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1
Arnim: Isabella von Ägypten – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 664. Im Folgenden im Text
zitiert als Isabella.
2
Heine: Die romantische Schule – Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 3, S. 213.
224 Christian Schmitt
Ungewöhnlich ist Arnims Kutschfahrt vor allem deswegen, das hat Heine erkannt,
weil hier Dinge zusammenkommen, die nicht so einfach zusammenzudenken sind.
Für die Figuren ist das auf einer ganz grundlegenden, ontologischen Ebene der Fall.
In der Kutsche sitzen nämlich neben einer (mehr oder weniger) ›realen‹ Zigeunerin
auch eine im wahrsten Sinne des Wortes literarische Kunstfigur, der Bärnhäuter, der
zuvor aus einer Binnenerzählung in die diegetische Ebene der Arnimschen Erzäh-
lung hinübergewechselt war; sowie zwei Kunstschöpfungen dieser Erzählung selbst,
der Alraun und Golem Bella, die ihre Existenz magischen Praktiken verdanken. Es
liegt nahe, den Raum der Kutsche, der diese unterschiedlichen ›Dinge‹ zusammen-
bringt, als das zu lesen, was Michel Foucault als ›Heterotopie‹ bezeichnet hat – und
zwar zunächst im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge. Foucault zitiert hier einen
Text von Jorge Luis Borges, der selbst wiederum eine »gewisse chinesische En-
3
Das Interesse am Raum ist in den letzten Jahren zu einer kulturwissenschaftlichen Schlüssel-
frage avanciert, eine Tatsache, die sich in unzähligen Publikationen niederschlägt. Grundlegen-
de Texte zur Raumtheorie versammelt, mit ausführlichen und instruktiven Bemerkungen zum
Forschungsstand, der Band von Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Für die Romantik seien
stellvertretend genannt Mülder-Bach/Neumann (Hrsg.): Räume der Romantik; sowie Lange:
Architekturen der Psyche.
4
Für die romantische Literatur bedeutet das auch eine m. E. nötige Blickverschiebung von den
›Architekturen der Psyche‹ zu jenen vielfältigen Prozessen, mit denen die Texte – in enger
Wechselwirkung mit neuen Wissenschaften und medialen Gegebenheiten – die (im weitesten
Sinne des Wortes) politisch-sozialen Dimensionen des Raumes erkunden.
In der Kutsche 225
zyklopädie«5 zitiert. Der Skandal dieser Enzyklopädie, in der etwa »Tiere, die dem
Kaiser gehören« neben »Milchschweine[n]« und Tieren, »die mit einem ganz feinen
Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind«, angeordnet werden, bestehe darin, so
Foucault, dass »der gemeinsame Raum des Zusammentreffens darin selbst zerstört«
werde: »Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der
Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten.«6 Genau solche ›Orte‹ einer
Wissensordnung, an denen heterogene Dinge, die gemeinhin nicht zusammenge-
dacht werden können, zusammenkommen, nennt Foucault ›Heterotopien‹ und er
gesteht diesen ein beunruhigendes Potenzial zu, »weil sie heimlich die Sprache
unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die
gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen«.7 In der Arnimschen Kut-
schenkonstellation erfährt die epistemologische Spannung ihre konkrete räumliche
Ausgestaltung: Das Gefährt bildet eine homogene Einheit, aber die in ihm enthalte-
nen Elemente sind nicht einheitlich zu denken. Als Containerraum gedacht, syn-
thetisiert die Kutsche diese Elemente; von den Elementen her, nämlich relational-
räumlich gedacht, ist allerdings keine Synthese möglich und ist daher auch der
Raum unmöglich, in dem die Elemente zusammenkommen.
In solchen Raumkonstruktionen gibt Isabella von Ägypten wie andere romanti-
sche Texte auch, darauf hat etwa Detlef Kremer wiederholt hingewiesen, in allego-
rischer Form seine poetologischen Prämissen zu erkennen.8 Was in der Kutsche
schon angelegt ist, wird noch deutlicher bei jenem Haus der Frau Nietken, das von
Trödel aller Art überquillt und als »Selbstporträt des antiquarischen Textes«9 lesbar
ist. Auffällig ist dabei gerade die Heterogenität des hier ›zusammengepackten‹
Materials, ist doch »auch das kleinste Hausgerät nicht in der Art zusammenhängend
und dem Hause gemäß, wie man es sonst aller Orten findet«:
Die Stühle zum Beispiel in der Dachkammer, waren von hölzernen Mohren getragen, über
jedem ein bunter Sonnenschirm, sie stammten aus dem Garten eines reichen Genter Kauf-
manns, der viel Geschäfte in Afrika gemacht hatte. In der Mitte des Zimmers hing eine
wunderlich gedrehte Messingkrone, sie hatte sonst die aufgehobene jüdische Synagoge zu Gent
beleuchtet, jetzt steckte ein gewundenes buntes Wachslicht zu Ehren der Mutter Gottes darauf.
