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Natalie Depraz
in : Immanenz und Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, edited by Markus
Enders, Brill, Leiden/Boston, 2015, pp. 135-159
Einleitung
Die Nüchternheit des Bezugs auf Meister Eckhart in der fundierenden deutschen
Phänomenologie, sei sie husserlschen oder heideggerschen, lässt sich nach ihrer
verborgenen Bedeutsamkeit. messen. In einem Gespräch mit D. Cairns aus dem 27ten Juni
1932, welches der mystischen Erfahrung und genauerweise der Echte ihrer Evidenz
gewidmet wird, behauptet Husserl (so Cairns), dass « wholes pages of Meister Eckhart […]
could be taken over by him unchanged. »1. Einige Behauptungen, die man in dem Wiener
Vortrag lesen kann, zeugen ebenfalls von der Wichtigkeit des Hinweises auf Echkart,
obwohl der Letztere nicht direkt erwähnt wird. Unter anderen ist die folgende Behauptung
die bemerkenswerteste : « Nur wenn der Geist aus der naiven Außenwendung zu sich selbst
zurückkehrt und bei sich selbst und rein bei sich selbst bleibt, kann er sich genügen. »2 Was
Heidegger betrifft, schreibt er sehr früh einige dichten Seiten über die Eckhartsche Mystik3,
über ihre Denkenpotentialitäten im Rahmen des Abbaus der Vernunft als Determinierung
der Objektivität und der Heraushebung einer Erkenntnis der Einheit als Erleben des
Absoluten. Durch die Auffassung der sogenannten « Irrationalität bei Eckhart4 », welche
« nicht ist, was vor aller Rationalität als Fülle der Mannigfaltigkeit liegt5 », bringt
Heidegger eine Erfahrung der Ausschaltung der Einzelheiten und der Form selbst zum
Vorschein, um die Erfahrung der potenzierte Leere zu unterstreichen ; indessen tritt einen
ethischen (ethisch6) Entzug außerhalb aus der Mannigfaltigkeit, aus der
Entmannigfaltigung, der Abstoßung der einzelnen Kräfte in ihrer Einzelheit und bestimmten
Gerichtetheit7, aus der Zeitlichkeit im ewigen Nu8 heraus, welches Abgeschiedenheit als
« zentralen Begriff » (so Heidegger) in der geistigen rheinischen Mystik benannt wird.9
1D. Cairns, Conversations with Husserl and Fink, The Hague, M. Nijhoff, 1076, p. 91 : « LXII Conversation with Husserl, 27/6/1932 : ”Husserl spoke of mysticism.
Every genuine evidence has its right. The question is always of the Tragweite <range, scope> of any given evidence. This applies also to the particular evidence the
mystic has.
He doubts however the practical sufficiency of mysticism. The ”awakening” from the mystical experience is likely to be a rude one. On the other hand the
insight into the rationality of the world which one gains through true scientific investigation remains through all future experience. The difference is furthermore,
one between passive enjoyment and work. The mystic neglects work. Both are necessary.
As every evidence has its right, the proper attitude toward religion is tolerance — toward all genuine religion.” » Siehe auch das Ms. A VI 10, das sich mit
dem Verhältnis zwischen der mystischen und der phänomenologischen Gewßheit beschäftigt. »
2 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Menschheit und die Philosophie, Hua VI, 1966, S. 345-346. In Eckharrt’s Predigt über die « Abgeschiedenheit » findet
man eine erstaunliche Antizipation dieser Formel : « [...] l'humilité parfaite se courbe au-dessous de toutes les créatures — par quoi l'homme sort de lui vers la
créature ; mais le détachement reste en lui-même. Or, quelque remarquable que puisse être une telle sortie de soi-même, rester en soi-même est pourtant toujours
quelque chose d'encore plus haut. » (Oeuvres de Maître Eckhart, Sermons-traités, Paris, Gallimard, 1942, 1987 pour la préface de J.-P. Lombard, p. 20, désormais
abrégé ST).
3
2
Es wird behauptet, daß diese Hinweise bei beiden Phänomenologen nur nebenbei
Bemerkungen sind : sie seien zu spät bei Husserl, um sich in dem Projekt der
Phänomenologie als strenge Wissenschaft einzuschreiben ; sie seien zu früh bei Heidegger,
um seine späte Verwindung der Metaphysik geleitet haben können. (Doch taucht dieser
Hinweis wieder später in den Beiträgen auf.) Unsere Leithypothese ist die folgende : beide
Hinweise (bei Husserl sowie bei Heidegger) tragen zu der Möglichkeit einer
phänomenologischen Metaphysik,10 welche Michel Henry seinerseits in seiner eigenen
Weise vollziehen wird.
Auf diesem Grund möchten wir drei Fragen stellen : 1) inwiefern ist Eckhart und die
an ihm anschliessenden spekulativen Mystik ein entscheidendes Stützpunkt, um eine
phänomenologische Metaphysik zu bilden ? 2) In welchem Sinn läuft die letztere weder auf
die Phänomenologie (sei sie statisch oder hermeneutisch) noch auf die Metaphysik (sei sie
naiv oder ontotheologisch) hinaus ? 3) Inwieweit verleiht die henrische Phänomenologie
dieser phänomenologischen Metaphysik dank dem eckhartschen Bezug einen tiefen Sinn ?
