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Walter Benjamin und die Passagen

von Michael Kunz

1. Biographisches

Walter (Benedix Schönflies) Benjamin wurde am 15. Juli 1892 als Sohn eines Antiquitäten-
und Kunsthändlers in Berlin geboren. Benjamin wächst in einem großbürgerlichen, jüdisch-
assimilierten, Elternhaus auf. Nach dem Abitur1 im Jahre 1912 beginnt er ein Studium der
Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau, wechselt später nach
Berlin, wo er sich aktiv in der republikanischen „Freien Studentenschaft“ engagiert. Nach Be-
ginn des Ersten Weltkrieges setzt er sein Studium dann in München, später in Bern fort. Dort
trifft er u.a. auf den, später in beiden deutschen Staaten geehrten, Philosophen Ernst Bloch
(1885-1977) und den Schriftsteller Hugo Ball (1886-1927), welcher als einer der Mitbegrün-
der des Dadaismus gilt. In diese Zeit fällt auch der Beginn einer Freundschaft mit dem Zionis-
ten und späteren Religionshistoriker Gershom (Gerhard) Scholem (1897-1982), die Benjamin
ein Leben lang pflegen wird. Im Jahre 1919 promoviert Walter Benjamin über den „Begriff
der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ in Bern; ebenfalls 1919 schließt er die Ehe mit
Dora Kellner, aus der Sohn Raffael hervorgeht. Zu diesem Zeitpunkt noch immer auf eine
Universitätskarriere hoffend, beginnt er vier Jahre später mit seiner Habilitationsschrift Ur-
sprung des deutschen Trauerspiels. Nach deren Abschluss im Jahre 1925 legt er sie der Uni-
versität Frankfurt/Main vor, wo sie, nicht nur aus inhaltlichen Gründen2, sondern u.a., weil
Benjamins unkonventionelle Lebens- und Arbeitsweise mit den Normen der akademischen
Institution nicht vereinbar sei, abgelehnt wird (veröffentlicht dann 1928 unter selbigem Titel).
Fortan lebt er als freier Autor und Kritiker in Berlin und verfasst Essays zur klassischen und
modernen Literatur; es erscheint sein kunstkritischer Essay „Goethes
Wahlverwandtschaften“.
Bereits 1923 lernt er Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) kennen und kommt auf diese
Weise mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung in Kontakt. Es war seine Beziehung
zu der lettischen Regisseurin und bekennenden Kommunistin Asja Lacis (1891-1979), die er
1924 während einer Reise nach Capri kennen lernt, die zu einer Auseinandersetzung Benja-

1
Einer seiner Freude, bereits aus Schulzeiten, ist Ernst Schoen, der seit 1924 am Südwestdeutschen Rundfunk
tätig war.
2
Der Frankfurter Philosoph Hans Cornelius, der über die Habilitationsschrift bewerten sollte, wies jene mit der
Begründung der „unverständlichen Ausdrucksweise“ zurück (Schöttker 1999: S. 23 ff.). Im Übrigen war zum
damaligen Zeitpunkt Max Horkheimer Assistent bei Cornelius. Er sollte eine Zusammenfassung des Werkes
zu Zwecken der Rezension schreiben.

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mins mit dem Marxismus3 führte. Folgenreich auch die Bekanntschaft mit Bertold Brecht, der
ihm, ebenso wie Scholem, sein Leben lang verbunden blieb. Dessen politisch-kritisches Thea-
ter – es arbeitet mit Mitteln der Verfremdung – könnte Benjamin dazu bewegt haben, seine
Überlegungen auch politischer zu formulieren, wie es u.a. im Vor- und Nachwort des soge-
nannten Kunstwerkaufsatzes deutlich wird.
Benjamin schreibt in jener Zeit Essays und Literaturkritiken, vor allem für die „Literarische
Welt“ und die „Frankfurter Zeitung“. 1927-33 gestaltete er auch Rundfunksendungen, von de-
nen die meisten – sie waren sämtlich schriftlich ausgearbeitet – heute als verschollen gelten
können4. Ein Auskommen hat er als freier Autor, jedoch deuten die Ereignisse in den Jahren
1930-1932 (die begonnene und gescheiterte Liebesbeziehung zu Asja Lacis, die daraus fol-
gende Scheidung von Dora Benjamin und sich ergebende Unterhaltsverpflichtungen) bereits
eine persönliche Krise an. 1932 besucht er die Balearen, vor allem auf Ibiza verbringt er eini-
ge Monate. Sie scheinen auf ihn erholsam zu wirken5. 1933 kehrt Benjamin noch einmal zu-
rück, jetzt bereits aus seinem Pariser Exil, wohin er nach der Machtergreifung der Nationalso-
zialisten fliehen musste. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt auch
Selbstmordabsichten hegt6. Die Emigration nach Frankreich bedeutete den Wegfall einer Rei-
he von Arbeitsmöglichkeiten für Presse und Rundfunk, was der finanziellen Situation enorm
abträglich war. Ab 1934 eröffnet Max Horkheimer (1895 – 1973) ihm, unter Vermittlung
Theodor Adornos, die Mitarbeit für die Zeitschrift für Sozialforschung und damit auch für das
Institut für Sozialforschung, welches mittlerweile ebenfalls emigrierte und dessen Bestände
über Paris nach New York ausgelagert wurden. Es ermöglichte Benjamin, wenn auch gering,
so doch ein Auskommen zu haben. In Zeiten des Pariser Exils lernt er die Politologin Hannah
Arendt (1906 – 1975) und dem Komponisten Kurt Weill (1900 – 1950) kennen. Im Jahre
1936 erschien in jener Zeitschrift für Sozialforschung der vielzitierte Essay Das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erstmals vollständig: Suhrkamp,
Frankfurt/M. 1955).
Nach der Besetzung großer Teile Frankreichs 1940, darunter auch der Hauptstadt Paris, und
kurzzeitiger Internierung unter dem Vichy-Regime entschließt sich Walter Benjamin, in die
USA zu emigrieren. Der Versuch, über Spanien aus Frankreich zu fliehen, scheitert. Verge-
bens wartet er an der Grenze, bereits in Spanien, auf ein Ausreisevisum der französischen Be-