Der Altar war ein abgedankter Spieltisch, an welchem die ledernen Geldsäcke ausgerissen und
eine gewesene Salzmäste, mit Weihwasser gefüllt, eingesetzt war. An den Wänden hingen
gewirkte Tapeten, welche alte Turniere darstellten, die Ritter und die eisernen Harnische hingen
in Plundern herunter. (Isabella, S. 661f.)
Was hier für die Dinge im Raum gilt – mitsamt ihren religiösen oder geografischen
Konnotationen –, gilt andernorts für sprachlich-diskursive Versatzstücke. Die in der
romantischen Literatur zu konstatierende »Vermischung der Töne« ist jener grotes-
5
Foucault: Ordnung der Dinge, S. 17.
6
Ebenda, S. 17; S. 18f.
7
Ebenda, S. 20.
8
Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 63ff. Vgl. zum Palast des ›Prinzen von Palago-
nien‹ in Arnims Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) Kremer:
Romantik, S. 138f. Ferner Kremer: Prosa der Romantik, S. 66–69.
9
Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 63.
226 Christian Schmitt
ken Poetik des Heterogenen zu subsumieren, wie sie sich auch im Raum
ausdrückt.10 Ein Beispiel: Da kniet jene Frau Nietken andächtig »vor einem kleinen
Hausaltare [...], der mit einem schönen Bild der Mutter Maria und vielen bunten
Wachskerzen geheiligt war.« Aber schon naht Braka, und das soeben noch entwor-
fene Bild erhabener Innerlichkeit wird von ihrer Rede desavouiert: »Nun Du alter
Sausack, sprach Braka, betest du wieder, weil Du viel getrunken hast und der
Schluckauf Dir nicht vergehen will.« (Isabella, S. 661).11 In einer dritten, inter-
textuellen Perspektive schließlich wird Arnims »Synkretismus des Heterogensten«
in einer »mythensynkretistische[n] Verfahrensweise«12 greifbar. In diesem Sinne
bringt die Kutsche noch etwas anderes zusammen als die heterogenen ontologischen
Welten ihrer Figuren, nämlich die spezifischen Texttraditionen, aus denen diese
Figuren jeweils stammen: jüdisch-kabbalistische Mythen (Golem Bella), Zigeuner-
sage (Braka), Grimmelshausens Texte über Bärenhäuter und Alraun und vieles
mehr.13 Arnims Text ist sich dabei der Textualität seiner Figuren immer bewusst
und verzichtet ostentativ auf eine Glättung der Bruchstellen des verarbeiteten
Materials.14 Im Text wie im Raum geht es, diesem poetologischen Programm
zufolge, keineswegs um die »innige Verschmelzung des Heterogensten«15, sondern
um Konfrontation; es geht nicht um vereinheitlichende räumliche Modelle, sondern
um Möglichkeiten, die Vielheit zu denken und darzustellen; nicht Endlichkeit,
sondern durch die Heterogenität erzwungene (progressive) Annäherung an das
Unendliche – ein Grundpostulat der romantischen Literatur überhaupt.
Dass diese Poetologie selbst auf realhistorische Umordnungen zurückzuführen
ist, die auch räumliche Konstellationen (und Sicherheiten) betreffen, darauf hat
etwa Friedrich Schlegel hingewiesen, als er die französische Revolution selbst zur
»furchtbarste[n] Groteske des Zeitalters« erklärte, wo »die tiefsinnigsten Vorurteile
10
Kremer: Prosa der Romantik, S. 32. Vgl. zur Groteske Günter Oesterle: ›Illegitime Kreu-
zungen‹; sowie Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, v. a. S. 268–273; und S. 336–342.
