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Philologische Fakultät

der Universität Belgrad

Seminararbeit im Rahmen des Kurses “Deutsche Literatur 7/8”

“Professor Unrat" von Heinrich Mann

Autorin: Ana Stančić, 2018/00447


Dozentin: Prof. Dr. Aleksandra Lazić-Gavrilović

Belgrad,
Januar 2024
Inhaltsverzeichnis

1) Heinrich Mann- Leben und Werk


2) Zeitgeschichtlicher Hintergrund
3) Gesellschaftsroman
4) Aufbau des Romans
5) Der Protagonist
6) Schule und Bildung
7) Kritik an Bürgertum
8) Literaturverzeichnis
1. Heinrich Mann- Leben und Werk

Am 27. März 1871 wurde Heinrich Mann als erstes Kind des hoch angesehenen Kaufmanns
Johann Thomas Heinrich Mann und seiner Frau Julia in Lübeck geboren. Mit seinen vier
jüngeren Geschwister Thomas, Julia, Carla und Victor wuchse er in großbürgerlichen und
wohlhabenden Verhältnissen auf, wobei ihr Vater seit 1877 Senator war. Nachdem Mann das
Gymnasium 1889 vorzeitig verlassen hatte, machte er eine Lehre als Buchhändler in Dresden.
Von August 1890 bis 1892 volontierte er beim S. Fischer Verlag in Berlin. Er besuchte zugleich
Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelm-Universität, um seine literarischen Kenntnisse zu
erweitern und veröffentlichte seine ersten Theaterkritiken. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr
1891 verschaffte ihm die anschließende Auflösung des Unternehmens die finanzielle
Unabhängigkeit. Die Manns verließen Lübeck und zogen nach München.

Heinrich ging auf Reisen und war in den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg ohne festen
Wohnsitz. Besonders wichtig für ihn war die Zeit, die er mit seinem jüngeren Bruder Thomas in
Italien verbrachte. Mit finanzieller Unterstützung seiner Mutter veröffentlicht er 1894 seinen
ersten Roman "In einer Familie", der eine Analyse des inneren Lebens und der Moral darstellt.
"Im Schlaraffenland" aus dem Jahr 1900 ist der erste der großen Romane Heinrich Manns, in
dem er den Wilhelminismus meisterhaft persifliert. 1903 schrieb er den Roman "Die Jagd nach
Liebe", dessen Inhalt stark seiner Beziehung zu seiner Schwester Carla ähnelt, zu der Heinrich
eine besondere Beziehung hatte. Im Jahr 1905 erschien Professor Unrat. Im Jahr 1910 nahm sich
die jüngste Schwester Carla das Leben, worüber Heinrich Mann nur schwer hinwegkam.

Bei den Proben zu seinen Stücken lernte er seine zukünftige Frau, die Prager Schauspielerin
Maria Kanová, kennen. Heinrich Manns einziges Kind Leonie wurde in 1916 geboren. Sein
wichtigster Roman "Der Untertan" erschien als Fortsetzungsroman in einer Münchner
Zeitschrift, wurde aber zu Beginn des Ersten Weltkriegs abgesetzt.

In den ersten Kriegsjahren widmete sich Heinrich zunehmend gesellschaftskritischen Themen.


Während sein jüngerer Bruder Thomas Ende 1914 in seinem Aufsatz "Gedanken im Krieg" den
Krieg befürwortete, stand Heinrich im Mittelpunkt der bürgerlichen Opposition als Gegner des
Krieges. Die Brüder stritten sich öffentlich wegen ihrer politischen Ansichten. Erst 1922, als
Heinrich im Alter von 51 Jahren schwer erkrankte, kam es zur Versöhnung.

