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1. Einleitung
Luther soll auf dem Totenbett dem Vernehmen seiner Freunde nach
ein Gebet gesprochen haben, das in das Thema dieses Aufsatzes sehr gut
einzuführen vermag. Es lautet: »O mein Himlischer vater, ein Gott und
vater unsers Herrn Jhesu Christi, du Gott alles trostes, ich dancke dir,
das du mir deinen lieben Son Jhesum Christum offenbart hast, an den ich
gleube, den ich gepredigt und bekant hab, den ich geliebet und gelobet
hab (…). Ich bitte dich, mein Herr Jhesu Christe, las dir mein seelchen
bevohlen sein. O Himlischer vater, ob ich schon diesen leib lassen und
aus diesem leben hin weg gerissen werden mus, So weis ich doch gewis,
das ich bey dir ewig bleiben und aus deinen henden mich niemands reis-
sen kan.« 1
Mit einer großartigen Selbstverständlichkeit spricht Luther in diesem
Gebet von seiner Hoffnung auf eine Fortexistenz nach dem Tode. Wer die
Entwicklung kennt, die die Eschatologie in diesem Jahrhundert genom-
men hat, wird ihn um seine Glaubensgewißheit beneiden und in seinen
Worten womöglich nur ein großes Problem entdecken, das sich auf die
Frage zuschneiden läßt: Wer wird es sein, der vor Gott stehen, ihn
schauen und loben wird, wenn er zur leibhaften Auferstehung gerufen
wird? Werde ich es sein oder ein anderer?
Luther ist der festen Überzeugung: er wird es sein. Gott wird die im
Heiligen Geist zu ihm aufgebaute Beziehung durch den Tod nicht zerbre-
chen lassen. Er wird seine Seele aufnehmen, nachdem der Leib gestorben
ist. Er wird sie bewahren bis zum jüngsten Tage und ihr schließlich einen
neuen Leib erschaffen. 2 Vor Gottes Thron gezwungen, wird Luther sich
1 M. Luther, WA 54, S. 491.
2 Noch in der letzten Promotionsdisputation von 1545 heißt es: »(…) hominis anima est
spiritus immortalis et superstes post corporis interitum (…). Immortalis enim est non per
se, sed per accidens, videlicet quod Deus eam partem naturae humanae, in quam suam
imaginem transfudit, non esse mortalem, sed post corporis mortem superstitem, ut ab ea
celebretur interea, dum corpus quiescit et donec etiam corpori ex eadem materia orto in
extremo iudicio immortalitatem concedat.« (WA 39,II,400 ff.); vgl. auch F. Heidler, Luthers
Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, Erlangen 1983, S. 46 ff.
Problematisch ist an Luthers Auffassung ihre Uneeinheitlichkeit. Einerseits vertritt er die
Vorstellung vom Seelenschlaf, andererseits äußert er die Überzeugung, daß die Seele nach
im Endgericht verantworten müssen und darf hoffen, sola fide, solo chri-
sto, sola gratia das ewige Leben zu erhalten.
Luthers Hoffnungsbild ist deutlich. Es zeigt eine Beziehung von Gott
und Mensch. Im Leben, Sterben und Auferstehen ist die leibseelische Exi-
stenz des Menschen in eine Beziehung zu Gott hineingenommen. Diese
Beziehung zerbricht nicht, nicht einmal im Tod. Vielmehr gibt es selbst
hier stets Relate. In Luthers Worten: »O himmlischer Vater, ob ich schon
diesen Leib lassen und aus diesem Leben hinweggerissen werden muß, so
weiß ich doch gewiß, daß ich bei dir ewig bleiben und aus deinen Händen
mich niemand reißen kann.« Selbst im Tod stehen Gott und die Seele des
einzelnen in einem Verhältnis. Die Relation wird also niemals aufgelöst.
Es herrscht Kontinutät in der Relation aufgrund der Kontinuität der Re-
late und Kontinuität der Relate aufgrund der Kontinuität der Relation.