Wingertszahn versucht sich an einer Präzisierung des Grotesken-Begriffes, dessen formal-
ästhetische Definition er manieristischen Verfahrensweisen zuordnet (vgl. S. 270). Die »Mi-
schung von Heterogenem« (S. 269) ist dann der kleinste gemeinsame Nenner grotesker Poetik
– also etwa die Vermischung von Komischem/Furchterregenden; Mensch/Tier etc. Warum
solche Formen Verwendung finden, lässt sich dagegen nur aus der psychoanalytisch oder aus
der (im Anschluss an Bachtin) sozialhistorisch fundierten Definition begründen.
11
Vgl. auch Oesterle: ›Illegitime Kreuzungen‹, S. 35, der eine ähnliche Szene aus Arnims Die
Majoratsherren analog als Miteinander von wunderlicher »pictura« und prosaischer »sub-
scriptio« liest. Genau andersherum verhält sich die Sache in jener Szene der Isabella, in der der
Alraun mit allen rhetorischen Mitteln von seiner wundersamen Meerfahrt erzählt; hier ist es das
zuvor vom Text entworfene ›Bild‹, das die banale Variante des Geschehens – der Alraun ist
betrunken unter dem Ofen angebunden worden – beisteuert.
12
Oesterle: ›Illegitime Kreuzungen‹, S. 49 (Anm. 50); S. 39.
13
Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 64ff. Zu den Quellen der Isabella vgl. auch den
Kommentar von Renate Moering in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd.3; sowie Neumann:
Legende, Sage und Geschichte.
14
Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 66.
15
So (irrig) ein anonymer zeitgenössischer Kritiker der Novellensammlung von 1812 in der
Leipziger Zeitung für die elegante Welt, zitiert im Kommentar von Moering, in Arnim: Werke
in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1281.
In der Kutsche 227
Zum Glück handelt es sich, so möchte man hinzufügen, nur um eine literarische
Kutsche; aber das Modell, das der Text entwirft, lässt sich durchaus auf Räume der
sozialen Wirklichkeit rückbeziehen. Als Bindeglied kann erneut das Konzept der
›Heterotopie‹ dienen. Auch die realen Räume sind nicht so homogen wie es schei-
nen mag – wie Foucault in einem später erschienenen (und seither viel zitierten)
Text Von anderen Räumen zu bedenken gegeben hat, der das Konzept der ›Heteroto-
pie‹ auf tatsächliche Raumkonstellationen bezieht. Es gebe, so Foucault, in jeder
Kultur
auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte (lieux), die
gleichsam Gegenorte darstellen [...], in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die
man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil
verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich
durchaus lokalisieren lassen.19
Diese realen ›Heterotopien‹ entsprechen dem in Die Ordnung der Dinge entwickel-
ten Denkmodell nur zum Teil, aber auch sie erzwingen ein anderes Denken des
(gemeinhin homogen gedachten) Raumes.20 In der realen Heterotopie manifestiert
16
Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. I,2, S. 248 (Athenäum-Fragment Nr. 424).
17
Oesterle: ›Illegitime Kreuzungen‹, S. 27.
18
Ein gutes Beispiel für die Tatsache, dass solche textuelle Heterogenität schnell die Hermeneu-
ten auf den Plan ruft, ist Neumann: Legende, Sage und Geschichte. Entgegen seinen Beteuerun-
gen, er wolle die heterogene Struktur der Arnimschen Erzählung gegen ihre Kritiker rehabilitie-
ren (vgl. S. 298), liest Neumann die Figuren in der Kutsche dann doch als »Symbole« (S. 303),
deren Bedeutungsgehalt er zu Tage fördert und in den entsprechenden »Sinnzusammenhang«
(S. 307) einordnet. Vgl. zur Kritik einer irreführenden (weil: vereinheitlichenden) Hermeneutik
auch Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 109.
19
Foucault: Von anderen Räumen, S. 321.
