seine Arbeit und sein eigenes Leben als Schrift-
Offenheit seiner Texte sei sicher, dass unter allen Ge- steller mit kollektiven Erfahrungen des zeitgenössi-
schöpfen Kafkas die Tiere am meisten zum Nach- schen Judentums unter der ursprünglich literarischen
denken kämen: »Was die Korruption im Recht ist, Leitmetapher des jüdischen ›Luftmenschen‹ zu deu-
das ist in ihrem Denken die Angst. Sie verpfuscht ten und sich somit sowohl über seinen individuellen
den Vorgang und ist doch das einzig Hoffnungsvolle wie über seinen kollektiven Ort in der modernen
in ihm« (Benjamin 1981, 30 f. u. 40). Benjamin ver- Geschichte Rechenschaft abzulegen (Berg 2008).
stand dies seinerzeit als gegen Kafkas Freund Max Für die biographische Seite dieser Deutung hat
Brod gerichtet, dessen Plädoyer zum Verständnis des Hartmut Binder die These aufgestellt, dass Kafkas
Dichters mehr auf eine »realistisch-jüdische Deu- Versuch einer Wiedereingliederung in die jüdische
tung Kafkas« abgehoben hatte (Brod 1937, 214; vgl. Gemeinschaft subjektiv gescheitert sei – und dieses
auch: Kilcher 2008, 123). Heute erscheint eine Syn- Scheitern besonders prägnant im Text <Forschungen
these aus beiden Ansätzen angemessener als eine eines Hundes> literarisiert wurde (Binder 1967a).
Entscheidung für den einen Zugriff und gegen den Das westliche Judentum, zu dem sich auch der
anderen. deutschsprachige Prager Schriftsteller Franz Kafka
Tatsächlich spricht nichts dagegen, sowohl Brod zählte, lebte, so Binder, »eine unwirkliche, unsin-
als auch Benjamin, also sowohl den jüdischen Erfah- nige, gemeinschaftsferne und nicht mit den Grund-
rungshintergrund dieser Fabel als auch die Textuali- lagen des Lebens verbundene Existenzform«, deren
tät und Literarizität seiner Methode, die Wirklich- Paradigma »die westjüdische bodenferne Vereinze-
keit zu reflektieren, in eine Deutung zusammenzu- lung in den Städten« gewesen sei (Binder 1977
führen. In <Forschungen eines Hundes> gelingt es [1975], 278 f.). Die Metapher der jüdischen »Luft-
Kafka mit Virtuosität und mit Ironie, die Wörtlich- menschen« geht dabei nicht auf Max Nordau zurück,
keit des Erzählerberichts mit der auf die soziologi- wie in der Forschung vermutet wurde, sondern war
sche und sozialpsychologische Ebene der Zeitge- ein spätestens seit den 1860er Jahren weit verbreite-
schichte übertragenen Bedeutung zu verknüpfen ter, ironisch gebrauchter Bezug in innerjüdischen
und zugleich zu karikieren. Einerseits handelt es sich Debatten seit der sogenannten ›Goldenen Phase‹ der
bei dieser Erzählung um die ernsthafte Selbstrefle- jiddischen Literatur. Kafka kannte die von Micha Jo-
xion eines jüdischen Autors auf seine Existenzbedin- sef bin Gorion gesammelten und aufgezeichneten
gungen in dem Sinne, in dem Marthe Robert einmal Sagen der Juden (1913; ein Exemplar befand sich in
schrieb, der Hund in den <Forschungen> spreche im seiner Bibliothek), ebenso manche Klassiker der von
Namen Kafkas (M. Robert 1987, 19); zugleich aber Kafka rezipierten und kritisierten zionistischen Lite-
stellt der Text auch eine Satire dar, und dies sowohl ratur, etwa Julius Zemachs Jüdische Bauern. Ge-
im Duktus der Sprache als auch in der literarischen schichte aus dem Neuen Palästina (1919). Später
Präsentation des geistigen Horizonts seines Ich-Er- sollte die Politisierung der Semantik vom ›jüdischen
zählers, dessen Beschränktheit sich dem Leser deut- Luftmenschen‹ es den Antisemiten erleichtern, den
lich vermittelt. Begriff als Bestätigung ihrer gegen die Juden gerich-
Die <Forschungen> gehören dabei zu den wenigen teten ›Kulturkämpfe‹ – so die völkische Stilisierung
Texten um 1900, die in den nationalistisch und völ- – zu verstehen.
<Forschungen eines Hundes > 335

Interpretationen, die in den <Forschungen> eine Aus heutiger Sicht erscheint es plausibel, anzu-
reine Kunstparabel sehen, wie es in der germanisti- nehmen, dass Kafka in seinen späten Texten der
schen Forschung lange der Fall war, erscheinen heute 1920er Jahre eine erkenntnistheoretische Summe
nicht mehr überzeugend, denn Kafkas »Lufthunde« zog, in der seine großen Themen – Wandlung und
sind kaum ausreichend verstanden, wenn man sie als Verwandlung, Anschuldigungen und Gesetz, Zuge-
Ausdruck abstrakter Kunst oder als verschlüsselte hörigkeit und Ausschluss, Sicherheit und Angst –
Schoßhunde deutet. Eine Re-Lektüre ist auch deswe- noch einmal in neuer Konsequenz durchdacht wur-
gen nötig und naheliegend, weil Bilder und Meta- den. Sie alle haben in der Dekade, die der Entste-
phern des ›Schwebens‹ in vielen Erzählungen, Frag- hung des Textes voranging, eine besondere jüdische
menten und Aphorismen Kafkas aus den frühen und Dimension. Zugleich wird deutlich, dass zu Beginn
mittleren Jahren aufscheinen. des 20. Jahrhunderts nicht selten das allenthalben als
Das Thema des Schwebens und Balancierens, der ›jüdisch‹ Wahrgenommene einer ideologisch präfor-
Leere und der Luft – und davon abgeleitet das des mierten Sichtweise entsprach und im Kern gerade
Bodens und der Erde – durchzieht das Denken Kaf- keine kollektive jüdische Differenz zur allgemeinen
kas über Jahrzehnte. In einem Text aus dem Septem- Modernisierung markiert, sondern eine allgemeine
ber 1920 schreibt er zum Beispiel: Problematik, die auch nichtjüdische Zeitgenossen
beschäftigte.
Eine heikle Aufgabe, ein Auf-den-Fußspitzen-gehn über
Der entscheidende Punkt aber ist, jene Selbstan-
einen brüchigen Balken der als Brücke dient, nichts un-
ter den Füßen haben, mit den Füßen erst den Boden zu- sprachen verstehbar zu machen, in denen von Kafka
sammenscharren auf dem man gehn wird, auf nichts ›Erde‹ und ›Luft‹, Grund und Losgelöst-Sein als
gehn als auf seinem Spiegelbild das man unter sich im Existenzmetaphern ausbuchstabiert werden, weil sie
Wasser sieht, mit den Füßen die Welt zusammenhalten, eine besondere jüdische Erfahrungsdimension bein-
die Hände nur oben in der Luft verkrampfen um diese
Mühe bestehn zu können (NSF II, 312). halten, wie sie in jenen Sätzen zum Ausdruck kommt,
die er ebenfalls in einem Brief formulierte:
In einem Brief an Milena heißt es – exemplarisch für Und wo sind die Weltgesetze und die ganze Polizei des
eine Fülle ähnlicher Belege – über seine mit der Ar- Himmels? Du bist 38 Jahre alt und so müde wie man
beit verflochtene Existenz, dass sie »in großer Höhe« wahrscheinlich durch Alter überhaupt nicht werden
stattfinde: kann. Oder richtiger: Du bist gar nicht müde, sondern
unruhig, sondern fürchtest Dich nur einen Schritt zu
Aber vielleicht hätten Sie sogar recht mir nicht mehr zu tun auf dieser von Fuß-Fallen strotzenden Erde, hast
schreiben, manche Stellen in Ihrem Brief deuten diese deshalb eigentlich immer gleichzeitig beide Füße in der
Notwendigkeit an. Ich kann nichts gegen diese Stellen Luft, bist nicht müde, sondern fürchtest Dich nur vor
vorbringen. Es sind gerade jene Stellen, wo ich genau der ungeheueren Müdigkeit, die dieser ungeheueren Un-
weiß und sehr ernsthaft erkenne, daß ich in großer Höhe ruhe folgen wird und (Du bist doch Jude und weißt, was
bin, aber eben deshalb ist die Luft dort für meine Lungen Angst ist) (An M. Jesenská, 2.6.1920; BM 35 f.).
zu dünn und ich muß ausruhn (An M. Jesenská, 5.6.1920;
BM 46 f.). (Zu den in diesem Artikel ausgesparten Aspekten
der Musikhunde, des Jäger-Hundes, der Nahrungs-
Den von Kafka präsentierten Zirkusartisten und und Musikforschung ä 489–493).
Gauklern mag die Leichtigkeit fehlen (Alt 2005,
Ausgaben: ED: BBdCM (1931), 154–211. − BeK/GS
645), trotzdem ist es eines der hervorstechenden
(1936), 233–278. − BeK/GW (1954), 240–290. − NSF
Merkmale seiner Texte, dass sie in auffälliger Domi-
II/KA (1992), 423–459 [»Hungerkünstlerheft«], 460–
nanz immer wieder ein Moment des Schwebens, des
482 [Fortsetzung in Tagebuchheft 12], 485–491 [Beginn
Hängens oder Fliegens gestalten, also sprachliche
einer Reinschrift; »Forschungen-Heft«].
Bilder für Momente der Unsicherheit und des Loslö- Quellen und Erinnerungstexte: Walter Benjamin:
sens suchen, die in paradoxer Weise immer zugleich Über K., Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hg. v.
als eine Form des Verlusts von Standfestigkeit und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1981 [zuerst
als ein Zugewinn von Freiheit konzeptualisiert wer- 1934]. − Max Brod: F.K. Eine Biographie. Erinnerungen
den. Dieses Moment verbindet Erstes Leid und die und Dokumente. Prag 1937 u.ö. − Ders.: Verzweiflung
Darstellung des in der Zirkuskuppel hängenden Tra- und Erlösung im Werk F.K.s. Frankfurt/M. 1959. −
pez-Künstlers, der den Platz an seiner Stange als Le- Micha Josef bin Gorion (Hg.): Sagen der Juden.
bensort begreift, mit der Gedankenfigur der »Luft- Frankfurt/M. 1913. − Baruch Kurzweil: Die Fragwür-
hunde« in den <Forschungen eines Hundes>. digkeit der jüdischen Existenz und das Problem der
336 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

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Essays zur Literatur und Literaturtheorie. Edgar Lohner burg 2005.
in Memoriam. Berlin 1983, 300–309; wieder in: Steven Nicolas Berg
337

3.3.6 <Der Bau > ges Tier seinen Bau gräbt, ursprünglich mit dem Tod
des Tiers im Kampf mit einem unbekannten Gegner
endete (vgl. BBdCM, Nachwort), machte er in der
Entstehung und Veröffentlichung von ihm erstellten Erstausgabe – offensichtlich aus
dem Bedürfnis heraus, die Erzählung abzurunden –
<Der Bau> ist eine der letzten Erzählungen Kafkas. aus dem letzten Satz: »Aber alles blieb unverändert.«.
Sie gilt als Kulmination seines Spätwerks (Pasley Diese Abweichung, auf die erstmals 1972 aufmerk-
1977, 423; Sussman, 101) und als »dichterische Zu- sam gemacht wurde (Henel, 22), ist ausschlaggebend
sammenfassung seiner Existenz« (Sokel, 370). Die für eine Lektüre der Erzählung. Sie spielt unter ande-
Erzählung entstand Dora Diamants Bericht zufolge rem in die grundlegende Frage hinein, ob <Der Bau>
während des gemeinsamen Aufenthalts in Berlin im eher eine (vollendete) Abfolge von Stadien eines Le-
Winter 1923/1924. Diese Angabe konnte durch gra- benslaufs erzählt, die mit dem (möglichen) Tod des
phische Indizien der Handschrift (»Bau-Konvolut«, Protagonisten endet, oder ob die Erzählung im Mo-
seit 1961 in der Bodleian Library, Oxford) und Ent- nolog des grabenden Tiers einem theoretisch unauf-
sprechungen mit anderen Schriften Kafkas aus die- hörlichen Zustand oder Prozess Gestalt verleiht.
ser Zeit bestätigt und präzisiert werden. Als Entste-
hungszeit gilt nunmehr die Periode zwischen dem
23. November 1923 und Ende Januar 1924, wobei Textbeschreibung
angenommen wird, dass der Großteil der Erzählung
bereits vor Ende Dezember fertig gestellt war. Weni- Die in der Handschrift sechzehn Blätter umfassende
ger glaubwürdig ist aufgrund der Länge und der Erzählung, in der ein nicht näher bestimmtes We-
zahlreichen Revisionen und Streichungen (vor allem sen, offensichtlich ein maulwurfähnliches Tier, in
verdeutlichender Stellen; vgl. NSF II:A, 428–467) der Ich-Form spricht, gliedert sich nach Erzählzeit
Dora Diamants Aussage, dass Kafka die Erzählung und thematischer Ausrichtung in zwei fast gleich
in einer einzigen Nacht niederschrieb; sie räumt lange Hauptteile auf. Im ersten Teil der Erzählung
auch selbst ein, dass Kafka »dann« – vermutlich nach berichtet das Tier-Ich mit großer Genauigkeit über
einer einwöchigen Unterbrechung – »wieder an ihr die Einrichtung seines kürzlich vollendeten unterir-
gearbeitet habe« (NSF II:A, 143). Die Erzählung ent- dischen Baus, den es in seiner Jugend als Schutz ge-
stand zu einer Zeit, als Kafka bereits an fortgeschrit- gen etwaige Feinde bzw. als Vorratsspeicher begon-
tener Lungentuberkulose litt. Er las Max Brod bei nen hatte. Der Bau, in dem das alternde Tier in Ein-
dessen Besuch in Berlin Ende Januar 1924 Teile der samkeit ausgiebig die Stille, den Schlaf und die
Erzählung gemeinsam mit der fast zeitgleich ent- reichhaltigen Fleischvorräte genießt, ist ihm zugleich
standenen Erzählung Eine kleine Frau vor (vgl. 143– ein sicheres Heim, eine Heimat und eine Verteidi-
146). gungsburg. Es beschreibt in der Form einer inneren
<Der Bau> erschien erstmals 1928 in der Zeit- Rede, die allerdings stellenweise einen impliziten
schrift Witiko, dann wieder 1931 in Beim Bau der Zuhörer mit einzubeziehen scheint, ausführlich die
Chinesischen Mauer (BBdCM) in einer von Brod he- Struktur der Aushöhlung mit ihrem großen zentra-
rausgegebenen, merklich von der Handschrift ab- len Burgplatz, den zehn von ihm ausgehenden Gän-
weichenden Fassung, in der die Erzählung auch ih- gen und den gut fünfzig kleineren Vorratsplätzen,
ren Titel erhielt. Der markanteste Eingriff erfolgt da- die das Tier im komplexen »Zickzackwerk« (NSF II,
bei am Ende der Erzählung. Der letzte Satz endet in 586) mit Kreuz- und Querverbindungen angelegt
der Handschrift mit: »aber alles blieb unverändert, hat. Seine Besorgnis gilt insbesondere dem moosbe-
das« (NSF II, 632). Er steht am Schluss einer Seite, deckten Eingang des Baus, den es als Schwachstelle
was auf die Möglichkeit hinweist, dass weitere Sei- im Sicherheitssystem charakterisiert, da er ein unbe-
ten, die eine Fortsetzung oder einen Schluss enthal- merktes Aus- und Einsteigen prinzipiell nicht ver-
ten, verlorengegangen sind. Nach dem gegenwärti- hindern kann. In einer Reihe von binären Oppositi-
gen Stand der Forschung ist nicht mit Sicherheit aus- onen – Haus/im Freien, Heimat/Fremde, Stille/Rau-
zumachen, ob und wie die Erzählung weitergeht und schen, unten/oben – wird die Welt in eine innere
ob Kafka sie willentlich als Fragment hinterlassen und eine äußere aufgeteilt, wobei das Loch des Baus
hat. Obwohl Brod die Aussage Dora Diamants über- die Trennung und Schwelle zwischen beiden exis-
nahm, dass die Erzählung, in der ein maulwurfarti- tentiellen Bereichen darstellt. Das Verhältnis zur
338 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Oberwelt, in der das Tier-Ich im offenen Wald zu- ten Teil treten jetzt Todesbewusstsein und Verfol-
weilen nach Kleingetier jagt, ist durch eine grundle- gungswahn thematisch in den Vordergrund, die
gende Ambivalenz gekennzeichnet, da sie nicht nur beim Tier-Ich gelegentlich zu Panikausbrüchen füh-
mit Gefahr assoziiert wird, sondern ebenfalls mit ren. Der Erzählmodus des Textes wechselt infolge-
Freiheit und Leben. Ebenso erweist sich der Bau dessen von objektiver Berichterstattung zur Wieder-
nicht nur als Schutz, sondern auch als Bedrohung. gabe des (möglicherweise zunehmenden) Wahn-
Die Feindschaftsphantasien eines Eindringlings im sinns. Der Bau, der ursprünglich als Ort der
Innern des Baus bilden den Ausgangspunkt für die Sicherheit, Gewissheit und Geborgenheit angesehen
auftretenden Zweifel an der Angemessenheit seiner wurde, wandelt sich in die existentielle Bedrohung
früheren Bauarbeiten, die es rückblickend als un- um, gegen die er ursprünglich als Schutz konzipiert
zureichend beurteilt. Das Tier-Ich reflektiert un- worden war. Er lässt sich dementsprechend zugleich
aufhörlich über die Vor- und Nachteile eventuell als Schutzgraben und Gefängnis verstehen, wodurch
durchzuführender Ausbesserungsarbeiten am Bau. das Tier-Ich prinzipiell zu keinem einzigen Hand-
Zwangsgeleitet durch diese Sicherheitsbestrebungen lungsentschluss gelangen kann. Das Ringen um voll-
erwägt bzw. vollzieht es verschiedenste Tätigkeiten kommene Sicherheit ist symptomatisch für die pani-
wie das Graben von Zusatzgängen oder das Überwa- sche Angst vor dem Gegner, der sich aber aller Wahr-
chen des Eingangs von außerhalb, ohne jedoch eine scheinlichkeit nach als ein dem Ich innewohnendes
wirkliche Kontrolle der Situation zu erlangen. Trugbild und somit als Produkt der Angst selbst ent-
Die unablässigen Reflexionen, Selbstgespräche, hüllt.
Berechnungen und Gedankengänge des Tier-Ich, die Die Erzählung bricht abrupt ab, und der Wunsch
sich vordergründig auf die unmittelbare Lebenswelt des Tieres nach absoluter Kontrolle und absolutem
und Gegenwart beschränken, bringen die Einför- Wissen bleibt uneingelöst. Die ungefähre Gleichzei-
migkeit seiner Denkbewegung zum Ausdruck. Der tigkeit bzw. partielle Überschneidung von Reflexion
selbstreflexive Sturmlauf der inneren Rede geht mit und Erleben wie von Ursache und Wirkung macht
einer weitgehenden äußeren Ereignislosigkeit ein- geradezu das formale Wesensmerkmal dieser Erzäh-
her. Die überwiegende Engführung von Vergangen- lung aus. Mit der Auflösung traditioneller Parameter
heit und Gegenwart manifestiert sich erzähltech- wie ›Zeit‹, ›Raum‹ und ›Kausalität‹ kommen die Vor-
nisch im iterativen Präsens, das die Wiederholung aussetzungen einer rationalen Wirklichkeitsauffas-
vergangener Ereignisse in das Jetzt der Erzählung sung ins Schwanken: Ebenso schwankt das Tier-Ich
überführt und auf diese Weise gewissermaßen einen unentschlossen zwischen verschiedenen Handlungs-
endlosen Zustand schildert. Die Bedeutung bzw. alternativen, gelangt aber nie zu einer endgültigen
Funktion des Präsens in der Erzählzeit verlagert sich Entscheidung.
aber vom iterativen Präsens in der ersten Hälfte der Die scheinbare Einheitlichkeit des Geschehens,
Erzählung auf das überwiegend gebrauchte progres- des Schauplatzes und des Zeitablaufs und die quasi
sive Präsens in der zweiten, wo der Vergangenheits- völlige Abwesenheit raumzeitlicher Realitätspartikel
bezug weitgehend fehlt, und die – krisenhafte – Ge- laden dazu ein, den Bau als kohärente, erweiterte
genwart, die sich in eine unbestimmte Zukunft auf- Metapher bzw. als geschlossene Allegorie zu lesen.
löst, ununterbrochen vorwärts schreitet. Hier werden Es liegt auf der Hand, die fast bruchlos vorherr-
zumeist einmalige Vorgänge dargestellt. schende Bildersprache des Baus und des Bauens,
Im diesem zweiten Teil, in dem die Verweise auf Grabens, Wühlens in ein (auf unterschiedliche
einen (impliziten) Zuhörer verschwunden sind, wird Weise) analog strukturiertes Register – etwa des
dargestellt, wie das Tier-Ich nach einer seiner vielfa- Selbst, der Psyche, des künstlerischen Schaffens oder
chen Schlafphasen erwacht und ein kaum hörbares gedanklicher, religiöser oder kultureller Konstrukte
Geräusch bemerkt. Trotz der geradezu besessenen – zu übersetzen, doch die Ausrichtung dieser Deu-
Suche nach der Quelle dieses Zischens vermag das tungen ist aus dem Text selbst kaum zu bestimmen.
ängstliche Tier nicht, das Gezisch im Graben ge- Das grundlegende Interpretationsproblem liegt al-
nauer zu orten oder es einem konkreten Feind zuzu- lerdings nicht so sehr in der Frage, wofür der Bau,
ordnen. Das hervorgebrachte Geräusch entzieht sich das Tier-Ich und die von ihm wahrgenommene
jeglichem Zugriff und erweist sich paradoxerweise »Gegnerschaft der Welt« metaphorisch einstehen,
nur am Eingangsloch als unhörbar. Anstelle der dar- sondern ob überhaupt von einer Allegorie im tradi-
gestellten bautechnischen Errungenschaften im ers- tionellen Sinn gesprochen werden kann.
<Der Bau > 339

Forschung tisch-philosophischen Deutungsansatz gilt der Bau als


grundlegende Existenzform bzw. religiöse Chiffre
Trotz der Interpretationsvielfalt in der Forschungsli- des menschlichen Wesens. Bänzigers biologisch in-
teratur zu Kafkas <Bau> zeichnen sich in ihr einige spirierte Verhaltenforschung rückt in diesem Sinne
Grundmuster bzw. Haupttendenzen ab. Neben die animalische Kreatürlichkeit und das Territoriali-
textimmanenten Studien, die sich aus strukturalisti- tätsbestreben des Menschen zunächst in den Mittel-
scher Sicht vordergründig mit der narrativen Struk- punkt, doch in letzter Konsequenz deutet auch er die
tur, der Erzählzeit und der Tempusform der Erzäh- Erzählung im Sinne eines gefährdenden Daseins und
lung beschäftigen, sind vorrangig solche Analysen Schicksals viel mehr theologisch bzw. eschatologisch
vorzufinden, denen eine metaphorische bzw. allego- als biologisch. Diese religiösen Schlussfolgerungen
rische Lektüre zugrunde liegt. Der Text wird dem- erweisen sich – trotz gravierender Unterschiede – als
entsprechend mit einer – konkreten bzw. abstrakten anschlussfähig an Kurz’ Aufsatz, der einen in der
– außertextuellen Instanz identifiziert. So wird ei- späteren Rezeption selteneren Interpretationsansatz
nerseits in einem beachtlichen Teil der Forschung darstellt, indem er den Bau als Institution der Reli-
dem (Auto-)Biographischen unter Verweis auf die gion – insbesondere der jüdischen Tradition – nach-
Tagebücher und Briefe des Autors eine große Bedeu- zeichnet (Kurz 2002, 170–174). Für Kurz referiert
tung beigemessen. Diese Interpretationsansätze rei- Kafkas Erzählung in vielfachen Anspielungen auf
chen von engen autobiographischen Deutungen, die das Buch Mose allegorisch auf die Ordnung bzw.
in der Erzählung – vor allem im Zischen und Rau- Einrichtung der jüdischen Religion. Emrich (1958)
schen im Bau – Hinweise auf Kafkas Lungentuber- und, mehr psychologisch gewendet, Sokel (1964) be-
kulose sehen (Pasley 1977, Boulby 1982, Maché tonen hingegen die Todesangst des Tier-Ich vor ei-
1982), über spezifisch werk-biographische Ent- nem – imaginierten – ubiquitären aber verborgenen
schlüsselungen (Politzer; Pasley 1971/1972) und Gegner und Kafkas Auffassung des menschlichen
Darstellungen seines lebenslangen Dilemmas zwi- Lebens bzw. der Menschheit im Allgemeinen als fun-
schen einem Leben in »sinnloser Freiheit« und ei- damentaler Kampf des Selbst.
nem Eingegrabensein im Schreiben (Politzer) zu Die formanalytische Herangehensweise, die mit
Deutungen der Erzählung als Beschreibung des eige- der strukturalistischen Literaturanalyse hauptsäch-
nen Schreibvorgangs (Corngold) und zuletzt als Re- lich in den 1970ern und Anfang der 1980er ihren
flexion der Erzählung auf sich selbst (bibliographi- Höhepunkt erreichte, gewährt der Erforschung der
sche Übersicht zu (auto-)biographischen Deutungen Narrativität in der Erzählung breiten Raum. Die
bei Kurz, 156). Entgegen diesem biographischen frühe makroformale Analyse Binders (1966) wurde
Konnex weisen andererseits mehrere philosophisch später auf mikroformaler Ebene detailliert verdeut-
ausgerichtete Beiträge einen religiösen bzw. existenti- licht: So insistieren Cohn (1978), Henel (1972), Coe-
ellen Deutungsansatz auf. Sie rekurrieren auf ein re- tzee (1981) und Schmeling (1982) auf der interpreta-
ligiös-existentielles Referenzsystem, das von einem torischen Relevanz der narrativen Temporalität in
Hinweis auf die jüdische Religion bis zum Vergleich Kafkas <Bau>. Zu Henels tempusorientierter Unter-
Mensch/Tier und zur Deutung der menschlichen suchung, in der fünf unterschiedliche Präsensfor-
Existenz als solcher reicht. Beide Deutungsansätze – men funktional voneinander abgegrenzt werden, ge-
die autobiographischen wie die philosophischen – sellt sich Coetzees Aufsatz, der der Frage nach dem
werden in jenen Interpretationen berührt, die den Stellenwert des iterativen Präsens nachgeht und aus
Bau als Metapher von Kafkas Schreiben und als Re- den komplexen Merkmalen der Erzählzeit schließt,
flexion auf die schriftstellerische Tätigkeit überhaupt dass die Gegenwartsform der Erzählung mit der Zeit
verstehen. zusammenfällt, in der <Der Bau > erzählt wird (Coe-
Typologisch lassen sich vor diesem Hintergrund in tzee, 579). Schmeling verwendet seinerseits Kafkas
der Sekundärliteratur in grober Zusammenschau Text als Fallbeispiel für seinen strukturalistisch-lin-
sechs Ansätze ausmachen, die – in unterschiedlichs- guistischen Beitrag zur formalen Erzähltheorie, in
ten Mischformen – existenzialistisch-philosophisch, dem er die semantischen Isotopien als strukturie-
formanalytisch, deskriptiv, psychoanalytisch, auto- rende Konstituenten von »nicht-aktionalen« bzw. la-
biographisch, bzw. dekonstruktivistisch geprägt sind. byrinthischen Texten versteht. Eine quasi rein de-
Im von Bänziger (1957; 1979), Emrich (1958), So- skriptive Darstellung – die sich in Minimalform
kel (1964) und Kurz (2002) vertretenen existenzialis- durch einen Großteil der Forschungsliteratur zieht –
340 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

nimmt Weigand (1972) vor, der den Inhalt des Tex- von Kafkas Text. Die als aporetisch bezeichnete Er-
tes in fünf Stadien nacherzählt. zählung <Der Bau>, deren Stimme sich paradoxer-
Snyder (1981) thematisiert in seiner psychoanaly- weise im Rauschen der Stille verliert bzw. sich in ei-
tischen Lektüre einerseits den allegorischen Zusam- nem undifferenzierten Geräusch auflöst, wird für sie
menhang zwischen Bau und Gebärmutter wie den zu einer paradigmatischen, nicht länger metapho-
zwischen Tier-Ich und Fötus (Snyder 1981, 116). Die risch auflösbaren Allegorie der (Un-)Lesbarkeit.
Eigenart des Textes bestehe vor diesem Hintergrund
in der Mutterschoßsehnsucht und der Geburtsver-
weigerung des Tier-Ich: Das Nicht-geboren-sein- Deutungsaspekte
Wollen bzw. die herbeigesehnte Rückkehr zum prä-
natalen Zustand mache – in Freudscher Hinsicht – <Der Bau> vereint und radikalisiert wesentliche the-
die Signatur des Textes aus. Andererseits ließen die matische, formale und motivische Aspekte von Kaf-
häufigen sexuellen Anspielungen, die Snyder im Text kas Werk und macht den Grundriss ihrer Konstruk-
zu entdecken meint, auf eine mögliche inzestuöse tion in ungewöhnlicher Klarheit sichtbar. Gleichzei-
bzw. ödipale Deutungsweise schließen. tig macht die Erzählung jegliche Suche nach
Eine herausragende Stellung in der Sekundärlite- Grundlagen und Gewissheiten fragwürdig. Dies gilt
ratur nimmt der autobiographische Ansatz ein, den für die im Text inszenierte Selbstreflexion des Schrei-
Politzer (1962), Pasley (1966), Maché (1982) und benden ebenso wie für die darin vorweggenommene
Boulby (1982) auf unterschiedliche Art und Weise Deutungsaktivität des Lesers. Deren Schicksalsge-
und in unterschiedlichem Maße verfolgen. Die Fest- nossenschaft macht einen Hauptreiz der Erzählung
stellung der Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der aus: Beide werden in einen unendlichen Prozess ver-
Erzählung und Kafkas eigener Biographie und strickt, der auch noch ihr jeweiliges Verhältnis zum
schriftstellerischer Tätigkeit macht den gemeinsa- Text und zueinander mit einbezieht und bestenfalls
men Kernbereich dieser Aufsätze aus. In den ent- anhand der diversen Erscheinungsformen seiner
sprechenden Analysen – wie bei Maché (1982, 527) Unabschließbarkeit beschrieben werden kann.
und Pasley (1966, 421) – wird das zischende Ge- Bestimmend für die Erzählung ist die Spannung
räusch im Bau beispielsweise auf Kafkas pfeifende zwischen einer fast monotonen Gleichförmigkeit der
tuberkulosebefallene Lunge zurückgeführt. Die Textoberfläche und einer komplexen, aus minima-
Selbstreflexivität der Erzählung kommt in der Topo- len Verschiebungen, Schwankungen und Ambiva-
graphie des unterirdischen Grabens, die der Text- lenzen der Zeitebene, der Tonlage, der Perspektive
struktur der Erzählung, ja sogar dem ganzen Œuvre und der Sprechsituation bestehenden Erzählweise,
entspreche, zum Tragen. Politzer zufolge ist <Der die sich jeder Festschreibung entzieht. Die von der
Bau> die Erzählung von Kafkas Leben und Werk im Einheitlichkeit der Bau-Metaphorik verheißene
Augenblick des Hinscheidens, und Boulby legt in Übersetzbarkeit in eine ›eigentliche‹ Bedeutung wird
dieser Linie nahe, dass erst der Tod des Autors das durch die permanente Beweglichkeit der Positionen
Ende der Erzählung bedeute. und vor allem durch die Pseudologik der Gedanken-
Gerade der unendliche Aufschub des Sinns und gänge verhindert und schlägt für den Leser in eine
die Sprengung der metaphorischen bzw. allegori- Situation um, die jener des Tiers im Bau verwandt
schen Deutbarkeit der Erzählung werden mit unter- ist. Die Absicherung, die das Tier anstrebt, entspricht
schiedlicher Konsequenz und Radikalität von dekon- dem Versuch des Lesers, der Bedeutungsflucht der
struktivistischen Theoretikern wie Sussman (1977), Erzählung durch eine metaphorische Übertragung
Kudszus (1983), Corngold (1988) und Menke (2000) in einen anderen Bereich Einhalt zu gebieten und
als Wesensmerkmal des Erzählvorgangs hervorge- seine Interpretation sinnvoll festzulegen und abzusi-
hoben. Am Beispiel von Kafkas Erzählung führt chern. Wie das Tier im Bau, wird auch der Leser des
Menke eine mehr als hundertseitige, konsequent <Bau> von der unablässigen, sich selbst aufheben-
durchgehaltene Dekonstruktion des Textes durch. den Denkbewegung, die den Bau überhaupt erst
Sie beleuchtet – Kudszus ähnlich – das komplexe Le- konstituiert, eingeholt.
ser/Erzähler-Verhältnis und problematisiert unter
Rückgriff auf Paul de Mans Begriff der ›Prosopo-
poiia‹ – der Stimme als Figur und Imagination des
Textes – die Voraussetzungen des deutenden Lesens
<Der Bau > 341

Rationalität und Moderne ser in das Labyrinth verführt, bis er merkt, dass das
Tier ihm auf seiner vergeblichen Suche nach einem
Auf der thematischen Ebene gestaltet die Erzählung kontrollierenden Überblick – einem archimedischen
Zustände und Erfahrungen, die jenseits einer allge- Punkt des Verstehens – nur sein eigenes Scheitern
meinen Reflexion über die Grenzen der Rationalität vorspielt. Die oszillierende Temporalität der Erzäh-
zu den Grundvokabeln der Moderne gehören. Die lung verflicht Aspekte eines Rückblicks auf eine ab-
im Text anklingende Angst und Orientierungslosig- geschlossene Entwicklung und eines im Geschehen
keit, die Einsamkeit des Subjekts, die »sinnlose Frei- begriffenen, fortwährenden Gedankenprozesses.
heit« (NSF II, 595), die Hypertrophie des Bewusst- Diese einander gegenseitig unterwandernden zeitli-
seins oder die ebenso ungreifbare wie omnipotente chen Dimensionen des Textes entsprechen Grenz-
»Gegnerschaft der Welt« (NSF II, 592) können als verwischungen auf der Ebene des Raums. Die Gänge
mikrologische Dialektik der Aufklärung gelesen und Plätze des Baus im Inneren der Erde, die unmit-
werden. So kehren sich die vernünftigen Überlegun- telbare Waldumgebung des Baus im Freien, die
gen zum Zweck der Einrichtung und Verbesserung Moosdecke am Übergang zur Außenwelt bilden eine
einer geschützten Existenz in ruhelose, leer laufende Topographie der Unterscheidungen, die fortwäh-
und selbstzerstörerische Wahnvorstellungen. Ebenso rend verunsichert und unterwandert werden, so dass
schlägt der Wille des Tiers, sein Territorium vor Ein- sich der Text aus seiner Sprechsituation heraus nicht
dringlingen zu schützen, in völlige physische und zu einem geschlossenen Innenraum fügt, sondern
mentale Isolation um. Der Wunsch nach Autonomie den Lesenden in einen unabschließbaren Denkvor-
und Selbstbestimmung endet in besessenen Vorstel- gang involviert.
lungen vom Anderen, der fast nur noch als Feind ge-
dacht wird. Diese gegen Totalisierung und Herr- Das Bau-Motiv
schaft gerichtete Modernitätskritik wird in der Er-
zählung unerbittlich – und nicht ohne Komik – zu Das Motiv des Baus, das Kafka auch in früheren Er-
Ende gedacht. Indem diese Themen nicht so sehr zählungen heranzieht, erhält hier eine besondere
narrativ dargestellt wie performativ inszeniert wer- Wendung. Ist es etwa in Beim Bau der chinesischen
den, sich also im Vollzug des Texts ereignen, entzie- Mauer und in <Das Stadtwappen> noch vorwiegend
hen sie sich einer urteilenden Außenperspektive und in eine mimetische Darstellung gefasst, so wird der
einem ›letzten Grund‹. Unbestimmt bleibt dabei Bau hier erst durch das Erzählen selbst geschaffen
letztendlich auch, ob die Erzählung tatsächlich nur und existiert in erster Linie als Textgebilde. Der Bau,
als düsteres Bild des modernen Subjekts zu lesen ist, der weder revidiert noch vollendet, weder endgültig
oder nicht eher auch als Ausdruck der »Freude des verlassen noch wirklich bewohnt werden kann, der
scharfsinnigen Kopfes an sich selbst« (NSF II, 577), weder eigener noch fremder Besitz ist und ebenso
der in Kafkas feiner Selbstironie das höchstkomplexe Schutz wie Falle bedeutet, ist das perfekte Denkbild
Raffinement des eigenen Schreibverfahrens offen- einer Konstruktion, die sich aufhebt und in diesem
bart. Die Unabschließbarkeit wäre in diesem Fall we- Prozess dennoch etwas entstehen lässt – eben die Er-
niger ein Unvermögen oder eine »schlechte Unend- zählung selbst. Sie wird somit zu jenem existentiel-
lichkeit« (Hegel) als der erwünschte und im len Rest, der nach allen vergeblichen Berechnungen
Schreibakt erwirkte Aufschub eines befürchteten einer sich selbst desavouierenden Logik übrig bleibt
Endes (vgl. auch ä 509–511). und die Tätigkeiten des Schreibens und des Lesens,
die im Graben und Grübeln des Tiers anklingen, zu
Formale Aporien einem Ereignis jenseits aller Zwecke und Resultate
macht.
Zu den wichtigsten formalen Merkmalen des Kafka-
schen Schreibens, die in der Erzählung in extremer Ende und Unendlichkeit
Weise verdichtet sind, gehören die vielfältigen logi-
schen Aporien – Paradoxien, Tautologien, Wider- Die Unmöglichkeit, Gewissheit über das Ende der
sprüche und »chiastischen Rekurse« (Corngold) – Erzählung zu erlangen und die unablässigen Überle-
die jede Stellung auflösen und jede Behauptung gungen und Gegenvorschläge, die in der Rezeption
rückgängig machen. Zugespitzt wird gleichfalls die aus dieser Unentscheidbarkeit hervorgehen, können
Täuschung der einsinnigen Perspektive, die den Le- als Entsprechung der in der Erzählung ebenso the-
342 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

matisierten wie inszenierten Unabschließbarkeit be- letzt auch jener Andere, der vielleicht einmal »bis zu
trachtet werden. Doch auch hier eröffnet sich eine […] [ihm] durchbricht« (NSF II, 630). Ob dieser
Aporie: Die Vorstellung, dass die Erzählung und der Andere Gott, der Tod, ein Waldbruder, der bedrohli-
erzählte Bau so weit übereinstimmen, dass sogar che »Zischer« oder gar jener ganz andere Eindring-
noch die Kontingenz der verlorengegangenen Seiten ling, der Leser, ist, bleibt ungewiss.
mit der Unabgeschlossenheit des Labyrinths korres-
pondiert, würde letztlich, wie alle anderen allegori- Ausgaben: ED: In: Witiko. Zeitschrift für Kunst und
schen Deutungen, die Ungewissheit, die den Gehalt Dichtung 1 (1928), 89–104. –BBdCM (1931), 77–130. –
der Erzählung ausmacht, zu einem Abschluss brin- BeK/GS (1936), 132–165. − BeK/GW (1954), 173–219. –
gen und sie somit in einen Selbstwiderspruch ein- NSF II/KA (1992), 576–632.
münden lassen. Diese Einsicht, die den Leser des Forschung: P.-A. Alt (2005), 658–663. − Hans Bänzi-
<Bau> in eine gedankliche Endlosschlaufe verwi- ger: Der Bau. In: Merkur 11 (1957), 38–49; erweiterte
ckelt, scheint selbst abermals von der Textgestalt der Fassung: Das namenlose Tier und sein Territorium. Zu
Erzählung vorweggenommen zu sein. K.s Dichtung Der Bau. In: DVjs 53 (1979), 300–325. –
Vom Anfang bis zum Ende vollzieht das Tier un- H. Binder (1966), 340–346. – H. Binder (1983). – Mark
unterbrochen Gedankenkreise um jede Wahrneh- Boulby: K.’s End: A Reassessment of The Burrow. In:
mung, jeden Begriff, jedes Gefühl. Stets macht es GQ 55 (1982), 175–185. – John Maxwell Coetzee: Time,
Feststellungen, konstatiert Tatsachen, fasst Ent- Tense and Aspect in K.’s The Burrow. In: MLN 96 (1981),
556–579. – Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative
schlüsse, nur um sie sogleich zu verwerfen, gleich
Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Prince-
darauf eine Vielfalt von Alternativen zu betrachten,
ton 1978. – Stanley Corngold: The Necessity of Form.
welchen alsbald ein ähnliches Schicksal widerfährt.
Ithaca, New York 1988, 281–288. – Wilhelm Emrich:
Sein Bewusstsein dreht sich immerfort im Kreis, ver- Der Bau und das Selbst des Menschen. In: W. Emrich
schüttet den soeben gegrabenen Gedankengang, un- (1958), 172–186. – K.-H. Fingerhut (1969), 189–200. –
tergräbt das soeben aufgebaute Argument. Um jedes Angel Flores: The Bankruptcy of Faith. In: Flores (1946),
Zeitwort im Indikativ tanzt ein Schwarm von Kon- 298–318. – T. Fuchs: Die Welt als Innenraum. K.s Bau
junktiven. Auf jede Stellungnahme folgt ein »aber«, als Paradigma paranoider Räumlichkeit. In: Nervenarzt
ein »dennoch«, ein »allerdings« oder ein »anderer- 65 (1994), 470–477. − Jörg Gallus: Labyrinthe der Prosa.
seits«. Der Text ist ein endloses Spiel von Möglich- Interpretationen zu Robert Walsers Jakob von Gunten,
keiten, dem weder eine Wirklichkeit noch ein Ande- F.K.s Der Bau und zu Texten aus Walter Benjamins Ber-
rer Einhalt gebietet. liner Kindheit um Neunzehnhundert. Frankfurt/M., New
Auch in zahlreichen anderen Erzählungen Kafkas York 2006. − Marjorie Gelus: Notes on K.’s Der Bau.
will sich ein Wesen seiner Ruhe, Stabilität und Selbst- Problems with Reality. In: CG 15 (1982), 98–110. –
genügsamkeit versichern und wird mit einer Störung F. Greß (1994), 111–167. – Richard Heinemann: K.’s
konfrontiert, die es eines Besseren belehrt (vgl. Liska, Oath of Service. Der Bau and the Dialectic of the Bu-
63). In <Der Bau> bleibt der Gegenspieler – anders reaucratic Mind. In: PMLA 111 (1996), 256–270. −
als etwa Odradek in Die Sorge des Hausvaters oder Heinrich Henel: Das Ende von K.s Bau. In: GRM 22
das grundlos wütende weibliche Wesen in Eine kleine (1972), 3–23. – H.H. Hiebel (1999), 26–29. − Clayton
Frau – eine Befürchtung, die nicht konkreter wird Koelb: K. Imagines His Readers. The Rhetoric of Jose-
als das (in aller Wahrscheinlichkeit vom Tier selbst fine, die Sängerin and Der Bau. In: J. Rolleston (2002),
347–359. − Winfried Kudszus: Verschüttungen in K.s
ausgehende) Geräusch. In der Einsamkeit wuchern
Der Bau. In: Walter Sokel/Benjamin Bennett (Hg.): Pro-
diese Möglichkeiten endlos weiter: Die Logik allein
bleme der Moderne. Studien zur deutschen Literatur
legt keine Kriterien zur Entscheidung bereit und so
von Nietzsche bis Brecht. Tübingen 1983, 307–317. −
bleibt bis zuletzt auch »alles […] unverändert« (NSF Gerhard Kurz: Das Rauschen der Stille. Annäherungen
II, 632). an K.s Der Bau. In: Sandberg/Lothe (2002), 151–174. –
Eine letzte Unbestimmbarkeit entsteht aus dem Vivian Liska: La grande décision et la petite différence.
Schwanken des Tiers zwischen Angst und immer In: Europe. Revue littéraire mensuelle 923 (2006), 63–
wieder verneinter, jedoch unverkennbarer Sehn- 78. – Britta Maché: The Noise in the Burrow. K.’s Final
sucht nach einer von außen einfallenden Unterbre- Dilemma. In: GQ 55 (1982) 4, 526–540. – B. Menke
chung. In einer Dialektik von Allmachtswunsch und (2000), 29–136. – Ralf R. Nicolai: Konflikt zweier
Selbstauflösung fürchtet und erhofft das Tier diese Welten. K.s Triadik und Der Bau. In: JFDH 1975, 381–
Unterbrechung durch einen Anderen, und sei es zu- 408. – M. Pasley (1966), bes. 1–32 u. 102–113. – Ders.:
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 343

K.’s Semi-private Games. In: Oxford German Studies 6 3.3.7 Kleine nachgelassene
(1971/72), 112–131. – Ders.: The Burrow. In: A. Flores
(1977), 418–425. – H. Politzer (1965 [1962]), 489–509. – Schriften und
M.L. Rettinger (2003), 227–319. –Manfred Schmeling:
Semantische Isotopien als Konstituenten des Themati-
Fragmente 3
sierungsprozesses in nicht-linearen Erzähltexten. Am
Beispiel von K.s Der Bau. In: Eberhard Lämmert (Hg.): Überblick
Erzählforschung. Ein Symposion. Stuttgart 1982, 157–
172. – Verne P. Snyder: K.’s Burrow: A Speculative Anal-
Als Beginn von Kafkas spätem Werk ist der Aus-
ysis. In: Twentieth Century Literature 27 (1981) 2, 113–
bruch der Lungenkrankheit im August 1917 anzu-
126. – W.H. Sokel (1964), 416–434. – Jost Schillemeit:
setzen, der einen unübersehbaren biographischen
Die Erzählungen. Die Spätzeit (1922–1924). In: KHb
(1979) II, 392–396. – Henry Sussman: The All-Embrac- Einschnitt bedeutet: Kafka reist zu einem fast acht-
ing Metaphor. Reflections on K.’s The Burrow. In: Glyph monatigen Erholungsaufenthalt ins nordböhmische
1 (1977), 100–131. – Beatrice Wehrli: Monologische Zürau (12.9.1917 – 30.4.1918) und beendet die das
Kunst als Ausdruck moderner Welterfahrung. Zu K.s mittlere Werk prägende Beziehung zu Felice Bauer.
Erzählung Der Bau. In: JSDG 25 (1981), 435–445. – Rein quantitativ betrachtet, ist das späte Werk die er-
Hermann J. Weigand: F.K.’s The Burrow. An Analytical tragreichste der drei Werkphasen: Neben dem um-
Essay. In: Ders./Ulrich K. Goldsmith (Hg.): Critical fänglichen Schloss-Manuskript entstehen fast 65 %
Probings. Essays in European Literature from Wolfram (über 1100 Druckseiten) des in den beiden Bänden
von Eschenbach to Thomas Mann. Bern 1982, 233–264 Nachgelassene Schriften und Fragmente (NSF I u. II)
[zuerst: PMLA 87 (1972), 152–166]. – Markus Winkler: der Kritischen Ausgabe (KA) zusammengestellten
Kulturkritik in K.s Der Bau. In: ZfdPh 118 (1999) Son- Textkorpus: in NSF I die Nrn. 22, 23 (Oktavhefte
derheft, 144–164. E/F) und 24, in NSF II der Gesamttext des Bandes
Vivian Liska mit 28 Textgruppen. Die zugrunde liegenden Über-
lieferungsträger sind von sehr unterschiedlicher Art:
Neben Schreibheften in verschiedenen Formaten
finden sich Blattkonvolute und Einzelblätter sowie
Abschriften Max Brods, die verlorene Handschriften
ersetzen. In einer ganzen Reihe von Fällen ist nur
eine unsichere, aus Schrifteigenheiten und Kontex-
ten erschlossene Datierung möglich (vgl. dazu im
Einzelnen die »entstehungsgeschichtlichen Anmer-
kungen« der Herausgeber in NSF I/II:A).
Im Bereich der Tagebücher entfällt auf die späte
Werkphase dagegen der kleinste Textblock, nämlich
nur das letzte von zwölf Heften, das (mit zahlreichen
Schreibunterbrechungen) vom 15. September 1917
bis etwa zum 12. Juni 1923 reicht (T 829–926). Für
Kafka hatte das einst so hoffnungsvoll begonnene
Projekt ›Tagebuch‹ (vgl. T 14 f.; ca. Nov./Dez. 1909)
in diesen Jahren längst seinen Sinn verloren; er war
der zwanghaften Selbstbeobachtung müde (z. B.
T 874; 7.11.1922) und erwartete von der diaristi-
schen Selbstreflexion keine neuen Erkenntnisse
mehr. Zudem hatte er erfahren müssen, dass durch
das bloße Aufzeichnen seiner Probleme nicht die ob-
jektivierende Distanz entstand, die allein durch lite-
rarische Gestaltung zu erlangen war (T 892;
27.1.1922). Literarische Texte aber finden sich im
»Zwölften Heft« – anders als in den vorangehenden
Heften – nur noch sehr selten. Tagebuch führt Kafka
344 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

daher jetzt nur noch in besonderen persönlichen nen Hebräisch-Studien). Die entsprechenden Bände
Krisensituationen, setzt dann die Eintragungen oft der FKA stehen noch aus.
nur sporadisch fort und bricht sie schon bald wieder
ab. Um den 8. Oktober 1921 übergibt er alle bisher
geschriebenen Tagebuchseiten an Milena Jesenská: Textbeschreibung:
Alle Tagebücher, vor einer Woche etwa, M. gegeben. Ein Vier Schreibphasen
wenig freier? Nein. Ob ich noch fähig bin eine Art Tage-
buch zu führen? Es wird jedenfalls anders sein, vielmehr Stärker noch als in den beiden anderen Werkphasen
es wird sich verkriechen, es wird gar nicht sein […]. sind im späten Werk die Zeiten intensiven Schrei-
Über M[ilena]. könnte ich wohl schreiben, aber auch
bens durch lange Schreibpausen getrennt. Von den
nicht aus freiem Entschluß, auch wäre es zu sehr gegen
mich gerichtet, ich brauche mir solche Dinge nicht mehr rund 81 Monaten, die das späte Werk umspannt, war
umständlich bewußt zu machen, wie früher einmal, ich Kafka nur in rund 25 Monaten literarisch produktiv,
bin in dieser Hinsicht nicht so vergeßlich wie früher, ich was etwa 30 % der Gesamtzeit entspricht. In den lan-
bin ein lebendig gewordenes Gedächtnis, daher auch die gen Pausen dazwischen hat er wenig oder überhaupt
Schlaflosigkeit (15.10.1921; T 863).
nicht geschrieben. Dass Kafka nur schreibend exis-
Dies ist allerdings keineswegs der letzte Eintrag – im tieren konnte, erweist sich also gerade im späten
Gegenteil: Die Notiz eröffnet eine neue Phase regel- Werk als eine pure Mystifikation der Forschung.
mäßigen diaristischen Schreibens, fast als scheue Grob gesprochen, lassen sich vier Schreibphasen
Kafka den horror vacui eines tagebuchlosen Zustan- unterscheiden:
des. Doch schon zwei Wochen später werden die (1) Zürau: 12. September 1917 bis Anfang Mai
Einträge wieder seltener. 1918 (die Phase reicht also noch einige Tage über die
Zu Lebzeiten Kafkas publiziert wurden aus dem Abreise aus Zürau am 30. April hinaus);
Textkorpus des späten Werkes nur die vier Erzäh- (2) ›Konvolut 1920‹: ca. 20. August bis Mitte De-
lungen des Hungerkünstler-Bandes (Erstes Leid; Eine zember 1920;
kleine Frau; Ein Hungerkünstler; Josefine, die Sänge- (3) Schloss-Jahr 1922: ca. 27. Januar bis Mitte De-
rin oder Das Volk der Mäuse). Max Brod hat dann zember 1922 (die Arbeit am Schloss wurde bereits
aus dem Manuskriptbestand nicht nur das Schloss um den 20. August abgebrochen);
und die von Kafka selbst vorbereitete Auswahl aus (4) Berlin (und Prag): ca. 24. September 1923 bis
den Aphorismen (als <Betrachtungen über Sünde, Anfang April 1924 (die Schreibphase reicht über den
Leid, Hoffnung und den wahren Weg >) veröffentlicht, am 17. März endenden Berlin-Aufenthalt hinaus; in
sondern nach und nach auch eine stattliche Anzahl den darauf folgenden Prager Wochen entsteht Jose-
kürzerer und mittellanger Erzähltexte aus den Ma- fine, die Sängerin).
nuskripten herausgelöst. Über zwei Drittel der Nie- Vor dem Versuch, diese vier Phasen überblicks-
derschriften, denen Brod durch Separatpublikation weise zu charakterisieren, sei zunächst noch ein ver-
(und oft auch Betitelung) Werkstatus verliehen hat, gleichender Blick auf das Schreiben im Tagebuch ge-
stammen aus der späten Schreibphase. In entste- worfen. Auch hier gibt es vier Schreibphasen, die
hungschronologischer Folge handelt es sich dabei von langen Pausen unterbrochen werden; allerdings
um die folgenden 24 Titel: decken sich die Zeiten nicht mit denen des literari-
<Eine alltägliche Verwirrung > (eigentlich: »Ein alltägli- schen Schreibens:
cher Vorfall«), <Die Wahrheit über Sancho Pansa>, <Das (I) 15. September bis 10. November 1917;
Schweigen der Sirenen>, <Prometheus>, <Nachts>, <Die (II) 27. Juni 1919 bis 29. Februar 1920;
Abweisung >, Zur Frage der Gesetze, <Die Truppenaushe- (III) 15. Oktober 1921 bis 18. Dezember 1922
bung >, <Poseidon>, <Gemeinschaft >, <Das Stadtwap-
(wobei es nach dem 23.6.1922 nur noch wenige
pen>, <Der Steuermann>, <Die Prüfung >, <Der Geier >,
<Kleine Fabel >, <Der Kreisel >, <Der Aufbruch>, <Für- kurze Einträge gibt);
sprecher >, Das Ehepaar, <Forschungen eines Hundes>, (IV) um den 12. Juni 1923.
<Gibs auf! > (eigentlich: Ein Kommentar), <Von den
Gleichnissen>, <Heimkehr >, <Der Bau> (Drucknach- Die vierte Phase umfasst nur drei Einträge, von de-
weise im Literaturverzeichnis).
nen der erste auf den 12. Juni datiert ist (Anlass war
Das gesamte Textkorpus des späten Werkes wurde wohl ein letzter Besuch Milenas); daher kann sie hier
erst in der Kritischen Ausgabe veröffentlicht (aller- vernachlässigt werden. Im Prinzip endet das Tage-
dings ohne die in einigen der Schreibhefte enthalte- buchführen also für Kafka bereits am 23. Juni 1922.
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 345

Vergleicht man die drei verbleibenden Tagebuch- Der eigentliche Neueinsatz – der die Rede von ei-
phasen mit den vier Phasen literarischen Schreibens, ner neuen Werkphase überhaupt erst rechtfertigt –
so stellt man fest, dass (I) und (1) sowie (III) und (3) fällt in die Zürauer Zeit. Im formalen Bereich liegt er
teilweise zusammenfallen: darin, dass Kafka sich mit dem Aphorismus eine
– In Zürau hat Kafka das Tagebuch nach zwei neue Schreibweise aneignet (ä 3.3.1 zur ausführli-
Monaten abgebrochen (I) und nur noch in sei- chen Darstellung). Von der Gattungstradition weicht
nen ›literarischen‹ Notizheften, den Oktavhef- er vor allem dadurch ab, dass er das Genre seinen
ten G und H weiter geschrieben (1), in denen Schreibeigenheiten anverwandelt: Kafkas Aphoris-
sich dann mitunter auch (kurze und stark fak- men sind bildgesättigt; ihre Reflexionen folgen der
tenorientierte) diaristische Notizen finden. Denkfigur des ›gleitenden Paradoxon‹ (ä 285); mit-
– Am 15. Oktober 1921, also einige Monate vor unter enthalten sie auch ein erzählerisches Element
dem Neuansatz des literarischen Schreibens am (was sie dem parabolischen Schreiben annähert, das
27. Januar 1922, nimmt Kafka (nach der Über- Kafka vor allem in der Endphase des mittleren Wer-
gabe der alten Tagebücher an Milena) das Tage- kes erprobt hatte). Der inhaltliche Neuansatz der
buchführen wieder auf und führt es durch das Zürauer Zeit liegt in der extremen weltanschauli-
Schloss-Jahr hindurch fort. Dann brechen litera- chen Verallgemeinerung, mit der hier anthropologi-
risches Schreiben (3) und Tagebuch (III) etwa sche – von der Diktion her: religiöse – Grundfragen
gleichzeitig ab. aufgegriffen werden: etwa der Gegensatz zwischen
›sinnlicher‹ und ›geistiger Welt‹ oder der ›Sünden-
Die Probleme in der Beziehung zu Milena wur- fall‹. Formale und inhaltliche Innovation über-
den dagegen nur im literarischen Medium gestaltet schneiden sich im Rückgriff auf etablierte Philoso-
(2), die in der Beziehung zu Julie Wohryzek (ä 21 f.) pheme und Mythologeme, die Kafka kontrafaktisch
nur im Tagebuch (III), dort allerdings teilweise nutzt, um seine ganz eigene, jeder etablierten Lehre
auch mit den Mitteln aphoristischen (also litera- gegenüber heterodoxe Position auszudrücken. Im
rischen) Schreibens. Auch der in II entstehende Hintergrund all dieser Grundüberlegungen steht ein
<Brief an den Vater > (Mitte November 1919) ist Thema, das sich erstmals im Process herausgebildet
primär ein autobiographisches Reflexionsinstru- hatte, nun aber ganz abstrakt erörtert wird – die
ment. Frage nach der ›Rechtfertigung‹ der je individuellen
Die Nicht-Synchronizität der Schreibphasen Existenz:
spricht jedenfalls deutlich dafür, dass Max Brods – Niemand schafft hier mehr als seine geistige Lebens-
von der neueren Forschung gelegentlich angezwei- möglichkeit; daß es den Anschein hat, als arbeite er für
felte – Entscheidung, die Tagebuchhefte als eigenes seine Ernährung, Kleidung u. s. w. ist nebensächlich, es
Genre aus dem Gesamtkorpus der Notizhefte auszu- wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein un-
sichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsicht-
grenzen, durchaus sinnvoll war. Trotz häufiger Über-
bares Kleid u. s. f. gereicht. Das ist jedes Menschen
schneidungen betrieb Kafka sehr bewusst eine zwei- Rechtfertigung. Es hat den Anschein als unterbaue er
fache Form der ›Buchführung‹ in zwei prinzipiell seine Existenz mit nachträglichen Rechtfertigungen, das
klar geschiedenen Reflexionsmedien. ist aber nur psychologische Spiegelschrift, tatsächlich er-
richtet er sein Leben auf seinen Rechtfertigungen. Aller-
dings muß jeder Mensch sein Leben rechtfertigen kön-
(1) Zürau nen (oder seinen Tod, was dasselbe ist), dieser Aufgabe
kann er nicht ausweichen (NSF II, 99).
Nur der Vollständigkeit halber erwähnt seien zu-
nächst die (wenigen) Erzählfragmente aus dem Um- Weltanschauliche Verallgemeinerung wie Rechtfer-
feld des Krankheitsausbruchs, die vor der Abreise tigungsthematik ordnen die Aphorismen einem Pro-
nach Zürau (möglicherweise auch noch auf der zess der Selbstvergewisserung Kafkas zu, der offen-
Fahrt dorthin und kurz nach der Ankunft) entstan- sichtlich durch die Veränderung der Lebenssituation
den und in die Oktavhefte E und F (NSF I, 400–429) verursacht wurde: Sich über »die letzten Dinge klar
eingetragen wurden. Diese enthalten auch Lektüre- werden« nannte er es in einem Gespräch mit Max
notizen zu einem Buch Max Schelers (421–424) und Brod (Brod 1974, 147). Werkgeschichtlich bedeuten
Korrekturen an dem Aufsatz Jizchak Löwys Vom jü- die Zürauer Aphorismen in doppelter Hinsicht ei-
dischen Theater, den Kafka zum Druck vermitteln nen Einschnitt: Zum einen bilden sie den Höhe- und
wollte (424–426 u. 430–436). Endpunkt der Tendenz zu thematischer Verallge-
346 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

meinerung, die das ganze mittlere Werk bestimmte Dass dies für Kafka selbst nicht das letzte – min-
(ä 89). Zum anderen hat Kafka mit der Aneignung destens nicht das einzige – Wort war, zeigt ein zwei-
aphoristischen Schreibens die Entwicklung seines ter, wenig später erfolgender Reflexionsversuch:
formalen Repertoires abgeschlossen. Im Rest des Zwischen dem 6. Januar und dem 29. Februar 1920
späten Werkes werden die Elemente nur noch vari- notiert er eine Reihe von dem Aphorismus nahen
iert und immer wieder neu kombiniert werden. Kurztexten in seinem Tagebuch (T 847–862; vgl.
In die Aphorismen-Hefte sind allerdings auch ei- auch NSF II, 221 f.), die Max Brod später unter dem
nige Texte anderer Genres eingelagert. Im letzten, Titel <Er. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920 > ver-
durch einen Doppelstrich abgetrennten und zwi- öffentlichte (ä 282 f.). Vom Vater ist hier nicht mehr
schen Anfang März und Anfang Mai 1918 (wohl die Rede. Statt einer individualpsychologischen Ana-
nach der Redaktion der Aphorismen zum ›Zettel- lyse (der die Zürauer Aphorismen ja schon längst
konvolut‹ ä 281) verfassten Teil des Oktavheftes H abgesagt hatten; z. B. NSF II, 81) versucht Kafka nun,
finden sich einige Erzählanfänge und ein kleiner Ge- das neu angeeignete Medium des Aphorismus zur
dichtkomplex (110 f.) sowie der sozialutopische Ent- Selbstanalyse – oder besser gesagt: zur Distanz schaf-
wurf Die besitzlose Arbeiterschaft (105–107). Wichti- fenden Selbstobjektivierung – zu nutzen.
ger sind vier kurze, stark parabolische Erzähltexte,
die zwischen den Aphorismen im Oktavheft G ste- (2) ›Konvolut 1920‹
hen: <Eine alltägliche Verwirrung > (21.10.1917; NSF
II, 35 f.), <Die Wahrheit über Sancho Pansa> Das sogenannte ›Konvolut 1920‹ besteht aus 51 losen
(21./22.10.; 38 f.), <Das Schweigen der Sirenen> Blättern des Briefpapiers, das Kafka auch für seine
(23.10.; 40–42) und <Prometheus> (wohl 16.12.; Korrespondenz mit Milena verwendete. Max Brod
69 f.). Die letzten drei Texte aus dieser Reihe sind hatte die Seiten umsortiert; die Herausgeber der Kri-
überaus häufig interpretiert worden – aber kaum je tischen Ausgabe haben, mit einigem detektivischen
in ihrer Relation zum aphoristischen Ko-text (was Scharfsinn, die ursprüngliche Ordnung wieder her-
hier in den Einzelanalysen des 3. Kapitels versucht zustellen versucht, so dass das Textkorpus seit 1992
werden soll). erstmals wieder in seiner (näherungsweise) origina-
len Form vorliegt (NSF II, 223–362).
Zwischen den Schreibphasen (1) und (2) liegt, wie Kafka schrieb das ›Konvolut‹ zwischen etwa
bereits erwähnt, die Beziehung zu Julie Wohryzek, 19./20. August und Mitte Dezember 1920. Schon
die Kafka zunächst nur in sporadischen Tagebuch- diese Daten deuten – wie auch das gewählte Papier –
einträgen thematisiert (T 845 f.; 27.6.-11.12.1919). auf den engen Zusammenhang mit der Beziehung zu
Spätestens als er die nach nur rund dreivierteljährli- Milena Jesenská hin (ä 21 f.). Diese hatte sich zu-
cher Bekanntschaft angesetzte Heirat Anfang No- nächst – wie schon bei Felice Bauer – über einen in-
vember 1919 aus äußerlichen Gründen absagt – eine tensiven Briefwechsel entwickelt, der während Kaf-
in Aussicht gestellte gemeinsame Wohnung steht kas Kuraufenthalt in Meran (2.4.-28.6.1920) begann.
nicht mehr zur Verfügung –, wird der innere Wie- Auf der Rückreise machte er vom 29. Juni bis zum
derholungszwang offensichtlich: Trotz der in Per- 4. Juli in Wien Station und sah dort Milena täglich.
sönlichkeit wie sozialer Herkunft ganz andersartigen Es war ein für Kafka ganz ungewöhnlich glückliches
neuen Partnerin ist Kafka in die genau gleichen Ver- und harmonisches Beisammensein, das zu den größ-
haltensaporien geraten wie schon in der Beziehung ten Hoffnungen berechtigte. Doch schon das nächste
zu Felice Bauer. Mitte November 1919 schreibt er Treffen im Grenzort Gmünd am 14./15. August ver-
mit dem <Brief an den Vater > die zweite Grundsatz- lief enttäuschend. Kurz darauf, nämlich um den
reflexion des späten Werkes: Dienten die Zürauer 15. September, erreichte die Krise der Beziehung ih-
Aphorismen der weltanschaulichen Vergewisserung, ren Höhepunkt (zu Details vgl. Stach 2008, 401 f. u.
so ist der <Brief > quasi die Summe seiner langjähri- 409 f.), und Kafka machte einen ersten Ansatz, den
gen autobiographischen Selbstreflexion. Hier wer- Briefwechsel abzubrechen: »Wir sollen einander
den die Probleme der Persönlichkeitsstruktur aus- jetzt nicht mehr schreiben« (BM 264). Die offizielle
schließlich aus dem Verhältnis zum Vater abgeleitet Trennung erfolgt erst im Januar des Folgejahres (wo-
– eine natürlich höchst einseitige Sicht, der aller- bei es allerdings auch später noch gelegentliche
dings viele Kafka-Forscher nur zu gerne gefolgt Briefkontakte und Besuche Milenas gibt), ist aber ei-
sind. gentlich seit Herbst 1920 absehbar.
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 347

Dass die Wiederaufnahme literarischen Schrei- zeichnet [sind], während in den Texten der späteren Zeit
bens im ›Konvolut 1920‹ in engem Zusammenhang [nach dem 15. September] – in denen dieser Typus nicht
verschwindet, aber doch zurücktritt – eine Tendenz zu
mit der Krise in der Beziehung zu Milena steht, er- autobiographischer Reflexion, zur Reflexion auf die ak-
scheint als einigermaßen offensichtlich: Am 26. Au- tuelle Situation des Schreibenden, die sich auch in tage-
gust berichtet Kafka, dass er »seit ein paar Tagen«, buchartigen Aufzeichnungen niederschlagen kann, als
also kurz nach der Rückkehr aus Gmünd, seinen charakteristisch hervortritt; eine Tendenz, die zum
erstenmal in den Eintragungen vom 15. bis zum 21. Sep-
»›Kriegsdienst‹ – oder richtiger ›Manöver‹leben
tember […] auftritt (NSF II:A, 87).
[wieder] aufgenommen« habe (An M. Jesenská,
26.8.1920; BM 229). Gemeint ist damit die Zweitei- Ähnliches hat der Bandherausgeber Jost Schillemeit
lung des Tages durch eine nachmittägliche Schlaf- bereits in einem etwas älteren Aufsatz konstatiert,
pause, die den Gewinn ungestörter Schreibzeit in der auch einige bedenkenswerte Vorschläge zur
der Nacht ermöglichen soll. Auf den engen Zusam- Neuordnung der noch immer teilweise nur unsicher
menhang mit Milena deutet auch hin, dass von den datierten Briefe an Milena enthält (J. Schillemeit
›Konvolut‹-Eintragungen nur die datiert sind, die 2004 [1988], 323–326).
unmittelbar auf den 15. September folgen, also in die Diese Charakteristik ist sicher nicht einfach falsch,
Zeit der entscheidenden Beziehungskrise fallen trifft die Eigenheit des ›Konvolutes‹ aber nur be-
(NSF II, 321 f.). dingt. Denn ein autobiographisches Element ist hier
schon von den allerersten Einträgen an präsent. Die
Blätter illustrieren sehr gut, wie Kafka beim Schrei-
Schreibprozesse
ben meist von einer (im weitesten Sinne) autobio-
Die Textgruppe ist von der Forschung noch nie im graphischen Konstellation ausgeht und sich um de-
Zusammenhang behandelt worden; interpretiert ren literarische ›Objektivierung‹ bemüht. Genauer
wurden immer nur die von Max Brod herausgelös- gesagt, ist der Ausgangspunkt ein Bild und/oder eine
ten Einzeltexte. Das ist ein höchst bedauerliches Ver- Situation, das/die (einigermaßen) plausibel als di-
säumnis, da die Blätter einen geradezu idealen Ein- rekte Umsetzung der biographischen Problematik
blick in Kafkas Schreibprozess ermöglichen: Die bio- oder auch der Schreibsituation gelesen werden kann.
graphische Grundkonstellation liegt hier offen Diese Konstellation wird mit dem Textanfang als
zutage, und der Briefwechsel mit Milena ermöglicht wirklich gesetzt – im ›Konvolut‹ besonders häufig
einen detaillierten Einblick in die Entwicklung der mit den thetischen Eingangsformeln »Es war …«
Beziehung (und auch in wichtige Lektüren Kafkas in oder »Er ist …« – und dann narrativ entfaltet, bis der
dieser Zeit). Etwaige Schreibanlässe sind so leicht zu Schreibstrom abbricht.
ermitteln. Zudem findet die Problembewältigung Ein Beispiel dafür liefert schon der erste Eintrag:
diesmal ausschließlich im literarischen Medium statt Es war der erste Spatenstich, es war der erste Spatenstich,
– Kafka führt kein Tagebuch und die quälenden es lag die Erde in Krumen, zerfallen vor meinem Fuß
Selbstanalysen, die die Korrespondenz mit Felice be- Es läutete eine Glocke, es zitterte eine Tür,
stimmten, werden in den Briefen an Milena aus die- (NSF II, 223)
ser Zeit weitgehend unterdrückt, da diese darauf mit Hier werden drei Anfangssituationen angerissen, die
starker Abwehr reagiert (vgl. z. B. An M. Jesenská, mit einiger Plausibilität auf den (Neu-)Anfang im
Sept. 1920; BM 276). Schreiben bezogen werden können, wobei das erste
Das ›Konvolut‹ ist sehr umfangreich; es enthält Bild vom Schürfen in inneren Tiefen ausgehen mag
zahllose, oft schon nach kurzem Ansatz abbrechende (verwandt der bei Kafka häufiger verwendeten Berg-
Fragmente und einige abgeschlossene (oder abge- werksmetapher; vgl. etwa im ›Konvolut‹: 286 f., 352).
schlossen anmutende) Texte; zwölf davon wurden Damit ist, wohlgemerkt, nicht gesagt, dass dies not-
von Max Brod herausgelöst und als selbständige wendigerweise auch die ›Bedeutung‹ der Bilder ge-
Werke publiziert. Die Herausgeber der Kritischen wesen wäre, wenn das Fragment sich zu einem Werk
Ausgabe haben in der Textgruppe zwei Phasen und geformt hätte. Dies anzunehmen und solche Texte
Schreibweisen unterschieden: dann pauschal als ›selbstreflexiv‹ zu interpretieren,
beruht auf einer problematischen Kategorienver-
man sieht […] wie die Texte der »frühen Partie« durch
wechslung zwischen (kreativitätspsychologischer)
eine Tendenz zu frei phantasierendem, fabulierendem
Geschichtenerzählen, das bisweilen auch zur Entfaltung Produktionsästhetik und Werkdeutung, die gerade
größerer Erzählzusammenhänge führen kann, gekenn- die neuere Kafka-Forschung häufig begeht. In Kaf-
348 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

kas Schreibanfängen ist aber alles disponibel – auch mich aufzunehmen die hier herrschte […] Freilich nicht
und gerade die Semantik. Entscheidend ist allein, ungestört, noch war die Stille vollkommen, aber fort-
während drohte eine Störung, noch hielt irgendetwas
dass der Schreibfluss in Gang kommt. Das tat er in den Lärm zurück, aber er war vor der Tür […]. Noch
diesem Fall offensichtlich nicht. Über die Gründe blieb es still und ich ruderte weiter … (251 f.)
dafür kann man natürlich nur spekulieren. Mag sein,
dass es einfach keine gute Idee war, an den Textbe- oder in der Thematisierung der ›Bodenlosigkeit‹ von
ginn eine völlig offene Anfangs-Situation zu setzen, Kafkas a-mimetischen Schreibakten:
die keinen Keim zu einer weiteren Entwicklung ent- Eine heikle Aufgabe, ein Auf-den-Fußspitzen-gehn über
hält – um sie fortzusetzen, müsste man ja schon wis- einen brüchigen Balken der als Brücke dient, nichts un-
sen, was sich in der Erde finden wird bzw. wer vor ter den Füßen haben, mit den Füßen erst den Boden zu-
der Tür steht. Wie sich dies vermeiden lässt, zeigen sammenscharren auf dem man gehn wird, auf nichts
gehn als auf seinem Spiegelbild das man unter sich im
zahlreiche andere Textanfänge, in denen das Tür-
Wasser sieht … (312).
Motiv – das als klassische ›Schwellen‹-Metapher bei
der Text-Eröffnung natürlich nahe liegt – in spezifi- Genauso gut kann jedoch auch ein autobiographi-
scherer und damit entwicklungsfähigerer Weise ver- sches Motiv den Textfluss in Gang bringen: etwa
wendet wird, etwa: Schuldgefühle gegenüber Julie Wohryzek (zunächst
in fast direkter, dann in bildlich stärker eingekleide-
Ich trat in das Haus und schloß hinter mir das Türchen
im großen verriegelten Tor. Aus dem langen gewölbten ter Form: 226, 227–230; ganz ähnlich: 234 f.); die
Flur gieng der Blick auf ein gepflegtes Hofgärtchen mit Nachricht von Milenas Lungenkrankheit (246–251);
einem Blumenaufbau in der Mitte … (NSF II, 230); Im- die im Briefwechsel überdeutliche Eifersucht auf Mi-
mer streichst du um die Tür herum, trete kräftig ein. lenas Ehemann (310–312); Milenas ›Auftrag‹ (vgl.
Drin sitzen zwei Männer an roh gezimmertem Tisch
und erwarten Dich … (233); Es war ein äußerst niedri-
Stach 401 f.), bei einer Verständigung mit ihrem Va-
ges Türchen, das in den Garten führte, nicht viel höher ter zu helfen (»Es ist ein Mandat«; NSF II, 320 f.).
als die Dratbogen die man beim Kroquetspiel in die Erde Mitunter werden solche autobiographischen,
steckt. Wir konnten deshalb nicht neben einander in den selbstreflexiven oder autoreflexiven Erzähleinsätze
Garten gehn, sondern einer mußte hinter dem andern auch zum bloßen Spender von Bildeinfällen. In ei-
hineinkriechen … (236); Ich stand nahe der Tür des gro-
ßen Saales, weit von mir an der Rückwand lag das Ruhe- nem späten, wohl aus dem November/Dezember
bett des Königs … (238); Vor dem Eingang des Hauses 1920 stammenden Eintrag notiert Kafka etwa:
stehn zwei Männer, sie scheinen ganz willkürlich ange-
zogen, das meiste was sie anhaben sind Lumpen … Die geistige Wüste. Die Leichen der Karawanen Deiner
(257); etc. früheren und Deiner späteren Tage (355).

Ein anderes beliebtes Anfangsmotiv sind Bewe- Im übernächsten Eintrag wird die expressive Meta-
gungs- und Flussmetaphern, die ebenfalls in einem pher dann zu einem (fragmentarischen) Erzähltext
naheliegenden Zusammenhang mit dem in Gang ausgestaltet, der das Leben in einer »Karawanserei«
kommenden (oder stockenden) Schreibfluss stehen: schildert (355–357).
Ich teilte das schwarze Wasser, ich schwamm in dem kalt Wichtiger als der Inhalt des Anfangseinfalls ist je-
an mich schlagenden Wasser … (284); Das Pferd stol- doch, wie sich bereits am ersten Eintrag zeigte, sein
perte, fiel auf die Vorderbeine nieder, der Reiter wurde narratives Potential: Er muss den Schreibprozess
abgeworfen … (298); Ich ruderte stehend das Boot in nicht nur in Gang setzen, sondern ihm auch eine in-
den kleinen Hafen, er war fast leer … (314); Es war ein
nere Dynamik verleihen können. Ein bei Kafka häu-
Strom, ein trübes Gewässer, es wälzte sich mit großer,
aber doch irgendwie schläfriger, allzu regelmäßiger Eile figes – da seinem weder an Figurenpsychologie noch
mit niedrigen lautlosen Wellen dahin … (344); Ein Rei- am Handlungsaufbau orientierten Erzählen beson-
ter ritt auf einem Waldweg, vor ihm lief ein Hund … ders adäquates – Mittel dazu ist eine ›ver-rückte‹
(345); In einer Zwischenströmung treibt ein Fisch … Ausgangskonstellation, also eine, die ein stark nicht-
(359).
realistisches Element enthält. Solche Motive haben
Dabei kann der Bezug auf die Schreibsituation auch eine quasi ›natürliche‹ Entfaltungsdynamik: Die
noch spezifischer ausfallen – etwa in der Furcht vor nicht-realistische Situation bedarf einer stärkeren
Störungen: Konturierung, da der Leser Details nicht einfach aus
Ich ruderte auf einem See. […] Ich ruderte ruhig durch seinem Erfahrungswissen ergänzen kann. Zudem
die Wellen, dachte aber kaum ans Rudern, ich war nur eignet ihr ein Rätselelement, das quasi einen Leer-
damit beschäftigt mit allen meinen Kräften die Stille in raum für Semantisierungen bietet. Deswegen wird
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 349

dieses abweichende Element meist schon früh ge- Wert an sich sein – »dieses Im-Dienst-sein ist gut
setzt: auch ohne alle Ergebnisse«, schreibt er an Milena –,
Es war eine politische Versammlung. Merkwürdig ist es, doch ändert das nichts daran, dass ›Ergebnis‹-loses,
daß die meisten Versammlungen auf dem Platz der Ställe also werkloses Schreiben für ihn nur einen unterge-
stattfinden … (223); Ich war bei den Toten zu Gast … ordneten, präludierenden Status hat; es dient, wie
(227); Jenen Wilden, von denen erzählt wird, daß sie Kafka sagt, nur dazu, ihm »die Zunge zu lösen« (An
kein anderes Verlangen haben als zu sterben … (241);
M. Jesenská, 26.8.1920; BM 229).
Die Stadt gleicht der Sonne, in einem mittlern Kreis ist
alles Licht dicht gesammelt … (259); etc. Die einfachste Form Distanz schaffender Objekti-
vierung besteht darin, für den eigenen Seelenzu-
Eine andere, konventionellere Form, Dynamik zu stand – und das heißt bei Kafka zumeist: für die
erzeugen, liegt in einer antagonistischen Ausgangs- Aporien seines Inneren – ein eigenständiges und
konstellation. Diese wird im ›Konvolut 1920‹ beson- bildlogisch-eigengesetzliches Bild gefunden zu ha-
ders häufig genutzt, wobei die miteinander reden- ben. Rudimentär erreicht ist das bereits in dem fol-
den, miteinander streitenden oder einfach einander genden Kurzfragment:
entgegen gesetzten Figuren (wie ja oft bei Kafka) Den Kopf hat er zur Seite geneigt; in dem dadurch frei-
meist als antagonistische Ich-Aspekte gelesen wer- gelegten Hals ist eine Wunde, siedend in brennendem
den können: Blut und Fleisch, geschlagen durch einen Blitz, der noch
andauert (347; vgl. auch den Übergang von der direkten
Wenn ich mir heute Rechenschaft geben will über mei- autobiographische Aussage zum Bild 234 f.).
nen Freund und mein Verhältnis zu ihm … (224); Er hat
sich im zweiten Zimmer eingesperrt, ich habe geklopft, Die Verselbständigung solcher Bilder beruht zum ei-
an der Tür gerüttelt, er ist still geblieben. Er ist böse auf nen auf ihrer a-mimetischen Anlage, die sie von der
mich … (226); Wir hatten einen kleinen Streit. Karl be-
Erfahrungswelt löst, zum anderen auf ihrer komple-
hauptete … (231); Wir spielten »Weg-versperren«, es
wurde eine Wegstrecke bestimmt, die einer verteidigen xen Semantik, die sie von rationaler Selbstreflexion
und der andere überschreiten sollte … (233); »Das alles und vertrauter Begriffssprache abgrenzt. Ein weite-
ist ja nutzlos«, sagte er, »nicht einmal mich erkennst Du rer Autonomiegewinn ergibt sich aus der Verallge-
und ich stehe doch vor Dir … (284); A »Sei aufrichtig! meinerung, die die Unterdrückung jeder individual-
[…] Worin besteht Deine Macht?« … (292; vgl. auch:
294); Ein Bauer fing mich auf der Landstraße ab und bat biographischen Konkretisierung möglich macht. So
mich mit ihm nachhause zu kommen, vielleicht könne entstehen abgelöste Bilder eines ›Seelenzustandes‹,
ich ihm helfen … (304); »Bin ich nicht Steuermann?« einer psychischen Konstellation, einer existenziellen
rief ich. »Du?« fragte ein dunkler hochgewachsener Grundsituation, die vielfältig ›anwendbar‹ sind. Der
Mann und strich sich mit der Hand über die Augen als
wichtigste Schritt aber liegt natürlich in der Verselb-
verscheuche er einen Traum (324).
ständigung des Geschriebenen zum Werk, das auch
Die schwierigste Aufgabe in Kafkas Schreibverfah- formal eine in sich geschlossene Existenz erreicht
ren besteht aber darin, den in Gang gesetzten und in hat.
Gang gehaltenen Erzählprozess auch zu einem Ab- Relativ weit gediehen ist diese Verselbständigung
schluss zu bringen, den Text zu einem in sich ge- in zwei parabolischen Kurzerzählungen, die Max
schlossenen Ganzen zu runden. Dies ist ihm nicht Brod als selbständige Texte veröffentlicht hat. <Der
nur aus ästhetischen, sondern auch aus existenziel- Steuermann> (um Ende Sept. 1920; NSF II, 324) ent-
len Gründen wichtig. In seinem Schreiben geht es ja wirft das Bild eines unerklärlichen Kontrollverlustes:
nicht einfach um die Abbildung der biographischen Ein »Fremder« vertreibt den Ich-Erzähler gewaltsam
Situation, sondern um deren Distanz schaffende Ob- von seinem Platz am Steuer, die treulose Mannschaft
jektivierung und Verselbständigung – wie Kafka im gehorcht den Befehlen des neuen Führers. In <Der
›Konvolut‹ notiert: »Nichts, nur Bild, nichts anderes, Geier > (Ende Sept. 1920; 329 f.) wird das Ich – in ei-
völlige Vergessenheit« (355). Das ist auch der Grund ner sehr freien Variation eines Prometheus-Motivs –
dafür, dass weder selbstreflexive noch autobiogra- von einem Geier gepeinigt. Da es sich für »wehrlos«
phische Text-Eröffnungen die Thematik oder Se- erklärt, lässt es sich widerstandslos die Füße zerha-
mantik endgültig festlegen. Es sind, um in der cken. Ein Passant verspricht, ein Gewehr zu holen
Schach-Metaphorik zu bleiben, Eröffnungszüge, die und das Tier zu töten. Kaum ist er gegangen, stößt
das Spiel in Gang setzen. Je weiter sich dieses von der Geier, der das Gespräch verstanden zu haben
seinem Ausgangspunkt entfernt, desto besser wird es scheint, dem Erzähler seinen Schnabel tief in den
gespielt. Schreiben kann für Kafka durchaus ein Mund. Auch dies lässt sich, relativ plausibel, als ori-
350 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

ginell-drastisches Bild für einen ›Seelenzustand‹ aus- mal ins selbstreflexiv Biographische zielt, weist auf
wegloser Qual deuten. Beide Texte können so zwar die wesentliche Eigenheit des ›Konvolut 1920‹, die
noch auf eine biographische Ausgangssituation zu- seinen werkbiographischen Status bestimmen hilft.
rückbezogen werden, verhalten sich zu ihr aber nicht Denn der bisher beschriebene Schaffensprozess –
allegorisch, sondern metonymisch: Sie ›bedeuten‹ mit seinem Ineinander von expressiver bzw. autore-
sie nicht, sondern lassen sie nur als einen von vielen flexiver Eröffnung, narrativer Entfaltung und refle-
ihrer möglichen Anwendungsfälle erscheinen. xiver Überformung – prägt Kafkas literarische Pro-
Beide Texte demonstrieren jedoch auch, dass Kaf- duktion insgesamt (mindestens seit er sich mit dem
kas automatisches Schreiben eine aktive Sinnbildung Urteil endgültig für einen ungeplanten, ›automati-
keineswegs ausschließt, die die Polyvalenz der ex- schen‹ Schreibprozess entschieden hat); am ›Konvo-
pressiven Modellsituation wieder deutlich reduziert. lut 1920‹ lässt sich dieses Schreibverfahren nur gera-
Auch diese Semantisierung ist ein wesentliches Ele- dezu idealtypisch studieren.
ment des Objektivierungs- und Verselbständigungs-
prozesses: In der narrativen Entfaltung reichert sich
Parabolisches und aphoristisches Schreiben
die Ausgangsituation nicht nur mit deutungskompli- versus ›selbstbiographische Untersuchungen‹:
zierenden und daher semantisch öffnenden Details Zum werkgeschichtlichen Ort des ›Konvolut
an, sondern auch mit einer reflexiven Komponente. 1920‹
So führt etwa in <Der Steuermann> das Verhalten
der Mannschaft zu folgendem Vorwurf des Ich-Er- Um das ›Konvolut‹ werkgeschichtlich einzuordnen,
zählers, der am Ende des Textes (oder Fragmentes?) ist ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der mitt-
steht: »Was ist das für ein Volk! Denken sie auch leren Werkphase nötig. Hier hatte sich, kulminierend
oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?« (324). in den Texten der Landarzt-Zeit, eine Schreibvariante
Der letzte, nachträglich hinzugefügte Satz der Kurz- herausgebildet, die sich, wie unzureichend auch im-
prosa <Der Geier > – der diese offensichtlich ab- mer, als ›Parabolisierung‹ bezeichnen ließe. Damit ist
schließt und zu einem erzählerisch in sich gerunde- nicht nur eine die früheren Texte des mittleren Wer-
ten Ganzen macht – lautet: »Zurückfallend fühlte ich kes noch überbietende Reduktion realistischer Ele-
befreit wie er [der Geier] in meinem alle Tiefen fül- mente gemeint, sondern auch eine weitere Verallge-
lenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar er- meinerung des Aussagegestus. Nicht Individual-
trank« (330). schicksale stehen hier im Zentrum, sondern
Das erste Textende ließe sich leicht anschließen an Gemeinschaftsordnungen und eine Zeitdiagnostik,
die Opposition zwischen ›sinnlicher‹ und ›geistiger‹ die auf dem Gegensatz zwischen den »alten großen
Welt, die die Zürauer Aphorismen entfaltet hatten Zeiten« und der Moderne basiert (ä 502–508). Daher
(ä 288 f.). Damit entfernt sich <Der Steuermann> sind biographie- oder auch nur lebenswelt-affine
deutlich von einer rein autobiographischen Expres- Konstellationen auf der Textoberfläche kaum mehr
sion und wird zu einem anthropologischen Statement auszumachen – man vergleiche etwa Das Urteil oder
in nuce. Umgekehrt ist die Semantik von <Der Geier> Die Verwandlung mit In der Strafkolonie oder Beim
durch den Textschluss eher Biographie-näher gewor- Bau der chinesischen Mauer. Mit den Zürauer Apho-
den: Durch die Nivellierung der Opposition von Sie- rismen erreicht diese Entwicklungstendenz in der ers-
ger und Besiegtem – der Geier wird mit seinem Opfer ten Phase des späten Werkes ihren Höhepunkt.
sterben – ist die Zusammengehörigkeit der Antago- Im ›Konvolut 1920‹ lässt sich nun sehr deutlich
nisten klar markiert. Und da die Blut-Metapher eine ein Nebeneinander unterschiedlicher Schreibweisen
relativ eindeutige Lebens- und Vital-Semantik auf- beobachten – wobei sich, anders als im obigen Zitat
weist, ist der Aggressor ›Geier‹ als Vertreter des a-vi- von den Herausgebern behauptet, keine einfache li-
talen Prinzips ausgewiesen, konkret also als Vertreter neare Entwicklungstendenz ausmachen lässt. In den
des a-vitalen Ich-Bestandteils, der sich bei Kafka im ersten Einträgen dominiert das bisher beschriebene
lebensfernen ›Autor‹ konkretisiert. Der Anwendungs- Biographie-nahe Erzählen, was sich sowohl aus dem
spielraum des Bildes ist so stark verengt worden – Schreibanlass für das ›Konvolut‹ in der Beziehungs-
viele Lebenssituationen auf die es in dieser Spezifität krise wie auch aus dem Zusammenfall von literari-
anwendbar wäre, lassen sich kaum vorstellen. scher und diaristischer ›Buchführung‹ erklärt.
Die unterschiedliche Reflexionsrichtung der bei- Das ändert sich, sehr plötzlich, schon um den
den Texte, die mal ins abstrakt Weltanschauliche, 28./29. August. Anlass für den Wechsel des Schreib-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 351

paradigmas könnte die Lektüre eines Artikels von <Nachts> emphatisch bekräftigte Sozialfunktion des
Bertrand Russell im Prager Tagblatt vom 25. August Dichters als nächtlicher ›Wächter‹ in einer rund zwei
mit dem Titel Aus dem bolschewistischen Rußland Monate später geschriebenen Notiz radikal in Frage:
gewesen sein, den Kafka in zwei Briefen an Milena Ein Wächter! Ein Wächter! Was bewachst Du? Wer hat
kommentiert hat (30.8. u. 7.9.1920; BM 238 u. 257). Dich angestellt? Nur um eines, um den Ekel vor Dir
Jedenfalls re-aktiviert Kafka nun nicht nur die The- selbst bist Du reicher als die Mauerassel, die unter dem
matik von Gemeinschaftsordnung und Zeitdiagnos- alten Stein liegt und wacht (340).
tik aus der späten Phase des mittleren Werkes, son- Doch schon der nächste Eintrag lässt diese Selbst-
dern auch seine emphatische Auffassung vom Dich- zweifel als fruchtlos und destruktiv erscheinen:
tertum. Gestaltet wird sie im prosalyrischen Kurztext Erreiche es nur Dich der Mauerassel verständlich zu ma-
<Nachts> (NSF II, 260 f.; ca. 29.8.), wo Kafka sich chen. Hast Du ihr einmal die Frage nach dem Zweck ih-
zum »Wächter« über die der »Nacht« ausgesetzten res Arbeitens beigebracht, hast Du das Volk der Asseln
»Menschen« stilisiert (zur Interpretation ä 496 f.). Es ausgerottet (340).
folgen eine Reihe von Kurztexten, die das Sozialmo- Eine eindeutige Entwicklungstendenz ist so im ›Kon-
dell ›China‹ aus Beim Bau der chinesischen Mauer volut 1920‹ nicht auszumachen. Einige Zeit nach
(März 1917; NSF I, 337–357) aufgreifen: <Die Ab- dem Schreibabbruch findet sich aber eine Notiz, der
weisung > (261–268 u. 278 f.; wohl 29. u. 31.8.), Zur man schon des Öfteren programmatischen Charak-
Frage der Gesetze (270–273; wohl 30.8.) und <Die ter zugesprochen hat:
Truppenaushebung > (273–277; wohl 30.8.; zur Inter- Das Schreiben versagt sich mir. Daher Plan der selbst-
pretation der drei Texte ä 505–507). Auch die wenig biographischen Untersuchungen. Nicht Biographie, son-
später geschriebenen Kurztexte <Gemeinschaft > dern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner
(313 f.; erste Hälfte Sept.) und <Das Stadtwappen> Bestandteile. Daraus will ich mich dann aufbauen so wie
einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres
(318 f. u. 323; ca. 14.9.; ä 507 f.) thematisieren Sozial-
aufbauen will, womöglich aus dem Material des alten.
konstellationen. Schlimm ist es allerdings wenn mitten im Bau seine
Diese Re-Aktivierung des parabolisierenden Kraft aufhört und er jetzt statt eines zwar unsichern aber
Schreibens bedeutet jedoch keinen generellen Para- doch vollständigen Hauses, ein halbzerstörtes und ein
digmenwechsel. Beide Schreibweisen finden sich halbfertiges hat, also nichts (NSF II, 373).
von nun an nebeneinander und überschneiden sich Die Datierung des Notats ist äußerst unsicher. Ver-
mitunter auch – etwa in <Poseidon> (300–302; mutlich stammt es aus einer kurzen und wenig
1. Hälfte Sept.; ä 358 f.), <Kleine Fabel > (343; ca. produktiven Phase von Schreibversuchen aus dem
24.10.; ä 359 f.) und <Der Kreisel > (361 f.; ca. Mitte Februar 1921, die in den langen Kuraufenthalt in
Dez.; ä 359), wo sich ein (zumindest wahrscheinli- Matliary fällt (18.12.1920–26.8.1921; ä 22 f.); es ist
cher) autobiographischer Ausgangspunkt und welt- allerdings auch hier nicht auszuschließen, dass der
anschaulich-anthropologische Verallgemeinerung Schreibertrag nur deshalb so spärlich erscheint, weil
miteinander verbinden. Kafka wieder einmal Texte vernichtet hat. Erhalten
Und auch die dritte, aphoristische Schreibweise sind jedenfalls nicht mehr als sieben kurze Heftein-
fehlt im ›Konvolut 1920‹ nicht. Bezeichnenderweise träge (NSF II, 373–376), darunter die von Brod spä-
hat Kafka ja acht Texte daraus in das ›Zettelkonvolut‹ ter verselbständigte Kurzprosa <Der Aufbruch>
seiner Zürauer Aphorismen aufgenommen (ä 282). (374). Aus der Matliary-Zeit stammt ansonsten nur
Die tatsächliche Zahl von aphoristischen Texten im noch der Kurzbericht über die Bilderaustellung eines
weitesten Sinne – teils dem weltanschaulichen-an- Mitpatienten, betitelt Aus Matlárháza (ung. für Mat-
thropologischen Muster der Zürauer Aphorismen liary; DzL 443), der am 23. April 1921 ohne Verfas-
folgend, teils dem der eher selbstreflexiven <Er >- serangabe in der Karpathen-Post erscheint.
Aphorismen (ä 282 f.) – ist aber wesentlich höher Aber selbst wenn die Datierung unzutreffend und
(vgl. etwa NSF II, 252 f., 254, 312, 320, 321, 322, 332, die Notiz nicht wirklich programmatisch sein sollte
333, 334, 339, 340, 341 f., 344, 347, 348, 354, 355). (das neue Schreibprogramm wird ja, typisch für
Der werkbiographische Ort des ›Konvolut 1920‹ Kafka, gleich im nächsten Satz wieder in Zweifel ge-
wird durch eben dieses unentschiedene Nebenein- zogen) – die Formel von den kleinteiligen ›selbstbio-
ander der Schreibweisen und zugehörigen Autoren- graphischen Untersuchungen‹ beschreibt die weitere
Rollen bestimmt, die mitunter auch in Konflikt mit- Werkentwicklung auf jeden Fall durchaus treffend.
einander geraten können. So stellt Kafka etwa die in Denn sie impliziert eine Entscheidung zwischen den
352 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

drei Schreibstilen des ›Konvoluts‹, die tatsächlich die Distanz spendet literarisches Schreiben einen ›ge-
letzten beiden Schreibzeiten des späten Werkes prä- heimnisvoll‹-unerklärbaren, ›erlösenden‹ »Trost«,
gen wird: Allgemein weltanschaulich-anthropolo- dessen ›Gefahr‹ eben in der Entfernung vom Leben
gisch orientierte Texte werden selten, noch seltener liegt, die Literatur für Kafka generell bedeutet: Eine
wird vom Stilmittel des aphoristischen Schreibens literarische Existenz macht den Schreibenden zum
Gebrauch gemacht. Statt dessen dominieren Texte »Bürger« in einer »andern Welt, die sich zur ge-
mit einer erkennbar autobiographischen Grundie- wöhnlichen Welt verhält wie die Wüste zum acker-
rung, die allerdings zugleich einer extremen, quasi- bauenden Land« (28.1.1922; T 893). Die Tagebuch-
parabolischen Verallgemeinerung unterliegen. einträge aus Spindelmühle thematisieren immer
wieder den Gegensatz dieser zwei ›Welten‹, aber
(3) Schloss-Jahr 1922 auch ihre fast noch bedrohlichere, da den Verlust je-
der Realitätskontrolle indizierende »Vermischung«
Die Schreibphase setzt etwa gleichzeitig mit dem Be- (29.1.1922, T 894–896; vgl. auch: 22.3., T 913), zu
ginn der Arbeit am Schloss kurz nach der Ankunft der ja gerade die ›selbstbiographischen Untersu-
im Kurort Spindelmühle ein (27.1.1922; der Aufent- chungen‹ verführen.
halt dauert bis zum 17.2.), begleitet diese bis zu ih- In den knapp acht Monaten der Arbeit am Schloss-
rem Abbruch (ca. 20.8.) und wird darüber hinaus, in Roman entstehen zahlreiche Fragmente und zwei
Prag und während eines Urlaubs in Planá (23.6.- abgeschlossene Erzählungen, die später in den Hun-
18.9.), bis Mitte Dezember fortgesetzt. In NSF II um- gerkünstler-Band übernommen werden: Erstes Leid
fasst das Textkorpus die Nummern 10–23 (363–542), (DzL 317–321; vermutl. März 1922) und Ein Hun-
wobei einige der Hefte allerdings auch eine Reihe äl- gerkünstler (NSF II, 384–400, DzL 333–349; um
terer Notate enthalten. 23.5.1922). Aus dem Textkorpus der Zeit hat Brod
Eingeleitet wird die Schreibphase durch einen nur eine einzige (fragmentarische?) Kurzerzählung
vielzitierten Tagebuch-Passus über den »Trost« lite- verselbständigt: <Fürsprecher > (NSF II, 377–380;
rarischen Schreibens: Frühjahr 1922). Unter den Fragmenten verdienen
besondere Beachtung <Der Ritt der Träume> (NSF
Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher,
II, 383 f.; wohl Mai 1922), Das Synagogentier (NSF II,
vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinaus-
springen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, 405–411, Titel 414; wohl Ende Mai/Anf. Juni 1922)
Tat – Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobach- und die wahrscheinlich in Planá entstandenen, nur
tung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und in einer Abschrift Max Brods erhaltenen Bilder von
je höher sie ist, je unerreichbarer von der »Reihe« aus, der Verteidigung eines Hofes (NSF II, 495–504; Ende
desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Geset-
zen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freu- Juni 22).
diger, steigender ihr Weg (27.1.1922; T 892). In den rund vier Monaten nach Abbruch des
Schloss-Romans – also etwa zwischen dem 20. Au-
Diese Aufzeichnung lässt sich sehr gut sowohl an die gust und Mitte Dezember – verfolgt Kafka zwei grö-
obige Beschreibung des ›Konvolut 1920‹ wie an das ßere Arbeitsprojekte: die <Forschungen eines Hun-
Projekt der ›selbstbiographischen Untersuchungen‹ des> (NSF II, 460–482 u. 485–491; wohl. 18. Sept. bis
anschließen. Hier wird eben der Objektivierungs- Ende Okt. 1922; ä 3.3.5 u. 489–493) und Das Ehe-
prozess beschrieben (vgl. auch T 834; 19.9.1921), der paar (NSF II, 516–524 u. 534–541; Okt./Nov., viel-
an den Texten des ›Konvoluts‹ herausgearbeitet leicht auch Anf. Dez. 1922; ä 360 f.). Aus den Frag-
wurde: Literarisches Schreiben folgt – in seiner menten und Kurztexten der Zeit hat Brod außerdem
freien narrativen Entfaltung, die für Kafka idealiter noch Ein Kommentar (unter dem Herausgebertitel
die eines ›organischen‹ Wachstums ist (19.12.1914; <Gibs auf! >; NSF II, 530; Nov. 1922; ä 361–363) und
T 711) – »eigenen« und nicht vorhersagbaren »Ge- <Von den Gleichnissen> (NSF II, 531 f.; Nov. 1922;
setzen der Bewegung«. Je mehr dies gilt, desto weiter ä 363–365) als eigenständige Werke publiziert.
entfernen sich auch ›selbstbiographische Untersu- Im Zentrum der Schreibphase steht zunächst na-
chungen‹ in literarischer Form von zwanghafter türlich Das Schloss, Kafkas letzter Versuch in der
(mentaler wie diaristischer) Selbstbeobachtung und Großform ›Roman‹. Schon allein die Wahl des Gen-
Selbstreflexion (vgl. auch: 16.1., T 877; 9.3., T 910; res und der Entwurf eines sehr komplexen, aus vie-
16.3., T 912) und erreichen so eine »höhere Art der len Personen (mit teilweise breit entfalteten Biogra-
Beobachtung«. Wegen der dadurch gewonnenen phien) bestehenden Gemeinschaftsmodells führen
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 353

dazu, dass der Text weit über eine bloße Individual- Umfeld oft extrem kurz ausfallen (z. B. NSF II, 492–
geschichte hinausreicht. Dennoch ist der ›selbstbio- 494, 513–516). Im kleineren Rahmen der Erzählung
graphische‹ Ausgangspunkt hier deutlicher greifbar zielen die <Forschungen> von ihrem ›selbstbiogra-
als in den anderen Romanfragmenten – nicht um- phischen‹ Ausgangspunkt sogar noch deutlicher ins
sonst hat Kafka den Text zunächst in der Ich-Form Weltanschaulich-Anthropologische als das Schloss.
geschrieben (die auch sonst im gesamten späten Das Ehepaar und die später entstandenen Texte Ein
Werk quantitativ sehr deutlich dominiert). Kommentar und <Von den Gleichnissen> lassen sich
Im engeren Sinne wird das Projekt der ›selbstbio- als – mal mittelbare, mal unmittelbare – Thematisie-
graphischen Untersuchungen‹ in den parallel zum rungen und Bilanzierungen des eigenen Lebens und
Schloss entstehenden Erzählungen und Fragmenten Werkes lesen (s. »Einzelanalysen«).
fortgeführt, die nicht nur aufnehmen, was in den Insgesamt weist die Schreibphase also viele Ähn-
Roman nicht eingehen kann, sondern teilweise wohl lichkeiten mit dem ›selbstbiographischen‹ Teil des
auch als Fingerübungen dienen, um den Schreibfluss ›Konvolut 1920‹ auf. Der deutlichste Unterschied
beim Romanprojekt wieder in Gang zu bringen. Ers- liegt wohl darin, dass Kafka nun wieder umfangrei-
tes Leid und Ein Hungerkünstler verhandeln, ganz of- chere Erzählformen anstrebt.
fensichtlich, die Problematik einer lebensfernen
Künstlerexistenz unter dem Generalthema der (4) Berlin (und Prag)
›Rechtfertigung‹. Auch <Der Ritt der Träume> trägt
deutlich selbstreflexive Züge. Offen bleiben muss da- Für die Berliner Zeit Kafkas (24.9.1923 – 17.3.1924)
gegen, ob der »Kommandant« in Bilder von der Ver- sind größere Textverluste so gut wie sicher (ä 517).
teidigung eines Hofes, der auf »Zetteln« »die Anord- Daher müssen alle Aussagen über diese Schreib-
nung für die Verteidigung« niederschreibt (NSF II, phase noch stärker als sonst unter dem Vorbehalt
496, 495), wirklich nur ein Bild für den Autor ist, der stehen, dass sie eben nur auf der Basis der erhaltenen
das eigene Schreiben (am Schloss?) gegen den Lärm Texte getroffen werden können.
(496 f., 498) schützen will (wie die Herausgeber der In NSF II findet sich das Textkorpus dieser Mo-
Kritischen Ausgabe annehmen; NSF II:A, 118). Das nate unter den Nummern 24–28 (545–678). Vollen-
ungewöhnlich vielgestaltige Personal des Textes lässt det wurden nur die später in den Hungerkünstler-
eher einen umfassenderen anthropologischen Ent- Band aufgenommenen Erzählungen Eine kleine Frau
wurf mit vielfältigen Ich-Instanzen vermuten, der (NSF II, 634–646, DzL 321–333; zwischen Ende Nov.
durchaus über die Problematik der Künstlerexistenz 1923 und Januar 1924) und Josefine, die Sängerin
hinausweisen könnte. Jedenfalls hat aber das oder Das Volk der Mäuse (NSF II, 651–678, DzL 350–
›Verteidigungs‹-Motiv eine eindeutig ›selbstbiogra- 377; Mitte März bis Anf. Apr. 1924, nach der Rück-
phische‹ Grundlage – über nur vage konturierte ›An- kehr von Berlin nach Prag). Verselbständigt hat Brod
griffe‹ von mehreren Seiten wird in den Tagebuch- den Kurztext <Heimkehr > (NSF II, 572 f.; wohl Nov.
eintragungen des Jahres 1922 häufig geklagt (vgl. 1923) und die lange Erzählung <Der Bau> (576–632;
T 894, 903, 910, 912, 922, 924, auch: NSF II, 532). zwischen 23. Nov. 1923 und Ende Jan. 1924; ä 3.3.6
Für viele der übrigen Fragmente sind Selbstrefle- u. 509–511). Auffällig ist außerdem ein fragmen-
xivität bzw. biographische Situation als Ausgangs- tarisches Paralipomenon zum Hungerkünstler
punkt so mindestens wahrscheinlich, wenn auch – (<Menschenfresser >-Fragment; 646–649, ca. März
wegen geringerer Kontextinformationen und diffu- 1924; vgl. NSF II:A, 149), das möglicherweise zu ei-
serer lebensgeschichtlicher Situation – nicht mehr so ner Parallel- und Kontrastgeschichte hätte entwickelt
klar zu identifizieren wie im ›Konvolut 1920‹. In Das werden sollen. Daneben finden sich zahllose Kurz-
Synagogentier etwa liegt ein Bezug auf Kafkas ›west- fragmente, die meist weniger als eine Druckseite
jüdische‹ Existenzproblematik (ä 499–502) durchaus umfassen.
nahe. Generell gilt jedoch, dass die meisten Frag- Man sollte eigentlich meinen, dass der wahrhaft
mente zu wenig entfaltet sind, um auch nur Ansätze dramatische Wechsel der Lebensumstände – Kafka
zu Interpretationen entwickeln zu können. hat nicht nur Prag und das Elternhaus hinter sich ge-
Ein ähnlicher Befund ergibt sich auch für die lassen, sondern lebt zum ersten Mal (und, soweit wir
Nach-Schloss-Zeit. Nur dominieren hier die Groß- wissen, glücklich und harmonisch) mit einer Frau
projekte <Forschungen> und Ehepaar noch stärker, zusammen – ähnlich dramatische Veränderungen in
was sich schon daran zeigt, dass die Fragmente im der Thematik, vielleicht ja sogar in der Schreibweise
354 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

bewirkt hätte. Von beidem finden sich jedoch prak- Mythenkontrafakturen im Umfeld
tisch keine Spuren. der Zürauer Aphorismen
Die neue Lebensgemeinschaft mit Dora Diamant
ist vielleicht im Kurzfragment »Sie schläft« themati- <Die Wahrheit über Sancho Pansa>, <Das Schweigen
siert (NSF II 545, wohl Ende Sept. 1923; vgl. auch der Sirenen> und <Prometheus> stehen im Oktav-
547, 573 u., mittelbarer, 575 f., 649 f.). Und natürlich heft G, mitten zwischen den Zürauer Aphorismen;
tauchen Reflexe der neuen Berliner Lebensumge- zusammen mit <Eine alltägliche Verwirrung > (NSF
bung auf (NSF II:A, 136–139; z. B. NSF II, 561, II, 35 f.) sind es die einzigen eindeutig literarisch-er-
567 f.). Häufiger stößt man aber auf Ausgangssituati- zählenden (parabolischen) Texte unter den ansons-
onen, die wie Kindheitsreminiszenzen anmuten, je- ten aphoristischen Notaten. Was sie mit diesen am
denfalls retrospektiven Charakter haben, etwa: »Es offensichtlichsten verbindet, ist das Verfahren der
war nach dem Abendessen …« (549 f.), »Es ist ein ›Kontrafaktur‹, also die freie Nutzung von Inhalten
kleiner Laden, […] ein Wäschegeschäft …« (554– wie formalen Elementen der Ausgangstexte zu eige-
556), »Es ist meine alte Heimatstadt …« (561; vgl. nen Ausdruckszwecken. Genauso wie die Aphoris-
auch 562 f. u. <Heimkehr >, 572 f.), »Ich stehe vor men traditionelle Theoreme und Mythologeme in
meinem alten Lehrer …« (562). entstellter Form zur Formulierung eigener Gedan-
Wieder sind die meisten der Fragmente zu wenig ken verwenden – wie Kafka sagt: »fremde« »Waffen«
entfaltet, um auch nur halbwegs sichere Aussagen aus dem gemeinsamen »Waffenvorrat« zum eigenen
über sie zu machen. Insgesamt aber zeigen sich we- »Kampf« benutzen (29; 19.10.1917) –, so wird auch
der im thematischen noch im formalen Bereich in diesen drei Texten in produktiver Anverwandlung
signifikante Veränderungen gegenüber der vorange- auf vorgegebene Mythen zurückgegriffen. Es ist
henden Schreibphase. Auch im letzten Teil des kaum nachvollziehbar, dass auch in neueren Publi-
späten Werkes dominieren ›selbstbiographische Un- kationen noch von »Parodien des Mythos« gespro-
tersuchungen‹ im Sinne parabolisch verallgemeiner- chen wird (etwa Alt 2005, 572), da Kafka offensicht-
ter und umfangreicher dimensionierter Lebensbi- lich nicht auf eine Kritik der Prätexte durch Komi-
lanzen. sierung abzielt. Ebenso wenig geht es ihm um eine
systematische Auseinandersetzung mit dem Mythos
– was schon die ebenso beschränkte wie eklektische
Einzelanalysen Wahl der Bezugstexte belegt. Im Kontext der Oktav-
hefte handelt es sich ganz einfach um Hybridbildun-
Die im Folgenden behandelten acht Kurztexte des gen zwischen den aus der Spätphase des mittleren
späten Werkes haben in der Forschung unterschied- Werkes vertrauten ›Registern‹ parabolischen Erzäh-
liche Aufmerksamkeit erfahren; einige wie <Das lens und der neuen kontrafaktischen Schreibweise
Schweigen der Sirenen> und <Von den Gleichnissen> der Zürauer Aphorismen, nach deren Funktion je-
gehören zu den meistinterpretierten Kafka-Schrif- weils im Einzelfall zu fragen ist.
ten, andere (wie Das Ehepaar) wurden dagegen
kaum untersucht. Noch über das Erscheinen von
< Die Wahrheit über Sancho Pansa>
NSF II im Jahre 1992 hinaus jedoch behandelten die
Interpreten all diese Texte zumeist einfach als eigen- Auf Miguel de Cervantes Saavedras Roman Don
ständige Werke. Hier soll stattdessen versucht wer- Quijote (1605 u. 1615) wird im Oktavheft G dreimal
den, immer auch ihre Relation zum Ko-text mitzu- Bezug genommen (spätere Erwähnungen: An Ro-
bedenken. Natürlich wird dieser nur für den Positi- bert Klopstock, Juni 1921, Briefe 333; NSF II, 418,
visten die Textdeutung eindeutig determinieren. Er Sommer 1922). Zunächst am 19. Oktober 1917 in ei-
ist aber auf jeden Fall von produktionsästhetischem nem aphoristischen Notat (I):
(also kreationspsychologischem) Interesse; für his-
Das Unglück Don Quijotes ist nicht seine Phantasie,
torisch orientierte Interpreten kann er darüber hin- sondern Sancho Pansa (NSF II, 32),
aus oft auch als ein limitierender (also die Deutungs-
fülle beschränkender) Faktor fungieren. dann am 21. Oktober mit dem Kurztext, den Max
Brod unter dem Titel <Die Wahrheit über Sancho
Pansa> veröffentlicht hat (II; 38). Am Frühmorgen
des nächsten Tages, um »fünf Uhr nachts«, fügt
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 355

Kafka schließlich als unmittelbar nächsten Eintrag entworfene Doppelversion einer Autorenexistenz er-
<Don Quijotes Selbstmord> hinzu (III; 38 f.). innert von fern an Freuds Auffassung vom Dichter
Liest man die drei Texte im Zusammenhang, so (Der Dichter und das Phantasieren, 1908): Als
fällt sofort auf, dass die Neubewertung (I), Umdich- Schriftsteller kann Kafka die ›teuflische‹ Seite seines
tung (II) und Weiterdichtung (III) einander direkt Wesens in literarisch abgespaltenen fiktionalen Fi-
widersprechen. (I) ist eine einfache Umkehrung der guren ausleben und diese zugleich von außen und
Bewertung im Prätext (die ihre Vorbilder in der ro- existenziell ungefährdet beobachten. Damit greift er
mantischen Don Quijote-Rezeption hat). Sie fügt eine Vorstellung auf, die ebenfalls schon im oben er-
sich genau ein in den argumentativen Kontext der wähnten Brief an Felice Bauer entfaltet wurde
benachbarten Aphorismen, die Kritik üben an der (30.9.1917; B14–17 333). Einen Schlüsselpassus dar-
»menschlichen Hauptsünde« der »Ungeduld« (32 f.); aus hatte Kafka am 1. Oktober in seinem Tagebuch
dieser verfällt auch Sancho Pansa, wenn er sich ein- notiert (T 839 f.) und am 7./8. Oktober auch Max
seitig an der ›sinnlichen Welt‹ orientiert. Brod in einem Brief mitgeteilt (B14–17 342 f.). Hier
Auch in (II) wird der aphoristische Argumentati- die wichtigsten Formulierungen aus dem Felice-
onskontext nicht verlassen, wohl aber das Genre und Brief in der Exzerptfassung des parallel zum Oktav-
der Anwendungsbereich. Im vorausgehenden Ko- heft G geführten Tagebuchs:
text geht es um das ›Teuflische‹ oder ›Böse‹ und des- Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt
sen – täuschende oder tatsächliche – Affinität zum sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe ein guter
›Guten‹ (36–38): Die Orientierung an der ›sinnli- Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu ent-
chen Welt‹ kann dazu führen, sich in ihr zu verlieren sprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Men-
schen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre
– aber auch dazu, in ihr ein ›gerechtfertigtes‹, sozial grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu
verantwortliches Leben zu führen (wie etwa in der erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen
Gründung einer Familie). Das schafft für Kafka of- und mich in ihrer Richtung möglichst bald dahin zu ent-
fensichtlich eine assoziative Verbindung zur Kunst- wickeln, daß ich durchaus allen wohlgefällig würde und
zwar […] so wohlgefällig, daß ich […] schließlich, als
Lebens-Problematik und damit auch zur Beziehung der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir in-
zu Felice Bauer. Im Briefwechsel mit ihr hatte er am newohnenden Gemeinheiten, offen, vor aller Augen aus-
30. September 1917 eben diese Vertauschung von führen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur
›Gut‹ und ›Böse‹ bereits thematisiert (B14–17 333 f.). auf das Menschengericht an und dieses will ich überdies
Solche Assoziationen dürften ihn dazu veranlasst betrügen, allerdings ohne Betrug (T 839 f.).
haben, das kürzlich verwendete Don Quijote-Motiv In der Brief-Version ist so zwar das ›Menschen-Ge-
neu zu akzentuieren. richt‹ zu täuschen, nicht aber das ›höchste Gericht‹.
<Die Wahrheit über Sancho Pansa> entwirft ein Dass Kafka diese Einschränkung in <Die Wahrheit
für Kafka ungewöhnlich positives Bild einer Künst- über Sancho Pansa> fallen lässt, mag mit dem Neu-
lerexistenz. Hier ist nicht mehr Sancho Pansa das entwurf einer weniger selbstbezogenen und ›kunst-
Unglück Don Quijotes (wie im Aphorismus), son- metaphysischen‹ Autorenrolle zusammenhängen,
dern Don Quijote das Glück Sancho Pansas. Denn für die die Zürauer Aphorismen stehen.
diesem gelingt es, in Kafkas Version der Geschichte, Diese Positivierung bleibt freilich nur für wenige
»seinen Teufel, dem er später den Namen Don Qui- Stunden gültig. Um »fünf Uhr nachts« – also ent-
chote gab«, »durch Beistellung einer Menge Ritter- weder am Ende der Arbeitsnacht oder, wahrschein-
und Räuberromane« »in den Abend- und Nacht- licher, gleich nach dem Erwachen am nächsten
stunden« von sich »abzulenken«. Während Don Morgen – verfasst Kafka <Don Quijotes Selbst-
Quijote nun »haltlos die verrücktesten Taten« voll- mord> als eine dritte Variante. Diese entwirft nun
bringt, folgt ihm Sancho »gleichmütig, vielleicht aus ein einseitig negatives Bild der Autorenexistenz,
einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl«, und hat das ganz dem Grundtenor des Felice-Briefwechsels
»davon eine große und nützliche Unterhaltung bis entspricht. Hier dichtet Kafka Cervantes’ Roman
an sein Ende« (38). sozusagen weiter, indem er eine neue ›Tat‹ des Hel-
Wie häufig bei Kafka sind hier Sancho Pansa und den erfindet: seinen »Selbstmord«. Da Don Quijote
Don Quijote sicher als unterschiedliche Aspekte des als bloße Papier-Existenz aber nicht wirklich ›le-
gleichen Ich zu verstehen. Da Don Quijote ganz in bendig‹ ist (vgl. auch An M. Brod, 5.7.1922; Briefe
seiner Lektürewelt lebt, ist er ein geradezu idealer 385), kann sein Selbstmordversuch nur grotesk
Repräsentant für das Autoren-Ich. Die so im Text missglücken:
356 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Der tote Don Quichote will den toten Don Quichote tö- Die erste beruht im Wesentlichen auf der direkten
ten; um zu töten, braucht er aber eine lebendige Stelle, Umkehrung eines Zentralmotivs des Prätextes:
diese sucht er nun mit seinem Schwerte ebenso unauf-
hörlich wie vergeblich. Unter dieser Beschäftigung rol- Odysseus, den wir als den grenzenlos ›Listenreichen‹
len die zwei Toten, als unauflöslicher Purzelbaum, durch kennen, besiegt hier die Sirenen durch grenzenlose
die Zeiten (NSF II, 38 f.). Naivität. Er vertraut auf seine »Mittelchen« – Wachs
zum Verstopfen der Ohren und Ketten zum Fest-
<Die Wahrheit über Sancho Pansa> ist also Teil einer schmieden am Mast –, obwohl deren Zwecklosigkeit
komplexen Text- und Reflexionsbewegung. Durch allgemein bekannt ist: »Der Gesang der Sirenen
Assoziationen auf den alten Kunst-Lebens-Dualis- durchdrang alles, gar Wachs, und die Leidenschaft
mus zurückgeführt, greift Kafka bei dessen Darstel- der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast ge-
lung auch eine ›alte‹ Schreibweise auf – die der Para- sprengt« (40). Dass Odysseus hier auch das Wachs
bel – und verknüpft sie mit dem eben noch im für sich selbst verwendet – während sein Homeri-
›neuen‹ aphoristischen Schreiben verwendeten Don sches Vorbild nur die Ohren seiner Gefährten ver-
Quijote-Motiv und einer positivierten Autoren- stopft, da er selbst den Gesang ja hören will –, ist eine
Rolle. Mit der Schreibweise kehrt aber (kurz darauf) von zahlreichen kleineren Abweichungen vom Prä-
auch die Negativierung der Autorenexistenz zurück, text, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen
die das mittlere Werk bestimmte. werden kann.
Das spricht, wohlgemerkt, nicht kategorisch dage- Eigentlich ist Kafkas Odysseus in einer ausweglo-
gen, <Die Wahrheit über Sancho Pansa> als einen ei- sen Situation: Gegen den Gesang der Sirenen hilft
genständigen Text zu behandeln, der ebenso gelun- kein Mittel. Und selbst wenn er ihm doch irgendwie
gen wie literarisch in sich geschlossen ist. Für den an entgehen könnte, verfiele er der zweiten, »noch
der Autor-Intention interessierten Interpreten liefert schrecklicheren Waffe« der Sirenen: ihrem Schwei-
das Wissen um den Ko-text jedoch wichtige Hin- gen. Denn ein durch Ausbleiben des Gesanges er-
weise zur Interpretation. So werden die von Brod langter Scheinsieg über die Sirenen würde zum »Ge-
verselbständigten Texte, ganz generell, durch unser fühl« führen, diese »aus eigener Kraft […] besiegt zu
neues Wissen um ihren handschriftlichen Entste- haben« – und damit zu einer »alles fortreißenden
hungszusammenhang zwar ko-textuell eingebun- Überhebung« (›Hybris‹), die Odysseus nur umso si-
den, aber trotzdem nicht einfach ihrer Eigenständig- cherer vernichten würde (40).
keit beraubt. Tatsächlich setzen die Sirenen diese zweite Waffe
ein – vielleicht, wie der Erzähler vermutet, weil sie
Odysseus für einen besonders gefährlichen Gegner
< Das Schweigen der Sirenen>
halten, vielleicht aber auch, weil »der Anblick der
Zur Deutung dieses am 23. Oktober 1917 niederge- Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an
schriebenen Textes (NSF II, 40–42) haben bisherige nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte«, sie
Interpreten gerne auf die verschiedensten philoso- sprachlos (also gesang-los) macht (41).
phischen Helfer zurückgegriffen (Adorno/Horkhei- Doch Odysseus übersteht auch diese Gefahr: Mit
mer, Benjamin, Blanchot, Derrida, Foucault, Lacan, seinen verstopften Ohren und im Bewusstsein seiner
Lévi-Strauss, de Man, Watzlawick etc.) – und dabei Unangreifbarkeit überhört er sozusagen das Schwei-
beträchtlichen Tiefsinn erzeugt. Dass Kafkas My- gen der Sirenen: Er glaubt, dass sie tatsächlich sän-
thenkontrafaktur in der Tat vielfältig deutbar ist, gen, seine »Mittelchen« ihn aber zuverlässig schüt-
lässt sich schon aus der Textanalyse plausibel be- zen würden. Damit hat das ›Exemplum‹ den voran-
gründen. gestellten Lehrsatz buchstabengenau bewiesen: Dank
Kafka hat seine Neugestaltung der Sirenen-Epi- seiner grenzenlosen Naivität wird Odysseus durch
sode aus Homers Odyssee (XII, 39–54 u. 154–200) »unzulängliche, ja kindische Mittel« (40) gerettet.
als Exemplum gestaltet, das eine der eigentlichen Er- Die zweite Version der Geschichte – die angeblich
zählung vorangestellte Behauptung (›propositio‹) in einem »Anhang« zur ersten »überliefert« wurde
beweisen soll: »Beweis dessen, daß auch unzulängli- (41) – kehrt zur traditionellen Vorstellung vom gren-
che, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können« zenlos listenreichen Odysseus zurück. In dieser Fas-
(40). Erzählt werden zwei Varianten des Mythos, die sung ist seine Naivität nur gespielt: Er hat »gemerkt,
sich vor allem in der Erklärung von Odysseus’ Ver- daß die Sirenen schwiegen und […] ihnen und den
halten unterscheiden. Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewisserma-
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 357

ßen als Schild entgegengehalten« (42). Auch diese Wiederum läge so also eine Positivierung der Au-
Variante beweist den Ausgangssatz, da der Erfolg ja toren-Existenz vor, die die des Don Quijote-Komple-
weiterhin an den Einsatz der unzureichenden »Mit- xes sogar noch übersteigt. Denn hier gelingt es Odys-
telchen« Wachs und Ketten gebunden bleibt. seus ja, auch noch das ›höchste Gericht‹ zu überlis-
Als ›Exemplums‹-Beweis für die vorangestellte ten: »Selbst die Schicksalsgöttin« vermag nicht, »in
Behauptung ist der Text damit zureichend (und sein Inneres [zu] dringen« (NSF II, 41). Liest man
einfach genug) gedeutet. Dass sich noch kein Inter- den Text auf diese Weise selbstreflexiv, so ließe sich,
pret mit dieser sozusagen textimmanenten Auflö- sozusagen als Spezialfall der Applikation, noch eine
sung begnügt hat, hat seinen guten Grund: Die weitere Anwendungsvariante erwägen: Auch die
Komplexität (und vielfache semiotische Aufladung) Mittel der religiösen Topik, die Kafka in den Zürauer
des ›Exemplums‹ übersteigt ganz offensichtlich bei Aphorismen benutzt, könnten ja naiv-gläubig ver-
weitem die banale These – niemand hätte ja je be- wendet werden, um dem ›Angriff‹ der »letzten
zweifelt, dass im Einzelfall auch »unzulängliche Frage« (NSF II, 29) zu begegnen; Kafka jedoch setzt
Mittel« »zur Rettung dienen« können (und mehr sie in inszenierter Naivität ein, indem er sie ebenso
wurde im Text nie behauptet). Das führt dazu, dass kontrafaktisch nutzt wie den Sirenen-Mythos, der ja
wir geradezu zwangsläufig versuchen, den Text als selbst in inszeniert-naiver Schreibweise verfasst ist.
Parabel zu lesen, also nach dem ›eigentlichen‹ An-
wendungsfall zur ›uneigentlichen‹ Beispielge-
< Prometheus >
schichte fragen. Prinzipiell ist jede parabolische
Auflösung berechtigt, die den zentralen Gegensatz Die letzte der drei Mythenkontrafakturen im Oktav-
›Naivität‹ – ›gespielte Naivität‹ plausibel vom Sire- heft G wird vermutlich am 16. Januar 1918 (vom Au-
nen-Fall auf eine andere, allgemeinere Ebene über- tor fehldatiert auf den 17.) geschrieben (NSF II,
tragen kann. Für eine solche Übertragung bietet 69 f.). Wieder ist ein Allsatz vorangestellt (der nach
der Text selbst aber kaum Hinweise – daher auch Abschluss des Textes niedergeschrieben und durch
der in Interpretationen so häufige Rekurs auf text- ein Verweisungszeichen an dessen Anfang verscho-
externe Sinnangebote. ben wurde; in Brods Textfassung war diese Umstel-
Bleibt man am Kontext orientiert, so wird man lung nicht vollzogen worden): »Die Sage versucht
sich zunächst daran erinnern, dass Kafka das das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem
›Sirenen‹-Motiv gut zwei Monate vorher in einer Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Uner-
Prosaskizze im Tagebuch verwendet hatte: klärlichen enden« (69). Und wieder soll der Allsatz
»Nein, laß mich, nein laß mich!« so rief ich unaufhörlich durch das folgende Exemplum bewiesen werden.
die Gassen entlang und immer wieder faßte sie mich an, Als dieses fungiert hier der Prometheus-Mythos,
immer wieder schlugen von der Seite oder über meine der in vier Versionen erzählt wird. Die erste ent-
Schultern hinweg die Krallenhände der Sirene in meine spricht im Wesentlichen – mit kleineren Variationen
Brust (10.8.1917, T 828; vgl. auch An R. Klopstock, Nov.
und unter Auslassung zahlreicher Details – der uns
1921, Briefe 362).
bekannten Geschichte. Die drei folgenden Versionen
Biographisch lässt sich dieses Fragment natürlich stellen unterschiedliche – und zeitlich immer weiter
plausibel auf das Dauer-Dilemma der Beziehung zu vom Geschehen entfernte – Schwundformen des
Felice hin auflösen, allgemeiner (und in den Kontext Mythos dar. Die auf die Ausgangsbehauptung in der
der Zürauer Aphorismen übertragen): auf die pro- Art eines ›quod erat demonstrandum‹ zurückgrei-
blematische Faszination der ›sinnlichen Welt‹, der fende Schlussformel lautet: »Blieb das unerklärliche
man nicht verfallen, der man sich in einer ›gerecht- Felsengebirge« (70).
fertigten‹ Lebensweise aber auch nicht einfach ent- Kafka interpretiert die Prometheus-›Sage‹ offen-
ziehen darf. Auf ›naive‹ Weise kann die ›sinnliche sichtlich (historisch unkorrekt) als einen ätiologi-
Welt‹ bestehen, wer – ohne Selbstüberhebung – blind schen Mythos, der die Existenz des ›Felsengebirges‹
und taub für ihre abgründigen Verlockungen blei- ›erklären‹ soll – also, so lässt sich einigermaßen plau-
ben kann. Das Mittel der inszenierten Naivität aber sibel deuten, die des in sich sinn-losen, jeder Deu-
ist wohl nur dem Schriftsteller zugänglich, der sich – tung widerstehenden Undurchdringlich-Faktischen
ähnlich wie in der Sancho Pansa-Version – nur unter oder, will man sich auf den Inhalt des Mythos einlas-
literarischem Vorbehalt auf die ›sinnliche Welt‹ ein- sen, die des unerklärbar-faktischen Leidens. Der
lässt. Mythos ›erklärt‹, indem er eine sinn-volle, da aus
358 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

menschlich (oder anthropomorph-göttlich) moti- 300–302). Unmittelbar vorher steht im ›Konvolut‹


vierten Handlungen gebildete ›Geschichte‹ erzählt. ein Fragment, das eine ganze Fülle griechischer My-
Seinen Ursprung aus einem ›Wahrheitsgrund‹ be- thologeme bündelt:
weist er gerade dadurch, dass die Geltung seiner Er-
Im Zirkus wird heute eine große Pantomime, eine Was-
klärung zeitlich begrenzt bleibt – denn dieser
serpantomime gespielt, die ganze Manege wird unter
›Grund‹ kann offensichtlich nie zur Gänze erschlos- Wasser gesetzt werden, Poseidon wird mit seinem Ge-
sen werden. Friedrich Nietzsche hätte einen solchen folge durch das Wasser jagen, das Schiff des Odysseus
Mythos eine ›apollinische‹ ›Maske‹ für einen unfass- wird erscheinen und die Sirenen werden singen, dann
baren (und deshalb dem Menschen unerträglichen) wird Venus nackt aus den Fluten steigen womit der
Übergang zur Darstellung des Lebens in einem moder-
›dionysischen‹ Urgrund genannt. nen Familienbad gegeben sein wird. Der Direktor, ein
In Falle von <Prometheus> ist der Ko-text-Bezug weißhaariger alter Herr, aber noch immer der straffe
des Textes wohl unmittelbar offensichtlich: Es han- Zirkusreiter, verspricht sich vom Erfolg dieser Panto-
delt sich um eine Metareflexion über Kafkas eigenen mime sehr viel. Ein Erfolg ist auch höchst notwendig,
das letzte Jahr war sehr schlecht, einige verfehlte Reisen
Umgang mit traditionellen Mythologemen (wie etwa
haben große Verluste gebracht. Nun ist man hier im
dem des ›Sündenfalls‹, als dessen griechisches Ana- Städtchen (300)
logon man den Prometheus-Mythos ja ansehen
könnte). Solche aus der Tradition übernommene Bil- Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei
der und Geschichten sind auch heute nicht einfach um einen der im ›Konvolut‹ so häufigen selbstrefle-
falsch oder überholt, sondern gerade darin ›wahr‹ xiven Textanfänge, der in seiner narrativen Entfal-
(und wahrer als modern rationale Erklärungsversu- tung um ein ebenfalls für das ›Konvolut‹ charakteris-
che), dass sie sich im Verlauf der Zeit als universell tisches zweites thematisches Element bereichert
gültige Sinngebungen aufgelöst und nur noch als Bil- wird: den Gegensatz zwischen den ›alten großen Zei-
der und Geschichten überlebt haben. In der (Selbst-) ten‹ und der modernen Welt des ›Familienbades‹
Rechtfertigung des gewählten literarischen Verfah- (ä 502–508).
rens und in seiner Bindung an einen ›Wahrheits- In <Poseidon> übernimmt Kafka aus diesem Frag-
grund‹ liegt wiederum eine mittelbare Positivierung ment den Bezug auf die Titelfigur – die ein erstes
des Autorbildes vor – und zwar die nachhaltigste Mal am Ende des ›Oktavheft G‹ auftauchte (NSF II,
und uneingeschränkte der Reihe. Neben ihrer je spe- 109) – und die historische Opposition von Antike
zifischen Deutbarkeit lassen sich die drei Mythen- und Moderne. In seiner Mythenkontrafaktur sind
kontrafakturen so auch als Kafkas Versuch lesen, ein die Zeitebenen aber nun direkt miteinander ver-
Autoren-Bild zu entwerfen, das dem hohen An- mischt: Poseidon ist der »Gott der Meere« – aber zu-
spruch der Zürauer Aphorismen auf weltanschau- gleich ein ›rechnender‹ und mit seinem »Amt« (301)
lich-anthropologische Grundsatzreflexionen im lite- unzufriedener Bürokrat. Diese inhaltliche wie
rarischen Medium entspricht. sprachliche Hybridisierung führt natürlich zu zahl-
reichen komischen Effekten – so etwa wenn ein
Aus dem ›Konvolut 1920‹ Meeresgott sich um eine andere, ›fröhlichere‹ Arbeit
›bewirbt‹, sich auf Dienstreisen zu Jupiter begibt, etc.
Von den zahlreichen Texten, die Max Brod aus dem Komisch ist auch, dass ausgerechnet der Gott des
›Konvolut‹ herausgelöst hat, werden <Nachts> Meeres – das topisch (und besonders im Zeitumfeld
(ä 496 f.) und die vier einen Bezug zwischen der Mo- der Jahrhundertwende und der Lebensphilosophie)
derne und den ›alten Zeiten‹ herstellenden Kurzer- als das unberechenbare Lebenselement schlechthin
zählungen <Die Abweisung >, Zur Frage der Gesetze, gilt – als trockener, lebensverfehlender Verwalter
<Die Truppenaushebung > und <Das Stadtwappen> und Rechner gezeichnet ist, der sich die Er-fahrung
(ä 505–508) in anderen Artikeln des Handbuchs be- seines Herrschaftsraumes für den »stillen Augen-
handelt. Hier kann nur auf zwei weitere, wiederum blick« aufspart, der sich kurz vor dem »Weltunter-
stark parabolische Texte eingegangen werden. gang« ja wohl noch ergeben werde (302).
Nimmt man den Text so leicht und ironisch, wie
er geschrieben ist, wird man kaum auf größere Inter-
< Poseidon>
pretationsprobleme stoßen. <Poseidon> vermittelt
In der ersten Septemberhälfte 1920 verfasst Kafka geradezu exemplarisch zwischen den zwei Gestal-
die letzte seiner Mythos-Kontrafakturen (NSF II, tungstendenzen des ›Konvoluts‹: der Objektivierung
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 359

des ›Selbstbiographischen‹ und der großräumigen kundigt sich nach einer »Erlaubnis« (343). Das Be-
anthropologisch-kulturphilosophischen Geschichts- wegungsmotiv dieses Fragments wird in <Kleine
deutung. Ein ›berechnendes Wesen‹ zu haben, ge- Fabel > aufgegriffen und neu gestaltet werden.
hört zu Kafkas häufigsten Selbstvorwürfen (vgl. die Ein zweiter wichtiger Kontext ist der Brief an Mi-
Belegstellensammlung bei Born, 408–412). Beispiele lena vom 24./25 Oktober 1920 (Umdatierung nach
dafür finden sich sowohl als autobiographische Aus- Schillemeit 2004 [1988], 293–295). Diesem ist eine
gangskonstellationen für fiktionale Entwürfe: berühmte Zeichnung beigelegt, die Kafka folgender-
Er saß über seinen Rechnungen. Große Kolonnen. maßen erläutert:
Manchmal wandte er sich von ihnen ab und legte das Es sind 4 Pfähle, durch die zwei mittleren werden Stan-
Gesicht in die Hand. Was ergab sich aus den Rechnun- gen geschoben an denen die Hände des »Delinquenten«
gen? Trübe, trübe Rechnung (Ende Aug./Anf. Sept. 1917; befestigt werden; durch die zwei äußern schiebt man
NSF I, 408), Stangen für die Füße. Ist der Mann so befestigt, werden
die Stangen langsam weiter hinausgeschoben, bis der
wie auch in Tagebucheinträgen:
Mann in der Mitte zerreißt. An der Säule lehnt der Erfin-
In meiner Kanzlei wird immer noch gerechnet, als finge der und tut mit übereinandergeschlagenen Armen und
mein Leben erst morgen an, indessen bin ich am Ende Beinen sehr groß, so als ob das Ganze eine Originaler-
(12.2.1922; T 906). findung wäre, während er es doch nur dem Fleischhauer
In < Poseidon> sind diese Selbstbezüge allerdings abgeschaut hat, der das ausgeweidete Schwein vor sei-
nem Laden ausspannt (BM 271 f.).
vollständig objektiviert. Schon die Hybridisierung
von schäbiger Moderne und den »alten großen Zei- Eine aus eigener Schuld versäumte Gelegenheit und
ten« (An M. Brod, 13.1.1921, Briefe 291; vgl. auch qualvoll-folternde Zerrissenheit (vgl. auch die auf
An F. Bauer, 12.9.1916, B14–17 223) macht den Text <Kleine Fabel > folgenden Bilder; NSF II, 344) – das
zur Kritik an der modernen Welt, die in ihrem Fehl- sind Konstellationen, die sich leicht auf die biogra-
glauben, »das Lebendige« »ausrechnen« (<Brief an phische Situation der Beziehung zu Milena beziehen
den Vater >; NSF II, 147) und kontrollieren zu kön- lassen. Von daher könnte man auch <Kleine Fabel >
nen, das Leben verfehlt und vergewaltigt. Ins Philo- als Existenzmetapher für einen solchen Zustand der
sophische gewendet ist dies auch die Pointe der ähn- Hoffnungslosigkeit lesen. Wiederum hat der Text je-
lich einfachen Parabel <Der Kreisel > (ca. Mitte Dez.; doch eine so hohe Objektivierungsstufe erreicht,
NSF II, 361 f.), die am Beispiel eines Kreisels in gera- dass ein Wissen um seinen biographischen Entste-
dezu allegorischer Direktheit die Un-Fassbarkeit des hungsanlass keine Verstehensvoraussetzung mehr
›Lebendigen‹ thematisiert: Sobald der »Philosoph« ist.
das bewegte Objekt, an dem er das Wesen der Dinge <Kleine Fabel > ist als ein Dialog angelegt, der kei-
erkennen will, gefangen und damit fest-gestellt hat, ner ist. Seinen Hauptteil bildet die monologische
hält er nur noch ein »dummes Holzstück« in der Klagerede der Maus, die ihren Lebens-Lauf rekapi-
Hand (362). Bezeichnenderweise steht diese resigna- tuliert, der sie nun ins »letzte Zimmer« und direkt
tive Parabel am Ende der Arbeitsphase des Jahres vor eine »Falle« geführt hat. Eine Katze, die – so
1920. müssen wir unterstellen – diesen Monolog mitge-
hört hat, gibt ihr den lakonischen Rat »›Du mußt
nur die Laufrichtung ändern‹« – und frisst sie auf.
< Kleine Fabel >
Beda Allemann hat in seiner immer noch maß-
Der um den 24. Oktober 1920 entstandene Text liegt geblichen Interpretation des Textes darauf hingewie-
in zwei Fassungen vor (NSF II, 343), die nur margi- sen, dass in den Antagonisten zwei unterschiedliche
nal differieren, aber selbst in diesen geringfügigen Haltungen zum Leben und zur Sprache miteinander
Unterschieden das Streben nach Objektivierung ei- konfrontiert sind. Die Maus spricht metaphorisch
nes autobiographischen Textsubstrats belegen. von ihrem Lebens-›Lauf‹ und beraubt sich so jeder
Vorausgeht ein am gleichen Tag verfasster – wohl realen Handlungsmöglichkeit: Ihr ganzes Leben
durch das Erscheinen einer tschechischen Überset- ›läuft‹ für sie, in ständiger Verengung ihres Lebens-
zung von Vor dem Gesetz in der Tageszeitung Právo raumes (und seiner ursprünglichen Fülle von Mög-
lidu angeregter – Ansatz zu einer Variation der lichkeiten), mit Notwendigkeit auf die Falle zu. Da-
Grundsituation der Türhüterlegende: Hier ›über- bei wurde diese Verengung von ihr zunächst sogar
läuft‹ der Ich-Erzähler einfach »den ersten Wäch- noch gewünscht, da die anfängliche ›Breite‹ »Angst«
ter«, kehrt dann aber ›erschrocken‹ zurück und er- erzeugte, ihre Reduktion dagegen »glücklich« macht.
360 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