Diese drei Fragestellungen bilden keineswegs drei Etapen meines Beitrags : erst durch die
Antwort auf die erste werde ich versuchen, ein Licht auf die zweite und die dritte zu werfen.
Vielleicht wird es mir dann gelungen, zum Vorschein zu bringen, wie der originale Ansatz
Henrys — sich seinerseits auf Eckharts unerhörtem Durchbruch stützend — die Auffassung
einer « metaphysischen Erfahrung »11 als eine Erfahrung der nicht-dualen Passivität (I)
ermöglicht, welche eine eigentümliche Verzeitigung (die wir « auto-antécédance » nennen)
(II) sowie eine vom Affekt nichtzutrennende Erkenntnis (III) voraussetzt.
Wie bei Husserl oder bei Heidegger ist der Bezug auf Eckhart bei Henry anscheinend
sekundär. Auf alle Fälle ist er weit davon, eine zentrale Rolle zu spielen, wie es der Fall für
Philosophen wie Maine de Biran12 oder Schopenhauer13 ist, die früh oder spät Michel
Henrys Auffassung einer originär selbstaffektierten Subjektivität beeinflußt haben. Obwohl
Henry dem Mystiker kein Werk gewidmet hat, lobt er ihn mehrmals und bedeutungsvoll.14.
In L’essence de la manifestation (1963) stützt er sich auf der mystischen Erfahrung,15 um
seine Auffassung des Wesens als einfache, volle und passive Einheit zu entfalten16 ; in C'est
moi, la vérité (1996)17 wird der wiederholte Hinweis auf Eckhart dem Gedanken der
Selbstgeneration des Lebens eine machtvolle begriffliche Begründung verleihen18. Wenn
dieser Hinweis auch nur eine Fußnote ist, vollzieht er die vorgeschlagene Interpretation des
Johannes Evangelium. Hierbei kann man besser erst im Jahre 1963 Eckharts Wichtigkeit
messen, welcher sich immer wieder auf Johannes bezieht. So setzt der Bezug auf Eckhart
bei Henry einen Vermittler voraus, nämlich Johannes.
ihnen fasst eine wesentliche Seite der transzendantalen Neigung, die Reduktion vollzuziehen
und verankert sich allerdings in der Vorbereitung der Seele, das Göttliche zu empfangen.
Diese doppelte phänomenologische und metaphysische Verankerung der Meditation der
Immanenz Michel Henrys wollen wir jetzt erläutern :
1) Die Armut : « [...] l'essence ne renferme rien d'autre que la pensée qui se tourne vers
elle et se détourne nécessairement de tout ce qui est autre qu'elle [...] La libération de
l'essentiel se poursuit comme un retrait [qui n'est pas] renoncement provisoire, mais
pauvreté qui se fait et se veut essentielle30. » Die Bedürftigkeit des Wesens wird als eine
radikale Selbst-erfahrung erprobt ; sie gilt als Entdeckung einer notwendigen
Selbstverarmung in der Linie von Eckharts sowie Husserls Forderungen : in seiner Predigt
betitelt « die geistige Armut » lobt der Meister die « innere Armut », ; am Anfang der
Cartesianischen Meditationen hat Husserl seinerseits « den Anfang der absoluten
Erkenntnisarmut erwählt »31, indem er sich von den Doxai und den Voraussetzungen
befreit, um die kommende transzendentale Einstellung innerlich zu empfangen.32 Die
Metaphysik und die Phänomenologie bringen hier gemeinsam diese innere Einstellung,
welche Michel Henry sich zu entfalten bemüht, und die endlich als eine transzendentale
Einstellung der nicht-dualen Passivität auftritt.
Nun ist die geistige Armut bei Eckhart (wie die Selbstbedürftigkeit bei Henry) einen
inneren Zustand, der mit sich keinen differenzierbaren qua gegensätzlichen Ichraum mit sich
bringt, bei welchem einen Konflikt noch auftauchen mag : « L'homme doit être si pauvre
qu'il ne soit pas lui-même ”un endroit où Dieu puisse agir” ni même qu'il ne l'ait en rien !
Aussi longtemps que l'homme garde en lui de l'espace, il garde de la différence33. »
Eckharts Forderung einer radikalen Vernichtung von jeder Verräumlichung des Selbst wird
von M. Henry mit seiner Kritik der transzendenten Äusserlichkeit wiederaufgenommen und
ermöglicht es zu verstehen, wie er eine Kritik an Heideggers Betonung des Aufenthalts und
der Erde als ontologisches Ort der Verankerung des Selbst ausüben kann.34. Allerdings
wäre es zu einfach, diese Kritik des Raumes und jener Differenzierung als eine
Heraushebung der identischen und abstrakten Einheit zu verstehen. Die Selbstvernichtung
ist eine Dynamik, welche die Identität sowie den Gegensatz ausser Spiel setzt. Durch diese
Urerfahrung der inneren vernichtenden Armut tritt ein erstes Komponent der Nicht-dualität,
das auch mit den anderen folgenden Zügen vorhanden ist.
