Sie sind auf Seite 1von 64

Grundkurs Humanismus

Selbstlernkurs
VHS-Seminarmaterialien

Zusammenstellung: Heiner Jestrabek


1
2
Grundkurs Humanismus
Selbstlernkurs
VHS-Seminarmaterialien

“Der Mensch überwindet das geozent-


risch-ptolemäische Weltbild.“
Camille Flammarions: L'Atmosphère. Mé-
téorologie Populaire (Paris 1888)

Homo vitruvianus, um 1490 entstandene


Zeichnung mit idealen Körperbaupropor-
tionen von Leonardo da Vinci. Fingerspit-
zen und Fußsohlen berühren ein sie um-
gebendes Quadrat (homo ad quadratum)
bzw. einen Kreis (homo ad circulum).

The happy human


„Der glückliche
Mensch“ von Denis
Barrington ist das
offizielle Symbol der Internationalen Humanistischen und
Ethischen Union (IHEU), einer Weltorganisation des
Humanismus, und wurde von vielen humanistischen
Organisationen und Einzelpersonen weltweit
übernommen.

Zusammenstellung: Heiner Jestrabek


3
Dank
Mit dem besten Dank an die Leitungen der VHS-
Aalen, Herrn Dr. Jürgen Wasella, der die Humanis-
mus-Ausstellung mit Vortrag in Aalen ermöglichte
und seine Nachfolgerin Frau Dr. Nicole Deufel, die
mich ermuntert und unterstützt haben, das komple-
xe Thema Humanismus in dieser populären Form,
geeignet für Volkshochschulkurse, zusammenzustel-
len und in Präsenz- und Online-Vorträgen anzubie-
ten.
Mein besonderer Dank gilt auch Tobias Haas und
Alexander Schiele, den Initiatoren und Organisato-
ren des Philosophischen Tisch in Heidenheim, einem
Diskussionsforum auf anspruchsvollem und zugleich
sehr populärem Niveau. Solche Initiativen seien zur
Nachahmung empfohlen. Heiner Jestrabek

„Wissenschaft bedeutet Neugier und Offenheit, aber auch Skepsis und Reflexion.
Wissenschaft ist die Liebe für Fakten, ohne Angst vor Komplexität und Differen-
ziertheit. Wissenschaft ist gewissermaßen auch Demut. Es ist das Bewusstsein
nicht im Besitz der »Wahrheit« zu sein und die Gewohnheit, seine eigenen Argu-
mente immer wieder selbst zu überprüfen. Diesen wissenschaftlichen Spirit ver-
misse ich auch in vielen gesellschaftlichen und politischen Debatten. Ich bin
überzeugt, dass es unserer Gesellschaft als Ganzes gut tun würde, wenn sich
jede*r mehr mit Wissenschaft beschäftigen würde. Wir brauchen mehr wissen-
schaftlichen Spirit.“ Mai Thi Nguyen-Kim

Karl Popper in einem TV-Interview über die Notwendigkeit der Klarheit des Aus-
drucks und die Abgehobenheit etwa der Frankfurter Schule: „Ich bin der Meinung,
dass wir einfach und klar sprechen und schreiben sollten, damit jeder, der interes-
siert ist, verstehen kann, was wir sagen wollen. Doch die Frankfurter Schule … ist ein
Beispiel für eine Tradition in der deutschen Philosophie, die ich für ziemlich schädlich
halte. Es ist eine Tradition, die akzeptiert, dass etwas tiefgründig ist, wenn es nicht
leicht zu verstehen ist, und dass das Zeichen des Mannes, der eine universitäre Aus-
bildung hatte, darin besteht, dass er auf eine Weise schreiben und sprechen kann,
die sowohl beeindruckend als auch unverständlich ist. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.”

Impressum:
Verlag freiheitsbaum
edition Spinoza
Reutlingen, Heidenheim
In Zusammenarbeit &
Bestelladresse:
Humanistischer Freidenker-Verband
Ostwürttemberg, K.d.ö.R.
Hellensteinstr. 3
D-89518 Heidenheim
ed.spinoza@t-online.de
1. Auflage 2021

4
Grundkurs Humanismus
Selbstlernkurs
VHS-Seminarmaterialien
Zusammengestellt von Heiner Jestrabek

Inhalt
Einleitung - Konzeption und Zielsetzung des Kurses - S. 5
Referent und Mentor – Lernziele, Interessengruppen - Kurs-Modalitäten - Defini-
tion: Weltlicher Humanismus als Weltanschauung/Philosophie - Begrifflichkeiten
Lernbaustein 1 - Wurzeln d. europäischen Humanismus i. d. Antike - S. 9
Philosophie in der europäischen Antike - Philosophische Religionskritik - Atomis-
mus und Hedonismus: Epikur – Das Ende der Antike - Glauben statt Denken -
Begrifflichkeiten
Lernbaustein 2 - Mittelalter und Philosophie außerhalb Europas – S. 18
Nicht nur „finsteres“ Mittelalter - Ketzer- und Armutsbewegungen – Philosophie
außerhalb Europas - Begrifflichkeiten
Lernbaustein 3 - 16. & 17. Jahrhundert – S. 24
Renaissance, Humanismus, Reformation und Bauernkriege – Wissenschaftlicher
Fortschritt und freies Denken gegen dogmatische Enge – Dunkelmännerbriefe –
Die Reformation - Schattenseiten der Renaissancezeit - Begrifflichkeiten
Lernbaustein 4 - 18. Jahrhundert - S. 31
Aufklärung, Revolutionen und Proklamation der Menschenrechte – Aufklärung
und Freidenkertum - Französische Revolution: Menschenrechte und die Trennung
von Kirche und Staat – Aufklärung und Religionskritik in Deutschland – Begriff-
lichkeiten
Lernbaustein 5 - 19. & 20. Jahrhundert - S. 39
Vormärz, Hegelianer und Religionskritik - Deutscher Idealismus und freie Ge-
meinden - Der Humanismus beginnt sich zu organisieren - Der Kampf um die
Trennung von Staat und Kirche - Der Freidenker-Verband- Verfolgung und Wider-
stand - Schattenseiten des 20. Jahrhunderts - Begrifflichkeiten
Lernbaustein 6 - Gegenwart: Humanismus im Lebensalltag - S. 51
Humanismus heute - Selbstbestimmt und solidarisch leben: Der Humanistische
Verband - Ausblick Humanismus: Ethik – Menschenrechte - Freiheit und Men-
schenwürde - Weltanschauliche Pluralität - Wissenschaft und Ethik – Humanisten
im Kampf für eine friedliche Welt - Aufklärung heute – Begrifflichkeiten

Erfolgskontrolle: Quiz „Was ist Humanismus?“ – S. 63

5
Einleitung
Konzeption und Zielsetzung des Kurses

 Referent und Mentor meinsam mit Vertretern der Aalener


Glaubensgemeinschaften. Demnächst
Heiner Jestrabek ist referiert er bei der VHS Aalen zum
Vorstand und Refe- Thema: „Humanistische Passage-
rent des Humanisti- Rituale und weltliche Trauerfeiern“.
schen Freidenker-
Verbandes Ostwürt-
temberg, einer Kör-  Lernziele, Interessen-
perschaft des öffent-
lichen Rechts, tätig
gruppen
auch in Aalen und Unabhängig vom jeweiligen religiö-
Umgebung in ganz sen oder weltanschaulichen Hinter-
Ostwürttemberg als grund der am Kurs Teilnehmenden
weltlich-humanistischer Feierredner werden an vergleichender Weltan-
(gar nicht mal so selten kann man schauung Interessierten Allgemein-
ihm hierbei auf dem Aalener Wald- wissen um Philosophie, Weltan-
friedhof begegnen) und als Seminar- schauung, Religionen und Religions-
leiter Ausbilder von Nachwuchs- kritik, Humanismus und Aufklärung
Feierrednern. Er veröffentlichte eine vermittelt. Vermittelt werden Inhalte
Reihe von Sachbüchern und anderen um Geschichte und Gegenwart des
Publikationen zu Philosophie und Ge- Humanismus als Weltanschauung,
schichte des Humanismus. In diesem Philosophie und soziale Bewegung.
Kurs, der keine Vorkenntnisse vor- Natürlich kann angesichts des um-
aussetzt, möchte er populärwissen- fangreichen Themengebietes keine
schaftlich Grundwissen vermitteln erschöpfende Behandlung erwartet
und selbst beim Diskutieren lernen. werden. Die Lernbausteine beleuch-
ten nur jeweils exemplarische Hot-
Im Jahr 2019 hielt der Referent bei
spots und verweisen auf die teilweise
der VHS in Aalen bereits einen gut
besuchten Vortrag: „Es geht auch sehr umfangreiche weiterführende
ohne Religion. Die Gedanken sind Literatur.
frei! … Eine kleine Geschichte des Humanismus schöpft aus vielen
freien Denkens und der humanisti- Quellen, auch aus allgemeinmensch-
schen Bewegung“, Vortrag zur Eröff- lichen, religiösen, aber auch – und
nung der Ausstellung: „Humanismus darin liegt der Schwerpunkt des Re-
in Geschichte und Gegenwart. Der ferenten - aus weltlichen, nicht-
lange Weg zu Toleranz und Gleichbe- religiös-philosophischen, zivilgesell-
rechtigung“ (an deren inhaltlichen schaftlichen und literarischen.
Gestaltung dieser Ausstellung er mit-
Ein weiterer methodischer Schwer-
gearbeitet hat) in den Räumen der
punkt liegt darin, philosophisch Be-
VHS in Aalen. Auf Einladung der
grifflichkeiten zu definieren, Begriffe
Schwäbischen Post referierte und
also nicht beliebig oder subjektiv zu
diskutierte er im Gutenberg-Kasino
gebrauchen. Besonders die philoso-
Aalen bei der Podiumsdiskussion zum
phischen Begriffe werden sprachlich
Thema: „Was glauben wir 2050? Der
definiert und etymologisch (mit
Glaube im Jahr 2050. Welche Rolle
Wortherkunft, -wandlung und -
spielt er in drei Jahrzehnten?“, ge-
gebrauch, bzw. Erklärung der einem

6
Begriff „innewohnenden Wahrheit“).  Definition: Weltlicher
Allen Aussagen werden überprüfbare
Zitate und Verweise beigefügt. Die
Humanismus als Weltan-
Texte werden zum Nachlesen doku- schauung/Philosophie
mentiert und nach vorhandenen Humanismus (lat. humanus
Möglichkeiten multimedial präsentiert „menschlich“, „menschenfreundlich“),
(Bilder, Audios, Videos, soweit vor- ist ein positiv bewerteter alltäglicher
handen). Die Inhalte wollen nicht Ausdruck und im engeren Sinn ein
dogmatisch verkündet, sondern prin- philosophischer und historischer Be-
zipiell zur offenen Diskussion gestellt griff. Humanismus ist eng verwandt
werden. mit Philanthropie (griech.
philantrōpía von phílos φίλος
„Freund“ und ánthrōpos ἄνθρωπος
 Kurs-Modalitäten „Mensch“, menschenfreundliches
Die Seminardauer des Kurses sind Denken und Verhalten). In Europa
auf sechs Einheiten (Lernbausteine) finden wir bereits Bezüge hierzu in
konzipiert und sind geeignet, sowohl der Antike, v.a. aber in der Renais-
für ein Präsenz-Seminar, als Online- sance und Moderne, bedeutende und
Kurs oder auch zum Selbststudium. überwiegend säkulare literarische,
Die Einheiten werden in Form von philosophische und kulturelle Strö-
Vorträgen und Texten, ggf. mit Bild-, mungen, die für Reformen eintraten
Ton-, Text-, Videodateien, Links und und sich zeitkritisch und emanzipato-
Literaturhinweisen zum Weiterlesen risch äußerten.
ergänzt. Selbstverständlich können Humanistisches Denken und Handeln
jederzeit an den Referenten online
kann sowohl weltlich als auch religiös
Fragen gestellt werden und mit den
begründet sein. Religionen sehen
Kursteilnehmern diskutiert werden. ihre Lösungen im Jenseits und im
 Als Begleitliteratur sind zu emp- Hoffen auf den Einfluss außerweltli-
fehlen: Die Humanisten Baden- cher Mächte, wobei der diesseitige
Württemberg: Humanismus. Ge- Mensch meist nur eine sekundäre
schichte und Gegenwart. Eine Rolle spielt. Der weltliche Humanis-
Ausstellung. (Stuttgart 2017) & mus dagegen strebt eine optimale
Heiner Jestrabek: Glossar Huma- und soziale Gestaltung des einmali-
nistisches Freidenkertum. Reden gen Lebens der Menschen im Dies-
wir mal über Begriffsbestimmun- seits an. Unter Berücksichtigung,
gen. (Reutlingen 2020, 4. erw.). dass der Mensch ein soziales Wesen
ist und seine Gesellschaftsordnung
Wenn Sie möchten, können Sie aber fair und gerecht organisieren sollte,
noch weiter in das jeweilige Thema schafft die Menschheit sich gerechte
einsteigen. Wir stellen dazu in jedem Gesetze, einen Sozialstaat und ga-
Kursabschnitt zusätzliche Informatio- rantiert die Menschenrechte – und
nen zur Verfügung, bestehend aus dies alles auf der Basis eines säkula-
weiterführenden Texten, Internet- ren Rechtsstaates und zwischen-
Links oder anderen Medien zu den staatlich im Rahmen des Völkerrechts.
einzelnen Themenbereichen. - Gesellschaftlich, politisch und
Der Referent freut sich auf einen in- ethisch folgt er damit säkularen Wer-
teressanten gemeinsamen Ausflug in ten (säkular lat. saeculāris „weltlich
die Welt des Humanismus, auf er- gesinnt“) und der Laizität (griech.
kenntnisreiche Diskussionen und auf laïkós λαϊκός, frz. laïcité „Laie“,
eine rege Beteiligung. „Nicht-Kleriker“). Die bekannteste
ethische Regel (Regula au-
rea “Goldene Regel“), „Was Du nicht

7
willst, das man Dir tu‘, das füg‘ auch Noch unsere Großelterngeneration
keinem andern zu“, ist der traditio- lebte in einer Gesellschaft, die nahe-
nelle Grundsatz einer praktischen zu ganz in einer der beiden christli-
Ethik, der (positiv) fordert, andere so chen Großkirchen organisiert war.
zu behandeln, wie man selbst von Religiöses Leben und Feierkultur war
ihnen behandelt werden will, bzw. da fast ausschließlich kirchlich ge-
(negativ) ablehnt, was man sich prägt. Heute sind über 40 % unserer
selbst nicht angetan haben will und Bevölkerung konfessionsfrei, in den
auch keinem anderen zufügen will. meisten Großstädten und im Osten
Auch diese Ethik (griech. ēthikē ἠθική des Landes ist dies sogar eine Mehr-
„das sittliche Verständnis)“ von ēthos heit der Bevölkerung. Aufgrund des
ἦθος „Charakter“, „Sinnesart“) ist anhaltenden Prozesses der Individua-
ihrem Wesen nach säkular, weil aus lisierung, der Säkularisierung und
Menschlichkeit begründet und nicht des Wertewandels wird ein noch wei-
göttlich (auch wenn diese Regel spä- teres Ansteigen des Anteils von Kon-
ter Text-Bestandteil vieler religiöser fessionsfreien erwartet. Zunehmend
Werke geworden ist und vereinnahmt finden sich große Teile der Bevölke-
wird). - Alle diese philanthropischen rung nicht mehr repräsentiert durch
Werte können und sollten auch aus- eine Interpretation unserer Werte
geweitet werden auch auf andere ausschließlich innerhalb einer „christ-
Lebewesen und die Natur. Wir sollten lich-abendländischen Leitkultur“.
anstreben, freundlich und schonend Menschen, die sich dem weltlichen
auch im Umgang mit unserer ganzen Humanismus und der Aufklärung, als
natürlichen Umwelt umzugehen. philosophische und kulturelle Alter-
native zum Althergebrachten, ver-
pflichtet fühlen, haben in der Ver-
Ein Zitat als Beispiel für
gangenheit bereits viele Reformen
den antiken Humanis-
erwirkt und erkämpft, was früher
mus, abgeleitet aus
verboten war und uns heute schon
den „Gesetzen der Na-
selbstverständlich erscheint (darun-
tur“). Marcus Tillius
ter waren z.B. auch die Autoren
Cicero (106-43 v.u.Z.)
der Erklärung der Bürger- und Men-
in De officiis („Von den
schenrechte in den Verfassungen der
Pflichten“ oder “Vom
amerikanischen und französischen
pflichtgemäßen Han-
Revolution 1776 bzw. 1789).
deln“), Liber tertius (3.
Buch, 2, 27): Heute sind wir stolz auf unsere er-
strittenen und in unserem Grundge-
„Und wenn sogar die Na-
setz beschrieben Rechte, die Wahr-
tur dieses vorschreibt, dass der
nehmung er positiven und negativen
Mensch für den Mitmenschen, wer
Religionsfreiheit, die Abschaffung des
auch immer es sein mag, gesorgt
Teilnahmezwangs an kirchlichen Ri-
wissen will, aus eben dem Grunde,
tualen, zivile Eheschließung und Be-
weil dieser ein Mensch ist, muss ge-
stattung, die Möglichkeiten der Feu-
mäß derselben Natur der Nutzen aller
erbestattung, Jugendfeiern, Fort-
ein gemeinsamer sein. Wenn dieses
schritte in Richtung Trennung von
so ist, stehen wir alle unter ein und
Kirche und Staat/Schule, weniger
demselben Gesetz der Natur, und
Diskriminierungen gleichgeschlechtli-
wenn eben dieses so ist, werden wir
cher Liebe, weniger rigide Sexualmo-
gewiss durch das Naturgesetz daran
ral und Frauenunterdrückung. Auch
gehindert, einen anderen zu verlet-
konnten größtenteils Forderungen
zen.“
nach gleichen und demokratischen
Bildungsmöglichkeiten verwirklicht

8
werden. Der weltliche Humanismus  Begrifflichkeiten
tritt auch heute noch ein für weltan-
schauliche Selbstbestimmung, för- Humanismus  lat. humanus
dert und verbreitet eine nichtreligiöse, “menschlich“, „menschenfreundlich“.
rational begründete Weltsicht, die Philanthropie  griech. philanthrōpía
sich auf ein Denken frei von Vorurtei- φιλανθρωπία, von phílos φίλος
len, Dogmen und Tabus stützt und „Freund“ und ánthrōpos ἄνθρωπος
sich an wissenschaftlich begründeter „Mensch“, menschenfreundliches
Erkenntnis orientiert, kämpft für To- Denken und Verhalten, motiviert
leranz und die volle Verwirklichung durch eine „allgemeine Menschen-
der Glaubens-, Gewissens- und Welt- liebe“, (im Gegensatz zu Menschen-
anschauungsfreiheit und wehrt sich verachtung (Ungleichbehandlung,
gegen Zwangsmissionierung und Rassismus u.a.) und durch soziales
Fundamentalismus. Dieser Huma- Verhalten, „Nächstenliebe“, Eintreten
nismus kommt ohne religiöse Bezüge für Einrichtungen des Gemeinwohls
aus und kämpft für Toleranz und und Sozialstaatlichkeit. In der Antike
Weltanschauungsfreiheit in einer Ge- äußerte sich dies vorwiegend durch
sellschaft, die für ein multikulturelles Mildtätigkeit, seit der Aufklärung als
und tolerantes Zusammenleben aller „Menschenfreundschaft“ und „Men-
Menschen in Frieden eintritt, unab- schenliebe“, jeweils begründet aus
hängig von deren Geschlecht, Her- einem „Naturrecht“, nachdem alle
kunft, sexueller Orientierung, körper- Menschen durch die Geburt mit po-
licher oder geistigen Verfassung oder tenziell gleichen Rechten und Chan-
religiösem oder nichtreligiösem Be- cen ausgestattet seien.
kenntnis. Humanismus bedeutet so- Misanthropie  „Menschenhasser“,
mit jedem Menschen Achtung, Res- Gegensatz zu Philanthropie, von
pekt und Rücksicht entgegenzubrin- griech. miseín μισεῖν „hassen, ableh-
gen. nen“ und ánthrōpos ἄνθρωπος
„Mensch“, ist eine Sichtweise, die
Menschen und Menschlichkeit ablehnt.
Personen werden Misanthrop („Men-
schenhasser, Menschenfeind“) ge-
nannt.
säkular  lat. saeculāris „weltlich
gesinnt“.
Laizität, Laie  griech. laïkós λαϊκός,
frz. laïcité „Laie“, „Nicht-Kleriker“.
Regula aurea  lat. „goldene Regel”
der praktischen Regel, die davon
ausgeht, dass menschliche Werte des
Individuums gleichwohl für die
Nächsten und die Gesellschaft gelten
sollen.
Ethik, Ethos  griech. ēthikē ἠθική
„das sittliche (Verständnis)“ von
ēthos ἦθος „Charakter, Sinnesart“)

9
Lernbaustein 1
Wurzeln des europäischen Humanismus
in der Antike
 Philosophie in der europäi-
schen Antike
 Philosophische Religionskri-
tik
 Atomismus und Hedonis-
mus: Epikur
 Das Ende der Antike
 Glauben statt Denken
 Begrifflichkeiten

Video: Von der Antike zur Neuzeit


- Wie Europa wurde, was es ist
www.youtube.com/watch?v=WTfwTjMlK6I

„Der gefesselte Prometheus mit dem


 Philosophie in der Adler“, rechts Prometheus mit dem Adler,
europäischen Antike links sein Bruder Atlas). Trinkschale aus
Cerveteri, um 560/550 v.u.Z., Vatikani-
Die Fundamente unserer europäi- sche Museen, Rom).
schen Kultur liegen im vielfältigen
In der griechischen Mythologie um
antiken griechischen und hellenis-
die Figur des Prometheus (wörtlich
tisch-römischen kulturellen Erbe.
„Vorausdenkender“, „Vorbedenker“).
Dessen Ausbreitung umfasste den
Erzählt wird von einem Titanen, der
ganzen Raum um das Mittelmeer und
als wahrer Philantroph, Menschen-
wirkte sich auf die angrenzenden Ge-
freund (philanthrōpía, von phílos
biete aus. Durch die Eroberungen des
„Freund“ und ánthrōpos „Mensch“)
Alexandros III. von Makedonien
den Menschen das Feuer und die Zi-
(356-323 v.u.Z.) gelangte die grie-
vilisation brachte. Das Feuer musste
chische Sprache und Kultur bis nach
er zuvor dem Göttervater Zeus ent-
Nordafrika und an die Grenze Indiens,
wenden, wodurch er zum Rebellen
also einen großen Teil der damals
und zur Empörergestalt gegen das
bekannten Welt.
Diktat der Götter wurde. Ganz in die-
Dies gilt natürlich auch für das hu- sem Sinn schrieb Johann Wolfgang
manistische Denken, welches sich Goethe (1759-1832) sein Gedicht
zunächst in Form der Mythologie Prometheus:
und in der Philosophie ausdrückte. https://de.wikisource.org/wiki/Promethe
us_(Gedicht,_fr%C3%BChe_Fassung)

10
sophia φίλοςσοφία, phílos („Freund“,
„Liebe“) und sophia („Weisheit“,
„Wissen“, „Wissenschaft“), bedeutete
also „Freunde des Wissens, der Wis-
senschaft“, bzw. „Liebe zur Weis-
heit“). Philosophen wollten also alles
selbst wissen und unterschieden sich
somit von denjenigen, die nur den
religiösen Vorstellungen und Ursa-
chen glaubten. Philosophen wollten
stattdessen logische, rationale und
wissenschaftliche Erklärungen. Die
Naturwissenschaft war geboren und
sollte den Menschen zum Nutzen ge-
bracht werden. Das Denken entwi-
ckelte sich vom Mythos („Wort“, „Er-
zählung“) weg, hin zum Lὁgos („Ge-
Als erster Philosoph galt Thales aus schriebenes“, „Vernunft“). Viele be-
Milet in Kleinasien (um 625-um 547 deutende Philosophen sollten noch
v.u.Z.), weshalb er auch „Vater der folgen.
Philosophie“ genannt wurde. (phílo-

Das Gemälde darf, trotz des ungewöhnlichen Standortes im Vatikan, durchaus als Plädo-
yer im Sinne der Renaissance für antikes Denken als Ursprung der europäischen Kultur,
ihrer Philosophie und Wissenschaften, gelten. Die beiden zentralen Personen in der Mitte
des Bildes, Platon (links) und Aristoteles (rechts), versinnbildlichen hierbei die beiden
grundsätzlichen philosophischen Denkrichtungen: Aristoteles weist auf die irdische Welt
und den Auftrag zum praktischen Handeln einerseits - und Platon mit dessen Fingerzeig
zur himmlischen Ideenwelt. Aristoteles hatte sich von Platons idealistischer Zwei-Welten-
Theorie abgewandt und galt stattdessen als Naturwissenschaftler, Begründer der Biolo-
gie, Zoologe, Physiker und Logiker - einer der eben auf die Erde weist. Die anderen Per-
sonen gruppieren sich in der zugehörigen Hälfte, jeweils nach möglicher Einschätzung des
Künstlers: rechts die aristotelisch weltlich orientierten Wissenschaftler, Mathematiker und
Künstler, links die nach Raffaels Einschätzung dem platonisch idealistischen Denken an-
hängenden. Der Künstler gestaltete natürlich frei nach seinen bildlichen Vorstellungen
und gab manchen Personen zeitgenössische Gesichtszüge.
11
Über 2.000 Jahre später schuf der Statuen herstellen, so würden diese
Künstler Raffael (1483-1520) ein Bild sicherlich auch ihnen ähneln:
dieser antiken Denker in seinem Mo- „Könnten Ochsen, Pferde und Löwen
numentalgemälde Die Philosophen- Götterbilder anfertigen, dann wäre es
schule von Athen (1510/11, Stanza für Pferde ein Pferdegötterbild, für
della Segnatura, Vatikan). Abgebildet Ochsen eines, das Ochsen gleichen
sind darin die heute noch bekannten würde. Alle würden sie Körper schaf-
und bedeutenden Philosophen, wie fen, die ihrem eigenen gleich
Anaxímandros (610-545 v.u.Z.), kämen.“ (Hermann Diels: Die Frag-
Anaximenes (575-525 v.u.Z.), Xe- mente der Vorsokratiker. Berlin 1903)
nophánes (570/80-470/80 v.u.Z.), Xenophanes wurde so zum ersten
Herakleitos (540-480 v.u.Z.), Pytha- bekannten Kritiker des religiösen
goras (570/80-496 v.u.Z.), Sokrates Anthropomorphismus („Vermensch-
(470/469-399 v.u.Z.), Xenophon lichung“, griech. anthropos ἄνϑρωπος
(426-355 v.u.Z.), Platon (428/427-
„Mensch“ und morphē μορφή „Form,
348/347 v.u.Z.), Aristoteles (384-
Gestalt“, spricht menschliche Eigen-
322 v.u.Z.), Diogenes (412 od. 391-
schaften den Göttern, Naturgewalten
323 v.u.Z.), Epíkouros (341-271
und anderen Wesen zu.)
v.u.Z.) usw.

