Sie sind auf Seite 1von 21

X. Der dämonische Deutsche.

Grundlagen und Wandlungen


von Thomas Manns Lutherbild

Eines der interessantesten Luther-Projekte der modernen Literatur ist leider über blo-
ße Vorarbeit nicht hinausgekommen: Thomas Manns später Dramenplan mit dem Ar-
beitstitel Luthers Hochzeit. Leistung und Grenze dieses gewagten Entwurfs des großen
Epikers und Essayisten für ein historisches Theaterspiel – ein zweiter Versuch, fast ein
halbes Jahrhundert später als sein erster, das Drama Fiorenza – können am besten in
der Weise abgewogen werden, dass man ihn vor den Hintergrund von Thomas Manns
Lutherbild stellt, dessen Zeugnisse von den Betrachtungen eines Unpolitischen bis zum
Roman Doktor Faustus und den Essays in dessen Umkreis reichen. Und umgekehrt: Die
Probleme des Autors mit Luthers Hochzeit, seinem letzten literarischen Projekt, werfen
ein Licht zurück auf die ebenso problematische wie prägnante Art, in der er sich in frü-
heren Werken mit Martin Luther auseinandergesetzt hatte, den er konstant in Verbin-
dung mit seinem ›Deutschsein‹ und dessen ›Dämonie‹ betrachtete.

1. Die Betrachtungen eines Unpolitischen und Richard Wagners


Luther-Projekt
Diese Verbindung steht bereits im Zentrum des Lutherbildes, das Thomas Mann in den
Betrachtungen eines Unpolitischen entworfen hat, jenem unförmigen und fatalen Kom-
pendium nationaler Mythen, das er im Ersten Weltkrieg gegen seinen aufgeklärteren
Bruder Heinrich, den ›Zivilisationsliteraten‹, schrieb und in dem er sich in die Ideologie
eines deutschen Wesens hineinsponn. Das war also zwar ein Buch der Gegenaufklärung,
aber zugleich führt es auf exemplarische Weise mit seinen immer neuen Anläufen das
typische Dilemma des intellektuellen Konservatismus vor: den liberalen Gegner mit
dessen eigenen Waffen bekämpfen zu müssen. Nicht selten ergibt das glänzende es-
sayistische Passagen. Indem Thomas Mann die widersprüchliche Rolle eines geradezu
militant Unpolitischen einnahm, fand er neben anderen Eideshelfern auch in Luther
einen Gleichgesinnten, der ebenfalls ein »ausgemacht unpolitischer Mensch« gewesen
sei.1 1918 kam dann das Nietzschebuch seines Freundes Ernst Bertram heraus, das mit
vielen Luther-Bezügen durchsetzt ist, und im gleichen Jahr bestellte er sich bei einem
Münchner Bildhauer nach einer eigenen auch noch eine Luther-Büste »in Eisen« für
sein Zimmer.2
In seinen Betrachtungen, die Ende 1918 erschienen, tritt Luther als eine seiner na-
tionalen Symbolfiguren auf, wobei er von wilhelminischen Geschichtsschreibern die
beliebte Namenreihe Luther – Goethe – Bismarck übernahm (XII 239). Zwei weitere
Impulse übernahm er von Nietzsche: das Interesse an der biographischen Episode der

N. Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen,


DOI 10.1007/978-3-476-05617-7_11, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart
192 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

Romreise Luthers und die Idee eines Luther-Dramas, wie es bereits Richard Wagner ent-
worfen hatte. Wie Nietzsche und Strindberg sann er nach über »das deutsche Ereignis
›Luther in Rom‹« (XII 46,514),3 dem bereits Levin Schücking einen umfangreichen Ro-
man gewidmet hatte. Dieses »Ereignis« – in Wirklichkeit nur eine marginale Episode
– empfahl sich in seinen Augen besonders gut für eine Konfrontation von deutschem
und romanischem und für eine Identifikation von deutschem und konservativem Geist.
Denn genau so hatte es Nietzsche ihm vorinterpretiert, allerdings kritisch, nach Art des
›Zivilisationsliteraten‹, was also besser zu verdrängen war.
Im Kriegs- und Lutherjahr 1917 wünschte er sich, als Gegenstück zu Heinrich Manns
erfolgreichem historisch-politischen Schauspiel Madame Legros von 1913, das in einer
weiblichen Hauptfigur die Französische Revolution verherrlicht, »ein Luther-Drama,
heute aufgeführt in Paris«.4 Dies mag eine frühe Keimzelle zum späten Plan eines eige-
nen Luther-Dramas sein. Das in der Hauptstadt des ›Erzfeinds‹ zu spielende Drama –
so Thomas Manns ›kulturimperialistischer‹ Wunschtraum – sollte, wie nach Nietzsches
Urteil, auf das Mann wiederholt Bezug genommen hat (z. B. XII 644), schon Wagners
Meistersinger, natürlich »das Deutsche gegen das Französische« im Sinne von Kultur
vs. Zivilisation geltend machen.5 Jedoch geht Thomas Manns Idee von 1917 zu einem
Luther-Drama, wie dann fast vierzig Jahre später auch sein Entwurf Luthers Hochzeit,
wahrscheinlich ganz unmittelbar auf Wagner zurück, nämlich auf dessen eigenen Ent-
wurf eines Musikdramas über Luthers Hochzeit.6
Hiervon hatte er schon früh durch Nietzsche Kenntnis,7 wenn auch mit dessen in Rela-
tion zu den Meistersingern falscher Datierung (X 798), die sich in der Thomas-Mann-Li-
teratur zäh festgesetzt hat. Die Meistersinger konnten nicht, wie Nietzsche schrieb, an die
Stelle des Lutherplans treten, und dieser konnte nicht, wie Thomas Mann meinte, in jene
eingehen, denn er wurde erst konzipiert, als Die Meistersinger längst aufgeführt waren.
Wagners in Wartburg- und Minneromantik schwelgender Entwurf steht vor dem Hin-
tergrund einer nationalen Kulturideologie, mit der das deutsche Bürgertum damals die
prosaische Reichsgründung poetisch verklärte. An deren Gespinst strickte auch er selbst
emsig mit und fügte ihm, als Eigenleistung, eine Verbindung von Musikalität, Deutsch-
tum und Protestantismus ein (XII 319 f.). In diesem Gedankengespinst haben sich, ihm
folgend, später auch seine sonst durchaus kritikfähigen Verehrer Nietzsche und Thomas
Mann verstrickt. Dieser versuchte sich dann erst in den Exiljahren langsam daraus zu
befreien und hat Wagners Entwurf entsprechend kritischer gesehen als zur Zeit der Be-
trachtungen.
Als Wagner den Plan für ein Werk über Luthers Hochzeit entwarf, hatte er sich, bewegt
von der nationalen Welle der sechziger Jahre, von seiner junghegelianischen Christen-
tumskritik in den Spuren Feuerbachs und Ruges und von seiner katholisierenden Phase
in den Spuren Schopenhauers und Liszts abgewendet und dem Protestantismus ange-
nähert. Er kehrte einen entschieden lutherischen Standpunkt hervor, deutete nicht nur
Bach, sondern auch Beethoven, der Katholik war, als Schöpfer deutsch-protestantischer
Musik und verwendete in seinem Kaisermarsch programmatisch das Lutherlied Ein feste
Burg wie in den Meistersingern das Luther-Lobgedicht Die wittenbergisch Nachtigall von
Hans Sachs. 1870 behauptete er sogar, dass »nur Luthers herrlicher Choral den gesunden
Geist der Reformation rettete«.8 Er bewegte seine Frau Cosima dazu, zum Protestantis-
mus überzutreten, und sie wurde dann eine glühende Lutherverehrerin und gab gleich-
zeitig den Bayreuther Festspielen jenen nationalistischen Anstrich, der sie schließlich zu
dem werden ließ, was Thomas Mann »Hitlers Hoftheater« nannte (X 793).
Am 19. und 22. August 1868, wenige Wochen nach Uraufführung der Meistersinger,
1. Die Betrachtungen eines Unpolitischen und Richard Wagners Luther-Projekt 193

notierte Wagner ein paar Zeilen in sein ›Braunes Buch‹, die den Kern eines Plans für ein
Lutherdrama umreißen: Luther auf der Wartburg, die Skizze eines Monologs. Der Hei-
ratswunsch reift, anachronistisch verfrüht also. Der Mönch steht wie ein Lauschender
Eichendorffs »am geöffneten Fenster« und vernimmt »durch den lauen Luftstrom, den
Blick in das Grüne, den Gesang eines Vogels«. Dazu gesellen sich noch als weitere Sedati-
va gegen die »furchtbaren Aufregungen« des Mannes, »in welchem die ganze Welt gährt«,
in merkwürdiger Kombination Einbecker Bier und Frauenblick. Die »blonde Flechte«
Katharinas, die Nähe einer Frau, deren betörende Wirkung er zunächst als »Teufels-
spuck« beargwöhnt, erweist sich als Erlösungsmittel, mit dem das wahrhaft Teuflische:
die »Mönchsbrunst« und der »Pfaffenhochmut«, zu bannen wäre: »Ich nehm’ ein Weib,
und grade die Catharina soll es sein.« Für die geplante Hochzeitsmusik ließ sich Wagner
das bekannte Thema ›Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang‹ nicht entgehen.
Die Idee des Ganzen bestimmte er so: »Gemüthliche Tendenz nach den Zielen der
deutschen ›Wiedergeburt‹ durch Philosophie, Dichtkunst und Musik – in der Entwick-
lung des Protestantismus vorgebildet und populär durch Luthers Verheiratung ausge-
drückt«. Wie in den Meistersingern sollten auch im Werk über Luthers Hochzeit Symbol-
figuren ›deutschen Geistes‹ auftreten. Wagner wollte Luther als nationale Geistesgröße
und zugleich als »den großen Sensualisten« darstellen, der mit seiner Heirat das asketi-
sche Mittelalter ablöst und die moderne deutsche Kultur begründet – eine »Apotheose
des protestantischen Bürgertums«.9
Auch wenn Thomas Mann Wagners Entwurf mit diesen Details erst in den Exiljah-
ren kennengelernt haben kann, von seiner Existenz hat er von früh an gewusst. Denn
er wird bereits in Nietzsches Kritik der ›asketischen Ideale‹, der Genealogie der Moral,
ausführlich vorgestellt, die der Autor schon für sein Stück Fiorenza von 1906 intensiv
benutzt hat. Er sah also Wagners Plan von vornherein durch Nietzsches Brille, wie über-
haupt Grundzüge seines Lutherbildes von dem Philosophen stammen. Nietzsche spielte
als abgefallener Wagnerianer gegen den Komponisten des Parsifal den der Meistersinger
aus und beschwor als dessen »beste, stärkste, frohmütigste, mutigste Zeit« diejenige, in
die auch »der Gedanke der Hochzeit Luthers« fällt. Das leitende Konzept dieses Plans
sah Nietzsche darin, dass an diesem Stoff ein Gleichgewicht von »Keuschheit und Sinn-
lichkeit« Gestalt werden sollte: Wagner hätte wohlgetan, dieses Gleichgewicht »seinen
Deutschen mit Hilfe einer holden und tapferen Luther-Komödie wieder einmal zu Ge-
müte zu führen, denn es gibt und gab unter den Deutschen immer viele Verleumder der
Sinnlichkeit.« Das größte Verdienst Luthers sah Nietzsche im »Mut zu seiner Sinnlich-
keit«, der freilich, wie er boshaft anmerkt, nicht so groß war, dass er ihn nicht als ›evan-
gelische Freiheit‹ hätte ausgeben müssen.10 In derselben Abhandlung an späterer Stelle
attackierte er ihn als typischen ›asketischen Priester‹ mit einem unerhört »schlechten
Geschmack«, als »diesen ›beredtesten‹ und unbescheidensten Bauer, den Deutschland
gehabt hat«, und die Reformation als den »Widerstand eines Rüpels, den die gute Etikette
der Kirche verdroß«.11
Aber auch der national-konservative ›Unpolitische‹ hielt, wenn nicht zu Luther selbst,
so doch zu nationalprotestantischen Lobpreisungen in jenem ›Lutherjahr‹ 1917 ebenso
Distanz wie zu liberaler Vereinnahmung der Reformation durch den ›Zivilisationslite-
raten‹, den er damals, außer in seinem Bruder Heinrich, halbbewusst auch in sich selbst
bekämpfte. Indem er sie nach dem paradoxen, damals schon zum Schlagwort geworde-
nen Konzept der ›konservativen Revolution‹ oder mit Nietzsches Formel »Reaktion als
Fortschritt« deutete, sah er Luther und sein Werk durchaus ambivalent (XII 716).12 Klar
in kritischem Sinn sollte er diese paradoxen Formeln dann erst nach 1933 auf Luther
194 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

