Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Hoffmann
Author(s): Bert Nagel
Source: Modern Austrian Literature , 1981, Vol. 14, No. 1/2 (1981), pp. 1-11
Published by: Association of Austrian Studies
JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide
range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and
facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact support@jstor.org.
Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at
https://about.jstor.org/terms
is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Modern Austrian
Literature
Bert Nagel
müsse im Leben . . . ' "5. Aber auch "mit seinen Gespenstern, mit
seinen grotesken Phantasien, mit seiner Unruhe und Zerrissenheit
[stand] Hoffmann als Dichter und als Person [schon] unmittelbar
im Vorfeld der Erschütterungen, die den Anbruch des 20. Jahrhun
derts signalisieren"6. Kenter fügt hinzu, das Gespenstische der
Hoffmann-Welt signalisiere, weit vor Strindberg . . . den Zerreiß
prozeß, dem sich der aus einer religiösen Gesellschaftsstruktur auf
gebrochene Mensch in wachsendem Maße ausgesetzt sehe. Ja,
Hoffmann sei, wie seine Novelle 'Der Automat' zeige, "einer der
ersten im beginnenden 19. Jahrhundert, der das bedrohlich
Maschinenhafte hellsichtig als den 'erklärten Krieg gegen das gei
stige Prinzip' erkennt, der, in echter existentieller Angst, sich und
seine Zeit dem Ansturm 'böser Principien' ausgeliefert sieht und,
ein Seismograph an Sensibilität, den kommenden Erdrutsch und
mit ihm alle Zerreißproben wittert". Und zweifellos habe Hoff
mann auch als einer der ersten "eine Ahnung davon gehabt, daß
[das] glückhaft-neue, beseligend Schweifende der Romantik zu
gleich . .. der gefährliche Anfang ist für ein glückloses Ausschwei
fen ins Heimatlose und Abstrakte"7. Einiges bei Hoffmann prälu
diert bereits die in Beckett kulminierende Endspiel-Dichtung8.
Eben dies, daß sich in dem Romantiker schon ein ganz un
romantisch moderner Hoffmann ankündigt, rückt ihn in die Nähe
Kafkas. Wie dieser war auch er ein Angstträumer, der um die dro
hende Not der Ungeborgenheit und des Ausgeliefertseins an eine
feindliche Gegenwelt wußte, und "ein seltsamer Einzelgänger in
einer Zeit regster geistiger Zirkel"9. Noch aber ist er nicht mit
Kafkas vernichtender Hoffnungslosigkeit geschlagen10. Diese fin
det sich erst zwei Menschenalter später bei August Strindberg, der
"als der Erbe von Hoffmanns Ängsten und Exaltationen in densel
ben Kämpfen [steht], nur daß die Hoffmannschen Gespenster
jetzt zu zwischenmenschlichen Verhaltensweisen umfiguriert sind,
die erbarmungslos gegeneinander antreten"11. Strindbergs Ver
zweiflung über die heillos böse und boshafte Welt entlädt sich in
dem ergreifenden Traumspiel-Ruf: 'Es ist schade um den Men
schen'. Bei Kafka und Beckett jedoch ist auch diese mitmenschli
che Stimme verstummt. Wenn Becketts Krapp in seinen glücklich
Eine kleine Mücke flog durch seinen Bauch, ohne daß ihre
Schnelligkeit vermindert wurde.
. . . wie sehen Sie doch aus! Sie sind Ihrer ganzen Länge
nach aus Seidenpapier herausgeschnitten, aus gelbem
In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die hie und
da ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung
drehten, um nach dem Betenden hinzusehen. Diese Auf
merksamkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor
jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen um
gehen, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären.
Ach, mir macht es . . . Spaß, von den Leuten angeschaut
zu werden, sozusagen von Zeit zu Zeit einen Schatten auf
den Altar zu werfen.
Nicht Spaß, Bedürfnis ist es für mich. Befürfnis von
diesen Blicken mich für eine kleine Stunde festhämmern
zu lassen . . .!
