Sie sind auf Seite 1von 14

Christian Schmitt

In der Kutsche: Heterotoper Raum und heterogene Gemeinschaft


in Achim von Arnims »Isabella von Ägypten«

Achim von Arnims Isabella von Ägypten ist an merkwürdigen Raumkonstellationen


nicht eben arm, doch einer der seltsamsten Räume, die der Text entwirft, ist wo-
möglich jene »schöne vergoldete Kutsche«1, in der sich (gleich zweimal) eine
illustre Gesellschaft auf den Weg macht. Auf engstem Raum kommen da zu-
sammen: »eine alte Hexe, ein Toter, der sich lebendig stellen mußte, eine Schöne
aus Tonerde und ein junger Mann aus einer Wurzel geschnitten« (Isabella, S. 691).
Bereits Heinrich Heine hat, in seiner Romantischen Schule, auf diese abenteuerliche
Reisegesellschaft hingewiesen – mit kleinen Ungenauigkeiten im Detail. »In
sämtlichen französischen Schauergeschichten ist«, so Heine, »nicht so viel Unheim-
liches zusammengepackt wie in jener Kutsche, die Arnim von Brake nach Brüssel
fahren läßt«.2 Tatsächlich ist es die Konfrontation unterschiedlichster Figuren auf
engstem Raum, die bei Arnims Kutschenszene(n) ins Auge fällt. Beim ersten Mal
führt die Fahrt vom Haus der ›Kupplerin‹ Frau Nietken in die Stadt Gent. In der
Kutsche, dem »besten Staatswagen« (Isabella, S. 663), sitzt allerdings keineswegs
jene reiche, adelige Familie aus dem Lande ›(H)adeln‹, wie man der Torwache der
Stadt glauben macht, sondern es handelt sich um Isabella, Braka und Alraun. Die
Kutsche ist hier Teil jener Verstellungsstrategien, mittels derer man sich Einlass zur
besseren Gesellschaft zu erlangen hofft – eine Rechnung Brakas, die aufgeht. Noch
abenteuerlicher ist die zweite Reisegesellschaft der Erzählung, die sich diesmal
(umgekehrt) zur nächtlichen Trauung aus der Stadt Gent in ein benachbartes
Kirchdorf begibt. Diesmal kommen, neben der ›alten Zigeunerin‹ Braka, sämtliche
Arnimschen Fantasiegeschöpfe im engen Raum des Fahrzeugs zusammen und
hegen einträchtig, wie der Text vermerkt, »große Gedanken vom Glück des Lebens,
das sie eben zu begründen fuhren« (Isabella, S. 691).
Meine folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der in dieser Kut-
sche beispielhaft verwirklichten Raumkonstellation, zu deren Beschreibung sich,
wie ich noch zeigen werde, Michel Foucaults Begriff der ›Heterotopie‹ anbietet.
Mein Aufsatz versucht, Foucaults ›Heterotopie‹-Begriff in vier Anläufen für die
Analyse textueller (und von diesen ausgehend auch: realer) Räumlichkeiten produk-
tiv zu machen. Erstens stellt die damit bezeichnete Raumkonstellation das Modell
für ein semantisch äußerst produktives Verfahren dar, wie es in romantischen
Texten überhaupt anzutreffen ist – der Raum ist in dieser Perspektive allegorischer

1
Arnim: Isabella von Ägypten – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 664. Im Folgenden im Text
zitiert als Isabella.
2
Heine: Die romantische Schule – Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 3, S. 213.
224 Christian Schmitt

Ausdruck einer Poetologie des Heterogenen. Zweitens ermöglicht es der ›Hetero-


topie‹-Begriff, das politische Potenzial solcher Räume abzuschätzen, indem er den
Blick auf jene Momente der Macht lenkt, wie sie auch den realen Räumen der
Gesellschaft inhärent sind. Der Text spielt dieses Potenzial gleichsam durch. In
einer dritten Perspektive geraten imaginatorische Möglichkeiten in den Blick, wie
sie insbesondere virtuelle ›andere‹ Räume anbieten. Viertens schließlich stellt sich
die Frage, wie es um die realen ›heterotopen‹ Räume der Romanik bestellt ist – eine
Frage, die ich mit einem Blick auf Friedrich Schleiermachers Theorie der Gesellig-
keit ausloten werde.
Insgesamt nehmen solche ›heterotopischen‹ Raumentwürfe der romantischen
Texte auch räumliche Gegebenheiten vorweg, wie sie in unserer Gegenwart (immer
noch) virulent sind. Heutzutage sind etwa virtuelle Realitäten oder transkulturelle
Räume Gegebenheiten, mit denen zu rechnen ist und die es, mindestens seit dem
spatial/topographical turn, angemessen zu theoretisieren gilt.3 Die romantischen
Texte formulieren die Koordinaten unserer räumlich komplexen Gegenwart bereits
vor, so meine Abschlussthese, und stoßen damit das Denken einer anderen Räum-
lichkeit an, die ihrerseits alternative Modelle von (heterogenen) Gemeinschaften
ermöglicht.4

Heterotopien I: Raum und Poetologie

Ungewöhnlich ist Arnims Kutschfahrt vor allem deswegen, das hat Heine erkannt,
weil hier Dinge zusammenkommen, die nicht so einfach zusammenzudenken sind.
Für die Figuren ist das auf einer ganz grundlegenden, ontologischen Ebene der Fall.
In der Kutsche sitzen nämlich neben einer (mehr oder weniger) ›realen‹ Zigeunerin
auch eine im wahrsten Sinne des Wortes literarische Kunstfigur, der Bärnhäuter, der
zuvor aus einer Binnenerzählung in die diegetische Ebene der Arnimschen Erzäh-
lung hinübergewechselt war; sowie zwei Kunstschöpfungen dieser Erzählung selbst,
der Alraun und Golem Bella, die ihre Existenz magischen Praktiken verdanken. Es
liegt nahe, den Raum der Kutsche, der diese unterschiedlichen ›Dinge‹ zusammen-
bringt, als das zu lesen, was Michel Foucault als ›Heterotopie‹ bezeichnet hat – und
zwar zunächst im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge. Foucault zitiert hier einen
Text von Jorge Luis Borges, der selbst wiederum eine »gewisse chinesische En-