Schon aus dieser kurzen Einführung wird deutlich, welch theologi-
sche Funktion der Begriff der Seele einnimmt. Er dient dazu, die Kontinui-
tät und Authentizität der menschlichen Identität zwischen der irdischen
Existenz, hier und jetzt, und der verheißenen neuen Existenz bei der Auf-
erstehung der Toten zu betonen. Der Begriff der Seele nimmt damit eine
überaus wichtige Funktionsstelle innerhalb des eschatologischen Argu-
mentationskontextes wahr. Er bildet das Scharnier zwischen der Vorstel-
lung von der irdischen Existenz und der erlösten Existenz. Vertreibt man
ihn aus der Theologie, schafft das Probleme; Probleme, die im folgenden
behandelt werden sollen, bevor im Anschluß daran eine Lösung vorge-
schlagen wird.
ihrem Tod unmittelbar ihr ewiges Schicksal ereilt. Die zuletzt genannte Auffassung drückt
sich in der Grabrede auf Urbanus Rhegius von 1541 aus; vgl. WA 53,400,14 ff).
3 So wurde das ontologische Seelenverständnis und damit die Möglichkeit, von einer un-
sterblichen Seele zu sprechen, durch die Psychologie mit der Deutung der Seele als einer
rein funktional-regulativen, immanenten Instanz infragegestellt. Vgl. dazu A. Ahlbrecht,
Tod und Unsterblichkeit in der evangelischen Theologie der Gegenwart, Paderborn 1964,
S. 21. Vgl. auch H. Scholz, Der Unsterblichkeitsgedanke als philosphisches Problem, Berlin
1920, S. 52 f.
4 Vgl. A. Ahlbrecht, Tod und Unsterblichkeit in der evangelischen Theologie der Gegenwart,
S. 34.
5 Dabei übersah man, wie Heidler zu Recht formuliert, den Sachverhalt, daß der platonische
Gedanke der Unsterblichkeit der Seele christlich zu Bade geführt und im christlichen Argu-
mentationshorizont zu einem bestimmten Zweck eingeführt und transformiert worden
war (F. Heidler, Luthers Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, S. 9). Indem man die
Vorstellung von der unsterblichen Seele verwarf, schüttete man das Kind mit dem Bade
aus. Gegen diese Vorgehensweise argumentiert schon Seeberg, (R. Seeberg, Christliche
Dogmatik. Zweiter Band, Erlangen Leipzig 1925, S. 574), später dann auch Ratzinger
(J. Ratzinger, Zwischen Tod und Auferstehung, Communio 9 (1980), S. 209⫺226, hier
220).
6 Vgl. hier C. Stange, Die Unsterblichkeit der Seele, Gütersloh 1925; ders., Das Ende aller
Dinge. Die christliche Hoffnung, ihr Grund und ihr Ziel, Gütersloh 1930, S. 122⫺139;
ders., Luther und das sittliche Ideal, Gütersloh 1919, S. 31 f.; ders., Studien zur Theologie
Luthers, Gütersloh 1927; ders., Luther und das 5. Laterankonzil, Gütersloh 1928.
7 Übrigens findet sich auch schon bei J. Kaftan (Dogmatik, Tübingen und Leipzig 41901,
S. 640 ff.) die Vorstellung von der unsterblichen Seele als kirchliche Bildung erwähnt, die
zu Recht Ablehnung von seiten der Reformation und der gegenwärtigen Theologie erfah-
ren habe (S. 646).
8 K. Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über 1.Kor 15, Zürich
(1922) 41953, S. 117, 119.
9 Vgl. W. Elert, Der christliche Glaube, Hamburg 41956, S. 508 ff.
10 W. Künneth, Theologie der Auferstehung, München 1951, S. 31 f., 249.
11 Vgl. J. Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995,
S. 82⫺96. Vgl. auch schon ders., Theologie der Hoffnung, München 31964, S. 206, 182.
12 E. Jüngel, Tod, Gütersloh 21983, S. 58, 145.
13 W. Joest, Dogmatik. Band 2. Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 41996,
S. 649.
14 In gewisser Weise gehört auch J. Baur zu dieser Gruppe. Er verficht mit Luther die Vorstel-
lung einer durch den Tod nicht aufzuhebenden Verbindung Gottes und des einzelnen,
ohne die bei Luther dazugehörige Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele zu vertreten.
Stattdessen präferiert er aus verschiedenen Gründen die Vorstellung von der Auferstehung
der Toten. Vgl. J. Baur, Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung der Toten, in: Ders.,
Einsicht und Glaube. Aufsätze, Göttingen 1978, S. 25⫺49, hier S. 29, 46. Damit läuft die
ganze Argumentation indirekt auf die Ganztodtheorie im Sinne eines Todes von Leib und
Seele hinaus.