Die Nachkriegsjahre sind Heinrich Manns erfolgreichste Jahre, denn 1918 erschien sein
wichtigstes Werk "Der Unertan". Er ergänzte dieses Werk durch die Schilderung des Proletariats
("Die Armen", 1917) und der Bürokratie und Diplomatie ("Der Kopf", 1925) und fasste sie unter
dem Titel "Kaiserreich" zusammen. Heinrich Mann lernte seine zweite Frau Nelly Kröger 1929
kennen, ein Jahr vor seiner Trennung von Maria Kanová Auf dem Höhepunkt seiner Karriere
wird der Dichter ein Jahr später zum Präsidenten der Sektion Dichtkunst der Preußischen
Akademie der Künste gewählt. Anfang 1933 unterzeichnet er einen Appell zu einer Vereinigung
von SPD und KPD gegen die NSDAP - gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein.
Gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein unterzeichnet Mann Appelle für ein
gemeinsames Vorgehen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) gegen die Nationalsozialisten. 1933 musste er
nach Frankreich emigrieren. In seinem Heimatland wurde ihm sofort die deutsche
Staatsbürgerschaft abgenommen, und auch seine Bücher wurden von den Nazis bei den
Bücherverbrennungen 1933 öffentlich vernichtet. Mann vollendete den zweibändigen
historischen Roman "König Henri Quatre".

1940 floh Mann aus Frankreich und ließ sich in Los Angeles nieder, wo ihm sein Bruder Thomas
einen Vertrag als Drehbuchautor bei Warner Brothers sicherte. Nach dem Ende des Vertrags
erhielt er finanzielle Unterstützung von seinem Bruder Thomas. Er hat seine Frau durch
Selbstmord 1944 verloren. Heinrich Mann greifte in seinem Erinnerungsbuch “Ein Zeitalter
wird besichtigt” weit über seine eigenen Lebensdaten hinaus. Heinrich Mann plante gerade, die
USA zu verlassen, als er am 11. März 1950 in Santa Monica starb. Auf Veranlassung der DDR-
Behörden wurde die Urne nach Ost-Berlin geholt.

2. Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Obwohl Professor Unrat keine präzise Zeit- und Ortbeschreibung gibt, deuten die Beschreibung
von Orten und städtischen Gesellschaftsschichten darauf hin, dass die Handlung des Romans in
den 1880er- oder 1890er-Jahren in Lübeck, der Heimatstadt von Heinrich Mann, spielt.
Deswegen hängen das Verständnis und die Interpretation des Romans vom Zeitkontext ab.

Der Zeitraum von 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wird als Wilhelminisches Zeitalter
bezeichnet. Otto von Bismarck wurde im Jahr 1890 vom letzten deutschen Kaiser Wilhelm II
(1859-1941) entlassen.

Als höchste und von Gott legitimierte Autorität stand der Kaiser an der Spitze des Staates.
Kirche, Adel und Militär unterstützten und förderten seine Autorität, die in einem
unterschiedlichen bürokratischen System organisiert war. Im Personenkult des Kaisers spiegelt
sich die nationalistische, imperialistische und militaristische Mentalität der Epoche.

Unter der Herrschaft von Kaiser Wilhelm II wurde eine imperialistische Großmachtpolitik
praktiziert. Er strebte danach, das Deutsche Reich zur Weltmacht zu machen. Die Bemühungen
zur Kolonialisierung sowie der ausgeprägte Militarismus und Nationalismus zeigten dieses Ziel.
Das politische Geschehen wurde von der sich rasant entwickelnden Industrie und dem
Wettbewerb zwischen den Großmächten bestimmt.

In kürzester Zeit hat Deutschland von einem Agrarstaat zu einem Industrieland gewandelt.
Insbesondere die Modernisierung der deutschen Flotte führte zu einem Wirtschafts- und
Industrieboom. Neue Industriezweige, neue Großproduktionen und Unternehmen wurden
gegründet, die eine neue Oberschicht der Gesellschaft hervorbrachten, die aus Fabrikanten,
Ärzten und Unternehmern jeglicher Art bestand. Jedoch hatten kleinere Städte wie Lübeck die
Industrialisierung noch weitgehend ignoriert.

