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Die journalistische Zeit für das heikle Thema „Heidegger und der Nationalsozialismus“

scheint erneut abgelaufen zu sein. Jean-Luc Nancys Stellungnahme, in der er das erörtert,
was er mit Peter Trawny, dem Herausgeber von Heideggers „Schwarzen Heften“, als
„seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ bezeichnet, kommt absichtsvoll ein halbes Jahr nach
Erscheinen der „Hefte“, weil sie auch auf den medialen Streit um Heidegger antwortet, der
vor allem in Frankreich ausgetragen wurde.
essay
Heidegger und wir

Von Jean-Luc Nancy

Dass Heidegger den Antisemitismus teilte, der das Europa der Dreißigerjahre beherrschte,
konnte seit fünfzig Jahren niemand bezweifeln, auch wenn man in seinen Texten keine
entsprechende Erklärung fand.

Aus den Schwarzen Heften erfahren wir in dieser Hinsicht nichts Neues. Die Aufregungen
und Verurteilungen, die sie zur Folge hatten, zeugen vielmehr von einer Naivität, die schwer
zu verstehen ist. Haben wir nicht längst die Ausschließung, ja sogar die Verwerfung des
jüdischen oder judeo-christlichen Ursprungs durch das Denken eines archi-originären
Griechenlands analysiert? Lyotard, Derrida, Lacoue-Labarthe in erster Linie und noch viele
andere (Levinas, Granel, Haas, Courtine, Zarader, Janicaud, Marion, Badiou, um nur einige
Franzosen zu nennen) können vorgeladen werden, um auf verschiedene Weisen von der
luziden Umsicht, mit der Heidegger bedacht worden ist, Zeugnis abzulegen. Zuerst muss
man lesen, das versteht sich von selbst, dann muss man sich an die Arbeit machen, anstatt
wild zu gestikulieren. (Lesen: zum Beispiel in Derridas Psyche II den sehr klaren Nachweis
eines vollkommenen Bewusstseins von Heideggers Antisemitismus. Im Blick auf die
Rektoratsrede spricht er von dem, was „eine archaisierende Reaktion gegenüber dem
einfachen Handwerker gestattet und den Handel und das Kapital anprangert, Begriffe, von
denen man gut weiß, mit wem sie damals in Verbindung gebracht wurden“. Es könnte nicht
klarer sein.)

Ebensowenig hat man versäumt, Heideggers beharrliches, rücksichtsloses und


unerträgliches Schweigen über die Vernichtungslager anzuklagen. Vielleicht hat dieses
Schweigen sogar etwas mit dem zu tun, was die Hefte beinhalten.

Stellt die Publikation dieser Hefte neue Fragen? Ja, aber welche eigentlich?

Man muss sich fragen, warum Heidegger die Erwähnungen in seinen Heften, denen das
vorbehalten bleibt, was Peter Trawny, deren Herausgeber, sehr richtig als
„seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ bezeichnet, aus allen seinen veröffentlichten Texten
ausgeschlossen hat.

Eine zweite Frage ist, unabhängig von unserem Verhältnis zu Heidegger, an uns adressiert.
Sie geht nicht allein aus diesen Heften hervor, aber sie reaktivieren sie: Sind wir uns wirklich
darüber im Klaren, was im Antisemitismus auf dem Spiel steht? Wissen wir also wirklich,
welchen Vergehens Heidegger schuldig ist? Denn er ist es, wie so viele andere – aber
welchen Vergehens eigentlich? Worum geht es im Antisemitismus? Das ist eine niemals
hinlänglich noch jemals gut gestellte Frage, eine Frage, die an alle adressiert ist, nicht allein
an Heidegger (noch allein an die offensichtlichen oder erklärten Antisemiten).

Zur ersten Frage kann man eine vorläufige Antwort skizzieren. Heidegger hat jede
Erwähnung des Antisemitismus (und des Anti-Judeochristentums) aus seinen Schriften
ausgeschlossen, weil er wusste, dass er sich dadurch auf einen dieser zwei Wege würde
einlassen müssen: entweder sich dem nazistischen Biologismus anschließen, den er
verachtete (siehe dazu die Beiträge), oder begründen, dass der Antisemitismus im Denken
des Schicksals des Abendlandes eine strukturelle Rolle spielt, was diesen Gedanken in
Verlegenheit hätte bringen können. Indem er diesem zweiten Unternehmen ausweicht,
zeigt Heidegger, dass er es nicht riskieren konnte oder dass er es nicht wagte, es zu
riskieren: sei es auch gegen seinen Willen, so muss er dessen Inkonsistenz geahnt haben. Er
ahnte, dass dieses Unternehmen schwach und waghalsig sein würde, dass es sogar im
Widerspruch zu den eigenen Ansichten stünde. Also zog er es vor, die Juden zusammen mit
den Amerikanern, den Bolschewiken, der Technik und dem Kapital in globaler Manier
zurückzuweisen … Damit rührt er an eine Grenze seines Denkens.

