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Nietzsches Wort vom ,Tod Gottes4 ist wohl eine der meist beachteten Aussa-
gen dieses Philosophen und seiner Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart,
obwohl es sich — schon allein von der Formulierung her — von einer gewöhnli-
chen Leugnung Gottes abhebt; in diesem Wort spricht sich eine Erfahrung aus,
die existenziellen Charakter hat, und verschärft wird diese Aussage durch die
Tatsache, daß sie in direkter Auseinandersetzung eines Denkers mit seiner Her-
kunftsreligion, dem Christentum, entstanden ist. Der vorliegende Beitrag, der
sich erneut Nietzsches berühmtem Wort zuwendet, setzt darum beim biographi-
schen Kontext ein, der Nietzsches persönliches Erleben des christlich verstande-
nen ,Todes Gottes* am Kreuz sowie der Todesthematik allgemein in Kindheit
und Jugend mitgeprägt hat. In einem weiteren Schritt ist grundlegenden Vorfor-
mulierungen bezüglich des Sterbens der Götter werkgeschichtlich nachzugehen,
um drittens Nietzsches Verständnis des ,Todes Gottes* im Kontext zentraler
Nachlaßaufzeichnungen zu FW 125 darzustellen. Die abschließenden Überle-
gungen wenden sich der weiterführenden Frage zu, inwiefern Nietzsche „viele
neue Götter", eine polytheistische* Pluralität nach dem Tod des monotheisti-
schen, christlich-moralischen Gottes wenigstens als Möglichkeit bedacht hat.
Die Redeweise vom ,Tod Gottes* bringt nicht allein einen philosophischen
,Gedanken* bzw. eine ihm entsprechende Erfahrung zum Ausdruck, sondern
verknüpft diese mit einer Bestimmung, des Menschen: seinem Sterben. Eine
solche Formulierung hat daher eine existenzielle Dimension, die fast unaus-
weichlich mit biographischen Erfahrungen zusammenhängt. Das Erleben des
,Tod Gottes' und die Möglichkeit »neuer Götter' 83
Todes von Nahestehenden wirkt sich - wenigstens indirekt - auf das allge-
meine Sprechen über den Tod aus.1 Nietzsches Todesverständnis mag deshalb
stark von dem Erleben des frühen Sterbens seines Vaters mitgeprägt gewesen
sein. Von hierher kann verständlich werden, wieso die Todesthematik, bis hin
zu einem Totenkult, der dem verstorbenen Vater galt, schon in frühen Jahren
Nietzsches Erfahrungen prägte.
Vor dem Hintergrund des biographisch einschneidenden frühen Todes des
Vaters mag die Sensibilität gegenüber Leidens- und Todeserfahrungen in der
verbleibenden Familie Nietzsches gewachsen sein. Diesen Auswirkungen nach-
zugehen wäre Aufgabe einer psychologisch orientierten Nietzsche-Interpreta-
tion. Seine Geburtstagsfeier war in der Kindheit stets auch mit dem Gedenken
an den toten Vater verbunden; der Geist des Toten wurde am Tag, der an den
Beginn des Lebens erinnert, beschworen, fast in kultischer Weise. Das Totenge-
denken hatte die Feier der Geburt überschattet.2
Hier soll nur auf die spezifische Weise geachtet werden, in der der junge
Nietzsche die Todesthematik im christlichen Glaubens- und Lebenszusammen-
hang erfahren hat, in dessen Zentrum die Feier des Todes Christi, des Gottes
am Kreuz, steht — die Wurzel der christlichen Gott-ist-tot-Thematik. In ihrem
Kontext wird das Sterben des Menschen zur Sprache gebracht und kultisch der
Toten gedacht.
Von primärem Interesse ist die Frage, ob Nietzsche jene Worte aus einem
Karfreitagslied des 17. Jahrhunderts3 gekannt hat, in denen die christliche ,Gott-
ist-tot'-Thematik ausgesprochen wird:4 „O große Noth/Gott selbst ist todt/am
Kreuz ist er gestorben", und auf die sich Hegel in seinen Vorlesungen über die
Philosophie der Religion bezieht.5 Es handelt sich um die zweite Strophe aus dem
Lied ,O Traurigkeit! O Herzeleid!' Es ist mit guten Gründen anzunehmen, daß
Nietzsche dieser Text bekannt \var; er hat sich mehrfach mit Passionsliedern
befaßt, einige davon abgeschrieben, und dieses Lied ,O Traurigkeit! O Herze-
leid!' gehörte zum zentralen Liedschatz evangelischer Liturgie und wurde dar-
1
Zum allgemeinen hermeneutischen Horizont vgl. meinen Beitrag: Biographie und Atheismus.
In: Ateismo e societa. A cura di A. Babolin. Perugia 1992. S. 201 -235, bes. S. 231 f.
2
Vgl. figl, Johann: Geburtstagsfeier und Totenkult Zur Religiosität des Kindes Nietzsche. In:
Nietzscheforschung 2 (1995). S. 21 -34.
3
Verfaßt von Johann Rist.
4
Diese Thematik reicht historisch noch weiter zurück; vgl. Pluta, Olaf: „Deus est mortuus"
— Nietzsches Parole ,Gott ist tot!* in einer Geschichte der Gesta Romanorutn vom Ende des
H.Jahrhunderts. In: Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance. Wolfenbüttel 1989.