Die Schicht der Kaufleute dominiert in der hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Sie bestimmt
die Wirtschaft und Politik der Stadt. Das Bildungsbürgertum wird hochgeschätzt, auch wenn es
schlecht bezahlt ist, um die materiell fundierte Kultur geschickt und künstlerisch zu schmücken.

Im damaligen Deutschland dominierte das Militär, das vom Kaiser so bevorzugt wurde. In der
deutschen Gesellschaft wurde das Soldatentum aufgrund der Paraden und Manöver überschätzt.
Das zivile Leben der damaligen deutschen Gesellschaft wurde durch die Vorliebe Wilhelms II.
für den Militarismus, die Ordnung und die Hierarchie beeinflusst. Im Wilhelminismus-
Schulsystem wurde großer Wert auf Gehorsamkeit gelegt.

Lübeck war wie alle anderen Städte des Kaiserreichs von einer hierarchischen
Gesellschaftsstruktur geprägt. Die reichen Kaufleute standen an der Spitze der Hierarchie und
übten großen Einfluss auf Politik und Wirtschaft aus. Ein Großteil der Bevölkerung gehörte dem
Mittelstand an, der Beamte wie Lehrer oder Offiziere, selbstständige Gewerbetreibende und
Handwerker umfasste. Aber es gab die meisten Mitglieder der sozialen Unterschicht, die aus
einfachen Arbeitern und Bediensteten bestand. Da die Industrie noch nicht sehr weit
fortgeschritten war und die Gesellschaft noch in spätmittelalterlichen, fast feudalen Strukturen
verhaftet war, war diese gesellschaftliche Struktur in der kleinen Stadt Lübeck besonders
unbeweglich. Lübeck hat im monarchisch organisierten Kaiserreich einen besonderen Status, da
sie ähnlich wie in Bremen oder Hamburg durch das städtische Patriziat geführt wird, im
Gegensatz zur üblichen fürstlichen Ein-Personen-Herrschaft.

3. Gesellschaftsroman

Im Jahr 1922 schrieb Heinrich Mann an Paul Hatvani in Bezug auf die Funktion eines
Schriftstellers:

„Durchweg sind meine Romane soziologisch. Den menschlichen Verhältnissen, die sie
darstellen, liegen überall zu Grunde die Machtverhältnisse der Gesellschaft. Die am häufigsten
durchgeführte Idee ist eben die der Macht.“

Der soziale Roman oder Gesellschaftsroman erlangte seine charakteristische Form im England
des 18. Jahrhunderts, wo er die bürgerliche Gesellschaft darstellte; jedoch erreichte er seinen
Höhepunkt erst in Frankreich.

Der Gesellschaftsroman wurde von Schriftstellern wie Émile Zola, Gustave Flaubert, Honore de
Balzac und Stendhal zum wichtigsten Mittel der Gesellschaftskritik. Europa erlebte während der
Französischen Revolution den Freiheitsgeist der Revolution. Die französischen Schriftsteller
bemühten sich, ihre Gefühle angesichts der Auflösung der alten Gesellschaft in einer poetischen
Form auszudrücken. Von diesem Zeitpunkt an schien es Autoren unmöglich zu sein, den
Charakter einer Figur ohne ihren gesellschaftlichen Hintergrund zu beschreiben. Dies führte zur
Idee, dass ein bestimmtes soziales Umfeld die Entwicklung des menschlichen Charakters
beeinflusst. Deutschland schätzte Frankreich als kulturelles Vorbild.

Heinrich Manns satirische Werke, die die Schattenseiten der wilhelminischen Gesellschaft
darstellen, stießen auf großes Missverständnis und wurden auch dafür kritisiert, wie seine
Zeitgenossen seine Werke annahmen. Als Ergebnis dieser Reaktionen waren die Verkaufszahlen
seiner Bücher entsprechend schlecht. Heinrich Mann stellt die Gesellschaft in verschiedenen
Bildern dar, überwiegend in Konversationsform präsentiert und dargestellt.