20
Eine, ihnen von Foucault zugestandene Eigenschaft macht die Parallele augenfällig, besäßen
doch Heterotopien »die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht
miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.« Foucault: Von
228 Christian Schmitt
anderen Räumen, S. 324. Das ist das dritte Charakteristikum der Heterotopien. Die weiteren
Eigenschaften ›anderer Räume‹, wie sie Foucault ebenda, S. 321ff. aufzählt, seien hier kurz
benannt: (1) Jede Kultur bringt Heterotopien hervor. (2) Dieselbe Heterotopie kann historisch
je unterschiedlich funktionalisiert werden. (4) Heterotopien stehen meist in Verbindung mit
zeitlichen Brüchen. (5) Heterotopien setzen ein System der Öffnungen und Schließungen
voraus. (6) Die Funktion der Heterotopien in Bezug auf den übrigen Raum lässt sich auf einer
Skala anordnen, deren Endpunkte mit den Stichworten ›Imaginationsraum‹ und ›Kompensa-
tionsraum‹ benannt sind.
21
Vgl. Dünne: Einleitung (Soziale Räume). – In: Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 289–
302, hier S. 292f.
22
Foucault: Von anderen Räumen. – Ebenda, S. 317–327,hier S. 325.
23
Vgl. zu dieser ›Ortlosigkeit‹ der Zigeuner die Studie von Breger: Ortlosigkeit des Fremden; zu
Arnim S. 265–301.
24
In Foucaults Überlegungen tauchen beide Orte, Bordell und Fest, als Beispiele für Heterotopien
auf. Vgl. Foucault: Von anderen Räumen. – In: Dünne/ Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 325f.
25
Vgl. dazu Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 268–273.
In der Kutsche 229
gen Zeitlichkeit stark – ein von sozialen Schranken befreiter Raum des Zusammen-
treffens entsteht, den Isabella und Karl denn auch zu nutzen wissen. Vorübergehend
sind dabei auch die gewöhnlichen Identitäten aufgehoben und so bietet das Fest
zugleich Raum für eine Vielzahl ›karnevalistischer‹ Substitutionen und Verwechs-
lungen.26 Bei dem Bordell, in dem sich Isabella plötzlich unvermutet wiederfindet
(kurz zuvor hatte das Gebäude noch als simples Gasthaus fungiert), inszeniert der
Text das Zusammentreffen unterschiedlicher Generationen. Den »beiden alten
Herren« (Isabella, S. 696), die sich dort »bei Wein und Spiel mit Mädchen erlusti-
gen« (Isabella, S. 695) wollen, ist die Diskrepanz sofort bewusst; doch schnell sind
alle Zweifel zerstreut. Erst mittels eines neuerlichen Maskenspiels gelingt es
Isabella, das Haus zu verlassen – kurioserweise gerade in der Verkleidung einer
Tänzerin, die dem Ort angemessen gewesen wäre. Wieder ist es die Verkleidung,
die das Betreten (bzw. Verlassen) des Ortes ermöglicht; genau wie im nächsten
Abschnitt des Textes, der im Schloss des Erzherzogs spielt und diesmal einen
geschlechtlichen Rollentausch erfordert.
Insgesamt kommt den genannten Heterotopien, das Bordell bildet hier die
Ausnahme, eher ein befreiendes Potenzial zu, insofern sie Orte ausbilden, wo
Grenzen durchlässig, Identitäten veränderbar werden; und wo sich den Subjekten
Handlungsspielräume in einer geordneten, aber auch abgeschlossenen Welt eröff-
nen. Hier ist, wie schon in der Kutsche, auch das Zusammentreffen heterogener
Figuren möglich; und es ist m. E. vor allem diese Möglichkeit, die von der politi-
schen Relevanz der in Arnims Text entworfenen Räume zeugt und auch für die
realen Räume der Zeit Geltung hat. Obgleich es hier zu weit führen würde, diesen
realen Raumordnungen der Zeit um 1800/1812 im Detail nachzugehen, möchte ich
kurz auf zwei Konstellationen hinweisen, die mir diesbezüglich relevant erscheinen.
