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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Vorspruch:

Nicht Vulgarisierung, sondern Klarifizierung! Mit


einer klareren Herausarbeitung der Standpunkte, mit
einer Vervielfältigung der praktischen Bezüge und
der Exzemplifizierungen, mit einer
vereinheitlichten Begriffssprache und mit der
Durchleuchtung des Sinnes jeder neu auftauchenden
Fragestellung würde der Weg betreten, auf dem die
Literaturwissenschaft nicht mehr ungerüstet einer
grundstürzend neuen Situation zu begegnen imstande
wäre. Werner Krauss, Grundprobleme der
Literaturwissenschaft.

Inhaltsverzeichnis

1. Die Literatur des Seins. Der Roman des Phänotyp.


1.1. Daseinsentwürfe eines Militärarztes.
1.1.1 Existentielle Entscheidungen.
1.1.2 Die ambivalenten Anschauungen des Phänotyps

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1.1.3 Was der Phänoptyp unter Kunst versteht


1.1.4 Ein ästhetische Typus als Titelfigur
1.1.5 Natur als Kulisse und Schulbeispiel des
Unnatürlichen
1.1.6 Das trauervolle Leben des Phänotyps
1.1.7 Das Suchen der schöpferischen Substanz
1.1.8 Fragwürdigkeiten im Leben des Phänotyps
1.1.9 Ansichten zum Geist- und Lebensproblem
1.1.10 Sieh die Welt als ästhetisches Phänomen an!
1.1.11 Einige Komponenten der Anschauung Benns
1.2. Nicht erzählen wie in Schifferkreisen
1.3. Kriterien der absoluten Prosa
1.4. Folge den Geboten des inneren Seins!
1.4.1. Die mystische Partizipation
1.4.2. Fanatismus zur Transzendenz
1.4.3. Verwandelbarkeit
1.5. Einige Bedenken des Phänotyps gegen Nietzsche
1.6 Geographische Details aus Lektüre und
Erinnerung
1.7. Das Nein-Sagen-können
1.8. Zwischenbemerkung
1.9. Nachdenken über Morgen- und Abendland

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1.10. Rückgriff auf Pascal und andere


1.11. Geschichte als eine Art kollektiver
Mythenbildung
1.12. Kulturrevuen aus der Zeitgeschichte
1.13. Kritik und Selbstkritik

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1. Die Literatur des Seins. Der Roman des Phänoptyp

Gertrude Stein war davon überzeugt, dass sie


gemeinsam mit Proust, Joyce und D. H. Lawrence den
Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in der
Literatur vorbereitet hätte. Diesen Übergang
definierte sie als eine Abwendung des allgemei-nen
Interesses vom Ereignis und als Hinwendung zur
Existenz. In einem Vortrag erklärte sie, dass
Ereignisse, vom Standpunkt der künstlerischen
Erregung aus gesehen, unergiebig geworden seien.
Die Erregungen infolge eines faktischen Geschehens
und Aufgabe des Künstlers sei es, Erregungen
hervorzurufen gäbe es heute im Zeitalter der
perfekten Nachrichtenübermittlung, wo wir mit
Tatsachenmaterial und Neuigkeiten überfüttert
werden, nicht mehr. Nicht, was geschieht, sondern
was ist, bewege uns in der Tiefe. \"Events have
lost their interest for people. People are
interested in existence\": Damit werde die
Literatur des Tuns abgelöst von einer Literatur

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des Seins. Gertrude Stein entwickelte aufgrund


dieser Erkenntnis eine neue Methode des Erzählens,
die den Leser miterleben lässt, was ist, nicht
jedoch, was geschieht.

Moderne Romane kann man unter diesem


Gesichtspunkt allgemein in drei Gruppen einteilen:
1. in Romane, die Ich und Welt (Erzähler und
Geschehen) enthalten,
2. in Romane, die nur Welt (das Geschehen)
enthalten und das Ich radikal zu verbannen
versuchen und
3. die fast nur noch das Ich enthalten und die Welt
(das Geschehen) ausklammern wollen.

Gottfried Benn verfasste einen unvollendet


gebliebenen Kurzroman des dritten Romantyps und
bezeichnete ihn als \"Roman des Phänotyp\", als
\"Prosa außerhalb von Raum und Zeit\". Die
Gattungsbezeichnung Roman ist eigentlich nur
parodistisch beibehalten. Es handelt sich um eine
monologisierende hermetische Experimentalform,

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entsprechend dem Zerfall der Realität. Mit dem


Untertitel \"Landsberger Fragment\" erschien der
Kurzroman erstmals 1949 im Band \"Der Ptolemäer\".
Jeder Interpret dieses Kurzromans ist in der
glücklichen Lage, auf die zahlreichen Erklärungen,
Selbstkommentare und Äußerungen aus dem ganzen in
40 Jahren entstandenen Lebenswerk und dem
Briefwechsel zurückgreifen zu können, denn die
meisten Themenkreise des Autors (Perspektivismus,
Gegensatz von Leben und Geist, Ablehnung der
Geschichte, schöpferische Substanz, Nihilismus,
Probleme der Kunst, die prälogische Geistesart
usw.) tauchen im Werk und den Briefen früh auf,
werden von unterschiedlichen Denkpositionen aus und
in verschiedenen Lebenslagen neu aufgenommen,
erweitert und weitergetragen. Als besonders
unentbehrlich für die Interpretation des Kurzromans
erweisen sich Benns Briefe an Oelze und der Essay
\"Der Aufbau der Persönlichkeit (Grundriss einer
Geologie des Ich)\" aus dem Jahr 1930. (EuR 111).
Eine vollständige Interpretation unter Einbeziehung
aller biographischen Details, Beziehungen und

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Gedanken würde die Möglichkeiten eines Einzelnen


übersteigen, denn der Roman ist allgemein und
seiner Natur nach als ein biographischer Prozess zu
begreifen; er ist seiner inneren Form nach - Lukács
zufolge \"die Wanderung des problematischen
Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben
Befangenheit in der einfach daseienden, in sich
heterogenen, für das Individuum sinnlosen
Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis\" (Theorie
des Romans). 1)

1.1. Daseinsentwürfe eines Militärarztes

Am 20. März 1944 beginnt der in Landsberg an der


Warthe stationierte Militärarzt Dr. Gottfried Benn
in der dortigen General-von-Strantz-Kaserne einen
Kurzroman in experimenteller Form zu entwerfen
und erfindet die ziemlich blässlich konturierte
literarische Figur eines Phänotyps. Der meist
essayistisch geschriebenen Prosa gibt er den Titel
\"Roman des Phänotyp\". Der Zeitgenosse ohne
persönliche Wesenszüge ist mehr eine Ungestalt ohne

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Herkunft und Gesicht. Der Leser erfährt nicht, aus


welcher soziologischen Schicht er stammt, welche
Beziehungen er zu anderen Personen unterhält, was
er bisher erlebt und erfahren hat. Der Phänotyp,
einer der vielen Zeitge-nossen, der seine
\"Pflicht\" tut, ohne sich Gedanken über Gut und
Böse zu machen, wohnt wie der Verfasser in der
Landsberger Kaserne und schreibt während eines
Vierteljahres, vom 20. März bis 20. Juni 1944,
seine Gedanken und Perspektiven nieder. Dort
bekommt er Truppenverpflegung, wie im Roman,
allerdings erst in der Zusammenfassung (PuA 178)
beschrieben wird, zwei Kommissbrote wöchentlich,
dazu Aufstrich und zweimal täglich eine Schüssel
voll Suppe oder ein Kohlgericht. Wie gern hätten
wir Leser mehr über sein damaliges Leben, seine
Erlebnisse und seinen Umgang erfahren!

Genau ein Jahr zuvor, am 20. März 1943,


quartierte sich ein anderer Schriftsteller, nämlich
Ernst Jünger, der als Besatzungsoffizier in Paris
eingesetzt war und an diesem Tag nach Moisson zu

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einem Lehrgang abkommandiert wurde, bei einem


alten, weltabgewandten Geistlichen ein, der das
\"Leben jenseits des Prismas\" liebte, weil sich
angeblich der \"Blick aufs Spektrum\" nicht lohnte.
Der völlig vom gegenwärtigen Leben und seiner Zeit
abgewandt lebende Geistliche verhielt sich wie die
fiktive Gestalt des Phänotyps. Der Militärarzt Dr.
Benn teilt von dieser erfundenen Titelfigur ohne
persönliche Konturen nicht viel Wissenswertes mit,
als ob nicht mit den sichtbar werdenden Farben des
Lichtspektrums dem Menschenauge ein \"köstliches
Geschenk\" gegeben wäre. Dem Leser ist durch die
Ausstattung der Figur mehr als ein literarischer
Genuss entgangen. Ernst Jünger wird seinerzeit nach
Unterhaltungen mit dem ehemaligen Jesuiten an
frühere Zweifel gemahnt, ob nicht die
Mannigfaltigkeit zum Leben gehöre und \"ob sich
nicht gerade darin der Grund zu unserer Existenz
verberge, dass Gott der Individuation bedürftig
sei\".

Der Militärarzt Dr.Benn nennt die Titelfigur seines

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Romans, den \"Zugehörigen einer bestimmten


Generation\", schlicht und einfach den Phänotyp. Im
ersten Kapitel \"Der Stundengott\" erläutert
Gottfried Benn den Begriff \"Phänotyp\", der aus
der modernen Erblehre stammt. Auch in den folgenden
Abschnitten wird an verschiedenen Stellen die
Eigenart des Phänotyps beschrieben. Der Phänotyp
ist kurzgesagt der repräsentative Mensch einer
Epoche oder Generation; der Roman des Phänotyps ist
mit anderen Worten das Musterbeispiel einer
Literatur des Seins. Die moderne Erbwissenschaft
definiert den Begriff des Phänotyps als die \"Summe
aller in einem einzelnen Individuum tatsächlich
erscheinenden Wesenszüge\", dagegen ist der Genotyp
die \"Summe aller aus diesem bestimmten Stamm
möglichen, latenten, auslösbaren Phänotypen\". (EuR
111). Da der Phänotyp im Laufe des Romans fast
ausschließlich Benns Ideen vertritt, die
Lebensverhältnisse, die von ihm mitgeteilt werden,
genau denen des Verfassers entsprechen, kann man
davon ausgehen, dass sich der Autor mit dieser
Figur selbst identifiziert hat.

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Der Autor selbst findet nach seiner


dienstlichen Versetzung nach Landsberg a. d. W. ab
14. August 1943 eine vorübergehende private Bleibe,
\"ein Zimmer mit Bett und Schrank\", bei einer Frau
Fraß in der Stadt, wo man kaum mehr etwas kaufen
kann. Erst am 30. August 1943 zieht er in die
Kaserne. Dienstlich hat er nicht viel zu tun. \"Die
Dienststellen sind auseinandergerissen; die
Desorganisation macht sich angenehm geltend.\" (An
Oelze, 30.08.1943).
Die auf einem Hochplateau gelegene Landsberger
Kaserne, von wo man einen weiten Blick über die
Stadt und die Flussebene in der Niederung werfen
kann, besteht aus hellgelben Gebäuden. Burgartig
überragt die Kaserne die Stadt, ein Montsolvat, wie
ein Oberleutnant sagte. 137 Stufen muss man
steigen, wenn man zu Fuß von der Bahnhofsstraße zu
dem Hügel der Kaserne gelangen will. Am Kopf des
Blocks, der am Eingang zur Kaserne steht, der
so genannten Ehrenhalle, kann man den Namen eines
Generals lesen: \"General-von-Strantz-Kaserne\".
Niemand weiß Näheres über den General des 1.

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Weltkrieges. Der Verfasser kommt sich \"wie in


einem Fesselballon\" vor; die \"Berührung mit der
Erde\" sei \"sehr flüchtig und nur artifiziell\"
(An Oelze, 06.03.1944). In Gedanken schwebt er hoch
über dem \"Warthe- und Netzegau\", verlässt
wochenlang die Kaserne nicht. Was die geistigen
Einflüsse betrifft, so schildert Benn, dass in
\"die reinen Projektionen eines abstrakten
Intellekts\" (PuA 178), in \"diese Spannungen,
Spaltungen der Verwandlungszone\" (PuA 179), etwas
von den weiten Ebenen, die sich nach Asien
erstrecken, übergegangen sei. Entstanden seien
fremd anmutende Reflexionen, wie wenn es jene
Mutationen wären, \"in denen sich das
Hintergründige, das absolut Reale\" der modernen
Physik weiterbewege. (PuA 179). Möglicherweise sei
spürbar, was geographisch seine Eindrücke prägt,
etwas von den weiten Ebenen, von \"ihren Wäldern\",
wo es an den Waldrändern summt, und ihren \"öden
Flüssen\", wo die \"Binsen tief und eintönig
starren\". Der Phänotyp findet genügend Muße, \"das
mythische Verschwinden in Wasserläufen, die

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Entrückungen durch eine Flussnymphe\" oder eine


Najade zu bedenken. Es sind Schaumgeburten, aber
auch Wogengräber. Benn spricht in Rätseln, deutet
an, orakelt. Gegenwärtig seit: ein Gott. Pan, der
griechische Schutzgott der Hirten und der
Kleinviehherden, macht sich bemerkbar. Er, der Sohn
des Hermes und der Dryope, der \"zu den
Ländlichen\" gehörte, bleibt im Acker. Ohne dass er
sich rührt, fällt die Ernte auf seine Schultern.
\"Seine Höhlen lagen nahe, nicht unerreichbar waren
die Eingänge zu Nestern und Schlucht.\" (PuA 179).
Im ländlichen Arkadien, wo er herstammte, hatte er
einst viele Kultstätten; er war ein lüsternes
Mischwesen, halb Mensch, halb ein Ziegenbock mit
Bart, Schwanz und Ziegenbeinen. Er sei bei der
Geburt so hässlich gewesen, dass seine Mutter
entsetzt vor ihm floh. Wegen seiner einfachen Art
und seiner Freude an lärmenden Vergnügungen
verachteten ihn die olympischen Götter. Auf der von
ihm erfundenen Hirtenflöte spielte er und stellte
den Nymphen nach. Gefürchtet war er in der Stille
der Mittagsglut und während des Mittagsschlafes.

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Vom Berge Lykaion bis zum Fluss Ladon soll er die


Syrinx verfolgt haben; um seinen Nachstellungen zu
entgehen, verwandelte sie sich in ein
Schilfrohr. Doch Pan schnitt einige Rohre ab und
fertigte daraus eine Flöte (Pansflöte). Er wird als
faul und gutmütig geschildert. Wenn man ihn während
seines geliebten Nachmittagsschlafes störte, stieß
er aus Rache einen lauten Schrei aus, der den
Störenfried die Haare zu Berge stehen ließ. War der
griechische Gott der erfundenen Figur wesensmäßig
ähnlich?

Am 03.04.1944 schreibt Benn an seinen Freund, er


sei hier gänzlich isoliert; er sehe und höre von
seinen Vorgesetzten nichts. Er \"stelze\" durch
seine Gedanken: \"Eigentlich ist es die Tätigkeit
eines Maulwurfs; man bohrt sich ein , wirft Erde
heraus, weiß gar nicht, wohin die fliegt, weiß in
keiner Weise, wohin der Gang führt - man buddelt
und verschwindet.\" Benn lebt in einer völlig
abgeschlossenen Welt, in einer Art Beguinage; die
Kommandorufe hört man zum Zimmer hinauf. Von seinem

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Zimmer Nr. 66 aus im Block II hat er die Sicht auf


einen Exerzierplatz und kann dem Treiben der
exerzierenden Soldaten zusehen. Drei kleine
Ebereschen und einige Büsche stehen vor dem
Exerzierplatz, wo die Allgemeinheit, wie er sich
ausdrückt, \"ihre Ideen\", nicht: Spiele oder
Späße, betreibt. Ist Benn nicht selbst ein Rädchen,
vielleicht sogar ein Schwungrad im Getriebe der
Kriegsmaschinerie? Der Phänotyp scheint sich über
seine existentielle Lage noch nicht im klaren zu
sein. Die eingezogenen Wehrpflichtigen, meist
unterernährte, sechzehnjährige Arbeitstypen, die
sich ängstlich und ergeben verhalten, und
fünfzig- bis sechzigjährige Berliner,
Handelsvertreter oder Versicherungsagenten, werden
eingekleidet, zwei bis drei Wochen ausgebildet,
gedrillt, ausgerüstet und an die Front geschickt,
Welle um Welle. Beim Abmarsch im Dunkeln spielt
eine Kapelle flotte Märsche, bis der Zug der
Soldaten verschwindet. Dann kommen neue Rekruten.
Das unbeschreibliche Leid des Menschen vor Augen,
nahm Trakl einst nach der Schlacht bei Grodek eine

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Überdosis Kokain. Der Phänotyp denkt nicht


allzuviel über den Abtransport der Rekruten in den
Tod nach. Im Anfangskapitel wird beschrieben, was
alles von dem Phänotyp abgeglitten sei, nämlich die
Moral. Tatsächlich hat er mehr verloren: Den
Glauben an Gott und die Menschen, an Wahrheit und
Humanität, an Lebenssinn und den Sinn der
Geschichte, an alles, was uns Menschen heilig ist.
Nach Hans Sedlmayr erstreckt sich die Störung \"auf
alle Verhältnisse des Menschen\": Gestört ist das
Verhältnis zu Gott, zu sich selbst, zu den anderen
Menschen, zur Natur, zur Zeit und zur geistigen
Welt. 2)

Trat wirklich alles in eine \"helle Beleuchtung, in


feststehende Verhältnisse, in Beziehungen, die im
Rahmen ihrer Lage gültig waren\"? (PuA 178). Der
Phänotyp meint wohl die militärische Lage. Mehr als
ein Jahr vor der Abfassung des experimentellen
Romans hatte Benn an seinen Freund Oelze
geschrieben, die Lage sei inzwischen
kristallklar; es werde kaum mehr Überraschungen

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geben. Man könne den genauen Kriegsverlauf zwar


nicht vorhersagen, aber das Ergebnis der deutschen
Niederlage sei deutlich zu erkennen. Für den nahen
Zusammenbruch Nazi-Deutschlands gebraucht er
Napoleons Redensart: \"Die Birne ist reif.\" (An
Oelze, 02.01.1943). \"Im Hintergrund stand die
große Disharmonie als Gesetz des Alls.\" (PuA 178).

Eine Zeugin dieser schrecklichen Zeit bemerkt in


ihren Tagebuchaufzeichnungen im April 1944: \"Ein
Wahnsinn, wie sich dieses Europa vernichtet, so
als sei die Menschheit, wie beim Turmbau zu Babel,
mit Verwirrung geschlagen. Während der Ansturm aus
dem Osten immer heftiger wird, bemühen sich die
Engländer, unsere Städte völlig zu zerstören.\"
(Ursula von Kardorff: Berliner Aufzeichnungen aus
den Jahren 1942 - 1945). Eine Journalistin
beschreibt einen Luftangriff in Berlin im Juni 1944
wie folgt: \"Wir sind auf dem Wege nach unten. Von
fern ertönt dumpfgrollendes Brummen. Beängstigend
fremd, unheilverkündend und geheimnisvoll. Es ist

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keine Zeit zu verlieren. Da, jetzt kommt´s. Wir


schreien nicht. Krampfhaft pressen wir die nassen
Tücher gegen die Lippen. Während draußen die Bomben
pfeifen, ist es drinnen still wie in einer Kirche.
Es kollert und kracht, es wankt, birst und zittert.
Meterhoch - für unser Gefühl - bäumt sich der
Fußboden. Jetzt hat es eingeschlagen. Jetzt
wieder. Jetzt abermals. Am liebsten würden wir in
die Erde hineinkriechen. Beißender Rauch frisst in
unsere Augen. Draußen krachen die Bomben, fahren
mit heulendem Getöse durch die rauchgeschwängerte
Luft. Keiner spricht ein Wort.\" (Aus: \"Der
Schattenmann\" von Ruth Andreas-Friedrich, S.
147/148). Realistische Beschreibungen dieser
Art findet man in diesem Kurzroman nicht; sie sind
absichtlich weggelassen, denn dem Autor gehe es ja
um Betrachtungen auf höherer Ebene. 3)

Benn arbeitet seit zwei Jahren, wie er seinem


Freund F. W. Oelze schreibt, an dem späteren
Essayband \"Ausdruckswelt\", aus dem sich im
Verlauf der Niederschrift der \"Roman des

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Phänotyp\" abspaltet. Die Essays der


\"Ausdruckswelt\" hält er für eine \"Art Abrechnung
mit unserer Zeit\"; sie seien \"Kritik und
Perspektive\", \"Pessimismus und Glaube, Zynismus
und Biederkeit, ein schöner Waschkorb voll\". Aus
den vielen Seiten der Studien setzt sich das \"Bild
des reflektierenden Menschen von 1920 bis 1950\"
zusammen. Spöttisch meint er, es sei eine Art
\"Fibel für Anfänger, verdummte Jugend,
verwahrlostes Nachfahrengeschlecht, über die
Probleme unserer Generation\". Zur Zeit der
Abfassung befindet er sich, wie er schreibt, in
einer Art \"Libellenstimmung\", d. h. \"alles
Inhaltliche und Thematische\" wird ihm immer
\"fragwürdiger und bedenklicher\". \"Fassungen und
Färbungen\" der Entwürfe hält er gegeneinander,
beobachtet die Reflexe aus olympischer Perspektive,
vom Standpunkt des Einerseits und Andererseits.
Daraus entwickelt sich ein neuer blitzender Stil:
es sind die ersten Ideen der absoluten Prosa. Im
gleichen Atemzug meldet er seine Zweifel an, ob
seine Begabung ausreiche, dies zu \"verwirklichen

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und auszudrücken\". Vielleicht bleibe es nur


Ahnung. (An Oelze, 06. 03.1944).

Benn hat in der Landsberger Kaserne reichlich


Gelegenheit, seine dichterischen Pläne zu
realisieren; er kann seine Zeit nach Belieben
einteilen, weil ihn sein Dienst wenig in Anspruch
nimmt, wie er in seinem Brief vom 03.05.1944 dem
Freund Oelze mitteilt. Ungestört kann er fast
ununterbrochen, sozusagen in einer Klausur, an
seinen Essays und an den Fassungen des Kurzromans
arbeiten. Zu dieser Zeit kann er noch nicht
voraussagen, was dabei herauskommen werde: es sei
eine Prosasache freier Art\", ein \"Roman nach
innen\", ein \"Roman der tatsächlich inneren
Schichten in uns\". Der so genannte Roman sei vor
allem ohne tragende Figur. Benn geht ja davon aus,
dass es individuelle Züge nicht mehr gibt. Weil
gerade die Gestalt abhanden gekommen sei, könne
er alle möglichen Gedanken nicht in eine Figur
hineinkneten. Er könne nicht \"Personen, Namen,
Beziehungen erfinden, wenn sie gerade

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unerheblich werden\" (PuA 150). Da ihm in Bezug auf


dieses Prosagebilde der Begriff \"Individuum\"
nicht genügt, schränkt er ihn ein, indem er es als
ein solches definiert, \"das die charakteristischen
Züge der Epoche zum Ausdruck bringt\".

Der schöpferische Mensch, den der Militärarzt im


Sinn hat, erscheint als ein Nicht- Handelnder;
der Autor beruft sich dabei auf die taoistische
Haltung, die nach Tschuangtses Auslegung den
Weisen kennzeichnet, der in das den geschaffenen
Dingen innewohnende Prinzip eindringt und keine
Taten vollbringt. Der Monologist in \"Weinhaus
Wolf\" meinte: \"Untätigkeit bei günstigen äußeren
Lebensbedingungen, das war mein Ideal. Untätigkeit
im allgemeinen Sinn: Kein Büro, kein pünktlicher
Dienstbeginn, keine Bezugszeichen links oben auf
den Akten.\" Goethes und Hamsuns Lobpreis der
körperlichen Arbeit sei keineswegs verbindlich.
(PuA 135).

Form und Inhalt des Romans seien natürlich

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identisch, schreibt Benn an Oelze, wobei zu


bemerken sei, dass es einen Inhalt im
geläufigen Sinne nicht gäbe. Ohne theoretisch zu
sein, bestehe der Text aus \"Ausdruck und Form\".
Der Roman sei von \"äußerster Realistik\", denn er
enthalte \"seelische Tatsächlichkeit\". Der \"Roman
ohne Handlung\" werde keinen großen Umfang
erhalten, nur etwa 100 Seiten lang werden. Als
Hilfsmittel verwende er den Gedanken der
Existenz, den er \"groß\" herausstelle. Es sei
alles höchst problematisch, eine \"Bezirksbombe an
Abwegigkeiten und Exzentrik\". (An Oelze, 03.05.
1944). Der Leser findet die Texte vielleicht
problematisch, aber keinesfalls so explosiv wie der
Verfasser. Außerdem versteht man unter \"äußerster
Realistik\" gewöhnlich etwas anderes. Was Alfred
Kerr angesichts des nationalsozialistischen
Unwesens bereits 1930 voraussah und voraussagte,
war alles andere als besänftigend; es war
alarmierend und riet zu Widerstand und aktiver
Gegenwehr: \"Sie rüsten zum Putsch in Nebel und
Dämmer, / Gepackt der Tornister, die Feldküche

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dampft; / Wir bleiben friedlich wie Lämmer. / Und


blinzeln wie die Tauben sanft.\" 4)

Ganz offensichtlich ist das Bekenntnis des


Phänotyps zum Nicht-Handeln - abgesehen von der
philosophischen Begründung - ein
Rechtfertigungsversuch des Autors. In der damaligen
Situation, angesichts des bevorstehenden
Zusammenbruchs der Nazi-Diktatur, bekräftigt die
Fiktion eines Nicht-Handelnden die Haltung des
Schriftstellers und Militärarztes; der Phänotyp
sieht sich in der Rolle des Betrachters, der lieber
besinnlich auf Wasser sieht, um die Gelassenheit
des Elements zu erlangen, als sich in die Dinge
einzumischen. Max Scheler, auf den sich Gottfried
Benn gedanklich bezieht, hat dagegen bereits 1929
in seiner Abhandlung \"Die Stellung des Menschen im
Kosmos\" den Menschen als \"handelndes Wesen\"
dargestellt. Ein \"organisch so beschaffenes
Wesen\" sei nur \"durch voraussehender Veränderung
der Natur lebensfähig. \"Man muss daher in den
Mittelpunkt aller weiteren Probleme und Fragen die

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Handlung stellen und den Menschen als ein


handelndes Wesen definieren.\" (zitiert aus: Arnold
Gehlen, \"Anthropologische Forschung. Zur
Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des
Menschen\", 1961).

In seinem Brief vom 31.05.1944 teilt Benn seinem


Freund einige Bedenken hinsichtlich des neuen
Romans mit; er glaube, dass man ihn als ein
\"Landsberger Fragment\" bezeichnen müsse: Seine
Anlage sei fächerartig; radial strahlen die
einzelnen Ansätze aus; es gebe keine Be-wegung. Der
Held bewege sich wenig. Benn ge- braucht das Bild
einer Torte: Die Stücke gehen alle nach innen
zusammen und gleichen sich im Teig und seien mit
den gleichen Früchten belegt. In diesem
Zusammenhang erinnert Benn an ähnliche literarische
Versuche, an \"Paludes\" von Andre´ Gide und
\"Bebuquin\" von Einstein. \"Namentlich der
letztere schaltete auch Zeit und Psychologie aus,
aber er ließ die Handlung nicht fort, der Held
musste noch allerlei betreiben. Das war

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inkonsequent.\" Jetzt sei die Lage noch anders.


Vermutlich sei alles sinnlos und der Versuch eines
Outsiders. (An Oelze, 31.05.1944). Einstein und
Gide sahen als Vorgänger die Möglichkeit, \"nämlich
von geordneten Worten und Sätzen als Kunst, als
Kunst an sich\" (PuA 446). Benn bezieht sich auch
auf Flaubert: der Anblick einiger Säulen der
Akropolis ließ ihn ahnen, \"was mit der Anordnung
von Sätzen, Worten, Vokalen an unvergänglicher
Schönheit erreichbar wäre\" (PuA 446)

Der Phänotyp will sich nicht engagieren; er lässt


sich treiben. Seine Aufzeichnungen mit den vielfach
ambivalenten Ansichten, den existentiellen
Entwürfen, verschiedenen Perspektiven bleiben
tatsächlich fragmentarisch. Am 12. Juli 1944 meldet
Benn seinem Freund Oelze den Abschluss des
Kurzromans. Gleichzeitig gibt er seiner Befürchtung
Ausdruck, dass es auch vom Osten her Veränderungen
geben werde. \"Ich sehe voraus, dass wir uns alle
hier das Gewehr in die Hand nehmen müssen und uns
irgendwo anschließen\" (An Oelze, 12.07.1944).

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1948 stellt Benn im Rückblick fest: Dieses


Romanfragment sei \"Existentialismus, bevor er so
berühmt wurde\" (An Oelze, 25.02.1948). Eine nähere
Erklärung bleibt der Autor in diesem Zusammenhang
schuldig.

1.1.1. Existentielle Entscheidungen

Um 1930 machten sich philosophische Richtungen


bemerkbar, die formal darin übereinstimmten, dass
sie unter \"Existenz\" die eigenartige
Vollzugsweise des menschlichen Daseins ver-standen.
Diese Philosophie setzte sich an die Spitze aller
philosophischen Strömungen; sie waren aus der
\"Weltkriegserschütterung und der philosophischen
Anknüpfung an Kierkegaard herausgewachsen\". Der
Begriff des Daseins ist in der Existenzphilosophie
\"auf den Menschen beschränkt, insofern dieser
jenes ausgezeichnete Seiende ist, das
Seinsverständnis, d. h. Verständnis seiner selbst,
seines Seins, seines Da besitzt.\" 5)

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Die Kenntnis dieses philosophischen Denkens und der


sich daraus ergebenden Folgerungen für das
menschliche Dasein kann man bei Benn
voraussetzen. Die Existenz sei die einzige
Stimmung, die den Phänotyp bewege und die er
fordere, \"hart und unaufhörlich\". (PuA 149).
Damit ist das wichtigste Stichwort gefallen, dass
den Grund dafür angibt, weshalb sich unser Leben
von dem der früheren Generationen unterscheidet.
Das Wort \"existentiell\" bezeichne am deutlichsten
die innere Verwandlung. Der \"entschieden
bemerkenswerteste Ausdruck\" bringe Forderungen
vor, \"denen die vergangenen Jahrhunderte und die
deszendenten Generationen nachzukommen nicht
ausgestattet waren\". (PuA 150). Der Ausdruck
\"Existenz\" ziehe das \"Schwergewicht des Ich vom
Psychologisch-Kasuistischen ins Arthafte, Dunkle,
Geschlossene, in den Stamm\", wie es im ersten
Kapitel \"Der Stundengott\" heißt: \"Er verringert
das Individuum um sein Peripheres, und gewinnt ihm
Gewicht, Schwere, Eindringlichkeit hinzu.\" (PuA
150)

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In einer Kritik an Graf Hermann Keyserling legt


Benn den Begriff \"existentiell\" so aus, als hieße
dies: \"vom Keim ausgehend und auf ihn
zurückweisend mit der Richtung auf eine und mit dem
Hintergedanken an eine Keimmutation\" (SuS199).
Feststeht, der Phänotyp möchte erreichen, dass ihm
der Begriff zum \"Ausdruck existentieller
Entscheidung\" werde. Ziel aller seiner Bemühungen
sei die \"geistig überprüfte Form\", ein Haltung,
die aufgeschlossen ist gegenüber anderen Wesen und
keine Todesfurcht zeigt. (PuA 150). Die Vertreter
des Existentialismus lehren, dass man nur durch ein
existentielles Erlebnis zum Begriff der Existenz
gelangen könne. Für Heidegger gilt als solches die
Erfahrung des Todes (der sogenannte \"Vorlauf des
Todes\"), was die Einstellung des Phänotyps zu Tod
und Todesfurcht erklärt. Das Wesen des Phänotyps,
des Existentiellen, müsse man, wie es im Kapitel
\"Statische Metaphysik\" heißt, mit \"punktuellen
Perspektiven\", die viel \"Asiatisches\" enthalten,
umschreiben. Tendenziöse Ergebnisse, Abschlüsse
liegen außerhalb seiner Natur. (PuA 154). Der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Phänotyp will der einzig \"evidente\" Repräsentant


seiner Zeit sein und bildet damit alle
Widersprüche in sich selbst ab; er ist zweifelsohne
eine weitere Identifikationsfigur wie einst Rönne,
der Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus, von
dem er viele Charakterzüge übernommen hat. Nach den
Charakterisierungen des Autors ist der Phänotyp
eine \"fundamental ontologisch\" unsichere Person.
(Ronald Laing, Das geteilte Selbst, S. 33) 6). Ein
Individuum mit einem festen Kern ontologischer
Sicherheit \"wird allen Zufällen des Lebens,
sozialen, ethischen, geistigen, bio-logischen,
begegnen mit einem zentralen, unveränderlichen
Gefühl von der eigenen Realität und Identität und
der anderer. Es ist oft schwierig für eine Person
mit solchem Gefühl der integrierten Selbstheit und
personalen Identität, der Permanenz der Dinge, der
Reliabilität von Naturprozessen, der
Substan-tialität von Naturprozessen, der
Substantialität von anderen, sich in die Welt eines
Individuums zu versetzen, dessen Erfahrungen es an
jeglicher unstreitigen selbstbestätigenden

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Gewissheit fehlt.\" (Ebd. 33). \"Das Individuum


kann also sein eigenes Sein als real, lebendig,
ganz erfahren; als, unter normalen Bedingungen, so
sehr verschieden vom Rest der Welt, dass seine
Identität und Autonomie niemals in Frage gestellt
werden; als ein Kontinuum in der Zeit; als innere
Konsistenz, Substantialität, Wahrheit und Wert
habend; als räumlich gleich mit dem Körper; und
gewöhnlich beginnend mit oder um die Geburt herum
und der Vernichtung durch den Tod unterworfen. Das
Individuum hat so einen festen Kern ontologischer
Sicherheit.\" (Ebd. 35). Vom Rest der Welt fühlt
sich der Phänotyp unbestimmt differenziert, \"so
dass seine Identität und Autonomie immer in Frage
gestellt sind\". Unter den vorliegenden
Lebensbedingungen fühlt er sich eher irreal als
real. Möglicherweise fehlt ihm die \"Erfahrung der
eigenen temporalen Kontinuität\". Vielleicht fühlt
er sich \"eher körperlos als substantiell und
außerstande anzunehmen, dass das Zeug, aus dem es
gemacht ist, wahr, gut und wertvoll ist\". ((Ronald
Laing, Das geteilte Selbst, Ontologische

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Gebote des inneren Seins Teil I

Unsicherheit Ebd. 36). Dem Phänotyp ist die


\"Ambivalenz der Dinge\" (PuA 180) feststehende
Gewissheit. Absichtlich nimmt er keinen eigenen
Standpunkt (PuA 176) ein. Für ihn gilt Goethes
Wort: \"So musst du sein, dir kannst du nicht
entfliehen.\" 7)

Was die Veränderungen und Defekte betrifft, so


führt der jeweilige Phänotyp die \"Keimexistenz\"
durch, entsprechend dem biogenetischen Grundgesetz.
Der tiefere Grund dieses Gesetzes liegt in dem
historischen Charakter der Eizelle als eines
Komplexes von Anlagen, der sich im Lauf der
Erdgeschichte gebildet und durch innere und äußere
Wechselwirkung (Korrelation) verändert hat\"
(Philosophischen Wörterbuch, S. 50). Der mit
Begriffen aus der modernen Erblehre erklärte und
festgelegte \"Zugehörige einer bestimmten
Generation\" (der Phänotyp) besitzt einen
Organismus mit bestimmten \"Schaltstellen oder
Regenerationszentren: das Blutdrüsensystem, das
vegetative Nervensystem, vor allem den Hirnstamm

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

und das Großhirn\" (EuR 117). So wie die \"Bildung


des Großhirns entwicklungs-anatomisch aus
verschollenen Äonen\" erklärt wird, so ist die
Seele in Schichten entstanden und gebaut; dies
offenbaren der Traum, das Kind und die Psychose
\"als noch vorhandene seelische Realität\". Das
\"Alte, Unbewusste erscheint in der magischen
Ichumwandlung und Identifizierung, im frühen
Erlebnis des Überall und Ewigseins\" (EuR 118). Mit
anderen Worten: \"Wir tragen die Reste und Spuren
früherer Entwicklungsstufen in unserem Organismus,
wir beobachten, wie diese Spuren realisiert werden
im Traum, in der Ekstase und bei gewissen Zuständen
der Geisteskranken\". (EuR 119). In der
Wissenschaft ist anerkannt, \"dass der Mensch vor
seiner Geburt, in den neun Monaten seiner
Entfaltung im Mutterleib die ganze Entwicklung des
Menschengeschlechts in großer Abkürzung noch einmal
erlebt. Im zweiten Monat hat der Mensch die Bildung
eines Schwanzes, wie die Tiere. Im dritten Monat
besitzt der Embryo Kiemen wie die Fische. Besonders
O. Hertwig, Fischel und Bonnet haben diese

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Entwicklung behandelt.\" 8)

Zu Pfingsten 1946 schreibt Benn an seinen Freund


Oelze im Zusammenhang mit der Kritik an den
Naturwissenschaften: \"Die Erkenntnis über Sie und
Ihre Existenz, die Entscheidung über Ihr Dasein,
ohne diese bequemen klebrigen Rundungen, nimmt
Ihnen niemand ab - die Biologen jedenfalls
nicht, diese Dünnbiergehirne.\" Dem Phänotyp
kommt es darauf an, dass er durch persönliche
Erkenntnisse zu persönlichen Entscheidungen
befähigt wird und über sein Dasein selbst
entscheidet. Vor dieselben Zwänge gestellt, hat
Sören Kierkegaard einmal gesagt: \"Ich will die
Menschen lehren, ihr Dasein nicht zu verschwenden
und zu verspielen.\" Der dänische Philosoph, der
\"Individualist in des Wortes persönlichster
Bedeutung\" (Hermann Glockner) bekannte 1835, dass
er nicht bloß ein \"Leben des Erkennens\" führen
wolle, sondern ein \"völlig menschliches Leben\".
Die \"Basis für den Aufbau seiner Gedanken\" solle
etwas sein, \"was mit der tiefsten Wurzel seiner

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Existenz\" zu-sammenhänge. Individualität fasste er


in seiner späteren Schriften als \"Kategorie der
Einzelheit\" auf; sie sei die \"Kategorie der
Ewigkeit\" und deshalb auch \"für den in der Zeit
existierenden Denker am alleranstrengendsten\". Er
erklärte, dass ein Leben jetzt und hier, aus dem
Unbedingten heraus, in der Masse nicht möglich sei.
Als Masse gleichen die Menschen einem Heringszug.
Der einzelne Hering existiert eigentlich gar nicht,
sondern richte sich immer nach den anderen. Ebenso
verhält sich der Mensch in der Masse. Daher sagte
Kierkegaard einmal: \"Die Masse ist im Grunde das
Ziel aller meiner Polemik.\" Paradoxerweise konnte
der Phänotyp Benn mit Kierkegaards Philosophie
nicht viel anfangen; er glaubte wohl, zu ihr wegen
den darin enthaltenen moralischen und religiösen
Ideen keinen Zugang zu finden.

In einem Brief an Oelze hatte Benn aus den


existentiellen Gegebenheiten folgende
Konsequenzen gezogen: \"Die Eindrücke, das, was man
erlebt, innerlich verarbeitet, die Erfahrungen des

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Gebote des inneren Seins Teil I

Gehirns und der Haut -, auch des Herzens, durchaus:


auch dies gehört dazu -, alles dies auf sich
nehmen, denkend tragen, soweit wie möglich ist auch
danach handeln und zum Schluss alles überblicken
und wissen, dass es nur eine Aufgabe war, und dass
zahllose solche Aufgaben bestanden und bestehen
werden\". (An Oelze, 15.07.1939). Auch sieben Jahre
später vertrat er kompromisslos die gleiche
Ansicht: \"Nur die schrankenlose und schleierlose
Formulierung der tatsächlichen inneren Lage, in der
wir uns ja alle befinden, ist der Veröffentlichung
wert. Die wenigen Jahre, die ich vielleicht noch
lebe, werde ich zu keiner Konzession meiner mein
Leben lang verfolgten extremen Richtung bereit
sein. Man kann es ja auch garnicht: kein Satz, kein
wirklicher Satz, kommt zustande, wenn nicht hinter
ihm das ganze Pathos und das ganze innere Leiden
der Persönlichkeit steht. Meine ärztliche Praxis,
die mir bisher keine Instanz nehmen konnte, gibt
mir die äußere Möglichkeit, dem inneren Gesetz zu
leben.\" (An Erich Pfeiffer-Belli, 03.07.1949).

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Gebote des inneren Seins Teil I

1.1.2 Die ambivalenten Anschauungen des Phänotyps

Der Phänotyp der Gegenwart integriert die


Ambivalenz, wie es im Kapitel \"Ambivalenz\" heißt;
er integriert die \"Verschmelzung eines jeglichen
(Begriffs) mit den Gegenbegriffen\" (PuA 152); er
ist der Einerseits-Andererseits-Struktur verhaftet.
Der Phänotyp des 12. und 13. Jahrhunderts
\"zelebrierte\" dagegen die Minne, der des 17.
Jahrhunderts den \"Prunk\" und der des 18.
\"säkularisierte\" die Erkenntnis. In der Gegenwart
sei die ganze Welt unter dem Gesichtspunkt der
Ambivalenz zu betrachten. Einerseits fühlt sich der
Phänotyp \"dem Geist und seinen Maßstäben\" bis in
die \"letzte Faser des Gebeins\" verpflichtet,
andererseits steht er diesem Geist, der
\"regionalen, geographisch- historischen Ausgeburt
der Rasse\", skeptisch gegenüber. Die Struktur des
Einerseits und Andererseits lässt sich in vielen
Formen, Ausprägungen, Gedanken und
Gedankenexperimenten nachweisen: in den Bemühungen
der Ausdruckskunst, im Gedanken an

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Gebote des inneren Seins Teil I

schicksalsbestimmende Mächte, im Gedenken an die


Gefallenen und Toten, in den Gedanken an Tradition
und Traditionsbrüche, in Liebe und Hass, im Glauben
an den Sinn der Geschichte, an das historische
Gefühl, in dem Drang nach Verewigung, nach
Verwurzelung in Vor- und Urzeit, in den seelischen
Aufschwüngen und depressiven Phasen eines
deprimierenden Kasernenlebens. Der Autor gibt noch
viele weitere Beispiele der ambivalenten
Standpunkte, wobei die Affinität zu blendenden
Effekten, ausgefallenen Ausdrücken und
überraschender Metaphorik augenfällig ist. So
schreibt er von Gemsenjagden, den ewig weiter
prüfend fühlbaren Blick der Toten, von kongenitaler
Willkür, von dem inhaltlichen Wissen der
vergangenen viertausend Jahre und dem tief
prägenden historischen Gefühl und von einem
sublimen Zeitsensualismus und
Zeitzerbrochenheitsempfinden. In Beisätzen kommt
Charakteristisches zum Ausdruck: Der Phänotyp
empfinde eine \"geheime Schwäche für
Imperialistisches, Cäsarisches\", \"Rührung vor dem

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Gebote des inneren Seins Teil I

Sanften und sich Neigenden\", aber auch \"Hass


gegen den Nächsten an seiner Seite\". Er denke
archaisch, trage aber einen Hut aus der Bondstreet
und eine Kravattenperle aus der Rue de la Paix.
Ohne Ursache sei er höchst aktiv (wach) am Abend
und am nächsten Morgen ohne Grund (zerstört)
gerädert wie ein Roué. Er sei im Ganzen euphorisch
und bestehe, wenn man seine Konstitution und
Bildung betrachte, zu 40 v.H. aus Adam und Eva, zu
30 v.H. aus Antike, zu 20 v.H. aus Palästina und
zu 10 v.H. aus Hochasien. (PuA 153). Das heißt
wohl, dass sich der Phänotyp als Mensch und
Bildungsträger sowohl seiner Bildung aus
griechisch-römischem Bildungsgut, christlicher
Überlieferung und chinesischer Weisheit bewusst
sei.
Benn hofft, dass sich aus dem geradezu
\"olympischen\" Einerseits und Andererseits ein
\"neuer blitzender Stil\" entwickeln werde (An
Oelze, 6.3.1944). Da ihm \"alles Inhaltliche und
Thematische\" immer fragwürdiger geworden sei,
könne er nur die \"Fassungen und Färbungen, die

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Gebote des inneren Seins Teil I

Reflexe\" wie in einem Spiel gegeneinanderhalten.


Es besteht kein Zweifel, dass alle Ideen,
Reflexionen, Existenzängste, alle persönlichen
geistigen Inhalte des Autors in diese
Identifikationsfigur Phänotyp eingeflossen sind.
Das gibt uns Nachgeborenen die Möglichkeit, die
häufig nur angedeuteten Probleme, melancholischen
Anwandlungen, kurz: Flüge des Geistes, zu
untersuchen und zu interpretieren. Noch im Jahre
1952 gibt er seine Ambivalenz offen zu: \"Die Liebe
ist sehr eindrucksvoll, aber der Hass auch. Die
Tugend ist sehr eindrucksvoll, aber die Sünde auch.
Ich finde nicht mehr durch, ich kann immer wieder
nur sagen, die Produktivität ist das einzige, was
einen sichert und führt.\" (An Oelze, 18.04.1952).

In seiner Einleitung zu einem Rezitationsabend im


Kolbe-Museum führt Benn 1953 aus, dass ein
französischer Professor der Philosophie den Begriff
der Ambivalenz als einen \"epochemachenden und
epochetragenden\" dargestellt hätte: Er glaube, ihn
nachweisen zu können \"in der Kunst, in der

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Gebote des inneren Seins Teil I

Sprache, der Religion, der Biologie. Er sagt, der


heutige Mensch erlebt als sein eigenstes Wesen die
Kontingenz aller Dinge, im Bösen liegt das Gute, in
der Sexualität der Geist, auch in der Politik
glaubt der Professor ihn zu finden\" (EuR 559).
Benn führt bei dieser Gelegenheit, sicher im
Rückblick auf seinen Phänotyp, genauer aus, das sei
die Lage des Menschen und damit auch des
Künstlers, mit der er fertig werden müsse, wenn er
etwas schaffen wolle. \"Ströme und Gegenströme,
Strebungen und Gegenstrebungen, nichts Sicheres,
nichts Festes, wohin er blickt. In der Welt hat
jeder und jedes recht, alles fließt, so sinke denn,
man kann auch sagen: steige - das Menschliche und
das Religiöse, das Tierische und das Spirituelle,
das Individuelle und das Kollektive - alles hin und
her, alles ambivalent.\" (EuR 60). Der Künstler
ziehe aus dieser Lage, aus der Tatsache der
Ambivalenz aller seienden Dinge, der \"vagen
traurigen Relativitätszufälligleiten\", die
Schlussfolgerung, dass, wenn er
\"hinterlassungsfähige Gebilde\" schaffen wolle,

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Ordnung schaffen müsse; in \"Ruhe und Statik\"


müsse \"schön, evident und menschentief\" das
Kunstprodukt gestaltet werden. \"Treffende
Formulierungen\" ergeben sich aus \"innerer
Entschiedenheit\" (SuS 230). Der Künstler dürfe
nicht ambivalent bleiben; er müsse glauben und
handeln. Form sei Tat und Glaube zugleich. (EuR
561).

1.1.3 Was der Phänotyp unter Kunst versteht

Die Generation, der Benn angehörte, wuchs unter dem


Eindruck der Kunst höchsten Ranges auf. \"Die

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Gebote des inneren Seins Teil I

Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große
Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum
Leben, das große Stimulans des Lebens\", heißt es
bei Nietzsche (Werke III 692). Die Kunst sei unser
\"Allerheiligstes\" (Werke, III 1062). Was versteht
der Phänotyp unter Kunst? Kunst, so führt Benn 1954
in einem Brief an Emil Pretorius aus, sei das
\"Aufrührerische\", das, \"was vom öffentlichen
Leben, Politik, Wissenschaft, ja Kultur den Blick\"
abziehe und ablenke. Sie biete eine \"sonst
nirgends erschaubare Wesenheit\", ruhe \"latent in
den Affären und Affekten\", in dem \"ganzen
Wildwest der sogenannten Dinge und Ereignisse, von
denen sich das übrige sogenannte Geistesleben
niemals\" trenne. \"Dichten, ob lyrisch oder
prosaistisch\", so schreibt Benn an Fritz Werner,
einem Buchhändler in Freiburg im Br., mit dem er
seit 1930 in brieflicher Verbindung stand, \"heißt
mit Worten umgehen wie mit Steinen, mit
unbewachsenen Steinen, - ein erbarmungsloses
Geschäft!\" Kunst sei nicht zu verstehen; ihr
Gesetz bestehe darin, Eindrücke zu hinterlassen,

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Gebote des inneren Seins Teil I

sozusagen Keime auszustreuen. \"Aber ich sage ja


immer wieder und überall: dies gilt nur regional,
situationär und phänotypisch; nur für den Satz,
den man gerade schreibt. Keine Antwort mehr, keine
allgemeinen Lehren. Der Existentielle entäußert
sich der Antwortsubstanz, er betreibt
Selbstbesäumung\" (An Fritz Werner, 04.03.1949).
Das Wesen des Menschen entfalte sich ausschließlich
in der \"Gestaltungssphäre\", denn nur in der
Gestaltungssphäre werde der Mensch erkenntlich.
Nach Art der Aufgaben-Stellung müsse er, \"Fläche
in Tiefe überführen, Worte durch Beziehung und
anordnendes Verwenden zu einer geistigen Welt
eröffnen, Laute aneinander ketten, bis sie sich
halten und Unzerstörbares besingen\". (Weinhaus
Wolf, PuA 129). Die Aufgabe des Phänotyps besteht
also darin, \"Ausdruck\" zu schaffen; seine
Ausdrucksmittel entstünden an dem Schnittpunkt von
deszendentem Prozess und schweigendem, aber immer
gegenwärtigem Keim\". (PuA 149). Der Phänotyp will
\"ausschweifen und es beobachten, leiden und es
übersteigern; ein Phallus im Stammhirn; eine Orgie,

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eisig und glühend, bitter und süß, in Dunkelheiten


und Nächten mit ihm allein. Fröste des
Isoliertseins, blutleerer Taumel, Brüchigkeiten, -
und fortschreiten, fortklimmen, fortschleichen von
Wort zu Wort, Silbe zu Silbe, - Tauziehen mit
Gedanken, Volten der Überspannung, alles dies unter
körperlichen Gefahren\". (PuA 156/157). Da der
Phänotyp das Ausdrucksschaffen, die Kunst, als
seine wichtigste Aufgabe betrachtet, wird durch die
Betonung dieses Akzents sein Inneres derart
vitalisiert, dass es tatsächlich ausschließlich
dies als Hauptaufgabe anerkennt. Was man nämlich in
sich betont, \"das rückt zur Dominante auf und
verwandelt auf die Dauer alle übrigen Elemente sich
selbst gemäß\". Durch eine bestimmte Akzentsetzung
wird das innere Wachstum oder ein Schwund
eingeleitet. 9)

Der Phänotyp hegt die \"unbeirrbare


Überzeugung\", dass er seine \"innere und äußere
Umgebung selbst\" ordnen müsse; zur Verfügung
stehen ihm \"äußere Erfahrung und inneres

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Gebote des inneren Seins Teil I

Rückerinnern\" (SuS 229). Die Gebilde der Kunst,


die Formen, sind \"Resultate unerschrockenen
Denkens\".10) Kritisch ist hierzu anzumerken, dass
nach den Erkenntnissen der Existenzphilosophie das
menschliche Dasein in seinem Wesen dem Gedanken
fremd ist. \"Das Existieren lässt sich nicht
denken.\" (Existenzphilosophie von Otto Friedrich
Bollnow, S. 21). Die Existentialisten verwerfen die
erkenntnistheoretische Unterscheidung von Objekt
und Subjekt (Materie und Bewusstsein). Die
objektive Realität sei im wissenschaftliche Sinne
unerkennbar; Erleben und Denken wird gleichgesetzt.