Heinrich Mann beschränkt die Handlung, um die Gesellschaftsbilder detailliert zu beschreiben.


Kritik oder Ironie werden verwendet, um Themen vorzustellen. Durch den Typisierungsprozess
der Figuren wird ein bestimmtes Thema aus mehreren Perspektiven diskutiert und erzählt, um
die verschiedenen gesellschaftlichen Standpunkte zu vertreten.

Satire war ein bedeutendes Stilmittel in Manns Werken. Dadurch stellt er die Wiedersprüche der
solzialen Strukturen dar. Durch eine überspitzte Darstellung der Charaktere und ihrer Werte
kritisiert die Satire die Gesellschaft. So entsteht Satire aus diesem Widerspruch zwischen
Theorie und Wirklichkeit, sowie zwischen Vernunft und Unvernünftigkeit, Moral und
Herrschaftsmoral. Die Besserung von Verhaltensweisen oder die moralische Besserung der
Gesellschaft ist eine der Funktion der Satire selbst.

4. Aufbau des Romans

Der Roman Professor Unrat von Heinrich Mann hat eine bemerkenswerte dramatische Struktur.
Der Beginn führt in die sozialen Umstände, die Zeit und den Ort und insbesondere in den
Charakter und die Handlungen der Personen, Die begende dramatischen Handlungsimpulse
stammen aus dem tyrannischen Verhalten des Professors Raat, auch bekannt als Unrat. Ein
spannungsgeladener Konfliktprozess beginnt mit seinem unbedingten Wunsch, sich selbst zu
erheben, indem er die anderen herabsetzt. Schule ist der Ort, an dem Macht und Herrschaft,
Unterdrückung und Demütigung stattfinden. Die Schule entwickelt sich zu einem Schreckensort
für den Tyrannen und spiegelt die bis zum Ende autoritäre wilhenische Gesellschaft wider, die
den sozialen Handlungsrahmen bildet.

Die Entdeckung eines Gedichtentwurfs im Aufsatzhelfer des Schülers Lohmann, in dem eine
unbekannte Künstlerin namentlich erwähnt wird, dient als anregendes Ereignis, um die Handlung
zu steigern. Wenn man die Schule verlässt, wechselt die Szene wirkungsvoll.

Es wird angenommen, dass der Blaue Engel der Ort ist, an dem die Peripetie beginnt und den
Umschwung in der Handlung einleitet. Die Schule wird immer mehr von dem Animierlokal
verdrängt, das durch die Entlassung von Unrat aus dem Blickfeld verschwindet. Vor den Toren
der Stadt kommt es zu einem weiteren Szenario, in dem Rosa in eine Villa mit Unrat gezogen ist.
Die Villa ist ein Ort der Anarchie, während die Schule ein Ort der sittlich organisierten
Herrschaft ist. Die Ordnung verwandelt sich in Chaos. Erst die Rückkehr von Lohmann stoppt
eine erneute Peripetie von Unrat während seiner höchsten Macht. Lohmann ist ist der Auslöser
der steigenden bzw. zum Schluss der fallenden Handlung. Der Protagonist weist groteske Züge
auf, wobei sein Wunsch nach Herrschaft aus seinem eigenen Unterworfensein entstand.

5. Der Protagonist

Der 57-jährige Professor Fat wirkt in seiner äußeren Erscheinung eher wie eine Karikatur. Sein
giftiger Blick ist scheu und rachedurstig zugleich, es ist "der Blick eines Tyrannen mit
schlechtem Gewissen, der in den Falten seines Mantels nach Dolchen sucht".