Die zweite Frage schaltet sich hier ein: Ist diese Grenze nicht noch die unsrige, wenn wir die
Grundverfassung – die „spirituelle“ Verfassung, wie Lacoue-Labarthe sagte – des
Antisemitismus im Abendland kaum oder falsch bedenken? Einen Hinweis hat Hegel
gegeben, indem er vom jüdischen Volk als dem Zeugen des „unglücklichen Bewusstseins“
sprach. Aber man wollte nicht wissen, was das eigentümliche Unglück des Abendlandes
war, und man verheimlichte sich den beständig wachsenden Schmerz. Selbst die
dreyfusardische Vitalität und Tugend sind am Grundproblem vorbeigegangen (wovon
Blanchot zeugt, der die Lehre aus der „Affäre“ zieht, indem er die Ethik des Gesetzes zu
überholen versucht.) (1)

Freud sieht im Christentum eine Anklage gegen den von den Juden vergessenen Vatermord.
Aber diese Anklage ist die Umdeutung eines Missstandes: Was hat man getan, indem man
den unvorstellbaren Gott zu einem Menschen machte? So wird das Judentum der Diaspora
zur Repräsentation dessen, was das Christentum verraten hatte: die Trennung der beiden
Reiche. Und das Verbot, die Erde zu besitzen, wird die Juden dazu gedrängt haben, den
Makel der Zinswirtschaft auf sich zu nehmen.

Diese Anhaltspunkte genügen, um auf das Wesentliche eines im Grunde


„seinsgeschichtlichen“ Antisemitismus hinzuweisen: Das jüdische Volk wurde als das Übel
identifiziert, dessen unbegrenzten Wissens- und Machtzuwachs das Abendland meinte, zu
seiner Verteidigung ausgleichen zu müssen. Heidegger zufolge muss dieser Zuwachs (die
Technik, das Kapital, die normative Vernunft) aus einem Vergessen verstanden werden,
dem Ursprung und Bestimmung des Abendlandes anheimgefallen sind. Die Juden, Rom und
das Judeochristentum mussten, durch phantasmatische Substitution, die Zeugen und
zugleich die Agenten dieses Vergessens – das jedoch mit Platon begann … – sein.

Damit wird verständlich, wie Heidegger auf zwei heterogenen Seiten hat denken können.
Einerseits eröffnet er die sogenannte Frage „nach dem Sein“: Er revidiert von Grund auf,
was bis zu Husserl als „Transzendenz“ bezeichnet worden ist. Wir sind noch nicht fertig mit
dieser Revision, die nicht darauf angewiesen ist, antisemitisch zu sein. Andererseits will
Heidegger, auf eine im Grunde sehr konformistische und mythologisierende Weise, dass
diese Geste ein „Schicksal“ des Abendlandes aus einer einzigartigen, ausschließlichen,
exklusiven, ja sogar exterminierenden Herkunft wiederbelebt. Die Geschichte war die
Wiederaneignung dessen, was die Existenz hat zerstreuen sollen. Darum ist es genau die
Kehrseite von Heidegger, auf der Derrida (der seit 1964 das Motiv der Geschichte bei
Heidegger studierte) das Wort „destinerrance“ („Schickungsirre“/„Irrgeschick“) aufschrieb.
Wir können es auf zweierlei Weise interpretieren:
1) Die Idee eines Schicksals war Heideggers Irrtum.
2) Es liegt nun bei uns, das abendländische Schicksal von seinem Weg abzubringen, ja sogar
irrezuführen, um derart mit dem Antisemitismus Schluss zu machen.

Das, was folgt, bildet selbstverständlich nur einen kurzen und vorläufigen Hinweis. Selbst
noch das Schicksalsmotiv bei Heidegger bleibt aufzudröseln. Werner Hamacher hat mir zum
Beispiel nahegelegt zu erwägen, dass „destinerrance“ von Heidegger stammen könnte.
Vielleicht gibt es bei ihm zwei Register oder zwei Bedeutungen des „Schicksals“. Zweifellos
gibt es dort Denkressourcen, und zwar solche, die uns immer wieder in die Pflicht nehmen,
über unsere Herkunft und somit über unsere Zukunft nachzudenken.

1 Ohne Blanchot Heidegger anzugleichen oder sie sogar einander entgegenzusetzen, bin ich
notwendigerweise von der Analyse des Denkens Blanchots überzeugt, die ich in La
Communauté Désavouée (Galilé, 2014) vornehme.

Aus dem Französischen von Alexandru Bulucz

https://faustkultur.de/1908-0-Nancy-Heidegger-und-wir.html (31.08.2018)

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