Spielt man wie Schlatter, Althaus und Stange die Lehre von der Auf-
erstehung der Toten gegen die Vorstellung einer unsterblichen Seele aus,
so führt das zu einer folgenschweren Konsequenz: Man muß den Ganztod
lehren.
Was besagt die Lehre vom Ganztod? Sie behauptet, daß mit dem Tod
nicht, wie bislang vertreten, eine Trennung von Leib und Seele eintritt,
sondern beide, Leib und Seele, gänzlich zugrundegehen. Das heißt: Mit
dem Tod stirbt der Leib und auch die Seele. In den Worten Adolf Schlat-
ters: »Das Sterben wendet unsern Blick unweigerlich vorwärts auf das,
was kommt, und für das uns jetzt gegebene Bewußtsein folgt ⫺ nichts.
Wir erfahren eine totale Entselbstung, den Entzug dessen, was unser Ich
ausmacht, Stillstand unsers Denkens, Stillstand unsers Wollens, nicht nur
Entleibung, ebensosehr Entgeistung.« 15 Kürzer und härter sagt es Paul
Althaus in seiner Eschatologie: »Von uns aus gesehen ist der Tod ein
Sinken ins Bodenlose, Ausgang ins Nichts.« 16
Diese Auffassung ist nun nicht etwas gänzlich Neues. Die Wurzeln
der Ganztodtheorie lassen sich vom Materialismus 17 über den englischen
Empirismus und verschiedene andere Stationen der Philosophiegeschichte
bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Dieser hatte in De anima II, 1 formu-
liert: oyk estin hē psyche choriste toy somatos; i. e.: Es gibt keine Seele
losgelöst vom Leib. 18
Neu dagegen ist die Aufnahme dieser Theorie in die Protestantische
Theologie. In geistesgeschichtlicher Betrachtung bekommt dieser Akt ein
besonderes Gewicht. Mit ihm scheinen die Theologen auf eschatologi-
schem Gebiet zu ratifizieren, was sich auf gesellschaftlichem seit längerem
abzeichnete und sich philosophisch mit Pietro Pomponazzis Tracatatus de
immortalitate animae von 1516 angekündigt hatte: den Untergang des
Individuums.
Sucht man nach den Faktoren, die zur Rezeption der Ganztodtheorie
in der Theologie geholfen haben, so wird man nicht nur an den Monis-
15 A. Schlatter, Jesu Gottheit und das Kreuz (1901), Gütersloh 21913, S. 61; ders., Das christ-
liche Dogma, Calw 1911, S. 266: »Denn der Tod trifft den Menschen, nicht nur seinen
Leib, und bereitet uns ein Ende, nicht nur einem Teil von uns.«
16 P. Althaus, Die letzten Dinge (1922), Gütersloh 51949, S. 83; ders., Grundriß der Dogma-
tik II, Erlangen 1932, S. 169 ff.; ders., Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik.
Zweiter Band, Gütersloh 1948, S. 85, 180, 475 ff. Vgl. aber auch seine späteren »Retrak-
tationen zur Eschatologie«, in: ThLZ 75 (1950), Sp. 253⫺260.
17 So R. Seeberg, Ewiges Leben, Leipzig 31918, S. 6. Vgl. dazu auch den Materialismusstreit,
der auf der 31. Versammlung der deutschen Naturforscher und Mediziner zu Göttingen
1854 ausgebrochen war. Als Kontrahenten stritten sich der Mediziner Rudolph Wagner
und der Physiologe Carl Voigt. R. Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz. Ein
anthropologischer Vortrag, gehalten in der ersten öffentlichen Sitzung der 31. Versamm-
lung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Göttingen am 18. September 1854; ders., Über
Wissen und Glauben mit besonderer Beziehung auf die Zukunft der Seelen, Göttingen
1854; C. Voigt, Köhlerglaube und Wissenschaft, Gießen 1854.