 Philosophische
Religionskritik
Einige Philosophen übten bereits
starke Kritik an den herkömmlichen
Religionen:

Heraklit aus Ephesos (um 540-um


480 v.u.Z.): „Diese Welt ... hat we-
der der Götter noch der Menschen
einer gemacht, sondern sie war im-
mer und ist und wird immer sein ein
ewig lebendiges Feuer, nach Maßen
sich entzündend und nach Maßen
Xenophanes aus Kolophon (um erlöschend.“ (Hermann Diels: Die
570/80-470/80 v.u.Z.) lehnte Gebete Fragmente der Vorsokratiker. Berlin
ab, mit der Begründung: „Äthiopier 1903.)
sagen, ihre Götter seien breitnasig Epikouros (um 341-271 v.u.Z.) wi-
und schwarz, Thraker sagen, sie sei- derlegte schlüssig den so genannten
en blauäugig und rothaarig“. Dies „ethischen Gottesbeweis“ (Rechtfer-
zeige, dass ein solches Gottesbild tigung der Existenz von Göttern
falsch sein müsse. Könnten Tiere durch Ethik): „Entweder will Gott die

12
Übel in der Welt abschaffen und kann Epikouros entwickelte in seinem
es nicht, dann ist er schwach; oder Hauptwerk Perì phýseōs („Über die
er kann es und will es nicht, dann ist Natur“) die Atomlehre von Demokri-
er schlecht; oder er kann es nicht tos weiter und gründete im Jahr 306
und will es nicht, dann ist er schwach v.u.Z. in Athen seine Philosophen-
und schlecht und in jedem Fall kein schule in einem Haus in einem Gar-
Gott, oder er kann es und will es, ten, dem Kepos, den er 35 Jahre
woher kommen dann die Übel? Und lang bis zu seinem Tod führte. Er
warum beseitigt er sie nicht?“ lebte mit um die 200 Schülern unter
(Epikur: Briefe Sprüche Werkfrag- sehr einfachen Verhältnissen in enger
mente. Hrsg. von Hans-Wolfgang Gemeinschaft, zu denen schon da-
Krautz. Stuttgart 1980). mals nicht nur „freie Männer“, son-
dern auch Frauen, vielleicht auch He-
tairai („Hetären“) und Sklaven gehör-
 Atomismus und Hedo- ten, was damals noch sehr unge-
nismus: Epikur wöhnlich war. Am Eingang sollen die
Gäste mit folgender Inschrift begrüßt
worden sein: “Tritt ein, Fremder! Ein
freundlicher Gastgeber wartet dir auf
mit Brot und mit Wasser im Überfluss,
denn hier werden deine Begierden
nicht gereizt, sondern gestillt.“
Die nachhaltigste Wirkung Epikurs
blieben seine ethischen Lehren. Auch
hier kam er ohne übernatürliche
Kräfte, ohne Jenseitsglauben und
strafende Götter aus. Philosophie war
für ihn vor allem Anleitung zu rechter
Lebensführung und diente nicht nur
zur Erkenntnis, sondern auch zur Be-
seitigung der Furcht vor dem Tod
und vor göttlicher Strafe. Höchstes
zu erlangendes Ziel war für Epikur
dagegen der Hedonismus (griech.
hēdonḗ „Freude“, „Vergnügen“,
„Lust“, „Genuss“, von hedys „ange-
Weitgehende Naturerkenntnis erlang- nehm“, „süß“, „erquickend“, „behag-
ten die Philosophen des Atomismus lich“). Epikur meinte, der Weise wer-
Leukippos (um 450 v.u.Z.) und De- de immer verstehen, mehr Lust als
mokritos (um 460-371 v.u.Z.). Sie Unlust zu gewinnen. Dazu dienten
erklärten die Welt aus einem natürli- Bedürfnislosigkeit und Vermeiden
chen Ursprung und als Zusammen- von Beunruhigungen. Daher empfahl
setzung kleinster Teilchen, den Ato- er lediglich als Heilmittel zur Erlan-
men (griech. àtomos „unteilbar“, gung von Glück die Tetraphármakos
„das Kleinste“). Demnach gibt es für (griech. tetra „Vier“ und phármakos
alles in der Welt natürliche Erklärun- „Heilmittel“, „vierfache Heilmittel“):
gen und bedarf keines Aberglaubens „Fürchte keinen Gott. | Hab‘ keine
mehr. In der Welt geht also alles mit Angst vor dem Tod [der Empfin-
rechten Dingen zu. Atomismus und dungslosigkeit bedeutet] | Das Gute
Menschenfreundlichkeit verband ins- ist leicht zu beschaffen. | Das
besondere der „Gartenphilo- Schlimme ist leicht zu ertragen“. -
soph“ Epikouros (siehe Abbildung). Übelwollende Konkurrenten in der

13
Spätantike und im christlichen Mit- folgt, und macht uns furchtlos gegen
telalter verleumdeten Epikurs Hedo- die Launen des Schicksals. Wenn wir
nismus als Genusssucht. Epikur emp- also die Lust als das Endziel hinstel-
fahl aber lediglich Genügsamkeit, len, so meinen wir damit nicht die
weil dies leicht zu beschaffen sei. Lüste der Schlemmer.“
„Und Brot und Wasser gewähren den
Menschenfreundlich war auch Epikurs
größten Genuss, wenn wirkliches Be-
Empfehlung, keine Angst vor dem
dürfnis der Grund ist sie zu sich zu
Tod zu empfinden: „Gewöhne dich
nehmen. Die Gewöhnung also an ei-
auch an den Gedanken, dass es mit
ne einfache und nicht kostspielige
dem Tode für uns nichts auf sich hat.
Lebensweise ist uns nicht nur die
Denn alles Gute und Schlimme be-
Bürgschaft für volle Gesundheit, son-
ruht auf Empfindung; der Tod aber
dern sie macht den Menschen auch
ist die Aufhebung der Empfindung.
unverdrossen zur Erfüllung vier not-
Daher macht die rechte Erkenntnis
wendigen Anforderungen des Le-
von der Bedeutungslosigkeit des To-
bens, erhöht seine frohe Laune,
des für uns die Sterblichkeit des Le-
wenn er ab und zu einmal auch einer
bens erst zu einer Quelle der Lust,
Einladung zu kostbarerer Bewirtung
indem sie uns nicht eine endlose Zeit

Neben Epikurs Kepos der „Gartenschule“ existierten weitere konkurrierende Philoso-


phenschulen in Athen, das Lykeion der Peripatetiker des Artistoteles, die Stoa poikile
der Stoiker und die Akademeia der Anhänger Platons. Das antike Athen (Karte um
das Jahr 1888 erstellt): In der Nähe des nordwestlichen Stadttors Dipylon („Dop-
peltor“) befand sich der Kepos des Epikouros und in einem Hain des attischen Heros
Akademos die Akademeia der Platoniker. Das Lykeion des Aristoteles befand sich in
einem Gymnasion im Hain des Apollon Lykeios, südlich des Diochares-Tores im Osten.
Die Stoiker versammelten sich in der Stoa poikile („buntbemalte Säulen-Vorhalle“) der
Agora. (Die heute noch gebräuchlichen Begriffe: Lyzeum, Akademie, Gymnasium, sto-
isch – haben hier also ihre Wurzeln)

14
als künftige Fortsetzung in Aussicht Ansehen. Bereits seit den Erobe-
stellt, sondern dem Verlangen nach rungszügen unter Alexandros und
Unsterblichkeit ein Ende macht. Denn seinem Heer, welches aus vielen Tei-
das Leben hat für den nichts len der griechischsprachigen Länder
Schreckliches, der sich wirklich klar bestand, bildete sich die vereinheit-
gemacht hat, dass in dem Nichtleben lichte Verkehrssprache Koinè
nichts Schreckliches liegt. … Das an- diálektos („allgemeiner griechischer
geblich schaurigste aller Übel also, Dialekt“) unter den Griechen und den
der Tod, hat für uns keine Bedeutung; eroberten Ländern vom Indus bis
denn so lange wir noch da sind, ist nach Ägypten aus und war Verkehrs-
der Tod nicht da; stellt sich aber der und Bildungssprache vom Hellenis-
Tod ein, so sind wir nicht mehr da. Er mus bis in die römische Kaiserzeit
hat also weder für die Lebenden Be- von etwa 300 v.u.Z. bis 600 u.Z.).
deutung noch für die Abgeschiedenen, Durch diese lange Wirkungsgeschich-
denn auf jene bezieht er sich nicht, te beeinflusste das Griechische nahe-
diese aber sind nicht mehr da. Die zu alle europäischen Sprachen und
große Menge indes scheut bald den damit die ganze heutige westliche
Tod als das größte aller Übel, bald Hemisphäre. Direkt und indirekt
sieht sie in ihm eine Erholung von wurden Wortschatz, Syntax, Literatur
den Mühseligkeiten des Lebens. Der und Kultur griechisch geformt. Viele
Weise dagegen weist weder das Le- in den modernen Sprachen verwen-
ben von sich, noch hat er Angst da- dete Fremdwörter sind Gräzismen,
vor, nicht zu leben. Denn weder ist Lehnwörter aus dem Griechischen,
ihm das Leben zuwider noch hält er v.a. in den Bereichen Technik, Wis-
es für ein Übel, nicht zu leben. Wie senschaft und Medizin.
er sich aber bei der Wahl der Speise
nicht für die größere Masse, sondern
für den Wohlgeschmack entscheidet,  Das Ende der Antike
so kommt es ihm auch nicht darauf und der Übergang zum „Mittelal-
an, die Zeit in möglichster Länge, ter“ wird meist mit dem Untergang
sondern in möglichst erfreulicher des Weströmischen Reiches bezeich-
Fruchtbarkeit zu genießen.“ net (5.-6. Jahrhundert u.Z.). Im Rö-
( Zitate siehe: Prometheus und die mischen Imperium war das wissen-
Philosophen. Handbuch Philosophie und schaftliche und sprachliche griechi-
Aufklärung griechische Antike. Reutlin- sche Erbe geachtet und es herrschte
gen 2017). auch lange Zeit wegen der vielfälti-
gen Kulte und des Polytheismus
Ihre Fortsetzung fand die griechische weitgehende religiöse Toleranz. Mit
Philosophie in den römischen Philo- der Erhebung des monotheistischen
sophen, u.a. Marcus Tullius Cicero Christentums zur Staatsreligion sollte
(106-43 v.u.Z.), Lucius Annaeus sich dies ändern. Am Ende der Regie-
Seneca (um 4 v.u.Z.-65 u.Z.), dem rungszeit von Kaiser Flavius Valerius
Dichter-Philosophen und Epikureer Constantinus, genannt Konstantin
Lukrez, eigentl. Titus Lucretius der Große (um 270/288-337) und
Carus (96-55 v.u.Z.), Philodemos endgültig dann ab dem Jahr 380 u.Z.
(um 110-40 v.u.Z.). Sogar auf dem durch das Edikt Cunctos poulos des
römischen Kaiserthron gab es Philo- Kaisers Flavius Theodosius I. (347-
sophen, wie Marcus Aurelius An- 395) änderte sich einiges. Alle „heid-
toninus (121-180 u.Z.) und Flavius nischen“ Religionen wurden verboten.
Claudius Iulianus (331/2-363). Im Nur mehr der Katholizismus (katho-
Imperium Romanum blieb griechi- likós „ganz, umfassend“, i.S. von
sches Denken und Sprache in hohem „das Ganze betreffend“, „allgemein“)
wurde zur alleinigen Staatreligion.

15
Die Philosophenschulen wurden ver- eine Kirche und ermorden sie dort
boten und ganze Bibliotheken ver- grausam.
brannt. Der Übergang erfolgte teil-
Hypatia (um 355-415)
weise mit großer Gewalt.
Die Wissenschaftlerin gehört zu den
wenigen Frauen, die in fast allen Ge-
schichtswerken über die Naturwis-
 Glauben statt Denken senschaften erwähnt werden. Die
Die Unterdrückung der Philo- Technische Fachhochschule Berlin
sophie im frühen Christentum hat ein Programm zur Förderung von
Nachwuchswissenschaftlerinnen nach
ihr benannt. Mit ihrer Ermordung er-
lischt die alexandrinische Mathe-
matikerschule und endet die Verbrei-
tung der Lehre des Philosophen Pla-
ton in Alexandria und im ganzen Rö-
mischen Reich. 1

Filmtipp Tailer:
https://www.youtube.com/watch?v=s2M
zMq1bCFE
Agora – Die Säulen des Himmels
Rekonstruktion des großen Saals der von Alejandro Amenábar 2009.
Bibliothek im ägyptischen Alexandria. Der Film handelt von den wahren Be-
gebenheiten um Hypatia (Ὑπατία, um
Die frühen Kirchenväter halten die 355-ermordet im März 415) in der rö-
griechische Philosophie, die Anre- misch-ägyptischen Metropole Alexand-
gung zum selbständigen Denken, für ria. Hypatia war seit dem Jahr 391 Do-
gefährlich und überflüssig. Als Kon- zentin für Philosophie, Mathematik und
sequenz aus dieser Haltung verbren- Astronomie an der Bibliothek des Se-
nen Christen im Jahre 390 die be- rapeum von Alexandria. Als lehrende
rühmte Bibliothek von Alexandria, die Philosophin und ledige Frau im antiken
mit ca. 200.000 Schriftrollen einen Alexandria stellte sie eine gesellschaft-
großen Teil des Wissens des Alter- liche Ausnahmeerscheinung dar. Schon
tums enthielt. 391 von Kaiser Theo- ihr Vater Theon hatte eine hohe Stel-
dosius zur alleinigen Staatsreligion lung an der Bibliothek von Alexandria
erhoben, geht das Christentum in der eingenommen. Alexandria war Teil des
Folge daran, die griechische Philoso- Römischen Reiches und die christliche
phie und Wissenschaft als Ausdrucks- Kirche war im Begriff die vollständige
Macht gewaltsam zu ergreifen und al-
form des Heidentums zu unterdrü-
les Nichtkatholische zu unterdrücken,
cken. Als Ergebnis kommt es zu ei-
bis hin zur Verhängung der Todesstrafe
nem lang anhaltenden Stillstand von
für die Ausübung „heidnischen Kulte“.
Forschung und Wissenschaft. Besonders ein fanatischer Bischofs Ky-
Nicht nur die Schriften, auch Perso- rill (reale historische Figur) ruft zu Ge-
nen wie die anerkannte Philosophin walttaten und Pogromen gegen Heiden
und Mathematikerin Hypatia aus Ale- und Juden auf. Besonders Hypathia
xandria, fallen dieser Einstellung zum wird zur Zielscheibe seiner Hasspredig-
Opfer. Hypatia verkörpert das Wis- ten. Er predigt gegen sie durch zitieren
senschaftsverständnis ihrer Epoche. aus den Paulusbriefen (1 Kor 14,33-35
Zudem stellt der unabhängige Le-
1
benswandel der unverheirateten Frau Die Humanisten Baden-Württemberg,
für christliche Fanatiker eine Provo- HVD: Humanismus. Geschichte und Ge-
kation dar. Sie schleppen Hypatia in genwart. Eine Ausstellung. Stuttgart
2017, S. 9.

16
EU), in denen Frauen Stillschweigen Werte. Dieses Handbuch fasst die
und Unterordnung auferlegt wird, dif- wichtigsten Vertreter der antiken grie-
famiert Hypatia als „Hexe“ und fordert chischen und hellenistisch-römischen
von allen, ihre Loyalität durch ein Nie- Kultur zusammen, die letztendlich zur
derknien zu bekräftigen und sich damit Prägung unserer modernen Zivilisation
von Hypatia zu distanzieren. Schließ- und Demokratie beigetragen haben. Es
lich wird Hypatia unter Beschimpfun- werden die Leben und Werke der wich-
gen in die als christliche Kirche umge- tigsten Philosophen dargestellt. Beson-
widmete ehemalige Bibliothek gebracht, dere Berücksichtigung finden hierbei
entkleidet und grausam vor dem Altar Epíkouros und die in seiner Tradition
ermordet. stehenden Epikureer. Im Textteil wer-
den hierzu die wichtigsten Schriften
des Epíkuros dokumentiert, sei-
 Buchtipp: ne Lehrbriefe an die Schüler Herodotos,
Pythokles, Menoikeus, Hauptleh-
ren und Sinnsprüche, sowie Auszüge
aus dem Lehrgedicht des römischen
epikureischen Dichters Lukrez: De
rerum natura. In einem Glossar wird
auf die Bedeutung der griechischen
Sprache und Schrift eingegangen, als
wesentliches Element der Herausbil-
dung nahezu aller europäischen Spra-
chen, Träger der Kultur und Bildung,
insbesondere der philosophisch-
sophistischen Begrifflichkeiten. Auf
weiterführende Literatur wird verwie-
sen. Das vorliegende Buch soll als
Heiner Jestrabek: Prometheus und die praktischer Leitfaden und Handbuch
Philosophen. Handbuch Philosophie für Philosophie und Aufklärung der
und Aufklärung griechische Antike griechischen Antike dienen.
(Reutlingen 2017). - Das illustrierte
Handbuch gibt einen Überblick der  Siehe auch die Radiosendung
wichtigsten Philosophen und Aufklärer Freies Radio für Stuttgart: Epikur:
der griechisch-römischen Antike und Die Philosophie der Lust - Aufklä-
stellt die Frage: Worin liegen die wirk- rung in der griechischen Antike
lichen Fundamente der europäischen
https://www.youtube.com/watch?v=sR
Kultur? In einer neuerdings immer
wieder beschworenen „christlich- 8BziZuxUk=442s
abendländischen Identität“ oder gar
„Leitkultur“? Kritiker dieser Sichtweise,  Weitere Literaturtipps:
wie Rolf Bergmeier, August Bebel und Catherine Nixey: Heiliger Zorn. Wie die
Karlheinz Deschner bezeugen andere frühen Christen die Antike zerstörten.
Schlussfolgerungen. Demnach zerstör- München 2019.
te das siegreiche Christentum planmä- Rolf Bergmeier: Christlich-abendländ-
ßig und mit großem Vernichtungswillen ische Kultur. Eine Legende. Über die
das antike ‚heidnische‘ Erbe und führte antiken Wurzeln, den verkannten ara-
so mit christlich-klerikaler Dominanz bischen Beitrag und die Verklärung der
jahrhundertelang fast ganz Europa ge- Klosterkultur (Aschaffenburg 2014);
sellschaftlich, wissenschaftlich und Kaiser Konstantin und die wilden Jahre
künstlerisch in ein ‚finsteres Mittelalter‘. des Christentums. Die Legende vom
Erst die Renaissance, eine Zeit der ersten christlichen Kaiser. (Aschaffen-
„Wiedergeburt“ antiker Wissenschaft, burg 2016); Karl der Große. Die Kor-
Kunst und Philosophie und die Zeit der rektur eines Mythos (Marburg 2016);
Aufklärung befreiten uns schrittweise Schatten über Europa. Der Untergang
durch eine Rückbesinnung auf antike der antiken Kultur (Aschaffenburg

17
2017); Machtkampf. Die Geburt der Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte
Staatskirche. Vom Sieg des Katholi- des Christentums (10 Bände, Reinbek
zismus und den Folgen für Europa 1986-2013).
(Aschaffenburg 2018). Zur Sprache:
Deschner, Karlheinz: Kriminalge- Lutz Mackensen: Ursprung der Wörter.
schichte des Christentums (10 Bände, Etymologisches Wörterbuch der deut-
Reinbek 1986-2013). schen Sprache (Wiesbaden 1985).
Die Humanisten Baden-Württemberg: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörter-
Humanismus. Geschichte und Gegen- buch der deutschen Sprache. (Berlin
wart. Eine Ausstellung. Stuttgart 2017 2002, 24.).
(erweiterte Neuauflage der EA: HVD LV Carsten Frerk & Michael Schmidt-
Berlin 2006). Erweitert um Beiträge Salomon: Die Kirche im Kopf. Von „Ach
von Andreas Henschel, Manfred Ise- Herrje“ bis „Zum Teufel“ (Aschaffen-
meyer, Heiner Jestrabek und Horst burg 2007).
Groschopp – sowie um fünf regionale Alfred Sellner: Altgriechisch. In: Ders.:
Tafeln. Ausstellungskatalog zur gleich- Fremdsprachliche Redewendungen im
namigen Wanderausstellung, umfas- Alltag (Wiesbaden 1977. S. 287ff).
send 26 Roll-Ups 85x200 cm. Hubert Cancik & Horst Groschopp &
Texte: Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Humanismus:
Diogenes Laertius: Leben und Meinun- Grundbegriffe (Berlin u.a. 2016).
gen berühmter Philosophen. Übers. u. Heiner Jestrabek: Glossar Humanisti-
hrsg. v. Otto Apelt (EA: 1921, Ham- sches Freidenkertum. Reden wir mal
burg 1998). über Begriffsbestimmungen (Reutlin-
Fritz Jürß u.a. (Übers. und Hrsg.): Grie- gen 2020, 4 erw.).
chische Atomisten. Texte und Kom- Jan Bretschneider & Hans-Günter Esch-
mentare zum materialistischen Denken ke & Erich Sattler (Hrsg.): Lexikon
der Antike (Leipzig 1973). freien Denkens (Neu-Isenburg 2019,
Hermann Diels (Hrsg.): Die Fragmente 19).
der Vorsokratiker (Berlin 1903). Langenscheidt-Taschenwörterbuch Alt-
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Übers. griechisch. Altgriechisch-Deutsch/
u. hrsg. von Hermann Diels. (Berlin Deutsch-Altgriechisch (Berlin u.a. 2008,
1924); Übers. und kommentiert von 13).
Klaus Binder mit einer Einführung von Langenscheids Schulwörterbuch. Latein.
Stephen Greenblatt (Berlin 2014). Lateinisch-Deutsch/Deutsch-Lateinisch.
Richard David Precht: Erkenne die Welt. (Berlin u.a. 2001, 5).
Geschichte der Philosophie. Band 1
(Antike) (München 2015).
Alice Roberts, Andrew Copson: The
Little Book of Humanism: Universal
lessons on finding purpose, meaning
and joy (London 2020).
Jörn Rüsen, Henner Laass (Hrsg.): In-
terkultureller Humanismus. Mensch-
lichkeit in der Vielfalt der Kulturen
(Schwalbach/Ts. 2009).
Bertrand Russell: Denker des Abendlan-
des. Eine Geschichte der Philosophie
(Stuttgart 1996); Philosophie des
Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit
der politischen und der sozialen Ent-
wicklung (Köln 2002, 5.)

