Sie sind auf Seite 1von 20

JOHANN FIGL

,TOD GOTTES* UND DIE MÖGLICHKEIT


,NEUER GÖTTER*

Biographische und werkgeschichtliche Kontexte bei Nietzsche

Nietzsches Wort vom ,Tod Gottes4 ist wohl eine der meist beachteten Aussa-
gen dieses Philosophen und seiner Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart,
obwohl es sich — schon allein von der Formulierung her — von einer gewöhnli-
chen Leugnung Gottes abhebt; in diesem Wort spricht sich eine Erfahrung aus,
die existenziellen Charakter hat, und verschärft wird diese Aussage durch die
Tatsache, daß sie in direkter Auseinandersetzung eines Denkers mit seiner Her-
kunftsreligion, dem Christentum, entstanden ist. Der vorliegende Beitrag, der
sich erneut Nietzsches berühmtem Wort zuwendet, setzt darum beim biographi-
schen Kontext ein, der Nietzsches persönliches Erleben des christlich verstande-
nen ,Todes Gottes* am Kreuz sowie der Todesthematik allgemein in Kindheit
und Jugend mitgeprägt hat. In einem weiteren Schritt ist grundlegenden Vorfor-
mulierungen bezüglich des Sterbens der Götter werkgeschichtlich nachzugehen,
um drittens Nietzsches Verständnis des ,Todes Gottes* im Kontext zentraler
Nachlaßaufzeichnungen zu FW 125 darzustellen. Die abschließenden Überle-
gungen wenden sich der weiterführenden Frage zu, inwiefern Nietzsche „viele
neue Götter", eine polytheistische* Pluralität nach dem Tod des monotheisti-
schen, christlich-moralischen Gottes wenigstens als Möglichkeit bedacht hat.

/. Nietzsches Begegnung mit der christlich interpretierten Todesthematik in der


Kindheit und Jugend (Biographischer Kontext)

1.1. ,Gott ist tot* als Wort christlicher Frömmigkeit

Die Redeweise vom ,Tod Gottes* bringt nicht allein einen philosophischen
,Gedanken* bzw. eine ihm entsprechende Erfahrung zum Ausdruck, sondern
verknüpft diese mit einer Bestimmung, des Menschen: seinem Sterben. Eine
solche Formulierung hat daher eine existenzielle Dimension, die fast unaus-
weichlich mit biographischen Erfahrungen zusammenhängt. Das Erleben des
,Tod Gottes' und die Möglichkeit »neuer Götter' 83

Todes von Nahestehenden wirkt sich - wenigstens indirekt - auf das allge-
meine Sprechen über den Tod aus.1 Nietzsches Todesverständnis mag deshalb
stark von dem Erleben des frühen Sterbens seines Vaters mitgeprägt gewesen
sein. Von hierher kann verständlich werden, wieso die Todesthematik, bis hin
zu einem Totenkult, der dem verstorbenen Vater galt, schon in frühen Jahren
Nietzsches Erfahrungen prägte.
Vor dem Hintergrund des biographisch einschneidenden frühen Todes des
Vaters mag die Sensibilität gegenüber Leidens- und Todeserfahrungen in der
verbleibenden Familie Nietzsches gewachsen sein. Diesen Auswirkungen nach-
zugehen wäre Aufgabe einer psychologisch orientierten Nietzsche-Interpreta-
tion. Seine Geburtstagsfeier war in der Kindheit stets auch mit dem Gedenken
an den toten Vater verbunden; der Geist des Toten wurde am Tag, der an den
Beginn des Lebens erinnert, beschworen, fast in kultischer Weise. Das Totenge-
denken hatte die Feier der Geburt überschattet.2
Hier soll nur auf die spezifische Weise geachtet werden, in der der junge
Nietzsche die Todesthematik im christlichen Glaubens- und Lebenszusammen-
hang erfahren hat, in dessen Zentrum die Feier des Todes Christi, des Gottes
am Kreuz, steht — die Wurzel der christlichen Gott-ist-tot-Thematik. In ihrem
Kontext wird das Sterben des Menschen zur Sprache gebracht und kultisch der
Toten gedacht.
Von primärem Interesse ist die Frage, ob Nietzsche jene Worte aus einem
Karfreitagslied des 17. Jahrhunderts3 gekannt hat, in denen die christliche ,Gott-
ist-tot'-Thematik ausgesprochen wird:4 „O große Noth/Gott selbst ist todt/am
Kreuz ist er gestorben", und auf die sich Hegel in seinen Vorlesungen über die
Philosophie der Religion bezieht.5 Es handelt sich um die zweite Strophe aus dem
Lied ,O Traurigkeit! O Herzeleid!' Es ist mit guten Gründen anzunehmen, daß
Nietzsche dieser Text bekannt \var; er hat sich mehrfach mit Passionsliedern
befaßt, einige davon abgeschrieben, und dieses Lied ,O Traurigkeit! O Herze-
leid!' gehörte zum zentralen Liedschatz evangelischer Liturgie und wurde dar-

1
Zum allgemeinen hermeneutischen Horizont vgl. meinen Beitrag: Biographie und Atheismus.
In: Ateismo e societa. A cura di A. Babolin. Perugia 1992. S. 201 -235, bes. S. 231 f.
2
Vgl. figl, Johann: Geburtstagsfeier und Totenkult Zur Religiosität des Kindes Nietzsche. In:
Nietzscheforschung 2 (1995). S. 21 -34.
3
Verfaßt von Johann Rist.
4
Diese Thematik reicht historisch noch weiter zurück; vgl. Pluta, Olaf: „Deus est mortuus"
— Nietzsches Parole ,Gott ist tot!* in einer Geschichte der Gesta Romanorutn vom Ende des
H.Jahrhunderts. In: Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance. Wolfenbüttel 1989.
S. 239—270, der auch auf Augustinus* Formulierung: „mortuus est deus" (für Christus am
Kreuz) hinweist (S. 250, Anm. 43). Als Quelle .für Nietzsches Wort »Gott ist tot* konnte der
Text der Gtsta Romaiwnun (bisher) noch nicht nachgewiesen werden (vgl. den Hinweis S. 252).
s
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von
Georg Lasson. Hamburg 1966. Bd. IV. S. 172; dazu: Link, Christoph: Hegels Wort ,Gott selbst
ist todt*. Zürich 1974. Bes. S. 11 und S. 28 f.
84 Johann Figl

über hinaus in der Philosophie - wie man an Hegel sieht -, aber auch in der
Dichtung aufgenommen. Als Beispiel aus dem lebcnsgeschichtlichen Umfeld
Nietzsches sei Ernst Ortlcpp genannt, der das erwähnte Karfrcitagslied in der
Textfassung kannte, die auch Hegel rezipierte; Ortlepp notiert unter einer Fülle
heterogener Aufzeichnungen, Anekdoten und dgl, wie „Variationen V. Phantasie
eines Wahnsinnigen" folgendes: „In dem alten Dresdner Gesangbuch steht:
,O große Noth,
Gott selbst ist todt!"*6

Nietzsche ist wahrscheinlich diesem Text in der gemilderten Formulierung,


die nicht „Gott ist todt" lautet, sondern: „der Herr ist todt" begegnet. Denn in
dem am Naumburger Gymnasium verwendeten Gesangbuch befindet sich die-
ser Text eine Seite nach dem Lied ,O Haupt voll Blut und Wunden'.7 In einer
Sammlung von Abschriften religiöser Lieder, die der Schüler 1857 seiner Mutter
zu Weihnachten geschenkt hat, sind auch zwei'Strophen dieses Liedes von Paul
Gerhardt wiedergegeben.8 In diesem Passionslied ist der eigene Tod im Lichte
der Kreuzestodesthematik interpretiert: „wenn ich den Tod soll leiden, so tritt
du dann herfär", und: „Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod,
und laß mich sehen dein Bilde / in deiner Herzesnoth". Und umgekehrt ist der
Glaubende selbst bereit, beim Kreuze zu stehen und sogar das Leben am Kreuze
für Christus zu geben (6. und 7. Strophe). Die vertrauensvolle Todeserwartung,
die im letzten Vers zum Ausdruck kommt („Wer so stirbt, der stirbt wohl!'*),
durchzieht den ganzen Liedtext; diese ist verbunden mit einer Todes- und
Schmerzensthematik, in der die frühmittelalterliche lateinische Vorlage ,Salve
caput cruentatum* nachzuklingen scheint. Ebenso wird der Tod Christi in diesen
Liedtexten in engem Zusammenhang mit Sünde und Schuld gesehen. Es ist
ein unauflösliches Ineinander des Todes des Sohnes Gottes am Kreuz und der