3
Dies mag einer der Gründe für einen längeren Aufenthalt (Wintermonate um die Jahreswende 1926/27) in
Moskau gewesen sein. Der Moskau-Besuch diente wohl eher dem Zweck, sich einen Eindruck von der noch
jungen Sowjetunion zu verschaffen. Außerdem bestand eine Möglichkeit, die Lacis wiederzusehen.
4
Vgl. dazu die Anmerkungen des Herausgebers der gesammelten Schriften. Tiedemann, Rolf (1983): Dialektik
im Stillstand. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 157
5
Yvonne-Patricia Alefeld: Passagen ins Exil. Walter Benjamin und Raoul Hausmann auf Ibiza.
6
ebenda: S. 2

2
hörden. In der Nacht vom 25. zum 26. September 1940 nimmt Walter Benjamin im spani-
schen Grenzort Port Bou, genauer im Hotel „Fonda Francia“, wo Benjamin sich mit anderen
Grenzgängern aufhielt, angesichts einer Rücküberstellung an die französische Seite und der
damit drohenden Auslieferung an die Gestapo, eine Überdosis Morphiumtabletten. Er stirbt
am Abend des 26. gegen 22.00 Uhr an den Folgen der Intoxikation und wird auf dem Friedhof
in Port Bou am 28. September beigesetzt (Ott: S. 311).

2. Das Passagenkonzept

Das Jahr 1786 kann als das Geburtsjahr, Paris als die Geburtsstadt der modernen Passage an-
gesehen werden. Es waren vertriebene Kaufleute, die von den dicht bewohnten und bebauten
Brücken über die Seine, die wegen ihrer Baufälligkeit kurzerhand gesperrt und teilweise ein-
gerissen wurden, ihr neues Quartier in den Arkaden und den neu entstandenen Wandelgängen
des Palais Royal in Paris bezogen (Mönninger 2005: 5; Geist 1969: 88). Das Palais stellt mit
seinen Gärten, Alleen, endlosen Galerien, Cafés, Theatern, Spielsälen, Clubs und Bordellen,
Läden und Wohnungen eine autarke Welt dar. Das Palais Royal ist der erste öffentliche und
vom Verkehr ungestörte Freiraum (auf Privatgrund) – ein Ort der Agitation, der Promenade,
ein Luxusmarkt und Ort des Amüsements in einem: das Modell der späteren Passage (nach
Geist 1969: 88).
Der Konflikt zwischen privilegierten und nichtprivilegierten Schichten, zwischen Adel und
Klerus einerseits und dem aufstrebenden Bürgertum als Dritter Stand andererseits, entwickelt
sich ab 1789 zu einer offenen Auseinandersetzung. In dieser Zeit (oder besser: ab dieser)
spielt die öffentliche Meinung eine immer größer werdende Rolle. Nach dem Ende der Fran-
zösischen Revolution, mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung und des Code Civil7
welcher die vorrevolutionären Ziele des Bürgertums umsetzt, wird nunmehr die Grundlage für
eine kapitalistische Wirtschaftsordnung auch in Frankreich geschaffen.
Im Umfeld des Palais sowie der angrenzenden Gebiete, entstehen ab dieser Zeit die ersten zu-
sammenhängenden Flächen, die nur dem Fußgänger zugänglich sind. Es war in Zeiten, da
kein einheitliches Trottoire existierte und der Verkehr, vor allem mit kleineren, schnellen Kut-
schen enorm zunahm, wo Unfälle an der Tagesordnung waren, von entschiedenem Vorteil,

7
Bestehend aus fünf Teilen, den Cinq Codes, die zwischen 1804 und 1810 in Kraft treten. Darin verankert sind
die Leitideen der Französischen Revolution, Liberté, Egalité, Fraternité, und – was wichtiger noch scheint für
die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen – die zugesicherte Eigentumsfreiheit.