und die Reformation beziehen (X 259). Aber bereits für den Verfasser der Betrachtungen
war diese alles andere als ein ›Glück‹: zwar »von echt deutscher Majestät« (XII 513),
aber zugleich ein »Akt deutscher Renitenz«, ein Rückfall ins Mittelalter – was allerdings
keineswegs nur negative Konnotationen hat –, »tief, trotzig, verhängnisvoll, programm-
widrig, persönlich und groß« (XII 514 f.).
Diese ebenso befremdliche wie suggestive Aufzählung ist nicht nur typisch für die
Rhetorik des erklärtermaßen rhetorikfeindlichen ›Unpolitischen‹. Hier deutet sich auch
eine ironisch-distanzierte, latent skeptische Sicht an, die keimhaft schon Motive enthält,
mit denen der spätere Thomas Mann seine Lutherkritik bestreiten sollte. Diese ebenso
schillernde wie unüberwindliche Ambivalenz13 kann durch das große stilistische Aufge-
bot von affirmativen Leerformeln, spekulativen Gleichungen und Antithesen nicht ganz
verschleiert werden. Sie drehen sich immer im selben Kreis, und ihre offensichtlichen
Ungereimtheiten reimen sich auch nicht mit der von schlechtem Gewissen diktierten
Phrase, der Verfasser »wünsche nicht mit Phrasen und Antithesen die Wirklichkeit zu
verdunkeln« (XII 175).
Interessant ist an den Gedankenspielen des ›Unpolitischen‹ um Luther, die keine seri-
öse historiographische oder gar theologische Quellenbasis hatten, allein diese Ambiva-
lenz, die unter der Phrasen-Fassade deutscher Geschichtsideologie und dem Klischee-
bild Luthers als des ›deutschen Propheten‹ durchschimmert. Wenn Thomas Mann die
Reformation z. B. »verhängnisvoll« nennt und in Opposition zu »Glück« stellt, so into-
niert er rhetorisch zwar einen Schicksalsmythos, aber sachlich bezieht er sich klar auf
reale Widersprüche der Reformation und ihrer Wirkung in der deutschen Geschichte.
Diese Widersprüche nimmt er, im Gegenzug zur liberalen Leichtherzigkeit des ›Zivili-
sationsliteraten‹, keineswegs leicht, auch wenn er sie sogleich ebenso apologetisch wie
irrational als notwendigen Ausdruck deutschen Wesens hinstellt und also gerechtfertigt
sieht.
Angestrengt dialektische Reflexionsarbeit und latente skeptische Impulse haben Tho-
mas Mann nicht davor bewahrt, Luther in den Betrachtungen zum Apostel eines nationa-
len Konservatismus (511 ff.) zu stilisieren, auch wenn zur gleichen Zeit wissenschaftliche
und kirchliche Vertreter des Luthertums unvergleichlich schrillere nationalistische Töne
von sich gaben als der ›Unpolitische‹. Was er mit ihnen jedoch teilte, war eine antidemo-
kratische und antiemanzipatorische Einstellung, die zum Lobpreis der Reformation als
Immunisierung gegen Revolution führte: In Unterschied zu Deutschland seien Staaten,
denen die Reformation gefehlt hat, niemals zur Ruhe gelangt. Diese habe einen politi-
schen »Quietismus« erzeugt, und Luthers Lehre von der Freiheit eines Christenmen-
schen mache gleichgültig gegen politische Freiheit, Menschenrechte, Fortschritt, rote
Republik und andere Gräuel der modernen europäischen Zivilisation (XII 279) – ein
wenn nicht auch subjektiv so zumindest objektiv zweideutiges Lob.

2. Deutschlandkritik, Nietzsche, kritische Revision des Lutherbildes


Dieses Lutherbild hat Thomas Mann durch drei Jahrzehnte Schritt für Schritt zu revidie-
ren versucht. Das beginnt schon 1919 mit zustimmender Lektüre des Buches Luthertum
oder Christentum? von Kuno Fiedler, das ihm die verhängnisvollen Folgen des nationa-
listischen Bildes von Luther als ›deutschem Propheten‹ vor Augen stellte. Fiedler, der
Thomas Manns Tochter Elisabeth getauft hatte, schickte ihm die erste Ausgabe seiner
Streitschrift mit Widmung. In dem Buch wird das herrschende Luthertum mit Recht,
2. Deutschlandkritik, Nietzsche, kritische Revision des Lutherbildes 195

wenn man an dessen Treiben zwischen 1914 und 1918 denkt, als nationalistische »Reli-
gion des Krieges« verurteilt, jedoch über Luther selbst werden z. T. typische Vorurteile
wie das von seiner unterjochten Sinnlichkeit, die ihn aus dem Kloster und in die Ehe
getrieben habe, reproduziert.14 – Diese Revision setzt sich fort mit der symbolischen
Geographie des Zauberbergs, die Luther mit »Asien« (III 714) assoziieren lässt, was
rassistische Lutherforscher wie Hans Preuß in Wut versetzen musste,15 und kulminiert
in seinen deutschlandkritischen Essays, im Doktor Faustus und schließlich im Projekt
Luthers Hochzeit. Derselbe Autor, der im Ersten Weltkrieg Luther dafür gelobt hatte, dass
er die Deutschen vor Revolutionen bewahrt habe, beklagte ebendies dreißig Jahre später,
nach einer gescheiterten deutschen Republik und einem weiteren Weltkrieg, in seiner
Rede von 1945 Deutschland und die Deutschen aufs schmerzlichste. Luthers »antipoliti-
sche Devotheit, dies Produkt musikalisch-deutscher Innerlichkeit«, habe den deutschen
Untertanengeist, einen Zwiespalt von philosophischer Spekulation und politischer Un-
mündigkeit, eine nationalistische Verzerrung der Freiheitsidee gefördert (XI 1136).
Allerdings blieb diese Geschichtskritik, welches auch immer ihre sachliche Grundlage
sein mag, bei Thomas Mann weiterhin an das alte Bild von Luther als einer Verkörpe-
rung des ›deutschen Geistes‹ gebunden, nunmehr jedoch in überwiegend negativer Be-
leuchtung: Luther war zwar »ein Freiheitsheld, – aber in deutschem Stil, denn er verstand
nichts von Freiheit«. Wie Friedrich Ebert echt lutherisch, echt deutsch gesagt habe, er
hasse die Revolution wie die Sünde, so

haßte Luther den Bauernaufstand, der, evangelisch inspiriert, wie er war, wenn er gesiegt
hätte, der ganzen deutschen Geschichte eine glücklichere Wendung, eine Wendung zur
Freiheit hätte geben können, in dem aber Luther nichts als eine wüste Kompromittierung
seines Werkes, der geistlichen Befreiung sah, und den er darum bespie und verfluchte, wie
nur er es konnte. Wie tolle Hunde hieß er die Bauern totschlagen und rief den Fürsten zu,
jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwer-
ben. Für den traurigen Ausgang dieses ersten Versuchs einer deutschen Revolution, den Sieg
der Fürsten nebst allen seinen Konsequenzen, trägt Luther, der deutsche Volksmann, ein gut
Teil Verantwortung. (XI 1134)

Das sind essayistisch summarische und, nicht zuletzt durch Einmontieren von Nietz-
sche-Zitaten, die ihrerseits – wie die Passage mit dem »Bauernvieh« – polemisch ver-
schärfte Luther-Zitate sind, bewusst provozierend zugespitzte Darlegungen. Mit ihnen
hat Thomas Mann ohne Zweifel die schärfste Stufe seiner Lutherkritik erreicht. Diese
Kritik verbirgt keineswegs ihren spekulativen Charakter. Ihre Wahrheit hat sie mehr in
Hinblick auf die verhängnisvolle nationalistische Vereinnahmung Luthers als in Hin-
blick auf diesen selbst.
Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass auch die späten Arbeiten Thomas Manns
teilweise immer noch von derselben suggestiv analogisierenden Denk- und Darstel-
lungsweise geprägt und von den gleichen mystifizierenden Grundmotiven geleitet sind
wie die Betrachtungen eines Unpolitischen. Bei seinem echten Lernprozess im politischen
Denken: von einem konservativen Nationalismus zu einem sozialen Liberalismus, lernte
er nicht angemessen mit, Zusammenhänge von Geist und Gesellschaft anders als ahis-
torisch-idealistisch zu erfassen. So bietet er kritische Analysen zur deutschen Geistes-
geschichte weiterhin in Form von Wesensbestimmungen des ›deutschen Geistes‹ an,
Ideologiekritik also in ideologischer Form. Entsprechend stilisiert er auch in den späten
Essays Luther erneut zum ›dämonischen Deutschen‹.
196 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