6
In: Ortlepp, Ernst (Hrsg.): Belustigungen und Reisen eines Todten aus Zickzacks nachgelasse-
nen Schriften. 1834. S. 103 f., zit. nach Bohley, Reiner: Der alte Ortlepp ist übrigens todt In:
Barner, Wilfried, u. a. (Hrsg.): Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag.
München 1983. S. 322-331, bes. S. 326.
7
Der Text im Gesangbuch des Haupt-Vereinsßir christliche Erbattungsscbrißen in den Preußischen Staaten^
das in der Schule in Naumburg nach Mitteilung des Jahresberichts dieser Schule ^vgl. Jahresbe-
richt des Domgymnasiums Naumburg 1857/1858, S. VIII) im Unterricht benutzt .wurde, lautet:
„O große Noth! der Herr ist todt,/am Kreuz ist er gestorben/..."; hier zitiert nach der Ausgabe
Berlin 1854, S. 42 (Nr. 72). In dieser Ausgabe ist den einzelnen Liedern jeweils ein dazu thema-
tisch passendes Bibelwort vorangestellt; bei diesem Lied sind es die Verse 59 und 60 aus Mat-
thäus 27, die mit der Aussage schließen: „(...) und wälzte einen großen Stein vor die Thür des
Grabes, und ging davon". Vgl. dazu Nietzsches Wort: „Die Kirche ist der Stein am Grabe
Gottes: sie will, daß er nicht wieder auferstehe." (Nachlaß 1882/83, KGW VII l, 4[38]).
8
Vgl. Figl, Johann: Vorwort. In: KGW 11, S. IX, Anm. 9; und ebd., Schulmaterialien 1856,2A[1],
S. 347.
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 85

Sinndeutung menschlichen Leidens und Sterbens in Texten gegeben, die Nietz-


sche als Geschenk für seine Mutter ausgewählt hat und die ihm zutiefst vertraut
waren.

4
1.2. Totenfeiern in Schulpfortä

In Schulpfortä stellen zwei besondere rituelle Feiern der Landesschule den


Todesgedanken in den Mittelpunkt. Carl Niese, zu Nietzsches Zeit geistlicher
Inspektor in Schulpforta, teilt in ^Beilagen* zu seinem Buch Das christliche Gymna-
sium* mit, daß in Pforta außer dem Stiftungsfest - das aber auch ein Totenge-
denken war — zwei feierliche Schulakte von religiösem Charakter begangen
wurden: der jCharfreitagsritus' und das ,Ecce*. Am Karfreitag, um drei Uhr nach-
mittags, fand eine Feier zum Todesgedenken Christi statt, welches mit drei Stro-
phen aus dem erwähnten Gesang von Paul Gerhardt schloß, unter denen sich
die zwei Strophen befanden, die Nietzsche schon in Naumburg abgeschrieben
hatte. In der Strophe, die dieser vorangeht, wird der Aspekt der Dankbarkeit
Jesus gegenüber für dessen Todesschmerzen betont: „Ich danke dir von Her-
zen,/o Jesu! liebster Freund;/für deine Todesschmerzen [...]" In Schulpforta
hatte der Karfreitag, der als höchster Feiertag in den evangelischen Kirchen
galt, nochmals eine herausragende Bedeutung, da er zu den drei großen rituell
begangenen Festen dieser Schule gehörte, die allesamt Totenfeiern waren.
Die zweite Feier war das JEccf, in dem der in Pforta Gestorbenen bzw. der
toten ehemaligen Schüler gedacht wurde. Es ist benannt nach dem Anfangswort
des Schlußgesangs, der lautet: „Ecce quomodo moritur justus/et nemo percipit
corde/viri iusti tolluntur, et nemo considerat,/a facie iniquitatis sublatus est
justus,/et erit pace memoria eius/In pace factus est locus eius,/et in Sion habita-
tio eius/et erit in pace memoria eius". Der Text orientiert sich an Jesaja 57,1 f.
und Psalm 76,3.10
In den Versen der alttestamendichen Vorlagen wird das Schicksal des ver-
kannten Gerechten beschrieben („Der Gerechte kommt um/doch niemand
nimmt es sich zu Herzen"; die gerechten Menschen werden dahingerafft, doch
es kümmert sich niemand darum [... ]"), der schließlich zum Frieden und zur
Wohnung auf den Sion gelangt und dessen Gedächtnis in Frieden sein'Wird.
Beschlossen wurde das ,Ecce* mit dem Abschiedsgruß ,Havete carae aniinae'.11

9
Naumburg 1855, S. 114 f£
10
VgL Bohley, Reiner: Die Chrisdichkcit einer Schule. Schulpforta zur Schulzeit Nietzsches (Wis-
senschaftliche Abhandlung zur Qualifikationsprüning). Naumburg o. J. [1974]. Ms. S. 122 mit
Anm. 246.
11
VgL ebd., S. 122.
86 Johann Fig)

Dieser heDenisdsch klingende Zuruf, aber auch der alttestamendiche Hinter-


grund ließen für manche den genuin christlichen Kontext in den Hintergrund
treten, so daß Max Hoffmann in einem »Ecce* 1894 aufforderte, sich durch das
,ßccc quomodo moritur iustus* an das neutestamentliche ,Ecce homo* erinnern
zu lassen.12 Die Nähe zwischen dem für Schulpforta spezifischen traditionellen
Text beim Totengcdenken und dem auf das Christentum bezogenen Wort der
Passionsgeschichte mag wohl auch schon zu einem früheren Zeitpunkt bewußt
geworden sein, entspricht doch die Schilderung des Sterbens des Gerechten im
,Ecce* typologisch dem Leidensschicksal Christi. Wesentlich aber scheint mir die
Tatsache zu sein, daß nach Berichten ehemaliger Schüler diese beeindruckende
Feier jenen, die sie miterlebten, in tiefer Erinnerung blieb." Durch das sehr
feierliche und eindrucksvolle Ecce wurden die Pförtner Schüler daran erinnert,
daß menschliches Leben ein Leben zum Tode ist."13 Ein ,allgemeines Ecce4
fand am Vorabend des Totensonntags statt, ein ,außerordendiches Ecce' am
Toten- oder Begräbnistag eines Schülers; hier wurde eine Gedächtnisrede für
den Toten gehalten. Nietzsche selbst hat etwa ein Dutzend solcher ,Ecce'-Toten-
feiern miterlebt.14
Vor dem Hintergrund feierlicher Würdigungen der Toten in Schulpforta hat
Nietzsche das Begräbnis eines anderen Altpfortensers erlebt, nämlich des „hei-
matlosen" Dichters Ernst Ortlepp. Über ihn schreibt Nietzsche an Wilhelm
Pinder: „Der alte Ortlepp ist übrigens todt", und er teilt mit, daß er „früh
morgends bei düsterem Regen begraben (wurde); vier Arbeiter trugen den rohen
Sarg; Professor Keil folgte mit einem Regenschirm. Kein Geistlicher."15 Gerade
die Absenz der kirchlichen Repräsentanten, das Nicht-Feierliche, ja die darin
dokumentierte Mißachtung eines als problematisch beurteilten Dichters und
auch der Tragik seines Todes - er fiel in der Nähe von Pforta in einen Graben
und brach sich das Genick — hebt Nietzsche in seiner kurzen Mitteilung hervor;
er hat wohl die allgemeine Begeisterung bzw. Trauer der Pfortenser Schüler
damals geteilt; über deren Verhältnis zu Ortlepp wird berichtet: „Die Alumnen
vergötterten ihn auch geradezu [... ]"16, Die Art von Ortlepps Begräbnis ist

