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Liebe und Tod, Teufel und Geister.


Schwarzromantisches und Übernatürliches

Schwarze Romantik. Von Goya bis cherweise die Beliebtheit des Begriffs im deutsch-
Max Ernst. Städel Museum, Frank- und französischsprachigen Raum erklärt.
furt a.M., 26. September 2012– André Vieregge konstatiert für die internatio-
20. Januar 2013; Musée d’Orsay, Paris, nale Literaturwissenschaft eine „seltene Verwen-
5. März–9. Juni 2013. Kat. hg. v. Felix dung“ des Begriffs, da dessen „definitorische Fass-
Krämer. Ostfildern, Hatje Cantz barkeit“ schwach sei (Vieregge, Nachtseiten. Die
Verlag 2012. 305 S., zahlr. farb. Abb. Literatur der Schwarzen Romantik, Frankfurt a.M.
ISBN 978-3-7757-3372-4. € 45,00 2008, 12f.). Er liefert zudem einen auf Gwenhaël
Ponneau zurückgehenden Hinweis auf die mögli-
L’Europe des esprits ou la fascina- che Begriffsentstehung über den französischen
tion de l’occulte, 1750–1950. Terminus „Roman Noir“, der in Analogie zum
Musée d’Art moderne et contemporain „Film Noir“ in den 40er Jahren des 20. Jh.s aufkam
de la Ville de Strasbourg, 8. Oktober und den spannungsgeladenen Detektivroman be-
2011–12. Februar 2012; Zentrum Paul zeichnet (Ponneau, La folie dans la littérature fan-
Klee, Bern, 31. März–15. Juli 2012. tastique, Paris 1997, 33). Vieregges Versuch, für
Kat. hg. v. Serge Fauchereau/ die Literaturwissenschaft eine Definition der
Joëlle Pijaudier-Cabot. Strasbourg, „Schwarzen Romantik“ zu erarbeiten, war der er-
Editions des Musées de Strasbourg ste seiner Art. Er beschreibt sie als „Erscheinungs-
2011. 424 S., zahlr. Abb. form der Phantastik“, die eine „intradiegetische
ISBN 978-2-35125-092-1. € 48,00 Wahrheitswahrscheinlichkeit als faktisch existent
annehmen lässt“ (ebd., 301ff.). Motivisch ist es das
Unheimliche, das gefahrvolle, übernatürliche Bö-
se, das Übersinnliche, das in der Dichtung mit der
„Gothic Novel“ (im Deutschen spricht man auch

D
vom „Schauerroman“) The Castle of Otranto von
er Ursprung des Begriffes Horace Walpole 1764 seinen Anfang nahm und bis
„Schwarze Romantik“ ist trotz sei- zum modernen Horrorfilm reicht.
ner Geläufigkeit nur unzureichend
geklärt. Die Recherche endet bei der deutschen HELLE UND DUNKLE ROMANTIK
Ausgabe der berühmten Studie La carne, la morte e Mario Praz hatte sich mit den abseitigen Ingre-
il diavolo nella letteratura romantica des Literatur- dienzien der Dichtung der Romantik – Medusen-
wissenschaftlers Mario Praz. Dieses erstmals 1930 schönheit und Femme fatale, Satanismus und
in Italien publizierte Buch erschien drei Jahre spä- Vampirismus, Sadismus, Androgynie, Dekadenz
ter in der englischen Übersetzung unter dem Titel und Okkultismus – beschäftigt und dabei das wei-
The Romantic Agony. 1960 kaufte der Carl Hanser te Spektrum von Goethe über Shelley, Keats, By-
Verlag die Rechte und versah die erste deutsch- ron, Swinburne bis hin zu D’Annunzio, Rachilde,
sprachige Ausgabe von 1963 mit dem neuen griffi- Huysmans, Wilde und Gide aufgefächert. Er rei-
gen Untertitel Die schwarze Romantik. Eine franzö- cherte seine Motivsammlung durch zahlreiche
sische Übersetzung lag unter der Übertragung des Verweise auf Kunstwerke an, beginnend mit der
deutschen Titels erstmals 1977 vor, was mögli- Vorliebe des 19. Jh.s für die Renaissance (Botticel-