Er stattet sein Bild mit jenen ambivalenten Zügen aus, die schon über ein Jahrhundert
früher ein anderer kritischer Betrachter an dem ›Nationalhelden Luther‹ wahrgenom-
men hat: »Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher eben so irrig, als nennte man
ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifli-
ches, Mirakulöses, wie wir es bei allen providentiellen Männern finden, etwas Schau-
erlich-Naives, etwas Tölpelhaft-Kluges, etwas Erhaben-Borniertes, etwas Unbezwing-
bar-Dämonisches.« Typisch für Thomas Mann, möchte man sagen, diese paradoxen
Bindestrich-Charakterisierungen, diese ironische Mischung aus Faszination und Be-
fremdung – nur ist dies nicht von ihm, sondern von Heine.16 Die stilistische Ähnlichkeit
ist Ausdruck einer verwandten Optik. Von dieser ist Thomas Mann nie abgewichen. Das
Doppelgesicht Luthers als eines ›konservativen Revolutionärs‹ ist für ihn immer das glei-
che geblieben wie in den Betrachtungen, nur die Beleuchtung wird später eine andere.
Thomas Mann schaltet nunmehr das grelle Licht von Nietzsches Lutherkritik ein, das
er vormals bewusst abgedämpft hatte, um sich beim Spielen seiner Rolle als nationaler
Ideologe nicht stören zu lassen.
Bei Nietzsche hatte sich das Lutherbild bereits ähnlich gewandelt wie später bei Tho-
mas Mann. Der evangelische Pfarrerssohn aus dem lutherischen Sachsen ließ es sich
in seiner Frühzeit nicht nehmen, lutherisches Denken in die Kunstphilosophie seiner
Geburt der Tragödie einzubeziehen. Kulturkritik an zeitgenössischen Bildungsverhält-
nissen verband er mit enthusiastischem Eintreten für Richard Wagner, vor allem für den
Schöpfer der Meistersinger, der sich dem Protestantismus aufgeschlossen hatte. So wur-
de auch ihm das 16. Jahrhundert das ›deutscheste‹, mit Wagner deklarierte er Luthers
Choral Ein feste Burg zum Eröffnungsakt deutscher Musik, und von Repräsentanten des
›deutschen Geistes‹ sprach er als ›lutherartigen‹ Menschen. Musikalität, Luthertum und
Deutschtum fasste er als Einheit auf.17
Diese nationalromantische Sicht gab Nietzsche Ende der siebziger Jahre jedoch gänz-
lich auf. Er distanzierte sich immer radikaler von seinem angestammten Luthertum, wie
Thomas Mann beim Studium seiner Schriften genau beobachtete. Impulse für diesen
Umschwung waren seine wachsende Distanzierung von Wagner und seine Annahme,
dieser habe den deutschen Geist gegen den romanischen ›erfunden‹.18 Die Reformati-
on interpretierte Nietzsche nun geschichtsphilosophisch unter dem Titel »Reaktion als
Fortschritt«.19 Indem Luther die Kirche angriff, rettete er sie und verhinderte damit die
Ausbreitung weltlicher Renaissancekultur. Diese These, gerichtet gegen die Geschichts-
konstruktion des liberalen Protestantismus, bildet den Kern von Nietzsches weiterer
Lutherkritik, an die Thomas Mann in seinem späten Deutschland-Essay dann direkt an-
geknüpft hat (XI 1133).
Diese Kritik hat eine doppelte Richtung: Als ›Psychologe‹ interessiert sich Nietzsche
für den Typus des ›asketischen Priesters‹, den er in Luther paradox verkörpert sieht und
für die Psychologie der Deutschen als symptomatisch hinstellt. Psychoanalytiker wie
Erich Fromm und E. H. Erikson haben diesen Gedanken dann – nun unter dem Titel des
›autoritären Charakters‹ – in ihren Lutherstudien weitergeführt. Als Religionsphilosoph
interpretiert und kritisiert Nietzsche Luther, seine Theologie, ihren Kern, die Rechtferti-
gungslehre, und ihre Hauptquelle, den Apostel Paulus, als repräsentativ für die christli-
che Religion überhaupt und für die Rolle, die sie bei der Entwicklung des europäischen
›Nihilismus‹ gespielt habe. Dieser größere Denkrahmen, in dem Nietzsches Polemik
gegen Luther steht, wird verfehlt, wenn man ihm vorhält, er habe die Lutherforschung
nicht beachtet, oder gar, er habe nur aus den trüben Quellen katholischer Lutherkritik
geschöpft. Blößen gibt er sich freilich mit seinem literarischen Stil, der aphoristischen
2. Deutschlandkritik, Nietzsche, kritische Revision des Lutherbildes 197

Sprunghaftigkeit, pathetischen Rhetorik, suggestiven Darstellungsweise und maßlosen


Polemik besonders in den Spätschriften. Deren religionskritischer Gehalt wird jedoch
bewusst verkannt, wenn man die Polemik gegen Luther als »zu geistlos« hinstellt, »um
ausführlicher dargelegt werden zu müssen«.20
Thomas Mann hat sich gerade diese Stilzüge Nietzsches besonders angeeignet, schon
in den Betrachtungen, mehr noch in den deutschlandkritischen Reden und Essays, und
die polemischen, satirischen, karikaturhaften Elemente dieses Stils sogar noch mehr
ausgefeilt, auch dort, wo er – wie bei Luther – nicht wie der späte Nietzsche aus lei-
denschaftlichem Hass, sondern aus skeptischer Distanz schrieb. Nietzsche nannte die
Reformation einen »Bauernaufstand« des Geistes, einen Protest von Zurückgebliebenen,
die »mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit« den Fortschritt der Künste und
Wissenschaften verzögert hätten. Für ihn war Luthers Handeln – wie bereits erwähnt –
der »Widerstand eines Rüpels«, er selbst der unbescheidene »Bauer« und zugleich der
»rasende Bauern-Feind«, kurz: der »unmögliche Mönch«.21
Ganz ähnlich tritt Luther bei Thomas Mann auf »als der gemütsstarke und bildge-
waltige Grobian zu Wittenberg« (T II 497). Das alte Lied vom nationalen Luther wird
nicht aufgegeben, sondern nur in Nietzsches Tonart transponiert, so in dem Essay Die
drei Gewaltigen aus dem Goethejahr 1949. (Der Titel ist eine Faust-Anspielung; der ur-
sprüngliche Titel war: Goethe, das deutsche Wunder.) Das klingt dann so:

Martin Luther, der Reformator, der die konfessionelle Einheit des Erdteils sprengte, ein Fels
und ein Schicksal von einem Menschen, ein heftiger und roher, dabei tief beseelter und in-
niger Ausbruch deutscher Natur, ein Individuum, klobig und zart zugleich, voller Wucht und
Getriebenheit, von bäurisch volkstümlicher Urkraft, Theolog und Mönch, aber ein unmög-
licher Mönch, »denn der Mann kann durch natürliche Begier des Weibes nicht entbehren«
–, sinnlich und sinnig, revolutionär und rückschlägig aus der Renaissance, mit deren Huma-
nismus er keine Fühlung hatte, ins Mittelalter durch stete Balgerei mit dem Teufel und mas-
sivsten Aberglauben an Dämonen und Kielkröpfe, geistlich verdüstert und doch lebenshell
kraft seiner Liebe zu Wein, Weib und Gesang, seiner Verkündigung »evangelischer Freiheit«,
schimpffroh, zanksüchtig, ein mächtiger Hasser, zum Blutvergießen von ganzem Herzen be-
reit […], ein militanter Anwalt des Individuums, seiner Gottunmittelbarkeit und geistlichen
Subjektivität gegen das Objektive, die kirchliche Ordnungsmacht, und dabei ein Erzieher
seines Volkes zur Untertänigkeit vor gottgewollter Obrigkeit […], antirömisch nicht nur, son-
dern antieuropäisch, furios nationalistisch und antisemitisch, tief musikalisch dabei, auch
als Gestalter der deutschen Sprache […]. Was nach und von ihm kam und was Erasmus vor-
hergesagt hatte, entsetzliches Blutvergießen im Glaubenszwist, Bartholomäusnächte, Krieg
dreißig Jahre lang, Deutschland entvölkert und in der Kultur zurückgeworfen um Jahre, drei-
mal soviel, das hätte der stiernackige Gottesbarbar bereitwillig auf diesen seinen gedrunge-
nen Hals genommen: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« (X 375 f.)

Thomas Mann wiederholt hier und in dem ganzen Essay zum Teil wörtlich Gedanken,
die er bereits vier Jahre zuvor in seiner Rede Deutschland und die Deutschen, dem essay-
istischen Seitenstück zum Doktor Faustus, ausgesprochen hatte. Wieder einmal sieht er
den ›deutschen Geist‹ in drei »Monumentalgestalten« verkörpert: Luther, Goethe und
Bismarck, wobei seine wahre »Herzensneigung« allein Goethe gilt, weil dieser, in Unter-
schied zu den beiden anderen »Gewaltigen«, die negativen Seiten des deutschen Wesens
in sich überwunden habe.
Der Abschnitt über Luther, der hier mit geringen Auslassungen wiedergegeben ist,
198 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