12
Vgl. ebd., S. 123. Inzwischen (1889) war dieses Wort zum Titel eines der letzten Bücher Nietz-
sches geworden.
13
Vgi. ebd., S. 122.
14
Vgl. ebd., S. 121 und S. 123 mit Anm. 249. - Auch für Nietzsche gab es ein solches Gedenken:
Am 25. 11. 1900 wurde beim allgemeinen ,Ecce* seines Todes gedacht; bei der Beerdigung am
28. 8. 1900 schlössen Carl von Gersdorffund Max Heine, beides ehemalige Pförtner Schüler,
mit dem Abschiedsgruß des ,E<xe*.
15
Brief vom 4. Juli 1864, KSB l, Nr. 432.
16
Zit. nach Bohley: Der alte Ortlepp ist todt, a. a. O., S. 172; vgl. dazu Schmidt, Hermann Josef:
Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend. 2. Teilband 1862-1864.
Berlin-Aschaffenburg 1994, S. 708, Anm. 73, der als Quelle u. a. den oben erwähnten Pfortenser
Prof. Max Hoffmann hervorhebt, der das JEcce* neu deutete.
,Tpd Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 87

auch deshalb über Jahrzehnte den ehemaligen Pförtner Schülern eingeprägt ge-
blieben.17
Wie weit eine nähere Beziehung zwischen dem alten Ordepp und dem Ju-
gendlichen Nietzsche gegeben war, mag detaillierten Studien überlassen blei-
ben.18 Die Vermutung bzw. Annahme, daß Ortlepp persönlich sich in das
»Stammbuch' Nietzsches eingetragen hat,19 kann durch einen Vergleich der
Schrift Ordepps aus dem Jahr 1858 in seinen handgeschriebenen Ennnenmgen
an Schulpforta von einem alten Pfortenser2·® mit der Schrift im Album (Seite 61 —66)
nicht bestätigt werden; die Verschiedenheiten der Schriften sind, obwohl sie
nachweislich aus demselben Zeitraum (Ende der fünfziger bzw. Anfang der
sechziger Jahre) stammen, zu groß, daß hier in beiden Fällen derselbe Schreiber
angenommen werden könnte.21
Die gegebene knappe Exposition der frühen biographischen Begegnungen
Nietzsches mit den Todesthematisierungen zeigt im Hinblick auf sein späteres
bekanntes Wort ,Gott ist tot', daß Nietzsche den christlichen Kontext dieses Wor-
tes in einprägsamen Formen begegnet ist. Die religiöse Mitte, das Sterben des
Sohnes Gottes am Kreuz, ist ihm in Liedgut und Kult der Passionszeit und
besonders des Karfreitags vertraut. Das Gedächtnis der Toten, angefangen von
der Erinnerung an den verstorbenen Vater bis zu den ,Ecce'-Feiern in Schul-
pforta, wird rituell begangen. Beide Formen des Gedenkens — an den Tod
Gottes am Kreuz und an den Tod nahestehender Menschen - werden in enger
Verknüpfung erlebt; vom Leiden Christi her wird das Leiden und Sterben des
Menschen empfunden und gedeutet. Nietzsche hat eine Form des Christentums
erlebt, in der dem Totenkult ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird. Die zen-
tralen Feiern waren - jedenfalls in Schulpforta — Totenfeiern. Falls Nietzsche
den Gott dieser so erfahrenen Religion für ,tot' erklärt hat, meint er dann nicht
eine Religionsform, die das Leben vorwiegend im Horizont des Sterbens deutet,
eine Spiritualität, die das Diesseits unter der Perspektive des Leidens betrachtet?

17
Vgl. den Brief von Heinrich Wendt, dem Mitschüler Nietzsches, an Franziska Nietzsche: BAB
l, S. 431; vgl. dazu Schmidt, Nietzsche absconditus, a. a. O., S. 703.
18
Reiner Bohley hat darauf hingewiesen, daß Ordepp eine „Vorliebe vor allem für die Dichter
(hatte), die Nietzsche in Pforta liest" (vgl. weitere Parallelen Bohley: Der alte Ordepp ist todt,
a, a. O., S. 171). VgL die Hinweise auf die im Hinbück auf die Tod-Gottes-Thematik wichtigen
Gedichte Nietzsches ,Vor dem Cruzifix* und »Gethsemane und Golgotha* aus der Pfortenser
Zeit (BAW 2, S. 186 ff. und 400 ff.), die Werner ROSS im Zusammenhang mit Ordepp nennt:
ROSS, Werner: Der ängsdiche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. Stuttgart 1980. S. 73 f.
19
Vgl. zu dieser Hypothese bzw. These Schmidt: Nietzsche absconditus, a. a. O., S. 694 ff., bes.
S. 700 f£, S. 725, S. 731, S. 735.
* Ms., 51 Seiten, Bibliothek Schulpforta, Sign. B. 18. 11.
21
Vgl. zur begründeten Zuordnung der Einträge zum Mitschüler Nietzsches, Georg Hermann
Stoeckert, auf der Basis eines Schriftenvergleichs: Hödl, Hans Gerald: Der alte Ortlepp war es
übrigens nicht... Philologie för Spurcnleser. In: Nietzsche-Studien 27 (1998). S. 440-445, bes.
S 443.
88 Johann Fitf

Die emotional deckenden und kultisch umrahmten Totenfeiern haben wohJ


Nietzsche gefühlsmäßig auch betroffen. Die in der Jugend geprägte emotionale
Erfahrung bildet so einen frühen Zugang zum Bcdeutungskontext des Sterbens
überhaupt, zugleich auch des ,Todes Gottes* im religiösen Sinn. Aber ist - über
die emotionale Betroffenheit hinausgehend — anzunehmen, daß die cfjristliche
Fortwütrung dieses Geschehens die Vorlage für sein genuines Verständnis vom
,Tod Gottes* war, wie es bei Hegel bzw. modifiziert bei Jean Paul der Fall war?
Eine direkte Verbindung der Formulierung der christlichen Glaubensaussage zur
Verkündigung des ,Tollen Menschen* in der Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus
125) läßt sich damit nicht aufzeigen. Hier ist es vielmehr notwendig, andere
Textvorlagen zu suchen, sich späteren Auseinandersetzungen Nietzsches mit
diesem Thema zuzuwenden. Ein entscheidender Zeitpunkt dafür scheint mir der
Beginn seiner Basler Professorentätigkeit zu sein, in der sich eine intensivierte
Beschäftigung mit der Thematik des Todes Gottes oder von Göttern zeigt, der
Nietzsche insbesondere in philologischen und religionswissenschaftlichen, aber
auch religionsphilosophischen Werken begegnet, also im außertheologischen
und nicht-christlichen Kontext.

2. Der polytheistische Kontext der Rede vom >Tod Gottes' (Kultur-


re^epttonsgeschichtliche Aspekte)

2.1. Religionswissenschaftliche und religionsphilosophische Exzerpte


und Notizen

Nietzsche ist Formulierungen, in denen vom Sterben der Götter gesprochen


wird, in seiner Lektüre mehrfach begegnet. Bereits im Nachlaß Herbst 1869
finden sich einige markante Notizen Nietzsches, die seine Beschäftigung mit
diesem Thema aufzeigen. Der Gedanke des Zuendegehens der Götter bzw. der
Religionen als solcher ist in diesem Zeitraum von Nietzsche vielfach ausgespro-
chen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann.22 In weiteren
Nachlaßaufzeichnungen von 1873/74 hat sich Nietzsche stark mit dem Sterben
der Religion, insbesondere des Christentums durch die kritische Historie, ausein-
andergesetzt.23
Hier soll aber der Blick auf diejenigen Formulierungen aus der frühen Basler
Zeit geworfen werden, in denen sich Parallelen zu denen zeigen, die* in späteren
Texten Nietzsches zu dieser Thematik zu finden sind.
22
Vgl. z. B. Nachlaß 1869, KGWIII 3,l [3] und 1[59]: „Die Zeit des Euripides ist die der Götter-
dämmerung: er hat ein Gefühl davon." Vgl. Dionysische Weltanschauung 2, KGW 2, S. 58.
23
Vgl. dazu die SteUenangaben bei Figl, Johann: Die Religion als Kulturphänomen. Gegenstand
der Kritik Nietzsches. In: Biser, Eugen: Besieger Gottes und des Nichts als fortdauernde Provo-
kation. Düsseldorf 1982. Bes. S. 67 ff.
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 89

Folgende Bedeutungszusammenhänge sind hier von besonderem Interesse:


1. Die schopenhauerianische Formulierung vom Zerfallen in die Individuali-
täten: „Der absterbende Wille (der sterbende Gott) zerbröckelt in die Indivi-
dualitäten." (Nachlaß 1869/70, KGW HI 3, 3[51])
2. Das Exzerpt von 1870 aus dem Buch von Geprg Curtius über die griechi-
sche Mythologie, in dem Zonnyxos, das Dionysos (!) im lesbisch-äolischen
Dialekt entspricht, erklärt wird: „Zonnyxos ist ,der todte Zeus' oder der
„tödtende Zeus" (...)" (Nachlaß 1870, KGW III 3, 3[82])2.4
3. Ebenfalls im Wintersemester 1870/71 liest Nietzsche die religionswissen-
schaftlichen Essays von Max Müller (Band l und 2). Im Anschluß an die Lektüre
des Beitrags Der semitische Monotheismus notiert er u. a. : „Monotheismus als ein
Minimum von poetischer Welterklärung [...] Das Ende der Religion ist da,
nachdem man die Nationalgötter eskamotiert hat" (Nachlaß 1870/71, KGW
3, 5[30])25
Nietzsche jedoch sieht in der Eliminierung der Nationalgötter ein Problem:
„Unsere Nationalgötter und unsere Gefühle dafür haben einen Wechselbalg da-
für bekommen [...]"; nämlich den monotheistischen Gott. Auch auf die dadurch
bewirkte Quälerei für die Kunst weist Nietzsche hin. Davon werde sich „das
deutsche Wesen" frei machen (ebd.). Der Überwindung des Polytheismus durch
den Monotheismus gegenüber bleibt Nietzsche auch deshalb skeptisch, weil für
ihn eine streng einheitliche, monotheistische' Perspektive gar nicht möglich ist,
wie er angesichts der Lektüre Max Müllers notiert: „Der Glaube an einen Geist
ist eine Einbildung: sofort anthropomorphische, ja polytheistische Stellvertre-
ter." (Nachlaß 1870/71, KGW III 3, 5[31], vgl. 5[39]).
Etwas später kommt er in einem Exzerpt aus dem Beitrag Buddhistische Pilger
auf den Tod der Götter in der germanischen Mythologie zu sprechen, und
zwar im Zusammenhang mit der Überlegung, daß die Gottesidee — als höchste
Vollkommenheit — die Möglichkeit vieler Götter ausschloß. In der „teuton-
ischen Mythologie" habe man „die entsetzlichste Lösung des Problems": den
Tod der Heroen und darüberhinaus den Tod der Götter. Nietzsche zitiert:26

