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Kafka und E.T.A.

Hoffmann
Author(s): Bert Nagel
Source: Modern Austrian Literature , 1981, Vol. 14, No. 1/2 (1981), pp. 1-11
Published by: Association of Austrian Studies

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24647030

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Kafka und E.T.A. Hoffmann

Bert Nagel

Unter den deutschen Dichtern der Romantik ist es vor allem


E.T.A. Hoffmann, der einen Vergleich mit Kafka nahelegt.1 Denn
er hat in seinen akausal phantastischen Gestaltungen schon in
hohem Maße "kafkaeskes" vorweggenommen, während ihm
andererseits die eigentümlich Kafkasche Thematik und Problema
tik noch fernlagen. Das heißt, was die beiden verbindet, trennt sie
zugleich. Dasselbe ist hier nicht dasselbe. Was sich bei Hoffmann
als Spiel freischweifender Phantasie erweist und bewußt aller Em
pirie entzieht, stellt sich in Kafkas Dichtung als präzises Aufzeich
nen bildhaft wahrgenommener Wirklichkeit dar. Das "deformier
te" Wirklichkeitsbild des modernen Autors deckt sich äußerlich
in vielem mit den betont irrealen Ausgeburten romantischer Phan
tasie2 . Das Instrumentarium der entfesselten Einbildungskraft ist
jedoch in den Dienst einer schonungslosen Wirklichkeitsenthül
lung gestellt. Das bedeutet zugleich, daß die Gestaltungsmittel im
Blick auf diese grundsätzlich andere Zielsetzung erheblich modifi
ziert wurden. Und sprachlich-stilistisch ist Kafkas strenge Diktion
wie durch Welten von Hoffmanns oft zuchtlosem Wortschwulst
getrennt3
Auch das Phantastisch-Grelle Hoffmannscher Gestaltungen
kennt Kafka nicht. Es fehlen das Übersteigerte und Rauschhafte,
die Lust an der Sensation, die exzentrisch romantische Unrast.
Kafka erzählt keine Gespenstergeschichten, auch keine Ekstasen
und Halluzinationen. Weinstubennächte als Stimulantien der
Poesie wären bei ihm undenkbar. Seine Welt ist eben nicht "kafka
esk", während wir uns in Hoffmanns Phantasie- und Nachtstücken
oder in den Elixieren des Teufels in "kafkaesken" Sphären be
wegen. Das Sensationelle und Gruselige der Begebenheiten, der

Modern Austrian Literature, Volume 14, Numbers 1/2, 1981 1

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Schauereffekt seiner Erzählungen sind für Hoffmann ungleich


wichtiger als für Kafka (falls sie für diesen überhaupt eine Funk
tion besitzen). Ja, sie erscheinen nicht selten als Selbstzweck, als
Produkte einer stoffhungrig wuchernden Phantasie, die sich nicht
genugtun kann. Auch Wilhelm Hauffs Phantasien im Bremer
Ratskeller gehören hierher und nicht zuletzt die utopischen
Eskapaden moderner Science fiction. So hat etwa der Franzose
George Langelaan (Nouvelles de l'Anti-Monde, 1963. Deutsch
von Karl Rauch, Bern-Stuttgart 1963, 45) mit seiner Geschichte
Die Fliege Kafkas Verwandlung nicht lediglich überboten, sondern
etwas grundsätzlich Anderes, eben "kafkaeskes", an die Stelle von
Kafka gesetzt. Infolgedessen steht er auch - trotz des größeren
zeitlichen Abstandes - Hoffmann oder Poe weit näher als Kafka.
Das zeigt die Kurzanalyse, die Hermann Pongs von seiner Erzäh
lung gegeben hat:

Ein Atomphysiker vermag Dinge in ihre Atomteile zu


zertrümmern und wieder zusammen zu setzen. Als er das
bei einer Katze versucht, mißrät es. Als er es bei sich selbst
versucht, kommt ihm eine Fliege dazwischen. Sie hat sich
mit Atomteilen des Menschen verselbständigt, die ihm
beim Aufbau fehlen. Dafür haben sich Atomteile der Katze
ihm integriert. Der Anblick, der sich der zu Hilfe gerufenen
Frau des Atomforschers bietet, ist das Urgrauen selbst:
"Niemals würde ich das Bild des Alptraumes aus der
Erinnerung löschen können: dieses weißen behaarten
Kopfes mit flachem Schädel, mit Katzenohren, mit
Augen, die von zwei braunen Scheiben bedeckt waren,
groß wie Teller und bis zu den spitzigen Ohren reichend.
Rosig war die Schnauze, anstelle des Mundes ein senk
rechter Schlitz, umgeben von langen roten Haaren, von
dem eine Art schwarzen behaarten Rüssels herabhing,
der sich trompetenartig weitete."
Dieses Ungeheuer wird dann, auf Wunsch des Atomphysikers
selbst, sofort vernichtet, unter einem Preßlufthammer zur Un
kenntlichkeit zerquetscht4.

