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FAUST ZWEITER TEIL

Heinz Schlaffer

FAUST ZWEITER TEIL


Die Allegorie des 19. Jahrhunderts

Zweite, um eine Nachbemerkung


erweiterte Auflage

Verlag J.B. Metzler


Stuttgart . Weimar
Die Deutsche Bibliothek - elP -Einheitsaufnahme

Schlaffer, Heinz:
Faust zweiter Teil: die Allegorie des 19. Jahrhunderts /
Heinz Schlaffer. - 2., um eine Nachbemerkung erw. Aufl. -
Stuttgart ; Weimar: Metzler, 1998
ISBN 978-3-476-01619-5

ISBN 978-3-476-01619-5
ISBN 978-3-476-03273-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03273-7

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© 1998 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1998
Das Buch von Hannelore Schlaffer über Goethes Wilhelm Meister
und das von Heinz Schlaffer über Faust II sind komplementär im
Kontrast. Für ihre unterschiedlichen Methoden und Ergebnisse
sind nicht gegensätzliche Vorentscheidungen der Verfasser, son-
dern spezifische Anforderungen der poetischen Werke verant-
wortlich.
Die Wilhelm-Meister-Philologie vertraute bislang dem zeitna-
hen Vordergrund des Werkes, so daß die Ikonologie seines mytho-
logischen Hintergrunds unentdeckt blieb. Die Faust II-Philologie
hielt sich vornehmlich an den mythologisch-symbolischen Appa-
rat und ließ die historischen Bedeutungen unbedacht.
Die vorliegenden Abhandlungen kehren die Richtung der
Erkenntnis um: Die Interpretation der Wilhelm-Meister-Romane
findet in verborgenen Bildern einen Sinn, der die Prosa des Wirkli-
chen überschreitet. Die Interpretation von Faust II entdeckt die
Allegorie als die bildliehe Form der Abstraktionen, von denen
Goethe das Jahrhundert bestimmt sah.
Die unterschiedlichen Interpretationsverfahren berücksichtigen
die historisch begründete Wandlung von Goethes ästhetischer
Konzeption. Seine Wilhelm-Meister-Romane waren in der Hoff-
nung geschrieben, daß Erfahrungen der bürgerlichen Moderne an
die Bilder wiederkehrender Mythen zurückzubinden seien. Faust
II, Goethes letztes Werk, geht aus der Einsicht hervor, daß die
Ansprüche der Moderne seinen Bildervorrat übersteigen und eine
neue ästhetische Antwort verlangen. Die Mythen werden von der
Allegorie aufgebraucht. Gerade die thematische Nachbarschaft
von Wilhelm Meisters Wanderjahren und Faust II macht die
geschichtliche Notwendigkeit der poetischen Alternativen be-
wußt. H. S., H. S.

v
Für einige Hinweise zum Verständnis von Faust II und für die
kritische Lektüre des Manuskripts danke ich Doris Kammradt.
H. S.

VI
INHALT

Einleitung. Faust II im 19. Jahrhundert 1

1. Voraussetzungen .................................... 11
1. Goethe an Schiller, Frankfurt, 16. August 1797 .......... 13
2. Die Kritik der Allegorie im Zeitalter Goethes ............ 29
3. Die Bestimmung der Allegorie in Hegels Ästhetik ........ 39
4. Charaktermasken und Personifikationen in der Kritik der
politischen Ökonomie ............................... 49

II. Allegorien und Allegorie in Faust II ................... 63


1. Der Aufzug der Allegorien. Zur Mummenschanz . . . . . . . . . 65
2. Die Entstehung der allegorischen Verhältnisse. Weitläufiger
Saal mit Nebengemächern ............................ 79
3. Die Gegenwart der Vergangenheit der Antike. Helena .... 99
4. Wissen und Erscheinung. Laboratorium ................ 124
5. Die Form der Allegorie in Faust II ..................... 138
6. Grenzen der Allegorie. Der Mythos der Natur und die
Religion der Liebe .................................. 154
7. Die Sinnlichkeit der Abstraktionen. Zur Ästhetik der Alle-
gone.............................................. 166

Schluß. Abstraktion, Allegorie und Realismus ............. 175


Exkurs. Walter Benjamins Allegorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Anmerkungen ........................................... 191

Personenregister 213

VII
EINLEITUNG

FAUST 11 IM 19. JAHRHUNDERT

1862, dreißig Jahre nach Abschluß von Goethes »Hauptgeschäft«,


erscheint Friedrich Theodor Vischers Faust. Der Tragödie Dritter
Theil, »treu im Geiste des zweiten Theils des Götheschen Faust
gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifi-
zinsky«. Ihr Motto hat die Parodie dem parodierten Werk ent-
nommen: »Und allegorisch, wie die Lumpen sind, / Sie werden
nur um desto mehr behagen.« [1] Vischers Faust hat im Himmel
zur gelinden Strafe den Auftrag erhalten, als Lehrer einer »sel'gen
Knabenkolonie« Goethes Faust II zu erklären: »Es geht jetzt, wie
gesagt, an den Homunkei, / Gebt acht, paßt auf, der Gegenstand
ist dunkel!« [2] Um das Dunkel aufzuhellen, hat Faust »aus Kom-
mentaren, wenigstens aus zehn«, die »Deutungen« abgeschrieben:
»zuerst folgt noch der Rest der ersteren, längeren Definition: Der
Homunculus ist nämlich außerdem, daß er einerseits die trockene
Gelehrsamkeit, andrerseits die Liebe zum ideal Schönen ist,
zugleich eine äußerst tiefsinnige Anspielung auf den Vulkanismus.
Indem er nämlich am Muschelwagen der Galatea -«. [3] Leider
werden weitere Erklärungen durch das Gebrumm von Maikäfern
verhindert, welche die himmlischen Kinder in der Schulstube
losgelassen haben. Ergebnislos bleiben auch die Auslegungsversu-
che der »Gesellschaft der an Goethes Faust sich zu tot erklärt
habenden Erklärer«, die - geteilt nach Stoffhubern und Sinnhu-
bern - das Nachspiel bestreiten.
Vischers Parodie, die das Werk für unverständlich erklärt, wird

1
dem Interpretationsproblem von Faust II eher gerecht als die
meisten Interpretationen, die sich unverzüglich ans Werk machen.
Provozierend wirkt die Unverständlichkeit gerade deshalb, weil
Faust II offensichtlich Bedeutungen, wenngleich dunkle, enthält
und nach erhellender Deutung verlangt. Vischer führt dieses
Ärgernis szenisch vor, indem er Faust zum Ausleger seiner selbst
bestellt und ihm, nachdem er bei dieser Aufgabe versagt hat,
professionelle Deuter nachschickt: Faust II ist in solchem Maße
der Auslegung bedürftig, daß die Interpreten quasi zu seinen
dramatis personae gehören. Notwendig werden solche Ausle-
gungsversuche wegen der besonderen Struktur der Bilder, die sich
dem wörtlichen Verstand wie der natürlichen Anschauung verwei-
gern. Sie zwingen daher »zum Geistesrücktritt hinter die Erschei-
nung« und führen, zu Vischers Leidwesen, in »die Tiefen der
Abstraktion«. Die Bilder seien derart »kurios und krumm«, daß
sie hinter der »sonderbaren Hülle [... ] der Bedeutung Fülle« zwar
versprechen, aber nicht preisgeben. [4] Vischer erfindet ein
boshaftes Beispiel: nacheinander treten ein Stiefelknecht, zwei
Stiefel und zehn Hühneraugen auf, die schließlich allesamt von
einer großen »Null« verschlungen werden (womit Vischer seine
Meinung über den Ideengehalt jener Bilder unmißverständlich
kundtut).
Die Distanz zwischen sinnlicher Erscheinung und ideeller
Bedeutung, welche die Ausleger zu überbrücken trachten, aber
nicht zu überbrücken vermögen, sieht Vi scher in der allegorischen
Anlage von Faust II begründet. »Dieses Historium / Ist kein Brim-
borium, / Ist Allegorium.« [5] Bereits die fingierten Verfasserna-
men und das Motto der Parodie kündigen an, daß Goethes Werk
als Allegorie charakterisiert und kritisiert werden soll- als Allego-
rie (Allegoriowitsch), die gedeutet werden will (Deutobold),
wegen der Dunkelheit ihrer Bilder (Symbolizetti) jedoch unver-
ständlich (Mystifizinsky) bleibt. [6] Denn eben der augenscheinli-
che Widerspruch von unsinniger Erscheinung und unsinnlicher
Bedeutung, auf dem Vischers Kritik insistiert, ist ein Kennzeichen
der Allegorie. Um den Widerspruch aufzulösen, wird der »Geistes-
rücktritt hinter die Erscheinung« erforderlich. Die Allegorie ist
demnach eine ungesättigte Form, die der Ergänzung durch den
Interpreten bedarf. Solche Bedürftigkeit verletzt jedoch die Norm
jener ästhetischen Autonomie, die zumindest seit dem 18. Jahr-
hundert, nicht zuletzt durch das Vorbild von Goethes klassischer

2
Dichtung, allgemeine Geltung beansprucht. Daß Goethe noch im
19. Jahrhundert in eine derart überholte Dichtart zurückfallen
konnte, um »Gespenster« zu erfinden, die höchstens »aus faulem
Kirchenschutte [... ] allegorisch zu erklären« sind [7] - dies mußte
Vischers Überzeugung verstören, daß die literaturgeschichtliche
Entwicklung ziel bewußt und unumkehrbar zu einer immer sinn-
fälligeren Darstellung menschlicher Wirklichkeit fortschreite. Um
eine Deutung der Allegorie in Faust II will sich Vischer auch
deshalb nicht bemühen, weil er von vornherein eine Form für
verfehlt hält, die in Verstandesabstraktionen aufgelöst werden
kann. Wegen ihrer theoretischen Eindeutigkeit schien Vischer der
»ästhetische Wert« der Allegorie gering: ihre »Helle ist im Grunde
Verstandeshelle, Bewußtsein von Zweckmäßigkeit: das letztere
freilich nur, wenn das tertium einleuchtend gewählt ist; doch,
wenn dies nicht der Fall, so wird man erst recht in das Verstandes-
gebiet verwiesen, um zu suchen, zu raten.« [8] - Gerade durch sei-
ne Aversionen deckt Faust III die ungewöhnliche Konstruktion
von Faust II, seine Sonderstellung in der Literatur des 19.Jahrhun-
derts und seine Herausforderung an die Interpreten auf: der ge-
meinsame Index dieser Eigentümlichkeiten ist die Allegorie.
Was Vischer und die meisten Kritiker im 19. Jahrhundert vor
allem an Faust II irritierte, war das Wiederaufleben der seit
langem für tot erklärten Form der Allegorie. Sie wußten sich
keinen anderen Rat, als Faust II für ein totgeborenes Werk zu
erklären. Ein 1835 abgelegtes Bekenntniß über den 2ten Theil von
Gäthes Faust lautet: »Ein prononcirt allegorisches Gedicht
kommt mir immer mehr oder weniger vor wie der Leichenzug
irgend einer verblichenen Wahrheit, die die neun Musen mit
langen Flöhren und Citronen in den Händen, auf der Bahre
tragen.« [9] Die Diskrepanz zwischen den ästhetischen Prinzipien
des Werks eines bereits kanonischen Autors und der Kritik, die
dieses Werk ebenso gern kanonisiert hätte wie seine früheren,
käme es nur nicht in solch fragwürdiger Gestalt einher - diese
Diskrepanz fordert eine Erklärung. Nimmt man beide, Goethe
und seine Kritiker, ernst, so liegt eine doppelte Vermutung über
den Ursprung ihres Konflikts nahe: 1. Jeder Akt der unerwarteten
Wiederaufnahme geschieht bewußter als einer der traditionellen
Weiterführung. Goethes ungewöhnlicher Entscheidung für die
Allegorie sind eventuell Erkenntnisse über den >Weltzustand< vor-
aufgegangen, die der ästhetischen Produktion seiner Zeit fremd

3
geblieben waren. Lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, daß
Goethe geschichtliche Erfahrungen machte, die mit den Mitteln
»symbolischer« Kunst (wie Goethe sie früher in strikter Opposi-
tion zur »allegorischen« propagiert hatte) nicht mehr darstellbar
waren und deshalb notwendig zu einer allegorischen Darstellung
drängten? 2. Die Polemik gegen Faust II im 19. Jahrhundert geriet
violentamente
wohl deshalb so heftig, weil sie in der allegorischen Form die
Wiederkehr allegorischer Instanzen fürchtete, welche die Allego-
superado
riekritik des 18. Jahrhunderts für immer überwunden glaubte. Die
ausgesprochenen Gründe, die zur Abschaffung der Allegorie
geführt hatten, mögen für die verschwiegenen Motive, die zu ihrer
Wiedereinsetzung führen, aufschlußreich sein.
Diese hypothetischen Überlegungen konkretisieren sich in den
»Voraussetzungen«, die den ersten Teil meiner Abhandlung bil-
den. Sie beginnen mit der Analyse eines Briefes, den Goethe 1797
aus Frankfurt an Schiller schickt (Kap. 1). Im Handelszentrum
stellt sich die neue Macht der kapitalistischen Ökonomie in einer
>allegorischen< Situation dar, vor der Goethe jedoch - unter dem
Eindruck des allgemeinen Allegorie-Verdikts (Kap. 2) - in den
Entwurf symbolischer Kunst ausweicht. So werden die ästheti-
schen Konsequenzen dieser historischen Einsicht um Jahrzehnte
verzögert und damit auch die Einsicht selbst wieder verschüttet.
Daß Goethes scheinbar private Erfahrung und seine ästhetische
Reaktion einen repräsentativen Wert besitzen, sollen Untersu-
chungen zur ökonomischen Theorie der Wertabstraktion im 18.
und 19. Jahrhundert und zur Stellung der Allegorie in Hegels
Ästhetik zeigen. In den Personifikationen der Ware, des Geldes,
des Kapitals und in den Charaktermasken ihrer Träger zeichnet
sich die >allegorische< Tendenz bürgerlicher Verkehrsformen ab,
wodurch der gesellschaftliche Gehalt von Goethes Frankfurter
Brief systematisch entfaltet wird (Kap. 4). Goethes poetische
Skepsis gegenüber dieser Situation hat ihre Parallele in Hegels
Ästhetik, welche die Abstraktheit der gesellschaftlichen Formen
zur Grundbedingung der modernen Existenz erklärt und gleichzei-
tig der Allegorie, die doch die Befähigung zur Darstellung des
Abstrakten besitzt, allen ästhetischen Wert abspricht (Kap. 3).
Meine Rekonstruktion der geschichtlich-ästhetischen Voraus-
torção/guinada
pressupostos
setzungen, die Goethes späte Wendung zur allegorischen Dichtung
verständlich machen soll, muß paradox wirken. Denn in allen
untersuchten Manifestationen - in Goethes Frankfurter Brief, in

4
der Allegoriekritik des 18. Jahrhunderts, in Hegels Bemerkungen
über moderne und allegorische Abstraktion, in der nationalöko-
nomischen Analyse des Tauschwerts - wird der Zusammenhang
valor de troca

zwischen moderner Verkehrsform und allegorischer Denkform


entweder nicht gesehen oder zurückgewiesen. (Merkwürdiger-
weise bildet die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie eine
Ausnahme: sie erklärt wörtlich, daß in einer warenproduzieren-
den Gesellschaft allegorische Personifikationen entstehen müs-
sen.) Doch sobald man die Widersprüche und Lücken in der
zeitgenössischen Argumentation wahrnimmt, ist eine Revision des
formulierten Selbstverständnisses möglich. Dann wird hinter den
historischen Verlautbarungen eine historische Logik sichtbar,
deren ästhetisches Korrelat die Allegorie darstellt. Da der offene
Diskurs der Epoche weder die allegorische Wirklichkeit der bür-
gerlichen Gesellschaft noch die geschichtliche Möglichkeit der
Allegorie im 19. Jahrhundert ausgesprochen hat, rekonstruieren
die »Voraussetzungen« also eine virtuelle Geschichte der Alle-
gorie.
Deshalb verzichte ich auf das, was wohl am ehesten von dieser
» Einleitung« oder wenigstens von den »Voraussetzungen« erwar-
tet wird: eine Definition der Allegorie. Sie müßte sich an die
gebräuchlichen, an früheren Allegorien gewonnenen Bestimmun-
gen halten und damit den Blick auf die neuen Aspekte verstellen,
die sich aus der exzentrischen Stellung der Allegorie im 19. Jahr-
extensão
hundert ergeben. Um den geschichtlichen Umfang der Allegorie in
Faust II zu erhellen, scheint mir die allmähliche Entwicklung ihrer
sichtbaren und verborgenen Elemente besser geeignet als eine
analytische Definition des Terminus »Allegorie« (die bei histo-
risch variablen Gegenständen stets dürftig ausfällt). Was die Alle-
gorie in Faust II bedeutet, kann nicht am Anfang dieses Buchs
festgelegt, sondern an seinem Aufbau schrittweise einsichtig
werden.
Erst in Faust II gewinnt die virtuelle Allegorie der gesellschaftli-
chen Verhältnisse eine ästhetische Konkretion. Dieses Werk hat
die Strukturen der Epoche nicht mehr als unbewußte Bedingung
im Rücken, sondern als bewußtes Thema vor sich. Goethes Alle-
gorie hat sich die neue Aufgabe gestellt, statt der ewigen metaphy-
sischen Mächte über dem menschlichen Leben, denen die traditio-
nellen Allegorien verpflichtet waren, die geschichtlich begrenzte
Grundkonstellation des modernen Lebens ins Bild zu fassen.

5
Durch diese Aufgabe rückt Faust II, das als Alterswerk Goethes
bislang ans Ende einer literarhistorischen Entwicklungsreihe
gestellt wurde, an den Anfang einer neuen historischen Epoche
und der Versuche, ihr mit neuen literarischen Mitteln beizukom-
men. Faust II, Hauptwerk des 19. Jahrhunderts - so könnte die
geschichtliche Stellung von Goethes letztem Werk neu bestimmt
werden. Die Goethe-Philologie war so sehr an der beispielhaften
Einheit der Person des Dichters interessiert und daher von der
>organischen< Einheit seiner Produktion überzeugt, daß sie die
fratura/"break"
historischen Brüche von Goethes Erfahrung nicht wahrgenommen
hat. Äußerungen Goethes, vor allem in den Jahren zwischen 1825
und 1832, da er an Faust II arbeitete, bestätigen jedoch, daß er
einen grundsätzlichen Bruch zwischen der alteuropäischen Kultur,
aus der er herkam, und der technisch-industriellen Welt, die auf
ihn zukam, eingetreten glaubte. »Goethe meint, daß unser neun-
continuação anterior
zehntes Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei,
sondern zum Anfang einer neuen Ära bestimmt scheine.« [10]
»Anfang einer neuen Ära« - dieser Ausdruck zeigt, daß Goethe
mit einer totalen, nicht bloß partiellen Veränderung der Lebensbe-
dingungen von historischem Ausmaß rechnet. Daraus geht sein
Versuch hervor, aus ersten Anzeichen ein Gesamtbild einer
Zukunft, die eben begonnen hat, zu imaginieren. Von welchen
Tendenzen Goethe die »neue Ära« eingeleitet sah, mag vielleicht
ein Brief an Zelter, im Juni 1825 geschrieben, andeuten:
Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen;
Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder
strebt; Eisenbahnen, Schnell posten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten
der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbie-
ten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist
ja auch das Resultat der Allgemeinheit, daß eine mittlere Kultur gemein werde,
dahin streben die Bibelgesellschaften, die Lancastersche Lehrmethode, und was
nicht alles.
Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende
praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre
Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten
begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir
herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer
Epoche die sobald nicht wiederkehrt. [11]

Obwohl Goethe den gesellschaftlichen Zusammenhang der öko-


nomischen, technischen und kulturellen Phänomene erkennt, ver-
fügt er über keinen einheitlichen Begriff dafür. Am häufigsten

6
spricht er vom »(19.) Jahrhundert« - der Untertitel meiner
Abhandlung übernimmt diese am wenigsten anspruchsvolle
Bezeichnung. Im Laufe der Darstellung gebrauche ich auch die
Begriffe >Kapitalismus<, >bürgerliche Gesellschaft< oder >Moderne<,
je nachdem, ob Faust II gerade die wirtschaftlichen, sozial ge-
schichtlichen oder ästhetischen Aspekte der »neuen Ära« themati-
siert. Der Versuchung, den Untertitel >Die Allegorie der Moderne<
zu wählen, habe ich widerstanden, da er unterstellen würde, es
reiche Goethes Moderne noch ungebrochen in die Gegenwart.
Aktualisierung ist kein Ziel meiner Arbeit. Daß manche der
Begriffe, die aus der Interpretation von Goethes Allegorien hervor-
gehen, noch für die Analyse der Gegenwart tauglich scheinen, liegt
an der partiellen Fortdauer der gesellschaftlichen Grundstruktu-
ren, die Goethe zu erkennen vermochte. Doch wäre es unangemes-
sen, noch heute die Erfahrungen als >modern< auszugeben, die
Goethe in der Bruchzone der bürgerlichen Revolution und der
Industrialisierung machen konnte. Für uns sind diese Erscheinun-
gen alltäglich geworden und kaum noch Gegenstand bewußter
Erfahrung. Dadurch bieten allerdings Goethes Schrecken und
Vermutungen, wie sie nur die Negativität eines »Anfangs« auslö-
sen konnte, uns die Chance, das Gewohnte in die Faszination
seines Ursprungs zurückzuverwandeln. Vielleicht wird aus solcher
Wiederkehr einer ursprünglichen Erfahrung in Bildern verständ-
lich, weshalb die ästhetische Gegenwärtigkeit eines >ursprüngli-
chen< Werks wie Faust II mit seiner geschichtlichen Entfernung
nicht schwindet, sondern zunimmt.
Goethe ließ den Zweiten Teil des Faust versiegelt zurück, weil er
annahm, daß sich sein Sinn erst späteren Generationen enthüllen
werde. [12] Das Jahrhundert, das Goethes Rätsel zu entziffern
versuchte, konnte sich nicht selbst als dessen Lösung entdecken.
Unbewußt blieben die meisten Auslegungen an die Bedingungen
gebunden, die Goethe bewußt thematisiert hatte. Leichter ver-
mochte man in irgendeinem unbestimmten >Höheren< die leitende
Idee von Faust II vermuten als in dem bestimmten >Niederen<, in
dem man selbst lebte.
Die beiden wesentlichen Besonderheiten von Faust n seine
allegorische Form und das in ihr enthaltene Bild der modernen
Gesellschaft, haben den Gang der Interpretationsversuche auch
noch im Verfolg ihres Irrwegs wechselnd geprägt. Im 19. Jahrhun-
dert war die Tradition der Allegorie durch den kaum beendeten

7
Kampf gegen sie noch so gegenwärtig, daß die allegorische Form
von Faust II von mehreren Kritikern identifiziert wurde. Ihre
Wiedererkennung lag, wie eben zu sehen war, der Vischerschen
Parodie zugrunde. Am entschiedensten genützt hat sie Christian
Hermann Weiße in seiner bereits 1837 erschienenen Kritik und
Erläuterung des Goethe'schen Faust. Das Faust II gewidmete
Kapitel überschreibt er »Deutung der Allegorieen des zweiten
Theils« [13], den er als »in sich selbst verflochtenes Gewebe der
Allegorie« begreift, »was Dichtungen solcher Art für den reflecti-
ren den Betrachter vor andern zu Gegenständen des Deutens und
Auslegens macht.« [14] Trotz vieler bestechender Einsichten im
einzelnen - ich halte das frühe und bald vergessene Buch für die
beste Arbeit über dieses Werk - mißrät Weißes Gesamtdeutung,
die er auf die Idee des »Sittlichen« festlegt; die Dichtung zeuge
»von einer hohen Stufe eigener, redlich erkämpfter Seelenreinheit
des Dichters«. [15] Ähnlich wie Vischers nachträglicher Rat an
Goethe, er hätte sich besser von männlicher »Kraft« statt von
ao invés

allegorischen Abstraktionen bei der Komposition des Zweiten


Teils leiten lassen sollen, verrät auch Weißes Rekurs auf die
private »Sittlichkeit« des Autors gerade in der Abwehr die Macht
der gesellschaftlichen Abstraktionen, denen sie nicht ins Auge zu
blicken wagten. Denn individuelle »Kraft« und »Sittlichkeit«
bezeichnen exakt jene Potenzen, deren unvermeidlichen Unter-
gang in der Moderne Faust II darstellt; nur noch als Illusionen,
welche die Erfahrung der historischen Wirklichkeit mildern, dau-
ern sie fort. Es handelt sich also bei den Fehlinterpretationen der
Faust-Kommentare, die in den Vorstellungsweisen ihrer Zeit
befangen bleiben, um notwendige Irrtümer.
Der späteren Faust lI-Philologie, die den Gehalt kaum besser zu
entschlüsseln wußte, ging sogar die Erkenntnis der allegorischen
Form der Verschlüsselung wieder verloren. Der wachsende Ein-
fluß von Goethes Symbol-Begriff auf germanistische Leitsätze ließ
es undenkbar erscheinen, daß ausgerechnet der dazu in Opposi-
tion gestellte Begriff der Allegorie Goethes letztes Werk bestimmt
haben könnte. Den monumentalen Abschluß dieses goetheanisie-
ren den Wegs, der an Goethe vorbeiführte, erbrachte Wilhelm
salvar
Emrichs Symbolik von Faust II. Wer Faust II retten wollte, durfte
nicht die verachtetste der ästhetischen Praktiken damit in Zusam-
menhang bringen. Wenn dennoch vereinzelt allegorische fraquezas
Züge
ausgemacht werden, so geschieht dies, um gewisse Schwächen des

8
Werks zu erklären und zu entschuldigen. [16] Marxistische Faust-
contornos
Interpretationen von Lukacs bis Metscher haben erste Umrisse des
sozialgeschichtlichen Gehalts sichtbar gemacht, ohne die Form zu
unicamente
bedenken, in der jener Gehalt erscheinen konnte. - Lediglich die
Faust II-Studien Max Kommerells entfalten, obgleich sie nicht auf
desdobra

Tradition und Begriff der Allegorie eingehen, implizit eine Phäno-


menologie des allegorischen Stils, der sich auch erste Andeutungen
über das historische Thema entnehmen lassen. [17] In Kommerells
Aufsätzen sehe ich daher die bedeutendste Vorarbeit zu meinem
eigenen Versuch, so sehr auch meine Darstellungsweise und
Begriffssprache davon abzuweichen scheinen.
Selbst jene Interpreten, denen die allegorische Form von Faust
II verborgen blieb und die ihn für ein tragisches, symbolisches
oder realistisches Werk hielten, behandelten ihn wie eine Allego-
rie, d. h. sie suchten den eindeutigen Sinn, der sich hinter den
Bildern finden lasse. Sobald die allegorische Form, die Faust II
durch die Begriffe »Allegorie« (5531) und »allegorisch« (10329)
signalisiert, identifiziert ist, kann dieses Auslegungsverfahren
nachträglich begründet werden (allerdings nicht seine vorliegen-
mais tarde

den Resultate). Doch darf es nun nicht mehr genügen, mit den
vorangehenden Auslegungsversuchen in Konkurrenz zu treten, um
den richtigen Sinn zu treffen. Die Allegorie in Faust II soll nicht
länger als - unbegriffenes - Medium der Erkenntnis dienen, son-
dern selbst Gegenstand der Erkenntnis werden. Dann ist es mög-
lich, den allegorischen Sinn dieses Werks durch den Modus seiner
allegorischen Form zu vermitteln. Die allegorische Interpretation,
die notwendig über die allegorische Form hinausgeht, muß auf die
Form zurückweisen, die über sich hinausweist. - Noch bei der
Rekonstruktion der historischen Erfahrung, die Goethes Allegorie
prononciert, hilft die Analyse der allegorischen Form eher weiter
als die Rekapitulation der von ihr verschlüsselten Ideenkomplexe.
Denn jenseits der allegorischen Dichtung hat die Allegorie in der
inneren Struktur der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigene Wirk-
lichkeit.

9
I.
pressupostos
VORAUSSETZUNGEN
1

GOETHE AN SCHILLER, FRANKFURT,


16. AUGUST 1797

Im August 1797 schreibt Goethe an Schiller vier Briefe aus Frank-


furt, wo er seine eben begonnene Reise in die Schweiz für einen
Monat unterbrochen hat. An diesem Ort wird ihm eine veränderte
Form seiner Gegenstandserfahrung bewußt. Von der Vielseitigkeit
des Interesses, das er an den »Gegenständen« nimmt (oder das sie
perturbação
von ihm fordern), geht eine ungewohnte Verstörung aus, »und wir
doente paz de espírito
würden uns gar übel befinden, wenn uns nicht Gemütsruhe und
Methode in diesen Fällen zu Hülfe käme. Ich will nun [... ] an
Frankfurt selbst als einer vielumfassenden Stadt meine Schemata
probieren« (9. 8.). [18] Daß Goethe so nachdrücklich an Gemüts-
ruhe, Methode und Schemata appelliert, läßt auf eine unmittel-
bare Erfahrung schließen, die sich von seinen vorgefaßten Begrif-
fen entfernt hat.
Verstörend mag bereits die Beobachtung gewirkt haben, die
Goethe als erste mitteilt: »Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen,
wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen
ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und
Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, läßt sich weder
hervorbringen noch mitteilen [... ]. Ich glaube sogar eine Art von
Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens insofern sie
poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen
ganz natürlich vorkommt« (ebd.). [19] Schillers Antwortbrief vom
17.8. geht sogleich auf dieses Thema ein: »Die Vorstellung,
welche Sie mir von Frankfurt und großen Städten überhaupt

13
reconfortante
geben, ist nicht tröstlich, weder für den Poeten, noch für den
brilha
Philosophen, aber ihre Wahrheit leuchtet ein.« Er jedoch hält es
für möglich, die eingestandene Disproportion zwischen dem Wei-
marer Poesiebegriff und der gesellschaftlichen Wirklichkeit der
»großen Städte« durch eine entschiedene Trennung beider Sphä-
ren wenn nicht aufzulösen, so doch auszuhalten: "es bestärkt
einen auf dem eingeschlagenen guten Weg und schneidet jede
Versuchung ab, die Poesie zu etwas Äußerm zu gebrauchen.«
Anders als Schiller vermag Goethe sich mit dem abstrakten
Gegensatz von »Poesie« und »Äußerm« vazia
nicht abzufinden. Denn
die »Poesie« muß ja, will sie nicht leer bleiben, das ihr »Äußere«
als ihren Gegenstand anerkennen. üb und wie die Empirie des
»großen Stadtlebens« poetisch darstellbar sei, ist deshalb die
aufdringliche Frage, die Goethe von seinem bisherigen Werk
teilweise nur beantwortet sieht: »Hätte ich nicht an meinem
Hermann und Dorothea ein Beispiel, daß die modernen Gegen-
stände, in einem gewissen Sinne genommen, sich zum Epischen
confortável
bequemten, so möchte ich von aller dieser empirischen Breite
nichts mehr wissen« (12. 8.) Nur »in einem gewissen Sinne
genommen« gestatten die »modernen Gegenstände« den klassi-
schen Rückgriff auf ursprünglich antike, scheinbar autonome
Darstellungsformen. Könnte tatsächlich ein zum Idyllischen einge-
schränktes Epos wie Hermann und Dorothea noch den passenden
Rahmen für die »empirische Breite« von Goethes Frankfurter
Erfahrungen abgeben? Daß er - in zögernder Vorwegnahme von
Schillers eilfertiger Scheidung - erwägt, auf eigene Empirie zugun-
sten seines Poesiekonzepts zu verzichten, macht das Ausmaß der
Verlegenheit erst recht sichtbar.
Goethes Unmut über das offensichtliche Mißverhältnis zwi-
schen klassischer Poesie und moderner Welt erreicht im Brief vom
16.117. August einen krisenhaften Höhepunkt, der jedoch durch
die begriffliche Reflexion halb verdeckt, durch das hypothetische
Modell einer neuen ästhetischen Lösung halb überwunden
scheint. Da dieser berühmte Brief die Genese und eine erste
Definition des Symbolbegriffs enthält, hat die um ihn zentrierte
Goethe-Philologie die Lösung dankbar akzeptiert und zitiert, ohne
sich um ihre sachlichen Zweideutigkeiten und ihre historischen
Schwierigkeiten weiter zu bekümmern. Meine Rekonstruktion
dieses Briefes aus Goethes ,klassischer Periode< hat das doppelte
Ziel, das innere Scheitern der klassischen Ästhetik nachzuweisen

14
und daraus Goethes späteren, verspäteten Übergang zu nicht-
klassischen Kunstformen verständlich zu machen. >Rekonstruk-
tion< bedeutet hier: die immanente Logik des von Goethe vorge-
brachten Sachverhalts gegen die falschen, ja gefälschten Schlüsse
zu verwahren, die er mit diesem Sachverhalt begründet und durch
die er sich eben diesem Sachverhalt entzieht. >Rekonstruktion<
muß demnach auch heißen: historisches Verstehen gegen das
Selbstmißverständnis des Autors ins Recht zu setzen. Der Nach-
weis, daß ein Bruch zwischen Goethes
Lida
Erfahrung und seinem
proposta
Vorschlag zu ihrer ästhetischen Bewältigung besteht, ist nur zu
führen, wenn die historische Hermeneutik über die philologische
Explikation hinausgeht. Freilich müssen die Bedingungen und
Konsequenzen des Textes, die hinter ihm wirksam sind, am Ende
selber philologische Evidenz gewinnen. Erst dann ist das ange-
wandte Verfahren gerechtfertigt.
Der neue »Gedanke«, den Goethe Schiller »sogleich mitteilen
will«, geht von »gewissen Gegenständen« aus, die jedoch erst
gegen Ende des Briefes, nach langwierigen theoretischen Vorüber-
legungen und Absicherungen beschrieben werden. Da diese
Gegenstände den Ursprung von Goethes Reflexion bilden, ist es
angemessen, sie an den Anfang der Untersuchung zu stellen:
Bis jetzt habe ich nur zwei solcher Gegenstände gefunden: den Platz, auf dem ich
wohne, der in Absicht seiner Lage und alles dessen, was darauf vorgeht, in einem
jeden Momente symbolisch ist, und den Raum meines großväterlichen Hauses,
limitado
Hofes und Gartens, der aus dem beschränktesten, patriarchalischen Zustande,
in welchem ein alter Schultheiß von Frankfurt lebte, durch klug unternehmende
Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert wurde. Die
Anstalt ging durch sonderbare Zufälle bei dem Bombardement zugrunde und ist
jetzt, größtenteils als Schutthaufen, noch immer das Doppelte dessen wert, was
vor elf Jahren von den gegenwärtigen Besitzern an die Meinigen bezahlt worden.
Insofern sich nun denken läßt, daß das Ganze wieder von einem neuen Unter-
nehmer gekauft und hergestellt werde, so sehn Sie leicht, daß es, in mehr als
Einem Sinne, als Symbol vieler tausend andern Fälle, in dieser gewerbreichen
Stadt, besonders vor meinem Anschauen, dastehen muß.

Der "Platz«, auf dem Goethe bei seiner Mutter wohnt, ist der
Roßmarkt mit dem Blick zur Zeil, das wirtschaftliche Zentrum
also des neuzeitlichen, außerhalb der mittelalterlichen Stadtmau-
ern entstandenen Frankfurt. Wie hier interessiert Goethe auch am
Haus des Großvaters Textor zuerst die ökonomische Struktur,
d. h. die Veränderung der wirtschaftlichen Funktionen in den
letzten Jahrzehnten. Goethes theoretische Perspektive und der

15
reale ökonomische Prozeß pátio
stimmen darin überein, daß sie aus dem
konkreten »Haus, Hof und Garten« einen abstrakten »Raum«
gemacht haben. Unter solchen Gesichtspunkten höherer Gleich-
Indiferença
gültigkeit betrachtet, kann das zerstörte Haus gegen den Augen-
schein »das Doppelte dessen wert« sein, was es in der früheren,
brauchbaren Gestalt wert gewesen war. In jenem »patriarchali-
schen Zustande, in welchem ein alter Schultheiß von Frankfurt
lebte«, war der Tauschwert des Anwesens noch hinter dem
propriedade
valor de uso
Gebrauchswert verborgen geblieben; es diente zum Wohnen. Nun
mercadoria
hat man es zum »Waren- und Marktplatz verändert«, und damit
ist an ihm selbst der Warencharakter hervorgetreten. Beispielhaft
vollzieht sich hier die Auflösung des >ganzen<, d. h. Leben und
Wirtschaft vereinenden Hauses, ein Prozeß, in dem die alteuropäi-
sche Ökonomie dem modernen Marktprinzip weicht. [20] Bereit-
willig versetzt sich Goethes Brief in die Interessen und Perspekti-
ven der »Frankfurter Bankiers, Handelsleute, Agioteurs, Krämer,
Juden, Spieler und Unternehmer« (12. 8.). Sogar seine Metapho-
rik versucht er der neuen Ökonomie anzupassen: er hofft, daß das
Gesehene und Erkannte »in der ganzen Masse meiner Kenntnisse
mitzählt und das Kapital vermehren hilft«; noch am Ende des
Briefes erwägt er, ob bei dieser Empirie» Vorteil zu suchen« sei.
Offensichtlich möchte Goethe ein Wissenskapital sammeln, in der
Erkenntnis ein Komplement zum Besitz gewinnen.
Während der angestrengte Optimismus des Briefes die »klug
unternehmenden Menschen« als Urheber jener Veränderungen
würdigt, heißt es in den gleichzeitigen Reisenotizen lakonisch:
»Der Frankfurter, bei dem alles Ware ist, sollte sein Haus niemals
anders als Ware betrachten.« [21] Der historische Prozeß, in des-
sen Verlauf Frankfurt zur Finanz- und Handelsmetropole
Deutschlands wurde, prägt auch die Lebensbedingungen und
Lebensformen der Individuen. [22] Diesen Prozeß haben die Aus-
acelerou
wirkungen der Französischen Revolution beschleunigt; an sie
erinnert im Brief das »Bombardement« der französischen Trup-
pen, das der Einnahme Frankfurts 1796 vorausgegangen war. Es
destruição
ist kein Zufall, daß das Paradox von konkreter Vernichtung und
valorização
abstrakter Wertsteigerung beim Textorschen Hause im Zeichen
der Revolutionskriege steht. In dem am selben Tag (17.8.)
geschriebenen Brief an Karl August Böttiger formuliert Goethe
den Zusammenhang allgemeiner: »So sieht man auch die französi-
sche Revolution und ihre Wirkungen hier viel näher und unmittel-

16
barer, weil sie so große und wichtige Folgen auch für diese Stadt
mais limitada
gehabt hat.« [23] Indem sie den »beschränktesten patriarchali-
schen Zustand« der Zunftvorschriften, der Standesrechte, der
patrizischen Regierung zerstörte, ermöglichte sie erst die uneinge-
vigência
schränkte Geltung des Wertgesetzes (einschließlich seiner spekula-
tiven Extreme) [24], bildete sie die Reichsstadt zum »nützlichsten
Waren- und Marktplatz« um.
In den exponierten Gegenständen trifft Goethe demnach eben
die gesellschaftlichen Verhältnisse an, die er für die Poesiefeind-
constante tontura/frenesi adquirir
lichkeit des »in einem beständigen Taumel von Erwerben und
consumir
Verzehren« begriffenen Frankfurter Publikums verantwortlich
surpreender
gemacht hatte. Es muß verblüffen, daß er nun gerade in solchen
Gegenständen eine Chance für die Poesie entdecken möchte. Im
Begriff des »Symbolischen« versucht er eine Rettung der bedroh-
ameaça
ten Poesie genau am Ort ihrer Bedrohung. Um die prekäre Ver-
justificar
mittlung zwischen Wirklichkeit und Poesie im Symbol zu rechtfer-
tigen, soll bereits die >symbolische< Erfahrung des Gegenstands
den Widerspruch vermitteln: »Möchte nicht also hier selbst poeti-
humor
sche Stimmung sein? bei einem Gegenstande, der nicht ganz
poetisch ist, wodurch ein gewisser Mittelzustand hervorgebracht
wird.« Wie sind diese Paradoxien zu verstehen, wie sind sie
reluz
entstanden, wie aufzulösen? - Am ehesten leuchtet ein, daß der
tradicional
Gegenstand »nicht ganz poetisch ist«. Im Inventar der überliefer-
ten Poesie wird er nicht zu finden sein. (Unter der Rubrik vanitas
wäre ein zerstörtes Haus wohl unterzubringen, keines aber, das
durch die Zerstörung seinen Wert verdoppelt hat.) Daß das öko-
reivindicações
nomische Thema mit den traditionellen Ansprüchen der Poesie
schwer zu vereinbaren sei, wird der Adressat Schiller wiederholt
flagrante
aussprechen: hier liegt ein eklatantes Beispiel für seinen Gegensatz
zwischen der »modernen gemeinen Welt« und der »alten poeti-
reluta
schen« vor, etwas, das »der Poesie widerstrebt«. [25] - »Nicht
ganz so poetisch« heißt aber auch: bis zu einem gewissen Maß
doch poetisch. Goethe nennt zwei miteinander verschränkte
Bedingungen für poetische Valenzen in einem halbpoetischen
natureza
Gegenstand: 1. seine »symbolische« Beschaffenheit; 2. die der
causa/gera
»poetischen Stimmung« analoge Empfindung, die er hervorruft.
humor

Beide Begründungen müssen expliziert und - in einem Verfahren


immanenter Kritik - an den von Goethe bezeichneten Gegenstän-
den überprüft werden.
características
Welche Eigenschaften müssen bestimmte Gegenstände besitzen,

17
damit ihnen - wie dem Roßmarkt oder dem großväterlichen Haus
- das Prädikat »symbolisch« zusteht? »Es sind eminente Fälle, die,
in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten
von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schlie-
ßen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in mei-
nem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine
reivindicação
gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen.« Unschwer sind in
dieser Definition leitende Vorstellungen aus der ästhetischen Dis-
kussion des 18. Jahrhunderts wiederzuerkennen: charakteristisch,
Mannigfaltigkeit, Totalität, Ähnliches und Fremdes, Einheit und
contexto de validade
Allheit. [26] Ihr ursprünglicher Geltungsbereich ist das Kunst-
werk, dessen autonomem Charakter vor allem Winckelmann mit
garantiu suspeito(a)
Hilfe dieser Ideen gesichert hatte. In einer verdächtigen, problema-
tischen Wendung spricht Goethe hier jedoch die ästhetischen
Momente, die von Hause aus dem Kunstwerk eignen, dem Gegen-
stand selber zu, der dem Kunstwerk vorausliegen soll. Demnach
sind Goethes symbolische Gegenstände den ästhetischen analog,
wenngleich mit ihnen nicht identisch, »also, was ein glückliches
Sujet dem Dichter ist, glückliche Gegenstände für den Menschen«.
excelência
Zwar hatte schon Winckelmann die Vortrefflichkeit der griechi-
benefícios
schen Kunst von den Vorzügen der griechischen Wirklichkeit
hergeleitet, die schöne Plastik vom schönen Menschen, aber sein
Jahrhundert konnte die Ferne der geschichtlichen Antike und die
embaçar
Idee der antiken Kunst ineinander verschwimmen lassen, da die
historische Kontrolle erschwert war, während Goethes »eminen-
ter Fall« durch seine aufdringliche Aktualität die Überprüfung an
revisão

der vorästhetischen Wirklichkeit geradezu herausfordert. Mit wel-


exibidos
chem Recht kann der von Goethe vorgezeigte Gegenstand »sym-
bolisch« genannt werden?
Drei wesentliche Bestimmungen der symbolischen Gegenstände
gibt der Frankfurter Brief: 1. sie liegen sinnlich »vor meinem
encerram
Anschauen«; 2. sie schließen »eine gewisse Totalität in sich«
(oder: »Einheit und Allheit«); 3. sie sind »Repräsentanten von
vielen andern« (oder: »Symbol vieler tausend andern Fälle«). Ich
provar
möchte nun nachweisen, daß sich keine dieser Bestimmungen mit
"é compatível"
Goethes Frankfurter Erfahrung verträgt.
insiste em geral
1. Goethe beharrt, wie generell in seinem Symbolbegriff, auf der
Unmittelbarkeit der sinnlichen Anschauung - was aber hier wider-
monte de escombros
sinnig ist: daß ein »Schutthaufen« doppelt so viel wert ist wie »vor
elf Jahren« ein vollständiges Haus, kann nur gegen alle Anschau-

18
ung richtig sein. Die Erkenntnis der ökonomischen Wertsteige-
rung des - nach dem Urteil der Sinne: wertlosen - Gegenstandes
basiert auf Information, Wissen, Überlegung, nicht jedoch auf
dem »Anschauen«. Gestalt und esforço
Wert des Hauses decken sich
nicht. Erst die theoretische Anstrengung läßt die neue Bedeutung
destacar
des Gegenstandes hervortreten; sie ist nicht am sichtbaren Objekt
quadro
unmittelbar zu entdecken, sondern nur im Rahmen des gesell-
schaftlichen Verhältnisses, in dem sein Tauschwert realisiert wird.
Auf zweifache Weise ist der sinnliche Zusammenhang des Hauses
vernichtet: durch das militärische Bombardement und durch die
ökonomische Spekulation. Allgemeine, abstrakte Potenzen haben
sich des konkreten Dings bemächtigt und seine Gegenständlich-
keit aufgezehrt, so daß auch seine adäquate Erkenntnis die Fähig-
keit zur Verallgemeinerung und Abstraktion verlangt, wie sie eben
Goethes wohlunterrichtete Reflexion belegt.
2. Damit wird Goethes zweite These, daß dieser symbolische
Gegenstand Totalität, Einheit und Allheit »in sich« schließe,
fragwürdig. Denn aus sich heraus wäre er nicht einmal verständ-
lich; erst das Zusammenwirken von äußeren, überlegenen politi-
schen und wirtschaftlichen Bedingungen erklärt, weshalb er als
»Waren- und Marktplatz« für eine Waren- und Marktgesellschaft
(»in dieser gewerbreichen Stadt«) nützlich werden kann. Er ist
also von einer Totalität ergriffen, die außer ihm, in unsinnlicher
Form existiert und deren wirkliches Wesen nicht anders als durch
eine letzte Abstraktion zutreffend bezeichnet werden kann: als
Logik des Kapitals. In der Tat trifft Goethe in Frankfurt auf
»eminente Fälle« dieses fortgeschrittenen Kapitalisierungsprozes-
ses, aber ihre Eminenz ist am Maßstab des allgemeinen Prozesses
abzulesen, nicht an der Besonderheit des Falles selbst.
3. Von daher möchte es zunächst richtig scheinen, wenn Goethe
dem Fall repräsentativen Charakter zuspricht. Doch es liegt ein
doppelter Irrtum vor. Der erste besteht darin, daß dieser Fall
lediglich »tausend andere Fälle«, also wiederum konkrete Gegen-
stände von gleicher Art repräsentiere, nicht die allgemeine und
reale Abstraktion, welche die Gegenstände beherrscht und sie
überhaupt erst zu »Fällen« macht. So bleibt in der Goetheschen
Darstellung der eigentliche Grund des repräsentativen Verhältnis-
ses ohne Repräsentation. - Der zweite Irrtum ist implizit zu
erschließen (in den späteren Äußerungen zum Symbol begriff wird
er expliziert): Goethe vermeint in den symbolischen Gegenständen

19
»tausend andere Fälle« repräsentiert, die sich jederzeit und überall
ereignet haben und ereignen werden. Ihnen komme Wiederholbar-
keit und damit im Prinzip dauernde Gültigkeit nach dem Modell
der Natur zu. Aber bei der Umwandlung des patriarchalisch
beschränkten Anwesens in einen »Waren- und Marktplatz« han-
delt es sich um einen einmaligen, bestimmten, irreversiblen Vor-
gang; er ereignet sich an der Grenze zweier historischer Epochen.
Er kann nicht rechtens in die Zeitlosigkeit eines Symbols von
immer gleicher Bedeutung übergeführt werden. Das wahre Sub-
jekt der Repräsentation ist nicht die gleichbleibende Natur, son-
dern die veränderbare und verändernde Gesellschaft des bürgerli-
chen Zeitalters.
Bislang haben die Interpreten die inneren Widersprüche, die
sich am Ursprung von Goethes Symbol begriff auftun, nicht
bemerkt,
natureza
da sie - zweifellos gegen den Rat Goethes - die besondere
sério
Beschaffenheit des bestimmten Gegenstandes nicht ernst nahmen,
vielmehr das Goethesche Symbol von einem unbestimmten, am
liebsten in Pflanzengestalt gedachten Gegenstand ausgehen lie-
ßen. [27] Bereits Schillers Antwort vom 7. September 1797 insi-
stiert unverständig auf der Gleichgültigkeit des Gegenstandes:
»Sie drücken sich so aus, als wenn es hier sehr auf den Gegenstand
dependia
ankäme, was ich nicht zugeben kann. [... ] Was Ihnen die zwei
angeführten Plätze gewesen sind, würde Ihnen unter andern
circunstâncias
Umständen, bei einer mehr aufgeschlossenen poetischen Stim-
mung jede Straße, Brücke, jedes Schiff, ein Pflug oder irgend ein
anderes mechanisches Werkzeug vielleicht geleistet haben.«
ferramenta

Immerhin halten Schillers ablenkende Beispiele noch den techni-


schen, den produzierten und produktiven Charakter der Gegen-
stände fest, ihren Unterschied zu bloßer Natur. Aber er spricht
ferramentas
lediglich von dinglichen »Werkzeugen«, die er überdies zu archai-
simplicidade
scher Schlichtheit und Dauerhaftigkeit vereinfacht (Straße,
Brücke, Schiff, Pflug), wodurch die komplexe soziale und histori-
sche Dimension im Ensemble der Frankfurter Gegenstände verlo-
ren geht. [28] Denn »die zwei angeführten Plätze« sind nicht
objetivações (reificações)
gewöhnliche Dinge, sondern Vergegenständlichungen eines spe-
ziellen gesellschaftlichen Verhältnisses.
Folgenreicher jedoch ist, daß auch Goethe selbst in der später
entwickelten poetischen Theorie und Praxis diesen konkreten
Anfang einer neuen Einsicht vergessen und ausgelöscht hat. Erste
sinais validade
Anzeichen dieses arrangierten Vergessens, auf dem die Geltung

20
baseia-se
des klassizistischen Kunstbegriffs beruht, treten schon während
estadia benefício
des Frankfurter Aufenthalts auf. Da ihm der poetische Nutzen
seiner neuartigen Reiseerfahrungen zweifelhaft ist (»was sich aus
der rohen Erfahrung in der Folgezeit noch als wahrer Gehalt
consequente
contempla/considera
aussondert«), erwägt er deren folgenlose Aufhebung und eine
Rückkehr zur literarischen Produktion, die von der Geschichte
afetada nego
nicht weiter betroffen wäre: »Bei allem dem leugne ich nicht, daß
mich mehrmals eine Sehnsucht nach dem Saalgrunde wieder
anseio
retorne
anwandelt, und würde ich heute dahin versetzt, so würde ich
qualquer retrospecto
gleich, ohne irgend einen Rückblick, etwa meinen Faust oder sonst
ein poetisches Werk anfangen können« (22. 8.). [29] Die Weima-
separação
raner Trennung von klassischer Poesie und moderner Erfahrung,
die sich hier ankündigt, wird Goethe auf eine Symboltheorie
apoia
stützen, die sich von ihrem ursprünglichen Gegenstand entfernen
sacrifica
mußte, weil sie mit ihm inkompatibel gewesen war. Goethe opfert quebradiça
resgatar
den Gegenstand, um das Symbol zu retten - so fällt die brüchige
Konstruktion des »symbolischen Gegenstands« auseinander.
Ersatzweise wird dann der abgelöste Symbol begriff mit anderem,
gesellschaftlich und historisch neutralem Material aufgefüllt; dies
ist der Zweck der von da ab forcierten naturwissenschaftlichen
Studien. Die Naturidolatrie, welche auch die Dichtung der bei den
nächsten Jahrzehnte beherrschen wird, geht konsequent aus den
falschen Folgerungen hervor, die Goethe aus den Erfahrungen von
1797 gezogen hat. Wenn es die Intention der Wahlverwandtschaf-
ten ist, »soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben symbo-
voluntário
lisch gefaßt darzustellen« [30], so meint - wie aus der Selbstan-
zeige des Romans hervorgeht - »symbolisch« die Thematisierung
der Gesellschaft nach den Ideen der »Naturlehre«, da »doch
überall nur eine Natur ist«. [31] Jene bekannte Maxime, »man
suche nur nichts hinter den Phänomenen«, beruft sich auf das
»Grundgesetz der Chromatik« [32] und ist doch in geheimer
Opposition gegen jene Phänomene gesprochen, hinter denen ein
gesellschaftliches Grundgesetz als ihre Ursache zu suchen wäre.
Vollends verkehrt die Literatur über Goethe das mißglückte
Folgeverhältnis von gesellschaftlicher Erfahrung und naturhafter
Symbolik. Sie erklärt den Symbolbegriff, der angeblich in der
Naturanschauungfundiert sei, zur organischen Voraussetzung für
die Erkenntnis der sozialen Sphäre, die im Spätwerk doch noch
insuspeita
eine unvermutete Darstellung findet: »durch das Studium in Bota-
nik, Osteologie, Farbenlehre, Geologie und Meteorologie erwach-

21
sen ihm [Goethe] Einsichten in die Bildungsweise der Natur, die
sich ihm allmählich zu allgemeinen Denkformen zusammenschlie-
ßen; sie helfen ihm auch andere Bereiche und schließlich den
ganzen Bereich des Menschen im Sozialen, Politisch-Geschichtli-
chen, Psychologischen und Künstlerischen deuten.« [33] Der Brief
prova o contrário
von 16. August 1797 beweist das Gegenteil; exakt vom »Sozialen,
Politisch-Geschichtlichen, Psychologischen und Künstlerischen«
nimmt die symbolische Denkform ihren Ausgang, und erst nach
der scheiternden Interpretation der ursprünglichen Erfahrung
wird »die Bildungsweise der Natur« zur allbeherrschenden Idee.
"todo-inclusiva"

Aus dieser Diskrepanz entsteht eine Verzweigung, die Goethes


Werk periodisiert: die Regentschaft einer Symboltheorie ohne
diverge
gesellschaftlichen Inhalt weicht erst spät der verstandesklaren
Form der Allegorie, die endlich die 1797 umschriebene gesell-
schaftliche Erfahrung für die Dichtung rettet. Sie zu erfassen,
mußte die von Goethe definierte »wahre Symbolik« untauglich
sein, »wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert [... ] als
lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen«. [34]
Denn die Frankfurter Gegenstände waren durch den Verstand und
waren nur durch den Verstand zu begreifen, ohne einen Rest des
»Unerforschlichen«; denn in ihnen war die unerforschliche Natur
untergegangen und in Produkte menschlicher Kalkulation aufge-
gangen. Die Aufgabe, die das Thema >Lebensformen im Zeitalter
des modernen Kapitalismus< der literarischen Produktion stellte,
lautete nicht »Offenbarung des Unerforschlichen«, sondern »wohl
bewußte und wissende Poesie des Unsichtbaren«, wie Friedrich
Schlegel die Leistung der Allegorie umschreibt. [35]
Diese letzte Wendung ist im Brief vom 16. August als objektive
Möglichkeit und als subjektive Erwägung angelegt. So eindeutig
Goethes anschließende Kunsttheorie durch die Oppositionen von
Symbol und Allegorie, Leben und Verstand, Natur und Gesell-
schaft geprägt ist, so zweideutig sind 1797 die Erfahrungen und
Überlegungen zu diesen Alternativen formuliert. Fragend und
hypothetisch beginnt der Brief, der später als dogmatische
atestado
Urkunde mißverstanden wurde: »Ich bin auf einen Gedanken
gekommen, den ich Ihnen, weil er für meine übrige Reise bedeu-
tend werden kann, sogleich mitteilen will, um Ihre Meinung zu
vernehmen, inwiefern er richtig sein möchte? und inwiefern ich
wohl tue, mich seiner Leitung zu überlassen?« Goethe ist ent-
schlossen, seine gegenständliche Erfahrung diskursiv auf dem von

22
Schillers ästhetischen Schriften geforderten begrifflichen Niveau
zu halten. Bereits die Anlage des Briefs verrät, daß ein theoreti-
de acordo
sches Interesse vorherrscht. Gemäß den Goetheschen Definitionen
müßte man das Verhältnis der umrahmenden Begriffe zur gegen-
enquadramento

ständlichen Erscheinung allegorisch, nicht symbolisch nennen.


Wenn nach seinen Worten die »Allegorie« entsteht, »wo das
Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt« [36],
so würde hier die »Leitung« durch den »Gedanken« eine virtuelle
linha/fio

Allegorie produzieren, sobald Gehalt und Sinnlichkeit des Briefs in


die Form der Poesie hinübertreten sollten. (Eben dieser Schauder
vor der naheliegenden Allegorie bewegt Goethe zu dem prohibiti-
ven Urteil, seinem Gegenstand die Prädikate »ganz poetisch« und
»glückliches Sujet dem Dichter« abzusprechen.)
Während der folgenreiche Begriff des Symbolischen unvermu-
tet, unsicher und fast gewaltsam eingeführt wird (» ... und zu
meiner Verwunderung bemerkt, daß sie eigentlich symbolisch
poder
sind«), liegt die schärfere gedankliche Leistung des Briefs in den
Momenten, die der scheinbaren Lösung vorangehen und gegen sie
resistent bleiben: 1. in der Erkenntriis, daß das >Poetische< durch
complica
diesen besonderen Gegenstand erschwert, wenn nicht negiert
liberação
werde; 2. in der Freisetzung einer ebenso ungegenständlichen wie
unpoetischen Reflexion. Daß es nicht gelingen will, dem Gegen-
stand eine poetische Form zu geben - »was ihm doch sonst mit
jedem Gegenstande gelungen war, der ihn fesselte, so wie ihn
umgekehrt kein Gegenstand gefesselt hatte, mit dem ihm dieß
nicht gelingen konnte« [37] -, dieser defiziente Modus ist der
Anfang der theoretischen Neugierde.
Schillers Antwort vom 7.9. bringt Goethes Problem auf die
knappste Formel: eine »poetische Foderung, ohne eine rein poeti-
sche Stimmung und ohne einen poetischen Gegenstand, scheint Ihr
Fall gewesen zu sein« - also ein Fall aus der »allgemeinen
Geschichte der sentimentalischen Empfindungsweise«. Von
Anfang an hatte Goethe den Schillerschen Sprachgebrauch respek-
tiert und ihm »die Rechenschaft, die ich mir von gewissen Gegen-
ständen gab,« als eine »Art von Sentimentalität« vorgestellt. Dem
Schema von Schillers Abhandlung aber naive und sentimentali-
sche Dichtung (1795-96) verpflichtet, interpretiert Goethe seine
neue Erfahrung als Übergang von der naiven zur sentimentali-
schen Empfindungsweise. Vom naiven Dichter hatte Schiller
gesagt, er wirke »kalt«: »Die trockene Wahrheit, womit er den
seca

23
Gegenstand behandelt, erscheint nicht selten als Unempfindlich-
keit. Das Objekt besitzt ihn gänzlich.« [38] Darauf anspielend
resümiert Goethe, er sei bisher den » ruhigen und kalten Weg des
Beobachtens, ja des bloßen Sehens« gegangen, ehe die unerwarte-
ten Gegenstände in Frankfurt eine »scheinbare Sentimentalität«
auslösten. Ebenso entspricht deren Analyse Schillers Bestimmung
des »sentimentalischen Dichters«: » Dieser reflektirt über den
Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen und nur auf jene
Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird,
und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen,
und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische
Kraft.« [39]
Was Goethe eine »Art von Sentimentalität« erklärlich macht, ist
demnach das unvermeidliche Übergewicht der Reflexion bei der
angemessenen Behandlung seines Gegenstands, das »Bewußtsein
seiner eignen Besonnenheit« (12.8.). Während die »Rechen-
schaft« feststellt, was die Gegenstände sind, bemerkt die »Senti-
mentalität«, was ihnen (ehlt.
Indem Goethe - entgegen Schillers früherem Angebot, sich mit
dem »Naiven« zu identizifieren - jetzt den Begriff des »Sentimenta-
lischen« probeweise übernimmt, versucht er, die spezifische
Modernität der Frankfurter Erfahrung zu fassen. Die Moderne,
die Schiller in ihrer ästhetischen Erscheinung »sentimentalisch«
nannte, sieht Goethe in einem bestimmten gegenständlichen Cha-
rakter begründet, der sich ihm als großstädtische Moderne kon-
kretisiert. Selbst Schiller erwägt nun - anders als in seiner Abhand-
lung, die auf die Idee ästhetischer Autonomie baute - die Besonder-
heit des Gegenstands als Bedingung des »Sentimentalen«: es sei
»ein Effekt des poetischen Strebens, welches, sei es aus Gründen,
die in dem Gegenstand, oder solchen, die in dem Gemüt liegen,
nicht ganz erfüllt wird« (7.9.). Bereits in einem vorangegangenen
Brief (vom 17.8.) hatte er aus Goethes Bericht geschlossen, daß
die »Frankfurter empirische Welt« nur »den nackten leeren
Gegenstand ohne Empfindung« biete und daher einen Grund zur
Reflexion, doch kaum einen zur Poesie gebe. Auch Goethes Brief
hält die Disproportion von Reflexion und Poesie im symbolischen
Gegenstand stets bewußt. Im Gegensatz zu einer späteren Ver-
schiebung und Verklärung ist hier das >Symbolische< nicht die
innere Grundlage von Poesie, sondern ihr äußeres Hindernis. Dem
>symbolischen< Gegenstand, wie er III Frankfurt in Erscheinung

24
getreten ist, könne man »keine poetische Form geben«, lediglich
eine »ideale [... ], eine menschliche im höheren Sinn, das man auch
mit einem so sehr mißbrauchten Ausdruck sentimental nannte«.
Werden sie in einen Gegensatz zur »poetischen Form« gebracht,
so verweisen die Ausdrücke »sentimental«, »menschlich« und
»ideal« eher auf begrifflich vermittelte als auf anschaulich unmit-
telbare Momente im »Symbolischen«.
Wesentlich ist für die Bedeutung der Gegenstände, mit denen
Goethe in Frankfurt konfrontiert wurde, daß sie eine historische
Veränderung anzeigen. Unterschied wie Zusammenhang von Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft erschließen sich erst durch
das Gedächtnis. Es ordnet die verschiedenen Zustände des verän-
derten Gegenstands nach der Anschauungsform der Zeit. »Bei
diesem Fall kommt denn freilich eine liebevolle Erinnerung dazu«,
vermerkt Goethe nicht zufällig. Was nicht sinnlich gegenwärtig
ist, gehört dennoch zum Wesen der Sache - was am ehemaligen
Textorsehen Anwesen als Gegensatz von scheinhaftem sinnlichen
Wertverfall und wesentlicher abstrakter Wertsteigerung zu erken-
nen war. Demnach ist es eine Leistung der zurück- und voraus-
blickenden Reflexion, die den Gegenstand »symbolisch« werden
läßt (das Wort »symbolisch« immer im Sinne des Briefs, nicht der
späteren Programmatik gebraucht). Sie konstituiert die theoreti-
sche Einheit des Gegenstands gegen die Mannigfaltigkeit seiner
sinnlichen Erscheinungsweisen (hier: Großvaters Haus, Schutt-
haufen, Waren- und Marktplatz). Der Gegenstand liegt anders vor
Augen und anders im Bewußtsein. Das Sichtbare - was er zu sein
scheint - ist vom Unsichtbaren her - was er war, was er sein kann,
was er also wesentlich ist - zu begreifen. Das einzelne sinnliche
Phänomen erweist sich als Teil und Stufe eines abstrakten Kom-
plexes.
In der» Vorstellung unsichtbarer, vergangen er und zukünftiger
Dinge« [40] hat Winckelmann die eigentümliche Leistung der
Allegorie gesehen. Erst im Spätwerk kommt Goethe auf Winckel- pinturas
manns Einsicht zurück; in den Wanderjahren heißt es von Gemäl-
den, welche die nachbiblische, profane Geschichte der jüdischen
Nation festhalten: »Ihre nachherigen Schicksale waren auf eine
kluge Weise allegorisch vorgestellt, da eine historische, eine reale
Darstellung derselben außer den Grenzen der edlen Kunst
liegt.« [41] Dabei fällt die thematische Verwandtschaft mit der
Frankfurter Aufgabe auf: wie die Geschichte des Textorsehen

25
Hauses ist die der neuzeitlichen Juden entschieden ökonomisch
orientiert. Diese liegt hier »außer den Grenzen der edlen Kunst«
wie jene dort» nicht ganz poetisch« sein konnte. 1797 war Goethe
weder dazu bereit, die »Grenzen der edlen Kunst«, zu überschrei-
ten, noch der Gegenstand dazu geeignet, sich innerhalb dieser
Grenzen darstellen zu lassen. Im schwankenden »Mittelzustand «
von Poesie und Nicht-Poesie, den der Brief mehrfach umspielt, ist
die geheime Möglichkeit der Allegorie vorgezeichnet. Sie allein
wüßte eine Antwort auf die Frage: »Möchte nicht also hier selbst
poetische Stimmung sein?« - wäre nicht die ebenso beruhigende
wie falsche Antwort des >Symbols( schon zur Stelle. Einen Monat
nach diesem Brief, im Entwurf Über die Gegenstände der bilden-
den Kunst, überträgt Goethe seinen neuen Begriff des Symbols auf
Kunstwerke und grenzt ihn erstmals ausdrücklich von der Allego-
rie ab. [42] Daß von da ab Goethe das Symbol mit Vorliebe durch
die Dichotomie zur Allegorie zu bestimmen versucht, macht im
nachhinein die Allegorie als verworfene Alternative am Ursprung
rejeitada

des Symbol-Konzepts manifest. Gerade weil sich die Idee der


Allegorie aufgedrängt haben mag, mußte die Polemik sie so lange
verfolgen.
Mit dem Begriff des Symbols vermochte Goethe die Weimarer
Kunstanschauung fürs erste noch einmal zu retten, doch um den
Preis eben des Gegenstands, den er zunächst zum exemplarisch
»symbolischen« erklärt hatte. Dieser Gegenstand verweist auf eine
geschichtliche und ästhetische Moderne, welche die von Goethe,
mehr noch von Schiller aufgerichteten Schranken der klassischen
Poetik durchbrochen hätte. Was wäre dagegen der Allegorie,
deren Chance sich in den Fluchtlinien des Briefs vom 16. August
1797 abzeichnet, möglich gewesen? Daß sie nahelag, geht aus
Goethes Antwort auf die Frage hervor, wann »eine sentimentale
Erscheinung [... ] unerträglich« sei: »wenn das Ideale unmittelbar
mit dem Gemeinen verbunden wird, es kann dies nur durch eine
leere, gehalt- und formlose Manier geschehen«. Sowohl die inhalt-
liche Bestimmung (Verbindung des Idealen mit dem Gemeinen)
wie die formale (»leere, gehalt- und formlose Manier«) stammen,
wie noch zu sehen sein wird, aus dem Arsenal der Allegoriekritik
im 18. Jahrhundert. Das Wesen der für Goethe unerträglichen
sentimentalen Erscheinung ist also insgeheim die Allegorie. Des-
halb müssen ihre Möglichkeiten wenigstens hypothetisch bedacht
werden. Entgegen dem jetzt noch gültigen Verbot, daß »wIr an

26
eine Totalität nicht denken dürfen« (14.8.), hätte die Allegorie,
wie es der Frankfurter Erfahrung adäquat wäre, den Verlust an
Sinnlichkeit durch den Gewinn an Begrifflichkeit gemäß ihrem
genuinen Formprinzip aufwiegen können. Denn während das
>Symbol< den Sinn in der Erscheinung zu finden und zu halten hat,
besitzt die Allegorie das Vermögen, die Differenz von Erscheinung
und Sinn, die Inkongruenz von Gestalt und Bedeutung, darzu-
stellen. [43]
Schließlich hätte Goethe die »liebevolle Erinnerung«, deren
schmerzlicher Zug angesichts des verkauften, zerstörten und ver-
werteten Hauses des Großvaters ebenso verständlich wäre wie
sein Fehlen merkwürdig ist, nicht dem entschlossenen Optimismus
des Symbol-Programms opfern müssen. Eine thematische Parallele
zu Goethes Brief, mit verblüffenden gegenständlichen und wörtli-
chen Übereinstimmungen, die um den bei Goethe ausbleibenden
Begriff der Allegorie erweitert ist, bietet Baudelaires Gedicht Le
Cygne aus den Tableaux parisiens:
Le vieux Paris n'est plus (Ja forme cl'une ville
Change plus vite, helas! que le coeur cl'un mortel);
[ ... ]
Paris change! mais rien clans ma melancolie
N'a bouge! palais neufs, echafauclages, bioes,
Vieux faubourgs, tout pour moi clevient allegorie,
Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. [44J

Die »allegorie«, die aus der geschichtlichen Differenz in der


Erfahrung des Vergangenen (»vieux faubourgs«) und des Gegen-
wärtigen (»palais neufs, echafaudages«) hervorgeht, vermittelt die
Veränderungen im Stadtbild mit der »melancolie«, den »chers
souvenirs« des Autors. Es »ist der Blick des Allegorikers, der die
Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten«. [45] Bei Goethe bleibt
zwischen dem »nützlichsten Waren- und Marktplatz« und der
»liebevollen Erinnerung« eine unbegreifliche Lücke. Es ist die
Lücke der Allegorie. Erst im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert
Baudelaires, wird Goethe sie schließen.
Wenige Wochen bevor Goethe zu der Reise nach Frankfurt
aufgebrochen war, hatte ihm Schiller die Schwierigkeit bezeichnet,
die das Thema des Faust seiner Darstellung bereiten werde: »die
Anfoderungen an den Faust sind zugleich philosophisch und
poetisch, und Sie mögen sich wenden, wie Sie wollen, so wird
Ihnen die Natur des Gegenstandes eine philosophische Behand-

27
lung auflegen, und die Einbildungskraft wird sich zum Dienst
einer Vernunftidee bequemen müssen« (23.6.). Es ist unverkenn-
bar, daß sich Problemstellung und Begriffssprache von Goethes
Frankfurter Brief mit diesen »Anfoderungen an den Faust« ver-
gleichen lassen. Es ist denkbar, daß Goethe in bewußter Replik
Schillers Prognose an einem Gegenstand nicht-literarischer Erfah-
rung erproben und, wenn möglich, umgehen wollte. Denn die
»philosophische Behandlung«, welche die »Natur des Gegenstan-
des« im Falle Frankfurts wie des Faust verlangen, hätte in der Tat
die »Einbildungskraft« in den »Dienst einer Vernunftidee« gestellt
und damit die Form der Allegorie erzwungen. Zögernd zunächst,
dann entschieden wies Goethe diese Notwendigkeit als Anschlag
auf die Poesie zurück: »die Philosophie zerstört bei mir die Poesie
und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt«
(19.2.1802).
Erst in der allegorischen Form von Faust II ist die allegorische
Möglichkeit von 179·7 verwirklicht. Erst hier wird eine Hoffnung
des ersten Briefes aus Frankfurt, der »an einen künftigen
Gebrauch zu denken« kaum wagte, erfüllt sein: »Wenn man den
Weg einmal ganz zurückgelegt hat, so kann man mit besserer
Übersicht das Vorrätige immer wieder als Stoff gebrauchen«
(9.8.). Doch wird noch diese späte Einlösung einer frühen Chance
durch die historische Ironie hintertrieben, daß die Wirkung von
Goethes Allegorieverdikt das Verständnis seines allegorischen
Werks anhaltend beeinträchtigt hat.

28
2

DIE KRITIK DER ALLEGORIE


IM ZEITALTER GOETHES

Was verstand Goethe unter der Allegorie, deren ästhetische Mög-


evitou rejeitou
lichkeiten er so lange praktisch vermied und theoretisch zurück-
wies? Welcher Begriff liegt den Allegorien zugrunde, die er in
seinem letzten Werk schließlich doch auftreten läßt? Um diese
Fragen zu beantworten, ist weder ein Rückgriff auf literaturwis-
senschaftliche Definitionen der Allegorie [46] sinnvoll noch ein
Rückblick auf die Begriffsgeschichte der Allegorie, die mit der
antiken Rhetorik, der hellenistischen Homer-Allegorese und der
mittelalterlichen Exegese des vierfachen Schriftsinns beginnt. [47]
Beide Bestimmungsversuche verfehlten sowohl die Gestalt der
Allegorie, auf die sich die Kritik Goethes und die seiner Zeitgenos-
sen bezog, wie auch jene Gestalt, welche die Allegorie schließlich
in Faust II annehmen sollte. Goethes Allegorie-Begriff und allego-
rische Dichtung sind nicht bruchlos in die Tradition der Allegorie
sem rupturas

einzuordnen, sondern verändert durch die Kritik, die im 18. Jahr-


hundert die Tradition der Allegorie für immer beenden wollte.
Wenn Goethe die Allegorie neu begründet, so muß er sie auf das
theoretische Niveau dieser Kritik beziehen: die von ihm still-
schweigend rehabilitierte Allegorie enthält die implizite Kritik der
vorausgegangenen expliziten Allegoriekritik. Um die historische
Stellung und die ästhetische Intention von Goethes Allegorie zu
verstehen, ist es deshalb notwendig, die damals übliche Vorstel-
lung von Allegorie aus der Allegorie-Kritik des 18. Jahrhunderts
zu rekonstruieren.