3
trockenen Fußes und wohlbehalten seinen Geschäften nachgehen zu können. Unter anderem
auch daraus erklärt sich der Erfolg dieser „verkehrsberuhigten“ Zonen.
Die Passage war nie Gegenstand der Lehre und der Baugedanke wurde mehr im Anonymen
weitergetragen, etwa über Reisende oder dem Studium vor Ort (Geist 1969: 92). Die Passage
war (und ist) stets eine wirtschaftliche Unternehmung und Objekt der Spekulation. Einige die-
ser Bauwerke überdauerten einen langen Zeitraum, andere verschwinden bereits nach kurzer
Zeit wieder. Es spielen offensichtlich mehrere Faktoren eine Rolle, die darüber entscheiden,
ob eine Passage vom Publikum angenommen wird oder nicht.
Was sind nun Merkmale einer Passage? Johann F. Geist hat im Jahre 1969 ein Werk über
Passagen veröffentlicht8, welches wohl als eines der bislang umfassendsten zu diesem Thema
angesehen werden kann9. Nach Geist ist die Passage „[...] im baugeschichtlichen Zusammen-
hang zunächst nur Durchgang, Raum mit Anfang und Ende. Aber dieser Raum besitzt als
Hülle ein Gebäude, das sich verselbständigt, und seine Funktion differenziert sich. Der Be-
nutzer ist der Passant.“ (Geist 1969: 11). Ebenfalls liefert er eine Definition: „Mit dem Na-
men Passage bezeichnet man einen zwischen belebten Straßen hindurchgeführten, glasüber-
dachten Verbindungsgang, der gesäumt ist von Reihen einzelner Läden. [...] Die Passage ist
eine Organisationsform des Detailhandels. Sie ist das Angebot öffentlichen Raumes auf pri-
vatem Gelände und bietet [...] nur dem Fußgänger zugängliche Flächen. [...] Die Passage ist
Objekt der Bauspekulation. Ihr Florieren ist in hohem Maße abhängig von dem städtebauli-
chen Zusammenhang, in dem sie eingebettet ist. [...] Die Passage ist immer ein selbstständi-
ges Gebäude mit eigenem Grundstück. Das illusionistische Element der Passage ist der Pas-
sagenraum: gedachter Außenraum als Innenraum – ins Innere hineingezogene Fassade mit
Außenarchitektur. [...] Die drei Elemente, Glasdach, symmetrische Fassade und Laufebene
[...] grenzen den Bautyp Passage ab gegen alle parallelen Raumerscheinungen.“ (Geist 1969:
12).
Nach Geist muss die Passage außer dem eine Verkehrfunktion erfüllen, muss etwas verbin-
den, abkürzen, erschließen oder erleichtern. Sie sollte ein Kontaktglied sein zwischen einem
Straßensystem. Im Idealfall verbindet sie zwei in etwa gleich frequentierte Straßen (Geist
1969: 31).

8
Geist, Johann F. (1969): Passagen. Ein Bautyp des 19. Jh., München, Prestel-Verlag
9
Bestärkt wird dieser Eindruck, da es im Rahmen der Literaturrecherche wiederholt Erwähnung findet. Geist
nimmt in seinem Buch eine Katalogisierung von nicht weniger als 270(!) historischen Passagen vor.

4
3. Das Passagenwerk

Das Thema Großstadt und urbanes Leben wird verstärkt ab Mitte des 19. Jahrhunderts Thema
einer ganzen Reihe von Autoren. Die Linie beginnt bei Charles Baudelaire, Honoré de
Balzac und Emile Zola im Literarischen, weiter über die Wissenschaft mit Karl Marx und spä-
ter Emile Durkheim sowie Georg Simmel und setzt sich u.a. mit Walter Benjamin und Sieg-
fried Kracauer auch im 20. Jahrhundert fort. Gerade Benjamin widmet der Betrachtung groß-
städtischer Phänomene einen Großteil der Arbeit. Eines seiner Werke ist dabei das späterhin
als solches bezeichnete Passagenwerk, eine Schriftensammlung, entstanden zwischen 1927
und 1940, in der es unter anderem um eben diese Konsumarchitektur, die Passage, geht. Ge-
dacht als Materialsammlung für ein umfangreiches Werk über das 19. Jahrhundert, können le-
diglich zwei Exposés als abgeschlossen gelten. Für Benjamin von Interesse ist hier vor allem
das Verhältnis des Konsumenten zur Ware. Er beschreibt einen Typus des Passanten, der in
besonderer Weise ein ambivalentes Verhältnis zu dieser entwickelt: der Flaneur und mit ihm
das Spiel der Flanerie.
Nunmehr zu einem Kernstück des Werkes, dem essayistischen Aufsatz: Paris, die Hauptstadt
des XIX. Jahrhunderts. Er ist untergliedert in insgesamt 6 Abschnitte, die nachfolgend in kur-
zer Zusammenfassung, versehen mit einigen Anmerkungen, wiedergegeben werden sollen.
Folgt man den Bemerkungen des Herausgebers Rolf Tiedemann, so sollten die einzelnen Ab-
schnitte in diesem Essay den Kapiteln eines größeren Werkes entsprechen, das unvollendet
bleiben musste (Tiedemann 1983: 12 ff.). Es sind diese Abschnitte folglich tatsächlich als Ex-
posés zu verstehen:

I. Fourier oder die Passagen


Die Verwendung neuer Materialien erlaubt es, neue Wege innerhalb der Architektur, in Kon-
zeption und Ausführung, zu beschreiten. Vor allem Eisen- und Stahlkonstruktionen ermögli-
chen neue Perspektiven des Bauens. Sie werden zum Symbol des Fortschritts und zum Grund-
gerüst einer öffentlichen Architektur des 19. Jh., das sich in der Konstruktionen von Bahnhö-
fen, Fabrik- und Brückenbauten vielfach wiederfindet. Ebenfalls eine Neuerung des 19. Jahr-
hunderts, welche durch eben diese neuen Materialien begünstigt wird, sind die Passagen.
Es ist der florierende Textilhandel, welcher eine erste Bedingung für die Entstehung der Pas-
sage bietet. Andere Etablissements, wie die magasins de nouveautés, im Prinzip erste Formen
der späteren Warenhäuser, unterhalten jetzt ein Warenmagazin im Hause, was ein breites Mo-
mentan-Angebot sichern soll. Eine zweite Bedingung sind, wie oben bereits erwähnt, die An-