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Kafka und E. T. A. Hoffmann 3

Wenn Pongs hinzufügt, diese "Rache der im Experiment


mißbrauchten Tierelemente am Menschen" sei ein Beispiel der
"Ausartung der Imagination hinter Kafkas Schreckträume zu
rück ins Chaotisch-Ungeheuerliche", so schwächt er den grund
sätzlichen Gegensatz zwischen den beiden Schriftstellern zu
einem bloßen Gradunterschied ab. Für Kafka gilt jedoch, daß
das Ungeheuerliche nicht erst erfunden oder künstlich konstru
iert werden muß, sondern immer und überall und gerade auch
im Alltagsgeschehen bedrohlich gegenwärtig ist. Darum ist seine
epische Welt - wenn auch schockierend fremdartig und akausal -
im Gegensatz zu Hoffmann und seinen Nachfolgern nicht phan
tastisch und überladen, nicht mit herbeigeholten aufwendigen
Schrecknissen konfrontiert, sondern das Unheimliche des schein
bar Bekannten und Gewohnten aufzeigend. Führt uns Hoffmann
aus der vertrauten Wirklichkeit heraus, so führt uns Kafka tiefer
in sie hinein und läßt so das gemeinhin nicht bemerkte Hinter
gründige sichtbar werden. Ihm geht es um die geheimen Gefähr
dungen des als gesichert erachteten normalen Daseins, nicht
um die Schauer und Greuel einer lediglich fingierten abseitigen
Welt. Er zitiert keine Gespenster herbei sondern enthüllt, daß
die Wirklichkeit als solche von gespenstischer Undurchdring
lichkeit ist.
So notwendig es ist, den Abstand zu betonen, der Hoff
mann von Kafka trennt, so notwendig ist es andererseits auch
darauf hinzuweisen, daß Hoffmann nicht ausschließlich auf die
Welt der Romantik festgelegt werden kann, daß er vielmehr -
über seine Zeit hinaus — bereits auf die Moderne vorauswies
und durch dieses Zukünftige in seinem Dichten und Denken,
sich in manchem auch schon direkt mit Kafka berührt. Wie
neuerdings Heinz Dietrich Kenter ausgeführt hat, entzog er
sich nicht völlig dem "Bannkreis der Realität", sondern war -
obwohl ein Romantiker - "zugleich ein Dichter, der immer
wieder darum kämpft[e], selbst die jähesten Ausbrüche seiner
Phantasie in Kontakt zu halten mit der Realität... : 'Ich
meine', so formulierte er, 'daß die Basis der Himmelsleiter, au
der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein

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müsse im Leben . . . ' "5. Aber auch "mit seinen Gespenstern, mit
seinen grotesken Phantasien, mit seiner Unruhe und Zerrissenheit
[stand] Hoffmann als Dichter und als Person [schon] unmittelbar
im Vorfeld der Erschütterungen, die den Anbruch des 20. Jahrhun
derts signalisieren"6. Kenter fügt hinzu, das Gespenstische der
Hoffmann-Welt signalisiere, weit vor Strindberg . . . den Zerreiß
prozeß, dem sich der aus einer religiösen Gesellschaftsstruktur auf
gebrochene Mensch in wachsendem Maße ausgesetzt sehe. Ja,
Hoffmann sei, wie seine Novelle 'Der Automat' zeige, "einer der
ersten im beginnenden 19. Jahrhundert, der das bedrohlich
Maschinenhafte hellsichtig als den 'erklärten Krieg gegen das gei
stige Prinzip' erkennt, der, in echter existentieller Angst, sich und
seine Zeit dem Ansturm 'böser Principien' ausgeliefert sieht und,
ein Seismograph an Sensibilität, den kommenden Erdrutsch und
mit ihm alle Zerreißproben wittert". Und zweifellos habe Hoff
mann auch als einer der ersten "eine Ahnung davon gehabt, daß
[das] glückhaft-neue, beseligend Schweifende der Romantik zu
gleich . .. der gefährliche Anfang ist für ein glückloses Ausschwei
fen ins Heimatlose und Abstrakte"7. Einiges bei Hoffmann prälu
diert bereits die in Beckett kulminierende Endspiel-Dichtung8.
Eben dies, daß sich in dem Romantiker schon ein ganz un
romantisch moderner Hoffmann ankündigt, rückt ihn in die Nähe
Kafkas. Wie dieser war auch er ein Angstträumer, der um die dro
hende Not der Ungeborgenheit und des Ausgeliefertseins an eine
feindliche Gegenwelt wußte, und "ein seltsamer Einzelgänger in
einer Zeit regster geistiger Zirkel"9. Noch aber ist er nicht mit
Kafkas vernichtender Hoffnungslosigkeit geschlagen10. Diese fin
det sich erst zwei Menschenalter später bei August Strindberg, der
"als der Erbe von Hoffmanns Ängsten und Exaltationen in densel
ben Kämpfen [steht], nur daß die Hoffmannschen Gespenster
jetzt zu zwischenmenschlichen Verhaltensweisen umfiguriert sind,
die erbarmungslos gegeneinander antreten"11. Strindbergs Ver
zweiflung über die heillos böse und boshafte Welt entlädt sich in
dem ergreifenden Traumspiel-Ruf: 'Es ist schade um den Men
schen'. Bei Kafka und Beckett jedoch ist auch diese mitmenschli
che Stimme verstummt. Wenn Becketts Krapp in seinen glücklich

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Kafka und E. T.A. Hoffmann 5

sten Augenblicken davon träumt, daß die 'Erde unbewohnt sein


könnte', so träumt er den Wunsch träum des Waldtiers in Kafkas
"Bau". Indem das Miteinandersein keine Chance mehr hat, ist das
Spiel hier definitiv zu Ende. Wer den Zerreißproben des Daseins
nicht gewachsen ist, endet im Nichts.
Daß Hoffmann diese letzte Konsequenz nicht gezogen noch
überhaupt an eine solche gedacht hat, spiegelt den geschichtlichen
Abstand eines Jahrhunderts. So viel er auch vorausahnen mochte,
seine Wurzeln gründen noch in der Welt des 18. Jahrhunderts. Die
Musik Mozarts war seine Erfüllung. Obwohl Einzelgänger, be
kannte er sich doch - im Gegensatz zu dem Protagonisten Bek
ketts - zur bewohnten Erde und ihren Menschen. Er zieht sich
nicht in einen als Festung angelegten Bau zurück, oder versteinert
wie Becketts Krapp kontaktlos in einem fensterlosen Irgendwo,
sondern "öffnet das Fenster seines Zuhause ... und sieht hinunter
auf den Markt (man lese seine Novelle 'Des Vetters Eckfenster')
und auf das ganz alltägliche Leben, das da, wie immer, in Gemein
samkeit abrollt, und das ihm, dem Gelähmten, Kraft gibt, als ein
noch Lebender das Leben zu beobachten"12. Gleichgültig, ob das
Leben zu verwerfen oder zu bejahen ist, er gibt nicht auf, sondern
hält aus. Diese Schicksalsergebenheit ist zugleich seine Geborgen
heit, jene Geborgenheit, die Kafka und Beckett nicht mehr kennen.
Daß Kafka gerade in seiner frühesten Arbeit, nämlich in der
"Beschreibung eines Kampfes" (1904/05), die größte Nähe zu
E.T.A. Hoffmann zeigt, dürfte kein Zufall sein. Es bezeugt die
noch stärkere Beeinflußbarkeit des erst werdenden Dichters. Je
reifer jedoch sein Schaffen wird, desto weiter rückt er von mögli
chen Vorbildern ab. Der Anfänger hingegen zeigt sich sogar im
Sprachgebrauch fremden Einflüssen zugeneigt. Es begegnen Par
tien, die die mit Schauerwörtern operierende Sprache Hoffmanns
nachzuahmen scheinen:

Von den Obstbäumen schlugen unreife Früchte irrsinnig


auf den Boden. Hinter einem Berg kamen häßliche Wolken
herauf. Die Flußwellen knarrten und wichen vor dem Wind
zurück.