Ganz anders die Katze: In ihrer ganz und gar unme- wird ein wenig sympathischer, unbelehrbar ge-
taphorischen Rede vom ›Lauf‹ lässt sich dessen schäftstüchtiger Held vorgeführt, der auch dem
›Richtung‹ problemlos ändern – wer das nicht be- kranken Geschäftspartner K. gegenüber keine Rück-
greift, ist für sie ein willkommenes Opfer. sichtnahme kennt. In dessen Privatwohnung und in
Mit Maus und Katze stehen sich also Lebensangst, Anwesenheit des besorgten Sohnes verhält er sich
desaströser Pessimismus und realitätsfern-metapho- nicht weniger skrupellos als seine Spiegelfigur: ein
risches Denken einerseits und von keiner Selbstre- ebenfalls anwesender, konkurrierender »Geschäfts-
flexion oder Empathie beschränkte Lebensstärke agent« (535), der vom Erzähler wegen seiner Rück-
und Zuhause-Sein im konkreten Hier und Jetzt an- sichtslosigkeit scharf getadelt wird (536, 537). Auf
dererseits gegenüber. Eigentlich würden wir von K.s plötzlichen Tod reagiert der Protagonist mit völ-
Kafka erwarten, dass er die erste Position favorisiert liger Empathielosigkeit: »Nun also, es war vorüber.
– wie er es in <Von den Gleichnissen> ja auch tun Freilich, ein alter Mann, Mochte uns das Sterben
wird (s. u.). Hier aber ist die objektive Ironie des Tex- nicht schwerer werden. Aber wie vieles war jetzt zu
tes eindeutig gegen die Maus gerichtet. Diese Ironie tun!« (539). Obwohl der Text weder räumlich noch
hat Kafka in der zweiten Fassung noch deutlich ver- zeitlich verortet ist, haben die sozialen Strukturen in
stärkt. Dabei wurde nicht nur der ›Lauf‹ der Maus Geschäftsleben wie Familie für uns einen hohen
durch Tilgung einer Parenthese syntaktisch begra- Wiedererkennungswert, es entsteht also der für das
digt, sondern es finden sich auch noch deutlichere frühe mittlere Werk charakteristische rudimentäre
Signale zur Relativierung ihrer perspektivischen Realitätseffekt. Zugleich fehlt aber auch nicht das
Weltsicht. Zwar macht diese Ironisierung der Maus grotesk-phantastische Element, das diese Realität
die Katze noch lange nicht zum Sympathieträger, sie verfremdet: Der eben noch dramatisch verstorbene
setzt jedoch in dieser ›Selbstbiographie‹ en miniature Geschäftspartner erwacht plötzlich, als habe er nur
einen deutlichen (selbst-)kritischen Akzent. kurz geschlafen – und verlangt nach der Abendzei-
tung (539 f.).
Schloss-Jahr 1922 Dieser offensichtliche Rückbezug auf die Anfänge
des reifen Werkes ist weder ein Zufall noch ein Rück-
Die wichtigsten nachgelassenen Schriften des Jahres fall in frühere Schreibgewohnheiten. Es handelt sich
1922 – Das Schloss und die <Forschungen eines Hun- vielmehr um ein bewusstes Selbstzitat, präziser und
des> –, die die ›selbstbiographische‹ Tendenz der in rhetorischer Terminologie formuliert: um eine
Schreibphase am deutlichsten illustrieren, sind in je ›revocatio‹. Dass dies so ist, deutet schon der Wech-
eigenen Handbuchartikeln behandelt (ä 3.3.3; 3.3.4 sel des Namenskürzels »K.« vom Protagonisten zum
u. 489–493). Im Folgenden kann nur auf Das Ehe- Gegenüber, dem Geschäftsfreund und Familienvater
paar und die beiden berühmten Kurztexte Ein Kom- an (ein Wechsel, der Max Brod so sehr missfiel, dass
mentar (<Gibs auf! >) und <Von den Gleichnissen> er in seiner Textfassung das »K.« durch ein neutrale-
eingegangen werden. res »N.« ersetzte). Auch der Ko-text spricht für diese
Deutung, da auf die erste Niederschrift von Das Ehe-
paar ein Fragment folgt, das eine ebenso offensicht-
Das Ehepaar
liche ›revocatio‹ des <Jäger Gracchus> darstellt: Hier
Die erste Fassung des Textes schreibt Kafka im Okto- wird ein in einem italienischen Hafen anlandender
ber/November in eines seiner Notizhefte (NSF II, und der »unendlichen Seefahrt« müder Ich-Erzähler
516–524), in das er auch Ein Kommentar (<Gibs als glücklicher Ehemann und Vater dargestellt (524).
auf! >) und <Von den Gleichnissen> eintragen wird. Ein solcher, gleich doppelter kritischer Rückbezug
Wenig später entsteht auf fünf losen Blättern die nur auf eigene frühere Schriften lässt sich plausibel als
geringfügig abweichende Reinschrift (534–541). Das Sonderfall des Projekts der ›selbstbiographischen
Ehepaar ist also offensichtlich ein abgeschlossenes, Untersuchungen‹ begreifen.
ordentlich mit einer Überschrift versehenes Werk. Am deutlichsten zeigt sich der Widerrufs-Charak-
Dass der Text dennoch so wenig Beachtung ge- ter von Das Ehepaar natürlich in seiner Umkehrung
funden hat, liegt wohl an seiner anachronistischen der Wertpositionen: In Das Urteil und Die Verwand-
Stellung im Spätwerk – Erzählweise wie Hauptfigur lung war die Familie ein Ort des Schreckens, der
erinnern deutlich an die frühen Schriften des mittle- Machtkämpfe und der lieblosen Ausbeutung; nun
ren Werkes: In einer strikt personalen Ich-Erzählung erscheint sie tatsächlich als der Raum der Nähe und
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 361

Liebe, als den sie sich die Protagonisten der früheren Ein Kommentar (<Gibs auf! >)
Texte nur erträumen konnten. Diese Liebe kann
wahre Wunder bewirken: Der – zumindest für Er- Der Kurztext (NSF II, 530) steht im gleichen Heft
zähler, Konkurrenten und Sohn (sowie auch für den wie die Erstniederschrift von Das Ehepaar; zu datie-
Erstleser des Textes) – tote K. wird durch die lie- ren ist er auf die Zeit zwischen Mitte November und
bende Zuwendung seiner Frau wieder zum Leben Mitte Dezember 1922, gehört also in die Endphase
erweckt: der Schreibzeit.
mit dem unendlichen Vertrauen des Unschuldigen Ein Kommentar ist ein beliebtes Anthologiestück
nahm sie die gleiche Hand, die ich eben mit Widerwillen für Schulbücher; schon Heinz Politzer hatte seiner
und Scheu in der meinen gehalten hatte, küßte sie wie in wirkungsmächtigen Monographie Franz Kafka. Pa-
kleinem ehelichen Spiel und – wie mögen wir drei an- rable and Paradox (1962; dt.: Franz Kafka, der Künst-
dern zugesehn haben! – K. bewegte sich (540).
ler, 1965) eine Analyse der Parabel gewissermaßen
Gleich darauf geschieht etwas, das zumindest Ödipus- als Propädeutik vorangestellt (Politzer 1965 [1962],
komplex-Gläubigen als nicht geringeres Wunder er- 19–44). Und in der Tat scheint der Text gut geeignet,
scheinen muss: Damit er sich »auf dem Weg in ein in Kafkas Schreiben (und besonders in seine Para-
anderes Zimmer nicht verkühle« (540), legt sich der beldichtungen) einzuführen, da er zahlreiche typi-
Vater zu seinem Sohn ins Bett. Auch das ist Selbst- sche Grundelemente aufweist: die Beschränkung auf
zitat und Widerruf zugleich: Im Urteil hatte der Vater den Wissenshorizont des erlebenden Ich im perso-
vom Bett aus seinem Sohn das Todesurteil verkündet; nalen Erzählen; einen Beginn mit einer nur grob
im Landarzt war der widerstrebende Arzt zu einem umrissenen, aber leicht nachvollziehbaren Aus-
kranken Jungen ins Bett gelegt worden, ohne ihn hei- gangssituation (der Ich-Erzähler auf dem morgend-
len zu wollen oder zu können. Wenigstens für einen lichen Weg zum Bahnhof in einer ihm »noch nicht
Moment erkennt selbst der ansonsten gewohnt unbe- sehr gut« bekannten Stadt); ein plötzliches Desori-
lehrbare Protagonist – in einer Entstehungsvariante entierungserlebnis, das die Alltagsroutine ins Sto-
sogar: unter Tränen (NSF II:A, 408) –, was er als nur cken bringt (die »Turmuhr« zeigt im Vergleich mit
an Geschäftsleben und materialistisch-instrumenta- der eigenen, »daß schon viel später war als ich ge-
lem Denken orientierter Junggeselle verloren hat: glaubt hatte«); ein ebenso plötzliches Durchbrechen
Im Vorzimmer traf ich noch Frau K. Im Anblick ihrer der uns vertrauten Realität (ein Schutzmann beant-
armseligen Gestalt sagte ich aus meinen Gedanken her- wortet die einfache Frage nach dem Weg zunächst
aus, daß sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere. ›lächelnd‹ mit einer Gegenfrage, dann mit »›Gibs
Und da sie still blieb, fügte ich bei: »Was man dazu auch auf, gibs auf‹«); einen offenen Schluss, verbunden
sagen mag: die konnte Wunder tun. Was wir schon zer-
mit einer zutiefst rätselvollen Geste (»wandte sich
stört hatten, machte sie noch gut. Ich habe sie schon in
der Kinderzeit verloren.« (NSF II, 541). mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die
mit ihrem Lachen allein sein wollen«; NSF II, 530).
Freilich hält diese Verstörung nicht lange vor und Geradezu prototypisch ist auch die Polyvalenz des
löst auch keinen Selbstveränderungsimpuls aus. Der Textes, die sich ergibt aus der Kombination von ab-
letzte Satz des Erzählers lautet: »Ach, was für miß- strakter Modellsituation und der die Deutungsarbeit
lungene Geschäftswege es gibt und man muß die provozierenden ›Leerstelle‹ (hier: das Zusammen-
Last weitertragen« (541). treffen von ›normalem‹ Verhalten des Ich-Erzählers
Zweifellos gehört Das Ehepaar nicht zu Kafkas und unerklärbarem und erwartungswidrigem Ver-
Meisterwerken. Von Interesse ist es vor allem als halten des ›Schutzmanns‹). Ebenso prototypisch ist
wichtigstes Dokument für die formalen und thema- die Reaktion der Forschung auf diese Deutungspro-
tischen Veränderungen in Kafkas Werk – und für blematik: Zur Beantwortung der Textfrage setzt sie
das Bewusstsein, das der Autor selbst von diesen eben einfach ihren Standardschlüssel ein. Die sich
Veränderungen hatte (vgl. auch T 865, 17.10.1921; daraus ergebenden stereotypen Deutungsvarianten
876, 20.12.1912; 884, 21.1.1922). Als Kritiker von hatte bereits Politzer durchgespielt (Politzer 1965
›Machtapparaten‹ allein kann Kafka eben nicht zu- [1962], 29–36); seine Liste ließe sich leicht um wei-
reichend beschrieben werden – und Das Ehepaar de- tere, neuere Deutungsmuster ergänzen: etwa das so-
monstriert, dass Selbstreflexivität bei ihm auch ganz zialgeschichtliche/foucaultianische (der ›Schutz-
anderes bedeuten kann als die Thematisierung von mann‹ als Vertreter sozialer Autoritäten/ der
Schreiben, Schrift und ›différance‹. ›Macht‹), das dekonstruktivistische (»Gibs auf« als
362 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

selbstreflexives Verdikt über jeden Deutungsver- Blätter, blieb leer; vgl. NSF II:A, 123). Obwohl der
such, der an der ›différance‹ scheitern muss), etc., Abdruck in NSF II Ein Kommentar und <Von den
etc. Gleichnissen> so räumlich näher aneinander rückt
Welche Entscheidungshilfen lassen sich für diesen als es ihrer Stellung im ursprünglichen Textträger
Deutungsstreit nun aus dem Ko-text gewinnen, den entspricht, dürften sie zeitlich in enger Nachbar-
die bisherigen Interpreten weitgehend ignoriert ha- schaft entstanden sein. Zentral für den zweiten Text
ben? Vor Ein Kommentar steht im Notizheft der Ent- ist, wie noch zu erläutern sein wird (s. u.), die Oppo-
wurf für einen Brief an Franz Werfel (NSF II, 526– sition zwischen einer empirisch-wörtlichen und ei-
530), der anknüpft an einen mündlichen Streit über ner symbolisch-gleichnishaften Lebens- und Sprach-
sein Drama Schweiger (1922), auf dessen Details hier auffassung.
nicht eingegangen werden kann (vgl. dazu R. Stach, Versuchen wir nun, diese beiden Ko-texte mit Ein
517–520; vgl. auch NSF II:A, 124 f.; ä 69). Angemerkt Kommentar in Beziehung zu setzen: Der Opposition
sei nur, dass Kafkas Kritik sich vor allem daran ent- ›psychologisch erklärbar‹ versus ›a-psychologisch‹
zündete, dass Werfel im Drama eine für Kafka zeitty- korrespondiert der Gegensatz von Ich-Erzähler und
pische Verstörung zu einem »tragischen Einzelfall« Schutzmann. Das Verhalten des Zweiten widerspricht
gemacht und psychoanalytisch erklärt hatte. Kafka, all unseren vertrauten psychologischen Erklärungs-
der (jedenfalls im späten Werk) die Psychoanalyse mustern – und ist eben deswegen rätselhaft. Der Ich-
scharf ablehnte, sah darin einen »Verrat an der Ge- Erzähler dagegen verhält sich nicht nur in psycholo-
neration«, »eine Entwürdigung ihrer Leiden« (An gisch leicht erklärbarer Weise, sondern erklärt sich
F. Werfel, Dez. 1922; Briefe 425): »Wer hier nicht mehr sein Verhalten auch selbst psychologisch: »der Schre-
zu sagen hat als die Psychoanalyse dürfte sich nicht cken über diese Entdeckung [der Zeitdifferenz] ließ
einmischen« (NSF II, 529). Darüber hinaus empfand mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in
er Werfels Schweiger jedoch auch als eine ganz per- dieser Stadt noch nicht sehr gut aus« (NSF II, 530).
sönliche Kränkung: »Das Stück […] geht mir sehr Ebenso bietet der Text gleich zwei Anschlussmög-
nahe, trifft mich abscheulich im Abscheulichsten« lichkeiten für den eng verwandten und ja bereits für
(An M. Brod, Dez. 1922; Briefe 423). Das wird man <Kleine Fabel > prägenden Gegensatz von ›wörtlich‹
nur so verstehen können, dass er im Drama ein ver- versus ›gleichnishaft‹. Die erste ist der Begriff des
zerrtes Spiegelbild seiner eigenen, ›westjüdischen‹ ›Weges‹, den der Erzähler ganz wörtlich nimmt –
Situation sah, die ihm ja immer schon als repräsen- eben als Weg zum Bahnhof. Die ›lächelnd‹ gestellte
tativ für die seiner Zeit galt (ä 500 f.). Gegenfrage des Schutzmannes »›Von mir willst Du
Der Briefentwurf schließt mit dem auf die Psycho- den Weg erfahren?‹« wird dagegen nur verständlich,
analyse bezogenen Satz: »Das Judentum bringt seit wenn wir ein anderes, metaphorisches Verständnis
jeher seine Leiden und Freuden fast gleichzeitig mit von ›Weg‹ annehmen – etwa das des ›Lebensweges‹
dem zugehörigen Raschi-Kommentar hervor, so oder das des ›rechten Weges‹. So bekommt auch die
auch hier« (NSF II, 529 f.). Raschi (Akronym für Antwort des Erzählers einen Doppelsinn: »›Ja‹, sagte
Rabbi Schlomo ben Jichzak, 1045–1105) war, zusam- ich, ›da ich ihn [den Weg zum Bahnhof/den rechten
men mit seinen Schülern, der Verfasser eines maß- Weg] selbst nicht finden kann‹« (ebd.). Das zweite in
geblichen Talmud-Kommentars, der noch heute in sehr offensichtlicher Weise metaphorik-verdächtige
den meisten Ausgaben abgedruckt wird, und zwar Wort im Text ist natürlich ›Schutzmann‹: in der All-
so, dass der Kommentar den Text umgibt und von tagssprache, als lexikalisierte Metonymie, einfach ein
diesem oft durch eine besondere Schrifttype abge- Polizist – in gleichnishafter Rede aber eben ein
setzt ist: die schwer lesbare ›Raschi-Schrift‹. Unmit- Schutz-Mann. Einen solchen externen Helfer zu fin-
telbar nach diesem Briefende folgt die Überschrift den, hält der Ich-Erzähler für ein ›Glück‹ (»glückli-
Ein Kommentar mit dem zugehörigen Text. Das cherweise war ein Schutzmann in der Nähe«) – was
dürfte Indiz genug sein, um einen engen Zusam- offensichtlich ein Fehlurteil ist. Vielleicht war es ja
menhang zwischen Briefentwurf und Parabel zu ver- auch ein Fehler, beim Vergleich der Turmuhr mit der
muten. eigenen sofort auf die Richtigkeit der fremden, ›offi-
Ein zweiter Ko-text ist <Von den Gleichnissen>, ziellen‹ Uhr zu vertrauen.
das im Notizheft nur wenige Einträge entfernt steht, Wenn das Verhalten des Ich-Erzählers aber nicht
allerdings zu den Notaten zählt, die im Heft von hin- zur Identifikation, sondern zur Distanzierung ein-
ten her eingetragen wurden (der Mittelteil, etwa 12 lädt (was bei Kafkas Variante personalen Erzählens
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 363

ja ohnehin den Regelfall darstellt), ist die Ge- Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß
schichte auch nicht einfach selbstreflexiv: Der ori- das Unfaßbare unfaßbar ist und das haben wir gewußt.
Aber das womit wir uns eigentlich jeden Tag abmühn,
entierungslose Erzähler wäre nur dann ein Stellver- sind andere Dinge (531 f.).
treter des orientierungslosen Lesers, wenn dieser
seine falsche Einstellung teilen würde – was er tun Im Laufe dieses Absatzes verschiebt sich die Er-
kann, aber keineswegs muss. Nur im ersten Fall zählerrolle deutlich: Während er zunächst nur neu-
aber würde das »Gibs auf« auch für ihn gelten. Kaf- tral den Standpunkt der »Vielen« (im Präteritum) zu
kas Geschichte ließe sich so als (an den Briefent- referieren scheint, wechselt der Erzähler schon im
wurf anknüpfender) alternativer Zeit-›Kommentar‹ ersten Satz zu einem »wir« (verbunden mit einem
lesen, als eine Kritik an Fehlhaltungen der Mo- Tempuswechsel zum Präsens), das die Position der
derne, verfasst in schwer lesbarer Raschi-Schrift. »Vielen« auch als die seine, ja als die allgemein gül-
Dieser Kommentar wäre zugleich ein ›jüdischer‹ tige erscheinen lässt.
Selbstkommentar im Sinne der ›selbstbiographi- Der zweite Teil des Textes (II) besteht aus einem
schen Untersuchungen‹. Dialog zwischen zwei Sprechern, die hier A. (»ei-
Die so skizzierte Interpretation ist in ihren Grund- ner«) und B. (»ein anderer«) genannt seien. An den
zügen natürlich keineswegs an Ko-text-Wissen ge- ersten Teil angeschlossen ist er durch die Formel:
bunden – sie ist einfach eine von vielen möglichen »Darauf [danach?; als Antwort darauf?] sagte einer«
Interpretationen, zu denen Leser des Textes finden – was nur nachzuvollziehen wäre, wenn der erste
können. Der Rekurs auf den Ko-text fungiert nur als Teil nicht als (geschriebene) Erzählerrede, sondern
Argument, diese eine Deutung gegenüber den vielen als (gesprochene) Aussage verstanden würde. Dieser
anderen zu privilegieren, also eine Begründungs- Annahme eines Trialogs widerspricht allerdings,
möglichkeit für eine Selektion aus der Fülle mögli- dass der Erzähler/Sprecher des Eingangsteils in den
cher Deutungen zu schaffen. Ohne solche Auswahl- nun folgenden Dialog nicht eingreift, sondern mit
kriterien bliebe der Text ›undeutbar‹, da viele völlig ›inquit‹-Formeln weiterhin eine rudimentäre Erzäh-
gleichwertige Deutungen indizieren würden, dass lerfunktion erfüllt.
keine von ihnen die ›richtige‹ sein kann. Dabei muss Im Dialog mit seinen fünf wechselweise gespro-
allerdings klar sein, dass das hier entwickelte Aus- chenen Redebeiträgen (II.1–5) vertritt A. die Posi-
wahlargument nur in einem bestimmten, nämlich tion der »Weisen«, B. die der »Vielen«. Auch hier ist
einem historisch-hermeneutischen Argumentati- der Zusammenhang insofern brüchig, als A. zu-
onsrahmen Gewicht hat. Die Polyvalenz, die der Me- nächst im Plural der zweiten Person (II.1: »Ihr«) di-
thodenpluralismus erzeugt, lässt sich so also nicht rekt die »Vielen« anzusprechen scheint, sich von B.s
aufheben – aber diese Form der unauflösbaren Viel- erster Gegenrede an aber nur noch direkt an ihn
deutigkeit ist ja kein Spezifikum von Kafka-Texten, wendet (II.3 u. 5: »Du«).
sondern eines der gegenwärtigen Literaturwissen- Obwohl diese Textbeschreibung zunächst eher
schaft. neue Fragen aufwirft, ermöglicht sie es immerhin,
die in der neueren Forschung dominierende Deu-
tung des Textes als »metaparadigmatisches« Muster-
<Von den Gleichnissen>
beispiel für Kafkas Autoreflexivität zu widerlegen
Wie bereits erwähnt, gehört dieser Text (NSF II, (Jahraus 1994, 385). Zum einen ist der Text als Gan-
531 f.) zu der kleinen Gruppe von Einträgen, die in zes offensichtlich kein ›Gleichnis‹ (nicht einmal eine
das Notizheft ›von hinten‹ her eingeschrieben wur- Parabel), sondern ein räsonierendes Gespräch über
den, jedoch höchstwahrscheinlich ebenfalls in den den als Paradebeispiel ›gleichnishafter Rede‹ fungie-
Zeitraum von Oktober/November 1922 fallen, aus renden Imperativ »Gehe hinüber«. Zum anderen ist
dem die ›vorderen‹ Einträge stammen. keiner der Sprecher ein »Weiser« – so wie auch Kafka
Der Text zerfällt in zwei, erzähllogisch nicht mit- sich selbst nie als »Weisen« bezeichnet hätte. Damit
einander vermittelte Teile. Der erste Absatz (I) ist entfällt auch die beliebte Auflösungsmöglichkeit,
Rede eines anonymen und kaum konturierten Er- ›gleichnishaftes Sprechen‹ pauschal mit ›Literatur‹
zählers, die am Beispiel des ›gleichnishaften‹ Impe- gleichzusetzen (im Falle Kafkas: einer Literatur, die
rativs »Gehe hinüber« die Opposition von »Vielen« »Gleichnisse für die Gleichnishaftigkeit der eigenen
gegen die »Worte der Weisen« erläutert: Literatur« erzählt), und ›zum Gleichnis werden‹ mit
Kafkas Projekt einer Verwandlung von Leben in Li-
364 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

teratur zu identifizieren (Jahraus 2008, 312 f.). Zwar die ihr Sinnzentrum jenseits von Empirie und Ratio-
enthält <Von den Gleichnissen> zweifellos ein selbst- nalität haben; auch Nietzsche hat ja bekanntlich in
reflexives Element, doch ist es keineswegs »ein sich Gleichnissen geschrieben.
selbst interpretierender«, also nur über sich selbst Wie aber ist die Aufforderung A.s zu verstehen,
und seine Nicht-Verstehbarkeit redender Text im ›selbst zum Gleichnis‹ zu werden (II.1)? Darauf gibt
Sinne Jahraus’ (Jahraus 1994). der sich so gar nicht selbst interpretierende Text
Wenn der Text sich also nicht einfach selbst inter- keine Antwort – außer eben die der bestimmten Ne-
pretiert, dann wird wohl der Leser, ganz traditionell gation einer empirisch-rational zentrierten Existenz.
hermeneutisch, eine Interpretation versuchen müs- Mehr sagt A. nicht. Er verspricht allerdings noch,
sen. Am einfachsten lässt sich noch die Position der dass wir durch Befolgung seiner (und der Weisen)
»Vielen« (und A.s) bestimmen – nicht zuletzt, weil Aufforderung »der täglichen Mühe« frei würden –
wir sie leicht als die unseres eigenen alltäglichen was sich am plausibelsten so verstehen lässt, dass
Weltverständnisses und Wirklichkeitsverhaltens diese ihre ausschließliche und offensichtlich als läs-
wiedererkennen: Die »Vielen« sind Pragmatiker, be- tig (»Mühe«) empfundene Herrschaft über uns ver-
schäftigt mit den Erfordernissen des täglichen Le- lieren würde. Und er droht uns an, dass wir, wenn
bens (»der täglichen Mühe«) und nur an dem inter- wir diesem Imperativ nicht folgen, ganz ungleichnis-
essiert, was ihnen »hier« »helfen«, also nützen kann. haft-wörtlich »verloren« haben (II.5).
»Gehe hinüber« würde für sie nur in einer wörtli- Da mehr aus dem Text nicht zu entnehmen ist,
chen Bedeutung Sinn machen (»auf die andere Stra- wird der Leser, der sich A.s dringende Empfehlung
ßenseite hinüber gehen«). ›Gleichnishafte Rede‹, die konkreter vorstellen will, seine eigene Phantasie ge-
irgendein »sagenhaftes Drüben« meint, das wir we- brauchen müssen (dann kann man nur darauf hof-
der »kennen« noch präzise »bezeichnen« können, ist fen, dass es sich nicht um die durch eine déformation
für sie dagegen sinn-los, da sie auf für sie Sinnloses professionnelle beschränkte Phantasie eines Litera-
verweist, nämlich »Unfaßbares« – und das meint turwissenschaftlers handeln wird, der sich als Alter-
eben alles, was nicht pragmatisch nützlich und ratio- native zum Alltagsverhalten immer nur Literatur
nal verständlich ist (I). vorstellen kann). Es besteht natürlich auch die Mög-
Die Position der »Weisen« (und B.s) zu bestim- lichkeit, sich an anderen Äußerungen Kafkas zu ori-
men, fällt uns schon wesentlich schwerer, was wiede- entieren – wie etwa an der oben zitierten Passage
rum daran liegt, dass sie unserer rational-pragmati- zum ›gerechtfertigten‹ Leben (ä 345), nach der alles
schen Alltagseinstellung genauso radikal wider- bloß Materiell-Pragmatische eine zweite, ›unsicht-
spricht wie der der »Vielen«. Wollen wir die ›Weisen‹ bar‹-symbolische Bedeutung hat, nämlich die, unse-
verstehen, werden wir uns also von dieser Position rem Leben einen verantwortbaren Sinn zu geben.
entfernen müssen. Wer so ›im Gleichnis‹ lebt, würde sich – auch ohne
Dass ›Weisheitslehrer‹ gerne in Gleichnissen re- einen garantierten Bezugspunkt im Transzendenten
den, ist uns durchaus wohlvertraut – man mag dabei – ebenso in einem ›symbolischen Weltbild‹ bewegen
sofort (und durchaus plausibel) an die spezifisch wie die Bewohner vor-moderner Welten in den »al-
jüdische Tradition denken, könnte sich aber auch an ten großen Zeiten«.
bestimmte christliche oder philosophische Texte er- Soweit eine kurze Interpretationsskizze. Mindes-
innern. Wenn der zentrale Imperativ dieser Texte ein tens drei Fragen bleiben noch zu beantworten:
gleichnishaftes »Gehe hinüber« sein soll, so wären (1) Wer ist der Sieger im Streitgespräch zwischen A.
dadurch alle Weisheitslehren ausgeschlossen, die und B.? Während viele Forscher von einem ›Unent-
beispielsweise nur einfache Moralsätze ›gleichnis- schieden‹ ausgehen, hatte die obige Interpretation
haft‹-rhetorisch in Bilder und Geschichten einklei- impliziert, dass die Position A.s die gültige sei. Das
den. Es muss sich vielmehr um eine Weisheitslehre dürfte vor dem Gesamthintergrund von Kafkas
handeln, die auf einen rational-empirisch unfassba- Werk ja auch durchaus plausibel sein, erspart aber
ren ›Grund‹ verweist und eine Orientierung an die- nicht die Frage, ob diese Überlegenheit auch im Text
sem, ja ein ›Tran-szendieren‹ (was nichts anderes ist markiert wird. Dies geschieht in der Tat, wenn auch
als der philosophische terminus technicus für ›Hinü- nur in dem Sinne, dass A. über den weiteren Hori-
bergehen‹) zu ihm fordert. Dies gilt für traditionell zont verfügt: Er kennt beide Register der Rede, die
religiöse Weisheitslehren (wie die jüdische), aber gleichnishafte und die wörtliche, und kann souverän
auch für alle nicht orthodox-religiösen Positionen, und strategisch geschickt zwischen beiden wechseln
Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 3 365

(was ihn auch deutlich von der Maus in <Kleine Fa- (wie die korrespondierenden Artikel 3.1.7 und
bel > unterscheidet). Auch wenn er kein ›Weiser‹ sein 3.2.10) nur einen ersten Versuch darstellen, der hof-
mag – weiser als der beschränkte B. ist er allemal. fentlich zu weiteren Untersuchungen anregen wird.
(2) Worin besteht die (reduzierte) Selbstreflexivi- Dieser Experimentcharakter gilt auch für den
tät des Textes, seine Verweisfunktion auf Kafkas Umgang mit den von Max Brod verselbständigten
Schreiben? Dass seine Literatur Weisheitslehre sei, Einzeltexten, den die Kafka-Forschung quasi neu zu
hat Kafka nie behauptet – schon gar nicht, dass sie erlernen hätte. Weder kann man sie (auch wenn das
Ausdruck eines ›gerechtfertigten‹ Lebens sei (ä 4.6.). noch immer geschieht) weiter einfach pauschal als
Sehr wohl aber demonstriert Kafkas Literatur immer selbständige Werke behandeln, noch wäre es wün-
wieder das Ungenügen einer ausschließlich rational- schenswert, sie in den fortlaufenden Fragmentenzu-
pragmatischen Lebenseinstellung. Außerdem über- sammenhang zu nivellieren, der weitgehend nur
schreitet sie – sozusagen performativ – in ihren dar- produktionsästhetisch beschrieben werden könnte.
gestellten ›phantastischen‹ Welten wie in ihren sich Das gilt zumindest dann, wenn die Texte im
im ›gleitenden Paradoxon‹ (ä 285) entwickelnden Schreibakt tatsächlich ›Werkqualität‹ gewonnen ha-
Denkbewegungen immer wieder die Grenzen von ben – also sich gegenüber den nicht mehr als Schreib-
Empirie wie Rationalität und versetzt in ihrer kon- anlässe bedeutenden autobiographischen bzw.
zentrierten ›Uneigentlichkeit‹ Protagonisten wie Le- selbstreflexiven Ausgangskonstellationen ›objekti-
ser in ein ›symbolisches Weltbild‹. viert‹ und zu einer in sich geschlossenen Form ge-
(3) Was ist der Sinn der beschriebenen Brüche in funden haben. Die in der neueren Kafka-Forschung
der narrativen Logik des Textes? Diese schwierige geradezu zur offiziellen Ideologie gewordene Werk-
Frage kann natürlich nur spekulativ beantwortet Skepsis ist nicht besser fundiert als die inzwischen
werden. Häufig sind auch Kafkas parabolische Texte zu Recht breit angezweifelte Rede vom ›Tod des Au-
personal erzählt oder schließen doch wenigstens tors‹. Ko-text-Bindung und (relative) Verselbständi-
personale Elemente ein. Dadurch verweigern sie, gung von Texten schließen einander nicht nur nicht
auch formal, jede auktorial-lehrhafte Rede und ver- aus, sondern gehören in jedem Schreibakt mit Selbst-
pflichten den Leser darauf, die Alternative zur (mehr verständlichkeit zusammen.
oder minder deutlich als ›falsch‹ markierten) Posi- Über Einzelfälle mag man streiten – insgesamt je-
tion der Perspektivfigur selbst zu finden. Auch in doch hat Max Brod ein erstaunlich gutes Gespür für
<Von den Gleichnissen> verwandelt sich jede Aus- den ›Werkcharakter‹ (oder wenigstens die ›Werk-
sage in positionale Rede. Die vermeintlich neutrale Nähe‹) bewiesen, die bestimmten der Nachlasstexte
Erzählinstanz wird quasi ›personal‹, indem sie die eben eher zuzusprechen ist als anderen. Sich die
Position der »Vielen« bezieht. Dass sich der Anrede- Frage nach der jeweiligen Relation von Ko-text-Be-
plural »Ihr« (II.1) zum »Du« verengt (II.3), ja A.s zug und werkhafter Verselbständigung neu zu stel-
Rede quasi aus sich selbst heraus einen Wider-Spre- len und Schreibprozess und Werkstreben in Kafkas
cher hervorbringt (II.2: »Ein anderer sagte«), mag Nachlassschriften so immer wieder neu miteinander
mit dem bei Kafka häufigen Verfahren zusammen- zu vermitteln, wäre ein dringliches Forschungsdesi-
hängen, innere Konflikte in verselbständigten Figu- derat (und zugleich eine Chance, der ermüdenden
ren auszuagieren. So gelesen, wäre der Text noch Wiederholung der immer gleichen vorgegebenen
entfernter von selbstgewisser Weisheitsverkündi- Deutungsansätze zu entgehen).
gung als bereits ausgeführt. Eher wäre er als ein
Selbst-Gespräch zu lesen, als ein Selbst-Überzeu-
Ausgaben: ED in vollständiger Form: NSF I/KA (1993),
gungsversuch oder eben: als eine ›selbstbiographi- 419–436; NSF II/KA (1992), 7–678; T/KA (1990), 829–
sche Untersuchung‹ im weiteren Sinne. 940; in der FKA sind für das Textkorpus bis jetzt nur re-
levant: OO5&6 (2009), H. 6; in Auswahl erschienen die
Nachlassfragmente zuerst in: BBdCM (1931), BeK/GS
Forschung (1936) u. Hzv/GW (1953), die zu den Tagebüchern ge-
rechneten Texte in: T/GS (1937) u. T/GW (1951). –––
Kafkas spätes Werk ist, mindestens auf der Grund- Einzeltexte (in näherungsweise entstehungschronolo-
lage der seit 1992 vorliegenden handschriftlichen gischer Folge): »Ein alltäglicher Vorfall …« (<Eine all-
Überlieferung, noch nie im Zusammenhang unter- tägliche Verwirrung >): ED: BBdCM (1931), 60 f. – BeK/
sucht worden. Daher kann der vorliegende Artikel GS (1936), 122 f. – Hzv/GW (1953), 74 f. – NSF II/KA
366 3. Dichtungen und Schriften – Das späte Werk

(1992), 35 f. –– <Die Wahrheit über Sancho Pansa>/<Don Adaptionen: Bernd Kilian: Bilder von der Verteidi-
Quijotes Selbstmord>: ED: BBdCM (1931), 38. – BeK/GS gung eines Hofes. Nach einem Fragment von F.K.
(1936), 96. – Hzv/GW (1953), 76 f. – NSF II/KA (1992), [Kurzfilm]. Prag 2006.
38 f. –– <Das Schweigen der Sirenen>: ED: BBdCM Forschung: P-A. Alt (2005). – Hartmut Binder: K.-
(1931), 39–41. – BeK/GS (1936), 97 f. – Hzv/GW (1953), Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München
78–80. – NSF II/KA (1992), 40–42. –– <Prometheus>: 1975; 2. Aufl. 1977; 3. Aufl. 1982. – Ulrich Fülleborn:
ED: BBdCM (1931), 42. – BeK/GS (1936), 99. – Hzv/ Zum Verhältnis von Perspektivismus und Parabolik in
GW (1953), 100. – NSF II/KA (1992), 69 f. –– Die besitz- der Dichtung K.s. In: Renate v. Heydebrand/Klaus Gün-
lose Arbeiterschaft: ED: Hzv/GW (1953), 126 f. – NSF II/ ther Just (Hg.): Wissenschaft als Dialog. Studien zur Li-
KA (1992), 105–107. –– <Nachts>: ED: BeK/GS (1936), teratur und Kunst seit der Jahrhundertwende. Stuttgart
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Das Synagogentier (»In unserer Synagoge«): Iris VdG. In: Akzente 39 (1992), 375–382. – Roger Hofer:
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168. – Bruce Ross: The Atavistic Beast. K.’s The Animal und Didaktik. Festschrift für Otto Keller zu seinem 65.
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Ders.: K. und die Literaturtheorie. In: KHb (2008), 304– verlorenen Söhne. Konstitution und Reduktion in der
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nisse. Überlegungen zum Problem der objektiven Inter- Zum Gesamtkorpus der Nachlasstexte der späten
pretation am Beispiel F.K.s. In: Poetica 8 (1976), 208– Werkphase vgl. in diesem Handbuch auch die Artikel:
225. – Walter Weiss: VdG. In: EG 39 (1984), 194–204. 3.3.1 (Zürauer Aphorismen), 3.3.2 (<Brief an den Va-
<Heimkehr >: Werner Brettschneider: F.K.: Die Heim- ter >), 3.3.3 (Das Schloss), 3.3.5 (<Forschungen eines
kehr. In: Ders.: Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das Hundes>), 3.3.6 (<Der Bau>) u. 3.4.2 (Die Tagebücher,
biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäi- bes. 380); zu ausführlicheren Interpretationen von
schen Literatur. Berlin 1978, 53–61. – Yves Chevrel: K. <Nachts> ä 496 f., von <Die Abweisung >, Zur Frage der
et le silence du fils prodigue. In: Philippe Zard (Hg.): Gesetze. <Die Truppenaushebung > u. <Das Stadtwap-
Sillage de K. Paris 2007, 131–143. – Edgar Marsch: Die pen >ä 505–508.
Manfred Engel
Gedichte 371

3.4 Werkgruppen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt« (T 308).
An den zeitgenössischen Lyriker Gottfried Kölwel,
der ihm einen Gedichtband übersandt hatte, schreibt
er am 3. Januar 1917: »Diese Gedichte trommelten
mir zeilenweise förmlich gegen die Stirn. So rein, so
3.4.1 Gedichte sündenrein in allem waren sie, aus reinem Atem ka-
men sie« (B14–17, 283). Bei der Bewertung lyrischer
Kafka und die Lyrik Texte in formaler Hinsicht legt Kafka also vertraute
ästhetische Maßstäbe an: Reinheit, organische Ein-
Kafka hat Gedichte geschrieben. Es waren nicht heit, konsequente Entwicklung, körperliche Erfahr-
viele; von diesen wenigen fallen einige in seine Ju- barkeit der Sprache gelten ihm auch im Bereich der
gendzeit und damit in diejenige Periode seiner lite- lyrischen Gestaltung als ästhetische Qualitätsmerk-
rarischen Produktion, die er noch mehr als alles an- male erster Güte.
dere völlig ausgelöscht wissen wollte. Die übrigge- Umso drängender stellt sich erneut die Frage: Wa-
bliebenen Gedichte hat er gut versteckt – in rum schreibt Kafka, mit all seinem überentwickelten
abgerissenen losen Blättern, in Tagebucheintragun- Sprachgefühl, seiner beinahe körperlichen Fixierung
gen. Für viele von ihnen gilt, was er am 17. Dezem- auf einzelne Laute und Worte, seinem ausgeprägten
ber 1911 im Tagebuch über seine Erzählanfänge no- Empfinden von Satzrhythmen keine Gedichte? Aus
tiert: Sie blieben »Eingangssätze«, die »mit ihren den Lektürezeugnissen ergibt sich als erste Vermu-
vorragenden Bruchstellen in eine traurige Zukunft tung, dass die bei ihm durch Gedichte ausgelöste
zeigen« (T 294). emotionale Reaktion eher einen gegenteiligen Effekt
Trotzdem: Kafka hat Gedichte geschrieben. Die li- hatte: Eine solche aufsaugende, vereinnahmende
teraturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen Wirkung sollte gerade nicht von seinen Texten auf
gleicht ein wenig einer Detektivarbeit: Die verstreu- den Leser ausgehen; Deleuze/Guattari sprechen in
ten Spuren sind zu sichern, das Motiv zu ergründen: diesem Zusammenhang ganz allgemein von der
Warum schreibt Kafka Gedichte –oder besser ge- »Anti-Lyrik« und »Anti-Ästhetik« des gesamten
fragt, warum schreibt Kafka eigentlich so gut wie Kafkaschen Schaffens, das nicht auf suggestive Ein-
keine Gedichte? Dass er Gedichte gelesen hat, sogar drücke, sondern auf die »Gegenstände selbst« aus-
recht gern wohl, weiß man. Er beschäftigte sich vor gehe (Deleuze/Guattari, 96).
allem in seiner Frühzeit mit zeitgenössischer Lyrik, Zum zweiten weist Wagenbach darauf hin, dass
kannte und schätzte Hugo von Hofmannsthals Ge- Kafkas lyrische Abstinenz auch eine Abwehrreaktion
spräch über Gedichte (vgl. Wagenbach 2006, 121) auf seine Erziehung und das literarische Umfeld des
und schenkte Max Brod 1905 zwei Gedichtbände jungen Prag sein könnte: »Die Überschätzung der Ly-
von Stefan George (vgl. Alt 2005, 140 f.; Wagenbach rik, schon in der Schule – auch durch die sinnlose
2006, 223). Er hat darüber hinaus für Max Brod zu- Menge des zu Memorierenden – eingehämmert, hatte
mindest einen seiner Lyrikbände redigiert. Brod be- die bekannte Folge, dass alle Prager ihren ersten Ruhm
richtet in seinem Tagebuch unter dem 6. Juli 1910: mit Lyrik zu erlangen suchten« (Wagenbach 2006,
»Kafka, der gute Freund, rettet mein Gedichtbuch, 54). Doch auch für ein anderes Lyrikverständnis fand
indem er etwa 60 mindere Gedichte hinauswirft« Kafka durchaus Vorbilder, wenn auch nicht bei den
(B00–12, 472). Von mangelndem allgemeinen Inter- Zeitgenossen, so doch in der Literaturgeschichte. Bin-
esse an Lyrik kann also keine Rede sein. der nennt als Kafkas Lieblingsautoren Goethe, Höl-
derlin, Hölty, Whitman u. a. (Binder 1979, 500); mehr-
Kafkas Gedichtlektüre: fach erwähnt Kafka auch in seinen Briefen einen Band
Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert bis zur Gegen-
»Den Kopf wie von Dampf erfüllt«
wart, in deutscher Übersetzung herausgegeben von
Von Kafkas Gedichtlektüre berichten vereinzelte Ta- Hans Heilmann (München 1905). Gemeinsam, so
gebucheinträge sowie spätere Briefe. Sie zeugen da- Binder, seien diesen Autoren vor allem bestimmte for-
von, dass er Gedichte als einen starken, ja überstar- male Gestaltungsmerkmale wie »eigenrhythmische,
ken emotionalen Eindruck erleben konnte. So no- metrisch freie oder mindestens nicht alternierende
tiert er im Tagebuch am 23. Dezember 1911: »Durch Versgebilde ohne Reim und mit weniger fester Stro-
Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen phengliederung« (Binder 1979, 501).
372 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Kafkas Lieblingsgedichte: che Bewegungsabläufe umzusetzen. Demgegenüber


»Die Tanne war wie lebend« bilden die von ihm wiederholt lobend erwähnten
Übersetzungen aus dem Chinesischen einen gewis-
Darüber hinaus ist eine genauere Betrachtung derje- sen Gegenpol; hier findet sich die von Binder hervor-
nigen Texte aufschlussreich, die Kafka explizit als gehobene freie prosarhythmische Gestaltung. Für
seine Lieblingsgedichte benannt hat. So erwähnt er beides, das gebundene wie das ungebundene lyrische
im September 1922 in einem Brief an Milena Je- Sprechen, ist jedoch in Kafkas lyrischer Werteskala
senská zwei romantische Gedichte: Abschied von die Einfachheit die höchste Norm; das gilt sowohl für
Joseph von Eichendorff und Der Wanderer in der das verwendete Vokabular als auch für die syntakti-
Sägmühle von Justinus Kerner (BM 305). Beide schen Strukturen und die zurückhaltend eingesetzte
schildern in einfacher Volksliedform idyllische Na- Bildlichkeit. Darüber hinaus bleibt er sich auch in
turbilder, in denen ein lyrisches Ich mit der Natur di- seiner Gedichtlektüre insofern treu, als ihn be-
rekt kommuniziert. Besonders auffällig sind einige stimmte, meist biographisch konnotierte themati-
inhaltliche und poetologische Aspekte, die Kafka an- sche Komplexe unmittelbar ansprechen; dazu gehö-
gesprochen haben könnten. So ist bei Eichendorff in ren die romantische Vorstellung einer Natursprache
der dritten Strophe die Rede von einem »im Wald« ebenso wie die Themen Einsamkeit, Trauer und Tod.
geschriebenen »stillen, ernsten Wort«, das dem lyri-
schen Ich – das sich selbst zudem als »Einsamen« in
der Welt bezeichnet − »durch mein ganzes Wesen« Das Textkorpus
»unaussprechlich klar« wurde; das ist eine Wirkung
von Literatur, mit der auch der Autor Kafka sich Wie entwickeln sich nun Kafkas eigene lyrische Ver-
durchaus identifizieren konnte. Noch deutlicher ver- suche vor dem dargestellten Hintergrund seiner all-
weist das Gedicht Kerners auf Kafkasche Motive und gemeinen Vorstellung von Lyrik? Es bietet sich an,
masochistische Züge in seinem Werk. Dort wird be- einen Überblick über das Textkorpus anhand der
schrieben, wie eine Tanne »von einer blanken Säge« Entstehungs- bzw. Überlieferungskontexte zu geben;
zerteilt wurde – ein Verletzungsakt, der direkt in dabei läuft gleichzeitig eine chronologische Gliede-
Dichtung umgesetzt wird. rung mit. Da die Texte innerhalb des Gesamtwerks
Ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammt ein verstreut sind, werden zumindest die vollständigen
häufig vertontes Gedicht von Albert Graf von Schlip- Gedichte hier im Zusammenhang abgedruckt.
penbach, in das sich Kafka während seines Aufent-
halts im Sanatorium von Jungborn, so sein Brief an Frühe Texte in Poesiealben, Briefen
Felice Bauer vom 18. November 1912, »verliebt«
und im Nachlass
hatte (B00–12 243). Nun leb’ wohl du kleine Gasse ist
ein vierstrophiges Volkslied, in dem, denkbar unori- Der erste überlieferte Text ist, da stellt Kafka aus-
ginell, wie bei Eichendorff ein Abschied von Mutter, nahmsweise einmal keine Ausnahme dar, eine Wid-
Vater und der »Liebsten« aus dem »Städtchen« in- mung im Poesiealbum eines Jugendfreundes: Am
szeniert wird. Fasziniert war Kafka vor allem von der 20. November 1897 trägt der 16-jährige Kafka die
sprachlichen Gestaltung des Gedichts, die für ihn auf den ersten Blick trivial anmutenden Zeilen ein:
eine Umsetzung nicht nur ins Musikalische, sondern Es gibt ein Kommen und ein Gehn
ins Gestische geradezu aufdrängte; er schreibt: »Wie Ein Scheiden und oft kein – Wiedersehn.
das Gedicht trotz vollständiger Ergriffenheit ganz (NSF I, 7)
regelmäßig gebaut ist, jede Strophe besteht aus ei- Bemerkenswert ist aber immerhin die Verzögerung
nem Ausruf und dann einer Neigung des Kopfes« des Reim- und Versschlusses durch den Gedanken-
(243). strich, die die allzu naheliegende Antithese verwei-
Offensichtlich schätzte Kafka also durchaus die gert und ein rhythmisches Stolpern erzeugt. Mit ei-
Volksliedform als ›regelmäßige‹ lyrische Gestalt; dar- nigem Mut zur Deutung könnte man sagen: Schon
über hinaus die alltägliche, unpreziöse, auf menschli- in der ersten lyrischen Äußerung Kafkas ist der Tod
che Urerfahrungen abstellende Sprache sowie die gegenwärtig!
melodiöse Sprachbewegung, die es ihm – der sich Den skeptisch gebrochenen Charakter nimmt der
nach eigenem Bekunden als gänzlich unmusikalisch zweite überlieferte Poesiealbumseintrag Kafkas auf,
empfand – ermöglichte, lyrische Sprache in körperli- der trotz der prosaischen Form wegen des inhaltli-
Gedichte 373

chen Zusammenhangs hier kurz behandelt werden und die Karlsbrücke. Insgesamt drängt sich ein Ver-
soll. Das Einzelblatt ist als Nachlasskonvolut Nr. 2 gleich mit dem jungen Rilke der Larenopfer (1898)
überliefert und von Kafka auf den 4. September 1900 auf. Wagenbach (2006, 54) sieht hier vor allem noch
datiert. Der Eintrag beginnt mit einer sprachskepti- den starken Einfluss des von Kafka in dieser Zeit
schen Reflexion: »Wie viel Worte in dem Buche abonnierten Kunstwart, einer Zeitschrift, die um die
stehn! Erinnern sollen sie! Als ob Worte erinnern Jahrhundertwende mit stark pädagogischen und zu-
könnten!« (8). Demgegenüber wird als einzig ange- nehmend nationalen Untertönen eine authentische,
messene Form der Erinnerung das »lebendige Ge- einfache, an der Natur orientierte und volkstümliche
denken« beschworen, das allein die Vergangenheit – Kunst gegenüber den ästhetizistischen Strömungen
als »Asche« – wieder zur glühenden »Lohe« entfa- der Zeit forderte.
chen kann (ebd.). Ein solch mächtiger sprachlicher Gleichwohl wird der romantische Ton auch hier
Beschwörungsakt könne jedoch nicht »mit unge- gebrochen. Kafka experimentiert dazu mit unter-
schickter Hand und grobem Handwerkszeug« ge- schiedlichen formalen Mitteln: Während die erste
schehen, sondern nur auf »weißen, anspruchslosen und die dritte Strophe reimlos und freirhythmisch
Blättern« (ebd.). Das erklärt auch, warum das Blatt gestaltet sind, ist die mittlere eine traditionelle Ro-
aus einem Poesiealbum ausgeschnitten überliefert manzenstrophe und demonstriert Kafkas Vertraut-
ist: Es weist nämlich zwei Tintenkleckse auf. Gleich- heit mit der Formensprache der Überlieferung. Ins-
wohl sind hier über das Äußere hinaus bereits erste gesamt dominiert eine einfache, klare Wortwahl (mit
Charakteristika Kafkas wie die Selbstreflexivität der Ausnahme zweier Neologismen: »Mondlichtplatz«,
poetischen Tätigkeit und die mit ihr assoziierte »Abendwasser«) mit übersichtlichen Satzkonstruk-
»Keuschheit« (ebd.) zu erkennen. tionen und einer Neigung zur parallel gebauten
Trotz dieser Sprachskepsis versucht Kafka sich in Aufzählung. Die Reimlosigkeit wird teilweise durch
dieser Zeit weiterhin in Versen. In einem Brief an Klangmalerei kompensiert. Bezeichnenderweise
Oskar Pollak vom 8. November 1903 finden sich drei werden aber diese lyrischen Mittel nicht nur ästheti-
Strophen, die sich zunächst konventionell stim- sierend, sondern ebenso zur Zerstörung ›schöner‹
mungsmalerisch ausnehmen: Wirkungen eingesetzt.
Kühl und hart ist der heutige Tag. Aufgrund der formalen Variation ist nicht ganz
Die Wolken erstarren. klar, ob die drei Strophen tatsächlich zusammenge-
Die Winde sind zerrende Taue. hören. Neben der einheitlichen Lokalität sprechen
Die Menschen erstarren. dafür das durchgängig verwendete Motivarsenal aus
Die Schritte klingen metallen
dem Bereich der Elemente (Wolken, Wind, Steine,
Auf erzenen Steinen,
Und die Augen schauen Wasser) sowie die alle drei Strophen strukturieren-
Weite weiße Seen. den semantischen Oppositionen (Licht/Schatten,
In dem alten Städtchen stehn
Bewegung/Erstarrung, Belebtes/Unbelebtes). Sehr
Kleine helle Weihnachtshäuschen, unterschiedlich ist dagegen die evozierte Stimmung.
Ihre bunten Scheiben sehn Kurz sieht in der ersten Strophe bereits einen »früh-
Auf das schneeverwehte Plätzchen. expressionistischen Stil der Reihung und die frühex-
Auf dem Mondlichtplatze geht pressionistische Bildlichkeit einer verlorenen und
Still ein Mann im Schnee fürbaß,
Seinen großen Schatten weht erstarrten Existenz« (Kurz 1984b, 35). Diese Erstar-
Der Wind die Häuschen hinauf. rung wird allerdings in den letzten zwei Versen prak-
tisch aufgehoben, und zwar sowohl durch den po-
Menschen, die über dunkle Brücken gehn,
vorüber an Heiligen tenzierten Eindruck von »weite, weiße« (von da ist
mit matten Lichtlein. es der Klanglogik nach nur noch ein kleiner Schritt
Wolken, die über grauen Himmel ziehn zum »weichen«) wie auch durch das Schauen der
vorüber an Kirchen Augen: Die Strophe klingt ins Offene aus.
mit verdämmernden Türmen.
Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt
Dagegen scheint die zweite Strophe mit ihren
und in das Abendwasser schaut, Verniedlichungsformen (»Städtchen«, »Häuschen«,
die Hände auf alten Steinen. »Plätzchen«), ihrem Anachronismus (»fürbaß«) und
(B00–12 30 f.) ihrer räumlichen Geschlossenheit ganz ins Roman-
Kafka beschreibt hier Szenerien aus dem winterli- tische zurückzufallen. Allerdings findet sich auch
chen Prag; gut erkennbar sind der Weihnachtsmarkt hier am Schluss ein auffälliger Bruch: Der einsame
374 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Mann in seinem Gehen bringt im letzten Vers das ßeren Szenerie symbolisiert die detailliert wiederge-
Versmaß aus dem gleichmäßig alternierenden gebene Körperhaltung im Einklang mit der kontinu-
Rhythmus und verweigert den eigentlich fälligen ierlich absinkenden Satzmelodie und dem exakten
Endreim auf »fürbaß«; wiederum führt das Ende Parallelismus von Vers 4 und 5 Melancholie, Kraftlo-
also aus der Strophe hinaus. sigkeit, Trauer. Auffällig ist der Übergang vom per-
Die dritte Strophe schließlich evoziert schon sönlichen »wir« der ersten Strophe zu den »Men-
durch ihre herausgehobene graphische Gestaltung schen« in der zweiten; ebenso die distanzierte Be-
und den auffälligen Parallelismus der drei Strophen- schreibung des Äußerlichen durch »in Kleidern«.
teile den Eindruck verschiedener parallel verlaufen- Während die Menschen dadurch zur austauschba-
der Bewegungen der »Menschen«, der »Wolken« ren, haltlosen Staffage werden, wird der Natur kon-
und des an der Brücke lehnenden »Einen«; man trastierend ein klassisches Erhabenheitsmotiv zuge-
könnte sie als eine Art Zusammenfassung aller drei schrieben: der »große Himmel«, der Blick in die
Strophen und der in ihnen dargestellten Bewegungs- Ferne. Besonders gelungen mutet schließlich die
vorgänge lesen. Im Gegensatz zu ihren beiden Vor- Schlusswendung an, bei der die Ausbreitung des
gängerinnen vermittelt das Schlussbild nun zwi- Blicks sprachlich in Form der Figura etymologica −
schen Erstarrung und Bewegung: Der »Eine« steht »von Hügeln in der Ferne« zu »fernen Hügeln« −
im direkten sinnlichen Kontakt mit den »alten Stei- eingefangen wird. Das Gedicht weist damit vor allem
nen« – der Geschichte Prags; und er schaut von sei- im Motivbestand erste Kafka-typische Züge auf.
nem festen Standpunkt, angelehnt an die Brüstung, Eine Sonderstellung – man kann wohl ohne Über-
auf das bewegte »Abendwasser« hinab. Wüsste man treibung sagen: im Kafkaschen Gesamtwerk – nimmt
nicht, dass es Kafka ist, könnte man von einem idyl- schließlich das Gedicht Kleine Seele ein, das Kafka
lischen Schlussbild sprechen, in dem Natur, Mensch auf der Rückseite eines Kalenderblattes vom 17./18.
und Geschichte, Bewegung und Erstarrung in Ein- September 1909 notierte (NSF I, 181); er schrieb es
klang gebracht sind. Weiß man, dass es Kafka ist, außerdem am 26. November 1911 in ein Stammbuch
wird man allerdings auch Georg Bendemann auf (vgl. T 273 f.). Das fünfzeilige, anfangs streng alter-
dieser Brücke stehen sehen. Das Bild ist zweifellos nierende, später durch Doppelsenkungen metrisch
nur eines: ambivalent. aufgelockerte Gedicht ordnet Kafka (wie Arno Holz
Ein zweites Briefgedicht findet sich in einem in seinem Phantasus) symmetrisch um die Mittel-
Schreiben an Hedwig Weiler vom 29. August 1907, achse an:
soll aber deutlich früher entstanden sein (»vor Jah- Kleine Seele
ren […] geschrieben«; B00–12 57). Die zwei Stro- springst im Tanze
phen variieren das Muster der Romanzenstrophe legst in warme Luft den Kopf
sehr frei, indem sie diese jeweils um einen fünften hebst die Füße aus glänzendem Grase
das der Wind in zarte Bewegung treibt
Vers verlängern. Ebenfalls aufgegeben wird die
(NSF I, 181)
Reimform; sie wird auch hier kompensiert durch
häufige Assonanzen und Alliterationen mit einer Das Singuläre an diesem Gedicht im Blick auf Kafka
Vorliebe für Umlaute: ist seine ganz und gar heitere, gelöste, ja geradezu
In der abendlichen Sonne zärtliche Ausstrahlung, die Leichtigkeit der tänzeri-
sitzen wir gebeugten Rückens schen Bewegtheit, die überwältigende Frühlings-
auf den Bänken in dem Grünen. stimmung. Keinerlei Ambivalenzen, keine dunklen
Unsere Arme hängen nieder, Todesandeutungen mehr: Es ist, als ob ein anderer
unsere Augen blinzeln traurig.
spricht. In der Forschung wurde deshalb über Vor-
Und die Menschen gehn in Kleidern bilder spekuliert; Kurz verweist auf Thomas Manns
schwankend auf dem Kies spazieren Ein Glück, das Kafka Brod begeistert empfiehlt und
unter diesem großen Himmel
der von Hügeln in der Ferne
das beginnt: »Still! Wir wollen in eine Seele schauen«
sich zu fernen Hügeln breitet. (Kurz 1984a, 22). Angesichts von Kafkas bekannter
(B00–12 57; vgl. auch NSF I, 54) Vorliebe für Hugo von Hofmannsthals Gespräch
über Gedichte könnte man auch an dessen Psyche
Den Hintergrund bildet immer noch Prag, diesmal denken. Letztlich bleibt es dem Leser überlassen, ob
die Schützeninsel unter der Franzensbrücke als Ziel er hier für einen Moment an einen anderen, von sei-
abendlicher Spaziergänge. Trotz der idyllischen äu- ner eigenen lyrischen Sprache berauschten, endlich
Gedichte 375

einmal befreiten Kafka denken möchte – oder ob er Landarztes, der sich aus einer paradoxen Umkeh-
den Text als gymnastische Fingerübung im Hof- rung des Arzt-Patienten-Verhältnisses geradezu
mannsthal-Stil, womöglich sogar als Parodie liest. zwingend ergibt. Der vermeintlich festliche Gesang
des Kinderchors entpuppt sich als makabrer Toten-
Lyrik im Erzählwerk gesang, der an die kollektiven Schicksalssprüche ei-
nes antiken Chors gemahnt.
Eine kleine Gruppe bilden lyrische Einsprengsel in
Erzähltexten Kafkas. So nimmt Kafka die zweite Stro- Gedichte aus den Tagebüchern
phe des Gedichts aus dem Brief an Hedwig Weiler als
mit biographischem Kontext
Motto in die erste Fassung der Beschreibung eines
Kampfes auf (NSF I, 54); schon in der zweiten Fassung Sowohl in den zwölf Tagebuchheften als auch in
entfällt sie allerdings wieder. Mit dem Text ist das Ge- den späteren Nachlasskonvoluten finden sich über
dicht eher schwach durch das Motiv des Spaziergangs die Jahre hinweg verstreut immer wieder Gedicht-
sowie die Prager Szenerie verbunden. Ebenfalls nur in anfänge, die meist über eine oder zwei Zeilen nicht
der Erstfassung finden sich drei Verszeilen kurz vor hinauskommen, sowie einige mehrzeilige, teilweise
Ende des ersten Kapitels. Gesprochen werden sie von abgeschlossene Gedichte. Einige von ihnen können
dem Erzähler-Ich, dem in einer euphorischen Erinne- relativ stringent biographischen Ereignissen zuge-
rung an das »Mädchen im schönen weißen Kleid« ordnet werden. So findet sich am 15. September
und dessen Liebe ein Vers einfällt: 1912, am Tag der Verlobung der Schwester Valli, ein
Ich sprang durch die Gassen zweistrophiges, metrisch regelmäßiges Gedicht mit
wie ein betrunkener Läufer einem aufschlussreichen Folgeeintrag:
stampfend durch Luft Aus dem Grunde
(NSF I, 69) der Ermattung
Hier wird die lyrische Sprachform offensichtlich als steigen wir
Steigerungsmittel benutzt, um die besonders gelöste mit neuen Kräften
Bewegtheit des Ich sprachlich anschaulich zu ma- Dunkle Herren
chen. Auf das Gleiche zielt allerdings der sich im welche warten
bis die Kinder
Prosatext anschließende Vergleich mit dem Schwim-
sich entkräften
men, der deshalb wohl in der zweiten Fassung allein
übernommen wird. Liebe zwischen Bruder und Schwester – die Wieder-
holung der Liebe zwischen Mutter und Vater (T 438).
Ähnlich und doch anders ist auch das zweite Bei-
spiel für lyrisches Sprechen innerhalb eines Kafka- Das Gedicht spielt mit mehreren Antithesen: Auf-
schen Erzähltextes. Es handelt sich um zwei kurze stieg und Fall zum einen, die in der aufsteigenden
Passagen im Landarzt, die von den Kindern des Sprachbewegung der ersten Strophe gegenüber dem
Schulchores auf dem Dorf gesungen werden; Binder fallenden Duktus der zweiten sprachlich umgesetzt
vermutet, dass sie vielleicht von Prager Gassenhau- erscheinen; »dunkle Herren« und »Kinder« zum an-
ern geprägt sind (Binder 1979, 501): deren. In der Abfolge von Ermattung, Kräftigung
und erneuter Entkräftung wird darüber hinaus ein
Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Kreislauf angedeutet. Bezieht man diesen auf die be-
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt. vorstehende Hochzeit, so ergibt sich ein allerdings
[…] paradoxes Generationsmodell: Die Ermattung und
Freuet euch, ihr Patienten, die Entkräftung werden als ursprüngliche, als erste
Der Arzt ist euch ins Bett gelegt! und letzte Zustände beschrieben, zwischen denen
(DzL 259; 261)
die »Kräfte« nur ein kurzes Zwischenspiel geben
Hier geht es ebenfalls um die Einbeziehung einer an- dürfen. Die Kindheit ist insofern nicht etwa der na-
deren Sprachhaltung und einer anderen Sprachfunk- türliche Zustand des Menschen, sondern nur eine
tion in den Erzähltext: Gerade in der Einfachheit der kurze Blüte, die im Prozess des Erwachsenwerdens
abzählreimartigen Verse, ihrer plakativen Antithe- nach der existentiellen Logik des Vater-Sohn-Ver-
tik, begleitet laut Text von einer »äußerst einfachen hältnisses durch die »dunklen Herren« zwanghaft
Melodie«, liegt ihre tödliche Brutalität: Beschworen wieder zerstört werden muss. Es ist insofern logisch,
wird in beiden Stellen der unvermeidliche Tod des dass dieses Gedicht eine ungewöhnliche Geschlos-
376 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

senheit aufweist; es spiegelt selbst ein kurzes sprach- In wiederum parallel gebauten Sätzen kreist das Ge-
liches Aufraffen zu »neuen Kräften«, bevor es im dicht um Variationen der grundlegenden Antithese
zweiten Teil wieder ermattet in sich zusammenfällt. von Innerem und Äußerem, um diese am Schluss in
Die nächsten Verse Kafkas entstehen angesichts ei- einer Art Auflösung zurückzuweisen: Es gibt keine
nes für ihn noch sehr viel bedeutenderen biographi- Trennung von Schlüssel und Schloss, von Gerüchten
schen Erlebnisses, nämlich im unmittelbaren Umfeld und Wahrheit, von Inhalt und Form; es gibt nur das
des ersten sexuellen Kontakts mit Felice Bauer in Ma- eine Ich, das sich zwar nicht kennt, aber das sich –
rienbad im Juli 1916. Neben einer Reihe von Frag- und zwar gerade in diesem Nicht-Kennen – auf un-
menten, die auf die Lektüre des ersten Buch Mose ver- verwechselbare Weise wiedererkennt: »Denn ich bin
weisen (T 796), und einzelnen lyrischen Anfangszei- es selbst«. In ähnlicher direkter Selbstaussprache ist
len (T 794 f.) steht auch ein längerer Verstext vom 19. ein weiterer Gedichtanfang formuliert (»Meine
Juli 1916; Felice war inzwischen wieder abgereist: Sehnsucht waren die alten Zeiten«), den Kafka im
Spätsommer 1920 notiert und der eine Art Lebens-
Träume und weine armes Geschlecht
resümee darstellt; eine Interpretation erübrigt sich:
findest den Weg nicht, hast ihn verloren
Wehe! Ist Dein Gruß am Abend, Wehe! am Morgen mein Leben habe ich damit verbracht
Ich will nichts nur mich entreißen mich zurückzuhalten es zu zerschlagen.
Händen der Tiefe die sich strecken (NSF II, 339; vgl. auch BM 282)
mich Ohnmächtigen hinabzunehmen.
Schwer fall ich in die bereiten Hände.
(T 797) Tendenz zur Abstraktion
In außergewöhnlich unverschlüsselter Sprache und Parallel zu diesen direkt sprechenden Texten finden
direkter Ich-Aussage wird hier über die neue sexu- sich in den späten Konvoluten neben weiteren kur-
elle Erfahrung gesprochen. Eine Überformung bietet zen Anfangssätzen (vgl. NSF II, 110 f.) zwei längere
lediglich der parallelismus membrorum des zweifa- hermetisch wirkende Fragmente. Das erste von ih-
chen »Wehe«, der das persönliche Schicksal zu ei- nen entstand ca. März/April 1918:
nem allgemeinen, in der psalmodierenden Sprach-
Ach was wird uns hier bereitet
haltung an biblische Verkündigungen gemahnenden
Bett und Lager unter Bäumen
Unglück aufwertet. An das Gedicht anlässlich der Grünes Dunkel, trocknes Laub
Verlobung Vallis erinnert die negative Formulierung wenig Sonne, feuchter Duft
des »Entreißens« ebenso wie das Motiv des Fallens, Ach was wird uns hier bereitet
dem hier aber kein Steigen mehr an die Seite tritt. Wohin treibt uns das Verlangen
Das Gedicht endet mit einer Art Urteil, gegen das Dies erwirken? dies verlieren?
dem »Ohnmächtigen« kein Widerstand möglich ist, Sinnlos trinken wir die Asche
der sich von den »bereiten Händen« unwiderstehlich und ersticken unsern Vater
Wohin treibt uns das Verlangen
angezogen fühlt. (NSF II, 110)

Sentenziöse Gedichte der Spätzeit Heutige Leser müssen hier wohl zwangsläufig Celan
mitlesen, spätestens in der sich zur absoluten Meta-
Nach weiteren Gedicht-Anfängen (vgl. NSF I, 377; pher verdichtenden Bildlichkeit der zweiten Strophe,
406 f.) entstehen noch einige vollständigere Entwürfe potenziert noch durch die Verbindung der Vernich-
während Kafkas Aufenthalt in Zürau vom Septem- tung mit der »Asche«. Was wie ein Liebesgedicht be-
ber 1917 bis zum April 1918. Das erste von ihnen ginnt – die Bereitung eines Bettes unter Bäumen –,
steht in seinem Rätselcharakter den philosophisch wird zu einer Todesphantasie. Das Bett, das bereitet
geprägten Aphorismen, die Kafka in dieser Zeit wird, kann in diesem Zusammenhang genauso gut
schreibt, sehr nahe: das von Laub bedeckte Grab sein; das Verlangen, das
beschworen wird, ist gleichzeitig das nach Leben
Ich kenne den Inhalt nicht (»erwirken«) und das nach Sterben (»verlieren«);
ich habe den Schlüssel nicht das Gedicht dreht und wendet sich zwischen diesen
ich glaube Gerüchten nicht
Antithesen wie zwischen den sich wiederholenden
alles verständlich
denn ich bin es selbst Anfangs- und Schlussversen, die jedoch im Gedicht
(24.12.1916; NSF II, 53) selbst ihre Bedeutung fortwährend wandeln.
Gedichte 377

Das letzte Beispiel schließlich ist deshalb beson- Zweiheit von expressionistischer und parabolischer
ders interessant, weil es zeigt, dass der Übergang Darstellung sehen, die Walter H. Sokel für das Er-
zwischen Lyrik und einer stark rhythmisch durch- zählwerk insgesamt konstatiert hat (Sokel 1983, 19).
formten Prosa sich für Kafka verflüssigt. Er notiert Offenbar gelingt es Kafka jedoch nicht, in der Ly-
nämlich den gleichen Text zunächst in fortlaufender rik einen ähnlich einfachen und doch unverwechsel-
Schreibweise, direkt darauf dann in Mittelachsenan- baren Personalstil auszubilden wie in seiner Prosa.
ordnung als Gedicht: Als genuin lyrisch empfindet Kafka die wortmagi-
Aufgehoben die Reste, schen Aspekte von Abzählreimen, Gassenhauern,
die glücklich gelösten Glieder, volkstümlichen Liedern, biblischen Texten, die er
die gelockerten Knie, häufig in seinen Gedichten – vor allem in den ein-
unter dem Balkon im Mondschein. gängigen Wiederholungen kurzer Satzbestandteile
Im Hintergrund ein wenig Laubwerk,
oder Einzelworte – verwendet. ›Originell‹ wirken
schwärzlich wie Haare.
(›Konvolut 1920‹; NSF II, 323) seine Gedichte allerdings vor allem dort, wo sie
Merkmale des Prosastils adaptieren oder sich der
Nicht nur wegen der graphischen Anordnung erin- Prosa überhaupt annähern.
nert das Gedicht ein wenig an Kleine Seele: Es Das scheint mir schließlich auch der wesentliche
herrscht ebenfalls eine gelöste, heitere Stimmung, Grund für die Vernachlässigung der Lyrik zu sein:
die sich in der besonderen Bewegtheit der Glieder Kafka verwirklicht wesentliche Ziele poetisch ver-
wie der Verse ausdrückt. Hier allerdings schwingt dichteten Sprechens tatsächlich in seinen Erzähltex-
eine Reihe von Ambivalenzen mit, von der Doppel- ten. Angesichts des Lebensprojektes dieser Prosa als
deutigkeit des »aufgehoben« bis hin zur »schwärzli- möglichst vollständiger und lückenloser Umschrift
chen« Stimmung. So kann die Szene gleichermaßen seines »inneren Lebens« können Gedichte, schon
als Liebesszene (Romeo unter Julias Balkon) wie aufgrund ihrer Kürze, letztlich nur Momentaufnah-
auch als Todesszene gelesen werden: Glücklich ge- men bleiben. Als solche aber zeigen sie in kurzen
löst sind die Glieder ultimativ im Tod, endgültig Augenblicken einen ›anderen‹ Kafka, einen utopi-
»aufgehoben« sind die Reste im »schwärzlichen« schen, der seinen Platz nur in diesen wenigen Zeilen
Grab, wo sich das Laubwerk untrennbar mit den hat. Wahrscheinlich wäre es für Kafka als Mensch
Haaren verflechten wird. besser gewesen, wenn er mehr Gedichte geschrieben
hätte.
Funktionen der Lyrik bei Kafka
Kafka hat Gedichte geschrieben. Unabhängig von Forschung und Wirkung
ihrer Qualität erfüllen sie in verschiedenen Phasen
seiner literarischen Produktion unterschiedliche Kafkas Gedichte wurden wenig gelesen. Das hängt
Funktionen. Die ersten Texte in den Briefen und Al- vor allem damit zusammen, dass es so wenige sind
bumblättern kommen traditionellen Vorstellungen und dass sie so weit über das Werk verstreut sind.
der lyrischen Selbstaussprache oder der Stimmungs- Die wesentlichen Hintergrundinformationen zu den
malerei noch am nächsten. In den Erzähltexten die- Fundstellen, den Entstehungshintergründen und zu
nen die eingefügten, kurzen lyrischen Texte zur Mar- Kafkas Auseinandersetzung mit der Lyrik finden
kierung einer anderen Sprachhaltung und als knap- sich bei Binder. Verstreute Anmerkungen in Kafka-
per Kontrapunkt zur Erzählung. In den Tagebüchern Monographien zu einzelnen Texten wurden oben
können biographische Erfahrungen in Gedichtent- bereits zitiert; eine Gesamtdarstellung seines lyri-
würfe münden, die dann aber verschlüsselt und ver- schen Schaffens existiert bisher nicht.
allgemeinert erscheinen. Das steigert sich noch in
den häufig äußerst hermetischen Fragmenten, die Texte: Gedichte in Briefen: Kühl und hart ist der heutige
hier weitgehend ausgespart wurden. Schließlich sind Tag : ED: Briefe/GW 21 f.; B00–12/KA 30 f.; In der
im Spätwerk zwei Varianten lyrischer Sprachhaltun- abendlichen Sonne : ED: Briefe/GW 39 f.; B00–12/KA
gen nachweisbar: Die eine Linie formuliert in direk- 57. –– Gedichte in Werkkontexten: Aus: Ein Landarzt:
ter Selbstaussprache parabolische Lebenserfahrun- ED: siehe dort; Erz/GW 152 f.; DzL/KA 259, 261. – Aus:
gen; die andere in absoluten Metaphern die Ambiva- Beschreibung eines Kampfes I: ED: siehe dort; NSF I/KA,
lenz von Leben und Tod. Man könnte hier auch die 69; BeK/FKA, BeK 56 f. –– Gedichte in den nachgelas-
378 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

senen Schriften und Fragmenten: Es gibt ein Kommen 3.4.2 Die Tagebücher
und ein Gehn: NSF I/KA, 7. – Kleine Seele: ED: Hzv/GW
131; NSF I/KA, 181. – [Fragmente]: NSF I/KA, 377 u.
406 f.; OO3&4/FKA (2008), H. 4, 43 u. OO5&6/FKA Zur Textgruppe
(2009), H. 5, 28. – Ich kenne den Inhalt nicht: ED: Hzv/
GW 88; NSF II/KA, 53. – Ach was wird uns hier bereitet Zwischen 1909 und 1916 ist das Tagebuch Kafkas
u. a.: ED: Hzv/GW 129; NSF II/KA, 110 f. – Aufgehoben ständiger Begleiter, wenn es auch nicht durchgängig
die Reste: ED: Hzv/GW 303; NSF II/KA, 323. – Meine
die Funktion eines Tagebuchs erfüllt und bisweilen
Sehnsucht waren die alten Zeiten: ED: Hzv/GW 338;
eben auch als ›Schreibheft‹ dient. Das unter der Sigle
NSF II/KA, 339. – [Fragmente]: NSF II/KA, 339, 515,
›Tagebücher‹ edierte Korpus umfasst zwölf Quart-
525 u. 543. –– Gedichte in den Tagebüchern: Aus dem
hefte, zwei Konvolute aus losen Blättern und vier
Grunde der Ermattung: ED: T/GW 290; T/KA 438. –
[Fragment]: T/KA 561. – Träume und weine armes Ge- Reisetagebücher. Ohne interpretatorische Vorgriffe
schlecht u. a.: ED: T/GS (1937) 101; T/GW 505–507; T/ zu leisten, lässt sich konstatieren, dass die Intensität
KA 794–797. –– Anthologie: F.K.: Kleine Seele, springst der Tagebuchführung nicht konstant bleibt, sondern
im Tanze. Lyrische Fragmente. Hg. v. Alfons Schweig- zwischen Phasen enorm hohen Schreibpensums und
gert. München 2004. Phasen nahezu völligen Verstummens der Schrift
Forschung: P.-A. Alt (2005). − Hartmut Binder: Lyrik. schwankt.
In: KHb (1979) II, 500–503. − Deleuze/Guattari Diese Phasen lassen sich einigermaßen zuverläs-
(1976). – Gerhard Kurz: Einleitung. Der junge Kafka im sig eingrenzen. Der Beginn der Niederschrift – frü-
Kontext. In: G. Kurz (1984[a]), 7–39. – Ders.: Schnörkel hestens auf den Mai 1909 zu datieren – nimmt sich
und Schleier und Warzen. Die Briefe K.s an Oskar zögerlich aus. Bis zum Mai 1910, in dem Kafkas Auf-
Pollak und seine literarischen Anfänge. In: G. Kurz merksamkeit nicht zuletzt dem Halleyschen Kome-
(1984[b]), 68–101. − Alfons Schweiggert: F.K., ein Lyri- ten gilt (wohl Nov./Dez. 1909, T 14; 18./19.5.1910, T
ker? In: F.K.: Kleine Seele, springst im Tanze. Lyrische 16), finden sich nur wenige Einträge, schließlich
Fragmente. Hg. v. A.S. München 2004, 129–156. – mündet das Tagebuch in eine Textpassage (wohl
W. Sokel (1983 [1964]). − K. Wagenbach (2006 [1958]). Sommer 1910, T 17–28), die ihre Reinschrift offen-
bar unter dem Titel Der kleine Ruinenbewohner er-
Jutta Heinz fahren sollte (ä 145–148). Besagter Titel findet sich
allerdings – im Anschluss an Erzählansätze zu Un-
glücklichsein und Beschreibung eines Kampfes – in
einem zweiten Heft. Jenes trägt also zunächst den
Charakter eines bloßen ›Schreibheftes‹, ehe Kafka
dann – offensichtlich nachträglich – die erste Datie-
rung für den 6. November 1910 vornimmt und die
Eintragungen diarische Züge annehmen. Die Ein-
träge in dieses zweite Heft sind fortan zwar noch
sporadisch, lassen aber doch eine gewisse Kontinui-
tät erkennen, die bis in den März 1911 reicht. Hier
beginnt Kafka nun eine doppelte Buchführung: Er
kehrt wieder zum ersten Heft zurück, ohne gleich-
zeitig das zweite Heft zu verlassen. So finden sich so-
wohl Ansätze zu einer Rezension von Brods Roman
Jüdinnen wie auch Einträge zu Rudolf Steiners Pra-
ger Vortragsreihe in beiden Heften.
Während das zweite Quartheft mit einem Versuch
zu dem von Kafka und Brod geplanten gemeinsa-
men Roman Richard und Samuel im September 1911
vorläufig endet (T 162–167), entwickelt sich aus je-
nem wiederaufgenommenen ersten Heft heraus nun
ein akribisch betriebenes Diarium. Dieses reicht bis
in den September 1912 und endet mit der Nieder-
Die Tagebücher 379

schrift des Heizer-Kapitels im sechsten Quartheft nicht zuletzt durch die Thematisierung der jüdischen
(25.9.1912, T 464–488). (Die Fortsetzung des Hei- Präsenz im Ausstrahlungsraum des deutschen Kul-
zers und der Beginn des zweiten Kapitels des Ver- turhortes eine hohe Komplexität entwickelt (7.7.1912,
schollenen komplettieren den Textbestand des zwei- T 1037–1039), so entstehen ein Jahr später, im Zuge
ten Heftes; T 168–191.) Gut die Hälfte der Kafka- von Kafkas Reise nach Wien zum XI. Zionistenkon-
schen Tagebücher erstreckt sich somit über den gress und zum II. Internationalen Kongress für Ret-
Zeitraum des Frühwerkes und bereitet ganz offen- tungswesen und Unfallverhütung im September
sichtlich die literarische Eruption des Herbstes 1912 1913, nur noch ganze drei Einträge.
vor, in welcher der Großteil des Verschollenen sowie Es ist symptomatisch, dass gerade dort, wo die li-
Das Urteil und Die Verwandlung entstehen. terarische Energie sich im Erzählen entlädt, das Ta-
Auch die vier Reisetagebücher sind ein Produkt gebuch schweigt, und dass umgekehrt das Tagebuch
jener intensiven Frühphase des Diariums. Bezeich- in jenem Moment wieder an Bedeutung gewinnt, in
nenderweise beginnt das erste Reisetagebuch, das dem nicht erzählt werden kann. Ist die kurze Unter-
Kafka während seiner Dienstreisen nach Friedland brechung diarischen Schreibens bis zum Februar
und Reichenberg im Januar/Februar 1911 geführt 1913 zweifellos dem erwähnten produktiven Aus-
hat, mit der Bemerkung: bruch geschuldet, so gilt Kafkas Aufmerksamkeit bis
Ich müßte die Nacht durchschreiben, so viel kommt zur Aufnahme des Process im August 1914 wieder
über mich, aber es ist nur unreines. Was für eine Macht nahezu allein den Tagebüchern. In dieser Zeit füllt er
dieses über mich bekommen hat, während ich ihm frü- drei weitere Quarthefte, in denen sich auch zuneh-
her soviel ich mich erinnere mit einer Wendung, einer mend Reflexionen finden, die ausdrücklich auf das
kleinen Wendung, die mich an und für sich noch glück-
Schreiben und Lesen, bzw. auf den Status des Tage-
lich machte, auszuweichen imstande war (T 931).
buchs bezogen sind; auch die Konvolute entstehen in
Jener ungeheure wie ominöse Schreibdruck, dem diesem Zeitraum. Zwischen August und November
er nun nicht mehr ›auszuweichen imstande ist‹, ver- 1914 – Kafka arbeitet da nicht nur am Process, son-
anlasst Kafka, auch während seiner Abwesenheit von dern auch am ›Oklahama‹-Fragment und an In der
Prag das Tagebuch nicht zu unterbrechen. Grund- Strafkolonie – hält die Notation wieder inne, verla-
sätzlich lässt sich dabei feststellen, dass die Reisetage- gert sich Kafkas Schreibtätigkeit erneut auf das kon-
bücher einen stärker protokollarischen Gestus an- zeptionelle Erzählen.
nehmen. Im Unterschied zu den zeitgleich beschrie- In der Folge werden die Tagebücher dann zwar
benen Quartheften fehlen ihnen die Ansätze zu weitergeführt, jedoch lässt die Dichte der Einträge
einem von der äußeren Beobachtung losgelösten merklich nach. Das zehnte Quartheft erstreckt sich
Erzählen völlig. Die Dominanz der Szenenbeschrei- immerhin noch über zehn Monate, also bis zum Au-
bung macht sich insbesondere im zweiten, umfang- gust 1915. Das elfte Heft, das nicht zuletzt auch Kaf-
reichsten Reisetagebuch bemerkbar, das auf der kas Besuch beim Wunderrabbi von Grodeck doku-
gemeinsamen Reise mit Brod nach Oberitalien und mentiert (14.9.1915, T 751 f.), zeugt von ersten Auf-
Paris und während des Erlenberger Sanatoriums- lösungserscheinungen; stellenweise dient es als
aufenthaltes im August/September 1911 abgefasst Exzerptheft (1.10.1915, T 757–764). Eine stringente
wurde. Besondere Erwähnung verdient hier etwa die Schreibpraxis endet spätestens im Dezember 1915.
minutiöse Schilderung eines Pariser Verkehrsunfalls Dort stößt man auf eine Eintragung, die wiederum
(11.9.1911, T 1012–1017). Der Aufenthalt in Wei- auf die »zufällige letzte Eintragung« rekurriert (wel-
mar-Jungborn im Juni/Juli 1912 – dokumentiert che bereits über vier Wochen alt ist) und Kafka zu
durch das dritte Reisetagebuch – wird erwartungsge- dem Schluss kommen lässt, dass er sich »1000 Ein-
mäß durch die Begegnung mit der Deutschen Klassik tragungen gleichen Inhalts aus den letzten 3–4 Jah-
bestimmt, die für Kafka nicht zuletzt im Zusammen- ren […] vorstellen« könne. »Ich verbrauche mich
treffen mit dem Breslauer Magistratsbeamten Dr. sinnlos, wäre glückselig schreiben zu dürfen,
Friedrich Schiller lebendig wird (11.7.1912, T 1042 f.; schreibe nicht« (25.12.1915, T 775). Das Diarium
14.7.1912, T 1046; 20.7.1912, T 1053). Sie verfolgt ihn bricht nach zwei weiteren Dezember-Einträgen ab,
bis in seine Träume, in denen er »mit einer unendli- wird erst wieder im April 1916 aufgenommen, er-
chen Freiheit und Willkür« »Goethe deklamieren« langt im Juli wieder eine recht hohe Notationsdichte
hört (10.7.1912, T 1042). Handelt es sich hierbei noch und endet dann – nach einem aufgesetzten Brief an
um ein recht dichtes und extensives Textgefüge, das Felice Bauer – am 30. Oktober 1916.
380 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

An dieser Stelle treten nun die Oktavhefte (NSF I Danach finden sich nur noch sechs kürzere Eintra-
u. II; OO1&2 u. OO3&4/FKA) in Konkurrenz zu gungen, deren letzte aller Voraussicht nach in den
den Quartheften. So gehört auch die nächste und Juni 1923 fällt.
zugleich einzige Eintragung der nächsten neun Mo-
nate zum Erzählkomplex des <Jäger Gracchus>
(30.10.1916, T 810 f.), der extensiv in den Oktav- Veröffentlichung
heften entfaltet wird. Erst ab Juli 1917 lässt sich wie-
der von einem Tagebuch sprechen; allerdings trägt In Auswahl wurden die Tagebücher erstmals in
der Großteil der datierten Aufzeichnungen nun Band VI der von Brod und Politzer 1937 herausge-
recht deutlich einen ›erzählenden‹ Charakter. Hinzu gebenen Werkausgabe veröffentlicht (T/GS). 1951
kommen – auch im letzten, dem zwölften Quartheft besorgte Brod dann die erste Gesamtausgabe der
– einige Traumaufzeichnungen (20.4.1916, T 779; Hefte, wobei er nicht nur Varianten löschte, son-
6.7.1916, T 792; 19. u. 21.9.1917, T 835 u. 836 f.; dern auch »einzelnes, was bedeutungslos, weil allzu
10.11.1917, T 843). Noch vor der zweiten Entlobung fragmentarisch erschien«. Ferner »wurde allzu Inti-
von Felice Bauer legt Kafka das Heft für nahezu zwei mes nicht aufgenommen, auch allzu verletzende
Jahre beiseite. Am 27. Juni 1919 eröffnet er dann ein Kritik gegen den und jenen, die im Sinne Kafkas ge-
»neues Tagebuch, eigentlich nur weil ich im alten ge- wiß nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war«
lesen habe« (T 845). Dieses ›neue‹ Tagebuch hält (Max Brod: Nachwort, T/GW 722). Die Fassung der
freilich zunächst wiederum nicht lange vor: Zwi- Handschrift wurde erst 1990 im Rahmen der Kriti-
schen Juli und Dezember finden sich keinerlei Ein- schen Kafka-Ausgabe durch Hans-Gerd Koch, Mi-
träge. Ein kleinerer, bis zum Februar 1920 reichen- chael Müller und Malcolm Pasley ediert (T). Die
der Block versammelt sodann vor allem existenzphi- Handschrift selbst, auf deren Grundlage insbeson-
losophische Räsonnements (die sich allesamt auf dere der Zusammenhang der einzelnen Aufzeich-
einen »Er« beziehen: 6.1. − 2.2.1920, T 847–854; nungen neu diskutiert werden muss, wird mittler-
15.2. − 29.2.1920, T 856–862). weile durch die von Roland Reuß und Peter Staengle
Die letzte diarische Sequenz beginnt – nach fast herausgegebene Frankfurter Kafka-Ausgabe zu-
anderthalbjähriger Unterbrechung – im Oktober gänglich gemacht, in der 2001 die ersten beiden
1921, eine Woche, nachdem Kafka alle vorherigen Quarthefte erschienen.
Quarthefte mitsamt den bereits beschriebenen Sei-
ten des zwölften Heftes an Milena Jesenská überge-
ben hat. Jene letzte Phase des Tagebuchs steht ganz Strukturierung des Materials
im Zeichen der Frage, »ob ich noch fähig bin eine
Art Tagebuch zu führen?«, eine Frage, die in der Die Struktur eines Tagebuchs wird gemeinhin durch
Überzeugung gründet, »ein lebendig gewordenes die Datierungsfunktion geleistet. Bereits in dieser
Gedächtnis« geworden zu sein, das sich die »Dinge Hinsicht lässt sich konstatieren, dass Kafkas Tagebü-
nicht mehr umständlich bewußt« machen muss – cher zu erwartende Orientierungsmuster unterlaufen.
und kann (15.10.1921, T 863). Was nun folgt, ist das Zum einen verlaufen die Aufzeichnungen in weiten
Protokoll einer letzten Mobilisierung des Schreibens Teilen ohne Datierung, zum anderen ist selbst dort,
gegen die fortschreitende körperliche Auszehrung. wo Kafka Datierungen einsetzt, nicht immer klar, ob
Kafka sucht den »merkwürdigen, geheimnisvollen, er sich hierbei auf den Zeitpunkt der Niederschrift
vielleicht gefährlichen, vielleicht erlösenden Trost oder den Zeitpunkt des datierten Ereignisses bezieht.
des Schreibens«, »eine höhere Art der Beobach- Ein weitaus größeres Problem stellt die Heteroge-
tung«, die sich von der physischen Verfallsgeschichte nität der Textformation dar. Insofern sich in den
loslösen, lossagen kann (27.1.1922, T 892). Die es- Quartheften diarische Notiz und literarische Vorar-
sentielle Bedeutung, die dem Tagebuch nun wieder beiten durchkreuzen, scheint die Gesamtbezeich-
zukommt, artikuliert sich nicht zuletzt in dem Be- nung ›Tagebücher‹ eine Genreerwartung zu präjudi-
fund, dass weder der Kuraufenthalt in Spindelmühle zieren, die sich mit Blick auf den Textbestand so
noch die gewaltige Arbeit am letzten Romanentwurf, nicht halten lässt. Jenseits einer gattungsspezifischen
am Schloss, die Notation diesmal unterbrechen kön- Terminologie dürfte allerdings die entscheidende
nen. Erst der Sommeraufenthalt in Planá im Juni Überlegung sein, inwiefern sowohl diarische Notiz
1922 setzt den Schreibprozess für zwei Monate aus. als auch literarische Vorarbeiten dem gleichen
Die Tagebücher 381

Schreibmechanismus unterliegen, der sowohl ihre samt seiner Gegenwart durch das Tagebuch ›ergrif-
Benachbarung innerhalb der Hefte wie ihre gemein- fen‹ wird, bis ihm jeder erlebte Augenblick nurmehr
same Behandlung seitens der Forschung unter dem in schriftlicher Vermittlung, bzw. »als Konstruktion«
Stichwort ›Tagebücher‹ rechtfertigen. erscheint (19.11.1913, T 594).
So ließe sich zunächst – unbesehen einer ›werk- Geben sich Kafkas Tagebücher somit als das ge-
orientierten‹, bzw. ›diarischen‹ Zuordnung – dem heime Steuerungszentrum einer ganz über ihre
Tagebuch eine koordinatorische Funktionalität zu- Schriftlichkeit definierten Existenz zu erkennen, so
sprechen. Das Tagebuch vermittelt nicht nur zwi- legt dies einen privatisierenden Umgang mit der
schen erlebter Wirklichkeit und literarischer Fiktion, Selbstdokumentation nahe. Tatsächlich ist genau das
es stellt diese Vermittlung auch ganz offen aus und Gegenteil der Fall, und es hat den Anschein, als ob
reflektiert sie. So gewährt eine Lektüre der Tagebü- die Tagebücher ihr Subjekt für einen Dritten verwal-
cher einen Blick in das Zentrum der Textproduktion ten. Das geschriebene Ich ist öffentlich: Es besteht
und der ihr zugrundeliegenden Psychodynamik. zeitweilig ein Bedürfnis, anderen (vorzugsweise
Kafkas Notate bleiben immer in einen durchgängi- Brod, aber auch Oskar Baum) aus den Tagebüchern
gen Schreibprozess eingebunden. Sie ›verarbeiten‹ vorzulesen (31.12.1911, T 332) – ein Gedanke, der
nichts, schließen mit nichts ab, sondern besitzen ih- sogleich aber wieder zur Hemmnis wird. Der Ein-
ren ganz eigenen Wert innerhalb des Kommunikati- druck einer Beherrschung des intimen Schreibaktes
onshaushaltes. So halten sie etwa den Schreibfluss durch eine externe Prüfungsinstanz manifestiert sich
dort aufrecht, wo er zu versiegen droht. Immer wie- letztlich vor allem in der erwähnten Übergabe der
der finden sich Einträge, die davon berichten, ›nicht Tagebücher an Milena Jesenská, verbunden mit der
schreiben zu können‹ und so die schriftstellerische Erwartungshaltung, dass diese »in den Tagebüchern
Arbeit durch die Reflexion über deren Unmöglich- etwas Entscheidendes gegen mich« finden werde
keit ersetzen. (19.1.1922, T 882).
Kafka führt allerdings nicht nur Tagebuch – er Die Funktionalität der Tagebuchführung erweist
liest es auch (15.8.1912, T 430). Indem die diarische sich somit als gespalten: Während auf der einen Seite
Schrift ermöglicht, mit sich selbst zu kommunizie- das Lebensprotokoll als therapeutisches Regulativ
ren, geht von ihr »eine Art Ahnung der Organisation verstanden wird, nimmt es auf der anderen Seite ei-
eines solchen Lebens« (ca. 15.10.1914, T 681) aus. nen bilanzierenden Charakter an. Das Ideal dieser
Das Tagebuch gibt den Blick auf eine Ordnung frei, Bilanz ist natürlich die Repräsentation von Vollstän-
die sich der unmittelbaren Selbsterfahrung entzieht digkeit:
und die jemandem, der kein Tagebuch führt, verbor- endgiltig durch Aufschreiben fixiert, dürfte eine Selbst-
gen bleiben muss (29.9.1911, T 42). Diese Ordnung erkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Voll-
tritt allmählich in Konkurrenz zum Alltagsleben, in ständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen
dem das Ich sich nicht mehr erfassen und begreifen hinein […] geschehen könnte (12.1.1911, T 143).
kann. »Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlas- Dieses Ideal wird freilich schon früh als ein verfehl-
sen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier tes erkannt werden: »Die Frage des Tagebuches ist
kann ich es« (T 131), lautet dementsprechend der gleichzeitig die Frage des Ganzen, enthält alle Un-
am 16.12.1910 fixierte Entschluss. Immer dort, wo möglichkeiten des Ganzen«, vermerkt der Protokol-
die Umstände – »mein unsicherer Kopf, Felice, der lant im September 1913 (T 1062), um dann einen
Verfall im Bureau, die körperliche Unmöglichkeit zu Monat später zu erklären, er »habe nicht einmal Lust
schreiben« – eine stabile Aufrichtung von Subjekti- ein Tagebuch zu führen, vielleicht weil darin schon
vität versagen, wird es geradezu »notwendig […] ein zuviel fehlt« (20.10.1913, T 585). Neben die Koordi-
Tagebuch zu führen« (2.5.1913, T 557). Begreifen nation des Lebens durch das Schreiben tritt somit
lässt sich das diarische Schreiben dabei einerseits als die absolute Kongruenz zwischen Leben und Schrei-
Therapeutikum, bzw. als Narkotikum: So dient im ben als zweites Konzept der Tagebuchführung. Dem-
Dezember 1915 die (Wieder-)»Eröffnung des Tage- entsprechend lassen sich die Eintragungen immer
buchs zu dem besondern Zweck, mir Schlaf zu er- zweifach perspektivieren: zum einen als Versuch ei-
möglichen« (25.12.1915, T 775). Eine Überdosie- ner vollkommenen Überführung des Selbst in die
rung der Arznei hat andererseits zur Konsequenz, Schrift, zum anderen als Disziplinierungs- und Kor-
dass der Ort des Ich ganz Schrift wird und es außer- rekturmaßnahme im Lauf der Vervollkommnung
halb seiner Eintragungen positionslos bleibt, mit- wechselnder Ich-Entwürfe.
382 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Modellcharakter kommt dabei in jedem Fall Goe- gungen beim Anziehn; wenn sie sich meldet und nicht
thes Tagebuch zu, das Kafka schon 1911 als Ver- aufgerufen wird, schämt sie sich und wendet das Gesicht
zur Seite. Das grün gekleidete starke junge Mädchen bei
gleichsmaßstab heranzieht (29.9.; T 42 f.). Bisweilen der Nähmaschine (T 734).
scheint es, als ob der Notationsprozess als Annähe-
rung an den Goetheschen Prätext angelegt ist, d. h. Diese Passage erscheint zunächst vollkommen
als Versuch, sich im Angesicht dieses Textes ange- selbstlos, sie kommt ganz ohne das Beobachter-Ich
messen zu positionieren: »ein Mensch, der kein Ta- und seine Empfindungen aus. Die Auswahl der De-
gebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer tails, die Mechanisierung der Bewegungsabläufe und
falschen Position« (29.9.1911, T 42). Im weiteren die Verhaftung an der Figurenoberfläche exponieren
Verlauf wird Goethes Tagebuch-Ich zu einer präsen- jedoch den Filter eines Verlangens, welches – je nach
ten Erzählstimme avancieren und zeitweilig sogar diskursiver Zuordnung – dem Körper der Mädchen,
Kafkas Tagebuch-Ich ganz ersetzen (11.3.1912, dem Ostjudentum oder der maschinellen Betrieb-
T 400–406). samkeit zugerechnet werden kann. Alles, was dem in
sein Tagebuch verbrachten Subjekt widerfährt, muss
Es liegt im Naturell dieses Textkorpus, dass es jeden letzten Endes das Paradigma des Mangels an Leben
Strukturierungsversuch geradezu systematisch un- und der Vervollkommnung durch Schrift durchlau-
terlaufen muss. Dies beginnt bereits bei der Unter- fen. Äußere und innere Realität durchdringen sich
scheidung von Fiktion und Faktum, von ›werk- im Akt des Protokolls. Gerade die scheinbar unper-
haften‹ Elementen (also etwa dem Kleinen Ruinen- sönlichsten Schilderungen weisen so in der ihnen ei-
bewohner, den Vorarbeiten zum Heizer, den genen Streuung von Aufmerksamkeit eine große
Kaldabahn-Fragmenten oder auch dem <Jäger Grac- Nähe zu den intimsten Aufzeichnungen, den Traum-
chus>) und Dokumenten ›gelebter‹ Wirklichkeit. erzählungen, auf, die wiederum ein Inneres als Äu-
Eine derartige Differenzierung übergeht den grund- ßeres abbilden.
sätzlich symbiotischen Charakter des Tagebuchs Alles, was in die Quarthefte eingeht, steht in Be-
nicht nur, sondern ist im Einzelfall auch nicht im- ziehung zu den Projekten der Ichstabilisierung und
mer eindeutig zu treffen. -vervollständigung. Das Tagebuch durchquert die
Zieht man dennoch nur jene Aufzeichnungen in Welt mit einem Blick des Begehrens, der dasjenige,
Betracht, die mehr oder weniger offensichtlich bio- was dem Subjekt fehlt – Frauen, Jüdischkeit, Schlaf,
graphische Kennungen aufweisen, so lassen sich Gesundheit –, aufspürt und in das Schriftleben zu
diese auf den ersten Blick nach Maßgabe des Ge- überführen versucht. Es kann zwischen dem Eige-
genstandes ordnen, d. h. in Notate der Selbstbeob- nen und dem Fremden nicht unterscheiden, denn
achtung und in Notate der Fremdbeobachtung. Tat- alles ist ihm in gleichem Maße fremd und vertraut,
sächlich können mit Hilfe dieser Differenzierung entzogen und eigen.
bestimmte Subgenres innerhalb des Konvoluts aus- Eine strukturelle Ausdifferenzierung des Tagebu-
gemacht und separiert werden. Auf Seiten der Intro- ches kann sich somit nicht wirklich am Gegenstand
spektion finden sich als dominante Erzähltypen der der Reflexion orientieren, sondern bestenfalls an de-
Familienroman, die Traumanalyse und die Selbst- ren Intensität. Hier sind neben dem angesprochenen
anamnese, auf Seiten der Extraspektion die Ethno- Erzählmodus permanenter Wirklichkeitstransfor-
graphie des Judentums, die Geschlechterstudien und mation zwei weitere Sprachmodi auszumachen, die
der Reisebericht. Freilich unterstehen all diese Nar- sich durch eine gesteigerte bzw. durch eine vermin-
rative dem gleichen Erzählmedium und sind letzt- derte Reflexivität auszeichnen.
endlich Resultate narratologischer Verschiebungen, Zum einen finden sich immer wieder Räsonne-
durch welche den notierten Beobachtungen ver- ments, welche das Problem von Literatur und Leben,
schiedene Grade an Neutralität resp. Personalität zu- Schrift und Leib etc. thematisieren. Diese verbinden
kommen, ohne gleichwohl an der vorgestellten Dop- sich zunehmend mit dem Krankheitsdiskurs der Ta-
pelbeziehung von Schreiben und Leben etwas zu gebücher und avancieren zur bestimmenden Text-
verändern. Ein gutes Beispiel hierfür gibt etwa der sorte. Im Grunde handelt es sich hierbei um die poe-
Eintrag vom 14. April 1915: tologische Ebene innerhalb der Kafkaschen Textpro-
Die Homerstunde der galizischen Mädchen. Die in der duktion: Hier wird darüber gesprochen, wie man
grünen Bluse, scharfes strenges Gesicht; wenn sie sich sich zu dem »zu Schreibenden« verhalten muss
meldet, hebt sie den Arm rechtwinklig; hastige Bewe- (26.3.1912, T 413) und wie sich umgekehrt das ei-
Die Tagebücher 383

gene Schicksal »von der Litteratur aus gesehen« aus- lichen Einheiten her sich Kafkas Schreiben bewegt.
nimmt (6.8.1914; T 546). Schon früh realisiert das Es scheint so, als ob die isolierten, oft unverständli-
Ich, dass sein erwachter »Sinn für die Darstellung chen Satzfragmente nicht Überbleibsel, sondern
[seines] traumhaften innern Lebens« Opfer fordert, Grundstock komplexer Gedankenführung sind. Bis-
dass es seine poetische Kraft aus den »ewigen Qua- weilen finden sie im Laufe weiterer Bearbeitungs-
len des Sterbens« gewinnt (ebd.). Gestützt auf diese schritte einen größeren Textzusammenhang – dieser
Einsicht wird es immer wieder versuchen, die sich kann dann wiederum sowohl ›fiktionalen‹ als auch
einstellenden Erschöpfungszustände der Physis ›biographischen‹ Charakter besitzen. Die ungeklärte
durch den Schreibakt zu kompensieren, und es wird Bezüglichkeit einer Notiz wie »Sich kennt er, den an-
jedes Mal dort verzweifeln, wo die Kompensation dern glaubt er, dieser Widerspruch zersägt ihm al-
nicht mehr erbracht werden kann, wo das Schreiben les« (14.1.1920, T 849) belegt geradezu die prinzipi-
trotz des Opfers des Körpers nicht mehr gelingt elle Einheit von Dichtung und Protokoll. Es handelt
(25.11.1914; T 699). Wie sonst nur noch der Brief- sich um verwandte Ausformungen eines sentenzen-
wechsel mit Milena Jesenská legen die Tagebücher haften Denkens, in dessen Laboratorium die
Stück um Stück die geheime Energetik des Kafka- Quarthefte Einblick verschaffen.
schen Schreibens bloß. Am Ende steht hierbei die
Erkenntnis, dass die Überführung des Lebens in
Schrift, die Objektivation des eigenen Unglücks in Deutungsaspekte
der Buchführung kein Akt der bloßen Verrechnung
sein kann, sondern dass das schreibende Ich im Im Hinblick auf die Architektonik des Tagebuchs er-
Selbstopfer zu einer Energiequelle vordringt, die das weisen sich drei Topoi als konstitutiv: Judentum, Fa-
Menschliche übersteigt. Es ist milie und Körperlichkeit. Jeder dieser Topoi besitzt
einfach gnadenweiser Überschuß der Kräfte in einem eine spezifische poetologische Funktionalität, steht
Augenblick, in dem der Schmerz doch sichtbar alle für eine spezifische Reflexion auf das Schreiben.
meine Kräfte bis zum Boden meines Wesens, den er auf- Dementsprechend lassen sich interthematische Ver-
kratzt, verbraucht hat. Was für ein Überschuß ist es also? strebungen ausmachen; kein Sujet lässt sich voll-
(19.9.1917; T 834).
kommen von den anderen beiden isolieren. So müs-
Zum anderen fällt – neben der Metareflexion und sen auch die folgenden Einlassungen als unter-
der Beschreibung – eine Textsorte ins Auge, die auf schiedliche Ausfaltungen ein und derselben
eine Explikation oder Umwendung des Erlebten ge- Problemlage betrachtet werden. Es handelt sich um
nerell verzichtet: die Notiz. Es handelt sich hierbei ein existentielles Räsonnement, das sich von Feld zu
fraglos um den heterogensten und am schwersten zu Feld neu konfiguriert, neue Oppositionen und Ab-
fassenden Teilaspekt der Tagebücher. Die Notiz um- hängigkeiten hervorruft, dessen Horizont aber im-
fasst komplexere Gegenstände wie Lektürelisten und mer die Frage des Zusammenhanges von Literatur
-exzerpte (26.1.1912; T 361–367), koordinatorische und Leben bleibt.
Angaben wie Aufführungs- oder Vortragsvermerke
und Ortsangaben, aber auch Sentenzen zum Zeitge- Judentum
schehen (»Die Niederlagen in Serbien, die sinnlose
Führung«; 15.12.1914; T 710), daneben isolierte Die Auseinandersetzung mit dem Judentum, die ins-
Stichworte (»Saint Simonismus«, 14.2.1915, T 728; besondere die frühen Eintragungen zum großen Teil
»Maggid«, 8.5.1922, T 919), Satzsplitter (»ihm zu Fü- beherrscht, ist von komplexer Natur, insofern sie aus
ßen, stürz ihm hin zu Füßen«; 6.8.1917, T 821) bis einer gespaltenen Grundhaltung erwächst, die einer-
hin zum regelmäßig wiederkehrenden »Nichts« seits auf Beobachtung, andererseits auf Teilhabe aus-
(22.9.1917, T 837; 13.5.1922, T 920). Der Gestus sol- gerichtet ist. Der Reiz, den das Judentum auf Kafka
cher Einträge zielt auf eine Distanzierung von Kon- ausübt, ist zunächst einmal ein theatralischer Reiz,
text ab; die Spur des Erkenntnisprozesses, bzw. des der den Betrachter zugleich distanziert und einbe-
Narrativs, in welches das Lesen und Schreiben ein- zieht. Auf der biographischen Ebene korrespondiert
gebunden war, ist gelöscht. dieser Theatralität des Judentums die Begeisterung
Die Bedeutung dieser Textgruppe darf gleichwohl für die jiddische Theatergruppe aus Lemberg, in de-
nicht unterschätzt werden, denn an ihr lässt sich er- ren Gesellschaft Kafka durch den Schauspieler Jiz-
sehen, von welch kleinen und unscheinbaren sprach- chak Löwy im Oktober 1911 eingeführt wird. Das
384 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Besondere an diesem Theater – sozusagen seine für Mein Nachahmungstrieb hat nichts Schauspielerisches, es
Kafka ›jüdische Spezifik‹ – muss in der Verhinde- fehlt ihm vor Allem die Einheitlichkeit. Das Grobe, auffal-
lend Charakteristische in seinem ganzen Umfange kann
rung seines Illusionscharakters gesucht werden. Be- ich gar nicht nachahmen, ähnliche Versuche sind mir im-
reits die zweite Begegnung mit dem jiddischen mer mißlungen sie sind gegen meine Natur (T 329).
Schauspiel am 13.10.1911 zeigt auf, dass diese Thea-
tralik – wie sie auch Theodor Lessing beschrieben Jene Fähigkeit zur Nachahmung des ›Groben‹ ver-
hat – geprägt wird von einem permanenten Ein- steht sich ganz im Rahmen jener anti-illusionären
bruch der Realitäten. Das eigentliche Schauspiel ist Dramaturgie des jiddischen Theaters. Es handelt
durchsetzt von Streitigkeiten mit dem Personal des sich um eine Nachahmung, die eben nicht ›perfekt‹
Veranstalters (28.10.1911; T 208), Zwischenrufen wird, sondern sich immer noch als Nachahmung, als
des Publikums, Diskussionen mit dem »Verein jüd. eine Spaltung von Akteur und Rolle zu erkennen
Kanzleidiener« (14.10.1911; T 82). Die fast ganz ent- gibt – und hierin vom Tagebuch als ein jüdisches,
hüllte »einfache Bühne« ist nichts als Plattform und insbesondere ein ostjüdisches Phänomen markiert
so »erwarten wir nichts von ihr« (8.10.1911; T 69). wird.
Es ist dieser permanente Kampf um einen Raum Dies betrifft nicht nur die professionellen Schau-
für die eigene Rede, welcher an die Stelle des eigent- spieler wie etwa die Actrice Amalie Tschisik, die ihre
lichen Schauspiels tritt, in dem das jiddische Theater Zuschauer vor allem dazu »zwingt, sich um ihren
seine herausgehobene Bedeutung für Kafka erlangt. ganzen Körper zu kümmern«, und deren Spiel Kafka
Jene scheinbar immer wieder missglückende Dra- auf »nicht viel mehr« als einige wenige Gesten und
maturgie leitet ihn unmittelbar zum Gedanken einer Gesichtsausdrücke reduziert (22.10.1911; T 97). Tat-
»Litteratur […], der offenbar eine ununterbrochene sächlich ist es ein eigentümliches Verhältnis von
nationale Kampfstellung zugewiesen ist« (8.10.1911; Geist und Materie, Sprachkörper und -gehalt, das
T 68). Das Judentum entdeckt sich Kafka somit vor überall dort aufzutauchen scheint, wo der Text es mit
allen Dingen als ein exklusiver Raum der Kulturpro- jüdischen Figuren zu tun hat. Dies beginnt beim
duktion, ein Raum, der ihm nicht nur für sein eige- Commis in der Altneusynagoge, »der sich beim Be-
nes Projekt einer »kleinen Litteratur«, sondern auch ten rasch schüttelt, was nur als Versuch einer mög-
für sein diarisches Schreiben prädisponiert er- lichst starken, wenn auch vielleicht unverständigen
scheint. (So sieht er dann auch in der »jüdischen Lit- Betonung jedes Wortes zu verstehen ist« (1.10.1911;
teratur in Warschau« das »Tagebuchführen einer T 47). Auch Kafkas Cousin Robert, der ihn in Rechts-
Nation, das etwas ganz anderes ist als Geschichts- fragen bezüglich der von ihm als Miteigentümer ge-
schreibung«; 25.12.1911, T 313.) Das Verlangen, die- führten Asbestfabrik berät, mischt in seinem Erzäh-
sen Raum selbst einzunehmen, befeuert fortan Kaf- len »das genaue Ausgebreitetsein der Schriftsätze
kas Interesse an Fragen der jüdischen Tradition, Po- mit der lebhaften Rede«, »wie man sie öfters bei so
litik und Kultur, treibt ihn in intensive Lektürearbeit fetten, schwarzen, vorläufig gesunden, mittelgroßen,
(ab 24.1.1912; T 360–367), zu Hebräischstudien (de- von fortwährendem Zigarettenrauchen erregten Ju-
ren Spuren die Tagebücher zieren), in Vorträge den findet« (13.10.1911; T 78). Schließlich ist es die
(25.2.1912, T 376; 12.9.1912, T 437) und Synagogen zionistische Prominenz Nathan Birnbaum, dessen
(1.10.1911, T 47; 19.11.1915, T 774), auch auf den Vortrag durch die »ostjüdische Gewohnheit« durch-
elften Zionistenkongress (10.9.1913; T 1061–1064). brochen wird, »wo die Rede stockt, ›meine verehrten
Offensichtlich gilt ein Teil seiner Aufmerksamkeit Damen und Herren‹ oder nur ›meine Verehrten‹
dem anekdotischen Chassidismus Buberscher Fär- einzufügen« (24.1.1912; T 360).
bung (6.10.1915; T 766–768). Ihren organisatori- Kurzum: Der Raum nationaljüdischer Kultur ist
schen Anker finden all diese Bemühungen wiede- erfüllt von einer papiernen, mechanisierten Sprache
rum in den Prager Ausprägungen der zionistischen (11.3.1915; T 730), die aber keinesfalls im Verdacht
Bewegung, deren Veranstaltungen Kafka von Zeit zu einer mangelhaften Repräsentation steht, sondern
Zeit besucht (25.2.1912; T 376). vielmehr in dem sie durchziehenden Bruch von Idee
Allerdings markiert das Tagebuch auch gerade und Materialität die »Wahrheit des Ganzen« in An-
jene Bruchstelle, welche die übergangslose Integra- spruch nehmen kann (22.10.1911, T 97; vgl. auch:
tion des Ich in den Diskurs der jüdischen Nation im- 20.10.1911, T 89). An dieser Wahrheit haben alle
mer wieder verhindert. Auf die Spur führt hier ein diejenigen teil, die auf jede Form der ›Einfühlung‹
Eintrag vom 30. Dezember 1911: verzichten und stattdessen in Handlung und Rede
Die Tagebücher 385

bei einer bloß äußerlichen Nachahmung stehen blei- fürchtung des Vaters, dass der Sohn Junggeselle blei-
ben. Just dieser Fähigkeit aber sieht sich Kafka – wie ben und somit »der Narr der neuen nachwachsen-
oben zitiert – beraubt und somit vom jüdischen Spiel den Familie« werde (23.12.1911; T 304). Dennoch
ausgeschlossen. Man kann die jüdische Rolle noch fehlt dem Tagebuch die scharfe Explikation der Kon-
so genau studieren und interpretieren – historisch, fliktstrukturen. An ihre Stelle tritt die Dokumenta-
religiös, politisch –: Sie schließt per definitionem alle tion der sie begleitenden psychischen Repräsentatio-
von sich aus, die sie auf dem Wege einer intellektuel- nen – mehrfach wird etwa der Vater als Protagonist
len oder rituellen Imitation einnehmen wollen. in den Träumen des Ich vermerkt (6.5.1912, T 419 f.;
So bleibt auf der einen Seite letztlich ein funda- 19.4.1916, T 778; 21.9.1917, T 836 f.). Als sprechend
mentaler Zweifel bestehen: erweist sich darunter eine Vorstellung, in welcher
Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum et- das Ich den Vater vor einem Sturz über die Fenster-
was mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zu- brüstung zu retten versucht, dieser sich daraufhin
frieden damit daß ich atmen kann in einen Winkel stel- aber aus »Bosheit« ( 19.4.1916; T 778) nur noch wei-
len (8.1.1914; T 622). ter hinauslehnt, worauf das Ich zur Entscheidung ge-
Umgekehrt wird im Horizont der Theorie eines spe- drängt wird, mit dem Vater gemeinsam in den Ab-
zifisch jüdischen Repräsentationsmodells freilich die grund zu fallen oder sich selbst zu retten und den
vielbeschworene ›Förmlichkeit‹ der Kafkaschen Sti- Vater zu opfern. Die Unmöglichkeit, gegenüber dem
listik als Eingliederung in die Konzeption einer ›klei- Vater schuldlos zu bleiben – ihn weder ›loslassen‹
nen Nationalliteratur‹ sichtbar, die ihren mimeti- noch retten zu können und die eigene Existenz in
schen Charakter in besonderer Weise exponiert. dieser Spannung opfern zu müssen –, nimmt hier
auf eine ganz eigene Art Gestalt an. Genau genom-
Familie men gibt sie einem Verhältnis, das keine Worte mehr
findet, die Sprache zurück. Nicht allein die Bezie-
Die familiäre Konstellation, mit welcher sich das Ta- hung zum Vater, das Familienleben überhaupt steht
gebuch ausgiebig beschäftigt, sieht im Zentrum den Kafkas »Schreibereien« (9.5.1912; T 421) feindlich
prekären Status des Junggesellen, der auf der einen gegenüber:
Seite von Abgrenzungsversuchen gegenüber den El-
Nun ich lebe in meiner Familie, unter den besten und
tern, auf der anderen Seite von der Hemmnis gegen-
liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit
über der Familiengründung bestimmt wird. Der meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durch-
Konflikt, den Kafka mit seinem Vater ausficht, ist be- schnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit
reits Legende geworden und kulminiert in dem 1919 meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte ge-
verfassten <Brief an den Vater >, der letztlich das Be- wechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den
Schwägern, spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen
ziehungsgeschehen summiert und zuspitzt, das sich böse zu sein. Der Grund dessen ist einfach der, daß ich
auch in den Tagebucheinträgen dokumentiert. Auf mit ihnen nicht das aller Geringste zu sprechen habe.
der Folie dieses Konflikts entziffern sich die ver- Alles, was nicht Litteratur ist, langweilt mich und ich
schiedenen Begründungsversuche des Ich – seine hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn
auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir da-
Hinwendung zum Judentum, sein Rückzug in die Li-
her jeder Sinn außer der des Beobachters im besten Fall
teratur, seine Frauenbeziehungen – als Selbstent- (21.8.1913; T 580 f.).
würfe gegen eine vom Vater verhängte Erfolgsge-
schichte, die in eine Erzählung von Schuld und Ver- Es ist diese bedingungslose Opposition zwischen
sagen umschlägt. »Litteratur« und »Familie«, welche die Auseinander-
Im Gegensatz zu jener schonungslosen Offenheit, setzung mit den Eltern überdauert und sich alsbald
mit welcher der <Brief an den Vater > die unüber- auf das Problem der Ehe und der Familiengründung
windliche Kluft zwischen Vater und Sohn darlegt, verschieben wird. Dort, wo die Option der Verheira-
nähern sich die Tagebücher der Auseinandersetzung tung Kafka dann offensteht (nämlich in der Verbin-
mit großer emotionaler Distanz, die nur selten auf- dung mit Felice Bauer), ist es erneut das Schreiben,
gegeben wird. Die Momente der Krisis sind alle ver- das ihn zurückhält. In einer im Juli 1913 angefertig-
sammelt: die Verachtung des Vaters für Jizchak Löwy ten »Zusammenstellung alles dessen, was für und
und das jiddische Theater (3.11.1911; T 223 f.); das gegen meine Heirat spricht«, kommt er nicht nur
Desinteresse des Sohnes an der auf Anraten des Va- wieder zurück auf das bereits bekannte Credo »Alles
ters gegründeten Fabrik (14.12.1911; T 293); die Be- was sich nicht auf Litteratur bezieht, hasse ich«
386 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

(21.7.1913; T 569), sondern analysiert die Relation immer größer werdenden innern Bestimmtheit und
zwischen Liebe und Schreiben sehr präzise. Spricht Überzeugtheit Möglichkeiten liegen, in einer Ehe trotz
allem bestehen zu können, ja sie sogar zu einer für meine
Kafka in dem Entwurf eines Briefes an seinen Vater Bestimmung vorteilhaften Entwicklung zu führen
noch davon, dass weder Ehe noch Arbeit ihn »verän- (15.8.1913; T 576).
dern« könnten, so liegt doch gerade in dieser mögli-
chen Veränderung seine Furcht vor der Ehe be- Zu einer Entscheidung wird er sich aber nicht mehr
schlossen: überwinden können. »Die Einförmigkeit, Gleichmä-
Ich bin vor meinen Schwestern, besonders früher war es ßigkeit, Bequemlichkeit und Unselbstständigkeit
so, oft ein ganz anderer Mensch gewesen, als vor andern meiner Lebensweise halten mich dort, wo ich einmal
Leuten. Furchtlos, bloßgestellt, mächtig, überraschend, bin, unweigerlich fest« (9.3.1914; T 503), notiert
ergriffen wie sonst nur beim Schreiben. Wenn ich es Kafka im März 1914, drei Monate vor der ersten Ver-
durch Vermittlung meiner Frau vor allen sein könnte!
und anschließenden Entlobung mit Felice Bauer.
Wäre es dann aber nicht dem Schreiben entzogen? Nur
das nicht, nur das nicht! (21.7.1913; T 569 f.). Das Naheliegende und Wünschenswerte vor Augen
zu haben, aber seiner nicht habhaft werden zu können
Im Verlust der Einsamkeit droht der Literatur ihr – hierin wiederholt der fehlgeschlagene Versuch der
Subjekt abhanden zu kommen. Was der Mutter noch Familiarisierung Kafkas just jene Strukturen, die auch
Hoffnung ist – dass nämlich durch Heirat und »Kin- seine zum Scheitern gebrachte Einübung ins Juden-
derzeugung« »das Interesse an der Litteratur auf je- tum bestimmt hatten. Die Kraft der Schrift, die das
nes Maß zurückgehn« würde, »das vielleicht den Ge- Subjekt immer wieder zurückhält und seine Neu-
bildeten nötig ist« (19.12.1911; T 303) –, das er- gründung bzw. seine Gesundung verhindert, bleibt
scheint demjenigen, der aufgehört hat, außerhalb numinos. Sie verlangt dem ihr anheim gefallenen Ich
der Schrift zu existieren, als eine katastrophische Vi- alles ab und verspricht gleichwohl nichts. Sie verhin-
sion. Keinesfalls geht es hier nämlich um ein ›Inter- dert die Ehe, kompensiert den Verzicht aber keines-
esse‹ oder um ein Gelehrtendasein – auf dem Spiel falls durch schriftstellerische Produktivität:
steht die einzige Möglichkeit, dieses Leben, wenn
Es war hauptsächlich die Rücksicht auf meine schrift-
auch auf dem Papier, fortzuführen. stellerische Arbeit, die mich abhielt, denn ich glaubte
Die Entscheidung gegen die Familie und für die diese Arbeit durch die Ehe gefährdet. Ich mag Recht ge-
Literatur wird freilich im Bewusstsein getroffen, dass habt haben; durch das Junggesellentum aber innerhalb
hiermit auch ein Versprechen auf Gesundung end- meines jetzigen Lebens ist sie vernichtet. Ich habe ein
Jahr lang nichts geschrieben, ich kann auch weiterhin
gültig abgewiesen wird. Es ist Kafka eine Gewissheit, nichts schreiben (9.3.1914; T 504).
dass eine Verbindung mit Felice Bauer seiner »Exis-
tenz mehr Widerstandskraft geben« würde, dass er Die Literatur erkennt keine Opfergesten, sie öffnet
im Grunde »unfähig« ist, »allein das Leben zu ertra- keinen Zugang zur Vergangenheit, noch einen Weg
gen« (21.7.1913; T 568 f.). Wie das Schreiben, so in die Zukunft, sondern verweist ihr Subjekt nur auf
wird auch dem »Unglück des Junggesellen« eine die Lücke zwischen Verlangen und Versagen, die
physische Komponente zuteil. Zu schreiben und seine Gegenwart ist. Wird die Versuchsanordnung
nicht zu heiraten, das heißt, sich dem Tod bereits auf dem Feld des jüdischen Diskurses durch den
überantwortet zu haben: Wunsch nach Teilhabe an religiöser Tradition und
zionistischem Staatsprojekt bestimmt, so ist es auf
Während die andern und seien sie ihr Leben lang auf
dem Krankenbett gelegen, dennoch vom Tode niederge- dem Feld des Familiendiskurses eine »wilde Vorfah-
schlagen werden müssen, denn wenn sie auch aus eige- rens-, Ehe- und Nachkommens-lust«, der eine tat-
ner Schwäche längst selbst gefallen wären, so halten sie sächliche Existenz »ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne
sich doch an ihre liebenden starken gesunden Ehe-Ver- Nachkommen« gegenübersteht (21.1.1922; T 884).
wandten, er, dieser Junggeselle bescheidet sich aus
scheinbar eigenem Willen schon mitten im Leben auf ei-
Inmitten dieser Kluft findet sich der Ort der Litera-
nen immer kleineren Raum und stirbt er, ist ihm der tur, fern von Pathos, Überhöhung und messiani-
Sarg gerade recht (3.12.1911; T 280). schem Glanz. Das Schreiben wird zum

Die Gelegenheit zur Erlösung von dieser ›Krankheit künstlichen, jämmerlichen Ersatz: für Vorfahren, Ehe
und Nachkommen. In Krämpfen schafft man ihn und
zum Tode‹, zur »Erweiterung und Erhöhung der geht, wenn man nicht schon an den Krämpfen zugrunde
Existenz durch eine Heirat« (3.7.1913; T 564) ist ge- gegangen ist, an der Trostlosigkeit des Ersatzes zugrunde
geben. Kafka registriert durchaus, dass in seiner (21.1.1922; T 885).
Die Tagebücher 387