18
Lernbaustein 2
Mittelalter und Philosophie außerhalb Europas

 Nicht nur „finsteres“ Mittelal- dentum entsagen. Die Christianisie-


ter rung Germaniens vollzog sich parallel
 Ketzer- und Armutsbewegun- zu den fränkischen Eroberungen.
gen Schon die zwangsweise Einführung
 Begrifflichkeiten des Christentums, eine Ideologie die
jetzt Legitimierung dafür war, ehe-
„Es ist das beste an der Religion, dass mals freie Bauern in feudale Abhän-
sie Ketzer hervorruft.“ gigkeit zu bringen, führte zu vielfälti-
Ernst Bloch (1885-1970) in Atheismus gem aktivem und passivem Wider-
im Christentum (Frankfurt/M. 1970)
stand. So auch zum großen Stel-
linga-Bauernaufstand in Sachsen
 Nicht nur (Norddeutschland) von 841 bis 843.
„finsteres“ Mittelalter Eine wichtige Rolle spielten in dieser
Das sogenannte „finstere europäi- Zeit in Europa die Ketzer- und Ar-
sche Mittelalter“ (in großen Teilen mutsbewegungen. Im Oströmi-
Europas zwischen rund 5. und 15. schen Reich Byzanz - welches auch
Jahrhundert, dem Ende der Antike den ganzen Südosten Europas um-
bis zum Beginn der Neuzeit) stellt für fasste - gab es Volksaufstände und
den Humanismus, Philanthropie, Phi- Häresien. Die größte Volkserhebung
losophie, ja sogar für Technik, Bil- war im 11. Jahrhundert der Aufstand
dung, Urbanität, Hygiene einen rela- der Bauernschaft und der Stadtar-
tiven Stillstand und teilweise Rück- men unter der Führung von Thomas
schritt gegenüber der Antike dar. Slawjanin. Auch in den bäuerlichen
Rund 90 % des Buchwissens der An- Häresien der Paulikaner (nach Paul
tike wurde vernichtet. Die totalitäre der Armenier 688-718) und der
Herrschaft des Katholizismus unter- Bogumilen des 10./11. Jahrhun-
drückte die „heidnische“ Philosophie derts drückte sich der Protest der
und gestand ihr lediglich eine die- unterdrückten Volksschichten gegen
nende, der Theologie nachgeordnete das kaiserliche und kirchliche Joch
Stellung ein: Philosophia ancilla the- aus. Die Paulikaner wirkten zuerst in
ologiae („Die Philosophie ist die Magd Kleinasien und errichteten 843/44
der Theologie“, Spruch des Klerikers sogar einen eigenen Staat, dessen
Petrus Damiani, um 1006-1072). - In Heere ganz Byzanz erschütterten.
der Folgezeit können wir die Philoso- Die revolutionären Bogumilen ent-
phie, als Ausdruck der ideenge- standen in Bulgarien und breiteten
schichtlichen Emanzipation der Men- sich nach Mazedonien, Serbien und
schen, in Europa nur innerhalb dem heutigen Bosnien aus. Sie ver-
einer religiösen Begrifflichkeit warfen die kirchlichen Zeremonien,
ausmachen. Sakramente, Dogmen und die Hie-
Im Jahr 496 ließ sich der Frankenkö- rarchie. Sie wollten nach den ver-
nig Chlodwig taufen. Mit ihm muss- meintlichen Idealen der Urchristen
ten alle seine Untertanen dem Hei- leben und forderten soziale Gerech-
tigkeit und die Beseitigung der Aus-

19
beutung der Bauernschaft. Nachfol-
ger der Bogumilen bestanden bis zur
türkischen Eroberung im 15. Jahr-
hundert.

Verbrennung von Waldensern


in Straßburg 1215

Die Reaktionen der Papstkirche auf


die seine Herrschaft erschütternden
Bogumilengräber in Bosnien- Volksbewegungen waren brutalste
Herzegowina. Links: Stein mit Men- Verfolgungen. Abertausende wurden
schensymbolen. Rechts: Stein mit Licht- von der Inquisition gefoltert und
kreuz und Symbol des Lebensbaums. verbrannt. Die neu geschaffenen Bet-
telorden der Franziskaner und Do-
In Südfrankreich und Oberitalien minikaner sollten einerseits dem
entwickelten sich die Katharer populären Armutsideal entsprechen.
(griech. katharos „die Reinen“) und Andererseits stellten aber gerade
Albigenser (nach der Stadt Albi) zu diese Orden das Personal für die be-
einer regelrechten gegenpäpstlichen rüchtigte Inquisition, die eine ver-
Volkskirche. Eine Massenbewegung heerende Wirkung in ganz Europas
waren auch die Armutsbewegung ausüben sollte.
(„Povres de Lyon“) der Waldenser
(um 1176 von Petrus Waldes in Einen Höhepunkt dieser Brutalitäten
Lyon gegründet). Trotz brutalster stellte der Albigenserkreuzzug von
Verfolgungen erwiesen sich die Ket- 1209 bis 1229 dar. Bei diesem
zer als äußerst zählebig. In Piemont Kreuzzug wurde wahllos abge-
und Savoyen konnten sie den Verfol- schlachtet und geplündert, gleichgül-
gungen trotzen und bestanden bis in tig ob es sich um Katholiken oder
die frühe Neuzeit. Ketzer handelte. „Schlagt alles tot,
der Herr kennt die Seinen!“, soll ein
Schlachtruf der Kreuzzügler gewesen
sein. Bei der Niederschlagung der
Ketzerbewegung verfolgte der fran-
zösische König gleichzeitig das Ziel,
den Süden seinem Zentralstaat ein-
zuverleiben.

Beginen (auch Beguinen, Beghinen),


waren seit dem Jahr 1200 Frauen,
die ein asketisches, klosterähnliches
Gemeinschaftsleben, meist in so ge-

20
nannten Beginenhöfen, führten. Die ein Armutsideal, Demut, Gottes- und
Beginen hielten keine Klausur und Nächstenliebe. Die Bibel war ihm die
legen keine Gelübde ab. Begarden einzige Glaubensquelle. Papsttum,
waren die männliche Entsprechung. Mönchtum, Hierarchie, Güterbesitz
In Deutschland war diese Bewegung der Kirche, Ohrenbeichte und Zölibat
vor allem im Rheinland im 13./14. lehnte er ab. Die kirchliche Lehre
Jahrhundert verbreiteten. Deren An- über Messopfer, Sakramente, Heili-
hänger waren häufig Händler. Die gen- und Reliquienverehrung, Ab-
Frauen beschäftigten sich mit Spinn- lasshandel, kirchliche Feiertage, ver-
und Näharbeiten, sozialen Diensten warf er. Zudem trat er für Laienrech-
und auch Betteln. Außerdem pflegten te in der Kirche ein und begann eine
sie ein rigoroses Armutsideal. Neben Bibelübersetzung ins Englische. Er
den sesshaften Beginen gab es auch forderte, dass der Besitz der Papst-
„schweifende“, also umherziehende, kirche durch den Staat säkularisiert
Beginen. Diese gehörten häufig den werden sollte.
Brüdern und Schwestern vom Seine Ideen lebten in den Kreisen
freien Geist an, die kirchenkritisch der Volksbewegung der Lollarden
und pantheistisch gesonnen waren. unter John Oldcastle fort. Nach
Diese Freigeister wollten von der Kir- Niederwerfung des Bauernaufstands
che nicht viel wissen. Kirchgang, gegen König und Kirche von 1381,
Messe und Beichte waren ihnen unternahmen die englischen Bischöfe
gleichgültig. Ihre Jugend erzogen sie energische Schritte zur Eindämmung
betont antiklerikal. In den Bettel- der kirchen- und sozialkritischen Lol-
mönchen sahen sie ihre speziellen larden-Bewegung. Doch konnte auch
Feinde. Bemerkenswert war auch ihr sie, trotz der nach dem Tod Wiclifs
Pochen auf weitgehende sexuelle einsetzenden blutigen Verfolgung,
Freizügigkeit. Anfangs wurden die die Lollarden nicht vollständig unter-
Beginen noch geduldet. Allein in Köln drücken. Wiclifs Lehren wurden von
sollen sie 60 Häuser unterhalten ha- dem böhmischen Reformator Jan
ben. Zwischen 1250 und 1375 wird Hus übernommen und vom Konzil zu
aus allen Teilen Mitteleuropas über Konstanz 1415 verurteilt. Die Lollar-
Verfolgungen und Verbrennungen den existierten bis zum 16. Jahrhun-
von Freigeistern berichtet. dert weiter und bereiteten der Re-
formation in England den Boden.

Im England lehrte der Theologiepro-


fessor in Oxford, John Wiclif (um
Jan Hus auf dem Scheiterhaufen.
1320-1384), die Prädestinationslehre,

21
völkerungsgruppe, in der es, im Ge-
Jan Hus (um 1370-1415) war Predi- gensatz zu den Christen, kaum Anal-
ger an der Bethlehemskapelle in Prag phabeten gab. Den christlichen Aber-
und 1409/10 Rektor der Universität. glauben, der sich als Anbetung von
Hus stand unter dem Einfluss der Holz- und Steinfiguren, ja sogar in
Lehren Wiclifs und bekämpfte beson- Verehrung von angeblichen Märty-
ders die verweltlichte Kirche. Da er rerknochen darstellte, betrachteten
auch die tschechische Sprache för- die Juden als Rückfall in heidnischen
derte, wurde er immer mehr zum Götzendienst. Im Judentum entwi-
Begründer einer böhmischen Natio- ckelte sich eine lebhafte literarische
nalbewegung. 1410 vom Papst ex- und geistige Kultur, die alle Europäer
kommuniziert, trat er gegen die Ab- stark befruchtete. Das weitgehend
lass- und Kreuzzugsbulle von Papst friedliche Zusammenleben von Juden
Johannes XXIII. auf. Obwohl er freies und Christen in den deutschen Län-
Geleit zum Konzil von Konstanz von dern wurde erstmals durch die
König Sigismund zugebilligt bekom- Kreuzzüge empfindlich gestört. Im
men hatte, um dort seine Lehre ver- Frühjahr 1096 kamen fanatisierte
teidigen zu können, wurde er 1414 Kreuzritter und raubgieriges Gesindel,
verhaftet und am 6. Juli 1415 in auf dem Weg zur „Befreiung“ Palästi-
Konstanz als Ketzer verbrannt. Eben- nas an den Rhein. Dort begannen sie
so erging es seinem Mitstreiter Hie- erstmals das „Blut Christi“ an den
ronymus von Prag (um 1365-1416). dort lebenden Juden zu rächen. Es
Nach deren Verbrennung in Konstanz, kam zu Metzeleien, Plünderungen
erhob sich das tschechische Volk ge- und Zwangstaufen. Im Verlauf der
gen Papst und Kaiser in den Hussi- weiteren Kreuzzüge wurden die jüdi-
tenkriegen. Von 1420-1431 kam es schen Gemeinden vernichtet. Die
zu mehreren Siegen über das katho- Überlebenden retteten sich nach
lische Kreuzzugsheer unter dem Hus- Osteuropa. Die Sprache der Ostjuden,
sitenführern Jan Ziška von das Jiddisch, gibt Zeugnis vom hohen
Trocnow (um 1370- 1424), dem Anteil jüdischer deutscher Auswande-
Organisator der hussitischen Heere. rer. - Die endlose Kette von Juden-
Er schlug 1420 das deutsche Kreuz- verfolgungen, bis hin zum Holocaust
heer und 1422 König Sigismund bei im 20. Jahrhundert, zeigt auf
Prag. Der Hussit Andreas Prokop schreckliche Weise, wie inhuman,
(1380-1434) kam 1424 an die Spitze intolerant und grausam das Christen-
der radikalen Hussiten (Taboriten), tum und deren Vertreter sein konn-
siegte mehrmals über deutsche Hee- ten.
re und Kreuzzugsheere bis er im
Kampf fiel.  Philosophie außerhalb
Besonders resistent gegenüber der Europas
religiösen Diktatur des Katholizismus
Außerhalb Europas entwickelte sich
erwiesen sich die europäischen Ju-
die Philosophie weiter. Im Arabischen
den. Im Mittelalter waren die jüdi-
Kalifat etwa war man dem Wissen
schen Gemeinden ein wesentliches
allgemein und der Philosophie der
Element städtischen Lebens, beson-
Antike gegenüber sehr aufgeschlos-
ders in den, aus römischen Stütz-
sen. Der Kalif von Bagdad gründete
punkten hervorgegangenen, Städten
im 9. Jahrhundert das legendäre
an Rhein, Mosel, Main und Donau.
„Haus der Weisheit“, welches fort-
Die Juden waren eine gebildete Be-

22
an ein Weltzentrum der Gelehrsam- Karam Khella: Arabische und islamische
keit wurde. Hier wurde der größte Philosophie. Geschichte und Inhalte.
Teil der antiken Werke, u.a. von Hip- Ideen, Erkenntnisziele, Lehren, Aktua-
lität und ihr Einfluß auf das europäi-
pokrates, Platon, Aristoteles, Archi-
sche Denken (Hamburg 2006).
medes übersetzt und somit vor der
August Bebel: Die Mohammedanisch-
Vergessenheit und Zerstörungswut Arabische Kulturperiode (Stuttgart
der europäischen Christen gerettet. 1884).
Erst über den Umweg Südspaniens Manabendra Nath Roy: New Humanism:
und Siziliens – und später über Kon- A Manifesto (Calcutta 1947); Material-
stantinopel konnte die Renaissance ism. An outline of the history of scien-
am Beginn der Neuzeit die Antike tific thought (Calcutta 1951); Reason,
Romanticism and Revolution (2 Bände,
wieder kennenlernen.
Calcutta 1952 und 1955) u.a. Titel.
Martin Erbstösser: Ketzer im Mittelalter
(Leipzig, Mainz 1984); (mit Ernst Wer-
ner): Ketzer und Heilige. Das religiöse
Leben im Mittelalter (Berlin 1986).
Helmut Steuerwald: Kritische Geschichte
der Religionen und freien Weltan-
schauungen (Neustadt 1999).
Heiner Jestrabek & JiYali: Die Wahrheit
in den Tatsachen suchen. Aufklärung,
Rationalismus und freies Denken in der
chinesischen Philosophie (Reutlingen
2019, 2).

 Begrifflichkeiten
Prometheus  griech. Promētheús
„Vorausdenkender“, „Vorbedenker“.
Mythologie  griech. Mythología
Gelehrte in einer Bibliothek in Bagdad. μυθολογία ursprünglich: „Sagenge-
Illustration von Yahyá al-Wasiti, 1237. schichte“, von mythos μῦθος „Erzäh-
lung, Rede“ und logía λογία, lógos
λόγος „Wort, Geschriebenes, richtige
Durch unsre eurozentristische Sicht- Einsicht, Vernunft“.
weise noch zu wenig beachtet, mach- Philosophie  griech. Philosophía
ten auch in Asien Zivilisation, Wis- φιλοσοφία, von philo φιλο „Liebe“ und
senschaft und Philosophie große sophía σοφία „Weisheit“, „Wissen“,
Fortschritte, etwa in den großen Rei- also „Liebe zur Weisheit“). Die ersten
chen in Indien und China. europäischen Philosophen im antiken
Griechenland versuchten so die Welt
und die menschliche Existenz zu deu-
 Literaturtipps außer- ten und zu verstehen, durch Wissen,
statt durch blinden Glauben.
europäische Philosophie:
Anthropomorphismus  „Vermenschli-
Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte chung“, griech. anthropos ἄνϑρωπος
der Menschheit (18 Bde. Frankfurt/M. „Mensch“ und morphē μορφή „Form,
u.a. 1982). Gestalt“), spricht menschliche Eigen-
Jim al-Khalili: Im Haus der Weisheit. Die schaften den Göttern, Naturgewalten
arabischen Wissenschaften als Funda- und anderen Wesen zu.
ment unserer Kultur (Frankfurt/M. Atome  griech. Átomos ἄτομος „unteil-
2010). bar“, „das Kleinste“. Die moderne Wis-

23
senschaft hat natürlich den ursprüngli-
chen Wortsinn widerlegt.
Epikureer, Epikureismus  Anhänger
der Philosophie des Epíkouros (um
341-271 v.u.Z.), in der Spätantike eine
nichtelitäre, hedonistische und natura-
listische Philosophenschule. Seit der
römischen Zeit wurden der Epikureis-
mus, insbesondere von den idealisti-
schen und christlichen Gegnern, unbe-
rechtigterweise in einer negativen Be-
deutung verwendet, im Sinne von al-
lein sinnlichen „Genussmenschen“.
Hedonismus  griech. hēdonḗ „Freu-
de“, „Vergnügen“, „Lust“, „Genuss“,
von hedys „angenehm“, „süß“, „erqui-
ckend“, „behaglich“. Lehre des
Epikouros und seiner Schüler, die be-
scheiden ist und auf Bedürfnislosigkeit
und Vermeiden von Beunruhigungen
abzielt.
Katholizismus  lat. katholikós „ganz,
umfassend“, i.S. von „das Ganze be-
treffend“, „allgemein“.
Häresie, Heterodoxie  (griech. haíre-
sis αἵρεσις „Wahl“, „Anschauung“,
„Schule“, bzw. heterodoxia ἑτεροδοξία,
„abweichende, verschiedene Meinung“.
Bezeichnung für eine Lehre, die im Wi-
derspruch zur Lehre einer Kirche steht.
Der Gegenbegriff hierzu wäre Orthodo-
xie (griech. ὀρθός δόξα orthós dóxa
„richtige Meinung“, „Rechtgläubigkeit“).
Die Definitionshoheit hierbei bean-
sprucht allein der Klerus und verfolgte
Heresien mit besonderer Grausamkeit.
Ketzerei  (ital. gazzari, lat. cathari)
ursprünglich Bezeichnung für Anhänger
der hauptsächlich in Südfrankreich und
Oberitalien verbreiteten Katharer
(griech. katharós καθαρός „Reine“).
Allgemeiner Ausdruck des Klerus für
„Irrgläubige“, „Irrlehrer“ und alle Arten
von Häresie, von Katholiken, ebenso
wie von Protestanten, gebraucht.

24
Lernbaustein 3
16. & 17. Jahrhundert
 Renaissance, Humanismus, Renaissance brachte tatsächlich ein
Reformation und Bauern- Aufblühen von Wissenschaft und Ver-
kriege nunft. Dies äußerte sich auf dem Ge-
 Wissenschaftlicher Fort- biet der Wissenschaft und Literatur in
Form der Ideen des Humanismus,
schritt und freies Denken
bei den Künsten in der Renais-
gegen dogmatische Enge
sancekunst und in der Religion
 Dunkelmännerbriefe durch die Reformation.
 Schattenseiten der Renais-
sancezeit Der Humanismus besann sich auf
die Ideale der Antike und forderte
 Begrifflichkeiten nach der wahren Erkenntnis der Din-
ge zu streben und die Natur zu erfor-
schen. Die Humanisten wollten die
 Renaissance, Humanis- Wissenschaft in den Dienst der Men-
mus, Reformation und schen stellen. Deshalb gerieten sie
Bauernkriege auch in Konflikt mit dem bis dahin
absolut vorherrschenden kirchlichen
„Höhepunkt des Glücks ist es, wenn
Dogmatismus und deren Scholastik.
der Mensch bereit ist, das zu sein,
Bedeutende Humanisten waren neben
was er ist.“ Erasmus von Rotterdam
Desiderius Erasmus von Rotter-
dam (1469-1536), Nicolaus Koper-
nikus (1473-1543), Philipp Melan-
chthon (1497-1560), Paracelsus
(eigentl. Theophrastus Bombastus
von Hohenheim, 1493-1541) und
Georg Agricola (eigentl. Georg Bau-
er 1494-1555).
Ein weiteres Zitat illustriert die revo-
lutionäre Bedeutung dieser Neuerun-
gen: „Es war die größte progressive
Umwälzung, die die Menschheit bis
dahin erlebt hatte, eine Zeit die Rie-
sen brauchte und Riesen zeugte, Rie-
Renaissance (aus dem Französi- sen an Denkkraft, Leidenschaft und
schen: „Wiedergeburt“) war eine eu- Charakter, an Vielseitigkeit und Ge-
ropäische Kulturepoche - hauptsäch- lehrsamkeit ... Leonardo da Vinci war
lich ab dem 15. und 16. Jh. - und be- nicht nur ein großer Maler, sondern
zeichnet das Bemühen der Gelehrten auch ein großer Mathematiker, Me-
und Künstler, die kulturellen Leistun- chaniker und Ingenieur, dem die ver-
gen der Antike nach dem ausklingen- schiedensten Zweige der Physik wich-
den wissenschaftsfeindlichen „finste- tige Entdeckungen verdankt; Albrecht
ren“ Mittelalter wieder neu zu beleben. Dürer war Maler, Kupferstecher, Bild-
Ausgehend von den Städten Nordita- hauern, Architekt ... Machiavelli war
liens beeinflusste die Renaissance die Staatsmann, Geschichtsschreiber,
europäische Literatur, Sprache, Philo- Dichter, zugleich der erste nennens-
sophie, Malerei und Architektur. Die werte Militärschriftsteller der neuen

25
Zeit. Luther fegte nicht nur den Augi- Die Renaissance steht für die Wen-
asstall der Kirche, sondern auch den de vom Mittelalter zur Neuzeit.
der deutschen Sprache aus, schuf die Ausgehend von den italienischen
moderne deutsche Prosa und dichtete Stadtstaaten, in denen sich Staats-
Texte und Melodie jenes siegesgewis- und Gesellschaftsordnung weiterent-
sen Chorals, der die Marseillaise des wickelt haben, kommt es zu einer
16. Jahrhunderts wurde.“ Wiederbelebung antiker Kunst und
Friedrich Engels: Dialektik der Natur. Gedanken. Der Humanismus als Geis-
(Berlin 1962). tesströmung entsteht. In Anlehnung
[Augiasstall = aus der griechischen an die Antike zielt er auf ein Idealbild
Mythologie. Herakles reinigte die sa- des Menschen, der seine Persönlich-
genhaft verdreckten Ställe des König keit auf der Grundlage allseitiger the-
Augias; siegesgewisser Choral = die oretischer und moralischer Bildung
evangelische Hymne Ein feste Burg ist frei entfalten kann. An die Stelle des
unser Gott]. Autoritätsglaubens tritt der Geist kri-
tischer Forschung; der Mensch als
Individuum gewinnt an Stellenwert,
was sich insbesondere in der Kunst
deutlich niederschlägt.
Der Humanismus prägt viele Gelehr-
te und Künstler dieser Zeit.