S. 239—270, der auch auf Augustinus* Formulierung: „mortuus est deus" (für Christus am
Kreuz) hinweist (S. 250, Anm. 43). Als Quelle .für Nietzsches Wort »Gott ist tot* konnte der
Text der Gtsta Romaiwnun (bisher) noch nicht nachgewiesen werden (vgl. den Hinweis S. 252).
s
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von
Georg Lasson. Hamburg 1966. Bd. IV. S. 172; dazu: Link, Christoph: Hegels Wort ,Gott selbst
ist todt*. Zürich 1974. Bes. S. 11 und S. 28 f.
84 Johann Figl
über hinaus in der Philosophie - wie man an Hegel sieht -, aber auch in der
Dichtung aufgenommen. Als Beispiel aus dem lebcnsgeschichtlichen Umfeld
Nietzsches sei Ernst Ortlcpp genannt, der das erwähnte Karfrcitagslied in der
Textfassung kannte, die auch Hegel rezipierte; Ortlepp notiert unter einer Fülle
heterogener Aufzeichnungen, Anekdoten und dgl, wie „Variationen V. Phantasie
eines Wahnsinnigen" folgendes: „In dem alten Dresdner Gesangbuch steht:
,O große Noth,
Gott selbst ist todt!"*6
6
In: Ortlepp, Ernst (Hrsg.): Belustigungen und Reisen eines Todten aus Zickzacks nachgelasse-
nen Schriften. 1834. S. 103 f., zit. nach Bohley, Reiner: Der alte Ortlepp ist übrigens todt In:
Barner, Wilfried, u. a. (Hrsg.): Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag.
München 1983. S. 322-331, bes. S. 326.
7
Der Text im Gesangbuch des Haupt-Vereinsßir christliche Erbattungsscbrißen in den Preußischen Staaten^
das in der Schule in Naumburg nach Mitteilung des Jahresberichts dieser Schule ^vgl. Jahresbe-
richt des Domgymnasiums Naumburg 1857/1858, S. VIII) im Unterricht benutzt .wurde, lautet:
„O große Noth! der Herr ist todt,/am Kreuz ist er gestorben/..."; hier zitiert nach der Ausgabe
Berlin 1854, S. 42 (Nr. 72). In dieser Ausgabe ist den einzelnen Liedern jeweils ein dazu thema-
tisch passendes Bibelwort vorangestellt; bei diesem Lied sind es die Verse 59 und 60 aus Mat-
thäus 27, die mit der Aussage schließen: „(...) und wälzte einen großen Stein vor die Thür des
Grabes, und ging davon". Vgl. dazu Nietzsches Wort: „Die Kirche ist der Stein am Grabe
Gottes: sie will, daß er nicht wieder auferstehe." (Nachlaß 1882/83, KGW VII l, 4[38]).
8
Vgl. Figl, Johann: Vorwort. In: KGW 11, S. IX, Anm. 9; und ebd., Schulmaterialien 1856,2A[1],
S. 347.
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 85
4
1.2. Totenfeiern in Schulpfortä
9
Naumburg 1855, S. 114 f£
10
VgL Bohley, Reiner: Die Chrisdichkcit einer Schule. Schulpforta zur Schulzeit Nietzsches (Wis-
senschaftliche Abhandlung zur Qualifikationsprüning). Naumburg o. J. [1974]. Ms. S. 122 mit
Anm. 246.
11
VgL ebd., S. 122.
86 Johann Fig)
12
Vgl. ebd., S. 123. Inzwischen (1889) war dieses Wort zum Titel eines der letzten Bücher Nietz-
sches geworden.
13
Vgi. ebd., S. 122.
14
Vgl. ebd., S. 121 und S. 123 mit Anm. 249. - Auch für Nietzsche gab es ein solches Gedenken:
Am 25. 11. 1900 wurde beim allgemeinen ,Ecce* seines Todes gedacht; bei der Beerdigung am
28. 8. 1900 schlössen Carl von Gersdorffund Max Heine, beides ehemalige Pförtner Schüler,
mit dem Abschiedsgruß des ,E<xe*.
15
Brief vom 4. Juli 1864, KSB l, Nr. 432.
16
Zit. nach Bohley: Der alte Ortlepp ist todt, a. a. O., S. 172; vgl. dazu Schmidt, Hermann Josef:
Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend. 2. Teilband 1862-1864.
Berlin-Aschaffenburg 1994, S. 708, Anm. 73, der als Quelle u. a. den oben erwähnten Pfortenser
Prof. Max Hoffmann hervorhebt, der das JEcce* neu deutete.