Dem Phänotyp geht einmal um den richtigen,


treffenden Ausdruck, aber auch um die dem
existentiellen Wirken entsprechende Sprache.
Zwischen dem eigenen Denken und der adäquaten
Sprache schiebt sich nach Theodor Haecker die
\"fixierte Gemeinsprache wie eine ungeheure,
undurchdringliche Mauer, wie ein alles
verschlingendes Ungeheuer, wie eine alles

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Gebote des inneren Seins Teil I

nivellierende Walze\". 11) Nur durch Überwindung


seelischer Qualen, körperlicher Leiden und das
Bestehen geistiger Abenteuer kann der Phänotyp
diejenige Kräfte und Erfahrungen sammeln, die er
für die Darstellung der Reflexionen, Perspektiven
und Denkergebnisse benötigt. Das erste Wort schaffe
bereits die Situation, substantivische Verbindungen
evozieren die Stimmung; aus den Satzenden folgt die
Fortsetzung, und die Handlung bestehe aus
gedanklichen Antithesen. Die autarkische Monologie
beginnt. Am Schreibtisch entwickelt der Phänotyp
mehr innere Substanz als in der Natur. (PuA 173).
In der autobiographischen Schrift \"Lebensweg eines
Intellektualisten\" heißt es dementsprechend, \"der
Kunstträger\" lebe nur seinem \"inneren Material\"
(\"den mythisch vorgeprägten Bildern\"), sammle
Eindrücke, ziehe sie nach innen, \"so tief, bis es
sein Material berührt, unruhig macht, zu
Entladungen treibt\". Der Phänotyp hofft auf die
Eingebungen des Stundengotts (PuA 149), d. h. auf
die Stunde, da sich die Ratio z. B. in Traum und
Rausch lockert und in der Seele die \"prälogische

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Geistesart\" der frühen Völker emporsteigt.


Nietzsche sah den \"engen Zusammenhang von Traum
und primitiver Denkweise\": er spricht von dem
\"uralten Stück Menschentum in uns als der
Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich
entwickelt habe\". (EuR 119). Benn preist das
provozierte Leben, die artifizielle Existenz -
\"sei es mit Hilfe von Drogen, sei es mittels der
Yogamaßnahmen - mit einem Wort: der riesige
Bestand des exzentripedalen Steigerungsfähigen in
uns; ich bin überzeugt, dass ausgedehnte
biologische Stapel in uns ruhn, Flöze der Frühe,
die, wenn wir sie bewusst pflegten, uns vieles
zufallen ließen.\" (An Oelze, 13.09.1941).
Im Jahr 1942 konnte sich der Phänotyp an einem
Roman von Thornton Wilder begeistern lassen, der
folgendermaßen lautet und in seinem Essays
\"Provoziertes Leben\" (1942) zitiert wurde: \"Wir
kommen aus einer Welt, in der wir unglaubliche
Maßstäbe der Vollkommenheit gekannt haben, und
erinnern uns undeutlich der Schönheiten, die wir
nie festzuhalten vermochten, und kehren wieder in

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jene Welt zurück.\" Benn folgerte daraus:


\"Endogene Bilder sind die letzte uns verbliebene
Erfahrbarkeit des Glücks.\" Schon 1935 war Benn
davon überzeugt, dass nur die \"Schatten der
Dinge\" real seien, \"die Schatten, die sie im
schöpferischen Geiste werfen.\" (An Oelze,
09.03.1935).

In seinem Roman \"Der Ptolemäer\" ging Benn auf den


Begriff der Anamnese ein, jene Ansicht Platos, dass
die philosophische Erkenntnis ein Wiedererkennen
der Ideen sei, die die Seele im Zustand ihrer
Präexistenz angeschaut habe. Benn beschrieb diese
griechische Idee als \"Lehre vom Urerlebnis\",
\"dass alles in uns Erinnerung sei, dass unser
Leben nicht das war, was wir sahen und trieben,
sondern das, was in uns lag und dem wir bestimmt
waren, es in Bildern und Gedanken aufsteigen zu
lassen und ihm einen Ausdruck zu verleihen.\" (PuA
221). Benn setzte bezeichnenderweise hinzu:
\"Solche Zustände von Anamnesis erlebte ich öfter,
ja, ich konnte sie gelegentlich in mir herbeiführen

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und sie wurden der Beleuchtungseffekt meiner


Existenz und ihrer inneren Überblicke.\" Dieses
Bekenntnis führt uns in die Mitte der Betrachtungen
über die Entstehung der dichterisch-intuitiven
Prosa, des künstlerischen Ausdrucksschaffens. Das
ist der Traum, der durch \"summarisches
Überblicken\" (PuA 164) hervorgerufen wird.
Der gealterte Erzähler im Kapitel \"Der
Stundengott\" (PuA 151)spürt ein \"tiefes
Durchlässigkeitsgefühl im Kreuz oder eine Art
Mittelhirnschwäche\". An der Unterhaltung mehrerer
Herren nimmt er am Rande teil; seine Wahnehmung ist
eingeschränkt; er sieht alles \"als Schattenspiel\"
und erkennt die \"Silhouette des Stundengotts\".
(PuA 151).

Benn konnte später auch kaum noch an keinen


\"Kunstbesitz\" oder an ein \"Kunstgedächtnis
dieses Volkes\" glauben. \"Ringelnatz und
Morgenstern und Wilhelm Busch sind wohl die Höhen
seiner metaphysischen Reichweite und die
Leckerbissen seines artistischen Appetits\" (An

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Oelze, 02.05.1946). Wie unrecht tat er mit dieser


spöttischen Bemerkung sowohl den genannten
Dichtern als auch dem deutschen Volk! Der Phänotyp
hält ebensowenig von den
Deutschen und ihren geistigen Ansprüchen: \"Wo
gedacht wird, fühlt sich das Deutschtum bereits
verraten: wo aber vollends Kunst endemisch (örtlich
gebunden) auftritt, schickt es die Apotheker an die
Front.\" (PuA 156). Ist dies eine Anspielung auf
Trakls Schicksal, der
Militärapotheker war und 1914 als
Medikamentenakzessist an die Ostfront geschickt
wurde?
Der Künstler habe eine \"völlig isolierte Art zu
denken\" und verrichte eine \"sich von jeder
Propaganda distanzierende Arbeit, in der Farben,
Linien, Worte, Chöre innerhalb ihrer selbst
agieren\". (SuS 311). Der neue Künstlertyp ist
nach Nietzsche kein \"Verherrlicher der religiösen
und philosophischen Irrtümer der Menschheit\".
(Nietzsche, I 577 Nr. 220) oder bloß der
\"Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder

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Religion\". (Nietzsche, II 843 Nr. 5). Das


Kunstwerk sei demnach der \"artistische Versuch,
sich selbst als Inhalt zu erleben\". Nach
Wellershoff ist die \"Statik des Kunstwerks\" der
\"verklärte Gegensatz des sinnlosen Prozesses
fortwährender Verwandlung, der Leben und Geschichte
heißt\". 12)

Der Phänotyp entspricht dem nach Nietzsches


Definition hohen, kontemplativen Menschen, der sich
vom niederen Menschen dadurch unterscheidet,
dass er \"unsäglich mehr sehen und hören und
denkend sehen und hören\" könne. (Die fröhliche
Wissenschaft, II 176). Er ist der
Denkend-Empfindende, dem die Welt \"immer voller\"
werde, der in die \"Höhe der Menschlichkeit\"
hinaufwächst. Von den Kontemplativen schrieb
Nietzsche im Wir-Ton: \"Wir, die
Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und
immerfort etwas machen, das noch nicht da ist: die
ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben,
Akzenten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen

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und Verneinungen\". (Ebd. II, 177). Das ist Benns


Ausdruckswelt. Im Vorwort zu einem Essayband
\"Ausdruckswelt\" bezeichnet Benn die Ausdruckswelt
als \"Überwinderin des Nationalismus, des
Rassismus,der Geschichte, aber auch der
menschheitlichen und individuellen Trauer, die
unser eingeborenes Erbteil\" sei. Benn weist in
diesem Zusammenhang auf die Objektivierungsgewalt
der Ursprungsrasse\" hin. Die Nachfahren hätten
\"Sprache und Begriffe mutativ ans Licht\"
gebracht. Zugrunde läge das \"anthropologische
Gesetz, das uns bestimmte, eine antinaturalistische
Natur zur Geltung zu bringen, eine Wirklichkeit aus
Hirnrinde zu schaffen, eine provoziertes Leben aus
Traum und Reiz und Stoff in Ansätzen und Vollendung
zu erleben\" (Vorwort zu Ausdruckswelt). In seiner
Autobiographie \"Doppelleben\" erläuterte Benn, wie
seine Ideen hinsichtlich des Zwangs zum Ausdruck,
zur Ausdruckswelt entstanden seien: Der Grund läge
in der \"substantiellen Krise des abendländischen
Seins\". Nach dem Untergang der bürgerlichen, der
kapitalistischen und der

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übrigen Welten (der opportunistischen,


prophylaktischen, antiseptischen) blieb dem
schöpferischen Geist nichts anderes übrig als
\"nackte formale Trächtigkeit\". Abgestorben war
nach Benns Auffassung der Mensch \"als affektives
Wesen, als Religiosität, Humanität, kosmische
Paraphrase\". Die neue Welt stellte sich als
Ausdruckswelt dar: \"Das ist die Welt klar
verzahnter Beziehungen, des Ineinandergreifens von
abgeschliffenen Außenkräften, gestählter und
gestillter Oberflächen: Nichts, aber darüber
Glasur; Hades, aber statt der Fähre Pontons;
Unerinnerlichkeit an das letzte Europäische:
Primitivität.\" Das seien die \"kalten Reserven\".
(PuA 323).

Die Ausdruckswelt, so erklärt Benn in einem


Aphorismus, stehe zwischen der \"geschichtlichen
und der nihilistischen (Welt) als eine gegen beide
geistig erkämpfte menschliche Oberwelt\"; sie sei
\"also eine Art Niemandsland\", \"zurückgelassenes
Handeln und herausgelöstes Gesicht\". In der Kunst

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müsse man \"immer da sein\", sofort, ohne


Einleitung, ohne Erklärung, ohne Vorworte\". (SuS
222). Ausdruck entstehe nicht durch
\"Plenarbeschlüsse\", erläutert Benn im sogenannten
\"Berliner Brief\" von 1948, \"sondern im Gegenteil
durch Sichabsetzen von Abstimmungsergebnissen\"; er
entstehe \"durch Gewaltakt in Isolation\" (PuA
349). Kunst entstehe nach einem sehr allgemeinen
Gesetz, nach dem \"Gesetz eines Aufbaues des Seins
vom Formalen aus\". (\"Natur und Kunst\", SuS 227).
Für das \"Ausdrucks-Wachstum\" gelte das gleiche
Verfahren wie beim körperlichen Wachstum; um einen
Mittelpunkt ordnen sich die einzelnen Teile an. Die
\"Anordnung, die Platzzuweisung zum Mittelpunkt\"
bestimme die endgültige Bedeutung des Teils. Ein
klar erkennbares lokalformales Prinzip setze sich
durch. Adolf Wagner bestätigte in seinem Buch \"Das
Zweckgesetz in der Natur\" (1923), dass das
Grundrätsel des Lebendigen die \"Form der
lebendigen Körper und das Gesetz ihrer Gestaltung\"
(Ebd. 93) sei. \"Das Formproblem erstreckt sich
natürlich nicht bloß auf die äußere Gestalt des

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Organismus, sondern ebenso auch auf den inneren


Bau, die innere Ausgestaltung (Technik) des
Körpers\" (Ebd. 106).

Max Rychner bestätigt in seiner Abhandlung


\"Deutsche Weltliteratur\" (1952) die Bedeutung des
formalen Bewusstseins mit folgenden Worten: \"In
dem Wertesturz unserer Epoche ist das künstlerische
Ethos der Form heil und intakt geblieben. Es hat
die schwersten Belastungen ausgehalten: zum Tod
Verurteilte haben noch Sonette geschrieben, haben
ihr letztes Leben an die Formung dieser zarten
Lebensgefäße aus vierzehn Zeilen und fünf Reimen an
den fünffüßigen Jamben gewandt.\" Ausdrücklich
bezieht er sich auf Benns Ethik der Kunst, die
\"überlegene, unzerstörbare Gegengründung zum
Nihilismus der Welt\" und zitiert aus seinem
Vortrag \"Probleme der Lyrik\" die Sätze: \"Unsere
Ordnung ist der Geist: sein Gesetz heißt Ausdruck,
Prägung, Stil. Alles andere ist Untergang. Ob
abstrakt, ob atonal, ob surrelistisch, realistisch,
es ist das Formgesetz, die Ananke des

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Gebote des inneren Seins Teil I

Ausdrucksschaffens, die über uns liegt.\" 13)

Als physiologische Vorbedingung des Künstlers sah


Nietzsche u.a. den Rausch an; eher komme es nicht
zur Kunst, bis dass der Rausch die
\"Erregbarkeit der ganzen Maschine\" gesteigert
habe. Das \"Wesentliche am Rausch\" sei das
\"Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle\". In dem
autobiographischen Fragment \"Lebensweg eines
Intellektualisten\" führte Benn aus, der \"größte
Teil der Kunst\" des vergangenen Jahrtausends sei
\"Steigerungskunst von Psychopathen,
von Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden,
Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten,
Henkelohren, Hustern\" gewesen. Dass dies so sei
und dass ihre Werke \"makellos, ewig\" wie \"Blüte
und Schimmer der Welt\" aussähen, - das bedeute
keinen \"Freibrief für Schweine und Schnorrer\".
Deutlich setzte sich Benn von den Säufern und
Neurotikern ab, die nur im \"Rausch\" ihrem
Kunsttrieb frönen.
\"Im Sinne Nietzsches steht daneben apollinisch die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Form als Ergebnis, das sprachliche Proto-koll, das


in Rhythmus und Spannung den Erlebnisvorgagang
des Geistes festhält.\"
Als Nietzsche-Anhänger ist Benn jedoch davon
überzeugt, dass, wie Nietzsche betont,
\"Ausnahme-Zustände\" den Künstler bedingen;
Künstler seien alle mit \"krankhaften Erscheinungen
tief verwandt und verwachsen: so dass es nicht
möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank
zu sein\" (Nietzsche, Werke III 715). Nietzsche
zählte die physiologischen Zustände auf, \"welche
im Künstler gleichsam zur Person gezüchtet sind und
die an sich in irgendwelchem Grade dem Menschen
überhaupt anhaften: 1. der Rausch, 2. die extreme
Schärfe gewisser Sinne, die extreme Beweglichkeit,
aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird und 3. das
Nachmachen-müssen, eine extreme Irritabilität
(Reizbarkeit), bei der sich ein gegebenes Vorbild
kontagiös (durch Ansteckung) mitteilt\" (Ebd. III
716).

1.1.4 Ein ästhetischer Typus als Titelfigur

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Gebote des inneren Seins Teil I

Eines der \"augenfälligsten Merkmale\" in der


Geschichte unserer eigenen Zivilisation ist, wie es
Gerhard Szczesny in seinem Buch \"Das sogenannte
Gute\" 15) dargestellt hat, das \"Missverhältnis
zwischen den von Religionsstiftern,
Philosophen und Staatsmännern postulierten Idealen
und der von solchen Idealen nur wenig geprägten
Realität\". Wie Szczesny im Kapitel \"Die bösen
Folgen des Willens zum Guten\" seines obengenannten
Buches
feststellt, haben weder die \"christlichen noch
später die aufgeklärten und demokratischen Ideale\"
eine \"durchgreifende Moralisierung\" bewirkt;
\"sie reichten nicht einmal aus, in Europa selbst
Kriege und brutale Verbrechen zu verhindern.\"
\"Die kolonialistische Ausbeutung der Welt, diese
wahrhaft schreckliche Geschichte der
Unterdrückung, Verschleppung, Ausrottung ganzer
Rassen und Völker durch die
Konquistadoren eines Kontinents, der zugleich die
erhabensten sittlichen Ideen verkündete, ist die
Bankrotterklärung abendländischer

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Gebote des inneren Seins Teil I

Geistgläubigkeit.\" (Ebd. S. 43). Benn beschreibt


gleich zu Beginn des ersten Kapitels \"Der
Stundengott\", dass das Moralische vom Phänotyp
abgeglitten und durch Legislative und Hygiene
ersetzt sei; Moral als echtes Gefühl, wie es zu
Kants Zeiten wohl noch vorhanden war, sei
heutzutage nicht mehr zu finden. Nicht erst seit
Nietzsche ist die Moral ebenso vernichtet wie die
Religion. Die Moral wurde, wie es Robert Musil
formulierte, nicht unterminiert, sondern hat sich
als hohl erwiesen.
Angesichts der \"ungeheuren Entartungen, welche der
Krieg hat emporschießen lassen\" rücksichtslose
Ichsucht der Schieber und Bauern, des Handels und
Gewerbes, die Anmaßung der generalstäbelnden
Herrenklasse, die Brutalität, mit der Nazis gegen
Gegner vorgegangen sind) kommt Musil zu dem
Schluss, \"dass der Mensch mora-lisch eine
Ungestalt ist, eine kolloidale Substanz, die sich
Formen anschmiegt, nicht sie bildet\". Unnötig zu
sagen, dass Benns Ansichten über die Moral von
Nietzsche herrühren. \"Das Moralische und Religiöse

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Gebote des inneren Seins Teil I

habe ich keine Organe zu erleben\", schrieb Benn am


27.03.1951.16) Schon Nietzsche stellte die Frage:
\"Wozu überhaupt Moral, wenn Leben, Natur,
Geschichte, unmoralisch sind?\" (Werke, II 208,
344). Wie er war Benn von der \"Fälschung alles
Tatsächlichen durch die Moral\" (Werke, III 1248)
überzeugt. Nach Nietzsches Worten ist Moral die
verhäng-nisvollste Art von Unwissenheit. In der
Gene-ration Nietzsches, wenn nicht schon in
früherer Zeit, vollzog sich die \"Selbstaufhebung
der Moral\" ( Werke I 1015). \"Wer allgemein fühlt,
kann sich überall vermischen, wer individuell ist,
dem wird Sodomiterei nichts tun; wenn es einen
großen Zynismus gibt, so ist er Gottes\". (PuA
172).

Aus den Geschichtsbüchern ist bekannt, dass sich


die sogenannten \"höheren Wesen\" einander \"wegen
eines Sacks Pfeffer\" die Gurgeln abschneiden,
andere wegen einiger Purpurschnecken überfallen.
\"Für einen Liter Gummisaft starben Tausende.\"
(PuA 172). Tausende seien auf allen Meeren

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ertrunken und ihre Gebeine bleichen an fremden


Stränden. Gemeint ist wahrscheinlich ein durch
andere verschuldeter Tod. In dem Kapitel \"Halt!\"
(SuS 253), das in die Endfassung des Kurzromans
nicht aufgenommen wurde, steht die rhetorischen
Frage \"Sind Sie für moralische Stabilität,
Innehaltung von Ver-rägen?\" Der Phänotyp
antwortet darauf: \"Wenn ja, dann sind Sie nicht
dynamisch.\" Das negati-e Prädikat bedeutete in den
beruflichen Beurteilungen soviel wie unbrauchbar.

Was die Geschlechtsmoral anbelangt, so konnte Benn


nach dem Zweiten Weltkrieg feststellen, dass die
Geschlechtskrankheiten - ebenso wie nach dem Ende
des Ersten Weltkriegs zunehmen.
Die Moral sei nach 1918 weit libertiner
gewesen. \"Heute ist alles muckerisch und selbst
die Coitus der Jugend stumpfsinniger und
phantasieärmer als in jenen Jahren; die
Mechanisierung des Sozialdaseins hat auch diese
Sphäre völlig maschinell gemacht.\" (An Oelze,
12.10.1947).

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Gebote des inneren Seins Teil I

Der Phänotyp entdeckt in der Liebe wenig


Intimes. Nur diejenigen Zeitgenossen, die sich
nicht in dem Umkreis des Phänotyps befinden,
finden ihr Genügen an der Liebe, so als ob sie ein
Ersatz für künstlerische Produktivität wäre.
(PuA150).

Über Nietzsche sagte Benn in dem Rundfunkdialog


\"Können Dichter die Welt ändern?\": \"Es gab für
ihn keine andere Moral als die Wahrheit seines
Stils und seiner Erkenntnis, denn alle
ethischen Kategorien münden für den Dichter in die
Kategorie der individuellen Vollendung.\" (EuR
101). Dies gilt ebenso für den Phänotyp.

Gelegentlich fühlt der Phänotyp noch, dass er von


ferne waltenden Mächten bedingt sei, die seine
Schicksalsfäden nach dem ihm zugemessenen Teil
spinnen, aber dringend müsse er von sich fordern,
dies zu leugnen. Zuweilen komme es ihm vor, dass er
selbst sein Dasein bestimmte, so als ob er selbst
die Spindel des Lebens - vor Langeweile gähnend -

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Gebote des inneren Seins Teil I

träte. (PuA 153). Das sind deutliche Zeichen dafür,


dass das Verhältnis des Phänotyps zu Gott total
gestört ist. Sein neuer Gott ist die Kunst.

Den Stimmungen eines gewöhnlichen Menschen kann


sich der Phänotyp nicht hingeben. \"Alles das, was
nach Stimmung aussieht\", sei ganz zu Ende. Wie
Rauchsäulen verlieren sie sich in einer Bläue hoch
oben, wie Tauben fliegen sie fort. (PuA 149). Nach
dieser eindeutigen Charakteri-sierung der
Titelfigur im ersten Kapitel des Romans ist der
Phänotyp der ästhetische Mensch schlechthin. Die
Art seines Erlebens ist weder
theoretisch,ökonomisch noch religiös, sondern
ausschließlich ästhetisch. Menschen, die sich
selbst mit einem Schleier der Phantasie
umgeben, \"durch den sie sich und die Erlebnisse
des Tages betrachten\", (E. Spranger) 17) heißen
ästhetisch. \"Das Schicksal und die Umwelt liefern
Eindrücke, das eigene Ich liefert ein eigentümlich
aneignendes Gefühlskolorit. Indem dieses die
Eindrücke umschlingt, werden sie zugleich zu einem

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Gebote des inneren Seins Teil I

Ausdruck seelischer Bewegtheit umgeformt und zu


einem persönlichen Besitz assimiliert.\" (Ebd.
142). Will man den ästhetischen Typus des
Phänotyps von den anderen Typen unterscheiden, so
muss man ihn zu den \"ausgesprochen subjektiven
Naturen\" zählen, zu den Expressionisten. Diese
leben so stark in ihrer \"Innerlichkeit und ihrer
Gefühlswelt, dass sie damit jedem Ein-druck
zuvorkommen und ihm aus ihrem eigenen Besitz eine
subjektive Färbung geben\". (Ebd. 143). Der
\"innerlich ästhetisch organisierte Mensch\" sieht
\"überall das, was seinen inneren Formwillen
bereichert\". (Ebd. 145)

1.1.5 Natur als Kulisse und Schulbeispiel des


Unnatürlichen

Auch die Haltung des modernen Menschen zu der ihn


umgebenden Natur habe sich wesentlich geändert;
sie habe für ihn nicht mehr die Lyrik und Spannung,
wie es nach Aussagen der Persönlichkeiten des 18.
und 19. Jahrhunderts früher der Fall war. Die

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Gebote des inneren Seins Teil I

Menschen, so Nietzsche, gehen in die große Natur,


um sich in ihr zu verlieren. Natur ist dem Phänotyp
nur Kulisse, \"Skigelände\", wo man sich
\"sportlich-therapeutisch\" abhärtet und in
\"Hochgebirgsstrahlung\" bräunen lässt. In
lyrischen Wortprägungen werden einige
Naturerscheinungen mit Stimmungseffekten
angedeutet, wenn \"auf den sonnenbeschienenen
Zweigen\" \"Millionen von hellen Tropfen\" blitzen,
Rauchsäulen aufsteigen und sich \"in grundloser
Bläue\" verlieren oder
\"letzte Sonnenstrahlen\" (PuA 149) alles
verklären. Das Verhältnis des Phänotyps zur Natur
ist also deutlich gestört. Wo Naturgefühl
\"gelegentlich schauerartig in das wehrlose Ich\"
(PuA 149) eindringe, wirke die Natur
\"ausgesprochen kurzfristig, erscheinungslos und
tragisch\". Noch vor 200 Jahren dichtete man aus
echtem Naturgefühl Strophen an den Mond; heutzutage
habe die Natur etwas Unnatürliches an sich; Wind
und Wetter wirken übertrieben. Nur wenn man etwas
müde ist, \"gibt sie einem mancherlei. Ferner habe

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Gebote des inneren Seins Teil I

ich manchmal die Empfindung gehabt, als ob man auf


die Natur nicht direkt zufahren soll, im Vorbeigehn
sieht man an ihr das Beste.\" (An Gertrud
Hindemith, 22.05.1930). In Wahrheit ist sie \"ein
Reich der Gefräßigkeit, des tollsten Übermuts, eine
unglückschwangere Unermeßlichkeit\" (Novalis). 1935
schreibt Benn über die Natur: \"Wieder ging mir der
große Humbug der Natur auf. Schnee, auch wenn er
nicht taut, gibt kaum sprachliche und emotionelle
Motive, seine zweifellose Monotonie kann man
gedanklich vollkommen von der Wohnung aus
erledigen. Die Natur ist leer, öde; nur Spießer
sehn was in sie hinein, arme Schlucker, die sich
dauernd ergehn müssen. Zum Beispiel Wälder sind
vollkommen motivlos... Fliehn Sie vor der Natur,
sie vermasselt die Gedanken und verdirbt notorisch
den Stil! Natura - ein femininum, natürlich! Immer
auf Abzapfung von Samen bedacht, auf
Bebeischlä-ferung und Ermüdung des Mannes. Die
Natur - ist sie überhaupt natürlich? Beginnt und
lässt liegen, Ansätze und ebensoviel
Unterbrechungen, Wendungen, Misslingen,

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Gebote des inneren Seins Teil I

Im-Stich-lassen, Widersprüche, Aufblitzen,


sinnloses Sterben, Versuche, Spiele,
Scheinbarkeiten - : Das Schulbeispiel des
Widernatürlichen!\" (An Oelze, 26.12.1935).
Karl Vossler fasste die landläufig gewordenen
Ansichten, die letztlich auf Nietzsches Ideen
beruhen, in einer Tagebuchnotiz zusammen: Natur
bedeute nichts mehr; sie habe zwar \"Richtungen und
Ziele\", aber keine Bedeutung. \"Sie ist das
Nachzittern und die Lebensspur der durch sie
hindurchgegangenen Gottheit, hat darum nur
Vergangenheit, vielleicht auch Zukunft, aber keine
Gegenwart.\" Sie sei nicht lebendig, sondern
belebt, nicht tätig, sondern bewegt. In ihr seidie
Ordnung, aber nicht mehr die \"Herrschaft des
Göttlichen\" gegenwärtig, \"die Verwaltung, aber
nicht mehr das Walten\". 18)
Natur wird begriffen als Gegenmacht, als feindliche
Macht mit Waffen, als \"Übermacht, an der alles
zerschellt\". Bei einem Spaziergang im März durch
den Stadtpark sieht der Phänotyp Liaceen, wie sie
sich in einer \"jähen Entsprossung\" öffnen; sie

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Gebote des inneren Seins Teil I

\"bersten\" in einer \"Art Selbstdeflorierung\" und


erscheinen dabei \"jung und hart wie Waffen\".
Daneben seien andere Waffen zu sehen wie \"Glocken,
Kätzchen, \"ausgefüllt bis ins äußerste,
formensicher bis in den violetten, in den
bienenbraunen Saum\". Demgegenüber müsse man alle
Kräfte sammeln. (PuA 168). Das Tao des chinesischen
Philosophen Laotse aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.
beschreibt die Natur dagegen als schöpferisches
Prinzip. Natur ist aus der Sicht des Phänotyps die
\"ewige Wiederholung der Instinkte auf Kosten des
Ausdrucks und der Begriffe\" (EuA 327). Nirgendwo
sei die Trauer anzutreffen, \"die dem menschlichen
Gedanken seine lange Bestimmung und seine weiten
Räume gibt\" und nirgendwo empfände man das
\"Gefühl der fremden Herkunft, das unser
eigentliches Wesen\" (PuA 173) sei. Der Phänotyp
fühlt sich nicht mehr als \"Herr und Mitte der
Natur\" oder gar als \"Krone der Schöpfung\" (Hans
Sedlmayr)

Die Natur sei \"egozentrisch, regional gebunden\";

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Gebote des inneren Seins Teil I

sie überspanne immer wieder ihr \"panisches


Prinzip\"; der schöpferische Geist dagegen sei
umfassender, könne variiert werden, entwickle
\"mehr Substanz\" als Landschaft; er überdauert
\"ihre Nebensächlichkeiten, ihren unklaren
Saisoncharakter\". (PuA 173). Der Phänotyp stellt
fest: \"Die eigenste Ebene des eigentlichen
Menschenlebens ist überhaupt nicht die Natur,
sondern die Kunst\" (Keyserling, Das Buch vom
persönlichen Leben, S. 562). Das erste Wort schaffe
die Situation; \"substantivistische Verbindungen\"
brächten die Stimmungen hervor. Aus den Satzenden
folge die Fortsetzung; der Inhalt bestehe aus
\"gedanklichen Antithesen\" (PuA 173).

In seinem Brief an F. W. Oelze vom Pfingsten 1946


formuliert Benn seine Aversionen gegenüber den
Naturwissenschaften wie folgt: \"Mir scheint die
ganze naturwissenschaftliche Empirie, Induktion,
Materialansammlung nichts wie leeres
Gedankenfüllsel, faulste Deskription,
Zeittotschlagen an irgendeinem Lehrstuhl oder

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Studierzimmer ohne Entscheidung geistiger Art,


Schlussfolgerung, Abschluss ohne Erkenntnis.\"
Gegen die \"Darwinschen Sachen\" wendet er ein:
\"Was nützt das uns, ob sich etwas aus dieser
ekelhaften Naturmasse mit Pollen,
Insektenkolben, klebrigen Rundungen befruchtet,
befliegt, bestreicht oder sonstwie zum Platzen
bringt, das ist schließlich ihre Sache: wir kommen
damit nicht weiter, - weiter, d. h. zu uns selbst,
zu unserer Stillung, zu unserer Ver-
zweiflungsaufhebung, zu unseren Bildern, zu unserem
Schweigen. Ich finde übrigens bei der Masse von
Variationsmöglichkeiten, über die diese ekelhafte
Natur verfügt, dies alles nur
kümmerlich und primitiv, fast albern wie ein Trick
- warum dies ganze Theater und wozu eigentlich?\"
Die völlige Ablehnung der Theorie Darwins
formuliert Benn in seinem Essays \"Der Aufbau der
Persönlichkeit\" (1930): \"Die Darwin´sche Theorie
vom Kampf ums Dasein und vom Überleben des
Stärksten und biologisch Tüchtigsten war ein
Anthropomorphismus und genügt methodisch in gar

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keiner Weise zur Erklärung des psychologischen,


paläontologischen und fossilen Materials\" (EuR
121. Vielleicht hat endlich unsere Zeit eine
Erklärung für die Entstehung unserer Vorfahren und
des Menschen gefunden? In einer eindrucksvollen
Passage seines Buches \"Adam kam aus Afrika\"
schrieb der Verfasser Robert Ardrey: \"Die Zeit,
der Tod und der Kosmos sind die Träger der
Evolution und alles dessen, was wir sind.
Unsichtbar schlummern sie in jeder Geste, in jedem
Kuss, in dem Lachen eines
Kindes. Wir lesen ein Buch, wir denken an Freunde,
wir erinnern uns an Großmutters Haus mit dem alten
Kachelofen. Wir gehen zu Bett, wir bauen Pyramiden,
wir bezwingen die Berge und stehen gebannt vor der
Gewalt der Elemente. Wir empfinden Angst, wir
trauen, wir lernen zu lieben. Alles gehört
zusammen, und der Augenblick unseres Bewusstseins
ist der
Augenblick aller Dinge.\" 19)

Im Abschnitt \"Statische Metaphysik\" wird die

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Natur des Phänotyps mit folgenden Worten


beschrieben: \"Diese Natur ist ausgesprochen
zyklisch, lässt alles offen, alles
Hervorgebrachte wird wieder zurückgenommen. Alles
kommt immer wieder, sie beginnt an keiner Stelle
und endet an keinem Punkt\" (PuA 154). Die Stelle
ist bewusst zweideutig, denn
gemeint ist auch die erzeugende Natur, die Natura
naturans. Benns Abhängigkeit von Nietzsches
Gedankengängen wird in dieser Naturanschauung
deutlich; in \"Jenseits von Gut und Böse\"
beschrieb Nietzsche das Wesen der Natur wie folgt:
sie sei \"verschwenderisch ohne Maß, gleichgültig
ohne Maß, ohne Absichten und Rücksichten, ohne
Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und
ungewiss zugleich\" (Werke, II 572/573). Ähnliches
stellt Goethe anlässlich der Rezension von J. G.
Sulzers Ästhetik fest: \"Was wir von Natur sehen,
ist Kraft: die Kraft, die verschlingt; nichts
gegenwärtig, alles vorübergehend; tausend Keime
zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß
und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche, schön

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und hässlich, gut und bös, alles mit gleichem


Rechte nebeneinander existierend\". 20)
Was die verschwenderische Fülle, die
Produktionskraft und Formenvielfalt der Natur
anbelangt, gibt der Phänotyp mit Erstaunen zu, dass
dies Ganze \"wahrlich der Wunder voll\" sei:
Bestimmte Fliegen nisten im \"Maul des Nilpferds\",
Lurche können sich tagelang begatten, unzählige
Falter erheben sich in die Lüfte, bilden eine
\"azurblaue Wolke\" und stürzen sich ins Meer. (PuA
172). Der Phänotyp hätte weit wunderbarere
Beispiele aufzählen können: \"Nachtpfauenmännchen
wittern bis zu 9 Kilometern die von Weibchen
abgesonderten Duftstoffe und finden so den Weg zur
Braut.\" 21) Oder: \"Die Larve des Hirschkäfers
richtet sich einen Klumpen harten Lehms mit einer
glatten Höhle darin als Ort der weiteren
Metamorphosen her. Die männliche Larve macht ihre
Höhle viel größer. Woher weiß sie, dass wegen der
mächtigeren Kiefer des künftigen endgültigen
Insekts eine größere Höhle nötig sein wird? Man
denke nicht, dass in der Puppe etwa das kommende

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Insekt vorgebildet liegt. Es ist das innere


Prinzip, das, wie man anfängt zu bemerken, auch das
sogenannten Unbelebte bewegt.\" (EuR 169).

1.1.6 Das trauervolle Leben des Phänotyps

Den Phänotyp prägt die Anschauung von der


Ungeborgenheit des Menschen, seinem
Ausgesetztsein in absoluter Freiheit bei ständigem
Entscheidungszwang und absoluter
Selbstverantwortung; dies ist die letztmögliche
Steigerung des Individualismus ins Transzendente.
Welt, Glauben und Metaphysik haben für den Phänotyp
ihre Selbstverständlichkeit verloren. Die Welt
steht rätselhaft und fragwürdig vor ihm. Ein Roman
im traditionellen Sinne wäre angesichts des
Weltzerfalls, der Wirklichkeitsauflösung, der
geschichtlichen Sinnlosigkeit ein Unding. Die
Spiegelung von Lebensrealität, die Darstellung von
Handlungen und Entwicklungen hätten nur dann einen
Sinn, wenn es ein natürliches Verhältnis zwischen
Subjekt und Objekt gäbe. Benn war lange vor der

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Entstehung des Experimentalromans klar, dass das


Objektive sich nicht durchsetze und für die
Mehrzahl gänzlich unverbindlich sei. \"Ist es nicht
auch nur ein Traum, einer der Träume in unserer
grenzenlosen Verlassenheit?\" Unter dieser
Voraussetzung wäre es dann unser Schicksal und
unsere Aufgabe, \"das zu ertragen, nur für uns
selbst moralisch und wahr zu sein, ohne dass uns
ein Axiom unterstützte und hülfe?\" Die Gedanken
überkamen ihn, wie er schrieb, an einem kalten,
dunklen Tag. \"Alle, diese Götter, denen wir zu
wenig sind, um auch nur auf uns zu spucken, die uns
Schakalen überlassen, sollten sie sich nicht
endlich einmal sichtbar machen, darunter z. B. auch
das Objektive?\" (An Oelze, 06.05. 1940). Unmöglich
erscheint es ihm in dieser Lage, eine klare
Stellung zu den verschiedenen Fragen des Lebens
und der Welt zu beziehen. Wissen und Glauben
befriedigen nicht mehr das existentielle Bedürfnis
und entsprechen nicht mehr den
Lebensnotwendigkeiten. \"Wir alle leben etwas
anderes, als wir sind... man kann nur noch

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schreiben, dass sichtbar wird, dass es weder Frage


noch Antwort gibt; das alles war einmal, heute gibt
es nur eine Darstellung, die die Fragestellungen
alle auslaufen lässt, vielleicht noch einmal
verficht, beleuchtet, aber sie inhaltlich nicht
mehr ernstnimmt\" (An Oelze, 12.04.1947). Die
Bindungslosigkeit, die Brüchigkeit der tragenden
Ideen, der Wert- und Transzendenzverlust - das ist
eine allgemeine Erscheinung, ein allgemeines
Empfinden. \"Der Gegensatz zwischen metaphysischem
Bedürfnis und skeptischer Grundeinstellung ist der
eine große Riss im geistigen Leben des heutigen
Menschen, der Widerspruch zwischen
Lebensssicherheit und Unkenntnis des letzen
Lebenssinnes einerseits und der Notwendigkeit
klarer praktischer Entscheidungen andererseits
der zweite.\" 22)

Nach Wolfgang Stegmüller kann der moderne


Irrationalismus, der unter dem Namen
Existentialismus bekannt wurde, diesen Riss nicht
beheben und will es auch nicht. \"Die ganze

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Philosophie hat einen viel zu


pessimistisch-tragischen Anstrich, da sie die
Daseinsproblematik in drastischer Weise schildert.
Aber die Existenzphilosophie will dem Menschen
zeigen, wie er zu einem Absoluten gelangen, einen
letzten Daseinssinn erfassen kann, ohne sich in ein
religiöses Dogma zu flüchten oder auf ein
metaphysisches System stützen zu müssen\".

Am quälendsten sei das Bewusstsein, dass das Leben


seinen Halt, seinen Sinn verloren habe. \"Manchmal,
wenn man den Mut aufbringt, plötzlich genauer
hinzusehn, und unter die aller-oberflächlichste
Lebenskruste hinabzublicken, tritt einem eine
Trauer des Daseins entgegen, die unüberwindlich
ist, garnicht mehr in Worten zu fassen und
unstillbar.\" (An Oelze, 13.08. 1940). Es gebe
keine andere Lösung als die \"Gestaltung des Lebens
im eigenen seelischen Ich\", seine Aufnahme \"in
den Geist\" (1932). Auswege aus der persönlichen
Not, aus Lebenszweifel und Trauer bietet jedoch die
Kunst, wie sie Benn auslegt. Nietzsche, der Mentor

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in Kunst-Dingen, nannte als \"höchste und


wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst\":
\"das Auge vom Blick ins Grauen der Nacht zu
erlösen und das Subjekt durch den heilenden Balsam
des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu
retten (Werke, I 108 Nr. 19).

Während seiner Militärdienstzeit in Hannover


entwickelt Benn die sogenannte Strategie des
Doppellebens; es komme ihm nur darauf an, durch
\"gute Tarnung\" \"Handlungsfreiheit nach innen\"
zu bewahren. \"Vollendete Höflichkeit - das hält
doch alle ab, zu nah zu kommen, nur daran liegt
mir. Es ist doch ein ewiger Kampf, die Leute nicht
mein Gesicht sehn zu lassen, bei jeder Unterhaltung
auf Treppen, Straße und Büros.\" (An Oelze,
21.10.1935). Dieser Zwiespalt bildet sich auch
in der Konzeption der Daseinsrealität des
Phänotyps ab: im Rahmen seiner existentiellen Lage
habe er sich zu behaupten und fühle sich doch der
Realität enthoben. Er trachtet danach, das
\"Nebeneinander der Dinge zu ertragen und es zum

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Ausdruck zu bringen\" (PuA 156), den \"primär


gebauten Satz\" (PuA 157) zu finden. Tapfer
versucht er, allen Schwierigkeiten zum Trotz,
standzuhalten und sich in Geduld zu üben. Er
schickt sich zwar in den Weltenlauf, aber gewinnt
daraus die Kraft des Vertrauens, die man als Christ
Glauben nennt. Die Trostlosigkeit seines Lebens
öffnet ihm die Pforten zu höheren Einsichten, weil
er in Geduld standhält, denn Trübsal bringt
Geduld,
wie Paulus schreibt (Römer 5, 3 - 5): \"Geduld aber
bringt Erfahrung, Erfahrung bringt Hoffnung,
Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.\"
Beharrliche Geduld führt ihn also zur Einsicht in
die wahrhaft tragenden Geistesgründe der
Welt.

Als Benn im Sommer 1943 beschloss, den Urlaub


daheim in Berlin zu verbringen, anstatt in einen
sogenannten Kur- und Badeort zu reisen, tröstete er
sich mit der Vorstellung, dass er auf diese Weise
auch hierbei ein geheimes China her vorzaubern und

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in Gedanken die \"roten Seidenreiher von den Inseln


am Delta des Amazonas\" sehen könnte. Der
innere Mensch bestimme selbst die \"Eindrücke, die
er wünscht\". Dieser Grundeinstellung verdankt der
Kurzroman des Phänotyps seine Entstehung. \"Ein
Schatten der über mein Schreibblatt fällt, vermag
mehr anzurichten, als die ganze Natur und ihre
realen Landschaften\". Im Kapitel \"Libellen\"
heißt es ähnlich und doch sibyllinisch: \"Ein
Schatten, der über das Manuskript fällt, kann
schwerwiegender sein als das Ur\" (PuA 171).

Das weitere Leben des Autors nach 1944 zeigte, dass


er konsequent an seiner stoischen
Lebensauffassung und seiner Art der
Lebensbewältigung festhielt. Er führte weiterhinein
\"trauervolles Leben\". Die äußeren Bedingungen
seiner Existenz hatten sich bis 1946 nicht
wesentlich geändert. In seinem Brief vom 13.
12.1946 teilte er seinem Freund Oelze über-
raschend mit, dass er sich wiederverheiraten werde
und erläuterte seinen Entschluss wie folgt: \"Ich

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hätte es hingenommen, weiter in einer verfallenden


Wohnung zu hausen und von der Angestellten betrogen
zu werden bei einer großen Praxis, die ihr eigenen
Schwierigkeiten täglich mit sich bringt. Ich hätte
auch die Einsamkeit ertragen und das Schweigen und
die innere und äußere Isoliertheit, alles das bin
ich ja gewohnt und es gehört zu meiner Natur.\" Es
gäbe nichts mehr, was ihn aus seiner
\"Reserviertheit\" und aus seinem \"Schweigen\"
locken könnte. Die innere und äußere Isoliertheit,
die Reserviertheit und das Schweigen gehören auch
zur Natur des Phänotyps. Das Leben des Menschen ist
für ihn wesentlich tragisch. Aus dem tragischen
Schicksal gibt es keinen anderen Aus-weg, als \"die
Tragödie bewusst auf sich zu nehmen und von der
akzeptierten Tragik des Lebens her alle Probleme
neu zu stellen\". 23)

Der Phänotyp zählt zu den Tatsachen, die unser


Leben und unsere Auffassung vom Sinn des Lebens
verändert haben: die moderne Technik
(Flugapparate, Radiowellen) und die Wissenschaft.

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Heutzutage ist es möglich geworden, \"Afrika,


Europa, Asien an einem Vormittag mit Auge und
Fußsohle zu berühren\". Die großen Veränderungen
haben \"Begriffe wie Nation, Volksgemeinschaft,
Landesgrenzen ins Bizarre verzogen\". (PuA 149).
Das Ziel des Phänotyps sei aber, das Ich \"zu einer
durchlebten, geistig überprüften Form\"
umzugestalten, zu einer Haltung zu kommen, \"aus
der interessiertes Aufgeschlossensein\"
gegenüber fremden Wesen und \"keine Furcht vor dem
Ende\" spreche. (PuA 150).

In seiner 1949 erschienenen Autobiographie


\"Doppelleben\" schildert Benn eingehend die
\"existentielle Leere des heutigen deutschen
Mannes\". Ihm sei nichts \"gelassen worden,
was den inneren Raum bei anderen Völkern\" fülle,
wie \"anständige nationale Inhalte, öffentliches
Interesse, Kritik, gesellschaftliche Leben,
koloniale Eindrücke, echte traditionelle
Tatsachen\". Hier sei nur ein \"Vakuum mit
geschichtlichem Geschwätz, nieder-gehaltene

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Bildung, dummdreist politische


Re-gierungsfälschungen und billiger Sport\". Die
\"innere schöpferische Substanz\" des Menschen sei
das Abgründige, die \"Leere, das Resultatlose,
das Kalte, das Unmenschliche\", wie es in der
Erzählung \"Weinhaus Wolf\" heißt. (PuA145).

Innerhalb des europäischen Nihilismus sieht Benn


keine andere Transzendenz als die Transzendenz
der schöpferischen Lust; er weiß, dass der
schöpferische Mensch, \"selbst wenn er persönlich
und privat von einem geradezu lethargischen
Pessimismus befallen sein sollte, durch die
Tatsache, dass er arbeitet, aus dem Abgrund
steigt.\" Das angefertigte Werk seit eine \"Absage
gegen Zerfall und Untergang\".

Die Geschichte des Menschen erscheint dem Phänotyp


als Beweis für die Sinnlosigkeit der Existenz.
Selbst die fürchterlichsten Umstürze innerhalb
einer Generation werden in den
Geschichtsbüchern der Zukunft eine halbe Seite

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Gebote des inneren Seins Teil I

ergeben oder auch nur eine Fußnote zum Text. Die


Lebensgewohnheiten der Schwalben, ihre Flüge, oder
die Züge der Robben scheinen genauso
geschichtsträchtig zu sein. (PuA 150). Die
Sinnlosigkeit allen Geschehens, so warnte
Nietzsche, sei die große Gefahr. Er sah die Aufgabe
der Geschichte in der modernen Zeit darin, den
Menschen zur Ruhe in sich kommen zu lassen. Wie
gelangt der Phänotyp \"zu einer durchlebten,
geistig überprüften Form\"? Indem er den
Forderungen der Existenz nachkommt; indem er in
seinem persönlichen Leben auf existentielle
Entscheidungen besteht, denn ihm seien auferlegt
die Existenz und ihre Abstraktion. Dem
Künstler unserer Zeit sei eine eigene Lebensform
zugedacht. Die bürgerlichen Inhalte seien keine
Mittel, die Krisen und Erschütte-rungen zu
bewältigen. Der Künstler muss in sich zur Ruhe
kommen, von den ihn bedrängenden Dingen Abstand
gewinnen, die stoische Gelas-senheit erlernen, die
erhabene Methode der chinesischen Maler anwenden,
die, um in störungsfreier Umgebung zeichnen zu

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Gebote des inneren Seins Teil I

können, aufs Meer hinausfahren (PuA 158). In diesen


Augenblicken der inneren Selbstschau, in denen das
\"unmittelbare Erleben\" (PuA 165) zurück tritt,
kann der Künstler das Wesentliche vom
Unwesentlichen unterscheiden und die Kraft finden,
die eine solche innere Ruhe entfaltet. Zu seinen
inneren Beständen zählen u. a. der Geist und seine
Maßstäbe (PuA 152), die \"Erinnerungen an
Bilder, Erlebnisse mit Büchern, Eindrücke aus
Kreisen\" (PuA 158), die er ana-lytisch
durchschritten, die Bilder und Traum-visionen der
Seele, das \"Arthafte, Dunkle, Geschlossene\" (PuA
150), d. h. der Glaube an die \"Macht und
Fruchtbarkeit der Psyche\" (PuA 153). Es gehören
auch archaische Gehalte dazu, Bildungsgüter aus der
Antike, aus Palästina und Hochasien (PuA 153). In
der Gedenkrede auf Stefan Georges hatte Benn
ausgeführt: \"Der abendländische Mensch unseres
Zeitalters be-siegt das Dämonische durch die Form,
seine Dämonie ist die Form, seine Magie ist das
Technisch-Konstruktive, seine Welteislehre lautet:
die Schöpfung ist das Verlangen nach Form, der

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Gebote des inneren Seins Teil I

Mensch ist der Schrei nach Ausdruck, der Staat ist


der erste Schritt dahin, die Kunst der zweite,
weitere Schritte kennen wir nicht.\" (EuR 479).

Nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt er an Oelze:


\"Wir müssen mit diesem Leben fertig werden und da
helfen uns die andern nicht.\" (An Oelze,
25.11.1947). Man müsse \"unbeirrbar, fanatisch,
aber auch gleichmütig\" die Erkenntnis
vertreten, dass es nur den \"betrachtenden und
leidenden Geist\" gibt, und zu allen \"irdischen
Konsequenzen\", die daraus zu ziehen sind, bereit
sein. (An Oelze, 24.11.1934). Hierher gehören Benns
Aussprüche: \"Nur wer in jeder Stunde die Klauen,
die rostigen Nägel sieht, mit denen es unser Herz
in Stücke reißt - der hat das Leben in sich
aufgenommen und steht ihm nahe und darf leben.\"
24) Und: \"Heute sprechen wirklich nur die
Verstümmelten, die ihre Wunde offen lassen, die
Stunde der Ver-narbung ist noch weit.\" (SuS 200).
Das Leiden und das Ertragen großer Schmerzen
ergreift den ganzen Menschen, denn nur, \"was weh,

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Gebote des inneren Seins Teil I

sehr weh tut\" (Keyserling), führt am schnellsten


zum Ziel.