Seit langem wird er von Schülern und Kollegen "Unrat" genannt, ein offensichtlicher Missbrauch
seines Namens. Raat empfindet seinen Spitznamen als Angriff auf seine Würde, Deshalb hat er
es sich zur Aufgabe gemacht, jedem seiner Schüler zu beweisen, dass er diesem Namen gerecht
werden wird.

Seinen Schülern erscheint er als “ein gemeingefährliche(s) Vieh, das man leider nicht
totschlagen durfte".
Er definiert sich über seinen Beruf, der ihm Prestige in der Stadt bringt, auch wenn sein Leben
nicht so glamourös: nach dem Tod seiner Frau lebt Rat in eher ärmlichen Umständen. Es war
eine arrangierte, lieblose Ehe, aus der er einen Sohn hatte.

Aufgrund seines Status hält er sich für einen Herrscher und hat die gleichen Rechte wie die
besitzenden Bürger. Er fühlt sich verpflichtet, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten und
gegen rebellische Schüler zu verteidigen.

Er sieht die Schule auch als einen Staat im Staat und ist überzeugt, dass die Schüler so behandelt
werden sollten, wie der Kaiser seine Untertanen behandelt. Unrat ist ein Fanatiker der Disziplin
und des unbedingten Gehorsams. Er glaubt, dass Unachtsamkeit, mangelnde Leistung und
Lachen gleichbedeutend mit Widerstand gegen die Regierung sind. Alles, was mit dem Körper
und den Sinnen zu tun hat, ist ein Ausdruck moralischer Verkommenheit.

Als Lehrer für Literatur fühlt er sich den Werken der Klassiker verbunden, ähnlich wie Homer
und Friedrich Schiller. Er hat auch das Vokabular aus diesen Werken in seinen Sprachstil
übernommen. Andererseits hat er Schwierigkeiten, den Dialekt und die Umgangssprache der
Menschen zu verstehen.

Sein zwanghafter Drang, seine drei Schüler bei ihrem Unfug zu ertappen, führte ihn an einen
unerwarteten Ort: die Kneipe "Der blaue Engel". Die Begegnung mit der Künstlerin Rosa
Fröhich war ein Wendepunkt in seinem Leben. Wegen der Liebe zu einer Barfußtänzerin in
verlässt Unrat allmählich seine bürgerlichen Vorstellungen. Unrat wollte alles tun, um sie von
seinen Schülern fernzuhalten, was darin endete, dass er sie heiratete und seinen ehrenwerten
Beruf aufgab. Andererseits hat er Angst, dass seine neu entwickelte Zartheit ihn daran hindern
könnte, seine Gegner zu verfolgen. In Unrat tobt eine doppelte Leidenschaft, angefacht von Hass
und Liebe.

Als Außenseiter, der einer feindseligen Gesellschaft ausgesetzt ist, ist Unrat eine typisch
literarisch verarbeitete existentielle Erfahrung des entfremdeten Individuums um die
Jahrhundertwende.

Auf dem Schulgelände fühlt er sich sicher, aber wenn er durch die Stadt läuft, ist er in ständiger
Anspannung, dass er seinen Spitznamen an jeder Ecke hören könnte. Dieser ständige paranoide
Zustand schafft eine Persönlichkeit, die dazu tendiert, die neutralen Handlungen anderer als
feindselig und misstrauisch zu interpretieren. Die Garderobe des Künstlers in der Kneipe ist
schließlich auch sein Terrain geworden. In diesem Moment hat Unrat seine eigenen Grenzen
überschritten, da er seine Identität über das Schulgelände hinaus erweitert hat.

Der Pfarrer bietet ihm die Verzeihung der höheren Gesellschaft an, wenn er seine skandalöse
Beziehung aufgibt. Unrat beschließt, die ganze Stadt gegen sich aufzubringen und verwandelt
sich vom Beschützer der bürgerlichen Moral in einen Anarchisten. Unrat projiziert nun seinen
Hass auf die Schüler auf die Bürger. Unrats Wohnhaus "Haus vorm Tor” liegt symbolisch am
Rande der Stadt, so wie ein Außenseiter am Rande der Gesellschaft sich befindet.