bietet eine scheinbar locker gereihte, in Wahrheit sehr dicht gewobene Gesamtcharak-
teristik in der dafür vom Autor bevorzugten Form der Aufzählung. Von den nur zwei
Sätzen, auf die diese verteilt ist, handelt der erste von Luthers Person, der zweite von den
Folgen seines Auftretens. Der erste Satz drängt reihend alles in den Charakter Luthers hi-
nein: historische Handlungen und Prozesse ebenso wie geistige Zusammenhänge. Diese
Personalisierung ist aber zugleich eine Entpersonalisierung, weil Luthers Person nur als
Symbolfigur des Deutschen interessiert. Durch Einstreuen originaler Lutherworte und
verblüffender Details wie »Kielkröpfe« wird Pseudo-Konkretheit, ein historischer Rea-
litätseffekt erzeugt.
Die problematische Bedeutung der Reformation für die weitere deutsche Geschich-
te, eines der Hauptthemen der Deutschlandkritik Thomas Manns, wird nicht in Form
historiographischer Argumentation angesprochen, vielmehr indem gezielt ausgewählte
historische Einzelheiten auf ein allgemeines ›deutsches Wesen‹ projiziert werden, wo-
bei als ›Sammellinse‹ Luthers Persönlichkeit fungiert. Relative Begrenztheit historischer
Kenntnisse, Fixierung an nationalideologische Stereotype und polemischer Suggestivstil
machen aus diesem Porträt Luthers, das sich als anschauliche und zugleich hintergrün-
dige Darstellung einer Symbolfigur ›deutschen Geistes‹ ausgibt, eher die scharfzügige
Zeichnung einer konkret-abstrakten Zwitterfigur, die weniger Symbol als Karikatur ist.
Das Karikaturhafte ergibt sich durch drastische Wortwahl – »klobig«, »schimpffroh«
– und komische Kombinationen – »Gottesbarbar«, »Balgerei mit dem Teufel«, »Dämo-
nen und Kielkröpfe«. Luthers Teufelsglaube, allbekannt durch die Wartburger Tinten-
fass-Episode, die im Doktor Faustus witzig parodiert ist, wird von ›lutheromanen‹ Theo-
logen gern zu vorbildlichem religiösen ›Ringen‹ hochstilisiert. Indem Thomas Mann das
überanschaulich »Balgerei« nennt, distanziert er sich ironisch von diesem mittelalter-
lichen Aberglauben. Zur Hintergründigkeit – manchmal auch Hinterhältigkeit – der
Wortwahl gehört es, dass die Wörter über den Essay hinaus semantische Verbindungen
kreuz und quer durch das Gesamtwerk des Autors unterhalten können, das man als ein
ebenso weites wie dichtes Anspielungssystem verstehen könnte. Das Wort »Ausbruch«
z. B. verweist auf den Faustus-Roman und die politischen Schriften des Autors, wo im-
mer wieder Deutschlandkritik mit Hilfe von Krankheitsmetaphorik artikuliert wird –
Luther und Hitler sozusagen als zwei verschiedene ›Ausbrüche‹ derselben deutschen
Krankheit. Diese extrem gewaltsame Parallele hat Thomas Mann schon 1937 gezogen,
indem er Hitler ein »echt deutsches Phänomen« nannte: »Von ihm fällt ›Licht‹ auf Luther
zurück« (T IV 119).
Zur Technik des Knüpfens von Beziehungen gehört auch die Verwendung und Ab-
wandlung von direkten und indirekten Zitaten, z. B., wie schon dargelegt, von Nietzsches
Formel ›Luther, der unmögliche Mönch‹. Während Nietzsche Luthers ›Unmöglichkeit‹
als die eines »verunglückten Priesters« hinstellte (II 1233), der keine geistige Vornehm-
heit gehabt habe, sondern ein Bauer geblieben sei, versteht Thomas Manns Entlarvungs-
blick sie enger: als Unfähigkeit, die asketische Keuschheitsforderung zu erfüllen, und
›belegt‹ das mit einem Lutherzitat, das nur allgemein anthropologisch den Geschlechts-
trieb als Tatsache anspricht. Als weiterer ›Beweis‹ von Luthers ›Sinnlichkeit‹ muss dann
auch noch der pseudolutherische Spruch von Wein, Weib und Gesang herhalten, ebenso
Nietzsches bereits erwähnte bissige These, hinter Luthers ›evangelischer Freiheit‹ ver-
stecke sich nichts anderes als eben diese Sinnlichkeit. Thomas Mann arbeitet bei diesem
essayistischen Porträt bzw. dieser Karikatur Luthers mit Zitaten sehr verschiedener Her-
kunft und Dignität und schweißt sie, geleitet von seinen nationalideologischen Grund-
konzepten, zu einer ebenso suggestiven wie problematischen Einheit zusammen.
3. Lutherkritik in den späten Essays und im Doktor Faustus 199

Der Schluss des ganzen Abschnitts zählt die Folgen auf, die Luther als »Ausbruch
deutscher Natur« gehabt hat. Diese Aufzählung ist eher eine Aufrechnung und Abrech-
nung, bei der wieder Nietzsches schärfste Lutherkritik mitklingt, die in dem pathetischen
Seufzer gipfelte: »Ah, diese Deutschen, was sie uns schon gekostet haben.«22 Als sugge-
stives Schlussbild steht Luther als der »stiernackige Gottesbarbar« da, der nach Thomas
Manns Spekulation die Verantwortung für all diese Folgen trotzig auf sich genommen
hätte, »auf diesen seinen gedrungenen Hals«. Die Stiernackigkeit ist dabei nichts Neu-
es, sondern gehört zur herkömmlichen Heroisierung von Luthers Kraft und Derbheit.
Aber die paradoxe Worterfindung eines ›Gottesbarbaren‹ samt vertierendem Epitheton
ist nicht nur Karikatur, sondern auch Denunziation. Luther hatte die Wendung ›auf den
Hals nehmen‹ im Rückblick auf seine Rolle im Bauernkrieg benutzt und damit eine – wie
immer auch problematische – theologisch-politische ›Verantwortungsethik‹ appliziert.
Indem diese metaphorische Wendung Luthers von Thomas Mann durch die Beiwörter
›stiernackig‹ und ›gedrungen‹ wörtlich genommen wird, entsteht ein komischer und zu-
gleich denunzierender Effekt. Luthers Ethik wird nicht ernst genommen, sondern auf
Biologie reduziert: Sein Nacken war breit und stark genug, um allerhand zu verkraften.
Nicht Verantwortung, sondern Getriebenheit hat Luthers Handeln letztlich bestimmt.
Dem entspricht genau, dass Thomas Mann am Schluss des Ganzen in kalkulierter Mon-
tage von Luthers berühmtem Wormser Schlusswort nur die erste, inauthentisch-legen-
däre Hälfte zitiert: »hier stehe ich, ich kann nicht anders«, nicht aber die zweite, histo-
risch belegte: »Gott helfe mir, Amen«.

3. Anspruch, Grenzen und Wirkung der Lutherkritik in den späten Essays


und im Doktor Faustus
Das Problematische an diesem Stil essayistischer Geschichtskritik ist damit exempla-
risch herausgestellt. Der Sprachvirtuose Thomas Mann vermag es, mit wenigen Strichen
ein Bild Luthers zu skizzieren, dessen Suggestivität darüber hinwegtäuscht, wie wenig
haltbar diese bewusste Montage in historiographischer Hinsicht ist. Die Deutschlandkri-
tik des Autors operiert ständig damit, historische Phänomene auf ein überhistorisches
deutsches Wesen, eine deutsche Natur, deutsche Seele oder einen deutschen Geist zu-
rückzuführen. Kritik schlägt in Mystifikation um und droht damit genau der Tradition
zu verfallen, die sie kritisieren will. Für den späten Thomas Mann der Deutschland-Es-
says bleibt Luther ebenso wie für den der Betrachtungen eine nationale Symbolgestalt,
jetzt nur als Verkörperung des deutschen Geistes und Ungeistes zu gleichen Teilen. Wie
bei anderen Themen vollzieht Thomas Mann die bloße »Umkehrung« eines fast lebens-
lang gültigen »Imaginationsschemas«.23 Die stereotypen Formeln bleiben, es ändert sich
nur das Vorzeichen. Und gelegentlich gibt es sogar Rückfälle, wo Mann sich gegen allzu
weitgehende »Selbstgeißelung und Verleugnung deutscher Größe« verwahrt: »Jetzt wird
gegen Luther, Friedrich, Bismarck, Nietzsche, Wagner, womöglich auch gegen Goethe
geeifert. Will man seine Geschichte, sein Deutschtum abschütteln?« (B III 13)
Hat sich der Autor als Sprach-Zauberer oder, weniger affirmativ, als »Begriffe-Rangie-
rer«24 also in dem Netz von Analogien und Antithesen, das er um Luther knüpfte, selber
verstrickt? Oder stellen sich diese Gedankenspiele mit konstruierten Parallelen, ›my-
thischen‹ Identifikationen, ›musikalischen‹ Wiederholungen bewusst oder unbewusst
selber bloß – womöglich im Sinne von Dekonstruktion? Die ars combinatoria Thomas
Manns,25 das virtuose Spiel mit Ideologien und Diskursen, das seine Eigenart als Epiker
200 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

und Essayist mit ausmacht, hat in diesen beiden Bereichen verschiedene Dignität. Was
im Essay als ernsthafte Zeitkritik und Geschichtsanalyse gelesen werden will, also z. B.
als Kritik Luthers und des Luthertums, fällt im Roman unter den symbolischen »Bezie-
hungszauber« des Erzählers.
Die legitime Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Kritik kann aber nicht damit
abgetan werden, dass man Thomas Manns Lutherbild an historischer und wissenschaft-
licher Wahrheit misst und dann zu einer privaten ›Fiktion‹, poetischen ›Kunstfigur‹ oder
autobiographischen ›Projektion‹ erklärt. Denn erstens stellen seine Elemente, wie ge-
zeigt, gerade nichts Privates dar, sondern präsentieren Grundbestände eines kollektiven,
nationalen Mythos in narrativer oder essayistischer Verfremdung. Und zweitens war zu
Thomas Manns Zeit die wissenschaftliche Wahrheit über Luther nirgendwo schlimmer
verraten worden als von einigen deutschen Theologen und Lutherforschern, teilweise
gerade solchen, die später gegen seine Äußerungen über Luther polemisiert haben. Er
sprach hier – merkwürdigerweise nur hier, immerhin also wenigstens einmal – öffentlich
aus, was keine Lutherkritik auslassen dürfte: dass Luther »furios« antisemitisch gesinnt
war (X 376). Das war sehr treffend und aktuell, denn sowohl lutherische Nazi-Theologen
wie auch solche der Bekennenden Kirche – dies Letztere ist bis heute ein Tabu – hatten
in den dreißiger Jahren Luthers christlichen Antisemitismus immer wieder lobend he-
rausgestellt.26
Während der Autor 1949 in Europa Goethe-Vorträge hielt, wurde sein Essay Goethe,
das deutsche Wunder, der die eben kommentierte Passage über Luther enthält, zuerst
von der BBC gesendet und dann im Monat gedruckt. Das nahm der national-konserva-
tive Landesbischof Hanns Lilje zum Anlass, als Sprecher des lutherischen Weltbundes in
London öffentlich Thomas Manns Gedanken über Luther als Beschimpfung des Refor-
mators zurückzuweisen. Der erzkonservative Theologe Walter Künneth warf ihm vor,
die »tollsten Luther-Legenden« zu verbreiten, seine dichterische Freiheit für eine »grobe
Geschichtsfälschung« zu missbrauchen, die sich zudem aus dem »Farbentopf des Nati-
onalsozialismus« bediene, gleichzeitig aber Liberalismus predige. »Wer zum Abfall von
Luther bewegt, verführt das Volk.«27 Thomas Mann hat sich gelassen gegen dieses »Ge-
schwätz über Beleidigungen«, die er gegen Luther ausgestoßen habe, verwahrt: »Um kei-
ne Ehrfurcht vor Luther zu empfinden, müßte ich so dumm sein wie meine Kritiker«.28
Den Gipfel der Infamie, versteckt in einer seriösen Monographie über deutsche
Luther-Rezeption, erreichte ein paar Jahre nach dieser Kontroverse einer der namhaf-
testen deutschen Lutherforscher, Heinrich Bornkamm. Er verdammte Thomas Manns
Lutherkritik als maßlos und »unweise«, als eine »aller Heilkraft entbehrende deutsche
Selbstanklage«.29 Warum diese Gereiztheit des Theologen, die er auf Thomas Mann pro-
jizierte? Vermutlich weil er für sich selbst von »Selbstanklage« nichts hören wollte, die
er ungleich nötiger gehabt hätte als der ins Exil getriebene Schriftsteller. Denn in seinem
Buch wie auch sonst verdrängte und verschwieg er wissenschaftlich extrem unredlich,
was deutsche Professoren in der Nazizeit über Luther veröffentlicht hatten, unter ih-
nen auch er selbst.30 Er und andere lutherische Theologen haben in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts dem Bild Luthers unvergleichlich mehr Schaden zugefügt als der
Schriftsteller Thomas Mann.
Bornkamm und andere namhafte deutsche Lutherforscher verbreiteten unter dem
beliebten Titel ›Luther und der deutsche Geist‹ in den dreißiger Jahren zugunsten des
Nazi-Ungeistes ein durch und durch ideologisches Zerrbild Luthers.31 Diesem Zerrbild
stellte Thomas Mann – wie vor ihm Stefan Zweig – seine Karikatur Luthers polemisch ent-
gegen. Er hatte nach 1933 kirchliche Ereignisse in Deutschland aufmerksam registriert,
3. Lutherkritik in den späten Essays und im Doktor Faustus 201