29
Goethe spricht nur da von ,Allegorie<, wo er sie in Gegensatz
zum ,Symbol< setzt. Auch für die ästhetische Kritik des 18. Jahr-
hunderts hat die Allegorie einzig als oppositioneller Begriff Bedeu-
tung. Ihr Wesen wird danach bestimmt, wie weit sie vom Ideal der
neuen bürgerlichen Kunst abliegt. Aber gerade aus diesem negati-
juízo
ven ästhetischen Urteil entsteht eine erste Ästhetik der Allegorie -
während sich die Antike mit kargen rhetorischen Definitionen
begnügt hatte [48] und das Mittelalter sie als Mittel für theologi-
sche Zwecke betrachtete. [49] Ermöglicht wird diese (negative)
Ästhetik dadurch, daß der kritische Blick das kritisierte Phänomen
vereinheitlicht, mitunter simplifiziert. Die spätantiken und mittel-
alterlichen Ursprünge, Formen und Funktionen der Allegorie -
ihre rhetorische Bestimmung als Inversion (aliud verbis, aliud
sensu) oder ihre hermeneutische als Allegorese, die Unterscheidun-
gen zwischen allegoria verbi und allegoria facti, allegoria tota und
allegoria perrnixta, Personifikation und Abstraktion - sind im
18. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten. Gegenwär-
tig waren noch jene Allegorien, die das 17. Jahrhundert in der
pintura
Malerei und auf dem Theater gebraucht hatte, d. h. Verkörperun-
gen von Abstrakta in Personen. Sie liefern der Allegorie-Kritik, die
sich deshalb vor allem in der Diskussion über Prinzipien der
bildenden Kunst und des Dramas entwickelt, abschreckende Bei-
spiele. declínio
Immerhin ist die mittelalterlich-theologische Abkunft der Alle-
efeitos colaterais
gorie und die Nachwirkung dieser Abkunft in der Kunst des
defensores
Barock den späteren Kritikern wie den noch späteren Verteidigern
bewußt. Friedrich Schlegels Bemerkung, die »allegorisch-christli-
che Dichtkunst« sei eine »Poesie des Unsichtbaren«, geht auf das
allegorische Theater des 17. Jahrhunderts zurück: »La alegoria no
es mas / que un espejo que traslada / 10 que es con 10 que no es«,
heißt es in einem auto sacramental Calder6ns, »Die Allegorie ist
nichts als ein Spiegel, der vermittelt: das, was ist, mit dem, was
processo/procedimento
nicht ist.« [50] Das allegorische Verfahren hebt die Gegenständ-
empírico
lichkeit der sinnlich erfahrbaren Gegenstände auf, um sie als
Zeichen einer höheren Wahrheit zu lesen. So wird das Sichtbare
(10 que es) durchs Unsichtbare (10 que no es) gedeutet. [51] Eine
allegorische Aufhebung der Sinnenwelt durch eine theologische
Hinterwelt mußte mit den philosophischen Prämissen und den
wissenschaftlichen Resultaten der Aufklärung kollidieren, welche
die Zuverlässigkeit der erforschbaren Dinge oder zumindest der

30
überprüften Wahrnehmungen voraussetzen und wiederum bestä-
tigen.
In ähnlichen Gedankengängen befreite sich die Poetik des
escondida
18. Jahrhunderts von der Vorstellung, Dichtung sei »eine verbor-
gene Theologie« [52] (für keine Dichtart hatte dieser Satz größere
Evidenz besessen als für die allegorische). Um den Sinn ästheti-
scher Erfahrungen auf die Sinnlichkeit der Kunst zu begrenzen,
convoca
um Bedeutung und Erscheinung zu verschmelzen, berief sich vor
allem die deutsche Kunsttheorie auf das Vorbild der griechischen
Mythologie. Gerade diesem Versuch, den Mythos für die Bildung
- recuperar
des klassischen Ideals wiederzugewinnen, stand die Allegorie hin-
dernd und konkurrierend im Wege. Denn ihre frühesten Formen
waren aus der Umdeutung archaischer Mythen und mythenerzäh-
lender Poesie entstanden, indem sie hinter dem unbegreiflichen
und bloß schönen Geschehen abstrakte Begriffe der Moral, der
Philosophie und, zunehmend, der Theologie enthüllte. Umgekehrt
ging es bei der Erfindung neuer Allegorien vonstatten: ein ideelles
Konzept erhielt durch Personifikation den Schein von Leben, die
mythologische Technik diente einem rationalen Zweck. Mit Recht
vermutete und bekämpfte die sich bildende klassizistische Xsthetik
metamorfose
in der Allegorie den Wechselbalg des Mythos.
Die Grundsätze und Argumente, mit denen die neue Kunsttheo-
rie gegen die außerästhetische Rechtfertigung der Allegorie
anging, treten exemplarisch in der Skizze Ober die Gegenstände
der bildenden Kunst [53] hervor, die Goethe im September 1797-
eben auf jener Schweizer Reise, die ihn über Frankfurt geführt
hatte - zusammen mit Heinrich Meyer entwarf. Nahezu alle
Szenen und Figuren, die hier der bildenden Kunst zum Gegenstand
empfohlen werden, sind der griechischen Mythologie entnommen:
Jupiter, Laokoon, ApolI, Niobe mit ihren Töchtern, die Taten des
Herkules, ein Bacchanal. Skepsis jedoch sei gegenüber »mysti-
schen Gegenständen« angebracht, die den »Vorstellungen der
mal-sucedido
derivam
katholischen Religion« entstammen; als verfehlt gelten »Kunst-
werke, die durch Verstand, Witz, Galanterie brillieren, wohin wir
principal censurado
auch alle allegorischen rechnen«; am heftigsten zu tadeln sei »der
Versuch, die höchsten Abstraktionen in sinnlicher Darstellung
wieder zu verkörpern«. Die Entscheidung für Mythen und gegen
Allegorien folgt dem vorangestellten Prinzip: »Die vorteilhaftesten
Gegenstände sind die, welche sich durch ihr sinnliches Dasein
selbst bestimmten.« Dem genügen mythische Figuren und Hand-

31
lungen, da sie das Besondere körperlicher Individualität und ein-
maliger Taten mit dem Allgemeinen idealer Bedeutungen vermit-
teln. Deshalb bleiben sie, »wenn sie bekannt genug« sind, der
Nachwelt in festen Umrissen denkwürdig. [54] Wie später Hegel
die klassische Kunstform in der »Heroenzeit« der »individuellen
Selbständigkeit« verankerte [55], so leiten auch Goethe und Meyer
autonome Kunst aus Akten mythisch-heroischeropostos Selbstbestim-
mung ab. Sie werden im neuen, dem Allegorischen entgegengesetz-
ten Sinne »symbolisch« genannt: sie »scheinen bloß für sich zu
stehen und sind doch wieder im Tiefsten bedeutend, und das
wegen des Idealen, das immer eine Allgemeinheit mit sich
führt«. [56] exigência
Nach Goethe und Meyer ist es ein Erfordernis der Kunst, daß
die >ideale< Bedeutung solcher >Symbole< unmittelbar aus dem
oferece
»sinnlichen
garantia
Dasein« hervorgehe. Denn nur diese Bedingung biete
Gewähr, daß sich der Betrachter auf sein primäres ästhetisches
Organ, das Auge, verlassen darf - während das grundsätzliche
deficiência
Manko aller allegorischen Kunstwerke darin liege, daß sie »das
Interesse an der Darstellung selbst zerstören und den Geist gleich-
sam in sich selbst zurücktreiben und seinen Augen das, was
repele

wirklich dargestellt ist, entziehen«. Daß Allegorien den interpre-


tierenden Geist »in sich selbst zurücktreiben«, also zur Abstrak-
percepção
tion von der Wahrnehmung zwingen, steht im Gegensatz zur
sinnlichen Autonomie der symbolisch-mythologischen Kunst, die
sich >durch sich selbst< bestimmt. Weil sie sich »selbst bestimmen«,
enthält die sinnliche Darstellung symbolischer Gegenstände
bereits ihre ideale Bedeutung. Daher ermöglichen sie eine einheit-
lich ästhetische Anschauung; sie bilden ein ästhetisches Konti-
nuum. In der allegorischen Kunst dagegen ist die ästhetische
Darstellung (für das »Auge«) von der transästhetischen Bedeutung
(für den »Geist«) getrennt, da jene zwar einen sinnlichen Schein
erzeugt, diese jedoch ihn als bloß intellektuelles Zeichen wieder
aufhebt. Dieses ästhetisch-geistige Diskontinuum ist dafür verant-
wortlich, daß sich von den allegorischen Kunstwerken »am wenig-
estreito campo
sten Gutes« erwarten läßt. Aus dem engeren Gebiet der Kunst sind
excluir
sie auszusthließen.
Eine ähnliche Argumentation kehrt in allen kunsttheoretischen
Einwänden gegen die Allegorie wieder, die im 18. und 19. Jahr-
hundert mit zunehmender Routine vorgebracht werden. [57]
Schon vor Goethe stellt Karl Philipp Moritz in seiner Bemerkung

32
Ober die Allegorie den Grundsatz ästhetischer Immanenz auf,
tensão
wodurch die allegorische Spannung von Erscheinung und Bedeu-
de início
tung von vornherein als unkünstlerisch gelten muß: »Die Figur, in
so fern sie schön ist, soll nichts bedeuten, und von nichts sprechen,
was außer ihr ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem
superfície
innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen,
soll durch sich selbst bedeutend werden.«
predileção
[58] Was das Schöne sei,
wird im Zeitalter Goethes mit Vorliebe an dem Gegensatz zur
Allegorie sinnfällig gemacht. Aus der üblichen Definition - »Eine
Allegorie ist ein conclui
Kunstwerk, welches etwas Anderes bedeutet, als
es darstellt« - schließt Schopenhauer, daß es sich hier um kein
Kunstwerk im genauen Sinne handeln könne: »Was also, auf diese
Weise, durch ein ganz Anderes angedeutet und repräsentirt wird,
weil es nicht selbst vor die Anschauung gebracht werden kann, ist
allemal ein Begriff. Durch die Allegorie soll daher immer ein
Begriff bezeichnet und folglich der Geist des Beschauers von der
dargestellten anschaulichen Vorstellung weg, auf eine ganz
andere, abstrakte, nicht anschauliche, geleitet werden, die völlig
außer dem Kunstwerk liegt: hier soll also Bild oder Statue leisten,
was die Schrift, nur viel vollkommener, leistet.« [59] Seit Kant
juízo de (bom) gosto
befreit die philosophische Ästhetik das Geschmacksurteil (und
entsprechend die künstlerische Produktion) von theoretischen
planos objetivos
Vorgaben und Zielen. Als Gegensatz von Anschauung und Begriff
wird diese Unterscheidung zwischen Kunst und Philosophie,
Schönheit und Wahrheit, geläufig. Diese Grenze verletzt aber
atinge

gerade die Allegorie, die von alters her den Anspruch stellt, eine
reivindicação

Wahrheit von philosophischer Dignität, in Bildern verhüllt, zu


präsentieren. Ist der Sinn der dunkel arrangierten decair Bilder einmal
desvendada
enträtselt, so muß das sinnliche Interesse an ihnen schwinden. Sie
referir
gehen in der Erkenntnis unter, auf die sie verweisen. Wegen ihrer
Auflösbarkeit in den Begriff ist die Allegorie eine zwiespältige
deciframento
Form: anders erscheint sie vor als nach der Entzifferung; sie ist
zuerst dunkel, dann durchsichtig (weshalb ihr von der Kritik
abwechselnd - und nur scheinbar widersprüchlich - Dunkelheit
und Durchsichtigkeit vorgeworfen werden). Ihr mangelt die sinnli-
che Fülle und der unbestimmte Sinn, welche die Anschauung
prazer
nicht-allegorischer Kunst zu einem unendlichen Genuß machen.
Was der Allegorie einst eine höhere Würde verlieh, nämlich die
Fähigkeit, die Schatten der sinnlichen Welt zu durchschreiten
(transivimus allegoriarum umbras), erklärt die neue Ästhetik zum

33
Kriterium einer niederen Kunstform: aus der vollen Wahrheit ist
ein dürrer Begriff geworden. Auf die Allegorie, deren erklärter
Zweck jenseits der schönen Erscheinung liegt, erstreckt sich der
Vorbehalt, den das bürgerliche Kunstideal gegen alle rhetorischen
reserva
registra
und didaktischen Gattungen anmeldet.
Wie zwischen Kunst und Philosophie, so werden im 18. Jahr-
hundert auch die Grenzen zwischen den einzelnen Künsten stren-
objeção
ger gezogen. Schopenhauers Einwand, daß die Allegorie einem Ge-
mälde oder einer Statue abverlange, »was die Schrift, nur viel voll-
kommener, leistet«, geht auf Unterscheidungen zurück, die Les-
sings Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie ge-
troffen hat. Die Allegorie stellt - wie das ihr verwandte Emblem -
eine bildlich-schriftliche Mischgestalt dar: literarische Allegorien
adornada
sind mit >malerisch< geschilderten Figuren ausstaffiert und gemalte
Allegorien müssen mit literarischen Mitteln entschlüsselt wer-
den. [60] Deshalb geht Lessings Polemik ebenso gegen die »Schil-
derungssucht« in der Poesie wie gegen die »Allegoristerei« in der
Malerei, da »man jene zu einem redenden Gemälde machen
wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie malen könne und solle,
und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in
welchem Maße sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne
sich von ihrer Bestimmung zu entfernen, und zu einer willkürli-
chen Schriftart zu werden«. [61] Nun gilt die allegorische Poesie,
die »allgemeine Begriffe« darzustellen versucht hatte, als »willkür-
liche Schriftart«; sie kann nicht in den neuen Kanon der >Natur-
formen< von Dichtung aufgenommen werden. Offensichtlich ist
die allegorische Schriftart außerhalb der Natur begründet.
Gleich anderen Urteilen und Wünschen in dieser Epoche des
bürgerlichen Denkens berufen sich die ästhetische Negation der
Allegorie und die Affirmation der autonomen Kunst auf die Idee
der Natur. Als deren erste, sinnfälligste Einheit erscheint die
menschliche Individualität - gerade sie wurde von der Allegorie
mißachtet und bestritten. Mit Sinnbildern verdeckte sie die Natur,
mit Vorbildern die Individualität. [62] Sie drückte den Status der
Person, indem sie gottähnliche Abstraktionen zum Herrn über den
Menschen einsetzte [63], indem sie die Seele zum Kampfplatz
übermenschlicher Tugenden und Laster erklärte [64], vor allem
aber, indem sie in der Personifikation selbst menschliche Gestalt
annahm und dieser die Auszeichnung der Einmaligkeit entwen-
dete. Am heftigsten war der Angriff auf das »Gespenst der Kunst,

34
die Allegorie«, sobald sie als Gespenst der lebendigen Person
identifiziert wurde, das »einem bestimmten sinnlichen Gebilde die
ihm lebendig zugehörende warme Seele ausweidet und dafür einen
ihm fremden, der Vielseitigkeit individueller Beseelung durch seine
Abstraktheit widersprechenden Begriff hineinstopft«. [65] Dem
anthropologischen Blick des aufgeklärten Zeitalters ist die Einheit
und Einzigartigkeit der menschlichen Gestalt so selbstverständlich
geworden, daß eine allegorische Figur, die den menschlichen
Körper mit einem außermenschlichen Wesen verbindet, absurd
wirken muß. Zwischen dem Menschen und den schönen Göttern,
die er nach seinem Ideal gebildet hatte, war kein Raum mehr für
solche Gespenster: »Alle Götter und Göttinnen sind Menschliche
Gestalten, Einbildung der Schönheit! der Kunst nicht einmal
Historisch vielweniger Allegorisch.« [66] Damit begründet Herder
sein Urteil: »Allegorie für die Bildhauerei ist durchaus nichts.« Die
Kritik der Allegorie gewinnt im 18. Jahrhundert
escultura
ihre Argumente
discussão
vorwiegend aus Erörterungen über Bildhauerei und Dramatik,
jener Kunstarten also, denen der körperliche Umriß der menschli-
chen Gestalt das Gepräge gibt.
An den neuen Werten von »Leben, Leichtigkeit, Bewegung,
Wechsel« gemessen [67], muß die allegorische Übermacht des
Allgemeinen gegenüber dem Individuellen einer Fremdherrschaft
gleichen. Manche der Bedenken gegen allegorische Kunst sind
unausgesprochen von einem politischen Verdacht geleitet. Daß sie
die Einzelheiten zu bloßen Attributen des zentralen Begriffs herab-
setzt und die Vielfalt der Erscheinungen vom Geheimkabinett der
Bedeutung aus regiert, verrät eine kompromittierende Verwandt-
schaft mit dem Herrschaftssystem des fürstlichen Absolutismus.
Und hatte sie ihm nicht seit Jahrhunderten wie keine andere
Kunstform als Medium höfischer Repräsentation gedient? Der
allegorischen Darstellung öffentlich approbierter Tugenden und
ewiger Weisheiten geht der Zauber des Privaten, des Augenblicks,
des Zufälligen ab, den die bürgerliche Kunst im 18. Jahrhundert
als Lebensform des Menschen schlechthin zu entdecken beginnt.
Hier liegt der historische Sinn einer Entgegensetzung von >Symbol<
und >Allegorie<. [68]
Am Anfang der bürgerlichen Literatur steht der Versuch,
private Erfahrungen zwischen Autor und Leser zu vermitteln. Um
diesen Austausch zu ermöglichen, muß die erste Forderung an die
Literatur lauten, daß sie jedermann verständlich sei. Gegen solche

35
Absichten einer literarischen Demokratisierung sperrt sich der
hermetische Charakter der Allegorie. Ihre sinnliche Gestalt ist
derart ,unnatürlich<, daß sie nach einem Verstandeswissen ver-
langt, das die Dekomposition des offensichtlichen Sachverhalts
aus der Komposition eines geheimen Zusammenhangs erklärt.
Dunkel den Sinnen, klar dem Verstand - so stellt sich die Allegorie
als exoterisch-esoterisches Doppelgebilde dar. Daß sie der gelehr-
ten Auslegung bedürftig ist, bedeutet eine soziale Schranke. Sie ist
für jene privilegierten Betrachter konzipiert, die an klassischer
Bildtradition geschult sind und das nötige Abstraktionsvermögen
besitzen, um den Übergang von der Erscheinung zum Begriff zu
vollziehen. Das aufklärerische Postulat, daß alles Geschriebene
verständlich und eindeutig sein müsse (wobei Luthers Warnung
,>cavete ab allegoriis« [69] von der Auslegung der Heiligen Schrift
auf die schöne Literatur ausgedehnt wird), ist dem Konstruktions-
prinzip der Allegorie diametral entgegengesetzt. Die Kritik des
esoterischen Schreibstils trifft auch sie: ,>Die Tieffe einer Schrift
aber«, heißt es in einer Moralischen Wochenschrift, >,besteht nicht
in weit hergeholten durch einander verworrenen Metaphorischen
und Geheimnißvollen Redens-Arthen, sondern allein in der Bün-
digkeit und dem Gewichte der Sachen selbst.« [70]
Eine lange Epoche allegorischer Kunst endet an der historischen
intenções
Disproportion zu den erklärten Absichten und immanenten Ten-
denzen der bürgerlichen Literatur. Es ändert nichts an diesem
logischen Ende, wenn allegorische Restbestände noch in der
Erbauungsliteratur aufgebraucht werden [71] oder wenn selbst
bedeutende Kunsttheoretiker wie Gottsched und Winckelmann
für bestimmte untergeordnete Zwecke die Mittel der Allegorie
empfehlen. Auch die romantischen Aphorismen, in denen Novalis
und Friedrich Schlegel mit dem Wort >Allegorie< spielen, meinen es
mit Begriff und Sache nicht ganz ernst.
Wie ist es möglich, daß unter solchen kunsttheoretischen und
literaturgeschichtlichen Voraussetzungen Goethe für den Zweiten
Teil des Faust zur Form der Allegorie zurückkehrt? Begreiflich ist
vorerst nur, daß die Zeitgenossen Goethes Rehabilitierungsver-
such für eine gewaltige Verirrung halten mußten. Verfrüht wäre
es, diesen Ausnahmefall eines allegorischen Werks im 19. Jahr-
hundert jetzt schon beschreiben und begründen zu wollen. Doch
kann es sinnvoll sein, vorgreifend die Möglichkeiten zu erwägen,
welche die Allegorie einer veränderten Intention der Literatur im

36
bürgerlichen Zeitalter bieten konnte. Um Goethes Überlegungen
zu rekonstruieren, muß die bisherige Fragestellung beibehalten
und zugleich umgekehrt werden: Welche von der Allegoriekritik
negierten Momente der Allegorie stimmen als positive Formen
und Gehalte mit neuen Erfahrungen der bürgerlichen Praxis und
neuen Erkenntnissen des bürgerlichen Denkens überein, die der
Allegoriekritik verborgen blieben oder von ihr verschleiert wur-
den? Ein schematischer Aufriß muß an diesem Punkt genügen, da
es nur um eine vorläufige Erwägung der potentiellen Leistungen
der Allegorie geht:
1. Der Vorwurf gegen die Allegorie, sie verhindere den individu-
ellen Ausdruck des Autors und verweigere sich dem Wunsch des
Lesers nach privater Vertrautheit, läßt sich positiv wenden: sie
kann als »Vehikel der Entpersönlichung des poetischen Aus-
drucks« [72] dienen und so einen neuen Objektivitäts- und Allge-
meinheitsanspruch von Dichtung stützen.
2. Daß die Allegorie »willkürliche Zeichen« in eine unnatürli-
che Verbindung bringt, könnte sie dazu befähigen, die Konstruk-
tion eines nicht mehr natürlichen Gesellschaftszustandes abzubil-
den, dessen Gegenstände und Zusammenhänge vom Menschen
künstlich produziert worden sind.
3. Die Allegorie vernachlässigt Details privater Lebensräume
und tendiert auf Gesamtdeutungen von kosmischer Totalität.
Bietet sie sich daher nicht einem poetischen Entwurf an, der sich
eine umfassende Interpretation der gesellschaftlichen Totalität
vorgenommen hat? Ist die Macht allegorischer Abstraktionen,
welche die Allegoriekritik dem Spott preisgab, noch lächerlich,
wenn Abstraktionen zu wirklichen, lebensbestimmenden Mächten
geworden sind?
4. Insofern die Allegorie die menschliche Gestalt zu einer Funk-
tion und Rolle überindividueller Mächte erniedrigt (und damit
Grundüberzeugungen des 18. Jahrhunderts verletzt), könnte
gerade sie den prekären Status von solchen Individuen bezeichnen,
die in Wahrheit nichts als Charaktermasken gesellschaftlicher
Zwänge sind.
5. Die verdächtige Nähe der neuzeitlichen Allegorie zur Reprä-
sentation politischer Ordnung, die der Aufklärung obsolet schien,
hat einer allegorischen Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse
vorgearbeitet. Bereits in den spätmittelalterlichen Schachallego-
rien, in der französischen Moralite, im spanischen auto sacramen-

37
tal de circunstancias, in der politischen Dichtung der Elisabetha-
ner sind die theologischen Aufgaben der mittelalterlichen Allego-
rie durch gesellschaftlich-historische Bezüge ersetzt. [73]
6. Dem allegorischen Verweis auf außerästhetische Wahrheiten
setzt die klassische Ästhetik »Einbildungen der Schönheit« entge-
gen, die nirgendwo anders als in der Kunst selbst existieren. Doch
bei einer Literatur, der an der Erkenntnis historisch wirkender
Mächte gelegen ist, könnte der Wahrheitsanspruch der Allegorie
als ihr formspezifischer Vorzug erneut zur Geltung kommen.
7. Indem die Allegorie den ästhetischen Schein durch begriffli-
che Erkenntnis widerruft, zerstört sie die Einheit und Ganzheit des
Kunstwerks. Eine derartige Partialisierung und Mediatisierung der
Kunst gewinnt wieder Aktualität, sobald eine Krise des ästheti-
schen Bewußtseins eingetreten ist und das >Ende der Kunst<
prognostiziert wird.
Noch einmal: die neue Allegorie, die in Faust II Wirklichkeit
wird, ist keine Fortsetzung der alten; vielmehr schuldet sie der
Allegoriekritik ebenso viel wie der Allegorietradition. Gegenwär-
tig ist die Literaturwissenschaft - in bewußter Umkehrung früherer
Urteile - geneigt, die Tradition der Allegorie so lange wie irgend
möglich durch die Jahrhunderte zu verfolgen und ihr Ende, wenn
überhaupt, mit Bedauern zu registrieren. [74] So verständlich die
Genugtuung über das riesige Arsenal allegorischer Sinnbilder und
die Freude an ihrer Enträtselung auch sein mögen - sie sollten
nicht vergessen machen, daß die Befreiung von dieser allegori-
schen Bilder- und Gedankenlast einmal eine Heilung vom Deli-
rium der Spekulation und eine Öffnung zur Empirie des Wirkli-
chen bedeutet hatte. Die Philologen, die heute erfolgreicher als
früher allegorischen Sinn entdecken und verstehen, übergehen mit
Diskretion die schlichte Tatsache, daß es sich dabei höchstens um
musealen Sinn, wenn nicht um baren Unsinn handelt. - Erst der
wirkliche Niedergang und die theoretische Kritik der vorbürgerli-
chen Allegorie schaffen die Voraussetzung für eine neue Form der
Allegorie, die sich mit den Ansprüchen eines aufgeklärten Bewußt-
seins verträgt. Denn darin bleibt Goethe den philosophischen und
lebenspraktischen Postulaten des 18. Jahrhunderts treu, daß die
wirkliche Welt mit dem eigenen Kopf zu erkennen sei. Auf diese
Welt und diesen Kopf wird er die Allegorie in Faust II ver-
pflichten.
cometidas

38
3

DIE BESTIMMUNG DER ALLEGORIE


IN HEGELS ÄSTHETIK

Hegels Asthetik begründet die Kritik an der Allegorie systema-


tisch; er weist ihr einen der untersten Ränge in der Stufenfolge der
Kunst zu. Sie zählt zur frühesten der drei Kunstformen, zur
»symbolischen«: diese »macht dem Begriffe wie der historischen
Erscheinung nach den Anfang der Kunst und ist deshalb gleichsam
nur als Vorkunst zu betrachten, welche hauptsächlich dem Mor-
genlande angehört und uns erst nach vielfachen Übergängen,
Verwandlungen und Vermittlungen zu der echten Wirklichkeit des
Ideals als der klassischen Kunstform hinüberführt« (13,393). [75]
Die allgemeinen Bestimmungen der symbolischen »Vorkunst«
seção "compactados"
werden in einem eigenen Abschnitt über die Allegorie verschärft:
sie erscheint als >Nicht-Kunst<. Denn sie verfolgt den »Zweck der
vollständigsten Klarheit« (13,511), einen Zweck also, der jenseits
der Kunst liege, da er die sinnliche Anschauung einer begrifflichen
Eindeutigkeit zu opfern zwinge. Zwar versuche die Allegorie, die
»allgemeinen abstrakten Zustände«, deren Darstellung sie sich
vorgenommen habe, durch ein pseudokünstlerisches Verfahren
»zu personifizieren und somit als ein Subjekt aufzufassen«. Aber
die so entstandene »Subjektivität« könne doch nicht mit den
konkreten, individuellen Gestalten klassischer Kunstwerke ver-
wechselt werden; sie bleibe bloße »Abstraktion einer allgemeinen
Vorstellung« und dürfe deshalb höchstens »ein grammatisches
Subjekt« heißen. Damit sich die äußere Erscheinung mit der
intendierten abstrakten Bedeutung vollständig decke, müsse die

39
allegorische Verkörperung die Subjektivität »so aushöhlen«, "daß
desaparece
alle bestimmte Individualität daraus entschwindet« (13, 511 f).
calva
Daher wirkten Allegorien gewöhnlich »frostig und kahl«. Bereits
ihre Erfindung sei »mehr eine Sache des Verstandes als der kon-
kreten Anschauung und Gemütstiefe der Phantasie« (13,512). Die
jeweils erforderte Besonderheit, wodurch sich die eine begriffliche
Abstraktion von der anderen unterscheide, werde durch Attribute
äußerlich gekennzeichnet. Deshalb vollziehe die Allegorie eine
separação
»Trennung von Subjekt und Prädikat, Allgemeinheit und Beson-
derheit«, und zwar in der Weise, daß »die Bedeutung in der
dominante ilustração
Allegorie das Herrschende und die nähere Veranschaulichung ihr
submetida
ebenso abstrakt unterworfen wird« (13, 512 f).
derradeiro/final
Hegels abschließendes Urteil kann nach dieser - durchaus tref-
surpreender
fenden - Analyse nicht mehr überraschen: die Allegorie sei »eine
im Inhalt wie in der Form untergeordnete, dem Begriff der Kunst
apropriada
nur unvollkommen entsprechende Darstellungsweise«. Da sie sich
esforça
um die Repräsentation von Abstraktionen bemühe, sei sie letztlich
supérflua de outro modo
überflüssig, denn »solche Abstraktionen hat man auch sonst
schon im Bewußtsein, und um sie in ihrer prosaischen Allgemein-
heit und äußerlichen Bezeichnung, zu der es die Allegorie allein
bringt, ist es in der Kunst nicht zu tun« (13, 513 f).
Hegels ästhetisches Urteil über die Allegorie, das einer Verurtei-
lung gleichkommt, gerät jedoch in einen auffälligen Widerspruch
zu seiner historischen Bestimmung: »Die Allegorie gehört über-
haupt weniger der antiken als der mittelalterlichen romantischen
Kunst an, wenn sie auch als Allegorie nichts eigentlich Romanti-
redondezas
sches ist« (13,514). In die Nähe der dritten, der »romantischen«
Kunstform, gelangt die Allegorie, die doch der ersten, der »symbo-
deriva reivindicação
lischen« Kunstform entstammen soll, durch Ansprüche des Chri-
stentums (das nach Hegel zur Entstehung der romantischen
auxilia
Kunstform beiträgt). Da die christliche Lehre auf allgemeinen
Wahrheiten gründe, müsse es ein »Hauptinteresse« der Poesie im
christlichen Zeitalter sein, »daß diese Lehren als allgemeine Leh-
ren hervortreten, die Wahrheit als allgemeine Wahrheit gewußt
und geglaubt werde. Dann aber muß die konkrete Darstellung das
subordinado
Untergeordnete und dem Inhalte selbst Äußerliche bleiben, und
die Allegorie wird die Form, welche diesem Bedürfnisse am leich-
testen und geeignetsten Genüge tut« (13,515). Es entspricht nicht
nur den kunstgeschichtlichen Tatsachen, wenn Hegels historische
Anmerkung die Allegorie - ganz im Widerspruch zu ihrer systema-

40
tischen Zugehörigkeit zur archaisch-symbolischen >Vorkunst< - in
Beziehung zur nachantik-romantischen >Nach kunst< setzt. Es ent-
spricht auch Hegels systematischen Begriffen: die symbolische
Kunst geht vom Einzelnen aus und sucht das Allgemeine, die
puxa/atrai
romantische hingegen setzt das Allgemeine voraus und zieht das
Konkrete bei. Hinzu kommt, daß in der romantischen Kunstform
ebenfalls die innere Idee und deren äußere Darstellung einander
fremd werden, sich »in die gedoppelte Totalität des in sich selber
seienden Subjektiven und der äußeren Erscheinung« trennen (14,
128). Die Situation der modernen, romantischen Kunst ist dem-
relacionada
nach der Struktur der Allegorie verwandt. Beiläufige Bemerkun-
gen [76] zeigen, daß Hegel historische Korrespondenzen zwischen
impede
Allegorie und Moderne konstatierte. Jedoch hinderten ihn ästheti-
sche Idiosynkrasien gegen die Allegorie (die freilich systematisch
begründet werden), aus dieser Einsicht systematische Konsequen-
zen zu ziehen. Der verborgene Grund dieser Idiosynkrasie wird
noch aufzuklären sein.
expressamente desvalorizada
Die geheime Bedeutung der ausdrücklich abgewerteten Allego-
evidente
rie ist daran ablesbar, daß in Hegels Ästhetik Bestimmungen der
Allegorie versteckt mehrfach wiederkehren. Solche Zusammen-
contradiz
hänge aufzudecken, widerspricht zwar Hegels subjektiven Inten-
tionen, nicht aber der objektiven Logik seines Werks. So besteht
escondida verificável
eine verdeckte, doch nachweisbare Korrespondenz zwischen den
scheinbar beiläufigen Anmerkungen zur Allegorie und der
berühmten Passage über das ,Ende der Kunst<. Den Satz, daß die
Kunst »weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und
absolute Weise sei, dem Geiste seine wahrhaften Interessen zum
desdobrou
Bewußtsein zu bringen« (13, 23), hat Hegel historisch entfaltet.
Während in früheren Zeitaltern, vornehmlich in der Antike, der
extensão conhecimento
damals begrenzte Umfang eines Wissens, das Hegel »Wahrheit«
limitada

nennt, noch vollständig im sinnlichen Element der Kunst darzu-


stellen war, sei der gegenwärtige, erweiterte Begriff von Wahrheit
>,nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich« (13,
24), könne also deshalb im ästhetischen Material nicht mehr zum
angemessenen Ausdruck gelangen. Daß für uns die Kunst »ein
Vergangenes« geworden sei, gehe auf die - durch die »christliche
visão
Auffassung der Wahrheit« vorbereitete - Zunahme der »Vernunft-
bildung« zurück. Für die »Reflexionsbildung unseres heutigen
Lebens« sei das Bedürfnis kennzeichnend, »allgemeine Gesichts-
punkte festzuhalten und danach das Besondere zu regeln, so daß

41
allgemeine Formen, Gesetze, Pflichten, Rechte, Maximen als
Bestimmungsgründe gelten und das hauptsächlich Regierende
sind« (13, 25). Dieser moderne Stand des Bewußtseins kann aber
dem Kunstinteresse wie der Kunstproduktion, die »eine Lebendig-
keit« fordere, »in welcher das Allgemeine nicht als Gesetz und
prejudicial
Maxime vorhanden sei«, nur abträglich sein: »Deshalb ist unsere
Gegenwart ihrem allgemeinen Zustande nach der Kunst nicht
günstig.« Der Künstler, der »innerhalb solcher reflektierenden
favorável

Welt« weiterhin zu produzieren versucht, komme nicht umhin, im


Widerspruch zum genuinen Wesen der Kunst »in seine Arbeiten
selbst mehr Gedanken hineinzubringen«. Sobald »der Gedanke
ultrapassou
und die Reflexion [... ] die schöne Kunst überflügelt« haben, muß
die Kunst Gegenstand der »denkenden Betrachtung« werden (13,
26), d. h. die Kunst ist in der »Wissenschaft der Kunst« aufge-
hoben.
embora
Obwohl ihre Bestimmungen im Aufbau der Asthetik weit aus-
einander liegen und unabhängig voneinander zu gelten scheinen,
categoria
beginnen nun der ästhetische Rang der Allegorie und der histori-
complementar(-se)
sche Ort der >endenden Kunst< sich zu ergänzen. Die erste Ver-
wandtschaft zwischen Allegorie und Moderne zeigt sich an ihrer
geschichtlichen Abkunft: jene steht im Dienst der »allgemeinen
continuação
Wahrheit« des Christentums, diese entsteht in der Fortsetzung der
»christlichen Auffassung der Wahrheit«. Die Allegorie hat »allge-
meine, abstrakte Zustände« zu verkörpern und gehört deshalb in
eine Zeit, da bereits »das Allgemeine der Lebensverhältnisse und
Zustände« (13, 515) sich durchgesetzt hat - gehört sie deshalb
prevalece

nicht auch in die Gegenwart, in der »allgemeine Formen, Gesetze,


Pflichten, Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe gelten« (13,
25)? Vernunft, Gedanke, Reflexion beherrschen die moderne Bil-
dung - die Allegorie, die den »Zweck der vollständigsten Klarheit«
verfolgt, ist eine »Sache des Verstandes«. Wie die Erfindungen des
intencionalidade sofre (de)
Allegorikers unter Absichtlichkeit leiden, so wird den Arbeiten des
supervalorização
modernen reflektierenden Künstlers das Übergewicht an Gedan-
ken nachteilig. Dem Befund, daß in der Moderne ein Abstrakt-
corresponde
Allgemeines »das hauptsächlich Regierende« sei, entspricht die
Analyse der allegorischen Form, in der Bedeutung »das Herr-
schende« sei. Daß sie sich die »nähere Veranschaulichung [... ]
abstrakt« unterwirft, verrät eine Fremdheit gegenüber dem Sinnli-
chen, die ihre Parallele wiederum in der modernen Gestalt des
Wissens hat, das ebenfalls »nicht mehr dem Sinnlichen so ver-

42
wandt und freundlich ist«. Schließlich findet Hegels absprechen-
des Urteil, daß die Allegorie nur eine unvollkommene Kunst sei,
sein geschichtsphilosophisches Korrelat in der melancholischen
favorável
Feststellung, daß »unsere Gegenwart [... ] der Kunst nicht gün-
afirmação
distante
stig« sei. Gleich weit etwa steht die Allegorie vom Ideal der Kunst
ab wie die Moderne darüber hinaus ist. Hegel kritisiert die allego-
rische Nicht-Kunst, weil sie sich der Konkurrenz mit dem Wissen
unterwirft, und er bedauert die moderne Nicht-mehr-Kunst, weil
sie in der Konkurrenz mit dem Wissen unterliegen muß. - Hegel
versteht die Kunstwissenschaft und damit seine eigene Ästhetik als
superioridade
Ergebnis und Teil der spezifisch modernen Überlegenheit des
theoretischen Wissens über die sinnliche Anschauung. Während in
den Kunstwerken die Begriffe »eine Entfremdung zum Sinnlichen
hin« erfahren haben, nimmt die Kunstwissenschaft den umgekehr-
ten Weg, indem sie »das Entfremdete zu Gedanken verwandelt«
(13,28). Folgt also nicht Hegels Ästhetik selbst, deren Begriffe die
sinnliche Mannigfaltigkeit der Kunstwerke zum geschichtlichen
System ordnen, insgeheim einem allegorischen Verfahren? »Denn
in der Tat erscheint das Kunstschöne in einer Form, die dem
Gedanken ausdrücklich gegenübersteht und die er, um sich in
seiner Weise zu betätigen, zu zerstören genötigt ist« (13, 27).
Wie die Synopse zeigt, stimmen Allegorie und Moderne in allen
wesentlichen Merkmalen überein: Überwiegen philosophischer
prioridade
Allgemeinheit, Herrschaft gesellschaftlicher Abstraktion, Vorrang
des Wissens,
limitação
Reflektiertheit, Entfremdung gegenüber dem Sinnli-
marginalidade
chen, Einschränkung der Subjektivität, RandsteIlung des Ästheti-
schen, Ordnung der Kunst durch Begriffe.
Unter diesen Merkmalen nimmt die >Herrschaft der Abstrak-
tion< eine zentrale Stellung ein, von der sich die anderen Merkmale
ableiten. >Abstraktion< fungiert nämlich als Grenzbegriff der
Ästhetik, insofern sie bezeichnet, was dem Wesen der Kunst
entgegensteht, und zugleich als Grundbegriff der neueren Gesell-
schaftsgeschichte, insofern sie bezeichnet, in welche Richtung sich
das Verhältnis von Individuum und Staat verändert hat. Daher ist
die Bedeutung der >Abstraktion< in Hegels Ästhetik außerhalb der
Ästhetik begründet, speziell in der Rechtsphilosophie. Das in der
Gegenwart so verbreitete und der Kunst so abträgliche »Bedürf-
manter (firme)
nis, allgemeine Gesichtspunkte festzuhalten und danach das
Besondere zu regeln« (13,25), verweist letztlich auf die Grundla-
gen der »bürgerlichen Gesellschaft«, die Hegel im dritten Teil

43
seiner Philosophie des Rechts umrissen hat. In der bürgerlichen
Warenproduktion, in der ökonomischen Konkurrenz unddesignou in der
divisão do trabalho
Arbeitsteilung hat er die Ursachen der Abstraktion namhaft
gemacht: »Die Bedürfnisse und die Mittel werden als reelles
Dasein ein Sein für andere, durch deren Bedürfnisse und Arbeit die
satisfação condicionados
Befriedigung gegenseitig bedingt ist. Die Abstraktion, die eine
mutuamente

Qualität der Bedürfnisse und der Mittel wird, wird auch eine
Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinan-
der« (§ 192; 7, 349); »Das Allgemeine und Objektive in der Arbeit
liegt aber in der Abstraktion, welche die Spezifizierung der Mittel
und Bedürfnisse bewirkt, damit ebenso die Produktion spezifiziert
und die Teilung der Arbeiten hervorbringt« (§ 198; 7, 352).
Im bürgerlichen »System der Bedürfnisse« geht die ursprüngli-
che sinnliche Unmittelbarkeit ihrer Befriedigung verloren: 1. in
der Produktion, weil der Gegenstand nicht mehr von einem Indivi-
duum hergestellt wird, sondern arbeitsteilig von vielen, so daß
produzidos

jeder einzelne nur abstrakt am ganzen Produkt teilhat; 2. auf dem


Markt, weil er die Bedürfnisse des Individuums durch Mittel
befriedigt, über die es nicht selbst verfügt, die es vielmehr erst
durch die Abstraktion des gegenseitigenveículosTausches von anderen
erhält; 3. im Staat, der die allgemeinen Verkehrsformen der durch
ihre verschiedenen Fähigkeiten und Interessen partikularisierten
und isolierten Individuen regelt. So entsteht, wie es Hegel in der
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften nennt, »das
System der Atomistik. Die Substanz wird auf diese Weise nur zu
einem allgemeinen, vermittelnden Zusammenhange von selbstän-
digen Extremen und von deren besonderen Interessen; die in sich
entwickelte Totalität dieses Zusammenhangs ist der Staat als
bürgerliche Gesellschaft oder als äußerer Staat« (§ 523; 10,
31). [77]
Die Abstraktion, welche die - wie wir jetzt präzisieren können:
bürgerliche - Moderne beherrscht, schränkt die Lebensformen
und Erfahrungsmöglichkeiten des Individuums ein. Dies hat Hegel
bereits in der Phänomenologie des Geistes angedeutet: »In der
neueren Zeit hingegen Cd. h. im Unterschied zur Antike] findet das
Individuum die abstrakte Form vorbereitet; die Anstrengung, sie
zu ergreifen und sich zu eigen zu machen, ist mehr das unvermit-
telte Hervortreiben des Innern und abgeschnittene Erzeugen des
Allgemeinen als ein Hervorgehen desselben aus dem Konkreten
und der Mannigfaltigkeit des Daseins« (3, 37). Mit dem Schwin-

44
plenitude
den konkreter Tätigkeiten und sinnlicher Vollständigkeit [78] geht
das moderne Individuum eben jener Qualitäten verlustig, die zur
künstlerischen Produktivität und zur ästhetischen Erfahrung not-
wendig sind. (Hegel hat diese für das Kunstwerk günstigsten
Voraussetzungen im »Weltzustand« der »individuellen Selbstän-
digkeit«, der »Heroenzeit«, geschichtlich zu lokalisieren versucht;
13, 236 ff). An der Verfallsgeschichte der Individualität wird
sichtbar, worin die zwei Fassungen der Abstraktion, die ästheti-
sche und die historische, übereinkommen: die Abstraktion, die
dem individuellen Wesen der Kunst fremd und feindlich gegen-
übersteht, ist Resultat eines geschichtlichen Prozesses, der das
Abstrakt-Allgemeine der Gesellschaft dem Konkret-Besonderen
des Individuums entgegengesetzt hat. In der modernen »prosai-
schen« Welt »gewährt das Individuum [... ] nicht den Anblick der
selbständigen und totalen Lebendigkeit und Freiheit, welche beim
Begriffe der Schönheit zugrunde liegt« (13, 198).
Wenn im neuzeitlichen, d. h. »gesetzlich geordneten« Staat »das
Allgemeine als solches herrscht in seiner Allgemeinheit, in welcher
die Lebendigkeit des Individuellen als aufgehoben oder als neben-
sächlich und gleichgültig erscheint« (13, 242), so ist damit in
Hegels gesellschaftlichen Kategorien genau jenes Verhältnis von
Allgemeinem und Individuellem umrissen, mit dem er - ohne den
Zusammenhang anzudeuten (vielleicht: ohne ihn wahrhaben zu
inadequação
wollen) - die ästhetische Unzulänglichkeit der Allegorie begründet.
Denn er sieht den Hauptnachteil eines »allegorischen Wesens«
darin, daß es »weder zu der konkreten Individualität eines griechi-
schen Gottes noch eines Heiligen oder irgendeines wirklichen
Subjekts« gelangt, da »es die Subjektivität, um sie der Abstraktion
ihrer Bedeutung kongruent zu machen, so aushöhlen muß, daß
alle bestimmte Individualität daraus entschwindet« (13,512). Die
>unselbständige Individualität< der bürgerlichen Gegenwart und
oca
die >ausgehöhlte Individualität< der allegorischen Personifikation
entsprechen sich im Wortlaut wie in den inneren Bestimmungen.
Zuweilen, wenn Hegel die Folgen der gesellschaftlichen
Abstraktion detailliert, scheinen die allegorischen Personifikatio-
nen ins Leben zu treten. Ein Beispiel: vom poetischen Kunstwerk
sei zu fordern, daß sein Inhalt »nicht als abstraktes Allgemeines
gefaßt« sein dürfe, sondern »dem Geist, dem Gemüt, dem Wollen
bestimmter Individuen angehören« müsse (15, 248); dieses inhalt-
liche Erfordernis selbständiger Individualität werde »ln unseren

45
Tagen von einem Offizier, General, Beamten, Professor usw.« -
denken wir sie uns als ,Helden< einer Dichung - nicht mehr
eingelöst, weil deren "Charakter« äußeren Abhängigkeiten unter-
liege und "als abstraktes Ganzes genommen die Form eines von
der Individualität des sonstigen totalen Charakters losgerissenen
Allgemeinen, der Pflicht z. B., annehmen kann« (15, 249). Als
,Charaktermaske< [79] wird die ,ausgehöhlte Individualität< der
Allegorie gesellschaftliche Wirklichkeit. Gegen Hegels Absicht
zwar, doch mit Hilfe von Hegels System gewinnt die allegorische
Form eine unvorhergesehene historische Bedeutung. In der inne-
ren Konsequenz von Hegels Ästhetik ist der Gedanke vorbereitet,
daß die Allegorie eine adäquate Kunstform der Moderne darstelle.
Hegels Kunstbegriff schließt die Allegorie aus. "Denn bei uns ist
es die konkrete Subjektivität allein, für welche wir in den Darstel-
lungen der Kunst ein tieferes Interesse empfinden«, so sehr auch in
der gegenwärtigen Wirklichkeit die "allgemeinen Mächte« herr-
schen und deshalb "kahle frostige Allegorien« (13,291 f) sich der
modernen Kunst anbieten. Statt von der Allegorie die gegenwär-
tige Herrschaft der Abstraktionen dargestellt zu sehen, ordnete
Hegellieber die Kunst überhaupt der Vergangenheit zu. So konnte
er hoffen, wenigstens für die Anschauung der vergangenen Kunst
eine Ästhetik der substantiellen Subjektivität gerettet zu haben.
Als wollte er die naheliegende Alternative einer allegorischen
Kunst abwehren, dekretiert er: die "treibenden Gewalten, wenn
sie zur Darstellung kommen, dürfen jedoch nicht in ihrer Allge-
meinheit als solcher auftreten, obschon sie innerhalb der Wirklich-
keit des Handelns die wesentlichen Momente der Idee sind, son-
dern sie sind zu selbständigen Individuen zu gestalten. Geschieht
dies nicht, so bleiben sie allgemeine Gedanken oder abstrakte
Vorstellungen, welche nicht in das Gebiet der Kunst hineingehö-
ren« (13, 290). War schon die Wirklichkeit ,allegorisch< gewor-
den, die Kunst sollte es nicht werden. - Gerade aus Hegels Abwei-
sung ließe sich die Allegorie als die Form begreifen, welche in die
Kunst hereinholt, was "nicht in das Gebiet der Kunst« gehört: die
Abstraktionserfahrungen der Moderne. [80]
Im Verfolg der immanenten Logik von Hegels Ästhetik gewinnt
die Allegorie die Würde, der er sie durch ästhetische Kritik entho-
ben hatte, geschichtsphilosophisch wieder zurück. Unvermeidlich
wird nämlich der Schluß, daß die Allegorie das Ende der Kunst im
Medium der Kunst selbst darstelle. ,Im Medium der Kunst< muß

46
hier heißen: im Übergang von der Kunst zur Nicht-Kunst, in der
Trennung zwischen sinnlicher Erscheinung und gedanklicher
Bedeutung. In der Geschichte des Geistes zeigt das Zurückbleiben
der sichtbaren Kunst hinter den unsichtbaren Gedanken (zunächst
der Religion, schließlich der Philosophie) eine bedeutsame Stufe
an. Eben diesen Prozeß vermöchte die allegorische Entformung
des sinnlichen Scheins zum abstrakten Gedanken strukturell abzu-
bilden. Dann korrespondierte die Form einer künstlerischen Defi-
zienz der Epoche einer defizienten Kunst.
Zwei Vorentscheidungen haben Hegel daran gehindert, diese
mögliche Annäherung zwischen allegorischen und historischen
Abstraktionstendenzen zu erwägen: 1. Durch das ästhetische Ideal
des Klassizismus, dem auch Hegel vertraute, war die Allegorie
derart disqualifiziert, daß sie zwar zu den Phänomenen ästheti-
açoitar
scher Negativität geschlagen werden konnte, nicht aber zu deren
Darstellung tauglich schien; 2. die Auflösung der Kunst in der
Kunst sah Hegel bereits von der romantischen Kunst geleistet; sie
sei "das Hinausgehen der Kunst über sich selbst, doch innerhalb
ihres eigenen Gebiets und in Form der Kunst selber« (13, 113).
Allerdings verweist die romantische Kunstform, an der sich die
aponta

fortschreitende Trennung zwischen sinnlicher Subjektivität und


äußerlichem Stoff zu erkennen gibt, unbewußt auf jenes Resultat,
»es sei in einem anderen Felde als in dem der Kunst, daß sie ihre
união
absolute Vereinigung zu suchen haben« (14, 197). Dagegen hat
die Allegorie diese Trennung bewußt vollzogen und damit die
Disparatheit von Geist und Erscheinung in ihrer disparaten Form
verkörpert. (Jedoch gelangt auch die Allegorie nicht zu der »abso-
luten Vereinigung«, die Hegel der Philosophie aufträgt - die Alle-
desunião
gorie verharrt im Zustand der ,veruneinigung< von Idee und
Realität, womit sie wohl näher bei der geschichtlichen Wirklich-
keit bleibt als der spekulative Idealismus.)
considerações
Solche hegelianisierenden Überlegungen, die über Hegel hinaus
gehen, sind nur deshalb sinnvoll, weil in der Kunst und Literatur
des 19. Jahrhunderts die totgesagte Allegorie wiederkehrt. Erst die
wirkliche Allegorie in der ästhetischen Praxis läßt nach der mögli-
chen Allegorie in der ästhetischen Theorie suchen. Als Hegel seine
Vorlesungen über die Asthetik hielt, konnte die allegorische Kunst
als vergangen gelten. Der Beginn ihrer Wiederaufnahme in der
romantischen Poesie und Malerei war leicht zu übersehen; Faust
II war noch nicht erschienen. Immerhin war es ein Schüler Hegels,

47
constituição
C. H. Weiße, der als erster die allegorische Verfassung von Fau-
st II erkannte und zu deuten versuchte. [81] Es bedurfte nur einer
geringen Modifikation, um mit Hegels Urteil, die Philosophie
habe die Kunst überholt, ein Werk zu begreifen, das die Philoso-
phie in die Poesie einbezog, wodurch es seine philosophische
Interpretation vorbereitet hatte. Zumindest in den geschichtlichen
Fluchtlinien der Hegelschen Ästhetik konkretisiert sich der virtu-
elle Begriff der Allegorie zur begriffenen Allegorie.
Hegel vermochte eine solche Bedeutung der Allegorie, obgleich
sie in seinem System angelegt ist, nicht anzuerkennen, weil sie
seinem Postulat einer Versöhnung von Allgemeinem und Besonde-
rem, Abstraktem und Sinnlichem im Wege gestanden wäre. [82]
Einst war diese Versöhnung von der Kunst geleistet worden, künf-
tig sollte sie von der Philosophie geleistet werden - sie war, nach
Hegels Einschätzung, von seiner Philosophie schon geleistet. Wie
hätte eine Kunstform wieder aufleben dürfen, die nicht die ideale
reconciliação
Versöhnung, sondern die historische Unversöhntheit jener Gegen-
sätze verkörperte? Hätte sie nicht die philosophische Anstrengung
einer Versöhnung von vornherein diskreditiert? Erst dann hat die
Allegorie eine Chance, aus der systematischen Potentialität in die
ästhetische Realität zu treten, wenn - im Sinne Hegels - die
contrariamente
Versöhnung durch Kunst vergangen und - entgegen der Hoffnung
fracassou
Hegels - die Versöhnung durch Philosophie gescheitert ist.

48
4

CHARAKTERMASKEN UND PERSONIFIKATIONEN


IN DER KRITIK
DER POLITISCHEN ÖKONOMIE

In einer frühen Aufzeichnung über das Geld (1844) zitiert Kar!


Marx eine Rede Mephistos aus dem Dialog mit Faust im Studier-
zimmer (V. 1820 ff):
Was Henker! Freilich Händ' und Füße
Und Kopf und Hintre, die sind dein!
Doch alles, was ich frisch genieße,
Ist das drum weniger mein?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann
Als hätt' ich vierundzwanzig Beine.

Marxens »Auslegung der goethischen Stelle« lautet: »Was durch


das Geld für mich ist, was ich zahlen, d. h., was das Geld kaufen
possuidor
kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft
propriedades
des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes
sind meine - seines Besitzers - Eigenschaften und Wesenskräfte.
Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine
Individualität bestimmt.« [83] Erst im Zweiten Teil des Faust,
besonders im 1. Akt, der am Kaiserhof spielt, entfaltet sich Mephi-
stos zynische Anmerkung aus dem Ersten Teil zum zentralen
Thema. Hier nimmt der Astrolog, dem Mephisto einflüstert,
dessen These wieder auf: »Zum Silber Gold, dann ist es heitre
resto
Welt; / Das übrige ist alles zu erlangen: / Paläste, Gärten, Brüst-
ganhar

lein, rote Wangen« (4966 ff), um den riskanten Plan einer zweifel-

49
haften Geldschöpfung zu propagieren, der schließlich auf die
Erfindung des Papiergeldes hinausläuft. Zwischen die Szenen der
kaiserlichen Geldnot und ihrer mephistophelischen Behebung ist
remédio

die »Mummenschanz« eingeschoben - doch selbst in diesem Kar-


decisiva
neval spielt die entscheidende Rolle das Geld: denn beschlossen
determinante
und beherrscht wird das Fest von Faust in der Maske des Plutus.
atende
Auf diese Maskerade des Geldes trifft die Erkenntnis zu, die Marx
aus Mephistos Exempel gewonnen hat: »Da das Geld als der
existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle Dinge
verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und
invertido
Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechs-
lung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Quali-
täten.« [84] In seiner neuen Rolle wird Faust als »Vermummter
encapuzado

Plutus, Maskenheld« (5737) apostrophiert; im 5. Akt von Faust II


hat sich die Rolle des Reichtums und der Herrschaft in Fausts
Charakter eingesenkt. Für beide Auftritte Fausts, auf der Mum-
menschanz und auf dem Neuland, bieten sich Begriffe an, die
Marx zwar erst im Kapital systematisch gebraucht, die sich aber
bereits in der »Auslegung der goethischen Stelle« abzeichnen:
»Personifikation« und "Charaktermaske«.
Den Begriff der »Charaktermaske« führt Marx programma-
tisch zu Beginn des 2. Kapitels ein, das den »Austauschprozeß«
analysiert: »Die Personen existieren hier nur füreinander als
Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir
werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die
ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifi-
kationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie
sich gegenübertreten« (99 f). [85] Wenn die Auskunft des Grimm-
schen Deutschen Wörterbuchs zutrifft, so ist der Ausdruck vor
ocupar(-se)
Marx erstmals und einzig bei Jean Paul zu belegen. [86] Diese
procedência
literarische Herkunft merkt man den Sätzen an, in denen Marx
1839, bei den Vorarbeiten zu seiner Dissertation, zum ersten Mal
das Wort »Charaktermaske« gebraucht: es gebe in der Philoso-
mais recentemente recorrentes
phiegeschichte, wie jüngst bei Hegel, wiederkehrend »Momente,
in welchen die Philosophie die Augen in die Außenwelt kehrt,
nicht mehr begreifend, sondern als eine praktische Person gleich-
sam Intrigen mit der Welt spinnt, aus dem durchsichtigen Reiche
des Amenthes heraustritt und sich ans Herz der weltlichen Sirene
lança-se Aurora veste
wirft. Das ist die Fastnachtszeit der Philosophie, kleide sie sich
nun in eine Hundetracht wie der Kyniker, in ein Priestergewand
disfarce de cachorro batina

50
"vestido primaveril"
wie der Alexandriner oder in ein duftig Frühlingskleid wie der
Epikureer. Es ist ihr da wesentlich, Charaktermasken anzule-
gen.« [87] Nicht bloß das entscheidende Wort, auch das vorausge-
hende Bravourstück gehäufter Vergleiche, katachretischer Bilder
und kühner Metaphern verrät das Vorbild Jean Pauls. [88] Bereits
das Rahmenbild der Maskerade, das die wuchernde Metaphorik
des philosophischen >Fastnachtsspiels< hervortreibt und notdürftig
zusammenhält, ist ein von Jean Paul bevorzugtes Motiv. Es kehrt,
wie wir noch sehen werden, in Marx' späterem Werk mehrfach
wieder. Bereits bei der ersten Verwendung im philosophischen
Kontext der Doktorarbeit zeigt der Begriff der »Charaktermaske«
eine Struktur, die er in der Kritik der politischen Ökonomie
beibehalten wird: 1. Was zunächst Maskenfreiheit scheint, erweist
sich am Ende als Rollenzwang; eine unsichtbare Gesamtregie hat
den sichtbaren Mitspielern ihre Rolle zugewiesen. 2. Charakter-
masken entstehen, wenn ein Abstraktum, die »Philosophie« bzw.
die »ökonomischen Verhältnisse«, eine greifbare Gestalt in der
Wirklichkeit, der »Welt« bzw. der »Personen«, anzunehmen
trachtet. Struktur und Funktion der Marxschen »Charaktermas-
remonta
ken« erinnern an die allegorischer Figuren. Dies wird unabweis-
bar, sobald man den Begriff beachtet, den Marx mit dem der
Charaktermaske verbindet: »Personifikation «, bekanntlich ein
Synonym für Allegorie (im engeren Sinne: Verkörperung eines
Abstraktums als Person). An der zitierten Stelle hatte es geheißen,
»daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die
Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind«. Dem-
nach bezeichnen Personifikation und Charaktermaske unter-
schiedliche Aspekte desselben Sachverhalts: jene geht von der
abstrakten Kategorie aus, die sich eine Person sucht, diese von der
Person, die einer abstrakten Kategorie dient. Der Wortgebrauch
bei Marx bestätigt diese Unterscheidung; er erklärt im Vorwort
zum Kapital: »es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie
die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von
bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen« (16), und bei
anderer Gelegenheit: »Die ökonomische Charaktermaske des
Kapitalisten hängt nur dadurch an einem Menschen fest, daß sein
Geld fortwährend als Kapital funktioniert« (591). [89] Es sind
zwei unterschiedene Begriffe nötig, um ein dialektisches Verhält-
nis zu fassen: die Personifikation von Sachen und die Versachli-
chung von Personen.

51
Jetzt erhellt sich, weshalb Marx das Exempel Mephistos faszi-
nieren mußte. Hier sah er die Form der Individualität unter der
Herrschaft ökonomischer Kategorien als Komplement von Perso-
nifikation und Charaktermaske beschrieben. Wer die Kutsche
samt Pferden kaufen kann, verfügt über Schnelligkeit, als wäre es
seine persönliche Eigenschaft, obwohl es in Wahrheit eine Eigen-
schaft des verwandlungsfähigen Geldes ist: »Das, was ich bin und
vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.«
An Stelle der ausgelöschten natürlichen Individualität entsteht
artificial
eine künstliche Person. In ihr personifiziert sich das abstrakte
Vermögen des Geldes, indem sie dessen verschiedene Realisatio-
nen als Attribute eines Individuums vorführt und in der Charak-
termaske des Besitzers zusammenhält. Für den »Kapitalisten« gilt,
daß »sein Tun und Lassen nur Funktion des in ihm mit Willen und
Bewußtsein begabten Kapitals« ist (619).
Nicht allein die literarische Herkunft der von Marx gewählten
Begriffe deutet auf die Kunstform Allegorie. Auch die innere
Struktur der ökonomischen Personifikationen und Charaktermas-
ken stimmt, so zeigt sich, mit der allegorischer Figuren überein.
Da die abstrakte Macht des Kapitals gleich einer Allegorie »mit
Willen und Bewußtsein begabt« ist, usurpiert es den Platz der
willen- und bewußtlosen Subjekte (»Sie wissen das nicht, aber sie
tun es«, 88). In diesem System bestimmt fortan das Allgemeine die
Erscheinung des Individuellen: »Nur als Personifikation des Kapi-
tals ist der Kapitalist respektabel. [... ] die Konkurrenz herrscht
jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der
kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf«
(618). Die Aufgabe, die den konkreten Individuen verbleibt, ist es,
den übermenschlichen Abstraktionen den Schein einer menschli-
chen Gestalt zu leihen. Sobald »die Produktivkräfte diese gleich-
gültige Gestalt für den Verkehr der Individuen als Individuen
angenommen« haben - so heißt es schon in der Deutschen Ideolo-
gie -, werden die wirklichen Menschen zu »abstrakten Individuen«
(3,67). Das sog. >Individuum< resultiert aus einer Division der
fragmento
Sachen; es bezeichnet ein letztes, unteilbares Bruchstück
mais-valia
eines
"splits"
sachlichen Verhältnisses. Ein Beispiel: »Der Mehrwert spaltet sich
daher in verschiedne Teile. Seine Bruchstücke fallen verschiednen
Kategorien von Personen zu und erhalten verschiedne, gegenein-
ander selbständige Formen, wie Profit, Zins, Handelsgewinn,
Grundrente usw.« (589). Demnach können die wirklichen Perso-

52
nen nur als Medien gesellschaftlicher Prozesse gelten, die einer
eigenen, von der menschlichen Natur abgelösten begrifflichen
Logik folgen. Während die natürliche - d. h. seit dem 18. Jahrhun-
dert für natürlich erklärte - Sehweise auf die lebendigen Menschen
als verantwortliche Ursache der gesellschaftlichen Realität blickt,
kehrt die Marxsche Analyse die Perspektive um, weil sich in der
Wirklichkeit selbst diese Natur verkehrt hat. Real und zur »zwei-
ten Natur« geworden ist die begriffliche Abstraktion. Aus dieser
Wirklichkeit und nicht, wie das 18. Jahrhundert vermutet hatte,
aus dem poetischen Unvermögen der Künstler gehen nun die
allegorischen Personifikationen hervor.
Allerdings hält Marx insoweit an den Wertungen des 18. Jahr-
hunderts fest, als auch er in der allegorischen Existenz und in der
Existenz von Allegorien die Verkehrung der Natur kritisiert. Man
muß das Kapital unter einem doppelten Aspekt lesen: als begriffli-
che Analyse der ökonomischen Abstraktionen - und als Klage über
den Untergang des konkreten Subjekts in diesen Abstraktionen.
Der zweite Aspekt bleibt stumm (und wird deshalb von den
meisten Exegeten des Kapital vernachlässigt); er enthält dennoch
das eigentliche Motiv für Marx' Interesse am ersten. Gerade an
den Schnittpunkten beider Aspekte sind die Begriffe von »Personi-
fikation« und »Charaktermaske« zu finden, da sie ja die Verdrän-
gung und Ersetzung des Subjekts durch Abstraktionen bezeichnen.
Was das bürgerliche Denken für gegeben hielt: die lebendige
engano
Realität des Subjekts, erkennt Marx als eine Täuschung, aner-
kennt er jedoch zugleich als Ziel. Das Subjekt kann erst werden,
wenn die Negation seiner Negationen gelungen ist. Die »Kritik der
politischen Ökonomie« versteht sich als theoretischer Beitrag zu
diesem Ziel, das jenseits der gegenwärtigen allegorischen Verhält-
nisse liegt. Wann immer Marx sie beschreibt, greift er zum Bild
einer »verzauberten und verkehrten Welt« (25, 835), die also auf
ihre Entzauberung und Richtigstellung wartet.
»Kritik der politischen Ökonomie« heißt also auch, auf die
ästhetische Ebene ihrer metaphorischen
mais detalhado
Sprache bezogen, Kritik
der allegorischen Welt. Am ausführlichsten handelt von ihr das
Kapitel über den »Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«
(85-98). Es liest sich wie die Wiedergabe und Kritik eines allegori-
sutileza
schen Theaters - hier gibt es »metaphysische Spitzfindigkeit und
theologische Mucken«; die »sinnlich übersinnliche« Ware hat
einen »mystischen Charakter«; »gesellschaftliche Hieroglyphen«

53
fantasma
treten auf; »Zauber«, »Spuk«, »Verrücktheit«, »Geheimnis« und
dissimulação
"Verschleierung« gehören dazu. Kompakter noch wirkt die alle-
gorische Szene, mit der Marx die »trinitarische Formel« im
3. Band des Kapital verbildlicht:

Im Kapital-Profit, oder noch besser Kapital-Zins, Boden-Grundrente, Arbeit-


Arbeitslohn, in dieser ökonomischen Trinität als dem Zusammenhang der
Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen Quellen ist die
Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der
gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stoffli-
chen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit voll-
endet: die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur
le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar
als bloße Dinge ihren Spuk treiben. (25, 838)

In einem Vorgriff - den später die Interpretation einholen wird -


ließe sich sagen, daß diese allegorische Inszenierung der Waren-
analyse als Regieanweisung zu einigen Partien aus Faust II, insbe-
sondere zur »Mummenschanz«, dienen könnte. Wenn Marx die
Beziehung zwischen Ökonomie und Subjekt mit allegorischen
Ausdrücken und Bildern illustriert und Goethes Allegorien wie-
derum die ökonomischen Bedingungen des Rollenspiels themati-
sieren - dann beginnen sich das Kapital und Faust II wechselseitig
zu kommentieren. Zunächst mag der offensichtliche Anachronis-
mus gegen diese Parallele sprechen. Doch beträgt der Zeitabstand
zwischen der Hauptarbeit an Faust II und dem Beginn von Marx'
ökonomischen Studien nicht mehr als zehn Jahre. In sein System
bringt Marx ältere Erfahrungen und Erkenntnisse über die bürger-
lichen Verkehrsformen ein, die bereits im 18. und frühen 19. Jahr-
hundert Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft und Erklärer ihrer
Wirtschaft formuliert oder vorbereitet haben. Selbst die Marxsche
Analyse der Charaktermaske kann man bei Turgot (1766) oder
Adam Müller (1816) angelegt sehen [90], bei Autoren also, deren
wirtschaftstheoretische Schriften Goethe kannte. [91]
Goethes Bibliothek enthielt 46 Bücher zur Nationalökonomie,
agri-
59 zur Staatskunde und Politik, 38 zur Land- und Forstwirt-
silvicultura

schaft [92]; durch Ausleihen aus der Weimarer Bibliothek erhöht


posto de governo
sich die Zahl der einschlägigen Titel. Seine Regierungsämter ver-
langten und erbrachten eine eindringliche Kenntnis wirtschaftli-
cher und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Sein Interesse an
diesem Gebiet reicht aber bis in die Frankfurter Zeit zurück; durch
den Umgang mit Schlosser und Merck sowie durch die Rezensen-

54
tentätigkeit bei den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772
lernte er die Wirtschaftslehren der Physiokraten, insbesondere
Turgots und Schlettweins, kennen. Später vermitteln ihm u. a.
Büsch, Sartorius und Buquoy die Grundgedanken Adam
Smith'. [93J In den letzten Lebensjahren, da er an Faust II arbeitet,
intensiviert Goethe seine ökonomischen Studien: er liest die ameri-
kanischen Reiseberichte des Prinzen Bernhard von Sachsen-Wei-
mar, Gülichs Abhandlungen zur Weltwirtschaft, Charles Dupins
Berichte über die französische und englische Handelsrnacht, sogar
die industriellen Utopien der Saint-Simonisten, deren Zeitschrift
Le Glohe er seit 1825 abonniert hat. Was Goethe vom technischen
Stand, den politischen Bedingungen, den aktuellen Konjunkturen
und den wissenschaftlichen Theorien der europäischen Wirtschaft
wußte, reicht also weit über seine Weimarer Lebenswelt hinaus. In
großen Partien sind die ökonomischen Kenntnisse von Goethe und
Marx identisch, da sie beide an der epochalen Diskussion über
Ursprung und Wesen der bürgerlichen Gesellschaft teilhaben.
Bislang ruht die Verbindung zwischen traditioneller Allegorie
fundamentos
und moderner Ökonomie überwiegend auf philologischen Stüt-
zen: auf den Zitaten aus Jean Pauls Asthetik und Goethes Faust,
die Marx in seine Arbeiten übernommen hat; und umgekehrt auf
der ökonomischen Lektüre Goethes; vor allem auf Herkunft und
Verwendung der Begriffe »Personifikation« und »Charakter-
maske«; und schließlich auf den allegorischen Szenen, die Marx
escondeu
selbst in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk nicht scheut.
Damit ist erwiesen, daß aus der Logik des Kapital sich allegorische
Konstellationen ergeben. Aber damit ist noch nicht begründet,
warum sich diese Konstellationen ergeben. Um diese Frage zu
beantworten - und einzig sie ist den immanenten Ansprüchen von
reivindicações
razoáveis
Marx' Kritik der politischen Ökonomie angemessen -, bedarf es
einer Rekonstruktion jener Momente im System des Kapitals,
welche die charakteristisch >allegorischen< Phänomene der
Abstraktion vom Individuellen und der Vertauschung des Sinnli-
chen und Unsinnlichen produzieren. Man muß, wie es Marx im
Kapital getan hat, mit der Analyse der Ware beginnen. [94J
Die Ware steht am Anfang, weil sie im Kapitalismus als »Ele-
mentarform« (49) des dinglichen Reichtums erscheint und
zugleich komplexe menschliche Leistungen und Bedeutungen ver-
birgt. Zwar resultiert sie aus gesellschaftlichen Beziehungen, aber
als Resultat ist sie den Menschen bestimmend vorgegeben, die ihre

55
gesellschaftlichen Beziehungen durch die Ware sachlich vermit-
teln. Im ersten Kapitel entwickelt Marx die sachliche Logik dieser
menschlichen Relationen an der» Wertform« der Ware, die ideo-
logische Verblendung durch jenen dinglichen Schein am »Fetisch-
charakter der Ware«. Im folgenden richte ich die Aufmerksamkeit
darauf, wie sich in der Wertform gesellschaftliche Bedeutung und
sachliche Erscheinung zueinander verhalten.
Als erstes unterscheidet die Analyse der Ware zwischen ihrem
Gebrauchswert und ihrem Tauschwert. Der Gebrauchswert an
sich, der die natürlichen Eigenschaften des Warenkörpers bezeich-
net, wie er aus der Arbeit hervorgeht und zur Befriedigung
menschlicher Bedürfnisse dient - dieser Gebrauchswert spielt für
die weitere Darstellung im Kapital deshalb keine Rolle, weil der
Kapitalismus die selbständige Macht aller Natur gebrochen und
sie zu einem Objekt der Aneignung, d. h. zu einer einholbaren
apropriação

Voraussetzung um geschaffen hat. Zwar ist nicht der Gebrauchs-


desapareceu
wert überhaupt verschwunden, wohl aber die Unmittelbarkeit
seiner Erzeugung und seines Genusses. Ökonomisch existiert der
Gebrauchswert nur noch im Bezug auf sein Gegenteil, den Tausch-
wert. In ein »Austauschverhältnis« können die Waren nur treten,
wenn »die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten« (51) vollzo-
gen ist. Das bedeutet, daß ihre besonderen sinnlichen Eigenschaf-
ten gleichgültig werden; in diesem Verhältnis bilden die
Gebrauchswerte »die stofflichen Träger des - Tauschwerts« (50).
Damit zeichnet sich die erste, elementare Form der >Personifika-
tion< ab: der Gebrauchswert als Maske des Tauschwerts (der auf
der nächsten Stufe selber eine »Erscheinungsform des Werts«, 53,
darstellt). Der Prozeß der Abstraktion von den ursprünglichen
Produkten menschlicher Arbeit läßt eine »gespenstige Gegen-
ständlichkeit« (52) zurück - ein Ausdruck, der ebenfalls in den
Bildbereich der allegorischen Personifikation gehört.
Sollen zwei Waren ausgetauscht werden, so ist dafür die quanti-
tative Gleichheit zweier qualitativ verschiedener Dinge erforder-
lich. Was diese Gleichsetzung für beide Waren bedeutet und
wodurch sie möglich ist, soll die Untersuchung der »Wertform«
enträtseln (wie Marx den Zustand der Waren im Tausch nennt).
Da der Maßstab des Vergleichs außerhalb der stofflichen Natur
beider Waren liegen muß, in einem gemeinsamen Dritten, erhellt
diese Analyse zugleich die Entstehung der Abstraktion. - Marx
illustriert die einfache Wertform an der Ware »20 Ellen Lein-

56
wand«, deren Wert in der Ware » 1 Rock« ausgedrückt werden
soll: »Die Leinwand drückt ihren Wert aus im Rock, der Rock
dient zum Material dieses Wertausdrucks. Die erste Ware spielt
eine aktive, die zweite eine passive Rolle. Der Wert der ersten
Ware ist als relativer Wert dargestellt oder sie befindet sich in
relativer Wertform. Die zweite Ware funktioniert als Äquivalent
oder befindet sich in Äquivalentform« (63). [95] Mit dieser Wert-
gleichung, die jedem Warentausch zugrunde liegt, beginnt eine
folgenreiche Verkehrung: »Der Wert der Ware Leinwand wird
daher ausgedrückt im Körper der Ware Rock, der Wert einer
Ware im Gebrauchswert der andren. Als Gebrauchswert ist die
Leinwand ein vom Rock sinnlich verschiednes Ding, als Wert ist
sie )Rockgleiches< und sieht daher aus wie ein Rock. So erhält sie
eine von ihrer Naturalform verschiedne Wertform« (66). Sie
pele natural
macht, wie später der bildliche Ausdruck heißt, »die Naturalhaut
einer andren Ware zu ihrer eignen Wertform« (71).
Mehrfach deutet diese Interpretation der Wertform auf die
Genese allegorischer Verhältnisse voraus:
1. Jede Ware kann ihren Wert nicht an sich selbst, sondern nur
an einer anderen Ware darstellen. Ihr Wesen, der Wert, erscheint
also in einer fremden Gestalt.
2. »Gespenstig« werden die Gegenstände, die in die Wertform
gesetzt sind, weil eine Ware von der anderen die »Naturalhaut«
ablöst und sich selber umhängt, so daß eine vollständige Dissozia-
tion von Waren körper, fremder Naturalhaut und abstraktem
Wert einsetzt. Die Beziehung zwischen diesen Teilen ist nur noch
begrifflich, nicht mehr natürlich zu verstehen.
3. Das Wesen der Ware, ihr Wert, ist abstrakt, die Erscheinung
dieses Wesens jedoch sinnlich, allerdings von einer fremden, gelie-
henen Sinnlichkeit. Umgekehrt: die Sinnlichkeit des Warenkörpers
ist notwendig, aber nur als Erscheinung eines Abstraktums.
4. Die sinnlich unterschiedenen Waren werden auf eine ab-
strakte Gemeinsamkeit bezogen, den Wert. Als Äquivalent der
Leinwand vertritt der Rock eine »übernatürliche Eigenschaft«
bei der Dinge, nämlich »ihren Wert, etwas rein Gesellschaftliches«
(71).
5. Die Abstraktion setzt sich nicht unmittelbar als Hervortreten
von Abstrakta durch, sondern mittelbar durch eine in den Dienst
der Abstrakta gestellte Sinnlichkeit. So entsteht aus dem Tausch-
verhältnis die neue, abgeleitete, künstliche Sinnlichkeit der Waren.