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Abb. 1 Ausstellung Schwarze Romantik, Raumansicht mit Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr. Frankfurt a.M., Städel Mu-
seum (Foto: Norbert Miguletz; Pressebereich Städel)

li, Michelangelo, Leonardo da Vinci) bis hin zu der Romantik sowie der Décadence, wie Praz sie
William Blake, Burne-Jones, Delacroix, Moreau, vorstellt, zudem dem Reich des Unbewussten und
Rops, Beardsley, die sein Argument bildlich unter- der Melancholie entstammen und die zumeist
mauerten. Zudem zog er Zitate aus kunstkriti- apokalyptisch-endzeitlichen Szenarien huldigen.
schen Texten von den Brüdern Goncourt, Walter Scharfe Trennlinien zwischen einer „hellen“ Ro-
Pater bis hin zu Joséphin Péladan heran, die auf mantik jener Idyllen der Unschuld à la Gessner
Inhalte der von ihm untersuchten Dichtungen ein- und einer dunklen Romantik zu ziehen, scheint
gewirkt hatten oder diese widerspiegelten. nicht möglich, da sich Aspekte beider Seiten un-
Solche engen Bezüge zwischen den dichten- trennbar in den Kunstwerken durchmischen.
den und den bildenden Künsten mögen es recht-
fertigen, den Begriff der „Schwarzen Romantik“
auf bestimmte Themenkomplexe, Motive und
Fragestellungen der Kunstgeschichte anzuwen-
D er Kurator der Frankfurter Ausstellung,
Felix Krämer, argumentiert daher mit einem er-
den. In konzentrierter Form hatte sich erstmals weiterten Romantikbegriff, indem er z. B. Ricarda
2009 eine Ausstellung im Nordnorsk Kunstmu- Huch mit ihrem Werk Blüthezeit der Romantik von
seum im norwegischen Tromsø der „Schwarzen 1899 sowie Carl Einstein als Kronzeugen heran-
Romantik“ mit dem Untertitel „Gotisk skrekk og zieht, welcher Paul Klee „den entscheidenden
dekadanse“ gewidmet und deren Vorläufer wie Vertreter der neuen deutschen Romantik“ ge-
die Carceri von Piranesi, Goyas Caprichos, Füsslis nannt hatte (23f., vgl. auch Kat. Ernste Spiele. Der
Nachtmahr und das druckgraphische Werk von Geist der Romantik in der deutschen Kunst 1790–
Klinger, Munch und Rops versammelt, weiterhin 1990, München 1995, 25). Da man in Frankfurt an
die Folgen in der Kunst des 20. Jh.s mit Schwer- verschiedenen Stellen bei den Exponaten auf die
punkt Norwegen veranschaulicht und den Bogen hauseigene Sammlung des Städel zurückgriff, wei-
der Rezeptionsgeschichte bis hin zu dem briti- tete sich der Romantik-Begriff in der Ausstellung
schen Künstlerduo Jake und Dinos Chapman ge- bis zur Beliebigkeit, so im Falle Paul Klees als Ver-
spannt. treter jener „neuen“ Romantik. Denn seine der
Doch die „Schwarze Romantik“ lässt sich we- Romantik zuzuordnenden Motive greifen nicht
der als ein Epochen- noch als Stilbegriff definie- nur das Unheimliche spielerisch und mit innerer
ren: Der Terminus umfasst allenfalls Motive einer Distanz auf (vgl. Ausst. Unheimlich. Hexen, Geister
bis in die Gegenwart reichenden Zeitspanne, die und Dämonen bei Paul Klee, Zentrum Paul Klee,
dem Unheimlichen und Bösen, inspiriert von der Bern 2012), sondern sind, wie im ausgestellten
„Gothic Novel“, dem erotisch-sexuellen Tabu- Haus zur Distelblüte (1919), häufig christlich-reli-
bruch, der blutlüsternen Gewalt und dem Ennui giös motiviert.