18 Aristoteles, De anima II,1 (⫽ed. Gigon 413 a).
hältnisses.« 32 An die Funktionsstelle der Seele tritt hier also der Gedanke
der »Unaufhebbarkeit des personhaften Gottesverhältnisses« 33, der auch
von Karl Barth 34 vertreten wird und weitere zahlreiche Verfechter gefun-
den hat. Zu nennen sind Helmut Thielicke 35, Gerhard Ebeling 36, Jörg
Baur 37, Wilfried Joest 38. Ja, sogar Josef Kardinal Ratzinger vertritt den
Gedanken der dialogischen Unsterblichkeit. 39
Man fragt sich nun allerdings, wie denn eine Beziehung zu Gott be-
stehen kann, »ohne Beziehungsträger auf menschlicher Seite.« 40 Eine Lö-
sung könnte darin bestehen, daß Gott sich an der Stelle des anderen
gleichsam selbst expliziert. Das würde bedeuten: Der gestorbene Mensch
geht in die Selbstbeziehung Gottes ein, wie Althaus das vorschlägt. 41 Der
neue Mensch wird gleichsam zu einem Moment Gottes. Doch ist ein sol-
cher Gedanke zufriedenstellend?
Es drängt sich die Frage auf: Was ist der Mensch, wenn er einmal
tot ist? Was ist der Mensch, wenn er seine Relation zu Gott nicht mehr
aufrechterhalten kann, sondern Gott an seine Stelle tritt? Was ist der
Mensch, wenn er als Toter in Gottes Hand sinkt?
Eine deutliche Antwort findet man nicht bei den Protagonisten der
Ganztodtheorie. Fündig wird man erst bei anderen, die die Ganztodtheo-
rie übernommen und weiterentwickelt haben.
Barth und Elert sind hier zu nennen und in der jüngeren Generation
Jüngel 42 und Pannenberg. Zumindest letztere sind ganz deutlich auf der
32 P. Althaus, Die letzten Dinge, S. 110; vgl. ders., Grundriß der Dogmatik I, Erlangen 1929,
S. 22 ff., 54. Die Wurzeln dieser Auffassung lassen sich über F. Schleiermacher (Der christ-
liche Glaube II, ed. M. Redeker, Berlin 1960, S. 416 [⫽§ 158,3]) bis zu Luther zurückver-
folgen.
33 P. Althaus, Die letzten Dinge, S. 114.
34 K. Barth, KD III, 2, S. 773: »Wir sterben, aber er lebt für uns; so sind wir ihm auch im
Sterben nicht verloren und also in Wahrheit gar nicht verloren. Wir werden einmal nicht
mehr sein; er aber wird auch dann für uns sein.«
35 H. Thielicke, Dogmatik des christlichen Glaubens. Band III. Dritter Teil: Der Glaube an
Gott den Vollender der Welt, Tübingen 1978, S. 459.
36 G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Dritter Teil, Tübingen 31993, S. 459,
464.
37 J. Baur, Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung der Toten, S. 29, 46.
38 W. Joest, Dogmatik. Band 2, S. 649 f.
39 J. Ratzinger, Kleine katholische Dogmatik, Bd. 9: Eschatologie ⫺ Tod und ewiges Leben,
Regensburg 61990, S. 100, 130, 132; ders., Zwischen Tod und Auferstehung, S. 222.
40 A. Ahlbrecht, Tod und Unsterblichkeit in der evangelischen Theologie der Gegenwart,
S. 18.
41 Vgl. P. Althaus, Grundriß der Dogmatik I, S. 54: »Unsterblichkeit« bezeichnet also nicht
eine Qualität der menschlichen Seele, sondern die Unentrinnbarkeit der Selbstbeziehung
Gottes auf den ganzen Menschen.«
42 Eberhard Jüngel, Tod, S. 151 f.
49 So formuliert T. Koch, »Auferstehung der Toten«. Überlegungen zur Gewißheit des Glau-
bens angesichts des Todes, in: ZThK 89 (1992) S. 462⫺483, in der Aufnahme der Ergeb-
nisse von Wilfried Härle und Konrad Stock: »Für diese Theologie gilt der Mensch als er
selbst, der individuelle Mensch in der Zeit seines Lebens und seiner Erfahrungen, auch als
Glaubender nichts vor Gott« (478).
50 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Band 3, S. 652.