24
Nietzsche hat das Werk von Curtius, Georg: Grundzüge der griechischen Etymologie. 3. Auf-
lage. Leipzig 1869, aus der Basler Universitätsbibliothek am 2. Februar und 4. Mai 1870 .sowie
auch 1871 entlehnt: vgL KSA 14, S. 532 £, und: Cresccnzi, Luca: Verzeichnis der von Nietzsche
aus der Universitätsbibliothek Basel endiehenen Bücher (1869-1879). In: Nietzsche-Studien 23
(1994). S. 388-442. Bes. S. 396 und S. 404. Nietzsche hat sich mit dieser Thematik in der
Vorlesung Enzyklopädie der klassischen Philologe im Sommersemester 1871 befaßt: „In den Diony-
sischen Mythen waren alle Götter sterblich [...] Zeus tödtet sie [seil, die Titanen)" (KGW U 3,
S. 414); vgl. ferner in einem anderen Kontext KGW II 5, S. 452, wo Nietzsche die „sterblichen
Götter" im Unterschied zu den olympisch-unsterblichen nennt.
25
Vgl. KSA 14, S. 534 f. Die beiden ersten Bände von Max Müllers Essays. Beiträge sytrvergleichenden
Religionswissenschaft sind in Leipzig 1869 erschienen; zum Ausdruck ^{inimunf\ vgl. Bd. 1. S. 304.
»· Vgl. a. a. ()., Bd. l, S. 211 f., ferner Bd. 2, S. 209.
90 Johann Fig!

„"Alle Götter müssen sterben'*27 die urdeutsche Vorstellung, die die Wissen-
schaft mit höchster Kraft bis jetzt durchführt. „Der Tod Sigurds, des Abkömm-
lings Odins, konnte den Tod ßaldcrs, des Sohns des Odin, nicht abwenden: auf
Balders Tod folgte bald der Tod Odins und der andren Götter.",, (Nachlaß
1870/71, KGW III 3, 5(57|)
4. I7Jne religionsphilosophische, auf das Christentum zu beziehende Aussage
treffen wir im Nachlaß zur Zeit der Ausarbeitung von HL, in einem Exzerpt
aus Htttues Dialogen über natürliche Religon^ einem Werk, das sich in Nietzsches
Bibliothek befindet: es ist die Stelle, an der von einer „der Last der Jahre unterlie-
genden Gottheit" und von „dem Tode derselben" gesprochen wird (Nachlaß
1873, KGW III 4, 29[86]). Hume geht dabei aus von der gebrechlichen und
unvollkommenen Welt und stellt die Überlegung an, ob „sie vielleicht nur das
Werk irgend einer abhängigen Untergottheit und der Gegenstand des Hohnge-
lächters höherer Wesen [ist]" (ebd.),28 woraus eine dem Polytheismus nachge-
formte Vorstellungswelt sichtbar wird; doch es ist ebenso klar, daß damit eine
Konfrontation mit dem Christentum, besonders mit dem christlichen Schöpfer-
gott angesichts der unvollkommenen Welt, gemeint ist.

2.2. Kritik und polytheistische Einordnung des christlichen


Monotheismus

Wenn man die ausgewählten Stellen über das Sterben eines Gottes im Nach-
laß der Jahre 1869/70 bis 1873 überblickt, so muß einerseits gesagt werden, daß
jedes dieser Zitate einen jeweils spe-qfischen Sinn ergibt; dies hängt auch mit dem
Faktum zusammen, daß es sich stets um die Wiedergabe anderer Autoren handelt*
Nietzsche rezipiert diese Formulierungen, gelegentlich wörtlich, von den Vorla-
gen, aus denen er exzerpiert, besonders des Sprach- und Religionswissenschaft-
lers Max Müller. Es ist also zuerst die rezeptive Struktur der zitierten Stellen
festzustellen.
Andererseits jedoch ist es auffällig, daß Nietzsche einige Exzerpte sich in
einem neuen Sinn zu eigen macht, sie kommentiert und eigenständig verschie-
dene Kontexte verknüpft, z. B. wenn er auf Müllers Aussage über den Tod der

27
Daran anknüpfend sagt Nietzsche in seinem Entwurf zu einer Tragödie Empedokks^ der sich im
selben Notizheft befindet: „Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben."
(Nachlaß 1870/71, KGW III3,5[115)). In diesem - nicht ausgeführten - EmpeMs-Entwuif
kommt auch die Formulierung vor: „„Der große Pan ist todt"." (5[116]) VgL auch Nachlaß
1870/72, KGW 111 3, 8[30]-[32] im Zusammenhang mit dem „Pan am Aetna" den „Todesplan"
und 8[37]: „Tod des Pan".
28
Im Za III werden sich die Götter selbst zu Tode lachen - angesichts des Wortes,^ daß nur ein
Gott ist (Von den Abtrünnigen 2, KGW VI l, S. 126).
,Tod Gottes' und die Möglichkeit ,neuer Götter* 91

germanischen Götter im Zusammenhang mit dem ,Tod des Pan* rekurriert.


Darin kann eine Intention erblickt werden, die Nietzsches eigene Sicht des Got-
tesproblems darstellt, die in dem Satz gipfelt, daß er an das urgermanische Wort
glaube, daß „alle Götter sterben (müssen)". Es dürfte evident sein, daß Nietz-
sche in dieser Aussage den christlichen Gott mitmeintj was nicht zuletzt deutlich
wird aus dem Verweis darauf, daß die Wissenschaß diese' altgermanische Vorstel-
lung konsequent in die Realität umsetzt. An diesem Punkt zeigt sich ein spezifi-
scher Aspekt der Inanspruchnahme der von Nietzsche rezipierten Textpassagen:
während diese alle im originären Kontext sich auf eine polytheistische Götterwelt
der Vergangenheit — griechische, germanische oder auch indische — beziehen,
verfolgt Nietzsche die Tendenz, den jüdisch-christlichen Monotheismus für tot
zu erklären. Besonders deutlich wird dies an dem Text über den „Monotheismus
als Minimum von poetischer Welterklärung".
Die Gründe, die Nietzsche für die Negation spezifisch des Monotheismus
nennt, können mit den Stichworten mangelnder Poesie und Unterdrückung der
Kunst erfaßt werden; durch eine monotheistische Konzeption werden Äußerun-
gen des Lebens, die in der Kunst ihren Ausdruck finden,29 eingeengt. Diese
Motive fuhren zum Sterben des einen Gottes; abgesehen davon ist eine Einheits-
konzeption fiktiv; sie tendiert unausweichlich zu polytheistisch-anthropomor-
phen Alternativen.
Nietzsche verfolgt mit dem Rückgriff auf die Aussagen Müllers über die
Überwindung des germanischen bzw. indischen Polytheismus, eine Tendenz, die
im Gegensatz zu jenen des - trotz aller liberalen Wissenschaftlichkeit - christ-
lich denkenden Religionswissenschaftlers stehen. Für Max Müller ist das Sterben
der Götter deshalb unvermeidlich, weil schon von der Idee Gottes als einer
höchsten Vollkommenheit die Möglichkeit einer „Mehrheit der Götter" ausge-
schlossen sei, und da diese daher „nothwendigerweise zur Vernichtung derselben
fuhren mußte, hing ihnen auch der Makel der Sterblichkeit an"30. Nietzsche
hingegen, für den eine solche Idee Gottes obsolet ist, sagt die Sterblichkeit
gerade auch vom „semitischen Monotheismus" aus, der für den deutsch-engli-
schen Religionswissenschaftler die Überwindung dieses „Makels" war. Nietzsche
ordnet damit den christlichen Gott in die Reihe der sterblichen Götter ein. Die
Gegenüberstellung der ,Mehrheit der Götter* und der Einzigkeit Gottes wird
aufgelöst: auch der einzige Gott ist nunmehr nur ein Gott neben anderen; es, ist
eine kontinuierliche Linie vom Polytheismus zum Monotheismus und umgekehrt
gezogen.31
29
VgL Figl, Johann: Kultur, Kunst und Religion. Transkulturelle Perspektiven angesicht des Bud-
dhismus-Verständnisses in Nietzsches Geburt der Tragödie. In: Zen Buddhism Today. Annual Re-
port of the Kyoto Zen Symposion 9 (1992). Kyoto 1992. S. 46-60.
* Müller: Essays, a. a. O., Bd. 1 M S. 210 f.
31
Auf diese Möglichkeit bzw. Gefahr hat Müller in dem Aufsatz ,Der semitische Monotheismus*
in einem religionsgcschichtlichen Kontext hingewiesen, wenn er - gegen Renan - festhält:
92 Johann Figl