5
fänge und Forschritte des Eisenbaus. Erstmals in der Architektur findet mit dem Eisen ein
künstlicher Stoff Eingang in die Bautechnik (Benjamin 1982: 45).
„Die Passage ist ein Zentrum des Handels in Luxuswaren. In ihrer Ausstattung tritt die Kunst
in den Dienst des Kaufmanns.“ (ebd.: 45). Dies ist als Verweis auf den originären Zweck ei-
ner solchen Architektur zu verstehen: die Präsentation und Überhöhung der Ware sowie das
Verdecken ihres artifiziellen Ursprungs in neuem Gewand.
Bedenkt man den ideengeschichtlichen Hintergrund seiner Kritik, der dem marx’schen Den-
ken verpflichtet scheint, so erschließt sich auch die Metaphorik der „Wunschbilder“, wie sie
Benjamin nennt: das Neue verfügt sich mit dem Alten. Die neue Produktionsordnung jedoch,
und mit ihr die Herrschaft der Ware, bedeutet einen endgültigen Schritt in die neue Wirklich-
keit einer kapitalistischer Gesellschaft. Die „Wunschbilder“ sind demnach Utopien, an die
man die Erfüllung uralter Menschheitsträume knüpft. Benjamin nimmt hier Fourier auf, der
das Auftreten der Maschinen und das mechanische Prinzipien als Vorbereitung zur Vervoll-
kommnung des Menschen zu begreift. Die Gesellschaft wird jedoch nicht „besser“ – sie ver-
ändert sich lediglich – und ergibt sich den Bedingungen. Vulgärmarxistisch gesprochen be-
deutet dies: das Sein bestimmt das Bewusstsein. In ihren Wunschbildern versucht das Kollek-
tiv „[...] die Unfertigkeit der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie
zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich
gegen das Veraltete – das heißt aber: gegen das Jüngstveraltete – abzusetzen.“ (Benjamin
ebd.: 47). Nirgends wird dies deutlicher als im Strudel der Warenwirtschaft und in der Verklä-
rung des Produkts.

II. Daguerre oder die Panoramen


Dieser zweite Abschnitt des Exposés widmet sich verändernden Wahrnehmungs- und Darstel-
lungsweisen in Literatur und Kunst. Die begehbaren Rundbilder (Panoramen) versuchen die
Nachahmung der Natur durch technische Kunstgriffe zu erreichen und weisen dabei über die
Photographie auf den Tonfilm voraus. Sie sind künstliche Welten, ohne jedoch den Anspruch
zu erheben, Kunst sein zu wollen. Sie machen die Welt begehbar, auch wenn diese eine künst-
liche ist. Führt man die Linie weiter, so wird man den Cyberspace als das vorerst letzte Glied
in dieser Kette wahrnehmen wollen. Es sind die Panoramen, die eine Umwälzung im Verhält-
nisses von Kunst und Technik andeuten, auch Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, des Ver-
suchs, die gesamte Umwelt einzubeziehen. Dieser Wunsch treibt auch den Flaneur an.
„Die Photographie war künstlerisch der Portraitmalerei überlegen.“ konstatiert Benjamin
und fügt an: „Der technische Grund dafür liegt in der langen Belichtungszeit, die die höchste

6
Konzentration des Portraitierten erfordert. Der gesellschaftliche Grund dafür liegt in dem
Umstand, dass die ersten Photographen der Avantgarde angehörten und ihre Kundschaft zum
großen Teil aus ihr kam.“ (Benjamin 1982: 49). Der Akt des Photographierens ist rein artifi-
ziell und kehrt die Prinzipien eines künstlerischen Schaffensprozesses geradewegs um. Nach
der Daguerreotypie macht die Frage nach dem „echten Abzug“ keinen Sinn mehr, oder wie
Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
zierbarkeit schreibt: „Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Re-
produktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerkes.“ (Benjamin 1955: 17).

III. Grandville oder die Weltausstellungen


Hier geht Benjamin nochmals auf den Fetischcharakter der Ware ein. Es sind die Weltausstel-
lungen, die zu „Wallfahrtsstätten“ des Fetisch Ware werden. „Weltausstellungen verklären
den Tauschwert der Waren.“ (Benjamin 1982: 50). Der Gebrauchswert der Waren trete dabei
in den Hintergrund. Es ist die Arbeiterschaft, die als Kunde im Vordergrund steht. Die Ver-
kaufsschauen „[...] eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zer-
streuen zu lassen [...]. Die Inthronisierung der Ware und der sie umgebende Glanz der Zer-
streuung ist das geheime Thema von Grandvilles Kunst.“ (ebd.: a.a.O.). Deutlich wird dies in
der Bezeichnung der Waren als “Spezialitäten” und in verschiedenen, sich rasch ablösenden
Modeerscheinungen. Diese schreiben das „Ritual“ der Warenverehrung vor und dehnen ihren
Anspruch auf sämtliche Lebensbereiche aus.

