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PHILOSOPHISCHES SEMINAR
15.02.2005
Vorgelegt von:
Klaus Martin Jaekel
HF: Philosophie
NF: Gender Studies, Kunstgeschichte
Stresemannstr. 85
22769 Hamburg
martinjaekel@yahoo.de
Inhalt
Seite
2. Einige Annäherungsversuche 3
3. Exkurse 10
4. Schluss 15
Literatur 16
1. Anstelle einer Einleitung
1.1 Notwendige Präliminarien zu einem sensiblen Unterfangen
Ursprung ist das Ziel – dieser Ausspruch entstammt nicht etwa der Feder eines Kommentato-
ren Martin Heideggers; er findet sich in Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Ge-
schichte“1. Als – zugegebenermaßen ephemere – Spur soll er Vorbehalten begegnen, die sich
ob des auf den ersten Anschein doch recht merkwürdigen Versuchs einstellen mögen, zwei so
disparate Denker wie Heidegger und Benjamin in eine gemeinsame Arbeit zu zwängen. Ob er
über die bloße semantische Äquivokation hinaus auf weitergehende sachhaltige Konvergen-
zen verweist, wird sich im Lauf der Arbeit erweisen müssen. Gehandelt werden soll von der
Geschichte und deren Wissenschaft. Ihnen widmete Heidegger ein Kapitel seines frühen
Hauptwerks „Sein und Zeit“2, das sich im Rahmen seiner zu Zwecken größerer fundamenta-
lontologischer Bemühungen zunächst unternommenen Daseinsanalyse mit dem Existenzial
der Geschichtlichkeit beschäftigt. Benjamins Thesen, die er kurz vor seinem Tod im Jahre
1940 niederschrieb, sind in aphoristischer Form verfasste methodische Erwägungen, die um
Geschichte, Geschichtsphilosophie sowie die Rolle des Historikers kreisen.
Die Unterschiede zwischen Heidegger und Benjamin könnten für den naiven Blick schroffer
kaum sein. Benjamin auf der einen Seite, Kosmopolit und Weltbürger, Flaneur in den Passa-
gen von Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“3, einem dialektischen Materialismus
verpflichtet. Heidegger dagegen, deutsch und provinziell, der sich in der bäuerlichen Isolation
seiner Todtnauberger Hütte in ontologische Tiefen gräbt. So unvermittelt, ja antagonistisch
das Leben und Denken der beiden Solitäre sich auch ausnehmen mag, so zwangsläufig wur-
den sie – durch die Übermacht des „gesellschaftlichen Schuldzusammenhangs“ (Benjamin)
respektive der „Seinsgeschichte“ (Heidegger) – in die gemeinsame Konstellation der zeitge-
schichtlichen Situation verwiesen. Benjamin und die Thesen von 1940 wären an deren Ende
anzusiedeln - kein Ende des realen Schreckens, der zu diesem Zeitpunkt erst eine Steigerung
1 Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt
a.M. 1965. Als Fragment aus dem Nachlass ermangelte den Thesen ein von Benjamin selbst stammender Titel,
sie werden daher in der Literatur sowohl als „Geschichtsphilosophische Thesen“ wie auch als Thesen „Über den
Begriff der Geschichte“ geführt. Das Motto ist ein Zitat von Karl Kraus, es ist der 14. These vorangestellt. Die
Wiederkehr der Tragödie gerät in diesem Fall, anders als von Marx prophezeit, weniger zur Farce denn zur Sati-
re.
2 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1960.