Im Hinblick auf die etwa ein Jahrzehnt später antreffbare Formulierung ,Gott
ist tot* bzw. die Rede vom ,Tbcl Gottes* ist ferner hervorzuheben: es gibt ,Vorfor-
mulicrungen', die jener des Tollen Menschen (FW 125) sehr nahe kommen -
jedenfalls in der grammatikalisch-textlichen Struktur -, wie ,der todte Zeus*,
Jod des Pan', ,Tod Odins und der andren Götter'; der widersprüchliche Tatbe-
stand, daß in diesen Exzerpten ein unleugbarer polytheistischer Kontext gege-
ben ist, während sich die „klassische" Gott-is t-tot-Verkündigung primär auf den
jüdisch-christlichen Monotheismus bezieht, wird dadurch überbrückt, daß der
eine Gott in engem Zusammenhang mit den vielen Göttern gesehen wird. Vor
diesem Hintergrund wird die zugleich polytheistische und monotheistische Re-
deweise des ,Tollen Menschen* plausibel, in der es heißt: „- auch Götter verwe-
sen! Gott ist todt! Gott bleibt todt!" (FW 125). Der christliche Gott ist nun nur
einer der Götter, die „verwesen".
In Auseinandersetzung mit den religionswissenschaftlichen Thesen Max Mül-
lers kommt Nietzsche zu Überlegungen, die schließlich auch im christlichen
Gott nur einen der Götter erblicken - und das heißt, dessen Sterblichkeit kon-
statieren.

). jTod Gottes1 ah zentrales Motiv der Philosophie Nietzsches

3.1. Weitere Auseinandersetzung mit dem Sterben des Christentums bis


zur jFröhlichen Wissenschaft'

Nietzsche hat sich auch in seinen veröffentlichten Werken vor FW mit dem
Sterben der Religionen befaßt. Hier kann nur selektiv auf einige Texte hingewie-
sen werden. Zu Beginn des eigens dem religiösen Leben gewidmeten Kapitels von
MA I konstatiert er das Abnehmen der „Herrschaft der Religionen und aller
Kunst der Narkose" (MA 1108); zu den Inhalten der christlichen Religion meint
er, „dies Alles weht uns schauerlich, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit
[an]" (MA 1113). Der Gottesbeweis des consensus gentium und hominum gilt
ihm nur als eine „Narrheit" (MA I 110) - viele andere Stellen zeigen ebenso
Nietzsches Überzeugung vom Zuendegehen der Religionen, vor allem des Chri-
stentums. Ähnliches gilt für MA II.32 Es sei lediglich auf den - im-Zusammen- -
hang mit der Rede vom Tod Gottes oft zitierten - Text ftie Gefangenett hinge-

„Die ursprüngliche Erkenntnis (seil. Gottes; J. F.) ist weder monotheistisch, noch polytheistisch,
sondern kann beides werden, je nach dem Ausdruck, den der Mensch derselben durch die
Sprache giebt." Essays, Bd, l, S. 306; vgl. S. 320f.
32
Z. B. VM 92-98, KGW IV 3, S. 50-55.
,Tod Gottes' und die Möglichkeit »neuer Götter* 93

wiesen: der „Letzte der Gefangenen (sagte) [...] „der Gefängniswärter ist eben
plötzlich gestorben" "33.
Im darauffolgenden Aphorismen-Werk Morgenröthe wkd diese Linie noch aus-
drucksstärker artikuliert: es wird gefragt, ob „mit dem Ende der Religionen" das
durch das Christentum bewirkte Ergebnis menschlicher Schönheit und Feinheit
„auch zu Grabe getragen (wäre)?" (M 60). Nietzsche sieht sich „am Sterbe-
bette des Christenthums", wie er M 92 betitelt34 Ebenso eindeutig ist die
Gottesfrage erörtert: die wissenschaftliche Leugnung Gottes (M 93) und die
historische Widerlegung als die endgültige (M 95) werden behandelt, und
schließlich heißt es — mit Blick auf das alte Indien und Buddha: „und man warf
die Götter bei Seite, — was Europa auch einmal thun muss!"; die Frage ist, was
dann kommt, wenn „die Moral im alten Sinne gestorben sein wkd" (M 96).
Die Sterbe- und Todesmetaphorik in bezug auf die Religion und Gott bzw.
der auf ihn gegründeten Moral ist also in Nietzsches Werken der Jahre 1878 bis
1881, in der Zeit vor FW, bereits mannigfach anzutreffen. Die Verkündigung
des ,Todes Gottes* aber, später zu einer der wirkungsvollsten Thesen bzw. For-
mulierungen Nietzsches geworden, findet in der Parabel ,Der tolle Mensch* (FW
125) statt, die mit dem berühmten Satz beginnt: „Habt ihr nicht von jenem
tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf
den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!"" Das
Zentrum dieses Textes ist wohl in der Aussage „Gott ist todt! Gott bleibt todt!"
zu sehen.
Die Erzählung von der Tötung Gottes ist zweifelsohne eine der beeindruk-
kendsten Stellen in Nietzsches Werk, und zwar sowohl in ihrem Aussagegehalt
wie auch in ihrer sprachlichen Formulierung, die gerade in diesem Fall als unzer-
trennlich betrachtet werden müssen. So sind sowohl der Text als auch dessen
Wirkungsgeschichte von bleibender Bedeutung.
Man wird sich aber die wichtige Frage stellen müssen, wieso gerade dieses
Wort bzw. Bild vom ,Tod Gottes* in den Rang eines genuinen Nietzsche-Wortes
gelangen konnte, warum es diese zentrale Bedeutung in seinem Werk erhielt, in
dem sich, wie wir gesehen haben, in den Jahren zuvor bereits vielfältige ähnliche
Formulierungen im atheistischen Kontext auffinden lassen.
Ohne diese Frage erschöpfend beantworten zu können, vermute ich, daß vor
allem folgende Gründe zu nennen sind:
- Inhaltlich verändert sich die Aussageintention, wenn das Sterben bzw. der
Tod direkt von dem einen Gott ausgesagt wird. Die aus dem polytheistischen
Kontext, in dem Götter vergehen und entstehen, übernommene und dort text-
lich-strukturell „vorformulierte" Rede, wie z. B. „der todte Zeus", gewinnt einen
13
MA II WS 84; vgl. Biser: ,Gott ist tot*. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins.
München 1962. S. 54.
34
VgJ. ferner M 114; 119 (!); 123; 125; 130 und 131, 135.
94 Johann F;igl

radikalen Hnrschcidungscharakter: was kommt, wenn der monotheistische —


derttn^iffGott - „totu ist?
- Daxu kommt entscheidend der kontcxtuclk Aspekt: Ich vermute, daß die
Vertiefung der Symbolik und Aussagekraft dieses Wortes stark damit zusammen-
hängt, daß Nietzsche - in seinen Augen - zu völlig neuen und 'Umstürzenden
Erfahrungen und ,Gedanken* gelangt ist. Die Wirkmächtigkeit dieses Wortes
scheint sich auch daraus zu ergeben, daß es nun in einem engen Zusammenhang
mit anderen Schlüsselbegriffcn Nietzsches zu sehen und zu interpretieren ist:
nämlich mit dem zentralen Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen und
jener Gestalt, die diese neue Erfahrung verkündigen wird - Zarathustra; ihm
hat Nietzsche ursprünglich die Verkündigung, daß Gott tot ist, in den Mund
gelegt. Nietzsche hat erst vor der Veröffentlichung von FW, Zarathustra erset-
zend, den „tollen Menschen" zum Protagonisten der Parabel gemacht35
- Die aus der Nähe zur poetisch-symbolischen Sprache des ,Zarathustra*
resultierende mm Sprachgtstalt ist als weiteres Motiv zu nennen; der bekenntnis-
hafte „Verkündigungsstil" gibt den Aussagen über den Tod Gottes eine intensi-
vierte Aussagekraft.
- Damit ist die biographische Konnotation angesprochen: nicht nur um ein —
neutral zu schilderndes — Kulturereignis geht es, sondern um die zugleich exi-
stenzielle Erfahrung eines Verlustes, die öffentlich vorgetragen wird.
Um den konfextuellen Aspekt der Tod-Gottes-Formulierungen in FW aufzu-
zeigen, soll in den folgenden Überlegungen auf das Umfeld jener Vorstufen und
Notizen eingegangen werden, die schließlich in diesem Werk ihre endgültige
Gestalt gefunden haben. Außer FW 125 ist vor allem FW 108, JNette Kämpft, zu
berücksichtigen, in dem die Thematik im Zusammenhang mit dem Schatten
Buddhas in der Höhle36 folgende beeindruckende Schilderung findet: „Gott ist
todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende
Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. — Und wir — wir müssen
auch noch seinen Schatten besiegen!"37