3
Das Interesse am Raum ist in den letzten Jahren zu einer kulturwissenschaftlichen Schlüssel-
frage avanciert, eine Tatsache, die sich in unzähligen Publikationen niederschlägt. Grundlegen-
de Texte zur Raumtheorie versammelt, mit ausführlichen und instruktiven Bemerkungen zum
Forschungsstand, der Band von Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Für die Romantik seien
stellvertretend genannt Mülder-Bach/Neumann (Hrsg.): Räume der Romantik; sowie Lange:
Architekturen der Psyche.
4
Für die romantische Literatur bedeutet das auch eine m. E. nötige Blickverschiebung von den
›Architekturen der Psyche‹ zu jenen vielfältigen Prozessen, mit denen die Texte – in enger
Wechselwirkung mit neuen Wissenschaften und medialen Gegebenheiten – die (im weitesten
Sinne des Wortes) politisch-sozialen Dimensionen des Raumes erkunden.
In der Kutsche 225

zyklopädie«5 zitiert. Der Skandal dieser Enzyklopädie, in der etwa »Tiere, die dem
Kaiser gehören« neben »Milchschweine[n]« und Tieren, »die mit einem ganz feinen
Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind«, angeordnet werden, bestehe darin, so
Foucault, dass »der gemeinsame Raum des Zusammentreffens darin selbst zerstört«
werde: »Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der
Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten.«6 Genau solche ›Orte‹ einer
Wissensordnung, an denen heterogene Dinge, die gemeinhin nicht zusammenge-
dacht werden können, zusammenkommen, nennt Foucault ›Heterotopien‹ und er
gesteht diesen ein beunruhigendes Potenzial zu, »weil sie heimlich die Sprache
unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die
gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen«.7 In der Arnimschen Kut-
schenkonstellation erfährt die epistemologische Spannung ihre konkrete räumliche
Ausgestaltung: Das Gefährt bildet eine homogene Einheit, aber die in ihm enthalte-
nen Elemente sind nicht einheitlich zu denken. Als Containerraum gedacht, syn-
thetisiert die Kutsche diese Elemente; von den Elementen her, nämlich relational-
räumlich gedacht, ist allerdings keine Synthese möglich und ist daher auch der
Raum unmöglich, in dem die Elemente zusammenkommen.
In solchen Raumkonstruktionen gibt Isabella von Ägypten wie andere romanti-
sche Texte auch, darauf hat etwa Detlef Kremer wiederholt hingewiesen, in allego-
rischer Form seine poetologischen Prämissen zu erkennen.8 Was in der Kutsche
schon angelegt ist, wird noch deutlicher bei jenem Haus der Frau Nietken, das von
Trödel aller Art überquillt und als »Selbstporträt des antiquarischen Textes«9 lesbar
ist. Auffällig ist dabei gerade die Heterogenität des hier ›zusammengepackten‹
Materials, ist doch »auch das kleinste Hausgerät nicht in der Art zusammenhängend
und dem Hause gemäß, wie man es sonst aller Orten findet«:

Die Stühle zum Beispiel in der Dachkammer, waren von hölzernen Mohren getragen, über
jedem ein bunter Sonnenschirm, sie stammten aus dem Garten eines reichen Genter Kauf-
manns, der viel Geschäfte in Afrika gemacht hatte. In der Mitte des Zimmers hing eine
wunderlich gedrehte Messingkrone, sie hatte sonst die aufgehobene jüdische Synagoge zu Gent
beleuchtet, jetzt steckte ein gewundenes buntes Wachslicht zu Ehren der Mutter Gottes darauf.
Der Altar war ein abgedankter Spieltisch, an welchem die ledernen Geldsäcke ausgerissen und
eine gewesene Salzmäste, mit Weihwasser gefüllt, eingesetzt war. An den Wänden hingen
gewirkte Tapeten, welche alte Turniere darstellten, die Ritter und die eisernen Harnische hingen
in Plundern herunter. (Isabella, S. 661f.)

Was hier für die Dinge im Raum gilt – mitsamt ihren religiösen oder geografischen
Konnotationen –, gilt andernorts für sprachlich-diskursive Versatzstücke. Die in der
romantischen Literatur zu konstatierende »Vermischung der Töne« ist jener grotes-

5
Foucault: Ordnung der Dinge, S. 17.
6
Ebenda, S. 17; S. 18f.
7
Ebenda, S. 20.
8
Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 63ff. Vgl. zum Palast des ›Prinzen von Palago-
nien‹ in Arnims Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) Kremer:
Romantik, S. 138f. Ferner Kremer: Prosa der Romantik, S. 66–69.
9
Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 63.
226 Christian Schmitt

