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EÖ TVÖ S LORÁ ND UNIVERSITÄ T GERMANISTISCHES INSTITUT

Intertextuelle Analyse des Romans


Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin
Seminararbeit

Jakus Enikő

20.05.2011

TANM-NÉM 113

Intertextualität, Intermedialität

Lvl.: Dr. Magdolna Orosz

SS 2011
1. Einleitung

Literatur entsteht immer im Bezug auf die Außenwelt. In der Welt von Autoren literarischer
Werke spielen ihre Erlebnisse mit Literatur und ihre Studien über literarische Werke eine
wichtige Rolle. Sei es Lyrik, Poetik oder Drama, in jeden Gattungen geht es um die
Aktualisierung, Umstellung und Umwandlung früherer Werke. Extratextuelle Relationen, also
Beziehungen eines Textes zu anderen Texten sind häufige Erscheinungen in der Literatur.
Intertextualität und intertextuelle Bezüge sind also unvermeidbare Elemente literarischer
Forschung und Analyse literarischer Texte.

Vertreter der allgemein-dekonstruktiv-ideologiekritische Annäherungen gegenüber


Intertextualität, wie zum Beispiel Julia Kristeva (1972), beweisen diese Meinung und
schreiben: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und
Transformation eines anderen Textes. An die Stelle der Intersubjektivität tritt der Begriff der
Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.”
Roland Barthes (1968) spricht über die Wichtigkeit von kulturellen Beziehungen in der
Literatur in seinem Werk Der Tod des Autors, und sagt, dass Texte aus einem
vieldimensionalen Raum bestehen, wo verschiedene Schreibweisen zusammen zu finden sind.
Der Text ist nach Barthes „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur”.
Intertextualität kann als ein Dialog zwischen Autoren und Werke verstanden werden, ist also
erkennbare Präsenz eines Textes in einem anderen Text (Genette, 1993).

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse eines literarischen Werkes aus
intertextuellem Aspekt. Für die Analyse intertextueller Bezüge wurde ein Roman des 20.
Jahrhunderts gewählt, mit dem Titel Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. In diesem
modernen Roman wurde nämlich eine akkurate Beschreibung von Berlin mit der Brechung
der geschlossenen Handlung, mit Einfügung von Zitate, Liedtexte, Zeitungsmeldungen,
Wetterberichte und Straßenplakate kombiniert. Dieser Roman bietet also ein gutes Beispiel
für intertextuelle Beziehungen, ist deshalb ein angemessenes Werk zur Analyse von
Intertextualität. Nach einer Einleitung über Autor und Werk werden verschiedene
intertextuellen Beispiele aufgezählt, dann wird ihre Rolle analysiert. Der Umfang der Arbeit
ermöglicht keine ausführliche Aufzählung der intertextuellen Elemente des Romans, es
werden deshalb nur einige Beispiele hervorgehoben und analysiert.

1
2. Über den Autor und das Werk

Alfred Döblin, der Autor des Werkes wurde im Jahre 1878, als Kin einer jüdischen Familie in
Stettin geboren. Er besuchte das Gymnasium in Köln, wo er sich zu Literatur, Philosophie und
Musik neigte. Die Lektüre von Kleist, Hölderlin, Dostojewskij, Schopenhauser, Spinoza und
Nietsche beeinflussten ihn während dieser Periode. Seitdem schrieb er literarische und
essayistische Texte. Zwischen 1900 und 1905, während seines Medizinstudiums schrieb er
mehrere Romane (Jagende Rosse 1900, Worte und Zufälle 1902/03) und kritische Essays.
Nach dem Studium arbeitete er als Assistenzarzt in Berlin, wo er auch seine spätere Frau,
Erna Reiss kennenlernte. Seine literarische Tätigkeit wurde aber nicht beendet, er arbeitete
nämlich bei Herwath Wladens Zeitschrift, Der Sturm. Während des ersten Weltkriegs
arbeitete er als Militärarzt, dann in seiner Kassenpraxis. Er veröffentlichte mehrere
literarische Werke, wie den ersten Novellenband Die Ermordung einer Butterblume (1912),
den Prosaband Die Lobensteiner reisen nach Böhmen oder den Roman Wallenstein (1920). Im
Oktober 1929 erscheint sein berühmtestes Werk Berlin Alexanderplatz. Nach dem
Reichtagsbrand muss er in die Schweiz fliehen, dann nach Frankreich flüchten, im Exil
schreibt er den Roman Babylonische Wandrung im Jahre 1934. Er fuhr 1940 mit seiner
Familie in die USA über, er besuchte Berlin nur im Jahre 1947. Zehn Jahre später, nach der
Veröffentlichung des Romans Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956) starb er
wegen seiner Parkinson-Krankheit.