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Aus den Gebüschen traten gewaltig vier nackte Männer, die


auf ihren Schultern eine hölzerne Tragbahre hielten. Auf
dieser Tragbahre saß in orientalischer Haltung ein unge
heuerlich dicker Mann.
("Beschreibung eines Kampfes".
Hervorhebungen vom Vf.)

Diese Beschreibungen könnten so auch bei Hoffmann stehen. Der


Aufwand an emotionalem Vokabular ist für diesen bezeichnend,
kontrastiert aber zu der für den späteren Kafka charakteristischen
stilistischen Sparsamkeit und Präzision13. Und noch ein weiteres
erinnert an Hoffmann, die Tatsache nämlich, daß hier - im Gegen
satz zu anderen Erzählungen Kafkas - die Bereiche des Wirklichen
und Überwirklichen geschieden sind. Dem entspricht die Entfal
tung einer sich selbst genügenden Phantastik Hoffmannscher
Manier. So heißt es in der "Beschreibung eines Kampfes":

. . . war ich mit einem Menschen beisammen, wie Du ihn


ganz bestimmt noch nie gesehen hast. Er sieht aus . . . wie
eine Stange in baumelnder Bewegung sieht er aus, mit
einem schwarz behaarten Schädel oben. Sein Körper ist mit
vielen kleinen mattgelben Stoffstückchen behängt, die ihn
vollständig bedeckten, denn bei der gestrigen Windstille
lagen sie glatt an.
Da er mir nicht mehr nützlich sein konnte, ließ ich ihn
nicht ungern auf den Steinen und pfiff mir einige Geier aus
der Höhe herab, die sich gehorsam mit ernstem Schnabel
auf ihn setzten, um ihn zu bewachen.

Ja, die Schilderung schweift so ungehemmt ins Grotesk-Überwirk


liche aus, wie dies in den reifen Werken Kafkas unvorstellbar wäre:

Eine kleine Mücke flog durch seinen Bauch, ohne daß ihre
Schnelligkeit vermindert wurde.
. . . wie sehen Sie doch aus! Sie sind Ihrer ganzen Länge
nach aus Seidenpapier herausgeschnitten, aus gelbem

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Kafka und E. T.A. Hoffmann 7

Seidenpapier, so silhuettenartig, und wenn Sie gehen, so


muß man Sie knittern hören. Daher ist es auch unrecht,
sich über Ihre Haltung oder Meinung zu ereifern, denn Sie
müssen sich nach dem Luftzug biegen, der gerade im Zim
mer ist.

Noch grotesker und Hoffmanns Phantastik geradezu überbietend


ist folgende Stelle aus Kafkas Früh werk:

meine Arme waren so groß, wie die Wolken eines Land


regens, nur waren sie hastiger. Ich weiß nicht, warum sie
meinen armen Kopf zerdrücken wollten. Der war doch so
klein wie ein Ameisenei, nur war er ein wenig beschädigt,
daher nicht mehr vollkommen rund . . . doch meine un
möglichen Beine lagen über den bewaldeten Bergen und
beschatteten die dörflichen Täler. Sie wuchsen, sie wuch
sen! Schon ragten sie in den Raum, der keine Landschaft
mehr besaß, längst schon reichte ihre Länge aus der Seh
schärfe meiner Augen. Aber nein, das ist es nicht - ich bin
doch klein, vorläufig klein - , ich rolle - ich rolle - ich
bin eine Lawine im Gebirge! Bitte, vorübergehende Leute,
seid so gut, sagt mir, wie groß ich bin, messet nur diese
Arme, diese Beine.

Indessen geht es bei dieser Absurdität nicht nur (ja überhaupt


nicht) darum, daß sie über Hoffmanns Phantastik noch hinausgeht,
sondern darum, daß Kafka hier bereits einen anderen Weg ein
schlägt, der aus der typisch Hoffmannschen Welt hinausführt. Das
Überbieten ist recht eigentlich ein Zu-sich-selber-kommen des
Dichters. Die Kunstmittel überwirklicher Darstellung, die er ein
setzt, dienen seiner Selbstfindung, nicht der Vergegenwärtigung
einer abseitigen Phantasiewelt. Sie schweifen nicht aus, sondern
loten die eigene innere Wirklichkeit, die Möglichkeiten seines
"traumhaften inneren Lebens" aus.
Auch in seiner frühesten Erzählung ist also bereits erkennbar,
wohin der Weg des Dichters gehen wird. Das Eigene wird sich