Der erste Bezug führt zur Kutsche zurück, genauer: zu ihrer sozialhistorischen
Realität. Dass in Kutschen heterogene ›Dinge‹ zusammenkommen, ist keine
Erfindung des Arnimschen Textes, sondern auch eine Tatsache des täglichen
Lebens um 1800, der (letzten) Hoch-Zeit der Postkutschenkultur.27 Aufgeklärte
Geister wie Johann Kaspar Riesbeck hatten schon früher die Fahrt in der ›ordinären‹
Postkutsche zur Herausforderung erklärt, an der sich liberale Theorien messen
lassen müssten. Die Erkundung der Menschen und ihrer Sitten beginne, so Ries-
beck, »auf den öffentlichen, ordinären Fuhren, die mir der Gesellschaft wegen (und
sollte sie auch nur aus Juden, Kapuzinern und alten Weibern bestehen) ausser-
ordentlich lieb sind«.28 Riesbecks »Konzept einer klassen- und schichtenüber-
greifenden Raumerfahrung« ging in der Realität allerdings selten auf – und musste
manchmal, wenn es um das Erzählen ging, auch um literarische Figuren ergänzt
werden, um den Ansprüchen an Spannung und Figurenkonturierung Genüge zu
26
Bezeichnend ist auch die Verwechslung von Theater und Wirklichkeit, wie sie hier der Alraun
erlebt, als er gegen einen Hanswurst ins Feld zieht, den er für einen ernstzunehmenden Gegner
hält.
27
Vgl. dazu Brilli: Als Reisen eine Kunst war, v.a. S. 145–156. Sowie Lay: Die Geschichte der
Straße, v.a. S. 139–149.
28
Johann Kaspar Riesbeck: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland (1783), zitiert
nach Beyrer: Im Coupé, S. 141.
230 Christian Schmitt
tun.29 In jedem Falle aber scheint sich in dieser Zeit in der Kutsche ein Ort zu
manifestieren, wo andere Regeln herrschen als in den übrigen gesellschaftlichen
Räumen; wo ein Zusammentreffen heterogener sozialer Identitäten nicht die
Ausnahme, sondern eher die Regel ist.
29
Ebenda, S. 142. Der Kontrast wird etwa bei Ludwig Börne greifbar, der in seiner literarischen
Kutsche (Monographie der deutschen Postschnecke, 1821) »eine bunte Mischung widersprüch-
licher Charaktere« zusammenbringt: »eine französische Gouvernante, ein Schreibergeselle auf
dem Rückweg von Paris, eine junge Ehefrau aus Königsberg mit ihrem Bräutigam und
schließlich ›eine fürchterliche Gestalt in langem Barte und Schwert‹«. Die reale Reisegesell-
schaft Börnes war allerdings, wie er 1820 in einem Brief gesteht, »ganz erbärmlich«. Alle Zitate
nach Beyrer: Im Coupé, S. 143.
30
Vgl. dazu den nächsten Abschnitt.
31
Vgl. Hauff: Das Wirtshaus im Spessart.
32
Foucault: Von anderen Räumen, S. 327. Auf die Funktion des Imaginationsraumes hatte
Foucault bereits vorher (S. 326) hingewiesen.
33
Ebenda, S. 327. Vgl. auch Safranski: Romantik, der die Geschichte der Romantik auf einem
Schiff beginnen lässt, das Herder von Riga nach Nantes trägt. Dass Arnims Boot den Rhein
befährt, also jenen Ort, der um 1812 zu einem realen Zwischenort geworden ist, kommt noch
hinzu.
34
Vgl. Andermatt: Raum von vier Dimensionen, der im Zusammenhang solcher visionär
erschauten Räume vom ›romantisierten Raum‹ spricht.
In der Kutsche 231
Ich möchte abschließend noch einmal auf ein realhistorisches Pendant heterotoper
Räume zurückkommen, den romantischen Salon, wo idealiter das realisiert ist, was
die Raumentwürfe (nicht nur) der Isabella von Ägypten vorzeichnen. Die Praxis
dieses sozialen Ortes ist gut erforscht;40 seine Theorie hat er bekanntlich in Form
35
Vgl. dazu auch Kremer: Fenster; zur ›Virtualisierung‹ v.a. S. 225ff.
36
Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 782.
37
Etwa in jenen vielfältigen Verschiebungen, mittels derer Isabellas Vater, Karl und Alraun
überblendet werden.
38
Foucault: Von anderen Räumen, S. 321.
39
Vgl. ebenda.
40
Vgl. etwa Seibert: Der literarische Salon; Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert.
232 Christian Schmitt
41
Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, S. 163. Meine Hervorhebun-
gen, C. S.
42
Ebenda, S. 172.
43
Ebenda, S. 173.
44
Ebenda, S. 174.