51 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Band 3, S. 652.
vor allem, diese nur gesichert durch Gottes Gedächtnis: das ist ein im
wörtlichen Sinne uneigentliches Individuum ⫺ eine leere Metapher.« 52
Damit stößt die Lehre vom Ganztod auf ihre Grenzen. Unter ihrer
Perspektive gelingt es nicht, die Andersheit des Menschen in Gott so auf-
zuheben, daß dessen Identität und Authentizität gewahrt bliebe. Was das
soteriologisch bedeutet, kann man sich leicht ausmalen. Ein Mensch, der
nach solchen Vorgaben in das Himmelreich eingeht, kann sich nicht als
ein Mensch, der erlöst ist, wissen, da ihm die Kontinuität und Authentizi-
tät seines erlösten Daseins mit seinem ehemaligen irdischen sündigen Le-
ben abgeht. Soll davon die Rede sein, müßten die Ganztodtheoretiker den
Menschen als Gegenüber in Gott denken können und damit genau das
leisten, was die Vertreter der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ohne
weiteres bewerkstelligen konnten.
Doch nicht nur aus anthropologischen Überlegungen heraus ist die
Lehre vom Ganztod unbefriedigend. Es lassen sich auch strikt theo-logi-
sche Gründe dagegen anführen. Die Unsinnigkeit, daß Gott einen Doppel-
gänger erschafft, hebt Theodor Mahlmann mit der Frage hervor: »Und
ist es nicht im Blick auf Gottes Allmacht nahezu absurd, Gottes Verhältnis
zum Tode seiner Geschöpfe so zu bestimmen, daß er sie alle, und iden-
tisch!, zweimal erschaffen muß?« 53 Man kann diesem Einwand einen
weiteren hinzugesellen, den Wilfried Härle und Eilert Herms formuliert
haben. Widerspricht es nicht Gottes Treue zur Schöpfung, seine Ge-
schöpfe der völligen Vernichtung preiszugeben, um sie dann ein zweites
Mal aus dem Nichts zu erschaffen? 54 Gott desavouiert doch nicht sein
erstes Werk, um dann im zweiten völlig neu zu beginnen.
Ein dritter Grund läßt sich anfügen. Meines Erachtens ist die Auffas-
sung vom Ganztod mit dem Herzstück protestantischer Lehre, der Lehre
von der Rechtfertigung, unvereinbar. Als forensischer Akt kommt die
Rechtfertigung zwar uns Menschen als unverdienter Freispruch Gottes zu
und ist darum kein Besitz, der uns zu Gebote stünde. Aber die Rechtferti-
gungsbotschaft wäre doch völlig mißverstanden, wenn die Rechtfertigung
nicht zugleich auch als wirksam und tatsächlich zugeeignet vorgestellt
würde. Spricht Gott gerecht, dann ist es auch der Mensch. Man müßte ja
sonst an Gottes Wort zweifeln. Wie Gott sprach: es werde Licht, und wir
es sehen können, so dürfen wir auch glauben, daß wir gerecht sind, wenn
Gott es uns zusagt. Sind wir aber gerecht, dann sind wir auch gerettet.
Wir dürfen wissen, daß wir als tatsächlich existierende Wesen nicht im
52 T. Mahlmann, Auferstehung der Toten und ewiges Leben, in: K. Stock, Die Zukunft der
Erlösung. Zur neueren Diskussion um die Eschatologie, Gütersloh 1994, S. 108⫺131,
hier S. 117 f., Anm. 27.
53 T. Mahlmann, Auferstehung der Toten und ewiges Leben, S. 117.
54 W. Härle, E. Herms, Deutschsprachige protestantische Dogmatik nach 1945. II. Teil, in:
VuF 28/1 (1983), S. 1⫺87, hier S. 68.
Tod bleiben, sondern aus ihm gerettet werden. Darum ist der Tod eben
nicht wie der frühe Althaus meint »ein Sinken ins Bodenlose, Ausgang
ins Nichts« 55, sondern ein Fortleben, das uns jedoch verborgen ist.
Schließlich und letztlich dürfte auch die exegetische Begründung der
Ganztodtheorie nicht ganz unerschütterlich sein. Ein paar wirklich nur
schlaglichtartige Überlegungen sollen das veranschaulichen.
Wie unter den Dogmatikern gibt es auch unter den Exegeten eine
starke Fraktion, die der Ganztodtheorie anhängen. Doch nicht alle haben
sich von ihr in den Bann schlagen lassen. Zu ihren Widersachern 56 zählen
Otto Kaiser 57 und Ernst Haag 58. Sie machen in der spätisrealitischen Li-
teratur einzelne wenige Spuren aus, die auf den Gedanken einer postmor-
talen Fortexistenz zu weisen scheinen.