Spät, im Januar 1922 erst, etabliert sich diese Ein- schwäche bildet Zeichen, Symptome, gebiert Kopf-
sicht, sie gehört bereits einer Zeit an, in welcher die schmerz, Schlaflosigkeit – und Literatur. Die poeti-
Familienthematik schon in den Hintergrund getre- sche Produktion wird zum schmerzhaften Prozess,
ten ist. Wenn sich in die Reflexionen des Patienten durch den hindurch sich dem Schreibenden erst die
Kafka dennoch erneut das Schicksal des Junggesel- Welt zu erkennen gibt:
len hineindrängt, dann geschieht dies aus einer stil- Wenn ich mich zum Schreibtisch setze ist mir nicht woh-
len Konjunktion heraus, welche die Poetik der Fami- ler als einem der mitten im Verkehr des place de l’Opera
lie mit einer Poetik der Körperlichkeit verbindet. Es fällt und beide Beine bricht. Alle Wagen streben trotz ih-
handelt sich hierbei um kein allegorisches Verhält- res Lärmens schweigend von allen Seiten nach allen Sei-
ten, aber bessere Ordnung als die Schutzleute macht der
nis, die Systeme lassen sich nicht rückstandslos inei-
Schmerz jenes Mannes, der ihm die Augen schließt und
nander übersetzen. Vielmehr verwandelt jenes letzte, den Platz und die Gassen verödet, ohne daß die Wagen
physische Ordnungsmodell das Tagebuch in das umkehren müßten. Das viele Leben schmerzt ihn, denn
Protokoll eines Verfalls, der das Ich nicht überrascht er ist ja ein Verkehrshindernis, aber die Leere ist nicht
antrifft, sondern als die Realisation eines von langer weniger arg, denn sie macht seinen eigentlichen Schmerz
los (15.2.1910; T 130 f.).
Hand angelegten Planes erscheint.
Das Geheimnis der aus dem Schmerz geborenen Li-
Körperlichkeit teratur gründet in einem Zustand unerträglicher
Wachheit, der das Ich empfänglich macht für die
Es bedarf nicht erst der im September 1917 getroffe- dem Leben supponierten Ordnungen. Jener physi-
nen Diagnose einer tuberkulösen Erkrankung, um sche Mangel, der die Eingliederung des Subjekts in
die Aufmerksamkeit des Tagebuchs auf den körper- die Lebensströme verhindert, sorgt zugleich dafür,
lichen Aspekt ununterbrochener Krisis zu lenken. daß sein Geist nicht am Leben zerschellt, indem er
Bereits unter den allerersten Eintragungen aus dem ihm den Schmerz und darin das Schreiben gibt.
Jahr 1910 findet sich die »Verzweiflung über meinen ›Schmerz‹, das ist für Kafka »die eigentliche, unwi-
Körper und über die Zukunft mit diesem Körper« dersprechliche, durch nichts außerhalb […] gestörte
(T 12). Noch handelt es sich um eine Verzweiflung Wahrheit« (31.1.1922; T 899), eine göttliche Instanz,
aus Scham, die Kafka in den Prager Schwimmschu- durch welche der Mensch Anteil an dem hat, was
len glaubt abgelegt zu haben (15.8.1911; T 37) – eine nach ihm kommt, die ihn aus dem Leben heraus-
Scham, die nichtsdestoweniger darin besteht, in sei- nimmt, ohne ihn zu töten. Der schwache, durch-
ner physischen Konstitution erkennbar zu sein, das wachte und schmerzerfüllte Mensch steht auf der
Verhängnis, das sich in den Leib eingeschrieben hat, Schwelle zwischen Auflösung und Alltag. Dies quali-
nicht verdecken, nicht überschreiben zu können. fiziert ihn für die literarische und disqualifiziert ihn
Der Körper dieses Menschen ist zugleich Aus- für die bürgerliche Existenz:
gangspunkt wie Schauplatz unauflösbarer Krisis. So Diese Schwäche hält mich sowohl vom Irrsinn wie von
vermerkt das Tagebuch im November 1911: jedem Aufstieg ab. Dafür daß sie mich vom Irrsinn ab-
hält, pflege ich sie; aus Angst vor Irrsinn opfere ich den
Sicher ist, daß ein Haupthindernis meines Fortschritts
Aufstieg und werde dieses Geschäft auf dieser Ebene,
mein körperlicher Zustand bildet. Mit einem solchen
die keine Geschäfte kennt, gewiß verlieren (3.2.1922;
Körper läßt sich nichts erreichen. Ich werde mich an sein
T 901).
fortwährendes Versagen gewöhnen müssen (21.11.1911;
T 263).
Hatte sich in der basalen Bestimmung des Tagebuchs
Nicht dem Determinismus wird hier das Wort gere- ergeben, dass dieses nicht zuletzt einen therapeuti-
det – vielmehr beginnt an dieser Stelle die konse- schen Charakter hat, so lässt sich dieser unter Hinzu-
quente Überblendung von somatischer Verfassung ziehung des oben Gesagten nun näher bestimmen.
und literarischer Produktion, von leibhafter Schrift Das Ziel der diarischen Therapie ist keineswegs Hei-
und zeichenhaftem Körper. Die nicht zu heilende lung, Ganzheitlichkeit, Wiederherstellung; sie zielt
Schwäche des Körpers mag einem soliden Selbstent- nicht auf »Erlösung«, sondern nur darauf, »jeden Au-
wurf, einer Rückkehr des Subjekts in das Leben ent- genblick ihrer würdig [zu] sein« (25.2.1912; T 376).
gegenstehen (dies hat sie mit der kulturell-religiösen Die Strukturierung des Lebens durch das Tagebuch
Entortung und der Unfähigkeit zur familiären Inte- rettet das Ich vor dem Selbstverlust – dem Sturz in die
gration gemein). Allerdings ist sie gleichzeitig auch Unerlösbarkeit – und weist es zugleich in seine physi-
der Schlüssel zur literarischen Existenz: Die Körper- schen Schranken, die seinen Eintritt in eine erlöste
388 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Wirklichkeit verhindern. Diese Spannung zwischen Die widerstrebenden Kräfte sind nicht länger para-
Bewahrung und Zurückweisung umschließt den Akt doxal zu integrieren, sondern streben auseinander,
des Schreibens, begleitet ein Jahrzehnte währendes zerreißen das Ich. Erst jetzt beginnt – Kafka ist in
Selbstprotokoll und kennzeichnet dieses gleichzeitig seiner Terminologie äußerst konsequent – der »Irr-
als Ausdruck einer fatalen Körperlichkeit. sinn« (16.1.1922; T 878), der endgültige Abzug die-
Jene Augenblicke, in denen das Ich sich seiner ser Existenz aus dem Horizont der Menschheit. Er-
»Fähigkeiten« so »bewußt« wird, »als hielte ich sie in fahren wird dieses Verschwinden als eine vollkom-
der Hand« (15.11.1911; T 250), sind zugleich jene mene Verselbständigung von »Selbstbeobachtung,
Augenblicke, in denen die Ohnmacht dieses Kör- die keine Vorstellung zur Ruhe kommen läßt, jede
pers, seine unkontrollierbare Rastlosigkeit zur Ge- emporjagt um dann selbst wieder als Vorstellung
wissheit werden. Alles, was geschaffen werden von neuer Selbstbeobachtung weiter gejagt zu wer-
könnte, ist präsent; nichts von dem, was präsent den« (ebd.).
wird, kann jedoch wirklich werden. Tag um Tag, Dies ist eine ganz erstaunliche Diagnose, denn
Eintrag um Eintrag wird ein Verlust verzeichnet, der letztlich beschreibt sie weniger ein Krankheitsbild als
wiederum dem Mangel des Leibes geschuldet ist: vielmehr das diarische Protokoll, dem sie selbst ange-
hört. Von Grund auf besteht das Tagebuch aus einer
Wie viel habe ich gestern verloren, wie drückte sich das
Verkettung und Perpetuierung der Selbstbeobach-
Blut im engen Kopf, fähig zu allem, und nur gehalten
von Kräften, die für mein bloßes Leben unentbehrlich tung. Es handelt sich sozusagen um den literarischen
sind und hier verschwendet werden (15.11.1911; T 250). Dauerzustand, der nun einmal seinen Tribut fordert:
Hat man einen Nachmittag lang das Schreiben ȟber-
Schwäche, Schmerz und Krankheit werden somit standen«, so wird man »gewichtlos, knochenlos, kör-
poetologisch fassbar als eine Schriftspur des Verlus- perlos« (6.6.1912; T 425). Dieses allmähliche Ver-
tes, eine sich immer wieder von Neuem versagende schwinden des Körpers in der Schrift erhält in der
Realisation eines erfühlten Potentials. Dieses Para- Schwindsucht seine medizinische Nomenklatur;
dox bildet zweifellos eine, wenn nicht überhaupt die Kafka deutet diesen Prozess allerdings als einen Akt
Konstante in Kafkas Selbstbeobachtungsprozessen – der Transgression: »diese ganze Litteratur ist An-
und trägt gleichwohl einen katastrophischen Kern in sturm gegen die Grenze« (16.1.1922, T 878).
sich. Dessen Offenlegung vollzieht sich in der wohl Von dieser Grenze her (von der auch bereits am
prominentesten Passage der Tagebücher – dem be- 30. November 1914 die Rede ist; T 702) muss das Ta-
rühmten »Ansturm gegen die letzte irdische Grenze« gebuch gelesen werden, wahlweise als ein »Ansturm
(16.1.1922; T 878). von unten« oder ein »Ansturm von oben« (16.1.1922;
Ausgangspunkt ist ein schwerer Nervenzusam- T 878). Niemals ist es nur Spiegelmedium der Krank-
menbruch, den Kafka im Januar 1922 erleidet und heit, sondern immer auch deren Vollzug gewesen.
der das Nahen des finalen Stadiums der Tuberkulose Die physische Auszehrung des Körpers ereignet sich
ankündigt. Das Tagebuch registriert die Schwere des im Schreibakt und folgt einer perfiden Logik, derer
Vorfalls, hält sich allerdings nicht mit medizinischen erst die rückblickende Betrachtung ansichtig wird:
Details auf, sondern interpretiert den Vorfall auf der Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe
Grundlage des ihm eigenen Körpernarrativs. Die der Jahre ist erstaunlich, es war wie ein langsam sich ent-
Balance der Schwäche, die das Ich über ein Jahrzehnt wickelnder Dammbruch, eine Aktion voll Absicht. Der
im Korridor zwischen chaotischer Entgrenzung und Geist, der das vollbracht hat, muß jetzt Triumphe feiern;
warum läßt er mich daran nicht teilnehmen? Aber viel-
Wirklichkeitsteilhabe gehalten hatte, ist kollabiert –
leicht ist er mit seiner Arbeit noch nicht zuende und
mit verheerenden Konsequenzen: kann deshalb an nichts anderes denken (17.10.1921;
T 866).
Zusammenbruch, Unmöglichkeit zu schlafen, Unmög-
lichkeit zu wachen, Unmöglichkeit das Leben, genauer
die Aufeinanderfolge des Lebens zu ertragen. Die Uhren Der »Geist« und die »Geister« werden in diesen letz-
stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teufli- ten Monaten Kafkas ständige Gefährten. Sie beherr-
schen oder dämonischen oder jedenfalls unmenschli- schen nicht nur das Tagebuch, sondern auch die
chen Art, die äußere geht stockend ihren gewöhnlichen Briefe an Milena; gleich Vampiren leben sie von den
Gang. Was kann anderes geschehn, als daß sich die zwei
verschiedenen Welten trennen und sie trennen sich oder Worten, die sie dem Schreibenden aussaugen. Mit
reißen zumindest an einander in einer fürchterlichen dem Erscheinen der Geister ist das finale Stadium
Art (16.1.1922; T 877). erreicht, ist die permanente Gefährdung der literari-
Die Tagebücher 389

schen Existenz nicht mehr abzuleugnen, sondern beit« zu den Modi »aktiver Selbstbeobachtung« her-
bleibt immerfort Bewusstseinsinhalt. Und so sieht aus (Korte, 262). Der Autorschaftsentwurf der Tage-
der letzte Eintrag der Tagebücher ein Ich, das »im- bücher zielt demnach gerade nicht auf Formen der
mer ängstlicher im Niederschreiben« wird »Selbstpräsentation« des Schreibenden ab, sondern
(12.6.1923; T 926) und die Veräußerung von Sprache verantwortet vielmehr die »Selbsthervorbringung
nurmehr als Gewalt am eigenen Körper erfährt. des Schreibprozesses als autonome Schreibtätigkeit«
Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser (266). Vor diesem Hintergrund wird die Auffassung
Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung einer Einheit von Tagebüchern und Erzählwerk pro-
– wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Be- blematisch; dementsprechend unterstellt Korte den
merkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendli- Vertretern der Einheitsthese, das »Experimentieren
che. Der Trost wäre nur: es geschieht ob Du willst oder
mit einem unabgeschlossenen, ›fließenden‹ Schreib-
nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig.
Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen (ebd.). prozeß« (263) zu wenig zu berücksichtigen. Ob aus-
gerechnet die Unabgeschlossenheit des Schreibens
aber als Abgrenzungskriterium der Tagebücher zu
Kafkas Erzähltexten dienen kann, darf bezweifelt
Forschung werden.
Mit Rücksicht auf die Körperszenarien des Tage-
Lange Zeit war das Primärinteresse an Kafkas Tage- buchs hat Gerhard Neumann schließlich den Ver-
büchern ein literarhistorisches und vor allem der Su- such unternommen, die Quarthefte als Dokument
che nach dem ›geschichtlichen Kafka‹ geschuldet. einer Selbstsorge im Sinne Foucaults zu lesen und
Im Zuge der systematischen Diskursivierung von dabei die »innere Verbindung zwischen Sexualität
Kafkas Werk – diesen forschungsgeschichtlichen und Literatur« zu erkunden (Neumann 2004, 163).
Umbruch hat Ritchie Robertson ausführlich skiz- Der Standpunkt, von dem aus die gegenläufigen
ziert (Robertson 1994) – kam den Quartheften dann Strukturen des Textes betrachtet werden, verschiebt
immer wieder eine selektive, auf das jeweilige Para- sich somit: Das Schreiben erscheint nun im Lichte
digma zugeschnittene Bedeutung zu. Die Tagebü- einer verschobenen Geschlechtlichkeit. Dies meint
cher bildeten in erster Linie einen Fundus, mit des- zum einen das in der Schrift zum Ausdruck gelan-
sen Hilfe sich bestimmte Denkfiguren des Werkes il- gende Begehren, das sich an die Körperoberflächen
lustrieren und belegen ließen. Einzeluntersuchungen heftet und von diesen her sich die Welt einzuverlei-
zu den Tagebüchern sind dagegen selten geblieben. ben versucht. Zum anderen aber beziehen sich Neu-
Die erste eingehende und bis heute Maßstab set- manns Überlegungen auf die »Geschlechterkette«,
zende Analyse ihrer poetologischen Eigenstruktur auf die Frage von erlittener und erhoffter Vater-
hat 1991 Georg Guntermann unternommen. Seine schaft, auf den Gedanken der ›Tradition‹ wie auf »die
Studie legt insbesondere den im Eingangskapitel be- Genealogie des Judentums in der europäischen
schriebenen Transformationsprozess offen und per- Welt« (Neumann 2004, 159). So wird der Schreibakt
spektiviert Kafkas »Literarisierung des Lebens« als sichtbar als Versuch einer »Verwaltung von Leben«
eine Abbildung durch und in Verwandlung. Im Zen- (ebd., 157), einer Ordnung und Steuerung des Lei-
trum der Untersuchung steht dabei das Paradox, bes/der Leiber, die außerhalb des Tagebuchs ohne
dass gerade der Akt der Aneignung von Realität Funktionalität geblieben sind.
durch die Schrift zu einem »Fremdwerden der
Dinge« führt: »Die nahegebrachten Gegenstände
Ausgaben: T/GS (1937) [Auswahl]. – T/GW (1951). –
entfernen sich, die Dinge, Figuren, Sätze werden
T/KA (1990). – OQ1&2/FKA (2001).
selbständig, erfüllen sich mit körperlich-stofflichem Forschung: Florence Bancaud: Le journal de K. ou
Eigenleben« (Guntermann, 249). Zugleich markiert l’ écriture en procès. Paris 2001. – Gerhart Baumann:
die Arbeit den engen Zusammenhang von diari- Schreiben. Der endlose Prozeß im Tagebuch von F.K.
schem Verlauf und literarischer Produktion und er- In: Études Germaniques 39 (1984), 163–174. – Anke
kennt im Tagebuch das Experimentierfeld einer Bennholdt-Thomsen: Schreiben statt Leben. Zu K.s Ta-
»Kunstform des Nichtvollendeten«, die auf das Ge- gebüchern. In: Haller-Nevermann/Rehwinkel (2008),
samtwerk übergreift (28). 15–36. – Hartmut Binder: Die Tagebücher. In: H. Bin-
Hermann Korte stellt in seinen Überlegungen vor der (1976b), 34–116. − Ders.: Tagebücher. In: KHb
allem die Opposition der diarischen »Schreib-Ar- (1979) II, 539–554.− Ders.: Über den Umgang mit To-
390 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

pographica in Kritischen Ausgaben am Beispiel der Ta- 3.4.3 Das Briefwerk


gebücher K.s. In: Jochen Golz (Hg.): Edition von auto-
biographischen Schriften und Zeugnissen zur Biogra- Briefe stehen zweifellos im Zentrum der literari-
phie. Tübingen 1995, 133–166. − Maurice Blanchot: The schen Existenz Kafkas. In ihnen dokumentieren sich
Diaries. The Exigency of the Work of Art. In: Flores/ die Versuche, die Paradoxien von Leben und Schrei-
Swander (1958), 195–220. − E. Boa (1996), bes. 45– ben auf der Ebene einer tragfähigen kommunikati-
106. − Sophie von Glinski: Imaginationsprozesse. Ver- ven Beziehung aufzulösen bzw. zu bewältigen. Zeit
fahren phantastischen Erzählens in F.K.s Frühwerk.
seines Lebens – nachweislich seit seiner Jugendzeit –
Berlin, New York 2004, bes. 170–258. – Georg Gunter-
räumt Kafka seinen Korrespondenzen einen gewich-
mann: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben.
tigen Platz ein. Am Ende bekennt der enttäuschte
K.s Tagebücher als literarische Physiognomie des Au-
Epistolograph:
tors. Tübingen 1991. – Manfred Hornschuh: Die Tage-
bücher F.K.s. Funktionen, Formen, Kontraste. Frank- Alles Unglück meines Lebens – womit ich nicht klagen,
furt/M. 1987. − Clayton Koelb: Rede als Erlebnis. Die sondern eine allgemein belehrende Feststellung machen
Tagebücher K.s. In: Donald G. Daviau (Hg.): Österrei- will – kommt, wenn man will, von Briefen oder von der
Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen haben
chische Tagebuchschriftsteller. Wien 1994, 171–190. − mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer und
Ders.: K. als Tagebuchschreiber. In: KHb (2008), 97– zwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen
108 [überarbeitete Fassung von Koelb 1994]. − Hans- (An M. Jesenská, Ende März 1922; BM 301).
Gerd Koch: The First Two Quarto Notebooks of F.K.’s
Diaries. Thoughts on their Genesis and Date of Origin.
In: Steven Taubeneck (Hg.): Fictions of Culture. New
York u. a. 1991, 182–197. – Hermann Korte: Schreib- Kafka und die Briefkultur
Arbeit. Literarische Autorschaft in K.s Tagebüchern. In:
H.L. Arnold (1994), 254–271. – Elisabeth Lack: K.s be- Die Aufmerksamkeit, die Kafkas Briefen als Doku-
wegte Körper. Die Tagebücher und Briefe als Laborato- menten von weltliterarischem Rang allgemein zuteil
rien von Bewegung. München 2009. – Sandra Marke- wird, lässt ihren Verfasser heute als schillernden Ex-
witz: Das Schweigen. Tautologizität in K.s Tagebüchern. ponenten einer Epoche der Briefkultur erscheinen,
Diss. Bielefeld 2004, München 2006. – Gerhard Neu- deren Stern um 1900 freilich am Sinken war: Neue
mann: »Eine höhere Art der Beobachtung«. Wahrneh- Kommunikationsformen und -technologien wie Te-
mung und Medialität in K.s Tagebüchern. In: Sandberg/
lefon, Rohrpost oder Telegramm ermöglichten eine
Lothe (2002), 33–58. – Ders.: »Was hast Du mit dem
weitaus schnellere, effizientere Informationsübertra-
Geschenk des Geschlechtes getan?«. F.K.s Tagebücher
gung (allein das Prager Rohrpostsystem umfasste
als Lebens-Werk. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.):
1899 ein ausgebautes Streckennetz von 55 km) und
Autobiographisches Schreiben und philosophische
Selbstsorge. Heidelberg 2004, 153–174. – Malcolm Pas- damit auch eine größere Unmittelbarkeit als zuvor.
ley: K.’s Diary. Some Clues to Its Mode of Composition. Die Defizite, die das moderne Bewusstsein auf dem
In: Oxford German Studies 17 (1988), 90–96. − Julian Wege neuer, beschleunigter Mitteilungs- und Ver-
Preece: The Letters and Diaries. In: J. Preece (2002), ständigungsmöglichkeiten zu verzeichnen hatte,
111–130. − Ritchie Robertson: In Search of the Histori- wurden indes als Verlust an Authentizität und per-
cal K. A Selective Review of Research, 1980–92. In: sönlicher Wahrheit erfahren und flossen direkt in
MLR 89 (1994), 107–137. − Andrea Rother: »Hier muß die literarischen Krisen-Bilanzen der Jahrhundert-
ich mich festhalten…«. Die Tagebücher von F.K. − Ein wende ein. Das Medium ›Brief‹, als eine der letzten
literarisches Laboratorium 1909–1923. Berlin 2008. − noch nicht ausgetrockneten Oasen der Subjektivität,
Anne Rother: »Vielleicht sind es Tenöre«. K.s literari- wurde so zur erklärten Zufluchtstätte des Ich, um
sche Erfindungen in den frühen Tagebüchern. Bielefeld sich von hier aus auf Wesentliches zu verständigen
1995. – Bettina Spoerri: noch (nicht) schreiben. Prekäre und gegen den Mangel an Innerlichkeit und Nähe
Kreation und Schreibanfänge in K.s Tagebüchern. In: I. anzuschreiben. Folglich übernahm der Brief neben
Wirtz (2010), 117–132. seiner ursprünglichen kommunikativen Funktion
Philipp Theisohn nach außen auch die Aufgabe eines Ausdrucksmit-
tels neuzeitlicher Individualität (Stach, 163). Der-
selbe Doppelcharakter spiegelt sich auch im sozialen
Bewusstsein bürgerlicher Brief-Korrespondenten:
Briefe sind Ausdruck einer Beziehung, und zugleich
Das Briefwerk 391

tragen sie dazu bei, ›Beziehung‹ aufzubauen, zu for- gewiesen, dass Briefe ungewissen Inhalts auch in
men oder zu konstruieren. Kafkas eigener Dichtung – namentlich in Das Urteil
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, Kafkas und in den Romanen – eine zentrale Rolle spielen.
oben zitierten Brief weiterzulesen:
Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß – bloß
teoretisch angesehn – eine schreckliche Zerrüttung der Briefe 1900 bis 1912
Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr
mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst Schon als Gymnasiast entdeckt Kafka die besonde-
des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst
ren Vorzüge der Mitteilungsform ›Brief‹ und lehnt
[…]. Die Menschheit […] hat, um möglichst das Ge-
spenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und daran seine literarischen Ambitionen an. Die frühes-
den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu er- ten Schriften einschließlich der Korrespondenzen
reichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfun- vor 1900 müssen als vernichtet bzw. verschollen gel-
den, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindun- ten – Kafka spricht andeutungsweise von »Kinderge-
gen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegen-
seite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post kritzel« größeren Umfangs und von ein »paar tau-
den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkente- send Zeilen«, von denen er sich angewidert trennt:
legraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber »ich war so vertollt in die großen Worte« (An O.
wir werden zugrundegehn (An M. Jesenská, Ende März Pollak, vermutl. nach 6.9.1903; B00–12 27). Die seit
1922; BM 302).
1900 verstreut überlieferten Postkarten und Briefe
Das Gespenstische geht für Kafka von der medialen aus der Gymnasial- bzw. Studentenzeit enthalten
Wirklichkeit des Briefverkehrs aus und bringt eine nicht nur wichtige lebensgeschichtliche Fakten, son-
Dämonologie hervor, die den Bereich zwischen- dern bereits erste Hinweise auf maßgebliche Selbst-
menschlicher Beziehungen okkupiert. So ist das entwürfe, Entwicklungen und poetische Horizonte.
Briefeschreiben, obzwar virtueller Ersatz von Nähe, In den bekenntnisreichen Briefen an den Intimus
vor allem »ein Selbstbetrug und lässt den Schreiber Oskar Pollak liest man so z. B. über erste literarische
zum Opfer solchen Austauschs werden« (Arens, 16). Produktionen aus den Anfängen, als »man ›Werke
Angesichts der von Kafka illustrierten Medienwelt schuf‹, wenn man Schwulst schrieb« (ebd.), sowie
kann kein Zweifel daran bestehen, dass seine Briefe aktuelle Entwürfe wie Der schamhafte Lange und der
Zeugnisse eines längst zwiespältigen, aber selbst un- Unredliche in seinem Herzen (An O. Pollak,
ter negativen Vorzeichen identitätsstiftenden Pro- 20.12.1902; B00–12 17–19), Das Kind und die Stadt
jekts der Briefkultur sind. (nicht überliefert) und lyrische Versuche (An O.
Nicht zuletzt hat Kafka daran teil als passionierter Pollak, 8.9.1903; B00–12 30 f.). Kafka deutet in den
Leser. Wie alles Biografische interessieren ihn Le- Briefen auch Grundmuster seines poetischen Schaf-
benszeugnisse in Briefen. Zu seinen Lektüren zähl- fens an: die Sorge um Kontinuität, die Vorstellung
ten Briefe von Goethe, Hebbel, Robert Browning/ von der Kunst als Akt des »Gebärens« (An O. Pollak,
Elizabeth Barrett, Byron, Dehmel, Dostojewski, du vermutl. nach 6.9.1903; B00–12 27), ebenso wie das
Barry, Flaubert, Fontane, van Gogh, Gogol, Grabbe, Bekenntnis zu einer radikalen Wirkungsästhetik:
Kierkegaard, Kleist, Pestalozzi sowie Oskar Webers »ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer
Briefe eines Kaffeepflanzers (Köln 1913) und Aaron in uns. Das glaube ich« (An O. Pollak, 27.1.1904;
D. Gordons in Der Jude erschienene Briefe aus Paläs- B00–12 36). Geprägt durch die gemeinsame Kunst-
tina (spätere Buchpublikation: Berlin 1919). Die er- wart-Lektüre und andere literarische zeitgenössische
staunliche Auswahl dieser Briefautoren ist dabei kei- Kost wirken die Briefe in stilistischer Hinsicht oft
neswegs zufällig und resultiert in erster Linie aus überladen mit sperrigen Archaismen und schmü-
Kafkas besonderem Verlangen nach exemplarischen ckenden Epitheta. Mitunter weisen die Schreiben an
Orientierungshilfen für das eigene Leben. Pollak auch eine monologisierende, allzu literarische
Dass im Weiteren auch literarische Briefe Kafkas Tendenz auf.
Beachtung fanden, lässt sich belegen an den Lektü- Bereits in diesen frühen Briefen schreibt Kafka
ren von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen adressatenbezogen; deutlich zeigt sich sein Bemü-
Werther, Hofmannsthals Chandos-Brief, Kierke- hen, auf die Persönlichkeit des Gegenübers und des-
gaards Entweder – Oder und Herbert Eulenbergs sen spezifische Situation einzugehen. So spricht aus
Brief eines Vaters unserer Zeit (erschienen in Pan 1, den Schreiben an Paul Kisch ein ganz anderer Kafka.
1911, 11, 358–363). Schließlich sei noch darauf hin- Während sich in den ästhetisch überformten, nach-
392 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

denklichen und manchmal etwas altklugen Zeilen Weitschweifigkeiten weichen einer präzisen Sprache
an Pollak das ›Kunst-Wollen‹ des Verfassers artiku- mit äußerster Knappheit in Ausdruck und Satzge-
liert, vernimmt man in den Schreiben an Kisch die füge. Die Verflechtungen von Brief und Werk sollten
geläufige Diktion der Lese- und Redehalle, mit An- dabei nicht übersehen werden. Kafkas erste litera-
klängen einer teils saloppen, teils verwegenen Aus- risch gereifte Prosastücke verdanken sich diesem
drucksweise. Die wenigen erhaltenen Briefe schla- Prozess und gehen in einigen Fällen sogar direkt aus
gen Töne an, die sonst in seinem Register nicht vor- Briefstellen hervor.
kommen: burschikos, aggressiv, auftrumpfend, Im gleichen Zusammenhang ändert sich um
schrill; manche groteske Bilder erinnern an Gesell- 1907/08 auch Kafkas Schriftbild. Die vormals in
schaftssatire (Alt, 90). Kurrent gehaltenen Schriftzüge werden ab Sommer
Auffallend ist neben diesen distinktiven Schattie- 1907 durch lateinische Schreibschrift verdrängt –
rungen aber auch, dass konventionelle Standards in freilich nicht ganz in der Konsequenz, wie Kafka im
Sprache und Form in den meisten Briefen nicht ein- Brief an Brod behauptet:
gehalten werden: häufig fehlende Anrede, Verzicht Daß Du einen Menschen mit meiner frühern Schrift ge-
auf Phrasen und Höflichkeitsbezeugungen, Beto- funden hast, ist möglich, jetzt aber schreibe ich anders
nung des künstlerischen Ausdrucks durch unge- und nur beim Schreiben an Dich erinnere ich mich an
wöhnliche Plastizität, Originalität und Dynamik die jetzt vergangenen Bewegungen meiner Buchstaben
(29.8.1907; B00–12 56).
(Binder 1979, 512). Die Briefe erhalten so nicht sel-
ten den Charakter eines Tagebucheintrags, in dem Bei einigen Adressaten zieht Kafka es zunächst wei-
der Schreiber unvermittelt auf eine bestimmte Situa- terhin vor, in der alten, eingeübten Schrift zu korres-
tion zu sprechen kommt. Selbst eine lapidare Gruß- pondieren – so z. B. im Anstellungsgesuch an die As-
sendung wird auf diese Weise zu einer Botschaft mit sicurazioni Generali (2.10.1907; B00–12 66–70).
angedeutetem Verweischarakter: »Lieber Hugo, es Unberührt von diesen Veränderungen bleiben
ist mir, als müßte ich Dich grüßen« (An H. Berg- auch die schwärmerischen Zeilen, die Kafka im Jahr
mann, vermutl. zwischen Okt. 1901 u. Febr. 1902; 1907 an die Freundin Hedwig Weiler (ä 8) richtet.
B00–12 12). Bereits hier, im Vorgriff auf spätere Liebes(fern)be-
Die sich seit 1904 entwickelnde Freundschaft mit ziehungen, zeigt sich die Tendenz zu Täuschung,
Max Brod zieht bald auch eine enge Korrespondenz Selbstbetrug und Autosuggestion. In den Briefen
nach sich und verdrängt den Adressaten Oskar lässt Kafka die Freundin episodisch an seinem Alltag
Pollak völlig aus dem Blickfeld. Obgleich Brod die teilhaben, schickt ihr literarische Kostproben und
Rolle des Vertrauten übernimmt, wirbt Kafka zu- wagt zuweilen imaginäre erotische Annäherungen.
nächst um das Privileg engeren Gedankenaus- Ebenso werden berufliche Pläne und gemeinsame
tauschs. Doch die Möglichkeiten eines produktiv sti- Zukunftsaussichten erörtert. Im Übrigen ist mit der
mulierenden Briefwechsels finden auf der Gegen- von Weiler umstandslos eingeräumten Anrede »Du,
seite nur wenig Zuspruch. Brod, in publizistischen Liebe« bereits der eigentliche Zenit dieses Brief-
Bereichen ein ausgesprochener Vielschreiber, räumt wechsels – im Rahmen der Möglichkeiten eines pla-
seiner Korrespondenz einen vergleichsweise gerin- tonischen Gesprächs – erreicht. Bald zeigen sich die
gen Stellenwert ein. Nach einem ersten literarischen Grenzen. Kafkas Briefe spiegeln immer wieder Miss-
Auftakt (28.8.1904; B00–12 39–41) nehmen Kafkas verständnisse und Differenzen wider, die in den ver-
Briefe an Brod den Charakter kurzer informativer, schiedenen Persönlichkeitsstrukturen begründet lie-
wenngleich literarisch gestalteter Mitteilungen an. gen. Im Wechselspiel seiner Gefühle für die Adressa-
Nur selten, auf Reisen, werden längere Berichte ge- tin und der Sehnsucht nach gleichzeitiger Nähe wie
schrieben. Die eigentliche Vertiefung der Freund- Distanz entwickelt er hier bereits erste Grundfiguren
schaft ereignet sich jenseits der Briefe in gemeinsa- der Selbstanklage: »Du siehst ich bin ein lächerlicher
men Gesprächen und Erlebnissen. 1908–12 verkeh- Mensch; wenn Du mich ein wenig lieb hast, so ist es
ren die beiden Freunde fast täglich miteinander, Erbarmen; mein Antheil ist die Furcht« (29.8.1907;
entsprechend gering ist das Bedürfnis nach schriftli- B00–12 57). Die Gründe für die Auflösung des Ver-
chem Austausch. hältnisses 1908 bleiben aufgrund fehlender Briefdo-
Nicht zuletzt in der kargen Korrespondenz mit kumente im Dunkeln, dürften aber mit dem Mangel
Brod spiegelt sich Kafkas seit etwa 1904 veränderter einer realen Basis dieser Beziehung und zunehmen-
Schreibstil. Wortgirlanden, Schwulst und stilistische der Entfremdung zusammenhängen. Im Januar 1909
Das Briefwerk 393

sendet Kafka sämtliche Briefe an das »Geehrte Fräu- Briefe 1912 bis 1917
lein« Weiler zurück (7.1.1909; B00–12 95).
Kafka ist Briefsteller von Beruf. Seit 1908 verfasst Mit einem Manuskript der ersten Buchveröffentli-
er Schreiben an und für die Arbeiter-Unfall-Versi- chung und dem ungewöhnlich selbstkritischen Hin-
cherungs-Anstalt (AUVA). Ohne Zweifel beherrscht weis auf »das Schlechte in den Sachen« hebt der 1912
Kafka den k. u. k. Amtsbriefstil seines Versiche- begonnene Briefwechsel mit dem Rowohlt-Verlag an
rungsmetiers, wie ihm seine Vorgesetzten wieder- (An E. Rowohlt, 14.8.1912; B00–12 167). Dank der
holt bescheinigen. Hervorzuheben ist allerdings an Vertiefung des Kontakts durch Kurt Wolff und des-
seinen beruflichen Briefen weniger die Stilsicherheit sen anfänglichen Bemühungen um Kafkas weitere
als deren Wandlungsfähigkeit und Variabilität. Die Veröffentlichungen gewinnen die Briefe bald an per-
unterschiedlichen dienstlichen Aufgaben sowie per- sönlichen Akzenten. Wahrscheinlich kriegsbedingt
sönliche Ansprüche erfordern einen flexiblen Brief- und durch die Vermittlungsdienste Max Brods wird
schreiber. Dabei gilt es, innerhalb der sozialen Hier- der Kontakt mit Wolff und seinem Geschäftsführer
archie der Anstalt den ›richtigen Ton‹ nicht zu ver- Georg Heinrich Meyer (1871–1931) jedoch auf eine
fehlen, engere oder rein dienstliche Beziehungen zu insgesamt zurückhaltende Korrespondenz einge-
berücksichtigen und effiziente Verständigungsfor- schränkt. Vorübergehend verdichten sich in Kafkas
men zu finden, ohne die eigenen Belange aus den Schreiben auch die Anzeichen gegenseitiger Miss-
Augen zu verlieren. So vermittelt sich in seinen frü- verständnisse.
hen Briefen an die AUVA bis 1912 der Eindruck ei- Unter den lebensgeschichtlichen Entwicklungen
nes offiziellen, sachlich korrekten, konzentrierten um 1912 erschließen sich Kafka neue Dimensionen
Schreibstils, während in den späteren Anträgen und des Schreibens. Insbesondere Briefe haben daran
Gesuchen zunehmend persönliche Auskünfte einge- ihren Anteil. Als Kafka am 20.9.1912 seine Korres-
flochten und auch in formaler Hinsicht neue Regis- pondenz mit Felice Bauer aufnimmt, erhält er be-
ter gezogen werden. Besonderen Situationen begeg- zeichnenderweise auch seinen ersten Verlagsvertrag
net Kafka mit besonderen Mitteln: Aufgrund man- (Unseld, 64). Das Zusammentreffen dieser Lebens-
gelhafter Bezahlung seiner Leistungen sucht der momente in einer Phase tief empfundener Krisis
Koncipist beispielsweise am 11.12.1912 in einem versetzt ihn in einen Zustand größter innerer Erre-
16–seitigen ›Monstre-Brief‹ um die Ernennung zum gung und löst wenige Tage später, am 23. September,
Vize-Sekretär nach und unterstreicht seine ange- seinen unverhofften Durchbruch – die tranceartige
staute Unzufriedenheit mit einem Konvolut aus Ta- Niederschrift des Urteil – aus.
bellen und Statistiken (B00–12 319–326). Dennoch Bereits die ersten Briefe nach Berlin stellen Felice
sind Kafkas amtliche Schreiben den Privatbriefen das Bild eines ungewöhnlichen Verfassers vor Au-
sehr nahe. Diese Tendenz wird auch in den Jahren gen. Bedenkt man, dass die Korrespondenz im Kon-
nach 1918 in tschechischer Verwaltungssprache fort- text ihrer Zeit deutlich auf den Horizont einer Ehe-
gesetzt. anbahnung oder zumindest einer Liebeswerbung
Die überlieferten frühen Briefe sind in erster Linie ausgerichtet ist, so erscheint es umso erstaunlicher,
Zeugnisse eines Verständigungsbemühens, dessen welches Selbstbild Kafka darin entwirft: »Was für
Dilemma sich bereits schemenhaft andeutet: Der li- Launen halten mich, Fräulein! Ein Regen von Ner-
terarisch ambitionierte Absender sucht nach mögli- vositäten geht ununterbrochen auf mich herunter.
chen Wegen, sich seiner Außenwelt mitzuteilen, wo- Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht« (An
bei die Briefe oft nur als Mittel zum Zweck dienen. F. Bauer, 28.9.1912; B00–12 174). Geständnisse über
Eine ausgewogene Mitteilungsform, Kontinuität die Eigenarten des Absenders durchziehen die Briefe
oder einen durchgehenden Stil lassen die Briefe un- in ihrer Gesamtheit wie ein roter Faden. Einen zwei-
ter ihren jeweiligen Adressierungen kaum erkennen, ten Schwerpunkt bildet das von Beginn an aufge-
wohl aber das Bemühen um einen möglichst hohen nommene Thema des Schreibens, genauer: die Pro-
Grad an Authentizität. bleme und Möglichkeiten des Schreibens im Allge-
meinen und des Briefeschreibens im Besonderen.
Kafka verleiht seiner Korrespondenz ein Gewicht,
das, abzulesen an Inhalt, Umfang und Frequenz sei-
ner Briefsendungen, den Gedanken einer maßlosen
Obsession nahelegt und offensichtlich die herkömm-
394 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

liche Funktion als Liebesbrief – oder wie Erich Hel- reagiert Kafka auf leiseste Andeutungen einer Unter-
ler in seiner Einleitung paraphrasiert: als Minnesang brechung und macht diese wiederum zum Aus-
(BF 9) – überfrachtet. gangspunkt neuer Briefketten. Der Brief selbst wird
So entwickelt sich nach anfänglicher Irritation ein so zur Botschaft, ungeachtet seines Inhalts. Zuweilen
reger Briefverkehr (bis zu vier Schreiben täglich) lässt Kafka Züge eines Brief-Fetischismus erkennen,
zwischen Prag und Berlin, dessen Volumen bereits der, bei aller schwärmerischen Übertreibung, die
nach den ersten sieben Monaten monströse Züge physische Erscheinung der Absenderin ausblendet
annimmt und sich während der 5–jährigen Bezie- und auf ein Papierformat reduziert. Aufschlussreich
hung auf insgesamt 511 Briefe, Postkarten und Brief- ist in diesem Zusammenhang auch die Vision eines
fragmente auswächst (Stach, 142). Kafka empfindet Traumes, die er der Freundin – selbstverständlich in
die Korrespondenz als literarische Stimulanz, aus Briefform – mitteilt. Felice ›erscheint‹ darin in Ge-
der nicht zuletzt größere Erzählversuche wie Das Ur- stalt zweier Einschreibebriefe:
teil oder Der Process hervorgehen. Ähnlich wie im Gott, es waren Zauberbriefe. Ich konnte soviel beschrie-
Tagebuch werden auch hier Motive erprobt und bene Bogen aus den Umschlägen ziehn, sie wurden nicht
schließlich in eigenständigen literarischen Texten leer. […] Die ganze Treppe nach oben und unten war
übernommen. von diesen gelesenen Briefen hoch bedeckt und das lose
aufeinander gelegte elastische Papier rauschte mächtig.
Das Briefe-Schreiben als performative Möglich-
Es war ein richtiger Wunschtraum (17.11.1912; B00–12
keit, Leben und Schreiben aufs Engste zu verbinden, 241).
eröffnet Kafka jedoch noch weitere Perspektiven.
Bereits in Jungborn, nach der unglücklichen Begeg- Als schließlich im Frühjahr 1913 die Idee einer Hei-
nung mit Margarete Kirchner (ä 15), hatte Kafka rat greifbare Konturen annimmt, dienen die Briefe
über die Möglichkeiten nachgesonnen, »Mädchen der Aushandlung von Geltungsansprüchen. Kafka
mit der Schrift [zu] binden« (An M. Brod, 13.7.1912; unterstreicht nunmehr seine Bedürfnisse nach ein-
B00–12 160). Die Briefe an Felice Bauer dokumen- samem Schreiben und sucht der Braut die Tragweite
tieren diesbezüglich eine außergewöhnlich intensive ihrer Entscheidung für ein gemeinsames Leben aus-
Bindung, die freilich auf beiden Seiten auch außer- zumalen. Dabei schreckt er keineswegs vor drasti-
gewöhnliche Kräfte und Anstrengungen fordert. schen Bildern zurück, wenn es darum geht, die letz-
Dazu musste zunächst erst einmal eine Verbindung ten Illusionen der Geliebten zu zerstreuen: »Ich
zwischen zwei Unbekannten aufgebaut werden. Die brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit
ersten Briefe dienen somit vordergründig als Ersatz nicht ›wie ein Einsiedler‹ das wäre nicht genug, son-
für fehlende Gespräche und Begegnungen. Kafka, dern wie ein Toter« (26.6.1913; B13–14 221). Wirk-
der in mündlicher Kommunikation bereits auf sam werden nun auch die Argumente physischer
kleinste Störungen empfindlich reagiert (und daher Unzulänglichkeit, Nervosität und Krankheit wieder-
auch das Telefonieren fürchtet), verlagert die ›Annä- holt, um die Braut zur Einsicht zu führen: »Zwischen
herungsgespräche‹ weitestgehend auf die schriftliche mir und Dir steht von allem andern abgesehn der
Ebene. Allerdings kommt er damit auch den Bedürf- Arzt« (vermutl. zwischen 8. u. 16.6.1913; B13–14
nissen der zeitlich eng disponierten Felice Bauer ent- 208).
gegen, die aufgrund zahlreicher Verpflichtungen zu- Seit November 1913 steht Kafka, nach einer zwi-
nächst nur eine Fernbeziehung eingehen kann. Un- schenzeitlich schweren inneren Krise, mit Felice
ter diesen Aspekten sind die von Kafka verlautbarten Bauers Freundin Grete Bloch in enger Verbindung.
Skrupel, einer festen Beziehung nicht genügen zu Die so aufgenommene Parallelkorrespondenz er-
können, durchaus beiderseits vorhanden und erklä- möglicht ihm, die inneren Widersprüche zu sondie-
ren, zumindest zu Teilen, die Toleranz, die ihm aus ren und nach Außen zu verlegen (Born 1988, 9–15).
Berlin immer wieder entgegengebracht wird: »Liebs- Grete Bloch gegenüber kann er sich, ohne zu verlet-
tes Fräulein! Sie dürfen mir nicht mehr schreiben zen, gegen die Ehe mit Felice Bauer aussprechen – in
[…]. Ich müßte Sie durch mein Schreiben unglück- einer Phase, da die Berliner Braut sich ohnehin, ge-
lich machen und mir ist doch nicht zu helfen« kränkt von Kafkas Riva-Eskapaden (ä 17), aus dem
(9.11.1912; B00–12 222). Briefwechsel zurückgezogen hat.
Im Fortgang der täglichen Sendungen rückt schon In der Korrespondenz mit Grete Bloch wiederholt
nach wenigen Wochen der Brief als verbindendes sich ein Muster, das bereits für die Anfangskorrespon-
Faktum ins Blickfeld der Aufmerksamkeit. Wachsam denz mit Felice Bauer charakteristisch war: »Es ist nun
Das Briefwerk 395

sie, über die er alles wissen will, und er stellt dieselben Kafkas selbstzerstörerische Versuche, dem Me-
alten Fragen«, konstatiert Elias Canetti in seiner Stu- dium Brief die Intensität einer lebendigen Beziehung
die und hält fest: »Die Abbreviatur jener früheren abzupressen, führen letzten Endes in eine Sackgasse.
Korrespondenz fällt ihm natürlich leichter als damals Die Korrespondenz, die ursprünglich auf die Ver-
das Original, es ist eine Klaviatur auf der er sich einge- bindung zweier Partner zur Heirat oder zum Zusam-
übt hat. Etwas Spielerisches ist an diesen Briefen, was menleben angelegt ist, wird mehr und mehr zum
die früheren sehr selten hatten, und er wirbt ganz un- Schreiben über das (Briefe-)Schreiben (Stach, 126) –
verhohlen um ihre Neigung« (Canetti, 57). oder wie Kafka vorwegnehmend resümiert: »Ein
Schließlich wird aus der Vermittlerin eine Mitwis- großer Briefverkehr ist ein Zeichen dafür, daß etwas
serin und überdies »das beste liebste und bravste Ge- nicht in Ordnung ist« (An F. Bauer, 15.8.1913; B13–
schöpf«, dem Kafka offen und bedenkenlos seine 14 263).
Ansichten über Felice und die Unmöglichkeit einer Neben den imposanten Schreibströmen, die die
Ehe anvertrauen kann (An G. Bloch, 21.3.1914; B13– Briefe an Felice Bauer freisetzen, erscheinen die an-
14 364). Die Gründe, warum Grete Bloch am 12. Juni deren Korrespondenzen der Jahre bis 1917 zweitran-
1914 den Eklat im Berliner ›Askanischen Gerichts- gig. An seinen Briefen an Verwandte und Freunde,
hof‹ und damit die Auflösung der Verlobung Kafkas vor allem aber an Max Brod, lässt sich immerhin
herbeiführt, lassen sich aus der unvollständigen Kor- Kafkas Bemühen um Kontinuität im freundschaftli-
respondenz kaum – oder bestenfalls spekulativ – er- chen Dialog ablesen. Die alte Funktion dieser Briefe
schließen. Das Beweisstück, der entscheidende Brief, als Ersatz für mündliche Gespräche wird beibehal-
ist jedenfalls nicht erhalten geblieben. ten, wobei nun in Ansätzen eine neue Art des Be-
In der zweiten Verlobungszeit ändert sich an der richtens in den Vordergrund rückt: Kafka erzählt
Grundkonstellation des ›Kampfes‹ wenig. Kafkas von Alltagserlebnissen und Begebenheiten auf Rei-
Briefe an Felice bleiben auch weiterhin den illusio- sen in betont epischer Breite, etwa in der Schilde-
nären Erwartungen und den daraus sich ergebenden rung seines Besuches bei dem Belzer Rabbi (d.i. Issa-
Paradoxa verpflichtet, nur ihr Ton ist gelassener. Die char Dov) in Marienbad im Juli 1916 (An M. Brod,
hohe Frequenz der Anfangszeit, Umfang und Inten- 17. u. 18.7.1916; B14–17 177–181). Selbstverständ-
sität der Briefe werden jetzt gedrosselt; unter der ver- lich bleibt das Thema des Schreibens, einschließlich
zögernden Einwirkung der im Krieg eingeführten der Klagen über eigene Unzulänglichkeiten und de-
Zensur verliert das tägliche Schreiben ohnehin sei- ren ironischer Brechung, bestimmend. Allerdings
nen Sinn. Kafka vermeidet die Berührung proble- wird der Freund – im Unterschied zu Felice – nicht
matischer Fragen und wird sich zunehmend be- so sehr als Bedrohung literarischer Lebensentwürfe
wusst, dass ein gemeinsames Leben auf eine Zuspit- empfunden. Kafkas Ambivalenz Brod gegenüber
zung seiner inneren Grundkonflikte hinauslaufen zeigt sich eher hinsichtlich weltanschaulicher Fra-
würde. Als im Sommer 1917 die Tuberkulose zum gen, die auch zu einer sichtlichen Lockerung des
Ausbruch kommt, sieht Kafka die Krankheit als sei- Kontakts führen. So bleiben die in Briefen bespro-
nen persönlichen Bankrott – wohl aber auch als chenen Themen einstweilen auf Literarisches sowie
letzte Entscheidungshilfe in einem hoffnungslosen aktuelle Rapporte eingeschränkt. Erst seit der im
Kampf gegen sich selbst (An F. Bauer, 30.9.1917; Herbst 1917 im Zürauer Exil vollzogenen Lebens-
B14–17 332–334). wende entwickelt sich der Dialog mit Brod zu einem
In der Summe lassen Kafkas Briefe an Felice eine engeren Briefwechsel. Im Zuge dieser Entwicklung
Eigenständigkeit und Geschlossenheit erkennen, die werden nun auch die Selbstauskünfte reflektierter.
wie kaum eine andere seiner Korrespondenzen den Überdies lässt sich den Briefen ein Kommunika-
Anspruch auf literarischen Werkcharakter erheben. tionsmuster ablesen: Auf Brods informationsorien-
Jedes Detail dieser Briefe, von der Anrede bis zur tierte, oft fragebogenartige Erkundigungen antwor-
subtil verschlüsselten Grußformel, scheint in ein tet Kafka mit metaphorisch anspielungsreichen Aus-
Netz bedeutungstragender Strukturen bzw. intertex- weichmanövern.
tueller Verweise eingebunden und somit einer kom- Unter den kleineren Korrespondenzen ragen in
positorischen Intention zu folgen. Der Briefsteller gewisser Hinsicht die Briefe an Felix Weltsch und
bedient sich eines reichhaltigen Repertoires an stilis- Oskar Baum, sowie der seit Mai 1914 bestehende
tischen Formen und rhetorischen Figuren – ohne Schreibkontakt mit dem späteren Herausgeber der
dabei an lebendiger Sprachdynamik zu verlieren. kulturzionistischen Zeitschrift Der Jude, Martin Bu-
396 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

ber, heraus. Auch einzelne Briefe an Schriftsteller che – Eindruck, als wäre die Beziehung ohne Korre-
wie Gottfried Kölwel (1889–1959) oder Robert Mu- spondenzen auf allen Ebenen abgebrochen worden.
sil sind zu erwähnen. Die Briefe an Milena belegen das Gegenteil (vgl. BM
32, 36 f., 69, 126, 130). Immerhin existiert ein Schrei-
ben an die Schwester der Braut, in dem Kafka nach-
Briefe 1918 bis 1924 träglich seine Zweifel an der Ehe erklärt (Wagenbach
1969, 36–42).
Seit Zürau beginnt Kafka die Umrisse seines Lebens Der im November 1919 in Schelesen entstandene
in bisher nie gekannter Schärfe nachzuzeichnen – eine <Brief an den Vater > (NSF II, 143–217) knüpft un-
Revision biografischer Entwürfe, die sichtlich in Brie- mittelbar daran an. Nach einer Auseinandersetzung
fen zum Tragen kommt. Nicht zuletzt dank ausge- mit dem Vater, der sich schon vor dem Scheitern der
dehnter Aufenthalte in Zürau (1917/18), Schelesen Heirat gegen die Ehepläne des Sohnes ausgespro-
(1918/19) und später Meran (1920), Matliary chen hatte, versucht Kafka, eine Lebensbilanz zu zie-
(1920/21), Spindlermühle (1922), Planá (1922), Mü- hen. Als Anlass des Briefes bezeichnet der Epistolo-
ritz (1923) und schließlich Berlin (1923/24) findet graph seine »Furcht« vor dem Vater (NSF II, 143)
Kafka die nötige Distanz, sich diesen Impuls über die und betont so die grundlegend gestörte Kommuni-
letzten Lebensjahre zu erhalten. Mit den genannten kationssituation. Der Mitteilungscharakter des (im
Ortswechseln ändert sich auch sein Sozialverhalten, Original 103-seitigen) Briefdokuments ist mit Recht
das bisher stark durch das Prager Umfeld geprägt war. umstritten. Kafka legt darin, unter Betonung der vä-
Neue Freundschaften werden nun geschlossen (u. a. terlichen Erziehungsmethoden, die eigene Entwick-
Julie Wohryzek, Minze Eisner, Robert Klopstock, Tile lung dar und zeigt deren verhängnisvolle Wirkung
Rössler, Dora Diamant), alte dagegen werden fast aus- in allen Lebensbereichen (Heiratsversuche, Beruf,
schließlich in Briefform gepflegt. Die Korrespondenz Judentum und Schreiben). Die im <Brief an den Va-
mit dem Intimus Max Brod erfährt dadurch eine ter > enthaltenen persönlichen Auskünfte bilden bis
sichtliche Vertiefung. Man diskutiert über aktuelle heute die wichtigste autobiographische Quelle für
Schriften und Brods erotische Verstrickungen, über Kafkas frühe Jahre. Bemerkenswert ist aber auch die
lebendige Bezüge bei Kierkegaard und die eigene Si- literarische Signatur des Textes. Kafka scheint über
tuation. Wie schon in den früheren Briefen stützt sich weite Strecken den konkreten Anlass seines Briefes
Kafka häufig in seinen Betrachtungen auf gegenüber- zu vergessen und bringt verstärkt die Mittel seines
stellende Vergleiche mit dem Freund und greift dabei dichterischen Könnens zur Geltung (Sprachspiele,
auch gern auf anschauliche Metaphorik bzw. Figuren Ironie, Übertreibungen, fiktive Dialoge, Kindheits-
der Übertreibung zurück: »Ich? Wenn […] ich mich erinnerungen, Parodie). Sichtlich stellt der Verfasser
damit vergleiche, so scheint es mir daß ich umherirre seine literarischen Bemühungen in den Kontext ei-
wie ein Kind in den Wäldern des Mannesalters« (An ner ›kleinen Literatur‹ (27.12.1911; T 326) mit ihrer
M. Brod, Anf. April 1921; BMB 332). besonderen »Besprechungsmöglichkeit des Gegen-
Die gewonnene Distanz zu Prag ermöglicht es satzes zwischen Vätern und Söhnen« (25.12.1911;
Kafka nun stärker, seine Standpunkte aus der Au- T 313), wenn er resümiert: »Mein Schreiben han-
ßenperspektive darzulegen und die Brodsche Dik- delte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Dei-
tion mit ironischem Blick zu brechen. Auf diese ner Brust nicht klagen konnte« (NSF II, 192).
Weise entstehen Briefe, die sich teilweise wie eigen- Der <Brief an den Vater > erreicht letztlich nicht
ständige Erzählungen (An M. Brod u. F. Weltsch, den angeschriebenen Adressaten, sondern die Mut-
10.4.1920; BMB 271–274) oder Essays lesen: So z. B. ter. Die besondere Bedeutung des Briefes für Kafka
auch seine Stellungnahme zu Karl Kraus’ Jargonvor- lässt sich auch an dem Umstand ablesen, dass er von
würfen, in der er die Situation der deutsch-jüdischen einer Schreibkraft der AUVA eine (überarbeitete,
Literaten und ihr Verhältnis zum Judentum des Va- fast vollständige) maschinenschriftliche Fassung an-
ters zu erklären versucht (An M. Brod, Juni 1921; fertigen lässt, was er sonst nur bei Manuskripten, die
BMB 358–360). zur Veröffentlichung bestimmt sind, zu tun pflegt
Über die in Schelesen aufgenommene Beziehung (Koch 2004, 7).
mit Julie Wohryzek (ä 21) bewahrt Kafkas Nachlass Im Frühjahr 1920 nimmt Kafka die Korrespon-
Schweigen. Aufgrund der schwierigen Überliefe- denz mit der jungen Wiener Journalistin und Über-
rungslage entsteht der – allerdings unwahrscheinli- setzerin Milena Jesenská-Pollak auf (ä 21 f.). Als er
Das Briefwerk 397

im April von Meran aus den Briefwechsel fortsetzt, Distanz und vorsichtiger Annäherung. Die Intensi-
entwickelt sich binnen weniger Wochen eine enge tät des Sommers 1920 erreichen sie nicht mehr.
Schreib-Beziehung, die bald schon die Intensität der In den letzten Lebensjahren treten die konzeptio-
Briefe an Felice erreicht. Kafka protokolliert akri- nell ohnehin fragmentarischen Tagebücher hinter
bisch den Puls des Schriftverkehrs, und auch das die Briefe zurück. Die Gewichtsverlagerung macht
Thema des Briefe-Schreibens mit seinen betont phy- sich nicht nur am Quantum des Geschriebenen be-
sischen Komponenten steht nun wieder im Vorder- merkbar; die Briefe neigen jetzt stärker zu Reflexion
grund: »Aber es ist unsinnig, diese Lust an Briefen. und entwickeln neue Verfahren und Figuren des Er-
Genügt nicht ein einziger, genügt nicht ein Wissen? zählens. Kafkas Fähigkeit, sich mit den Augen der
Gewiß genügt es, aber trotzdem lehnt man sich weit Anderen anzusehen und dies im Abgleich mit der ei-
zurück und trinkt die Briefe« (An M. Jesenská, genen Wahrnehmung zur Sprache zu bringen, wird
29.5.1920; BM 23). In der bekannten Diktion be- in Briefen in der Doppelperspektive des Betroffenen
schreibt Kafka sich Milena gegenüber als einen und des distanzierten Beobachters vorgeführt. Ent-
»›fremden Menschen‹«, »dessen Gesicht nur ›be- scheidend für das beobachtete Problemfeld ist der
schriebenes Briefpapier‹ ist« (4.6.1920; BM 44). Die jeweilige Horizont des Adressaten. An den Prager
Zeilen, die er als Fremder an sie richtet, sind aller- Freund Brod schreibt Kafka so 1922 aus Planá: »Ich
dings von entwaffnender Offenheit und sprechen bin von zuhause fort und muß immerfort nachhause
die psychologisch interessierte Milena direkt an. schreiben […]. Dieses ganze Schreiben ist nichts als
Ähnlich wie in den Briefen an Felice ist auch hier die Fahne des Robinson auf dem höchsten Punkt der
nach zwei Monaten die Nähe erreicht, zur Du-An- Insel« (12.7.1922; BMB 385 f.) – und macht damit
rede überzugehen (12.6.1920; BM 55). Seine Na- gleichsam den Brief zur doppelten Botschaft über
menszüge ersetzt der Briefschreiber sehr bald durch sein Schreiben und seine Isolation als soziales We-
die Initiale K, um sie schließlich ganz zum Verlö- sen.
schen zu bringen. Innerhalb dieser Wiederholungs- In seiner Korrespondenz der letzten Jahre zeich-
muster setzen die Briefe an Milena jedoch noch an- net sich ein starkes Interesse an pädagogischen Fra-
dere Akzente als die Schreiben an die einstige Ver- gen ab. Nicht nur die Erziehungsmethoden im <Brief
lobte Felice. Statt der früheren literarischen an den Vater >, auch die Kindheitsreminiszenzen in
Selbstdarstellungen (Milena ist selbst literarisch tä- den Briefen an Milena deuten dies an. In seinen Brie-
tig) führt Kafka der christlichen Tschechin die Ei- fen an die junge Minze Eisner (ä 21) wird konse-
genheiten seiner gebrochenen jüdischen Identität quent daran angeknüpft. Kafka übernimmt gegen-
vor Augen und unterstreicht diese mit gelegentli- über der jungen Teplitzer Jüdin mit selbständigen
chen Exkursen in die Topik des Selbsthasses. An- gartenbaulichen Ambitionen die Rolle des väterli-
knüpfend daran wird auch die Frage der Angst ver- chen Ratgebers und Freundes. Ähnlich verhält es
tieft und bildet ein durchgehendes Thema der Briefe sich auch mit den Briefen an den Medizinstudenten
(BM 24–27, 57, 60 f., 155). Robert Klopstock (ä 22), der als aufmerksamer Brief-
An diesen Fragen kristallisieren sich aber auch die partner ab 1921 den Freund Max Brod zu ersetzen
gegenseitigen Missverständnisse heraus. Kafka kann beginnt (Wetscherek 2003, 5). Erziehungsfragen sind
die Geliebte nicht überzeugen, ihre ohnehin zer- auch der Anlass für einige umfangreichere Schreiben
störte Ehe mit Ernst Pollak aufzugeben, um mit ihm vom Herbst 1921 an die Schwester Gabriele (»Elli«)
in Prag zu leben. Nach der glücklichen Begegnung Hermann, in denen Kafka sich vehement für die ›el-
vom 29. Juni bis 4. Juli in Wien und einer weiteren ternferne‹ Erziehung seines Neffen Felix in der Dal-
Zusammenkunft im August in Gmünd beginnt der croze-Schule Dresden-Hellerau ausspricht und da-
Briefschreiber sich von den Illusionen einer gemein- bei seine Ansichten über die Familie und über den
samen Zukunft zu verabschieden: »Diese Briefe […] schädigenden Einfluss der Prager Verhältnisse mit-
helfen zu nichts, als zu quälen […] entscheidend ist teilt (An E. Hermann, Herbst 1921; Briefe 339–347).
meine an den Briefen sich steigernde Ohnmacht Ein uneigennütziger pädagogischer Impuls ist es
über die Briefe hinauszukommen« (An M. Jesenská, letztlich auch, der 1923 im Dialog mit der 16-jähri-
Nov. 1920; BM 299). Der leidenschaftliche Brief- gen Tile Rössler und bereits seit 1919 in den mündli-
wechsel lässt bereits im September nach und wird im chen Gesprächen mit dem Gymnasiasten Gustav Ja-
November aufgegeben. Spätere Briefe von Kafka an nouch seine Wirkung entfaltete. Die nachträglich
die ehemalige Geliebte sind getragen von innerer festgehaltenen Sentenzen unterstreichen den stark
398 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

suggestiven Eindruck, den Kafka bei dem jungen Ja- Kafka im Privatsammlerbereich hingenommen
nouch hinterließ (Janouch 1961). werden.
Die Briefe aus den Jahren 1923/24 dokumentieren Die genauen Verluste lassen sich heute schwerlich
in erster Linie Erfahrungsberichte an Freunde und beziffern − nur selten gelingt es, verlorene Briefe fak-
Familie. Von wenigen Ausnahmen (wie z. B. an Hugo tisch oder gar inhaltlich aus erhaltenen Antwort-
u. Else Bergmann, Juli 1923; Briefe 436–438) abgese- schreiben zu rekonstruieren. Aber ausgehend von
hen, berichten sie von »praktisch organisatorischen der Tatsache, dass Kafka über lange Phasen seines
Dingen und reduzieren sich im Persönlichen auf ein Lebens fast täglich Briefe geschrieben hat, darf ein
minimales, niemand verletzendes Aufrechterhalten weitaus größeres Volumen angenommen werden, als
alter Beziehungen« (Binder 1979, 510). Kafka die heute überlieferten Bestände dokumentieren.
schreibt mit Unterstützung Dora Diamants, die zu- Unter Einbezug aller kalkulierbaren Faktoren ist mit
nehmend auch die Funktion der Schreiberin über- einem Schätzwert von ca. 30–40 % fehlender Briefe
nimmt, von den Lebensbedingungen unter der Wirt- zu rechnen.
schaftskrise. Dabei werden konkrete Auskünfte über Dabei geht es keineswegs nur um die Protokollie-
das persönliche Befinden meist in euphemistische rung singulärer Brieflücken innerhalb einer Adres-
Umschreibungen gehüllt. Die regelmäßige Korres- saten-Brieffolge – wie im Falle von Hedwig Weiler,
pondenz mit der Familie dient nun vorrangig den Felice Bauer, Grete Bloch, Milena Jesenská – oder
elementaren Versorgungsbedürfnissen und verleiht um die obligatorischen Reisegrüße an die Familie,
der über Jahre ausgedünnten Kommunikation mit sondern vor allem um die unüberschaubaren Ver-
den Eltern letzthin Substanz. luste ganzer Jahrgänge und Konvolute an Korres-
pondenzen. So müssen beispielsweise beträchtliche
Briefvolumina aus der frühen Phase als verschollen
Editionsgeschichte und Bestände gelten – während die wenigen erhaltenen Fundstü-
cke aus der Jugendzeit einen eher flüchtigen Über-
Kafkas Briefschaften liegen heute weltweit verstreut blick über die Korrespondenz mit Freunden und
in Archiven der Bodleian Library in Oxford, dem Verwandten bieten. Gleiches gilt für die Jahre der
Deutschen Literaturarchiv Marbach, den Prager ›Literaturferne‹, in denen keineswegs auf das Briefe-
Staatsarchiven und dem Museum der tschechischen schreiben verzichtet wurde. Neben den Briefwech-
Literatur, der Jewish National and University Library seln mit Margarethe Kirchner, Julie Wohryzek und
Jerusalem, dem Leo Baeck Institute New York, den Dora Diamant gingen nachweislich Schreiben an die
Manuskriptsammlungen der Yale/New Haven Uni- Schwestern (insbes. Elli und Valli) und die Familie,
versity, der Bibliotheca Bodmeriana Genf sowie in an den Onkel Alfred Löwy, an Freunde wie Ewald
privaten, teilweise anonymen Sammlungen. Felix Přibram, Hugo Bergmann, Ernst Weiß, Otto
Eine Bestandsaufnahme des Briefwerks Kafkas Pick und Nelly Thieberger, an Felice Bauers Schwes-
erweist sich in vielerlei Hinsicht als problematisch. ter Erna, an Franz Werfel, Robert Musil, Rudolf Kay-
Sowohl die schwierige, komplexe und nicht selten ser und an den Verlagslektor Rudolf Leonhard (Die
abenteuerliche Editionsgeschichte der Briefe in den Schmiede) verloren.
Wirren des 20. Jahrhunderts als auch der bereits Davon abgesehen fehlen die Briefe der jeweiligen
von Kafka sabotierte Anspruch auf Geschlossen- Gegenseite nahezu komplett. Lediglich einige
heit und Werkcharakter haben daran ihren Anteil. Schreiben von Max Brod und Felix Weltsch sowie
Dass Kafka zahlreiche Briefe (sofern die Gegenseite einzelne Briefe und Postkarten von Albert Anzenba-
diese nicht zurückverlangte) systematisch vernich- cher (ein Kollege Kafkas), Erna Bauer, Felice Bauer,
tete, hat sein Werk folgenschwer gezeichnet und Hugo Bergmann, Johanna Bleschke (pseud. Rahel
den eigentlich dialogisch inspirierten Briefen die Sanzara), Grete Bloch, Martin Buber, Otto Freund,
Züge eines immer wieder verstörenden Monologs Willy Haas, Jakob Hegner, Julie Kafka, Alfred Löwy,
verliehen. Weitere Amputationen am Corpus bzw. Robert Musil, Otto Pick, Felix Přibram, Franz Wer-
Verstümmelungen einzelner Segmente mussten fel, Kurt Wolff und der AUVA haben sich erhalten.
durch das ungewisse Schicksal des Nachlasses im Andererseits verdankt sich die Überlieferung die-
Zweiten Weltkrieg, durch persönliche Motive der ser Restbestände in einigen Fällen auch außeror-
jeweiligen Eigentümer und schließlich durch den dentlich glücklichen Fügungen. So konnten einige
allmählich steigenden Aktienkurs des Autors Franz der von den Schwestern Elli und vor allem Ottla ge-
Das Briefwerk 399

sammelten Erinnerungsstücke rechtzeitig vor den bunden. Wegen ihres privaten Charakters hatte die
Transporten ins Konzentrationslager gesichert und ehemalige Verlobte Kafkas die Briefe zunächst lange
durch die Kinder und Josef David gerettet werden, Jahre vor einer Veröffentlichung zurückgehalten.
darunter auch Briefe an Ottla und die Familie sowie Während des Krieges konnten die Erinnerungsstü-
der <Brief an den Vater >. Später wurde diese Samm- cke in die Emigration in die USA gerettet werden,
lung durch ungeklärte Umstände aufgelöst. Erst in mussten aber schließlich 1956, aufgrund einer per-
den 60er Jahren tauchten Teile der Korrespondenz sönlichen Notsituation Felice Bauer-Marasses, an
wieder auf und wurden 1974 durch Binder/Wagen- den Schocken-Verlag für einen vergleichsweise ge-
bach veröffentlicht (BO 1981). 1986 wurden einem ringen Betrag von 8000 Dollar veräußert werden.
Prager Antiquariat weitere 32 Briefe und Postkarten Die Vereinbarung, der zufolge die Briefe nach ihrer
aus der Familienkorrespondenz angeboten und Veröffentlichung der Jewish National and University
konnten schließlich durch eine tschechische und Library Jerusalem zukommen sollten, wurde indes
deutschsprachige Ausgabe von Čermák/Svatoš wie- nicht eingehalten. Im Juni 1987 wurden die Briefe im
der zugänglich gemacht werden. Rahmen einer Auktion für die Summe von 605.000
Ähnlich von Zufällen begünstigt verlief auch die Dollar an einen unbekannten Käufer versteigert und
Rettung der Briefe an Milena Jesenská. Die Besitzerin sind seitdem nur mehr in Kopieform zugänglich
hatte, bevor sie den Weg ins Konzentrationslager an- (Einführung H.-G. Koch; B13–14 6 f.).
trat, im Frühjahr 1939 ihre Briefe als Wiedergutma- Max Brod hatte frühzeitig angefangen, Briefe des
chungsgeste für ein versäumtes Rendezvous an Willy Freundes zu sammeln. Als er 1934 die erste Kafka-
Haas übergeben. Nachdem er diese während seiner Werkausgabe vorbereitete, wandte er sich mit einem
Emigration bei Freunden in Prag deponiert hatte, Aufruf an die Öffentlichkeit, um Material für den
machte er sich 1949 an die Veröffentlichung im Scho- sechsten Band (T/GS, 1937) zu erschließen. Auf
cken-Verlag. Bereits in der Handschrift waren ein- diese Weise konnte er aus dem Prager Umfeld zahl-
zelne Absätze und Wörter – durch Milena Jesenská reiche Briefe ermitteln. Nach seiner Flucht 1939 nach
oder Willy Haas? – nachträglich unleserlich gemacht Palästina, mit Kafkas Nachlass im Handgepäck,
worden. In der Erstausgabe von 1952 wurden zusätz- setzte er in den 50er Jahren seine Suche fort. Dank
lich einige Textstellen, die dem Herausgeber als krän- günstiger Unstände und der Unterstützung durch
kend oder problematisch erschienen, ausgelassen. Die Ilse Ester Hoffe und Klaus Wagenbach (damals noch
Neuausgabe (BM 1986) konnte diese Tilgungen nur Lektor des Fischer-Verlags) konnten weitere Briefe
teilweise rückgängig machen. Heute lagern die Briefe an Minze Eisner, Gottfried Kölwel und Hedwig Wei-
im Deutschen Literaturarchiv Marbach. ler aufgefunden werden. Die 1958 erschienenen
Teile des Kafka-Briefwechsels mit dem Kurt- Briefe 1902–1924 (Briefe/GW) stellten seither die
Wolff-Verlag wurden vom Verleger selbst gerettet. maßgebliche Briefausgabe der Kafka-Forschung dar,
Auf seiner Flucht über Frankreich (wo er mehrfach Teilkorrespondenzen (BMB, BF, BO) wurden ihr
interniert wurde) und Spanien führte Kurt Wolff supplementär zur Seite gestellt.
eine Kiste mit Verlagsbriefen ungewissen Inhalts mit Unberücksichtigt in dieser Ausgabe blieben eine
sich, die er schließlich nach seiner Ankunft in den Reihe von Schreiben, die dem Herausgeber zum
USA der Yale University übereignete. Zeitpunkt nicht zugänglich waren: so u. a. 15 Briefe
Fast vollständig überdauerten auch die Briefe an und Karten aus den Jahren Oktober 1905 bis März
Grete Bloch – in zwei Konvoluten auf zwei Konti- 1909, die Brod merkwürdigerweise bereits in seiner
nenten. Ein Konvolut, bestehend aus Briefen, die sie Kafka-Biographie 1937 zitiert hatte; ein philosophi-
1914 der Freundin Felice Bauer anvertraut hatte, und sches Propädeutikum von 1916; Reisegrüße und
eine weitere Auswahl an Briefen, die sie zurückbe- Briefe an die Eltern zwischen 1910–1924; Briefe und
hielt und während ihrer Flucht vor den Nationalso- Karten an Robert Klopstock, die teilweise schon in
zialisten einer Freundin übergab. 12 der Briefe an der Ausgabe Tagebücher und Briefe (T/GS, 1937) ab-
Grete Bloch waren – offenbar in der Absicht einer gedruckt waren; Briefe an Eugen Pfohl und die Ver-
persönlichen Zensur – auf eigentümliche Weise zer- sicherungsanstalt, an den Redakteur der Prager Bo-
schnitten, konnten später aber bis auf eine Aus- hemia Paul Wiegler, an Jizchak Löwy und Ansichts-
nahme wieder zusammengefügt werden. karten an Paul Kisch. Weiterhin fehlten Schreiben
Die Briefe der Grete Bloch sind aufs Engste mit wie z. B. an René Schickele zur Veröffentlichung in
dem besonderen Schicksal der Briefe an Felice ver- den Weißen Blättern, an František Khol bezüglich
400 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

des Sommerurlaubs 1913, an Franz Blei, an Julie biläumsausgabe wurden exemplarisch drei Briefe an
Wohryzeks Schwester Käthe, eine Ansichtskarte an Milena Jesenská präsentiert. Angesichts der von
Michal Mareš vom Dezember 1910, Briefe an den Kafka immer wieder stark betonten physischen
Kurt-Wolff-Verlag zur Veröffentlichung des Land- Komponente der Briefe bietet die FKA eine Alterna-
arztes und zu übersetzungsrechtlichen Fragen, ein tive, die nicht als Konkurrenz zur KA verstanden
hebräischer Briefentwurf an Puah Ben-Tovim, werden sollte, sondern als sinnvolle Ergänzung.
Schreiben an Robert Musil zur Veröffentlichung der
Verwandlung in der Neuen Rundschau, an den Wie-
ner Schriftsteller Otto Stoessl, Briefe von und an Fe- Forschung
lix Weltsch, eine Ansichtskarte und ein Brief an den
jungen Hugo Bergmann, sieben Briefe an Martin Nimmt man die erste große Briefsammlung von Max
Buber mit Empfehlungen und Stellungnahmen zur Brod 1958 als den Beginn einer breiteren Auseinan-
Mitarbeit an der Zeitschrift Der Jude (Binder 1979, dersetzung mit Kafkas Korrespondenzen, so erstaunt
506 f.). es, dass 50 Jahre später noch immer keine umfas-
Eine geringfügige Erweiterung der Brodschen sende Untersuchung des Briefwerkes vorliegt. Abge-
Ausgabe brachte die amerikanische Briefausgabe sehen von den oft interpretatorisch intendierten
Letters to Friends, Family and Editors (1977, basie- Versuchen zu ausgewählten Briefsegmenten wie den
rend auf Briefe/GW), die zwar zum ersten Mal auch Briefen an Felice oder dem <Brief an den Vater > (u. a.
einen umfassenden Kommentarteil enthielt, aber Canetti 1961; Deleuze/Guattari 1975; Theweleit
längst nicht alle Korrespondenzen berücksichtigte. 1991) und Reiner Stachs instruktiven Erörterungen
Den aktuellsten Forschungsstand dokumentiert im Rahmen seiner Kafka-Biographie (Stach 2002,
die im Fischer-Verlag von Hans-Gerd Koch heraus- 155–170), lässt lediglich Binders Handbuchartikel
gegebene fünfbändige Kritische Briefausgabe (KA; von 1979 Ansätze zu einer Gesamtdarstellung grund-
optional mit einem wissenschaftlichen Apparatteil, legenden Charakters erkennen (Binder 1979). An-
der Kafkas Streichungen und Korrekturen verzeich- sonsten bilden die jeweiligen editorischen Begleit-
net). Kafkas Briefe erscheinen darin in ihrer chrono- texte einzelner Briefausgaben, allem voran die
logischen Reihenfolge mit ausführlichem Kommen- textkritischen Hinweise und Vorworte zu den Brief-
tar sowie beigefügten Dokumenten und Reprodukti- bänden der KA, die einzige Grundlage.
onen. Die ersten drei Bände umfassen einen Sehr einseitig hat sich die Literaturwissenschaft
Zeitraum von 1900 bis 1917 mit 2179 Briefen, 25 darauf verstanden, Kafkas Briefe als Lebenszeug-
Widmungen von Kafka, 15 Widmungen an Kafka nisse der persönlichen Entwicklung oder als Orien-
und 148 Briefen an Kafka. Die noch ausstehenden tierungshilfe im Umgang mit schwer deutbaren Tex-
zwei Briefbände der Jahre 1918 bis 1924 dokumen- ten zu betrachten. Die Materialfülle und motivische
tieren weitere 631 Briefe, davon 93 erschlossene, Breite dieser Briefdokumente bilden bis heute eine
6 Widmungen an Kafka, 12 Widmungen von Kafka Fundgrube für Leser mit detektivischen Ambitionen
und 97 Briefe an Kafka. und stützen die Argumentationslinien fast jeder wis-
Der unter den editionsgeschichtlichen Bedingun- senschaftlichen Studie. Die Briefe selbst – ihre Ge-
gen erreichte Stand der Kritischen Brief-Ausgabe bil- nese, Funktion, ihre spezifischen Charakteristika,
det unbestreitbar die conditio sine qua non für künf- Komponenten und Kontexte – wurden, abgesehen
tige Forschungen und zieht vorläufig einen Schluss- von Briefe an Felice und <Brief an den Vater >, selten
strich unter die künstliche Partikularisierung einer kritischen Überprüfung unterzogen. So blieb
Kafkascher Briefwelten. Freilich dokumentiert sich denn auch die Frage nach der Bedeutung der Briefe
in diesen Bänden nicht nur eine verbindliche und im Sinne einer differenzierenden Analyse weitestge-
editorisch herausragende Bestandsaufnahme, son- hend ausgespart. Dabei könnten komparatistische
dern auch die fragile Verfassung eines ›Briefver- Ansätze klären, ob oder inwiefern einzelne Briefseg-
kehrs‹, dessen ›geisterhafte‹ Züge in seinen prägnan- mente die Perspektive auf Werk und Person Kafkas
ten Leerstellen offen zutage treten. verzerren. Anders gefragt: Was würde es bedeuten,
Parallel dazu beabsichtigt der Stroemfeld Verlag wenn die Briefe an Milena oder der <Brief an den Va-
im Rahmen seiner historisch-kritischen Werkaus- ter >, der Logik ihrer unwahrscheinlichen Überliefe-
gabe FKA in fernerer Zukunft auch die Kafka-Kor- rung entsprechend, heute nicht bekannt wären?
respondenz als Faksimile zu publizieren. In einer Ju- Hätte die Forschung ein anderes Bild von Kafka,
Das Briefwerk 401

wenn die Briefe an Felice tatsächlich unveröffentlicht Braut und die Medusa. Weibliche Figuren in K.s Brie-
geblieben wären? Würde sich der Blick auf den Au- fen an Felice Bauer und Milena Jesenská. In: H.L.
tor der Verwandlung grundlegend ändern, wenn sin- Arnold (2006), 272–293. – J. Born (1988). – Ders.
guläre Briefschaften – und damit biografische De- (1990). – Martin Borner: Das Briefeschreiben. Bern,
tails und literarische Querverweise – der allgemei- Berlin 1991. – E. Canetti (1969). – Deleuze/Guattari
nen Kenntnis entzogen wären? Der Horizont dieser (1975). – L. Dietz (1990). – Klaus Hermsdorf: Briefe des
Fragen, mögen sie auch noch so konjunktivisch er- Versicherungsangestellten F.K. In: Sinn und Form 9
(1957), 639–662. − O. Jahraus (2006). – Wolf Kittler:
scheinen, lässt den außergewöhnlichen Quellenwert
Brief oder Blick. Die Schreibsituation der frühen Texte
der Briefe auf der Bruchlinie zwischen Faktizität und
von F.K. In: G. Kurz (1984), 40–67. – Ders.: Der Name,
Imagination deutlich werden.
die Sprache und die Ordnung der Dinge. In: Kittler/
Demzufolge wäre es dringend geboten, nach Jahr-
Neumann (1990), 11–29. – Ders.: Schreibmaschinen,
zehnten der erfolgreichen Deutungsproduktion end- Sprechmaschinen, Effekte technischer Medien im Werk
lich auch dem Briefsteller Kafka größere Aufmerk- F.K.s. In: Kittler/Neumann (1990), 75–163. – Malte
samkeit zu widmen. Für weitere Untersuchungen auf Kleinwort: K.s Verfahren. Literatur, Individuum und
der Grundlage des editorisch gesicherten Bestandes Gesellschaft im Umkreis von K.s Briefen an Milena.
ergibt sich eine Vielzahl offener Fragen, ohne deren Würzburg 2004. – D. Kremer (1989). – Kurt Krolop:
Beantwortung die Kafka-Forschung auf längere Sicht Frank an Emilie, Poseidon an Medusa, Simson an Delila
ihren Kredit verspielen würde. oder Die Halbscheid eines Briefwechsels. In: Ders.:
Studien zur Prager deutschen Literatur. Hg. v. Klaas-
Ausgaben: T/GS (1937) − BM/GW (1952). − Briefe/GW
Hinrich Ehlers, Steffen Höhne u. Marek Nekula. Wien
(1958). − BF/GW (1967). − BO/GW (1974). − Letters to
2005, 261–281. – Joachim Müller: F.K.s Briefe – Zu
Friends, Family and Editors. Hg. v. Nahum N. Glatzer
neuen Veröffentlichungen seines Briefwerks. In: Uni-
u. a., übers. v. Richard u. Clara Winston. New York 1977
versitas 30 (1975), 581–594. – Reinhard M.G. Nickisch:
[Textbestand gegenüber Briefe/GW leicht erweitert;
Brief. Stuttgart 1991. – Ulrich Ott: F.K.s Handschriften
erstmals umfangreicher Kommentar]. − BM (1983). −
und Briefe. In: Plättner (1996), 4–6. – Heinz Politzer:
BMB (1989). − BE (1990). − Drei Briefe an Milena Je-
F.K.s vollendeter Roman. Zur Typologie seiner Briefe
senská. Faksimile-Edition. Hg. v. KD Wolff, Peter
an Felice Bauer. In: Wolfgang Paulsen (Hg.): Das Nach-
Staengle u. Roland Reuß. Frankfurt/M. 1995. − B00–12/
leben der Romantik. Heidelberg 1969, 192–211. – Hans
KA (1999). − B13–14/KA (2001). − Hugo Wetscherek
Georg Pott: Die Wiederkehr der Stimme. Telekommu-
(Hg.): K.s letzter Freund. Der Nachlass Robert Klop-
nikation im Zeitalter der Post-Moderne. Wien 1995,
stock (1899–1972). Mit kommentierter Erstveröffent-
Teil II. – Julian Preece: The Letters and Diaries. In:
lichung v. 38 teils ungedruckten Briefen F.K.s. Wien
J. Preece (2002), 111–130. – Hannelore Rodlauer:
2003. − B14–17/KA (2005). − B18–20/KA (in Vorb.). −
Hedwig Weiler. F.K.s Ferienfreundin. In: Freibeuter 71
B21–24/KA (in Vorb.). − Vollständige Nachweise zu
(März 1997), 2–11. − Christian Schärf: K. als Briefe-
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rer Zeit. In: Pan 1 (1911) 11, 358–363. − Gustav Ja-
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nouch: Gespräche mit K. Frankfurt/M. 1961. – F.K.:
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78–106 (Briefe an Milena). – Elizabeth Boa: Blaubarts
402 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

3.4.4 Amtliche Schriften versicherung in Österreich, die Kafka im Herbst


1911 für die Tetschen-Bodenbacher Zeitung verfasst
hatte (AS Nr. 8b). Um die gleiche Zeit hatte Klaus
Überblick zum Textkorpus Hermsdorf den genannten Artikel sowie eine Aus-
wahl der Briefe, die Kafka im Laufe seiner Beschäfti-
Das Rubrum ›amtliche Schriften‹ bezieht sich hier gung an den Vorstand der AUVA geschickt hatte,
auf diejenigen Texte, die Kafka zwischen 1908 und veröffentlich und kommentiert (Hermsdorf 1957 u.
1922 im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die 1958). In den beiden folgenden Jahrzehnten gab es
k.k. Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das verstreute Wiederabdrucke einzelner Texte, insbe-
Königreich Böhmen in Prag (AUVA) verfasst hat. In sondere der beiden Aufsätze über die Unfallverhü-
Bezug auf diese Gesamtheit wird die Menge der gesi- tung bei Holzhobelmaschinen.
cherten bzw. künftig zu sichernden Texte durch zwei Als eigenständiger Teilkomplex seines Werks wa-
Faktoren eingeschränkt: ren Kafkas Amtliche Schriften jedoch erst konstitu-
(1) durch die Archivlage: Da die Akten der Prager iert, als Hermsdorf und seine Mitarbeiter 1984 eine
Anstalt in den 1960er Jahren skartiert worden sind, vollständige Sammlung der damals in Bibliotheken
ist davon auszugehen, dass der bei weitem größte und Archiven erhaltenen berufsbezogenen Texte
Teil der Texte, die Kafka in diesem Zusammenhang und Dokumente mit einer umfangreichen Einfüh-
verfertigt hat, nicht mehr existiert; rung im Ostberliner Akademie-Verlag veröffent-
(2) durch die Bestimmung der Verfasserschaft: lichten (Hermsdorf 1984). Dieser Band erschien
Die Zuordnung der fraglichen Texte zu Kafkas Werk 1991 auch als Taschenbuch in einer Lizenzausgabe
kann nicht auf der Grundlage des für literarische des Luchterhand-Verlages. Auf der Grundlage die-
Texte gültigen Autorschafts-Konzepts vorgenom- ser Ausgabe erschloss der Verfasser dieses Artikels
men werden. Ganz gleich, ob man sie zu großen Tei- seit Mitte der 1990er Jahre in den Beständen der
len als »prozessgenerierte« Produkte einer »autorlo- Prager Statthalterei (Tschechisches Staatsarchiv)
sen Aufzeichnungsmaschine« klassifiziert (Vismann, und der Versicherungsabteilung des Wiener Innen-
23 u. 8) oder die verantwortliche Behörde als ihren ministeriums (Österreichisches Staatsarchiv) die
unpersönlichen Verfasser einsetzt (Schmid, 59) – umfangreichen Bestände der juristischen Schrift-
Kafka hat die von ihm verfassten oder mitverfassten sätze, die Kafkas Abteilung vor allem im Zusam-
Texte im Regelfalle nicht unterschriftlich gezeichnet, menhang mit den Einsprüchen (›Rekursen‹) der
so dass seine Verfasserschaft nur anhand von Selbst- Unternehmer gegen die Gefahrenklassifikation ih-
oder Fremdzeugnissen sowie einer Reihe weiterer rer Betriebe zu bearbeiten hatte. Auf dieser Grund-
Indizien (innerbehördliche Zuständigkeit, stilisti- lage wurde erstmals eine biographisch und histo-
sche Merkmale, Argumentationsführung) zu sichern risch umfassende Darstellung und Dokumentie-
ist. Da dies für eine Vielzahl standardisierter und rung der beruflichen Tätigkeit Kafkas möglich, die
routinemäßig verfasster Schreiben kaum möglich Verfasser zusammen mit Klaus Hermsdorf 2004 im
ist, kann auch innerhalb der erhaltenen Texte nur Rahmen der Kritischen Ausgabe vorgelegt hat (AS).
ein begrenzter Teil mit hinreichender Sicherheit dem Dem Band liegt eine CD-ROM mit Materialien zur
Kafkaschen Werk zugerechnet werden. Geschichte und dem sozialpolitischen Kontext der
Unter diesen Umständen stützte sich die Identifi- österreichischen Arbeiter-Unfallversicherung, der
kation und Überlieferung dieser Schriften zunächst Geschichte der AUVA, sowie zur beruflichen Lauf-
vor allem auf Hinweise, die sich aus Kafkas Briefen bahn Kafkas bei (AS:CD).
und Tagebüchern ergaben. Nachdem zunächst Max Was die Darbietung des Materials in AS betrifft,
Brod 1953 die von Kafkas Hand geschriebene Rede so kam eine Anordnung nach den internen Kriterien
zur Amtseinsetzung Robert Marschners als neuen der Behörde (etwa nach dem im Falle der Amtlichen
Direktor der AUVA (AS Nr. 2) in seinem Nachlass- Schriften Goethes übernommenen »Herkunfts-
band (Hzv/GW) veröffentlicht hatte, druckte Klaus grundsatz«; vgl. Flach, 16) hier nicht in Frage, da die
Wagenbach fünf Jahre später im Anhang seiner von der AUVA selbst archivierten Bestände nicht
Kafka-Biographie (Wagenbach 1958) zwei längere mehr erhalten sind. Stattdessen wurde eine Gliede-
Beiträge Kafkas zu den Jahresberichten der AUVA rung nach Textsorten gewählt, und zwar nach der
(AS Nrn. 1 u. 6b) sowie einen der beiden Zeitungsar- Hauptunterscheidung in ›publizierte Texte‹ und
tikel zur sozialpolitischen Lage der Arbeiterunfall- ›Schriftsätze‹.
Amtliche Schriften 403

Zur ersten Gruppe gehören Kafkas Beiträge zu Deutungsaspekte


den jährlichen Tätigkeitsberichten der AUVA sowie
zum großen Jubiläumsband von 1915, drei Zei- Anders als im Deutschen Reich war die mit dem Ge-
tungsartikel, die er vor dem Krieg zur sozialpoliti- setz vom 28. Dezember 1887 begründete Arbeiter-
schen Lage der Arbeiter-Unfallversicherung verfasst Unfallversicherung in Österreich nicht funktional
hat, drei weitere Artikel und ein Aufruf, die im (nach Branchen), sondern territorial (nach Kronlän-
Zusammenhang mit seinem maßgeblichen organi- dern) organisiert. Subjekte des Versicherungsver-
satorischen Einsatz für die Einrichtung einer trags waren (1) die Versicherungsanstalten, (2) die
»Volksnervenheilanstalt für Deutschböhmen« im versicherungspflichtigen Unternehmer und (3) die
nordböhmischen Rumburg-Frankenstein (heute Arbeiter, denen allerdings im Versicherungsvertrag
Rumburk-Podhají) entstanden sind, sowie – neben lediglich die Rolle des Rentenempfängers zukam.
der bereits erwähnten Rede zur Amtseinsetzung des Unter den sieben ›territorialen Anstalten‹ war die
neuen Direktors – zwei Reden zur Darstellung der AUVA die größte. Im Sommer 1908, als Kafka sei-
Unfallverhütung in Österreich und Böhmen, die nen Dienst antrat, stand sie vor dem wirtschaftlichen
Kafkas Vorgesetzte beim II. Internationalen Kon- und politischen Bankrott. Zu diesem Zeitpunkt war
gress für Unfallverhütung und Rettungswesen in die österreichische Arbeiter-Unfallversicherung, die
Wien (September 1913) vortrugen. als Regulator des Konflikts zwischen Kapital und Ar-
Der zweiten Hauptgruppe (›Schriftsätze‹) gehören beit eingerichtet worden war, längst ihrerseits zum
Dokumente an, die aus dem Verkehr zwischen der umkämpften Einsatz dieses Konflikts geworden.
Anstalt und den übergeordneten ›politischen Behör-
den‹ hervorgegangen sind. Dabei handelt es sich Probezeit (1908 – 1910)
zum einen um die Akten der Rekurse der Unterneh-
men zur Gefahrenklassifikation, aus denen außer Als erstes Merkmal der Texte, die heute Kafkas Tä-
den Kafka zugeschriebenen Dokumenten auch die tigkeit für die Prager AUVA dokumentieren, ist ihre
Zuschriften der politischen Behörden an die AUVA enge Verknüpfung mit den durchgreifenden Refor-
sowie die ihnen beiliegenden Einsprüche und Stel- men zu nennen, die der neue Direktor der Anstalt,
lungnahmen der versicherten Unternehmer und die Dr. Robert Marschner (1865–1934), in der Zeit nach
technischen Gutachten der Gewerbeinspektoren Kafkas Diensteintritt auf den Weg bringen sollte.
wiedergegeben werden. Zum anderen handelt es sich Dies gilt bereits für die Jahre 1908 und 1909, in de-
um Eingaben und Stellungnahmen der AUVA zu all- nen Kafka zunächst als Aushilfsbeamter und An-
gemeinen Fragen der Gefahrenklassifikation. staltspraktikant in verschiedenen Abteilungen hos-
Für analytische Zwecke bieten sich als aufschluss- pitierte. Die bereits erwähnte, in Kafkas Handschrift
reiche alternative Ordnungskriterien zum einen die erhaltene Rede zur Amtseinsetzung Marschners im
Einteilung nach Aufgabenbereichen und zum an- März 1909 (AS Nr. 2) belegt – unabhängig von der
dern nach biographisch-historischen Phasen an. Im ungeklärten Frage, ob Kafka auch der Festredner war
ersten Falle gerät dann Kafkas berufliches Tätigkeits- – die Anerkennung, die der neue Beamte offenbar
profil in seiner auch für die literarischen Arbeiten innerhalb kürzester Zeit erworben hatte.
bedeutsamen diskursiven Struktur deutlicher ins Die Richtung der umfassenden »nützlichen Refor-
Blickfeld (dazu näher unten). Im zweiten Raster las- men« (AS 168), die am Ende der Rede angekündigt
sen sich leichter Rückschlüsse ziehen auf den Zu- werden, wird bereits in dem ersten der überlieferten
sammenhang zwischen der beruflichen Textproduk- Texte ersichtlich, den Kafka an seinem neuen Ar-
tion und den historischen (Vorkriegszeit und Habs- beitsplatz verfasst hat.
burger Monarchie – Kriegszeit und Auflösungsphase Im November 1908, also nur wenige Monate nach
des Staates – Nachkriegszeit in der Tschechoslowa- seiner Aufnahme als ›Aushilfsbeamter‹, erscheint im
kischen Republik) bzw. biographischen Zeitab- Tätigkeitsbericht der AUVA für das Jahr 1907 unter
schnitten (v. a. vor und nach Ausbruch der Tuberku- dem unverdächtigen Titel Umfang der Versicherungs-
lose). pflicht der baulichen Nebengewerbe ein Beitrag, der
sich in seiner begrifflichen und argumentativen Prä-
zision wie auch im Hinblick auf seine politischen
Implikationen von allem deutlich absetzt, was zuvor
in diesem Verlautbarungsmedium erschienen war.
404 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Dass der durch die Haushaltskrise der Anstalt ver- schäftsführung basieren sollte: Nach Aufhebung der
spätete Jahresbericht für 1907 in diesem Falle ledig- Versicherungspflicht für die Nebengewerbe führte
lich als Basis für eine im Kontext des neuen Reform- die AUVA eine umfangreiche Meinungsumfrage un-
kurses zu verortende tagespolitische Intervention ter den versicherten Unternehmern durch, in der
verwendet wird, ergibt sich schon daraus, dass der diese über die Rechtslage informiert wurden, es ih-
genannte Beitrag sich gar nicht mit Ereignissen und nen zugleich aber freigestellt wurde, die Versiche-
Ergebnissen des Jahres 1907 befasst. Sein Anlass ist rung auf freiwilliger Basis weiterzuführen. Die Rück-
vielmehr eine Entscheidung des Verwaltungsge- meldungen aus den verschiedenen Branchen werden
richtshofes (der höchsten Instanz in versicherungs- im Bericht nun aber nicht einfach quantitativ ausge-
rechtlichen Angelegenheiten) aus dem Frühjahr wertet, sondern qualitativ, als ein Konzert von unter-
1908, durch die die Nebengewerbe der Baubranche schiedlichen Stimmen zu Fragen der sozialen Ver-
von der Versicherungspflicht ausgenommen wur- antwortung und der Bewertung der Arbeiter-Unfall-
den. Seinen weiteren Gegenstand bildet die unzurei- versicherung durch die Versicherten selbst.
chende gesetzliche Regelung dieser Frage im Versi- Die beiden Merkmale, die diesen Beitrag zu den
cherungsgesetz, die daraus resultierende schwan- Jahresberichten der AUVA aus der Masse der dort
kende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes veröffentlichten Texte herausstechen lassen – näm-
sowie schließlich die Folgen dieser Situation für die lich (1) die Umkehrung des zentralistisch-bürokrati-
versicherten Arbeiter, die Unternehmer und die Ver- schen Informationsflusses von ›oben‹ nach ›unten‹
sicherungsanstalten. Kafka rekonstruiert die Ge- und (2) der Rückzug der Stimme der Prager AUVA
schichte der verschiedenen Auslegungen der fragli- aus dem Feld der politischen Stimmen und Meinun-
chen Gesetzesstelle, weist durch eine präzise linguis- gen zugunsten einer subtilen Moderation dieser
tische Untersuchung nach, dass der Gesetzgeber von Stimmen und Meinungen – stehen zum einen in
Beginn an einen umfassenden Versicherungsschutz Einklang mit der Reformpolitik der vom Bankrott
auch für die baulichen Nebengewerbe beabsichtigt bedrohten AUVA; sie gehören zum anderen aber zu
hatte und dass mithin die jüngste Entscheidung des den spezifischen Merkmalen gerade derjenigen
Verwaltungsgerichtshofes nicht durch den Text des Schlüsseltexte, als deren Verfasser sich Franz Kafka
Gesetzes gedeckt war. identifizieren lässt.
Das eigentliche Motiv dieser detaillierten Abrech- Die statistische und demoskopische Erschließung
nung mit den politischen Behörden und der Juris- kritischer Zonen der Unfallversicherung steht auch
diktion des Verwaltungsgerichtshofes wird freilich im Mittelpunkt zweier weiterer Projekte, mit deren
erst in der Bemerkung deutlich, die zur zweiten öffentlicher Darstellung, und teilweise auch prakti-
Hälfte des Berichts überleitet: schen Durchführung, der Aushilfsbeamte Kafka be-
traut wurde, nämlich die Pauschalierung der Versi-
Ungeachtet ihrer prinzipiellen Bedenken gegen die neue
cherungsbeiträge bei den kleinen landwirtschaftlichen
Praxis, mußte jedoch die Anstalt den neuen grundsätzli-
chen Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes von Maschinenbetrieben (AS Nr. 3a) und die Einbezie-
amtswegen Rechnung tragen und die Leitung der auf die hung der privaten Automobilbetriebe in die Versiche-
Anpassung des Umfanges der Versicherungs- und Bei- rungspflicht (AS Nr. 3b).
tragspflicht der einzelnen Betriebe an die neue Praxis
gerichteten Aktion selbst in die Hand nehmen, um nicht
in ein Chaos von Stritten zu geraten (AS 123). Hauptamtliche Tätigkeit (1910 – 1918)
Hinter dieser vermeintlichen Loyalitätsgeste verbirgt Nach dem Ende seiner Probezeit, also etwa ab 1910,
sich ein – in Bezug auf die Machtverhältnisse inner- lässt sich Kafkas Textproduktion für die AUVA eini-
halb der Arbeiter-Unfallversicherung – durchaus germaßen trennscharf in drei Aufgabenbereiche un-
subversives Programm. In Kafkas erster großer Ab- terteilen, von denen jeder einzelne wiederum von
handlung für die Prager AUVA geht es um nicht we- maßgeblicher Bedeutung für eine erfolgreiche Sanie-
niger als die Loslösung der Geschäftsführung von ei- rung der vom Bankrott bedrohten AUVA war: (1)
ner zentralistischen Staatsverwaltung, der es sowohl Unfallverhütung; (2) Bearbeitung der Rekurse (Ein-
an fachlicher Kompetenz auf dem neuen Rechtsge- sprüche) gegen die Gefahrenklassifikation der versi-
biet als auch an politischer Neutralität mangelte. cherten Betriebe; (3) Öffentlichkeitsarbeit.
Im weiteren Verlauf des Berichts wird geschildert,
auf welchen Verfahren und Prinzipien die neue Ge-
Amtliche Schriften 405

Unfallverhütung tage-Abbau herauszulesen und zu kommentieren.


Und er denkt an eine noch weiterreichende Nutzung
Anders als im Deutschen Reich konnte sich in Ös- von Bilddaten in diesem Zusammenhang, wenn er
terreich ein effizientes Unfallverhütungswesen unter vorschlägt, die essentielle Nachträglichkeit jeder Un-
anderem deshalb nicht entwickeln, weil die territori- fallwahrnehmung zu minimieren, indem man »nach
ale Organisation der Unfallversicherung hier einer geschehenem Unfall die charakteristische Situation
systematischen, also an branchenspezifischen Pro- [festhält], welche zum Unfall geführt hat« (AS 413).
duktionsweisen orientierten Entwicklung im Wege Im Gegensatz zu dem in diesen Texten vorherr-
stand. Zudem war in Österreich das Recht auf regel- schenden mikrologischen Blick auf den Unfall sowie
mäßige technische Inspektion der Betriebe den (per- seine typischen Ursachen und Folgen entfalten die
sonell unterbesetzten) Gewerbeinspektoraten vorbe- beiden Wiener Vorträge (AS Nrn. 11a und b) sowie
halten, auf deren Gutachten die Versicherungsan- auch Kafkas Beiträge zum Jubiläumsbericht der Pra-
stalten dann angewiesen waren. Wenn also die ger Anstalt (Nrn. 14c und d) die Problematik der
zügige Verbesserung des Unfallschutzes zu den zen- Unfallverhütung in rechts- und verwaltungsge-
tralen Punkten der Marschnerschen Reformagenda schichtlichen Überblicken und lassen, gleichsam in
gehörte, so war der Handlungsspielraum der Anstalt betriebstechnischer Meta-Perspektive, die Lücken-
hier zunächst auf vereinzelte Interventionen in die haftigkeit ihrer Organisation als potentielle Gefah-
unfallträchtigsten Produktionssektoren beschränkt. renquelle für das Unternehmen der Arbeiter-Unfall-
Zwei dieser Unfallschutz-Kampagnen hat Kafka versicherung sichtbar werden.
in Beiträgen zu den Jahresberichten geschildert, die
in der Forschung aufgrund ihrer graphischen Bild-
Gefahrenklassifikation der Betriebe
haftigkeit auf besonderes Interesse gestoßen sind.
Um die sehr häufigen, schweren, und vor allem nach Seit dem Frühjahr 1910 bestand Kafkas wichtigster
schutztechnischen Gesichtspunkten leicht vermeid- Aufgabenbereich in der juristischen ›Beäußerung‹
baren Verletzungen der Arbeiter an motorisierten der Einsprüche (›Rekurse‹) versicherter Unterneh-
Holzhobelmaschinen zu bekämpfen, veröffentlichte mer gegen die Einteilung (›Einreihung‹) ihrer Be-
Kafka in den Jahresberichten für 1909 und 1910 zwei triebe in statistische Gefahrenklassen. Im Fokus
Beiträge, in denen er eine präzise technische Be- dieser Stellungnahmen steht regelmäßig die episte-
schreibung der ergonomischen und sicherheitstech- mologische Konfliktzone zwischen der anthropo-
nischen Vorzüge der neu entwickelten Rundwellen zentrischen, auf die personellen, technischen und
gab (AS Nrn. 4b und 6b; Kafka hatte gleich nach sei- baulichen Eigentümlichkeiten ihres jeweiligen Be-
ner Ernennung zum Anstaltspraktikanten eine teil- triebes gerichteten Perspektive der Unternehmer ei-
weise Dienstbefreiung erhalten, um an der Prager nerseits und dem auf statistischen Wahrscheinlich-
Technischen Hochschule einen Kurs in mechani- keiten basierenden Blick der Versicherung auf ab-
scher Technologie zu belegen). Dabei konnte er – strakte Merkmalsverteilungen andererseits – auf den
eine bemerkenswerte gestalterische Neuerung in den ›Durchschnittsmenschen‹ und den ›Durchschnitts-
Jahresberichten – erstmals eine Reihe technischer betrieb‹ der böhmischen Industrien (vgl. Ewald, 182
Zeichnungen in den Text einfügen, die die unter- ff; 191). War die ›Gefahr‹ für den einzelnen Unter-
schiedlichen Gefahrenpotentiale am Schnittpunkt nehmer mit den konkreten Gegebenheiten seines
zwischen Arbeiter und Holzhobelmaschine ein- Betriebes verknüpft, so bezeichnete derselbe Begriff
drucksvoll veranschaulichen. für die AUVA das abstrakte Risiko der Belastung ih-
Für den Tätigkeitsbericht 1914 verfasste Kafka ei- res Budgets durch Entschädigungszahlungen, die
nen umfangreichen Abschnitt über die Unfallverhü- durch eine bestimmte Branche bzw. einen bestimm-
tung in den Steinbruchbetrieben (AS Nr. 13d), in ten Betrieb innerhalb des jeweils letzten Berech-
dem anstelle der plakativen Wirkung der techni- nungszeitraums verursacht worden waren. Das Ge-
schen Zeichnung die dokumentierende Funktion fahrenprozent, nach dem jeder Betrieb klassifiziert
der Fotografie dem Zweck des Unfallschutzes unter- wurde, bezeichnete die Summe (Prämie), die ein Be-
stellt wird. Kafka verwendete 15 fotografische Auf- trieb je 100 Kronen gezahlten Lohnes zu entrichten
nahmen unterschiedlicher Bruchstellen, um aus den hatte, um dieses als wahrscheinlich angenommene
Schichtungen und Neigungen des Terrains unter- Defizit zu decken. Kafkas – für den wirtschaftlichen
schiedliche typische Gefahrenlagen für den Über- Bestand der AUVA absolut maßgebliche – Aufgabe
406 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

bestand im Kern darin, zwischen diesen beiden prin- entkleiden. Nicht mehr die Entsprechung mit den
zipiell inkompatiblen Perspektiven zu vermitteln technischen Normen der Unfallverhütung und den
und dabei den versicherungstechnischen Kriterien unfallstatistischen Normalwerten, sondern allein die
rechtliche Geltung zu verschaffen. Übereinstimmung mit den regional ›gewöhnlichen‹
Die Einspruchsverfahren zeigen Kafka in durch- oder ›üblichen‹ Verhältnissen reichen nach dieser
aus variierenden Positionen: als Neuling, der noch Begriffsverwendung aus, um einen Betrieb vor einer
in handschriftlicher Form und im Rahmen eines Einstufung im oberen Gefahren- und mithin Prämi-
(später nicht mehr verwendeten) Vordrucks mit enbereich zu schützen (vgl. AS 946–950). Die Ein-
schematischen Argumenten die begriffliche Logik gabe gipfelt in der Rückbiegung der Unfallversiche-
des Klassifikationsschemas gegen den berechtigten rung auf sich selbst. So wie die AUVA zu Zwecken
Einspruch eines renommierten Textilfabrikanten der Unfallverhütung aus den Unfallmeldungen der
durchzusetzen versucht (AS Nr. 18); als nüchternen verschiedenen Branchen Listen typischer Unfälle zu-
Verteidiger der Verbindung zwischen produktions- sammenstellte, so listet nun die Prager Eingabe den
technischen Merkmalen und statistischer Klassifika- Wiener Ministerialbeamten »Formen einer unge-
tion eines Betriebes, gegen die die mächtige Prager setzlichen Begutachtungspraxis« auf, »welche sich
Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft zwecks Senkung aus der Masse der vorhandenen Gutachten als ty-
ihrer Lohnnebenkosten prozessierte (AS Nr. 19); als pisch heraussondern« (AS 668).
gleichermaßen unerbittlichen wie illusionslosen An-
klagevertreter in dem strafrechtlichen Musterpro-
Öffentlichkeitsarbeit
zess wegen Prämienbetruges, den die AUVA vergeb-
lich gegen den nordböhmischen Obstbauern und Ein aufs juristische, technische und statistische De-
Steinbruchbesitzer Josef Renelt angestrengt hatte tail gegründetes Beharren auf der reinen Form des
(AS Nr. 20); schließlich als scharfsinnigen Analyti- versicherungstechnischen Verfahrens, daraus resul-
ker der Misere, in die die Holz- und Spielwarener- tierend ein Standpunkt jenseits des Spektrums par-
zeuger teils durch äußere Umstände, teils durch ei- teipolitischer Positionen und Meinungen, sowie die
genes Verschulden geraten waren und aus der im reflexive Aufzeichnung der Gefahren und Risiken
Geiste des neuen Reformkurses der AUVA nur ein der Unfallversicherung selbst gehören zu den wie-
für beide Seiten tragbarer außergesetzlicher Kom- derkehrenden Merkmalen derjenigen Schriften, in
promiss herausführen konnte (AS Nr. 23). denen Kafka die Reformierung der AUVA teils be-
Am deutlichsten freilich wird der zwischen der richtend begleitet, teils fordernd voranzutreiben be-
produktionstechnischen Dingwelt und statistischen müht ist. Das betrifft auch den dritten, allerdings
Wahrscheinlichkeiten hin und her gleitende Blick eher informell bestimmten Bereich seines Tätigkeits-
des Hüters der statistischen Gefahrenklassifikation profils, den man mit heutigen Begriffen als ›Öffent-
in einer mehr als 20 Schreibmaschinenseiten umfas- lichkeitsarbeit‹ bezeichnen würde. Hier gelingt
senden Eingabe Zur Begutachtungspraxis der Gewer- Kafka im bescheidenen Rahmen einiger anonymer
beinspektorate, die die AUVA im Sommer 1911 dem Zwischenrufe aus der Provinz, was ihm auf der Welt-
Wiener Innenministerium unterbreitete (AS Nr. 22) bühne der modernen Literatur auf ebenso unver-
und der sich Kafka aufgrund sachlicher, stilistischer wechselbare wie schwer fassliche Weise gelungen ist:
und intertextueller Befunde zweifelsfrei als Verfasser die Erzeugung einer ganz und gar neuartigen, ›frem-
zuordnen lässt. Geschildert werden die Grenzen ei- den‹ Stimme, die sich der Verortung nach etablier-
nes bürokratischen Apparates, dessen Wahrneh- ten ideologischen (bzw. ästhetischen) Koordinaten
mungen und Entscheidungen – aufgrund des er- entzieht.
wähnten Betriebsbesichtigungsmonopols der Ge- Besonders anschaulich wird dies in zwei Artikeln
werbeinspektoren – weitestgehend auf statistische zur aktuellen Lage der Arbeiter-Unfallversicherung,
Datensätze und technische Protokolle gegründet die im Herbst 1911 in der nordböhmischen Tetschen-
sind. In einer präzisen, in Passagen auch sarkasti- Bodenbacher Zeitung erschienen waren (AS Nr. 8a
schen semantischen Untersuchung weist die Eingabe und b). Im Februar des Jahres hatte die AUVA erst-
nach, wie die Inspektoren, den örtlichen Unterneh- mals eine ausgeglichene Bilanz vermeldet, doch er-
mern stets mehr verpflichtet als den Verwaltungen neuerten die Unternehmerverbände im Herbst an-
in Wien und Prag, vor allem den Schlüsselbegriff des lässlich der parlamentarischen Verhandlung eines
›normalen Betriebes‹ seiner statistischen Bedeutung neuen, umfassenden Sozialversicherungsgesetzes
Amtliche Schriften 407

ihre Forderung nach Übergabe der Arbeiter-Unfall- merksame Lektüre und Kontrolle der Jahresberichte
versicherung in ihre Hände. in die Reformprozesse der AUVA einzufügen.
Der erste der beiden Artikel liefert nun eine ebenso Als Sondergruppe innerhalb der Schriften zur Öf-
umfassende wie durchdringende Analyse der wirt- fentlichkeitsarbeit können die kriegspublizistischen
schaftlichen Fehlentwicklung bis dato, in der die De- Texte gelten, die Kafka im Zusammenhang mit sei-
stabilisierung der Gefahrenstatistik durch die Indus- ner Tätigkeit in der »Staatlichen Landeszentrale für
trielobbyisten, die kriminellen Prämienhinterziehun- das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkeh-
gen in bestimmten Branchen, aber auch die wachsende rende Krieger« (508) verfasst hat. Die Landeszen-
Neigung der Arbeitnehmer zur Übertreibung oder trale war im Frühjahr 1915 unter dem Dach der
gar Simulation von Unfallschäden, sowie nicht zuletzt AUVA eingerichtet worden, als der Rückstrom der
die träge, bürokratische Haltung der AUVA selbst an- Verwundeten und Verkrüppelten von der Kriegs-
gesichts dieser Verhältnisse moniert werden. Mit front nicht länger durch private und lokale Wohltä-
Nachdruck wird betont, dass nicht etwa vereinzelte tigkeitseinrichtungen aufgefangen werden konnte.
gesetzgeberische Nachbesserungen, sondern allein Kafka war dem Ausschuss für Heilbehandlung zuge-
die Reformierung der AUVA aus eigenen Kräften die teilt, dessen Hauptaufgabe in der fieberhaft betriebe-
Wende zum Besseren herbeigeführt habe. nen Errichtung und Erweiterung von Heilstätten lag,
Auf diesen Beitrag reagierte das Zentralorgan der und war insbesondere an der Umfunktionierung des
österreichischen Arbeitgeberverbände, Die Arbeit, Sanatoriums in Rumburg-Frankenstein in eine
mit einer Mischung aus Verwunderung, Neugier »Krieger- und Volksnervenheilanstalt in Deutsch-
und Misstrauen: böhmen« maßgeblich beteiligt (AS 498; Nr. 16 a u.
In äußerst bemerkenswerter Weise wird in einem Auf- b). Die Propagandatexte, die Kafka in dieser Angele-
satze der ›Tetschen-Bodenbacher Zeitung‹ vom 13. d. M. genheit für die Tagespresse und für Flugblattaktio-
zu der Entwicklung der Arbeiter-Unfallversicherung in nen verfasst hat (AS Nrn. 16 und 17), zeichnen sich
Österreich Stellung genommen. Trotzdem sich der Ver- dadurch aus, dass sie den heroisch-patriotischen
fasser des in Rede stehenden Artikels redliche Mühe
gibt, die Dinge von einem objektiven Standpunkte aus Diskurs der Kriegspropaganda im gleichen Zuge
zu betrachten, wird man in der Annahme nicht fehlge- nachahmen und unterlaufen. Das geschieht zum ei-
hen, daß er der Verwaltung der Prager Anstalt nicht fer- nen wiederum durch das halbfiktionale Spiel mit un-
nestehen dürfte (AS 852). terschiedlichen Stimmen (AS 896), zum anderen
Am 4. 11. veröffentlichte die Tetschen-Bodenbacher durch eine kalkulierte Umkehrung des ›Lebens‹-
Zeitung einen zweiten Artikel, der zu der Reaktion Begriffs, der in Kafkas Texten zwar heroisch besetzt
der Arbeit explizit Stellung nimmt, und als dessen bleibt, dabei jedoch vom thanatopolitischen Opfer-
Verfasser sich Kafka in seinem Tagebuch bezeichnet. Diskurs der staatlichen Propaganda ab-, und an das
Die Einleitung verdeutlicht noch einmal den zu- Leben des Individuums wiederangekoppelt wird (AS
gleich reflektierten und diskurstechnischen Um- 899–901).
gang, den Kafka in seinen amtlichen Schriften mit
der Kategorie der Autorschaft entwickelt: Schriften aus der Zeit der Tschecho-
Wir lassen uns diese Bezeichnung gerne gefallen, wenn slowakischen Republik (1918 – 1922)
wir sie dahin deuten dürfen, daß derjenige der Verwal-
tung der Prager Anstalt nicht ferne steht, der als ihr Mit- In den Jahren nach der Gründung der tschechoslo-
glied sich um ihre Entwicklung ernstlich bekümmert, wakischen Republik war Kafka aufgrund seiner Lun-
der im Interesse der Industrie wenigstens die nächsten
gentuberkulose nur noch mit größeren Unterbre-
volkswirtschaftlichen Ausstrahlungen der sozialen Ver-
sicherung nach Kräften beobachtet und der der Anstalt chungen für die AUVA (jetzt: Úrazová pojišt’ovna
insofern nähersteht als die Allgemeinheit, als er ein re- dělnická pro Čechy v Praze) tätig. Da er zudem nach
gelmäßiger Leser ihrer von den Interessenten leider zu seiner Beförderung zum Sekretär seit Anfang 1920
wenig kontrollierten Jahresberichte ist (AS 254 f.). das neu gegründete Konzeptreferat der Anstalt lei-
Mit der gleichen Bewegung, mit der sich Kafka hier tete, sind aus dieser Zeit hauptsächlich solche Schrif-
einer Identifikation als individuelles Autor-Subjekt ten seiner Tätigkeit zuzuordnen, die er nun durch
entzieht, nutzt er die Anonymität amtlicher Verfas- Unterschrift zu autorisieren hatte, jedoch in den we-
serschaft zur sozialpolitischen Funktionalisierung nigsten Fällen selbst verfasst haben dürfte (hierzu
und kollektiven Besetzung der Autor-Position, in- und zur Frage der Sprachproblematik ausführlich
dem er die Unternehmer auffordert, sich durch auf- AS 97–102; Nekula, 173 ff. und Švingrová).
408 3. Dichtungen und Schriften – Werkgruppen

Forschung kurstheoretischen Machtanalytik Foucaults zur De-


ckung, indem es Kafka präzise am Ursprung der Bio-
In der Forschung kam Kafkas beruflicher Tätigkeit Macht platziert: dem Punkt, an dem sich die auf die
lange Zeit der paradoxe Status eines marginalen Kontrolle des Körpers abzielende »Norm der Diszi-
Schlüsselthemas zu. So führte Wagenbach Kafkas plin«, wie sie die Unfallverhütung mit ihren ergono-
Konzept-Arbeit für die AUVA als Beleg für dessen mischen Normierungen am Mensch-Maschine-
distanzierte Haltung zum Schreibprozess und gegen Schnittpunkt implementiert, mit der auf die Kon-
die auf sein literarisches Werk bezogene These eines trolle ganzer Bevölkerungen gerichteten »Norm der
›Traumdiktats‹ ins Feld (Wagenbach 1958, 146). Regulierung« verknüpft, wie sie die statistische Ge-
Hermsdorf argumentierte im Hinblick auf Kafkas fahrenklassifikation der Branchen und Betriebe in
zweiten Artikel für die Tetschen-Bodenbacher Zei- diesem Zusammenhang auszuüben hatte (vgl. Fou-
tung, dass »wegen der besonderen sinnverwirrenden cault, 65). Kafkas Aufsätze über die Unfallverhütung
Kunstgestalt seines Werkes« »auch die außerdichte- bei Holzhobelmaschinen (AS Nrn. 4b und 6b) auf
rischen Zeugnisse ein außergewöhnliches Gewicht« der einen, über die Begutachtungspraxis der Gewer-
erhielten, da sie »die Lebensansichten Kafkas in ih- beinspektoren (AS Nr. 22) auf der anderen Seite zei-
rem konkreten und unverschlüsselten Zusammen- gen besonders deutlich, dass es hier in der Tat jeweils
hang« dokumentierten (Hermsdorf 1958, 545). Im auf die konkrete Verknüpfung zwischen den beiden
Hinblick auf Hermsdorfs frühe Hinweise ist auch die unterschiedlichen Machttechniken ankommt. Deren
kulturpolitische Schlüsselfunktion der Berufstätig- dichteste literarische Figur hat Kafka in der Strafko-
keit Kafkas hervorzuheben, die es ermöglichte, einen lonie mit jener bizarren Strafmaschine geschaffen, in
in der damaligen DDR als ›bürgerlich-dekadent‹ der sich die damals für die statistische Vermessung
klassifizierten Autor wieder in die ideologisch sen- des Bevölkerungskörpers verwendete, auf elektri-
siblen Verhandlungen um die literarische Moderne scher Zählkartenstanzung basierende Hollerith-Ma-
einzubeziehen. So war es denn auch Hermsdorf, der schine und die den physischen Körper verwundende
in der Einleitung zu der von ihm besorgten ersten industrielle Maschine (etwa Holzhobelmaschine)
Ausgabe der Amtlichen Schriften das berufliche und überblenden (Wagner 2004).
literarische Schaffen Kafkas erstmals in einen um- Des Weiteren wurde auf die »eigentümliche«, kon-
fassenden Zusammenhang stellte. krete Anschauung und statistische Abstraktion ver-
Dennoch blieb Kafkas berufliche Textproduktion knüpfende »Evidenztechnik« verwiesen, die Kafkas
auch nach Hermsdorfs Berliner Ausgabe innerhalb Erzählwelten zugrunde liegt (Wolf). Aus unter-
der Forschung weitgehend isoliert, gediehen erste schiedlichen Blickwinkeln haben sich zudem jün-
zarte Sprosse überhaupt nur im schützenden Schat- gere Publikationen mit der Funktion der Kategorie
ten biographischer Erinnerungen oder der Doku- des Unfalls für die narrative Organisation vor allem
mente selbst und beschränkten sich weitgehend auf des Erzählwerks beschäftigt (Fortmann; Wagner
die Wiedererkennung vereinzelter stilistischer und 2007). Schließlich wurde auf die strukturelle Konti-
motivischer Korrespondenzen. Ein poetologisch er- nuität zwischen der Autorfunktion der amtlichen
hellender Zugang zu diesem Textbestand erfolgte Schriften und den Kafkaschen Erzählinstanzen
erst nach seiner Ergänzung um die juristischen (Wagner 2003) sowie auf die grundlegende Bedeu-
Schriftsätze seit Mitte der 1990er Jahre und auf der tung von Bürotechnik und Aktenführung für die ei-
Grundlage diskurs-, medien- und kulturwissen- gentümliche poetische Wissensorganisation des lite-
schaftlicher Kategorien. ›Unterhalb‹ der – metho- rarischen Werks hingewiesen.
disch fragwürdigen (Wagner 2003, 157–161) – Auf der Grundlage dieser und weiterführender
›Selbstzeugnisse‹ der Tagebücher und Briefe Kafkas Überlegungen arbeitet seit 2005 ein deutsch-ameri-
mit ihren Klagen über »das Bureau« als Hindernis kanischer Forscherverbund an der Entwicklung ei-
für die literarische Arbeit wird nun eine Reihe kon- ner digitalen Plattform, die Kafkas bürokratisch-po-
stitutiver Beziehungen zwischen amtlicher und lite- etische Textlogik im Hypertext nachvollziehen und
rarischer Textproduktion sichtbar. navigierbar machen wird (www.kafkabureau.net).
Zunächst bringt Kafkas berufliches Tätigkeitspro-
fil Elias Canettis prominente Bemerkung – »Unter Ausgaben: Erstdrucknachweise der zu Lebzeiten Kafkas
allen Dichtern ist er der größte Experte der Macht« publizierten Schriften in AS/KA (2004). −− Spätere
(Canetti, 76) – auf verblüffende Weise mit der dis- Nach- und Neudrucke: Eine Festrede [AS Nr. 2]. ED in:
Amtliche Schriften 409

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cherungspflicht… [AS Nr. 1], Maßnahmen zur Unfall- Nekula: F.K.s Sprachen. »… in einem Stockwerk des in-
verhütung [AS Nr. 6b] u. Die Arbeiterunfallversiche- nern babylonischen Turmes …«. Tübingen 2003, 153–
rung und die Unternehmer [AS Nr. 8b]. In: Klaus 181. (Kap. 6: F.K. als Beamter der Arbeiter-Unfall-Ver-
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Auto als Herausforderung für die Versicherungswirt-
schaft. In: Heinz Leo Müller-Lutz/Karl-Heinz Rehnert
(Hg.): Beiträge zur Geschichte des deutschen Versiche-
411

4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

4.1 Kafka lesen – legung und argumentativer Schlüssigkeit der Aussa-


gen, Spezifität und heuristischem Mehrwert der In-
Verstehensprobleme terpretation (die Interpretationsergebnisse sollten
auf diesen einen Text zutreffen und nicht auf viele
und Forschungs- oder gar alle literarischen Texte und sie sollen nicht
paradigmen nur sattsam bekannte Theoreme zeitgeistigen Den-
kens reproduzieren). All dies mag man für vernünf-
tige Forderungen halten, wird aber feststellen müs-
Die Deutungsvielfalt der Kafka-Forschung zu bekla- sen, dass eine ganze Reihe literaturwissenschaftli-
gen ist ebenso topisch wie müßig. Vor allem aber ist cher Schulen mindestens eine, oft sogar mehrere
es sachlich unzutreffend: Natürlich finden sich gele- davon nicht teilen, weil dies mit ihren Grundannah-
gentlich exzentrische Interpretationen; die überwäl- men nicht kompatibel wäre.
tigende Mehrheit aller Kafka-Deutungen lässt sich Das wird man in einer pluralistischen Welt hin-
aber den wenigen gängigen (und jeweils in bestimm- nehmen müssen – und daraus die Konsequenz zie-
ten Zeiträumen meinungsdominanten) Interpretati- hen, dass Metareflexionen über die Kafka-Forschung
onsschulen der Literaturwissenschaft zuordnen. genauso standpunktbezogen bleiben wie die Inter-
Und deren Ergebnisse sind – kennt man nur die Re- pretationen selbst. Gemäß dem Konzept dieses
geln der jeweiligen Interpretations-Sprachspiele – Handbuchs soll jedoch wenigstens vom relativ Ob-
zumindest in ihren Grundzügen problemlos vor- jektiven zum Subjektiven vorangeschritten werden.
hersagbar. Wenn es in der Kafka-Forschung ein Worin immer die Eigeninteressen und die Eigendy-
Ärgernis gibt, dann liegt es nicht in deren unkon- namik der Literaturwissenschaft liegen mögen – ihre
trollierbarer Vielfalt, sondern in der zeitgeistgebun- Existenzberechtigung gründet zweifellos darin, dass
denen Stereotypie, die die Mehrheit ihrer Deutun- sie Antworten auf die Verstehensprobleme der Leser
gen Ergebnis-präformierend prägt. gibt. Von diesen soll daher ausgegangen werden, um
Nun ist nichts so fruchtlos wie ein Streit über dann die etablierten Deutungsansätze als – mehr
literaturwissenschaftliche Methoden – und zwar oder minder adäquate – Lösungsversuche für diese
deshalb, weil es sich bei ihnen überhaupt nicht Probleme vorzustellen.
um ›Methoden‹ handelt (also um operationalisierte
und erlernbare Verfahren zur Lösung von Interpre-
tationsproblemen). Die angeblichen ›Methoden‹ Verstehensprobleme
sind viel eher als ›Schulen‹ zu begreifen, die auf ge-
meinsamen Erkenntnisinteressen, aber auch auf ge- Es gibt ein zu Recht berühmtes und zu Recht viel zi-
teilten weltanschaulichen Überzeugungen und tiertes Diktum Theodor W. Adornos über Kafkas
Werten beruhen (und eben dadurch die Ergebnisse Texte: »Jeder Satz spricht: Deute mich, und keiner
ihrer Deutungen – mehr oder weniger – vorherbe- will es dulden« (Adorno 1955, 304). Das bezeichnet
stimmen). Deswegen sind sie auch nur bedingt dis- genau jene Dialektik von Deutungsprovokation und
ponibel – und deswegen erinnern literaturwissen- Deutungsverweigerung, die jeder Kafka-Leser sofort
schaftliche Methodendebatten so oft an Glaubens- wiedererkennen wird: Man kann Kafkas Texte nicht
kriege. wörtlich verstehen (was auch heißen könnte, sie als
Ebenso wenig verschlägt es, die Methodendiskus- ›realistische‹ Geschichten mit psychologisch plausi-
sion auf eine Meta-Ebene zu verlagern und dabei blen Charakteren zu lesen), muss sie also ›deuten‹,
Kriterien in Anschlag zu bringen, bei denen man d. h. einen ›eigentlichen‹ Sinn hinter dem Gesagten
auf allgemeine, schulenübergreifende Zustimmung suchen. Zugleich aber sind die Texte so angelegt,
hofft: etwa die Forderungen nach genauer und zu- dass jeder Deutungsversuch sabotiert oder doch zu-
treffender Textbeschreibung, nachvollziehbarer Be- mindest aufs Äußerste erschwert wird. Diese Dialek-
412 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

tik soll im Folgenden in sechs Aspekten erläutert sind solche Abweichungen bei Kafka wohldosiert. So
werden. wie seine fiktionalen Welten in großen Teilen unse-
rem Weltwissen entsprechen, so sind auch die Figu-
(1) Anti-realistisches Erzählen – renhandlungen zum großen Teil durchaus motiviert.
Zwar sind Kafkas Figuren wenig individualisiert,
absolute Bildwelten
wirken eher als typenhafte, ›flache‹ Charaktere (›flat
Wie andere Texte der literarischen Moderne brechen characters‹). Viele ihrer Handlungsmotivationen er-
auch die Kafkas mit den im 19. Jahrhundert etablier- kennen wir aber durchaus wieder – etwa das Macht-
ten Grundprinzipien realistischen Erzählens. Im und Karrierestreben, die Triebhaftigkeit und den
Falle Kafkas sind vor allem vier Abweichungen von Ordnungs- und Reinlichkeitsfanatismus Josef K.s im
realistischen Erzählregeln auffällig: Process. Daneben gibt es jedoch auch immer wieder
(a) Kafkas fiktionale Welten widersprechen unse- Handlungsweisen, die unmotiviert bleiben und/oder
rem Weltwissen; hier finden Ereignisse statt, die un- psychologisch völlig unwahrscheinlich sind – etwa
möglich sind, treten Wesen auf, die es nicht geben das zwanghafte Bedürfnis des Landvermessers K.,
kann, etc. Beispiele sind leicht zu finden: Man denke ins Schloss zu gelangen, oder das Todesurteil von
an Gregor Samsas Metamorphose zu einer Art Rie- Vater Bendemann und dessen Annahme und Selbst-
senkäfer in der Verwandlung, an das Hinrichtungsri- vollstreckung durch den Sohn im Urteil.
tual in der Strafkolonie, die seltsamen Gerichtsin- (c) Nicht mit realistischem Erzählen vereinbar ist
stanzen im Process oder an das Rätselwesen Odradek auch, dass in Kafkas fiktionalen Welten die Innen-/
in Die Sorge des Hausvaters. Solche Abweichungen Außenwelt-Grenze auf seltsame Weise instabil ge-
vom uns vertrauten Realitätsprinzip kennen wir be- worden ist. Äußere Ereignisse hängen von Bewusst-
reits aus phantastischen Erzähltexten. Im reifen seinsoperationen oder psychischen Zuständen der
Werk Kafkas sind diese jedoch viel sparsamer do- Figuren ab: Das Verhör im Process findet etwa zu ge-
siert. Die frühe Beschreibung eines Kampfes weist nau dem Zeitpunkt statt, den Josef K. willkürlich an-
noch vielfältige phantastische Momente auf, ab dem genommen hatte (P 51 f., 59), die Schnelligkeit der
mittleren Werk aber handelt es sich zumeist nur Pferde in Ein Landarzt scheint mit der psychischen
noch um genau eines pro Text: etwa die Beinahe- Befindlichkeit des Arztes zu wechseln. Mitunter ver-
Menschwerdung des Affen im Bericht für eine Aka- liert sogar die fiktionale Welt ihre raum-zeitliche Be-
demie oder die zwei seltsam anthropomorphen Bälle stimmtheit, büßen Figuren ihre personale Substanz
in <Blumfeld, ein älterer Junggeselle>. Untypisch für ein: In der Rumpelkammer der Bank, in der die
phantastische Erzähltexte ist auch, dass solche Ab- Prüglerszene stattfindet, steht die Zeit still (P 117);
weichungen bei Kafka von den Figuren der fiktiona- der Freund im Urteil wird zu einer rein relationalen
len Welt einfach hingenommen werden – so sieht Größe im Vater-Sohn-Konflikt; die allgegenwärtigen
etwa Familie Samsa in Gregors Verwandlung zwar ›Gehilfen‹ im Schloss individualisieren sich erst, als
ein Ärgernis und eine Belastung, fragt aber nie, wie sie aus des Landvermessers Dienst entlassen worden
eine solche Metamorphose überhaupt geschehen sind; der Pferdeknecht und der kranke Junge im
konnte. Beides deutet bereits darauf hin, dass Kafkas Landarzt erscheinen eher als Ich-Aspekte der Haupt-
besondere Form von Phantastik auch eine neue figur denn als eigenständige Personen. Da all diese
Funktion haben muss. Traditionelle Phantastik dient Abweichungen uns von unseren Träumen her wohl-
dazu, einen engen rationalistischen, meist bürger- vertraut sind, hat man sie unter dem Begriff ›oniri-
lich-philiströsen Wirklichkeitsbegriff (und die da- sches Erzählmodell‹ zusammengefasst (Engel 2006,
mit verbundene Lebenshaltung und Lebensführung) 252 f.).
in Frage zu stellen; daher wird der Konflikt zwischen (d) Generell ist in modernen Erzähltexten die
dem ›normalen‹ und dem ›phantastischen‹ Wirk- Handlung (als temporal-kausale Verknüpfung) nicht
lichkeitsbereich in den Texten auch ausführlich er- mehr das dominante Textorganisationsprinzip (was
örtert. Da solche Erörterungen bei Kafka weitgehend die Bedeutung des lebensweltlich tiefverankerten
entfallen, steht seine Phantastik offensichtlich nicht Sinngebungsverfahrens ›Geschichten-Erzählen‹ stark
mehr in dieser (grosso modo) ›romantischen‹ Funk- reduziert). Hier gehen andere Autoren – wie etwa
tionstradition. Rilke oder Benn – deutlich weiter als Kafka. Aber
(b) Anti-realistisch ist auch das Fehlen psycholo- auch bei ihm hat die (äußere wie innere) ›Geschichte‹
gisch motivierter Handlungsmotivationen. Wiederum an Bedeutung verloren. Sie kann beispielsweise stark
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 413

reflexiv überformt sein: In der Strafkolonie etwa ist ›Bedeutung‹ zu suchen wäre. Nun ließe sich sofort
das Gespräch zwischen Offizier und Forschungsrei- einwenden, dass dieses Rezeptionsmodell genauso
sendem über die Strafpraktiken auf der Insel text- inadäquat ist wie das der ›phantastischen Literatur‹.
prägender als die wenigen Ereignisse; in den <For- Uneigentliches Sprechen zielt traditionell auf die
schungen eines Hundes> gibt es allenfalls noch das Vermittlung des ›Eigentlichen‹ (besonders natürlich
Rudiment einer autobiographischen Erzählung; in in lehrhaften Erzähltexten des parabolischen Typus)
Josefine, die Sängerin bahnt sich erst kurz vor Schluss – und eben diese Auflösung uneigentlicher Rede er-
mit dem Verschwinden Josefines ansatzweise so et- weist sich bei Kafka ja gerade als höchst schwierig.
was wie eine ›Geschichte‹ an. Oder die Handlung Das spricht zwar nicht kategorisch dagegen, den Be-
bildet nur einen Rahmen – Urteil und Vollstreckung griff des ›Parabolischen‹ auf Kafkas Texte anzuwen-
im Process, Beginn und (erfolgreiches/erfolgloses?) den – es ist eine bekannte Eigenheit der literarischen
Ende des Schloss-Strebens von Landvermesser K. im Moderne, alle vertrauten Schreibweisen und Gat-
Schloss –, der mit Episoden ausgefüllt ist, die einan- tungsbegriffe so zu transformieren, dass sich traditi-
der strukturähnlich sind und sich in ihrer Reihen- onelle Definitionen nicht mehr bruchlos anwenden
folge oft vertauschen ließen. Eine ähnliche ›Paradig- lassen –, schränkt seinen heuristischen Wert aber
matisierung‹ des Erzählsyntagmas ergibt sich häufig fast ebenso ein wie den des Konkurrenzbegriffes der
auch dadurch, dass der Iterativ (also die Schilderung ›phantastischen Literatur‹.
immer wiederkehrender, gewohnheitsmäßiger Hilfreicher ist es daher, sich an einem Modell un-
Handlungen) über den Singulativ dominiert – wie eigentlicher Rede zu orientieren, das in der moder-
etwa im zweiten Teil von <Blumfeld, ein älterer Jung- nen Lyrik häufig auftritt und für das man den para-
geselle>. Zudem sind Kafkas Charaktere zumeist sta- dox anmutenden Begriff der ›absoluten Metapher‹
tisch und geradezu obstinat veränderungsresistent, verwendet hat. Paradox ist der Begriff, weil zwar
was auch eine innere (Entwicklungs-)Geschichte Merkmale metaphorischer Rede vorzuliegen schei-
weitgehend ausschließt. nen, im gesamten Text aber nirgendwo mehr eine
Dieser kleine Katalog der wichtigsten Abwei- ›Sachhälfte‹ zu diesen ›Bildern‹ anzutreffen ist. Ein
chungen von realistischen Erzählprinzipien ist zu- Beispiel mag dies deutlicher machen. Die zweite
gleich ein Katalog von Irritationsmomenten. Durch Strophe von Georg Trakls Gedicht Ruh und Schwei-
sie wird der Leser gewaltsam herausgerissen aus den gen (1913) lautet:
ihm wohlbekannten Rezeptionsmustern realisti-
schen Erzählens. Diese sind ihm nicht nur durch In blauem Kristall
Wohnt der bleiche Mensch, die Wang an seine Sterne
seine literarische Sozialisation vertraut, sondern, gelehnt;
mehr noch, durch seine lebensweltliche Konditio- Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf.
nierung: Im Alltag verhalten wir uns schließlich alle
als ›Realisten‹! Abweichungen von diesen Alltagsre- Der Text weist eben die Abweichungsqualitäten auf,
geln erzeugen, wie von selbst, Erklärungs- und Deu- die metaphorische Rede kennzeichnen. Das lässt
tungsbedarf; beim literarisch wohlsozialisierten Le- sich leicht verdeutlichen, indem wir, ganz willkür-
ser werden sie dazu führen, dass er ein an realisti- lich, eine Sachhälfte konstruieren, etwa: ›Georg, der
schen Texten geschultes Rezeptionsmodell aufgibt in diesem Sommer wenig Sonne gesehen hatte,
und auf andere, textadäquatere umzuschalten wälzte sich in seinem nur vom blauem Neonlicht der
sucht. Leuchtreklame erhellten Bett hin und her und
Als ein solches alternatives Rezeptionsmuster presste das Gesicht an die Bilder seiner beiden toten
wurde bereits das der ›phantastischen Literatur‹ ge- Geliebten; ab und zu fiel er in tiefen, von feierlichen
nannt, zugleich aber auf dessen Grenzen verwiesen. Träumen erfüllten Schlaf‹. Gäbe es eine solche (oder
Deutlich überzeugender ist ein Alternativmodell, ähnliche) ›Realitäts‹-Ebene im Gedicht, so wäre die
das auch die Kafka-Forschung deutlich präferiert zitierte Strophe als deren metaphorische Transfor-
hat: das der ›uneigentlichen Rede‹ im Allgemeinen mation aufzufassen. Aber wir stoßen im Text überall
und das des ›Parabolischen‹ im Besonderen. Auch nur auf ›Bild‹-Welten, die zudem noch ständig wech-
diese Schreibweisen verwenden gezielt Abweichun- seln; die vorangehende Strophe lautet etwa:
gen vom ›realistischen‹ Erzählen, die hier die Funk- Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald.
tion von ›Uneigentlichkeitssignalen‹ haben, den Text Ein Fischer zog
also als ›Makro-Zeichen‹ ausweisen, zu dem eine In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.
414 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Sehr viele Erzähltexte Kafkas weisen eine analoge sen, die Beziehung zwischen Signifikant und Signifi-
Struktur auf. Grob gesprochen, lassen sich dabei kat wäre also nicht durch eine Analogie-, sondern
zwei Grundtypen unterscheiden: Ein erster, der sich durch eine Kontiguitätsbeziehung bestimmt (ä 426).
schon im frühen Werk vorbereitet und dann die Dieses Lesemodell des ›absoluten Bildes‹ ist dem
erste Phase des mittleren Werkes bestimmt (also Konkurrenzmodell des ›Parabolischen‹ in mindes-
etwa Urteil und Verwandlung), setzt einem ›wieder- tens einem wichtigen Punkt überlegen: Bildliche
erkennbaren‹ Weltbereich mit realistischer Substanz Rede ist (zumal in der trans-rhetorischen Moderne)
eine fremde ›Bild‹-Welt entgegen. Ein zweiter Typus, nicht auf eindeutige Auflösbarkeit hin angelegt, da
der (ansatzweise) erstmals in der Strafkolonie er- sie ja gerade eine Alternative zu begrifflicher Rede
probt wird und im späten Werk dominieren wird, darstellt. Anders als beim parabolischen Rezeptions-
präsentiert dagegen nur die fremde ›Bild‹-Welt, die modus ist der Leser so nicht mehr zwanghaft auf die
allerdings oft mit einer über sie reflektierenden For- Suche nach einer eindeutigen, vom Bild ablösbaren
scher- oder Beobachterfigur versehen ist. In beiden ›Botschaft‹ oder ›Lehre‹ programmiert. Der Bedeu-
Fällen lässt sich der textprägende Erzähleinfall als tungsgehalt von ›absoluten Metaphern‹ (bzw. ›abso-
›Bild‹ begreifen, dessen Bild-Charakter für den Leser luten Metonymien‹) ist wesentlich unschärfer als der
nur noch durch die Abweichung von seinem Wirk- von Parabeln und kann nur in approximativer Um-
lichkeitswissen (und der damit verbundenen Wort- schreibung bestimmt werden.
semantik) markiert ist. Innerhalb der Texte haben Gegenüber einem traditionell metaphorischen
diese ›Bilder‹ Realitätsstatus, sie sind dort ebenso oder gar allegorischen Lektüremodell, das ein Text-
›real‹, faktuell wie in Trakls Text die Handlung, in element x durch ein in Analogierelation dazu ste-
der Hirten die Sonne im Wald begraben. hendes Bedeutungselement y zu substituieren sucht,
Die Aufschlüsselung der Semantik solcher absolu- hat das der ›absoluten Metonymie‹ den Vorteil, die
ten Setzungen wird bei Kafka allerdings sicher an- Textoberfläche ernst zu nehmen – und damit die
ders funktionieren müssen als in einem lyrischen moderne Literarizität des Textes, sein Sprechen in
Text (wo die absoluten Metaphern als Konnotations- Bildern und Geschichten. Spektakulär-kühne Deu-
bündel semantisch aufzufächern und in ihre Korre- tungen im Sinne einer lectio difficilior, die die neuere
spondenz- und Kontrastrelationen zu stellen sind). Literaturwissenschaft so sehr liebt, werden dabei
Zudem treten bei Kafka ja auch nur selten gehäufte freilich nicht entstehen, wohl aber solche, die dem
Metaphern auf; meist ist es ein durchgeführtes zen- Lektüreerlebnis näher und dadurch prinzipiell kon-
trales ›Bild‹ bzw. ein Bildkomplex, wodurch der sensfähiger sind.
ganze Text zum ›Makrozeichen‹ gemacht wird. Ein Fassen wir diesen ersten und wichtigsten Punkt
zweiter Unterschied zur Verwendung absoluter Me- kurz zusammen: Kafkas Texte deaktivieren durch
taphern in der modernen Lyrik besteht darin, dass eine Vielzahl von ›Abweichungen‹ einen realisti-
Kafkas Texten oft eine abstrakte Begriffsebene ein- schen Rezeptionsmodus, konfrontieren den Leser
gelagert ist, die der Leser als Stellvertreter einer ›ei- mit verabsolutierten Bild-Welten und aktivieren, im
gentlichen‹ Aussageebene oder mindestens als erste Gegenzug, Rezeptionsmuster, die an Formen unei-
Hinweise darauf nehmen könnte – so ist etwa im gentlicher Rede geschult sind (wie immer man diese
Process, unüberlesbar, viel von ›Schuld‹ und ›Gesetz‹ dann auch konzeptualisieren mag: als parabolisch,
die Rede. allegorisch, metaphorisch, absolut-metaphorisch
Ein Lektüremodell, das diesen Eigenheiten Rech- oder absolut-metonymisch).
nung trägt und dabei sozusagen einen Mittelweg
zwischen ›absoluter Metaphorik‹ und ›Parabolik‹ zu (2) Vertrackte Details – Weh denen,
gehen versucht, könnte folgendermaßen aussehen:
die Zeichen sehen?
Man nimmt die auf der Textoberfläche dargestellten
Konstellationen als eine abstrakte Modellsituation Kafkas Texte sind, sieht man von den frühen Hoch-
(also quasi ›wörtlich‹) und beschränkt sich bei der zeitsvorbereitungen ab, nicht sonderlich beschrei-
Deutung darauf, diese mit Hilfe der im Text vorgege- bungsintensiv. Weder Personen noch Orte oder Ge-
benen Leitbegriffe zu verallgemeinern. Die absolu- genstände werden so plastisch konturiert, wie das im
ten Bilder Kafkas würden so primär nicht als (zu Realismus des 19. Jahrhunderts üblich war. Doch gibt
›übersetzende‹) absolute Metaphern, sondern als (zu es immer wieder punktuelle Ausnahmen, die eben
›verallgemeinernde‹) ›absolute Metonymien‹ gele- wegen ihres Ausnahmecharakters umso mehr auffal-
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 415