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AUSSTELLUNG

SCHRECKEN UND GEWALT auch der Flug der Hexen (1797/98) aus dem Madri-
Der Schrecken der Nacht in Johann Heinrich der Prado zu sehen (Abb. 2). Mit 22 Werken war
Füsslis Nachtmahr (1790/91) begrüßte den Aus- Goya damit überproportional stark vertreten und
stellungsbesucher in Frankfurt gleich am Eingang als ein wichtiger Stichwortgeber für das Ausstel-
(Abb. 1) und beeindruckte in dieser prominenten lungsthema inszeniert.
Hängung mit der dem Albtraum ausgelieferten Mit dem Themenspektrum Albtraum, Wahn-
Träumenden und dem Schrecken des Traumes sinn, Gewalt, Teufel, Sünde und Tod wurde die
selbst. Der im offenen Raum dahinter projizierte englische Malerei von Füssli, William Blake, John
Ausschnitt aus dem „Frankenstein“-Filmklassiker Martin, Theodor von Holst und Samuel Colman
von James Whale (1931) verwies dann auf die präsentiert. Die Ausstellung führte diesen roten
mögliche Inspiration der maskenbildnerischen Be- Faden weiter zum französischen Romantisme. Li-
arbeitung des kantigen Kopfes des Schauspielers terarische Stoffe wie John Miltons Paradise Lost,
Boris Karloff durch Goyas Los
Chinchillas (Los Caprichos, Blatt
50, 1797–99), wobei weder im
Katalog noch in der Ausstellung
deutlich wurde, von wem oder
woher diese „Entdeckung“
stammt. Früher Höhepunkt der
weitgehend chronologisch fort-
schreitenden, teilweise nach
Ländern geordneten Ausstel-
lung war zweifellos der Goya
gewidmete Raum. Manuela B.
Mena Marqués warnt indes in
ihrem Katalogbeitrag, dass man
nur eine Seite der „enormen
Bandbreite“ des Goyaschen
Œuvres wahrnehme, wenn
man es auf die „Schwarze Ro-
mantik“ verkürze (57). Neben
dem berühmten Blatt aus den
Caprichos El sueño de la razón
produce monstruos (1798/99)
waren Los desastres de la guerra
(1810–15), Los proverbios aus
der Graphischen Sammlung
des Städel (1816–19, im Objekt-
verzeichnis des Katalogs z. T.
mit 1864 falsch datiert) und

Abb. 2 Francisco de Goya, Flug der


Hexen, 1797/98. Madrid, Museo Na-
cional del Prado (Pressebereich
Städel)