6. Schule und Bildung

Da wir unsere Hauptfigur gleich auf der ersten Seite in einer Schule kennen lernen, ist es nicht
verwunderlich, dass eines der Hauptthemen des Romans die Kritik am Bildungssystem ist.
Heinrich Mann übertrug das, was in der Schule passiert, auf die Gesellschaft als Ganzes.

Hier wird die häufigste Machtdynamik in einer Schule gezeigt, in der die Schüler unter den
tyrannischen Handlungen des Lehrers leiden. Obwohl er seit 26 Jahren Lehrer an einem
Gymnasium ist, spürt man sofort seine Unfähigkeit für den Lehrerberuf. Im Klassenzimmer
bringt Professor Unrat seinen Schülern weder Wissen noch Werte bei. Im Deutschunterricht lässt
er seine Klasse nur Szenen aus Die Jungfrau von Orleans auswendig lernen und sinnlose
Aufsätze schreiben. Mit unlösbaren Aufgaben will er es den Schülern unmöglich machen, den
Kurs zu bestehen. Durch Drohungen und Strafen will er seine Schüler daran hindern, kritisches
Denken zu entwickeln und lehrt sie stattdessen blinden Gehorsam, eine Schlüsseleigenschaft
eines guten Bürgers.

Die Orientierung von Dramen und Balladen der klassischen deutschen Literatur an idealistischen
Werten legt einen Schein von Freiheit und Würde über eine zutiefst unfreie und
individualitätsfeindliche Gesellschaft. Jeder Versuch, eine eigene Identität zu etablieren, wird
missbilligt. Kollektive Disziplin ist ein Ersatz für Bildung, die die Individualität fördert. Das
Hauptziel ist die Identifikation mit dem Vaterland und das göttliche Bild des Herrschers. Sein
Unterricht eliminiert fortschrittliche, demokratische Werte. Die Schule und die Lehrer sind ein
Instrument zur Stabilisierung der Herrschaft über das Volk des Deutschen Reichs.

Anstatt seine Autorität zu nutzen, um seine Schüler durch Bildung zu führen, sieht er sich als
Herrscher, der diese Macht als über das Schulgelände hinausgehend betrachtet. Hier haben wir
es mit einer ganz gewöhnlichen Machtdynamik in einer Schule zu tun, in der die Schüler unter
den tyrannischen Handlungen des Lehrers leiden.

Der Fokus auf Form statt auf Substanz zeigt sich auch in der Art, wie Unrat spricht: Er
verwendet übertriebene Redewendungen, ein Vokabular, das eher in die lateinische Zeit gehört,
mit vielen sinnlosen Füllwörtern.

Auf diese Weise wird die Distanz zwischen dem Lehrer und seinen Schülern, die vor allem auf
mangelnde pädagogische Fähigkeiten zurückzuführen ist, noch größer.Für Unrat ist der Beruf
des Lehrers ein soziales Kapital und keine echte Lebensberufung.

Die Schüler verhalten sich nicht bloß wie Marionetten. Insbesondere der Student Lohmann hat
die Möglichkeit, seine Bewegungsfreiheit wiederherzustellen und diese zu nutzen. Die
Schülerrolle wird von Heinrich Mann geändert und der tyrannische Lehrer bekommt ein neues
Ende.