In der Kutsche 233
zur Verfügung steht. Es gibt auch noch eine rhetorische Lösung: Als kommunikati-
ves Bindeglied fungiert nämlich die Ironie, müssten doch idealiter alle »gesell-
schaftlichen Aeußerungen [...] eine doppelte Tendenz, gleichsam einen doppelten
Sinn haben«.45 Die ironische Redeweise ermöglicht die Vermittlung des Differen-
ten, weil sie selbst immer schon ›heterotop‹ ist; weil sie zugleich auf einer kon-
kreten Ebene und »in einer andern Sphäre liegt«.46
Arnims Text scheint m. E. der Realisierbarkeit einer solchen Verständlichkeit,
die doch immer von der Annahme eines gemeinsamen Verstehenshorizontes
abhängt, äußerst skeptisch gegenüber zu stehen.47 Tatsächlich weist er sehr wohl auf
zwei verbindende Momente der beiden heterogenen Gesellschaften hin, die in der
Kutsche zusammenkommen; aber er tut das bezeichnenderweise selbst nicht ohne
Ironie.48 Bei der ersten Kutschfahrt ist es die Verkleidung, welche die äußeren
Differenzen der Figuren verbirgt; allerdings mehr als unzureichend, »denn der neue
Staat wollte keinem recht passen; aber freilich war er auch ziemlich zusammen-
getrödelt und doch so teuer, daß der Bärnhäuter über die Anwendung seines Schat-
zes heimlich geseufzt hatte« (Isabella, S. 664). Bei der zweiten Kutschfahrt sind es
dagegen Träume von »Schätzen, Heldentaten und Biergeldern«, die die so unter-
schiedlichen Figuren »in feierlicher Eintracht« (Isabella, S. 691) hegen – hier
zwingt allein das Geld als kleinster gemeinsamer Nenner die heterogenen ›Sphären‹
zur Gemeinschaft zusammen.
Der Erzählerkommentar, der sich daran anschließt, bezieht die doch offensicht-
lich andere Realität noch einmal ein und weist die – auch durch ihre ›erdige‹
Konsistenz einander ähnlichen – Figuren in dieser Hinsicht als unterkomplex
zurück: »Wie vergebens quält uns das Verhältnis zu manchem Menschen; könnten
wir uns einbilden, er sei ein Toter, eine Erdscholle, eine Wurzel, unser Kummer und
unser Zorn müßte verschwinden, wie aller Gram über unsre Zeit, wenn wir nur
endlich wüßten, daß wir bloß träumten.« (Isabella, S. 691) Im Allgemeinen, im
45
Ebenda, S. 181. Das macht Schleiermacher auch für die Formen der Anspielung (die das Spiel
im Namen trägt), der Persiflage und der Parodie geltend.
46
Ebenda, S. 182.
47
Vgl. Arndt: Geselligkeit und Gesellschaft, S. 61, der Schleiermacher mit Habermas engführt
und bilanziert, dass eine solche »Theorie der kommunikativen Vergesellschaftung« sich
letztlich »nicht ins Gestrüpp der wirklichen Gegensätze« begebe – weil sie eben »die metaphy-
sische Voraussetzung einer als Indifferenz hervortretenden Einheit jenseits der Entgegenset-
zungen noch in Kurs läßt«. Demgegenüber wäre heute (wie ich ergänzen möchte) mit Jean-
François Lyotard (Der Widerstreit) oder Jacques Derrida (Die différance) von einer Situation
tatsächlich unüberwindbarer Gegensätze auszugehen, die in der jeweiligen individuellen
Situiertheit in kulturellen oder sprachlichen Bezugssystemen, aber auch in der Funktionsweise
der Sprache selbst begründet ist. Im Kontext postkolonialer Theoriebildungen haben sich diese
Einsichten etwa im Konzept des ›dritten Raums‹ (third space) niedergeschlagen, wie es Homi
K. Bhabha vorgeschlagen hat. Dieser dritte Raum ermöglicht gerade keine dialektische
Vermittlung von Eigenem und Anderem mehr (wie in Schleiermachers idealem Salon), sondern
ist Austragungsort komplexer Übersetzungs- und Verhandlungsprozesse, deren Erfolgsaus-
sichten ungewiss sind. Vgl. Bhabha: Commitment to Theory.
48
Der Text kommt damit dem Schleiermacher’schen Postulat nach; aber ohnehin ist ja die Ironie
die für die romantische Poetik maßgebliche sprachliche Grundfigur, um Gegensätze wie
endlich/unendlich zu vermitteln. Vgl. dazu etwa Kremer: Romantik, S. 92ff.