1.1.8 Fragwürdigkeiten im Lebens des Phänotyps

Der Phänotyp sinniert, unsere Lage sei nicht


günstig. Der Pfad sei schmal. Kaum ein paar
Schritte fester Boden liege vor unseren Füßen,
wenig Irdisches überhaupt. Alles müsse sehr
vorsichtig erwogen werden. \"Alles, was man
über das Leben hört, über den Geist, über die Kunst
von Plato zu Lionardo bis Nietzsche ist nicht
kristallklar, enthält viele Winkelzüge - wird doch
schon ganz öffentlich von einem Verlust des
Gegenstandes gesprochen! Ja, in der Tat, wir
bezweifeln die Substanz, aus der die
Worte kamen, wir bezweifeln ihre Erfahrungen und
ihre Glücke, wir bezweifeln ihre Methode sich
darzustellen, wir bezweifeln ihre Bilder\" (PuA
167). Im Jahr 1942 konnte sich der Phänotyp noch
von dem Satz aus einem Roman von Thornton Wilder
begeistern lassen, der folgen-dermaßen lautet und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

in seinem Essays \"Provoziertes Leben\" (1942)


zitiert wurde: \"Wir
kommen aus einer Welt, in der wir unglaubliche
Maßstäbe der Vollkommenheit gekannt haben, und
erinnern uns undeutlich der Schönheiten, die wir
nie festzuhalten vermochten, und kehren wieder in
jene Welt zurück.\" Benn folgert daraus: \"Endogene
Bilder sind die letzte uns verbliebene
Erfahrbarkeit des Glücks.\" Schon 1935 war Benn
davon überzeugt, dass nur die \"Schatten der
Dinge\" real seien, \"die Schatten, die sie im
schöpferischen Geiste werfen.\" (An Oelze,
09.03.1935). Gegen den Zerfall der Realität, den
man als Signum der Moderne bezeichnete, setzt Benn
die \"Metaphysik der Form\" und die Würde des
Dichters, der im Spiel mit den Bruchstücken einen
letzten Glanz auf die Welt wirft. In \"entrücktem
Schweigen\" kommen traumhafte Vorstellungen,
Schaumgeburten zum Vorschein; es gibt Stunden mit
\"jenem Honig, der nach der Blüte kommt, nach
vielen Blüten, aus Schnee- und Purpurfeldern\" (PuA
179). Stundenlang könne der Phänotyp am Ufer eines

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Gebote des inneren Seins Teil I

Teiches stehen und auf das Wasser schauen, um die


Gelassenheit des Wassers zu erlangen. Das Wesen des
Wassers ist nach der taoistischen Philosophie,
\"dass es klar wird, wenn man es in Ruhe lässt, und
still, wenn man es nicht stört. Wenn es
eingeschlossen wird und nicht fließen kann, vermag
es nicht klar zu bleiben.\"

Im 45. Kapitel der Aphorismensammlung


Taoteking\" steht: \"Reine Stille gibt der Welt das
rechte Maß zurück.\" Eine andere Übersetzung
lautet: \"Wer ruhig und still ist, wird zum Führer
des Alls.\" Taoisten verwenden das Wasser häufig
als Symbol für das Tao. 25) Der Phänotyp möchte
sich verändern, wie Wasser werden. (PuA 168). Man
weiß, dass kein anderer chinesischer Philosoph von
der Kraft der Schwachen, dem Sieg des
Friedfertigen, dem Nutzen der unauffälligen
Zurückhaltung so wirkungsvoll gepredigt hat wie
Laotse. Für ihn war das Wasser das Sinnbild für die
Stärke des Schwachen, denn das Wasser höhlt Tropfen
für Tropfen sogar den Stein, und esitzt die große

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Gebote des inneren Seins Teil I

taoistische Eigenschaft, dass es nach dem niedrigst


gelegenen Platz strebt. 26) Nach Tschuangtse, dem
größten Schüler des Laotse, soll der menschliche
Geist umherschweifen, aber sich ins Unvermeidliche
schicken, d. h. aner-kennen, dass die alltäglichen
Probleme etwas sind, \"gegen das sich nichts machen
lässt\". Deutliche Anklänge an diese chinesischen
Weisheiten vernimmt man aus den Reflexionen des
Phänotyps. Ihm gehören die Stunden der Beschwörung,
in denen es um Kronen, Kränze und Götter geht. (PuA
159).
Benn zitiert: \"Ich handle - dieser Wahn
vergiftet dich wie großer schwarzer Schlangen Biß.
Ich bin es, der nicht handelt - trink dieses
Glaubens Göttertrank ´todlos´ und sei beseligt.\"
(An Oelze, 13.09.1941). Nichthandeln bedeutet
praktisch Nichteingreifen und entspricht ganz genau
dem \"Laissez-Faire.\" Also nicht handeln, \"in
sich selber seine Springbrunnen hochwerfen, seine
Echowände errichten!\" PuA168). \"Autarkische
Monologie\" (PuA 173), \"Schaumgeburten\" (PuA
179), den \"Glanz\" der Seele, \"erarbeitete Dinge,

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Gebote des inneren Seins Teil I

geistig empor-gehobene und meistens ohne


Gesellschaft langsam erwachsen\". (PuA 158). Was
von den einerseits glücklichsten, andererseits
gefährlichsten Bildern zu halten sei, hat Theodor
Haecker beschrieben: \"Unter allen Sterblichen hat
Platon die glücklichsten Bilder für Wesen und
Dasein der Menschen und der Welt gefunden und damit
auch unter Umständen die gefährlichsten: dass das
Wesen der Welt Überfluss und Mangel ist; dass im
Menschen ein zur Sonne Reißendes und ein
Niederträchtiges ist; dass der vollkommene Mensch
Mann und Weib ist; dass der Mensch nur die Schatten
der Wahrheit erkennt - das ist unübertroffen und
für den Menschen allein vielleicht überhaupt
unübertreffbar. Warum sind sie damit aber
gefährlich? Weil sie Bilder der Wahrheit sind und
nicht: die Wahrheit. Weil sie nur Schatten der
Wahrheit sind.\" 27)
In seinem Roman \"Der Ptolemäer\" geht Benn auf den
Begriff der Anamnese ein, jene Ansicht Platos, dass
die philosophische Erkenntnis ein Wiedererkennen
der Ideen sei, die die Seele im Zustand ihrer

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Gebote des inneren Seins Teil I

Präexistenz angeschaut habe. Für Plato war die


Anamnese ein Beweis für die Präexistenz der
Seele (vor ihrer Vereinigung mit einem Leib) und
für ihre Unsterblichkeit. Benn beschreibt diese
griechische Idee als \"Lehre vom Urerlebnis\",
\"dass alles in uns Erinnerung sei, dass unser
Leben nicht das war, was wir sahen und trieben,
sondern das, was in uns lag und dem wir bestimmt
waren, es in Bildern und Gedanken aufsteigen zu
lassen und ihm einen Ausdruck zu verleihen.\" (PuA
221). Benn setzt bezeichnenderweise hinzu: \"Solche
Zustände von Anamnesis erlebte ich öfter, ja, ich
konnte sie gelegentlich in mir herbeiführen und sie
wurden der Beleuchtungseffekt meiner Existenz und
ihrer inneren Überblicke.\" Dieses Bekenntnis führt
uns in die Mitte der Betrachtungen über die
Entstehung der dichterisch-intuitiven Prosa, des
künstlerischen Ausdrucksschaffens. Das ist der
Traum, der durch \"summarisches Überblicken\" (PuA
164) hervorgerufen wird. Auf das frühe Menschentum
im Sinne Nietzsches und Benns deutet Goethes
Aphorismus: \"Die Natur, um zum Menschen zu

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Gebote des inneren Seins Teil I

gelangen, führt ein langes Präludium auf von


Wesen und Gestalten, denen noch gar sehr viel zum
Menschen fehlt. In jedem aber ist eine Tendenz zu
einem andern, was über ihm ist, ersichtlich.\" 28)

Im Brief vom 27. Mai 1946 schreibt Benn seine


Verzweiflung vom Herzen: \"Alles
Fragestellungen, die wir in uns tragen, sind völlig
sinnlos, leer, überaltert, und nichts füllt mehr
die Tennen und Tonnen - nicht mit Nahrung und nicht
mit Wein! Was lebt, muss durchschnittlich sein,
sonst wächst es ins Astrale und dort ist es kalt
und aufgelöst und atemlos.\" Selbst geistige
Produktion sei menschlich-rückblick-ich, fast
familiär; echt sei nur, wer sich völlig zurückziehe
und schweige. In ihm allen begänne \"das All, das
Urspiel und die Stimmung des Gottes von dem ersten
Tag\" - alles Spätere sei schon Bonmot und Wiener
Walzer. Ein andermal meint Benn, dass alle Fragen
von existentieller Bedeutung nur in der Schweben
bleiben können, sonst sei alles unecht und
unzeitgemäß. Das Leben sei \"unausdrückbar,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

unerfassbar mit Worten und Gedanken, nacktes Chaos,


Ausguss aus einer inferioren Küchenorganisation,
Ausfluss. Der Phänotyp sieht die Welt voller
Widersprüche: Lustknaben wurden gekrönt; ein
Schimmel wurde als Gott verehrt; den Manen eines
Bechers errichtete man ein Mausoleum; einen
schönen Baum zierte man mit Geschmeide. (PuA 167).
Ebenso Kurioses (\"Seltsamkeiten\") könne man aus
der Menschenwelt in Erfahrung bringen: Sklavinnen
würden Kaiserinnen. Einen Hund, Benny Gogh
geheißen, habe man vor einem Gouverneurspalast in
einem \"der schönsten Parkanlagen der Welt\"
begraben; auf einem Obelisken habe man \"in großen
Goldbuchstaben\" seinen Namen zusammen mit den
Namen einer Araberin und eines Deutschen
verewigt: \"Never fades their Glory - niemals wird
sein Ruhm verblassen.\" - Eine Frau antwortet auf
die Frage, wer sie geschlagen habe, dass es ein
Derwisch in einer Bar gewesen sei. Und warum ist
sie dorthin gegangen? Weil sie daheim nicht
angebunden wurde. (PuA 172).

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Gebote des inneren Seins Teil I

Die Frage des Menschseins, die Lage des Lebens, die


vielen Fragwürdigkeiten bedrängten Benn auch 1936;
am 09.08.1936 schrieb er, ob der Mensch nicht nur
eine \"lose Folge\" von wechselnden, kaum
zusammenhängenden Zuständen sei, von denen \"nur
einige wenige erfüllt und unaus-schöpfbar\" seien.
\"Der Rest ist doch Bruch, Unterwelt. Diese Lage
unseres Lebens als eine Folge von Zuständen dieses
Ich als eine sich gelegentlich schließende, aber im
Allgemeinen eine unstillbare, unabrundbare, offene
Kette von Schmerzen, Verwundungen und
Fragwürdigkei-ten, das ist doch unser Gesetz, unser
Schick-sal, unsere durchzukänpfende Erbmasse.\" (An
Oelze, 09.08.1936). Erst jenseits des Wortes
\"Leben\" beginne der menschliche Heroismus\". (An
Oelze, 09.03.1935).

Uns Menschen ist ein \"unerrechenbarer Tod\"


bestimmt. Wir seien eigentlich Mumien, die
zerfallen; die Weizenkörner, die man aus
tausendjährigen Mumiensärgen geborgen und
ausgesät habe, seien aufgegangen und haben

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Gebote des inneren Seins Teil I

ähren getragen. \"Keime leben lange; diese kreisen


und blühen.\" Wir werden in keinen Mumiensärgen
ruhen, sondern zerfallen; unseren Särgen werden
keine Körner beigegeben, die wieder auferstehen.
(PuA 172). Der unabänderlich uns bevorstehen de
Tod zwingt uns Menschen, dass wir uns auf die
wesentlichen Aufgaben unserer Existenz
konzentrieren. Der Tod wird also zum wesentlichen
Kriterium der Existenz; angesichts des
unausweichlichen Lebensendes sind uns keine Momente
des Ausruhens auf einem einmal erreichten
Stand erlaubt, und deshalb gelingt es dem Menschen
nicht, sich den wirklichen Auseinandersetzungen
des Lebens zu entziehen. Existieren bedeutet dem
Phänotyp, im Todesbewusstsein das Wesentliche
der Existenz erfüllen. \"Wenn der Tod uns nicht
mehr schmerzte, würde er seinen Sinn verlieren und
wahrscheinlich verschwinden, an seine Stelle träten
dann Tränen aus anderen Gründen, grauengeborene und
süße, nach den jeweiligen Strömungsverhältnissen
unseres menschlichen Blutes\" (PuA 176).

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Gebote des inneren Seins Teil I

Das Körperliche kommt ihm bei der Erfüllung seiner


existentiellen Aufgaben seltsam vor; der
menschliche Körper bleibe erstaunlich
konsequent \"innerhalb diese quartären
Erdzeitalters\" (PuA 155). \"Der Körper überlebt
die geistige Gestalt\", schreibt Benn am
02.02.1937, \"und alle Verwandlungen der Seele. Er
grinst weiter in die Morgensonne und spitzt
Bleistifte an und futtert Pfefferkuchen. Eine feine
Nummer\", frisst und liebt, \"was vor die Flinte
kommt\"; er ist äußerst dämonisch, wenn man ihn
genau betrachtet. \"Sieh an ihm herunter und lache
nicht. Sieh ihn tief und überirdisch an, sonst
bringt er Dich um. Du erträgst ihn gar nicht. Was
schleppt man da an sich herum. Kolossal Fremdes!\"
In unseren Seelen leben aber Jahrtausende,
\"Verlorenes, Schweigendes, Staub\". (PuA 168). Der
Geist erfinde jedoch immer neue Ausdrücke, neue
Auswege aus seiner selbst. Man habe den Eindruck,
dass die \"ganze Mutationsfähigkeit und
Variabilität der Art\" in ihm allein tätig
geblieben sei. Aber die Biologie handhabe den

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Gebote des inneren Seins Teil I

Geist als eine \"reine Methodik zum Auffädeln von


Erfahrungsergebnissen zwecks Herstellung einer
begrifflichen Totalität\" (PuA 156).

1.1.9 Ansichten zum Geist- und Lebensproblem

Der Phänotyp stößt immer wieder auf das Geist- und


Lebensproblem. Benn stellt sich selbst die Frage,
ob er etwas aus \"Ressentiment, Schwäche oder
Ästhetizismus dem Lebensproblem nicht genügend
Aufmerksamkeit\" zuwende? (An Oelze, 24.04.1938).
Der Geist, ein Gegenprinzip des Lebens, sei uns
gegeben, um alles zu
überwinden, auch das Leben mit \"Armut, Sterben,
Scheiden, Niedergang, Erblindung\". Es werde sich
die Erkenntnis durchsetzen, dass nur der Geist lebe
und trächtig sei. Er verwandle sich in uns
entsprechend den fernen, in einem
\"vieltausendjährigem Pomp\" strahlenden Bildern.
Prophetisch klingen Benns Sätze, dass man auf die
Strömungen und Spiegelungen in der Geschichte werde
herabsehen können. (An Oelze, 06.04.1936).

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Gebote des inneren Seins Teil I

Dabei ist es sehr aufschlussreich, das Entstehen


des Geistbegriffs in der
Geistesgeschichte zurückzuverfolgen. Ein
allgemeines Verwenden des Begriffs Geist scheint
sprachlich und gedanklich erst im 17. Jahrhundert
möglich gewesen zu sein. Seit Descartes kann man
von dem \"gegen die Außenwelt abgehobenen Geist\"
sprechen, \"der selbständig genug ist, in die
Weltwesen einzukehren, um ihnen ihren allgemeinen
Charakter zu geben\". 29) Der Geistbegriff
entfaltete sich im 18. Jahrhundert derart
vielseitig, dass er zu einer wesentlichen
Voraussetzung unseres Denkens wurde. Der
Geistbegriff drang, wie es Reinhard Wittram
darstellte, im Laufe der Jahrzehnte in alle
Betrachtungen und Gedankensystemen vor, bis sich zu
Goethes Lebzeiten das sprachliche Ausdrucksvermögen
als besonders fruchtbar erwies. Mit Hegel, Marx und
Nietzsche scheint der Geistbegriff in einem
\"entscheidenden Sinne\" ans Ende gekommen zu sein.

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Gebote des inneren Seins Teil I

In einem Brief an Oelze beschreibt Benn das Wesen


des Geistes, das \"ruhelos und reizbar ist,
resultatlos und unvollendbar in einer Welt und
gegenüber einer Welt, in der alle niederen Elemente
nach Resultaten und Ergebnissen schrein. Die
Erkenntnis, das hier Unvollendbare zu tragen,
zeichnet uns aus. An der Kreuzungsfläche,
Kreuzigungsfläche zweier unvereinbarer Welten und
Mächte zu stehn, ist unser Schicksal, und zwar
zweier großer gesendeter schöpferisch zerklüfteter
Welten und Mächte, wie ich immer wieder zu sagen
mich bemühe, auch die ´Wirklichkeit´ ist großes
Schöpfungsreich.\" Es sei noch ein anderes da,
\"das sein unvorstellbar großes Wesen, seine
Problematik und seine Abgründe einschneidender in
uns erstreckt und neue Forderungen\" an uns stelle.
30) Der Mensch dürfe das Leben nicht anbeten; das
sei die Niedrigkeit der Zeit. (An Oelze,
10.01.1937). Der Geist diene aber nicht dem Leben;
im Gegenteil: er schädige das Leben. Vom höheren
Menschen werde er als das \"werthöhere Prinzip\"
empfunden. Darum versuche der höhere Mensch, den

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Gebote des inneren Seins Teil I

Geist nicht durch Leben zu erniedrigen. Auf diesem


Erkenntnisstand sei Nietzsche stehen geblieben.
\"Er sah und forderte den höheren Menschen\", noch
nicht den hohen, der durch noch mehr \"Leid der
Erkenntnis\" und der inneren Gefährdungen gegangen
ist. Dieser hohe Mensch, ein Erbe Goethes und
Nietzsches, erkennt, dass die beiden Kreise \"Geist
und Leben\" völlig getrennt seien und dass der
Geist im Menschen nur in der Gestaltungssphäre in
den Lebenskreis eingebrochen sei. \"In ihr werden
eigentlich erst überhaupt gelegentlich die Gründe
und Hintergründe seiner (des Menschen) Erschaffung
klar, aus ihr seine Tierreihenstellung deutlich.\"
(An Oelze, 28.02.1938).

In dem bedeutenden Brief vom 24. April 1938 führt


Benn ferner aus: Die ganze Welt gewinne ein
\"anderes Gesicht\", sobald der Geist vorherrsche.
\"Die Menschheit oder die Völker
können nur bis zu einer gewissen Grenze handeln,
dann führt nur das Denken weiter, das heißt aber,
dann öffnet sich der Abgrund, aber das ist offenbar

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Gebote des inneren Seins Teil I

der menschliche Weg, das menschliche Los.\" Der


Eintritt in den Gedanken sei ein \"psychologisch
realer und wägbarer
Vorgang\". Dies sei auch ein historischer Prozess.
Der Gedanke rufe keine Tat hervor, schreibt Benn am
22.09.1940, \"noch bestätige je eine Tat oder eine
Tatsache einen Gedanken\". Berechnungen wie
Planetenumläufe, Schwangerschaftstermine oder
Spekulationen (Emission von jungen Aktien) können
durch Tatsachen bestätigt werden. \"Ein Gedanke,
der immer nur darnach schielt, ob die Tatsachen und
die Geschichte ihn bestätigen, ist ein Abgänger.
Von dieser Seite kommt kein Trost und keine
Rechtfertigung für den Geist. Nur wenn er sich
selbst und seinem Willen lebt, erfüllt er sein
auferlegtes Geschick. In seinem Kreis bleiben: das
ist wohl ein großes Gesetz.\" (An Oelze,
22.09.1940).
Benn erarbeitet sich die Klarheit über das Geist-
und Lebensproblem selbst. Die Glorifizierung des
Lebens und die darin wurzelnde Anthropologie stoßen
auf seine

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entschiedene Kritik. An Oelze schreibt er: \"Die


erniedrigende Säkularisation des Ich, seine
familiär-individuelle Einstellung gegenüber dem
Gott, dieser pamphletistische Ritus,diese freche
banale Sakramentation ist es, die die gemeine
Glorifizierung des Lebens hervorbrachte, und damit
die exkrementelle Anthropologie schuf, die wir
heute öffentlich um uns sehn.\" (An Oelze,
02.01.1943). Nach Nietzsche beruht \"jeder Glaube
an Wert und Würdigkeit des Lebens\" auf \"unreinem
Denken\" (Werke, I 471 Nr. 33). Der Künstler müsse
\"das Leben ausschließen, es verengen, ja es
bekämpfen, um es zu stilisieren\" (Die neue
literarische Saison, EuR 445). Der Ptolemäer sah
wenige Jahre später in dem sogenannten Leben ein
\"Speibecken, in das alles spuckte, die Kühe und
die Würmer und die Huren\" (PuA 200); im
\"Mittelpunkt seiner Gunst\" stehe die
Fortpflanzung (PuA 201). Dem Volk der Griechen, die
sich nach Nietzsche \"in allen ihren Krisen immer
wieder an ihren physiologischen Bedürfnissen
regenerierten\", verdanken wir jedoch die \"Bildung

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Gebote des inneren Seins Teil I

des Gedankens und die Verschmelzung der Götter\"


(PuA 201). Die Griechen \"erfanden nämlich die
typischen Philosophenköpfe, und die ganzen Nachwelt
hat nichts Wesentliches mehr hinzuerfunden\"
(Nietzsche, Werke, III 356). \"Der Grieche kannte
und empfand die Schrecken und
Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben
zu können, musste er vor sich hin die glänzende
Traumgeburt der Olympischen stellen.\" (Werke, I
30). Wenige Jahre später beurteilt er das Fortleben
des Philosophischen, Gedanklichen und Begrifflichen
sehr skeptisch: \"Es ist möglich, dass die
Generation, die nach uns dasteht, so ungebildet und
gedanklich so unerfahren und bedürfnislos ist oder
erzogen ist, dass ihr alles derartige fremd ist.
Denn auch der Gedanke ist ja doch zentral und kann
sehr groß sein und muss an irgendeiner Stelle
wieder aufgenommen und weiterentwickelt werden;
vielleicht von anderen, viele viel später.
Ich meine keineswegs meine Gedanken, sondern das
Philosophische und Begriffliche als solches.\"
(07.08.1943). Es scheint, als wäre die ganze

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Gebote des inneren Seins Teil I

philosophische Tradition ausgeschaltet.

Gedanken aus dem Umkreis des Geist- und


Lebensproblems tauchen im Roman des Phänotyps an
mehreren Stellen auf, z.B. stellt der Phänotyp im
Kapitel \"Statische Metaphysik\" fest: Man höre
sagen, dass man das Leben nicht umgehen könne, man
müsse hindurch. \"Man hört ferner, das Leben hält
es mit den guten Sprossen, die anderen lässt es
verfallen, wenn das seine Methode ist: wohlan!\"
Der Phänotyp bemerkt, dass die Durchströmungen des
Lebens vor dem Bewusstsein verhalten.
Regenerationen könne man an Baumrinden und
Lazertenschwänzen beobachten. Der Phänotyp weiß
jedoch, dass der Geist im Menschen nur in der
Gestaltungssphäre in den Lebenskreis eingebrochen
und dass ihm selbst die \"Existenz und ihre
Abstraktion\" auferlegt sei. Dabei konzentrieren
sich seine Denkanstrengungen auf die Peripherie,
die Verwandlungszone, die experimentellen Ansätze
des unerschrockenen Denkens. Die Kernfrage lautet:
\"Wo verwandelt sich der Mensch, wann, aus welchen

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Ursprüngen und mit welchen Methoden?\" Der Grübler


zählt einige historische Wendepunkte auf. Um das
Jahr 500 seien bei den Griechen perspektivische
Zeichnungen entstanden. Das entspricht den
geschichtlichen Vorstellungen des Philosophen Karl
Jaspers; nach seinen Ausführungen in dem Buch \"Vom
Ursprung und Ziel der Geschichte\" scheint die
Achse der Weltgeschichte rund um 500 vor Christus
zu liegen, \"in dem zwischen 800 und 200
stattfindenden geistigen Prozess. Dort liegt der
tiefste Einschnitt der Geschichte.
Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute
leben.\" (Ebd. 15). Es ist verwunderlich, dass der
Phänotyp, der nur Sinnlosigkeit im geschichtichen
Geschehen wahrnimmt, nach der sogenannten
Achsenzeit forscht, wo sich der Mensch verwandelte.
Ähnliche \"Verwandlungen\" könne man in den
Gemälden von Giotto und Cézanne erkennen. Haben die
Zeitgenossen der Künstler diese Blickänderung als
\"Entartung\", als \"Degeneration\" betrachtet und
kritisiert? Der Phänotyp ist davon überzeugt; die
Zeitgenossen werden sicher geurteilt haben: \"Das

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geht zu weit!\" (PuA 154). Das Außerordentliche der


geistigen Prozesse dieser Achsenzeit sah Jaspers in
China, wo Konfuzius und Laotse lebten und die
chinesischen
Philosophen Mo-Ti, Tschuangtse und Lietse
hervortraten, in Indien, wo die Upanischaden
entstanden, Buddha lehrte und fast alle
\"philosophischen Möglichkeiten\" bis zur Skepsis,
zur Sophistik, zum Materialismus und Nihilismus
entwickelt wurden, in Iran,
Palästina und Griechenland, wo die Philosophen
Parmenides, Heraklit und Plato, die Tragiker, Homer
und nicht zuletzt Thukydides und
Archimedes wirkten.

Später greift er wieder das Thema der peripheren


Verwandlung auf und vergleicht die
aufkommende Bewusstheit des Denkens und das
mythische Denken mit dem \"Nagen und Lecken der
Wellen an dem Strand\": \"Nicht jedes Nagen
hinterlässt eine Spur.\" Dabei gibt es \"Ausgleiche
und Ablenkungen\". Das Neue des Zeitalters

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definierte Jaspers präzise mit den


Worten, \"dass der Mensch sich des Seins im Ganzen,
seiner selbst und seiner Grenzen bewusst wird. Er
erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene
Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor
dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung. Indem er
mit Bewusstsein seine Grenzen erfasst, steckt er
sich die höchsten Ziele. Er erfährt die
Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in
der Klarheit der Transzendenz.\" (Ebd.. 15).

Der Mensch sei auch heute tief und


verwandlungsfähig, meint der Phänotyp, zeitweise
sei er untergangsfähig, und das Bewusssein sei
vermutlich von Anfang an eine
Krankheit gewesen; das werde es immer sein,
(\"gemessen an moralischen, ästhetischen,
biologischen Maßstäben\"); das Bewussssein war
immer eine Entfernung vom Substantiell-Dunklen und
ohne Hoffnung, Klarheit zu erlangen. Entweder ist
ihm etwas auferlegt, das er auf jeden Fall zum
Ausdruck bringen muss oder ihm

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Gebote des inneren Seins Teil I

ist garnichts auferlegt; und die Maßstäbe eines


Kulturkreises, eines halben Kulturkreises, seiner
letzten 500 Jahre, sind keine Maßstäbe für das
anthropologische Problem an sich.\" (An Oelze,
19.05.1951).

Der Phänotyp zitiert den Befehl: \"Wer den Kalifen


in der Versenkung stört, wird enthauptet -,
und wenn der Feind derweilen die Stadt erstürmt.
Nach der Auffüllung der Kräfte wird der Fürst des
Feindes schon Herr werden.\"
Daraus folgert der Phänotyp: \"Wer nach innen lebt,
sieht eine große Vereinigung, ein allgemeines tat
twam asi.\" (PuA 171). Echt und repräsentativ sei
ein Zeitgenosse nur, wenn er in einem nach Form und
Inhalt beschreibbaren Umkreis wirke. Außerhalb des
Umkreises erscheine der Zeitgenosse \"verfallen und
abgelebt\". (PuA 149). Für die \"innere Existenz\"
sei es unfair, \"über irgendeine Tätigkeit
hinauszugehn, die durch das Lokal Umschriebene und
Umschreibbare, d.h. dass das durch Befehl
Erzwingbare nicht bestimmt ist\" (An Oelze,

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Gebote des inneren Seins Teil I

13.09.1941).

Wenn der Phänotyp der Liebe fröne, lebe er


außerhalb dieses Umkreises, denn die Liebe täusche
\"Inhalte\" vor und schaffe \"Surrogate für eine
Individualität\", die nicht mehr vorhanden sei.
Selbst das erotische Abenteuer der Liebe solle im
Dienst der Kunst stehen. Wer jedoch aus
existentiellen Gründen die Liebe ablehne, werde aus
dieser Haltung Nutzen für sich und die Kunst ziehen
können. Wer seine Triebe unterdrücke, schaffe
\"Neurosen\", setze \"Spannungen, die sich nicht
lohnen, Krisen, die voraussichtlich unproduktiv
enden\". Im Brief vom 10.02.1936 geht Benn auf die
Hintergründe von Nietzsches Liebesleben ein; er
habe eine höchst fragwürdige Sexualität: \"Wenn man
gleich an den Beginn einer Beziehung den Koitus
setzt, gibt es keine Neurosen. Aber wenn man erst
mit Amoretten, Cupidos und ähnlichen Gartengöttern
operiert und ihn erst am Schluss einer Allee
erblickt, gibt es Neuralgien in bestimmten
Körperteilen.\" Der Grundriss des Lebens bleibe:

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Gebote des inneren Seins Teil I

\"Jagd und Feuermachen und am Feuer das mit den


Frauen.\" Darauf komme es im Grunde nicht an.
\"Wenn jemand von Ruth über Nigge zu Gisela
gelangt, so mag er mit jeder eine gewisse Zeit
verbracht haben, aber die Zerlösung der Dinge ist
nicht betrieben\" (PuA 155).
Sieht der Phänotyp in der Geschichte Funken des
Geistes, das Wirken des Geistes? Er bemerkt, dass
der Bürger, wenn er aus dem Vollen leben könne oder
sich der Geist \"trotz Armut und Dunkel\"
durchsetze, daran seine \"ehrliche Freude\" habe.
Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass Alexander bei
der Zerstörung Thebens das Haus des Pindar
verschonte oder dass er angeblich Persien nur
erobern wollte, um es nach Athen schreiben zu
können? Napoleon las Rousseaus Schriften und
Goethes Werther-Briefroman und kam immer wieder
darauf zurück. \"Andererseits sprengte eine
venetianische Bombe 1687 das Parthenon.\" (PuA
171).

Allerdings müsse man zur Kenntnis nehmen, dass eine

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Gebote des inneren Seins Teil I

Generation nur eine \"kurze Strecke\" weiter denke


als die vorangegangene. \"Es scheint bestimmt und
abgesteckt zu sein, was ihr an erweiterten
Wendungen gelingen kann\" (PuA 171). 1927 machte
Benn in einem Essay \"Neben dem
Schriftstellerberuf\" (PuA 259) nachdrücklich auf
die offenbar wenig bekannte Tatsache aufmerksam,
\"dass es sehr viel weniger produktive Substanz
in einem Zeitabschnitt gibt, als im Allgemeinen
angenommen wird\". (PuA 264).

1.1.10 Sieh die Welt als ästhetisches Phänomen an!

Daran schließen sich Gedanken über das Leben als


ästhetisches Problem an: \"Der Gedanke ... gab
allem seine artifizielle Beleuchtung, er wob seine
Nebel, er schwelte seine Dämpfe, ließ einige höhere
Strahlen hindurch, um sie aber gleich wieder zu
verschleiern.\" Unentschieden sei die Grundfrage,
ob der Mensch ein moralisches oder ein denkerisches
Wesen sei. Daraus entstehe sofort die Frage: \"Hat
er eine handelnde oder kontemplative Bestimmung,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

eine politische oder eine introvertierte?\" Das


habe man \"durchdacht, durchhandelt, durchlitten
seit Jahrtausenden\" (PuA 155). Benn las im Jahr
zuvor (April 1943) das sehr berühmte Buch
\"Psychologische Typen\" von C. G. Jung und
wunderte sich über die sehr weitschweifigen
Ausführungen, die mit literarischen, aber
uninteressanten Analysen (Schiller, Spitteler,
Ostwald) aufgebauscht sind (ein \"dickes Werk\" mit
700 Seiten). In diesem Buch waren die
\"introvertierten\" und \"extrovertierten\" Typen
dargestellt. (An Oelze, 17.04.1943). Das Dilemma
zwischen diesen Typen schien ausweglos. \"Die
Wissenschaften erörtern es weiter mit den ihnen
zugänglichen Begriffen der Aprioristik und des
Empirismus.\" (PuA 155). Der Phänotyp sei aber
jener Typ, der alles verlasse und sich selbst
umschreite, der die Dinge in sich allein beende. Er
wolle nichts künden, weil es nichts zu künden gäbe.
\"Es gab Zeiten, da war kausales Denken exzellent,
Zeichen einer klugen kleinen Clique, heute ist es
Abspülwasser, jeder Zeitungsleser begründet seine

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Gebote des inneren Seins Teil I

Weltanschauung.\" Unser Seinsauftrag bestehe eben


darin, das
\"Nebeneinander der Dinge\" geduldig zu ertragen
und es \"zum Ausdruck\" zu bringen. (PuA 156).
Der die \"ganze Epoche zusammenfassende Gedanke\"
Nietzsches besage, \"dass die Welt nur als
ästhetisches Phänomen zu deuten und zu ertragen
sei\". Benn macht sich diese Erkenntnis, die uns
alle \"tief\" bestimme, zueigen. Damit war die
Lösung für das Leben des Phänotyp gefunden:
\"Fläche in Tiefe überführen, Worte durch Beziehung
und anordnendes Verwenden zu einer von innen
belebten, besonderen Welt binden, Laute
aneinanderzuketten, bis sie sich halten und
Unzerstörbares besingen\" (Brief vom 28.02.1938).
Das Nietzsche-Wort von der Welt als ästhetisches
Phänomen legte Benn 1940 in der Rezension des
Buches \"Das Reich der Söhne\" von Julius
Schmidhauser wie folgt aus: Dies \"grundlegende
Wort\", das unsere Lage beschrei- be, könne nur
bedeuten, dass der \"Weg der Regeneration\" über
die Bindung an die Form, an den Ausdruck (Satz,

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Gebote des inneren Seins Teil I

Wort, Ton) führe. Das heutige Bewusstsein zwinge


uns, die Themen der geistigen Realität, die mir in
uns trügen, zu formen, bis daraus \"für sich
stehende, selbständig sich erklärende Gebilde\"
entstünden. Das anthropologische Prinzip heiße
Stil. (SuS 213). Mit anderen Worten erklärt Benn
dies Nietzsche-Wort in seinem Brief an Oelze :
\"Erinnern Sie sich immer des Satzes von der
Rechtfertigung der Welt nur als sthetisches
Phänomen. D. h. als ordnendes, als Gestaltungs-,
als antinaturalistisches Phänomen.\" (An Oelze,
24.04.1938). Schon Schiller habe den Standpunkt
vertreten, dass der Mensch den \"Übergang des
moralischen ins ästhetische Zeitalter\" erlebe. Und
doch! Welch ein Glück, \"die unbegreiflichen Wunder
der Natur in sich aufnehmen zu können. Ein
Narzissenfeld, einen Magnolienbaum! An wen
verschwendet, ins was verstreut? An ein
Bewusstsein, das so grundsätzlich allem diesen
fremd ist und an ihm leidet und doppelt vor dem die
Tristesse seiner unausgleichbaren Existenz erlebt!
(An Oelze, 17.04.1943).

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Gebote des inneren Seins Teil I

1.1.11. Einige Komponenten der Anschauung Benns

Biographische Einzelheiten, einschneidende


Erlebnisse oder Erfahrungen sind im Rahmen dieser
Interpretation nur insofern relevant, als sie
unentbehrliche Erklärungen für die Entstehung,
Ausformung und Weiterbildung seiner Welt- und
Lebensanschauung abgeben. Solche biographische
Tatsachen sind in Benns Leben - abgesehen von
Herkunft, Erbmilieu und persönliche Neigungen -
u.a. das Studium der Medizin, auch das abgebrochene
Studium von
Theologie und Philologie (zwei Semester in
Marburg), die Militärdienstzeit im
Infanterie-Regiment 64 in Prenzlau, die Zeit in
Brüssel (1915 - 1917), seine Tätigkeit als Facharzt
für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin,
Belle-Alliance-Straße 12 (1917 1935), die Reisen
mit dem Berliner Kunsthändler Franz M. Zatzenstein
nach Frankreich und Nordspanien, die
wirtschaftliche Notlage während der Inflationsjahre
und der Weltwirtschaftskrise, die Ereignisse von

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Gebote des inneren Seins Teil I

1933 - 1934, währenddessen er vorübergehend in den


Bannkreis der nationalsozialistische Ideologie
geriet, die Reaktivierung als Oberstabsarzt in
Hannover und die Zeit als Oberstarzt in Landsberg
a. d. Warthe. Die Aufzählung der wichtigsten
Komponenten seiner Welt- und Lebensanschauung kann
auf Vollständigkeit keinen Anspruch erheben,
sondern will nur zusammenfassend und ergänzend das
Verständnis der Romanideen erleichtern helfen.

Außenseiter-Rolle und Outcast-Syndrom

In der Zeit von 1914 bis 1917, da Gottfried Benn


als Stabsarzt nach Brüssel abkommandiert war, soll
er, wie einer seiner besten Freunde Carl Einstein
übermittelte, fast nie ins Offizierskasino gekommen
sein, weil ihn das unaufhörliche Gerede über Frauen
oder Bordellbesuche anwiderte. Benn soll sich
damals mit den Gedichten von Hölderlin, mit
Flauberts Romanen, \"dem Studium der griechischen
Kultur und wissenschaftlichen Werken über Biologie
und Mythologie\" beschäftigt haben. Seine Absonde-

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Gebote des inneren Seins Teil I

rung von unkünstlerischen Menschen, von der Masse,


der Allgemeinheit brachte Benn in eine
Außenseiterposition und erzeugte in ihm nach
ungewöhnlich großen menschlichen
Enttäuschungen, dem Trauma des politischen
Versagens und nach öffentlichen Verfolgungen ein
outcast-Syndrom. Die Außenseiter-Rolle wird in der
Biographie Benns deutlich: Gottfried Benn, Sohn
eines armen Landgeistlichen, wuchs in Kontakt mit
ostelbischen Adelskindern auf, wurde zusammen mit
großbürgerlichen und adligen Schulkameraden und
Kommillitonen ausgebildet, war während zweier
längerer Lebensphasen als Militärarzt in engster
Berührung mit dem adlig geprägten Wehrverband des
Offizierskorps und mußsse sich als Nicht-Emigrant,
dem mangels persönlicher Verbindungen und eines
ausreichenden Vermögens die Auswanderung nicht
möglich war, im Dritten Reich behaupten;
\"Bewunderung, Neid, vor allem auch provokative
Schärfe und aggressiver Protest machen den
spezifisch Bennschen Tonfall aus\". (Benn-Chronik,
S. 6). Zum outcast-Syndrom gehört auch Benns

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Gebote des inneren Seins Teil I

Bewunderung für mittelmeerische Motive und seine


Schwäche für Aristokratisches, für
\"aristokratische Gesellschaftsformen und die
Standesgeschlossenheit des preußischen (vor allem
grundbesitzenden) Adels\". In der Poetik
erkämpfte sich Benn als \"Kunstproduzent aus dem
ländlichen Mittelstand\", \"was ihm Herkunft und
gesellschaftliche Standesgrenzen in der rauhen
Wirklichkeit wilhelminischer und
nachwilhelminischer Zeiten vorenthalten mussten\".
Daher kam sein \"Drang zu Form und
Abgeschlossenheit des Kunstproduktes\" (Ebd. 7).

Rückzug einer Künstlernatur ins Innere

Im Herbst 1915 erfuhr Benn in Brüssel, dass seine


in Hellerau bei Dresden beheimatete Frau Edith mit
der Tochter Nele niedergekommen sei. Seine Frau,
eine ausgezeichnete Pianistin, eine ungemein
gesellige Natur, wohnte dort bei ihrer Schwester
und ihren Verwandten. Nele war das erste und
einzige Kind Gottfried Benns, benannt nach einer

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Gebote des inneren Seins Teil I

Gestalt aus Charles de Costers Meisterwerk \"Tyll


Uylenspiegel.\" Sohn Andreas stammte aus der ersten
Ehe seiner Frau. Der Autor selbst konnte zeitlebens
kleine Kinder nicht ausstehen. Da Benn nahezu
pedantisch einen geregelten Tagesablauf einhalten
wollte, störten ihn Kinder. Erst im folgenden Jahr
1916 sah er sein Töchterlein, als er seinen Urlaub
in Hellerau verlebte. Anfang November 1917 ließ
sich Benn in Berlin, Belle-Alliance-Straße 12, als
Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten
nieder. Seine Frau mit den beiden gerade
schulpflichtig gewordenen Kindern folgte ihm bald
nach und mietete eine Wohnung in der Passauer
Straße 20 an.

Widersprüchlichkeiten der Lebenshaltung

Die Nachkriegsjahre in Berlin waren durch blutige


Aufstände, Putschen und Morden gekennzeichnet; es
herrschten entsetzliche Not und Hunger. Wucher und
Schleichhandel grassierten wie die

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Gebote des inneren Seins Teil I

Nachkriegsseuchen. Von 1914 bis 1918 starben in


Deutschland fast 800 000 Menschen an Hunger. Ein
drastisches Bild der \"wildesten Berliner
Nachkriegszeit\" zeichnete Walter Lennig in der
Biographie \"Gottfried Benn in Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten\": \"Am Zoo wurde wispernd Koks
(Kokain) angeboten, die Prostitution quoll über,
Tausende von Schleppern suchten am Abend Publikum
für alle möglichen geheimen und verpönten Lokale,
für Nacktklubs und getarnte Spielbanken. Dutzende
Razzien jede Nacht,Zehntausende entlassener
Soldaten und Offiziere auf den Straßen, die
Werbebüros der Freikorps, viele tausende Krüppel
auf Krücken oder in Selbstfahrern, Prügeleien
zwischen Rechts und Links, Protestdemonstrationen
gegen die Ententeforderungen,
schwache Staatsautorität, Arbeitslosigkeit,
Selbstmorde in Rekordhöhe. Die Praxis ließ sich in
den ersten Nachkriegsjahren gut an.\" Hanspeter
Brode hob zurecht den kuriosen Sachverhalt hervor,
dass sich Benns wirtschaftlichen Verhältnisse zur
allgemeinen Wirtschaftslage antizyklisch

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

verhielten. Nach den beiden Weltkriegen, da es den


meisten schlecht ging, florierten die venerischen
Leiden und Benn ging es als Arzt für Haut- und
Geschlechtskrankheiten relativ gut. Als sich in der
Mitte der zwanziger und dreißiger Jahre sowie in
den fünfziger Jahren die wirtschaftlichen
Verhältnisse allgemein besserten, lag Benns Praxis
darnieder, und Benn war zu eingeschränkter
Lebenshaltung gezwungen. Mit einem Wort:
\"Individual- und Globalökonomie\" verliefen
gegenläufig, was zum größten Teil die
\"Widersprüchlichkeit der an Kontroversen so
reichen Existenz Benns\" (H. Bode) erklärt.

Erfahrungen in der chaotischen Nachkriegszeit

In der ersten Jahreshälfte 1919 gab es in Berlin


Straßenkämpfe und schwere revolutionäre
Erschütterungen. Harry Graf Kessler notierte in
seinen Tagebüchern 1918 - 1937: \"Das
Babylonische, unermesslich Tiefe, Chaotische und

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Gebote des inneren Seins Teil I

Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die


Revolution klar geworden, als sich zeigte, dass
diese ungeheuere Bewegung in dem noch viel
ungeheuerem Hin und Her von Berlin nur kleine
örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein
Elefant einen Stich mit einem Taschenmesser
bekommt. Er schüttelt sich, aber schreitet weiter,
als ob nichts geschehen wäre.\"

Zweifel an Fortschritt, Wissenschaft und Erkenntnis

1921 verfasste Benn den Aufsatz \"Die Ansteckung


der Syphilis in der Krankenpflege\" und äußerte im
Anschluss daran grundsätzliche erkenntnis-
theoretische Skepsis: \"Mir fällt es unendlich
schwer, eine derartige, überhaupt noch eine
wissenschaftliche Arbeit zu machen. Ich kann diese
Syntax, dieses ´oder´ und ´denns´ und ´trotzdem´
nicht mehr schreiben und ich bezweifle den Satz von
der Kausalität zu sehr, um noch nach Gründen und

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Gebote des inneren Seins Teil I

Folgerungen zu fragen; ... ich glaube weder an


Wissenschaft noch an Erkenntnis, insonderheit halte
ich die Naturwissenschaften für Komparserie.\" Er
glaube weder \"an Entwicklung noch an Fortschritt
weder des einzelnen noch der Gesamtheit\". Benn
deutete eine Geschichtsauffassung an, die ihn
später für den Faschismus anfällig werden ließ. Die
Zweifel an sprachlicher Ausdruckskraft, an
die Zulänglichkeit der Worte, der Erkenntnisse und
der Wissenschaft erinnern an den Chandos-Brief
(1901/02) von Hugo von Hoffmannsthal, worin die
Sprache als verlierbare Instanz des Lebens
thematisiert wird. In dem fiktiven Brief des Lord
Chandos (an Bacon 1603) fasst der Briefschreiber
den Entschluss, nicht mehr zu schreiben, um die
Sprache zu suchen, \"die die stummen Dinge
sprechen\".

Aussichtslosigkeit der privaten Existenz

In einem Brief an Gertrud Zenzes klagte Benn über

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Gebote des inneren Seins Teil I

die \"Sinnlosigkeit des Daseins in Rein- kultur und


die Aussichtslosigkeit der privaten Existenz in
Konzentration, auch über gewisse häusliche
Schwierigkeiten, die ihn übertrieben beschäftigten.
Es gibt Tage, die so leer sind,
dass man sich wundert, dass die Fensterscheiben
nicht rausgedrückt werden von dem negativen Druck;
es gibt Gedankengänge von einer
Aussichtslosigkeit, die bewusstseinsraubend ist.\"
33) Die Inflation erreichte im Herbst 1923 den
schwindelerregenden Höhepunkt: Der Dollar stand im
Januar auf 10 500 Mark, am 20. November, als eine
neue Währungsreform die Inflation beendete, auf
4200 Millionen Mark. Benn schrieb: \"Demut empfinde
ich nur vor einem Teller Brühe und Ehrfurcht vor
einem Dollarschein.\" (An Zenzes, 23.11.1926).

Inferioritätsgefühle

Im Sommer 1925 reiste Benn nach Frankreich; in


seinem Reisebericht übertrug er ein \"Stück

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Gebote des inneren Seins Teil I

persönlichen Inferioritätsgefühls\" auf Deutschland


insgesamt (siehe \"Eindrücke aus Paris und ganz
Frankreich\").
In der \"Weltbühne\" erschien Summa summarum, \"ein
scharf polemischer Rechenschaftsbericht über die
Lebensbedingungen als Künstler und Arzt vor dem
Hintergrund der sich wirtschaftlich
konsolidierenden republikanischen Gesellschaft\":
\"Man kann für alle Missstände immer wieder nur
geltend machen, dass es überall nur Missstände gibt
und das Leben als Ganzes und solches so
enttäuschend schwierig und zerreißend ist\" (An
Zenzes, 01.05.1928). - Nicht selten betont Benn
sein Alleinsein. \"Ich habe für mich gelebt,
außerhalb von kapitalistischen Betrieben,
Behörden, Presse, Literatur, Vortragssälen, ich
habe allein gelebt.\" Doch diese Aussage ist
bedingt relativ auszulegen; sie wird durch die
biographischen Tatsachen widerlegt. Benn war
dreimal verheiratet, betrieb jahrzehntelang eine
Arztpraxis, stand mit vielen Literaten und Kollegen
in Verbindung usw. Vielleicht meinte er das

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Alleinsein als Individuum, als Künstler, als


Angehöriger einer Generation der alten europäischen
Welt? (Doppelleben, PuA 390).

Persönliche Schicksalsschläge

Am 19. November 1922 starb Benns erste Frau Edith,


geb. Osterloh, nach einer Gallenblasen-Operation in
Benns Armen. Am 1. Februar 1929 beging Benns
Freundin, die Schauspielerin Lili Breda Selbstmord.
Sie stürzte sich, wie er berichtete, von ihrer
Wohnung im 5. Stock auf die Straße. \"Sie rief mich
an, dass sie es tun würde. Ich jagte im Auto hin,
aber sie lag schon zerschmettert unten und die
Feuerwehr hob den gebrochenene Körper auf. Ich war
aufs tiefste betroffen. Ich bin es noch. Während
ich an Sie schreibe, habe ich Tränen in den Augen.
Sie fehlt mit so sehr und nie kann ich vergessen,
wie sie bei jenem letzten Telefongespräch, mit dem
sie Abschied nahm, so schluchzte, so unendlich
schluchzte.\" Und: \"Wenn ich dies alles überwinde,
wird irgendein neuer Mensch aus mir. Aber wohl ein

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Gebote des inneren Seins Teil I

kalter, armer Mensch mit einer Vakuumschicht um


sich herum.\" (An Zenzes, 24.02.1929).
Andreas Benn, sein Stiefsohn aus erster Ehe, starb
achtzehnjährig 1930 an Tb. Der jüngste Bruder
Siegfried Benn fiel 1941 als Artillerieleutnant
vor Moskau: \"Er war der Benjamin unter uns
zahlreichen Geschwistern, erst Mitte der
Zwanziger.\" (An Oelze, 24.10.1941). Benns zweite
Frau Herta kam im Zusammenhang mit sowjetischen
Besatzungsgräueln 1945 um.