57
6. Der Wertausdruck führt deshalb über die Grenzen natürli-
cher Dinge hinaus. »Daß Arbeitsprodukte, solche nützlichen
Dinge wie Rock, Leinwand, Weizen«, schreibt Marx in einer
Erläuterung zur Wertform, »bestimmte Werthgrössen« sind, kann
ihnen »nur in unsrem Verkehr zukommen, nicht von Natur«. [96]
7. Im Wertverhältnis »gilt das abstrakt Allgemeine nicht als
Eigenschaft des Konkreten, Sinnlich-Wirklichen, sondern umge-
kehrt das Sinnlich-Konkrete als blosse Erscheinungs- oder
bestimmte Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen.« [97]
Die der Wertform inhärente» Verkehrung« läßt sich wörtlich
auf die Konstruktion der Allegorie übertragen: auch sie geht vom
»Abstrakt-Allgemeinen« aus, mit dem sie ein »Sinnlich-Konkre-
tes« als fremd herbeigezogene Erscheinungsform verbindet; hinter
der sinnlichen Erscheinung der Allegorie steht deshalb kein realer
Körper, sondern eine unsinnliche Bedeutung; die sinnliche Gestalt
allegorischer Figuren ist künstlich und täuschend; Allegorien exi-
stieren außerhalb der Natur.
Doch wird sich der historische Zweifel melden, ob die Wert-
ajudar
form zum Verständnis der Allegorie beitragen könne, da diese
vorkapitalistischen Denkweisen und Kunstepochen entstamme.
deriva
derivação
Doch ist es hier nicht um eine geschichtliche Ableitung der Allego-
rie schlechthin zu tun, sondern um eine Begründung für den
recurso
unerwarteten Rückgriff auf das allegorische Formschema im
19. Jahrhundert. Welche neuen Sachverhalte und Erfahrungen
legten ihn nahe, nachdem die theologischen und metaphysischen
Prämissen der alten Allegorie entfallen waren? (Immerhin: Daß
die Ware ein »sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer
Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«, 85, darf trotz der
scherzhaften Formulierung als ernste These über die Existenz einer
neuen >Hinterwelt< im Kapitalismus gelten.) Das Recht dieser
Frage einmal zugestanden, wird man dennoch einwenden, daß die
Einfache Wertform die Entstehung >allegorischer Verhältnisse< im
bürgerlichen Zeitalter nicht hinreichend erkläre, da eine solche
elementare Form des Warentausches existiert habe, seit Menschen
überhaupt in Gesellschaften leben. Der spezifische Unterschied zu
dieser unleugbaren Konstanz liegt jedoch darin, daß erst im
Kapitalismus der Warentausch zur herrschenden Form des gesell-
schaftlichen Zusammenhangs wird. Deshalb sind noch die Stufen
zu skizzieren, die von der Einfachen Wertform zur Totalität einer
warenproduzierenden und -tauschenden Gesellschaft hinauffüh-

58
ren. Dann erst kann verständlich werden, weshalb die in der
Wertform der Ware angelegten Abstraktionen und Verkehrungen
das bürgerliche Leben und Denken in solchem Maße bestimmen,
daß eine ästhetische Kritik in ihnen die Struktur der Allegorie
erkennen muß.
Eine erste Erweiterung erfahren die Resultate, die an der Äqui-
consideração
valentform gewonnen werden, durch die Überlegung, woher der
gemeinsame Nenner der Waren, d. h. ihr Wert, stamme. Schon
Adam Smith hatte die These aufgestellt, daß »die Arbeit [... ] der
escala
wahre Maßstab des Tauschwerts aller Waren« sei. [98] Während
das einzelne brauchbare Ding von bestimmter nützlicher Arbeit
gerador de valor
hervorgebracht wird, nehmen im Wertverhältnis die werterzeu-
genden Arbeiten, deren Produkte auf den Markt kommen und
nach einem einheitlichen Maßstab getauscht werden, den Charak-
ter inhaltlich gleichgültiger und bloß quantitativ bewerteter Arbeit
an. Es ist deshalb der Äquivalentform eigentümlich, »daß kon-
krete Arbeit zur Erscheinungsform ihres Gegenteils, abstrakt
menschlicher Arbeit wird« und »daß Privatarbeit zur Form ihres
Gegenteils wird, zu Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form«
(73). Damit greift die Wertabstraktion vom Tauschvorgang auf
die Bewertung und konsequent auch auf die praktische Organisa-
tion der Arbeit (Arbeitsteilung, Industrialisierung) [99] über.
Auf der elementaren Wertform basieren komplexere Gestalten,
die modernen Zügen des Warentausches entsprechen: 1. Die
»entfaltete Wertform« - sie entsteht, indem man den einzelnen
Wertausdruck zu einer Reihe gleicher Wertausdrücke mit mehre-
ren Waren verlängert; dann steht die einzelne Ware »in gesell-
schaftlichem Verhältnis nicht mehr zu nur einer einzelnen andren
Warenart, sondern zur Warenwelt. Als Ware ist sie Bürger dieser
Welt« (77).2. Die »allgemeine Wertform« - in ihr übernimmt eine
bestimmte Ware die Aufgabe, den Wert aller anderen Waren
darzustellen. Gesetzt, es diene die Leinwand als dieses allgemeine
Äquivalent, so ist »ihre eigne Naturalform [... ] die gemeinsame
Wertgestalt dieser Welt,_ die Leinwand daher mit allen andren
Waren unmittelbar austauschbar. Ihre Körperform gilt als die
sichtbare Inkarnation, die allgemeine gesellschaftliche Verpup-
pung aller menschlichen Arbeit« (81).3. Die »Geldform« - zu ihr
leitet die allgemeine Wertform über, da sie eine allgemeine Ware
als >Geldware< setzt. [tOO] Im Gold, noch deutlicher im Geld hat

59
die Abstraktion vom ursprünglichen Gebrauchswert ihren End-
punkt erreicht.
Das Unsichtbare, die Abstraktion des Wertes, wird im Geld
sichtbar. Logisch freilich ist diese Abstraktion bereits in der
einfachen Wertform, im Tauschverhältnis zweier Waren, vollstän-
dig vollzogen. Daß sie jedoch der gewöhnlichen Anschauung nicht
einsichtig ist, führt Marx auf den »Fetischcharakter der Ware«
zurück. Unter diesem Titel erweitert er die Warenanalyse zur
Analyse von Sinnlichkeit und Bewußtsein jener historischen Spe-
zies von Menschen, für die der Umgang mit Waren - in der
Produktion, im Tausch, in der Konsumtion - zum täglichen
negócios
Geschäft geworden ist. Die Verkehrung von abstraktem Wert und
konkreter Erscheinung in der Wertform, »dies Quidproquo«, das
die Arbeitsprodukte zu Waren, zu »sinnlich übersinnlichen oder
gesellschaftlichen Dingen« verwandelt (86) - diese Verkehrung
setzt sich in den Köpfen der Menschen fort, da sie von ihren
notou
archaischenprevine
Sinnen nicht bemerkt wird. Seine vorkapitalistische
percepções
Natur hindert den Menschen daran, seine Wahrnehmungen auf
adequar
die Logik der kapitalistischen Warenform einzustellen. Da er aus
alter Gewohnheit am dinglichen Charakter, an der »Naturalhaut«
des Werts festhält, als pandele es sich weiterhin um greifbare
Gebrauchswerte, bleibt ihm der gesellschaftliche Charakter der
se esconde
abstrakten Arbeit, die den Wert bildet, verborgen. Weil der Wert
ein »unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis« darstellt, ver-
führt er das Bewußtsein, das seinen Sinnen traut, dazu, »den
gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der
Arbeit« (88) für unmittelbare Wirklichkeit zu halten. Dem naiven
deixa escapar
Realismus des subjektiven Bewußtseins entgeht die allegorische
Struktur - der abstrakte Wert unter dinglicher Hülle - der objekti-
ven Verhältnisse. Daher nimmt »das bestimmte gesellschaftliche
Verhältnis der Menschen [... ] für sie die phantasmagorische Form
região nebulosa
eines Verhältnisses von Dingen« an. Lediglich die »Nebelregion
der religiösen Welt« biete dazu eine »Analogie«: in ihr »scheinen
die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignern Leben begabte,
untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende
selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der
menschlichen Hand« (86). Religiöse Welt und Warenwelt sind die
zwei Welten, eine alte und eine neue, aus der die Allegorien, die
alte und die neue, entspringen. Jedoch besteht zwischen den
beiden analogen Welten der Unterschied, daß in der früheren die

60
Allegorien fiktiv, in der modernen aber real sind. Für sie gilt im
Ernst, »daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht
werden, während sie früher voneinander abhingen.« [101]
Schon Adam Smith erkannte [102], daß sich der Fetischismus
der Ware im Geld fortsetzt. Denn in ihm, der abstraktesten Gestalt
der Wertform, scheint der Wert, der unsichtbar in den als Ware
funktionierenden Dingen steckt, mit Händen greifbar. Das Allge-
meine, das durch die Gleichsetzung des Ungleichartigen in den
Tauschakten entsteht, wird im Geld verkörpert - weshalb Hegel
sagen konnte, daß im Geld »der abstrakte Wert aller Waren
wirklich ist.« [103]
reversão
Alle Verkehrung von Abstraktem und Sinnlichem, welche die
Formen des Werts charakterisiert, gründet im Tausch. Deshalb
wird auf dem Markt, dem Ort des allgemeinen Tausches, diese
Verkehrung zur gesellschaftlichen Institution. Die Gesetze des
Marktes erzwingen, daß nützliche Dinge in bezahlte Waren und
konkrete Privatarbeiten in gesellschaftlich abstrakte Arbeit über-
gehen. Nicht in der Produktion, die räumlich und zeitlich vom
Tausch der Produkte getrennt ist, sondern im Markt stellt sich die
gesellschaftliche Synthesis des kapitalistischen Systems her. [104]
Indem die Individuen die Logik des Warentausches übernehmen-
»die Gesetze der Warennatur betätigen sich im Naturinstinkt der
Warenbesitzer« (101) -, bildet sich eine allgemein akzeptierte Ver-
kehrsform heraus. Damit diese sich uneingeschränkt entfalten
kann, müssen die Individuen, die sich als Warenbesitzer gegen-
übertreten, aus allen anderen persönlichen Bindungen, wie sie vor
allem die feudalen und zünftigen Organisationen der vorangehen-
den Gesellschaftsform auferlegt hatten, entlassen werden. »Diese
Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhe-
bung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der
Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form
von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen - von den
sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen - an-
nehmen.« [105]
Auf dem Markt summieren und steigern sich die einzelnen
Tauschhandlungen zur allgemeinen Zirkulation. Unter dem
beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware bildet,
transformação movimento
betätigt und vermehrt sich das Kapital. Gestaltwandel, Bewegung
aceleração
und Beschleunigung charakterisieren die Formprozesse, die sich in
der Zirkulationssphäre des Kapitals vollziehen. »Es kann daher

61
nur als Bewegung und nicht als ruhendes Ding begriffen werden.
Diejenigen, die die Verselbständigung des Werts als bloße
Abstraktion betrachten, vergessen, daß die Bewegung des indu-
striellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist« (24, 109).
»Abstraktion in actu«: Das Kapital, oberster Begriff und bestim-
mende Wirklichkeit einer warenproduzierenden Gesellschaft, ist
eine handlungsfähige Abstraktion. Sie verkörpert sich in wech-
selnden Personifikationen, sie leiht den Individuen die Charakter-
masken, mit denen sie sich auf dem Markt gegenübertreten und
läßt eine bunte Welt künstlicher Erscheinungen aus seiner kargen
Logik hervorgehen. Zugleich mit den verkörperten Abstraktionen
entstehen die abstrakten Individuen. Die bürgerliche Gesellschaft,
von der die Philosophen und Künstler des 18. Jahrhundert die
endgültige Befreiung der konkreten Individualität erhofft hatten,
gebiert Allegorien.
Die Analyse der kapitalistischen Welt, die von der Ware über
die Wertform, das Geld, den Markt, die Zirkulation bis zum
Kapital selbst reicht, gelangt an einen Punkt, da ihr Übertritt in
eine dramatische Darstellung nicht mehr so fern scheint. In eben
der allegorischen Gestalt, die sich im Prozeß der Wertabstraktion
bildete, werden in Faust II die Grundbegriffe der politischen
Ökonomie die Bühne betreten. Die »Mummenschanz« kann be-
ginnen.

62
11.

ALLEGORIEN UND ALLEGORIE IN FAUST II


1

DER AUFZUG DER ALLEGORIEN


ZUR MUMMENSCHANZ

In den Monaten vor der Schweizer Reise von 1797, die mit den
Briefen aus Frankfurt und mit der Skizze aber die Gegenstände
der bildenden Kunst bedeutsame Vorentscheidungen über Gegen-
stand und Begriff der Allegorie bringen sollte, plant Goethe Umar-
beitung und Fortsetzung des Faust. Bei Schiller fragt er an, welche
Forderungen denn er an »diese Idee und deren Darstellung«
richten würde (22.6. 1797). Jedoch setzt das »Grelle und Form-
lose« (23. 6.) des Themas Schiller in Verlegenheit: »Was mich
constrangimento

daran ängstigt ist, daß mir der Faust seiner Anlage nach auch eine
Totalität der Materie nach zu erfodern scheint, wenn am Ende die
Idee ausgeführt erscheinen soll, und für eine so hoch aufquellende
maturidade
Masse finde ich keinen poetischen Reif, der sie zusammenhält.
Nun, Sie werden sich schon zu helfen wissen« (26.6.).
Was Schiller als erstes aus dieser neuen Produktion zu lesen
bekommt, »Oberons und Titanias Goldne Hochzeit«, befriedigt
ihn so wenig, daß er es nicht einmal in seinen Musenalmanach
aufnehmen mag. Goethe arbeitet diese Szene am Ende des Jahres
1797 zum »Walpurgisnachtstraum« um - unter diesem Titel steht
das »Intermezzo« nun im Ersten Teil des Faust. Ob es sich gut in
ambiente
diese Umgebung füge, haben nahezu alle Interpreten bezweifelt.
Der Kommentar von Erich Trunz faßt die Einwände zusammen:
»eine Verbindung besteht fast nur zu den zeitsatirischen Teilen der
interpolação
Walpurgisnacht, und diese sind selbst wiederum ein Einschiebsel.
Die Form ist also eine Aneinanderreihung epigrammatisch-kurzer
sucessão

65
Strophen, die einzelnen Gestalten in den Mund gelegt werden, die
auf diese Weise sich selbst charakterisieren. Ein dramatischer
produzido
Zusammenhang wird nur andeutungsweise hergestellt.« [106]
de passagem

Daß der Walpurgisnachtstraum eine allegorische Komposition ist,


hat erst Wolfgang Streicher gesehen: [107] die Figuren benennen
und definieren sich selber (»Ariel bewegt den Sang«, beginnt Ariel,
4239), stellen allgemeine Sätze auf (Titania: "Schmollt der Mann
und grillt die Frau ... «, 4247); historische und mythische Perso-
nen vermischen sich mit Geistern, die Abstrakta und Konkreta
personifizieren: so treten der »Ci-devant Genius der Zeit«, die
"Windfahne« und die »Xenien« als dramatis personae auf. Wird
hier nicht auf engstem Raum eine» Totalität der Materie« ausge-
breitet: Mythos und Alltag, Philosophie, Literatur und Mode der
Zeit? Und liefert nicht die Allegorie, welche die Vielfalt der
Gegenstände unter Begriffe vereinigt und selbst abstrakte Vor-
gänge darstellbar macht, den "poetischen Reif«, den Schiller nicht
zu finden wußte?
sobressai
Es entbehrt nicht der Ironie, daß Goethe zur selben Zeit, da er
die Allegorie aus dem Kanon der Kunstarten ausschließt, eine
allegorische Szene dichtet. Allerdings bleibt sie in Faust I eine
Ausnahme. Hier wirkt sie fremd, während sie sich in den Zweiten
Teil, etwa in die »Klassische Walpurgisnacht« oder in die »Mum-
menschanz«, leicht integrieren ließe. Besonders mit der Mum-
menschanz stimmt der Walpurgisnachtstraum in wesentlichen
Zügen überein: auch in der späteren Szene erscheinen personifi-
zierte Begriffe (z. B. Klugheit, Furcht, Hoffnung), redende Sachen
(z. B. Ährenkranz, Phantasiestrauß) neben historischen und
mythologischen Masken; ebenso nennen zu Beginn ihrer meist
kurzen Auftritte die Figuren ihren Namen und ihre Bedeutung, als
sollten sie unverständlichen Bildern Überschriften geben; die Ähn-
lichkeit des Themas - eine satirische Phänomenologie der Zeit - ist
nicht zu verkennen; bis zu der Äußerlichkeit, daß beide Maskenfe-
subestimar

ste von einem Herold eröffnet werden, reicht die Analogie. Jedoch
posição
extensão
sind die beiden Szenen nach Umfang, Stellung und Bedeutung
nicht vergleichbar. Was in Faust I nur ein Intermezzo gewesen
war, nimmt in Faust II eine bestimmende Position ein: die Mum-
menschanz bildet nicht nur den Mittelpunkt des 1. Akts; abge-
wandelt kehren ihre Themen und ihr Stil in den anderen Akten des
Zweiten Teils wieder. Was einst die Ausnahme war, wird jetzt zur
Regel.

66
convicção
Während die Mehrzahl der Faust-Philologen von der Überzeu-
gung ausgeht, das Werk sei durch »pflanzenhaften Wuchs« [108]
partem

zur Einheit gediehen, stellen Goethes gelegentliche Äußerungen


vor allem die Unterschiede seiner zwei Teile heraus:
Der zweite Teil sollte und konnte nicht so fragmentarisch sein als der erste. Der
Verstand hat mehr Forderungen daran als an den ersten, und in diesem Sinne
mußte dem vernünftigen Leser entgegengearbeitet werden. Die Fabel mußte sich
dem Ideellen nähern und zuletzt darein entfalten, die Behandlung aber des
Dichters eigenen Weg nehmen. [...] Die Behandlung mußte aus dem Spezifischen
mehr ins Generische gehen; denn Spezifikation und Varietät gehören der Jugend
an. - Tizian, der große Kolorist, malte im hohen Alter diejenigen Stoffe, die er
früher so konkret nachzuahmen gewußt hatte, auch nur in Abstrakto, zum
Beispiel den Sammet nur als Idee davon. [109]

Wie diese neuen Tendenzen - Totalität, Verstand, Idee, Allgemein-


heit, Abstraktion (sie alle bezeichnen Formprinzipen der Allego-
rie) - Faust II prägen, führt die erste Szene, »Anmutige Gegend«,
programmatisch vor. Im Schlaf wird Faust von seiner »vorherge-
henden Abhängigkeit von Sinnlichkeit und Leidenschaft« (Par.
63) [110] befreit. Die Elfen ermuntern ihn, sich »zu erdreisten«
und <im »neuen Tag« einer zu werden, »der versteht und rasch
ergreift« (4662 ff). In einem Entwurf zu dieser Szene heißt es:
lamentar ouse
»Bedauern der traurig zugebrachten frühern Zeit. Kühnheit sich in
acidentes
Besitz zu setzen balancirt allein die Möglichkeit der Unfälle« (Par.
passado
64). Deshalb muß Fausts individuelle Vergangenheit »im Tau aus
sair/escapar
Lethes Flut« (4629) erlöschen. Bezeichnend ist, daß er in seine
frühere Welt - ins Studierzimmer des 2. Akts - nur als Schlafender
zurückkehren wird. Gerät ihm sein besonderes Glück und
Unglück in Vergessenheit, so verliert Faust mit seiner eigenen
Geschichte auch seine Individualität. Von jetzt an wird Faust nicht
mehr als identische Person, sondern nur noch in Rollen, in Mas-
ken erscheinen, zunächst als Plutus in der »Mummenschanz«.
Kein individueller Wunsch mehr bestimmt sein Geschick; in wech-
selnden Situationen erfüllt er wechselnde Funktionen. Ehe er
überhaupt auftritt, ist er am Kaiserhof schon als Magier und
Goldmacher erwartet.
Dieser neuen Figur ist eine neue Welt zugeordnet. Wenn sich der
deslumbrante
erwachende Faust von der blendenden Sonne mit der Devise
abwendet: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« (4727),
so bedeutet dies, daß an die Stelle der unmittelbaren Natur, die er
einst erkennen und erfahren wollte, ein mittelbarer, d. h. dem

67
acessível disponível
menschlichen Verstand zugänglicher und verfügbarer Bereich
getreten ist. Zu Beginn des Ersten Teils mußte Faust der Über-
macht des Erdgeists, der »unendlichen Natur« (455), weichen; zu
Beginn des Zweiten Teils verstecken sich die Naturgeister vor dem
»Getöse« von Fausts »neuem Tag«: »Schlüpfet zu den Blumen-
kronen, / Tiefer, tiefer, still zu wohnen, / In die Felsen, unters
Laub; / Trifft es euch, so seid ihr taub« (4675 ff).
finalmente
Und schließlich hat sich mit der Figur und ihrer Welt - besser:
mit der Welt und ihrer Figur - auch die Darstellungsweise geän-
dert. Während der Erste Teil, besonders die frühesten Szenen,
durch den unmittelbaren Ausdruck der Personen und durch Perso-
nen gestaltet ist, bevorzugt Goethe im Zweiten Teil die indirekte
Darstellung durch Bilder, Gleichnisse, Rätsel. Auch dafür bietet
die Szene »Anmutige Gegend« ein Beispiel und ihr Schlußsatz über
den ,Regenbogen< des» Wassersturzes« ein Motto:
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. (4725 ff)
Exemplarisch wird dem Zuschauer vorgeführt, wie er sich künftig
gegenüber den rätselhaften Erscheinungen, mit denen das Werk in
reichem Maß aufwartet, verhalten soll. Wie hier Sonne, Wasserfall
und Regenbogen ,>das menschliche Bestreben« abspiegeln, so sind
auch alle folgenden Bilder auf Bedeutung angelegt und der Ausle-
gung bedürftig. Um das verhüllte Allgemeine aus der Hülle des
Besonderen zu befreien, sind ,Nachsinnen< und 'genaues Begreifen<
notwendig. In solch poetischer Trennung und abstrakter Bezie-
hung von bildlicher Konstruktion und begrifflicher Interpretation
ist die Struktur der Allegorie dargelegt, ehe noch der eigentliche
Aufzug der Allegorien beginnt. Die Person durch Rollen, die
Natur durch künstlichen Schein, der Ausdruck durch Rätsel
anunciado
ersetzt - damit sind die neuen Elemente angekündigt, aus denen
mediação
eine Welt der Mittelbarkeit hervorgehen wird. Ihr ist der» Weit-
läufige Saal mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur
Mummenschanz« eingeräumt.
Vischer sah im »allegorischen Maskenfest« des 1. Akts ein
Zeugnis poetischen Unvermögens: »Im Gefühl seiner Schwäche,
wo es galt, wirklich darzustellen, verwendet Goethe die Erinne-
rung an seine Tätigkeit als Festanordner am Hofe zu Weimar;
statt darzustellen, stellt er Darstellung dar.« [111] Sofern man der
intention folgt, die Goethe in der »Anmutigen Gegend«, einer Art

68
Prolog und Vorspiel zu Faust II, angedeutet hat, verliert Vischers
glückliche Formulierung >Darstellung der Darstellung< ihren Sta-
chel. Vielmehr bezeichnet sie dann präzis die Eigenart eines
Werks, dem die Darstellung bewußt ist und das diese Bewußtheit
no conjunto
darstellt. Dies gilt zwar für Faust II insgesamt, für die Mum-
menschanz jedoch insbesondere, da sie ihren Ursprung und ihren
especialmente
Charakter eigens inszeniert: 1. indem sie zu Beginn vorführt, wie
der Karneval und seine Regeln verabredet werden; 2. indem sie
auf ihrem Höhepunkt die Figur der Poesie auftreten läßt, die sich
selbst als »Allegorie« deklariert. Diese beiden Darstellungsfor-
men, Karneval und Allegorie, werden nicht nur bewußt präsen-
tiert, sie sind bereits in sich reflektiert. Beide erzeugen ein durch-
painéis
sichtiges Spiel mit arrangierten Verkleidungen; beide gebrauchen
das sinnliche Äußere zum Zeichen offensichtlicher oder versteck-
ter Bedeutungen. Ob solcher intellektuellen Absichtlichkeit stehen
Karneval wie Allegorie dem Künstlichen näher als der Kunst.
Die Figur, welche die Darstellung der Darstellung verkörpert,
ist der Herold. Sein Prolog (5065-87) eröffnet das Fest. Als erstes
versichert er, daß wir uns nicht »in deutschen Grenzen / Von
Teufels-, Narren- und Totentänzen« befinden, also jenen Grenzen,
innerhalb derer Der Tragödie Erster Teil gespielt hatte. Dagegen
alegre
ist das »heitre Fest«, das jetzt beginnen soll, im italienischen Stil
gehalten. Es vermischt Elemente des römischen Karnevals - der
Kaiser habe von »seinen Römerzügen« außer der »Krone« auch
die »Kappe« mitgebracht - und der florentinischen Trionfi - als
»junge Florentinerinnen« (5090) stellen sich die ersten Masken
vor. Was die Mummenschanz nachspielt, ist also nicht ursprüngli-
ches Leben, sondern ein von Hause aus künstliches Spiel; sie
potenziert die Maskerade.
Auch die geschichtliche Stellung dieses Fests, nicht bloß seine
kulturgeschichtliche Herkunft gibt der Herold genau an: »Nun
sind wir alle neugeboren« d. h. in jener Renaissance begriffen, die
das Ende des Mittelalters und den Anfang der Neuzeit als Wieder-
geburt der Antike interpretierte. In der Tat steht die Mummen-
schanz unter dieser Konstellation der Zeiten: am Kaiserhof spielen
die Mitglieder des mittelalterlichen Lehensstaates in antiken
Gewändern (als Grazien, Parzen, Furien, als Viktoria, Plutus und
Pan) die Lebensformen der neuzeitlichen Gesellschaft. Sobald die
Gestalten der antiken Mythologie der Verkleidung einer moder-
nen Thematik dienen (Beispiele werden folgen), entstehen allegori-

69
sche Konzepte. Die Mythologie allegorisch zu interpretieren, war
ein beliebtes Spiel der Hofkultur. Goethe hat also den Aufzug der
Allegorien in der Mummenschanz historisch und sozial motiviert
circunstâncias atualizou
und ihre wichtigsten kunstgeschichtlichen
procedência
Umstände vergegen-
"flores"
wärtigt: ihre Herkunft aus Italien, ihre Blüte vom 15. bis zum
18. Jahrhundert, ihren Beitrag zu höfischer Repräsentation wie zu
volkstümlicher Schaulust. quadro | condições
Die Bewußtheit, mit der die Rahmenbedingungen der Mum-
menschanz genannt und dargestellt werden, teilt sich den Figuren
mit. Dafür sorgt bereits die Einrichtung des Karnevals; denn sie
hält jeden Teilnehmer dazu an, eine fremde Rolle als Maske zu
wählen, die ihn dazu befähigt, diese Rolle extremer zu verkörpern
und bewußter zu explizieren als seine eigene >natürliche< Rolle, die
er dem Zufall der Geburt verdankt und die er in alltäglicher
Gewohnheit unreflektiert wiederholt. Die Kappe Ȋhnelt ihn ver-
rückten Toren, / Er ist darunter weise, wie er kann« (5079 f). Es
treten also nicht Gärtnerinnen, Holzhauer, Parasiten, Dichter
usw. auf, sondern Masken, die diese Rollen übernommen haben,
vielleicht auch: denen diese Rollen von einem verborgenen Plan
zugeteilt worden sind. Als Maskenträger besitzen sie Distanz zu
ihrer Rolle und können daher deren Bedeutung in begrifflich
moeda
gedrängten Devisen formulieren. Dabei hat der Herold die Auf-
auto-interpretação
gabe, ihnen diese belehrende Selbstauslegung abzuverlangen:
anunciem
» Verkünde jede, wer sie sei« (5406), "Sag von dir selber auch das
escolha/eleição
Was und Wie!« (5572). Auf die bewußte Wahl und fremde Gestalt
der Maske ist es zurückzuführen, daß ihre Darstellung nicht das
Konkret-Individuelle,
respectivos
sondern das Gesellschaftlich-Allgemeine der
jeweiligen Rolle hervorkehrt. Nur gespielte, nicht wirkliche Holz-
hauer sind in der Lage, das Paradox ihrer sozialen Rolle auf den
Begriff zu bringen: "Denn wirkten Grobe / Nicht auch im
Lande, /Wie kämen Feine / Für sich zustande, / So sehr sie witz-
ten?« (5207 ff). Sie verdanken die sentenzhafte Klarheit über ihre
Rolle in der Gesellschaft der Distanz zu ihrer karnevalesken Rolle
in der Mummenschanz. Indem sie die Erkenntnis ihrer Funktion
veröffentlichen, eröffnen sie die Einsicht in einen gesellschaftli-
chen Zusammenhang, der die einzelne Figur übersteigt und die
Figurengruppe bestimmt: die "Groben« sind die Voraussetzung
für die »Feinen«. Deren Rolle ist also im Begriff bereits vorge-
zeichnet, ehe sie als Pulcinelle und Parasiten auf die Bühne treten.
Auch sie erläutern ihre "feine« Stellung an dem Verhältnis zu den

70
»Groben«: »Ihr seid die Toren, / Gebückt geboren. / Wir sind die
Klugen, / Die nie was trugen« (5215 ff). Nahezu alle Teilnehmer
der Mummenschanz treten im Plural auf (Gärtnerinnen, Gärtner,
Holzhauer, Weiber in Masse, Faune usw.), gleichsam als Gat-
tungswesen, oder wenigstens in einer Gruppe (z. B. Klugheit,
Furcht und Hoffnung oder Plutus mit dem Knaben Lenker); eine
Gruppe heißt »Deputation der Gnomen«. Daran wird deutlich,
daß sie keine dramatische Individualität besitzen, sondern
abstrakte Konstellationen repräsentieren.
Rückwirkend und vorgreifend interpretiert das bewußte Arran-
gement des »allegorischen Maskenfests« den Rollencharakter der
dramatis personae in den vorangehenden und folgenden Szenen
am Kaiserhof. Auch dort tragen die Figuren keine individuellen
Namen; sie werden lediglich nach ihrer politischen und sozialen
Funktion als Kanzler, Heermeister, Schatzmeister usw. bezeichnet.
Sogar Mephisto und Faust nehmen die Verkleidungen höfischer
Ämter an und erscheinen als Hofnarr und Schwarzkünstler. Wäh-
rend in der herkömmlichen Tragödie höchstens die untergeordne-
ten Funktionsträger namenlos bleiben (etwa: Diener, Bote,
1. Athener), nie die Haupt- und Nebenfiguren, erstreckt sich im
1. Akt von Faust II - weitgehend im gesamten Werk - Anonymität
auf alle Figuren. Sie alle, ob in höherer oder niederer Stellung, sind
offensichtlich nur Maskenträger untergeordneter Funktionen. Der
individuelle Name, der besondere Charakter stünde dem Allge-
meinen, dessen Charaktermasken sie sind, bloß im Wege.
Da die Masken allgemeine Verhältnisse zu verkörpern haben,
servir
muß ihre äußere Erscheinung diesem Zweck dienen. So reich und
trajes
vielfältig ihre Kleider und die mitgeführten Dinge zunächst auch
scheinen mögen, sie erfüllen doch nur die Aufgabe von Attributen,
d. h. von dinglichen Zeichen, die auf abstrakte Beziehungen hin-
deuten. In der Mummenschanz heißen diese kalkulierten Gegen-
stände »Putz«. Bereits der Untertitel der Szene, »verziert und
decorada
"com babados"
aufgeputzt zur Mummenschanz«, gibt die Rationalität des ästheti-
schen Scheins als Programm aus. »Unter grünen Laubgängen
putzen die Gärtnerinnen zierlich ihren Kram auf«, notiert eine
instruções de cena
Regieanweisung (nach 5157), die Gärtner geben selbst ihre Tätig-
keit bekannt: »Und wir putzen reifer Waren / Fülle nachbarlich
empor« (5172 f), und danach »fahren beide Chöre fort, ihre
Waren stufen weis in die Höhe zu schmücken und auszubieten«
(nach 5177). Ebenso hatte vorher der »Ährenkranz« seine

71
Erscheinung einzig durch den Zweck erläutert: »euch zu putzen
[... ]/Das Erwünschteste dem Nutzen« (5128ff). Der Putz ist die
berechnete Verkleidung des Nützlichen; so steht das Ästhetische
im Dienst eines Außerästhetischen.
Schon die ersten Masken, die Gärtnerinnen, demonstrieren, wie
der »Putz« die Figuren macht, wie also das Attribut über die
Person herrscht (5088-5107). Zunächst mag ihr »Gesang, beglei-
acompanhadas
bandolins permanentes instalações
tet von Mandolinen«, an stehende Einrichtungen des Singspiels
und der komischen Oper erinnern, in denen Chöre oder Ballette
von Gärtnerinnen für die Unterhaltung des Zuschauers zu sorgen
entretenimento

haben: »Niedlich sind wir anzuschauen, / Gärtnerinnen und


galant«. Sie scheinen sinnlich und verführerisch, also Figuren von
Fleisch und Blut zu sein. Jedoch stellen sich Zweifel ein, da sie -
anders als in dem ihnen gemäßen Genre üblich - kein Loblied der
maquiagem
Natur singen, sondern die Künstlichkeit ihrer Aufmachung beto-
nen: in den Locken spielen »Seidenfäden, Seidenflocken [... ] ihre
Rolle«; ihre Blumen sind »glänzend künstlich, / Blühen fort das
ganze Jahr«; »Allerlei gefärbten Schnitzeln / Ward symmetrisch
Recht getan«. Ihre Natur ist also von aller Natur abgelöst; »Denn
das Naturell der Frauen / Ist so nah mit Kunst verwandt«. Ihre
>natürliche, Anziehung geht von einer vollständig künstlichen
atração

Apparatur aus: »Mögt ihr Stück für Stück bewitzeln, / Doch das
Ganze zieht euch an«. Die Gärtnerinnen verlassen sich nicht auf
eine )zwecklose, natürliche Schönheit (die hier gar nicht aufzufin-
visam
den wäre), sondern bezwecken durch die fabrizierte Erscheinung
sedução
planvoll Verführung - allerdings nicht zum erotischen Genuß,
sondern zum Kauf ihrer Waren. Immer wieder enden ihre und der
Gärtner Darbietungen in Kaufrufen, und bis zuletzt sind sie »unter
acompanhadas
Wechselgesang, begleitet von Gitarren und Theorben«, damit
violões

beschäftigt, »ihre Waren stufenweis in die Höhe zu schmücken


und auszubieten«. Es ist keine falsche Aktualisierung, wenn man
den Zweck dieser Mischung aus Musik, Gesang, Tanz und Erotik
publicidade
)Reklame< nennt. Hier kehrt sich das gewohnte Verhältnis von
Personen und Dingen um. Die Waren erscheinen nicht länger als
ein Produkt der Gärtnerinnen, sondern die Gärtnerinnen sind ein
Attribut der Waren geworden, die verkauft werden sollen. Der
Herold, der ebenfalls zum Kauf animiert, setzt daher beide gleich:
»Würdig sind sie zu umdrängen, / Krämerinnen wie die Ware«
(5114 f). Da sie den Notwendigkeiten der Waren unterworfen
sind, werden die Gärtnerinnen zu »Krämerinnen «.

72
servem
Dies ist ein Gesetz der Mummenschanz: die Figuren dienen der
Illustration von Abstrakta und geraten dadurch in die Position
apêndice
bloßer Attribute. Sie sinken zu Anhängseln von Sachen herab und
überlassen es den dinglichen Attributen, Bedeutungen darzustel-
len. Wie zum Beweis, daß in der Maske der Gärtnerinnen nur
»gefärbte Schnitzel« aufgetreten sind, beginnen nun die künstli-
chen Dinge selbst zu sprechen. Die Reden von »Olivenzweig«,
»Ährenkranz«, »Phantasiestrauß« etc. folgen unmittelbar dem
Gesang der Gärtnerinnen (5120 ff). Zeigten sich bislang die reden-
den Personen durch künstliche Dinge bestimmt, so erweisen sich
jetzt die künstlichen Dinge als redende Personen. Mit der bedeut-
samen (später noch zu deutenden) Ausnahme der Rosenknospen
verkünden die künstlichen Früchte und Blumen Prinzipien des
Nutzens (»Das Erwünschteste dem Nutzen / Sei als eure Zierde
schön«) und der Mode (»Der Natur ist's nicht gewöhnlich, / Doch
die Mode bringt's hervor«). Sie wiederholen also, abgelöst von
den Personen, die Eigenschaften der geputzten und Waren feilbie-
tenden Gärtnerinnen. - Auch Produktion und Produkt kehren sich
in dieser künstlichen Welt um. Während man annehmen möchte,
daß Früchte und Blumen einem Garten entstammen, werden sie
auf dem Markt so arrangiert, daß jetzt erst für den Käufer der
Eindruck eines Gartens entsteht: »Jeder wähle, was behaget. /
Eilig, daß in Laub und Gängen / Sich ein Garten offenbare!«
(5111 ff). Erzeugung einer künstlichen Sinnlichkeit, Entfernung
von der Natur bei scheinbaren Naturprodukten, Ausrichtung auf
einen Zweck jenseits der Natur, sei es zum Verkauf, sei es für den
modischen Effekt, machen das gemeinsame Wesen von Gärtnerin-
nen und Kunstblumen aus. Deshalb können sich ihre Eigenschaf-
ten vertauschen und verkehren. Welche Situation wäre für solche
Verkehrung geeigneter als der Karneval?
In dem Maße, wie Menschen und Dinge vom normalen Ausse-
hen und Verhalten abweichen, werden sie für den Zuschauer zum
Rätsel. Die unnatürlichen Bilder erschweren das Verständnis und
erfordern zugleich die Anstrengung, den versteckten Sinn dennoch
zu entziffern. Die Differenz zwischen Erscheinung und Wesen
manifestiert sich zunehmend im Verlauf der Szene; dies verändert
die Stellung des Herolds. Stufen der immer rätselhafteren Darbie-
tung bilden die Aufzüge der Viktoria (samt Elephanten, Klugheit,
Furcht und Hoffnung) und danach des Plutus (mit dem Knaben
Lenker und dem Geiz). Der erste Auftritt unterscheidet sich als

73
komplexe Gruppe mit personifizierten Abstrakta von den frühe-
ren Einzelmasken, die noch halbwegs realistisch oder mytholo-
gisch genommen werden konnten: »Belieb' es euch, zur Seite
wegzuweichen, / Denn was jetzt kommt, ist nicht von euresglei-
chen« (5393 f). Der zweite jedoch, der des Plutus, ist für den
Herold ganz und gar unverständlich. Als »Festanordner«, um
Vischers Ausdruck zu gebrauchen, ist er durchaus befähigt, den
reivindicações
Maskenzug einzusetzen; er versagt jedoch, sobald er den Ansprü-
chen der Interpretation gerecht werden soll. Er weiß, daß etwas
hinter den Masken stecken muß, aber er weiß nicht was:
Die Bedeutung der Gestalten
Möcht' ich amtsgemäß entfalten.
Aber was nicht zu begreifen,
Wüßt' ich auch nicht zu erklären;
Helfet alle mich belehren! - (5506 ff)
Seinem Eingeständnis korrespondiert der Vorwurf des Knaben
Lenker, dessen Bedeutung der Herold weder zu begreifen noch zu
erklären vermag:
Zwar Masken, merk' ich, weißt du zu verkünden,
Allein der Schale Wesen zu ergründen,
Sind Herolds Hofgeschäfte nicht;
Das fordert schärferes Gesicht. (5606 ff)

Schon vorher hatte der Knabe concha Lenker das Formprinzip genannt,
das Maske und Bedeutung, »Schale« und» Wesen« auseinander-
hält: »Denn wir sind Allegorien« (5531). Die Schwierigkeiten, in
die Herold wie Zuschauer geraten, sind nicht zufällig, vielmehr
der Allegorie wesentlich, da sie auf Auslegung hin konzipiert ist
und doch diese Auslegung erschwert, indem sie den inneren Sinn
von der äußeren Gestalt abrückt. »Die Allegorie ist demnach eine
doppelsinnige Schreibart, welche auf einmahl zween Sinne mit
sich führet, einer ist geheim, verborgen, allegorisch, der andere ist
bloß äusserlich und historisch.« [112] In solcher Aufmerksamkeit
auf diese »doppelsinnige Schreibart« hatte zwar beim Auftritt von
posto
Klugheit und Viktoria der Herold sein neues Amt erkannt -
»Geheimnisvoll, doch zeig' ich euch den Schlüssel« (5398); doch
auch in diesem Fall war ihm sein Vorhaben der Entschlüsselung
mißglückt, und er mußte es den allegorischen Figuren selbst
überlassen, »die Bedeutung« zu »entfalten«: »Verkünde jede, wer
constrangimento
sie sei« (5406). - Der Verlegenheit des Herolds ist die vergleichbar,
in die Mephisto während der »Klassischen Walpurgisnacht« bei

74
der Verfolgung der Lamien gerät. Er bezeichnet seine Situation mit
einem Vergleich, der ausdrücklich auf die Mummenschanz zu-
rückweist:
Ist eben hier eine Mummenschanz
Wie überall, ein Sinnentanz.
Ich griff nach holden Maskenzügen
Und faßte Wesen, daß mich's schauerte ... (7795 ff)

Durch den Vergleich wird die Form >Mummenschanz< generali-


siert (»wie überall«) und überdies aus dem Grundgegensatz von
»Sinnen« und »Wesen« definiert. Damit ist die ästhetische Struk-
tur der Maskenzüge in Begriffe gefaßt und als Allegorie bestimmt,
nachdem sie vom Knaben Lenker schon als »Allegorie« benannt
worden ist.
Da Mephistos Bemerkung das Schauerliche allegorischer Mas-
kenzüge nicht verschweigt, liegt es beim Rückblick auf die Mum-
menschanz nahe, in der seltsamen Regiebemerkung nach V. 5298
die Wiederauferstehung der Allegorie angedeutet zu sehen: »Die
Nacht- und Grabdichter lassen sich entschuldigen, weil sie soeben
im interessantesten Gespräch mit einem frisch erstandenen Vam-
pyren begriffen seien, woraus eine neue Dichtart sich vielleicht
entwickeln könnte; der Herold muß es gelten lassen«. Keine
andere Dichtart wird in der knappen Poeten-Szene so ausführlich
vorgestellt; die »Nacht- und Grabdichter« haben am hartnäckig-
sten allegorische Traditionen im Zeitalter der Aufklärung
bewahrt; der blutsaugende »Vampyr« mag sich gut zum Schöpfer
der neu-alten Allegorie eignen, vor deren >blutleerem<, >leblosem<
und >gespenstischem< Charakter die Allegoriekritik häufig genug
gewarnt hatte. Schließlich verrät der Herold, der »es gelten las-
sen« muß, bei der Auferstehung dieser »neuen Dichtart« die
gleiche Verlegenheit wie bei den folgenden Aufzügen der Allego-
rien. Treffen diese Konjekturen zu, so wäre diese pantomimisch
geführte Unterhaltung in der Tat das »interessanteste Gespräch«
der Mummenschanz.
Obwohl die Mummenschanz selbst das allegorische Formprin-
zip deutlich genug ausspricht, setzt sich in der Literatur zu Faust Il
das Vorurteil über Goethes >symbolische Dichtung< immer wieder
preconceito

gegen den Wortlaut durch. So macht sich Emrichs Symbolik von


Faust Il das Unverständnis des Herolds im Dialog mit dem Kna-
ben Lenker zu eigen: »Das >Unbegreifliche< wird durch gemein-
same Anschauung deutlich. Erklärt aber wird es durchs konkret

75
sinnliche Bild: >Wüßte nicht, dich zu benennen; Eher könnt ich
dich beschreiben< (V. 5533 f), worauf eine sinnlich genaue Bildbe-
schreibung des Knaben Lenker folgt.« [113] Bedenkenlos im Ver-
trauen auf unveränderliche Vorgaben des klassischen Symbolkon-
zepts, verkehrt Emrich die von ihm selbst zitierten Textstellen in
ihr Gegenteil. Er schreibt von >Anschauung<, wo es »belehren«
heißt, er setzt >sinnlich< statt »erklären«, >konkret< statt »Wesen«,
schließlich >Bild< statt »Allegorie«. Sämtliche allegorische Merk-
male hat er in >symbolische< verzeichnet. Resigniert gesteht der
Herold, daß »die Bedeutung der Gestalten« für ihn »nicht zu
begreifen« sei; flugs bildet Emrich daraus die Hypostase des
>Unbegreiflichen<, womit er wohl auf die irrationale Tiefe symboli-
scher Anschauung anspielen möchte. Doch nicht unbegreiflich ist
hier die Bedeutung; es fehlt dem Herold lediglich der rechte
Begriff, den das »schärfere Gesicht« des Verstandes im Gegensatz
zur bloßen Anschauung der Sinne faßt. Denn die »sinnlich genaue
Bildbeschreibung«, die der Herold vom Knaben Lenker zu geben
versucht, verfehlt dessen Wesen. Er nimmt ihn lediglich als hüb-
schen Jungen, als »künftigen Sponsierer« (5539), dem die Mäd-
chen gern »das ABC« lehren würden (5551) - das ist sicher nicht
die beste Beschreibung der Poesie, deren Wesen der Knabe Lenker
doch verkörpern soll. Um den Irrtum zu beheben, der gerade aus
der »sinnlich genauen Beschreibung« entstehen muß, antwortet
jetzt der Knabe auf die Frage des Herolds nach dem »Was und
Wie« mit reinen, abgezogenen Begriffen: »Bin die Verschwen-
dung, bin die Poesie« (5572 f). Nach dieser Selbstdefinition durch
den Begriff dürfte an seinem allegorischen Charakter auch dann
anúncio
kein Zweifel mehr bestehen, wenn er sich nicht mit der Ankündi-
gung »wir sind Allegorien / Und so solltest du uns kennen«
(5531 f) dem begriffsstutzigen Herold vorgestellt hätte.
Bezieht man die bei den Aussagen des Knaben Lenker - »wir sind
Allegorien« und »bin die Poesie« - aufeinander, so erhellt sich, daß
die Poesie im Status der Allegorie auftritt, daß die Poesie selbst
allegorisch geworden ist. In der Selbstdarstellung und Selbsterklä-
rung der Poesie als Allegorie haben die Reflexionsstufen des
Maskenzugs ihren Abschluß gefunden. Zugleich ist mit diesem
ersten und beredten Auftritt der Poesie in Faust II angekündigt,
welches Prinzip für die Poesie des gesamten Werks gelten wird. -
Doch zunächst ist ein genauer Blick auf die Definitionen nötig: die
der »Poesie« steht im Singular, die der »Allegorien« im Plural. Der

76
Knabe Lenker ist die Poesie, und er ist auch eine Allegorie; aber
acompanham
Allegorien sind ebenfalls die Figuren, die ihn begleiten: »Plutus«
magro avareza
als »Reichtum« und der »Abgemagerte« als »Geiz«. Es hat also
die Poesie am Allegorischen nur teil, das auch für andere Bereiche
gilt, wenn nicht gar in ihnen seinen Ursprung hat. Dieser Partiku-
larität ist sich die Poesie durchaus bewußt, indem sie sich doppelt
bestimmt: »Bin die Verschwendung, bin die Poesie.« Zweifellos
geht die erste Bestimmung aus dem Verhältnis zu Plutus hervor:
»Verschwendung« ist die Poesie gegenüber dem »Reichtum« und
dem »Geiz«. Erst in zweiter Linie ist die Poesie sie selbst, »Poesie«.
Ihre Autonomie bleibt im Rahmen einer abgestuften serviço
Heterono-
mie. Zunächst steht die Poesie in Plutus' Dienst, um seinem
emprestar/dar
abstrakten Besitz den sinnlichen Glanz zu verleihen: »Beleb' und
brilho

schmück' ihm Tanz und Schmaus, / Das, was ihm fehlt, das teil'
ich aus« (5578 f). [114] Später stellt Plutus den Lenker von dieser
sociável
geselligen und gesellschaftlichen Aufgabe frei und räumt ihm eine
solidão
eigene »Sphäre« in der »Einsamkeit« ein (5689-96). Es bietet sich
an, diesen Unterschied historisch zu deuten: als Übergang von der
decorativa
schmückenden Funktion der Kunst im höfischen Zeitalter zu ihrer
>autonomen< Position im bürgerlichen. Aber selbst wenn der
Reichtum die Poesie »frei« gibt (5690), so besteht noch in der
dependente digna obsolescência
gewährten Freiheit die abhängige Funktion eines »werten Abge-
sandten« (5697) weiter: »Du gönnst mir ja mein Glück; / Doch
lisple leis', und gleich bin ich zurück« (5707 f). Indem er die
scheinbar abgelegte Heteronomie der Kunst in veränderter Gestalt
fortdauern läßt, erhellt Goethe ein Motiv für die Wiederkehr
allegorischer Poesie. Denn Allegorien sind heteronom, d. h. als
ästhetische Erscheinung von außerästhetischen Mächten ab-
hängig.
Der Auftritt des Knaben Lenker und des Plutus leitet das Ende
der Mummenschanz ein; Plutus spricht ihren Epilog (5970-86). Sie
beide sind auch insofern abschließende Gestalten, als sie die
vorausgehenden Momente und Bedeutungen der Szene zusam-
menfassen. In der Allegorie des Plutus finden die produktiven und
merkantilen Fähigkeiten, welche die Gärtner, Gärtnerinnen, Holz-
hauer verkörperten und der allegorische Komplex der Viktoria
organisierte, ihre ökonomische Einheit. [115] Ebenso sammelt die
Allegorie der Poesie die ästhetischen Phänomene: die Spielregeln
cantos
des Karnevals, die verschiedenen Gesänge, die Auftritte der kon-
kurrierenden Poeten. Dem letzten Resultat des ökonomischen

77
Prozesses in Plutus, »des Reichtums Gott«, tritt die entsprechende
oberste Reflexion der Poesie im Knaben Lenker zur Seite. Deshalb
spricht die Poesie die abstrakte Bestimmung, der auch die anderen
Figuren unterworfen sind, als bestimmte Abstraktion aus: »Alle-
gorie«. Solche Selbsterkenntnis ist Privileg der Poesie. - Es herrscht
in der Allegorie die aussprechbare Bedeutung über das sinnliche
Zeichen. Daher sagt die Allegorie auf ihrer Reflexionsstufe, daß
sie Allegorie sei. Somit ist die Herrschaft der Bedeutung über die
Erscheinung nicht nur wirksam, sie ist ausgesprochen. War der
Herold Darsteller der Darstellung (wodurch die Allegorie vorbe-
reitet wurde), so ist der Knabe Lenker die Allegorie der Allegorie
(wodurch die Allegorie vollendet wird).
Die Erklärung »wir sind Allegorien« versammelt rückwirkend
die Besonderheiten der Mummenschanz unter dem angemessenen
Begriff: die Bewußtheit der Maskerade, die Künstlichkeit der
Umgebung, die Verkleidung von Kollektiva und Abstrakta, die
Absichtlichkeit der Gruppenauftritte, die Ausrichtung aller Phä-
nomene auf Zwecke, die Abweichung von der natürlichen Erschei-
nung, die Differenz zwischen Bild und Sinn, die Verdinglichung
von Menschen und die Vermenschlichung von Dingen, die Rätsel-
haftigkeit der Masken, die Erfordernis und Schwierigkeit von
Auslegung, die Verknappung der Auftritte und Reden aufs
interpretação escassez

Wesentliche, die lehrhafte Selbsterklärung der Figuren in Begrif-


fen. - Daß die Mummenschanz allegorisch zu verstehen sei, kann
nicht mehr zweifelhaft sein. Zu verstehen, was die Allegorien im
einzelnen, das »allegorische Maskenfest« im ganzen bedeuten, ist
die nächste Aufgabe.

78
2
estabelecimento(?) relações
DIE ENTSTEHUNG DER ALLEGORISCHEN VERHÄLTNISSE
WEITLÄUFIGER SAAL MIT NEBENGEMÄCHERN

Die Mummenschanz beginnt nicht unvorbereitet. Durch Ort und


Personal ist sie mit der vorangehenden Szene »Kaiserliche Pfalz.
Saal des Thrones« verknüpft, die den politischen und sozialen
Zustand des Alten Reiches und seiner feudalen Gesellschaft zur
estádio decadência
Sprache bringt. Sie befindet sich im Stadium des Zerfalls, der auf
das vorausdeutet, was ihm folgt - die phantasmagorische Gesell-
schaft der »Mummenschanz«. Ministério da Corte
por unanimidade
Übereinstimmend beklagen die Hofämter, daß ihre und damit
des Kaisers Macht am Schwinden ist:
declínio

An wen ist der Besitz geraten?


Wohin man kommt, da hält ein Neuer Haus,
independente
Und unabhängig will er leben,
Zusehen muß man, wie er's treibt;
[... ] acumula
Ein jeder kratzt und scharrt und sammelt,
caixa vazia
Und unsre Kassen bleiben leer. (4835 ff)

Die neue Gesellschaft, so muß man aus den Klagen der alten
schließen, ist vom Privatinteresse geleitet, weil sie auf dem Privat-
eigentum aufbaut. Abgelöst von den veränderten ökonomischen
Grundlagen schweben die hergebrachten politischen Institutionen
darüber. In der Szene am Kaiserhof zeichnen sich die Strukturen
der neuen Ordnung an den Einbußen der alten ab. Deshalb
verweist das erste Urteil, das Mephisto über die Situation des
Hofes abgibt, auf ein Defizit. Er wird charakterisiert durch das,

79
was ihm fehlt, nicht durch das, was er hat: »hier aber fehlt das
Geld« (4890). Es fehlt der höfischen Welt gen au das Mittel, das
die in ihr, gegen sie und nach ihr entstehende bürgerliche Welt
besitzt. Gegenwärtig ist das Geld am Hof nur in negativer Gestalt,
d. h. in Form von Schulden. "Nun soll ich zahlen«, klagt der
Intendente-Mor perdoar
Marschalk, »alle lohnen; I Der Jude wird mich nicht verscho-
nen, I Der schafft Antizipationen, I Die speisen Jahr um Jahr vor-
gordura
aus. I Die Schweine kommen nicht zu Fette, I Verpfändet ist der
comido
Pfühl im Bette, I Und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot«
mesa

(4869 ff). [116] Die beiden entgegengesetzten und doch verbunde-


vazio
nen Formen des Geldes riqueza
- die hohle: Schulden in der alten Gesell-
plenitude
schaft, die volle: Reichtum in der neuen - werden von zwei
verschiedenen, aber zusammengehörigen Personen repräsentiert,
von Mephisto und Faust. Wie Faust in der Mummenschanz als
fülliger Plutus den Reichtum verkörpert, so vertritt Mephisto in
Tolo
der "Kaiserlichen Pfalz« als magerer Narr das fehlende Geld. Die
magro

erste Frage des Kaisers lautet: »Allein wo ist der Narr geblieben?«
(4731); die erste Antwort des neuen Narren Mephisto lautet:
»hier aber fehlt das Geld«. Mephistos Rolle des Mangels (und
seiner eilfertigen Behebung) setzt sich verändert in der Mum-
menschanz fort, wo er als Allegorie des »Geizes« an die kargen
Bedingungen des üppigen Reichtums erinnert; noch hier gilt sein
endividamento
Tadel den »Schulden« (5659). - Durch Verschuldung haben auch
censura

die Dinge des Gebrauchs ihre solide Substanz verloren. Sie sind
utilidade

nicht mehr Eigentum dessen, der sie genießt; sie sind ,antizipiert<,
obrigação
d. h. ihr Geldwert verweist auf einen fremden Besitzzusammen-
hang (den ),Juden«). Damit hat sich innerhalb der alten Gesell-
schaft negativ jene Spaltung von Gebrauchswert und Tauschwert
clivagem

vorbereitet, welche die Waren gesellschaft des ), Weitläufigen


Saals« positiv zur Grundlage ihres neuen Systems nimmt.
Im Innern hat den verfallenden Feudalismus bereits ein anderes
Zeitalter überholt, auf dessen Kräfte er selbst seine verwirrten
Wünsche richtet, gerade weil sie seinen Verfall herbeigeführt
haben. Mit der Lizenz des Karnevals spielt der Hof, was nach ihm
kommen wird. Die Mummenschanz ist der Traum einer vergehen-
den Epoche von der künftigen. Darum wähnen sich »alle neugebo-
ren« (5076). Die bürgerliche Gesellschaft, die schon im "Saal des
Sala Vasta
Thrones« virtuell präsent war, zeigt im ,) Weitläufigen Saal« ihr
rosto
wahres Gesicht - als Maske. Unscheinbar, spielerisch, nahezu
komisch ist der erste Auftritt des weltgeschichtlichen Neuen. [117]

80
Bereits durch Form und Herkunft bringen die beiden Vorbilder
der Mummenschanz, der römische Karneval und der florentini-
sche Trionfo, soziale Bedeutungen auf die Bühne, welche über die
Hofgesellschaft hinausweisen. Denn am Karneval beteiligt sich
membros superior disfarçam-se
das ganze Volk; die Mitglieder der oberen Klassen verkleiden sich
Preferência
mit Vorliebe in Gestalten aus den unteren. Er kann also das Bild
einer gesellschaftlichen Totalität hervorrufen, von den Holzhau-
ern bis zu den Göttern, und zudem das Bild einer Gesellschaft im
Zustand der fiktiven Umkehrung. Der Karneval der »Mum-
"antecipação de expectativa"
menschanz« ist deshalb die scherzhafte Vorwegnahme eines
agitação
gesellschaftlichen Umbruchs. Die Erfahrungen von 1789 lassen
nach den Ursprüngen der bürgerlichen Revolution in den Anfän-
gen der neuzeitlichen Geschichte fragen. - Spezifischer noch ist die
principesca
ambiente
soziale Umgebung der Trionfi. Sie sind Festzüge, mit fürstlichem
Pompa organizada
Prunk von einer aristokratischen Gesellschaft veranstaltet, deren
Reichtum und Macht jedoch wesentlich auf dem in Florenz ver-
acionário
reunido "financiada"
sammelten Handels- und Finanzkapital aufbaut. Höfische Reprä-
sentation, wie sie vor allem die Medici betrieben, hat hier ihren
materiellen Grund in der frühbürgerlichen Ökonomie. Eben dieser
Widerspruch prägt die Erscheinung des Plutus: er, »des Reichtums
Gott [... ] kommt in Prunk daher«; dem Herold erscheint er »als
Senhor Príncipes
Herrscher« (5568 ff) - er vereinigt den Schein des Fürsten mit dem
Wesen des Kapitalisten. Diese geschichtliche Vorgabe erleichtert
es der Mummenschanz, den feudalen Neigungen zur glänzend-
scheinhaften Selbstdarstellung, die in der allegorischen Theatralik
ihr Ziel finden können [118], zugleich die Darstellung bürgerlicher
Verhältnisse aufzugeben, denen von Hause aus alle theatralische
Selbstdarstellung fremd ist. Erst höfische Eloquenz bringt die
stummen bürgerlichen Strukturen zum Sprechen. So kommen die
historischen Gegensätze, der allegorische Schein des Hofes und
das phantasmagorische Wesen des Kapitals, im Trionfo der Mum-
revela
menschanz überein. Die alte Allegorie enthüllt die neue; in der
neuen Allegorie ist die alte aufgehoben.
Dennoch drängt sich gegen diese Verbindung von> überholter<
objeção
Form und modernem Inhalt ein Einwand auf: Hätte Goethe, falls
tatsächlich die bürgerlichen Wirtschafts- und Lebensformen sein
Thema sein sollten, sie nicht in einem entschieden bürgerlichen
Milieu homogener, plausibler und aktueller vorführen können?
Solch ein alternatives Modell konnte Goethe von der Literatur
seiner Zeitgenossen, etwa in den ihm bekannten Romanen Bal-

81
zacs, verwirklicht sehen. Doch die Vorzüge von Goethes Konzept,
inicial fase
die Charakteristika seiner Gegenwart auf ihrer frühesten Stufe, im
afirmar
embryonalen Zustand aufzusuchen, lassen sich benennen: 1. Sie
verlieren die begriffslose Selbstverständlichkeit einer alltäglichen
perdem
ambiente
Gewohnheit; in eine ältere Umgebung gebracht, in die sie fremd
und neuartig eindringen, wirken sie befremdlich und werden als
neue Momente bewußt. 2. Sie werden an der Zerstörung des
circunda
Alten, das sie umgibt, als historische Energie sichtbar und machen
den jetzigen Zustand als Ergebnis eines historischen Prozesses
verständlich. 3. Die Situation des Anfangs legt Fundamente frei,
die für die Existenz des neuen Systems unabdingbar sind; sie
fenômenos superficiais
verweilt also nicht bei den täuschenden Oberflächenphänomenen
der bürgerlichen Gesellschaft (wie sie etwa der Gesellschaftsro-
man des 19. Jahrhunderts thematisiert: Ehemoral, Pauperismus,
soziale Ideen), sondern rückt ihre Grundelemente in den Blick
(Ware, Geld, Arbeit, Kapital). 4. Die elementare Gestalt weist
zugleich auf künftige Extreme der gesellschaftlichen Entwicklung
voraus, soweit sie im Fluchtpunkt der immanenten Prozeßlogik
liegen. Dadurch ist es möglich, den pragmatischen und theoreti-
schen Konnex vom Vorspiel des ersten Akts zur Wirklichkeit des
fünften zu knüpfen: Faust, der als Plutus die Maske des Reichtums
mit »Behagen« (5566) gewählt hat, zeigt am Ende das entstellte
Gesicht des Reichen, der kein anderes Prinzip als die rastlose
Vermehrung des Reichtums anerkennt.
Die historische und zugleich aktuelle Perspektive der »Mum-
menschanz« stimmt zur Maxime der Doctrine de Saint-Simon (die
Goethe eben zu jener Zeit las), »die Geschichte zu betrachten«
heiße, »die Zukunft der Menschheit in der Vergangenheit zu
erzählen«. [119] Ähnlich führt die Szene Ursprung, Aufstieg,
System und Krise der Moderne gleichzeitig vor. Sie beginnt mit
dem Einfachen, dem Verkauf der Waren durch die Gärtnerinnen,
und endet mit dem Komplexen, der Herrschaft des Reichtums in
Gestalt des Plutus.
Die Mummenschanz ist als Marktszene eingerichtet: »Waren«
(5115, 5172) werden angeboten; Waren bieten sich selber an
(5120 ff); »Feilschet nun am heitern Orte« (5116), raten die
Gärtnerinnen; »Kauft!« (5164), rufen die Gärtner. Der Markt
bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich auch alle anderen
Figuren bewegen. Kauf, Verkauf, Gewinn sind ihre vordringlichen
Absichten. So benützt die »Mutter« den Karneval als Gelegenheit,

82
ihre Tochter wie einen Ladenhüter (»Nun ist schon manches
Jahr / Ungenützt verflogen«, 5185 f) billig loszuschlagen: »Heute
sind die Narren los, / Liebchen, öffne deinen Schoß, / Bleibt wohl
einer hangen« (5196 ff). [120] Gleich einem Motto steht vor dem
,Angebot< der Mutter die Bemerkung, daß die Gärtner und Gärt-
nerinnen fortfahren, "ihre Waren stufenweis in die Höhe zu
schmücken und auszubieten«. Die Tochter, nur Objekt des
Warenverkehrs, bleibt stumm. "Poeten« treten auf, aber von ihren
Versen vernimmt man, außer wenigen satirischen, nichts: "Im
Gedräng von Mitbewerbern aller Art läßt keiner den andern zum
Vortrag kommen« (vor 5295). Also selbst dort, wo man am
ehesten sich von ökonomischen Gesetzen frei wähnen möchte - in
"não-diminuta"
der Familie, in der Dichtung -, gelten sie unvermindert. Daß das
Tauschprinzip in der modernen Gesellschaft universal geworden
ist, war schon die Einsicht von Adam Smith: »Dann lebt jeder vom
Tausch, oder wird gewissermaßen ein Kaufmann, und die Gesell-
schaft selbst wird eigentlich eine Handelsgesellschaft.« [121]
Die Spielregeln des Marktes vertragen sich gut mit denen des
Karnevals. Für die Liberalität von beiden ist es notwendig, daß die
Personen ihre natürlichen Bindungen aufgeben und die Ansprüche
der »Charaktermaske«, die sie vertreten, zu ihren eigenen machen.
Das einzige Band, das die gegensätzlichsten Figuren zusammen-
hält, ist das wechselseitige Interesse an dem, was der andere hat.
Wenn die Gärtnerinnen ihrer Aufforderung zum »Feilschen« den
Vorschlag beifügen: "Und mit sinnig kurzem Worte / Wisse jeder,
was er hat« (5118 f), so bezieht er sich gleichermaßen auf die
Tauschpartner, die ihre Produkte feilbieten sollen, wie auf die
Karnevalsmasken, die die Bedeutung ihrer Gestalt zu erläutern
haben. Doch wird die Karnevalsrolle von der Warenbeziehung
bestimmt: hier interessiert, was jeder "hat«, nicht was er ist.
(Durch die Frage »was hast du?« statt »was bist du?« hatte
bekanntlich schon Wilhe1m Meister den "Bürger« vom »Edel-
mann« unterschieden.) Der Markt ist der Ort einer gesellschaftli-
chen Synthesis aller Subjekte, denen der allgemeine Zusammen-
hang zum bloßen Mittel für ihre Privatzwecke dient. Scharfe
Explikation des jeweiligen Eigeninteresses und zunächst heitere,
später chaotische Gleichgültigkeit gegen irgendein allgemeines
Ziel charakterisieren daher das Verhalten der Figuren auf der
Mummenschanz. »In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich
Zweck, alles andere ist ihm nichts«, erklärt Hegel in der Rechts-

83
philosophie: »Indem die Besonderheit an die Bedingung der Allge-
meinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittlung,
wo alle Einzelheiten, alle Anlagen, alle Zufälligkeiten der Geburt
und des Glücks sich frei machen, wo die Wellen aller Leidenschaf-
ten ausströmen, die nur durch die hineinscheinende Vernunft
regiert werden.« [122]
Für solche Bedürfnisse bietet der »Weitläufige Saal mit Neben-
gemächern« den geeigneten »Boden der Vermittlung«. Seine groß-
zügige Anlage wirkt jedoch allzu festlich für einen alltäglichen
Markt. Sie erinnert eher an eine der Weltausstellungen, mit denen
man im 19. Jahrhundert die Notwendigkeiten und Leistungen des
Warentausches festlich überhöhte. Bereits die erste Weltausstel-
lung 1798 hatte gleichzeitig den Charakter eines Volksfestes. In
den Zwanziger Jahren propagierte die saint-simonistische Zeit-
schrift Le Glohe, die Goethe regelmäßig las, Weltausstellungen,
welche die Versammlung von Produkten aus aller Welt mit künst-
lerischen Darbietungen für das Volk verbinden sollten. Sie werden
die Trionfi des Kapitals. Ähnlich - wenngleich kritisch gegen den
Optimismus der Saint-Simonisten gewendet - vereinigt die Mum-
menschanz kommerzielle Exposition und allegorischen Karneval.
»Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie
schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie
eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich
zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm
das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt.« [123]
Wie schon an den artifiziellen Gärtnerinnen und vermenschlich-
ten Kunstblumen zu sehen war, werden die Waren, um für den
Verkauf zu werben, ästhetisch zugerichtet. Deshalb drängt sich die
Spezies der >Galanteriewaren< vor. Nicht zum letzten verdankt die
Mummenschanz die Sphäre der Künstlichkeit, in der sie spielt, der
Warenästhetik. [124] Sobald aus den Arbeitsprodukten Waren
werden, verwandeln sich die natürlichen Eigenschaften der Gegen-
stände in künstliche Attribute des Tauschwerts. Soweit der
Gebrauchswert noch sichtbar ist, dient er dem Tauschwert als
isca
Köder. Nur zu diesem Zweck umkleiden die Gärtner ihre Auffor-
derung zum Kauf der »reifen Waren«, der den abstrakten Tausch-
wert realisieren soll, mit der Anpreisung des sinnlichen
Gebrauchswerts: »Bieten bräunliche Gesichter / Kirschen, Pfir-
sehen, Königspflaumen, / Kauft!« (5162 ff). Der eigentliche
Zweck, der sinnliche Genuß in der Konsumtion, tritt in den Dienst

