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Der hier veröffentlichte Text Jean-Luc Nancys ist nach dem bereits auf Faust-Kultur

publizierten Beitrag „Heidegger und wir“ ein weiterer ‚Einwurf‘ des französischen Autors zur
Sache „Martin Heidegger und der Antisemitismus“. Die Debatte darüber, wie Heideggers
politisches Verhalten im Dritten Reich zu verstehen ist, ist nicht neu. Sie wurde durch
Philosophen wie Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-
Pierre Faye und Pierre Bourdieu, um nur einige zu nennen, früh angeregt. Aktualität hat sie
gewonnen durch die letztjährige Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ Heideggers im
Rahmen der im Verlag Vittorio Klostermann erscheinenden Gesamtausgabe und der darin
von vielen Kommentatoren als deutlich „antisemitisch“ bewerteten Passagen. Deren
Brisanz wurde durch die Veröffentlichung eines mit „Heidegger und der Mythos der
jüdischen Weltverschwörung“ betitelten Kommentars vom Herausgeber der „Schwarzen
Hefte“, Peter Trawny, noch verschärft. Einer seiner Kritiker ist der Philosoph Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, Heideggers letzter Privatassistent und leitender Herausgeber der
Gesamtausgabe. Der Streit der herausgebenden Philosophen um das korrekte
Heideggerbild in der Öffentlichkeit mag sich als philologischer Deutungsmachtkampf
darstellen; seine um den Antisemitismusvorwurf kreisende Brisanz betrifft indessen die
Allgemeinheit und bedarf der Aufklärung.
Essay
Tatsachen aus Heften

Von Jean-Luc Nancy

Professor Friedrich-Wilhelm von Herrmann bringt ein Schreiben in Umlauf, das Peter
Trawny und die antisemitischen Äußerungen in zwei der kürzlich erschienenen Bände der
„Schwarzen Hefte“ von Martin Heidegger zum Thema hat. Dieses acht Seiten umfassende
Schreiben wurde von François Fédier und Alexandre Schild ins Französische übersetzt. (1)
Der Tenor dieser Seiten steht so sehr im Widerspruch zu philologischer und philosophischer
Strenge, wie auch zum Menschenverstand und zur Achtung gegenüber den betroffenen
Personen, dass es mir unmöglich ist, nicht mit der größten Entschiedenheit dagegen zu
protestieren.

Was sagt Professor von Herrmann?

Erstens, dass Peter Trawny, der Herausgeber besagter Bände, in Bezug auf diese ein
„absolut unphilosophisches“ Buch veröffentlicht habe, in welchem er Heidegger
„diffamiert“, indem er seinem Denken einen antisemitischen Zug anlastet. Solcherart habe
er sich einer „Hetzkampagne“ gegen Heidegger hingegeben.

Zweitens, dass der Grund der Diffamierung ganz klar darin liege, dass „diese Textstellen
keinen systematischen Baustein des unauflöslich an die Seinsgeschichte gebundenen
Denkens bilden“.

Dieser Grund trägt keinen Augenblick.