Was für die Beziehungen Kafkas zu E.T.A. Hoffmann gilt, gilt für
Kafkas literarische Beziehungen insgesamt. Die Fülle des Gemein
samen oder Übernommenen ist unverkennbar, hebt aber die
Originalität des Dichters nicht auf. Doch sind im Blick auf Hoff
mann die Ähnlichkeiten (und z.T. sogar die motivlichen Überein
stimmungen) besonders auffällig. Grotesk-spielerische Prosastücke
wie "der neue Advokat" oder "die grotesk-metaphorische Verbin
dung des .. . Gottes [Poseidon] mit einem modernen Verwal
tungschef" erinnern an Hoffmanns Skurrilität14. Das erstaun
lichste Beispiel solcher Übereinstimmung jedoch begegnet in "Ein
Bericht für eine Akademie", auf das Kassel hingewiesen hat: "Der
groteske Vorgang, wie in Kafkas Erzählung ein Affe zu einem
Pseudomenschen mit der 'Durchschnittsbildung' eines Europäers
wird, ist ähnlich bereits von E.T.A. Hoffmann zum dichterischen
Gegenstand gemacht worden. Die sogenannte 'Nachricht von
einem gebildeten jungen Mann' enthält ein 'Schreiben Milos', eines
gebildeten Affen, an seine Freundin Pipi in Nordamerika", das in
Heidelberg
Anmerkungen
1. Nach Hartmut Binder {Motiv und Gestaltung bei Kafka, Bonn 1966 und
"Kafkas literarische Urteile," Zeitschrift für deutsche Philologie 86,
1967, 210 ff.) übersteige die literarische Wirkung Hoffmanns auf Kafka
alle anderen Einflüsse. Dagegen spricht jedoch, daß in den Lebenszeugnis
sen Kafkas Hoffmann überhaupt nicht begegnet und in Klaus Wagen
bachs reichhaltiger Materialsammlung (Franz Kafka in Selbstzeugnissen
und Bilddokumenten, Reinbek 1972) nicht aufgeführt ist. Der Hoch
schätzung des Hoffmann-Einflusses liegt wohl eine Gleichsetzung bzw.
Verwechslung des Kafkahaften mit dem Kafkaesken zugrunde.
2. Bezeichnenderweise war Kafka einer der ersten, der die realitätsgetreue
Wahrhaftigkeit der schockierenden Kunst Picassos erkannte und dessen
"Deformationen" der Wirklichkeit als Ergebnisse eindringlicheren Se
hens, ja prophetischen Voraussehens würdigte. Denn - wie er zu Janouch
sagte - sei die Kunst eine Uhr, die vorgeht. Picasso sehe und gestalte
bereits, was seine Zeitgenossen noch nicht sähen.
3. Die Einsicht Voltaires: "L'adjectif est l'ennemi du substantif' lag Hoff
mann fern. Wortökonomie oder gar Untersprechen waren nicht seine
Sache.
4. Hermann Pongs, "Ambivalenz in moderner Dichtung". In: Sprachkunst
als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler, Salzburg-München
1966, S. 209. Vgl. dazu Bert Nagel, Franz Kafka. Aspekte zur Interpre
tation und Wertung, Berlin 1974, 14 f.
5. Heinz Dietrich Kenter, "Im Bannkreis der Realität. E.T.A. Hoffmann
nach 150 Jahren". In: Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg vom 14.6.1972
(Literatur-Beilage).
6. Ibid.
7. Ibid.
10. Der Spruch, den der gelähmte kranke Dichter am Wandschirm seines
Bettes befestigt hat, bestätigt seine — wenn auch skeptische - Lebens
gläubigkeit: Et si male nunc, non olim sie erit. Und wenn es heute auch
schlecht geht, es wird nicht immer so sein.
11. Kenter a.a.O.
12. Ibid.
13. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Schilderung - trotz des beträcht
lichen Wortaufwandes - lediglich um eine Pseudopräzision, die ihrerseits
weithin ein Kennzeichen des Hoffmannschen Erzählens ist.
14. Vgl. außer Hartmut Binder Motiv und Gestaltung bei Kafka, Bonn 1966
vor allem Norbert Kassel, Das Groteske bei Franz Kafka, München 1969.
15. Ibid., 145.