len. So wird etwa der Vater im Urteil in seiner äuße- Dass dem nicht so ist, hat vor allem zwei Gründe:
ren Erscheinung kaum charakterisiert – wir erfahren Zum einen sind bei Kafka (auch in seinen Tagebuch-
aber, dass er »auf seinem Oberschenkel« eine »Narbe einträgen, Briefen und Aphorismen) diskursive und
aus seinen Kriegsjahren« hat (DzL 57); das Zimmer bildliche Rede immer eng miteinander verzahnt.
von Fräulein Bürstner im Process wird mehr als spär- Wie eine Reihe anderer Autoren, man denke etwa an
lich beschrieben, es wird aber erwähnt, dass es in ihm Rilke und Goethe, ist Kafka Dichter in einem sehr
eine Reihe von »Photographien« gibt, »die in einer an absoluten und globalen Sinn. Er spricht sozusagen
der Wand aufgehängten Matte« stecken (P 20); nicht nur ›literarisch‹ – man könnte auch sagen: ›Litera-
weniger auffällig ist, wenige Seiten später, die Gestik risch‹ –, also in Bildern und Geschichten. Abstrak-
des »Aufsehers«, der, statt K.s ausgestreckte Hand zu tes, gar philosophisches Denken in Reinform wird
ergreifen, »einen harten runden Hut, der auf Fräulein man in seinen Schriften vergebens suchen.
Bürstners Bett lag«, nimmt und ihn »sich vorsichtig Zum anderen schreiten Reflexionen bei Kafka
mit beiden Händen« aufsetzt (P 25). nicht in einem linearen Argument voran, sondern
In realistischen Texten sind wir im Umgang mit mäandrieren auf eine besondere Weise, für die man
solchen Details einigermaßen geschult: Sie können den Begriff des ›gleitenden Paradoxons‹ vorgeschla-
etwa auf einfache, sofort plausible Weise zur Figu- gen hat (G. Neumann, 168). Gemeint ist damit eine
rencharakterisierung dienen (Interieur, Aussehen, Denkbewegung in Einschränkungen, Ablenkungen
Kleidung, Mimik, Gestik), sie können dazu verwen- und partiellen Umkehrungen, die ihre eigenen An-
det werden, eine realistische Atmosphäre zu erzeu- nahmen und Schlussfolgerungen ständig wieder in
gen (›Realitätseffekt‹), oder sie können – vor allem Frage stellt. Ein gutes Beispiel dafür sind die ausge-
wenn sie gleich an mehreren Textstellen wiederkeh- dehnten Reflexionen des Erzählers in Josefine, die
ren (›Isotopien‹) – eine über die Einzelstelle hinaus- Sängerin über die Natur von Josefines Gesang: Han-
reichende ›symbolische‹ Bedeutung haben. delt es sich dabei tatsächlich um Singen – oder viel-
Motive, die durch Isotopie eine textumgreifende leicht doch nur um ein Pfeifen? Hier ein relativ belie-
Bedeutung bekommen, gibt es bei Kafka natürlich big herausgegriffener Textauszug:
auch – im Process etwa das des Handschlags oder das Wenn es also wahr wäre, daß Josefine nicht singt, son-
des Fensters (durch das hinaus- oder zu dem hinein- dern nur pfeift und vielleicht gar, wie es mir wenigstens
geschaut wird). In solchen Fällen ist die Zeichenhaf- scheint, über die Grenzen des üblichen Pfeifens kaum
tigkeit eindeutig markiert – und semantische Auflö- hinauskommt – ja vielleicht reicht ihre Kraft für dieses
übliche Pfeifen nicht einmal ganz hin, während es ein
sungen sind durchaus möglich (Zeichen, die mehr-
gewöhnlicher Erdarbeiter ohne Mühe den ganzen Tag
fach wiederkehren, lassen sich meist leichter deuten über neben seiner Arbeit zustande bringt – wenn das al-
als singuläre). Die beiden anderen Auflösungsmög- les wahr wäre, dann wäre zwar Josefines angebliches
lichkeiten sind bei Kafka aber schwierig bis unmög- Künstlertum widerlegt, aber es wäre dann erst recht das
lich – dazu ist der realistische Erzählgestus in seinen Rätsel ihrer großen Wirkung zu lösen.
Es ist aber eben doch nicht nur Pfeifen, was sie produ-
Texten einfach zu sehr reduziert. Daher stellt jedes ziert. Stellt man sich recht weit von ihr hin und horcht,
dieser durch ihre Isolierung und Seltenheit quasi un- oder noch besser, läßt man sich in dieser Hinsicht prü-
terstrichenen Details eine Deutungsprovokation dar. fen, singt also Josefine etwa unter andern Stimmen und
Handelt es sich um ›Zeichen‹? Und falls ja, was ›be- setzt man sich die Aufgabe, ihre Stimme zu erkennen,
dann wird man unweigerlich nichts anderes heraushö-
deuten‹ sie?
ren, als ein gewöhnliches, höchstens durch Zartheit oder
Schwäche ein wenig auffallendes Pfeifen. Aber steht man
(3) Aufhebungen und Umlenkungen – vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfeifen (DzL 352).
subvertierte Reflexion
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kafkas (4) »Gibs auf!«? – Autoreflexivität
Texte meist ausführliche reflexive Passagen haben, ja und textinterne Deutungsversuche in
zum Teil fast nur aus Reflexionen bestehen. Das perspektivischer Begrenzung
sollte ein guter Ausgangspunkt für Textdeutungen
sein. Wenn Kafka die realistische Textebene und den Glaubt man der neueren Forschung, so sind Kafkas
pragmatischen Nexus aufbricht und depotenziert, so Texte weitgehend autoreflexiv, eine stete Selbstthe-
schafft er doch eine Ebene diskursiven Redens, die, matisierung ihrer eigenen Unverstehbarkeit. Weil
so möchte man meinen, einen ideellen Nexus stiftet. die Texte ihre Undeutbarkeit ständig auch selbst vor-
416 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

führen, erscheine jeder Versuch einer traditionell Terminologie Franz Karl Stanzels). Das heißt, dass
hermeneutischen Ausdeutung von vornherein als der Erzählerstandpunkt immer als begrenzt mar-
verfehlt. kiert wird: Wir als Leser erfahren nicht mehr, als die
In Wirklichkeit ist der Sachverhalt um einiges Perspektivfigur empfindet, wahrnimmt, denkt und
komplizierter. Autoreflexivität im strengen Sinne ist weiß (oder zu wissen glaubt). Diese Perspektivfigu-
bei Kafka, mindestens auf der Textoberfläche, eher ren lassen sich, sehr grob gesprochen, in zwei Grup-
selten. Beispiele dafür sind das Deutungsgespräch, pen teilen: (a) die bornierten Helden, zumeist ausge-
das Josef K. und der Geistliche im Process über die sprochen zwanghafte Charaktere mit nur begrenzter
zuvor erzählte Türhüter-Geschichte führen (P 295– Fähigkeit zu Selbstreflexion und Selbstrelativierung
303), und der Versuch des Landvermessers K. im – daher sind ihre Verstehensbemühungen auch von
Schloss, einen Brief zu deuten, den ihm (vermutlich) Abwehr und Verdrängung bestimmt; (b) ›Forscher‹-
der Schlossbeamte Klamm geschrieben hat (S 40–43; Figuren, die sich, mehr oder minder redlich, darum
vgl. auch 112–115). Hier werden tatsächlich Teile bemühen, ein ihnen fremdes Geschehen zu verste-
des Textes im Text selbst interpretiert, und zwar tat- hen und zu bewerten, dabei aber ihre standpunktbe-
sächlich so, dass diese Deutungsakte auch gleich zogenen Beschränkungen nicht wirklich überwin-
wieder in Frage gestellt werden. den können (der Affe Rotpeter im Bericht für eine
Nur bedingt autoreflexiv ist aber schon der Text, Akademie ließe sich als Verbindung beider Typen
den Max Brod <Von den Gleichnissen> (1922; NSF begreifen). Typ (a) ist im Gesamtwerk vertreten –
II, 531 f.) betitelt hat und der etwa für Oliver Jahraus von der Beschreibung eines Kampfes bis zum <Bau>
geradezu als Modellfall für Autoreflexivität gilt – und seit dem mittleren Werk voll entfaltet. Typ (b)
(Jahraus 1994; Jahraus 2006, 181–183). In diesem wird von der Alchimistengassen-Phase des mittleren
berühmten und vielinterpretierten Prosastück Werkes an immer prominenter; der Erzähler im
(ä 363–365) wird zwar von »Gleichnissen« geredet, Dorfschullehrer und der Forschungsreisende in der
der Text selbst ist aber sicher kein Gleichnis (auch Strafkolonie können als seine Vorläufer gelten, Bei-
wenn in ihm ›gleichnishafte‹ Rede vorkommt). Noch spiele für den voll entfalteten Typus wären die Er-
schwerer wiegt, dass das eigentliche Thema des Tex- zähler von Beim Bau der chinesischen Mauer und Jo-
tes die »Worte der Weisen« (NSF II, 531) und zwei sefine, die Sängerin.
sehr unterschiedliche Einstellungen ihnen gegen- Diese Grob-Typologie bedürfte noch einiger Aus-
über sind. <Von den Gleichnissen> für autoreflexiv differenzierung; für unsere momentanen Zwecke ge-
zu erklären, impliziert also, dass Kafka sich selbst als nügt jedoch die Tatsache, dass beide Typen, trotz al-
›Weisen‹ aufgefasst haben müsste. Das aber wird nie- ler Unterschiede, standpunktbezogen bleiben und in
mand für plausibel halten, der Kafkas überkritische ihren Deutungen (bzw. den auf diesen Deutungen
Einstellung sich selbst gegenüber kennt. Wenn es im beruhenden Handlungen) scheitern. Autoreflexiv
Text eine autornahe Position gibt, so ist es eher die wäre dieses Scheitern aber nur, wenn ihr Standpunkt
des zweiten Sprechers im Dialogteil, der, erzähllo- der einzig mögliche wäre – und damit mit Notwen-
gisch völlig unvermittelt, auf den erzählerischen Ein- digkeit auch der Standpunkt der Leser. Nur dann
gang folgt – und dieser Sprecher ist eben keiner der wäre die Gleichsetzung zwischen dem Deutungs-
›Weisen‹, sondern nur einer, der deren Partei ver- scheitern des Helden und dem des Lesers logisch
tritt. zwingend. Nun liegt aber die Raffinesse von Kafkas
Man wird so unterstellen dürfen, dass die gegen- Erzählverfahren gerade darin, dass seine Texte zwar
wärtige Konjunktur von Autoreflexivitäts-Diagno- personal erzählt sind, dem Leser aber trotzdem eine
sen an Kafkas Texten eher der Tatsache geschuldet klare Einsicht in die Fehlerhaftigkeit der Perspektive
ist, dass die dekonstruktivistische Denkschule aller der Perspektivfigur vermittelt wird und er mehr über
Literatur stereotyp Autoreflexivität im Sinne einer diese erfährt, als sie selbst weiß oder wissen will (z. B.
Selbstthematisierung hermeneutischer Unauflösbar- ä 198 f.).
keit unterstellt. In einem weniger strengen und sehr Das lässt sich auch an den anfangs erwähnten Bei-
speziellen Sinne aber haben Kafkas Werke natürlich spielen von Autoreflexivität im engeren Sinne gut il-
oft ein, grosso modo, autoreflexives Element. lustrieren (und relativiert so selbst deren Selbstbe-
Bekanntlich sind seine Erzähltexte in der über- züglichkeit). Der Geistliche erzählt Josef K. die Tür-
wiegenden Mehrheit personale Ich- oder Er-Erzäh- hüterparabel mit einem eindeutig benannten
lungen (in der von Jürgen Petersen reformulierten ›didaktischen‹ Zweck: Sie soll ihn darüber belehren,
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 417

dass er sich »in dem Gericht« »täuscht« (P 292). K. che der fiktionalen Welt; schon allein deswegen wäre
aber denkt in seinen Deutungsversuchen über eine es keineswegs gerechtfertigt, eine globale Undeut-
solche Täuschung nicht einmal nach; stattdessen be- barkeit der Welt (oder der Schrift) zu unterstellen.
ginnt er sofort, dem Gericht eine Täuschungsabsicht
zu unterstellen: »Der Türhüter hat also den Mann (5) Werk oder Schrift?
getäuscht« (295). Schon die direkte Wiederholung
des Verbs ›täuschen‹ in ganz unterschiedlichen Ver- Bekanntlich hat Kafka nur wenige seiner Texte zu
wendungsweisen macht überdeutlich, dass und wa- Lebzeiten veröffentlicht – und nicht sehr viel mehr
rum K. auf dem Holzweg ist. Entsprechendes gilt für tatsächlich vollendet. Kafkas Œuvre – wie es uns die
die Deutungsversuche des Landvermessers K.: Auch neuen kritischen Ausgaben (KA und FKA) nun prä-
hier wird dem Leser sofort klar, dass dessen Brief- sentieren –, ist nicht nur reich an Fragmenten der
Deutung mit dem Text kaum etwas zu tun hat. So üblichen Art, sondern überreich an kurzen und kür-
wie Josef K. nur seine Dauerobsession auslebt, vom zesten Erzählanfängen, die nach wenigen Seiten, Ab-
bösen Gericht verfolgt zu werden, so gehorcht der sätzen oder gar nur Sätzen abbrechen. Das hängt na-
Landvermesser seiner Dauerobsession, zugleich ins türlich zusammen mit Kafkas extrem inspirationisti-
Schloss aufgenommen werden und ein ›Freier‹ blei- scher, bewusst auf jede Vorplanung verzichtender
ben zu wollen. Gleich am Anfang seiner Lektüre Produktionsweise. An ihr scheitern alle epischen
konstatiert er: Großformen – an ihr scheitert aber auch schon jeder
[Der Brief] war nicht einheitlich, es gab Stellen wo mit Erzählansatz, der entweder nicht genügend episches
ihm wie mit einem Freien gesprochen wurde […]. Es Entfaltungspotential in sich trägt oder auf eine un-
gab aber wieder Stellen, wo er offen oder versteckt [!] als zureichende kreative Disposition des Schreibenden
ein kleiner […] Arbeiter behandelt wurde […]. Das wa- trifft oder durch äußere Störungen des Schreibpro-
ren zweifellose [!] Widersprüche, sie waren so sichtbar
zesses an seiner Entfaltung gehindert wird.
daß sie beabsichtigt sein mußten [!] (S 41).
Die neuere Kafka-Forschung hat aus diesem
Der unvoreingenommene Leser des Briefes (S 49) Werkzustand (oder auch, wieder wird man das un-
wird für all das freilich keinerlei Belege finden. Dass terstellen dürfen, aus den Grundregeln der dekonst-
Josef K. und der Landvermesser mit ihren Interpre- ruktivistischen Interpretenschule) eine steile These
tationen aus jedem literaturwissenschaftlichen Pro- abgeleitet: Kafka sei es grundsätzlich und katego-
seminar verwiesen würden, sollte gestandene Litera- risch nie um die Schaffung von ›Werken‹ gegangen,
turwissenschaftler eigentlich davon abhalten, in die- sondern immer nur um den Schreibprozess selbst –
sen Figuren ihre adäquaten Stellvertreter im Text zu was dann gerne als das ominöse Ziel formuliert wird,
sehen. sein Leben in Schrift zu verwandeln.
Die sogenannte ›Autoreflexivität‹ der Texte Kafkas Das ist, so absolut formuliert, auf einigermaßen
nimmt also in unserem kleinen Katalog von Lese- offensichtliche Weise falsch. Kafka hat Werke pro-
problemen eine Sonderstellung ein: Weit davon ent- duziert und veröffentlicht, sich über ein gelungenes
fernt, als »Gibs auf«-Signal (NSF II, 530; vgl. Jahraus Werk wie das Urteil auch bekanntermaßen gefreut
2006, 179) jeden Textdeutungsversuch ad absurdum (T 460 f.), und er hatte – gerade in seiner Unterschei-
zu führen, eröffnet sie dem Leser im Gegenteil zwei dung von gelungenen und misslungenen Texten –
durchaus erfolgversprechende Wege zur Interpreta- ein Werkideal von geradezu klassischer Rigorosität.
tion der Texte: (a) Der Leser kann den offensicht- So notiert er am 19. Dezember 1914:
lichen Miss-Deuter zu deuten suchen, das heißt nach
Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint
den Gründen für dessen obstinates hermeneutisches
hoffnungslos, daß dieser neue noch unfertige überall
Versagen fragen, nach den Vorurteilen und psychi- empfindliche Organismus in der fertigen Organisation
schen wie mentalen Strukturen, die seinen korrek- der Welt sich wird erhalten können, die wie jede fertige
turresistenten Fehldeutungen zugrunde liegen. Organisation danach strebt sich abzuschließen. Aller-
(b) Der Leser kann, gewarnt durch das negative Vor- dings vergißt man hiebei, daß die Novelle falls sie be-
rechtigt ist, ihre fertige Organisation in sich trägt, auch
bild, die Weltbereiche (im weitesten Sinne) erken- wenn sie sich noch nicht ganz entfaltet hat (T 711).
nen lernen, denen gegenüber ›Deuten‹ im Sinne ei-
nes rationalen Verstehen- und Beherrschenwollens Und Kafkas berühmtes, in diesem Zusammenhang
offensichtlich unangebracht ist. Es geht dabei ja im- viel zitiertes, Diktum aus einem Brief an Felice Bauer
mer nur um kleine (wenn auch zentrale) Teilberei- lautet eben: »ich bestehe aus Litteratur, ich bin nichts
418 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

anderes« (14.8.1913; B13–14 261), und nicht: ›Ich sagen, dass Kafkas bereits erwähnte Reduktion der
bin nichts als Schrift‹. Bedeutung von ›Handlung‹ und ›Geschichte‹ diese
Zwar ist es natürlich vollkommen richtig, dass für Interpretationserschwernis oft wieder deutlich redu-
Kafka das Schreiben von fundamentaler existenziel- ziert. Man könnte, etwas überpointiert, durchaus be-
ler Bedeutung war. Das ändert jedoch nichts an der haupten, dass der Process, dessen Handschrift jedem
(nahe liegenden) Hierarchisierung: Schreiben ist Werkbegriff Hohn zu sprechen scheint (ä 192–195),
besser als Nicht-Schreiben – aber ein Schreiben, das in gewisser Hinsicht Kafkas geschlossenstes Werk
zu einem abgeschlossenen Werk führt, ist wiederum sei. Denn die Strukturmuster von Josef K.s Verhalten
besser als ein Schreiben, das in Erzählansätzen ste- sind in den vorliegenden Textteilen so klar ausgestal-
cken bleibt. Warum sonst fänden sich in den Tage- tet, dass weitere Kapitel wenig Neues hätten bringen
büchern, neben den Klagen über das Nicht-Schrei- können.
ben-Können, nicht weniger beredte Klagen über das Wenn hier auf der Bedeutung des Werkstatus bei
Nicht-Vollenden-Können! Kafka insistiert wird, meint das nicht, dass die emi-
Insofern spricht nichts gegen die pragmatische nente Bedeutung des Schreibprozesses für sein Werk
Unterscheidung von abgeschlossenen Werken, un- geleugnet werden soll. Charakteristisch für Kafka ist
terschiedlichen Fassungen eines Werkes (dass das eben gerade die Dialektik von Werkstreben und
Wort ›Fassung‹ dabei eine textgenetische façon de Schreibprozess, die nicht vereinseitigend in eine
parler ist und nicht auf die platonische Idee eines Richtung aufgelöst werden darf. Natürlich kann man
Grundtextes bezogen wird, versteht sich wohl von selbst in vollendeten Werken mit Erkenntnisgewinn
selbst), Texten, die einem Abschluss relativ nahe den Spuren des Schreibprozesses nachgehen (solches
sind, und Fragmenten, die bloße Schreibansätze dar- Einbeziehen textgenetischer Fragen gehört ohnehin
stellen – nichts außer der in den Regeln der de- zum selbstverständlichen Repertoire schulgerechten
konstruktivistischen Schule und nicht in den Beson- Interpretierens). Nur muss man sich dann darüber
derheiten des Kafkaschen Werkes begründeten kate- im Klaren sein, dass man damit nicht eine interpre-
gorischen Ablehnung des Werk-Begriffes. Eine tatorische, sondern eine produktionsästhetische Fra-
pragmatische Unterscheidung ist das deshalb, weil gestellung verfolgt, also nach den Mechanismen von
sie sich interpretationspraktischen Entscheidungen Kafkas literarischer Kreativität fragt und nicht Werk-
verdankt. Je fragmentarischer der Text, desto unsi- deutung betreibt. Wer beides vermischt, begeht ei-
cherer ist die Interpretationsgrundlage – oder, an- nen Kategorienfehler.
ders gesagt: Ab einem gewissen Grad von Fragmen-
tarik wäre jeder Interpretationsversuch in der Tat (6) Meta-Texte und Kontexte?
sinnlos.
Es gibt also in Kafkas Œuvre durchaus Texte, die Wenn das Œuvre eines Autors so viele Verständnis-
nicht interpretierbar sind, da sie auch nicht im An- schwierigkeiten bereitet wie bei Kafka, sucht man
satz einen Werk-Status erreicht haben (natürlich gerne Hilfe in Meta-Texten und/oder in Kontexten
wird man sich im Einzelfall streiten können, was aller Art. Meta-Texte – als begrifflich klare (oder
diesseits und jenseits dieser Grenze liegt, die eine doch ›klarere‹) Selbstreflexionen des eigenen Schrei-
graduelle und daher fließende ist). Und wo Werk- bens – liegen bei Kafka nur bedingt vor. Natürlich
deutung unmöglich ist – und das gilt oft für weite gibt es Selbstthematisierungen von Kunst und Künst-
Text-Strecken der Notizhefte – bleibt eben wenig lertum im fiktionalen Werk (ä 4.6), natürlich gibt es
mehr als Motivanalyse oder das Nachverfolgen des ausgedehnte Selbstreflexionen in Tagebüchern, No-
Schreibprozesses (das freilich ein noch viel spekula- tizheften und Briefen, und es gibt sogar Texte, die
tiveres Geschäft ist als jede Textinterpretation). man im weiteren Sinne ›theoretische‹ (ä 3.1.6) oder
In unserem Kontext sind jedoch vor allem die ›weltanschauliche‹ (ä 3.3.1) nennen könnte. Aber all
›Beinahe‹-Werke von Interesse – also beispielsweise das ist weit entfernt von programmatischen Äuße-
die Romane. Es ist klar, dass die Nicht-Vollendung rungen, wie sie etwa ein Autor wie Schiller verfasst
vieler Kafka-Texte deren Verständnis erheblich er- hat, zudem in der Schreibart von den literarischen
schwert. So wäre etwa die Deutung des »Teaters von Texten allenfalls graduell geschieden, also oft ebenso
Oklahama« und seiner Funktion im Roman (ä 188 f.) interpretationsbedürftig.
viel einfacher, wenn der Verschollene zu Ende ge- Literatur- und bewusstseinsgeschichtliche Kon-
schrieben worden wäre. Allerdings muss man auch texte – die historisch orientierte Interpreten gerne
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 419

nutzen, um ihre Deutung zeitgeschichtlich zu ›ei- stehen von literarischen Texten durch die lebens-
chen‹ – gäbe es natürlich durchaus. Allerdings hat weltlich viel vertrautere Operation des Verstehens
die Kafka-Forschung diese meist nur widerwillig von Menschen und er schafft eine gemeinsame
und sehr selektiv einbezogen, da sie seit jeher eine Grundlage zwischen Autor und Leser – nämlich das
ausgesprochene Solitär-Forschung ist und für ihren ›Menschsein‹ in einem ebenso umfassenden wie va-
Autor ständig Sonderregeln und einen Sonderstatus gen Sinne.
zu reklamieren sucht. (b) Außerdem ist der biographische Zugang ein
Das heißt natürlich nicht, dass Leser wie Forscher Weg, den zu gehen Kafka in seinen Selbstdeutungen
die (begrenzte) Hilfestellung, die Selbstdeutungen durchaus nahegelegt hat. Man denke etwa an den
und Kontexte (im weitesten Sinne) geben können, vielzitierten Satz aus dem <Brief an den Vater >:
überhaupt nicht genutzt hätten. Eher trifft das Ge- »Mein Schreiben handelte von Dir [also dem Vater],
genteil zu. Ein so schwer erschließbares Werk wie ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht
das Kafkas induziert geradezu die Suche nach dem klagen konnte« (NSF II, 192). Oder man denke an
Schlüssel, der als Passepartout alle Einzeltexte er- die zahlreichen Namensmystifikationen, die eine
schließen würde. Das aber ist gerade das Problem: Gleichsetzung von Held und Autor insinuieren: So
Denn die Schulen der Kafka-Forschung unterschei- notiert sich Kafka etwa eigens, dass der Name der
den sich gerade durch die Wahl des einen Schlüssels Hauptfigur des Urteil, Georg, »soviel Buchstaben wie
– der dann alles erschließen soll. Franz« hat (11.2.1913; T 492), nennt seine Helden
Bevor diese Zugangsweisen im Einzelnen vorge- »K.« oder spielt häufig mit der tschechischen Bedeu-
stellt werden, sei jedoch zusammenfassend darauf tung des Wortes ›kavka‹ = Dohle (vgl. z. B. die <Jä-
insistiert, dass die besondere Deutungsschwierigkeit ger-Gracchus>-Fragmente; ä 273–276).
Kafkascher Texte keine Singularität darstellt. Die Der existenzielle Bezug von Kafkas Schreiben ist
Kombination der beschriebenen Faktoren ist sicher in der Tat so stark, dass eine biographische Deutung
autorspezifisch, für sich genommen handelt es sich fast immer möglich ist – und fast immer zu durchaus
aber um Probleme, die in literarischen Texten im einleuchtenden und nachvollziehbaren Ergebnissen
Allgemeinen und in Texten der modernen Literatur führt. So steht etwa das Urteil natürlich in einem ein-
im Besonderen nicht ungewöhnlich sind. Und auch sehbaren Bezug zur biographischen Situation des
die Diskussion über Schwierigkeitsgrade taugt bes- Autors, für den durch die Begegnung mit Felice
tenfalls für Gesellschaftsspiele von Literaturfreun- Bauer eine Heirat zur sehr konkreten Zukunftsper-
den oder Literaturwissenschaftlern. Die Kafka-For- spektive geworden war. Auch die offensichtlichen
schung wäre so gut beraten, in ihrem Autor nicht Differenzen zur eigenen Lebenssituation – weder hat
immer gleich einen inkommensurablen Solitär zu Kafka je das elterliche Geschäft übernommen und
sehen. Schwierige Autoren/Texte gibt es viele – und seinen Vater dort an den Rand gedrängt, noch hat er
standpunktbezogen (deswegen aber nicht einfach sich, bekanntermaßen, umgebracht – sprechen nicht
beliebig) bleiben Interpretationen immer. Kein gegen eine biographische Deutung. Es könnte ja ein
Grund also für Globaldefätismus à la »Die Raffinesse ›literarisches Probehandeln‹ vorliegen, in dem der
von Kafkas Texten besteht darin, alle möglichen In- Autor im Medium der Literatur Handlungsoptionen
terpretationen von vorneherein zum Scheitern zu durchspielt: Was wäre, wenn ich, durch Familien-
verurteilen« (Zeller, 576). gründung, selbst zum Vater werden würde?
Bekannte Vertreter solch biographischer Werk-
deutungen sind etwa der Kafka-Forscher Hartmut
Leseparadigmen/Forschungs- Binder (siehe Gesamtbibliographie) oder auch schon
paradigmen der Schriftsteller Elias Canetti, der den Process als li-
terarische Gestaltung der Beziehung zwischen Kafka
(1) Biographische Interpretationen und Felice Bauer gelesen hat (ä 198). Die meisten Li-
teraturwissenschaftler misstrauen allerdings einem
Unter allen Werkzugängen ist der biographische der solchen biographischen Zugang. Und sie haben da-
naheliegendste, und zwar vor allem aus zwei Grün- für auch gute Argumente.
den: (a) Das erste, vor allem in der neueren Forschung
(a) Beim Leser gilt der Weg über den Autor tradi- stark betonte, Gegenargument ist allerdings zugleich
tionell als Königsweg zum Werk – er ersetzt das Ver- auch das schwächste: Zu Recht verweist man darauf,
420 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

dass uns das angebliche biographische Substrat des Dass Kafka (wie viele andere Autoren der Mo-
Kafkaschen Werkes weitestgehend nur über die derne) bei diesen zunehmend abstrakten Modell-
Selbstdeutung durch den Autor zugänglich ist und konstellationen (fast) immer von seiner persönli-
dass sich diese an den Fakten nur bedingt verifizie- chen Erfahrung ausgehen kann, erklärt sich daraus,
ren lässt; Standardbeispiel hierfür ist Kafkas offen- dass er sich selbst als Repräsentant seiner Zeit deu-
sichtlich überzogen negatives Vaterbild. Pointiert tet: So spricht er einmal vom »Negativen meiner
ließe sich daher sagen: »Nicht das Leben erklärt die Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämp-
Literatur, sondern bestenfalls umgekehrt die Litera- fen, sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht
tur das Leben« (Jahraus 2006, 170). Das allerdings habe« (25.2.1917; NSF II, 98).
trifft nur die biographischen Deutungen des Werkes, Trotz all dieser berechtigten Einwände ist die bio-
die, streng positivistisch, tatsächlich das Werk aus graphische Interpretation von Kafkas Texten jedoch
dem Leben erklären wollten. Denn ansonsten ist es ja nicht ohne Erkenntniswert. Für eine hermeneutisch-
selbstverständlich, dass biographisch geprägte Lite- historische Deutung kann sie oft durchaus die Funk-
ratur nur auf der Selbstdeutung der Biographie tion einer Orientierungshilfe haben: Wie ein Weg-
durch den Autor beruhen kann – ob diese ›objektiv‹ weiser gibt sie eine Deutungsrichtung vor, die man
richtig ist oder nicht, wäre allenfalls von psychologi- nur verallgemeinern muss, um zu einer akzeptablen
schem Interesse. Interpretation zu kommen.
(b) Weit gewichtiger ist der Vorwurf des Banausi-
schen, da ein biographischer Zugang die Literarizität (2) Psychoanalytische Interpretationen
des Werkes notgedrungen ignoriert. So können etwa
die oben beschriebenen Verständnisschwierigkeiten Diese sind nichts anderes als eine Fortsetzung der
Kafkascher Texte biographisch durchaus erklärt wer- biographischen Deutung mit anderen Mitteln, also
den: etwa als Ausdruck einer schizoiden Persönlich- nicht mit Hilfe der Alltagspsychologie, sondern mit
keitsstruktur, die sich nicht vollständig preisgeben der des Systems einer psychoanalytischen Schule,
will und/oder als Insistieren auf der Inkommensura- zumeist dem Freuds (selten auch mit dem Jungs oder
bilität der eigenen Individualität. Damit sind sie aber Lacans).
auch weg-erklärt. Dass der literarische Diskurs ein Auch Freudianischen Interpretationen hat Kafka
Diskurs sui generis ist, also anders als jede nicht-lite- selbst Vorschub geleistet, wenn auch diesmal mit nur
rarische Selbst-Reflexion, kommt so gar nicht erst in einer einzigen und durchaus interpretationsbedürf-
den Blick; Kafkas Werk wird zum human-interest- tigen Notiz. In seinen Tagebuchreflexionen zum Ur-
Fall, zu einer etwas verquer geschriebenen Auto-Bio- teil schreibt er auch: »Gedanken an Freud natürlich«
graphie. Das ist besonders problematisch bei einem (13.9.1912; T 461). Allerdings stehen dieser einen
Autor, der sein ganzes Schreiben – als eigenständiges Stelle zahlreiche spätere kritische Äußerungen zu
Parallelprojekt zur ›écriture automatique‹ der Surrea- Psychologie und Psychoanalyse gegenüber (vgl. etwa
listen – so angelegt hatte, dass das Werk mehr ›wis- NSF II, 32, 81 u. An M. Brod, Dez. 1922; Briefe 424).
sen‹ sollte als die empirische Person seines Verfassers. Außerdem tritt der – bei Freudianern zur Anwen-
(c) Was ebenso verlorengeht, ist die reflexive Ver- dung des Deutungspassepartouts ›Ödipuskomplex‹
allgemeinerung des biographischen Substrats, die essentielle – Vater/Sohn-Konflikt in der Werkent-
bei Kafka besonders ausgeprägt ist. Kafka erzählt ja wicklung schnell in den Hintergrund: Im Urteil, der
eben keine individuellen Lebensgeschichten, son- Verwandlung und dem Verschollenen ist er zweifellos
dern entwirft modellhaft verallgemeinerte Konstel- zentral, doch schon Josef K. im Process ist ein ›vater-
lationen. Selbst im frühen Werk, wo wir es unzwei- loser‹ Held, und in den danach geschriebenen Tex-
felhaft mit sehr autornahen literarischen Personae ten, also etwa ab 1914/15, spielen Vaterfiguren ent-
zu tun haben, sind diese typenhaft verallgemeinert. weder kaum mehr eine Rolle oder erscheinen, wie
Das Urteil, mit dem das mittlere Werk einsetzt, ent- im späten Fragment Das Ehepaar, sogar in einem
wirft eine geradezu archetypisch generalisierte Va- ungewohnt positiven Licht; der <Brief an den Vater >
ter-Sohn-Konstellation als Urszene für Machtstre- von 1919 bildet hier die einzige, wenn auch gewich-
ben und Machtstrukturen. Und die wichtigste Ent- tige Ausnahme.
wicklungslinie des gesamten weiteren Werkes ist die Alle Einwände, die man gegen biographische Deu-
einer ständigen Steigerung dieser Verallgemeine- tungen erheben könnte, gelten bei psychoanalyti-
rungstendenzen. schen in noch verschärftem Maße: die tautologische
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 421

Doppelung von Selbstdeutungen des Autors, die Ig- bedrohenden oder gar vernichtenden anonymen
norierung der Literarizität der Texte und der Mo- Macht. Letztere kann dann beispielsweise gedeutet
dellkonstruktionen der Texte mit ihrer verallgemei- werden als ›Kapitalismus‹ (der natürlich ›Entfrem-
nernden Reflexionsebene (ä 70 f.). Hinzu kommt dung‹ produziert), als ›verwaltete Welt‹, oder als (auf
aber noch, dass psychoanalytische Interpretationen mysteriöse Weise prophetisch vorweggenommene)
den strikten Glauben an die zeitübergreifende Wahr- totalitäre Machtapparate.
heit von Freuds Theoremen voraussetzen. Wie die Die sozialgeschichtliche Kafka-Interpretation do-
meisten Autoren der Moderne kannte natürlich auch minierte in den 70er Jahren. Sie überlebt aber noch
Kafka Freuds Schriften (ä 65 f.) – was aber nicht au- heute – nicht nur im verallgemeinerten Deutungs-
tomatisch heißt, dass seine Psychologie bzw. An- klischee, sondern auch in der Variante des Poststruk-
thropologie mit der Freuds einfach identisch wären. turalismus, die sich auf Michel Foucault beruft:
Eher wäre Kafkas implizite Figurenpsychologie als – Dann geht es eben um die ominöse ›Macht‹, die alle
sehr eigenständiges – Parallelprojekt zur Freudschen Diskurse regiert und sich in Körper ›einschreibt‹
Psychoanalyse zu begreifen. (wie etwa in der Strafkolonie).
Seit Hellmuth Kaisers wohl erster Freudianischer Sozialgeschichtliche Deutungen laborieren an
Deutung eines Kafka-Textes (Kaiser 1931) ist die zwei einigermaßen offensichtlichen Problemen:
psychoanalytische Interpretationsschule eine Kon- (a) Sie behandeln Texte, die in zunehmendem Maße
stante in der Kafka-Forschung; in der gemeinplatz- dezidiert anti-realistisch geschrieben sind: Während
haften Verallgemeinerung, mit der Freuds Theoreme in den ersten Jahren des mittleren Werkes – etwa im
(wie der Ödipuskomplex) ins allgemeine Bewusst- Urteil, der Verwandlung, dem Verschollenen, dem
sein eingedrungen sind, ist sie sogar fast omni- Process, vielleicht ja auch noch in der Strafkolonie –
präsent. Nicht-Gläubige werden an ihr vor allem an- gesellschaftliche Strukturen der modernen Lebens-
erkennen, dass sie der Dominanz psychischer über welt durchaus noch erkennbar sind, treten diese in
Sozial-Strukturen Rechnung trägt, also Kafkas oniri- späteren Texten stark zurück oder sind – wie die Bü-
schem Erzählmodell entspricht. rokratie im Schloss – in vormoderne Lebenswelten
hineingespiegelt. Man müsste Kafkas Texte also als
(3) Sozialgeschichtliche Interpretationen nicht-realistische Widerspiegelungen lesen, die die
dargestellte Wirklichkeit (etwa mit satirisch-über-
Sozialgeschichtliche Deutungen sind in der Litera- treibender Intention) stark verfremden. (b) In Kaf-
turwissenschaft heute einigermaßen aus der Mode kas fiktionalen Welten dominiert – durch personales
gekommen. Aber in der Breitenrezeption Kafkas Erzählen und das onirische Erzählmodell – die In-
erfreuen sie sich äußerster Beliebtheit – man kann nen- über die Außenwelt. Das legt zumindest nahe,
sogar sagen, dass sie heute das allgemeine Kafka- dass auch in seiner Weltdeutung (im weitesten
Bild dominant prägen. Indizien dafür lassen sich Sinne) psychologische oder anthropologische Struk-
leicht finden: Man denke an neuere Kafka-Verfil- turen die gesellschaftlichen bestimmen – und nicht
mungen – etwa The Trial von David Hughes Jones umgekehrt.
(1993) oder Kafka von Steven Soderbergh (1991), Wie die biographischen so haben auch die sozial-
wo sich biographische und sozialgeschichtliche geschichtlichen Deutungen durchaus eine Basis in
Deutung verbinden –, an unsere alltagssprachliche den Texten. In vielen Werken Kafkas werden offen-
Verwendung des Wortes ›kafkaesk‹ oder an eine sichtlich Machtstrukturen in Gesellschaft wie Fa-
aktuelle amerikanische Publikation von Steven T. milie kritisch dargestellt. Problematisch bleibt al-
Wax, die unter dem Titel Kafka Comes to America. lerdings, ob Kafka dabei auch das ›linke‹ Deutungs-
Fighting for Justice in the War on Terror (2008) An- modell sozialgeschichtlicher Interpreten zugrunde
titerror-Maßnahmen der Bush-Administration kri- gelegt hat, nach dem Deformationen im sozialen
tisiert. Handeln die Folge deformierter sozialer Strukturen
Sozialgeschichtliche Interpretationen suchen in sind, die den an sich ›guten‹ Menschen ›böse‹ wer-
Texten nach (mehr oder minder direkten) ›Wider- den lassen. Nietzsche etwa – der Kafka und ande-
spiegelungen‹ von gesellschaftlichen Problemen und ren modernen Autoren historisch ja viel näher war
Strukturen. Im Falle Kafkas konzentrieren sie sich – hatte den Machtwillen ganz anders, nämlich an-
meist auf die Konstellation zwischen dem Helden als thropologisch oder geradezu ontologisch begrün-
(angeblich) unschuldigem Opfer und einer ihn det.
422 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

(4) Poststrukturalistische/ sich auf die große Bedeutung des Schreibprozesses


dekonstruktivistische Interpretationen bei Kafka, auf die (allerdings differenzierter zu beur-
teilenden) auto-reflexiven Passagen und auf den Re-
Seit fast 30 Jahren ist die dekonstruktivistische flexionsprozess in gleitenden Paradoxa.
Denkschule, die sich vor allem auf Jacques Derrida
(1930–2004) beruft, die meinungsprägende Strö- (5) Religiöse/existenzialistische
mung in der Kafka-Forschung – und wiederum gilt,
Interpretationen
dass viele ihrer Interpretationsergebnisse in etwas
abgeschwächter Form heute auch bei Nicht-Dekons- Dass diese an vorletzter Stelle genannt werden, zeigt,
truktivisten mit Selbstverständlichkeit auftauchen. dass die vorliegende Typologie nicht chronologisch
Dekonstruktivistische Kafka-Deutungen heben geordnet ist. Denn diese Schule ist eigentlich die äl-
vor allem auf die oben beschriebene (und problema- teste der Kafka-Forschung, da sie vor allem durch
tisierte) Autoreflexivität des Werkes als Selbstthema- Max Brod angeregt wurde und bis ans Ende der
tisierung seiner Undeutbarkeit ab und auf das Auflö- 1950er Jahre dominant war. Heute allerdings ist sie
sen des Werk-Konzeptes im Schreibprozess. Darin gründlich aus der Mode gekommen.
sind sie genauso stereotyp wie psychoanalytische Max Brod, der in Kafka einen »Erneuerer der alt-
Deutungen, die in allen Texten den immer gleichen jüdischen Religiosität« (Brod 1974, 279) sehen
Ödipuskomplex finden. Mit einiger Ingeniosität wollte, hatte bereits in seinem Nachwort zur Erstaus-
werden dann Textelemente, die auf den ersten (und gabe des Schloss-Romans in den rätselhaften Instan-
zweiten) Blick mit Schreiben nichts zu tun haben, zu zen ›Gericht‹ und ›Schloss‹ »die beiden Erschei-
allegorischen Zeichen des Schreibvorganges umge- nungsformen der Gottheit (im Sinne der Kabbala) –
deutet. Zwei Beispiele (auf deren Belegung verzichtet Gericht und Gnade – dargestellt« sehen wollen (Brod
sei, da es nicht um Kritik an Einzeldeutungen geht) 1973 [1926], 41). Kafka-Forscher wie Tauber (1941)
mögen zur Illustration genügen: (a) Karl Roßmann und Weinberg (1963) haben solch religiöse Allego-
im Verschollenen schätzt das Klavierspiel (V 59–61); resen, auch ohne jüdische Spezifikation, noch weiter
Klaviere haben Tasten, Schreibmaschinen auch; also getrieben und darin zahlreiche Nachfolger gefun-
handelt es sich um eine Selbstthematisierung des den. Und genau diese vereindeutigenden, alle Ver-
Schreibvorganges. (b) In Kafkas Darstellung wird die ständnisprobleme der Texte gnadenlos nivellieren-
chinesische Mauer auf sehr eigentümliche Weise er- den (zudem an den Texten oft kaum nachvollziehba-
richtet: Arbeiter stellen immer ein 1 km langes Stück ren) Allegoresen haben die religiöse Kafka-Deutung
fertig und setzen den Bau dann an ganz anderer in gründlichen Misskredit gebracht. Zudem ent-
Stelle fort. Dieses »System des Teilbaues« (NSF I, sprach sie seit den späten 60er Jahren einfach nicht
337) ist deswegen eine Selbstthematisierung des mehr dem Zeitgeist.
Schreibvorganges, weil Kafka bei der Arbeit am Pro- Ähnliches gilt für die existenzialistischen Inter-
cess – der allerdings rund zwei Jahre vor dem Erzähl- pretationen, die sich in den 1950er und 1960er Jah-
fragment Beim Bau der chinesischen Mauer (März ren als sozusagen ›modernes‹ Pendant zu den reli-
1919) entstand –, wahrscheinlich gleichzeitig an giösen Interpretationen etablierten. Die großen,
mehreren Kapiteln arbeitete. nachhaltig rezeptionsprägenden Monographien von
Anhänger des gesunden Menschenverstandes mö- Sokel (1964) und Emrich (1957) waren stark (wenn
gen solchen Allegoresen mit einigem Skeptizismus auch nicht ausschließlich) existenzialistisch geprägt.
gegenüberstehen und sie für eine petitio principii An Stelle direkter religiöser Deutungen traten hier
halten, da ihre einzig plausible Begründung in der die Kritik einer ›uneigentlichen‹ Existenzweise (wie
These besteht, dass alle Texte Kafkas den Schreibvor- sie viele Kafka-Helden, man denke etwa an Georg
gang thematisieren (eine These, hinter der man eine Bendemann und Josef K., ja tatsächlich leben) und
›déformation professionnelle‹ von Literaturwissen- das Ernstnehmen von Kafkas (in der Tat unüberseh-
schaftlern vermuten darf, da solche Texte dann für barem) ethischem Rigorismus.
den normalen Kafka-Leser ohne jedes Interesse wä- Beide Schulen sind längst Geschichte geworden,
ren). bedürfen also keiner ausführlichen Kritik. Als einer
Wiederum haben dekonstruktivistische Kafka-In- ihrer ersten Gegner trat Klaus Wagenbach auf. Schon
terpretationen aber ihre, wenn auch wiederum be- in seiner Biographie des jungen Kafka (1958) und
grenzte, Basis in den Texten: Zu Recht berufen sie seinem noch einflussreicheren romono-Bändchen
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 423

zu Kafka (1964) hatte er ein realistisch ›geerdetes‹ Seite) gab es durchaus (vgl. z. B. An Milena, Mitte
Bild des Autors zu zeichnen versucht und allen me- Nov. 1920; BM 288); besonders häufig oder prägend
taphysischen Deutungen widersprochen. waren sie allerdings nicht.
Nun sind die Schwächen dieser Deutungen in der (b) Jüdisches Wissen: Seit seinem Kontakt mit der
Tat unübersehbar. Ihre Kritik hat jedoch dazu ge- ostjüdischen Theatergruppe Jizchak Löwys 1911/12
führt, dass heute religiöse wie ethische Aspekte in hat Kafka sich verstärkt mit jüdischer Kultur, Litera-
Kafkas Werk schandbar vernachlässigt werden: Die tur und Religion beschäftigt – seine Bibliothek ent-
einst (und noch unter dem Herausgebertitel <Be- hält eine große Menge einschlägiger Literatur –, seit
trachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wah- dem Spätherbst 1914 hat er auch Hebräisch gelernt
ren Weg >) als weltanschaulicher Schlüssel zum Werk (ä 2.3). Im Einzelnen lässt sich allerdings nur schwer
sicher überbewerteten Zürauer Aphorismen werden entscheiden, wie vertieft diese Kenntnisse waren,
in neueren Deutungen geradezu systematisch igno- was Kafka also z. B. im Einzelnen über die Kabbala,
riert (ä 286 f.). Entsprechendes gilt für die Stellen des den Chassidismus oder spezifisch jüdische Erzähl-
Werkes, wo religiöse Bezüge einfach unübersehbar verfahren wusste.
sind: Es kann ja, beispielsweise, schlecht ein bloßer (c) ›Westjüdische‹ Selbstdeutung: In einem Brief
Zufall sein, dass eines der wichtigsten Kapitel des vom November 1920 an Milena bezeichnet sich
Process ausgerechnet im Dom spielt. Kafka einmal als »westjüdischsten« der »Westjuden«
(BM 294), also als extremen Gegenpol zur ostjüdi-
(6) Jüdische Interpretationen schen, noch selbstverständlich in jüdische Glaubens-
traditionen, Rituale und symbolische Ordnungen
Auch hier ist Max Brod als ›Diskursurheber‹ zu nen- eingebundenen Lebensweise. Dies ist seine Variante
nen, allerdings nur in eingeschränktem Maße, da der Modernisierungskritik (ä 499–502), die ja auch
seine jüdische Kafka-Deutung in ihrer Breitenwir- bei anderen Autoren der ›klassischen Moderne‹ zu
kung eher als allgemein religiöse rezipiert wurde – den zentralen Themen gehört.
was Brod schon früh dazu brachte, mit einigem All dies zeigt deutlich, dass die Auseinanderset-
Recht gegen die »Verchristlichungs-Maschinerie« zung mit dem Judentum für Kafka und sein Selbst-
der Kafka-Forschung zu polemisieren (Brod 1974 verständnis in der Tat von größter Bedeutung war.
[1948], 265). Die anderen gewichtigen und wesent- Das zentrale Problem einer jüdischen Kafka-Inter-
lich differenzierteren Beiträge zu einer jüdischen pretation liegt jedoch darin, dass diese Auseinander-
Kafka-Deutung von Walter Benjamin und dessen setzung sich auf der Textoberfläche kaum niederge-
Briefwechsel mit Gershom Scholem fanden erst spät schlagen hat. Dass in einem Erzählfragment einmal
breite Beachtung. von einer »Synagoge« die Rede ist (NSF II, 405–411),
So setzt eine jüdische Kafka-Deutung mit Breiten- bleibt eine seltene Ausnahme. Religiöses wird statt-
wirkung nicht vor den späten 70er und den 80er Jah- dessen oft christlich chiffriert – so stellt sich etwa im
ren ein. Sie hat vor allem drei Schwerpunkte (die na- Dom-Kapitel des Process heraus, dass Josef K. Christ
türlich auch miteinander verbunden werden kön- ist (er bekreuzigt sich; P 284) –, und für die Sünden-
nen): fall-Reflexionen der Zürauer Aphorismen hat Kafka
(a) Jüdisches Leben: Wie der <Brief an den Vater > im Alten Testament nachgelesen (ä 290). Textzei-
anschaulich schildert (vgl. bes. NSF II, 185–192), chen, die auf Jüdisches hindeuten könnten, sind da-
wuchs Kafka in einer weitgehend säkularisierten Fa- gegen unsicher – etwa das gehäufte Auftreten bärti-
milie auf, so dass man kaum von einer jüdischen So- ger Männer im Process (vgl. bes. das Kapitel Erste
zialisation sprechen kann. Diese erfolgte, bei Kafka Untersuchung). Auch die Einbeziehung des Paratex-
wie bei seinen Freunden und Generationsgenossen, tes vermehrt die Menge eindeutiger Hinweise nur
erst über die kritische Auseinandersetzung mit der geringfügig – so erscheinen etwa Schakale und Ara-
Elterngeneration, die zu einer Rückbesinnung auf ber und Ein Bericht für eine Akademie 1917 in Bu-
die jüdischen Wurzeln führte. Kafkas Verhältnis bers Monatsschrift Der Jude.
zum Zionismus – dem sich viele seiner Freunde, be- Dass trotz dieser Probleme Kafka-Texte produktiv
sonders natürlich Max Brod, angeschlossen hatten – auf ihren jüdischen Hintergrund befragt werden
blieb allerdings ambivalent, obwohl er immer wieder können, hat Ritchie Robertson in seiner differenziert
über eine Auswanderung nach Palästina nachdachte. argumentierenden Kafka-Monographie eindrucks-
Antisemitismus-Erfahrungen (von tschechischer voll bewiesen (Robertson 1985). Andere Interpreten
424 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

sind weniger zurückhaltend gewesen. So hat (neben Verfahren der Diskursanalyse, des New Historicism
vielen anderen) Karl Erich Grözinger allenthalben in und des Postkolonialismus verwendet oder auch
Kafkas Werk jüdische Sub- und Prätexte nachzuwei- vermischt werden) – so etwa in den Studien von An-
sen versucht (Grözinger 1992) – mit der begrenzten derson (1992), Zilcosky (2003) und Bernd Neumann
Evidenz, die solche Quellen- und Intertextualitäts- (2007).
nachweise nur allzu oft haben. Noch bedenklicher
sind die allegorischen Interpretationen, die in Kafka- Die Beschreibung literaturwissenschaftlicher Arbeit
Texten überall die Geschichte des jüdischen Volkes nach Schulen, wie sie hier kursorisch versucht
oder – die zunehmend dominante Tendenz – die As- wurde, zeichnet immer ein schiefes Bild, da der
similationsproblematik gestaltet finden wollen. Ein schnelle Wechsel der Schulen/Methoden nur einen
peinlicher Nebeneffekt besteht dann oft darin, dass Oberflächenbereich der Literaturwissenschaft cha-
die in den Text hineininterpretierte jüdische Bedeu- rakterisiert – man könnte ihn die ›Theorieavant-
tung im zweiten Schritt dazu führt, dem Autor anti- garde‹ nennen. Sehr viel konstanter ist der ›Main-
semitisches Gedankengut zu unterstellen – hat er stream‹ literaturwissenschaftlicher Interpretations-
dann doch die Juden als »Schakale« (Schakale und praxis, der die Verfahren und Theoreme der
Araber), Hunde (<Forschungen eines Hundes>) oder Theorieavantgarde (in deutlich abgeschwächter,
Mäuse (Josefine, die Sängerin) dargestellt. Bei Sander ›verwässerter‹ Form) in buntem Eklektizismus im-
Gilman laboriert Kafka gar am Vollbild von Sympto- mer wieder neu assimiliert. Wie dies funktioniert,
men des ›jüdischen Selbsthasses‹ als verinnerlichtem lässt sich an den neueren Kafka-Monographien von
Antisemitismus (Gilman 1995). Alt (2005) und Jahraus (2006) gut demonstrieren:
In diesen Extrempositionen zeigt die jüdische Alt deutet biographisch (»Der ewige Sohn«), psy-
Kafka-Deutung die gleichen Schwächen wie alle ein- choanalytisch und sozialgeschichtlich, Jahraus sozi-
seitigen Interpretationen: Damit der Universal- algeschichtlich, psychoanalytisch und (das vor allem
schlüssel passen kann, muss eben das Schloss zu- und dominant) dekonstruktivistisch. Solche ›Misch-
rechtgefeilt werden. Das große Verdienst der jüdi- formen‹ treten wesentlich häufiger auf als lupenreine
schen Kafka-Interpretation liegt aber auf jeden Fall Ausprägungen der Schulen.
darin, dass sie – und heute fast sie allein – die Religi-
ons- und Säkularisationsthematik in Kafkas Texten
ernst nimmt. Die Textoberfläche und ihre Codes
Drei andere Schulen seien nur noch kurz und sum- Gemeinsam ist den meisten der beschriebenen Deu-
marisch charakterisiert: (7) Im Widerspruch vor tungsansätzen, dass sie den Sub- oder Metatext, das
allem gegen die religiöse/existenzialistische Kafka- ›Eigentliche‹ ›hinter‹ oder ›unter‹ der ›uneigentli-
Interpretation versuchten in den 50er und 60er Jah- chen‹ Textoberfläche nicht wirklich suchen, sondern
ren einige Vertreter der werkimmanenten Interpreta- bereits gefunden haben. Vor jeder Interpretation
tion, sich der Deutung weitgehend zu enthalten und wissen sie, worauf der Text hinausläuft, hinauslaufen
stattdessen formale Eigenheiten von Kafkas Schrei- muss – und der Interpretationsakt besteht haupt-
ben zu untersuchen. Dem verdanken wir wichtige sächlich darin, einen (mehr oder weniger) plausib-
Einsichten, etwa in Kafkas personale Erzählweise len Bezug zwischen der Textoberfläche und dieser
(von Friedrich Beißner wenig zutreffend als ›einsin- ›Bedeutung‹ herzustellen. Problematisch ist, dass der
niges Erzählen‹ bezeichnet; Beißner 152), die in der jeweils gewählte Schlüssel alle Kafka-Texte gleicher-
jüngeren Kafka-Forschung allzu sehr in Vergessen- maßen erschließen soll – und diese Problematik ver-
heit zu geraten drohen. Zudem sind heute formana- schärft sich umso mehr, je spezifischer der Deu-
lytische Untersuchungen mehr als spärlich gesät, ob- tungsansatz ist. Jüdische Interpretationen etwa wer-
wohl sie ein dringliches Desiderat der Kafka-For- den dann besonders problematisch, wenn sie immer
schung wären. (8) Die Gender-Forschung ist weniger nur die Assimilationsproblematik wiederfinden wol-
eine ›Methode‹ als vielmehr eine thematische Frage- len. Psychoanalytische und dekonstruktivistische
stellung, die Geschlechterbilder in Kafkas Werk un- Deutungen sind schon von Haus aus extrem starr in
tersucht (vgl. z. B. Boa 1996). (9) Neuerdings gibt es ihren Interpretamenten: Da muss es (zumindest bei
verstärkt Arbeiten, die man im weitesten Sinne als Freudianern) unbedingt der Ödipuskomplex sein
kulturwissenschaftlich bezeichnen könnte (wobei oft bzw. die Selbstthematisierung von Undeutbarkeit
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 425

der Texte (und die gleichen Ergebnisse würden auch Code ist im Urteil kaum ausgestaltet; man könnte
dann gefunden werden, wenn es sich um die Werke nur auf die unterschiedlichen Deutungen von
irgendeines anderen Autoren handelte). ›Freund‹ und ›Braut‹ verweisen, die aber zwischen
Das alles ist, wie gesagt, eher zu konstatieren als zu Vater und Sohn nicht eigentlich verhandelt, sondern
beklagen; es ist Teil des Prozesses, in dem die Litera- nur als Mittel im Machtkampf genutzt werden.
turwissenschaft an der Bewusstseinsgeschichte par- (5) Poetologischer/metareflexiver Code (Dekon-
tizipiert und sich ihre Texte unter den jeweils aktuel- struktivisten): Hierzu gehören alle Selbstthematisie-
len geistigen Prämissen immer wieder neu aneignet. rungen von Schreiben und Literatur oder Kunst
Die (gleichberechtigte und komplementäre) Alter- überhaupt. Wiederum gibt es im Urteil dafür allen-
native zu solch aktualisierenden Interpretationen ist falls einen sehr schwachen Beleg: den Brief, den Ge-
eine historisch-hermeneutische Literaturwissen- org zu Beginn der Erzählung schreibt, wobei aller-
schaft, die sich gerade um das bemüht, was an der dings der Schreibakt als Schreibakt (und nicht nur
Vergangenheit ›anders‹ ist als in den aktuellen Denk- als allgemeiner Kommunikationsakt) weder thema-
figuren des heutigen Zeitgeistes. Nur für ihre An- tisiert noch problematisiert wird.
hänger (und für Vertreter einer um argumentative (6) Jüdischer Code (als Bezugspunkt für jüdische
Transparenz und intersubjektive Geltung bemühten Kafka-Interpretationen): Dies wären alle Themati-
›analytischen Literaturwissenschaft‹) sind die fol- sierungen von jüdischem Leben und jüdischem Wis-
genden Überlegungen von Interesse. sen. In den Selbstdeutungen zum Urteil findet sich
Es wurde gezeigt, dass alle Interpretationsschulen zwar (unter anderem) auch ein Verweis auf Max
durchaus an Aspekte anknüpfen, die in Kafkas Tex- Brods Roman Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden
ten nachweisbar eine Rolle spielen. Diese Textele- (T 461), der einige Motivparallelen zu Kafkas Text
mente ließen sich, einzeltextübergreifend, sechs aufweist (vgl. Robertson 1988, 44–50). Anders als
Codes zuordnen, die im Folgenden am Beispiel des Brods Held ist aber Georg Bendemann eben nicht
Urteil kurz erläutert werden sollen. explizit als Jude charakterisiert; dass sein Freund ei-
(1) Biographischer/individualpsychologischer Code nen »fremdartigen Vollbart« hat (DzL 43), wird man
(an seine Elemente knüpfen biographische wie psy- kaum als eindeutiges Codesignal bewerten können.
choanalytische Deutungen an): Hierzu gehören alle Kafka-Deutungen verlaufen meist so, dass die In-
Elemente der Individualpsychologie, der Charakter- terpreten einen dieser Codes von vorneherein zum
entwicklung und der zwischenmenschlichen Inter- Supercode erklären − und zwar unabhängig von ei-
aktion – im Urteil also vor allem die Vater-Sohn-Be- ner nachweisbaren oder gar dominanten Verwen-
ziehung, die familialen Relationen und die Bezie- dung des Codes an der Textoberfläche. Zeichen aus
hung zur Braut, ganz allgemein also Liebes-, den anderen Codes werden entweder ignoriert oder
Trieb- und Machtaspekte. als ›uneigentliche‹ Verweise gelesen. So wäre etwa
(2) Gesellschaftlicher Code (sozialgeschichtliche für einen psychoanalytischen Interpreten der Ausruf
Interpretationen): Dies sind sozial codierte Relatio- »Jesus« nur ein weiterer Verweis auf den ödipalen
nen im weitesten Sinne und die sie regelnden Grundkonflikt.
Rechts-, Wirtschafts-, Verwaltungs-, Regierungs- Das hier vorgeschlagene Alternativmodell würde
und Gemeinschaftsordnungen – im Urteil also vor demgegenüber die Textoberfläche und damit die
allem die Geschäftswelt und die Regeln der familia- sich auf ihr manifestierenden Codes und ihre Hier-
len Ordnung, soweit sie sozial geprägt sind. archien ernst nehmen. Im Urteil etwa dominiert
(3) Religiöser Code (religiöse, existenzialistische, ganz eindeutig der individualpsychologische Code:
teilweise auch jüdische Interpretationen): alle ein- Es geht um eine Vater-Sohn-Geschichte. Ihm beige-
deutigen Religionsbezüge, allgemeiner auch Ver- ordnet ist der soziale Code, also die kapitalistische
weise auf ein höheres, arkanes Leitungsprinzip (wie Geschäftswelt. Anders gesagt: Im Text wird ein indi-
etwa in den <Forschungen eines Hundes>). Im Urteil vidualpsychologisch-familiales Modell ansatzweise
ist dieser religiöse Code kaum ausgeprägt, man zum Sozialmodell verallgemeinert (was übrigens für
könnte allenfalls auf den Schreckensausruf der Be- Texte der frühen Phase des mittleren Werkes charak-
dienerin – »Jesus!« – verweisen (DzL 60). teristisch ist).
(4) Hermeneutischer Code (Dekonstruktivisten): Dieser Befund sollte sich dann auch in der Deu-
Gemeint sind damit alle Stellen, wo es im Text selbst tung niederschlagen: Das Urteil behandelt ganz of-
um Deutungen und Deutungsakte geht. Auch dieser fensichtlich einen Machtkampf, der primär familiär
426 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

und sekundär sozial codiert ist. Die Deutung nimmt Fragen an die judaistische K.-Deutung am Beispiel Ben-
den Text also nicht einfach wörtlich, sondern behan- jamins. In: Grözinger/Mosès/Zimmermann (1987), 35–
delt ihn als absolute Metonymie (s.o.), als ein Bild- 70; wieder in: B. Allemann (1998), 221–255. – Peter-
Modell, dessen Deutung sich über eine Verallgemei- André Alt: F.K. Der ewige Sohn. München 2005. – Mark
nerung des Bild-Einfalls ergibt. Vermieden wird da- Anderson: K.’s Clothes. Ornament and Aestheticism in
gegen eine metaphorische Auflösung, die ein (mehr the Habsburg Fin de Siècle. Oxford 1992. – Els An-
oder minder analoges) auf der Textoberfläche nicht dringa (Hg.): Wandel der Interpretationen. K.s Vor dem
vorkommendes Signifikat (wie ›Schrift‹ oder ›Juden- Gesetz im Spiegel der Literaturwissenschaft. Opladen
tum‹) allegorisierend an die Stelle der Signifikanten 1994. – Dies.: Die Facette der Interpretationsansätze. In:
KHb (2008), 317–335. – Peter U. Beicken: F.K. Eine
setzt.
kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt/M.
Damit wäre für die Interpretation des Urteil ein
1974. – Ders.: Typologie der K.-Forschung. In: KHb
Rahmen vorgegeben, der vom Text her unmittelbar
(1979) II, 787–824. – Friedrich Beißner: Der Erzähler
nachvollziehbar ist. Wie dieser Rahmen im Einzel-
F.K. Stuttgart 1952. – Walter Benjamin: Über K. Texte,
nen ausgefüllt wird, ist nicht vorgegeben – es bleibt Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hg. v. Hermann
die Frage zu beantworten, wie genau die Relation Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1981, 2. Aufl. 1992. –
zwischen den Sphären Familie, Sexualität, Macht, Ders./Gershom Scholem: Briefwechsel. Hg. v. G.S.
Geschäftswelt und Ethik zu denken wäre. Von der Frankfurt/M. 1980. – Elizabeth Boa: K. Gender, Class,
Textoberfläche auszugehen, macht also die Interpre- and Race in the Letters and Fictions. Oxford 1996. –
tation nicht einfach überflüssig und hebt den Inter- Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien in der
pretenstreit nicht einfach auf. Jeder Interpret wird Praxis. Textanalysen von K.s Vor dem Gesetz. Opladen
weiter entscheiden müssen, wie die textspezifischen 1993. – Jürgen Born: »Leben und Werk« im Blickfeld
Codes und ihre textspezifische Relation im Einzel- der Deutung. Überlegungen zur K.-Interpretation. In:
nen zu deuten sind. Wohl aber wird das Interpretati- B. Elling (1985), 41–54. – Max Brod: Nachwort. In: F.K.:
onsspektrum deutlich eingeengt und die Interpreta- Das Schloß. München 1926; wieder in: H. Politzer
tion enger an den Einzeltext gebunden. Unter diesen (1973), 39–47. – Ders.: Über F.K. Frankfurt/M. 1974. –
Vorgaben wäre es etwa höchst gewaltsam, das Urteil Maximilian G. Burkhart: K. und déconstruction. In:
als Selbstthematisierung des Schreibprozesses oder KHb (2008), 385–398. – David Constantine: K.’s Wri-
den Vater als eine Gott-Imago zu lesen. ting and Our Reading. In: J. Preece (2002), 9–24. – Bill
Dieser Vorschlag wird freilich nur für den erwä- Dodd: The Case for a Political Reading. In: J. Preece
genswert sein, der an einer historischen Kafka-Inter- (2002), 131–149. – Theo Elm: Problematisierte Herme-
pretation und an einer Dissensreduktion zwischen neutik. Zur ›Uneigentlichkeit‹ in K.s kleiner Prosa. In:
den Interpretationen interessiert ist. Auch diese Po- DVjs 50 (1976), 477–510; wieder in: Josef Billen (Hg.):
sition wählt man also, wie alle anderen, nach be- Die deutsche Parabel. Darmstadt 1986, 322–363. – Wil-
stimmten Erkenntnisinteressen und handlungslei- helm Emrich: F.K. Das Baugesetz seiner Dichtung. Der
tenden Normen – oder tut dies eben nicht. Wichti- mündige Mensch jenseits von Nihilismus und Tradi-
tion. Bonn 1957 [zahlreiche weitere Auflagen]. – Man-
ger als jede methodische Richtungsentscheidung
fred Engel: K. und die Poetik der klassischen Moderne.
dürfte ohnehin der Komplexitätsstandard sein, den
In: Engel/Lamping (2006), S. 247–262. – Ders.: Forms
Kafkas Texte vorgeben. Wenn so schwer verständli-
and Functions of Anti-Realism in the Literature of High
che Texte ihr Recht haben – ein Recht das ihnen im
Modernism. In: Christine Baron/M.E. (Hg.): Realism
Falle Kafkas die fortdauernde Faszination für Leser and Anti-Realism in 20th-Century Literature. Amster-
verleiht –, dann verpflichten sie vor allem zu nicht- dam 2010. – Waldemar Fromm: K.-Rezeption. In: KHb
trivialisierenden Lektüren. Wer einem komplexen (2008), 250–272. − Mark H. Gelber: K. und zionistische
Werk eine handlich-einfache Botschaft entlockt, hat Deutungen. In: KHb (2008), 293–303. – Sander Gilman:
das Interpretationsspiel nicht gewonnen, sondern F.K. The Jewish Patient. New York 1995. – Rolf Goebel:
immer schon verloren. K., der Poststrukturalismus und die Geschichte. Kri-
tische Anmerkungen zur amerikanischen K.forschung.
Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu K. In: Ders.: In: ZfG 1 (1991), 70–81. – Karl Erich Grözinger: K. und
Prismen. Frankfurt/M. 1955, 302–342; wieder in: Ders.: die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von
Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und Ge- F.K. Frankfurt/M. 1992; erweiterte Neuausgabe: Berlin,
sellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. v. Rolf Tiede- Wien 2003. – Ekkehard W. Haring: Wege jüdischer
mann. Frankfurt/M. 1977, 254–287. – Beda Allemann: Kafka-Deutung. Versuch einer kritischen Bilanz. In:
Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen 427

Das jüdische Echo 52 (2001), 310–324.; online: www. Sokel, Allemann. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen
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428 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

4.2 Schaffensprozess Kafkas Literaturbegriff


Die Beschreibung der Produktionsweise ist gehalten,
aus den ambivalenten testamentarischen Vorgaben
Die Darstellung des Schaffensprozesses bei Kafka Kriterien bzw. Indikatoren für Kafkas Literaturbe-
umfasst mehrere Bereiche: Sie bestimmt die biogra- griff abzuleiten, die sowohl die kritische Haltung ge-
phischen Entstehungsbedingungen der Texte und genüber dem Geschriebenen als auch die Motivation
gibt dafür psychologische Dispositionen an; sie be- zum Weiterschreiben erklären können. Kafkas Tes-
rücksichtigt soziokulturelle Einflüsse auf den tamente (BMB 365 u. 421 f.) sind ein guter Aus-
Schreibprozess; sie kann die Eigenrezeption Kafkas gangspunkt, um die Innovationen der Prosa in den
aufgreifen sowie von der Selbstreflexivität der Texte Blick zu nehmen. Roland Reuß hat die Probleme
aus über Entstehungsbedingungen spekulieren und aufgezeigt, denen sich Max Brod gegenüber sah, als
damit den engen Zusammenhang von Poetik/Poeto- er die Testamente in Händen hielt: vom zufälligen
logie und Leben betrachten; nicht zuletzt zieht sie Auffinden bis zu der paradoxen Situation zweier
aus editionsphilologischen Beobachtungen Rück- letzter Willensbekundungen (Reuß, 9–13). Im so-
schlüsse auf den Schreibprozess. genannten ›ersten Testament‹ hatte Kafka geschrie-
Angesichts der Breite der Untersuchungsmöglich- ben, Brod solle alles, was er an Geschriebenem finde,
keiten haben psychologische und psychoanalytische ohne Ausnahme verbrennen. Im zweiten Testament
Erklärungen des Schaffensaspekts den Nachteil, kre- vom 29. November 1922 verfügt Kafka, dass »nur die
ative Prozesse nur aus dem konflikthaften Gesche- Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie,
hen im Unbewussten abzuleiten. Zum Erzählen ge- Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler« gel-
hören aber nicht minder bewusste kognitive Aktivi- ten; auch wenn er den Wunsch habe, dass sie »ganz
täten, wenn nicht sogar die vorbewussten und verloren gehn« (BMB 421), wolle er niemanden da-
bewussten Anteile den Hauptteil der Hervorbrin- von abhalten, sie zu erhalten. Alles andere an Ge-
gungen von literarischen Werken bilden, also impli- schriebenem oder Gedrucktem sei aber ausnahms-
zites und explizites Wissen, das beim Schreiben zur los zu verbrennen.
Geltung kommt. Um diese Wissensbereiche erfassen Die Ambivalenz, mit der sich Brod konfrontiert
zu können, kann man zusätzlich auf kulturwissen- sah, ist die Ambivalenz des Autors, der sich über den
schaftliche Ansätze zurückgreifen und ein erweiter- Status des Geschriebenen nicht sicher ist: Kafka
tes Spektrum von Kontexten des literarischen Schaf- überlegt, die erschienenen Bände bestehen zu lassen
fens angeben. und akzeptiert deren persönlich nicht gewollte Tra-
Die hier erfolgende Darstellung von Schaffensas- dierung als Konsequenz der eigenen Publikati-
pekten wird auf eine einseitige psychoanalytische onspraxis; er erkennt aber keinen übergeordneten li-
Sichtweise verzichten und materiale, soziale und teraturgeschichtlichen Kontext für seine Arbeiten
mentale Dimensionen des Schreibprozesses berück- an. Als er die Testamente geschrieben hat, war nicht
sichtigen. Zur komplexen Abbildung eines komple- abzusehen, dass er Teil eines Kanons werden könnte.
xen Schreibgeschehens gehören neben den psychi- Man ist gehalten, von den Testamenten aus zu fra-
schen Dispositionen Befunde aufgrund der Hand- gen, welches denn die Kontexte waren, die Kafka für
schriften und der Publikationspraxis, Selbstaussagen sein Schaffen akzeptiert hat.
Kafkas, die Selbstreflexivität seiner Texte, Lektüre- Hier lohnt ein Blick in die Tagebücher. Kafkas Re-
praxis und Rezeption des Schaffens anderer Auto- flexionen zur Literatur enthalten ein genau zu um-
ren, lokale Einflüsse und die Betrachtung des schreibendes Problemfeld: Es ist für ihn nicht ohne
Schreibens als einer kulturellen Praktik der Selbster- weiteres deutlich, was ›Literatur‹ ist. In einem Brief-
kundung in der Moderne. Eine solche kulturwissen- entwurf an Werfel heißt es noch 1922: »Was ist das,
schaftliche Entfaltung von Einflüssen auf den Schaf- Literatur? Woher kommt es? Welchen Nutzen bringt
fensaspekt führt zu einer erweiterten Materialbasis, es? Was für fragwürdige Dinge!« (NSF II, 527 f.). Erst
die sowohl für historische als auch für systematische die Beschreibung seines schwierig zu fassenden Lite-
Aspekte differenzierte Aussagen ermöglicht. raturbegriffs ermöglicht es, relevante Elemente des
Schaffens aufeinander zu beziehen und zu gewichten.
Für Kafkas Schreibpraxis ist vor allem die Kon-
zentration auf den Augenblick des Schaffens signifi-
Schaffensprozess 429

kant. Die Poetik »zusammenhängender Stunden« ten mit einem jüdischen Schwerpunkt (vgl. die chro-
(An F. Bauer, 3.12.1912; B00–12 295 f.) beim Schrei- nologische Auflistung in DzL:A 15–24). Auch die
ben führt zu einer neuen Art des Produzierens, bei Widmungspraxis, die einen persönlichen Bezug sei-
der keine Kontrolle über das Ergebnis des Schrei- ner Werke herstellt, wird erst mit dem letzten Band
bens angestrebt wird. Die Texte sind dem Augen- Ein Hungerkünstler unterbrochen. Der Bezug zu
blick der Entstehung überantwortet, die Dynamik Prag ist nicht nur qua Geburt gegeben, er ist auch ge-
des Schreibvorgangs wirkt verstärkt auf das Ge- wollt und Teil von Kafkas Literaturverständnis.
schriebene ein.
Kafka plant seine Texte nicht und hat keine Glie-
derungen oder Materialsammlungen hinterlassen, Das Konzept der
wie etwa Thomas Mann, der selbst die Zeitungslek- ›kleinen Literaturen‹
türe für sein Werk in den Dienst genommen hat.
Kafka setzt mit dem Erzählen einer Geschichte an, In einem Tagebuchfragment aus dem Jahr 1911 hält
bis ein Fortgang der Handlung möglich wird; die Kafka die Vorteile regionaler Literaturszenen fest
Handlung wird im Schreibprozess organisiert, ohne (vgl. Neumann 1992a; Deleuze/Guattari; ä 138–140).
dass Handlungsziele fest stehen. Gibt es frühzeitig In Abgrenzung zur großen Literatur, zu der er die
ein Ende − wie im Process, bei dem Kafka das erste deutsche zählt, besteht der Vorteil der »kleinen Litte-
und das letzte Kapitel hintereinander geschrieben raturen« (27.12.1911; T 326) – gemeint sind die »jü-
hat −, wird der Fortgang dazwischen schreibend dische Literatur in Warschau« und die »tschechische
erprobt. Kafka bringt Korrekturen sofort oder im Literatur« (T 312) – in der Nähe von Autor und Öf-
Verlauf des Schreibprozesses an (wie beim Schloss- fentlichkeit (T 312–315, 321 f., 326). Die lokale Ver-
Romanfragment, in dem er nachträglich vom Ich- breitung sorgt für das »einheitliche Zusammenhal-
Erzähler zum Er-Erzähler wechselt), er überarbeitet ten […] des nationalen Bewußtseins« (312 f.). Die
seine Texte aber nicht. Viele Änderungen für die Pu- Autoren führen lediglich Tagebuch und sind nicht
blikation betreffen Anpassungen an die Hochspra- aufgefordert, die Geschichtsschreibung der Nation
che. Zur Publikation entnimmt er schließlich häufig zu übernehmen. Kleine Literaturen hätten zwar we-
Werke einem größeren Schreibzusammenhang, wie niger literarische Talente, dadurch aber sei die litera-
z. B. Vor dem Gesetz aus dem Process-Romanfrag- rische Situation insgesamt weniger zentriert und le-
ment. bendiger. Eine solche Situation könne, so Kafka, zur
Kafka fehlt auch ein ausgeprägter Bezug zu Litera- Vergeistigung des öffentlichen Lebens beitragen, sie
turbetrieb und Buchmarkt: Er lässt sich nur bedingt könne »unzufriedene Elemente« einbinden und ein
auf die Regeln des Betriebes ein; seine Vorstellung »höheres Streben unter den Heranwachsenden«
von Autorschaft ist eher auf persönliche Kontexte (313) erwecken. Schließlich ermögliche eine kleine
bezogen. Kafka tritt nicht in Korrespondenz mit ihm Literatur auch die Verhandlung des Literarischen im
nicht bekannten Kollegen. Initiativ wird er vorwie- politischen Bereich. Die Literaturgeschichte selbst
gend in Hinsicht auf den Prager Freundeskreis und sei schließlich eine »Angelegenheit des Volkes«
das deutsch-jüdische Umfeld Prags: Er befindet sich (315), nicht der Institutionen. In einer »kleinen Lit-
im Gespräch mit Max Brod, Oskar Baum, Franz teratur« seien zudem die Freiheitsgrade für den ein-
Werfel, Felix Weltsch und anderen. Auch die Publi- zelnen Autor höher und die komplexe Vernetzung
kationspraxis wird vom privaten Umfeld bestimmt. von Autor und Publikum weitreichender.
Max Brod meinte, Kafka jeden Text zur Publikation Kafka stellt hier einen dezentralen und antihierar-
abringen zu müssen. Diese Darstellung muss zwar chischen Literaturbegriff vor. Er sucht einen authen-
aus heutiger Sicht relativiert werden, dennoch zeigt tischen Ausgangspunkt für das Schreiben, bei dem
Kafkas Publikationsverhalten ein hohes Maß an Zu- der potenzielle Leser Mitwisser ist. Zugleich ist hier
rückhaltung: Er bleibt seinem Verleger Kurt Wolff das Schreiben zielgruppenspezifischer: Eine Ziel-
treu, dessen Werbungen um neue Texte er nicht gruppe der »kleinen Litteratur« entstammt dem jü-
leicht nachgibt; er veröffentlicht vor allem in Zeit- dischen Kontext. Kafka kann hier auf die Kenntnis
schriften, die von Freunden und Bekannten heraus- kulturspezifischer Schreibverfahren (z. B. des Kom-
geben werden (Franz Blei, Willy Haas oder Max mentierens) vertrauen; Schreiben ist aus der Sicht
Brod) oder in lokal und thematisch gebundenen des säkularisierten Judentums zugleich eine »Ersatz-
Zeitschriften: in Prager Zeitungen und in Zeitschrif- heimat« (Haring, 1). Eine zweite Zielgruppe sind die
430 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Prager Deutschen und, mit ihnen verbunden, die Für das Schreiben gewinnt der Jargon zunächst
deutschsprachigen Gebiete. Modellcharakter. Er ist das dramatische Gegenstück
Die Abgrenzung gegen die große Literatur kann zu den Spracherfahrungen des Prosaisten. Der Jar-
man mit den im Folgenden diskutierten Stichworten gon vermittelt Inhalte mit bedeutungshaften Gesten
beschreiben, wobei die Auseinandersetzung mit oder Intonationen. Entsprechend heißt erzählen
Goethe maßgeblich ist (die vermutlich nicht zufällig dann, dem Gleiten imaginativer Selbstentäußerung
parallel zur Beschäftigung mit dem jüdischen Thea- zu folgen, ohne den Erzählstrom allzu sehr einzu-
ter geführt wird). Ein Fazit lautet: »Plan eines Auf- schränken. Die Erfahrung des Jargons ist analog zu
satzes: ›Goethes entsetzliches Wesen‹« (31.1.1912; T jener von Träumen: Der Jargon erzeugt Effekte der
367). Kafka berauscht sich an der ›Zentrierung‹ des Belebung und Intensivierung in einem offenen Ho-
Goetheschen Werks und stellt zugleich sein eigenes rizont von Bedeutungen.
Anderssein fest.
Darstellungsweisen einer
Eine Sprache für die ›kleinen Literaturen‹ ›kleinen Literatur‹
Eine »kleine Litteratur« bedarf einer eigenständigen Ästhetisch-poetologische und soziokulturelle Grund-
Sprachverwendung. Welche Muster Kafka dabei vor lagen des Schreibens gehen bei der »kleinen Littera-
Augen gestanden haben, kann an seiner Beschäfti- tur« ineinander über. Authentizität verlangt nach In-
gung mit dem jüdischen Jargon abgelesen werden, tensität. Beides entsteht für Kafka durch Selbstdis-
wobei nicht die konkrete Form dialektaler Sprach- tanzierung im Aufbrechen der Grenzen des Ich. Im
verwendung, sondern die Wirkung auf Kafka rele- Grunde genommen handelt es sich um eine Erfah-
vant ist. Kafkas Einleitungsvortrag über Jargon aus rung zwischen kleiner und großer Literatur, die
dem Jahr 1912 (NSF I, 188–193; ä 140 f.) enthält Kafka als deutsch sprechender Prager Bürger jüdi-
typische Momente einer ersten Phase sprachlicher scher Herkunft macht. Kulturelle Deterritorialisie-
Selbsterkundung als Autor. rung und ästhetische Dezentrierung folgen der Er-
Kafka erfährt den ostjüdischen Dialekt auf dem fahrung der Randständigkeit Prags in der deutsch-
Theater als Muster der literarischen Arbeit. Im Vor- sprachigen (vor allem österreichisch-ungarischen)
trag berichtet er über eine »wahre Einheit« mit der Literatur. Kafka entwirft im Tagebucheintrag zum
Sprache: Jargon ein Verständnis von Autorschaft, das mit pra-
Wenn Sie aber einmal Jargon ergriffen hat – und Jargon ger-deutschen Kodierungen und Grenzverläufen
ist alles, Wort, chassidische Melodie und das Wesen die- zwischen fremd und eigen, privat und öffentlich,
ses ostjüdischen Schauspielers selbst, – dann werden Sie mündlich und schriftlich reguliert wird. Das Schrei-
Ihre frühere Ruhe nicht mehr wiedererkennen. Dann ben wie im Tagebuch korrespondiert mit der Vor-
werden Sie die wahre Einheit des Jargon zu spüren be-
stellung der Darstellung eines traumhaften inneren
kommen, so stark, daß Sie sich fürchten werden, aber
nicht mehr vor dem Jargon, sondern vor sich. Sie wür- Lebens. »Von der Litteratur aus gesehen«, notiert er,
den nicht imstande sein, diese Furcht allein zu ertragen, »ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die
wenn nicht gleich auch aus dem Jargon das Selbstver- Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat
trauen über Sie käme, das dieser Furcht standhält und alles andere ins Nebensächliche gerückt und es in ei-
noch stärker ist (NSF I, 193).
ner schrecklichen Weise verkümmert« (6.8.1914;
Sprache kann den kulturellen Raum authentisch und T 546). Traumhaft wird die Darstellung durch
von Intensitäten bestimmt gestalten. Kafka hebt die Verschiebungen, Dezentrierungen (die Handlung
Wirkungskraft des Jargons hervor, die paradoxer- schreitet kontinuierlich voran, aber der plot wech-
weise darin besteht, dass man ihn nicht versteht. selt) und Diskontinuitäten.
Umso wichtiger ist für den Zuschauer die Beachtung
kontextsensitiver Merkmale. Der performative Text
sichert die Aussagekraft auch jenseits des sprachli-
chen Textes. So enthält er genügend Energien, die
das Unverständliche kompensieren können. Der
Jargon ist nach den Bestimmungen Kafkas gegen
die gleichförmige, westeuropäische »Ordnung der
Dinge« (188) gerichtet.
Schaffensprozess 431

Das Urteil – traumhafter Durch- T 491–493 u. 23.9.1912; T 460 f.). Der Assoziations-
bruch des Autors und Scheitern raum während des Schreibens wird aber nicht nur
der Figuren auf Freud bezogen. Eine zweite, für das Gesamtwerk
wichtigere Erfahrung drängt sich in den Vorder-
grund: »Nur so kann geschrieben werden, nur in ei-
Die Funktion der Literatur als ›Tagebuch der Nation‹ nem solchen Zusammenhang, mit solcher vollstän-
weist auf die besondere Aufgabe des Schreibens bei digen Öffnung des Leibes und der Seele« (T 461).
Kafka hin. Er protokolliert die Bewegungen des sozi- Der Leib wird zum Instrument, mit dem gutes von
alen Lebens durch die Form seiner Subjektivität. schlechtem Schreiben unterschieden werden kann.
Diese zeichnet sich durch Authentizität und Intensi- Gelungenes Schreiben enthält einen performativen
tät aus, wofür der Traum paradigmatische Kraft ge- Text, der sich gegen den sprachlichen Text behaup-
winnt. Man kann das am sogenannten ›Durch- ten kann. Der Leib ist das erste Medium, durch das
bruchstext‹ Kafkas, dem Urteil, aufzeigen. Die Er- Literatur geformt wird, vor dem zweiten, dem Pa-
zählung ist biographisch, selbstreflexiv und mit pier, und dem dritten, dem Buch.
offenem Bedeutungshorizont angelegt. Der Sohn
Georg schreibt einen Brief, dessen Inhalt er in einem
Gespräch mit der Verlobten entwickelt: Sie rät ihm, Schreiben als Existenzform
authentisch zu sein und dem Freund in Petersburg (Selbstreflexion)
von den tatsächlichen Begebenheiten zu erzählen.
Georg ist der Protokollant der Ereignisse, für deren Nach Hillmann ist das Schreiben Kafkas »hochper-
Authentizität er einsteht. Mit dieser neuen Art des sönlich«, es dient der Selbstverständigung und ist
Briefeschreibens geht er zum Vater. Wie immer man ein »Problemlösungsspiel« (Hillmann, 20 f.). An-
nun den Vater deuten will, ob als biographische hand der Tagebücher weist Korte auf den Wunsch
Größe oder als literarischen Übervater Goethe, ent- Kafkas nach einem authentischen Schreiben hin und
scheidend ist, dass der Sohn sich gegen die Tradi- auf die daraus entwachsene Paradoxie, dass die
tion, die der Vater verkörpert, nicht durchsetzen »Rolle des Aufschreibprozesses« autonom gegenüber
kann. Aufbruch und Scheitern des neuen Schreibens der Faktizität werde: Es bringt eine eigene Logik her-
gehen ineinander über. Der durch die Braut moti- vor (Korte, 255 f.). Bereits Kittler ist der Auffassung,
vierte Aufbruch ins Soziale wird durch die rhetori- Leben bedeute bei Kafka Schreiben (Kittler, 60).
schen Finten des Vaters desavouiert. Man wird also Kafka korrespondiert mit diesen Beobachtungen in
schon vom ›Durchbruchstext‹ aus sagen können, einer Reflexion des Urteils: »Als es in meinem Orga-
dass das Schreiben aus der Sicht Kafkas unter dem nismus klar geworden war, daß das Schreiben die er-
Vorbehalt steht, sich gegen institutionalisierte giebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich
Machtstrukturen – und sei es eine kanonisierte Lite- alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich
raturgeschichte – nicht durchsetzen zu können. In auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des
der Negation des Produzierenden und des Produktes Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der
liegt die eigentliche Freiheit dieser Literatur. Musik zu allererst richteten« (3.1.1912; T 341).
Kafka hat ein Bedeutungs- und Sinnproblem, wie Fragt man nun, welchen Literaturbegriff Kafka in
schon die erfahrene Wirkung des ostjüdischen The- den Anfängen vertritt, so kann man festhalten: Lite-
aters zeigt. Entsprechend fragt er Felice, ob sie »ir- ratur ist bei ihm zunächst dem Tagebuch- und Brie-
gendeinen Sinn, […] irgendeinen ›geraden‹, ›zusam- feschreiben ähnlich. Schreiben ist eine Authentifi-
menhängenden‹, verfolgbaren Sinn« im Urteil findet zierungsstrategie:
(An F. Bauer, 3.6.1913; B13–14 201). Ein geradlini-
Ich habe […] ein großes Verlangen, meinen ganzen ban-
ger Sinn ist darin nicht zu finden, aber eine »innere gen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso
Wahrheit (was sich niemals allgemein feststellen wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hin-
lässt, sondern immer wieder von jedem Leser oder ein oder es so niederzuschreiben daß ich das Geschrie-
Hörer von neuem zugegeben oder geleugnet werden bene vollständig in mich einbeziehen könnte (8.12.1911;
T 286).
muß)« (An F. Bauer, 4./5.12.1912; B00–12 299).
Kafkas Selbstdeutung des Urteil beschreibt in Eine frühere Notiz zum Schreiben verlangt »größte
Analogie zur Traumdeutung Freuds Teile des Textes Vollständigkeit« und »gänzliche Wahrhaftigkeit«, da
als Verdichtungen und Verschiebungen (11.2.1913; ansonsten »das richtige Gefühl schwindet, während
432 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt Erkundungen einer höheren,


wird« (12.1.1911; T 143). ästhetischen Art der Beobachtung
Die Authentizität des Schreibens arbeitet sich je-
doch an den Bedingungen der Schriftlichkeit ab. Au- Literatur- und philosophiegeschichtlich betrachtet
thentizität heißt nun nicht, das Gleiche zu schreiben, bewegt sich Kafka innerhalb der Lebensphilosophie.
sondern aus dem Aufbrechen des Gleichen Authen- Nietzsche, Bergson u. a. beobachten das Denken
tifizierungsstrategien abzuleiten. Kafka beobachtet beim Denken und stellen einen mehrschichtigen
in den Tagebüchern und Briefen eine Veränderung Prozess dar, der erst in letzter Konsequenz in Be-
des Ich beim Schreiben. In dieser Erfahrung der De- griffe mündet. Bei Bergson (Orig. 1896) geben Be-
zentrierung wird aber eine authentischere Version griffe Grade der Intensität an, unter denen die Bewe-
des Ich offenbar. »Zerstöre Dich! […] ›um Dich zu gungen im Ich und in den Dingen (der objekthaften
dem zu machen, der Du bist‹«, vermelden die Notiz- Welt) sich verhalten. Er spricht von »Kondensation«
hefte dazu (NSF II, 42). Dieses Erfahrungsmuster und »Verdünnung«. Im Rhythmus der Bewegungen
spiegelt sich auf mehreren Ebenen des Schaffenspro- entstehen Bilder, die aus der Widerständigkeit der
zesses wider. Bereits der Durchbruchstext ist davon Materie bei dem Versuch des Menschen folgen, die
gekennzeichnet. Der Handlungsfortgang beruht auf Gegenstände der Wahrnehmung zu organisieren.
einer Bewegung, die die Selbstidentität der Figuren Die Wahrnehmung erschafft in diesem Modell die
und Ereignisse nicht behauptet, so wie auch der Au- Dinge und Sachverhalte, indem sie sie aus einem
tor im Erzählen seine Identität im Schreibstrom komplexen, verdünnten Zusammenhang in einen
nicht behaupten kann. anderen Zustand überführt.
Literatur und Leben überschneiden sich in einer Kafka steigert in seiner Schreibhaltung solche Ein-
Weise, die nicht einzigartig ist – Lenz, Hölderlin, Ce- lassungen. Er bildet Bewusstseinsprozesse in Text-
lan und andere ließen sich zum Vergleich heranzie- prozessen ab. Für solche Überlagerungen von Be-
hen. Konstitutiv für Kafkas Literaturbegriff bleibt wusstsein und Text wäre der Begriff der ›ästheti-
aber das Ineinandergreifen von Fiktionalität (als tex- schen Existenz‹ hilfreich. In der Semiose zwischen
tueller Eigenschaft) und Imagination (als anthropo- Leben und Zeichen gerät alles in unabschließbare
logischer Eigenschaft). In der »Darstellung [seines] Bewegungen. Man kann auch von einem artistischen
traumhaften innern Lebens« (6.8.1914; T 546) be- Schreiben sprechen (Fromm), da die Realität schon
ruft sich Kafka auf die Imagination als einen lebens- luzide gerät:
umfassenden Prozess, der nicht bloß Fiktionen Wir erleben sie [die wirklichen Ereignisse] nur vor und
schafft, sondern eine Illumination von ›Leben‹ ab- nach dem wirklichen, mit elementarisch unbegreiflicher
gibt. Eile vorübergehenden Ereignis, es sind traumhafte nur
In der Differenz von Leib und Schrift, von leibli- auf uns eingeschränkte Erdichtungen (NSF II, 222).
chem Prozess und schriftlicher Fixierung enthält das Das Ich, das schreibt, ist in seinen Bewusstseins-
Schreiben etwas, das der textuellen Form nicht mehr strom eingelassen, ohne darin selbstermächtigtes
eigen ist. Vom Produkt aus betrachtet, enthält das Subjekt zu sein. Am Schreiben ist sowohl ein aktives
Schreiben sein eigenes Rätsel, das Kafka beobachtet, Moment beteiligt, als auch ein passiv-rezeptives,
und das er mit fortschreitender Beobachtung nicht durch das das Ich, das schreibt, geschrieben wird.
unter die Perspektive der Kreativität stellt. Die Kritik Kafka beschäftigt sich vor allem mit dem rezeptiven
der Psychologie und Psychoanalyse entwickelt sich Moment des Schreibens, da es der eigentliche An-
aus der Selbstbeobachtung beim Schreiben, Intro- lass für das Gelingen zu sein scheint. In den Zürauer
spektion führt zu einer nicht mehr psychoanalyti- Aphorismen beschreibt Kafka diese Erfahrung dann
schen Fundierung des Schreibgeschehens. Kafka vor der Tradition der potentia passiva: »Schreiben
sieht im »therapeutischen Teil der Psychoanalyse ei- als Form des Gebetes« (NSF II, 354) ist die dazuge-
nen hilflosen Irrtum. Alle diese angeblichen Krank- hörige Formulierung. Schreiben zeitigt eine ästheti-
heiten, so traurig sie auch aussehn, sind Glaubens- sche Selbsterfahrung, die mit einem lebenspraktisch
tatsachen« (NSF II, 341 f.). Die Selbstevidenz der orientierten Ich kaum mehr zu vereinbaren ist:
Seele ist für Kafka nicht hintergeh- oder manipulier- »denn jetzt bin ich schon Bürger in dieser andern
bar. Welt, die sich zur gewöhnlichen Welt verhält wie
die Wüste zum ackerbauenden Land« (28.1.1922;
T 893).
Schaffensprozess 433

Hier wird die Ästhetik des frühen Nietzsche hör- Realität Urlaub nimmt, ohne dass man daraus ablei-
bar, die, wie schon jene Schopenhauers, das Unbe- ten dürfte, der Text sei biographisch, denn schon die
griffliche in der Kunst an die Stelle der traditionellen nächsten Sätze verbleiben im fiktionalen Raum des
Metaphysik gesetzt hat: »Versprechungen irgendei- Textes (vgl. Pasley). Zweitens sind davon die Inhalte
nes Glückes, ähnlich den Hoffnungen auf ein ewiges der Prosa betroffen (die an dieser Stelle auch nicht
Leben. Von einer gewissen Entfernung aus gesehn, andeutungsweise vollständig wiedergegeben werden
halten sie stand und man wagt sich nicht näher« können): Die Texte reflektieren Schaffensaspekte,
(6.1.1915; T 715). Was unter Glück zu verstehen ist, indem sie in Literatur über die Bedingungen der
nennt das Tagebuch dann später: »Glück aber nur, Entstehung von Literatur nachdenken.
falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche Die »höhere Art der Beobachtung« (T 892) und
heben kann« (25.9.1917; T 838). Kafka schreibt an der Versuch, die Welt ins »Reine« zu heben (T 838),
der Umformulierung von Metaphysik in ästhetische enthalten zunächst authentische Implikationen. Der
Erfahrung. Die Texte werden zu »Kondensationen«, <Bau> erscheint z. B. als Bild für eine Existenz, die in
die aufgrund ihrer Intensität eine höhere Wahrheit die Materialität der Schrift eingelassen ist und sich
bezeugen, die unbegrifflich bleiben muss. ohne die Möglichkeit der Übersicht in den einge-
richteten Sätzen bewegt. In Ein Hungerkünstler the-
Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher,
matisiert Kafka das Hungern »bis ins Unbegreifli-
vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinaus-
springen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, che« (DzL 339). Thema ist das erste Medium der Li-
Tat – Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobach- teratur, der Leib, mit dem Schreiberfahrungen zu
tung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und machen sind, die metaphysische Dignität zu haben
je höher sie ist, je unerreichbarer von der »Reihe« aus, scheinen. Diese Kunst des Hungerns zielt auf das
desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Geset-
zen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freu- Schreiben als Deformation des Lebens aus einem
diger, steigender ihr Weg (27.1.1922; T 892). Mangel an Begründung. Zugleich wird die Rolle des
Leibes aus der Sicht der Kommunikation zwischen
Die angestrebte Art der Beobachtung nimmt ihren Künstler und Publikum besprochen. Die Kommuni-
Ausgangspunkt in der Freiheit vom Lebensvollzug. kation wird durch unterschiedliche Erwartungen
Sie lässt sich auf die von Kafka angenommenen und gesteuert: Das Publikum hält das Hungern für eine
unbekannten inhärenten Notwendigkeiten des Inszenierung, der Hungerkünstler dagegen betont
Wahrnehmungsprozesses ein. Sie erkundet die Basis seinen authentischen Kunstanspruch. Die unter-
ihrer selbst, den Grund des Subjekts, das wahr- schiedlichen Erwartungshorizonte führen Parado-
nimmt. Mit einem Vergleich ließe sich sagen: Kafka xien in die Kommunikation ein, denn dort, wo der
versucht, den genetischen Code dieser Prozesse ein- Hungerkünstler seine Kunst durch seine persönli-
zuholen, der für ihn aber der Augenblick der Frei- chen Dispositionen erklärt, hält ihn das Publikum
heit des Schaffens ist. In diesem Lebensexperiment für einen Schwindler. Das Unbegreifliche seiner
trifft er aus heutiger Sicht in letzter Konsequenz im- Kunst, der performative Text, ist von den sozialen
mer auf ein Paradoxon. und ästhetischen Entwicklungen der Moderne über-
holt worden. Es gilt nun der vitalistische Reiz des
Neuen, dafür aber ist Kafkas Leibkonzept nicht ge-
Selbstreflexivität der Prosa schaffen.
Die <Forschungen eines Hundes> untersuchen in
Die Aufmerksamkeit für einen umfassenderen Be- einem Lebensrückblick die Quelle der Nahrung des
wusstseinsstrom führt das luzide Bewusstsein auf Hundes, die er für Musik hält. Auch er geht – wie der
mehreren Ebenen zu einer selbstreflexiven Darstel- Hungerkünstler – davon aus, dass Fasten und Hun-
lung: Das betrifft, erstens, Koinzidenzen zwischen gern die stärksten Mittel der Kunsterforschung (NSF
biographischen Ereignissen und Ereignissen in den II, 466 u. 470) sind. Damit verbindet er die Frage, ob
Texten. Es gibt Koinzidenzen zwischen biographi- im Hungern nur ein Phantasma sichtbar wird oder
scher Situation und Handlungsfortgang, zwischen mehr – man könnte auch übersetzen: ob Schreiben
Schreibsituation und Motiv des Textes, Überlage- nur ein Phantasma erzeugt, oder eine tiefere, er-
rungen verschiedener Dimensionen des Bewusst- kenntnisreichere Art zu leben. Der Hund will »zur
seinsstroms − beispielsweise wenn Josef K. auf dem Wahrheit hinüberkommen« (475) und damit eine
Papier an dem Tag Urlaub nimmt, an dem Kafka in Nahrung, die nicht nur sättigt, sondern auch erfüllt.
434 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Das Wort »Musik« codiert dabei die ersehnte Form Schreibens auf diskursive Elemente zurückgreift, ist
erfüllter Sprachverwendung. Die Lehre von dem die nur partiell geklärt. Untersucht sind Vorbilder, an
Nahrung herabrufenden Gesang beinhaltet die die er sich angelehnt oder von denen er sich abge-
Transformation von Metaphysik in ästhetische Er- setzt hat (Voltaire, Goethe, Schopenhauer, Flaubert,
fahrung, die im Prozess des Schreibens offenbar Nietzsche). Weniger bekannt sind die intertextuellen
wird, als Rätsel des Schreibens aber bestehen bleibt. Bezüge von Kafkas Selbstbeobachtungen zur (empi-
In Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse rischen) Psychologie nach 1900, während Kafkas
greift Kafka die Musik als Chiffre für die Kunst auf. Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gut do-
Kafka verfährt dabei so, dass die entscheidenden kumentiert ist (ä 2.5). Im Zentrum der Aufmerk-
Qualitäten der Kunst angesichts des kommunikati- samkeit steht gegenwärtig das Schreiben, wie schon
ven Zeichensystems a-medial und damit unver- Max Brod in seinen Schriften auf dessen Relevanz
ständlich werden. Das Publikum hat nun die Wahl und die Bedeutung der Tunnelsituation für das
zu akzeptieren, dass das Eigentliche in der Kunst Schreiben hinweist.
nicht mehr zu formulieren ist, oder die Kunst, wie Eine der ersten Arbeiten, die die herausgehobene
den Hungerkünstler, sterben zu lassen. Auch in die- Bedeutung des Schreibens für das Werk Kafkas be-
sem Text denkt Kafka an seine Leser und ob er ihnen tont, wurde von Maurice Blanchot verfasst. Er be-
zumuten kann, was er ihnen durch sein Schreiben trachtet in seinen Aufsätzen, die in den 20er bis 40er
zumutet. Es heißt, das Volk der Mäuse sei unmusika- Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, die
lisch und meine trotzdem, den Gesang der Sängerin Existenzaussagen und Briefe Kafkas aus der Sicht li-
zu verstehen, während die Sängerin meint, das Pub- terarischer Prozesse. Die Erfahrungen beim Schrei-
likum verstehe den Gesang nicht. Das entspricht ben von Briefen sind demnach die Grundlage für das
dem Leser, der meint, Kafka zu verstehen, obwohl literarische Schreiben. Nach Blanchot ist das schrei-
die Texte im offenen Bedeutungshorizont ihrer Ent- bende Subjekt mit der Erfahrung der Negation allen
stehung in den Vordergrund treten. Mit Josefine, der Seins konfrontiert. Die Literatur sage das Wesen der
Sängerin, erkundet der Erzähler »das Rätsel« der Dinge aus, indem sie deren Sein mortifiziere. Schrei-
»großen Wirkung« der Literatur (DzL 352). Am ben heißt dann, Abwesenheit zu produzieren (Blan-
Schluss heißt es, dass der Gesang »mehr als eine chot, 31 f.), konfrontiert den Schriftsteller so zu-
bloße Erinnerung« gewesen sein wird, »weil er in gleich mit dem Tod. Angesichts solcher Verluste
dieser Art unverlierbar war« (376 f.). praktiziere Kafka das Schreiben als Suche nach einer
Bejahung aus der Negation der Abwesenheit heraus
(59). Blanchot reiht Kafka in eine mystische Tradi-
Forschung tion ein, die »ekstatische Erfahrungen« (96) aus der
Kombination von Buchstaben gewonnen hat. Spezi-
Die Betrachtung des Schaffensprozesses ist in syste- ell für die Schreiberfahrung unterscheidet er bei
matischer und historischer Hinsicht an Theorien der Kafka zwei Phasen: eine Zeit der Suche nach einer
künstlerischen Produktivität gebunden. Modelle li- ununterbrochenen Kontinuität beim Schreiben und
terarischer Produktivität sind abhängig von dem eine Zeit der wachsenden Einsicht in die Notwen-
Menschenbild des gewählten Ansatzes, sie gründen digkeit, aus dem Mangel einer solchen Kontinuität
in psychologischen, gesellschaftlichen und anthro- heraus zu agieren (195 f.).
pologischen Annahmen. Vor allem in psychoanaly- Eine erste Zusammenfassung der Forschung zu
tisch orientierten Lektüren sind schon früh Thesen Schaffensaspekten gibt Heinz Hillmann, der zwi-
zum Schaffen formuliert worden. Aus der inneren schen drei Phasen des Schaffens unterscheidet: In-
Dynamik von Psychoanalyse und literarischem Text kubation, Niederschrift, Eigenrezeption. Damit sind
heraus wurden Konfliktfelder wie Ödipus-Konflikt implizit Annahmen über den kreativen Prozess ver-
oder latente Homosexualität aufgezeigt. bunden: Es bedarf eines konkreten Bezugs aus dem
In historischer und ästhetisch-poetologischer soziokulturellen Umfeld, es bedarf einer Anreiche-
Hinsicht sind auch heute noch Desiderate der For- rung und Verdichtung beim Schreiben und schließ-
schung zu verzeichnen. So gibt es nur wenige Unter- lich einer kognitiven Durchdringung des Niederge-
suchungen, die sich mit der historischen Einord- schriebenen (Hillmann 1979).
nung der Aussagen Kafkas zum Schreiben beschäfti- Binder (1983) untersucht den Schaffensaspekt un-
gen. Inwieweit Kafka in der Selbstdarstellung seines ter zwei Bedingungen: den Selbstaussagen Kafkas
Schaffensprozess 435

und den »Gesetzmäßigkeiten des psychischen Appa- Zur Erklärung der »allmählichen Verfertigung der
rats« (Binder 1983, 16). Aus der Sozialgeschichte der Gedanken beim Schreiben« verwendet Pasley kein
Literatur entlehnt er das Kriterium einer engen Ver- psychoanalytisches Modell. In dem Aufsatz Kafkas
bindung von Text und konkretem historischem Er- »Hinausspringen aus der Totschlägerreihe« stellt er
eignis. Der möglichst umfassende Nachvollzug des vielmehr eine »Gleichzeitigkeit von Geschehen und
konkreten Lebens Kafkas wird Ausgangspunkt zur Beobachten« fest, (Pasley, 147 [zuerst 1987]) und
Beschreibung der Transformationen von Leben in formuliert eine Alternative zur tiefenpsychologi-
Literatur, wobei die Veränderung durch die Struktu- schen Sicht: Schreiberfahrung und Traumerfahrung
ren der individuellen Psyche Kafkas bedingt ist. Bin- ähneln sich. Das Analogieverfahren ist methodisch
der versteht Kafkas Schreiben als psychotischen Zu- nicht einfach zu kontrollieren, denn Schreibprozesse
stand (62). Im Schreibprozess ist die »Führungsrolle und Traumprozesse unterscheiden sich durch den
des Bewusstseins« keinesfalls zu beobachten (27, Anteil bewusster Eingriffsmöglichkeiten. Das traum-
43). Das bewusste Ich erscheint nach Binder bei artige Schreiben Kafkas enthält Korrekturprozesse,
Kafka im Schreiben als etwas Fremdes, da unbe- Eingriffe und Umschreibungen, die auf ein waches
wusste Phänomene zum Vorschein kommen, die Bewusstsein hinweisen. Dennoch ist mit Hilfe der
den Ablauf und die Kohärenz des Schreibens garan- Analogie auf eine Reihe wichtiger Schaffensaspekte
tieren (29). Solche unbewussten, »energetischen« aufmerksam gemacht.
Ströme werden von Binder als »Lebenskraft« (45) Walter Müller-Seidel beschreibt ein antiklassi-
verstanden. Sie erschafft in freier Assoziation die rät- sches Verständnis des Schreibens, das er mit dem At-
selhaften Geschichten Kafkas, deren Sinn dem Autor tribut »traumhaft« ausstattet (Müller-Seidel, 110 ff.).
fremd bleiben kann. Intuition und Imagination wer- Die im Schreiben gewonnene Literatur sei existenz-
den von regressiven Zuständen bestimmt. haft, nicht zufällig verwende Kafka Bilder aus dem
Born beschäftigt sich schon 1969 mit der Meta- Wortfeld Geburt/Gebären für das Schreiben (108).
phorik des dichterischen Schaffens. Er gibt Hin- Ein »traumhaftes Schreiben« konstatiert auch Man-
weise auf die Geschichte des Schreibens seit der fred Engel bei Kafka. Für Engel sind die Verstöße ge-
Romantik, erkennt Parallelen bei der Konstitution gen die »›fundamental-ontologischen Basispostu-
von Sinn durch den Schreibprozess, der ebenso rati- late‹ unseres Realitätsbegriffs« (Engel, 247 f.) Hin-
onal wie phantastisch ist (Born 2000, 30 ff.). Born weise auf den Traum. Zuletzt hat Sophie von Glinski
versteht Kafkas Formulierung vom »Feuer zusam- die Imaginationsprozesse in der frühen Prosa mit
menhängender Stunden« (An F. Bauer, 3.12.1912; dem Traum verglichen.
B00–12 295 f.) als Intensivierung im Zustand des Bei Gerhard Neumann gerät der Schaffensaspekt
Schreibens und Veräußerlichung des Ichs während unter Berücksichtigung des Status der Texte und des
des Schreibens. Die These vom Schreiben als Morti- Geschriebenen in den Blick. Kittler und Neumann
fikation dagegen hat Gerhard Kurz weiterentwickelt (1990) postulieren, das Schreiben sei nicht auf die
(Kurz 1980, 46). Historisch hilfreich ist Borns Hin- Herstellung von Werken ausgerichtet, sondern stehe
weis auf den Psychologen Richard Müller-Freienfels, unter einem ›Doppelgesetz‹ von Sprachströmung
dessen Psychologie der Kunst (1912) mit einer Meta- und Sprachhemmung, das mehr der Selbsterkun-
phorik für kreative Prozesse arbeitet, die jener Kaf- dung und Selbstvergewisserung dient, denn der ge-
kas vergleichbar ist. zielten Herstellung eines Werkes. Poetik und Selbst-
Pasley (1995, 100; zuerst 1980) rät zur Behutsam- erkundung sind, Neumann zufolge, bei Kafka iden-
keit bei der Bestimmung der psychologischen Be- tisch. Poetologisch interessant ist für ihn, wie schon
dingungen des Schreibens. Er stellt Koinzidenzen für Müller-Seidel, die Geburtsmetaphorik (Neu-
zwischen dem Geschriebenen und dem Schreiben mann 1992b). Geburt und Erlöschung bedingen sich
fest − beispielsweise heißt es in einem Text, der nach danach im Schreiben wechselseitig. Laut Neumann
Manuskriptbefund sichtlich mit spitzer Feder ge- (1990, 174) dient Kafkas Poetologie der Ersetzung
schrieben ist: »Suche ihn mit spitzer Feder« (NSF II, der Liebe durch die Schrift; umgekehrt aber auch der
566; Pasley, 101). Das Schreiben hängt demnach von Beglaubigung der Schrift aus einer Liebe, deren
den konkreten Bedingungen der Schreibsituation ab. Handlungsregel die unbedingt eingehaltene Distanz
Pasley leitet daraus ab, dass Kafkas Texte dem ist. Literatur bedeutet »Abwesenheit von Liebe. Sie
Schreibvorgang abgerungen sind, es gebe eine »Part- wird möglich durch Trennung der Zeichen vom
nerschaft von Erfindung und Aufzeichnung« (105). Körper«. Wenn Schreiben nun die einzige Form des
436 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Lebens für Kafka bedeutet, gerät er in einen Wider- und Körper verlöschen in der Schrift, sie werden
spruch, der nicht mehr auflösbar ist – eine Dichoto- nicht, auch nicht für den Bruchteil des Schreibens,
mie von Körper und Schrift (Neumann 1980, 392). paradox sichtbar und erfahrbar.
Die Initialwirkung der Arbeiten der KA-Heraus- Bei Ley und Schärf wird das Verhältnis von Leben
geber hat weitere Untersuchungen zum Schreiben und Literatur so gedeutet, dass die Literatur das Le-
hervorgerufen, die sich nicht mehr nur als Fort- ben durchstreicht. Andere Deutungen des Verhält-
schreibungen der psychoanalytischen Sichtweise nisses von Leben und Literatur stammen von Peter-
verstehen lassen, sondern über sie hinaus die Eigen- André Alt und Oliver Jahraus, in denen das Leben in
ständigkeit des Ästhetischen betonen und nach den Literatur transferiert wird. Nach Alt ist die Biogra-
literarischen Momenten des Schreibens bei Kafka phie der Grund, auf dem die Literatur überhaupt erst
fragen. Detlef Kremer untersucht die Versuche Kaf- entsteht – womit er an psychoanalytische Deutun-
kas, Schrift zu verlebendigen und fragt nach den gen anknüpft. Jahraus wiederum verbindet Literatur
Motivationen dieses Schreibens (Kremer, 22). In sei- und Leben über den Sexualakt. An die Stelle der Frau
ner Sicht wird bei Kafka Leben in Literatur verwan- trete die Literatur. Ähnlich wie bei Kremer und Neu-
delt. Die Verwandlung in Schrift führt aber zum Ab- mann kommt die Produktivkraft des Schreibens aus
arbeiten an der Verwandlung des Ichs in der Schrift der »sexuellen Handhabung« des Schreibens; Sexua-
(125). Im Scheitern der authentischen Selbsterkun- lität sei das Medium, das den Umschlag vom Exis-
dung zeigt sich Schrift als Folter und als Grab. Gra- tentiellen ins Literarische ermögliche (Jahraus, 149).
ben und Schreiben gehören dann zwar zusammen, Notwendig erscheint für den Umschwung eine bio-
sie können aber durch ein Durchbrechen der Logik graphische Problemkonstellation, die dann in der
für kurze Zeit wieder in einen Zustand der Verleben- Literatur bearbeitet werden kann.
digung überführt werden. Das Schreiben arbeitet Sandra Kluwe greift Erkenntnisse aus der Neuro-
sich so ohne Ende an der Schrift ab (vgl. auch Bau- physiologie des Gehirns auf. Sie erklärt Kafkas
mann u. Guntermann). Schreibzustände als normale Reaktionen des Ge-
Waldemar Fromm beschreibt die strukturelle hirns auf kreative Prozesse. Man könnte daraus den
Ähnlichkeit von Schreiberfahrung und Erfahrungen Schluss ziehen, dass Kafka sich darum bemüht habe,
der Figuren in der Prosa. Schreiben entkräftet das seinem Gehirn die optimalen Umgebungsbedingun-
Werk, insofern es in der eigenen Bewegung auf et- gen zu schaffen, um angesichts der individuellen
was verweist, das im Werk nicht ansichtig werden neurophysiologischen Ausstattung Literatur zu pro-
kann. Diese Differenz zwischen dem, was im Schrei- duzieren.
ben noch vorhanden war, und dem entstandenen (Vgl. zum Schaffensprozess auch die Detailunter-
Text sucht Kafka wiederholt in den Erfahrungen der suchungen zum ›Konvolut 1920‹ ä 347–350.)
Figuren zu inszenieren. Mit der fortschreitenden
Schreiberfahrung reflektiert Kafka sein Schreibpro- P.-A. Alt (2005). – Gerhart Baumann: Schreiben, – Der
blem zunehmend im Kontext mythischer und christ- endlose Prozeß im Tagebuch F.K.s. In: EG 39 (1984),
lich-jüdischer religiöser Texte. 163–174. – Henri Bergson: Materie und Gedächtnis.
Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Kör-
Christian Schärf fokussiert in seiner Studie die
per und Geist. Hamburg 1991. – Hartmut Binder: K.s
Schrift und fragt, wie sie von Kafka verstanden wird:
Schaffensprozeß, mit besonderer Berücksichtigung des
Im Schreiben vollziehe sich »die Herstellung eines
Urteils. Eine Analyse seiner Aussagen über das Schrei-
Körpers, der die Zeichen der Existenz trägt« (Schärf,
ben mit Hilfe der Handschriften und auf Grund
8); Ziel dieses Schreibens sei die Herstellung der Un- psychologischer Theoreme. In: Euphorion 70 (1976a),
begreiflichkeit des Seins (10 f.). Kafka überwinde im 129–174. − Ders.: K.s Varianten. In: DVjs 50 (1976b),
Körper der Schrift die Differenz von Denken und 477–510. − Ders.: K. Der Schaffensprozeß. Frankfurt/M.
Sein. Im Anschluss an Schärf sieht Oliver Ley aus 1983. – Ders.: F.K.s Verwandlung. Entstehung, Deutung,
dem Schreiben einen »autonomen Schriftkomplex« Wirkung. Frankfurt/M. 2004. – Maurice Blanchot: Von
resultieren, der das biographische »Verschwinden« K. zu K. Frankfurt/M. 1993. – Jürgen Born: »Daß zwei
in der Schrift garantiert (Ley, 93). Das Schreiben ei- in mir kämpfen …« und andere Aufsätze zu F.K. Furth
ner unveränderlichen Schrift entwickelt Immunisie- im Wald, Prag 2000. – Deleuze/Guattari (1976). – Man-
rungsstrategien gegen die Exegese, indem ihre Ge- fred Engel: Literarische Träume und traumhaftes
nese unendlich reflektiert wird; so bilde sich eine Schreiben bei F.K. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der
Wahrheit ohne außersprachliches Korrelat (102). Ich Moderne. In: Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen.
Schaffensprozess 437

Traumerzählung in Film und Literatur. St. Augustin didaktischen Implikationen. Frankfurt/M. u. a. 1985. –
1998, 233–263. – Waldemar Fromm: Artistisches Bernhard Siegert: Kartographien der Zerstreuung. Jar-
Schreiben. F.K.s Poetik zwischen Proceß und Schloß. gon und die Schrift der jüdischen Traditionsbewegung
München 1998. – Sophie von Glinski: Imaginationspro- bei K. In: Kittler/Neumann (1990), 222–247.
zesse. Verfahren phantastischen Erzählens in F.K.s Waldemar Fromm
Frühwerk. Berlin u. a. 2004. – G. Guntermann (1991). –
E.W. Haring (2004). – Mark Harmann: Die Ästhetik der
Andeutung. K.s Streichungen im Schreibprozeß. In:
Neue Rundschau 112 (2001) 2, 104–123. – Heinz Hill-
mann: Schaffensprozeß. In: KHb (1979) II, 14–35. –
O. Jahraus (2006). – Wolf Kittler: Brief oder Blick. Die
Schreibsituation der frühen Texte von F.K. In: G. Kurz
(1984), 40–67. – Sandra Kluwe: Furor poeticus. Ansätze
zu einer neurophysiologisch fundierten Theorie der li-
teraririschen Kreativität am Beispiel der Produktions-
ästhetik Rilkes und F.K.s. www.literaturkritik.de/pub-
lic/rezension.php?rez_id=10438&ausgabe=200702
(16.2.2007). – Hermann Korte: Schreib-Arbeit. Literari-
sche Autorschaft in F.K.s Tagebüchern. In: H.L. Arnold
(2006), 254–271. – Detlef Kremer: K. Die Erotik des
Schreibens. Bodenheim 2. erw. Aufl. 1998. – G. Kurz
(1980). – Hans-Thies Lehmann: Der buchstäbliche Kör-
per. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei F.K. In:
G. Kurz (1984), 213–241. – Oliver Ley: F.K.: Schreibpro-
zess, unveränderliche Schrift und Deutungsmaschine.
In: Christian Schärf (Hg.): Schreiben. Szenen einer
Sinngeschichte. Tübingen 2002, 89–105. – Walter Mül-
ler-Seidel: F.K.s Begriff des Schreibens und die moderne
Literatur. In: LiLi 68 (1987), 104–121. – Gerhard Neu-
mann: Schreibschrein und Strafapparat. Erwägungen
zur Topographie des Schreibens. In: Günter Schnitzler
(Hg.): Bild und Gedanke. Fs. für Gerhart Baumann zum
60. Geburtstag. München 1980, 385–401. – Ders.: Der
verschleppte Prozeß: Literarisches Schaffen zwischen
Schreibstrom und Werkidol. In: Poetica 14 (1982), 92–
111. – Ders.: »Nachrichten vom Pontus«. Das Problem
der Kunst im Werk F.K.s. In: Kittler/Neumann (1990),
164–198. – Ders. [1992a]: Hungerkünstler und sin-
gende Maus. F.K.s Konzept der »kleinen Literaturen«.
In: Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dich-
ters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller von
der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1992,
227–247. – Ders. [1992b]: Der Zauber des Anfangs und
das »Zögern vor der Geburt«. F.K.s Poetologie des »ris-
kantesten Augenblicks«. In: Hans Dieter Zimmermann
(Hg.): Nach erneuter Lektüre: F.K.s Der Proceß. Würz-
burg 1992, 121–142. – Malcolm Pasley: »Die Schrift ist
unveränderlich…«. Essays zu K. Frankfurt/M. 1995. –
Roland Reuß: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine
historisch-kritische K.-Ausgabe. In: E/FKA, 9–24. –
Christian Schärf: F.K. Poetischer Text und heilige
Schrift. Göttingen 2000. – Christiane Schulz: Der
Schreibprozeß bei Thomas Mann und F.K. und seine
438 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

4.3 Kafka als Erzähler mung nach erst mit der Niederschrift des Urteils im
Jahre 1912 vollzog (23.9.1912; T 460 f.), lässt sich
vielleicht als Beginn seines eigentlichen Erzählens
auffassen, zumal die Forschung zu dem Schluss ge-
Vorüberlegungen kommen ist, der Autor habe bis zu diesem Zeitpunkt
»noch über keine persönliche Erzählweise« verfügt
Kafka hat vorwiegend Erzählprosa verfasst, obgleich (Robertson, 51; Hillmann, 171; dazu kritisch Kurz,
er sicher nicht zu den »born story-tellers« gehört 7).
(Pascal, 13), weil seinem Erzählen die hierzu ver-
meintlich notwendige ›Ursprünglichkeit‹ und ›Na- ›Modernes‹ Erzählen
türlichkeit‹ fehlt. Dabei ist diese Prosa außerordent-
lich heterogen und mit einem emphatischen Begriff Die Bedeutung Kafkas nicht nur für das Verständnis
vom Erzähler, wie Walter Benjamin ihn formuliert der modernen Literatur, sondern für spezifische As-
hat (Benjamin 1936), nur bedingt zu beschreiben. pekte der Moderne überhaupt begründet sich zwei-
Unterscheiden lassen sich Kafkas Erzähltexte fellos aus den meist originellen Grundeinfällen sei-
(1) nach den drei Werkphasen in ihrer zeitlichen Ab- ner Texte, wie etwa der auf den ersten Blick dubiosen
folge, (2) nach zu Kafkas Lebzeiten veröffentlichtem Verhaftung Josef K.s im Process oder der Verwand-
und als Nachlass publiziertem Werk, wobei letzteres lung Gregor Samsas »zu einem ungeheueren Unge-
wiederum (3) aus in sich geschlossenen Texten ei- ziefer« (DzL 115). Die Verknüpfung von phantasti-
nerseits und Fragment gebliebenen Entwürfen ande- schen und realistischen Elementen erscheint aller-
rerseits besteht. (4) Schließlich bedarf es der gat- dings nicht, wie zum Beispiel bei E.T.A. Hoffmann,
tungstheoretisch durchaus gebotenen Unterschei- als Manifestation des Unheimlichen oder Bedrohli-
dung zwischen den Romanen, Erzählungen, chen, vielmehr wird es geradezu beiläufig erzählt.
Aphorismen, Parabeln, Briefen, Tagebüchern oder Die Verwandlung Gregor Samsas mag ein Unglück
amtlichen Schriften, weil sich in diesen Texten das für den Protagonisten und mehr noch für seine Fa-
Erzählmoment, sofern es sich überhaupt als solches milie sein – der ungewöhnlichen Tatsache selber wi-
bestimmen lässt, jeweils unterschiedlich darstellt. derfährt kein Kommentar, auch wundert sich keine
Konstitutiv für all diese Zusammenhänge ist zudem, der Figuren über das Geschehen. Man richtet sich
(5) ob man Kafkas Texte einem tendenziell unifizie- mit den aus diesem Ärgernis entstehenden Unbe-
renden Werkbegriff aussetzt oder, ihren unab- quemlichkeiten ein, widmet sich im Übrigen aber
schließbaren Prozesscharakter betonend, sie als der erforderlichen Neuorganisation des Alltags,
›Schrift‹ begreift, nämlich als unabgeschlossenen während dem Leser das Unterste zuoberst gekehrt
und unabschließbaren Schreibvorgang (Neumann zu sein scheint. Im Sinne Benjamins erweist sich
1981). Kafka hier als genuiner ›Erzähler‹, weil er das Er-
Prozessualität aber schließt eine Entwicklung und zählte ohne alle Erklärung für sich bestehen lässt
Ausdifferenzierung von Kafkas Erzählweisen ein. (Benjamin 1936, 445 f.). Dass in diesen Texten nie-
Denn der Autor erzählt zu Beginn seines Schaffens mand über den Einbruch des Wunderbaren oder
zweifellos anders als am Ende. Das zeigt sich thema- Unerwarteten staunt, rückt sie gattungstheoretisch
tisch, da zum Beispiel die frühen Texte um Kom- in die Nähe der Groteske (Kayser, 157–161; Nagel,
plexe wie Recht, Schuld oder Verantwortung krei- 259–267), aber auch in die des Märchens, und ent-
sen, während der letzte Erzählband Ein Hunger- sprechend sind sie wahlweise als »Märchen für Dia-
künstler. Vier Geschichten (1924) die Kunst in den lektiker« (Benjamin 1934, 415) oder als »Antimär-
Vordergrund rückt. Es zeigt sich aber auch in forma- chen« (Heselhaus, 356) aufgefasst worden, wobei
ler Hinsicht, sofern die späten Texte, insbesondere diese Position in der neueren Forschung nicht unwi-
<Der Bau> und Das Schloss, sowohl von einer wach- dersprochen geblieben ist (Höfle, 119–121).
senden strukturellen Ironie und einem Abstraktwer- Die Bedeutung von Kafkas Werk für die moderne
den des Erzählens als auch von einer Zurückdrän- Literatur liegt jedoch nicht allein in den (oft) außer-
gung des Erzählens als Darstellung von Handlung gewöhnlichen Grundeinfällen der Texte, sondern
zugunsten einer in Monologe oder Dialoge eingebet- auch in den von Kafka sukzessive entwickelten Dar-
teten Reflexion geprägt sind. Kafkas Durchbruch stellungstechniken, in der Art seines Erzählens, die
zum Künstler, der sich seiner eigenen Wahrneh- häufig eine Verunsicherung des Lesers zur Folge hat,
Kafka als Erzähler 439

an welchen der Autor jenen für die Moderne typi- über Kafkas poetologische Grundsätze. An Otto
schen, aus der funktionalen Ausdifferenzierung und Stoessl schreibt Kafka am 27. Januar 1913: »Sie zu
lebensweltlichen Pluralisierung erwachsenden Ori- sehn und zu hören, war damals eine große Aufmun-
entierungsdruck weitergibt. Gerade die Komplexität terung für mich und eine Bemerkung, die Sie damals
dieser Erzählformen hat die Wirkungsmächtigkeit machten: ›Der Epiker weiß alles‹ trage ich noch
von Kafkas Texten mitbegründet und eine kontinu- heute mit großem Widerhall in mir herum« (B13–
ierliche Diskussion ihrer Funktionsweisen zur Folge 14 66). − Kafka mag als Epiker alles wissen, aber er
gehabt. Denn in seinen Erzählungen und Romanen erzählt es nicht.
vollzieht sich nicht nur ein thematischer Umbruch
in die Moderne, sondern auch eine formale Trans-
formation, die sich nicht zuletzt der Verbindung von Poetik der Reduktion
deutschen und jüdischen Erzähltraditionen verdankt
(Robertson, 226 f.; Grözinger). Diese Poetik der »Reduktion von Sprache, Erzähl-
haltung und epischen Aussagemitteln« findet auf
Erzählpoetologische Reflexionen mehreren Ebenen statt (Kessler, 24; vgl. auch Kud-
szus 1970, 311; Ramm 1971; Beicken 1978, 223).
Kafka hat in umfänglicher Weise über Literatur so- Sie zeigt sich zum einen in der bewussten lexikali-
wie über Schreiben und Schriftlichkeit reflektiert, in schen Kargheit von Kafkas Sprache, die sich einer-
Tagebüchern und Briefen ebenso wie in seinen fikti- seits aus den isolierten Bedingungen des so genann-
onalen Texten; daher rührt auch das große Interesse ten Prager Deutsch um 1900 begründet (vgl. Wagen-
der Forschung am Schrift-Begriff (vgl. Kittler/Neu- bach, 81–96; Alt, 62; Kilcher, 70–83), andererseits
mann; Kremer; Schärf). Allerdings macht der Autor mit Kafkas Vorstellung von sprachlicher Präzision
das Erzählen als konkretes Verfahren, also die tech- zusammenhängt und seiner Skepsis gegenüber der
nisch-formale Seite der Darstellung, selten aus- zeitgenössischen, insbesondere dann expressionisti-
drücklich zum Thema, und wo dies geschieht, arti- schen Hyperbolik. »Die Sprache kann für alles au-
kuliert er sich meist knapp und allgemein, wie bei- ßerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise,
spielsweise in einem frühen Brief an Oskar Pollak: aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise
Vor allem weiß ich heute eines: Die Kunst hat das Hand- gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnli-
werk nötiger als das Handwerk die Kunst. Natürlich chen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehungen
glaube ich nicht, daß man sich zum Gebären zwingen handelt« (NSF II, 59 u. 126). Aufgrund dieser Über-
kann, wohl aber zum Erziehen der Kinder (vermutl. zeugung begrenzt Kafka die Sprache oft auf die Dar-
nach 6.9.1903; B00–12 27).
stellung des konkret Gegenständlichen als des sinn-
An Konkretion und Anschaulichkeit gewinnen sol- lich Anschaulichen.
che Einlassungen entweder in poetologischen Refle- Eine zweite, hiermit verbundene Form der Reduk-
xionen zu den kleinen Litteraturen (25.-27.12.1911; tion zeigt sich in Kafkas weitgehender Beschränkung
T 312–315, 321 f., 326), in unmittelbarer Auseinan- auf die Darstellung äußerer Vorgänge, also auf das,
dersetzung mit den eigenen Texten oder im Rahmen was der jeweilige Protagonist über seinen Sinnesap-
seiner privaten Kanonbildung, also der Einschät- parat wahrnimmt und als Reflektorfigur entspre-
zung anderer Autoren, wo Kafkas Urteile große chend berichtet. Der im Bewusstsein des Protago-
Schärfe beweisen; positiv beurteilt er bekanntlich nisten repräsentierten sinnlich gegebenen Welt kor-
Goethe, Kleist, Flaubert, Strindberg oder Dostoevs- reliert demnach in logischer Folge eine sinnlich
kij, negativ Schnitzler, Rosegger und andere. konkrete Sprache. Es ist also zwar ein Erzählen von
Auch das in den Tagebüchern zu beobachtende, ›innen‹ heraus, aber kein Erzählen vom Inneren, das
unablässige Formulieren und Reformulieren von Er- Kafka, wie der von ihm geschätzte Heinrich von
zählanfängen, ihr Abbrechen und Neueinsetzen, die Kleist, hier betreibt. Dieses narrative Prinzip er-
Variationen bestimmter Passagen, mit denen der wächst unter anderem aus dem Vorbehalt des Autors
Autor nicht einverstanden war, etwa mit dem Schluss gegenüber der zeitgenössischen Konjunktur der Psy-
von In der Strafkolonie (7.-9.8.1917; T 822–827), so- chologie sowie des psychologisierenden Erzählens:
wie die Skrupulosität bei der Auswahl, Zusammen- »Übelkeit nach zuviel Psychologie. Wenn einer gute
stellung und inneren Anordnung der einzelnen Er- Beine hat und an die Psychologie herangelassen
zählungsbände geben zumindest indirekt Aufschluss wird, kann er in kurzer Zeit und in beliebigem Zick-
440 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

zack Strecken zurücklegen, wie auf keinem anderen weithin unverständlich. Der Leser ist an die Innen-
Feld. Da gehen einem die Augen über« (NSF I, 423). sicht der Figur gebunden, jedoch nicht an das Innere
Mehrfach ermahnt er sich: »Zum letztenmal Psycho- der Figur. Darin ist ein wesentlicher Unterschied
logie!« (NSF II, 81 u. 134) und nennt Gründe, die zum realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts zu
poetologische Konsequenzen haben: sehen, dessen Erzählverfahren sich Kafka dennoch
»Es gibt keine Beobachtung der innern Welt, so teilweise zunutze macht, wo es ihm auf mimetischen
wie es eine der äußern gibt. Psychologie ist wahr- Illusionismus ankommt.
scheinlich in der Gänze ein Anthropomorphismus, Eine solche Poetik der Reduktion darf als Ergeb-
ein Annagen [Lesung des Wortes unsicher] der nis der Auseinandersetzung mit jener Krise der Re-
Grenzen« (NSF II, 32). Mehr noch: »Die innere Welt präsentation verstanden werden, die sich im späten
lässt sich nur leben, nicht beschreiben« (NSF II:A, 19. Jahrhundert hauptsächlich in Form von Sprach-
199). Wovon man aber nichts weiß, davon muss man skepsis artikuliert, etwa bei Nietzsche, Mauthner
schweigen. Nicht zuletzt als Reaktion auf solche Er- oder Hofmannsthal, der Kafka in frühen Jahren als
wägungen und in Analogie zu Kleist lässt sich in Stilideal dient. Dieser dezidiert sprachskeptischen
Kafkas Erzählen eine Ausrichtung auf das Gestische Richtung lässt sich Kafka freilich nur bedingt zuord-
und Szenische als die sichtbare Seite des Äußeren nen (vgl. dagegen Kessler), weil bei ihm die Sprache
beobachten (Alt, 500). an sich nur punktuell der Kritik verfällt. An Felice
In dem für den repräsentationalen Umbruch der Bauer schreibt er im Februar 1913:
Moderne grundlegenden Aufsatz Character in Fic-
Hinweise auf die Schwäche der Sprache und Vergleiche
tion (1924) hat Virginia Woolf für die Zeit nach der zwischen der Begrenztheit der Worte und der Unend-
Jahrhundertwende, genauer: für die Zeit um 1910, lichkeit des Gefühls sind ganz verfehlt. […] Das was im
festgestellt: »All human relations have shifted« Innern klar ist, wird es auch unweigerlich in Worten.
(Woolf, 422). Wolle man dieser Veränderung im Deshalb muß man niemals um die Sprache Sorge haben,
aber im Anblick der Worte oft Sorge um sich selbst
menschlichen Charakter Rechnung tragen, dann sei (18./19.2.1913; B13–14 98 f.).
ein Wandel der Darstellung von Außen nach Innen
zwingend geboten, z. B. durch inneren Monolog, an- Die Skepsis des Autors richtet sich demnach eher auf
dernfalls verfehle man die Wirklichkeit der moder- einen bestimmten Sprachgebrauch, beispielsweise
nen Welt im Roman. Kafkas Werk darf geradezu als gegen den »Schwulst« und »die großen Worte« (An
Paradebeispiel für diese Veränderung begriffen wer- O. Pollak, vermutl. nach 6.9.1903; B00–12 27), aber
den, doch nicht im Sinne einer Fokussierung auf die etwa auch gegen Darstellungsformen, die dem bloß
Repräsentation innerer Vorgänge als einer Psycholo- Allegorischen verhaftet bleiben (An G. Bloch,
gisierung der Figuren. Sein Erzählen verfährt ent- 6.6.1914; B14–17 81 f.), vor allem aber gegen man-
schieden antipsychologisch, woraus sich auch die gelnde Präzision und Klarheit im Ausdruck. An Fe-
Geringschätzung Arthur Schnitzlers erklärt, dessen lice Bauer heißt es kritisch: »Worte, wie ›furchtbar,
Werk er, abgesehen von frühen Texten, für »schlechte riesig, ungeheuer, famos‹ streut Ihr nur so hin, das
Litteratur« hält (An F. Bauer, 14./15.2.1913; B13–14 richtig charakterisierende ›sehr‹ sucht Ihr lieber zu
91 f.). Kafka erzählt Geschichten von Wahrneh- vermeiden« (24.4.1914; B14–17 43). Und weiter:
mungs- und Bewusstseinsvorgängen jenseits psy-
Was die Kraftausdrücke anlangt, hast du mich ein wenig
chologischer Erklärungsmuster. Seine Figuren blei-
mißverstanden. Nicht diese Ausdrücke an und für sich
ben meist opak, da sie dem Leser zwar ein Inneres sind merkwürdig, merkwürdig ist daß Ihr einerseits
vorführen, ihm aber den (identifikatorischen) Zu- diese vor lauter Riesenhaftigkeit leeren Worte wählt (den
gang dazu gleichzeitig verbauen. Mädchen scheinen sie unter schwerem Atem wie große
So kann etwa der Leser im Verschollenen den un- Ratten aus dem kleinen Mund zu kommen) andererseits
aber auch gern matte, wenig bezeichnende Worte bevor-
widerruflichen Niedergang von Karl Roßmann in je- zugt, und so in einer Art Riesentempo nicht eigentlich
dem Augenblick mitverfolgen (und beklagen), weil darstellt, sondern die richtige Darstellung umläuft (An
er in jedes einzelne Detail von Roßmanns Wahrneh- F. Bauer, vermutl. 26.4.1914; B14–17 45)
mung Einblick erhält. Da ihm aber die jeweiligen
Verhaltensmotivationen vorenthalten werden, also Präzision und Klarheit in Wortwahl und Darstel-
beispielsweise die Gründe für den mangelnden Wi- lung sind folglich als handwerkliche Rückseite des-
derstand des Protagonisten gegen die ihn quälenden sen zu begreifen, was sich als Einfachheit oder gar
Robinson und Delamarche, bleibt die Figur selbst Armut der Sprache zunächst vermeintlich darbietet.
Kafka als Erzähler 441

Aus diesem Streben nach Präzision und Klarheit re- Zu den wesentlichen Erzähltechniken des Autors
sultiert auch Kafkas kontinuierliches Ringen um gehören aber auch die Ironisierung, die Konzentra-
Metaphern, weil diese stets ein Moment der Unbe- tion auf das Kleine und vermeintlich Nebensächli-
stimmtheit mit sich führen: »Die Metaphern sind ei- che, die Entwirklichung oder Relativierung von Aus-
nes in dem Vielen, was mich am Schreiben verzwei- sagen, die häufig eine außerordentliche Komplexi-
feln läßt« (6.12.1921; T 875). Nichtsdestoweniger ist tätssteigerung bewirken und damit zu den bekannten
sein Werk von einer umfassenden, auf Metaphern Interpretationsschwierigkeiten von Kafkas Texten
gründenden Bildlichkeit geprägt (Hillmann, 136 f.); beitragen. Zu nennen sind weiterhin Konjunktivket-
insbesondere das Wörtlichnehmen von Metaphern ten (Walser, 30), Als-ob-Konstruktionen, Perspek-
und das narrative Ausbauen von Sprachbildern ge- tivwechsel von Satz zu Satz, aber auch innerhalb ein-
hören zu den zentralen Konstituenten der Hand- zelner Sätze, semantische Verschiebungen und nar-
lungs- und Erzähllogik (Engel 2006, 257). Die Trans- rative Selbstkorrekturen, die zwar den Anschein der
formation einer wörtlich genommenen Metapher in Präzisierung erwecken, Protagonist und Leser je-
einen Handlungszusammenhang zeigt z. B. ein Frag- doch nur tiefer in die Desorientierung der Bedeu-
ment aus dem Umkreis der Strafkolonie, wo über tungen treiben; schließlich kommen noch Hand-
den Reisenden gesagt wird: »Wie erfrischt sprang er lungsumschwünge und Funktionswechsel des Dar-
auf, als sie ihn ansprachen. Die Hand auf dem Her- gestellten sowie scheinbare Inkonsistenzen des
zen, sagte er: ›Ich will ein Hundsfott sein, wenn ich jeweiligen Erzählers hinzu. Der Reduktion bestimm-
das zulasse.‹ Aber dann nahm er das wörtlich, und ter Darstellungsmittel steht demnach die Integration
begann auf allen Vieren umherzulaufen« (7.8.1917; anderer, im Folgenden näher zu erläuternder Ver-
T 822). fahren gegenüber.

