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Claus-Artur Scheier

Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott.

Georges Gott bleibt ein Skandalon, und von seinem Künder, dem Menschen, Lehrer, sogar dem
Dichter läßt sich wenigstens sagen, daß sein Charakterbild in der Literaturgeschichte immer noch
schwanke. "Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen" und macht den Versuch schwer, George ohne es
zu denken. Aber nachdem Gunst und Haß der Parteien im Lauf des zuendegehenden Jahrhunderts
einigermaßen schal geworden sind, steht es der Vergegenwärtigung der kaum vergleichbaren Gestalt
wohl an, gelassener Ausschau zu halten nach der Gegend jenes geschichtlichen Orts innerhalb der
Moderne, in dem einen Gott hervorzubringen möglich, gar notwendig geworden war.
1870 hatte das Vaticanum die Unfehlbarkeit des Papstes erklärt, und die Beurkundung des
Neuthomismus, die Enzyklika "Aeterni patris", folgte im Jahr 18791, in dem auch Gottlob Freges
"Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens" erschien.
Es war nicht die Theologie, sondern die Philosophie des 19. Jahrhunderts, die sich (zusammen mit der
französischen Dichtung) à corps perdu ins Unbekannte2 gewagt hatte: War nicht bereits der
"Gottmensch incognito" der Kierkegaardschen Pseudonyme ein neuer Gott? Obwohl er wie Nietzsches
Dionysos und Ariadne noch einen alten Namen trug? Heideggers "letzter Gott" - "Der ganz Andere

1
Leo XIII. ist das achte Zeitgedicht gewidmet.
2
"Aber was ist denn dies Unbekannte, an dem der Verstand sich in seiner paradoxen Leidenschaft stößt, und das
den Menschen sogar bei seiner Selbsterkenntnis irremacht? Es ist das Unbekannte. Jedoch, es ist ja indessen
kein Mensch, soweit er den Menschen kennt, oder irgend etwas anderes, was er kennt. So wollen wir denn
dieses Unbekannte den Gott nennen. Es ist nur ein Name, den wir ihm geben." Kierkegaard, 'Philosophische
Bissen', übs. von Hans Rochol, Hamburg 1989, Kap. III, 'Das absolute Paradox (Eine metaphysische Grille)',
Abs. 4.

1
gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen"3 - würde namenlos bleiben. Georges Gott hieß
Maximin.

I.
Merkwürdig zunächst, daß der Denker des letzten Gottes in den immerhin vier Vorträgen, die er
1957/58 George widmete4, Maximin zu verschweigen scheint. Das Schweigen ist gleichwohl beredt,
indem es sich mittelbar rechtfertigt durch die frühere Bestimmung des Rilkeschen Engels5 - was für
diesen, gilt mutatis mutandis auch für Georges Gott (wie schon für den Engel des 'Vorspiels') -,
sodann durch die eingewobene Auseinandersetzung mit Benn, endlich durch die Auslegung des
Gedichts 'Das Wort' selbst, dessen Schlußverse
So lernt ich traurig den verzicht:
Kein ding sei wo das wort gebricht.
der Weg der Vorträge immer wieder durchquert. Maximin, kommt dabei zum Vorschein, war ein
"metaphysischer" Gott.
Es ist nur vorsichtig, die "Metaphysik" als Gegenstand der Heideggerschen "Destruktion"6 und
die Metaphysik als Verfassung des europäischen Denkens bis zum deutschen Idealismus
einschließlich (nicht als akademische Disziplin) auseinanderzuhalten. Das Licht, das aus der
geschichtlichen Metaphysik in die Heideggersche Besinnung fällt, ist nämlich allemal gebrochen
durch das Prisma der Husserlschen Phänomenologie, die sich zwar selber über Descartes an die
Metaphysik zurückbindet, aber unbeschadet gewisser cartesianischer Denkfiguren auf dem Boden
eines andern geschichtlichen Prinzips steht. Es ist, kurz gesagt, die mit der metaphysischen Lehre vom
Grund inkompatible Gewißheit der unhintergehbaren Zweiheit, die ihre prägnante Formulierung im
Brentano-Husserlschen Begriff der Intentionalität fand. So systematisch die Metaphysik im ganzen
war, so diastematisch (sit venia verbo) ist das intentionale Denken schon seit Schopenhauer und
Feuerbach gewesen, wo immer es sich auf sein Eigenstes besann, wie in der Irreduzibilität der

3
Martin Heidegger, 'Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)', Gesamtausgabe III. Abt., Bd. 65, hrsg. von
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1989, 403.
4
Martin Heidegger, 'Das Wesen der Sprache' I-III und 'Das Wort', in: 'Unterwegs zur Sprache' (UzS), Pfullingen
1959, 157-216, 217-238.
5
Martin Heidegger, 'Wozu Dichter?', in: 'Holzwege', Frankfurt a. M. 1950, 248-295, vgl. insb. 288: "Inwiefern
innerhalb der Vollendung der neuzeitlichen Metaphysik zum Sein des Seienden die Beziehung auf ein solches
Wesen gehört, inwiefern das Wesen des Rilkeschen Engels bei aller inhaltlichen Verschiedenheit
metaphysisch das Selbe ist wie die Gestalt von Nietzsches Zarathustra, kann nur aus einer ursprünglicheren
Entfaltung des Wesens der Subjektität gezeigt werden." Auf den Rilke-Vortrag wird angespielt UzS 165.
6
Martin Heidegger, 'Sein und Zeit', Halle a. d. 1927, § 6, und ders., 'Zeit und Sein', in: Zur Sache des Denkens,
Tübingen 1969, 1-25, hier 9.

2
Existenzialien Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit oder der "seinsgeschicklichen" Namen Gestell und
Geviert. Das "metaphysische" Denken im Sinne Heideggers ist das "rechnende" Denken, als welches
die "Seinsvergessenheit" spätestens seit der Platonischen Verschiebung der Wahrheit auf die
Richtigkeit7 zum europäischen Geschick geworden ist: als "Technik" hat sie ihre langhindauernde
planetarische Herrschaft angetreten, die 1957 mit dem "Sputnik"-Schock ins zeitgenössische
Bewußtsein tritt, "Wunder und Traum der modernen Technik, die am wenigsten bereit sein dürfte, den
Gedanken anzuerkennen, das Wort verschaffe den Dingen ihr Sein. Nicht Worte sondern Taten zählen
in der Rechnung der planetarischen Rechnerei." (UzS 165)
Die Technik selber bleibt gleichwohl sprachlichen Wesens, wenn es denn "wahr ist, daß der
Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat" (UzS 159), und so auch das
Diastema von Wunder und Traum hier, Wort und Ding da, in dem Heidegger die Schranke der
Georgeschen Dichtung zu entbergen sucht. So sind Wunder und Traum dem Zugriff der
"Metalinguistik" als der "Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum allein
funktionierenden interplanetarischen Informationsinstrument" (UzS 160) überstellt, während Wort wie
Ding in jenen Sprach-Bereich gehören, wo "eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß
es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt" (UzS 159). "Rein Gesprochenes" aber "ist
jenes, worin die Vollendung des Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende
ist. Rein Gesprochenes ist das Gedicht" (UzS 16) - nicht das "moderne", denn die diesem vom
Verfasser des "sonderbaren Vortrag[s] 'Probleme der Lyrik'" abverlangte "'schöpferische
Transformation' ist der Sputnik, aber kein Gedicht. Gottfried Benn hat erkannt, auf seine Weise, wohin
er selbst gehört" (UzS 207).
Nicht also 'Gedichte' Benns, vielleicht aber 'Das Wort'. Dessen vielschichtiger Auslegung
unterwegs zum "Wesen der Sprache" sei hier nur soweit gefolgt, wie sie sich auf das Gedicht selber
zurücklesen läßt in der Hoffnung, kraft dieses Reflexes etwas von Ort und Herkunft des Georgeschen
Gottes zu erinnern und dadurch möglicherweise auch einen Blick zu tun in die eigentümliche Not der
"gewaltsamen" Interpretation8, die dem "seinsgeschicklichen" Entbergen innewohnt als das
ursprünglichere Verbergen.
Zunächst transformiert Heidegger die in der Schule der Norne gelernte Weisheit des letzten
Verses in eine "Aussage" als in die logische Basis der "Metaphysik", um daran das geläufige
Verständnis der Wörter "Wort" und "Ding" zu demonstrieren. Im Gegenwurf zieht er den befehlenden

7
Martin Heidegger, 'Platons Lehre von der Wahrheit', in: 'Wegmarken', Frankfurt a. M. 1967, 109-144.
8
Vgl. Heidegger, 'Sein und Zeit' (Anm. 6), 311.