2) Die Unbeteiligkeit: « Parce qu'elle ne veut rien, parce qu'elle n'a ni projet, ni désir,
parce qu'il n'y a rien en elle dont elle soit séparée, tout en elle aussi est repos, elle est, dans
cette absence de trouble, sans rien qui la divise, le calme de son absolue simplicité. » « C'est
ainsi sans doute que l'essence se repose quand elle ne va plus hors de soi, quand, immobile,
elle ne crée plus rien35. » Die formelle Struktur des Unbeteiligtsein enthält eine Kritik der
naiven objektivierenden Intentionalität (des « sich Richten-auf ») und lässt eine Art
Aufmerksamkeit auftauchen, welche die Einsfühlung sowie die Selbst-enthaltung vermeidet.
Zu schnell würde man die abgeschiedene Seele bei Eckhart36 (oder noch der
unbeteiligte Zuschauer bei Husserl und bei Fink)37 als einen nichtbeteiligenden Beobachter
oder als einen nicht-handelnden Betrachter ansehen, was immer noch den zu einfachen
Gegenstaz der Theorie und der Praxis hervorhebt. Nun wird die Unbeteiligkeit ausser dieses
Gegensatzes gestellt, ohne sich völlig und künstlich ihm zu entziehen, sondern indem sie als
eine Art passiver Handlung, die mit Recht als Rezeptivität bezeichnet sein kann. Dadurch
wird die künstliche Dualität der Aktivität und der Passivität aufgehoben und die stylistisch-
gedankliche Gestalt der Paradoxie behauptet.38 In dieser Hinsicht ist die Unbeteiligkeit
merkwürdig, insofern als sie es erlaubt, die experientielle Schwebung zwischen der blinden
Weltbefangenheit und der von der Welt abgetrennten Reflexion wirklich zu erfahren und
dadurch eine aufmerksame Handlung anzusetzen.
3) Die Einsamkeit : « L'essence repose dans la solitude et, parce que le repos constitue
sa nature, elle est elle-même, comme telle, solitude39. » Damit wollen wir nicht die Einheit
und das Individuum im Gegensatz zu der Mannigfaltigkeit zum Vordergrund stellen. Viel
mehr geht es um eine innere Struktur, die sich als ein Selbstverständnis und als ein inneres
Werk ergibt : « la relation de l'essence avec soi est constitutive de l'essence ».
Die Eisamkeit ist also die innere Struktur des Wesens selbst. Nun dieser Zug der
Einsamkeit verinnerlicht das intersubjektive Verhältnis, um es als eine innere Alterität zu
erleben, wie sie von Husserl in der Krisis mit der Methode der Reduktion als Modifikation
oder Änderung ausgelegt wird.40 Eckhart bietet uns genau diese ontologische Erfahrung
durch das Bild der « Burg der Seele » dar, welche keineswegs eine Selbstbefangenheit
anzeigt, sondern das Erlernen einer Selbstbeherrschung, die durch die absolute Rezeptivität
qui passe par la réceptivité absolue à l'autre jusqu'à conduire à l'extrêmité de l'empathie41.
4) La simplicité : « L'expérience de soi de l'être dans sa totalité le détermine dans sa
simplicité et le constitue parce qu'il est précisément l'acte de se donner à soi-même [...] Une
telle structure, conformément à laquelle il se donne à lui-même et avec laquelle il s'identifie,
n'est rien d'autre cependant que la simplicité42. » Die Einfachheit wird durch zwei Züge
bezeichnet : die Einheit und die Fülle. Beide werden als Vorgänge und nicht als Zustände
betrachtet. Dadurch wird die Selbstgegebenheit des Wesens als Selbsterfahrung erstens eine
Selbstvereinigung des Wesen mit sich selbst, wodurch die Einheit Nichts isoliertes,
äusserliches und abstraktes ist ; zweitens eine Selbstverwirlichung des Wesens, womit die
Fülle als « unbegrenzter Reichtum » von jedem Mangel als einfache Entbehrung
verschieden ist.43 Die Erfahrung der Einfachheit « fasst sich also mit dem einfachen Gefühl
36 ST, « Du détachement », p. 21-23, wo die Leidenschaftslosigkeit als reines Nichts bezeichnet wird, d.h. nicht als Leere, sondern als Fülle.
37 Cf. Philosophie première II de Husserl et la Sixième Méditation cartésienne de Fink.
38 In Bezug auf das Paradox bei Eckhart und allgemeiner in dem mystischen Denken siehe Zapf J., Die Funktion der Paradoxie im Denken und sprachlichen
Ausdruck bei Meister Eckhart, Cologne, 1966 und Sells, M. A., Mystical Languages of unsaying, Chicago and London, Chicago University Press, 1994. Siehe auch
die ähnliche Rolle des Oxymoron bei Grégoire de Nysse, mit den Bemerkungen von J. Daniélou in Platonisme et théologie mystique, Paris, Aubier, 1944. Es
scheint, daß die metaphysische Erfahrung der Nicht-dualität sich theologisch und rhetorisch dank der Bilde der Paradoxie und des Oxymoron ausdrückt.