,Tpd Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 87
auch deshalb über Jahrzehnte den ehemaligen Pförtner Schülern eingeprägt ge-
blieben.17
Wie weit eine nähere Beziehung zwischen dem alten Ordepp und dem Ju-
gendlichen Nietzsche gegeben war, mag detaillierten Studien überlassen blei-
ben.18 Die Vermutung bzw. Annahme, daß Ortlepp persönlich sich in das
»Stammbuch' Nietzsches eingetragen hat,19 kann durch einen Vergleich der
Schrift Ordepps aus dem Jahr 1858 in seinen handgeschriebenen Ennnenmgen
an Schulpforta von einem alten Pfortenser2·® mit der Schrift im Album (Seite 61 —66)
nicht bestätigt werden; die Verschiedenheiten der Schriften sind, obwohl sie
nachweislich aus demselben Zeitraum (Ende der fünfziger bzw. Anfang der
sechziger Jahre) stammen, zu groß, daß hier in beiden Fällen derselbe Schreiber
angenommen werden könnte.21
Die gegebene knappe Exposition der frühen biographischen Begegnungen
Nietzsches mit den Todesthematisierungen zeigt im Hinblick auf sein späteres
bekanntes Wort ,Gott ist tot', daß Nietzsche den christlichen Kontext dieses Wor-
tes in einprägsamen Formen begegnet ist. Die religiöse Mitte, das Sterben des
Sohnes Gottes am Kreuz, ist ihm in Liedgut und Kult der Passionszeit und
besonders des Karfreitags vertraut. Das Gedächtnis der Toten, angefangen von
der Erinnerung an den verstorbenen Vater bis zu den ,Ecce'-Feiern in Schul-
pforta, wird rituell begangen. Beide Formen des Gedenkens — an den Tod
Gottes am Kreuz und an den Tod nahestehender Menschen - werden in enger
Verknüpfung erlebt; vom Leiden Christi her wird das Leiden und Sterben des
Menschen empfunden und gedeutet. Nietzsche hat eine Form des Christentums
erlebt, in der dem Totenkult ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird. Die zen-
tralen Feiern waren - jedenfalls in Schulpforta — Totenfeiern. Falls Nietzsche
den Gott dieser so erfahrenen Religion für ,tot' erklärt hat, meint er dann nicht
eine Religionsform, die das Leben vorwiegend im Horizont des Sterbens deutet,
eine Spiritualität, die das Diesseits unter der Perspektive des Leidens betrachtet?
17
Vgl. den Brief von Heinrich Wendt, dem Mitschüler Nietzsches, an Franziska Nietzsche: BAB
l, S. 431; vgl. dazu Schmidt, Nietzsche absconditus, a. a. O., S. 703.
18
Reiner Bohley hat darauf hingewiesen, daß Ordepp eine „Vorliebe vor allem für die Dichter
(hatte), die Nietzsche in Pforta liest" (vgl. weitere Parallelen Bohley: Der alte Ordepp ist todt,
a, a. O., S. 171). VgL die Hinweise auf die im Hinbück auf die Tod-Gottes-Thematik wichtigen
Gedichte Nietzsches ,Vor dem Cruzifix* und »Gethsemane und Golgotha* aus der Pfortenser
Zeit (BAW 2, S. 186 ff. und 400 ff.), die Werner ROSS im Zusammenhang mit Ordepp nennt:
ROSS, Werner: Der ängsdiche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. Stuttgart 1980. S. 73 f.
19
Vgl. zu dieser Hypothese bzw. These Schmidt: Nietzsche absconditus, a. a. O., S. 694 ff., bes.
S. 700 f£, S. 725, S. 731, S. 735.
* Ms., 51 Seiten, Bibliothek Schulpforta, Sign. B. 18. 11.
21
Vgl. zur begründeten Zuordnung der Einträge zum Mitschüler Nietzsches, Georg Hermann
Stoeckert, auf der Basis eines Schriftenvergleichs: Hödl, Hans Gerald: Der alte Ortlepp war es
übrigens nicht... Philologie för Spurcnleser. In: Nietzsche-Studien 27 (1998). S. 440-445, bes.
S 443.
88 Johann Fitf
24
Nietzsche hat das Werk von Curtius, Georg: Grundzüge der griechischen Etymologie. 3. Auf-
lage. Leipzig 1869, aus der Basler Universitätsbibliothek am 2. Februar und 4. Mai 1870 .sowie
auch 1871 entlehnt: vgL KSA 14, S. 532 £, und: Cresccnzi, Luca: Verzeichnis der von Nietzsche
aus der Universitätsbibliothek Basel endiehenen Bücher (1869-1879). In: Nietzsche-Studien 23
(1994). S. 388-442. Bes. S. 396 und S. 404. Nietzsche hat sich mit dieser Thematik in der
Vorlesung Enzyklopädie der klassischen Philologe im Sommersemester 1871 befaßt: „In den Diony-
sischen Mythen waren alle Götter sterblich [...] Zeus tödtet sie [seil, die Titanen)" (KGW U 3,
S. 414); vgl. ferner in einem anderen Kontext KGW II 5, S. 452, wo Nietzsche die „sterblichen
Götter" im Unterschied zu den olympisch-unsterblichen nennt.
25
Vgl. KSA 14, S. 534 f. Die beiden ersten Bände von Max Müllers Essays. Beiträge sytrvergleichenden
Religionswissenschaft sind in Leipzig 1869 erschienen; zum Ausdruck ^{inimunf\ vgl. Bd. 1. S. 304.
»· Vgl. a. a. ()., Bd. l, S. 211 f., ferner Bd. 2, S. 209.