3
Charakter des "sei" hervor, denn: "Vermutlich schwingen im dichterischen Sagen dieses 'sei' der eine
und der andere Sinn ineinander: ein Geheiß als Anspruch und das Sichfügen in dieses" (UzS 168). Ist
die Gnome stichhaltig, "Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht" (UzS 37), dann
würde hier deutlich, wie Georges Werk sich immer reiner jenem Geheiß fügte, unter dem es von
Beginn an stand.9 Stattdessen schiebt Heidegger eine bereits der Wortwahl nach bedenkliche
Vorgeschichte unter: Worauf George in der Gegend der "späten, einfachen, fast liedhaften" Gedichte
(UzS 162) "verzichten lernte, ist die vormals von ihm gehegte Meinung über das Verhältnis von Ding
und Wort. Der Verzicht betrifft das bis dahin gepflegte dichterische Verhältnis zum Wort. Der
Verzicht ist die Bereitschaft zu einem anderen Verhältnis" (UzS 167 f.). Dies sei für George "der
Augenblick, wo das bisherige, seiner selbst sichere Dichten jäh zerbricht und ihn an das Wort
Hölderlins denken läßt: /Was bleibet aber, stiften die Dichter./" (UzS 172). Eine gehegte Meinung -
ein in ihrem Sinn gepflegtes Verhältnis zum Wort - ein dadurch gesichertes Dichten: George, wie
nachmals Benn ein Vertreter der "schöpferischen Transformation" des "rechnenden" Denkens10, wurde
nur darum zum Dichter, weil er dank der Begegnung mit Hellingraths Hölderlin (UzS 182 f.) am Ende
seines literarischen Wegs der "Literatur" entsagen lernte, "die über die doctrina des Mittelalters zur
scientia der Neuzeit wurde".11
Dies interpretatorische Apriori steuert die Auslegung des ganzen Gedichts. Im Licht der
"Metaphysik" wird der Dichter in der ersten Triade bezaubert von Wundern und entrückt von
Träumen, um in ungetrübter Zuversicht Worte aus der Quelle der Sprache zu schöpfen, die auf alles
passen, was sich ihm derart eingebildet hat. Darum huldigt er der Meinung, seine Dinge, nämlich die
Wunder und Träume, gehörten zu dem, was der Fall sei, wären demnach nur zu beschreiben und
darzustellen. Die Worte sind darum "wie Griffe, die das schon Seiende [...] umgreifen, dicht machen,
es ausdrücken und ihm so zur Schönheit verhelfen" (UzS 171). Das Dichtmachen bezeichnet das
"metaphysisch" verstandene Dichten als (intentionales) Vorstellen (Vergegenständlichen), das als
subjektives Machen dann Ausdrücken ist, "Expression" (UzS 37) durch Begriffe, die das Seiende nicht
sein lassen, sondern greifen, sogar (mit einer Spitze gegen Jaspers) umgreifen, um darauf die

9
So kann 'Das Wort' als vertieftes Seitenstück zu 'Der Spiegel' gelesen werden, vgl. Hans-Georg Gadamer,
'Hölderlin und George', in: ders., 'Gedicht und Gespräch. Essays', Frankfurt a. M. 1990, 39-63, hier 61.
10
Das Moment der Gewalt im Georgeschen Werk hebt auch Adornos subtile Analyse hervor, die sich bei aller
Differenz zu Heideggers Auslegung mit dieser in der Kritik am Willen trifft: "Der gewalttätige Wille reicht bis
in die rein lyrisch intendierten Gebilde hinein." Theodor W. Adorno, 'George', in: 'Noten zur Literatur',
Gesammelte Schriften 11, Frankfurt a. M. 1974, 523-535, hier 525. Vgl. ferner ders., 'George und
Hofmannsthal. Zum Briefwechsel': 1891-1906, in: 'Prismen', Gesammelte Schriften 10.1, Frankfurt a. M.
1977, 195-237.
11
Martin Heidegger, 'Was heißt Denken?', Tübingen 1961, 52.

4
Abdrücke, das Ornamentale, zu hinterlassen. Unversehens ist die Triade in ein Palimpsest verwandelt,
durch dessen Zeichen jene phänomenologische Vorhandenheitsontologie durchschimmert, von der
Heideggers existenziales Denken sich seit den zwanziger Jahren immer entschiedener abgestoßen
hatte.
Unstreitig ist das Land des Dichters die "Mark" der Sprache, an deren Saum, von drüben, das
lyrische Ich nun nicht eben "Wunder und Träume", sondern Wunder von Ferne oder Wunder von
Traum bringt, zwiefach Ungegenwärtiges, insofern Gegenwart durch Nähe und Wachsein bezeugt
wird. Zwar kann der Dichter das Wunder hersehen, aber da es, an ihm selbst bloß stofflich, noch ohne
das "tief erregende in maass und klang" erscheint (GA XVII, 85), ist die Hersicht noch kein Behalten.
Damit die genäherte Ferne und der erinnerte Traum also ins "Sein" gehalten und darin erhalten sind
(UzS 168 f.) oder bleiben, bedarf es Eines, das nicht in der Macht des Dichters steht und nicht einmal
in der der Norne, die am Fuß der Weltesche als an der Grenze von Anwesenheit und Abwesenheit den
Quell der Zeit hütet12, der auch der Ursprung der Dichtung ist. Die Aufgabe des Dichters ist darum
nicht nur das Bringen, sondern auch das Wartenkönnen, die Geduld als die Selbstüberwindung in die
Möglichkeit der Form. In sie als ins gewährte Wort versammelt und verdichtet sich das Wunder, so
erstarkend, daß der Dichter, nicht länger "zarter erträumer von vergangenheiten", nun "der grosse
Seher für sein volk" zu sein vermag, selber "ein greifbares wunder" (GA XVII, 68): unmittelbare
sinnlich-lebendige Gegenwart. So kommt die Dichtung in ihr "wesen" (GA XVII, 86), worin Worte
aus dem selben Grund wie Blumen entstehn13, und das wirkende Wort-Wunder - "Nun blüht und
glänzt es durch die mark..." - ist zu "greifen" als Baum des Gedichts, den der Dichter in seine Sprache
zu pflanzen vermag, und der früh blüht wie "Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blitzendem
gestein" (SW II, 54), um dann im steigenden Jahr glänzende Früchte zu tragen als "schicksal [...] für
ein ganzes volk" (SW V, 37).14
In der zweiten Triade macht das lyrische Ich eine Erfahrung, die Heidegger zweimal, mit einem
seiner Leitworte, als "jäh" bezeichnet (UzS 170, 172). Getreu der "metaphysischen" Auslegung der
ersten Triade soll es allerdings nicht der Dichter oder das lyrische Ich sein, sondern der Verfasser

12
Urd oder Urdar wird als "Schicksal" wie als "das Vergangene" gedeutet, vgl. 'Germanische Götterlehre. Nach
den Quellen der Lieder- und der Prosa-Edda', hrsg. von Ulf Diederichs, München 31989. Zur Etymologie vgl.
Friedrich Kluge, 'Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache', Berlin 191963, s. v. Norne.
13
Vgl. UzS 207 f. Zur Deutung der Hölderlinschen Wendung Holger Schmid, 'Wörtlichkeit Hölderlins', in:
'Neue Wege zu Hölderlin', hrsg. von U. Beyer, Würzburg 1994, 243-267.
14
"Golden blüht der Baum der Gnaden / Aus der Erde kühlem Saft" heißt es in Trakls 'Ein Winterabend',
erschienen in der Sammlung 'Sebastian im Traum' von 1915: das Gedicht, das Heidegger sieben Jahre vor der
George-Erörterung dem Vortrag 'Die Sprache' zugrundegelegt hatte.

5
selbst: "Einmal jedoch kommt für Stefan George der Augenblick" (UzS 172), der ihn "umwirft" (UzS
159). Die Erfahrung wird biographisch festgestellt: sie bricht Georges Werk ab, das demzufolge, diese
letzten Lieder ausgenommen, Literatur bleibt.15 Dazu paßt, daß er den Namen von der Norne
"verlangt", ein neuerlicher Hinweis auf das Willens-(Un)-Wesen der "Metaphysik".
Im Reichtum und in der Zartheit des Kleinods werden Ferne und Traum verwandelt wieder
aufgenommen: die Nähe, "mein land", bedarf des Schatzes und ist insofern arm, und der Traum ist für
sich selber das Zarte, nicht zu Greifende (wie der "erträumer von vergangenheiten" in der Hölderlin-
Lobrede). Da nun die zweite Triade der ersten entgegengesetzt wird, liegt es nahe, diesen Gegensatz
auch auf "kleinod" und "wunder" zu beziehen. Das Kleinod wäre dann das Unscheinbare, wie schon
im frühen Gedicht 'Die Spange' der glatte feste Streif das Unscheinbare, die große fremde Dolde
hingegen das Wunder ist.16 Der Dichter hält das Kleinod, aber vermag es nicht festzuhalten; sowenig
wie die vormals hergesehnen Wunder ist es schon Ding geworden - "Nur was aus Welt gering, wird
einmal Ding"17, möchte man mit Heidegger erinnern -, und darum kann es auch nicht "einfach auf der
Hand" liegen (UzS 172). Ist es nun kein Wunder wie die bisherigen, dann möchte das Kleinod für
diesmal nicht von jenseits, sondern von diesseits der Mark gebracht sein, eine dichterische Erinnerung.
Im vierten Vortrag wird Heidegger es als "das Wort für das Wesende der Sprache" deuten (UzS 236,
vgl. 192) - nur warum hätte es dann Ding werden sollen?18 Hier sagt er: "Ein solches Wort, das dieses
einfach auf der Hand liegende Kleinod sein ließe, was es ist, ein solches Wort müßte der Geborgenheit
entquillen, die in der Stille eines tiefen Schlafs ruht." (UzS 172) Aber "So schläft hier nichts",
wiewohl anders, nämlich so, daß es dem Wunder von Ferne oder Traum geeignet ist, weshalb es von
der Norne ins wache Sprechen des von drüben kommenden Dichters gehoben werden kann. Das
gesuchte Wort mag wohl auch "auf tiefem grund" schlafen, aber doch nicht auf dem, den die Norne