Zu nennen sind Ps. 49,16, wo vom Loskauf des Beters aus der Unter-
welt und seiner Entrückung zu Jahwe die Rede ist; des weiteren Ps 73,
23 f., wo der Beter seiner Zuversicht Ausdruck verleiht, Jahwe werde ihn
davor bewahren, vom Tod verschlungen zu werden; sowie Dan 12,1⫺3.
Man muß auch auf die Vorstellung von der Scheol hinweisen. Die Vorstel-
lung von der Scheol läßt deutlich auf einen Glauben an eine Fortexistenz
nach dem Tode schließen. Nur wenn man sie zugrundelegt, erklärt sich
auch die biblische Notiz, man habe das Weinen der Urmutter Rahel ange-
sichts des Untergangs des Nordreiches in Rama (Jer 31,15 mit Gen
35,16.19) gehört. Desselbe gilt für die Geschichte von der Heraufbe-
schwörung des toten Samuels durch die Hexe von Endor (1. Sam 28).
Der Tod stürzt demnach nicht in ein völliges Nichts, sondern reduziert
das Leben des Menschen auf die, wie Kaiser schreibt, »schwächste Form
des Lebens«. 59
Die im späten Israel entwickelte Vorstellung, daß der Mensch in
schattenhafter Gestalt über den Tod hinaus fortlebt, wird im Neuen Testa-
ment mancherorts aufgriffen. Ohne diese Vorstellung hätte nach den Wor-
ten Kaisers »weder das neutestamentliche Gleichnis vom reichen Mann
und armen Lazarus, Lk 16,19 ff., noch das Jesus im gleichen Evangelium
am Kreuz in den Mund gelegte Wort an den einen der beiden Schächer:
»Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein«, Lk
23,43, noch das Auferstehungszeugnis des Neuen Testaments selbst einen
verständlichen Rahmen.« 60.Zu nennen ist des weiteren die Praxis der To-
tentaufe in 1. Kor 15, 29; die paulinische Soma-Vorstellung in 1. Kor 15
55 P. Althaus, Die letzten Dinge, S. 83. Vgl. aber auch Althaus’ spätere »Retraktationen zur
Eschatologie«.
56 Vgl. hier auch W. Eichrodt, Theologie des Alten Testaments II/III, Stuttgart 41961, S. 360.
57 O. Kaiser, E. Lohse, Tod und Leben, Stuttgart 1977.
58 E. Haag, Seele und Unsterblichkeit in biblischer Sicht, in: W. Breuning, Seele. Problembe-
griff christlicher Eschatologie, Freiburg 1986, S. 31⫺93.
59 O. Kaiser, E. Lohse, Tod und Leben, S. 29.
60 O. Kaiser, E. Lohse, Tod und Leben, S. 36; vgl. auch S. 71.
und 2. Kor 5,1⫺10 sowie Offb 6,9, wo von den Totenseelen der Märtyrer
die Rede ist. Erwähnt werden muß schließlich auch Mt 10,28 mit der
Warnung: »Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib (soma) töten,
doch die Seele (psyche) nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr
vor dem, der Leib und Seele (psychen kai soma) verderben kann in der
Hölle.« Damit ist von einem Leben des Menschen die Rede, das ihm
andere Menschen nicht nehmen können, auch wenn sie ihn töten. Dieses
das Tod überdauernde Leben kann nur Gott beseitigen.
Resümierend läßt sich sagen, daß die biblischen Zeugnisse der An-
nahme einer Kontinuität der menschlichen Existenz über ihren Tod hinaus
zumindest nicht zu widersprechen scheinen; und nur darum geht es im
Moment.
5. Zusammenfassung
stanz eines geistigen Elements nach dem Tode fest, das mit Bewußtsein
und Willen ausgestattet ist, so daß das »Ich des Menschen« weiterbesteht,
wobei es freilich in der Zwischenzeit seiner vollen Körperlichkeit ent-
behrt. Um dieses Element zu bezeichnen, verwendet die Kirche den Aus-
druck »Seele«, der durch den Gebrauch in der Heiligen Schrift und Tradi-
tion sich fest eingebürgert hat. Obwohl sie nicht übersieht, daß dieser
Ausdruck in der Heiligen Schrift verschiedene Bedeutungen hat, ist sie
doch der Auffassung, daß es keinen stichhaltigen Grund gibt, ihn abzu-
lehnen, zumal ja irgendein sprachlicher Ausdruck zur Stütze des Glaubens
der Christen einfach notwendig ist.« 61 Zu fragen wird sein, wie eine pro-
testantische Antwort aussehen kann.
