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Friedrich Dürrenmatt und Franz Kafka

Author(s): Bert Nagel


Source: Modern Austrian Literature , 1987, Vol. 20, No. 1 (1987), pp. 37-51
Published by: Association of Austrian Studies

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24647462

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Friedrich Dürrenmatt und Franz Kafka1

Bert Nagel

Eigenwüchsig und eigenwillig in seinem gestalterischen Temperament,


gehört Friedrich Dürrenmatt gleichwohl auch in die Nachfolge Kafkas und
hat diesen literarischen Zusammenhang selber betont, indem er eine Szene in
seinem Frühwerk Komödie ausdrücklich dem Gedenken an Kafkas Parabel
Vor dem Gesetz widmete. Und wenn er sich als einen "Liebhaber grausamer
Fabeln und nichtsnutziger Lustspiele," als "zähschreibenden Protestanten
und verlorenen Phantasten" bezeichnete, so verweisen auch diese Selbstcharak
teristiken auf verwandtschaftliche Nähe zu Kafka. Denn auch Kafka war in
einem makaber tragischen Sinn ein "Liebhaber grausamer Fabeln," und die
oft groteske Komik seiner Erzählungen, die ihn, wie wir wissen, selber zum
Lachen reizten, impliziert gleichfalls ein Gran "nichtsnutzig Lustspielhaftes."
Als ein seinem "traumhaften inneren Leben" Hingegebener war Kafka auf seine
Weise-und zumindest für nüchterne Alltagsmenschen—ebenfalls ein "ver
lorener Phantast." Endlich dem "zähschreibenden Protestanten" und Pfarrer
sobn Dürrenmatt entspricht Kafka als der Dichter des Judentums, der trotz
aller freigeistigen Emanzipation lebenslang durch sein religiöses Erbe bestimmt
blieb. In einer Vielzahl von Variationen hat er implizite wiederholt das leidvolle
jüdische Schicksal der nicht gelingenden Integration gestaltet.
Gemeinsam ist beiden Dichtern, daß das Grotesk-Komische der Begeben
heiten, die sie vor Augen stellen, grotesk tragischen Charakters ist und so die
Auffassung Ionescos erhärtet, der einen Unterschied zwischen komisch und
tragisch entschieden leugnet, da, wie er sagt, das Komische mehr Verzweiflung
enthalte als das Tragische, da das Komische ausweglos sei.2
Hinzu kommen inhaltliche Parallelen in den Werken beider Autoren.
So stimmt Dürrenmatts Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen
so eng mit einer Tagebucherzählung Kafkas (vom 22. Juli 1916) überein, daß
die von Kafka gegebene Beschreibung des Verurteilten, der in der Todesnacht
vom Scharfrichter in der Zelle aufgesucht und hingerichtet wird, als eine bis
in die Einzelheiten stimmende Zusammenfassung von Dürrenmatts Hörspiel
angesprochen werden kann. Noch gewichtiger aber als solche fast wörtlichen
Parallelen ist das Engagement beider Dichter in den Grundfragen von Recht

Modern Austrian Literature, Volume 20, Number 1, 1987 37

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38 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

und Gerechtigkeit.3 Die Problematik des Rechts, mit der sich Kafka l
auseinandersetzte, bestimmt als zentrales Motiv Dürrenmatts dichterisches
insgesamt. Immer wird bei ihm die Szene zum Tribunal, erscheinen die Per
als Richter oder Rächer. Das gilt nicht nur für seine Detektivgeschichten
Der Richter und sein Henker (1950) und Der Verdacht (1951), sondern ger
auch für seine Hörspiele und Dramen wie Die Ehe des Herrn Mississippi (1
Der Besuch der alten Dame (1956), Die Panne (1956) sowie für seinen M
vortrag über Gerechtigkeit und Recht (1969). Und wie bei Kafka ist auch
Dürrenmatt die Rechtsproblematik mit dem Religionsproblem als einem
ren Zentralthema seines Dichtens verbunden, so in seinem Hiobdrama Der
Blinde (1948), in Es steht geschrieben (1947), Ein Engel kommt nach Babylon
(1953), Grieche sucht Griechin (1955), Die Wiedertäufer (1967) u.a.4 Ist für
Kafka das Jüngste Gericht in Wirklichkeit ein "Standrecht," so sieht Dürrenmatt
entsprechend das Leben des Menschen als einen stetig laufenden Gerichtsprozeß
für eine Schuld, deren sich der Einzelne oft nicht bewußt ist, die aber existiert.
Wie Josef K. in Kafkas Der Prozeß betrachtet sich auch der Protagonist in
Dürrenmatts Hörspiel Die Panne als unschuldig, und er ist auch nach dem Buch
staben des Gesetzes der offiziellen Gerichte nicht schuldig, wird aber dennoch
durch ein höheres Gericht schuldig gesprochen. Eben dies ist ein Kernthema
Kafkas wie des jungen Dürrenmatt, daß der Mensch immer schuldig ist, schuldig
durch sein bloßes Dasein und daß er nur durch eine höhere (transzendente)
Gerichtsinstanz zur Einsicht in seine ihm unbekannte Schuld gebracht werden
kann.

Wenn in Kafkas Strafkolonie der Gerichtsoffizier erklärt: "Die Schuld


ist immer zweifellos" und infolgedessen für alle Vergehen die Todesstrafe vorge
sehen ist, so findet das seine genaue Parallele in Dürrenmatts Spiel Der Doppel
gänger, in welchem der Protest des zum Tode Verurteilten mit der lapidaren
Feststellung zurückgewiesen wird: "Wir sind alle des Todes schuldig." Zugrunde
liegt hier wie dort der unaufhebbare Gegensatz zwischen der Unzulänglichkeit
einer nur menschlichen Justiz und der absoluten Gültigkeit höherer Gerechtig
keit. Dem entspringt das Bedürfnis nach Verwirklichung jener höheren Gerech
tigkeit und damit der Wunsch nach adäquater Strafe für die immer gegebene
Schuld. Daraus folgt femer, daß die ihrer Schuld innegewordenen Angeklagten
das über sie verhängte Urteil zuletzt willig annehmen, ja daß sie selber begierig
nach jenem höheren Gericht suchen, das ihren Fall verhandelt, und nach der
gebührenden Bestrafung verlangen. Dennoch geht die Rechnung nicht auf.
Alle Bemühungen scheitern an dem tragischen Paradox, daß der Mensch gerecht
sein sollte, die Gerechtigkeit selbst aber unerreichbar für ihn ist. Das Los, das
den Menschen ereilt, ist daher die kalte Vernichtung des immer Schuldigen,
die Verweigerung der Gnade.