Vorliebe für mittelmeerische Motive

Um das Jahr 1930 unternahm Benn mit dem


befreundeten Berliner Kunsthändler Franz M.
Zatzenstein mehrere Reisen im großen Horch-Wagen
nach Frankreich und Nordspanien. Über die
Reiseroute schrieb Benn, sie seien \"kreuz und quer
durch das Land\" gereist, \"vom Mittelmeer zum
Atlantik, von Palavas bis Arcachon, von Longwy bis
Hendaye und von Jeumont nach Perpignan, wir
durchfuhren die Argonnen und die Pyremäen\". Als

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Gebote des inneren Seins Teil I

Reisebegleiter des Kunsthändlers sah er die Länder


und Landschaften, die er auf seine eigenen
Kosten nicht hätte bereisen können. Die
mediterranen Chiffren (Südwort, ligurische
Komplexe, blau) sind bei ihm seitdem Ausdruck für
Wirklichkeitsverlust, Sehnsucht und
Zusammenhangsdurchstoßung. Als er 1942 eine Art
Bilanz seiner Existenz zog, gab er seiner Sehnsucht
nach südlichen Ländern Ausdruck: \"Es wird die
Trauer meiner letzten Jahre die sein, dass ich mein
Leben nicht in jenen Landschaften und Gegenden
verbringen konnte, in denen das südliche und
nördliche Reich zusammenfließt, also: Genfer See
oder Meran oder in Österreich dort, wo das
Habsburgische sich mit dem Alt-Slavischen und
Italienischen mischte (im Alt-Reich vielleicht:
Bodensee.\" Alles wäre dort weicher und fruchtbarer
geworden. Dort gedeihen die großen Früchte und die
Trauben, die in die Fässer und Kelter gefüllt, und
blühen die Narzissen, die auf die Märkte getragen
werden. Ihm sei es bestimmt, sich dagegen im harten
Norden herumzuplagen, wo sich das Leben immer nur

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Gebote des inneren Seins Teil I

durch \"Wunden und Zwiespalte\" zwängen müsse .


\"Dies Nebel- und Niflheim! Diese Asen, die immer
nur die Kriege in fremde Länder tragen!\" Von
Berlin aus versuchte er, \"mit Hilfe von Bildern
und Steinen\", die er in Museen und Büchern fand,
in die \"beschenkteren Reich mit Marmor, Öl und
Orangen\" hinüberzublicken. Seinem \"lädierten
Gehirn\" seien allein diese geistigen Eroberungen
vergönnt gewesen. Diesem Gehirn müsse es genügen,
\"dass es in der Bozenerstraße endet\" und für das
sei es be-zeichnend, \"dass es täglich über den
Witten-bergplatz muss, um in der Kurfürsten- und
Nettelbeckstraße zu landen. Die Kleiststraße, die
es passiert, heißt nicht nach Heinrich, sondern
nach einem General Kleist von Nollendorf.\" (An
Oelze, 14.10.1942).

Anzeichen von Irrationalismus

In einem Rundfunkdialog im Mai 1930 betonte Benn


die praktische Wirkungslosigkeit von Dichtern und
Dichtung gegenüber Öffentlichkeit und sozialer Not.

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Gebote des inneren Seins Teil I

Trotz der 36 000 Tb-Toten und 40 000 Abtreibungen


im Jahr entwarf Benn als Selbstbeschreibung einen
anderen Dichtertypus, einen, \"der weiß, dass der
schuldlose Jammer der Welt niemals durch
Fürsorgemaßnahmen behoben, niemals durch materielle
Verbesserungen überwunden werden\" könne. Gewaltsam
verdrängte er die eigene Misere und die Tatsache,
dass er sich wirtschaftlich am Rande des Ruins
dahinschleppen musste. Sein Stiefsohn Andreas starb
18-jährig in einem Sanatorium an Tb. Weit radikaler
und revolutionärer sei es, der Menschheit zu
lehren: \"So bist du und du wirst nie anders sein,
so lebst du, so hast du gelebt und so wirst du
immer leben. Wer Geld hat, wird gesund, wer Macht
hat, schwört richtig, wer Gewalt hat, schafft das
Recht. Das ist die Geschichte!\". Diese Lehre sei
weit radikaler und erkenntnistiefer als die
\"Glücksverheißungen der politischen Parteien\".
Dazu gehöre mehr Mut, \"als den Nachklängen der
franzö-sischen Revolution zu lauschen, sich mit den
Spätfarben des Darwinismus zu drapieren, die
Zukunft zu belasten und Träume zu beschwören\".

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Gebote des inneren Seins Teil I

(EuR 150). Klaus Mann kritisierte in einem Vortrag


in Wien Benns Ablehnung von Politik und
Fortschrittsglauben; er machte ihn auf die Gefahr
eines solchen Irrationalismus aufmerksam: \"Sie
stehen selbst links, Gottfried Benn. Wenn Sie,
Dichter, dessen Namen bei den Jungen vieles gilt,
die Ideale von links verhöhnen, gewinnen Sie damit
denen von rechts immer mehr Boden.\"

Geschichtspessimismus, Weg nach innen

Am 29.07.1930 sandte Benn den Text des


weltlichen Oratoriums \"Das Unaufhörliche\" an Paul
Hindemith: \"Der Name soll das unaufhörliche
Sinnlose, das Auf und Ab der Geschichte, die
Vergänglichkeit der Größe und des Ruhms, das
unaufhörlich Zufällige und Wechselvolle der
Existenz schildern, vielmehr lyrisch auferstehn
lassen.\" (An Paul Hindemith, 29.07.1930).
Das parlamentarische System scheiterte in
Deutschland mit dem Bruch der Großen Koalition.
Benns Poetik ging \"in entscheidenen Punkten aus

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

den durch die Weltwirtschaftskrise bedingten


ökonomischen, politischen und gesamtkulturellen
Erschütterungen hervor\" (Benns Chronik, Carl
Hanser Verlag München, 1978). Für Benn gab es
keinen anderen Weg als \"den nach Innen\". Alles,
was an Geschichte, an Sozialismus, an
Philosophie vorhanden ist, sei völlig hoffnungslos,
tragisch und unzulänglich. Es gebe keine andere
Lösung als die \"Gestaltung des Lebens im eigenen
seelischen Ich\", seine Aufnahme \"in den Geist\"
(1932).
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten
glaubte der im Grunde unpolitisch denkende Phänotyp
Benn, dass seine Prophezeiung von einer
anthropologischen Wende eingetreten wäre. Er
täuschte sich selbst, anstatt die politischen
Veränderungen aus der Geschichte heraus zu
erklären. Nach Heinrich Manns Enthebung seines
Amtes als Sektionspräsident in der Preußischen
Akademie wurde Benn in der Nachfolge als
kommissarischer Leiter der Sektion für Dichtung
eingesetzt. Es folgte das, was man in seiner

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Gebote des inneren Seins Teil I

Biographie als den großen unverzeihlichen Irrtum


bezeichnet, als Verrat oder gar als \"Verrat am
Geiste\". Benn biederte sich den
Nationalsozialisten an; im April 1933 hielt er den
Rundfunkvortrag \"Der neue Staat und die
Intellektuellen\" und kurz darauf schrieb er als
Antwort auf einen persönlichen Brief von Klaus Mann
die \"Antwort an die literarischen Emigranten\". Zu
seinen nationalsozialistisch geprägten Schriften
zählen ferner \"Das Volk und der Dichter\"; \"Der
deutsche Mensch. Erbmasse und Führertum\", \"Geist
und Seele künftiger Geschlechter\" und einige
weitere Aufsätze (\"Bekenntnis zum
Expressionismus\", \"Züchtung I\", \"Dorische
Welt\").

Neuorientierung: Umbau des Ichs

Nach einigen Anfeindungen entschloss sich Benn,


alle Brücken hinter sich abzubrechen, seine Praxis
in Berlin aufzulösen und nach einer über
17-jährigen Berufsarbeit in die Wehrmacht zu

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Gebote des inneren Seins Teil I

\"emigrieren\". An Frank Maraun schrieb er, dass


seine Lage in Berlin unhaltbar geworden sei,
\"wirtschaftlich, beruflich und vollends
literarisch\". Am 1. April 1935 trat Benn als
Oberstabsarzt im Range eines Majors bei der
Heeressanitäts-Inspektion Hannover seinen Dienst
an. Wenige Tage später schrieb er an
seinen Freund Oelze: \"Um zu neuen Resultaten zu
kommen, muss ich mich und will ich mich erst
wirklich umbauen lassen, völlig renovieren am
Gehirn, Blick, Milieu, Lebenshaltung.\" Er startete
die dritte Periode seines Lebens; es sei die
\"letzte Etappe\" seiner Existenz.
\"Und wenn das keine neue Häutung ergibt, will ich
keine Schlange sein\". (An Oelze, 07.04. 1935).
Während seiner Militärdienstzeit in Hannover
entwickelte er die sogenannte Strategie des
Doppellebens; es komme ihm nur darauf an, durch
\"gute Tarnung\" Handlungsfreiheit \"nach
innen\" zu bewahren. \"Vollendete Höflichkeit - das
hält doch alle ab, zu nah zu kommen, nur daran
liegt mir. Es ist doch ein ewiger Kampf, die Leute

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Gebote des inneren Seins Teil I

nicht mein Gesicht sehn zu lassen, bei jeder


Unterhaltung auf Treppen, Straße und Büros.\" (An
Oelze, 21.10.1935). In Briefen beklagte er seine
neue Lebenssituation; in der vorgeschriebenen
Uniform fühle er sich \"völlig unglücklich\". Auch
die Stadt gefalle ihm überhaupt nicht. Er \"lache
über diese dreckige Stadt, in der ein paar Straßen
bunt und hell sind und die andern alle dämlichste
Provinz\". \"Manchmal bin ich überhaupt der
Meinung, hier biete sich eine köstliche Gelegenheit
zu Doppelleben und Dämonenzauber, am Tage jawohl
und zu Befehl und den Hintern rausgestreckt und
abends Destruktion und Rassenschande. Tags Baldur,
dem Licht ergeben, und nachts Loki, den Ratten
pfeifend.\" (An Ellinor Büller-Klinkowström,
15.11.1935). Benn zog das Fazit der \"großen
Generation\" mit den Worten: \"Wir lebten etwas
anderes als wir wa- ren, wir schrieben etwas
anderes als wir dach-ten, wir dachten etwas anderes
als wir erwar-teten, und was übrig bleibt, ist
etwas anderes als wir vorhatten.\" Ist damit Benns
Integrität in Frage gestellt? Wird damit Benns

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

eigene Identität fraglich? Ist das Bekenntnis zur


Tarnung nicht ein Zeichen seiner Ohnmacht
angesichts der Gegenwartszwänge und der
terroristischen Staatsallmacht? Ist seine Existenz
nicht der Beweis dafür, dass der
zeitgenössische Deutsche seine historische Chancen
verpasste, weil er sich um Politik nicht kümmerte?

Grauen vor Land und Volk

Den Höhepunkt der Anfeindungen stellt jedoch der


anonyme Angriff der SS-Wochenzeitung \"Das Schwarze
Korps\" am 7. Mai 1936 dar. Benn schrieb an seinen
Freund Oelze: \"Eine Erkenntnis dieser letzten
Wochen ist für mich die, dass für die Kunst eine
viel größere Feindschaft als bei sämtlichen
Rabauken der Welt bei den bürgerlichen Kreisen ist.
Die bürgerlichen Schriftsteller Deutschlands würden
z.B. mich viel kaltblütiger, roher, intriganter
umlegen als die Rabauken, ich will keine Namen
nennen (Vgl. Kunst und Macht über
Intellektualismus). Dieser bürgerliche Schleim -

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

das ist ja das eigentliche Gift im Rachen der


Zeit\" (An Oelze, 20.05.1936). Besonders dieses
schicksalsentscheidende Erlebnis bildet ein
wesentliches Moment seiner Welt- und
Lebensanschauung.
Verständlich ist seine Reaktion auf diese
erschütternden Erlebnisse und Zeitereignisse; er
empfand ein tiefes Grauen vor der \"furchtbaren
Welt um uns herum\" und das immer geistloser
werdende deutsche Volk. An seinen Freund Oelze
schrieb er: Man vergesse manchmal, dass uns eine
furchtbare Welt umgibt, merke \"in Momenten ganz
grausig deutlich\", es ist \"der Dreck schlechthin,
das Inferiore an sich, der Unwert als solcher in
Zeitungen, Büchern, Theatern, allen öffentlichen
Reden, allem Deutschen überhaupt\" (An Oelze,
21.03.1937). Er befürchtete in solchen
Augenblicken, dass dies \"in aeternum\" so bleibe.
Es gäbe nur eine Rettung: \"Schweigen -, und mühsam
Reihe an
Reihe, Vers an Vers, Gedanken an Gedanken setzen,
hoffnungslos, aussichtslos, schmerzlich und die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Abgründe nie vergessend, bis irgendein


Leichenbeschauer das trocken gewordene Auge einem
mit bezahltem Geschäftsfinger zudrückt, - der
Letzten Los. Ecce homo germanicus\" (21.03.1937).
Wut, Hass und Enttäuschung entlud er in seinem
Brief vom 30.05.1937 an Oelze mit folgenden Worten:
\"Wenn dies vorüber ist: - ob Deutschland etwas
daraus lernen wird? Ich glaube es nicht mehr. Dies
Volk ist zweitklassig. Ohne Anlage zu
Differenzierung und Helligkeit und moralischer
Verfeinerung. Wo es ungemischt ist, ist es
schlimmer als russisch. Nur wo andere Rassen es
lösten und äderten, entwickelt es seinen in der
Erbmasse vorhandenen Reichtum und Glanz. Das
tiefste und schmählichste Volk, das dümmste, das
uneuropäischste. Ein klägliches Vaterland, lieber
Herr Oelze! - Ein Schlagerlied aus einem
amerikanischen Revuefilm sagt mir mehr, erregt mich
mehr als die tiefen Gedanken der Geschichte und der
deutschen Zeit\" (An Oelze, 30.05.1937).

Festigung der Gegenposition

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Den anderen Wehrmachtsangehörigen gegenüber empfand


er sich als Gegentyp. Offen und unverbrämt äußerte
er sich darüber in einem Brief an Oelze: \"Ich kann
diese sturen Gestalten ringsherum garnicht mehr
verächtlich finden etwa, keineswegs, sie gehen alle
ihren armseligen engen Weg mit Weib und Kindern und
starken Dekorationsdrängen und
Kriegsverdienstkreuzbestrebungen - nichts gegen
sie, es muss so sein.\" Vor einer Berührung mit
ihnen solle ihn \"irgendetwas Transzendentes\"
(\"Schicksal oder Ordnung oder Götter oder
Zufall\") bewahren. Zu seinem Bedauern müsse man
kameradschaftlich und gesellschaftlich Umgang
pflegen mit solchen Menschen, deren Ansichten
nichts anderes seien als \"Absonderung, Wunde,
zellulöser Unflat\"; sonst werde man als
\"eigenbrötlerisch\", \"verschlossen\", \"vor allem
arrogant\" angesehen. (An Oelze, 05. 12.1940)
.
Der Staat - die organisierte Unmoralität

Bereits 1927 reagierte Benn sein Unbehagen an der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

literarischen Öffentlichkeit der Republik ab und


schrieb in seinem Aufsatz \"Neben dem
Schriftstellerberuf\", der in der \"Literarischen
Welt\" im September 1927 erschien: \"Der Staat hat
nie etwas für die Kunst getan.\" Er hielt es aber
für idiotisch, den Staat zu bekämpfen; das sei
genauso idiotisch, \"wie die Ausscheidungs-organe
am Körper zu bekämpfen oder die Rachen-mandeln\".
Der Phänotyp ziehe es vor, \"sich von ihm
abzusetzen - dies allerdings unerbittlich\". (An
Oelze, 22.09.1940). Vom Staat, nach Nietzsche die
\"organisierte Unmoralität\" (Werke, III 635), der
\"in allen Zungen des Guten und Bösen lügt\"
(Werke,II 314), müsse sich der Künstler fernhalten.
Nietzsche, der Ratgeber Benns, wußte: \"Alles, was
ein Mensch im Dienste des Staates tut, geht wider
seine Natur\" (Werke, III 658).

Schizoider Grundzug der menschlichen Substanz

Überdeutlich empfand Benn um 1940 den Dualismus

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

zwischen Innen und Außen. Es erschien ihm


erstaunlich, wie sehr unser Leben \"diese Synopsis
des 20. Jahrhunderts\" herausgearbeitet hatte,
diesen \"schizoiden Grundzug der menschlichen
Substanz\", nämlich dass es nur die geschichtliche
Welt und den einsamen inneren Rausch\" gäbe. In
dichterischer Prosa hieß es: Wir stünden wieder
\"in dem hohen Felsental, in dem über der Öffnung
der Höhle der Dreifuß\" stehe: \"Weihrauch,
Weissagung und Rausch, die pythische Stunde\" (An
Oelze, 27.10.1940). In seiner Biographie
\"Doppelleben\" stellte Benn die rhetorische Frage:
\"Wenn einer zufällig, durch die Zeitereignisse
gezwungen, innerhalb der geschichtlichen Welt lebt,
also zwischen Scharfschützen und Schiebern,
Fallenstellern und Hasendieben, sollte das ihn
veranlassen, aus sich herauszutreten und tatkräftig
Ansichten zu äußern?\" (PuA 441). Für einen
Künstler erübrigt sich die Antwort.

Abgesänge einer geistigen Existenz

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Benn glaubte einerseits der Zeit schöpferisch


enthoben zu sein, andererseits gab er Antwort auf
die Fragen der Zeit. Nachdem die sowjetischen
Truppen am Baranow-Brückenkopf durchgebrochen
waren, schrieb Benn im Hinblick auf das Landsberger
Romanfragment am 22.01.1945 an seinen Freund F. W.
Oelze: \"Es war das, was ich noch zu sagen hatte im
Rahmen meiner Mittel und im immer aufrichtigen
Gefühl vor den zentralen Lagen unserer geistigen
Existenz. Diese Lagen waren schwierig, vielfach
dunkel, aber ich habe nie den Blick von ihnen
gelöst.\"
Im Oktober 1955 schrieb Benn einen offenen
Geburtstagsbrief für eine Festschrift zu Kasimir
Edschmids 65. Geburtstag. Dabei stellte er
Gemeinsamkeiten der expressionistischen
Generationsgenossen heraus: \"Die jungen Leute von
heute wissen nichts mehr davon. Sie nehmen es als
gegeben an, dass unsere Generation die Sprache des
letzten Jahrhunderts sprengte, auseinanderrriss,
dass wir die Steine weiter-wälzten, es versuchten
-, und sie wissen noch nicht, was es heißt, im Vers

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

oder in der Prosa die Säulen des Herkules auch nur


um einige Regenwurmlängen weiterzurücken - was es
heißt und was es kostet. Sie wissen wohl auch kaum
noch etwas von dem, was hinter uns stand, auch
hinter Ihrer Prosa, sie wissen nichts mehr von
Heinrich Mann, D´Annunzio, Oscar Wilde, Huysmans,
Maeterlinck - alle diese, die uns beeinflussten,
uns banden, aber die wir auch überwinden mußssen,
um zu uns selber zu gelangen. Merkwürdigerweise
sind es allein die großen französischen Lyriker des
19. Jahrhunderts, die auch heute noch lebendig
sind.\" (An Kasimir Edschmid,05.10.1955). Der Leser
des Experimentalromans muss sich diese literarische
Entwicklungen von den großen französischen Lyrikern
des 19. Jahrhunderts (Baudelaire, Mallarmeé,
Verlaine) über die Literatur der genannten Dichter
zu den Expressionisten (Georg Heym, Georg Trakl,
Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Paul Zech,
Franz Werfel, Kurt Heynicke, Carl Sternheim, Ernst
Barlach, Fritz von Unruh usw.) und darüberhinaus
vergegenwärtigen, um den radikalen Bruch der
traditionellen Formen zu erkennen, den Benns

Seite 144
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Kunstprosa in der Entwicklung darstellt. Als


Überlebender der expressionistischen Generation
übernahm Benn zusätzlich die Aufgabe, \"die
Irrungen seiner
Generation und seine eigenen Irrungen
weiterzutragen, bemüht, sie zu einer Art Klärung,
zu einer Art Abgesang zu bringen, sie bis in die
Stunde der Dämmerungen zu führen, in der der Vogel
der Minerva seinen Flug beginnt.\" (Ebd.,
05.10.1955).

Relativismus, Perspektivismus

Benn zieht sich folgerichtigerweise aus dem


Getriebe, dem Trubel der Geschäftemacher, der
Schwindler und Schieber zurück; er registriert zwar
alle diese \"Stimmungen, Möglichkeiten, Zuckungen,
Wehen\", aber lanziert dies nicht in
\"Geschwätz und Feuilletons\", sondern
legitimiert die Zeit durch seine Existenz; er läuft
nicht überall mit, beteiligt sich nicht an dem

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Rummel, sondern steht still und wartet, dass die


Dinge auf ihn zukommen. (Die neue lite-rarische
Situation, EuR 457). Im Roman beruft sich Benn auf
einige Philosophen wie Laotse, Platon, Pascal und
Nietzsche, aber nicht auf die ersten Relativisten
wie Protagoras und Gorgias oder auf die
Existenzphilosophen Sartre und Heidegger.
Der Phänotyp glaubte, aus den \"relativierten
Raumvorstellungen\" (PuA 185) Folgerungen ziehen zu
müssen. Nach Bekanntwerden der Einstein´- schen
Relativitätstheorie, die gegen Ende des Ersten
Weltkriegs eine sensationelle Diskussion unter
führenden Physikern auslöste, aber auch in größeren
Tageszeitungen Zustimmung und Widerspruch erfuhr,
entstanden grobe Missverständnisse; \"insbesondere
wurde bald die Binsenweisheit von der Relativität
aller menschlichen Dinge mit der nur geschulten
Mathematikern verständlichen Theorie Einsteins in
Verbindung gebracht\". 34) (Hermann Glockner, Die
europäische Philosophie von den Anfängen bis zur
Gegenwart, S. 1097). Das 1922 erschienene Buch
\"Einstein. Einblicke in seine Gedankenwelt\",

Seite 146
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

entwickelt aus Gesprächen\" von A. Moszkowski, das


seinerzeit weit verbreitet war, \"trug viel zur
voreiligen Formulierung von angeblich
unvermeidlichen weltanschaulichen Konsequenzen der
zunächst rein physikalisch gemeinten
Relativitätstheorie bei\" (Ebd. S. 1098). Erst Max
Plancks Abhandlungen, Aufsätze und Vortragstexte
(insbesondere \"Kausalität und Willensfreiheit\",
1923) brachten mehr Klarheit in die popularisierten
Vorstellungen der Wissenschaft und übertrafen
bei weitem Einsteins Theorie an philosophischer
Bedeutung. Planck hob jederzeit hervor, dass das
Kausalprinzip keineswegs abgewertet sei. Werner
Heisenberg bewies schließlich durch die Entdeckung
der \"Ungenauigkeitsrelationen\", dass der Physiker
bei seinen Feststellungen an Grenzen gelange, wo
eine weitere Anwendung des Kausalprinzips unmöglich
sei, weil dabei die genaue Unterscheidung zwischen
Ursache und Wirkung entfalle. Nach wie vor gilt,
dass Raum und Zeit objektiv-real unabhängig vom
menschlichen Bewusstsein existieren. \"Raum und
Zeit bilden eine Einheit des Absoluten und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Relativen: sie existieren absolut, insofern sie die


unbedingbare, objektivrealen Existenzformen der
Materie sind; sie sind relativ, da ihre konkreten
Eigenschaften vom Zustand der Materie
(Massenverteilung, Geschwindigkeit) in dem
betreffenden Bereich des Weltalls abhängen. Raum
und Zeit sind von dialektischer Natur; das
widersprüchliche Wesen von Raum und Zeit zeigt sich
u.a. darin, \"dass sie den Widerspruch des
Endlichen und Unendlichen sowie den des Stetigen
und Diskreten (Kontinuität und Diskontinuität)
an sich haben.\" 35)

1.2. Nicht erzählen wie in Schifferkreisen!

Gottfried Benn greift das Stichwort vom Ende des


Erzählens der herkömmlichen Art im Kapitel
\"Völliger Gegensatz zu Schifferkereisen\" auf und
stellt sachlich fest: \"Existentiell - das ist der
Todesstoß für den Roman.\" In diesem Roman gibt es
keine \"Schnurren und Späße\"; da wird nichts
Biographisches erzählt. Der \"Romanheld\" ist der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Phänotyp, der über die neue Situation sinniert, die


gewandelten Anschauungen darstellt und die Folgen
für die Kunst erläutert. Wehmütig erinnert sich der
Phänotyp an die großen Romane, denkt oft an die
\"Seemänner, die ihr Garn spinnen in Grogstuben, wo
die tabakgebräunten Kuttermodelle von der Decke
hängen, aus der Welt der Segelschiffahrt und des
Bordlebens frei erzählt\"; das seien lauter
\"Perlen der Erinnerung\"! Der Phänotyp ist sich
des Verlustes bewusst: \"Wieviel Erlöschen wieder
schweigsam gewordener Welten!\" Das
Erinnerungsvermögen schaffe nicht in jedem eine
Basis, einen Fonds, der so wichtig wäre, \"um in
Schifferkreisen zu verkehren\" (PuA 163).

Nach Benns Feststellungen ist die Tatsache nicht zu


leugnen, dass der Widerstand des modernen Menschen
\"gegen rein Episches\" ge-wachsen sei; er sei
gegen \"externen Stoffzustrom, Begründungen,
psychologische Verkleisterungen, Kausalität,
Milieuentwicklung\". Dem entspreche \"unser Drang
zu direkter Beziehung, zum Schnitt, zum Gliedern,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

zum reinen Verhalten\". Im Kapitel \"Statische


Metaphysik\" heißt es hierzu: Kunst bedinge ein
\"neues Verhalten\". \"Schon liegt existentiell -
der psychologische Roman außerhalb des anfangs
erwähnten Umkreises, der das heutige Phänomen
bestimmt\". (PuA 157). Dabei fällt dem Phänotyp
auf, dass \"frühere Epochen und auch heute ganze
Länder Bücher schreiben und Sonaten verfassen\". Er
stellt sich die Frage, warum man Personen, Namen
und Beziehungen erfinden solle, wenn sie gerade
unerheblich würden? \"Handschriften,
Kranzschleifen, Fotografien - alles das ist schon
zuviel.\" (PuA 150). Wenn mehrere Herren nach Tisch
beisammen stehen und eine ernste Unterhaltung
beginnen und dabei den dienstlich- umgangsmäßigen
Jargon verwenden\", z.B. \"Um drei Uhr hat es
angefangen, schöner Schlamassel, ich dachte erst um
fünf\" - dann weiß der Phänotyp, dass das ein
rückständiges Erzählen sein würde. (PuA 151). Der
Erzähler sei schon gealtert, wirke nicht sehr
eindrucksvoll, sei körperlich nicht mehr auf der
Höhe. Im Kapitel \"Statische Metaphysik\" gibt Benn

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

weitere Beispiele für ein völlig veraltetes,


überholtes Erzählen, z.B. die Biographie eines
Königsbergers. Der Erzähler sei keinesfalls auf der
Höhe der Zeit, wenn er ausführe, dass dem Prototyp
in mehreren Lebenssstellungen viel begegnet sei,
dass ihm zwei Enkel wegstarben und dass er
schließlich im badischen Schwarzwald verstorben
sei. Angehörige mag es vielleicht interessieren;
den einen oder anderen mache es vielleicht
nachdenklich, aber es sei keine Kunst. Ein weiteres
Beispiel: Wenn jemand einen biographischen Roman
über den Erfinder des Fahrstuhls verfasst und diese
Erfindung \"im Rahmen eines mittelgroßen
Zeitgemäldes\" als \"Kulturfortschritt\" anpreist
und schließlich \"allgemeine wie besondere
Betrachtungen\" an-stellt, so sei dies ebenfalls
keine Kunst. Darin gäbe es keine primär gebauten
Sätze. Kunst sei \"etwas Reines, ein Adagio, nur
aus Klari-nette und Klavier\". Wer sei denn
beeindruckt, fragt der Phänotyp, wenn in einem
Roman erzählt werde, eine Frau sei aus dem Postamt
gekommen oder dass ein Mixer an der Bar erschöpft

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

aus-gesehen habe? (PuA 157). Überholt sei die


Story, z.B. in dem Kapitel \"Völliger Gegensatz zu
Schifferkreisen\", wenn Seeleute erzählen, dass sie
an einem \"totenstillen Sonntag\" in
Hoboken lagen. \"Es war so heiß , als ob ein Feuer
über Deck fegte. Es fehlte uns an money, um es den
Astors gleich zu tun und die City zu genießen.\"
Die Passagiere waren von Deck gegangen; sie
\"tummelten sich wohl schon in ihren Kreisen\". Die
Stadt und das Land waren uns unbekannt: Auch die
Gebräuche waren uns fremd. Man sah von der Stadt
nur tief gestaffelte Mauern \"mit Flecken drauf\";
das waren wohl die Fenster. Wir besetzten die
freien Korbstühle, \"die endlich einmal für uns da
waren\" (PuA 164) usw. Der Durchschnittsbürger
verabscheue alle Bücher: \"Sie lesen wohl Bücher,\"
sagt eine höhere Charge, \"habe ich nie gemacht;
Zigarre, Schnaps und Zungenkuss und sonntags
natürlich in den Gottesdienst, aber Bücher - doch,
über die Königin Luise habe ich eins gelesen\".
Diese Charge sei u.a. \"menschlich anständig und
moralischsolide\" (Zum Thema Geschichte, EuR 353).

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Dagegen setzt der Phänotyp seine eigene Theorie;


er hält mit seinen Beständen aus. Das unmittelbare
Erleben trete zurück; die Sinne seien im Rückzug.
Seine Stunden bringen keine blühende Phantasie
hervor. Worte, Traumbilder, Wissensbruchstücke
werden nicht mehr logisch, sondern assoziativ
aneinander gereiht. \"Alles, was zurückbleibt, sind
Dinge, die in Bewegungslosigkeit geschaffen wurden,
z.B. dieser Roman im Sitzen. Der Held bewege sich
wenig; \"seine Aktionen sind Perspektiven\", sein
Element sind Gedankengänge. Im Gegensatz dazu
stellt Ernst Jünger in seinem Essay \"Der
Weltstaat\" (1960) fest, dass man den Menschen
nicht als \"stehendes, sitzendes oder gar
thronendes Wesen begreifen könne; er sei in
Bewegung, und zwar in einer Bewegung, \"die nicht
durch ihn, sondern auch trotz ihm und gegen ihn
stattfindet\". 36) Zur Veranschauli-chung der
eigenen Thesen erinnert der Phänotyp an Nietzsches
Biographie: \"Hat schon jemand einmal darüber
nachgedacht, dass Nietzsche 14 Dioptrien trug,
meistens zwei Gläser, Knaben leiteten ihn über

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Stege und hinunter. Auch hören wir nicht mehr weit,


die großen Firnenjäger hörten weiter.\" Er stellt
die Frage: \"Warum Gedanken in jemanden
hinein-kneten, in eine Figur, in Gestalten, wenn es
Gestalten ... nicht mehr gibt?\" (PuA 150).
Benn sieht die Möglichkeiten der Romankunst
endgültig erschöpft und glaubt, dass die
Möglichkeiten \"von geordneten Worten und Sätzen
als Kunst, als Kunst an sich\", im Grunde erst
begännen. Sein Ziel ist Ausdruckskunst,die absolute
Prosa \"außerhalb von Raum und Zeit, ins Imaginäre
gebaut, ins Momentane, Flächige gelegt.\" Ihr
Gegenspiel sei \"Psychologie und Evolution\". Er
postuliert das Ideal einer absoluten Wortkunst, die
es dem Lyriker erlaube, sich der Prosa zu
bemächtigen. Es sei \"auftragsgemäßer und
seinserfüllter\", \"das Nebeneinander der Dinge zu
ertragen und es zum Ausdruck zu bringen\" (PuA
156).
Das Leben habe zwar im Material \"unabsehbare
Züge\", doch es mangele ihm an \"Bewusstsein,
nämlich an Gaben, sich zu objektivieren\". Bereits

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts


entdeckt Benn Spuren des großen französischen
Stils. An die Stelle des Latinismus der Schule,
der scholastischen Rhetorik, der Allegorien und
Konventionen der Trouvères trete die
\"Ausdrucksweise des honête homme, des Mannes von
Welt\". Benn erkennt darin den Beginn einer neuen
Wortkunst in der europäischen Literatur, das
\"Artistische, die Wortkunst des Absoluten\" mit
den Grundabsichten: \"Schönheit schaffen durch
Abstand, Rhythmus und Tonfall, durch Wiederkehr von
Vokal und Konsonant\".
Phänotypisch zeitgemäß sei Pascals Ausspruch, dass
alle Leiden des Menschen daherrühren, dass er nicht
ruhig in seinem Zimmer bleiben könne. \"Wen
Einzelheiten bedrängen, der greife unge-stört zur
Feder\" (Statische Metaphysik). \"Wohin das Auge
schweift\", beispielsweise vom Platz am Fenster
aus: \"Möglichkeiten, Motive, Anspielungen,
Perspektiven\". In der jeweiligen Perspektive
äußere sich die Konsolidierung, der Zuwachs an
Fonds. \"Kunst ist die Asche des Geistes - so

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Gebote des inneren Seins Teil I

verkürzt sich der Weg.\" Der Phänotyp folgert:


\"Die jenseitigen Dinge sind einem viel näher als
die nahen\", ja die gegenwärtigen seien das
Fremde schlechthin. Für jedes Genie gelte, dass es
zwar vielleicht Einzelheiten studiere, aber kein
Beobachter sei. Dafür habe es die Blicke auf ferne
Zeiten, auf kommende Geschlechter gerichtet und
empfände das Dasein ganz anders. \"Etwas
Unstillbares ist dabei, etwas, das das Herz
zerreißt.\" Man könnte ebenso mit Pascal
feststellen: \"Wir sind erfüllt von Dingen, die uns
nach außen ablenken.\" (\"Gedanken\", Nr. 196, S.
85). Wir wüssten eigentlich nicht \"von der totalen
Verwahrlosung unseres Innern, seinen Lügen, seinen
Korsettstangen, seinen Suspensorien, kurz seinen
traurigen, hygienischen Hilfs- und Rettungsmitteln,
Yohimbinträumen, Krücken, Urinarien, dem ganzen
faulen Zauber seiner künstlichen
Aufrechterhaltung\".
Der Kern des Phänotyps sei \"völliger
Zusammenbruch\"; er habe \"kein Gestern, kein
Morgen, keine Ahnen, keine Enkel\". In seinem Brief

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

vom 12.04.1947 an F. W. Oelze schreibt Benn


bei-läufig: \"Wir alle leben etwas anderes, als wir
sind; man kann nur noch so schreiben, dass sichtbar
wird, dass es weder Frage noch Antwort gibt; das
alles war einmal.\" Der Phänotyp äußert sich
entsprechend: \"Wo immer das Innere des Phänotyps
sich einen ästhetischen Ausdruck sucht, wird ihn
die Umwelt als fragwürdig empfinden.\" Er zieht
daraus die Folgerung, dass dem Phänotyp nichts
anderes übrigbleibe, als \"Springbrunnen\" in sich
selber hochzuwerfen, eigene \"Echowände\" zu
errichten. Man solle derjenige sein, \"der sich
selbst umschreitet\" und dabei absolute Prosa
schaffen, darin \"alles gleich zur Hand\" sei, und
zwar \"durch Anordnung\". Im Roman gäbe \"keinen
Lebenszusammenhang, keine Zeitfolge, nichts von
Ursache und Wirkung\". Der \"Ptolemäer\" spottet
später, er wolle aber auch vor jedem, der lieber
historische Romane läse und ganze Kulturepochen vor
sich ausgebreitet sähe, gern die Hände falten und
ihm wünschen, dass ihm viele Söhne das Räucherrohr
anzünden mögen.

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Gebote des inneren Seins Teil I

Der Phänotyp veranschaulicht die neue Kunst des


Sehens, der malerischen Anordnung, wo alles
\"optisch summiert\" sei, anhand eines Bildes aus
der Schule Rjepins. Am Frühstücktisch sieht man
eine schöne, dicke Frau sitzen, einen \"wahrer
Quirl von Biskuit, Waranja, Tee, Rum, Melone,
eingemachten Früchten\". Die schlemmende Patronin
sieht etwas schwermütig aus, sehr füllig. Ihrer
Überfülle sieht man die \"Schwere eines weiten
östlichen Landes\" an. Die Sach-verhalte sind
massiv, drastisch: man sieht Trauben, eine
zweifarbige Katze, das Haarnetz, im Vordergrund
einen Samowar, dahinter die Kuppel eines
Zwiebelturms. Das Bild ist eine abgeschlossene
Darstellung mit durchdachter Anordnung der
Gegenstände, mit verteiltem Kolorit.

Benn erklärte später das neue Ausdrucksschaffen mit


folgenden Worten: Selbst ein \"luzider
Intellektueller, der genau über sich wacht\", könne
oft nicht sagen, \"warum er gerade in diesem
Augenblick gerade diesen Inhalt gerade in diesem

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Ausdruck bringt und keine innere Ruhe verspürt,


bevor nicht jene Formulierung gefun-den ist, die
offenbar gewissermaßen präformiert in einem
vorhanden war. Womit ich aber nicht sagen will,
dass ´etwas´ aus einem spräche, so mystisch möchte
ich das nicht ausdrücken, es ist wohl etwas sehr
Reales und gehört zu den vielen Unbekanntheiten des
menschlichen Erlebens\" (An Oelze, 02.10.1947).
Ein nicht zu übersehendes Stilmittel ist das
\"Berlinische\", das sein Freund Oelze einmal als
das \"fatal Berlinische\" bezeichnete, das
\"Schnoddrige und Kaltschnäuzige\", von dem Benn
glaubte, \"reichlich viel davon assimiliert\" zu
haben. \"Es ist eine Nuance der großen
Desillusionierung, die ich selber ja so gerne
betreibe und die, wie ich glaube, mich
stilistisch erzogen hat. In einer Almhütte
(Heideggers Todtnauberg im Schwarzwald) bilden sich
Geschwülste und am Steinhuder Meer (Kirchhorst,
lange Jahre Ernst Jüngers Wohnsitz) kein Stil, aber
in diesem gemeinen Berlin streift sich manches
Sentimentale ab, es macht fit und sec (herb). (An

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Gebote des inneren Seins Teil I

Oelze,25.09. 1947). Mit dieser berlinischen


Schnoddrigkeit korrespondiert die Ablehnung aller
\"allgemeinen Erörterungen und
Wahrheitsaussprechungen und Deutungen\", wie Benn
im selben Brief bekennt. Schließlich redet sich er
selbst ein, dass sein \"Schweigen und
Verdecktsein\" zu seinem Stil und seinem Leben
gehöre. \"Das Lebensschicksal ist ja nichts Äußeres
und kommt nicht aus der Umwelt auf uns zu, sondern
es steigt aus uns selber auf, wir ziehen es heran,
selbst Tod, Schicksalsschläge, naturalistisches
Wirrwarr sind unsere eigenen Materialisationen, und
was wir Lebenslauf und Biographie nennen, ist die
Aura, die Oddschicht unseres inneren Seins, das
sich Geltung und Gestaltung schafft.\" Zur
Bestätigung dieser nachträglichen Auslegungen
zitierte er den Satz: \"Es gibt Existenzen, in die
greift das Schicksal nicht ein.\" (An Oelze,
07.11.1947).

1.3. Kriterien der absoluten Prosa

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Gebote des inneren Seins Teil I

Das Kapitel \"Summarisches Überblicken\" ist Benn


\"eine der liebsten und geschlossensten\" Stellen
seiner Prosa; sie erfüllt ihn \"mit Wehmut\", weil
sie ihm zeige, \"wohin er seine Prosa hätte
entwickeln sollen\". \"Es enthält eigentlich am
vollendetsten das, was mir vorschwebte, als ich
diesen Suprastil entwickelte.\" Dann erzählt Benn
die Vorgeschichte: Er besaß einmal das Buch \"Die
Schönheiten des weiblichen Körpers\", ein \"höchst
seriöses kunstgeschichtliches Werk mit etwa 200
Bildfotographien (Botticelli, Paolo, Veronese,
Rubens etc.)\". Beim Überblättern geriet er wegen
der unermesslichen Fülle an Details, \"Blumen,
Tauben, Hunden, Panzern,Pelzen - kurz Stofflichem\"
in eine Art Rausch. \"Dieser künstlerische Eindruck
konnte sofort in Worte, Sätze, Rhythmen
transponiert werden.\" Der künstlerische Vorgang
ist Benn so wichtig, dass er ihn ebenso ausführlich
in seiner Autobiographie \"Doppelleben\" darlegt:
\"Welche unbeschreibliche Fülle von Exterieurs,
Bewegungen, Gewändern, Begleitpersonen, Mythen,
Vorfällen, Göttertaten. Hier sind die

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Gebote des inneren Seins Teil I

Einzel-heiten: Tauben, Hunde, Barken, Muscheln,


Schwäne! Hier braucht das Auge wirklich nur
abzulesen, Worte finden dafür, schmeichelnde Sätze,
der Schönheit der Vorgänge und Versun-kenheiten
gemäß.\" (PuA 447). Die \"visionäre Masse\" wollte
quellen, und er konnte sie ab-sichtlich quellen
lassen. \"So erheben sich die Welten. Andromeden,
Atalanten, schlafend oder erwartend, nackt oder
unter Fellen, behängt mit Perlen, Blumen oder vor
Spiegeln.\" (PuA 165). Die \"nackten Körper\"
ließen ihn völlig kalt, doch beschrieb er sie
hingebungsvoll: \"Weiße Üppige mit aufgestützten
Schenkeln, oft dicht an ihren Rettern, deren
Brünnen glänzen.\" Benn bemerkt sachlich, dass die
meisten Frauen sehr einsam scheinen, sehr in sich
verborgen; sie \"gehn aus dem blassen gewölbten
Fleisch nicht über; sie erwarten, aber sie zögern
vor jeder Röte und vor jeder Lust.\" Man erblickt
sehr \"Verhaltene\", z.B. \"Ceres mit dem
Weizenkranz, schweigsam wie die Samenkörner\", und
eine \"bäuerliche Herbstin\" mit einer Hacke, mit
Trauben und Weinzweigen. Sie senkt die Blicke, die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

bitter und unerfüllt scheinen. Kritiker müssen hier


die Frage stellen, ob diese Prosa-stellen nicht in
Fingerübungen ausarten oder bloß enthusiastische
Bildbeschreibungen sind. Die im Kapitel
\"Summarisches Überblicken\" erwähnten griechischen
Götter und Göttinnen wie Venus (Aphrodite), Amor
(Eros), die Göttin des Getreides Ceres, Ariadne,
eine Vegetations-gottheit, die schöne Nereide
Galathea und die Frau des Perseus Andromeda, die
schöne arka-
dische Jägerin Atalante, Prokris und Cephalus, sind
ein Hinweis auf die quellende Fülle der
griechischen Mythen. Das Besondere der Dar-stellung
liegt nach Benns künstlerischer Intention in
Wortwahl, Anordnung, Satzbau, Hintersinn usw.
Gemeint ist ein fließender Übergang von reiner
Bildbeschreibung zur Deutung und Phantasie.
Prächtig vor Augen liegen hier die Details, die man
sonst mühsam suchen und zusammenstellen müsste,
bewegte und in künstlerischen Formen gebannte
Welten. Der Existentielle braucht sie nur zu
erblicken und kann sich zu \"Ausdrucksversuchen, zu

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Schöpfertaten\" (PuA 447) hinreißen lassen.


Gleich zu Beginn des Kapitels gibt er davon ein
Beispiel: Galatheen erheben sich von ihren Pfühlen,
Venusse und Ariadnen sammeln Früchte, \"lassen
Veilchen fallen, senden einen Traum\". Man sieht
Venus mit Mars oder mit Amor; man bemerkt sie vor
einer Landschaft gelagert, \"ein weißes Kaninchen
an der Hüfte\", eine helle und dunkle Taube zu
Füßen. Ein Bild stellt die unglückliche Jagdszene
aus der Sage von Procris (Prokris) und Cephalus
(Kephalos) dar: Kephalos bricht zwei Stunden nach
Mitternacht zur Jagd auf; die eifersüchtige Gattin
Prokris folgt ihm misstrauisch, weil sie
befürchtet, dass er noch immer heimlich Eos
besuche. Kephalos glaubt, im Dickicht ein Geräusch
zu hören, schießt seinen nie irrenden Pfeil ab und
trifft Prokris tödlich. Trauernd sitzt der schöne
Hund Lailaps an der Leiche. \"Galatheen landen mit
Delphinen, verlassen die große Muschel, teils
betreten sie allein das Ufer, teils mit
Wasserjungfrauen und Zentauren. Und immer wieder
die Tauben, auch die Schlangen, auch die Muscheln

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

und dort der Pfau und dort die Barke, an allen


Stränden, an allen Hängen.\" Unversehens setzen
Visionen, Deutungen ein: \"Es brennen die Bilder
ihr unerschöpflichen beschirmter Traum.\" Benns
Kunstgefühl bricht sich Bahn: Die Bilder des
kunstgeschichtlichen Werkes entführen in
Raumwelten; die visionäre Masse beginnt in der
Phantasie des Dichters zu quellen: \"Der
körperliche Blick reicht nur über den Platz bis an
die Burgen - aber die Trauer reicht weiter, tief in
die Ebene hinein, über die Wälder, die leeren
Hügel, in den Abend, das Imaginäre, sie wird nicht
mehr heimkehren, dort verweilt sie, sie sucht
etwas, doch es ist zerfallen, und dann muss sie
Abschied nehmen unter dem Licht zerbrochener Himmel
- diese aber entführen, führen weit und führen
heim.\" (PuA 165).

Im Brief vom 30. März 1949 erläutert Benn sein


Prinzip der zentrierten Abordnung von Worten: \"In
jedem Satz: alles. Dies Prinzip der absoluten
Prosa, in der kein Satz im Zusammenhang mit

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

psychologischen und erlebnisfähigen


Herkunftsäußerungen mehr steht, war das Prinzip,
das mir wahrhaft erschien. In jedem Satz: Alles.
Solche Sätze sind nicht zu verstehen, sie enthalten
nur sich selbst. Ich vermute, dass die zukünftige
Prosa etwas von dieser nackten Absolutheit
enthalten wird.\" Die entscheidenden Kriterien der
absoluten Prosa sind damit aufgezählt: die Lösung
der Worte von ihren psychologischen und erlebten
Ursprüngen, die Befrachtung der Sätze mit Gefühl,
Klang, Stimmung und Imagination. Traumbilder in
nackter Absolutheit. Die Welt als Traum. Die
Kunstprosa, die auf Nietzsches orgiastischer
Kunstlehre beruht, entzieht sich rationaler
Deutung; sie kann aus Erlebnisinhalten, die den
Text nur strukturieren, nicht erklärt, dem Leser
nicht genau verständlich gemacht werden. Im
\"Ptolemäer\" heißt es, der Künstler sei der
einzige, der mit den Dingen fertig werde und der
über sie entscheide.
Sein Freund Oelze beschrieb das \"moderne,
logisch-begriffliche Denken als veraltet\", als

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

\"eine Art Wortkarussell\" und als etwas


\"Vernebelndes, das keineswegs zu Erkenntnissen
führt (wie Pascal, Descartes, Kant zu Erkenntnissen
führten)\" und führte weiter aus: \"Es gäbe also
heute, als ernst zu nehmen, nur noch: das streng
mathematische Denken in Formeln und das
existentielle Denken, den Radardenker. Das ist das
Fazit, zu dem ich gelange. Und bemerkenswert ist,
dass der Radardenker dem Dichter sehr nahe steht,
ja in seiner höchsten Form mit ihm identisch ist,
d.h., er gelangt wieder zu Erkenntnissen, wenn auch
auf anderem Wege als die Obengenannten, und in
einer anderen Ausdrucksform: nämlich nicht in der
des logischen Satzes, sondern in der chiffrierten,
der dichterisch intuitiven\" (Brief vom
27.11.1949). Benn bestätigte dies mit den Worten:
\"Es gibt nur 1. die mathematischen Lehrsätze und
2. Prosa als Kunst. Der Rest ist nicht mehr zu
ertragen.\" Es sei furchtbar, \"vor solchen
Erkenntnissen, Erfüllungen\" zu stehen. Gern möchte
man \"harmonisch sein und denken\", \"die andern
beruhigen und ihnen schöntun\", aber es gehe nicht.

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Gebote des inneren Seins Teil I

\"Durch alles fasst man durch, bis die Hand wieder


in der eisigsten Polarkälte blau wird und erstarrt,
Frostbeulen an Hand und Herz - ein Herz, das
eigentlich lyrisch und weich ist.\" (An Oelze,
29.11.1949).
Die Aussagen über den Radardenker treffen ebenso
auf den Phänotyp, den Existentiellen, zu: Benn
versuchte, in einer anderen Ausdrucksform, nämlich
in der dichterisch-intuitiven Sprache, zu neuen
Erkenntnissen zu gelangen.
Noch offensichtlicher wird die Struktur der
Erzählweise, die einem Projektionsverfahren
gleicht, in dem Kapitel \"Blöcke\". Die
Impressionen und Projektionen eines wachen
Intellekts werden blockartig nebeneinander
gestellt: die Abenteuer der Seele, die Kenntnisse
über Städte, das Wissen von den Broadwaystars, die
Bilder von Dina Grayville, von Hotels und einem
Palais in der Peking-Road. Dem banalen,
kategorialen Leben steht jenes provozierte Leben
Benns gegenüber, um das sich alles in seiner
Kunstauffassung dreht. Die Ereignisse des

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Gebote des inneren Seins Teil I

Alltagslebens werden nicht mehr in herkömmlicher


Weise erzählt; essayistische Elemente treten an die
Stelle der erzählenden Prosa. Die neue Sehweise
zwingt zu einer akausalen Verknüpfung des Seienden:
das hat die Zerstörung der Alltagswirklichkeit zur
Voraussetzung und den Aufbau einer neuen
Wirklichkeit. Diktatorisch werden neue
Wirklichkeiten des Geistes gesetzt; Sprache wird
Ausdruck von Bewusstsein. Imaginativ dokumentiert
diese Art Prosa Benns Selbst- und Weltbewusstsein.
Die fundamentale Ästhetik soll den Vorstoß in die
Zone des Seins ermöglichen. Aus dieser
optimistischen Einschätzung der sprachlichen
Möglichkeiten spricht noch der Enthusiasmus der
expressionistischen Dichter.