Denkt man darüber nach, wie man unter heutigen Bedingungen die
mit der Seelenvorstellung bezeichnete Vorstellung der Kontinuität, Au-
thentizität und Subjektivität der postmortalen Existenz mit der prämorta-
len ausdrücken kann, so wird man von zwei Gedanken auszugehen ha-
ben. Zum einem vom trinitarischen Gottesgedanken, zum anderen von
einem psychophysischen Parallelismus, der aber noch näher zu umschrei-
ben sein wird.
Bei den folgenden trinitarischen Überlegungen gehe ich aus vom
Zeugnis des Heiligen Geistes, vom sogenannten testimonium spiritum
sanctum internum nach Röm 8,16. 62 Ich verstehe das Zeugnis des Heili-
gen Geistes als einen Akt, in dem sich der dreieinige Gott im Bewußtsein
des Gläubigen selbst auslegt und sich entsprechend als Heiliger Geist, als
Sohn und als Vater darstellt. Indem sich der Heilige Geist dabei auch als
Geist des Vaters kenntlich macht, expliziert er sich zugleich als Geist der
Schöpfung. Damit stellt er sich als derjenige vor, der nicht nur die mit
dem inneren Dialog eröffnete Verbindung von Gott und Mensch herge-
stellt hat. Sondern er stellt sich auch als derjenige vor, der mit der Schöp-
fung die grundlegenden Bedingungen dafür geschaffen hat, daß das Got-
61 Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen wichtigen Fragen der Escha-
tologie, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarun-
gen des Apostolischen Stuhls 11), Bonn 1979. Vgl. dazu die Erläuterungen von J. Ratzin-
ger, Zwischen Tod und Auferstehung, S. 210 ff. und die Artikel von G. Greshake, Zum
Lehrschreiben über die Eschatologie (17.5.1979), Die Leib-Seele-Problematik und die
Vollendung der Welt, in: G. Greshake, G. Lohfink, Naherwartung ⫺ Auferstehung ⫺ Un-
sterblichkeit. Untersuchungen zur christlichen Eschatologie, Freiburg i. Br. 41982 (QuD
71), S. 185⫺192; 156⫺184.
62 Nähere Ausführungen finden sich dazu in: C. Henning, Die evangelische Lehre vom Heili-
gen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im
20. Jahrhundert, Gütersloh 2000, S. 304 ff.
bedeutet er, daß der Mensch in der Ganzheit vor Gott stehen darf, die er
erhält, wenn er in Gnaden von Gott angenommen ist. Er wird dann zu
einem solchen Wesen verwandelt, das seinen Selbst-, Welt- und Gottesbe-
zug in vollständiger Weise realisieren und auf diese Weise Erlösung und
Vollendung finden kann. Paul Tillich hat dafür den bezeichnenden Aus-
druck Essentifikation geprägt. 67
Greshakes Ansicht einer Auferstehung im Tode ist allerdings zu mo-
difizieren. Aufgrund der sozialen Verwiesenheit der Menschen auf andere
Menschen muß man sich die Auferstehung als Auferstehung aller vorstel-
len. Die individuelle Auferstehung im Tode ist also als gleichbedeutung
mit ihrer Teilnahme an der Auferstehung aller zu interpretieren. Damit
wird auf eine Lehre vom Zwischenzustand verzichtet. Dieser Verzicht läßt
sich begründen, wenn man von einem Zeitbegriff ausgeht, der komplexer
verfaßt ist als der geläufige lineare.