234 Christian Schmitt
Falle des Zusammentreffens von wirklichen Menschen, ist wohl eher mit jenen
›Frikzionen‹ zu rechnen, die Schleiermacher ausschließt, und gilt es, die Spannun-
gen, die dann entstehen, zu ertragen.
Während die Kutsche heutzutage ausgedient hat, gilt das nicht für das Boot, in dem
sich etwa in Yann Martels Roman Life of Pi (2001) die inkommensurablen Figuren
Junge, Tiger, Hyäne, Zebra und Orang-Utan vereint finden;49 es gilt auch nicht für
das Taxi, das in Jim Jarmuschs Film Night on Earth (1991) zum Ort einer globalen
Gleichartigkeit in der Differenz wird. In einem solchen Taxi spielt auch eine
persönliche Anekdote, mit der ich meine Überlegungen (anständigen wissenschaftli-
chen Gepflogenheiten zum Trotz) abschließen möchte und die noch einmal die
Chancen und Risiken heterotoper Raumkonstellationen, mitsamt der Gemein-
schaften, die sich dort zusammenfinden, aufzuzeigen geeignet ist. Das Taxi fuhr
durch das nächtliche Amsterdam und ungewöhnlich war weniger der Raum des
Geschehens als das, was er beinhaltete. Neben mir, dem kahlköpfigen Deutschen
mit niederländischer Wahlheimat, saß ein schwuler, israelischer Freund; seine Eltern,
die zu Besuch in Amsterdam waren, ergänzten die Runde. Das Taxi selbst wurde
von einem marokkanischen Immigranten gesteuert, der uns irgendwann fragte,
woher wir kämen. Da keiner der Anwesenden seine auf Niederländisch gestellte
Frage verstanden hatte, musste ich ins Englische übersetzen, das mein Freund
wiederum ins Hebräische übertrug. Ich war (aufgrund aktueller nahöstlicher
Ereignisse) unsicher, was ich antworten sollte, gab aber schließlich zu verstehen,
dass meine Gäste aus Israel kommen – woraufhin sich der Fahrer, entgegen meiner
Befürchtungen, begeistert zeigte und gleich ein paar hebräische Worte mit den
Eltern meines Freundes zu wechseln begann. Der gemeinsame ›Raum‹ dieser
Begegnung war wohl nicht, so meine Deutung, in erster Linie durch das Taxi
gegeben, sondern er entstand erst im Gespräch, das dieses Taxi anregte, und
irgendwo zwischen den heterogenen Orten, Sprachen und Erzählungen, die seine
Mitfahrer (von denen jeder sich gewissermaßen auf der Durchreise befand) mit sich
brachten.
Ich denke, dass es die romantischen Texte sind, die erstmals solche räumlichen
Gegebenheiten unserer (modernen) Gegenwart vorweggenommen und auf ihre
spezifische, literarische Weise reflektiert haben. Ob diesen Räumen am Ende eher
49
Vgl. Martel: Schiffbruch mit Tiger. Der Text enthält auch einen Raum, der dem Trödellager der
Frau Nietken in nichts nachsteht und religiöse Attribute vereint und hybridisiert: »Im Wohn-
zimmer steht auf einem Tischchen neben dem Sofa ein Bild der Muttergottes von Guadalupe,
Blumen quellen aus ihrem offenen Umhang. Daneben, ebenfalls eine gerahmte Fotografie, die
schwarz verhüllte Kaaba, das Allerheiligste des Islam, umgeben von der zehntausendfachen
Schar der Gläubigen. Auf dem Fernseher steht eine Messingstatue, Shiva in Gestalt Natarajas,
des Herrn des Tanzes [...]. In der Küche ist ein Schrein. [...] Oben im Arbeitszimmer sitzt gleich
neben dem Computer ein Ganesha aus Messing mit gekreuzten Beinen [...].« Martel: Schiff-
bruch mit Tiger, S. 66f.
In der Kutsche 235
50
Zu den gegenwärtigen Ausprägungen heterotoper Räume im Zeichen der ›Transkulturalität‹
vgl. den Band von Blumentrath u. a. : Transkulturalität. Einen Brückenschlag von der Salonkul-
tur zu den virtuellen Realitäten unserer Zeit versucht Simanowski: Die virtuelle Gemeinschaft
als Salon der Zukunft.