Der Roman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Franz Biberkopf. (1929) ist der bisher
bedeutendste deutsche Großstadtroman. In dem Werk wird Berlin zwischen Herbst 1927 und
Jahresende 1928, und das Lebensgefühlt des zeitgenössischen Arbeitermilieus durch das
Schicksal des Hauptperson Franz Biberkopf beschrieben. Der Hauptperson ist mit der Stadt
verbunden, und durch die Konzentration auf ihm kann eine personale Erzählsituation
verwendet werden. Die Handlung ist offen, eine Abkehr von chronologisch erzählter
Handlung ist charakteristisch für den Roman. Döblin verwendet neuartige Mittel beim
Erzählen, wie die sogenannte Montagetechnik, die das Zusammenfügen auf Sprachebene und
Sprachstile unterschiedlicher Texte oder Textteile bedeutet. Intertextuelle Bezüge in diesem
Roman dienen dazu noch, dass Figuren und Orte eine doppelte Identität haben.

2
3. Intertextuelle Bezüge im Roman

Berlin Alexanderplatz ist mit Bezügen auf verschiedene andere Texte angefüllt. In der
folgenden Analyse werden Beziehungen zu wissenschaftlichen, mythologischen Texten, zu
der Bibel sowie Elemente aus dem klassischen deutschen Bildungsgut gesammelt. Diese
Verweisungen, Zitate und weitere intertextuelle Bezüge machen die Handlung des Romans
besonders offen, und ermöglichen die Brechung der Handlung, damit das Werk die
Bezeichnung Montageroman verdient.

3.1 Wissenschaftliche Texte

In dem Roman werden wissenschaftliche, vor allem naturwissenschaftliche Texte wiederholt


zitiert. Dadurch wird es erwiesen, dass man sich mit der Umwelt auch sachlich
auseinandersetzt. Döblin erwähnt zum Beispiel die Experimente von Heinrich Hertz1:

„Wir bedienen uns für Meldungen einiger Resultate aus den Versuchen von Heinrich Hertz,
der in Karlsruhe lebte, früh starb und, wenigstens auf der Photographie der Graphischen
Sammlung München, einen Vollbart trug. Wir telegraphieren drahtlos. Wir erzeugen durch
Maschinensender in großen Stationen hoch frequente Wechselströme. Wir bringen durch
Oszillationen eines Schwingungskreises elektrische Wellen hervor. Die Schwingungen breiten
sich kugelschalenartig aus. Und dann ist noch eine Elektronenröhre da aus Glas und ein
Mikrophon, dessen Scheibe bald mehr, bald weniger schwingt, und so kommt der Ton her
vor, genau wie er vorher in die Maschine hineingegangen war, und das ist erstaunlich,
raffiniert, schikanös. Begeistern daran kann man sich schwer; es funktioniert, und damit
fertig.”2.

Daneben finden wir mehrere Hinweise auf die Gesetze von Newton im Zusammenhang mit
dem Brustkorb von Ida:

„Das erste Newtonsche [njutensche] Gesetz, welches lautet: Ein jeder Körper verharrt im
Zustand der Ruhe, solange keine Kraftwirkung ihn veranlasst, seinen Zustand zu ändern
[bezieht sich auf Idas Rippen].” 3

1
Detken, S. 100
2
Döblin, S. 141
3
ebd, S. 139
3
Es gibt auch intertextuelle Elemente, die sich auf Brehms Tierleben beziehen:

„Es gehören noch die Fasanen zu den Hühnervögeln, und in Brehms Tier leben wird
vermerkt: Das Zwergsumpfhühnchen unterscheidet sich vom Bruchhühnchen abgesehen von
seiner geringen Größe dadurch, dass im Frühjahr beide Geschlechter ein annähernd gleiches
Kleid tragen.”4

Den wissenschaftlichen Diskurs ergänzen auch Passagen über die „Bedeutung der Fette für
die Ernährung”, die Banane als „die sauberste Frucht” 5 und die Warnung vor „entwertetem
Weißmehl”6 . In diesen Fällen werden wissenschaftliche Ergebnisse ironisch mit Werbung
verbindet.7