Sieht man in Gott sowohl den Urheber von Zeit als auch einen Ak-
teur in der Zeit, so ist er ihr zugleich enthoben zu denken wie auch als in
sie involviert zu betrachten. Das bedeutet dann aber, daß man das Ver-
hältnis Gottes zur Welt nicht nur unter der linearen Zeitvorstellung be-
trachten darf, die unser Geschichtsdenken prägt. Für Gott als Schöpfer
von Zeit wie als heilsgeschichtlicher Akteur in dieser Zeit ist Zeit im
Sinne von Ewigkeit als Identität von unendlich ausgedehnter Zeit und
zur Zeitlosigkeit komprimierter Zeit im Sinne des ewigen Augenblicks zu
denken. In der Ewigkeit Gottes ist daher irdische Zeit als aufgehoben
aufzufassen, aber dennoch nicht als unzeitlich. 68
Geht man so von Gott als schöpferischem Zentrum der Zeit aus,
dann hat man es aus seiner Sicht mit einer Gleichzeitigkeit aller Tode und
eo ipso dann mit einer Gleichzeitigkeit der Auferstehung aller Toten zu
tun, auch wenn diese Tode und das Ende der Welt in unserer geschöpf-
lichen Zeitperspektive nacheinander geschehen.
Unter diesen Bedingungen läßt sich folgendes sagen: Jeder Tod in
unserer Zeit bedeutet dann zugleich Teilnahme am alle betreffenden End-
gericht, und die universale leibhafte Auferstehung aller fällt mit der Auf-
erstehung Christi zusammen, auch wenn es uns auf unserer Zeitschiene
anders erscheint. 69 Das gilt konsequent auch für das Ende der Welt. Dann
ist das Ende unserer Geschichte für Gott präsent, auch wenn es uns noch
nicht so zu sein scheint und das Ende der Welt noch aussteht. Damit ist
67 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Band III, Stuttgart 31981, S. 459 ff.
68 Gottes Ewigkeit ist, um mit Dalferth zu reden, als Einheit von Zeitlosigkeit und Vielzeitig-
keit zu denken; vgl. I. Dalfert, Gott und Zeit, in: D. Georgi, M. Moxter, H.-G. Heimbrock,
Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994, S. 9⫺34, hier S. 30.
69 Insofern stellt dann die Behauptung der leibhaften Aufnahme Mariens in den Himmel eine
⫺ sit venia verbo ⫺ banale Selbstverständlichkeit dar. Denn ihr geschieht nur, was alle
Gläubigen erwartet und was alle Gläubigen mit ihr erleben.
die Offenheit der Geschichte aus unserer Perspektive ebenso gewahrt wie
die Vollendung der Geschichte in Gott.
Unter der Voraussetzung, daß Gott Schöpfer der Zeit und heilsge-
schichtlicher Akteur in der Zeit ist und die Auferstandenen an seinem
Zeitverhältnis partizipieren, läßt sich dann auch Luthers Grabrede über
einen lieben Freund verstehen, mit der ich schließen will. Darin preist er
Urbanus Rhegius als bereits Auferstandenen: »»Selig sind die Toten«, sagt
die Schrift, »die im Herrn sterben.« Deshalb sollen wir wissen, daß auch
unser Urbanus, der in wahrer Anbetung Gottes und im Glauben an Chri-
stus beständig gelebt und der Kirche treu gedient hat, selig ist und das
ewige Leben und ewige Freude hat in der Gemeinschaft Christi und der
himmlischen Kirche, da er jetzt selbst lernt, sieht und hört, worüber er
hier nach Gottes Wort gehandelt hat.« 70
SUMMARY
This essay describes a problem, that German protestant theology has faced for nearly
a hundred years. The problem derives from a theory of death, which spread among theolo-
gians in the first decades of the 20th century. In contradiction to traditional doctrine they
interpreted death not as the moment, when the immortal soul seperates from the body, but
as the moment in time, when human life comes to its absolute end. That means, they denied
the idea of an immortal soul. Accordingly they interpreted the resurrection of the dead as a
radically new creation. This theory, named Ganztodtheorie, caused an unsolvable problem,
that can be described as follows: How can one be sure, that it is exactely he, who becomes
resurrected and not a newly created double? Christian Henning discusses the answers to this
question, that had been given by Carl Stange, Paul Althaus, Werner Elert, Karl Barth, Eber-
hard Jüngel and Wolfhard Pannenberg and finally presents his own solution. In doing so he
modifies the traditional idea of the immortality of the soul.
70 WA 53,400,17 (im Original lateinisch); Übersetzung nach F. Heidler, Luthers Lehre von
der Unsterblichkeit der Seele, S. 48.