ken Poetik des Heterogenen zu subsumieren, wie sie sich auch im Raum
ausdrückt.10 Ein Beispiel: Da kniet jene Frau Nietken andächtig »vor einem kleinen
Hausaltare [...], der mit einem schönen Bild der Mutter Maria und vielen bunten
Wachskerzen geheiligt war.« Aber schon naht Braka, und das soeben noch entwor-
fene Bild erhabener Innerlichkeit wird von ihrer Rede desavouiert: »Nun Du alter
Sausack, sprach Braka, betest du wieder, weil Du viel getrunken hast und der
Schluckauf Dir nicht vergehen will.« (Isabella, S. 661).11 In einer dritten, inter-
textuellen Perspektive schließlich wird Arnims »Synkretismus des Heterogensten«
in einer »mythensynkretistische[n] Verfahrensweise«12 greifbar. In diesem Sinne
bringt die Kutsche noch etwas anderes zusammen als die heterogenen ontologischen
Welten ihrer Figuren, nämlich die spezifischen Texttraditionen, aus denen diese
Figuren jeweils stammen: jüdisch-kabbalistische Mythen (Golem Bella), Zigeuner-
sage (Braka), Grimmelshausens Texte über Bärenhäuter und Alraun und vieles
mehr.13 Arnims Text ist sich dabei der Textualität seiner Figuren immer bewusst
und verzichtet ostentativ auf eine Glättung der Bruchstellen des verarbeiteten
Materials.14 Im Text wie im Raum geht es, diesem poetologischen Programm
zufolge, keineswegs um die »innige Verschmelzung des Heterogensten«15, sondern
um Konfrontation; es geht nicht um vereinheitlichende räumliche Modelle, sondern
um Möglichkeiten, die Vielheit zu denken und darzustellen; nicht Endlichkeit,
sondern durch die Heterogenität erzwungene (progressive) Annäherung an das
Unendliche – ein Grundpostulat der romantischen Literatur überhaupt.
Dass diese Poetologie selbst auf realhistorische Umordnungen zurückzuführen
ist, die auch räumliche Konstellationen (und Sicherheiten) betreffen, darauf hat
etwa Friedrich Schlegel hingewiesen, als er die französische Revolution selbst zur
»furchtbarste[n] Groteske des Zeitalters« erklärte, wo »die tiefsinnigsten Vorurteile

10
Kremer: Prosa der Romantik, S. 32. Vgl. zur Groteske Günter Oesterle: ›Illegitime Kreu-
zungen‹; sowie Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, v. a. S. 268–273; und S. 336–342.
Wingertszahn versucht sich an einer Präzisierung des Grotesken-Begriffes, dessen formal-
ästhetische Definition er manieristischen Verfahrensweisen zuordnet (vgl. S. 270). Die »Mi-
schung von Heterogenem« (S. 269) ist dann der kleinste gemeinsame Nenner grotesker Poetik
– also etwa die Vermischung von Komischem/Furchterregenden; Mensch/Tier etc. Warum
solche Formen Verwendung finden, lässt sich dagegen nur aus der psychoanalytisch oder aus
der (im Anschluss an Bachtin) sozialhistorisch fundierten Definition begründen.
11
Vgl. auch Oesterle: ›Illegitime Kreuzungen‹, S. 35, der eine ähnliche Szene aus Arnims Die
Majoratsherren analog als Miteinander von wunderlicher »pictura« und prosaischer »sub-
scriptio« liest. Genau andersherum verhält sich die Sache in jener Szene der Isabella, in der der
Alraun mit allen rhetorischen Mitteln von seiner wundersamen Meerfahrt erzählt; hier ist es das
zuvor vom Text entworfene ›Bild‹, das die banale Variante des Geschehens – der Alraun ist
betrunken unter dem Ofen angebunden worden – beisteuert.
12
Oesterle: ›Illegitime Kreuzungen‹, S. 49 (Anm. 50); S. 39.
13
Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 64ff. Zu den Quellen der Isabella vgl. auch den
Kommentar von Renate Moering in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd.3; sowie Neumann:
Legende, Sage und Geschichte.
14
Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 66.
15
So (irrig) ein anonymer zeitgenössischer Kritiker der Novellensammlung von 1812 in der
Leipziger Zeitung für die elegante Welt, zitiert im Kommentar von Moering, in Arnim: Werke
in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1281.
In der Kutsche 227

und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu


einer ungeheuren Tragikkomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt
sind«.16 Günter Oesterle hat Schlegels Charakterisierung als »Formel zu einer
spezifischen Aufgabenlösung«17 gelesen; und an dieser Aufgabenlösung sind die
heterotopen Raumkonstellationen der romantischen Texte ebenso beteiligt wie
deren ›groteske‹ Poetologie, die jene allegorisch abbilden. Beide ermöglichen es,
so könnte man auch sagen, mit der Heterogenität der historischen Verhältnisse, die
sich in realen Raum- und Zeitauflösungen manifestiert, noch einmal umzugehen,
diese formbar und im Sinne romantischer Poetologien nutzbar zu machen. Beide
erfordern es, das Differente zusammenzudenken – ohne es einfach in einem ein-
heitlichen ›Sinnhorizont‹, die hermeneutische Variante des homogenen Raumpara-
digmas, aufzulösen.18

Heterotopien II: Räume diesseits/jenseits der Macht

Zum Glück handelt es sich, so möchte man hinzufügen, nur um eine literarische
Kutsche; aber das Modell, das der Text entwirft, lässt sich durchaus auf Räume der
sozialen Wirklichkeit rückbeziehen. Als Bindeglied kann erneut das Konzept der
›Heterotopie‹ dienen. Auch die realen Räume sind nicht so homogen wie es schei-
nen mag – wie Foucault in einem später erschienenen (und seither viel zitierten)
Text Von anderen Räumen zu bedenken gegeben hat, der das Konzept der ›Heteroto-
pie‹ auf tatsächliche Raumkonstellationen bezieht. Es gebe, so Foucault, in jeder
Kultur

auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte (lieux), die
gleichsam Gegenorte darstellen [...], in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die
man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil
verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich
durchaus lokalisieren lassen.19

Diese realen ›Heterotopien‹ entsprechen dem in Die Ordnung der Dinge entwickel-
ten Denkmodell nur zum Teil, aber auch sie erzwingen ein anderes Denken des
(gemeinhin homogen gedachten) Raumes.20 In der realen Heterotopie manifestiert