3.2. ,Ewige Wiederkehr', ,Zarathustra' und ,Tod Gottes* - kontextuelle


Bezüge im Nachlaß

Die Vorstufen und frühen Formulierungen der beiden Aphorismen 108 und
125 fuhren zurück in den Herbst 1881. Im Notizheft V 7 finden wir ein Frag-
35
Darauf hat zuerst Eugen Biser hingewiesen: Die Proklamation von Gottes Tod. In: Hochland
56 (l963). S. 137-152.
36
Vgl. dazu unten Anm. 48.
37
Der Aphorismus 343 ,Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat', der ebenfalls ein Schlüsseltext
zu »Gott ist todt* in FW ist, wird hier nicht weiter textgeschichtlich berücksichtigt, da er erst -
wie das gesamte fünfte Buch - in die 2. Auflage (1887) des Werkes aufgenommen* worden ist.
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 95

ment, das als eine frühe Teilformulierung des Aphorismus 125 der Fröhlichen
Wissetjscbafp* zu lesen ist: „Gott ist todt - wer hat ihn denn getödtet? [...]"
(Nachlaß 1881, KGW V 2, 12[77]).39
Doch sind in diesem Heft aus der Zeit nach dem Silser Aufenthalt im Jahre
188l40 auch noch frühere Einträge, die sich auf den Tod Gottes beziehen, zu
entdecken. Dort finden sich zu Beginn, wohl noch Vor dem 26. Oktober 1881
- dieses Datum ist in 12[44] angegeben -, folgende einschlägigen Aufzeich-
nungen: „Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und
einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tra-
gen" und: „Das erste Buch als Grabrede auf den Tod Gottes. -" (Nachlaß 1881,
KGW V 2, 12p]; [21]). Der Tod Gottes ist hier sogar als Thema eines eigenen
,Buches* in einem geplanten Werk vorgesehen, und die Größe dieses Ereignisses
erfordert einen „fortwährenden Sieg über uns" — es ist also Selbstüberwin-
dung verlangt; hier klingt schon der Gedanke vom Atheismus als „Sieg" durch
„Selbstübenvindung" der christlichen Moralität an.41
In einem anderen Notizheft mit Aufzeichnungen aus der Genueser Zeit des
Herbstes 1881 finden wir die Formulierung „Gott, den wir todt gesagt haben"
im Zusammenhang mit der Erzählung von Buddhas Schatten in der Höhle,42
und weitere unmittelbare Vorentwürfe43 zu dem berühmten Text FW 125. An
den zitierten Stellen ist vielfach auch die Nähe zu Zarathustra-Fragmenten gege-
ben. Mehrfach wird Zarathustra direkt genannt,44 und in einem der Fragmente
kommt der Zusammenhang mit der Gott-ist-tot-Parabel zum Ausdruck „Hier
schwieg Zarathustra von Neuem und versank in tiefes Nachsinnen. Endlich
sagte er wie träumend: ,Oder hat er sich selber getötet? Waren wk nur seine
Hände?'" (Nachlaß 1881, KGW V 2, 12[157]).
Es ist nun interessant zu sehen, daß einige Wochen vor diesen charakteristi-
schen Tod-Gottes'-Notizen in Nietzsches Aufzeichnungen erstmals der Name
,Zarathustra* sowie der Gedanke der ,Ewigen Wiederkehr* nachweisbar ist.
Nietzsche selbst hat bekanntlich den Zeitraum und Ort der ,Inspirationc seines

38
Vgl. KSA 14, S. 649.
39
VgL auch Nachlaß 1881, KGW V 2, 12[193]: „Irren wir nicht im oeden AU umher?". Im
Fragment 12[79] wird Zarathustra genannt: „Ich habe eine Herkunft - [...] Es ist mir nicht
fremd, daß Zarathustra —". Vgl. 12(17] (dazu KSA 14, S. 648).
40
Nietzsche hat es in Genua verwendet, wohin er im Anschluß an den Aufenthalt in Sils-Niaria
am 23./24. September 1881 gereist und wo er bis Ende März 1882 geblieben ist Vgl. KSB 6,
S. 132 ff.
41
VgJ. FW 357 mit dem Bezug Nietzsches darauf in GM III 28.
42
Nachlaß 1881, KGW V 2, 14[14] (vgl FW 108). Es gibt zudem eine Reihe von Vorstufen-
Texten zu FW 125 und 108, die nicht in KGW aufgenommen sind; vgl. dazu KSA 14, S. 256 f.
bzw. 253; 653 f.
43
Vgl. bes. Nachlaß 1881, KGW V 2,14J25] und [26].
44
Vgl. Nachlaß 1881, KGW V 2, 12(112]; [128]; [131]; [136]. Vgl. dazu Montmari, Mazzino:
Nietzsche lesen. Berlin, New York 1982. S. 85-87.
96 Johann Figl

»Schwcrgcwicht'-Gcdiinkcns in einer berühmten Aufzeichnung, auf die er auch


im /JA* ttotno Beäug nimmt,'15 niedergeschrieben, nämlich Anfang August 1881
in Sils-Maria (vgl. Nachlaß 1881, KGW V 2,11[141]). Am Ende dieses Monats
begegnet uns der Name Zarathustras unter der Überschrift für ein geplantes
Werk Mittag und Ewigkeit, mit dem Untertitel »Fingerzeige %< einem neuen Libetffy^.
ebda., 11(195]), erstmals im ersichtlichen Kontext von Nietzsches späterem
Werk Also sprach Zamthustra^ Hier treffen wir also auch erstmals auf jene Ge-
stalt, die in den ersten Textfassungen zum Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissen-
schaft den ,Tod Gottes* verkündet Der Text, in dem — wie Montinari schreibt
- zum ersten Mal der Name Zarathustras in dieser spezifischen Bedeutung im
Nachlaß auftaucht, ist genau datiert Sils-Maria, 26. August 188l.47
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß drei zentrale Denkmotive
Nietzsches im Spätsommer/Herbst 1881 fast gleichzeitig in spezifischer Gestalt
hervortreten, 2. T. erstmals. Die näheren Zusammenhänge bedürfen einer eige-
nen und umfassenderen Untersuchung, insbesondere auch die Frage nach den
weiteren Quellen (über die genannten hinausgehend) für die Rede vom ,Tod
Gottes* bei Nietzsche gerade im Herbst 188l.48 Dieser textgeschichtliche Hin-
tergrund müßte m. E. bei der Interpretation des Wortes ,Gott-ist-tot* in der
FW Berücksichtigung finden, gerade auch der Zusammenhang mit der ,Ewigen
Wiederkehr*.
Im veröffentlichten Werk sind die im Nachlaß deutlich ersichtlichen Bezüge
kaum zu erkennen, da Nietzsche sie selbst hintangehalten hat - was freilich