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durchsetzen und alles Aufgenommene in seinen Dienst stellen. So


wundert es nicht, daß schon in der "Beschreibung eines Kampfes"
das Motiv einer späteren Erzählung begegnet. Die Figur des fanati
schen Beters in der "Beschreibung eines Kampfes", weist auf den
Hungerkünstler voraus:

In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die hie und
da ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung
drehten, um nach dem Betenden hinzusehen. Diese Auf
merksamkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor
jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen um
gehen, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären.
Ach, mir macht es . . . Spaß, von den Leuten angeschaut
zu werden, sozusagen von Zeit zu Zeit einen Schatten auf
den Altar zu werfen.
Nicht Spaß, Bedürfnis ist es für mich. Befürfnis von
diesen Blicken mich für eine kleine Stunde festhämmern
zu lassen . . .!

Was für die Beziehungen Kafkas zu E.T.A. Hoffmann gilt, gilt für
Kafkas literarische Beziehungen insgesamt. Die Fülle des Gemein
samen oder Übernommenen ist unverkennbar, hebt aber die
Originalität des Dichters nicht auf. Doch sind im Blick auf Hoff
mann die Ähnlichkeiten (und z.T. sogar die motivlichen Überein
stimmungen) besonders auffällig. Grotesk-spielerische Prosastücke
wie "der neue Advokat" oder "die grotesk-metaphorische Verbin
dung des .. . Gottes [Poseidon] mit einem modernen Verwal
tungschef" erinnern an Hoffmanns Skurrilität14. Das erstaun
lichste Beispiel solcher Übereinstimmung jedoch begegnet in "Ein
Bericht für eine Akademie", auf das Kassel hingewiesen hat: "Der
groteske Vorgang, wie in Kafkas Erzählung ein Affe zu einem
Pseudomenschen mit der 'Durchschnittsbildung' eines Europäers
wird, ist ähnlich bereits von E.T.A. Hoffmann zum dichterischen
Gegenstand gemacht worden. Die sogenannte 'Nachricht von
einem gebildeten jungen Mann' enthält ein 'Schreiben Milos', eines
gebildeten Affen, an seine Freundin Pipi in Nordamerika", das in

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Kafka und E. T. A. Hoffmann 9

ganz analoger Weise zu Kafkas 'Bericht' [stilisiert ist]. "Dieses


'Schreiben' Hoffmanns weist außerdem große inhaltliche Ähnlich
keiten mit dem Affenbericht Kafkas auf.. . man könnte daher das
'Schreiben Milos' fast als literarische Vorlage für Kafkas 'Affen
bericht' ansehen .. . denn es ist ebenfalls ein Bericht über den
Werdegang eines Affen zum gebildeten Künstler"15
Trotz vieler weitgehender Entsprechungen, die sich zwischen
Hoffmann und Kafka aufzeigen lassen, überwiegen letzthin doch
die Unterschiede. Mögen sich auch die Phantasiegebilde Hoff
manns und die Visionen Kafkas mitunter täuschend ähnlich sein,
so gehören sie doch verschiedenen Welten an und meinen daher
völlig anderes. Kafkas "traumhaftes inneres Leben" läßt die Wirk
lichkeit des menschlichen Daseins bis auf den Grund durchsichtig
werden, so daß ihr verborgenes Anderssein schockierend vor
Augen tritt. Ihm geht es nicht um Außerwirkliches, sondern um
Grundbefindliches, nicht um Entrücken und Verzaubern, sondern
um Konfrontieren und Sichtbarmachen. Hoffmann hingegen stellt
der wirklichen Welt eine Welt rein von Dichters Gnaden gegenüber.
Er gestaltet eine neue außerwirkliche Dimension hinzu und läßt
das Geschehen auf verschiedenen Ebenen spielen. Die Trennung
des Realen und Irrealen ist Kunstprinzip. Dem Spiel der Phantasie
sind darum keine Grenzen gesetzt. Es herrscht grundsätzliche Frei
heit der Erfindung. Das heißt: im fiktiven phantastischen Raum
hat die empirische Wirklichkeit keine Funktion, weder als Korrek
tiv noch gar als Kompaß. Und dieser Spielraum der Freiheit wird
ungehemmt ausgenützt. Hoffmanns "Elixiere des Teufels" demon
strieren beispielhaft das "Genug-ist-nicht-genug" phantasiebe
schwingter Erfindungslust. All das kontrastiert zu Kafkas öko
nomischer Präzision und Folgerichtigkeit in der erzählerischen
Darbietung.
Da aber dennoch beide Dichter auffällige Parallelen aufweisen
und auch ähnliche Wirkungen auslösen, könnte man versucht sein,
die gekennzeichneten Unterschiede zu negieren und zu unter
stellen, daß die Phantasiegebilde Hoffmanns und die Bildeinge
bungen von Kafkas "traumhaftem inneren Leben" letzlich das
selbe seien. Doch ihre Sprache ist verräterisch und schließt jeden