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AUSSTELLUNG

Dantes Göttliche Komödie und Goethes Faust lie- rio Praz sein Kapitel Byzanz eingeleitet hatte. Ei-
ßen vor düsterem Hintergrund eine „neue Schön- gentlich wäre hier Moreaus L’Apparition (1874/76)
heit“ finden, die „der zuvor gefeierten Antike fehl- zu erwarten gewesen, zumal der Salome-Stoff und
te“ (Nerina Santorius im Kat., 98). Zwei Haupt- die Darstellung abgeschnittener Häupter (Johan-
werke, Théodore Géricaults Floß der Medusa nes der Täufer, Orpheus) sich in der zweiten Jahr-
(1820) und Eugène Delacroix‘ Medea (1836), wa- hunderthälfte großer Beliebtheit erfreuten.
ren aus konservatorischen Gründen nur in Vorstu- An dieser Stelle der Schau wurde deutlich,
dien vertreten. Das Nachleben der Medea illus- dass nur eine kleine Auswahl aus der enormen
trierte Antoine Joseph Wiertz’ Gemälde Hunger, Fülle „schwarzromantischer“ Bildwerke des Fin
Wahnsinn und Verbrechen (1853), das eine Mutter de siècle präsentiert werden konnte, trotz der an-
zeigt, die im Wahnsinn ihr Kind getötet, ihm ein gestrebten breiten Motivpalette, augenfällig z. B.
Bein abgetrennt und in den Kochtopf geworfen in Fernand Khnopffs bildlicher Umsetzung von
hat. In seiner Drastik steht der Belgier Goya sehr Rodenbachs Bruges-la-Morte (1892) und Beispie-
nahe. Leider war Wiertz’ Verfrühtes Begräbnis von len aus Odilon Redons Lithographie-Zyklus Tenta-
1854 nur im Katalog abgebildet, obwohl es wohl tion de Saint Antoine (1896) nach Flaubert. Statt
die Vorlage war für die im zweiten Teil der Aus- hier weitere Blätter z. B. aus den Lithographie-Fol-
stellung projizierte Szene des Dracula-Films gen Redons Dans le Rêve (1879), A Edgar Poe (1882)
(1931) mit dem einen Spalt breit geöffneten Sarg, oder der Hommage à Goya (1885) zu ergänzen,
aus dem eine Hand herauskommt. zeigte man sein Gemälde Yeux clos (1890), da es ei-
Die Dramatik der französischen Malerei des ne „konsequente Fortsetzung“ des „nach innen ge-
Romantisme fand in der erhabenen Düsternis der wandten Schauens“ im Sinne C. D. Friedrichs
deutschen Romantik ihr Gegenüber, zu der Marei- Aufforderung darstelle, dasjenige zutage zu för-
ke Hennig im Katalog klarstellt: „Die schwarze Ro- dern, „was du im Dunklen gesehen hast“ (Kat., 21).
mantik existiert auf der Rückseite der ungleich be- Fraglich ist dennoch, ob es sich hier um ein
kannteren Romantik der Idylle, der Geborgenheit „schwarzromantisches“ Bild handelt, da es im Gei-
und des Freundschaftskults und erweist sich selbst ste eines Synkretismus aus vielfältigen Bezügen
als heterogen.“ (130) Die Bildauswahl umfasste in entstanden ist, der in keinerlei Zusammenhang
dieser Abteilung überwiegend Landschaften von mit der erotischen Verruchtheit oder dem Satanis-
C. D. Friedrich (Landschaft mit Gräbern, 1835–37), mus der im gleichen Raum präsentierten Zeitge-
Ernst Ferdinand Oehme (Prozession im Nebel, nossen steht (vgl. Abb. 3), zumal eine Version des
1828) und Carl Blechen (Romantische Landschaft Bildes von 1889 mit Heiligenschein existiert (Abb.
mit Ruine, 1820–25). in: Kat. Odilon Redon, Chicago 1994, 225).
Der grundlegende Katalogessay von Roland
TAG- ODER NACHTTRAUM? Borgards beleuchtet die Gegensatzpaare Licht/
Zunehmend diffuser präsentierte sich die Ausstel- Dunkelheit, Einsamkeit/Geselligkeit, äußere/in-
lung in ihrem zweiten Teil. Hier stellte sich dem nere Nacht, Wahnsinn und Verbrechen in der
Besucher die Frage, ob man nicht besser den chro- Dichtung der schwarzen Romantik. Er konstatiert,
nologischen Fortgang zugunsten einer Gliederung „dass sich die Schönheit und der Schrecken in pro-
nach Bildmotiven aufgebrochen hätte. Ein beun- duktionsästhetischer Hinsicht der gleichen Aus-
ruhigender Wald wie der von William Degouve de gangslage verdanken: einem auf sich selbst und
Nuncques von 1898, der deutlich von der deut- seine eigene Fantasie zurückgeworfenen Ich“
schen Romantik geprägt ist, hing zwischen der (272). „Die düstere Introspektion“ (274) gilt sicher-
Vorstudie Die Sirenen und einer Version der Jun- lich für Novalis, Hoffmann, Poe und auch Flaubert
gen Thrakerin mit dem Haupt des Orpheus (1875) und damit auch für Redons Antonius-Zyklus, we-
von Gustave Moreau, dessen Werk der Schriftstel- niger treffend beschreibt sie jedoch das produktive
ler Joris Karl Huysmans gefeiert und mit dem Ma- innere Sehen im farbigen Spätwerk Redons. Denn

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Einsamkeit ist nicht per se ein


Thema der schwarzen Roman-
tik; Tagtraum und Nachttraum
sind sehr unterschiedliche
Wahrnehmungsformen.
Gleichwohl wird der Kom-
plex der Melancholie im Kata-
log nur angerissen. Dürers
Stich, der das düstere Bild der
Fledermaus und der „schwar-
zen Sonne“ berühmt gemacht
hat, wäre in der Graphischen
Sammlung des Städel durchaus
verfügbar gewesen (vgl. die Re-
zension von Philipp Zitzlsperger
in: Kunstchronik 2012/5, 226ff.).
Der Katalogbeitrag zu „Deka-
denz und Dämonie des Selbst“
von Dorothee Gerkens hätte
diese Bezüge deutlicher klären
müssen, denn gerade in der
symbolistischen Kunst erweist
sich die „Schwarze Romantik“
als schlagwortartige Verkür-
zung vielschichtiger Bedeu-
tungslinien.