›Einsinniges Erzählen‹
Formale Innovationen
Den zentralen und dauerhaften Referenzpunkt der
Mit der übergreifenden Tendenz zur Reduktion oder Forschung bildet in diesem Zusammenhang Fried-
gar zum Verzicht auf bestimmte Darstellungsele- rich Beißners These vom »einsinnigen Erzählen«
mente gehen allerdings die Variation vorgefundener (Beißner 1983 [zuerst 1952]). Im Grunde bemühen
Muster und die Etablierung alternativer Formen ein- sich seither alle narratologischen Überlegungen zu
her. Zwar lässt sich Kafka keiner der literarischen Kafkas Erzählweise um eine Ausdifferenzierung von
Strömungen um 1900 konkret zuordnen, auch nicht Beißners Position. Dabei ist es zwar zu Modifikatio-
dem Expressionismus, doch teilt er mit den moder- nen und Präzisierungen gekommen, niemals jedoch
nen Avantgarden das Ringen um neue Formen im zu einer gänzlichen Entwertung der Ausgangsthese.
Angesicht der generellen Krise der Repräsentation. Beißner konstatiert, dass Kafka zwar »von innen her
Und natürlich mag dieses Ringen um die jeweilige erzählt« (Beißner, 39), jedoch nicht »psychologisch«
Form auch ein individuelles Problem des Autors im traditionellen Sinne: »Kafka erzählt, was anschei-
Kafka sein (Pascal, 13), dennoch gehört es zum über- nend bisher nicht bemerkt worden ist, stets einsin-
greifenden Bewusstsein der Klassischen Moderne, nig, nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der
keine der überlieferten Formen für sich bestehen las- dritten Person« (Beißner, 37). Unter »einsinnig« ver-
sen zu wollen: Denn gegen die Verdinglichung der steht Beißner das Faktum, dass bei Kafka der Erzäh-
Formen als Tendenz des Epigonentums im 19. Jahr- ler nirgends dem Erzählten voraus ist, dass folglich
hundert setzt die gesamte Klassische Moderne einen »der Erzähler im Augenblick nicht mehr zu wissen
ganz anders gearteten Willen zur Form, der letztlich scheint als der Zuhörer oder Leser« (Beißner, 40; vgl.
auf die Individualisierung der Formen hinausläuft. ausführlich Walser, 21–45).
Kafkas dominanter Erzählmodus der weitgehenden Gegen den unterstellten Ausschließlichkeitsan-
Beschränkung auf den figuralen Wahrnehmungs-, spruch dieser Behauptung sind im Laufe der Jahre
Erfahrungs-, Reflexions- und Sprachhorizont zählt etliche Einwände vorgetragen worden, die einerseits
zu diesen folgenreichen formalen Innovationen, das Ergebnis einer detaillierteren Lektüre von Kaf-
wiewohl sich Vorformen davon bei Jane Austen, kas Texten darstellen, die sich im selben Maße aber
Gustave Flaubert oder Henry James aufweisen lassen auch der forschungsgeschichtlich relevanten Erwei-
(vgl. W. Müller, 120–128; Pascal, 7 f.). terung des analytischen Instrumentariums zur Be-
442 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

schreibung von Erzähltexten verdanken. Die im freilich gleich zu Beginn des Textes regelrecht vorge-
Rahmen der Narratologie entwickelten Typologien, führt wird, kommt der Erinnerung weder für das Er-
Terminologien und Formalisierungen erlauben zählen noch für die Ich-Konstitution der Protago-
schlicht eine höhere Genauigkeit bei der Erfassung nisten erkennbare Bedeutung zu (Walser, 41 f.; Höfle,
einzelner Textphänomene und Redeebenen, so dass 159–167). Wo aber die Erinnerung eine Rolle zu
sich auch das von einem einheitlichen Gestus be- spielen scheint, wie im Fragment Beim Bau der chi-
stimmte Erzählen Kafkas wesentlich variantenrei- nesischen Mauer, dort wird sie durch die Aufhebung
cher darbietet, als es vielleicht zunächst den An- der chronologischen Ordnung sowie durch die un-
schein hat. ablässige Vermischung der Zeitebenen diskreditiert,
So haben Winfried Kudszus und Walter Sokel auf ein Verfahren, das sich der Autor auch in anderen
die bisweilen dominanten auktorialen Elemente in Texten zunutze macht (Der neue Advokat).
Kafkas Texten hingewiesen (Kudszus 1964, Sokel Mit der forschungsgeschichtlichen Ablösung der
1967). Außerdem hat Kudszus vorgeschlagen, den Erzähltypologie von Stanzel durch Genettes wesent-
Begriff der »Einsinnigkeit« durch jenen des »per- lich differenzierteres narratologisches Analysemo-
spektivischen Solipsismus« zu ersetzen, um dem la- dell sind auch Kafkas Texte in ihren Erzählstrategien
tenten Perspektivismus der Texte besser Rechnung und Erzählsegmenten genauer beschreibbar gewor-
zu tragen. Während die auktorialen Elemente oft die den, wiewohl Beißners These weiterhin als Bezugs-
Textanfänge bestimmten, verenge sich das Erzählen punkt dient. Doch Begriffe wie »narrated mono-
in einem von Kudszus als Reduktion gedeuteten logue« oder »monoperspectival psychonarration«
»perspektivischen Prozeß« oft auf die Sichtweise ei- (Miller, 134) als Charakterisierungen der vorherr-
ner Figur (Kudszus 1970, 309). Analog hat Peter U. schenden Erzählsituationen haben sich vorläufig
Beicken diese Reduktion auf die Wahrnehmungs- ebenso wenig durchsetzen können wie die Unterstel-
und Bewusstseinsvorgänge einer Figur als »Erzähl- lung der »absence of a narrator’s mind« (Miller, 134),
reduktion aufs Momentane« beschrieben (Beicken die Walsers Behauptung vom »erzählerlosen Erzäh-
1978, 223). len« widerspiegelt (Walser, 30). Als außerordentlich
Diese Fokussierung auf die Darstellung unmittel- fruchtbar hingegen haben sich Genettes Terminus
bar sich vollziehender Bewusstseinsvorgänge bedeu- der Fokalisierung und die mit ihm verknüpfte Un-
tet im Umkehrschluss, dass für Kafka die Erinne- terscheidung von ›Modus‹ und ›Stimme‹ (»Wer
rung als wesentliches Konstituens des Erzählens in sieht?« vs. »Wer spricht?«) erwiesen, weil damit die
der Moderne kaum eine Rolle spielt − ganz im Ge- der »Einsinnigkeit« zugrunde liegende Vermengung
gensatz etwa zu Proust, Joyce, Th. Mann oder Uwe von Blickwinkel der Figur einerseits und Erzähler-
Johnson, für die Erinnern und Erzählen unauflös- stimme andererseits aufgehoben wird. Erst unter
lich miteinander verschränkt sind. Fast programma- Voraussetzung dieser Differenz nämlich zeigt sich
tisch stellt Kafka bereits im Jahr 1900 fest: »Wie viel die besondere Pointe von Kafkas personalem Erzäh-
Worte in dem Buche stehn! Erinnern sollen sie! Als len: Zwar bekommt der Leser nur den Wissens- und
ob Worte erinnern könnten!« (NSF I, 8). Deutungshorizont des Helden vermittelt, doch wird
Die allmähliche Austreibung der Erinnerung aus ihm zugleich unmissverständlich signalisiert, dass
der Sprache und damit aus dem Erzählen zeigt der dieser unzureichend ist.
Entwicklungsgang von Kafkas Romanen besonders Von Genette ausgehend hat Joseph Vogl nicht nur
deutlich. Während im Verschollenen, der noch an die »Einsinnigkeit« bestritten, sondern auch die
den Realismus des 19. Jahrhunderts anschließt, der hiermit einhergehende These von der narrativen
Protagonist Karl Roßmann mit einer detaillierten, Stetigkeit sowie der »räumlichen, geometrischen
seinen ganzen Lebensgang bestimmenden Vergan- Ordnung der Erzählsituation« negiert (Vogl 1994,
genheit ausgestattet wird, erfährt man über Josef K.s 750). Vielmehr sei das Erzählen als »Vermischung
Vergangenheit im Process nur noch wenig, und im von direkter und indirekter Rede« zu begreifen, als
Schloss beschränken sich die Einblicke in K.s Erinne- Form, »in der ein Ich nicht aufhört, in der Maske des
rung, Vergangenheit oder Herkunft gar auf vier Er zu sprechen, in der sich die Rede einer Person in
kurze Sätze (S 17 f. u. 229) und eine − allerdings zen- der Rede eines Erzählers manifestiert und umge-
trale − Kindheitserinnerung (S 49 f.). kehrt, in der sich schließlich eine Interferenz und
Mit Ausnahme der Erzählung Ein Bericht für eine eine Interaktion zwischen narrativem und referier-
Akademie, in der die Abschaffung der Erinnerung tem Diskurs und damit eine Ununterscheidbarkeit
Kafka als Erzähler 443

der entsprechenden Äußerungssubjekte ergibt« Angesichts dieses »Schaukel-Diskurses« (Kremer,


(Vogl, 751 f.). 154), der Deutungsangebote ebenso aufweist wie
In diese Argumentation ordnet sich auch Michael Deutungsverweigerungen, laufen die aufgebauten
Scheffel mit der Beobachtung des kontinuierlichen Erwartungen des Lesers ins Leere und bedürfen un-
Übergangs von mittelbarem und unmittelbarem Er- ablässig der Korrektur (Neumann 1968, 708 f.; Bür-
zählen ein: Kafka schaffe »also eine Erzählkonstruk- ger, 301–311). Wie Scheffel gezeigt hat, lässt sich die-
tion, die die lebensweltlich-praktische Perspektive ses »gleitende Paradox« auch für die Romanstruktu-
des Protagonisten und die analytisch-retrospektive ren selbst nachweisen (Scheffel, 255–259).
des Erzählers zusammenbindet« (Scheffel, 255). In
dieser Verknüpfung unterschiedlicher Stufen der
Mittelbarkeit mit dem hier beschriebenen Perspekti- Zur Entwicklung der Erzähl-
vismus liegt einer der Gründe für die strikte Figu- verfahren
rengebundenheit des Sinnes, die zugleich eine Be-
stimmung eindeutiger Sinnperspektiven auf der Er- Solche stilistischen und strukturellen Eigentümlich-
zählebene unterläuft. keiten sind im Gedächtnis zu behalten, wenn man
den Prozess, den Kafka als Erzähler insgesamt zu-
›Gleitendes Paradox‹ rückgelegt hat, näher in Augenschein nehmen will.
Denn der Autor erzählt trotz der skizzierten wieder-
Auf einen weiteren zentralen Aspekt von Kafkas kehrenden Merkmale am Anfang deutlich anders als
Darstellungsstrategie hat Gerhard Neumann mit sei- am Ende seines kurzen Schaffens (vgl. dagegen Bin-
nem Begriff vom ›gleitenden Paradox‹ aufmerksam der 1966). Diese Differenz erhellt ein Vergleich der
gemacht. Neumann beschreibt in diesem Zusam- beiden Romanfragmente Der Verschollene und Das
menhang jene für Kafkas Texte charakteristischen Schloss, zwischen deren Entstehungszeiten ungefähr
Formen semantischer Verschiebungen, Umkehrun- zehn Jahre liegen. Am Verschollenen schrieb Kafka
gen und Abweichungen, die einer Fixierung des je- zwischen 1912 und 1914, Das Schloss hingegen ver-
weiligen Textsinns im Wege stehen und letztlich zur fasste er 1922, also gegen Ende seines Lebens.
kontinuierlichen Desorientierung des Lesers führen Der Vergleich liegt auch deshalb nahe, weil der
(Neumann 1968). Um ein kurzes Beispiel zu geben, Roman Das Schloss bekanntlich die Grundkonstel-
sei ein Aphorismus zitiert: lation des Verschollenen, nämlich den Einzug in
Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe eine fremde Welt zu zeigen, noch einmal aufgreift.
gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint Kafka nimmt im Schloss gleichsam ein zweites Mal
mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu Anlauf, um im Grunde doch, bei allen Differenzen,
werden (NSF II, 113). eine ähnliche Geschichte noch einmal zu erzählen,
In diesem kurzen Text werden nicht nur Funktion nur auf ganz andere Art. In beiden Texten wird ja
und Position des Seils zunächst gesetzt und dann so- erzählt, wie die jeweilige Hauptfigur in der Fremde
gleich umgewertet, sondern auch die Stellung und eintrifft und wie sie unter großen Orientierungs-
Perspektive des Betrachters dazu. Das Seil eröffnet schwierigkeiten versucht, sich dort zu etablieren;
nicht, wie nach dem ersten Teilsatz anzunehmen, Karl Roßmann kommt von Europa nach Amerika,
den Weg zu einem – übrigens nicht näher bestimm- und K. kommt aus seiner Heimat, um im Dorf
ten – Ziel, im Gegenteil, es erweist sich als Hinder- unterhalb des Schlosses als Landvermesser zu ar-
nis, das es zu überwinden gilt. Der Weg wiederum beiten.
führt nicht geradeaus, denn er verläuft offenbar quer Zieht man im Vorübergehen noch den mittleren
zur ursprünglichen Blickrichtung des Betrachters, Roman Der Process heran, dann lässt sich das Verhält-
und die Schwierigkeit schließlich besteht nicht da- nis der drei Romane auf die Formel bringen, dass Der
rin, dass man über ein gutes Gleichgewicht zu verfü- Verschollene und Das Schloss das Fremdsein und
gen hätte, um das Seil begehen zu können, sondern Fremdwerden der Welt darstellen, während Der Pro-
darin, das Seil überhaupt wahrzunehmen und zu cess vom Fremdwerden des Selbst berichtet; Karl Roß-
übersteigen. Auf die Setzung einer Aussage und die mann und K. treiben hinaus in eine fremde Welt, Jo-
damit verbundene Erzeugung einer bestimmten Er- sef K. treibt hinaus in die eigene Fremde. Als Leitthese
wartungshaltung folgt jeweils die Aufhebung dieser im Rahmen des Vergleichs dient die Feststellung, dass
Aussage, auf die Position folgt stets die Negation. Kafka auf die erkenntnistheoretische Depotenzierung
444 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

der sinnlichen Erfahrung durch die modernen Wis- keine Fackel hält, sondern ein Schwert: »Ihr Arm mit
senschaften und auf das Abstraktwerden der moder- dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um
nen Welt, wie es um 1900 von Georg Simmel am Bei- ihre Gestalt wehten die freien Lüfte« (7). Diese Sub-
spiel der Geldwirtschaft sowie von Max und Alfred stitution von Fackel durch Schwert, die das Weltwis-
Weber am Beispiel der Bürokratie beschrieben wor- sen des Lesers, mit dem der realistische Roman ar-
den ist, mit einer zunehmend abstrakten Darstellung beitet, an einem Detail außer Kraft setzt, illustriert
reagiert. Seine Romane handeln nicht nur ausdrück- die oben erwähnten Strategien von Umwertung und
lich von Fremdheitserfahrungen, sie übersetzen Ent- Abweichung. Das Schwert dient zur deutlichen Mar-
fremdung auch in Erzählphänomene. kierung des Textes als Fiktion, weil es die lebenswelt-
Um diese Behauptung zu erhellen, genügt schon liche Referenzialisierbarkeit für den Leser, der doch
ein Blick auf die strukturanalogen Romananfänge, selbst die Freiheitsstatue zu kennen meint, in Frage
die jeweils mit der unmittelbaren Ankunft der Pro- stellt.
tagonisten in der Fremde einsetzen. Der erste Satz Dem langen, informationsreichen und perspekti-
im Verschollenen lautet: visch komplexen Einleitungssatz im Verschollenen
stehen kurze und schlichte Aussagesätze zu Beginn
Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen
des letzten Romans gegenüber. Der erste Passus im
armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil
ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm Schloss lautet:
bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem
Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und
die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste
wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K.
(V 7). auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf
führt und blickte in die scheinbare Leere empor (S 7).
Dieser vergleichsweise lange Einleitungssatz, der an
die berühmten Einleitungssätze von Heinrich von Was erfährt der Leser hier? Fast nichts. Denn das Al-
Kleists Erzählungen erinnert, bietet ein Maximum ter des Protagonisten bleibt ebenso unbekannt wie
an konkreten Informationen (vgl. auch Hillmann, sein Name, der zur Chiffre verkürzt ist, man weiß
120 f.). Der Leser erfährt den vollen Namen des Pro- auch nicht, um welches Schloss es sich handelt, noch
tagonisten, sein Alter, seine Herkunft, seine Vorge- wie das Dorf heißt. Ort und Zeit sind demnach un-
schichte, den Status der Eltern, sein Ziel Amerika, kenntlich, der Name der Hauptfigur ist auf seine
den genauen Ankunftsort New York, sowie den Fo- buchstäbliche Schwundstufe reduziert. Selbst der
kus seines Blickes, der auf die Freiheitsstatue gerich- Handlungszusammenhang bleibt vorerst unklar,
tet ist. Man bekommt demnach einen ebenso an- weil der Leser weder etwas über die Hintergründe
schaulichen wie umfassenden Einblick in die Lage von K.s Weggang aus der Heimat erfährt, noch über
der Hauptfigur, wobei allmählich das Augenmerk seine Ziele und Interessen. Und während im Ver-
von den einzelnen Fakten zur konkreten Situation schollenen Karl Roßmann die riesige Stadt New York
der beobachteten Statue übergeht. Anders gesagt: im »plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht« (V 7)
Die zu Beginn des Satzes gewählte Außenperspek- erblickt, begegnet K. der dunklen und undurch-
tive wird fast unmerklich durch die Innenperspek- dringlichen Welt eines Dorfes, wobei die förmlich
tive Karl Roßmanns ersetzt. Nichtsdestoweniger ist gläserne Transparenz des einen langen Satzes im
alles wohlbestimmt, alles scheint an seinem Platz zu Verschollenen den fast geheimnisumwitterten, wie-
sein, sodass sich der Leser wie in jedem anderen Ro- wohl einfachen Sätzen im Schloss gegenübersteht. Da
man gleich zurechtfindet. Und der Genauigkeit und die Begründung für K.s Ankunft im Dorf fehlt, ist
Übersichtlichkeit der Informationen wiederum kor- auf der Ebene des Plots an die Stelle eines motivier-
respondiert das »stärker gewordene Sonnenlicht« ten Erzähleinstiegs im ersten Roman ein weithin un-
(7), so dass neben Karl Roßmann auch der Leser al- motivierter getreten. K. vermag nichts zu sehen, weil
les deutlich zu überblicken vermag. Ort und Zeit alles vom Schnee verhüllt ist, von, wie es heißt, »Ne-
sind bestimmt, der Protagonist ist benannt, der bel und Finsternis«, und selbst »der schwächste
Handlungszusammenhang erscheint durch eine Lichtschein« fehlt, so dass nicht einmal der Eindruck
kausale Erklärung überzeugend motiviert. einer identifizierbaren Landschaft entsteht. Kälte,
Erst der zweite Satz sorgt für eine leichte Irritation Nebel, Finsternis und »Leere« (S 7) prägen die Welt,
bei Hauptfigur und Leser, weil die Freiheitsstatue in die K. einzutreten im Begriffe ist. Alles bleibt ver-
Kafka als Erzähler 445

borgen, undeutlich, geheim. K. weiß im Grunde auch die davon ausgehende Bedrohung – quasi als
nicht: Ist da überhaupt etwas oder nicht vielmehr Veranschaulichung von Georg Simmels These, dass
nichts? Karl Roßmann gibt sich die kalte moderne die Freiheit der Moderne wohl ein unschätzbares
Welt, deren Symbol das stählerne Schwert zu sein Gut, aber nicht leicht zu ertragen sei (Simmel, 126).
scheint, sogleich offen zu erkennen, K. trifft eben- Denn hier ist nicht die Freiheit bedroht, sondern die
falls auf eine kalte, allerdings archaisch anmutende Freiheit ist die Bedrohung, weil sie den Einzelnen
Welt – trotz des riesigen Kommunikationsapparates unter Druck setzt, seinen Ort in der Welt selbst zu
und einer ausufernden Bürokratie. Der Unterschied bestimmen.
lautet demnach pointiert: dort kalte, feindliche Mo- Völlig anders verfährt Kafka im Schloss-Roman,
derne, hier kalte, feindliche Archaik. wo das Weltwissen des Lesers kaum einen Halt fin-
Der Eindruck des Archaischen ergibt sich einmal det, wo folglich die Zahl der textuellen Leerstellen
aus den semantischen Feldern der Wörter ›Schloss‹ zunimmt und wo aufgrund der Reduktion sinnlicher
und ›Schlossberg‹, die nicht nur auf eine vergangene Detaillierung eher unanschaulich erzählt wird, weil
Zeit hindeuten, sondern zugleich literarische Tradi- die auf ein Konkretes verweisenden Wörter ganz all-
tionen evozieren, etwa diejenige des Märchens oder gemein und einfach bleiben: ›Schloss‹, ›Schlossberg‹,
der gothic novel (Kracauer, 390; Michael Müller, 255– ›Dorf‹, ›Landstraße‹, ›Holzbrücke‹. Sie sind im Kon-
259). Zum anderen resultiert dieser Eindruck aus trast zum Verschollenen keine Namen, sondern Gat-
der allgemeinen Wortwahl. tungsbegriffe und dienen folglich nicht der Identifi-
Das für beide Romane konstitutive Verhältnis von zierung oder gar der Individualisierung, sondern der
Heimat und Fremde ist im Verschollenen klar durch Typisierung des Dargestellten. Aufgrund ihrer Ein-
die Opposition von Europa und Amerika definiert. fachheit kennt der Leser natürlich die Wörter, aber
In Amerika selber werden auch die weiteren teils re- was er sich darunter vorstellt, weist notwendig eine
alen, teils fiktiven Schauplätze klar benannt: New große Unbestimmtheit auf. Sind im Verschollenen
York, die Großstadt Ramses, das Hotel Occidental die Begriffe ›bloß‹ doppelbödig, so sind sie hier bei-
und das Theater von Oklahama: Die Fremde be- nahe völlig offen. Durchgängig zeigt sich als grund-
kommt einen eigenen Namen, genauso wie der Pro- legender Unterschied, dass an die Stelle wohlbe-
tagonist einen vollständigen Namen hat, auf den er stimmter Identifizierung und Individualisierung,
übrigens so stolz ist, dass er jedes Mal zur Bestäti- wie sie den Verschollenen charakterisieren, später im
gung der Identität seinen Pass vorzeigt (V 22). Der Schloss die Verallgemeinerung, Typisierung und Ab-
Verschollene steht somit unzweifelhaft in der Tradi- straktion durch Gattungsbegriffe tritt, wodurch das
tion des ganz auf Anschaulichkeit setzenden mime- Erzählen selber zunehmend abstrakt erscheint.
tischen Illusionismus, indem der Roman, den Kafka Diese Tendenz des letzten Romans bestätigt sich
nicht zufällig als »glatte Dickensnachahmung« auch mit Blick auf die späten Erzählungen und Frag-
(8.10.1917; T 841) bezeichnet hat, an das konkrete mente, die alle das Merkmal der größtmöglichen
Weltwissen des Lesers in wenngleich gebrochener Verallgemeinerung aufweisen, indem sie von Beginn
Form anknüpft: einerseits durch hinreichende zeitli- an auf eine mögliche Individualisierung der Prota-
che Situierung, andererseits durch identifizierbare gonisten verzichten. Das geben oft schon die durch
Schauplätze und individualisierte Gegenstände wie unbestimmte Artikel gekennzeichneten Titel zu er-
Amerika, New York oder die Freiheitsstatue. Diese kennen. Sie lauten beispielsweise: Ein Landarzt
vom Leser zu aktivierenden realen Bezüge eröffnen (1919), Ein Hungerkünstler (1922), <Forschungen
neben dem konkreten geographischen Raum zu- eines Hundes> (1922), Erstes Leid (1922), das mit
gleich den damit verbundenen symbolischen Raum. den Worten »Ein Trapezkünstler« beginnt (DzL
Die Begriffe sind folglich stets doppelt besetzt. Denn 317), sowie Eine kleine Frau (1923). Und wo sich ein
wohl ist Amerika ein Land westlich des Atlantiks, Name im Titel findet, wie im Falle von Josefine, die
außerdem aber ›die neue Welt‹ und vermeintlich das Sängerin oder Das Volk der Mäuse (1924), dort steht
›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹; New York die zweifelhafte Individualisierung der Protagonis-
wiederum ist wohl eine große Stadt, außerdem aber tin selbst als Problem im Zentrum des Textes.
Stadt der Wolkenkratzer und Inbegriff der Beschleu- Die einer solchen Technik entspringende Offen-
nigung des modernen Lebens. Die Freiheitsstatue heit wird durch das Verfahren der unablässigen
schließlich symbolisiert einerseits die Freiheit, auf- Selbstkorrekturen des Erzählens (Hillmann, 149;
grund der Umbesetzung durch das Schwert aber Alt, 574) noch weiter forciert, weil nicht zu entschei-
446 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

den ist, ob sie der Präzisierung des Erzählten dienen In Anbetracht dieser semantischen Verschiebungen,
oder auf der Metaebene das Erzählen als solches in Funktionswechsel von Begriffen und Gestaltwandlun-
Zweifel ziehen, so dass sich statt der suggerierten Fi- gen des gegenständlich Erfahrbaren erweisen sich
xierung eines Sinnes seine neuerliche Verflüssigung noch die einfachen, lebensweltlich vertrauten Phä-
einstellt. Das zeigt sich im dritten Roman signifikan- nomene als dubios und arbiträr. Solche Skepsis ge-
terweise bereits mit Blick auf das titelgebende Ge- genüber der Erfahrungswelt bildet den direkten Wi-
bäude, nämlich das Schloss, das anfangs ja gar nicht derschein eines generell fremd gewordenen, konti-
zu sehen ist. Nachdem K. ein Nachtlager gefunden nuierlich auf Deutung angewiesenen Daseins. »Der
und dann sogleich verhört wird, fragt er: »In welches Held sieht nicht mehr so viel, dafür deutet er jetzt«
Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein (Walser, 24; vgl. auch Busse, 171 f.). Mehr noch als
Schloß?« (S 8). Einige Seiten weiter heißt es dann das Frühwerk sind Kafkas späte Texte durch die ele-
endlich: mentare Spannung charakterisiert, dass die Erzähl-
Nun sah er oben das Schloß deutlich umrissen in der sprache zwar fast stets auf sinnlich Konkretes rekur-
klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle For- riert, dass aber der Prozess des Erzählens in Form
men nachbildenden, in dünner Schicht überall liegen- permanenter Selbstkorrektur dieses unmittelbare
den Schnee. […] oben auf dem Berg ragte alles frei und sinnliche Gegebensein völlig untergräbt. Anders ge-
leicht empor, wenigstens schien es so von hier aus
sagt: Im Erzählprozess wird die sinnliche Gewissheit
(S 16 f.).
als das scheinbar Verlässlichste zerstört, weil das
Innerhalb weniger Zeilen wird hier erst von einer sinnlich Gegebene permanent täuscht und folglich
neu gewonnenen Klarheit gesprochen, die dann je- der Deutung bedarf. Mithin ergibt sich nicht zuletzt
doch gleich wieder zunichte gemacht wird. Aber- aufgrund solcher Deutungszwänge in Kafkas spätem
mals folgt auf die Position die Negation. Denn die Erzählen ein Übergewicht der Reflexion gegenüber
zweimal betonte Deutlichkeit, mit der K. zu sehen der Handlung.
meint, wird eingeschränkt, wenn es heißt, »wenigs-
tens schien es so von hier aus« (ebd.). Die Korrektur
erweist sich also keineswegs als Präzisierung des Unanschauliche Moderne
Wahrgenommenen, sondern als entschiedene Auf-
lösung jeder sinnlichen Gewissheit. Für die Einordnung der skizzierten formalen Ent-
Vollends widersprüchlich erscheint die Aussage scheidungen des Autors in einen übergreifenden
freilich in dem Moment, da der Schnee im Text seine Horizont bietet sich sowohl eine konkret poetologi-
Funktion ändert. Zu Beginn des Romans verhüllt sche als auch eine allgemein literarhistorische Per-
und verbirgt er alles vor K., hier soll er plötzlich, in- spektive an. Im September 1917 formuliert Kafka im
dem er »alle Formen nachbildet«, diese deutlicher Tagebuch den poetologischen Anspruch, »die Welt
zeigen. Der Schnee ändert seine Funktion, das ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben« zu wollen
Schloss ändert seine Gestalt, insofern es bei näherem (25.9.1917; T 838). Jenseits kunstmetaphysischer
Hinschauen kein Schloss mehr ist: »hätte man nicht Überlegungen lässt sich dieses Zitat als Hinweis auf
gewußt daß es ein Schloß ist, hätte man es für ein die notwendigen gattungstheoretischen und darstel-
Städtchen halten können« (S 17). Bei weiterer Annä- lungstechnischen Konsequenzen verstehen. Dem
herung kommt K. gar zu dem Schluss, dass es »doch Anspruch auf das »Reine, Wahre, Unveränderliche«,
nur ein recht elendes Städtchen« war (ebd.). Klamm also letztlich dem Anspruch aufs Allgemeine, haben
wiederum, dessen Name möglicherweise von tsche- dann Formen zu entsprechen, die a priori zum An-
chisch ›klam‹ abgeleitet ist, das für Täuschung, Be- spruch auf Allgemeinheit tendieren. Dass sich bei-
trug oder Wahn steht, verkörpert regelrecht diesen spielsweise der Autor seit 1914 verstärkt der Gattung
permanenten Gestaltwandel. Niemand vermag zu der Parabel zuwendet, die häufig auf die Allgemein-
sagen, wie er wirklich aussieht: gültigkeit einer Darstellung zielt, lässt sich als eine
Folge dieses Postulats deuten. Weder zeigt sich näm-
Er soll ganz anders aussehn, wenn er ins Dorf kommt lich das »Reine, Wahre, Unveränderliche« am indivi-
und anders, wenn er es verläßt, anders ehe er Bier ge- dualisierten Fall, noch eignet sich unter dieser Be-
trunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders
im Schlafen, anders allein, anders im Gespräch und, was dingung die Kontingenz und Ungewissheit der Er-
hienach verständlich ist, fast grundverschieden oben im fahrungswelt als zureichender Gegenstand (vgl.
Schloß (S 278). Engel 2006, 259 f.). Sofern diese Kontingenz in den
Kafka als Erzähler 447

Texten durch eine Fülle an sinnlichen Details zur außer Kraft gesetzt. Dieser Sicht eignet jedoch inso-
Anschauung kommt, müssen sie offenbar entweder fern eine gewisse Plausibilität, als dergestalt ein spe-
diskreditiert oder als Darstellungsmoment insge- zifischer Gestus des Autors im Zugriff auf die Welt
samt reduziert werden. ins Bewusstsein gehoben wird. In diesem Verständ-
Für den literarhistorischen Zusammenhang ist nis lässt sich der Erzähler als Typus und semanti-
schließlich erneut auf die generelle Krise der Reprä- scher Habitus vom Dramatiker, Lyriker oder auch
sentation um und nach 1900 hinzuweisen. Neben vom Romancier abgrenzen. Eine solche an den lite-
der Sprachskepsis betrifft diese Krise auch die über- rarischen Gattungen und Werkeinheiten orientierte
lieferten Formen der Narration, die sich gegenüber gestalthafte Vergegenwärtigung von Autoren hat ei-
einer von Pluralisierung, Beschleunigung und Ver- nerseits die lebensweltliche Intuition für sich, gerade
wissenschaftlichung geprägten Wirklichkeit als un- auch vor dem Hintergrund der neuerdings prokla-
tauglich erweisen. Diese Einsicht lässt etwa Rilke sei- mierten ›Wiederkehr des Autors‹, sie ermöglicht an-
nen Protagonisten Malte Laurids Brigge artikulieren, dererseits das Ausgreifen auf spekulative, nament-
wo dieser feststellt: »Daß man erzählte, wirklich er- lich geschichtsphilosophische Zusammenhänge.
zählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich So formuliert Benjamin die These, dass der Erzäh-
habe nie jemanden erzählen hören« (Rilke, 557). ler als gestalthafte Einheit, wie sie sich prototypisch
Schärfer noch zieht Ulrich aus Musils Mann ohne Ei- in Johann Peter Hebel und Nikolaj Leskov ausgebil-
genschaften gegen das »primitiv Epische« zu Felde, det hätte, in der Moderne allmählich verschwinde,
weil die moderne Welt sowohl aufgrund des Verlusts weil sich die lebensweltlichen Bedingungen ihrer aus
an geradlinigen Kausalitäten als auch aufgrund der der mündlichen Tradition stammenden Existenz
umfassend sich vollziehenden Abstraktionsprozesse, rasch wandelten. In diesem Konzept erscheint der
die das individuelle Schicksal in Statistik auflösen, Erzähler weitgehend auf die Gattung der Erzählung
völlig »unerzählerisch geworden« sei (Musil, 650). verpflichtet und kann darum nur bedingt mit der für
Die rhetorische und zugleich poetische Tugend der die Moderne repräsentativen Form des Romans in
evidentia muss folglich versagen, wo die Komplexität Verbindung gebracht werden (Benjamin 1936). Der
der Lebensvollzüge in die eigene Anschauung nicht Erzähler mag in dieser von einer metaphysischen
mehr integrierbar erscheint. Konstruktion geprägten Perspektive dem Untergang
Einer solch grundsätzlichen Einschätzung der geweiht sein, doch das Erzählen selbst ist davon
Moderne entspricht Kafka in seinem letzten Roman nicht tangiert, weil das Spektrum seiner Darstel-
nicht allein durch die Darstellung hochabstrakter lungsformen verfügbar bleibt. Diese modernetheo-
Kommunikations- und Verwaltungssysteme, son- retische Konzeption überzeugt im Blick auf Kafka
dern auch, indem er diesen Zug zur Abstraktion in insofern, als er die Romane nicht abgeschlossen und
einem weithin unanschaulichen Modus des Erzäh- vorwiegend Erzählprosa verfasst hat, in der sich eine
lens zu vergegenwärtigen sucht. Auf diese Weise Krise des Erzählens abzuzeichnen scheint.
wird ein wesentliches thematisches Problem des Ro- Mit der wachsenden Aufmerksamkeit für Erzähl-
mans an seiner sprachlichen Repräsentation selbst verfahren und Erzählebenen im strengen Sinne, wel-
wiederum thematisch. che die struktural orientierte Narratologie seit den
1960er Jahren ermöglicht hat, ist die oben skizzierte
genauere Erfassung von Kafkas Techniken im Span-
Forschung nungsfeld von ›Außen‹ und ›Innen‹, von auktoria-
lem Erzähler und Reflektorfigur einhergegangen.
Die ältere Forschung gibt dort, wo sie Kafka als Er- Darüber hinaus standen wiederholt Einzelaspekte
zähler im emphatischen Sinne zu konturieren sucht, seiner Darstellungsformen im Vordergrund. Das be-
eine Verknüpfung der im weitesten Sinne narratolo- trifft zum ersten die Untersuchung von Kafkas Bild-
gischen mit der anthropologisch-historischen Di- lichkeit, hier insbesondere die Erscheinungsweisen
mension zu erkennen (Benjamin 1936; Beißner; von Parabolik und Metaphorik (Philippi, Sussman,
Heselhaus). Dabei wird die methodologisch notwen- Richter). Es betrifft zweitens den Nachweis, dass
dige Differenzierung, dass ein Autor Verfasser meh- Kafkas Erzählen filmische Darstellungsmittel inte-
rerer Erzähltexte sein kann, dass aber dieser eine Au- griert, beispielsweise Schnittfolgen, wie sie den frü-
tor im Zuge dessen eine Vielzahl von Erzählern als hen Stummfilm auszeichnen (Beicken 1978; Alt;
individuelle Textphänomene generiert, tendenziell Jahraus). Von hier aus zeigt sich jedoch auch Kafkas
448 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Konzentration aufs Gestische und Szenische noch- Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Less-
mals in anderem Licht, weil gerade der Stummfilm kows [1936]. Ebd., 438–465. – Hartmut Binder: Motiv
eigentümliche, den Autor offenbar inspirierende und Gestaltung bei F.K. Bonn 1966. – Ders.: Baufor-
körpersprachliche Kommunikations- und Repräsen- men. In: KHb (1979) II, 48–93. – Peter Bürger: K.s Ver-
tationsmodi entwickelt hat (Zischler). fahren. In: Ders.: Prosa der Moderne. Frankfurt/M.
Dass Kafka die eigenen Texte wesentlich als Dar- 1992, 301–311. – Constanze Busse: K.s deutendes Er-
stellung seines »traumhaften innern Lebens« meinte zählen. Perspektive und Erzählvorgang in F.K.s Roman
begreifen zu dürfen (6.8.1914; T 546), bildet zum Das Schloß. Münster 2001. – Dorrit Cohn: Transparent
dritten eine Grundlage der These, sein Erzählen kor- Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness
in Fiction. Princeton 1978. − Stanley Corngold: The
respondiere überhaupt der Darstellungslogik des
Author Survives on the Margin of His Breaks. K.’s Nar-
Traums, die auf Entstellungen, Verfremdungen und
rative Perspective. In: Ders.: The Fate of the Self. Ger-
Distorsionen basiere (Binder 1979, 48–52). Daran
man Writers and French Theory. New York 1986, 161–
anknüpfend hat Manfred Engel von einem »oniri-
179. − Manfred Engel: Literarische Träume und traum-
schen Erzählmodell« gesprochen, weil die vom Au- haftes Schreiben bei F.K. Ein Beitrag zur Oneiropoetik
tor entworfenen Traumwelten als ein Zugleich von der Moderne. In: Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen.
Außen- und Innenwelt zu verstehen seien (Engel Traumerzählungen in Literatur und Film. St. Augustin
2006, 253; vgl. auch Engel 1998). Mit der gebotenen 1998, 233–262. − Ders.: K. und die Poetik der klassi-
Vorsicht lassen sich den Spielarten der Traumlogik schen Moderne. In: Engel/Lamping (2006), 247–262. −
schließlich auch die erörterten Verfahren der Um- Karlheinz Fingerhut: Bildlichkeit. In: KHb (1979) II,
kehrung und Abweichung, der semantischen Ver- 138–177. − Ulrich Fülleborn: Zum Verhältnis von Per-
schiebung und des Gestaltwandels zuordnen, sofern spektivismus und Parabolik in der Dichtung K.s. In: Re-
man freilich die allgemeine Rede von der Traumlo- nate von Heydebrand/Klaus Günther Just (Hg.): Wis-
gik auf die Beschreibung von Strukturmomenten be- senschaft als Dialog. Stuttgart 1969, 289–312. − Gérard
grenzt, ohne sie schon für die Erklärung selbst zu Genette: Die Erzählung. München 2. Aufl. 1998. – So-
halten. phie von Glinski: Imaginationsprozesse. Verfahren
phantastischen Erzählens in F.K.s Frühwerk. Berlin,
Kontexte: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. New York 2004. − Karl Erich Grözinger: K. und die
Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek 1992. – Rainer Maria Rilke: Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von F.K.
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Frankfurt/M. 1994. – Arnold Heidsieck: K.s fiktionale
Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Ontologie und Erzählperspektive. Ihre Beziehungen zur
Hg. v. Manfred Engel u. a. Bd. 3: Prosa und Dramen. österreichischen Philosophie der Jahrhundertwende.
Hg. v. August Stahl. Frankfurt/M., Leipzig 1996, 453– In: Poetica 21 (1989), 389–402. – Clemens Heselhaus:
635. – Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistes- K.s Erzählformen. In: DVjs 26 (1952), 353–376. – Heinz
leben. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Ramm- Hillmann: F.K. Dichtungstheorie und Dichtungsgestalt.
stedt. Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bonn 1964. – Peter Höfle: Von der Unfähigkeit, histo-
Hg. v. Rüdiger Kramme u. a. Frankfurt/M. 1995, 116– risch zu werden. Die Form der Erzählung und K.s Er-
131. – Alfred Weber: Der Beamte [1910]. In: Ders.: Ge- zählform. München 1998. – Oliver Jahraus: K. und der
samtausgabe. Bd. 8: Schriften zur Kultur- und Ge- Film. In: KHb (2008), 224–236. – Norbert Kassel: Das
schichtssoziologie (1906–1958). Hg. v. Richard Bräu. Groteske bei F.K. München 1969. − Wolfgang Kayser:
Marburg 2000, 98–117. – Virginia Woolf: Character in Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dich-
Fiction [1924]. In: Dies.: Essays. Bd. 3: 1919–1924. Hg. tung. Hamburg 1957. – S. Kessler (1983). – Andreas Kil-
v. Andrew McNeillie. London 2. Aufl. 1995, 420–438. cher: Sprachendiskurse im jüdischen Prag um 1900. In:
Forschung: P.-A Alt (2005). – Peter U. Beicken (1974), Nekula/Fleischmann/Greule (2007), 61–86. – Wolf
137–145. − Ders.: Berechnung und Kunstaufwand in Kittler: Integration. In: KHb (1979) II, 203–220. − Kitt-
K.s Erzählrhetorik. In: M.L. Caputo-Mayr (1978), 216– ler/Neumann (1990). – Siegfried Kracauer: Das Schloß.
234. – Ders.: Erzählweise. In: KHb (1979) II, 36–48. − In: Ders.: Schriften. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Bd. 5.1:
Friedrich Beißner: Der Erzähler F.K. [zuerst 1952]. In: Aufsätze 1915–1926. Frankfurt/M. 1990, 390–393. –
F. Beißner (1983), 19–54. – Walter Benjamin: F.K. Zur Herbert Kraft: K. Wirklichkeit und Perspektive. Beben-
zehnten Wiederkehr seines Todestages [1934]. In: Ders.: hausen 1972, 2. Aufl. Bern 1983. − D. Kremer (1998). –
Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften, Bd. Winfried Kudszus: Erzählhaltung und Zeitverschie-
II/2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppen- bung in K.s Prozeß und Schloß. In: DVjs 38 (1964),
häuser. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1991, 409–438. – Ders.: 192–207; wieder in: H. Politzer (1973), 331–350. –
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 449

Ders.: Erzählperspektive und Erzählgeschehen in K.s


Prozeß. In: DVjs 44 (1970), 306–317. – Gerhard Kurz:
4.4 Kleine Formen:
Figuren. In: KHb (1979) II, 108–130. − G. Kurz (1984).
– Eric R. Miller: Without a Key. The Narrative Structure
Denkbilder, Parabeln,
of Das Schloß. In: GR 66 (1991), 132–140. – Michael Aphorismen
Müller: Das Schloß. In: M. Müller (2004), 253–283. –
Wolfgang G. Müller: Moralische Implikationen erzähl-
technischer Innovationen im Werk von Jane Austen. In:
Die Gattungszuordnungen für Kafkas kleine Prosa-
Jutta Zimmermann/Britta Salheiser (Hg.): Ethik und
stücke sind notorisch strittig. Dies liegt u. a. daran,
Moral als Problem der Literatur und Literaturwissen-
dass sie im Kontext der Kurzprosa (vgl. Baßler 2000
schaft. Berlin 2006, 117–132. – B. Nagel (1983). – Ger-
u. 2007) der ›formalen‹ oder ›emphatischen‹ Mo-
hard Neumann: Umkehrung und Ablenkung. F.K.s
»Gleitendes Paradox«. In: DVjs 42 (1968), 702–744. – derne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ste-
Ders.: Werk oder Schrift? Vorüberlegungen zur Edition hen. Ein wichtiges Charakteristikum jener Kurz-
von K.s Bericht für eine Akademie. In: Louis Hay/Win- prosa (wie man sie auch bei Robert Walser, Robert
fried Woesler (Hg.): Edition und Interpretation. Bern Musil, Peter Altenberg, Peter Hille, Paul Scheerbart
u. a. 1981, 154–173 (Jb. für internationale Germanistik, u. a. antreffen kann) ist, dass sie sich der klaren und
Reihe A, Kongressberichte, 11). – Roy Pascal: K.’s Nar- trennscharfen Zuordnung zu Genres, die durch Poe-
rators. A Study of his Stories and Sketches. Cambridge tiken und/oder literarhistorische Traditionen defi-
1982. – Klaus-Peter Philippi: »Parabolisches Erzählen«. niert und vermittelt werden, geradezu systematisch
Anmerkungen zu Form und möglicher Geschichte. In: und prinzipiell entzieht – sei es mit der Erprobung
DVjs 43 (1969), 297–332. – Klaus Ramm: Reduktion als neuer Texturen, durch die Elemente herkömmlicher
Erzählprinzip bei K. Frankfurt/M. 1971. – Ders.: Hand- Kleinformen unterlaufen oder ersetzt und dadurch
lungsführung und Gedankenführung. In: KHb (1979) eben Gattungsumrisse undeutlich werden (vgl. Baß-
II, 93–108. − Karl Richter: Der erschwerte Vergleich. K. ler 1994), sei es mit der narrativen und/oder essayis-
und die moderne Parabolik. In: Engel/Lamping (2006), tischen Erweiterung von Formen im Bereich der
276–290. – R. Robertson (1988). – J. Rolleston (1974). – aphoristischen Tradition, durch die der Aphorismus
Christian Schärf: F.K. Poetischer Text und heilige strukturell geöffnet, erweitert oder gar aufgelöst
Schrift. Göttingen 2000. − Michael Scheffel: Paradoxa wird (Fricke spricht hier von »Minimalprosa«; Fri-
und kein Ende. F.K.s Romanprojekt Der Verschollene
cke 1984, 66 f.).
aus narratologischer Sicht. In: Carolina Romahn/Ge-
Auch die Kurzprosa Kafkas lässt sich damit aus li-
rold Schipper-Hönicke (Hg.): Das Paradoxe. Literatur
terarhistorischen und literaturtheoretischen Grün-
zwischen Logik und Rhetorik. Fs. für Ralph-Rainer
den nicht mehr problemlos und ohne weiteres auf
Wuthenow. Würzburg 1999, 251–263. – Walter H. So-
kel: Das Verhältnis der Erzählperspektive zu Erzählge- ›traditionelle‹ Gattungen aufteilen und in Gattungs-
schehen und Sinngehalt in Vor dem Gesetz, Schakale geschichten einreihen, sofern traditionsvermittelt
und Araber und Der Prozess. In: ZfdPh 86 (1967), 267– normative, trennscharfe und geschlossene Gattungs-
300. – Henry Sussman: F.K. Geometrician of Metaphor. begriffe die jeweiligen Gattungen und ihre Geschich-
Madison 1979. – Richard Thieberger: Sprache. In: KHb ten als logische Klassifikationen begründen. Viel-
(1979) II, 177–203. – Wilfried Thürmer: Beschreibung. mehr macht gerade die Vielfalt der modernen Kurz-
In: KHb (1979) II, 130–138. − Joseph Vogl: Vierte Per- prosa – sowohl in ihren Texturen als auch mit ihren
son. K.s Erzählstimme. In: DVjs 68 (1994), 745–756. – demonstrativ innovativen Gattungsnamen (von der
K. Wagenbach (2006 [1958]). – Martin Walser: Be- ›Skizze‹ über das Stil-›Scherzo‹ bis zu ›Seifenblase‹,
schreibung einer Form. Versuch über F.K. München ›Maulwurf‹ und ›Feuilleton‹) – darauf aufmerksam,
1961. – Hanns Zischler: K. geht ins Kino. Reinbek 1996. dass ein historischer und gattungssystematischer
Dirk Oschmann Zusammenhang sich hier nurmehr in Form einer
Beschreibung von Familienähnlichkeiten rekonstru-
ieren lässt.
Gattungen, deren Kategorisierungslogik die der
Familienähnlichkeiten ist, haben kulturell vermit-
telte ›beste Beispiele‹ in ihrem Zentrum sowie zu den
Rändern der Kategorie hin Beispiele, die sich immer
deutlicher von den besten Beispielen unterscheiden,
450 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

aber immer noch gewisse Ähnlichkeiten mit ihnen Schon in den Poetiken der Frühen Neuzeit wird
aufweisen. Die Grenzen der Kategorie sind hierbei das Emblem (bzw. ›Denkbild‹ oder ›Sinnbild‹) als
nicht scharf – einschließend und abgrenzend – gezo- »silent parable« (Francis Quarles 1635) und die Pa-
gen, sondern ausfransend: historisch und systema- rabel umgekehrt als »geschehenes Sinnbild« (Georg
tisch flexibel im Übergang zu anderen Kategorien. Philipp Harsdörffer) konzeptualisiert. Noch Johann
Drei Gattungskategorien, die im erläuterten Sinn Gottfried Herder erörtert 1792 anlässlich paraboli-
Gattungsfamilien darstellen und zur genretypologi- scher Texte des Barockautors Johann Valentin An-
schen Erschließung von Kafkas Kurzprosa mit Vor- dreae (1619), ob er hier von Fabel, »Emblem (Denk-
teil herangezogen werden können, sind ›Parabel‹, bild)« oder Parabel sprechen sollte – um sich schließ-
›Aphorismus‹ und ›Denkbild‹. Die Konzentration lich für »Parabel« zu entscheiden und mit dem
auf diese drei Gattungen rechtfertigt sich dabei nicht Stichwort eine, wie er sagt, ›vermischte Gattung aus
allein aus forschungsgeschichtlichen Gründen (und Fabel und Emblem (Denkbild)‹ zu bezeichnen (vgl.
damit aus Gründen der literaturwissenschaftlichen hierzu Zymner 2006; zum Stichwort »Denkbild« bei
Poetik, die eben immer wieder und für zahlreiche Herder siehe auch Müller-Michaels 1996). Was man
Kurzprosatexte Kafkas vorgeschlagen hat, sie als Pa- in der Frühen Neuzeit als Genrevermischung be-
rabeln, als Aphorismen oder als Denkbild zu rezipie- trachtet, ist die Verbindung von sprachlicher, an-
ren – Kafka selbst hat diese Gattungsnamen Parabel, schaulich erzählender oder schildernder Textur ei-
Aphorismus, Denkbild nicht zur Bezeichnung seiner nerseits und emblem- oder denkbildkonstitutiver
Kurzprosastücke verwendet). Sie hat daneben auch hermeneutischer Verpflichtung andererseits.
eine literarhistorische Motivierung, denn gerade Auf diesen Zusammenhang dürfte Walter Benja-
diese drei Gattungen haben eine lange gemeinsame min anlässlich seiner Barockstudien gestoßen sein,
Vergangenheit, die den kulturellen Hintergrund bil- was ihn dazu veranlasst haben dürfte, nun einen be-
det, vor dem sich Kafkas Kurzprosa in ihrer beson- stimmten Typus der ›emblematischen‹ Kurzprosa in
deren Andersartigkeit deutlich profilieren lässt. der Nachbarschaft zur Parabel als »Denkbilder« zu
bezeichnen (vgl. hierzu Schlaffer 1973; Spinnen
1991; Leifeld 1996). Mit Blick auf die Prosastücke in
Zum systematischen und Benjamins Einbahnstraße (1928) spricht auch Theo-
historischen Zusammenhang von dor W. Adorno von »Denkbildern«. Es seien »gekrit-
Denkbild, Parabel und Aphorismus zelte Vexierbilder als gleichnishafte Beschwörungen
des in Worten Unsagbaren. Sie wollen nicht sowohl
dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten als durch
Das Stichwort Denkbild führt in den Bereich der ihre Rätselgestalt schockieren und damit Denken in
Text und Bild miteinander verbindenden Gattungen Bewegung bringen« (Adorno 1955, 680 f.).
der Frühen Neuzeit, insbesondere in den Bereich Was nach dem prototypischen Vorbild der Benja-
von Emblem und Emblematik zurück (vgl. Schulz minschen ›Denkbilder‹ für diese Form der Kurz-
1968). Charakteristisch für das – auch ›Denkbild‹ prosa literaturwissenschaftlich als kennzeichnend
genannte – Emblem als synmediales, offenes Kunst- erscheint, ist die »Zweiteilung in Erfahrung und Er-
werk ist die durch seine prototypische Dreiteiligkeit kenntnis, Bericht und Reflexion, Fall und Theorem
von ›pictura‹ (also dem Bildteil mit den sogenannten […], Gedanke und Anschauung, […] Realität und
›res pictae‹), ›subscriptio‹ und ›inscriptio‹ (den Text- Reflexion […], Gedanke und Konkretum« (Schlaffer
teilen) konstituierte hermeneutische Verpflichtung 1973, 142 f.; vgl. auch Göttsche 2001, 86). Diese
des Rezipienten zu einer deutenden Sinnerschlie- Zweiteilung wird in der Textstruktur selbst manifest,
ßung. Es fordert die reflektierende Urteilskraft in va- und nicht lediglich als allgemeine hermeneutische
riierenden und variierend beschriebenen Verfahren Beziehung zwischen Text und rezeptiver Deutung li-
auf (allegorisch, metaphorisch, metonymisch, als teraturwissenschaftlich postulierbar. Müller-Micha-
oder wie ein Rätsel, concettistisch oder einfach unei- els umschreibt die Eigenschaften eines modernen
gentlich, deutend, abbildend, auslegend, darstellend Denkbildes so: Ein »triviales Ereignis, eine unmittel-
oder exemplarisch), von dem besonderen dargestell- bare, lapidare Erfahrung kann zu einem denk-wür-
ten oder thematisierten Fall auf eine oder mehrere digen, bildlich-konkreten Sachverhalt im Kopf des
allgemeinere Bedeutungen zu kommen (vgl. Zym- Autors werden, der diese res picta in Sprache über-
ner 2002 u. Scholz 2002). setzen muß, um sie kommunikabel zu machen. Da-
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 451

ran wird dann eine verallgemeinerbare Reflexion ge- So wie das Denkbild und die Parabel eine ge-
knüpft« (Müller-Michaels 1996, 38). meinsame literarhistorische Vergangenheit haben
Demnach könnte man unter einem ›Denkbild‹ zu- und in literatursystematischer Nachbarschaft ste-
sammenfassend einen (1) kurzen Prosatext verste- hen, so sehr ist aber auch der Aphorismus mit Denk-
hen, der außerdem folgende Züge aufweist: Er ist bild und Parabel systematisch wie historisch ver-
(2a) erzählend oder (2b) nichterzählend struktu- knüpft. Das emblematische Denkbild steht in der
riert, (3a) fiktional oder (3b) nicht-fiktional; er the- Frühen Neuzeit schon allein deshalb in nächster
matisiert (4) typischerweise Alltägliches oder Trivia- Nähe zum sogenannten ›Denkspruch‹ (lat. ›memo-
les: eine alltägliche oder triviale Geschichte, ein all- rabilis sententia‹, auch ›symbolum‹; vgl. Jacob u.
tägliches oder triviales Geschehen, einen alltäglichen Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. II.
oder trivialen Sachverhalt. Schließlich (5a) reflek- Leipzig 1860, 943), weil es eben häufig solche Denk-
tiert oder erörtert er das Thematisierte metakom- sprüche (auch Sprichwörter, Sentenzen, Maximen,
munikativ oder (5b) bietet durch seine Struktur (z. B. Devisen, Motti, Apophthegmata; vgl. Kalivoda
durch Pointen, Zuspitzungen, Inkohärenzen, ›Rät- 1994) sind, die in die Position von ›inscriptio‹ oder
selhaftigkeit‹, Verallgemeinerungen) Anlass zur me- ›subscriptio‹ des Emblems rücken oder als ›res pic-
takommunikativen Reflexion des Thematisierten. tae‹ in der ›pictura‹ transformiert werden. Zudem
Die Verwandtschaft des Denkbildes mit anderen teilt der Denkspruch mit dem Denkbild und der Pa-
Formen der kleinen Prosa scheint ebenso deutlich zu rabel der Topik-Theorie zufolge, wie sie etwa in Ge-
sein wie die Unterschiede zwischen ihnen. So kann org Philipp Harsdörffers Ars Apophthegmatica
man demgegenüber unter einer Parabel einen (1) ty- (1655) oder in seinem Poetischen Trichter (1647–53)
pischerweise kurzen, (2) fiktionalen Erzähltext (3) in entfaltet wird, den sogenannten ›locus ex similibus‹
Vers oder Prosa verstehen, der (4) kein global an- (d. h. das ›Gleichnis‹ als kognitives Verfahren) als
thropomorphisiertes Figural nutzt, welches der wichtigste ›Kunstquelle‹ (vgl. Zymner 2006). Nicht
Wirklichkeit entnommen ist (also im Unterschied zuletzt gehört die Geschichte des Denkspruches –
zur Fabel keine sprechenden oder sonst wie anthro- also der religiösen wie philosophischen Spruch-
pomorph handelnden Löwen, Esel und Eichen oder weisheit, des Sprichwortes ebenso wie der Senten-
Schilfrohre usw. präsentiert), und der schließlich (5a) zen- und Maximen-Tradition – zur Vorgeschichte
explizite oder (5b) implizite Transfersignale aufweist des Aphorismus in der deutschen Literatur (vgl. Fri-
(genauer: mindestens eines davon), welche ihn (6) als cke 1984); Sprüche als Genre des Aphorismus sind
übergreifend oder global uneigentlichen Text mar- in Goethes Sprüchen in Prosa ebenso wie noch in
kieren (zur näheren Begründung vgl. Zymner 1991). Peter Rühmkorfs ›Wahrsprüchen‹ anzutreffen. Ins-
Der entscheidende Unterschied zwischen einem besondere seit dem 19. Jahrhundert stößt man auf-
bestimmten Typus des Denkbildes (nämlich dem fällig häufig auf die buchbinderische oder sogar an-
episch-fiktionalen) und einem bestimmten Typus thologistische Verknüpfung von Denkbildern bzw.
der Parabel (nämlich der episch-fiktionalen in Parabeln bzw. gattungssystematisch benachbarten
Prosa), in denen sich Denkbild und Parabel einan- Fabeln und Gleichnissen einerseits und Aphoris-
der annähern, liegt dabei in der Uneigentlichkeit: men andererseits (z. B. Friedrich Ludwig Bührlen:
Der Appell zu einem Transfer, einer ›metaphori- Wahrnehmungen und Bemerkungen, 1833; Samuel
schen Übertragung‹ des Erzählten, ist eben weder von Butschky: Aphorismen und Parabeln. In: Hein-
Metakommunikation über das Erzählte selbst, noch rich Hoffmann von Fallersleben: Spenden zur deut-
einfach ein Anlass zur Metakommunikation über schen Literaturgeschichte, 1844; Josef Ruben Ehr-
das Thematisierte: Die Metakommunikation zeigt lich: Fabeln und Aphorismen, 1876; A. Jaffé: Gedan-
etwas auf oder macht auf etwas aufmerksam an dem ken und Gleichnisse, 1903; Arthur Schnitzler:
Erzählten oder Beschriebenen selbst (und mögli- Aphorismen und Betrachtungen, Ges. Werke 5, 1967;
cherweise so, dass das Thematisierte als besonderer Otto Stoessl: Betrachtung, 1933; Pascal Märki: Denk-
Fall eines allgemeinen Aspektes dienen kann); die bar. Aphorismen und Bilder, 1986). Kurz: Bei Denk-
Transfersignale fordern dazu auf, das Erzählte nicht bild, Parabel und Aphorismus handelt es sich gewis-
als es selbst (und nicht einmal als einen besonderen sermaßen von Anfang an um theoretisch und histo-
Fall) zu akzeptieren, sondern anhand des Erzählten risch affine Genres.
einen metaphorischen Prozess als konzis unscharfe In einem deduktiven Zugriff versteht man heute
Neusemantisierung des Erzählten vorzunehmen. unter einem Aphorismus einen
452 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

(1) nichtfiktionalen Text in (2) Prosa in einer Serie dem Zusammenhang von Beschreibung eines
gleichartiger Texte, innerhalb dieser Serie aber jeweils Kampfes stammen. Sie weisen zwar durch eine stär-
(3) von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihen-
folge ohne Sinnveränderung vertauschbar; zusätzlich kere Verknappung deutlicher als die ersten beiden
(4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderweitig Texte auf das Genre ›Denkbild‹, sind jedoch aus an-
in konziser Weise formuliert oder auch (4c) sprachlich deren, noch zu diskutierenden Gründen nicht voll-
pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert (Fricke 1997, kommen ›passend‹.
104).
Die Banderole des im Ernst Rowohlt Verlag Leip-
In einem historisch-induktiven Zugriff (vgl. Spicker zig erschienenen Bandes Betrachtung präsentierte
2004, 7 f.) ergibt sich demgegenüber, dass es von die- folgenden Werbetext, der die versammelten Texte
sem orientierenden Begriffskern aus gesehen doch zugleich charakterisiert:
sehr sensible, verwischende oder ausfransende Der durchaus neuartige Ton dieses Buches, eine von
Grenzbereiche, Übergänge, Interpolationen gibt – Heiterkeit gebändigte Schwermut, verleiht dem Werke,
etwa zum Essay, zum Tagebuch oder auch dem Jour- das Leben und Sehnsucht eines jungen Mannes unserer
nal, zum Fragment oder auch zur Aufzeichnung. Tage zum Thema hat, einen außergewöhnlichen Reiz.
Die seltene Verbindung von Liebenswürdigkeit und tie-
Diese Feststellung gilt auch für das Denkbild, das
fem Ernst erhebt die sich durch ihre innere Einheit zu ei-
ja in seiner nichtfiktionalen, beschreibenden Vari- ner einzigen ›Betrachtung‹ zusammenschließenden
ante zumindest eine große Ähnlichkeit mit dem klangschönen Prosastücke zu einer großen Hymne, die
Aphorismus aufweist. Im Unterschied zum Aphoris- für Viele symbolische Geltung erlangen dürfte (DzL:A
mus muss das Denkbild aber nicht in einer Serie 33 f.).
gleichartiger Texte vorliegen, es kann auch allein Bei aller Übertreibung und Unschärfe dürfte an die-
und isoliert auftreten, und nur in dem vorstellbaren ser Charakterisierung doch die angesprochene Be-
Fall, dass man es mit einer Serie nichtfiktionaler, be- ziehung zwischen den einzelnen Teilen und dem
schreibender Denkbilder zu tun bekäme, wäre es Ganzen von Belang sein. Man könnte sagen, dass je-
ebenso vorstellbar und genresystematisch zu recht- der einzelne Text als ›Betrachtung‹ gesehen werden
fertigen, womöglich von Denkbildern als Genre des soll (und daher von einer Reihe oder Kette einzelner
Aphorismus zu sprechen. Darüber entschiede dann ›Betrachtungen‹ zu sprechen ist), alle einzelnen ›Be-
allerdings jeweils der konkrete Fall. trachtungen‹ aber auch zu einer kohärenten ›Be-
trachtung‹ zusammenziehbar, zu einem Ganzen aus
Teilen synthetisierbar sind.
Kafkas Denkbilder Kafkas Brief an den Rowohlt-Verlag vom 18. Ok-
tober 1912 (B00–12 184) deutet außerdem darauf
Konzentriert man sich auf die hier behandelten drei hin, dass die Anordnung und Reihenfolge der Stücke
Gattungen, so lässt sich feststellen: Die Genreent- des Bandes von ihm nicht als beliebig betrachtet
wicklung führt Kafka vom Denkbild zur Parabel und wurden, jedenfalls betont er in dem Schreiben aus-
schließlich zum Aphorismus. Dabei ergeben sich al- drücklich, dass Kinder auf der Landstraße das erste
lerdings keine sukzessiven Abfolgen der genannten der Stücke sein sollte, während Unglücklichsein ex-
Gattungen, sondern Überlagerungen der Gattungs- plizit als »Endstück« bezeichnet wird.
gruppen in ihren einzelnen Textereignissen bei ins- Das Festhalten am Titelstichwort ›Betrachtung‹
gesamt gewahrter Chronologie in der Genrenut- signalisiert schon im paratextuellen Bereich die Be-
zung. deutung einer reflexionsfördernden und -fordern-
Die ältesten Denkbilder finden sich in Kafkas ers- den Distanz – sei es der Distanz des Autors zu den
ter Buchveröffentlichung, in dem Band Betrachtung einzelnen Teilen wie zum Ganzen, sei es der Dis-
(1912). Ausnahmen bilden Kinder auf der Land- tanz des Lesers zu den einzelnen Teilen wie zum
straße und Entlarvung eines Bauernfängers (ur- Ganzen. Von vornherein erhalten die einzelnen
sprünglich in Beschreibung eines Kampfes, Fassung Teile des Bandes so den Charakter von gewisserma-
B, 1909/10), die noch stärker ausführliche Erzählun- ßen (über)prüfbaren, näher zu betrachtenden und
gen als reflektierend oder auf Reflexion angelegte dabei zu bedenkenden, exemplarischen Einzelstü-
›Denkbilder‹ im oben bestimmten Sinn sind. Dies cken (vgl. Hillmann 1973, 161–178). Kafka selbst
gilt in anderer Weise auch für Der Ausflug ins Ge- spricht von »Lichtblicken in eine unendliche Ver-
birge und Die Bäume, den (zusammen mit Kleider) wirrung hinein« (An F. Bauer, 29./30.12.1912; B00–
anderen Texten in Betrachtung, die nachweislich aus 12 372).
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 453

Hillmann hat beobachtet, dass in allen Stücken ein Die Bäume, das mit den Worten beginnt: »Denn wir
Subjekt einem Objekt gegenüberstehe, »das bald es sind wie Baumstämme« (DzL 33).
selbst, bald ein anderes Subjekt, bald eine Situation, In der Forschung sind die zahlreichen Hinweise
bald auch ein Ding sein kann« (Hillmann 1973, 161). auf einen Zusammenhang zwischen den Teilen und
Dieses Objekt sei Gegenstand einer Untersuchung, dem Ganzen, Betrachtungen und Betrachtung, zwar
nicht jedoch Gegenstand einer tätig aktiven Ausein- gesehen, aber kaum auf ihre Triftigkeit geprüft wor-
andersetzung. Es gebe also eigentlich in keinem den. Versucht man dies zu tun, so lässt sich eine Ver-
Stück Handlung und Handlungsentwicklung, son- knüpfung der einzelnen Teile über Wortrekurren-
dern nur mehr oder weniger in sich ruhende, stati- zen, Isotopien und semantische Kontiguitäten re-
sche Situationen. Die sprechende Instanz bleibe da- konstruieren, die zugleich einen nichtnarrativen
bei in einem gängigen Sinn ›Realist‹. Sie beschreibe (nämlich pointillistisch ›lichtblick-‹‚ oder ›blitzlicht-
Wirkliches, bis auf wenige Ausnahmen ›ganz nor- artigen‹) Nexus zwischen überwiegend schwach
male‹ Personen, Gegenstände oder Objekte, und re- oder gar nicht erzählenden Denkbildern erkennen
flektiere darüber, wobei im Reflexionsvorgang der lässt: Die Denkbilder ergeben – wie einzelne Mo-
konkrete Fall zum generellen werde. Der reflektie- mentaufnahmen – sozusagen ein Gesamtbild, eine
rende Grundgestus der einzelnen Stücke wird im- einzige Betrachtung (zum nicht-narrativen Nexus
mer wieder schon in vielen ihrer Einzelformulierun- als Kennzeichen der Moderne bei Kafka vgl. Engel
gen verdeutlicht – wie in Kleider: »Oft wenn ich Klei- 2006). Insofern könnte man von einem metonymi-
der […] sehe […], dann denke ich« (DzL 28); oder schen Verfahren sprechen, das Kafka hier erprobt,
wie in Zum Nachdenken für Herrenreiter: »Nichts, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Makrostruk-
wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in ei- tur von Teilen und Ganzem, sondern auch im Hin-
nem Wettrennen der erste sein zu wollen« (30). blick auf die stilistische Mikrostruktur. Die interpre-
Kennzeichnend für den reflektierenden Grund- tative Verbindung könnte bei den von Kafka ja aus-
gestus der Stücke sind auch die folgenden texteröff- drücklich festgelegten Anfangs- und Schlussstücken
nenden bzw. im Periodenbau bestimmenden Ele- ansetzen, von hier aus zwischen den einzelnen Stü-
mente: wenn/dann-Konstruktionen (wie in Der cken vergleichend springen und den oder einen Ge-
plötzliche Spaziergang); wenn/so-Konstruktionen samtzusammenhang im Verstehensprozess umkrei-
(wie in Die Vorüberlaufenden oder auch in Die Ab- sen.
weisung); allgemeine Behauptungen (wie in Ent- So kann man bei dem ersten Stück Kinder auf der
schlüsse); Vermutungen (wie in Das Unglück des Landstraße feststellen, dass sich die erzählende In-
Junggesellen und in Der Kaufmann); Fragen (wie in stanz ›hier-und-jetzt‹ an einen heißen Sommer in
Zerstreutes Hinausschaun): Imperative (wie in Der seiner Kindheit ›damals-und-dort‹ im Garten seiner
Nachhauseweg: »Man sehe die Überzeugungskraft Eltern in einem Dorf und in der ländlichen Umge-
der Luft nach dem Gewitter!«; DzL 25). Selbst die bung des Dorfes erinnert. Immerhin wird im Laufe
textthematisch abweichende Eröffnung von Die der Geschichte deutlich, dass das ›Kind vom Lande‹
Bäume mit der kausalen Konjunktion ›denn‹ − die ein Junge und die sich erinnernde Instanz ein Mann
eigentlich eine Begründung für etwas zuvor Behaup- ist. Gegen Schluss der Geschichte wird ausdrücklich
tetes einleiten sollte, hier allerdings ohne jede voran- mitgeteilt, dass der Junge spätabends nicht nach
gestellte und zu begründende Behauptung erscheint Hause geht, sondern in einen Feldweg einbiegt und
und so dem gesamten Text einen fragmentarischen »zu der Stadt im Süden hin« strebt (DzL 13), von der
oder unvollständig-herausgerissenen Charakter ver- es
leiht − verweist allein durch ihre grammatische Be- in unserem Dorfe hieß: »Dort sind Leute! Denkt Euch,
stimmtheit auf einen argumentativ reflektierenden die schlafen nicht!« »Und warum denn nicht?« »Weil sie
Habitus. nicht müde werden.« »Und warum denn nicht?« »Weil
Die von Hillmann angesprochene Tendenz zur sie Narren sind.« »Werden denn Narren nicht müde?«
»Wie könnten Narren müde werden!« (DzL 13 f.).
Generalisierung kann schließlich auch an stilisti-
schen Eigenarten der Stücke abgelesen werden: vor Die Müdigkeit des Jungen spielt schon zu Beginn der
allem an der wiederholten Verwendung des imper- Geschichte eine Rolle; zumindest wird ein Kind ge-
sonal verallgemeinernden Indefinitpronomens ›man‹ schildert, das sich »zwischen den Bäumen im Garten
sowie an generalisierenden Formulierungen in der meiner Eltern« hinter einem Gitter auf einer kleinen
ersten Person Plural ›wir‹ – wie etwa in dem Stück Schaukel ausruht, von der Schaukel aus sprühend
454 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

(wie aus einem Vogelkäfig, so könnte man meinen) manns besteht nämlich darin, »in einer Jahreszeit
auffliegende Vögel sieht und dabei »aus Schwäche die Moden der folgenden [zu] berechnen, nicht wie
ein wenig zu schaukeln« anfängt (9). Nur seufzend, sie unter Leuten meines Kreises herrschen werden,
so erfährt man, steht er auf, wenn er von einem Jun- sondern bei unzugänglichen Bevölkerungen auf
gen zu den anderen vor das Haus geholt wird. dem Lande« (DzL 22). Auch dieser Kaufmann er-
Das Schlussstück Unglücklichsein zeigt dann tat- scheint als ein ›städtischer‹ Narr − spätestens dann,
sächlich einen Städter, einen erwachsenen Mann, wenn er, allein in einem aufsteigenden Lift, in einer
der – ganz wie man es im Dorf der Kindheit an- pathetisch archaisierenden Rede unter anderem
nimmt – ein Narr ist, aber sich entgegen allem, was dazu auffordert: »Flieget weg; Euere Flügel, die ich
man im Kindheitsdorf sagt, zum Schluss der Ge- niemals gesehen habe, mögen Euch ins dörfliche Tal
schichte schlafen legt. Für einen Narren könnte man tragen oder nach Paris, wenn es Euch dorthin treibt«
diesen Mann deshalb halten, weil er schildert, wie er (23). Zugleich erinnert diese Passage an die aufflie-
Besuch von einem Kind »als kleines Gespenst« er- genden Vögel im elterlichen Garten des ›Kindes
hält (DzL 34). Mit diesem Gespenst spricht er ohne vom Lande‹ ebenso wie an das Dorf und die dörfli-
das mindeste Anzeichen der Verwunderung oder che Umgebung selbst, so dass auch hier die Vermu-
gar Verängstigung – obwohl er nicht an Gespenster tung figuraler Kohärenz in einer Textwelt unter-
glaubt. Wie man dem Text entnehmen kann, hat der stützt wird.
Mann schon häufiger mit Gespenstern zu tun ge- In ähnlicher Weise lassen sich über wiederkeh-
habt, was ihm allerdings Angst bereitet, ist die Ursa- rende Formulierungen, lexikalische und thematische
che der Gespenstererscheinungen: Wiederaufnahmen Kohärenzbrücken zwischen den
»Die eigentliche Angst ist die Angst vor der Ursache der einzelnen Stücken herstellen – ebenso über wieder-
Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich gera- kehrende Raumgestaltungen (Treppen, Gassen),
dezu großartig in mir«. Ich fing vor Nervosität an, alle wiederkehrende Situationen (Blick aus dem Fenster,
meine Taschen zu durchsuchen (38 f.). Spiegel-Situationen etc.), wiederkehrende Stichwör-
Auch im Fall der Schlusserzählung will ich auf keine ter (Gebirge, Bäume, Kinder, Mädchen, Singen u. a.).
weiteren Details eingehen. Deutlich geworden sein Dies gilt selbst für die drei Stücke Der Ausflug ins Ge-
sollte immerhin die thematische Verbindung zwi- birge, Wunsch, Indianer zu werden und Die Bäume.
schen erster und letzter Geschichte. Da die Schluss- Das Stichwort ›Gebirge‹ ebenso wie das Singen und
bewegung des Kindes in der Eingangsgeschichte die Beziehung zwischen dem sprechenden Ich und
vom Land zur Stadt verläuft und da sich in der Ein- einer Gruppe von anderen kommen in der Eingangs-
gangsgeschichte ein Mann an jene Dorfsommer er- erzählung ebenso vor wie in Der Ausflug ins Gebirge
innert, ist vielleicht auch die Vermutung nicht ganz (freilich hier in der ›närrischen‹ Rede des Mannes in
unbegründet, in dem Narren in der Stadt das Kind der Stadt); der »indianische Kriegsruf« (DzL 12) in
vom Lande zu erkennen, also figurale Kohärenz in Kinder auf der Landstraße lässt sich mit dem Wunsch,
einer Textwelt zu unterstellen. Indianer zu werden verbinden; die Bäume gehören
Die Beziehung Land-Stadt spielt auch in anderen zu den wiederholt vorkommenden Requisiten der
Stücken eine Rolle, so schon im zweiten Denkbild, Textwelt des ›Kindes vom Land‹ beziehungsweise
Entlarvung eines Bauernfängers, in dem die spre- des ›Mannes in der Stadt‹, so dass ihre verallgemei-
chende Instanz, ein Mann in der Stadt, berichtet, wie nernd reflexive Thematisierung in dem Stück Die
er einen Bauernfänger entlarvt – nicht etwa einfach Bäume durchaus keinen überraschenden Bruch in
einen Betrüger, einen Nepper oder gar einen Ver- der Textwelt konstituieren muss.
führer o. ä., sondern ausdrücklich einen Bauernfän- Gerade die zuletzt genannten Stücke zeichnen sich
ger. Der Ausdruck ist aus der Perspektive des ›Man- innerhalb der Textabfolge durch besondere Kürze
nes in der Stadt‹ gewählt; mit ihm verrät er sich als und durch besondere ›Rätselhaftigkeit‹ aus. Könnte
›Mann in der Stadt‹, der vom Lande kommt. Der Be- man diese im Falle von Der Ausflug ins Gebirge noch
trüger oder Verführer wird aus der Perspektive des mit dem närrischen Monologisieren des ›Mannes in
Mannes in der Stadt also als jemand betrachtet, der der Stadt‹ erklären, das sich unter anderem zu einer
es auf ihn, der vom Lande kommt (den ›Bauern‹), fast wortspielartigen Ontologisierung eines Indefi-
abgesehen hat (ihn ›fangen will‹). nitpronomens (von ›niemand‹ zu ›Niemand‹) äu-
Auch in Der Kaufmann wird die Stadt-Land-Be- ßert, so liegen die Dinge bei den anderen beiden Stü-
ziehung aufgegriffen. Eine der Sorgen des Kauf- cken etwas anders. In beiden Fällen kann man von
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 455

unmittelbar einsetzenden, reflexiven Texten spre- Der Text Die Bäume schließlich verdankt seine
chen, die sich im Zusammenhang der Textfolge als ›Rätselhaftigkeit‹ der Engführung von Vergleich und
Äußerungen, Gedankenrede, des ›Mannes in der sukzessiver Metaphorisierung des Vergleiches durch
Stadt‹ auffassen lassen (vgl. allerdings z. B. Born die Verwischung des tertium comparationis im
1994, 156, der bei Wunsch, Indianer zu werden vom ›Schein‹ oder in der ›Scheinhaftigkeit‹. Schon der
»Wunsch des Kindes« spricht). textthematisch abweichende Textanfang mit dem
In Wunsch, Indianer zu werden ist es vor allem ein begründenden »Denn« (DzL 33), das allerdings auf
Verfahren der Nonsense-Literatur, das zur ›Rätsel- keine zu begründende Behauptung folgt, fragmenta-
haftigkeit‹ des Textes führt, nämlich die sukzessive risiert den Text und dekontextualisiert ihn in seman-
Auflösung thematisierter Gegenstände. Hierbei bil- tisch nicht einholbarer Weise. Aus dem Zusammen-
den die Bedingungen der empirischen Realität die hang der ›Betrachtungen‹ mag man schließen, dass
Norm, von der der Nonsens-Text abweicht. Wenn es sich auch hier um die Gedankenrede des ›Mannes
man auf einem Pferd reitet und die Sporen ›lässt‹, in der Stadt‹ handelt. Wann, wie, wo, warum, in wel-
setzt das voraus, dass es überhaupt Sporen gibt, wenn cher Form und zu wem er sich äußert, wird aller-
man Zügel wegwirft, dass es Zügel gibt, und natür- dings nicht deutlich. Man könnte von monologischer
lich setzt das Reiten auf einem Pferd voraus, dass das Gedankenrede sprechen, aber mit ebenso großem
Pferd u. a. einen Hals und einen Kopf besitzt. In Kaf- Recht auch von einer aphoristischen Aufzeichnung.
kas Text werden hingegen die Sporen ›gelassen‹, Die Begründung im ersten Satz, für die kein zu
»denn es gab keine Sporen«, die Zügel weggeworfen, Begründendes vorausgesetzt werden kann, nutzt ei-
»denn es gab keine Zügel«, und schließlich werden nen Vergleich, in dessen unmittelbarer Formulie-
Pferdehals und Pferdekopf auch ›irgendwie‹ nicht rung kein tertium comparationis, wie es etwa zu ei-
mehr gesehen (DzL 32 f.). Kompliziert wird diese nem nichtmetaphorischen Vergleich gehörte, ge-
nonsensikalische Auflösung von Reitutensilien und nannt wird: »Denn wir sind wie Baumstämme im
Pferd durch die besondere Verbindung von Modus, Schnee« (DzL 33) − und nicht z. B. »Denn wir sind
Tempus und kausaler Begründung. Hat man es in so unverrückbar wie Baumstämme im Schnee«. Der
dem optativischen Wunschsatz »Wenn man doch nächste Satz bietet anschließend die Explikation ei-
ein Indianer wäre« (32) bis zur vierten Zeile des Tex- nes tertium comparationis. Die Vergleichbarkeit mit
tes mit dem Konjunktiv II zu tun, der jedenfalls eine den Baumstämmen im Schnee ist demnach darin zu
konditionale ›dann‹-Fortsetzung im Konjunktiv er- sehen, dass die Baumstämme scheinbar glatt auflie-
forderte, so bekommt man es bei Kafka nicht nur mit gen und man sie mit einem kleinen Anstoß weg-
dem Präteritum im Indikativ zu tun (»bis man die schieben können sollte. Unklar oder zumindest klä-
Sporen ließ«, 32), sondern darüber hinaus mit rungsbedürftig ist hierbei, in welcher Weise oder
kausalen ›denn‹-Konstruktionen im Indikativ des Hinsicht ›wir‹ glatt aufzuliegen und als leicht weg-
Präteritums, die die Aussage in den temporalen schiebbar erscheinen können. Die im Hinblick auf
›bis‹-Nebensätzen nonsensikalisch unterlaufen. Die ›uns‹ metaphorische Rede vom Glatt-Aufliegen und
Fortsetzung im Präteritum verhält sich zum kon- Wegschieben eröffnet in konzis unscharfer Manier
junktivischen Wunschsatz wie das Reden über zu- Deutungsspielräume – so dass jedenfalls die an-
künftig Mögliches zum Reden über faktisch Vergan- schließende entschiedene Behauptung im Indikativ
genes (vgl. Kobs 1970, 477; Ramm 1971, 16 ff.), näm- »Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit
lich eigentlich einander ausschließend. In dem einen dem Boden verbunden« (33) im Hinblick auf ›wir‹,
langen Satz, aus dem der Text besteht, bekommt man also menschliche Wesen, die mit den Baumstämmen
es derart durch die komplexen Brüche in seiner verglichen werden, zumindest nichts klarer macht.
Grammatik mit einer aufgehobenen oder sich aufhe- Vollends aufgelöst wird der Vergleich allerdings im
benden Semantik zu tun, bei der der Wunsch, India- abschließenden Satz »Aber sieh, sogar das ist nur
ner zu werden, gewissermaßen in episch rückbli- scheinbar« (ebd.), durch den ja deutlich gemacht
ckender Vorwegnahme im gleichen Atemzug auf- wird, dass ›wir‹ eigentlich in keiner Weise wirklich
gegeben wird. Hier wird ein Verfahren Kafkas mit Baumstämmen im Schnee zu vergleichen sind –
erkennbar, das man als grundlegend bezeichnen sondern in jedem Fall nur ›scheinbar‹.
kann und das unter den Stichwörtern »Umkehrung« Im Zusammenhang des Betrachtung-Zyklus
und »Ablenkung« als »gleitendes Paradox« erörtert könnte man diese kleine Reflexion mit den Informa-
wurde (G. Neumann, 1968; ä 285). tionen, die u. a. in Der Fahrgast über die vollständige
456 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Unsicherheit in Rücksicht der Stellung der sprechen- Im Wesentlichen wird die Neuartigkeit der Para-
den Instanz in ›dieser Welt‹, ›dieser Stadt‹ und in sei- beln Kafkas darin gesehen, dass sie im Unterschied
ner Familie gegeben werden, in Verbindung bringen. zu den älteren Vorläufern nicht mehr belehren oder
Dadurch verliert der Text allerdings kaum an Poly- zur Vermittlung einer bestimmten Lehre dienen,
valenz, ganz im Gegenteil. sondern im Vergleich zur didaktisch-geschlossenen
Die Bäume hat man gelegentlich geradezu als Tendenz der sogenannten Lehrparabel irgendwie
Musterfall der Parabel bei Kafka betrachtet (z. B. ›offen‹ bleiben: als »schwebende Parabeln«, als »phä-
Marsch). Vor dem Hintergrund der oben vorge- nomenologische Kasus-Parabeln«, als »verrätselte
schlagenen Genrebestimmungen lässt sich diese Parabeln«, als »metaphysische Parabeln«, als »er-
Auffassung allerdings nicht verteidigen, weil es sich kenntniskritisch-metaphysische Parabeln« (vgl.
hierbei eben nicht um einen epischen oder erzählen- Zymner 1991, 172 f.) oder als »Vorgangsparabeln«
den, sondern allein um einen – wenn auch vielleicht (Miller 1959). Jedes Wort in Kafkas Parabeln spreche
episch-fiktional integrierten – reflektierenden Text »Deute mich!«, doch keines wolle es dulden, so
handelt. Der entwickelte und schließlich aufgeho- Adorno in seinen Aufzeichnungen zu Kafka (Adorno
bene Vergleich allein konstituiert eben keine Para- 1977, 255).
bel, allenfalls wäre von einem Denkbild in Form ei- Dabei gibt es jedoch weder in der Parabel- noch in
nes Gleichnisses zu sprechen (vgl. Zymner 1991, der Kafka-Forschung einen Konsens darüber, wel-
122 f.). che Texte Kafkas genau zur Gattung ›Parabel‹ gezählt
Kennzeichnend für Kafkas Denkbilder ist häufig werden können. Zieht man den oben erläuterten Pa-
ihr grammatisch, darstellerisch und damit auch se- rabel-Begriff heran, so lässt sich immerhin ein Kor-
mantisch geradezu systematisch gegenstandsauflö- pus von vierzehn Texten ausmachen. Es sind dies In
sender oder wenigstens thematisch verrätselnder der Strafkolonie (DzL 201–248), Der neue Advokat
und allemal ihr reflektierender Charakter – Grund- (251 f.), Ein Landarzt (252–261), Ein altes Blatt (263–
züge, welche zu besonderer Deutungsoffenheit füh- 267) und Eine kaiserliche Botschaft (280–282), Der
ren, ohne doch ein Ziel der Reflexion vorzuzeichnen Kübelreiter (444–447), Ein Hungerkünstler (333–
oder erkennen zu lassen, Grundzüge auch, die die 349), <Die Brücke> (NSF I, 304 f.), <Der Steuer-
einzelnen Texte damit immer wieder in die Nähe an- mann> (NSF II, 324), <Die Prüfung > (327–329),
derer Genres rücken und ihre Bestimmbarkeit und <Der Geier > (329 f.), <Gibs auf! > (d.i. Ein Kommen-
Unterscheidbarkeit als Belegfälle eines bestimmten tar; 350), <Der Aufbruch> (374 f.) und die wohl be-
Genres erschweren. rühmteste von allen, nämlich Vor dem Gesetz, die
Zur Gruppe der Denkbilder in der Art der Kafka- zugleich auch Kafkas erste gedruckte Parabel ist
schen ›Betrachtungen‹ können noch eine Reihe von (DzL 267–269; P 292–295; vgl. Zymner 1991, 269–
anderen Texten gezählt werden – unter ihnen so be- 273).
rühmte, schon zu Lebzeiten veröffentlichte Texte wie Kafkas Parabeln gehören alle dem Typus der soge-
Auf der Galerie (DzL 262 f.), Die Sorge des Hausva- nannten ›Entdeckungsparabel‹ an (Zymner 1991,
ters (282–284) oder auch Das nächste Dorf (280), 178 f.). Im Unterschied zum Typus der ›Erbauungs-
außerdem berühmte Kurzprosatexte aus dem Nach- parabel‹, der durch eine eng umgrenzte Richtungs-
lass wie <Poseidon> (NSF II, 300–302), <Promet- bestimmung des Parabeltransfers gekennzeichnet
heus> (NSF II, 69 f.) und <Das Schweigen der Sire- ist, welche sich als ›religiös gebunden‹ bezeichnen
nen> (NSF II, 40––42). lässt, hat die Entdeckungsparabel die Funktion, eine
selbständige Deutung herauszufordern, ohne jedoch
den Transfer auf einen Bereich zu lenken, der einem
Kafkas Parabeln bestimmten religiösen Traditionszusammenhang
angehört.
Kafka gilt als moderner Klassiker der Parabel, als ein Zudem gehören alle Parabeln Kafkas dem Typus
Autor mithin, dessen Texte sich an die besten Bei- mit einem impliziten Transfersignal an. Anders als
spiele der Gattung – Lessings ›Ringparabel‹ oder der Typus mit explizitem Transfersignal sagen oder
auch die jesuanischen Parabeln des Neuen Testamen- zeigen Kafkas Parabeln also nicht ausdrücklich –
tes – anschließen, allerdings nicht ohne die Gattung etwa in einer Vergleichsformulierung (»Das Him-
selbst zu verwandeln und eine neue, moderne Phase melreich gleicht einem Mann…«) oder in einer ›de-
ihrer Geschichte zu eröffnen. tailübersetzenden‹ Allegorese des Erzählten –, dass
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 457

die vorliegenden Geschichten übergreifend meta- distanzierten ›Hier-Ich-Jetzt‹-Origo des Erzählens


phorisch oder uneigentlich und daher zu übertragen und der ›Dort-jenes Ich-Damals‹-Origo des Erzähl-
sind, sondern sie verdeutlichen es ›implizit‹ durch ten ist hierbei konstitutiv. Etwas später heißt es in
Textstrukturen und Textverfahren. Im Falle Kafkas der Geschichte:
zählen hierzu in ihrer Funktion gleichgerichtete Ele- »Hilf ihm«, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem
mente im Bereich der Erzählsituation (Radikalisie- Knecht das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum
rung der personalen Erzählsituation; vgl. Sokel war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein
1967), die systematische Inkohärenz in der Raum-, Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir;
rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens
Zeit-, Figuren- und Handlungsgestaltung sowie die
Wange (DzL 254).
parabeltypische Kürze. Dass Kürze (als unscharf-
dehnbares Kriterium) lediglich typisch für Parabeln Ab dem zweiten Satz dieser Passage bekommt man
ist, kann man sich an den vergleichsweise umfang- es erkennbar mit dem Modus eines innenperspekti-
reichen Texten In der Strafkolonie und Ein Hunger- vischen ›Ich‹-Reflektors zu tun, was besonders durch
künstler verdeutlichen. Unter den genannten vier- den Tempuswechsel vom Präteritum zum ›unmittel-
zehn Texten streben diese beiden am stärksten in baren‹ Präsens deutlich wird. Der Modus des ›Ich‹-
Richtung einer Auflösung der Parabel zur nurmehr Reflektors trägt nun durch die fehlenden und schein-
parabolischen Erzählung. Wegen der übergreifend bar willkürlichen Selektionsmechanismen der wie-
charakterisierenden Dichte und Systematik der im- dergegebenen Handlung zur spezifischen Inkohärenz
pliziten Transfersignale (besonders im Bereich der des Textes bei. In Verbindung mit dem Motiv des
Text-Welt-Gestaltung) fallen sie jedoch noch unter Scheiterns durch einen falschen Anfang (»Betrogen!
den Gattungsbegriff. Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke
Besonders im Hinblick auf Der neue Advokat, Ein gefolgt – es ist niemals gutzumachen«, 261) ist das
Landarzt und Ein altes Blatt kann wenigstens passa- unvermittelte Auftreten eines ›Ich‹-Reflektors ein
genweise von Ich-Reflektor-Figuren gesprochen Initialsignal der Uneigentlichkeit, das − unterstützt
werden. Im Unterschied zu vermittelnden Erzähler- durch die gleichgerichteten Elemente der parabelty-
Figuren spiegelt eine Reflektor-Figur Vorgänge so, pischen Kürze und der Verknappung − zu einem
dass der Leser scheinbar unmittelbar Kenntnis von Transfer der Geschichte auffordert.
Vorgängen und Reaktionen erhält, die im Bewusst- Bei den Parabeln aus dem Nachlass findet sich
sein der Reflektor-Figur eingefangen werden. Die ebenfalls passagenweise der für die Gattung ›Para-
Integration eines ›reflektierenden Ich‹ in die fiktio- bel‹ in der deutschen Literatur neue Modus des ›Ich‹-
nale ›Welt der Erzählung‹, die (nach Franz K. Stan- Reflektors. Es handelt sich gattungsgeschichtlich um
zel) ›Identität der Seinsbereiche‹ von reflektieren- eine technische Innovation, die eine Erweiterung der
dem Ich und reflektierter Geschichte, ist das auch Möglichkeiten des Parabeltypus mit implizitem
gattungsgeschichtlich Neue an einigen Parabeln Kaf- Transfersignal darstellt. So wie im Hinblick auf den
kas. Bis zu den genannten Texten Kafkas weisen die erzähltechnischen Bereich die Ausnutzung der In-
Parabeln in aller Regel einen rein personalen oder nenperspektive und des Modus des ›Ich‹-Reflektors
einen außenperspektivischen Erzählstandpunkt auf. als Konstruktionstechnik des impliziten Transfersi-
Die Erzählinstanz war also bis zu den genannten gnales ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die auf
Texten in der Regel eine von der Parabel-Geschichte Kafka folgende Parabelliteratur war, so sind es im ty-
distanzierte Mittlerfigur oder ein personales Me- pologischen Bereich die Forcierung von offenen Ent-
dium. In den genannten Texten Kafkas hingegen hat deckungsparabeln mit implizitem Transfersignal
man es wenigstens passagenweise auch mit einem und im inhaltlichen Bereich das Motiv des Schei-
innenperspektivischen ›Ich‹-Reflektor zu tun. terns. In unterschiedlichen Kombinationen werden
Exemplarisch kann dies am Beispiel von Ein Land- gerade diese Aspekte der Parabeln Kafkas seit etwa
arzt erläutert werden. Der Text beginnt mit den 1953 in der deutschsprachigen Literatur rezipiert
Worten: »Ich war in großer Verlegenheit: eine drin- und in neuen Parabeldichtungen verwendet.
gende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker Die Transferoffenheit der Parabeln Kafkas (zumal
wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten in Verbindung mit dem Motiv des Scheiterns) hat
Dorfe« (DzL 252). Zu Beginn dieses Textes haben vielfach Anlass geboten, sie als Symptome eines ›Kri-
wir es im Erzählmodus erkennbar mit einem ›Ich‹- senbewusstseins des modernen Menschen‹ zu be-
Erzähler zu tun; die Unterscheidung zwischen der trachten. Kafkas Texte verbieten dies natürlich nicht
458 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

ausdrücklich. Triftiger erscheint es, sie als ›moderne‹ Hilfe (DzL 268). Schließlich heißt es lakonisch: »Nun
Parabeln zu bezeichnen – wenn es denn überhaupt lebt er nicht mehr lange« (269). Die erzählte Zeit ei-
ein Kennzeichen der Literatur der Moderne ist, re- nes ganzen Lebens wird (erzähltechnisch in einer
flektierend, a-mimetisch und experimentell zu ver- durativen Raffung) dadurch ausgefüllt, auf einem
fahren. Schemel vor der Tür »des Gesetzes« auf Einlass zu
Im Vergleich zu den erzähltechnisch avancierten warten. Der Mann vom Lande wird also ohne alle
Belegfällen der Gattung ›Parabel‹ bei Kafka ist seine anderen Lebensbezüge dargestellt: Der Text sagt
älteste und berühmteste Parabel, Vor dem Gesetz, al- nichts darüber, ob er etwa eine Familie hat, ob er isst,
lerdings noch recht konventionell, da man in diesem ob er schläft. Er wartet ausschließlich auf seinen Ein-
Text eine dominierende (erzähltechnisch distanzie- lass, um kurz vor seinem Tod erfahren zu müssen,
rende) personale Erzählsituation feststellen kann. dass der Eingang nur für ihn bestimmt war.
Tendenziell unterscheidet sich der Text also im Hin- Dabei wird der zur rezeptiven Anteilnahme einla-
blick auf die Erzählsituation nicht von älteren oder dende Inhalt konterkariert durch Formen der er-
typischen Belegfällen für die Gattung ›Parabel‹. zähltechnischen Distanzierung, durch die Kombina-
Von besonderem Interesse (und für die Wirkungs- tion von Erzähltempus (historisches Präsens), inten-
geschichte der ›Türhüterlegende‹ von besonderer siver Raffung und der dominanten personalen
Relevanz) ist aber doch der Umstand, dass man es Erzählsituation. Hinzu kommt ein in seinem Effekt
hier im Grunde mit zwei Parabel-Varianten zu tun distanzierender parataktischer Stil, die betonte Kopf-
bekommt: einmal mit einer mehrfach als separater stellung von Raum- und Zeitdeiktika, sowie die im-
Einzeltext publizierten, dann aber auch mit einer in mer wieder zu beobachtende Straffung der Erzäh-
einen Romankontext eingebetteten Parabel. Beide lung durch Ansätze linearer thematischer Progres-
Parabeln sind nicht ›in gleicher Weise‹ parabolisch, sion. Auf der anderen Seite ist der Stil auch nicht
sondern funktionieren in ihrer relevanten Mikro- völlig frei von genau bestimmbaren emphatischen
struktur jeweils unterschiedlich. Dabei unterschei- Elementen. So heißt es an einer Stelle:
det sich der Wortlaut des Textes im Landarzt-Band Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Tür-
nur in Details, die für die Gattungsfrage nicht weiter hüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhü-
von Belang sind, von demjenigen der überlieferten ter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis
Handschrift des Dom-Kapitels (insbesondere im Be- für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglück-
lichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut,
reich der Interpunktion und der Getrennt- bzw. Zu- später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin.
sammenschreibung). Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium
Im Landarzt-Band findet sich jedoch im Unter- des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen er-
schied zum Dom-Kapitel, dem sonst isolierten Text kannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und
den Türhüter umzustimmen (268).
vorangestellt, der Titel Vor dem Gesetz. Bei der Ein-
zelerzählung endet der Text mit der Pointe der Ge- »Er vergißt«, »Er verflucht«, »Er wird kindisch« lau-
schichte (»Hier konnte niemand sonst Einlaß erhal- ten die parallel konstruierten und im Wortlaut ana-
ten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. phorischen Formulierungen, mit denen ein emotio-
Ich gehe jetzt und schließe ihn«; DzL 269). Erst mit nal markiertes Vokabular in diesen doch so sachlich
dieser Pointe aber wird das »strukturbestimmende wirkenden Text eingeführt wird. Die Elemente der
Paradox« der Erzählung geformt (Kobs 1970, 524). Distanzierung wie der Emphase bilden hierbei nun
Es ist darin zu sehen, dass der ›Türhüter‹ dem ›Mann im Zusammenspiel und gemeinsam mit der hand-
vom Lande‹ nicht gestattet, in das ›Gesetz‹ einzutre- lungsstrukturellen Paradoxie das implizite Transfer-
ten, am Schluss der Parabel aber mitteilt, dass der signal der Parabel. Die Richtung des Transfers wird
Eingang nur für den Mann bestimmt gewesen sei. dabei allein durch den Wortlaut des Textes bestimmt,
Im Einzeltext lassen sich eine Reihe von Elemen- im Falle des Landarzt-Bandes wie auch bei den sepa-
ten als implizites Transfersignal zusammenfassen. raten Publikationen des Textes jedoch nicht durch
Wichtig sind hier u. a. Erzählformulierung und Fi- einen ihn umgebenden oder einbettenden Kontext.
gurenmarkierung. Der Mann vom Lande sitzt »Tage Genau dies ist allerdings der Fall bei der im Dom-
und Jahre« auf einem Schemel neben der Tür, wartet Kapitel eingefügten Variante der Parabel. Im Kon-
auf Einlass und beobachtet den Türhüter fast unun- text des Process-Romanes ist sie als dessen »Schlüs-
terbrochen. Er wird »alt« und »kindisch« und bittet sel« (Henel, 50) und als dessen »innerer Fahrplan«
sogar die Flöhe im Pelzmantel des Türhüters um (Politzer 1960, 463) aufgefasst worden. Das liegt
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 459

nicht zuletzt daran, wie der Text in den Roman inte- Romankontext gelenkt und bestimmt. Sie bleibt da-
griert und die Appellstruktur der Uneigentlichkeit durch ungleich determinierter als in der Separat-
im Roman entwickelt wird. Im Process wird die Er- Version mit ihrem impliziten Transfersignal. Dem
zählung über den Mann vom Lande als eine Ge- korrespondiert, dass die in der Separat-Version fest-
schichte zu einem bestimmten Thema eingeführt stellbare Appellstruktur der Uneigentlichkeit durch
(und damit gewissermaßen von vornherein seman- die romanfiktionale Festlegung der Funktion der Er-
tisch perspektiviert). Im Unterschied zum Landarzt- zählung unterdrückt und durch eine auf den Roman
Band gibt es im Dom-Kapitel auch einen bestimm- abgestimmte, kontextuell geleitete Struktur der Un-
ten Erzähler der Geschichte. Sie wird als fiktionale eigentlichkeit verdrängt wird.
Form der Mündlichkeit dem »Kaplan« zugeordnet. Nicht zuletzt durch die Integration der Parabel in
Er erzählt hier die Geschichte (anstelle einer unbe- den Process lässt sich auch der Roman selbst als ›pa-
kannten Sprechinstanz in den separaten Versionen) rabolischer Roman‹ bezeichnen; er repräsentiert in
und er perspektiviert die Geschichte auch, indem er dieser Hinsicht die sogenannte ›Einbettungsform‹
ihr vorausschickt, dass es in den einleitenden Schrif- des parabolischen Romans. Als ganzer Roman ließe
ten zum Gesetz »von dieser Täuschung« (nämlich sich Der Process aber auch einer weiteren Form des
der Täuschung K.s in dem Gericht) heiße (P 292). parabolischen Romans zuordnen, nämlich der ›Re-
Im Kontext des Romans ist die Geschichte mithin duktionsform‹ des parabolischen Romans, welche
darauf zu beziehen, dass und wie sich K. in dem Ge- sich allgemein durch eine narrative und stilistische
richt täuscht, mit dem er es in seinem Prozess zu tun Verknappung auf der Ebene des ›discours‹ (also das
hat. ›Wie‹ der Darstellung betreffend) auszeichnet (vgl.
In dem an die Erzählung anschließenden Ausle- Zymner 1991, 164–171). Weitere Merkmale sind
gungsgespräch wird deren Uneigentlichkeit keines- pseudorealistische Exaktheit im Detail und die Wah-
wegs thematisiert, vielmehr wird lediglich die Pro- rung einer kohärenten Erzählwelt bei gleichzeitiger
blematik der Täuschung erörtert und die Erzählung Inkohärenz der Figurenmerkmale, der Raum- und
als erläuternde Geschichte zu dieser Problematik be- Zeitstrukturierung und der Erzählperspektive.
handelt. Es wird also innerhalb der Fiktion festge- Die literaturgeschichtliche Bedeutung der Parabo-
legt, als was der Text Vor dem Gesetz zu gelten hat − lik bei Kafka ist ein wichtiger Grund für die verbrei-
als ein Beispiel nämlich, welches einen Musterfall tete Auffassung, dass die Merkmale der Reduktions-
vorführt. Erst der Verlauf des Gespräches über die form des parabolischen Romans als nahezu tradi-
Geschichte höhlt diese postulierte Beispielfunktion tionslose Epochensignatur moderner Prosa gelten
systematisch aus und bringt die Uneigentlichkeit des können. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall
Textes zur Geltung. Fasst K. den Text sofort als eine (vgl. Zymner 1991, 170 f.). Die Offenheit in der Deu-
Geschichte auf, in der der Türhüter den Mann vom tungsrichtung und die Strukturierung der Kafka-
Lande täuscht, so weist der Geistliche darauf hin, schen Parabeln durch (vielfach lediglich beim ge-
dass im Wortlaut der Schrift nichts davon stehe und nauen Lesen als solche interpretierbare) implizite
dass es sich bei K.s Deutung bloß um »fremde Mei- Transfersignale sind im Wesentlichen dafür verant-
nung« handele (P 295). Eine andere Meinung besage wortlich zu machen, dass sich die Texte im Hinblick
dagegen, dass gerade der Türhüter der Getäuschte auf die Gattungsbestimmung in der konkreten Re-
sei. K. hält daraufhin beide Meinungen für richtig. zeption immer wieder entziehen und vielfach pau-
Schließlich trägt der Geistliche noch die Meinung schal und allgemein von ›Parabolik‹ im unspezifi-
vor, dass die Geschichte niemandem das Recht gebe, schen Sinne, von ›erschwerter Deutbarkeit‹ oder ›er-
über den Türhüter zu urteilen, da er als Diener des schwerter Verstehbarkeit‹ gesprochen wird.
Gesetzes dem menschlichen Urteil entrückt sei. Das Mit der Unsicherheit über Spezifik und Struktur
wichtige Ergebnis des Geistlichen lautet: »Die Schrift der Parabeln, die ihren Ausdruck in einer Verwechs-
ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur lung von besonderer Metaphorizität bzw. Uneigent-
ein Ausdruck der Verzweiflung darüber« (P 298). lichkeit hier und allgemeiner erschwerter Deutbar-
Erst durch die Entwicklung der widerstreitenden keit dort findet, verwischen natürlich auch leicht die
Meinungen wird innerhalb des Romans die Unei- Gattungsgrenzen bzw. die scharfe Abgrenzung und
gentlichkeit der Erzählung herauspräpariert und deutliche Abgrenzbarkeit eines bestimmten Parabel-
mehr und mehr verdeutlicht. Die Deutung der lang- korpus bei Kafka von anderen Formen im Bereich
sam entwickelten Parabel wird hier durch den der Kafkaschen Kurzprosa.
460 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Ein äußeres Indiz hierfür wären etwa die unter- epischen Untersemantisierung im Hinblick auf
schiedlichen Gattungsbezeichnungen, die sich im Raum-, Zeit- und Figurengestaltung.
Hinblick auf einzelne der vorgestellten Parabeln fin- In der szenischen Darstellung ist die ›Rätselhaftig-
den. So kann man selbst für den anscheinend relativ keit‹ oder ›erschwerte Verstehbarkeit‹ nun nicht ir-
klaren Fall von Vor dem Gesetz in der Forschung gendeiner Form der Uneigentlichkeit geschuldet,
zahlreiche unterschiedliche Gattungsbezeichnungen sondern dem verwirrenden oder systematisch irre-
finden (neben Parabel auch Gleichnis, Fabel, Le- führenden, jedenfalls schwer zu durchschauenden
gende, Märchen, Sage, Geschichte, Erzählung u. a., Zusammenhang der einzelnen Redebeiträge. Hier-
vgl. Andringa 1994, bes. 108 ff.), die als Perspektivie- bei mag man eher an das Verfahren des ›gleitenden
rungen in unterschiedlicher Weise die Interpretation Paradoxons‹ als an die Uneigentlichkeit der Parabel
des Textes beeinflussen und in jedem Fall belegen, denken dürfen.
dass sich dieser Text einer eindeutigen, kanonischen Andererseits ist die Formulierung, dass »alle
Gattungszuweisung entzieht (auch wenn die Gat- Gleichnisse« eigentlich nur sagen wollen, dass das
tungsbestimmung ›Parabel‹ möglicherweise den Unfassbare unfassbar sei (NSF II, 532), durchaus als
deutlichsten Konsens finden dürfte). zutreffende Beschreibung der Offenheit von Kafkas
Ein weiteres äußeres Indiz für die erschwerte Ab- Parabeln zu verstehen – und insofern liegt hier min-
grenzbarkeit eines Parabelkorpus bei Kafka ist in destens auch ein Text über Kafkas Parabeln vor, al-
den vielen Kafkaschen Texten zu sehen, die neben lerdings eben keine Parabel.
den oben vorgeschlagenen Belegfällen als ›Parabeln‹
bezeichnet und so in die Gattung ›eingemeindet‹
werden. Dies gilt besonders für den im vorliegenden Kafkas Aphorismen
Zusammenhang oben als Denkbild kategorisierten
Text Die Bäume: Edgar Marsch nimmt den Text als Kafkas Aphorismen sind lange Zeit mehr als Texte
Musterfall der Parabel bei Kafka und bezeichnet ihn Kafkas denn als Aphorismen betrachtet worden, ihr
als Kurzparabel (Marsch 1980, 374); Heinz Hillmann Zusammenhang mit dem Œuvre war von größerem
fasst ihn als Ansatz zur Überwindung des Erzählty- Interesse als ihre Positionierung innerhalb der Ge-
pus der ›Betrachtung‹ in Richtung auf die Parabel schichte der Gattung. Dabei zeigt sich gerade bei ei-
auf (Hillmann 1973). nem Blick auf die Gattungsgeschichte, dass und in-
Das gilt aber auch und nicht zuletzt für Kafkas wiefern Kafkas Aphorismen einen Neuanfang be-
<Von den Gleichnissen> (NSF II, 531 f.; vgl. u.a Phi- deuten, indem und soweit sie sich nämlich der
lippi), das in kaum einer Parabel-Anthologie fehlt; Gattung entziehen.
von Beda Allemann ist der Text sogar als »Parabel Die biographischen Kontexte der Entstehung (dia-
über die Parabel« bezeichnet worden (Allemann gnostizierte Tuberkulose, Trennung von Felice Bauer
1964, 106). Demgegenüber hat man schon früh dar- im Falle der Zürauer Aufzeichnungen; Trennung von
auf hingewiesen, dass nichts in diesem Text dazu Julie Wohryzek im Fall der Tagebuchaufzeichnun-
zwinge, ihn als ›Gleichnis‹ bzw. Parabel zu verstehen gen) haben wiederholt dazu Anlass geboten, die
(Strohschneider-Kohrs 1971, 317; Zymner 1991, Aphorismen als Dokumente von Lebenskrisen zu
275); vielmehr könne dieses Verstehen »in statu le- verstehen (vgl. Spicker 2004, 219). Dagegen belegt je-
gendi«, wie Strohschneider-Kohrs sagt, also wäh- doch die ›Er‹-Form im Fall der <Er>-Aphorismen
rend des Lesens, eintreten. Das lässt die Gattungsbe- gerade »die grammatische Verdeckung des Persönli-
stimmung freilich sehr in der Schwebe und macht chen«: Sie »konstituiert auch bei Kafka […] eine ei-
sie stärker als nötig von dem individuellen Leseer- gene literarische Person, die nicht mehr auf Eigenes
lebnis des Rezipienten abhängig. oder Fremdes rückführbar ist« (Spicker 2004, 219).
Allerdings können einige Argumente angeführt Ebenso dokumentieren die Bearbeitungen der Auf-
werden, die gegen eine Zuordnung zur Gattung ›Pa- zeichnungen im Fall der Abschriften aus den Oktav-
rabel‹ sprechen. So wird hier keine Geschichte er- heften (NSF II, 113–140) in Form von Kürzungen,
zählt; es handelt sich um keinen episch-fiktionalen Titelstreichungen, Fragmentarisierung und allge-
Text in dem Sinne, dass eine ›vergangene Handlung‹ mein Verknappungen ein gewisses Gattungsbewusst-
(homodiegetisch oder heterodiegetisch) erzählt oder sein, das jedenfalls die Deutung auch dieser Aphoris-
berichtet würde. Stattdessen bekommt man es mit men-Gruppe als unmittelbare Zeugnisse biographi-
einer szenischen Darstellung zu tun und mit einer scher Umstände eher erschwert als unterstützt.
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 461

Freilich lassen sich an Kafkas Aphorismen auch durchgängige Unbekümmertheit dem gegenüber,
Züge entdecken, die zu einer »fortschreitenden Gat- was [die Gattungsgeschichte] anscheinend oder
tungsverunsicherung« führen (Spicker 2004, 224). scheinbar nahelegt, bereitstellt, fordert« (Spicker
Einer der berühmtesten Aphorismen Kafkas lautet 2004, 227), für seine Aphoristik symptomatisch. Ihre
beispielsweise: »Ein Käfig ging einen Vogel suchen.« Eigenart findet sie gerade nicht in einer strengen Er-
(NSF II, 117). Neben der ›paradoxen‹ Umkehrung, füllung von Gattungserwartungen, wie sie sich im
die als Erstes ins Auge springen mag, ist doch für Laufe der Geschichte des literarischen Aphorismus
diesen Aphorismus charakteristisch, dass es sich um herausgebildet haben.
eine Kürzestgeschichte handelt bzw. dass wir hier Hierzu passt auch, dass sich nur vage eine aphoris-
wenigstens Ansätze zur Episierung (Erzähltempus, tische Ahnenreihe aufstellen lässt, an deren Ende
handlungsvermittelndes Verb) und Fiktionalisie- Kafkas Aphorismen stehen und aus der heraus sie
rung (›phantastische‹ Anthropomorphisierung des sich verstehen ließen. In Kafkas Bibliothek finden
Vogels) vorfinden, die jedenfalls der Bestimmung als sich zwar Aphorismen und Aphoristisches – von
Aphorismus im strengen Sinne Frickes entgegenste- Vauvenargues über Hebbel, Schopenhauer, Alten-
hen. berg und Kierkegaard; intertextuelle Bezüge hat man
Von Ansätzen zum Erzählen bzw. zu Kürzestge- zu der aphoristischen Kurzprosa bzw. den Aphoris-
schichten kann man auch bei anderen Aphorismen men bei Marc Aurel, Lichtenberg, Nietzsche oder
sprechen – etwa hier: auch Karl Kraus zu finden versucht (vgl. Gray 1983).
Eine stinkende Hündin, reichliche Kindergebärerin, Doch bleiben die Beziehungen und Bezüge in allen
stellenweise schon faulend, die aber in meiner Kindheit Fällen eher vage.
mir alles war, die in Treue unaufhörlich mir folgt, die ich Erhellender ist demgegenüber der Aufweis von
zu schlagen mich nicht überwinden kann, vor der ich Parallelen, insbesondere zur französischen Aphoris-
aber, selbst ihren Atem scheuend, schrittweise nach
tik. Hier zeigt sich, dass Kafkas Aphorismen frappie-
rückwärts weiche und die mich doch, wenn ich mich
nicht anders entscheide, in den schon sichtbaren Mauer- rende Ähnlichkeit mit den surrealistischen »Bild-
winkel drängen wird, um dort auf mir und mit mir gänz- aphorismen« bei René Char und anderen haben (vgl.
lich zu verwesen, bis zum Ende – ehrt es mich? – das Ei- Helmich 1991, 132 ff.). Das ›aphoristische Bild‹, das
ter- und Wurm-Fleisch ihrer Zunge in meiner Hand ›Gedankenbild‹, der ›Bildaphorismus‹ hat eine lange
(NSF II, 115).
gattungsgeschichtliche Tradition, die bis zur franzö-
Bei diesem Text (wie in anderen Fällen) würde man sischen Moralistik bei La Rochefoucauld u. a. zu-
ebenso von narrativen ›Denkbildern‹ sprechen kön- rückreicht und im Falle des deutschsprachigen
nen, stünde dem nicht andererseits u. a. die aphoris- Aphorismus z. B. in Georg Christoph Lichtenberg ei-
mentypische Reihung entgegen. nen wichtigen Vertreter findet.
Ebenso gibt es unter den Aphorismen solche, die Diese moralistische Tradition des Bildaphorismus
man als parabolisch bezeichnet oder in ›Parabel- erfährt allerdings in der surrealistischen Aphoristik
nähe‹ gerückt hat, wie etwa diesen: ebenso wie in der Kafkas eine gravierende Wand-
lung. So geht es in der gewandelten modernen Bild-
Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die aphoristik nicht darum, Aspekte gesellschaftlicher
Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder;
schließlich kann man es vorausberechnen und es wird
Beziehungen zu thematisieren, sondern darum, »ex-
ein Teil der Ceremonie (NSF II, 117). treme Befindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen«
(Spicker 2004, 228). Überdies geschieht dies bei
Unter den Aphorismen gibt es außerdem solche, die Kafka in einer autonomen oder autonomisierten
eher wie persönliche Notizen wirken (z. B. NSF II, Bildlichkeit, bei der es immer wieder Übergänge zu
119; Nr. 31); solche, die miteinander verknüpft sind oder Vermischungen mit dem zweiten Aphoris-
und also gegen das Kriterium der Isoliertheit versto- mustyp bei Kafka neben dem Bildaphorismus gibt:
ßen (z. B. NSF II, 132); solche, die einen szenischen der ›philosophischen Erörterung‹ (vgl. z. B. Dietzfel-
oder dialogischen Charakter haben (NSF II, 139 f.); binger).
sowie solche, die durch ihren Umfang Zweifel an der Ein Beispiel wäre der argumentierende Bildapho-
Gattungszuordnung aufkommen lassen können rismus: »So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält
(z. B. NSF II, 132 f.). ihn aber fest nur um ihn desto weiter zu verwerfen.
So sehr man bei Kafka ein gewisses Gattungsbe- Aber auch in jene Weite führt der Weg« (NSF II,
wusstsein feststellen kann, so sehr ist auch »eine 118). Auf das Bild folgt hier, so stellt Spicker fest,
462 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

»die Auflösung, um dessentwillen das Bild entwor- deutschsprachigen Aphoristik seiner Zeit. Die fran-
fen war, ehe wiederum die Auflösung auch dessen zösische Bildaphoristik erneuert die Gattung in der
vollzogen wird, zu dem, was dem Bild und seiner französischen Literatur auf breiter Ebene; in der
verunsichernden Auflösung gemeinsam wesentlich deutschsprachigen Literatur wird diese Erneuerung,
ist: eine doppelte Zurücknahme, bei der die zweite von Ansätzen in Expressionismus und Dadaismus
die erste aufhebt, oder, im Kafka’ schen Sinne ge- abgesehen, vor allem und im Wesentlichen von
nauer: aufzuheben scheint« (Spicker 2004, 231). Kafka getragen.
Die Zurücknahme als wichtiges Charakteristikum
der Aphorismen Kafkas zeigt sich am deutlichsten in
der Zirkelstruktur – wie in folgendem Text: »Verste- Forschung
cke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglich-
keiten der Rettung wieder soviele wie Verstecke« Im Hinblick auf die Aphoristik bei Franz Kafka gilt
(NSF II, 118). Die Verbindung von auswegloser Zir- Werner Hoffmanns Feststellung in Bd. 2 seines
kelstruktur und signifikant Eigenem ist ein wichtiges Kafka-Handbuches von 1979 nach wie vor:
Charakteristikum der Aphorismen Kafkas.
Die Aphorismen sind von der Kafka-Forschung ver-
Die Zürauer Aphorismen wie auch die <Er>- gleichsweise wenig beachtet worden. Die meisten Auto-
Aphorismen kreisen dabei um existenzielle Themen, ren, die sich mit ihnen befassen, kommen über eine Er-
also solche, die das Dasein ›des‹ Menschen, seine örterung der Denkmethoden Kafkas, des Gebrauchs,
Welt- und Selbsterfahrung in nicht zuletzt auch den er von Paradoxa und Parabeln, Umkehrungen und
Zirkeln macht, oder seines Denkens in Bildern nicht hi-
ethisch relevanter Weise betreffen. Dies wird allein naus (Hoffmann 1979, 477 f.).
durch wiederkehrende Stichwörter überdeutlich:
Der »wahre Weg«, die »menschliche Hauptsünde«, In der Zwischenzeit sind vor allen Dingen solche
das »Gute«, das »Böse«, das Leben als Leben in einer Studien hinzugetreten, die sich verstärkt um literar-
»Zelle« oder einem »Gefängnis«, der Mensch als historische und gattungsgeschichtliche Kontextuali-
»Aufgabe« ohne Lösung, seine »Rettung«, die »geis- sierungen (vgl. v. a. die Arbeiten von Gray, Kaszyn-
tige Existenz« oder auch die »Vertreibung aus dem ski) oder um haltbare Parallelisierungen bemühen
Paradies« und die Rolle des »Sündenfalls«, nicht zu- (wie zuletzt Spicker). Dabei gelingt es insbesondere
letzt auch der »Tod« – das sind thematisch verbin- Spicker, Kafkas Aphorismen einen gattungsge-
dende und für Kafkas Aphorismen verbindliche schichtlichen Ort zuzuweisen und sie geradezu als
Stichwörter in den Zürauer Aphorismen, denen aus einen Neubeginn zu konzeptualisieren, dessen Spu-
den <Er>-Aphorismen die Stichwörter »Himmel«, ren bis in die Gegenwartsaphoristik (etwa bei Elazar
»Hölle«, »Laster«, »Tugend«, »Aberglaube« und im- Benyoëtz, geb. 1937) reichen.
mer wieder »Leben« zur Seite gestellt werden kön- Nicht nur im Falle der Aphorismen wird man al-
nen. Exemplifiziert sei dies an einem <Er>-Aphoris- lerdings die bedeutende, ein Textkorpus allererst zu-
mus, der wie eine Engführung Kafka’scher Aphoris- verlässig konstituierende und z. B. in einem Gat-
tik erscheint und zugleich deren Annäherung an das tungszusammenhang erkennbar machende Leistung
Denkbild repräsentiert: der Herausgeber der Kritischen Ausgabe als einen der
herausragenden Beiträge zur Kafka-Forschung be-
Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Ge-
fangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es zeichnen müssen.
war ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich Noch zurückhaltender als bei der Aphorismus-
zuhause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm Forschung wird man im Hinblick auf Untersuchun-
der Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an gen über Kafkas Denkbilder urteilen müssen. Hier
allem teilnehmen, nichts entgieng ihm draußen, selbst
verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen
sind die Unterscheidungen von Hillmann (der aller-
standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefan- dings das Stichwort ›Denkbild‹ noch nicht verwendet
gen war er (T 849). und stattdessen von einer eigenen Gattung ›Betrach-
tung‹ spricht) noch am tragfähigsten (Hillmann
Mit seinen Bildaphorismen erfüllt Kafka keine Gat- 1973). Die Beschäftigung mit dem Genre ›Denkbild‹
tungserwartungen, sondern er erneuert die Gattung im Allgemeinen ist insgesamt von starken didakti-
in der deutschsprachigen Literatur grundlegend. Da- schen Interessen (vgl. v. a. Müller-Michaels; Köhnen)
bei steht er in größerer relativer Nähe zur surrealisti- und von einer Orientierung an den Denkbildern Wal-
schen französischsprachigen Aphoristik als zu der ter Benjamins geprägt. Hiervon werden auch die
Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen 463

Überlegungen zu Kafkas Denkbildern berührt (vgl. gefügt und Differenzierungen oder Alternativen zu
z. B. Jura), sodass die literarhistorische Positionierung den alten Erklärungen angeboten. Doch alle Inter-
und die textstrukturelle Spezifik des Denkbildes bei pretationen bewegten sich innerhalb derselben Pro-
Kafka bislang in der Forschung keine Rolle spielen. blembereiche (Fragen nach den kausalen Zusam-
Parabel und Parabolik, in systematischer wie in menhängen in den Handlungen und Ereignissen;
historischer Hinsicht, sind demgegenüber zentrale nach den Beziehungen zwischen den narrativen
Gegenstände der Kafka-Forschung, Kafka selbst hat Hauptelementen der Geschichte; nach dem Symbol-
heute unbestritten den Rang eines Klassikers der Pa- wert; nach den Beziehungen zwischen Legende und
rabel. Dabei lassen sich innerhalb der Forschungen Roman; nach Bezügen zur Gattungskonvention).
über Kafkas Parabeln bzw. die Parabolik bei Kafka Von radikalen Brüchen oder einschneidenden Fol-
nicht nur begründete und leicht erklärbare Unschär- gen eines theoretischen Paradigmenwechsels könne
fen und Pauschalisierungen, sondern auch be- nicht gesprochen werden. Dies gelte auch – trotz
stimmte Vorlieben oder gar Klischees erkennen. neuer verbaler Einkleidung – für poststrukturalisti-
Zu den komparatistischen ›Standardsituationen‹ sche Interpretationen (u. a. Derrida, Hiebel 1993).
gehört etwa der Vergleich zwischen Parabeln Kafkas Variiert oder ergänzt werden die zentralen Fragestel-
und Texten von Jorge Luis Borges. Insbesondere die lungen durch Fragestellungen der Quellenforschung
Beschäftigung mit Vor dem Gesetz ist zu einer (z. B. Abraham), durch die Problematisierung des
Pflichtübung der Parabelforschung geworden, der Interpretationsvorganges selbst (u. a. Hart-Nibbrig,
Text selbst ist ein beliebtes Übungsstück für die Exer- Steinmetz, Elm) sowie durch tiefenpsychologische
zitien des literaturwissenschaftlichen Methodenplu- Deutungsversuche (u. a. Hiebel 1999).
ralismus (vgl. zusammenfassend Andringa 1994; vgl. Dieses Gesamtbild gilt auch für die jüngsten Ar-
auch Bogdal 1993 und zuletzt Auerochs 2002; Brum- beiten über Vor dem Gesetz. So möchte Auerochs
mack 2003; Richter 2006). Geradezu exemplarisch noch einmal »von den traditionellen Gattungsmerk-
lässt sich anhand der Interpretationsgeschichte die- malen der Parabel her Licht auf Kafkas Vor dem Ge-
ses Textes die Abfolge von Forschungsrichtungen setz« werfen (Auerochs 2002, 135), und so greift
und Fragestellungen in der Kafka-Forschung nach- Richter (Richter 2006) noch einmal die ebenso po-
zeichnen – einsetzend mit den religionsphilosophi- puläre wie fragwürdige Unterscheidung des Theolo-
schen und existenzphilosophischen Fragestellungen gen Adolf Jülicher von 1886 (Die Gleichnisreden Jesu)
bei Martin Buber über hermeneutische und auf die zwischen ›Bildhälfte‹ und ›Sachhälfte‹ auf und dis-
Textstruktur ausgerichtete Ansätze bei Kaiser, Henel kutiert Vor dem Gesetz noch einmal als selbständi-
und Sokel (1978), Ansätze der Rezeptionsforschung gen und als in den Roman integrierten Text.
bei Gaier und Elm, und Interpretationen unter post- Auffallend ist allemal die Diskrepanz zwischen
strukturalistischen Einflüssen bei Turk (1976), Hie- dem bescheidenen literaturwissenschaftlichen Fort-
bel (1999) oder auch Derrida. Spätestens seit Mitte schritt auf der einen Seite und der anhaltend großen
der 80er Jahre ist das Methodenspektrum zwischen Faszination, die von Kafkas ›kleinen Formen‹ aus-
textimmanenter Hermeneutik und poststrukturalis- geht, auf der anderen. Auffallend ist überdies, dass
tischen Ansätzen voll ausgebildet, ohne dass im Hin- alle ›kleinen Formen‹ bei Kafka in der einen oder an-
blick auf die Interpretation von Vor dem Gesetz von deren Weise mit dem Stichwort, oder besser: mit der
einer Verdrängung eines der Ansätze gesprochen Metapher des ›Bildes‹ in Verbindung gebracht wer-
werden könnte (etwa aufgrund von Wissensvermeh- den: als Bildhälfte im Fall der Parabel, als Denkbild
rung oder durch Falsifikation). Ältere Positionen im Fall seiner kleinen Betrachtungen, und schließ-
werden vielmehr bis in die Gegenwart gehalten, neu- lich als Bildaphorismus. Mit dem Stichwort ›Bild‹
ere Sichtweisen treten hinzu – und insgesamt kann verbindet sich eine allgemeine literaturwissenschaft-
kaum von einem Fortschritt der Interpretation ge- liche Hochschätzung ebenso wie eine verschärfte be-
sprochen werden (weder im Hinblick auf die Art griffliche Unklarheit (vgl. Asmuth 1991 u. 1994). Im
und Weise, wie man den Text versteht, noch im Hin- Zentrum seiner Semantik stehen aber doch die As-
blick auf das, was man über ihn zu wissen meint). pekte der besonderen ›Anschaulichkeit‹ oder ›Kon-
Phänomenologisch könne man vielmehr von ei- kretheit‹ für den Rezipienten und derjenige der Ge-
ner ständigen Nuancierung und Variierung der Deu- schlossenheit als Gestalt. Beides wären wohl bei der
tung sprechen (so zusammenfassend Andringa 1994, ›kleinen Prosa‹ Kafkas Themen, die genauere Unter-
106). Es würden zwar allmählich neue Fragen hinzu- suchungen als bislang verdienten.
464 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

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466 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

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467

4.5 Figurenkonstellati- Modellhaftigkeit. Während die Maus spricht, domi-


niert ihre räumliche Wahrnehmung: Nach einer un-
onen: Väter/Söhne − definierten Weite rücken ein geometrischer Raum
(ein Winkel zwischen zwei Linien) und eine erste Fi-
Alter Egos − Frauen gurenkonstellation (Maus und Falle) in das Blickfeld
und das Weibliche des Lesers. Sobald die Katze spricht, wird die Ord-
nung der Figuren im Raum verunsichert. Wo die
Katze sich befindet, ob die Maus mit der Katze oder
Fragestellungen mit sich selbst redet, ja ob sie überhaupt weiß, dass
die Katze da ist, bleibt unklar. Parallel zur räumli-
Eine Darstellung von komplexen Charakteren ist für chen ergibt sich eine zeitliche Veränderung: Eine un-
Leser, die der Tradition des europäischen Romans bestimmte Zeitspanne schrumpft zu ein paar Sekun-
einen humanisierenden Einfluss zuschreiben, unter den zusammen.
allen Aspekten der Erzählkunst wohl der wichtigste Innerhalb der ersten kommentarlos erzählten Ge-
Wertmaßstab. Kafkas Status als Meisterautor der schichte bildet die Ich-Erzählung der Maus eine
Moderne basiert dagegen auf der Schilderung zweite Geschichte, deren komplexe Zeitstruktur ei-
scheinbar charakterloser Figuren. Indem er den Ei- nen Blick in die Vergangenheit, eine gegenwärtige
gennamen zum bloßen Anfangsbuchstaben redu- Sicht auf konvergierende Mauern und eine Vorschau
ziert, initiiert Kafka eine Tendenz, die später Roland auf eine mögliche, allerdings sehr begrenzte Zukunft
Barthes so zusammenfasst: »Ce qui est caduc bietet. Die Hauptgeschichte dauert dagegen nur un-
aujourd’hui dans le roman, ce n’ est pas le roma- gefähr so lange, wie der Leser braucht, um den Text
nesque, c’est le personnage; ce qui ne peut plus être zu lesen und schafft eine ideale Koinzidenz von Er-
écrit, c’est le nom propre« (Barthes, 102). Argumente zählzeit, erzählter Zeit und Lesezeit. Wie viele von
über Charaktere gehören zu einer größeren Debatte, Kafkas Figuren scheint die Maus ein begrenztes Er-
die ›Charaktere‹ (als imaginierte Personen, die quasi innerungsvermögen zu haben: Sie sagt nichts über
unabhängig betrachtet werden können) ›Figuren‹ Ursprung oder Kindheit, es verlangt extratextuelles
(als rein formalen Textelementen) gegenüberstellt. Wissen, um zu schließen, dass sie aus einer Maus zur
Ist es also sinnvoll, Figuren als Thema aus dem Text- Welt kam, nur um im Magen einer Katze zu enden.
ganzen zu abstrahieren? Das Ereignis besteht aus einem Übergang: Die Maus
bewegt sich von außen nach innen, vom Leben in
Exemplarische Textanalyse: <Kleine Fabel > den Tod. Die Mauserzählung dagegen ist keine rich-
tige Geschichte. Eine richtige Handlung kommt erst
Kafkas Minimalgeschichte <Kleine Fabel> bietet ein mit dem Angebot einer Wahl zwischen verschiede-
Modell der Schlüsselelemente des Erzählens: Figu- nen Richtungen in Sicht. Nicht die Maus agiert aber,
ren, Raum, Zeit, Handlung, Erzählinstanz und Per- sondern die Katze. Sobald die Katze die Maus frisst,
spektive, Metapher und literarische Gattung. Man bringt der unsichtbare Erzähler die Geschichte lako-
könnte einem jeden dieser Aspekte als Untersu- nisch zu Ende.
chungsobjekt Priorität einräumen, doch sind gerade Impliziter Textbestandteil ist die wörtlich genom-
Figuren ein zentraler Überschneidungspunkt inner- mene Metapher eines Lebenslaufes, der erst ästheti-
halb des Textes und ein Dreh- und Angelpunkt zwi- sche Form annimmt, wenn er endet. Viele von Kaf-
schen der fiktiven und der außertextlichen Welt. kas Geschichten werden aus der Perspektive des Pro-
tagonisten erzählt, bringen dann aber die Welt, wie
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem
Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief sie von Georg oder Gregor oder Josef gesehen wird,
weiter und war glücklich daß ich endlich rechts und entschlossen zu Ende. In solchen Geschichten
links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mau- scheint die Bedeutung eines Lebens in der Todesart
ern eilen so schnell auf einander zu daß ich schon im zu liegen. Andererseits gelang es Kafka häufig nicht,
letzten Zimmer bin und dort im Winkel steht die Falle,
in die ich laufe.« »Du mußt nur die Laufrichtung än-
zum Schluss zu kommen. Der Verschollene und Das
dern«, sagte die Katze und fraß sie (NSF II, 343). Schloss sind schlagende Beispiele, aber auch viele
kürzere Skizzen zeigen eher einen Zustand als ein
Nach dem ersten amüsierten Schockeffekt fasziniert Geschehen. Und in den Geschichten, die zu Ende
<Kleine Fabel> vor allem durch ihre diagrammartige kommen, bleiben offene Fragen zurück: Warum
468 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

hatte die Maus Angst vor der weiten Welt? Hätte nimalgeschichte zu lesen, ohne die Grenzen der
nicht Josef K. die Laufrichtung ändern können? Textwelt zu überschreiten. Die ängstliche Maus und
Auf den ersten Blick scheint <Kleine Fabel> eine die spielerische Grausamkeit der Katze stammen aus
Analyse im Sinne des russischen Formalismus zu dem Bereich der Tierfabel, wo Tiere menschliche Ei-
verlangen: Die Maus und die Katze haben keinen genschaften repräsentieren. Und dann gibt es homo
Charakter. Sie sind Handlungsträger oder narrative faber, den Fallensteller, der offensichtlich mit der
Funktionen (im Sinne Vladmir Propps): Maus-Hel- Katze gegen die Maus alliiert ist.
din und Katzen-Gegner. Das scheinbare Überwie-
gen von Form über Inhalt in Kafkas Werk und die
Charakteranalyse – Leseridentifikation
Reduzierung der dargestellten Person zur skizzen-
haften Figur wurden von Befürwortern der literari- Literarische Figuren lassen sich entlang dreier Ach-
schen Moderne gelobt, waren aber ein Stein des An- sen klassifizieren: einfach oder komplex; statisch
stoßes für Kritiker im kommunistischen Lager, allen oder sich entwickelnd; nach dem Grad des Eindrin-
voran für Georg Lukács. Dieser griff die subjektivis- gens ins innere Leben. Häufig sind aber Kafkas Figu-
tische Perspektive von Kafkas Minimalfiguren an: Es ren ohne Komplexität, sie entwickeln sich kaum, es
fehle die objektive Weltanschauung, die die rätsel- wird nicht tief in sie eingedrungen. Anstatt psycho-
haften Details sinnvoll machen würde. Auch im libe- logischer Spannungen erleben, von Beschreibung ei-
ralen Lager wurden Kafkas angeblich charakterlose nes Kampfes an, Kafkas Figuren Begegnungen mit
Figuren, sein Mangel an Vertrauen in die zivilisatori- Alter Egos, die die inneren Kämpfe des Realismus
schen Werte der Aufklärung und seine neurotische externalisieren. Die Wirkung ist oft melodramatisch
Schwäche kritisiert (Dowden, 16 f.). Für Walter Ben- oder farcenhaft. Die Bewegungen der Alter Egos
jamin oder Theodor Adorno waren es dagegen ge- sind performativ: Wie die Gestik eines Schauspielers
rade die Darstellung der Wahrheit ex negativo und werden sie zu Zeichen, bleiben aber rätselhaft, weil
Figuren ohne Eigenschaften, die Kafkas Schreiben der semiotische Kode unbekannt bleibt. Oder ein
so eindrucksvoll machten. Also griffen orthodoxe unbewusster seelischer Konflikt bricht im Körper
marxistische und liberale Kritiker Kafkas charakter- aus, der zu einem schwer lesbaren Text wird. Wie die
lose Figuren an, die die Vorkämpfer einer neuen Äs- Maus scheinen aber die Hauptfiguren oft einfältig
thetik lobten. oder dumm, oder es fehlt ihnen an Selbsterkenntnis.
Kafkas Landsmann Jan Mukařovsky liefert einen Solche Charakterlosigkeit schafft eine Leere, die eine
guten Ausgangspunkt, um den doppelten Reiz des li- umso intensivere Konzentration auf die Wahrneh-
terarischen Textes und der ergreifenden Geschichte, mung erlaubt. Durch den Akt des Wahrnehmens
der Kafkas Werk kennzeichnet, zu erklären. Nach werden Figuren und Objekte in Beziehung zu einan-
Mukařovsky besteht literarische Struktur aus Bezie- der gebracht. Der Blick strahlt Energie aus, das Ob-
hungen zwischen den Textelementen, die Aspekte jekt wird zum brechenden Medium, das die Angst,
der außertextlichen Welt nicht statisch eins zu eins Begierde oder Sehnsucht einer wahrnehmenden In-
widerspiegeln. Insofern ist die erzählte Welt auto- stanz impliziert. Das Blickfeld ist häufig durch einen
nom. Das heißt nicht, dass es keine Verbindungen Rahmen, ein Fenster z. B. oder konvergierende Mau-
zwischen der fiktionalen und der historischen Welt ern begrenzt, der Raum wird zum Kraftfeld sich
gibt. Welche Elemente betont, wie sie auf einander kreuzender Perspektiven. Die Analogie mit Fotogra-
bezogen und wie die Verbindungen geknüpft wer- fie oder Kino ist oft bemerkt worden (ä 2.6). Wer das
den, ändert sich aber durch den dynamischen Pro- Blickfeld beherrschen soll, wird zum Ziel eines
zess der Lektüre und parallel zum historischen Wan- Machtkampfes. Oft bleibt unsicher, ob Erzähler und
del. Auch Wertkonflikte und konkurrierende ästhe- Figur das Objekt, beispielsweise Gregor Samsas viele
tische Normen innerhalb derselben Generation Beinchen, auf dieselbe Weise sehen. Daraus erwächst
produzieren verschiedene Lesarten. Hier soll es um eine oft grausame Komik. Die Intensität der Wahr-
Figuren als Angelpunkt zwischen Form und Sinn ge- nehmung, das unheimliche Wechselspiel zwischen
hen. Sogar in der <Kleinen Fabel> sind die Figuren Subjekt und Objekt drohen, die Grenze zwischen In-
der wichtigste Überschneidungspunkt anderer Text- nen und Außen zu verwischen. Zusammen mit der
elemente: Der Raum existiert als Rahmen für die Fi- Konkurrenz um Herrschaft durch den Blick führen
guren, die Figuren existieren nicht nur, um den Kafkas Figuren oft Wortgefechte, man denke etwa
Raum auszufüllen. Es ist unmöglich, selbst diese Mi- an Josef K.s Gespräch mit dem Priester oder an den
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 469