3 So der Titel von Benjamins geplantem Hauptwerk.
1
ins Unermessliche erfuhr, jedoch ein Ende im auf makabre Weise verkehrten Sinn eines im-
manenten Telos. Wenn man in der geschichtlichen und politischen Forschung mittlerweile
dazu neigt, den Nationalsozialismus von seinem Ende, der Judenvernichtung her zu interpre-
tieren, so geschieht es in dem Bewusstsein, dass diese äußerste Konsequenz das eigentliche
Signum jener Dikatur gewesen ist, eine Konsequenz, die auch in den Anfängen der Bewegung
schon immanent enthalten war und diese letztlich nur zur Kenntlichkeit entstellt hat. Das tra-
gische Schicksal des Juden Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor der Gestapo an der
französich-spanischen Grenze in den Selbstmord getrieben wurde, steht so exemplarisch für
das nicht minder grausame jener Millionen, die in den Konzentrationslagern den Tod fanden
und das Benjamin in seinen Schriften bereits antezipiert hatte, zögerlich allerdings, als kom-
promittiere das Zugeständnis dieser Einsicht bereits den Versuch, das Unabwendbare doch
abzuwenden. Es scheint nicht unplausibel, die Thesen als Verdichtung dieser Erfahrung im
Augenblick äußerster Gefahr zu lesen, die zu einer grundlegenden Verschiebung im Verständ-
nis von Geschichte nötigt, gleichzeitig durch ihr schockhaftes Moment die für eine mögliche
Rettung der Zukunft unabdingbare unverdeckte Einsicht in die Bestimmungsgründe des wal-
tenden Verhängnisses ermöglicht. Wie ist es dagegen um das andere Ende bestellt, um den
Anfang, dem diese weltgeschichtliche Katastrophe entsprungen ist; als Entsprungenes zwar,
also Verschiedenes und mit eigener Qualität Versehenes, aber ebenso als Entsprungenes, also
von ihm in wesentlicher Weise Determiniertes und Abhängiges? Wäre es ein Zuviel an inter-
pretatorischer Freiheit, zusammen mit der Machtergreifung auch die Rektoratsrede Heideg-
gers und seine nationalsozialistisch imprägnierten hochschulpolitischen Aktivitäten jener Zeit4
zu nennen, ja sogar noch weiter auszugreifen und auf der Suche nach inhaltlichen Kontinuitä-
ten und etwaigen Prädispositionen schließlich bei Sein und Zeit und dem Jahr 1927 zu landen?
Gegen allzu naive Deduktionen Heideggers politischer Betätigung aus seinem philosophi-
schen Denken und gegen eine allzu kurzschlüssige Zuweisung der Rollen von Opfer und
Henker5 melden sich Bedenken, die zu Recht einen asketischeren Rekurs auf Textimmanentes
4 Diese sind mittlerweile ausreichend dokumentiert, beispielsweise in Farias, Victor: Heidegger und der Natio-
nalsozialismus, Frankfurt a.M. 1989; Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine
Zeit, München und Wien 1994; oder auch Ott, Hugo: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frank-
furt a.M. 1992.
5Beides findet sich – in sehr scharfer Form – etwa bei Adorno, so der berühmte Ausspruch, Heideggers Philoso-
phie sei „bis in ihre innersten Zellen faschistisch.“ (Adorno, Theodor W.: Brief an die Studentenzeitung
„Diskus“, in: Gesammelte Schriften (GS) 19, Frankfurt a.M. 1997, S. 638) Und an anderer Stelle: „Im anhei-
melnden existentiellen Klima verschwimmt der Unterschied von Henkern und Opfern, weil beide doch glei-
chermaßen in die Möglichkeit des Nichts hinausgehalten seien, die freilich im allgemeinen den Henkern be-
kömmlicher ist“ (Adorno, Theodor W.: GS 11, S. 424).
2
fordern. Dem will die vorliegende Arbeit gerne nachkommen, nicht jedoch ohne anzumerken,
dass die Deutung als Konstellation, auch dem astronomischen Ursprung der Metapher gemäß,
nicht der subjektiven Willkür entstammt. Zwar sind die Sterne anders im Universum verteilt,
als sie uns am Firmament erscheinen, und fügen sich nur in der Perspektive des Betrachters zu
einem Zusammenhang, in dem weiter Entferntes gleichberechtigt zu Näherem tritt. Dieser
beruht also auf einer Konstruktion – obwohl doch andererseits die Sterne an sich keine Ema-
nationen subjektiven Geists sind, sondern tatsächlich ihren Platz im Kosmos behaupten. Dies
mag den Kunstgriff rechtfertigen, für eine erste Annäherung ausgerechnet den Nationalsozia-
lismus heranzuziehen. Und dennoch: Auch nach Aufhebung der unmittelbaren Beziehungslo-
sigkeit zwischen Heidegger und Benjamin bleibt eine vermittelte Differenz bestehen, die an
Schroffheit wenig verloren zu haben scheint. Ist also die anvisierte Vermittlung von Anbeginn
zum Scheitern verurteilt?
6Vgl. Mörchen, Hermann: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsver-
weigerung, Stuttgart 1981.