39 Op. cit., p. 354.
40 Hua VI, § 54, b), S. 87-88, wo Husserl anscheinend erstaunlich die Einsamkeit als methodische Einhaltung von der Mannigfaltigkeit betrachtet : « Die Epoché
schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit, die das methodische Grunderfordernis ist für eine wirklich radikale Philosophie. In dieser Einsamkeit bin ich
nicht ein Einzelner, der aus irgendeinem, sei es auch theoretisch gerechtfertigtem Eigensinn (oder aus Zufall, etwa als Schiffbrüchiger) sich aussondert aus der
Gemeinschaft der Menschheit, der er sich auch aber dann noch zugehörig weiß. Ich bin nicht ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine
6
einer Fülle zusammen. »44 und mit der Endeckung des Selbst erprobt wird, das weder ein
Einheitspol noch eine unstrukturierte Beweglichkeit ist.
Mit dieser zeitlichen Struktur des vollkommenen Vollzugs wird jede lineare
Succession wie jede inständige Pünklichkeit unterbrochen : was zum Vorschein kommt, ist
eine Zeitlichkeit der Antizipation der Zukunft innerhalb der Vergangenheit, welche
formartig einerseits dem Vorgang der Verzeitigung in den eckhartschen Predigten45,
andererseits der genealogischen Rückfrage am Werk in der Krisis bei Husserl entspricht
5) Die Nicht-Freiheit : « La non-liberté appartient en général à l'essence comme ce qui
la constitue46 ». Die Freiheit setzt die Möglichkeit voraus, sich selbst zu entgehen, d.h. auch
der Äusserlichkeit ausgesetzt zu werden, was eine Art Abhängigkeit zu Folge hat, die sofort
die genannte Freiheit relativisiert. Die wesentliche Erfahrung des Selbst ergibt sich als eine
erwählte Erfahrung der Unmacht. In dieser Hinsicht bietet dieser fünfte Zug eine Art
Synthesis der Erfahrung des Selbst als passive Nicht-dualität. Dank der Behauptung einer
Nicht-Freiheit als Verwerfung einer Macht, die ich den Anderen auferlegen würde, entwirft
sich eine höhere Freiheit als Verinnerlichung unserer Endlichkeit : bei Husserl heißt es
« Reduktion in voller Freiheit », bei Eckhart, « Unleidenschaftlichkeit des Wesens »..47
Jetzt wird man zu der umfassende Bestimmtheit des Wesens als Passivität bei Henry
und der Seele als Unleidenschaftlichkeit bei Eckhart. Als Zusammenfassung der fünf schon
erwähnten Züge durchläuft sie alle und zeugt bemerkenswert von der metaphysischen
Erfahrung, auf deren Suche wir sind.48 In der letzten Phase der Analyse des § 3749 fasst M.
Henry den Hauptsinn der Erfahrung des Selbst als passive Erfahrung vermittels der
doppelten Abgrenzung der Passivität zu 1) der Aktivität als Beherrschung und als
Verantwortung50, 2) der Passivität als einfache Reaktion auf eine äusserliche Realität.51
Eine solche Passivität, die durch die gegenseitige Abgrenzung der Aktivität und der
Passivität auftaucht, ergibt sich litteralisch als die radikale Erfahrung einer Ohnmacht,
welche eine sekundäre Macht auftreten lässt : diese befreit sich konstitutiv von jeder
Machtstruktur. Nun ist die eckhartsche Leitidee genau die einer Macht der
Unleidenschaftlichkeit, welche keineswegs auf einer Gleichgültigkeit hinausläuft (was zu
einer einseitigen Deutung als theoretischen Beobachtung oder als Rücksichtslosigkeit auf
die Welt führen würde), sondern eine aufmerksame Empfänglichkeit, die sich allmählich
von jeder Begierde d. h. von jeder Leidenschaft befreit.52 Indessen sie werden empfangen
d.h. verinnerlicht, nicht zerstört.53. Die Kraft, die aus der Unleidenschaftlichkeit geschöfpt
wird, zerstört nicht die Leidenschaft, sondern verwandelt sie, indem sie sie steigert ;
ebenfalls weist sie keineswegs die Handlung zurück, sondern sie betrachtet sie als eine
Aktivität der Wachheit. Kann eine solche Erfahrung der Unmacht noch « ontologisch »
genannt werden ? Setzt sie sich nicht allem Gedanken des Seins entgegen, welcher
unvermeidlich mit der Macht oder der Potenz verbunden54 ? Michel Henry und Eckhart
sind mit dieser Zurückweisung der Ontologie als bestimmenden Horizont der
metaphysischen Erfahrung einverstanden. Der Ausgang aus der Machtstruktur gleicht dem
Ausgang aus der Ontologie.55. Die Relativisierung des Seins im Name der schönen
Erfahrung der « dés-istement [dés-être] de soi-même » ist etwas Beharrliches in der
eckhartschen Meditation über die Passivität56 : « Il est sans propriété celui qui n'élève
aucune sorte de prétention ni sur son propre moi ni sur ce qui est hors de lui [...] plus cette
pauvreté est parfaite et dégagée, plus cette possession est nôtre. »57 Es handelt sich darum,
das Sein in sich Selbst abzubauen und das Handeln als ein Tun ohne Ergebnis zu
betrachten : indessen man bricht die Allmacht des ego als mein Eigenes. Eine solche Übung
von Verzicht (litteralisch : von « Ent-Ontologisierung ») ist den zeitgenössischen
phänomenologischen Perspektiven sehr nah58, sei es Levinas’ im Gegensatz zum
husserlschen Ich oder zum heideggerschen Sein, sei es Derrida’s der Jemeinigkeit
Heidegger’s gegenüber, sei es auch J.-L. Marion’s im Kontrast zur tendenziellen Idolatrie
des Anderen bei Levinas. Jenseits von der erkenntnis-theoretischen, ontologischen,
ethischen oder dekonstruktivischen Verdeckungen dieser primordialen Erfahrung der Armut
als radikaler Erfahrung der Endeckung des Selbst bleibt dieser Kern von
entsubstantialisierter Passivität, wo alle aufgebauten Gegensätze vernichtet werden : solche
Radikalität verleiht M. Henry’s Denken in L’essence de la manifestation eine unleugbare
Bedeutsamkeit.