Der berühmteste Vertreter des Re-


naissance-Humanismus ist Erasmus
 Wir werden in unserem Kurs immer von Rotterdam (lateinisch Desideri-
wieder auf die Ausstellung, bzw. us, eigentlich Geert Geerts, 1469-
den Ausstellungskatalog von: 1536). Er schrieb auch eine satiri-
Humanismus. Geschichte und Ge- schen Schrift Encomion moriae seu
genwart. Eine Ausstellung – ver- laus stultitae (1511, deutsch Lob der
weisen. 2 Torheit 1534). Sein Eintreten für reli-
giöse Toleranz und seine Ablehnung
jeglichen Dogmatismus bringen ihn
nicht nur in Gegensatz zur katholi-
schen Kirche, sondern auch zu den
Forderungen der Reformatoren. Der
2
In diesem Kapitel auf Tafeln 4 und 5, Theologe und Philologe wendet sich
die die Seiten 10 und 11 des Ausstel- gegen die kirchlichen Missstände und
lungskatalogs: „Die Wiederentdeckung den Dogmenzwang. Wichtig ist ihm
der humanistischen Tradition in der Re-
die ethisch-moralische Seite der Reli-
naissance“ und „Wissenschaftlicher Fort-
schritt und freies Denken gegen dogmati-
gion. Da er die Willensfreiheit des
sche Enge“. Menschen betont, gerät er auch in

26
einen scharfen Gegensatz zu Luther. Der wissenschaftliche Fortschritt, ins-
Erasmus: „Je weniger wir die Trugbil- besondere die Erkenntnis
der bewundern, desto mehr vermö- des Nikolaus Kopernikus (1473-
gen wir die Wahrheit aufzunehmen.“ 1543), dass nicht die Erde, sondern
die Sonne Zentrum des Universums
Albrecht Dürer (1471-1528) war in
ist, stellt das christliche Weltbild in
seinem Denken und seiner Kunst
Frage. Der Buchdruck fördert die Ver-
stark vom Humanismus beeinflusst.
breitung kritischer Schriften, als Ant-
Er setzt sich auch mit den theoreti-
wort entsteht 1557 der vatikanische
schen Grundlagen seiner Kunst ausei-
Index der verbotenen Bücher, der
nander und revolutioniert die Malerei.
erst 1965 abgeschafft wird. Dort wo
Neben den damals üblichen religiösen
es in ihrer Macht steht, verfolgte die
Motiven macht er auch Mensch und
katholische Kirche nicht nur kritische
Natur zu seinen Objekten und das
Bücher, sondern auch ihre Urheber.
Selbstporträt zur eigenständigen
Ein unabhängiger Denker
Kunstgattung.
wie Giordano Bruno, der Glauben
Nach Leonardo da Vinci (1452-1519) und Wissenschaft in Einklang bringen
begann die Kunst sich mit dem ‚Men- wollte, bezahlte seine Unbeugsamkeit
schen um seiner selbst Willen‘ ausei- mit dem Leben. Erst im Jahr 2000
nanderzusetzen. bedauert der Vatikan seine Hinrich-
Giovanni Pico della Mirandolas tung. Galileo Galilei, der Verfechter
(1463-1494) Schrift Über die Würde des kopernikanischen Weltbilds wider-
des Menschen galt als Zentraldoku- ruft 1633 unter dem Druck der Inqui-
ment der Renaissance. Er versuchte sition, wird aber lebenslang unter
hierbei sein christliches Weltbild im Hausarrest gestellt. Es dauert bis
Sinne des Humanismus weiterzuent- 1992, ehe die katholische Kirche ihn
wickeln und betonte den freien Willen rehabilitiert.
des Menschen. Bis 1493 in päpstli- Die Protestanten zeigen sich ebenso
chem Bann, bekehrte er sich aller- intolerant. Gegen den Fanatismus des
dings kurz vor seinem Tod wieder Reformators Calvin (1509-1564), der
zum strengen Christentum. in Genf einen „Gottesstaat“ errichtet
Zitat: „Gerade die Philosophie hat hat, steht Sebastian Castellio auf.
mich gelehrt, mehr meinem eigenen Castellio streitet gegen Dogmatismus
Gewissen als fremden Urteilen zu fol- und für Toleranz. Dem unmittelbar
gen und immer nicht so sehr daran zu bevorstehenden Prozess entgeht er
denken, ich könnte in üblem Rufe nur durch seinen frühen Tod.
stehen, als vielmehr daran, nichts Dem berühmten Wissenschaft-
Schlechtes selbst zu sagen oder ler Galileo Galilei (1564-1642) ge-
selbst zu tun.“ langen bahnbrechende Erkenntnisse.
Er gehörte zu den ersten, die die ex-
perimentelle Methode befolgen. Zu-
gleich besteht er auf einer streng ma-
 Wissenschaftlicher thematischen Beschreibung der Na-
Fortschritt und freies turgesetze. Mit der katholischen Kir-
Denken gegen dogmati- che geriet er in Konflikt, weil er nicht
sche Enge bereit ist, seine wissenschaftlichen
Erkenntnisse in der Astronomie für
„Hätten die Christen mehr gezweifelt, sich zu behalten.
so wären sie nicht mit so vielen ver-
hängnisvollen Verbrechen besu- Giordano Bruno (1548-1600), ob-
delt.“ Sebastian Castellio wohl geweihter Priester und Domini-
kanermönch (damals die einzige Mög-
lichkeit für Mittellose ein Studium zu

27
erhalten) zweifelte schon früh an Lorenzo Valla, Lorenzo della Valle
katholischen Glaubensinhalten. Auf- (um 1407-1457) war ein italienischer
grund seiner Eloquenz findet er in Humanist und Mönch und Professor
diversen europäischen Ländern An- für Rhetorik in Paris, der die Philoso-
stellungen, schafft sich aber wegen phie Epikurs geschätzt hat. Mit seiner
seiner heftigen Kritik an christlichen Schrift Elegantiarium linguae Latinae
Dogmen überall schnell Feinde und libri sex, entstanden 1435–1444, ver-
muss immer wieder weiter ziehen. So suchte er eine Erneuerung der lateini-
gerät er 1592, zurück in Italien, in die schen Sprache. Er wies 1440 nach,
Fänge der Inquisition. Weil er sich dass die Konstantinische Schenkung
weigert zu widerrufen, wird er nach (Constitutum Constantini) eine Fäl-
achtjähriger Haft in Rom als Ketzer schung war. Die Urkunde war wohl
lebendig verbrannt. zwischen 752 und 806 in Rom ge-
fälscht worden. Sie sollte vorgeben,
Sebastian Castellio (1515-1563),
eine Urkunde von Kaiser Konstantin
Humanist, Professor in Basel, dessen
zu sein, durch die er Papst Silvester I.,
einstige Freundschaft mit Calvin auf-
neben anderen Rechten, den Vorrang
grund theologischer Differenzen zer-
Roms über alle Kirchen zuerkannt und
brochen ist, streitet in seinen Schrif-
ihm die Herrschaft über die Stadt
ten für Toleranz und kritisiert die Hin-
Rom, ganz Italien und die Westhälfte
richtung von Andersdenkenden als
des Römischen Reichs übertragen ha-
Verbrechen. Calvin gelingt es, die
ben sollte. Sie diente im Mittelalter
Veröffentlichung von Castellios Werk
zur Begründung des Machtanspruchs
Contra libellum Calvini zu verhindern.
der Päpste gegenüber den Kaisern
Stefan Zweig hat ihm mit seinem
und zur Errichtung des Kirchenstaats.
Buch Castellio gegen Calvin oder Ein
Gewissen gegen die Gewalt (Wien Pietro Pomponazzi, Petrus Pom-
1936) ein literarisches Denkmal ge- ponatius (1462-1525), lehrte in
setzt. 3 Padua, Ferrara und Bologna und ver-
trat eine Aristoteles-Interpretation
Michael Servetus, auch Michel Ser-
nach Alexander von Aphrodisias, ge-
vet, Michael Villanovanus, eigentlich
mäß der, der Geist mit der Einzelseele
Miguel Serveto y Reves (1509/1511-
identisch sei und mit ihr sterbe (De
1553) war ein spanischer Arzt und
immortalitate animae 1516). Für ihn
humanistischer Gelehrter, der in sei-
war der Gedanke von
nem Werk De trinitatis erroribus (Ha-
der Unsterblichkeit der Seele eine Er-
genau 1531) die christliche Trinitäts-
findung der Theologen. Er bestritt
lehre bezweifelte und sich damit auch
diesen Gedanken. Dafür wurde er von
den Zorn der reformierten Theologen
der Kirche heftig bekämpft und seine
zuzog. Servetus wurde auf Betreiben
Schriften wurden verbrannt.
Calvins am 27. Oktober 1553 in
Champel-Genf als Ketzer verbrannt.
Giovanni Vico (1668-1744) galt als
Begründer der neueren Geschichts-
philosophie (Hauptwerk: Principi di
una scienza nuova d’intorno alla
commune natura delle nazioni 1725)
und entwickelte die Grundzüge einer
neuen Wissenschaft über die gemein-
schaftliche Natur der Völker.

3
Ausstellung Tafel 5/ S. 11

28
 Dunkelmännerbriefe Ulrich von Hutten war ein deutscher
Reichsritter und humanistischer Ge-
Epistolae obscurorum lehrter und Dichter. Im Papst und
virorum seinem klerikalen Anhang, denen er
mit größter Erbitterung und Schärfe
entgegentrat, sah er die gefährlichs-
ten Gegner der von ihm angestrebten
Einigung der deutschen Nation, die er
allerdings illusionär mit dem staufi-
schen Reichsgedankens identifizierte.
Aus dem Kampflied des Ulrich von
Hutten: „Dem Land zu gut, wie wohl
man tut, ein Pfaffenfeind mich nen-
nen.“
Ulrichs Kampfmittel war der - nach
dem Vorbild des Lukian geformte -
Dialog. Von den fünf Dialogen Huttens
ist Vadiscus. Trias Romana (Vadiscus
oder die römische Dreieinigkeit 1520)
der bedeutendste. Das war eine ät-
zende Satire, in der Rom als ein Sün-
Die Dunkelmännerbriefe. Titelblatt des denbabel geschildert wird, in dem
zweiten Teils, der berühmten antikleri- man unter dem Vorsitz des Papstes
kalen satirischen Kampfschrift wider die
schlemmt, hurt und den Armen das
mönchische Unwissenheit und Rohheit.
Geld aus der Tasche zieht.
Die anonym publizierten Dunkel-
männerbriefe (Epistolae obscurorum
virorum, 1515-17) erschienen in ei-  Die Reformation
nem ersten Band 1515 mit 41 Briefen entwickelte sich aus der Kritik an der
(zweite Auflage 1516), eine zweite allmächtigen katholischen Kirche, de-
Sammlung mit 62 Briefen folgte 1517. ren Missstände gerade in dieser Zeit
Als Hauptverfasser des ersten Teils bunte Blüten trieben. Dabei steckten
gilt der zum Erfurter Humanistenkreis hinter den theologischen Diskursen
um Mutianus Rufus (Conradus, handfeste Interessen der sozialen
eigentlich Konrad Muth, 1470-1526), Gruppen. Hier können wir verschie-
Crotus Rubianus, eigentl. Johannes dene Vertreter der Kirchenreform un-
Jäger (1480-1545). Am zweiten Teil terscheiden:
arbeitete hauptsächlich Ulrich von
Hutten (1488-1523) und wohl Die gemäßigt-bürgerliche
auch Hermann von dem Bu- Reformation mit Martin Luther
sche (1468-1537). Die „Dunkelmän- (1483-1546). Diese Gruppe vertrat
nerbriefe“ stellten eine Parteinahme die Interessen des niederen Adels,
für Johannes Reuchlin (1455- des Städtebürgertums und mehrerer
1522) in dessen Streit mit dem Do- Fürsten im mittleren und nördlichen
minikanerorden dar und waren die Deutschland. Die Fürsten erhofften,
berühmteste Satire des deutschen auf Kosten der Geistlichkeit einen
Humanismus. In fingierten lateini- Machtzuwachs zu erringen.
schen Briefen wurde, die an den da- In der Schweiz und im Süden
maligen Universitäten noch weitge- Deutschlands bildete sich ein radi-
hend herrschende Scholastik, ins Lä- kalbürgerliches Lager um Ulrich
cherliche gezogen. Zwingli (1484-1534), das sich
schließlich beim Städtebürgertum von

29
Zürich und Bern durchsetzte. Die An-
hänger von Zwingli und Johann Cal-
vin (1509-1564) unterschieden sich
von Luther grundsätzlich, durch ihren
Willen zur Umgestaltung des gesam-
ten öffentlichen Lebens.
Die im ganzen Reich hervortreten-
den revolutionäre Bewegung der
Bauern und Plebejer, die eine Volks-
reformation in allen gesellschaftlichen
Bereichen anstrebte und im großen
Bauernkrieg von 1525/26 gipfelte,
war das konsequenteste Lager. Ihr
bester Repräsentant war Thomas Zeitgenössische Abbildung mit dem
Kommentar des Chronisten Las Casas:
Müntzer (um 1490-1525). Zur revo-
„Sie bauten große Galgen, die so beschaf-
lutionären Bewegung der Reformation
fen waren, daß die Füße der Opfer beina-
gehören aber auch die Täufer he den Boden berührten und man jeweils
(auch Wiedertäufer genannt), die, dreizehn von ihnen henken konnte, und
insbesondre in ihrem sozialen Anlie- zu Ehren und zur Anbetung unseres Hei-
gen, an die Armutsbewegungen des lands und der zwölf Apostel legten sie
Mittelalters anknüpften und 1534/35 Holz darunter und zündeten es an, um sie
kurze Zeit in Münster an die Macht bei lebendigem Leibe zu verbren-
gelangen konnten. nen.“ Bartolomé de Las Casas: Brevísima
relación de la destruición de las Indias
(„Ganz kurzer Bericht über die Zerstörung
Westindiens”) 1542.
 Schattenseiten der Re-
naissancezeit Filmtipp: Zeitenwende. Die
Die Renaissancezeit hatte auch Renaissance
gravierende Schattenseiten! 2-teiliger Dokumentarfilm, D/I/F 2015,
dt. Erstausstrahlung 2017
Die neuen wissenschaftliche Erkennt- Die Renaissance ist eine wirtschaftliche,
nisse, neuen Technologien und welt- wissenschaftliche, technische, gesell-
weite Entdeckungen erweiterten zwar schaftliche, religiöse, soziale und kultu-
den Horizont der Menschen erheblich. relle Entwicklung, die einzigartig in der
Aber ganz im Gegensatz zu den Prin- Geschichte ist. Doch was genau löste
zipien des Humanismus war dies auch sie aus? Die Renaissance ist nicht nur
die Zeit der Religionskriege, vermehr- ein einmaliges historisches Phänomen –
ter Inquisitionsverfahren, „Hexen“- auf ihren Errungenschaften baut unsere
Verfolgungen und die Etablierung ei- Gegenwart auf. Die Kulturepoche
nes Systems von Kolonialismus und brachte Künstler-Gelehrte wie Leonardo
Imperialismus mit Unterdrückung und da Vinci oder Michelangelo hervor, die
Genozid außereuropäischer Völker für einen neuen Typus Mensch stehen,
der nicht mehr nur glauben will, son-
und einem unmenschlichen transat-
dern den Dingen auf den Grund geht.
lantischen Sklavenhandel im großen
(Text: arte)
Stil.
Folge 1: Der Mensch wird zum
Göttlichen
https://www.youtube.com/watch?v=k9y-
ZwMwpgI
Folge 2: Die Entdeckung der Zeit
https://www.youtube.com/watch?v=x
n0F7cioqjc

30
 Literatur:
Es gibt eine wirklich große Auswahl von
Literatur zum Thema (siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Renaissan
ce#Literatur) Meine spezielle Auswahl
über den geschichtlichen Rahmen:
Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie
die Renaissance begann. München
2011.
Richard David Precht: Erkenne dich
selbst. Geschichte der Philosophie.
Band 2 (Renaissance und Aufklärung).
München 2017.
Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte
der Menschheit (18 Bde. Frankfurt/M.
u.a. 1982), insb. Bde. 8-11.
Heiner Jestrabek: Bauernkrieg, Refor-
mation und „Hexen“-Wahn in Ost-
Württemberg/-Schwaben (Chronik
über Bauernkrieg, Reformation (mit
einer Einschätzung der Rolle Luthers),
Humanismus und „Hexen“-wahn;
reichlich illustrierte heimatgeschichtli-
che Broschüre über wesentliche Ereig-
nisse vom Ende des 15. bis zum An-
fang des 17. Jahrhunderts. Abgerun-
det durch einen Überblick über weiter-
führende Literatur und Empfehlungen
für entsprechende Museumsbesuche
im südwestdeutschen Raum.)

31
Lernbaustein 4
18. Jahrhundert
 Aufklärung, Revolutionen Die Aufklärung, ihrem Wesen nach
und Proklamation der Men- die Idee der Emanzipation des Men-
schenrechte schen, ist so alt wie die denkende
Menschheit. Historisch, im engeren
 Aufklärung und Freidenker- Sinn, verstehen wir unter Aufklärung,
tum eine progressive Bewegung des bür-
gerlichen Denkens, zur Emanzipation
 Französische Revolution:
von Feudalismus und religiösen Dog-
Menschenrechte und die
men. Hier taucht auch der eigentliche
Trennung von Kirche und Begriff Freidenkertum auf. - Die Auf-
Staat klärung war eine gesamteuropäische
 Aufklärung und Religionskri- Bewegung, mit einem ausgeprägten
tik in Deutschland antifeudalen und antiklerikalen
Grundcharakter. Zuerst artikulierte
 Begrifflichkeiten sich dieses Denken in England und
den Niederlanden, den Ländern mit
der entwickeltesten bürgerlichen Ge-
 Aufklärung, Revolutio- sellschaft dieser Zeit. Zunächst trat
nen und Proklamation der die Aufklärung noch in äußerlich reli-
Menschenrechte giösen Hüllen auf. Freethinker wurden
im 17. Jahrhundert die englischen
Video: Woher wissen wir, was Aufklärer genannt, die frei von Dog-
wahr ist? men und von der Lehrautorität der
https://www.youtube.com/watch?v=JfCO Kirche dachten und eine „Vernunftre-
P9XPZ0k ligion“ pflegten.
Die wichtigsten englischen Philoso-
phen der Aufklärung waren: Francis
Bacon (1561-1626), Thomas Hob-
bes (1588-1679), Isaac Newton
(1643-1727), John Locke (1632-
1704), David Hume (1711-1776).
Als „freethinker“ galten die maßgeb-
lich von Lockes Sensualismus gepräg-
ten Denker Josef Priestley (1733-
1805), David Hartley (1705-1757)
und John Toland. Toland (1670-
1722) war der Begründer des engli-
schen Deismus und lehnte, in seinem
1696 anonym erschienenen Werk
Christianity not Mysterious, alle die
Vernunfterkenntnis überschreitenden
Anschauungen ab. Der Philosoph
Minerva, die römische Göttin der Weisheit,
Anthony Ashley Cooper Shaftes-
spendet das Licht der Erkenntnis,
wodurch die Religionen der Welt zusam-
bury (1671-1713) begründete einen
menfinden (Daniel Chodowiecki, 1791). ethischen Sensualismus. Die engli-
sche Moralphilosophie, in der Zeit

32
nach Locke, war gegen die Moral der  Aufklärung und Frei-
Offenbarungsreligion gerichtet. Free-
thinker waren also Menschen, die frei
denkertum
von religiösen Dogmen dachten. „Ich denke, also bin ich.“
Die Niederlande waren im 17. Jahr- Rene Descartes
hundert die erste bürgerliche Republik, Grundlegende wissenschaftliche Er-
die auch eine weitgehende Glaubens- kenntnisse stellen im 17. Jahrhundert
freiheit garantierte. Für viele von der in zunehmendem Maße überlieferte
europäischen Reaktion Verfolgte, Glaubenssätze in Frage. Der französi-
wurde die kleine Republik zum Zu- sche Philosoph Rene Descartes
fluchtsort. Die holländischen Drucke- (1596-1650) mit seiner Ansicht von
reien verbreiteten verbotene Werke der Kraft des menschlichen Geistes
aus ganz Europa. Ein Höhepunkt des und des Zweifels, sowie der britische
aufklärerischen Denkens war Baruch Physiker Isaac Newton (1643-1726)
Spinoza, Benedictus Spinoza, Baruch mit seinen grundlegenden Entde-
d’Espinosa (1632-1677). ckungen revolutionieren die Weltsicht.
Spinozas vertrat einen reinen Monis- Als Antwort entstehen Bestrebungen,
mus. Demnach gibt es nur eine Sub- die Religion zu rationalisieren, sie auf
stanz, von deren unendlich vielen At- die Vernunft zu begründen.
tributen wir nur zwei erkennen: Den-
Philosophen vor allem in England und
ken und Ausdehnung. Diese Substanz
Frankreich fordern eine Vernunftreli-
ist „Gott“ oder die „Natur“ (Deus sive
gion, die den Erkenntnissen der Wis-
natura). Die Leugnung eines persönli-
senschaft entsprächen. In England
chen Gottes, sein Pantheismus,
entsteht der Begriff »Freethinker«.
brachte ihm den Vorwurf des Atheis-
Eine Zeitschrift erscheint, die diesen
mus ein. Er formulierte: „Der Mensch
Namen trägt John Locke (1632-1704)
ist so frei, dass er denken und glau-
verbindet erstmals Religionskritik mit
ben kann was seine Vernunft ihm ein-
Menschenrechten.
gibt.“ Spinoza wandte sich von sei-
nem angestammten jüdischen Ritus In Frankreich entwickeln Vertreter der
ab und wurde, wegen seines Freiden- Aufklärung zunehmend radikale anti-
kertums, 1656 aus der jüdischen Re- kirchliche, zum Teil bereits antireligi-
ligionsgemeinschaft ausgestoßen und öse Positionen. Sie kritisieren nicht
aus Amsterdam verbannt. Er lebte nur die Dogmatik und Intoleranz der
nun also ohne konfessionelle Bindung, Kirche, sondern auch deren politische
was zu dieser Zeit eine Seltenheit war. Rolle und fordern Veränderungen, die
Zu Lebzeiten veröffentlichte Spinoza, auf eine Entmachtung der Kirche im
außer einer Schrift über Descartes, politischen Bereich zielen. Einer der
nur den für die moderne Religionskri- schärfsten Kritiker von religiösem Fa-
tik bahnbrechenden Theologisch- natismus ist der Philosoph und
politischen Traktat 1670. Sein Haupt- Schriftsteller Voltaire (1694-1778).
werk Ethica ordine geometrico de- Isaac Newtons bedeutendste Er-
monstrata erschien 1677 aus dem
kenntnisse sind die Entwicklung der
Nachlass. Seine Ethik wurde sofort Infinitesimalrechnung, die Entde-
von der Obrigkeit als „lästerliche und ckung der Natur des Lichts und die
gottlose Lehren“ verboten. 4 Gravitationstheorie. Mit seinen Er-
kenntnissen schuf Newton das Fun-
dament der modernen Naturwissen-
schaften.
Der Philosoph und Schriftsteller Vol-
taire kritisiert die Missstände des Ab-
4
Ausstellung Tafel 6/ S. 12 solutismus und der Feudalherrschaft

33
sowie das Deutungs- und Machtmo- das hauptsächliche Wissen der da-
nopol der katholischen Kirche. Damit maligen Zeit zusammenfasste und
wird er ein geistiger Wegbereiter der in den Dienst der Aufklärung stellte.
Französischen Revolution. Durch sei-
nen Aufenthalt am Hof Friedrichs II.
befördert er auch die Aufklärung in
Preußen.
Der englische Philosoph John Locke
und Staatsrechtler begründet den
Empirismus und die moderne Er-
kenntniskritik. In seinen Schriften
fordert er unter anderem religiöse
Toleranz, Gewaltenteilung in der kon-
stitutionellen Monarchie, bürgerliche
Freiheiten und die Trennung von Kir-
che und Staat. Seine Argumente fin-
den unter anderem Eingang in die
amerikanische Unabhängigkeitserklä-
rung.
Der Philosoph, Mathematiker und Na-
turwissenschaftler Rene Descartes
begründet den Rationalismus, eine Die Encyclopédie war eines der Haupt-
werke der Aufklärung. Der erste Band
Erkenntnistheorie, die nur das als
erschien im Jahr 1751, bis zum Abschluss
richtig akzeptiert, was durch die eige- 1780 erschienen 35 Bände.
ne schrittweise Analyse und logische
Reflexion als plausibel verifiziert ist. 5
Das bedeutendste und berühmteste  Französische Revolution:
Werk der französischen Aufklärung
Menschenrechte und die
war das Projekt Encyclopédie ou
Dictionnaire raisonné des sciences, Trennung von Kirche und
des arts et des métiers („Enzyklo- Staat
pädie oder ein durchdachtes Wör-
terbuch der Wissenschaften, Künste
und Handwerke“), entstanden unter
der Herausgeberschaft von Denis
Diderot (1713-1784) und Jean
Baptiste le Rond d’Alembert
(1717-1783) und mit maßgeblicher
Unterstützung von Paul Thiry
d’Holbach (1723-1789)6, mit Bei-
trägen weiterer 142 Bearbeiter, den
sogenannten Enzyklopädisten und
mit mehr als 70.000 Artikeln, die
Entsetzen bei Adel und Klerus:
5
Ausstellung Tafel 7/ S. 13 Der Dritte Stand erwacht.
6
Paul Thiry d’Holbach: Heilige Seuche &
Gesunder Menschenverstand. La conta- Erstmals politische Wirksamkeit ge-
gion sacrée, ou histoire naturelle de su- winnen die Ideen der Aufklärung in
perstition (1768) & Le bon sens ou idées
der Französischen Revolution. Diese
naturelles opposées aux idées surnatu-
ist nicht nur antifeudal, sondern - was
relles (1772). Hrsg. Von Heiner Jestrabek
(Reutlingen 2016). in vielen Darstellungen vergessen

34
wird - auch antiklerikal. Die revolutio- Er stellt den christlichen Glauben in-
nären Kräfte wenden sich gegen den frage und fordert eine staatsbürgerli-
Klerus, weil dieser gemeinsam mit che Religion. Sie soll bewirken, dass
dem Adel das Volk unterdrückt und die Menschen moralische und staats-
ausbeutet. bürgerliche Pflichten zum Wohl der
Allgemeinheit beachten.
Olympe de Gouges (1748-1793):
„Die Frau ist frei geboren und bleibt
dem Manne gleich in allen Rech-
ten.“ Als Reaktion auf die Deklaration
der Menschenrechte verfasst sie 1791
die Erklärung der Rechte der Frau und
Bürgerin. Obwohl diese Erklärung fol-
genlos bleibt, ist ihr Verdienst, dass
sie den Humanitätsbegriff aus der
Sicht der Frauen neu prägt. Als An-
hängerin der gemäßigten Girondisten
verurteilen die Jakobiner sie 1793
zum Tod.7

 Aufklärung und Religi-


Die Erklärung der Menschenrechte im onskritik in Deutschland
August 1789 verankert Meinungsfrei- „Der Mensch schuf Gott nach seinem
heit und religiöse Toleranz. Um die Bilde.“ Ludwig Feuerbach
Machtstellung der Kirche zu zerschla-
gen, beseitigen die Revolutionäre
kirchliche Privilegien, heben Orden In Deutschland verläuft die Entwick-
und Klöster auf und ziehen den kirch- lung weniger stürmisch als in Frank-
lichen Besitz ein. Priester müssen den reich. Ein früher deutscher Aufklärer
Eid auf die Verfassung ablegen, Per- ist der Philosoph und Mathematiker
sonenstandsregister und Friedhofswe- Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-
sen werden dem Staat übertragen. 1716). Er versucht, Vernunft und Re-
Die religiöse Eidesformel, die kirchli- ligion zu vereinbaren. Als erster be-
chen Feiertage, selbst der christliche nutzt er im Deutschen den Begriff
Kalender, werden abgeschafft. „Freidenker“. Im Jahr 1759 erscheint
erstmals ein „Freidenkerlexikon“.
Die Erkenntnis der Französischen Re-
volution, dass die konsequente Ver- Der Philosoph Immanuel Kant
wirklichung von Demokratie und Men- (1724-1804) war der bedeutendste
schenrechten die Trennung von Kir- deutsche Vertreter der Aufklärung. Er
che und Staat erfordert, ruft den Wi- forderte: „Habe Mut dich deines eige-
derstand des Vatikans hervor. Pius VI. nen Verstandes zu bedienen.“ Er stellt
(1717-1799, Papst seit 1775), lässt fest, dass es unmöglich ist, die Exis-
die Erklärung der Menschenrechte auf tenz Gottes zu beweisen. Allerdings
den Index der »gottlosen Schriften« bezieht er sich wie Erasmus von
setzen. Erst im Jahr 1963 revidiert Rotterdam weiterhin auf Gott als mo-
Johannes XXIII. offiziell diese Haltung. ralische Instanz.