7 Ebd., S. 13.
3
lyserahmen, der Mörchens Bemühungen anleitet. Philosophischer Streit ereignet sich für ihn
auf persönlicher Ebene, ist eine psychologisierend zu beantwortende Frage von Rancune, Ani-
mositäten, ja sogar Idiosynkrasien.8 Es will ihm nicht in den Sinn kommen, dass für die Kriti-
sche Theorie weniger die Person Heideggers und seine möglichen Verfehlungen, sondern der
Sachgehalt seiner Philosophie von Interesse sein könnte. Heidegger steht insofern nur als her-
ausragender Stellvertreter neuontologischer Denkströmungen im Fokus der Kritik, die wie-
derum exemplarisch im Rahmen einer dialektischen Analyse moderner Philosophie kritisiert
werden.9
Dass Mörchen also vor allem Adornos Intentionen im Kern verfehlt, beweist ein Detail, das
hier allerdings auf unerbittliche Weise die Allgemeinheit zum Ausdruck bringt: Sein Buch
führt nicht nur den Begriff der Kommunikation im Titel, sondern ist durchzogen von ähnli-
chen Vokabeln wie „Gespräch“, „Begegnung“, „Dialog“, oftmals sogar – horribile dictu – mit
dem adelnden Epipheton „echt“ versehen. Es ist Mörchen offensichtlich nicht bewusst, dass
es gerade derartige Vorstellungen sind, in denen Adorno Spielmarken des verhassten Jargons
erkannte und gegen die er größte inhaltliche Vorbehalte hegte, die ernst zu nehmen ein jeder
Versuch verpflichtet wäre, echte Kommunikation zu stiften.
Was Walter Benjamin angeht, scheint die Sachlage wesentlich unkomplizierter. Zwar äußerte
er in diversen Briefen scharfe Kritik an Werken Heideggers, doch darüber hinaus ist wenig
explizite Auseinandersetzung bekannt. Auch war seine Position innerhalb der Kritischen
Theorie eher die eines Einzelgängers, der nicht nur in literatur- und kunstphilosophischen
Fragen, sondern vor allem aufgrund seines zur Praxis drängenden, auf Konkretion und Unmit-
telbarkeit zielenden materialistischen Denkens von der dialektisch-abstrakten Reflexivität ei-
nes Adorno sich unterschied. Und so war es Hannah Arendt vorbehalten, die Benjamin im Pa-
riser Exil kennenlernte, eine erste posthume Vereinnahmung zu wagen: „Mit Heideggers gro-
8Dessen macht sich auch Rüdiger Safranski in seiner Heidegger-Biographie schuldig, vg. Safranski,
Rüdiger:a.a.O., S. 468-489.
9Beispielsweise in der Negativen Dialektik Adornos, vgl. Adorno, Theodor W.: GS 6. Das von einer Feindschaft
Adornos gegenüber Heidegger sprechende Alltagsverständnis ignoriert die reflexiv gebrochene Weise, in der
Adorno die neuen Ontologien kritisiert: Als Ausbruchsversuche aus einem total gewordenen Idealismus, als
Ausdurck eines „ontologischen Bedürfnisses“ ist ihnen durchaus ein – allerdings partikularer – Wahrheitsgehalt
zuzugestehen.
4
ßem Spürsinn ... hatte Benjamin, ohne es zu wissen, im Grunde erheblich mehr gemein als mit
den dialektischen Subtilitäten seiner marxistischen Freunde.“10
Ob dieses Urteil, das sich wohl zu einem nicht unerheblichen Teil aus Arendts notorischer
Feindseligkeit gegenüber Benjamins marxistischen Freunden speist, in der proklamierten All-
gemeinheit Gültigkeit besitzt, darf bezweifelt werden. Außer Frage steht jedoch, dass auch
andere Autoren gerade für den Bereich der Geschichte und der Geschichtswissenschaft auf
Gemeinsamkeiten Heideggers und Benjamins hingewiesen haben. Lienkamp beispielsweise
sieht beide vereint in der Kritik an den Geschichtsbildern des Historismus und fortschritts-
gläubiger Geschichtsphilosophien. Beide integrierten in charakteristischer Weise theologische
Versatzstücke in ihre Philosophie, für beide stelle die Tradition mehr als ein nur neutrales
Aufbewahrungsmedium akkumulierter Geschichte dar, bei beiden vereinten sich konservative
und revolutionäre Gehalte zu einer irreduziblen Verbindung.11 Heidbrink geht noch weiter und
findet bei beiden die „Diagnose einer katastrophischen und verfallsgeschichtlichen Neuzeit,
die nur noch durch den Einbruch einer ‚ganz anderen’, quasi-göttlichen Zeit gerettet werden
kann.“12 „Beide“, so Heidbrink weiter, „gehen von einem Begriff der homogenen und leeren
Zeit aus, dem die ‚eigentliche, ‚erfüllte’ und ‚ursprüngliche’ Zeit gegenüber gestellt wird.“13
Diesen Indizien soll im Folgenden vertiefend nachgegangen werden. Dazu wird ein kritischer
Blick unter die Oberfläche gemeinsamer Begriffsverwendungen und thematischer Äquivalen-
zen vonnöten sein, denn die Arbeit möchte der vorläufigen These folgen, dass sich Unter-
schiede ums Ganze oftmals unter scheinbaren Ähnlichkeiten verbergen: „Aber wie die ent-
scheidenden Differenzen zwischen den Philosophen allemal in Nuancen sich verstecken, und
wie am unversöhnlichsten zueinander steht, was sich ähnelt, aber aus verschiedenen Zentren
gespeist ist, so verhält Benjamin sich zu der heute akzeptierten Ideologie des Konkreten.“14
10 Arendt, Hannah: Walter Benjamin – Bertolt Brecht. Zwei Essays, München 1971, S. 57..
11Vgl. Lienkamp, Christoph: Griechisch-deutsche Sendung oder messianische Historie. Zur geschichtsphiloso-
phischen Auseinandersetzung mit Nietzsche bei Walter Benjamin und Martin Heidegger, in: Allgemeine Zeit-
schrift für Philosophie 21 (1996), S. 63-78.