15
Allerdings hat George seit den drei Gesängen 'An die Toten', 'Der Dichter in Zeiten der Wirren', 'Einem jungen
Führer im ersten Weltkrieg' von 1921 und den zwei letzten Liedern nichts mehr geschaffen (ausgenommen
vermutlich den von Robert Boehringer in der zweibändigen Werkausgabe von 1958 den 'Sprüchen an die
Lebenden' beigefügten Vierzeiler), Gedichte, die aber später sind als 'Das Wort'. Die Identifikation bliebe
freilich auch dann problematisch, wenn dies Gedicht, chronologisch oder, mehr noch, der Sache nach, das
abschließende und Georges Werk wirklich das "seiner selbst sichere Dichten" wäre, als das Heidegger es will.
16
Gegen eine einfache Parallele scheint das "reich" zu sprechen, vgl. aber UzS 236: "Reich heißt: vermögend
zum Gewähren, vermögend im Reichen, vermögend im Erreichen- und Gelangenlassen. Dies aber ist der
Wesensreichtum des Wortes, daß es im Sagen, d. h. im Zeigen, das Ding als Ding zum Scheinen bringt."
17
Martin Heidegger, 'Vorträge und Aufsätze', Pfullingen 1954, 181.
18
Georges Verzicht war demnach der, Dichter des Wortes für das Wort zu sein - wie Hölderlin allerdings "der
Dichter des Dichters" ist (Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: 'Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung',
Frankfurt a. M. 41971, 34) -: dies aber nicht zu vermögen heißt genau, Dichter des Wortes für etwas anderes
zu bleiben, d. h. im Vorstellen als in der "Metaphysik" zu verharren.

6
besorgt - aber die Musen, die Sibyllen? "Welch ein schimmer traf mich vom südlichen meer?"19 Sollte
es als Wort der Erinnerung gar kein deutsches Wort sein?
Mag traum und ferne uns als speise stärken -
Luft die wir atmen bringt nur der Lebendige.
[...]
Wie oft noch spät da ich schon grund gewonnen
In trüber heimat [...]
[...] lieh neue kraft dies flüstern:
20
RETURNENT FRANC EN FRANCE DULCE TERRE.

In 'Der Krieg' (GA IX, 27) heißt es:


[...] Apollo lehnt geheim
An Baldur: »Eine weile währt noch nacht
Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.«
"Der Dichter schweigt über das Kleinod" (UzS 172) - nicht ganz, denn er sagt, daß es seiner Hand
"entrann". Die von George wie von Heidegger gern zu Rat gezogene Etymologie findet darin Fließen,
Flucht, Rune, Reihe, Geheimnis, Rat, Beratung, Schrift.21 Einer flüssigen Schrift ähnelt das Kleinod22,
erinnernd an das "Kredenzen" der Reime in 'Lieder wie ich gern sie sänge' (SW IV, 49). Im
unmittelbar auf 'Das Wort' folgenden Lied 'Die Becher' (GA IX, 135) ist es der "becher golds", der
"ohne verdruss" wissen läßt, "was zu uns steht". So möchte auch das Kleinod zu uns stehen, würde es
nur "Ding", nämlich Lied.23 Von den Sängen eines fahrenden Spielmanns beginnt der fünfte (SW III,
60):
So ich traurig bin
Weiss ich nur ein ding:
Ich denke mich bei dir
Und singe dir ein lied.
Und von den zwölf Liedern, die unter dem Titel 'Das Lied' versammelt sind, heißt das zweite selber
'Das Lied' (GA IX, 126). Es erzählt die Geschichte des jungen Knechts, der sich "irr im wunderwald"

19
'Goethes lezte Nacht in Italien', das Eingangsgedicht des 'Neuen Reichs'.
20
'Franken', vgl. dazu Ernst Morwitz, 'Kommentar zu dem Werk Stefan Georges', Düsseldorf und München
2
1969, 228.
21
Kluge (Anm. 12), s. v. entrinnen, rinnen, Rune.
22
Wir merken schon, hatte Heidegger - freilich nicht im Blick auf George, sondern auf Hölderlins Stromhymnen
- gesagt, "in welche Strömung wir geraten, wenn das Wort als Wort, die Sprache als Sprache zur Sprache
kommt" (UzS 163). Zur Wendung "Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen" vgl. 'Der Weg zur
Sprache' in: 'Unterwegs zur Sprache' (Anm. 4), 239-298.
23
'La bonne chanson' hieß Verlaines vierter Gedichtband, aus dem George nichts übersetzt, den er aber in der
Verlaine-Lobrede als ein "spiel sich lösender klänge verbleichender farben verschwimmender linien" (GA
XVII, 56) charakterisiert.

7
läuft und eine allen unbekannte Sprache heimbringt.24 Darum halten ihn die Leute für toll und geben
ihm das Vieh zur Hut:
So trieb er täglich in das feld
Und sass auf einem stein
Und sang bis in die tiefe nacht
Und niemand sorgte sein.
George, ist anzunehmen, wußte, daß die Antike den singenden Orpheus auf einem Stein sitzend
darstellte.25 Die Griechen waren jene "beglücktere[n] stämme",
Denen ein Seher erstand am beginn ihrer zeiten
Der noch ein sohn war und nicht ein enkel der Gäa
Der nicht der irdischen schichten geheimnis nur spürte
[...]
Der in die schluchten der grausigen Hüterinnen
Die an den wurzeln im Untersten sitzen. sich wagte
[...]
In 'Goethes lezte Nacht in Italien' (GA IX, 7), bereits 1908 entstanden26, ist der gedachte Seher wohl
Herakles, aber Orpheus singt... Das Lied des Knechts jedenfalls, den keiner mehr kennt, wird nur noch
von den Kindern vernommen und von ihnen "Bis in die spätste zeit" fortgesungen in einer Sprache,
deren frühe Simulation - "Süss und befeuernd wie Attikas choros" - die beiden Schlußverse der
'Ursprünge' (SW VI/VII, 116) aufbehalten haben.27 Kein Dichter, der Kindheit als die Zeit der
göttlichen Gabe zur Sache seines Dichtens gemacht hätte wie George, und auch 'Der Stern des Bundes'
verliert einiges vom berüchtigten haut-goût, wird er gleichsam kindlichen Sinns gelesen als die späte -
zu späte - Verwirklichung des Traums, der dem Kindlichen Königtum, jenem "seltnen reiche ernst und
einsam" (SW IV, 51) erschienen war. Daß nur noch ein Gott uns retten könne, war die befremdliche
Botschaft des späten Heidegger, die scharf absticht vom metaphysischen Glauben, Gott habe uns
gerettet; sie gehört aber seit Kierkegaard, über Nietzsche und George, in die Tradition des
intentionalen Denkens, das, nicht länger des metaphysischen Grundes gewiß, heiße dieser der "Vater

24
Die Verse 25 f. parodieren Apg. 2.15.
25
In seinem autobiographischen Brief an Verlaine vom 16. November 1885 schrieb Mallarmé: "L'explication
orphique de la Terre" sei "le seul devoir du poëte et le jeu littéraire par excellence". "Dionysos und Orpheus
waren noch verschüttet", heißt es in der Hölderlin-Lobrede (GA XVII, 68), "und Er allein [Hölderlin, nicht
Nietzsche] war der Entdecker." Zum Thema 'George und die Antike' vgl. das gleichnamige Kapitel in: H.
Stefan Schultz, 'Studien zur Dichtung Stefan Georges', Heidelberg 1967, 90-124, zur Orphik 121 f.
26
Morwitz (Anm. 20), 404.
27
"[D]iese Laute", heißt es in Benns 'Rede auf Stefan George', "sollen keineswegs dionysisch wirken, melodiös
oder musikalisch [...], sondern hier sollten Worte auftreten nur als Kunstingredienzien, absolute Sprache,
vokaler Urlaut, vor der Zivilisierung des Wortes zum Inhalts- und Verständnisträger, sie sollten eine Welt
ausschließen und an ihrer Stelle eine neue Ordnung baun." (Gottfried Benn, 'Essays und Reden in der Fassung
der Erstdrucke', hrsg. von Bruno Hillebrandt, Frankfurt a. M. 1989, 479-490, hier 481)

8
der Menschen und Götter", der "Sohn" oder neuzeitlich der "Geist", sich aufgemacht hatte, in die
abgründige Gegend des Ursprungs zu reichen.
"[...] wenn anders das Gedicht den eigenen dichterischen Weg Stefan Georges dichtet":
unstreitig ist in den letzten Liedern der Verzicht auf die Vates-Gebärde des 'Sterns' unüberhörbar;
gleichwohl ist dieser Weg der vielmal und von früh an begangne des Georgeschen Gedichts.28 Bereits
den 'Hymnen' von 1890 ist der Verzicht eingeschrieben. Triumphal beginnen sie unter dem Titel
'Weihe' (SW II, 10):
Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre
Im linden winde ihre fahnen schwingen
[...]
.
Nun bist du reif nun schwebt die herrin nieder.
[...]
- und enden als 'Die Gärten schliessen' (SW II, 28) mit zwei zögernden Fragen:
Ward dein hoffen deine habe?
Baust du immer noch auf ihre worte
Pilger mit der hand am stabe?
Die Geste bestimmt das Werk im ganzen bis ins einzelne Gedicht hinein. Die Freunde und Verehrer,
schrieb George 1901 in der Vorrede zur 'Fibel', "werden das für die zukunft bedeutsame [...] gar oft
verhüllt und verflüchtigt vorfinden und sie bedenken zu wenig dass die jugend gerade die seltensten
dinge die sie fühlt und denkt noch verschweigt." 'Die Spange', das Schlußgedicht des zweiten
Gedichtbands, spricht vom (vorläufigen) Verzicht des Dichters auf die eigenste Sprache, indem es sich
- vorweisend auf den 'Algabal' - der jetzt und hier möglichen annimmt:
Ich wollte sie aus kühlem eisen
Das Wort Fibel meint nicht nur die Spange, Schnalle oder Agraffe, sondern auch, von biblia, das
"erste" Buch, das Buch zum Lesenlernen.29 Wie aber dies versammelnde Grund-Buch gewollt ist,
findet der auf den Gleisen als den Spuren der Sprache in deren Gebirg einfahrende Bergknappe nichts
für das Geschenk des Gusses.
Nun aber soll sie also sein:

28
Darauf weist nachdrücklich Gadamer hin: "[D]er Ton des Verzichts, der Bescheidung, des Nichtwissens und
des Leidens ist in seinem ganzen Werke ein beständiger Unterton, von den Schwermuts- und Trauergebärden
der frühen Bände bis in das späte, immer härtere, immer sparsamere Schaffen hinein. Aber jetzt findet das
Schicksalsgefühl des Dichters unmittelbaren dichterischen Ausdruck." ('Der Dichter Stefan George' (Anm. 9),
12-38, hier 36 f.)
29
Friedrich Kluge, 'Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache', Berlin, New York 221989, s. v.

9
Im Übergang von der ersten zur zweiten Strophe hat sich der Verzicht des Willens in das Mögliche als
in die gegenwärtige Aufgabe des Dichters ereignet. Dessen Sprache, die das schlichte einheimische
Eisen (noch) nicht vermag, soll nun wie der "fremde", also ursprünglich abwesende30 Kamm einer
Weintraube sein, dionysisch als Konstellation von feuerrotem Gold31 und reichem blitzendem Gestein.
Althochdeutsch gisteini heißt schon Edelstein, weshalb Heidegger anläßlich Trakls Vers "Und leise
rührt dich an ein alter Stein" sagen kann, daß im Erscheinen des Verschlossenen des Gesteins "die
uralte Herkunft aus der stillen Glut der frühesten Frühe leuchtet" (UzS 63).

II.
Wie steht es darum mit der Behauptung, Georges Dichtung falle in die Metaphysik, deren Grenze sie
erst im "Zerbrechen des Wortes" (UzS 216) inne werde? Sie ist jedenfalls emphatisch modern, und
noch 'Das Wort' läßt vernehmen32, daß sie in nächster Nähe des Nietzscheschen Gedankens
angesiedelt ist33, aus dessen vielstimmigem Reichtum hier nur dies Thema berührt sei: das Gespräch
mit der "Seele" als deren Erziehung zu Ariadne, die Dionysos zu empfangen vermöchte.34 Diese
Botschaft, die unvermittelt wie eine nur für die Nietzsche-Philologie interessante Privatmythologie
erscheinen muß, entspringt aus Nietzsches Bestimmung des Wesens des Menschen als Schaffen, nicht
nur, wie noch im Marxschen Gedanken, als Hervorbringen im Sinn des Formierens eines schon
vorhandenen Stoffs oder productio, sondern als ursprüngliches Hervorbringen oder creatio. Von
diesem Entwurf her ist das zutiefst Beunruhigende für Nietzsches zeitkritisches Denken das den
geschichtlichen Gang der "theoretischen" Kultur Europas prägende Ausbleiben dieser ursprünglichen
Kreativität, der "Nihilismus", der zuletzt die paradoxe Frage heraufrufen muß, wie nicht dies oder
jenes, sondern das sich entziehende Schaffen selber neu zu schaffen sei. Und wie bereits der göttliche

30
Vgl. auch Heideggers Erläuterung zu "fremd" UzS 41.
31
Vgl. chrysos aithomenon pyr (Pindar, Ol. 1.1). "Der Glanz des Goldes birgt alles Anwesende in das
Unverborgene seines Erscheinens." (UzS 24 zu Pindar, Isthm. 5.3, Heidegger liest periôsion pantôn statt
allôn).
32
"Wunder von ferne oder traum" verweist ex negativo auf Nietzsches Lehre von den "nahen und nächsten
Dinge[n]" (Vorrede zu 'Menschliches, Allzumenschliches' I, Nr. 5, vgl. II.2, 'Der Wanderer und sein Schatten',
Nr. 16, Nr. 350) sowie vom "Wachsein" (Vorrede zu 'Jenseits von Gut und Böse'). Zum Harren vgl.
Zarathustras Rede 'Vom Geist der Schwere' (2): "Wahrlich, ich lernte das Warten auch und von Grund aus, -
aber nur das Warten auf mich."
33
Das Material zum Verhältnis George - Nietzsche hat gesammelt H. Raschel, 'Das Nietzsche-Bild im George-
Kreis', Berlin, New York 1984.
34
Ausführlich hierzu Claus-Artur Scheier, 'Nietzsches Labyrinth. Das ursprüngliche Denken und die Seele',
Freiburg/München 1985, ferner die Einleitung zu 'Friedrich Nietzsche, Ecce auctor. Die Vorreden von 1886',
Hamburg 1990, sowie 'Contemporary Consciousness and Originary Thinking in a Nietzschean Joke', in: The
Southern Journal of Philosophy XXVII (1989) 549-559.

10
Lehrer Kierkegaards im Unterschied zum beispielhaften Sokrates den Schüler nicht nur anamnestisch
in das an sich schon Verstandene erinnern, sondern ihm demzuvor überhaupt die Möglichkeit des
Verstehens bringen muß - eben um dieser Gabe nicht einer Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit
selbst willen bedarf es des göttlichen Lehrers -, so bedarf auch Nietzsches "Seele" dessen, der ihr sich
erschöpfendes Schaffen so in sich zurückböge, daß es sich selbst hervorbrächte und das Leben neu aus
sich entspringen ließe. Diesen Anstoß des immer durch den Umschlag in sein Anderes, das tötliche
Antlitz der Medusa gefährdeten Schaffens nennt Nietzsche Dionysos, und sein gesamtes Werk seit
'Also sprach Zarathustra' einschließlich noch der Postkarten und Briefe vom Januar 1889 dient der
Beschwörung von dessen Ankunft angesichts der möglichen Katastrophe nihilistischer End-Gültigkeit.
Aber eben der 'Sanctus Januarius' 1889 besiegelte bereits das Ausbleiben des
schaffenmachenden Gottes und mithin den Abschied von jener "Seele", die ihrem einfachen Begriff
nach nichts anderes war als das Warten auf ihn. Daß Nietzsches Philosophie (mit dem Wort Hegels)
"ihre Zeit in Gedanken erfaßt" hatte, war das Gefühl des fin de siècle gewesen, dem - nach dem ersten
Schwung des Jugendstils (wie seiner europäischen Spielarten) - der Abschied vom dionysischen
"Lebensgefühl" zur Aufgabe der Kunst wie des Denkens wurde.35
Hatte Nietzsche am Anfang seines philosophischen Wegs die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der (mit Schopenhauer zu denkenden) Musik diagnostiziert und ihre Wiedergeburt im
Wagnerschen Musikdrama entdecken wollen, dann läßt sich auch jener Abschied noch in der
zeitgenössischen Musik hören, am deutlichsten, weil unmittelbar wortbezogen, in Richard Strauss'
Opern 'Salome' von 1905 nach Oscar Wilde - im selben Jahr erschien Georges Übersetzung der Szene
aus Mallarmés 'Hérodiade' - und, in Zusammenarbeit mit Hofmannsthal, 'Ariadne auf Naxos' von
1912/16 - als spielerischer Nachklang des Nietzscheschen Entwurfs gewissermaßen die letzte Oper des
19. Jahrhunderts. Das den Nietzscheschen Gedanken konfigurierende Verhältnis von männlich-
intentionalem Bewußtsein (Denken) und weiblicher Reflexion-in-sich (Leben) bricht die 'Salome' auf,
indem das Denken (Johannes der Täufer), das dionyische Verhältnis zur Seele verweigernd, sich in
seine gegensatzlose Reinheit zurückzieht und das sich selbst überlassne Leben Rache nimmt, um am
unfruchtbar gewordnen Denken (Herodes, hoher Tenor wie der Aegisth in der Hofmannsthal-

35
Die Symbolik von Georges Werk, schreibt Benjamin 1933, sei "sein Brüchigstes. [...] Sein Aufgebot hat den
Charakter einer Abwehr, oft einer verzweifelten. So scheint der Schatz der in Georges Dichtung eingesenkten
geheimen Zeichen heute schon als ärmstes, ängstlich bewahrtes Eigentum des 'Stils'. / [...] Es ist der
Jugendstil; mit andern Worten der Stil, in dem das alte Bürgertum das Vorgefühl der eignen Schwäche tarnt,
indem es kosmisch in alle Sphären schwärmt und zukunftstrunken die 'Jugend' als Beschwörungswort
mißbraucht." (Walter Benjamin, ,'Rückblick auf Stefan George. Zu einer neuen Studie über den Dichter', in:
'Gesammelte Schriften' III, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M. 1991, 392-399, hier 393 f.)