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Dürrenmatt und Kafka 39

Wie weit Dürrenmatt in seiner Sicht der Welt mit Kafka übereinstimmt,
erhellt aus seinen eigenen Äußerungen, in denen er seine Selbstauffassung als
Schriftsteller gekennzeichnet hat. Zugleich dokumentieren sie, in welche Rich
tung er andere Wege gegangen ist. Doch im Ansatz seines Denkens steht er
Kafka auffällig nah, wie die folgenden Aussagen bezeugen:

. .. Wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann ver
zweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge der Welt, sondern
eine Antwort, die er auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort
wäre sein Nichtverzweifeln, sein Entschluß etwa, die Welt zu beste
hen ... Ich lehne es ab, das Allgemeine in einer Doktrin zu finden,
ich nehme es als Chaos hin. Die Welt steht für mich als ein Ungeheures
da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem
es jedoch kein Kapitulieren geben darf. Die Welt ist größer denn der
Mensch, zwangsläufig nimmt sie so bedrohliche Züge an, die von einem
Punkt außerhalb nicht bedrohlich wären, doch habe ich kein Recht
und keine Fähigkeit, mich außerhalb zu stellen.5

Wie Kafka so betont hier auch Dürrenmatt das Hoffnungslose, Rätselhafte,


ja Ungeheuerliche der Welt, bleibt aber nicht bei einem Kafkaschen Verzweifeln
stehen, entscheidet sich vielmehr für das Nichtverzweifeln und Nichtkapitulieren
als Antwort auf die bedrohlich chaotische Welt. Sein Wunschbild ist also der
mutige Mensch, der zwar kein glorioser Held, sondern einfach ein tapferer
Jedermann ist.6 Der heutige Dürrenmatt hat sich jedoch dem Pessimismus
Kafkas stärker angenähert. In einer Rede (1970) stellte er resignierend fest:
"Die moderne Welt ist ein Ungeheuer, das mit ideologischen Formeln nicht
mehr zu bewältigen ist." Die Welt gilt ihm also jetzt als unverbesserlich. Der
menschliche Geist könne sie wohl zerstören, aber nicht ändern. Diese kafka
hafte Resignation Dürrenmatts ergibt sich jedoch aus einem anderen Blickwinkel
als dem Kafkas. Sie resultiert aus einer im Wortsinn universalen Sicht, nämlich
aus seinem Blick auf das Ganze der Welt, auf das akut gewordene katastrophen
trächtige Gesamtschicksal der Menschheit, die ihren eigenen Untergang vorbe
reitet. Man denke an sein Drama Die Physiker. Kafka hingegen dachte nicht
bzw. noch nicht in kosmischen Perspektiven. Er war der Dichter des Individu
ums, hatte das Schicksal des Einzelnen im Blick, das unausweichliche Scheitern
und Verlorensein des Menschen im Chaos der Welt.
Hinsichtlich des Menschen ist Dürrenmatt also nicht weniger desillusioniert
als Kafka und gebraucht wie dieser auffällig häufig die Tiermetapher zur Kenn
zeichnung des homo sapiens. In der Groteskkomödie Die Ehe des Herrn Missis
sippi wird der degradierende Mensch-Tier-Vergleich nahezu auf alle Personen

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40 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

angewandt. In einem entscheidenden Augenblick sagt der Minister


er die Gattin Mississippis umarmt:. "Du bist ein Tier, aber ich lie
Diese selbst frohlockt über den Tod zweier Menschen, die vergifte
sind: "Sie sind verendet wie zwei Tiere, sie sind krepiert wie Vieh." M
dabei an den kläglich krepierten Gregor Samsa Kafkas, den die Aufwa
wie Kehricht mit dem Besen aus dem Zimmer hinausfegt. Mississippi
als Staatsanwalt möglichst viele Angeklagte ans Messer liefert, sagt üb
"Ich bin eine Bestie geworden, die der Menschheit an die Gurgel sprin
von der Masse der Menschen, die sich mühelos manipulieren läßt, spri
Minister verächtlich als von dem "Biest": "Setzen wir uns auf das
wir werden ewig oben sitzen." Aber auch der einzige halbwegs a
Mensch in diesem makabren Spiel gebraucht die Tiermetapher und
emotional gesteigerter Form. Entsetzt über die moralische Niedert
Ehepaares Mississippi ruft er aus: "Tiere! Ihr seid Tiere! Tiere! Tier
Tiere!"
Auch darin stimmt Dürrenmatt mit Kafka überein, daß er in seinen Werken
nicht wertet und wägt, vielmehr den Schluß seiner Dichtungen jeweils offen
läßt-ein Offenlassen, das an den Leser, Hörer oder Zuschauer appelliert, das
hinterlassene Vakuum von sich aus auszufüllen. Ein Unterschied liegt freilich
darin, daß Kafka den Schluß deshalb immer offen läßt, weil er sich in keinem
Fall jemals wirklich entscheiden kann, während Dürrenmatt eine Antwort, näm
lich seine Antwort wohl geben könnte, sie uns aber bewußt vorenthält, damit
wir sie uns selber geben. Ist Dürrenmatts Schweigen ein Verschweigen und damit
ein Appell, der unsere Entscheidung fordert, so bezeugt Kafkas Schweigen, daß
er selber keine Lösung der angesprochenen Probleme weiß und darum keine
Antwort zu geben wagt.
Weil aber das Groteske bei Kafka und Dürrenmatt sinn trächtig ist,7 inso
fern es uns jeweils eine eigene Sinndeutung abnötigt, werden wir nicht wie in
dem absurden Theater Samuel Becketts mit dem Nichts einer erstarrten und
entleerten Welt konfrontiert, weisen vielmehr beide den Vorwurf des Nihilismus
zurück. Dürrenmatt erklärt: "Darin, daß viele der heutigen Zuschauer in meinen
Stücken nichts als Nihilismus sehen, spiegelt sich nur ihr eigener Nihilismus.
Sie haben keine andere Deutungsmöglichkeit."8 Ebenso hat Kafka den Nihilis
mus verworfen und trotz allem Gegenschein des absurd anmutenden Weltge
schehens den Glauben an ein Unzerstörbares als die eigentliche Bedingung des
Lebens bezeichnet. Infolgedessen können wir bei beiden Autoren von einer
moralistischen Intention des Grotesken sprechen. Paradoxerweise sind es ja
gerade die grotesken Verzerrungen der erfahrbaren Realität, welche die in der
empirischen Wirklichkeit steckende Wahrheit enthüllen. Zwar wird kein Mensch
eines Morgens nach unruhigen Träumen als ein ungeheures Ungeziefer erwachen,