12Heidbrink, Ludger: Kritik der Moderne im Zeichen der Melancholie. Walter Benjamin und Martin Heidegger,
in: Garber, Klaus / Rehm, Ludger (Hrsg.): global benjamin, München 1999, S. 1206-1229, S. 1209.
13 Ebd., S. 1224.
14 Adorno, Theodor W.: Charakteristik Walter Benjamins, in: GS 10.1, S. 240.
5
Einige methodische Bemerkungen scheinen daher erforderlich. Um die verschiedenen Zentren
in ihrem Kern zu erfassen, ist es unentbehrlich, die sozialen und politischen Hintergründe und
Kontexte zu beleuchten, in denen die Philosophien standen und deren Einfluss sie aufnahmen.
Zusätzlich zu der sich auf die primären Texte konzentrierenden Auslegungsarbeit soll also de-
ren Wechselwirkung mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskursen einbezogen werden –
nicht im Sinne von simplen Ableitungen, sondern als Komplement zu einer immanenten
Hermeneutik. Wie Adorno bemerkte, ist Kritik an Philosophie „immer nur möglich als eine an
ihrer eigenen Wahrheit, und der bloße Verweis darauf, daß sie mit irgendeinem gesellschaftli-
chen Zustand positiv oder negativ etwas zu tun habe, hat ihr gegenüber keine kritische
Kraft.“15
Aus Platzgründen wird sich die Arbeit eines detaillierten Nachvollzugs der Argumentations-
gänge enthalten müssen und stattdessen die Analyse um thematische Brennpunkte versam-
meln, die sowohl bei Heidegger als auch bei Benjamin auftauchen. Dass dem Resultat so un-
weigerlich ein Moment des Willkürlichen anhaftet, ist wohl nur mit Verweis auf die Hoffnung
zu rechtfertigen, es möge an ihm auf exemplarische Weise einiges über seine beschränkte
Form hinaus auf wesentliche Dimensionen Verweisendes zum Ausdruck kommen.
15 Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M. 1996, S. 225.
16 Heidegger, Martin: a.a.O., S. 373.
17 Ebd., S. 374.
18 Ebd., S. 375.
6
der für die Sorgestruktur konstitutiven Zeitlichkeit gründen und kann ontologisch nicht mit
Hilfe der vulgären Auffassung eines Geschehens in der Zeit geklärt werden:
„Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins versucht zu zeigen, daß dieses Seiende nicht ‚zeit-
lich’ ist, weil es ‚in der Geschichte steht’, sondern daß es umgekehrt geschichtlich nur existiert
und existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist.“19
In der Exposition treten Geschichte und Geschichtlichkeit noch als individuelle Phänomene
auf, es geht um das Geschehen des einzelnen Daseins. Dessen eigene Zeitlichkeit hatte Hei-
degger in ihren drei Ekstasen beschrieben als vorlaufende Entschlossenheit, das Zurück-
kommen aus dem Tod und die Übernahme der eigenen Geworfenheit. Das aus dem Konfor-
mismus des Man herausreißende und das Dasein vereinzelnde Vorlaufen in den Tod fungierte
als Differenzierungskriterium der Eigentlichkeit, es war mit ihm jedoch keine inhaltliche Be-
stimmung verbunden. „Die faktisch erschlossenen Möglichkeiten der Existenz sind aber doch
nicht dem Tod zu entnehmen.“20 Der Inhalt des Entwurfs kann nicht aus der Zukünftigkeit
der Endlichkeit gewonnen werden, sondern aus der Geworfenheit: Aus dieser schöpft das
Dasein seine Möglichkeiten. Hier tritt nun die gesellschaftliche Dimension hinzu, die bislang
nur negativ in der Form des „Man“ begegnete. In der Geworfenheit spiegelt sich die Tatsa-
che, dass das Dasein in Lebenszusammenhänge hinein geboren ist, über die es keine Verfü-
gung besitzt. Es kann lediglich die im Erbe vorgegebenen Möglichkeiten übernehmen und
sie in einer vereindeutigenden und bestimmenden Wahl, dem Schicksal, zu seinen eigenen
machen.21 So wie das Erbe den überindividuellen geschichtlichen Zusammenhang von Mög-
lichkeiten bezeichnet, ist das einzelne Schicksal in dem größeren Kontext des Geschicks auf-
gehoben: „Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.“22 Auf die
Schwierigkeiten, die mit dieser Konkretisierung eigentlicher Gemeinschaftlichkeit verbunden
sind, wird noch zurückzukommen sein.