84
der Tauschhandlung. Daß er je einzulösen sei, bleibt bloßes Ver-
sprechen. Vom Obst der Gärtner bis zum Gold des Plutus werden
zunehmend abstraktere Genüsse versprochen und nicht gehalten.
Wir sehen im ganzen Aufzug keinen, der zum Genuß kommt (mit
der erläuterungsbedürftigen Ausnahme des » T runknen«), denn
der Gebrauch muß räumlich und logisch vom Markt getrennt sein
- er ist ein Motiv, aber kein Moment des Marktes. Nur als Schein
vergegenwärtigt die Ware den Genuß; der zugreifenden Menge,
die »Begehr« zum »Besitz« reizt, wehrt der Herold: »Ihr Täppi-
schen! ein artiger Schein / Soll gleich die plumpe Wahrheit sein«
(5733 f).
Das Erfordernis, den künftigen Gebrauch zu versprechen, erhält
einen eigenen Ausdruck in der Reklame, wie sie Gärtner und
Gärtnerinnen mit musikalisch untermalten und lyrisch getönten
Kaufrufen veranstalten. »Unter Wechselgesang« bieten sie »ihre
Waren« aus. Während die Schriftsteller mit ihren Poesien wie mit
Waren konkurrieren, verwenden reziprok die Händler die Poesie
zur Werbung. »Poesie des Kaufmanns« hat Balzac die Gestaltung
von Schaufenstern genannt. [125] Passend schließen die Grazien
diesen Reigen des Verkaufens, Tauschens und Kaufens ab, indem
sie die dreifache »Anmut« des »Gebens«, »Empfangens« und
»Dankens« vorführen (5299 ff).
Da der Markt von Produktion wie Konsumtion abstrahiert,
behauptet die Logik der Waren allein den Platz. Sie verselbständi-
gen sich bis zu dem Punkt, wo sie zu reden beginnen. Was Marx
imaginierte, realisiert die Mummenschanz dramatisch: »Könnten
die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert
mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen
zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigner
Verkehr als Waren dinge beweist das. Wir beziehn uns nur als
Tauschwerte aufeinander.« [126] Für die Auftritte der sprechen-
den Gärtnerprodukte trifft das Bild zu, das Marx von der Ver-
wandlung eines Tisches gibt: zunächst ist »der Tisch Holz, ein
ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, ver-
wandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht
nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen
andren Waren gegenüber auf den Kopf, und entwickelt aus seinem
Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stük-
ken zu tanzen begänne.« [127] Der Phantasiekranz sagt es selber:
»Der Natur ist's nicht gewöhnlich, / Doch die Mode bringt's

85
hervor« (5134 f). Von dem Augenblick an, da sie Waren geworden
sind, verschwinden die Naturformen der Produkte; jetzt sind sie
"gestaltet, / Wie Natur sich nie entfaltet« (5146 f).
Wenn auch nicht mehr die natürlichen Produkte, so sind doch
noch die 'natürlichen< Produzenten auf der Mummenschanz zu
finden. Georg von Buquoy, mit dem Goethe mehrmals zusammen-
traf, stellt - physiokratischen Anschauungen noch verpflichtet - an
den Anfang seiner Theorie der Nationalwirthschaft die »Gewin-
nung roher Produkte«, die er in vier Bereiche gliedert: 1. Land-
wirthschaft; 2. Forstbau; 3. Bergbau; 4. Fischerey. [128] Ihnen
entsprechen vier Gruppen in der Mummenschanz: 1. Gärtner und
Gärtnerinnen (5088 ff); 2. Holzhauer (5199 ff); 3. Gnomen (»als
Felschirurgen wohlbekannt«, 5840 ff); 4. Fischer und Vogelsteller
(nach 5198). Doch ist es bedeutsam, daß Goethe diese Figuren,
losgelöst von ihrer natürlichen Umgebung, auf dem Markt des
»Weitläufigen Saals« auftreten läßt. Damit macht er sichtbar, wie
das physiokratische Modell einer ursprünglichen, natürlichen
Produktion unter kapitalistischen Bedingungen verändert und auf-
gelöst wird. Denn auf dem Markt unterliegen die natürlichen
Produzenten der Abstraktion von ihrer sinnlich-konkreten Tätig-
keit und verkörpern abstrakt-gesellschaftliche Arbeit, wie sie für
die Warenproduktion erforderlich ist. Auf verschiedene Weise
sind sie in den Mechanismus des Tauschverhältnisses integriert.
Gärtner und Gärtnerinnen haben die Aufgaben der Werbung
übernommen. Fischer und Vogelsteller führen die Tauschhand-
lung vor durch »wechselseitige Versuche, zu gewinnen, zu fangen,
zu entgehen und festzuhalten« (vor 5199); die Holzhauer reprä-
sentieren die reine Produktion (»Nur Platz! nur Blöße! / Wir
brauchen Räume, / Wir fällen Bäume, / Die krachen, schlagen«,
5199 ff) im Gegensatz zur reinen Konsumtion der Pulcinelle und
Parasiten, den Vertretern jener »Classe, nemlich derjenigen Men-
schen, die in einem Staat ein Auskommen haben, ohne an den
Producten der Natur und Industrie zu arbeiten, oder sich mit
deren Vertriebe zu beschäftigen« [129]; die Gnomen produzieren
die Geldware, sie bringen »das Gold zu Tag, / Damit man stehlen
und kuppeln mag« (5856 f). Während zu Beginn der Szene die
Holzhauer noch eine besondere Tätigkeit demonstrieren - aller-
dings nur ,demonstrieren<, um sie für Ausstellungszwecke verfüg-
bar zu machen - vertreten am Ende die Bergleute, die »Gnomen«,

86
das allgemeine Produkt, wodurch alle anderen Produkte erst
verrechnet und vertauscht werden können, das Geld.
Eine einzige Figur bricht aus diesen wohlverteilten gesellschaft-
lich-ökonomischen Funktionen aus: der »Trunkne«. Er tritt,
ungewöhnlich genug, als Einzelner inmitten von Gruppen und
Gattungswesen auf. Er lallt »unbewußt«:
Sei mir heute nichts zuwider!
Fühle mich so frank und frei;
Frische Lust und heitre Lieder,
Holt' ich selbst sie doch herbei.
Und so trink' ich! Trinke, trinke!
Stoßet an, ihr! Tinke, Tinke! (5263 ff)
desvio
Schon darin mag der» Trunkne« von den übrigen abweichen, daß
er wohl nicht die Maske eines Trunkenen gewählt hat, sondern
wirklich betrunken ist, also nichts darstellt als sein wahres,
obgleich »unbewußtes« Wesen. Daher darf er sich »frank und
frei« fühlen. Unter all den Masken, welche Gesellschaftsrollen
übernommen haben, ist der Trunkene der einzige, der aus der
Rolle fällt und für sich existiert. Er, den sein Weib »einen Masken-
stock« (5274) gescholten hatte, leidet als einziger an seiner Mas-
kenrolle: »ich mag nicht länger stehn« (5290). Im privaten Rausch
wird die allgemeine Verkehrung noch einmal verkehrt und
dadurch aufgehoben. Alles, was die Allegorie der »Mummen-
schanz« aussperrt, kehrt im Rausch - und nur im Rausch - des
Einzelnen zurück: Freiheit, Individualität, Identität, Brüderlich-
keit, Gleichgültigkeit gegen das Geld (» Borgt der Wirt nicht, borgt
die Wirtin, / Und am Ende borgt die Magd«, 5281 f). Doch bleibt
diese trunkene Individualität notwendig illusionär, da sie in den
allegorischen Verkehrsformen des »Weitläufigen Saals« keinen
parada
Halt finden kann. Das individuelle Desinteresse am Geld kann
dennoch die allgemeine Geltung des Geldprinzips nicht außer
Kraft setzen; noch in der Negation erkennt selbst der» Trunkne«
es an, indem er »borgt«. »Frische Lust und heitre Lieder« muß er
»selbst« herbeiholen; seine Trinksprüche gelten einer imaginären
Gesellschaft von Freunden. Am Ende liegt er »unterm Tisch«; er
wird aus dem allegorischen Spiel genommen; «dem ist's getan«
(5294), ruft der »Chor« ihm nach.
Auch ohne ihn geht die Mummenschanz weiter. Sie entwickelt,
nachdem die Untätigen abgetreten sind, eine Phänomenologie der
Arbeit. Ihre allgemeinste und abstrakteste Gestalt gewinnt sie in

87
der Allegorie der Viktoria. Im Elephanten, den die »Klugheit«
leitet (»Im Nacken sitzt ihm zierlich-zarte Frau, / Mit feinem
Stäbchen lenkt sie ihn genau«, 5399 f) und auf dem Viktoria
thront, sind die verschiedenen körperlichen Arbeiten, die am
Anfang noch gesondert sichtbar waren (Gärtner, Holzhauer) zur
Abstraktion körperlicher Arbeit schlechthin zusammengefaßt. Da
diese Abstraktion jenseits des einzelnen tätigen Menschen liegt,
ohne deshalb irreal zu sein, hat sie auch keine menschliche Gestalt
mehr: als Tier steht sie soweit unter dem Menschen wie Viktoria
als Gottheit über ihm (schon deshalb können beide nicht mensch-
liche, sondern müssen allegorische Figuren sein). Arbeit wird auf
bloße körperliche Arbeit reduziert, sobald ihr in der »Klugheit«
die geistige Arbeit herrschend, weil planend und lenkend, gegen-
übertritt: »Den lebendigen Kolossen / Führ' ich, seht ihr, turmbe-
laden, / Und er wandelt unverdrossen / Schritt vor Schritt auf
steilen Pfaden« (5445 ff).
Hier scheint mir ein Blick auf die Folgen angebracht, welche die
Teilung und Beziehung von geistiger und körperlicher Arbeit im
Fortgang von Faust II zeitigt. (Exemplarisch kann dabei auch
deutlich werden, wie die Mummenschanz die Hauptthemen des
ganzen Werkes in nuce vorwegnimmt.) In den Revolutionsszenen
der »Klassischen Walpurgisnacht« führt dieser Gegensatz die
Kämpfe der Klassen herauf, zunächst zwischen der Aristokratie
der Reiher und der Bourgeoisie der Pygmäen (»Schießt mir die
Reiher, / Unzählig nistende, / Hochmütig brüstende [... ] Daß wir
erscheinen / Mit Helm und Schmuck«, 7647 ff), danach zwischen
den besitzenden Pygmäen und den besitzlosen Imsen und atrofiada
Dakty-
len, die für jene arbeiten, nur deren >Finger< sind. Ihre verküm-
merte Gestalt bezeichnet die spezialisierte, massenhaft organisierte
Form, welche die menschliche Arbeit unter der Herrschaft der
Pygmäen-Bourgeoisie angenommen hat. Militärisch gesichert,
kann die Klasse der Kopfarbeiter der Klasse der Handarbeiter
befehlen: »Ihr Imsen alle / Rührig im Schwalle, / Schafft uns
Metalle! Und ihr Daktyle, / Kleinste, so viele, / Euch sei befohlen,
[... ] Schaffet uns Kohlen« (7634 ff). Die Antwort der Imsen und
Daktyle setzt der dialektischen Einsicht, daß ihre lebendige Arbeit
von deren toter Vergegenständlichung beherrscht wird, noch eine
historische Hoffnung entgegen: »Wer wird uns retten! / Wir
schaffen's Eisen, / Sie schmieden Ketten. / Uns loszureißen, / Ist
noch nicht zeitig, / Drum seid geschmeidig« (7654 ff). Was mit der

88
Teilung der Arbeit begann, endet bei den Privilegien des Besitzes.
Auch Fausts Imperium im Neuland des 5. Akts beruht darauf,
daß er als theoretischer Kopf über die Hände seiner Arbeiter
verfügt:
Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht.
Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!
Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann.
Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!
[... ]
Daß sich das größte Werk vollende,
genügt ein Geist für tausend Hände. (11502 ff)

Die herrschaftliche Stellung ermöglicht es der geistigen Arbeit, die


körperliche zu vervielfachen (»tausend Hände«, entsprechend
dem »Kolossen« des Elephanten) und einheitlich zu leiten (»ein
Geist«, entsprechend der »Klugheit«), so daß Fausts "strenges
Ordnen« (11507) bereits die Organisationsform der Arbeit in der
modernen Technik und der großen Industrie ("das größte Werb)
benennt. [130] Wie im Verhältnis der Pygmäen zu den Daktylen
steht auch hier hinter dem Schein des gerechten Lohnes die
Realität der Gewalt: "Arbeiter«, fordert Faust von Mephisto,
»schaffe Meng' auf Menge, / Ermuntere durch Genuß und
Strenge, / Bezahle, locke, presse bei!« (11552 ff). Wer seine
Arbeitskraft nicht freiwillig gegen Geld tauscht, wird zur Arbeit
verführt oder gezwungen. Wie ungleich die gesellschaftlichen
Gewichte von Hand- und Kopfarbeit verteilt sind, wie täuschend
der angeblich gemeinsame menschliche Charakter bei der Parteien
ist, gibt die Allegorie der Viktoria durch das prinzipielle Manko
des Tiers gegenüber dem theoretischen Vermögen der »Klugheit«
zu erkennen. Auch die Lemuren, die Arbeiter Fausts, sind keine
ganzen Menschen, sondern »geflickte Halbnaturen « (11514) - ein
Ausdruck, der zugleich die Anatomie allegorischer Figuren trifft.
Doch die Allegorie der Viktoria führt noch einen wesentlichen
Schritt über den Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit
hinaus: auf den Reichtum des Plutus zu. Der Elephant untersteht
zwar der »Klugheit«, aber sie hat davon nicht selbst den
lucro
»Gewinn«. Letztlich steht sie ebenso wie der Elephant im Dienst
eben der Viktoria,
Jene Göttin, mit behenden
Breiten Flügeln, zum Gewinne
Allerseits sich hinzuwenden.

89
Rings umgibt sie Glanz und Glorie,
Leuchtend fern nach allen Seiten;
Und sie nennet sich Viktorie,
Göttin aller Tätigkeiten. (5450 ff)

Die antike Göttin des militärischen Siegs wird in moderner bürger-


licher Interpretation zur Allegorie des kommerziellen »Gewinns«.
(Hier erscheint, wie es in einer Regiebemerkung zum Auftritt der
Grazien heißt, »die griechische Mythologie [... ] in moderner
Maske«). [131] Als »Göttin aller Tätigkeiten« vereinigt sie die
körperliche Arbeit des Elephanten mit der geistigen der »Klug-
heit«, indem sie den letzten Zweck beider bezeichnet, den ökono-
mischen Profit. Mit gleicher Bedeutung, in ähnlicher Gestalt wird
die >Viktoria der Industrie< die Portale von Weltausstellungen im
19. Jahrhundert schmücken [132], verklärend und ernst, ohne den
Spott, mit dem Zoilo-Thersites die Allegorie der Viktoria in der
Mummenschanz verabschiedet:

Hu! Hu! da komm' ich eben recht,


Ich schelt' euch allzusammen schlecht!
Doch was ich mir zum Ziel ersah,
Ist oben Frau Viktoria.
Mit ihrem weißen Flügelpaar
Sie dünkt sich wohl, sie sei ein Aar,
Und wo sie sich nur hingewandt,
Gehör' ihr alles Volk und Land. (5457 ff)

Wenn Zoilo-Thersites der Viktoria vorhält, daß sie illegitim impe-


impede

riale Hoheitszeichen gebrauche, den »Aar«, und Hoheitsansprü-


che usurpiere, als »gehör' ihr alles Volk und Land«, so trifft er
substituição
damit die Ablösung monarchischer durch kapitalistische Macht -
wie sie der Übergang vom 4. Akt, dem letzten der vergangenen
transição

feudalen Welt, zum 5. Akt, dem ersten der künftigen bürgerlichen


afirmou
Welt, historisch entfalten wird. Gleich dem einstigen Kaiser bean-
| posse
sprucht dann Faust »Hochbesitz« (11156) und »Weltbesitz«
(11242). Viktoria übernimmt die alten Machtmittel, um ihre -
ökonomisch neu fundierte - Herrschaft zu erhalten und zu erwei-
tern. Gerade weil der bürgerlichen Gesellschaftsform von Hause
aus Macht fremd ist - in der Ideologie des gerechten Tausches
steckt ein Moment von Wahrheit -, muß sie um ihrer unvermeidli-
chen Herrschaftsinteressen willen vorbürgerliche Herrschaftsfor-
men beerben. Fausts neue Welt verwirklicht dieses Amalgam
praktisch:

90
Krieg, Handel und Piraterie,
Dreieinig sind sie, nicht zu trennen. (11187 f) [133]

Darum ist Faust schon in der Maske des Plutus Reicher und
»Herrscher« (5568). »Das Würdige« seiner Erscheinung macht
auch vergessen, daß die Arbeit der »Groben« (5207) die erste
Grundlage seines Reichtums bildet. Die Metamorphosen der
Arbeit - von den Holzhauern und Gärtnerinnen über die »Klug-
heit« zu Viktoria und Plutus, d. h. von der körperlichen und
merkantilen Tätigkeit zum »Gewinn« und zum »Reichtum« -
haben die konkrete Arbeit selbst ausgelöscht. Sie ist in Gold
verwandelt und im Geld verschwunden.
Als hätte er Plutus zu charakterisieren, schreibt Adam Müller
(noch ehe Goethe die Szene erfunden hatte): »Wie das Geld die
schönen Verhältnisse unter den Waaren stiftet, begünstigt und
belebt: eben so soll der Staatsmann die schönen Verhältnisse unter
den Einzelnen stiften, begünstigen und beleben: er soll also Geld
seyn.« [134] Im Staatsmann Plutus, der - abgegrenzt durch» Ver-
schwendung« und »Geiz« - das »wahre Geld« [135] verkörpert
und eine neue gesellschaftliche Ordnung begründet, findet die
Geschichte des Geldes, die sich durch den ganzen 1. Akt zieht,
encapuzado
ihren Höhepunkt. Der »vermummte Plutus« ist der »Masken-
held« (5737) der Mummenschanz. Er zerstreut die chaotische
Karnevalsmenge:
Die Menge weicht,
Sie ist verscheucht. -
Doch, solcher Ordnung Unterpfand
Zieh ich ein unsichtbares Band.
Herold. Du hast ein herrlich Werk vollbracht,
Wie dank' ich deiner klugen Macht! (5759 ff)
riqueza desatou
Wenn Plutus »die Schätze zu entfesseln« beginnt (5709) und die
Masse zu bändigen vermag, beendet er den alten Karneval. Im
neuen » Tumult« (5766) übernimmt er die Aufgaben, die dem
Repräsentanten der alten Gesellschaftsordnung, dem Herold, über
den Kopf gewachsen sind. Wie sich feudaler Grundbesitz und
bürgerlicher Geldbesitz an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhun-
dert in der Macht ablösen, hat Gustav von Gülich in seiner 1830
erschienenen und von Goethe während der Arbeit an der »Mum-
menschanz« gelesenen Geschichtlichen Darstellung des Handels,
der Gewerbe und des Ackerbaus erörtert. Es ist nicht schwer,

91
darin den Verlauf des 1. Akts im allgemeinen, die Bedeutung des
Plutus im besonderen wiederzuerkennen:
Hier [in England] und noch mehr auf dem Festlande führten die Zeitverhältnisse
die Verschuldung vieler Grundbesitzer herbei; während auf der andem Seite
viele Kaufleute, Fabrikanten und Banquiers sich bereicherten. Das Geschäft der
letztem hatte sich schon in den frühem Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts
durch den überall vermehrten Handel, durch den Anwachs des Geld- und
Wechselhandels und durch das Leihen der Staaten sehr gehoben, besonders aber
während des siebenjährigen und des amerikanischen Kriegs. Noch größere
Fortschritte indeß machte es im französischen Revolutionskriege und in den
folgenden Zeiten. Der Geld- und Wechselhandel erlangte jetzt eine nie gekannte
Bedeutung; die Banquiers wurden die unentbehrlichsten Personen in fast allen
Staaten; ohne sie konnten die Anleihen nicht zu Stande gebracht, ohne diese der
Krieg nicht geführt werden. Auch die Vermehrung des Papiergelds erweiterte die
Geschäfte dieser Classe. [136]

Doch ist Plutus kein wirklicher Bankier; vielmehr stellt er dank


seiner allegorischen Gestalt den abstrakten Geldreichtum dar
(»des Reichtums Gott«, 5569), der sich hinter der Charakter-
maske eines Bankiers verbirgt.
Der Reichtum des neuen Plutus ist kein im stillen angehäufter
Schatz. Wenn er auftritt, »strömt es mächtig« (5505); sein
»prächtiger Wagen / Wird durch alles durchgetragen« (5512 f);
vor dieser »Sturmgewalt [... ] schaudert's« den Herold (5519 f).
Der revolutionäre Aufstieg dieser Macht des Geldes entspricht
dessen immanenter Fähigkeit: denn Zirkulation und Vermehrung
bezeichnen die Bewegungsgesetze des Kapitals. Daß »alles velozi-
ferisch« zugehe, beklagt Goethe auch in den Wanderjahren als
»das größte Unheil unserer Zeit«. [137] Gerade die Abstraktheit
des Geldes ermöglicht seine Verwandlungsfähigkeit; »denn dies
Metall läßt sich in alles wandeln« (5782). Da es sich in die
verschiedensten Dinge vertauschen kann, geht es in keinem auf.
Daher nennt Schopenhauer das Geld den »Proteus« (nur schein-
bar ist es voreilig, an den Proteus der »Klassischen Walpurgis-
nacht« zu erinnern), der »jeden Augenblick bereit ist, sich in den
jedesmaligen Gegenstand unserer so wandelbaren Wünsche und
mannigfaltigen Bedürfnisse zu verwandeln. [... ] Geld allein ist das
absolut Gute: weil es nicht bloß einem Bedürfnis in concreto
begegnet, sondern dem Bedürfnis überhaupt, in abstracto.« [138]
Verwandlung, Vertauschung und Verkehrung charakterisieren
gleichzeitig den Formwandel des Geldwertes wie die Ästhetik des
Karnevals. Thema und Form der »Mummenschanz« konvergieren

92
in einer Ästhetik des Geldes. Ihre wesentlichen Momente hat sie
mit der Allegorie gemein: Abstraktion und Schein.
In gleichem Maße, wie sich die Abstraktion des Geldes durch-
setzt, werden die agierenden Personen zu Personifikationen redu-
ziert. Dies zeigt sich an Plutus: die umfangreiche Mythologie einer
antiken Götterfigur schrumpft zur eindeutigen Allegorie einer
modernen Wirtschaftsfunktion. Bereits in der» Kaiserlichen Pfalz«
hatte der Astrolog - kein Wunder: »Mephistopheles bläst ein« -
den gesamten Götterhimmel auf seinen Metallgehalt geprüft,
indem er mit alchimistischen Ideenverbindungen auf die neue Art,
Geld zu gewinnen, vorausweist:
Die Sonne selbst, sie ist ein lautres Gold,
Merkur, der Bote, dient um Gunst und Sold,
[ ... ]
Ihn [Saturn] als Metall verehren wir nicht sehr,
An Wert gering, doch im Gewichte schwer.
Ja! wenn zu Sol sich Luna fein gesellt,
Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt. (4955 ff)

Plutus endlich steht das Geld ,ins Gesicht geschrieben<: gleich


einem Goldstück leuchtet sein »gesundes Mondgesicht« (5563);
so löst die Mummenschanz, das »heitre Fest« (5067), die Bedin-
gung ein, unter welcher der Astrolog den Aufgang einer »heitren
Welt« vorausgesagt hatte.
Wie hier das ausschließliche Interesse am Kurswert die Götter
zu rein finanziellen Größen degradiert, sie zum Zeichen für einen
bestimmten Wert an der Metallbörse nimmt (» ... sie ist ein
lautres Gold«, »... als Metall«) - daran ist exemplarisch und
legível
extrem der Vorgang der Allegorisierung ablesbar, nach ihrer
traditionellen Struktur wie nach ihrer modernen Verwendung:
1. die sinnlich-geistige Vieldeutigkeit der Mythologie wird zur
sachlich-intellektuellen Eindeutigkeit der Allegorie vereinfacht
und zugespitzt; 2. diese Reduktion folgt in Goethes Allegorie den
reduktiven Gesetzen der ökonomischen Hierarchie, so daß nun die
gestores
aufwendigen Bilder der Gestirne und der Götter immer nur das
gleiche öde Prinzip des Geldwerts bestätigen. - Zur Herrschaft
gelangt, organisiert das Geld die sinnliche Welt neu. Zwar ver-
unificadora
schwindet unter der entzaubernden und vereinheitlichenden Per-
desencantadora

spektive des Geldes die unmittelbar sinnliche Vielfalt einer mythi-


schen Natur, doch eröffnet eben diese neue ,göttliche< Macht des
Geldes die von ihm abhängige, also mittelbare Gegenständlichkeit

93
einer zweiten Natur, die nun erst zu haben ist. Der Astrolog, das
porta-voz desencantou
Sprachrohr Mephistos, fährt, nachdem er die Götter entzaubert
und »zum Silber Gold« gestellt hat, darum fort:
estabeleceu

ganhar
Das übrige ist alles zu erlangen:
Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen,
Das alles schafft der hochgelahrte Mann,
Der das vermag, was unser keiner kann. (4967 ff)

Ironischerweise läßt Mephisto den Astrologen die Selbstaufhe-


bung seines Berufes verkünden. Denn was von jetzt ab dem
einzelnen zukommt, bestimmt nicht länger ein von Göttern oder
Gestirnen gelenktes Schicksal; das Geld berechtigt zur freien Wahl
zwischen den Dingen. Sie sind zur Auswahl aufgezählt. Die allge-
meine Konvertibilität des Geldes macht auch die verschiedenen
Dinge konvertibel und verfügbar; ihr Tauschwert prostituiert
ihren Gebrauchswert (absichtsvoll führen die Beispiele des Astro-
logen in den Bereich der Prostitution: »... Brüstlein, rote
Wangen«).
Im Verlauf des 1. Akts unterliegt das Geld einem Prozeß zuneh-
mender Entdinglichung. Anfangs, am Kaiserhof ist noch von
vergrabenen Schätzen in bestimmter sinnlicher und nützlicher
Form die Rede, »Von goldnen Humpen, Schüsseln, Tellern«; der
Schatzsucher darf sich sogar noch einen Genuß gönnen: »Pokale
stehen aus Rubinen, / Und will er deren sich bedienen, / Daneben
liegt uraltes Naß« (5019 ff). Dann gehen die Wünsche aufs immer-
hin greifbare, aber schon allgemeinere Gold. Doch das Gold des
Plutus erweist sich als bloßer Schein, da es nur noch abstraktes
Geld bedeutet. Endlich wird im Papiergeld die extreme Gestalt des
Scheins von Geld erfunden. [139] Das Papiergeld, »das Papierge-
spenst der Gulden« (6198), bringt den Abstraktionsprozeß des
Wertes zum Abschluß. Was die falsche Natürlichkeit der Dinge,
und der sinnlich-unsinnliche Schein des Goldes vorbereiteten,
wird durch diese letzte Entsinnlichung vollendet. Im Papiergeld ist
der Schein des Geldes offensichtlich geworden. Obwohl erst die
folgende Szene im »Lustgarten« die Erfindung des Papiergeldes an
den Tag bringt (6055 ff), weist seine Entstehung auf die Mum-
menschanz zurück. Der Schatzmeister erinnert den Kaiser daran,
daß er als »großer Pan« das »schicksalsschwere Blatt« unter-
schrieben habe, worauf es »in dieser Nacht / Durch Tausend-
künstler schnell vertausendfacht« wurde; »So stempelten wir

94
gleich die ganze Reihe, / Zehn, Dreißig, Funfzig, Hundert sind
parat.« Kein Rahmen konnte diesem Unternehmen besser dienen
als die künstliche, zauberische Welt der Maskerade. Papiergeld ist
die Maske des Geldes, da es auf einen realen - wenngleich schwer
realisierbaren - Wert lediglich verweist (» Ihm liegt gesichert, als
gewisses Pfand, / Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland«, 6059 f)
und als »Zettel« die »vertausendfachte« Reproduktion dieser
nota (promissória)

ursprünglichen Schatzanweisung vorstellt.


Scheinhaft ist der Reichtum, den das Papiergeld bezeichnet,
grundsätzlich; in verhängnisvoller Weise scheinhaft aber ist er für
die höfisch-feudale Gesellschaft. »Es schien mir fast«, erinnert sich
der Kaiser, »als ob ich Pluto wäre« (5990). »Der Zettel hier ist
tausend Kronen wert« (6058), verkündet der Kaiser, ohne zu
bedenken, daß er damit seine eigene »Krone« außer Kurs setzt.
Wenn er den neuen Reichtum Plutus' durch das Papiergeld zu
kopieren versucht, muß die Scheinblüte den Untergang der alten
Gesellschaft beschleunigen. Denn die Wertgröße des Papiergeldes,
das zunächst die alte, sterbende Welt noch einmal belebt (»Seht
eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt, / Wie alles lebt und
lustgenießend wimmelt!«, 6079 f), ist in ihr ungedeckt und also
tatsächlich ein »ungeheurer Trug« (6063). Es ist ein ironisches
Unterfangen Fausts und Mephistos, den Hof durch das Mittel
retten zu wollen, das ihm - da er unfähig ist, den neuen Geldver-
hältnissen neue Produktionsverhältnisse vorzulagern - zum Ver-
derben ausschlagen muß. Seine Machtstellung beruhte auf dem
Grundbesitz; mit dem Papiergeld, einer äußersten Abstraktion der
bürgerlichen Warenwirtschaft, dringt ein zersetzender Fremdkör-
per in seinen Organismus ein. Einzig der alte Narr, der nicht
zufällig die Mummenschanz verschlafen hat, hält an dem alten
Prinzip fest. Paradoxerweise will er gerade mit dem neuen Papier-
geld »Acker, Haus und Vieh [... ] Und Schloß, mit Wald und Jagd
und Fischbach« kaufen: »Heut abend wieg' ich mich im Grundbe-
sitz!« Mephisto, neuer Narr und Narr des Neuen, bestätigt ihm
die immanente Richtigkeit seiner Handlung: »Wer zweifelt noch
an unsres Narren Witz!« (6167 ff).
Da das Geld als unpersönliche Macht wirkt, kann es in einer estruturada
Gesellschaft, die auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen auf-
gebaut ist, nur zur Auflösung führen. Daß das Geld der alten
Gesellschaft nicht frommt, schließen deren bedächtigere Vertreter
aus seiner moralischen Indifferenz. Darum mißtraut der Kanzler

95
den Geldschöpfungsplänen Mephistos: »Es geht nicht zu mit
frommen rechten Dingen« (4942). Die Gnomen der Mummen-
suposição confirmam
schanz werden seine Vermutung bestätigen: mit ihrem Gold mag
furtar foder
man »stehlen und kuppeln«, ohne daß es ihre »Schuld« wäre
(5856 ff). So untergräbt das Geld mit der ökonomischen Basis der
feudalen Gesellschaft auch deren ideologischen Überbau, Religion
und Moral. Die Gnomen sind im mythologisch-historischen Span-
nungsfeld zwischen Pan und Plutus, Kaiser und Faust, tätig. Ihre
»Deputation [... ] an den großen Pan« erklärt sie zunächst zu
Untertanen des als Naturgottheit verkleideten Kaisers, da sie in
seinem Grund und Boden arbeiten (»Wölben wir in dunklen
Grüften / Troglodytisch unser Haus, / Und an reinen Tageslüf-
ten / Teilst du Schätze gnädig aus«, 5902 ff); doch eben jetzt
scheint ihnen das neue Geld des Plutus als Quelle des Reichtums
überlegen (»Nun entdecken wir hieneben / Eine Quelle wunder-
bar, / Die bequem verspricht zu geben, / Was kaum zu erreichen
war«, 5906 ff). Sie folgen also dem Übergang vom metallischen
Reichtum, der noch durch eine bestimmte Arbeit der Natur abge-
wonnen wurde, zum abstrakten Reichtum des Geldes, dessen
»bequeme« Verkehrsform durch den allgemeinen Austausch von
Produkten, d. h. durch Reduktion auf allgemein-abstrakte Arbeit
zustande gekommen ist. Die Mummenschanz endet damit, daß
der Kaiser in der Maske des Pan, des Gottes der alten Natur, an
fonte de dinheiro (se) queima
der plutonischen Geldquelle verbrennt, zu der ihn die Gnomen
desencadeia
geführt hatten. Was in der Mummenschanz entfesselt wurde, die
allegorischen Verhältnisse der neuen bürgerlichen Welt, bedeutet
zugleich das Ende der feudalen Welt.
So glorios im Vergleich mit den Zerfallserscheinungen der alten
Gesellschaft die neuen bürgerlichen Potenzen wirken: Arbeit,
Markt, Gewinn, Geld - auch ihre Grenze und Krise wird gezeigt.
Den Schein von unbegrenzter Positivität und Progressivität zu
zerstören, ist Aufgabe der >negativen< Allegorien, welche die
»Mummenschanz« durchsetzen. Ominös ist es, daß im
»Gedräng« der »verschiedenen Poeten« allein der »Satiriker« zu
Wort kommt: »Dürft' ich singen und reden, / Was niemand hören
wollte« (5297 f). Den Grazien und Gärtnerinnen mit verführeri-
schen »Seidenfäden« (5094) folgen die Parzen, die »an dieses
Fadens Grenzen« (5315) erinnern. Wenn der Markt die Parole
ausgibt: »Feilschet nun am heitern Orte« (5116), so bestehen die
Furien auf dem Unglück des einzelnen: »Hier kein Markten, hier

96
kein Handeln - / Wie er es beging', er büßt es« (5387 f). Ehe
Viktoria bereit ist, »zum Gewinne / Allerseits sich hinzuwenden«
(5451 f), hat Klotho schon ihre Schere vorgezeigt: »Hoffnung
herrlichster Gewinste / Schleppt sie schneidend zu der Gruft«
(5323 f). Plutus, »das gesunde Mondgesicht«, wird vom Geiz, dem
»Abgemagerten«, begleitet. Die Parzen, die Furien, der Geiz und
Zoilo-Thersites (der alles »schlecht« schilt, 5458) halten fest, was
sich dem Glücksversprechen der ökonomischen Prosperität ent-
zieht: Unzufriedenheit, Zwietracht, Reue, Tod. Sie bezeichnen die
Grenzen, die letztendliche Vergeblichkeit der wirtschaftlichen
Expansion. - Ihre Rolle nehmen im letzten Akt von Faust II die
»Vier grauen Weiber« - Mangel, Schuld, Sorge, Not - wieder auf.
Dort wird die »Sorge« dem rastlos planenden, seinen Weltbesitz
vermehrenden Faust die Unverfügbarkeit der Zukunft vorhalten
und den Uneinsichtigen mit Blindheit schlagen. Damit ist der
Optimismus der »Klugheit« widerlegt, die durch rationelle Lei-
tung der Arbeit »Furcht und Hoffnung, angekettet« (5442) zu
halten und den »Gewinn« zu sichern versprochen hatte. Fausts
Arbeiter werden zu seinen Totengräbern. Fausts Ende, durch den
Einspruch des natürlichen Todes gegen die Imagination des endlo-
sen Gewinns erwirkt [140], ist in den Widersprüchen der Mum-
menschanz vorgezeichnet.
Worin Herders Verdikt die Schwäche eines allegorischen Dra-
mas erblickte - »Ein Allegorisches Drama ist das kälteste Schatten-
spiel, worinn mit fortgehendem Widerspruch Nichtigkeiten spre-
chen, Nichtigkeiten handeln« [141] -, darin erkennt Goethe eine
wahre Gestalt des gesellschaftlichen Widerspruchs: das kalte
Schattenspiel von Nichtigkeiten, deren Bewegungen und Reden
von einer unsichtbaren Regie gelenkt werden. Um noch einmal
Mephisto zu zitieren: »Ich griff nach holden Maskenzügen / Und
faßte Wesen, daß mich's schauerte ... « (7797 f). In der inneren
Nichtigkeit der Erscheinungen ist die Negation festgehalten, der
alles Konkrete unter der Herrschaft der Abstraktion verfällt. Diese
Negation realisiert die Mummenschanz einzeln an den Masken,
die nach einen kurzen Auftritt erinnerungslos wieder verschwin-
den, zusammenhängend aber am Ablauf der Szene, die fortschrei-
tend von stets gefährlicheren Destruktionen heimgesucht und
schließlich aufgelöst wird: durch die »Sturmgewalt« Plutus'
(5519), im anarchischen »Geschrei und Gedräng« (5748 ff), im
drohenden Verbrennen der Menge. Noch in der Vernichtung, d. h.

97
in der prozessualen Darstellung der »Nichtigkeit«, erscheint die
allegorische Form als gesellschaftlicher Inhalt.
An diesem Ausgang des >allegorischen Schattenspiels< wird noch
einmal deutlich, wie überlegt Goethe die Allegorie zur Repräsenta-
tion allegorischer Verhältnisse gewählt hat. Denn die wesentlichen
Bestimmungen der modernen bürgerlichen Gesellschaft decken
sich ihm mit den Bedeutungsstrukturen der allegorischen Form:
Aufhebung der Sinnlichkeit, Auflösung natürlicher Zusammen-
hänge, Herstellung einer künstlichen Welt, Vernichtung der natür-
lichen und Nichtigkeit der künstlichen Phänomene, Funktionali-
sierung der Gegenstände zu Attributen, Inkongruenz von Erschei-
nung und Bedeutung, Abbau der Individualität, Herrschaft von
Abstraktionen. Der Aufzug der Allegorien »zur Mummenschanz«
hat also die Entstehung allegorischer Verhältnisse zum Thema.

98
3

DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT DER ANTIKE


HELENA

Bereits die Mummenschanz, die Hauptszene des 1. Akts, ruft »die


griechische Mythologie hervor, die, selbst in moderner Maske,
encanto perde
weder Charakter noch Gefälliges verliert« (Regieanweisung vor
5299). Offen oder verdeckt verweisen die Namen, Gebärden und
Reden der Figuren auf antike Muster: Gärtner und Gärtnerinnen
bilden »Chöre«, die Rosenknospen zählen sich »Florens Reich«
zu, mit den Grazien, Parzen und Furien beginnen die Auftritte
mythologischer Gottheiten, die in Faust-Plutus und Kaiser-Pan
oferece
ihren Abschluß finden. Hier liefert die Antike der Selbstauslegung
prazer/encanto fantasias
der Moderne die Bilder. Aber das Gefallen an der Verkleidung
produz
treibt über das bloße Rollenspiel hinaus und erzeugt am Hof den
Wunsch, jene gespielte Antike im demanda
Original zu sehen. Von der
Mummenschanz nimmt das Verlangen, Helena und Paris zu
beschwören, seinen Ausgang. [142] Dem scheinbaren Herrn des
posto
Festes, dem Kaiser, dessen Amt sich auf antike Tradition beruft,
steht es an, die Beschwörung des Scheins von Antike zu fordern.
"elogioso"
Es bleibt nicht ohne Folgen, daß Mephistos ironische Enkomiastik
den Kaiser als »zweiten Peleus« apostrophiert und ihm »den Sitz
região/território
alsdann auf des Olymps Revier« zugewiesen hatte (6026 f).
Faust, durch das Maskenfest im Stil der italienischen Renais-
sance in die Position eines Renaissancekünstlers gebracht, fällt der
Auftrag zu, für eine Wiedergeburt der Antike im höfischen Rah-
men zu sorgen. In der Maske des Plutus und als Erfinder des
Papiergeldes war ihm der abstrakte Reichtum, das Geld, Mittel

99
gewesen, über alle Güter zu verfügen,
convocar
jedes Bedürfnis zu erfüllen
und die fernsten Dinge herbeizuzitieren. Diese Fertigkeiten soll er
nun als Zauberkünstler auf die mythisch ferne Historie übertra-
gen. Einen Vergleich zwischen der Beschwörung Helenas und der
objeção
Erfindung des Papiergeldes zieht schon Mephistos Einwand gegen
Fausts Vorhaben:

Greifst in ein fremdestes Bereich,


Machst frevelhaft am Ende neue Schulden,
Denkst Helenen so leicht hervorzurufen
Wie das Papiergespenst der Gulden. (6195 ff)

Obwohl er sie skeptisch beurteilt, öffnet Mephisto doch den Blick


auf eine verborgene Parallele. Gespenstisch heißen Papiergeld und
Helena - »Ein echt Gespenst, auch klassisch hat's zu sein«
(6947) -, weil sie beide von einem künstlichen Schein leben,
dessen Entsprechung in der Wirlichkeit unsicher, letztlich unge-
comum/corriqueiro
deckt bleibt. Beide sollen, wie bei Gespenstern üblich, ihr hand-
greifliches Korrelat in der Erde haben: dem Papiergeld wird als
»Pfand / Unzahl vergrabnen Guts« (6059 f), das noch »tief im
Boden« (6112) harre, zugewiesen; nach Helena muß Faust »ins
Tiefste schürfen« (6220), auf den Boden »stampfend« (6304) zu
den Müttern hinab. Vom neuen Reichtum getäuscht, hatte der
Kaiser Faust und Mephisto mit dem »Platz« belehnt, »Wo mit der
obern sich die Unterwelt, / In Einigkeit beglückt, zusammenstellt«
(6139 f), also jene Unterwelt, in der die vom Papiergeld bezeichne-
ten Schätze wie die im »Fratzengeisterspiel« (6546) vorgestellte
Helena ruhen. Bereits im »Saal des Thrones« hatte Mephisto die
künftigen Schatzgräber auf die »Nachbarschaft der Unterwelt«
(5017) aufmerksam gemacht. Denn die von der Geschichte
zurückgelassenen und vergessenen Schätze warten »In weiten,
altverwahrten Kellern / Von goldnen Humpen, Schüsseln, Tel-
lern« (5018 f) wie historische Figuren im Hades auf ihre Wieder-
entdecker, die »Schatzbewußten« (5016). Was die Vergangenheit
vergraben und begraben hat, versucht die Gegenwart heraufzuho-
len, wenngleich nur als das täuschende Bild, das sie sich von jener
Vergangenheit macht. Eine archäologische Dimension ist den
scheinbar einander so fremden Erscheinungen gemeinsam: dabei
beziehungsweise
ersetzen Beschwörung bzw. )Schatzanweisung< die Ausgrabung, so
daß der Realitätsgehalt des durch Magie Beschworenen und des
durch Papiergeld Angewiesenen ungewiß schwankt.

100
Die Papiergeldszene vermittelt zwischen der vorausgehenden
Mummenschanz und der nachfolgenden Helena-Beschwörung.
enganosa invenção
Durch die Abfolge der Bilder rückt die trügerische Erfindung des
descoberta
Neuesten, des Papiergeldes, auch die scheinhafte Auffindung des
Ältesten, der um Helena gruppierten Antike, in ein zweifelhaftes
Licht. Im voraus ist die Erscheinung der Helena um den Kredit
gebracht. Sie wird den Verdacht des >Papierenen< nicht los; in der
ersten Zeile ihres Aktes spricht sie von sich, indem sie die Wir-
repreendida
kungsgeschichte zitiert: »Bewundert viel und viel gescholten,
admirada

Helena« (8488). Während sie ins wirkliche Leben zu treten


scheint, tritt sie in Wahrheit nur aus dem literarischen Nachleben
heraus. Ist sie dann noch »Helena«? Die moderne Rezeption läßt
das antike Original hinter der Vielzahl der Abbilder verschwin-
den. Der Helena-Akt führt solche Vervielfachung der >Helenen< an
Helena selbst vor. Dadurch entsteht die dramatische Unmöglich-
keit mehrerer Helenen in einer Figur - ein »Aberwitz« (8874), der
dennoch Sinn hat, wenn von den Bildern, den »Idolen« der
Helena, statt von ihr selbst die Rede ist. Mephisto-Phorkyas, der
moderne Geist in antiker Maske, hält Helena das historisch
Unstimmige an ihrer mythischen Pseudoidentität vor und zwingt
sie zu der Einsicht, daß sie nicht Helena sei, sondern höchstens der
Inbegriff aller Helena-Bilder:

Phorkyas. Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild,


In Ilios gesehen und in Ägypten auch.
Helena. Verwirre wüsten Sinnes Aberwitz nicht gar.
Selbst jetzo, welche denn ich sei, ich weiß es nicht.
Phorkyas. Dann sagen sie: aus hohlem Schattenreich herauf
Gesellte sich inbrünstig noch AchilI zu dir!
Dich früher liebend gegen allen Geschicks Beschluß.
Helena. Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich.
Es war ein Traum, so sagen ja die Wotte selbst.
Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. (8872 ff)

Auch diese Eigenschaft Helenas und der Antike in Faust II, Repro-
duktion und Multiplikation zu sein, findet im Papiergeld seine
Entsprechung. Das vom Kaiser unterschriebene Original wurde
»durch Tausendkünstler schnell vertausendfacht. [... ] So stempel-
ten wir gleich die ganze Reihe, / Zehn, Dreißig, Funfzig, Hundert
sind parat« (6072 ff). Dabei ist die Existenz des Originals ebenso
ungesichert wie im Fall der Helena: der Kaiser hält seine Unter-
incerta

schrift für gefälscht (6064) und wird wie der Zuschauer erst im

101
nachhinein dazu überredet, an den behaupteten Akt zu glauben.
(» Erinnre dich! hast selbst es unterschrieben«, 6066). Auch hier
müssen dunkle Erinnerung und offensichtliche Wirkung die
Gewißheit historischer Tatsachen ersetzen. »Zum Grenzenlosen«
muß ,,vertrauen« fassen (6118), wer mit dem Papiergeld wirt-
schaften will; und ebenfalls "im Grenzenlosen« (6428) wohnen
die Mütter, von denen Faust Helena gewinnen kann. - Wenn
Mephisto Helena und ihre Umgebung als "erobert', marktver-
kauft', vertauschte Ware« (8783) apostrophiert, bringt er die
ökonomische Kategorie, auf welche die mehrfachen Vergleiche
zwischen Helena und Papiergeld zulaufen, auf den Begriff. [143]
Die Erscheinung der antiken Helena in Faust II ist wesentlich
bestimmt, weil erst hervorgebracht von dem modernen Interesse
an ihr. Wie sehr das Bild des Altertums durch die neuzeitliche
Perspektive geprägt ist, macht die Aktfolge sichtbar: sie zeigt
Helena zuerst nicht in ihrem ursprünglichen Lebensraum, sondern
in der fremdesten Umgebung, an einem neuzeitlichen Fürstenhof.
Es ist bedeutsam, daß dessen Reaktion (6409 ff) der Fausts
(6544 ff) vorausgeht. Denn die unverständigen Bemerkungen der
Hofgesellschaft zu den Figuren und Handlungen Paris' und Hele-
distanciamento
nas geben die geschichtlich-reale Entfernung zu erkennen, welche
die Moderne von der Antike trennt. Sie bezeichnen den Abstand,
den Faust zu vergessen beginnt, sobald er dem selbsterzeugten Bild
antiker Schönheit verfällt: "Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster
Gewalt, / Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?« (7438 f). Aus den
defeitos
Mängeln der modernen Existenz entstehen die Sehnsüchte, die zu
complementos/suplementos/adições
fernen Ergänzungen treiben. Darin vereinen sich das Geldbedürf-
nis des Reiches, die Vergnügungssucht des Kaisers und der Grie-
busca por prazer

chenlandtraum Fausts, dessen "sehnsüchtigste Gewalt« erotische


cumprimento ao menos momentâneo
Form annimmt. Um einer Erfüllung wenigstens zeitweise - und sei
es um den Preis bewußter Selbsttäuschung - teilhaftig zu werden,
muß das leitende Prinzip moderner Realitätskontrolle, die "Ver-
nunft«, zugunsten der "Phantasie« sistiert werden:
Durch magisch Wort sei die Vernunft gebunden;
Dagegen weit heran bewege frei
Sich herrliche verwegne Phantasei.
Mit Augen schaut nun, was ihr kühn begehrt,
Unmöglich ist's, drum eben glaubenswert. (6416 ff)

Magie erzaubert den Schein der Vermittlung, wo ein Zusammen-


hang der Sachen fehlt. Kann einzig Beschwörung das Tote leben-

102
dig, das Vergrabene sichtbar, das Vergangene gegenwarttg
machen, so ist damit die wirkliche Distanz zwischen den Bereichen
markiert und der Wunsch, jene Distanz zu vergessen, als Wunsch
erkannt. Goethe zeigt an solch magischer Vermittlung das histo-
desejo
risch Unvermittelbare und lenkt damit den Blick vom Begehrten
cobiça
aufs Begehren: von der Antike auf die Moderne, die der Antike
bedarf. Selbst der Kaiser hatte in Mephistos antikischer Fabelei
von Nereiden, Thetis und »des Olymps Revier« (6022 ff) nichts als
»luft'ge Räume« (6028) vermutet, sie jedoch als Kompensation
der » Tageswelt« akzeptiert, die »wie's oft geschieht, mir wider-
liehst mißfällt« (6035 f). Mit der Skepsis moderner Rationalität
betrachtet,
desconexa
verändern sich die archaischen Mythen zu subjektiven,
unverbindlichen Vorstellungen, werden »herrliche verwegne
Phantasei«. Helena und Paris erscheinen daher nicht in ursprüng-
licher Körperlichkeit, sondern, immateriell geworden, im moder-
nen Medium der Musik:
Und nun erkennt ein Geister-Meisterstück!
So wie sie wandeln, machen sie Musik.
Aus luft'gen Tönen quillt ein Weißnichtwie,
Indem sie ziehn, wird alles Melodie.
Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt,
Ich glaube gar, der ganze Tempel singt. (6443 ff)
catacrética
Der singende Tempel ist das katachretische Bild der unmöglichen
Vereinigung von Moderne und Antike. Später begleitet »vollstim-
mige Musik« die flüchtige Existenz Euphorions, der Sehnsucht
und Scheitern der Verbindung Fausts mit Helena verkörpert
(9679-9938). inconsistências
Werden die äußeren und inneren Unstimmigkeiten des moder-
nen Bildes von der Antike derart von Anfang an bloßgelegt, so
wird die Frage dringlicher, wodurch eine solche Vergegenwärti-
gung einer fernen Vergangenheit hervorgerufen und wie sie über-
haupt möglich sei. Die bei den ersten Akte bilden Stufen der
Vermittlung: 1. den italienischen Karneval, der die antike Mytho-
logie zur allegorischen Darstellung der Moderne nutzt; 2. die
Beschwörung Helenas und Paris' zum Divertissement des neuzeit-
lichen Hofes; 3. das Laboratorium, in dem Fausts Traum von
Griechenland entziffert und der Führer dorthin, Homunculus,
gerado
erzeugt werden; 4. die Klassische Walpurgisnacht, die sich der
aborda
Antike nähert, indem sie deren Entstehung und Untergang histo-
risch begreift - ehe sich im Helena-Akt diese mehrfachen Annähe-

103
insinuação
rungsversuche vereinIgen und paralysieren. Goethe hat selbst
gesagt, daß es »in diesen früheren Akten [... ] wie auf einem
steigenden Terrain, zur Helena hinaufgehe.« [144] Aber worin
besteht die Einheit und Möglichkeit der Vermittlung? »Doch
constrangimento
gibt's ein Mittel« (6211), so hilft Mephisto Faust aus der Verle-
genheit, nämlich die »Mütter«.
Man wird allerdings von einem Rätsel an andere gewiesen,
wenn man sich mit dem bloßen Bild der Mütter zufrieden gibt
oder, dem Ratschlag der Kommentatoren folgend, in und bei den
Müttern die vagen Urbilder allen Lebens symbolisiert sieht. Dage-
gen hat eine quellen geschichtliche Studie von Harold Jantz nach-
gewiesen, daß den Müttern in der Tradition, die Goethe kannte,
eine präzisere Bedeutung zukommt: bei Claudian residiert in der
Höhle der Ewigkeit (antrum aeternitatis) die mater annorum als
»repository of the ages«. [145] Jantz lenkt schließlich in gewohnte
Interpretationen zurück, wenn er die Mütter als das Ewig-Weibli-
che deutet; auch begnügt er sich damit, Goethes Vertrautheit mit
der klassischen Tradition zu zeigen, ohne deren neue Funktion bei
der Darstellung eines spezifisch modernen Bewußtseins zu bemer-
ken. Doch bestätigen weitere von ihm angeführte Quellen sein
erstes Ergebnis, daß die Mütter das Archiv der Zeiten verwalten.
gerem/dirigem

In den eleusinischen Mysterien offenbarte Persephone (von der


Faust letztlich Helena erhält) den Zusammenhang von Tod und
ressurreição
Auferstehung; in der »Apotheose Homers«, einem hellenistischen
baixo-relevo
Basrelief, das Goethe durch Abbildungen vertraut war, ist Mne-
mosyne, in einer Höhle sitzend, als Mutter der Musen dargestellt:
Kunst und Geschichtsschreibung bedürfen der Erinnerung. [146]
Von diesen Vorbildern unterscheidet jedoch die Mütter in Faust
II, daß sie nicht mehr den Mythos der Zeit verkörpern, sondern
eine Allegorie der Geschichte sind. Sie bezeichnen das »Mittel«,
eine ferne Vergangenheit, das »längst nicht mehr Vorhandne«
(6278), für die Erinnerung bereitzustellen, während sie im
ursprünglichen Mythos dem Kreislauf der Natur, dem Wechsel
von Tod und Leben, der Wiederkehr des Gleichen ein Bild gegeben
extensão distância
hatten. Das Ausmaß des historischen Abstandes, welchen die
Mütter überbrücken sollen, wird daran sichtbar, daß gerade
Mephisto, der Vertreter der Nach-Antike, den Hinweis auf diese
mögliche Vermittlung zur Antike gibt. Er schickt ihm die Erklä-
rung seiner eigenen Fremdheit gegenüber der Antike voraus: »Das

104
Heidenvolk geht mich nichts an, / Es haust in seiner eignen Hölle«
(6209 f).
Zuerst wird der Ort der Mütter negativ bestimmt: um sie ist
»kein Ort« (6214); sie wohnen in »Öd' und Einsamkeit« (6227),
»in ewig leerer Ferne« (6246), in einem »Nichts« (6256). So
kommt das negative Moment historischen Bewußtseins zum Vor-
schein: das Nicht-sein im Nicht-mehr-sein der Vergangenheit,
dem »längst nicht mehr Vorhandnen«. Zugleich liegen in diesem
Nichts »das All« (6256), »der Gebilde losgebundne Reiche«
(6277), die »Bilder aller Kreatur« (6289). Damit sind die interes-
sierenden positiven Inhalte des historischen Bewußtseins bezeich-
net: das Sein des Gewesenen, das wirkliche Leben, das einst war.
Goethe hat also in den Müttern die Dialektik aller geschichtlich
erinnerten Vergangenheit dargestellt: das Nichts eines Seins, das
Sein eines Nichts. Die innere Widersprüchlichkeit alles historisch
Gewußten, daß etwas im Leben vergangen, aber im Bewußtsein
gegenwärtig ist, hat seine Einheit in der Vergegenwärtigung des
Vergangenen, in den erinnerten Lebensbildern von Toten. Daher
heißt es von den Müttern: »denn Schemen sehn sie nur« (6290),
»Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben« (6430). Als solche
animada

Schemen, als Leben ohne Leben existieren Helena und Paris bei
den Müttern, abrufbar für den, der nach ihnen forscht. In einem
Entwurf zum Helena-Akt hatte Goethe vorgesehen, daß Faust die
Freigabe Helenas bei den »drey Richtern« erreicht, in deren
»ehrenes Gedächtniß sich alles einsenckt was in dem Lethestrome
zu ihren Füßen vorüberrollend zu verschwinden scheint« (Par.
123).
In der Mitte zwischen realem Tod und scheinhaftem Leben hält
sich die Wiederbelebung, welche das historische Wissen vergange-
renascimento

nen Gestalten verschafft. Wenn Faust als Magier tätig wird, in die
Unterwelt hinabsteigt und Tote beschwört, imitiert er epische
Vorbilder, wie sie aus der Odyssee und der Aeneis vertraut sind.
Aber während die Helden des Epos erzählbare Geschichten aus
der Unterwelt heraufholten, bringt Fausts Abstieg zu den Müttern
die allgemeine Bedingung von Geschichte zum Bewußtsein. Die
Mütter verkörpern das objektive Korrelat des geschichtlichen
Denkens: das Reservoir poetischer und historischer Erinnerung,
den Ort der möglichen Gegenstände, auf die sich das Interesse an
der Vergangenheit richten kann. »Was einmal war, in allem Glanz
und Schein, / Es regt sich dort« (6431 f). Um den glücklichen

105
Ausdruck Jantz' zu wiederholen: als »repository of the ages«
bezeichnen sie die Summe des Gewesenen, worüber das moderne
Wissen verfügen kann.
Das historische Bewußtsein versammelt das zeitlich Verschie-
dene, die Vielzahl der Vergangenheiten, in den einheitlichen Raum
der Vorstellung. Über seine "Helena« schrieb Goethe: »abge-
schlossen konnte das Stück nicht werden als in der Fülle der
Zeiten, da es denn jetzt seine volle 3000 Jahre spielt, von Trojas
Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi. Dies kann man
also auch für eine Zeiteinheit rechnen, im höheren Sinne.« [147]
Diese Einheit der Zeit erfordert Abstraktion, d. h. die Aufhebung
der jeweiligen Konkretheit geschichtlicher Ereignisse, ihres
Anfangs und Endes, um sie in ein schieres Bewußtseinsphänomen
zu verwandeln. Alle Sinnlichkeit geht daher dem Bereich der
Mütter ab:
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst. (6246 ff)

Erinnerte Zeit bedeutet aufgehobene Zeit. Das Bewußtsein, das


über Geschichte verfügt, stellt sie still. Nicht Männer, die den
Prozeß der Geschichte handelnd vorwärtstreiben, sondern Frauen,
die auf vergangene Geschichte leidend zurückblicken, ermöglichen
die Wiederkehr der Antike in Faust II: die Mütter, Erichtho,
Manto, Proserpina, Helena. Wiederkehrend im Gedächtnis,
memória

scheint Geschichte der wiederkehrenden Natur zu gleichen und


weibliche Züge anzunehmen. Um die Mütter ist keine Zeit (6214);
Erichthos Vision »wird sich immerfort / Ins Ewige wiederholen«
(7013 f); Manto sagt von sich: »Ich harre, mich umkreist die Zeit«
(7481); und Helena ist wenigstens in Fausts poetischer Hoffnung
"durch keine Zeit gebunden« (7434).
Im Raum des historischen Bewußtseins kommen die Zeiten, die
nacheinander waren, nebeneinander zu liegen - entsprechend führt
die Regie von Faust II nahe und ferne Epochen an Versammlungs-
orten zueinander, zuerst im Reich der Mütter, dann auf den
Pharsalischen Feldern und am Peneios, schließlich in der Umge-
bung des zugleich antiken, mittelalterlichen und modernen Sparta.
Hier treffen sich die ungleich zeitigen Mythen und Ereignisse auf
dem Markt der Gleichzeitigkeit, dessen Grundform bereits der
"Weitläufige Saal« der Mummenschanz angegeben hatte. Das

106
Gemenge der Zeiten, das entsteht, sobald jetziges Wissen und
gegenwärtige Anschauung von einstigen Handlungen statt dieser
Handlungen selbst thematisiert werden, zeitigt kuriose Folgen für
die dramatische Logik. Erichtho spricht von der Schlacht bei
Pharsalus, wo Cäsar Pompeius besiegte, zugleich im Futurum und
im Präteritum: »Das wird sich messen. Weiß die Welt doch, wem's
gelang« (7024); für Chiron, den Erzieher Herakles' und Achills,
ist die Schlacht von Pydna (168 v. Chr.) schon längst vergangen;
seltsam antworten die Sphinxe auf Fausts Frage, ob sie Helena
gesehen hätten: »Wir reichen nicht hinauf zu ihren Tagen, / Die
letztesten hat Herkules erschlagen« (7197 f). Paradox ist, daß die
Sphinxe auf eine Zeit vorausblicken, in der sie nicht mehr existie-
ren, und auf eine Zeit zurückblicken, in der sie bereits ausgestor-
ben sind. Sie reden als Gewesene; vergangen sind sie gegenwärtig,
de acordo
Gespenstern ähnlich und doch in genauer Übereinstimmung mit
dem logischen Status historisch erinnerter Gestalten. Denn im
geschichtlichen Wissen bleibt auch die Vergangenheit erhalten,
vitorioso
welche von der Geschichte der Sieger ausgelöscht worden ist -
darum beginnt die Klassische Walpurgisnacht mit dem Gedächtnis
an eine Niederlage. Im gleichzeitigen Diskurs historischer Figuren
ist die geschichtliche Folge des Früher und Später relativiert. Das
epische Nacheinander hat sich in ein dramatisches Nebeneinander
verwandelt, wodurch >für uns< die ästhetische Anwesenheit des >an
sich< geschichtlich Abwesenden darstellbar wird. So erhält der
vergangene Verlauf der Antike, der wie alle reale Geschichte vom
Entweder-Oder bestimmt gewesen war, im Tableau des Sowohl-
als-auch ästhetische Gegenwart. [148]
Soll dem Vergangenen eine Art von Existenz, wenngleich um die
ehemalige Realität vermindert, in der Gegenwart eingeräumt wer-
den, so muß es vom Modus der Wirklichkeit in den der Möglich-
keit übergehen. Daher führt Faust II die Antike als Panorama von
Möglichkeiten vor, in dem die vieldeutige Unentschiedenheit der
Mythen neben den eindeutigen Entscheidungen der Geschichte
zugelassen ist - obwohl am Ende jene diesen weichen müssen.
Für die Poesie eröffnet sich am Ort der reicheren Möglichkeiten,
die der einsinnigen Bestimmtheit der Wirklichkeit vorausliegen,
zunächst eine besondere Chance. Das Reich der Mütter umfaßt
neben dem Archiv der Vergangenheit auch den Vorrat mythischer
Bilder, aus dem noch die moderne Poesie schöpfen zu können
glaubt. »Die einen«, die historischen Personen, »faßt des Lebens

107
holder Lauf, / Die andern«, die mythischen Gestalten, »sucht der
kühne Magier auf«; die einen sind »zum Zelt des Tages«
bestimmt, die andern »zum Gewölb der Nächte« (6434 ff). Da die
Aufhebung der Zeit zwar nicht das Ziel, aber dennoch eine
inevitável requisito/pressuposto
unumgängliche Voraussetzung historischer Anschauung ist, kann
der Magier-Poet im Fundus der Geschichte eine reiche Ausbeute
für seine Zwecke vermuten. Besitzt er doch in sinnlicher Vergegen-
wärtigung des Entfernten gegenüber dem Historiker die ältere
Erfahrung! Diese parasitäre Hoffnung, Historisches poetisch ver-
lebendigen zu können, leitet Faust bei seiner Suche nach Helena.
»Den Poeten bindet keine Zeit« (7433), spottet Chiron. Doch daß
der Poet sich ins Geschäft des Historikers mischt, gefährdet am
aproximação
Ende die Poesie. Gerade die Annäherung an Verfahren der
Geschichtsforschung macht bewußt, daß die Poesie es nur noch
mit vergangenen Gegenständen zu tun hat, für die in der Moderne
einzig das Wissen zuständig ist, Wiederbelebung jedoch ausge-
schlossen bleibt. Faust, der ausgezogen war, die Antike wieder
»ins Leben« zu rufen, entdeckt die enttäuschende Wahrheit, daß
er sogar im Schein der Erfüllung in ein bloß historisches Verhältnis
zu seinem Wunsche geraten ist. Der mißlingende Rückgriff auf das
Vergangene läßt den Verdacht zurück, daß die Poesie selbst
vergangen sei. Denn in die Antike war sie ausgewichen, weil ihr
die Gegenwart keinen würdigen, schönen Gegenstand bieten
konnte. Die nun verdoppelte Verweigerung, der Moderne wie der
Antike, zwingt Faust nach dem 3. Akt, eine zeitgemäßere Beschäf-
tigung zu suchen - zuerst im Krieg, dann in der Ökonomie wird er
sie finden.
Daß den Weg nach Griechenland das historisch-philologische
Wissen eröffnet und leitet, hat sein Sinnbild in der Reiseführung
anúncio
durch Homunculus. Goethe hat sie bereits in der »Ankündigung«
zur H elena charakterisiert: »besonders zeigt sich, daß in ihm
[Homunculus] ein allgemeiner historischer Weltkalender enthal-
ten sey [... ]. Ein gränzenloses Geschwirre geographisch histori-
scher Notizen auf die Gegenden worüber sie hinstreifen bezüglich,
aus dem Munde des eingesackten Männleins läßt sie bey der
Pfeilschnelle des Flugwercks unterwegs nicht zu sich selbst kom-
men« (Par. 123). Es ist der reine Intellekt, wie er aus dem
»Laboratorium« der neuzeitlichen Wissenschaft hervorgeht, der
rastreia
den Zugang zur antiken Welt aufspürt. Ihre Erscheinung muß
demnach als reiner Bewußtseinsakt gelten, vergleichbar der »Pfeil-

108
schnelle des Flugwercks«: »Jetzt eben, wie ich schnell bedacht, lIst
klassische Walpurgisnacht« (6940 f). Auch Fausts hingerissener
Traum von Helena kann seinen reflexiv-intellektuellen Ursprung
nicht verleugnen: »Machst du's doch selbst, das Fratzengeister-
spiel!« (6546), erinnert Mephisto. Homunculus entdeckt im Kopf
des träumenden Faust die doppelte Entstehung Helenas, die
mythologische durch Leda und den Schwan, die phänomenologi-
sche durch Fausts poetische Sehnsucht (6903 ff). Dem Hauptteil
des 2. Akts, der Klassischen Walpurgisnacht, stehen Fausts Stu-
dierstube und Wagners Laboratorium voran: hier werden die
modernen wissenschaftlichen Bedingungen bewußt, welche die
Erscheinung der Antike ermöglichen. Es ist nicht übertrieben: die
produzida
Antike wird im Laboratorium der Moderne hergestellt.
Die Antike in Faust II ist ein vergegenständlichter Bewußt-
seinsinhalt der Moderne. Doch die »sehnsüchtigste Gewalt«
(7438) der Imagination macht diesen intellektuellen Ursprung
vergessen. Faust muß bewußtlos bleiben und darf »unterwegs
nicht zu sich selbst kommen«, soll er sich in die Antike hineinver-
setzen, als wäre sie sie selbst und nicht ein Produkt seiner Einbil-
dungskraft. Chirons Apostrophe - »Mein fremder Mann! als
Mensch bist zu entzückt; I Doch unter Geistern scheinst du wohl
verrückt« (7446 f) - hält die Differenz fest, an die Faust nicht
erinnert werden möchte, die Differenz des historischen Bewußt-
seins zu seinem historischen Gegenstand. Dieser ist nämlich, wie
Helena, ein »doppelhaft Gebild« (8872), d. h. zweifach existent:
in der Vergangenheit und in der Erinnerung, gewesen in der
Wirklichkeit, lebendig im Bewußtsein. Faust versucht, koste es
ihm auch den Verstand, das Doppelbild der vergangenen und der
erinnerten Helena zur Identität zu zwingen. Chiron jedoch urteilt
in Übereinstimmung mit dem alten Goethe, der »sich selbst histo-
risch wird« und für den »die geschichtliche Einsicht überhaupt
immer größe rn Wert erhält.« [149]
>Sich selbst historisch werden< könnte die Devise über. der
Eingangsszene zum 2. Akt lauten. Weitab von aller Antike scheint
das »Gotische Zimmer, ehemals Faustens« zu liegen, und dennoch
steht es als Entree zur Vergangenheit mit Recht vor der Klassi-
schen Walpurgisnacht. Während Faust, »hingestreckt auf einem
altväterischen Bette«, von Griechenland träumt, demonstriert
Mephisto an Fausts toter Vergangenheit die Widersprüche, in die
jede Rückkehr zu Gewesenem gerät. Zwar »alles ist am Platz

109
geblieben« (6575), aber, da ohne Leben, nur noch zum Museum
für Mephistos Erinnerungen tauglich. Er betrachtet es mit sorte den
Augen eines Historikers; er imaginiert sich des »Sammlers Glück«
colecionador

(6581), wenn er auf die erstarrte Tinte, das vergilbte Papier stieße-
jenes Antiquars etwa, von dem Thales später sagen wird: »Der
moeda
ferrugem valoriza
Rost macht erst die Münze wert« (8224). In Fausts einstiger
Studierstube liegen die »staubigen Scherben alter Töpfe« (6612) -
»als irden-schlechte Töpfe« (8220) werden dem skeptischen Blick
Homunculus' die angeblichen Überreste archaischer Gottheiten
erscheinen. Am »Wust und Moderleben« (6614) des »gotischen
Zimmers« zeigen sich also bereits ähnlich hadeshafte Züge, wie sie
die aus der Unterwelt entlassene Antike prägen. Ein Bild des
desgastado
Abgelebten steht am Anfang der bei den Akte, welche der Wieder-
belebung der Antike gewidmet sind. Als Maskerade kann Mephi-
sto, verkleidet in Fausts »alten Pelz«, »noch einmal« (6616) die
Vergangenheit beschwören - ähnlich führt »zum Schauderfeste
dieser Nacht, wie öfter schon« (7005) die Hexe Erichtho »alter
Tage fabelhaft Gebild« (7030) herauf. Wie Hexenzauber wirkt die
antiquarische Wiederholung, die jener Unwirklichkeit noch ein-
mal den Schein von Wirklichkeit verleiht.
Veränderung durch Geschichte verwehrt auch Helena die Rück-
kehr an ihren ursprünglichen Ort. Das Haus, dessen Herrin sie
einst war, ist ihr, der lange Abwesenden, nun verschlossen. Von
Anfang an zeigt der Helena-Akt eine sich selbst entfremdete
Helena. Wiederum, wie zu Beginn des 2. Akts, ist es Mephisto,
diesmal in der Maske der Phorkyas, der einen vermeintlichen
reivindicação
Anspruch auf Wiederholung zurückweist; Helena »findet wieder-
kehrend wohl den alten Platz, / Doch umgeändert alles, wo nicht
recusa
gar zerstört« (8980 f). Seine Weigerung, Helena den Wiedereintritt
in ihren alten Besitz zu gestatten, begründet Mephisto nicht
moralisch (wie es bei Helenas zweideutiger Geschichte nahe gele-
gen hätte), sondern historisch: »Geschichtlich ist es, ist ein Vor-
wurf keineswegs« (8984).umaHelenas
vez
Geschichte ist Geschichte
agora
geworden. Zwischen das Einst und Jetzt tritt die Wirklichkeit der
Zeit. Auf ihr beruht die Macht der Negation, welche das vergan-
gene Leben der Griechen an sich zur erinnerten Antike für uns
verwandelt hat. Deshalb ist diese Antike durchsetzt mit Moderne,
dem in unser Bild von der Antike eingeschlossenen Gegensatz zur
Antike. Seine sichtbare Gestalt nimmt er in Mephisto an, der -
Geist der Negation und Repräsentant der Nach-Antike - sich zum

110
Verwalter des »Palastes des Menelas zu Sparta« eingesetzt hat. Er
ist gleichzeitig Mittelsmann zu Fausts neuer Herrschaft der »Bar-
baren« (9013), die sich nördlich von Sparta etabliert hat: "Sie
hatten Zeit« (9004), Zeit zu einer neuen Epoche. Sie ist nicht mehr
die Zeit Helenas; sie wird als erinnertes Bild der untergegangenen
Epoche von Mephisto zu den "phantastischen Gebäuden des
Mittelalters« gebracht (im Mittelalter galt Helena als Teufelslieb-
chen).
migração populacional
Faust ist als Führer einer Völkerwanderung von Goten, Fran-
ken, Sachsen und Normannen in Griechenland eingedrungen.
Seine Suche nach der Antike bedeutet also gleichzeitig die Zerstö-
rung der Antike. Denn das Ende der Antike ist die Voraussetzung
des Begriffs von ihr und der Sehnsucht nach ihr. "Selbst die
Kriege, die, so manches hindernd, zerstören, haben der gründli-
chen Einsicht viele Vorteile gebracht.« [150] Nachdem sie die
politische Expansion des neueren Europas zu Fall gebracht hat,
unterliegen ferne und vergangene Kulturen dem kulturhistori-
schen Wissen Europas. Eroberung macht das »fremdeste Bereich«
(6195) verfügbar. Erst die wirkliche Verneinung der Vergangen-
apropriação
heit durch die Gegenwart ermöglicht die ideelle Aneignung der
Vergangenheit durch die Gegenwart. Mit dem Gedächtnis an die
militärische Niederlage der republikanischen Antike beginnt die
Klassische Walpurgisnacht; durch den militärischen Sieg seiner
modernen Armee über die griechischen »Volkes wogen « (9426)
sichert sich Faust den Besitz Helenas. Die militärisch-politische
Vernichtung des Altertums ist Bedingung für seine Rezeption als
Schönheit. Menelaos wird geschlagen, »der alte Nestor ist nicht
mehr« (9455) - aber Helena fällt als »Idol« dem ästhetischen
prazer vitorioso
Genuß des Siegers zu:
a mais bela cobiça
Wer die Schönste für sich begehrt,
"trate de"
Tüchtig vor allen Dingen
armas
Seh' er nach Waffen weise sich um. (9482 ff)

Schön erscheint die entmachtete Vergangenheit. Diese Ent-


violenta
machtung findet im Helena-Akt ihr Bild in der gewaltsamen
colonização conquistador
Ansiedlung germanisch-mittelalterlicher Eroberer auf klassischem
Boden. Ein aktuelles, für die Entstehung des historischen Denkens
contrapartida
folgenreicheres
exame
Gegenstück bietet die Klassische Walpurgisnacht:
in der Erhebung des Seismos, der Allegorie der Französischen
Revolution (7519 ff). Während Faust in der Unterwelt Helena von

111
Proserpina frei bittet, wirft Seismos aus der Unterwelt den Berg
auf, der die Kontinuität des klassischen Bodens zerbricht: »So
zerreißt er eine Strecke / Quer des Tales ruhige Decke« (7542 f).
Dramatisch und logisch geht der spätere Bruch dem früheren
voraus: denn erst die aufklärerischen und revolutionären Bewe-
gungen des 18. Jahrhunderts heben endgültig die alteuropäische,
immer noch von Resten der Antike gespeiste Tradition auf. Und
erst im Zuge dieser Aufhebung entsteht die historistische Denk-
weise, welche die geschichtliche Negation des Vergangenen durch
incorporação
die ästhetische Einverleibung der zum machtlosen Bild geworde-
nen Vergangenheit ergänzt. Deshalb ereignen sich die politische
Revolution des Seismos und die ästhetische Freigabe Helenas zum
selben Zeitpunkt. Der ästhetische Historismus bildet die Innen-
seite der bürgerlichen Revolution. [151]
Nicht allein durch ihr politisches Ende ist der Antike die Grenze
gezogen. Die Moderne führt überdies durch ihren Rückblick auf
die Antike in sie ein modernes Ordnungsprinzip ein: die
Geschichte. Dagegen hatte im archaischen Griechenland der
Mythos die genuine Form bereitgestellt, um räumlich-zeitliche
Ereignisse und Zusammenhänge zu vergegenwärtigen. Dem
modernen Zugriff ausgesetzt - kleide er sich auch in Sehnsucht und
wünsche er auch die Vereinigung (wie Faust in validade
der Vermählung
mit Helena) -, verlieren die alten Mythen ihre Geltung. Dies gibt
Mephisto dem Chor, der Helena zu Faust begleitet, ohne
circunlóquio
Umschweife zu verstehen: »Macht euch schnell von Fabeln frei! /
Eurer Götter alt Gemenge, / Laßt es hin, es ist vorbei« (9680 ff).
Bereits im ersten Wortwechsel zwischen Mephisto und Helena
über deren dubiose Vorgeschichte wird der Gegensatz zwischen
mythischem und historischem Verständnis ausgesprochen: »Du
willst erzählen«, vermutet Helena; »Geschichtlich ist es«, repli-
ziert Mephisto (8983 f). Damit setzt er den modernen Begriff
>Geschichte< gegen eine Figur des Mythos durch. Goethe folgt der
Argumentation Gottfried Hermanns. Dieser hatte - im Streit mit
Creuzer - die »poetische Stimmung«, die sich das »genießen der
Mythen« [152] erlaube, streng vom historischen Verstehen der
Mythologie geschieden: »so kann es auch für die Mythologie,
wenn sie wirklich aufgehellt werden soll, keinen andern Weg
geben, als den, welchen die Ordnung der Zeiten selbst vorschreibt.
Nur erst, wenn das, was für uns das älteste ist, ausgemittelt, und
möglichst vollständig und klar dargestellt worden, kann eine

112
deutliche Einsicht in dessen weitem Fortgang, Veränderung,
Umbildung, Vermischung mit fremdartigem erlangt wer-
den.« [153J Jener poetischen Stimmung entspringt Fausts Antiken-
wahn, diesem kritischen Blick auf die Mythologie Mephistos
prosaische Ironie.
Ganz im Sinne der modernen Mythenforschung, die den
Mythos wissenschaftlich und historisch begreift (also mit den
Mitteln, die ihn zerstörten), ist der 2. Akt als Geschichte der
Mythologie aufgebaut. Er beginnt mit Fausts Studierstube und
Wagners Laboratorium, um zu zeigen, wie die archaischen My-
then, die danach folgen, aus dem Geist der modernen Philologie
und Wissenschaft rekonstruiert sind. Die von der Moderne ange-
Akten von Faust II dargestellte-
stellte - und in den ,klassischen< diminui
Analyse der mythischen Figuren schmälert deren Status als drama-
tis personae. Sie sind zugleich mythische Figuren und befragte
Mythen. Dies macht sie zu leblosen »Schatten«, deren Existenz
lediglich das »Gerücht der Weiterlebenden verbürgt«. [154J Die
umfassendste Leistung, mit der sich die Moderne Griechenlands
bemächtigt, ist das Verstehen: »Reden mag man noch so grie-
chisch / Hörts ein Deutscher, der verstehts« (Par. 138). Bereits
C. H. Weiße hat diesen Zusammenhang von geschichtlichem Ende
und wissenschaftlichem Verständnis der Antike erkannt: »Die
Reimverse dagegen, in denen Faust erst seine ritterlichen Krieger
ordnet, um sie zum Kampfe gegen Menelaus auszusenden, dann
gleich darauf den schnell durch magische Kunst erfochtenen Sieg
feiert, sprechen in diesen Bildern das Bewußtsein des Besitzes aus,
den die moderne Wissenschaft und Kunst von dem Grund und
Boden und von dem materiellen Inhalte der hellenischen Sagen-
und Dichterwelt ergriffen hat.« [155J Bild geworden ist diese
Konstellation in der Regieanweisung am Ende des 3. Akts:
Der Vorhang fällt. Phorkyas im Proszenium richtet sich riesenhaft auf, tritt aber
von den Kothurnen herunter, lehnt Maske und Schleier zurück und zeigt sich als
Mephistopheles, um, insofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kommen-
tieren.