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Dürrenmatt und Kafka 41

wie das in Kafkas Erzählung Die Verwandlung von dem unglücklichen Gregor
Samsa berichtet wird. Und doch wissen wir alle, daß es diesen durch die Brutali
tät des Lebensprozesses restlos demoralisierten Menschen wirklich gibt, der,
unter sein moralisches Existenzminimum hinabgedrückt, scheinbar nur noch
Ungeziefer ist. Ein Grenzfall gewiß, aber ein möglicher und im Zuge der fort
schreitend dehumanisierenden Menschheitsentwicklung sich voraussichtlich
noch mehrender. Sicher werden sich auch keine drei großen Physiker, um die
Menschheit vor dem Untergang zu retten, in eine Irrenanstalt zurückziehen
und dort von einer selber in die Irre geratenen Irrenärztin überlistet werden,
wie das in Dürrenmatts Physikern geschieht. Aber dennoch deckt dieses groteske
Modell eine Wahrheit auf, die mitten in den Kern unserer heutigen Wirklichkeit
trifft. Mit anderen Worten, das Groteske, wie es Dürrenmatt und Kafka sehen,
enthüllt eine Wahrheit, insofern sie als akute Möglichkeit dauernd gegenwärtig
ist, letzthin aber nur durch das Formmittel der Groteske dichterisch dargestellt
werden kann.

Da es zwischen Dichtern, wie zwischen Menschen überhaupt, niemals


volle Identität, sondern allenfalls nur Affinität, also Verwandtschaftsformen
wechselnden Grades gibt, so versteht sich, daß wir uns bei diesem Vergleich auf
das konkret Vergleichbare konzentrieren und im besonderen auf zwei in der
Konzeption einander besonders nahestehende Werke beider Dichter, nämlich
auf Kafkas Erzählung In der Strafkolonie und Dürrenmatts makabre Komödie
Die Ehe des Herrn Mississippi, deren Protagonisten fast modellhaft genau über
einstimmen.9 Der Exekutionsoffizier in Kafkas Strafkolonie und Dürrenmatts
Staatsanwalt Mississippi repräsentieren den gleichen Typus des missionarisch
besessenen Rechts- und Gesetzesfanatikers. Der eine kämpft verbissen um die
Erhaltung einer anachronistisch gewordenen barbarischen Strafjustiz, der andere
ebenso fanatisch für die Wiedereinführung einer solchen. Über der Vergötzung
eines alten Gesetzes, das den beiden als gottgewollt gilt, nehmen sie die Un
menschlichkeit der damit verbundenen Gerichts- und Strafpraktiken überhaupt
nicht wahr. Im Gegenteil, ihre archaische Rechtsbarbarei ist ihnen heilig. Sie
stellen sie sogar mit stolzer Befriedigung zur Schau. Nichts kann ihren Glauben
anfechten, im Recht zu sein und das einzig Richtige und Notwendige zu tun.
Auch das ist beiden Werken gemeinsam, daß die "unerhörten Begeben
heiten," von denen sie handeln, nicht wie ein Vorzeitgeschehen anmuten, son
dern als bedrückend gegenwärtig und aktuell empfunden werden. Die Handlung
hat jeweils Modellcharakter als ein Paradigma des Absolutismus. Es geht also
um etwas jetzt und immer Mögliches. Das den Menschen und die Menschlichkeit
Bedrohende ist hier nicht etwas hinter den Dingen Verborgenes, das unerwartet
hervorbrechen kann, sondern etwas Vorgegebenes und Permanentes, das Übliche
mitten unter uns, das gedankenlos Hingenommene und routinehaft Praktizierte.

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42 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