1.4. Folge den Geboten des inneren Seins!

Die Existenzphilosophie betont ausdrücklich, dass


menschliches Dasein wesensmäßig ein Sein in einer
Situation sei; in jedem Augenblick des Lebens
befindet sich der Mensch in einer Situation, die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

auf sein Wünsche und Bedürfnisse keine Rücksicht


nimmt, sondern die ihn als etwas Fremdes und
Feindliches bedrängt. Der Phänotyp Benn sah sich
stets in einer äußeren Zwangslage, die auf seine
innere Wirklichkeit keine Rücksicht nahm. Zum
Verhaftetsein in einer bestimmten Situation gehört
aber auch der leibliche und seelische Zustand des
Menschen. Auch der Bindung an eine jeweils
bestimmte Stimmung kann der Mensch nicht entfliehen
(Kampf um die \"Verzweiflungsaufhebung\", Brief an
Oelze vom Pfingsten 1946). Die Stimmungen des
Menschen werden vor allem von Heidegger als
\"Grundbefindlichkeiten\" angesehen und deshalb
gleich zu Beginn seiner \"Analytik des Daseins\"
behandelt.37) Nur \"innerhalb eines nach Form und
Inhalt beschreibbaren Umkreises\" - so lautet die
erste Erklärung gleich zu Beginn des
Anfangskapitels \"Der Stundengott\" - könne der
Phänotyp \"echt und repräsentativ\" wirken. (PuA
149). Die \"Bestimmung des konkreten Seins\" wäre
\"ohne Berücksichtigung des Topos und des Kairos,
des Weltenortes und der Weltenstunde, in der er

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Gebote des inneren Seins Teil I

lebt\" 38), nicht möglich. Die Grundstimmung des


Phänotyps ist Schwermut und Trauer. Benn beschreibt
diese Grundstimmung in einem Brief an seinen Freund
Oelze wie folgt: \"Manchmal, wenn man den Mut
aufbringt, plötzlich genauer hinzusehn, und unter
die alleroberflächlichste Lebenskruste
hinabzublicken, tritt einem eine Trauer des Daseins
entgegen, die unüberwindlich ist, garnicht mehr in
Worten zu fassen und unstillbar\" (An Oelze, 1940).
Ihm sind die existentiellen und abstrakten Gedanken
auferlegt (PuA 154). Ohne Zweifel befindet sich der
Phänotyp in einer krisenhaften Situation; er
besitzt im Innern keine \"tragfähige Substanz\" und
kein \"psychologisches Gefüge\"; er hegt keine
\"bürgerlich-kommerziellen Vorstellungen\" und kann
sich \"auf nichts außerhalb seiner selbst mehr
beziehen\". Angesichts der chaotischen Welt muss er
sich selber ordnen, \"seinem Inneren genügen\", in
jedem Wort absolut sein, die \"Gebote des inneren
Seins\" einhalten, d.h. \"man muss als Künstler auf
die Dauer nicht nur Talent, sondern auch Charakter
haben und tapfer sein\" (SuS 318). \"Ich kann doch

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Gebote des inneren Seins Teil I

nur danach gehn, was ich denke und was ich denken
muss, sonst käme ich doch zu dem Mischmasch des
gewöhnlichen Feuilletonismus oder gar
Ministerialrats im Kultusministerium\" (An Gertrud
Hindemith, 06.06.1930). Diese Sinnsuche kann nur
als Möglichkeit zur Selbstbewahrung aufgefasst
werden. An seinen Freund Oelze schreibt Benn: \"Es
gibt doch für den Menschen meiner Art nur die
nackte Existenz und dann die Impressionen. Nichts
darüber, nichts daneben. Es ist eine eigene Form
des Lebens, die dem Mann der Kunst beschieden ist\"
(An Oelze, 29.05.1936). Ein Wort von Novalis wies
die Richtung: \"Nach innen geht der ge-heimnisvolle
Weg.\"
Der Durchbruch des Phänotyps zur eigentlichen
Existenz wurde erst möglich, als er sich von den
Bindungen des Massendaseins selbst befreite.
\"Von einer Gemeinschaft ist nirgends die Rede\",
heißt es in dem Kapitel \"Libellen\". \"Das Einsame
im Menschen, als das allein mit dem Weltgeist
unmittelbar Verbundene in ihm, ist viel mehr als es
Milliarden von Mitmenschen sind, die nicht bewusst

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

in gleicher Tiefe Wurzel gefasst haben. Der


zutiefst einsame Mensch, der in seiner Einsamkeit
seine persön-lich letzte Instanz sieht, sich mit
anderen Schichten ganz zu dem Kollektivum bekennt,
dem er de facto angehört, wird er von seinem
Einsamen her begeistet und nur insofern kann er
persönlich Erfüllung finden.\" (Keyserling, Das
Buch vom persönlichen Leben, S. 410). \"Gibt es
demnach gar keine mögliche Wesensförderung durch
äußere Vereinigung? O ja; doch genau nur insoweit,
als diese die Einsamkeit befruchtet. Dies vermag
jedes schon bestehende höhere Niveau, ob in einem
Einzelnen oder einer Atmosphäre verkörpert; dies
vermag aber
nur ein Höheres, dem man sich unterordnet.
Gemeinschaft ist möglich nur im Schein eines schon
brennenden inneren Lichts. Zu seiner Entzünndung
aber führt nicht Verkehr, sondern allein die
Abgeschiedenheit. (Ebd., S. 409). Der Phänotyp hegt
keinesfalls die Absicht, als Koryphäe zu glänzen,
sich in die Denkabläufe der Philosophen
einzuschalten oder allgemeine Beachtung in einem

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Gebote des inneren Seins Teil I

Lehrkörper auf sich zu lenken. (PuA 156).

1.4.1 Die mystischen Partizipation

Nach dem anonymen Angriff durch die


SS-Wochen-zeitung \"Das Schwarze Korps\" im Mai
1936, die anschließenden Maßnahmen im Dienst und
die Verhängung eines indirekten Schreibverbots zog
sich Benn noch entschiedener als bislang in die
private Schriftstellerexistenz zurück. Er hielt es
im Mai 1936 für möglich, dass er von der
Heeressanitäts-Inspektion Hannover, wo er als
Oberstabsarzt tätig war, verabschiedet würde.
\"Diese Lumpen und Stinktiere hätten dann wieder
einen der verhassten Künstler umgelegt.\" (An Tilly
Wedekind, 09.05.1936). Vor diesem bio-graphischen
Hintergrund wird verständlich, wenn in den
Gesprächen der \"Drei alten Männer\" der \"Eine\"
die Situation des Phänotypus wie folgt schildert:
\"Nach außen starr und schweigen, jeden Zug des
Gehabens der mimischen Besonderung dämpfen und
innen mit Kompressor arbeiten, schichten,

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Gebote des inneren Seins Teil I

schneiden, schälen, bis der Ausdruck dasteht, wie


die verborgene ... ewig unbekannt bleibende Gestalt
es wollte, die Gestalt im Schatten, ... das
gestaltlose, aber Züge entwickelnde Sein, das alte
Wesen... Material heranbringen im Fluss, nicht mehr
in systematischen, psychologischen, taktischen
Zusammenhängen, reines Magma, das heiße Gestein der
Seele, dies beugen ... in Sätze fassen... es bleibt
keine andere Möglichkeit der Deu-tung.\" Will der
Phänotyp Kunst hervorbringen? Er muss dies wohl.
Kunst sei die \"Wirklichkeit der Götter\" (SuS
114). Dieser Auffassung entspricht die These, dass
einem Genie andere und weiterreichende Blicke
vergönnt sind, \"Blicke auf Himmel und Sommertage
ferner Zeiten, kommender Geschlechter, anderer
Daseinsempfin-dungen\" (PuA 159). In diesem
Zusammenhang ist an die Erklärung in dem Essay
\"Der Aufbau der Persönlichkeit\" (\"Grundriss
einer Geologie des Ich\", EuR 111) zu erinnern, wo
es heißt: \"Wir tragen die frühen Völker in unserer
Seele, und wenn die späte Ratio sich lockert, in
Traum und Rausch, steigen sie empor mit ihren

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Gebote des inneren Seins Teil I

Riten, ihrer prälogischen Geistesart und vergeben


eine Stunde der mystischen Partizipation\" (EuR
118). In unseren Seelen leben Jahrtausende,
\"Verlore-nes, Schweigendes, Staub; Kain, Zenobia,
die Atriden schwingen ihre Thyrsosruten her.\" (PuA
168). Der Künstler sieht etwas Hohes und Üppi-ges,
den Überfluss und die Überfülle; er hört z.B. den
As-Dur-Walzer von Chopin und doch etwas anderes;
hinzukomme etwas Unstillbares, Unerfüllbares,
\"etwas, was das Herz zerreißt\"; es sind \"neue
ferne Wogen\", \"Verwandlungen\", nicht zu
realisierende späte Träumereien. (PuA 159). Benn
spricht von der \"inneren Erfahrung\", von der
Ahnung, dass die \"endgültige Ver-knüpfung aller
Ursachen in ganz anderen Bereichen\" (PuA 153) zu
suchen sei und davon, dass er gelegentlich die
\"Bedingtheit von Mächten\" (PuA 153) fühle.
Über die mystische Partizipation schrieb Benn 1931:
\"Aus ihren Resten rekrutieren sich alle seelische
Kräfte, die sich in den alogischen
äußerungen (Kunst, primäre Philosophie, allen
metaphysischen Drängen, in ihrer elementaren

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

unbrechbaren Macht heute wohl allgemein ver-kannt)


dokumentieren. Dies ist der kollektive Besitz der
Menschheit, der dauernde, tragende, ökonomische
Prinzipien und materialistische
Geschichtsphilosophien überdauernde kollektive
Besitz.\" (An Richard Gabel, 23.02.1931).
In dem essayistischen Kapitel \"Die Verneinung\"
wird das Kunstschaffen des Phänotyps mit den Worten
charakterisiert: \"Aller Glanz, den wir in unserer
Seele tragen, kommt von Dingen, die wir geschaffen
haben - Erinnerung an Bilder, Erlebnisse mit
Büchern, Eindrücke aus Kreisen, die wir analytisch
durchschritten, erarbeitete Dinge, geistig
emporgehobene und meistens ohne Gesellschaft
langsam erwachsen.\" Genauer, kürzer und deutlicher
lassen sich die Zusam-menhänge und
Verbindungslinien zwischen dem kollektiven Besitz,
den \"Spuren früherer Entwicklungsstufen in unserem
Organismus\" und
den geistig erarbeiteten Dingen nicht formu-lieren.
Der Phänotyp ist Künstler von Natur aus; er kann
nichts anderes sein als Dichter. Menschsein heißt

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Gebote des inneren Seins Teil I

für ihn Dichtersein. Leben ist für ihn mit Dichten


identisch. Der Phänotyp müsse \"ausschweifen und es
beobachten\"; er müsse leiden und das Leiden
übersteigen. Zu den inneren Leiden zählt die
Schwermut, die der Phänotyp jedoch nicht als
tragisch bezeichnet; innerhalb des Volkhaften lägen
heute phraseo-logische Zwiespalte vor (\"Halt! SuS
253). Ein \"Phallus\" wachse ihm im Stammhirn;
darin tobe eine \"Orgie, eisig und glühend, bitter
und süß\". Nur mit Paradoxa läßt sich seine
Situation beschreiben. In \"Dunkelheiten und
Nächten\" schmerzen in seinem Innern die \"Fröste
des Isoliertseins\"; ein \"blutleerer Taumel\"
erfasse ihn angesichts der Brüchigkeiten des
Lebens. Er veranstaltet ein \"Tauziehen mit
Gedanken\"; er müsse \"fortschreiten, fortklim-men,
fortschleichen von Wort zu Wort, Silbe zu Silbe\";
er müsse \"Ausdruck schaffen\", ja ihn verlange
\"nach dem allein\" (Statische Metaphysik). Es ist
dies der Ausdruckszwang einer Künstlerseele, die
die Seelennot, wie sie nach Emersons Überzeugung
alle Menschen plagt, bei weitem übertrifft. Nach

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Gebote des inneren Seins Teil I

Emerson suchen ja alle Menschen schmerzvolle


Geheimnisse in der Liebe, in der Kunst, in der
Politik und im Spiel aus- zusprechen. Wo findet der
Phänotyp gewöhnlich das Feld seiner Betätigung? Der
Perspektivismus bietet ihm das Material für seinen
Formtrieb, der ein \"Gestaltungs- und
Abgrenzungstrieb\" sei. Perspektiven seien an die
Stelle der Wahrheit und Realität getreten; diese
sollen existentiell glaubhaft und als Ausdruck
eines Sehens, einer Vision überzeugend sein. Auch
wenn ihr exakter Befund bald überholt und von neuen
Befunden verdrängt werde, bleibe ihre \"visionäre
Realität, ihr Bildgewordenes, ihre in Hinblick auf
den Autor existentielle Inten-sität\". Die
Perspektive bleibe als Ausdruck, als Kunstprodukt.
(An Oelze, 27.01.1933).
\"Haben wir noch die Kraft,\" so fragt sich Benn,
\"ein Ich schöpferischer Freiheit zu behaupten?\"
Können wir \"aus der Macht des alten
abend-ländischen Denkens heraus die
naturalistisch-mechanische Formwelt\" durchstoßen?
Werden wir \"die Bilder tieferer Welten\"

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Gebote des inneren Seins Teil I

entwerfen, und zwar \"aus einer sich selbst


setzenden Idealität und in einem sich selbst
zügelnden Maß?\" Benn setzt seine Hoffnung auf den
\"konstruktiven Geist als betontes und bewusstes
Prinzip
weitgehender Befreiung von jedem Materialismus;
dabei meint er den Materialismus psycholo-gischer,
deszendenztheoretischer, physikali-scher und
soziologischer Art. Er hofft auf den konstruktiven
Geist als den \"eigentlichen anthropologischen
Stil, als der eigentlichen Hominidensubstanz,
\"die, mythenbildend sich entfaltend, ewig
metaphorisch überglänzt, den Menschheitsweg
vollendete\" (Nach dem Nihilis-mus, EuR 223).

1.4.2. Fanatismus zur Transzendenz

Benn gesteht seinen \"Fanatismus zur


Transzen-denz\". \"Aber ich sehe diese Transzendenz
ins Artistische gewendet, als Philosophie, als
Metaphysik der Kunst. Ich sehe die Kunst die
Religion dem Range nach verdrängen.\" Innerhalb des

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Gebote des inneren Seins Teil I

allgemeinen europäischen Nihilismus, des Nihilismus


aller Werte, erblickte er keine andere Transzendenz
als die Transzendenz der schöpferischen Lust.
Unbeirrbar hielt er an der Überzeugung fest, dass
jeglicher Materialismus, der historische oder auch
psychologische, unzulänglich sei zur Erfassung und
Darstellung des Lebens und aus diesem Grund
abzulehnen sei. Kunst habe die Religion dem Range
nach ver- drängt; er habe sich früh von den
Problemen des Dogmas, von der Lehre der
Glaubensgemeinschaft, entfernt und eingesehen, dass
\"nur die Kunst als die eigentliche Aufgabe des
Lebens\" anzu-sehen sei, \"seine Idealität, seine
metaphysische Tätigkeit\", zu der es uns
verpflichte (Fanatismus zur Transzendenz, 1931, PuA
289). \"Ohne eine Ordnung, eine zeit- und raumlose
Planung, eine überirdische Existenz\" könnte
\"selbst diese qualerfüllteste aller denkbaren
Welten nicht eine Sekunde stehen und bestehen\".
(SuS 229).

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Benn nochmals auf

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den Kurzroman zu sprechen kam, bezeichnete er die


Prosa als \"reines Spezialistentum: Bearbeitung
einer raren Pilzart, Vorstudien zum Penicillin der
Zukunft, Vor-Fleming ohne Nobelpreishoffnung.\" Er
erinnerte daran, dass die \"Reverie\" aus der
Kaserne in Landsberg\", gebaut nach dem Muster von
Apfelsinenschnitten, von einer geradezu \"wüsten
Konzentriertheit von Stimmung, Süßigkeit und
dunstiger Träumerei\" gewesen sei. (An Oelze,
27.05.1946). Für ihn war es die Realisation von
Träumen. Gewisse Gehirne realisieren in gewissen
Zeitabständen eben in rückerinnerndem Wissen die
\"Bilder des großen Urtraums\". \"Von weit her
liegt in ihm ein Traum\", so steht es in dem Essays
\"Zur Problematik des Dichterischen\" (EuR 95),
\"von weither ist er mit Mysterien beladen, von
jenen frühen Völkern her, die noch die Urzeit, den
Ursprung in sich trugen, mit ihrem uns so völlig
fremden Weltgefühl, ihren rätselhaften Erfahrungen
aus vorbewussten Sphären, in deren Körpern das
Innenbewusstsein noch labil, die
Konstruktionskräfte des Organismus noch frei, d.h.

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dem Bewusstsein als dem Zentrum der Organisation


zugängig waren, noch beweglich war, was heute
längst der Willkür entzogen ist, biologisch von uns
differenter Typ, archaische Masse, Frühschicht, die
im Totem noch das Tier begriff mit warmer Wunde\"
(EuR 95). Im An-schluss an diese
Selbstinterpretation passt der \"wunderbare Satz\"
aus einem Roman von Thornton Wilder, den Benn in
seinem Essay \"Provoziertes Leben\" zitierte: \"Wir
kommen aus einer Welt, in der wir unglaubliche
Maßstäbe der ollkommenheit gekannt haben und
erinnern uns undeutlich der Schönheiten, die wir
nie festzuhalten vermoch-ten, und kehren wieder in
jene Welt zurück.\"
In dem obengenannten Brief schilderte Benn die
Stimmung in der \"Kaserne mit geheimnisvollem
Garten am Block\" wie folgt: \"Drei Schwalben
flogen immer zwischen 7 und 8 Uhr abends, wenn wir
in dem Garten uns ergingen und zwei Flieger
kreisten und ein angebundener Ziegenbock heulte im
Nachbargarten und ein Hund lag auf der Treppe und
ein Major, deutsches Kreuz in Gold, im Zivilleben

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Pfarrer, verbot uns das Betreten des Gartens, da


wir nicht zum Bataillon ge-hörten, sondern aus
Berlin waren. Das waren Zeiten.\" (An Oelze,
27.05.1946). Kurzum: ein beziehungsloses Leben,
abseits von geistiger, menschlich erwärmter
Gemeinschaft, ahnungsvoll, gedankenreich, voll
Wehmut und Trauer, entspre-chend der Maxime, dass
man alles verlassen und sich selbst umschreiten,
die Dinge in sich allein beenden müsse. (PuA 156).

1.4.3 Verwandelbarkeit

Verwandelbar zu bleiben - das sei das Geheimnis des


Phänotyps, meinte Benn im Rückblick, als er im
Februar 1948 versuchte, das Romanfragment in
einigen Teilen zu überarbeiten. Wer innerlich
konsequent weiterkommen wolle, müsse sich wan-deln.
Diese Verwandelbarkeit setze \"äußeres Spießertum
und inneres Wachsein\" voraus. Daher sei der
Künstler \"eigentlich erlebnislos, seelisch
unergiebig, als Mensch stumpfsinnig\". \"Er heftet
ja seine Erlebnisse nicht an sein Leben an, sondern

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an sein Oeuvre, er hält sich fern vom Leben, und


ein gütiges Geschick ist es, das ihn zum Schluß
immer alles als eine Art abrückbares und
abbrechbares Spiel erfahren lässt.\" Er überlasse
sich diesen und jenen Stimmungen, Eindrücken von
innen und außen, doch reflektiere er über sich und
seine Lage bis zum Abhärmen; da bleibe keine
Gelegenheit zum privaten bürgerlichen Leben mit
Kind und Familie; da gäbe es keine Möglichkeit zur
Aus-bildung einer Persönlichkeit (An Oelze, 27.02.
1948). Bereits 1940 hatte Benn daran geglaubt, dass
eine biologische Mutation des Quartärtyps kurz
bevorstünde, dass die neue Stufe der Menschheit in
Bälde in Erscheinung träte. Vor unseren Blicken
materialisiere sich die \"Per-fektibilität\" in
Person. Es sei eine \"Dialektik in Exstase\", eine
\"Seance von atemberaubender Realität\". Sieg und
Zerstörung der Art würden nahe sein, und dann folge
die \"Entfaltung des Quintär\", und zwar nach den
Worten des Größten im Quartär, nach Goethes Worten:
Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige
Unter-haltung. \"Die Grenzlinie zwischen den

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Geistigen und den Geschichtlichen geht


unterschiedslos durch die Nationen und Völker, wird
blutrot sichtbar, wird triumphierend, wird
märtyrer-haft, wird riesengroß\" (An Oelze,
29.05.1940). Seine existentielle Lage, seine
Kunstkonzeptionen und seine ästhetischen Ideen
täuschten ihn zum zweiten Male (erstmals 1933) und
ließen ihn glauben, dass dieser Zukunftstraum sich
wahrscheinlich in Bälde erfüllen werde.

1.5. Einige Bedenken des Phänotyps gegen Nietzsche

Der Phänotyp stößt auf einige Rätsel und


Widersprüche in Nietzsches Aphorismen, z.B. auf
Ziffer 109 im Dritten Buch der \"Fröhlichen
Wissenschaft\", wo es heißt, dass der
Gesamt-charakter der Welt Chaos sei. Das All kenne
keine Gesetze; es gebe nur Notwendigkeiten: \"Da
ist keiner, der befiehlt, keiner, der gehorcht,
keiner, der übertritt.\" Der Tod sei keinesfalls
dem Leben entgegengesetzt; es gebe keine
dauer-haften Substanzen; die Materie sei ein

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eben-solcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Wann


werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben? Der
Satz, der dem Phänotyp missfällt, steht am Schluss
des Aphorismus Nr. 109: \"Wann werden wir anfangen
dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu
gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen?\"
Der Phänotyp legt den Sinn des Aphorismus so aus,
als hätte Nietzsche die Natur in Gegensatz zum
chaotischen All und der chaotischen Erde gesetzt.
Dieses Missverständ-nis führt Benn zu falschen
Schlussfolgerungen. Seiner Auffassung nach ist die
Natur der Schulfall des Unnatürlichen, genau der
Gegensatz dessen, was wir natürlich nennen. Das
Verfahren der Natur sein \"Übertreibung,
Aus-schweifung, Sprünge, Verdichtung, Vernichten
und Liegenlassen, Vergessen\" - kurzum alles
andere, als das, was wir landläufig als natürlich
bezeichnen. \"Ich kann beweisen\", lässt Benn den
Gast im \"Weinhaus Wolf\" sprechen, \"dass sie
unnatürlich ist, äußerst sprunghaft, ja dass sie
der Schulfall des Widernatürlichen ist. Sie setzt
an und lässt liegen, macht Aufwand und vergisst.

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Sie ist zügellos und übertreibt mit massierten


Fischzüge bei den Lofoten, mit
Heuschreckenschwärmen, die sie vorwälzt, und mit
Zikaden. Fältelung, Verdichtung, unausdenkbare
Konzentration ist eine ihrer Methoden, ist das eine
einfache und natürliche Methode? Oder Transport
immenser Spannungen auf mikroskopisch kleinstem
Raum ist eine ihrer Anwandlungen -, ist diese gang
und gäbe? Das Leben als Erscheinung war doch
überhaupt in der Pflanze gut untergebracht, warum
es in Bewegung setzen und auf Nahrungssuche
schicken - ist das nicht vielleicht ein Vorbild von
Entwurzelung? Die menschliche Kreatur vollends
wälzt sich doch geradezu in die Unnatur, schleudert
Bakterien heraus, um sie zu vernichten, verringert
ihr den Geruch, mindert ihr das Gehör, das Auge
muss sich durch Gläser denaturieren, der Mensch der
Zukunft ist reine Abstraktion - wo wirkt sie, die
natürliche Natur?\" (PuA 141).

Der Phänotyp findet Nietzsches Darstellung umso


seltsamer, als Nietzsche bekanntlich viel von den

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Bedürfnissen wusste und schrieb, die wir nicht aus


der Wirklichkeit befriedigen können. Nietzsche
wisse ja auch, dass die Kunst eine \"Abweichung von
der Natur\" sei. Kunst habe er \"als Ausdruck einer
hohen heldenhaften Unnatürlichkeit\" geliebt. Am
Ende kommen dem Phänotyp selbst Bedenken, ob diese
seine Aus-legung des Aphorismus richtig sein könne.
Die letzten 2 1/2 Sätze des Aphorismus \"können
also doch wohl keinesfalls ein Bekenntnis zu einem
Naturalismus oder Biologismus in irgendeiner Form
sein\": das widerspräche ja dem großen, die ganze
Epoche zusammenfassenden Gedanken, \"dass die Welt
nur als ästhetisches Phänomen zu deuten und zu
ertragen sei\". Er stellt die Frage: \"Oder sollte
er gemeint haben, die ästhetische Deutung sei
bereits unsere jetzige Natur geworden, und das sei
die neue Erlösung? Aber würde er nicht hinzufügen -
hüten wir uns vor Erlösung?\" Es scheint, als hätte
der Phänotyp Benn die Bedenken gegen Nietzsche und
eigenen Zweifeln darüber nur deshalb vorgebracht,
um zu zeigen, dass Nietzsche der Epoche die
wichtigste Idee zum Verständnis der Epoche gegeben

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

habe: die Idee, dass die Welt als ästhetisches


Phänomen gerechtfertigt sei. Die Winkelzüge der
Darstellung sollen Nietzsches Licht umso heller
erstrahlen lassen. Er war es, der den die ganze
Epoche zusammenfassenden Gedanken gefunden habe:
Die Kunst ist die letzte metaphysische Aufgabe des
Menschen, eine monologische Kunst, eine Musik des
Vergessens.
Der Sinn des Aphorismus liegt freilich darin, dass
wir nicht nur das All, sondern auch den Menschen
entgöttlichen sollen. Der Schatten Gottes
verdunkelt die Natur (d.h. das All und den
Menschen). Im All und in der Menschenwelt fehlt die
Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit -
das sind ästhetische Menschlichkei-ten. Das All sei
weder vollkommen noch schön, noch edel. Im All
herrschen Notwendigkeiten, keine Naturgesetze.
Diese Erkenntnisse will Nietzsche auf die
menschliche Natur übertragen wissen: auch wir
Menschen sind Chaos, weder vollkommen noch schön,
noch edel. Indem wir dies einsehen, werden wir
anfangen, uns zu vernatürlichen: \"Der Mensch ist

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

ganz Natur und trägt ihren unheimlichen


Doppelcharakter an sich.\" Nietzsche definiert die
Natur des Menschen als das Wesen, das wagt, so
unmoralisch wie die Natur zu sein. Moral sei
eigentlich eine Wichtigtuerei des Menschen vor der
Natur. Die \"Rückkehr zur Natur\" ist umgekehrt,
als es Rousseau verstand, nicht ein Zurück-kehren,
sondern ein Hinaufkommen. Echte Ein-wände gegen
Nietzsches Philosophieren bringt der Phänotyp nicht
vor. Als konsequenter Nietzsche-Anhänger wäre dies
bei Benn auch recht sonderbar. Es wäre leicht zu
zeigen, wie sehr sich Benn Nietzsches Gedanken
zueigen gemacht hat (Überwindung des Nihilismus,
Ausdrucksdenken, Ästhetizismus, Glaubenskonflikt,
Perspektivismus). Nach dem Zweiten Weltkrieg
bekennt er selbst, dass Nietzsche \"tatsächlich
schon alles, aber auch restlos alles vorweggenommen
und ausgesprochen\" habe, \"woran wir
herumstochern\". Das darf man wörtlich auf den
Kurzroman \"Phänotyp\" beziehen. \"Diese fünfzig
Jahre (die inzwischen nach Nietzsches Tod
vergangen) \"sind ein reines Nachplappern und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Auswalzen seiner gigantischen Gedanken und


Leiden.\" (An Oelze, 28.11.1949)
Nietzsche war groß, das stand für Benn bereits im
Jahre 1935 fest: \"Nichts Größeres sah dies
Jahrhundert. Es war auch nichts größer als er; er
umfing es; er war mit ihm identisch.\"
(An Oelze, 16.09.1935). \"Ich hatte gedacht, dass
manches erloschen sei für uns, manches zu
verflochten mit ihm selbst und seinem
Lebenserlebnis, manchmal ein Aufwand, den wir
belächeln könnten, wenn uns überhaupt noch zum
Lächeln wäre. Manchmal ein Mangel an Größe in Bezug
auf Selbstaufgabe und Opfer, auch das Opfer noch
betont, etwas laut und gelegentlich Spektakel. Aber
erstens war er wohl zuzeiten wirklich organisch
lädiert, unter der Wucht nicht zu bändigender
körperlicher Krisen, und zweitens sind die
Maßstäbe, aus denen heraus man heute gelegentlich
und wie hinter einem Schirm hervor so urteilen
könnte, doch allein und immer wieder nur von Goethe
her zu nehmen, seinen körperlichen und moralischen
und pro-duktiven Göttlichkeit her, und was war

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

daran Glück und unerstrebbare maßstablose, man


könnte fast sagen akzidentellen Erfüllung, mit der
zu prüfen und zu fühlen und an anderen Wesen
herumzutasten Mangel an Formsinn wäre? Dort das
unverkennbare, durch 80 Jahre geleitete, sich
selbst leitende Glück und hier doch die Verdammnis
und am Anfang stand der Mangel, aus dem soviel
gemacht werden mußte und nie durch Metamorphosen,
immer durch Schäden und Frost und Wunden.\"
Das soll keinesfalls heißen, dass Benn nicht
wirklich echte Bedenken gegen einzelne Thesen
Nietzsches (z.B. Züchtungsidee des Übermen-schen)
gehegt hätte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Benn
findet Nietzsches Züchtungsphantasmagorien
altmodisch. Zarathustra hält er für das
\"fragwürdigste, zeitbedingteste, der Kritik am
meisten zugängliche Werk\". Altmodisch sei sein
\"züchterischer Optimismus, seine
Verwirklichungshoffnungen im Soziologischen und
Physiologischen, sein psychophysischer Traum, seine
darwinistische Pathetik\". Das sei \"Macht und
Rache noch aus der Spannungszeit, ehe die Schöpfung

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

des letzten Tages ... begann\" (Brief vom


26.02.1938). In seinem Aufsatz \"Nietzsche - nach
50 Jahren\" zitiert Benn nochmals aus diesem
Aphorismus, diesmal im Zusammenhang mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen über Zufall,
Fehlerstreuung und ursachenloses Geschehen.
Nietzsche habe diese Gedanken vorweggenommen.
Eigentümlicherweise habe Nietzsche das
\"Fragwürdige der Philologen auf dem Hintergrund
seines griechischen Problems\" gesehen, aber die
\"größere Fragwürdigkeit der Embryologen und
Zoologen\" nicht gewittert. An den Fragen des
Darwinismus sei er gescheitert. Heute werde nicht
mehr \"gezüchtet\". \"Die Arten entstehen aus
Hintergründen, die unerweislich sind. Die Arten
vergehen aus Situationen, die mit Kampf und
Erhaltung von kriegerischen und
Behaup-tungseigenschaften ganz und gar nichts zu
tun haben.\" Es sehe heute alles nach Tao aus und
einem großen Gewährenlassen aus. (An Oelze, 15.07.
1939). Das sind einige der Missverständnisse Benns.

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Wenige Wochen später schreibt er über das heutige


Bewusstsein, ihm scheine, dass sich das Bewusstsein
selbst herabbildet; es gerate aus dem Zentrum des
Interesses. Bedeutungsvoll sei es ja nur dort
gewesen, \"wo es sich unterhöhlte oder
übersteigerte, krankhafte Spezialisierungen aus
seiner Norm hervorbrachte; bei Sophokles die
Tragödie, bei Nietzsche den Intellektualismus.
Seine geistigen Prozesse erscheinen völlig
erschöpft. Offenbar ist es im Abgleiten, in einer
Umwandlung, vielleicht im Verschwinden.\" Mit dem
Bewusstsein werde auch die innere Welt versinken.
Diese innere Welt sei in ihrem Ursprung \"nie
erkennbar\", \"vermutlich ursachenlos\", in der
Wertverteilung unentschieden\", in der Erkenntnis
\"hinterhältig\" gewesen. (An Oelze, 13.08.1939).

Einige Gedanken aus Nietzsches Nachlass regten Benn


nachhaltig zu weiteren Überlegungen an: einmal
bezüglich der Erkenntnis, zum zweiten hinsichtlich
des Bewusstseins und drittens bezüglich der
Wahrheit. Es sind dies folgende Aphorismen:

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Es ist unwahrscheinlich, dass unser Erkennen weiter


reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des
Lebens ausreicht.\" (1884).

\"Die Vielheit der Triebe -: wir müssen einen Herrn


annehmen, aber der ist nicht im Bewusstsein,
sondern das Bewusstsein ist ein Organ wie der
Magen.\" (1883 - 1886).

\"Wahrheit ist die Art Irrtum, ohne welche eine


bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben
könnte. Der Wert für das Leben entscheidet.\"
(1885).

Benns Denken kreiste in der Folge lange um diese


Gedanken, was an mehreren Stellen in Briefen und
Schriften seinen Niederschlag fand. Zum Beispiel in
dem Brief vom 09.03.1941:
Nach einem Besuch im Zoo schrieb er an Oelze, wie
er von dem allem tief beeindruckt war, \"tief
beeindruckt vom Tier\": \"seinen schauerlichen
Wiederholungszwängen im Traben, Schaben, Wetzen,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Heulen, dieser ganzen Neutronen- und Reflexspannung


von geradezu fühlbarem Charakter, die nur die
Entladung in die Muskulatur kennt, - offenbar die
älteste Vorform des Bewusstseins -, noch ohne jeden
Ausweg in die Trennung vom Objekt, die wir dann
brachten.\" Benn folgerte von der Entwicklung der
muskulären \"Wendungen und Bewegungen\" zu der
\"garnicht mehr nachspürbare, in kosmischen
katastrophalen Entspannung\" durch das Bewusstsein.
Eine \"ganz unheimliche und grausame\" Epoche müsse
es gewesen sein \"von der Muskulatur hinüber in den
Gedanken\"; dann sei \"dies Ausströmen der Unruhe
und der Last in ein Bild und Gegenbild\" gekommen.
Gedanklich entwarf er ein völlig anderes System der
Entwicklung als Darwin: Die Erde sei \"nach diesem
Ausbruch\" stiller geworden; weitere Schichten
waren ohne Vulkane, das Klima wurde milder, mehr
Kontinente wurden bewohnbar. \"Jetzt entstanden die
Schmetterlinge und der Regenbogen, sanfte Dinge und
Gebrochenheiten. Jetzt entwickelte sich die Art,
die schöpfungsgemäß an physiologischem Wert verlor,
aber an Ausdruckswert gewann bzw. ihn erst

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

eroberte\" (09.03.1941).

Nietzsche, der so oft zitierte Titan, ein großer


Romantiker, könne Benn nicht aufhalten, in geistige
Polarzonen vorzudringen. Ohne Zweifel bestehe die
Aufgabe seiner Generation darin, \"eine
jahrhundertealte, unreell gewordene Wirklichkeit
abzubauen\", zu desillusionieren. Für viele
Fehlentwicklungen trage er die Verantwortung, so
für die \"gemütvolle Mythenbildung durch die
Volksgemeinschaft\": seine Ideen dienten den
Generalen zur Kampfführung. zur Zerstörung. \"Immer
neue Wogen von Männern\" strömen in die Kasernen,
\"neue Wogen von Blut, bestimmt, nach einigen
Schüssen und Handgriffen in Richtung sogenannter
Feinde in den östlichen Steppen zu verrinnen\". Der
Phänotyp kennt sehr wohl den höheren Standpunkt,
\"von dem aus das Leben auch ohne den Geist einen
Schimmer von Tiefe hat, Qualen trägt und Reste von
Schöpfungsräuschen\", aber das Letzte der Gesetze
sei es nicht, und \"nur diesem Letzten stehn die
Entscheidungen zu, die man über die Existenz zu

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

treffen\" habe. Der Phänotyp könne nicht aufhören,


zum \"Statischen und Affektlosen, zur Form\" zu
streben: \"Dem Traum folgen und nochmals dem Traum
folgen und so ewig - usque ad finem, Lord Jim.\"

Nietzsches Probleme seien längst weiter geführt


worden. Die neue Formel heiße : \"Alles nur
Geist\", nicht Leben und Geist. Das Leben sei schon
bei Nietzsche ein \"Krampf\", bei Bergson
\"Feuilletonismus\". Benn stellt die Frage: \"Ist
diese ganze Antithese nicht eigentlich allmählich
reine Gedankenspielerei, tragisch vermummt? Das
sind ja alles gar keine Denkergebnisse mehr, das
sind Stimmungen, in Büchern festgehaltene
Liebhabereien. Postillen, Herzblättchens
Zeitvertreib. Da sitzen und saßen diese ´Denker´,
in Tonnen oder unter Platanen oder in Cafés oder in
Kilchberg bei Zürich und pflegen ihre
Hirngespinste, im Höchstfall säkulare
Dämmerzustände, meistens aber nur ihre eigenen
Konstitutionsneurosen und ´kranken´ an ihren
Antithesen, aber einmal kommt der Augenblick, wo

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

man nicht mehr kranken kann.\" (An


Oelze,24.11.1934). Benn sah im Geiste schöpferische
Völker, die unbeeindruckt von diesen
\"Seifenblasen, Gewäsch, Abstraktionshumbug
sogenannter Denker namenlos unberührt dahinleben\"
und \"offenbar aus Anlagen und Trieben
hervorbrechen, rauben, zeugen, sesshaft werden,
ihre Kiefer, ihr Geheul, ihren Samen gierig
herumstoßen, pflügen, weiden und versinken\".
Der Geist habe offenbar seine Stellung noch
garnicht gefunden; er stehe ganz außerhalb des
Lebens; er kranke auch nicht am Leben. Der Geist
werde erst dann Wert und Bedeutung erlangen, wenn
das Leben ihn begehre, ihn suche. Das sei die
\"abendländische Havarie\": \"Es gibt nur den
betrachtenden und leidenden Geist.\" Fanatisch
unbeirrt, aber auch gleichmütig müsse man diese
ungeheure Erkenntnis vertreten und ihrer
Konsequenzen bewusst sein. Das sei die Hinrichtung
des modernen Europa. Im Gegensatz zu den
schwatzenden Professoren, die sich mit Antithesen
beruhigen, möchte er dagegen Mönch in einem neu zu

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

gründenden Kloster werden, Rosen pflegen an einem


milden Ort wie Granada oder in der Toskana (An
Oelze, 24.11.1934).

Einen sehr großen Schritt seien wir \"in die


Zukunft dieser Finallage\" weitergekommen als
Nietzsche; er habe daran geglaubt, einen Ausgleich
zwischen Geschichte bzw. Natur und dem Geist
herstellen zu können, zumindest sie in Beziehung
zueinander zu setzen. Nietzsche habe sich von
seinem Lieblingsbegriff \"Leben\" nicht trennen
können. Nietzsche habe noch nicht gesehen, dass
Geist und Leben unversöhnbar sind. Das Leben sei
überhaupt keine Wirklichkeit, es sei nur eine
\"Wiederholung von Absurditäten, eine ewiges
Rezidiv von Vorstufen.\" (An Erich
Pfeiffer-Belli,30.04. 1936). Von diesem Boden des
Lebens aus stieg Nietzsche selbst nur \"als
Sumpfblase\" auf, nämlich als Geist. Diese
Antinomie schleppte sich noch einige Jahrzehnte in
ihm weiter. Die \"blonde Bestie\", der Mann am Ende
seiner Zeit, führe diese unheilbare Antinomie nicht

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

mehr weiter. Noch einmal habe sich das \"Leben\"


mit Pauken und Trompeten aufgespielt, dann sei das
Artgefühl in ihm zu Ende gewesen. \"Erst der
Badenweiler Marsch und nun die Offenbarung des
Johannes.\"
Den ganzen Tag sei ihm sehr stark nach Apokalypse
zumute. (An Oelze, 16.09.1935).

Als sich Nietzsches Todestag am 25.08.1940 zum 40.


Male jährte, gedachte Benn dieses Genies und seiner
letzten Lebensjahre.

1.6. Geographische Details aus Lektüre und


Erinnerung

Im \"Roman des Phänotyp\" haben auch geographische


Details, Reise-Erinnerungen, Studien über
Charakteristika von Land und Leuten usw. ihren
Platz. Mit einer lyrischen Passage wird der
Abschnitt \"Geographische Details\" (PuA 166) im
Roman eingeleitet: \"Wie still das alles in mir
ruht: Canal du Midi - kein Segel, das Wasser ist

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

unbewegt, von brauner Farbe, Schilf wächst am


Rand.\" Der Strand ist nur sechs bis zehn Meter
breit. Zu beiden Seiten des Canal Midi, des
französischen Kanals, der vom Toulouse an der
Garonne bis ans Mittelmeer führt und insgesamt 242
km lang ist, verläuft ein Leitweg, auf dem die
ziehenden Pferde gehen. Welch ein Gegensatz zum
Belomorskika-Kanal zwischen Newa und Weißem Meer!
Man sagt, dass beim Bau dieses Kanals drei
Millionen Menschen umgekommen seien. Seine Fluten
werden unaufhörlich von Stürmen gepeitscht.
Schwärme motorisierter Kutter jagen zur Onegabucht.
Unklar bleibt an diesen Stellen, ob der Phänotyp
aus eigenem Erleben berichtet oder ob er mit
geographischen Details aus seiner Lektüre
brillieren will.
In einer weiteren Vision erscheinen die
pontinischen Sümpfe, das einst sumpfige Küstenland
südlich von Rom, eine Malariagegend, die ab 1899
entwässert und unter der Herrschaft Mussolinis 1939
vollständig trockengelegt und bebaut wurde. Der
Phänotyp sieht im Geiste giftige Moräste, die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Trümmer von Gräbern und Hügel mit Ruinen, ein Reich


des Fiebers und des Todes. Kalk bröckelt aus den
dorischen Säulen. - Tiefdunkle Buschwälder tauchen
aus der Erinnerung auf, Macchia, phönikische
Wacholder von der Via Appia bis zum Circekap, dann
verschlafene Büffel, Purpurhühner in der Nähe eines
Meers, das klematisblau herüberleuchtet. - Der
Phänotyp denkt an die rotblauen Felsen von Delphi,
an Glanzfelsen, an einen Wald von grauen Ölbäumen;
er sieht den Styx, der von hohen Schneefeldern
herabstürzt und hinter Schuttkegeln verschwindet.
Sarmatisches Land blitzt in der Erinnerung auf. Die
Sarmaten - das war ein antikes nomadisches
Reitervolk,wahrscheinlich persischer Herkunft.
Zwischen dem 3. Jahrhundert vor Christus und dem 2.
Jahrhundert nach Christus bewohnten sie das Land
zwischen Weichsel und den Karpathen (Sarmatia). Der
Phänotyp erinnert sich an einen Steppenwinter mit
einem furchtbaren
Schneegestöber, da die Luft völlig undurchsichtig
war. Er denkt an eine Windhexe oder imaginiert sie:
Verdorrte Pflanzenstengel von der Art der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Kollerdistel ballen sich zusammen, wachsen riesig


an, rollen und springen. Alle Lebewesen fliehen.
Sogar Wölfe denken dabei nicht an Beute. Der
Phänotyp stellt sich auch den Frühling vor, wenn
alles zu grünen und zu blühen anfängt; er sieht im
Geiste die Flüsse vor sich, die über die Ufer
treten, eine Überfülle an Wasser, das immer ein
unruhiges Element ist. Es entstehen widerlich
schmutzige Tümpel, wo der Morast gärt, dann kommen
Krokusse und Tulpen hervor, aber alle Kräuter seien
eigentlich grob, groß, strunkig. Bei genauem
Hinsehen stehen sie weit auseinander und lassen
keinen Vergleich mit Surrey und Argolis zu. Surrey
ist die englische Grafschaft südlich von London,
eine fruchtbare Gegend, wo Getreide und Hopfen
gedeihen und Gartenbau betrieben wird; Argolis ist
die historische Landschaft und Provinz im Nordosten
des Peloponnes. Im Altertum war Argolis Mittelpunkt
der mykenischen Kultur. Man kann sich des Eindrucks
nicht erwehren, als ob der Phänotyp mit seinem
geographischen Kenntnissen hätte imponieren wollen.
Oder faszinieren ihn die Namen? Er malt sich noch

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

weiter den Frühling aus, da die Vorblüten im


geheimen treiben und die Rinden der Bäume wachsen.
Die Luft fühlt sich lind an und hüllt den Körper
wie ein warmer Mantel ein. Dann stellt er sich den
Sommer vor. Im Grün der Blätter leuchten das
Violett der Distel und die schwefelgelbe süße Rose
Diane vaincue. So vergehen in seiner Erinnerung die
Jahre. Die Sommer enden. Wieder taucht ein Wald von
grauen Ölbäumen in der Tiefe der Vorstellung auf.
Ein letzter Klang schwebt in der Luft. Immer sei
ein Ende in Sicht; man spüre finale Lust, was immer
auch das sei: Trauer und Licht. Von hohen
Schneefeldern stürzt ein Bach und verschwindet in
der Ferne. Ist es der Styx? Wie still das alles in
ihm ruht! (PuA 166).
Von einer Bank oder von der bogenförmigen Brücke
aus fällt sein Blick auf den schönsten Teil des
Stadtparks. Verschiedene Pfade führen heran, und
darüber wölbt sich der Himmel. (Es ist zwar nicht
der blaugraue Texashimmel oder der wolkenlose
Himmel des Midi über Pinien, aber doch ein
Abschluss für Versuchsblicke in die Höhe. (PuA

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

167). Man vergegenwärtige sich die Tatsache, dass


Benn zwar ein Großstädter ist, aber gefühlsmäßig
sich an das Landleben gebunden fühlt. \"Ich hänge
an Dörfern und Land\", schreibt er an Oelze
(27.12.1947). Besonders nach den Kriegszerstörungen
der Reichshauptstadt Berlin verdrängt er das
\"Steinerne des äußeren Milieus\" und flüchtet sich
in Laboratoriumsarbeiten. \"Geschäft und
Halluzinationen\" heißen die beiden Pole seiner
Existenz, zwischen denen er seinen
\"Lebensüberdruss\" hin- und herjongliert. (An
Oelze, 27.12.1947).

Der Phänotyp denkt weiterhin an Bordeaux. Auf einem


großen Horchwagen war er in diese sehr heiße Stadt
gefahren. In der Ferne tauchte der Atlantik mit
einem tiefdunklen Blau auf, einer Färbung, von der
man den Eindruck hatte, dass sie sich noch im
Ausströmen vertiefte. Der Phänotyp saß damals in
einem Café aus Marmor und Gold, in einem Café für
Dogen mit riesigen prunkvollen Räumen. Der
Kapellmeister vom Ort dirigierte ohne Taktstock nur

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

durch die Bewegungen seines Oberkörpers, u.a. auch


die Serenade von Toselli, was wunderbar klang.
Plötzlich sprangen Ratten, große, fette Tiere, um
die Tischfüße. Der Kellner, den der Phänotyp darauf
aufmerksam machte, sagte beiläufig: \"Was wollen
Sie, die Stadt liegt nah am Meer!\" Der Phänotyp
sah die armen Leute vorbeipromenieren; es handelte
sich augenscheinlich um Beschäftigte, die in
\"Kellereien, Fabriken, Büros, Krankenanstalten\"
schuften. Der Phänotyp sinniert in dieser \"heißen,
weinbergumdufteten Stadt: Früher spitzen die
Urjäger ihre Pfeile für Jagdzüge und schlugen Feuer
aus Steinen.
Die sogenannten Führer dagegen dachten und planten
im großen Maßstab: sie trieben die Einwohner zur
Geburtensteigerung
(Volksvermehrung) an und waren später gezwungen,
Arbeitsplätze für die \"überflüssig Geborenen\" zu
beschaffen. Dann musste man weitere Absatzmärkte
erobern, um die \"unnützerweise hervorgebrachten
Waren wieder abzusetzen\". Der Kreislauf des Lebens
schien vollendet. Der Phänotyp konnte darin keine

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

sinnvolle Tätigkeit, keine \"unerschöpfliche Gabe


der Natur\" entdecken, sondern erblickte darin nur
die Ergebnisse einer \"mangelhaft angewendeten
Vernunft\".

Der Phänotyp war einst von Les Sables d´Olonne


gekommen, wo man Austern und Sardellen fischt, an
dem Hafen vorbei, über Royan, dem eleganten Bad an
der Gironde. Freundliche Dörfer hat er kaum
gesehen, aber jene kleinen Flecken, Bourghs
geheißen, mit den aus Steinen roh gebauten,
schmucklosen und fast fensterlosen Häusern, die von
Obstbäumen umgeben sind. Die Obstbäume entbehrten
ganz der Üppigkeit und Fülle, wie sie an der Rhone
und Sane schon den Süden den ankündeten. Auf
vereinzelten Felsen sah er in beherrschender Lage
Schlösser mit wuchtig wirkenden Gebäuden, die der
dicke Feudalturm, der Donjon, überragt, und die von
niedrigen Pfeilern flankierten Tore. Man sieht ein,
warum sich diese zahlreichen Schlösser auf einer
Strecke, wo sich derartige Felsen befinden,
zusammendrängen! Sie tragen den Namen Fels (la

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Gebote des inneren Seins Teil I

Roche), z.B. La Roche Chalais, La Roche Mareuil, La


Roche Foucauld usw. Andere Schlös-ser begnügten
sich mit dem Beinamen Hügel (la Motte) oder heißen
La Tour. Davon gab es auf der Fahrtstrecke auch
nicht wenige. So hatte der Phänotyp mit seinen
Begleitern die Vendee durchzogen, um im Lande Médoc
den großen Seehandelsplatz aufzusuchen. (PuA 175).
Hier wogten Menschenmassen hin und her, hier wirkte
der Marmor nicht mehr so majestätisch und die
Ratten waren noch aufdringlicher. Wer Spuren
vergangener Zeiten suchte, fand Reste aus der
Römerzeit, und wer moderne Gebäude sehen wollte,
dem trat in einigen Stadtteilen zeitgemäße Eleganz
in architektonisch gelunge-nen Bauwerken entgegen.
Wer sich mit den bildenden Künsten beschäftigt,
konnte das Haus, wo Goya die letzten Jahrzehnte
seines Lebens wirkte und wo er starb, besichtigen
und im Geiste seine Hexen vorüberreiten sehen, sich
von den Mißgestalten des Krieges und des Frie- dens
erschrecken lassen oder betrachten, wie die
Menschen am Galgen baumeln. Der Phänotyp
besichtigte Cahors, die Brücke von Bissadoa usw.