11
Strausschen 'Elektra' von 1909) zugrunde zu gehen. Seitdem Schopenhauer die Vernunft weiblich, den
Verstand männlich gedacht hatte, war das Problem des Verhältnisses der Geschlechter zueinander ins
Innerste des Gedankens selbst eingedrungen und wird in dessen unmittelbar nachnietzschescher Phase,
als das "goldne Gleichgewicht aller Dinge"36 Ariadne - Dionysos seinen Scheincharakter hervorkehrte,
nur gewaltsam gelöst durch die Subsumtion der indefiniten Materialität des "Weiblichen" unter die
tautologische Identität des "Männlichen". Adolf Loos' anti-ornamentales Credo war keineswegs eine
Idiosynkrasie: "Alle kunst ist erotisch. / Das erste ornament, das geboren wurde, das kreuz, war
erotischen ursprungs [...] Ein horizontaler strich: das liegende weib. Ein vertikaler strich: der sie
durchdringende Mann."37 Es ging konsequent in seine politische Ritualisierung über.
Die Erbschaft der gescheiterten Hoffnung auf den Hieros Gamos von Dionysos und Ariadne,
der Riß zwischen Leben und Denken, Weiblich und Männlich, Differenz und Identität, eine Erbschaft,
die auch am Ende des von Nietzsche als "tragisch" erwarteten Jahrhunderts noch nicht aufgezehrt ist,
fällt in der Dichtung zuerst George zu. So früh, daß der Abschied von der Nietzscheschen Seele -
"Deine nähe und deine ferne sind mir in gleicher weise verhängnis" (GA VII, 26) - nun sogar gefordert
zu sein scheint von der Hoffnung auf den neuen Gott, der "aus der qual der zweiheit" (SW VIII, 9) zu
erlösen vermöchte, ganz und gar kein Dionysos, dem "mit spöttischem Triumph" noch Hoffmannsthal-
Strauss' Zerbinetta nachsingen wird:
Kommt der neue Gott gegangen,
Hingegeben sind wir stumm!
Näher ist solcher Abschied das Thema der ersten Phase von Georges Dichten, die mit dem 'Jahr der
Seele' 1897 zum Abschluß kommt38, aber bis zuletzt nachtönt: der Abschied vom musikalischen Leben
Nietzsches, das zum "süssen gift" wurde (SW VI/VII, 183)39:
[...] dort in häusern
Bunte klänge laden schmeichelnd
Saugen süss die seele... Eilet!
Alles dies ist herbstgesang.40
Stimme die in euch erklungen

36
Friedrich Nietzsche an Jacob Burckhardt am 4. Januar 1889.
37
Adolf Loos, 'Sämtliche Schriften' 1, hrsg. von F. Glück, Wien/München 1962, 277.
38
Genau ein Jahr vor dem Erscheinen des Jahrs der Seele hatte Strauss' seinen 'Zarathustra' uraufgeführt.
39
Das süße Gift der Seele ist der Georgeschen Sache nach ebenso gen. obj. wie subj., denn "selten sind sosehr
wie in diesem buch ich und du die selbe seele" (Vorrede der zweiten Ausgabe des 'Jahrs der Seele').
40
"Und auch was übrig blieb von grünem leben / Verwinde leicht im herbstlichen gesicht", hieß es im
Einleitungsgedicht des 'Jahrs der Seele'.

12
Heischt nicht gift noch welken glanz.
(SW VIII, 87)41
Wie bewußt Georges Dichtung sich vom Nietzscheschen Leben abwendet, das mit dem Ausbleiben
von Dionysos dem "Wachsein" unwiderruflich die Züge der Medusa zukehrte, deuten, nicht eben von
ungefähr der zeitgenössischen Malerei verwandt, Verse aus dem 'Stern des Bundes' an:
Keiner der wahre weisheit sah verriet:
Die menschen griffe lähmendes entsetzen
den mutigen vereiste blut und same
Sie brächen nieder wenn vor ihrem blick
Das Andre grausam schreckhaft sich erhübe.
(SW VIII, 103)
Und wie entschieden diese Dichtung zu sich findet im Abstoß vom Nietzscheschen Gedanken, bezeugt
das Zeitgedicht 'Nietzsche' selbst (SW VI/VII, 12):
Dort ist kein weg mehr über eisige felsen
Und horste grauser vögel - nun ist not:
Sich bannen in den kreis den liebe schliesst..
Die polyphone Musikalität der Nietzscheschen Sprache ist zum rhetorischen Modus depotenziert42, die
Seele nicht länger ein "Saitenspiel".43 Nur noch
Wo jede wegspur sich verliert im düster
Summen des Abgrunds dunkle harfen. (SW VI/VII, 120)
Und George bereits wird die geschichtliche Bedeutung Nietzsches nicht anders einschätzen als
Heidegger44:
Einer stand auf der scharf wie blitz und stahl
Die klüfte aufriß und die lager schied
Ein Drüben schuf durch umkehr eures Hier..
(SW VIII, 34)
Umkehren, Umkehr, Revolution, Kehre sind eigentümliche Gesten des intentionalen Denkens vor der
ihm je anders in den Blick kommenden Metaphysik. Sie sind jeweils, sei es methodisch, existenziell,

41
Wenn man, wie billig, Georges Vorbehalt gegen "die" Musik regionalisiert, ist leicht zu sehen, wie er von den
Komponisten der klassischen Moderne ins Werk gesetzt wurde: Schönbergs zweites Streichquartett op. 10
etwa (mit Georges 'Litanei' und 'Entrückung') ist durchaus als Einspruch gegen das "süße Gift" à la Wagner,
Mahler, Strauss, Sibelius zu hören.
42
Ostentativ umwertend überträgt der Schluß des Gedichts den allein auf seinen philosophischen Erstling
bezogenen Satz Nietzsches "Sie hätte singen sollen, diese 'neue Seele' - und nicht reden!" ('Versuch einer
Selbstkritik', Nr. 3, 'Kritische Gesamtausgabe' (KG), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin,
New York 1967 ff., III.1, 9) auf das gesamte Werk.
43
Friedrich Nietzsche, 'Ecce homo', 'Warum ich so klug bin', Nr. 7.
44
"Der Metaphysik bleibt durch die von Nietzsche vollzogene Umkehrung nur noch die Verkehrung in ihr
Unwesen." (Heidegger, 'Nietzsches Wort 'Gott ist tot'', in: 'Holzwege' (Anm. 5), 193-247, hier 193)

13
geschichtlich oder seinsgeschicklich, Gründungsakte und stiften, so die Lehre der 'Genealogie der
Moral'45, darum auch die Namen:
Zehntausend sterben ohne klang: der Gründer
Nur gibt den namen.. für zehntausend münder
Hält einer nur das maass. In jeder ewe
Ist nur ein gott und einer nur sein künder.
(SW VI/VII, 182)
Das Namengeben ist die poietische Ur-Tat, und wie es in der Metaphysik nicht Gott war, der den
Dingen die Namen gab, sondern der Mensch46, ist es hier der "künder", der den Namen zu finden hat
auch für den Gott. Denn dieser ist als der einer neuen "ewe" anders als der wiederkünftige Gott
Nietzsches nicht mit einem aus der Geschichte zugesprochenen Namen anzurufen.
Aber noch nicht der Name, sondern erst der Satz ist der Ort der Wahrheit. Georges Ewe darum
als dessen eigner geschichtlicher Ort gedacht, wird sich die Logik, in die der Dichter die Namen hebt,
auch nicht länger als die metaphysische ("aristotelische") erweisen, deren Zersetzung schon in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich wird, sondern als diejenige Logik, die sich als geeignet
erwies, den von Nietzsche in unübertrefflicher Radikalität diagnostizierten Entzug von logisch-
metaphysischer Wahrheit überhaupt47 diesseits der Metaphysik umzukehren: als solche erwies sich in
der Folge die auf die metaphysische Copula verzichtende Fregesche Logik von Funktion und
Argument.48 Frege beschreibt sie prägnant im Vortrag 'Funktion und Begriff' von 1891:
Behauptungssätze im allgemeinen kann man ebenso wie Gleichungen oder analytische
Ausdrücke zerlegt denken in zwei Teile, von denen der eine in sich abgeschlossen, der andere
ergänzungsbedürftig, ungesättigt ist. So kann man z. B. den Satz /"Caesar eroberte Gallien"/
zerlegen in "Caesar" und "eroberte Gallien". Der zweite Teil ist ungesättigt, führt eine leere
Stelle mit sich, und erst dadurch, daß diese Stelle von einem Eigennamen ausgefüllt wird oder
von einem Ausdrucke, der einen Eigennamen vertritt, kommt ein abgeschlossener Sinn zum
Vorschein. Ich nenne auch hier die Bedeutung dieses ungesättigten Teiles Funktion.49

45
"Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache
selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen" (Friedrich Nietzsche, 'Genealogie der Moral' I, Nr. 3).
46
Vgl. Hegels: "Diß ist die erste Schöpferkrafft, die der Geist ausübt; Adam gab allen Dingen einen Nahmen, diß
ist das Majestätsrecht und erste Besitzergreiffung der ganzen Natur, oder das Schaffen derselben aus dem
Geiste; logos Vernunft Wesen des Dings und Rede, Sache und Sage, Kategorie." In: 'Jenaer Systementwürfe
III', 'Gesammelte Werke' Bd. 8, hrsg. Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1976, 190.
47
"Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben
könnte." In: Friedrich Nietzsche, KG VII.3, Nr. 34[253], vgl. 'Der Wille zur Macht' Nr. 493.
48
Vgl. Claus-Artur Scheier, 'Die Sprache spricht. Heideggers Tautologien', in: Zt. f. phil. Forsch. 47 (1993) 60-
74, und: 'Wittgenstein und das Schweigen im ursprünglichen Denken', in: 'Probleme philosophischer Mystik'
(Festschrift für Karl Albert), hrsg. von Elenor Jain u. Reinhard Margreiter, Sankt Augustin 1991, 159-171.
49
Gottlob Frege, 'Funktion und Begriff', in: 'Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien', hrsg. von
Günther Patzig, Göttingen 1962, 29.