Zuallererst enthält er sich vollständig einer Erklärung der Anwesenheit dessen, was hier
„Textstellen“ genannt wird. Aus der Feststellung, dass Heidegger das „Weltjudentum“
durch Züge kennzeichnet, die für ihn den Zustand des neuzeitlichen Abendlandes
beschreiben, schließt Professor von Herrmann dann: „die Tatsache, dass er das
‚Weltjudentum‘ eigens benennt und es zum Träger seiner Kritik macht, obwohl die
Charakterisierung, die er hier herausarbeitet, gleichermaßen für die ganze Epoche der
Neuzeit zutrifft, diese Tatsache muss als Reaktion auf den Geist seiner Zeit verstanden
werden“. Dies bedeutet zumindest, dass Heidegger in Anlehnung an eine Kritik der
„Neuzeit“ den banalsten Antisemitismus seiner Zeit wiederholt, wobei zu verstehen bleibt,
weshalb diese Kritik es nötig hat — wie wenig auch immer — von einem vulgären Denken
bekräftigt zu werden. Aber es bleibt auch zu verstehen, weshalb die wesentlichen Züge des
neuzeitlichen Abendlandes sich in einer ethnisch-kulturell bestimmten Identität
konzentriert finden — ausgerechnet in jener, die damals und schon seit geraumer Zeit die
Angriffsfläche einer extrem groben Denkströmung bildete, die selbst von eigens fingierten
Schriften (wie den berühmten „Protokollen der Weisen von Zion“) genährt wurde.
Aber da ist mehr — viel mehr. Im Gegensatz zu den Behauptungen von Professor von
Herrmann ist der Anschluss der antisemitischen Äußerungen an das „systematische
Denken“ vollkommen klar. Der unvoreingenommenste Leser kann sich davon überzeugen,
und es genügt hier ein entscheidendes Beispiel: Die Bodenlosigkeit* und die Abwesenheit
der Geschichte oder des Geschicks (Geschichtslosigkeit*) sind zwei bestimmende Züge der
„Neuzeit“. Nun aber teilen Heidegger zufolge die Juden nicht nur diese Züge, sie tragen
oder verkörpern sie gar in einer besonderen Schärfe (bezieht man sich auf S. 97 von Band
95, wo ihnen „die größere Bodenlosigkeit“ zugeschrieben wird).

Hier ist nicht der Ort, diese Analyse zu entfalten. Ich behalte mir vor, dies anderswo
„systematisch“ zu tun. Aber es steht außer Frage, dass der Antisemitismus einen
bestimmten Platz im gedanklichen Dispositiv dieser Bände besetzt. Welche Schlüsse es
daraus zu ziehen gilt, bleibt eine andere Frage. Ich ziehe nicht den Schluss, Heideggers
gesamtes Werk undifferenziert zu verwerfen — denn es handelt sich auf jeden Fall um
philosophisches Denken und nicht um eine simple „moralische Verteufelung“, wie es
Professor von Herrmann zu glauben scheint.

Dieser Professor sorgt sich sehr viel mehr um das öffentliche Bild seines Meisters als um die
Tragweite und die philosophische Anbindung der Texte, die es zu lesen gilt. Man versteht
gut, warum er es vorgezogen hätte, sich nicht zu diesen Texten äußern zu müssen, denn
genau das schafft er nicht. Ohne sich zu erklären, betreibt er Haarspalterei, überlässt sich
Vagheiten („Reaktion auf den Zeitgeist“), und vor allem Verwünschungen, für die er keinen
Nachweis anführt. Das Buch von Peter Trawny über diese Texte Heideggers ist ein
vollkommen sachliches und maßvolles Buch, das einen klaren Blick auf die textuelle
Situation freigibt, nur wohldosiert interpretiert und lediglich ein paar heuristische Wege
vorzeichnet. Kurz, sein Autor hält sich an das, was er unumgänglich dem Urteil aller
unterstellen musste, nachdem er die Arbeit der gewissenhaften Edition der Texte einmal
getan hatte.

Da sich Professor von Herrmann zudem nicht nehmen lässt, perfide Unterstellungen
bezüglich insinuierter persönlicher Interessen seines Kollegen Trawny vorzutragen,
präzisiere ich hier sehr deutlich, dass ich mit letzterem in keiner besonderen Verbindung
stehe und keinerlei Bestreben seinerseits wahrgenommen habe, Unterstützer um sich zu
scharen. Ich habe an einer Tagung über die „Schwarzen Hefte“ in Wuppertal teilgenommen,
ohne mich dort im geringsten aufgefordert gefühlt zu haben, eine Position mehr als die
andere zu vertreten. Die Publikation der Beiträge dieser Tagung wird zweifellos erlauben,
besser zu beurteilen, was hier tatsächlich auf dem Spiel steht.
1 Leider lag die deutschsprachige Version des Textes von F.-W. von Herrmann der
Übersetzerin nicht vor, daher wurden die französischen Zitate so wortgetreu wie möglich
ins Deutsche rückübertragen.

Aus dem Französischen von Kathrin Lagatie und Esther von der Osten

https://faustkultur.de/2148-0-Nancy-Tatsachen-aus-Heften.html (31.08.2018)

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