In seinem Versuch, die Geschichtlichkeit aus der Zeitlichkeit und der Einheit ihrer Ekstasen
zu klären, ist es Heidegger wichtig zu betonen, dass auch hier eine Dominanz der Ekstase der
19 Ebd., S. 376.
20 Ebd., S. 383.
21Die Nichtung der Zufälligkeit der Existenzmöglichkeiten wird aus dem entschlossenen Freisein für den Tode
verstanden. Es ist interessant, dass Heidegger an dieser Stelle erneut eine Stetigkeit von Eigentlichkeit und Un-
eigentlichkeit zuzulassen scheint: „Je eigentlicher sich das Daein entschließt, das heißt unzweideutig aus seiner
eigensten, ausgezeichneten Möglichkeit im Voraufen in den Tod sich versteht, um so eindeutiger und unzufälli-
ger ist das wählende Finden der Möglichkeit seiner Existenz.“ (ebd., S. 384)
22 Ebd.
7
Zukünftigkeit vorliegt – dem vulgären Verständnis zum Trotz, das Geschichte nur über ihren
Vergangenheitscharakter begreift. Die eigentliche Geschichte gewinnt ihre Grundorientierung
aus der Zukunft, dem Sein zum Tode und der Endlichkeit des Daseins: „Das eigentliche Sein
zum Tode, das heißt die Endlichkeit der Zeitlichkeit, ist der verborgene Grund der Geschicht-
lichkeit des Daseins.“23 Erst das Zurückkommen aus dem Tod auf die Geworfenheit verleiht
„der Gewesenheit ihren eigentümlichen Vorrang im Geschichtlichen.“24
Das Existenzial der Geschichtlichkeit erweist sich so als Möglichkeitsbedingung der Histo-
rie; „die historische Erschließung von Geschichte ist an ihr selbst ... ihrer ontologischen
Struktur nach in der Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt.“25 Die Tatsache, dass das Sein
des Daseins geschichtlich, in seiner Gewesenheit offen ist, ebnet der Geschichtswissenschaft
den Weg zum Vergangenen. Ihr eigentliches Thema möchte Heidegger dementsprechend als
Enthüllung dagewesener Möglichkeiten verstanden wissen. Damit kritisiert er die historisti-
sche Methode, sich unter Vernachlässigung des Zukunftsbezugs allein auf die Sammlung und
Archivierung vergangener Tatsachen zu beschränken. Geschichte soll, wie er mit einem em-
phatischen Rekurs auf Nietzsche verdeutlicht, einen Nutzen für das Leben haben, also so-
wohl kritisch gegenüber der Gegenwart, antiquarisch als verehrende Bewahrung überliefer-
ter Möglichkeiten sowie nicht zuletzt monumentalisch als zukünftig-wiederholendes Verste-
hen dieser Möglichkeiten sein.26 Der Sinn der Vergangenheit existiert nicht objektiv oder
aufgrund der Einfühlung des Historikers, sondern erschließt sich einzig der Wahl des eigent-
lichen Daseins.
23 Ebd., S. 386.
24 Ebd., S. 386.
25 Ebd., S. 392.
26 Vgl. ebd., S. 396f.
8
mins aus dem Schock, den der Hitler-Stalin-Pakt für sein Denken bedeutet hatte.27 Mit ihm
war die endgültige Korrumpierung marxistischer Geschichtsphilosophie zu einer Legitimati-
onsideologie offensichtlich geworden. Nicht nur hatten sich viele Linksintellektuelle in der
Zwischenkriegszeit einer Kritik an der Sowjetunion enthalten, weil sie in ihr den letzten und
einzigen Verbündeten im Kampf gegen den Faschismus sahen; ihre Solidarität verbaute ihnen
geradezu die Einsicht in den wahren Charakter des sowjetischen Systems. Die Thesen sind
frei von derartiger Rücksichtnahme; auf schonungslose Weise wird neben Historismus und
bürgerlich-fortschrittsoptimistischer Geschichtsphilosophie auch der vulgärmarxistische Evo-
lutionismus kritisiert, der für die Geschichtsauffassung sowohl der deutschen Sozialdemokra-
tie wie auch der Sowjetunion charakteristisch war.