IV. Louis Philippe oder das Interieur


Das Interieur, die Ausstattung des zumeist privaten Raums, ist der nächste Gegenstand einer
Betrachtung. Der Privatmann konstruiert sich den Privatraum als Gegensatz zur Arbeitsstätte.
Waren diese in der Vergangenheit noch kaum voneinander zu trennen, so wird im 19. Jh. das
Private geradewegs zu einem Inbegriff der Bürgerlichkeit. Auch hier entspringen Phantasma-
gorien10, die im Jugendstil des ausgehenden 19. Jh., der zwar gleichzeitig eine Erschütterung
des Interieurs bedeutet11, ihren Höhepunkt finden. Das Interieur stellt „[...] für den Privat-
mann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit.“ (ebd.:
52). Der Sammler ist der Nutzer des Interieurs. Auch er unternimmt den Versuch der Verklä-
rung des Objektes. Indem er sie besitzt, versucht er den Warencharakter von den Dingen „ab-

10
Trugbilder, Wunschbilder.
11
Die Innerlichkeit wird hier auf’s äußerste betrieben. Der Versuch, sich von allem bisherigen Dekor und damit
auch Interieur abzusetzen, ist auch der letzte, sich der Technik zu entziehen.

7
zustreifen“; sie bedürfen keinerlei Nützlichkeit mehr. Sie sind die Spuren des Wohnenden –
im Interieur eingeschrieben.

V. Baudelaire oder die Straßen von Paris


Mit Baudelaire betritt eine Figur den Schauplatz der Geschichte, die einen äußert ambivalen-
ten Zugang zu den Phänomen dieser Epoche hat – die Figur des Flaneurs. Erstmals wird die
Stadt als solche mit all ihren Fassetten auch Gegenstand der Lyrik. Es sind Allegorien, die die
Stadt beschreiben und die helfen, sie mit dem Blick eines Entfremdeden neu zu ergründen.
Der Flaneur steht noch auf der Schwelle – als Staunender dem Großstadtmenschen und der
Warenwelt in all ihrer Massenhaftigkeit gegenüber. Sehr schön beschreibt Benjamin den
Blick des Flaneurs, wie folgt: „Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur
die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube.“
(ebd.: 54). Es zieht der Flaneur nach dem Markte, um ihn zu betrachten, wie er meint – nur
ahnend, dass er so bereits involviert ist, denn auch die ablehnende Haltung ist bereits Positio-
nierung und damit Auseinandersetzung mit der Ware. Er aber genießt noch die Gabe des Stau-
nens und ein Gespür für die Zweideutigkeiten, die den Verhältnissen und Erzeugnissen dieser
Epoche eigen ist. Sie offenbar werden zu lassen, bevor auch er in den Sog der Traumbilder
gerät, das ist der Verdienst des Flaneurs. Baudelaire saugt das gesellschaftliche Substrat in
seiner Dichtung auf und jene „totenhaften Idyllik“ (ebd.: 55) verweist mit Schwermut, jedoch
ohne romantische Verklärung auf das „Jüngstvergangene“, das Morbide, welches der neues-
ten Mode und Ware bereits eingeschrieben scheint. Dementsprechend stellt Benjamin fest:
„Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. Es ist der Ursprung
des Scheins, der den Bildern unveräußerlich ist, die das kollektive Unbewusste hervorbringt.“
(ebd.: a.a.O.). Eine Kunst, die nicht mehr die ihr zugedachte Aufgabe ausüben will, die ver-
sucht, sich der Anbiederung des Marktes zu entziehen, die kritisch bleiben will, um nicht nur
nützlich zu erscheinen, muss die Ambivalenzen des Neuen suchen und diese, wie er weiterhin
bemerkt, „[...] zu ihrem obersten Wert machen.“ (ebd.: 55).
Die Konzeption des „Gesamtkunstwerkes“ ist eine Antwort auf die Avancen des Marktes, die
auf Reproduzierbarkeit und damit auf Beliebigkeit abzielen. Es dient der Einkapselung und
„Abdichtung“ der Kunst gegen die Technik. Indem es allerdings weihevoll zelebriert wird,
stellt es nur ein Pendant zur „Zerstreuung“ dar, welche die Ware (oder besser ihren Ge-
brauchswert) verklärt.