Wortschwall des Offiziers in der Strafkolonie. Die Fi- Freuds Analyse beleuchtet die versteckte Komik in
guren sind so oft weniger Handlungs- als vielmehr Kafkas Behandlung der Figuren und evoziert eine
Wahrnehmungsträger, die die Welt sehen und oft Pose, die an den Erzähler der Verwandlung oder den
endlos lange darüber reden. etwas wichtigtuerischen Affen im Bericht für eine
Zum Angelpunkt zwischen der Textwelt und der Akademie erinnert. Im Autor selber blieb wohl der
Welt des Lesers werden Figuren häufig durch identi- Kampf zwischen der peinlichen Berührung, die ein
fikatorische Lektüre. Walter Benjamin etwa hat of- Lebenslauf in der weiten Welt verursacht, und der
fensichtlich Sympathie mit Karl Roßmann als einem Erhebung des Ich, die das Schreiben brachte, unent-
reinen Toren: »durchsichtig, lauter, geradezu cha- schieden.
rakterlos« (Benjamin 1981, 18). <Kleine Fabel> bie- Häufig wird in Kafkas Leben nach Aufklärung für
tet hierbei eine Wahl: Wir können uns mit der Maus sein Werk gesucht, wie die große Zahl von Biogra-
in ihrer rührenden Dummheit identifizieren. Oder phien belegt, die Kafkas Leben und Werk im Rah-
wir ändern die Leserichtung und halten es mit der men von sich überschneidenden Diskursen seiner
Katze − wir sind ja die Spezies, die Fallen stellt und Zeit untersuchen. Auch hier sind die Figuren der
unsere Katzen liebt. Identifikation mit Josef K. oder Angelpunkt zwischen dem Text, dem Leben und den
die Sicht K.s als Opfer finsterer Mächte erklären die Diskursen der Zeit von Autor und Leser. Intensive
weit verbreitete Ansicht, dass Kafka prophetisch das Struktur- und Diskursanalyse braucht aber ganze
Dritte Reich oder den Stalinismus vorausgesehen Bücher. Hier wird daher vorwiegend die visuelle
habe. Distanziertere Lektüre bringt aber oft die Er- Wahrnehmung der Figuren im Raum untersucht,
kenntnis, dass die Macht nicht nur von oben herab um die Spannung aufzuzeigen zwischen Geschich-
ausgeübt wird. Das Ergebnis stammt ebenso sehr ten, die von Leiden, Schwäche und Entfremdung
von der Mentalität der Maus wie von der Natur der handeln, und Texten, die die Macht einer kreativen
Katze. Oft sind die Positionen von Täter und Opfer Imagination ausstrahlen.
austauschbar: Josef K. leidet unter institutioneller
Willkür, versucht aber selbst, andere zu dominie-
ren. Väter und Söhne
Der ewige Sohn oder der unglückliche
Komik – Biographie und Diskursanalyse Junggeselle?
Der jähe Wechsel von Hoffnung auf Rettung zum Viele Kritiker teilen mit Kafka die Ansicht, dass Das
plötzlichen Tod exemplifiziert das, was Freud in sei- Urteil die Geburt einer neuen Ästhetik darstelle. Mit
ner Abhandlung über den Witz ›Verschiebung‹ dem Insektenhelden und ihrem berühmten ersten
nennt: »die Ablenkung des Gedankenganges, die Satz ist Die Verwandlung Kafkas vielleicht bekanntes-
Verschiebung des psychischen Akzents auf ein ande- tes Werk auf dem Weltmarkt der populären Kultur.
res als das angefangene Thema« (Freud 1905, 51). Zwei so berühmte, zu Lebzeiten publizierte Geschich-
Der Tendenz nach ist <Kleine Fabel> »ein feindseli- ten rückten von früh an Väter und Söhne ins Zen-
ger Witz (der zu Aggression, Satire, Abwehr dient)« trum des kritischen Interesses. Der autobiographi-
(92). Die Katze und der Erzähler stellen zusammen sche <Brief an den Vater > trug auch dazu bei, obwohl
die Weichen um. Zielscheibe sind die Maus und ihre schwer zu sagen ist, ob hier die Fiktionen durch das
Weltsicht. Nach Freud sind Witz und Humor »die Leben zu erklären sind oder umgekehrt der <Brief >
psychischen Korrelate des Fluchtreflexes und verfol- erst über die Fiktionen Gestalt annimmt. Dass im
gen die Aufgabe, die Entstehung von Unlust aus in- <Brief > vorwiegend auf den Process angespielt wird,
neren Quellen zu verhüten« (217). Die Energie, die hat die psychoanalytisch beeinflusste Tendenz in der
zur Flucht gebraucht würde, wird zum Kraftstoff für Kafkakritik verstärkt, einen alles durchdringenden
Humor: imaginären Vater in den Institutionen zu entdecken,
mit denen Josef K. und K. konfrontiert sind. Ande-
Die Erhebung seines Ich, von welcher die humoristische rerseits legt die Figurensequenz in Kafkas Werken
Verschiebung Zeugnis ablegt – deren Übersetzung doch nahe, dass der Autor im Urteil und in der Verwand-
lauten würde: Ich bin zu groß(artig), als daß diese An-
lässe mich peinlich berühren sollten –, könnte er wohl lung den Sohn abgefertigt und Abschied vom Vater
aus der Vergleichung seines gegenwärtigen Ich mit sei- genommen hat. Die späteren Protagonisten sind we-
nem kindlichen entnehmen (ebd.). niger Söhne als vielmehr Junggesellen.
470 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Nach Peter-André Alt ist »der Ich-Entwurf des ausschneiden, der vielleicht für die Freundschaft mit
›ewigen Sohnes‹ […] das Geheimnis der Künstler- ihm geeigneter wäre, als ich es bin«, denkt Georg
psychologie, die Kafkas Schreiben grundiert« (Alt (DzL 48). Der Leser erkennt aber in dem Freund ei-
2005, 15). Für Stanley Corngold kann dagegen das nen Menschen, den Georg aus sich herausgeschnit-
schreibende Ich nur ex negativo dargestellt werden. ten hat, um für die Ehe geeigneter zu sein. Schon im
Er sieht in der Figur des Junggesellen, der weder ersten Absatz sticht die Wendung »in spielerischer
schreibt noch richtig zu leben weiß, das »anti-self« Langsamkeit« (43) aus der sonst banalen Sprache
der Literatur und des Lebens (Corngold 1988, 13 f.). hervor: Georg spielt eine Rolle, im Brief an den
Macht es einen Unterschied, nach welchem Arche- Freund verleugnet er sich selbst.
typ wir suchen? Der ewige Sohn tendiert zum Fata- Es ist auch sonderbar, dass Georg die Häuserreihe
lismus. Es wird eine universale ödipale Struktur pos- entlang des Flusses als »fast nur in der Höhe und
tuliert, die durch die Zeiten fortdauert. Der unglück- Färbung unterschieden« (43) erscheint. Höhe und
liche Junggeselle ist dagegen das Produkt der Farbe sind ja Hauptmerkmale der Differenzierung,
Modernisierung. Er lebt in einem Zwischenzustand: doch wird durch die Formulierung impliziert, dass
Die Ehe ist noch die Norm, der Junggeselle wird re- Georg die Häuser als alle gleich sieht. Wenn Gleich-
lativ zu dem, was er nicht ist − dem Ehemann − defi- heit und Differenz die Wahrnehmung nicht mehr
niert. Aber moderne Städte erlaubten vielen Män- strukturieren, droht die Welt, wie sie Georg sieht, in
nern neue Freiheiten, allerdings gemischt mit Angst sich zusammenzubrechen. Doch das Geschäft blüht,
vor Einsamkeit und schlechtem Gewissen. Denn ob- oberflächlich scheint alles in Ordnung zu sein. In
wohl junge Frauen dank neuer Arbeitsmöglichkei- Russland dagegen herrschen Chaos und Revolution.
ten unabhängiger wurden, hinkte die Fraueneman- Der Priester, der sich ein Blutkreuz in die Hand
zipation hinter der sozialen Mündigkeit der Männer schnitt, deutet auf Gewalt hin, vielleicht auf ein Po-
um etwa 50 Jahre hinterher. Also standen unglückli- grom. Hier scheinen Identität und Differenz den
che Junggesellen vor der qualvollen Wahl zwischen Leuten scharf eingeschnitten zu sein, doch kann sich
Abstinenz, schuldigem Missbrauch der Frauen oder der Freund weder mit der Kolonie seiner Landsleute
schmutzigem Verkehr mit Prostituierten. Der ewige noch mit den Einheimischen identifizieren. Beide
Sohn ist eine eher statische Figur; sein rückwärtsge- Figuren vermitteln ein systematisches Scheitern: Ge-
wandter Blick ist regressiv, anstatt Gegenwart und org im Bereich der räumlichen Wahrnehmung, der
Zukunft herrscht die Vergangenheit vor. Wer nach Freund im soziopolitischen Bereich. Für Georg er-
dem ewigen Sohn sucht, entdeckt in den Mächten, scheint alles unterschiedslos gleich, der Freund fühlt
denen die Protagonisten begegnen, immer wieder sich nirgends unter Gleichen aufgehoben. Die Welt-
dieselbe fatale Konstellation. Wer die Donquichotte- sicht des Freundes korrespondiert aber besser mit
rien des unglücklichen Junggesellen sieht, wird nach der historischen Wirklichkeit − Georg lebt in Illusio-
Hinweisen auf einen Weg an Falle und Katze vorbei nen.
suchen. Im Bericht für eine Akademie z. B. findet Rot- Im Zimmer des Vaters wird der Freund zum Über-
peter wenn nicht den Weg in die Freiheit, so doch ei- schneidungspunkt, in dem sich die Spannungen
nen Ausweg aus dem Käfig. kreuzen. Wie Noah den jüngeren Sohn Ham, der des
Vaters Scham sah, verfluchte und die guten Söhne
Das Urteil : Die imaginäre Macht des Vaters lobte (Mose I.9, 22–27), so verflucht Georgs Vater
den Sohn, der ihn entkleidet, und lobt den Freund.
Im Urteil ändert sich die Figurenkonstellation im Georgs Wahrnehmung des Vaters − er sieht »die Pu-
Laufe der Geschichte. In Georgs Zimmer verlaufen pillen in dem müden Gesicht des Vaters übergroß
die Spannungslinien zwischen Georg und dem […] auf sich gerichtet« (DzL 53) − indiziert die Re-
Freund in Russland. Der dritte Punkt, über den der gression des Sohnes in die Kindheit: So sieht ein Va-
Konflikt ausgetragen wird, ist die Braut. Im Zimmer ter sein Kind an. Später stellt sich das Kind gehorsam
des Vaters sind Vater und Sohn einander gegenüber- selbst in die Ecke: »Georg stand in einem Winkel,
gestellt, nun mit dem Freund als drittem Punkt. Am möglichst weit weg vom Vater« (57). Während Ge-
Anfang spielt sich der angehende Ehemann dem org zum Kind wird, wird der Vater zum riesigen
endgültigen Junggesellen gegenüber auf. Die Braut zahnlosen Baby. Die entsetzliche Verwandlung be-
ist nur dazu da, um den Unterschied zu unterstrei- ginnt, als der Vater mit Georgs Uhrkette spielt, wie
chen: »Ich kann nicht aus mir einen Menschen her- einst wohl Georg als Baby mit der des Vaters. Dann
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 471

richtet sich der Vater im Bett auf: »Er stand vollkom- wandlung nach dem ersten Satz die Träume vorbei.
men frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht« Von allen Werken Kafkas rekurriert Die Verwand-
(57). So steht ein strammes Kleinkind triumphie- lung am meisten auf realistische Details, um den
rend im Kinderbett auf: In Bildern, die Horror mit kleinbürgerlichen Alltag darzustellen, der durch den
Komik mischen, ist sozusagen das Lacansche Baby einen ungeheueren V-Effekt durchgehend verfrem-
aus dem Spiegel in den Vater gefahren. Das Bauchre- det wird. Die Raumverhältnisse in der Wohnung
den des allmächtigen Babys aus dem besessenen Va- vermitteln das Ineinanderspiel von Milieu und Men-
ter deckt die Irrationalität des Gesetzes auf, das auf talität. Das unaufhaltsame Eindringen der Außen-
purer Willkür basiert. Das böse Kind in der Ecke welt in das Selbst, das Aufbrechen der integren Per-
wird von einer irrationalen Macht in der eigenen son, fängt im intimsten Ort der Intimsphäre an: im
Imagination zerstört. Dass der Vater aufs Bett stürzt, Bett. Sobald es Gregor, nach schrecklichen Anstren-
als Georg zum Fluss hinausläuft, vermittelt die Inter- gungen, gelingt, die Zimmertür aufzuschließen, hat
dependenz der Figuren. er kein Privatleben mehr, bis Grete diese wieder zu-
Das Urteil hat eine paradoxe Doppelwirkung: Auf schließt und das Schlafzimmer zum Todeszimmer
der einen Seite das entsetzliche Geschehen, auf der wird. Der Raum wird zunächst von Menschenmö-
anderen die außerordentliche Energie des achter- beln fast ausgeleert, um Platz zum Kriechen zu schaf-
bahnartigen Textes, der durch schwindelerregende fen. Danach aber wird er für die Familie zur Rum-
Schockeffekte den Leser aus einer Art von Ge- pelkammer. Trotz seiner panzerartigen Härte ist
schichte in eine völlig andere wirft. Die Weichen Gregors Rücken auf ähnliche Weise penetrierbar.
werden umgestellt: Realistisches Erzählen wird zum Die ganze Wohnung ist mit der Außenwelt durch die
Surrealismus. Die Wirkung ist aufregend. Der Nabelschnur der Treppe verbunden: Als die Zim-
Wechsel von einem gemächlichen, fast langweiligen merherren hinunterlaufen, kommt der Fleischerge-
Tempo zum immer schnelleren Crescendo dem Hö- selle herauf; der wirtschaftliche Verkehr verläuft in
hepunkt entgegen wird am Anfang und Ende durch beide Richtungen.
Gesten umklammert: durch die spielerische Lang- Im Einklang mit der realistischen Tendenz hat
samkeit, mit der ein Brief geschlossen wird, und den Gregor mehr Erinnerungen als Kafkas Figuren sonst.
›gymnastischen‹ Schwung über das Geländer in den Daraus lässt sich sein Charakter als gehorsamer
Fluss. Wie schon vom Autor selbst, ist die Affinität Sohn, pflichtbewusster Handelsreisender, pflichtbe-
von »ein geradezu unendlicher Verkehr« (61) zum wusster Soldat, Handelsakademiker, Bürgerschüler,
Orgasmus oft bemerkt worden. So wirkt Georg Ben- Volksschüler, etc. rekonstruieren. Die Kette von me-
demanns Tod geradezu belebend. Nach Freud ver- tonymischen Details ließe sich unendlich verlän-
mitteln auch Alpträume Wunscherfüllungen. Die gern, um Familie und Erziehung als Schulung für
kaum versteckte orgiastische Lust, die die Zerstö- Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen aufzude-
rung der Vater-Sohn-Konstellation begleitet, geht cken. Und die Disziplin fängt mit dem Körper an.
mit einer grausamen Komik einher. Letzten Endes Der verfremdete Körper als Metapher für ent-
lassen sich die zwei Konstellationen im Urteil nicht fremdete Arbeit und die Verwandlung als verfehlte
rational vereinen. Klar bleibt nur, dass die soziosexu- Wiedergeburt erlauben eine Lektüre, die Marx mit
ellen Fragen, die durch die Braut, und die politischen Freud kombiniert. Mit dem unschuldigen Exhibitio-
Fragen, die durch den Freund angeschnitten werden, nismus eines rundbäuchigen Babys liegt Gregor auf
aus der Perspektive des bürgerlichen Patriarchats dem Rücken und strampelt mit Beinchen, die er
unlösbar bleiben. noch nicht kontrollieren kann. Sein noch nicht
durch Repression disziplinierter Körper ist ein emp-
Die Verwandlung : Vater und Sohn, findliches Sensorium von Lust und Schmerz. Solcher
Infantilismus provoziert aber nur eine Wiederho-
Schwester und Bruder
lung der patriarchalen Verbote. Die Macht des Va-
In der Verwandlung wird die Selbstentfremdung ters ist hier systematisch und verständlich, nicht per-
nicht mehr durch zwei Figuren dargestellt. Die Tren- sönlich und unheimlich wie in dem Urteil. Die Kon-
nung verläuft jetzt zwischen dem Menschen und stellation vermittelt das, was Gregor unbewusst nicht
dem Tierkörper und wird zunächst vom Vater und sein will: gehorsam und pflichtbewusst. Dank seiner
zum Schluss von der Schwester bestätigt. Während Schreckgestalt erringt er einen erstaunlichen Sieg
Das Urteil immer traumhafter wird, sind in der Ver- über den Prokuristen. Wer hat nicht von einem sol-
472 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

chen Triumph geträumt? Die Verwandlung ist in die- Kraft hat Gregor Samsa, das kriechende Insekt, zu
ser Hinsicht ein feindseliger Witz, der gegen kleinli- einer Ikone des 20. Jahrhunderts gemacht.
che Tyrannen wie den Vater, den Prokuristen oder
die Zimmerherren, allesamt Kriecher, gerichtet ist.
Der Stachel trifft aber am schärfsten den naiven Gre- Alter Egos und Doppelgänger
gor, der trotz des Zorns, der im Körper zum aggres-
siven Ausdruck kommt, sich weiterhin ängstlich un- Von Anfang an kommen in Kafkas Werk Alter Egos
ter dem Kanapee versteckt. Die Kritik Georg Lukács’ vor, die sowohl als Personen wie auch als externali-
am Vorherrschen der Angst in Kafkas Werk ist sierte Ängste oder Wünsche der Hauptfigur funktio-
milde, verglichen mit des Autors spöttischem Blick. nieren. In dieser Hinsicht ist Gregor Samsas Körper
Der Vater fügt dem Körper die Wunde zu, die ein Alter Ego. Der erste Satz der Verwandlung wirkt
Schwester verwundet den Menschen tödlich. Bei der elektrisierend, danach aber ist, sieht man vom Pro-
ersten Konstellation geht es darum, was Gregor nicht kuristen ab, der verwandelte Körper auf seltsame
will. Die zweite handelt dagegen von drei Wünschen: Weise wenig erschreckend. In Freuds klassischer
Die Schwester soll Musik studieren, die unbekannte Formulierung: Das Unheimliche »ist das Heimliche-
Nahrung finden und sich küssen lassen. Als weibli- Heimische, das eine Verdrängung erfahren hat und
ches Alter Ego soll Grete ein Künstlerleben führen. aus ihr wiedergekehrt ist« (Freud 1919, 268). Weni-
Sie ist noch dazu das Objekt des Begehrens und ein ger fremd als er sein sollte, ist Gregors Körper zum
Subjekt, das Gregor anerkennen und ihm märchen- Spiegelbild des Verdrängten geworden: Zorn, Ag-
haft seine Menschengestalt wiedergeben soll. Inzes- gression, Hoffnung, Verwundbarkeit, Verzweiflung,
tuöses Begehren bricht ein patriarchales Tabu, bleibt Begierde. Der Körper widersetzt sich aber der Defi-
aber narzisstisch: Geschwisterliebe mag innerhalb nition und was er sagt, ändert sich schillernd.
der Familienwohnung grenzüberschreitend sein, Im Gegensatz zu Gregors wandelbarem Körper
führt aber nicht befreiend in die Welt hinaus. Die erscheinen die drei Zimmerherren als austauschbare
anderen Wünsche sind utopisch. Die Musik weist Doppelgänger voneinander. Seitdem er am ersten
paradiesisch auf eine orphische Welt der Zwiespra- Morgen die Tür aufschloss, hat Gregor aufgehört,
che zwischen Mensch und Tier, wo das Andere nicht Herr seines Zimmers zu sein. Die Zimmerherren da-
stigmatisiert wird. Die unbekannte Nahrung bleibt gegen sind nicht Söhne, sondern Junggesellen, die
eben: unbekannt. Miete bezahlen und die Familie deshalb herumkom-
Nach Gregors Tod überdauern die utopischen mandieren dürfen. Ihre Allüren einer geliebten
Motive als Stachel zum Weiterdenken. Die Schwes- Schwester gegenüber erregen aber die Wut des Bru-
ter, die es ablehnt, Fantasiefrau zu sein, ist der klarste ders. Solche modernen Männer werden offensicht-
Wegweiser für eine andere Laufrichtung. Allerdings lich nichts zur Befreiung von geliebten Schwestern
geht Grete vielleicht der Wahl zwischen der Falle ei- tun, sondern sich auf Kosten der Frauen aufplustern.
ner bürgerlichen Ehe oder einem Leben als Lohn- So wird Josef K. als fragwürdig gewordener Zimmer-
sklavin entgegen. Doch als Alter Ego hat die Schwes- herr versuchen, während einer nächtlichen Begeg-
ter mehr Bewegungsfreiheit als der Freund in Russ- nung mit einer Zimmernachbarin seine Männlich-
land. Sie ist als ›neue Frau‹ zukunftsträchtiger. Wie keit erneut zu behaupten. Andererseits deuten die
die Katze in der <Kleinen Fabel> bringt sie das Le- Zimmerherren wenigstens ansatzweise auf Laufrich-
ben eines ängstlichen Kriechers entschieden zu tungen, die vom Zustand des Sohnes wegführen. Sie
Ende. Insofern antizipiert sie den Panther im Hun- verlassen die Wohnung, ohne in den Fluss zu sprin-
gerkünstler, hat aber auch etwas von Fräulein Bürst- gen. Sie sind ein Zeichen, dass die Zeiten sich ändern
ner als zukunftsweisender Figur im Process. Wäh- − ob zum Guten ist angesichts ihrer Austauschbar-
rend die Schwester auf neue Möglichkeiten deutet, keit allerdings zu bezweifeln.
vermittelt der Ausbruch in Gregors Körper die Ab- Gregors letzter Versuch, Zugang zur Schwester zu
lehnung einer ganzen Lebensweise. Die alles durch- finden, endet auf der Schwelle zwischen Wohn- und
dringende Spannung zwischen Bildern eines leiden- Schlafzimmer, in dem er am selben Abend sterben
den Menschen und sterbenden Körpers einerseits wird. Die Schwelle zwischen Todeszimmer und
und einem satirischen Subtext von enormer komi- Wohnraum weist im Kleinen auf eine Epochen-
scher Vitalität andererseits ist für Generationen von schwelle hin: Auf der einen Seite bleibt der Sohn zu-
Lesern ergreifend geblieben. Solche imaginative rück, auf der anderen leben Junggesellen weiter; auf
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 473

der einen Seite liegt das kleinbürgerliche Patriarchat, erkennt. »Strecke dich Brücke […] Er kam, mit der
auf der anderen Seite lauern moderne Machtstruk- Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich« (NSF I,
turen, die nicht mehr durch die Vater-Sohn-Konstel- 304). In <Die Brücke> besteht die bäuchlings über
lation darstellbar sind. einen Abgrund gestreckte Brücke nicht aus Holz und
In der historischen Wirklichkeit gibt es nur selten Eisen, sondern aus Fleisch und Blut und will den,
klar markierte Schwellen: Altes bleibt neben neuen der kommt, hinüberbefördern, ja ihn wie ein Berg-
Entwicklungen bestehen. Das innere Zeitbewusst- gott ans Land schleudern. Der, der kommt, bearbei-
sein bewegt sich durch sich ständig verschiebende tet aber die Brücke auf unmenschliche Art mit sei-
Spannungen fort, zwischen Erinnerung an Vergan- nem Stock aus Holz und Eisen, bis sie sich umdreht,
genes, Erleben von Wechsel und Erwartung von um zu sehen, wer gekommen ist, dann aber den Halt
Neuem. Wenn die Spannungen zu groß werden, verliert, herunterfällt und von den Kieseln im Fluss
droht die personale Identität auseinander zu fallen. aufgespießt wird. Die Geschichte ist die Ich-Erzäh-
Die großen Realisten, Fontane z. B. oder Thomas lung eines Traums. Die Brücke scheint zunächst ein
Mann als Autor der Buddenbrooks, reflektieren Alter Ego des träumenden Menschen zu sein, erfüllt
durch wechselnde Empfindungsweisen und Be- von dem Drängen nach vorne. Der, der kommt, ist
wusstseinsstrukturen und das veränderte Selbstver- dagegen der Todesbote. Doch für den Brückenmen-
ständnis von komplexen Figuren die Prozesse der schen innerhalb des Traumes erscheint er als Alter
Modernisierung. Der Tod von Thomas Budden- Ego, das den Wunsch, einem einsamen Leben ein
brook, der als leidender Sohn und verfehlter Vater Ende zu setzen, zur Erfüllung bringt.
lebt und stirbt, ist auf ähnliche Weise entsetzlich wie Doppelgänger und Alter Egos lassen sich also
das gleichzeitige Ende von Vater und Sohn im Urteil. nicht immer sauber auseinanderhalten. Wie die
Manns Figuren besitzen aber immer noch Charak- Katze, die dem ängstlichen Laufen der Maus ein
ter, und die lustvolle Zerstörung des Patriarchen Ende setzt, bringt der, der kommt, einen beschämen-
bleibt dezent im Subtext versteckt. In Kafkas Texten den Zustand zu Ende, scheint allerdings alles andere
dagegen sind die psychischen Spannungen zu groß als der neue Messias zu sein, sondern weist dämo-
geworden, die personale Identität fällt auseinander nisch auf eine unmenschliche Zukunft. Zwischen
und der ikonoklastische Gestus dringt aus dem Sub- Vater und Zukunft gestreckt, wirft sich Georg Ben-
text direkt in die Geschichte ein. demann hinunter in den Fluss. Der lustvolle
Die grausame Komik geht aber mit unvergessli- Schwung, mit dem der Sturz evoziert wird, bleibt un-
chen Bildern des Leidens an Liebe und drohendem terschwellig im Rhythmus des Texts versteckt. Die
Selbstverlust einher. Die Liebe, die den Sohn an den traumhafte Erotik in <Die Brücke> ist dagegen of-
Vater fesselt, kann nicht einfach aus dem Menschen fensichtlich sadomasochistisch und homoerotisch
herausgeschnitten werden. Die drei Zimmerherren gefärbt. Den Körper passiv hinzuhalten, wie ein
sind dagegen herausgeschnittene Menschen, skiz- Kind oder eine Frau, bringt Entlastung vom Stress
zenhafte Doppelgänger, die eine ausweglose Kon- der Männlichkeit, gefährdet aber auch das Selbstge-
stellation hinter sich lassen. Als literarische Figuren fühl – eine entspannte Brücke fällt ja hinunter.
deuten sie auf Möglichkeiten, weiter zu schreiben, Schmerz zuzufügen bestätigt dagegen die Männlich-
schmerzhafte Erinnerungen beiseite zu lassen, wech- keit. Im Geschlechtsakt besitzt der Penetrierende die
selhaftes Erleben wenigstens ansatzweise zu erfor- phallische Macht, der Körper, der penetriert wird,
schen. Die Doppelgänger und Alter Egos sind also wird feminisiert. So trennen sich im sadomasochis-
symptomatisch für ein qualvolles Zeitbewusstsein. tischen Ritual das sadistische Subjekt und der Phal-
Sie deuten auf Lebensweisen, die unlebbar geworden lus als Machtinstrument (der Stock mit der Eisen-
sind, ohne dass eine neue Laufrichtung sichtbar ge- spitze) vom empfindlichen masochistischen Körper.
worden wäre. An Stelle der Vater-Sohn-Konstellation werden im-
Dem Duden zufolge ist ein ›Doppelgänger‹ »eine mer häufiger solche erotisierten Machtkämpfe zwi-
zweite Person, die jemandem zum Verwechseln ähn- schen Männern ausgespielt, die in der modernen
lich ist«. Als literarische Figur ist er eine seelenlose Klassengesellschaft und in bürokratischen Instituti-
Ersatzfigur, die Entmenschlichung oder Selbstver- onen um strukturbedingte Macht kämpfen. So wird
lust bedeutet und oft ein Todesbote ist. Das Alter Leiden an einer Zeit, in der die Sozialverhältnisse
Ego dagegen besitzt Eigenschaften oder Möglichkei- immer unpersönlicher werden, die auch von Rassis-
ten, die der Person innewohnen, die sie aber nicht mus durchzogen ist, in Doppelgängern und Alter
474 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Egos figuriert, die oft eine sadomasochistische Kon- ikonographische Dingkonstellation gehören Tisch,
stellation bilden. Kerze und Buch zum religiösen Bereich; gleichfalls
die Farbe Weiß, die Unschuld und Jungfräulichkeit
Der Process – Machtstrukturen bezeichnet. Als Uniform der neuen Büroarbeiterin
deutet aber eine weiße Bluse zugleich auf moderne
und Männlichkeitsmuster
Zeiten, ebenfalls die Fotos, die das Zeitalter der tech-
<Die Brücke> ist eine Traumerzählung, die das Lei- nischen Reproduzierbarkeit kennzeichnen. Ein har-
den an diesem unglückseligsten Zeitalter ausdrückt. ter runder Männerhut auf dem Bett der Frau, drei
Der Process gehört dagegen zur Literatur des Un- junge Männer in der Ecke (Zimmerherrn aus dem
heimlichen. Als Leser bleiben wir unsicher, ob der Samsa-Haushalt?), die die Fotos der Frau in Unord-
Text nicht eine Veräußerlichung von Josef K.s traum- nung bringen, deuten auf Machtkämpfe zwischen
haftem inneren Leben ist. Andererseits verfährt die Männern derselben Generation, in denen die Frau
Milieudarstellung weitgehend realistisch. Und wenn als Siegeszeichen funktioniert, mehr als auf inter-ge-
auch Figuren und Handlung aus der Imagination Jo- nerationelle Beziehungen. Anstelle des harten run-
sef K.s entspringen, was besagt solch ein inneres Le- den Huts liegt in der Wiederholungsszene ein klei-
ben über die Welt, in der Josef K. lebt? Wo kommen ner, aber mit einer Überfülle von Blumen ge-
solche Bilder her? Die unheimliche Verschränkung schmückter Hut auf dem Bett. Dass Josef K. sich jetzt
von Innen und Außen hat zur Folge, dass viele Figu- vor Fräulein Bürstner anklagt und verteidigt, sie
ren sowohl als Alter Egos von Josef K. wie auch als dann vampirisch überfällt, hat nichts mehr mit dem
unabhängige Personen erscheinen. Die Vermischung Vater zu tun, sondern eröffnet den modernen Ge-
der Realitätsebenen zwischen Imagination und schlechterkampf.
Wirklichkeit in den Figuren geht mit einer Vermi- Im folgenden Kapitel erscheint das Heimlich-Hei-
schung von Lebensbereichen einher: Schlafzimmer mische in Form eines Arbeiterviertels, das dem
und Bank, bürgerliches Stadtviertel und proletari- Bankangestellten ein bisher unbekannter Aspekt sei-
scher Slum, politische Versammlung und Synagoge, ner Heimatstadt gewesen ist, wobei dem Junggesel-
Künstleratelier und Gerichtskanzlei. Die unheimli- len die Slumkinder besonders entsetzlich vorkom-
che Architektur und die verwirrende Stadttopologie men. Bald darauf verwandelt sich eine politische
im Process gehören zu den ikonisch gewordenen Bil- Versammlung in einem Raum, der einer Synagoge
dern der Moderne. zunehmend ähnlich wird, in eine Versammlung von
Der Process ist voll von Doppelgängerkonstellatio- alten Männern:
nen, angefangen mit Josef K. als seinem eigenen Was für Gesichter rings um ihn! Kleine schwarze Äug-
Doppelgänger. Dieser wird zunächst in Fräulein lein huschten hin und her, die Wangen hiengen herab,
Bürstners Zimmer vom Aufseher zur Rechenschaft wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und
gezogen. Wenn er im nächsten Kapitel das Verhör schütter und griff man in sie, so war es als bilde man
bloß Krallen, nicht als griffe man in Bärte (P 71).
wie eine Theateraufführung wiederholt, wird er, sich
selbst zum Verwechseln ähnlich, zum Doppelgänger, Bei dem grotesken Ineinander von Krallen und Bär-
der den eigenen Namen ausruft und sich selbst an- ten bleibt unklar, ob Bärte oder Hände, die in Bärte
klagt. Das Zimmer wird zur mise en scène. Wie ein greifen, sich in Krallen verwandeln. Das Bild vermit-
Regisseur will K. verschiedene Details genau so an- telt, wie die rassistische Phantasie aus alten Männern
geordnet haben wie beim ersten Mal. Die Wiederho- Ungeheuer macht, gleichzeitig aber auch, wie der
lung erhöht die bedeutungsvolle Aura, die die Dinge Rassist selbst zum bekrallten Ungeheuer wird, das
schon angenommen haben: das Nachttischchen, die zitternde alte Männer angreift. So fühlt sich der
Kerze, die Zündhölzer, das Buch, das Nadelkissen, Bankangestellte, der Diener im Tempel des Kapita-
die weiße Bluse, die Fotos. Als Requisiten werden lismus, in einem tempelartigen Raum von den Ver-
diese Details zu rätselhaften Zeichen. Im Wiederho- tretern überwundener primitiver Überzeugungen
lungszwang sieht Freud den Ausdruck von verdräng- bedroht. Dass Ostjuden nie offen erwähnt werden,
ten infantilen Komplexen, nennt aber auch über- erhöht die unheimliche Wirkung. Die Leser werden
wundene primitive Überzeugungen als Quelle dazu gebracht, rassistische Stereotypen zu erkennen,
(Freud 1919, 271). Das Unheimliche bringt geheime die in der eigenen Imagination spuken: Würde man
Ängste zum Ausdruck, denen der aufgeklärte fort- nichts erkennen, bliebe man unschuldig, wie Josef
schrittsgläubige Mensch plötzlich anheim fällt. Als K., der behauptet, von keiner Schuld zu wissen.
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 475

Die alten Männer verkörpern das absolut Archa- Das Schloss : Wie man aus Helfern
isch-Andere, das Josef K. als moderner Mensch ver- Feinde macht
leugnet. Kaufmann Block, der ›Hund‹ des Advoka-
ten Huld, ist dagegen ein Alter Ego, das eine mögli- »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem
che aber beschämende Lebensweise als assimilierter Menschen der leben will, widersteht sie nicht«
Bewohner eines christlichen Haushalts führt. Vor (P 312). Der Process bringt das ängstliche Laufen ei-
dem Advokaten als Meister und Leni als Domina ner Figur, die nicht genug leben wollte, zu Ende. Die
spielt Block die masochistische Rolle in einer hetero- Frau, die, in eine Seitengasse abbiegend, eine andere
sexuellen sadomasochistischen Performance. Im Richtung einschlägt, und der Mensch am Fenster,
ersten Kapitel sahen andere durch das Fenster zu, der die Arme ausstreckt, deuten auf Zukunftsmög-
während Josef K. verhaftet wurde. Der Fensterrah- lichkeiten, die die Leser selber erforschen müssen.
men macht, von außen her betrachtet, das Zimmer Nach dem Krieg verfolgte auch Kafka in seinem letz-
zum bühnenartigen Raum. ten Roman die Frage, ob das moderne Subjekt, des-
Nach seiner Verhaftung wird Josef K. zum Zu- sen Identität nicht mehr durch Geburt und Familie
schauer von Inszenierungen, die erotisierte Macht- bestimmt ist, das die eigenen Werte setzt und Rechte
verhältnisse in einer von ethnischen Spannungen ausübt, die frei ausgehandelt werden, ein menschen-
gespaltenen Klassengesellschaft vorführen. So schaut würdiges Leben in Gemeinschaft mit anderen füh-
Josef K. beim homosexuellen Spiel in der Rumpel- ren kann. Solche Rechte beansprucht K.: »Ich will
kammer der Bank zu. Der in Leder gekleidete Prüg- immer frei sein« (S 14). Er hat die »alte Heimat« (17)
ler »war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte hinter sich gelassen, ist angekommen, um einen Pos-
ein wildes frisches Gesicht« (P 111). Er strahlt die ten aufzunehmen, und will selber die Arbeitsbedin-
erotische Anziehungskraft der Macht aus, das wei- gungen aushandeln: »Ich will keine Gnadenge-
che Fleisch des dicken Willem dagegen wirkt effemi- schenke vom Schloß, sondern mein Recht« (119). K.
nierend. Das Spiel suggeriert die Möglichkeit, zwi- sucht eine zweite frei gewählte Heimat und will das
schen den Rollen des sadistischen Täters und des Schloss dazu zwingen, sein Niederlassungsrecht und
masochistischen Opfers zu wählen. Oder man seine Berufung als Landvermesser anzuerkennen.
könnte weiterhin tatenlos zuschauen oder wegsehen, Damit erkennt er seinerseits das Schloss als Institu-
die Augen oder die Tür zumachen. Ob es möglich tion an, die das Wirkungsfeld bestimmt, das ein
wäre, aktiv einzugreifen, um das Schauspiel zu been- sinnvolles Ausüben der Freiheit erst ermöglicht, was
den, scheint zweifelhaft. (Deshalb weint der junge darauf hinausläuft, dass seiner Freiheit Grenzen ge-
Mann in Auf der Galerie, der mit zugeschlossenen setzt werden. Als Landvermesser würde er aber für
Augen nur träumt, dass er eingreift.) Performanz soll die Grenzzeichen die Mitverantwortung tragen.
eine subversive Wirkung ausüben, schreibt aber viel- Als modernes Subjekt kommt K. allerdings in ei-
leicht bloß die Rollen erneut in die Imagination des ner vormodernen Welt an. Nur das elektrische Licht
Zuschauers ein. Im Schlusskapitel des Process nimmt und das Telefon stören die sonst scheinbar feudalen
der Leser die Stelle des Zuschauers ein, wenn zwei Zustände. Doch willens- und lebenskräftiger als Jo-
Doppelgänger, ob tenorhafte Schauspieler oder To- sef K. will K. am Leben bleiben. Eher fahrender Ge-
desengel bleibt unsicher, mit Josef K. zunächst eine selle als Junggeselle zeigt er sich beweglicher im Um-
Dreieinigkeit bilden, sich dann von ihm abtrennen gang mit Menschen, besonders mit Frauen, als Josef
und ihn hinrichten. Kurz vor dem Tod stellt Josef K. K. Auch sind seine Alter Egos freundlicher als Josef
eine Reihe von Fragen, die ohne Antwort bleiben. K.s Wächter und Henker.
Fast ein Jahrhundert später suchen Leser immer Gattungsmäßig eine Dorfgeschichte, wenn auch
noch nach Antworten. Dass im Europa von 1915 mit modernem Protagonisten, gehört Das Schloss
Kafka einen hoffnungsvollen Ausgang seines Pro- zum breiteren Umfeld des Heimatdiskurses und un-
zesses gegen die Machtverhältnisse der Zeit, gegen tersucht Fragen, die in unserer globalisierenden Zeit
Institutionen, Agenten, Mitläufer, passive Zuschauer, immer noch brisant bleiben. Ist Gemeinschaft inner-
vor allem gegen die verinnerlichte Gefühlsstruktur halb der modernen Gesellschaft noch möglich? Kann
nicht finden konnte, ist nicht verwunderlich. der Fremde in das Sozialgefüge integriert werden,
ohne sich assimilieren zu müssen? Können univer-
sale Menschenrechte mit tief eingefleischten Sitten
und lokalen Bräuchen in Einklang gebracht werden?
476 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Das Schloss als Dorfgeschichte oder Heimatroman macht werden, welche von meinen personae, die je-
zu bezeichnen, reicht natürlich nicht aus. Kafkas weils ein mögliches Selbst verkörpern, soll es tun?
letzter Roman ist eine hybride Mischung aus ver- Die postmoderne Populärgattung ist Science fiction.
schiedenen literarischen Zeichensystemen, die auf Unter postmodernen Grundtexten nennt McHale
wunderliche Weise zusammengeschweißt sind. Im Das Schloss.
Process bewegte sich Josef K. in der unheimlichen Beispielhaft für personae, die ein mögliches Selbst
Zwischenzone zwischen realistischem Alltag und verkörpern, ist die Konstellation von Landvermesser
dem fantastischen Bereich des Gerichts. Die schär- und Gehilfen. In einer Tagebuchpassage imaginiert
fere Trennung zwischen Dorf und Schloss erinnert sich Kafka, wie er eine Straße entlang wandert, iso-
an die Unterscheidung zwischen Göttern und Men- liert nicht nur hier, sondern auch im »Prag meiner
schen in der klassischen Mythologie oder an religi- ›Heimat‹«. Zu weit weg gegangen ist er nicht so sehr
öse Allegorien, die zwischen dem Irdischen und dem von anderen, sondern »von mir in Beziehung auf die
Transzendenten klar unterscheiden. Die Boten des Menschen« verlassen. Doch weil er ein Mensch ist
Transzendenten im Process stören, weil sie in der und die »Wurzeln Nahrung wollen«, hat er »dort
Uniform von Bankangestellten und allzu dick ver- ›unten‹« seine Vertreter, »klägliche ungenügende
körpert erscheinen. Barnabas dagegen sieht bei sei- Komödianten, die mir nur deshalb genügen können
ner ersten Erscheinung wie ein Engel aus, obwohl er […], weil meine Hauptnahrung von andern Wurzeln
später diese Aura verliert. Durch über- oder unde- in anderer Luft kommt« (29.1.1922; T 895 f.). Im
terminierte Allegorie – das Schloss bedeutet zu viel Lichte dieser Passage gesehen sind die Gehilfen K.s
oder nichts – werden die konfusen Anschauungen Vertreter »da unten« im Dorf, sie verkörpern die so-
und Grundsätze, die dem Alltagsleben im Dorf zu- zialen Instinkte, die das Heimatideal erfüllt, ohne
grunde liegen, in Frage gestellt. Die Unerreichbar- zunächst die Bewegungsfreiheit zu sehr einzuschrän-
keit des Schlosses und das Zitieren von mythischen ken. Die Gehilfen tauchen als rüstige Gesellen auf,
und literarischen Versuchen früherer Epochen sind die die Straße entlang gewandert kommen. Von K.
Indizien dafür, dass solche Grundlagenarbeit nie als seine Gehilfen aus der alten Heimat begrüßt,
zum Ziel kommt, aber auch nie aufhören darf. scheinen sie auch Hiesige zu sein, die ein jeder kennt.
Sowohl ein Mensch der Moderne als auch ein fah- So verbinden sie utopisch Freiheit und Zuhausesein.
render Geselle, der Meister sein will, stammt K. als Gerade der Wunsch, ein Zuhause zu gründen, stört
ritterlicher Frauenbefreier – so sieht ihn der junge aber den Drang weiterzugehen. Doch will K. das
Hans – auch aus einer mittelalterlichen Romanze Schloss erreichen, damit er endgültig im Dorf blei-
oder aus der frühmodernen Welt von Cervantes. Der ben kann. So oder so verhindert der Weg zum Ziel
böse Graf Westwest und die dämonischen Schloss- das Erreichen des Ziels. Zunehmend werden die Ge-
diener, die der Imagination eines de Sade entstam- hilfen zu Störfaktoren. In ihrem Umgang mit Frieda
men könnten, ließen sich auch in die Welt Tolkiens erinnern sie flüchtig an Kinder, sogar an Babys, die
hinübertransportieren. Im Unterschied zu diesem bekanntlich für ambitionierte Helden einen be-
aber, der Identität durch Feindbilder aufbaut und trächtlichen Störfaktor darstellen. Andererseits al-
von Sex nichts versteht, bietet Kafkas Roman eine tern sie zusehends. Jeremias verwandelt sich aus ei-
kritische Diagnose der Identitätsbildung durch Aus- nem lustigen Gesellen in einen alten Junggesellen,
grenzung des Anderen und erforscht, wie keines sei- den Frieda wie ein ältliches Kind pflegen wird. Kafka
ner bisherigen Werke, das Ineinanderspiel von sexu- wusste ja, dass auch er bald pflegebedürftig sein
ellem Begehren, Sehnsucht nach Liebe und dem würde. So werden die qualvollen Spannungen im ei-
banalen, zum Überleben nötigen Alltagsverkehr genen Leben ironisiert.
zwischen Männern und Frauen. Eine dunklere Schicht in dieser Konstellation gilt
Kennzeichnend für Fiktionen der literarischen der Tendenz des Heimatdiskurses, die eigene Identi-
Moderne sind nach Brian McHale epistemologische tät durch Ausschluss des Anderen zu befestigen. K.
Fragen: Wie kann ich die Welt, zu der ich gehöre, in- sucht als Fremder Aufnahme im Dorf, doch spielt er
terpretieren und was bin ich in dieser Welt? Die Po- sich als Herr im eigenen Hause auf und will die Ge-
pulärform des Krimis entspricht dieser erkenntnis- hilfen, die genau wie er nach Eingang verlangen,
theoretischen Grundtendenz. Die Postmoderne draußen im Schnee lassen. Dass die Gehilfen weder
dreht sich dagegen um ontologische Fragen: Welche als Fremde noch als Hiesige klar definierbar sind,
Welt von endlos vielen ist diese, was soll mit ihr ge- deutet auf auswechselbare Positionen: Entweder will
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 477

der Siedler bzw. Kolonist die Einheimischen ent- Stellung wie in <Die Brücke> handeln − Positionen,
rechten, um das eigene Heimatrecht zu befestigen, die leicht in ihr Gegenteil umschlagen können. Wie
oder der Einheimische versucht, Neuankömmlinge Dagmar Lorenz argumentiert: »Gender is for Kafka
auszuschließen, um einer ›Überfremdung‹ vorzu- a matter of positionality, not of biology« (Lorenz
beugen. Dass die Gehilfen Alter Egos von K. sind, 2002, 185).
heißt, dass er letzten Endes versucht, sich selbst aus- Was aber alles als ›feminin‹ und ›maskulin‹ zu be-
zuschließen (wie er in seiner Selbstverteidigung zeichnen ist, bleibt umstritten, und die Positionen,
Frieda gegenüber halb gesteht; S 394 f.). Im Gegen- die Männer und Frauen aus verschiedenen sozialen
satz zum Process, wo die Doppelgänger zunehmend Schichten und ethnischen Gruppen in derselben Ge-
grauenerregend wirkten, dominiert in Kafkas letz- sellschaft (oder gar in verschiedenen Kulturen und
tem Roman, in dem der Protagonist seine wider- zu verschiedenen Zeiten) einnehmen, lassen sich
sprüchlichen Wünsche etwas besser durchschaut, nicht einfach umkehren. Die vorwiegende binäre
eine dunkle Komik. Differenzierung, die Männlichkeit aufwertet und das
Weibliche abwertet, infiltriert auch die Darstellung
homosexueller Beziehungen wie im Prügler-Kapitel
Frauen und das Weibliche des Process. Und wie die männlichen Alter Egos deu-
ten auch die Frauenfiguren auf soziale Spannungen
Die Erzählung in der dritten Person aus der Perspek- in Zeiten des rapiden Wandels. Nicht zuletzt die hef-
tive der Hauptfigur hat in Kafkas drei Romanen zur tigen Debatten um die sogenannte Frauenfrage an
Folge, dass sonstige Figuren vorwiegend in Bezug der Wende zum 20. Jahrhundert sind unterschwellig
auf den Protagonisten ihre Bedeutung gewinnen. in Kafkas Werken zu hören. Wie Kafka Frauen im
Wie die Nebenfiguren ›eigentlich‹ sind, ist schwer zu Unterschied zu Männern darstellt, wie das Weibliche
sagen. Vermittelt wird, wie sie von Karl Roßmann gegenüber dem Männlichen definiert und bewertet
oder Josef K. oder K. gesehen werden. Das gilt für wird, auch ob der Zwang der binären Kategorien
männliche und weibliche Figuren gleichermaßen unterlaufen wird, bleibt also geschlechtspolitisch in-
und erschwert die kritische Analyse im Sinne des Fe- teressant.
minismus oder der Genderforschung. (Eine Aus-
nahme, auf die ich zurückkommen werde, bildet die Der Verschollene : Geschlechterkampf
Ich-Erzählung Olgas im Schloss.) Hinzu kommt, dass
in der Neuen Welt
Rezipienten unterschiedlich auf die Figuren reagie-
ren: Wo für den einen Leser des Schloss-Romans die In den drei Romanen finden sich drei Phasen in der
blonde Lehrerin Gisa die Hitlerjungfrau antizipiert Darstellung von Geschlechterbeziehungen, die dem
(Adorno 1955, 324), sieht eine andere Leserin die Lebensalter der Protagonisten entsprechen. Im Ver-
Probleme der berufstätigen Frau (s. u.). Ob Kafka in schollenen herrscht die Perspektive eines Knaben
den Fußstapfen von Otto Weininger einen eroti- vor, der nicht zum Mann werden will: Als Karl Roß-
schen Mythos konstruiert (Stach) oder Mythen un- mann in Amerika ankommt, ist er schon auf der
tergräbt (siehe unten), bleibt umstritten. Auch wenn Flucht vor der Männlichkeit, ob als Sohn, als Vater,
die grotesk-erotischen Frauenbilder oder der schöne oder als Mann, der die Rolle des aktiv Penetrieren-
Prügler mehr über Josef K. als über ›das‹ Weib oder den im Geschlechtsverkehr verleugnen möchte.
›die‹ Männlichkeit besagen, strahlen sie eine Faszi- Nach dem verfehlten Versuch, als heldenhafter Jüng-
nation aus, die die Leser/innen in ein Kraftfeld von ling den Heizer zu retten, flieht er weiter vor väterli-
hetero- und homosexuellem Begehren hineinzieht, chen und weiblichen Figuren. Sexuelle Frauen wie
das schwer kontrollierbar ist. Die irritierende Macht Klara und Brunelda, beides dominierende Figuren,
der Bilder erhöht den kritischen Wert von Kafkas erwecken panische Angst, ältere mütterliche Frauen
Werk. Wie bei den rassistischen Stereotypen werden bieten Schutz, sind aber letzten Endes mit mächtigen
wir dazu gebracht, Gelüste, die in der eigenen Imagi- Männern alliiert. Am Schluss, der kein Ende ist,
nation spuken, anzuerkennen. Vor allem das Zusam- flieht der verfehlte Held weiter und verschwindet aus
menspiel von Sexualität und Macht, die Erotik der dem Blickfeld. Wir wissen nur, dass Raubtiere und
Besitznahme und Hingabe, bleiben ergreifend. Da- tödliche Fallen auf den Jungen, der im »Teater von
bei mag es sich bloß um den Unterschied zwischen Oklahama« den Namen ›Negro‹ wählte, überall lau-
der feminin-liegenden und der maskulin-aufrechten ern werden.
478 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Karl Roßmann ist aus dem alten Europa geflohen, Roßmann, der nach einer nächtlichen Begegnung
doch in der Neuen Welt werden Freunde zu Konkur- mit der Jiu-Jitsu-Expertin Klara flieht, reduziert Jo-
renten und Frauen zu Gegnerinnen im Geschlech- sef K. bei einer nächtlichen Begegnung Fräulein
terkampf. Der Reiz der Dollarprinzessin Klara Bürstner vampirartig von einer unabhängigen
stammt zunächst von den reichen Männern, die sie ›neuen Frau‹ zum hilflosen Opfer.
umgeben. Doch hat Klara nicht nur durch Männer In Kafkas Romanen sind Frauen auf den ersten
teil an der Macht, sondern konkurriert direkt mit Blick entweder als ›sexuell‹ oder als ›mütterlich‹ de-
Männern. Ihr durch Sport gestählter Körper ist mo- finiert. Eine erste Ausnahme bildet die Frau des Ge-
dern, der Geschlechtsunterschied weniger markiert. richtsdieners, die zunächst als Wäscherin und junge
Bruneldas allzu fleischiger Körper stellt dagegen Mutter erscheint, sich dann aber unheimlich in eine
die uralte Gefahr der weiblichen Sexualität dar, die Hure oder Tempelhetäre verwandelt. In ihrer schein-
einst Helden von glorreichen Taten abhielt und jetzt baren sexuellen Hörigkeit ist sie die Figur im Ro-
Konkurrenzfähigkeit und männlichen Charakter aus- man, die am meisten an Otto Weiningers Typologie
höhlt. Brunelda ist eine moderne Abart des Weibli- erinnert. Der Titel seiner Abhandlung, Geschlecht
chen. Als Mädchen schwamm sie einst im Colorado und Charakter, vermittelt die Grundthese: Männer
wie eine junge Göttin der Neuen Welt, ist jetzt aber haben Charakter, Frauen sind ich-lose Geschlechts-
neurotisch geworden. Modernisierung stellte angeb- wesen. Nach Weininger bestehen aber alle Menschen
lich eine besondere Gefahr für Frauen dar, die sich aus einer Mischung in verschiedenen Proportionen
zu weit von ihrer Bestimmung als Mutter entfernten. des Männlichen und des Weiblichen – auf seiner
Als Sängerin trat Brunelda einst öffentlich auf und Skala tendiert Klara z. B. in die Richtung des Mann-
übt jetzt noch finanzielle Macht über junge Männer Weibs, der emanzipierten Frau, die fast zum Mann
aus. Unterschwellig wird sie auch mit der Menschen- geworden ist. Und auch Weiningers zwei Weiblich-
menge in einer politischen Versammlung unten auf keitskategorien, die ›Mutter‹ und die ›Hure‹, sind
der Straße, die den Kandidaten um die demokrati- nicht klar von einander geschieden, denn hinter der
sche Macht aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, Mutter lauert das Vollweib, das nur aus dem Drang
in eine metaphorische Verbindung gebracht. Die ir- besteht, ›koitiert‹ zu werden.
rationale Masse wird feminisiert und das utopische Später vollzieht die Frau des Gerichtsdieners eine
Amerika entpuppt sich in der Serie Freiheitsgöttin weitere Verwandlung zur Ehebrecherin: Sie lehnt K.s
mit Schwert − Dollarprinzessin − Neurotikerin als Angebot ab, sie zu retten, und wird von dem Studen-
Dystopie: Das wirtschaftliche Prinzip der Konkur- ten wortwörtlich als Sieg davongetragen und die
renz herrscht auch in Geschlechterbeziehungen, es Treppe hinauf zum Untersuchungsrichter gebracht.
bleibt nur die Wahl zwischen Dominanz oder Unter- Das hat nun wohl nichts mehr mit Weininger zu tun.
ordnung. Als unheimliche Farce zeigt die Geschichte von der
Kafkas Roman bietet eine skeptische Kritik der ka- Waschfrau, Mutter, Hure und Ehebrecherin im Um-
pitalistischen Moderne und des liberalen Fort- gang mit dem Angeklagten, dem kreischenden
schrittsglaubens. Die Funktion von Klara und Bru- Mann, dem Studenten und dem Untersuchungsrich-
nelda in einer Satire von Machtverhältnissen wird ter, in welche Unordnung moderne Geschlechterbe-
durch misogyne Bilder des weiblichen Körpers un- ziehungen geraten sind. Frauen werden nicht mehr
terstützt, die die satirische Wirkung erhöhen, die ordentlich von Vätern zu Ehemännern weitergege-
aber auch die Grenzen des politischen Diskurses ben, sondern unter Männern derselben Generation
sprengen. Vor allem Brunelda erregt als Objekt der ausgetauscht, und die Frauen spielen im Reigen mit:
Wahrnehmung durch den männlich-infantilen Blick besser ein Untersuchungsrichter oder sogar ein Stu-
eine Mischung aus Ekel und Faszination, die das Un- dent als ein bloßer Gerichtsdiener, geschweige denn
heimliche im Process ankündigt. Josef K. als Retter. (Die Kunstreiterin in Auf der Ga-
lerie hätte wohl dem jungen Mann, der sie retten
Der Process : Imaginierte Weiblichkeit wollte, den Zirkusdirektor vorgezogen.)
Auch Fräulein Bürstner verwandelt sich, aller-
Im Process dominiert Geschlechtsekel, gemischt aber dings nicht so erstaunlich oft. Sie mutiert von der
jetzt mit schulderfüllter Idealisierung der Neuen ›neuen Frau‹, »aufrecht am Bettpfosten trotz der
Frau. Der Held ist erwachsener geworden, doch das Müdigkeit« (P 40), ein paar Minuten später zur lie-
spricht nicht immer für ihn. Im Gegensatz zu Karl genden Odaliske, »die das Gesicht auf eine Hand
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 479

stützte – der Elbogen ruhte auf dem Kissen der Otto- schlechtsverkehrs zurückfinden, gibt K. Klamms Be-
mane – während die andere Hand langsam die Hüfte fehl, sie solle kommen, an Frieda weiter, die diesen
strich« (43). Man könnte eine solche Verwandlung jedoch ablehnt, um bei K. zu bleiben. Indem Frieda
als die Aufdeckung des Vollweibs sehen, das hinter sich Klamms Ruf verweigert, kehrt sie sich von der
der emanzipierten Fassade lauert. Andererseits besa- Rolle der verlockenden Zauberin im Reiche Klamms
gen die Bilder vielleicht mehr über die Imagines, die ab, um im Dorf zur Ehefrau zu werden. K.s Weiter-
in Josef K.s Kopf geistern als über das Wesen des gabe von Klamms Befehl zeigt, dass er seinerseits in
Weibes. Die Odaliske entstammt Bildern, die alle die patriarchale Ordnung zurückkehrt: Er nimmt
von Männern gemalt wurden. Dass Josef K. ein Bild Frieda nicht mehr von Klamm weg, sondern über-
aus dem Repertoire der Männerphantasien auf Fräu- nimmt sie von ihm, allerdings nur vorübergehend.
lein Bürstner projiziert, spricht eher dafür, dass Denn K., der immer frei sein will, überlässt bald Je-
Kafka erotische Mythen untergräbt, als dass er einen remias die Rolle des gehorsamen Ehemanns.
eigenen Mythos schafft. Wiederkehrende Namen vermitteln, dass die
Josef K. gelingt es allerdings nicht, die Frau zu se- Klammsche Geschlechtsordnung durch die Genera-
hen, wie sie ist. Vor allem Leni wird zur Widerspie- tionen fortdauert. Frau Brunswick stillt ein Baby na-
gelungsfläche phantasmatischer Weiblichkeitsbilder. mens Frieda. Ihr Sohn Hans und Gardenas Mann
Zur Frau wird sie erst wieder, wenn sie als hilfsbe- teilen denselben Namen: Aus jungen Helden werden
reite Stimme im Telefon unsichtbar zu hören ist. Pantoffelhelden. Junge schöne Mütter, die durch die
Dem Leser wird aber am Schluss die Hoffnung gebo- Verlockungen der romantischen Liebe in den dunk-
ten, in Zukunft klarer zu sehen, wenn die Frau, die len Haushalt eines Ehemanns wie in eine Falle ge-
wie Fräulein Bürstner aussieht, eine andere Richtung hen, werden mit der Zeit zu riesigen Matriarchin-
einschlägt. nen, die ihre Männer dominieren und ihre Töchter
sicher unter die Haube bringen wollen. In Gardenas
Das Schloss : Die Macht der Imagination Erinnerung bleibt eine romantische Begegnung mit
Klamm der Höhepunkt ihres Lebens, so wie Frieda
Im Process finden allmählich ein paar Frauen, wie als Frau des armseligen Jeremias auf ihre Begegnung
die Kollegin des Auskunftgebers, Eingang ins Ge- mit K.(lamm) zurückblicken wird. Wir Leser/innen
richtswesen. Im Schloss dagegen sind die Beamten wissen aber, dass Frieda und K. sich in Bierpfützen
alle Männer, während im Dorf ein Matriarchat vor- wälzten und dass Klamm ein bürgerlicher Typ ist,
herrscht. Die Schlossbeamten sind Textproduzenten: der Bier trinkt, Zigarren raucht und gar nicht ro-
Die symbolische Ordnung wird von Männern in- mantisch aussieht.
skribiert und mit der praktischen Hilfe von Dorf- Die Ankunft des Landvermessers stört die schein-
frauen durch die Zeiten weitergegeben. Gardena, die bare Statik. K. spielt aber eine zweifelhafte Rolle, in-
Herrenhofwirtin, oder die Frau des Dorfvorstehers, dem er sich zum Teil in die bestehende Ordnung
Mizzi, die durch weibliche Schlauheit ihren Mann einfügen möchte, zum Teil dagegen rebelliert, zum
manipuliert, üben jedoch in der dörflichen Praxis Teil sich aber noch dominierender verhält, als die
mehr Macht aus als ihre Männer, die offiziell die Ver- Dorfbewohner und Schlossbeamten, die die alten
antwortung tragen. Doch herrschen in der Imagina- Traditionen pflegen. K.s Behandlung der Gehilfen
tion von mächtigen Frauen und ihren mickrigen verspricht nichts Gutes für eine neue Ordnung.
Männern die mythischen Texte eines archaischen Doch wird K. menschlicher unter dem Einfluss von
Patriarchats. Frieda, der Heimatfrau. Frieda gehört weder zur Ka-
Als der für zwischengeschlechtliche Beziehungen tegorie der nur schwach begehrenden mütterlichen
zuständige Beamte übt Klamm eine imaginäre Macht Frau, die die Geschlechtsideologen des 19. Jahrhun-
aus, die im von romantischer Liebe erhöhten sexuel- derts konstruierten, noch zur Weiningerschen Anti-
len Begehren aber auch in der sozialen Ordnung des these dieses Typus, dem vom Geschlechtstrieb be-
Geschlechtstriebs ihren Ursprung hat. Liebende herrschten Vollweib. Sie empfindet sexuelles Begeh-
werden durch die »unsinnigen Verlockungen« (S 69) ren, doch hat sie auch andere Wünsche und
der Leidenschaft von Familienverbindungen und all- Vorhaben. Sie leidet daran, dass sie die Arbeitsstelle
täglichen Pflichten weggezogen, bloß um wieder in aufgeben musste, um für einen Mann den Haushalt
die gemeinschaftliche Ordnung zurückgeführt zu zu führen, findet sich aber mit den bestehenden Ver-
werden. Als K. und Frieda aus der ›Fremde‹ des Ge- hältnissen ab, wie ihr sprechender Name andeutet.
480 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Die ›neue Frau‹ im Dorf ist wohl die unmütterli- Dorffrau zu sich kommandiert, und als Briefschrei-
che Lehrerin Gisa. Anstatt Kinder in die Welt zu set- ber, der des Wortes mächtig ist, verkörpert Sortini
zen, unterrichtet sie anderer Leute Kinder und lässt allzu wortwörtlich das phallogozentrische System.
sogar ihre Katze von der mütterlichen Frieda in der Wenn Logos und Phallus das Reich der Imagination
Kinderwanne waschen. Gisa hat einen üppigen Kör- verlassen und körperlich auftreten, droht die Macht
per, von dem sie etwas entfremdet zu sein scheint. dahinzuschwinden.
Sie gebraucht ihren sexuellen Reiz als defensive Das Fest sollte für Amalia als Braut ein Über-
Waffe. Ob ihr Liebhaber Schwarzer »ihr mit den Bli- gangsritus sein: Die Jungfrau soll vom Vater dem
cken folgte oder nicht« (S 258), scheint ihr gleichgül- Bräutigam übergeben werden. Die Weitergabe des
tig zu sein. Verglichen mit Fräulein Bürstner ist Gisa Halsbands aus böhmischen Granaten – von Gardena
vom männlichen Blick unabhängiger und hat selber an Olga und von Olga an Amalia – markiert das Fest
beunruhigende Augen – sie hat »in den Pupillen auch als matriarchalen Ritus. Die Granaten erinnern
scheinbar sich drehende Augen«, einen bohrenden an Persephone, die in Plutos dunklem Reich nur
Blick also. Doch genießen Schwarzer und Gisa »eine sechs Granatapfelkerne gegessen hat. Demeter muss
ernste schweigsame Liebe« (258). Dieses Paar deutet den Raub der Tochter hinnehmen, kann aber aus-
auf neue Geschlechterbeziehungen, die auf einem et- handeln, dass Persephone jedes Jahr für sechs Mo-
was unbeständigen Gleichgewicht zwischen Domi- nate aus der Unterwelt zu ihr zurückkehrt. Der
nanz und Subordination basieren. Wie Emanzipa- Fruchtbarkeitsmythos integriert Leben und Tod und
tion, Kindersorge und neue Rollen für beide Ge- vermittelt zwischen matriarchaler und patriarchaler
schlechter in Einklang zu bringen sind, bleibt aber Macht, legitimiert aber den Raub der Tochter. So do-
unklar. miniert bis heute noch Klamm über Gardena. Ob-
Vor K.s Ankunft wurden die Beziehungen zwi- wohl sie insgeheim Sortini vielleicht sogar liebt,
schen dem patriarchalen Schloss und dem matriar- lehnt Amalia die uralte Unterwerfung ab. Ob für
chalen Dorf am radikalsten von zwei Schwestern in Frauen Liebe ohne Selbstaufgabe eines Tages mög-
Frage gestellt. Die Geschichte der Barnabasfamilie lich sein wird, bleibt offen. Amalias heroische Würde
wird weitgehend aus der Sicht und in den Worten wird durch die schonungslose Verspottung der Män-
Olgas erzählt, die den lächerlichen Figuren des Va- ner erhöht: Da ist der Vater, der den weiblichen Fa-
ters und des Beamten auf Brautschau die Würde der milienmitgliedern stolz seine Feuerspritze vorführt
Schwester entgegensetzt. Die schweigsame Amalia – sie mussten sich »bücken und fast unter die Spritze
keucht nicht unter Küssen, wie einst Georg Bende- kriechen« (S 299) –, und Sortini, der »mit den von
manns Braut, sondern weist Sortini, den Beamten, der Schreibtischarbeit steifen Beinen« (311) über die
der um sie wirbt, entschieden ab. Amalia ist die Fi- Deichsel springt, um Amalia näher zu sein. (Als
gur in Kafkas Werk, die dem Reiz der Macht am Briefschreiber erinnert Sortini selbstironisch an
klarsten widersteht (wobei nicht gesagt werden kann, Kafka; dass er viel kleiner ist als Amalia, erinnert
dass Sortini reizvoll wäre). spöttisch an Ernst Pollak, der um einen Kopf kleiner
Der Roman erreicht einen komischen Höhepunkt als seine Frau Milena war.)
mit dem Fest des Feuerwehrvereins. Im Homeri- Nach Amalias Absage an die Ordnung der Dinge
schen Epos bewohnen Götter und Helden andere kehrt sich die Dorfgemeinschaft gegen die Familie.
Welten, können sich aber in voller Verkörperung im Wie Georg Bendemanns Braut vor »solchen Freun-
selben Raum begegnen, wie auch in Sciencefiction- den« (DzL 48) warnt, verlangt Frieda von K., dass er
Texten Reisende aus verschiedenen Welten unmit- den Umgang mit solchen Leuten abbrechen soll.
telbar aufeinander treffen. Im Schloss mischen sich Doch wurde vom Schloss her nichts dergleichen be-
jedoch auf groteske Art die literarischen Zeichensys- fohlen. Die Dorfbewohner reagieren von sich aus
teme. Die Ankunft in dem vorwiegend naturalistisch und machen Nachbarn, die ihnen gleich sind, zu An-
dargestellten Dorf eines Bürokraten/Gottes, einer deren, deren Differenz völlig imaginär ist. Die satiri-
modernen Variante des hybriden Satyrs, droht die sche Enthüllung der symbolischen Ordnung mag
Grenze zwischen Mythos und Wirklichkeit, zwi- davon überzeugen, dass die Macht des Schlosses auf
schen symbolischer Ordnung und Alltagspraxis zu nichts basiert. Die Praxis im Dorf beweist aber, dass
sprengen: Der Schlossturm ist nicht mehr gnädig die Macht der Imagination allzu wirkliche Konse-
von Efeu verdeckt, der mächtige Phallus wird fast als quenzen hat. Kafka bietet eine subversive Diagnose
Penis entschleiert. Als Schlossbeamter, der eine dafür, wie Menschen die unmenschlichsten Hand-
Figurenkonstellationen: Väter/Söhne − Alter Egos − Frauen und das Weibliche 481

lungen durch den Glauben an transzendente Mächte Familie, vor allem die geliebte Schwester, zu retten,
rechtfertigen. Heilmittel gegen die Selbstunterwer- was ihr noch nicht gelingt, nicht zuletzt wegen eher
fungsmechanismen, die gewaltig gegen andere ge- konservativ gesinnter Frauen wie Frieda oder der ge-
wendet werden, müssen die Leser selber finden. hässigen Pepi. Der Tag, an dem die (Selbst-)Bewer-
Das Schloss spielt ständig mit Archetypen, deren tung von Frauen durch Kategorien wie ›Jungfrau‹
fixe Bedeutung destabilisiert wird. Die schwieger- oder ›Hure‹ verschwunden sein wird, ist im Schloss
mütterliche Gardena z. B. wird sympathischer als die noch nicht gekommen, wird aber durch die zwei
Mutterfiguren in der Verwandlung oder dem Process Schwestern angekündigt.
dargestellt. Noch heute ist die monströse Schwieger-
mutter Zielscheibe sexistischer Witze, doch in Gar- Frauen und andere weibliche Tiere
denas Erinnerung findet sich, wie ein verblichenes
Foto, das romantische junge Mädchen, das sie einst Wie Silvia Bovenschen belegt, setzt sich die Tendenz
war. in der Geschlechterideologie des 19. Jahrhunderts,
Amalia und Olga, Varianten der Jungfrau und der die Sehnsucht nach einem nicht entfremdeten Da-
Hure, die seit eh und je als entgegengesetzte Typen sein auf das Weibliche zu projizieren, auch im frü-
galten, sind hier Schwestern. Zusammen mit Frieda hen 20. Jahrhundert fort. Bovenschen resümiert wie
deuten sie auf drei Haltungen gegenüber der männ- folgt:
lichen Sexualität. Zunächst Frieda: Wenn du zum
In der Gegensatzkonstruktion von weiblicher Statik, die
Manne gehst, vergiss die Peitsche nicht. Frieda in aller Regel naturmetaphorisch angedeutet wird, und
nimmt die Peitsche mit zu Klamms Dienern. Sie er- männlicher Dynamik, die die historischen Momente
zieht lüsterne Jungen und zähmt Raubtiere (als die von Fortschritt und leidvoller Entfremdung in sich birgt,
die Gehilfen zwischendurch beschrieben werden) zu ist die Abwesenheit des Weiblichen in der Geschichte
zwar noch angezeigt, aber in ideologisch verklärter
heiratsfähigen Männern. Doppelgängerartig imitie- Weise (Bovenschen, 27).
ren die Gehilfen männliche Attribute in allen Le-
bensaltern vom Baby bis zum alten Manne. Durch Dies trifft auf Kafkas Werk nicht zu. Von Anfang an
viele Details werden sie auch unterschwellig mit deuten Frauenfiguren auf wechselnde Zeiten. Ab
Klamm und seinen Dienern in Verbindung gebracht. und zu stoßen wir auf Naturmetaphorik, etwa im
In Friedas Verhalten den Gehilfen gegenüber wird Verbindungshäutchen, das aus Lenis Fingern eine
die traditionelle Aufgabe der Frau, den Mann zu er- »hübsche Kralle« (P 145) macht. Auch wenn die
ziehen, zu pflegen, zu zivilisieren, zu lieben vorge- Dollarprinzessin und die Neurotikerin im Verschol-
führt. lenen in eher negativem Sinne zukunftsweisend sind
Während Frieda die männliche Sexualität dem pa- − statisch sind sie wohl nicht. Fräulein Bürstner il-
triarchalen Gesetz entsprechend im Zaum hält, lehnt lustriert die Ergänzungsfunktion von Frauenbildern
die jungfräuliche Amalia das Gesetz einfach ab. Der als eine neue Abart des Weiblichen, die mehr Hoff-
strukturalistischen Kulturanalyse nach ist der Aus- nung auf Menschlichkeit in der Zukunft in sich birgt
tausch von Frauen eine Sprache, deren Grammatik als Josef K. Statisch ist sie aber gerade deshalb nicht.
die Kultur strukturiert. Indem Amalia es ablehnt, Vor allem Das Schloss bietet ein Repertoire von weib-
Tauschobjekt zu sein, hält sie sich sozusagen aus der lichen Figuren, die nicht einfach auf männliche Be-
Zirkulation heraus. Ihr Schweigen deutet auf eine dürfnisse hin funktionalisiert sind. Im Gegenteil:
Absage an die Sprache des Kulturverkehrs. Das Schloss deckt Mechanismen auf, die eine solche
Amalias Schwester wählt eine entgegengesetzte Funktionalisierung produzieren. Die endlos subtilen
Richtung und zirkuliert im sexuellen Reigen, setzt Verschiebungen in der Figurenkonstellation K. −
sich aber über das Gesetz hinweg. Ohne Tausch- Frieda − Gehilfen bieten ein komplexes Bild sich än-
objekt zu sein, sucht sie durch Umgang mit Männern dernder Geschlechterbeziehungen. Die Geschlech-
Zugang zur Macht. Verglichen mit dem misogynen ter werden nicht zu Positionen in einer Machtstruk-
Bild der Frau des Gerichtsdieners im Process ist Olga tur reduziert, die in ihr Gegenteil umschlagen
ein viel sympathischeres Porträt einer Frau, die ver- können. Das gilt eher hinsichtlich der männlichen
sucht, die Sexualität zu instrumentalisieren. Weit da- Verhaltensmuster. Im Schloss nimmt allerdings die
von entfernt, ein ›Vollweib‹ zu sein, das nur beschla- Homoerotik eine komische Wendung in K.s Traum
fen werden will, ist Olga voller Pläne (vgl. die Über- von einem Kampf mit einem nackten Sekretär, der
schrift »Olgas Pläne«; S 346). Sie agiert, um ihre wie ein griechischer Gott aussieht. Ein mädchenhaft
482 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

piepsender Gott reicht nicht aus, um den Ge- der monströsen Andersheit der in ihrem unanstän-
schlechtsunterschied zu dekonstruieren. Wohl wer- digen Körper gefangenen Sängerin antizipiert den
den aber Frauen, Männer und ihre Beziehungen zu- Kontrast zwischen dem gehorsamen Gregor Samsa
einander als veränderbar dargestellt. und der unanständigen Wahrheit seines monströsen
In der literarischen Moderne ist der Diskurs über Körpers. Kafka gehört so wohl zu den Autoren, die
künstlerische Kreativität von Geschlechtermetapho- künstlerische Kreativität geschlechtermetaphorisch
rik durchdrungen. Das Weibliche erscheint oft in figurieren. In den versteckten Verbindungen zwi-
Form der Muse, die das männliche Genie inspiriert. schen der dicken Frau und dem ungeheureren Un-
Häufig muss aber die eigentliche Frau sterben, damit geziefer oder der dünnen Maus lässt sich eine endlos
sie als Muse funktionieren kann, ohne durch körper- transformative Imagination erblickt.
liche Präsenz zum Störfaktor zu werden. Die franzö-
sischen Symbolisten stellen die Kreativität als weibli- Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu K. In: Ders.:
che Figur dar, ähnlich wie Eurydike in Rilkes Sonette Prismen. Frankfurt/M. 1955, 302–342. – P.-A. Alt
an Orpheus. Deshalb lässt Julia Kristeva in ihrer poe- (2005). – Mark M. Anderson: K., Homosexualität und
tologischen Theorie Nietzsches Dionysos eine Ge- die Ästhetik der »männlichen Kultur«. In: Menora 8
schlechtsumwandlung zur semiotischen Chora (1997), 255–279. – Florence Bancaud: K. et les femmes.
durchmachen. Im poetologischen Diskurs wird oft Par delà le beau et le laid. In: Europe. Revue littéraire
das Weibliche auf Kosten von eigentlichen Frauen mensuelle (2006), 11–28. – Roland Barthes: S/Z. Paris
aufgewertet. Wie die Briefe an Felice und das Ge- 1970. – Evelyn Torton Beck: K.’s Traffic in Women. Gen-
der, Power, Sexuality. In: Literary Review 26 (1983),
spräch zwischen K. und Frieda am Ende von Kapitel
565–576. – W. Benjamin (1981). − Elizabeth Boa: K.
22 des Schloss belegen, war sich Kafka dieses Verfah-
Gender, Class and Race in the Letters and Fictions. Ox-
rens bewusst.
ford 1996. – Dies.: f. In: J. Preece (2002), 61–79 – Dies.:
In Kafkas Fiktionen werden Frauen oft mit Musik
Karl Rossmann, or the Boy who Wouldn’t Grow Up.
in Verbindung gebracht. Klara spielt Klavier, Grete The Flight from Manhood in K.’s Der Verschollene. In:
spielt die Geige. Karl Roßmann und Gregor Samsa Mary Orr/Lesley Sharpe (Hg.): From Goethe to Gide.
sind dagegen künstlerisch unbegabt. Karl gibt die Feminism, Aesthetics and the French and German Lite-
Musik auf, weil er die innere Melodie im Kopf nicht rary Canon 1770–1936. Exeter 2005, 168–183. – Dies.:
hörbar machen kann. Gregor Samsa gelingt es nicht, K.s unheimliche Bilder. In: Scherpe/Wagner (2006),
das, was sein Körper vorzeigt, in Sprache umzuset- 28–40. – Karl-Bernhard Bödeker: Frau und Familie im
zen. Das männliche Genie bleibt aus, oder wird ent- erzählerischen Werk F.K.s Bern u. a. 1974. – Silvia Bo-
larvt wie der selbstgefällige Odysseus in <Das venschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische
Schweigen der Sirenen>, der nicht einmal merkt, dass Untersuchungen und literarische Präsentationsformen
die gewaltigen Sängerinnen nicht singen, weil er so- des Weiblichen. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1980. – Stephanie
lipsistisch einen eigenen Gesang im Kopf hört − oder Catani: »Das Licht der Vernunft« im jüdischen Schlaf-
dieses Unwissen nur vortäuscht, um von den weibli- zimmer. Jüdische Söhne bei Anton Kuh und F.K. In: Ju-
chen Kreaturen nicht aufgehalten zu werden. Zwei lia Schöll (Hg.): Literatur und Ästhetik. Würzburg 2008,
andere Sängerinnen erscheinen in je einem Früh- 133–150. – S. Corngold (1988). – Stephen D. Dowden:
und einem Spätwerk: Brunelda und Josefine. In Jose- K.’s Castle and the Critical Imagination. Columbia
fine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse teilt Kafka 1995. – Özlem Firtina: Familie in K.s Schreiben. Biogra-
sich selbst in drei: die singende Maus, die Bewunde- phische Situation und literarische Verarbeitung.
Frankfurt/M. 2005. – Kate Flores: The Pathos of Father-
rer ihrer Kunst, die indigniert Anerkennung und fi-
hood. In: A. Flores (1977), 254–272. – Sigmund Freud:
nanzielle Unterstützung für sie fordern, und den
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten
normal männlichen Mäuserich-Erzähler, der Josefi-
[1905]; Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Studienaus-
nes überexpressive Performance etwas distanziert gabe Bd. 4: Psychologische Schriften. Stuttgart 1982,
betrachtet. Wenn man im Nachhinein von Josefine 13–219, 242–274. – Werner Garstenauer: Vom Wandel
zurück auf Brunelda blickt, ist vielleicht unterschwel- afamiliarer Männlichkeit. Junggesellentum bei K. als
lig ein gewisses Mitgefühl, eine unbewusste Identifi- dessen Arbeit am Mythos. In: N.A. Chmura (2008), 25–
kation mit der riesigen Sängerin zu spüren. Der Kon- 46. – Ruth V. Gross: K. and Women. In: R.T. Gray
trast zwischen Karl Roßmann, dem europäischen (1995), 69–75. – Arthur Henkel: K. und die Vaterwelt.
Mittelschüler, der gehorsam in eine Stelle als techni- In: Hubertus Tellenbach (Hg.): Das Vaterbild im Abend-
scher Arbeiter statt als Schauspieler einwilligt, und land. Bd. 2: Literatur und Dichtung Europas. Stuttgart
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 483

u. a. 1978, 173–191. – Susanne Hochreiter: F.K.: Raum


und Geschlecht. Würzburg 2007. – Julia Kristeva: La ré-
4.6 Zu Kafkas Kunst-
volution du langage poétique. L’ avant-garde à la fin du
XIXe siècle. Lautréamont et Mallarmé. Paris 1974, 17–
und Literaturtheorie:
30. − Astrid Lange-Kirchheim: Madonna – stinkende Kunst und Künstler
Hündin – Menschenfresser. Phantasien mütterlicher
Allmacht bei F.K. In: Irmgard Roebling/Wolfram Mau- im literarischen Werk
ser (Hg.): Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und
Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Litera-
tur. Würzburg 1996, 297–315. – Vivian Liska: K. und
die Frauen. In: KHb (2008), 61–71. – Dagmar Lorenz:
Vorüberlegungen
K. and Gender. In: J. Preece (2002), 169–188. – Dies.: K.
und gender. In: KHb (2008), 371–384. − Georg Lukács: Kafka hat nichts geschrieben, was man auch nur in
F.K. oder Thomas Mann? In: Ders.: Wider den mißver- Ansätzen eine Poetik oder Ästhetik nennen könnte.
standenen Realismus. Hamburg 1958, 49–96. – Brian Nur im Frühwerk finden sich einige Rezensionen
McHale: Postmodernist Fiction. London, New York und zwei im weiteren Sinne literaturtheoretische
3. Aufl. 1993. – Jan Mukařovsky: Kapitel aus der Ästhe- Texte (Einleitungsvortrag über Jargon, <Über kleine
tik. Frankfurt/M. 1970. – Ritchie Robertson: Mothers Litteraturen>), deren Aussagewert aber recht be-
and Lovers in Some Novels by K. and Brod. In: GLL 50 grenzt bleibt (ä 3.1.6). Und die zahlreichen Tage-
(1997), 475–490. – Reiner Stach: K.s erotischer Mythos. buchnotate und Briefäußerungen zu eigenen Texten,
Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen. zur Literatur überhaupt und zum Schreibprozess, die
Frankfurt/M 1987. – R. Stach (1987). – Manfred Voigts: das Gesamtwerk durchziehen (vgl. Heller/Beug,
K. und die jüdisch-zionistische Frau. Diskussionen um 1969), sind oft nicht weniger interpretationsbedürf-
Erotik und Sexualität im Prager Zionismus. Würzburg tig als die literarischen Texte selbst.
2007. – Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. In diesem Artikel sollen Kafkas Selbstauslegungen
Eine prinzipielle Untersuchung. München 1980 [zuerst (vgl. Heller/Beug) nur ergänzend berücksichtigt
1903]. werden. Im Zentrum werden stattdessen Darstellun-
Elizabeth Boa gen von Künstlern und die damit verbundenen – ex-
pliziten und impliziten – Aussagen über Kunst im
fiktionalen Werk stehen. Natürlich bedürfen auch
diese der Interpretation, aber die Texte bieten dafür
deutlich mehr an interpretationsleitender Kontextu-
alisierung an als die isolierten und oft sehr augen-
blicksgebundenen Tagebuch- und Briefstellen.
Glaubt man der neueren Forschung, so sollte an
›meta-reflexiven‹ Texten in Kafkas Œuvre kein Man-
gel sein, da ja angeblich alle seine Werke nur vom
Schreiben und der Literatur handeln. Das ist freilich
eine ebenso steile wie fragwürdige These, der nur
der beipflichten kann, der alle Inhalte souverän ig-
noriert, für den also etwa die Hinrichtungsmaschine
der Strafkolonie eine ›Schreib‹-Maschine ist, oder so
unterschiedliche Entitäten wie die Chinesische
Mauer, Odradek oder das Schloss allesamt zu Chiff-
ren für die Literatur werden.
Wer an Textoberflächen nicht so völlig desinteres-
siert ist, wird ein wesentlich kleineres Korpus an
Kunst- und Künstlergeschichten finden, das zudem
nicht sehr gleichmäßig über die Werkgeschichte ver-
teilt ist, da die Mehrheit der Texte der Spätphase an-
gehört. Außerdem wird er feststellen müssen, dass
Kafkas Künstlerfiguren fast nie Literaten sind, son-
484 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

dern Maler, Musiker oder Artisten – was natürlich den Gerichtskanzleien« (222). Direkt hinter dem
dazu führt, dass im engeren Sinne poetologische As- Bett des Malers liegt die Verbindungstür zwischen
pekte kaum behandelt werden (über die Kafka auch beiden Bereichen, durch die die Richter, die sich ma-
sonst nur höchst selten schreibt): Eher geht es in die- len lassen wollen, das Atelier betreten (209 f.).
sen Texten um sehr grundsätzliche Überlegungen Man wird mit einiger Plausibilität vermuten dür-
zur Funktion der Kunst und zur Existenzproblema- fen, dass diese seltsame Zwischenlage des Ateliers
tik des Künstlers. zwischen Sinnlichkeit und Schmutz einerseits und
Aus dem Korpus dieser eindeutigen Kunst/Künst- dem ›Gesetz‹ andererseits Kafkas höchst ambivalen-
ler-Geschichten sollen im Folgenden die wichtigsten ter Kunstauffassung entspricht. Die Akzentuierung
in chronologischer Folge behandelt werden. von deren Polen wechselt, die Ambivalenz aber
bleibt im Gesamtwerk im Wesentlichen konstant.
Dass für Kafka eine wesentliche Problematik der
Der ›Gerichtsmaler‹ Titorelli: Kunst in der Asozialität der Künstlerexistenz liegt,
Ambivalenzen in Kafkas Kunst- also in der Kluft, die den nur auf sein Werk konzen-
auffassung trierten Künstler vom ›Leben‹ als dem Bereich von
sozialem Handeln und Gemeinschaftsbezug trennt,
Die erste ausgestaltete Künstlerfigur in Kafkas Werk ist wohlbekannt und aus Briefen wie Tagebüchern
ist der »Kunst-« und »Gerichtsmaler« (P 192, 204) leicht zu belegen. Die Asozialität der Kunst hat für
Titorelli aus dem Roman Der Process (entstanden Kafka aber noch eine andere und fundamentalere
August 1914 bis Januar 1915), der wie keine andere Ursache, die in ihrer anarchischen Freiheit von allen
Gestalt die Ambivalenzen in Kafkas Kunstauffas- rationalen wie moralischen Konventionen gründet.
sung verkörpert. Eine der prägnantesten Aussagen dazu findet sich
Titorellis Lebensumgebung und sein Lebenswan- im Brief an Felice Bauer vom 30. September 1917:
del erscheinen als überaus dubios: Sein Atelier, das
Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt
zugleich auch sein Wohn- und Schlafraum ist, liegt in sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe ein guter
einer »Dachkammer« (189) in den armen Vorstäd- Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu ent-
ten, die voller »Schmutz« und Unrat sind (188); auch sprechen sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Men-
der Raum selbst ist »verunreinigt« und unordentlich schen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre
grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu
(193). Seine Wände bilden Balken mit breiten Ritzen erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen
(209), durch die man von außen ins Innere sehen und mich in dieser Richtung möglichst bald dahin zu
kann (210); die Türen sind so wenig solide, dass man entwickeln, daß ich durchaus allen wohlgefällig würde,
sie »mit der geringsten Anstrengung aus den Angeln undzwar (hier kommt der Sprung) so wohlgefällig, daß
brechen« könnte (210). Das Fenster allerdings ist so- ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich,
als der einzige Sünder der nicht gebraten wird, die mir
lide verschlossen (209); der Blick hinaus reicht »im innewohnenden Gemeinheiten, offen, vor aller Augen
Nebel« nicht weiter als bis »über das mit Schnee be- ausführen dürfte. Zusammengefaßt, kommt es mir also
deckte Dach des Nachbarhauses« (194). nur auf das Menschengericht an und dieses will ich über-
Titorelli selbst ist höchst nachlässig gekleidet: Ge- dies betrügen, allerdings ohne Betrug (B14–17 333, auch
342 f.; vgl. auch T 839 f.).
gen Mittag trägt er noch immer ein »Nachthemd«,
an dem alle Knöpfe abgerissen sind, und »eine breite Kafkas moralische Selbstanklagen sind notorisch; in
gelbliche Leinenhose, […] die mit einem Riemen der Briefstelle erhalten sie jedoch eine Begründung,
festgemacht« ist (192); offensichtlich ist er erst sehr die von fern an Freuds Auffassung vom Dichter erin-
spät nachhause gekommen (193). Am fragwürdigs- nert (Der Dichter und das Phantasieren, 1908): Als
ten aber ist sein vertraulicher Verkehr mit einer gan- Schriftsteller kann Kafka seine Phantasien und Wün-
zen Schar von Mädchen in »sehr kurzen Röckchen« sche (»die mir innewohnenden Gemeinheiten«) un-
(190), die sich in seinem Atelier herumtreiben und gestraft ausleben, ungestraft zumindest durch das
durch »eine Mischung von Kindlichkeit und Ver- ›Menschen-Gericht‹. Dass wahre Kunst auf einer Ab-
worfenheit« charakterisiert sind (190). Mindestens sage an Konventionen und einer Öffnung des Ich zu
eine von ihnen hat er einmal gemalt (192), vermut- Bereichen hin beruht, die jenseits der Verstandes-
lich in nicht sehr bekleidetem Zustand (211). kontrolle und jenseits der moralischen Konventio-
Zugleich aber gehören dieses dubiose Atelier und nen liegen, ist eine Auffassung, die sich in aufklä-
sein nicht minder dubioser Bewohner »eigentlich zu rungskritischen Epochen wie der Romantik oder der
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 485

Moderne häufig findet. Dass auch Kafka sie vertre- wenn Kafka sich im Schreiben von »einer höheren
ten hat, zeigt sich etwa in der folgenden Passage aus Macht« als »Instrument« »benutzt« fühlt (An F. Bauer,
einem Brief an Max Brod vom 5. Juli 1922: 1.11.1912; B00–12 203), wenn er in seiner Literatur
Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wo- bis an die »Grenzen des Menschlichen überhaupt«
für? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindli- vorzustoßen glaubt (März 1911; T 34), »Schreiben als
chen Anschauungsunterrichtes klar, dass es der Lohn für Form des Gebetes« bezeichnet (Ende 1920; NSF II,
Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunklen 354), mit seinen Texten »die Welt ins Reine, Wahre,
Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener
Unveränderliche heben« will (25.9.1917; T 838) und
Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch
unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts die Literatur als »Ansturm gegen die letzte irdische
mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten Grenze« bestimmt, aus dem möglicherweise eine
schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich neue »Kabbala« hätte hervorgehen können (16.1.1922;
kenne nur dieses; in der Nacht, wenn mich die Angst T 878). Oder, wie es an anderer Stelle heißt:
nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses (An Max Brod,
5.7.1922; Briefe 384). Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschie-
denen Absicht sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit
Wiederum dominiert im Zitat der Tenor morali- besteht darin in der dunklen Leere einen Ort zu finden,
scher Selbstanklage. Aber es gibt auch Passagen, in wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erken-
nen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann (ca.
denen Kafka die literarische »Darstellung« seines
22.2.1918; NSF II, 75 f.).
»traumhaften innern Lebens« (6.8.1914; T 546), die
»Befreiung« der »ungeheueren Welt« in seinem Auch Titorellis Gerichtsmalerei, die altüberlieferten
»Kopfe« (21.6.1913; T 562) einfach phänomenolo- »Regeln« und »Legenden« folgt (P 196, 204; 208),
gisch konstatiert: steht in einem solch mittelbaren Bezug zur ›Wahr-
Schreiben heißt ja, sich öffnen bis zum Übermaß; die äu- heit‹. Das zeigt sich etwa in seinem Richterbild, das
ßerste Offenherzigkeit und Hingabe, in der sich ein zwar nicht die Wahrheit eines Porträts hat – der por-
Mensch im menschlichen Verkehr schon zu verlieren trätierte Richter usurpiert hier nur die Kleidung, Po-
glaubt und vor der er also solange er bei Sinnen ist, im- sition und Aura eines »hohen Richters«, den er al-
mer zurückscheuen wird – denn leben will jeder, solange
lenfalls repräsentiert –, wohl aber die einer komple-
er lebt – diese Offenherzigkeit und Hingabe genügt zum
Schreiben bei weitem nicht. Was von dieser Oberfläche xen Symbolik, in der sich mehrere alte Mythologeme
ins Schreiben hinübergenommen wird – wenn es nicht miteinander verbinden: Die »große Figur« hinter
anders geht und die tiefern Quellen schweigen – ist dem sitzenden Richter ist »die Gerechtigkeit und die
nichts und fällt in dem Augenblick zusammen, in dem Siegesgöttin in einem«; in Josef K.s subjektiv per-
ein wahreres Gefühl diesen obern Boden zum Schwan-
ken bringt (An F. Bauer, 14./15.1.1913; B13–14 40). spektiviertem Blick erscheint sie schließlich auch als
»Göttin der Jagd«. Selbst wenn diese Interpretatio-
Vor dem Hintergrund dieser Kunstauffassung er- nen, die sich eingespielter und damit unzureichen-
scheinen Titorellis Offenheit für ›Schmutz‹ und der Begrifflichkeiten bedienen, problematisch blei-
sinnliche Versuchung, seine unbürgerliche Erschei- ben – ›wahr‹ ist das Bild vor allem in dem die Figur
nung und die seltsame Unabgeschlossenheit seines umgebenden Licht, das der Maler gerade dadurch
Ateliers, das aber zugleich keinen Blick auf die Au- herausarbeitet, dass er als Folie einen »rötlichen
ßenwelt ermöglicht, nicht als genrehafter Entwurf Schatten« malt: »Um die Figur der Gerechtigkeit
einer Bohemien-Existenz, sondern als symbolische aber blieb es bis auf eine unmerkliche Tönung hell,
Darstellung der Öffnung des Künstlers für die ›dunk- in dieser Helligkeit schien die Figur besonders vor-
len Mächte‹. zudringen« (195–197).
Neben dieser meist mit moralischen Selbstankla- Titorellis Affinität zum ›Licht‹ zeigt sich auch im
gen verbundenen Auffassung von Kunst als Ich-Ent- gestrichenen Teil des Fragmentkapitels »Das Haus«,
grenzung gibt es bei Kafka jedoch eine mindestens wo er Josef K. im »Halbschlaf« (348) eine völlige
genauso starke, emphatisch positive Kunstauffas- Verwandlung seines Selbst ermöglicht:
sung, der im Roman wohl Titorellis Verbindung mit Das Licht, das bisher von rückwärts eingefallen war
dem Gericht entsprechen dürfte. Mit ihr ordnet sich wechselte und strömte plötzlich blendend von vorn. K.
Kafka ein in eine andere wichtige Tradition der äs- sah auf, Tit[orelli] nickte ihm zu und drehte ihn um.
Wieder war K. auf dem Korridor des Gerichtsgebäudes,
thetischen Moderne: ihre Kunstmetaphysik.
aber alles war ruhiger und einfacher, es gab keine auffal-
Auch zu dieser positiven Kunstauffassung finden lende [sic] Einzelheiten, K. umfasste alles mit einem
sich zahlreiche Notizen und Briefstellen. So etwa Blick (P:A 346).
486 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Ganz anders als die Gerichtsmalerei fällt Titorellis und Leben. Das ist für Kafka gewiss kein neues
sozusagen ›private‹ Kunst aus. Hier stellt er immer Thema; die die Beziehung zu Felice Bauer begleiten-
nur das gleiche Sujet dar: eine »Heidelandschaft« mit den Tagebucheinträge und die Briefe an sie kreisen
»zwei schwachen Bäumen«, »die weit von einander immer wieder um dieses Problem. Zu seinen be-
entfernt im dunklen Gras standen. Im Hintergrund kanntesten Darstellungen zählt der tabellarische Bi-
war ein vielfarbiger Sonnenuntergang« (220). Das lanzierungsversuch, den Kafka – in einer Art inne-
sind auf jeden Fall »düstere« (221) Bilder mit schwin- rem Zwiegespräch – am 20. August 1916 notierte
dendem ›Licht‹. Will man interpretatorisch noch ei- (NSF II, 24 f.; im Original sind die Einträge durch
nen Schritt weitergehen, mag man in ihnen – in der Querstriche voneinander abgetrennt; vgl. auch schon
Isolation der Bäume voneinander und der Abendsze- T 568–570, 21.7.1913):
nerie – typische Décadence-Motive erkennen, viel-
reinbleiben verheiratetsein
leicht ja sogar eine Anspielung auf die Décadence-
Thematik in Kafkas eigenem Frühwerk. Offensicht- Junggeselle Ehemann
lich ist aber jedenfalls, dass diese klischeehafte ich bleibe rein. Rein?
Malerei weit hinter Titorellis semantisch dichter Ge-
ich halte alle meine Du bleibst außerhalb des
richtskunst zurückbleibt. Als ›Privatmann‹ verfügt Kräfte zusammen Zusammenhangs wirst ein
Titorelli über kein ›höheres‹ Wissen – entsprechend Narr, fliegst in alle
wertlos sind auch die Informationen, die er K. für Windrichtungen kommst
seinen Prozess gibt (205–219): Wie den anderen aber nicht weiter
ich ziehe aus dem Blutkreis-
›Helfern‹ geht es ihm vor allem um eigene Interes- lauf des menschlichen
sen; die Befolgung seiner taktischen Ratschläge Lebens alle Kraft die mir
würde K. nur in sinnlosen Aktionismus verwickeln überhaupt zugänglich ist
und in seiner Verdrängung der Schuldfrage bestär- nur für mich desto mehr für Dich vernarrt
ken. verantwortlich (Grillparzer Flaubert)
In Kafkas Selbstdeutungen stellen die Pole seiner
keine Sorgen Da ich an Kräften wachse
Kunstauffassung Gegensätze dar – und als solche Koncentration auf die trage ich mehr. Hier ist aber
werden sie in Tagebuch und Briefen auch inszeniert: Arbeit eine gewisse Wahrheit
als Konflikt von ›Gut‹ und ›Böse‹, als Abwertung von
Kunst zu Sünde und Asozialität oder als emphati- Offensichtlich vermischen sich hier zwei sehr ver-
sche Kunstmetaphysik. Das täuscht aber darüber schiedene Argumentationsebenen. Die eine ist eine
hinweg, dass in seinen Werken – Process und Schloss lebenspragmatische: Um schreiben zu können,
zeigen dies besonders deutlich – die scheinbaren Ge- brauchte Kafka einen ungestörten Freiraum, der
gensätze unmittelbar miteinander zusammenhän- schon gegenüber dem Beruf nur schwer zu erringen
gen, ja zusammenzugehören scheinen. Ihre offen- war und durch Ehe und Familie noch viel stärker be-
sichtlichste Gemeinsamkeit liegt in ihrer gemeinsa- droht worden wäre. Dazu kamen gewisse (im Brief-
men Opposition zum Weltbild des ›convenu‹, zur wechsel mit Felice ausführlich erörterte) Eigenheiten
angepassten Oberflächenexistenz. Darauf wird noch seiner Persönlichkeitsstruktur, die ein dauerhaftes
zurückzukommen sein. Zusammenleben mit einem anderen Menschen als
mindestens äußerst schwierig erscheinen ließen.
Die andere, hier eindeutig dominante Ebene ist
Erstes Leid und Ein Hungerkünstler: eine ideologische, genauer der Konflikt zwischen
Kunst versus Leben zwei Ideologien, der daher ein Wertekonflikt ist.
Dass Kafka die Kunst-Leben-Problematik mit einer
Erstes Leid und Ein Hungerkünstler entstanden wäh- Vielzahl von Zeitgenossen teilt – Rilke und Thomas
rend der Arbeit am Schloss-Roman (ca. 10. März Mann dürften die bekanntesten Beispiele sein –, liegt
bzw. um den 23. Mai 1922; DzL:A 408 f. u. 437); vor allem daran, dass diese in einer der in der Zeit
beide wurden in den Hungerkünstler-Band aufge- einflussreichsten Ästhetiken begründet war: Arthur
nommen (DzL 317–321 u. 333–349; vgl. auch NSF Schopenhauer (1788–1860) hatte die Entstehung
II, 384–400, 646 f. u. 648 f.). großer Kunst daran geknüpft, dass der Künstler Dis-
Die zwei Erzählungen handeln, auf einigermaßen tanz zum Leben (›Willen‹) hält; »Genialität« ist für
offensichtliche Weise, vom Konflikt zwischen Kunst ihn
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 487

die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten […] pee bestellt, in welchem der Trapezkünstler, zwar in
und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum kläglichem, aber doch irgendeinem Ersatz seiner
Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehn,
d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus sonstigen Lebensweise die Fahrt oben im Gepäck-
den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich netz zubrachte« (318 f.). Das ist natürlich wieder ein
auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennen- Beispiel für Kafkas (oft übersehenen) Humor, der
des Subjekt, klares Weltauge übrigzubleiben (Die Welt als auch hier eine ironische Distanz zur Hauptfigur her-
Wille und Vorstellung I, §36).
stellt.
Seine unmittelbarste künstlerische Umsetzung fin- Auf einer dieser Reisen kommt es nun zu einem
det die Schopenhauer-nahe Kunstmetaphysik bei Vorfall, der das bisherige, durchaus idyllisch und
Kafka wohl in der Kurzprosa Ein Traum, die in den problemlos anmutende Dasein des Trapezkünstlers
Landarzt-Band aufgenommen wurde (DzL 295–298; jäh erschüttert: Aus einem Traum erwacht, fordert er
die Entstehungszeit kann nur sehr ungenau zwi- vom Impresario »zwei Trapeze« statt des bisherigen
schen August 1914 und Juni 1916 datiert werden). einen (320). Der stimmt auch sofort zu und kann
Die (kunstmetaphysische) Kunstideologie, die seinen Schützling durch Versprechen und gutes Zu-
sich in Kafkas Tabelle vor allem in der Idee des ›Rein- reden »langsam beruhigen«. Er selbst aber bleibt »in
bleibens‹ ausdrückt, tritt bei ihm allerdings in Kon- schwerer Sorge« (321), denn im Gegensatz zum Tra-
flikt mit einer (durch die jüdische Tradition noch pezkünstler hat er begriffen, was eigentlich hinter
verstärkten) Familien- und Gemeinschaftsideologie: dessen Wunsch steckt. Sein Schützling ist in seiner
Nach dieser kommt dem Individuum nur dann Wert Künstlerexistenz noch immer so befangen, dass er
zu, wenn es sich in den »Blutkreislauf des menschli- sein diffuses Unbehagen an dieser nur in einem so-
chen Lebens« einordnet, wozu eben sozial verant- zusagen kunstimmanenten Begehren artikulieren
wortliches Handeln und, vor allem, Familiengrün- kann: Ein zweites Trapez ließe sich ja immer noch
dung gehören. als Streben nach weiterer Vervollkommnung seiner
Dies ist die Konzeptualisierung des Kunst-Leben- Kunst begreifen. Die vom Trapezkünstler genannte
Gegensatzes, die Kafkas mittleres Werk bestimmt. Begründung für seinen Wunsch lässt den Impresario
Im Spätwerk wird die Problemstellung deutlich er- aber ein weit tieferes und wahrhaft »existenzbedro-
weitert und immer wieder modifiziert. Dass Kafka hendes« (321) Problem erkennen, das der Künstler
eine Synthese der Pole anstrebt, wäre zu viel gesagt; selbst nur andeutungsweise benennen kann: »Nur
es geht allerdings in der Tat um eine, wenn auch nur diese eine Stange in den Händen – wie kann ich denn
begrenzte, Vermittlung, die dadurch möglich wird, leben!« (320). Wie kann man in der Tat ›leben‹ ohne
dass Kafka nun die soziale Funktion der Kunst stär- ›Boden‹-Kontakt, ohne den Kontakt zu anderen
ker akzentuiert. Der Weg dorthin ist freilich lang Menschen, zur Welt außerhalb der Kunst?
und schwierig. Er soll im Folgenden anhand der In Erstes Leid rekonstruiert Kafka so quasi die Ur-
chronologisch geordneten Textreihe nachgezeichnet szene des Kunst-Leben-Konflikts. Es ist eine einfa-
werden, die in diesem und den beiden Folgekapiteln che, klare Erzählung, die das alte Problem neu ge-
behandelt wird. staltet und durch die ironische Konturierung eine
Erstes Leid bleibt der Konzeptualisierung des mitt- nur minimale Distanz herstellt; die Empathie und
leren Werkes noch recht nahe. Der im Mittelpunkt das Mitleid des väterlichen Impresario geben ihr zu-
der Kurzerzählung stehende Trapezkünstler hat, gleich eine für Kafka ungewöhnlich sentimentale
»zuerst nur aus dem Streben nach Vervollkomm- Prägung. Das mag den Autor dazu veranlasst haben,
nung, später auch aus tyrannisch gewordener Ge- sein Werk als »widerliche kleine Geschichte« abzu-
wohnheit sein Leben derart eingerichtet, daß er […] werten (An M. Brod, 26.6.1922; Briefe 375).
Tag und Nacht auf dem Trapeze blieb« (DzL 317). Die Neuerung des Textes ist zunächst einmal nur
›Bodenkontakt‹ gibt es so nur bei den »unvermeidli- eine motivliche: die Wahl des Artistenmilieus. Das
chen«, aber »lästigen« Reisen von einem Auftrittsort hatte Kafka zwar schon vorher verschiedentlich ver-
zum anderen (318). Der – in dieser Erzählung unge- wendet – etwa in Auf der Galerie und Ein Bericht für
wöhnlich fürsorgliche und verständnisvolle – Im- eine Akademie (vgl. W. Bauer-Wabnegg, 331–334 für
presario tut allerdings sein Möglichstes, um die Be- einen Überblick zum Motivkomplex) –, in Erstes
lästigungen dieser Reisezeiten zu minimieren: »Für Leid und in Ein Hungerkünstler aber wird der Artist
die Fahrten in den Städten benützte man Rennauto- nun zur zentralen Metonymie für den Künstler.
mobile«, und »im Eisenbahnzug war ein ganzes Ku- Erstes Leid nutzt dabei nur eine erste semantische
488 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Option des Motivs: Die Kunst des Artisten ist und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade
werklos, reine Performanz, in ihr schafft der Künst- in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren
ginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir
ler sein ›Werk‹ mit seinem Körper. Damit wird die schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte
existenzielle Seite nachdrücklich akzentuiert: Der kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du
Künstler ›lebt‹ seine Kunst. und alle.« Das waren die letzten Worte, aber noch in sei-
Ein Hungerkünstler radikalisiert diesen Aspekt nen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht
mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungre (348 f.).
deutlich, da hier an die Stelle der Trapezkunst – »eine
der schwierigsten unter allen, Menschen erreichba- Die Verzeihungsbitte greift zunächst einmal wieder
ren« (DzL 317) – das Hungern tritt. Dieses ist per se das Motiv der moralischen Selbstanklage auf; ganz
nicht einmal eine Kunstfertigkeit, sondern ein jedem entsprechend hatte Kafka einige Monate nach der
Lebewesen gegebenes, meist durch Not abverlangtes Niederschrift der Erzählung an Max Brod geschrie-
Vermögen. Natürlich hungert der Hungerkünstler ben:
freiwillig und länger als der Durchschnittsmensch, das Teuflische [am Schreiben] scheint mir sehr klar. Es
doch selbst darin liegt eigentlich keine Leistung: ist die Eitelkeit und Genußsucht, die immerfort um die
Hungern ist ihm ein existenzielles Bedürfnis, in ihm eigene oder auch um eine fremde Gestalt – die Bewe-
manifestiert sich seine Individualität. gung vervielfältigt sich dann, es wird ein Sonnensystem
der Eitelkeit – schwirrt und sie genießt. […] Mit wel-
Zugleich nutzt Kafka aber nun ein zweites seman- chem Recht erschrecke ich, der ich nicht zuhause war,
tisches Potential der Artistenmetaphorik: Artistische daß das Haus plötzlich zusammenbricht; weiß ich denn,
Kunst ist, wie jede Performanz, in extremer Form was dem Zusammenbruch vorhergegangen ist, bin ich
publikumsbezogen. Gerade dieser Publikumsbezug nicht ausgewandert und habe das Haus allen bösen
Mächten überlassen? (5.7.1922; Briefe 385 f.).
erweist sich im Hungerkünstler jedoch als problema-
tisch. Zum Ersten schwankt der Publikumsge- Aus »Eitelkeit« und »Genußsucht« – beim Hunger-
schmack ständig: Mal (wie in der glanzvollen Ver- künstler entspräche dem das Streben nach ›Bewun-
gangenheit des Hungerkünstlers) ist das Publikum derung‹ – wurde also das Leben versäumt. Das ist
am Hungern interessiert, mal wird es eher durch die der altbekannte Selbstvorwurf, der zeigt, dass bio-
ungebrochen-animalische Vitalität eines Panthers graphische Selbstdeutungen bei Kafka weit starrer
angezogen (der im Schlussteil der Erzählung den ausfallen als die literarischen Gestaltungen (schon
Käfig des verstorbenen Hungerkünstlers bezieht). allein deswegen können Erstere also nicht einfach
Das mag damit zusammenhängen, dass Hungern in zur Grundlage von Interpretationen gemacht wer-
der Erfahrungswelt mal mehr, mal weniger selbst- den). In der Erzählung geht es jedoch um mehr als
verständlich präsent ist, oder – wahrscheinlicher – Genusssucht – die hat der Hungerkünstler nun ja ab-
damit, dass die ihm korrespondierenden asketischen gelegt, am Hungern aber hält er weiterhin fest. Was
Ideale mal mehr, mal weniger hoch im Kurs stehen. ihn antreibt, sind der Ekel an der gegebenen und die
Zum Zweiten ist das Publikum nur am konsumierba- Sehnsucht nach einer ›anderen‹, ihm wirklich
ren ›Event‹ interessiert, für dessen kunstvolle Insze- ›schmeckenden‹ Speise (vgl. auch schon DzL 183).
nierung der (nunmehr kalte und nur an materiellem Dass er diese nicht finden kann, mag mit seiner rein
Erfolg interessierte) Impresario sorgt. Er beschränkt performativen ›Kunst‹-Form zusammenhängen, die
daher das Hungern, zum großen Unglück des Hun- keinen Zugang zu einem ›Anderen‹ eröffnet und
gerkünstlers, auf maximal 40 Tage – denn nur so auch für das Publikum bloßes Spektakel bleibt. Der
lange kann das Publikum gefesselt werden (337 f.). Tod des Hungerkünstlers ist eine schuldfreie, da
Unbefristetes Hungern, wie es der Hungerkünst- durch Geständnis und Verhaltensänderung ent-
ler in aller Radikalität leben will, ist diesem Publi- sühnte Verwirklichung seiner Eigentümlichkeit, sei-
kum also nicht zu vermitteln. Das ist es aber nicht, nes Andersseins. Das ändert aber nichts daran, dass
was der Hungerkünstler im Zwiegespräch mit dem Kunst, wie er sie praktiziert, als defizitärer Modus
Aufseher kurz vor seinem Tod einsieht; hier seine des Lebens erscheint – als eine extreme Einseitigkeit,
(aus dem Dialog herausgelösten) letzten Worte: deren Gegenextrem der Panther und seine völlig un-
gebrochene »Freude am Leben« verkörpern (349).
»Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler […].
»Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewun-
dert […]. Ihr sollt es aber nicht bewundern […]. Weil
ich hungern muß, ich kann nicht anders […]. Weil ich«,
sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 489

<Forschungen eines Hundes >: schen, zu dem, was jenseits einer auf Empirie und Ra-
»Wahrheit« versus »Lüge« tionalität beruhenden Welt-Anschauung liegt.
Die ältere Forschung wusste noch sehr wohl, dass
In der Entfaltung der Kunst/Künstler-Thematik be- mit einer bloßen Auflösung der Texträtsel durch un-
deuten die wohl zwischen 18. September und Ende ser den Hunden überlegenes Menschenwissen zur
Oktober 1922 (also nach Aufgabe des Schloss-Ro- Interpretation der Erzählung noch gar nichts geleis-
mans) entstandenen <Forschungen eines Hundes> tet ist. Bereits Winkelman wies auf das einfache Ana-
(NSF II, 423–482, 485–491) einen entscheidenden logiemodell hin, das sich aus den <Forschungen> er-
Schritt. Kunst ist hier zwar (anscheinend?) nur ein gibt: Hunde : Menschen = Menschen : X, wobei X na-
Nebenthema, wird aber in der Erzählung erstmals türlich nicht einfach (wie Winkelman das noch tut)
direkt in einen weiteren und wahrhaft fundamenta- mit ›Gott‹ gleichgesetzt werden kann (Winkelman,
len Fragekontext gestellt. Das zeigt sich schon in der 213). X bleibt vielmehr eine mit Notwendigkeit un-
Veränderung des Hunger-Motivs, das nun nicht bekannte, da jenseits unserer Erkenntnismöglichkei-
mehr einfach Ausdruck eines existenziellen Bedürf- ten liegende Größe – aber die Überlegungen des For-
nisses ist, sondern bewusst und mühsam unternom- scherhundes bezeugen, dass es durchaus einen Un-
mene Anstrengung als Teil eines schon im Wort- terschied macht, ob man sein Leben auf eine solche
sinne meta-physischen Experimentes. Größe ausrichtet oder nicht. Die alle anderen Hunde
Den Grundeinfall, der der Konstruktion der er- bestimmende Fixierung auf eine rein (Hunde-)Welt-
zählten Welt zugrunde liegt, hat die Forschung schon immanente Betrachtungsweise – »ihr Verstand« sagt
relativ früh herausgefunden (Winkelman 1967): Im den Hunden, »daß niemand hinauskommt und daß
Text wissen die Hunde – und damit natürlich auch alles Drängen töricht ist« (459) – haben die »Urväter«
der erzählende Forscherhund – nichts von der Exis- der Hundeschaft verursacht. Diese »irrten ab«, weil
tenz der Menschen. Korrigiert man diesen blinden sie sich des »Hundelebens« »freuen« wollten (456 f.):
Fleck in ihrer Weltwahrnehmung und -deutung, so »Sie haben das Hundeleben verschuldet« (471 f.).
lassen sich die den Erzähler plagenden ›Welträtsel‹ Früher dagegen waren »die Hunde […] noch nicht so
leicht entschlüsseln: Die rätselhaften sieben »Musik- hündisch wie heute, […] das wahre Wort hätte da-
hunde« (NSF II, 427–433) sind dressierte Tiere, die mals noch eingreifen, den Bau bestimmen, umstim-
bei einer Zirkus- oder Varieté-Aufführung auftreten; men […] können« (456). Wie auch sonst oft (ä 3.3.1
die nicht minder geheimnisvollen »Lufthunde« (446– u. 4.7) kritisiert Kafka in den <Forschungen> also die
451) sind Schoßhunde; der »Jäger«-Hund (475–479) Reduktivität einer rational-säkularen Weltsicht und
ist ganz einfach ein Jagdhund; die Nahrung, nach de- deren negative Konsequenzen. Darauf kann hier
ren Ursprung der Erzähler so verzweifelt ›forscht‹, nicht im Einzelnen eingegangen werden. Im Folgen-
wird den Hunden natürlich von den Menschen zuge- den wird primär danach gefragt, was sich aus der Ge-
worfen (vgl. auch Robertson, 356–362). schichte für Kafkas Kunsttheorie ableiten lässt.
Diese leichte Aufschlüsselung der Texträtsel hat ge- In den <Forschungen> wird Kunst mindestens
rade die neuere Forschung dazu verführt, die Erzäh- zweifach thematisiert: zum einen in den Lufthun-
lung als bloße humoristische Etüde abzutun. Peter- den, zum anderen im Phänomen der ›Musik‹, das
André Alt nennt die <Forschungen> »eine ironische sich sowohl mit den Musikhunden wie mit dem Jä-
Geschichte über scheiternde Erkenntnissuche« (Alt, ger-Hund verbindet. Die Lufthunde sind die aner-
654), und Ritchie Robertson erklärt kategorisch, dass kannten »Künstler« der Hundeschaft (448); der Er-
»Versuche«, aus diesem »vorwiegend durch einen sa- zähler hat zwar noch keinen von ihnen gesehen, aber
tirischen Ton« bestimmten Text »verborgene meta- man spricht viel von ihnen – und niemand zweifelt
physische Botschaften abzuleiten, fehl am Platze« an ihrer Existenz und an ihrer Existenzberechtigung
seien (Robertson, 362). ›Metaphysische Botschaften‹ (ganz anders als bei den unbekannten Musikhun-
wird man der Erzählung in der Tat nicht entlocken den). Was die Lufthunde vor allem auszeichnet, ist
können – aber das gilt schließlich für alle Kafka-Texte, eine »fast unerträgliche Geschwätzigkeit«:
die nie einfach ›metaphysische‹ Aussagen machen.
Was den <Forschungen> jedoch durchaus zu entneh- Immerfort haben sie zu erzählen, teils von ihren philoso-
phischen Überlegungen mit denen sie sich, da sie auf kör-
men ist – und was sie zu einer der philosophischsten perliche Anstrengung völlig verzichtet haben, fortwäh-
Erzählungen Kafkas macht –, sind Aussagen über das rend beschäftigen können, teils von den Beobachtungen,
verfehlte Verhältnis des Menschen zum Meta-Physi- die sie von ihrem erhöhten Standort aus machen (449).
490 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Von authentischer Kunst im Sinne Kafkas ist hier überschüttenden, erdrückenden, über seiner Vernich-
tung noch, in solcher Nähe, daß es schon Ferne war,
offensichtlich nicht die Rede. Mit wahren Künstlern
kaum hörbar noch Fanfaren blasenden Musik (429).
teilen die Lufthunde allenfalls die Lebensferne und
die ›Boden-losigkeit‹ ihrer Existenz (sie leben »ge- Die Musik macht den Forscherhund »besinnungs-
trennt von der nährenden Erde«, 448). Sucht man los«, dreht ihn »im Kreise herum, als sei [er] selbst
ihre Äquivalente in unserer Menschenwelt, so wäre einer der Musikanten, während [er] doch nur ihr
wohl an besonders botschafts- und weltanschau- Opfer war«, wirft ihn »hierhin und dorthin« (430).
ungsfreudige Literaten zu denken. In den <For- Jeder Widerstand ist zwecklos:
schungen> fungieren die Lufthunde daher nur als
Vielleicht hätte ich in meinem Eifer sogar [dem Lärm]
Negativfolie zur Darstellung der eigentlichen den ich doch nun schon kannte widerstanden, wenn
Kunst. nicht durch alle seine Fülle, die schrecklich war, aber
Deren Medium ist die Musik. Dass Kafka, der sich vielleicht doch zu bekämpfen, ein klarer strenger immer
selbst für »vollständig […] unmusikalisch« erklärte sich gleichbleibender, förmlich aus großer Ferne unver-
ändert ankommender Ton, vielleicht die eigentliche Me-
(An M. Jesenská, 14.6.1920; BM 65), gerade Musik
lodie inmitten des Lärms, geklungen und mich in die
immer wieder zur zentralen Kunstmetapher ge- Knie gezwungen hätte. Ach, was machten doch diese
macht hat – so schon in der Verwandlung (DzL 183– Hunde für eine betörende Musik (432 f.).
186) und in Der Verschollene (V 59–61, 392 f.) –, mag
zunächst verwundern, ist aber durchaus konventio- (2) Auch für die Musikhunde bedeutet ihr Tun »äu-
nell. Schon in der Romantik und wiederum (vor al- ßerste Anspannung«, »Verzweiflung« und »Angst«;
lem durch Schopenhauer und Nietzsche vermittelt) sie brauchen »Mut«, sich ihm »völlig und offen aus-
in der Moderne gilt Musik als die höchste Kunst- zusetzen« (430). Eigentlich scheinen aber nicht sie
form, weil sie sich von empirischer Wirklichkeit und die Musik hervorzubringen – obwohl es an zwei Stel-
übersetzbarer Semantik am weitesten entfernt hat – len heißt, dass sie sie »aus dem leeren Raum« »em-
sie ist die meta-physische und meta-rationale Kunst porzauberten« (428) bzw. »erzeugten« (430). Denn
schlechthin. sie singen nicht und machen auch sonst keine Ge-
Die Begegnung mit den Musikerhunden in früher räusche, ja sie schweigen »im allgemeinen fast mit
Jugend hat im Leben des Forscherhundes Epoche ge- einer gewissen Verbissenheit« (428). Eher scheinen
macht. Durch sie wurde er zum einzelgängerischen sie eine Art Tanz aufzuführen, eine von der Musik
Forscher, durch sie lockerte sich seine Bindung an bestimmte Bewegung, die sie zugleich zu einer Ge-
die Hundeschaft, ohne allerdings völlig aufgehoben meinschaft macht: »Stellungen, die sie zu einander
zu werden (NSF II, 424 f., 445 f., 451). Getrieben von einnahmen«, »reigenmäßige Verbindungen, die sie
einem »unbestimmten Verlangen« war der Erzähler mit einander eingiengen«, »verschlungene Figuren«,
in seiner Jugend auf sieben Hunde gestoßen, deren die sie »mit ihren nah am Boden hinschleichenden
(artistische?) Bewegungen von ›Licht‹ und einem Körpern« »bildeten« und dabei »den Takt uner-
Geräusch begleitet wurden, das mal als »entsetzli- schütterlich hielten« (428). Sie sind in der Musik und
cher Lärm« (427), mal als »Musik« bezeichnet ist sie sind die Musik, was der Erzähler so zusammen-
(428). fasst: »Alles war Musik. Das Heben und Niederset-
Nicht nur dem Forscherhund, sondern auch uns zen ihrer Füße, bestimmte Wendungen des Kopfes,
muss der Vorfall äußerst merkwürdig erscheinen. ihr Laufen und ihr Ruhen« (428).
Mit Musizieren bzw. mit Musikgenuss in uns ver- (3) Mit ihrem Tun brechen die Musikhunde (an-
trauter Form hat das Beschriebene wenig gemein. ders als die allgemein akzeptierten, da gesetzeskon-
Auffällig ist vor allem dreierlei: formen Lufthunde) gleich zwei Grundgesetze der
(1) Die Wirkung der ›Musik‹ ist im wahrsten Sinne Hundeschaft: Sie schweigen hartnäckig auf Fragen –
des Wortes überwältigend: Der Erzähler berichtet, dass »Hunde« aber »auf Hundeanruf gar nicht ant-
dass sie allmählich »überhand« nahm, ihn weg zog worten« ist »ein Vergehn gegen die guten Sitten«
von »diesen wirklichen kleinen Hunden« (431). Und sie haben »alle Scham von sich geworfen«:

und ganz wider Willen, sich sträubend mit allen Kräften, die Elenden taten das gleichzeitig Lächerlichste und Un-
heulend als würde einem Schmerz bereitet, durfte man anständigste, sie gingen aufrecht auf den Hinterbeinen.
sich mit nichts anderem beschäftigen, als mit der von al- Pfui Teufel! Sie entblößten sich und trugen ihre Blöße
len Seiten, von der Höhe, von der Tiefe, von überall her protzig zur Schau; sie taten sich darauf zugute und wenn
kommenden, den Zuhörer in die Mitte nehmenden, sie einmal auf einen Augenblick dem guten Trieb ge-
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 491

horchten und die Vorderbeine senkten, erschraken sie Es gibt allerdings auch einen wesentlichen Unter-
förmlich als sei es ein Fehler, als sei die Natur ein Fehler, schied zum ersten Musikerlebnis. Jenes hatte den
hoben wieder schnell die Beine und ihr Blick schien um
Verzeihung dafür zu bitten, daß sie in ihrer Sündhaftig- Hund der Hundeschaft entfremdet, seine Forschun-
keit ein wenig hatten innehalten müssen (432). gen angeregt und ihn damit aus der Gemeinschaft
und am Ende fast aus dem Leben herausgelockt. Nun
»War die Welt verkehrt?« (432), fragt sich der For- aber wird er dorthin zurückgejagt. Der Jäger-Hund
scherhund – und lernt aus dem Vorfall, »von dieser ist deutlich als Vertreter ungebrochener Vitalität
Zeit an […] alles für möglich« zu halten: ausgewiesen. Darauf deutet nicht nur seine Jagd-
Lust hin, sondern auch, dass er »die Gelegenheit be-
kein Vorurteil beschränkte meine Fassungskraft, den nützen« will, »sich liebend« an den Erzähler »heran-
unsinnigsten Gerüchten ging ich nach, verfolgte sie so- zumachen« (477). Selbst in seinen Räsonnements
weit ich konnte, das Unsinnigste erschien mir in diesem
unsinnigen Leben wahrscheinlicher als das Sinnvolle beruft er sich auf die Natur: Als der Forscherhund
und für meine Forschung besonders ergiebig (447). ihn fragt, warum er selbst denn fortgehen und der
andere jagen müsse, antwortet der »Jäger«: »Es ist
Vor dem Versuch einer Deutung sei zunächst die daran […] nichts zu verstehen, es sind selbstver-
zweite Begegnung des Forscherhundes mit der Mu- ständliche natürliche Dinge« (478).
sik betrachtet. Diese findet statt, als er sich durch Im Lichte von Kafkas bisher erörterter Kunsttheo-
sein im Dienste der Nahrungsforschung unternom- rie muss diese Koppelung von Kunst und Lebenswil-
menes Hungerexperiment an den Rand des Todes len als eine höchst verblüffende Wendung erschei-
gebracht hat. Er fällt in Ohnmacht – und als er wie- nen. In der Motivik der nur wenige Monate vorher
der aufwacht, sieht er einen fremden Hund vor sich, entstandenen Erzählung Ein Hungerkünstler ausge-
der ihn auffordert, wegzugehen, weil er jagen müsse drückt, hieße dies ja, dass der Panther den Hunger-
(475–477). Während der Erzähler mit ihm darüber künstler zurück ins Leben treiben würde!
noch streitet, merkt er, »daß der Hund aus der Tiefe Soweit die Textbefunde, denen sich jede Interpre-
der Brust zu einem Gesange anhob« (478): tation der Erzählung zu stellen hat. Für die Kunst-
und Literaturtheorie soll ein solcher Auflösungsver-
Schlotternd erhob ich mich, sah an mir herab, »dieses such wenigstens skizziert werden.
wird doch nicht laufen«, dachte ich noch, aber schon (1) Kunst als Öffnung und Entgrenzung: Offen-
flog ich von der Melodie gejagt in den herrlichsten
Sprüngen dahin (479). sichtlich ist Kunst (Musik) hier wieder als völlig
›Anderes‹ zu Konvention und Lebenswelt markiert.
Wiederum ist die Wirkung der Musik überwälti- ›Künstler‹ wie Rezipienten treten heraus aus den
gend: Regeln und Konventionen der Gemeinschaft, durch-
brechen die Grenzen der konventionellen Weltdeu-
der Melodie […] konnte ich nicht widerstehn. Immer
tung, die aus »Angst« (443; vgl. auch NSF II:A,
stärker wurde sie; ihr Wachsen hatte vielleicht keine Gren-
zen und schon jetzt sprengte sie mir fast das Gehör (479). 375 f.) und zum ›Erhalt des Lebens‹ (443) errichtet
wurden, also zum Schutz einer ungestört ›diesseiti-
Und auch der Jäger-Hund ist nicht eigentlich der Ur- gen‹, im Hier und Jetzt zentrierten und auf »Eigen-
heber der Musik, obwohl er deren »Melodie […] sucht« (439) gegründeten Existenzweise. Ein unbe-
bald als die seine zu übernehmen schien« (479). stimmtes Unbehagen an dieser eingegrenzten Welt-
Doch die Musik ist schon vor seinem Singen da: sicht hat den Forscherhund schon immer erfüllt;
Ich glaubte […] zu erkennen, daß der Hund schon sang dieses motiviert sein ständiges Fragen, auf das die
ohne es noch zu wissen, ja mehr noch, daß die Melodie, Hundeschaft nur mit hartnäckigem Schweigen ant-
von ihm getrennt, nach eigenem Gesetz durch die Lüfte wortet. In einem Selbstgespräch formuliert er das
schwebte und über ihn hinweg, als gehöre er nicht dazu, so:
nach mir, nur nach mir hin zielte (479).
Du beschwerst Dich über Deine Mithunde, über ihre
Von einem Tabubruch ist diesmal zwar nicht die Schweigsamkeit hinsichtlich der entscheidenden Dinge,
Rede; die ganze Szene vollzieht sich jedoch im Hori- Du behauptest, sie wüßten mehr als sie eingestehn, mehr
zont eines Gesetzesverstoßes, da das Hungern des als sie im Leben gelten lassen wollen und dieses Ver-
schweigen, dessen Grund und Geheimnis sie natürlich
Forscherhundes gegen mindestens implizite Verbote
auch noch mitverschweigen, vergifte das Leben, mache
der »Weisen« und gegen »das Verbot der Hundena- es Dir unerträglich, Du müssest es ändern oder es ver-
tur selbst« verstößt (473). lassen (442).
492 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Kunst durchbricht dieses Schweigen des convenu, etablierte Wissenschaft einfach ignoriert: »Das Volk
öffnet Künstler und Publikum auf ein völlig ›Ande- richtet sich mit allen seinen Ceremonien in die
res‹ hin, dessen Fremdheit nur schwer zu ertragen, Höhe«, »ruft die Zaubersprüche aufwärts, klagt un-
aber zugleich befreiend und verlockend ist. Darin sere alten Volksgesänge in die Lüfte und führt
liegt ihre Affinität zur »Wahrheit« und ihre Opposi- Sprungtänze auf, als ob es sich den Boden verges-
tion zur allgemeinen »Lüge« (475). send für immer empor schwingen wollte« (462 f.). Er
(2) Produktionsästhetik: Die <Forschungen> haben schließt daraus, dass »Spruch, Tanz und Gesang […]
besonders eindrückliche Bilder dafür gefunden, dass weniger die Bodennahrung im engeren Sinn betref-
Kafka an keine Genieästhetik glaubt: Die sich in der fen, sondern hauptsächlich dazu dienen die Nah-
Musik bewegenden Musikerkunde und der die von rung von oben herabzuziehn« (462).
fernher kommende Melodie »als die seine« »über- Wieder also geht es um die bei Kafka immer wie-
nehmende« Jäger-Hund (479) sind keine Genies, die der zentrale Opposition zwischen einer ›Horizon-
Kunst aus sich selbst heraus hervorbringen; sie sind tal-‹ und einer ›Vertikalorientierung‹, um die Suche
viel eher das Organ, durch das ein ›Anderes‹, ›Grö- nach einer über das bloß Physische hinausreichen-
ßeres‹ sich manifestiert. Diese Auffassung vom den ›geistigen Nahrung‹. Das Hungerexperiment
Künstlertum teilt Kafka mit zahlreichen anderen Au- dient nur dazu, diese herabzuzwingen. Das ent-
toren der Moderne – von Rilke bis zu den Surrealis- spricht ja auch durchaus der beschriebenen Scho-
ten. Und dieser Überzeugung entspricht auch Kaf- penhauerischen Ästhetik: »Durch das Hungern geht
kas Schreibpraxis als seine persönliche Variante ei- der Weg, das Höchste ist nur der höchsten Leistung
ner ›écriture automatique‹, in der er sich – ohne erreichbar, wenn es erreichbar ist, und diese höchste
vorgefassten Plan – ganz der Inspiration überlässt. Leistung ist bei uns freiwilliges Hungern« (470 f.).
(3) Kunst versus/und Leben: Während die ersten Anders als der ein ähnliches Ziel auf dem glei-
beiden Punkte sich mit den bisherigen Ergebnissen chem Weg verfolgende Hungerkünstler hat der For-
leicht vermitteln lassen, bleibt die in den <Forschun- scherhund durchaus Erfolg mit seinem Experiment,
gen> gestaltete Verbindung zwischen Kunst und Le- wenn auch in unerwarteter Weise. Sein Hungern
ben zunächst rätselhaft. Um sie zu verstehen, muss lockt eine Antwort hervor, die ihm, im Rückblick,
etwas ausführlicher auf die Nahrungsforschung des auch als die »einzige […] Wirklichkeit« erscheint,
Erzählers eingegangen werden. die er »aus der Hungerzeit in diese Welt herüberge-
Diese erklärt sich aus seiner Unzufriedenheit mit rettet« hat (479). Die wie von selbst entstehende Me-
den bisherigen Ergebnissen der »Nahrungswissen- lodie »zielt« nur nach ihm, scheint nur seinetwegen
schaft« (480). Sie lehrt, dass die Erde die Nahrung »vorhanden zu sein« (479). Kunst erscheint so als die
hervorbringe, dass dazu aber »Bodenbearbeitung« ersehnte ›geistige‹ Nahrung, als ›Anderes‹ zum um-
(461) in Form von »Bodenbesprengung« (464) nötig grenzten, gedeuteten Leben.
sei: »Die Erde […] braucht unser Wasser, nährt sich Dass dieser Erfolg seines Hungerexperimentes
von ihm und nur für diesen Preis gibt sie uns ihre dem Hund letztlich verborgen bleibt, mag an seiner
Nahrung« (437). Die etablierte Wissenschaft erkennt Fixierung auf die Vernunft liegen. Er ist ja nicht
zwar durchaus, dass »der Hauptteil der Nahrung Künstler, sondern Forscher und damit auf begriffli-
[…] von oben herabkommt«, spricht dem aber keine ches Verstehen angewiesen. Deswegen bleibt der Er-
große Bedeutung bei: Es sei ja egal, ob die Erde, trag seines Hungerexperimentes für ihn ein bloß
wenn sie »natürlich« die Nahrung hervorbringt, »die »scheinbarer«, weil er weiterhin dem Zwang des Ver-
eine aus sich heraufzieht oder die andere aus der standes unterliegt, alles nicht Versteh- und Erklär-
Höhe herabruft« (461). Ebenso widersprüchlich ist, bare anzuzweifeln: »Heute leugne ich natürlich alle
dass die Wissenschaft eigentlich zwei »Hauptmetho- derartigen Erkenntnisse und schreibe sie meiner da-
den der Nahrungsbeschaffung« kennt: die wichti- maligen Überreiztheit zu« (479). Freilich beruhen
gere der »eigentlichen Bodenbearbeitung« (462) und seine wenig schulgerechten Forschungen letztlich
eine deren Wirkung nur »beschleunigende« (438) auf »Instinkt« und Liebe zur »Freiheit« (482, vgl.
»Ergänzungs- und Verfeinerungsarbeit in Form von auch 445). Das schränkt ihre Wissenschaftlichkeit
Spruch, Tanz und Gesang« (462). im konventionellen Sinne ein, ohne doch schon den
Hier setzen die Forschungen des Erzählers an. Als Übergang zur Kunst zu ermöglichen. Ob die Verla-
Einziger fragt er weiter: »Woher nimmt die Erde gerung seines Interesses auf die »Musikwissenschaft«
diese Nahrung?« (438). Und er beobachtet, was die – und hier besonders auf die »Lehre von dem die
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 493