Benjamin entwirft ein grundsätzlich verschiedenes Bild der Geschichte. Das wahre Bild der
Vergangenheit vergegenwärtigt die Leidensgeschichte der Unterdrückten. Es ist bedroht, vom
Konformismus, der Geschichtsschreibung der Sieger überwältigt und verschüttet zu werden
und muss ihm stets aufs Neue wieder abgerungen werden. „Denn es ist ein unwiederbringli-
ches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht
als in ihm gemeint erkannte.“28 Für den historischen Materialisten wie für das Subjekt der
Geschichte – Benjamin verschmilzt beide Figuren; Geschichtsschreibung und Geschichts-
praxis – sind es die überlieferten Möglichkeiten, die ihrer Zitation und Aktivierung für die
Gegenwart harren. Mit seiner theologisch aufgeladenen Metaphorik beschreibt Benjamin die
Möglichkeiten als Anspruch der Vergangenheit, genauer: der vergangenen Toten. „Die Ver-
gangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen
wird.“29 Ihre Erlösung ist gefährdet durch den katastrophischen Gang der Geschichte, „die
unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“30: „auch die Toten, werden vor dem Feind, wenn er
siegt, nicht sicher sein.“31 Die Rettung geschieht in Gestalt der Revolution; sie bemächtigt
sich der Tradition durch einen „Tigersprung ins Vergangene ... unter dem freien Himmel der
27Vgl. Scholem, Gershom: Walter Benjamin und sein Engel, Frankfurt a.M. 1992, S. 64. Auf paradoxe Weise
wird so die äußerste Bedrohung durch den Faschismus zu der Möglichkeitsbedingung wahrer Erkenntnis – nicht
unähnlich den einleitenden Sätzen der Negativen Dialektik, die ebenfalls eine negative Möglichkeitsbedingung
zum Inhalt haben: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer
Verwirklichung versäumt ward.“(Adorno, Theodor W.: GS 6, S. 15)
28 Benjamin, Walter: a.a.O., S. 81.
29 Ebd., S. 79.
30 Ebd., S. 85.
31 Ebd., S. 82.
9
Geschichte“ und sprengt „eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit ... aus dem Kontinuum
der Geschichte“32 heraus. Die historistische Praxis ist dem diametral entgegengesetzt. Nicht
nur kommt die „Einfühlung in den Sieger ... demnach den jeweils Herrschenden allemal zu-
gut“, sondern die archivarische Sammlung vergangener Fakten schneidet gerade den not-
wendigen Gegenwarts- und Zukunftsbezug des Gewesenen ab.
Benjamins Kritik des Fortschrittsglauben bürgerlicher und marxistischer Prägung liest sich
auf den ersten Blick ähnlich wie Heideggers Denunziation der Vorhandenheitsontologie und
des vulgären Zeitbegriffs: „Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in
der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden
Fortgangs nicht abzulösen.“33 Und so ist es auch nicht überraschend, wenn seine Fort-
schrittskritik hinter die Phänomene ausgreift und an der Zeitvorstellung ansetzt: „Die Kritik
an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des
Fortschritts überhaupt bilden.“34 Dem Kontinuum der leeren und homogenen Zeit wird das
Konzept einer qualitativ erfüllten Jetztzeit entgegengesetzt – dies wohl eine explizite Ab-
grenzung von Heideggers Zeitphilosophie, die die „Jetztzeit“ mit der uneigentlichen Weltzeit
identifiziert. Der Jetztzeit eignet ein wesentliches Moment der Offenheit, sie ist nicht deter-
ministisch in den ewigen Fortgang der Weltgeschichte eingeschlossen. Ihre Zeitform wäre
eher das erste Futur, das die vergangenen Emanzipationsbewegungen in sich aufnimmt und
tentativ und nichtlinear in die Zukunft weiterdenkt, als die Heteronomie des mit Heideggers
Zeitlichkeit oft in Verbindung gebrachten Futur II – bei Heidegger dient die Zukünftigkeit
nur der retrospektiven Erkenntnis, dass die Freiheit einer wirklichen Wahl nicht besteht, der
Einsicht in den Zwang der Notwendigkeit.35
Die erfüllte Gegenwart, „die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Still-
stand gekommen ist“36, die Jetztzeit, „die als Modell der messianischen in einer ungeheuren
32 Ebd., S. 90.
33 Ebd., S. 89.
34 Ebd.
35Vgl. Sonnemann, Ulrich: Geschichte gegen den Strich gebürstet, in: Bulthaup, Peter (Hrsg.): Materialien zu
Benjamins Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte’, Frankfurt a.M. 1975, S. 231-254, S. 243. Vgl. zu dem
jeder – auch retrospektiven – Teleologie innewohnenden Zwangsmoment auch Sonnemann, Ulrich: Negative
Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Frankfurt a.M. 1981, S. 9f.