16
Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. I,2, S. 248 (Athenäum-Fragment Nr. 424).
17
Oesterle: ›Illegitime Kreuzungen‹, S. 27.
18
Ein gutes Beispiel für die Tatsache, dass solche textuelle Heterogenität schnell die Hermeneu-
ten auf den Plan ruft, ist Neumann: Legende, Sage und Geschichte. Entgegen seinen Beteuerun-
gen, er wolle die heterogene Struktur der Arnimschen Erzählung gegen ihre Kritiker rehabilitie-
ren (vgl. S. 298), liest Neumann die Figuren in der Kutsche dann doch als »Symbole« (S. 303),
deren Bedeutungsgehalt er zu Tage fördert und in den entsprechenden »Sinnzusammenhang«
(S. 307) einordnet. Vgl. zur Kritik einer irreführenden (weil: vereinheitlichenden) Hermeneutik
auch Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 109.
19
Foucault: Von anderen Räumen, S. 321.
20
Eine, ihnen von Foucault zugestandene Eigenschaft macht die Parallele augenfällig, besäßen
doch Heterotopien »die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht
miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.« Foucault: Von
228 Christian Schmitt

sich in einem konkreten gesellschaftlichen Raum das ›Außen‹ einer Gesellschaft,


welches paradoxerweise zugleich in ihrem Inneren liegt; so wie die logische
Heterotopie das ›Außen‹ einer sozialen Wissensordnung markiert.21
Ein entscheidendes Moment, auf das Foucaults spätere Definition der Heteroto-
pie den Blick lenkt, ist das Moment der Macht. Es manifestiert sich insbesondere
in jenem »System der Öffnung und Abschließung«22, das einzelne Orte voneinander
trennt und die Zugänge regelt. An einer Stelle des Arnimschen Textes wird das
besonders deutlich: Der Zugang zur Stadt – und damit zum Geld, zu Möglichkeiten
des sozialen Aufstiegs – wird in der Isabella von einer Torwache versperrt. Aber
die Figuren geben sich nicht damit zufrieden, sondern bahnen sich mit trickreichen
Mitteln, vor allem mittels Verkleidungen, den Weg. Der gesamte Text gewinnt
seine Dynamik dadurch, dass solche Schranken immer wieder umgangen werden
müssen, und hier kommen dann ›Kupplerinnen‹ wie Braka und Frau Nietken ins
Spiel, die etwa ein Zusammentreffen von Isabella und Karl, zwei in sozialer
Hinsicht heterogene Figuren, immer wieder zu ermöglichen wissen. Noch anders
gelingt das im Falle jenes ›Gespensterhauses‹, dessen ›anderer‹ Status von den
Zigeunern (in erster Linie von Braka) bewusst hergestellt wird. Zunächst, um
überhaupt einen Aufenthaltsort zu haben;23 später dann, um ein Zusammentreffen
von Isabella und Karl zu ermöglichen. Bezeichnenderweise ist ein solches erst mög-
lich, nachdem Isabella zum ›Gespenst‹ geworden ist. Die von Isabella erträumte und
von Braka zugleich auf materielle Interessen verpflichtete Verkleidung bringt die
beiden aber nur zusammen, insofern es einen Ort gibt, an dem Gespenster und
Menschen zusammenkommen können – eben das »Geisterhaus« (Isabella, S. 635),
das in diesem Sinne einen Ort außerhalb der sozialen Machtsphäre ausbildet.
Treffpunkte außerhalb der gewöhnlichen Ordnung bieten auch zwei weitere Orte
des Textes an, die man als ›Heterotopien‹ ansprechen muss: das (Freuden-) Haus
der Frau Nietken und die Kirmes im Dorf Buik (dt.: Bauch).24 Letztere wird man,
nomen est omen, unschwer als Teil jener karnevalistischen Welt verstehen können,
auf die Bachtin das Groteske zu begründen sucht.25 Ein heterotoper Ort ist sie vor
allem deswegen, weil hier kurzzeitig – Foucault macht diesen Aspekt einer flüchti-

anderen Räumen, S. 324. Das ist das dritte Charakteristikum der Heterotopien. Die weiteren
Eigenschaften ›anderer Räume‹, wie sie Foucault ebenda, S. 321ff. aufzählt, seien hier kurz
benannt: (1) Jede Kultur bringt Heterotopien hervor. (2) Dieselbe Heterotopie kann historisch
je unterschiedlich funktionalisiert werden. (4) Heterotopien stehen meist in Verbindung mit
zeitlichen Brüchen. (5) Heterotopien setzen ein System der Öffnungen und Schließungen
voraus. (6) Die Funktion der Heterotopien in Bezug auf den übrigen Raum lässt sich auf einer
Skala anordnen, deren Endpunkte mit den Stichworten ›Imaginationsraum‹ und ›Kompensa-
tionsraum‹ benannt sind.
21
Vgl. Dünne: Einleitung (Soziale Räume). – In: Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 289–
302, hier S. 292f.
22
Foucault: Von anderen Räumen. – Ebenda, S. 317–327,hier S. 325.
23
Vgl. zu dieser ›Ortlosigkeit‹ der Zigeuner die Studie von Breger: Ortlosigkeit des Fremden; zu
Arnim S. 265–301.
24
In Foucaults Überlegungen tauchen beide Orte, Bordell und Fest, als Beispiele für Heterotopien
auf. Vgl. Foucault: Von anderen Räumen. – In: Dünne/ Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 325f.
25
Vgl. dazu Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 268–273.
In der Kutsche 229