Nahrung herabrufenden Gesang« (481) – daran et- sens«, »grundsätzlich nicht anders als jeder andere
was geändert haben würde, lässt sich wegen der Un- Hund« (445 f.; vgl. auch 451 f., 458 f.).
abgeschlossenheit der Erzählung nicht definitiv ent-
scheiden, bleibt aber zweifelhaft.
Wenn man die <Forschungen> ernst nimmt, so Josefine, die Sängerin oder
relativieren sie deutlich unser bisheriges Bild von ei- Das Volk der Mäuse: Die Kunst aus
ner radikalen Kunst-Leben-Opposition bei Kafka. der Sicht des Nicht-Künstlers
Zwar setzen Kunstproduktion wie -rezeption in der
Tat Distanz zum Leben (und seinen lebensprakti- Mit gewissem Recht ließe sich Kafkas letzte Erzäh-
schen Konventionen) voraus. Der Weg des Hunger- lung (entstanden zwischen 18. März und Anfang
künstlers wird in den <Forschungen> aber dennoch April 1924) als Fortsetzung oder Neufassung der
nicht gerechtfertigt. Mindestens den Rezipienten soll <Forschungen> lesen. Denn in Josefine, die Sängerin
Kunst nicht aus dem Leben hinausführen, sondern oder Das Volk der Mäuse (DzL 350–377; NSF II, 651–
nur eine veränderte Einstellung zu diesem bewir- 678) geht es nun wirklich um ›Musikwissenschaft‹ –
ken. und wiederum hat der Erzähler (eine namenlos blei-
Der entschiedene Rezipientenbezug ist die zweite bende Maus) den Text aus einer Außen- und
wichtige Neuerung der <Forschungen>. Der Erzähler ›Forscher‹-Perspektive verfasst.
ist freilich ein Rezipient besonderer Art – halb Kunst Doch es gibt auch gewichtige Unterschiede: (1)
rezipierendes Mitglied des Hunde-›Volkes‹, halb Wir begegnen nun tatsächlich einer veritablen
Künstler-ähnlicher Außenseiter. Es wäre sicher loh- Künstlerfigur: Josefine, der Sängerin – deren Name
nend, darüber nachzudenken, ob sein ›Forscher‹- an Josef K. erinnert und deren weibliches Geschlecht
tum nicht doch wenigstens einen Teilaspekt des wohl vor allem dazu dient, sie als anspruchsvolle und
Künstlertums darstellen könnte; auf der Textoberflä- launische ›Diva‹ porträtieren zu können. (2) Die Er-
che ist er allerdings eindeutig nicht als Kunstprodu- zählerfigur ist nicht mehr als Hybride aus dem ›For-
zent gestaltet. Sein Verhältnis zur Gemeinschaft je- scher‹- und dem ›Künstler‹-Typ angelegt, sondern
doch ähnelt dem des Künstlers darin, dass es von fest in der Volks-Gemeinschaft verankert. Der
dem gleichen Schwanken zwischen Abgrenzungs- ›Forscher‹-Blick des Erzählers ist der eines wohlwol-
und Integrationsbedürfnis geprägt ist: Ganz wie Kaf- lenden Nicht-Künstlers: Er gehört zwar nicht zu dem
kas Künstlergestalten stellt sich auch der Forscher- »Anhang« Josefines – ihren »Schmeichlern« (DzL
hund in Opposition zur Gemeinschaft – und ganz 367), die wir heute ›Fans‹ nennen würden –, eher
wie diese sehnt auch er sich nach Anerkennung und schon zu ihren »angeblichen Gegnern« (356, vgl.
Integration. Die gewohnten moralischen Selbstan- auch 354). Aber er ist durchaus darum bemüht, der
klagen hat Kafka diesmal allerdings schon in der ers- ihm letztlich fremd bleibenden Kunst der Sängerin
ten Niederschrift gestrichen (NSF II:A, 358 f., 360). Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sein Porträt der
Der gealterte Hund hat sein einstiges übersteigertes Künstlerin und seine Deutung ihrer Kunst sind so-
Sendungsbewusstsein, die Hoffnung auf eine »allge- zusagen das Maximum an Verständnis, das vom
meine Wirkung« seiner Forschungen längst aufgege- Standpunkt des Nicht-Künstlers (und des ›Volkes‹)
ben (NSF II, 460, vgl. auch 442). Und selbst seine ge- aus für Kunst und Künstler möglich ist. Daraus er-
legentlichen »Träumereien« von Ruhm – die dem gibt sich (3) die wohl wichtigste Differenz zu den
Streben des Hungerkünstlers nach ›Bewunderung‹ <Forschungen>: Während dort sozusagen ein Maxi-
entsprechen – stehen eigentlich für die Sehnsucht, malprogramm für die mit der Kunst verbundenen
wieder ganz in die Hundeschaft integriert zu wer- Erwartungen formuliert wird – aus der Welt der
den: »Lüge« soll sie in die »Wahrheit« führen (NSF 448),
ich werde, während ich mich bisher im Innersten ausge- »aufsteigen« lassen »in die hohe Freiheit« (442) –,
stoßen fühlte und die Mauern meines Volkes berannte geht es nun um ein Minimalprogramm. Den An-
wie ein Wilder, in großen Ehren aufgenommen werden, sprüchen des Künstlers an sich und seine Kunst
die ersehnte Wärme versammelter Hundeleiber werde würde dieses sicher nicht genügen – aber es ermög-
mich umströmen (469).
licht nun, erstmalig in Kafkas Werk, (4) eine (wenn
Immer wieder beteuert der Erzähler so, dass er trotz auch nur minimale) Vermittlung zwischen Künstler
seiner Außenseiterstellung Teil der Hundeschaft sei: und Publikum innerhalb einer beide übergreifenden
»Ich bin kein Haar breit außerhalb des Hundewe- Gemeinschaft. Darauf weist auch die von Kafka erst
494 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

in einer späten Korrektur vorgenommene Ergän- nur ein – sogar besonders ärmliches und schwaches
zung der ursprünglichen Überschrift zum Doppelti- – Pfeifen. Hier ein aus der Fülle dieser Überlegungen
tel hin, die er auf einem Kierlinger Gesprächszettel relativ beliebig ausgewähltes Zitat:
(ä 25) folgendermaßen begründet hat: Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch
Die Geschichte bekommt einen neuen Titel / Josefine, nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle,
die Sängerin / oder / Das Volk der Mäuse / Solche oder- es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder
Titel sind zwar nicht sehr hübsch / aber hier hat es viel- vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteris-
leicht besondern / Sinn, es hat etwas von einer Wage tische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich
(DzL:A 462 f.). denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben, wir
pfeifen, ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken
Die Erzählung gliedert sich in zwei Hauptteile: Im und es gibt sogar viele unter uns, die gar nicht wissen,
ersten wird im Iterativ von Josefine berichtet, vor al- daß das Pfeifen zu unsern Eigentümlichkeiten gehört
lem aber über das Wesen (›Singen‹ oder ›Pfeifen‹?) (351 f.).
und die Wirkung ihrer Kunst reflektiert; im zweiten, Mindestens für den Nicht-Künstler (der der Erzäh-
wesentlich kürzeren Teil, der eher den Charakter ei- ler nun einmal ist) lässt sich kein substantieller Un-
ner Coda hat, wird im Singulativ (»das Neueste aber terschied zwischen Josefines Gesang und dem Volks-
ist«; DzL 375) von Josefines kürzlichem Verschwin- pfeifen erkennen.
den erzählt und dennoch optimistisch in die Zu- Sucht man diese Nicht-Unterscheidbarkeit von
kunft geblickt: ›Gesang‹ und ›Pfeifen‹ auf die Literatur zu übertra-
gen, so bietet sich natürlich sofort eine naheliegende
Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren,
Auflösung an: Auch Literatur bedient sich ja des All-
Josefine aber, erlöst von der irdischen Plage, die aber ih-
rer Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird fröh- tags-Mediums der Sprache (bzw. Schrift). Und wenn
lich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden man bei dieser Verwendung den Kommunikati-
unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte trei- onsaspekt in den Vordergrund stellen würde, so
ben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre könnte man in der Tat sagen, dass Literatur schlech-
Brüder (377).
ter (›schwächer‹), da weniger eindeutig kommuni-
Was Josefine angeht, liefert die Erzählung ein skiz- ziert als Nicht-Literatur. Nicht zuletzt im Lichte der
ziertes Porträt des Künstlers als ›Diva‹, auf das hier <Forschungen> und ihrer eigentümlichen Koppe-
nicht ausführlich eingegangen werden soll. Vermerkt lung von Kunst und Leben wird man die (Fast-)Iden-
sei nur, dass wieder einmal all die moralischen tität von ›Pfeifen‹ und ›Gesang‹ aber wohl ernster
(Selbst-)Vorwürfe versammelt sind, die Kafka zeitle- nehmen müssen: Kunst gilt Kafka – mindestens im
bens gegenüber dem Künstler erhoben hat: Josefine Spätwerk – als »Lebensäußerung« (352). Auch wenn
ist launisch (357), unreif (weswegen sie vom Volk der Künstler vom Leben getrennt sein mag – seine
auch als »Kind« behandelt wird, 358 f., 374) und Kunst ist es nicht. Sie kommt aus dem Menschenle-
hochmütig (353), will nur auf die von ihr verlangte ben – das für Kafka eben mehr ist als empirisch-rati-
Weise bewundert werden (354). Vor allem aber onale Daseinsbewältigung – und sie drückt dessen
möchte sie sich über das ›Gesetz‹ des Volkes erheben Grunderfahrungen aus.
und »mit Rücksicht auf ihren Gesang von jeder Ar- Obwohl der Erzähler keinen Unterschied zwi-
beit befreit werden« (368). Dabei scheut sie auch vor schen Josefines Kunst und der Nicht-Kunst des all-
Lüge und Betrug nicht zurück (372–376). Allerdings täglichen Pfeifens benennen kann, muss er konze-
tut sie all dies nicht einfach aus ›Berechnung‹ – son- dieren, dass es einen solchen Unterschied gibt – die
dern aus innerer Notwendigkeit: »getrieben von ih- Wirkung von Josefines Kunst beweist das jenseits je-
rem Schicksal, das in unserer Welt nur ein sehr trau- den Zweifels. Der Erzähler versucht, sich dieses Pa-
riges werden kann« (376). radoxon mit Hilfe eines Vergleiches zu verdeutli-
Im Folgenden soll es primär um die in der Erzäh- chen:
lung formulierte Kunsttheorie gehen, die vor allem Selbst wenn es nur unser tagtägliches Pfeifen wäre, so
eine Theorie von den Wirkungen der Kunst ist. Auch besteht hier doch schon zunächst die Sonderbarkeit, daß
die einzige, mehr implizierte als explizierte Wesens- jemand sich feierlich hinstellt, um nichts anderes als das
bestimmung der Kunst ist eingebunden in Überle- Übliche zu tun. Eine Nuß aufknacken ist wahrhaftig
keine Kunst, deshalb wird es auch niemand wagen, ein
gungen zu ihrer Wirkung. Über weite Passagen der Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu un-
Erzählung wird immer wieder diskutiert, ob Josefi- terhalten, Nüsse knacken. Tut er es dennoch und gelingt
nes Darbietungen wirklich Gesang sind oder doch seine Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 495

bloßes Nüsseknacken handeln. Oder es handelt sich um untrüglichen praktischen Verstande, handeln wir
Nüsseknacken, aber es stellt sich heraus, daß wir über manchmal ganz und gar töricht, und zwar eben in der
diese Kunst hinweggesehen haben, weil wir sie glatt be- Art, wie Kinder töricht handeln, sinnlos, verschwende-
herrschten und daß uns dieser neue Nußknacker erst ihr risch, großzügig, leichtsinnig und dies alles oft einem
eigentliches Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung kleinen Spaß zuliebe. Und wenn unsere Freude darüber
sogar nützlich sein könnte, wenn er etwas weniger tüch- natürlich nicht mehr die volle Kraft der Kinderfreude
tig im Nüsseknacken ist als die Mehrzahl von uns haben kann, etwas von dieser lebt darin noch gewiß.
(352 f.). Von dieser Kindlichkeit unseres Volkes profitiert seit je-
her auch Josefine.
Uns heutigen Lesern fielen wahrscheinlich andere Aber unser Volk ist nicht nur kindlich, es ist gewisser-
Vergleiche ein als das Nüsseknacken. Marcel maßen auch vorzeitig alt, Kindheit und Alter machen
Duchamp (1887–1968) hat in der Kunstgeschichte sich bei uns anders als bei anderen. Wir haben keine Ju-
Epoche gemacht, als er 1917 ein Urinal (signiert mit gend, wir sind gleich Erwachsene, und Erwachsene sind
wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit und Hoff-
»R. Mutt«) zu einer Ausstellung einreichte. Ihm mag nungslosigkeit durchzieht von da aus mit breiter Spur
es dabei um eine Fundamentalkritik an der Institu- das im ganzen doch so zähe und hoffnungsstarke Wesen
tion ›Kunst‹ gegangen sein. Was er aber wirklich er- unseres Volkes. Damit hängt wohl auch unsere Unmusi-
wiesen hat, ist der Eigenwert und die Eigenart ästhe- kalität zusammen; wir sind zu alt für Musik, ihre Erre-
gung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere Schwere,
tischer Wahrnehmung, die sich als »interesseloses
müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das Pfeifen
Wohlgefallen« (wie Kant es nannte) auf jedes belie- zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und da, das ist das
bige Objekt richten kann, um daran eine (wie immer Richtige für uns (363–365).
komplex und befriedigend ausfallende) ästhetische
Erfahrung zu machen. Voraussetzung ist nur, dass Das Zitat entfaltet wesentliche Elemente eines be-
das Objekt aus seinem Alltags- und Gebrauchszu- grifflichen Oppositionssystems, das den ganzen Text
sammenhang herausgelöst wird – bzw. dass wir es in durchzieht. Für das alltägliche Leben stehen u. a.
unserer Betrachtereinstellung herauslösen und es ›Existenzkampf‹ und ›praktischer Verstand‹, ›Mü-
quasi mit neuen Augen sehen, es in seiner Gestalt digkeit‹ und ›Hoffnungslosigkeit‹, für die Gegen-
und Gestaltqualität wahrnehmen. sphäre der Kunst ›Frieden‹, ›Kindheit‹, Sorglosig-
In genau diesem Distanzgewinn zum Alltag sieht keit‹, ›Spiel‹, im äußersten Falle: ›Glück‹:
der Erzähler eine erste zentrale Funktion von Josefi-
Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas
nes Kunst. Das Leben des Mäuse-Volkes ist »schwer« von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber
(350) und »unruhig«; »jeder Tag bringt Überra- auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von
schungen, Beängstigungen, Hoffnungen und Schre- seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehen-
cken« (355). Doch gerade weil Kindheit – die bei den und nicht zu ertötenden Munterkeit. Und dies alles
ist wahrhaftig nicht mit großen Tönen gesagt, sondern
Kafka, ganz konventionell, eine besondere Offenheit leicht, flüsternd, vertraulich, manchmal ein wenig hei-
für das ›Andere‹ der Kunst bedeutet – in dieser har- ser. Natürlich ist es ein Pfeifen. Wie denn nicht? Pfeifen
ten Lebenswelt nicht ausgelebt werden kann, bleibt ist die Sprache unseres Volkes, nur pfeift mancher sein
sie präsent: Leben lang und weiß es nicht, hier aber ist das Pfeifen
freigemacht von den Fesseln des täglichen Lebens und
In unserem Volke kennt man keine Jugend, kaum eine befreit auch uns für eine kurze Weile. Gewiß, diese Vor-
winzige Kinderzeit. Es treten zwar regelmäßig Forde- führungen wollten wir nicht missen (366 f.).
rungen auf, man möge den Kindern eine besondere Frei-
heit, eine besondere Schonung gewährleisten, ihr Recht Distanzgewinn ist also die erste wesentliche Funk-
auf ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig sinnloses Sichher-
tion der Kunst (und damit zugleich eine wesentliche
umtummeln, auf ein wenig Spiel, dieses Recht möge man
anerkennen und ihm zur Erfüllung verhelfen; solche Bedingung der Möglichkeit ihrer Wirkung). Dieser
Forderungen treten auf und fast jedermann billigt sie, es verbindet sich jedoch mit einer zweiten, weniger
gibt nichts, was mehr zu billigen wäre, aber es gibt auch leicht zu verstehenden Funktion:
nichts, was in der Wirklichkeit unseres Lebens weniger
zugestanden werden könnte […]. […] die Gebiete, auf Trotzdem wir im Grunde mit ganz anderen Dingen be-
denen wir aus wirtschaftlichen Rücksichten zerstreut le- schäftigt sind und die Stille durchaus nicht nur dem Ge-
ben müssen, sind zu groß, unserer Feinde sind zu viele, sange zuliebe herrscht und mancher gar nicht aufschaut,
die uns überall bereiteten Gefahren zu unberechenbar – sondern das Gesicht in den Pelz des Nachbars drückt
wir können die Kinder vom Existenzkampfe nicht fern- und Josefine also dort oben sich vergeblich abzumühen
halten, täten wir es, es wäre ihr vorzeitiges Ende. […] scheint, dringt doch – das ist nicht zu leugnen – etwas
Und das hat seine Folgewirkungen. Eine gewisse uner- von ihrem Pfeifen unweigerlich auch zu uns. Dieses Pfei-
storbene, unausrottbare Kindlichkeit durchdringt unser fen, das sich erhebt, wo allen anderen Schweigen aufer-
Volk; im geraden Widerspruch zu unserem Besten, dem legt ist, kommt fast wie eine Botschaft des Volkes zu dem
496 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Einzelnen; das dünne Pfeifen Josefinens mitten in den Publikum ist (dessen Verhaltensweisen wurden im
schweren Entscheidungen ist fast wie die armselige Exis- Hungerkünstler beschrieben), da es eine ›Gemein-
tenz unseres Volkes mitten im Tumult der feindlichen
Welt. Josefine behauptet sich, dieses Nichts an Stimme, schaft‹ im emphatischen Sinne darstellt, die im rea-
dieses Nichts an Leistung behauptet sich und schafft sich len Leben erst noch zu konstituieren wäre.
den Weg zu uns, es tut wohl, daran zu denken (362).
Hier in den dürftigen Pausen zwischen den Kämpfen
träumt das Volk, es ist, als lösten sich dem Einzelnen die
Glieder, als dürfte sich der Ruhelose einmal nach seiner
»Versunken in die Nacht«:
Lust im großen warmen Bett des Volkes dehnen und Statt eines Fazits
strecken. Und in diese Träume klingt hie und da Josefi-
nens Pfeifen; sie nennt es perlend, wir nennen es sto- Die Argumentation in diesem Artikel wurde be-
ßend; aber jedenfalls ist es hier an seinem Platze, wie nir- wusst so textnah gehalten, wie es dessen begrenzter
gends sonst, wie Musik kaum jemals den auf sie warten-
den Augenblick findet (366). Umfang möglich machte. Schließlich schreibt Kafka
keine kunsttheoretischen Abhandlungen, sondern
Kunst stiftet also eine Gemeinschaftserfahrung, die entwirft Bilder und erzählt Geschichten. Und jedes
die der Volks-, im übertragenen Sinne also die der dieser Bilder, jede dieser Geschichten setzt etwas an-
Menschengemeinschaft ist. Es handelt sich dabei um dere Akzente. Deswegen wäre es fahrlässig, über
eine ›träumerische‹ Erfahrung – wobei man besser Kafkas Texte zu reden, als enthielten sie eine ablös-
nicht, wie gerade Literaturwissenschaftler es oft re- bare Weltanschauung oder Kunsttheorie. Unser
flexhaft tun, an Freuds Traumbegriff denken sollte. Blick auf die Erzählungen führte bestenfalls zu einer
Eher sollte man den Passus nutzen, um Kafkas viel- Erkenntnis der Grundelemente von Kafkas Kunst-
zitierte Wendung, ihm gehe es um die Darstellung und Literaturtheorie, deren Konstellierung und Ak-
seines »traumhaften innern Lebens« (6.8.1914; zentuierung in der Werkgeschichte beträchtlichen
T 546), besser zu verstehen. Schwankungen unterliegt.
Will man diese Funktionsbestimmungen der Deutlich sollte geworden sein, dass Kafkas Kunst-
Kunst auf Kafkas Werke übertragen (wie dies im auffassung von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist:
Schlusskapitel wenigstens ansatzweise versucht wer- Auf der einen Seite steht ein negatives Bild des von
den soll), so wäre zweierlei zu bedenken: (1) Es han- Außenseitertum, Lebens- und Gemeinschaftsver-
delt sich um Funktionsbestimmungen aus der Sicht fehlung, ›Bodenlosigkeit‹, Anarchie und Gesetzes-
eines Nicht-Künstlers – Josefine ist der einzige Kafka- verstoß bestimmten Künstlers. Dieses – auch in den
Text, der quasi aus der Publikumsperspektive ge- nicht-fiktionalen Schriften breit entfaltete – Künst-
schrieben ist. Die Erzählung entfaltet damit eine lerbild hat in den letzten Jahren den Blick auf Kafkas
›schwache‹ Kunsttheorie, die nicht mit der ›starken‹ Kunst- und Literaturauffassung eher verdunkelt als
Fassung identisch ist, die der Künstler selbst formu- erhellt. Denn ihm steht eine emphatisch positive
lieren würde – und die Kafka an anderen Stellen ja in Kunstauffassung in der Tradition der Kunstmeta-
der Tat selbst formuliert hat. Josefine spricht ihrem physik gegenüber, nach der Kunst (bzw. Literatur)
Publikum jedes wahre »Verständnis« ihrer Kunst ab die Eingrenzungen und Verdrängungen der aufge-
(351) und erhebt für diese weit radikalere Ansprü- klärt säkularen Weltsicht durchbricht und den ihr
che, als sie der Erzähler zugestehen kann: Für sie ist korrespondierenden Egoismus der zweckrational
der Künstler nicht weniger als der »Retter« seines handelnden, freigesetzten Individuen kritisiert, ihn
Volkes (360). (2) Selbst die vom Erzähler vertretene, vielleicht (idealiter) sogar in einem literarisch gestif-
deutlich bescheidenere Variante von Kunstwirkung teten symbolischen Weltbild überwindet.
ist aber nicht einfach Abbildung eines Ist-Zustandes, Das negative Künstlerbild bleibt, mindestens im
sondern der Entwurf eines (bescheidenen) Ideals, mittleren und späten Werk, relativ konstant – noch
das das unter den gegebenen Umständen Best-Mög- in Josefine wird letztlich nur die Kunst, nicht aber
liche wäre: Josefines Kunst übt eine positive Wir- der Künstler gerechtfertigt. Die positive Kunstauf-
kung auf das Volk aus (auch wenn diese weit hinter fassung ist, werkgeschichtlich gesehen, in der Zeit
Josefines Ansprüchen zurückbleibt), und das Volk zwischen Winter 1916 und Ende 1920 am promi-
akzeptiert Josefine, wenn auch nur innerhalb der nentesten. Als Kafka in der letzten Phase des späten
durch die Gemeinschaft gesetzten Grenzen. Weiter Werkes in seinen »selbstbiographischen Untersu-
ist zu bedenken, dass ja auch das (Mäuse-)›Volk‹ chungen« (wohl Februar 1921; NSF II, 373) das
nicht einfach identisch mit dem real existierenden Thema vielfältig literarisch gestaltet, bleibt das nega-
Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie: Kunst und Künstler im literarischen Werk 497

tive Künstlerbild zwar immer noch unübersehbar früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Ge-
präsent, zugleich wird aber jedoch auch die kunst- sicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und Du
wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten
metaphysische Auffassung deutlich akzentuiert: in durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Rei-
den <Forschungen> in ihrer stärksten und in Josefine sighaufen neben Dir. Warum wachst Du? Einer muß wa-
in einer um Ausgleich zwischen Künstler und Publi- chen, heißt es. Einer muß dasein, (NSF II, 260 f.).
kum bemühten, bescheideneren Variante.
Wie eingangs bereits angekündigt, lassen sich aus Von allen – immer partikularen – Künstlerbildern
Kafkas kunsttheoretischen Reflexionen poetologi- Kafkas ist dies das vielleicht interessanteste und in-
sche Bestimmungen im engeren Sinne kaum ablei- struktivste: Der Künstler wacht – im Doppelsinne
ten. Der einzige Text, der dazu überhaupt Anhalts- des Wortes – dort, wo die Oberflächen des rational
punkte bietet, ist Kafkas letzte Erzählung. Wenn man geordneten, gegen alles Unverständliche und Unbe-
deren Kategorien versuchsweise auf das Werk zu herrschbare abgeschirmten Lebens aufbrechen (die
übertragen sucht, so könnte man bei dem ästheti- nichts anderes als eine »Selbsttäuschung« sind) und
schen Distanzgewinn sowohl an die anti-mimetische die Menschen sich, in zivilisationsfern-archaischer
Anlage der Texte, wie auch an deren Komik und an Ausgesetztheit, mit dem ›Fremden‹ konfrontiert se-
die eine Distanzierung von den Hauptfiguren be- hen, das ihr Eigenes ist.
wirkende Handhabung des personalen Erzählens
denken. Gemeinschaftsstiftend könnten die Texte
vor allem durch zweierlei Eigenschaften wirken: Forschung
durch ihre reduktive Erzählstrategie, die alle indivi-
duellen wie raum-zeitlichen Besonderheiten tilgt, Es gibt zwar zahlreiche Einzeltextuntersuchungen,
und durch ihre durchgängige Zeichenhaftigkeit, die aber – mit Ausnahme der Monographie von Hill-
ihnen einen mythologischen oder parabolischen mann (1964) – kaum übergreifende Gesamtdarstel-
Charakter gibt, ihnen Züge einer ›neuen Mytholo- lungen zum Thema. Ein dringendes Desiderat wäre
gie‹ verleiht. eine systematische Auswertung der in Kafkas Notiz-
heften verstreuten kritischen Anmerkungen zu sei-
Um bei dem ohnehin schwierigen Thema einiger- nen Lektüren und Theaterbesuchen.
maßen sicheren Boden zu gewinnen, blieb dieser
Artikel auf Texte beschränkt, in denen explizit von Materialien: F.K.: Dichter über ihre Dichtungen. Hg. v.
Kunst und Künstlertum die Rede ist. Auch wenn die Erich Heller u. Joachim Beug. München 1969.
Gegenthese, dass eigentlich alle Erzählungen Kafkas Forschung: P.-A. Alt (2005). – Walter Bauer-Wabnegg:
nur sein eigenes Schreiben thematisieren, mehr als Monster und Maschinen, Artisten und Technik in F.K.s
fragwürdig erscheint, muss natürlich zugestanden Werk. In: Kittler/Neumann (1990), 316–382. – Hartmut
werden, dass es auch Texte geben kann, die von Binder: Anschauung ersehnten Lebens. K.s Verständnis
Kunst/Literatur handeln, ohne dies explizit zu the- bildender Künstler und ihrer Werke. In: W. Schmidt-
matisieren. Ein Prosastück, bei dem dies äußerst Dengler (1985), 17–41. – Waldemar Fromm: Artisti-
wahrscheinlich ist, soll abschließend zitiert werden. sches Schreiben. F.K.s Poetik zwischen Proceß und
Es handelt sich um einen kurzen, prosalyrischen Schloß. München 1998. – Heinz Hillmann: F.K. Dich-
Text aus dem ›Konvolut 1920‹ (entstanden in der tungstheorie und Dichtungsgestalt. Bonn 1964. – Oliver
Jahraus/Bettina von Jagow: K.s Tier- und Künstlerge-
zweiten Jahreshälfte 1920), den Max Brod unter dem
schichten. In: KHb (2008), 530–552. – Gerhard Neu-
Titel <Nachts> veröffentlich hat.
mann: »Nachrichten vom ›Pontus‹«. Das Problem der
Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kunst im Werk F.K.s. In: Kittler/Neumann (1990), 164–
Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein 198 [1990a]. – Ders.: K. und die Musik. In: Kittler/Neu-
in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine mann (1990), 391–398 [1990b]. – Ders.: Hungerkünst-
kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung ler und Menschenfresser. Zum Verhältnis von Kunst
daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten unter fes- und kulturellem Ritual im Werk F.K.s. In: Kittler/Neu-
tem Dach ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in mann (1990), 399–432 [1990c]. – Ders.: Der Zauber des
Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich
zusammengefunden wie damals einmal und wie später Anfangs und das »Zögern vor der Geburt« – K.s Poeto-
einmal in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine un- logie des »riskantesten Augenblicks«. In: H.D. Zimmer-
übersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter mann (Hg.): Nach erneuter Lektüre: F.K.s Der Proceß.
kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man Würzburg 1990, 176–186 [1990d]. – Ders.: Hunger-
498 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

künstler und singende Maus. F.K.s Konzept der »klei-


nen Literaturen«. In: Gunter E. Grimm (Hg.): Meta-
4.7 Kafka und die
morphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deut- moderne Welt
scher Dichter von der Aufklärung bis zur Gegenwart.
Frankfurt/M. 1992, 228–247. – Ders.: »Wie eine regel-
rechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt«. Die Ästhetische versus soziale Moderne
Vorstellung von der Entbindung des Textes aus dem
Körper in K.s Poetologie. In: Christian Begemann/Da-
Kritik an den Folgelasten des Modernisierungspro-
vid E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. The-
zesses hat eine lange Tradition, die fast ebenso weit
orien und Metaphern der ästhetischen Produktion in
zurückreicht wie die soziale Moderne selbst – zu ih-
der Neuzeit. Freiburg 2002, 293–324. – Ralph R. Nico-
ren Gründungsdokumenten gehören so unterschied-
lai: »Titorelli«: Modell für eine K.-Deutung? In: W.
Schmidt-Dengler (1985), 79–91. – Ders.: K.s Erstes Leid liche Texte wie die beiden Discours von Jean-Jacques
im Rahmen der ›Künstlerthematik‹. In: Studi Germa- Rousseau (1750 u. 1755), Edmund Burkes Reflec-
nici 24 (1986–88), 259–267. – U. Plass (2009), bes. 109– tions on the Revolution in France (1790) und der
122. – R. Robertson (1988 [1985]). – Günter Saße: Apo- sechste von Friedrich Schillers Briefen über die ästhe-
rien der Kunst. K.s Künstlererzählungen Josefine, die tische Erziehung des Menschen (1795). Und natürlich
Sängerin und Ein Hungerkünstler. In: Sabine Becker/ ist uns diese Kritik auch aus aktuellen Diskussionen
Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff noch wohlvertraut – etwa aus der Auseinanderset-
und Phänomen. Berlin, New York 2007, 245–255. – zung mit ›Logozentrismus‹ und disziplinierender
Henry Sussman: K.’s Aesthetics. A Primer. From the Rationalisierung bei den Poststrukturalisten Derrida
Fragments to the Novels. In: J. Rolleston (2002), und Foucault, aus der ökologischen Bewegung oder
123–148. – Hartmut Vollmer: Die Verzweiflung des Ar- der Globalisierungsdebatte.
tisten. F.K.s Erzählung Erstes Leid – eine Parabel künst- Freilich erscheint diese lange Geschichte nur aus
lerischer Grenzerfahrungen. In: DVjs 72 (1998), 126– großem Abstand als kontinuierlicher Diskurs. Die
146. – John Winkelman: K.s Forschungen eines Hundes. soziale Modernisierung verläuft in Schüben, die kul-
In: Monatshefte 59 (1967), 204–216. – Rosemarie Zel- turelle Modernisierungskrisen auslösen – und diese
ler: Advokatenkniffe. Die Thematisierung von Textpro- sind dann auch die eigentlichen Blütezeiten der Mo-
duktion und Interpretation im Werk K.s. In: ZfdPh 106 dernisierungskritik. In die Epoche der ästhetischen
(1987), 558–576.
Moderne fallen gleich zwei solcher Krisenphasen:
Ausgabennachweise und Forschungsliteratur zu Der
der Industrialisierungsschub des späten 19. Jahrhun-
Process in 3.2.4, zu Erstes Leid, Ein Hungerkünstler und
derts und der Ausgang des Ersten Weltkrieges, der
Josefine, die Sängerin in 3.3.4, zu <Nachts> in 3.3.7 (je-
das Ende der alteuropäischen Weltordnung besie-
weils in den Anhangsteilen).
Manfred Engel gelt. Wie alle Modernisierungskrisen entstehen auch
diese aus Friktionen zwischen schnellen Verände-
rungsprozessen in der Lebenswelt und den erheblich
trägeren sozialen, mentalen und kulturellen Struktu-
ren. Dies führt einerseits zu Modernisierungswillen,
ja sogar -euphorie, andererseits aber auch zu Verän-
derungsangst, Fortschrittsskepsis und zur kritischen
Abwägung von Modernisierungsgewinnen und -ver-
lusten.
Natürlich gibt es einfach gestrickte Varianten der
Modernisierungskritik, die sich als ›konservativ‹
oder ›reaktionär‹ rubrizieren lassen. Die avancierte-
ren (und interessanteren) Modernisierungskritiker
aber sind nicht so einfach zu verorten, da sie die Ver-
gangenheit nicht idyllisch verklären und ihnen eine
Rückkehr dorthin unmöglich erscheint. Friedrich
Nietzsches Werk, das zwei Generationen von Den-
kern und Künstlern die mit Abstand wichtigsten
geistigen Impulse lieferte, wäre ein gutes Beispiel für
Kafka und die moderne Welt 499

solche Komplexität, da hier Christentum und mora- der Moderne zurechnen würden. Ähnlich verwir-
lische Konventionen der gleichen Fundamentalkri- rend ist die Welt des Schloss-Romans angelegt: Auch
tik unterworfen werden wie Liberalismus und Fort- sie weist Züge auf, die wir als ›modern‹ zu identifi-
schrittsglauben. zieren geneigt wären – vor allem natürlich die über-
Zu dieser Fraktion avancierter Modernisierungs- komplexe Bürokratie –, integriert sie aber in die
kritiker gehören auch viele Künstler und Literaten deutlich prä-modernen, fast feudal anmutenden
der ästhetischen Moderne (während Modernisie- Strukturen der Dorf/Schloss-Gemeinschaft. Ohne
rungseuphorie, wie sie etwa die italienischen Futu- zu wissen, was Kafka unter sozialer Moderne ver-
risten vertreten, im deutschsprachigen Raum die stand, lässt sich so unmöglich entscheiden, ob es sich
eher seltene Ausnahme darstellt). Dass Autoren und bei ›modernen‹ Motiven in seinen erzählten Welten
Künstler, die in der formalen Gestaltung ihrer Werke um mimetische oder um semiotische Elemente han-
radikal mit überlieferten Regeln brechen, sich nicht delt.
einfach auf die Seite der sozialen Moderne geschla-
gen haben, wird nur den verwundern, der Moderni-
sierungskritik mit Konservatismus und Reaktion Kafkas ›westjüdische‹ Moderne
gleichsetzt. Die Kultur- und Zivilisationskritik der
ästhetischen Moderne ist aber von genuiner Radika- Um einen ersten Zugang zu Kafkas Modernitätsbe-
lität – und wendet sich ebenso gegen überholte Tra- griff zu gewinnen, soll der Themenkomplex genutzt
ditionsbestände wie gegen ungebrochenen Fort- werden, in dem eine Differenzierung zwischen prä-
schritts- und Technikglauben. modernen und modernen Lebenswelten am greif-
Vor diesem – hier natürlich nur sehr pauschal barsten ist: die Opposition zwischen Ost- und West-
skizzierten – Hintergrund erscheint es mehr als judentum.
plausibel, dass auch Kafkas Werk eine modernitäts- Wie Kafka im <Brief an den Vater> detailliert
kritische Grundlage hat. Und das ist in der For- schildert (vgl. bes. NSF II, 185–192), wuchs er in ei-
schung ja auch eine durchaus gängige These – zu- nem durch und durch säkularisierten und assimi-
mindest in sozialgeschichtlichen und bestimmten lierten Elternhaus auf. Das war eine im Prager jüdi-
poststrukturalistischen Kafka-Interpretationen. Al- schen Bürgertum durchaus typische Erfahrung –
lerdings werden dabei meist einfach kurrente Vor- und ebenso typisch war auch die Gegenreaktion der
stellungen von Moderne und kurrente Modernisie- Söhne dieser Familien, die in ihrer Rebellion gegen
rungstheorien zugrunde gelegt und auf die Texte die Väterwelt wieder Anschluss an die verlorenen jü-
projiziert. Das ist auch nicht verwunderlich, da sich dischen Traditionen zu gewinnen suchten. Auf die-
nur schwer ermitteln lässt, was Kafka selbst unter so- ser spezifisch jüdischen Variante des expressionisti-
zialer Moderne verstand und was er an ihr für kritik- schen Vater-Sohn-Konfliktes (vgl. An M. Brod, Juni
würdig hielt. 1921; Briefe 337 f.; ä 47) beruhte auch die starke zio-
Das beginnt schon mit der Phänomenologie der nistische Bewegung in Kafkas unmittelbarem Prager
modernen Welt in Kafkas Texten. Natürlich ist es Umfeld, der sich unter anderem seine Freunde Max
durchaus plausibel, den Verschollenen als kritische Brod, Felix Weltsch und Hugo Bergmann ange-
Darstellung des »allermodernsten New Jork« zu schlossen hatten.
lesen (An K. Wolff, 25.5.1913; B13–14 196 f.). In Nicht untypisch war schließlich auch die Faszina-
späteren Werken fallen solche Identifizierungen aber tion, die das (der Elterngeneration eher peinliche)
wesentlich schwerer: Wie steht es etwa mit der chassidische Ostjudentum auf die jungen jüdischen
Gerichtswelt des Process-Romans? Ist sie wirklich Intellektuellen Prags ausübte; in Einzelfällen führte
ein – wie immer satirisch verzerrtes – Abbild der sie sogar zu direkten Anschlussversuchen – Kafka
modernen ›verwalteten Welt‹? Oder dient der Phä- spricht ironisch von ›Assimilation‹ an den Chassi-
nomenbereich von Justiz und Bürokratie hier nur als dismus (T 733; 25.3.1915) –, wie etwa beim befreun-
poetisches Zeichen für etwas völlig Anderes? Noch deten Jiři Langer, mit dem Kafka zwei berühmte
schwerer zu verorten sind die für Kafka so charakte- ›Wunderrabbis‹ besuchte (ä 19 u. 52; vgl. auch Ro-
ristischen Hybridbildungen: Die Strafkolonie etwa bertson 1988, 234–237).
zeichnet, ganz explizit, das Bild einer vergangenen, Die Position, die Kafka in diesem Spannungsfeld
quasi prä-modernen Strafordnung, verbindet diese von westjüdischer Assimilation, ostjüdischer Glau-
aber mit einer komplizierten Maschine, die wir eher benssicherheit und dem von Martin Buber gepräg-
500 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

ten Prager Kulturzionismus bezog, war, wie zu zei- Positiven sowie an dem äußersten, zum Positiven um-
gen sein wird, eine zwischen allen Stühlen. Die Er- kippenden Negativen hatte ich keinen ererbten Anteil.
Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden
eignisgeschichte und das soziologische wie diskursive Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie
Umfeld von Kafkas Annäherungsversuchen an seine Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des da-
jüdische Identität sind bekannt und wohlerforscht, vonfliegenden jüdischen Gebetmantels noch gefangen
werden daher hier nicht noch einmal ausführlich re- wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang (25.2.1918;
NSF II, 97 f.).
kapituliert (ä 12–14, 51–54; vgl. auch Baioni, Robert-
son 1988 und die knappe Zusammenfassung der Die Tagebuchstelle ist aus mehreren Gründen hoch-
Forschungsergebnisse bei Kilcher, 38–44). Stattdes- bedeutsam: (a) Kafka identifiziert hier seine ganz
sen soll versucht werden, zwei bekannte Selbstaussa- persönliche Lebensproblematik, die ja unübersehbar
gen Kafkas auszulegen, um so das zeitkritische Aus- im Zentrum seines Werkes steht, mit der Problema-
sagepotential der Unterscheidung zwischen ›ost-‹ tik seiner Zeit, also eben der sozialen Moderne: Als
und ›westjüdischer Zeit‹ zu erschließen. ›westjüdischester‹ Mensch ist er zugleich der ›mo-
In einem Mitte November 1920 an Milena gerich- dernste‹ und damit Repräsentant (›Vertreter‹) seiner
teten Brief findet sich die folgende Selbstcharakteris- Epoche. (b) Der Verlust der Vergangenheit wird nä-
tik: her bestimmt als »Mangel des Bodens, der Luft, des
Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Ex- Gebotes«. Das bringt Metaphern ins Spiel, die wir als
emplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der wichtige (eng mit dem Motiv der ›Nahrung‹ ver-
westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben wandte) Topoi aus Kafkas Werk kennen: Zentral aus-
ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt gestaltet ist das Motiv der Bodenlosigkeit etwa in der
ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden,
kurzen Erzählung Erstes Leid, wo die ›bodenferne‹
nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die
Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht Lebensweise des Trapezkünstlers »menschlichen
mitbekommen hat, auch das muß erworben werden, das Verkehr« unmöglich macht (DzL 318; vgl. auch
ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde schon T 118 f., Ende 1909). Das Motiv der ›Luft‹ steht
nach rechts – ich weiß nicht, ob sie das tut – müßte ich zwar nie im Zentrum eines Textes, ist aber ein häufi-
mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzu-
holen (BM 294). ges Nebenmotiv (vgl. etwa im Band Ein Landarzt
DzL 255, 272, 273, 300); eine besonders aussagekräf-
Hauptcharakteristikum des Westjudentums, als des- tige Verwendung findet sich in einer späten Tage-
sen gesteigertsten Repräsentanten Kafka sich hier buchnotiz:
begreift, ist also eine umfassende Entwurzelung: Es ist klarer als irgendetwas sonst, daß ich, von rechts
Verloren ist die ganze Vergangenheit als tragender und links von übermächtigen Feinden angegriffen, we-
Grund der eigenen Identität. Eine gut eineinhalb der nach rechts noch links ausweichen kann, nur vor-
Jahre früher verfasste Reflexion aus dem Umfeld der wärts hungriges Tier führt der Weg zur eßbaren Nah-
rung, atembaren Luft, freiem Leben, sei es auch hinter
Zürauer Aphorismen spezifiziert diesen Verlust:
dem Leben (10.2.1922; T 903).
Es ist nicht Trägheit, böser Wille, Ungeschicklichkeit
[…] welche mir alles mißlingen oder nicht einmal miß- ›Gebot‹ schließlich ist offensichtlich nur ein anderer
lingen lassen: Familienleben, Freundschaft, Ehe, Beruf, Name für das schier allgegenwärtige Motiv des ›Ge-
Litteratur, sondern es ist der Mangel des Bodens, der setzes‹. Dass sein Fehlen beklagt wird, lässt alle In-
Luft, des Gebotes. Diesen zu schaffen ist meine Aufgabe, terpretationen zweifelhaft erscheinen, die Erschei-
nicht damit ich dann das Versäumte etwa nachholen
kann, sondern damit ich nichts versäumt habe, denn die
nungsformen des ›Gesetzes‹ in Kafkas Texten ein-
Aufgabe ist so gut wie eine andere. Es ist sogar die ur- fach mit sozialen Machtstrukturen gleichsetzen.
sprünglichste Aufgabe oder zumindest ihr Abglanz, so (c) Der Mangel an lebens- und gemeinschaftsermög-
wie man beim Ersteigen einer luftdünnen Höhe plötz- lichendem ›Grund‹ und ›Gesetz‹ wird von Kafka in
lich in den Schein der fernen Sonne treten kann. Es ist eindeutigen Zusammenhang gestellt mit dem Phä-
das auch keine ausnahmsweise Aufgabe, sie ist schon ge-
wiß oft gestellt worden, ob allerdings in solchem Aus- nomen der Säkularisierung: dem Nicht-Mehr von
maß weiß ich nicht. Ich habe von den Erfordernissen des Christentum (und traditionellem Judentum) und
Lebens gar nichts mitgebracht, so viel ich weiß, sondern dem Noch-Nicht einer zionistischen Erneuerung der
nur die allgemeine menschliche Schwäche, mit dieser – jüdischen Tradition. (d) Schließlich stellt sich Kafka
in dieser Hinsicht ist es eine riesenhafte Kraft – habe ich
das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich
die »Aufgabe«, diesen Mangel zu beheben – was man
nie zu bekämpfen sondern gewissermaßen zu vertreten wohl (mindestens: auch) als Aussage über die Funk-
das Recht habe, kräftig aufgenommen, an dem geringen tion seines Schreibens wird lesen müssen. Dabei ist
Kafka und die moderne Welt 501

allerdings der werkgeschichtliche Ort der Äußerung den (vgl. Stach 2002, 564–575). Besonders bemer-
zu bedenken (ä 489–493): Diese Funktionsbestim- kenswert sind Kafkas Notizen über die Diskussions-
mung gilt in voller Intensität vor allem für das Spät- abende zum Thema ›Ost und West‹, die der Prager
werk (vielleicht auch schon für den intensiven Ar- Jüdische Volksverein im Jahre 1915 veranstaltete.
beitswinter 1916/17); am deutlichsten ausformuliert Für Kafka waren die ostjüdischen Sprecher sowohl
ist sie in einer bekannten späten Tagebuchreflexion: den assimilierten Juden wie den Prager Zionisten
klar überlegen:
Diese ganze Litteratur ist Ansturm gegen die Grenze und
sie hätte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischen ge- Die Verachtung der Ostjuden für die hiesigen Juden. Die
kommen wäre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Berechtigung dieser Verachtung. Wie die Ostjuden den
Kabbala entwickeln können. Ansätze dazu bestehn. Al- Grund dieser Verachtung kennen, die Westjuden aber
lerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier ver- nicht. […] Götzl [d.i. Getzler als Sprecher für die galizi-
langt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte schen Juden], im Kaftan, das selbstverständliche jüdi-
treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit sche Leben. Meine Verwirrung (15. u. 25.3.1915; T 730
dem allen sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich aus- u. 733).
zugeben beginnt (16.1.1922; T 878).
›Verwirrung‹ erscheint bei solch eindeutiger Bewer-
So wenig genehm dies der neueren Forschung auch tung der Positionen der Diskutanten als ein merk-
sein mag: Moderne-Kritik steht bei Kafka also in würdig ambivalentes Fazit. Doch so sehr die traditi-
engstem Zusammenhang mit dem Phänomen der onsgegründete ostjüdische Selbstsicherheit Kafka
Säkularisierung. Der Verlust eines absoluten religiö- beeindruckte, so wenig machte sie ihn blind für die
sen Grundes und die damit verbundene Ausdiffe- Grenzen, die eine solche Glaubens-Gemeinschaft ih-
renzierung der Lebenswelt in voneinander unabhän- ren Mitgliedern setzte. Nicht umsonst waren gerade
gige Wertesphären gelten bekanntlich ganz allge- die beiden Ostjuden, mit denen er den intensivsten
mein als wichtige Bestimmungsfaktoren der sozialen Kontakt hatte – der Schauspieler Löwy (vgl. NSF I,
Moderne. Für einen jüdischen Autor ist Säkularisie- 430–436) und seine späte Lebensgefährtin Dora Di-
rung aber sicher von noch weit fundamentalerer Be- amant (ä 24) –, aus der Enge ihrer heimatlichen
deutung als für einen christlichen, da für ihn religi- Glaubenswelten ausgebrochen. Und auch die Begeg-
öse, kulturelle und nationale Identität aufs engste nungen mit den beiden Wunderrabbis, die ihre
miteinander verbunden sind. Der angebliche Solitär Gläubigen wie absolute Fürsten regierten, hatten
Kafka lässt sich so schlüssig in den Krisendiskurs Kafka nicht überzeugen können (vgl. Stach 2008,
seiner Zeitgenossen einordnen, ohne die Spezifik 121–127). Bei aller Wertschätzung der Gemeinschaft
seiner jüdischen Situation zu negieren: Seine ›west- waren ihm Individualität (›Eigentümlichkeit‹; NSF
jüdische‹ ist die in ihrer Krisenhaftigkeit noch ge- II, 7–13) im Allgemeinen und die Freiheit seines
steigerte allgemeine Moderne. Künstlertums im Besonderen zu wichtig; als unhin-
Für die Inhalte von Kafkas Moderne-Kritik ist mit tergehbare Werte ließen sie ihm jede Rückkehr zum
dieser Bestimmung allerdings noch nicht viel ge- prä-modernen Ostjudentum unmöglich erscheinen.
wonnen – wesentlich mehr aber geben weder die zi- So ist Individualismus auch ein fester Bestandteil
tierten Texte noch andere ›theoretische‹ Reflexionen von Kafkas heterodoxer ›Religiosität‹:
her. Wie alle wichtigen Fragen zu Kafka wird so auch
Der Messias wird kommen, bis der zügelloseste Indivi-
die nach seinem Moderne-Begriff letztlich nur aus
dualismus des Glaubens möglich ist, niemand diese
dem literarischen Werk zu beantworten sein. Zu- Möglichkeit vernichtet, niemand die Vernichtung dul-
nächst aber sei noch kurz Kafkas Verhältnis zu den det, also die Gräber sich öffnen. Das ist vielleicht auch
beiden Alternativpositionen umrissen. die christliche Lehre, sowohl in der tatsächlichen Auf-
Von seiner Faszination durch das in der vor-mo- zeigung des Beispiels dem nachgefolgt werden soll, eines
individualistischen Beispiels, als auch in der symboli-
dernen Sicherheit einer symbolischen Weltordnung schen Aufzeigung der Auferstehung des Mittlers im ein-
lebende Ostjudentum zeugen sowohl die umfangrei- zelnen Menschen (NSF II, 55).
chen Tagebuchnotate aus der Begegnung mit Jizchak
Löwy und seiner Theatergruppe in den Jahren Auch der Zionismus übte auf Kafka zweifellos eine
1911/12 (aus denen auch der Einleitungsvortrag über große Faszination aus (vgl. etwa seinen Brief an
Jargon hervorging; ä 140 f.) wie auch die Beobach- F. Bauer vom 12.9.1916; B14–17 221–224). Doch
tungen an den vor dem Krieg nach Prag geflohenen auch hier blieb seine Einstellung ambivalent: »Ich
und von der jüdischen Gemeinde betreuten Ostju- bewundere den Zionismus und ekle mich vor ihm«
502 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

(An G. Bloch, 11.6.1914; B14–17 84). Letztlich grün- ger‹ Reisender in eine prä-moderne Welt kommt –
deten Kafkas Vorbehalte wohl in seiner Skepsis ge- wie etwa in der Strafkolonie oder in Schakale und
genüber der reichlich eklektischen Bindestrich-Syn- Araber; die letztere Variante leitet schon über zum
these, mit der besonders der Prager Kulturzionismus zweiten Typus: (b) Eindeutig prä-modernen Lebens-
jüdische Tradition und Moderne zu vereinen suchte welten ist dadurch eine historische Differenz einge-
(vgl. etwa Baioni, 2–33). schrieben, dass ein ihnen zugehöriger ›Forscher‹ als
›Kulturhistoriker‹ aus relativ nahem Abstand, aber
mit quasi aufgeklärt-kritischem Blick die geschicht-
Die Moderne und die »alten großen lichen Grundlagen seiner Lebenswelt zu ergründen
Zeiten« – Kafkas historische sucht – wie etwa in Beim Bau der chinesischen Mauer.
Doppel- und Hybrid-Welten (c) Einen Sonderfall stellen historische Hybrid-
welten dar, in denen Kafka moderne und prä-mo-
derne Elemente mischt – wie etwa in Der neue Advo-
Da sich, wie bereits erwähnt, ›moderne‹ Phänomene kat (wo das Schlachtross Alexanders des Großen in
in Kafkas erzählten Welten nur schwer eindeutig der Gegenwart zum Juristen geworden ist), in <Po-
identifizieren lassen, soll seine Moderne-Kritik in ei- seidon> (mit dem Meeresgott als rechnendem Büro-
nem ersten Schritt von Texten aus rekonstruiert wer- kraten) oder im Schloss (in der bereits erwähnten
den, die explizit eine historische Differenz zwischen Verbindung von feudaler Dorf/Schloss-Gemein-
›einst‹ und ›jetzt‹ markieren. schaft und moderner Bürokratie). (d) Selbst dort, wo
Diese in der Forschung bisher kaum beachtete die historische Opposition nicht textprägend ist,
Textstruktur findet sich in Kafkas Schriften erstaun- taucht sie häufig als Nebenmotiv auf: So entstam-
lich häufig. Im Frühwerk ist ihre Vorstufe die räum- men etwa die Richterbilder Titorellis im Process alt-
liche Opposition von (traditionellem) ›Land‹ und überlieferten Traditionen über die »alten großen
(moderner) ›Stadt‹: In den Hochzeitsvorbereitungen Richter« (P 204), und »Legenden« aus »früherer
reist der Stadtbewohner Raban aufs Land (der Auf- Zeit« wissen von »wirklichen Freisprechungen« zu
enthalt dort bleibt allerdings unbeschrieben); das Ich berichten (P 207 f.).
der Betrachtung ist – wie in Kinder auf der Land- Aus dieser umfangreichen Textgruppe sollen im
straße und Entlarvung eines Bauernfängers berichtet Folgenden einige ausgewählte Werke in chronologi-
– vom Lande in die Stadt übersiedelt (wie später scher Folge behandelt werden.
auch Josef K. im Process; P 335); der Erzähler der Be-
schreibung eines Kampfes flüchtet in seinen »Belusti- ›Europa‹ vs. ›Amerika‹ in Der Verschollene
gungen« aus der Stadt ›Prag‹ in eine imaginäre Land-
schaft. Wohl kein anderer Text Kafkas scheint unserem Bild
Vom Verschollenen an gibt es dann immer mehr von der sozialen Moderne so zu entsprechen wie das
Texte, in denen zwei als zeitlich (mitunter auch Romanfragment Der Verschollene (die zweite, allein
räumlich) different markierte Wirklichkeitsbereiche erhaltene Fassung entstand Sept. 1912 – Jan. 1913 u.
einander gegenübergestellt werden. Am prominen- Aug.–Okt. 1914). Hier begegnen wir der modernen
testen ist die historische Spannung zwischen der Großstadt mit ihren Menschenmassen und ihrem
Gegenwart und den »alten großen Zeiten« (An tosenden Verkehr (vgl. z. B. V 54 f., 74 f., 139–141,
M. Brod, 13.1.1921, Briefe 291; vgl. auch An F. Bauer, 144 f., 160, 194, 266 f., 270, 322–334). Und wir erle-
12.9.1916, B14–17 223) in den Schriften aus dem ben die moderne Arbeitswelt, die den Einzelnen
Winter 1916/17 und dem ›Konvolut 1920‹ (vgl. zum kleinen Rädchen in einer unüberschaubaren
Schillemeit 2004 [1985]). Maschine macht – wie etwa in der Spedition von
Schematisch lassen sich vier Gestaltungsweisen Karls Onkel:
der historischen Opposition unterscheiden (die Der Saal der Telegraphen war nicht kleiner, sondern grö-
natürlich auch miteinander kombinierbar sind): ßer als das Telegraphenamt der Vaterstadt, durch das
(a) Die einfachste Variante ist die Ausgestaltung von Karl einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschü-
Doppelwelten – entweder in direkter Form wie etwa lers gegangen war. Im Saal der Telephone giengen wohin
man schaute die Türen der Telephonzellen auf und zu
in Ein Landarzt (wissenschaftlich moderne Lebens-
und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete
welt der Titelfigur vs. archaisch-rituelle der Dorfbe- die nächste dieser Türen und man sah dort im sprühen-
wohner) oder, mittelbarer, indem ein ›gegenwärti- den elektrischen Licht einen Angestellten gleichgültig
Kafka und die moderne Welt 503

gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in nungsgemäßes Funktionieren stört. Sie steht aller-
ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren dings in einem mittelbaren Zusammenhang mit den
drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als
wäre er besonders schwer und nur die Finger, welche sachlogischen Machtstrukturen: Es ist gerade die
den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig strenge Disziplin der durchorganisierten Arbeits-
und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter welt, die das anarchische Treiben der Liftjungen des
sagte, war er sehr sparsam und oft sah man sogar, daß er Hotels Occidental in ihrer Freizeit freisetzt (V 190–
vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte,
193) und die geordneten Menschenmengen der
ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die
er hörte zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen Richterwahlveranstaltung in ein wüstes Kampfge-
konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er mußte schehen auflöst (das sich dann in der Wohnung, von
auch nicht reden, wie der Onkel Karl leise erklärte, denn deren Balkon aus Karl die Straßenszene beobachtet
die gleichen Meldungen, wie sie dieser Mann aufnahm, hat, in einem Ausbruch brutaler physischer Gewalt
wurden noch von zwei andern Angestellten gleichzeitig
aufgenommen und dann verglichen, so daß Irrtümer fortsetzt; V 323–338).
möglichst ausgeschlossen waren. In dem gleichen Au- Macht entstammt bei Kafka also, auch im Ver-
genblick als der Onkel und Karl aus der Tür getreten wa- schollenen, einem vitalen Machtwillen. Dort, wo die
ren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit dem Strukturen tatsächlich die Individuen dominieren,
inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch
werden sie selbst zum Träger einer vitalen Kraft –
den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her
gejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abge- wie im »sprühenden elektrischen Licht« des ›Tele-
schafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm vorher- grafen‹-Saals (V 66) oder dem Schiffsverkehr im
gehenden an und sah auf den Boden auf dem er mög- New Yorker Hafen: »eine Bewegung ohne Ende,
lichst rasch vorwärtskommen wollte oder fieng mit den eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Ele-
Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papie-
ren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Lauf- ment auf die hilflosen Menschen und ihre Werke«
schritt flatterten (V 66 f.; vgl. auch 254–261 und eine Ta- (V 27).
gebuchnotiz Kafkas vom 7.2.1912 zu den Arbeiterinnen (2) Kafkas kulturgeschichtliche Erklärung für die-
in der Asbestfabrik, an der er beteiligt war: T 373 f.). se ›moderne‹ Freisetzung vitaler Gewalt liefert der
So kennen wir die kapitalistische, technifizierte, in- ›Europa‹-›Amerika‹-Gegensatz, der den Roman
human durchrationalisierte Welt der Moderne, so ist durchgängig bestimmt (und seine Behandlung in
sie uns aus zeitgenössischen literarischen und filmi- diesem Kapitel begründet). Überall wird das mo-
schen Darstellungen vertraut – man denke etwa an derne Amerika mit seiner europäischen Vergangen-
Fritz Langs Metropolis (1927) oder Charlie Chaplins heit konfrontiert: nicht nur durch die Perspektivfi-
Modern Times (1936). Doch auch wenn Kafkas ers- gur Karl Roßmann, die sich Amerika von ihren eu-
ter Roman ganz eindeutig die Welt des ›allermo- ropäischen Erfahrungen erschließt, und durch ein
dernsten‹ Amerikas gestaltet, wäre es hermeneutisch Romanpersonal, das weitgehend aus europäischen
fahrlässig, einfach zu unterstellen, dass er dabei un- Immigranten besteht, sondern auch durch die Ame-
sere Deutung des Modernisierungsprozesses und rika eingelagerten europäischen Traditionsreste –
unsere Modernekritik verwendet (wie dies auch die wie etwa die alte Kapelle in Pollunders ›Land‹-Haus,
neuere Forschung noch hartnäckig tut; vgl. etwa Alt die bei der gerade durchgeführten ›Modernisierung‹
2005, 347–351). Dagegen sprechen, bei einem nähe- des Gebäudes »unbedingt von dem übrigen Haus
ren Blick auf den Text, vor allem zwei Gründe: abgesperrt werden« soll, da »die Zugluft«, die ihrer
(1) Strukturell-sachliche (da quasi objektivierte »dunklen Leere« entströmt, »gar nicht auszuhalten
und interesselose, zum Funktionieren des Ganzen ist« (V 98, 101).
nötige) Gewalt könnte Karl von seiner einfügungs- Der so immer wieder ins Spiel gebrachte europäi-
bereiten Persönlichkeitsstruktur her durchaus ertra- sche Wertecode ist durch moralische Werte wie ›Ge-
gen. Womit er im Roman aber immer wieder kon- rechtigkeit‹ und ›Kameradschaft‹, durch ›Religion‹,
frontiert wird, ist ganz und gar subjektive, von Indi- ›Bildung‹ und ›Kunst‹ bestimmt, weist also eben den
viduen triebhaft, ja geradezu lustvoll ausgeübte ›geistigen‹ Überbau auf, der der sachlich-rationalen
Gewalt – man denke etwa an die Szenen mit den amerikanischen Welt fehlt (zur detaillierten Analyse
Landstreichern Delamarche und Robinson, mit dem ä 184–187). Trotzdem ist Europa keineswegs als Idyll
Oberportier, mit Klara und der Opernsängerin Bru- gezeichnet – durch seine moralische Enge und patri-
nelda. Diese Form der Gewalt ist den modernen archale Gewalt wurde Karl nach seinem ›Sündenfall‹
Strukturen nicht nur nicht einfach immanent, son- mit dem Dienstmädchen ja das erste Mal verstoßen.
dern für sie geradezu bedrohlich, da sie ihr ord- Sicher ist jedoch, dass die Freisetzung aus diesen eu-
504 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

ropäischen Wert- und Gemeinschaftsordnungen »schweren geknoteten Tau« zurück, statt sie mit sich
keinen Fortschritt gebracht hat. Das Schwert, das in ins fortschrittliche Europa zu nehmen (248). Wenn
Kafkas Roman die Freiheitsstatue hochhält, um de- neuere Interpreten dies überhaupt registrieren, dann
ren »Gestalt […] die freien Lüfte« »wehten« (V 7), ist wenden sie es zur Anklage des Reisenden: Auch an
so weniger ein Richtschwert als vielmehr die Waffe ihm übe Kafka Kritik, fordere also tatkräftig-energi-
der freigesetzten Machtkämpfer. sche Vertretung der modernen Humanität.
Das ergibt eine herzwärmend-moralische und de-
Alte und neue Ordnung in der Strafkolonie primierend banale Interpretation – die der Erzäh-
lung genauso wenig gerecht wird wie ältere Deutun-
Die zwischen 5. und 18. Oktober 1914 geschriebene gen, die sich, nicht minder einseitig, auf die Seite von
Erzählung In der Strafkolonie ist vom Gegensatz zwi- Offizier und altem Kommandanten gestellt hatten.
schen einer alten und einer neuen Rechtsordnung Die literarische Komplexität von Kafkas Werken
bestimmt: einem »Verfahren nach altem Brauch« ernstzunehmen, heißt auch, sich ihren moralischen
(DzL 229, 234), das der verstorbene Kommandant Ambivalenzen zu stellen: Hätten die Texte eine ein-
etabliert hatte und das heute nur noch vom Offizier deutige ›Botschaft‹, so hätte Kafka sie uns sicher
vertreten wird (224), und der »neuen milden Rich- auch eindeutig mitgeteilt.
tung«, die der gegenwärtige Kommandant allmäh- Vermeiden ließen sich solche Vereindeutigungen,
lich einführen will (223). Diese neue Rechtsordnung wenn der Text als Darstellung der Ambivalenzen des
vertritt auch der aus Europa stammende Forschungs- Fortschritts in der Strafordnung gelesen würde, so-
reisende – und wir erkennen sie leicht als die (immer zusagen als frühes (wenn auch ganz anders argumen-
noch) unsere wieder: ein rechtsstaatliches System, tierendes) Parallelprojekt zu Michel Foucaults Über-
wo »der Angeklagte vor dem Urteil verhört« wird wachen und Strafen (1975, dt. 1977). Die Schwächen
(228), sich verteidigen kann (212), sein Urteil »er- der alten Rechtsordnung liegen auf der Hand, bedür-
fährt«, wo »Folterungen» abgeschafft sind (229) und fen also keiner näheren Erörterung. Worin aber lie-
es viele »grundsätzliche Gegner der Todesstrafe« gibt gen ihre – weit weniger offensichtlichen – Stärken?
(228). In der Strafkolonie dagegen ist die Schuld, Hier wären vor allem drei Punkte anzuführen:
auch ohne jede Untersuchung und Verhandlung, (1) Die Rechtspraxis der alten Ordnung beruht auf
»immer zweifellos« (212) und das Urteil besteht im- einem Ritual, an dem die ganze Gemeinschaft teil-
mer in einer grausamen »maschinellen Hinrich- hat. So wurde sie in der alten Zeit auch praktiziert:
tungsart« (228), bei der eine dafür eigens konstru- Schon einen Tag vor der Hinrichtung war das ganze Tal
ierte Maschine dem Delinquenten das übertretene von Menschen überfüllt; alle kamen nur um zu sehen
Gebot auf den Leib schreibt, bis er stirbt. […]. Vor hunderten Augen – alle Zuschauer standen auf
Bei einer solchen Gegenüberstellung fällt den den Fußspitzen bis dort zu den Anhöhen – wurde der
Verurteilte vom Kommandanten selbst unter die Egge
meisten neueren Interpreten die Entscheidung zwi- gelegt. […] alle wußten: Jetzt geschieht Gerechtigkeit.
schen den Rechtsordnungen leicht (wenn sie sich ihr […] Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung
nicht dadurch entziehen, dass sie auch diesen Text von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere
nur vom Schreiben handeln lassen und die Hinrich- Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und
schon vergehenden Gerechtigkeit! (225 f.)
tungs- zur ›Schreib‹-Maschine verharmlosen). Mit
dem Reisenden verurteilen sie die ›alte‹ Ordnung: Das Hinrichtungsritual ist also eine (momentane)
»Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Un- Apotheose der ›Gerechtigkeit‹ und des Gesetzes –
menschlichkeit der Exekution war zweifellos« (222) nicht um Verbote geht es ja, um ›Übertretungen‹ und
– und lesen den Text als Kritik an Folter und (kolo- ihnen zugeordnete Strafen im Sinne unseres Rechts-
nialer? totalitärer?) Unterdrückung. Freilich verhält systems, sondern um Gebote, die dem Verurteilten
sich der Forschungsreisende – als unser natürlicher auf den Leib geschrieben werden.
Stellvertreter in der Erkundung einer fremden Welt (2) Diese Sinnerfahrung wird auch dem Verurteil-
– weit weniger eindeutig: Er zeigt sich von der Ma- ten zuteil, und zwar nicht in einem Akt des rationa-
schine und den Reden des Offiziers zunehmend fas- len Begreifens, sondern in leiblicher Evidenz. Er er-
ziniert, respektiert dessen Haltung (235 f.), verwei- kennt das Gesetz mit seiner verlöschenden physi-
gert am Ende der Erzählung, »die Macht der frühe- schen Existenz, wird also auf eine Weise mit ihm
ren Zeiten« fühlend (246), das Verlachen der alten eins, die dem Mann vom Lande und Josef K. im
Rechtsordnung und treibt deren Opfer mit einem gleichzeitig entstehenden Process verwehrt bleibt:
Kafka und die moderne Welt 505

Wie still wird dann aber der Mann um die sechste So gelesen, ist die Maschine ein komplexes poeti-
Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen sches Zeichen – und nicht einfach ein mimetisches
beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick,
der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu pars pro toto der modernen Lebenswelt. In ihr wird
legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß für uns, also nach Maßgabe unserer (›modernen‹)
an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als hor- Denk- und Verständnismöglichkeiten, das Bild einer
che er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift Ordnung entworfen, in der das ›Gesetz‹ prä- oder
mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie
trans-rational erfahren werden kann. (Damit ist zu-
aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er
braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung (219 f.). gleich ein Erklärungsversuch für die bei Kafka so
häufigen historischen Hybridkonstruktionen ange-
(3) Für die Anhänger der alten (Glaubens-)Gemein- boten, der an anderen Texten – wie etwa dem Process
schaft der Insel erwächst aus solchen Erfahrungen oder dem Schloss – zu erproben wäre.) Zudem ist
eine absolute Gewissheit, wie der Offizier sie aus- dieses ohnehin schon mittelbare Bild noch auf eine
strahlt; für diese Gewissheit opfert er auch bereitwillig zweite Weise mediatisiert: Das Funktionieren der
sein Leben, stirbt »ruhig und überzeugt« (246). Der Maschine innerhalb der alten Rechtsordnung wird
Reisende dagegen, als unser Stellvertreter im Text, ist selbst nicht dargestellt; wir erfahren davon nur aus
von genau dem aufgeklärt-liberalen Kulturrelativis- den Erzählungen des Offiziers.
mus geprägt, den wir leicht als unseren Part im aktu- Wie genau die Maschine als poetisches Zeichen
ellen Streit der Kulturen wiedererkennen: »Der Rei- konstruiert ist, zeigt sich auch daran, dass sie sich
sende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde mit der Veränderung der Rechtsordnung selbst ver-
Verhältnisse entscheidend einzugreifen« (222). ändert. Der Offizier stellt ihr bei seiner Selbsthin-
Noch einmal: Das soll nicht heißen, dass die alte richtung eine paradoxe Aufgabe: Er will sich den
Rechtsordnung ein anzustrebendes Gut sei – Kafkas Spruch »Sei gerecht!« (238) auf den Leib schreiben
Erzählung verdeutlicht nur unsere Verluste und die lassen − das wäre aber nur dann im Sinne des Bestra-
Relativität unserer Gewinne: Leiden und Strafen fungsrituals, wenn er dieses Gebot übertreten, also
sind uns geblieben – dagegen hilft auch das ›hu- ungerecht gehandelt hätte (eingeschrieben wird ja
mane‹ Zuckerwerk nichts, mit dem die »Damen des das Gebot, gegen das man verstoßen hat). Damit
Kommandanten« den Verurteilten bis zum Erbre- aber wird die Geltung der alten Ordnung, die der
chen vollgestopft haben (223). An die Stelle der alten Offizier immer getreulich befolgt hatte, aufgehoben,
(im Moment des Rituals hergestellten) Gemeinschaft ihre Befolgung zur Un-Gerechtigkeit erklärt. Die
ist aber nun die bloße Besitzhierarchie der sozialen Maschine, die zur alten Ordnung gehört, kann ein
Ordnung getreten: Die Bevölkerung der Insel ist »ar- solches Gebot nicht vollstrecken, daher löst sie sich
mes, gedemütigtes Volk« (247), bevorzugt mit »Ha- auf und transformiert sich in eine, quasi ›entzau-
fenbauten«, dem Lieblingsprojekt des neuen Kom- berte‹, moderne Hinrichtungsmaschine.
mandanten, beschäftigt (233, 247). Verlorengegan-
gen ist auch eine Sinnerfahrung, wie sie in dieser Gemeinschaft und symbolische Ordnung
Intensität nur prä-moderne Gesellschaften hervor-
in den China-Texten
bringen können.
Die Unmöglichkeit, einfach zu einer solchen China als poetisches Modell für eine prä-moderne
Rechtsordnung zurückzukehren, hat Kafka dem Text Ordnung hat Kafka gleich mehrfach verwendet: ex-
selbst eingeschrieben: Gestaltet ist ja nicht einfach plizit im Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer
eine archaische, religiös gegründete Rechtsordnung, (entstanden im März 1917; NSF I, 337–357; der Teil
in der etwa – wie leicht wäre das zu schreiben gewe- Eine kaiserliche Botschaft wurde später herausgelöst
sen – ein Schamane dem Delinquenten das Gesetz und im Landarzt-Sammelband veröffentlicht; dort
eintätowiert, sondern eine historische Hybride. Die findet auch die eng benachbarte Kurzprosa Ein altes
Welt der Strafkolonie – und dafür steht die mit Mo- Blatt Aufnahme; ä 250); implizit in den Kurztexten
dernität konnotierte Maschine – ist das künstliche <Die Abweisung > (NSF II, 261–269, vgl. auch 278 f.),
Konstrukt einer prä-modernen Ordnung im Hori- Zur Frage der Gesetze (270–273) und <Die Truppen-
zont der Moderne. Der Schrecken, den sie für uns aushebung > (273–277), die zum sogenannten ›Kon-
haben muss, erklärt sich wesentlich auch daraus, volut 1920‹ gehören, also zwischen August und Ende
dass sie eben nicht mit der Aura einer alten, religiös 1920 entstanden sind (zu Details vgl. NSF II:A, 68–
gegründeten Kultur ausgestattet wird. 96). In den Texten der zweiten Gruppe lässt sich ein
506 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

China-Bezug nur mittelbar über eine Reihe von Mo- lich, aber der einzelne Kaiser fällt und stürzt ab«
tivparallelen nachweisen; auf jeden Fall ist aber die (350); »wenn man […] folgern wollte, daß wir im
dargestellte Sozialstruktur der für ›China‹ im ersten Grunde gar keinen Kaiser haben, wäre man von der
Text entworfenen eng verwandt. Obwohl alle Texte Wahrheit nicht weit entfernt« (354). Was die fernen
prä-moderne Lebenswelten behandeln, weisen sie Untertanen (wie die im Dorf des Erzählers) und ihr
eine textinterne, oft nur minimale, historische Diffe- Handeln bestimmt, ist der Kaiser als ›Symbol‹ oder
renz auf, da sie aus der Perspektive eines Erzählers ›Idee‹. Für die Dorfgemeinschaft hat das höchst po-
des ›Forscher‹-Typs geschildert werden, der mindes- sitive Auswirkungen:
tens teilweise aus der selbstverständlichen Zugehö-
Die Folge solcher Meinungen ist nun ein gewissermaßen
rigkeit zu dieser Lebenswelt herausgetreten ist und freies, unbeherrschtes Leben. Keineswegs sittenlos, ich
(mehr oder minder große) Ansätze einer ›moder- habe solche Sittenreinheit wie in meiner Heimat kaum
nen‹ Skepsis ihr gegenüber zeigt. jemals angetroffen auf meinen Reisen. Aber doch ein Le-
Die Texte des China-Komplexes sind zu viel- ben, das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und
nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten
schichtig und komplex, um hier auch nur ansatz- Zeiten zu uns herüberreicht (354 f.).
weise interpretiert zu werden; im Folgenden werden
sie nur genutzt, um zentrale Merkmale einer prä- Gerade wegen der mangelnden rationalen »Klar-
modernen, auf eine symbolische Ordnung gegrün- heit« (355), die die im Volk verbreitete Vorstellung
deten Lebenswelt herauszuarbeiten. vom Kaisertum hat, ist dieses – man beachte die Ver-
(1) Gemeinschaftsbildung – »Einigungsmittel un- wendung der zentralen Metapher aus dem im zwei-
seres Volkes« (NSF I, 356): Das Riesenreich China ten Kapitel zitierten Notat Kafkas – »geradezu der
wird vor allem durch zwei Faktoren zusammenge- Boden auf dem wir leben« (356).
halten. Der erste ist der Mauerbau, dessen prakti- Nirgendwo sonst in seinem Werk hat Kafka ein so
scher Nutzen mehr als zweifelhaft erscheint (338); positives Bild einer prä-modernen, durch ein sym-
zudem hält es der im »südöstlichen China« (347) le- bolisches Weltbild zusammengehaltenen Gemein-
bende Erzähler von Beim Bau der chinesischen Mauer schaft gezeichnet wie in Beim Bau der chinesischen
ohnehin für höchst zweifelhaft, dass die »Nordvöl- Mauer (das gilt zumindest für das existierende Text-
ker« es je schaffen könnten, bis in seine Heimat vor- fragment, dessen weitere Ausführung ungewiss
zustoßen: »zu groß ist das Land […], in die leere Luft bleibt). Die ›Unklarheit‹ des einigenden Zentralsym-
werden sie sich verrennen« (347). Der eigentliche bols lässt weiten Raum für individuelle Konkretisie-
Zweck des Mauerbaues ist so ein »geistiger«: Viele rungen; die Ferne und damit (de facto) Ohnmacht
Einzelne »sammeln« sich »auf einen Zweck hin« des Kaisers befreit seine Herrschaft vom haut goût
(344): jeder Machtstruktur. Die späteren ›China‹-Texte
jeder Landsmann war ein Bruder, für den man eine zeichnen dagegen ein wesentlich ambivalenteres
Schutzmauer baute und der mit allem was er hatte und Bild.
war sein Leben lang dafür dankte, Einheit! Einheit! Brust Einen skeptischen Vorbehalt aber gibt es auch in
an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr einge- der Chinesischen Mauer, da auch eine symbolische
sperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß
Ordnung nur schwer dauerhaft zu stiften ist:
rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche
China (342). Das menschliche Wesen, leichtfertig in seinem Grunde,
von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine
Wegen dieses primär geistigen Zweckes gab es da- Fesselung, fesselt es sich selbst, wird es bald wahnsinnig
mals auch Spekulationen, dass der Mauerbau viel- an den Fesseln zu rütteln anfangen und Mauer Kette und
sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerreißen (344).
leicht das nötige »sichere Fundament« für den
(ebenso ›geistig‹ verstandenen) babylonischen Explizit gilt dieser Vorbehalt allerdings nur für das
Turmbau liefern könnte (343 f.). Mauerprojekt; inwieweit er auch auf die einigende
Das zweite Einigungsmittel (dessen genaues Ver- Wirkung des Kaiser-Symbols zutrifft, bleibt offen
hältnis zum ersten ungeklärt bleibt – eine der Bruch- (der Textverlauf scheint aber auf einen Konflikt zwi-
stellen im Fragment) ist das Kaisertum – in der be- schen den beiden Einigungsmitteln hinzudeuten, da
sonderen Form, in der es sich im Riesenreich China die positive Wirkung des Kaisertums schon vor dem
manifestiert. Genauso irrelevant wie die tatsächliche Mauerbau bestand).
Mauer ist auch der tatsächliche »lebendige Kaiser« – (2) Die Ambivalenzen einer symbolischen Ord-
»ein Mensch wie wir«: »Das Kaisertum ist unsterb- nung : In allen Texten der zweiten Gruppe agieren
Kafka und die moderne Welt 507

konkrete, machtausübende Instanzen: der »Oberst« Das kann man nun für eine abgrundtiefe reaktionäre
und »Obersteuereinnehmer« als höchster Vertreter Position halten (und jeder brave Aufklärer wird das
des fernen Herrschers (NSF II, 262 f.) im kleinen, wohl auch tun müssen). Man kann darin aber auch
grenznahen Städtchen des Erzählers (<Die Abwei- eine – quasi wertfrei vorgetragene – anthropologi-
sung >); die »kleine Adelsgruppe, welche uns be- sche Einsicht sehen: Das starke und gemeinschafts-
herrscht« (270), in Zur Frage der Gesetze; nicht nä- konstituierende Sinnpotential einer symbolisch-ri-
her bestimmte »Adelige« in <Die Truppenaushe- tuellen Ordnung hat, wenn das ›Gesetz‹ unerkenn-
bung > (273 u. passim). Die Herrschaft dieser bar und Leiden und Ungerechtigkeit unvermeidlich
Instanzen ist sehr konkret spürbar – und alles an- sind, ein unbestreitbares Trostpotential – nicht mehr,
dere als gerecht. Daher gibt es auch Ansätze zu einer aber auch nicht weniger. Die bessere Welt (etwa eine,
Opposition (vor allem in der Jugend; 269) und zu in der das rational erkannte Gesetz zum Besitz des
aufklärerischer Herrschaftskritik (271 f.). Vom ›Kai- Volkes geworden wäre, vgl. 272) wäre besser, aber sie
ser‹ ist in diesen Texten nicht mehr die Rede (nur in müsste erst geschaffen werden – und daran zu glau-
<Die Abweisung > und dem Neuansatz zu dieser Er- ben hatte mindestens Kafka (der gerade den wenig
zählung findet sich je eine marginale Erwähnung überzeugend ausgefallenen Übergang vom Kaiser-
über das Adjektiv »kaiserlich«: 267, 278), noch viel reich zur Republik erlebt hatte) wenig Anlass.
weniger von der Idee des Kaisertums (in Zur Frage
der Gesetze ist das unbekannte ›Gesetz‹ ihr noch ab- Spuren eines anderen Anfanges:
strakterer Stellvertreter). Die alte, traditionsgestützte
<Das Stadtwappen >
Ordnung (»alte und durch ihr Alter glaubwürdige
Tradition«, 271) hat damit viel von ihrer Positivität In einer ganzen Reihe von Texten erörtert Kafka so
verloren; in Zur Frage der Gesetze sieht sie sich mit etwas wie den Ur-Anfang von Geschichte überhaupt,
gut aufklärerischer (und für die meisten neueren Le- einen Zeitraum, der in so weiter Ferne liegt, dass es
ser sicher überzeugender) Traditionskritik konfron- von ihm entweder keine oder nur unsichere, quasi-
tiert: Vielleicht gebe es das alte, in seinen Inhalten mythische Berichte gibt. Solche Texte erfüllen eine
unbekannte ›Gesetz‹ ja gar nicht, das den bestehen- ätiologische Funktion, wie wir sie auch aus uns ver-
den Herrschaftsstrukturen ihre – scheinbare – Legi- trauten Mythen kennen – etwa dem vom ›Sünden-
timität verleiht (271 f.). fall‹ (Kafka hat ihn in den Zürauer Aphorismen be-
Dennoch aber sind die Reste der alten, symbo- nutzt), der den Ursprung des ›Bösen‹ in der Welt zu
lisch-rituellen Ordnung nicht ohne – sagen wir: pal- erklären sucht.
liative – Wirkung. Wenn der Oberst die Abweisung Ein Beispiel für diese Textgruppe wäre etwa Ein
eines Gesuchs der Stadtbewohner verkündet – als Bericht für eine Akademie, wo der eigentliche ›An-
Träger eine rituellen Handlung in vorgeschriebener fang‹, das »äffische Vorleben« (DZL 299), nicht er-
ritueller Haltung (266), also nicht als empirische Per- zählt werden kann, da der Weg dorthin zurück durch
son, als »Mensch wie wir alle« (268) –, dann löst dies die ›Menschwerdung‹ Rotpeters für immer versperrt
nicht einfach Ärger und Frustration aus: bleibt. Gesagt werden aber kann immerhin, dass
»Freiheit« als völlig ungebundene »selbstherrliche
In wichtigen Angelegenheiten […] kann die Bürger-
Bewegung« zu den Illusionen des Menschen gehört,
schaft einer Abweisung immer sicher sein. Und nun ist
es eben so merkwürdig, daß man ohne diese Abweisung die dem »Affentum« fremd wären (DzL 304 f.). Ein
gewissermaßen nicht auskommen kann und dabei ist zweites Textbeispiel sind die <Forschungen eines Hun-
dieses Hingehn und Abholen der Abweisung durchaus des>, wo über das »Abirren« der »Urväter« spekuliert
keine Formalität. Immer wieder frisch und ernst geht wird (NSF II, 456 f.), vor dem »die Hunde […] noch
man hin und geht dann wieder von dort allerdings nicht
geradezu gekräftigt und beglückt, aber doch auch gar nicht so hündisch wie heute« gewesen waren (456);
nicht enttäuscht und müde (268 f.). der Forscherhund kann so schließen, dass die »Urvä-
ter« »das Hundeleben verschuldet« haben (471 f.).
Und selbst die kritischen Geister in Zur Frage der Aus dieser Textgruppe kann hier nur die paraboli-
Gesetze wissen, dass man wohl am unbekannten Ge- sche Erzählung <Das Stadtwappen> (NSF II, 318 f. u.
setz zweifeln kann, nicht aber am Adel: 323) behandelt werden, die wiederum zum ›Konvo-
Das einzige sichtbare zweifellose Gesetz, das uns aufer- lut 1920‹ gehört (August bis Ende 1920).
legt ist, ist der Adel und um dieses einzige Gesetz sollten Verzichtet man auf allegorische Auflösungsver-
wir uns selbst bringen wollen? (273) suche (wie etwa die unsinnige Identifizierung der
508 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

›Stadt‹ mit Prag) und liest den Text oberflächennah, metaphysisches Ziel je erreichbar gewesen wäre; das
so fällt seine Deutung nicht schwer. Die Kurzerzäh- mag über Menschenkräfte gehen – vielleicht wäre es
lung handelt vom babylonischen Turmbau (weswe- nach dem Bau der gemeinschaftskonstituierenden
gen man die Stadt, wenn man das unbedingt will, chinesischen Mauer möglich…
›Babel‹ nennen könnte), ist also eine von Kafkas My-
thenkontrafakturen. Anders als im jüdisch-christli-
chen Prätext (und wie schon in der Chinesischen Pathographien des modernen Ich
Mauer) haftet dem Turmbau nichts Negatives an
(wenn man die im Text berichtete historische Ent- Es bedurfte einiger Anstrengung, die positiven Ele-
wicklung betrachtet, erschiene er geradezu als das mente von Kafkas prä-modernen Lebenswelten her-
sinnvollere Tun). Und anders als im Mythos wird der auszuarbeiten – der Autor entwirft sie weder als Idyl-
Bau des Turmes nicht durch einen göttlichen Ein- len noch als durch planvolle soziale Umgestaltungen
griff verhindert, sondern allein durch menschliches hervorzubringende Gegenwelten. Sie sind weder
Handeln. Ähnlich wie in der Chinesischen Mauer gilt einfach Utopien noch Dystopien – und doch liegt ihr
der Turmbau auch hier als ein absolutes Ziel: Ort in einem räumlichen wie zeitlichen Nirgendwo.
Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Ge- Der für uns Moderne gültigste Weg zur Realisierung
danke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu symbolischer Welten bleibt so wohl die Literatur –
bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere neben- die Homologie zwischen dem symbolischen Denken
sächlich (318). prä-moderner Gemeinschaften und den symboli-
Mehr wird über den Zwecks des Turmbaus nicht ge- schen Welten seiner Texte begründet ja auch die von
sagt; man wird sich damit begnügen müssen, in ihm Kafka konstatierte Affinität zwischen seinem Schrei-
ein absolutes, nicht auf Diesseitig-Materielles gerich- ben und der ›Kabbala‹.
tetes Streben zu sehen. Gerade die Größe dieses »Ge- Einfach und klar ist dagegen die Kritik an der Mo-
dankens« führt jedoch dazu, dass es mit dem Bau derne, die Kafka schon allein durch die Gestaltung
nicht vorangeht – was den Stadtbewohnern zunächst des Menschentypus ausübt, der in seinem Gesamt-
auch unbedenklich, ja geradezu sinnvoll erscheint: werk am häufigsten vorkommt, vor allem aber das
»Das Wissen der Menschheit« wird sich »steigern«, mittlere Werk bestimmt. Sieht man von allen Einzel-
man wird »Fortschritte« machen, spätere Generatio- text-Besonderheiten ab, so ließe sich dieser Homo
nen werden den Turm also schneller, »besser« und kafkaensis vielleicht folgendermaßen beschreiben:
»haltbarer« bauen (318 f.). Statt ins Vertikale strebt Er ist sozial gut angepasst, fügt sich problemlos ein
man so lieber ins Horizontale: Man baut die »Arbei- in Ordnungen und Konventionen. Immer fleißig
terstadt« und »verschönert« sie ständig (319). Das und zielstrebig handelnd, scheint er ganz in seinem
aber führt zu »Streitigkeiten«, »Neid« und »Kämp- Beruf aufzugehen, verfügt mitunter auch über be-
fen«, die sich umso mehr verschlimmern, je mehr achtliche Durchsetzungsstärke und Aufstiegsenergie
Wissen und materieller Wohlstand angehäuft wer- und einen ausgeprägten Machtwillen. Freilich hat
den; so steigert sich mit der »Kunstfertigkeit« immer sein Verhalten auch zwanghafte Züge: Reinlichkeits-
auch die »Kampfsucht« (319). Das ursprüngliche und Ordnungsstreben, starres Festhalten an einge-
Ziel des »Himmelsturmbaues« erscheint nun immer fahrenen Ordnungen und Gewohnheiten. Kunst, Li-
sinnloser, »doch war man schon viel zu sehr mitein- teratur, Musik, Religion, geistige Beschäftigungen
ander verbunden, um die Stadt zu verlassen«. So ganz allgemein interessieren ihn nicht. Seine sozia-
wird das Zusammenleben zum Fluch, und man len Kontakte sind auf ein Minimum beschränkt und
sehnt den »prophezeiten Tag« herbei, »an welchem ohne gefühlsmäßige Bindung; zwischenmenschliche
die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufein- Empathie gehört überhaupt nicht zu seinen Stärken.
ander folgenden Schlägen zerschmettert werden Immer wieder wird allerdings auch deutlich, dass es
wird« (323). unter dieser angepassten Oberfläche mehr und an-
Wie gesagt, eine eigentlich einfache Parabel über deres gibt: Aggressionen, Gewaltphantasien, trieb-
die Dialektik des Fortschritts in Kafkas Sicht, die ei- hafte sexuelle Bedürfnisse, Ängste, aber auch Sehn-
niges über seine Anthropologie aussagt: ›Gemein- süchte nach Liebe und Nähe. All dies muss verdrängt
schaft‹ lässt sich für ihn auf einer ausschließlich ma- werden, um das reibungslose Funktionieren der
terialistischen Grundlage offensichtlich nicht be- ›Oberfläche‹ zu garantieren – was besonders im Mo-
gründen. Das heißt allerdings nicht, dass irgendein ment des Erwachens schwierig ist, wie Gregor
Kafka und die moderne Welt 509

Samsas und Josef K.s Schicksal beweist (vgl. zur Cha- dezidiert modernen) Sozialstruktur. Erst ein spätes
rakteristik dieses Subjekttypus auch Robertson 2009, Erzählfragment Kafkas, der zwischen November
104–122). 1923 und Ende Januar 1924 verfasste <Bau> (NSF II,
Dass diese Beschreibung so leicht fällt, liegt nicht 576–632), lässt sich (trotz des ›tierischen‹ Helden)
zuletzt daran, dass der beschriebene hochdefiziente als anthropologische Studie zur Genese des moder-
Menschentypus uns wesentlich vertrauter ist als nen Subjekts lesen, wobei ein historisch-moderni-
Kafkas prä-moderne Welten. Wir kennen ihn aus so- tätskritischer Hintergrund nur impliziert wird.
ziologischen Schriften (wie etwa aus Max Webers Der »ungeheuere« (NSF II, 577), ständig weiter
Protestantische Ethik von 1905) oder aus der existen- perfektionierte Bau des Tieres, von dem vor allem
zialistischen Kritik an der ›uneigentlichen‹ Existenz- der erste Teil der Erzählung handelt, ist das Produkt
weise des ›man‹ (wie etwa in Heideggers Sein und eines ebenso grenzenlosen wie zwanghaften Stre-
Zeit von 1927). Vor allem kennen wir ihn aber aus bens nach »Gewißheit« (614) und ›Sicherheit‹ (ein
zahlreichen Texten anderer Autoren der Moderne – Leitwort des Textes). Durch immer neue Pläne und
etwa, um sehr beliebig einige Beispiele auszuwählen, ›Berechnungen‹ des ›Verstandes‹ (zwei weitere Leit-
aus Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte wörter) soll der Bau »so gesichert [werden], wie eben
(1898), Alfred Döblins Ermordung einer Butterblume überhaupt auf der Welt etwas gesichert werden
(1910), Rilkes Malte Laurids Brigge (1910), Thomas kann« (576).
Manns Tod in Venedig (1912), Gottfried Benns Solches Sicherungsstreben deutet auf Bedrohun-
Rönne-Prosa (1914–16), Robert Musils Törleß (1906) gen hin – und doch sind im ersten (iterativ erzähl-
und Die Portugiesin (1923). Ganz wie bei Kafka wer- ten, also die gewohnheitsmäßige Lebenspraxis resü-
den auch die Helden dieser Texte gezielt in Situatio- mierenden) Teil des Textes keine realen Gefahren zu
nen gebracht, in denen ihre angepasste Existenzweise erkennen. Das Tier imaginiert zwar eine Vielzahl
zusammenbricht. Allerdings fällt hier, am Punkte von ›Feinden‹ – »leidenschaftliche Räuber« (577),
der größten Gemeinsamkeit Kafkas mit seinen Zeit- »unzählige« »Gegner« (578) – außerhalb seines
genossen, auch sofort ein wichtiger Unterschied auf: Baus, stößt aber nie auf eine Spur von ihnen. Noch
Mindestens punktuell erfahren die Helden der ande- imaginärer erscheinen die Feinde »im Innern der
ren Autoren bei der Zerstörung ihres alten Ich meist Erde«:
ein ›Durchbruchs-Erlebnis‹, stoßen sie zu einem
ich habe sie noch nie gesehn, aber die Sagen erzählen
anderen Ich und einem anderen Wirklichkeitsver- von ihnen und ich glaube fest an sie. Es sind Wesen der
hältnis vor. Solche Erlebnisse gibt es bei Kafka nur innern Erde, nicht einmal die Sage kann sie beschreiben,
extrem selten – etwa im fragmentarischen Kapitel selbst wer ihr Opfer geworden ist hat sie kaum gesehn,
»Das Haus« (und hier bezeichnenderweise im gestri- sie kommen, man hört das Kratzen ihrer Krallen knapp
unter sich in der Erde, die ihr Element ist, und schon ist
chenen Schlussteil) aus dem Process oder in der man verloren. Hier gilt auch nicht daß man in seinem
Kurzprosa Ein Traum aus dem Landarzt-Zyklus. Haus ist, vielmehr ist man in ihrem Haus (578).
Gregor Samsas ›Verwandlung‹ in der gleichnamigen
Erzählung könnte solch ein Durchbruchserlebnis So wird man kaum umhinkönnen, die Bedrohungs-
sein – doch Gregor bleibt unfähig, sich aus seinem logik des Textes in eine Psycho-Logik zu überführen.
alten Leben zu lösen; im Landarzt scheitert die Ver- Offensichtlich liegt hier eine geradezu pathologisch
änderung wohl am aporetischen Gegeneinander von gesteigerte Abwehr alles Fremden, nicht Kontrollier-
anarchisch-triebhaftem Individuum und ebenso de- und Berechenbaren vor. Von den Ängsten davor be-
fizitärer, einengend-dumpfer (familialer) Gemein- richtet der Text immer wieder: Perhorresziert wer-
schaft. den das »freie Leben« (590), die/das »Fremde« (589),
die »sinnlose Freiheit« (595), die »unzähligen Zu-
Die Angst vor dem ›fremden‹ Leben und fälle des Lebens« (598), das »ungewisse Schicksal«
(617), die »Gegnerschaft der Welt«, der »allgemeine
das Scheitern von Berechnung und Ver-
Vernichtungskampf« (592) – kurz: all die Bedrohun-
drängung: <Der Bau > gen, die das (weit zurückliegende, nur noch von fern
erinnerte) Leben der Vor-Bau-Zeit bestimmten: »das
In den Texten des mittleren Werkes wird die Genese […] trostlose Leben […], das gar keine Sicherheit
dieser defizitären Subjektstruktur nicht erklärt – sie hatte, das eine einzige ununterscheidbare Fülle von
ist einfach das Komplement einer defizitären (und Gefahren war« (594 f.).
510 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Die ›inneren‹ Feinde sind dann wohl als die ›in- Wie zwanghaft dieses Glück der erfüllten Eigentüm-
nere Fremde‹ zu verstehen: die vom bewussten Ich lichkeit ist – das Leben in einer »Burg die auf keine
nicht kontrollierbaren Triebe und Sehnsüchte. Von Weise jemandem andern angehören kann und die so
solchen Triebgefährdungen weiß der Text durchaus sehr mein ist« (601) –, zeigt sich in einem alten, im-
zu berichten. So erzählt das Tier etwa (im Iterativ) mer wieder erwogenen »Lieblingsplan«:
von anfallartiger »Überrennung des Verstandes«
den Burgplatz loszulösen von der ihn umgebenden Erde,
durch Fress-»Gier« (586), der es, ohne Rücksicht auf
d. h. seine Wände nur in einer etwa meiner Höhe ent-
seine ›Sicherheit‹, »bis zur vollständigen Selbstbe- sprechenden Dicke zu belassen, darüber hinaus aber
täubung« nachgibt, und resümiert solche Erfahrun- rings um den Burgplatz bis auf ein kleines von der Erde
gen, mit verräterischer Ambivalenz, als »glückliche leider nicht loslösbares Fundament einen Hohlraum im
aber gefährliche Zeiten« (585). Ähnlich eruptiv wird Ausmaß der Wand zu schaffen. In diesem Hohlraum
hatte ich mir immer, und wohl kaum mit Unrecht, den
die sonst vorherrschende rationale Selbstkontrolle schönsten Aufenthaltsort vorgestellt, den es für mich ge-
durch Aggressionsausbrüche und Gewaltphantasien ben könnte. Auf dieser Rundung hängen, hinauf sich
ausgeschaltet, die sich auf den imaginären Gegner ziehen, hinab zu gleiten, sich überschlagen und wieder
richten: Boden unter den Füßen haben und alle diese Spiele
förmlich auf dem Körper des Burgplatzes spielen und
Damit ich endlich in einem Rasen hinter ihm her, frei doch nicht in seinem eigentlichen Raum; den Burgplatz
von allen Bedenken ihn anspringen könnte, ihn zerbei- meiden können, die Augen ausruhn lassen können von
ßen, zerfleischen, zerreißen und austrinken und seinen ihm, die Freude ihn zu sehen auf eine spätere Stunde
Kadaver gleich zur andern Beute stopfen könnte (596). verschieben und doch ihn nicht entbehren müssen, son-
Zu den verdrängten Trieben gehört jedoch auch die dern ihn förmlich fest zwischen den Krallen halten, et-
was was unmöglich ist, wenn man nur den einen ge-
Sehnsucht nach »irgendjemandem, dem ich ver- wöhnlichen offenen Zugang zu ihm hat; vor allem aber
trauen könnte« (596 f.) – eine Sehnsucht, die gerade ihn bewachen können, für die Entbehrung seines Anbli-
der sichernde Bau unerfüllbar macht: ckes also derart entschädigt werden, daß man gewiß,
wenn man zwischen dem Aufenthalt im Burgplatz oder
Es ist verhältnismäßig leicht jemandem zu vertrauen, im Hohlraum zu wählen hätte, den Hohlraum wählte für
wenn man ihn gleichzeitig überwacht oder wenigstens alle Zeit seines Lebens, nur immer dort auf- und abzu-
überwachen kann, es ist vielleicht sogar möglich jeman- wandern und den Burgplatz zu schützen (611).
dem aus der Ferne zu vertrauen, aber aus dem Innern
des Baues, also einer andern Welt heraus, jemandem au- Das eigentliche Glück des völligen Bei-sich-Seins
ßerhalb völlig zu vertrauen, ich glaube, das ist unmög-
lich (597 f.).
wird so aufgegeben für die zweifelhaften Beglückun-
gen einer ständigen Selbstbeobachtung und Selbst-
Daher wird dieser Wunschtraum auf den Bau selbst überwachung.
übertragen: »die lange Wanderung durch die Gänge Im zweiten Teil des Textes (der vom Iterativ in den
[…], das ist ein Plaudern mit Freunden, so wie ich es Singulativ, also die Erzählung einmaliger Ereignisse,
tat in alten Zeiten« (604). wechselt; ab 605) scheinen die Ängste des Ich sich
Nicht um rationale Gefahrenabwehr geht es also freilich plötzlich als höchst berechtigt zu erweisen:
eigentlich (wie das Tier selbst erkennt; vgl. 600 f.), Im sicher geglaubten Bau ist nun ein Geräusch, ein
sondern um die Realisierung eines Ich-Ideals, einer »Zischen« oder »Pfeifen« (607), zu hören, in dem
ersehnten absoluten Autonomie, Autarkie, Selbst- sich der lang erwartete ›Gegner‹ zu manifestieren
transparenz und Selbstkontrolle. Im Bau ist »Frie- scheint.
den«, »beruhigtes Verlangen«, »erreichtes Ziel«, Doch auch hier gibt es allen Grund für Zweifel:
»Hausbesitz« (580); er ist »geschützt, in sich abge- Wie das Tier selbst verwundert konstatiert, weist das
schlossen«, hier kann das Tier glauben, »alleiniger Geräusch an allen Stellen des Baus die genau gleiche
Herr« zu sein (589). Wenn es den Bau von außen be- Stärke auf (609). Anders als der Erzähler können wir
trachtet, ist es ihm daraus leicht erschließen, dass dieser selbst die Ursa-
als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir che des Geräusches sein muss. Dabei, also bei der
selbst, während ich schlafe, und hätte das Glück gleich- Konstatierung einer ausschließlich ›inneren‹ Bedro-
zeitig tief zu schlafen und dabei mich scharf bewachen hung, könnte man es als Interpret belassen. Man
zu können. Ich bin gewissermaßen ausgezeichnet, die kann aber auch noch einen Schritt weiter gehen, die
Gespenster der Nacht nicht nur in der Hilflosigkeit und
Vertrauensseligkeit des Schlafes zu sehn, sondern ihnen Hinweise des Tiers auf sein fortgeschrittenes ›Alter‹
gleichzeitig in Wirklichkeit bei voller Kraft des Wach- ernst nehmen (vgl. etwa 578, 579, 628) und den bio-
seins in ruhiger Urteilsfähigkeit zu begegnen (591). graphischen Kontext bedenken, also Kafkas weit
Kafka und die moderne Welt 511

fortgeschrittene Lungenkrankheit und das damit Die letzte Grenze aller Verdrängungen:
verbundene pfeifende Atemgeräusch – dann wäre <Der Jäger Gracchus >
der innere Feind leicht als nahender Tod zu identifi-
zieren. Das heißt allerdings nicht, dass man bei einer Den die Verdrängung des Fremden durchbrechen-
biographischen Deutung stehen bleiben muss; diese den ›Gegner‹ im <Bau> als den Tod zu identifizie-
trifft (wie immer bei Kafka) nur den individuellen ren, ist nicht zwingend, aber naheliegend: Von der
Spezialfall eines viel allgemeineren (Subjekt-)Mo- Jahrhundertwende bis weit in den Existenzialismus
dells. Kafka gestaltet die Kritik an der eigenen ver- hinein figuriert der Tod in Literatur wie Philosophie
fehlten Lebensplanung zugleich als Kritik an seiner als das Fremde, rational Unbeherrschbare katexo-
Zeit, als deren ›Vertreter‹ er sich ja versteht. (Nicht chen. Man könnte diese Deutung auch über andere
plausibel ist dagegen die in der Forschung gerne ver- Texte Kafkas absichern – etwa durch die dem <Bau>
suchte allegorische Auflösung des ›Baues‹ als Meta- in vielem nahe Kurzprosa Die Sorge des Hausvaters
pher für Kafkas Werk. Das belegt schon der erste aus dem Landarzt-Band.
Satz: »Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint Stattdessen soll hier ein anderer, dem <Gruftwäch-
wohlgelungen« (576) – nie hätte Kafka dies über die ter > (ä 3.2.7) eng verwandter, Textkomplex herange-
Fragmenten-Baustelle seines Werkes sagen können!) zogen werden, der Modernekritik und Kritik an der
Was den <Bau> von den im Eingangsteil des Kapi- Todesverdrängung in einen direkten Zusammen-
tels beschriebenen Texten kategorisch unterscheidet, hang bringt, nämlich die von etwa Mitte Januar bis
ist seine Verortung in einem völlig gesellschaftslosen April 1917 geschriebene Fragmentenfolge um den
Raum (das ist hier wohl auch die Funktion der Tier- <Jäger Gracchus> (NSF I, 305–313 u. 378–384, T
Rolle des sprechenden Ich). Als Summe von Kafkas 810 f.; ä 273–276).
Subjekt-Pathographie weist die Erzählung so auf die Wiederum ist dies, nicht zuletzt in der Vielfalt sei-
Priorität der anthropologischen gegenüber jeder ner formal wie inhaltlich stark differierenden Fas-
denkbaren soziologischen Erklärungsebene hin. sungen, ein Textkomplex, der zu schwierig und viel-
Dass diese rein psycho-logische Erklärung in einen schichtig ist, um hier umfassend interpretiert wer-
historischen Kontext gehört, lässt sich daher nicht den zu können. Die folgende Interpretationsskizze
aus dem Text selbst, sondern nur durch die Berück- bleibt daher auf den genannten Aspekt beschränkt
sichtigung von Werk- wie Zeitkontext begründen. und konzentriert sich vor allem auf die letzte der
Unübersehbar genau entspricht das Subjekt des Fassungen (Oktavheft D; NSF I, 378–384).
<Bau> ja dem oben beschriebenen Homo kafkaensis. Kafkas <Jäger Gracchus> ist keine Mythenkon-
Als präzises Pendant zum sich vor der »Gegnerschaft trafaktur, sondern der Versuch, in einer eklektischen
der Welt« schützenden Ich des <Bau> erweist sich Mischung (und Entstellung) zahlreicher überliefer-
etwa der an das ›allermodernste‹ New York ange- ter Mythologeme einen eigenen, neuen Mythos zu
passte, stets selbstdisziplinierte Onkel Karl Roß- dichten. Ein zentraler Aspekt dieses Jäger-Gracchus-
manns, der seinen festen »Principien« »alles« ver- Mythos ist die von der Hauptfigur aufgehobene
dankt, »was er ist«, und in diesen seinen einzigen Grenze zwischen Leben und Tod – denn auf genau
Schutz gegen den »allgemeinen Angriff« der Welt dieser Grenzlinie befindet sich der Jäger dauerhaft,
sieht (V 122). ohne sie in der einen oder anderen Richtung verlas-
Nur diese Kontexte erlauben es, in der Pathogra- sen zu können.
phie des ›Tieres‹ die Pathographie des modernen Die letzte Fassung des Textes ist als Dialog zwi-
Subjektes wiederzuerkennen, das einer nicht mehr schen dem Jäger und einem namenlosen Besucher
symbolischen, daher fundamental fremden Welt ge- gestaltet, der sich »Geschäfte halber« im Hafen einer
genübersteht und zu deren Kontrolle nur noch über unbenannten ›südlichen‹ Stadt (380) aufhielt, die
das Mittel der Rationalität verfügt, die verdrängen »Barke« des Jägers und das zu ihr führende »Lauf-
muss, was sie nicht erklären und kontrollieren kann brett« sah – und offensichtlich spontan hinüberging
(vgl. dazu auch Fülleborn 1995 u. 2000 [1980] u. (381). Das Gespräch verläuft immer wieder antago-
Schmidt). Diese ›Berechnungen‹ und Verdrängun- nistisch und (mindestens im vorliegenden Frag-
gen aber erweisen sich als ohnmächtig gegenüber ment) für beide Beteiligten unbefriedigend: Der Be-
dem äußeren wie inneren ›Fremden‹ – ja man könnte sucher möchte die ihm völlig unbekannte Geschichte
sagen, dass sie dieses recht eigentlich erst als bedroh- des Jägers »kurz aber zusammenhängend« erzählt
lichen ›Gegner‹ konstituieren. bekommen (381); der Jäger möchte vom Besucher –
512 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

der sich »draußen« »herumtreiben« kann, daher da- gängerischen Gedanken streicht dann einmal der grüne
rüber Bescheid wissen sollte – etwas über das Wesen Jäger Gracchus. Sonst aber, wie gesagt: ich wußte nichts
von Dir. […] Dir […] wäre es […] sehr nützlich, wenn
der »Patrone« erfahren, denen seine Barke gehört; Du Dich einmal in der Welt ein wenig umsehen würdest.
deren (momentan?) letzter, ein »Hamburger«, also So komisch es Dir scheinen mag, hier [also an Bord der
wohl auch ein Geschäftsmann, ist eben verstorben Barke] wundere ich mich fast selbst darüber, aber es ist
(380). Beider Fragen bleiben unbeantwortet. doch so, Du bist nicht der Gegenstand des Stadtgesprä-
ches, von wie vielen Dingen man auch spricht, Du bist
Sehr viel deutlicher als in den früheren Fassungen
nicht darunter, die Welt geht ihren Gang, und Du machst
wird hier mit einer historischen Indexierung gear- Deine Fahrt, aber niemals bis heute habe ich bemerkt,
beitet: Der Jäger ist (nur hier wird das präzisiert) vor daß Ihr Euch gekreuzt hättet (381 u. 382).
»fünfzehnhundert Jahren« verstorben (378), gehört
also den ›alten Zeiten‹ an; da seine Geschichte eine Offensichtlich ist die ›alte Geschichte‹ in der Welt
von den »alten, alten Geschichten« (382) ist, könnte der Moderne also in Vergessenheit geraten, da sie bei
der Jäger, so sagt er selbst, »Dolmetscher sein zwi- der pragmatisch-diesseitigen Lebensführung und
schen den Vorfahren und den Heutigen« (379). ihren ›Geschäften‹ nur stören würde. Allenfalls auf
Ein wichtiger Streitpunkt zwischen den Ge- dem ›Sterbebett‹ mögen solche ›müßiggängerischen
sprächspartnern ist das aktuelle Wissen um die Le- Gedanken‹ legitim sein. Die fundamentale Differenz
bensgeschichte des Jägers. Dieser hält sich für einen der (historisch differenten) Standpunkte zeigt sich
allgemein bekannten, auch im Denken der Gegen- besonders deutlich in der (unfreiwilligen) Komik,
wart noch machtvoll präsenten Mythos: mit der der Besucher den nun 1525 Jahre alten Jäger
ältester Seefahrer, Jäger Gracchus Schutzgeist der Matro- ermahnt, die ›Kürze‹ des Lebens zu bedenken.
sen, Jäger Gracchus angebetet mit gerungenen Händen Vor dem Hintergrund der oben erörterten Gestal-
vom Schiffsjungen, der sich im Mastkorb ängstigt in der tungen historischer Differenz in Kafkas Texten
Sturmnacht. […] Alle Bücher sind voll davon, in allen dürfte es plausibel sein, in der unterschiedlichen
Schulen malen es die Lehrer an die Tafel, die Mutter
Haltung zur Grenze zwischen Leben und Tod ein be-
träumt davon, während das Kind an der Brust trinkt.
[…] Frage die Geschichtsschreiber! Sie sehen in ihrer sonders markantes Merkmal der Moderne zu sehen.
Stube mit offenem Mund das längst Geschehene und be- Und in der Tat gehört es ja zu den konstitutiven
schreiben es unaufhörlich. Gehe zu ihnen und komm Merkmalen modernen Denkens, den Tod nicht
dann wieder (378, 382 u. 383). mehr für einen Übergang zwischen zwei unter-
Der zweite Passus des Zitats war in der ersten Nie- schiedlichen Seinsweisen, sondern für eine End-
derschrift noch wesentlich länger; hier hieß es unter Grenze des ›kurzen Lebens‹ zu halten. Daher dann
anderem auch, Moderne und Vergangenheit verbin- die im 20. Jahrhundert so häufig diskutierte Tendenz
dend: zur Verdrängung des Todes.
in der Zeitung ist es gedruckt […] d(as>er) Teleph(on>af)
wurde erfunden, damit [die Geschichte] es schneller die
Erde umkreist, man gräbt es in verschütteten Städten aus Statt eines Fazits
und der Aufzug rast damit zum Dach der Wolkenkrat-
zer, (D>d)ie Passiergiere der Eisenbahnen [rufen] ver- Wie am Ende des Artikels zu »Kafkas Kunst- und Li-
künden es aus den Fenstern in den Ländern, die sie teraturtheorie« (ä 496) wäre es auch hier fahrlässig,
durchfahren, aber früher noch heulen es ihnen die Wil-
den entgegen (NSF I:A, 315). ein griffiges Fazit zu ziehen. Daher soll hier nicht zu-
sammenfassend ein Modernebegriff Kafkas und eine
Dieser Ansicht des Jägers widerspricht der Besucher Fassung seiner Modernisierungskritik als definitive
energisch: Position des Autors formuliert werden. Ergänzend
sei stattdessen zunächst auf zwei Punkte hingewie-
Nun hat man aber in dem kurzen Menschenleben – das
sen, in denen auch der vorliegende Beitrag sich un-
Leben ist nämlich kurz, Gracchus, suche Dir das begreif-
lich zu machen – in diesem kurzen Leben hat man also zulässiger Verkürzungen schuldig gemacht hat: (1)
alle Hände voll zu tun, um sich und seine Familie hoch- Von der Werkgeschichte her wäre eigentlich die (hier
zubringen. So interessant nun der Jäger Gracchus ist […] aus Darstellungsgründen gewählte) Reihenfolge des
man hat keine Zeit an ihn zu denken, sich nach ihm zu dritten und vierten Kapitels zu vertauschen gewesen:
erkundigen oder sich gar Sorgen über ihn zu machen.
Vielleicht auf dem Sterbebett, wie Dein Hamburger, das Im Zentrum des mittleren Werkes steht die kritische
weiß ich nicht. Dort hat vielleicht der fleißige Mann zum Darstellung des modernen Subjektes; der Entwurf
erstenmal Zeit sich auszustrecken und durch die müßig- von Gemeinschaften, die auf symbolischen Weltbil-
Kafka und die moderne Welt 513

dern beruhen, wird erst mit dem Winter 1916/17 Alles, was wir empirisch und lebenspraktisch tun,
und vor allem natürlich im Spätwerk zum dominan- hat so eine zweite, geistige Dimension – nicht im
ten Thema. (2) Zwar erwähnt, aber nicht genügend Sinne einer fixen, durch irgendeine Metaphysik ga-
betont wurde der hohe Wert, den die Individualität rantierten Bedeutung, sondern in der Bedeutung,
und ihre freie Entfaltung, trotz Kritik an deren Kon- die es für die ›Rechtfertigung‹ unsres je individuel-
sequenzen, für Kafka zeitlebens hatten. Falls sich für len Lebens hat. Und auch diese geschieht vor einem
ihn ein Idealzustand formulieren lässt, so läge er in inneren Gericht, nicht vor irgendeiner vorgegebe-
der Verbindung von (moderner) Individualität und nen metaphysischen Instanz. Wer so lebt, wird auf
(prä-moderner) Gemeinschaft. jeden Fall sozialverträglicher leben als ein nur auf
Deutlich geworden sein sollte jedenfalls Kafkas Genuss, Machtstreben und materiellen Erfolg fixier-
Skepsis gegenüber einer aufgeklärt-säkularen Welt- tes Subjekt.
sicht, die für ihn auf Verdrängungen beruht und so- Kafkas literarisches Werk thematisiert nicht nur
zial desaströse Konsequenzen hat. Diese Skepsis vielfach eine solche symbolische Weltsicht (bezie-
begründet seine Faszination für symbolische Welt- hungsweise die Defizite einer rein rationalistisch-
bilder, wie sie (unter anderem) auch einer religiös pragmatischen Einstellung), sondern realisiert sie
begründeten Weltsicht zugrunde liegen. Zugleich auch in seiner Textgestalt. Alles ist hier bedeutsam –
aber weisen solche Weltbilder – auch das ein zentra- und nichts bedeutet nur Buchstäbliches und Empiri-
ler Punkt – eine offensichtliche Homologie zu der sches. Zugleich verwirklichen seine Texte formal das
Form von Literatur auf, die Kafka selbst schreibt. In auf ihrer Inhaltsebene fast immer unerreichbare
dieser Parallele ist seine spezifische Form der für Ideal einer Synthese von sozialer Bindung und indi-
zahlreiche Autoren der Moderne werkprägenden vidueller Freiheit. Ihren letzten Sinn konstituiert das
›Kunstmetaphysik‹ begründet (also der Vorstellung, lesende Individuum, das sich auf das Sprach-Spiel
dass in der modernen Welt Kunst und Literatur, mit einer symbolischen Weltsicht einlässt.
ausschließlich und dezidiert ästhetischen Mitteln, Das damit entworfene Kafka-Bild entspricht of-
die Weltbild-prägende Aufgabe übernommen ha- fensichtlich weder den alten, religiösen Deutungen
ben, die früher der Religion oder der Philosophie noch den aktuelleren sozialgeschichtlichen und
zukam und die die Naturwissenschaften, wenn sie poststrukturalistischen, die eine (im erläuterten
sich selbst treu bleiben, eben nicht leisten können). Sinne) ›religiöse‹ Thematik in Kafkas Werk katego-
Nur nebenbei sei angemerkt, dass Kafka eine solche risch leugnen – nicht zuletzt wohl deshalb, weil sie
symbolische Weltsicht auch selbst konkret gelebt hat. mit ihrem aktualisierenden Zugriff unvereinbar ist.
Das offensichtlichste Beispiel dafür ist seine Deu- Allerdings könnte es sehr wohl sein, dass gerade
tung der eigenen Tuberkulose, in der er keine physi- unsere Zeit zu Kafkas Problemstellung einen ganz
sche, sondern eine »geistige Krankheit« sah (An aktuellen Zugang finden kann. Schließlich wird die
Ottla, 29.8.1917; B14–17 309), ein »Sinnbild der gegenwärtige Diskussion im ›Konflikt der Kulturen‹
Wunde, deren Entzündung Felice und deren Tiefe wesentlich von einer Frage bestimmt, für die der Ju-
Rechtfertigung heißt« (15.9.1917; T 831). rist Ernst-Wolfgang Böckenförde eine prägnante
Die existenziellen wie sozialen Vorzüge, die eine Formel geliefert hat: Beruhen moderne Gesellschaf-
symbolische Weltsicht für Kafka gegenüber einer ten in der Fundierung ihres Wertesystems notwen-
aufgeklärt-rationalen und säkularen hatte, drückt digerweise auf (prä-modernen) Grundlagen, die sie
wohl am besten der folgende Aphorismus aus: aus sich nicht hervorbringen können? (Böckenförde
Niemand schafft hier mehr als seine geistige Lebens- 1992; vgl. auch Habermas/Benedikt XVI.) Die kunst-
möglichkeit; daß es den Anschein hat, als arbeite er für metaphysischen Autoren der Moderne haben diese
seine Ernährung, Kleidung u. s. w. ist nebensächlich, es Frage bejaht und mit literarischen Mitteln eine Kom-
wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein un- pensation der Defizite versucht, die sie als Folgelas-
sichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsicht-
bares Kleid u. s. f. gereicht. Das ist jedes Menschen ten des Modernisierungsprozesses ansahen. Um Re-
Rechtfertigung. Es hat den Anschein als unterbaue er gression in vergangene metaphysische Systeme ging
seine Existenz mit nachträglichen Rechtfertigungen, das es dabei nicht, wohl aber um bedenkenswerte Ein-
ist aber nur psychologische Spiegelschrift, tatsächlich er- sichten in die Grenzen der Aufklärung.
richtet er sein Leben auf seinen Rechtfertigungen. Aller-
dings muß jeder Mensch sein Leben rechtfertigen kön-
nen (oder seinen Tod, was dasselbe ist), dieser Aufgabe
kann er nicht ausweichen (NSF II, 99).
514 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen

Forschung rich: F.K.s Diagnose des 20. Jahrhunderts. In: Emrich/


Goldmann (1985), 11–35. – Manfred Engel: K. und die
Kafkas Verhältnis zur modernen Welt und zum Pro- Poetik der klassischen Moderne. In: Engel/Lamping
zess der Modernisierung wurde bisher noch nie sys- (2006), 247–262. – Sybille Frank: Stadtwahrnehmung
tematisch untersucht (wichtige Vorüberlegungen im erzählerischen Werk F.K.s. In: N.A. Chmura (2007),
liefern vor allem J. Schillemeit 2004 [1985] u. 2004 25–60. – Ulrich Fülleborn: »Die Sprache handelt nur
[1996]). Entweder gehen die Interpreten (vor allem vom Besitz und seinen Beziehungen«: K. In: Ders.:
in der älteren Forschung) von der weitgehenden Besitzen als besäße man nicht. Besitzdenken und seine
Welt- und Geschichtslosigkeit Kafkascher Texte aus Alternativen in der Literatur. Frankfurt/M. 1995, 279–
295. – Ders.: Der Einzelne und die »geistige« Welt. Zu
(z. B. Allemann 1998 [1962]) oder sie unterstellen
K.s Romanen. In: C. David (1980), 81–100; wieder als:
ihm (vor allem in sozialgeschichtlichen und von
Der Einzelne und die parabolischen Welten in K.s Ro-
Foucault geprägten Deutungen) eine kritische Mi-
manen. In: Ders.: Besitz und Sprache. Offene Strukturen
mesis von Oberflächen bzw. Strukturen der moder-
und nicht-possessives Denken in der deutschen Litera-
nen Welt (z. B. Abraham 1990; Dreisbach 2009; Gar- tur. München 2000, 369–384. – Peter Garloff: Institu-
loff 2005; O. Jahraus 2006). Problematisch daran ist tionen des Rechts in K.s nicht-amtlichen Schriften. In:
nicht nur, dass dabei Kafka unreflektiert aktuelle Poetica 37 (2005), 179–210. – Jürgen Habermas/Bene-
Modernitätskonzepte unterschoben werden, son- dikt XVI. (Joseph Ratzinger): Dialektik der Säkularisie-
dern, vor allem, dass die Komplexität seiner Ver- rung. Über Vernunft und Religion. Bonn 2005. – O.
schränkung von Mimesis und Semiotisierung unter- Jahraus (2006). – Frederick Karl: F.K., Representative
schätzt und deren werkgeschichtliche Entwicklung Man. Prague, Germans, Jews, and the Crisis of Moder-
nicht genügend beachtet wird. Eine systematische nism. New York 1991. – A. Kilcher (2008). – Gerhard
Untersuchung von Kafkas mittelbarer (und genuin Kurz: Der neue Advokat. Kulturkritik und literarischer
moderner) Mimesis-Konzeption gehört so zu den Anspruch bei K. In: W. Schmidt-Dengler (1985), 115–
wichtigsten Desideraten der Forschung. 128. – Barry Murnane: »Verkehr mit Gespenstern«. Go-
thic und Moderne bei F.K. Würzburg 2008. – Claudine
Ulf Abraham: Rechtsspruch und Machtwort. Zum Ver- Raboin: Die Gestalten an der Grenze. Zu den Erzählun-
hältnis von Rechtsordnung und Ordnungsmacht bei K. gen und Fragmenten 1916–1918. In: C. David (1980),
In: Kittler/Neumann (1990), 248–278. – Beda Alle- 121–135. – J.M. Rignall: History and Consciousness in
mann: Stehender Sturmlauf. Zeit und Geschichte im Beim Bau der chinesischen Mauer. In: Stern/White
Werke K.s. [Rundfunkvortrag 1962]. In: B. Allemann (1985), 111–126. – Ritchie Robertson (1988 [1985]). –
(1998), 15–36. – Ders.: K. und die Mythologie. In: Zeit- Ders.: K. als religiöser Denker. In: Lothe/Sandberg
schrift für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft (2002), 135–149. – R. Robertson (2009 [2004]). – Jost
20 (1975), 129–144; wieder in: B. Allemann (1998), 151– Schillemeit: »unsere allgemeine und meine besondere
168. – P.-A. Alt (2005). – G. Baioni (1994). – Ernst-Wolf- Zeit«. Autobiographie und Zeitgenossenschaft in K.s
gang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vor- Schreiben. In: Emrich/Goldmann (1985), 329–353;
gang der Säkularisation. In: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. wieder in: J. Schillemeit (2004), 225–244. – Ders.: Zum
Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Ver- Wirklichkeitsproblem der K.-Interpretation. In: DVjs
fassungsgeschichte. Frankfurt/M. 1992, 92–114. – Jür- 40 (1966), 577–596; wieder in: J. Schillemeit (2004), 35–
gen Born: K. als Kritiker der Moderne. In: Deutschland- 57. – Jochen Schmidt: Am Grenzwert des Denkens. Mo-
forschung [Seoul, Korea] 5 (1996) 62–73; wieder in: derne Rationalitätskritik in K.s später Erzählung Der
Ders.: »Daß zwei in mir kämpfen…« und andere Auf- Bau. In: Carsten Dutt/Roman Luckscheiter (Hg.): Figu-
sätze. Wuppertal 1988, 2. Aufl. 1993, wieder: Furth im rationen der literarischen Moderne. Heidelberg 2007,
Wald, Prag 2000, 137–146. – Georg Braungart: »Alle 331–346. – R. Stach (2002). – R. Stach (2008). – Silvio
Kunst ist symbolisch« – und alle Religion auch. Kunst- Vietta: Die Modernekritik der ästhetischen Moderne.
religiöse Anmerkungen mit Blick auf K. und Wackenro- In: Ders./Dirk Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne in
der. In: Sprache und Literatur 40 (2009), 13–45. – Hilde- Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit
gard Platzer Collins: K.’s Views of Institutions and Tradi- der Romantik. München 1998, 531–549. – Anselm
tions. In: GQ 35 (1962), 492–503. – Claude David: K. Weyer: Zwänge der Ökonomie im Werk F.K.s. In: N.A.
und die Geschichte. In: C. David (1980), 66–80. – Jens Chmura (2008), 215–226. – Markus Winkler: Kulturkri-
Dreisbach: Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen tik in K.s Der Bau. In: Norbert Oellers/Hartmut Steine-
Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von cke (Hg.): Zur deutschen Literatur im ersten Drittel des
Keller bis K. Berlin 2009, bes. 365–444. – Wilhelm Em- 20. Jahrhunderts. Berlin 1999, 144–164.
Kafka und die moderne Welt 515

Ausgabennachweis und Forschungsliteratur zu Der bung > und <Das Stadtwappen> in 3.3.7, zu <Der Bau>
Verschollene in 3.2.3, zu In der Strafkolonie in 3.2.5, zu in 3.3.6 und zu <Der Jäger Gracchus> in 3.2.10 (jeweils
Beim Bau der chinesischen Mauer in 3.2.9, zu <Die Ab- in den Anhangsteilen).
weisung >, Zur Frage der Gesetze, <Die Truppenaushe- Manfred Engel
517

Anhang

Ausgaben und Hilfsmittel Geht man vom Textbestand der Kritischen Aus-
gabe (einschließlich der Tagebücher) aus, blieben
Werkausgaben und Editionsgeschichte rund 90 Prozent aller Schriften Kafkas zu seinen
Publikationen zu Lebzeiten und Nachlass Lebzeiten unveröffentlicht. Da er viele Manuskripte
vernichtet hat, ist der tatsächliche Prozentsatz natür-
Bekanntlich hat Kafka nur wenige seiner Texte selbst lich noch deutlich höher einzuschätzen. Den größ-
veröffentlicht: Der Sammelband Betrachtung er- ten Teil des handschriftlichen Nachlasses hatte Max
schien Ende 1912 (Einzelpublikationen bereits 1908 Brod, vor den in Prag einmarschierenden deutschen
u. 1912), Das Urteil (Buchpublikation: 1916) und Truppen fliehend, nach Tel Aviv gerettet. Beim Aus-
Der Heizer 1913, Die Verwandlung 1915 (Buch: Ende bruch der Suez-Krise (1956) brachte er die Manu-
1915), In der Strafkolonie 1919, der Sammelband Ein skripte in ein Zürcher Bankfach des Verlegers Sal-
Landarzt 1920 (Einzelpublikationen seit 1915), die man Schocken (1877–1959). Im Auftrag der Erben
von Kafka noch selbst für den Druck vorbereitete transportierte sie 1961 der Germanist Malcolm Pas-
Sammlung Ein Hungerkünstler postum 1924 (Einzel- ley (1926–2004) in einer winterlichen Autofahrt von
publikationen seit 1922). Daneben kamen noch zum Zürich nach Oxford (Engel/Robertson 2008). Seit-
Druck: zwei Fragmente aus der Beschreibung eines dem befindet sich der größte Teil von Kafkas Nach-
Kampfes (Gespräch mit dem Beter und Gespräch mit lass in der Bodleian Library (zum Bestand vgl. das in
dem Betrunkenen; 1909), Die Aeroplane in Brescia allen Apparat-Bänden der KA abgedruckte Inventar,
(1909), das erste Kapitel aus Richard und Samuel z. B. NSF I:A, 19–33). Eine zweite wichtige Samm-
(1912), einem aufgegebenen Gemeinschaftsprojekt lung – die unter anderem das 1988 angekaufte Pro-
mit Max Brod, und die ursprünglich für den Land- cess-Manuskript enthält – lagert im Deutschen Lite-
arzt-Band vorgesehene Erzählung Der Kübelreiter raturarchiv Marbach (zum Bestand vgl. Ott, 97–99).
(1921) sowie einige kurze Prosatexte, zumeist Re- Eine dritte, der Forschung bisher noch nie zur
zensionen. All dies ist heute in der Kritischen Aus- Gänze zugängliche Schriftenkollektion aus dem
gabe im Band Drucke zu Lebzeiten auf rund 450 Nachlass von Ester Hoffe, der Sekretärin und Le-
Druckseiten zusammengefasst (DzL/KA; vgl. dort bensgefährtin Max Brods, befindet sich teils in Tel
das chronologische Verzeichnis der Drucke zu Leb- Aviv, teils in Zürcher Bankschließfächern; über die
zeiten für vollständige und genaue Angaben, 15–24; Ausführbarkeit aus Israel verhandeln zur Zeit die
vgl. auch Unseld 1982 u. 2008). Gerichte. Die Sammlung umfasst nicht nur den eige-
Die Buchpublikationen erfolgten in den Verlagen nen Nachlass Brods (mit für die Kafka-Forschung
Ernst Rowohlt (Betrachtung), Die Schmiede (Ein wichtigen persönlichen Notizbüchern), sondern
Hungerkünstler) und, vor allem, bei Kurt Wolff – auch das Manuskript der Hochzeitsvorbereitungen
dem ehemaligen Kompagnon Rowohlts, der zum und wahrscheinlich zahlreiche von Kafkas Zeich-
maßgeblichen Verleger der jungen expressionisti- nungen (Stach 2010).
schen Autorengeneration wurde –, zumeist in des- Die größte verlorene Gruppe von Manuskripten
sen berühmtester Buchreihe Der Jüngste Tag (zu stammt aus Kafkas letzter Lebensphase. Einiges da-
Kafkas Verlags- und Verlegerbeziehungen vgl. Un- von hat Dora Diamant, den Bitten des Autors fol-
seld 1982). Zeitschriften, in denen Kafka publi- gend, wohl verbrannt, vieles aber aufbewahrt, dar-
zierte, waren unter anderem: Bohemia, Prager Tag- unter, so weit wir wissen, 35 Briefe an sie und 20
blatt, Prager Presse, Selbstwehr. Unabhängige jüdi- kleine Notizhefte Kafkas. Vor Doras Flucht aus Ber-
sche Wochenschrift (alle: Prag), Die weißen Blätter. lin durchsuchte die Gestapo 1933 ihre Wohnung
Eine Monatsschrift (Leipzig; eine der maßgeblichen und beschlagnahmte die Manuskripte. Seitdem
Zeitschriften des Expressionismus, hg. v. René Schi- müssen sie als verschollen gelten. 2008 hat aller-
ckele), Marsyas. Eine Zweimonatsschrift (eine kurz- dings eine Forschergruppe um Kathi Diamant (mit
lebige und Expressionismus-lastige Zeitschrift, hg. Dora nicht verwandt) Spuren dieses Konvoluts ge-
v. Ferdinand Bruckner [i.e. Theodor Tagger]) und funden, die auf immer noch unzugängliche polni-
Der Jude. Eine Monatsschrift (Berlin, Wien; hg. v. sche Archive verweisen (www.kafkaproject.com;
Martin Buber). 22.2.2010).
518 Anhang