ebenso Äußerungen bedeutender Theologen wie Karl Barth oder Paul Tillich, die nicht
›lutheroman‹ waren, z. B. einen Luther-Artikel Barths von 1933, den er »sympathisch«
fand (T II 242), aber dessen kritische Kernthese er ignorierte: Dass Luther als »der große
Deutsche« gefeiert werde, ist »vor dem wirklichen Luther« nicht zu verantworten, der
nichts als ein großer »Lehrer der christlichen Kirche« war.32 Wie schon Luther – schreibt
dagegen Thomas Mann – alle schlimmen Folgen seines Tuns auf seinen »gedrungenen
Hals« genommen hatte, so tat es dann auch der deutsche »Blutstaat« von 1933, der nicht
ohne Beziehung zu den »gewaltigsten Verkörperungen des Deutschtums« gewesen sei
und »unermeßliche Verbrechen, lutherisch zu reden, ›auf seinen Hals nahm‹« (VI 638 f.).
Damit sind Vorgeschichte und Kontext dafür skizzenhaft angedeutet, warum und in
welcher Richtung Thomas Mann in den Exiljahren sein Lutherbild – in der Wertung,
wenn auch nicht in der Art seiner Darstellung – kritisch revidierte. Und das ist die Kons-
tellation, unter der er Luther nicht als historische Gestalt, sondern als symbolische Figur
in das unendlich komplexe Beziehungsnetz seines Doktor Faustus einbezogen hat. Dieses
lässt sich nicht darauf reduzieren, dass man »die meisten Fiktionen« des Lutherbildes
von Thomas Mann hier auf die Erzählerfigur Serenus Zeitblom projiziert sieht.33 Und es
ist mit der Stichwortreihe Deutschland-Innerlichkeit-Theologie-Musikalität-Dämonie
besser angedeutet als mit einem bloßen Hinweis auf die burleske Luther-Parodie in Ge-
stalt des Theologieprofessors Ehrenfried Kumpf, der markige Tischreden hält und nach
dem Teufel – kein Tintenfass schleudert:

Und dann wies er mit dem gepolsterten Zeigefinger in einen schattigen Winkel des Speise-
zimmers, wohin fast kein Strahl der über dem Eßtisch schwebenden Schirmlampe drang:
– Seht! rief er aus. – Da steht er im Eck, der Speivogel, der Wendenschimpf, der traurige,
saure Geist und mag nicht leiden, daß unser Herz fröhlich sei in Gott bei Mahl und Sang! Soll
uns aber nichts anhaben, der Kernbösewicht, mit seinen listigen, feurigen Pfeilen! Apage!
donnerte er, griff eine Semmel und schleuderte sie in den finsteren Winkel. Nach diesem
Strauß griff er wieder in die Saiten und sang: »Wer recht in Freuden wandern will«. (VI 132)

Abgesehen von dieser komischen »Luther-Karikatur«34 dominiert im Faustus-Roman


sonst das Nietzsche-Leitmotiv von »Kreuz, Tod und Gruft«,35 das vor allem die Haupt-
figur Adrian Leverkühn umgibt, absolut über dasjenige von »Wein, Weib und Gesang«.
Mit Luther, Luthertum und Teufel hat es in ihm eine weniger harmlose, eine unheimli-
chere Bewandtnis als in dieser Szene. Leverkühn, der deutsche Tonsetzer aus sächsischer
Luthergegend, der Theologie studiert hat und am liebsten Lutherdeutsch redet, steht in
viel intimeren Beziehungen zu Luther und dem Teufel als Kumpf. Luther und Leverkühn
spiegeln einander als zwei Symbolfiguren des deutschen Geistes: gemütstief und pro-
vinziell, weltfremd und innerlich, mystisch und musikalisch – ›dämonische Deutsche‹.
Das aber heißt eben auch: dem Teufel verfallen. Deutschland und den deutschen
Geist, den Luther und dieser neue Faustus verkörpern, hat in der Tat der Teufel geholt.
Thomas Mann rückt in diesem Roman, Geschichtskritik und Selbstkritik verbindend,
gerade die deutschen Traditionen in ein kritisches Licht, denen er selbst sich besonders
nah fühlte. Dazu gehören auch Luther und der Protestantismus. Darum spielt in den
Doktor Faustus durch anspielungsreiche Verknüpfung der Zeiten die Reformationszeit
hinein – ganz gemäß der alten These, das 16. Jahrhundert sei das ›deutscheste‹. Theologie
in Gestalt von ein paar Splittern der lutherischen fungiert hier allein als symbolisches
Medium der Reflexion über die Tiefe eines individuellen und des allgemeinen deutschen
›Sündenfalls‹.
202 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

Merkwürdigerweise haben nach Erscheinen des Doktor Faustus in die gleiche Rich-
tung wie theologische Thomas-Mann-Kritiker auch germanistische Thomas-Mann-For-
scher gezielt. Werner Kohlschmidt behauptete, die säkulare, humanistische, demokrati-
sche Sicht des Autors sei nicht ›substantiell‹ genug, um die Problematik der deutschen
Geschichte zu erfassen. Die Rolle des Luthertums in ihr lasse sich nicht von Thomas
Manns Weltanschauung her, sondern nur »rein theologisch« begreifen, also »von Luther
selber aus«.36 Kohlschmidts Schüler Herbert Lehnert vertrat die gleiche apologetische
Sicht in einer sonst materialreichen und grundlegenden Studie über Thomas Manns
Lutherbild: Lehnerts richtige Erkenntnis, dass dieses Bild einen festen nationalideologi-
schen Rahmen hatte, verbindet sich mit dem Fehlurteil, dieser bestehe nur aus privaten
›Fiktionen‹ Thomas Manns. Seine Lutherkritik bewege sich in den Grenzen des ›Libera-
lismus‹, und seine bedauerliche Unkenntnis der ›modernen‹ wie auch der lutherschen
Theologie erweise sich an der Theologie des Doktor Faustus. Denn diese sei ein »irrendes
Suchen nach der Theologie der Rechtfertigung durch Gnade, die aber verfehlt wird«.37
Die von Lehnert beschworene ›moderne‹ Theologie kann ebenso gut auch, gemessen
an der von ihr verdrängten liberalen Tradition historisch-kritischer Forschung, anti-mo-
dern genannt werden. Das passt sogar besser zumindest auf diejenigen ihrer lutheri-
schen Vertreter, die Luther dem Nazi-Staat andienten. Dem Grundmotiv von Thomas
Manns später Lutherkritik, der bohrenden Frage nach Mitverantwortung der Reforma-
tion für verhängnisvolle Entwicklungen in der deutschen Geschichte, kann man nicht
mit Hilfe lutherischer theologischer Apologetik oder einer Philologie gerecht werden,
die sich päpstlicher als der Papst gebärdet. Seit seinem Umdenken nach dem eigenen na-
tionalistischen ›Sündenfall‹ der Betrachtungen hat Thomas Mann wertvolle Anregungen
auch durch moderne Theologen der liberalen Tradition erhalten, von Ernst Troeltsch
und Kuno Fiedler bis zu Reinhold Niebuhr und Paul Tillich. Seine Neigung, jene theolo-
gische Richtung, die er als fortschrittlich, liberal, kulturfreundlich sah, gegenüber einer
anderen zu bevorzugen, die er als rückschrittlich, orthodox, kulturfeindlich empfand,
kann vom Stand heutiger kritischer Theologiegeschichte nicht mehr so leicht abgetan
werden, wie es Lehnert noch tat.
Thomas Mann konnte sich vielmehr auf eine bedeutende Tradition theologischer
Lutherkritik stützen. Deren herausragenden Vertreter Ernst Troeltsch, der einen ähnli-
chen Weg wie er selbst vom konservativen Nationalismus zur Demokratie ging und der,
in Unterschied zu den Vertretern der damaligen ›Lutherrenaissance‹, einen universalen
Horizont und politisches Urteilsvermögen hatte, las er schon früh und hat ihn 1923 so-
gar lobend rezensiert (XII 627 ff.). Troeltschs Bewertung Luthers ging weniger von des-
sen theologischen Intentionen als seiner historischen Position und Wirkung aus: Er sei
nicht der ›moderne Mensch‹ gewesen, als den ihn die liberale und nationale Tradition
hinstelle, vielmehr noch stark mittelalterlich; seine politischen und sozialen Anschau-
ungen hätten verhängnisvoll zu deutschem Obrigkeitsdenken beigetragen. Mit diesen
beiden Thesen, die von lutherischer Orthodoxie natürlich strikt abgelehnt wurden, hat
Troeltsch einer modernen kritischen Bewertung Luthers vorgearbeitet, wie sie später vor
allem in Auseinandersetzung mit dem ›deutschen Ungeist‹ im ›Dritten Reich‹ vielstim-
mig artikuliert worden ist. Zu diesen Stimmen gehört auch die Thomas Manns. Was
Troeltsch mit den Mitteln geschichtsphilosophischer Konstruktion unternommen hatte,
das hat er mit denen poetischer und essayistischer Kombinatorik versucht.
4. Entstehung, Materialien und Handlung des Dramenplans Luthers Hochzeit 203