90 Johann Fig!
„"Alle Götter müssen sterben'*27 die urdeutsche Vorstellung, die die Wissen-
schaft mit höchster Kraft bis jetzt durchführt. „Der Tod Sigurds, des Abkömm-
lings Odins, konnte den Tod ßaldcrs, des Sohns des Odin, nicht abwenden: auf
Balders Tod folgte bald der Tod Odins und der andren Götter.",, (Nachlaß
1870/71, KGW III 3, 5(57|)
4. I7Jne religionsphilosophische, auf das Christentum zu beziehende Aussage
treffen wir im Nachlaß zur Zeit der Ausarbeitung von HL, in einem Exzerpt
aus Htttues Dialogen über natürliche Religon^ einem Werk, das sich in Nietzsches
Bibliothek befindet: es ist die Stelle, an der von einer „der Last der Jahre unterlie-
genden Gottheit" und von „dem Tode derselben" gesprochen wird (Nachlaß
1873, KGW III 4, 29[86]). Hume geht dabei aus von der gebrechlichen und
unvollkommenen Welt und stellt die Überlegung an, ob „sie vielleicht nur das
Werk irgend einer abhängigen Untergottheit und der Gegenstand des Hohnge-
lächters höherer Wesen [ist]" (ebd.),28 woraus eine dem Polytheismus nachge-
formte Vorstellungswelt sichtbar wird; doch es ist ebenso klar, daß damit eine
Konfrontation mit dem Christentum, besonders mit dem christlichen Schöpfer-
gott angesichts der unvollkommenen Welt, gemeint ist.
Wenn man die ausgewählten Stellen über das Sterben eines Gottes im Nach-
laß der Jahre 1869/70 bis 1873 überblickt, so muß einerseits gesagt werden, daß
jedes dieser Zitate einen jeweils spe-qfischen Sinn ergibt; dies hängt auch mit dem
Faktum zusammen, daß es sich stets um die Wiedergabe anderer Autoren handelt*
Nietzsche rezipiert diese Formulierungen, gelegentlich wörtlich, von den Vorla-
gen, aus denen er exzerpiert, besonders des Sprach- und Religionswissenschaft-
lers Max Müller. Es ist also zuerst die rezeptive Struktur der zitierten Stellen
festzustellen.
Andererseits jedoch ist es auffällig, daß Nietzsche einige Exzerpte sich in
einem neuen Sinn zu eigen macht, sie kommentiert und eigenständig verschie-
dene Kontexte verknüpft, z. B. wenn er auf Müllers Aussage über den Tod der
27
Daran anknüpfend sagt Nietzsche in seinem Entwurf zu einer Tragödie Empedokks^ der sich im
selben Notizheft befindet: „Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben."
(Nachlaß 1870/71, KGW III3,5[115)). In diesem - nicht ausgeführten - EmpeMs-Entwuif
kommt auch die Formulierung vor: „„Der große Pan ist todt"." (5[116]) VgL auch Nachlaß
1870/72, KGW 111 3, 8[30]-[32] im Zusammenhang mit dem „Pan am Aetna" den „Todesplan"
und 8[37]: „Tod des Pan".
28
Im Za III werden sich die Götter selbst zu Tode lachen - angesichts des Wortes,^ daß nur ein
Gott ist (Von den Abtrünnigen 2, KGW VI l, S. 126).
,Tod Gottes' und die Möglichkeit ,neuer Götter* 91
Im Hinblick auf die etwa ein Jahrzehnt später antreffbare Formulierung ,Gott
ist tot* bzw. die Rede vom ,Tbcl Gottes* ist ferner hervorzuheben: es gibt ,Vorfor-
mulicrungen', die jener des Tollen Menschen (FW 125) sehr nahe kommen -
jedenfalls in der grammatikalisch-textlichen Struktur -, wie ,der todte Zeus*,
Jod des Pan', ,Tod Odins und der andren Götter'; der widersprüchliche Tatbe-
stand, daß in diesen Exzerpten ein unleugbarer polytheistischer Kontext gege-
ben ist, während sich die „klassische" Gott-is t-tot-Verkündigung primär auf den
jüdisch-christlichen Monotheismus bezieht, wird dadurch überbrückt, daß der
eine Gott in engem Zusammenhang mit den vielen Göttern gesehen wird. Vor
diesem Hintergrund wird die zugleich polytheistische und monotheistische Re-
deweise des ,Tollen Menschen* plausibel, in der es heißt: „- auch Götter verwe-
sen! Gott ist todt! Gott bleibt todt!" (FW 125). Der christliche Gott ist nun nur
einer der Götter, die „verwesen".
In Auseinandersetzung mit den religionswissenschaftlichen Thesen Max Mül-
lers kommt Nietzsche zu Überlegungen, die schließlich auch im christlichen
Gott nur einen der Götter erblicken - und das heißt, dessen Sterblichkeit kon-
statieren.