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VI. Haussmann oder die Barrikaden
Ein Ausdruck bürgerlichen Selbstverständnisses schlägt sich, neben dem Interieur, ebenfalls
in der Architektur nieder. Baron Haussmann12 lässt in seiner Amtszeit große Teile der alten
Pariser Innenstadt abreißen, um sie mit weiten Fluchten breiter Straßen und bürgerlicher Ar-
chitekturen zu durchziehen. Das feierliche Zeremoniell ihrer Fertigstellung mag noch einem
imperialen Denken verpflichtet sein. Aber diese Neubebauungen bleiben ebenfalls Wunsch-
bilder, die sich dem Geist des Kapitalismus verdanken. Paris erlebt in dieser Zeit eine Hoch-
blüte der Spekulation. Die Mietpreise explodieren und vertreiben das Proletariat in die soge-
nannten faubourgs. Das Börsenspiel, die kalkulierte Profitmehrung, drängt das Hasardspiel13
zurück. Dies gesamte Physiognomie der Stadt verändert sich. Solche Unternehmungen be-
günstigten im übrigen auch die Verbreitung des Passagenmodells. Indessen entfremdet sich
die Stadt den Parisern zusehens und der wahre Charakter, nämlich fortan in einer Welt der
Künstlichkeiten leben zu müssen, offenbart sich. Haussmanns eigentliches Anliegen war es
indessen gewesen, die Gefahren eines Bürgerkrieges zu verhindern, den Barrikadenbau un-
möglich zu machen – was nicht ausnahmslos gelang, wie die Ereignisse des April/Mai 1871
zeigen sollten. Die Pariser Kommune beendet die Vorstellung, das Proletariat vollende das
Werk von 1789 „Hand in Hand mit der Bourgeoisie“ (ebd.: 58). Der Klassenkonflikt tritt
nunmehr offen zutage, oder wie Benjamin resümierend bemerkt: „Die Entwicklung der Pro-
duktivkräfte legte die Wunschsymbole (und die damit verbundenen Utopien, die sich mit der
Moderne verbanden; Anm.: M.K.) des vorigen Jahrhunderts in Trümmern noch ehe die sie
darstellenden Monumente zerfallen waren.“ (ebd.: 59). Die Ingenieurskunst, die Naturwieder-
gabe als Photographie, Dichtung in Form des Feuilleton – all jene Innovationen finden sich
recht schnell in einem Kreislauf der Waren wieder. Es ist dies die Zeit der Passagen und Pan-
oramen, die letztendlich Phantasmagorien bleiben und die Rückstände einer Traumwelt dar-
stellen, jenseits aller Euphorie, welche sie am Anfang des Jahrhunderts noch beschworen
(etwa bei Fourier).
Im dialektischen Denken, so das Anliegen Walter Benjamins, sollten diese Traumelemente im
Moment des Erwachens Verwendung finden. Dies sei der Schulfall dialektischen Denkens
(ebd.: 59).

12
Georges Eugène Baron von Haussmann (1809-91), französischer Staatsbeamter, unter Napoleon III. Präfekt
von Paris.
13
Glücksspiel (franz. von „hasard“), mit dem Risiko verbunden, auch alles zu verlieren.

9
4. Der Flaneur und die Flanerie

Mit den Boulevards entstehen auch die Ladenstraßen, die sich später zu weitläufigen „Fußsys-
temen“ zusammenschließen. In ihnen sind die Passagen eingebunden. Die Möglichkeit, nun-
mehr ausgedehnte Spaziergängen zu unternehmen und die neuen, reichhaltigen Warenausla-
gen laden geradezu zu müßigem Umherschlendern ein14. Gleichzeitig entwickelt sich diese
Straßen zur, wie Benjamin schreibt, „Wohnung des Kollektivs“ und es war “[...]die Passage
der Salon. Mehr als an jeder andern Stelle gibt die Straße sich in ihr als das möblierte, aus-
gewohnte Interieur der Massen zu erkennen.“ (Benjamin 1982: 1052).
Das angebotenen Gegenstände sind aufgrund ihrer Massenhaftigkeit jedem vertraut und könn-
ten praktisch tatsächlich in jeder Wohnung vorkommen. Sie wiederzutreffen in den Durch-
gängen, wo sie zum Zwecke der Exposition bis in die Passagenräume getragen werden, mag
tatsächlich das Vertraute einer „Wohnzimmeratmosphäre“ haben.
Veränderungen und Neuerungen, die es täglich zu erschauen gilt, eben jene „Exotik des All-
tags“, (Kracauer 1963: Einleitung), werden vom Flaneur registriert. Exotisch werden die Ge-
genstände und Architekturen erst, wenn man zu ihnen eine Distanz entwickelt. Und genau
dies versucht der Flaneur.
Die Motive des Flaneurs sind dabei sehr verschiedene. Es ist lediglich die oben beschriebene
Methode, die allen gemeinsam ist. Wird der eine zum Flaneur, um sich den unverdorbenen
Blick aus Kindheitstagen oder den eines Fremden zu bewahren und aus diesem Grunde sich
die notwendige Abgrenzung verschafft, so gilt dem anderen den wahren Charakter der Ware
offen zu legen. Im Verfall der Konsumarchitektur, in der offenkundig gewordenen Nutzlosig-
keit liegengebliebener Utensilien spiegelt sich der Geist des Konsumismus. Gerade der „ge-
wohnte Blick“ lässt den Konsumenten schlafwandlerisch über dem „Grund“ der Dinge hin-
wegschweben. Der Flaneur hingegen sieht in dem Neuen und Lebendigen bereits das Verge-
hende und Verfallende. Daraus ergibt sich auch eine gewisse Beziehungslosigkeit zu all den
Dingen, die zwar mit Begierde erschaut werden, doch nur um des Entdeckens willen. Einen
materiellen Wert besitzen sie für den Flaneur kaum – mitunter vielleicht einen Erinnerungs-
wert. Die Flanerie wird ihnen zum Zwang. „Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel
durch Straßen marschierte. [...] immer geringer werden die Verführungen der Bistros, der

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Der Langsamkeit und dem Müßiggang wurde dabei demonstrativ gehuldigt: so galt es beispielsweise dem
Dandy, als der englischen Variante des Flaneurs, elegant, beim Schlendern eine Schildkröte mit sich zu führen.
Dandy [engl.]: Modenarr, Geck. Das Dandytum entwickelte sich in England seit 1815 aus einer Clique extra-
vaganter Adliger unter Führung des aus dem Bürgertum stammenden G.B. Brummell (Brockhaus Multimedia
2002).