Die klassischen Szenen waren nur eine Maskerade des modernen


Denkens gewesen, eine fortgesetzte Mummenschanz. Was übrig
bleibt, gehört der mephistophelischen Nach-Antike. Sie müßte
sich reflektierend und kommentierend zu dem vergangenen Spiel
zurückwenden, wäre dieses nicht ohnehin durch das Arrangement
des reflektierenden und kommentierenden modernen Verstandes

113
ausgelegt worden. Daß der 2. und 3. Akt nicht in der Wirklichkeit
Griechenlands, sondern im Bewußtsein der Gegenwart spielen,
wird durch die Zeitrelationen der Handlung festgelegt. »Jetzt
eben, wie ich schnell bedacht, / Ist klassische Walpurgisnacht«
(6940 f). Unmittelbar aus dem Gedanken des Homunculus, des
bloßen Wissens, geht sie hervor und liegt mit dem jüngsten Punkt
des wissenschaftlichen Fortschritts, den Dr. Wagners Laborato-
rium erreicht hat, auf gleicher Zeitebene. Diese neueste Zeit
erstreckt sich auf die folgende ,Handlung< (die also nicht Hand-
lung, sondern Gedankenexperiment ist). Wenn Faust zu Chiron
sagt: "Du sahst sie einst; heut hab' ich sie gesehn« (7442), so gilt-
mitten im scheinbaren Altertum - der heutige Tag weiter, an dem
er Helena als beschworene unq erträumte Gestalt, am Hof und im
Laboratorium, gesehen hat.
Man hat häufig bemerkt, wie reich die beiden klassischen Akte
an Anspielungen auf die Gegenwart sind - genauer wäre zu
bemerken, daß diese Akte ausschließlich in der Gegenwart spielen.
Lediglich zu seiner Selbstdarstellung und Selbsttäuschung benützt
das gegenwärtige Bewußtsein antike Mythen und Kostüme. Die
Sphinxe lösen das Rätsel solcher Verwechselung: "Wir hauchen
unsre Geistertöne, / Und ihr verkörpert sie alsdann« (7114 f).
Projektionen moderner Gedanken in antike Bilder bestimmen die
Szenenfolge. Stets geht der wirkliche Traum der Moderne der
erträumten Wirklichkeit der Antike voraus. Zuerst, im Laborato-
rium noch, erblickt Homunculus die Geschichte von Helenas
Zeugung im Kopf des träumenden Faust (6903 ff) - Helena wird
im Schlaf des modernen Intellekts erzeugt, der sich in seinem
eigenen Wunschbild nicht mehr wiedererkennt. Später begegnet
Faust die gleiche Szene - Leda mit dem Schwan - in der klassischen
,Wirklichkeit< wieder (7256 ff). Anfängliche Zweifel über den
Realitätsgrad dessen, was er zu sehen vermeint - "Sind's Träume?
Sind's Erinnerungen? / Schon einmal warst du so beglückt«
(7275 f) -, schwinden vor der sinnlichen Gewalt des Bildes.
Wie sich "am untern Peneios« das "Laboratorium« wiederholt,
so geht auch das Arkadien, das Faust mit Helena vereint, aus
Fausts Postulat hervor, "Arkadisch frei sei unser Glück!« (9573).
Er preist, im Innenhof seiner Burg stehend, die Peloponnes und
ihre zentrale Landschaft, Arkadien, romantisch als schöne Natur
(die den Griechen wenig bedeutet hatte) mit Hilfe jener Topoi,
welche die neuzeitliche Arkadien-Dichtung bereitgestellt

114
hat [156]: Quellen, Herden, Hügeln, »Zu hundert Höhlen wölbt
sich Felsenwand«, »und Lebensnymphen wohnen / In buschiger
Klüfte feucht erfrischtem Raum, / Und sehnsuchtsvoll nach
höhern Regionen / Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an
Baum« (9530 ff). Exakt diese erdichtete Umgebung verwirklicht
die folgende Szene: »Der Schauplatz verwandelt sich durchaus. An
eine Reihe von Felsenhöhlen lehnen sich geschloßne Lauben.
Schattiger Hain bis an die rings umgebende Felsensteile hinan«
(vor 9574). Faust erlebt also keine hellenische Natur, sondern lebt
die literarischen Konventionen nach, mit denen die Neuzeit ihre
forneceu
Wunschräume im antikisierenden Geschmack möbliert hatte.
Weil dieses naive Arkadien durch das sentimentalische Bedürf-
nis entstanden ist, wird es zum Geburtsland der modernen roman-
tischen Poesie, Euphorions. Mit ihm schwindet Helena, denn nur
um der modernen Dichtung willen, aus ihr und für sie, besaß sie
das Recht zu existieren. Das Spätere, Euphorions Moderne, ist die
Voraussetzung des Früheren, Helenas Antike - so setzt sich die
Logik des historischen Bewußtseins gegen die Abfolge der
geschichtlichen Zeit durch. Wiederum hat Weiße das Verhältnis
des untergegangenen Mythos zur modernen Poesie präzis
bestimmt: »In selbständiger, persönlicher Gestalt vermag das
Alterthum, vermögen seine Kunstgebilde und Ideale nicht blei-
bend in Mitten einer ihnen entfremdeten Welt Dasein und Bestand
zu gewinnen.
memórias
Diese Gestalten gehören dem Hades, das heißt dem
Gedächtnisse und der Wissenschaft an, wo sie, als Schatten zwar,
aber doch in unvertilgbarer Persönlichkeit feststehen und wan-
deln.« [157]
Die Einheit des ursprünglichen Mythos, in dem Geschichte und
Erzählung identisch waren, wird durch seine Interpretation in
zwei alternative Anschauungsweisen der Moderne zerlegt, in
Historie und Poesie. [158] Dieser, der Poesie, leihen die Mythen
den Stoff zu Träumen; ihr »Fabelreich « (7055) läßt vorüberge-
hend die Leiden an der Moderne vergessen: dem künstlichen
Homunculus versprechen sie Natur, dem vereinsamten Mephisto
das erotische Chaos, dem intellektuellen Faust lebendige Schön-
heit. Jener, der Historie, dienen sie zur Rekonstruktion archai-
scher Vorstellungen. Doch die Hoffnung, die Bedeutung der
Mythen, die ihren Lebenszusammenhang verloren haben, wissen-
schaftlich auszumachen, geht am Ende ebenso leer aus wie die
poetische Selbsttäuschung.

115
Die Leerheit mythologischer Spekulation, an der sich die Ferne
und Uneinholbarkeit der genuinen Mythen auf andere Weise
dokumentiert, hat Goethe in den Kabiren dargestellt, einer Crux
aller Faust-Kommentare, die sich um die Bedeutung dieses
,Mythos< mühen, ohne sie in der Darstellung mythologischer
Bedeutungslosigkeit zu erkennen. Daß manchem der wahre Sach-
verhalt gedämmert haben mag, läßt sich aus Karl Kerenyis unge-
wöhnlicher Versicherung entnehmen: »Es ist kein Spott
dabei« [159]; muß sich ihm nicht die ironische Lesart aufgedrängt
Cabiras
haben? Die Kabiren, ein Lieblingsgegenstand von Schellings und
Creuzers Mythologie, sind in der Klassischen Walpurgisnacht
angeblich Götter, die »niemals wissen, was sie sind« (8077); sie
verkörpern die Unbestimmtheit mythologischer Versuche. Die
Anstrengung, die regellose Vielfalt der Mythen systematisch zu
ordnen, führt dazu, daß »ein Gott den andern Gott / Macht wohl
zu Spott« (8190 f). Götter sind sie, die während ihres ganzen
Auftritts stumm bleiben, nur aufgrund der Definition und
Emphase derer, die sie aus der Vergessenheit hervorholen: »Sind
Götter, die wir bringen; / Müßt hohe Lieder singen« (8172 f),
verkünden beflissen die Nereiden und Tritonen, die zu jeglicher
veneração
Verehrung, auch auf bloßen Verdacht hin, entschlossen sind:
»Wir sind gewohnt, / Wo es auch thront, / In Sonn' und Mond /
Hinzubeten; es lohnt« (8206 ff). Die Beliebigkeit und Albernheit
mythologischer Spekulation karikiert Goethe an den verwirrenden
Angaben über die richtige Zahl der Kabiren: sind es drei, vier,
sieben? - im Olymp »west auch wohl der achte, / An den noch
niemand dachte!« (8198 f). Der Spott gilt weniger ihnen als ihren
Erforschern: »Diese Unvergleichlichen / Wollen immer weiter, /
Sehnsuchtsvolle Hungerleider / Nach dem Unerreichlichen«
(8202 ff). Den einzig sachlichen Kommentar gibt Homunculus:
»Die Ungestalten seh' ich an / Als irden-schlechte Töpfe, / Nun
stoßen sich die Weisen dran / Und brechen harte Köpfe« (8219 ff).
Jede der Formen, die jetzt den vergangenen Mythos zu verge-
genwärtigen suchen, Historie und Poesie, verfehlt den ,Sitz im
Leben<, den diese älteste Erfahrung und Deutung von Welt einst
eingenommen hatte. Statt dessen führen sie das neueste Vermögen
und Unvermögen vor: abstraktes Wissen und sinnliche Sehnsucht.
Es kann nicht mehr gelingen, ihren Gegensatz im Mythos zu
vereinen. Möglich ist es jedoch, den Gegensatz von Abstraktion
und Sinnlichkeit in einer Form sichtbar zu machen, die ihn dar-

116
stellt, ohne ihn aufzuheben: in der Allegorie. Und sind es nicht
allegorische Fragen, welche die Moderne an den Mythos richtet:
was ist der theoretische Gehalt sinnlicher Erscheinungen; was
ruínas
bedeuten die dinglichen Reste, die wir im Schutt Griechenlands
jarras
finden, die Töpfe der Kabiren, das Kleid Helenas?
Sobald das logische Denken mythische Vorstellungen zu deuten
beginnt, bietet die Allegorie ihre Vermittlung an. Bekanntlich war
schon die antike Philosophie, später auch die Philologie dazu
gezwungen, die skandalöse Mythologie, wie sie etwa Homer
hinterlassen hatte, der neuen Rationalität akzeptabel zu machen,
d.h. Vernunft ins Chaos, Moral in die Unsittlichkeit, System ins
Partikulare zu bringen. Dafür war das Verfahren der Allegorese
entwickelt worden, welche die verwirrende Konkretheit der
Mythen nur als verkleidete Gestalt abstrakter Wahrheiten gelten
ließ. Die Distanz zwischen tradierter Bildwelt und wissenschaftli-
cher Denkweise hat sich in der Moderne vergrößert. Soll dieses
Verhältnis des gegenwärtigen intellektuellen Bewußtseins zur ver-
gangen sinnlichen Anschauung wie in Faust II Thema der Dich-
tung (und nicht der Wissenschaft) sein, so ist die Allegorie die
angemessene Form: 1. um in die alten Mythen neue und neueste
Bedeutungen einzukleiden; 2. um die historische Diskrepanz zwi-
schen modernem Wissen und antikem Mythos in einer in sich
diskrepanten Form zu präsentieren; 3. um den kognitiven
Anspruch eines Werks zu verdeutlichen, das begriffliche Einsich-
ten poetisch festhält.
Der allegorische Charakter
perde
einer Figur nimmt in dem Maße zu,
wie sie an Leben verliert. Diesen Prozeß der Allegorisierung
durchläuft Helena: vom Wahn sinnlicher Gewißheit ihrer selbst
über die von Mephisto erregten Zweifel an ihrer Identität bis zu
dem Ende, da ihr )Körper< in den Hades zurücksinkt und nur ein
Attribut übrigbleibt, ihr Kleid. Unter lebendigen Menschen muß
die Allegorie wie ein Gespenst wirken: dem Schein nach lebendig,
in Wirklichkeit tot. Wie es schon der anfängliche Vergleich mit
dem »Papiergespenst der Gulden« andeutete, wird Helena durch
ihren prekären Status zwischen Tod und Leben, historisch gespro-
chen: zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zum Gespenst. Als
hätte er bereits Goethes Helena vor Augen, beschreibt Herder den
gespenstischen Auftritt allegorischer Personen: »selbst die beleb-
tere Allegorie, Personificationen sogar wollen die verständigste
Behandlung, oder sie erscheinen zwischen historischen Personen

117
wie Gespenster. Widriger ist nichts als wo diese unter den Leben-
digen umherwandeln, so daß man nicht weiß, ob man mit einem
Menschen oder einem Dämon spricht, ob man eine Geschichte
oder einen Traum vor sich siehet.« [160] Der früher zitierte Dia-
log, in dem Helena von Mephisto als »doppelhaft Gebild« ver-
dächtigt wird, solchen »Aberwitz« nicht widerlegen kann und
schließlich gestehen muß, daß sie nichts anderes als» Traum« und
»Idol« sei (8872 ff) - dieser Dialog wirkt so, als habe Goethe
Herders Warnung vor der allegorischen Personifikation in Szene
gesetzt, um den irrealen Realitätscharakter historisch imaginierter
Personen hervorzutreiben.
Im Zwielicht eines bloß geliehenen Daseins sind Helena und
ihre Begleitung stets vom Rückfall in Totenstarre bedroht:
Gespenster! - Gleich erstarrten Bildern steht ihr da,
Geschreckt, vom Tag zu scheiden, der euch nicht gehört. (8930 f)
ameaça de morte
Wie die Regieanweisung vermerkt, fügt die Todesdrohung der
Phorkyas den Chor zu »bedeutender, wohlvorbereiteter Gruppe«.
Gespenster sind sie und zugleich Statuen. Dieses Paradox hat seine
Einheit im Tod der Antike, deren Leben versteinert und gespen-
stisch weiterlebt. Die Statuen verewigen ein im Tod erstarrtes
Leben; sie überliefern die Totenmaske der Antike. Ihr ,Nachleben<
ist auf das Schattenreich der Erinnerung begrenzt und schwindet
im Tageslicht der Gegenwart. - In einer früheren Arbeitsphase
hatte Goethe den Titel "Helena im Mittelalter« vorgesehen. Die-
ser Epoche galten die antiken Statuen als verkörperte Dämonen,
als Gespenster historischer Personen und als plastische Allegorien
der Leidenschaften. [161] Davon ist auch Goethes »klassisch-
romantische« Helena geprägt. Die Einsicht, daß antike Gestalten,
die seit dem 18. Jahrhundert als Urbilder sinnlicher, plastischer
Lebensfülle galten, sich mit dem Status von Gespenstern begnügen
imposição
müssen, ist Goethes Zumutung an seine Epoche wie an seine
späteren Interpreten. Allerdings war das Schema klassizistischer
Kunst- und Lebensbegriffe starr genug, um selbst Goethes Helena
zum Ideal natürlicher Schönheit zu proklamieren. Aus dem Chor
derer, die es sich beim klassischen Goethe, der ewigen Natur und
der schönen Helena wohlsein lassen, fällt Kommerells Stimme
heraus: dieser scheinbar klassische Akt ist» Trug einer Wirklich-
keit [... ]. Die Form ahmt die klassische Tragödie nach, wie diese
Helena das Leben nachahmt.« [162] Aus doppelter Nachahmung,

118
des Lebens wie der Form, rührt der posenhafte Charakter von
Helenas Auftritt. Pose ist die Haltung, die einem >klassischen
Gespenst< ansteht. [163]
Gespenstisch wird Helenas Existenz durch »Gedächtnis«, weil
historische Erinnerung die Identität des Lebens in die Differenz
der Zeiten auflöst: »daß ich selbst zum Orkus mich / Gerissen
fühle, vaterländ'scher Flur zum Trutz. /Ist's wohl Gedächtnis?
war es Wahn, der mich ergreift? / War ich das alles? Bin ich's?
Werd ich's künftig sein« (8836 ff). Durch das Heraufholen »aller
Vergangenheit« (8897) wird der theatralisch gegenwärtigen, doch
historisch vergangenen Helena der Zwiespalt bewußt, nur als
Erinnerung an sich selbst zu existieren: »Ich fühle mich so fern
und doch so nah« (9411), »Ich scheine mir verlebt und doch so
neu« (9415). »Ein allegorisches Wesen« ist, wie Goethe an Eupho-
rion exemplifiziert, »den Gespenstern ähnlich«. [164] Gespen-
stisch muß eine allegorische Figur dem erscheinen, der sie zuerst
für lebendig gehalten hatte. Sobald sich nun Helenas gespensti-
scher Schein einer sinnlichen Realität auflöst, bleibt immerhin ihre
allegorische Bedeutung zurück. »Das Körperliche verschwindet,
Kleid und Schleier bleiben ihm [Faust] in den Armen« (nach
9944). Bei Allegorien ist der Körper wesenloses Substrat, während
Attribute ihr spezifisches Wesen darstellen, indem sie die Differenz
der Bedeutungen setzen. (Die Körper der Fortuna und der Justitia
sind gleich und gleichgültig, erst Nacktheit oder Kleid, Kugel oder
Waage unterscheiden sie.) Zwar ist Helena von Anfang an
beschworener Schein, aber ihr Scheinleben vollzieht noch einmal
impotência
den Prozeß der allegorischen Entkörperung: sie fällt in Ohnmacht.
In dem Maße, da ihr die Sinne und uns ihre Sinnlichkeit ent-
schwinden, entsteht ihre spirituelle Bedeutung für uns. Die Rück-
kehr in ihren eigenen Bereich, »In das alte, das neugeschmückte /
Vaterhaus« (8632 f), ist ihr durch Mephisto, den Repräsentanten
des modernen Bewußtseins, verwehrt. »Auf der Schwelle zwischen
negada

den Türpfosten auftretend« (vor 8697), markiert er die Grenze


zwischen den Epochen. Nicht als mythische, wohl aber als allego-
rische Gestalt kann Helena überleben, wenn sie ihr Bild in den
»inneren Burghof« des nordischen Faust, d. h. in die romantisch-
neuzeitliche Interpretation überführen läßt.
Was aber ist Helenas allegorische Bedeutung? Helena ist die
Allegorie ihrer selbst. Die erscheinende Helena verweist auf die
gewesene. Als ihr eigenes Denkmal kann sie sich nur aus dem

119
Gedächtnis hervorrufen, um »Früher Jugendzeit / Angefrischt zu
gedenken« (8636 f). Sie ist nicht sie selbst, vielmehr bedeutet sie
sich - wie sich an ihren reflexiven Sätzen (» welche ich denn sei
... «, ich »werde selbst mir ... «) ablesen läßt. Solcher Verweis auf
sich selbst setzt Entfremdung von sich selbst voraus. Diese hat
ihren Grund darin, daß Helena nicht sich selbst gehört, sondern
conquistada
den anderen: »Erobert bin ich; ob gefangen, weiß ich nicht!«
(8530), erwägt sie vor ihrem Palast; »wir sind gefangen, / So
gefangen wie nur je« (9125 f), müssen ihre Begleiterinnen im
Burghof Fausts feststellen. Durch Eroberung von außen und
Gedächtnis von innen ist Helena außer sich gesetzt. Körperlos
verweist sie auf die Bedeutung ihres Körpers. Im historischen
Abstand zwischen mythischer Vergangenheit, der Helenas
Erscheinung entstammt, und interpretierender Moderne, die ihre
Erscheinung deutet, wird Helena allegorisch. Goethe verhandelt
also das Verhältnis von Mythos und Allegorie in allegorischer
Form. So entsteht das Paradox, daß die Allegorie der Helena die
mythische Schönheit - und die Schönheit des Mythos - bedeutet.
D. h. sie verweist als Abstraktion auf das Nicht-Abstrakte, als
Nicht-Sinnliches auf das Sinnliche. Da der Mythos nicht mehr in
seiner sinnlichen Gestalt auftritt, sondern als deren gespenstische
Wiederholung, kann Helena nicht schön sein, sondern nur auf
Schönheit verweisen. Eben die sinnliche Schönheit, wie sie die
Antike dem Jahrhundert Winckelmanns zu versprechen schien,
muß unter den Bedingungen abstrakter Lebensverhältnisse, wie sie
der Moderne eigentümlich sind, zur allegorischen Idee werden.
Die moderne Sehnsucht nach einem nicht-allegorischen
Zustand [165] bildet daher den Inhalt der Helena-Allegorie.
Gerade weil Helena um ihre sinnliche Wirklichkeit vermindert
ist, kann sie als Bedeutung antiker Schönheit für die Moderne
gerettet werden. Solch »ideale Rettung«, wie sie eine Notiz zu
Faust Il nennt (Par. 170), schlägt Mephisto dem von Helena
verlassenen Faust vor: »Die Göttin ist's nicht mehr, die du ver-
lorst, / Doch göttlich ist's« (9949 f). Er trifft also die allegorische
Unterscheidung zwischen körperlicher Gestalt (Göttin) und ihrer
abstrakten Bedeutung (das Göttliche), repräsentiert im Attribut
(das Kleid). So kann der verlorene Mythos in der Allegorie festge-
halten werden: »Halte fest, was dir von allem übrigblieb, / Das
Kleid, laß es nicht los« (9945 f). Später, jenseits der klassischen
Welt, im »Hochgebirg« des 4. Akts, wo sich Helenas Gestalt

120
weiter entwirklicht und sich schließlich in eine Wolke auflöst,
kann Faust deshalb »flücht'ger Tage großen Sinn« (10054) erin-
nern.
Der »idealen Rettung« Helenas geht ihre konkrete Gefangen-
nahme voraus. Daß das Stück, das Faust am Kaiserhof aufführt,
»Der Raub der Helena« heißt (6548), weist auf seinen eigenen
Umgang mit der antiken Schönheit im 3. Akt voraus. [166] An der
Art, wie Mephisto durch betrügerische Überredung Helena von
ihrem angestammten Ort wegführt und Faust sie, gefangen und
gesichert, in seiner nordischen Residenz ausstellt, sind die Paralle-
len zum Kunstraub nicht zu übersehen. Die Antikenjagd in Grie-
chenland hatte um 1800 ihren Höhepunkt und in den sog. Elgin
Marbles das Ausmaß eines internationalen Skandals er-
reicht [167], den auch Goethe kommentierte. [168] Seit 1801 hatte
métopes
Lord Elgin, der englische Botschafter in Konstantinopel, Metopen,
frisos frontões
Fries und Giebelfiguren des Parthenontempels sowie eine Kore des
Erechtheions abnehmen und nach England bringen lassen, wo sie
schließlich 1816 vom Britischen Museum angekauft wurden.
Einen ähnlichen Transport der Bildwerke von ihrem ursprüngli-
chen Platz ins Museum konnte Goethe in Deutschland nach der
Säkularisation beobachten (vor allem durch den Umgang mit
mosteiros
Sulpiz Boisseree). »In dem Augenblick, da Klöster und Kirchen,
equipamento
bisweilen auch Schlösser niedergelegt wurden und ihre Ausstat-
tung - aus ihrem alten Zweckzusammenhang befreit - >auf die
Straße flog<, verwandelte sich diese Ausstattung potentiell zu
Kunst; die Erinnerung an das, woraus sie wurde, war bereits von
ihr abgetrennt.« [169] Skeptisch beurteilte Goethe das Ergebnis:
Museen
An Bildern schleppt ihr hin und her
Verlornes und Erworbnes;
Und bei dem Senden kreuz und quer
Was bleibt uns denn? - Verdorbnes! [170]

Unter kriegerischen Umständen wird Helena als Kunstfigur in


Fausts »Säle« überführt. Im kulturellen Imperialismus des 3. Akts
anuncia
kündigen sich der politische des 4. und der ökonomische des
5. Akts an. Ähnlich wie er einst Helena gewann, so will Faust sich
apropriou
zuletzt den idyllischen Rest antiker Lebensformen aneignen; mit
Philemon und Baucis jedoch macht er kürzeren Prozeß; er läßt sie
umbringen.
Der Ort der allegorischen Rettung, an dem sich die Gegenwart

121
die leblosen Formen der Vergangenheit im Schein der Kunst
zueignet, ist das Museum. Ausgeschlossen von ihrem alten Palast,
eingeschlossen in die neue Burg fungieren Helena und ihre Mäd-
peças de exposição
chen wie "Bildnerein« (9032) als Ausstellungsstücke im unbe-
grenzten Erinnerungsraum des modernen Bewußtseins: "Derglei-
chen hängt in Sälen Reih' an Reihe fort, / In Sälen, grenzenlosen,
wie die Welt so weit; / Da könnt ihr tanzen!« (9042 ff). Auch die
Mütter verwalteten das Archiv der Zeiten, aus dem Helena her-
aufgeholt wird, "im Grenzenlosen« (6428). In den ,grenzenlosen
Sälen< ist dieser historische Bewußtseinsraum zum Museum kon-
kretisiert und ästhetisiert. [171] Die "Schemen« (6290) aus der
Mütterwelt haben sich zu Kunstgegenständen verfestigt und ste-
hen nun der Anschauung zur Verfügung. Die "ewig leere Ferne«
(6246) wirkt in der musealen Stimmung von Fausts "Sälen« fort;
ein "Anklang der Entfernung von Ort und Zeit« (Par. 166) soll
hier zu vernehmen sein. Helena, "so fern und doch so nah«,
(9411), "verlebt und doch so neu« (9415), lebt wie ein Museums-
gegenstand von der Aura, die stets von der Gegenwart eines
Gewesenen ausgeht. Deshalb gleichen die neuen Räume mit alten
Bildern dem Hades. Unterwegs zu Fausts ,Museumsburg< scheint
es Helena, als führe man sie
Heischend, gebietend uns wieder zurück
Zu dem unerfreulichen, grautagenden,
Ungreifbarer Gebilde vollen,
Überfüllten, ewig leeren Hades. (9118 ff)

Zugleich weisen die "Säle, grenzenlose« auf den" Weitläufigen


Saal« zurück, der dem Mummenschanz des Kommerzes diente.
Beide, Weltverkehr und Historismus, schaffen entgrenzte Räume,
die vom Bewußtsein begriffen statt von Leben erfüllt werden und
daher allegorischen Gestalten statt lebendigen Menschen gehören.
Gleich einem Warenlager, nur würdiger, werden auch in Fausts
Museum Schätze eines »1ebelosen Leben« angehäuft:
[... ] Geh und häufe Schatz auf Schatz
Geordnet an. Der ungesehnen Pracht
Erhabnes Bild stell' auf! laß die Gewölbe
Wie frische Himmel blinken, Paradiese
Von lebelosem Leben richte zu. (9337 ff) [172]

Wie sich in Helena das Schöne mit dem Gespenstischen mischt,


so prägt auch den Raum, der ihr Bild bewahren soll, der Doppel-
charakter von "Hades« und "Paradies«. Gemeinsam ist den entge-

122
gengesetzten Bildern, daß sie Bezirke aufgehobener Zeit vor bzw.
nach aller Geschichte bezeichnen; in beiden ist »verschwunden
Tag und Ort« (9414). Jedoch ist in der Differenz von Hades und
Paradies die Differenz zwischen der transzendentalen Form und
apreendido
den gegenständlichen Inhalten des historischen Denkens gefaßt,
zwischen der hadeshaftes Abstraktheit des Bewußtseins selbst und
der paradiesischen Fülle der Bilder, die »Schatz auf Schatz« aus
der historischen Erinnerung gewonnen sind. Ohne durch das
zeitliche Kontinuum der Tradition vermittelt zu sein, treten sich
im Museum zwei Zeiten gegenüber: die unmittelbare Gegenwart
des Bewußtseins und die ferne Vergangenheit der vom Bewußtsein
er- und begriffenen Gegenstände. In der kurzen Distanz zwischen
Betrachter und Bild ist der weite Zwischenraum geschichtlichen
Lebens und Vergehens verschwunden. In solch prächtig zugerich-
tete Nähe ist Helena von Faust gezwungen worden. Hier, im
Museum, ist die entfernte Sinnlichkeit an die Interpretation durch
das abstrakte Bewußtsein ausgeliefert. Der prägnante Ausdruck
für die allegorische Struktur dieses ästhetischen Historismus lau-
tet: »lebeloses Leben«.

123
4

WISSEN UND ERSCHEINUNG


LABORATORIUM

Es unterscheidet Faust II von anderen allegorischen Werken der


Weltliteratur, daß Goethe die Form der Allegorie nicht bloß
gebraucht, sondern die Notwendigkeit ihres Gebrauchs zum
Thema seines Werkes macht. Deshalb gliedert das Werden der
Allegorie seine Teile. Die Mummenschanz führt vor, wie aus den
Verkehrsformen der bürgerlichen Ökonomie allegorische Verhält-
nisse hervorgehen; die der Antike zugewandten Akte zeigen, wie
das moderne Bewußtsein die gewesene Außenwelt zur gegenwärti-
gen Innenwelt entwirklicht. Ebenso wird das wesentliche Merk-
mal der Allegorie, nämlich die Herrschaft des Begriffs über die
Erscheinung, in Faust II in Szene gesetzt: die neuzeitliche Macht
des Wissens ist die aktuelle Bedingung und Erfüllung der konven-
tionellen Struktur von Allegorie.
Die >Helden< dieses Dramas sind Theoretiker; sie vollbringen
keine Handlungen, sondern liefern Kommentare. Schon am Kai-
serhof schlüpfen Faust und Mephisto in die Rollen der höfischen
Vorläufer von Wissenschaft: Magier, Astrolog, Narr. Im Labora-
torium tritt der philosophierende Baccalaureus auf, dann der
experimentierende Dr. Wagner; hier entsteht Homunculus, der
reine Intellekt. Er führt durch die Klassische Walpurgisnacht,
begleitet von zwei Philosophen, Thales und Anaxagoras. Im letz-
ten Akt ist Faust »tätig. Auch dies ist eine Alterungsform des
theoretischen, nicht des praktischen Menschen. Dieser wäre >noch<
tätig oder er würde endlich aufhören es zu sein.« [173] Daß

124
theoretisches Wissen Gegenstand und auch Ziel von Faust II ist,
hat bereits Vischer erkannt. Jedoch hielt er dieser Absicht Goethes
die Forderung entgegen, »die Erkenntnis der Wahrheit [... ] soll
von dem Dichter auf einem Punkt erfaßt werden, wo die abstrakte
Tätigkeit des denkenden Geistes so eben, und zwar in der vorlie-
genden Handlung des Dramas selbst, in das Leben mündet.« [174]
Ihm entgeht, daß dieses Werk das Wissen in seiner neuzeitlichen
Gestalt thematisiert, von der aus ein Übertritt ins »Leben« proble-
matisch geworden und nicht mehr als >,Handlung« poetisch zu
veranschaulichen ist; vielmehr hat es sich zur allgemeinen und
abstrakten Theorie verselbständigt.
Konsequent richtet sich Vischers Polemik gleichzeitig gegen
abstraktes Wissen als dem Inhalt wie gegen Allegorie als der Form
von Faust lI. Denn es ist von Hause aus die Aufgabe der Allegorie,
Wissen zu repräsentieren, das nicht in Handlungen und Charak-
tere aufgelöst werden kann oder soll. »At an early stage of any
science we can expect allegory; conversely it could be shown that
allegories are often the simulcra of scientific theory.« [175] Die-
oft kritisierte-unorganische Gestalt der Allegorie, d. h. die mecha-
nische Kombination inhomogener Teile, ermöglicht es, ihr philo-
sophische Konzepte zu übertragen: »Thus as concept allegory
serves to define or devise states of separateness and togetherness,
oppositions and unities.« [176] So vermag sie logische, analyti-
sche, synthetische, systematische Denkoperationen zu verbildli-
chen; Unsichtbares wird sichtbar. Auch dies trägt zum zweideuti-
gen, gespenstischen Status der Figuren und Ereignisse bei, der
besonders an den Allegorien der historischen Erinnerung im 2.
und 3. Akt zu beobachten war. »Denn wo Gespenster Platz
genommen, / Ist auch der Philosoph willkommen« (7843 f).
Der Streit zwischen Anaxagoras und Thales erhellt die philoso-
phisch-allegorische Priorität des Gedankensvisões
gegenüber der
contraditórias
Erscheinung. Ihre gegensätzlichen Auffassungen von Natur und
Gesellschaft scheinen sich durch das katastrophale Geschehenterritório
-
domínio
Vulkanausbruch und Meteoritenfall, Herrschaft und Untergang
der Pygmäen (7865-7945)-zuzuspitzen und zu entscheiden. Doch
eben dieser Vorfall, der Homunculus beeindruckt, wird nachträg-
lich von dem Philosophen Thales in Schein aufgelöst: »Sei ruhig!
Es war nur gedacht« (7946). Was zunächst als greifbare Wirklich-
keit gelten konnte, entpuppt sich als bloßes Modell einer theoreti-
schen Behauptung, deren Realitätsbezug unentschieden bleibt.
afirmação

125
Allegorisch ist die Struktur dieser Szene, da sie lediglich die Ideen
des Anaxagoras in bildlicher Gestalt nachzeichnet, was er selbst
provoquei
eingesteht: »Verzeiht! Ich hab' es hergerufen« (7929). Er formu-
liert - auf dem protowissenschaftlichen Niveau der Magie - als
evocação
gelungene Beschwörung, was Thales - auf dem wissenschaftlichen
bem-sucedida

Niveau der Theoriebildung - als »nur gedachte« Hypothese refor-


muliert. Eine analoge Doppelrolle zwischen archaischer und
moderner Funktion übernimmt die Allegorie: »at an early stage of
any science« entstanden, kann sie noch jetzt der poetischen Dar-
stellung neuzeitlicher Erkenntnis dienen. Im Gewand der ältesten
Philosophien verhandelt die Klassische Walpurgisnacht aktuelle
Fragen der Gesellschaftstheorie: die alten Lehren von der Entste-
referem-se
hung der Welt verweisen auf die Genese neuer Sozialsysteme, der
Streit um den Vorrang der Elemente (Feuer oder Wasser) meint
nun den Unterschied von Revolution und Evolution, Pygmäen und
Imsen bezeichnen Klassengegensätze.
Es entspricht der Konvention der Allegorie, das poetische
Geschehen auf Ausdeutung im Rahmen eines nicht-poetischen
Wissens anzulegen. Die Einsicht jedoch, daß die moderne Lebens-
welt erst durch Theorie hergestellt wird, leitet Goethes Erneue-
rung der allegorischen Anschauung. Faust II beschreibt eine Welt,
die nicht mehr von der Natur gegeben, sondern vom Wissen
produziert ist. In dieser neuen Welt sind die Phänomene auf
Theorie hin durchsichtig, weil sie ihr Dasein der Theorie verdan-
ken. Während die antike Philosophie zwischen der erkennenden
>theoria< und der praktischen >techne< nur Gegensätze wahrneh-
men konnte (weil in der historischen Wirklichkeit der Antike die
Verbindungen tatsächlich fehlten), verknüpft die neuzeitliche Wis-
senschaft theoretische Erkenntnis und praktische Produktion
durch Experiment und Technik. Die Wissenschaft begnügt sich
nicht mehr damit, die vorhandene Welt zu begreifen; ihre neue
Aufgabe ist es, eine noch nicht vorhandene Welt zu erzeugen. In
produzir

dieser veränderten Konstellation fällt der Allegorie, sofern sie sich


auf ihre Zeit einläßt, eine neue Möglichkeit zu. Sie verweist nicht
länger auf Bereiche außer halb der Realität, vielmehr auf die
Realität selbst, die quasi eine allegorische Gestalt angenommen
hat. Die allegorische Polarität von Wissen und Erscheinung kon-
kretisiert sich nun in der technologischen Spanne von Wissen-
schaft und Produktion.
Ihr deutlichstes Bild gewinnen die Intentionen der modernen

126
Wissenschaft in Dr. Wagners Laboratorium. Hier ist die Natur,
die bislang das Privileg besaß, Leben zu produzieren, »ihrer
Würde nun entsetzt« (6844). Natürliche Zeugung wird durch
künstliche Erzeugung abgelöst: »wie sonst das Zeugen Mode war,
I Erklären wir für eitel Possen« (6838 f). Was auf solche Weise

>theoretisch< hergestellt wird, bleibt auch als Produkt mit der


Abstraktheit seines Ursprungs behaftet. »Ihm fehlt es nicht an
geistigen Eigenschaften, I Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtig-
haften« (8249 f), lautet Thales' Urteil über Homunculus. Er geht
aus Wagners Retorte als reines Bewußtsein ohne Körper hervor,
»ein Hirn, das trefflich denken soll«, von »einem Denker« ausge-
cérebro

dacht (6869 f). Gemacht ist Homunculus, nicht entstanden.


Darum trachtet er »zu entstehn« (7858), in dem er - entgegen dem
Fortschritt, der ihn produziert hat - den Weg der Geschichte
zurückschreitet und in der archaischen Welt Griechenlands den
Ursprung des Lebens sucht.
Schleunig nimmt Homunculus vom Laboratorium Abschied
und erschließt neue Räume. Nicht die moderne Wissenschaft an
sich steht im Mittelpunkt von Goethes Interesse, sondern die
Wirkungen, welche die Herrschaft des abstrakten Bewußtseins
über die modernen Lebens- und Kunstformen ausübt. Zweifellos
wird Wagners Projekt durch die Anwesenheit Mephistos gefordert
(Homunculus redet ihn als »Vetter« an, 6885). Mephisto,
Beschaffer aller Mittel in einer Welt der universalen Mittelbarkeit,
verknüpft das Geschehen im Laboratorium mit dem am Kaiser-
hof. Dort war er selbst mit einem »Projekt« (4888) aufgetreten,
das schließlich auf die Erfindung des Papiergeldes hinauslief. An
»Projekten« erprobt sich die wirkliche, weil Wirklichkeit schaf-
fende Macht des >spekulativen< Gedankens über die gegebene
Wirklichkeit. Der auf Zukunft orientierte Plan erschüttert die
Selbstverständlichkeit der gegenwärtigen Realität, indem er ihre
Aufhebung erwägt und - falls ihm Aufhebung gelingt - die künf-
tige Realität als Folge bloßen Denkens ausgeben kann. Die chemi-
sche Erzeugung eines künstlichen Menschens gleicht also der
mephistophelischen Erfindung des Papiergeldes, die sich ebenfalls
mit dem Zauber der Alchimie verkleidet hatte. In bei den Fällen
wird ein ideelles Konstrukt ohne körperliches Korrelat in die Welt
gesetzt. Und wie das »Papiergespenst der Gulden« Helena in einen
bedenklichen Vergleich zieht, so tritt auch Homunculus, der nur
aus dem Bewußtsein existiert, in eine nähere Beziehung zu Helena,

127
die nur im Bewußtsein existiert. Er, der eben künstlich Erzeugte,
sieht als einziger die Zeugung und Erzeugung der Helena im Kopf
des träumenden Faust (6903 ff).
Bezeichnend, daß gerade Homunculus, das jüngste Produkt der
Moderne, zum Reiseführer in die mythische Antike wird. Seine
Entscheidung für Griechenland kommt, wie es ihm und der
modernen Sehnsucht nach der Antike entspricht, aus dem reinen
Gedanken: »Jetzt eben, wie ich schnell bedacht,/ Ist klassische
Walpurgisnacht« (6940 f). Die Klassische Walpurgisnacht ist
(nicht erst für den heutigen Leser) eine Bildungsreise, eine vom
modernen Intellekt ersonnene Sinnlichkeit im archaischen Stil. Die
concebida

Empirie, die auf einer solchen Bildungsreise begegnen mag, ist


lediglich die Einlösung des vorausgegangenen Begriffs; »Man
"deixa escapar"
denkt an das, was man verließ« (7963). Was ursprünglicher
Mythos scheint, ist begriffener Mythos, d. h. Mythologie, sofern
unter ihr »die Wissenschaft verstanden [wird], welche uns lehrt,
was für Ideen und Begriffe gewissen Sinnbildern bey einem gege-
benen Volke zum Grunde liegen.« [177] Wie die Phorkyaden an
Mephisto, so treten die mythischen Gestalten ihre äußere Erschei-
nung an den Geist der Moderne ab, der sie mit neuer Bedeutung
füllt und zu neuen Zwecken gebraucht. Die Phorkyaden sind sich
»beinah [... ] selbst, ganz allen unbekannt« (8011); indem sie
jedoch auf Mephistos Vorschlag: »Man kann sich selbst auch
andern übertragen« (8013), eingehen, werden sie in Kategorien
faßbar, die >allen bekannt< sind: sie gewähren nun die Anschauung
zum Begriff des »Häßlichen« (8741). Solche Übertragung verwan-
delt den dunklen Mythos in klares Wissen. Durch und als Wissen
interpretiert, gehen die mythischen Bilder in Sinnbildern auf und
werden damit der Form der Allegorie angepaßt.
manejo/lida
Für den nachmythischen Umgang mit archaischen Mythen ist
Aufklärung Voraussetzung und Ziel. (Die Allegorese der Mythen
war die Antwort der ersten griechischen Aufklärung auf die
überwundene mythische Vorstellungsweise gewesen.) Mephisto
zerrt die Häßlichkeit der Phorkyaden, die »in der Höhle dort, / Bei
schwachem Licht« (7965 f) unerkannt gelebt hatten, an den Tag
der Erkenntnis. Solche >Aufklärung< hat in Wagners Experiment
ihr Modell: »Schon hellen sich die Finsternisse« (6823) des unbe-
griffenen Lebens und weichen dem »hellen weißen Licht« (6828)
der rationalen wissenschaftlichen Konstruktion. Die gleiche Dun-
kel-Licht-Metaphorik verwendet zuvor der Baccalaureus, um den

128
schrankenlosen Fortschritt philosophischer Aufklärung zu
prognOStiZIeren: »Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken«
(6806). Im Sinne Fichtes versucht er, die Welt aus der begrifflichen
Tätigkeit des Ich abzuleiten: »Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie
erschuf« (6794). Dem Experiment Wagners ist die Philosophie des
Selbstbewußtseins nicht nur dadurch verwandt, daß sie auf Fichtes
Idealismus anspielt, dessen Schüler Friedrich Schlegel wiederum
dem Bild des Homunculus Pate gestanden hat. Wesentlicher ist die
terreno comum
innere Gemeinsamkeit von Ich-Philosophie und Naturwissen-
schaft, die Goethe als zeittypisch diagnostiziert (denn der Bacca-
laureus ist »von den Neusten«, 6687): Mißachtung des natürli-
chen Ursprungs und seine Ersetzung durch einen künstlichen, rein
intellektuellen Anfang. »Erfahrungswesen« bedeutet dem Bacca-
laureus, da es »mit dem Geist nicht ebenbürtig« sei (6758 f), so
wenig wie Wagner die bisherige natürliche Art der Zeugung. In
der Radikalisierung von Aufklärung und der mit ihr verbundenen
Fortschrittsidee treffen sich die scheinbar en~gegengesetzten Posi-
tionen: idealistische Philosophie und experimentelle Naturwissen-
schaft. Jene muß als Theorie des Experiments, diese als Praxis des
Idealismus gelten. Zum Untergang der sinnlichen Erfahrung von
Natur wirken beide zusammen.
Im Zweiten Teil arbeitet Wagner an der Stelle weiter, welche
Faust im Ersten Teil verlassen hatte. Während jedoch Faust an
seinem umfassenden Ziel gescheitert war, eine innere Anschauung
der ganzen Natur zu gewinnen, erreicht Wagner seinen begrenzten
factível
Zweck, das technisch Machbare zu realisieren. Für diesen Unter-
schied sind nicht allein die Charaktere der beiden Figuren verant-
wortlich, sondern auch die im Werk dargestellte historische
Spanne zwischen Faust I und Faust Il. Denn am Ende des Dramas
ist Faust selbst in jener Welt technischer Rationalität und Mittel-
barkeit tätig, deren Anfänge in Wagners Laboratorium sichtbar
werden. Er bedient sich eben des abstrakten Wissens, gegen das
einst seine erste Rede (354 ff) gerichtet gewesen war. Auf dem
»Neuland« des 5. Akts entfaltet er es zur ausschließlichen Lebens-
form.
Das Neuland ist künstlich dem Meer abgewonnen, liegt also
außerhalb des alten Landes, das die Natur dem Menschen zuge-
standen hatte. [178] Politisch ist das Neuland als autonomer Herr-
schaftsbereich ausgewiesen, liegt also außerhalb der alten Gesell-
schaft. [179] Bei seiner Entstehung ging es »nicht mit rechten

129
Dingen zu« (11114); die technische Vervielfachung von Arbeits-
kraft und Verkürzung von Arbeitszeit - "Stand ein Damm den
andern Tag« (11126), »Morgens war es ein Kanal« (11130) - muß
Bewohnern der alten Welt, wie Philemon und Baucis, als Resultat
magischer Praktiken erscheinen. Die Mittelachse von Fausts Herr-
schaftsbereich bildet der »große, gradgeführte Kanal«, dessen
Form - im Gegensatz zu den umständlichen Windungen eines
natürlichen flußlaufs - auf rationale Planung zurückgeht. Eine
ähnliche Form und Funktion eignet dem »Sprachrohr«, durch das
Fausts Türmer spricht: gerade Linie mit trichterförmiger Öffnung,
künstliche Verstärkung der natürlichen Ressourcen, potenzierter
Austausch mit der Außenwelt. Fausts Expansion folgt den leeren
quantitativen Prinzipien der Masse (»Arbeiter schaffe Meng' auf
Menge«, 11552), der Zeit und der Strecke (»Mit jedem Tage will
ich Nachricht haben, / Wie sich verlängt der unternommene
Graben«, 11555 f). Qualitative Bindungen an die alte Natur (die
Linden auf der Düne) und die alte familiale Lebensweise (Phile-
mon und Baucis) stehen ihm im Wege und werden vernichtet. Für
solche Vernichtung hat Mephisto den Zynismus »kolonisieren «
parat (11274). Nachdem die Hütte von Philemon und Baucis samt
den alten Bäumen in Flammen aufgegangen ist, tröstet sich Faust
über den Verlust dieses letzten Stücks Natur in seinem Besitz
schnell mit technischem Ersatz:
Doch sei der Lindenwuchs vernichtet
Zu halbverkohlter Stämme Graun,
Ein Luginsland ist bald errichtet. (11342 ff)

Fausts neue Welt hat Natur wie Geschichte ausgelöscht (»Was


sich sonst dem Blick empfohlen, / Mit Jahrhunderten ist hin«,
11336 f), um voraussetzungslos das Experiment eines ökonomisch
kalkulierten Lebens durchführen zu können: »Was er erkennt,
läßt sich ergreifen« (11448).
Mit Hilfe der Technik überwältigt das menschliche Wissen die
Natur real- wie einst durch Magie phantastisch. Magie hatte sich
Arbeitsresultate ohne Arbeit imaginiert; Technik verkürzt und
denaturiert den Weg zum Arbeitsresultat, so daß es wie durch
Zauber erreicht zu sein scheint. Das neue Verfahren tendiert dazu,
universal zu werden: »Magie bedeutet im zweiten Teil ein Mittel,
wodurch die Weltaneignung total werden kann. [... ] Magisch ist
die Aneignung der Welt als eines Ganzen.« [180] Deshalb

130
gebraucht Faust das alte Bild der Magie, um die neue technische
Stufe in der Auseinandersetzung mit der Natur zu kennzeichnen.
Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd' ich, Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein. (11404 ff)

Was Faust als Robinsonade idealisiert, verweist auf die traditio-


nelle Arbeitsweise des Bauern und Handwerkers, die vor der
Natur »allein« standen, d. h. nur mit ihren körperlichen Kräften
und Geschicklichkeit ausgestattet. Faust jedoch steht am Beginn
des 19. Jahrhunderts, in dem die Maschine eine ökonomische
subjugação
Notwendigkeit wird. »Unterjochung der Naturkräfte, Maschine-
agricultura navio a vapor
rie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampf-
schiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung
aproveitamento
continentes
ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem
Boden hervorgestampfte Bevölkerungen - welches frühere Jahr-
hundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesell-
schaftlichen Arbeit schlummerten.« [181] Faust spricht von der
Natur im Optativ, (»könnt' ich«, »stünd' ich«, »da wär's«), der
ohne Folgen für sein Handeln bleibt; [182] der Übergang von der
Handarbeit zur Technik ist ein nicht-umkehrbarer Prozeß. Die
Maschine, »dieses Doppelwesen, welches [... ] mit der ganzen
Mächtigkeit allegorischer Figur hervortritt«, multipliziert die
menschlichen Kräfte durch »natürlich-künstliche Zusammenset-
zung«. [183] »Allegorisch wie die Lumpe sind« (10329), tragen
die »Drei Gewaltigen«, die mit übermenschlichen Kräften ausge-
statteten Helfer Fausts, »Masken [... ] von Stahl und Eisen« (Par.
179). Sie sind also eine Allegorie der maschinellen Kraft.
1831, während der Arbeit am 4. und 5. Akt, erscheint auf
Goethes Empfehlung in Ottilies Zeitschrift Chaos ein Gedicht
máquina a vapor
über die Dampfmaschine:
Der blanke Stahl steigt auf und nieder;
Belebt nun streben alle Glieder
Nach Einem Ziel, der große Bau
Folgt stets des Meisters Sinn genau. [184]

Eine Umschreibung von Stumpffs Gedicht bietet Fausts Anwei-


sung an die Lemuren:
Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht.
Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!
Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann.

131
Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!
Das Abgesteckte muß sogleich geraten.
Auf strenges Ordnen, raschen fleiß
Erfolgt der allerschönste Preis;
Daß sich das größte Werk vollende,
Genügt ein Geist für tausend Hände. (11502 ff)

Die parallelen Motive und Formulierungen sind ein Indiz dafür,


daß das versteckte Thema dieser Stelle die Maschine ist. Zwar
spricht Faust nicht wörtlich von ihr, doch deuten alle wesentlichen
Momente der Rede auf sie:
1. Als »Knechte«
servos
gerufen, kommen die »Lemuren, / Aus Bän-
dern, Sehnen und Gebein / Geflickte Halbnaturen« (11512 ff). Ihr
Körper ist auf jene mechanischen Funktionen reduziert, die den
Bändern, Rädern und Gestängen einer Maschine entsprechen. Sie
produzidas
sind künstlich hergestellt (» geflickt«) und deshalb, Homunculus
verwandt und derafirmação Maschinenkraft ähnlich, »Halbnaturen«. Auf
sie trifft Hegels Feststellung zu, daß mit der Maschine ende, was
divisão do trabalho
mit der Arbeitsteilung begann; denn die »Teilung der Arbeit«
führe »zur Beschränkung auf eine Geschicklichkeit«: »Die
Restrição

Geschicklichkeit selbst wird auf diese Weise mechanisch und


bekommt die Fähigkeit, an die Stelle menschlicher Arbeit die
Maschine treten zu lassen.« [185]
2. Die gesichtslose Einheitlichkeit der von Massen ausgeführten
Tätigkeit (»Mann für Mann«, »tausend Hände«) trägt kaum noch
menschliche Züge; sie läßt an eine Fabrik denken.
3. Die Geschwindigkeit (»rascher Fleiß«), die schon Baucis als
unnatürlich aufgefallen war, und das Ausmaß der Arbeit (»größ-
tes Werk«) wirken industriell.
4. Die einheitliche, zweckgerichtete Leitung (» was ich kühn
ersann«, »strenges Ordnen«, »ein Geist«) zeigt Faust in der Posi-
tion des Unternehmer-Ingenieurs, wie sie Stumpff glorifiziert
hatte.
Beide Texte sind allegorisch konzipiert, doch in entgegengesetz-
tem Sinne. Stumpff leiht der Maschine, auf die er unbedenklich
seine Hoffnungen setzt, menschliche Züge; Goethe läßt an einer
>noch< menschlichen Konstellation das Bild der Maschine bedenk-
lich aufscheinen. Die Maschine interessiert ihn als soziales Ver-
hältnis. Er sieht die Lebensformen im Zeitalter technischer Erfin-
dungen durch die Maschinerie bestimmt: durch die industrielle
Organisation der Arbeit (»Arbeiter schaffe Meng' auf Menge«,

132
11552) und die scheinbar unbegrenzte Herrschaftsmacht des Wis-
sens - die zuletzt doch im Tod ihre Grenze findet (»Schaufel« und
»Spaten« sind die Werkzeuge der Totengräber, [186] das »Abge-
steckte« ergibt ein Grab).
Mit dem planvollen Aufbau eines »Neulands« findet die Ent-
wicklungsgeschichte der >geistigen Arbeit< in Faust II ihren prakti-
ridícula
schen Abschluß. Unscheinbar und lächerlich beginnt diese
Geschichte mit Mephistos betrügerischem Versprechen, auf
mysteriöse Weise Schätze zu heben: »Der Weise forscht hier
unverdrossen« (5030). Immerhin ist bereits hier solche >For-
schung< auf ökonomische Zwecke gerichtet. Sie werden deutlicher
auf der nächsten, komplexeren Stufe, der Allegorie der Viktoria:
wie schon erwähnt, unterwirft die geistige Arbeit der »Klugheit«
die körperliche des Elefanten, um der »Göttin aller Tätigkeiten«,
Viktoria, »zum Gewinne« zu verhelfen (5441 ff). In Wagners
Laboratorium beschränkt sich die geistige Arbeit auf wissen-
schaftliches Experiment und technische Erfindung; sie erreicht
dadurch Präzision. Im 4. Akt gewinnt die kaiserlich-faustische
Partei den Krieg mit Hilfe der »drei Gewaltigen«, deren überdi-
mensionale Kräfte »gespensterhaft« (10836) erscheinen und auf
die überlegene Militärorganisation und Waffentechnik der Neu-
zeit verweisen. Deren ungewohnte Effektivität wird von den mit-
telalterlichen Kriegern auf ähnliche Weise beschrieben wie später
Fausts neue Technik der Landgewinnung von Baucis:
Der Gegner fiel vor jedem Streich,
Vor Augen schwebt' es wie ein Flor,
Dann summt's und saust's und zischt' im Ohr;
Das ging so fort, nun sind wir da
Und wissen selbst nicht, wie's geschah. (10844 ff)

»Man sieht, wie in der Formierung des modernen Militärs eine


analoge Mechanisierung des >Menschenmaterials< stattfindet wie
in der gleichzeitig, bzw. etwas später aufkommenden Manufak-
turproduktion«. [187] Das militärische Geschehen des 4. Akts
aplicação
schafft zudem die politischen Voraussetzungen für die Anwen-
dung des neuen Wissens. Es eröffnet den Zugang zu dem neuen
Land, auf dem sich die rationale Ökonomie des technologischen
Denkens uneingeschränkt verwirklichen kann: »Da faßt' ich
schnell im Geiste Plan auf Plan: [... ] Das herrische Meer vom Ufer
auszuschließen« (10227 ff). Allerdings bleibt Fausts Hoffnung auf
die endgültige Perfektion seiner künstlichen Welt am Ende uner-

133
füllt. Sein Schlußwort muß sich mit dem Konjunktiv begnügen:
»Das Letzte wär' das Höchsterrungene« (11562). Der unaufgear-
beitete Rest Natur, wenngleich zum »Sumpf«, zum »faulen Pfuhl«
verkommen, sperrt sich gegen die Unterwerfung und »verpestet
alles schon Errungene« (11560). [188]
Gewinnbringend werden Fausts technische Neuerungen, da er
sich mit ihrer Hilfe den Weltmarkt erschließt. Der Kanal führt
porto/ancouradouro
zum Hafen. Die Vorteile einer solchen geographischen Lage
erkannte bereits Adam Smith: "Da durch die Wasserfracht für
comércio
jede Art von Gewerbe ein ausgedehnterer Markt eröffnet wird, als
ihn die Landfracht allein gewähren kann, so sind es die Meereskü-
comércio
ste und die Ufer schiffbarer Flüsse, wo das Gewerbe jeder Art sich
zu teilen und zu vervollkommnen anfängt, und oft erstrecken sich
die Vervollkommnungen erst lange Zeit nachher in die inneren
Teile des Landes.« [189] Um zu "Weltbesitz« (11242) zu gelan-
gen, muß Faust die Fähigkeiten seines ehemaligen Schülers Wag-
ner mit denen seiner früheren Rolle des Plutus vereinigen. Das
wunderbare Vermögen, das "des Reichtums Gott« (5569) am
Anfang von Faust Il erzaubert, wird am Ende wirklich erworben:
»reich und bunt beladen mit Erzeugnissen fremder Weltgegenden«
mercante
(vor 11167) laufen Fausts Schiffe, halb Handels-, halb Kriegs-
flotte, in den Hafen ein. Im Handelsverkehr erscheint, bedingend
und bedingt, eine letzte Gestalt geistiger Arbeit. Jener verhält sich
zur unmittelbaren Produktion wie diese zur körperlichen Arbeit.
Der Zeit Goethes war der unbegrenzte Warentausch .als Bild für
den allgemeinen Austausch von Ideen, Erkenntnissen, Erfindun-
gen geläufig. Goethe selbst bemerkt, daß »der Geist nach und
nach zu dem Verlangen« gekommen sei, »in den mehr oder
weniger freien Handelsverkehr mitaufgenommen zu wer-
den.« [190] Nach Friedrich Schlegel ist es ein Vorteil der bürgerli-
chen Gesellschaft, die den »Austausch sinnlicher Güter vorzüglich
veranlaßt und begünstigt, den Verkehr auch der geistigen Waren
und Erzeugnisse, in sich, am freiesten und gleichsam in der Mitte
aller übrigen Stände, auszubilden, und in der umgebenden Welt zu
befördern.« [191] Gentz sieht die Bestimmung der Wissenschaftler
darin, "die Natur und sich selbst zu erforschen, und in dem
allgemeinen Umtausch der Güter, Kenntnisse und Ideen zum Kauf
zu bringen.« [192]
Dieser Vergleich findet seinen logischen Abschluß in der Analo-
gie der bei den abstraktesten Formen: Geld und Begriff. Beide

134
lassen die materielle Besonderheit der Dinge, die ihnen unterwor-
fen sind, hinter sich. Wie der Austausch von Waren durch Geld als
dem allgemeinen Äquivalent geregelt wird, so der Austausch von
Wissen durch Begriffe der theoretischen Sprache. Damit wird eine
letzte Wirkung des Geldes sichtbar, dessen Auftritt den Entste-
hungsprozeß allegorischer Verhältnisse im »Weitläufigen Saal«
abgeschlossen hatte: indem es die Herrschaft des Begriffs über die
Erscheinung ökonomisch befestigt, bezeichnet es den geschichts-
philosophischen Ort der modernen Allegorie.
Die Herrschaft des Wissens liegt dem Werk als historische
Wirklichkeit voraus und als literarisches Thema zugrunde. Sie
prägt auch die Formen und Formeln, die diesem Thema gerecht
werden. Zur allegorischen Komposition der Bilder tritt der
begriffliche Charakter der Sprache von Faust Il. Kommerell
nannte sie »eine Sprache, die vieles mit dem Sprichwort teilt, weil
sie gern den Fall aller Fälle erfaßt«. [193] Jedoch bietet sich für
diese Sprache, die das Typische erfassen will, weniger die alter-
tümliche Form des Sprichworts denn die moderne Formel der
Theoriebildung zum Vergleich an, zumal ihn Goethe selbst wählt.
Er sieht es nämlich als Eigentümlichkeit seiner späten Denkweise
an, daß sie »ins Allgemeine gehe; als ethisch-ästhetischer Mathe-
matiker muß ich in meinen hohen Jahren immer auf die letzten
Formeln hindringen, durch welche ganz allein mir die Welt noch
faßlich und erträglich wird«. [194] Beachtenswert ist, daß im
Ausdruck »ethisch-ästhetischer Mathematiker« - benennt er nicht
treffend den Allegoriker? - wissenschaftliches Verfahren, soziale
Erfahrung und literarischer Formprozeß einander angenähert
sind. Sie vereinigen sich in der Tendenz zur Abstraktion, in der
Bildung »letzter Formeln«.
Wie solche »letzte Formeln« die Sprache von Faust Il prägen,
zeigt sich selbst dort, wo am ehesten poetische Sinnlichkeit zu
erwarten wäre, im Lobpreis Arkadiens:

Alt-Wälder sind's! Die Eiche starret mächtig,


Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise


Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

135
Hier ist das Wohlbehagen erblich,
Die Wange heitert wie der Mund,
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich:
Sie sind zufrieden und gesund. (9542 ff)

Merkwürdig ist der Gebrauch des bestimmten Artikels im Singu-


lar. Anders als in der Poesie und auch in der Umgangssprache
üblich, bezeichnet hier »die Eiche«, »der Ahorn«, »die Wange«
nicht das konkrete Exemplar, sondern den jeweiligen Gattungsbe-
griff. In diesem Sinne reden der Botaniker oder der Anatom von
der Eiche oder der Wange, wenn sie den für die Zwecke der
Wissenschaft nötigen Idealtypus meinen. Sein Numerus ist der
Singular des Begriffs, der für den Plural der Erscheinungen steht.
Ähnlich faßt der Sammelname »Obst« eine konkrete Vielheit
sprachlich zur Einheit zusammen. Wo sich die poetische Konven-
tion die Anschaulichkeit roter Äpfel, gelber Birnen kaum entgehen
ließe, reduziert Goethe die Besonderheiten auf das Kollektivum.
Wenn er dem kargen Begriff »Obst« die erläuternde Apposition
»der Ebnen reife Speise« beifügt, steigert er den Abstraktionsgrad:
comida fruto
»Speise« ist ein Oberbegriff zu »Obst«. Zwar verbesondert ihn die
Herkunftsbezeichnung »Ebnen«, aber wiederum durch einen
recht allgemeinen Terminus. Vom Obst als einer Speise, die aus
den nahen Ebenen komme, erfährt man eher etwas in einem
wirtschaftsgeographischen Lehrbuch als in einem bukolischen
Gedicht.
Kaum verwundert es noch, daß den Bewohnern dieser Land-
schaft als erstes das Abstraktum »Wohlbehagen« zugeschrieben
wird. Ihm folgen nicht einzelne Bilder sinnlicher Anschauung,
sondern eine Erläuterung des Begriffs »Wohlbehagen«. Als hätte
die Frage geheißen, >Worin besteht Wohlbehagen in Arkadien?<,
werden drei nähere Bestimmungen gegeben: 1. die Wange heitert
wie der Mund; 2. ein jeder ist an seinem Platz unsterblich; 3. sie
sind zufrieden und gesund. Einst wußte die Hirtendichtung davon
zu erzählen, was ein namentlicher Hirte an einem bestimmten
Platz tut; »Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi«, beginnen
Vergils Eklogen, »Unter der wölbigen Buche Laub, 0 Tityrus,
ruhst du«. [195] Goethe begnügt sich mit der Formel, daß ein
»jeder an seinem Platz« sei, der denkbar allgemeinsten Zuordnung
eines Elements zu einer Stelle. Der generalisierende Blick sieht
sogar über den Tod des einzelnen hinweg: Wenn das Wohlbeha-
gen »erblich« ist, muß es eine Folge von Generationen und also

136
Tod geben. »Unsterblich« sind jedoch, weil zur Tradition der
Gattung gehörig, die Grundbedingung (» Wohlbehagen«) und der
Ort (» sein Platz«) des arkadischen Lebens. Der gleichbleibende
allgemeine Rahmen läßt die Formulierung zu, »ein jeder ist an
seinem Platz unsterblich«, obwohl die konkreten Einzelnen ster-
ben müssen. »Unsterblich« heißt also wiederholbar. - Im Ver-
mögen zu solcher Abstraktion wird die extreme Leistung »letzter
Formeln« in Faust II greifbar.

137
5

DIE FORM DER ALLEGORIE


IN FAUST II

Allegorisierung hat Reduktion der Individualität zum Resultat.