Nietzsche hat sich auch in seinen veröffentlichten Werken vor FW mit dem
Sterben der Religionen befaßt. Hier kann nur selektiv auf einige Texte hingewie-
sen werden. Zu Beginn des eigens dem religiösen Leben gewidmeten Kapitels von
MA I konstatiert er das Abnehmen der „Herrschaft der Religionen und aller
Kunst der Narkose" (MA 1108); zu den Inhalten der christlichen Religion meint
er, „dies Alles weht uns schauerlich, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit
[an]" (MA 1113). Der Gottesbeweis des consensus gentium und hominum gilt
ihm nur als eine „Narrheit" (MA I 110) - viele andere Stellen zeigen ebenso
Nietzsches Überzeugung vom Zuendegehen der Religionen, vor allem des Chri-
stentums. Ähnliches gilt für MA II.32 Es sei lediglich auf den - im-Zusammen- -
hang mit der Rede vom Tod Gottes oft zitierten - Text ftie Gefangenett hinge-
„Die ursprüngliche Erkenntnis (seil. Gottes; J. F.) ist weder monotheistisch, noch polytheistisch,
sondern kann beides werden, je nach dem Ausdruck, den der Mensch derselben durch die
Sprache giebt." Essays, Bd, l, S. 306; vgl. S. 320f.
32
Z. B. VM 92-98, KGW IV 3, S. 50-55.
,Tod Gottes' und die Möglichkeit »neuer Götter* 93
wiesen: der „Letzte der Gefangenen (sagte) [...] „der Gefängniswärter ist eben
plötzlich gestorben" "33.
Im darauffolgenden Aphorismen-Werk Morgenröthe wkd diese Linie noch aus-
drucksstärker artikuliert: es wird gefragt, ob „mit dem Ende der Religionen" das
durch das Christentum bewirkte Ergebnis menschlicher Schönheit und Feinheit
„auch zu Grabe getragen (wäre)?" (M 60). Nietzsche sieht sich „am Sterbe-
bette des Christenthums", wie er M 92 betitelt34 Ebenso eindeutig ist die
Gottesfrage erörtert: die wissenschaftliche Leugnung Gottes (M 93) und die
historische Widerlegung als die endgültige (M 95) werden behandelt, und
schließlich heißt es — mit Blick auf das alte Indien und Buddha: „und man warf
die Götter bei Seite, — was Europa auch einmal thun muss!"; die Frage ist, was
dann kommt, wenn „die Moral im alten Sinne gestorben sein wkd" (M 96).
Die Sterbe- und Todesmetaphorik in bezug auf die Religion und Gott bzw.
der auf ihn gegründeten Moral ist also in Nietzsches Werken der Jahre 1878 bis
1881, in der Zeit vor FW, bereits mannigfach anzutreffen. Die Verkündigung
des ,Todes Gottes* aber, später zu einer der wirkungsvollsten Thesen bzw. For-
mulierungen Nietzsches geworden, findet in der Parabel ,Der tolle Mensch* (FW
125) statt, die mit dem berühmten Satz beginnt: „Habt ihr nicht von jenem
tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf
den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!"" Das
Zentrum dieses Textes ist wohl in der Aussage „Gott ist todt! Gott bleibt todt!"
zu sehen.
Die Erzählung von der Tötung Gottes ist zweifelsohne eine der beeindruk-
kendsten Stellen in Nietzsches Werk, und zwar sowohl in ihrem Aussagegehalt
wie auch in ihrer sprachlichen Formulierung, die gerade in diesem Fall als unzer-
trennlich betrachtet werden müssen. So sind sowohl der Text als auch dessen
Wirkungsgeschichte von bleibender Bedeutung.
Man wird sich aber die wichtige Frage stellen müssen, wieso gerade dieses
Wort bzw. Bild vom ,Tod Gottes* in den Rang eines genuinen Nietzsche-Wortes
gelangen konnte, warum es diese zentrale Bedeutung in seinem Werk erhielt, in
dem sich, wie wir gesehen haben, in den Jahren zuvor bereits vielfältige ähnliche
Formulierungen im atheistischen Kontext auffinden lassen.
Ohne diese Frage erschöpfend beantworten zu können, vermute ich, daß vor
allem folgende Gründe zu nennen sind:
- Inhaltlich verändert sich die Aussageintention, wenn das Sterben bzw. der
Tod direkt von dem einen Gott ausgesagt wird. Die aus dem polytheistischen
Kontext, in dem Götter vergehen und entstehen, übernommene und dort text-
lich-strukturell „vorformulierte" Rede, wie z. B. „der todte Zeus", gewinnt einen
13
MA II WS 84; vgl. Biser: ,Gott ist tot*. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins.
München 1962. S. 54.
34
VgJ. ferner M 114; 119 (!); 123; 125; 130 und 131, 135.
94 Johann F;igl
Die Vorstufen und frühen Formulierungen der beiden Aphorismen 108 und
125 fuhren zurück in den Herbst 1881. Im Notizheft V 7 finden wir ein Frag-
35
Darauf hat zuerst Eugen Biser hingewiesen: Die Proklamation von Gottes Tod. In: Hochland
56 (l963). S. 137-152.
36
Vgl. dazu unten Anm. 48.
37
Der Aphorismus 343 ,Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat', der ebenfalls ein Schlüsseltext
zu »Gott ist todt* in FW ist, wird hier nicht weiter textgeschichtlich berücksichtigt, da er erst -
wie das gesamte fünfte Buch - in die 2. Auflage (1887) des Werkes aufgenommen* worden ist.
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 95
ment, das als eine frühe Teilformulierung des Aphorismus 125 der Fröhlichen
Wissetjscbafp* zu lesen ist: „Gott ist todt - wer hat ihn denn getödtet? [...]"