Um diese eckhartsche Interpretation des Werkes aus dem Jahre 1963 zu schließen,
können wir bemerken, daß die Armut noch einmal die Erfahrung der Passivität vollzieht,
indem sie schon die fünf Züge enthält : so wird die Armut zugleich den Ansatz und den
Vollzug dieser spiralförmigen Steigerung. Übrigens bilden die fünf Züge spezifische
Dimensionen dieser Erfahrung, die man synoptisch zusammenfassen kann : die fünf
Schwellen der Erfahrung, 1) die Armut, 2) die Unbeteiligkeit, 3) die Einsamkeit, 4) die
Einfachheit, 5) die Nicht-Freiheit, entsprechen fünf methodischen Etappen : 1) eine
habituelle Vor-einstellung, 2) die Epochè als Enthaltung, 3) die Reduktion als eigenes
Zusichkommen, 4) die Zeitlichkeit, 5) das Ethos, welche einer allmähligen Integration der
Passivität als Macht der Unmacht bilden. Unter diesen Zügen entsprechen sich die Armut et
die Nicht-Freiheit als Ansatz und Schluß und die Unbeteiligkeit und die Einsamkeit als
gemeinsamer reduktiver Grundkern. Bleibt die Einfachheit mit ihrer spezifischen
en elle il n'y a rien à faire, et elle n'a jamais non plus regardé autour de soi. Dieu et la divinité sont distincts comme l'agir et le non-agir. » ; S. 194 enfin : « être actif
dans l'inaction ».
54 Es genügt, den entscheidenden Character der Allmächtigkeit in dem cartesianischen Verständnis des Gottes zu erwähnen. In dieser Hinsicht siehe J.-L. Marion,
Sur la théologie blanche de Descartes, Paris, P.U.F., 1981.
55 L'essence de la manifestation, op. cit., S. 370.
56 ST, « Comme une étoile du matin », S. 124-125 ; « Du dés-istement de soi-même », S. 193-196 ; in dieser Hinsicht weist die levinasschen Analyse des passiven
Gesichts des Anderen auch auf ein solches Versuch von Entontologisierung hin, aber sie stützt sich auf einer Ethik als Erste Philosophie ; allerdings hat Heidegger
8
Verzeitigung. Nun ergibt sich dieser letzte Zug als der Hauptzug des Werkes aus dem Jahre
1996, welche der schon befreiten passiven Erfahrung die richtigste Fruchtbarkeit gibt.
Der Vorgang der Kristallisierung bringt ein doppeltes Ergebnis hervor : entweder steift
er die Lebendigkeit der Erfahrung, oder verleiht er ihr die diamante Kraft der Reife, welche
als das endliche Bild der Vollkommenheit betrachtet werden kann. Im C'est moi, la vérité,
indem der johannische Inhalt der 1963 beschriebenen Erfahrung klar herausgehoben wird,
wirkt unvermeidlich diese Zweideutigkeit, welche übrigens von dem eingegangen Risiko
zeugt. Nun kann nur das sich Aussetzen es erlauben, sogenannte unaufhebbare Aporien
aufgelöst werden. Das Werk aus dem Jahre 1996 befindet sich auf diesem gefährlichen
Weg : seine inneren Schwierigkeiten zeugen von dem hier geleisteten Aufbruch.
Das johannische Denken ist ein gemeinsames Grund von Michel Henry und Meister
Eckhart. Erst auf diesem Grund kann man den Bezug auf Eckhart in C'est moi, la vérité
verstehen, einerseits indem man ihn auf die schon 1963 geleistete Arbeit zurückweist,
andererseits indem man die Entwicklung und die Unterschiede verhältnismässig schätzen
kann. Der Mystiker wird erst im Kapitel 6 erwähnt, das « L'homme en tant que ”Fils de
Dieu” » lautet, nachdem M. Henry das « relation intérieure et réciproque du Père et du
Fils » als ein Verhältnis, das die immanente Struktur als eine nicht-erschienene Offenbarung
ausdrücklich aufgefasst hat.60 Im Mittelpunkt steht dann nicht mehr das innere Verhältnis
zwischen dem Vater und dem Sohn, sondern der Mensch als ein lebendiger Einzelner. M.