14
Wesentlich ist dieser Logik, die das metaphysische Urteil als bloße Seite des begründenden Schlusses
durch den dinghaft in sich abgeschlossenen Satz ersetzt, daß dessen beide Bestandteile auf keine
Weise mehr, und sei es wie in der Hegelschen Logik dialektisch, miteinander vermittelt werden
können, eben weil die Copula als die Möglichkeit der Vermittlung ausgeschlossen wird.50 Eine Folge
dieses logischen Diastema, die allerdings erst Wittgensteins 'Logisch-philosophische Abhandlung'
durchdenken wird, ist die Bestimmung der isolierten Funktion als Tautologie.
Es erweist sich damit in der Tat als logische Konsequenz des Abstoßes vom geschichtlichen Ort
Nietzsches, das Gespräch mit der Seele zu ersetzen durch das rein intentionale Verhältnis von
Herrschaft (Funktion) und Dienst (Argument), eine Verwandlung, die im 'Jahr der Seele' als Aufgabe
erfaßt, mit dem Engel des 'Vorspiels' verkündet und mit dem 'Siebten Ring' abgeschlossen wird. Verse
wie:
Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schooss
Ich bin [...]
(SW VIII, 27)
sind darum nicht als dialektisch im metaphysischen Sinn zu verstehen, auch nicht im "dionysischen"
Sinn der ewigen Wiederkunft der schaffenden Seele aus dem Geschaffenen in sich als ins Schaffen
selbst, sondern bezeichnen als Reihe die eine "verschmelzung" (SW VIII, 9) abbildende Operation
poetischer Tautologisierung51, die Wittgenstein logisch als "Nullmethode" beschreiben wird.52 Die
durch diese hervorgebrachten Sätze sind Tautologien, die anders als sinnvolle Sätze nichts zeigen,
sondern in denen allein noch der logische Raum als die Grenze der Welt oder das logische Ich sich
zeigt (Husserls "Welthorizont"53 bzw. "transzendentales Ego").54

50
Auf diese Weise wird das syntaktische Prinzip der Metaphysik, die Entwicklung der Copula der Urteile zur
Mitte des Schlusses als zu ihrem Grund, außer Kraft gesetzt; an seine Stelle tritt die Reihenbildung von Sätzen,
deren Korrelat in der Musik und den bildenden Künsten der klassischen Moderne das Konstruktionsverfahren
der Serialisierung darstellt. Dem entspricht der Georgesche Versbau: "Er vermeidet den Nebensatz zweiter
Ordnung und bevorzugt überhaupt den kurzen Hauptsatz und das einfache Satzglied. [...] So entstehen
gleichgebaute, analoge oder analog klingende Verse, die sich übereinanderstufen und dadurch einen
Wiederholungseffekt erzeugen, der sich mit einem Steigerungseffekt verbindet." (Gadamer, 'Hölderlin und
George' (Anm. 9), 55)
51
Das Gedicht serialisiert zwölf Sätze der Form 'Ich bin a und a'', wobei die beiden Argumente im Verhältnis
von Einem und Sein-für-Eines zueinander stehen, deren Folge erst im zehnten und elften Vers umgekehrt wird
und die im Schlußvers in der Kontradiktion koinzidieren, in der sich ex negativo die Tautologie als reine
Funktion ("Ich") zeigt. Vgl. Ludwig Wittgenstein, 'Logisch-philosophische Abhandlung' (T), 4.463.
52
"Die Sätze der Logik demonstrieren die logischen Eigenschaften der Sätze, indem sie sie zu nichtssagenden
Sätzen verbinden. / Diese Methode könnte man auch eine Nullmethode nennen. Im logischen Satz werden
Sätze miteinander ins Gleichgewicht gebracht und der Zustand des Gleichgewichts zeigt dann an, wie diese
Sätze logisch beschaffen sein müssen." (T 6.121).
53
Vgl. Edmund Husserl, 'Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie',

15
Das geschichtliche Scheitern des Gesprächs mit der dionysischen Seele führt also zum Kurz-
Schluß, d. h. zur Tautologisierung der Gegensätze: "Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich
und Du. Hier und Dort. Einst und Jezt nebeneinander bestehen und eins und dasselbe werden" (GA
XVII, 86). Existenziell ist damit die gegensatzlose Beziehung gefordert55 - weshalb das Glück der
Identifikation sich einerseits nur in der gleichgeschlechtlichen Begegnung ereignen kann und
anderseits des Hiats von Herrschaft (Ich-Funktion) und Dienst (Du-Argument) wegen keine
Entwicklung duldet. Daher die quälenden Trennungen und Reihen der Abschiedsgedichte. Die
Verwandlung des Dichters in den Seher dient dabei der Sicherung vor dem immer drohenden
faktischen Umschlag von Funktion und Argument ineinander, hat aber zur Folge, daß die Legitimation
des Sehertums selbst nur noch ein Gott leisten kann. Insofern ist Maximin kein geschichtliches
Ereignis, sondern eine logisch-operationale Konsequenz.56 Die geschichtliche Legitimation freilich
scheint gewährleistet durch jenen Dichter, der wahrhaft Seher war, Hölderlin. So in der Hölderlin-
Lobrede von 1914/15 und in jenem Gedicht aus dem 'Stern des Bundes' (SW VIII, 100) - "Hier
schliesst das tor: schickt unbereite fort" -, in das Hölderlins Name als Diagonale gelegt ist. Wer ist
aber der Gott nach dem Ausbleiben von Dionysos?

III.
In der Vorrede zu 'Jenseits von Gut und Böse' erkannte Nietzsche die geschichtliche Aufgabe der
"guten Europäer" im "Wachsein selbst", das als erkennende Weisheit wohl ein Sehen, "Optik" ist, aber
nicht nach der Art des Bewußtseins ein kategoriales ("Ursache und Wirkung"), sondern wegen des
"änigmatischen Charakter[s] der Dinge"57 ein perspektivisches (das seine Herkunft aus dem dritten
Buch der 'Welt als Wille und Vorstellung' nicht verleugnet). Dies europäische Wachsein wird
nunmehr funktionalisiert zum Sehertum:

§ 37.
54
Zum geschichtlichen Ort Wittgensteins vgl. die Einleitung zu Claus-Artur Scheier, 'Wittgensteins Kristall. Ein
Satzkommentar zur 'Logisch-philosophischen Abhandlung', Freiburg/München 1991.
55
Adorno hat den sekundären Charakter der Georgeschen Homoerotik bemerkt, ohne aber nach einem andern als
dem unmittelbar psychologischen Motiv Ausschau zu halten: "Erlaubt ist vielleicht die Spekulation, Georges
Verfall zur krampfhaft nationellen Positivität rühre daher, daß er den Trieb zum anderen Geschlecht, und
damit zum Anderen schlechthin, in sich unterdrückte und endogamisch bei dem sich beschied, was ihm so
glich wie die Stimme des unseligen Engels aus dem Vorspiel". Adorno, 'George' (Anm. 10), 530 f.
56
Während "sich Hölderlin durch das Diotima-Erlebnis in eine ganz neue Dimension dichterischen Sagens
steigerte, die erst seinen hohen dichterischen Rang voll begründet hat", ist in Georges Dichten "das Maximin-
Erlebnis und seine dichterische Gestaltung mehr eine Konsequenz, auf die sein Leben und sein Dichten
hinwies" (Gadamer (Anm. 9), 49)
57
Friedrich Nietzsche, KG VIII.1, 2[162].

16
Ich sah die kleine schar ums banner stehn...
Und alle andren haben nichts gesehn.
(SW VI/VII, 183)
Das Sehertum ist zugleich, durchaus unnietzschesch, Priestertum kraft des Gottes, der die Funktion
"Herrschaft" legitimiert, indem er, logisch gedacht, die Funktion als solche oder die Funktionalität der
Funktion ist, die mit dem "Geist" als dem männlichen Prinzip identifiziert und personalisiert wird:
Die weltzeit die wir kennen schuf der geist
Der immer mann ist: ehrt das weib im stoffe..
(SW VIII, 96).
Zu ehren ist das Weib, weil der die Weltzeit, die "ewe" schaffende Gott, in der er erst "ist", allein im
Stoff sich verleiblicht:
Dem bist du kind. dem freund.
Ich seh in dir den Gott
(SW VI/VII, 90)

George muß das Oxymoron Maximus-Minimus gewollt haben.58 Jedenfalls heißt es schon in
Hofmannsthals Gedicht 'Ein Traum von großer Magie' von 189559:
Er fühlte traumhaft aller Menschen Los,
So wie er seine eignen Glieder fühlte.
Ihm war nichts nah und fern, nichts klein und groß.
Und George, darf vorausgesetzt werden, wußte von Aristoteles, dem "Weiteste[n] lehrer der zeit" (GA
IX, 15), daß Platon das Gegen-Prinzip des Wesens (oysia) oder des Einen (hen), die Zweiheit (dyas),
das Große und das Kleine (to mega kai to mikron) nannte60: "Der du uns aus der qual der zweiheit
löstest" (SW VIII, 9). Insofern ist "Maximin" als tautologisierender Name zugleich wesentlich
apotropäisch, unmittelbar wider das regressive Brüten der Münchner 'Kosmiker'61 - "Aus nebel wahn
und spuk und hexerei" (SW VI/VII, 184) - der Licht-Gott.
So ist Maximin die Verwandlung des weiblichen poietischen Ursprungs, der Nietzscheschen
"Seele", in den männlichen, als solcher poetisches Korrelat der logischen Funktionalität der Funktion,
und dann deren Verleiblichung. Denn war die eine Seite des Werks der "grosse[n] Nährerin" (SW
VI/VII, 52), daß sie den "leib vergottet", bereits eine Tat des Nietzscheschen Gedankens gewesen,
blieb die andre, die "den gott verleibt", als Tat des priesterlich gewordenen "Wachseins" noch zu tun.