(Nachlaß 1881, KGW V 2, 12[77]).39
Doch sind in diesem Heft aus der Zeit nach dem Silser Aufenthalt im Jahre
188l40 auch noch frühere Einträge, die sich auf den Tod Gottes beziehen, zu
entdecken. Dort finden sich zu Beginn, wohl noch Vor dem 26. Oktober 1881
- dieses Datum ist in 12[44] angegeben -, folgende einschlägigen Aufzeich-
nungen: „Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und
einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tra-
gen" und: „Das erste Buch als Grabrede auf den Tod Gottes. -" (Nachlaß 1881,
KGW V 2, 12p]; [21]). Der Tod Gottes ist hier sogar als Thema eines eigenen
,Buches* in einem geplanten Werk vorgesehen, und die Größe dieses Ereignisses
erfordert einen „fortwährenden Sieg über uns" — es ist also Selbstüberwin-
dung verlangt; hier klingt schon der Gedanke vom Atheismus als „Sieg" durch
„Selbstübenvindung" der christlichen Moralität an.41
In einem anderen Notizheft mit Aufzeichnungen aus der Genueser Zeit des
Herbstes 1881 finden wir die Formulierung „Gott, den wir todt gesagt haben"
im Zusammenhang mit der Erzählung von Buddhas Schatten in der Höhle,42
und weitere unmittelbare Vorentwürfe43 zu dem berühmten Text FW 125. An
den zitierten Stellen ist vielfach auch die Nähe zu Zarathustra-Fragmenten gege-
ben. Mehrfach wird Zarathustra direkt genannt,44 und in einem der Fragmente
kommt der Zusammenhang mit der Gott-ist-tot-Parabel zum Ausdruck „Hier
schwieg Zarathustra von Neuem und versank in tiefes Nachsinnen. Endlich
sagte er wie träumend: ,Oder hat er sich selber getötet? Waren wk nur seine
Hände?'" (Nachlaß 1881, KGW V 2, 12[157]).
Es ist nun interessant zu sehen, daß einige Wochen vor diesen charakteristi-
schen Tod-Gottes'-Notizen in Nietzsches Aufzeichnungen erstmals der Name
,Zarathustra* sowie der Gedanke der ,Ewigen Wiederkehr* nachweisbar ist.
Nietzsche selbst hat bekanntlich den Zeitraum und Ort der ,Inspirationc seines
38
Vgl. KSA 14, S. 649.
39
VgL auch Nachlaß 1881, KGW V 2, 12[193]: „Irren wir nicht im oeden AU umher?". Im
Fragment 12[79] wird Zarathustra genannt: „Ich habe eine Herkunft - [...] Es ist mir nicht
fremd, daß Zarathustra —". Vgl. 12(17] (dazu KSA 14, S. 648).
40
Nietzsche hat es in Genua verwendet, wohin er im Anschluß an den Aufenthalt in Sils-Niaria
am 23./24. September 1881 gereist und wo er bis Ende März 1882 geblieben ist Vgl. KSB 6,
S. 132 ff.
41
VgJ. FW 357 mit dem Bezug Nietzsches darauf in GM III 28.
42
Nachlaß 1881, KGW V 2, 14[14] (vgl FW 108). Es gibt zudem eine Reihe von Vorstufen-
Texten zu FW 125 und 108, die nicht in KGW aufgenommen sind; vgl. dazu KSA 14, S. 256 f.
bzw. 253; 653 f.
43
Vgl. bes. Nachlaß 1881, KGW V 2,14J25] und [26].
44
Vgl. Nachlaß 1881, KGW V 2, 12(112]; [128]; [131]; [136]. Vgl. dazu Montmari, Mazzino:
Nietzsche lesen. Berlin, New York 1982. S. 85-87.
96 Johann Figl
45
Vgl. EH Za l, KGW VI 3, S. 333.
46
Der Text, der dann folgt, bildet seinem Inhalt nach eine frühe Fassung für die Einleitung von
Also sprach Zarathustra, und er lautet in der Aufzeichnung vom August 1881: „Zarathustra, gebo-
ren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und
verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta." (Nachlaß Herbst
1881, KGW V 2, 11 [195]; vgl. Za Vorrede 1; FW 343.
47
Vgl. Montinari: Nietzsche lesen, a. a. O., S. 81. Während Montinari 1982 noch sagte, daß „die
genaue Quelle, aus der Nietzsche diesen Namen übernahm, auch heute noch als unbekannt
gelten (muß)", kann inzwischen dank überzeugender Quellenstudien dieses Problem als gelöst
gelten: Paolo D'Iorio teilte diese sehr wichtige Stelle aus Hellwald, Friedrich Anton von: Kultur-
geschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Augsburg 1875. S. 128, mit.
Siehe D'Iorio, Paolo: Beiträge zur Quellenforschung. In: Nietzsche-Studien 22 (1993). S. 395.
Nietzsche hatte sich dieses Werk von Overbeck nach Sils-Maria schicken lassen. Vgl. KSA 15,
S. 117.
48
Möglicherweise ist Nietzsche den diesbezüglichen, oben zitierten Aussagen in Max Müllers
Aufsatz Buddhistische Pr/gerim Herbst 1881 erneut begegnet und hat dies als Anregung für seine
,Gott-ist-tot*-Formulierung genommen; denn Nietzsche hat in diesem Zeitraum das Bild vom
Schatten Buddhas in der Höhle - im Zusammenhang mit dem „Gott, den wir todt gesagt haben"
- aufgenommen, das in eben diesem Aufsatz vorkommt (Nachlaß 1881, KGW V 2, 14[14]).