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Gedanken an Gleichsetzung aus. Der Gegensatz von freiwuchern


der Phantasie und linearer Zielstrebigkeit der Handlungsführung
der die Epik der beiden Dichter unterscheidet, manifestiert sich
zugleich als Gegensatz von stilistischem Prassen und sprachlicher
Askese.

Heidelberg

Anmerkungen

1. Nach Hartmut Binder {Motiv und Gestaltung bei Kafka, Bonn 1966 und
"Kafkas literarische Urteile," Zeitschrift für deutsche Philologie 86,
1967, 210 ff.) übersteige die literarische Wirkung Hoffmanns auf Kafka
alle anderen Einflüsse. Dagegen spricht jedoch, daß in den Lebenszeugnis
sen Kafkas Hoffmann überhaupt nicht begegnet und in Klaus Wagen
bachs reichhaltiger Materialsammlung (Franz Kafka in Selbstzeugnissen
und Bilddokumenten, Reinbek 1972) nicht aufgeführt ist. Der Hoch
schätzung des Hoffmann-Einflusses liegt wohl eine Gleichsetzung bzw.
Verwechslung des Kafkahaften mit dem Kafkaesken zugrunde.
2. Bezeichnenderweise war Kafka einer der ersten, der die realitätsgetreue
Wahrhaftigkeit der schockierenden Kunst Picassos erkannte und dessen
"Deformationen" der Wirklichkeit als Ergebnisse eindringlicheren Se
hens, ja prophetischen Voraussehens würdigte. Denn - wie er zu Janouch
sagte - sei die Kunst eine Uhr, die vorgeht. Picasso sehe und gestalte
bereits, was seine Zeitgenossen noch nicht sähen.
3. Die Einsicht Voltaires: "L'adjectif est l'ennemi du substantif' lag Hoff
mann fern. Wortökonomie oder gar Untersprechen waren nicht seine
Sache.
4. Hermann Pongs, "Ambivalenz in moderner Dichtung". In: Sprachkunst
als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler, Salzburg-München
1966, S. 209. Vgl. dazu Bert Nagel, Franz Kafka. Aspekte zur Interpre
tation und Wertung, Berlin 1974, 14 f.
5. Heinz Dietrich Kenter, "Im Bannkreis der Realität. E.T.A. Hoffmann
nach 150 Jahren". In: Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg vom 14.6.1972
(Literatur-Beilage).
6. Ibid.
7. Ibid.

8. Beckett seinerseits setzt die Linie Kafkas fort. Seine Endspiel-Dichtung


zieht die letzte Konsequenz aus dessen Ansätzen.
9. Kenter a.a.O.

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Kaßa und E. TA. Hoffmann 11

10. Der Spruch, den der gelähmte kranke Dichter am Wandschirm seines
Bettes befestigt hat, bestätigt seine — wenn auch skeptische - Lebens
gläubigkeit: Et si male nunc, non olim sie erit. Und wenn es heute auch
schlecht geht, es wird nicht immer so sein.
11. Kenter a.a.O.
12. Ibid.

13. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Schilderung - trotz des beträcht
lichen Wortaufwandes - lediglich um eine Pseudopräzision, die ihrerseits
weithin ein Kennzeichen des Hoffmannschen Erzählens ist.
14. Vgl. außer Hartmut Binder Motiv und Gestaltung bei Kafka, Bonn 1966
vor allem Norbert Kassel, Das Groteske bei Franz Kafka, München 1969.
15. Ibid., 145.

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