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Gebote des inneren Seins Teil I

und schwärmte von blassen Südfranzösinnen, die


gewandt auftreten können, und er erinnerte sich an
das seltsame Wort einer Dame, die meinte: \"Wenn
der Tod uns nicht mehr schmerzte, würde er seinen
Sinn verlieren\" (PuA 175).
Wie im Kapitel \"Summarisches Überblicken\" (PuA
164) ausgeführt, will der Erzähler entsprechend den
Thesen der modernen Erzählweise alles gleichsam aus
der Vogelperspektive überblicken. Die Bilder seiner
Vorstellung sollen kurz auf-leuchten, die
Erinnerung soll das Erlebte blitzartig in
Erscheinung treten lassen, der Traum soll das
Gesehen wiedergeben, ohne dass dem Leser der
Eindruck des Miterlebens vermittelt wird. Die
Unmittelbarkeit und das Sensationelle treten in den
Hintergrund; das Traumartige, Imaginative, die
plötzlich ins Gedächtnis kommenden Eindrücke sollen
überwiegen. Impressionen sollen überfallartig
auf uns einstürmen, wie aus dem Nichts einstiegen,
dem wir unverweilt entgegen gehen. Deshalb ist
nicht verwunderlich, dass die evozierten Bilder
nicht auf einmal auftauchen, sondern bei passender

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Gelegenheit durch ein Stichwort hervorgerufen


werden.
Der Phänotyp versucht auch, sich räumlich
vorzutasten, sich in der fremden östlichen Stadt,
die man ihm zum Aufenthalt zugewiesen hat, zu
orientieren. (PuA 151). Beim ersten Ausgang sieht
er ein modernes Schulgebäude, das sich mit \"rosa\"
getönter Fassade imposant ausnimmt, an einem
sanften Hang das Finanzamt, einen Stadtteich, in
den mächtige Weidenbäume ihre Zweige hängen.
Schwäne schwimmen darin. Der Spaziergänger
beobachtet einen Feuerwerker (Feuerwehrmann) mit
Helm und Maske, offensichtlich ein Nothelfer. In
den Straßen befinden sich noch ein Kraftwagenlager
mit Werkstatt, das Eichamt und ein Vereinslokal,
das den Namen \"Adlerhöhe\" trägt. Der Phänotyp
sinniert: \"Was soll das alles? Entweder gibt es
etwas Existentielles, dann ist dies alles bloß
Abfall und Verdammnis, oder es gibt nichts
dergleichen, dann müsste alles noch viel
majestätischer ausfallen.\" Schließlich kommt er zu
dem Resultat, dass man unter diesem Gesichtspunkt

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

diese Gegebenheiten nicht deuten könne.


So tauchen in dem Kapitel \"Pilger, Bettler,
Affenscharen\" die Leichenverbrennungsplätze
(Manghats) in der Vorstellung auf. Die
Unberührbaren, die der untersten Kaste angehören,
verbrennen Tote am Ufer des Ganges. (Es ist
durchaus nicht ausgeschlossen, dass Benn damit die
Judenvergasungen in den Gaskammern von Auschwitz
andeuten wollte. Nach dem Stand vom 1. August 1944
waren über 500 000 In- und Ausländer in den KZ´s.
Auch dies dürfte Benn bekannt gewesen sein. Sein
früherer jüdischer Verleger und Freund Erich Reiss
wurde im November von den Nazis abgeholt und
verschwand, wie Benn am 14.11.1938 an Oelze
schrieb.
Die Geier schweben über den heiligen Flüssen.
Offiziersdamen erscheinen in Phaetons und niedrige
Hackerys mit Hindufrauen. Kamelschellen
verkünden geweihtes Wasser. Das Schlagen der Gongs
soll die Hausgötter in
Erinnerung bringen. Angeboten werden u.a. Schleier
von den östlichen Nebenflüssen des Ganges und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Wollschals aus der Wolle der Ladakhschafe. Es


sind Bilder vom indischen Subkontinent, den noch
immer das Geheimnis einer unbekannten Welt umweht.
Das Land der Träume und Alpträume hat mit extremer
Armut, mit Bevölkerungswachstum, Bürokratie und
Korruption zu kämpfen. Abgesehen von
oberflächlichen Kenntnissen über Yoga und
Reinkarnation, weiß die Allgemeinheit sehr wenig
davon, wie reich die Vielfalt von Landschaften,
Kulturen und Religionen ist. Heilige Kühe und
High-Tech - Indien lebt teils noch im Mittelalter,
teils schon im
dritten Jahrtausend. Der Reiz des Unbekannten, die
Faszination von Pilgern, Bettlern und
Affenscharen wird für Benn den Ausschlag gegeben
haben, diese Eindrücke wiederzugeben, als Beispiel
dafür, was der Phänotyp auf sich wirken ließ und
was er alles durchdachte. Was für ein Leben führt
ein Inder im Vergleich mit einem Europäer! Der
Inder müsse sich mit einer
Dschungelhütte und Wurzelfutter begnügen, heißt es
in dem Prosastück \"Nicht rein pessimistisch das

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Ganze\" (PuA 255). Kuhschweife dienen ihm als


Fliegenwedel. Vielleicht besitze er auch etwas
Lotos und Bananen, aber im wesentlichen gibt es nur
Gaukler und Pfauen. Weltanschaulich werde überhaupt
nichts verarbeitet und Sanskrit kann keiner\" (PuA
256).
Der Phänotyp notiert weitere Eindrücke und
Sehenswürdigkeiten. Muscheln werden in Trögen von
hohlen Bäumen solange eingesetzt, bis sich die
Perlen am Boden sammeln. Der Phänotyp stellt sich
die Pilger, Bettler und Affen
scharen vor. Um 1950 wurde die Affenbevölkerung in
Indien auf 50 000 000 geschätzt. Am 13. April jeden
Jahres nehmen über eine Million Pilger ihr
reinigendes Bad im Ganges. Heilige, Büßer,
Scharlatane und Fromme aus allen Teilen des Landes
strömen zusammen. Ein kleines Stück Ufer, die
\"Fußspur Gottes\" genannt, weil der Überlieferung
nach ein Gott seinen flüchtigen Fuß hier auf die
Erde gesetzt haben soll, ist der Ort der
Waschungen. Der Phänotyp erinnert sich an Klippen
aus weißen Korallen, Inseln, die entstehen und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

vergehen, denkt an Madon-nenlilien in Balcic am


Schwarzen Meer und an die weiße Blüten von Maltas
Mockorange, an die Saphire in der Tiara des Zaren
und an die Perlen, die den Körper vom Hals bis zur
Taille schmücken. Dem Phänotyp fallen die Pilger
ein,
die auf Flößen vor den Stromschnellen knien und
beten.

In einem Essay \"Neben dem Schriftstellerberuf


(Kunst und Staat)\" bekannte Benn 1927, dass ihn
zuweilen Traumvorstellungen heimsuchen: \"Manchmal
des Nachts überfallen mich Visionen von Städten,
die vergangen sind, ich sehe Ruinen, dort von
Säulen, dort von Lehm. Vom Tigris bis zur Spree ist
nur ein Schritt, dort ist der Kollege aus Babylon,
der die Ziegelöfen inspiziert und dort der
Patriarch von Kanonbin, der Steine mit Erde mischt,
um neuen Boden zu gewinnen, ich bin der Dritte, ich
halte einen Leitungsdraht.\" (PuA 265). Dahinter
ist nichts Geheimnisvolles zu sehen. Es sind
vermutlich eidetische Eindrücke aus der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

umfangreichen Lektüre; möglicherweise war Benn


eidetisch veranlagt, fähig zu plastischen
Vorstellungen.
Noch offensichtlicher wird die Struktur der
Erzählweise, die einem Projektionsverfahren
gleicht, in dem Kapitel \"Blöcke\". Die
Impressionen und Projektionen eines wachen
Intellekts werden blockartig nebeneinander
gestellt: die Abenteuer der Seele, die Vision von
Wolkenkratzern, das Leben eines Broadwaystars, die
Bilder von Dina Grayville, von Hotels und einem
Palais in der Peking-Road. Diese flutenden Visionen
sollen den Eindruck erwecken, dass der Phänotyp
selbst keinen eigenen Standpunkt mehr einnimmt und
auch nicht einnehmen will. Es sei ein Zeichen
seiner selbst, dass die traumartigen Vorstellungen
aus dem Nichts auftauchen und sich im Nichts
auflösen. Sie seien so eintägig und ephemer wie ein
\"Strahl oder eine Magnolie\". So bescheiden und
bedürfnislos ist er wie ein Javanese, der mit einem
\"Sirihpriem unter der Zunge\" oder einem
\"Stückchen Quitte-mus auf einem Pisangblatt\"

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

zufrieden ist. (PuA 176).


Ein Liedvers geht ihm durch den Sinn: \"Komm mit
aufs Meer! Vom Meer aus ruht das Land und ruhn die
Herzen.\" Surrealistisch muten die Bilder an, die
in seiner Phantasie entstehen. Es könn-ten aus
heutiger Sicht Szenen aus einem
Science-fiction-Film sein. Ein Mensch, der wie ein
schwarzes Insekt, ein Floh auf Hnterbeinen,
aussieht, tummelt sich am Fuße eines Obelisk, der
das Aussehen eines ägyptischen Monuments hat.
Plötzlich sieht der Phänotyp mehrere Menschen; sie
kommen aus den ebenerdigen Öffnungen, fahren in
senkrechten Aufzügen im Innern der Häuser nach
oben, treten heraus, versinken wieder in die Tiefe.
Vielleicht sind es Bauarbeiter an einem Hochhaus?
Kräne werden eingesetzt und Dynamos,Scheinwerfer
und hohe Pilaster. Vielleicht sind die Visionen gar
nicht so ausgefallen, wie es den Anschein hat? Von
den hohen Wolkenkratzern aus sieht man die Bay, die
Segeln der Jachten vor Long Island, die Landhäuser
im Sonnenlicht, die langgestreckte Küste. (PuA177).

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Gebote des inneren Seins Teil I

Der Phänotyp denkt an einen Broadwaystar, der


über ein Jahreseinkommen von 50 000 Dollar verfügen
könne. Ihre Ausbildung als Tänzerin dauerte 15
Jahre; drei Stunden täglich musste sie Purzelbäume
üben, damit die Knochen gehorchen, musste
Kopfstehen, \"um klettern zu können wie ein Affe\",
trainierte unermüdlich, \"um sich leicht zu
drehn\". Abends singt sie mit einer Baßstimme, dann
mit einer ganz hohen Nachtigallenstimme. Zu ihrem
Repertoire gehören Lieder von Ukelele Babies und
Piccaninis. Ihr ganz persönlicher Stil lässt Herzen
erschauern.
Der Phänotyp spottet: Gepeitscht werden die
Seeküste, die Hudson- und Champlainspalte, der
East-River und Sandy-Hook. Erschauern werden die
Nachkommen Sems und Hams, die Weißen und
Mischlinge, \"Halfcast, Lip-Laps, die Chefs des
Federal Reserve-Building, die das Gold horten\".
Nach dem Galaabend gönnt sich die Sängerin
Eissouflee und eine Suppe aus dem Schleim der
javanischen Sa langane. (PuA 178).

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Gebote des inneren Seins Teil I

In weiteren Visionen tauchen Dina Grayville, die


mit einer Pferdekutsche zum Kauf von
Kinderkleidern ausfährt, und der Präsident einer
Exportfirma auf, der in einem Palais in der
Peking-Road in einem Lehnstuhl sitzt (PuA 178).

1.7 Das Nein-sagen-können

Der Mensch ist, wie es Max Scheler formulierte, der


Neinsagenkönner, der Asket des Lebens, der ewige
Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit, und damit
steht er im Gegensatz zum Tier, das immer Ja zur
Wirklichkeit sagt. Ein Hund, der hungrig ist, muss
das Fleischstück fressen, das vor ihm liegt. Nichts
kann ihn daran hindern, es sei denn, er ist krank
oder er muss sich höheren Fremdinteressen, z.B. der
Disziplin des Rudels, unterwerfen. Das Tier ist mit
seinen Antriebssystemen identisch; es ragt an
keiner Stelle seines Verhaltens über sein Programm
hinaus. Der Mensch kann anders reagieren als das
Tier; er kann zwischen dem Antriebsdruck, dem
Angebot an seine Sinne, und dem Vollzug der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Endhandlung noch selbst tätig werden; er kann sich


in den vorprogrammierten Ablauf seiner Natur
einschalten und \"nein\" sagen. In solcher
Eingriffsmöglichkeit zeigt sich der über aller
Natur stehende Kern unseres Selbst. Der Mensch ist
also durch eine ganze Dimension vom Tier
unterschieden. Sogar dem \"intelligentesten
Lebewesen in der Tierreihe (dem Schimpansen) ...
fehlt der Sinn fürs Negative\". 39) Mit anderen
Worten: Der Mensch ist das Wesen zwischen
Freiheit und Gesetz. Unser Leben untersteht den
Gesetzen der Natur, aber wir können sie als
Persönlichkeit, die zur freien, sittlichen Leistung
fähig ist, überschreiten.

Wir nähern uns damit den Begriffen der Verwandlung


und der Verwandlungszone im Sinne Gottfried Benns:
Der Mensch, und nur er allein, kann in vollem
Bewusstsein sowohl das Unlogische, wie das
Unbiologische tun, wenn er in der Raum der Freiheit
vorstößt (Überwindung der
Antriebsgesetzlichkeiten). In diesen eigentlich

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Gebote des inneren Seins Teil I

menschlichen Verhaltensweisen sind die Dimensionen


erschlossen, in denen allein Freiheit und
moralisches Handeln möglich sind. Wo die ersten
Anzeichen von Freiheit, Verantwortung und
Intelligenz auftreten, beginnt die
Verwandlungszone. Die Unschuld der Kreatur hört
dort auf. Die Frage, wo sich der Mensch verwandelt,
ist damit beantwortet. Im \"Doppelleben\" heißt es:
\"Verwandlungszone - experimentelle Ansätze des
Geistes.\"

Bereits im Brief vom 2. Januar 1943 führt Gottfried


Benn hierzu aus, es gehe heutzutage um die reine
Verneinung: \"Die Denkfunktion der Verneinung ist
die vom höchsten Rang, in ihr erreicht es (das
Denken) seine letzte Stufe, sie umschließt das
metaphysische Wesen des Denkens, sie ermöglicht
seine allgemeine Be-deutung, sie ist
Detailbekämpfung, Antiemotionismus,
Eindrucksfeindlichkeit - sie ist Stil. Darum ist
alles Denken pessimistisch, und wer mit ihm beladen
ist, geht schweigend in seiner Larve umher.\" (An

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Oelze, 02.01.1943). 40)

Der Phänotyp stellt die Verneinung als


Denkfunktion dar, und zwar als eine Denkfunktion
von höchstem Rang. Das Denken erreiche in der
Negation seine \"höchste Entwicklung\". \"Sie
umschließt das metaphysische Wesen des Denkens, sie
ermöglicht seine allgemeine Bedeutung. Sie dient
dem, was Kunst wird, wenn sie vollendet, und
Erkenntnis, wenn sie tief ist: der
Wirklichkeitsherstellung, der Produktion und
Ordnung von Realität.\" (PuA 158). Benn
kommentierte die allgemeine Lage in einem Brief an
Oelze wie folgt: \"Es trifft so sehr zu, was Sie
schreiben, dass nämlich alle Beziehungen aufgehört
haben, dass Gespräche sinnlos werden, aus jedem,
nahezu ausnahmslos aus jedem, schillert der
kleinbürgerliche Rest, Angst, alles die Zwar und
Aber, Familie, Kate, Umtrunk, grüne Flächen -
nirgends die reine Verneinung, um die es aber heute
geht. Was dem Menschen von heute völlig abgeht, ist
der wunderbare Begriff des Märtyrers der frühen

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Gebote des inneren Seins Teil I

Jahrhunderte, der in der Arena die Pranken des


Löwen und, an den Stamm gebunden, die Pfeile der
Heiden, ohne zu widerrufen, hinnimmt.\" (An Oelze,
02.01.1943). Im Jahr 1942 hatten die
Massenvergasungen der Juden in Auschwitz, Maidanek
u. a. begonnen. Die Niederlage Japans bei den
Midway-Inseln brachte im Fernen Osten die Wende.
Der nationalsozialistische Terror war in allen
Lebensbereichen bedrückender Alltag. Das sind
überdeutliche Zeichen dafür, dass das Verhältnis
des Phänotyps zu anderen Menschen gestört ist;
meist wird er sich des \"psychischen Lebens der
anderen\" (Hans Sedlmayr) gar nicht mehr bewusst.
Benn schrieb im oben genannten Brief: \"Wir strömen
nicht mehr in den alten Betten von Gespräch,
Austausch, menschlichen Betrachtungen, diese Betten
sind ausgetrocknet und leer. Es geht alles nach
innen in ein umfassendes Schweigen.\" (An Oelze,
02.01.1943).

Inwiefern dient die Verneinung der Kunst und der


Erkenntnis? Die Antwort auf diese Frage findet man

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

u. a. bei Viktor Sklovskij. Er definiert die Kunst


\"als eine Anstrengung, die
Abnutzung unserer Wahrnehmung und das
Unbewusstwerden unseres täglichen Lebens rückgängig
zu machen\". Das Ziel der Kunst sei es, \"uns eine
Empfindung für das Ding zu geben\". Dabei wendet
die Kunst zwei Kunstgriffe an: die Verfremdung der
Dinge und die Komplizierung der Form. Denn jedes
Handeln, jedes Erleben sei ein Reduktionsvorgang,
\"der die Wirklichkeit perspektivisch auslegt und
vereinfacht\". Die Kunst ermögliche uns jedoch, die
Wahrnehmung des eigentlichen Lebens
wiederherzustellen, \"indem sie die Prämissen
unserer Erlebnisverarbeitung problematisiert, das
scheinbar Bekannte fremd macht und ihm so eine neue
Sichtbarkeit Daseinsmacht, Nähe) gibt\". Der
künstlerisch veranlagte Mensch, der Phänotyp,
sieht, wohin sein Auge schweift: \"Möglichkeiten,
Motive, Anspielungen, Perspektiven\". Er widersetzt
sich der Entwirklichung, macht sie bewusst
rückgängig. \"Die fraglosen Erleichterungen, die
uns die Technik gewährt, werden mit einer

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Verminderung des Realitätsgefühls bezahlt, die umso


er-schreckender ist, als wir sie kaum noch
bemerken.\" 41)

Neinsagen erfordert mehr Energie als Jasagen.


Häufig hält uns Angst davor zurück, nein zu sagen.
Angst ist \"erstarrte Negativität\".42) Angst
korrumpiert die Fähigkeit, \"Bestehendes zu
kritisieren und Neues zu erfinden\". Die
Unfähigkeit zur Verneinung ist ein
Krankheitsbefund. Den Phänotyp treibt das Ungenügen
an dem, was ist. Für den Phänotyp gibt es keine
Erkenntnis ohne sinnlichen Eindruck. Er erarbeitet
Dinge und hebt sie geistig empor. Geist ist für ihn
die Zeichensprache der Dinge. \"Aller Glanz, den
wir in unserer Seele tragen, kommt von Dingen, die
wir erschaffen haben\", sagt der Phänotyp.

Die Einsamkeit, das Meiden der Gesellschaft, ja die


Isolation - das ist für ihn unentbehrlich. Der
Phänotyp bewundert jene chinesischen Maler, die,
\"um ihre Tuschezeichnungen zu vollbringen,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

tagelang weit hinaus aufs Meer\" fahren, um durch


Isolation zu erschaffen. Diese Methode sei geradezu
erhaben. \"Ein einziges Staubkorn stört die Prägung
und gefährdet die tausendjährige Verwirrung,
die hier endet.\" (PuA 158). Er begehrt die
Selbstbegrenzung; er wehrt sich gegen die Übermacht
der äußeren Eindrücke. \"Die jenseitigen Dinge sind
einem viel näher als die nahen, ja, die
gegenwärtigen sind das Fremde schlechthin.\" Er
steht den Eindrücken feindlich gegenüber. Für ihn
gilt es, die Überfülle der Details zu bekämpfen,
damit er den Überblick bewahren könne. \"Ich
studiere vielleicht Einzelheiten, aber ich bin kein
Beobachter.\" Dies kommt ihm geradezu als ein
Kennzeichen des Genies vor. Wer sich nicht
kontrafaktisch verhalten könne, sei sozusagen
\"geistig erstarrt\", ein Gefangener einer
\"armseligen Positivität, die er nicht
überschreitet und also auch nicht ändern\" könne.
Unverstandenes aus dem Dichten und Denken gehöre
zum Thema der Peripherie, ins Gebiet der
Verwandlungszone. Das ist jener Bezirk, wo das

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Gebote des inneren Seins Teil I

Denken über die \"Bewegungsart der geistigen


Existenz\" stattfindet. Diese Zone sei
\"erzieherisch\" und erweitere den Blick. Hier
zeige sich der Experimentiercharakter des Denkens.
Auch Goethes Sätze und Verse, die uns bis heute
dunkel und unzugänglich geblieben seien, gehörten
\"in das Gebiet der Verwandlungszone, die nicht
immer in einer eindeutigen Richtung verläuft, nicht
immer in eine Entfaltung von allgemein werdenden
Formen und Ausdrucksverfahren mündet\" (PuA 155).

Zuletzt widerspricht der Phänotyp der


Auffassung, dass die Natur unsere letzte
metaphysische Aufgabe sei. Nicht die Natur mit den
\"wechselnden rubinfarbenen oder erblauten
Himmeln\" sei unsere Aufgabe, sondern die Kunst,
die monologische Kunst, d. h. die
Beschwörungen. \"Etwas Unstillbares ist dabei,
etwas, das das Herz zerreißt.\" Die Natur als das
Ungeordnete, Chaotische bleibt zurück. Aber ein
\"Widerschein ihres ewigen Prangens fällt auf die
vergängliche Hand\" des Künstlers. Selbst wenn man

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

einsieht, dass jegliches Spiel nutzlos sei, wie der


Ruhm und die Schönheit, wie alle Spiele der Götter,
so gilt für die Kunst-produkte dennoch, dass sie
umso göttlicher seien, je nutzloser sie von
Banausen angesehen werden. (PuA 158).

1.8 Zwischenbemerkung

Der Leser, der die Darstellung eines Menschen aus


Fleisch und Blut erwartet hat, sieht sich einer
schemenhaften Figur ohne Biographie, Soziologie
und Psychologie gegenüber. Wenn er sozusagen die
bunten Spektralfarben des Lichts hat sehen wollen,
wird ihm nur ein schattenhaftes
Schreckgespenst vor Augen geführt; es taucht aus
dem Dunkel der Tage ohne Begleitung auf und
verschwindet darin wieder unversehens. Der mit
Schreibverbot belegte Autor nahm Zuflucht zu einem
experimentellen Roman, worin die Titelfigur weder
angegriffen noch verhaftet werden konnte; sie wohnt
nur notdürftig in einer Gemeinschaftsunterkunft in
einer östlichen Stadt. Man erfährt keine Adresse,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

kennt keinen Namen, weiß nicht, ob sie ledig oder


verheiratet ist. Die wenigen Informationen, die der
Leser gern zu Beginn des Kurzromans hätte lesen
wollen, liefert der Autor ziemlich am Schluss im
Kapitel \"Zusammenfassung\" (PuA 178) nach. Aus
verständlichen Gründen wurden diese Informationen
der Interpretation vorangestellt. Anstatt die
\"Eindrücke, Erinnerungen und Taten des Phänotyps\"
zu präsentieren, wurden dem Leser stattdessen meist
pessimistische Gedanken, Vorstellungen,
Visionen, die \"Projektionen eines abstrakten
Intellekts\" (PuA 178) angeboten. Man erfährt fast
nichts vom Alltag des Phänotyps, von seinen
Bekannten und Begegnungen. Die Titelfigur blieb,
wie zu Beginn der Interpretation ausgeführt, eine
Ungestalt. Das, was der Leser im Sinne der
landläufigen bisherigen Romane hätte lesen wollen,
leistete der Interpret mit Hilfe der überlieferten
Briefe, der Autobiographie des Autors und sonstigen
Unterlagen aus jener unheilvollen Zeit.

Welch einen Gegensatztyp stellt doch der in diesen

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Kriegsjahren lebende Hauptmann D. dar, wie ihn


Felix Hartlaub in seinen
Weltkriegsaufzeichnungen \"Im Sperrkreis\"
beschreibt! Man sieht seine breitschultrige,
kurzhalsige Erscheinung, mit einem Kreuz wie ein
Küchenschrank, vor sich. Jede zweite, dritte Nacht
macht er sich als Kurieroffizier des
Wehrmachtführungsstabes auf den Weg, \"ein
wichtiges Rädchen in dem wendigsten und schnellsten
Befehlsapparat der Welt\". Furchtlos zieht er die
Folgerungen aus den ihm aufgezwungenen neuartigen
Daseinsumständen, begründet die \"Lebensform eines
Kurieroffiziers\" und sichert sie nach allen Seiten
methodisch ab, baut sie aus und vervollkommnet sie.
Er bejaht seine
militärischen Tätigkeiten als \"gottgegebene
Aufgabe\"; sein Verhalten wird als vorbildlich
angesehen und macht Schule bei den Insassen der
benachbarten Kurierabteilung. 43)
Dabei erinnern wir an die ähnlich gelagerten
Absichten und Bemühungen Rilkes. In seinem Roman
\"Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge\"

Seite 231
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

(1910) hat Rilke in weitaus überzeu-genderer Form


die Monologe, Erinnerungen und Gedanken des auf das
Künstlertum konzentrierten Titelhelden
aufgeschrieben; auch ihm geht es um die \"Frage der
Verwirklichung seiner Existenz in der Einsamkeit
des ganz zu sich selbst hin gesammelten Lebens, das
die Bedingung des Künstlertums, und damit der
unmittelbaren inneren Wahrheit des Daseins im Ich
ist, welches sich immer wieder zu verlieren droht.
Auf dieses Existenzerlebnis außerhalb des
Allgemeinen und der ´Zerstreuung´ richtet sich auch
die Sorge um den eigenen Tod: als Reife des
eigenen, in das Unendliche einströmenden Lebens.
44)
Der im Dritten Reich verpönte Autor Gottfried Benn
wählte nicht nur aus weltanschaulichen Gründen die
Experimentalform eines Romans ohne tragende
Gestalten, eine Titelfigur ohne indi-viduelle
Wesenszüge, ohne Namen und Beziehun-
gen, sondern auch aus politischen Gründen. Die
Autoren des Dritten Reiches bevorzugten von allen
Formen der Dichtkunst die Lyrik, weil dies am

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

ungefährlichsten gewesen sei. Man konnte dem


Weltanschaulichen ausweichen. Auch die Novelle
kommt ohne \"Weltbild\" aus. Anders lagen die
Verhältnisse beim Roman. \"Die Milieuzeichnung,
die Charakterentwicklung, die Auseinandersetzung
mit der Umwelt, unterscheiden ihn von der
Erzählung, machen seine Merkmale aus.\"
(Deutschland-Berichte 1937, S. 1636). Aus diesen
Gründen mieden die meisten Autoren seit 1933 den
Gesellschaftsroman, den großen bunten Querschnitt
mitten durch die Gesellschaft. Jede realistische
Schilderung der \"ganzen Hitlerei\" wäre in den
Fängen der Zensur hängen geblieben, ganz zu
schweigen von den verhängnisvollen Konsequenzen
für den Autor selbst. Der deutsche
Gesellschaftsroman war ausgestorben.

Ein Blick auf die Kriegsereignisse, die vor


Abfassung des Experinmentalromans stattfanden,
klärt die Lage des Autors von 1944: Am 31. Januar
1943 kapitulierten die Reste der 6. Armee in
Stalingrad; mit der Kapitulation der deutschen und

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Karl Schön

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italienischen Verbände wurde nach der Katastrophe


von Stalingrad auch der Krieg in Afrika
abgeschlossen. Im November 1942 hatten die
Alliierten, die in Marokko und Algier gelandet
waren, den schwachen Widerstand der Vichy-Franzosen
gebrochen und setzten den Vormarsch gegen Tunis
fort. Die deutsch-italienischen Verbände von 250
000 Mann in Tunis waren gezwungen zu kapitulieren.
Im Sommer 1942 hatte die Luftoffensive der
Engländer und Amerikaner begonnen. Die Royal Air
Force warf auf 400 000 Flügen insgesamt fast 1 000
000 Tonnen an Bomben über Deutschland ab. Die
Katastrophe einer endgültigen Niederlage zeichnete
sich bereits deutlich ab. Am 18. Februar 1943
berief der Propagandaminister eine
Massenveranstaltung in den Berliner Sportpalast und
entfaltete in deren Verlauf alle Teufelskünste der
Massensuggestion und Propaganda: \"Wollt Ihr den
totalen Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler
und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch
vorstellen können?\" Die fanatisierten Zuhörer
erklärten sich durch bestätigende Zurufe damit

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

einverstanden. Minutenlanger Beifall und Heil-Rufe


beendeten die blasphemisch vorgetragenen
Propagandathesen des Ministers. Diese nur in
Stichworten angedeuteten Kriegsereignisse gingen
der Niederschrift des Kurzromans voraus. Benn fügte
bewusst den Abschnitt über die Verneinung als
Denkfunktion in den Roman ein, ohne auf die
geschichtlichen Ereignisse einzugehen.

Am 25. August 1943 war Benn dienstlich nach Berlin


zurückgefahren. Die Gebäude der Bozener Straße, wo
Benn wohnte, stand nach den Bombardierungen
der Stadt als \"einsame Insel
zwischen Ruinen, das Haus mit 16 Brandbomben oben
und unten, aber im Ganzen noch intakt.\" Die Stadt
sei schätzungsweise zu 60 % zerstört. \"Vom
Alexanderplatz bis Zoo sehen Sie von der Stadtbahn
aus nur Ruinen. Der Westen ist bis zu 80% zerstört;
Moabit völlig. In der Kaiserallee kein ganzes Haus
mehr; am Bayerischen Platz steht noch eine Ecke.
Ich ging 3/4 Stunde zu Fuß, um René Sintenis (eine
Freundin)zu besuchen, die in der Kurfürstenstraße

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Gebote des inneren Seins Teil I

wohnt, und sah auf dem Weg dahin kaum ein


bewohnbares Haus. Trotzdem hausen sie alle in den
Ruinen und Kellern, schmutzig, krank und
verzweifelt bzw. stumpfsinnig und blöd.\"
Verklausuliert gab er seinem Freund Oelze zu
verstehen, dass er die Invasion in Frankreich im
Mai 1944 erwarte: \"Von einem großen Meteorologen,
der die zen-tralen Wettermeldungen in der
Hauptstation kennt, hörte ich kürzlich, dass der
Beginn des Frühlings, von dem wir in unseren
letzten Briefen öfter schrieben, doch erst für den
Monat Mai erwartet wird.\" (An Oelze, 5.03. 1944).
Benn muss wegen der Briefzensur zu solchen
Mystifikationen greifen; man darf davon ausgehen,
dass er auch in anderen Situationen die Lage
verschleierte und zu Rätseln seine Zuflucht nahm.
In den Tagen der inneren Sammlung, der stillen
Einkehr, des \"Überblickens\" der Lage erreicht der
Phänotyp eine gewisse Konsolidierung der
Verhältnisse. Trotz der gefährlichen Zeitsituation
- in der Normandie begann am 6. Juni 1944 die
Invasion der amerikanischen Truppen, die \"große

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Schlacht\" - festigen sich seine Anschauungen. Der


Phänotyp erhoffte die Freiheit, \"nicht die einzig
wahre, die absolute Freiheit, aber die, in der er
groß geworden war und ebenso die Genossen, mit
denen er das Leben begonnen hatte\" (PuA 179). In
dieser Zeit wird ihm bewusst, \"dass niemand mehr
kommen würde, zu deuten und zu raten\"; es würde
überhaupt nichts mehr in Erscheinung treten, um
\"etwas aufzuklären, das man nicht selbst
erklärte\". Benn erfüllte dieselbe Stimmung wie im
Herbst 1938, als er sich einprägte, ja nicht
\"positiv\" zu werden: \"Bleiben wir ruhig und um
des Himmels willen immer dabei, dass das Ganze ein
großer Dreck ist, die Menschheit, ihre
Gesellschaft, ihre Bio- und Soziologie, dieser
ganze stinkige Zinnober um uns herum!\" Auf seine
alten Tage wolle er nicht \"in irgendwas was sehn\"
oder an irgendeiner Sache bemerken, was \"gut\"
sei. Eigentlich gäbe es nur zwei Dinge, die
\"dreckige Menschheit und einsames schweigendes
Leiden\". Man vergesse ja nicht die \"unsägliche
Verlassenheit und Ausgestoßenheit des

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Gebote des inneren Seins Teil I

Geistesmenschen\". Man dulde keine


Grenzverschiebungen\". Auf der einen Seite stehe
\"von Bremen bis Villach\", von \"Domodossola bis
Kurische Nehrung\" das Geschmeiß, ein
\"hassenswertes, dummes, kindererzeugendes\"
Geschmeiß, wohnungssuchend, plaudernd, gebildet,
ehrbar strebend, redlich, ostseefroh, aber auch
meinungsäußernd, mädchenengagierend,
weibersichzuwedelnd, Sachzusammenhänge erörtend.
Auf der anderen Seite stehe der leidende Geist. Man
lasse sich nicht täuschen. (An Oelze, 19.10. 1938).
Das zerstörte Berlin, das Chaos in ganz Deutschland
bestätigt seine Ansicht, dass Geist und Leben zwei
völlig getrennte Bereiche sind und dass man das
Dasein nur nach dem Modell des Doppellebens
bestehen kann. Die geschichtlichen Mächte hatten
sich erneut als geistfeindlich, zerstörerisch und
gewalttätig erwiesen. Der Sieg der Feindmächte, der
Allierten, begrüßt der Phänotyp als Befreiung, als
Gewinn der geistigen Freiheit, doch glaubt er nicht
an die wahre Freiheit, wenn er von der auf der
Anhöhe gelegenen Kaserne, gleichsam einer Arche,

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Gebote des inneren Seins Teil I

ins Tal hinuntersah. Dort erblickt er keinen


\"Ararat\" und keinen \"Regenbogen\". Eine Ende des
Krieges und der Kriegsgesinnung, der
Gewalttätigkeiten und kriegerischen
Auseinandersetzungen ist nicht abzusehen. Man würde
1948 sicherlich die 50-Jahrfeier der Erfindung des
Maschinengewehrs begehen: die Experten der
Raketenentwicklung (V 1 und V 2) und der
Flammenwerfer, der Bomben und Granaten würden sich
versammeln. (Sir Hiram Stevens Maxim hatte 1883 das
Maschinengewehr erfunden). Der spöttische Ton ist
unüberhörbar. Die \"Löwen und Adler aller der
großen Kriege, Sieger und Besiegte\" würden
zusammenströmen. Die Vivat- und Eviva-Rufe würden
kein Ende nehmen. Einerseits werde der Geist durch
die Schlachten entbunden, andererseits müsse man
diese Geschehnisse (animalische Bewegungen) in die
Geschichte eingliedern. Das Zeitalter könne eben
die Frage nicht beantworten, wie die geistige Welt
mit der Geschichte in Einklang zu bringen sei.
Diese Antinomie war ohne Ende. Selbst Nietzsche
habe die Frage in der \"Bemerkung von der

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Gebote des inneren Seins Teil I

geheimnisvollen Hieroglyphe zwischen dem Staat und


dem Genius\" unbeantwortet gelassen. Diese Frage
werde auch weiterhin offen bleiben. (PuA 180). Benn
bezog sich hiermit auf Nietzsche Vorrede. \"Der
griechische Staat\" (Werke, III 275), wo Nietzsche
in der \"Gesamtkonzeption des platonischen
Staates\" die \"wunderbar große Hieroglyphe einer
tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheimlehre vom
Zusammenhang zwischen Staat und Genius\" zu
erkennen glaubte. Entgegen der Auffassung Benns
meinte Nietzsche, diese \"Geheimschrift\" erraten
zu haben (Werke, III 286). Plato glaubte trotz des
damaligen Staatslebens und ihrer \"grimmigen und
barbarisch verzerrten Außenseite\", die nicht zum
\"Wesen des Staates\" gehöre, dass das
\"eigentliche Ziel des Staates\" die \"olympische
Existenz und immer erneute Zeugung und Vorbereitung
des Genius\" sei. Plato habe dies durch eine
\"dichterische Intuition\" herausgefunden und \"mit
Derbheit hingemalt\" (Ebd. 285).

Am 22.05.1946 erläuterte Benn die Methode des

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Romans in einem Brief an Johannes Weyl; diese \"Art


Roman\" sei von einer \"sicher weitgehenden
Identität mit der Zeit\", \"völlig neu in der
Methode, den Menschen von heute aufzurollen.
(Apfelsinenförmig gebaut, Scheiben nach einer Mitte
tendierend, völlig im Gegensatz zu Psychologie und
Zeitentwicklung -: akausal, grundlos, blockartig)\"
(An Johannes Weyl, 22. 05.1946). Worin die
Identität des Romans mit der Zeit zu sehen ist,
bleibt unklar.

Eine Traumvision schließt das Kapitel


Zusammenfassung\" ab, so als wollte der Phänotyp
damit beweisen, dass die \"endogenen Bilder\" die
\"letzte, uns gebliebene Erfahrbarkeit des Glücks\"
seien. Dies steht im Schlusssatz des Essays
\"Provoziertes Leben\" (1942). In wehmütiger
Stimmung, traurig und mit der Andachtshaltung eines
Beters sieht er, wie ein Bach von hohen
Schneefeldern herabstürzt und aus der Tiefe ein
Wald aus grauen Ölbäumen heraufdunkelt. (PuA 180).

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

1.9. Nachdenken über Morgen- und Abendland

Im Februar 1942 dachte Benn über die zwei großen


\"Prinzipien in der menschlichen
Seelengeschichte\" nach: Das eine Prinzip sei das
indische \"Ta twam asi\", das Prinzip der
Pluralisierung, Kollektivierung, ja
Erniedrigung des Ichs (Mensch auf der Höhe, sei
nicht so stolz: \"auch das bist Du, auch der
Aussätzige, der Kriminelle, die Hure, der
Vatermörder\") und das andere Prinzip sei das
griechisch-europäische des \"Überrundens durch
Leistung, List, Tücke, Tüchtigkeit, Gaben -:
hellenisch in der Arena, modern im Darwinismus,
individualisiert im Übermenschen\". Beide führen
nach seiner Auffassung \"zur äußersten Tiefe und
Dramatik des menschlichen Erlebens\", beide seien
stilbildend und stilfähig, dort in der \"fast
unflätigen Überladenheit der indischen und
indomalaischen Tempel, Statuen und Tore (dabei von
außerordentlichem Ausdruck, aufwühlender
Nuancierung und raffiniertester Dekadence)\" und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

hier die \"Décadence latiné im


allmählich sich herausbildenden
Individualismus, seiner Hybris und seinem Abfall\".
\"In unser Blickfeld trat ganz gegensätzlich dazu
das zentrale Problem der Produktivität, des
Schöpferisch-sein-müssens, des affektiven
expressionsfähigen Geistes zur Überwindung,
Fortdrängung, Zertrümmerung der Wirklichkeit, zur
Sichtbarmachung der Gewalt des Unwirklichen, des
Sinns, des reinen Ausdrucks, des Existentiellen\"
(Brief vom 20.02. - 2.02.1942).

Die Gedankenansätze und -systeme sowie die


Erfahrungen von Morgen- und Abendland stehen in
Gegensatz zueinander. Der existentiell denkende
Phänotyp erkennt die Gegensätze, will aber nicht
einsehen, dass man als Abendländer \"nichts vom
Wesen der Dinge\" verstehe. Wenn man z.B. das
Basrelief des Khmertempels in Angkor Vat betrachte,
so bemerke man zu seiner Verwunderung, dass der
Mensch aus der Reihe der dargestellten Tiere
(Elefanten, Schlangen), der Diebe und Possenreißer,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

der Pflanzen und Gurken, auch der Götter, überhaupt


nicht hervortrete. Die asiatischen Michelangelos
und kombodjanischen Berninis brächten das \"Leben
ohne Tod in einem Kanon der Verschlingung, in einer
Architektur von geordneten Wucherungen, höchstens
als pflanzliche Katastrophe zum Ausdruck\". Diese
Vorstellungen kämen ebenso aus der Seele, seien
ebenso existentiell wie die \"Empfindung einer
dialektischen Bewegung der Welt\". Man sehe jedes
Lebewesen, jede Pflanze, jedes Tier an seinem
Platz, die Bajaderen, die Fledermäuse und die
Flammentulpen. Hier herrsche völlige Freiheit
von Ananke (griechische Schicksalsgöttin,
Notwendigkeit). Eklatant sei die Unkenntnis von
Gesetz und Ordnung, von Normen und Kategorien. All
dies sei mit großer Überzeugungskraft und
Sicherheit konzipiert und ausgeführt. Geburt und
Tod wechseln nach den Gesetzen der Pflanze,
\"jenseits von Sieg und Niederlage\". Ganz evident
sei die Großartigkeit und Gültigkeit dieser
hinterindischen Seele\". Die gequälten europäischen
Gehirne schufen \"aus inneren und äußeren

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Zerstörungen gedankliche
Hilfskonstruktionen\", Arien und Bonmots und
vertrieben Götter und Tiere von der Erde. Wer könne
sagen, dass die Seele der Morgenländer weniger tief
und verbindlich sei \"als Kants Kritik oder
Tristans Klage oder Paulus´ unaufhörlicher
Schmerz des Herzens?\" (PuA 160).

Im Jahr 1943 veröffentlichte Gottfried Benn seinen


Essay \"Provoziertes Leben\"; darin wies er auf ein
Zeugnis der indisch-javanischen Kunst, den Sockel
von Borobudur, hin und
beschrieb ihn mit folgenden, fast ähnlichen Worten:
\"Aus seinen fast unflätigen Überladungen,
Wucherungen von Gliedern und Formen, aus den
endlosen Reliefs von Tieren, Pflanzen,
Menschengewächsen, Bären, Blumen, Bajaderen,
Einsiedlern, Schildkröten, Schakalen,
Affenfürsten, alles ohne Zuspitzung dargestellt,
ungetrennt und unerschöpflich, - die Menschen\"...
\"alle von der gleichen Gestalt, alle nackt,...
spricht auch eine noch jedem zugänglich innere

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Welt, heiter, sanft und reigenverschlungen, die


einen Zusammenhang noch kennt, einen, der sich in
steter Erneuerung um einen geistigen Wesenskern
bildet.\" Der Abendländer sieht die Welt anders;
Benn erläutert dies an den Begriffen der
Wirklichkeitsauffassung, der Überwindung durch
Leistung, List und Tücke, durch die Bewusstwerdung
des Ichs. Das europäische Ich stellte sich der
Materie anders gegenüber. Es erfand z.B. Waffen,
Tauschobjekte und Lösegeld. \"Gegenüber den sanften
javanischen Wogengefühl liegt das Brutale und
Niedrige diese inneren Verhaltens klar auf der
Hand. Es wurde gebüßt durch die Trennung von Ich
und Welt\" Provoziertes Leben, EuR 369 ff.).
Die \"asiatischen Kulturformen\" werden, wie Bruno
Hillebrand erklärte, dem \"westlichen Aktivismus
aus Nützlichkeit, der Verwertbarkeit des Geistes,
der Union aus Wissenschaft, Technik und Industrie,
der Natur-und Menschenausbeutung, kurz dem
sogenannten Fortschritt entgegengestellt\". Benn
schätzte den \"bildergesättigten Glauben der
Asiaten\", die Religionsphysiologie Buddhas, die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Der-wische, Yogas, die Dionysien und Mysterien:


\"Gegenüber dem aus innerem Besitz sich
verwirklichenden Stammesleben der Primitiven,
gegenüber dem bildergesättigten Glauben der Asiaten
kann es keinem Zweifel unterliegen, dass das, was
die denaturierten europäischen Gehirne in ihren
Berufsübungen, Interessenverbänden,
Sippenzusammenrottungen, Sommerausflügen und
sogenannten Festen an Lebensinhalt realisieren, das
Platteste an Konvention und Verbrauchtheit
darstellt, das die geschichtliche Überlieferung
kennt\". Am 16.12.1945 schrieb Benn an seinen
Freund, dass die Menschwerdung Gottes, die Geburt
Jesu, das Wunder in Bethlehem, an das wir Christen
zu Weihnachten denken, eine \"asiatische Mythe\"
sei, \"vermutlich chinesisch, in Europa wäre der
Fall dynamischer verlaufen\". Die europäischen
Völker seien zerrissen und tragischen Geistes.
Fremdartig berührt und erstaunt sei man, wenn man
bei ihnen einmal auf eine Bemerkung stößt, die
\"über das Banale\" hinausgehe. Es komme von
Einzelnen, Isolierten. In den Anden sei z. B. ein

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Indianerstamm \"einheitlich und geschlossen von der


Vorstellung durchdrungen\", dass kein Mensch etwas
auf vollkommene Weise ausführen dürfe, ohne dafür
bestraft zu werden.\"Vollkommenes\" könne nur Futa
Nutri, der große gute Geist der Pampas, erschaffen.
Ein anderer Volksstamm zöge nach dem Säen der Äcker
fort, weil das \"Anblicken des Landes, das Erwarten
der Keimung und Frucht das Geheimnis der Bildung\"
störe; die Ackerbauern kehrten erst zur Erntezeit
zurück. (An Oelze, 16.12.1945).

Was den abendländischen Menschen betrifft, so


liegen seine Anfänge und damit die Anfänge der
abendländischen Kultur in Griechenland. Die
griechische Klassik war die erste Epoche
abendländischer Geschichte, \"in der zuerst
einmal das wesenhafte Geschiedensein des
europäischen Menschen von dem asiatischen empfunden
und bewusst geworden ist\" (siehe:
Griechenland-Vorträge, S. 218). Innerhalb der
\"archaisch gebliebenen Despotien des Ostens\"
verhielt sich der abendländische Mensch anders zu

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

seinem Staat, nämlich \"als beseelter,


geistbehauster Mensch\" (Ebd. 229). \"Im 5.
Jahrhundert hat der Mensch den Adel seines Daseins
mit der Tiefe und Reichweite seines Geistes
staunend an sich und den Mitlebenden erfahren, das
Menschsein einer höheren als der bis dahin
gekannten Stufe. Aus diesem Sich-Erhobenfühlen
durch stärkere Intensität und größere Tiefe des
eigenen Lebens sondert sich der Grieche dieser Zeit
von den umwohnenden Barbaren und empfindet sein
Andersein als Unterschied seiner geistigen Haltung.
Aristoteles definiert einmal den Barbaren im
Gegensatz zu dem Griechen so, dass der Barbar
unfrei sei, weil Sklave seiner Begierde. Diese
Bändigung - nicht Minderung oder Abtötung - der
Vitalität des Individuums ist ein Kennzeichen der
neuen geistigen Haltung.\" (Ebd. S. 229).

Sicher geht man nicht fehl in der Annahme, dass


Benn seinen Begriff von der \"Kultur des
Abendlandes\" von Nietzsche übernommen hat.
Nietzsche schrieb: \"Das geschwächte

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Griechentum, romantisiert, vergröbert, dekorativ


geworden, dann als dekorative Kultur vom
geschwächten Christentunm als Bundesgenossen
akzeptiert, mit Gewalt verbreitet unter
unzivilisierten Völkern - das ist die Geschichte
der abendländische Kultur.\" (Werke III 338). Benn
mischte ein Potpourri aus Nietzsches Ideen und
seinen eigenen; das sah so aus: \"Aus dem
westlichen Mittelmeer geboren, dann terrestrisch
angereichert.\" Festländische Schwere und Dränge
zum Meer. Uralte Tempeltraditionen, Welteimotive,
Überschneidungen vom Symbolreihen, Überklirren von
Themenketten; syrische Apokalypsen, Samoa und
Persien, Olymp und Golgatha, Leda und Maria: große
Kulturretorte.\" (PuA 202). Nicht genug: das
Trommelfeuer der Begriffe wird fortgesetzt: \"Tief
und gleisnerisch, Faune und Sphinx.\" Ortsgötter
werden durch den Monotheismus, den Universalismus
abgelöst. Es entstanden \"Vorstufen zu dem
verheerenden Begriff der Synthese, der Gesetze, der
Abstraktion.\" Die terrestrische \"Begrenztheit
hätte die kosmologische Einheitsvorstellung nie

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

bewerkstelligt\". Das All-Eine endete dann \"in den


irrealen transzendentalen Systemen\" in uns; es
endete \"in unserer Leere, in unserem inneren
Schatten\". Das Abendland werde seiner Meinung nach
\"an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor
den politischen Begriffen\" (Demokratie, Humanität)
zugrundegehen. (PuA 351). Wie absurd diese
Auffassung ist, muss nicht erörtert oder gar
bewiesen werden; sie ist beschämend indiskutabel.

Wie der Phänotyp ausführt, ist das europäische


Denken, durchaus ein regionales Denken, für
Bewohner anderer Erdteile genau so irreal \"wie
Schnee oder der Hosenbandorden, z. B.\"Dialektik\"
(PuA 159). Benn meint damit in diesem Zusammenhang
die Auffassung, dass die Wirklichkeit selbst die
dialektische Bewegung von Begriffen (Ideen =
Seinsweisen) sei. Wie sprunghaft assoziativ Benns
Prosastil aussieht, merkt man am deutlichsten an
der Stelle, wo er von der \"Gleichsetzuung zu der
in der Biologie gemachten Beobachtung\" spricht
(PuA 159) und dann zur \"Hypothese von der Freiheit

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

am Bande der Notwendigkeit\" (Schiller) übergeht,


schließlich auf eine Stelle in Kleists Briefen
hinweist und Hegels Dialektik andeutet PuA160).
\"Nach der Hegelschen Dialektik treibt jede
Begriffsetzung (Thesis) aus sich ihren
Gegensatz (Antithesis) hervor; beide werden
aufgehoben in einem höheren, allgemeineren Begriff
(Synthesis).\" (Herders Kleines philosophisches
Wörterbuch). Die dialektische Denkbewegung nach dem
positiv-vernünftigem Moment fasst \"die Einheit der
Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung\" auf.
Experimentell sei Dialektik nicht zu prüfen. (PuA
159). Die Denkgeschichte der Dialektik beginnt mit
Heraklits Frage nach der Harmonie der
Gegensätze.45) \"Der Geist trägt dieses sein
Grundgesetz der Spannungseinheit aus in aller
polaren Erfahrungswirklichkeit der Welt.\" 46) Das
ganze Werden und Vergehen spielt sich nach Heraklit
in einem dialektische Prozess ab: Ein Gegensatz
schlägt in den anderen um; dann kehren die
Gegensätze wieder zur Einheit des Urfeuers zurück.
Die das Werden und Vergehen beherrschende

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Gesetzmäßigkeit bezeichnet er als Logos, als das


Einheitsprinzip der Welt (Harmonie des
Weltgeschehens). \"Über diesem immanenten Logos
steht aber noch das Allweise, das Sophon, das alles
regiert und das Heraklit als transzendente
göttliche Vernunft zu fassen scheint. Mit seinem
Logos hat Heraklit einen der fruchtbarsten Begriffe
in die griechische und gesamte abendländische
Philosophie eingeführt. Er hat damit den Grund
gelegt für die Lehre vom Naturgesetz sowie für eine
apriorische Begründung der Erkenntnis, indem er die
höhere Erkenntnis aus einer unmittelbaren Teilnahme
am Logos herleitete. Heraklit ist auch der
Begründer der Seinsdialektik und somit der Ahnherr
Hegels und des dialektischen Materialismus.\" 47)

Dem Leser wird es überlassen, die


Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen zu
ziehen. Der Abendländer steht keinesfalls auf einer
höheren Stufe des Fortschritts, weil er andere
Aspekte der Wirklichkeit betont, und das Abendland
bedarf zur Ergänzung des Morgenlands. Aus These und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Antithese folgt die Synthese, dass die westliche


und östliche Welt gewissermaßen einander
entsprechende geistige Pole sind. \"Es besteht eine
nicht nur innerliche Abhängigkeit und Entsprechung
zwischen den beiden Welt- und
Wirklichkeitsaspekten, die sich in der
westlichen und östlichen einander ergänzend
ausgeformt haben, und die nur zusammen gesehen ein
Ganzes, unser Welt, bilden.\" 48) Im Morgenland
kultivierte man es mit einem Wort Irrationalismus.
\"Man glaubte auch an ein unmittelbares Licht und
gestattete der Theorie kaum jemals die Führung. Das
unendliche, nie ganz zu fesselnde Leben behielt
sein Recht - während im Abendland alles begrifflich
festgestellt und das Erlebte immer erst
wissenschaftlich geprüft wird, ehe es den Anspruch
erheben darf, für eine Erfahrung zu gelten.\" 49)

Benn sah als Synthese der westlichen und östlichen


Welt außerdem \"das zentrale Problem der
Produktivität, des Schöpferisch-sein-müssens, des
affektiven expressionsfähigen Geistes zur

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Überwindung, Fortdrängung, Zer-trümmerung der


Wirklichkeit, zur Sichtbar-machung der Gewalt des
Unwirklichen, des Sinns, des reinen Ausdrucks, des
Existentiellen\". (Brief vom 20.02. - 22.02.1942).