7. Kritik an Bürgertum

Der Gymnasialprofessor Unrat gehört dem Bildungsbürgertum an. Obwohl er arm war und
verspottet wurde, genoss er aufgrund seiner akademischen Ausbildung den Status der höheren
Schicht. Er war überzeugt, dass sein Beruf als Gymnasialprofessor ihm den entsprechenden
Respekt von seinen Mitmenschen verschafft. Seine Arroganz gegenüber den weniger Gebildeten
zeigt sich in der Szene mit dem Schuhmacher Rindfleisch: Er spricht zu ihm in einem
gebieterischen Ton. Das Bürgertum unterscheidet sich von den ungebildeten Schichten unter
anderem durch eine gehobene Hochsprache. Obwohl es eigentlich Bewunderung hervorrufen
soll, wirkt es bei Unrat unnatürlich, und eher lächerlich. Seine mangelnden
Kommunikationsfähigkeiten isolieren ihn noch mehr von der Gesellschaft, da er sich bei jeder
Begegnung peinlich fühlt.

Bräuche und Sitten spielten in der wilhelminischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, wobei die
patriarchalische, bürgerliche Familie das Idealbild der moralischen Tugenden ist.

Darüber hinaus ist die Sexualmoral zentraler Bestandteil der bürgerlichen Moralvorstellung: alles
Sexuelle ist tabu und unterdrückt. Eine praktizierte Doppelmoral entsteht häufig aufgrund dieser
starken und streng genehmigten Normen. Während in der Öffentlichkeit strikte Enthaltsamkeit
praktiziert wird, geben sich die Bürger in Kneipen wie dem "Blauen Engel" sinnlichen
Vergnügungen hin.

Männer und Frauen hatten eine ungleiche Verteilung der sexuellen Moral.

Die offizielle Moral bezeichnete männliches Fehlverhalten als Heuchelei und Verlogenheit. Auf
der anderen Seite wurden Verstöße bürgerlicher Frauen gegen Keuschheit und Treue als
unverzeihlich angesehen. Nur Männer können sexuelle Beziehungen zu Prostituierten oder
Personen aus unteren sozialen Schichten wie Dienstmädchen aufrechterhalten, solange sie diese
Beziehungen vor der Öffentlichkeit geheim halten.

Als Unrat durch die Begegnung mit Rosa immer mehr zu diesem Lebensstil übergeht,
überschreitet er öffentlich die Grenzen der moralischen Ordnung, was bei der
Gerichtsverhandlung für alle deutlich wird. Die Bewahrung der gesellschaftlichen Sittlichkeit
beherrscht den ersten Handlungsstrang bis Kapitel 12. Die letzten Kapitel des Romans schildern
den Zusammenbruch bürgerlicher Werte. Die Villa vorm Tor, in der Unrat nach seiner mit seiner
jungen Frau Rosa Fröhlich ein neues Leben beginnt, wird bald zu einem Freizeitclub, in dem
man ohne Einschränkungen von Sitte und Moral Geld verdient und sich sexuelle Befriedigung
verschaffen kann. Unrat nutzt seine eigene Frau als Mittel zur Verführung seiner Feinde und
führt sie dadurch moralisch und finanziell ins Verderben. Dennoch wird die Klientel von Unrat
immer vielfältiger und kommt aus allen Gesellschaftsschichten der Stadt. Darunter waren auch
diejenigen, die den gesellschaftlichen Wertekonsens aufrechterhalten sollten, wie Konsul
Breetpoot, die Richter des Hühnengrab-Prozesses, Polizeirat Flad und Oberlehrer Richter, sogar
Pfarrer Quittjens. Die bürgerlichen Wertesysteme brechen schnell und unaufhaltsam zusammen,
wenn ethische Werte und Möglichkeiten zur Intervention fehlen. Die Bürger lassen sich von Gier
und sexuellem Verlangen korrumpieren und zeigen so die moralische Instabilität der
Gesellschaft auf. Sie verlieren nicht nur ihr Ansehen und ihren Respekt, sondern auch sein
gesamtes Vermögen.

8. Literaturverzeichnis

 Mann, Heinrich: Professor Unrat. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1994.


 Ebersbach, Volker: Heinrich Mann – Leben, Werk, Wirken. Leipzig: Philip Reclam jun.,
1978.
 Schröter, Klaus: Heinrich Mann. 20. Aufl. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag,
2002.

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