FILMISCHES ERBE
Während die Kunst des Jahr-
hundertendes satanische und
okkulte Elemente in den Vor-
dergrund rückt, beginnt mit
dem Surrealismus die Rezepti-
on der Romantik, wobei die
Ausstellung hier einen Zeit- Abb. 3 Carlos Schwabe, Die Welle, 1907. Genf, Collection des Musées d’art et
d’histoire de la Ville de Genève (Foto: Bettina Jacot-Descombes; Pressebereich
sprung bis in die 1920er Jahre
Städel)
vollzog. In einer derart weiten
Auslegung hätten sich zweifel-
los auch „schwarzromantische“ Motive im Expres- Filmausschnitten wie den oben erwähnten aus
sionismus oder Kubismus entdecken lassen. Max Frankenstein, Der müde Tod (F. Lang, 1921), Nosfe-
Ernst, der bekanntlich der romantischen Kunst ratu (F. W. Murnau, 1922), Faust (F. W. Murnau,
und Dichtung zugeneigt war, erhielt mit neun zum 1926; Abb. 4), Der Untergang des Hauses Usher (J.
Teil sehr ähnlichen Werken viel Raum, was wenig Epstein, 1928), Vampyr (C. T. Dreyer, 1931/32)
überzeugend damit begründet wurde, dass der und Un chien andalou (Buñuel/Dalí, 1929), die in
Wald das „Lebensthema“ des Künstlers gewesen der Nachfolge „schwarzromantischer“ Motive den
sei (225). Hervorzuheben ist die Präsentation von Horrorfilm bis heute beeinflussen.

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AUSSTELLUNG

Der Film greift häufig bei der Umsetzung von sacré, Centre Georges Pompidou, Paris 2008; zu-
literarischen Stoffen auf Bildfindungen der Male- letzt: Gespenster, Magie und Zauber. Konstruktio-
rei zurück, insbesondere in den Fällen, in denen nen des Irrationalen in der Kunst von Füssli bis heu-
sie Gewalt nicht unmittelbar darstellen. Auf dieses te, Neues Museum Nürnberg 2012).
Bilderverbot aus Gründen der Zensur weist Clau- Trotz der unglaublichen Menge von 900 ge-
dia Dillmann hin. Sie gibt einen Überblick über je- zeigten Werken, Büchern und Dokumenten ge-
ne Anleihen, die das unheimliche Motivrepertoire lang es in Strasbourg, das Thema in fünf „Kapi-
der Filme bereicherten. Das Verschwinden, die teln“ übersichtlich darzustellen. Thematischer
Verwandlung und das Fantastische sind fortan das Anknüpfungspunkt von L’Europe des Esprits war
Hoheitsgebiet dieses Mediums. Die Lust am Gru- Straßburg als Geburtsort des Theosophen Édou-
sel ist ein Ausdruck dessen, was Claudia Wagner in ard Schuré, dessen synkretistische Schrift Les
Bezug auf die Kunst um 1900 als die „Suche nach Grands Initiés aus dem Jahr 1889 von der Künstler-
einer Metaebene jenseits eines positivistischen schaft begeistert aufgenommen worden war und
Alltags“ (Kat., 194) beschreibt. Orientierungslosig- seine Wirkung über Rudolf Steiner bis hin zu Jo-
keit, Übersättigung, Abkehr von der bürgerlichen seph Beuys entfalten konnte.
Normierung des Lebens sind hierbei die treiben- Betrachtet wurden in Strasbourg die Roman-
den Kräfte. Dass die „Faszination für okkulte Phä- tik, der Symbolismus, die Abstraktion – mit den
nomene“, die in der Ausstellung mit Ausnahme parallelen Avantgardebewegungen Expressionis-
des Hexenthemas nur angerissen wurde, nicht erst mus und Bauhaus –, der Surrealismus und der ver-
um 1900 aufkam, wie die Autorin schreibt (196), stärkte Rekurs auf naturwissenschaftliche Er-
belegte die Ausstellung in Strasbourg. kenntnisse. Dieser Teil widmete sich der Erfor-
schung von „unbekannten Naturkräften“, so der
OKKULTISMUS Titel einer Schrift des Astronomen Camille Flam-
Die Schnittmenge der Exponate und Künstlerna- marion (1907), und der Untersuchung von über-
men in der Ausstellung L’Europe des Esprits mit der sinnlichen Phänomenen mit Hilfe von Magnetis-
Frankfurter Schau war naturgemäß groß, denn es mus, Radioaktivität sowie Fotografie als Doku-
lassen sich etliche der gezeigten Werke sowohl un- mentationsmedium von Geistererscheinungen.
ter dem Vorzeichen „Schwarze Romantik“ als Flankierend wurde die Vorgeschichte aus Bestän-
auch unter der Darstellung übernatürlicher Phä- den der Bibliothèque nationale et universitaire de
nomene, der Hinwendung zu Okkultismus und Strasbourg erzählt. Zu sehen waren hier Inkuna-
Esoterik fassen: Die Künstler William Blake, Carl beln des Okkultismus wie die Tabula smaragdina
Gustav Carus, Delacroix, Jean Delville, Max von Heinrich Khunrath (1609), ein Text, der dem
Ernst, C. D. Friedrich, Füssli, Goya, Klee, Gustave Begründer der Alchemie, Hermes Trismegistos,
Moreau, Munch, Odilon Redon, Rops, Toyen wa- zugeschrieben wird, weiterhin Schriften von Para-
ren auch hier zu finden. Hinzu kamen weitere Na- celsus, Johann Valentin Andreaes Chymische
men, die man sich auch für die Frankfurter Aus- Hochzeit (1616), das Spiritual Magazine (1861),
stellung gewünscht hätte, wie beispielsweise Ro- Kants Geisterseher-Schrift sowie Gérard de Ner-
dolphe Bresdin, Gustave Doré, Man Ray oder An- vals Faust-Übersetzung.
dré Masson bis hin zu Aleister Crowley. Während
die Frankfurter Ausstellung mit dem Zusatz „erst- MAGNETISMUS UND MESMERISMUS
mals in Deutschland“ werben konnte, blickte die Der bereits in der Antike verbreitete Glaube an
französische Schau beim Thema des Okkulten auf den Magnetismus, der im 15. Jh. bei Marsilio Fici-
zahlreiche Vorgängerveranstaltungen zurück (u. a. no eine Renaissance erfuhr, wurde im 18. Jh. von
L’âme au corps, art et sciences, 1793–1993, Grand Franz Anton Mesmer zu einer veritablen Lehre,
Palais, Paris 1993; Okkultismus und Avantgarde, dem „Mesmerismus“, ausgearbeitet, bei deren
Schirn Kunsthalle, Frankfurt a.M. 1995; Traces du Verbreitung die Freimaurer-Logen eine zentrale