Die Faszination der rigorosen Strafjustiz beruht auf Terror, nämlich auf der
totalitären Geltung des Strafgesetzes und dem perfekten Funktionieren des
Strafvollzuges. Zur Faszination dieses Terrors gehört, daß hier wie dort jeweils
nur ein einziges Gesetz nötig und möglich ist und entsprechend auch nur eine
einzige Strafe: die Todesstrafe. Die Frage, ob dem Angeklagten eine angemessene
Möglichkeit der Verteidigung gegeben ist, stellt sich insofern nicht, als es hier
ja gar nicht um das Schicksal der Verurteilten geht, sondern allein um die exakte
Betätigung des Justizapparates, der als ein Instrument absoluter Gerechtigkeit
erachtet wird und darum niemals irren kann. In der vollautomatisch arbeitenden
Gerechtigkeits- und Hinrichtungsmaschine der Kafkaschen Strafkolonie ist
dieses Ideal perverser Perfektion erschreckend eindrucksvoll vergegenwärtigt.
Infolge seiner Promptheit und mathematischen Präzision verbürgt dieser Exe
kutionsapparat zweifelsfreie Gerechtigkeit, macht höhere Berufungsinstanzen
überflüssig, Begnadigungsdekrete hinfällig. Eben darin hegt die einzigartige
Funktionstüchtigkeit des Apparates, daß er selbsttätig alles einkalkuliert und
vorprogrammiert und damit die Bediener jeglichen Nachdenkens, aber auch
jeder Art von Gewissensskrupeln enthebt. Fast scheint es, als habe Kafka mit
diesem Bild vom totalitären Terror des Apparates schon die unbehagliche Vor
stellung vom elektronischen Ersatz der sittlich freien Denkarbeit des Menschen
vorweggenommen.10
Was für Kafkas Gerichtsoffizier das technische Wunder des Hinrichtungs
apparates darstellt, das bedeutet für Dürrenmatts Staatsanwalt das strenge
alttestamentarische Gesetz Mosis, für dessen volle Wiedereinführung er kämpft
und für das er wie der Kafkasche Offizier für seinen Apparat sogar zu sterben
bereit ist. Woher, so fragt man sich, nehmen die beiden die Gewißheit, einer
guten Sache zu dienen, so daß sie ihr grauenvolles Mörderamt mit Begeisterung
ausüben können und in seinem Vollzug das Ideal der Gerechtigkeit zu sehen
vermögen? Was vermag sie dazu, ihre grausame Justiz allen Ernstes als human
und sittlich zu rühmen, daß durch diese die Menschheit moralisch gehoben werde
und daß gerade auch den Exekutierten dadurch etwas Gutes geschehe, indem sie
nämlich mit der Strafe zugleich das Heil der Erlösung und Verklärung fänden?
Die Frage, wie solche Menschen, wie solche grotesk tragischen Irrungen
überhaupt möglich sind, ist nicht überflüssig. Sie stellt sich um so dringlicher,
als ein Blick in die Geschichte der Menschheit enthüllt, daß es zu allen Zeiten
und in allen Zonen immer wieder diesen Typus des Besessenen gegeben hat, der
Weltkatastrophen heraufbeschwor, weshalb wir auch in der Zukunft nicht ganz
gefeit sind gegen das Unwesen utopischer Moralisten, pervertierter Idealisten,
kurzschlüssiger Ideologen und menschenfeindlicher Rechts- und Gesetzes
fanatiker. Was diese Menschen unmenschlich macht, aber zugleich ihre Un
menschlichkeit deckt, ist ihr emotionales Verfallensein an einen irrealen Glau

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Dürrenmatt und Kafka 43

ben, ihre Selbstaufgabe durch fanatisches Mitläufertum. Weil aber alles, was
sie an Entsetzlichem anrichten, erklärtermaßen im Dienst einer missionarischen
Idee geschieht, gibt es hier subjektiv keine Schuld. Sowohl Kafkas Gerichtsoffi
zier wie Dürrenmatts Staatsanwalt Mississippi leben im Zustand "moralischer
Anästhesie," sind "Täter mit gutem Gewissen." Infolgedessen ist es ihr fester
Glaube, daß, wo immer der totalitäre Justizapparat läuft, Gerechtigkeit geschieht
und daher der Apparat gar nicht oft genug in Tätigkeit gesetzt werden kann.
Worum es geht, ist mithin die höchstmögliche Zahl an Todesurteilen und ein
entsprechender Rekord an Hinrichtungen. Je mehr Straffällige Kafkas Gerichts
offizier exekutiert, desto größer sein moralisches Verdienst. Und daß es Missis
sippi gelingt, die Zahl seiner Todesurteile mächtig zu steigern, gilt ihm als die
sittliche Krönung seiner juristischen Laufbahn. Was hier zählt, ist einzig die tech
nische bzw. prozedurale Perfektion der eingesetzten Mittel.
Die erschreckende Anomalie der beiden Fanatiker resultiert also daraus,
daß das natürliche Verhältnis zwischen Mensch und Apparat ins Gegenteil
verkehrt ist. Aller Wahnwitz folgt aus ihrer Hörigkeit gegenüber dem Apparat,
der für sie entscheidet, sie in seinen Dienst stellt und zu bloßen Ausführungsor
ganen funktionalisiert. Das aber besagt, daß die Unmenschlichkeit, die an ihnen
zutage tritt, eine Roboter-Unmenschlichkeit ist, die makabre Ausgeburt ihres
Selbstverlustes. Im Aufzeigen dieser Entmenschlichung des Menschen, der
einer totalitären Ideologie verfällt, liegt gewiß auch eine Moral, nämlich die
Moral, daß Menschlichkeit und Freiheit untrennbar sind und daß daher das
Freibleiben von der Herrschaft welchen Apparates auch immer als eine Existenz
frage des Menschseins zu gelten hat.
Abweichend von Kafka zeigt Dürrenmatt in seiner Groteskkomödie noch
an zwei weiteren Gestalten, wie Ideen zu lebensbedrohenden Ideologien entar
ten, mit deren Durchsetzung eine schlechthin widersinnige Welt entstünde.
Neben dem utopischen Moralisten Mississippi begegnen noch der politische
Utopist Saint Claude, der durch einen perfekten Polizeistaat das Paradies auf
Erden verwirklichen will, sowie der einem religiösen Wahn verfallene Graf Bodo
von Ubelohe, dessen Wunschträume ebenfalls ein Chaos zeitigen würden. Daß
Dünenmatt den Typus der Ideologiebesessenen gleich in drei Exemplaren auf
die Bühne stellt, entspringt dem Überschwang seines gestalterischen Tempera
ments, das sich nicht genug tun kann, bewirkt aber dadurch keine Steigerung
über Kafka hinaus, zeitigt vielmehr eher einen inflationären Effekt. Übertreiben
ist eben die Achillesferse des Schweizer Schriftstellers, während Konzentration
die gestalterische Stärke Kafkas ist.
Typologische Verwandtschaft zwischen Kafkas Gerichtsoffizier und
Dürrenmatts Staatsanwalt bekundet sich auch darin, daß es jeweils ein bestimm
tes Schlüsselerlebnis gibt, welches die jähe Wende zum fanatischen Ideologen in