1.10. Rückgriff auf Pascal und andere

An vielen Stellen seiner Schriften bezieht sich


Benn ausdrücklich auf Pascal, zitiert einige Sätze
von ihm und sieht in ihm einen der Vertreter der
Wortkunst, der Vollkommenheit durch die \"Anordnung
von Worten\" zu erreichen versucht. Blaise Pascal,
schon als Kind ein mathematisches Genie, eine der
faszinierendsten Gestalten der europäischen
Geistesgeschichte, wird für Gottfried Benn ein
Kronzeuge seiner These, dass die wissenschaftliche
Welt von der
sublimen getrennt sei; in seinem Artikel
\"Franzosen\" (1940) zitiert Benn den Satz Pascals:
\"Es gibt zwei Arten von Geisteshaltungen, die
eine ist die geometrische, die andere die der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Finesse.\" Benn folgert daraus die Trennung der


\"geschichtlich verwertbaren von der
transzendent-konstruktiven, die Welt der
Nachprüfbarkeit bis zum Grad von
Bestätigungsneurose und die der Vereinzelung und
der Sicherung durch Nichts\" (PuA 326). Als
\"phänotypisch zeitgemäß\" bezeichnet Benn Pascals
Wort: \"Alle Leiden des Menschen kommen daher, dass
er nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben kann.\" In
dem kurzen Kapitel \"Gestützt auf Pascal\" führt
Benn mehr oder weniger ironisierend aus, welche
Auswirkungen der \"Wechsel von Zimmer und Garten\"
haben könne. Die \"widerspruchsvollen
körperlich-seelischen Anforderungen bei
unterhaltenden Erörterungen im Sitzen\" seien kaum
verwindlich im Vergleich zu dem \"Sichbewegen über
Kieswege, staubige Rasenränder\". Im Garten wirke
zudem ein grelles Licht, das für einen lichtscheu
gewordenen Stubenhocker schwer erträglich sei, denn
in dem im Haus Sitzenden sei noch die \"Lichtscheu
primitiver Organismen lebendig geblieben\" (PuA
152). In der Natur sei ein Licht, das Sonnenlicht,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

verbreitet, \"das einem die Augen ungeheuer schwer


macht, wenn dazu noch Gespräche kommen, kann sich
ein Strom von Vernichtung durch die Persönlichkeit
bewegen\" (An Gertrud Hindemith, 22.05.1930). In
Hannover mietet er 1935 absichtlich eine
versteckt liegende Wohnung an, \"alles in allem
mehr eine Höhle für Molche und Menschenfeinde\".
(An Oelze, 09.12.1935). Von den nach hinten
liegenden Fenstern der Drei-Zimmer-Wohnung blickt
man auf einen Hof. \"Einmal vertrage ich kein
Licht, keine Beleuchtung durch die starken
natürlichen Strahlen, dann aber auch, um
verborgen zu bleiben sowohl im Hinblick auf die
Männer wie auf die Frauen.\" (Weinhaus Wolf, PuA
129). Körperliche Bewegung sei, vom Standpunkt des
Geistes aus gesehen, nutzlos, schreibt der Phänotyp
im Abschnitt \"Libellen\". Alles, was zurückbleibe,
die hinterlassungsfähigen Gebilde, Produkte der
Kunst, sind Dinge, die der Künstler \"in
Bewegungslosigkeit\" geschaffen habe; er sei
allenfalls langsam um einen Steinblock
herumgegangen oder unter Platanen gewandelt (wie

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Nietzsche). (PuA 173). Im Gegensatz zu


unkünstlerischen Menschen, die auf Pferden
\"vielleicht zu Besitztümern\" oder \"zu
Liebesnächten\" reiten, wechselt der Phänotyp
höchstens \"zwischen Sonne und Schatten\" hin und
her. (PuA 174).
Nur wer kaum spreche, werde die Sprache völlig
empfinden und beherrschen. Man könne höchstens zu
sich selber sprechen; dabei werde man sein
\"feinstes Ohr\". Wieviel Rhetorik steckt in der
unvermittelt auftauchenden Frage: \"Bekennen Sie
sich als Träger des primären aprioristischen
akausalen geheimnisvollen Nihilismus, der ein
rückerinnerndes Wissen darstellt, die Anamnesis
Platos, wunderbar, angeboren und schweigend
hinzunehmen?\" (PuA158). Man kann, meint der
Phänotyp, durch Isolation \"geistig
emporgehobene\" Dinge erschaffen, \"Erinnerungen an
Bilder, Erlebnisse mit Büchern, Eindrücke aus
Kreisen, die wir analytisch durchschritten\" (PuA
158).
Neben Balsac, den vielleicht größten Franzosen, und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Pascal,den genialischen, stellt Benn die Lyriker


des 19. Jahrhunderts und die Impressionisten und
nicht zuletzt Flaubert: das sei Frankreich. Sie
alle trügen \"moralische Züge nach beiden
Richtungen der menschlichen wie der dialektischen
Zucht, der Ausdruckszucht, der formalen
Unerbittlichkeit\". Sie wählt er sich als Ahnen und
Zeugen seiner Wortkunst, seiner Geisteshaltung aus:
sie seien \"hart\"; sie hätten \"ihre Abgründe,
Krisen, unauflösliche Antinomien\", seien durchaus
metaphysisch. Pascalsche Menschen stellen dem
\"Wechsel der Abläufe, den Vorfällen der Dinge eine
Art verdichtete Erkenntnis, eine anderweitige
innere Erfahrung\" entgegen.

Der Stil des 17. Jahrhunderts, der \"große


französische Stil\" löste den \"Latinismus der
Schule\" ab, die \"scholastische Rhetorik\"; es
entstand, wie Benn in dem Essay \"Franzosen\"
darstellte, die \"Ausdrucksweise des honnête homme,
des Mannes von Welt: gelassen, aufrichtig,
antineurotisch und vor allem klar, die moderne

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Sprache, das mot juste, unser Jargon\". In dieser


Zeit sah er auch den Beginn des Artistischen in
Europa, der \"Wortkunst des Absoluten\":
\"Schönheit schaffen durch Abstand, Rhythmus und
Tonfall, durch Wiederkehr von Vokal und Konsonant -
die Schwingungszahl der Schönheit\" (EuR 326).
Benn hätte zur Bestätigung seiner Thesen auch den
Aphorismus über das Elend des Menschen (Blaise
Pascal, Gedanken, Nr. 189) wählen können: Die
Zerstreuung sei das Einzige, was uns in unserm
Elend tröste, aber gerade das sei unser größtes
Unglück. \"Denn das hält uns hauptsächlich davon
ab, an uns zu denken, und richtet uns zugrunde,
ohne dass wir es merken\": Die Zerstreuung
unterhalte uns Menschen und treibe uns unmerklich
den Tod entgegen. (Ebd. 84). Oder hätte Benn
Pascals Erkenntnisse aufgreifen können, \"dass die
Menschen nicht allein sein können noch wollen, da
sie Angst haben, ihres Elends und der absoluten
Gewissheit des Todes inne zu werden oder beständig
inne zu sein bzw. dass von dieser Haltung alles
Unglück der Menschen herrühre\".(Kurt

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Pritzkoleit).50) Durch die Angst, der eigentlichen


Triebkraft für das Erleben der objektiven Realität,
werden wir unserer endlichen Stellung im Weltganzen
gewahr, d. h. wir erleben unsere Ungeborgenheit und
Geworfenheit, die Brüchigkeit des Seins, das von
Anfang an durch einen unentrinnbaren Tod begrenzt
ist (PuA 173). Da der Phänotyp jede rationale
Erkenntnis von vornherein ausschließt, sind seine
methodischen und systematischen Betrachtungen
irrationalistisch. Insofern bekennt sich der
Existentielle zu einem absoluten Irrationalismus
und will dadurch eine Ausweitung der geistigen Welt
ermöglichen.

Hat der Phänotyp nicht deutlich werden lassen, dass


unser Leben ein \"unerrechenbarer Tod\" begrenzt
(PuA 173)? \"Eine Lage des Verfalls bei geordneter
Körperlichkeit. Keiner würde vermuten, dass
hinter der Haut, gepflegt und märzgebräunt, ein
Zusammenbruch besteht, unter Schnüren und
Ordensabzeichen ein Monolog abläuft.\"
Euphemistisch sei das Wort, der Mensch sei eine

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

\"geprägte Form, die nichts zerstückelt\". Die Zeit


des Phänotyps reiche nur von Nietzsches
Sommererlebnissen in Sils Maria (1886, Nietzsches
fünfter Aufenthalt, Benns Geburtsjahr) und Monets
Zeit, da er das Vorgebirge von Antibes malte, bis
in den Winter der Feuernächte, als die Städte im
Bombenhagel untergingen (1944). Die Flucht der
Jahre ist offensichtlich; die Tage seien
rätselerfüllt. Infolge der Dämmerungen und des
Gedächtnisschwunds (Unerinnerlichkeit) seien die
Tage zerstückelt. (PuA 163).
Der Phänotyp hätte Pascals Wort kommentieren
können, dass der Mensch zwischen Geburt und Tod
eingefangen sei, dass er die Spuren des Nichts an
sich trage und dass er dem Unendlichen
entgegenschreite, wo sich der Strom seines Daseins
verlieren werde; ebenso dass sein Erkennen für
immer in die Sphäre zwischen den Abgründen des
Unendlichen und des Nichts gebannt sei.51)
Vorbildlich wird dem Phänotyp die Tatsache
vorgekommen sein, dass Pascal in der \"Apologie der
christlichen Religion\" nicht die \"eine oder

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

andere Teilfrage\" anfasste, die dem Autor aus


irgendeinem Grunde wichtig erschien, sondern das
ganze Dasein in Form der Frage aufstand. Wirkliche
Probleme kamen darin in Bewegung. \"Es ist, als ob
sie ganz neu hervorbrächen - jedes echte Problem
ist ja, wenn es wirklich aus den Spannungen der
Existenz kommt, neu, mag es im Übrigen noch so alt
sein.\" (Romano Guardini, Einleitung zu Pascals
Gedanken). Zur Darstellung der geistigen
Hintergründe und zum Verständnis der Reaktionen,
Verhaltensweisen und Perspektiven muss man sich
vergegenwärtigen, dass sich in seiner Lebenszeit,
die der Phänotyp von 1886 bis 1944 (PuA 163))
datierte, ein fundamentaler Wandel in der
abendländischen Welt vollzogen hat. Im Buch \"Das
Goethe-Bild des 20. Jahrhunderts\" wird dieser
Wandel in die Zeit von 1932 bis 1949 verlegt, was
durchaus vertretbar ist. Dort heißt es u.a.:
\"Zwiespalt und Dissonanz sind seine Leitmotive.\"
Seine motorischen Kräfte seien \"Entgottung und
Entzauberung der Welt und ihres Menschenbildes,
Rationalisierung und Technisierung, Vermassung und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

´Herrschaft des Apparats´ (Jaspers), aber auch


Vereinsamung der Einzelnen und Vereisung des
Seelischen\". Der furchtbare Zweite Weltkrieg mit
den noch furcht-areren Auswirkungen auf Leib und
Leben, auf Seele und Geist der europäischen Völker,
werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt;
vermutlich verstehen sich diese Folgen aufgrund der
aufgezählten \"motorischen Kräfte\" von selbst. Der
Verfasser Heinz Kindermann zitiert Philipp Lersch,
der in seinem erstmalig 1946 erschienenen Buch
\"Der Zusammenbruch des Lebensgefühls\" geschrieben
hat, dass Flucht in die Ruhelosigkeit, die im
Grunde Friedlosigkeit, Ungeborgenheit, \"Flucht vor
sich selbst\" sei, es dem Einzelnen versagen,
\"sein Leben als ein Ganzes zu gestalten, und
seiner Mitte heraus zu leben, er selbst zu sein und
mit sich im Einklang zu stehen\". \"Das Phänomen
der Angst aber beherrscht auf weite Strecken hin
das philosophische Weltbild der Gegenwart, das der
Existentialisten und insgeheim auch das ihrer
Gegner.\" (S. 512). Heidegger habe
\"Seinsverlorenheit\" als Signum des modernen

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Menschen bezeichnet, und die Angst betrachte er als


ein \"Hineingehaltensein ins Nichts\". Damit wird
auf die Gefahren des Nihilismus hingewiesen, dessen
Heraufkunft Nietzsche vorausgesagt hat. Benn klagt
seinerseits expressis verbis nicht über die
Entgottung der Welt, den Zerfall der
abendländischen Werte wie Gesittung und Moral, der
geistigen Tradition und die Friedlosigkeit; als
durchaus realistischer Denker zieht er aus dem
Wertesturz, dem von Nietzsche verkündeteten Tod
Gottes, kompromisslos und scharfsinnig die
geistigen Konsequenzen: als Angehöriger dieser
Generation stellt er sachlich den Verlust der Moral
(PuA 149), der Gottgläubigkeit (PuA 160), des
natürlichen Lebensgefühls (PuA 159), die Ambivalenz
(PuA 152), die Herrschaft des Nihilismus fest und
sucht. Rettungsmöglichkeiten, geistige und
seelische Auswege für sich und damit auch für
andere. Er glaubt, den Nihilismus ins Positive
wenden zu können, indem er den \"höheren\" Menschen
auf das Kraftpotential des Geistes als dem
formenden und formalen Prinzip aufmerksam macht,

Seite 265
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

auf die \"artistische Ausnutzung des Nihilismus\"


(EuR 212). \"Jetzt kommt es auf den Menschen an\",
schrieb Leo Gabriel. \"Das Nichts ist es, das pure
Nichts, das den Menschen herausfordert, das ihn als
Menschen in die Entscheidung ruft.\" Der Phänotyp
sieht sich durch die Ideen des Existentialismus
(PuA 149) zu persönlichen Entscheidungen gezwungen.
Kindermann zeichnet im Kapitel VI (Entdeckung des
Gegenpols) seines höchst bedeutsamen Buches die
\"ereignisreiche Entwicklung der abendländischen
Welt zwischen den Goethe-Feier von 1932 und den
Goethe-Feiern von 1949\" nach. Bertrand Russel, der
amerikanische Philosoph W. T. Stace und Ernst
Jünger führten mit Recht die \"kopernikanische
Wendung der physikalischen, biologischen und
astromischen Aspekte in dieser Zeit mit ins
Treffen\".
Während Sartre eine bevorstehende schreckliche
Krise der Menschheit befürchtete, war Ernst Jünger
überzeugt, dass wir im Begriffe wären, \"den
Nullmeridian des Nihilismus\" zu passieren.Um
Missverständnissen vorzubeugen, muss klar

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

herausgestellt werden: Nicht Benn war es, der Gott


entthronte, der die so hochgelobten Werte der
abendländischen Tradition zertrümmerte, der die
Gottgläubigkeit aus den Herzen der Christen raubte,
sondern dafür sind die Menschen seiner Generation
verantwortlich, die europäischen Völker selbst, die
Abendländer oder noch besser: alle vom Glauben
abgefallenen Menschen einer untergangsgeweihten
Welt, die sich einem nihilistischen Materialismus
in die Arme warfen. \"Mit zwanzig Mark in der
Hosentasche gewannen sie Distanz zu Sils Maria und
Golgatha und kauften sich Formeln im
Funktionsprozess\" (EuR 420). Philipp Lersch zeigt,
wie Benn in seinem philosophisch grundierte
existentiellen Roman - die Lösungsmöglichkeit einer
Rückbesinnung auf: \"Wenn es dem abendländischen
Menschen gelingt, das Grundgefühl der Angst aus der
Verdrängung, in der er es bisher zumeist gehalten
hat, in die Helle des Bewusstseins zu heben, wenn
er erkennt, dass diese Angst ein Ruf zu sich selbst
ist, und wenn er sich entschließt, diesem Ruf zu
folgen, dann wird es ihm vielleicht auch gelingen,

Seite 267
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

eine neue Mitte zu finden und seinem Lebensgefühl


einen neuen Halt zu geben.\" Der Phänoptyp preist
die \"Großartigkeit und Gültigkeit\" der Seele (PuA
160), erbaut eine geistige Welt voll Glanz und
Entzücken (Schaumgeburten, PuA 179), sucht seine
Aktivitäten in Gedankengängen, Antithesen (PuA
173), Abstraktionen und weiß von der langen
Bestimmung und den weiten Räumen der menschlichen
Gedanken (PuA 173). Der Existentielle, wie er auch
genannt wird, verweist auf Laotse, das
rückerinnerde Wissen (PuA 158), auf die
kontemplative Bestimmung des Menschen (PuA 155),
auf die reine Kunst und die Elemente des Traums
(PuA 157).
Hans Eugen Holthusen soll den Dichter Gottfried
Benn \"einen grimmigen Widersacher der christlichen
Kultur\" genannt haben. Franz Dilger jedoch nahm
den richtigen Standpunkt ein, als er feststellte:
\"Benn ist der ehrliche Diagnostiker, der uns das
verzweifelte Dransein einer gottverlassenen Welt
zeigt. Damit wird seine Dichtung - wider Willen -
zu einer radikalen Apologie christlichen

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Weltverständnisses. Eine Seele, die so heult aus


ihren Abgründen, legt stärkeres Zeugnis ab für die
Existenz der verlorenen Gnade als die meisten
Hymniker eines unangefochtenen Glaubens. Benns Welt
ist entgöttert, aber umso stärker leuchtet die
Numinosität seiner Seele, die so schmerzlich dem
Absoluten verpflichtet ist.\" Benn bekannte einmal:
\"Es bleibt das Gefühl im Sinne einer unbeirrbaren
Überzeugung, bestehen, dass selbst diese
qualerfüllteste aller denkbaren Welten nicht eine
Sekunde stehen und bestehen könnte ohne eine
Ordnung, eine zeit- und raumlose Planung, eine
überirdische Existenz.\" (SuS 229). Der Aphorismus
stammt aus den Jahren 1943/1944, als Benn das Buch
\"Ausdruckswelt\" und gleichzeitig den \"Roman des
Phänoptyp\" schrieb.

1.11. Geschichte als eine Art kollektiver


Mythenbildung

Die Geschichte und ihre Sinnlosigkeit - das ist ein


Lieblingsthema Gottfried Benns und des Phänotyps.

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Die Zweifel an dem Sinn der Geschichte und


der Geschichtsforschung, sein
Geschichtspessimismus, ja seine antihistorische
Einstellung kommen vorwiegend in den Abschnitten
\"Die Geschichte\" und \"Studien zur Zeitgeschichte
des Phänotyps\" zum Ausdruck. Ironische Töne sind
aus den Sätzen über die \"wunderbar ausgleichende
Gerechtigkeit\", die \"wunderbare
Gleichförmigkeit\", den \"regelmäßigen und
fruchtbaren Rhythmus\" der Geschichte zu hören. In
die historischen Bild-beschreibungen wird
ironisierend die \"wunderbare Wiederkehr des
Gleichen\" eingeflochten. Eigentlich hätte das
Kapitel ebenso wie die \"Studien zur Zeitgeschichte
des Phänotyps\" in den Anhang verwiesen werden
müssen, denn der Phänotyp ist ja an Politik,
Soziologie, Geschichte und Psychologie usw. nicht
interessiert.
Nach einer Definition von Überweg-Heinze-Praechter
ist Geschichte im objektiven Sinn der
\"Entwicklungsprozess der Natur und des Geistes\";
Geschichte im subjektiven Sinn ist die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

\"Erforschung und Darstellung dessen, was der


Geschichte im objektiven Sinne angehört\".
\"Zuerst war die Geschichte im objektiven Sinn nur
Naturgeschichte; seit dem Auftreten des Menschen
wird die Natur mehr und mehr in die Kultur
hineingezogen, und die Naturgeschichte also mehr
und mehr: Kulturgeschichte.\" 52)

Benn entwickelt aus der Vorstellung von einer


\"irrationalen Natur\" eine eigentümliche Theorie
der Geschichte; im Gegensatz zur Darwins
Entwicklungstheorie ist er der Auffassung, dass von
einer mechanisch wirkenden, kontinuierlichen
Evolution keine Rede sein könne, denn die Natur
wirke willkürlich und spontan, aufgrund einer
Urkraft, die \"schöpferisch das Unberechenbare
erbaut\". Das irrationale Verhalten des
schöpferischen Menschen entspreche dem irrationalen
Verhalten der Natur. Die Geschichte mit dem
anarchischen Bild sinnloser Katastrophen biete das
gleiche Bild wie die Natur. Diese seine Auffassung
vom \"Naturcharakter der Geschichte\" vertritt Benn

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

in seinem Essay \"Der Aufbau der Persönlichkeit\"


(EuR 111). Wie der Literaturwissenschaftler Beda
Allemann nachweist, wurde Benn aufgrund dieser
Erkenntnis die \"Sinnlosigkeit der ge-schichtlichen
Abläufe\" deutlich. Benn sieht den Menschen als
\"reines Transzendenzprodukt\", mutativ
geschichtet, d. h. \"in immer neuen transzendenten
Akten und aus immer neuen Schöpfungsimpulsen
entstanden\". Die Geschichtswissenschaft ist für
Benn nicht das \"Resultat exakter historischer
Forschung\", \"sondern eine Art kollektiver
Mythenbildung aufgrund historischer Gegebenheiten\"
(Peter Schünemann, Gottfried Benn, 1977). Die
Thesen seiner unwissenschaftlichen
Geschichtsauffassung berufen sich auf geologische
Kategorien. Das erinnert an Novalis: \"Mit der Zeit
muss die Geschichte Märchen werden - sie wird
wieder, wie sie anfing\" oder: \"Im Märchen ist
echte Naturanarchie.\"
Mit Recht hat man auf die Widersprüche in dieser
Geschichtsauffassung hingewiesen. Benns
Vorstellungen beziehen sich nämlich nur auf die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

politische und soziale Geschichte, nicht auf die


Geistes- und Kulturgeschichte. In der geistige
Tradition der Menschen sieht Benn sehr wohl einen
Sinn. Insofern kann man seine Theoriebildung nur
mit einem Fragezeichen versehen; es fehlt auch
gänzlich eine gründliche Auseinandersetzung mit den
Theorien der Geschichtswissenschaft oder der
Geschichtsphilosophie (z.B. mit Herder, Kant, Hegel
oder J. Bernhart). Der Phänotyp verspottet die
Geschichtsphilosophie als \"grauen Müllkutscher des
biographischen Abfalls\"; sie karre die
\"überalterte Kausalität weiter durch ihre
Enzyklopädien als Schuld und Sühne\" (Statische
Metaphysik).

Ähnlich antihistorisch verhielt sich Benn seit


vielen Jahren, so im Jahre 1940, da er an seinen
Freund Oelze schrieb, er sei \"völlig abgeneigt\",
\"Gewisses in irgendeiner Weise
kulturgeschichtlich, geschichtsphilosophisch,
typologisch zu sehn\". Er überlasse es anderen,
dies anders zu sehen und Gestalten \"historisch zu

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

betrachten\". (An Oelze, 08.10.1940). Der \"Nimbus


der Geschichte\" werde zerfallen, \"wie der der
Naturwissenschaften verfiel\"; man werde einsehen,
dass Geschichte nur die \"Parodie einer Idee\" sei
(An Oelze, 06.04.1936). Vor diesem Hintergrund
werden die geschichtlichen Reminiszenzen des
Phänotyps zu spöttischen Anmerkungen zur
Geschichte, zum Spott über die gegnerischen
Maßstäbe. Ohne besondere Über-leitung wird
aufgezählt: Mithridates und sein Schwiegersohn
Tigranes seien durch Pompeius besiegt worden, und
die Westgoten des Königs Alarich kamen in das Land
zwischen Loire und Garonne (Tolosanisches Reich).
Cicero enthüllte zwar die Catilinarische
Verschwörung, wurde aber später aus Rom verbannt.
Ungerecht sei es beim Pelzwarentausch und beim
Salzhandel zugegangen; ungerecht sei es, wenn
man durch ein Staubkorn an einem Auge erblinde oder
wenn man 500 Kamele mit Trümmern eines gestürzten
Kolosses belade usw. Der Phänotyp reiht
historische Bilder aneinander und findet zuletzt
byzantinische Mosaiken, die ein monologisches

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

\"koloristisches Ritual\" darstellen.

Der Phänotyp gibt einerseits zu, dass er \"vom


inhaltlichen Wissen\" der Geschichte \"als einem
seiner Generation vorbehaltenen neuen
historischen Gefühl tief geprägt\" (PuA 153) sei,
dass er aber andererseits von
\"Zeitvergänglichkeits- und
Zeitzerbrochenheitsempfinden\" unausgesetzt
durchflutet werde. \"Soweit wir überhaupt etwas
beschreiben oder erkennen können, ist es der
Abgrund, aber auch er enthält ja noch die
Vorstellung des Grundes, also ist es das
Bodenlose.\" (PuA 161).

Die auffällige \"Regelmäßigkeit\" der


geschichtlichen Abläufe fordert nicht weniger Benns
Spott heraus: Regelmäßig würden die Abgaben und
Steuern erhöht, die unteren Stände ausgebeutet, und
die herrschende Gesellschaftsschicht leiste sich
jeden Luxus (Lorgnetten, kandierte Süßigkeiten,
Samt mit Spitzen und Federn, Anlage von

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Kegelbahnen, Radfahren, Italienische Nächte im


Garten, Orangerien, Champagner usw.).(PuA 169)
Barbarisch würden die Kriminalverbrechen der
Angehörigen aus der unteren Gesellschaftsklasse
bestraft; in den oberen Gesellschaftsschichten
würden Ehrenstatuten verfasst und Trinkgelder
verteilt. \"Die Masse geht unter in
Detonationen; ein Herzoggeschlecht lebt weiter im
Namen einer Sauce (Cumberland), ein Opernstern in
einem Pfirsichgericht (Melba)\" (An Oelze, 10.04.
1939). Die armen Leute führen in die Grube, die
Würdenträger würden in kolossalen Porphyrsärgen
beigesetzt. \"Unten die Schwielen von Fesseln\",
\"die vom Tiber überschwemmten Quartiere,
Tuffhöhlen\", \"oben Bögen aus Jaspis und Achat\",
\"Villen im kühlen Tibur\". Die maßlos ungerechte
Geschichte kenne Werbe-, Feld- und Trosssklaven,
aber auch \"Zirkus-pferde\" und \"Wasserorgeln\".
(PuA 170). Der Phänotyp will damit beweisen, dass
es keine geschichtliche Entwicklung gibt und keine
sozialen Veränderungen. Bereits 1938 sah er in die
viertausendjährige Geschichte Mord und Totschlag,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Bestechung und Gemeinheit, Knechtung und Zufall:


Wenn man die Erde überblicke, \"vom
Zwischenstromland bis heute, vom Ur bis Champs
Elysees, vom Leuchtturm von Pharos bis zum
Blinklicht der Flak, dann sähe man überall \"nur
Beile und Lanzen, Knechtung, Verrat, Schande und
Mord, Horden und Viecher, eine Gondel auf dem Nil,
eine Gondel auf dem Canale Grande, die meisten
Lümmel, selten ein Herr, immer Bestechung, alles
Zufall. Wie ähnlich sei das alles: \"Alexander der
Große lag, in Honig einbalsamiert während der
ganzen hellenistischen Epoche im Mausoleum in
Alexandrien, jetzt sei hundert Jahren Napoleon im
Invalidendom. Was für eine unerschöpflich dumme
tierische Menschheit das, die das alles hinnimmt
und dabei gröhlt!\" (An Oelze, 24.04. 1938).
In einem Brief an Gerhart Pohl von 1929 hatte Benn
ähnliche Betrachtungen angestellt (siehe \"Über die
Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit, PuA 277),
um zu beweisen, dass es seit jeher soziale
Bewegungen gegeben hätte: \"Die Armen wollten immer
hoch und die Reichen nicht herunter. Schaurige

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Welt, kapitalistische Welt, seit Ägypten den


Weihrauchhandel monopolisierte und babylonische
Bankiers die Geldgeschäfte begannen, sie nahmen 20
% Debetzinsen\" (PuA 280). Kritisch verurteilte er
den Hochkapital-ismus der alten Völker in Asien und
am Mittelmeer, den \"Trust der Purpurhändler\"
und der Reedereien, die Getreidespekulationen und
den Versicherungsbetrug der Konzerne, auch die
ersten Anzeichen eines Arbeitstaylorismus: \"Der
schneidet das Leder, der näht die Röcke.\" (PuA
280).
Nach der Lektüre einige Bücher über Mexiko
äußerte er sich im November 1938, möglicher-weise
unter Anspielung auf Zeitereignisse, nochmals zu
den Grausamkeiten, zu der Geschichte der
Eroberungen durch Cortez und den neuerlichen
Revolutionen: \"Es ist wohl das Grausamste der
modernen Geschichte, kindliche, schamlose und
grausame Völker.\" Er wies auf die
Viehtreibergeneräle der Rio Grande Staaten hin, auf
die Kinderbordelle und die Pan-Ejakulation der
Meskalin-Orgien. Wie könne man \"sich in das Blut

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

betten, mit der Linken Maiskolben fressen, während


die Rechte langsam fünf Gefangene abschießt! (An
Oelze, 14.11. 1938).53) Besonders wird die
überfeinerte Wiener Kultur zur Zielscheibe seines
sarkastischen Humors: Junge Wiener Komtessen kommen
den Besuchern weißgekleidet, mit \"blonden Zöpfen
über der Stirn\" und \"frischen Rosen an der
Brust\" entgegen. In den Salons sind Orangerien mit
leise plät-schernden Fontänen eingebaut. Die Bilder
dieser Wiener Kultur werden bunt ausgemalt: In
Buden werden Wiener Couplets (Chansons einer
Kleinkunstbühne) dargeboten. Verkleidete
Prinzessinnen reichen Champagner usw. Madame
Recamier verteilt \"Autogramme berühmter
Künstler\". Baron Bernsteiner spendet eine
\"Tausendguldennote\", indem er sie scheinbar
achtlos in einer goldene Schale fallen lässt. Eine
als Teufelin kostümierte Dame hält Eis und Waffeln
für die Gäste bereit. Bei einer Art Maskenball
beteiligt sich ein Klüngel (Koterie) und stellt
lebende Bilder dar. Als neueste Mode propagiere man
das Radeln: \"Die Begutachtungsgrafen aus dem

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Ministerium am Ballhausplatz treten die


Pedale.\" Die älteren Herrschaften legen sich
Kegelbahnen zu. Es ist kaum auszumachen, aus
welchen Quellen, Romanen oder geschichtlichen
Darstellungen der Autor diese Angaben schöpft. (PuA
169). Aus eigenem Erleben hätte Benn das Bild von
Salzburg, dem Salzburger Land und Wien ergänzen
können; er war im Winter 1939 auf einer Dienstreise
u.a. auch nach Österreich gekommen. Vom Hotel
Bristol in Salzburg genoss er die Aussicht zum
Makart-Platz, zur Kirche von Fischer Erlach, zum
Kapuzinerberg. Äußerst überrascht war er von der
Wirkung des Doms, \"überwältigt von dem Eindruck
dessen, was dahinterstand einst, das geistig und
menschlich dies wollte, wollen konnte, groß und
sicher genug war, es zu wollen, es zu bauen.\" Benn
bewunderte den \"langanhaltenden, sich
bewäh-renden Druck des Glaubens gegen Stein und
Erde\", dieses \"Zusammenrücken des Einzelnen\" in
dem Plan, aus einem \"bestimmten Gefühl heraus sich
zu bezeugen\" gegenüber dem \"Volk, den
Salzburgern, den umliegenden Gauen, den Fürsten und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

der Stadt\" zu bezeugen \"Größe und Heimat, Sünde


und Erlösungsfähigkeit der Seele\". Freundlich fand
er die Stadt Graz, \"reizend, aber nicht mehr\",
\"nirgends angeschoppt und angereichert das schwere
und gleichzeitig entlastete, das üppige und süße
Barock der Kunst\". In der Bahn lernte er eine etwa
40-jährige Gräfin kennen, \"deren riesige
Höf-lichkeit zwar gesellschaftlichen Ursprungs war,
aber die Grenze zur Hingabe bis auf
Konvetti-wurfnähe streifte. Das war mir nicht neu,
dieses reizendste Österreich, wo die Damen aus
purer Höflichkeit und Herzensgüte nicht nein sagen
können\" (An Oelze, 13.12. 1939). Doch später
notierte er sehr übelnehmerisch und kritisch: \"Ein
balkanisches Land: Schlawiner, Entartete und
Betrüger! Falsche Rechnungen,unverschämte Preise,
schlampige Auskünfte, schmutzige Büfettwagen und
gegen alles, von dort aus gesehen: Transalpine von
einem abgründigem Hsss. Dies Land ist so
heruntergekommen, dem kann niemand was tun! Und
über allem die katholische Kirche, der mein ganzes
Entzücken gilt, wenn die Mönche und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Kollegienbesucher genau so hastig und verschmitzt


heute zum Kapuzinerberg eilen wie im 30-jährigen
Krieg. Das sind halt Wirren um sie herum, nicht so
extrem wichtig, alles nur Anfechtungen, auch sie -
wie Ihr Goethewort - streben zum Entferntesten.\"
(An Oelze, 13.12.1939). Hätte Benn doch die schönen
Straßen und Plätze von Wien kennengelernt! Er hätte
wie Wilhelm Hausenstein schreiben können: \"Wien
sehen heißt diese Glorie sehen, tagtäglich sehen;
diese Glorie, die der Grandezza römisch-barocken
Wesens teilhaftig ist und, wie schon die römi-sche
Größe, des Menschlichen nie entbehrt. Das Heroische
ist mit dem Gemütlichen überzeugend und wohltätig
zusammengekommen.\" 54)
Im Jahr 1943, ein Jahr vor den Aufzeichnungen des
Phänotyps, war auf allen Kriegsschauplätzen eine
Wende zugunsten der Allierten eingetreten. Hamburg
und Berlin waren durch Luftangriffe schwer
getroffen. Die alliierte Radartechnik schaltete die
deutschen U-Boote aus. Beim Aufstand der Polen im
Warschauer Ghetto wurden 40 000 Einwohner getötet.
Der Autor fürchtet bei der Abfassung des

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Manuskripts, die Landsberger Kaserne verlassen zu


müssen; illusionslos verfolgt er die kriegerischen
Ereignisse; in der Normandie beginnt im Juni 1944
die alliierte Invasion. An seinen Freund F. W.
Oelze schreibt Benn, dass seine Stimmung tief
melancholisch sei: \"Bald halte ich es nicht mehr
aus, diese Zerstörungen des Lebens.\"
Vor diesem Zeithintergrund dichtet Benn von
\"einigen verlorenen Schlachten\": \"aus dem
Perserschutt\" erbaute die Geschichte das
Parthenon, \"die antiken Tempel macht sie zu
Steinbrüchen des Quatrocento\". Die Foren sind
jetzt Ziegenberge und die Kapitole Kuhweiden. Ein
zeitlicher Bezug zur Gegenwart in Deutsch-land ist
hierbei nicht zu konstruieren, denn das wäre
lebensgefährlich gewesen. Zuversichtlich klingen
lediglich die Ermahnungen, dass man sich halten
solle; man müsse stehen und schauen, zurücktreten
und sich erheitern, so als wäre das Ganze nur ein
lächerliches Schauspiel, eine Komödie. Auf einmal
werde die Universalgeschichte wunderbar. (PuA 170)

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Welch eine Ironie! Welch ein Sarkasmus! Was mag


Benn wirklich gedacht haben, als er Schillers
Antrittsvorlesung \"Was heißt und zu welchem Ende
studiert man Universalgeschichte?\" las? Was fällt
uns Nachgeborenen ein, wenn man liest, mit welchem
idealistischen Schwung Schiller Sinn und Zweck der
Weltgeschichte den Studenten nahebrachte! Wie er
den Weg der Menschheit von den barbarischen
Zuständen des geschichtlichen Beginns bis zum
\"verfeinerten Europäer des achtzehnten
Jahrhunderts\" beschrieb! Da heißt es, dass die
\"europäische Staatengemeinschaft\" in eine \"große
Familie\" verwandelt scheint und dass es den
Staaten und den Bürgern endlich vergönnt sei,
\"ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten
und ihre Kräfte zu einem verständigen Zweck zu
versammeln\". Der philosophische Geist nimmt, wie
Schiller in seiner Ansprache ausführt, die
\"Harmonie\", die in \"unserem geliehenen Lichte
des Verstandes angefangen hatte, eine so heitere
Gestalt zu gewinnen\", aus sich selbst heraus und
\"verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Dinge, d. i. er dringt einen ver-nünftigen Zweck in


den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in
die Weltgeschichte\". Der Phänotyp des Jahre 1944
ist angesichts der weltpolitischen Lage und der
Kriegsereignisse nicht mehr imstande, die Harmonie
aus sich selbst zu nehmen, d. h. einen
\"vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein
teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte\"
zu legen. Vor dem Trümmerfeld des Zeitgeschehens
und unter dem Eindruck des nihilistischen Denkens
gewinnt der Phänotyp die Überzeugung, Geschichte
sei zweifellos \"Krankengeschichte von Irren\".
Nihilismus als \"innere Realität\" erzwinge die
\"Verneinung von Geschichte\"; man müsse sich zu
der Ansicht durchringen, dass uns nichts anderes
bleibe, als hinterlassungsfähige Gebilde\" zu
schaffen, an der \"Ausdruckswelt\" zu arbeiten.
Etwas anderes halte die Stunde für uns nicht
bereit.

In einem Brief vom 09.09.1949 an Max Bense


verteidigt Benn abermals seine antihistorische

Seite 285
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Einstellung. Ein \"neues und einschneidendes


Erlebnis unserer Generation\" sei es gewesen, die
\"Relativität unseres ulturkreises\" eingesehen
zu haben (Spengler, Toynbee). Das sei ein \"Stoß
gegen das Abendland, von dem es sich kaum wird
wieder erholen können\". Daher habe er den \"nur
regional bedeutungsvollen, geographisch begrenzten,
den phänotypischen Charakter unserer Denkrichtung\"
betont und die Tendenz eingeschlagen, \"die
Geschichte sachlich zu bagatellisieren und sie nur
als Reservoir für Bilder, Ausdrucksexzesse und
ästhetische Gruppierungen zu verwenden und gelten
zu lassen\" 09.09.1949). Im Mittelpunkt stehe
allein der schöpferische Mensch. Abwegig sei es,
einen Gedanken durch Tatsachen oder die Geschichte
\"bestätigen\" zu lassen: Von dieser Seite komme
\"kein Trost und keine Rechtfertigung für den
Geist\" (An Oelze, 22. 09.1940).

Benns geschichtlichen Thesen gehen sicherlich auf


Nietzsche zurück, wenn sie nicht zumindest angeregt
wurden. Nach Nietzsche schaffe der Mensch, nur

Seite 286
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

\"umschattet von der Illusion der Liebe\", \"nur im


unbedingten Glauben an das Vollkommene und
Rechte\". Unter der Alleinherr-schaft des
historischen Sinns, der die \"Illu-sionen zerstört
und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt\",
zerstiebe die \"pietätvolle Illusions-Stimmung, in
der alles, was leben will, allein leben\" könne. In
solchen Wirkungen sei die Historie der Kunst
entgegengesetzt. 55) Nietzsche setzte seine
Hoffnung auf Geister, die \"stark und
ursprünglich\" genug seien, \"um die Anstöße zu
entgegengesetzten Wertschätzun-gen zu geben und
ewige Werte umzuwerten, umzu-kehren\", auf
\"Menschen der Zukunft\", die \"große Wagnisse und
Gesamt-Versuche von Zucht und Züchtung\"
vorbereiten, \"um damit jene schauer-liche
Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher
Geschichte hieß, eine Ende zu machen\". 56)

1.12. Kulturrevuen aus der Zeitgeschichte

Die geschichtlichen Studien des Phänotyps,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

eigentlich Kulturrevuen aus der Zeitgeschichte,


dienen dazu, den Hintergrund seiner Gedanken-welt
zu kennzeichnen. Benns Geschichtspessimismus färbt
die mehr oder weniger kritischen Betrachtungen; die
inselartig auftauchenden Geschichtsszenen
charakterisieren die perspektivische Sicht des
Phänotyps. \"Jahrhunderte als Wolkenverschiebung\".
(PuA 178). Es stellt sich die Frage, warum der
Phänotyp \"historische
Studien\" betreibt, wenn die Geschichte so
unsinnig, ungerecht und unfruchtbar sei, wenn man
sie nur als \"Begründung für Massenmorden, Raub und
Verklärung\", als \"Mechanismus der Macht\"
(\"Weinhaus Wolf\", PuA 137) ansehen könne. Der von
der Generation so betonte Be-griff der Geschichte
reizt den Phänotyp dazu, \"sie selber
entwicklungsmäßig zu betrachten, ihren Verlauf zu
chiffrieren, ihrer Vergan-genheit nachzufühlen\"
(PuA 131). Im \"Weinhaus Wolf\" bekennt der
Prototyp, dass an manchem Abend \"eine Art Revue\"
ablief, \"eine Kultur-revue von mäßig langer
Dauer\" (PuA 131). Die Betrachtungen, Bemerkungen

Seite 288
Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

und Gedanken sind punktuelle Perspektiven, durch


die der existen-tielle Typ ästhetisch repräsentiert
wird. Nicht selten zeigen die geschichtlichen
Details die Verachtung des Betrachters gegenüber
den historischen Ereignissen und Vorgängen, z. B.
die Erzählung von der Queen, die zum Kaffee mit
Vorliebe eine \"bestimmte braune Biskuitsorte\" aus
deutschen Konditoreien aß. Amüsant wird die Szene
geschildert, da der \"alte große Habsburger\" den
Sang an Aegir und sein Freund Grieg die Rosenlieder
komponierte. Der alte Habsburger lasse sich im
Herbst regelmäßig in ein vornehmes
Benediktinerstift einschließen, um andächtig und
zurückgezogen einige Tage verbringen zu können.
Sind dies tatsächlich die Kreise, die das Schicksal
des Phänotyps mitbestimmten? Zumindest machten sie
von sich reden und füllten die Spalten der
Zeitungen und Zeitschriften. (PuA 181).

Cotroceni

Ohne Überleitung wird vom Leben einer Königin

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Gebote des inneren Seins Teil I

(Maria von Rumänien)in freier Natur erzählt: Sie


vergnüge sich in einem blumenreichen Gar-ten.
Primeln, Narzissen und Rosen blühen in den
Rabatten. Aus der Ferne höre man Trompetenklänge
der Regimentstrompeter, dazwischen den Mä-dchenchor
des Elena-Doamna-Hortes und bellende Hunde. Pferde
scharren unruhig im Kies; die Königin reite auf dem
Kosakenpferd \"Tscherkeß\", den ihr Vetter Boris
einst schenkte, in einem felsigen Gelände. Oft
reite sie allein durch die Wälder oder über die
Sanddünen. Später erzählt sie den Ehrendamen, dass
die Lebenslust wie Wein durch ihre Adern flösse.
Abends blättere sie im Evangelium und sehe sich die
Randverzierungen an, während die Königinmutter die
Mittelfläche der Blätter mit Texten und Figuren
versehe.(PuA181).

Stichwortartig werden die Möglichkeiten eines


vergnügten Lebens mit Weekendhütten,
Lushhäusern und Barken angegeben, nicht zu
vergessen: die Reisen zu den Höfen. Es ist ein
lustgesichertes Dasein. Schiffsärzte stehen zur

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Verfügung. Die Gesellschaft zeichne sich seit


Generationen aus, sei mit Halsorden ausgezeich-net.
Im Festsaal hänge noch das Gemälde \"The Blue
Boy\". Es handle sich um ein traditions-reiches
altes Land, das seit Jahrtausenden von Völkern
bewohnt werde, eine Heimat, die sich vom Illyssus
bis zum Firth of Forth erstrecke. Mit merklichem
Vergnügen treibt Benn ein Ver-steckspiel, eine Art
Rätselraten. Unbekannt seien noch die Berufe und
Stände der neueren Zeit, wie z.B. Assistent einer
Vertilgungs- firma, Maisaushülser aus dem
westlichen Kansas, Pfeifenfüller in einem
Opiumdrugstore. Noch unbekannter sei
Ausdruckskunst, das Kämpfen um das rechte Wort, die
passende Silbe, den Wortzauber. (PuA 182).

Wieder werden Leben und Kunst des charmanten


Kulturzentrums Wien beschworen. Auf dem
Concordiaball in Wien spielt Johann Strauß auf. Die
Concordia ersuchte die \"beiden Antipoden Offenbach
und Strauß\" um eine Widmungskompo-sition\" für ihr
Ballfest. \"Beide stellten sich bereitwillig zur

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Verfügung mit dem Ergebnis, dass Offenbachs


Abendblätter unter dem Jubel der Zuhörer fünfmal
wiederholt werden mußten, während die Morgenblätter
von Strauß mit Mühe ein encore erreichten. Die Zeit
hat das Urteil der Besucher des Concordia-Balls
revidiert, sie hat Jacques´ lahme
Gelegenheitsarbeit zur Vergessenheit verdammmt und
Johanns dionysische Walzerphantasie ewiges Leben
zugesprochen.\" (Kulturgeschichte der Operette, S.
142). Vom Podium grüßt die Ilka Palmay. Der Arzt
des Kaisers, Dr. Wiederhofen, nähert sich dem Tisch
des Hofrats Pollini von der Burg. Die Stella
Hohenfels solle unbedingt zur Mizzi Sacher nach
Helenental kommen, um eine Kaltwasserkur zu machen.
In vagen Andeutungen wird dargelegt, wie schwer
auch das Leben der Gesangsstars sein könne: sie
werden nicht selten aus der Bade-wanne geholt. Man
könnte sagen: Malheur, d´etre adoree.\" Lästige
Reporter telefonieren und stellen verfängliche
Fragen, ob der Star die Stimme eingebüßt hätte oder
ob der Vertrag gelöst sei. Oft müsse der Star
sofort nach der Aufführung zum Zug eilen, sich erst

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

im Eisenbahnabteil umziehen usw. Wenn zu viele


Hervorrufe erfolgen, der Ausgang am Theater
versperrt und kein Durchkommen möglich sei,
versäumen die Tschaperl den Zug. In einer anderen
Szene aus Wien wird eine Damenkapelle mit dem
Volkssänger Guschelbauer vorgestellt. Sie gastiert
im \"Eisvogel\", einem Restaurant im Prater
(Spezialität: Solokrebse). Zum Abend-essen haben
sich einige Prominente wie Khevenhüller, Esterhazy
von Galantha einge-funden. Kaleidoskopartig tauchen
andere Namen und Szenen auf: u.a. Sheila Czernin
und Gustav Klimt, der Hauptvertreter des
österreichischen Jugendstils, vor dem Ersten
Weltkrieg: auch in der Thematik seiner Bilder eng
verbunden mit der literarischen Szene. Klimt malt
Alix Kinsky vor weißen Wänden; zwischen den großen
Fenster stehen blaue Hortensien. Der Phänotyp
bezeichnet ihn als \"raffinierten Kompositeur\".
\"Die versunkene Welt unserer Epoche\" schrieb Benn
1936, \"steigt wieder auf. Das Gesellschaftliche
und der Schmus und die Literatur und das Feuilleton
und Wien und Prag und Getto und Reinhardt und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Werfel und Ischl und Pörtschach und Bad Gastein mit


allen seinen auf Sejour befindlichen Aristokraten
und abge-stiegenen Größen wird lebendig.\" (An
Oelze, 10.09.1936).
Weitere Szenen aus der österreichischen Literatur
reihen sich in bunter Folge an: Arthur Schnitzler
schrieb 1901 eine etwas wehmütige Novelle über
Berta Galan, einer Witwe aus der Wachau, die eine
Liebesnacht mit einem Geigenvirtuosen erlebt;
Leutnant Gustl unter-hält sich vor seinem Duell mit
Garderobieren, Trafikbesitzern und Fiakern
(Standes-Novelle von Arthur Schnitzler, 1901);
Friedrich Hebbels Nibelungen-Trilogie erringt wenig
Aufmerksam-keit; sie enthalte \"zuviel Norne,
zuviel Yggdrasil\" (Schicksalsgöttinnen und
immergrüne Welteschen in der nordischen
Mythologie). Der Phänotyp erwähnt in diesem
Zusammenhang die Namen Feodora, Leo Fall, Bunbury
usw. (PuA 183).
Rund um den Stephansdom und den umliegenden
Tarock-Cafés sei ein sehr charmantes
Kulturzentrum entstanden. Wien habe zwischen 1900

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

und 1914 die morbideste Genusskultur, den höchst


erreichbaren Charme der Zeit bis in die weitesten
Schichten der Bevölkerung hinein entwickelt. Dem
Phänotyp fallen die Fêtes galantes, das
bezauberndste Deutsch, das fabelhafteste Gebäck ein
und er wird an die Messen von Ypern und die Jeux
floraux in Toulouse, an Kleopatras Alexandrien, das
Brügge der Burgunder usw. erinnert. Hugo von
Hofmannsthal versucht, gegen die sittlichen
Indifferenz der Neuromantik anzukämpfen; in seinem
dramatischen Spiel \"Der Abenteurer und die
Sängerin\" (1899) will die Frau die gefährdete Ehe
retten. Das Stichwort \"Kolonien\" löst
Assoziationen aus, wie sie aus
\"Kulturgeschichtlichen Tabellen zur Deutschen
Literatur\" entnommen werden können, z.B.
Deutschland gründete 1884 die Kolonie
Deutsch-Südwestafrika, annektierte Togo, Kamerun
und den Nordostteil von Neu-Guinea. \"Germany hatte
1884 Daressalam und Pangani erworben\"; um die
wertvollen Rohstoffe ausbeuten zu können, wurden 4
776 km Eisenbahnschwellen bis 1913 verlegt. Die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Berliner Kolonialkonferenz beschloss 1884 die


koloniale Aufteilung Afrikas unter die europäischen
Hauptmächte; Kongo wurde zum Privatbesitz des
belgischen Königs erklärt. Henry Morton Stanley
fand 1871 den in Ostafrika verschollenen David
Livingstone. Im Viktoria-Theater in London lief vor
ausverkauftem Haus der zehnteilige Film \"Stanley
in Afrika\". Der Phänotyp zählt noch die
zahlreichen Weltreisen, Polarexpeditionen und
großen Distanzritte auf: Major Fukoshima sei von
Berlin durch Sibirien bis Tokio geritten. Die
meisten Beispiele zitiert der Phänotyp aus der Zeit
von 1871 bis 1917, da sich der \"Kapitalismus der
freien Konkurrenz\" entfaltete, in den
Monopolkapitalismus überging und sich der
Imperialismus herausbildete. 1871 erfolgte die
Gründung des Deutschen Kaiserreiches und die
Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. als
deutscher Kaiser. In Wien wurde 1882 der
Dreibundvertrag zwischen Deutschland,
Österreich-Ungarn und Italien abgeschlossen. Der
Dreibund verlor jedoch nach 1891 an Bedeutung; 1892

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

schloss Frankreich die französisch-russische


Militärkonvention; sie enthielt die Verpflichtung
zu gegenseitiger Hilfe bei einem Angriff durch den
Dreibund. \"Die Armee mit ihrer polyglotten
siebenfachen Kommandosprache fühlte wohl am
frühesten die Auflösung, witterte das Ende.\" (PuA
184).