Jean Jacques Rousseau (1712- Durch die Französische Aufklärung


1778). Sein Werk Der Gesellschafts- und Revolution angestoßen, gewinnen
vertrag bildet das theoretische Rüst-
zeug für die Französische Revolution. 7
Ausstellung Tafel 8/ S. 14

35
Religionskritik und Atheismus in
Deutschland im 19. Jahrhundert an
Schwung. Davon werden auch Jo-
hann Wolfgang Goethe (1749-1832)
und Friedrich Schiller (1759-1805)
beeinflusst.
Als einer der ersten in Deutschland
bekennt sich der Philosoph Ludwig
Feuerbach (1804-1872) zum Athe-
ismus. Das kostete ihn seine akade-
mische Laufbahn. Karl Marx (1818-
1883) bereitete den Boden für die
religionskritische Haltung der Arbei-
terbewegung: „Die Religion ist der
Seufzer der bedrängten Kreatur, das
Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie
der Geist geistloser Zustände ist. Sie
ist das Opium des Volkes.“
Die Popularisierung naturwissen-  Filmtipp: Helden der Aufklä-
schaftlicher Erkenntnisse durch frei- rung. Die Macht des Wissens
denkerische Autoren und Wissen- Regie: Sheila Hayman, 3-teilige
schaftler führt in der 2. Hälfte des 19. Dokumentation GB/D 2011 (Heroes of
Jahrhunderts erstmals in Deutschland the Enlightenment. The power of
zu einer breiten öffentlichen Ausei- knowledge), dt. Erstausstrahlung
nandersetzung mit der christlichen 2012.
Glaubenslehre. Vor allem die Ab- Vor rund 250 Jahren erschütterte die
stammungslehre von Charles Dar- Aufklärung ganz Europa. Der Aufruf
win (1809-1882) spielt dabei eine zu individuellem Denken läutete das
wichtige Rolle. Der Biologe schafft die Ende der absoluten Monarchie und
Grundlagen der Evolutionstheorie. Bis des Primats der Religion ein. Die neue
heute bestreiten fundamentalistische geistige Bewegung legte den Grund-
Christen Darwins Abstammungslehre stein für die Befreiung der Menschen
und beharren auf der Schöpfungsge- vom Geist der Bevormundung und der
schichte der Bibel. Diktatur durch Staat und Religion und
schuf die geistige Basis für unsere
In Deutschland sammelten sich nam-
heutigen demokratischen Gesellschaf-
hafte Anhänger Darwins unter den
ten. Die Dokumentation porträtiert
Wissenschaftlern und propagierten
wichtige Denker dieser Epoche: Isaac
die Evolutionstheorie Darwins und
Newton, Denis Diderot, Marques de
einen wissenschaftlichen Materialis-
Pombal, Erasmus Darwin, Immanuel
mus, wie Carl Vogt (1817-1895),
Kant (Text: arte)
Jakob Moleschott (1822-1893),
Ludwig Büchner (1824-1899), der Teil 1: https://youtu.be/6hSshWNdhPI
berühmte Zoologe Ernst Haeckel
Teil 2: https://youtu.be/gwOXeXe-xNU
(1834-1919) und der Chemie-
Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald Teil 3: https://youtu.be/YaTSwWE9bUQ
(1853- 1932).

36
 Literatur: ment, Theokratisches Kirchentum und
Auch hier gibt es unzählige Literatur autokratische Justiz (Reutlingen 2021).
zum Thema, siehe:
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Aufkl%
C3%A4rung#Literatur - Hier wiederum  Begrifflichkeiten
meine spezielle Auswahlempfehlung: Deismus  (lat. deus „Gott“), eine vor-
nehmlich in der englischen, niederlän-
Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte
dischen, französischen und deutschen
der Menschheit (18 Bände, Frankfurt Aufklärung und unter den meisten
u.a. 1982, OT: The Story of Civilization,
Aufklärern verbreitete religionsphilo-
New York 1935–75), Bd. 14. Das Zeit-
sophische Lehre, die sich gegen den
alter Voltaires. S. 449-466.
Dogmatismus der Kirchen wandte,
Jonathan I. Israel und Martin Mulsow
teilweise radikal antiklerikal war und
(Hrsg.): Radikalaufklärung (Frankfurt/M.
sich auf ein „vernünftiges“ und „natür-
2014). liches“ Religionsverständnis berief.
Denis Diderot: Philosophische Schriften.
Der Deismus verwarf die übernatürli-
Hrsg. v. Alexander Becker (Frankfurt/M.
chen Offenbarungen, Dogmen, den
2013).
hierarchischen Klerus, Wunder- und
Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer:
Aberglauben, gestand lediglich eine
Diderot, d'Alembert, de Jaucourt und
Weltschöpfung durch ein „höchstes
die Große Enzyklopädie (Frankfurt/M. Wesen“ (frz. l'Être suprême) zu, wel-
2005); Böse Philosophen: Ein Salon in
ches sich seither allerdings nicht mehr
Paris und das vergessene Erbe der Auf-
um das Geschehen in der Welt küm-
klärung (München 2011).
mere. Da offener Atheismus in dieser
Georges Minois: Geschichte des Atheis-
Zeit noch als ein todeswürdiges Ver-
mus. Von den Anfängen bis zur Gegen- brechen angesehen wurde, diente der
wart (Weimar 2000).
Deismus bestimmt auch vielen Atheis-
Barbara Stollberg-Rilinger: Die Aufklä-
ten und Agnostikern als Schutzbe-
rung: Europa im 18. Jahrhundert
hauptung.
(Stuttgart 2011).
Dogma, Dogmatismus  (griech.
Thomas Paine: The Age of Reason (drei
dógma δόγμα „Meinung“, „Lehrsatz“),
Teile 1794, 1795, 1807, dt. Thomas starre, unhistorische, metaphysische
Paine: Das Zeitalter der Vernunft. In:
(undialektische) Denkweise, die Theo-
Thomas Paine: Die Theologischen Wer-
rien schematisch auf veränderte Ver-
ke (Philadelphia USA 1847).
hältnisse überträgt. Hemmt somit den
Heiner Jestrabek: Frühe deutsche Religi-
Erkenntnisfortschritt und ist ein
onskritik. Matthias Knutzens Flugschrif-
Grundzug von Klerus, Konfession, Re-
ten. Von den 3 Betrügern Moses, Jesus, ligion, findet sich mitunter aber auch
Mohammed. Reimarus-Fragmente.
in weltlichen und wissenschaftlichen
(Reutlingen 2013); Enlightment & Free-
Denken als wesensfremde Begleiter-
thinkers. Aufklärung in England. John
scheinung.
Tolands Briefe an Serena & Panthe-
Scholastik  (lat. schola „Schullehre“),
istikon (Reutlingen 2015); Der Ausgang
theologisches, scheinphilosophisches
des siècle des Lumières, dem Jahrhun-
Lehrgebäude und Methode der spät-
dert der Aufklärung. Anacharsis Cloots,
mittelalterlichen Kirche, die versuchte,
der „Redner für die ganze Menschheit“.
die Theologie „philosophisch“ zu be-
(Reutlingen 2016); Der liebenswürdige
gründen. Die Scholastik fand ihre
Atheist Paul Thiry d’Holbach Heilige
schärfsten Kritiker unter den Anhän-
Seuche & Gesunder Menschenverstand
gern des Humanismus und der frühen
(Reutlingen 2016); Percy Bysshe Shel-
Aufklärung.
ley „There Is No God!” Religions- und
Empirismus  (griech. empeiría
Herrschaftskritik: Die Notwendigkeit
εμπειρία „Erfahrung“), Theorie wonach
des Atheismus, Queen Mab, Die Maske
Erkenntnis (auch wissenschaftliche)
der Anarchie (Reutlingen 2019); Ludwig
primär auf (Sinnes-)Erfahrung beruht.
Pfau Freie Studien, Preußisches Regi-
Erfahrung ist zwar eine äußerst wich-

37
tige, aber nicht alleinige Erkenntnis- keitsbereich eines physikalischen Ge-
grundlage. Untersuchung, Experimen- setzes wird durch gezielte physikali-
te und rationale Erkenntnis sind zu- sche Experimente und Beobachtungen
dem nötig. John Locke: „Diese beiden, geprüft. Wenn deren Ergebnisse mit
Intuition und Demonstration, sind die den aufgrund des Gesetzes ermittel-
Grade unserer Erkenntnis. Alles, was ten Erwartungen übereinstimmen, gilt
nicht einer diesen beiden entspricht, das Gesetz als bestätigt.
ist – wie zuversichtlich man es auch Wunder  Begriff der Religion für eine
annehmen mag – bloßer Glaube oder außerordentliche Erscheinung, die den
Meinung, aber nicht Erkenntnis.“ Naturgesetzen widerspricht und auf
Rationalismus  (lat. ratio „Vernunft“, Einwirkung eines Gottes zurückgeführt
„der Grund“), erkenntnistheoretische wird. Tatsächlich gibt es keine Er-
Richtung, die das rationale Erkennen, scheinung außerhalb naturgesetzlicher
das Denken, die Vernunft, als Grund- Ursachen (wohl aber noch nicht er-
lage der Erkenntnis ansieht. In Ab- klärbare, aber nicht prinzipiell uner-
grenzung zum Empirismus, der primär klärbare Phänomene).
Sinneserfahrung (Empirie) als Er- Monismus  (griech. monós μόνος
kenntnisgewinn ansieht und in schrof- „Einheit“, „allein“), philosophische
fem Gegensatz zu religiöser Offenba- Lehre, die die Welt als einheitliches
rungs-Religionen und Überlieferungen. Prinzip auffasst. (Gegensatz zu Dua-
Sensualismus  (lat. sensualis „der lismus). Der Begriff Monismus ist
Sinnempfindung fähig“), erkenntnis- überwiegend erst seit dem Ende des
theoretische Richtung, die die sinnli- 19. Jahrhundert gebräuchlich, durch
che Form der Widerspiegelung primär den Deutschen Monistenbund, eine
ansieht und alle Erkenntnisse als aus Organisation von Freidenkern, 1906 in
sinnlichen Abbildern zusammensetzt Jena gegründet durch den bekannten
ansieht. - Empirismus, Rationalismus Naturwissenschaftler Ernst Haeckel
und Sensualismus allein sind aber (1834-1919).
nicht umfassend und allein erkennt- Radikalaufklärung  (lat. radix „Wur-
nisgewinnend. Untersuchung, Experi- zel“ der Aufklärung), zeitgenössische
mente, empirische Erkenntnis sind zu- Forschung, die dem europäischen
dem nötig. Rationalistisches Denken atheistischen, skeptischen und mate-
ist Grundlage der Aufklärung, neben rialistischen Denken im späten 17.
Empirismus, Humanismus, Religions- und 18. Jh. gilt. ( Jonathan I. Israel
kritik und Sensualismus. und Martin Mulsow (Hrsg.): Radi-
Naturgesetze  „Grundgesetze der kalaufklärung. Frankfurt/M. 2014), die
Natur“, die physikalische Gesetzmä- überzeugend und faktenreich
ßigkeiten formulieren. Diese sind argumentiert, dass hauptsächlich die
durch wissenschaftliche Methoden und radikalen Vertreter der Aufklärung
Erfahrungen geprüft, wiederholbar verantwortlich waren für die Errun-
und dadurch zuverlässiges Wissen. Sie genschaften der Moderne, für die Wer-
haben die Bedeutung von objektiver tegebung von Freiheit und Menschen-
Wahrheit. Es gibt auf der Welt keine rechten, Gleichheit und Toleranz, und
unerkennbaren Dinge und Erschei- dass der Spinozismus eine zentrale
nungen, sondern nur noch nicht er- Rolle bei deren Durchsetzung spielte.
kannte. Die Naturgesetze beschreiben Menschenrechte  universelle, unver-
in allgemeiner Form, wie die physikali- äußerlich und unteilbare Freiheitsrech-
schen Größen, welche die Zustände te, die jedem Menschen, unabhängig
eines physikalischen Systems charak- von seinem Stand oder Privilegien
terisieren, miteinander zusammen- oder Einschränkungen, gleichermaßen
hängen und sich gegebenenfalls än- zusteht. Die Idee der Menschenrechte
dern, meist in mathematischer Form sind eng verbunden mit dem Huma-
ausgedrückt. Innerhalb seines Gültig- nismus und der im Zeitalter der Auf-
keitsbereichs gilt ein physikalisches klärung entwickelten Idee des Natur-
Gesetz ohne Ausnahme. Der Gültig- rechtes. Die Menschenrechte mussten

38
gegen heftigsten Widerstand von Kle-
rus und Monarchie erkämpft werden,
waren und sind stets bedroht. Erst-
mals ausführlich proklamiert wurden
sie in der Unabhängigkeitserklärung
der Vereinigten Staaten 1776 und in
der Erklärung der Menschen- und Bür-
gerrechte der Französischen Revoluti-
on 1789. Diese Erklärungen wurden
maßgeblich von Freigeistern formuliert
und fanden wiederum ihre stärkste
Gegnerschaft im Feudaladel und den
Kirchen. Der Vatikan bekämpfte von
Anfang an und seither die Menschen-
rechtserklärungen. Auch in der Neu-
zeit bleibt der Vatikanstaat der einzige
Staat der Erde, der die Allgemeine Er-
klärung der Menschenrechte der UNO
vom 10.12.1948 ablehnt (weil er u.a.
die darin postulierte Geschlech-
tergleichstellung und sexuelle Selbst-
bestimmung ablehnt und generell nur
ein göttliches „Naturrecht“ akzeptiert).
Die Menschenrechte sind bis heute
nicht universal verwirklicht, bleiben
aber ein unverzichtbarer Anspruch für
eine einzig menschenwürdige Welt.

39
Lernbaustein 5
19. & 20. Jahrhundert

 Vormärz, Hegelianer und losophie der Aufklärung, sowie in der


Religionskritik Demokratiebewegung des „Vormärz“,
 Deutscher Idealismus und die zur Revolution 1848/49 führte.
freie Gemeinden Damals bestimmte noch selbstherrlich
der Landesherr über das religiöse Be-
 Der Humanismus beginnt
kenntnis seiner Untertanen und be-
sich zu organisieren
nutzte hierbei die Landeskirche als
 Der Kampf um die Trennung Herrschaftsinstrument (Landesherr-
von Staat und Kirche schaftliches Sumepiskopat und dem
 Der Freidenker-Verband Dogma des „Gottesgnadentums“ der
 Verfolgung und Widerstand Fürsten).
 Schattenseiten des 20.
Die örtlichen Pfarrer in Württemberg
Jahrhunderts hatten die Bevölkerung zu reglemen-
 Begrifflichkeiten tieren, hatten alle standesamtlichen
Funktionen inne, die Schule und das
Gemeindeleben unter sich und waren
Richter der Sittengerichte („Kirchen-
konvente“ bestanden bis 1891), bei
denen Strafen für Kirchensäumigkeit
und „sittliche Verfehlungen“, „Zu-
sammenschlupfen“ unverheirateter
Paare, ledige Mutter, u.a.) verhängt
wurden. Ein „Generalrescript“ von
1781 gab den Kirchenkonventen so-
gar das Recht gegen so genannte
„Übelhäuser“ mit Enteignungen vor-
zugehen (wovon bis heute die Institu-
Die Linkshegelianer Bruno „Bauer“, David tion der „Kehrwoche“ übrig geblieben
Friedrich „Strauß“ und Ludwig „Feuer-
ist).
bach“ stürzen das Kreuz – die konservati-
ven Rechtshegelianer (mit allen Attribu- Die Enge und Rückständigkeit der
ten der Reaktion und Eselei) stützen es. biedermeierlichen Metternich-Ära fand
ihre Kritik in der Aufklärungs-
 Vormärz, Hegelianer Philosophie (die in den deutschen
und Religionskritik Ländern erst mit Verspätung im und
im idealistischen Gewand einsetzte).
„Der Verstand ist die wundersamste Der Stuttgarter Georg Wilhelm
oder vielmehr die absolute Macht.“ Friedrich Hegel (1770-1831) war
Georg Wilhelm Friedrich Hegel 8 Aufklärer und Anhänger der Französi-
schen Revolution. Er lehrte ein um-
Die weltanschaulichen Ursprünge des fassendes System der Dialektik. Er
modernen humanistischen Bewegung machte damit die Methode des Zwei-
sind zu finden im Humanismus der felns salonfähig und kam so in Ge-
Renaissance, mit ihrer Rückbesinnung gensatz zu allen dogmatischen Lehren.
auf die antike Philosophie, in der Phi- Hegel-Schüler (Bruno Bauer, Lud-
wig Feuerbach, der junge Karl
8
Ausstellung Tafel 22/ S. 28 Marx) vertraten dann eine radikale

40
Religionskritik. David Friedrich der Pädagoge Adolph Diesterweg hat-
Strauß (1808-1874) legte mit seinem te schon 1847 seinen Posten als Di-
Buch Das Leben Jesu, kritisch bear- rektor des Schulseminars in Berlin
beitet (Tübingen 1835) wissenschaft- verloren, weil er sich dafür einsetzte,
lich die Märchenhaftigkeit der Evan- die geistliche Schulaufsicht abzu-
gelien dar. schaffen.
Der bedeutendste fortschrittliche Päd-
agoge des 19. Jahrhunderts Adolph
 Deutscher Idealismus Diesterweg (1790-1866) tritt für
und freie Gemeinden eine demokratische Erziehung frei von
konfessioneller Spaltung und eine
grundlegende fachliche Lehrerausbil-
dung ein.
Der katholische Priester Johannes
Ronge (1813-1887) wurde aufgrund
seiner Kritik an der Ausstellung des
„Heiligen Rocks“ in Trier 1844, eines
angeblichen Kleidungsstücks von Je-
sus, exkommuniziert. Dies gab in der
der Folge den Anstoß zur Gründung
freier Gemeinden, genannt „Deutsch-
Robert Blum vor seiner Erschießung
katholiken“, aus denen sich die frei-
„Es ist der gesunde Menschenverstand, religiöse Bewegung entwickelte. Auf-
die Bildung der Zeit, das Licht und die grund seines Engagements in der Re-
Wahrheit, die ihr gelästert und die Euch volution von 1848 muss er elf Jahre
nun zermalmen.“ Robert Blum im Exil in England leben.
Der Abgeordnete im Paulskirchenpar- Erst in den 1870er-Jahren begrenzt
lament Robert Blum (1807-1848) Bismarck im Verlauf des Kulturkampfs
gehört zu den Mitbegründern der mit der katholischen Kirche kirchliche
Freireligiösen Bewegung. Im Oktober Rechte. Dazu gehören die Ein-
1848 kämpft er in Wien auf Seiten schränkung der kirchlichen
der revolutionären Bewegung und Schulaufsicht (1872) sowie die Ein-
wird am 9. November von Soldaten führung der Zivilehe (1875), auch
der siegreichen Regierungstruppen der Kirchenaustritt wird möglich
standrechtlich erschossen. (1873). - Ungeachtet dieser Eingriffe
bleiben Macht und Einfluss der Kir-
In der Mitte des 19. Jahrhunderts be- chen dennoch groß. Das protestanti-
ginnen mit den Kirchen Unzufriedene, sche Staatskirchentum mit dem Lan-
sich in Freireligiösen Gemeinden zu desherrn als Oberhaupt besteht wei-
sammeln. Sie erstreben ein rationalis- ter fort. Kaiser Wilhelm II. sucht den
tisches Christentum und irdisches kirchlichen Einfluss als Bollwerk ge-
Glück für alle Menschen. Aus ihren gen die aufstrebende Arbeiterbewe-
Reihen kommen viele entschiedene gung wieder zu stärken. 9
Demokraten wie Johannes Ronge und
Robert Blum. Die 1848 vom Paulskir- In der weiteren Entwicklung radikali-
chenparlament verabschiedete Ver- sierte sich auch in Württemberg, wie
fassung garantiert erstmals Religions- in ganz Deutschland, die soziale
freiheit und fordert die Trennung Frage. Sozialistische Arbeiter
von Kirche und Staat. Jedoch tritt Schlossen sich vermehrt der Bewe-
diese Verfassung nie in Kraft. Die gung an.
Machtstellung der Kirchen bleibt un-
angetastet. Blums Parlamentskollege, 9
Ausstellung Tafel 9/ S.15

41
sche „Freidenker-Gemeinde“ in
Stuttgart. Freidenker grenzten sich
ab von den Freireligiösen Gemeinden,
da sie „die Eierschalen ihres kirchli-
chen Ursprungs noch zu sichtbar an
sich tragen“ und „ihre inneren Ge-
bräuche zu lebhaft an diejenigen der
Kirche erinnern“. Freidenker definier-
ten sich deshalb als „frei von Religion“.

Albert Dulk (1819-1884), ein preu-


ßischer Schriftsteller und 1848er-
Revolutionär und Emigrant, der seit
1858 in Stuttgart lebte, hielt ab 1876
religionskritische Vorträge in der
Stuttgarter Liederhalle, die sehr star-
ke öffentliche Beachtung fanden.10
Albert Dulk: „Fort aus den Schulen
mit einem Buche (Altes Testament),
das die Herzen und die Phantasie un-
serer Jugend mit solchen Mord- und Nachfolger als Sprecher der Stuttgar-
Schandbildern auszustatten vermag!“ ter Freidenker wurde der ehemalige
Rabbiner Jakob Stern (1843-1913),
der zugleich jahrzehntelang Redak-
teur und wichtiger Theoretiker der
württembergischen Sozialdemokratie
war. 11
Nach 1900 entstanden reichsweit wei-
tere Verbände Freidenkerverband für
Feuerbestattung, Proletarische Frei-
denker, das Komitee Konfessionslos
und der Monistenbund des bekannten
Zoologen Ernst Haeckel (1834-
1919), der auch „deutscher Dar-
Dulk-Häusle in Esslingen.
win“ genannt wurde. Unter dem Ein-
Sozialisten und liberale Demokraten druck dieser Entwicklung änderte
engagierten sich in dieser Zeit auch schließlich die Freireligiöse Gemeinde
stark in Fragen der Religionskritik. Stuttgart 1914 ihren Namen in Würt-
Der SPD-Führer August Bebel tembergischer Freidenker- und Monis-
(1840-1913) bekannte sich in einer tenbund.
Reichstagsrede offen zum Atheismus.
Ludwig Büchner (1824-1899), Karl
August Specht (1845-1909), aber 11
Werkausgaben mit den religionskriti-
auch einige Freireligiöse, gründeten
schen Werken von Albert Dulk, Jakob
1881 den Allgemeinen Deutschen
Stern, August Bebel, Rosa Luxemburg
Freidenkerbund. Ein Jahr später und August Thalheimer erschienen im
gründete Albert Dulk die erste deut- Alibri-Verlag Aschaffenburg, herausgege-
ben von Heiner Jestrabek in den Jahren
10
Ausstellung Tafel 24/ Seite 30 1995-2008.