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44 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

ihnen ausgelöst hat. Beim Gerichtsoffizier war das die Begegnung mit dem
Kommandanten der Strafkolonie, dem er sofort in spontaner Unterwürf
als seinem gottgleichen Führer verfiel. Bei Mississippi geschah es, als ihm
Tages im Zustand tiefsten Elends eine halb vermoderte Bibel in die Hände
und ihn dabei "die Vision des Gesetzes wie eine Feuermasse überflutete."
von diesem Augenblick an stand das Ziel seines Lebens fest, nämlich in O
Jura zu studieren, um als Staatsanwalt das Gesetz Mosis wieder einzuführ
trieben von der Erkenntnis, daß die Menschheit dreitausend Jahre zurückg
müsse, um wieder vorwärts zu kommen. Ebenso war es für den Exekutio
zier durch die Persönlichkeit des alten Kommandanten zur Gewißheit gewo
daß alles Heil in der konsequenten Erfüllung des Vermächtnisses dieses ve
terten Führers liege. Und wie Mississippi als Staatsanwalt, so verstand sich
der Exekutionsoffizier nicht nur als amtlicher Vollstrecker eines bestimm
Gesetzes, sondern totalitär als Vertreter der sittlichen Weltordnung schlec
Meisterhaft hat Dürrenmatt den amoralischen Moralismus Mississ
gekennzeichnet, indem dieser, durch das alte Gesetz vermeintlich gerechtf
zwischen seinem eigenen an der früheren Gattin begangenen "rechtmäßig
Giftmord und dem von Frau Anastasia aus niedriger Eifersucht an ihrem G
verübten "rechtswidrigen" Giftmord juristisch delikat unterscheidet.
Tages erscheint Mississippi bei Frau Anastasia, einer ebenso verführerische
leichtfertigen Dame der Gesellschaft, zu Besuch und überführt sie beim
lichen Kaffeetrinken des Giftmordes an ihrem Gatten, bittet sie aber gleich
um ihre Hand zum Ehebund mit der Begründung, daß auch er seine Frau
Gift getötet habe und sie beide infolgedessen bereits schicksalhaft mitein
verbunden seien. Dieser Ehewunsch ist jedoch, wie er sogleich hinzufügt,
erotisch, sondern ausschließlich moralisch motiviert. Denn daß er, ein
mörder, mit der Giftmörderin Anastasia den Ehebund eingehen will, ist vo
keineswegs als ein neues Glück gedacht, sondern im Gegenteil als frei gew
strenge Sühne für die von ihnen begangenen Morde. Wie er erklärt, gehe e
sie beide einzig darum, sich durch diese fatale Lebensgemeinschaft gegens
zu bestrafen. Im übrigen setzt er sich in diesem Gespräch als betonter M
selbstgerecht von Anatasia ab:

Mississippi: Nein, gnädige Frau, ich bin kein Mörder. Zwischen Ihrer Tat
der meinen ist ein unendlicher Unterschied. Was Sie aus eine
grauenvollen Trieb, nämlich gemeiner Eifersucht, getan haben, t
ich aus sittlicher Einsicht. Sie haben Ihren Mann hingeschlachte
ich habe mein Weib hingerichtet. ... Ich habe meine Frau vergift
weil sie durch Ehebruch des Todes schuldig geworden war.
Anastasia: In keinem Gesetzbuch der Welt steht auf Ehebruch Todesstrafe

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Dürrenmatt und Kafka 45

Mississippi: Im Gesetz Mosis.


Anastasia: Das sind doch einige tausend Jahre her.
Mississippi: Deshalb bin ich auch felsenfest entschlossen, es wieder einzuführen.
Anastasia: Sie sind wahnsinnig.
Mississippi: Ich bin nur ein vollkommen sittlicher Mensch, gnädige Frau.
Unsere Gesetze sind im Verlauf der Jahrtausende jämmerlich
heruntergekommen. ... Unser Zivilgesetzbuch ist, verglichen mit
dem Gesetz des Alten Testamentes, das für den Ehebruch den Tod
beider Schuldigen vorschreibt, ein purer Hohn. Aus diesem heiligen
Grunde war die Ermordung meiner Frau eine absolute Notwendig
keit.... Wir müssen radikale Mittel anwenden, wenn wir uns
sittlich heben wollen.

Letzteres ist ein Satz, wie ihn so wörtlich auch der Gerichtsoffizier in Kafkas
Strafkolonie hätte aussprechen können. Der Befriedigung Mississippis über die
große Zahl der von ihm durchgesetzten Todesurteile entspricht der Stolz des
Offiziers auf die große Zahl der von ihm durchgeführten Exekutionen.
Mit anderen Worten, wie der Staatsanwalt Mississippi ist auch Kafkas
Gerichtsoffizier donquijotisch besessen von der Idee absoluter Gerechtigkeit,
die in der Konsequenz ihrer Verzerrung ihrerseits wieder in kalte Kriminalität
umschlägt. Und als Ideologiebesessene glauben beide auch dann noch fanatisch
an die Rechtlichkeit und Humanität ihrer "Säuberungsaktionen," als diese nicht
länger opportun sind, und enden daher kläglich als die Opfer ihres Wahns.
Die gestalterische Problematik von Dürrenmatts Spiel liegt, wie schon
angedeutet, in einem Zuviel an grotesker Karikatur. Der Gefahr, das Ganze in
sensationellen Bühnenklamauk ausarten zu lassen, ist Dürrenmatt nicht ganz
entgangen. Und sicher hat die groteske Perversion des Gerechtigkeitsbegriffs
in Kafkas Strafkolonie eine stärkere, dichtere und modellhaft gültigere Gestal
tung gefunden als in Dürrenmatts Bühnenstück, insofern in Kafkas Erzählung
konsequenterweise nicht mehr ein Mensch, sondern ein Apparat die Hauptrolle
spielt, ein Apparat, der bedingungslose Bedienung fordert und auch bedingungs
lose Bedienung findet dadurch, daß er den ihm zukommandierten Exekutions
offizier zum Roboter pervertiert, der nur noch Funktion und nicht mehr Person
ist und dem in seiner Bewunderung der technischen Vollkommenheit der Hin
richtungsmaschine das Exekutieren zum Selbstzweck geworden ist,11 so wie dem
Staatsanwalt Mississippi die laufende Vermehrung seiner Todesurteile. Dieser
nach Todesurteilen gierende Mississippi und der aufs Exekutieren versessene
Gerichtsoffizier sind Menschen gleichen Schlages, doch mit dem Unterschied,
daß Kafka im Gegensatz zu Dürrenmatt seine Figur weder karikiert noch paro
diert, vielmehr als eine unendlich traurige Menschenmöglichkeit ernstnimmt. So
ist dieser Offizier zwar eine grotesk anmutende Gestalt, aber keine zum Lachen

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46 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

reizende Karikatur. Das Lachen bliebe einem hier im Halse stecken. Bei
und Dürrenmatt, griffen zur Groteske, weil diese die Grausamkeit der
tät, der Nichtbeschönigung besitzt. Und beide sahen in der Groteske n
Kunst der Nihilisten, sondern der Moralisten, weil sie die verborgenen
zonen der menschlichen Natur enthüllt. Eben das besagte Kafkas A
er erfinde nichts, er dichte nichts hinzu, er zeichne nur auf, was ist,
mikroskopisch genau.
Wenn in Kafkas Strafkolonie ein neuer Kommandant humanere Straf
formen einführt, so begegnet dazu auch in Dürrenmatts Komödie ein Pendant,
und zwar in der Gestalt des Ministers, wie dessen Auseinandersetzung mit
Mississippi am Ende des Spiels bezeugt :

Eben hast du dein 350. Todesurteil durchgesetzt.