4. Entstehung, Materialien und Handlung des Dramenplans


Luthers Hochzeit
Am 16. März 1955, ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Teils der Bekenntnisse des
Hochstaplers Felix Krull und fast ebenso lange vor seinem Tod, schrieb Thomas Mann an
seine amerikanische Freundin Agnes E. Meyer, eine Fortsetzung des Krull lasse noch auf
sich warten. »Unter uns gesagt habe ich ganz anderes im Kopf, nämlich ein aufführbares
Stück: Luthers Hochzeit, wofür ich viel lese und notiere, ohne etwa sicher zu sein, daß ich
es zustande bringe.« (B III 385) Tatsächlich stand der Autor bereits Anfang 1955 unter
dem Zeichen Luthers und hat in den letzten Monaten seines Lebens nicht mehr am Krull,
den er selbstironisch einen scherzhaften »Unfug«, ein »Unding« nannte, sondern an ei-
nem Lutherdrama gearbeitet. Dem Hochstaplerroman hoffte er etwas »Würdigeres«, sei-
nen Jahren »Angemesseneres« an die Seite zu stellen (B III 357). Dieses sollte sich erneut
der Sphäre des Doktor Faustus nähern, also einem Nervenzentrum der geistigen Existenz
Thomas Manns.
Jedoch war die Idee zu einem Werk über Luther und seine Zeit selbst schon mehr
als ein halbes Jahrhundert alt. Angeregt durch den frühen Plan zu einem Roman über
Friedrich II., erwog er schon 1920 historische Novellen in der Art C. F. Meyers, konkre-
tisierte das fünf Jahre später als »historisierende, kostümliche Dinge, Joseph in Ägyp-
ten, Spanisch-Niederländisches, Erasmus-Luther« (B I 244), und fasste zeitweilig einen
Erasmus-Roman ins Auge. 1954 war daraus wieder ein Novellenzyklus geworden: Ihm
schwebe – schrieb Thomas an Erika Mann – etwas vor »wie eine kleine Charakter-Ga-
lerie aus der Reformationsepoche, Momentbilder von Luther, Hutten, Erasmus, Karl V.,
Leo X., Zwingli, Münzer, Tilman Riemenschneider, und wie da das Verbindende der
Zeitgenossenschaft und die völlige Verschiedenheit der persönlichen Stand- und Blick-
punkte, des individuellen Schicksals, bis zur Komik gegen einanderstehen (B III 345)«.
»Bis zur Komik« – dieser verfremdende Blickwinkel des epischen Ironikers passt zu
der überraschenden Wahl der Komödienform, die vielleicht auch durch die berechtigte
Furcht mitbedingt war, eine Novelle könne sich, wie beim Joseph, zum Umfang eines Ro-
mans auswachsen. So ist es allerdings die Frage, ob dieses Drama dem Autor und vor al-
lem seinem Thema Luther würdig und angemessen oder ob es nicht erneut ein »Unding«
besonderer Art zu werden versprach, ein Mischgebilde aus ernstem Geschichtsdrama
und parodistischer Rüpelkomödie,38 ein dramatisches Charakterbild in Form einer Ka-
rikatur. Thomas Mann hat das Stück nicht mehr schreiben können, und das im Nachlass
vorhandene Material lässt unterschiedliche Deutungen zu.39 Es besteht aus knapp fünfzig
Seiten handgeschriebener Notizen und Exzerpte, überwiegend aus Schriften Luthers in
einer damals ganz neuen Auswahl von Karl Gerhard Steck und aus Briefen Luthers in
einer Ausgabe von Reinhard Buchwald, aus der Reformationsgeschichte Gerhard Ritters
sowie aus Luther-Biographien, darunter die von Julius Köstlin, Karl August Meißinger
und Roland H. Bainton.
Der erste Teil dieser Aufzeichnungen bezieht sich vor allem auf Luthers Theologie. Der
Autor lernte jetzt erstmals deren Kern, die Rechtfertigungslehre, genauer kennen. Jedoch
interessierte ihn weniger Luthers »Gottesphilosophie« selbst, ganz zu schweigen davon,
dass er sich von ihrem »Wühlen im Paradoxen« hätte religiös ansprechen lassen (T X
60), als vielmehr deren politisch-gesellschaftliche Implikationen. Er las Luther somit im
Ansatz ideologiekritisch. Abgesehen von dem – wie schon beim Faustus – stilistischen
Interesse an authentischem historischen Sprachmaterial leitete ihn die Frage nach Wi-
dersprüchen zwischen Luthers revolutionärer Theologie und seiner antirevolutionären
204 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

Politik. Der zweite Teil der Notizen besteht überwiegend aus einer Materialsammlung zu
Luthers Heirat im Bauernkriegsjahr 1525, die den Kern der äußeren Handlung des ge-
planten Schauspiels bildet. Sie sollte als diejenige Konsequenz aus der reformatorischen
Lehre, der Forderung nach ›evangelischer Freiheit‹, dargestellt werden, die Luther selbst
in demonstrativem Gegensatz zu jenen Konsequenzen zog, welche die unter der gleichen
Parole kämpfenden Bauern zogen: als ein Akt religiösen Aufruhrs, der im Gegensatz
zum politischen steht.
Der Handlungsablauf des geplanten Stücks lässt sich wenigstens in Hauptpunkten
hypothetisch erfassen. Vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen Reformation
und Bauernbewegung spielt sich das private Geschehen um Luthers Eintritt in die Ehe
ab. Dieses hat Thomas Mann natürlich nicht etwa als ›Begründung des evangelischen
Pfarrhauses‹ gesehen, vielmehr als ein spannungsvolles, krisenhaftes Hin und Her. Dabei
gibt es teilweise ebenso burleske wie historisch authentische Szenen, die von sich aus zur
Komödie tendieren: die Flucht der heiratslustigen adligen Nonnen, unter ihnen auch
Luthers spätere Frau, Katharina von Bora; ihre Versorgung durch Luther mit Männern
aus seinem Freundeskreis; das Interesse der sitzengebliebenen Katharina für Luthers
Kollegen Amsdorf, der sie aber nicht will; Luthers eigene Unsicherheit hinsichtlich des
Ehestands, die erst ein Machtwort seines Vaters überwindet; schließlich öffentliches Bei-
lager, Trauung, Hochzeitsfeier des abgefallenen Mönchs mit der entlaufenen Nonne. All
das sind Handlungselemente, die Thomas Mann als ironisch-humoristischen Autor des
Krull und Liebhaber von hintergründigen Groteskszenen reizen mussten. Hintergrün-
dig sollte vor allem ein Beziehungsdreieck zwischen Luther, Katharina und dem jungen
Nürnberger Patriziersohn Hieronymus Baumgärtner werden. Dieser verehrt Luther und
wirbt um Katharina. Sie erwidert die Liebe, aber eine Verbindung scheitert am Wider-
stand seiner Eltern. Wie er eine ungeliebte Nürnbergerin, so heiratet sie einen nur ver-
ehrten Luther.
Wie seine Exzerpte ausweisen, stand der achtzigjährige Autor, nach der Erarbeitung
seiner Lutherkritik in Deutschland-Essay und Faustus-Roman, kurz davor, sein von na-
tionalen Identitätsdiskursen eingeengtes Lutherbild wenigstens ein Stück weit zu über-
winden. Er bemühte sich wie kein anderer moderner Schriftsteller um den historischen
Luther. Auch sein spätes Dramenkonzept kann nur vor diesem Hintergrund verstanden
werden. Ob und wie darüber hinaus in dem geplanten Schauspiel, in gezieltem Gegen-
satz zum Leitmotiv ›Kreuz, Tod und Gruft‹ im Faustus-Roman, das Gegenmotiv ›Wein,
Weib und Gesang‹ vorherrschen sollte, lässt sich aufgrund des handschriftlichen Nach-
lassmaterials nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin stößt man bei dessen Durchsicht hier
und da auf Indizien, die dafür sprechen, dass der Autor die Möglichkeiten des Komi-
schen, die ihm das Thema ›Luthers Hochzeit‹ von sich her zu bieten schien, auszuschöp-
fen gedachte – mehr jedenfalls, als von Thomas-Mann-Forschern zugestanden, die sich
allzu sehr dafür interessierten, ob der Autor kurz vor seinem Tode noch zu Luther, einem
richtigen Verständnis der Gnade und zum Christentum gefunden habe.40
Dieses Komische glaubte Thomas Mann einerseits bereits in seinem Stoff zu finden:
in der derben Heiterkeit des – freilich pseudolutherischen – Dreiklangs von ›Wein, Weib
und Gesang‹, die er als »lutherisches Erbe« ansah (X 337 f.), in dem drastischen »Hu-
mor« von Luthers »lebenslangem Raufen mit dem Teufel« (LH 221), vor allem in der bio-
graphischen Konstellation von 1525, die schon Erasmus den sarkastischen Kommentar
entlockt hatte, man habe eine Tragödie mit Scheiterhaufen erwartet, doch nun ende die
Reformation mit einer Hochzeit: als Komödie. Andererseits gehörte dieses Komische zu
einer subjektiven Optik, die ihm einen satirisch-parodistischen Einschlag geben musste.
5. Komödie als mythisches Spurengehen und doppelte Optik des Entlarvens 205

So soll Thomas Mann – die frühe Datierung auf 1947 ist allerdings wohl ein Irrtum –
über den Dramenplan gesagt haben, er denke manchmal an die Komödie, »deren ernster
und oft genug auch lächerlicher Pseudoheld unser Reformator Martin Luther werden
soll. Gefallen mir doch unerbittliche Scherzbilder und Karikaturen – ernst gemeinte Ka-
rikaturen. Der Humor entlarvt auch«.41
Auf der Suche nach solchen entlarvenden ›Scherzbildern‹ ließ sich Thomas Mann
beispielsweise eine Episode wie die fastnachtspielwürdige Flucht der zwölf bzw. nach
Wittenberg nur noch neun Nonnen von Nimpschen im Heringswagen – nicht geradezu
in Heringsfässern, wie die Legende behauptet, sondern als ob der Wagen nur leere He-
ringsfässer trug – natürlich nicht entgehen. Ein anderes Beispiel: Der historische Luther
empfahl der letzten noch nicht untergebrachten Nonne – es war Katharina von Bora –
zunächst einen Dr. Glatz zur Heirat. Den wollte sie aber partout nicht, jedoch auch
Luther war zu dieser Zeit seiner Tätigkeit als ›Heiratsvermittler‹ selber noch keineswegs
heiratswillig. In einem Brief an Spalatin schrieb er humoristisch und selbstironisch, man
müsse sich wundern, dass er, der sich so viel mit Frauen abgeben müsse, d. h. mit den
Heiratswünschen seiner Nonnen, darüber noch nicht selber zur Frau geworden sei (WA
Br 3, 474). Dann solle man sehen – so dichtet Thomas Mann eine schlagfertige und fri-
vole Replik Katharinas hinzu –, ob nicht er, Luther, Lust habe, mit jenem Dr. Glatz »des
Beilagers zu pflegen« (LH 209).