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Abb. 4 Friedrich Wilhelm Murnau, Faust – Eine deutsche Volkssage, Filmstill, 1926. Stummfilm, schwarz-weiß. Fried-
rich-Wilhelm-Murnau-Stiftung (Pressebereich Städel)

Rolle spielten. In Deutschland richtete man an den len Stellen aufnehmen, doch boten sie ein ausge-
Universitäten Bonn und Berlin sogar Lehrstühle wogenes Bild von einem „Europa der Geister“. Die
hierfür ein (Roland Recht im Kat., 106). Der Maler Auswahl zeichnete sich vor allem dadurch aus,
und Arzt Carl Gustav Carus orientierte sich in sei- dass neben den bekannten Namen auch Werke
nen heilkundlichen Praktiken an Mesmer. Schel- von skandinavischen und osteuropäischen Künst-
ling, Hegel und Schopenhauer entwickelten star- lern aufgenommen wurden. Dadurch ergaben sich
kes Interesse am „animalischen Magnetismus“, Bildfolgen stilistisch zwar unterschiedlicher, sich
und die Lehre wirkte bis in die frühe Psychoanaly- inhaltlich aber ergänzender Motive, so im Falle
se nach. Charles Baudelaire übersetzte 1848 Edgar von Hilma af Klint, Wassily Kandinsky, František
Allan Poes Mesmeric Revelation (132). Poe, der Kupka und Janus de Winter, welche die abstrak-
auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet publi- ten Rhythmen der aus Musik und Theosophie re-
zierte, verspürte (wie die meisten Naturwissen- zipierten Schwingungen verbildlichten.
schaftler jener Zeit) nicht die später verbreitete Es ist hinlänglich bekannt, dass sich die frühe
positivistische Scheu vor der Beschäftigung mit Abstraktion stark von Spiritismus und Theosophie
rätselhaften Erscheinungen. Ähnlich verhielt es angezogen fühlte; im Katalog beschreibt Serge
sich mit Marie und Pierre Curie, die Interesse an Faucherau dieses okkulte Umfeld in seinem Essay
den „die Physik berührenden“ Phänomenen zeig- „La magie moderne“. Christoph Wagner beleuch-
ten und gemeinsam mit Édouard Branly, Henri tet in seinem Text „Les avant-gardes et les disposi-
Bergson und anderen zu spiritistischen Sitzungen tifs de l’ésotérisme“ dessen Auswirkungen auf
eingeladen waren, wie Anne Lagaisse im Katalog Kandinsky, Klee, das Bauhaus und die Fotografie
darlegt (372). (vgl. den von Wagner herausgegebenen Tagungs-
Die ausgestellten Kunstwerke konnten es zwar band Esoterik im Bauhaus. Eine Revision der Moder-
mit der Informationsfülle des Katalogs nicht an al- ne?, Regensburg 2009). Auch der Surrealismus bis