36 Benjamin, Walter: a.a.O., S. 91.
10
Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusamenfaßt“37, kann demgemäß auch
nicht durch den dezisionistischen Akt eines Eigentlichen ins Leben gerufen, sondern ver-
dankt sich dem kollektiven revolutionären Entschluß. Sie entspricht weniger einer reinen
Gegenwart als der aufgelösten Trennung von Gegenwart und Vergangenheit, durch die
Längstvergangenes eine neue Aktualität bekommt – nicht als romantische Reprise, sondern
als von einem historischen Zeitraffer verdichtete Fülle.38
Dem revolutionären Augenblick zuzuarbeiten, ist die Rolle des historischen Materialisten.
Auch bei Benjamin besitzt die Geschichte also keinen Sinn, es sei denn, sie bekommt ihn
vom Historiker verliehen. Anders als die von der Universalgeschichte praktizierte additive
Einsortierung der toten Fakten in die homogene und leere Zeit bedient sich die materialisti-
sche Geschichtschreibung einer Konstruktion, die gleichzeitig Deutung und Handlungsent-
wurf ist. Interpretatorisch auf der Suche nach gewesenen Möglichkeiten bringt sie diese in
eine von Spannungen gesättigte Konstellation, in der – paradoxerweise – die Bewegung der
Gedanken stillgestellt wird. Die „Dialektik im Stillstand“39 ist Benjamins charakteristische
Bezeichnung für den vom historischen Materialisten durch seine Konstellation hervorgerufe-
nen Einbruch des Messianischen: „Er [der hist. Materialist] erfaßt die Konstellation, in die
seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen
Begriff der Gegenwart als der ‚Jetztzeit’, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt
sind.“40
3. Exkurse
Der kursorische Problemaufriß eröffnete mehr Fragen, als er zu beantworten vermochte. Die
folgenden zwei Exkurse widmen sich einigen Details, an denen die Analyse kritisch weiter-
geführt werden soll.
37 Ebd., S. 92.
Vgl. Greffrath, Krista: Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Walter Benja-
38
mins, München 1981, S. 57.
39 Die Paradoxie einer „Dialektik im Stillstand“ muss als Gegenbewegung zu der Idee universaler Vermittlung
im Idealismus verstanden werden (Vgl. Tiedemann, Rolf: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter
Benjamins, Frankfurt a.M. 1983). Anders als bei Heidegger soll der Idealismus allerdings nicht durch einen irra-
tionalistischen Sprung überwunden werden, sondern durch eine immanente Kritik, die über ihre eigenen Grenzen
auf das transzendente Telos einer Versöhnung zutreibt.
40 Benjamin, Walter: a.a.O., S. 94.
11
3.1 Geschichte, Gesellschaft und Natur bei Heidegger
In dem Abschnitt „Die Grundverfassung der Geschichtlichkeit“ bemüht sich Heidegger um
eine Konkretisierung eigentlicher Kollektivität, die er in die synonym verwandten Begriffe
„Gemeinschaft“, „Volk“ und „Mitsein“ fasst. Während über weite Teile von Sein und Zeit ein
existenzialer Vorrang des individuellen vor dem kollektiven Dasein herrschte, das lediglich
als uneigentliches „Man“ beschrieben wurde, kehrt sich das Verhältnis bei der Konzeptuali-
sierung eigentlicher Gemeinschaftlichkeit nun um. Dem Einzelnen ist im Erbe die historische
Bedingheit der Gemeinschaft immer schon vorgegeben, er kann sie nur als Geworfener über-
nehmen. Das Geschick des Volkes wird zum Apriori ontologisiert, das als unhintergehbare
Macht den Weg des einzelnen Daseins bestimmt: „Das Geschick setzt sich nicht aus einzel-
nen Schicksalen zusammen...“41 Hier reproduziert Heidegger die klassische Form herr-
schaftsförmiger Subjektkonstitution. Der das Volk repräsentierende „Held“ ist die vermit-
telnde Instanz zwischen diesem und dem Dasein; indem es sich ihm unterwirft, erbt es die
Werte der Gemeinschaft, die so als Teil seiner selbst erscheinen.42 Habermas sieht an genau
diesem Punkt die Einbruchstelle für eine nationalsozialistische Umdeutung Heideggerscher
Kategorien. Während bereits der Vorrang des Daseins vor der Gemeinschaft die gleichzeitige
Individuierung und Vergesellschaftung der Subjekte verfehlte, kehrt sich das Verhältnis nun
um, und es ist das Volk, welches eigentlich werden soll.43
Die dem Volkstumsdiskurs des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entnommenen Begrifflich-
keiten tragen ebenfalls zu der Offenheit der Geschichtlichkeitsanalyse für eine nationalrevo-
lutionäre Aufladung bei. Nach der Jahrhundertwende versuchten linke wie rechte Bewegun-
gen, den Volksbegriff zu besetzen. Während er auf der Linken synonym für die Menge der
kleinen Leute, das „gemeine Volk“ verwendet wurde, verstand die Rechte das Volk als primä-
res historisches Subjekt, das alle Mitglieder einer „Volksgemeinschaft“ umschließt und sämt-
liche sozialen Schichten zu einer homogenen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt,
die sich durch Abgrenzung oder gar „Kampf“ (Heidegger) gegen die „anderen Völker“ defi-
niert. Heidegger gebraucht den Volksbegriff in letzterem Sinn; unverkennbar ist die Nähe
44Folgt man dieser Interpretation, dann ist Heideggers nationalsozialistisches Engagement nur konsequent: Das
völkische Konzept des NS konnte die Lücke, die in der Daseinsanalyse zwischen dem Einzelnen und dem Ande-
ren offen geblieben war, schließen. Vermittlungskategorie war die Partei als Bewegung.