5. Komödie als mythisches Spurengehen und doppelte Optik


des Entlarvens
Wie wollte Thomas Mann das Lustspielhafte fassen, etwa in der schwankhaften Derbheit
frühneuzeitlicher Lutherdichtung, die er aber nicht kannte, oder auf den Spuren von
Richard Wagner und dessen Skizze eines Musikdramas eben über Luthers Hochzeit?
Und wie wollte er das verbinden mit seinem fortbestehenden Bild vom ›dämonischen‹
Luther als einer eher tragischen Gestalt? Wie wollte er die geistesgeschichtliche Konstel-
lation von Humanismus und Reformation, die ihn schon sehr lange interessierte, in dra-
matische Handlung, konzentriert auf das zentrale Figurendreieck, umsetzen? Schließ-
lich, wie wollte er der Komplexität des historischen Luther, den er bei seinen Studien
entdeckte, poetisch gerecht werden? – Diese Fragen lässt das Archivmaterial offen, auch
die Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit (T X 319–324). Sie zeugen von Schwierigkeiten
mit dem Plan, die nicht nur mit Arbeitsbedingungen des hohen Alters, sondern auch
mit der Widersprüchlichkeit der zusammenzufügenden Elemente, auch mit dem, was
der Autor an Luther selbst als widerspruchsvoll ansah (T X 334), zu tun haben dürften.
»Ein dramatisches plot will sich nicht herausbilden«, auch ein passender Schluss fehle –
schrieb der Autor resignierend (T X 340).
Was den Lustspielcharakter betrifft, so war das gewiss der schwierigste Punkt, auch
wenn ein Miteinander von Komik und Ernst für den Ironiker und Humoristen Tho-
mas Mann kein Problem gewesen sein dürfte. Von einer dramatischen Apotheose in
der Art Zacharias Werners, dessen Lutherdrama er seit seiner Jugend kannte, oder jener
›Lutherfestspiele‹, die schon Fontane kritisierte – eine Kritik, die Thomas Mann 1954
in einem Aufsatz zitierte (IX 820) –, war er natürlich weit entfernt. Festliches dürfte
ihm allenfalls in ironischer Färbung vorgeschwebt haben, und das hinge dann mit seiner
Neigung zum ›mythischen In-Spuren-Gehen‹ zusammen, zur Stilisierung des eigenen
Lebens und Werks in Analogie zu verehrten Vorbildern. Allerdings sollte man auf diese
206 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

in seinem Gesamtwerk beobachtbare narzisstische Neigung des Schriftstellers Thomas


Mann zu poetischen Projektionen, z. B. die Behauptung einer »Ich-Bezogenheit« Luthers
(LH 201), nicht sein ganzes Luther-Projekt reduzieren, als könnte dieses am besten als
indirekt autobiographisches Projekt verstanden werden.
Bei dem selbstspiegelnden ›Spurengehen‹ bringt die eine Spur den Komödienplan
des Faustus-Dichters zu Luthers Hochzeit vielleicht in die Nähe der Rüpelhaftigkeit
des gleichfalls Fragment gebliebenen dramatischen Schwanks Hanswursts Hochzeit des
Faust-Dichters (vgl. IV 583–587). Die andere, deutlichere Spur führt zu Richard Wagner.
Wenn Luthers Hochzeit eine ›komische Parodie‹ werden sollte, also ein merkwürdiges
Seitenstück zu der ›tragischen Parodie‹ des Doktor Faustus, dann hat Thomas Mann das
Verhältnis beider gewiss ähnlich gesehen wie das der Meistersinger zu Tannhäuser, näm-
lich als »Satyrspiel und humoristisches Gegenstück« (IX 386). Vor allem aber musste den
Verehrer Wagners dessen hier bereits erörterter Entwurf zu einem Musikdrama über
Luthers Hochzeit erneut faszinieren. Wagners Notizen darüber wurden erstmalig von
Otto Strobel im Bayreuther Festspielführer von 1937, also im NS-Deutschland, veröffent-
licht. Thomas Mann hat, entgegen Vermutungen Katja und Golo Manns,42 wahrschein-
lich von ihrem Inhalt Kenntnis gehabt, vermutlich über einen Zürcher Bekannten, wobei
z. B. der Wagner-Enkel Franz Beidler in Frage käme, der an einer Cosima-Biographie
arbeitete (XI 296 f., 793). Strobels Publikation ist im Briefwechsel zwischen Mann und
Beidler allerdings nicht erwähnt.
Warum Thomas Mann sich erneut von Wagners Plan zu Luthers Hochzeit faszinieren
ließ, lässt sich aus seinem Kommentar von 1951 zu einem Brief Wagners erschließen:
Diesem sei bei einem Besuch in Nürnberg »ein Nebel zum Stern, ein vager Traum zu
einer Arbeitsidee geworden: Etwas mächtig Deutsches, protestantisch Revolutionäres,
volkhaft Kühnes und Biederes« schwebte ihm vor, und was »eigentlich von Luthers Hoch-
zeit hätte handeln sollen, das ging nun ein in die Konzeption der Meistersinger von Nürn-
berg« (X 798). So wie Thomas Mann hier, wie bereits angesprochen, mit Nietzsche die
beiden Projekte Wagners zeitlich verwechselt, hebt er erneut hervor, was ihre Substanz
sein sollte: »ein glorioser Ausbruch deutschen Gemütes, deutscher Freiheit und Meister-
lichkeit«. Hatte Wagners Luther-Werk also – ganz wie die Meistersinger – eine Apotheose
deutscher Bürgerlichkeit werden sollen, so intendierte Mann mit seinem eigenen Gegen-
stück über Luthers Hochzeit eher deren ironisch-kritische Destruktion.
Denn sicher misstraute er mittlerweile der These des Noch-Wagnerianers Nietzsche,
Luther habe mit seiner Heirat »Mut zu seiner Sinnlichkeit« bewiesen. In seinen eigenen
späten Lutherstudien gewann er ein anderes Bild: das eines widersprüchlichen, mit sei-
nen Anschauungen vielfach dem Mittelalter verhafteten Menschen voller Zweifel und
Ängste, »Anfechtungen« und entsprechender psychosomatischer Leiden.43 Und reprä-
sentierte Luther für ihn weiterhin ›deutschen Geist‹ und ›deutsche Bürgerlichkeit‹, so
waren gerade diese ja in Nazi-Deutschland »auf den Hund gekommen« (XI 1011). Ver-
mutlich also ging dem späten Thomas Mann, der Wagner mit Hitler und die Meistersin-
ger mit NS-Parteitagen zu assoziieren wagte, an dessen Lutherplan wie das Herausstrei-
chen von Luthers gesunder Sinnlichkeit auch der nationalprotestantische Enthusiasmus
auf die Nerven. Wenn er sich nunmehr selber Luther näherte, so konnte das nicht ohne
kritische Distanz sein. Das ›mythische Spurengehen‹ durfte Kritik nicht ausschließen,
die Wiederaufnahme von Wagners Plan konnte nur eine ›Zurücknahme‹ werden.
Kurios aber ist, dass sich ausgerechnet der ungleich kundigere Dramenpraktiker
und große dichterische Antipode Thomas Manns etliche Jahre, bevor dieser selbst an
ein Lutherdrama heranging, gleichfalls eine Komödie über Luthers Hochzeit wünschte,
5. Komödie als mythisches Spurengehen und doppelte Optik des Entlarvens 207

weil das zur Verfeinerung der Sinnlichkeit der Deutschen nützlich sei. Bertolt Brecht
notierte während seines Exils in Finnland am 8. März 1941 in sein Arbeitsjournal: »es
wäre für die deutschen gesund, ihr erstes liebeslustspiel (ihr mandragola) etwa in einem
LUTHER-UND-KÄTTER-drama zu bekommen!«44 Offenkundig ist Brecht hier Nietz-
sches von Wagners Lutherplan inspirierten ›nationaltherapeutischen‹ Phantasien von
einer »holden und tapferen Luther-Komödie«, die es den vielen Verleumdern der Sinn-
lichkeit unter den Deutschen einmal zeige,45 kritikloser gefolgt als der Nietzscheaner
Thomas Mann.
Brechts Idee eines späten deutschen Seitenstücks zu der berühmt-berüchtigten eroti-
schen Komödie aus der Feder von Luthers Zeitgenossen Machiavelli, die 1524 herauskam,
ein Jahr, bevor Luther seine eigene Hochzeit inszenierte, ist ein witzig-frivoler Einfall
ohne weitere Spuren in Brechts eigenem Werk. Sollte diese Idee in seiner kalifornischen
Zeit über gemeinsame Bekannte wie Hanns Eisler an Thomas Mann übergegangen sein?
Das ist ebenso leicht zu denken wie schwer zu glauben. Gewiss, Mann und Brecht teilten
die lutherische Herkunft und die Distanz zu ihr, Nietzsche-Lektüre und Kritik an der
›deutschen Misere‹. Allein, sie bewegten sich dabei in sehr verschiedenen ideologischen
Welten, ganz abgesehen davon, dass sie einander persönlich nicht ausstehen konnten.
Bemerkenswert bleibt, dass beide die Gestalt Luthers, in Gegenzug zu seiner nationalisti-
schen Heroisierung, unter gleichem Komödien-Blickwinkel betrachtet haben und dabei
auf die Hochzeit des Mönchs Luther als geeigneten Stoff gekommen sind.
Was die Umsetzung der geistesgeschichtlichen Konstellation in dramatische Handlung
betrifft, so gedachte der Autor offenbar vor allem das zentrale Figurendreieck Luther –
Katharina – Hieronymus über die psychologisch reizvoll heikle, aber auch ein wenig
triviale persönliche Ebene hinaus aufs Geistige auszudehnen, indem er in dem Antago-
nismus der beiden männlichen Hauptfiguren die Gegensätze von Luther und Erasmus,
Reformation und Renaissance, Theologie und moderner Wissenschaft, sprich: Koperni-
kus, bäurischem Provinzialismus und weltläufiger Urbanität mitklingen ließ (LH 219 ff.).
Jedoch auch weitere dialogisch brauchbare und geistig anspruchsvolle Konstellationen
registrierte er sorgfältig, so den szenisch ergiebigen, schon in früherer Lutherdrama-
tik aufgegriffenen heimlichen Besuch von Luthers Doktorvater, dem inzwischen zum
›linken Flügel‹ der Reformation übergegangenen und des Landes verwiesenen Karlstadt
bei seinem theologischen Widersacher Luther – ausgerechnet in dessen Hochzeitsnacht.
Dieser keineswegs »erfundene«, also »unhistorische« Besuch46 ist in der von Thomas
Mann ausgiebig benutzten Lutherbiographie von Roland H. Bainton erwähnt.47 Aller-
dings hat man den dramatischen Termin, nicht den Besuch selbst, inzwischen auch in
Frage gestellt.48
Was schließlich die zentrale Schwierigkeit betrifft, auf vertretbare Weise die Komplexi-
tät des historischen Luther und seiner Situation poetisch zu reduzieren, so ist wenigstens
eine konzeptuelle Leitlinie, die diesen Effekt haben könnte, deutlich zu erkennen: In den
Notizen zeichnet sich eine doppelte Optik des ›Entlarvens‹ ab, eine psychologische und
eine gesellschaftliche, die sich auf Widersprüche in Luthers Denken, Fühlen und Han-
deln richtet, exemplarisch aufgewiesen an dem Doppelereignis von 1525, Luthers Heirat
mitten im Bauernkrieg. Den an Nietzsche und Freud geschulten Psychologen Thomas
Mann reizten Widersprüche in Luthers Charakter, den an der Linie von Troeltsch, Max
Weber und der Deutschlanddiskussion im Exil orientierten Geschichtskritiker Wider-
sprüche in Luthers politisch-sozialer Haltung. Mit dieser zweifachen kritischen Sicht
hat Thomas Mann Tendenzen späterer Lutherdramen vorweggenommen und verbun-
den: In John Osbornes Schauspiel Luther dominiert eine freudianisch inspirierte psy-
208 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