Döblin zitiert noch aus einem medizinischen Handbuch über die Ursachen der Impotenz:8

„Testifortan, geschütztes Warenzeichen Nr. 365 695, Sexualtherapeutikum nach Sanitätsrat


Dr. Magnus Hirschfeld und Dr. Bernhard Schapiro, Institut für Sexualwissenschaft, Berlin.
Die Hauptursachen der Impotenz sind: A. ungenügende Ladung durch Funktionsstörung der
innersekretorischen Drüsen; B. zu großer Widerstand durch überstarke psychische
Hemmungen, Erschöpfung des Erektionszentrums.”9

3.2 Antike Mythologie

Die antiken Helden und Figuren werden im Roman auf die Ebene der Großstadtmenschen
gestellt10, die Situationen und die Leute im modernen Berlin haben verschiedene
Gemeinsamkeiten mit antiken Mythen.

Zum Beispiel fühlt sich Franz Biberkopf von Erinnyen verfolgt, weil er seine Freundin
erschlagen hat:

4
ebd, S. 192
5
ebd, S. 239
6
ebd, S. 239
7
Detken, S. 101
8
Detken, S. 102
9
Döblin, S. 46
10
Detken, S. 105
4
„Harfenlos, wie es im Liede heißt, der Erinnyentanz, schlingen sich um das Opfer,
Wahnsinnsverstörung, Sinnesbetörung, Vorbereitung für die Klapsmühle.”11

Mythische Figuren können auch als Gegenbeispiel zu naturwissenschaftlichen Bezügen


dienen, zum Beispiel wenn die Erfindungen von Hertz und die Fackel bei der Rückkehr
Agamemnons miteinander verglichen werden. :

„Ganz anders die meldende Kienfackel bei der Rückkehr Agamemnons! Sie brennt, sie lodert,
in jedem Augenblick, an jedem Ort sagt sie, fühlt sie, und alles jauchzt darunter: Agamemnon
kommt! Tausend Menschen glühen an jedem Ort auf: Agamemnon kommt, und jetzt sind es
zehntausend, über dem Meerbusen hunderttausend.”12

Die antike Nachrichtenübermittlung per Signalfeuer veranlasst ihn zu einem Abschnitt über
die Telegraphentechnik, abgelöst von der Ermordung Agamemnons durch seine Frau. 13 Die
Mythologie wird also durch die Konfrontation mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
und Entdeckungen des technischen Zeitalters ironisiert.

3.3 Klassik

Klassische Zitate im Roman scheinen auch eine parodistische Funktion zu haben, wodurch die
bürgerliche Bildungsvorstellung ironisiert wird und einen „souveränen“ Umgang wird mit dem
Bildungserbe14 gezeigt.

„Schon unser großer Schiller spricht: ›Der Güter höchstes ist es nicht.‹ Ich aber sag: es
gleichtner Hühnerleiter, von oben bis unten und so weiter.«“15

„Sie trägt schon frei nach Schiller den Dolch im Gewande. Es ist zwar nur ein
Küchenmesser, aber dem Reinhold will sie eins für seine Gemeinheiten geben, wohin ist
egal.“16

Natürlich wird nicht nur Schiller, sondern auch Goethe zitiert, es ist nämlich eine Zeile des
Liedes Mignon von Goethe zu erkennen. Das Zitat wird logisch in den Text eingebunden:

11
ebd, S. 137
12
ebd, S. 141
13
Bruners, S. 4
14
Bruners, S. 18
15
Döblin, S. 125
16
ebd, S. 320
5
„Und wer den NSU-6-Zylinder selbst lenkt, ist begeistert. Dahin, dahin laß mich mit dir, du
mein Geliebter, ziehn.“

Dadurch wird die Montagencharakter wieder erkennbar, nämlich Reklame und


Klassikersprache, Aktuelles und Überliefertes, Großstadtleben und klassische Literatur
miteinander verbunden werden17.

In anderen Fällen ist die Inhalt eines Liedes wichtig, wie zum Beispiel das folgende
patriotische Lied von Uhland:

„Ich hatt einen Kameraden, einen bessern gibt es nicht. Ich muß ihn ansehen und immer
ansehen, es ist mir nichts wichtiger als dich ansehen. Die Welt ist aus Zucker und Dreck
gemacht, ich kann dich ruhig und ohne zu plinkern ansehn, ich weiß, wer du bist, ich treffe
dich hier, mein Junge, auf der Anklagebank, draußen treffe ich dich noch tausendmal, aber
davon wird mir das Herz noch lange nicht zu Stein.“18

Uhland wird aber nicht ironisiert, wie Schiller und Goethe, das Lied wird in diesem Fall ernst
genommen.