45 Heidegger, Martin: a.a.O., S. 388.
46 Ebd.
13
schaftliche Herrschaft rückschlägt: „Die Arbeit, wie sie nun verstanden wird, läuft auf die
Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutug des Prole-
tariats gegenüberstellt.“47 Benjamin, wie auch der späteren Kritischen Theorie, geht es dabei
nicht nur um die äußere Natur, sondern in gleichem Maße um die Naturhaftigkeit des Sub-
jekts, die in der kapitalistischen Gesellschaft ähnlichen Verdrängungs-, Verfügungs- und Zu-
richtungsprozessen unterworfen ist wie die äußere. Konsequenterweise wird auch Geschichte
nicht als exklusive Domäne des Geistes betrachtet, sondern Geschichte ist in einem doppel-
ten Sinn Naturgeschichte: „Die Objektivität des geschichtlichen Lebens ist die von Naturge-
schichte.“48 Damit ist die kritische Einsicht gemeint, dass die Bewegung der Gesellschaft un-
bewusst und unter dem naturgesetzlichen Zwang kapitalistischer Verwertung geschieht. Ge-
sellschaft ist dem Menschen zu einer zweiten Natur geworden. Heideggers Fundamentalonto-
logie, die weder von Natur noch Gesellschaft einen Begriff besitzt, fällt unweigerlich in die
Affirmation naturhaften Zwangs zurück. „Am geschichtslosen Begriff der Geschichte, den
die falsch auferstandene Metaphysik in der von ihr so genannten Geschichtlichkeit hegt, wäre
das Einverständnis ontologischen Denkens mit naturalistischem darzutun, von dem jenes so
eifrig sich abgrenzt.“49
4. Schluss
Die Annäherung Heideggers und Benjamins stößt dort auf Grenzen, wo über gemeinsame
Themen und Gegenstände der Kritik hinaus die beiden unvereinbaren Zentren ihrer Philoso-
phien in Bezug gesetzt werden sollen. Die in den behandelten Texten zentrale Gemeinsam-
keit ist die Kritik herrschender Vorstellungen über die Geschichte und, daraus motiviert, ein
grundlegend veränderter Bezug zur Vergangenheit. In Heideggers Fall kann dieser jedoch
nicht separat von dem Zeitlichkeitskonzept seiner Ontologie verstanden werden, das eine
Einheit und Gleichursprünglichkeit der drei Ekstasen postuliert, wobei die Zukünftigkeit –
sogar wo es um die Fundierung der Geschichte geht – eine besondere Dominanz besitzt. Ben-
jamin hingegen steht in der Tradition des materialistischen Bilderverbots, das die konkrete
Ausmalung zukünftiger utopischer Zustände verbietet und sich an die immanente Kritik des
Gegebenen hält. Seine Rückwendung auf die lebendigen Möglichkeiten des Gewesenen in
einem schöpferischen und verändernden Erinnern richtet sich allerdings weniger gegen die
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auf Versöhnung zielenden frühsozialistischer Utopien, sondern gegen die sozialdemokrati-
schen und staatssozialistischen Derivate Marxscher Geschichtsphilosophie, die die Einlösung
des Glücks in ein fernes Reich des Kommunismus verlegen. In der Erfahrung des Eingeden-
kens macht er sich zum Anwalt des Leidens vergangener Generationen, deren Erlösung er
einklagt – eine Idee, die er in der allegorischen Figur des Engels, der Negativität des kriti-
schen Bewusstseins, verkörperte:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht,
als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgeris-
sen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muß so
aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor
uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft
und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zer-
schlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln
verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt
ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm
zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“56
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