Dies ist eine Vorstufe zu FW 108; als Quelle dafür wurde Müllers Aufsatz Buddhistische Pilger
(In: Essays, a. a. O., Bd. 1., S. 235 ff.) in der am Institut für Religionswissenschaft der Universität
Wien entstandenen Diplomarbeit von Schuh, Bernhard: Der Stellenwert des Buddhismus in der
Philosophie Nietzsches. Wien 1999 (Ms.). S. 41 mit Anm. 121, ausfindig gemacht*"
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 97
49
VgJ. Montinari: Nietzsche lesen, a, a. O., S. 90.
50
Von Relevanz ist auch noch FW 109; vgl. dazu Montinari: Nietzsche lesen, a. a. O., S. 89.
51
VgLdazuKSA14,S.230f.
52
VgL Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 3. Auflage.
Hamburg 1978. S. 62 und S. 40; ders.: Von Hegel zu Nietzsche. Stuttgart 1969. S. 212 f.
9ft Johann Figl
Nietzsche im Herbst 1881: „Wer nicht an einen Kreisprozeß des 11$ glaubt,
m u ß an den w i l l k ü r l i c h e n Gott glauben - so bedingt sich meine Betrach-
tung im Gegensatz zu allen bisherigen theistischcnl (s. Vogt p. 90.)".53 Er lehnt
hier also entschieden die Willkürlichkcit eines Gottes ab. Umgekehrt kann gesagt
werden, daß seine Theorie des Kreisprozesses des Alls eine solche der Notwen-
digkeit im Unterschied zur theistischen Willkürlichkeit ist - der Atheismus ist
somit eine notwendige Konsequenz der Wiederkunftslehre, bzw. sei jener, der
nicht diese universelle Zirkularität „glaubt**, genötigt, an einen Gott zu glauben,
der willendich in das Weltgeschehen eingreifen kann. Von der Wiederkunftslehre
her ist somit die theistische Konzeption klar ausgeschlossen.
Die Wiederkunftslehre führt eindeutig zu einem Atheismus im Sinne der
Negation jedes Theismus. Für diese Position verwendet Nietzsche in den Noti-
zen zur Wiederkunftslehre aus dem August 1881 (noch) nicht die Formulierung
,Tod Gottes'. Aber ihre Implikationen schließen die Verneinung Gottes ein so-
wie die Religionen aus; da die neue ,Lehrec „mehr als alle Religionen [enthält]",
weil diese das gegenwärtige Leben als ein flüchtiges verachten und „nach einem
unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten" (Nachlaß 1881, KGW V 2,
11 [l 59]). Die durch die Wiederkunftslehre gegebene Zuwendung zur JBwigkeit*
in diesem Leben54 hat eine neue Radikalität und Entschiedenheit erfahren; vor
ihrem Hintergrund mag auch die Rede vom ,Tod Gottes4, die in den Aufzeich-
nungen der folgenden Hefte, ab Ende September bzw. Oktober 1881 anzutref-
fen ist, in ihrer vertieften Sinnintention neu interpretierbar sein. Deshalb gehö-
ren Wiederkunftslehre und Tod Gottes nicht allein von Sinn- und Aussagezu-
sammenhang her eng zusammen, sondern ebenfalls aufgrund der Entstehungssi-
tuation.
53
Nachlaß 1881, KGW V 2,11(312], vgl. dazu KSA 14, S. 647.
54
Vgl. Nachlaß 1881, KGW V 2,11 [183]: „DiessL·^» - dein wigs Üben?'
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 99
theismus, der Poesie und Kunst einzuengen scheint, wie insbesondere in den
zitierten Exzerpten deutlich wurde. Neben diesen inhaltlichen Aussagen zeigte
sich dabei vor allem der formale Aspekt, daß sich die Struktur der Formel vom
Tod Gottes höchstwahrscheinlich diesen Exzerpten verdankt, die sich auf die
polytheistische Mythologie beziehen; gewissermaßen mit ihrer Hilfe wird der
x
moralische Gott für tot erklärt. ·
Von diesem Hintergrund der Lebensdynamik einerseits und der polytheisti-
schen* Akzentuierung der Thematik andererseits ist darum die Frage nach den
möglichen weiteren Perspektiven nach dem Tode Gottes mit&estimmt. Nietzsche
hat die Thematik des Todes Gottes mehrfach nach der Veröffentlichung von
FW weiterverfolgt, insbesondere in Za.55 Darüber hinaus plant er nach Abfas-
sung von Za II ein Zarathustra-Drama, das als vierten und letzten Akt eine
„Leichenfeier ,Wir tödteten ihn'" bzw. eine „Todtenfeier" vorgesehen hätte
(Nachlaß 1883, KGW VII l, 10[45]; vgl. ebda. 10[46]; [4 ).56 Er spricht auch
von „Gottes Todtenfest"57.