Daß dieser Zusammenhang die (un-) dramatische Form und den
Figurenentwurf von Faust II bestimmt, hat zuerst - man darf
hinzufügen: auch zuletzt - Christian Hermann Weiße erkannt.
»Gleich den Personen dieses Maskenspieles [der Mummenschanz]
sind die Personen des ganzen zweiten Drama fast mehr Masken,
verkleidete, phantastisch aufgezierte Allgemeinbegriffe, als dra-
matische Personen im eigentlichen Sinne, d. h. individuelle, durch-
aus menschlich bestimmte und sittlich motivierte Charakte-
re.« [196] Aus der Verbindung von Masken und Allgemeinbegrif-
fen gehen Allegorien hervor. Darum greift Nietzsehe, in dessen
Charakteristik von Goethes Spätstil die Weißesehen Gegensatz-
paare Individuen - Masken, menschlich - allgemein wiederkehren,
zu dem Ausdruck »allegorisch«: »Nicht Individuen, sondern mehr
oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine
allegorische Allgemeinheit.« Allerdings verwischt Nietzsehe diese
Einsicht, wenn er fortfährt: »Zeitcharaktere, Lokalfarben zum
fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht.« [197]
Denn mythische Personen besitzen eine selbständige Existenz vor
und außerhalb der einzelnen Dichtung, weshalb sie in mehreren
Werken wiederkehren können. Dagegen ist es das explizite Thema
des Helena-Akts, daß solche Wiederkehr im mythischen Sinne
durch das moderne historische Bewußtsein ausgeschlossen ist; der
»Zeitcharakter«, d. h. die Erfahrung und Erkenntnis geschichtli-

138
cher Differenz, setzt sich gegen den Mythos der authentischen
Wiederholung durch.
Allegorische Figuren jedoch unterstehen einem abstrakten
Zusammenhang, innerhalb dessen sie partikulare Funktionen
erfüllen. Deshalb steht ihnen lediglich eine kurze, transitorische
Lebensspanne zu, die kaum je von einem Werk zum anderen reicht
und auch innerhalb des Werkes meist in einer einzigen Situation
endet. Bereits die große Zahl der dramatis personae von Faust II
(so groß, daß Goethe sich ihre tabellarische Aufzählung erspart)
zeigt, daß die Figuren in je einzelnen Szenen verbraucht werden.
Den meisten ist nur ein Auftritt gegönnt, die wenigstens kehren
wieder. Sogar Faust und Mephisto, die ausdauernd die Ereignisse
begleiten, besitzen im Zweiten Teil keinen festen Charakter, son-
dern verändern sich von Akt zu Akt, von Auftritt zu Auftritt, je
nach den Erfordernissen der Situation. Es ist schwierig, zwischen
dem Faust des 2. Akts, der den Schatten Helenas verfolgt, und
dem des 5. Akts, der als Unternehmer tätig ist, eine andere Identi-
tät als die des Namens festzustellen - abgesehen vom Konnex
ideeller Bedeutungen, deren Einheit jedoch nicht eine kontingente
Person bilden kann. Wer wie Vischer von der Forderung ausgeht,
Faust müsse, gemäß der Gattungsbezeichnung »Tragödie«, durch-
wegs ein tragischer Charakter sein, wird mit seinen verschiedenen
Rollen nicht zurechtkommen: »Dieser tragische Charakter geht ja
auch wirklich mit dem Beruf eines Feldherrn, wenigstens sofern es
gerade auf das Technische ankommt, wie hier [im 4. Akt], nicht
wohl zusammen.« [198] Ebenso sprengen die Rollen Mephistos-
als Narr am Kaiserhof, als Phorkyas in Griechenland, als Aufseher
auf dem Neuland - die Identität selbst eines umfassend gedachten
Charakters. Wenn Phorkyas am Ende des 3. Akts seinen ernsten
Rat, Helenas göttliches Kleid festzuhalten, in nicht gerade mephi-
stophelischer Sprache vorträgt - » Bediene dich der hohen /
Unschätzbaren Gunst und hebe dich empor: / Es trägt dich über
alles Gemeine rasch / Am Äther hin, so lange du dauern kannst«
(9950 fI) -, so ist dafür die Forderung des Augenblicks verantwort-
lich, nicht Mephistos Wesen, wie es aus dem Ersten Teil vertraut
ist.
Da die allegorische Komposition dem jeweils verhandelten
Thema den Vorrang einräumt, sinkt der Status der Personen,
denen seine Erörterung aufgetragen ist, zu dem von Masken
discussão

herab. Die Maske trennt die repräsentierte Bedeutung von ihrem

139
zufälligen Träger; sie zerlegt die Einheit der Person in die Partiku-
larität von Rollen. Durch Verwandlung und Rollentausch passen
sie sich den Umständen von Ort und Zeit an; die Vielzahl der
materiellen und intellektuellen Sphären von Faust II erfordert
stets neue Maskierungen. Dem Diktum Nietzsches wäre also
entgegenzuhalten, daß gerade dieses Werk »Zeitcharaktere« und
»Lokalfarben« auf Kosten der mythischen Identität der Person zur
Geltung bringt. Vorzüglich an Helena wurde deutlich, daß die
Verschiedenheit der Orte und Zeiten, an denen sie gelebt haben
und weiterleben soll, ihr verwehrt, noch länger - wie es das
klassische Gerücht wahrhaben möchte - ein und dieselbe zu sein. -
Firm in den Unterscheidungen der Ich-Philosophie, bringt der
Baccalaureus das Verhältnis von Identität und Nicht-Identität auf
den Begriff: »Ein anderer bin ich wieder da« (6726). Mephisto
dünkt es eher glaubhaft, daß er »ein anderer« als daß er ein »ich«
sei; der Unterschied der Zeiten wirkt stärker als die Einheit der
Person: »Am Lockenkopf und Spitzen kragen I Empfandet Ihr ein
kindliches Behagen.-I Ihr trugt wohl niemals einen Zopf?-I Heut
schau' ich Euch im Schwedenkopf« (6731 ff). In dem festen Punkt,
worin der Baccalaureus sein wahres Selbst zu artikulieren wähnt,
erkennt Mephistos skeptischer Blick eine modische Gestalt der
Epoche und das Sprachrohr eines philosophischen Jargons. Das
angebliche »Ich« zerfällt ins Kostüm des Burschenschaftlers und
in die Rede der Fichteschen Wissenschaftslehre.
Das Drama des 18. Jahrhunderts wollte >natürlich< wirken,
indem es die Sprache der Figuren individualisierte, d. h. mit deren
besonderen sozialen und sittlichen Verhältnissen in Übereinstim-
mung brachte. Anders die allegorische Konzeption: Sie setzt die
wahre Sprache der Bedeutungen gegen die wahrscheinliche Spra-
che der Figuren durch. An Phorkyas' Trostrede war solche Herr-
schaft der Sprache über den Sprecher bereits abzulesen. Daß die
discurso falante
Rede einer Figur unabhängig vom Redenden besteht, wird in
Faust II mehrfach hervorgehoben: der »Astrolog spricht, Mephi-
stopheles bläst ein« (vor 4955); der Kaiser hält seinen eigenen
»Namenszug« auf dem Papiergeld für einen »ungeheuren Trug«
(6063 f); Proteus spricht »bauchrednerisch« und »vom falschen
Orte« (8227 ff); auch die Stimme des Türmers ist »durchs Sprach-
rohr« (vor 11143) verfremdet. Eine Beobachtung Benjamins am
Trauerspiel des 17. Jahrhunderts läßt sich auf Faust II übertragen:
»Nicht selten ist die Rede in den Dialogen nur die an allegorischen

140
Konstellationen, in welchen die Figuren zueinander sich befinden,
hervorgezauberte Unterschrift.« [199] Die Entfernung der Sprache
von der Figur wird in Helenas >Sprachwandel< zur Szene. Sie, die
zunächst das Metrum der attischen Tragödie verwendet (auch dies
eher Zitat denn Ausdruck!), gerät in der Umgebung Fausts in die
poetische »Sprechart unsrer Völker« (9372), den Reim. Sie erlernt
ihn durch eine antilabische Wechselrede mit Faust. Im Reimzwang
wird die Gleichgültigkeit der objektiven Sprache gegenüber ihrer
Verteilung auf einzelne Sprechersubjekte offensichtlich:
Faust. Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt-
Helena. wer mitgenießt.
Faust. Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück,
Die Gegenwart allein -
Helena. ist unser Glück. (9379 fi)

Allegorie ist eine objektive Rede, welche die Subjekte ins Leben
ruft, indem sie die Rollen verteilt. Sie sprechen daher nicht die
Individualität eines Charakters aus, sondern die Distinktheit einer
Bedeutung. Um sie möglichst klar zu explizieren, kommentieren
die Figuren sich selbst. Institutionell wirkt der Zwang, sich auszu-
legen, in der Maskerade des 1. Akts, ein Extrem, das programma-
tisch die Sprechweise der späteren Szenen vorführt. Offen oder
verrätseIt sagt jede Figur, was sie wesentlich sei. »Wir sind die
Klugen, / Die nie was trugen« (5217), erklären die Pulcinelle. Die
Parasiten sprechen von sich selbst in der 3. Person, »Der wahre
Schmecker, / Der Tellerlecker, / Er riecht den Braten, / Er ahnet
Fische« (5257 ff); sie springen also aus der dramatischen in die
beschreibende Sprache und fassen den Plural ihrer Zahl in den
Singular ihres Wesens zusammen. Der Knabe Lenker beginnt seine
Selbstdarstellung mit den abstraktesten Begriffen: »Bin die Ver-
schwendung, bin die Poesie« (5573). Die Figuren wissen sich und
sprechen dieses Wissen aus - genauer: sie werden gewußt und
sprechen das Wissen aus, das sie setzt. Diesem Prinzip folgt auch
Helena, die vor ihre Reden ihren Namen und Begriff wie Über-
schriften setzt: »Bewundert viel und viel gescholten, Helena«
(8488); »Ich als Idol, ihm dem Idol [AchilI] verband ich mich«
(8879). Mit ähnlichem deiktischen Gestus treten die Schattenge-
stalten der Klassischen Walpurgisnacht auf und sich gegenüber.
Wie später Helena, so eröffnet Erichtho den 2. Akt mit dem
Hinweis auf ihre Bedeutung: »Zum Schauderfeste dieser Nacht,

141
wie öfter schon, / Tret' ich einher, Erichtho, ich die düstere«
(7005 f). »So geziemet es Sirenen« (7160), sagen die Sirenen; »Ihr
Zappelfüßigen« (7588), reden sich die Ameisen an. »Ich heiße der
Mangel«, »Ich heiße die Schuld«, »Ich heiße die Sorge«, »Ich hei-
ße die Not« (11384 f), so stellen sich die »Vier grauen Weiber«
vor.
Reichen die Selbstkommentare nicht aus, um die Bedeutung der
Figuren festzulegen, so treten Kommentatoren hinzu, welche »die
Bedeutung der Gestalten [... ] amtsgemäß entfalten« (5506 f): der
Herold in der Mummenschanz, Thales in der Klassischen Walpur-
gisnacht, am häufigsten Mephisto, der »ad spectatores« (10327)
turba
zu verstehen gibt, wie »allegorisch [... ] die Lumpe sind« (10329).
Man könnte sie Funktionäre der allegorischen Interpretation nen-
nen. Sie unterbrechen die Handlung durch Reflexion (»Es war nur
gedacht«, 7946), sie führen den Ausdruck an sich in eine Bedeu-
tung für uns über, sie heben den Schein der natürlichen Individua-
lität in der Erkenntnis der allegorischen Abstraktion auf.
Der Abbau der dramatischen Individualität, wie er sich an der
redução

allegorischen Sprechweise verfolgen läßt, wird durch die soziale


Konstellation der Figuren verstärkt. In Faust II sind alle natürli-
chen Beziehungen, deren Ursprung und Muster die Familie ist,
forneceu
aufgehoben. Der griechischen Tragödie lieferte die Familie die
natürlichen dramatis personae; ihre Handlung war Familienge-
schichte. Noch im 18. Jahrhundert hatte das bürgerliche Drama-
ideia
als wollte es die Ahnung verscheuchen, daß gerade die bürgerliche
Ökonomie die alte Struktur der Familie zerstören werde - die
Familie zu seinem ausschließlichen Gegenstand erklärt. Wenn
Christian Ludwig Hagedorn die allegorische Behandlung eines
Themas durch den Kontrast mit einem rührenden Familienge-
mälde kritisiert, übernimmt er Positionen des bürgerlichen Trau-
erspiels: »Nehmen Sie [... ] ganze Schaaren verfolgter und zu
Boden geworfener Künste unter dem dunkel umwölkten Sieges-
zuge der herrschenden Unwissenheit. Sie werden uns lange nicht
so empfindlich rühren, als das Schicksal eines unglücklichen Ser-
vius unter dem über ihn weg rollenden Wagen seiner herrschsüch-
tigen und unmenschlichen Tochter.« [200] Faust II, dessen
Absicht auf Erkenntnis, nicht auf Rührung geht, zeigt Familienbe-
ziehungen nur noch im Stadium ihrer Auflösung. Die »Mutter«
bringt ihre Tochter zum Mummenschanz, um sie gleich einem
Ladenhüter - »Nun ist schon manches Jahr / Ungenützt verflogen«

142
(5185 f) - günstig loszuschlagen. Instabil ist die Familie von Faust,
Helena und Euphorion, da Euphorions Maxime "Jeder nur sich
selbst bewußt« (9856) alle traditionellen Bindungen sprengen
muß. Vergeblich klagen die Eltern: »Sind denn wir / Gar nichts
dir?/ Ist der holde Bund ein Traum?« (9881 ff). Mit Euphorion
schwindet Helena; Faust bleibt, wieder auf sich gestellt, allein
zurück. Auf seinem Neuland vernichtet er in dem Ehepaar Phile-
mon und Baucis das letzte ,natürliche<, d. h. nicht durch Arbeit
und Kommerz hergestellte Verhältnis. Die Figuren stehen außer-
halb der Familie, dies erfordern das historische Thema von Faust
Il und seine theatralische Repräsentation gleichermaßen. Denn die
Mobilität der modernen Lebensform (»Ich bin nur durch die Welt
gerannt«, »Ich habe nur begehrt und nur vollbracht«, 11433 ff) ist
das zeitgemäße Korrelat allegorischer Verwandlungsfähigkeit.
An die Stelle der herkömmlichen familialen Verknüpfung dra-
matischer Personen treten in Goethes allegorischem Drama zwei
komplementäre Existenzweisen: 1. die Isolation des Einzelnen im
»Besitzindividualismus« [201], 2. die Gruppierung der Vielen in
gesellschaftlichen Feldern. Beides sind Daseinsformen ohne und
gegen die Natur, die durch Zeugung Filiationen schafft - solchen
natürlichen Ursprung hatte Dr. Wagner »für eitel Possen« erklärt.
Beide sind »höhern Ursprungs« (6847), wie es ebenfalls Wagner
genannt hatte, d. h. Resultate künstlicher Organisation. Beide
führt Goethe als moderne Reduktionsformen früherer menschli-
cher Individualität vor, womit er eine konventionelle Eigenschaft
allegorischer Personen zu geschichtlicher Konkretisation bringt
und zu kritischer Einsicht nützt.
Beispielhaft dargestellt ist die Isolation der Einzelfigur im Kon-
zentrat von Euphorions kurzem sowie am Ende von Fausts langem
Lebenslauf - »Und so verschüchtert, stehen wir allein« (11418).
Wie Euphorion sich von Vater, Mutter und allen Naturschranken
emanzipiert, so existiert auch Faust, der Vater Euphorions, end-
lich ohne Familie und im Gegensatz zu aller Natur. Solches
,Leben< ähnelt dem Tode; er ist das einzige, was Faust noch vor
sich hat. Das Meer zurückgedrängt, die Linden vernichtet, die
pântanos
Sümpfe bald trockengelegt - auch die ,Natur< von Fausts Neuland
nimmt das hippokratische Gesicht einer reinen Wirtschaftsregion
an. Entsprechend schwinden die natürlichen Vermögen von Fausts
Körper. Die Regiehemerkung zur Szene »Palast« stellt die rationa-
lisierte Gestalt der kolonisierten Landschaft und die bloß theoreti-

143
sche Existenz ihres Beherrschers absichtsvoll nebeneinander:
»Weiter Ziergarten, großer, gradgeführter Kanal. Faust im höch-
sten Alter, wandelnd, nachdenkend« (vor 11143). Die »nachden-
kend« gewonnenen Pläne trennen Faust von seiner und der Welt
Natur. Nur der Besitz soll eine abstrakte Identifikation zwischen
dem Ich als Eigentümer und der Natur als Eigentum herstellen:
Mein Hochbesitz, er ist nicht rein,
Der Lindenraum, die braune Baute,
Das morsche Kirchlein ist nicht mein. (11156 ff)

Nachdem für Faust die natürliche Welt auf ein sachliches Verhält-
nis reduziert ist, verliert er sogar das Organ, sie wahrzunehmen: er
perde
fica cego
»erblindet«. Doch er, der nur noch aus dem Gedanken handeln
will, bemerkt das Absterben seiner Sinne kaum:
Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,
AHein im Innern leuchtet helles Licht;
Was ich gedacht, ich eil' es zu vollbringen. (11499 ff)

Im Sterben der Natur, der Sinne und des Lebens findet die
Geschichte des Besitzindividualismus ihr folgerichtiges En-
de. [202] Zugleich vollendet sich der Umriß der allegorischen
Figur, die auf einen organischen Körper und sinnliche Lebendig-
keit verzichtet, um dem theoretischen Gedanken Gestalt zu geben.
Derart isoliert, kann Faust nicht das Subjekt einer dramatischen
Handlung sei,n. Denn um in einen inneren wie äußeren Konflikt
mit anderen Personen zu geraten, müßte er mit ihnen die gleiche
menschliche Natur teilen. Aber die sinnlichen und sittlichen
percepção |
Wahrnehmungsfähigkeiten des unablässig planenden Faust sind
gering (weshalb die beliebte, der Tragödientheorie verpflichtete
Frage nach Fausts Schuld am Entwurf der Person wie an den
Formbedingungen von Faust II vorbeigeht): die Nachricht von der
Ermordung Philemons und Baucis' »verdrießt« ihn lediglich
(11341), weil sie eine Modifikation seiner Pläne erzwingt. In allen
Szenen des 5. Akts zeigt Faust unangemessenenãooder gar keine
presta atenção
Reaktionen gegenüber der jeweiligen Lage: er beachtet nicht das
heimkehrende Schiff (»Nicht Dank und Gruß«, 11189); die Mah-
nung der» Vier grauen Weiber« erreicht ihn nicht (»Den Sinn der
Rede konnt' ich nicht verstehn«, 113 99; »Ich mag nicht solchen
Unsinn hören«, 11468); er bemerkt nicht einmal, daß er »erblin-
det« ist; er versteht nicht Mephistos makabre Ironien und hält

144
schließlich das Ausschaufeln des Grabs für die kolonisatorische
Arbeit des Grabens.
In eben solcher Beziehungslosigkeit, wie sie der 5. Akt themati-
siert, steht Faust jedoch seit Beginn des Zweiten Teils neben den
Situationen und Personen. Nie ist er engagiert. Ein einziges Mal
scheint er jemandem verfallen, aber was er sucht und gefunden
glaubt, Helena, ist nichts als das Wahngebilde seines poetischen
Traumes. Ähnlich beziehungslos bewegen und äußern sich die
anderen Hauptfiguren. Wie Faust sind Mephisto, Homunculus,
Thales u. a. eher reisende Kommentatoren als dramatische
Akteure. Belehrt und belehrend betreten und verlassen sie die
Schauplätze, ohne Folgen davonzutragen. Der Wissende hat kein
Schcksal. Die Konstellationen aller Figuren zueinander sind tem-
porär und erinnerungslos. Ihnen mangelt die Kohärenz eines
Charakters, in dessen Gedächtnis sich Werke und Handlungen als
fortdauernde Notwendigkeiten eingraben könnten. Sie sehen und
reden aneinander vorbei, »ad spectatores«. In einem gewissen
Sinne sind alle Figuren blind. Die Augen von Allegorien sehen
nichts, damit der Betrachter sie ungehindert anschauen
kann. [203] Die Bedeutung der Rede einer allegorischen Figur und
der Zusammenhang der Bedeutungen der Reden mehrerer allego-
rischen Figuren wird nicht von diesen selbst erfahren, sondern erst
vom Zuschauer festgestellt. Die Isolation der Figuren und die
abstrakte Bedeutsamkeit ihrer Reden sind also komplementäre
Phänomene eines allegorischen Theaters.

Die Einzelfigur, deren Extrem bei Fausts Ende als allegorische


Reduktion offensichtlich wird, trägt nicht das Werk. Vielmehr ist
sie den wechselnden Bedeutungen der einzelnen Szenen unterwor-
fen. Bestimmend für den Figurenaufbau und die Szenenfolge in
Faust II sind die allegorischen Felder, um die sich die dramatis
personae gruppieren. Unter >allegorischem Feld< sei hier die Reprä-
sentation eines Ideenkomplexes durch miteinander verwandte und
zugleich differente Figurengruppen verstanden, denen die Vertre-
tung einzelner Aspekte des übergreifenden Themas aufgegeben ist.
So wird - um an frühere Ergebnisse meiner Interpretation anzu-
knüpfen-die Auflösung des alten Feudalstaates durch den Vortrag
der nacheinander auftretenden Hofbeamten, des Kanzlers, Heer-
meisters, Schatzmeisters und Marschalks, systematisch nach ihren
politischen, militärischen, finanziellen und ökonomischen Grün-

145
den analysiert. So erhellen die Erklärungen der Holzhauer, Pulci-
nelle und Parasiten das Verhältnis von produktiver und unpro-
duktiver Arbeit. So legen die Reden und Handlungen des Seismos,
der Greife, Ameisen, Pygmäen, Daktyle und Kraniche das Syn-
drom von politischer Revolution, Besitzwechsel und Klassen-
kampf in seine wesentlichen Momente auseinander. Meist treten
diese Figuren in Gruppen auf und sprechen in Chören. Auch dies
ist eine Reduktionsform der Individualität. Denn Figuren können
nur dann gleichzeitig das Gleiche sagen, wenn nichts als das ihnen
Gemeinsame zur Sprache kommt, d. h. ihre soziale Allgemeinheit
statt ihrer individuellen Besonderheit. Durch den Verzicht auf
individuellen Ausdruck konstituiert sich die Allgemeinheit des
allegorischen Feldes. Deshalb ist es den meisten Figuren in Faust II
versagt, die Grenze eines allegorischen Feldes zu überschreiten:
das nächste hat eine andere Thematik, die andere Funktionen und
Funktionsträger benötigt. Einzig Individuen, die nicht in der
Abstraktion ihres gesellschaftlichen Charakters aufgingen, könn-
ten die gesellschaftlich organisierte Szene überleben. Doch selbst
den Hauptfiguren ist dies nur zum Schein gestattet: kehren sie
andernorts wieder, so ändert sich ihr >Charakter< in solchem
Ausmaß, daß dessen Einheit selbst bei großzügiger Auslegung
unauffindbar bleibt, es sei denn, man bestimme Verwandlung als
ihre Einheit.
Allegorische Felder können auch entstehen, indem traditionelle
Gattungen, die von Hause aus nicht allegorisch angelegt sind, den
Formprinzipien von Faust II unterworfen werden. Dabei nützt das
allegorische Verfahren den Umstand, daß die vorgegebene Gat-
tung - wie die Idylle (Philemon und Baucis) oder die Tragödie
(Helena) - bereits eine begrenzte Zahl von Personen und Situatio-
nen einbringt. Dieses ideelle Gestaltschema der alten Gattung
erhält durch die neue Umgebung, d. h. durch Opposition zu
anderen allegorischen Feldern und durch die Integration in ein
übergeordnetes Thema, allegorische Bedeutung. Wird etwa im
5. Akt die Idylle von Philemon und Baucis der modernen Koloni-
sationstechnik auf Fausts Neuland gegenübergestellt, so bedeutet
sie nun die vormoderne Lebens- und Wirtschaftsform, die vorher
der unbedachte Rahmen des poetischen Traumes vom schlichten
Glück gewesen war. Selbst dieser idyllische Traum wird von der
genuinen Idylle abgetrennt. Er erscheint nämlich jetzt als die
kompensatorische Projektion von Fausts karger Wirklichkeit:

146
» Und wünscht' ich, dort mich zu erholen« (11159). Allegorisch ist
diese Idylle, da sie ihre Bedeutung außer sich hat. Auf diese Weise
wird die poetische Konvention in ein theoretisches Konzept inte-
griert. Ähnliches geschieht im 3. Akt mit der Form der griechi-
schen Tragödie, die zum Kontrapost dient, um die Distanz der von
der Moderne an geeigneten Antike zu deren ursprünglichem Cha-
rakter bewußt zu machen.
Die allegorischen Felder sind die kleinsten Sinneinheiten von
Faust 1I. Man könnte sie >Bedeutungsszenen< nennen, um sie von
der äußerlichen Szeneneinteilung des Dramas zu unterscheiden.
Durch Folge und Opposition werden mehrere allegorische Felder
zu komplexeren Strukturen mit höherem Abstraktionsgrad ver-
knüpft. Wie sich an der Mummenschanz zeigte, ergeben die Felder
der Ware (Gärtner, Gärtnerinnen, Mutter, Tochter), der Arbeit
(Holzhauer etc.), des Gewinns (Klugheit etc.), des Geldes (Plutus,
Geiz, Knabe Lenker) zusammen die Allegorie der bürgerlichen
Ökonomie. Sie steht wiederum im Gegensatz zum vorangegange-
nen Aufriß der feudalen Welt, so daß der 1. Akt insgesamt den
zentralen Gesellschaftswandel der Neuzeit zum allegorischen
Thema hat. Aus der Komposition der antinomisch gebauten Akte-
alte und neue Ökonomie (1. Akt), Geschichte und Natur (2. Akt),
Vergangenheit und Kunst (3. Akt), Krieg und Erwerb (4. Akt),
Idylle und Neuland (5. Akt) - entsteht eine allegorische Gesamt-
deutung der Moderne. Im vertikalen Aufbau von Feld, Akt und
Drama nimmt der Abstraktionsgrad der Allegorien von Stufe zu
Stufe zu, so daß die jeweils sichtbare Allegorie von einer noch
unsichtbaren umgriffen wird.
Dieser hierarchische Aufbau in Bedeutungsebenen kennzeichnet
die spezifische Kompositionsform der Allegorie. Sie integriert
durch Subsumtion. Dadurch kann sich die Allegorie zur Großform
entwickeln, wie sie in Dantes Divina commedia, Sidneys Arcadia,
Spensers Faerie Queene oder in Goethes Faust 1I vorliegt. [204]
Das allegorische Übereinander ließe sich dem epischen Nachein-
ander oder dem dramatischen Gegeneinander kontrastieren -
stünde dem nicht der Zweifel im Wege, ob die Allegorie überhaupt
eine Gattung sei. Dagegen spricht, was für die Allegorie konstitu-
tiv ist, nämlich daß sie nicht ohne weiteres vom Leser erkannt
wird. Er muß sie erst hinter dem täuschenden Schein einer anderen
Gattung enträtseln. Die Allegorie ist keine selbständige, sondern
eine parasitäre Gattung. Indem sie bestehende Gattungen benützt,

147
um sich in der Darstellung zu verrätseln und als deren Bedeutung
zu entschlüsseln, ist sie über die jeweilige Gattung hinaus. Letzt-
lich steht sie als abstrakte Idee jenseits aller Gattungen. So entsteht
das Paradox allegorischer Dichtung: keine bestimmte Gattung ist
für sie notwendig, jedoch irgendeine unumgänglich. Deshalb greift
auch Goethes Allegorie auf eine gegebene Gattung zurück, ohne
sich mit ihr zu identifizieren. Sein Faust-Projekt stellt ihm im
Anschluß an den Ersten Teil die Gattung Drama, glücklicherweise
nicht in ihrer strengsten Gestalt, zur Verfügung. Welche Folgen
hat das allegorische Konzept für sein formales Substrat, das
Drama, das Goethe offiziell eine» Tragödie«, privat eine »barbari-
sche Komposition« [205] nannte?
Daß Faust II zumindest die Bestimmungen des Dramas verletzt,
die seit Lessing in Deutschland gelten, kann angesichts der Phäno-
mene, die bislang zu vermerken waren, nicht zweifelhaft sein.
Gerade aus Sorge um das Drama war Lessing die »Allegoristerei«
der Dichter suspekt: »Alle ihre Wesen der Einbildung gehen in
Maske, und die sich auf diese Maskeraden am besten verstehen,
verstehen sich meistenteils auf das Hauptwerk am wenigsten:
nämlich ihre Wesen handeln zu lassen, und sie durch die Handlun-
gen derselben zu charakterisieren.« [206] Handlung und Charak-
ter bilden die Elemente, die für das bürgerliche Drama ebenso
wesentlich wie für die allegorischen Maskeraden unnütz sind. Mit
Lessings Erneuerung der dramatischen Einheiten geht deshalb die
Polemik gegen das allegorische Theater des 17. Jahrhunderts ein-
her. Die Faust II-Kritik des 19. Jahrhunderts übernimmt, wie an
ihrem Protagonisten Vischer zu sehen, die Positionen und Opposi-
tionen von Lessings Dramentheorie, um Goethes Rückfall ins
Allegorische als Verstoß gegen die Logik des Dramas zu erweisen.
Von solchen Normen geleitet, wendet z. B. Vischer gegen die Rolle
der Helena ein, sie komme »ohne jede Rücksicht auf dramatische
Einheit dreimal vor: Faust beschwört ihr Bild aus dem Reiche der
Mütter, sucht sie in der klassischen Walpurgisnacht, findet sie
dann auf der Oberwelt und feiert mit ihr seine unerquickliche
allegorische Vermählung.« [207] Ex negativo bestimmt Vischer
die allegorische Funktion der Helena, die als Zitat widersprüchli-
chen Gelegenheiten dient, genauer als neuere Interpreten, die bei
der Deutung von Goethes Werk auf harmonische Positivität
gestimmt sind. Obwohl er die allegorische Form erkennt, weigert
er sich dennoch, die allegorische Intention anzuerkennen, da sie

148
die universale Geltung der »dramatischen Einheiten« relativieren
würde. Denn die Allegorie im Drama löst mit der Identität des
Charakters auch die aristotelischen Einheiten der Zeit, des Ortes
und der Handlung auf.
Bereits die äußere Anlage von Faust II überschreitet die Gren-
zen der Zeit, die dem Drama zusteht: eine Lebensreise führt durch
geistige Landschaften. Der Zeitverlauf eines Dramas sollte sinn-
lich erfahrbar sein. Daher darf der Gesamtumfang der dargestell-
ten Handlungszeit nicht weit über die wahrnehmbare Spielzeit
hinausreichen; in der einzelnen Szene müssen sie unbedingt
zusammenfallen. Dagegen folgt die allegorische Komposition
nicht der Wahrscheinlichkeit der Sinne, deren Perzeptionen die
Ordnung der Zeit voraussetzen, sondern der Wahrheit des Sinns,
der der Zeit nicht unterworfen ist. Die Allegorie gebraucht die
Zeit lediglich als Instrument, um die Folge des erscheinenden
Sinns zu gliedern, z. B. in die Stationen der Lebensreise. Doch
sogar dieses traditionelle allegorische Motiv, wie es etwa am
Aufbau von Bunyans Pilgrim's Progress abzulesen ist, wird von
Goethe noch weiter entzeitlicht. Er verzichtet selbst auf den Schein
biographischer Kontinuität, den Bunyan beibehalten hatte, um die
christliche Heilsgeschichte auf dem Lebensweg Christians verklei-
nert und anschaulich abzubilden.
Sogar innerhalb der einzelnen Akte ist die Logik der Zeit außer
Kraft gesetzt. Auch im Helena-Akt, der noch am ehesten die
Gesetze dramatischer Sukzession zu respektieren scheint, folgen
die Szenen einander durch magische Verwandlung, die sich nicht
auf räumlich-zeitliche Koordinaten festlegen läßt. Von einem
Schauplatz zum andern sind die Figuren »ich weiß nicht wie,
gekommen, schnell und sonder Schritt« (9144). Ohne Übergang,
durch bloße Rede verändert sich Fausts Burg in eine arkadische
Landschaft, das historisch Spätere ins Frühere. Ohne daß die
Szene wechselte, ist Euphorion in wenigen Versen gezeugt, gebo-
ren, zum Kind und Jüngling herangewachsen, tödlich verunglückt
und zum Schatten geworden. Wenn schließlich Mephisto mit
»Siebenmeilenstiefeln« aus der Antike zurück in die Gegenwart
eilt - »Das heiß' ich endlich vorgeschritten« (10067) -, hat die
allegorische Vernichtung der Zeit ihr Bild erhalten. Die verschie-
denen Epochen kommen nebeneinander zu liegen, da sie nach
ihrer erinnerten Bedeutung für die >fortgeschrittene< Gegenwart
befragt und verbunden werden. [208] Deshalb überschneiden sich

149
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mitunter in einer Geste,
in einem Satz, wie in dem rätselhaften Ausspruch der Sphinxe, die
von sich selber sagen: »Wir reichen nicht hinauf zu ihren [Hele-
nas] Tagen, I Die letztesten hat Herkules erschlagen« (7197 f). Sie
sprechen, gegenwärtig, von der Zukunft, die für eine spätere
Gegenwart schon längst Vergangenheit ist. Solche Widersprüche
der Zeitebenen müssen entstehen, wenn das allegorische Interesse
sämtliche Bedeutungen eines Wesens in seiner Darstellung zu
versammeln trachtet: da es zu unserem Wissen von den Sphinxen
gehört, daß sie durch Herakles enden, soll dieses Ende in jedem
Bild der Sphinxe, und sei es von ihnen selbst entworfen, gegenwär-
tig sein. Das Diskontinuum der dramatischen Zeit ist erforderlich,
um das Kontinuum der allegorischen Bedeutungen zu ermögli-
chen.
Zur epischen Totalität des Stoffes wie zur dramatischen Einheit
der Idee hält die allegorische Form gleichen Abstand, vermittelt sie
jedoch, indem sie die Totalität der Idee zu entfalten unternimmt.
Darum verbindet Faust II den epischen Umfang mit dramatischer
Redeweise. Dichtarten zu mischen, die der klas'sische Geschmack
streng auseinandergehalten hatte, rechtfertigt Goethe schon 1805:
»Uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die
antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu
erhalten ist unsre Pflicht.« [209] Für seinen Faust-Plan hatte er
sich von vornherein die Lizenz einer »barbarischen Komposition«
erteilt. Dessen dramatische Grundform wird durch die allegori-
schen Aufgaben umgestaltet, teilweise entstellt, nicht aber besei-
tigt. Sie bleibt mit Gründen erhalten, denn sie bietet der Goethe-
sehen Allegorie integrierbare Elemente: funktionalen Bezug aller
Teile auf das Ganze, sparsame Andeutung der äußeren Umstände,
Verzicht auf realistische Motivation, dialektische Umschläge von
Szene zu Szene, Figuren, die nach Ideen handeln, und Reden, in
denen die Figuren sich reflektierend auslegen.
Endlich übernimmt Goethes Allegorie aus dem Drama, dessen
Zeitstruktur sie zu spotten scheint, doch ein zeitliches Moment,
um geschichtliche Prozesse zu verkörpern. Entsprechend den ewi-
gen Wahrheiten, welche sie zu vertreten hat, ist die traditionelle
Allegorie meist in unbeweglichen Bildern erstarrt. Soll jedoch die
historische Besonderheit der Moderne ihr Bild finden, so muß es
deren vorwiegend temporalen Konstituentien angemessen sein:
Neuzeit, Fortschritt, Entwicklung, Revolution. [210] Dies leisten

150
in Faust II die )allegorischen Prozesse<, wie sie in Analogie und als
Komplement zu den allegorischen Feldern heißen könnten. Die
Zeit strukturen der neueren Geschichte bilden sich in denen des
Dramas ab. Entstehung, Krise und Auflösung sind typische Ver-
laufsformen der Akte und Szenen: in den Berichten von der
Anarchie des Kaiserreichs, in den Verwandlungen und Katastro-
phen der Mummenschanz wie der Klassischen Walpurgisnacht, im
Erwerb und Verlust Helenas, im Krieg, im Aufstieg und Untergang
des Neulands. Das alte allegorische Thema der Vergänglichkeit
erhält die neue Bedeutung historischer Insekurität. Widerspruchs-
volle Prozesse treten an die Stelle des einlinigen Progresses, an dem
sich die Allegorien Dantes oder Bunyans - und die gewöhnlichen
Faust-Deutungen - orientieren. Chaos, nicht Ordnung ist die
Erscheinungsweise von Goethes moderner Allegorie. Es ist nicht
folgenlos geblieben, daß er die Hauptpartien dieses Werks zur Zeit
der Julirevolution von 1830 schrieb, die er »für die größte Denkü-
bung ansehe, die ihm an Schlusse seines Lebens habe werden
können.« [211] Denn die Wiederkehr der Revolution gab gewalt-
same Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Signatur
des bürgerlichen Zeitalters zu erkennen, eine Signatur, welche die
Allegorie von Faust II nachzuschreiben versucht. »Wer weiß denn
hier nur, wo er geht und steht, / Ob unter ihm sich nicht der Boden
bläht?« (7684 f).
Diese Abweichungen von Gegenstand und Form der traditionel-
len Allegorie bereiten der Interpretation von Faust II ungewöhnli-
che Schwierigkeiten. Sobald nämlich die Allegorie statt beständi-
ger metaphysischer Wesenheiten neue gesellschaftliche Verhält-
nisse zu verkörpern hat, muß der Dichter auch die überlieferte
allegorische Bildersprache durch eine neue ersetzen. Nur in weni-
gen Fällen greift Goethe auf vorgeprägte Allegorien zurück [212],
deutet sie jedoch für den neuen Zusammenhang um: so werden
Viktoria, die Göttin des Siegs, zur Allegorie des Erwerbs und
Plutus, der Gott des Reichtums, zum »Maskenheld « (5737) des
Kapitals modernisiert. Jedoch die meisten Allegorien sind - die
karnevalistische Maskenfreiheit der Mummenschanz liefert das
Exempel- ad hoc entworfen. Dabei reicht Goethe dem Leser oder
Zuschauer nur selten eine der beiden Verständnishilfen, die sonst
die Entzifferung allegorischer Bilder erleichtern: die Vertrautheit
durch Überlieferung und die Beigabe eines Kommentars. [213] Die
Kommentare zu Faust II, die diesem Mangel abhelfen sollen,

151
begnügen sich damit, die traditionelle (wenn möglich, durch
Mythologie verbürgte) Bedeutung der Bilder festzuhalten.
Dadurch bleiben Goethes Um deutungen der Tradition wie seine
traditionslosen concetti unerkannt. Denn diese sind nicht direkt
im Text genannt, vielmehr erst durch eine allegorische Interpreta-
tion zu erschließen, welche die einzelnen Bilder auf die Gesamtan.-
lage des allegorischen Werkes bezieht.

Wenn Goethe, angesichts der heftigen, anfangs von ihm selbst


forcierten Allegorie-Kritik seiner Zeit, diese verachtete Form wie-
der aufgreift, ihren Gegenstand und ihre Erscheinung verändert,
dann hat sie alle Selbstverständlichkeit verloren, mit der sie von
der späten Antike bis in die frühe Neuzeit zu gebrauchen war. In
derart fremder Umgebung muß der Allegorie Goethes notwendig
eine größere Bewußtheit zukommen als ihrer alteuropäischen
Vorgängerin. Dies ist an der Merkwürdigkeit abzulesen, daß die
Figuren in Faust II selbst den Ausdruck »Allegorie« bzw. »allego-
risch« auf sich anwenden. Programmatisch sind die allegorischen
Formbedingungen, unter denen die Figuren, ihre Reden und
Handlungen stehen, im Karneval an den Anfang des Werkes
gestellt: beispielhaft wird die arrangierte Künstlichkeit und
bewußte ,Gemachtheit< der Allegorie deklariert. Ähnlich klärt
Thales' Bemerkung »es ist nur gedacht« darüber auf, daß wir eine
Allegorie vor uns haben. Goethe stellt also nicht bloß den allegori-
schen Gedanken (hier die Revolution) dar, sondern auch, daß es
ein allegorischer Gedanke ist, dazu noch das Denken, das diesen
Gedanken zu denken vermag (die Philosophen), sowie die künst-
lich-intellektuellen Einrichtungen, die das Wissen verselbständi-
gen (Laboratorium), und schließlich die moderne Ökonomie, die
eine solche Verselbständigung des Wissens zugleich erfordert und
erzeugt. - Den Leistungen der Allegorie in Faust II wäre der
Begriff ,das Allegorische< angemessener denn ,Allegorie<, da er die
Bedingungen umfassen könnte, welche diese Form fundieren. In
diesem - an Schillers Begriffsbildungen des Elegischen, Satirischen
und Idyllischen angelehnten - Sinne würde das Allegorische auch
die Denk- und Lebensformen bezeichnen, welche Goethe veran-
laßten, die Allegorie zu ihrer Darstellung zu wählen.
Mit der traditionellen metaphysischen Dignität geht der Allego-
rie auch der erhabene Stil verloren. Eine Welt, die ausschließlich
von der menschlichen Gesellschaft hervorgebracht wird, ist der

152
geeignete Aktionsraum für die Komödie. Neu sind in der
Geschichte der allegorischen Dichtung die komischen Züge, die
Faust II zuläßt: Maskeraden, Tölpeleien, Witze, Glossen, Wort-
spiele. »Diese sehr ernsten Scherze« [214], wie Goethe sie nannte,
sind »Scherze«, weil sie vom genuin komischen Bereich menschli-
cher Verkehrtheiten handeln, und »sehr ernst«, weil mit diesen
Verkehrtheiten nicht fiktive Charaktere, sondern die Grundstruk-
turen der modernen Lebenswirklichkeit gezeichnet sind. Um diese
ernsthaft-scherzhafte Konstellation in die Form der Allegorie ein-
zulagern, kommen Goethe deren formkonstitutives Moment und
deren literaturgeschichtliche Situation gleichermaßen gelegen:
1. Im allegorischen Gegensatz zwischen wesenhafter Bedeutung
und wesenloser Erscheinung ist die komische Fallhöhe zwischen
hohem Anspruch und nichtiger Realisierung angelegt. 2. Unter
dem Druck der Kritik hatte sich die Allegorie seit dem 18. Jahr-
hundert in triviale Reservate oder ins parodistische Genre zurück-
gezogen. [215] Die so heruntergekommene Allegorie ist Goethe
gerade recht, um sie auf dem Lumpenball der Moderne die
Hauptrolle spielen zu lassen, die vor der Kulisse der Zeit ebenso
bedeutend wie vor dem Hintergrund der Natur nichtig ist.

153
6

GRENZEN DER ALLEGORIE


DER MYTHOS DER NATUR
UND DIE RELIGION DER LIEBE

Seit ihren spätantik-christlichen Anfängen ist der Allegorie die


Opposition zum Natürlichen immanent. Sie hat Wesen und Wahr-
heiten zu verkörpern, die in der Natur nicht auffindbar und mit
natürlichen Organen nicht wahrnehmbar sind. Doch was sie
ursprünglich rechtfertigte und auszeichnete, wird ihr seit dem
18. Jahrhundert zum Verhängnis. Denn eben dieser Distanz zur
queixa
irdischen, menschlichen, sinnlichen Natur gilt der Hauptvorwurf,
den die literarische Aufklärung gegen die Allegorie erhebt. Die
primazia
frühere Vorrangstellung gegenüber der Natur verkehrt sich,
"conceito orientador"
sobald >Natur< zum Leitbegriff des bürgerlichen Selbstverständnis-
ses wird, zum Mangel an Natur.
fornece
Goethe verschafft der Allegorie erneut ein Daseinsrecht, indem
cruza
er die gegensätzlichen Urteile über ihre Naturferne verschränkt.
partilha
Mit der älteren Anschauung teilt er die Ansicht, daß die wesentli-
restringir
chen Mächte der Welt (allerdings schränkt Goethe ein: nicht der
ewigen, nur der modernen Welt) außerhalb der Natur liegen; mit
der neueren Kritik verbindet ihn das Postulat, daß der Maßstab
des richtigen Daseins einzig in der Natur zu finden sei. Auf eine
Formel gebracht: während ihren Entdeckern die allegorische Welt
real und richtig erschien, ihren Kritikern jedoch irreal und falsch,
beurteilt Goethe sie als real und falsch. Der Gebrauch der Allego-
rie in Faust II ist also angemessen, weil im Gegenstand selbst, der
Abstraktheit moderner Lebensverhältnisse, begründet. Da aber
diesem Gegenstand, der Abstraktion, Goethes Kritik gilt, darf

154
auch seiner adäquaten Form, der Allegorie, nicht das letzte Wort
provisória
gehören. Sie soll eine vorläufige Form sein, herrschend, solange
die Unnatur herrscht, die sie verkörpert, aber begrenzt von einer
>wahren< Natur, die sich durch Widersprüche im Zentrum und
durch Ausblicke am Rande der allegorischen Welt in Erinnerung
bringt. interpretações
Die meisten Auslegungen von Goethes Faust sprechen der Idee
der Natur eine integrative und harmonisierende Fähigkeit zu. Was
parece
ihnen die selbstverständliche Mitte des Werks dünkt (denn kein
Begriff assoziiert sich leichter mit dem Bilde Goethes als der der
>Natur<), nimmt jedoch dem Umfang nach eine marginale, in der
Konstellation der Ideen eine problematische Stellung ein. Erst die
Erkenntnis der allegorischen Struktur öffnet den Blick auf den
Antagonismus von Natur und Moderne im Zweiten Teil. Hier
gebraucht Goethe >Natur< als kritischen Begriff, um die Fort-
schritte der Neuzeit als Ablösung von der Natur, als Vollendung
der Unnatur zu begreifen. Mit den konservativen und revolutionä-
ren Kritikern der bürgerlichen Gesellschaft von Rousseau bis
aceleração
Marx teilt er die Vorstellung, daß der beschleunigten Technisie-
rung, Industrialisierung und Kommerzialisierung der Lebensfor-
men die Negation des Naturzustandes inhärent sei.
Das Prädikat >unnatürlich< steht der Moderne als Thema und
der Allegorie als Form von Faust II gleichermaßen zu. Deshalb ist
die Mummenschanz als Aufzug der Allegorien und reziprok als
Abzug der Natur zu interpretieren. Die Szene beginnt mit dem
Auftritt der natürlichen Produzenten und der Naturprodukte:
Gärtnerinnen, Gärtner, Fischer, Vogelsteller, Holzhauer; Oliven-
zweig, Früchte, Ährenkranz. Goethe scheint der physiokratischen
Lehre beizupflichten, welche die Natur als Quelle allen Reichtums
an den Anfang ihres ökonomischen Systems setzte: »Wir kennen
die Materien unsers Glücks und die Quelle, aus welcher sie
gezogen werden. Die Erde allein giebt uns alle Producte, die zu
unsern Genießungen tauglich sind.« [216] Aber während Turgot
oder Schlettwein die Entstehung von Waren, Tausch, Geld und
Industrie als bloße Umformung natürlicher Substanzen verstanden
transformação

haben wollten [217], verfolgt Goethe die zunehmende Denaturie-


rung der Natur in der warenproduzierenden Gesellschaft. Die
Naturprodukte gehören nicht länger zur Natur, sobald sie
»Ware« (5115) geworden sind. Sie sind »gestaltet / Wie Natur
sich nie entfaltet« (5146 f); »Der Natur ist's nicht gewöhnlich,/

155
Doch die Mode bringt's hervor« (5134 f). Ähnlich verkehrt sich
das Natürliche ins Künstliche, wenn die naturnahe Arbeit der
permite
Holzhauer den Luxus der Pulcinelle und Parasiten ermöglicht,
oder wenn die Naturkraft des Elefanten, des »lebendigen Kolos-
sen« (5445), von der Klugheit regiert und »zum Gewinne« (5451)
ausgebeutet wird. Die Einheit von Natur und Warenproduktion,
acontece
welche die Physiokraten für natürlich
submissão
gehalten hatten, entpuppt
sich als ein Verhältnis der Unterwerfung. Eben zu der Zeit, da
Goethe an Faust II schrieb, erklärten die Saint-Simonisten die
exploração
unbegrenzte Ausbeutung der Natur zur Hauptaufgabe der indu-
striellen Gesellschaft. Ihre »Philosophie gründet sich«, wie es in
anúncio
der Ankündigung von Le Producteur. Journal de l'industrie, des
sciences et des beaux arts heißt, »auf eine neue Auffassung der
menschlichen Natur und erkennt, daß das Menschengeschlecht
auf dieser Erde dazu bestimmt ist, die äußere Natur zu ihrem
größtmöglichen Vorteil auszubeuten und zu verändern.« [218]
Diese »Philosophie« mußte Goethe in ihrer Diagnose der ökono-
mischen Tendenzen ebenso treffend wie in ihren Maximen über
die Bestimmung menschlicher und äußerer Natur unheilvoll er-
scheinen.
Am Ende der Mummenschanz kehrt die entschwindende Natur,
in ihrem allgemeinsten Begriffsumfang allegorisiert, wieder: in
Pan, dem All der Natur. Ihn begleiten in Gestalt von Faunen,
Satyrn, Riesen und Nymphen die Eigenschaften der ersten Natur:
Trieb, Ungebundenheit, Roheit, Lust. Naturbilder schildern Glück
und Schrecken ihrer Herrschaft: »Gesunder Pflanzen Balsamduft«
(5886) wechselt mit »Blitzes Knattern, Meergebraus« (5892).
Doch der Kaiser als Pan, der Herr der alten Gesellschaft als Gott
der alten Natur, geht - verführt von der »Feuerquelle« (5921) des
plutonischen Geldes - am Schein des neuen Reichtums zugrunde:
»Ein Aschenhaufen einer Nacht / Liegt morgen reiche Kaiser-
pracht« (5968 f). Das rationale Medium des bürgerlichen Systems,
das Geld, zerstört die irrationalen Bindungen, die den Feudalismus
noch an die Naturgeschichte der Menschheit fesselten. Dieser
Ausgang bestätigt die Befürchtungen der Physiokraten, die eine
»Vergleichung des Geldes mit der Ordnung der Natur« unternom-
men hatten: »Es ist demnach der wesentlichen Einrichtung der
rendimento/remuneração
Natur ganz ungemäs, ein allgemeines Entgeltungs- oder Vergü-
tungsmittel aller Waaren und Dienste zu denken und einzuführen:
Und doch ist dies mit dem Gelde geschehen, und wir müssen itzt

156
doente prevenir
nur trachten, die Uebel zu verhindern, welche durch diese Abwei-
deterioração
ocasionado
chung von der Natur veranlasset worden, und zum Verderben des
menschlichen Geschlechts wachsen können.« [219]
quadro
Im Rahmen des geschichtlichen Prozesses, den Faust II deutet,
wird auch die Natur historisiert: vom Neuen aus gesehen, ist sie
das Alte. Der Rückblick der Moderne auf die Vormoderne identi-
fiziert das Vergangene mit der Natur. Zu Beginn des 4. Aktes
lembrança
steigt Fausts private Erinnerung, das »jugenderste, längstent-
behrte« Bild (10059) einer Gretchen-Helena, in der Naturform
einer Wolke auf - doch Mephistos Siebenmeilenstiefel »schreiten
eilig weiter« (vor 10067). [220] Ähnlich hat sich zu Beginn des
5. Akts die untergehende patriarchalische Welt in eine Naturidylle
am Meer, auf der Düne, unter Linden verwandelt. Umgeben vom
Neuland Fausts, rückt die scheinbar zeitlose Welt Philemons und
Baucis' in die historische Tiefe des alten Landes: es liegt an »alter
Stelle« (11047), die Bäume stehen »in ihres Alters Kraft« (11044),
Philemon ist - da »älter« - für Fausts neue Anlagen »nicht zuhan-
den« (11087), er und seine Gattin wollen >,dem alten Gott ver-
traun« (11142). Der 1. Akt hatte die vorbürgerliche Welt des
Kaiserhofes negativ gezeichnet, weil dieser noch in der Verrottung
einen mächtigen Widerpart der entstehenden bürgerlichen Gesell-
schaft abgeben konnte. Im letzten Akt, da deren neue Macht
universal geworden ist, nimmt die schwindende vorkapitalistische
Welt im Rückblick die schöne Diminuitivform der Idylle an. Doch
im Unterschied zu den Gattungskonventionen und in bewußtem
Kontrast zu Vossens Philemon und Baucis [221] fehlt dieser Idylle
die geschützte Autonomie. Sie liegt in »offener Gegend« (so der
Szenentitel), dem Zugriff Fausts schutzlos preisgegeben. Wie ein
prophetischer Kommentar liest sich Jean Pauls Ausblick von 1799
auf das anbrechende 19. Jahrhundert: »Das der Nemesis gehor-
same Herz, das bescheidnere frömmere Zeiten erzogen haben,
wird zagen vor einer frechen ruchlosen Titanenzeit, worin nur
Handel und Scharfsinn gebieten und worin ein geistiges Faustrecht
zu Gerichte sitzt.« [222]
Daß die Macht der Natur vergangen sei, ist Perspektive und Tat
der bürgerlichen Gesellschaft in Faust II, jedoch nicht des Werkes
- sein Thema ist nicht seine Idee. Während Faust die Natur nur als
überwundenen Ausgangspunkt kennt, hofft Goethe auf ihre Fort-
dauer und Wiederkehr. Deshalb kontrastieren in einzelnen Sze-
nen, Akten und im gesamten Drama den Anfangsbildern der außer

157
Kraft gesetzten Natur Endbilder einer wieder eingesetzten Natur.
So schließt der Auftritt der zunächst nützlich-natürlichen, dann
zunehmend künstlichen Produkte - Olivenzweig, Ährenkranz,
Phantasiekranz, Phantasiestrauß - mit den nutzlos-natürlichen
Rosenknospen:

Wer mag solches Glück entbehren?


Das Versprechen, das Gewähren,
Das beherrscht in Florens Reich
Blick und Sinn und Herz zugleich. (5154 ff)

Ihr »Versprechen« und »Gewähren« bildet den Gegensatz zum


»Feilschen« (5116) und »Kaufen« (5164) der umgebenden
Marktszene. Weil sie Tausch durch Hingabe ersetzen, nehmen sie
die ganze menschliche Natur ein, »Blick und Sinn und Herz
zugleich«, während der Tauschakt diese Vermögen trennt oder
unterdrückt. [223] In gleicher Konkurrenz wie Galanteriewaren
und Naturblumen stehen Plutus und Proteus als allegorische
Gottheiten künstlicher Verwandlung und natürlicher Metamor-
phose. Das Geld des Plutus ermöglicht die Zirkulation der Waren;
»Denn dies Metall läßt sich in alles wandeln« (5782); Proteus
lehrt den Kreislauf des Lebens, »Wie man entstehn und sich
verwandeln kann« (8153).
Proteus ist Teilnehmer am >Ägäischen Fest<. Am Ende der
Klassischen Walpurgisnacht, in den »Felsbuchten des Ägäischen
Meeres«, hat die Wiederkehr der Natur ihre eigene Szene. Deren
Funktion als Komplement wird an der Figur des Homunculus
deutlich, der im 2. Akt zweimal entsteht, künstlich am Anfang,
natürlich am Ende. Die Vereinigung mit Galatee soll jenen Mangel
an Natur ausgleichen, der ihm vom Laboratorium her anhaftet.
Wie bei Homunculus' erster >Zeugung< das Ensemble moderner
Künstlichkeit zusammenwirkte: Wissen, Experiment, Mechanik,
Technik, Intellektualität, so vereinigen sich bei der zweiten die
Naturelemente einer archaischen Gegenwelt. Die Konstellation
der Mentoren Homunculus' bereitet sie vor: Anaxagoras, der
Theoretiker revolutionärer Veränderung, ist zurückgeblieben;
Thales, der Philosoph des allmählichen Wachstums, und Proteus,
der Gott des Formenwandels, führen zu dem ihnen gemäßen
Element, dem Meer. Seiner »Lebensfeuchte« (8461) entstammt
auch die Schönheit Galatees, »Erbin« (8149) der aus dem Meer-
schaum geborenen Aphrodite. Das Meer ist schließlich universales

158
Bild der »holden Feuchte« (8458), in der sich der Liebesakt
vollzieht. Sogar der ursprüngliche Mythos, den die mythologi-
schen Reflexionen der Klassischen Walpurgisnacht aufgelöst hat-
ten, scheint wieder eingesetzt zu sein. »Wie in den ältesten Tagen«
(8363) führen Psyllen und Marsen die Göttin zum Fest. Angesichts
der periodischen Wiederkehr des Immergleichen endet die Macht
der Geschichte, durch welche die mythische Welt zur dunklen
Vorgeschichte entwertet worden war:
Wir leise Geschäftigen scheuen
Weder Adler noch geflügelten Leuen,
Weder Kreuz noch Mond,
Wie es oben wohnt und thront,
Sich wechselnd wegt und regt,
Sich vertreibt und totschlägt,
Staaten und Städte niederlegt.
Wir, so fortan,
Bringen die lieblichste Herrin heran. (8370 ff)

Das Meer, das hier dem unfertigen Homunculus zum Leben


verhilft, steht im Gegensatz zu jenem Meer, das im 4. und 5. Akt
zum Objekt von Fausts ökonomischer Expansion wird. Jetzt leitet
statt Versöhnung Feindschaft seinen Plan, »Das herrische Meer
vom Ufer auszuschließen, / Der feuchten Breite Grenzen zu veren-
gen« (10229 f). Soweit das Meer nicht durch Neuland zurückge-
drängt ist, dient es als Handelsweg den kommerziellen Interessen
Fausts: »Vom Ufer nimmt, zu rascher Bahn, / Das Meer die
Schiffe willig an« (11223 f). Bis in Einzelheiten ist die Opposition
von Natur und Moderne in den beiden Szenen, die an Meeresufern
spielen, durchgebildet: Fluß (Peneios) und Kanal, Felsen und
Ebene, altes Land und kolonisierter Boden, Bucht und Hafen,
Delphine und Flotten sind im 2. und 5. Akt einander entgegenge-
setzt.
Den Vorschlag einer Vereinigung mit der Natur, den das Ende
des 2. Akts unterbreitet hatte, weist Faust, der am Ägäischen Fest
nicht teilnimmt, schließlich zurück. Doch von Anfang an ist die
Stellung der Natur in diesem Werk geschwächt. Zwar richtet sich
die »Ausforderung« der Rosenknospen (5145 ff) gegen die Unna-
tur ihrer Nachbarn, aber sie teilen mit ihnen die unnatürliche
Situation, auf dem Markte feilgeboten zu werden. Auch gerät ihre
Apologie des Natürlichen nach Form und Inhalt allegorisch. Denn
nicht in der Natur, nur in der Allegorie ist es möglich, daß Blumen

159
als Personen auftreten und das Wort führen. Und was sie sagen, ist
in Negation (»Phantasieen«, »Tages Mode«) und Affirmation
(»Natur«, »Glück«, »Versprechen«, »Florens Reich«) von solch
entschiedener Begrifflichkeit, wie sie ausschließlich allegorischer
Dichtung ansteht. Gleiches gilt von Proteus: die Möglichkeiten
natürlicher Verwandlung führt er in allegorischer Maske und mit
allegorischer Deutlichkeit vor. Wenn die Natur als philosophische
Abstraktion eingeführt wird - »Zwei Philosophen bin ich auf der
Spur, I Ich horchte zu, es hieß: Natur, Natur!« (7836 f) - dann
folgt ihre weitere Darstellung nicht symbolischer Anschaulichkeit,
sondern allegorischer Explikation: das Ägäische Fest liefert zum
Begriff der Natur nachträglich das Bild. Bereits bei seiner ersten
Bestimmung des Naturbegriffs - »Natur und ihr lebendiges Flie-
ßen« (7861) - gebraucht Thales eine Metapher, die der Aktschluß
zur Szene ausweitet. Logisch und ästhetisch untersteht der Begriff
der Natur also deren Gegenteil, der Allegorie.
Der allegorische Rahmen läßt die Naturdarstellung in Faust II
phantastisch und scheinhaft werden. Im Anschluß an die Mum-
marinha
menschanz hatte Mephisto dem Kaiser eine Meerlandschaft vor-
gegaukelt (6006 ff), in der erstmals die »Meerwunder« und
»Nereiden« auftauchen, die später das Ägäische Fest bevölkern.
Ihm ist also von vornherein der falsche Glanz mephistophelischer
Täuschung beigemischt. Es weckt auch nicht gerade Zutrauen,
daß die Sirenen, vor deren »garstigen Habichtskrallen« (7163) die
klugen Sphinxe gewarnt hatten, den Festreigen anführen und den
Schlußgesang anstimmen. Und wie klingt ihr Gesag?

Heil dem Meere! Heil den Wogen,


Von dem heiligen Feuer umzogen!
Heil dem Wasser! Heil dem Feuer!
Heil dem seltnen Abenteuer!

All-Alle! Heil den mildgewogenen Lüften!


Heil geheimnisreichen Grüften!
Hochgefeiert seid allhier,
Element' ihr alle vier! (8480 ff)

Der Eindruck, es handle sich um Kitsch, ist bei der Galatee-Feier


(wie beim verwandten Naturpreis der Elfen in der »Anmutigen
Gegend«) schwer abzuweisen. Daß ihr die leere Mythologie der
Kabiren vorausgeht, die ebenfalls die Sirenen bereitwillig gefeiert
hatten, dürfte ein Indiz dafür sein, daß Goethe diese Naturidola-

160
trie bewußt in unglaubwürdige Simplizität und Süße überzeich-
nete, um sie zu ironisieren.
Wie aber ist es zu verstehen, daß die Idee der Natur, der
Goethes poetisches und wissenschaftliches Werk so lange gefolgt
war, nun in eine kompromittierende Lage gerät? Goethe hat in
lugar/posição

Faust II dem Thema, das er dem Jahrhundert verpflichtet wußte,


der Form, die er der Allegorie öffnete, und damit der inneren
rigor
Stringenz seines Werkes den Vorrang vor seinen eigenen, gealter-
alcance
ten Wünschen eingeräumt. Das Ausmaß der objektiven Entmach-
desautorização

tung, welche die Natur in der Moderne hinnehmen muß, sollte


nicht durch die subjektive Parteinahme des Autors verkleinert
werden. Hat bürgerliche Tätigkeit die Natur zum Material der
Produktion versachlicht und zunehmend durch künstliche
Produkte ersetzt, so kann der Restbestand von Natur in einer
poetischen Darstellung, die der historischen Verfassung ihres
Gegenstandes nicht ausweichen will, nur noch in der nichtigen,
ridículas
lächerlichen Gestalt erscheinen, wie sie einer Allegorie gemäß ist.
encontrar rara
Der Natur zu begegnen,infundada ist ein »seltnes Abenteuer« geworden.
Der Traumkitsch einer haltlosen Schönheit, zu der sich die Erinne-
rungsbilder einer vergangenen Natur an den »Felsbuchten des
(obra de Alain de Lille)
Ägäischen Meeres« fügen, ist Goethes Planctus Naturae. Seinen
coloca

Ausdruck mag man am ehesten in den Klagen des Nereus finden,


dem die Tochter Galatee im Augenblick der ersehnten Ankunft
wieder entschwindet: »Vorüber schon, sie ziehen vorüber I In
kreisenden Schwunges Bewegung; / Was kümmert sie die innre
herzliche Regung!« (8426 ff). Indem Goethe die Idee der Natur
einer schmerzlichen Lächerlichkeit preisgibt, entläßt er sein Werk
in die fracassada
Objektivität.
Gescheitert ist der Versuch, in der Natur eine lebendige Alterna-
tive zur allegorischen Abstraktheit der Moderne zu erhalten, da er
selbst in allegorischer Abstraktheit enden mußte. Aber dieses
falha
Scheitern hat das Bedürfnis, das zu jenem Versuch trieb, nicht
ausgelöscht, sondern gesteigert. In den Klagen des Nereus voll-
vez
zieht sich eine Wende: die schwindende Natur, in der vorüberei-
lenden Galatee verkörpert, hinterläßt die Sehnsucht nach ihr. Je
mehr die vor- und außermenschliche Natur an Bedeutung verliert,
desto nötiger wird eine menschliche Stellvertretung der Natur: in
delegado

der Frau ist sie gefunden. In der Liebe zu ihr kann sich die
Sehnsucht nach der untergegangenen Natur vergegenwärtigen.
Um die Einschränkung der ganzen Natur auf ihr schönstes Teil,

161
die Frau, zu bezeichnen, endet die Naturdämonologie der Klassi-
schen Walpurgisnacht in der Erscheinung der Galatee. Sie ist der
Herkunft nach, als Nymphe, noch Naturwesen,
posição
der Gestalt nach,
als Weib, schon schöne Natur, der Stellung nach, als geliebte
Tochter, zuletzt spiritualisierte Natur. Solange die alte Natur
agradável transitório
herrschte, war auch die >Liebe< nur ein vergnügliches und vergäng-
liches Moment in ihr gewesen; deren sinnlich begrenzten Charak-
ter gibt Nereus, unmittelbar vor der Ankunft Galatees, den Dori-
den zu bedenken: »Die Welle, die euch wogt und schaukelt, / Läßt
auch der Liebe nicht Bestand« (8412 f). Erst mit Galatee beginnt
eine neue Stufe der Liebe, die »Bestand« hat, weil sie sich von der
Natur entfernt:
Geliebtes leuchtet durchs Gedränge!
Auch noch so fern
Schimmert's hell und klar,
Immer nah und wahr. (8454 ff)

Die Frau verspricht, Natur auch außerhalb der Natur am Leben zu


erhalten. In der Liebe zur Frau scheint es deshalb möglich, auf
Natur zu verzichten und sie zugleich wiederzugewinnen. Um den
Mangel an Natur zu kompensieren, soll die Liebe zu Galatee den
Homunculus, der ohne Liebe hergestellt worden war, zur Natur
zurück und zum Menschlichen vorwärts bringen.
Der Übertritt von der Bindung an die Natur in die Liebe zur
Frau wiederholt sich, nun auf Faust bezogen, im »Hochgebirg«
des 4. Akts (10039 ff). Die Wolke, die Faust aus Griechenland
hergebracht hat, »löst sich langsam, nicht zerstiebend, von mir
ab« und nimmt in der Entfernung die Form eines »göttergleichen
Fraungebilds« an. Es erinnert Faust an »des tiefsten Herzens
frühste Schätze«, »Aurorens Liebe«. Die Liebe, welche die Natur-
aumento
form der Frau beseelt, bewirkt eine weitere Steigerung:
Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form,
Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.

Natürlichen Ursprungs, aber nicht länger in den Schranken der


Natur, zeichnet sich hier eine spirituelle Form von Liebe ab, die
unabhängig von den körperlich bestimmten Frauen innere Erfah-
rung werden könnte. Der letzte Vers dieses Monologs - »Und zieht
das Beste meines Innern mit sich fort« - präludiert den letzten
Versen des Chorus mysticus: »Das Ewig-Weibliche / Zieht uns

162
hinan.« (Auch die Schauplätze ähneln einander: »Hochgebirg«
und »Bergschluchten«; auch hier »ziehen Fraun vorbei, / Schwe-
bend nach oben«, 11991 f.)
Faust lebt und stirbt auf dem Neuland allein, um ihn Künstlich-
keit, in ihm Einsamkeit. Mangel an Natur und Mangel an Liebe
sind die wesentlichen Bestimmungen seines Daseins. Sie bestim-
men es negativ und verweisen ex negativo auf jene Gegenwelt der
Natur und Liebe, deren Einspruch gegen die moderne Weise der
Existenz von Anfang an zu vernehmen war. Diese Gegenwelt
erscheint noch einmal als reines Gegenbild in den bei den letzten
Szenen, »Grablegung« und »Bergschluchten«. In Fausts Leben
und Tod haben die Unnatürlichkeit und Lieblosigkeit der
Moderne eine extreme Verkörperung gefunden; dem tritt das so
Negierte in einem entsprechend extremen Bild absoluter Natur
und vergeistigter Liebe gegenüber. Zunächst, um die Teufel zu
stören, streuen die Engel bei ihrer Ankunft Rosen (11699 ff) - dies
erinnert an die »Ausforderung«
gradualmente
der Rosenknospen in der Mum-
menschanz. Doch allmählich weichen die Zitate einer angeneh-
men Natur von »Frühling« (11706) und »Blüten« (11726) den
Bildern einer erhabenen Natur von Waldungen, Felsen, Wasserfäl-
len (11844 ff). Schließlich führt die Erhebung »gebirgsauf« über
eine »tiefe«, eine »mittlere Region« in die »höhere Atmosphäre«,
wo der »neue Lenz und Schmuck / Der obern Welt« (11976 f)
beginnt, die mit der alten Natur nur noch die Zeichen gemeinsam
hat.
Diese transfigurierte Natur wird zur Metapher der Liebe. Sie ist
das einzige Thema am Schluß von Faust II. Dreiundzwanzigmal
wird das Wort »Liebe« (samt Ableitungen und Komposita) in den
beiden letzten Szenen genannt. Nicht einmal die Teufel vermögen
ihr zu widerstehen; »Statt gewohnter Höllenstrafen / Fühlten
Liebesqual die Geister« (11949). »Liebesqual « und »Liebeslust«
(12003) heißen die Pole, welchen die religiösen Dualismen von
Diesseits und Jenseits, Hölle und Himmel nur ein Bild leihen. Es ist
kein genuin religiöses Interesse, das Goethe in die »Bergschluch-
ten« führt. Um dieses Mißverständnis zu verhindern, wählte er das
abgelegenste und unglaubwürdigste Repertoire religiöser Vorstel-
lungen, nämlich das der katholischen Gegenreformation. Histo-
risch überholt, sind sie für einen neuen poetischen Sinnzusammen-
hang frei geworden. Sie sollten signalisieren, daß etwas anderes
durch sie bezeichnet werde. [224]

163
Allerdings ist die religiöse Einkleidung für die Idee der Liebe
nicht zufällig. Wie die Religion das Glück einer überirdischen
Welt aus dem Gegensatz zum Unglück der irdischen entwirft, so
ist die >Religion< der Liebe als Komplement für die Abwesenheit
aller Liebe in Fausts Welt der instrumentellen Vernunft gedacht.
Auf menschliche Bedürfnisse zurückgeführt, kann das Christen-
tum, das sich selbst schon als >Religion der Liebe< deutete, Begriffe,
Formeln, Gleichnisse und Figuren für die Erwägung einer idealen
Alternative bereitstellen. Während jedoch die christliche Religion
ein göttliches Jenseits positiv behauptet, ist in Faust II der Himmel
der Liebe lediglich eine regulative Idee, um den Umriß der
Moderne durch Negation schärfer zu ziehen. Gerade das religiöse
Gewand bezeichnet die Unmöglichkeit, daß diese Gegenwelt, so
wünschenswert sie wäre, real werden könnte. Auch diese kon-
junktivische und ironische >Erlösung< gehört zu den »sehr ernsten
Scherzen« [225]. In diesem Sinne einer ideell notwendigen, aber
real unmöglichen Alternative zu dem, was ist, sind wohl die
letzten Verse zu verstehen:
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan. (12106 ff)
evento
Reflexiv verweist das »Hier« auf das »Ereignis« der Dichtung, die
sich die Lizenz genommen hat, das » Unbeschreibliche« zu be-
schreiben.
Die Aufgabe, an der der Mythos der Natur gescheitert war,
sollte die Idee der Liebe auf einer höheren Stufe übernehmen: der
allegorisch gewordenen Wirklichkeit ein Gegenbild und eine
Ergänzung zu bieten. Dabei hatte die Natur die äußere, die Liebe
die innere Grenze der Allegorie zu bezeichnen: das Defizit der
allegorischen Existenz machte jene als Mangel an sinnlicher Reali-
tät, diese als Mangel an menschlicher Beseelung bewußt. Aber
durch den ausschließlich negativen und komplementären Bezug
zur vorgegebenen allegorisch-abstrakten Welt wird die Gegenwelt
selbst abstrakt und allegorisch. Sie ist nicht länger Gegenentwurf
zur Allegorie, sondern deren Konsequenz. Trotz des Gegensatzes
der Inhalte setzt sich eine gemeinsame Struktur durch. »Alles
Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis«, alles Sichtbare deutet - wie es
durchaus allegorischer Konstruktion entspricht - auf Unsichtbares.
In den »Bergschluchten« wird die Liebe, die alle Sinnlichkeit von

164
sich abgetan hat, zum abstrakten Begriff. Ihr oberster Anwalt ist
daher der »Doctor Marianus«. Was »sonst Gretchen genannt«
wurde, ist nur noch »Una Poenitentium«. Die einstmals konkreten
Frauen haben sich in die Abstraktion des »Ewig-Weiblichen«
aufgelöst. Die Wesen, die diesen Himmel der Liebe bevölkern,
unterscheiden sich kaum von dem allegorischen Gespenst der
Helena, die dem Hades entstiegen ist. - Auch jenseits der Grenzen
der Allegorie erstreckt sich die Allegorie.