45
Vgl. EH Za l, KGW VI 3, S. 333.
46
Der Text, der dann folgt, bildet seinem Inhalt nach eine frühe Fassung für die Einleitung von
Also sprach Zarathustra, und er lautet in der Aufzeichnung vom August 1881: „Zarathustra, gebo-
ren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und
verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta." (Nachlaß Herbst
1881, KGW V 2, 11 [195]; vgl. Za Vorrede 1; FW 343.
47
Vgl. Montinari: Nietzsche lesen, a. a. O., S. 81. Während Montinari 1982 noch sagte, daß „die
genaue Quelle, aus der Nietzsche diesen Namen übernahm, auch heute noch als unbekannt
gelten (muß)", kann inzwischen dank überzeugender Quellenstudien dieses Problem als gelöst
gelten: Paolo D'Iorio teilte diese sehr wichtige Stelle aus Hellwald, Friedrich Anton von: Kultur-
geschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Augsburg 1875. S. 128, mit.
Siehe D'Iorio, Paolo: Beiträge zur Quellenforschung. In: Nietzsche-Studien 22 (1993). S. 395.
Nietzsche hatte sich dieses Werk von Overbeck nach Sils-Maria schicken lassen. Vgl. KSA 15,
S. 117.
48
Möglicherweise ist Nietzsche den diesbezüglichen, oben zitierten Aussagen in Max Müllers
Aufsatz Buddhistische Pr/gerim Herbst 1881 erneut begegnet und hat dies als Anregung für seine
,Gott-ist-tot*-Formulierung genommen; denn Nietzsche hat in diesem Zeitraum das Bild vom
Schatten Buddhas in der Höhle - im Zusammenhang mit dem „Gott, den wir todt gesagt haben"
- aufgenommen, das in eben diesem Aufsatz vorkommt (Nachlaß 1881, KGW V 2, 14[14]).
Dies ist eine Vorstufe zu FW 108; als Quelle dafür wurde Müllers Aufsatz Buddhistische Pilger
(In: Essays, a. a. O., Bd. 1., S. 235 ff.) in der am Institut für Religionswissenschaft der Universität
Wien entstandenen Diplomarbeit von Schuh, Bernhard: Der Stellenwert des Buddhismus in der
Philosophie Nietzsches. Wien 1999 (Ms.). S. 41 mit Anm. 121, ausfindig gemacht*"
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 97

ebenso in der Interpretation zu beachten ist! Er hat den Namen ,Zarathustra'


aus den in die Fröhliche Wissenschaft aufgenommenen Textstellen durch andere
ersetzt oder anonym gemächt;49 ausgenommen ist allein der letzte Aphorismus
der ersten Ausgabe von FW, Jnciplt tragoedid, in dem Zarathustra namentlich
genannt ist. Ebensowenig hat die Wiederkunftsthematik in FW stärker Eingang
gefunden: so ist nur im vorletzten Aphorismus, JDas gfösste Schwergewicht, jener
„Gedanke" dargelegt, ohne daß jedoch wörtlich von der ewigen Wiederkehr des
Gleichen gesprochen wird.50 Das fast völlige Fehlen des im_August 1881 notier-
ten Wiederkunfts-Gedankens in FW erklärt sich daraus, daß Nietzsche bei der
Ausarbeitung dieses Werkes zwar auf viele Niederschriften aus der Zeit zwischen
Frühjahr und Herbst 1881 zurückgegriffen hat, jedoch nicht auf diejenigen des
Heftes M III l, in dem der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen
erstmals genannt wird (Nachlaß 1881, KGW V 2, 11[141]).51 Dadurch bleibt
dieser vorerst im Hintergrund; die Verkündigung des ,Todes Gottes' aber wird
in FW aufgenommen, so daß deren literarische Ausgestaltungen aus dieser Zeit
früher als die explizite Nennung der Wiederkunftslehre veröffentlicht werden.
Hingegen scheint im Nachlaß die chronologische Folge umgekehrt zu sein: auf
die erstmalige Erwähnung der Wiederkunftslehre folgen jene Vorstufen und
-formulierungen des ,Todes Gottes', die zu den diesbezüglichen zentralen Texten
der Fröhlichen Wissenschaft geführt haben (125 und 108) bzw. später im Zarathustra
thematisch ausgearbeitet wurden. Vor diesem textgeschichtlichen Hintergrund
ist m. E. auch das Verhältnis dieser beiden zentralen Denkmotive Nietzsches
neu zu akzentuieren. Es ist nicht allein die Linie zu verfolgen, die den Tod
Gottes als vorgängige Bedingung des Gedankens der ewigen Wiederkehr des
Gleichen herausstellt, wie dies Karl Löwith und viele weitere Interpreten getan
haben52 - von der Sache her zwar zu Recht -, sondern auch der Aspekt, daß
die Wiederkunftslehre ihrerseits notwendig eine nicht-theistische Konzeption
nach Nietzsches Selbstverständnis zur Folge haben muß. Zwei Aspekte dieses
Zusammenhangs seien im folgenden eigens hervorgehoben.

3.3. Anti-Theismus und ^wigkeit' im Diesseits aufgrund der


Wiederkunftslehre
.* *
Die Negation des Theismus ergibt sich auch aus den kosmologischen. Konse-
quenzen dieser Auffassung. Im Anschluß an die Lektüre von J. G. Vogt notiert

49
VgJ. Montinari: Nietzsche lesen, a, a. O., S. 90.
50
Von Relevanz ist auch noch FW 109; vgl. dazu Montinari: Nietzsche lesen, a. a. O., S. 89.
51
VgLdazuKSA14,S.230f.
52
VgL Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 3. Auflage.
Hamburg 1978. S. 62 und S. 40; ders.: Von Hegel zu Nietzsche. Stuttgart 1969. S. 212 f.
9ft Johann Figl

Nietzsche im Herbst 1881: „Wer nicht an einen Kreisprozeß des 11$ glaubt,
m u ß an den w i l l k ü r l i c h e n Gott glauben - so bedingt sich meine Betrach-
tung im Gegensatz zu allen bisherigen theistischcnl (s. Vogt p. 90.)".53 Er lehnt
hier also entschieden die Willkürlichkcit eines Gottes ab. Umgekehrt kann gesagt
werden, daß seine Theorie des Kreisprozesses des Alls eine solche der Notwen-
digkeit im Unterschied zur theistischen Willkürlichkeit ist - der Atheismus ist
somit eine notwendige Konsequenz der Wiederkunftslehre, bzw. sei jener, der
nicht diese universelle Zirkularität „glaubt**, genötigt, an einen Gott zu glauben,
der willendich in das Weltgeschehen eingreifen kann. Von der Wiederkunftslehre
her ist somit die theistische Konzeption klar ausgeschlossen.
Die Wiederkunftslehre führt eindeutig zu einem Atheismus im Sinne der
Negation jedes Theismus. Für diese Position verwendet Nietzsche in den Noti-
zen zur Wiederkunftslehre aus dem August 1881 (noch) nicht die Formulierung
,Tod Gottes'. Aber ihre Implikationen schließen die Verneinung Gottes ein so-
wie die Religionen aus; da die neue ,Lehrec „mehr als alle Religionen [enthält]",
weil diese das gegenwärtige Leben als ein flüchtiges verachten und „nach einem
unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten" (Nachlaß 1881, KGW V 2,
11 [l 59]). Die durch die Wiederkunftslehre gegebene Zuwendung zur JBwigkeit*
in diesem Leben54 hat eine neue Radikalität und Entschiedenheit erfahren; vor
ihrem Hintergrund mag auch die Rede vom ,Tod Gottes4, die in den Aufzeich-
nungen der folgenden Hefte, ab Ende September bzw. Oktober 1881 anzutref-
fen ist, in ihrer vertieften Sinnintention neu interpretierbar sein. Deshalb gehö-
ren Wiederkunftslehre und Tod Gottes nicht allein von Sinn- und Aussagezu-
sammenhang her eng zusammen, sondern ebenfalls aufgrund der Entstehungssi-
tuation.

4. Die Möglichkeit „vieler netter Götter" nach dem Tod des


christlich-moralischen Gottes

Wenn die in den bisherigen drei Zugangsweisen aufgezeigten Zusammen-


hänge bedacht werden, dann ergeben sich neue Aspekte der Auslegung von
Nietzsches Wort ,Gott ist tot*. Die Dimension des Lebens im Sinne der Diessei-
tigkeit, die die Existenz eines jenseitig gedachten Sinnhorizonts negiert, tritt
vor dem kontextuellen Hintergrund der Wiederkunftslehre stärker f^ervor. Eine
Interpretation des Daseins primär unter dem Aspekt des Leidens und der
Lebensverneinung, wie sie für das christliche Gott-ist-tot-Verständnis in Nietz-
sches Jugend leitend war, ist damit endgültig zurückgewiesen; ebenso ein Mono-