58
Schultz (Anm. 25), 151 f., macht auf das Motto zu Hölderlins Hyperion aufmerksam.
59
Abgedruckt in Georges 'Blättern für die Kunst', sodann in 'Ausgewählte Gedichte' im Verlag der Blätter 1903.
60
Aristoteles, Met. 987b20, 988a13 f.
61
Hierzu G. Plumpe, 'Alfred Schuler und die 'Kosmische Runde'', in: Manfred Frank, 'Gott im Exil. Vorlesungen
über die neue Mythologie', II. Teil, Frankfurt a. M. 1988, 212-256.

17
Während aber die beiden ersten Tendenzen des geschichtlichen Entzugs der Sache Nietzsches, die
Maskulinisierung und Funktionalisierung des Gedankens, die eigentümliche "Geistigkeit" des frühen
20. Jahrhunderts bis zur Trivialität durchsetzten, hatte die dritte in George ihren wenn vielleicht nicht
alleinigen, doch radikalsten Anwalt. So heißt es vom Gott:
Sein leib ward schlank und straff. Er greift.
(SW VIII, 72)62
Insofern ist der fünfte Vers von 'Das Wort' - "Drauf konnt ichs greifen dicht und stark" - die
eigentliche pièce de résistance von Heideggers Interpretation: "Zunächst und langehin schien es so, als
seien die Worte wie Griffe, die das schon Seiende und für seiend Gehaltene umgreifen [...]" (UzS
171). "Man sieht ein Ding", lehrt Frege, "man hat eine Vorstellung, man faßt oder denkt einen
Gedanken. Wenn man einen Gedanken faßt [...], so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der
schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung [...]".63 Georges "Greifen" des Blühenden und
Glänzenden, bei ihm stets das Berühren "manifester" Leiblichkeit, zuhöchst des Gottes, ist als das
logische Wesen seines Dichtens der poetisch gedachte Begriff als die "begriffsschriftliche"64 Funktion
in ihrer expliziten Beziehung auf Wahrheit, denn "ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein
Wahrheitswert ist".65 Dieser fünfte Vers also muß für Heidegger schlechthin "metaphysisch" sein und
hat darum topologische Bedeutung: geschichtlich steht die Dichtung Georges, ebenso bestimmt wie
selbständig und offenbar in größerer Reinheit als die zeitgenössische Lebensphilosophie, zwischen den
philosophischen Entwürfen einerseits Nietzsches, anderseits Husserls, Russells, Wittgensteins und des
Wiener Kreises.
Wie Kierkegaards Gottmensch in Knechtsgestalt war auch Dionysos noch ein Gott der Ankunft,
der verweigerten Ankunft zwar, wie im geschichtlichen Zurücklesen deutlich zu werden vermag. Die
alten Hoffnungen und Utopien sind heute nur schwer in ihrer einstigen Gewalt ernst zu nehmen und
durchsichtig zu machen: Schopenhauers Askesis um des Nirwana willen, Feuerbachs Pathos der
Konversation des Menschen mit dem Menschen, Kierkegaards Sprung in den Glauben, Marx'
Revolution der Produktionsverhältnisse als Produktion der kommunistischen Gesellschaft, endlich das
Drama zwischen Ariadne, Theseus und Dionysos, das nurmehr Stoff für einen in Tribschen

62
Vgl. "[...] DER stamm spricht noch sein wort / Der fest im griff hält was ihm lang geschwant." (SW VIII, 40)
63
Vgl. Gottlob Frege, 'Der Gedanke. Eine logische Untersuchung' (1918/19), in: 'Logische Untersuchungen',
hrsg. von Günther Patzig, Göttigen 1966, 30-53, hier 44, Anm. 5.
64
Beiläufig bemerkt diente wie die Reduktion der "oft entbehrlichen lesezeichen" (Vorrede der zweiten Ausgabe
der 'Hymnen', 'Pilgerfahrten' und des 'Algabal') auch das berühmte "Hersagen" der Gedichte im George-Kreis
anti-expressiv deren Schriftcharakter in seiner irreduziblen Ambiguität (ein Erbe Mallarmés).
65
Frege, 'Funktion und Begriff' (Anm. 49), 28.

18
angesiedelten Familienroman abzuwerfen scheint. Es ist genau das Hyperbolische daran, das als
"Meta-Physik" erscheint, die längst abgetan wäre, hätte sie nicht eben die Textur eines gestaltlosen
Worinnen, in das immer erneut der Essig der Gegenwart gegossen wird, heiße er nun
"Psychologismus", "Technik", "Kulturindustrie", "Logozentrismus" oder wie auch immer.
Was das intentionale Denken von der vormaligen Metaphysik unterscheidet, ist aber dies, daß
deren Denken, zuhöchst als "Spekulation", den Charakters des Beisichseins hatte, der seither in den
Verdacht des Solipsismus geriet, insofern das intentionale Denken wesentlich nicht Beisichsein,
sondern sich Entspringen und Entgegenkommen aus dem Anderen ist - daher der Primat der Zukunft
von Anfang an, dessen subjektive Gestalt das Warten und dessen Eschatologie die Utopie war. Daß
also das "Selbst" vom Anderen erwartet werden muß, ist die untergründige, weil nie als solche ihrer
selbst bewußt gewordene Tradition seit Feuerbach und Kierkegaard, dessen Gott das Feuerbachsche
Du war, wieder eingesetzt in sein ursprüngliches Recht, das Du der Religion zu sein. Und auch bei
George begegnet dies ursprüngliche Du als Gott, d. h. als geschichtliche Variation des vorgestellten
ganz Anderen, den auch das 20. Jahrhundert nicht (mit dem Wort Nietzsches) "abgeschafft" hat,
wiewohl es - und das eigentlich ist der Bruch im Denken nach Nietzsche - verzichten mußte auf sein
(intentionales) Vorgestelltsein.

IV.
Insofern ist Georges Gott der letzte vorgestellte Gott des intentionalen Denkens. "Das schöne leben
sendet mich an dich", verkündet der Engel des 'Vorspiels' (SW V, 10), und das schöne Leben ist nicht
mehr das des änigmatischen Welt-Seelen-Raums Nietzsches und seiner aus dieser Tiefe
heraufspielenden Musikalität, sondern der "Teppich", die übersichtliche Flächigkeit als "Die lösung
bringend über die ihr sannet!" (SW V, 36). Anstelle des "weiblichen", empfangend-schaffenden
Lebens, dessen äußerste Möglichkeit Nietzsche in der ewigen Wiederkunft des Gleichen gedacht hatte,
brachte George den "männlichen", die Rezeptivität in Konstruktivität transformierenden und insofern
operationalen Gedanken zur Herrschaft. Unter ihr bescheidet das vormals dionysische Schaffen sich,
"nach anbetungen brünstig" (GA IX, 136), zum "Dienst" - poetischer Vorschein des Umschlags des
Prinzips der Produktivität in das der Reproduktivität, in der Walter Benjamin das Schicksal des 20.
Jahrhunderts erkennen würde.
Der Abschied, den das Jahr der Seele gefeiert hatte, war darum noch zu überholen vom
Abschied vom Gott dieses Abschieds, der darin nicht mehr ein anderes, seinen Künder, sondern
nurmehr sich selbst, als Gott, legitimiert. Dieser Abschied geht allerdings "ins Äußerste" (UzS 173)