165
7

DIE SINNLICHKEIT DER ABSTRAKTIONEN


ZUR ÄSTHETIK DER ALLEGORIE

Interpretation reduziert ästhetische Erscheinungen auf Sinn. Sie


verleiht dem Kunstwerk Prägnanz auf Kosten seiner Mannigfaltig-
keit. Es ist hier nicht der Ort, sich mit den in letzter Zeit gehäuften
Bedenken gegen Interpretation auseinanderzusetzen. [226] Sie
mögen für alle Dichtung zutreffen - nur nicht für die allegorische.
inacessível
Denn sie wird für jeden Leser unzugänglich, dem die Enträtselung
falha
der - für sich genommen: absurden - Bilder mißlingt. Ein bloß
prazer perde
sinnliches Vergnügen an Allegorien verfehlt die Allegorie, am
Ende wohl auch das Vergnügen. Jeder Betrachter bzw. Leser von
Allegorien, der wenigstens erkannt hat, daß es sich um solche
inevitávelmente
handelt, gerät unvermeidlichabrir in die Position des gelehrten Ausle-
gers: er muß durch Begriffe erschließen, was ihm die Anschauung
vorenthält, da das Anschaubare der Allegorien nach einem (ver-
oculta
escondido
borgenen) begrifflichen Konzept arrangiert worden ist. Begriffli-
che Intention ist das auszeichnende Merkmal der allegorischen
característica

Formstruktur, so daß in diesem besonderen Fall die begriffliche


componente
Interpretation als Bestandteil der >poetischen< Form selbst gelten
muß. Zu anderen Kunstwerken bilden die allegorischen dadurch
einen Gegensatz, daß sie definite Bedeutungen enthalten. Die
Allegorie ist eine denotative Form; ihr Sinn liegt jenseits der
Erscheinung; ihre ästhetische Gestalt ist heteronom.
justificada
Damit ist zwar die Interpretation von Allegorien gerechtfertigt,
aber nicht die Allegorie selbst. Vielmehr wird ihr Status durch
questionável
diese Überlegung nur fragwürdiger. Wenn es die besondere Struk-

166
exige
tur der Allegorie erfordert, sinnliche Erscheinungen auf abstrakte
objeção
Ideen und Begriffe zu reduzieren, so ruft sie den Einwand hervor,
tarefa
ob nicht Theorie die Aufgabe, welche sich die Allegorie gesetzt
hat: Abstraktion von den Erscheinungen und Erscheinung der
Abstraktionen, selbst übernehmen und besser lösen könne? Ist die
supérfluo
ästhetische Erscheinung der Allegorie nicht überflüssig, wenn ihr
einziger Zweck darin besteht, durch Begriffe und in Begriffen
aufgehoben zu werden?
Bislang hat sich meine Deutung von Faust II als Allegorie damit
begnügt, ihre Form zu beschreiben und ihren verborgenen histo-
contentou-se

risch-theoretischen Sinn zu entziffern. Soll jedoch diese Allegorie


sósia/duplo
mehr sein als ein Doppelgänger der Theorie (dem überdies zwei
Klarheit und fortuna
Vorzüge von Theorie, nämlichestranho/peculiar Überprüfbarkeit,
abgehen), dann muß noch ihr eigentümliches Vermögen im Unter-
schied zu dem begrifflicher Theorie bestimmt werden. Erst dann
justificada
ist die Allegorie in Faust II als ästhetische Gestalt gerechtfertigt.
Dafür ist es notwendig, den Blick von den begrifflichen
Abstraktionen, in denen Goethe die bestimmenden Mächte des
19. Jahrhunderts identifizierte, auf den Standpunkt zu richten,
von dem aus sie ihn interessierten. Er wird in einer Betrachtung
aus den Wanderjahren sichtbar: »So wenig nun die Dampfmaschi-
amortecer (?)
nen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich;
die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papier-
emissões
inflação
gelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen,
das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein
junger Mann gesetzt ist.« [227] Indem Goethe sich die Rolle eines
»jungen Mannes« vorstellt, beurteilt er die Tendenzen seiner Zeit
nach den Folgen, die sie für das Subjekt haben werden. Zwar sind
die unpersönlichen Mächte der Technik und der Ökonomie dem
considerar oprimidos/perdedores
einzelnen Subjekt überlegen, doch gilt dem Unterlegenen die Auf-
carece
merksamkeit des »sittlichen« Beobachters. In Faust II fehlt der
»junge Mann« als Zentrum der Erfahrung (nur partiell über-
nimmt Faust diese Funktion); statt dessen ist die Perspektive des
Subjekts - die genuin ästhetische Perspektive - aus der Erschei-
nung der allegorischen Abstraktionen selbst mittelbar zu erschlie-
ßen. Denn sie treten in solch fragwürdiger Gestalt und mit solch
excessiva desfiguração
maßloser Gewalt auf, daß daraus die Entstellungen und die Leiden
sofrimento
palco apagado deduzidas
des auf der Bühne getilgten Subjekts abzuleiten sind.elimina Zu Faust, der
imagina
alles Leiden auf seinem wohlgeordneten Neuland beseitigt wähnt,
retorna
kehrt das verdrängte individuelle Unglück in der Gestalt der »Vier

167
grauen Weiber« zurück; als Schuld, Sorge, Not, Mangel tritt ihm
nun allegorisch gegenüber, was er psychisch von sich abgetrennt
hatte. - In den von Goethe konzipierten Allegorien wird die
Abstraktheit der modernen Lebensbedingungen nicht als neutrale
Tatsache akzeptabel, sondern als quälende Negativität erfahrbar.
In diesen Allegorien ist die historische Krise des Individuums
vergegenwärtigt. Was keine Theorie vermöchte, vermag also Faust
apresentar
II: den Begriff zugleich mit dem Unglück darzustellen, das er für
die unter den Begriff subsumierten Individuen bedeutet.
parece que
Es scheint, als sei in früheren Epochen das innere Gewaltver-
hältnis von Begriff und Erscheinung dersuperioridade Allegorie niemanden
ofensiva
anstößig gewesen. Vielmehr konnte mais baixo
die Überlegenheit einer höhe-
ilustração
ren Welt der Ideen über die niedere der Sinne als Abbildung eines
Heilsversprechens gelten. Doch nachdem Natur, Körperlichkeit,
objetivos
almejados
Individualität zu erstrebenswerten Zielen des menschlichen
Lebens geworden waren, mußte sich die Bewertung des allegori-
avaliação
revertida
schen Dualismus umkehren. Goethes Urteil könnte etwa lauten:
daß die Abstraktionen herrschen (und universaler denn je), ist
wahr, aber nicht gut. Deshalb kann er den Prozeß der allegori-
decadente
schen Entsinnlichung so deuten, daß die schwindende Sinnlichkeit
in der Allegorie selbst noch als geschwundenes Moment bewußt
wird. Demnach ist die neue Allegorie eine integrative Form: sie
stellt nicht nur Begriffe dar, sondern auch, was den Sinnen unter
der Herrschaft der Begriffe widerfährt. Da die Allegorie, anders
als Theorie, nicht Abstraktion ist, sondern Abstraktion zur
Erscheinung bringt, reflektiert sie ihr eigenes Prinzip, die Abstrak-
tion. Zumindest für die Goethesche Allegorie gilt, daß sie das
Theoretische an sich scherzhaft wieder aufhebt und damit die
Macht des Begriffs, die ihr Thema ist, durch seine Darstellung
ironisch bricht. Insofern nun die Allegorie den Widerstreit von
Begrifflichkeit und Sinnlichkeit auch sinnlich repräsentiert, rückt
sie - zum ersten Mal in ihrer Geschichte? - in den Rang einer
ästhetischen Form auf.
Wie hartnäckig die Sinne an ihrer gewohnten Sehweise festhal-
ten und sich gegen die ihnen zugemutete Abstraktion wehren,
zeigen mehrere, untereinander verwandte Szenen in Faust II.
Wenn der Herold über die Ungreifbarkeit von Plutus' Gespann
erstaunt, wenn die Menge nach dem unsinnlichen Geld mit Hän-
den greifen möchte, wenn Faust dem Schein der beschworenen
Helena verfällt, als wäre sie von Fleisch und Blut, wenn Mephisto

168
den verführerischen und doch körperlosen Lamien nachstellt -
dann bestätigen diese mißlingenden Versuche zugleich die Fort-
dauer einer Sehnsucht, die sich von der Altertümlichkeit der
menschlichen Sinne nährt. Denn in den Sinnen setzt sich die
Naturgeschichte der Menschheit fort, während die herrschenden
Abstraktionen erst ein Produkt der jüngsten Gesellschaftsge-
schichte sind. Nicht allein die Welt der Allegorien ist das Thema
inadequação
von Faust II, sondern die Unangemessenheit einer allegorisch capturada
gewordenen Welt für die wenigstens in der Erinnerung festgehal-
tene Natur des Menschen. Dargestellt ist also letztlich die Erfah-
rung von Allegorie, nicht die Allegorie selbst. (Zu erwägen wäre,
ob sich nicht deshalb die Goethesche Allegorie >symbolisch< auf-
fassen ließe: wird, wie in der Moderne, die Wirklichkeit vom
Begriff regiert und tritt der Begriff in die Wirklichkeit über, so
muß ein poetisches Verfahren, das von der Wirklichkeit ausgeht-
wie es die >symbolische< Kunst ja soll-, begrifflich werden und
daher zur Allegorie greifen.)
Ihre sinnliche Seite unterscheidet die Allegorie von dem Begriff,
distingue especifica
den sie vergegenwärtigt und damit verbesondert. Deshalb zählt
sie, wenngleich in prekärer Position, zu den Kunstformen. Ein
versinnlichter Begriff ist immer weiter und unbestimmter, also
ästhetischer als der bloße Begriff. [228] Deshalb finden die
indicação
menschlichen
satisfação
Sinne selbst an der Allegorie einen Anhalt zu ihrer
roto/gasto disfarce
Befriedigung. Gerade ihre schäbige Verkleidung vermag »Beha-
gen« bei den Zuschauern auszulösen: »Und allegorisch wie die
Lumpe sind, / Sie werden nur um desto mehr behagen« (10329 f).
Noch die Aufhebung des sinnlichen Scheins muß die Allegorie in
einem sinnlichen Bild vorführen. Daß Allegorien nicht nur den
Verstand belehren, sondern auch die Sinne vergnügen, hat schon
die frühere Poetik bemerkt: »by its apt Resemblance [Allegory]
conveys Instruction to the Mind by an Analogy to the Senses; and
so amuses the Fancy whilst it informs the Understanding.« [229]
Doch sollte die Lust am Schein lediglich Lockmittel für die
Erkenntnis der Bedeutung sein. Dagegen besitzen für Goethe
Phantasie und Sinne ihren eigenen Wert, der sich nicht ohne
weiteres unter dem des Verstandes subsumieren objeção
läßt. So betrach-
tet, ist die Allegorie ein lebendiger Einspruch gegen Abstraktion.
Liegt auch die allegorische Bedeutung jenseits des Ästhetischen, so
ist doch der Aufwand, den sie zu ihrer Darstellung benötigt,
ästhetisch. Goethe nützt diese in der allegorischen Form enthalte-

169
nen Möglichkeiten zur Produktion sinnlicher Bilder, um an der
alten Sinnlichkeit selbst im Prozeß ihrer Zerstörung festzuhalten.
Mehr noch: er gewinnt durch dieses Festhalten gerade aus der
Zerstörung der alten eine neue ästhetische Sinnlichkeit. Sie macht
von Faust II aus.
den eigentümlichen poetischen Reiz prescindem
certa
Allegorische Repräsentationen entbehren nie einer gewissen
Festlichkeit. Auch die Allegorien von Faust II finden in den Festen
der Mummenschanz und der Klassischen Walpurgisnacht ihre
günstigsten Schauplätze. Denn das Fest vereint gleich der Allegorie
Bedeutung und Schaulust. Eine solche doppelte Wirkung lag in
Goethes Absicht. Der Helena-Akt, so bemerkt er gelegentlich,
stelle zwar hohe Ansprüche an das Verständnis des Lesers - »denn
eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter« -, aber doch sei »alles
sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die
Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist,
daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem
Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entge-
hen.« [230] Selbst den »Eingeweihten«, der den »höheren Sinn«
der Allegorien zu entschlüsseln weiß, soll - was Theorien immer
verweigern würden - die sinnliche Erscheinung erfreuen. Die
»Menge« mag sich einzig an das Äußere halten. Verkleidungen
besitzen den zweifachen Reiz, daß sie das innere Wesen verbergen
und daß sie mit dem äußeren Kleid spielen. Gerade dem »Einge-
weihten«, der die Distanz zwischen Sinn und Sinnlichkeit durch-
messen hat, werden die phantastischen Erscheinungen zum heite-
ren Spiel, zu »sehr ernsten Scherzen«. Deshalb ist Faust II, entge-
gen den Vermutungen früherer Dramaturgie, auch ein Theater-
spaß. [231]
Da die allegorische Bildlichkeit sich nicht an die Grenzen der
Natur hält, vermag sie das Bedürfnis der Sinne, zumindest der
Augen, sogar in einem höheren Maß zu befriedigen als nicht-
allegorische Kunst. In der weiten Distanz zwischen abstraktem
Sinn und sinnlichem Schein gewinnt die poetische Phantasie ihren
Spielraum. Aus ungewöhnlichen Kombinationen entstehen nie
gesehene Bilder - daher die Fülle und Seltsamkeit der Gestalten in
Faust II, wie sie wohl kein anderes Drama aufzubieten hat. Wie
das abstrakte Geld die größte Zahl sinnlicher Gegenstände herbei-
zaubert, so taugen zur allegorischen Veranschaulichung von
Begriffen alle vorhandenen und erfundenen Dinge. Das Entfernte-
ste zwingt sie herbei, das Gegensätzlichste zusammen: auf der

170
Mummenschanz trifft man Holzhauer und junge Florentinerin-
nen, Phantasieblumen und einen Elefanten, Gnome und Götter;
unaufhörlich wechseln die Erscheinungen der Klassischen Wal-
purgisnacht; auf Fausts Burg gehen antike, mittelalterliche und
moderne Kostüme durcheinander; ein »prächtiger Kahn, reich
und bunt beladen mit Erzeugnissen fremder Weltgegenden« (nach
porto
11166) landet in Fausts Hafen. Die scheinbaren Gegenpole der
Allegorie, Abstraktion und Sinnlichkeit, wirken hier zusammen,
um einen neuen Zauber sinnlich-imaginärer Bilder entstehen zu
lassen. An diese poetische Produktivität wollte Baudelaire erin-
nern, als er von der »Trunkenheit« der allegorischen Kunst
sprach: »nous noterons, en passant, que l'allegorie, ce genre si
spirituel, que les peintres maladroits nous ont accouturnes a
mepriser, mais qui est vraiment l'une des formes primitives et les
plus naturelles de la poesie, reprend sa domination legitime dans
l'intelligence illuminee par l'ivresse.« [232] Vielleicht wäre es mög-
lich, auch die Schlußszenen von Faust II aus der geistig-sinnlichen
Trunkenheit des »genre si spirituel« zu begreifen.
Beide, Goethe und Baudelaire, diagnostizieren in der freien,
phantastischen Bildlichkeit der von ihnen umgeschaffenen Allego-
rie ein glücklich-unglückliches Produkt der Moderne. Wie sich die
Moderne von der Natur emanzipiert, so verläßt die Allegorie die
Grenzen der Mimesis. Was die Allegorie der Anschauung bietet,
sind neue, künstliche, verfügbare Welten, »paradis artificiels«,
»Paradiese / Von lebelosem Leben« (9340 f). Ihre Sinnlichkeit ist
vom Verstand erzeugt (»l'intelligence illuminee par l'ivresse«),
dessen Produktivität in der Moderne die der Natur übertrifft.
Doch bleiben die Sinne des Menschen die alten und sind deshalb
dazu zu verführen, sich mit dem produzierten Schein von Sinnlich-
keit zu vergnügen. Die Bilder vermehren sich, während die Erfah-
divertir-se

rungen schwinden. Es gibt viel zu sehen, aber wenig zu greifen.


Den Erscheinungen einer allegorischen Welt fehlt es, wie dem
Homunculus, »nicht an geistigen Eigenschaften, / Doch gar zu
sehr am greiflich Tüchtighaften« (8249 f). Die allegorischen Bilder
spiegeln die Tendenz der modernen Zivilisation, unter allen Sin-
nen den intellektuellsten allein zu begünstigen, das Auge. Es ist der
Sinn, der noch in der Begierde und ihrer Erfüllung Distanz zum
Gegenstand hält, also dessen Realitätsgehalt nur schwer zu über-
prüfen vermag, vom Schein ebenso wie von der Wirklichkeit
angezogen wird, das Künstliche wie das Natürliche nimmt. »Mit

171
Augen schaut nun, was ihr kühn begehrt, / Unmöglich ist's, drum
eben glaubenswert« (6419 f). Darin
refinado
wirkt die Moderne, die seit
dem 19. Jahrhundert immer raffiniertere optische Medien entwik-
kelt, allegorisch, daß sie die Sinnlichkeit aufs Schauen reduziert
und zugleich in eine »herrliche verwegne Phantasei« (6418) stei-
gert.
In der allegorischen Kunst ein Äquivalent zur Bilderproduktion
der technischen Welt zu schaffen - dies bezeichnet die letzte Stufe
von Goethes Antwort auf die Herausforderung des 19. Jahrhun-
derts. Wie anders hatte er noch geurteilt, als er in dem für das
Thema >Kunst und Moderne< so bedeutsamen Herbst 1797 das
Verhältnis von Kunst und Handwerk [233] erwog. In diesem
Aufsatz sah er das »wahre Kunstwerk« von der neuesten tech-
nisch-ökonomischen Entwicklung bedroht, die »mit unaufhaltsa-
mer Gewalt forteilt«. Die Kunst entstamme archaischen Lebens-
formen, in denen alles Lebensnotwendige unmittelbar »in unserm
Besitz oder zu unserm Gebrauch« war, so daß man ihm durch
lebenslangen Umgang »eine angenehme Gestalt geben, es an einen
schicklichen Platz und mit andern Dingen in ein gewisses Verhält-
nis setzen« konnte. Diese ursprüngliche Produktion, diese unent-
fremdete Praxis, aus der alle Kunst lebe, sei jedoch anachroni-
stisch geworden, seit »man in den neueren Zeiten das Maschinen-
und Fabrikwesen zu dem höchsten Grad hinaufgetrieben hat und
mit schönen, zierlichen, gefälligen vergänglichen Dingen durch
den Handel die ganze Welt überschwemmt«. Schon sei eine
»große Gemäldefabrik« geplant, in der »durch ganz mechanische
fábrica de pinturas

Operationen« massenhaft Kopien von Originalen, bis »zur Täu-


schung« ähnlich, hergestellt werden sollen. Es sei zu befürchten,
daß »der hochgetriebene Mechanismus, das verfeinerte Handwerk
und Fabrikwesen der Kunst ihren völligen Untergang bereite«.
Dreißig Jahre später hat sich die zivilisatorische Entwicklung
nicht geändert, aber Goethes Vorschlag, wie ihr zu begegnen sei.
Während er in Kunst und Handwerk dem Künstler den Rückzug
auf vormoderne Produktionsformen empfohlen hatte, läßt er sich
in Faust Il auf die Konstruktionsprinzipien des »Mechanischen«
ein. Nun führt er Figuren wie Helena vor, bei denen Produktion
und Reproduktion, Original und Kopie nicht mehr zu unterschei-
den sind. Nahezu alles, was in diesem Werk auftritt und geschieht,
ist ausdrücklich als künstlich-technische Erfindung dargestellt:
Masken, Kunstblumen, Papiergeld, Helena, Homunculus, militä-

172
rische Siege, Neuland. Sobald der Poesie die Freiheit zur Produk-
tion von Allegorien eingeräumt ist, kann sie an Künstlichkeit mit
dem »Maschinen- und Fabrikwesen« konkurrieren. Eben die
mechanische Bau- und Funktionsweise, die das 18. Jahrhundert
der Allegorie vorgeworfen hatte, befähigt sie zu solcher Konkur-
renz. - Dennoch bleibt Faust II als allegorisches Werk Kunst im
alten Sinne, insofern es vollständig aus der Phantasie eines einzel-
nen, des Künstlers, hervorgeht. Mit seinen selbstgebauten
Maschinen konstruiert er die Welt der fremden Maschinen in
Freiheit nach. In den nicht-funktionierenden Maschinen der Alle-
gorie gelingen ihm eine Entsprechung und gleichzeitig eine Abwei-
chung von den Produktionsformen der technischen Moderne. Er
produziert nicht bloß in dieser arbeitsteilig organisierten Welt,
sondern versucht sie als Ganzes zu verstehen und darzustellen.
Die Allegorie, wie Goethe sie geschaffen hat, ist vom »wahren
Kunstwerk« entfernt und doch Kunst geblieben. Dies zeigt sich am
doppelten Verhältnis der Allegorie zu den älteren Kunstformen,
die Faust II umschließt: 1. Da sie als Form kein bestimmtes sinnli-
ches Material mit sich führt, ist sie darauf angewiesen, ästhetische
Welten anderer Gattungen zu übernehmen und umzudeuten.
2. Indem das allegorische Konzept frühere Kunstformen als Zitat
und Mittel in Dienst stellt, hebt es deren ursprünglichen Entste-
hungsort und reflexionslose Überlieferung auf. Beide Momente
wirken zusammen, um eine große Zahl - der Tendenz nach: die
Gesamtheit - vergangen er Kunstformen in Faust II wie in ein
Museum einzubringen. Elemente des Dramas, der Epik, der Lyrik
werden verbunden; Karneval und Mysterienspiel, Tragödie und
Oper, Idylle und Satire, Trinklied und Zauberposse, um nur einige
der integrierten Gattungen zu nennen, überschneiden sich, wech-
seln sich ab; die wichtigsten und die abgelegensten Metren, Verse
und Strophenformen sind aus der Antike wie aus der Neuzeit
entlehnt. Sie alle stehen zur Verfügung, um mittelbar die moderne
predominantemente arranjadas
Welt zu thematisieren. Faust II setzt sich überwiegend aus verab-
encenações
redeten Inszenierungen zusammen, z. B. der Beschwörung Hele-
nas, der Mummenschanz, der Klassischen Walpurgisnacht, der
Helena-Tragödie. Dadurch wird die Illusion als Illusion bewußt.
Derart relativiert und historisiert, gehen die vergangenen Kunst-
formen ihrer naiven Geltung verlustig. Die Allegorie ist die Form,
die alle Formen zu reproduzieren vermag. Deshalb ist Faust II, so
entschieden sich dieses Werk auf die außerpoetische Wirklichkeit

173
richtet, zugleich eine Museum der Weltliteratur. Nicht zufällig
propagiert Goethe den neuen Begriff der »Weltliteratur« eben zu
der Zeit, da er an Faust II arbeitet: dieses Werk ist die poetische
Einlösung jenes Begriffs. Wie die Grenzen der natürlichen Sinn-
lichkeit, so sind auch die Grenzen der traditionellen Kunstformen
aufgehoben und zum Material phantastischer Konstruktionen
geworden. »Totalität« und »Steigerung«, um zwei Leitideen Goe-
thes zu nennen, sind auf einem neuen Gebiet tätig.
»In dieser Weise steht dem Künstler, dessen Talent und Genie
für sich von der früheren Beschränkung auf eine bestimmte Kunst-
form befreit ist, jetzt jede Form wie jeder Stoff zu Dienst und zu
Gebot« [234] - so bestimmt Hegel die Situation des modernen
Künstlers, der keine originäre Form mehr hervorbringt, jedoch
über einen umfangreichen »Vorrat von Bildern, Gestaltungswei-
sen, früheren Kunstformen« [235] verfügen kann. Indem er den
Verlust begrenzter Unmittelbarkeit durch den Gewinn unbegrenz-
ter Mittelbarkeit ausgleicht, steht der reflektierte Historismus von
Goethes letztem Werk auf der Höhe der Zeit. »Bist Geist von
meinem Geiste« (5623), sagt Plutus, der Gott des Reichtums, zum
Knaben Lenker, der Allegorie der Poesie.

174
SCHLUSS

ABSTRAKTION, ALLEGORIE UND REALISMUS

Der Begriff, auf den sich die Summe der in Faust II dargestellten
Phänomene bringen läßt, heißt >Abstraktion<: thematisch die
Abstraktion von Natur, greifbaren Dingen, unmittelbarem Leben,
von Sinnlichkeit, Körper, Liebe; ästhetisch die Abstraktion von
Subjektivität, Ausdruck, Erscheinung, Schönheit. Dieser negativen
Bestimmung von Abstraktion entspricht eine positive, sobald im
Untergang der natürlichen der Aufbau einer abstrakten Welt
sichtbar wird: thematisch an der Herrschaft des Marktes, des
Geldes, des historischen Denkens, des theoretischen Wissens;
ästhetisch am Überwiegen von Reflexion, Bedeutung, Konstruk-
tion, Künstlichkeit. Im Begriff der Abstraktion konvergieren Form
und Thema von Faust lI, Allegorie und allegorische Welt.
Im Begriffsgebrauch meiner Interpretation ist unterstellt, daß
diese Grundstrukturen von Goethes Werk im einzelnen wie im
ganzen Grundstrukturen des Zeitalters begreifen, das mit dem
19. Jahrhundert heraufzieht. Ich bin dabei dem Anspruch von
Faust II gefolgt, dessen allegorische Anlage von der fiktiven Welt
des Kunstwerks auf die reale Welt der Geschichte verweist. Faust
II hat Gesellschaft als ausgesprochenes Thema vor sich, nicht
muda
als stumme Bedingung hinter sich. (Die Methode meiner Arbeit ist
daher Interpretation, nicht Literatursoziologie.) Mit diesem Nach-
weis der exponierten Stellung, die Goethes Werk durch die beson-
dere Korrelation zu seiner Epoche einnimmt, könnte sich die
contentar-se
Interpretation begnügen. Aber die Fragen der Literaturgeschichte

175
beginnen erst jetzt: Sollte Goethes Allegorie die einzige Dichtung
sein, die sich eine derart grundlegende Bestimmung der bürgerli-
chen Lebensformen zum Gegenstand gewählt hat? Das ist nicht
provável
wahrscheinlich. Wenn Faust II in der Tat ein Thema von solcher
Aktualität behandelt, so muß es - als bewußtes Problem oder
zumindest als unbewußte Konstellation - in anderen Werken der
gleichen Zeit wiederkehren. Durch diese Fragestellung könnte sich
ein untergründiger Zusammenhang zwischen Goethes letztem
"enlaçar"
Werk und der Literatur des Jahrhunderts knüpfen, in dessen
região
Umgebung es bislang als monströse Ausnahme erschienen ist.
Weder das Phänomen noch der Begriff Abstraktion ist der
Literatur des 19. Jahrhunderts gänzlich entgangen. Gottfried Kel-
escapou

ler gebraucht ihn im Grünen Heinrich, um - durchaus in dem


Sinne, der sich aus meiner Interpretation von Faust II ergeben
hatte - den eigentümlichen Charakter der gesellschaftlichen Exi-
stenz in der Moderne zu bezeichnen:
oficina
In der heutigen Welt sind alle, die in der Werkstatt der fortschreitenden Kultur
beschäftigt sind und es mit einem Zweige derselben zu tun haben, geschieden
pedaço
von Acker und monte/tufo
Erde, vom Wald
mato
und oft sogar vom Wasser. Kein Stück Brot, sich
floco linho lã
zu nähren, kein Bündel Reisig, sich zu wärmen, keine Flocke Flachs oder Wolle,
bebedouro
sich zu kleiden, in großen Städtenempenho
keinen frischen Trunk Wasser können sie
movimento do corpo
alegre
unmittelbar durch eigene frohe Mühe und Leibesbewegung von der Natur
gewinnen. Viele unter ihnen, wie die Künstler und Schriftmenschen, empfangen
ihre Nahrung nicht einmal von denen, welche der Natur näher stehen, sondern
wieder von solchen, welche ihr ebenso entfernt stehen wie sie selbst und eine
künstliche abstrakte Existenz führen, so daß der ganze Verkehr ein Gefecht in
der Luft, eine ungeheure Abstraktion ist, hoch über dem festen Boden der
Mutter Natur. [236]
observação/análise
Kellers Überlegung geht von der elementaren Notwendigkeit des
satisfação
menschlichen Lebens aus, der Bedürfnisbefriedigung. An dem,
was von »Natur« aus das Unmittelbarste ist, erhellt sich der weite
Weg der Vermittlung von Bedürfnissen in der jetzigen Organisa-
tion der Gesellschaft, die auf Warenproduktion und Geldverkehr
basiert. Die »ungeheure Abstraktion«, der hier das Verhältnis von
Arbeit und Genuß unterworfen ist, deckt - wie bei Goethe - der
Gegenbegriff >Natur< auf. Anders als in der Gesellschaftsphiloso-
phie des 18. Jahrhunderts faßt er nicht mehr den Anfang oder das
Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, sondern - durch deren wirkli-
che Geschichte eines anderen belehrt - vorbürgerliche, archaische
Formen menschlicher Sozietäten, wie sie aus der Frühzeit Europas
überliefert sind, wie sie im 19. Jahrhundert noch außerhalb Euro-

176
pas existieren und wie sie in Resten, etwa der bäuerlichen Subsi-
stenzwirtschaft, noch in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts hin-
einragen. Als »Acker und Erde«, »Wald« und »Wasser« wird für
Keller der Begriff der Natur überaus konkret. Am anschaulichen
Gegenbild ermißt er, wie weit sich die »fortschreitende Kultur«
vom ursprünglichen Zustand entfernt hat. Von diesem »festen
batalha no ar
tráfego
Boden« aus erscheint »der ganze Verkehr« als »Gefecht in der
Luft«. »Abstraktion« vermag nur zu erkennen, wer das Konkrete
noch kennt.
Ähnlich wie Keller hat schon Herder den Unterschied zwischen
ursprünglicher und gegenwärtiger Zivilisation darin gesehen, daß
jene »in der Natur kleiner Bedürfniße, auf einem engen Schau-
platz«, »im engen Ackergebiete« angesiedelt war, während diese
»recht allgemeines und rein abgezognes« fördere. [237] Herder
füllt den seit langem diskutierten ästhetischen Gegensatz von
>Antike und Moderne< als erster mit der sozialgeschichtlichen und
kulturphilosophischen Antinomie von Sinnlichkeit und Abstrak-
tion auf.
Mit Herder (1774) und Keller (1854) sind die historischen
Grenzen benannt, innerhalb derer Abstraktion als gesellschaftli-
che Erfahrung des Zeitalters thematisiert wird. Wenngleich in
ihren einzelnen Elementen älter, wird sie erst im Lauf des 18. Jahr-
hunderts, mit Beginn der industriellen, technischen, ökonomi-
schen und politischen Revolution als gesellschaftliche Dominante
bewußt. Die Erkenntnis von zunehmender Abstraktheit beginnt
ferida
bei der Wunde, die diese einschneidenden Veränderungen an den
gewohnten Lebenszusammenhängen hinterlassen.
incisão/corte
(Der Bildungs-
roman erzählt den historischen Einschnitt biographisch als
Abschied von der Idylle der Kindheit.) Die alten menschlichen
Organe und Sinne scheinen zunächst durch die neuen Erfindungen
sobrecarregado
der menschlichen Intelligenz überfordert. An diesem Schnittpunkt
von traditionaler und moderner Gesellschaft entstehen Befrem-
dungen, welche die frühen Theorien über die bürgerliche Gesell-
schaft, die Rousseaus und der schottischen Moralphilosophen, zu
formulieren und aufzulösen versuchen. Doch schwindet diese zur
Reflexion und Kritik geschärfte Erfahrung wieder, sobald der
cotidiano hábito/costume
industrielle Kapitalismus zur alltäglichen Gewohnheit und der
progresso expectativa geral
technische Fortschritt zur allgemeinen Erwartung werden. Es wird
zur Selbstverständlichkeit, Arbeit und Konsum allein durch ein
abstraktes Medium, das Geld, zu vermitteln. Den Verlust von

177
Natur als zweite Natur akzeptabel zu machen, ist eigens ein Ziel
der modernen Technik. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts )pol-
stert< sie mit weichen Verkleidungen den menschlichen Organis-
terror
mus gegen die Schrecken der Maschinerie ab - Wolfgang Schivel-
busch hat dies an der Polsterung der Eisenbahnwagen sinnfällig
nachgewiesen. [238] Von da ab perturbações
werden philosophische und litera-
credenciais
rische Zeugnisse über die Verstörungen, die der Begriff der
mais raro
Abstraktion erfaßt, seltener. Faust II steht schon fast am Ende
jener Periode, die den Umbruch zur modernen Zivilisation mit
schmerzlicher Bewußtheit erfährt. Aber an diesem Ende war erst-
mals eine umfassende Erkenntnis des Neuen möglich, weshalb
eben zu dieser Zeit, zwischen 1820 und 1850, mit Goethes
Spätwerk, Hegels Rechtsphilosophie und Marx' Kritik der politi-
schen Ökonomie systematische Darstellungen der bürgerlichen
Gesellschaft entstehen.
Über den Bereich der Theorie ist bislang die Antwort auf die
eingangs gestellte Frage, ob es außer der Allegorie von Faust II
weitere literarische Realisationen des Abstraktionsproblems gäbe,
nicht hinausgekommen. Auch der Grüne Heinrich bot lediglich
eine reflektierende Enklave innerhalb eines poetischen Werks, das
in seiner Substanz von dieser theoretischen Erkenntnis unberührt
zu bleiben scheint. Einen Bezug zum Thema der »Abstraktion«
verraten Kellers Romane und Erzählungen bestenfalls darin, daß
sie sie vergessen machen möchten. Diente dann nicht auch, so
ließe sich folgern, diesem Ziel der ,Poetische Realismus<, dessen
Qualitäten - Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Dingfrömmigkeit - eben
jener entqualifizierenden Abstraktion entgegengesetzt sind, die
Keller an den Verkehrsformen der Gegenwart beklagt hatte?
Erzählt er nicht von bescheidenen, aber brauchbaren Gegenstän-
den, weil sie durch den herrschenden Warenverkehr bereits im
Schwinden begriffen sind, von phantasiereichen Sonderlingen,
weil die realen Subjekte bloße Träger allgemeiner Funktionen
geworden sind, von anschaulichen Einzelheiten also, weil sich die
gesellschaftlichen Zusammenhänge der Anschauung entziehen?
Es ist zu erwägen, ob nicht einige literarische Hauptrichtungen
des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Reaktionen auf die allge-
meine Vorgabe einer gesellschaftlichen Abstraktion sind. Von
dieser geschichtlichen Lage der menschlichen Verkehrsformen
afetadas
werden Kunst und Literatur deshalb unmittelbar betroffen, weil
renunciar
sie auf Anschaulichkeit nicht verzichten können, Abstraktion aber

178
confiança visível
gerade die Zuverlässigkeit des Anschaubaren aufhebt. Sie hinter-
läßt also ein ästhetisches Defizit, das nach Ausgleich verlangt.
Melancholisch erinnert der >Poetische Realismus< Stifters, Kellers,
Raabes, C. F. Meyers an das Verlorene. Anders versucht der
Abenteuerroman von Sue, Dumas, Karl May und Jules Verne
Sichtbarkeit und Sinnlichkeit des individuellen Handelns zurück-
zugewinnen. [239] Während Faust II für das Thema der Abstrak-
tion in der Allegorie die Form der Abstraktion als poetisch-
rationales Äquivalent bereithält, geht eine seit Wagners Ring
verfolgbare Tendenz auf Mythisierung der unsichtbaren gesell-
schaftlichen Macht, um das als irrational erfahrene Allgemeine
conciliar
mit der Irrationalität von Kunst zu versöhnen.
Unter den Alternativen zur Allegorie als poetischer Antwort auf
das Abstraktionsproblem möchte ich nur die erfolgreichste
genauer erörtern: die des gesellschaftskritischen Realismus, wie
ihn exemplarisch die Romane Balzacs vertreten. Historische Zeit-
relacionada
genossenschaft und verwandte AufgabensteIlung machen den Ver-
contemporaneidade

gleich zwischen Faust II und der Comedie humaine sinnvoll.


Goethe liest, während er an seinen letzten Werken schreibt, die
ersten Balzacs. Sein Urteil über die »grenzenlosen Schrecknisse der
dúbio
neusten französischen Romanliteratur« war zwiespältig: sie ver-
störte ihn moralisch als »eine Literatur der Verzweiflung«, und
desespero

doch erkannte er hinter »dem Häßlichen, dem Abscheulichen,


dem Grausamen, dem Nichtswürdigen« die Tätigkeit »geistrei-
cher vorzüglicher Männer, von mittleren Jahren, die sich durch
eine Lebensfolge verdammt fühlen, sich mit diesen Abominatio-
nen zu beschäftigen.« [240] Völlig fremd konnte ihm, der in
Faust II eine Phänomenologie der Unnatur entwickelt, die
Beschäftigung »mit diesen Abominationen« nicht sein. Allerdings
berief er sich, um der Verzweiflung zu entgehen, auf die alte
Natur, deren Ende er sah und doch nicht glauben mochte.
Das allegorische Verfahren Goethes und das sogenannte >reali-
stische< Balzacs konkurrieren miteinander, da beide ihre Dichtung
an der gesellschaftlichen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts orien-
tieren. Ihre Werke wollen ein Bild von jener Totalität vermitteln,
die durch den Aufstieg der bürgerlichen Ökonomie zur universa-
len Lebensform herrschend geworden ist. Doch bereits der riesige
Umfang der Comedie humaine ist ein Indiz dafür, daß es Balzac -
anders als Goethe - nicht genügte, die abstrakten gesellschaftlichen
Zusammenhänge ästhetisch auf abstrakte Formen und Formeln zu

179
reduzir
verknappen. Seinem Bild von der Gesamtheit der Epoche sollte es
narrável
nicht an sinnlicher Evidenz fehlen; es mußte erzähl bar bleiben.
Lukacs sieht gerade darin den Vorzug von Balzacs ,Realismus<,
daß er theoretisches Wissen über die zeitgenössische Gesellschaft
in bestimmte Individuen und konkrete Handlungen umzusetzen
vermochte. Nach Lukäcs ist es aller realistischen Kunst aufgege-
ben, »zu den tiefer liegenden, verborgenen, vermittelten, unmittel-
preceptíveis
bar nicht wahrnehmbaren Zusammenhängen der gesellschaftli-
chen Wirklichkeit« vorzudringen; daraus entstehe »für den bedeu-
tenden Realisten eine ungeheure, eine doppelte künstlerische wie
weltanschauliche Arbeit: nämlich erstens das gedankliche Aufdek-
ken und künstlerische Gestalten dieser Zusammenhänge; zweitens
cobertura
aber, und unzertrennbar davon, das künstlerische Zudecken der
abstrahiert erarbeiteten Zusammenhänge - die Aufhebung der
elaborada

Abstraktion.« [241] Es kann daher nicht verwundern, daß Lukäcs


allegorische Dichtung ablehnt [242], da sie die gesellschaftliche
recusa

und gedankliche Abstraktion ästhetisch nicht »zudeckt«, sondern


auch in der Form bewußt hält. - An der Geschichte des Kaufmanns
Cesar Birotteau (1837) möchte ich erproben, in welchem Maße es
Balzac tatsächlich gelingt, jene Abstraktion gedanklich zu »erar-
beiten« und künstlerisch »zuzudecken«. Ist das Resultat seiner
Anstrengung, die Abstraktheit der modernen Gesellschaft litera-
mais conclusivas
risch zu bewältigen, theoretisch und ästhetisch schlüssiger als das
lidar

der Goetheschen Allegorie?


Das glückliche, maßvolle Leben des biederen Parfümeriehänd-
lers Cesar Birotteau gerät auf eine abenteuerliche Bahn, als er sich
- von betrügerischen Finanziers verführt - auf eine riskante Grund-
stücksspekulation einläßt, bei der er sein ganzes Geld und einiges
von seiner Reputation einbüßt, ehe er am Schluß das halbe Geld
und seine ganze Ehre wiedergewinnt. Sein Geschick, das seiner
Familie, aber auch das aller anderen Figuren in diesem (wie in
jedem) Roman Balzacs ist wesentlich vom Geld bestimmt. Ist dies
allgemeine Gesetz, das die Biographie des Individuums an Bewe-
gungen der Ökonomie bindet, erzählbar?
Von der Mätresse eines zweifelhaften Notars heißt es etwa: »L:1
belle Hollandaise etait de ces femmes folles qui ne s'inquietent
jamais d'ou vient l'argent ni comment il s'acquiert, et qui donne-
raient une fete avec les ecus d'un parricide.« [243] Außer ihrer
Nationalität besitzt die schöne Holländerin keine individuellen
Züge; sie dient lediglich zum Exempel, den Gattungscharakter

180
jener »femmes folles« zu demonstrieren, denen es gleichgültig ist,
desperdiçar
woher das Geld stammt, das sie verschwenden. Es liegt nahe, an
die Gnomen aus der Mummenschanz zu erinnern: »Wir sind der
guten Menschen Freund. / Doch bringen wir das Gold zu Tag, /
Damit man stehlen und kuppeln mag, / [... ] Das alles ist nicht
unsre Schuld« (5855 fi). In Faust II ist die amoralische Verwen-
dung von Geld vom Wesen des Geldes selbst hergeleitet; die
einzelnen Menschen haben daran keine »Schuld«. Denn da das
Geld als allgemeines abstraktes Äquivalent benötigt wird, um den
Übergang verschiedener konkreter Tauschhandlungen zu bewerk-
stelligen, ist ihm weder anzusehen noch vorzuschreiben, woher es
komme und wohin es gehe. Balzac dagegen versucht, die Gleich-
gültigkeit dieser gesellschaftlichen Institution dem Charakter
gewisser Personen anzulasten, hier den extravaganten Frauen. Er
tut dies, um eine Atmosphäre von Abenteuerlichkeit zu erzeugen:
Frauen, Liebe, Feste, Verbrechen; er tut es also, um die Phantasie
des Romanlesers zu erregen, der die Indifferenz des Geldes sonst
nur bei seinen alltäglichen Geschäften kennenlernt.
Obwohl Cesar Birotteau einen Teil der Histoire des Treize
bildet, also eine historisch eng bestimmte Epoche illustrieren soll,
ist auch der zentrale Handlungszusammenhang, die Bodenspeku-
lation, nicht recht zeitgemäß motiviert. Damit diese gewaltige
finanzielle Transaktion zustande kommt, vereinigen sich der Geld-
mangel des Notars Roguin, der die besagte Mätresse zu unterhal-
ten hat, das Rachebedürfnis von Birotteaus ehemaligem Angestell-
ten du Tillet gegen seinen Herrn und der soziale Ehrgeiz Birot-
teaus, der in die Pariser Großbourgeoisie aufsteigen möchte. Wie-
derum sollen also Liebe, Rache, Ehre - die archaischen Leiden-
schaften einer vorbürgerlichen Heroik - die eigentlichen Triebfe-
dern der Geldbewegung im bürgerlichen Zeitalter sein. Wenn
Balzac versichert, »Les circonstances, et non une meditation d'au-
te ur tragique inventant une intrigue avaient engendre cet horrible
plan« (377), so ist diese Beteuerung notwendig, weil sich dem
Leser der gegenteilige Eindruck aufdrängt.
Unter den ökonomischen Potenzen und Prozessen favorisiert
Balzac die des Geldes, vor allem die Spekulation. Auch diese Wahl
haben wohl die Bedürfnisse des Romans entschieden; im Auf und
Bolsa (mercado de ações)
Ab der Börse scheint sich das Rad der Fortuna zu drehen. Hier
wechseln Glück und Unglück frappanter als auf dem Warenmarkt
seleciona
oder gar bei der Produktion. Balzac wählt seinen Gegenstandsbe-

181
reich danach aus, wie gut er sich erzählen läßt, und behauptet
dann in der Erzählung, eben dieser Teil (des Erzählbaren) sei das
Ganze (der Gesellschaft). »Eben weil in der bürgerlichen Welt
decisivo
vom Entscheidenden nicht sich erzählen läßt, geht das Erzählen
zugrunde. Die immanenten Mängel veredito
des Balzacschen Realismus
sind potentiell bereits das Verdikt über den realistischen Ro-
man.« [244]
Balzac versucht an dem festzuhalten, was eben in der von ihm
beschriebenen Gesellschaft in Auflösung begriffen ist: an der
Einheit der Person, die sich in ihrem entschiedenen Willen äußert.
Es ist nicht bloß Konvention und Kolportage, daß er immer
wieder auf die traditionellen poetischen Motive von Liebe, Rache,
Ehre zurückkommt; vielmehr liegt ihr Wert darin, daß sie ein
affektives Band zwischen Person und Sache und zwischen den
Personen untereinander herstellen, wie es in archaischen Gesell-
schaftsformen bestanden hatte. In der Jagd nach dem Geld treffen
alte, konkrete Leidenschaften auf einen modernen, abstrakten
Gegenstand (womit Balzac archaische Reste in seinem Jahrhun-
dert freilegt). Abermals kann ein Vergleich mit Faust II zeigen, wie
Balzac sich dagegen sträubt, die Versachlichung der Beziehungen
zwischen den Menschen im Kapitalismus zu akzeptieren. In der
»Mummenschanz« hatten die Gärtnerinnen vorgeführt, daß Ero-
tik und Ästhetik in den Dienst der Verkaufswerbung treten; sie
selbst als Personen waren hinter diesem Zweck verschwunden: für
das Auge kunstvoll >hergemacht<, aber für das sinnliche Verlan-
gen, das sie erweckten, ungreifbar; Käufer sollten sie anziehen,
keine Freier. Wie anders bei Balzac! Auch er beschreibt, wie schon
zitiert [245], die verführerische Auslage eines »magasin de nou-
veautes«. Von der Schönheit der zum Laden passenden Verkäufe-
rin verleitet, kauft Birotteau sechs Leinenhemden. Die Verkäuferin
bemerkt »a quelques symptomes connus de toutes les femmes,
qu'il venait bien plus pour la marchande que pour la marchan-
dise« (346; die Parallele bei Goethe lautet: »Würdig sind sie zu
umdrängen, / Krämerinnen wie die Ware«, 5114 f). Das Verkaufs-
geschäft wird zum bloßen Vorwand, die erotische Beziehung zur
Hauptsache. Bald ist Constance, die Verkäuferin, die Ehefrau
Cesars. Amor vincit omnia.
Welche Folgen hat nun Balzacs Bestreben, sachlichen Verhält-
nissen eine menschliche Gestalt zu geben, für den Entwurf der
Charaktere? Am eindrucksvollsten ist das Ergebnis, wenn ein

182
feststehender Charakterzug mit einer modernen mesquinhez
ökonomischen
Kategorie zusammenfällt, wie etwa im Geiz des Pere Goriot.
Allerdings verliert die eine ökonomische Bedingung durch die
gigantische Monomanie, mit der sie eine Person zu ihrem Lebens-
inhalt macht, ihre Relation zu anderen ökonomischen Bedingun-
gen und dadurch ihren ökonomischen Status; sie erscheint nur
noch als Objekt einer schicksalhaften Leidenschaft. avareza
(Dagegen
hatte Goethe in der Allegorie des Plutus dem "Geiz« nur eine
Nebenrolle bei der Konstitution des Reichtums zugebilligt und
damit die sachlichen Proportionen auch auf die Figuren übertra-
gen.) Wenn in Cesar Birotteau der Hausbesitzer Molineux, der
commis-voyageur Gaudissart in jeder ihrer Äußerungen lediglich
als Inkarnationen ihres Geschäftes figurieren, so werden sie - da sie
nicht allegorische Personen sein dürfen - durch solche Einseitigkeit
zu Karikaturen. Daß alles - Umgebung, Wohnung, Kleidung,
Gesicht, Mimik, Sprache, Stimmung - ganz genau der wirtschaftli-
chen Situation einer Figur entspricht, ist unter realistischen
suposições improvável
Annahmen recht unwahrscheinlich; die Empirie läßt individuelle
desvios
Abweichungen zu. Nur die Allegorie darf das Allgemeine als
ausschließliches Prinzip verkörpern, da sie über die sinnliche
Kontingenz des konkreten Einzelnen nichts Definitives behauptet.
Neue Schwierigkeiten entstehen für Balzacs Erzählen, sobald er,
wie bei der Hauptfigur des Romans, Charakter und Handlung zu
verknüpfen hat. Wie es seiner mittelständischen Position als Par-
fümhersteller und Ladenbesitzer
lojista
entspricht, sind
confiabilidade
Birotteaus Cha-
modéstia
honradez
rakterzüge Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Bescheidenheit. Damit
aber die Katastrophe der Grundstücksspekulation über ihn herein-
brechen kann, muß er plötzlich leichtsinnig, verschwenderisch,
ehrgeizig werden, wie es sich (nach Meinung des Erzählers) für
einen Spekulanten gehört. Am Schluß des Romans, da Cesar
halbwegs in seine früheren Umstände zurückgelangt, besitzt er
auch die ehemaligen Tugenden in verklärter Gestalt wieder; nun
ist er honett, fürsorglich, weise. In allen drei Phasen seiner
Geschichte stellt Cesar Birotteau den jeweils von der Wirtschafts-
konjunktur erforderten Charakter komplett und ausschließlich
dar, so daß nur noch äußerliche Merkmale ihn als identische
Person zusammenhalten. Und doch soll er eine konkrete, leben-
dige Gestalt sein, keine der abstrakten Personen aus Faust II, die
in der jeweiligen Konstellation auf- und untergehen.
In solche Widersprüche gerät Balzac, weil er gesellschaftliche

183
Abstraktionen vollständig innerhalb der privaten Sphäre abbilden
will, d. h. innerhalb der Grenzen des Romans (während die Alle-
preferiu
gorie Öffentlichkeit als Ort ihrer Repräsentation bevorzugt).
Zuweilen jedoch gelangt er an Punkte, wo sich die Organisation
der von ihm thematisierten Gesellschaft der Privatisierung und
Individualisierung unüberwindlich entgegenstellt. Eine lange Pas-
sage in Cesar Birotteau (552-559) erklärt, von aller Narration
abgesondert, das Verfahren, welches Gesetzgebung, Rechtspre-
chung und Geschäftsordnung für den Bankrott vorgesehen haben;
»il devient necessaire d'expliquer aux gens, qui n'ont pas le
bonheur d'etre negociants, le drame d'une faillite« (553) - wobei
der Ausdruck »drame« den trockenen Gegenstand doch noch für
die Poesie retten soll. Mitunter müssen die Figuren die Aufgabe
übernehmen, allgemeinere Gesetze auszusprechen: »L'argent ne
connait personne; il n'a pas d'oreilles, l'argent; il n'a pas de coeur,
l'argent« (526), so Molineux zu Birotteau, der immer noch auf die
)Menschlichkeit< des Geldes gehofft hatte. Molineux muß zu
einem allegorischen Bild greifen - das Geld als unpersönliche
Person ohne Augen, Ohren und Herz -, um die Abstraktheit des
ökonomischen Mechanismus darzulegen.
»Realismus aus Realitätsverlust« hat Adorno diese literarische
perda

Konzeption genannt [246], welche die Abstraktion theoretisch


anerkennt, ihr aber ästhetisch auszuweichen versucht. Freilich ist
es nicht verwunderlich, daß der Balzacsche Komprorniß mehr
Anklang beim Publikum gefunden hat als die Goethesche Lösung.
Denn die Leser teilen durchaus den Wunsch des Romanautors,
und sei er noch so irreal, es möge sich auch unter den modernen
Lebensbedingungen noch Spannendes ereignen und erzählen las-
sen. Selbst in der Bereitschaft, noch die Abstraktionen nach dem
Greifbaren durchzumustern (Goethe hat diese Illusion an der
»Menge« in der Mummenschanz vorgeführt), mag man einen
verständlichen Akt des Widerstands gegen die Abstraktion erken-
nen. Dennoch zeigt der Vergleich, daß Goethes Allegorie die
ästhetischen Konsequenzen jener gesellschaftlichen Veränderung,
die das 19. Jahrhundert prägen, ernster genommen hat als der
Roman des sogenannten Realismus. Goethe begründet die Konsti-
tuentien der allegorischen Poesie aus der Konstitution einer allego-
rischen Welt. Wenn die Wirklichkeit in Abstraktionen abgewan-
dert ist, muß die Kunst, die diese Wirklichkeit vergegenwärtigen
will, ihr in die Abstraktionen folgen. So paradox es klingen mag:

184
eben ihr Realitätsgehalt unterscheidet die Allegorie von Faust II
von den früheren Allegorien wie vom gleichzeitigen Realismus. Sie
ist die ästhetische Mimesis der gesellschaftlichen Abstraktion.

185
EXKURS

WALTER BENJAMINS ALLEGORIE

Zweimal stellt Walter Benjamin die Allegorie ins Zentrum seiner


literarhistorischen Arbeiten: zuerst im Trauerspiel-Buch, später in
den Baudelaire-Studien, vor allem in deren aphoristischen Teil mit
dem anspruchsvollen Titel Zentralpark, der die Mitte seiner Inten-
tionen bezeichnen soll. Um das Thema >Die Allegorie adequado
des 19. Jahr-
hunderts< zu erschließen, scheinen beide Arbeiten geeignet und
ungeeignet zugleich zu sein. Die erste erbringt eine reiche Bestim-
mung der Allegorie, doch nur der des 17. Jahrhunderts; die zweite
gilt einer allegorischen Dichtung des 19. Jahrhunderts, begnügt
sich aber mit spekulativen Andeutungen. Dennoch ergänzen sie
sich gegenseitig. Die Allegorie-Konzeption im Ursprung des deut-
schen Trauerspiels schließt spezifisch moderne Erfahrungen ein,
die eher dem 19. als dem 17. Jahrhundert zugehören. Die Moder-
nität dieser Erfahrungen wird an den späteren Fragmenten zur
Allegorie der Baudelaireschen Moderne evident; diese wiederum
gewinnt durch den Rückbezug auf die Allegorie des Barock eine
geistes- und kunstgeschichtliche Perspektive hinzu.
Bewußt hat Benjamin seine Wiederentdeckung einer allegori-
schen Kunst der Fortdauer der klassizistischen Ästhetik entgegen-
gesetzt. »Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnli-
chen, der schönen Physis zu gewahren, war wesens mäßig dem
Klassizismus versagt. Gerade diese aber trägt die Allegorie des
Barock, verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem unge-
pompa

ahnter Betonung vor.« [247] Trotzdem teilt Benjamin mit jener

186
Ästhetik, die erst suposições
in der fundamentais
nach-allegorischen Epoche entstehen
konnte, mehrere Grundannahmen, die das Ungewöhnliche - viel-
leicht sogar: das Unangemessene
impróprio
- seines Blicks auf die frühere
Allegorie verständlich werden
segurança
lassen. Bezeichnend ist seine
programmatische Versicherung: »Allegorie - das zu erweisen die-
nen die folgenden Blätter - ist nicht spielerische Bildertechnik,
sondern Ausdruck« (339). Benjamin greift also zu einem Kernbe-
válidas aplicação
griff der von Herder bis Dilthey gültigen Ästhetik, dessen Anwen-
dung auf vorbürgerliche Kunst problematisch ist. Die Theorie des
»Ausdrucks« leitet ästhetische Erscheinungen von Erlebnis, Denk-
weise und Weltanschauung geschichtlich bestimmter Subjekte ab.
Allein dieses Modell erlaubt es Benjamin, von »allegorischer
Intention« (ebd.) oder vom »Allegoriker« als einem Menschen mit
einer charakteristischen Geistes-, ja Gemütsverfassung [248] zu
sprechen, die ihn von Autoren anderer Gattungen und anderer
Zeiten unterscheide. Während die Kunst- und Literaturwissen-
schaft der letzten Jahrzehnte Traditionalität, Artistik, rhetorische
Haltung, Gattungs- und Auftragsgebundenheit als Prinzipien der
compromisso
vorbürgerlichen Kunst entdeckte und damit die Verpflichtung des
ästhetischen Produkts auf die Mentalität seines Produzenten
zumindest für diese Epoche aufhob, nimmt Benjamin die Allegorie
des 17. Jahrhunderts als » Ausdruck« geschichtlicher Lebensfor-
men und individueller Erfahrungen.
Benjamin interpretiert die Allegorie, als wäre sie eine )symboli-
sche< Kunst, d. h. als könne man ihren Gehalt unmittelbar aus der
Anschauung ihrer sinnlichen Erscheinung gewinnen. So deutet er
die Verbindung heterogener Elemente, wie sie dem allegorischen
curioso
Bild eigentümlich ist, als »Entseelung« und »Zerstückelung«
(358 ff), worin er das physische und metaphysische Unglück des
grübelnden »Allegorikers« und seiner Zeit gespiegelt sieht. Er
perplexidade
blickt also auf die Allegorie mit dem Befremden dessen, der den
natürlichen Zusammenhang des menschlichen Körpers und die
verläßliche Kontinuität des physikalischen Raumes auch in den
Darstellungen der Kunst wiederzufinden gewohnt ist. )Metho-
disch<, wenn das Wort hier am Platz ist, steht Benjamin durchaus
auf dem Standpunkt der klassischen bürgerlichen Ästhetik. Auch
er diagnostiziert allegorische Kunst als ästhetische Perversion, als
Symptom einer geistigen und psychischen Krankheit, nämlich des
escuridão
melancholischen Trübsinns. Lediglich seine Bewertung der Allego-
classificação
oposto
rie ist der bürgerlichen Allegorie-Kritik entgegengesetzt, da er

187
solcher Krankheit historische und anthropologische Wahrheit zu-
spricht.
Benjamin berücksichtigt kaum die spätantike, mittelalterliche
und humanistische Herkunft der Allegorie. Da er also die Mög-
lichkeit eines rein konventionalisierten Gebrauchs nicht erwägt,
muß er die Entstehung der Allegorie
constituição
im Trauerspiel aus aktuellen
Gründen herleiten, aus der Verfassung von Individuen (Melancho-
lie) und aus dem Zustand der Welt (Vergänglichkeit). Zwischen
beiden besteht eine Korrespondenz:
comportamento
»Denn die Gefühle [... ] erwi-
dern als motorisches Gebaren einem gegenständlichen Aufbau der
Welt« (318). So bildet sich ein kulturgeschichtliches Ensemble, in
das Inhalte und Formen der Allegorie integriert sind. Darin ist die
Argumentation der Baudelaire-Studien vorbereitet: auch die Alle-
gorie des 19. Jahrhundert antwortet dem - nun ökonomisch und
sozialgeschichtlich bestimmten - »gegenständlichen Aufbau der
Welt«. Daher konnte es Benjamin auch nicht mehr überraschen,
daß ein einzelner Dichter im 19. Jahrhundert die philosophisch
und theologi.sch fundierte Allegorie zu neuen, profanen Zwecken
gebraucht; denn bereits im Ursprung des deutschen Trauerspiels
esvaziamento
hatte er an den allegorischen Formen die Entleerung ihrer meta-
arbitrária
physischen Substanz und damit die Subjektivität ihrer willkürli-
chen Erfindung bemerkt. [249] Sie sind nicht mehr weit entfernt
von Baudelaires »putschistischer« Technik, in dessen lyrischem
Vokabular »plötzlich und durch nichts vorbereitet eine Allegorie
erscheint« (603).
Man mag mit Recht bezweifeln, ob Benjamins Hauptthesen zur
Allegorie des 17. Jahrhunderts - Verweltlichung, Entwertung der
Dingwelt, Hinfälligkeit der Bilder, Grübelei, Geschichte als Kata-
strophe - ihrem philologischen Gegenstand angemessen seien. Sie
tauchen alle in den Baudelaire-Studien wieder auf. Hier geben sie
sem disfarce
unverstellt ihre Modernität zu erkennen, die Benjamin in das
sperrige Material des barocken Trauerspiels projiziert hatte. [250]
»Die Allegorie ist die Armatur der Moderne« (681), heißt es
endlich im Zentralpark - was in dieser Allgemeinheit sicherlich
nicht zutrifft, jedoch vermuten läßt, daß es Benjamin von Anfang
an ausschließlich um die moderne Allegorie zu tun war. Nun
nennt er auch die historisch-materiellen Bedingungen, welche die
Wiederkehr der Allegorie in der Moderne erklären können: »Die
expõe
spezifische Entwertung der Dingwelt, die in der Ware darliegt, ist

188
das Fundament der allegorischen Intention bei Baudelaire«
(1151).
Von der Ware als dem herrschenden Prinzip des gesellschaftli-
chen Zusammenhangs leitet Benajmin die Allegorie Baudelaires
ab. Insgeheim hatte dieser Gedanke bereits seine frühere Abhand-
lung beherrscht, obwohl er es vermeidet, ausdrücklich von der
Kategorie der Ware im 17. Jahrhundert zu sprechen; doch stellt er
dem Hauptteil »Allegorie und Trauerspiel« ein Motto voran, in
dem die Welt als »allgemeiner Kauffladen / eine Zollbude des
Todes« genannt wird, »wo der Mensch die gangbahre Wahre/ der
Tod der wunderbahre Handels-Mann/ Gott der gewisses te Buch-
halter/ das Grab aber das versiegelte Gewand und Kauff-Hauß
ist« (336). Das authentische Zitat soll die geheime Aktualisierung
verbergen. Selbst die vanitas-Topoi konkretisieren sich später an
den »Sinnbildern der Gebrechlichkeit«, die Paris »umstellen«
(586). An der Entwicklung der modernen Großstadt wird die
»Zerstörung des Organischen und Lebendigen« (669 f) sinnfällig,
die Benjamin in der »allegorischen Zerstückelung« des Trauer-
spiels am Werk gesehen hatte. Die Befremdung gegenüber der
Dingwelt und das komplementäre »Divertissement« an der Alle-
gorie, die dem »Melancholiker« des 17. Jahrhundert eigentümlich
gewesen sein sollen (361), erscheinen jetzt am Typus des »Fla-
neurs«. Wenn schließlich der Allegoriker Baudelaire mitten in den
schnellen Veränderungen des kapitalistisch zugerichteten Paris
»an den Trümmern« festhält (666), so ist dieser poetische Wider-
stand gegen den Warencharakter aller Dinge eher verständlich als
die Behauptung im Ursprung des deutschen Trauerspiels, in der
»wissentlichen Entwürdigung des Gegenstandes« bewahre »die
melancholische Intention auf unvergleichliche Art seinem Ding-
sein die Treue« (398).
Es ist deutlich, daß schon im Trauerspiel-Buch der Blick aufs
19. Jahrhundert die Konstruktion der Allegorie geleitet hat. Hier
ist im Zusammenhang entwickelt, was die Baudelaire-Studien in
programmatischen Erklärungen, in Aphorismen und Fragmenten
nur versprechen. Gerade die Partien, die Baudelaires »allegori-
scher Intention« gewidmet und im Zentrum des Werks stehen
sollten, sind am flüchtigsten ausgeführt. Dies erschwert das Urteil
über sie, und doch möchte man angesichts der Skizzen Adornos
paradoxe Kritik wiederholen, der »bessere Marxismus« sei im
»Barockbuch« anzutreffen (1098), während die Baudelaire-Arbeit
encontrado

189
estabelecido
»am Kreuzweg von Magie und Positivismus angesiedelt« sei
(1096). [251] Die Grundthese, daß die Wiederkehr der Allegorie
>,im Zeitalter des Hochkapitalismus« auf die Universalisierung der
Waren verhältnisse antworte, leidet an einem Mangel an Theorie
(da es sich Benjamin erspart, auf die Marxsche Waren analyse
genauer einzugehen) und an einem Überschuß an Konkretisierung.
Er möchte die gesellschaftlichen Abstraktionen, in denen die
moderne Allegorie ihr Fundament hat, zumindest in der Darstel-
lung umgehen und sich statt dessen ans greifbare Detail des
konkreten Lebens halten. Dadurch entstehen Verkürzugen, z.B.:
» Der trügerischen Verklärung der Waren welt [in der Reklame]
widersetzt sich ihre Entstellung ins Allegorische. Die Ware sucht
sich selbst ins Gesicht zu sehen. Ihre Menschwerdung feiert sie in
der Hure« (671).
Erst im ergänzenden Rückblick auf das Trauerspiel-Buch treten
die geschichtsphilosophischen Absichten von Benjamins neuem
Allegorie-Begriff deutlicher hervor. Benajmin sah in der Wiederbe-
lebung dieser fremd gewordenen Form die ästhetische Antwort
auf neue, von Baudelaire exemplarisch formulierte Erfahrungen
des Individuums in der Moderne. Daher konnte die materialisti-
sche Interpretation von Baudelaires Allegorien den wirtschaftli-
chen, politischen und kulturellen Aufbau dieser modernen Welt
freilegen. Das 19. Jahrhundert - angeschaut und begriffen an
seinem entwickeltsten Punkt, Paris - sollte als Thema und zugleich
als Bedingung der erneuerten Allegorie erkennbar werden. Um
solche gegenständlichen Bezüge für die allegorische Dichtung
offenzuhalten, durfte er sie mit Recht nicht als abgegrenzte kon-
ventionelle Technik der Bilderfindung definieren. In dieser
Erschließung eines neuen Geltungsbereiches liegt der eigentliche
Gewinn von Benjamins Bestimmung der Allegorie. (Darin ist
meine Arbeit der seinen verpflichtet.) Wenn nicht die Allegorie im
strengen Sinne, so sollte doch das >Allegorische< im weitesten
Umfange den Vereinigungsort von moderner Kunst und moderner
Welt in den Fleurs du mal darstellen.

190
ANMERKUNGEN

1 Die Verse stehen im 4. Akt von >Faust H" V. 10329 f. Im Original heißt es
»Lumpe« statt .Lumpen«. Ich zitiere Goethes >Faust' nach der Hamburger
Ausgabe von Goethes Werken, Bd. 3, kommentiert von Erich Trunz.
2 Friedrich Theodor Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Teil, hg. von Fritz
Martini, Stuttgart 1978, S. 26. Martinis Text folgt der» zweiten umgearbeite-
ten und vermehrten Auflage« von 1886.
3 Ebd., S. 28 f.
4 Ebd., S. 38 und 122 f.
5 Ebd., S. 131.
6 Auch die Polemik von Vischers kritischen Aufsätzen zu >Faust H, richtet sich
fast ausschließlich gegen die skandalöse Form der Allegorie.
7 Vischer, Faust III [s. Anm. 2], S. 92.
8 Friedrich Theodor Vischer, Das Symbol [1887], in: F. T. V., Ausgewählte
Werke, hg. von Theodor Kappstein, Bd. 8, Leipzig o. J. [1919], S. 344.
9 Johann Gottlob Regis, Mein Bekenntniß über den 2ten Theil von Göthes
Faust, veröffentlicht von Georg Pfeffer, Euphorion 15 (1908), S. 159.
10 Bericht von Anton Eduard Odyniec über ein Tischgespräch Goethes am
25. 8. 1829 (Gedenkausg., Bd. 23, S. 625).
11 Gedenkausg., Bd. 21, S. 634.
12 Vgl. die Briefe an Heinrich Meyer vom 20. 7. 1831, an Sulpiz Boisseree vom
24.11. 1831 und an Wilhe1m von Humboldt vom 17.3. 1832.
13 Daß Weiße die Allegorie als dominantes Formprinzip von >Faust H, erkannt
hat, wird darin sichtbar, daß er >Faust I, unter dem Titel. Von der Composi-
tion und Scenenfolge des ersten Theils der Tragödie« abhandelt.
14 Christian Hermann Weiße, Kritik und Erläuterung des Goethe'schen Faust,
Leipzig 1837, S. 61. C. H. Weiße (1801-66) war Schüler Hegels (was beson-
ders in seinem ,System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der
Schönheit<, 1830, sichtbar wird) und längere Zeit Professor für Philosophie in
Leipzig.

191
15 Ebd., S. 290.
16 VgJ. Wolfgang Streicher, Die dramatische Einheit von Goethes Faust, Tübin-
gen 1966, der zwar bemerkt, daß hier »Wesenheiten der außermenschlichen
Welt«, »personifizierte Begriffe«, »Allegorien«, »die Welt des Allgemeinen«
auftreten, diese Besonderheiten jedoch nur als Erweiterung dramatischer
Psychologie und als Konkretisation des Symbolbegriffs einschätzt. - Rainer
Dorner, Eros und Eigentum. Zu Geschichte und Utopie in Faust 11, Literatur-
magazin 2 (1974), S. 99: »In der humanen, versöhnten Gesellschaft - dies ist
Goethes Utopie - sind die Beziehungen der Individuen durch Eros, nicht
Tausch vermittelt. Dies ist für Goethe nur allegorisch darstellbar, denn
innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, deren Grenzen er nie transzendiert,
sind Liebe und Tausch unversöhnbare Gegensätze.« Auf die Richtigkeit des
ersten Satzes, auf den sachlichen Widerspruch des zweiten will ich nicht näher
eingehen. Signifikant ist der Ausdruck »nur allegorisch«, dem das Vorurteil
zugrunde liegt, die Allegorie sei einzig aus einem Modus der ästhetischen und
ideologischen Defizienz abzuleiten (weshalb Dorner sie auf die private Utopie
statt auf die gesellschaftliche Realität zurückführt).
17 In: Max KommereII, Geist und Buchstabe der Dichtung, 5. Aufl., Frankfurt
1962, S. 9-131. Die thematischen Einsichten Kommerells führt die von ihm
angeregte Dissertation von Dorothea Lohmeyer, Faust und die Welt, Potsdam
1940, fort. Leider sind ihre Erkenntisse über die Abstraktheit und Künstlich-
keit der in ,Faust II< entfalteten modernen Welt in der gänzlich umgearbeite-
ten 2. Aufl. des Buches (München 1975) durch den konventionellen Rück-
gang auf Goethes Natur-Ideen wieder verschüttet worden.
18 Ich zitiere den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller - mit bloßen
Datumsangaben - nach Bd. 20 der Gedenkausgabe. Alle nicht näher bezeich-
neten Zitate finden sich in dem Brief vom 16./17. 8. 1797.
19 Es ist eine bezeichnende spätere Beschönigung dieser ersten, unverarbeitet
gebliebenen Erfahrung, wenn Goethe in seinem 1815 entstandenen Aufsatz
über »Kunst und Altertum am Rhein und Main« behauptet, in Frankfurt
seien Kunst und Ökonomie versöhnt: »Und so brauchen wir nicht weit
umherzuschauen, wenn wir Beispiele suchen, daß Gewerbstätigkeit mit Liebe
zu Wissenschaft und Kunst, wie vor alters so auch in unsren Tagen, recht
wohl vereinbar sei.« (Gedenkausg., Bd. 12, S. 544 f).
20 VgJ. Otto Brunner, Das 'ganze Haus< und die alteuropäische ,Ökonomik<, in:
O. B., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen
1968, S. 103-127. Die Geltung der traditionellen ,Ökonomik<, endet im
18. Jahrhundert: »Die Ökonomik als Lehre vom Oikos umfaßt eben die
Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten im Hause, das
Verhältnis von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Hausherrn und Gesinde
(Sklaven) und die Erfüllung der in Haus- und Landwirtschaft gestellten
Aufgaben. Damit ist auch bereits die Einstellung zum Handel gegeben. Er ist
notwendig und erlaubt, soweit er der Ergänzung der Autarkie des Hauses
dient, er ist verwerflich, sobald er zum Selbstzweck wird, das heißt, auf
Gelderwerb an sich zielt.« (5. 105).
21 Reise in die Schweiz 1797 (Gedenkausg., Bd. 12, S. 99). Diese Aufzeichnun·
gen zur dritten Schweizerreise wurden von Eckermann zusammengestellt und
aus dem Nachlaß veröffentlicht. Sie sind ein aufschlußreiches Dokument für

192
Goethes detaillierte Beobachtung signifikanter Veränderungen im Stadtbild
und in den Lebensformen Frankfurts, die er im beschleunigten Aufstieg der
kapitalistischen Wirtschaftsform begründet sieht (s. vor allem S. 94-103).
22 Wie genau das von Goethe herausgestellte Beispiel bedeutsame Entwicklun-
gen der Zukunft bezeichnet, zeigt sich daran, daß Balzac ähnliche Verände-
rungen im Paris des 19. Jahrhunderts auffallen: »Heutzutage werden die
schönen Stadtpalais verkauft und abgebrochen und machen Straßen Platz.
Niemand weiß, ob seinen Nachkommen das Vaterhaus erhalten bleibt; denn
heute ist man in seiner Wohnung nur ein flüchtiger Gast wie in einer
Herberge, während man in früheren Zeiten, wenn man baute, meinte, oder
doch zu meinen glaubte, man schaffe für eine nie aussterbende Familie.«
(Honore de Balzac, Beatrix, in: H. d. B., Die menschliche Komödie, hg. von
Ernst Sander, Bd. 2, Gütersloh o. J., S. 814 f).
23 Gedenkausg., Bd. 19, S. 296.
24 Goethe vermerkt in den Reisenotizen, daß seit kurzem, »als Begleiter des
Krieges«, in Frankfurt eine starke Spielleidenschaft verbreitet sei (Gedenk-
ausg., Bd. 12, S. 101).
25 Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. Vorrede zur Braut von
Messina (1803), in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. von Otto Günt-
ter und Georg Witkowski, Bd. 20, Leipzig o. J., S. 255.
26 VgJ. Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in
Goethes Kunstanschauung, Leipzig 1937.
27 VgJ. als exemplarische und kompetente Apologie des naturhaft-gegenständli-
chen Ursprungs von Goethes Symbol vorstellung die Schriften von Ferdinand
Weinhandl, Über das aufschließende Symbol, Berlin 1929, bes. S.87-101,
und: Die Metaphysik Goethes, Berlin 1932 (z. B. S. 7: »Nicht Konstitution
des Gegenstandes, sondern Enthüllung des Gegenstandes als Leben bedeutet
also für Goethe Erfahrung«).
28 Verwunderlich ist, daß auch eine materialistisch ambitionierte Untersuchung
von Heinz Hamm, Der Theoretiker Goethe, Kronberg 1976, den Nachdruck,
den Goethe im Brief vom 16. 8. 1797 auf die materielle Seite seiner Erfahrung
legt, im Sinne Schillers kritisiert: »Goethe bucht die Leistung des denkenden
Menschen noch einmal auf das Konto des Gegenstandes« (5.93).
29 Hervorhebung von mir.
30 Goethe zu Riemer, 28. 8. 1808 (Gedenkausg., Bd. 22, S. 500).
31 Notiz im ,Morgenblatt für gebildete Stände<, 24.9.1809 (Gedenkausg.,
Bd. 9, 5.276).
32 Maximen und Reflexionen, Nr. 575.
33 Dorothea Lohmeyer, Faust und die Welt [2. Aufl.], München 1975, S. 13.
34 Maximen und Reflexionen, Nr. 314.
35 Frie~rich Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur (zwölfte Vorle-
sung), in: F. S., Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. 6, München u. a.
1961, S. 287. Mit dem gleichen Ausdruck - »Poesie des Unsichtbaren« - faßt
auch Hans Robert Jauß, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Litera-
tur, München 1977, S. 29, das Wesen der mittelalterlichen Allegorie.
36 Maximen und Reflexionen, Nr. 279.
37 Georg Gottfried Gervinus, Ueber den Göthischen Briefwechsel, Leipzig 1836,
S. 138. Gervinus ist der erste, der im Brief vom 16. 8. 1797 einen »großen und

193
höchst merkwürdigen Wendepunct in Göthes Leben und Dichtung« erkennt
(ebd., S. 136).
38 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar 1962, S. 433.
39 Ebd., S. 441.
40 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechi-
schen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: J. J. W., Kunsrtheoreti-
sche Schriften, Bd. 1, Baden-Baden/Strasbourg 1962, S. 43.
41 Gedenkausg., Bd. 8, S. 176.
42 Ausführlicher behandelt das nächste Kapitel diesen Aufsatz.
43 Vgl. den locus classicus für den Unterschied von Symbol und Allegorie: »Die
Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild,
doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu
halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei. - Die Symbolik
verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee
im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen
Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.« (Maximen und
Reflexionen, Nr. 1112 f).
44 Charles Baudelaire, Oeuvres compleres, ed. Claude Pichois, Paris 1961,
S. 81 f.
45 Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: W. B.,
Illuminationen, hg. von Siegfried UnseId, Frankfun 1961, S. 194.
46 Die Konfusion dieser Bestimmungen analysiert Burkhardt Lindner, Satire und
Allegorie in Jean Pauls Werk, Jb. d. Jean-Paul-Ges. 5 (1970), S. 7-6l.
47 Vgl. dafür das jüngste Sammelwerk: Formen und Funktionen der Allegorie,
hg. von Walter Haug, Stuttgart 1979 (einschließlich der umfangreichen
Bibliographie, S. 739-775), und den Forschungsbericht von Christel Meier,
Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung, Frühmirtel-
alterl. Studien 10 (1976), S. 1-69.
48 Den locus classicus bietet Quintilian, Institutio oratoria VIII, 6, 44: »Allego-
ria, quam inversionem interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit aut
etiam interim contrarium. Prius fit genus plerumque continuatis translationi-
bus«, zu deutsch: »Die Allegorie, die wir mit .Umkehrung< übersetzen, sagt
etwas mit Worten, etwas anderes dem Sinne nach, manchmal sogar das
Gegenteil. Eine erste Art entsteht durch fongesetzte Metaphern«. Meine
Übersetzung bezieht »prius genus« nicht - wie etwa die von Helmut Rahn
(Darmstadt 1975) - auf die vorangehende aut-aut-Konstruktion, sondern auf
die 6, 46 folgende zweite Art von Allegorie »sine translatione«, d. h. ohne
Metaphern. Da Quintilian offensichtlich zwischen Allegorien mit und ohne
Metaphern unterscheidet, stellt die meistens referierte Definition, er verstehe
unter der Allegorie »die als Gedanken-Tropus fortgesetzte Metapher« (Hein-
rich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, 3. Aufl., München 1967,
S. 139), eine Verkürzung dar.
49 Belege bei Henri de Lubac, Exegese medievale, T. 1, Bd.2, Paris 1959,
S. 530 f, z. B. »allegoria fidem aedificat« (Gregor der Große), »transivimus
allegoriarum umbras, aedificata est fides« (Bernhard von Clairvaux), »allego-
ria rectam fidem informat« (Hugo von St. Victor), »in allegoria est fidei
instructio« (Alexander von Canterbury); vgl. insgesamt Lubacs Kapitel »L'al-
legorie, sens de la Foi«, S. 489-548.