Postume Editionen ihren letzten beiden Bänden: Band 5 Beschreibung ei-


nes Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem
Der überwältigende Teil des Werkes wurde so erst Nachlaß (BeK/GS) ist eine stark erweiterte Neufas-
nach dem Tod des Autors herausgegeben, und zwar sung von BBdCM (ergänzt unter anderem um die
zunächst durch Max Brod, Kafkas Freund und Nach- Titelgeschichte, <Blumfeld, ein älterer Junggeselle>
lassverwalter, der sich über dessen testamentarische und <Der Gruftwächter >); Band 6 Tagebücher und
Verfügung hinweggesetzt hatte, alle unpublizierten Briefe (T/GS) enthält Auszüge aus den Tagebüchern,
Schriften »restlos und ungelesen zu verbrennen« ausgewählte Briefe, rund 30 Seiten bisher unveröf-
(Brod, 107; ä 23). Brods Herausgeberarbeit begann fentlichter Fragmente, die <Betrachtungen über
mit den drei Romanen: Der Process erschien erstmals Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg > und so-
1925, Das Schloss 1926, Der Verschollene (unter dem genannte »Meditationen«, d.i. reflexive Notate aus
Titel: Amerika) 1927. Als Abschluss dieser ersten verschiedenen Notizheften (zu einer Kurzbeschrei-
postumen Publikationsphase veröffentlichte Brod bung der Ausgabe vgl. P.U. Beicken, 360 f.). Eine
(zusammen mit Hans-Joachim Schoeps) 1931 den (leicht ergänzte) zweite Auflage der ersten fünf
Sammelband Beim Bau der Chinesischen Mauer (BB- Bände der Ausgabe (GS2) erschien 1946 in New York
dCM). Dieser enthält neben der Titelgeschichte 18 im dort neu gegründeten Schocken Verlag (zu den
weitere Erzähltexte aus dem Nachlass (darunter etwa Neuerungen gegenüber der Erstauflage vgl. P.U. Bei-
<Zur Frage der Gesetze>, <Von den Gleichnissen>, cken, 361).
<Der Jäger Gracchus>, <Der Bau>, <Forschungen ei- Die zweite Werkausgabe sind die, wiederum von
nes Hundes>) und die beiden Aphorismensammlun- Max Brod herausgegebenen, Gesammelten Werke in
gen <Er > und <Betrachtungen über Sünde, Leid, unnummerierten Einzelbänden (GW; 1950–1958),
Hoffnung und den wahren Weg > [Zürauer Aphoris- die 1965 um eine erste und noch sehr unzureichende
men] (zu einer Kurzcharakteristik der Editionen Ausgabe der Briefe an Milena (BM/GW, hg. v. Willy
und ihrer Probleme vgl. P.U. Beicken, 359). Haas), 1967 um die Briefe an Felice (BF/GW, hg. v.
Diese Publikationen führten schon in den 20er Erich Heller u. Jürgen Born) und 1974 um Briefe an
und frühen 30er Jahren zu einer breiteren Rezeption Ottla und die Familie (BO/GW, hg. v. Hartmut Bin-
des Kafkaschen Werkes, die sich bald auch über den der u. Klaus Wagenbach) ergänzt wurden.
deutschsprachigen Raum hinaus ausdehnte – die In GW findet der Leser erstmals eine relativ voll-
Romane und der Sammelband wurden von Willa ständige, chronologisch geordnete Ausgabe der so-
und Edwin Muir schon relativ früh ins Englische genannten Tagebücher 1910–1923 (T/GW, 1951),
übersetzt (The Castle, 1930; The Great Wall of China eine umfangreiche Auswahl der Briefe 1902–1924
and Other Pieces, 1933; The Trial, 1937; America, (Briefe/GW, 1958) und den Band Hochzeitsvorberei-
1938), der Process erschien bereits 1933 in Frank- tungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem
reich (Le procès, übers. v. Alexandre Vialatte). Nachlaß (Hzv/GW, 1953). Letzterer bedeutete inso-
fern einen editorischen Neuansatz, als hier mit der
Die zweite Editionsphase war die der Brodschen Abteilung »Die acht Oktavhefte« dem Leser Notiz-
Werkausgaben. 1935–37 erschienen die von Max hefte Kafkas im Zusammenhang (wenn auch keines-
Brod und Heinz Politzer herausgegebenen Ge- wegs vollständig und in stark edierter Form) vorge-
sammelten Schriften (GS) in sechs Bänden: die ersten legt wurden, so dass wenigstens ein erster Eindruck
vier im Salman Schocken Verlag, Berlin (1935), die von der tatsächlichen Überlieferungsform des Nach-
letzten beiden in Lizenz bei Heinrich Mercy Sohn in lasses entstehen konnte; in etwas eingeschränkter
Prag (1936 u. 1937) – der nationalsozialistischen Form gilt das auch für die fast 200 Seiten der Abtei-
Zensur und Verfolgung wegen hatte Schocken 1934 lung »Fragmente aus Heften und losen Blättern«.
nach Palästina emigrieren müssen, außerdem waren Außerdem enthielt der Band, neben einem Wieder-
Kafkas Schriften im Dritten Reich seit 1935 verbo- abdruck der <Betrachtungen>, u. a. erstmals die
ten. Hochzeitsvorbereitungen und den <Brief an den Va-
Der erste Band Erzählungen und kleine Prosa (Erz/ ter > (Kurzcharakteristik der Ausgabe und ihrer Neu-
GS) enthält die meisten der zu Lebzeiten veröffent- erungen wiederum: P.U. Beicken, 361 f.).
lichten Texte; als Band 2–4 erscheinen die Romane Alle Ausgaben Brods waren von seiner Absicht
nach Entstehungschronologie (A/GS, P/GS, S/GS). bestimmt, Kafka als Autor durchzusetzen. Deswegen
Die wichtigsten Neuerungen der Ausgabe liegen in veröffentlichte er zuerst die Romane, von denen er
Ausgaben und Hilfsmittel 519

sich – durchaus zu Recht – eine größere Publikums- Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner). Zu jedem Text-
wirkung versprach. Und deswegen versuchte er, den band gehört ein Apparatband mit Beschreibungen
Fragmentcharakter aller publizierten Texte mög- der Handschriften, Auflistung von editorischen Ein-
lichst zu verschleiern, sie in möglichst ›fertige‹ und griffen und Variantendarstellung; zum Band Tagebü-
gut lesbare ›Werke‹ zu verwandeln. Brod kontami- cher gibt es auch einen Kommentarband. Die KA ist
nierte verschiedene Fassungen – am drastischsten heute im Wesentlichen abgeschlossen; nur der Band
wohl in seinen Versionen der Beschreibung eines Hebräisch-Studien (HS/KA, hg. v. Alfred Bodenhei-
Kampfes und des <Jäger Gracchus> –, bezog von mer) befindet sich noch in Vorbereitung (zu den
Kafka gestrichene Passagen wieder in den Text ein, Briefbänden der KA ä 523).
tilgte fragmentarische Textschlüsse, versah titellose Die Textteile der KA sind inzwischen auch in di-
Romankapitel und Texte mit Überschriften (und gab versen preiswerten Ausgaben erhältlich, von denen
letzteren so oft erst Werkcharakter), tilgte Pragis- hier nur die wichtigsten genannt seien: (1) Bereits
men, normalisierte Rechtschreibung und Interpunk- parallel zur KA erschien eine seitenidentische Aus-
tion. Allerdings lässt sich von Auflage zu Auflage gabe, die nur die Textbände umfasste. (2) Hans-Gerd
und von Ausgabe zu Ausgabe durchaus eine zuneh- Koch edierte eine Taschenbuchversion der KA (ohne
mende Bemühung um ›Philologisierung‹ beobach- AS), die zwar text-, aber leider nicht seitenidentisch
ten. Brod reichte immer mehr der zunächst wegen ausgefallen ist (KA/Tb) und daher für wissenschaft-
ihrer Fragmentarik ausgesparten Textteile in Anhän- liche Zwecke nicht als Zitiergrundlage verwendet
gen nach und ergänzte immer neue Einzelnotate. Ih- werden sollte; Tagebuch- und Nachlassteile wurden
ren Höhepunkt (und ihre Grenze) finden diese Be- hier auf jeweils vier Bände verteilt. (3) Seit 2002 ist
mühungen im Band Hzv/GW. auch eine preiswerte Paperbackkassette der KA er-
Von wenigen Texten abgesehen, für die schon früh hältlich, die bis auf AS den Gesamttext des Originals
zuverlässigere Fassungen erarbeitet wurden – wie in einer text- und seitenidentischen Version enthält;
für den Dorfschullehrer (Martini 1958) oder Die Be- es wäre dringend wünschenswert, dass diese er-
schreibung eines Kampfes (Dietz, 1969) –, haben schwinglichste ›beste Ausgabe‹ nicht nur eine »limi-
Brods Editionen (die auch in zahllosen Taschen- tierte Sonderausgabe« bleibt.
buchausgaben, preiswerten Werk-Kassetten und Um den Charakter einer Leseausgabe (nicht zu-
Auswahlbänden nachgedruckt wurden) das Kafka- letzt: als Basis für preiswertere und breitenwirksa-
Bild für Leser wie Forscher bis in die 90er Jahre hin- mere Editionen) zu wahren, sind die Herausgeber
ein geprägt. Vergleichbar verbreitet und einfluss- der Kritischen Ausgabe eine Reihe von – meist durch-
reich war allenfalls noch Paul Raabes Edition Sämtli- aus vernünftigen – Kompromissen mit der reinen
che Erzählungen (zuerst 1970), die bei den Lehre der Philologie eingegangen: etwa in der leser-
veröffentlichten Texten – gegen Brods Redaktionen freundlichen, aber natürlich auf Editorenentschei-
– konsequent auf die Erstdrucke zurückgriff. dungen gründenden Gestaltung des Apparates in
Überarbeitungsstufen; in der Anordnung vor allem
Eine dritte Phase der Editionsgeschichte wurde erst der Nachlasstexte in Textgruppen, die nur im Regel-
mit der Kritischen Ausgabe (KA) eröffnet, die 1982 fall der ursprünglichen Manuskriptkonstellation
zu erscheinen begann. Die Herausgeber Jürgen Born, entsprechen; in der Beibehaltung der Brodschen
Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schil- Ausgrenzung von Notizheften mit besonders ausge-
lemeit und die (nicht zu vergessenden!) verdienst- prägtem Tagebuchcharakter als eigene Werkgruppe
vollen Redakteure Hans-Gerd Koch und Michael ›Tagebücher‹ (nun aber nicht mehr chronologisch
Müller griffen hier erstmals (relativ) konsequent auf wie bei Brod, sondern nach Überlieferungsträgern
die Handschriften zurück. Die Ausgabe umfasst in je geordnet). Weniger nachvollziehbar ist, dass – bei
einem Band die Romane (S/KA, 1982; V/KA, 1983; sonstiger (weitgehender) Wahrung von Rechtschrei-
P/KA, 1990) die Drucke zu Lebzeiten (DzL/KA, bung und Interpunktion – Kafkas ss-Schreibungen
1996) und die Tagebücher (T/KA, 1990) sowie zwei (im Textteil, nicht aber in den Apparatbänden) zu
Bände mit dem Verlegenheitstitel Nachgelassene ss/ß aufgelöst wurden, was zu so seltsamen Hybrid-
Schriften und Fragmente (NSF/KA I/II, 1993 u. bildungen wie »Proceß« führte (zur Übersicht über
1992). Aufgenommen wurden auch die bereits 1984 die Editionsprinzipien und zur Erklärung der dia-
von Klaus Hermsdorf in einer ersten Ausgabe kritischen Zeichen vgl. z. B. S/KA 7–11). Auf den
edierten Amtliche Schriften (AS/KA, 2004; hg. v. Nachweis späterer ›Überlieferungsvarianten‹, die vor
520 Anhang

allem die Unterschiede zu den lange rezeptionsprä- tern betrachtet, bietet gerade das Vorhandensein bei-
genden Brodschen Textfassungen dokumentiert hät- der Ausgaben eine geradezu ideale Konstellation.
ten, wurde verzichtet. Gerade weil es die Kritische Ausgabe gibt, ist die im
Entstehen begriffene FKA für alle Kafka-Leser ein so
Noch vor Abschluss der Kritischen Ausgabe begann großer Gewinn. Gäbe es nur die wenig leserfreund-
1995 die vierte und bisher letzte Editionsphase mit liche FKA, wäre es allerdings um die weitere Verbrei-
dem Erscheinen des programmatischen Einleitungs- tung des Kafkaschen Werkes wohl ziemlich schlecht
bandes zur Historisch-Kritischen Franz Kafka-Aus- bestellt.
gabe (FKA – das »F« wird heute mitunter auch als Zukünftigen Generationen wird der Editionen-
»Frankfurter« oder »Faksimile« Kafka-Ausgabe in- streit doppelt absurd scheinen müssen. Denn schon
terpretiert), herausgegeben von Roland Reuß und bald wird jede historisch-kritische Ausgabe mit
Peter Staengle. Obwohl man das gelegentlich so le- Selbstverständlichkeit auch eine CD mit Faksimiles
sen kann, war der Grund für den editorischen Neu- der Manuskripte einschließen (bzw. einen Verweis
ansatz nicht das Bemühen, den besonderen Eigen- auf deren Präsentation im Internet). Dass die FKA
heiten von Kafkas Schreiben gerecht zu werden, son- dieses Material in einer Druckversion darbietet und
dern ein vom Poststrukturalismus und seiner Skepsis den Leser darüber hinaus auch mit einer diplomati-
gegenüber den Kategorien von ›Autor‹ und ›Werk‹ schen Umschrift versorgt, ist ein erfreulicher, aber
inspirierter genereller Paradigmenwechsel in der nicht unbedingt notwendiger Luxus.
Editionstheorie, der seinen ersten Niederschlag be-
reits in D.E. Sattlers Frankfurter Hölderlin-Ausgabe Exkurs zum Editionenstreit
(1976 ff.) gefunden hatte. Dabei könnte man es belassen, wenn die Anhänger
Die FKA tut, was die KA letztlich nur verspricht: der FKA den Alleingeltungsanspruch ihrer Ausgabe
Sie folgt konsequent der Gestalt der Überlieferungs- nicht mit einer Reihe steiler Thesen zu untermauern
träger – den Handschriften bzw., wo solche nicht gesucht hätten, die in der Kafka-Forschung einige
vorhanden sind, den Erstdrucken –, und zwar indem Folgen gezeitigt haben. Dass sie dort auf so fruchtba-
sie diese in faksimilierter Form reproduziert. Diesen ren Boden fielen, liegt wohl an der fatalen Neigung
Abbildungen ist jeweils eine diplomatische Um- vieler Kafka-Forscher, ihren Autor bevorzugt als in-
schrift der Handschrift gegenübergestellt, die deren kommensurablen Solitär zu betrachten, der mit an-
Textgestalt bestmöglich in ein Druckbild zu über- deren Autoren einfach nicht vergleichbar sei, der
führen sucht. Die Erläuterungen der Herausgeber fundamental anders geschrieben habe als andere
werden der Edition in eigenen Heften (den soge- und dessen ›Werke‹ (oder besser: ›Schriften‹) daher
nannten »Franz Kafka-Heften«) beigegeben; sie ent- auch auf besondere Weise zu edieren seien. Die Ar-
halten einen Editionsbericht, gesammelte Doku- gumentationsgrundlage dafür ist allerdings mindes-
mente zur Entstehungsgeschichte (eine besonders tens ebenso dünn wie die Begründung, die Roland
hilfreiche Ergänzung zur KA), eine kritische Dar- Reuß für den Sonderstatus seiner Edition gegeben
stellung bisheriger Editionen und eine Beschreibung hat:
der Überlieferungsträger. Außerdem ist den Bänden Da der Nachlaß insgesamt von Kafka verworfen wurde,
jeweils eine CD-ROM mit dem digitalisierten Text- hat es keinen Sinn, zwischen weniger oder mehr Ver-
und Bildbestand beigegeben. Bei Drucklegung dieses worfenem zu unterscheiden (d. h. zwischen im Manu-
Handbuches lagen sieben Bände der FKA vor (den skript Nicht-Gestrichenem und Gestrichenem). Desglei-
chen und aus demselben Grund wird man hinsichtlich
Einleitungsband und eine Modelledition für die
seiner auch von Emendationen jeder Art Abstand neh-
Briefe nicht mitgezählt); insgesamt ist die Ausgabe men müssen (Reuß 1995a, 129).
auf »über 25 Bände« angelegt; ein Gesamt-Editions-
plan scheint bisher nicht zugänglich zu sein (www. Das Argument werden – allein schon wegen der of-
textkritik.de/fka/uebersicht/fka.htm; 23.2.2010). fensichtlichen Vermischung von Basis- und Meta-
ebene – wohl nur wenige nachvollziehen können. Es
Zwischen den Anhängern der KA und der FKA ist gibt einen offensichtlichen Unterschied zwischen
inzwischen ein Glaubenskrieg entbrannt (wie einst Streichungen in einem Text, der Streichung eines
schon zwischen den Anhängern der Hölderlin-Edi- ganzen Textes (die bei Kafka ohnehin kaum vor-
tionen von Beißner und Sattler), der für den Außen- kommt) und einer testamentarischen Aufforderung
stehenden schwer verständlich bleiben dürfte. Nüch- zur Vernichtung eines schriftstellerischen Nachlas-
Ausgaben und Hilfsmittel 521

ses. Die Maxime, dass in Nachlasstexten nicht emen- nen sie kaum befriedigend beantworten, so dass die
diert werden sollte, ist allerdings natürlich (unab- Erklärungsform des Musen-Kusses als mythologi-
hängig vom Ausgangsargument) durchaus erwä- sche Einkleidung eines ›je ne sais quoi‹ durchaus ih-
genswert. ren Charme behält. Jedenfalls aber handelt es sich
Doch fragen wir zunächst ganz allgemein nach um ein komplexes Ineinander von Faktoren, von de-
den Problemen, mit denen sich ein Herausgeber nen keiner allein bestimmend ist. Insofern ist die
beim angeblichen editorischen ›Sonderfall‹ Kafka Mystifikation der ›Schrift‹ (und die ihr korrespon-
konfrontiert sieht: dierende Fetischisierung des Überlieferungsträgers)
(1) Kafka hat zu Lebzeiten nur wenige seiner zum alleinigen Bestimmungsfaktor, wie sie ganz all-
Werke veröffentlicht; der Hauptteil der Texte hat also gemein von poststrukturalistischen Forschern und
entweder vom Autor (aus welchen Gründen auch im besonderen Fall auch von Anhängern der FKA
immer) kein ›Imprimatur‹ erhalten oder befindet gepflegt wird, eine unzulässige Vereinfachung. Na-
sich außerdem noch in einem fragmentarischen Zu- türlich spielen Faktoren des – ganz materiellen –
stand (oft ist nicht eindeutig zu entscheiden, welcher Schreibprozesses immer eine wichtige Rolle: das
von beiden Befunden zutrifft). Das ist eine allenfalls Schreibgerät, die Papierfläche und ihre Grenzen
quantitativ ungewöhnliche Konstellation (und selbst (schon das Umblättern-Müssen kann den Schreib-
für die Quantität gibt es Vergleichspunkte – etwa im fluss stören, die Papiergröße die Textlänge beeinflus-
Falle Hölderlins). Einzeltext-bezogen jedoch gehört sen), die Buchstaben erzeugende Schreibbewegung.
der Umgang mit solchen Problemen zu den Alltags- Dazu kommen Faktoren, die sich sowohl aus äuße-
aufgaben fast jedes Herausgebers. ren Einflüssen wie aus einer Reflexion des Schreib-
(2) Kafka hat eine besondere Form des Schreibens vorgangs im Geschriebenen ergeben – ein am Fens-
praktiziert, die extrem inspirationsorientiert war. ter vorbeifliegender Vogel könnte so im Text direkt
Ohne Vorplanung und Notizen überließ er sich ganz oder mittelbar (etwa im Wort fliegen oder einer Me-
dem ›Schreibstrom‹, entfaltete seine Texte aus dem tapher dafür) wiederkehren, eine Störung des Inspi-
Inspirationsschub, der in ihrem Ausgangseinfall ent- rationsflusses könnte leicht zu einem störenden Vor-
halten war (ä 347–350). Dies erklärt die Unzahl von fall im Text werden (vgl. auch Pasley 1995 [1980]).
Erzählanfängen, die nach wenigen Seiten, Absätzen Oder, um einen bei Kafka tatsächlich vorkommen-
oder gar nur Sätzen abbrechen. Auch eine solche den Fall zu nennen: Ein beim Schreiben aus dem
Schreibweise ist per se nicht ungewöhnlich. Kreativi- Fenster auf das gegenüberliegende Flussufer blicken-
tätspsychologisch gesehen, lassen sich alle Autoren der Autor – wie Kafka beim Schreiben des Urteil –
(und Künstler) auf einer Skala einordnen, die zwi- kann einen Text durchaus damit beginnen, dass er
schen den Extremen planvollen Kalküls und freier In- eine auf das gegenüberliegende Flussufer blickende
spiration liegt (wobei die Extrempole selbst unbesetzt Figur einen Text schreiben lässt (vgl. auch das Bei-
bleiben dürften, da jeder Kreativitätsakt auf einem, spiel NSF II:A, 117).
wie auch immer vereinseitigten, Mischverhältnis bei- Daneben gibt es aber natürlich auch eine Fülle an-
der Größen beruht). Wiederum ist Kafkas Annähe- derer – mentaler, sprachbezogener oder (inter-)tex-
rung an einen Pol zwar relativ extrem, aber keines- tueller – Bestimmungsfaktoren. Alles, was sich im
wegs unvergleichbar – Rilke oder die Surrealisten, Schreib-Raum – bzw. im Bewusstseinsraum des
beispielsweise, haben durchaus ähnlich produziert. Schreibenden – ereignet, kann den Schreibprozess
Editionspraktisch gesehen bedeutet ein solcher beeinflussen bzw. sich in ihm niederschlagen. Dies
Schreibprozess einerseits eine große Erleichterung – gilt prinzipiell für jeden Schreibakt – auch für den,
extreme Inspirationisten sind keine fanatischen aus dem dieser Artikel hervorgeht –, hat aber natür-
Überarbeiter einmal geschriebener Texte; die Vari- lich, je nach Autor und Text, unterschiedlich starke
antenzahl fällt also bei ihnen (und in der Tat auch Konsequenzen. All dies jedoch schließt, auch bei ei-
bei Kafka) deutlich geringer aus. Andererseits be- nem maximal ›automatischen‹ Schreibakt, (zusätzli-
deutet eine solche Schaffensweise eine editorische che) bewusste Sinngebungsakte und Sinnbildungs-
Erschwerung, da die Zahl unveröffentlichter bzw. prozesse des Autors keineswegs aus.
fragmentarischer Texte deutlich ansteigt. Diesen Faktoren nachzugehen, ist kreativitätspsy-
Was den Kreativitätsprozess der Autoren tatsäch- chologisch höchst interessant – es ›erklärt‹ literari-
lich antreibt, ist dabei eine editorisch eigentlich be- sche Texte aber ebenso wenig wie die einstige positi-
langlose Frage. Auch Kreativitätspsychologen kön- vistische Erklärungsformel des ›Ererbten, Erlebten
522 Anhang

und Erlernten‹. Um den Aspekt des Schriftbildes – oder ein Hochleistungsscanner würden vollauf ge-
als quasi emblematisches Sediment eines der vielen nügen – wobei, wenn die Handschrift schon edito-
die Textgenese bestimmenden Faktorenbündel – zu risch ›gerettet‹ werden soll, farbige Reproduktionen
wissen, wie es uns die FKA nun dankenswerterweise unverzichtbar wären, da nur sie es ermöglichen
ermöglicht, ist zweifellos hilfreich und nützlich, da würden, den editorisch hochbedeutsamen Unter-
alles Mehr-Wissen prinzipiell hilfreich und nützlich schied zwischen verschiedenen Tintenfarben zu er-
ist. Für eine Textinterpretation ist dieses Wissen aber kennen (von daher basiert auch die FKA mit ihren
nur so bedingt relevant, wie es kreativitätspsycholo- Schwarz-Weiß-Abbildungen auf einem – aus ökono-
gische Überlegungen ganz grundsätzlich sind. mischen Gründen durchaus verständlichen – Kom-
(3) Ungewöhnlicher und autorenspezifischer als promiss).
die beiden erstgenannten Faktoren ist schließlich die Traditionell haben sich Editoren zwar immer auch
Kombination zwischen einem primär Fragmente als ›Retter‹ ihrer Texte, mindestens ebenso sehr aber
produzierenden (und schließlich sogar deren Ver- auch als deren Vermittler an die Leser verstanden –
nichtung fordernden) Autor wie Kafka und einem so und waren daher immer bereit, Kompromisse zwi-
werkorientierten Herausgeber wie Max Brod. Dieses schen der reinen Lehre der Philologie und den An-
Spannungsverhältnis externalisiert freilich nur eine sprüchen des Lesers auf einen lesbaren Text einzuge-
Dialektik, die schon das Schreiben Kafkas selbst be- hen. Und sie waren sich ebenfalls bewusst, dass dazu
stimmt. Denn schon hier mischen sich auf span- editorische Entscheidungen nötig sind, die auch bei
nungsvolle Weise unbezweifelbares Werk- und Wir- bester Begründung frag-würdig bleiben müssen.
kungsstreben einerseits mit einer ebenso unbezwei- Wer dies, wie Reuß, als »autoritäre Konzeption von
felbaren Verselbständigung des Schreibaktes und Edition« denunziert (Reuß 1995a, 131), verkennt ih-
seiner auto-therapeutischen Wirkung andererseits. ren Kompromiss- und Vermittlungscharakter. Im
Man könnte so durchaus sagen, dass Brod mit seinen Falle Kafkas versucht er zudem, mit der Editions-
wenig philologisch-exakten Editionsprinzipien nur auch gleich noch die Rezeptionsgeschichte des Kaf-
einseitig das Werkstreben Kafkas herauspräpariert kaschen Werkes zu revidieren. In der hat Brod aber
hat – genauso wie heute die FKA und viele Interpre- nun einmal seine Spuren hinterlassen – und damit
ten einseitig den Schreibakt herauspräparieren. Kafkas enormen Erfolg bei einer weltweiten Leser-
Kafka-Forscher werden gut daran tun, diese Dia- schaft überhaupt erst ermöglicht. Wenn man schon
lektik immer zu bedenken und zu versuchen, beider Überlieferungsträger fetischisieren will, könnte man
ihrer Seiten gerecht zu werden. Editoren sind aber ja auch überlegen, ob im Falle Kafkas nicht auch die
wohl zu einer gewissen Einseitigkeit gezwungen: Sie Textüberlieferung Brods inzwischen ihr eigenes, re-
müssen sich entscheiden. Entscheidungsgrund wird latives Recht bekommen hat.
dabei wohl sein, welcher Instanz sie sich letztendlich Die enorme Hilfe, die die Existenz der FKA heute
verpflichtet fühlen. Für Reuß ist dies ganz eindeutig für jeden Kafka-Forscher bedeutet, gründet jedoch
die Schrift, um deren Bewahrung es ihm geht: keineswegs ausschließlich auf den fotografischen
Wer nach den Zerstörungen der letzten 100 Jahre mit ih- Kompetenzen der Herausgeber, sondern, mindes-
rer Vernichtung nicht nur von Menschen, sondern auch tens ebenso sehr, auf ihren ganz traditionell-herme-
von Schriften, nicht begriffen hat, daß Edieren die katas- neutischen Kompetenzen, ihren Fähigkeiten, eine
trophische Phantasie voraussetzt, sich vorzustellen, die Handschrift zu ›lesen‹. Das sei abschließend an ei-
Handschrift könne bereits im nächsten Augenblick ver-
schwunden, zerfallen, verbrannt sein, der hat von dieser nem kurzen Beispiel erläutert.
Zeit nichts verstanden. Ihr wichtigster, allein verallge- Seit dem Vorliegen des Editionsberichtes zum
meinerbarer Editionsratschlag: Ediere so, als erlösche entsprechenden Band der FKA wissen wir, dass im
mit Deinem Blick aufs Manuskript die Schrift. Motiv der Falle der Fassung A der Beschreibung eines Kampfes
Rettung (R. Reuß 1995a, 142).
die Textkonstitution der KA durchaus fragwürdig
Den etwas peinlichen Bezug auf die historischen ausgefallen ist. Denn recht eigentlich würde die Fas-
Großkatastrophen des 20. Jahrhunderts – geht’s nicht sung A eher von der Reinschrift repräsentiert wer-
eine Nummer kleiner? – mag man einem leiden- den, von der Kafkas (mit Kopierstift durchgeführ-
schaftlichen und wahrhaft fundamentalistischen ter) Überarbeitungsprozess ausging. Die KA präsen-
Philologen nachsehen. Jedenfalls aber bedürfte es tierte aber die überarbeitete Version der Reinschrift
zur Erfüllung seines editorischen Fundamentalan- als ›Fassung A‹ – und damit einen Text, der eher
liegens keines Herausgebers – ein guter Fotoapparat eine Übergangsstufe zwischen ›A‹ und ›B‹ darstellt:
Ausgaben und Hilfsmittel 523

Kafka überarbeitete den Text von A zunächst, brach (von Hans-Gerd Koch herausgegebene) Abteilung
die Überarbeitung dann mit einer längeren Strei- zum Briefwerk, in der alle bisher ermittelten Briefe
chung ab (NSF/KA I, 76; BeK/FKA Heft 1, 80 ff.) Kafkas ediert werden sollen. Von deren fünf Bänden
und begann mit der Niederschrift von Fassung B sind bei Drucklegung dieses Handbuches drei be-
(BeK/FKA, Beiheft, 7 f.). Dass deswegen die heuris- reits erschienen (B00–12, 1999; B13–14, 2001; B14–
tisch sinnvolle Rede von ›Textfassungen‹ generell 17, 2005); die Publikation des vierten steht unmittel-
inadäquat sei, wie Reuß in seinem Herausgeber- bar bevor (B18–20). Kafkas Briefe werden hier in
kommentar dekretiert (6), ist dann freilich wieder chronologischer Ordnung präsentiert und detailliert
eine fundamentalistische Überspitzung. Sehr viel kommentiert (wobei der Kommentarteil auch zahl-
eher hieße es, dass in diesem Fall über die bestmög- reiche Abbildungen der Textträger enthält). Brief-
liche Konstitution einer Fassung erneut nachzuden- empfänger werden in einem umfangreichen alpha-
ken wäre. betischen Verzeichnis ausführlich vorgestellt. Die an
Kafka gerichteten Briefe sind, soweit erhalten, in ei-
Synopsen zwischen GW, KA und FKA nem Anhang abgedruckt.
Das Nebeneinander von gleich drei Editionen macht Von den geplanten Briefbänden der FKA liegt zur-
es zum dringenden Desiderat, einen Text aus GW zeit nur eine Probeedition vor: der Band Drei Briefe
auch in KA und FKA (und umgekehrt) leicht auffin- an Milena Jesenská (1995), der nicht Teil der FKA zu
den zu können. Dazu aber bieten weder KA noch sein scheint, sondern nur die besonderen Probleme
FKA zureichende Hilfen. In der KA sind die Brod- der Briefedition veranschaulichen soll.
Titel, unter denen zahlreiche Kafka-›Werke‹ Leser
wie Forscher zuerst erreicht haben, nur an höchst
versteckter Stelle (NSF I, 14 f., II, 14; T 297–301) und Biographien, Bildbände, Lebenszeugnisse
zudem unvollständig nachgewiesen (die KA/Tb ist
da deutlich hilfreicher). Die FKA bietet zwar ein her- Die Zahl der Kafka-Biographien ist mehr als statt-
vorragendes »Findbuch« zum Vergleich zwischen lich; hier sollen nur die vier wichtigsten kurz vorge-
GW, KA und FKA an, aber leider nur für Internet- stellt werden (umfassenderer Überblick bei C. Klein,
nutzer: 21–34).
www.textkritik.de/findbuch/index.htm (20.2.2010) (1) Die älteste und einflussreichste Biographie
stammt natürlich von Max Brod. Sein Buch Franz
und, naturgemäß, nur für die bereits in der FKA er- Kafka. Eine Biographie. Erinnerungen und Doku-
schienenen Texte. mente erschien erstmals 1937. Es verbindet den of-
Daher bleibt eine Synopse hilfreich, die sich, sehr fensichtlichen Vorteil persönlicher Bekanntschaft
versteckt, als tabellarischer Anhang in einer Mono- und Zeitgenossenschaft mit dem Nachteil einer un-
graphie von Gerhard Rieck finden lässt (G. Rieck übersehbaren Stilisierungstendenz: Für Brod ist
2002, 93–135). Diese synoptischen Tabellen ermög- Kafka nun einmal ein jüdischer ›homo religiosus‹
lichen es, GW-Texte (mit Brodschen Pseudo-Werk- und ein Asket, ja geradezu ein Heiliger und Märtyrer
titeln) leicht und zuverlässig in der KA und FKA seines Glaubens.
(natürlich nur in deren vor 2002 erschienenen Bän- (2) Deutlich nüchterner und faktenorientierter
den) aufzufinden. Eine ähnliche (freilich beschränk- fiel Klaus Wagenbachs Monographie Franz Kafka.
tere) Hilfsfunktion bietet auch das Werkregister Biographie seiner Jugend aus, die 1958 erschien und
dieses Handbuches, da hier zu Brodschen Herausge- 2006 in einer schön gestalteten und erweiterten Neu-
bertiteln immer auch KA-Textanfänge und Stellen- ausgabe mit vielen Bildern und Dokumenten vorge-
nachweise angegeben werden. legt wurde. Sie behandelt den Lebenszeitraum von
der Geburt bis ins Jahr 1912, also die Phase des frü-
Editionen des Briefwerkes hen Werkes, und besticht vor allem durch umfang-
Die Überlieferungs- und Editionsgeschichte des reiche Informationen zum lokalen und historischen
Briefwerks wurde am Ende des entsprechenden Kontext.
Handbuchbeitrages bereits ausführlich dargestellt (3) Ebenfalls faktenorientiert – und eben wegen
(ä 3.4.3). Hier sei daher nur auf die Ausgabe verwie- der Fülle gesammelter Informationen immer noch
sen, die sicher auf absehbare Zeit die Standardedi- unverzichtbar –, aber stärker psychologisierend (und
tion bleiben wird: Die KA enthält auch eine eigene wesentlich schwerer zu lesen) fiel der umfangreiche
524 Anhang

biographische Abriss von Hartmut Binder aus, der berichte in Gustav Janouchs Gespräche mit Kafka
im Kafka-Handbuch von 1979 den größten Teil des (1961 u.ö.) gelten dagegen heute nach allgemeinem
ersten Bandes füllt (KHb 1979, I, 103–584). Konsens als weitgehend frei erfunden.
(4) Die aktuellste, umfangreichste und zugleich le-
serfreundlichste Kafka-Biographie erarbeitet zurzeit Hilfsmittel
Reiner Stach. Ihr zweiter und dritter Band sind be-
reits erschienen (Die Jahre der Entscheidungen Selbstdeutungen Kafkas – zu einzelnen Werken und
[1910–15], 2002; Die Jahre der Erkenntnis [1915–24], zu seinem Schreiben überhaupt – wurden 1977 von
2008), der erste steht noch aus (nicht zuletzt wegen Erich Heller und Joachim Beug zusammengestellt
der Unzugänglichkeit des als Quelle unverzichtba- (natürlich auf der inzwischen überholten Textbasis
ren Brodschen Nachlasses). Durch seine intensiven von GW). Einen gewissen Ersatz dafür werden,
Recherchen hat Stach unser Wissen über Kafka um wenn vollständig erschienen, die FKA-Bände bieten,
viele Details bereichert. Eine mindestens ebenso da sie Selbstzeugnisse in ihren Beiheften dokumen-
große Leistung stellt jedoch seine originelle Darstel- tieren.
lungsweise dar: Stach verbindet Empathie mit Fak- Die noch vorhandenen Überreste von Kafkas
tengenauigkeit, indem er zwischen »szenischer Ver- Bibliothek hat 1982 die Forschungsstelle für Prager
gegenwärtigung«, »situativer Entfaltung« und »his- deutsche Literatur an der Universität Wuppertal
torischer Lokalisierung von Kafkas Leben« wechselt angekauft (die auch die KA betreute); 1990 wurden
(Stach 2002, XXV). Dabei wahrt er erfreuliche Dis- die Bestände von Jürgen Born in einem »beschrei-
tanz zu vielen sattsam bekannten Klischees der benden Verzeichnis« dokumentiert (dieses ersetzt
Kafka-Forschung und hält sich, vor allem im zweiten ein erstes, von Klaus Wagenbach erstelltes und in
Band, bei Werkdeutungen (die im Kontext einer Bio- seine Biographie des jungen Kafka aufgenommenes
graphie allzu leicht biographistisch ausfallen) wohl- Bibliotheksverzeichnis; Wagenbach 1958, 251–263).
tuend zurück. Born listet nicht nur die (noch) vorhandenen Bücher
Zu nennen sind noch zwei Sonderfälle des Genres und Zeitschriften (nach Sachgruppen geordnet) auf,
Biographie: Peter-André Alts Franz Kafka. Der ewige sondern auch alle »in Kafkas Schriften erwähnten
Sohn (2005) und Joachim Unselds Franz Kafka. Ein oder nachweislich von ihm zur Kenntnis gekomme-
Schriftstellerleben (1982). Das erste Buch ist zugleich nen Bücher und Almanache, Zeitschriften und Zeit-
eine Werkmonographie, das zweite eine auf Verlags- schriftenbeiträge« (Born 1990, 11).
und Verlegerbeziehungen konzentrierte ›Schriftstel- Auf der Textbasis der KA haben Heinrich P. Del-
ler‹-Biographie. Ein überaus nützliches Hilfs- und fosse und Karl J. Skrodzki 1993 und 2003 Konkor-
Nachschlageinstrument stellt schließlich die knapp danzen zu den Romanen und den Nachgelassenen
gefasste Kafka-Chronik von Roger Hermes u. a. dar Schriften und Fragmenten erstellt. Heute lässt sich
(1999). im Internet auch der komplette Textbestand der KA
Auch an hervorragenden Bildbänden zu Kafka (ohne Amtliche Schriften, Apparat- und Briefbände)
gibt es keinen Mangel. Hier seien nur zwei ange- leicht durchsuchen (ä 526).
führt, die zugleich auch Biographien in nuce sind: Hartmut Binder hat (auf der Textbasis von GW)
Klaus Wagenbachs Franz Kafka. Bilder aus seinem zwei nützliche Kommentare zum Werk vorgelegt:
Leben (1983, erweiterte Neuauflage 2008), ein schön Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen (1975)
gemachtes Buch mit bestechender Bildqualität, und und Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensio-
Hartmut Binders opulente Bild-Biographie Kafkas nen, Aphorismen und zum Brief an den Vater (1976).
Welt. Eine Lebenschronik in Bildern (2008) mit um- Seinem interpretatorischen Ansatz entsprechend,
fassendem und höchst informationsreichem Text- dominiert hier allerdings eine biographische Werk-
teil. deutung. Auch die zwei Bände der Auswahlausgabe
Was die Lebenszeugnisse anbelangt, so findet man von Dieter Lamping (ä 534) sind mit knappen Kom-
die wichtigsten Berichte und Aussagen von Freun- mentaren versehen.
den und Bekannten über Kafka handlich zusam- Von den zahlreichen Kafka-Bibliographien ist
mengestellt in Hans-Gerd Kochs »Als mir K. entge- heute nur noch die von Maria Luise Caputo-Mayr
genkam…«. Erinnerungen an Franz Kafka (1995, und Julius Michael Herz von Bedeutung, die in ihrer
erw. Neuausgabe 2005). Die in der Kafka-Forschung erweiterten Auflage von 2000 ein umfassendes (und
früher gern zitierten Erinnerungen und Gesprächs- teilweise kommentiertes) Verzeichnis der Primär-
Ausgaben und Hilfsmittel 525

und Sekundärliteratur bis ca. 1997 bietet (und durch Institutionen der Kafka-Forschung –
Personen- und Werkregister erschließt). Für die Pri- Kafka im Internet
märliteratur sind die Bände als immer noch bestes
Verzeichnis von Primärdrucken und deren Überset- Wer bei Google »Kafka« eingibt, bekommt fast 7 Mil-
zungen unverzichtbar; bei der Sekundärliteratur lionen Fundstellen angezeigt. So ist auch die Zahl von
würde man freilich auch seinem ärgsten Feind nicht Internetseiten, die ausschließlich diesem Autor ge-
wünschen wollen, alle hier genannten Titel komplett widmet sind, mehr als stattlich. Aus diesem reichen
zur Kenntnis nehmen zu müssen. Angebot werden hier nur die Seiten vorgestellt, die
Kleinere Forschungsberichte gibt es viele; als um- einen besonders hohen Nutzwert bieten und eine ei-
fassende Rekonstruktion von Rezeptionsgeschichte nigermaßen dauerhafte Webpräsenz haben dürften
und typologisierender Überblick über die wichtigs- (letztes Besuchsdatum für alle Links: 27.1.2010).
ten Forschungsrichtungen hat jedoch Peter U. Bei-
ckens Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Zunächst aber sollen die wichtigsten Institutionen
Forschung (1974) bis heute keinen Nachfolger gefun- der Kafka-Forschung über ihre Internetadressen
den. präsentiert werden. Zu nennen sind hier vor allem
In der Reihe der Kafka-Handbücher ist das hier fünf Kafka-Gesellschaften und zwei Forschungsin-
vorliegende das dritte. Das erste, 1979 von Hartmut stitutionen:
Binder in zwei Bänden edierte Kafka-Handbuch (1) Kafka Society of America: 1975 in San Fran-
(KHb 1979) darf – nicht zuletzt dank des vom Ver- cisco von Maria Luise Caputo-Mayr gegründet und
lag großzügig gewährten Umfanges – noch immer damit die älteste Kafka-Gesellschaft; seit 2001 in
als ein wichtiges Standardwerk gelten (das heute na- New York angesiedelt; gibt seit 1977 das Journal of
türlich sowohl vom Stand der Textkritik wie vom the Kafka Society of America heraus:
Forschungsstand her gesehen in vielen Details über-
www.kafkasocietyofamerica.org
holt ist). Bettina von Jagow und Oliver Jahraus ha-
ben 2008 ein zweites Kafka-Handbuch (KHb 2008) (2) Österreichische Franz-Kafka-Gesellschaft: 1979 in
herausgegeben – und Kafka zu seinem 125. Ge- Klosterneuburg gegründet, wo sie auch ihren Sitz hat;
burtstag geschenkt (KHb 2008, 9). Die (mit rund betreut das Sterbehaus Kafkas in Kierling; verlieh
160 von insgesamt rund 550 Druckseiten) umfas- 1979–2001 alle zwei Jahre den Franz-Kafka-Preis
sendste seiner vier Abteilungen – »Franz Kafka. Der (u. a. an Peter Handke, Elias Canetti, Christoph Rans-
Mensch zwischen Leben und Werk«; »Werküber- mayr); veranstaltete vor allem in den 80er und 90er
blick«; »Deutungsperspektiven«; »Einzelinterpreta- Jahren eine Reihe von Kafka-Symposien. Im Internet
tionen« – ist den diversen Forschungsansätzen ge- ist sie nur durch eine Kontaktadresse vertreten:
widmet. Im etwas knapper ausgefallenen Interpre-
www.literaturhaus.at/zirkular/archive_institutionen/
tationsteil werden die von Kafka zu Lebzeiten kafka2/
veröffentlichten Buchpublikationen, die Romane
und die »Tier- und Künstlergeschichten« in Einzel- (3) Společnost Franze Kafky (tschechische Franz-
beiträgen behandelt. Kafka-Gesellschaft): 1990 in Prag gegründet, wo sie
Im deutschen Sprachraum immer noch viel zu ihren Sitz im ›Franz-Kafka-Zentrum‹ hat; mit eige-
wenig bekannt ist schließlich die von Richard T. nem Verlag, der u. a. die tschechische Kafka-Werk-
Gray u. a. verfasste Franz Kafka Encyclopedia (2005). ausgabe publiziert hat; verleiht seit 2001 den Franz-
Dieses eminent hilfreiche Nachschlagewerk enthält Kafka-Preis (u. a. an Elfriede Jelinek, Harold Pinter,
in alphabetischer Anordnung kurze Artikel zu ein- Peter Handke); Homepage in Tschechisch, Englisch
zelnen Werken (im Wesentlichen zu allen von Kafka und Deutsch:
oder Brod betitelten Texten), aber auch zu den wich-
www.franzkafka-soc.cz
tigsten fiktiven Charakteren, den Textträgern und
Ausgaben, den wichtigsten Personen aus Kafkas Le- (4) Nederlandse Franz Kafka-Kring (Niederländi-
bensumfeld, seinen Beziehungen zu für ihn prägen- scher Franz-Kafka-Kreis): gegründet 1992; gibt seit
den Autoren, Elementen seines Prager Lebensumfel- 1993 die dreisprachige Zeitschrift Kafka-Katern her-
des und zu für sein Werk wichtigen literaturwissen- aus (Inhaltsverzeichnisse auf der Homepage):
schaftlichen Termini. Alle Artikel sind mit einem
www.kafka-kring.nl
kurzen Literaturverzeichnis versehen.
526 Anhang

(5) Deutsche Kafka-Gesellschaft (DKG): Gegründet (4) Faksimile des Prager Tagblatt (1877–1938):
2005 in Bonn von Nadine A. Chmura; veranstaltet
www.anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=ptb
seit 2007 jährliche Symposien, die in der Schriften-
reihe der Deutschen Kafka-Gesellschaft erscheinen. (5) Über 100 jüdische Periodika aus den Jahren 1806–
Die Homepage bietet u. a. eine Neuerscheinungsliste 1938 im Faksimile, darunter auch Der Jude (1916–
zu Kafka (seit 2006), die mindestens als Platzhalter 28):
für eine dringend benötigte Jahresbibliographie von
www.compactmemory.de
Neuerscheinungen zum Autor dienen kann:
www.kafka-gesellschaft.de
Abschließend sei noch auf wenigstens zwei von vie-
(6) Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur len Kafka-Adressen im Netz verwiesen, die aus dem
(Wuppertal; seit 1974): Diese hat zwar reiche Be- üblichen Angebot herausstechen:
stände (u. a. die erhaltenen Bände aus Kafkas Biblio- (1) Reiner Stachs Kafka-Seite bietet nicht nur viel-
thek) und große Verdienste um die Kafka-For- fältige Informationen zu Kafkas Leben und Werk, zu
schung, bisher aber allenfalls den Ansatz zu einer In- Personen aus seinem Lebensumfeld und zur Sekun-
ternetpräsenz: därliteratur sowie Links zu anderen wichtigen Netz-
adressen, sondern auch ein »Fundstück des Monats«
www.verwaltung.uni-wuppertal.de/forschung/1996/
fb4/born.html und eine Rubrik »News«, mit denen der Besucher an
aktuellen Funden und am Wissen des Kafka-Biogra-
(7) Oxford Kafka Research Centre (OKRC): Gegrün- phen teilhaben kann:
det 2008 von Manfred Engel und Ritchie Robertson; www.franzkafka.de
veranstaltet u. a. alle zwei Jahre internationale Sym-
posien, die in der Reihe Oxford Kafka Studies (Kö- (2) Benno Wagners Virtuelles Kafka-Bureau ist ein
nigshausen & Neumann, Würzburg) erscheinen. Die noch im Aufbau befindliches Projekt.
Homepage informiert über Aktivitäten des OKRC www.kafkabureau.net/index.html
und sammelt Informationen zu aktuellen Kafka-For-
schungsprojekten: Hier die Selbstbeschreibung der ersten Projektphase
von der Homepage:
www.kafka-research.ox.ac.uk
Das Virtuelle Kafka-Bureau zielt darauf ab, den transtex-
tuellen und transmedialen Raum des Kafka’schen Werks
Von primärem Interesse für Kafka-Forscher sind aber auf der Grundlage literatur-, medien- und kulturwissen-
natürlich die Internetseiten, die recherchierbare Texte schaftlicher Konzepte als digitales Arbeitsumfeld für Li-
teratur-, Medien- und Kulturwissenschaftler sowie wei-
›online‹ präsentieren. Obwohl die im Folgenden auf- tere Nutzergruppen zu erschließen. Das erste For-
geführten Adressen auch jeweils viele und vielfältige schungsprojekt […] erschließt und verdatet zunächst
andere Informationen enthalten, werden hier nur die das Feld der – intermedial verstandenen – Kafka’schen
besonders forschungsrelevanten Primärressourcen Lektüren in Form einer relationalen Datenbank (Kafkas
Virtuelle Mediathek).
genannt; von den weiteren Vorzügen der Seiten mag
sich der Leser bei Besuchen selbst überzeugen: Im Suchbereich »Echotexte« soll im Endstadium
(1) Durchsuchbarer Volltext der KA (noch ohne eine Datenbank ›Autoren‹ und ihre ›Werke‹ (beides
Briefbände und Amtliche Schriften): im weitesten Sinne und pluri-medial zu verstehen)
mit Belegen zu Kafkas Rezeption derselben und dar-
www.kafka.org
auf bezogenen Stellen aus ausgewählter Sekundärli-
(2) Durchsuchbarer Volltext von Tagebüchern und teratur vernetzen. Vom gegenwärtigen Stand des
Briefen (allerdings noch nach den alten Ausgaben): Projekts mag der Leser sich durch eigene Such-Ver-
homepage.univie.ac.at/werner.haas/ suche überzeugen.

(3) Faksimile der Kafka-Drucke zu Lebzeiten in Zeit- Um unnötige Doppelungen zu vermeiden, werden im
schriften und Zeitungen und Synopse zwischen GW, Literaturverzeichnis zum Artikel all die Angaben, die
KA und FKA (»Findbuch«): sich zusammenhängend und übersichtlich geordnet in
der Gesamtbibliographie am Ende des Handbuchs fin-
www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke.htm
www.textkritik.de/findbuch/index.htm den, nicht ein zweites Mal präsentiert.
Ausgaben und Hilfsmittel 527

Ausgaben: ä 532–534; Einzelpublikationen zu Leb- Texten. In: C. David (1980), 9–25; wieder in: M. Pasley
zeiten sind bei den jeweiligen Texten im Literaturver- (1995), 99–120. – Ders.: Zu K.s Interpunktion. In: Eu-
zeichnis angegeben. phorion 75 (1981), 476–483; wieder in: M. Pasley
Briefwerk: ä 533 f. (1995), 121–144. – Roland Reuß: »genug Achtung vor
Biographien, Bildbände, Lebenszeugnisse: ä 534–536. der Schrift«? Zu: F.K., Schriften Tagebücher Briefe.
Hilfsmittel: ä 536. Kritische Ausgabe. In: Text. Kritische Beiträge 1 (1995),
Forschung: Mark M. Anderson: Virtual Zion. The 123–152 [1995a]. – Ders.: Lesen, was gestrichen wurde.
Promised Lands of the New Critical Editions of K. In: Für eine historisch-kritische K.-Ausgabe. In: E/FKA
Mark H. Gelber (2004), 307–320. – Peter U. Beicken: (1995), 9–24 [1995b]. – Gerhard Rieck: F.K. und die
F.K. Eine kritische Einführung in die Forschung. Literaturwissenschaft. Aufsätze zu einem kafkaesken
Frankfurt/M. 1974. – Max Brod: F.K.s Nachlaß. In: Die Verhältnis. Anhang: Ordnung fiktionaler Texte K.s nach
Weltbühne 20 (1924) 29, 106–109; Faksimile in: U. Ott Texttiteln, Werkausgaben und Datierungen. Würzburg
(s. u.; 1991), 69–72. – Jens Diercksen: K. wörtlich. Zur 2002. – Jost Schillemeit: Korrekturen in K.s Manuskrip-
Kritischen Ausgabe der Schriften, Tagebücher, Briefe. In: ten und ihre Darstellung in der Kritischen Ausgabe. In:
H.L. Arnold (1994), 299–316. − Ludwig Dietz: Der Text Édition et Manuscrits. Probleme der Prosaedition. Jb.
für Internationale Germanistik, Reihe A 19 (1987), 93–
[Nachlass u. Ausgaben]. In: KHb (1979) II, 3–14. – Os-
106; wieder in J. Schillemeit (2004), 257–271 [2004a]. –
man Durrani: Editions, Translations, Adaptations. In:
Ders.: F.K. Werk, Nachlaß, Edition. Versuch eines Über-
J. Preece (2002), 206–225. – Manfred Engel/Ritchie
blicks. In: Margit Raders/Luisa Schilling (Hg.): Studien
Robertson: K. in Oxford. Das neue Oxford Kafka
zur deutschen Literatur. Gattungen – Motive – Autoren.
Research Centre. In: Jahrbuch des Bundesinstituts für
Madrid 1995, 73–88; wieder in: J. Schillemeit (2004),
Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Eu-
348–364 [2004b]. – Reiner Stach: K.s letztes Geheimnis
ropa 16 (2008), 195 f. – Wolf Kittler/Gerhard Neumann:
[Interview v. Peter von Becker]. In: Der Tagesspiegel,
K.s Drucke zu Lebzeiten. Editorische Technik und her- 26.1.2010. – Annette Steinich: K.-Editionen. In: Rüdiger
meneutische Entscheidung. In: Kittler/Neumann Nutt-Kofoth/Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutsch-
(1990), 30–74. – Christian Klein: K.s Biographie und sprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte.
Biographien K.s. In: KHb (2008), 17–36. – Gerhard Tübingen 2005, 247–262. – Dies.: K.-Editionen: Nach-
Neumann: Werk oder Schrift? Vorüberlegungen zur lass und Editionspraxis. In: KHb (2008), 137–149. –
Edition von K.s Bericht für eine Akademie. In: Jahrbuch Joachim Unseld: F.K. Ein Schriftstellerleben. Die Ge-
für internationale Germanistik 11 (1981), 154–173. – schichte seiner Veröffentlichungen. München, Wien
Ulrich Ott: K.s Nachlaß. In: Marbacher Magazin 52 1982. – Ders.: K.s Publikationen zu Lebzeiten. In: KHb
(1991), 61–99. – Malcolm Pasley: Der Schreibakt und (2008), 123–136.
das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von K.s Manfred Engel
528 Anhang

Siglen und Abkürzungen in Vorber. (Schriften, Tagebücher,


Briefe. Kritische Ausgabe).
BBdCM Beim Bau der Chinesischen Mauer.
1. Werk- und Briefausgaben Ungedruckte Erzählungen und Prosa
aus dem Nachlaß. Hg. v. Max Brod
Vorbemerkung: Da die Kritische Ausgabe (KA) für die- u. Hans-Joachim Schoeps. Berlin:
ses Handbuch die Standardausgabe ist, wurde bei allen Kiepenheuer 1931 [2. Aufl.: Köln
Seitennachweisen im Text bei den Bandsiglen die Aus- 1948].
gabenkennung /KA weggelassen; statt AS/KA steht also BE Briefe an die Eltern aus den Jahren
einfach AS, DzL statt DzL/KA usw. Ebenfalls ohne Aus- 1922–1924. Mit kommentierten Re-
gabenkennung zitiert werden: Briefe (statt: Briefe/GW), produktionen. Hg. v. Josef Čermák u.
und BO statt (BO/GW). Martin Svatoš. New York, Frank-
furt/M.: Fischer 1990.
A/GS Amerika. Roman. Hg. v. Max Brod in BeK/FKA Beschreibung eines Kampfes/ Gegen
Gemeinschaft mit Heinz Politzer. zwölf Uhr. Faksimile-Edition. Hg. v.
Berlin: Schocken 1935 (Gesammelte Roland Reuß in Zusammenarb. mit
Schriften, Bd. 2). Peter Staengle u. Joachim Unseld.
A/GS2 Amerika. Roman. Hg. v. Max Brod. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld/Ro-
New York: Schocken 1946 (Gesam- ter Stern 1999 (Historisch-Kritische
melte Schriften, 2. Aufl., Bd. 2). Ausgabe sämtlicher Handschriften,
A/GW Amerika. Roman. Hg. v. Max Brod. Drucke, Typoskripte).
Frankfurt/M.: Fischer, Lizenzausga- BeK/GS Beschreibung eines Kampfes. Novel-
be von Schocken 1953; – auch: 1966 len, Skizzen, Aphorismen aus dem
(Gesammelte Werke). Nachlaß. Hg. v. Max Brod in Ge-
AS/KA Amtliche Schriften. Hg. v. Klaus meinschaft mit Heinz Politzer. Prag:
Hermsdorf u. Benno Wagner. Frank- Heinrich Mercy Sohn 1936 (Gesam-
furt/M.: Fischer 2004 (Schriften, Ta- melte Schriften, Bd. 5).
gebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). BeK/GS2 Beschreibung eines Kampfes. Novel-
B00–12/KA Briefe 1900–1912. Hg. v. Hans-Gerd len, Skizzen, Aphorismen aus dem
Koch. Frankfurt/M.: Fischer 1999 Nachlaß. Hg. v. Max Brod. New York:
(Schriften, Tagebücher, Briefe. Kriti- Schocken 1946 (Gesammelte Schrif-
sche Ausgabe). ten, 2. Aufl., Bd. 5).
B13–14/KA Briefe 1913 – März 1914. Hg. v. Hans- BeK/GW Beschreibung eines Kampfes. Novel-
Gerd Koch [Text, Kommentar u. Ap- len, Skizzen, Aphorismen aus dem
parat in einem Bd.]. Frankfurt/M.: Nachlaß. Hg. v. Max Brod. Frank-
Fischer 2001 (Schriften, Tagebücher, furt/M.: Fischer, Lizenzausgabe von
Briefe. Kritische Ausgabe). Schocken 1954; div. Neuausgaben
B14–17/KA Briefe April 1914 – 1917. Hg. v. Hans- (Gesammelte Werke).
Gerd Koch [Text, Kommentar u. Ap- BF/GW Briefe an Felice und andere Korres-
parat in einem Bd.]. Frankfurt/M.: pondenz aus der Verlobungszeit. Hg.
Fischer 2005 (Schriften, Tagebücher, v. Erich Heller u. Jürgen Born. Frank-
Briefe. Kritische Ausgabe). furt/M.: Fischer, Lizenzausgabe von
B18–20/KA Briefe 1918–1920. Hg. v. Hans-Gerd Schocken 1967; div. Neuausgaben
Koch [Text, Kommentar u. Apparat (Gesammelte Werke).
in einem Bd.]. Frankfurt/M.: Fischer BM Briefe an Milena. Erw. u. neu geord-
in Vorber., angekündigt für 2010 nete Ausg. Hg. v. Jürgen Born u. Mi-
(Schriften, Tagebücher, Briefe. Kriti- chael Müller. New York, Frankfurt/M.:
sche Ausgabe). Fischer 1983 [ersetzt: BM/GW 1965
B21–24/KA Briefe 1921–1924. Hg. v. Hans-Gerd ä 399].
Koch. [Text, Kommentar u. Apparat BM/GW Briefe an Milena. Hg. v. Willy Haas.
in einem Bd.]. Frankfurt/M.: Fischer Frankfurt/M.: Fischer, Lizenzausga-
Siglen und Abkürzungen 529

be von Schocken 1952; div. Neuaus- GS Gesammelte Schriften. Hg. v. Max


gaben (Gesammelte Werke). Brod in Gemeinschaft mit Heinz Po-
BMB Max Brod/Franz Kafka. Eine Freund- litzer. Bd. 1–4: Berlin: Schocken; Bd.
schaft. Bd. 2: Briefwechsel. Hg. v. 5/6: Prag: Heinrich Mercy Sohn
Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fi- 1935–37.
scher 1989. GS2 Gesammelte Schriften, 2. Aufl. Hg. v.
BO/GW Briefe an Ottla und die Familie. Hg. Max Brod. New York: Schocken
v. Hartmut Binder u. Klaus Wagen- 1946.
bach. Frankfurt/M.: Fischer, Lizenz- GW Gesammelte Werke. Hg. v. Max Brod.
ausgabe von Schocken 1974; – auch: Frankfurt/M.: Fischer, Lizenzausga-
1975 (Gesammelte Werke). be von Schocken 1950–1974.
Briefe/GW Briefe 1902–1924. Hg. v. Max Brod. HS/KA Hebräisch-Studien. Hg. v. Alfred Bo-
Frankfurt/M.: Fischer, Lizenzausga- denheimer. Frankfurt/M.: Fischer in
be von Schocken 1958; div. Neuaus- Vorber. (Schriften, Tagebücher, Brie-
gaben (Gesammelte Werke). fe. Kritische Ausgabe).
DBM Drei Briefe an Milena Jesenská. Fak- Hzv/GW Hochzeitsvorbereitungen auf dem
simile-Edition. Hg. v. KD Wolff, Pe- Lande und andere Prosa aus dem
ter Staengle u. Roland Reuß. Frank- Nachlaß. Hg. v. Max Brod. Frank-
furt/M.: Stroemfeld/Roter Stern 1995. furt/M.: Fischer, Lizenzausgabe von
DzL/KA Drucke zu Lebzeiten. Textbd. Hg. v. Schocken 1953; div. Neuausgaben
Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. (Gesammelte Werke).
Gerhard Neumann. Frankfurt/M.: KA Schriften, Tagebücher, Briefe. Kriti-
Fischer 1996 (Schriften, Tagebücher, sche Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born,
Briefe. Kritische Ausgabe). Gerhard Neumann, Malcolm Pasley
DzL:A/KA Apparatband zu DzL/KA. u. Jost Schillemeit. Frankfurt/M.:
E/FKA Einleitung. Hg. v. Roland Reuß unter Fischer 1982 ff.
Mitarb. v. Peter Staengle, Michel Lei- KA/Tb Gesammelte Werke in 12 Bden. Nach
ner u. KD Wolff. Frankfurt/M., Ba- der Kritischen Ausgabe. Hg. v. Hans-
sel: Stroemfeld/Roter Stern 1995 Gerd Koch. Frankfurt/M.: Fischer
(Historisch-Kritische Ausgabe sämt- 1994.
licher Handschriften, Drucke, Typo- LFFE Letters to Friends, Family and Edi-
skripte). tors. Hg. v. Nahum N. Glatzer u. a.,
Erz/GS Erzählungen und kleine Prosa. Hg. v. übers. v. Richard u. Clara Winston.
Max Brod in Gemeinschaft mit Heinz New York: Schocken 1977 [Textbe-
Politzer. Berlin: Schocken 1935 (Ge- stand gegenüber Briefe/GW leicht
sammelte Schriften, Bd. 1). erweitert; erstmals umfangreicher
Erz/GS2 Erzählungen und kleine Prosa. Hg. v. Kommentar].
Max Brod. New York: Schocken 1946 NSF I/KA Nachgelassene Schriften und Frag-
[ergänzt um: Drei Kritiken] (Gesam- mente I. Textbd. Hg. v. Malcolm Pas-
melte Schriften, 2. Aufl., Bd. 1). ley. Frankfurt/M.: Fischer 1993
Erz/GW Erzählungen. Hg. v. Max Brod. (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kriti-
Frankfurt/M.: Fischer, Lizenzausga- sche Ausgabe).
be von Schocken 1952; div. Neuaus- NSF I:A/KA Apparatband zu NSF I/KA.
gaben (Gesammelte Werke). NSF II/KA Nachgelassene Schriften und Frag-
FKA Historisch-Kritische Franz Kafka- mente II. Textbd. Hg. v. Jost Schille-
Ausgabe sämtlicher Handschriften, meit. Frankfurt/M.: Fischer 1992
Drucke und Typoskripte. Hg. v. Ro- (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kriti-
land Reuß u. Peter Staengle. Frank- sche Ausgabe).
furt/M., Basel: Stroemfeld/Roter NSF II:A/KA Apparatband zu NSF II/KA.
Stern 1995 ff. Beilage unter dem Ti- OO1&2/FKA Oxforder Oktavhefte 1&2. Faksimile-
tel: Franz Kafka-Hefte. Edition. Hg. v. Roland Reuß u. Peter
530 Anhang

Staengle. Frankfurt/M., Basel:Stroem- P:A/KA Apparatband zu P/KA.


feld/Roter Stern 2006. (Historisch- RK Hugo Wetscherek (Hg.): K.s letzter
Kritische Ausgabe sämtlicher Hand- Freund. Der Nachlass Robert Klop-
schriften, Drucke, Typoskripte). stock (1899–1972). Mit kommentier-
OO3&4/FKA Oxforder Oktavhefte 3&4. Faksimile- ter Erstveröffentlichung v. 38 teils
Edition. Hg. v. Roland Reuß u. Peter ungedruckten Briefen F.K.s. Wien:
Staengle. Frankfurt/M., Basel: Stroem- Inlibris 2003.
feld/Roter Stern 2007. (Historisch- RMB Max Brod/Franz Kafka: Eine Freund-
Kritische Ausgabe sämtlicher Hand- schaft. Bd. 1: Reiseaufzeichnungen
schriften, Drucke, Typoskripte). [RMB]. Hg. von Malcolm Pasley u.
OO5&6/FKA Oxforder Oktavhefte 5&6. Faksi- Hannelore Rodlauer. Frankfurt/M.:
mile-Edition. Hg. v. Roland Reuß u. Fischer 1987.
Peter Staengle. Frankfurt/M., Basel: S/GS Das Schloß. Hg. v. Max Brod in Ge-
Stroemfeld/Roter Stern 2009. (Histo- meinschaft mit Heinz Politzer. Ber-
risch-Kritische Ausgabe sämtlicher lin: Schocken 1935 (Gesammelte
Handschriften, Drucke, Typoskripte). Schriften, Bd. 4).
OQ1&2/FKA Oxforder Quarthefte 1&2. Faksi- S/GS2 Das Schloß. Hg. v. Max Brod. New
mile-Edition. Hg. v. Roland Reuß u. York: Schocken 1946 (Gesammelte
Peter Staengle. Frankfurt/M., Basel: Schriften, 2. Aufl., Bd. 4).
Stroemfeld/Roter Stern 2001 (Histo- S/GW Das Schloß. Roman. Hg. v. Max
risch-Kritische Ausgabe sämtlicher Brod. Frankfurt/M.: Fischer, Lizenz-
Handschriften, Drucke, Typoskripte). ausgabe von Schocken 1951; div.
OQ17(Vw)/FKA Die Verwandlung. Faksimile-Edi- Neuausgaben (Gesammelte Werke).
tion. Hg. v. Roland Reuß u. Peter S/KA Das Schloß. Textbd. Hg. v. Malcolm
Staengle. Frankfurt/M., Basel: Pasley. Frankfurt/M.: Fischer 1982
Stroemfeld/Roter Stern 2003 (Histo- (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kriti-
risch-Kritische Ausgabe sämtlicher sche Ausgabe).
Handschriften, Drucke, Typoskripte). S:A/KA Apparatband zu S/KA.
P/FKA Der Process. Faksimile-Edition. Hg. T/GS Tagebücher und Briefe. Hg. v. Max
v. Roland Reuß in Zusammenarb. Brod in Gemeinschaft mit Heinz Po-
mit Peter Staengle. Frankfurt/M., litzer. Prag: Heinrich Mercy Sohn
Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1997 1937 (Gesammelte Schriften, Bd. 6).
(Historisch-Kritische Ausgabe sämt- T/GW Tagebücher 1910–1923. Hg. v. Max
licher Handschriften, Drucke, Typo- Brod. Frankfurt/M.: Fischer, Lizenz-
skripte). ausgabe von Schocken 1951; – auch:
P/GS Der Prozeß. Roman. Hg. v. Max Brod 1965 (Gesammelte Werke).
in Gemeinschaft mit Heinz Politzer. T/KA Tagebücher. Textbd. Hg. v. Hans-
Berlin: Schocken 1935 (Gesammelte Gerd Koch, Michael Müller u. Mal-
Schriften, Bd. 3). colm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer
P/GS2 Der Prozeß. Roman. Hg. v. Max 1990 (Schriften, Tagebücher, Briefe.
Brod. New York: Schocken 1946 (Ge- Kritische Ausgabe).
sammelte Schriften, 2. Aufl., Bd. 3). T:A/KA Apparatband zu T/KA.
P/GW Der Prozeß. Roman. Hg. v. Max T:K/KA Kommentarband zu T/KA.
Brod. Frankfurt/M.: Fischer, Lizenz- V/KA Der Verschollene. Textbd. Hg. v. Jost
ausgabe von Schocken 1950; div. Schillemeit. Frankfurt/M.: Fischer
Neuausgaben (Gesammelte Werke). 1983 (Schriften, Tagebücher, Briefe.
P/KA Der Proceß. Textbd. Hg. v. Malcolm Kritische Ausgabe).
Pasley, Redaktion Hans-Gerd Koch. V:A/KA Apparatband zu V/KA.
Frankfurt/M.: Fischer 1990 (Schrif-
ten, Tagebücher, Briefe. Kritische
Ausgabe).
Siglen und Abkürzungen 531

2. Sekundärliteratur IASL Internationales Archiv für Sozialge-


schichte der deutschen Literatur
KHb (1979), Hartmut Binder (Hg.): Kafka-Hand- JDSG Jahrbuch der Deutschen Schiller-
buch Gesellschaft
I/II in zwei Bden. Bd. I: Der Mensch JEGPh Journal of English and Germanic
und seine Zeit; Bd. II: Das Werk und Philology
seine Wirkung. Stuttgart 1979. JFDH Jahrbuch des Freien Deutschen
KHb (2008) Bettina von Jagow/Oliver Jahraus Hochstifts
(Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – KP KulturPoetik. Zeitschrift für kultur-
Werk – Wirkung. Göttingen 2008. geschichtliche Literaturwissenschaft
LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft
und Linguistik
3. Zeitungen und Zeitschriften MAL Modern Austrian Literature
Archiv Archiv für das Studium der Neueren MLN Modern Language Notes
Sprachen und Literaturen MLQ Modern Language Quarterly
CG Colloquia Germanica MLR Modern Language Review
CL Comparative Literature Monats- Monatshefte für deutschen Unter-
DU Der Deutschunterricht hefte richt, deutsche Sprache und Litera-
DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für tur
Literaturwissenschaft und Geistes- NDH Neue Deutsche Hefte
geschichte NDL Neue Deutsche Literatur
EG Études Germaniques PMLA Publications of the Modern Lan-
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung guage Association
GLL German Life and Letters WB Weimarer Beiträge
GQ German Quarterly WW Wirkendes Wort
GR Germanic Review ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie
GRM Germanisch-Romanische Monats- ZfG Zeitschrift für Germanistik
schrift
532 Anhang

Literaturverzeichnis [Bd. 8:] Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen,


Aphorismen aus dem Nachlaß [BeK/GW]. Hg. v. Max
Brod. 1954.
[Bd. 9:] Briefe 1902–1924 [Briefe/GW]. Hg. v. Max Brod.
1. Ausgaben 1958.
[Bd. 10:] Briefe an Milena [BM/GW]. Hg. v. Willy Haas.
1.1 Werk- und Sammelausgaben
1965 [später ersetzt durch: BM 1983].
(Auswahl in chronologischer Folge), [Bd. 11:] Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der
kritische Editionen Verlobungszeit [BF/GW]. Hg. v. Erich Heller u. Jürgen
Born. 1967.
Beim Bau der Chinesischen Mauer [BBdCM]. Unge- [Bd. 12:] Briefe an Ottla und die Familie [BO/GW]. Hg. v.
druckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß. Hartmut Binder u. Klaus Wagenbach. 1974.
Hg. v. Max Brod u. Hans-Joachim Schoeps. Berlin: [Der Dorfschullehrer]: Fritz Martini: Ein Manuskript
Kiepenheuer 1931, 2. Aufl.: Köln: Kiepenheuer 1948. F.K.s: Der Dorfschullehrer. In: JDSG 2 (1958), 266–
Gesammelte Schriften [GS]. Hg. v. Max Brod in Ge- 300 [erste kritische Edition des von Brod als <Der
meinschaft mit Heinz Politzer. Bd. 1–4: Berlin: Scho- Riesenmaulwurf > veröffentlichten Textes].
cken, Bd. 5/6: Prag: Heinrich Mercy Sohn 1935–37. Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen. Pa-
Bd. 1: Erzählungen und kleine Prosa [Erz/GS]. 1935 [enthält rallelausgabe nach den Handschriften. Hg. v. Max
fast alle von K.s Veröffentlichungen zu Lebzeiten, außer
Brod, Textedition v. Ludwig Dietz. Frankfurt/M.: Fi-
Der Heizer, Der Kübelreiter, Großer Lärm, Die Aeroplane
scher 1969.
in Brescia u. den Rezensionen].
Bd. 2: Amerika. Roman [A/GS]. 1935 [gegenüber der Erst-
Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Paul Raabe. Frankfurt/M.:
ausgabe ergänzt um Fragmente]. Fischer 1970 (Fischer Tb 1078) [zahlreiche Neuaufla-
Bd. 3: Der Prozeß. Roman [P/GS]. 1935 [gegenüber der gen].
Erstausgabe ergänzt um unvollendete Kapitel, gestrichene Gesammelte Werke. Hg. v. Max Brod. Taschenausgabe
Stellen, Textkorrekturen K.s]. in 7 Bden. Frankfurt/M.: Fischer 1976 [zahlreiche
Bd. 4: Das Schloß [S/GS]. 1935 [gegenüber der Erstausgabe Neuauflagen]. Enthält die Bde.: [1] Amerika; [2] Der
ergänzt um Variante des Romananfangs, gestrichene Stel- Prozeß; [3] Das Schloß; [4] Erzählungen; [5] Be-
len u. Fragmente]. schreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Apho-
Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Apho- rismen aus dem Nachlaß; [6] Hochzeitsvorbereitun-
rismen aus dem Nachlaß [BeK/GS]. 1936. gen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nach-
Bd. 6: Tagebücher und Briefe [T/GS]. 1937 [Auswahl aus laß; [7] Tagebücher 1910–1923.
den Tagebüchern und div. Fragmente].
»Hochlöblicher Verwaltungsausschuß!« Amtliche
Gesammelte Schriften, 2. Aufl. Hg. v. Max Brod. New Schriften. Hg. v. Klaus Hermsdorf unter Mitw. v.
York: Schocken 1946. Winfried Possner u. Jaromir Louzil. Berlin: Akade-
Bd. 1: Erzählungen und kleine Prosa [Erz/GS2]. 1946 [er-
mie Verlag 1984; wieder: Frankfurt/M.: Luchterhand
gänzt um: Drei Kritiken].
1991 [inzwischen ersetzt durch AS/KA].
Bd. 2: Amerika. Roman [A/GS2]. 1946.
Bd. 3: Der Prozeß. Roman [P/GS2]. 1946. Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe [KA]. Hg. v.
Bd. 4: Das Schloß [S/GS2]. 1946. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u.
Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Jost Schillemeit. Frankfurt/M.: Fischer 1982 ff. [pa-
Aphorismen aus dem Nachlaß [BeK/GS2]. 1946 [ergänzt rallel zur KA wurde auch eine textidentische Hardco-
um Fragmente]. ver-Ausgabe ohne die Apparat- u. Kommentarbde.
Gesammelte Werke [in Einzelbänden] [GW]. Hg. v. veröffentlicht; 2002 erschien die text- u. seitenidenti-
Max Brod u. a. Frankfurt/M., New York: Fischer, sche, limitierte Taschenbuch-Ausgabe der KA in 15
Lizenzausgabe von Schocken 1950–74. Bden., m. Kommentar- u. Apparatbden., aber ohne
[Bd. 1:] Der Prozeß. Roman [P/GW]. Hg. v. Max Brod. Amtliche Schriften u. Briefbde.]; Bde. nach Erschei-
1950. nungschronologie:
[Bd. 2:] Das Schloß. Roman [S/GW]. Hg. v. Max Brod. 1951. Das Schloß. Textbd. [S] u. Apparatbd. [S:A]. Hg. v. Malcolm
[Bd. 3:] Tagebücher 1910–1923 [T/GW]. Hg. v. Max Brod. Pasley. 1982.
1951. Der Verschollene. Textbd. [V] u. Apparatbd. [V:A]. Hg. v.
[Bd. 4:] Briefe an Milena [BM/GW]. Hg. v. Willy Haas. 1952. Jost Schillemeit. 1983.
[Bd. 5:] Erzählungen [Erz/GW]. Hg. v. Max Brod. 1952. Der Proceß. Textbd. [P] u. Apparatbd. [P:A]. Hg. v. Malcolm
[Bd. 6:] Amerika. Roman [A/GW]. Hg. v. Max Brod. 1953. Pasley, Redaktion Hans-Gerd Koch. 1990.
[Bd. 7:] Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und an- Tagebücher. Textbd. [T], Apparatbd. [T:A] u. Kommen-
dere Prosa aus dem Nachlaß [Hzv/GW]. Hg. v. Max Brod. tarbd. [T:K]. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u.
1953. Malcolm Pasley. 1990.
Literaturverzeichnis 533

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II] u. Apparatbd. [NSF II:A]. Hg. v. Jost Schillemeit. Handschriften, Drucke und Typoskripte [FKA]. Hg.
1992. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M.:
Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Textbd. [NSF I] Stroemfeld/Roter Stern 1995 ff. Beilage unter dem Ti-
u. Apparatbd. [NSF I:A]. Hg. v. Malcolm Pasley. 1993.
tel: Franz Kafka Hefte 1997 ff.; Bde. nach Erschei-
Drucke zu Lebzeiten. Textbd. [DzL] u. Apparatbd. [DzL:A].
nungschronologie:
Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neu-
Einleitung [E/FKA] [Roland Reuß: Lesen, was gestrichen
mann. 1996.
wurde. Für eine historisch-kritische K.-Ausgabe; 2 Editi-
Amtliche Schriften [AS]. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno
onsbeispiele: Dom-Kapitel aus Process, Urteil]. Hg. v. Ro-
Wagner. 2004 [beigefügt: CD-ROM: Materialien;
land Reuß unter Mitarb. v. Peter Staengle, Michel Leiner
AS:CD].
u. KD Wolff. 1995.
Hebräisch-Studien [HS]. Hg. v. Alfred Bodenheimer. In Vor-
Der Process [P/FKA]. Faksimile-Edition [16 einzeln gehef-
ber.
tete Entwurfs-Kapitel im Schuber zusammen mit Franz
Briefe 1900–1912 [B00–12]. Hg. v. Hans-Gerd Koch [Text,
Kafka-Heft 1 und CD-ROM]. Hg. v. Roland Reuß in Zu-
Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. 1999.
sammenarb. mit Peter Staengle. 1997.
Briefe 1913 – März 1914 [B13–14]. Hg. v. Hans-Gerd Koch
Beschreibung eines Kampfes/ Gegen zwölf Uhr [BeK/FKA].
[Text, Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. 2001.
Faksimile-Edition [2 Bde., mit Franz Kafka-Heft 2 u. CD-
Briefe April 1914 – 1917 [B14–17]. Hg. v. Hans-Gerd Koch
ROM]. Hg. v. Roland Reuß in Zusammenarb. mit Peter
[Text, Kommentar u. Apparat in einem Bd]. 2005.
Briefe 1918–1920 [B18–20]. Hg. v. Hans-Gerd Koch [Text, Staengle u. Joachim Unseld. 1999.
Kommentar u. Apparat in einem Bd.] Angekündigt für Oxforder Quarthefte 1&2 [OQ1&2/FKA]. Faksimile-Edi-
2010. tion [2 Bde., mit Franz Kafka-Heft 3 u. CD-ROM]. Hg. v.
Briefe 1921–1924 [B21–24]. Hg. v. Hans-Gerd Koch. [Text, Roland Reuß u. Peter Staengle. 2001.
Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. In Vorber. Oxforder Quartheft 17 (Die Verwandlung) [OQ17(Vw)/
FKA]. Faksimile-Edition [Oxforder Quartheft 7 mit
Gesammelte Werke in 12 Bden. [KA/Tb]. Nach der Kri-
Franz Kafka-Heft 4 u. CD-ROM]. Hg. v. Roland Reuß
tischen Ausgabe. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frank-
und Peter Staengle. 2003 [beigefügt: Faksimile der Erst-
furt/M.: Fischer 1994 [Taschenbuchausgabe des KA-
ausgabe].
Textes ohne Apparat- u. Kommentarbde.; Nachgelas- Oxforder Oktavhefte 1&2 [OO1&2/FKA]. Faksimile-Edi-
sene Schriften und Tagebücher in jeweils 4 Bde. tion [2 Bde., mit Franz Kafka-Heft 5 u. CD-ROM]. Hg. v.
aufgeteilt; ohne die Briefbde.]. Roland Reuß u. Peter Staengle. 2006 [beigefügt: Faksimile
Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. der Erstausgabe des Landarzt].
Jost Schillemeit. Oxforder Oktavhefte 3&4 [OO3&4/FKA]. Faksimile-Edi-
Bd. 2: Der Verschollene. Roman in der Fassung der Hand- tion [2 Bde., mit Franz Kafka-Heft 6 u. CD-ROM]. Hg. v.
schrift. Hg. v. Jost Schillemeit. Roland Reuß und Peter Staengle. 2007.
Bd. 3: Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift. Oxforder Oktavhefte 5&6 [OO5&6/FKA]. Faksimile-Edition
Hg. v. Malcolm Pasley. [2 Bde., mit Franz Kafka-Heft 7 u. CD-ROM]. Hg. v. Ro-
Bd. 4: Das Schloß. Roman in der Fassung der Handschrift. land Reuß und Peter Staengle. 2009.
Hg. v. Malcolm Pasley.
Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes und andere Schriften aus
dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Jost 1.2 Briefe
Schillemeit.
Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schrif- Gesammelte Schriften. Bd. 6: Tagebücher und Briefe
ten aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Hg. [T/GS]. Hg. v. Max Brod u. Heinz Politzer. Prag
v. Malcolm Pasley. 1937.
Bd. 7: Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Gesammelte Werke [in Einzelbden.]:
Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Jost Schil- Briefe 1902–1924 [Briefe/GW]. Hg. v. Max Brod u. Klaus
lemeit. Wagenbach. New York, Frankfurt/M. 1958; div. Neuaus-
Bd. 8: Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlaß gaben.
in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Jost Schillemeit. Briefe an Milena [BM/GW]. Hg. v. Willy Haas. New York,
Bd. 9: Tagebücher Bd. 1: 1909–1912 in der Fassung der Frankfurt/M. 1965; div. Neuausgaben [ersetzt durch: BM
Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch u. Michael Müller. 1983].
Bd. 10: Tagebücher Bd. 2: 1912–1914 in der Fassung der Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlo-
Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch u. Michael Müller. bungszeit [BF/GW]. Hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born.
Bd. 11: Tagebücher Bd. 3: 1914–1923 in der Fassung der New York, Frankfurt/M. 1967; div. Neuausgaben.
Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch u. Michael Müller. Briefe an Ottla und die Familie [BO/GW]. Hg. v. Hartmut
Bd. 12: Reisetagebücher in der Fassung der Handschrift. Hg. Binder u. Klaus Wagenbach. New York, Frankfurt/M.
v. Malcolm Pasley u. Hannelore Rodlauer. 1974.
534 Anhang

Letters to Friends, Family and Editors [LFFE]. Hg. v. jeweils parallelisiert mit eher assoziativ ausgewählten
Nahum N. Glatzer u. a., übers. v. Richard u. Clara Kafka-Texten; weitere Zeichnungen Kafkas dürften
Winston. New York: Schocken 1977 [Textbestand ge- sich im bisher unzugänglichen Nachlass von Max
genüber Briefe/GW leicht erweitert; erstmals um- Brod befinden].
fangreicher Kommentar].
Briefe an Milena [BM]. Erw. u. neu geordnete Ausg. Hg.
v. Jürgen Born u. Michael Müller. New York,
2. Biographien, Bildbände,
Frankfurt/M.: Fischer, Lizenzausgabe von Schocken. Lebenszeugnisse
1983 [ersetzt: BM/GW 1965]. (vgl. auch S. 26 f.).
Max Brod/Franz Kafka: Eine Freundschaft. Bd. 2: Brief- Peter-Andre Alt: F.K. Der ewige Sohn. Eine Biographie.
wechsel [BMB]. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: München 2005, 2., durchgesehene Aufl. 2008.
Fischer 1989. Detlev Arens: F.K. München 2001.
Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922–1924. Mit Louis Begley: The Tremendous World I Have Inside My
kommentierten Reproduktionen [BE]. Hg. v. Josef Head. F.K. – A Biographical Essay. New York, Lon-
Čermák u. Martin Svatoš. New York, Frankfurt/M.: don 2008; dt.: Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe
Fischer 1990. habe. Über F.K. Dt. v. Christa Krüger. München
Drei Briefe an Milena Jesenská vom Sommer 1920 2008.
[DBM]. Faksimile-Edition. Hg. v. KD Wolff, Peter Chris Bezzel: K.-Chronik. Daten zu Leben und Werk.
Staengle u. Roland Reuß. Basel, Frankfurt/M.: München, Wien 1975 [ersetzt durch Roger Hermes
Stroemfeld/Roter Stern 1995. u. a.].
Hugo Wetscherek (Hg.): K.s letzter Freund. Der Nach- Hartmut Binder: Leben und Persönlichkeit F.K.s. In:
lass Robert Klopstock (1899–1972) [RK]. Mit kom- KHb (1979) I, 103–584.
mentierter Erstveröffentlichung v. 38 teils unge- – /Jan Parik: K. Ein Leben in Prag. Essen, München
druckten Briefen F.K.s. Wien: Inlibris 2003. 1993.
Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe: –: Prag. Literarische Spaziergänge durch die Goldene
Briefe 1900–1912 [B00–12]. Hg. v. Hans-Gerd Koch [Text, Stadt. Stuttgart 1997, 2., veränd. Aufl. 1997, 3., durch-
Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. Frankfurt/M. 1999.
ges. Aufl. 2002, 4., erw. Aufl. 2008.
Briefe 1913 − März 1914 [B13–14]. Hg. v. Hans-Gerd Koch
–: K. in Paris. Historische Spaziergänge mit alten Pho-
[Text, Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. Frankfurt/M.
tographien. München 1999.
2001.
Briefe April 1914 – 1917 [B14–17]. Hg. v. Hans-Gerd Koch
–: Wo K. und seine Freunde zu Gast waren. Prag, Furth
[Text, Kommentar und Apparat in einem Bd]. Frankfurt/M. im Wald 2000.
2005. –: Mit K. in den Süden. Eine historische Bilderreise in
Briefe 1918–1920 [B18–20]. Hg. v. Hans-Gerd Koch [Text, die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen. Prag,
Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. Angekündigt für Furth im Wald 2007.
2010. –: K.s Welt. Eine Lebenschronik in Bildern. Reinbek
Briefe 1921–1924 [B21–24]. Hg. v. Hans-Gerd Koch [Text, 2008.
Kommentar u. Apparat in einem Bd.]. In Vorber. Jürgen Born: K.s Bibliothek. Ein beschreibendes Ver-
zeichnis. Mit einem Index aller in K.s Schriften er-
1.3 Werkauswahl wähnten Bücher, Zeitschriften und Zeitschriftenbei-
träge. Zusammengest. unter Mitarb. v. Michael An-
Die Romane. Der Proceß – Das Schloß – Der Verschol- treter, Waltraud John u. Jon Sheperd. Frankfurt/M.
lene. Hg. u. Nachwort v. Dieter Lamping. Anm., 1990.
Komm. und Zeittafel von Sandra Poppe. Düsseldorf Max Brod: F.K. Eine Biographie. Erinnerungen und Do-
2007. kumente. Prag 1937 u.ö.
Die Erzählungen. Drucke zu Lebzeiten – Aus dem Nach- –: F.K. Glauben und Lehre. K. und Tolstoi. Mit einem
laß. Hg. u. Nachwort v. Dieter Lamping. Anm., Komm. Anhang: Felix Weltsch: Religiöser Humor bei F.K.
und Zeittafel von Sandra Poppe. Düsseldorf 2008. Winterthur 1948 u.ö.
–: Verzweiflung und Erlösung im Werk F.K.s. Frank-
furt/M. 1959 u.ö.
1.4 Das zeichnerische Werk
–: Streitbares Leben. Eine Autobiographie. München
Niels Bokhove/Marijke van Dorst (Hg.): Einmal ein 1960, erw. u. überarb. Neuausgabe: 1969.
großer Zeichner. F.K. als bildender Künstler. Prag –: Über F.K. Frankfurt/M., Hamburg 1966; Neuaufla-
2006 [enthält die 40 bisher bekannten Zeichnungen, gen 1974, 1976 u. 1977 [enthält: F.K. Eine Biographie
Literaturverzeichnis 535

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Jan Jindra/Judita Matyášová: Na cestách s F.K. Prag 2009 –: K. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt/M. 2008.
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haltsorte F.K.s; vgl. auch www.franzkafka.info/main. schichte eines Prager Juden. München 1975, 2. Aufl.
html, 27.2.2010]. Berlin, München 1989.
Frederick R. Karl: F.K. Representative Man. Prague, Joachim Unseld: F.K. Ein Schriftstellerleben. Die Ge-
Germans, Jews, and the Crisis of Modernism. New schichte seiner Veröffentlichungen. Mit einer Bib-
York 1991. liographie sämtlicher Drucke und Ausgaben der
Andreas B. Kilcher: F.K. Frankfurt/M. 2008 (Suhrkamp Dichtungen F.K.s, 1908–1924. München, Wien 1982
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548 Anhang

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549

Register Bialik, Chajim Nachman 30


Birnbaum, Nathan 13, 51, 384
Bismarck, Otto Eduard Leopold von 256
Blass, Ernst 43
Personen
Blei, Franz 9, 19, 111, 134 f., 136, 165, 400, 429
Adler, Alfred 71 Blériot, Louis 10, 127 f.
Adler, Friedrich 6, 40, 41, 45 Bleschke, Johanna ä Rahel Sanzara
Adler, Hans Günther 47 Bloch, Grete 17–19, 198, 394 f., 398, 399
Adorno, Theodor W. 59, 411 Bloch, Marc 59
Alighieri, Dante 31 Blüher, Hans 52, 67
Altenberg, Peter (d.i. Richard Engländer) 31, 112, 114, Blumenfeld, Kurt 13
449, 461 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 513
Amiel, Henri-Frédéric 7 Böhm, Adolf 51, 52
Anders, Günther (d.i. Günther Stern) 59 Borges, Jorge Luis 463
Anzani, Alessandro 10 Borovský, Karel Havlíček 255, 259
Anzenbacher, Albert 398 Brandeis, Jakob 39
Arouet, François-Marie ä Voltaire Brecht, Bertolt (d.i. Eugen Berthold Friedrich Brecht)
Asch, Schalom 30 114
Austen, Jane 441 Brenner, Josef Chaim (Chajim) 24, 30
Avenarius, Ferdinand 5 Brentano, Franz Clemens 44, 59, 63, 64, 98
Brod, Elsa ä Elsa Taussig
Bab, Julius 136 Brod, Max XVIII f., 6–8, 10, 11–13, 14 f., 16, 17, 18, 19,
Bachofen, Johann Jakob 45 23, 24, 25, 29, 32, 34, 37, 38, 40, 41, 42 f., 44, 45, 46, 47,
Baer, Arthur 25 51, 54 f., 65, 66, 83, 91, 92, 100, 102, 112, 127, 130–
Bahr, Hermann 97, 255, 259 134, 137 f., 140, 154, 176, 183, 192, 207, 240, 273, 282,
Bailly, Louise 2 283, 286 f., 294, 302 f., 308 f., 315, 318, 319, 378, 379,
Balázs, Béla 74 381, 392, 395, 396, 398, 399, 422, 423, 425, 428, 429,
Barrett Browning, Elizabeth 391 517, 518 f., 523
Bartlett, William Henry 176 Brod, Otto 10 f., 127
Bassermann, Albert 11 Browning, Robert 391
Bassewitz, Gerdt von 15 Bruckner, Ferdinand (d.i. Theodor Tagger) 517
Baudelaire, Charles 42, 114 Buber, Martin 13, 18, 19, 20, 44, 46 f., 51, 52, 54, 213,
Bauer, Erna 18, 20, 398 218, 231, 233, 310, 395 f., 398, 400, 499, 517
Bauer (verh. Marasse), Felice 15–18, 19–21, 34, 62, 75 Buzzati, Dino 266
f., 83, 85, 88, 152, 153 f., 192, 198, 208, 248, 260, 261, Byron, George Gordon Lord 391
278, 281, 343, 346, 355, 357, 376, 385 f., 393–395, 397,
398, 399, 482 Calderara, Mario 10, 127
Bauer, Ferdinand (Ferry) 17 Camus, Albert 59
Baum, Oskar 7, 37, 41, 42 f., 44, 45, 46, 51, 140, 381, Canetti, Elias 408, 419
395, 429 Celan, Paul (d.i. Paul Antschel) 376
Beck, Matthias 3 Cervantes Saavedra, Miguel de 32, 33, 354–356
Beck, Oscar 25 Chaplin, Charles (Charlie) 503
Beckett, Samuel 266 Char, René 461
Bécu, Marie-Jeanne, Comtesse du Barry 7, 391 Claudel, Paul 31
Belzer Rabbi ä Issachar Dov Comenius, Johannes Amos 35
Benjamin, Walter 25, 55, 59, 221, 252, 423, 447, 450, Čuchalová, Anna 2
462 f. Curtiss, Glenn Hammond 10, 127 f.
Benn, Gottfried 84, 509
Ben-Tovim, Puah 24, 400 Dallago, Carl 10
Benyoëtz, Elazar 462 D’Annunzio, Gabriele 10, 31, 128
Bergmann, Else 24, 398 Dante ä Dante Alighieri
Bergmann, Hugo 4 f., 13, 18, 24, 43, 44, 51, 52, 398, 400 Darwin, Charles 3, 5
Bergson, Henri 60, 271, 432 David, Josef 22, 30, 399
Bethge, Hans 250, 259 Davidová, Ottilie ä Ottilie Kafka
550 Anhang

Davidová, Věra 23 Franklin, Benjamin 36


Dehmel, Richard 391 Franz Joseph I. (Franz Joseph Karl von Habsburg, Kai-
Deleuze, Gilles 59 ser von Österreich und König von Ungarn) 244, 254
Derrida, Jacques 59, 199, 422 Freud, Sigmund 29, 42, 45, 65 f., 69 f., 71, 98, 154, 203,
Diamant (auch: Dymant, Dimont, Dymand, Diament, 228, 314, 355, 420 f., 469, 471, 472, 474, 484
Dimant), Dora 24 f., 52, 88, 327, 353 f., 396, 398, 501, Freund, Ida 6
517 Freund, Otto 398
Dickens, Charles 29, 30, 31, 33, 35, 36, 164 f., 177 f. Friedrich von Österreich-Teschen, Erzherzog 244
Dilthey, Wilhelm 60 Frischmann, David 30
Dittmar, Julius 250, 259 Fromer, Jakob 13, 52
Döblin, Alfred 509 Fuchs, Rudolf 10, 22, 43, 44, 45, 46
Dostojewski (Dostoevskij), Feodor (Fëdor) Michailo- Fuhrmann, August 74
witsch 7, 30, 31, 32, 33, 35, 164, 391, 439
Dov, Issachar (›Belzer Rabbi‹) 326 f., 395 George, Stefan 31, 114, 371
Dreyfus, Alfred 209 Gibian, Camill 4
Dubnow, Simon 52 Goethe, Johann Wolfgang von 3, 7, 10, 12, 14 f., 30, 31,
Du Barry, Comtesse ä Marie-Jeanne Bécu 32, 33 f., 36, 37, 39, 40, 42, 133, 135, 138, 371, 379,
Du Camp, Maxime 130 391, 434, 439
Duchamp, Marcel 495 Gogh, Vincent van 391
Gogol (Gogol’), Nikolai (Nikolaj) W. (V.) 33, 165,
Eckermann, Johann Peter 7 391
Edschmid, Kasimir 54 Goldfaden, Abraham 13, 30
Eduardowa, Jewgenja (Eugenie) 10 Gordin, Jakob 13, 30
Ehrenfels, Christian von 6, 44 Gordon, Aaron David 391
Ehrenstein, Albert 16, 17, 43, Gorion (d.i. Berdyczewski), Micha Josef Bin 35, 52, 308,
Ehrenstein, Carl 17 334
Ehrentreu, Chanoch Heinrich 13 Gorki (Gor’kij), Maxim (Maksim) 31
Ehrlich, Josef Ruben 451 Gottwald, Adolf 3, 103
Eichendorff, Joseph Freiherr von 3, 372 Grab, Hermann 43
Einstein, Albert 12 Grabbe, Christian Dietrich 7, 391
Eisenmeier, Josef 44 Graetz, Heinrich 13, 52, 140
Eisler, Norbert 43, 44 Grillparzer, Franz 4, 7, 11, 30, 31, 32, 33
Eisner, Ernst 8 Gross, Hans 6, 20, 67, 208 f.
Eisner, Minze 21, 23, 76, 396, 397, 399 Gross, Otto 20, 45, 67–70
Eliasberg, Alexander 52 Gschwind, Emil 3
Engländer, Richard ä Peter Altenberg
Epstein, Oskar 44 Haas, Willy 10, 24, 43, 46, 47, 130, 398, 399, 429
Ernst, Paul 15 Hadwiger, Viktor 40, 41
Eulenberg, Herbert 12, 391 Haeckel, Ernst 3
Eysoldt, Gertrud 11 Hagenbeck, Friedrich 235
Hajek, Markus 25
Fanta (geb. Sohr), Berta 6, 43 f., 63, 65 Hamsun, Knut (d.i. Knut Pedersen) 31, 33, 308
Feigl, Anna ä Anna Lichtenstern Hardt, Ludwig 23, 24
Feigl, Karl 4 Hartung von Hartungen, Christoph 17
Feinmann, Sigmund 13 Hasenclever, Walter 15, 44
Feiwel, Berthold 51 Hauptmann, Gerhart 12, 14, 32
Flaubert, Gustave 7, 11, 15, 29, 30, 31, 32, 33, 34 f., 36, Hauschner, Auguste 43
37, 66, 103, 130, 133, 135, 136, 268, 391, 434, 439, Hebbel, Christian Friedrich 7, 30, 391, 461
441 Hebel, Johann Peter 3, 31, 447
Fleischmann, Siegmund 8 Hecht, Hugo 4
Fletcher, Horace 10 Hegner, Jakob 398
Fontane, Theodor 391 Heidegger, Martin 242, 509
Foucault, Michel 184, 213, 389, 408, 421, 504 Heilborn, Lydia 17
Frankenberg, Hermann von 258, 259 Heilmann, Hans 250, 259, 371
Personenregister 551

Heindl, Robert 209 Kafka (geb. Löwy), Julie 1 f., 14, 23, 25, 50, 293, 385–
Heller, Leo 40 387, 396, 398
Hellpach, Willy 65 Kafka (verh. Davidová), Ottilie (Ottla) 2, 16, 20, 22, 23,
Herben, Jan 11 24, 25, 85, 169, 218, 281, 330, 386, 398 f.
Hermann, Felix 22, 397 Kafka, Robert 14, 384
Hermann, Gabriele ä Gabriele Kafka Kafka, Valerie (Valli) 2, 16, 18, 375, 386, 398
Hermann, Karl 11, 14, 18, 20, 25, 169, 281 Kaiser, Georg 23
Hermann, Otto 23 Kapper, Siegfried 39
Hermann, Paul 14, 18 Kastil, Alfred 44
Herzen, Alexander (Aleksandr) Iwanowitsch (Ivanovič) Kaufmann, Fritz Mordechai 52
11 Kayser, Rudolf 24, 398
Herzl, Theodor 52, 258, 259 Kaznelson, Lise ä Lise Weltsch
Hess, Moses 52 Kaznelson, Siegmund 24, 44
Hille, Peter 449 Kellner, Viktor 44
Hiller, Kurt 15, 43 Kerner, Justinus 372
Hitzer [Landvermesser] 308 Kerr, Alfred 66
Hobbes, Thomas 254 f. Khol, František 17, 399 f.
Hoffe, Ilse Ester 399, 517 Kierkegaard, Søren Aabye 21, 22, 31, 32, 33, 37, 59, 60,
Hoffmann, Hugo 25 62 f., 64, 242, 284, 286, 308, 391, 396, 461
Hoffmann, Camill 40, 41 Kirchner, Margarethe (Grete) 15, 394, 398
Hoffmann, E.T.A. (Ernst Theodor Amadeus) 33, 96 f., Kisch, Egon Erwin 45, 47
235, 270, 331 Kisch, Paul 4, 6, 391 f., 399
Hofmannsthal, Hugo von 7, 14, 43, 60, 84, 98, 114, 276, Klaar, Alfred 39 f.
371, 374, 391, 440, 509 Kleist, Heinrich von 3, 12, 30, 31, 32, 33, 35, 54, 120,
Hölderlin, Friedrich 371 136, 308, 391, 439 f., 444
Holitscher, Arthur 36, 177, 180, 188 Klofáč, Václav 11
Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 371 Klopstock, Robert 22, 24 f., 396, 397, 399
Homer 30, 32, 356 f. Kodym [Arzt an der AUVA] 22
Kohn, Hans 16, 44, 46
Illový, Rudolf 4 Kohn, Salomon 39
Kölwel, Gottfried 20, 371, 396, 399
Jaffé, A. 451 Kompert, Leopold 39
James, Henry 441 König, Lucie 75
Janouch, Gustav 22, 23, 25, 39, 47, 397 f. Kornfeld, Paul 10, 41, 43, 46, 51
Janowitz, Franz 43, 44, 45, 46 Kracauer, Siegfried 309
Janowitz, Hans 43, 44, 46 Krall, Karl 269
Jaques-Dalcroze, Émile 12, 18 Kramář, Karel 11
Jensen, Johannes Vilhelm (Wilhelm) 66, 165, 177 Kraus, Hugo 24
Jesenská (verh. Pollak), Milena 21–23, 76, 88, 182, 282, Kraus, Karl 12, 22, 258, 284, 396, 461
283, 314, 346 f., 348, 359, 380, 381, 383, 396 f., 398, Kraus, Oskar 44
399, 400 Krojanker, Gustav 52
Jesenský, Jan 21 Kropotkin, Pjotr (Pëtr) Alexejewitsch, Fürst
Johnson, Uwe 442 11
Joyce, James 442 Kubin, Alfred 10, 40, 41, 273, 308
Just, Adolf 15 Kügelgen, Wilhelm von 7
Kuh, Anton 20, 45, 46, 47, 54, 68
Kafka, Elli ä Gabriele Kafka Kuh, David 39
Kafka (verh. Hermann), Gabriele (Elli) 2, 11, 16, 18, 19, Kuh, Marianne (Mizzi) 20
22, 24, 207, 386, 397, 398 f. Kürnberger, Ferdinand 36
Kafka, Georg 2
Kafka, Heinrich 2 Laforgue, Jules 134
Kafka, Hermann 1–3, 4, 23, 25, 50, 154, 156, 160, 219, Lahmann, Johann Heinrich 7
293–301, 385–387, 396 Lang, Fritz 503
Kafka, Jakob 50 Langer, Georg (Jiří) Mordechai 19, 23, 52, 499
552 Anhang

La Rochefoucauld, François VI, Duc de 461 Nietzsche, Friedrich 5, 6, 42, 45, 59, 60–62, 64, 65, 84,
Lasker-Schüler, Else 17 95, 97, 98, 99, 112, 114, 119, 187, 189, 209, 213, 258,
Lateiner, Joseph 13, 35 284, 308, 309, 358, 364, 421, 432, 433, 434, 440, 461,
Laurin, Arne 22 490, 498 f.
Leonhard, Rudolf 398 Nikolaus II. (d.i. Nikolaj Alexandrowitsch Romanow)
Leppin, Paul 6, 40, 41, 42, 45, 46 77
Leskov, Nikolaj S. 447
Lessing, Gotthold Ephraim 456 Olsen, Regine 61
Lichtenberg, Georg Christoph 461 Osten, Wilhelm von 269
Lichtenstern (geb. Feigl), Anna 18
Lichtheim, Richard 18, 52 Pascal, Blaise 59, 61, 284
Liliencron, Detlev von (d.i. Friedrich Adolf Axel Frei- Pascheles, Wolf 39, 52
herr von Liliencron) 6 Perez, Isaak (Jizchak, auch: Jizchok) Loeb (Leib) 52
Loos, Adolf 12 Perutz, Leo 45
Löwy, Alfred 8, 14, 398 Pestalozzi, Johann Heinrich 391
Löwy, Jizchak 13, 17, 20, 24, 51, 53, 138, 140, 345, 383 f., Pfohl, Eugen 8, 17, 19, 399
385, 399, 423, 501 Pick, Otto 10, 16, 17, 22, 23, 43, 44, 45, 47, 112, 207,
Löwy, Julie [Mutter Kafkas] ä Julie Kafka 398
Löwy, Richard 7 Pilz, Johann 41
Löwy, Siegfried 5, 8, 24, 25 Pinès, Meyer (Meir) Isser 13, 52, 140, 141
Lublinski, Samuel 52 Pinner, Moses Ephraim 52
Luciani, Luigi 323 Pinthus, Kurt 15, 44
Poe, Edgar Allan 36
Mach, Ernst 98, 103, 112 Poincaré, Raymond 77
Maeterlinck, Maurice 241, 269 Polgar, Alfred 114
Maimon, Salomon (d.i. Schlomo ben Joshua) 35 Pollak, Ernst 21, 22, 43, 311, 397, 480
Mann, Heinrich 8 Pollak, Josef 16, 266
Mann, Thomas 7, 132, 266, 374, 442, 486, 509 Pollak, Oskar 4, 5, 6, 11, 19, 43, 51, 81, 82, 391 f.
Marc Aurel 7, 461 Pouzarová, Anna 2
Mareš, Michal 11, 400 Přibram, Ewald Felix 4, 8, 398
Marschner, Robert 8, 17, 20, 402 f., 505 Přibram, Otto 8
Marty, Anton 6, 44 Prince, Morton 96
Masaryk, Tomáš Garrigue 11 Projsa, Karel 30
Mauthner, Fritz 38, 39, 41, 60, 440 Proust, Marcel 442
Meyer, Georg Heinrich 393 Puccini, Giacomo 10, 128
Meyrink, Gustav (d.i. Gustav Meier) 6, 8, 41, 42, Pulver, Max 20, 208
46
Mikolaschek, Karl 10 Rabbi von Grodeck (Wunderrabbi) 19, 52, 379, 501
Mirbeau, Octave 31, 208 Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak, auch: Jichzak) 24,
Moissi, Alexander 14 362 f., 501
Molière (d.i. Jean-Baptiste Poquelin) 11 Rath, Moses 20
Moncher, Guido 127 Rehberger, Alice 131
Mörike, Eduard 3 Reik, Theodor 66
Mühlstein, Gustav 20 Reiß, Fanny 19
Müller, Jens Peder 10 Renelt, Josef 406
Müller-Freienfels, Richard 435 Ribot, Théodule 96
Musil, Robert (d.i. Robert Edler von Musil) 18, 31, 45, Richter, Moses 13, 36
84, 112, 165, 176, 193, 396, 398, 400, 447, 449, 509 Rilke, Rainer Maria 38, 41, 42, 45, 84, 114, 142, 208,
271, 373, 447, 486, 492, 509
Napoleon I. (d.i. Napoléon Bonaparte) 24, 255 Rimbaud, Jean Nicolas Arthur 31, 114
Nedvědová, Františka 2 Robitschek (geb. Kohn), Selma 5
Němcová, Božena 33, 35, 308 Rorty, Richard 59
Nettl, Paul 41 Rosegger, Peter 439
Neumann, Angelo 10 Rosenfeld, Morris 30, 36, 51
Personenregister 553

Rosenzweig, Franz 310 Strindberg, August 30, 31, 32, 33, 439
Rössler, Tile 396, 397 Succi, Giovanni 323
Rougier, Henri 10, 127 f. Swift, Jonathan 22, 33
Rousseau, Jean-Jacques 61
Rowohlt, Ernst 15, 112, 136, 517 Tagger, Theodor ä Ferdinand Bruckner
Russell, Bertrand 351 Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de 255
Tauber, Joseph Samuel 39
Sacher-Masoch, Leopold (Ritter) von 170 Taussig (verh. Brod), Elsa 16, 140
Sade, Donatien-Alphonse-François, Marquis de 213 Teschner, Richard 40, 41
Salus, Hugo 6, 40, 41 Teweles, Heinrich 40
Salveter, Emmy 24 Theilhaber, Felix Aron 13, 51, 326
Sanzara, Rahel (d.i. Johanna Bleschke) 18, 398 Thieberger, Friedrich 23, 44, 52
Sartre, Jean-Paul 59 Thieberger, Nelly 398
Sauer, August 6 Tolstoi (Tolstoj), Leo (Lev) N. Graf 21, 31, 33, 215
Schaikewitsch, Nahum Meir ä Schomer Trakl, Georg 114, 413 f.
Scharkansky, Abraham M. 13 Tramer, Hans 47, 48
Scheerbart, Paul 449 Trietsch, Davis 13, 51
Scheler, Max 345 Tschisik (auch: Tschissik), Amalie 13, 384
Schickele, René 165, 399, 517 Tucholsky, Kurt 16, 112, 211
Schiller, Friedrich [Breslau] 15, 308, 379
Schiller, Friedrich von 3, 39, 42 Ungar, Hermann 43, 45
Schlaf, Johannes 15 Ungrová, Anežka 2
Schlippenbach, Albert Graf von 372 Urzidil, Johannes 41, 43, 45, 47, 48
Schnitzer, Moriz 11 Utitz, Emil 4, 6
Schnitzler, Arthur 10, 11, 14, 25, 66, 439, 440, 451
Schocken, Salman 517 Vauvenargues (d.i. Luc de Clapiers, Marquis de Vauven-
Scholem, Gershom 423 argues) 461
Schomer (d.i. Nahum Meir Schaikewitsch) 30 Verhaeren, Émile 31
Schönherr, Karl 11 Verlaine, Paul 31
Schopenhauer, Arthur 6, 7, 20, 35, 59, 63, 64, 65, 84, 95, Viertel, Berthold 43
209, 284, 308, 321, 433, 434, 461, 486 f., 490, 492 Voltaire (d.i. François-Marie Arouet) 434
Schreiber, Adolf 68 Vrchlický, Jaroslav 14, 40
Schürer, Oskar 40
Schweinburg, Ludwig 7, 103 Walden, Herwarth (d.i. Georg Lewin) 46, 134
Seidl, Walter 43 Walpole, Horace 35
Shakespeare, William 11, 13, 32, 244 f. Walser, Robert 54, 112, 114, 116, 131, 178, 449
Simmel, Georg 60, 444, 445 Walzel, Oskar 176
Sinclair, Upton 31 Wasner, Gertrud 17
Soukup, František 11, 13, 177 Wassermann, Jakob 29, 52
Spinoza, Baruch 5 Weber, Alfred 7, 444
Steiner, Rudolf 12, 44, 378 Weber, Max 444, 509
Steiner-Prag, Hugo 40 Weber, Oskar 391
Steinitz, Erna 19 Wedekind, Frank 8
Stekel, Wilhelm 65 f. Weiler, Hedwig 8, 392 f., 398, 399
Sterk, Elvira 2 Weininger, Otto 64, 326, 477, 478, 479
Stern, Agathe 8 Weisel, Georg Leopold 39
Stern, Günther ä Günther Anders Weiskopf, Franz Carl 43
Sternheim, Carl 19, 31, 111, 134 Weiß, Ernst 17, 18, 23, 24, 35, 43, 45, 398
Sternheim, Felix 135 f. Weltsch, Felix 6, 7, 37, 42 f., 44, 45, 46, 47, 48, 51, 65,
Steuer, Otto 156 130, 395, 398, 400, 429
Stifter, Adalbert 4, 31 Weltsch (verh. Kaznelson), Lise 17, 24
Stoessl, Otto 400 Werfel, Franz 10, 17, 20, 22, 23, 24, 29, 32, 38, 41, 43,
Stoker, Bram (Abraham) 35 44 f., 46, 47, 51, 68, 69, 154, 165, 176, 207, 362, 398,
Strauss, Ludwig 47 429
554 Anhang

Wernerová, Marie 2 Wohryzek, Käthe 396, 400


Whitman, Walt 371 Wolfenstein, Alfred 23
Wiegler, Paul 10, 16, 399 Wolff, Kurt 15, 17, 43, 45, 154, 165, 176, 207 f., 218 f.,
Wiener, Oskar 6, 40, 41 f., 47 223, 318, 393, 398, 399, 429, 517
Wilde, Oscar (d.i. Oscar Fingal O’Flaherty Wills Wilde) Woolf, Virgina 440
114
Wilhelm I. (Wilhelm Friedrich Ludwig von Hohen- Zech, Paul 17
zollern) 256 Zemach, Julius 334
Willomitzer, Josef 40 Zemanová, Marie 2
Winder, Ludwig 42, 43, 45 Zweig, Arnold 47, 52, 67 f.
Winicky, Ottokar 40, 41 Zweig, Max 43
Wohryzek, Julie 21 f., 88, 89, 282, 293, 345, 346, 348,
396, 398
555

Werke Kafkas Zur Begutachtungspraxis der Gewerbeinspektorate (AS Nr.


22, 653–682) 406, 408
Das Werkregister soll nicht nur das vorliegende Handbuch er- »Anfangs war beim babylonischen Turmbau …« ä <Das
schließen, sondern auch zwei zusätzliche Aufgaben erfüllen: (1) Stadtwappen>
Es soll dem Leser ermöglichen, Texte mit (zumeist Brodschen) Aphorismen 281–292, 451 f., 460–462, 466
Herausgebertiteln (in Spitzklammern gesetzt) in der Kritischen <Er> (T 847–862; NSF II, 221 f.) 21, 89, 282 f., 284, 286, 346,
Ausgabe (KA) zu finden. Daher sind titellose Texte auch mit ih- 351, 460, 462
rem Anfang aufgeführt und mit einem Querverweis auf den je- Zürauer Aphorismen (<Betrachtungen über Sünde, Leid,
weiligen Herausgebertitel versehen. (2) Da die KA für den Be- Hoffnung und den wahren Weg>; NSF II, 29–112 [Ok-
nutzer sehr unübersichtlich ist (ein Gesamtregister fehlt noch), tavheft G u. H] u. 113–140 [Zettelkonvolut]) 21, 31, 59,
wird nach den Titeln jeweils die Fundstelle in der KA angege- 88, 89, 281–292, 344, 345 f., 423, 460–462, 500, 507
ben (Nachweis mit den in diesem Handbuch generell verwen-
Auf dem Dachboden (NSF I, 272 f.) 275
deten Bandsiglen und Seitenzahlen). Das dürfte besonders dort
Auf der Galerie ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
hilfreich sein, wo ein Text in der KA mehrfach abgedruckt ist.
Texte aus Sammlungen und Werkgruppen sind unter diesen Aufgehoben die Reste ä Gedichte
aufgeführt (aber natürlich auch unter ihren Titeln eingetra- Aus dem Grunde/ der Ermattung ä Gedichte
gen). Besonders wichtige Verweise wurden kursiviert. Aus Matlárháza (DzL 443) 22, 351

»Aber Vergessen ist hier kein richtiges Wort …« (T 118 f.) Beim Bau der chinesischen Mauer (NSF I, 337–357) 86,
149 219, 250–259, 319, 341, 416, 422, 442, 502, 505–507
»›Ach‹, sagte die Maus …« ä <Kleine Fabel> Beitrags- und Einreihungsrekurs ä Amtliche Schriften
Ach sie trugen, Larven der Hölle ä Gedichte »Benehmen verdächtig war …« ä <Menschenfresser>-
Ach was wird uns hier bereitet ä Gedichte Fragment
Also öffne Dich Thor ä Gedichte Beschreibung eines Kampfes (NSF I, 54–169; Fassung
<Amerika> ä Der Verschollene A: NSF I, 54–120; Fassung B: 121–169) 7, 60, 81, 82,
Amtliche Schriften 8 f., 10, 19, 392, 402–409 83, 84, 85, 91–102, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118,
Beitrags- und Einreihungsrekurs (AS Nr. 19, 540–574) 119, 121, 123, 375, 378, 412, 468, 502, 519, 522 f.
406 Gespräch mit dem Beter (DzL 387–394; NSF I, 84–95) 10,
Deutscher Verein zur Errichtung und Erhaltung einer Krie- 91
ger- und Volksnervenheilanstalt (AS Nr. 16b, 498–505) Gespräch mit dem Betrunkenen (DzL 395–400; NSF I, 101–
407 197) 10, 91
Die Arbeiterunfallversicherung und die Unternehmer (AS Und die Menschen gehn in Kleidern (B00–12 57; NSF I, 54)
Nr. 8b, 254–268) 402, 406 f., 408 ä Gedichte
Die Arbeiter-Versicherung (AS Nr. 8a, 244–254) 256, 406 f. Betrachtung (DzL 7–40) 8, 15, 16, 73, 81, 82, 83, 85, 91,
Die Organisation der Unfallverhütung (AS Nr. 11b, 293– 111–126, 152, 224, 319, 452–456, 502
300) 256 f. Das Gassenfenster (DzL 32) 111, 118
Die Pauschalierung der Versicherungsbeiträge (AS Nr. 3a, Das Unglück des Junggesellen (DzL 20 f.; T 249 f.) 35, 83,
169–176) 404 111, 116, 118, 148, 150, 157, 453
Die Unfallverhütung im Rahmen der Unfallversicherung Der Ausflug ins Gebirge (DzL 20; NSF I, 141 f.) 91, 100, 111,
(AS Nr. 11a, 276–293) 256 f. 112, 113, 114, 115, 116, 117, 122, 452, 454
Die Unfallverhütung in den Steinbruchbetrieben (AS Nr. Der Fahrgast (DzL 27 f.) 9, 73, 85, 111, 116, 117, 455 f.
13d, 378–437) 405 Der Kaufmann (DzL 21–24) 9, 111, 116, 118, 453, 454
Ein großer Plan der Kriegsfürsorge (AS Nr. 16a, 494–498) Der Nachhauseweg (DzL 25 f.) 111, 116 f., 117, 118, 124,
407 453
Einbeziehung der privaten Automobilbetriebe (AS Nr. 3b, Der plötzliche Spaziergang (DzL, 17 f.; T 347 f.) 83, 111, 114,
177–192) 404 116, 117, 118, 119–121, 122 f., 126, 156, 453
Kriegsheimkehrerfürsorge (AS Nr. 17, 506–514) 407 Die Abweisung (DzL 29 f.) 9, 111, 114, 453
Lohnlistenrekurs Josef Renelt (AS Nr. 20, 575–612) 406 Die Bäume (DzL 33; NSF I, 110 u. 166) 9, 91, 111, 112, 114,
Maßnahmen zur Unfallverhütung (AS Nr. 6b, 212–241) 118 f., 122, 126, 452, 453, 454–456, 460
402, 405, 408 Die Vorüberlaufenden (DzL 26 f.) 9, 111, 116, 122–124, 453
Petition der Fachgenossenschaft (AS Nr. 23, 683–720) 406 Entlarvung eines Bauernfängers (DzL 14–17) 111, 114, 118,
Rede zur Amtseinsetzung des Direktors (AS Nr. 2, 167–168) 452, 454, 502
402, 403 Entschlüsse (DzL 19; T 371 f.) 83, 85, 111, 113, 116, 117,
Umfang der Versicherungspflicht der Baugewerbe (AS Nr. 1, 118, 121 f., 123, 453
107–166) 402, 403 f. Kinder auf der Landstraße (DzL 9–14; NSF I, 145–150) 85,
Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen (AS 91, 100, 109, 111, 112, 114, 118, 124 f., 126, 452, 453 f.,
Nr. 4b, 194–206) 405, 408 502
556 Anhang

Kleider (DzL 28 f.; NSF I, 114 f.) 9, 73, 91, 111, 112, 113, 116, Das Synagogentier (»In unserer Synagoge ...«; NSF II,
452, 453 405–411, vgl. auch 414) 352, 353, 369
Unglücklichsein (DzL 33–40; T 107–112) 11, 85, 111, 113, Das Unglück des Junggesellen ä Betrachtung
114, 115, 116, 117, 118, 124, 126, 378, 452, 454 »Das Unglück des Junggesellen ist für die Umwelt …«
Wunsch, Indianer zu werden (DzL 32 f.) 85, 111, 116, 117,
(T 279 f.) 150
119, 215, 454 f.
Das Urteil (DzL 41–61; T 442–460) 16, 17, 29, 43, 45,
Zerstreutes Hinausschaun (DzL 24 f.) 9, 85, 111, 113, 114,
66, 70, 71, 81, 82, 83, 86, 87, 110, 121, 147, 150, 152–
453
Zum Nachdenken für Herrenreiter (DzL 30 f.) 111, 113,
163, 165, 175, 176, 180, 188, 195, 207, 210, 211, 215,
117, 453 216, 220, 225, 262, 273, 279, 295, 304, 312, 360 f., 379,
<Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den 391, 393, 394, 412, 414, 415, 419, 420, 421, 425 f., 428,
wahren Weg> ä Aphorismen: Zürauer Aphorismen 431, 469, 470 f., 473, 521
»Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische »Den Kopf hat er zur Seite geneigt …« (NSF II, 347)
349
Mittel …« ä <Das Schweigen der Sirenen>
<Der Aufbruch> (»Ich befahl mein Pferd …«; NSF II,
Bilder von der Verteidigung eines Hofes (NSF II, 495–
374 f.) 344, 351, 369, 456
504) 352, 353
Der Ausflug ins Gebirge ä Betrachtung
»›Bin ich nicht Steuermann?‹ …« ä <Der Steuermann>
<Der Bau> (»Ich habe den Bau eingerichtet …«; NSF II,
»Blumfeld ein älterer Junggeselle …« ä <Blumfeld, ein
576–632) 24, 61, 88, 266, 330, 333, 337–343, 344,
älterer Junggeselle>
353, 433, 438, 509–511
<Blumfeld, ein älterer Junggeselle> (»Blumfeld ein älte-
Der Dorfschullehrer (<Der Riesenmaulwurf>; NSF I,
rer Junggeselle …«; NSF I, 229–266) 19, 29, 35, 77,
194–216) 86, 192, 261, 266–268, 269, 280, 416, 519
86, 148, 150, 270–272, 280, 412, 413
Der Fahrgast ä Betrachtung
<Brief an den Vater> (»Liebster Vater, Du hast mich
Der Gaukler [nicht erhalten] 4
letzthin …«; NSF II, 143–217) 21, 22, 53, 68, 70,
<Der Geier> (»Es war ein Geier …«; NSF II, 329 f.) 88,
88, 89, 144, 153, 154, 160, 161, 162, 243, 283, 293–
344, 349 f., 368 f., 456
301, 345, 346, 385, 396, 397, 399, 400, 420, 423, 469,
<Der Gruftwächter> 86, 240–246, 262, 511
518 »engste Bühne frei nach oben« (NSF I, 268–270) 241
Briefe 82, 373 f., 377, 390–401, 402, 517, 518, 523, 526, Erzählung des Großvaters (NSF I, 270–272) 241, 242
534 »Kammerherr Natürlich wird alles …« (NSF I, 276–289)
Briefe an Felice 15–18, 34, 75 f., 355, 359, 393–395, 397, 399, 241
400 f., 486 f., 518 »Kleines Arbeitszimmer, hohes Fenster …« (NSF I, 290–
Briefe an Milena XVIII, 21 f., 346 f., 388, 396 f., 399, 400, 303) 241
518 Zerrissener Traum (NSF I, 267 f.) 241
Der Heizer ä Der Verschollene
Das Ehepaar (NSF II, 534–541) 23, 88, 344, 352, 353, <Der Jäger Gracchus> 17, 86, 241, 243 f., 262, 266, 273–
354, 360 f., 369 276, 280, 360, 380, 382, 419, 511 f., 519
Das Gassenfenster ä Betrachtung »Ich bin der Jäger Gracchus …« (NSF I, 311) 274
»Das ist ein Anblick …« ä Rezensionen: <Über Kleists »Im kleinen Hafen, wo außer Fischerbooten …« (T 810 f.;
Anekdoten> vgl. auch 587 f.) 274
Das Kind und die Stadt [geplante Prosasammlung] »Niemand wird lesen …« (NSF I, 311–313) 274
82 »Und nun gedenken Sie …« (NSF I, 310 f.) 274
Das nächste Dorf ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen »Wie ist es, Jäger Gracchus …« (NSF I, 378–384) 274 f.,
511 f.
Das Schloss (S; vgl. auch NSF II, 421) 23, 35, 68, 77 f.,
»Wir legten an …« (NSF II, 524) 275, 360
88, 89, 181, 183, 195, 197, 243, 266, 271, 273, 277,
»Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer …« (NSF I, 305–
278, 301–317, 318, 321, 344, 352 f., 360, 380, 412, 413, 310) 274
416 f., 421, 429, 438, 442, 443–446, 475–477, 479–482,
Der Kaufmann ä Betrachtung
499, 502, 505
Der kleine Ruinenbewohner (T 17–28) 12, 83, 145–148,
<Das Schweigen der Sirenen> (»Beweis dessen, daß
378, 382
auch unzulängliche, ja kindische Mittel …«; NSF II, »Ich überlege es oft …« (T 27 f.) 147
40–42) 21, 32, 88, 281, 289 f., 324, 344, 346, 354, »Oft überlege ich es und immer …« (T 18–20) 145 f.
356 f., 367, 456, 482 »Oft überlege ich es und lasse …« (T 20–23) 146
<Das Stadtwappen> (»Anfangs war beim babyloni- »Oft überlege ich es und lasse …« (T 23–27) 146 f.
schen Turmbau …«; NSF II, 318 f. u. 323) 22, 38, 88, »Wenn ich es bedenke …« (T 17) 145
341, 344, 351, 358, 368, 507 f. »Wenn ich es bedenke …« (T 18) 145 f.
Werke Kafkas 557

<Der Kreisel> (»Ein Philosoph trieb sich …«; NSF II, Die Bäume ä Betrachtung
361 f.) 59, 88, 344, 351, 359, 369 Die besitzlose Arbeiterschaft (NSF II, 105–107) 88, 281,
Der Kübelreiter (DzL 444–447; NSF I, 313–316) 86, 291, 346
219, 222, 246–249, 456 <Die Brücke> (»Ich war steif und kalt …«; NSF I, 304 f.)
Der Mord [Titel einer Einzelpublikation] ä Ein Bruder- 86, 265, 266, 272 f., 274, 280, 456, 473 f., 477
mord Die erste lange Eisenbahnfahrt ä Richard und Samuel
Der Morgen [nicht erhalten] 82 Die Organisation der Unfallverhütung ä Amtliche
<Der Nachbar> (»Mein Geschäft ruht …«; NSF I, 370– Schriften
372) 86 Die Pauschalierung der Versicherungsbeiträge ä Amt-
Der Nachhauseweg ä Betrachtung liche Schriften
Der neue Advokat ä Ein Landarzt. Kleine Erzählun- <Die Prüfung> (»Ich bin ein Diener …«; NSF II, 327–
gen 329) 22, 88, 344, 368, 456
Der plötzliche Spaziergang ä Betrachtung »Die Sage versucht …« ä <Prometheus>
Der Process (P; vgl. auch DzL 267–269) 18, 31, 35, 61, Die Söhne [nicht realisierte Sammelpublikation von
67 f., 74, 77, 81, 86, 87, 89, 161, 168, 170, 176, 181, Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung] 45, 87,
183, 188, 192–207, 211, 218, 219, 226, 227, 269, 272, 165, 168, 176, 224
305, 308, 310, 312, 345, 379, 394, 412, 413, 414, 415, Die Sorge des Hausvaters ä Ein Landarzt. Kleine Erzäh-
416 f., 418, 419, 421, 423, 429, 438, 442, 443 f., 458 f., lungen
472, 474 f., 476, 477, 478 f., 481, 484–486, 499, 502, Die städtische Welt (T 151–158) 12, 83, 152 f., 154
504, 505, 509 <Die Truppenaushebung> (»Die Truppenaushebungen
Der Quälgeist (NSF I, 367 f.) 86, 265, 277 …«; NSF II, 273–277) 88, 344, 351, 358, 368, 505–
<Der Riesenmaulwurf> ä Der Dorfschullehrer 507
<Der Ritt der Träume> (»Es ist eine schöne und wir- »Die Truppenaushebungen …« ä <Die Truppenaus-
kungsvolle Vorführung …«; NSF II, 383 f.) 352, hebung>
353 Die Unfallverhütung im Rahmen der Unfallversiche-
»Der schamhafte Lange …« ä Geschichte vom scham- rung ä Amtliche Schriften
haften Langen und vom Unredlichen in seinem Die Unfallverhütung in den Steinbruchbetrieben
Herzen ä Amtliche Schriften
<Der Schlag ans Hoftor> (»Es war im Sommer …«; NSF Die Verwandlung (DzL 113–200) 16, 17, 19, 45,
I, 361–363) 86, 276 f., 280 61, 76 f., 81, 86, 87, 105, 154, 164–174, 175, 176, 180,
<Der Steuermann> (»›Bin ich nicht Steuermann?‹ …«; 183, 186, 188, 195, 207, 210, 211, 215, 220, 295, 321,
NSF II, 324) 88, 344, 349 f., 368, 456 360, 379, 400, 414, 421, 428, 438, 469, 471–473, 481,
»Der Tatbestand der rücksichtlich des plötzlichen To- 490
des …« ä <Monderry> Die Vorüberlaufenden ä Betrachtung
Der Unterstaatsanwalt (NSF I, 217–224) 86, 192, 268 f. <Die Wahrheit über Sancho Pansa> (»Sancho Pansa,
Der Verschollene (<Amerika>; V; T 464–488, 168–191; der sich übrigens dessen nie gerühmt hat …«; NSF II,
vgl. auch T 436 f. u. 793) 12, 15, 16, 18, 23, 34, 35 f., 38) 32, 88, 281, 289, 344, 346, 354–356, 366 f.
74, 76, 83, 86, 87 f., 129, 164, 175–191, 192, 193, 195, <Don Quijotes Selbstmord> (»Eine der wichtigsten
207, 262, 379, 421, 422, 440, 442, 443–445, 477 f., 481, Don Quichotischen Taten …«; NSF II, 38 f.) 355 f.
482, 490, 499, 502–504
Der Heizer (DzL 63–111; T 464–488, 168–189; V 7–53) 17, »Ein alltäglicher Vorfall …« ä <Eine alltägliche Verwir-
21, 29, 36, 45, 53, 87, 154, 165, 176, 177 f., 215 f., 378 f., rung>
382, 428 Ein altes Blatt ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Deutscher Verein zur Errichtung und Erhaltung ei- Ein Bericht für eine Akademie ä Ein Landarzt. Kleine
ner Krieger- und Volksnervenheilanstalt ä Amtliche Erzählungen
Schriften Ein Besuch im Bergwerk ä Ein Landarzt. Kleine Erzäh-
Die Abweisung ä Betrachtung lungen
<Die Abweisung> (»Unser Städtchen liegt …«; NSF II, Ein Brudermord ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
261–269; 278 f.) 88, 344, 351, 358, 368, 505–507 Ein Damenbrevier ä Rezensionen
Die Aeroplane in Brescia (DzL 401–412) 10, 127–129 Ein großer Plan der Kriegsfürsorge ä Amtliche Schrif-
Die Arbeiterunfallversicherung und die Unternehmer ten
ä Amtliche Schriften Ein Hungerkünstler ä Ein Hungerkünstler. Vier Ge-
Die Arbeiter-Versicherung ä Amtliche Schriften schichten
558 Anhang

Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten (DzL 315–377) <Eine alltägliche Verwirrung> (»Ein alltäglicher Vorfall
89, 318–329, 344, 429 …«; NSF II, 35 f.) 88, 281, 344, 346, 354, 366
Ein Hungerkünstler (DzL 333–349; NSF II, 384–400, vgl. »Eine der wichtigsten Don Quichotischen Taten …«
auch: 646–649) 23, 53, 61, 77 f., 88, 170, 308, 318, 319, ä <Don Quijotes Selbstmord>
320 f., 322 f., 327, 328, 330, 344, 352, 353, 428, 433, 445, Eine entschlafene Zeitschrift ä Rezensionen
456, 457, 472, 486, 487–489, 496 »Eine heikle Aufgabe, ein Auf-den-Fußspitzen-gehn
Eine kleine Frau (DzL 321–333; NSF II, 634–646) 24, 88,
…« (NSF II, 312) 348
318, 320, 322, 328, 337, 342, 344, 353, 445
Eine kaiserliche Botschaft ä Ein Landarzt. Kleine Er-
Erstes Leid (DzL 317–321) 23, 88, 151, 303, 308, 318, 319,
320, 322, 327 f., 330, 335, 344, 352, 353, 445, 486, 487 f., zählungen
500 Eine kleine Frau ä Ein Hungerkünstler. Vier Geschich-
Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (DzL 350– ten
377; NSF II, 651–678) 24, 53, 61, 81, 89, 235, 318 f., 320, Eine Kreuzung (NSF I, 372–374) 61, 86, 277 f., 280
322, 323–327, 328 f., 330, 344, 353, 413, 415, 416, 424, 434, Einleitungsvortrag über Jargon (<Rede über die jiddi-
445, 482, 493–496, 497 sche Sprache>; NSF I, 188–193) 13, 53, 83, 134, 140 f.,
»Ein junger ehrgeiziger Student …« ä <Elberfeld>- 142, 430
Fragment <Elberfeld>-Fragment (»Ein junger ehrgeiziger Student
Ein Kommentar (<Gibs auf!>; NSF II, 530) 23, 88, 344, …«; NSF I, 225–228) 86, 192, 260, 270 f.
352, 353, 360, 361–363, 369, 456 Elf Söhne ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen (DzL 249–313) 34, »engste Bühne frei nach oben« ä <Der Gruftwächter>
35, 86, 87, 218–240, 319, 400, 428 Entkleidet ihn, dann wird er heilen ä Gedichte
Auf der Galerie (DzL 262 f.) 20, 114, 119 f., 218, 223, 226, Entlarvung eines Bauernfängers ä Betrachtung
238, 321, 456, 475, 478 Entschlüsse ä Betrachtung
Das nächste Dorf (DzL 280) 20, 218, 220, 222, 223, 238, 456
<Er> ä Aphorismen
Der neue Advokat (DzL 251–252; NSF I, 326 f., vgl. auch
Erinnerungen an die Kaldabahn (T 549–553; 684–694)
324–326) 61, 218, 225 f., 237, 442, 456, 457, 502
Die Sorge des Hausvaters (DzL 282–284) 54, 61, 120, 218,
18, 86, 176, 192, 266, 280, 382
223, 226 f., 238 f., 319, 342, 456, 511 »Ernst Liman kam auf einer Geschäftsreise …«
Ein altes Blatt (DzL 263–267; NSF I, 358–361) 20, 218, 219, ä <Ernst-Liman-Fragment>
220, 225, 226, 238, 250, 251 f., 456, 457 <Ernst-Liman-Fragment> (»Ernst Liman kam auf einer
Ein Bericht für eine Akademie (DzL 299–313; NSF I, 384 f., Geschäftsreise …«; T 493–499) 86, 265 f.
385–388 u. 390–399, vgl. auch: 415 f.) 20, 54, 61 f., 218, Erstes Leid ä Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten
222, 223, 226, 227, 230, 231, 233–236, 239 f., 319, 321, 332, Erzählung des Großvaters ä <Der Gruftwächter>
412, 416, 423, 442, 507 Es gibt ein Kommen und ein Gehn ä Gedichte
Ein Besuch im Bergwerk (DzL 276–280) 218, 221, 222, 223, »Es ist ein Mandat …« (NSF II, 320 f.) 348
225, 238
»Es ist eine schöne und wirkungsvolle Vorführung …«
Ein Brudermord (DzL 292–295) 20, 218, 221, 223, 239
ä <Der Ritt der Träume>
Ein Landarzt (DzL 252–261) 20, 35, 60, 61, 71, 88, 218, 220,
221, 223, 227–231, 237 f., 247, 248, 249, 276, 361, 375, 412, »Es war ein Geier …« ä <Der Geier>
445, 456, 457, 502, 509 »Es war im Sommer …« ä <Der Schlag ans Hoftor>
Ein Traum (DzL 295–298) 19, 204, 215, 218, 219, 221, 223, »Es war sehr unsicher …« ä <Fürsprecher>
227, 239, 487, 509
Eine kaiserliche Botschaft (DzL 280–282; NSF I, 351 f.) 54, <Forschungen eines Hundes> (»Wie sich mein Leben
86, 218, 219, 226, 238, 252, 253, 256, 325, 456 …«; NSF II, 423–459 [Hungerkünstlerheft]; 460–482
Elf Söhne (DzL 284–292) 218, 223, 225, 239, 319 [Fortsetzung in Tagebuchheft 12]; 485–491 [Beginn
Schakale und Araber (DzL 270–275; NSF I, 317–322) 20, 35, einer Reinschrift]) 1, 23, 35, 61, 88, 170, 308, 319,
54, 61, 88, 216, 218, 223, 224 f., 231–233, 236, 238, 423, 321, 330–336, 344, 352, 353, 360, 413, 424, 433 f., 445,
424, 502 489–493, 494, 497, 507
Vor dem Gesetz (DzL 267–269; vgl. auch P 292–295) 19, 54,
<Fürsprecher> (»Es war sehr unsicher …«; NSF II, 377–
203 f., 206 f., 218, 219, 223, 226, 235, 238, 297, 359, 429,
380) 88, 344, 352, 369
456, 458–460, 463
»Ein Philosoph trieb sich …« ä <Der Kreisel>
Gedichte 371–378
Ein Roman der Jugend ä Rezensionen Ach sie trugen, Larven der Hölle (T 797) 376
Ein Traum ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen Ach was wird uns hier bereitet (NSF II, 110 f.) 376
Einbeziehung der privaten Automobilbetriebe ä Amtli- Also öffne Dich Thor (T 795) 376
che Schriften Aufgehoben die Reste (NSF II, 323) 377
Werke Kafkas 559

Aus dem Grunde/ der Ermattung (T 438) 375 f. »Ich öffnete die Haustür …« (T 380 f.) 109
Entkleidet ihn, dann wird er heilen (DzL 259, 261) 375 Ich sprang durch die Gassen ä Gedichte
Es gibt ein Kommen und ein Gehn (NSF I, 7) 81, 372 »Ich überlege es oft …« ä Der kleine Ruinenbewohner
Ich kenne den Inhalt nicht (NSF II, 53) 376
»Ich war steif und kalt …« ä <Die Brücke>
Ich sprang durch die Gassen (NSF I, 69) 375
»Ich will ja weg, will die Treppe hinauf …« (T 113–116)
Im trüben Sinn schlägt eine Uhr (T 796) 376
In dem alten Städtchen stehn (B00–12 30) 373 f. 148 f.
In der abendlichen Sonne (B00–12 57) 374 »Im kleinen Hafen eines Fischerdorfes …« (T 587 f.) 275
Kleine Seele (NSF I, 181; vgl. auch T 273) 374 f., 377 »Im kleinen Hafen, wo außer Fischerbooten …«
Kühl und hart ist der heutige Tag (B00–12 30) 373 f. ä <Der Jäger Gracchus>
Langer Zug, langer Zug trägt den Unfertigen (T 797) 376 Im trüben Sinn schlägt eine Uhr ä Gedichte
Meine Sehnsucht waren die alten Zeiten (NSF II, 339) 376 »Im Zirkus wird heute eine große Pantomime …« (NSF
Menschen, die über dunkle Brücken gehn (B00–12 31) II, 300) 358
373 f. In dem alten Städtchen stehn ä Gedichte
Tönend erklang in der Ferne der Berge (T 797) 376
In der abendlichen Sonne ä Gedichte
Träume und weine armes Geschlecht (T 797) 376
»In der Karawanserei …« (NSF II, 355–357) 348
Und die Menschen gehn in Kleidern (B00–12 57; NSF I, 54)
374, 375 In der Strafkolonie (DzL 201–248; T 822–824, 825–827)
<Gemeinschaft> (»Wir sind fünf Freunde …«; NSF II, 18, 20, 31, 45, 60, 61, 81, 86, 87, 154, 176, 192, 207–
313 f.) 22, 88, 344, 351, 368 217, 225, 232, 321, 413, 414, 416, 421, 428, 439, 441,
Georg von Podiebrad [nicht erhalten] 4 456, 457, 499, 502, 504 f.
Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unred- »In der vorübereilenden Elektrischen ...« (T 406 f.) 109
lichen in seinem Herzen (»Der schamhafte Lange »In unserer Synagoge ...« ä Das Synagogentier
…«; B00-12 17-19) 5, 81, 151
Gespräch mit dem Beter ä Beschreibung eines Kampfes <Jäger Gracchus> ä <Der Jäger Gracchus>
Gespräch mit dem Betrunkenen ä Beschreibung eines »Jeder Mensch ist eigentümlich« (NSF II, 7–13) 145
Kampfes Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse ä Ein
<Gibs auf!> ä Ein Kommentar Hungerkünstler. Vier Geschichten
Großer Lärm (DzL 441 f.; T 225 f.) 143
<Gustav Blenkelt> (»Gustav Blenkelt war ein einfacher »Kammerherr Natürlich wird alles …« ä <Der Gruft-
Mann …«; T 462 f.) 16, 150 wächter>
»Gustav Blenkelt war ein einfacher Mann …« ä <Gus- Kinder auf der Landstraße ä Betrachtung
tav Blenkelt> Kleider ä Betrachtung
<Kleine Fabel> (»›Ach‹, sagte die Maus …«; NSF II,
<Heimkehr> (»Ich bin zurückgekehrt …«; NSF II, 343) 88, 344, 351, 359 f., 362, 365, 369, 467–469, 472
572 f.) 22, 88, 344, 353, 354, 370 <Kleine Litteraturen> ä <Über kleine Litteraturen>
Himmel in engen Gassen [nicht erhalten] 82 Kleine Seele ä Gedichte
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (Fassung A: »Kleines Arbeitszimmer, hohes Fenster …« ä <Der
NSF I, 12–42; Fassung B: 43–50; Fassung C: 51–53) Gruftwächter>
7, 35, 83, 85, 102–111, 143, 145, 414, 502, 517 <Konvolut 1920> (NSF II, 223–362) 88, 282, 290, 344,
<Hyperion> ä Rezensionen: Eine entschlafene Zeit- 346–352, 353, 358–360, 502, 505, 507
schrift Kriegsheimkehrerfürsorge ä Amtliche Schriften
Kühl und hart ist der heutige Tag ä Gedichte
»Ich befahl mein Pferd …« ä <Der Aufbruch>
»Ich bin der Jäger Gracchus …« ä <Der Jäger Grac- Langer Zug, langer Zug trägt den Unfertigen ä Ge-
chus> dichte
»Ich bin ein Diener …« ä <Die Prüfung> »Liebster Vater, Du hast mich letzthin …« ä <Brief an
»Ich bin ja nahe daran. …« (T 125 f.) 149 f. den Vater>
»Ich bin zurückgekehrt …« ä <Heimkehr> Lohnlistenrekurs Josef Renelt ä Amtliche Schriften
»Ich habe den Bau eingerichtet …« ä <Der Bau>
»Ich kam einmal im Sommer …« ä <Verlockung im »Man darf nicht sagen …« ä <Über ästhetische Apper-
Dorf> ception> (NSF I, 9–11)
»Ich kann meiner Natur ...« ä Es ist ein Mandat Maßnahmen zur Unfallverhütung ä Amtliche Schriften
Ich kenne den Inhalt nicht ä Gedichte »Mein Geschäft ruht …« ä <Der Nachbar>
560 Anhang

Meine Sehnsucht waren die alten Zeiten ä Gedichte Tagebücher (T) 83, 86, 88, 109, 130, 132 f., 143, 148,
Menschen, die über dunkle Brücken gehn ä Gedichte 152, 260 f., 281, 283, 343–345, 375 f., 377, 378–390,
<Menschenfresser>-Fragment (»Benehmen verdächtig 397, 429, 431 f., 518, 519
war …«; NSF II, 646–649) 88, 353 Tönend erklang in der Ferne der Berge ä Gedichte
<Monderry> (»Der Tatbestand der rücksichtlich des Träume und weine armes Geschlecht (T 794–797) ä Ge-
plötzlichen Todes …«; T 746–748) 86, 272 dichte
<Nachts> (»Versunken in die Nacht …«; NSF II, 260 f.) Tropische Münchhausiade [Titel für die Lesung in
22, 88, 315, 344, 351, 358, 368, 496 f. München] ä In der Strafkolonie
»Niemand wird lesen …« ä <Der Jäger Gracchus>
<Über ästhetische Apperception> (»Man darf nicht sa-
»Oft überlege ich es und immer …« ä Der kleine Rui- gen …«; NSF I, 9–11) 137 f.
nenbewohner <Über kleine Litteraturen> (T 312–315; 321 f., 326) 14,
83, 138–140, 141, 142, 429 f., 439
»Oft überlege ich es und lasse …« ä Der kleine Ruinen-
Schema zur Charakteristik kleiner Litteraturen (T 326)
bewohner
139 f.
»Was ich durch Löwy …« (T 312–315; 321 f.) 14, 138 f.
Petition der Fachgenossenschaft ä Amtliche Schriften <Über Kleists Anekdoten> ä Rezensionen
Photographien reden [nicht erhalten] 4 Umfang der Versicherungspflicht der Baugewerbe
<Poseidon> (»Poseidon saß an seinem Arbeitstisch …«; ä Amtliche Schriften
NSF II, 300–302) 88, 344, 351, 358 f., 368, 456, 502 Und die Menschen gehn in Kleidern ä Gedichte
»Poseidon saß an seinem Arbeitstisch …« ä <Posei- »Und nun gedenken Sie …« ä <Der Jäger Gracchus>
don> Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen
<Prometheus> (»Die Sage versucht …«; NSF II, 69 f.) ä Amtliche Schriften
88, 281, 290, 344, 346, 354, 357 f., 367 f., 456
Unglücklichsein ä Betrachtung
»Unser Städtchen liegt …« ä <Die Abweisung>
<Rede über die jiddische Sprache> ä Einleitungsvor- <Unter meinen Mitschülern> (»Unter meinen Mitschü-
trag über Jargon lern war ich dumm …«; NSF I, 172–176) 143 f., 145,
Rede zur Amtseinsetzung des Direktors ä Amtliche 147 f.
Schriften »Unter meinen Mitschülern war ich dumm …« ä <Un-
Rezensionen ter meinen Mitschülern>
Ein Damenbrevier (DzL 381–383) 134 f.
Ein Roman der Jugend (DzL 413–415) 135 f.
Verlockung im Dorf (»Ich kam einmal im Sommer …«;
Eine entschlafene Zeitschrift (DzL 416–418) 136
T 643–656) 86
<Über Kleists Anekdoten> (»Das ist ein Anblick …«; NSF I,
187) 136 »Versunken in die Nacht …« ä <Nachts>
Richard und Samuel (DzL 419–440) 12, 43, 72 f., 130– »Viele beklagten sich …« ä <Von den Gleichnissen>
133, 378 <Vom babylonischen Turmbau> [Titel des postumen
Die erste lange Eisenbahnfahrt (DzL 420–440) 130–133 Erstdruckes] ä <Das Stadtwappen>
<Vorbemerkung zum 1.Kapitel v. Richard und Samuel> Vom jüdischen Theater [Text von Jizchak Löwy, von
(DzL 419 f.; NSF I, 183–186) 130 Kafka nur korrigiert] (NSF I, 424–426, 430–436) 345
<Von den Gleichnissen> (»Viele beklagten sich …«;
»Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt NSF II, 531 f.) 23, 88, 344, 352, 353, 354, 360, 362,
hat …« ä <Die Wahrheit über Sancho Pansa> 363–365, 369 f., 416, 460
Schakale und Araber ä Ein Landarzt. Kleine Erzählun- Vor dem Gesetz ä Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
gen <Vorbemerkung zum 1. Kapitel v. Richard und Samuel>
Schema zur Charakteristik kleiner Litteraturen ä <Über ä Richard und Samuel
kleine Litteraturen>
»Sie schläft. Ich wecke sie nicht …« (NSF II, 545) »Was ich durch Löwy …« ä <Über kleine Litteraturen>
354 »Wenn ich es bedenke …« ä Der kleine Ruinenbewoh-
<Skizze einer Selbstbiographie> ä »Jeder Mensch ist ei- ner
gentümlich« »Wie ist es, Jäger Gracchus …« ä <Der Jäger Gracchus>
Strafen [nicht realisierte Sammelpublikation von Das »Wie sich mein Leben …« ä <Forschungen eines Hun-
Urteil, Die Verwandlung und In der Strafkolonie] 45, des>
87, 154, 207, 224 »Wie viel Worte in dem Buche stehn!« (NSF I, 8) 372 f.
561

»Wir legten an …« ä <Der Jäger Gracchus> Die Autorinnen und Autoren


»Wir sind fünf Freunde …« ä <Gemeinschaft>
Thomas Anz: Psychoanalyse (65–72).
Wunsch, Indianer zu werden ä Betrachtung
Bernd Auerochs: Vorwort (XIII–XVI); Hinweise zur Be-
nutzung (XVII–XVIII); In der Strafkolonie (207–217);
Zerrissener Traum ä <Der Gruftwächter>
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten (318–329).
Zerstreutes Hinausschaun ä Betrachtung
Nicolas Berg: <Forschungen eines Hundes> (330–336).
Zum Nachdenken für Herrenreiter ä Betrachtung
Juliane Blank: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen (218–
Zur Begutachtungspraxis der Gewerbeinspektorate
240).
ä Amtliche Schriften Elizabeth Boa: Figurenkonstellationen: Väter/Söhne −
Zur Frage der Gesetze (NSF II, 270–273) 88, 344, 351,
Alter Egos − Frauen und das Weibliche (467–483).
358, 368, 505–507
Bernard Dieterle: <Der Gruftwächter > (240–246);
Zürauer Aphorismen ä Aphorismen Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2
»Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer …« ä <Der Jä- (260–280).
ger Gracchus> Carolin Duttlinger: Film und Fotografie (72–79).
Manfred Engel: Vorwort (XIII–XVI); Hinweise zur Be-
nutzung (XVII–XVIII); Drei Werkphasen (81–90);
Der Verschollene (175–191); Der Process (192–207);
Zürauer Aphorismen (281–292); Kleine nachgelas-
sene Schriften und Fragmente 3 (343–370); Kafka le-
sen – Verstehensprobleme und Forschungsparadig-
men (411–427); Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheo-
rie: Kunst und Künstler im literarischen Werk
(483–498); Kafka und die moderne Welt (498–515);
Ausgaben und Hilfsmittel (517–527).
Waldemar Fromm: Das Schloss (301–317); Schaffens-
prozess (428–437).
Ekkehard W. Haring: Leben und Persönlichkeit (1–27);
Das Briefwerk (390–401).
Jutta Heinz: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande
(102–111); Literaturkritische und literaturtheoreti-
sche Schriften (134–142); Kleine nachgelassene
Schriften und Fragmente 1 (143–151); Gedichte
(371–378).
Hans Helmut Hiebel: Der Kübelreiter (246–249).
Andreas B. Kilcher: Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche
Literatur in Prag zu Kafkas Zeit (37–49).
Dieter Lamping: Kafkas Lektüren (29–37).
Gerhard Lauer: Judentum/Zionismus (50–58).
Vivian Liska: <Der Bau> (337–343).
Barbara Neymeyr: Beschreibung eines Kampfes (99–
102); Betrachtung (111–126).
Dirk Oschmann: Philosophie (59–64); Kafka als Erzäh-
ler (438–449).
Ronald Perlwitz: Die Aeroplane in Brescia (127–129);
Richard und Samuel (130–133).
Sandra Poppe: Die Verwandlung (164-174).
Monika Ritzer: Das Urteil (152–163).
Philipp Theisohn: Die Tagebücher (378–390).
Benno Wagner: Beim Bau der chinesischen Mauer (250–
260); Amtliche Schriften (402–409).
Daniel Weidner: <Brief an den Vater > (293–301).
Rüdiger Zymner: Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln,
Aphorismen (449–466).

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