10
Läden, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Stra-
ßenecke, eines fernen Platzes im Nebel [...]“ (Benjamin 1982: 1053).

4.1. Der Flaneur Benjamin

Der benjamin’sche Typus des Flaneurs ist keineswegs ein unpolitischer und weltvergessener
Mensch. Für ihn ist die Flanerie Mittel zur Erkenntnis. Was nun ist das Anliegen dieses Lite-
raten, Soziologen und Philosophen, der selbst zum Flaneur wird? Den größten Teil seines Le-
bens verbringt er in Großstädten. Die Kindheit in Berlin, die Studienzeit in Freiburg, Mün-
chen, Bern und auch wieder in Berlin. Die Emigration führt dann nach Paris. Eine Antwort
ließe sich vielleicht im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-
barkeit finden: der Verlust der Aura. Inwiefern könnte dieser Aufsatz einen Beitrag zur Be-
trachtung der Konsumarchitektur, wie sie Passagen zweifelsohne sind, erbringen, was hat der
Verlust der „Aura“ mit dem Flanieren zu tun? Der Gang durch eine Passage ist für den
Passanten ein Gang durch eine Kulisse von Reproduktionen aller Couleur. Angefangen bei
Duplikationen bekannter Kunstwerke quer durch alle Epochen im Postkartenformat oder als
Schreibtischgarnitur bis hin zur Adaption antiker Architekturen und Vorbilder in Form von
Säulen, Arkaden und Figürchen, oftmals schlicht in Eisen gegossen. Die Massenhaftigkeit,
Beliebigkeit und Schnelllebigkeit der Konsumkultur ist es, auf die Benjamin aufmerksam ma-
chen will. Dieser Charakter offenbart sich, wie bereits festgestellt, am Verfallenden: die Wa-
ren fristen, wenn die Auslagen nicht mehr ständig erneuert werden (können), ihr Dasein in
den Passagen und wirken nach einiger Zeit eher befremdlich. Es ist ein ambivalentes Bild:
Der Sozialwissenschaftler und Marxist Benjamin will einerseits den Fetisch-Charakter der
Ware hervorheben und macht an dieser Stelle überdeutlich auf den Entfremdungseffekt zwi-
schen Konsumenten und Ware aufmerksam, zum anderen scheint der Verfall dem Kunstver-
ständigen und Ästheten Benjamin ein wahres „Vanitas-Gefühl“ zu vermitteln – der morbide
Charme einer zerbröckelnden Kulisse. Oft taucht auch das Motiv der Traumbilder auf: für
Benjamin ist der „letzte Dinosaurier“, wie er den Konsumenten auch nennt, ein Träumender,
der in seiner Traumwelt, in seinem Lebensstrom (A. Schütz) gefangen scheint. Der Flaneur
montiert nun die dialektischen Erscheinungen in dieser bunten Welt zueinander und offenbart
auf diese Weise die paradoxen Verhältnisse, die dort vorherrschen.

11
4.2. Postmoderne Flanerie?

An dieser Stelle soll die Gegenwart im Mittelpunkt stehen. Jem Cohen, amerikanischer Filme-
macher, soll folgendes über den modernen Flaneur gesagt haben: „Die Collage, das Herum-
stehen an Straßenecken, sich selbst in der Stadt zu verlieren, Abfallprodukte der Kommerzia-
lisierung und Orte wie Einkaufszentren genau zu betrachten, ist der faszinierende Versuch,
das heterogene Bild einer modernen Welt von Einkaufsmärkten, Hotels oder Flughäfen zu
entwerfen und zugleich in diese kühle, austauschbare Corporate World Fragmente und Spu-
ren lebendiger, erzählerischer Geschichte einzuschreiben.“15 Was bezeichnet diesen Typus
vom Flaneur der Moderne? Die Antwort ist im Zitat bereits enthalten: der Flaneur sieht sich
zunehmend mit einer komplexen, jedoch austauschbaren Umgebung konfrontiert, welche auf-
hört „typisch“ zu wirken. Die beiden Sozialwissenschaftler Udo Göttlich und Rainer Winter
untersuchten die Wirkung des neu entstandenen Potsdamer Platzes in Berlin hinsichtlich der
Investorenschaft, der Handelsstruktur und der Besucher. Sie kommen zu dem Ergebnis: „Die
privatwirtschaftliche Umgestaltung [...] lies einen Ort entstehen, der von Unternehmen er-
schlossen, genutzt und auch kontrolliert wird. Unliebsame Personen oder auch Gruppen kön-
nen jederzeit ferngehalten, störende Ereignisse verhindert oder aber [...] auch ganz gezielt
dort veranstaltet werden.“ Der Potsdamer Platz erfülle damit alle Kriterien einer amerikani-
schen Entertainment Hall. (Göttlich/Winter 2004: 94). An dieser Stelle finden Inklusions- und
Exklusionsprozesse statt. Der Konsument, sofern er als solcher fungiert, wird in den Raum
einbezogen, fast eingebunden, wohingegen der Flaneur aufgrund seines „Nichtfunktionierens“
(mehr oder minder) höflich ausgeschlossen bleibt. Diese Kommerzialisierung des öffentlichen
Raums ist keineswegs eine Randerscheinung, denn ähnlich wie der Potsdamer Platz wurden
vielerorts große innenstädtische Gebiete unter privater Regie „saniert“. Als Beispiel wäre
Zwickau anzuführen, wo ein Investorenkreis16 ganze Straßenzüge aufgekauft, rekonstruiert
und vermarktet hat.
Wo wäre denn der Unterschied zu suchen zwischen der Neubebauung des Potsdamer Platzes
und der Neugestaltung der Stadt Paris durch Baron Haussmann im 19. Jahrhundert? Letztere
stellte eine Entwicklung dar, die von (bürgerlichen) Bevölkerungsteilen mitgetragen und be-
grüßt wurde und aus ihr spricht noch der Geist des Palais Royal. Die Planung des Potsdamer
Platzes hingegen nimmt auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht und hat aus diesem
Grunde auch Legitimitätsprobleme innerhalb der Bevölkerung. Die rein konsumorientierte