Henry behandelt dieses zweite innere Verhältnis als dasjenige des Verhältnisses zwischen
dem Ursohn (dem Christen als erstem Lebendigen) und uns Menschen, die erst lebendig
sind, indem wir als Sohn von dem Ursohn erzeugt werden : In beiden erzeugenden
Verhältnissen ((1) des Sohnes von dem Vater ; 2) der Söhne von dem Ursohn) handelt es
sich um eine Selbst-erzeugung, insofern als der erzeugt Sohn sowie die erzeugten Söhne
schon im Vater und in dem ursohn enthalten werden. So ist das Leben eine Struktur der
Erzeugung des Selbst, die eine spezifische Verzeitigung voraussetzt und sich mit einer
merkwürdigen Weise der Intersubjektivation verbindet. Erstens verändert das immanente
Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn die Zeit selbst, indem es die Nicht-
Rückgängigkeit sowie die Futurition ausschließt : die Zeit ergibt sich als die urantizipierte
Selbsterzeugung des Sohnes in dem Vater ; die Intersubjektivität, indem sie sich mit dieser
Zeitlichkeit verknüft, tritt also weder als die Begegnung mit dem Äußeren noch als die
Einsfühlung als Verschmelzung, sondern als die Miterzeugung d.h. die innere
Rückgängikeit des Vaters und des Sohnes auf ; zweitens führt das immanente Verhältnis des
Ursohnes mit den menschlichen Lebendigen zu einer inter-subjectivation, die ihrerseits einer
Mitvereinzelung entspricht, und zu einer Zeitlichkeit, wo das Ereignis nie inhaltlich
vorgesehen werden kann, sondern strukturell urantizipiert wird, was ein unerhörtes
Unerwartete zum Vorschein bringt. Diese beiden Verhältnisse von Mitgehörigkeit und von
Mitabhängigkeit vergemeinsamen sich in dem spekulativen Ausdruck des « Sohnes im
Sohn ».
9
Andere Begriffe als die Generation betonen diese verzeitlichende Dynamik der
Erzeugung des Selbst aus dem Leben und des Lebens aus jedem Selbst, nämlich die Geburt.
Nun tritt der zweite Hinweis auf Eckhart genau gelegentlich einer Analyse der Geburt al
seine « zweite Geburt » auf. Der Leitfaden der Frage, die von diesem Hinweis getragen
wird, ist der folgende : in welchem Sinn mag die zweite Geburt, sowie sie von Eckhart
thematisiert wird66 und sowie sie von Michel Henry wiederaufgenomment wird67 al seine
« transzendentale Geburt » betrachtet werden68 » ?
Diese Verbindung zwischen der zweiten Geburt und der transzendentalen Geburt ist
von M. Henry ausdrücklich gefordert : am ende des Kapitels 8, welches die Einleitung des
der « zweiten Geburt » gewidmeten neuten Kapitel bildet, erscheint endlich der vollziehende
HInweis auf Eckhart : « S'il est vrai qu'en sa naissance transcendantale, il n'est venu en soi
que dans la propre venue en soi de la Vie absolue — ne serait-ce point naître une seconde
fois ? Mais l'homme peut-il naître une seconde fois ? »69 Um diese Verbindung innerhalb
des Denkens von M. Henry besser zu verstehen, welche als eine erneute Auslegung der
Problematik der Selbsterzeugung des Lebens dienen kann, gilt es, die beiden Hinweise
zusammen zu binden, denen M. Henry sich zugleich nah und abständig fühlt : 1) Husserl ; 2)
Johannes durch Eckhart gesehen
1) Sobald die Reduktion von dem Körper zum Leib vollgezogen wird, wird die
transzendentalen Geburt möglich : eine solche Reduktion entfaltet sich als ein ur-
intersbjektive Reduktion, indem der Andere meinen Körper als einen Leib erscheinen lässt,
während ich dem Anderen seine Körperlickeit als Leiblichkeit offenbart. Dann ist die
transzendentale Geburt konstitutiv eine inter-subjective Geburt : litteral handelt es sich um
eine gegenseitige Mitgeburt : eine Mitgeburt von mir zu dir und von dire zu mir.70 Nun
wird diese transzendentale Mitgeburt zumindest an einer Stelle von Husserl als eine
« Zweite Geburt » betrachtet, insofern als es sich um keine natürliche (empirische,
biologiche) Geburt, sondern um eine erlebte, besser, miterlebte Geburt handelt, welche sich
erst auf dem Grund der ersten Geburt entwickeln kann : diese Geburt ist erscheinungsmässig
eine zweite Geburt, doch bleibt sie primordial, da ihr erlebtes Charakter ihr den Sinn eines
möglichen Phänomens für mich gibt, was die erste biologische Geburt nicht sein kann.
Nämlich kann die zweite Geburt als eine Selbsterscheinung behandelt werden.71
2) Das metaphysiche Thema der « zweiten Geburt » ist erstens in dem johannischen
Wort zu finden, das übrigens von M. Henry selbst bemerkenswert am Angang des der
zweiten Geburt gewidmeten Kapitel wiederaufggenommen wird : « C'est la question
angoissée de Nicodème lors de son entretien nocturne avec le Christ : ”Comment un homme
peut-il naître lorsqu'il est vieux ? Peut-il entrer une seconde fois dans le sein de sa mère et
naître ?” (Johannes, 3, 4). »72 Aus dieser Frage ergibt sich, daß die zweite Geburt keine
biologische (bzw. eng organisch-körperlich physische) Geburt ist, Dieser Aspekt wird von
Eckhart noch radikalisiert, indem er das Thema der « Nicht-Geburt » im Mittelpunkt seines
Denkens stellt. Doch ist die eckhartsche Nicht-Geburt keine Negation der Geburt wie bei
66 ST, S. 39-40. In Bezug auf die zweite Geburt als transzendentale Geburt siehe P. Gire, « Métaphysique, théologie et mystique chez Maître Eckhart », in Penser la
religion (J. Greisch éd.), Paris, Beauschêne, 1991, S. 94, f. 34.