gen Zeitlichkeit stark – ein von sozialen Schranken befreiter Raum des Zusammen-
treffens entsteht, den Isabella und Karl denn auch zu nutzen wissen. Vorübergehend
sind dabei auch die gewöhnlichen Identitäten aufgehoben und so bietet das Fest
zugleich Raum für eine Vielzahl ›karnevalistischer‹ Substitutionen und Verwechs-
lungen.26 Bei dem Bordell, in dem sich Isabella plötzlich unvermutet wiederfindet
(kurz zuvor hatte das Gebäude noch als simples Gasthaus fungiert), inszeniert der
Text das Zusammentreffen unterschiedlicher Generationen. Den »beiden alten
Herren« (Isabella, S. 696), die sich dort »bei Wein und Spiel mit Mädchen erlusti-
gen« (Isabella, S. 695) wollen, ist die Diskrepanz sofort bewusst; doch schnell sind
alle Zweifel zerstreut. Erst mittels eines neuerlichen Maskenspiels gelingt es
Isabella, das Haus zu verlassen – kurioserweise gerade in der Verkleidung einer
Tänzerin, die dem Ort angemessen gewesen wäre. Wieder ist es die Verkleidung,
die das Betreten (bzw. Verlassen) des Ortes ermöglicht; genau wie im nächsten
Abschnitt des Textes, der im Schloss des Erzherzogs spielt und diesmal einen
geschlechtlichen Rollentausch erfordert.
Insgesamt kommt den genannten Heterotopien, das Bordell bildet hier die
Ausnahme, eher ein befreiendes Potenzial zu, insofern sie Orte ausbilden, wo
Grenzen durchlässig, Identitäten veränderbar werden; und wo sich den Subjekten
Handlungsspielräume in einer geordneten, aber auch abgeschlossenen Welt eröff-
nen. Hier ist, wie schon in der Kutsche, auch das Zusammentreffen heterogener
Figuren möglich; und es ist m. E. vor allem diese Möglichkeit, die von der politi-
schen Relevanz der in Arnims Text entworfenen Räume zeugt und auch für die
realen Räume der Zeit Geltung hat. Obgleich es hier zu weit führen würde, diesen
realen Raumordnungen der Zeit um 1800/1812 im Detail nachzugehen, möchte ich
kurz auf zwei Konstellationen hinweisen, die mir diesbezüglich relevant erscheinen.
Der erste Bezug führt zur Kutsche zurück, genauer: zu ihrer sozialhistorischen
Realität. Dass in Kutschen heterogene ›Dinge‹ zusammenkommen, ist keine
Erfindung des Arnimschen Textes, sondern auch eine Tatsache des täglichen
Lebens um 1800, der (letzten) Hoch-Zeit der Postkutschenkultur.27 Aufgeklärte
Geister wie Johann Kaspar Riesbeck hatten schon früher die Fahrt in der ›ordinären‹
Postkutsche zur Herausforderung erklärt, an der sich liberale Theorien messen
lassen müssten. Die Erkundung der Menschen und ihrer Sitten beginne, so Ries-
beck, »auf den öffentlichen, ordinären Fuhren, die mir der Gesellschaft wegen (und
sollte sie auch nur aus Juden, Kapuzinern und alten Weibern bestehen) ausser-
ordentlich lieb sind«.28 Riesbecks »Konzept einer klassen- und schichtenüber-
greifenden Raumerfahrung« ging in der Realität allerdings selten auf – und musste
manchmal, wenn es um das Erzählen ging, auch um literarische Figuren ergänzt
werden, um den Ansprüchen an Spannung und Figurenkonturierung Genüge zu

26
Bezeichnend ist auch die Verwechslung von Theater und Wirklichkeit, wie sie hier der Alraun
erlebt, als er gegen einen Hanswurst ins Feld zieht, den er für einen ernstzunehmenden Gegner
hält.
27
Vgl. dazu Brilli: Als Reisen eine Kunst war, v.a. S. 145–156. Sowie Lay: Die Geschichte der
Straße, v.a. S. 139–149.
28
Johann Kaspar Riesbeck: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland (1783), zitiert
nach Beyrer: Im Coupé, S. 141.
230 Christian Schmitt

tun.29 In jedem Falle aber scheint sich in dieser Zeit in der Kutsche ein Ort zu
manifestieren, wo andere Regeln herrschen als in den übrigen gesellschaftlichen
Räumen; wo ein Zusammentreffen heterogener sozialer Identitäten nicht die
Ausnahme, sondern eher die Regel ist.

Heterotopien III: (Virtuelle) Räume der Imagination

Ein solcher Raum des Zusammentreffens heterogener Dinge (Figuren, Orte)


beflügelt vor allem auch die (literarische) Imagination und ist immer auch ein
produktiver Raum in dem Sinne, dass er Erzählungen anstößt. Sein reales Pendant
findet er im romantischen Salon, der idealiter als Ort einer machtfreien, differente
Erzählungen und Identitäten als Chance begreifenden ›Geselligkeit‹ fungiert.30 Ganz
deutlich spiegelt sich das auch in jenen Rahmenerzählungen romantischer Texte,
die an Orten des Zusammentreffens spielen und aus diesem räumlichen Zusammen-
treffen erzählerisches Potenzial generieren – wie etwa in Hauffs Wirtshaus im
Spessart, in dem sich ein Student, ein Goldarbeiter, ein Zirkelschmied und ein
Fuhrmann vereint (und dann: eingeschlossen) finden und Gelegenheit bekommen,
ihre Geschichten zu erzählen.31 Nicht zuletzt ist auch die von Arnim nur flüchtig
ausgestaltete Rahmenerzählung der Novellensammlung von 1812 selbst an einem
Ort angesiedelt, den Foucault zur »Heterotopie par excellence« erklärt hat: einem
Boot, dessen örtliche Ungebundenheit eine freie imaginatorische Tätigkeit begrün-
det.32 »In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume«, so
Foucault.33 Die heterotopen Räume eröffnen in diesem Sinne nicht nur Handlungs-,
sondern auch Imaginationsräume für das Subjekt bzw. seine Gesellschaft.
Räume der Imagination eröffnen sich in Isabella von Ägypten zum einen in
(räumlich markierten) Grenzsituationen – wie jener Grenzmark, auf der Isabellas
Visionen in einem Zustand zwischen Traum und Wachen entstehen;34 zum anderen
sind sie in einer weiteren, den Raum aufspaltenden Dimension angesiedelt, wie sie