chologische, in Dieter Fortes Theaterstück Martin Luther & Thomas Münzer eine von
marxistischer Reformationsdeutung angeregte politisch-soziologische Optik radikaler
›Entlarvung‹. Doch beide relativieren sich in ihrem Geltungsanspruch gegenseitig, in-
dem Luthers Werk einmal nichts anderes als Ausdruck seiner Kreatürlichkeit und seiner
Neurosen, das andere Mal nichts anderes als Funktion des Frühkapitalismus sein soll.
Indem Thomas Mann eine doppelte Optik installierte, vermied er allzu eindimensio-
nale Reduktion der historischen Komplexität Luthers. Außerdem sind bei ihm diese bei-
den zentralen kritischen Blickrichtungen durch zwei weitere Kontextbildungen um die
Figur Luthers ergänzt, die geistesgeschichtliche, die vor allem in der latenten Opposition
Luther – Erasmus enthalten ist, und die nationale, die Thomas Manns fortbestehende
Auffassung von Luther als einer der großen Symbolgestalten des ›deutschen Wesens‹
variieren sollte. Der religiöse Kontext dagegen bleibt in den Aufzeichnungen, obwohl der
Autor, wie ihr erster Teil beweist, Luthers Theologie zum ersten Mal genauer in den Blick
bekam und hier und da augenscheinliches Interesse für deren psychologische Dialektik
gewann, bemerkenswert blass.
Bei dem psychologischen Interesse an ›Entlarvung‹ à la Nietzsche flossen vermutlich
drei Motive ineinander: Thomas Manns Vorliebe für literarische Pathologien, die ihn
Luthers ›Anfechtungen‹ in Gestalt seelischer Depressionen und körperlicher Leiden – die
nach Luther von jenen herrühren können – minutiös registrieren ließ: »Gicht, Schlaflo-
sigkeit, Katarrh, Hämorrhoiden, Verstopfung, Stein, Schwindel und Ohrenklingen, ›wie
alle Glocken von Halle, Leipzig, Erfurt und Wittenberg‹.« (LH 235 f.) Ein zweites, viel-
leicht teilweise unbewusstes Motiv war das für Thomas Manns Schaffen und Denken
typische Projektionsspiel, das Luther in die Reihe der ›nordischen‹, der problematischen
Naturen stellte, denen der Autor des Tonio Kröger auch sich selbst zurechnete.
Das dritte, entscheidende psychologische Motiv gewann er aus seinem Misstrauen ge-
genüber Wagners hymnischem und Nietzsches hämischem Herausstreichen von Luthers
›Sinnlichkeit‹. Jahrhunderte lang hatte katholische Lutherpolemik die skandalträchtige
Heirat des ketzerischen Mönchs mit der entlaufenen Nonne, gelegentlich sogar die ganze
Reformation auf eine unbefriedigte Triebnatur Luthers zurückgeführt. In merkwürdiger,
nicht minder unhistorischer Umkehrung dieser Verdächtigung witterte Thomas Mann
gerade hinter Luthers langem Zögern, zu heiraten, nicht nur ganz allgemein »das sexu-
elle Problem« (LH 202), ein Schwanken zwischen asketischem Ideal und verdrängter
Sinnlichkeit, also auf der Linie von Nietzsches Formel von Luther als dem ›unmöglichen
Mönch‹, vielmehr ganz handfeste Zweifel bei Luther, ob er sinnlich genug sein wird und
in der Ehe überhaupt »den Vollzug zustande bringt« (LH 207). Also nicht »Mut zu seiner
Sinnlichkeit« wie Nietzsche, sondern – zweifellos ebenso unhistorisch – eher Angst vor
ihr diagnostiziert bzw. projiziert Thomas Mann, zumindest »seelisches Gemisch« (LH
202), Zwiespältigkeit, Verwirrung der Gefühle aufgrund der mehrfach genannten inne-
ren Widersprüche in Luther. Eigene Reflexionen von 1925 über die Ehe, in denen auch
Luthers Eheschließung genau 400 Jahre früher einbezogen ist, spielen wahrscheinlich
mit hinein.49
Der andere, der gesellschaftliche Entlarvungsblick richtete sich auf Luthers Predigen
für den geistlichen und wider den weltlichen Aufruhr, auf seinen Abscheu vor dem Bau-
ernkrieg, der doch, wie Thomas Mann meinte, das Produkt seiner Lehre im Wirklichen
war, vor dem er nun aber Angst bekommen habe. Er richtete sich auf Luthers »negatives
Verhältnis zum Früh-Kapitalismus« (LH 228), den er andererseits durch seine Arbeits-
ethik und seine Kritik weltlicher Kirchenmacht selber mitbefördert habe. So entnahm
Thomas Mann es aus Bemerkungen seiner Quellen, die sich auf Max Webers Protestan-
5. Komödie als mythisches Spurengehen und doppelte Optik des Entlarvens 209

tismus-These beziehen. Und sein Blick richtete sich, moderne politische Kategorien in
die Reformationszeit zurückprojizierend, auf ein Widereinander von demokratischem
und obrigkeitsstaatlichem Denken bei Luther, allgemeiner: von Radikalität und Kon-
servatismus, Fortschritt und Reaktion, Aufklärung und Aberglaube, Modernität und
Mittelalterlichkeit.
Das sind die aus Nachlassmaterial und Selbstzeugnissen des Autors erschließbaren
Umrisslinien von Thomas Manns geplantem Lutherschauspiel. Nicht erkennen lässt
sich an ihnen allerdings, wie er sich gedacht haben mag, erneute ernsthafte Luther- und
Geschichtskritik mit dem Humoristischen und Komödienhaften – sozusagen Doktor
Faustus mit Felix Krull – stimmig zu verbinden. Ganz abwegig ist, dass er die Refor-
mationszeit zum Spiegel der Nachkriegszeit und die Komödie über Luthers Hochzeit
zu einem indirekt politischen Zeitstück hätte machen wollen.50 Ungewiss ist schließlich,
ob er, trotz beachtlicher Annäherung an den realen Reformator, über sein fixes Bild von
Luther als einem ›dämonischen Deutschen‹ wirklich hinausgelangt ist. Dennoch darf
dieser Dramenplan interessanter und anspruchsvoller genannt werden als sämtliche re-
alisierte Lutherdramen vor ihm.
210 X. Der dämonische Deutsche. Thomas Manns Lutherbild

Anmerkungen
1 Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 12, S. 513.* – Weitere
Nachweise mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl.
2 Thomas Mann: Tagebücher (I) 1918–1921, S. 54.* – Weitere Nachweise mit Sigle T,
römischer Band- und arabischer Seitenzahl.
3 Vgl. Kapitel VI.
4 Thomas Mann: Briefe an Paul Amann, S. 58.
5 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. IV/1, S. 343.
6 Wagner: Das braune Buch, S. 183 f.; vgl. Strobel: Richard Wagner, S. 158–160.
7 Nietzsche: Werke, Bd. 2, S. 840.
8 Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 9, S. 116.
9 Nielsen: Thomas Manns Vorarbeiten, S. 107; vgl. Lehnert: Thomas Mann, S. 210,
255 f., Anm. 121.
10 Nietzsche: Werke, Bd. 2, S. 840.
11 Ebd., S. 884 f.
12 Ebd., Bd. 1, S.466.
13 Fuhrmann: Unüberwindliche Ambivalenz, S. 47–70.
14 Fiedler: Luthertum oder Christentum? S. 4, 11, 50.
15 Preuß: Luther. Der Deutsche, S. 19.
16 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 538; vgl. Kapitel V.
17 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 645.
18 Ebd., Bd. 3/4, S. 32.
19 Nietzsche: Werke, Bd. 1, S. 466.
20 Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, S. 59.
21 Nietzsche: Werke, Bd. 1, S. 593, 885, Bd. 2, S. 229–232, Bd. 3, S. 1159.
22 Ebd., Bd. 2, S. 1234; vgl. Kapitel VI.
23 Elsaghe: Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 51.
24 Walser: Selbstbewußtsein und Ironie, S. 97.
25 Schwöbel: Der »Tiefsinn des Herzens«, S. 59, 74 f.
26 Mecklenburg: »Wie ist dieses Schweigen zu nehmen?« S. 134–138.
27 Künneth: Luther und Thomas Mann, S. 425 ff.
28 Thomas Mann: Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 3, S. 465.
29 Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, 1. Aufl., S. 95 f.
30 Bornkamm: Volk und Rasse bei Martin Luther; Luthers Bedeutung für die deutsche
Kultur; Luther und der deutsche Geist; Hochschule und Nationalsozialismus.
31 Vgl. Kapitel VIII.
32 Karl Barth: Luther, in: Neue Zürcher Zeitung v. 10.11.1933, S. 1 f.
33 Lehnert: Thomas Mann, S. 195.
34 Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 66.
35 Nietzsche: Briefwechsel, Abt. 1, Bd. 2, S. 322.
36 Kohlschmidt: Musikalität, Reformation und Deutschtum, S. 106, 109 f., 112.
37 Lehnert: Thomas Mann, S. 198.
38 Wysling: Thomas Manns Plan, S. 16.
39 Thomas Mann: Notizen zum geplanten Schauspiel Luthers Hochzeit.* (Sigle LH)
40 Schwöbel: Der »Tiefsinn des Herzens«, S. 74 f.
41 Cisek: Begegnungen mit Thomas Mann, S. 376.
42 Lehnert: Thomas Mann, S. 255 f.
Anmerkungen 211

43 Wysling: Thomas Manns Plan, S. 18 f.


44 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 185.
45 Nietzsche: Werke, Bd. 2, S. 840.
46 Lehnert: Thomas Mann, S. 222.
47 Bainton: Hier stehe ich, S. 250.
48 Bornkamm: Martin Luther in der Mitte seines Lebens, S. 366.
49 Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 38 ff., 293 ff.
50 Mehring: Ehekomödie als Deutschlandplan? S. 37–53.

Das könnte Ihnen auch gefallen