42
 Der Humanismus be- Rudolph Penzig (1855-1931) ver-
liert aufgrund seines Kirchenaustritts
ginnt sich zu organisieren seine Anstellung als Lehrer. Der Sozi-
„Nicht nur unedel ist es, ebenso zu al- und Schulreformer ist in mehreren
handeln wie jene, die uns bekämpfen, freidenkerischen Organisationen aktiv.
es ist auch unklug.“ Helene Stöcker Von ihm stammen wesentliche Impul-
se für die weltliche Schulbewegung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
und den Lebenskundeunterricht. Er ist
hunderts entwickelt sich in Deutsch-
eine der wichtigsten Persönlichkeiten
land eine regional und inhaltlich sehr
der bürgerlichen Freidenkerei.
heterogene humanistische Bewegung,
die sich aus freireligiösen, ethischen Helene Stöcker (1869-1943), die
und freidenkerischen Vereinen zu- erste promovierte Philosophin
sammensetzt. Sie bildet einen Teil der Deutschlands engagiert sich als Hu-
Oppositionsbewegung, die sich in je- manistin für die Gleichberechtigung
nen Jahren gegen das Wilhelminische von Frauen, für das Recht auf
System formiert. Während die Freire- Schwangerschaftsabbruch, die Rechte
ligiösen sich ursprünglich darauf be- von Homosexuellen und seit dem 1.
schränken »frei in der Religion« zu Weltkrieg verstärkt für den Frieden.
sein, wachsen in diesen Vereinen Be- Von den Nazis verfolgt und vertrieben,
strebungen, »frei von der Religion« stirbt sie verarmt im Exil.
zu sein. Rudolph Penzig und Hele- Magnus Hirschfeld (1868-1935),
ne Stöcker sind zwei der wichtigsten
der Mediziner und Sexualreformer
Vertreter dieser Bewegung. setzt sich intensiv für die Rechte von
Die Kritik an der lustfeindlichen Hal- Homosexuellen ein. 1919 gründet er
tung des Christentums führt dazu, das Institut für Sexualwissenschaft,
dass sich zwischen der Freidenker- das er bis zu dessen Zerstörung durch
und der sich ebenfalls entwickelnden die Nazis leitet. Ins Exil getrieben,
Sexualreformbewegung personelle stirbt er 1935 in Nizza. Hirschfeld:
und inhaltliche Überschneidungen „Die Begriffe übernatürlich, unnatür-
herausbilden. Auch der Sexualwissen- lich und widernatürlich sind Zeichen
schaftler Magnus Hirschfeld gehört mangelnder Naturerkenntnis.“
der Freidenkerbewegung an.
Aus dem Wunsch, durch eine über-
greifende Interessenvertretung dem
freidenkerischen Anliegen mehr Ge-
wicht zu verleihen, entsteht 1907 das
Weimarer Kartell als eine Art Dachor-
ganisation. Neben Forderungen nach
Glaubens- und Gewissensfreiheit und
der Trennung von Kirche und Staat,
setzt sich das Kartell auch für die
Rechte von Frauen und Homosexuel-
len sowie für eine neue Sexualmoral
ein.
Die Gründung einer sozialistisch aus-
Internationaler Freidenker-Kongress,
gerichteten Freidenkerbewegung fällt
Prag 1908. 12
ebenfalls in diese Zeit. 1908 spaltet
sich der Zentralverband der Proletari-
schen Freidenker vom 1881 gegrün-
deten Deutschen Freidenkerbund ab.
12
Ausstellung Tafel 10/ S. 16

43
 Der Kampf um die Tren- den Kirchen und den ihre Interessen
vertretenden bürgerlichen Parteien an
nung von Staat und Kirche Konsens orientiert ist.
„Der Sozialismus ... betrachtet die Reli-
So wird in den Verfassungsberatun-
gion als Privatsache, mit der weder der
gen der Nationalversammlung die
Staat noch die Kommune das Geringste
Staatskirche zwar abgeschafft, der
zu tun haben.“ August Bebel
Staat als weltanschaulich neutral de-
Die Trennung von Staat und Kirche finiert und die Glaubens- und Gewis-
bildet eine der Hauptforderungen der sensfreiheit eingeführt. Alle wichtigen
Freidenkerbewegung, sie fand sich kirchlichen Privilegien, auch die staat-
auch im Programm der SPD wieder. liche Finanzierung, bleiben jedoch
In Frankreich verabschiedete das Par- erhalten. Dagegen wird die den Frei-
lament im Jahr 1905 ein entspre- denkern nunmehr gewährte Gleich-
chendes Gesetz: Loi relative à la stellung des Öfteren ignoriert.
séparation des Eglises et de l’Etat August Bebel (1840-1913), der
(„Gesetz zur Trennung von Kirche und langjährige Vorsitzende der SPD be-
Staat“) unter dem Ministerpräsiden- teiligt sich maßgeblich mit mehreren
ten Émile Combes und führte so im Schriften an der Religionskritik. In
Jahr 1905 den Laizismus in Frankreich deinem Werk Die Frau und der Sozia-
ein. Dafür hatten Republikaner, So- lismus tritt er für die soziale Gleichbe-
zialisten, Kulturschaffende und die rechtigung und Gleichstellung der
Bewegung Libre pensée, die französi- Frau ein.
schen Freidenker, lange gekämpft:
Der langjährige Vorsitzende der Berli-
Aristide Briand, Jean Jaurès,
Georges Clemenceau, Francis de ner Freireligiösen Gemeinde Adolph
Pressensé, die späteren Friedensno- Hoffmann (1858-1930) setzt sich als
Schul- und Kulturpolitiker kritisch mit
belpreisträger Ferdinand Buisson
der Kirchenpolitik auseinander. Seine
und Literaturnobelpreisträger Anato-
le France. Es waren zugleich Grün- Schrift Die Zehn Gebote und die be-
dungsmitglieder der ersten Men- sitzende Klasse, in der er die Rolle
der Kirchen bei Unterdrückung und
schenrechts- und Friedensorganisati-
Ausbeutung anprangert, ist unter Ar-
onen.
beitern weit verbreitet. Als Kriegs-
In Deutschland arbeiten vor dem I. gegner gehört er zu den Mitbegrün-
Weltkrieg Freidenker und prominente dern der USPD, für die er vom 14.
Sozialdemokraten wie Karl Lieb- November 1918 bis zum 4. Januar
knecht gemeinsam an der Verwirkli- 1919 das preußische Kultusministeri-
chung dieses Zieles und propagieren um übernimmt. Nach einer kurzen
den Kirchenaustritt in einem Komitee Episode bei der KPD kehrt er 1922
Konfessionslos. wieder zur SPD zurück.
Im November 1918 erzwingen unzu- Karl Liebknecht (1871-1919) pro-
friedene Arbeiter das Ende des Kai- pagiert, im Gegensatz zu seiner Partei,
serreichs. Mit Adolph Hoffmann für die bei aller grundsätzlichen Kritik an
die USPD und Konrad Haenisch Religion und Kirchen dennoch Rück-
(1826-1925) für die SPD übernehmen sicht auf christliche Wählerschichten
zwei profilierte Freidenker das preußi- nimmt, den Kirchenaustritt. Er be-
sche Kultusministerium. Hoffmann gründet das politisch, da die Kirchen
setzt sich für eine schnelle und eine wichtige Stütze des kaiserlichen
durchgreifende Trennung von Staat Systems bilden. 13
und Kirche ein. Er scheitert jedoch am
erbitterten Widerstand der Kirchen
und daran, dass die SPD gegenüber
13
Ausstellung Tafel 11/ S. 17

44
Die Weltlichkeit des Schulwesens, 1905 gründen Sozialdemokraten in
d.h. eine von kirchlichem Einfluss Berlin den Sparverein für Freidenker
freie Schule, gehört nicht nur zu den zur Ausführung der Feuerbestattung.
Forderungen der Freidenkerbewegung, Der Aufschwung des Vereins beginnt
auch Lehrerverbände erheben sie, mit der Weimarer Republik.
und sie ist Bestandteil des schulpoliti-
schen Programms der SPD. Dement-
sprechend versucht Adolph Hoffmann
als zuständiger Minister dieses Ansin-
nen noch im November 1918 umzu-
setzen. Jedoch trifft sein Erlass auf
den heftigen Widerstand der Kirchen
und wird von seinem Nachfolger
schnell zurückgenommen. In den Ver-
fassungsberatungen der Nationalver-
sammlung zur Schulpolitik gelingt es
den bürgerlichen Parteien, den beste-
henden Zustand faktisch zu zementie-
ren. So bleiben die konfessionellen
Schulen, die in der Mehrheit der deut-
schen Länder bestehen, als Regel-
schulen erhalten. Der Religionsunter-
richt bleibt ordentliches Lehrfach.
Als Reaktion darauf erkämpften in
Hochburgen der Arbeiterbewegung
freidenkerisch orientierte Eltern die so
genannten Weltlichen Schulen. An Er ist eng mit dem Namen Max Sie-
diesen Schulen findet kein Religions- vers (1887-1944) verbunden. Unter
unterricht statt, er wird durch Le- seiner Führung entwickelt der Ver-
benskunde ersetzt. Darüber hinaus band ein breiteres Profil und be-
entwickeln diese Schulen ein pädago- schränkt sich nicht mehr nur auf
gisches und gesellschaftspolitisch Dienstleistungen rund um das Bestat-
fortschrittliches Profil, u.a. schaffen tungswesen. Mit nichtreligiösen Feiern,
sie die Prügelstrafe ab und führen die am erfolgreichsten sind die Jugend-
Koedukation ein. 1931 gibt es in weihen, kulturellen und Bildungsver-
Preußen 289 solcher Schulen. 14 anstaltungen, will er ein „neues Kul-
turbewusstsein der Arbeiterschaft“
Fördern. Er vereinigt sich 1927 mit
 Der Freidenker-Verband den Proletarischen Freidenkern, nennt
sich ab 1930 Deutscher Freidenker-
„Für das Leben, nicht für ein Jenseits Verband und wird zu einer bedeuten-
wollen wir wirken.“ Max Sievers den Weltanschauungsorganisation im
Der von seiner Mitgliederzahl bedeu- Rahmen der Arbeiterbewegung. 1932
tendste Verband im humanistischen gehören fast 700.000 Menschen zur
Spektrum, der Deutsche Freidenker- sozialistisch orientierten Freidenker-
Verband (DFV), erwächst aus dem bewegung.
Kampf für die Feuerbestattung, die
ein wichtiges Anliegen der Freiden-
kerbewegung bildet.

14
Ausstellung Tafel 12/ S. 18

45
 Verfolgung und Wider-
stand
Die anwachsende Freidenkerbewe-
gung wird während der Weimarer Re-
publik von Seiten der Kirchen und des
rechten politischen Spektrums stark
angefeindet. Bereits vor der Macht-
übernahme durch die NS-Bewegung
gibt es erste Bestrebungen, sie zu
unterdrücken.
Am 17. März 1933 stürmen SA-
Horden die Geschäftsteile des Deut-
schen Freidenker-Verbandes (DFV) in
der Berliner Gneisenaustraße. In der
Folge wird der Verband aufgelöst,
sein Vermögen beschlagnahmt.
Die Zerschlagung der Weltlichen
Schulen beginnt im April 1933. Zu-
nächst werden die Direktoren und
besonders profilierte Lehrer entlassen.
Schrittweise werden alle weltlichen
Schulen geschlossen, Schüler und
Lehrer auf andere Schulen verteilt.
Bei der Bücherverbrennung, die am
10. Mai 1933 stattfindet, fallen die
Schriften freidenkerisch gesinnter Au-
toren den Flammen zum Opfer. Zu
den Prominentesten gehören Bertolt
Brecht (1898-1956), Carl von Os-
sietzky (1889-1938), Anna Seghers
(1900-1983) und Kurt Tucholsky
(1890-1935).
Freidenkern bleibt zur Verteidigung
ihrer Ideale nur der Widerstand gegen
die NS-Diktatur. Viele Aktive des DFV,
Das älteste Krematorium Europas in Go- der weltlichen Schulbewegung, auch
tha von 1878 mit der Urne von Bertha
Schüler von weltlichen Schulen, leis-
von Suttner. 15
ten Widerstand, einige zahlen dafür
mit ihrem Leben, darunter auch Max
Sievers, der Vorsitzende des DFV. 16

15
Ausstellung Tafel 13/ S. 19 16
Ausstellung Tafel 14/ S. 20

46
Nach dem Ende der NS-Herrschaft  Schattenseiten des 20.
gelingt der Wiederaufbau des Huma-
nismus als Massenbewegung nicht. In
Jahrhunderts
der Bundesrepublik zerbricht die enge Das 20. Jahrhundert wurde als das
Verbindung zu den traditionellen Ar- „Jahrhundert der Katastrophen“ be-
beiterparteien, aber auch zu den Libe- zeichnet, was besonders die erste
ralen. Durch den Verlust ihrer sozia- Hälfte betrifft: Nationalismus, Anti-
len Milieus verlieren die säkularen semitismus, die beiden Weltkriege,
Organisationen massiv an Mitgliedern Faschismus, Holocaust, Atombom-
und an Einfluss. Nur die Jugendweihe benabwurf – bis dahin in diesem Um-
kann sich in ihren ehemaligen Zen- fang nie dagewesene inhumane Ge-
tren wie Berlin und Hamburg noch schehnisse und monströse Brutalitä-
einige Zeit eine gewisse Bedeutung ten. Die treibende Kraft all dessen,
bewahren. waren politische Strömungen, die im
In der Bundesrepublik erreicht der weitesten Sinn Faschismus zusam-
französische Existenzialismus die In- mengefasst werden können. Der von
tellektuellen. Jean Paul Sartre den Nazis verfolgte Literaturwissen-
(1905-1980) und Simone de Beau- schaftler Hans Mayer (1907-2001),
voir (1908-1986) formulieren ein ge- bezeichnete den Faschismus begrün-
sellschaftliches Emanzipationsmodell deterweise als „universale Gegenauf-
auf der Basis von Selbstbestimmung, klärung“. Tatsächlich vereinigte diese
Freiheit und Gleichheit, insbesondere weltweit aufgetretene politische Be-
auch der Geschlechter. Simone de wegung alle gegenaufklärerischen,
Beauvoir verband die existenzialisti- inhumanen, militaristisch-krieger-
sche Philosophie mit dem Feminismus. ischen, rassistischen und diskriminie-
Sie setzt sich für Frauenrechte, insbe- renden Elemente und setzte diese
sondere das Recht auf Abtreibung ein. Ziele mit diktatorischen Mitteln und
Angriffskriegen durch. „Nie wieder
Der Zukunftsforscher Ossip K. Faschismus, nie wieder Krieg!“, for-
Flechtheim (1909-1998) prägte als derten deshalb die Überlebenden. -
kritischer Intellektueller und Mitglied Eine humanistische Antwort war da-
des DFV Berlin dessen Selbstver- raufhin die Gründung der Vereinten
ständnis. Der Humanistische Verband Nationen, die zwischenstaatliche Kon-
Deutschlands ehrt sein Andenken flikte künftig ohne Gewalt lösen sollte.
durch die Verleihung eines Preises für Leider hat sich dieser Menschheits-
humanistisches Engagement, der sei- traum bisher noch nicht überall
nen Namen trägt. durchgesetzt.
Seit 1993 unternimmt der Humanisti- Eine bleibende humanistische Aufga-
sche Verband Deutschlands einen ge- be der Menschheit besteht in der
samtdeutschen Neuanfang. Den Wahrung und Verteidigung der
Übergang dahin befördert das huma- Menschenrechte. Diese sind univer-
nistische Konzept, das Ossip K. selle, unveräußerlich und unteilbare
Flechtheim entwickelt hat. 17 Freiheitsrechte, die jedem Menschen,
unabhängig von seinem Stand oder
Privilegien oder Einschränkungen,
gleichermaßen zusteht. Die Ideen der
Menschenrechte sind eng verbunden
mit dem Humanismus und der im
Zeitalter der Aufklärung entwickelten
Idee des Naturrechtes. Die Menschen-
rechte mussten gegen heftigsten Wi-
derstand von Klerus und Monarchie
17
Ausstellung Tafel 15/ S. 21

47
erkämpft werden, waren und sind definierte Grenze von täglichem Pro-
stets bedroht. Erstmals ausführlich Kopf-Einkommen von 1,9 US-$),
proklamiert wurden sie in der Unab- wodurch ein Beitrag von 70 Prozent
hängigkeitserklärung der Vereinigten zur globalen Armutsüberwindung ge-
Staaten 1776 und in der Erklärung leistet wurde. Zudem gehören Sozial-
der Menschen- und Bürgerrechte der versicherung, Medizinische Versor-
Französischen Revolution 1789. Diese gung, Bildung, Rechtstaatlichkeit, Ko-
Erklärungen wurden maßgeblich von alitionsrecht, Arbeiterrechte u.a. zu
Freigeistern formuliert und fanden den Menschenrechten. Der Schutz
wiederum ihre stärkste Gegnerschaft von Menschenrechten sollte aber auch
im Feudaladel und den Kirchen. Der nicht missbräuchlich verwandt werden,
Vatikan bekämpfte von Anfang an um Angriffskriege und andere imperi-
und seither die Menschenrechtserklä- alistische Aggressionen zu rechtferti-
rungen. Auch in der Neuzeit bleibt der gen.
Vatikanstaat der einzige Staat der
Erde, der die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte der UNO vom  Begrifflichkeiten
10.12.1948 ablehnt (weil er u.a. die
darin postulierte Geschlechtergleich- Dialektik  (griech. dialektiké [téchne],
stellung und sexuelle Selbstbestim- διαλεκτική [τέχνη] die „Kunst der Un-
terredung“, lat. [ars] dialectica „Ge-
mung ablehnt und generell nur ein
sprächsführung“, „Unterredungskunst“,
göttliches „Naturrecht“ akzeptiert).
„sich auseinandersetzen“, „Kunst des
Die Menschenrechte sind bis heute Fragens“), bezeichnet eine untersu-
nicht universal verwirklicht, bleiben chende Erkenntnismethode der Philo-
aber ein unverzichtbarer laizistischer sophie, unterscheidet sich in Objektive
Anspruch für eine einzig menschen- Dialektik (der Natur und Gesellschaft)
würdige Welt. Die Menschenrechte und Subjektive Dialektik (des Denkens
beinhalten zudem weitere Themenfel- und Erkennens), von Heraklit aus
der. In einer einmütig angenomme- Ephesos: pánta rheî πάντα ῥεῖ („Alles
nen Resolution des UNO-Menschen- fließt“) bis G.W.F. Hegels Idealisti-
rechtsrates vom 12.07.2019 wurden scher Dialektik bis zur Materialisti-
schen Dialektik von Karl Marx. - Die
zudem Klimaschutz, das Recht auf
Dialektik sieht alle Dinge in Bewegung,
Gesundheit, die Rechte von indigenen
widersprüchlich, veränderlich, also le-
Völkern, lokaler Gemeinschaften, Mig-
bendig. Als „Gesetze“ der Dialektik
ranten, Kindern, Menschen mit Be- wurden formuliert: „Umschlagen der
hinderungen und besonders schutz- Quantität in Qualität und umgekehrt“,
bedürftiger Menschen, das Recht auf „Einheit und Kampf der Wider-
Entwicklung, die Gleichstellung der sprüche“, „Negation der Negation“. Zu
Geschlechter, die Stärkung der Rolle den „Kategorien“ der Dialektik gehö-
der Frau und die Gerechtigkeit zwi- ren „Ursache und Wirkung“, „Wesen
schen den Generationen als Men- und Erscheinung“, „Gesetzmäßigkeit“,
schenrechte definiert. Das Menschen- „Entwicklung“, sowie die Forderung
recht auf „Lebenshaltung und Ent- nach Objektivität.
wicklung“ und die Überwindung von Antisemitismus  (griech. anti- ἀντί
Armut wurde auf Initiative ärmerer „gegen“ „Semiten“), rassistische Form
Länder ebenso in die o.g. Resolution der Diskriminierung von Völkern, die
aufgenommen. Hierbei wurden be- zur (historischen) semitischen Sprach-
reits große Erfolge erzielt. Allein im familie gehören, also überwiegend alle
bevölkerungsreichsten Land China in Nordafrika und Mittleren Osten be-
wurden in den letzten Jahrzehnten heimateten Völker. Im engeren Sinn
850 Millionen Menschen erfolgreich „Judenhass“, der vom Klerus ausging,
aus der Armut befreit (international aber auch säkular begründet sein
kann, hauptsächlich die Juden (sowohl

48
religiöse, als auch säkulare) Europas der Hitler-Partei als „Nationalsozialisti-
betraf und im Genozid des Holocaust sche Deutsche Arbeiterpar-
gipfelte. tei“ (NSDAP), kurz „Nationalsozialis-
Faschismus  (ital. fascio „Rutenbün- ten“, die auch heute noch in wissen-
del“), zunächst Eigenbezeichnung der schaftlichen Publikationen gebräuch-
Nationalen Faschistischen Partei lich ist, ist deshalb fragwürdig.
(1921-1943) in Italien unter Benito Rassismus, Rassentheorie  (unklare
Mussolini. Das Phänomen Faschismus Wortherkunft, evtl. aus dem arab. ra’s
fand Entsprechung in anderen Ländern oder span. raza „Kopf“, „Ursprung“),
und bis heute, in Deutschland insb. pseudowissenschaftliche Theorie und
durch die Nationalsozialistische Deut- Politik, die die Menschheit in verschie-
sche Arbeiter-Partei (NSDAP) des dene Großgruppen („Rassen“) eintei-
Adolf Hitler, die noch ausgeprägter len. „Rassen“ i.S. des Rassismus wur-
Rassismus und Antisemitismus propa- den in diskriminierender Absicht pri-
gierte, in Form einer staatlichen Säku- mär aufgrund äußerlicher Merkmale
larreligion. Faschismus bedeutet eine unterschieden und dienten als Recht-
extremistische nationalistische, nach fertigungsideologie für Kolonialismus,
dem Führerprinzip organisierte, gegen Imperialismus und die ihm dienende
jedes freiheitliche und emanzipatori- Missionarstätigkeit, sowie als Recht-
sche Denken gerichtete Ideologie, fertigung für Massenmord, Genozid bis
insb. gerichtet gegen Marxismus, Li- zum Holocaust. Moderne wissen-
beralismus und Minderheiten (Juden, schaftliche Methoden (Genforschung)
Behinderte u.a.). Innenpolitisch be- bestätigen, dass es nur eine „Rasse
trieb der Faschismus die Abschaffung Mensch“ gibt. Spätestens mit den Er-
des Parlamentarismus und errichtete gebnissen der UNESCO-Arbeitsgruppe
eine offen terroristische Diktatur ge- von 1950 ist der Rassismus wissen-
gen jede Opposition. Die bestehende schaftlich widerlegt. ( Luca &
Wirtschaftsordnung blieb unangetastet, Francesco Cavalli-Sforza: Verschieden
die nationale Monopolbourgeoisie und doch gleich. Ein Genetiker ent-
wurde durch Aufrüstung und Kriegs- zieht dem Rassismus die Grundlage.
wirtschaft begünstigt. Der Faschismus München 1994).
betrieb, unter Missachtung jeden Völ- Klerikalfaschismus  Eine besonders
kerrechts, Kriegs-Terror gegen eigene perfide Verbindung zweier totalitärer
und fremde Völker und den Holocaust. Systeme, wie dem Horthy-Regime in
Die in der Geschichte bisher einmalige Ungarn, dem Austrofaschismus-
Dimension der Verbrechen des Fa- Ständestaat in Österreich unter Doll-
schismus verbieten Relativierungen, fuß und Schuschnigg, dem Estado No-
Geschichtsrevisionismus oder andere vo in Portugal unter Salazar und Cae-
Verharmlosungen. tano, der Franquismus in Spanien un-
Nationalsozialismus, Nazismus  ter Francisco Franco, dem Regime der
Der jüdische deutsche Literaturwis- Hlinka-Partei in der Slowakei unter
senschaftler und Romanist Victor Jozef Tiso und Vojtech Tuka, die Ei-
Klemperer (1881-1960), dessen Ta- serne Garde in Rumänien unter
gebücher der Jahre 1933 bis 1945 ein Codreanu und Sima und das
bedeutendes Dokument der Zeitge- Ustascha-Regime in Kroatien unter
schichte und Standardwerke für Ge- Ante Pavelić. Trat die faschistische
schichtsunterricht sind - sprach in sei- Bewegung in ihren Anfängen man-
nem Buch  LTI – Notizbuch eines cherorts auch antiklerikal auf, berief
Philologen. Lingua Tertii Imperii: sie sich in Deutschland auch auf ein
Sprache des Dritten Reiches (Berlin „positives Christentum“ und verbün-
1947) von der deutschen Form des dete sich, kaum an die Macht gekom-
Faschismus und deren Eigenbezeich- men, offen mit dem Vatikan (Kon-
nung „Nationalsozialisten“, dagegen kordate mit Italien 1929 und Deutsch-
nur von Bewegung und System des land 1933) und förderte die faschisti-
„Nazismus“. Die Selbstbezeichnung schen Theologen der „Deutschen