Ein weiterer Triumph meiner Laufbahn.
Die Regierung hat dir wiederholt Milde empfohlen.
Die Regierung braucht mich.
Brauchte dich. Das ist ein kleiner Unterschied. Ein scharfer Kurs
im Strafvollzug war ganz nützlich. Es galt die politischen Morde
zu bestrafen und die Ruhe wiederherzustellen. Aber nun .. .
wieder bescheiden zu einer gemäßigteren Justiz zurück! Deine
Amtsführung hat uns in der ganzen westlichen Welt lächerlich
gemacht... . Ein Staatsanwalt, der 350 Todesurteile durchgesetzt
hat und öffentlich zu erklären wagt, man sollte das Gesetz Mosis
wieder einführen, ist nicht mehr tragbar.
Was logisch ist, ist notwendig.
.. . doch so radikal wie du braucht man doch um Gottes willen
nicht vorzugehen.
Was hat die Regierung beschlossen?
Der Ministerpräsident wünscht deinen Rücktritt.
Ich weigere mich.
Du weigerst dich?
Die Regierung muß sich im klaren sein, daß sie gegen den ersten
Juristen der Welt kämpft.
Du fällst uns also in den Rücken?
Ihr fallt der Gerechtigkeit in den Rücken.
Die Welt ist schlecht, aber nicht hoffnungslos, dies wird sie nur,
wenn ein absoluter Maßstab an sie angelegt wird. Die Gerechtigkeit
ist nicht eine Hackmaschine, sondern ein Abkommen, ein Kom
promiß.

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Dürrenmatt und Kafka 47

Wie der scheinbar humanere neue Kommandant in Kafkas Strafkolonie


ist auch dieser Minister natürlich kein edler Charakter, sondern lediglich ein
politischer Opportunist, der sich übergangslos von einem Tag zum andern dem
jeweils neuen Trend hundertprozentig anschließt.
Typologische Übereinstimmung besteht aber auch darin, daß beide Gestal
ten, Dürrenmatts Mississippi und Kafkas Gerichtsoffizier, gleichzeitig Unmen
schen und Kulturmenschen sind. So ist Mississippi außerhalb seines Berufs als
Strafverfolger "tietreligiös und beschäftigt mit dem Sammeln alter Stiche, meist
idyllischer Landschaften, die den ursprünglichen schuldlosen Zustand der Natur
widerzuspiegeln scheinen." Gesellschaftlich repräsentiert er dezente Bürger
lichkeit und "darf eine für seinen Stand vollkommen ausreichende Pension
erwarten." Ebenso erweist sich der Gerichtsoffizier außerdienstlich keineswegs
als ein abgestumpfter Rohling, ist vielmehr taktvoll höflich und nicht ohne
Charme im Gespräch mit seinen Partnern. Er trägt Seidentüchlein im Kragenaus
schnitt, zeigt sogar Züge einer fast weiblich weichen Sensibilität. Für den alten
Kommandanten, den geistigen Vater des rigorosen Strafverfahrens, hegt er
überschwengliche Liebe und vergießt Tränen im Gedenken an diesen als gott
gleich erachteten Führer. Der gnadenlose Scharfrichter ist also auch starker
Gefühle fähig.
Endlich stehen sich die beiden Fanatiker auch darin nah, daß sie angesichts
des Scheiterns ihrer Bemühungen zu märtyrerhaftem Sterben bereit sind und
dadurch etwas wie tragische Größe zu gewinnen scheinen. Doch geht es dabei
um keinen Heroismus, der durch ein hohes Ziel gerechtfertigt wird. Vielmehr
erweist sich ihr Selbstopfer als letztmögliche Steigerung ihres engstirnigen
Fanatismus, der, weil er nicht mehr zu überzeugen vermag, zur Geste der drasti
schen Demonstration greift. Daß beide Fanatiker am Ende scheitern, und daß
der Totalitarismus damit einem liberaleren Kurs weichen muß, erhellt den
auch inhaltlichen Gleichlauf des Geschehens in beiden Dichtungen. Die Parallele
zwischen Kafkas Strafkolonie und Dürrenmatts Komödie geht aber insofern
noch weiter, als ein Staatswesen, in dem ein rabiater Strafverfolger wie Missis
sippi sein totalitäres Unwesen treiben kann, im Grunde nichts anderes ist als
eben eine Strafkolonie.
Trotz so vieler prinzipieller Ubereinstimmungen mag es verwundern,
Kafka und Dürrenmatt hier in so engen Zusammenhang gestellt zu sehen. Der
schwerblütige Ernst des Kafkaschen Schreibens scheint mit der fast komödianti
schen Ausbreitungslust Dürrenmatts kaum vereinbar zu sein. Der in Pointen
brillierende Stil des einen, der keiner sich anbietenden Assoziation ausweicht
und auch auf Gags nicht verzichtet, kontrastiert aufs äußerste zur stilistischen
Askese des anderen, dessen Stärke im Untersprechen, ja auch im Verschweigen
liegt. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch die Frage, ob Dürrenmatts