Ist nach der ,,größte[n] Todtenfeier - hin zur Unsterblichkeit" -, wie es
auch in einem Plan zu Za II heißt (Nachlaß 1883, KGW VII l, 13(20]), eine
Auferstehung zu erwarten, so wie sie Nietzsche-Zarathustra hinsichtlich des Un-
erlösten seiner Jugend erwartet, wenn er sagt: „Und nur wo Gräber sind, giebt
es Auferstehungen. — " (Za II, Das Grablied)? Oder gilt bleibend, daß, nachdem
„dieser Gott [starb]" und „seit er im Grabe liegt", nun erst der „höhere Mensch"
- und nur er - „wieder auferstanden" ist (Za IV, Vom höheren Menschen
2)?58
Diese Anfragen sind berechtigt, denn Nietzsches Atheismus ist wohl kaum
durch interpretative Finessen zu relativieren oder gar zu eliminieren, so daß man
in ihm einen verborgenen Gottsucher erkennen könnte. Es wäre dem Verständ-
nis der atheistischen Position Nietzsches wenig gedient, wenn hier nicht die
Eindeutigkeit seiner religionskritischen Intentionen, die weit in die Jugend zu-
rückreichen, zur Kenntnis genommen würde.
Dennoch gibt es Interpretationsansätze, die Nietzsches Offenheit für neue
religiöse Perspektiven, für kommende „Götter" betonen, und diese können nicht
55
Vgl. die detaillierte Studie von Haase, Marie Luise: Todesarten: ,Wenn Götter sterben ... '.
Gottes Tod in Nietzsches ,Also sprach Zarathustra*. In: Golz, Jochen (Hrsg.): Das Goethe-und
Schiller-Archiv 1896-1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Weimar, Köln,
Wien 1996. S. 395-414.
56
Vgl. das Buch in Nietzsches Bibliothek: Mickiewicz, Adam: Aus Mickiewicz Totenfeier. Improvisa-
tionen, übersetzt von S. Upiner, Sonderdruck o. O. u. J. Zur Kenntnis von Mickiewicz vgl. den
Brief an Overbeck im folgenden Jahr am 7. April 1884 (KSB 6, Nr. 504), in dem sich Nietzsche
kritisch zu Lipiner äußert.
57
Nachlaß 1885/86, KGW VIU l, 2[129); vgl. KSA 14, S. 726.
5H
An dieser spezifischen Grab- und Auferstebungsmctapher zeigt sich der spezifisch christliche
Hintergrund (vgl. oben Anm. 4) der Rede vom Tod Gottes.
100 Johann HgJ
Wie ist dieser „neue Gott"? Einfach ist es zu zeigen, wie er nicht ist, wofür
er das Gegenteil ist: er lehnt den „europäischen Monotono-theismus" ab; abge-
lehnt wird die monotheistische Konzeption. Nietzsche verwendet in^diesem Zu-
sammenhang ausdrücklich eine polytheistische4 Redeweise:
„— Und wie viele neue Götter sind noch möglich!" (ebd.)
„,Der Vater* in Gott ist gründlich widerlegt; ebenso ,der Richter', ,der Belohner'.
Insgleichen sein »freier Wille* [...] - Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Nieder-
gang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend,
ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im
Wachsen ist, - dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen
ablehnt." 0GB 53) u
Hier wird eine nicht-theistische, eine a-theistische Religiosität für die Zukunft
als wahrscheinliche Möglichkeit angesprochen, und manche Aspekte der Religi-
onsgeschichte der Folgezeit dürften Nietzsche tatsächlich rechtgegeben haben,
insofern sich eine neue Religiosität auch ohne Gott, jedenfalls ohne theistischen
Gott, zeigt.59
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Nietzsche — obwohl er selbst nicht
zu einem neuen Gottesglauben gelangt ist - die Möglichkeit neuer Religiosität
in Betracht zieht, und zwar einerseits in einer überwiegend nicht-theisrischen
und andererseits in einer pluralen Gestalt. Als Möglichkeit wird eine „polytheisti-
sche" Zukunft erwogen, nämlich viele „neue Götter". In der nachfolgenden Reli-
gionsgeschichte ist tatsächlich eine Pluralität, eine Viel- und Mannigfaltigkeit
neuer Religionen eingetreten — freilich wohl kaum im Sinne über-moralischer
Religiosität60 Der ^Polytheismus* scheint über den Monotheismus zu siegen,
eine ^öttervielfalt* in Gestalt einer Religionspluralität ist hervorgetreten, also
jener Religionstyp, den der Monotheismus überwinden wollte. Freilich bedürfte
es einer weiteren Untersuchung, inwiefern die plurale Religionsentwicklung des
19. und 20. Jahrhunderts mit Nietzsches Redeweise näherhin in Beziehung ge-
bracht werden kann.61
59
VgJ. näherhin Figl, Johann: Das Göttliche in einer gottfcrnen Gesellschaft. In: Concilium 31
(1995). Nr. 2. S. 160-165.
<
VgL Figl Johann: Die Mitte der Religionen. Idee und Praxis univcrsalrcligiöscr Bewegungen.
Darmstadt 1993.
61
Auf diese Aspekte werde ich in einem Vortrag .Religionen der Moderne. Nietzsches Diagnose
ihrer Probleme und Perspektiven' (Nietzsche-Kongreß, Naumburg, August 2000) eingehen.