49
Christen“ der deutschen evangelischen 1930er Jahren erfolgte ein Kurswech-
Kirchen. Die offiziellen Kirchen im sel, hin zur Duldung und Hofieren des
Deutschen Reich ihrerseits unterstütz- Klerus, bei gleichzeitigem Verbot und
ten in „Hirtenbriefen“ die faschisti- Verfolgung der „Gottlosenbewe-
schen Aggressionskriege (ungeachtet gung“ (sowjetische Freidenker). Beide
vieler Christen, die Krieg und Fa- Extreme sind Missachtungen der Prin-
schismus ablehnten und Widerstand zipen des Laizismus und der Toleranz.
leisteten) und bildeten „Rattenlinien“, Index Librorum Prohibitorum (lat.
Fluchtrouten führender Vertreter des „Verzeichnis der verbotenen Bücher“,
NS-Regimes, Angehöriger der SS und kurz Index Romanus („Römischer In-
der Ustascha nach dem Ende des II. dex“), Verzeichnis der römisch-
Weltkriegs. Die Fluchtrouten führten katholischen Inquisition, das Bücher
meist über Klöster nach Südamerika, auflistete, deren Lektüre für jeden Ka-
wo die Naziverbrecher einer gerichtli- tholiken als schwere Sünde galt und
chen Anklage und Bestrafung entgin- teilweise bis zur Exkommunikation
gen. ( Ernst Klee: Persilscheine und führte. Erstmals 1559 erschien, fort-
falsche Pässe. Wie die Kirchen den gesetzt bestätigt und bis 1965 gültig.
Nazis halfen (Frankfurt/M. 1991). Über 6.000 Bücher wurden offiziell
Stalinismus  ein von oppositionellen aufgeführt (noch mehr waren betrof-
Anhängern des Sozialis- fen), u.a. von den Autoren Honoré de
mus/Kommunismus geprägter Begriff, Balzac, Pierre-Jean de Béranger, René
der auch von der bürgerlichen Politik- Descartes, die Encyclopédie von Denis
wissenschaft im Kalten Krieg als Diderot und Jean Baptiste d’Alembert,
Kampfbegriff gegenüber allen Sozialis- Alexandre Dumas, Heinrich Heine,
ten übernommen wurde. Geht zurück Immanuel Kant, Voltaire, Jean-Paul
auf die totalitäre Herrschaftsform in Sartre u.a. aktuelle Bücher und Auto-
der Sowjetunion unter Iossif W. Stalin ren.
(1878-1953), sowie für die von ihm Antimodernisteneid, Syllabus erro-
begründete Partei-Ideologie, die sich rum  1910 von Pius X. (Papst 1903-
zwar auf den Marxismus und den So- 1914) mittels dem Moto proprio
zialismus/Kommunismus berief, die- Sacrorum antistitum eingeführte Ver-
sem aber nicht nur wesensfremd ist, pflichtung, dem „Modernismus“ abzu-
sondern vor allem eine inhumane Per- schwören. Verpflichtet wurden dem-
version derselben darstellte (Hermann nach alle katholischen Kleriker und
Weber: „Stalinismus [ist eine] eigen- Theologieprofessoren einem Eid abzu-
ständige Gesellschaftsform der totalen legen. Dies galt verpflichtend für alle
Diktatur, in der der Marxismus ledig- bis mindestens 1963, also für die gan-
lich Verschleierungs- und Rechtferti- ze ältere lehrende Generation der
gungsideologie ist … im Ostblock exis- heute noch aktiven Kleriker. (Zudem
tiere nicht der Sozialismus in der Tra- bedeutet Eidbruch ja eine schwere
dition der Arbeiterbewegung, sondern Todsünde). Der verpflichtende Eid
im Gegenteil, zwischen der demokrati- wandte sich gegen jene „modernisti-
schen Arbeiterbewegung und dem schen“ Lehren, die bereits 1864 im
Stalinismus bestehe eine tiefe Kluft, Syllabus errorum („Verzeichnis der
habe sich ein unüberbrückbarer Wi- Irrtümer“) verbindlich angeordnet und
derspruch herausgebildet.“ (Hermann als Enzyklika verkündet worden war
Weber: Leben nach dem „Prinzip von Pius IX. (Papst 1846-1878, der-
Links“. Berlin 2006). Der Stalinismus selbe, der auch das „Dogma der der
war zudem gekennzeichnet durch Unbefleckten Empfängnis Mari-
Willkür und Ungesetzlichkeit, dessen ens“ und die „Päpstliche Unfehlbar-
Brutalität in großem Ausmaß die eige- keit“ verkündet hatte). Der Antimo-
nen Anhänger traf. Anfänglich trat der dernisteneid wurde erst 1967 von Paul
Stalinismus noch betont antiklerikal VI. (Papst 1963-1978) ersetzt durch
auf und verfolgte gesetzwidrig zahlrei- ein Glaubensbekenntnis. Ohne Wie-
che Gläubige und Kleriker. Ab den derholung der Lehrverurteilungen be-

50
stätigte aber Paul VI. 1968 die we-
sentlichen traditionellen Glaubensin-
halte des Katholizismus in seinem
Credo Sollemnis professio fidei („Un-
fehlbare“ ändern ihre Meinung eben
nie). Als Kampfbegriff „Modernis-
mus“ definiert der katholische Klerus
alle von ihrem Dogma abweichenden
Meinungen in der Theologie, insbe-
sondere aber auch moderne wissen-
schaftliche und politische Meinungen
des 19. und 20. Jahrhunderts. Abge-
schwört werden mussten folgende
verworfene Lehren: Zweifel an der al-
leinigen „Schöpfung“ aller Dinge durch
Gott, „Offenbarung“ als Beweis, Ge-
schichtswissenschaft die dem Dogma
widersprechen würde, dass biblische
Überlieferung nicht göttlich, sondern
menschengemacht wäre. Bezugneh-
mend auf die im Syllabus errorum
aufgeführten Lehren bezeichnete
Papst Pius X. bei der Verkündung des
A. den „Modernismus“ als „Sammelbe-
cken aller Häresien“ (Omnium
haereseon collectum). Der Syllabus
errorum enthält eine Liste von 80
Thesen, die als falsch verurteilt wur-
den: „Pantheismus, Naturalismus, Ra-
tionalismus, Indifferentismus, Sozia-
lismus, Kommunismus, geheime Ge-
sellschaften, Bibelgesellschaften, libe-
rale Kleriker-Vereine, Irrtümer über
die Kirche und ihre Rechte, die bür-
gerliche Gesellschaft, das natürliche
und christliche Sittengesetz, die
christliche Ehe, die staatliche Herr-
schaft des römischen Papstes, den Li-
beralismus unserer Tage“, u.a. Zu-
sammen mit dem Instrument des In-
dex Librorum Prohibitorum zeigte sich
auch noch im 21. Jahrhundert der ka-
tholische Klerus als Gegner der Men-
schenrechte.

51
Lernbaustein 6
Gegenwart: Humanismus im Lebensalltag

 Humanismus heute  Selbstbestimmt und so-


 Selbstbestimmt und solida- lidarisch leben. Der Hu-
risch leben: Der Humanisti- manistische Verband
sche Verband
„Wenn uns die Menschen nicht als
 Ausblick Humanismus: Ethik –
tätige Humanisten erleben, können
Menschenrechte
sie unsere Weltanschauung gar nicht
 Freiheit und Menschenwürde erfahren.“
Horst Groschopp, Alt-
 Weltanschauliche Pluralität –
Bundesvorsitzender des HVD
 Wissenschaft und Ethik
Humanisten gehen davon aus, dass
 Humanisten im Kampf für eine der Mensch in der Lage ist, sein Le-
friedliche Welt ben selbstständig, in sozialer Ver-
 Aufklärung heute antwortung und in Solidarität mit
anderen Menschen zu gestalten.
 Begrifflichkeiten
Aus ihrem Selbstverständnis heraus
engagieren sich viele Humanisten in
 Humanismus heute praktischer Lebenshilfe. Mit der
Gründung des Humanistischen Ver-
Videos zum Thema Humanismus
bandes Deutschlands (HVD) im Jahr
heute: Woher wissen wir, was 1993 aus mehreren freigeistigen Or-
wahr ist? (HumanistenTag Nürn- ganisationen und Initiativen entsteht
berg 2018)
eine Organisation, die Werte wie
https://www.youtube.com/watch?v= Weltlichkeit, Selbstbestimmung,
JfCOP9XPZ0k Freiheit, Gleichheit und Toleranz in
In diesem Video wird aufgezeigt,
einer Vielzahl von Projekten praktisch
wieso Humanist*innen der Wissen-
umsetzt.
schaft als Methode zum Verständnis
der Welt einen so hohen Wert bei- Der HVD betreibt Kindertagesstätten
messen und Jugendeinrichtungen, Sozialsta-
tionen, Seniorentreffs und bietet ei-
Wie sollen wir es mit dem Tod nen Rahmen für vielfältiges ehren-
halten? amtliches Engagement.
https://www.youtube.com/watch?v=
WIWtgfadZwk&t=53s Besondere Aufmerksamkeit gilt Ar-
Wir stellten uns die Frage, warum beitsfeldern, in denen weltanschauli-
Humanist*innen zu dem Schluss che Fragen berührt werden (Schwan-
kommen, dass dieses Leben das ein- gerenberatung, Patientenverfügung,
zige ist, das wir haben. Dieses Video weltliche Feier- und Trauerkultur).
gibt eine kurze Einführung in die hu- Kinder und junge Menschen mora-
manistische Haltung zum Tod. lisch und ethisch zu bilden, ist ein
Wie werden wir glücklich? Hu- weiteres wichtiges Anliegen von Hu-
manistischer Sinn des Lebens? manisten. In Berlin nehmen über
https://www.youtube.com/watch?v= 65.000 Schüler/innen am freiwilligen
5S6eePj34Lk Fach Lebenskunde teil, das der HVD

52
als Alternative zum Religionsunter- https://www.youtube.com/watch?v=
richt anbietet. 18 UYdgaKG6YIY

Videoclips: Humanistische Feier-  Ausblick Humanismus:


kultur Humanistischer Verband
Ethik - Menschenrechte
https://humanistisch.de
„Moral ist natürlich, sie ist eine sozia-
https://m.youtube.com/user/hvdberli le Konvention und Bequemlichkeit,
n/videos kein göttliches Gebot. Es besteht
https://humanistisch.de/einervonuns keine Notwendigkeit, Instinkte und
Emotionen zu kontrollieren; sie sind
https://humanistisch.de/sites/human Gebote der Natur. Der Zweck des
istisch.de/files/eine_r-von- Lebens ist zu leben, und die einzige
uns/docs/2019/03/eine_r_von_uns_d Weisheit ist das Glück.“
as_begleitheft_zur_kampagne.pdf
Der indische Humanist Manabendra
Welthumanist_innentag 2020 Nath Roy (1887-1954)
Lebe. Liebe(r). Selbstbestimmt.
Eine Welthumanist_innenwoche Unbestritten sind die Erklärungen
Zuhause der Menschrechte (erste Zeugnisse
https://www.youtube.com/watch?v=jwu in der Antike, in der Aufklärung for-
OHmL4dME muliert in den Verfassungen der
amerikanischen und französischen
Humanistische Feierkultur, Le- Revolution, bis hin zur Verabschie-
bens- und Trauerbegleitung im dung der Allgemeinen Erklärung der
Fokus: Menschenrechte durch die General-
https://www.youtube.com/watch?v=EhI versammlung der Vereinten Nationen
sENq7tX8 am 10.12.1948) anerkannte Funda-
mente unserer Ethik und unseres
Das Seniorenbüro Am Puls 60+ zivilisatorischen Fortschritts, welche
stellt sich vor: immer wieder gefährdet sind und
https://m.youtube.com/watch?v=Rfs gegen Angriffe verteidigt werden
t4VGm-gQ müssen. – Aber sind die religiösen
Die Betreuungsvereine stellen Überlieferungen und biblischen
sich vor: Schriften geeignet, moralphiloso-
phisch die Menschenrechte zu be-
https://www.youtube.com/watch?v= gründen?
ES6TqyxP6x8
Der ehemalige Bundespräsident und
Wie sollen wir es mit dem Tod Richter am Bundesverfassungsgericht,
halten? Roman Herzog, erkannte seinerzeit
https://www.youtube.com/watch?v= in den Zehn Geboten die Menschen-
WIWtgfadZwk&t=53s rechte. Neben den Geboten nicht zu
Der Sinn des Lebens: Trost, Tod, töten, nicht zu stehlen und nicht zu
der Sinn des Lebens und der gan- lügen, findet sich jedoch darin auch
ze Rest Sippenhaft, die Frau als Eigentum
https://www.youtube.com/watch?v= des Mannes, ebenso wie der selbst-
J4nTr7ttv9U&t=36s verständliche Besitz von Sklaven.
Dem Recht auf Religionsfreiheit wird
Video über den Wandel der Be-
klar widersprochen.
stattungskultur
Kann die Bibel also tatsächlich als
Vorläufer der Menschenrechte gelten?
Und hat sie wirklich eine moralisch
18
Ausstellung Tafel 16/ S. 22

53
konsistente Aussagekraft? Oder fin- Die Ethik kommt also von uns Men-
det sich darin eher, wie der Philosoph schen selbst – und wir sind auch
Andreas Edmüller analytisch feststellt, selbst dafür verantwortlich. Dass wir
eine Ansammlung von unstimmigen dazu keine göttliche Rechtfertigung
moralischen Aussagen, gegensätzli- benötigen, zeigte schon in antiken
chen Gleichnissen sowie Verboten Griechenland Epíkouros (um 341-
und Geboten, die heute fast niemand 271 v.u.Z.), indem er schlüssig den
mehr befolgt und befolgen kann. so genannten „ethischen Gottesbe-
Aussagen religiöser Überlieferung wie weis“ (Rechtfertigung der Existenz
der Bibel sollten daher und in Relati- von Göttern durch Ethik) widerlegte:
on zu den Artikeln der Allgemeinen „Entweder will Gott die Übel in der
Erklärung der Menschenrechte ge- Welt abschaffen und kann es nicht,
setzt werden. dann ist er schwach; oder er kann es
und will es nicht, dann ist er schlecht;
Goldene Regel Regula aurea
oder er kann es nicht und will es
Die Lehren des nicht, dann ist er schwach und
Konfuzius. Die vier schlecht und in jedem Fall kein Gott,
konfuzianischen oder er kann es und will es, woher
Bücher. Überset- kommen dann die Übel? Und warum
zung und Erläute- beseitigt er sie nicht?“ (Epikur: Briefe
rung von Richard Sprüche Werkfragmente. Hrsg. v.
Wilhelm, mit einem Hans-Wolfgang Krautz. Stuttgart
Vorwort von Hans 1980.)
van Ess (Frank-
furt/M. 2008).
 Literaturtipps:
Philosophen äußerten
Giordano-Bruno-Stiftung: Die Men-
sich also schon in sehr frühen Zeiten
schenrechte. Wie sie entstanden sind
zu ethischen Fragen, so Kǒng Fūzǐ 孔
– und warum wir sie verteidigen
夫子 (551-479 v.u.Z.): „Gibt es ein
müssen (Oberwesel 2018); Zehn
Wort, das ein ganzes Leben lang als
(An)-Gebote. Ethische Richtlinien für
Richtschnur des Handelns dienen
das 21. Jahrhundert (Oberwesel
kann? - Das ist ‚gegenseitige Rück- 2015). Auch online:
sichtnahme’! Was man mir nicht an- www.giordano-bruno-stiftung.de/
tun soll, will ich auch nicht anderen sites/gbs/files/download/menschenrechte_gb
Menschen zufügen.“ Aus den „Ge- s.pdf
sprächen“ Lùn yǔ 論語 15,24 Franz Buggle:
Viele klugen Menschen in den alten Denn sie wissen
Kulturen in China, Indien, Ägypten nicht, was sie glau-
und Griechenland haben die Regula ben. Oder warum
aurea, die „Goldene Regel“ bereits man redlicherweise
formuliert. Diese Regel wurde einge- nicht mehr Christ
baut in religiöse Systeme, obwohl sie sein kann (Reinbek
doch ausgesprochen weltlich sind: 1992, Neuauflage
z.B. Indien Mhābhārata महाभारत), Aschaffenburg
Buddhismus Samyutta Nikāya, Ju- 2004). Der Psycho-
dentum Hillel ha-zaqen ‫הלל הזקן‬, Mo- logieprofessor Franz
hammed Hadithe von an-Nawawi, Buggle (1933-2011)
Martin Luther in der so genannten stellte in seinem Buch die Frage, ob
Bergpredigt (Matthäus 7,12 und jemand gleichzeitig auf dem Funda-
sinngemäß Lukas 6,31); in der Auf- ment der Bibel Christ sein und intel-
klärung bei Voltaire u.a. lektuell redlich bleiben, konsequent
denken, human handeln kann und

54
antwortet mit Nein. Er belegt diese rungslosigkeit einer Religion zu erklä-
Einschätzung anhand einer Analyse ren, die sich hartnäckig immer wie-
biblischer Texte (auch des Neuen der selbst als Hüterin der Moral ver-
Testaments). Dabei weist er im Buch steht? Andreas Edmüller kommt in
der Bücher nicht nur zahlreiche in- seinem Buch zu einem überraschen-
humane Stellen (Rechtfertigung von den Ergebnis: Eigentlich verfügt das
Völkermord und Gewalt gegen Ab- Christentum über keinerlei ernstzu-
weichler, paulinischer Antijudaismus nehmende Morallehre. Denn was
u.v.m.) nach, sondern setzt sich man findet, ist lediglich ein in sich
auch kritisch mit den Folgen bibli- unstimmiges und unsystematisches
scher Vorstellungen für die ethische Konglomerat an Geboten und Verbo-
Orientierung des Einzelnen auseinan- ten, Gleichnissen und biblischen Er-
der (z.B. Kreuzestod Jesu als Erlö- zählungen, sind Appelle an Autoritä-
sungstat; ewige Verdammnis; Will- ten, antike Präzedenzfälle, Missver-
kürlichkeit göttlicher Gnade). Buggles ständnisse und oft kaum haltbare
Kritik richtet sich insbesondere auch Interpretationen der angeblich heili-
gegen die Positionen zeitgenössi- gen Schriften. Und selbst wenn da
scher progressiver Theologen (Hans mehr wäre – es ließe sich nicht ver-
Küng) und christlicher Wissenschaft- nünftig begründen. Das ganze Gebil-
ler (C. F. von Weizsäcker), die zwar de der christlichen Moral hängt wie
die Kirche negativ bewerten, aber an eine esoterische Pseudo-Lehre in der
der Bibel und den darin propagierten Luft. Edmüllers Fazit: Die moralische
christlichen Werte festhalten. Relevanz des Christentums ist im
Rahmen verantwortungsvoller und
Andreas Edmüller:
vernünftiger Diskussion vernachläs-
Die Legende von der
sigbar, ja oft genug sind christliche
christlichen Moral:
Positionen sogar schädlich.
Warum das Christen-
tum moralisch orien-
tierungslos ist (Mar- Michael Schmidt-
burg 2015). Der Phi- Salomon: Hoff-
losophieprofessor nung Mensch. Eine
Andreas Edmüller bessere Welt ist
(* 1946) geht in sei- möglich (München
nem Buch der Frage 2014). Der Philo-
nach, ob Kirchen und soph Michael
christliche Religion tatsächlich mora- Schmidt-Salomon
lisch so kompetent sind, wie sie im- (* 1967): Huma-
mer behaupten? Ist das nicht nisten kennen kei-
Wunschdenken? Denn wie kann es ne „heiligen Schrif-
sein, dass zu fast jeder moralisch ten“, keine unantastbaren Propheten,
wichtigen Frage durchaus gläubige Priester oder Philosophen, die den
wie kompetente Christen so gut wie Zugang zur „absoluten Wahr-
jede mögliche Antwort ernsthaft ver- heit“ besitzen. Woran also
treten und vertreten haben: Christen „glaubt“ ein Humanist? Im Grunde ist
plädieren für Pazifismus und Kriegs- die Antwort bereits im Begriff „Hu-
bereitschaft, für Sozialismus und Ka- manismus“ enthalten: Humanisten
pitalismus, für die Gleichberechti- glauben an den Menschen – genauer:
gung und die Unterordnung der Frau, an die Entwicklungsfähigkeit des
für und gegen gleichgeschlechtliche Menschen. Sie vertrauen darauf,
Liebe und homosexuelle Ehe, Emp- dass die Menschheit lebensfreundli-
fängnisverhütung und Sterbehilfe. chere, freiere und gerechtere Ver-
Wie ist diese moralische Orientie-

55
hältnisse herstellen kann, als wir sie Natur angelegt ist beziehungsweise
heute vorfinden. zu ihr nicht im Widerspruch steht.
In einer großen historischen Perspek-
Ist der Mensch tatsächlich nur ein
tive geht Kropotkin dem Ursprung
»fataler Irrläufer der Natur«, um den
der Sittlichkeit nach und untersucht,
es nicht schade wäre, würde er von
wie sich ethisches Denken von den
der Erde verschwinden? Nein, sagt
Naturvölkern über die Antike bis in
Philosoph und Bestsellerautor Michael
unsere Zeit entfaltete.
Schmidt-Salomon: Denn die biologi-
sche und kulturelle Entwicklung un-
serer Spezies zeigt, dass wir das Po-
tenzial haben, immer besser, immer  Freiheit und Men-
»humaner« zu werden. Der Mensch schenwürde
ist das mitfühlendste, klügste, phan-
„Redefreiheit ist das Entscheidende,
tasiebegabteste, humorvollste Tier
um sie dreht sich alles. Redefreiheit ist
auf diesem Planeten. Er hat Kunst- das Leben.“ Salman Rushdie
werke von atemberaubender Schön-
heit hervorgebracht und raffinierteste
Der Humanismus ist eine Philosophie
Methoden entwickelt, um die Ge-
der menschlichen Freiheit. Entspre-
heimnisse des Universums zu lüften.
chend setzen sich Humanisten für
Nie zuvor gab es ein Lebewesen, das
eine soziale Ordnung ein, die indivi-
sich so aufopferungsvoll um Kranke
duelle Freiheit, Würde, soziale Ge-
und Schwache kümmerte, das so un-
rechtigkeit, Grund- und Bürgerrechte
ermüdlich für Freiheit und Gerechtig-
schützt. Humanisten verstehen die
keit kämpfte - trotz aller Niederlagen.
Vielfalt menschlicher Lebensformen
Über die dunkle Seite der Menschheit
als Bereicherung. Deshalb wenden
ist viel geschrieben worden, ihre
sie sich gegen jede Diskriminierung
Sonnenseite fiel meist unter den
aufgrund von ethnischer oder sozia-
Tisch. Eine Liebeserklärung an unse-
ler Herkunft, des Alters, des Ge-
re oft verkannte Spezies, die es wert
schlechts, der sexuellen Orientierung
ist, dass wir uns für sie engagieren,
oder auf-grund religiöser Bindungen.
statt vorauseilend vor der Irrationali-
tät der Welt zu kapitulieren. Humanisten kämpfen seit Jahrhun-
derten für Glaubens- und Meinungs-
freiheit. Spektakuläre Fälle, in denen
Pjotr A. Kropotkin:
Religionskritiker mit dem Tode be-
Ethik. Ursprung und
droht werden, wie Mohammed
Entwicklung der Sitten
Younus Shaikh, Salman Rushdie
(1921, Neuauflage
oder Taslima Nasrin, sind heute in
Aschaffenburg 2013).
der Regel in der islamischen Welt
Pjotr A. Kropotkin
angesiedelt. Jedoch versuchen auch
(1842-1921) zeigte in
in den westlichen Demokratien religi-
seinem Spätwerk auf,
öse Kräfte, der Religionskritik Gren-
wie eine Ethik zu be-
zen zu setzen. Deshalb ist es nach
gründen ist, die auf einer naturalisti-
wie vor wichtig, die Meinungsfreiheit
schen Basis beruht und ohne trans-
zu verteidigen. Der Streit, den die
zendente oder religiöse Fundierung
Mohammed-Karikaturen auch inner-
auskommt. Ausgehend von seinen
halb der westlichen Gesellschaften
Untersuchungen zur gegenseitigen
ausgelöst haben, belegt diese Not-
Hilfe bei Tieren und Menschen, die
wendigkeit einmal mehr. Einschrän-
den Blick auf die Bedeutung koopera-
kungen der Meinungsfreiheit können
tiven Verhaltens für die Evolution
nur dann gelten, wenn das Leben
lenken, beschreibt Kropotkin, dass
oder die Würde von Menschen ange-
„sittliches“ Verhalten selbst in der
griffen werden.