Andere Zitate, wie die Verwendung des Liedes „Wacht am Rhein“ dienen zur Äußerung Biberkopfs
Geisteszustand und seine Suche nach einem festen Punkt 19:

„Er sang mit so lauter Stimme, wie er im Gefängnis nie hätte singen dürfen. Und was er sang, dass es
von den Wänden widertönte? «Es braust ein Ruf wie Donnerhall.» Kriegerisch fest und markig.“ 20

Dieses Lied wird an einer anderen Stelle des Romans wieder aufgenommen. Biberkopf, der
nun „völkische Zeitungen“ verkauft, sitzt in einem Lokal, am Nebentisch sind einige
Kommunisten, die ihn zu provozieren versuchen21. Franz erinnert sich bei der Aufforderung
an seine Situation bei der Entlassung.

„Da hat er auf dem Hof gestanden, nun ist er zufrieden, daß er es gefunden hat, ihm ist es gleich,
wo er ist; jetzt ist er im Singen, es muß raus, das Lied muß er singen, die Juden sind da, die zanken
sich, wie hieß doch der Pole und der feine alte Herr; Zärtlichkeit, Dankbarkeit; er schmettert in
das Lokal: «Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall: Zum Rhein,
zum Rhein, zum deutschen Rhein, wir alle wollen Hüter sein! Lieb Vaterland, magst ruhig sein, lieb

17
Detken, S. 113
18
Döblin, S. 672
19
Bruners, S. 16
20
ebd, S. 18
21
Bruners, S. 16
6
Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein, fest steht und treu
die Wacht, die Wacht am Rhein.»“22

3.4 Biblische Zitate

Von größerer Bedeutung, als die Anspielungen auf die antike Mythologie und die Zitate der
klassischen Zeit sind die Zitate aus der Bibel. Im Roman gibt es zahlreiche Zitate aus der
Bibel und auch andere Texte, die mit der biblischen Welt verbunden sind, wie zum Beispiel
Kirchenlieder. Durch biblischen und allgemein christlichen Motive bekennt der Autor sich zu seiner
Verwurzelung im christlich–jüdischen Abendland, mit deren Zeugnissen er allerdings sehr frei
umgeht.23

Die Textstellen, die Adam und Eva aus dem Paradies betreffen, sind immer Hinweise auf die
naive Sehnsucht nach Ordnung von Franz, deshalb erscheinen sie in der ersten Hälfte des
Romans.24

„Und so hat Eva dem Adam den Apfel gegeben, und wäre der Apfel nicht vom Baum gefallen,
hätte Eva nicht rangelangt, und der Apfel wäre nicht an Adams Adresse gekommen.“25

Interessant ist es, wenn die Erzähler über die zwei Engel, Sarug und Terah, die über die
Schicksal von Franz beraten, selbst sagt, dass sie eigentlich nicht hierher gehören. Mit diesem
intertextuellen Bezug macht der Erzähler eine ironische Rechtfertigung26.

„Warum gehen zwei Engel neben Franz, und was ist das für ein Kinderspiel, wo gehen Engel
neben einem Menschen, zwei Engel am Alexanderplatz in Berlin 1928 neben einem
ehemaligen Tot schläger, jetzigen Einbrecher und Zuhälter.“27

Im Gegensatz zu den Paradieszitaten wird aber zum Beispiel Hiob nicht bruchstückhaft
montiert28, sondern es gibt ein ganzes Kapitel mit der Überschrift: „Gespräch mit Hiob, es
liegt an dir, Hiob, du willst nicht.“29 Dieses Kapitel steht zwischen den Schlachthofkapiteln,

22
ebd, S. 126
23
Bruners, S. 18
24
Detken, S. 126
25
ebd, S. 214
26
Detken, S. 127
27
ebd, S. 586
28
Detken, S. 127

29
ebd, S. 204
7
und dadurch werden der Bezug zum Opferthema und die Unterscheidung zwischen echtem
und falschem Opfer, also dem Selbstopfer und der Schlachtung deutlich gemacht.30

Auch die Geschichte von der Opferung Isaaks erscheint als durchgehender und sprachlich
einheitlicher Text: weder Geschichte von Biberkopf, noch Texte der Großstadt unterbrechen
ihn.31 Im Text wird aber in diesem Fall nicht deutlich auf Abraham und Isaak hingewiesen.