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REZENSION

hin zum Art brut griff immer wieder magische, ok- dort (im Gegensatz zu anderen Beiträgen) auf An-
kulte und mediumistische Themen auf, deutlich merkungen verzichtet, was höchst bedauerlich ist,
inspiriert vom Symbolismus der Jahrhundertwen- zumal dem Buch eine Bibliographie fehlt. Denn
de, der den Höhepunkt dieser verbreiteten Nei- mit seiner reichen Bebilderung, der umfassenden,
gung zum Okkulten und Esoterischen markierte. internationalen Künstlerauswahl sowie aufgrund
Im aufwendig produzierten Katalogbuch führt seines interdisziplinären Ansatzes bietet der Kata-
die Fülle des Materials gelegentlich zu einer undif- log eine Fundgrube für epochenübergreifende
ferenzierten Aneinanderreihung von Namen, Verbindungen im okkulten Denken über die Jahr-
Buchtiteln und Themen (z.B. Kat., 176), doch ein hunderte hinweg.
Namensindex und kürzere, grau unterlegte mono-
grafische Artikel erlauben einen Überblick über
das höchst komplexe Thema. Sämtliche kulturhi- DR. ISA BICKMANN
storischen Kapitel werden von fundierten und um-
fassenden Essays von Serge Fauchereau, dem Ku-
rator der Ausstellung, eingeleitet. Leider wurde

Der streitbare Dandy, entzaubert?


Whistler zwischen Kunst und Markt
Grischka Petri Blick auf den Protagonisten wesentlich erweitert
Arrangement in Business. und Anstoß zu notwendigen Neubewertungen
The Art Markets and the Career gibt. Defizitär ist die bisherige Whistler-For-
of James McNeill Whistler. schung insofern, als sich das Interesse oftmals auf
(Studien zur Kunstgeschichte, einzelne Werkgruppen oder Medien, Whistlers
Bd. 191). Hildesheim/Zürich/New Beziehung zum Aesthetic Movement oder den 1877
York, Georg Olms Verlag 2011. gegen John Ruskin geführten Verleumdungspro-
776 S., 24 Farb- u. 187 s/w Abb. zess konzentrierte. Sein Geschäftssinn wurde
ISBN 978-3-487-14630-0. € 89,00 zwar registriert, jedoch nie zum Gegenstand einer
eigenständigen Untersuchung erhoben. Dies ist,
wie Petris Argumentation eindrücklich zeigt, auch
tatsächlich nur in der Gesamtschau auf das Œuvre

M
Whistlers sinnvoll: Sein künstlerisches und ökono-
angel an Literatur zu James misches Handeln unterscheiden sich deutlich vor
McNeill Whistler (1834–1903), und nach der biographischen wie künstlerischen
zu seiner Kunst und Künstler- Wasserscheide, dem Ruskin-Prozess, bedingen
persönlichkeit besteht in keiner Weise. Doch legt sich darin aber gegenseitig. Petris Untersuchung
Grischka Petri mit der aus einer Dissertation an fokussiert nun das Feld der Wechselbeziehungen
der Universität Bonn hervorgegangenen Arbeit ei- zwischen Produktion, Rezeption, Selbstdarstel-
nen Beitrag zur Forschung vor, die den bisherigen lung und Geschäftsstrategien mit Blick auf den

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