19
und bezeugt sich noch in der absteigenden Ordnung des letzten Gedichtbands, in dessen Schlußteil, -
"Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe" -, nach den Sprüchen an die Toten
er als solcher aufklingt. "Das Denken", wird Heidegger im 'Brief über den 'Humanismus'' schreiben,
"ist auf dem Abstieg in die Armut seine vorläufigen Wesens"66, und er konnte Georges Gedicht als
Vor-Gänger bezeichnenderweise erst dort anerkennen, wo dieses von nichts geringerem Abschied
nahm als von seinem Gott.
Denn dieser Gott des in die Schönheit abgeschiedenen Lebens, die Tautologisierung des
lebendigen Widerspruchs, muß genau deshalb auch selber abscheiden, weil er, als die Intentionalität
selbst, diesen Widerspruch nicht aushält: die Vorstellung der Möglichkeit der Vorstellung, das Bild
der Form der Abbildung zu sein. Wittgensteins 'Logisch-philosophische Abhandlung', die den
phänomenologischen "Welthorizont" als solchen bedenkt, wird das so sagen: "Das Bild kann jede
Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat. [...] Seine Form der Abbildung aber, kann das Bild nicht
abbilden; es weist sie auf." (T 2.171/172) Und läßt sie sich wohl in einer höheren Darstellungsebene
abbilden - die des räumlichen Bilds etwa im sprachlichen, denn "Jedes Bild ist auch ein logisches" (T
2.182) -, so läßt sich doch diejenige Form auf keine Weise mehr abbilden (vorstellen, zur Sprache
bringen), die die Form des Ortes der Wahrheit selbst, d. h. intentional gedacht die Form des Satzes ist.
Diese Form aller Formen, den "logischen Raum", denkt der Mallarmé-Schüler George als die
Ermöglichung der Gabe, Don du Poème. Wittgenstein bestimmt sie zugleich als das "metaphysische
Subjekt" (T 5.633), das als "die Grenze - nicht Teil der Welt" (T 5.641) schlechterdings nicht
vorstellbar ist: "das Mystische" (T 6.522). In Georges Denken aber verdichtet dies Subjekt sich noch
einmal zum Bild: nicht der einst entzogene Gottmensch in Knechtsgestalt, noch der soeben entzogene
Dionysos, sondern dieser Maximilian Kronberger - erinnert als Maximin.
So widerfährt Georges Dichtung, was Heidegger als die "Seinsvergessenheit" der Metaphysik
unterstellen wird: sie habe das Sein selbst als das (höchste) Seiende vorgestellt ("abgebildet"). Das
wäre wohl wahr, wenn der geschichtliche Horizont der Metaphysik überhaupt der intentionale
gewesen wäre. Aber was Heidegger bis in den Anfang der "abendländisch-europäischen Philosophie"
retrojiziert, ist die "ontologische Differenz" als das von ihm zuerst existenzial, dann
"seinsgeschicklich" umgedachte Verhältnis von Funktion ("Sein") und Argument ("Seiendes"), die
abgründige Unvermittelbarkeit des Einen und des Andern. Obwohl Frege deren Logik formuliert hatte,
stieß er selbst doch erst ganz zuletzt auf ihre Abgründigkeit. 1902 stand er vor der Veröffentlichung
des zweiten Bands seiner 'Grundgesetze der Arithmetik', als ihn ein Brief Bertrand Russells erreichte,

66
Heidegger, 'Wegmarken' (Anm. 7), 194.

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worin dieser die von ihm entdeckte Antinomie der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst
enthalten, auf Freges fünftes Axiom oder Gesetz anwandte, nach dem jeder Begriff eine Klasse von
Gegenständen eindeutig bestimmt. Und Frege erkannte sogleich, daß damit sein "logizistisches"
Programm der Begründung der Arithmetik durch die Logik gescheitert war. Bestimmt nämlich jeder
Begriff eine Klasse (Menge) von Gegenständen eindeutig, dann gibt es keinen Begriff der Menge
überhaupt, denn dieser Begriff müßte für alle Mengen gelten. Das All der Mengen ist mithin
begrifflos, d. h. selber keine Menge (Klasse) von Gegenständen, von "Seienden".
Auf andere Weise wird Wittgensteins 'Logisch-philosophische Abhandlung' Russells eigne
Logik an der ontologischen Differenz scheitern lassen: sie verwandle operationale Eigenschaften des
logischen Raums (des "Seins") in logische Gegenstände oder logische Konstanten ("Seiende"): "Es ist
der Grundfehler Russells, daß er immer wieder versucht, die Möglichkeit auf die Wirklichkeit
zurückzuführen. Er verwechselt also eine Beschreibung mit der Syntax dieser Beschreibung."67 Hier ist
das Problem des Georgeschen Gottes auf den Begriff gebracht. Es war, zwischen Frege und Russell,
der dichterische Versuch, "die Möglichkeit auf die Wirklichkeit zurückzuführen" - den Gott zu
verleiben, die poietische Syntax abzubilden.
Nietzsches Zarathustra und Dionysos, Georges Engel und Maximin, ferner Rilkes Engel und die
"Tiefendimension unseres Inneren"68 sind Evokationen dieser Syntax des Möglichen im ganzen.
"Auch Rilke", heißt es bei Heidegger im Blick auf die "Metaphysik", "bedenkt weder die
Räumlichkeit des Weltinnenraums näher, noch fragt er gar, ob nicht der Weltinnenraum, da er doch
der weltischen Präsenz Aufenthalt gibt, mit dieser Präsenz in einer Zeitlichkeit gründet, deren
wesenhafte Zeit mit dem wesenhaften Raum die ursprüngliche Einheit desjenigen Zeit-Raumes bildet,
als welcher gar das Sein selbst west."69 Verweist Heidegger damit auf seinen Gedanken der Lichtung,
dann läßt diese sich jetzt ihrerseits als eine geschichtliche Verwandlung des logischen Raums lesen.
Wittgenstein hatte ihn als "das metaphysische Subjekt" gedacht; seine existenzial-analytische Gestalt
findet er in 'Sein und Zeit': Das Dasein "ist 'erleuchtet', besagt: an ihm selbst als In-der-Welt-sein
gelichtet, nicht durch ein anderes Seiendes, sondern so, daß es selbst die Lichtung ist. Nur einem
existential so gelichteten Seienden wird Vorhandenes im Licht zugänglich, im Dunkel verborgen.". 70
Inwiefern Heidegger 1933 selber der Gefahr erlag, die "ontologische Differenz" vorstellend zu

67
Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band 3 ('Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis'), Frankfurt a. M.
1984, 214.
68
Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11. August 1924.
69
Heidegger, 'Wozu Dichter?' (Anm. 5), 283.
70
Heidegger, 'Sein und Zeit' (Anm. 6), 133.

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überspringen, mag hier dahingestellt bleiben; in den vierziger Jahren jedenfalls denkt er die Lichtung
noch einmal um: "Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist die Sage einer Kehre
innerhalb der Geschichte des Seyns. Weil zu ihm lichtendes Bergen gehört, erscheint Seyn anfänglich
im Licht des verbergenden Entzugs. Der Name dieser Lichtung ist alêtheia."71 Und schließlich heißt
es: "Das Lichte im Sinne des Freien und Offenen hat weder sprachlich noch in der Sache etwas mit
dem Adjektivum 'licht' gemeinsam, das 'hell' bedeutet."72
Erst hier eigentlich ist Georges Licht-Gott "verwunden"73, die alte Nähe aber noch einmal
bezeugt. Denn gerade indem Heidegger das vormalige Lichtwesen der Lichtung tilgt74, wird deutlich,
daß diese nicht das ursprünglich gedachte Analogon des metaphysischen Äthers, sondern der
Platonischen chôra ist, deren Begriff to mega kai to mikron war. Der abgeschiedene Maximin75, selber
schon eine Verwandlung des abgeschiedenen Dionysos, durchgeht also als "Welthorizont",
"Dimension des Inneren", "logischer Raum", existenziale und seinsgeschickliche "Lichtung" eine
Reihe geschichtlicher Metamorphosen, die allesamt die Gegend der Sprache bestimmen. Wenn
Heidegger am Anfang seiner George-Vorträge sagt, sie "möchten uns vor eine Möglichkeit bringen,
mit der Sprache eine Erfahrung zu machen", und mit "etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott,
eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, das es uns trifft, uns umwirft und verwandelt"
(UzS 159), dann kommt hier zum Vorschein, was ihn eigentlich in Georges Gedicht getroffen hat: der
von George zuinnerst gedachte Abschied des Gottes im "Zerbrechen" des Worts. Denn zum Schluß
des dritten Vortrags verwandelt Heidegger den letzten Vers von 'Das Wort' in den Spruch: "Ein 'ist'
ergibt sich, wo das Wort zerbricht", und erläutert: "Das verlautende Wort kehrt ins Lautlose zurück,
dorthin, von woher es gewährt wird: In das Geläut der Stille, das als die Sage die Gegenden des
Weltgeviertes in ihre Nähe be-wëgt." (UzS 216) Die Lichtung beruht in der Stille, wie schon
Wittgensteins logischer Raum nichts war, wovon man sprechen kann, sondern worüber man
schweigen muß (T 7). Der Dichter George schwieg zuletzt, nicht, weil "das bisherige, seiner selbst
sichere Dichten jäh" zerbrochen wäre (UzS 172), sondern weil der Weg seines Dichtens jenen

71
Heidegger, 'Vom Wesen der Wahrheit', Anmerkung (erster Absatz von 1949), in: 'Wegmarken' (Anm. 7), 96.
72
Heidegger, 'Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens', in: 'Zur Sache des Denkens' (Anm. 6),
61-80, hier 72.
73
Zum "Verwinden" vgl. Martin Heidegger, 'Die Kehre', in: 'Die Technik und die Kehre', Pfullingen 21962, 37-
47, hier 38 f., jetzt auch in: 'Bremer und Freiburger Vorträge', Gesamtausgabe, III. Abt., Bd. 79, hrsg. von
Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1994, 68-77, hier 69 f.
74
Vgl. Heidegger, 'Wie wenn am Feiertage...', in: 'Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung' (Anm. 18), 56.
75
Zur "Abgeschiedenheit" vgl. UzS 66 f.

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äußersten Ort des intentionalen Denkens erreicht hatte, den dieses selbst Schweigen und Stille nennen
würde:
Lang ist gang in gleicher spur:
Was ihr denkt und lernt und schafft...
Doch des götter-rings verhaft
Dauert einen sommer nur!

Erschienen in: George-Jahrbuch 1, hrsg. von W. Braungart u. U. Oelmann, Tübingen 1996/97, S. 80-
106.

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