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48 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

scheinbar wollüstig schwelgendes Ironisieren und Parodieren der grotesken


Miseren des Menschseins und die bedrückend stumme Lebenstrauer Kafkas
wirklich unvereinbare Gegensätze sind. Darf man denn übersehen, daß-wie
schon eingangs betont—auch Dürrenmatts Denken stets um die Probleme von
Recht und Gerechtigkeit kreisen und damit zugleich an die religiöse Frage
rühren? Vor allem aber: Ist es denn nicht so, daß Dürrenmatt, weil er die Men
schentragödie ernstnimmt, sie nicht länger in verbrauchten Klischees präsentiert,
vielmehr-nach eigenem Bekenntnis-nur noch in Form makabrer Komödien
vergegenwärtigen kann? Liegt nicht für den heutigen Menschen in der ätzenden
Satire seines Galgenhumors, ja auch seines Zynismus mehr mitleidender Ernst
als in der unglaubwürdig gewordenen Sprache epigonaler Tragödiendichtung
musealen Stils? Und ist nicht auch Kafkas Dichtung eine entschiedene Absage an
heroisierende Feierlichkeit, ja ein gesteigertes Ernstnehmen menschlichen
Leidens und Scheiterns durch Enthüllung seiner zugleich befremdlichen Banali
tät? Bei aller Gegensätzlichkeit der Ausdrucksformen und Temperamente
sind Kafka und Dürrenmatt durch ähnliche Zielsetzungen bestimmt. Und die
nächste Verwandtschaft Dürrenmatts mit Kafka, liegt sie nicht darin, daß auch
er ein verkappter Moralist und Gottsucher Nietzschescher Prägung ist?

Heidelberg

Anmerkungen

1. Im Blick darauf, daß Dürrenmatt selber seine verwandtschaftliche Zuge


hörigkeit zu Kafka betonte, erscheint eine Erörterung dieser literarischen
Beziehung längst fällig. Während die Affinität Dürrenmatts zu Brecht
eingehend gewürdigt worden ist, so vor allem durch Hans Mayer, Dürren
matt und Frisch (Anmerkungen. Pfullingen, 2 1965), fand der typologische
Zusammanhang, der ihn mit Kafka verbindet, kaum Beachtung. In dem
von Gerhard P. Knapp herausgegebenen Sammelwerk, Friedrich Dürren
matt. Studien zu seinem Werk (Heidelberg, 1976), wird Kafka nur ein
paarmal flüchtig genannt. Angesichts der reichhaltigen Sekundärliteratur
über Dürrenmatt —die Friedrich Dürrenmatt-Bibliographie von Johannes
Hansel zählte bereits 1968 nahezu 500 Titel und ist seitdem durch zahl
reiche Untersuchungen vermehrt worden-verwundert es um so mehr,
daß die Forschung das komparatistisch reizvolle Thema "Dürrenmatt und
Kafka" bislang beharrlich ausgespart hat. Zu nennen ist allenfalls die
Dissertation William Journeaux Harveys: "Franz Kafka and Friedrich
Dürrenmatt. A Comparison of Narrative Techniques and Thematic Ap

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Dürrenmatt und Kafka 49

proaches" (University of Texas at Austin, 1972). Ferner hat Adolf D.


Klarmann ("Friedrich Dürrenmatt and the Tragic Sense," in: Modern
Drama. Essays in Criticism, hrsg. von Travis Bogard und William Oliver
[New York, 1965], pp. 99-133) auf Parallelen zu Werken Kafkas, E.T.A.
Hoffmanns und Anouilhs hingewiesen. Ich selbst habe im Schlußkapitel
meines Buches Kafka und die Weltliteratur (München, 1983) das Thema
in einem vorläufigen Versuch aufgegriffen.
2. Mit der Erklärung "Uns kommt nur noch die Komödie bei" zog Dürren
matt die Konsequenz aus der auch schon Kafkas Schreiben bestimmenden
Einsicht in die fundamentale Paradoxie der Welt, die sich als groteske
Mischung des Komischen mit dem Tragischen darstellt. Der Satz Dürren
matts (aus seinen "21 Punkten zu den Physikern"): "Im Paradoxen
erscheint die Wirklichkeit" hätte genau so von Kafka geschrieben sein
können. Ebenso treffen die ersten vier "Punkte zu den Physikern" unein
geschränkt auf Kafka zu:
1. Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte
aus. (Vgl. die Äußerung Kafkas: "Ich zeichnete keine Men
schen, ich erzählte eine Geschichte.")
2. Geht man von einer Geschichte aus, muß sie zu Ende gedacht
werden.
3. Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre
schlimmstmögliche Wendung genommen hat.
4. Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie
tritt durch Zufall ein.
Was Dürrenmatt von den Fabeln seiner Geschichten und Theaterstücken
sagt, daß sie grotesk, aber nicht absurd, nicht sinnwidrig, sondern sinn
trächtig seien, gilt in vollem Umfang für die Romane und Erzählungen
Kafkas. Deshalb ist auch-nach einem Wort Dürrenmatts-für beide
Autoren die Groteske erklärtermaßen, "nicht die Kunst der Nihilisten,
sondern ... der Moralisten." Entsprechend ist ihre Groteske über das
Zeitkritische hinaus auf die Welt als solche gerichtet. Das bezeugen die
Veröffentlichungen über "Parodie und Groteske im Werk Dürrenmatts"
(Reinhold Grimm in GRM 11 [1961], 431-450). Daß das Gleiche für die
Dichtungen Kafkas gilt, wird verschwiegen, obwohl die Übereinstimmun
gen in dieser Hinsicht so groß sind, daß die Charakteristika des Dürren
mattschen Dichtens unverändert auf das Schreiben Kafkas übertragen
werden können. Neuere Untersuchungen über Tragikomik und Groteske
bei Dürrenmatt (Carl Edward Carrier, Edward Diller, Harald Oskar Dyren
forth, Robert B. Heilmann, Robert E. Helbling, Hans Mayer, Joseph
Strelka, Renate Usmiani, Günter Waldmann u.a.) verzeichnet die "Biblio

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50 MODERN AUSTRIAN LITERATURE

raphie der wissenschaftlichen Sekundärliteratur" bei Knapp, S. 257-258.