56
Die Ärztin und Schriftstellerin Tasli- chen Universitäten, beamtete Pfarrer
ma Nasrin (* 1962) muss 1994 auf- in der Bundeswehr und im Strafvoll-
grund ihrer Kritik an frauenfeind- zug, die Liste der Privilegien der
lichen Tendenzen im Islam aus Bang- christlichen Kirchen ist lang. Vor al-
ladesch fliehen. Sie wird 2002 mit lem in Süddeutschland prägen Kruzi-
dem Erwin-Fischer-Preis des Interna- fixe Amtsstuben, Gerichte und Schu-
tionalen Bundes der Konfessionslosen len.
und Atheisten ausgezeichnet und er-
Humanisten fordern, die Privilegie-
hält 2004 den UNESCO-Toleranzpreis.
rung der Kirchen zu beenden. Religi-
Der pakistanische Humanist und öse Symbole dürfen im staatlichen
Menschenrechtsaktivist Mohammed Raum keinen Platz haben und allen
Younus Shaikh (* 1952). wurde im Religions- und Weltanschauungsge-
Jahr 2000 unter dem Vorwurf der meinschaften, die auf dem Boden des
Gotteslästerung zunächst zum Tode Grundgesetzes stehen, sind gleiche
verurteilt. 2003 im Revisionsverfah- Rechte und Pflichten zu gewähren. 20
ren freigesprochen, flieht er vor dem
Druck fundamentalistischer Muslime
nach Europa. Nach seiner Rückkehr  Wissenschaft und Ethik
wird er 2005 wiederum wegen Blas-
phemie zu lebenslanger Haft verur- „Es gibt nichts Göttliches an der Mo-
teilt. ral; sie ist eine rein menschliche An-
gelegenheit.“ Albert Einstein
Der Schriftsteller Salman Rushdie
(* 1947) ist seit 1989 unter dem
Vorwurf der Gotteslästerung in sei-
nem Roman Die satanischen Verse
durch eine Fatwa mit dem Tode be-
droht. 19

 Weltanschauliche Plu-
ralität
Konfessionsfreie bilden heute in der
Bundesrepublik eine ständig wach-
sende Bevölkerungsgruppe mit über
40 %. Über insgesamt 49 Prozent Albert Einstein (1879-1955). Der ge-
der Bevölkerung stehen einer Allens- niale Physiker tritt für einen huma-
bach-Studie aus dem Jahr 2005 zu- nistisch geprägten Sozialismus ein.
folge der humanistischen Lebensauf- Der Humanismus gründet sich nicht
fassung überwiegend positiv gegen- auf vermeintlich göttliche Offenba-
über. Dazu steht im Widerspruch, rungen, sondern auf wissenschaftli-
dass der Staat den Kirchen nach wie che Erkenntnisse und die menschli-
vor eine dominierende Rolle in der che Vernunft. Religionsgemeinschaf-
Gesellschaft gewährt. Die vollständi- ten, im 20. Jahrhundert verstärkt
ge Trennung von Staat und Kirche, auch diktatorische Staaten, haben
wie sie z.B. in Frankreich seit 1905 die Freiheit der Wissenschaft Jahr-
besteht, ist in Deutschland noch hunderte lang eingeschränkt. Huma-
nicht eingelöst. Einzug der Kirchen- nisten treten für die Wissenschafts-
steuer durch den Staat, Religionsun- freiheit ein. Diese findet nur dort ihre
terricht als staatliches Schulfach, Grenzen, wo allgemein gültige ethi-
theologische Fakultäten an staatli-

19
Ausstellung Tafel 17/ S. 23 20
Ausstellung Tafel 18/ S. 24

57
sche Grundsätze oder Menschenrech- Kirche und Staat im Jahre 1905 be-
te verletzt werden. teiligt. 1926 erhält er den Friedens-
nobelpreis für die Aussöhnung zwi-
Fortschritte der Wissenschaft haben
schen Frankreich und Deutschland.
neue ethische Herausforderungen
geschaffen (Stammzellenforschung, Carl von Ossietzky (1889-1938)
Klonen, medizintechnische Lebens- Der Journalist erhält 1936 den Frie-
verlängerung). Diese können mit den densnobelpreis für sein antimilitaris-
moralischen Imperativen der Ver- tisches Engagement während der
gangenheit allein nicht beantwortet Weimarer Republik, weswegen ihn
werden, sondern nur durch die An- die Nazis ins KZ geschickt hatten. Als
wendung der Vernunft. 21 Atheist setzt er sich dafür ein, den
Einfluss der Kirchen auf Erziehung
und Bildung zurückzudrängen.
 Humanisten im Kampf Bertrand Russell (1872-1970)
für eine friedliche Welt Den britischen Mathematiker, Philo-
sophen, Pädagogen, Literaturnobel-
„Der Krieg entscheidet nicht darüber,
preisträger (1950), Pazifisten und
wer Recht hat, sondern nur darüber,
Freidenker bringt seine Überzeugung
wer übrig bleibt.“ Bertrand Russell
während des 1. Weltkriegs ins Ge-
Die humanistisch-freigeistige Bewe- fängnis. Später setzt er sich für ato-
gung, die sich in der zweiten Hälfte mare Abrüstung, gegen den Viet-
des 19. Jahrhunderts herausbildet, namkrieg und gegen Menschen-
ist auf internationale Zusammenar- rechtsverletzungen ein.
beit und Völkerverständigung orien-
tiert. Entsprechend bestehen enge Der Professor für Biologie Ernst
Beziehungen und vielfältige personel- Mayr (1904-2005) war einer der Ar-
le Verflechtungen mit der gleichzeitig chitekten der synthetischen Evoluti-
entstehenden Friedensbewegung. In onstheorie, die Darwins Theorie mit
ganz Europa wirkten Freiden- den Erkenntnissen der Zellforschung,
ker*innen herausragend in der Frie- Genetik und Populationsbiologie zu-
densbewegung. Dazu gehören u.a. sammenführt und untermauert. Zitat:
die bekennenden Freidenker*innen „Es gibt nichts, was die Vorstellung
und Friedensnobelpreisträger*innen von einem persönlichen Gotte unter-
Bertha von Suttner, Aristide Bri- stützen könnte. Ich bin Atheist. Es
and (1862-1932), Carl von Os- gab große Evolutionsbiologen, die an
sietzky sowie der Literaturnobel- Gott geglaubt haben. Aber ich habe
preisträger Bertrand Russell und nie verstanden, wie man im Gehirn
Anatole France (1844-1924). zwei völlig getrennte Fächer haben
kann, und in einem liegt die Wissen-
Bertha von Suttner (1843-1914) schaft und im anderen die Religion.“
Die Friedensnobelpreisträgerin von Den Frieden zu erhalten, zählt auch
1905 aus Österreich ist gleichzeitig heute zu den wichtigsten Aufgaben
überzeugte Freidenkerin. Sie verfügt der humanistischen Bewegung, daher
testamentarisch, dass ihr Leichnam setzen sich Humanisten weltweit für
nach Gotha überführt und dort ver- friedliche Konfliktlösungen ein: „Die
brannt wird. Verwirklichung einer menschlichen
Aristide Briand (1862-1932). Der Gesellschaft setzt eine Politik voraus,
sozialistische Politiker ist federfüh- die den Frieden sichert.“
rend am Zustandekommen des fran- (Humanistisches Selbstverständnis)22
zösischen Gesetzes zur Trennung von

21
Ausstellung Tafel 19/ S. 25 22
Ausstellung Tafel 20/ S. 26

58
Siehe auch die Erklärung der Inter- Da solche Gruppen oft auf einem in-
nationalen Humanistischen und humanen Welt- und Menschenbild
Ethischen Union (IHEU): Erklä- basieren, bilden sie eine konkrete
rung über den Humanismus und Gefahr, nicht nur für die Menschen,
Frieden: die in ihren Bannkreis geraten, son-
https://humanists.international/2010/10/erkl dern für das friedliche Zusammenle-
arung-uber-den-humanismus-und-frieden/ ben weltweit.
Das bedeutet für den Humanismus,
sich weiterhin kritisch mit dogmati-
 Aufklärung heute schem Glauben auseinanderzusetzen
„Es gibt keine Instanz über der Ver- und für Menschenrechte einzutreten.
24
nunft.“ Sigmund Freud
Der moderne Humanismus ist eine
Lebensauffassung, die im rationalen  Begrifflichkeiten
Denken begründet ist, auf Erfahrun-
Passage-, Übergangsrituale  (frz.
gen beruht und sich jederzeit einer
rites de passage), wichtige sinnstif-
kritischen Überprüfung unterziehen
tende Rituale (lat. ritualis, festliche
muss.
Handlungen und Zeremonien), be-
Überall auf der Welt gibt es Anschau- gangen im menschlichen Leben an-
ungen, die ihren Ursprung in weit lässlich von Übergängen in Lebens-
zurückliegenden Menschheitsepochen phasen. 1909 beschrieb der Ethnolo-
haben. Sichtweisen, die weder mit ge Arnold van Gennep (1873-1957)
wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass im Verlauf des gesellschaftlichen
noch mit den gesellschaftlichen Rea- Lebens zahlreiche persönliche Über-
litäten in Übereinstimmung zu brin- gänge zwischen Lebensstadien oder
gen sind. sozialen Zuständen vollzogen und ri-
tuell bewältigt werden müssten, z.B.
Religiöse Fundamentalisten haben zwischen Kindheit und Erwachsensein,
nicht nur im Islam Zulauf. 23 In den Ledigkeit und Ehe, Außenstehend-
USA gewinnen evangelikale Gruppen Sein und eingeweihtem Mitglied, zwi-
weitgehenden Einfluss. schen der äußeren fremden Welt und
der heimisch-vertrauten Umgebung -
Die Kreationisten, die die Evolutions-
und diese nicht nur in nichtindustriel-
theorie ablehnen und sich auf die len Gesellschaften fester Bestandteil
Schöpfungsgeschichte der Bibel be- des sozialen Lebens sind. Die sind
rufen, streiten in den USA dafür, beschriebene Feststellungen von rea-
dass ihre Auffassung gleichberechtigt len gesellschaftlichen menschlichen
an den Schulen gelehrt wird. Bedürfnissen, die schon seit alters
Weltweit flüchten sich Menschen in her beobachtet werden konnten,
fundamentalistische Gruppen, neue durch Religionen aufgenommen wur-
religiöse Gruppierungen und Sekten, den und in postreligiösen Zeiten von
freigeistigen Organisationen organi-
weil diese einfache Antworten auf
siert werden: Humanistische Feiern
immer komplexer werdende gesell-
zur Namensfeier, Jugendfeier/-weihe,
schaftliche Zusammenhänge bieten.
Hochzeits-/Partnerschaftsfeier, Trau-
erfeier, u.a. persönlichen und jahres-
23
Auch im Hinduismus, Buddhismus, Ju- zeitlichen Feieranlässen.
dentum, Afrikanischen Religionen und Humanistische Namensfeier  Be-
den verschiedenen christlichen Kirchen, standteil weltlicher Feierkultur. Im
römisch-katholisch, orthodox, versch. Mittelpunkt einer humanistischen
protestantische und sektiererische, sind
Namensfeier stehen der Name des
vielerorts verstärkte fundamentalistische
Tendenzen, die politisch immer einfluss-
reicher werden, zu verzeichnen. 24
Ausstellung Tafel 21/ S. 27

59
Kindes, die Übernahme von Paten- renlassen anderer Überzeugungen,
schaften und Wünsche für den Le- Handlungsweisen, Sitten, besonders
bensweg des Neugeborenen. Eine anderer Religionen und Weltanschau-
festliche Ansprache wird gehalten, ungen, sowie die Gewährleistung von
Musik gespielt und zur Erinnerung an positiver (das Recht zu bekennen)
diesen besonderen Tag gibt es eine und negativer Religionsfreiheit (das
Urkunde. Recht sich nicht bekennen zu müs-
Jugendfeier, Jugendweihe  weltli- sen), ohne dass Bekennende Nachtei-
che Feierkultur und populäres Fami- le zu erwarten haben. Die negative
lienfest des Übergangs vom Jugend- Religionsfreiheit ist insbesondre durch
ins Erwachsenenalter. Initiiert ab religiöse Missionierung und Funda-
1852 von Freireligiösen und Freiden- mentalismus und von diesen beein-
kern. In der DDR wurde die Ju- flusste Regierungen auch heute noch
gendweihe im Sinne der früheren stark bedroht.
Veranstalter zunächst abgelehnt, Grenzen der Toleranz  (lat. tolerare
dann aber ab 1953 als staatstragende „ertragen“, „aushalten“, „erdulden“)
Veranstaltung unterstützt und organi- unterscheidet sich von Akzeptanz (lat.
siert. Heute ist die Jugendfeier un- accipere „annehmen“, „gutheißen“).
ter Anknüpfung an die emanzipatori- Bei der Reaktion auf bestimmte Ideo-
schen Wurzeln immer noch sehr po- logien und Aussagen ist zu unter-
pulär. scheiden, ob diese zu tolerieren, also
Humanistische Hochzeits- bzw. zu erdulden sind, oder zu akzeptieren,
Partnerschaftsfeier  Bestandteil respektieren und zu unterstützen. Bei
weltlicher Feierkultur für Paare, auch inhumanem Denken kann Respekt
als besondere Ergänzung zur stan- gegenüber den individuellen Personen
desamtlichen Formalie. Bei dieser Ze- geboten sein, aber keinesfalls gegen-
remonie feiern Paare (Mann und Frau, über deren inhumanen Ansichten, die
Frau und Frau, Mann und Mann) ihre mit Respektlosigkeit zu behandeln
Hochzeit – weltlich, selbstbestimmt sind. Michael Schmidt-Salomon emp-
und individuell. Festrede, Musik und fiehlt hier als Handlungsweisen: das
Poesie, ein Trauspruch oder ein selbst Akzeptierbare zu bestärken, das Tole-
formuliertes Versprechen gehören rierbare mit „zivilisierter Verach-
ebenso dazu wie ein Ambiente zum tung“ behandeln, das Nicht-mehr-
Wohlfühlen. Tolerierbare bekämpfen mit „Null To-
Humanistische Trauerfeier  neben leranz!“. Keinesfalls dürfen religiös
der Jugendfeier/Jugendweihe ältester begründete Motive Freibrief für Ge-
Bestandteil heutiger weltlicher Feier- walt eingeräumt bekommen. Nach-
kultur basierend auf antiken Traditio- sicht kann es allenfalls gegenüber
nen. Der Wunsch nach Feuerbestat- den oft schon von frühester Kindheit
tungen und weltlichen Abschiedswor- an Indoktrinierten geben, da diese in
ten war vielfach Motiv für die Grün- „ideologischen Zwangsjacken gefan-
dung freigeistiger Organisationen. gen“ sind. „Die Haltungen aber, die
Der Humanistische Verband Deutsch- sie vertreten, haben keinerlei Nach-
land ist Ansprechpartner, wenn es sicht verdient.“ Schmidt-Salomon
darum geht, Abschieds- und Gedenk- plädiert für die Verteidigung der Wer-
feiern individuell und in Würde zu ge- te der „offenen Gesellschaft“, die auf
stalten. Die Einzigartigkeit eines Men- Säkularismus und Laizismus beruhen.
schen soll sich auch in der Trauerze-  Michael Schmidt-Salomon: Die
remonie zeigen. Wichtiger Bestandteil Grenzen der Toleranz. Warum wir die
einer Trauerfeier ist die Rede, für die offene Gesellschaft verteidigen müs-
die HVD-Landesverbände zertifizierte sen (München 2016).
Trauerredner vermitteln. Fundamentalismus  (lat. fundamen-
Toleranz  (lat. tolerare „erdulden“, tum „Unterbau“, „Grund“), insbe-
„ertragen“), auch Duldsamkeit, all- sondre der Fundamentalismus, der in
gemein ein Geltenlassen und Gewäh- Religion begründet ist, ist gekenn-

60
zeichnet durch extreme Intoleranz zung der Rechte von Atheisten und
und Eiferertum und zu einem argu- Konfessionsfreien auf Glaubens- und
mentativen Dialog nicht fähig. Die Gewissensfreiheit sowie die Formen
Überzeugung und Geisteshaltung des ihrer systematischen Benachteiligung.
Fundamentalismus beinhaltet Inter- Deutschland attestiert der Bericht ei-
pretationen allein auf ihrer inhaltli- ne „schwere Benachteiligung“ von
chen Grundlage (Fundament) als an- nichtreligiösen und konfessionsfreien
geblich einzig wahre und nicht hinter- Menschen.
fragbarer Annahme. Fundamentalis- www.freethoughtreport.com
mus wird durch eine stark polarisierte Humanistisches Selbstverständnis
Auslegung einer Letztbegründung  Antworten auf viele aktuelle gesell-
umgesetzt, ist antimodernistisch, re- schaftliche und ethische Fragen fin-
aktionär, vergewaltigend und intole- den wir im Humanistischer Selbstver-
rant. ständnis des Humanistischen Ver-
Zehn Angebote des evolutionären bands Deutschlands. Das Humanisti-
Humanismus  Eine zeitgemäße Al- sche Selbstverständnis trägt der Tat-
ternative zu den biblischen Zehn Ge- sache Rechnung, dass es innerhalb
boten. Diese „Zehn Angebote“ wur- der freidenkerisch-humanistischen
den von keinem „Gott“ erlassen und Diskussion „unterschiedliche philoso-
sind auch nicht in Stein gemeißelt. phische Richtungen, politische Pro-
Jeder/m Einzelnen ist es überlassen, gramme und weltliche Lebensauffas-
diese Angebote angstfrei und rational sungen [gibt, die] miteinander wett-
zu überprüfen, sie anzunehmen, zu eifern und sich verbinden können,
modifizieren oder auch nicht. Zehn denen ein moderner praktischer Hu-
Angebote für einen evolutionären manismus gemeinsam ist.“
Humanismus. Ausführlich dargestellt www.humanismus.de/selbstverstaendnis
in: Michael Schmidt-Salomon: Mani-
fest des evolutionären Humanismus
(Aschaffenburg 2006).  Literaturempfehlungen:
Freedom of Thought  Heutzutage
haben wir genug damit zu tun, die Hier finden Sie eine knapp kommentierte
weltweit zu beobachtenden Verfol- Literaturliste zum Weiterlesen.
gungen und Benachteiligungen von Bretschneider, Jan & Hans-Günter Esch-
Atheisten und Konfessionsfreien an- ke & Erich Sattler (Hrsg.): Lexikon
zuprangern und zu bekämpfen. Denn freien Denkens (Neu-Isenburg 2019, 19.
in vielen Ländern drohen uns die To- Aufl.).
desstrafe, Gefängnis, systematische Buggle, Franz: Denn sie wissen nicht,
Benachteiligung. Menschen werden was sie glauben. Oder warum man red-
diskriminiert und teils extrem bestraft, licherweise nicht mehr Christ sein kann
weil sie nicht an einen „Gott“ glauben. (Reinbek 1992, Neuauflage Aschaffen-
Das zeigen die seit 2012 jährlich ver- burg 2004).
öffentlichten Berichte der Internatio- Cancik, Hubert & Horst Groschopp &
nalen Humanistischen und Ethischen Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Humanismus:
Grundbegriffe (Berlin u.a. 2016).
Union (IHEU, heutiger Name: Huma-
Cavalli-Sforza, Luca & Francesco: Ver-
nists International), welcher am
schieden und doch gleich. Ein Genetiker
10.12.2014 zum Tag der Menschen-
entzieht dem Rassismus die Grundlage
rechte vorgestellt wurde. Auch der (München 1994).
Bundesrepublik Deutschland werden Copson, Andrew & Alice Roberts: the
eklatante Missstände attestiert. Der little book of humanism: universal les-
Bericht mit dem Titel Freiheit des sons on finding purpose, meaning and
Denkens: Ein globaler Bericht zu den joy. (London 2020); the little book of
Rechten, gesetzlichem Status und der humanist weddings: enduring inspira-
Diskriminierung von Humanisten, tion for celebrating love and commit-
Atheisten und den Nicht-Religiösen ment. universal lessons on finding pur-
dokumentiert ausführlich die Verlet- pose, meaning and joy (London 2021).

61
Otto von Corvin: Pfaffenspiegel (Schwer- über uns und unsere Vorfahren (Berlin
te 1977, 27. Ausg., Erstausgabe Leipzig 2019).
1844 und Ausgaben bis 1891 erschie- Kropotkin, Pjotr: Ethik. Ursprung und
nen unter dem Titel: Historische Denk- Entwicklung der Sitten (1921, Aschaf-
male des christlichen Fanatismus. fenburg 2013), mit einem Vorwort von
Dawkins, Richard: Atheismus für Anfän- Michael Schmidt-Salomon.
ger. Warum wir Gott für ein sinnerfüll- Lobenhofer, Stefan: So geht Humanis-
tes Leben nicht brauchen (Berlin 2019). mus! Eine Lebenseinstellung für aufge-
Deschner, Karlheinz: Kriminalgeschichte klärte Menschen. (Nürnberg 2021) On-
des Christentums (10 Bände, Reinbek line-Kurs: https://so-geht-
1986-2013). humanismus.de
Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte Lukrez: Über die Natur der Dinge. Übers.
der Menschheit (18 Bde. Frankfurt/M. u. hrsg. von Hermann Diels. (Berlin
u.a. 1982). 1924); Neu übersetzt und reich kom-
Edmüller, Andreas: Die Legende von der mentiert von Klaus Binder mit einer
christlichen Moral: Warum das Chris- Einführung von Stephen Greenblatt
tentum moralisch orientierungslos ist (Berlin 2014).
(Marburg 2015). Mauthner, Fritz: Der Atheismus und sei-
France, Anatole: L’Église et la République ne Geschichte im Abendlande (4 Bde.
(Paris 1904). 1920-1923, Neuauflage Aschaffenburg
Frerk, Carsten & Michael Schmidt- 2011).
Salomon: Die Kirche im Kopf. Von „Ach Oepen, Irmgard & Krista Federspiel &
Herrje“ bis „Zum Teufel“ (Aschaffen- Amardeo Sarma & Jürgen Windeler
burg 2007). (Hrsg.): Lexikon der Parawissenschaf-
Giordano-Bruno-Stiftung: Die Menschen- ten. Astrologie, Esoterik, Okkultismus,
rechte. Wie sie entstanden sind – und Paramedizin, Parapsychologie kritisch
warum wir sie verteidigen müssen betrachtet (Münster u.a. 1999).
(Oberwesel 2018) und Zehn (An)- Pinker, Steven: Aufklärung jetzt: Für
Gebote. Ethische Richtlinien für das 21. Vernunft, Wissenschaft, Humanismus
Jahrhundert. (Oberwesel 2015). und Fortschritt. Eine Verteidigung
Greenblatt, Stephen: Die Wende. Wie die (Frankfurt/M. 2018).
Renaissance begann (München 2011). Roy, Manabendra Nath: New Humanism:
Geier, Manfred: Aufklärung. Das europä- A Manifesto (Calcutta 1947); Materia-
ische Projekt (Reinbek 2012). lism. An outline of the history of scien-
Groschopp, Horst: Dissidenten: Freiden- tific thought (Calcutta 1951); Reason,
ker und Kultur in Deutschland (Berlin Romanticism and Revolution (2 Bände,
1997, 2. verb. Aufl. Marburg 2011); Calcutta 1952 und 1955) u.a. Titel.
(Hrsg.): Humanistische Bestattungskul- Schmidt-Salomon, Michael: Manifest des
tur (Aschaffenburg 2010); Barmherzig- evolutionären Humanismus. (Aschaf-
keit und Menschenwürde. Selbstbe- fenburg 2006); Hoffnung Mensch. Eine
stimmung, Sterbekultur, Spiritualität bessere Welt ist möglich (München
(Aschaffenburg 2011); Weltliche Schule 2014); Die Grenzen der Toleranz. Wa-
und Lebenskunde (Aschaffenburg 2020) rum wir die offene Gesellschaft vertei-
u.v.a. Titel. digen müssen (München u.a. 2016) u.a.
Die Lehren des Konfuzius. Die vier kon- Titel.
fuzianischen Bücher. Übersetzung und
Erläuterung von Richard Wilhelm, mit
einem Vorwort von Hans van Ess
(Frankfurt/M. 2008).
Kahl, Joachim: Das Elend des Christen-
tums oder Plädoyer für eine Humanität
ohne Gott. Reinbek 1968; Weltlicher
Humanismus. Eine Philosophie für un-
sere Zeit. Münster 2006; Humanismus.
Eine Einladung. Baden-Baden 2021.
Krause, Johannes & Thomas Trappe: Die
Reise unserer Gene. Eine Geschichte

62
 Erfolgskontrolle - Quiz: „Was ist Humanismus?“
(Fragen aus den Inhalten des jeweiligen Bausteins)

Lernbaustein 1 - Wurzeln des europäischen Humanismus in der Antike


Was bedeutet der Begriff Humanismus?
 a. Menschenfreundliche Weltanschauung
 b. Elitäres Denken
 c. Klassische Philologie

Lernbaustein 2 – Mittelalter und Philosophie außerhalb Europas


Was sind Ketzer?
 a. Anhänger des Papstes
 b. Bezeichnung für Katharer, die „Reinen“
 c. Ungläubige

Lernbaustein 3 – 16. & 17. Jahrhundert


Was bedeutet Renaissance?
 a. Rokoko
 b. Renovierungsarbeiten
 c. „Wiedergeburt“ der Werte der Antike

Lernbaustein 4 – 18. Jahrhundert


Was sind Menschenrechte?
 a. Freiheits- und Völkerrecht, definiert durch die Vereinten Nationen
 b. Recht des Stärkeren auf militärische Intervention
 c. Mission und Bekehrung Andersgläubiger

Lernbaustein 5 – 19. & 20. Jahrhundert


Was bedeutet Dialektik?
 a. Gerüchte verbreiten
 b. Kunst der Unterredung, untersuchende Erkenntnismethode
 c. Fake News

Lernbaustein 6 – Gegenwart: Humanismus im Lebensalltag


Wie lautet die regula aurea?
 a. Regenrinne
 b. The winner takes it all
 c. Goldene Regel der gegenseitigen Rücksichtnahme

[Lösungen: 1a, 2b, 3c, 4a, 5b, 6c]

63
Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen („Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte“), am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung
verabschiedet. (Gemälde von Jean-Jacques-François Le Barbier)

64

Das könnte Ihnen auch gefallen