Zitate aus der Bibel sind nicht immer wortwörtlich in dem Roman zu finden. In manchen
Fällen ändert Döblin zum Beispiel das Personalpronomen und das Tempus, und damit gibt er
nicht nur einen Bibeltext wieder, sondern passt montierte Bibelzitate dem Kontext an.

„Die große Hure, die Hure Babylon, die da am Wasser sitzt. Und du siehst ein Weib sitzen
auf einem scharlachfarbenen Tier. Das Weib ist voll Namen der Lästerung und hat 7 Häupter
und 10 Hörner.“32

Leitmotivisch auftretend sind die Predigerzitate noch, wie zum Beispiel das Zitat von Salomo:

„Ein jegliches, ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine
Stunde.“33

3.5 Weitere intertextuelle Beziehungen

Neben den oben erwähnten literarischen Zitaten sind im Roman noch intertextuelle
Beziehungen mit nicht literarischen Texten zu finden, wie durch den gesamten Roman
ziehende Verwendung von Aufzählungen und Statistiken. Diese tragen stark zum Realismus der
Großstadtdarstellung in dem Roman bei34.

„Er bedeckt eine Fläche von 47,88 ha, gleich 187,50 Morgen, ohne die Bauten hinter der
Landsberger Allee hat das 27 083 492 Mark verschluckt, woran der Viehhof mit 7 Millionen
682 844 Mark, der Schlachthof mit 19 Millionen 410 648 Mark beteiligt ist.“35

30
Detken, S. 128
31
Detken, S. 129
32
ebd, S. 347
33
ebd, S. 512
34
Bruners, S. 17
35
ebd, S. 192
8
Mit diesen Statistiken macht Döblin die Stadt für die zeitgenössischen Leser erlebbar, nämlich
in dem 20. Jahrhundert sind die Zahlen, wie Bevölkerungsdichte, Bruttosozialprodukt,
Bruttoregistertonnen wichtig36.

Außerdem dienen noch Ausschnitte aus Börsenberichten, amtlichen Publikationen, Text- und
Annoncenseiten von Zeitungen, Geschäftsreklamen, Plakatwänden, Firmenprospekten,
Briefen von Sträflingen, Schlachthausstatistiken, Lokalnachrichten, Lexikonartikeln,
Operettenschlagern, Gassenhauern und Soldatenliedern, Wetterberichten, Berliner
Bevölkerungs- und Gesundheitstabellen, Nachrichten über sensationelle Zeitereignisse,
Polizeirapporten, Gerichtsverhandlungen, behördlichen Formularen zur Bild Berlins.

4. Rolle der intertextuellen Elemente im Roman

Die Aufzählung intertextueller Elemente im Berlin Alexanderplatz könnte noch unendlich


fortgesetzt werden, nämlich die Darstellung der dynamischen, modernen Stadt erfolgt durch
den Dynamismus der Motive. Nichts durfte isoliert dargestellt werden, in den Splittern der
Wirklichkeit sollte sich die räumliche und zeitliche Totalität des Weltgeschehens spiegeln, die
dargestellten Menschen sollten von der explosiven Bewegung ihrer Umwelt ergriffen sein.
Das Bild Berlins entsteht durch Montage und Collage zahlloser zu fälliger
Wirklichkeitsfetzen.37

Sowohl die wissenschaftlichen, als auch die biblischen, mythologischen Elemente, sowie die
Bezüge auf das klassische Bildungsgut weiten sich den Blick an einzelnen Stellen ins
Weltgeschichtliche und ins Kosmische. Die Technik der Montage intertextueller Elemente
ermöglicht den Simultanstil.38

Da in der Großstadt immer und überall alles da ist, reizt Döblin auch zu komischen
Kontrastwirkungen: Er erzeugt diese Komik, indem er die Ausschnitte aus dem Berliner
Betrieb zu einem absurden Mosaik zusammensetzt, so dass kosmetische Präparate für
Transvestiten neben erotische Kolportage, Helena neben eine Aufzählung von Hühnersorten,
ein Wortwechsel am Kiosk neben eine Rede des Reichskanzlers, ein Wetterbericht neben
einen Schlager zu stehen kommen. 39 Er gibt Sätze aus einem kitschigen Roman mit
Assoziationen in Klammern wieder und schafft damit ein witziges Gegenstück zu den
ekstatischen Lektüreerlebnissen von Jahnns Perrudja. Das Plakat eines Theaters provoziert ein