29
Ebenda, S. 142. Der Kontrast wird etwa bei Ludwig Börne greifbar, der in seiner literarischen
Kutsche (Monographie der deutschen Postschnecke, 1821) »eine bunte Mischung widersprüch-
licher Charaktere« zusammenbringt: »eine französische Gouvernante, ein Schreibergeselle auf
dem Rückweg von Paris, eine junge Ehefrau aus Königsberg mit ihrem Bräutigam und
schließlich ›eine fürchterliche Gestalt in langem Barte und Schwert‹«. Die reale Reisegesell-
schaft Börnes war allerdings, wie er 1820 in einem Brief gesteht, »ganz erbärmlich«. Alle Zitate
nach Beyrer: Im Coupé, S. 143.
30
Vgl. dazu den nächsten Abschnitt.
31
Vgl. Hauff: Das Wirtshaus im Spessart.
32
Foucault: Von anderen Räumen, S. 327. Auf die Funktion des Imaginationsraumes hatte
Foucault bereits vorher (S. 326) hingewiesen.
33
Ebenda, S. 327. Vgl. auch Safranski: Romantik, der die Geschichte der Romantik auf einem
Schiff beginnen lässt, das Herder von Riga nach Nantes trägt. Dass Arnims Boot den Rhein
befährt, also jenen Ort, der um 1812 zu einem realen Zwischenort geworden ist, kommt noch
hinzu.
34
Vgl. Andermatt: Raum von vier Dimensionen, der im Zusammenhang solcher visionär
erschauten Räume vom ›romantisierten Raum‹ spricht.
In der Kutsche 231

optische Apparaturen und Blickkonstellationen eröffnen. Ähnlich wie in E.T.A.


Hoffmanns Prinzessin Brambilla ist dieser Raum ein virtueller, der dem aktuellen
Raum zur Seite tritt.35 Bei Hoffmann ist es wieder eine Kutsche, die sich den
Beobachtern jenes karnevalistischen Umzugs, der den Text eröffnet, darbietet;
allerdings sind deren Fenster »reine Spiegel«36, sodass die Beobachter nur vermuten
können, was sich im Inneren befindet, und sich letztlich selbst in der Kutsche
wähnen. Bei Arnim wagt der Alraun Cornelius Nepos den Blick in eine virtuelle
Dimension. Diese wird von demselben »Guckkasten« (Isabella, S. 687) eröffnet,
der auch bei der Herstellung des Golems die entscheidende Rolle spielt. Was er dort
sieht, ist eine »Welt im Kleinen, alle Städte, Völker in bunten Bildern« (ebd.), von
der er sich kaum losreißen kann, »gefiel sie ihm doch besser als die wirkliche«
(Isabella, S. 688): »Er war ganz außer sich über alles, was er erblickte: in jeder
Stadt dachte er sich als Fürst; sah er fremde Soldaten, so prüfte er sich, wie er als
Heerführer in der Tracht sich ausnehmen würde.« (Isabella, S. 687).
Dass die Grenzen zwischen virtuellem und aktuellem Raum durchlässig sind und
die imaginären Bilder durchaus den realen Raum der Erzählung heimsuchen
können, wird bei der Erschaffung des Golems deutlich. Die Apparatur reproduziert
nicht nur die Welt – in anderer, virtueller Form –, sondern auch mittels eines
»Kunstspiegel[s]« (ebd.) die Betrachterin; das virtuelle Spiegelbild wird aktuali-
siert, erhält eine autonome Existenz und betritt als Golem Bella die diegetische
Welt. Der virtuelle Raum des Guckkastens ist insgesamt erneut allegorisch lesbar,
im Sinne einer Poetik der Aufspaltung und Verdoppelung, wie sie der Figur der
Metonymie entspricht und auch sonst im Text am Werke ist.37 Foucault hat den
Raum des Spiegels in diesem Sinne als Mischung von Heterotopie und Utopie
bezeichnet. Utopisch ist der Spiegel insofern er irreal ist; heterotopisch ist er
insofern er »wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort
ausübt, an dem ich mich befinde«.38 Die Selbstverständlichkeit des eigenen Stand-
punktes wird vom Spiegel problematisiert, und doch wird dieser Standpunkt
vermittels des Spiegels erst mit den übrigen Orten des Raumes, in dem ich mich
befinde, in Relation gesetzt.39

Heterotopien IV: ›Freies Spiel der Sphären‹ vs. ›ungeschickte Frikzionen‹

Ich möchte abschließend noch einmal auf ein realhistorisches Pendant heterotoper
Räume zurückkommen, den romantischen Salon, wo idealiter das realisiert ist, was
die Raumentwürfe (nicht nur) der Isabella von Ägypten vorzeichnen. Die Praxis
dieses sozialen Ortes ist gut erforscht;40 seine Theorie hat er bekanntlich in Form

35
Vgl. dazu auch Kremer: Fenster; zur ›Virtualisierung‹ v.a. S. 225ff.
36
Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 782.
37
Etwa in jenen vielfältigen Verschiebungen, mittels derer Isabellas Vater, Karl und Alraun
überblendet werden.
38
Foucault: Von anderen Räumen, S. 321.
39
Vgl. ebenda.
40
Vgl. etwa Seibert: Der literarische Salon; Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert.
232 Christian Schmitt