Zum Abschluss des Abschnitts \"Cisleithanisch\"


werden Biographie und literarische
Überlegungen von Hugo von Hofmannsthal gemischt
dargeboten. Der sechzehnjährige Sohn eines
Bankdirektors veröffentlichte unter den Pseudonymen
Loris und Theophil Morren form-vollendete Gedichte,
Essays und lyrische
Versdramen (PuA 184). Verächtliche Untertöne kann
man aus der folgenden belanglosen Darstellung
heraushören: Vittoria sei gerettet, einer großen
Gefahr entronnen. Das ihr neu geschenkte Leben
breitet sich vor ihr aus: es wird halten, was
Lippen und Ringe nicht halten können. Bevor sie
singt, geht sie mit leichten Schritten nach rechts,

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

öffnet eine kleine Tür und erscheint auf der


Galerie. Was dies mit historischen Studien zu tun
hat, bleibt unerfindlich. Aus ebenso zweifelhaften
Gründen werden einige Verse zitiert; wahrscheinlich
damit das Rätselraten leichter fällt.

Zeit und deutsche Literatur von 1871 bis zum


Ausgang des 19. Jahrhunderts wären treffender durch
folgende Hinweise zu kennzeichnen: In den
Gründerjahren (bis 1873) mit einem stark
beschleunigten zyklischem Aufschwung gewannen 5
Milliarden Goldfranken und die Einverleibung von
Elsaß-Lothringen große ökonomische Bedeu-tung. In
Berlin fand 1872 das Dreikaisertreffen
(Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland)
statt. Nietzsche publizierte 1872 die Schrift \"Die
Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik\",
Wilhelm Busch die Bildvers-Erzählung \"Die fromme
Helene\" und Theodor Storm \"Draußen im
Heidedorf\". Ein Jahr später veröffentlichte
Nietzsche vier Reden gegen das optimistische
Bildungsideal der Zeit und ihren Historismus

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

(\"Unzeitgemäße Betrachtungen\"). Mit den


Gesetzen zur Abgrenzung von Kirche und Staat und
der Einführung einer staatlichen Kontrolle begann
der sogenannte Kulturkampf. August Otto baute 1876
den Viertakt-Benzinmotor, Carl Friedrich Benz 1878
den Verbrennungsmotor. Wichtige Werke erschienen in
diesen Jahren u.a. von Wilhelm Wundt (\"Grundzüge
der physiologischen Psychologie\", \"Grundriss der
Psychologie\"), Leopold Ranke (\"Zwölf Bücher
preußischer Geschichte\", Neufassung), Ludwig
Anzengruber, Berthold Auerbach, Gottfried Keller
(\"Der grüne Heinrich\"), Conrad Ferdinand Meyer,
Stefan George (\"Das Jahr der Seele\"), Felix Dahn
(\"Ein Kampf um Rom\"). Heinrich und Julius Hart
gaben die \"Deutschen Monatsblätter\", das
Zentralorgan für das literarische Leben der
Gegenwart, heraus. Von Wilhelm Scherer erschien
1880 (bis 1883) die \"Geschichte der deutschen
Literatur\". In Berlin wurden 1881 elektrische
Straßenbahnen (Werner Siemens) eingesetzt. Heinrich
Hertz entdeckte 1887 die elektromagnetischen
Wellen. 1888 wurde Wilhelm II. der letzte deutsche

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Kaiser. Dunlop erfand in Schottland die Luftreifen


mit Ventil. 1898 bewilligte der preußische Landtag
100 Millionen Mark zur verstärkten
\"Germanisierung\" Polens und Westpreußens. Die
Militärausgaben betrugen 1889 in Deutschland 500
Millionen Reichsmark. Bertha von Suttner schrieb
1889 den Roman \"Die Waffen nieder!\" Hermann Bahr
verfasste 1891 die Schrift \"Überwindung des
Naturalismus\", Theodor Storm die Autobiographien
\"Meine Kinderjahre\" (1893) und \"Von Zwanzig bis
Dreißig\" (1898). Hugo von Hofmannsthal schrieb die
Gedichte \"Terzinen über Vergänglichkeit\" (1896).
1899 erkennen Julius Elster und Hans Geitel, dass
Radioaktivität auf Atomzerfall beruht (Beginn der
Atomkernphysik). Mit der Jahrhundertwende und der
Weltwirtschaftskrise 1900 bis 1903 wird der
Übergang zum Imperialismus vollzogen.

Aspasiatisch

Im Abschnitt \"Aspasiatisch\" arbeitet der Phänotyp


die Gegensätze zwischen den aspasiatischen

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Zügen den Jahrhunderts und den neuen Strömungen und


Geistesrichtungen heraus. Die intellektualisierten
Zeitgenossen, die mit den relativierten
Raumvorstellungen und den neuen elektromagnetischen
Wellen (Heinrich Hertz, 1887) befasst sind, sehen
die Zweigeschlechtlichkeit als persönliches
Problem. Die Gattin des Perikles Aspasia, die
Hetäre aus Milet, sei wie Eva ein Ideal. Die Kunst
des fünften Jahrhundert sei unauflösbar mit ihrem
Namen verbunden: Plato habe sie verherrlicht,
Zeuxis gemalt, Phidias in Stein gemeißelt. Aspasia
sei die größte Frau Griechenlands; sie sei die
Freundin des Anaxagoras und des Sokrates gewesen,
und Sophokles gehörte zu den Vertrauten ihres
Kreises. Sie trug vermutlich koische oder
tarentinische Seidengewänder, die zusammen mit
Schmuck und den Schuhen nicht mehr als 100 Gramm
wogen. Die Literatur der letzten Zeit kreiste
häufig um die Frau, das Ewig-Weibliche, die
Probleme zwischen Mann und Frau, um Liebe und
Erotik: Der Phänotyp zählt im Einzelnen die Romane
\"Lucinde\" von Friedrich von Schlegel und \"Anna

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Karenina\" auf. Schlegel, der große Anreger im


Jenaer Romantikerkreis, lässt seinen Romanhelden
Julius eine leidenschaftliche Verbindung mit
Lucinde eingehen: in ihr erfährt er die großherzige
wirkliche Liebe und erkennt in dieser ethisch
gebundenen, verantwortlichen Liebe die
höchstmögliche Erfüllung wahren Men-schentums. Der
Phänotyp erwähnt Bachofens Entdeckung des
Mutterrechts (\"Bei den Müttern, hinter der
Schürze!); in ihm sieht der Kultur-historiker ein
\"Stück jener innigeren Verbindung des Menschen
mit der Wirklichkeit, der Natur, dem Leben, die dem
späteren Kulturleben mit dem Übergewicht des immer
mehr in den Dienst des Willens tretenden Verstandes
verlorengeht\" (Ernst von Aster, Geschichte der
Philosophie). \"Daher ist ihm auch - hier wieder
mit Nietzsche - der (freilich relativ) höchste
Menschentyp der Gegenwart der schöpferische Mensch,
der nicht in den ´Tat´, sondern im ´Werk´ sich
ausspricht. In der Schaffung eines in seiner Art
vollendeten ´Werkes´ erlebt der heutige Mensch noch
einen Schimmer des echten ´Rausches´, des tiefsten

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Lebensgefühls vergangener Zeiten\" (Ebd., S.


428). Es besteht kein Zweifel, dass der Autor nicht
rein zufällig Bachofen genannt hat; das Mutterrecht
führt den Phänotyp in die Mitte seiner
Vorstellungen vom schöpferischen Menschen und von
der Schaffung \"hinterlassungsfähiger Gebilde\" in
der Kunst. Bühnen und Schallplatten künden vom
\"Schluchzen Butterflys\", Mimi und die
Kameliendame sterben wie viele andere Frauen. In
der Kunst und in der Liebe gäbe es Zeiten der Krise
und der Erfüllung. Das weiß man aus dem Leben der
Künstler: Chopin mit George Sand in Mallorca, Liszt
mit Marie d´Agoult in Paris und Como, mit der
Fürstin Sayn in Schlssß Woronince, Schumann mit
seiner Clara, Wagner mit Mathilde, am Schluss eine
Prinzessin mit Toselli, d´Annuncio mit der Duse,
Graf Vigny mit Marie Dorval, Stauffer-Bern mit
Lydia Escher. Das sei alles Bild geworden,
dokumentarisch und Inhalt der Zeit. Noch einmal
präzisiert der Phänotyp seine Auffassung der
bestehenden Antinomien: einer-seits stelle man eine
\"progressive Zerebralisation\", das Vorstoßen

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

des Gehirnwesens in \"formelhafte Überwelten\"


fest, andererseits treten längst überholte
Vorstellungen von Geschlechtlichkeit, menschlicher
Vollendung und menschlicher Ideale zutage, z.B. bei
Strindberg (Verhältnis der Geschlechter
tueinander), Wedekind (Emanzipation des Sexus),
Ibsen, (Gesellschaftsprobleme), Otto Weininger, und
drei Viertel der Interessierten seien \"immer noch
Pathetiker der Zwischenwelt\". Die Großen, die
einen Überblick über den Dingen haben, stünden
schon \"außerhalb der Liebe und des Ruhms\". Dabei
sei zu berücksichtigen, dass von den größten Männer
wie \"Plato, Michelangelo, Shakespeare oder
Goethe\" zwei einseitig homoerotisch, einer
zweideutig, die vierten nicht homosexuell waren.
(Das Hexen-Einmaleins der Prozentrechnung kann man
nicht auslegen, PuA 187). Die
Doppelgeschlechtlichkeit sei ein \"alter Besitz,
eine bewährter Bestand\", ein \"populäres
Bindemittel an das Durchschnittliche\". Der
Geschlechtstrieb sei eine \"brüchig gewordene
Begierde\"; die neue Begierde sei die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

\"schöpferische Lust\". Der so wesensverschiedene,


aus ganz anderen Kreisen stammende Theodor Haecker
hielt diese schöpferische Lust für unvergleichlich;
in seinen \"Tag- und Nachtbüchern\" schrieb er
darüber: \"Wenn ich zurückdenke an Stunden des
Schreibens einer glücklichen Seite, diese
merkwürdige Mischung von unverdientem Einfall mit
höchster eigener Tätigkeit, diese höchst
unvergleichliche Lust und Freude, dann will es mir
scheinen, dass das ein Leben wäre, der Ewigkeit
würdig und ohne Gefahr des Überdrusses.\" 57)
Kunst ist aus dieser Sicht eine Wahrheit, die es
noch nicht gibt, die Kunst der Zukunft. Die
Geschlechterliebe sei \"im ernstesten Fall\" eine
Prüfung \"gegenüber einem neu sich prägenden
typologischen Prinzip\". In den bedeutendsten Roman
seit 1900 werden die Frauen angeblich \"nur noch
arrangiert\", z.B. bei Conrad im
ethnisch-geographischen Bereich, bei Heinrich Mann
im artistischen Bereich (\"Die Göttinnen\"), bei
Oscar Wilde im ästhetischen Bereich (\"Dorian
Gray\"). \"Zum Teil werden sie nur noch

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

herangezogen, deutlich aphoristisch, mehr Ovation


und Reminiszenz als aufbaubestimmend, daher auch
fremdsprachig\" (\"Der Zauberberg\" von Thomas
Mann, PuA 187). Um 1900 sei es natürlich
gewesen, \"dass zwei Drittel der bewohnten Erde von
zwei Frauen regiert wurden, der Queen und der
Kaiserin von China. In die deutsche Politik hat nie
eine Frau eingegriffen. Hier war immer oben der
Bizeps und unten die besondere Form des
Militärstiefels, der sogenannten Knobelbecher.\"

Der Phänotyp sinniert über die vielen Frauen aus


Mischrassen, östlichen Frauen, die in den
Musikzentren, in Weltbädern wie Baden-Baden, sogar
in den Botschaften auftauchen: z.B. die Fürstin,
geborene d´Iwanowska, die Baronin Meyendorff,
Janina Olga, Marie Kalergis, geborene Gräfin
Nesselrode, Cosima Wagner,
Lou Andreas-Salome, die Mulattin Baudelaires usw.
Klingers Gefährtin sei eine Russin gewesen,
Balsacs letzte Geliebte eine Polin. Aus der
Biographie des ungarisch-deutschen Komponisten

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Franz von Liszt entnimmt der Autor, dass der greise


Künstler von der Freundin seiner letzten Jahre die
Anregung empfing, \"die erstaunlichste Folge von
Dur-Dreiklängen zu schaffen, deren Grundtöne
jeweils im Abstande einer kleinen Terz
(verminderter Septimakkord) auseinander liegen, was
für die wagnerischen und moderne Harmonik von
entscheidender Bedeutung wurde\". Der Autor hätte
an dieser Stelle stattdessen Nietzsche zitieren
können: \"Der Sturm der Begierde reißt den Mann
mitunter in eine Höhe hinauf, wo alle Begierde
schweigt: dort, wo er wirklich liebt und noch mehr
in einem besseren Sein als besserem Wollen lebt\".
58)

Der Einfluss der Frauen! Die Höflichkeit der


Männer! Der Phänotyp ist bei Betrachtung früherer
Romane verblüfft über die Höflichkeit, Biederkeit,
Konvenienz der Männer; er bemerkt, dass die Frauen
unter den \"Schwierigkeiten, Wandlungen, Wählungen,
Kreuzungen, Süchten\" leiden, dass sie meist ein
sogenanntes Geheimnis mit sich tragen. (PuA 187).

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Im Grunde sei der Mann längst auf Kunst aus; er


strebe nach einer anderen Welt, \"in der eine
andere Empfängnis\" gälte und in der andere Samen
ausgestreut würden. Nietzsche habe sich meist
unbeholfen über Frauen ausgesprochen; die Kritik
ist nicht nur verwunderlich, sondern auch noch
unberechtigt und ungerecht. Der Phänotyp hätte bei
genauerem Studium erstaunlich zutreffende Aussagen
finden können, so: \"Die Frauen intrigieren im
stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer;
sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zugunsten
einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart,
betrügen\". 59) Die Frauen verargen dem Manne die
Ziele seines Ehrgeizes.

Überholt sei Ortega y Gassets neueste Werk \"Vom


Einflußss der Frau auf die Geschichte\"; der
Phänotyp spottet über den blumigen Satz: \"Zur
Garbe gebunden, bringt der Mann die Blüte seines
Könnens der schönen Richterin dar.\" Und die
philosophische Umschreibung, das Weib habe aus
\"Urstoff\" eine \"neue Statue von Mann\"

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

geschlagen.

Borussisch

Der Phänotyp bezieht sich in diesem Abschnitt auf


die Ereignisse teils zu Beginn, teils Ende des 19.
Jahrhunderts. Wichtiges wird mit Unwichtigem
durcheinander gewirbelt. Wen interessiert es, dass
man sich um 1800 Tassen schenkte, die mit
Kornblumen bemalt waren, am Ende des Jahrhunderts
aber Schiffskarten für die Fahrten der HAPAG nach
Korfu? Oder dass man am Anfang des Jahrhunderts
Mokka mit Muskat oder Pomeranzenblüte trank, am
Ende aus Gesundheitsgründen Kaffee Hag. Oder dass
sich Brummel mit \"bestimmten roten Wurzelstücken
die Zähne säuberte und dass dies seit 1897 mit Odol
geschah.\" (PuA 188). Vielleicht wäre es
inter-essanter gewesen zu vermerken, dass man ab
1800 in Berlin die Dampfmaschine in der
Porellanmanufaktur einsetzte oder dass man 1801 die
Zuckergewinnung aus Runkelrüben erfand?

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Als einen Höhepunkt der preußischen Geschichte


bezeichnet der Phänotyp die Entscheidungsschlacht
bei Königgrätz (Sadova): den preußischen Sieg über
Österreich. Der Deutsche Bund wurde aufgelöst,
Österreich aus dem künftigen deutschen
Staatsverband ausgeschlossen. Am 18. August 1866
wurde der Norddeutsche Bund mit 22 deutschen
Staaten unter der Hegemonie Preußens geschlossen.
(\"Germany hat sich entbunden\"). Ironisch schreibt
der Phänotyp, die österreichischen Geschütze hätten
nach rückwärts gefeuert und Moltke hätte sein
rotseidenes Taschenbuch in der Hand gehalten. Auch
hierbei kommt in den Bagatellen die Verachtung
gegenüber der Geschichte zum Ausdruck. Auf dem
Berliner Kongress schlossen Deutschland,
Österreich-Ungarn und Russland eine Vereinbarung
über das europäische Gleichgewicht.
Es sei die Zeit der großen Entdeckungsreisen, der
Polarexpeditionen. Der Phänotyp berichtet
ausführlicher als sonst von den Forschern und
Entdeckern des Jahrhunderts, von Nordenskiöld,
Nansen und Payer-Weyprecht. Nicht erwähnt werden

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Alexander von Humboldt, der 1799 seine


Forschungsreise nach Südamerika begann und Charles
Darwin, der ab 1831 eine Weltreise unternahm.
Zahlreiche Gesellschaften wurden gegründet, die
\"Gesellschaft für Erdkunde\", die
\"Deutsch-Asiatische Gesellschaft\", die \"Deutsche
Kolonialgesellschaft\" (PuA 189) usw. Die
Forschungsreisenden werden nach Rückkehr von ihren
Expeditionen hoch geehrt; es gibt offizielle
Empfänge, Lorbeerkränze, Audienzen im Kaiserlichen
Schloss in Berlin. \"Die drei schwarzen Adler an
der Decke breiten ihre Schwingen über Diplomaten
und Gardegeneräle\" (PuA 189).

Der Phänotyp geht nicht darauf ein, dass ein


\"verblendetes Deutschland, weil es sich nicht
beschränken konnte auf eine Aufgabe der Mitte und
weisen Mäßigung, eine wilde Flottenpolitik ohne Maß
und Sinn\" (Helmut Marte) betrieb. 60) \"Es mischte
sich in nordafrikanische, syrisch-mesopotamische
Asienprobleme, was wiederum einer Bedrohung
Russlands einerseits und Englands in Indien

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

andererseits gleichkam. Es verstrickte sich immer


mehr in seinen eigenen Größenwahn.\" Wilhelm II.
telegrafierte von Helgoland aus an den Zaren in
Wladiwostock: \"Der Admiral des Atlantischen Ozeans
grüßt den Admiral des Großen Ozeans\" (Helmut
Marte, S. 34). In preußischen Ansprachen der Zeit
ist von der Verantwortung vor Gott die Rede, hinter
den Kulissen bekämpft man eine \"bestimmte Fürstin,
weil sie aus Weimar kommt\". Lächerlich wirkt die
Bemerkung, an jedem 25. Februar lege man einen
Kranz aus Palmenkätzchen auf den Sarg Friedrich
Wilhelms I. oder man bestrafe den Küster, der einst
Napoleon an den Sarg Friedrichs des Großen geführt
hätte, mit Stockschlägen. Mit bitterem Unterton
erinnert der Phänotyp daran, dass Nietzsche
verboten worden sei, an der Leipziger Universität
Vorlesungen zu halten. Der Roman \"Leberecht
Hühnchen\" (1821) von Heinrich Seidel wurde jedoch
mit Begeisterung gelesen; das deutsche
Leserpublikum fühlte sich durch das Gefühl der
Identität zutiefst verstanden. Unerwähnt bleibt,
dass Ludwig Tieck die Schauspiele \"Die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Hermannsschlacht\" und \"Prinz von Homburg\" von


Heinrich von Kleist posthum 1821 veröffent-licht.
In Widerspruch zum Preußentum und zur
europäisch-geschichtlichen Welt setzt der Phänotyp
eine Gegenwelt, die \"unzweideutig ins Bewusstsein
getreten\" sei. Benn empfindet zu sehr die
dienstliche Welt, \"für die das Wort und der
Gedanke nur eine Ablehnung der Tat bedeutet. Diese
Welt weiß nicht, dass sich etwas Außerordentliches
vorbereitet, nämlich der neue Schritt der Schöpfung
zu einer anderen Art, die die Physiologie weiter
einschränkt und dem Unbewussten eingliedert, um den
Weg weiter zu gehn zur transzendentalen
halluzinatorischen Rasse, für die Wort, Farbe, Ton
stärkere Seinswerte darstellen und die unter
anderen Ausdrucksbedingungen leben wird als die
heutige.\" (An Oelze,25.03.1941). Beide Welten
seien schon in der Gene getrennt; die frühere
Einheit liegt hinter den Zeichen, \"mit denen wir
rechnen können und die wir mit inneren oder äußeren
Augen sehen: die Geschichte und der Geist\" (PuA
191).

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Auf völlige Ablehnung stößt dieses Preußentum mit


seinen \"ethischen Aufdringlichkeiten\"; was
darunter genau zu verstehen sei, bleibt
unerörtert. Vielleicht hätte ein politisch
interessierter Zeitgenosse den preußischen
Militarismus benannt und das Bild des preu-ßischen
Offiziers gezeichnet. Der Typus des preußischen
Offiziers, der damals entstand, hob sich sowohl vom
Offiziertypus anderer Länder scharf ab, wie von den
Typen anderer Berufe im eigenen Land, wie Friedrich
Meinecke in seinem Buch \"Die deutsche
Katastrophe\" (1946) ausführte. \"Das Entscheidende
war, dass ein bestimmter rationaler Gedanke die
absolute Herrschaft erhielt über alles irrationale
Wesen im Menschen, - der Gedanke einer unbedingten,
nicht nach rechts und nicht nach links sehenden
Hingabe an den Beruf und an den, der diesen Beruf
ihm gab, den Obersten Kriegsherrn, um so ein
Höchstmaß beruflicher Leistung als absoluten Wert
hervorzubringen - auf dem Exerzierplatz wie auf dem
Schlachtfelde, und auf dem Exerzierplatz noch mit
besonderer ausgesuchter Berechnung und Technik\"

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Gebote des inneren Seins Teil I

(Ebd. 64).

Der Phänotyp sieht einen unmittelbaren Weg von


diesem Preußentum zu den Begriffen der Tiefe, der
Innigkeit, der künstlerischen Hochziele usw. Die
völkischen und militärischen Schriftsteller der
Preußen webten \"Legenden um jeden Heiducken,
Kurruzzen, Sioux und Pandur\"; sie erfänden Mythen
um unzugängliche Wälder und legten einen \"Nimbus
um Silhouetten\". Der im Grunde unpolitische
Phänotyp wagt nicht, den preußischen Stier an den
Hörnern zu packen und das \"deutsche Reich
Bismarcks in Gestalt des drohenden Macht- und
Militärstaates\" (Karl Barth) zu kritisieren.
Erwähnt wird im Zusammenhang mit der Überfülle an
Pathetik, dass Bismarck im Vorzimmer von Versailles
weinte, weil Graf Perponcher zuerst empfangen
wurde. Nach Hermann Martes Worten rissen
\"Wirtschaft, Geld, äußerer Erfolg\" die Herrschaft
an sich. \"Der Reiz der Konjunktur war übergroß.
Wie der Rauch der wie Pilze aufschießenden
Schornsteine Aussicht und Einsicht, so verdunkelte

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Gebote des inneren Seins Teil I

ein Nationalstaat, begriffen als


ökonomisch-imperialistischer Anspruch, die alte
heilige Reichsidee, der alle Kräfte und Kronen zu
dienen haben.\" 61) Hermann Marte, \"Von deutscher
Aufgabe und ihrem Verrat\", 1947.

Der Phänotyp verschweigt vieles, weil er zu


Geschichte, Politik und sozialen Ideen keine
Beziehung besitzt; es fällt kein Wort über
Bismarcks Politik geschweige denn über Hitlers
Diktatur. Völlige Gleichgültigkeit kennzeichnet
sein Verhältnis zu Politik, zu Umstürzen und
Kriegen, \"mögen sie auch in den unaufhörlichen
Folgen eine Generation treffen\" (PuA 150)
Hermann Marte resümierte die unseligen Änderungen
der Politik Bismarcks mit den Worten: \"Im Banne
der Großmachtidee wurzelnd, fragte er nicht viel
danach, inwieweit seine Idee der inneren Wahrheit
des Völkerlebens entsprach, inwieweit sie auf die
besonderen Verhältnisse, auf Tradition und inneres
Leben Deutschlands und andererseits auf die
Weltlage

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

anzuwenden war. Er glaubte als preußischer Junker


an die gepanzerte Faust, an das Messer. Er war
zuviel Chirurg, zu wenig Paracelsus.\" (Ebd., S.
22). Marte zitiert in Anschluss daran Wilhelm
Schäfer: \"Denn mehr als ein Deutscher war er ein
Preuße, und mehr als ein Preuße war er ein Junker,
mehr als ein Bruch geschah dem deutschen
Gewissen.\"
Nur Hohn hat der Phänotyp für einen namentlich
nicht bekannten Universitätsprofessor übrig, der
von der \"sinnlich sittlichen Dimension der Tiefe\"
schrieb, die nur dem \"Genius des Nordens\" eigen
sei. Der \"Begriff der Tiefe\" habe seinen Ort an
der \"Nahtstelle zwischen dem ästhetischen und
ethischen Geschehen\". Der Tiefgang der Kunst sei
ein \"Charakteristikum großer germanischer Werke\".
Der Phänotyp ist jedoch überzeugt von der
\"Oberfläche des schönen Scheins\", vom \"Olymp des
Scheins\". Dies sei eine andere Welt, die \"ferne
leuchtet\" wie Mörikes erträumte Inselwelt Orplid,
eine Welt der Ausdruckskunst, wobei der Künstler
nur den eigenen Schatten als Tiefe erkenne. Der

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Gebote des inneren Seins Teil I

Künstler, eine schlafloser Genius, stütze geduldig


die Ellenbogen aufs Knie, lehne die Wange an die
Faust und schweige, während er dabei sei, \"seine
geheimen Werke zu erfüllen\". Dabei verklinge der
Schmerz und die Bilder fügen sich vor ihm zu
vollendeter Schönheit. (PuA 191).

1.13. Kritik und Selbstkritik

Ein Selbstbekenntnis aus dem Jahr 1945 wirft ein


bedeutsames Licht auf dieses Romanfragment: \"Mein
Bestreben, meine innere Wahrhaftigkeit verlangt und
arbeitet solange an einem solchen Ding, bis
folgendes Grundgesetz klar wird: wir beziehen uns
als Wesen und Existenz, doch ehrlicherweise gesagt,
auf garnichts mehr, auf nichts Vergangenes und auf
nichts Zukünftiges, wir stehn allein schweigend,
aber auch zitternd in uns selbst. Das muss auf
jeden Vers, auf jede Reihe, jeden Satz übertragen
werden, auch er muss für sich allein stehn und
alles tragen, nichts stützt ihn mehr, keine
Beziehung, kein Glaube, keine Hoffnung, keine

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Gebote des inneren Seins Teil I

Täuschung. Etwas sucht und findet seinen Ausdruck


und dann ist sein Lebensweg zu Ende. Dann treten
andere Gesetze, andere Seinsphasen vielleicht mit
ihm in Verbindung, also unbekannte Dinge,
unbekannte Gesetze. So muss jeder Satz ruhn und
zittern und schweigen und abgeschlossen sein.\" (An
Oelze, 18.01.1945). Das sei das Neue im Vergleich
zu Nietzsche.
Ein weiteres Bekenntnis aus dem Jahr 1946 ist in
diesem Zusammenhang noch einleuchtender: \"Ich bin
kein gepflegtes Gehirn, das seine Produkte an
gekachelte Molkereien abliefert; das katalaunische
Gemetzel, das ich ewig auf meiner geschundenen
Rinde sich abspielen lassen musste, fängt an, mir
seine letzten Hautgouts entgegenzuwerfen.\" (An
Oelze, 15.08.1946).
Die Wahrhaftigkeit des Autors, die lebenslang
behauptete extreme Position eines Außenseiters im
literarischen Betrieb, der unbeugsame Wille zu
persönlicher Eigenart und den eigenen Ideen - all
das nötigt den aufmerksamen Betrachter seines
Lebens aus dem Geiste und seines literarischen

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Gebote des inneren Seins Teil I

Werks zu Respekt und Anerkennung. Ebenso


anerkennenswert sind seine intensiven Bemühungen,
die Sprache durch neue Formen, assoziative
Reihungen, Anklänge und Andeutungen
fortzuentwickeln und die der jeweiligen
existentiellen Lage entsprechenden Ausdrucksformen
zu finden. Seine negative Produktivität erreicht
bislang unerhörte Wirkungen im Artistischen, so
dass Neues entsteht. Die Isolierung des Ichs, die
Beschränkung auf ureigene Probleme und innerlich
gefühlte Aufgaben beschränken freilich den Blick
für die Vielfalt der Themen. Durch die rauschhafte
Schau, die Ablehnung des logischen Bewusstseins,
das Indifferente, Alogische setzt er vielleicht
mehr aufs Spiel, als er dadurch gewinnen kann.
Trotz aller Mythengläubigkeit bleibt seine Bindung
an Transzendenz meist nur Ahnung und Absicht. Der
Reiz seiner Prosa liegt zum Teil in diesem
Bewusstsein der Zusammenhänge, in dieser
durchgehenden Trauer und der Suche nach neuen Wegen
der Gestaltung.
Der Autor las 1948 noch einmal sein Romanfragment

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Gebote des inneren Seins Teil I

\"Phänotyp\"; er kritisierte
es im zeitlichen Abstand von 3 1/2 Jahren als ein
\"unmögliches Etwas\": eine \"reine
Materialanhäufung, ungegliedert und inkohärent\".
Einzelheiten seien zwar ganz brauchbar, aber
dringend der Überarbeitung bedürftig. \"Vielleicht
gestalte ich ihn um, streiche viel, setze viel
hinzu, - wenn ich Konzentration und Zeit dafür
finde.\" (An Oelze, 22.01.1948). Zu dieser völligen
Umgestaltung ist Benn nicht mehr gekommen; er
begann zwar mit einer Überarbeitung und wollte das
Feuilleton über das Jahrhundert (Studien zur
Zeitgeschichte des Phänotyps) weglassen, weil es ja
\"völlig uninteressant\" sei, \"woher der Phänotyp
soziologisch und historisch\" stamme. Die
Hauptsache sei, dass er da sei und sich in sich
selbst vertiefe. Während das Jahrhundert schon
wieder nach \"Kausalität und Analyse\" aussehe, sei
der Phänotyp auf \"Präsenz und Bloßstellung\" aus.
(An Oelze, 01.02.1948). Am 25.02.1948 sandte Benn
seinem Freund Oelze eine neue Aufstellung der
einzelnen Kapitelüberschriften. An dem Charakter

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

des Fragments sollte sich nichts Wesentliches


ändern. (Siehe Anmerkungen). Aus dem Kapitel
\"Pilger, Bettler, Affenscharen\" wurden die
Textabschnitte \"Halt!\" (SuS 253) und \"Nicht rein
pessimistisch das Ganze\" (SuS 255) ausgesondert;
Ausführungen, die eine gute
Verständnishilfe für das Romanfragment bieten, z.
B. die Redensart \"dem Affen Zucker geben\" in
\"Halt!\", wird als ein \"Sonderfall ganz seltener,
ganz spezieller innerer Gemütslagen\" ausgegeben
und als eine \"großartige selektive Leistung des
Sprachgenius\" gewürdigt. (SuS 253).

Die sogenannte absolute Prosa des Romans, die sich


auf Carl Einstein und André Gide beruft, bringt die
existentielle Situation des Phänotyps zum Ausdruck.
Zweifellos hat auch Georg Heyms Novellenbuch \"Der
Dieb\" (1931) Benn beeinflusst. Man verweist in
diesem Zusammenhang auch darauf, dass absolute
Stiltendenzen in der frühen Prosa von James Joyce
auftauchten. Unter dem Absoluten versteht Benn die
\"Urform des Seins\", die \"magische Realität der

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Seele\", die \"Idee des Schöpferischen in der


Welt\" (Klaus Mann, Die Literatur, 1929). Absolute
Merkmale zeichnet die selbstbehauptete Existenz aus
wie die Struktur der Kunst. Jenseits aller Theorie
strebte Benn danach, angesichts der chaotischen
Welt, sich selbst zu ordnen, seinem Inneren zu
genügen, in jedem Wort die \"Gebote des inneren
Seins\" einzuhalten. \"Ich kann doch nur danach
gehn, was ich denke und was ich denken muss\",
bekannte er in einem Brief an Gertrud Hindemith.
(06.06.1930).

Spöttisch klingt seine Frage, ob man nur die


\"niedrigen Formulierungen des Griechentums, z.B.
das Zoon politikon, gedanklich\" bestirnen solle.
(SuS 254). Als Beispiel einer \"vernichtenden
Plattheit\", als \"Menschheitsbedrohung\" führt
Benn dies Wort in seinem Brief vom 15.11.1937 an:
\"Ein Orientale hätte das nie aussprechen können.
Das war schon späteuropäisch, degenerativ,
weißrassig\". (An Oelze, 15.11.1937). Der Phänotyp
erinnert an die dionysischen, mystischen,

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Gebote des inneren Seins Teil I

monarchischen, barocken, karthartischen Kreise, an


Hamlet und den Olymp, alles Ideen aus dem
problematischen Erdteil. Anzeichen einer geistigen
Oberwelt sieht der Phänotyp, auch wenn es
schwerfällt, \"ein klares Bild zu gewinnen\", in
der griechischen Frühzeit (Tanzfiguren, Tanzwirbel
geheißen; Tänze mit Ausschlagen und Hochwerfen der
Schenkel, Steißwedeln bei gebückter Haltung;
hochentwickelte Bauch-, Steiß- und Schenkeltänze).
Ein Jahr später findet Benn, dass das
Romanfragments doch \"das seltsamste und
stellenweise gelungenste Stück von allem\" sei. Als
der Schweizer Verlag \"Die Arche\" sich für Benns
literarische Produktion nteressierte, stellt er die
Prosatexte \"Weinhaus Wolf\", \"Roman des
Phänotyp\" und \"Der Ptolemäer\" zu einer Sendung
zusammen und schrieb an Oelze: \"Am
interessantesten ist doch vielleicht Phänotyp, weil
fragmentarisch und kometarisch, und einzelne ganz
nette sublime Stellen, d.h. Stellen mit jener
Umschreibungstechnik, mit der allein man heute
meinem Gefühl nach an die Dinge herankommt.\" Wie

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Gebote des inneren Seins Teil I

aus dem Brief an den Schweizer Verlag hervorgeht,


ging es Benn in den Prosaarbeiten um die
\"Grundfrage der ganzen Epoche\", nämlich: \"Gibt
es für das Abendland noch eine geistige Welt, eine
metaphysische Realität außerhalb und unabhängig von
der geschichtlich-politischen Welt, die ihr Primat
behauptet und mit Brutalität verteidigt?\" Er
bekundet dabei seine Absicht zu untersuchen, \"was
noch an innere Substanz, an alter Gene, an
schöpferischen Möglichkeiten in der Rasse
geblieben\" sei. Da der Schweizer Verlag keine
definitive Antwort über eine Publikation gibt,
nimmt Benn Verbindung mit seinem späteren Verleger
Max Niedermayer (Limes-Verlag) auf; in einem Brief
vom 18.09.1948 an ihn erläutert er die krisenhafte
Situation des Phänotyps: Da der Phänotyp keine
\"bürgerlich-kommerziellen Vorstellungen\" hege,
weder Vergangenheit noch Zukunft kenne, keine
\"tragfähige Substanz mehr im Innern und kein
psychologisches Gefüge\" habe, könne er sich \"auf
nichts außerhalb seiner selbst mehr beziehen\":
\"Es gibt ja keinen Anfang und es gibt ja kein

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Ende, das wären ja Raum-Zeitvorstellungen aus einer


anderen chaotischen Welt.\" Er müsse \"sich selber
ordnen, selber tragen, alles umschlingen, für alles
stehn\"; er müsse \"seinem Inneren genügen, absolut
sein in jeder Chiffre, in jedem Wort\". (An
Niedermayer, 18.09.1948).

Max Rychner stellte im Juli 1949 in seinem


fundamentalen Essay \"Gottfried Benn. Züge seiner
dichterischen Welt\" die neue Kunstprosa Benns in
einen weiten Deutungsrahmen; einzelne Passagen sind
einleuchtende Deutungen auch des Romanfragments
\"Phänotyp\": \"Anklänge, Wortbezüge, die von der
einsamsten Erfahrung aus auf Ordnungen vieler
Zeiten weisen: vorsokratische und platonische
Weisheit, chinesische und indische Überlieferungen,
mystische Einsichten des Ostens und des Abendlandes
finden sich zusammen in einem Werk, welches, wie
keines unserer Zeit außer dem von Joyce, aus dem
ausgebreiteten Überreichtum einer synkretistischen
Epoche geschaffen wurde und wird. Alle verhaltene
Klage des Dichters, dass uns die einengende Bindung

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Gebote des inneren Seins Teil I

einer vereinfachenden, ausschließenden, aber ans


Tiefe gebundenen Religion mangle, wird relativiert
durch eben dieses Dichters reiches Leben in der
Sphäre der großen geistigen Welt, ohne deren
Emanation der Künstler Benn weder zu sich noch zu
seiner Form, noch zu dem, was er Vollendung nennt,
gelangen könnte.\"

Der Phänotyp sei \"rein essayistisch\" schrieb der


Kritiker Karl Korn in der \"Mainzer Allgemeinen
Zeitung\" vom 14./15. Mai 1949; der Roman verzichte
auf den epischen Rahmen und verwirre den Leser am
wenigsten. Folgende Kritik, die sich auf das
Prosastück \"Der Ptolemäer\" bezieht, lässt sich
auch auf das Romanfragment des Phänotyps
übertragen: Unmöglich sei es, \"die ungemein reiche
und gleichsam prozesshaft im Entstehen, in der
Urzeugung dargebotene geistige Welt Benns zu
referieren\", denn die Aussageform sei zugleich
Inhalt: \"Benn macht mit der umfassenden
Kulturkrise ernst, radikal ernst. Er deckt nichts
mit billigen, restaurativen Phrasen zu.\" Es sei

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Gebote des inneren Seins Teil I

großartig, \"wie er in dieser fragmentarischen


Prosa alle Weltstoffe durcheinanderwirbelt, so dass
den vital Zukurzgekommenen angst und bange werden
muss\". Benn denke nicht daran, \"in den Chorus der
Zivilisationsmüden einzustimmen\"; er genieße
\"diese hybrid übersteigerte Welt\" und bleibe,
indem er sich allem und jedem aussetze, \"eine
gierige Antenne, innerlich frei\". \"Denn er
verschreibt sich nichts als seiner geistigen
Freiheit.\" (PuA, 667). Benn fand nach dem Zweiten
Weltkrieg, als er sich zu neuen Publikationen
entschlossen hatte, eine eigene Erklärung für die
wieder einsetzenden persönlichen Angriffe: \"Dabei
bleibt es ja mir immer wieder interessant, wie
paradox die politische Stellung meiner Gegner ist:
sowohl die von links wie die von rechts greifen
mich an und die Mittleren, die Demokraten, nicht
weniger. Es muss irgendetwas von dem, was ich
schreibe, an den Schlaf der Welt rühren und es
schlief sich trotz zweier Weltkriege doch noch ganz
gemütlich, erst in letzter Zeit werden die
Schlafstörungen allgemein bemerkt und trotz der

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Gebote des inneren Seins Teil I

hohen Bromdosen von Jaspers und Sartre, mit denen


die Presse täglich ihr Publikum besänftigt, schläft
man nicht mehr durch.\" (An Max Niedermayer,
08.05.1949).

Eine grundlegende Kritik seiner Kunstauffassung,


seiner ästhetischen Ansichten müsste an den
Grundbegriffen \"Ausdruck\" und \"Form\" ansetzen.
Ernst Meumann hat 1919 in seinem \"System der
Ästhetik\" dargelegt, dass \"fast die ganze moderne
Kunst\" unter dem Gesichtspunkt verständlich
gemacht werden könne, \"dass sie ein
rücksichtsloses Streben der Künstler nach neuen
Ausdrucksformen ist, die größere
Anpassungsfähigkeiten an alle Stimmungsnuancen des
inneren Lebens\" hätte. Immer zeige sich der
Widerstreit zwischen dem Streben nach Ausdruck und
der aus ihm hervorgehenden Tendenz des
künstlerischen Schaffens zur Formlosigkeit und
Unmittelbarkeit und den Beschränkungen dieses
Strebens, \"die aus den Bedingungen und aus den
konkreten Verhältnissen der Darstellung eines

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Gebote des inneren Seins Teil I

Werkes innerhalb jeder einzelnen Kunstform\" (S.


62) hervorgingen. Meumann zählt die drei
verschiedenen Verhältnisse auf, in die diese beiden
Motive (Ausdrucks- und Formmotiv) im allgemeinen
zueinander treten können:
1. Im Idealfall vereinigt eine Kunstrichtung die
\"vollendete strenge und schöne Form\" mit der
\"höchsten Steigerung des Ausdrucks inneren
Lebens\" (Aussöhnung der beiden sich
wider-streitenden Prinzipien des künstlerischen
Schaffens in der klassische Kunst, S. 65).
2. Eine zweite Möglichkeit sei das \"überwiegende
Interesse an der künstlerischen Form, der gegenüber
der Ausdruck des inneren Lebens leidet\" (z.B.
archaisch-griechische Plastik, Manierismus,
orientalische Textilkunst, S. 66).
3. Die dritte Möglichkeit sei das \"Überwiegen des
Interesses am gesteigerten Ausdruck\" (z.B.
Subjektivismus, Impressionismus, moderner
Expressionismus, S. 67).
Meumann fand es sehr lehrreich, dass alle diese
Erscheinungen der modernen Kunst besonders in der

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modernen Lyrik auftreten. Es sei sehr lehrreich,


\"sich das gleiche Hervortreten diese völlig
formlosen Ausdrucksstrebens in den einzelnen
Künsten der Gegenwart klarzumachen\" (S. 74). Es
besteht kein Zweifel an der Auslegung, dass bei
Benn wie bei allen Expressionisten das Interesse am
gesteigerten Ausdruck überwiegt und dass er wie die
übrigen Künstler in der Gefahr schwebt, dem
formlosen Ausdrucksstreben nachzugeben.

Was den vorliegenden Experimentalroman \"Der Roman


des Phänotyp\" anbelangt, so ist sein literarisches
Experiment eines existentiellen Romans in
mehrfacher Hinsicht missglückt:
Einmal ist es nicht möglich, eine literarische
Figur lebensecht und mit plastischen Konturen vor
den Augen der Leser aufzubauen, ohne auf die Mittel
der Psychologie und Soziologie zurückzugreifen. Die
essayistischen Passagen des monologisierenden
Zeitgenossen sind ungeordnete Aussagen,
zusammenhanglos, asso-ziativ aneinandergereiht,
voller Bilder und Andeutungen, durchsetzt von

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Karl Schön

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Wiederholungen und Variationen, die die Geduld des


Lesers unangemessen auf die Probe stellen. Das
Grundmuster des durchaus poetischen Gebildes sollte
wohl das Chaos, die Verstörung von Raum und Zeit,
widerspiegeln. Eine strenge Gliederung der
einzelnen Prosastücke war also nicht beabsichtigt,
doch sollten sie sich orangenförmig um eine Mitte
zusammenschließen; diese Mitte, der Phänotyp
selbst, betrachtet nicht Geschehnisse in der Welt,
sondern nur sich selbst, das isolierte Subjekt, das
sich um seine eigene Achse dreht. Ob der Leser in
diesem Sinnbild des schöpferischen Ichs die
Weltkugel erkennt, darf füglich bezweifelt werden.
Unnötigerweise gefällt sich der Autor, in Rätseln
und versteckten Anspielungen zu sprechen. Insofern
sind die erklärten Ziele des Autors, die geistig
überprüfte Form des Phänotyps glaubhaft zu machen
und eine Gegenwelt der existentiellen Werte und
eigentlichen Daseinsbezüge zu zeichnen, nur in
Ansätzen und Absichtserklärungen erreicht,
abgesehen davon, dass Rainer Maria Rilke aus
ähnlichen Existenzkrisen heraus bereits 1910 einen

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

weitaus überzeugenderes seelenbiographisches Bild


eines Künstlers gezeichnet hat, der sich in der
Zeit bewährt. Das Material, das dem Kurzroman und
dem
monologisierenden Erzähler Farbe, Lebendig-keit,
Attrakivität und Glaubwürdigkeit verliehen
hätte, liegt unausgewertet in den Briefen und
essayistischen Versuchen des Autors, was durch die
vorliegende Interpretationen hinlänglich bewiesen
ist. Nicht glaubwürdig sind seine Beteuerungen,
dass er keinesfalls die Form \"verallgemeinern\"
oder gar \"überschätzen\" wolle; es sei keineswegs
seine Absicht, \"sie als Urform einer großen alten
Nation innerhalb der ganzen Kulturkonstellation
aufreden zu wollen\" (An Oelze, 29.95.1936). Zu
Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn sei er mit
diesen Formideen angetreten und müsse sie weiterhin
vertreten. In seiner \"Rede auf Stefan George\"
hieß es eindeutig: \"Der abendländische Mensch
unseres Zeitalters besiegt das Dämonische durch die
Form, seine Dämonie ist die Form, seine Magie ist
das Technisch-Konstruktive, seine Lehre lautet: die

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Schöpfung ist das Verlangen nach Form, der Mensch


ist der Schrei nach Ausdruck.\" (EuR 486).

Zum andern ist der hier propagierte


individualistische Ästhetizismus in der geistigen
Welt des 20. Jahrhunderts gescheitert. Anstatt die
Grundzüge und Tendenzen der abendländischen
Geistesgeschichte exakt zu analysieren, was
freilich den Rahmen eines Romans gesprengt hätte,
nimmt der Visionär Zuflucht in der zudem noch
unzureichend gekennzeichneten Kunst. Der
pathologische Nihilismus, die suggestive
Verbindung zwischen essayistischen Einspengseln und
lyrischen Bildcollagen, das antizivilisatorische
Weltbild im Anschluss an Nietzsche und Spengler
haben im Laufe der Jahre die Faszination der ersten
Zeit eingebüßt. Der Problemgehalt seines Kurzromans
ist in der nachfolgenden Generation unwesentlich
und abseitig geworden. Das selbstgenießerische
Pathos der Untergangsvision, die pessimistische
Sehweise des Erzählers und die formale
Suggestivkraft stoßen heutzutage meist auf

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

Ablehnung. Man erkennt, dass viele Aussagen und


Formulierungen zeitbedingt sind und nur aus dem
persönlichen Leben des Autors verständlich werden.
Alfred Andersch hat in seinem Essay \"Die Blindheit
des Kunstwerks\" überzeugend nachgewiesen, dass die
Vertreter einer Ästhetik (z.B. Benn), die den
einzigen Inhalt der Kunst in der Form sehen, die
Sinngebung der Abstraktion und des reinen Ausdrucks
verfehlen. Kunst könne nicht von der Wahrheit
absehen, weil dies ihrem Wesen nach unmöglich sei.
\"Nur indem Kunst sich auf den alles Erkennen
voraussetzenden Begriff der Wahrheit bezieht,
vollzieht sie den Auftrag, die Gesellschaft
geöffnet zu halten.\" In der totalen Unwahrheit der
geschlossenen Gesellschaft verstumme die Kunst.
Damit stimmt Ludwig Landgrebe überein, der in
seiner \"Philosophie der Gegenwart\" schrieb, die
elementare philosophische Frage nach der Kunst
führe zur Einsicht, \"dass vor aller Ästhetik die
Frage nach dem Wahrheitssinn und Wahrheitswert der
Kunst beantwortet werden\" müsse. (S. 119). Da sich
Benns Kunstbegriff nicht auf Wahrheit bezieht und

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Karl Schön

Gebote des inneren Seins Teil I

nicht im geringsten den Auftrag vollzieht, \"die


Gesellschaft geöffnet zu halten\", führen die auf
diesem Kunstbegriff beruhenden Prosagebilde in die
Irre. Sie verfehlen nach Alfred Andersch die
\"Sinngebung der Abstraktion und des reinen
Ausdrucks\".
Mehr als fraglich sind aus heutiger Sicht Benns
Bestrebungen, einen absoluten Standpunkt dadurch zu
erlangen, dass er aus der Realitätsflucht ins
Transzendente zu kommen glaubt und eine Metaphysik
der Formen erfindet. Der Autor Benn vermeint,
dadurch den Nihilismus ästhetisch ins Positive zu
wenden. Walter Muschg bezeichnete diese Versuche
als \"magischen Solipsismus\" (eine Form des
Subjektivismus, die nur das Ich mit seinen
Bewusstseinsinhalten als wirklich anerkennt) und
Eugen Gürstner als Münchhausentrick.

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