53
Nachlaß 1881, KGW V 2,11(312], vgl. dazu KSA 14, S. 647.
54
Vgl. Nachlaß 1881, KGW V 2,11 [183]: „DiessL·^» - dein wigs Üben?'
,Tod Gottes* und die Möglichkeit ,neuer Götter* 99

theismus, der Poesie und Kunst einzuengen scheint, wie insbesondere in den
zitierten Exzerpten deutlich wurde. Neben diesen inhaltlichen Aussagen zeigte
sich dabei vor allem der formale Aspekt, daß sich die Struktur der Formel vom
Tod Gottes höchstwahrscheinlich diesen Exzerpten verdankt, die sich auf die
polytheistische Mythologie beziehen; gewissermaßen mit ihrer Hilfe wird der
x
moralische Gott für tot erklärt. ·
Von diesem Hintergrund der Lebensdynamik einerseits und der polytheisti-
schen* Akzentuierung der Thematik andererseits ist darum die Frage nach den
möglichen weiteren Perspektiven nach dem Tode Gottes mit&estimmt. Nietzsche
hat die Thematik des Todes Gottes mehrfach nach der Veröffentlichung von
FW weiterverfolgt, insbesondere in Za.55 Darüber hinaus plant er nach Abfas-
sung von Za II ein Zarathustra-Drama, das als vierten und letzten Akt eine
„Leichenfeier ,Wir tödteten ihn'" bzw. eine „Todtenfeier" vorgesehen hätte
(Nachlaß 1883, KGW VII l, 10[45]; vgl. ebda. 10[46]; [4 ).56 Er spricht auch
von „Gottes Todtenfest"57.
Ist nach der ,,größte[n] Todtenfeier - hin zur Unsterblichkeit" -, wie es
auch in einem Plan zu Za II heißt (Nachlaß 1883, KGW VII l, 13(20]), eine
Auferstehung zu erwarten, so wie sie Nietzsche-Zarathustra hinsichtlich des Un-
erlösten seiner Jugend erwartet, wenn er sagt: „Und nur wo Gräber sind, giebt
es Auferstehungen. — " (Za II, Das Grablied)? Oder gilt bleibend, daß, nachdem
„dieser Gott [starb]" und „seit er im Grabe liegt", nun erst der „höhere Mensch"
- und nur er - „wieder auferstanden" ist (Za IV, Vom höheren Menschen
2)?58
Diese Anfragen sind berechtigt, denn Nietzsches Atheismus ist wohl kaum
durch interpretative Finessen zu relativieren oder gar zu eliminieren, so daß man
in ihm einen verborgenen Gottsucher erkennen könnte. Es wäre dem Verständ-
nis der atheistischen Position Nietzsches wenig gedient, wenn hier nicht die
Eindeutigkeit seiner religionskritischen Intentionen, die weit in die Jugend zu-
rückreichen, zur Kenntnis genommen würde.
Dennoch gibt es Interpretationsansätze, die Nietzsches Offenheit für neue
religiöse Perspektiven, für kommende „Götter" betonen, und diese können nicht

55
Vgl. die detaillierte Studie von Haase, Marie Luise: Todesarten: ,Wenn Götter sterben ... '.
Gottes Tod in Nietzsches ,Also sprach Zarathustra*. In: Golz, Jochen (Hrsg.): Das Goethe-und
Schiller-Archiv 1896-1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Weimar, Köln,
Wien 1996. S. 395-414.
56
Vgl. das Buch in Nietzsches Bibliothek: Mickiewicz, Adam: Aus Mickiewicz Totenfeier. Improvisa-
tionen, übersetzt von S. Upiner, Sonderdruck o. O. u. J. Zur Kenntnis von Mickiewicz vgl. den
Brief an Overbeck im folgenden Jahr am 7. April 1884 (KSB 6, Nr. 504), in dem sich Nietzsche
kritisch zu Lipiner äußert.
57
Nachlaß 1885/86, KGW VIU l, 2[129); vgl. KSA 14, S. 726.
5H
An dieser spezifischen Grab- und Auferstebungsmctapher zeigt sich der spezifisch christliche
Hintergrund (vgl. oben Anm. 4) der Rede vom Tod Gottes.
100 Johann HgJ

a priori als völliger Gegensatz zu Nietzsches Aussagen beurteilt werden; denn


er selbst hat in einigen Texten solche Perspektiven angesprochen. Diese sollen
kurz vor Augen gestellt werden.
Zunächst ist auf eine Aufzeichnung hinzuweisen, die noch während der Aus-
arbeitung von Za l entstanden ist und die vielfach interpretiert wurde im Zusam-
menhang des Todes des moralischen Gottes, da sie die Möglichkeit eines „neuen"
Gottes eröffnet: „Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine
Häutung: - er zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wieder-
sehn, jenseits von gut und böse." (Nachlaß 1882, KGW VII l, 3[1], S. 105,
Nr. 432). Diese Perspektive hat Nietzsche weiterhin beschäftigt. Aus der Zeit
nach Abschluß des letzten Buches von Za findet sich im Nachlaß folgende
Bemerkung: „NB. Die Religionen gehn an dem Glauben der Moral zu Grunde:
der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich „Atheismus" - wie als
ob es keine andere Art Götter geben könne." (Nachlaß 1885/86, KGW VIII l,
2[107]) /
Es ist hier die Möglichkeit nicht-moralischer, d. h. zugleich nicht-christlicher
„Götter" angesprochen. Ein Jahr danach erwägt Nietzsche ebenfalls „Gott als
das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von ,Gut und
Böse*"; konkret formuliert, ist Gott als „die ganze Fülle der Lebensgegensätze in
sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend" gedacht
(Nachlaß 1887, KGW VIII 2,10[203]).
Wieder ein Jahr später finden wir in einem umfassenden, relativ geschlosse-
nen Nachlaß-Text £ur Geschichte des Gottesbegriffs6 die Aussage: „[...] Ich würde
nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter giebt [...]"; zum Begriffe „Gott" ge-
hört, daß er „jenseits auch [...] von Gut und Böse" ist. Die Alternative zur
„nihilistische[n] Religion" des Christentums, in der Gott zum „Widerspruch
des Lebens" geworden ist, ist eine Religion der Dankbarkeit, in der Gott
„Verklärung und ewiges Ja" bedeutet. Gilt es diesen Gott zu „schaffen"? Nietz-
sche stellt in einem berühmten Satz fest:
„Zwei Jahrtausende beinahe: und nicht ein einziger neuer Gott!" (Nachlaß 1888,
KGW VÜI 3 17[4], S. 323; vgl. AC 19)

Wie ist dieser „neue Gott"? Einfach ist es zu zeigen, wie er nicht ist, wofür
er das Gegenteil ist: er lehnt den „europäischen Monotono-theismus" ab; abge-
lehnt wird die monotheistische Konzeption. Nietzsche verwendet in^diesem Zu-
sammenhang ausdrücklich eine polytheistische4 Redeweise:
„— Und wie viele neue Götter sind noch möglich!" (ebd.)

Ein weiteres Merkmal der „postchristlichen" Situation, das von Nietzsche


diagnostiziert wurde, ist der anscheinend paradoxe Sachverhalt, daß der Theismus
abnimmt\ während die Religiosität wächst In Jenseits von Gut und Böse stellt Nietzsche
unter dem Titel „Warum heute Atheismus?' fest:
,Tod Gottes' und die Möglichkeit »neuer Götter* 101

„,Der Vater* in Gott ist gründlich widerlegt; ebenso ,der Richter', ,der Belohner'.
Insgleichen sein »freier Wille* [...] - Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Nieder-
gang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend,
ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im
Wachsen ist, - dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen
ablehnt." 0GB 53) u

Hier wird eine nicht-theistische, eine a-theistische Religiosität für die Zukunft
als wahrscheinliche Möglichkeit angesprochen, und manche Aspekte der Religi-
onsgeschichte der Folgezeit dürften Nietzsche tatsächlich rechtgegeben haben,
insofern sich eine neue Religiosität auch ohne Gott, jedenfalls ohne theistischen
Gott, zeigt.59
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Nietzsche — obwohl er selbst nicht
zu einem neuen Gottesglauben gelangt ist - die Möglichkeit neuer Religiosität
in Betracht zieht, und zwar einerseits in einer überwiegend nicht-theisrischen
und andererseits in einer pluralen Gestalt. Als Möglichkeit wird eine „polytheisti-
sche" Zukunft erwogen, nämlich viele „neue Götter". In der nachfolgenden Reli-
gionsgeschichte ist tatsächlich eine Pluralität, eine Viel- und Mannigfaltigkeit
neuer Religionen eingetreten — freilich wohl kaum im Sinne über-moralischer
Religiosität60 Der ^Polytheismus* scheint über den Monotheismus zu siegen,
eine ^öttervielfalt* in Gestalt einer Religionspluralität ist hervorgetreten, also
jener Religionstyp, den der Monotheismus überwinden wollte. Freilich bedürfte
es einer weiteren Untersuchung, inwiefern die plurale Religionsentwicklung des
19. und 20. Jahrhunderts mit Nietzsches Redeweise näherhin in Beziehung ge-
bracht werden kann.61

59
VgJ. näherhin Figl, Johann: Das Göttliche in einer gottfcrnen Gesellschaft. In: Concilium 31
(1995). Nr. 2. S. 160-165.
<
VgL Figl Johann: Die Mitte der Religionen. Idee und Praxis univcrsalrcligiöscr Bewegungen.
Darmstadt 1993.
61
Auf diese Aspekte werde ich in einem Vortrag .Religionen der Moderne. Nietzsches Diagnose
ihrer Probleme und Perspektiven' (Nietzsche-Kongreß, Naumburg, August 2000) eingehen.

Das könnte Ihnen auch gefallen