von Friedrich Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens


(1799) erhalten. Schleiermachers Überlegungen lassen sich noch einmal die Mög-
lichkeiten und Paradoxien eines solchen Raums des heterogenen Zusammentreffens
ablesen. Schleiermachers Theorie sucht die Autonomie einer zweckentbundenen,
auf ›freies Spiel‹ festgelegten Kunst auf die gesellschaftliche Realität zu übertragen.
Diese Realität ist von einer zunehmenden sozialen Ausdifferenzierung im Zeichen
der Arbeitsteilung gekennzeichnet, die, so Schleiermacher, geistige Beschränkungen
nach sich ziehen. Man könnte auch sagen: Jede(r) hat sich an seinem sozialen Ort
eingerichtet und bringt diesen, seinen spezifischen Ort dann auch mit in den Salon.
Dagegen setzt Schleiermacher nun allerdings einen Zustand, der »die Sphäre eines
Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als
möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eignen Grenzpunkte ihm die
Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre«.41
Die räumliche und optische Metaphorik weist hier erneut auf die Foucaultschen
Heterotopien zurück. Idealiter ist die (Salon-)›Gesellschaft‹, die Schleiermacher vor
Augen schwebt, ein machtfreier Raum, in dem heterogene individuelle ›Sphären‹
zusammenkommen. Genau aus dieser (paradoxen, weil schwierig zu denkenden)
Konstellation – die der räumlichen Konstellation in Arnims Kutsche entspricht –
entstehen nun allerdings auch für die Theorie des geselligen Betragens Probleme,
an denen sich Schleiermacher abarbeitet. Es sind dieselben Probleme, mit denen
sich auch hermeneutische Lektürepraktiken konfrontiert sehen, betreffen sie doch
das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem. Schleiermacher weist, auf verschiede-
nen Ebenen der Argumentation, auf zwei Extremfälle hin. Einerseits würde, wenn
jeder tatsächlich nur seine eigene ›Sphäre‹ in die Gesellschaft mitbrächte, gar kein
Austausch stattfinden können – stattdessen sei von einem »Zustand des beständigen
Krieges« auszugehen.42 Andererseits würde der Verzicht auf die eigene ›Sphäre‹ –
der Verzicht auf »ungeschickte Frikzion[en]«43 – mit Rücksicht auf den Austausch
aller, der Idee des freien Spiels heterogener Meinungen selbst widersprechen.
Wie also ist, wenn unterschiedlichste Charaktere im Salon zusammentreffen,
überhaupt ein Gespräch ›auf Augenhöhe‹ möglich? Wie bekommt Schleiermacher
die vielen heterogenen ›Sphären‹ (nach Maßgabe seiner Idee) in einer einheitlichen
›Sphäre‹ zusammen? Er tut das, indem er einerseits diese Idee als normativen
Horizont setzt und andererseits zu differenzieren sucht, etwa indem er einen
Gegensatz von Gesprächsinhalten und -formen geltend macht und nur letzteren
Heterogenität zugesteht. Es geht – wie auch in anderen philosophischen Diskursen
der Zeit – also darum, das Differente als grundsätzlich vermittelbar zu denken; und
das geht in diesem Falle nur, wenn man entweder bestimmte Gegenstände (Schlei-
ermacher spricht vom »Ton« oder »Stoff«44) außen vor lässt; oder eine Art kleinsten
gemeinsamen Nenner voraussetzt, der als geteilte Erfahrung allen Salonbesuchern

41
Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, S. 163. Meine Hervorhebun-
gen, C. S.
42
Ebenda, S. 172.
43
Ebenda, S. 173.
44
Ebenda, S. 174.
In der Kutsche 233

zur Verfügung steht. Es gibt auch noch eine rhetorische Lösung: Als kommunikati-
ves Bindeglied fungiert nämlich die Ironie, müssten doch idealiter alle »gesell-
schaftlichen Aeußerungen [...] eine doppelte Tendenz, gleichsam einen doppelten
Sinn haben«.45 Die ironische Redeweise ermöglicht die Vermittlung des Differen-
ten, weil sie selbst immer schon ›heterotop‹ ist; weil sie zugleich auf einer kon-
kreten Ebene und »in einer andern Sphäre liegt«.46
Arnims Text scheint m. E. der Realisierbarkeit einer solchen Verständlichkeit,
die doch immer von der Annahme eines gemeinsamen Verstehenshorizontes
abhängt, äußerst skeptisch gegenüber zu stehen.47 Tatsächlich weist er sehr wohl auf
zwei verbindende Momente der beiden heterogenen Gesellschaften hin, die in der
Kutsche zusammenkommen; aber er tut das bezeichnenderweise selbst nicht ohne
Ironie.48 Bei der ersten Kutschfahrt ist es die Verkleidung, welche die äußeren
Differenzen der Figuren verbirgt; allerdings mehr als unzureichend, »denn der neue
Staat wollte keinem recht passen; aber freilich war er auch ziemlich zusammen-
getrödelt und doch so teuer, daß der Bärnhäuter über die Anwendung seines Schat-
zes heimlich geseufzt hatte« (Isabella, S. 664). Bei der zweiten Kutschfahrt sind es
dagegen Träume von »Schätzen, Heldentaten und Biergeldern«, die die so unter-
schiedlichen Figuren »in feierlicher Eintracht« (Isabella, S. 691) hegen – hier
zwingt allein das Geld als kleinster gemeinsamer Nenner die heterogenen ›Sphären‹
zur Gemeinschaft zusammen.
Der Erzählerkommentar, der sich daran anschließt, bezieht die doch offensicht-
lich andere Realität noch einmal ein und weist die – auch durch ihre ›erdige‹
Konsistenz einander ähnlichen – Figuren in dieser Hinsicht als unterkomplex
zurück: »Wie vergebens quält uns das Verhältnis zu manchem Menschen; könnten
wir uns einbilden, er sei ein Toter, eine Erdscholle, eine Wurzel, unser Kummer und
unser Zorn müßte verschwinden, wie aller Gram über unsre Zeit, wenn wir nur
endlich wüßten, daß wir bloß träumten.« (Isabella, S. 691) Im Allgemeinen, im