194
50 Pedro Calderon de la Barca, EI verdadero Dios Pan, zit. und übers. von
Sebastian Neumeister, Die Verbindung von Allegorie und Geschichte im
spanischen Fronleichnamsspiel des 17. Jahrhunderts, in: Allegorie [so Anm.
47], S. 296.
51 Das Verfahren und seine Anwendungsgebiete hat vor allem die von Friedrich
Ohly initiierte ,mittelalterliche Bedeutungsforschung< erschlossen.
52 Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, hg. von Richard Alewyn,
Tübingen 1963, S. 7.
53 Gedenkausg., Bd. 13, S. 122-125.
54 Auch bei einer historischen Figur wie Winckelmann sah Goethe ihre Nach-
wirkung an eine geradezu körperliche Gegenwart gebunden (während die
allegorische Denkweise die Gegensätze von lebendigem Körper, Leiche und
verklärtem Leib zu demonstrieren liebt): "Er hat als Mann gelebt, und ist als
ein vollständiger Mann von hinnen gegangen. Nun genießt er im Andenken
der Nachwelt den Vorteil, als ein ewig Tüchtiger und Kräftiger zu erscheinen:
denn in der Gestalt, wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den
Schatten, und so bleibt uns AchilI als ewig strebender Jüngling gegenwärtig.«
(Winckelmann und sein Jahrhundert, Gedenkausg., Bd. 13, S. 450). Bezeich-
nend und ganz im Sinne des Aufsatzes ,Ober die Gegenstände der bildenden
Kunst< ist der Vergleich mit der Erinnerung an eine mythische Gestalt.
55 Georg Wilhe1m Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, Frank-
furt 1970 (= G. W. F. H., Werke. Theorie-Werkausgabe, Bd. 13), S. 236 ff.
56 Vgl. die ähnliche Formulierung Hegels (ebd., S. 237): "Die wahre Selbstän-
digkeit besteht allein in der Einheit und Durchdringung der Individualität und
Allgemeinheit, indem ebensosehr das Allgemeine durch das Einzelne erst
konkrete Realität gewinnt, als das einzelne und besondere Subjekt in dem
Allgemeinen erst die unerschütterliche Basis und den echten Gehalt seiner
Wirklichkeit findet.«
57 Vgl. die Textsammlung von Bengt Algot Sörensen, Allegorie und Symbol,
Frankfurt 1972, sowie vom selben Autor: Symbol und Symbolismus in den
ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik,
Kopenhagen 1963.
58 Karl Philipp Moritz, Schriften zur Ästhetik und Poetik, hg. von Hans Joachim
Schrimpf, Tübingen 1962, S. 112. Der Aufsatz erschien erstmals 1789 in der
,Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften
zu Berlin<. Fast gleichlautend heißt es in Hegels Ästhetik: "die klassische
Schönheit hat zu ihrem Inneren die freie, selbständige Bedeutung, d. i. nicht
eine Bedeutung von irgend etwas, sondern das sich selbst Bedeutende und
damit auch sich selber Deutende.« (Werke [so Anm. 55], Bd. 14, S. 13).
59 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Wiesbaden 1966
(= A. S., Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, Bd. 2), S. 279 f. Für
diese Topik der Allegoriekritik im 19. Jahrhundert ein weiteres Beispiel: "Die
Personifikation, als Versinnlichung eines Begriffes, wird dann zur Allegorie,
wenn nicht die Schönheit der Darstellung, sondern der Begriff selbst als
Hauptsache und Zweck erscheint« (Franz Grillparzer, Aesthetische Studien,
in: F. G., Sämtliche Werke. 5. Ausg., hg. von August Sauer, Bd. 15, Stuttgart
o. J., S. 21).
60 Wie hilfreich, ja unverzichtbar literarische Quellen und Parallelen für die

195
Entzifferung allegorischer Gemälde sind, haben vor allem die Erfolge Aby
Warburgs und seiner Schüler (Erwin Panofsky, Edgar Wind, Rudolf Wittko-
wer u. a.) bei der Interpretation der Renaissancekunst gezeigt. - Für das
korrespondierende Verfahren, d. h. die Deutung von Literatur durch verbor-
gene Bildbezüge, bietet Albrecht Schönes ,Emblematik und Drama im Zeital-
ter des Barock< ein prominentes Beispiel.
61 Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göp(ert, Bd.6,
München 1974, S. 10 f.
62 Vgl. Conrad Wiedemann, Bestrittene Individualität, in: Allegorie [so Anm.
47], S. 574-591, der diese »allegorische Orientierungsarbeit« (S. 585) an der
Kunst des 17. Jahrhunderts aufdeckt.
63 Den dämonischen Charakter der Allegorie betont Angus Fletcher, Allegory,
Ithaca N. Y. 1964.
64 Vgl. Hans RobertJauß, Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition
der ,Psychomachia<, in: Medium Aevum Vivum. Fs. Walter Bulst, Heidelberg
1960, S. 179-206.
65 Friedrich Theodor Vischer, Overbecks Triumph der Religion, in: F. T. V.,
Kritische Gänge, hg. von Robert Vischer, 2. Aufl., Bd. 5, München 1922,
S. 8. Vischers Aufsatz, eine Polemik gegen allegorische und katholisierende
Kunst in einem, erschien 1841.
66 Johann Gottfried Herder, Studien und Entwürfe zur Plastik, in: H., Sämtliche
Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 8, Berlin 1892, S. 107. Zur Erläute-
rung von »Historisch«: die Bildhauerei »weiß im höchsten Grad, selbst von
keiner historischen Person, sie fühlt bl os lebendige Wesen!«
67 Moritz, Schriften zur Ästhetik [s. Anm. 58], S. 115.
68 Vgl. die Unterscheidung »zwischen symbolischer und allegorischer Darstel-
lung«, die Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker,
Bd. 1, Leipzig/Darmstadt 1810, S. 83, in Anlehnung an Goethe trifft: »Es ist
daher auch der Unterschied bei der Arten in das Momentane zu setzen, dessen
die Allegorie ermangelt. In einem Augenblick und ganz gehet im Symbol eine
Idee auf, und erfaßt alle unsere Seelenkräfte. Es ist ein Strahl, der in gerader
Richtung aus dem dunkelen Grunde des Seyns und Denkens in unser Auge
fällt, und durch unser ganzes Wesen fährt. Die Allegorie locket uns aufzubli-
ken, und nachzugehen dem Gang, den der im Bilde verborgene Gedanke
nimmt. Dort ist momentane Totalität: hier ist Fortschritt in einer Reihe von
Momenten. «
69 Vgl. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung
zu Luthers Hermeneutik, 2. Aufl., Darmstadt 1962, bes. S. 85 ff.
70 Der Patriot (Bd. 2,1725), hg. von Wolfgang Martens, Berlin 1970, S. 21.
71 Ein Beispiel bringt Wolfgang Martens, Ober die Tabakspfeife und andere
erbauliche Materien. Zum Verfall geistlicher Allegorese im frühen 18. Jahr-
hundert, in: Verbum et Signum. Fs. Friedrich Ohly, Bd. 1, München 1975,
S. 517-538. Wichtig ist Martens' Hinweis, daß in den Erbauungsschriften die
allegorische Interpretation ihre Objektivität zugunsten individueller Ausle-
gungen verliert und überdies durch eine realistische Beschreibung von Einzel-
heiten erschwert wird.
72 Hans Robert Jauß, Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie, in: Allegorie [so
Anm. 47], S. 688.

196
73 Vgl. die Aufsätze von Cramer, Neumeister, Helmich und Plett in: Allegorie [s.
Anm. 47], für die antiken Vorstufen der politischen Allegorie, besonders in
der Mahnrede (ainos), s. Karl Reinhardt, Personifikation und Allegorie, in:
K. R., Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, S. 7-40.
74 Symptomatisch ist, daß der umfangreiche und repräsentative Sammelband
über >Formen und Funktionen der Allegorie< keinen Beitrag zum Ende oder
zur Kritik der Allegorie enthält. Aus einem Diskussionsbericht (S. 729 ff) geht
hervor, daß Benjamins These über die Entleerung der allegorischen Bedeutun-
gen im 17. Jahrhundert allgemein zurückgewiesen wird.
75 Ich zitiere HegeIs Schriften nach der Ausgabe: Georg Wilhe1m Friedrich
Hegel, Werke. Theorie-Werkausgabe, 20 Bde., Frankfurt 1969 ff, mit Band-
und Seitenzahl. Die >Vorlesungen über die Ästhetik< umfassen Bd. 13-15. -
Wie bereits aus dem Zitat hervorgeht, hat HegeIs Begriff des »Symbols«
nichts mit dem Goethes zu tun. HegeIs Gebrauch des »Symbolischen« fällt in
etwa mit Goethes Bestimmung des »Allegorischen« zusammen, während sich
Goethes »Symbol« mit HegeIs Begriff der »klassischen Kunstform« deckt.
HegeIs Verwendung des Terminus »Symbol« schließt sich enger als die
Goethes an den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts an.
76 Z. B. 13,291: »In der modemen Kunst zeigt sich zwar auch eine Auffassung
bestimmter und in sich zugleich allgemeiner Mächte. Dies sind jedoch zum
größten Teil nur kahle frostige Allegorien.«
77 Die ausführliche Fassung von HegeIs Begriff des bürgerlichen Staats findet
sich in den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, § 182-187 (7,
339-345).
78 Im Kapitel über »Beobachtende Vernunft« vermerkt die >Phänomenologie des
Geistes< auch die Abstraktionstendenz der naturwissenschaftlichen Gesetzes-
bildung, die die archaische Form sinnlicher Erfahrung auflöst: die Beobach-
tung der Natur suche »nach dem Gesetze und dem Begriffe«, die »zu reinen
Momenten oder Abstraktionen werden, so daß das Gesetz in der Natur des
Begriffes hervortritt, welcher das gleichgültige Bestehen der Wirklichkeit an
sich vertilgt hat« (3, 192). Vgl. die Aufzählung der »allgemeinen Formen,
Gesetze« etc. in der >Ästhetik< (13, 25).
79 Das Verhältnis von allegorischer Personifikation und gesellschaftlicher Cha-
raktermaske wird im nächsten Kapitel genauer untersucht.
80 Einige ästhetische Folgen der modemen Abstraktheit handelt Hegel unter
dem Titel der »prosaischen Vorstellung« ab: bei ihr »kommt es nicht auf dies
Bildliche an, sondern auf die Bedeutung als solche, welche sie sich zum Inhalte
nimmt; wodurch das Vorstellen zu einem bloßen Mittel wird, den Inhalt zum
Bewußtsein zu bringen« (15, 280). Auch hier fallen übereinstimmungen mit
seiner Kritik der Allegorie auf.
81 Zu >Faust I< hatte ein anderer Schüler HegeIs, H. F. W. Hinrichs, bereits seine
>Ästhetischen Vorlesungen über Goethes Faust als Beitrag zur Anerkennung
wissenschaftlicher Kunstbetrachtung< (Halle 1825) veröffentlicht.
82 über den grundsätzlichen Widerspruch zwischen partikularer Wirklichkeit
und Verstandesabstraktionen in der Modeme sowie über die Möglichkeit
seiner Auflösung vgl. bes. 13, 80-82.
83 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K. M.!Friedrich
Engels, Werke, Erg.-Bd., T. 1, S. 564.

197
84 Ebd., S. 566.
85 Ich zitiere das ,Kapital< nach Bd. 23-25 der ,Werke< von Marx und Engels.
Seitenangaben ohne Bandzahl beziehen sich auf Bd. 1 des ,Kapital<, d. h. auf
Bd. 23 der MEW.
86 S. Bd. 2 des ,Deutschen Wörterbuchs< (der 1860, also 7 Jahre vor dem
,Kapital<, erschienen ist): »Charaktermaske f das gesicht oder das äuszere,
diese charaktermaske des verborgenen ich. J. P. aest. 2, 58«. Die Stelle findet
sich in der ,Vorschule der Ästhetik<, in: Jean Paul, Werke, hg. von Norbert
Miller, Bd. 5, München 1963, S. 208. Einen Vergleich über »Subjektivität als
Trauma bei Jean Paul und Marx« stellt an: Jochen Hörisch, Charaktermas-
ken, Jb. d. Jean-Paul-Ges. 14 (1979), S. 79-96.
87 Hefte zur epikuräischen, stoischen und skeptischen Philosophie, in: Werke,
Erg.-Bd., T. 1, S. 214.
88 Jean Paul wird in den Schriften von Marx öfters genannt. Das Register der
Sammlung Kar! Marx/Friedrich Engels, Ober Kunst und Literatur, 2 Bde.,
Frankfurt/Wien 1968, enthält fünf Verweise auf Jean Pau!.
89 Hervorhebungen von mir.
90 Anne-Robert Jacques Turgot, Reflexions sur la formation et la distribution
des richesses, in: T., Ecrits economiques, Paris 1970, S. 149: »L'usage des
paiements en argent a donne lieu a la distinction entre le vendeur et l'ache-
teur«; Adam Müller, Versuche einer neuen Theorie des Geldes, Leipzig!
Altenburg 1816, S. 32: »wir sehen nur Tausche des Privateigenthums gegen
einander: die Persönlichkeit der Tauschenden bleibt fast ganz außer dem
Spiel, außer der Verpflichtung«; S. 33: »Im Gelde, in einer allgemein gültigen,
jedem annehmlichen Waare verbirgt sich die gesammte Persönlichkeit.«
91 Ober die Quellen der ökonomischen Kenntnisse vor allem des späten Goethe
unterrichten: Pierre-Paul Sagave, Französische Einflüsse in Goethes Wirt-
schaftsdenken, in: Festschrift für Klaus Ziegler, Tübingen 1968, S. 113-131;
Anneliese Klingenberg, Zur ökonomischen Theorie Goethes in den» Wander-
jahren«, Goethe 32 (1970), S. 207-220. Außerdem kann ich mich auf mündli-
che Hinweise und schriftliche Vorarbeiten von Bernd Mahl stützen, der eine
Dissertation über Goethes wirtschafts theoretisches Wissen vorlegen wird.
92 Nach der Aufstellung von Hans Ruppert, Goethes Bibliothek, Weimar 1958.
93 Mit dem Göttinger Nationalökonomen Georg von Sartorius unterhielt Goe-
the einen Briefwechsel; er besaß und las mehrere seiner Schriften, darunter:
Von den Elementen des National-Reichthums, und von der Staatswirthschaft,
nach Adam Smith, Göttingen 1806. Seit 1810 traf Goethe fast in jedem Jahr
den böhmischen Grafen Georg von Buquoy, Geldtheoretiker und Erbauer
einer Dampfmaschine aus Holz; Buquoy schickte seine ,Theorie der National-
wirthschaft< (Leipzig 1815) mit handschriftlicher Widmung »Herrn Geheime-
rath von Göthe. Du, der Du die Welt mit den Gütern des höhern Menschen so
reich beschenktest, empfange hier eine Zusammenstellung von Maximen über
die Hervorbringung und Vertheilung irdischer Güter bei den Nationen. Auch
dieser Gegenstand wird Dich interessieren; denn was hat wohl des Menschen
Geißt sich je als Thema seines Denkens Dichtens und Untersuchens ersonnen,
woran Du nicht Theil genommen hättest? Graf Buquoy« (zit. nach Ruppert,
Goethes Bibliothek [so Anm. 92J, Nr. 2935).
94 Es wird deutlich sein, daß mein Versuch, die allegorische Struktur der Ware

198
zu bestimmen, mit dem Walter Benjamins konkurriert, wie er ihn vor allem
im >Zentralpark<, dem letzten Teil der Baudelaire-Studien, andeutet. Die
vielversprechenden Aphorismen Benjamins über die Ähnlichkeit von Allego-
rie und Ware verzichten jedoch auf eine gen aue Rückbindung an die Marx-
sehe Analyse der Wertform, so daß sie meist über geistreiche, aber ungesi-
cherte Anspielungen nicht hinauskommen. Vgl. dazu den Exkurs zu Benja-
mins Allegoriebegriff.
95 Die Äquivalentform hat bereits, worauf Marx selbst hinweist (73), Aristoteles
behandelt. Die Darstellung Turgots etwa kommt der Marxschen schon sehr
nahe: »Le commerce donne a chaque marchandise une valeur courante
relativement a chaque autre marchandise; d'ou il suit que toute marchandise
est l'equivalent d'une certaine quantite de toute autre marchandise, et peut
etre regardee comme un gage qui la represente.« (Reflexions [so Anm. 90], S.
142; »Der Handel gibt jeder Ware ihren geltenden Wert im Verhältnis zu
jeder anderen Ware; daraus folgt, da~ jede Ware das Äquivalent einer
bestimmten Quantität jeder anderen Ware ist und als ein Pfand für das
angesehen werden kann, was es repräsentiert«).
96 Im »Anhang zu Kapitel I, 1«, der der 1. Aufl. des >Kapital<, Bd. 1, Hamburg
1867, S. 764 ff, beigegeben war (das Zitat: S. 773).
97 Ebd., S. 771.
98 Adam Smith, Eine Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohl-
standes (1776), Bd. 1, Jena 1923, S. 37; »Geld oder Güter [...] enthalten den
Wert einer bestimmten Quantität Arbeit, die man gegen etwas vertauscht,
wovon man zurzeit 'glaubt, daß es den Wert einer gleichen Quantität ent-
halte« (ebd.). Auch der Wert des Goldes bemesse sich nach der Arbeitszeit, die
man zu seiner Förderung benötige (S.40), Und schließlich: »Die Arbeit
bestimmt den Wert nicht nur jenes Teils des Preises, der selbst wieder in
Arbeit aufgeht, sondern auch desjenigen, welcher in Rente, und desjenigen,
welcher in Kapitalprofit aufgeht« (S. 63). Die Zitate beweisen, daß manche
Einsichten, die als genuin marxistisch gelten, bereits der klassischen National-
ökonomie des 18. Jahrhunderts angehören,
99 Die historische Entwicklung der abstrakten, gesellschaftlichen Arbeit behan-
delt Marx an späterer Stelle, im 12. (»Teilung der Arbeit und Manufaktur«)
und 13. Kapitel (»Maschinerie und große Industrie«) des 1. Bandes.
100 Auch diese Unterscheidung und Abfolge der drei Stufen ist schon im 18. Jahr-
hundert geläufig, vgl. Turgot, Reflexions [so Anm. 90], S. 142-147.
101 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/Wien
o. J., S. 82.
102 Smith, Untersuchung [so Anm. 98], Bd. 1, S. 47: »Da es nun der Nominal-
oder Geldpreis der Waren ist, der am Ende über die Klugheit oder Unklugheit
aller Käufe und Verkäufe entscheidet und somit fast alle Geschäfte des
täglichen Lebens, in denen es auf den Preis ankommt, regelt, so ist es kein
Wunder, daß man auf ihn so viel mehr, als auf den wirklichen Preis [d. h. den
Preis der Arbeit] geachtet hat.«
103 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 204 (= Werke [so Anm. 55],
Bd. 7, S. 357).
104 Diesen Gedanken verfolgt besonders Alfred Sohn-Rethel, Geistige und kör-
perliche Arbeit, Frankfurt 1970.

199
105 Marx, Grundrisse [so Anm. 101], S. 545.
106 Hamburger Ausg., Bd. 3, 8. Aufl., S. 529.
107 Streicher, Goethes Faust [s. Anm. 16], S. 36 ff.
108 Wilhe1m Emrich, Die Symbolik von Faust 11,3. Aufl., Frankfurt/Bonn 1964,
S.38.
109 Zu Riemer (Gedenkausg., Bd. 23, S. 793).
110 Zitate und Zählung der Paralipomena zu .Faust 11< folgen der Weimarer Ausg.
(Abt. 1, Bd. 15, T. 2).
111 Vischer, Zum zweiten Teile von Goethes Faust, in: F. T. V., Kritische Gänge
[so Anm. 65], Bd. 2, S. 322.
112 Johann Jacob Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen
Gemählde der Dichter, Zürich 1741, S. 601.
113 Emrich, Symbolik von Faust 11 [so Anm. 108], S.39. Bereits der Titel des
Buchs kündigt den Irrweg an.
114 Vgl. die verwandte, wenngleich harmloser formulierte Nahstellung von
Reichtum und Dichtung in den .Wanderjahren< (1. Buch, 6. Kap.): »Warum
schaut alles nach dem Reichen, als weil er, der Bedürftigste, überall Teih,eh-
mer an seinem Überflusse wünscht? Warum beneiden alle Menschen den
Dichter? weil seine Natur die Mitteilung nötig macht, ja die Mitteilung selbst
ist.« (Gedenkausg., Bd. 8, S. 77). Aus der vagen Parallele in den .Wanderjah-
ren< wird in .Faust 11< strikte Abhängigkeit.
115 Dies wird im nächsten Kapitel genauer behandelt.
116 .. Staatsschulden« behandelt Adam Smith im letzten Kapitel seiner .Untersu-
chung< [so Anm. 98]; zu den »Antizipationen« s. bes. Bd. 3, S. 315 f.
117 Ähnlich ironisch verhalten sich szenische Darstellung und inhaltliche Bedeu-
tung im 4. Akt zueinander: .. So erscheint in der Belehnungsszene das gesamte
mittelalterliche Lehenswesen als Raum, in dem ganz klein, im Hintergrund,
auch Faust sein Lehen empfängt, wie eine kleine Gruppe im Verschwindungs-
punkte eines weiträumigen manieristischen Gemäldes. Doch durch diese Art
der Raumbehandlung wird erst der ironische Kontrast, um den es geht,
herausgetrieben, der Kontrast von repräsentativ-konventioneller Machtstel-
lung und unscheinbar tätigem Geist; wie nichtssagend sich eins vom andern
aus gesehen ausnehmen muß, wird offenbar.« (Karl Reinhardt, Die klassische
Walpurgisnacht, in: Interpretationen, hg. von Jost Schillemeit, Bd. 2, Frank-
furt/Hamburg 1965, S. 114).
118 Eine - allerdings allgemeiner gehaltene - gesellschaftliche Begründung der
theatralischen Formen im 1. Akt hat schon Kar! Rosenkranz gegeben, dessen
Besprechung von .Faust 11< 1833 in den .Jahrbüchern für wissenschaftliche
Kritik< erschien: »Weil die Gesellschaft in der Hervorbringung des Scheines
ihr Wesen hat, strebt ihre innere Unruhe zum Künstlichen; jeder fühlt sich ,.m
wohlsten, wenn er gekannt unerkannt bleibt und so entwickelt sich die
Neigung zum Theatralischen; denn vom Dramatischen ist hier nicht die
Rede.« (Goethe im Urteil seiner Kritiker, hg. von Karl Robert Mandelkow,
T. 2, München 1977, S. 59).
119 Die Lehre Saint-Simons, hg. von Gottfried Salomon-Delatour, Neuwied
1962, S. 67.
120 Vgl. die Parallele in der .Lehre Saint-Simons., S. 50: »Arme junge Mädchen!

200
Man versteigert euch wie Sklaven. An Festtagen schmückt man euch, um euch
anzupreisen. «
121 Smith, Untersuchung [so Anm. 98], Bd. 1, S. 28.
122 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Werke [so Anm. 55],
Bd. 7), S. 339 f (= § 182).
123 Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts [so Anm. 45], S. 191.
124 Eine frühe Verbindung von Warenkatalog und Kunstgenuß konnte Goethe in
dem 'Journal des Luxus und der Moden< des Weimarer Unternehmers Bertuch
kennen lernen; das Neujahrsblatt dieser Zeitschrift für 1791, entworfen von
dem mit Goethe befreundeten Maler Georg Melchior Kraus, lautet: »Frieden
der Welt, die Palme den Helden, Lorbeer den Musen und Hauben und
Hütchen den Schönen zum Neuen Jahre«. Noch 1831 hatte sich Goethe Bd. 1
(1786) von Bertuchs Modejournal ausgeliehen (s. Elise von Keudell, Goethe
als Benutzer der Weimarer Bibliothek, Weimar 1931, Nr. 2225).
125 Honore de Balzac, Cesar Birotteau (in: B., La Comedie humaine, Bd. 5, hg.
von Marcel Bouteron, Paris 1952, S. 346), über die "rnagasins des nouveau-
tes« um 1800, »qui depuis se sont etablis dans Paris avec plus ou moins
d'enseignes peintes, banderoies flottantes, montres pleines de chales en balan-
~oire, cravates arrangees comme des chateux de cartes, et mille autres
seductions commerciales, prix fixes, bandelettes, affiches, illusions et effets
d'optique portes a un tel degre de perfectionnement que les devantures de
boutiques sont devenues des poemes commerciaux.«
126 Marx, Kapital [so Anm. 85], Bd. 1, S. 97.
127 Ebd., S. 85.
128 Buquoy, Die Theorie der Nationalwirthschaft [so Anm. 93], S. 33-137.
129 Johann Georg Büsch, Abhandlung von dem Geldsumlauf in anhaltender
Rücksicht auf die Staatswirtschaft und Handlung, T. 2, Hamburg/Kiel 1780,
S.76 (Goethe hatte dieses Buch 1784 gekauft); Vgl. Adam Smith über die
Klasse der unproduktiven Arbeiter: »Zu der nämlichen Klasse müssen sowohl
einige der ernstesten und wichtigsten, als auch einige der nichtigsten Berufe
gerechnet werden: Geistliche, Juristen, Ärzte, Gelehrte aller Art; Schauspieler,
Possenreißer, Musiker, Opernsänger, Operntänzer usw.« (Untersuchung [so
Anm. 98], Bd. 2, S. 82).
130 Vgl. Marx, Kapital [so Anm. 85], Bd. 1, S.351: »Die Kooperation der
Lohnarbeiter ist ferner bloße Wirkung des Kapitals, das sie gleichzeitig
anwendet. Der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produk-
tiver Gesamtkörper liegen außer ihnen, im Kapital, das sie zusammenbringt
und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher
ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht
eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft.«
131 Bereits Goethes Schwager Johann Georg Schlosser kleidete Probleme .der
modernen Wirtschaft in antikes Gewand. In seinem Buch ,Xenocrates oder
Ueber die Abgaben. An Göthe< (Basel 1784) behandelte er Steuerfragen im
Dialog zwischen den beiden Athenern Xenocrates und Demetrius.
132 Vgl. den Katalog ,Weltausstellungen im 19. Jahrhundert<, bearb. von Chri-
stian Beutler, München 1973, z. B. die Abb. S. 11.
133 Vor allem Gustav von Gülich vertrat in seiner ,Geschichtlichen Darstellung

201
des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus< (2 Bde., Jena 1830) die These,
daß auch der Krieg dem Handelsverkehr zugute komme.
134 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, hg. von Jakob Baxa, Jena 1922,
Bd. 2, S. 148. Vgl. Claudia Henn-Schmölders, Sprache und Geld oder» Vom
Gespräch., Jb. d. Dt. Schiller-Ges. 21 (1977), S. 327-351 (zu diesem Zitat
S.343).
135 Ebd., Bd. 1, S. 354.
136 Gülich, Darstellung des Handels [so Anm. 133], Bd. 1, S. 32 f. Ausführlich
wird der Aufstieg der Bankiers dargestellt: Bd.2, S. 560-569 (»Ober den
Geldhandel insbesondere.). Ähnlich hatte schon Georg Sartorius die Folgen
der Französischen Revolution eingeschätzt: »Das Uebergewicht, welches das
bewegliche Eigenthum und das Geld allmählich erhalten hatte, wodurch die
alte, auf Grundbesitz ruhende Abhängigkeit untergraben ward, führte auch
Menschen mit andern Bedürfnissen, und, wie vorauszusehen war, andere
Verfassungen und Verwaltungsarten herbey. (G. S., Ueber die Gefahren,
welche Deutschland bedrohen, und die Mittel, ihnen mit Glück zu begegnen,
Göttingen 1820; auch dieses Buch war in Goethes Besitz).
137 Gedenkausg., Bd. 8, S. 312.
138 Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, in: A. S., Sämtliche
Werke, hg. von Wolfgang von Löhneysen, Bd.4, Stuttgart/Frankfurt 1963,
S.415.
139 Vgl. Goethe, Symbolik, (Gedenkausg., Bd. 16, S. 855): »Verba valent sicut
nummi. Aber es ist ein Unterschied unter dem Gelde. Es gibt goldne, silberne,
kupferne Münzen und auch Papiergeld. In dem erstem ist mehr oder weniger
Realität, in dem letzten nur Konvention.«
140 Vgl. meinen Beitrag: Fausts Ende, Argument 19 (1976), H. 99, S. 772-779.
141 Herder, Kalligone, in: H., Sämtl. Werke [so Anm. 66], Bd. 22, S. 326.
142 Der Kaiser, unmittelbar nach der Mummenschanz auf das fatale »Flammen-
gaukelspiel. angesprochen, erklärt: • Ich wünsche mir dergleichen Scherze
viel« (5987 f). Wenn Faust in der folgenden Szene von der Verlegenheit
berichtet, »Der Kaiser will, es muß sogleich geschehn, I Will Helena und Paris
vor sich sehn« (6183 f), so sieht er sich mit eben jenem Wunsch nach
Fortsetzung der Fastnachtsscherze konfrontiert.
143 Helena versucht, Mephistos Vorwurf, der Metaphern bürgerlicher Wirtschaft
benützt, durch die Berufung auf die feudale Gesellschaftsordnung zum
Schweigen zu bringen: »Nicht, was der Knecht sei, fragt der Herr, nur, wie er
dient. (8794). Mephistos Metaphorik ist also nicht zufällig, sondern bezeich-
net den sozialen Antagonismus von Helenas ursprünglicher Welt und der
modernen Perspektive auf diese vergangene Welt.
144 Zu Eckermann, 16. 12. 1829 (Gedenkausg., Bd. 24, S. 376).
145 Harold Jantz, Tbe Mothers in Faust. Tbe Myth of Time and Creativity,
Baltimore 1969, S. 29. Seine Quelle ist Claudius Claudianus, De Consulatu
Stilichonis, 11, 424-445.
146 Vgl. ebd., S. 57 und 75.
147 An Wilhe1m von Humboldt, 22. 10. 1826 (Gedenkausg., Bd. 21, S. 708).
148 In einem Brief an Knebel schreibt Goethe, ihm werde seine .Sammlung von
eigenhändigen Briefen bedeutender Menschen immer interessanter, ja zuwei·
len furchtbar; man wird in ein vergangenes Leben als in ein gegenwärtiges

202
versetzt, und wird verleitet das gegenwärtige als ein vergangenes anzusehn«
(17.3. 1817, ebd., S. 221).
149 An Justus Friedrich Karl Hecker, 7. 10. 1829 (ebd., S. 867); vgl. an Wilhelm
von Humboldt, 1. 12. 1831: »so gesteh ich gern daß in meinen hohen Jahren
mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in
fernen Reichen oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz
eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich« (ebd.,
S.1024).
150 Goethe, Noten und Abhandlungen zum Divan, Gedenkausg., Bd. 3, S. 543.
151 Vgl. Hannelore Schlaffer, Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historis-
mus, Frankfurt 1975, bes. die Einleitung.
152 Gottfried Hermann, Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie,
Leipzig 1819, S. 10.
153 Ebd., S. 130 f.
154 KommereII, Geist und Buchstabe [so Anm. 17], S. 70.
155 Weiße, Kritik und Erläuterung [so Anm. 14], S. 253 f.
156 Vgl. Hellmuth Petriconi, Das neue Arkadien, Antike u. Abendland 3 (1948),
S.187-200.
157 Weiße, Kritik und Erläuterung [so Anm. 14], S. 263.
158 Vgl. Jacob Grimm, Gedanken wie sich die sagen zur poesie und geschichte
verhalten (1808), in: J. G., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, S.400.
Grimm geht davon aus, daß »poesie und geschichte in der ersten zeit der
völker in einem und demselben flusz strömen«; »nachdem aber die bildung
dazwischen trat, und ihre herrschaft ohne unterlasz erweiterte«, ging diese
ursprüngliche Einheit der Sage, »poesie und geschichte sich auseinander
scheidend«, verloren.
159 Zitiert von Erich Trunz im Kommentar zur Hamburger Ausg., Bd. 3, S. 578.
160 Herder, Kalligone [so Anm. 141], S. 325.
161 Vgl. Roger Hinks, Myth and Allegory in Ancient Art, London 1939, S. 13,
zur» his tory of ancient gods and heroes in the middle ages and the renascence.
They survive as daemons; they are interpreted euhemeristically as the shad-
ows of forgotten historical characters; they signify the heavenly bodies named
after them; they are moralized into personifications of the passions, and the
like.«
162 KommereII, Geist und Buchstabe [so Anm. 17], S. 61.
163 Darstellungen klassischer Attitüden waren eine beliebte, Goethe wohlbe-
kannte Unterhaltung der Zeit um 1800. Vgl. August Langen, Attirude und
Tableau in der Goethezeit, Jb. d. Dt. Schillerges. 12 (1968), S. 194-258, und
Ernst Beutler, Corona Schröter, in: E. B., Essays um Goethe, Bremen 1957,
S.486, zur >Proserpina<-Aufführung 1815 (nach einem Bericht Riemers im
>Journal des Luxus und der Moden<): »Das Gebärdenspiel nahm die klassi-
schen Attitüden zum Vorbild, wie sie die Lady Hamilton nach antiken
Vasenbildern und Basreliefs vorzuführen liebte; Goethe hatte sie in Neapel
gesehen und auch im Jahre 1810 die Frau Hendel-Schütz in ähnlichen Posen
bewundert.«
164 Zu Eckermann, 20. 12. 1829 (Gedenkausg., Bd. 24, S. 380).
165 Vgl. Goethe an Zelter, 19. 10. 1829: »der Abwesende ist eine ideale Person;
die Gegenwärtigen kommen sich einander ganz trival vor. Es ist ein närrisch

203
Ding, daß durchs Reale das Ideelle gleichsam aufgehoben wird, daher mag
denn wohl kommen daß den Modemen ihr Ideelles nur als Sehnsucht
erscheint.« (Gedenkausg., Bd. 21, S. 870).
166 Der Astrolog nennt diesen Titel nicht, da Paris Helena entführt, sondern erst
in dem Augenblick, da Faust sich auf sie stürzt.
167 Vgl. Catherina Philippa Bracken, Antikenjagd in Griechenland. 1800-1830,
München 1977.
168 Vgl. >Elgin Marbles, (handsehr. Bericht für den Großherzog Karl August,
23.5. 1817) und >Elginische Marmore, (Beilage eines Briefes an den Kanzlei-
rat Chr. G. Vogel, 23. 6. 1817), in: Gedenkausg., Bd. 13, S. 733 f.
169 Berthold Hinz, Säkularisation als verwerteter »Bildersturm«, in: Bildersturm,
hg. von Martin Warnke, München 1973, S. 116.
170 Gedenkausg., Bd. 13, S. 1009 (zuerst veröffentlicht 1827 in der >Ausgabe
letzter Hand,).
171 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., Tübingen
1965, S. 128: »es ist offenbar doch kein zufälliges Zusammentreffen, daß das
ästhetische Bewußtsein, das den Begriff der Kunst und des Künstlerischen als
Auffassungsform überlieferter Gebilde entwickelt und damit die ästhetische
Unterscheidung vollzieht, gleichzeitig ist mit der Schaffung von Sammlungen,
die alles, was wir so ansehen, im Museum vereinigen. Wir machen damit ein
jedes Kunstwerk gleichsam zum Bilde; indem wir es aus allen seinen Lebens-
bezügen und dem Besonderen seiner Zugangsbedingungen ablösen, wird es
wie ein Bild in einen Rahmen geschlagen und gleichsam aufgehängt.«
172 Bereits der erste Auftritt Helenas, im 1. Akt, geschieht in einer ähnlichen
Umgebung; die höfischen Zuschauer »ziehn / Durch lange Gänge, feme
Galerien. / Nun! sie versammeln sich im weiten Raum / Des alten Rittersaals«
(6369 ff).
173 KommereII, Geist und Buchstabe [so Anm. 17], S. 49.
174 Vischer, Zum zweiten Teile von Goethes Faust [so Anm. 111], S. 328.
175 Fletcher, Allegory [so Anm. 63], S. 116.
176 Edwin Honig, Dark Conceit. The Making of Allegory, New York 1966,
S.180.
177 Hermann, Mythologie [so Anm. 152], S. 5.
178 Vgl. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 247 (= Werke [s. Anm.
55], Bd. 7, S. 391): »Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester
Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie
belebende natürliche Element das Meer. In der Sucht des Erwerbs, dadurch,
daß sie ihn der Gefahr aussetzt, erhebt sie sich zugleich über ihn und versetzt
das Festwerden an der Erdscholle und den begrenzten Kreisen des bürgerli-
chen-Lebens, seine Genüsse und Begierden, mit dem Elemente der Flüssigkeit,
der Gefahr und des Unterganges.« Die wesentlichen Bestimmungen Hegels
treffen auf Fausts Neuland zu: der Gegensatz zu Philemon und Baucis, die am
»festen Grund und Boden« festhalten (»Traue nicht dem Wasserboden, / Halt
auf deiner Höhe stand!«, 11137 f); das Streben nach »Weltbesitz« (11242)
und »Weiterschreiten« (11451); der Verzicht auf die Genüsse (»Und er weiß
von allen Schätzen / Sich nicht in Besitz zu setzen. [... ] Er verhungert in der
Fülle«, 11459 ff); ein Leben, »umrungen von Gefahr« (11577); »Und auf
Vernichtung läuft's hinaus« (11550).

204
179 Das "Land«, das "noch nicht da« ist (11039), wird am Ende des 4. Akts vom
Kaiser an Faust vergeben. Erfolglos drängen die vom Erzbischof repräsentier-
ten Feudalgewalten darauf, "Auch dort den Zehnten, Zins und Gaben und
Gefälle« (11038) zu erheben. Fausts neue Welt kennt keinen Lehensherrn
mehr über sich. Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frank-
furt 1966, S. 49: "Der Zusammenhang von Wahrheitsbegriff und Eigentums-
vorstellung hat sich in der Neuzeit gründlich gewandelt. Es gehört zu den die
Neuzeit initiierenden Vorgängen, daß die Legitimität des Eigentums an Ideen
einzig aus deren authentischer Hervorbringung normiert ist, während ihr
Erwerb durch so etwas wie ,Übertragung, im weitesten Sinne suspekt gewor-
den ist. [... J Wahrheit kann nicht mehr ein Lehensgut mit Erbrecht, also auch
nicht mehr die Auszeichnung einzelner oder einer bevorzugten Gruppe sein.«
Faust, dessen "Geist sich selbst zu überfliegen« wagt (10220), benötigt daher
für seinen originären» Plan« (10227) auch ein autonomes Gebiet, um sich den
feudalen Traditionen entziehen zu können.
180 KommereII, Geist und Buchstabe [so Anm. 17J, S. 91.
181 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in:
K. M./F. E., Werke, Bd. 4, S. 467.
182 Ähnlich larmoyant hatte Mephisto, mit den selbständigen Entscheidungen
des Homunculus konfrontiert, die Dialektik von Produkt und Produzent
feststellen müssen: "Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen, die wir
machten« (7003 f).
183 Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Hamburg
1938, S. 24 f (aus dem Kapitel "Allegorie der Dampfmaschine«).
184 J. A. Stumpff, Der Kampf der Elemente, Chaos 2 (1831), Nr. 5, S. 20.
185 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
§ 526 (Werke [so Anm. 55J, Bd. 10, S. 322).
186 Bei der »Grablegung« nimmt einer der Lemuren Fausts Worte ironisch wieder
auf: "Wer hat das Haus so schlecht gebaut,/ Mit Schaufeln und mit Spaten?«
(11604 f).
187 So, in anderem Zusammenhang (zur "Geschichte des Schocks«), Wolfgang
Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von
Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 137. Schivelbusch
zitiert anschließend Werner Sombart, Krieg und Kapitalismus, München/
Leipzig 1913, S. 28 f: "Ich glaube, daß man den Einfluß, den hier das
moderne Heerwesen auf die gesamte Kultur und in Sonderheit auf das
Wirtschaftsleben ausgeübt hat, noch nicht hinreichend gewürdigt hat. In dem
entscheidenden 17. Jahrhundert vollzieht sich die Zerbrechung und Zertrüm-
merung des natürlichen Menschen, der die Renaissancezeit noch beherrscht
hat.« Diesen Zusammenhang hat schon die - Goethe bekannte - ,Doctrine de
Saint-Simon, gesehen: »Ein Industrieller besitzt nicht anders eine Werkstätte,
Arbeiter, Werkzeuge, als ein General heute eine Kaserne, Soldaten, Waffen
besitzt.« (Lehre Saint-Simons [so Anm. 119], S. 127).
188 Unter den wirklichen Lebensläufen, die Goethe bekannt geworden sind, zeigt
der des Grafen Saint-Simon auffällige Parallelen zu dem Fausts im Zweiten
Teil: er beginnt als Projektemacher (so plant er einen Kanal durch Mexiko),
handelt nach 1790 mit Kirchenbesitz in Frankreich, treibt Wissenschaft,
beteiligt sich gewinnbringend an Kriegen und fordert schließlich in seinen

205
Schriften die Einheit von Wissenschaftler, Unternehmer und Herrscher. Seit
1828 verfolgte Goethe aufmerksam das »wunderliche Treiben der Saint-
Simonisten in Paris« (1. 6. 1831; vgl. die Briefe vom 9.11. 1829 und 28. 6.
1831, sämtliche an Zelter). Die These, daß ,Faust 11, auch eine Auseinander-
setzung mit dem Saint-Simonismus enthält, hat zuerst vorgetragen: G. C. L.
Schuchard, Julirevolution, St. Simonismus und die Faustpartien von 1831,
Zeitschrift f. dt. Philologie 60 (1935), S. 240-274 u. 362-384.
189 Smith, Untersuchung [so Anm. 98], Bd. 1, S. 23. In Goethes Besitz befand sich
das Werk des Barons Charles Dupin, Voyages dans la Grande-Bretagne,
dessen 3. Teil, Force Commerciale de la Grande-Bretagne (3. ed., Paris 1827),
im 1. Band (Voies publiques) vor allem die Kanäle, im 2. Bd. (Cötes et ports)
ausschließlich die Häfen Großbritaniens behandelte, um daraus die Grundla-
gen der englischen Handelsrnacht abzuleiten. Zu Goethes Benutzung von
Dupins Buch s. Hans Ruppert, Goethes Bibliothek [so Anm. 92], Nr. 4069.
190 Einleitung zu Thomas Carlyle, Leben Schillers. 1830 (Gedenkausg., Bd. 14,
S.934).
191 Friedrich Schlegel, Georg Forster, in: F. S., Kritische Ausgabe, Bd. 2, Mün-
chen u. a. 1967, S. 99.
192 Friedrich von Gentz, Über den Einfluß der Entdeckung von Amerika auf den
Wohlstand und die Kultur des menschlichen Geschlechts, in: F. v. G.,
Ausgewählte Schriften, hg. von Wilderich Weick, Bd.5, Stuttgart/Leipzig
1838, S. 188.
193 KommereII, Geist und Buchstabe [so Anm. 17], S. 11.
194 An Sulpiz Boisseree, 3.11. 1826 (Gedenkausg., Bd. 21, S. 713).
195 Übers. von Theodor Haecker.
196 Weiße, Kritik und Erläuterung [so Anm. 14], S. 173.
197 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: F. N., Werke, hg.
von Karl Schlechta, 7. Aufl., Bd. 1, München 1973, S. 581 (»Die Revolution
in der Poesie«).
198 Vischer, Zum zweiten Teile von Goethes Faust [s. Anm. 111], S. 322.
199 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: W. B., Gesam-
melte Schriften, Bd. 1, T. 1, Frankfurt 1974, S. 372. Vgl. auch seine Bemer-
kungen zur »Sprachzerstückelung« in allegorischer Dichtung, S. 381 ff.
200 Christian Ludwig Hagedorn, Betrachtungen über die Mahlerey, T. 1, Leipzig
1762, S. 490.
201 Der Begriff »possessive individualism« stammt von C. B. Macpherson, Die
politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt 1973, der damit die
Leitlinie der ökonomischen Philosophie von Hobbes und Locke bezeichnet.
Eine zeitgenössische Kritik des Besitzindividualismus lieferte Adam Müller,
der ihn als Konsequenz aus der liberalen Rechtfertigung des absoluten
»Privatvermögens« hervorgehen sah: »Wenn der Einzelne erst die gehörige
Macht erreicht hat, so wird er alle privatrechtlichen Schranken zu schonen,
und dennoch alle eure Besitzthümer sich anzueignen wissen« (Neue Theorie
des Geldes [s. Anm. 90], S. 9). Auf Fausts Neuland ist, was Müller befürchtet,
Wirklichkeit geworden, einschließlich der Ideologie vom ,gerechten Tausch,:
»Tausch wollt' ich, wollte keinen Raub« (11371), erklärt Faust nach der
Ermordung von Philemon und Baucis, die auf den Tausch nicht eingegangen
waren.

206
202 Eine Vorstufe zum Bilde Fausts im letzten Akt ist der Oheim aus >Wilhe1m
Meisters Wanderjahren< (1. Buch, 5. u. 6. Kap.). Er stammt aus Amerika, von
wo er die »Maxime« einer »möglichst unbedingten Tätigkeit im Erwerb«
übernahm (Gedenkausg., Bd. 8, S. 91). Auf seinem europäischen Besitztum
verwirklicht er, mag er auch den anderen »wunderlich. erscheinen, rigid
dieses ökonomische Prinzip als Lebensform: den Park verwandelt er in einen
Nutzgarten; in seinem Hause duldet er »kein Bild, das, auch nur von ferne,
auf Religion, Überlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel hindeutete«
(73), sondern nur »geographische Abbildungen« (56) und Porträts von
Aufklärern; den hausväterlichen Mirtagstisch ersetzt er durch eine rationell
organisierte Feldküche, die den Arbeitern den Weg zum Haus erspart; zu den
Kindern im Gebirge läßt er sein Obst »verkäuflich hintragen« (75); mit
Argumenten des Wirtschaftsliberalismus rechtfertigt er seine Entscheidung,
»Egoist« (77) zu sein. Diese prosaische Reduktion der vom Besitzindividualis-
mus beherrschten Person bereitet die allegorische Reduktion in >Faust II< vor.
Hier erst greift der dargestellte Inhalt auf die Form der Darstellung über.
203 Vgl. Hans Mayer, Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt 1973,
S.94, zu Fausts Erblindung: »der Zuschauer solle sehen lernen. Indem er
sieht, wo jene auf dem Theater nicht sehen«.
204 Bleibt die allegorische Anlage unerkannt, so fehlen für die eigentümliche
Form von >Faust II< die gattungspoetisch angemessenen Kategorien. Meist
verfallen die Interpreten auf den Ausweg, alles dem Vorbild der >Natur<
zuzuschreiben, z. B. Lohmeyer, Faust und die Welt [so Anm. 33], S. 70, über
den 1. Akt: »Reihung ist das Prinzip, nach dem die Szenen komponiert sind.
Die Natur, die die bildende Form nur in der Reihe der erscheinenden
Metamorphosen verwirklicht, ist das Muster, nach dem die Dichtung ver-
fährt.« Wie die Transsubstantiation von Naturprozessen in literarische For-
men vor sich gehen soll, ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse der
Goethe-Philologie.
205 An Schiller, 27. 6. 1797 (Gedenkausg., Bd. 20, S. 366).
206 Lessing, Laokoon [so Anm. 61], S. 81.
207 Vischer, Zum zweiten Teile von Goethes Faust [so Anm. 111], S. 325.
208 Hierin gleicht >Faust 11< der >Divina commedia<, die von toten und lebenden
Menschen nicht nach Maßgabe der historischen Zeit berichtet, vielmehr sie
gemäß der ewigen sittlichen Ordnung in Nachbarschaften einteilt.
209 Anmerkungen zur Übersetzung von Diderots ,Rameaus Neffe<, Gedenkausg.,
Bd. 15, S. 1035.
210 Wie im Selbstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts Kategorien der Bewe-
gung und der beschleunigten Bewegung vorherrschen, hat Reinhart Kosel/eck
mehrfach gezeigt, s. seine Aufsätze >Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewe-
gungsbegriffe< und >Erfahrungsraum und Erwartungshorizont - zwei histori-
sche Kategorien<, in: R. K., Vergangene Zukunft, Frankfurt 1979, S. 300-375,
sowie seinen Artikel >Fortschritt<, in: Geschichtliche Grundbegriffe. liistori-
sches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2,
S.351-423.
211 Goethe zu Kanzler Müller, August 1830 (Gedenkausg., Bd. 23, S. 718).
212 Daß sie eine vorgegebene Wahrheit übernehmen müsse, hielt bereits Bodmer
für ein Indiz des geringen poetischen Vermögens der Allegorie: »Man nimmt

207
die moralische Wahrheit, als schon bewiesen an, und will nur ein Exempel vor
Augen legen, das sie in ihrem rechten Lichte vorstellig macht.« (Critische
Betrachtungen [so Anm. 112], S. 605).
213 Je nachdem, ob der Text eine Erläuterung des Sinnes enthält oder nicht,
unterscheidet Quintilian eine allegoria permixta (d. h. mit erklärender Rede
vermischt) von der allegoria tota (Institutio oratoria, VIII, 6, 47 f).
214 An Wilhe1m von Humboldt, 17.3.1832 (Gedenkausg., Bd. 21, S. 1043).
215 Beispiele aus dem 19. Jahrhundert gibt Friedrich Sengle, Biedermeierzeit,
Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 302 u. 334 ff, Beispiele aus dem 18. Jahrhundert
Dietmar Peil, Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im ,Patrio-
ten<, Euphorion 69 (1975), S. 229-266.
216 Johann AugustSchlettwein, Grundfeste der Staaten oder die politische Oeko-
nomie, Gießen 1779, S.63. In den ,Frankfurter Gelehrten Anzeigen< von
1772, an denen damals auch Goethe mitarbeitete, bespricht Johann Georg
Schlosser Schlettweins Schrift ,Les Moiens d'arreter la Misere publique et
d'acquitter les dettes des Etats< (Karlsruhe 1772): »Diese Grundsätze [der
Physiokratie] laufen alle dahinaus, daß der Reichthum der Nation blos in dem
Fruchtland, (wozu auch Wälder, Bergwerke, Flüsse, wirthschaftliche
Gebäude und dergl. gehören) ihre Wahre Einkünfte aber, blos in den Früchten
bestehen, welche immer nachwachsen, welche den eigentlichen Unterhalt
geben, und welche also allein in sich selbst einen wirklichen Werth haben«
(S.70).
217 So vollzieht sich nach Schlettwein der übergang von der unmittelbaren
Produktion zum Produktentausch ganz ,natürlich<: »Die Eigenthümer und
Benutzer der Grundstücke haben alle Gattungen von geniesbaren Materien
unmittelbar von der Natur in ihre Hände bekommen [Die Natur wäre
demnach Subjekt des Gebens, nicht Objekt der Arbeit! H. S.]. Diese können
also ihre Producte gegen einander vertauschen, und sich dadurch alle die
Materien verschaffen, die sie nicht selbst haben« (ebd., S. 65). Einen Fortbe-
stand der Naturgrundlage sogar in der industriellen Produktion nimmt das
8. Kapitel an, das »von der Fabrikation der Naturproducte und dem vollkom-
mensten Gange der Kunstindustrie« handelt (S. 228 ff).
218 Prospectus 1825, zit. in der Einleitung zu: Claude-Henri de Saint-Simon,.
Ausgewählte Schriften, hg. von Lola Zahn, Berlin 1977, S. CLV.
219 Schlettwein, Grundfeste der Staaten [so Anm. 216], S. 330 f.
220 Eine Parallele zur Thematik und Bildlichkeit dieser Szene findet sich in dem
Gedicht »Vorzeit, und neue Zeit. der Karoline von Günderrode:

»Ein schmahler rauher Pfad schien sonst die Erde.


Und auf den Bergen glänzt der Himmel über ihr,
Ein Abgrund ihr zur Seite war die Hölle,
Und Pfade führten in den Himmel und zur Hölle.

Doch alles ist ganz anders nun geworden,


Der Himmel ist gestürzt, der Abgrund ausgefüllt,
Und mit Vernunft bedeckt, und sehr bequem zum gehen.

208
Des Glaubens Höhen sind nun demolieret.
Und auf der flachen Erde schreitet der Verstand,
Und misset alles aus, nach Klafter und nach Schuen.«

(K. v. G., Gesammelte Werke, hg. von Leopold Hirschberg, Bd.3, Berlin
1922, S. 18 f).
221 Bei Voss werden einzig Philemon und Baucis von dem vernichtenden Urteil
der Götter ausgenommen und in eine unsterbliche Idylle entrückt; vgl. Johann
Heinrich Voss, Idyllen, Königsberg 1801 (Facs. Heidelberg 1968),
S. 308-332. In >Faust II< wird die Idylle selbst vernichtet.
222 Jean Paul, Briefe und bevorstehender Lebenslauf, in: J. P., Werke [so Anm.
86], Bd. 4, S. 929.
223 Eine prosaische Umschreibung der Rosenknospen-Verse, welche die Opposi-
tion gegen das Unnatürliche verkürzter Prozesse mit wünschenswerter Deut-
lichkeit herausstellt, gibt Eckermanns Bericht über eine Äußerung Goethes:
»jedes Gewaltsame, Sprunghafte, ist mir in der Seele zuwider, denn es ist nicht
naturgemäß. Ich bin ein Freund der Pflanze, ich liebe die Rose als das
Vollkommenste, was unsere deutsche Natur als Blume gewähren kann; aber
ich bin nicht Tor genug, um zu verlangen, daß mein Garten sie mir schon
jetzt, Ende April, gewähren soll. [... ] Kann aber jemand die Zeit nicht
erwarten, der wende sich an die Treibhäuser.« (27.4. 1825, Gedenkausg.,
Bd. 24, S. 578).
224 Goethes Intention ist durch die späteren >Faust<-Auslegungen, die die religiöse
Bildwelt - sei es kritisch, sei es affirmativ - ernst nahmen, gründlich durch-
kreuzt worden. Wieder einmal ist es lohnend, die frühe Arbeit von Weiße zu
zitieren, der den Unterschied zur religiösen Poesie der christlichen Dichter
erkannt hat: »Man kann sagen, daß was bei Letzteren den Inhalt, den Sinn
der Allegorie ausmacht: der absolute Gegensatz der beiden Welten, des Guten
und des Bösen, der Seligkeit und der Verdammniß, daß eben dieser Gegensatz
bei Goethe wiederum zum Bilde wird, wodurch ein Anderes ausgedrückt
werden soll.« (Weiße, Kritik und Erläuterung [so Anm. 14], S. 283).
225 Eine Vorstufe zu dieser ironischen Idealität einer leider unmöglichen Alterna-
tive prägt sich bereits in den pseudokatholischen Legenden- und Wundermo-
tiven am Ende der ,Wahlverwandtschaften< aus.
226 Ich tue dies an anderer Stelle: Die Methode von Max Kommerells ,Jean Pauk
Mit drei Exkursen zu gegenwärtigen Interpretarionstheorien, Jb. d. Jean-Paul-
Ges. 14 (1979), S. 22-50.
227 Gedenkausg., Bd. 8, S. 313.
228 In diesem Sinne beschreibt Kant den übertritt von abstrakten Ideen in
poetische Gestalt: »Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren
Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u.
d. gl. zu versinnlichen [... ]. Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der
Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für
sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten
Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art
ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und
bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr
nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem

209
Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht
werden kann.« (Kritik der Urteilskraft, B 194 f, in: I. K., Werke in zehn
Bänden, hg. von Wilhe1m Weischedei, Bd. 8, Darmstadt 1968, S. 414 f).
229 John Hughes, An Essay on Allegorical Poetry, London 1715, zitiert bei
Fleteher, Allegory [so Anm. 63], S. 237. Vgl. Hinks, Myth and Allegory [so
Anm. 161], S. 4: »Allegory stands, as it were, midway between poetry and
prose: in its creative aspect it is the poetic rendering of a prosaic idea; in its
interpretative aspect it is the prosaic rendering of a poetic image.«
230 Zu Eckermann, 29.1. 1827 (Gedenkausg., Bd. 24, S. 223).
231 Dies haben Aufführungen in den letzten Jahren erwiesen, vor allem die
Stuttgarter Inszenierung von Achim Freyer und Claus Peymann (1977). Vgl.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust, die Aufführung der Württembergischen
Staatstheater Stuttgart. Eine Dokumentation von Hermann Beil u. a., Stutt-
gart/Zürich 1979.
232 Baudelaire, Les Paradis artificieIs, in: C. B., Oeuvres completes [so Anm. 44],
S. 376. Von dieser Stelle geht die Abhandlung von Hans Robert Jauß aus:
Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie, in: Allegorie [so Anm. 47], S.
686-700.
233 Gedenkausg., Bd. 13, S. 126-129.
234 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, (Werke [so Anm. 55], Bd. 14),
S.236.
235 Ebd., S. 235. Vgl. Goethes Brief an Kar! Friedrich Zelter, 3. 5. 1816: »Gott
segne Kupfer, Druck und jedes andere vervielfältigende Mittel, so daß das
Gute, was einmal da war, nicht wieder zu Grunde gehen kann« (Gedenkausg.,
Bd. 21, S. 156), sowie den Brief an Joseph Stanislaus Zauper, 7.9. 1821: »bei
übersetzungen aber sind wir gefördert, wie auf einer Handelsmesse, wo uns
der Entfernteste seine Ware herbeibringt« (ebd., S. 461).
236 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Erste Fassung, Zürich/München 1926
(= G. K., Sämtliche Werke, hg. von Jonas Fränkel, Bd. 19), S. 76 f. Kellers
Diagnose schließt sich an Vischers Klage in seinem Shakespeare-Aufsatz von
1844 an: »Es bedarf keines Beweises, daß unsere modernen Lebensformen,
Kleidung, Manieren des Umgangs, Rechtspflege, Verwaltung, Art der Kriegs-
führung durch stehende Heere, kurz, jede Form der Handlung so mechanisiert
und abstrakt sind, wie der Künstler und Dichter sie schlechterdings nicht
brauchen kann. Man kann keinen tragischen Auftritt weder malen noch
dichten, wo die Personen im Frack auftreten. Unsere Zeit fühlt dies längst und
ringt, wie nach neuem sittlich-politischen Leben, so auch nach neuen Formen,
während auf der andern Seite die Trennung des Allgemeinen von der sinnli-
chen Lebendigkeit, die Mechanisierung aller Mittel des Verkehrs und Bedürf-
nisses, die Vernachlässigung und Zerdrückung des körperlichen Lebens, die
Kälte und mißtrauische Barbarei der geselligen Zustände ins Unendliche
wächst.« (Kritische Gänge [so Anm. 65], Bd.2, S.68). Vischer, der die
Abstraktion in der Kunst bekämpft, muß sie dennoch als epochale Tendenz
der Zivilisation anerkennen. In diesem Bedenken gegenüber der gesellschaftli-
chen Entwicklung wird man das eigentliche Motiv von Vischers vehementer
Allegoriekritik zu suchen haben.
237 Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit,
in: H., Sämtl. Werke [so Anm. 66], Bd. 5, S. 544.

210
238 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise [so Anm. 187], S. 143: »Die
Apparatur wird verfeinert, ihr Lauf wird immer glatter, ihr beunruhigenden
Eskapaden werden, wenn schon nicht technisch abgeschafft, so doch weitge-
hend für das Empfinden abgepolstert. Das Unheimliche der Maschinerie, das
zu Anfang offen lag und der Angst Nahrung gab, verschwindet zunehmend,
und mit ihm schwindet die Angst. Sie wird ersetzt durch ein Gefühl der
Sicherheit, dessen Grundlage die Gewöhnung ist.«
239 Vgl. Volker Klotz, Abenteuer-Romane, München/Wien 1979, S. 22 ff.
240 An Kar! Friedrich Zelter, 18.6. 1831 (Gedenkausg., Bd. 21, S. 987).
241 Georg Lukacs, Es geht um den Realismus, in: Marxismus und Literatur, hg.
von Fritz J. Raddatz, Bd. 2, Reinbek 1969, S. 69 f.
242 Vgl. Georg Lukacs, Ästhetik, T.4, Neuwied/Ber!in 1972, S. 141 ff und
165 ff.
243 Balzac, Cesar Birotteau [so Anm. 125], S. 372. Im folgenden verweisen die
Seitenzahlen auf diese Ausgabe.
244 Theodor W. Adorno, Balzac-Lektüre, in T. W. A., Noten zur Literatur 11,
Frankfurt 1961, S. 37.
245 Vgl. Anm. 125.
246 Adorno, Balzac-Lektüre [so Anm. 244], S. 30: »Epik, die des Gegenständli-
chen, das sie zu bergen trachtet, nicht mehr mächtig ist, muß es durch ihren
Habitus übertreiben, die Welt mit exaggerierter Genauigkeit beschreiben,
eben weil sie fremd geworden ist, nicht mehr in Leibnähe sich halten läßt.«
247 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Her-
mann Schweppenhäuser, Bd. 1, Frankfurt 1974, S. 352. In folgenden verwei-
sen alle Seitenzahlen auf die - durchgezählten - drei Teile dieses Bandes, der
u. a. das Trauerspiel-Buch im 1. Teil (S. 203-430), die Baudelaire-Studien im
2. Teil (S. 509-690) und eine umfangreiche Dokumentation zu beiden Arbei-
ten im 3. Teil (S. 868-981 und S. 1064-1222) enthält.
248 Um die Gesinnung verständlich zu machen, die zur Produktion von Allego-
rien führe, stellt Benjamin dem zweiten Hauptteil seines Buches, »Allegorie
und Trauerspiel« (S. 336-409), einen längeren Abschnitt über die Melancholie
voraus (S. 317-335).
249 Vgl. Harald Steinhagen, Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, in:
Allegorie [so Anm. 47], S. 668 f.
250 Für diese Hypothese spricht auch die Entstehungsgeschichte beider Werke:
Benjamins Beschäftigung mit den ,Fleurs du mal. ist älter - er begann mit ihrer
übersetzung schon 1914 - als die mit den Trauerspielen des 17. Jahrhunderts.
251 Vgl. Helmut Pfoten hauer, Ästhetische Erfahrung und gesellschaftliches
System. Untersuchungen zu Methodenproblemen einer materialistischen Lite-
raturanalyse am Spätwerk Walter Benjamins, Stuttgart 1975.

211
PERSONENREGISTER

Adorno,Th.VV. 184, 189,211 Freyer, A. 210


Alexander v. Canterbury 194
Aristoteles 199 Gadamer, H. G. 204
Gentz, F. v. 134
Balzac, H. d. 81,85, 179-184, 193 Gervinus, G. G. 193
Baudelaire, Ch. 27,171,186,188-190 Goethe, O. v. 131
Benjamin, VV. 140, 186-190, 194, 197, Gortsched, J. Ch. 36
199,201 Gregor d. Gr. 194
Bernhard v. Clairvaux 194 Grillparzer, F. 195
Bernhard v. Sachsen-VVeimar 55 Grimm, J. 203
Bertuch, F. J. 201 Gülich, G. v. 201
Beutler, eh. 201 Günderrode, K. v. 208 f
Beutler, E. 203
Blumenberg, H. 205 Hagedorn, Ch. L. 142
Bodmer, J. J. 200, 207 Hamilton, Lady 203
Börtiger, K. A. 16 Hamm,H.193
Boisseree, S. 121 Haug, VV. 194
Bracken, C. Ph. 204 Hege!, G. VV. F. 4, 32, 39--48, 50, 61,
Brunner, O. 192 83,132,174,178,191,195,204
Büsch,J. G. 55,201 Hendel-Schütz, H. 203
Bunyan,J. 149, 151 Henn-Schmölders, C. 202
Buqouy,G.v.55,86 Herder,J. G. 35, 97, 117f, 177, 187
Hermann, G. 112, 204
Calderon30 Hinks, R. 203, 210
Claudian 104 Hinrichs, H. F. VV. 197
Creuzer, F. 112, 116, 196 Hinz,B.204
Hobbes, Th. 206
Dante 147, 151 Hörisch, J. 198
Dilthey, VV. 187 Homer29
Dorner, R. 192 Honig, E. 204
Dumas, A. 179 Hughes,J. 210
Dupin, Ch. 55,206 Hugo v. St. Victor 194

Ebeling, G. 196 Jantz, H. 104, 106


Eckermann,J. P. 192 Jauß, H. R. 193, 196,210
Elgin, Lord 121 Jean Paul50f, 55,157
Emrich, VV. 8, 75 f, 200
Engels, F. 198,205 Kant,1. 33, 209
Keller, G. 176-179
Fichte,J. G. 129, 140 Kerenyi, K. 116
Fletcher, A. 196,204 Keudell,E.v.201
Klingenberg, A. 198 Riemer, F. W. 203
Klotz, V. 211 Rosenkranz, K. 200
KommereII, M. 9, 118, 135,203,204, Rousseau, J. J. 155, 177
205 Ruppert, H. 198
Koselleck, R. 207
Kraus, G. M. 201 Savage, P.-P. 198
Saint-Simon, C.-H. d. 82, 205
Langen, A. 203 Sartorius, G. 55,202
Lausberg, H. 194 Schelling, F. W. J. 116
Lessing, G. E. 34, 148 Schiller, F. 4, 13-28, 65, 152
Lindner, B. 194 Schivelbusch, W. 178,205
Locke, J. 206 Schlegel, F. 22, 30, 36,129,134
Lohmeyer, D. 192f, 207 Schlertwein, J. A. 155,208
Lubac, H. d. 194 Schlosser, J. G. 54, 201, 208
Lukacs, G. 9, 180 Schöne, A. 196
Luther, M. 36 Schopenhauer, A. 33 f, 92
Schuchard, C. G. L. 206
Macpherson, C. B. 206 Sengle, F. 208
Mahl,B.198 Sidney, Ph. 147
Martens, W. 196 Smith, A. 55, 59, 61, 83, 134,200
Martini, F. 191 Sörensen, B. A. 195
Marx,K. 5,49-62, 85, 155, 178,201, Sohn-Rethe!, A. 199
205 Sombart, W. 205
May,K.179 Spenser, E. 147
Mayer, H. 207 Steinhagen, H. 211
Meier, Ch. 194 Sternberger, D. 205
Merck, J. H. 54 Stifter, A. 179
Metscher, Tb. 9 Streicher, W. 66, 192
Meyer, C. F. 179 Stumpff, J. A. 13lf
Meyer, H. 31 f Sue,E.179
Moritz, K. Ph. 32f, 196
Müller, A. 54, 91 Textor, J. W. 15 f, 25
Müller, C. 193 Trunz, E. 65, 191
Turgot, A.-R. J. 54, 155, 199
Nietzsche, F. 138,140
Novalis 36 Vergil136
Verne, J. 179
Odyniec, A. E. 191 Vischer, F. Tb. 1-3, 8, 68 f, 74, 125,
Ohly,F.195 139, 148, 196,210
Opitz,M.31 Voss,J. H. 157

Panofsky, E. 196 Wagner,R.179


Peil,D.208 Warburg, A. 196
Petriconi, H. 203 Weinhandl, F. 193
Peymann, C. 210 Weiße, Ch. H. 8,48, 113, 115, 138,
Pfotenhauer, H. 211 191,209
Wiedemann, C. 196
Quintilian 194, 208 Winckelmann,J.J.18,25,36,120,
195
Raabe, W. 179 Wind,E.196
Rahn,H.194 Wittkower, R. 196
Regis, J. G. 191
Reinhardt, K. 197,200 Zelter, K. F. 6

214
NACHBEMERKUNG

Das Nachwort zur zweiten Auflage eines Buchs, das vor siebzehn
Jahren erstmals erschienen ist, dokumentiert zumindest, daß sein Autor
noch lebt. Diese Gunst des Schicksals sollte ihn dazu verpflichten, aus
dem fast schon historischen Abstand zu erklären, wie er denn jetzt zu
seiner Schrift stehe, vor allem aber, was er heute an ihr ändern würde.
Dieser berechtigte Wunsch muß unerfüllt bleiben, weil ich mich nicht
dazu bewegen konnte, das Buch nach so langer Zeit wieder zu lesen -
anders als Goethes Faust selbst, den ich immer wieder mit größtem
Vergnügen lese, höre, sehe. Auch die Diskussion über meine Deutung
des Zweiten Teils habe ich nur sporadisch verfolgt. Wenn ich mich
nicht täusche, wurde der ästhetisch- historische Doppe1charakter mei-
ner Interpretation in zwei Aspekte getrennt: In der deutschen
Germanistik stieß die These, Faust II habe sich die Epoche und die Welt
des Kapitals zum Thema gesetzt, auf Zustimmung wie auf
Widerspruch; in der amerikanischen Literaturwissenschaft dagegen
nützte man das Konzept der Allegorie, um die angebliche Harmonie
von sinnlicher Anschauung und poetischer Darstellung in Goethes
Werken zu bezweifeln. Ich will gegen keine der beiden Folgerungen
Bedenken anmelden, auch nicht die Einheit der Aspekte in meinem
Entwurf einklagen, denn ein veröffentlichtes Buch gehört nicht mehr
seinem Verfasser, sondern den Lesern.
H. S.

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