15
Es handelt sich um ein Zitat, welches einer Internetseite entnommen wurde. Die Authentizität kann nicht be-
stätigt werden. Nichtsdestotrotz beschreibt es recht schön den Versuch moderner Flanerie und ist daher mit
einbezogen (http://www.fdk-berlin.de/arsenal/text2005/05benjamin.html).
16
Unter der Regie des bekennenden Scientologen Kurt Fliegerbauer.

12
und von Konsortien kontrollierte Bebauung verhindert den öffentlichen Raum, den er eigent-
lich darstellen soll. Private Wachdienste verhindern sämtliche Bewegungen, die der Ge-
schäftsidee zuwiderlaufen. Eine solch allumfassende Inszenierung verhindert die Figur des
Flaneurs und degradiert ihn zu einem Relikt des letzten Jahrhunderts.
Ein weiteres Hindernis, welchem sich der Flaneur in der postmodernen Gesellschaft gegen-
über sieht, ist die fehlende Möglichkeit der Kontemplation und Abgrenzung. Es besteht die
Tendenz, jede Entwicklung unterschiedslos zu assimilieren und als (vielleicht verquerten)
„Zeitgeist“ wieder hervorzubringen. Die Postmoderne betreibt dies mit aller Konsequenz und
unterbindet somit fast jeden Versuch, eine äußere Position zu beziehen17. War es noch mög-
lich, Paris aufgrund vieler Eigenheiten als die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts zu bezeich-
nen (Benjamin), so dürfte der Versuch scheitern, eine solche für das XXI. zu küren.

_________________________________
Literatur:

Benjamin, Walter (2003 [1955]): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-
barkeit. Drei Studien zur Kultursoziologie. Edition Suhrkamp: Sonderausgabe. Frankfurt/M.,
Suhrkamp Verlag

Benjamin, Walter (1972): Beroliniana. München/Berlin, Koehler & Amelang Verlagsgesell-


schaft mbH

Benjamin, Walter (1982): Gesammelte Schriften Band V.1. Das Passagenwerk. Fünfter Band.
Erster Teilband. Herausgegeben von Rolf Tiedemann; Frankfurt/M., Suhrkamp Verlag

Benjamin, Walter (1982): Gesammelte Schriften Band V.2. Das Passagenwerk. Fünfter Band.
Zweiter Teilband. Herausgegeben von Rolf Tiedemann; Frankfurt/M., Suhrkamp Verlag

Garber, Klaus (1992): Zum Bilde Walter Benjamins: Studien, Portraits, Kritiken. München,
Fink 1992

Geist, Johann Friedrich (1969): Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts. Studien zur Kunst
des 19. Jahrhunderts. Band 5. München, Prestel-Verlag

Göttlich, Udo; Winter, Rainer (2004): Postfordistische Artikulation von Stadtarchitektur,


Konsum und Medien. In: Fischer, Joachim; Makropoulos, Michael (Hrsg.): Potsdamer Platz.
Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München 2004

17
Selbst Protestkulturen (Hippies/Punks etc.) werden, soweit möglich, assimiliert und vermarktet. Zumindest
bezieht sich das auf äußere Erscheinungsformen. Diese werden dann tatsächlich wieder zu „Formen-Angebo-
ten“, die man sich beliebig ausfüllen kann.

13
Kramer, Sven (2003): Walter Benjamin. Zur Einführung. zweite, unveränderte Auflage,
Hamburg, Junius Verlag

Schöttker, Detlev (1999): Konstruktiver Fragmatismus: Form und Rezeption der Schriften
Walter Benjamins. Frankfurt/M., Suhrkamp

Tiedemann, Rolf (1983): Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins.
Frankfurt/M., Suhrkamp

Internet:

Seite der Internationalen Walter Benjamin Gesellschaft. www.iwbg.uni-duesseldorf.de


(Stand: 04.10.2004)

Mönninger, Michael (o.J.): Paris. Das Geheimnis der Nr. 9. Die Passagen von Paris sind
Brücken über den Fluss der Zeit. Sie führen von einem seltsamen Erinnerungsort zu nächsten.
http://www.laostagebuch.net/04_09_06.html (Stand: 26.04.2005)

Yvonne-Patricia Alefeld: Passagen ins Exil. Walter Benjamin und Raoul Hausmann auf Ibiza.
pdf-Datei. www.iwbg.uni-duesseldorf/alefeld/pdf.de (Stand: 14.10.2004)

vgl. ferner auch: http://www.fdk-berlin.de/arsenal/text2005/05benjamin.html (Stand:


14.10.2004)

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