45
Ebenda, S. 181. Das macht Schleiermacher auch für die Formen der Anspielung (die das Spiel
im Namen trägt), der Persiflage und der Parodie geltend.
46
Ebenda, S. 182.
47
Vgl. Arndt: Geselligkeit und Gesellschaft, S. 61, der Schleiermacher mit Habermas engführt
und bilanziert, dass eine solche »Theorie der kommunikativen Vergesellschaftung« sich
letztlich »nicht ins Gestrüpp der wirklichen Gegensätze« begebe – weil sie eben »die metaphy-
sische Voraussetzung einer als Indifferenz hervortretenden Einheit jenseits der Entgegenset-
zungen noch in Kurs läßt«. Demgegenüber wäre heute (wie ich ergänzen möchte) mit Jean-
François Lyotard (Der Widerstreit) oder Jacques Derrida (Die différance) von einer Situation
tatsächlich unüberwindbarer Gegensätze auszugehen, die in der jeweiligen individuellen
Situiertheit in kulturellen oder sprachlichen Bezugssystemen, aber auch in der Funktionsweise
der Sprache selbst begründet ist. Im Kontext postkolonialer Theoriebildungen haben sich diese
Einsichten etwa im Konzept des ›dritten Raums‹ (third space) niedergeschlagen, wie es Homi
K. Bhabha vorgeschlagen hat. Dieser dritte Raum ermöglicht gerade keine dialektische
Vermittlung von Eigenem und Anderem mehr (wie in Schleiermachers idealem Salon), sondern
ist Austragungsort komplexer Übersetzungs- und Verhandlungsprozesse, deren Erfolgsaus-
sichten ungewiss sind. Vgl. Bhabha: Commitment to Theory.
48
Der Text kommt damit dem Schleiermacher’schen Postulat nach; aber ohnehin ist ja die Ironie
die für die romantische Poetik maßgebliche sprachliche Grundfigur, um Gegensätze wie
endlich/unendlich zu vermitteln. Vgl. dazu etwa Kremer: Romantik, S. 92ff.
234 Christian Schmitt

Falle des Zusammentreffens von wirklichen Menschen, ist wohl eher mit jenen
›Frikzionen‹ zu rechnen, die Schleiermacher ausschließt, und gilt es, die Spannun-
gen, die dann entstehen, zu ertragen.

Während die Kutsche heutzutage ausgedient hat, gilt das nicht für das Boot, in dem
sich etwa in Yann Martels Roman Life of Pi (2001) die inkommensurablen Figuren
Junge, Tiger, Hyäne, Zebra und Orang-Utan vereint finden;49 es gilt auch nicht für
das Taxi, das in Jim Jarmuschs Film Night on Earth (1991) zum Ort einer globalen
Gleichartigkeit in der Differenz wird. In einem solchen Taxi spielt auch eine
persönliche Anekdote, mit der ich meine Überlegungen (anständigen wissenschaftli-
chen Gepflogenheiten zum Trotz) abschließen möchte und die noch einmal die
Chancen und Risiken heterotoper Raumkonstellationen, mitsamt der Gemein-
schaften, die sich dort zusammenfinden, aufzuzeigen geeignet ist. Das Taxi fuhr
durch das nächtliche Amsterdam und ungewöhnlich war weniger der Raum des
Geschehens als das, was er beinhaltete. Neben mir, dem kahlköpfigen Deutschen
mit niederländischer Wahlheimat, saß ein schwuler, israelischer Freund; seine Eltern,
die zu Besuch in Amsterdam waren, ergänzten die Runde. Das Taxi selbst wurde
von einem marokkanischen Immigranten gesteuert, der uns irgendwann fragte,
woher wir kämen. Da keiner der Anwesenden seine auf Niederländisch gestellte
Frage verstanden hatte, musste ich ins Englische übersetzen, das mein Freund
wiederum ins Hebräische übertrug. Ich war (aufgrund aktueller nahöstlicher
Ereignisse) unsicher, was ich antworten sollte, gab aber schließlich zu verstehen,
dass meine Gäste aus Israel kommen – woraufhin sich der Fahrer, entgegen meiner
Befürchtungen, begeistert zeigte und gleich ein paar hebräische Worte mit den
Eltern meines Freundes zu wechseln begann. Der gemeinsame ›Raum‹ dieser
Begegnung war wohl nicht, so meine Deutung, in erster Linie durch das Taxi
gegeben, sondern er entstand erst im Gespräch, das dieses Taxi anregte, und
irgendwo zwischen den heterogenen Orten, Sprachen und Erzählungen, die seine
Mitfahrer (von denen jeder sich gewissermaßen auf der Durchreise befand) mit sich
brachten.
Ich denke, dass es die romantischen Texte sind, die erstmals solche räumlichen
Gegebenheiten unserer (modernen) Gegenwart vorweggenommen und auf ihre
spezifische, literarische Weise reflektiert haben. Ob diesen Räumen am Ende eher

49
Vgl. Martel: Schiffbruch mit Tiger. Der Text enthält auch einen Raum, der dem Trödellager der
Frau Nietken in nichts nachsteht und religiöse Attribute vereint und hybridisiert: »Im Wohn-
zimmer steht auf einem Tischchen neben dem Sofa ein Bild der Muttergottes von Guadalupe,
Blumen quellen aus ihrem offenen Umhang. Daneben, ebenfalls eine gerahmte Fotografie, die
schwarz verhüllte Kaaba, das Allerheiligste des Islam, umgeben von der zehntausendfachen
Schar der Gläubigen. Auf dem Fernseher steht eine Messingstatue, Shiva in Gestalt Natarajas,
des Herrn des Tanzes [...]. In der Küche ist ein Schrein. [...] Oben im Arbeitszimmer sitzt gleich
neben dem Computer ein Ganesha aus Messing mit gekreuzten Beinen [...].« Martel: Schiff-
bruch mit Tiger, S. 66f.
In der Kutsche 235

ein befreiendes Potenzial im Sinne der romantischen Geselligkeits-Theorie zu-


kommt; oder ob in ihnen, im Gegenteil, ein ›Zustand des beständigen Krieges‹
vorprogrammiert ist, lässt sich wohl nur im konkreten Einzelfall entscheiden.
Jedenfalls ist mit solchen heterotopen Räumen zu rechnen – heutzutage vielleicht
mehr denn je.50

50
Zu den gegenwärtigen Ausprägungen heterotoper Räume im Zeichen der ›Transkulturalität‹
vgl. den Band von Blumentrath u. a. : Transkulturalität. Einen Brückenschlag von der Salonkul-
tur zu den virtuellen Realitäten unserer Zeit versucht Simanowski: Die virtuelle Gemeinschaft
als Salon der Zukunft.

Das könnte Ihnen auch gefallen