67 C'est moi, la vérité, op. cit., Kap. 6, S. 133.
68 Ursprünglich ist die traszendentale Geburt ein husserlsches Ausdruck. Siehe N. Depraz, « Naître à soi-même », Alter n°1, 1993.
11
dem gnostischen Marzion, sondern der Ansatz einer unerhörten Verzeitlichung, nämlich
eines « Immer-wieder-geboren-werden », eines unaufhörlichen Geborenwerden,73 welches
sich eben auf einer Verwerfung der biologischen Geburt als einzigen unwiederholbaren
Ereignisses stützt. Nun nimmt Michel Henry diesen Hinweis auf Eckhart im Hinsicht auf
das Thema das Sohnes als Ursohnes wieder auf : « Il a retrouvé la Puissance dont il est né et
qui elle-même ne naît pas. Il est né une seconde fois. En cette seconde naissance il a
retrouvé la vie de telle sorte que désormais il ne naîtra plus, et qu'il est vrai de dire en ce
sens qu'il est ”non-né”. (Maître Eckhart, Traité et Sermons, op. cit., S. 258) »74
So bringen die Phänomenologie von M. Henry und die Metaphysik von Eckhart eine
gemeinsame Struktur zusammen, nämlich die einer wiederholbaren denn unaufhörlichen
Verzeitlichung der Selbsterzeugung. In dieser Hinsicht bietet einerseits das metaphysische
Thema der zweiten Geburt einen solchen Ansatz dar ; andererseits liefert die
phänomenologische Erfahrung der transzendentalen Geburt ihre experientielle und
methodologische Gliederung. Indessen gibt die transzendentale Geburt dieser Selbst- und
Mit-erzeugung einen konkreten Sinn : das unaufhörliche Selbstgeborensein stellt sich als
eine konkrete Selbsterneuerung einer sonst allgemeinen Form der Selbstantizipation (was
ich « auto-antécédance » nenne »), indem das Emfängnis des Unerwarteten jederzeit
möglich ist.
Jetzt ist es unsere (nicht minder wichtige) Aufgabe, die fünfzügig gegliederte
Erfahrung der nicht-dualen Passivität mit dieser konkreten Verzeitlichung der Selbst-
Antezedanz zu verbinden. In dieser Hinsicht wird die Aufklärung der Selbst-affektion und
den phänomenologischen Eckpfeiler solcher Artikulation.
73 ST, « De la naissance éternelle », S. 36 und S. 39 ; « Le livre de la consolation », S. 202 : « Le non-né donnant naissance ».
74 C'est moi, la vérité, op. cit., S. 214.
75 L'essence de la manifestation, op. cit., §39, §40 und §49.
12
Werk von M. Henry untersucht. Der Autor bemüht sich, die Hauptthemen des eckhartschen
Denken strukturell (nicht phänomenal wie im §37) ins Licht zu bringen. So werden also in
acht Punkten die verschiedenen Art und Weisen der eckhartschen Wiederaufnahme
angezeigt, die klar vermittels der Unterschiedung der Theologie und der Metaphysik
geleistet wird. Im Mittelpunkt steht zweifellos die Unterscheidung zwischen Gott und der
Gottheit.78 In der Tat ist die Gottheit das passive und nicht-formale Wesen Gottes, welches
der Theologie oder der « traditionnelle Metaphysik » (bzw. der Ontotheologie)
entspricht79 : sie ist der Urgrund Gottes, seine innere Erfahrung. Die anderen Punkte
beziehen sich darauf, indem sie den drei Problemen entsprechen, wofür Eckhart als heretisch
beurteilt und in Avignon verurteilt wurde : 1) die Schöpfung ; 2) die Wesensidentität von
der Seele und Gottes ; 3) die Verweigerung der äußeren Werke. Übrigens stellt sich der §39
als eine streng transzendentale Dynamik der Erforschung der sich entfaltenden
Möglichkeitsbedingungen von I. der ontologischen Identität des Wesens der Seele und
Gottes (S. 385-88) ; II. der Bedingungen dieser Identität, wo die Liebe im Hintergrund
gestellt wird und die Dürftigkeit als Armut und als Demut im Vordergrund erscheint (S.
388-92) ; III. der der Identität unterliegenden Struktur, nämlich der Immanenz mit dem
göttlichen Absoluten gegliedert, wo das Wesen sich als der nicht-formale Grund ergibt (S.