3. Hans Bänziger ("Die Gerichte und das Gericht von Alfredo Traps" bei
Knapp, a.a.O. 219): "Das Thema der Gerechtigkeit hat Dürrenmatt seit
jeher beschäftigt, mehr als einen anderen Modernen,. .. außer vielleicht
Albert Camus" und-wie hinzugefügt werden muß-Franz Kafka. Vgl.
ferner Renate Usmiani ("Die Hörspiele Friedrich Dürrenmatts" bei Knapp,
a.a.O. 141): "Die Grundmotive, um die sein [Dürrenmatts] ganzes Werk
kreist, sind [wie bei Kafka] die Motive der Schuld (des einzelnen und der
Gemeinschaft), der Gerechtigkeit (sowohl der menschlichen als der gött
lichen) und die Fragwürdigkeit des menschlichen Lebens. .Donald G.
Daviau ("Justice in the Works of Dürrenmatt," in: Kentucky Foreign
Language Quarterly 9 [1962], 182) hat auf das "Triumvirat" von "Sünder,
Richter und Henker" als ein durchlaufendes Moment hingewiesen. Vgl.
weitere einschlägige Studien von Hildegard Emmel, Das Gericht in der
deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, (Bern, 1963), Peter Johnson,
"Grotesqueness and Injustice in Dürrenmatt," in: German Life and Letters
15 (1962), 264-273, Peter Schneider, Die Fragwürdigkeit des Rechts im
Werk von Friedrich Dürrenmatt" (Karlsruhe, 1967) u.a.
4. Vgl. Armin Arnold, Friedrich Dürrenmatt, in: Köpfe des XX. Jahrhunderts
57 (Berlin, 1969), S. 19f. "Was zwischen [den Werken] Weihnacht und
Pilatus liegt, sind Parabeln von der Verzweiflung, der Verlassenheit und
dem Untergang des einzelnen Menschen und der Menschheit. Von Gott
ist keine Hilfe zu erwarten; wenn er sich einmal der Menschheit annimmt,
dann als Folterer. .. Dürrenmatt stand plötzlich, ohne den Schutz des
Glaubens, den grausamen Wahrheiten der menschlichen Existenz ge
genüber. Vor allem sah er mit Entsetzen, daß Gott-wenn es ihn gibt —
ungerecht ist. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die Sinnlosigkeit der
menschlichen Existenz, das 'Schreckliche hinter den Kulissen' das blieben
die Hauptthemen Dürrenmatts. Im Blick auf Kafka vgl. dazu Wiebrecht
Ries, Transzendenz als Terror. Eine religionsphilosophische Studie über
Franz Kaßa (Heidelberg, 1977). Vgl. ferner Hans Bänziger, Frisch und
Dürrenmatt (Bern und München, 61971 ), S. 135: "In der Parodie des
Glaubens ahnt man den Glauben, in der Gestalt des Abergläubischen die
Gestalt des Gläubigen selbst." Günter Waldmann, "Dürrenmatts paradoxes
Theater. Die Komödie des Glaubens." Wirkendes Wort 14 (1964), 22
nannte Dürrenmatts Theater "die Komödie des christlichen Glaubens."
Laut Marianne Kesting, "Das deutsche Drama vom Ende des Zweiten Welt
kriegs bis Ende der sechziger Jahre," in Manfred Durzak, Hrsg., Deut
sche Gegenwartsliteratur (Stuttgart, 1981), S. 108 setzte sich Dürrenmatt
in seinen frühen Theaterstücken Es steht geschrieben (1946) und Der

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Dürrenmatt und Kafka 51

Blinde .(1947) mit theologischen Themen auseinander, der Frage des


Glaubens und der nach Gottes Gerechtigkeit. Robert Helbling, "Groteskes
und Absurdes-Paradoxie und Ideologie. Versuch einer Bilanz," in Knapp,
S. 248 betont: "Es ist immer wieder deutlich, daß das Groteske bei Dür
renmatt eine religiöse Färbung annimmt." Und er kommt "zu dem Schluß,
daß das Groteske in Dürrenmatts Werk ... im Dienst einer religiösen
Ideologie steht, die durch den Einfall des Zufalls das Verzerrte mensch
licher Vernunftgebilde und menschlicher Planmäßigkeit aufdeckt." Joa
chim Bark: "Dürrenmatts Pilatus und das Etikett des christlichen Dich
ters," in Knapp, S. 53 deutet den Kampf Dürrenmatts "in seiner offen
sichtlich auf das Religiöse konzentrierten Prosa ... als Kampf mit der
Versuchung des Nihilismus und als Auseinandersetzung mit der Möglich
keit, Christ zu sein." Ebd. 68 heißt es: "Die Christlichkeit des Erzählers
Dürrenmatt wird, wenn irgendwo, in einer philosophischen, wenn nicht
theologischen Hermeneutik zu suchen sein." Dieser im letzten moralisch
religiösen Motivation Dürrenmatts und Kafkas entspricht, daß sie beide
"immer wieder die Anklage des Nihilismus von sich abgewiesen" haben.
Vgl. die einschlägigen Zitate auf Seite 40.
5. Dürrenmatt: "Uns kommt nur noch die Komödie bei," in Theaterpro
bleme (Zürich, 1955), abgedruckt in Spectaculum 4, Frankfurt a.M.
(1961), 343. Neue Werkausgabe, Bd. 24,1980.
6. Vgl. Herbert Peter Madler, "Dürrenmatts Konzeption des mutigen Men
schen," in Schweizer Rundschau 69 (1970), 314-325; Josef Scherer,
"Der mutige Mensch: Versuch einer Deutung von Dürrenmatts Menschen
bild," in Stimmen derZeit 169 (1962), 307-312.
7. Vgl. Helbling, "The Function of the 'Grotesque' in Dürrenmatt," in
Satire Newsletter 4 (1966), 11-19.
8. Dürrenmatt, "Dramaturgische Überlegungen zu den Wiedertäufern,"
zitiert nach Knapp, S. 238.
9. Vgl. Gerwin Marahrens, "Friedrich Dürrenmatts Die Ehe des Herrn Missis
sippi," in Knapp, S. 93-124.
10. Vgl. Bert Nagel, Franz Kafka. Aspekte zur Interpretation und Wertung
(Berlin, 1974), S. 252.
11. Vgl. den programmatischen Eingangssatz von Kafkas Erzählung In der
Strafkolonie: '"Es ist ein eigentümlicher Apparatsagte der Offizier zu
dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen
bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat." (Hervor
hebungen vom Verfasser).

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