36
Bruners, S. 15
37
Jänsch (2007)
38
Jänsch zitiert Muschg.
39
Aygün, S. 3
9
Kabinettstück der Ironie, die Darstellung von Idas Ermordung mithilfe anatomischer Befunde
und Newtonscher Formeln macht sich über den Leser lustig, was auch sonst noch vorkommt.
Das futuristische Panorama wird zuletzt auch zum religiösen Welttheater. Das Heilige mischt
sich in das Profane, man spürt, dass auch ganz unheilige Episoden eine religiöse Bedeutung
haben.40

Diesem Aufbau entspricht die stilistische Vielschichtigkeit des Buches. Dass es so


überwältigend reich wirkt, rührt nicht zuletzt davon her, dass sich sein Thema in ganz
verschiedenen Spiegeln reflektiert.

5. Zusammenfassung, Schluss

Döblins einziger großer Erfolg, der Roman Berlin, Alexanderplatz, die Geschichte des
Transportarbeiters Franz Biberkopf, der aus der Strafanstalt Berlin-Tegel entlassen, als
ehrlicher Mann ins Leben zurückfinden möchte, ist der erste deutsche Großstadtroman von
literarischem Rang. Das Berlin der Zwanziger Jahre ist der Schauplatz des Geschehens.

In Döblins Montageroman „vermischen sich die sinnlos gewordenen Brocken der hohen
Literatur in tollem Wirbel mit allen möglichen sinnlosen Sprachfetzen, die aus dem Tumult
der Großstadtzivilisation ins Bewusstsein hineindröhnen, mit Reklameschlagzeilen und
Songs, mit Gassenhauern und albernen Kinderreimen“41

Das Besondere in dem Roman ist also, dass die traditionelle Form einfach zerbrochen wird,
um die Modernität des Großstadts Berlin, und die Handlung über Franz Biberkopf realistisch
darstellen zu können. Dazu dienen die verschiedenen intertextuellen Bezüge zur antiken,
biblischen, klassischen und wissenschaftlichen Welt. Der Kontrast oder die Parallele durch
Intertextualität wirken manchmal humorvoll, vor allem ermöglichen sie aber das Konstruieren
eines besonderen Romans mit einer besonderen Handlung.

In der Arbeit wurden nach dem Einstieg ins Thema verschiedene intertextuelle Elemente
beispielsweise aufgezählt, und ihre Rolle wurde analysiert. Wegen des Umfangs dieser Arbeit
konnte keine ausführliche Analyse verwirklicht werden, und die theoretische Einleitung über
Intertextualität sollte auch knapp zusammengefasst werden.

40
Döblin, S. 700
41
Meyer. S. 24
10
Für die zukünftige Forschungen wäre es empfehlenswert, eine breitere Übersicht über die
Intertextualitätsforschung darzubieten, die intertextuellen Bezüge im Roman ausführlicher zu
analysieren, mehrere Beispiele aufzuzählen und ihre Rolle gründlicher vorzustellen.

11
Quellen

Aygün, Mehmet (2000): Erzähltechnik und Sprache um Roman "Berlin Alexanderplatz"


Döblins. http://web.firat.edu.tr/sosyalbil/dergi/arsiv/cilt10/sayi1/001-010.pdf (20.07.2011)

Bruners, Jahn (1998): Das Zitat in der Literatur. Unter besonderer Berücksichtigung von
Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Seminararbeit, Universität Köln Institut für deutsche
Sprache und Literatur.

Barthes, Roland (2000): Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis (Hrsg.): Texte zur Theorie
der Autorschaft. Stuttgart.

Detken, Anke (1997): „Berlin Alexanderplatz" übersetzt: Ein multilingualer kontrastiver


Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht.

Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main,
Suhrkamp.

Jänsch, Mareike (2007): Erzähltechnik in 'Berlin Alexanderplatz' - Analyse einiger


ausgewählter Textpassagen. Hausarbeit, Universität Duisburg-Essen.

Kristeva, Julia (1972): Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In:
Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen
Basis der Literaturwissenschaft II. Hrsg. v. Jens Ihwe. Frankfurt/M., S. 345-375.

Meyer, Herman (1961): Das Zitat in der Erzählkunst. Stuttgart.

12

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