392-96) ; IV : der Einheit als dem Unterschied unempfindlich (S. 396-98) ; V : der virginale
Geburt als Zeitlichkeit der Selbstantezedanz gemäss des gemischten Bild der Schöpfung als
Vor-existenz (Thomas, Eckhart) und als Generation des Wortes (Scot Erigène) (S. 398-99) ;
VI : der Unterscheidung zwischen Gott und der Gottheit, der das Herz des Arguments ist (S.
399-402) ; VII : die nicht-duale Einheit als Möglichkeitsbedingung der Identität (S. 402-
05) ; VIII : die Passivität als Fülle und Zärtlichkeit, Begehrungs- und Willens-losigkeit,
welche die vollständige Struktur phänomenalisiert (S. 405-407).
Davon ausgehend kann man die Gedankengemeinschaft zwischen Eckhart und Henry
in Bezug auf die Erkenntnis betonen.80. Zwei gewöhnliche Züge der Erkenntnis werden von
einander außer Spiel gestellt : 1) die Vorstellung ; 2) die Veräußerlichung. In
phänomenologischen Worten bleibt den einen « subjektivistisch », den anderen
« objektivierend ». Allerdings sind beide notwendig als vorbereitende Stüzpunkte der
Erkenntnis im strengen Sinne, doch ergeben sie sich als äußerst beschränkt. Um diesen Sinn
der Erkenntnis besser zu begriffen, ist noch einam den johannischen Hinweis zentral. Bei
Johannes ist die Erkenntnis gleichbedeutend als Leben. Nun, wird mit Eckhart die « reineste
Erkenntnis » als den Geschmack Gottes aufgefaßt, im Zusammenhang mit der theologischen
Tradition, die von Gregorius von Nyssa ausgehend, welcher einen von seinen
bemerkenswerten Vertretern ist.81 Die « reinste Erkenntnis » ist eine passive Erkenntnis, die
vor der Erkennbarkeit steht : « l'âme peut goûter Dieu avant qu'il devienne d'aucune façon
vérité ou cogniscibilité. »82 Die bevorzugte Erkenntnis ist also eine affektive. Sie ist eine
Erkenntnis des Herzens und nicht des Geistes : « rien ne pénètre [...] au cœur de l'homme
que la douceur de Dieu. »83 Wenn der Mensch wesentlich ein « Erkennender », nämlich in
den eckhartschen Worten, die von M. Henry wiederaufgenommen werden, ein
13
Gottwissender Mensch84, setzt diese Erkenntnis die tiefsten affektiven Schwingungen des
Menschen ins Spiel, nämlich eine Lieblichkeit, deren erste Schwingung der Geschmanck ist.
Deshalb kann der Phänomenologe die eckhartsche Unterscheidung zwischen der
« Erkenntnis des Abends » — die mit Bildern, repräsentativ und diskursiv verfährt — und
der Erkenntnis des Morgens, die aus der « Wahrnehmung (bzw. Geschmack) » kommt.85.
Eine affektive Sinnlichkeit dieser Art schärft die Sinne : die Wahrnehmung verfeinert
sich und wird zum Schmecken ; die Sicht wird zu einer Sehschärfe : « La puissance qui
produit en nous la conscience de notre vision est plus noble et plus haute que celle qui
produit la vision elle-même » affirme Eckhart que cite M. Henry.86
Hier ist die tiefe Bedeutung der « critique de la connaissance chez Eckhart »87 :
letztlich eine raffinierte Form der Erkenntnis zum Vorschein bringen, die uns von Gott
« befreien » mag. « Je prie Dieu de me libérer de Dieu, car mon être essentiel est au-dessus
de Dieu. » Il handelt sich also um eine radikal ent-ontotheologisierende Bewegung der
eckhartschen Metaphysik, die Gott als Begriff explodieren läßt und die innere Erfahrung
Gott bevorzugt. Nun ist eine solche Erfahrung primär affektiv und genauer
Geschmackorientiert. Letztlich bezeichnet der Verzicht auf jede Erkenntnis, bzw. der
alsolute Selbstverlust (was auch « wissendes Nichtwissen » oder « Selbstvernichtung88 »
genannt wurde die radikale phänomenologische Erfahrung : hier liegt dieser
« geheimnisvolle Grund89 », wo das erprobte Leben als wesentliche Dürftigkeit gefaßt sein
kann.
Zum Schluß kann man die Hauptzüge der Erfahrung bei M. Henry :
1) eine solche Passivität setzt den künstlichen Gegensatz zwischen der Aktivität und der
Passivität außer Spiel, indem sie seine Nichtdualität zum Vorschein bringt. Der Höhepunkt
dieser erneuten Passivität liegt in der oxymorischen Struktur des Paradoxon und wird
letztlich als eine leidenschaftslose Abgeschiedenheit erfahren.
2) eine Zeitlichkeit, deren Struktur als Selbstantezendanz aufzufassen ist : in dieser Hinsicht
ist die Selbstgeburt exemplar zugleich als unaufhörliche Wiederholbarkeit und
überraschende Unerwartung des Ereignisses.
Die Passivität und die Zeitlichkeit werden also in ihrer phänomenologischen Struktur
durcheinander dank der Intersubjektivität erneuert, die als Mit-generation und als
Selbstaffektion aufgefaßt wird. Sie entfaltet sich nämlich letztlich als ein affektives
« Mitgeborensein », das untrennbar Mit-leiden und Miterfreuen ist.