Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Er hat seinen Erfolg noch erlebt und begeisterte Anhänger in Italien, Nordame-
rika, Polen gehabt, als er aus Gesundheitsrücksichten 1908 vom Lehramt zurück-
trat. Seinem Freunde Lester Ward schrieb er 1908 von einer Zungenverletzung, die
von den Ärzten als Krebs diagnostiziert werde. Nachdem er sein letztes Werk, die
„Sozialphilosophie“ beendet hatte, schied er im März 1909 mit seiner erblindeten
Gattin in gegenseitigem Einverständnis freiwillig aus dem Leben. Die Nachrufe
von Ward und Kochanowski (im American Journal of Sociology, Band XV, 1909)
zeugen von der Trauer, die ob dieses Verlustes in der wissenschaftlichen Welt
herrschte.
Von seinen Schülern und Anhängern ist zunächst Franco Savorgnan zu nennen,
dessen gesammelte erste Aufsätze unter dem Titel „Soziologische Fragmente“2 er-
schienen sind. Er hat den „Beitrag zur Soziologie der Eroberung und Unterwer-
fung“ seinem Lehrer gewidmet und mit der Erklärung der Berichte Livingstones
und Ratzels von dem Reich der Makololo, der ephemeren Staatsgründung Sebitu-
anes, einen der schönsten Belege für Gumplowicz’s Theorie beigebracht. Wie
Gumplowicz selbst Vorläufer und Verwandte in der Geistesgeschichte entdeckte,
vor allem ist sein Hinweis auf Ibn Chaldun bedeutsam, hat Savorgnan in Carlo
Cattaneos Werken Anklänge und Vorahnungen der neuen Staatslehre mit ihrem
Kampf- und Interessenprinzip gefunden. Cattaneo (1801–69) ist in seiner Heimat
mehr als Vorkämpfer des Risorgimento denn als Staatstheoretiker bekannt.
Einen anderen Schüler, Kochanowski, hat Gumplowicz überschätzt. Seine „Ur-
zeitklänge“3 (und sein Vortrag über „Führer und Masse“) enthalten zwar eine origi-
nelle Massenpsychologie, sind aber ohne systematische Ordnung. Sein nächster
Freund und Schüler war Gustav Ratzenhofer, durch ihn hat seine Lehre auf Small
und auch Ross, die bekannten amerikanischen Soziologen, gewirkt.
In Deutschland hat außer Ratzenhofer nur Franz Oppenheimer Gumplowicz’s
Lehre aufgenommen und fortgebildet. Seine glänzend geschriebene Monografie
„Der Staat“ erschien 1908, noch zu Lebzeiten des Meisters. Inzwischen ist diese
kleine Schrift zu seinem umfassenden Werke: „Soziologie des Staates“ (System
der Soziologie, II. Teil) geworden, das in der Staatserklärung auf der Eroberungs-
und Unterjochungsthese beruht.4 Vom primitiven Eroberungsstaat ausgehend wird
die Entwicklung des Feudal- und Stände-, des absoluten und konstitutionellen
Staats entwickelt als Rechtsinstitution der herrschenden Klasse. Mit einer impo-
2
Verlag Wagner, Innsbruck 1909, und Studi critici di Sociologica, Modena 1925.
3
Urweltklänge und Wetterleuchten. Geschichtliche Gesetze, Verlag Wanger, Innsbruck 1910.
4
Vgl. den Beitrag Oppenheimers zum I. Band des „Jahrbuchs der Soziologie“, Karls-
ruhe, 1925.
I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926) 83
santen Architektonik ist hier das Gebäude aufgeführt, zu dem Gumplowicz den
Grundstein legte.
In Italien haben die Sozialdarwinisten wie Vaccaro und Vanni seinen Einfluß
erfahren. Vor allem Vaccaros Buch „Le basi del diritto e dello Stato“ (Turin 1893)
hat ähnliche Thesen wie „Der Rassenkampf“ verfochten.
Das Schweigen der deutschen Professoren, auch Ratzenhofer gegenüber, erklärt
Gumplowicz selbst im Vorwort zur dritten Auflage des Staatsrechts, S. XII (1897):
„Ex Oriente kommt beides? Soll das neue deutsche Reich von Österreich her Ge-
danken importieren? Nein! (…) Sie werden die unbeliebte Marke ‚made in Aus-
tria‘ schon doch einmal beziehen müssen, wenn auch auf dem Umwege über das
weite und weiteste Ausland.“ Er meinte über Amerika, wo Ward die Lehre vom
Rassenkampf als bedeutendsten Beitrag einer wirklich aufbauenden Soziologie
(1904) bezeichnet hatte.5
Über die schwarzweißroten Grenzpfähle hat die österreichische Wissenschaft
selten herübergewirkt. Das neue deutsche Reich und das alte Österreich waren kul-
turell, wie politisch geschieden. Natürlich mußte die Trennung eine gesonderte
Entwicklung der mit Politik und Kulturpolitik zusammenhängenden Wissenschaf-
ten ergeben. Die Österreicher wirkten in Italien, Westeuropa, Amerika mehr als in
Deutschland, wo sie als Außenseiter erschienen, wie z. B. die beiden Menger, oder
als völlig eigene Schule, wie die Neomarxisten und Grenznutzler. Lorenz von Stein
hat nach seinem Tode ehrenvolle Nachrufe als einziges Echo seit seiner Übersied-
lung erhalten. Gumplowicz und Ratzenhofer wurden totgeschwiegen.6 – Die Öster-
reicher waren auch in ganz anderen Verhältnissen und vor Problemen, die man in
Preußen-Deutschland nicht verstand oder nicht verstehen wollte, und sicher ist als
eine Voraussetzung und Bedingung österreichischer Staatswissenschaft die beson-
dere politische Lage anzusehen, der Nationalitätenkampf; vor allem bei Gumplo-
wicz. In der „Sozialphilosophie“, in der der radikale Pole die Parteien des alten
Österreich bekämpft und der Positivist als Enkel der Aufklärer spricht, ist er natür-
lich subjektiver als in „Rassenkampf“ und „Staatsrecht“, in denen der Mensch der
geistigen Ober- und sozialen Unterklasse die Ideen des politisch-ökonomischen
Kampfes als Gruppentheorien, Illusionen und Suggestionen enthüllt und wie ein
Neutraler versucht, zwischen den Streitenden zu stehen.
In dem Koloniallande Österreich, der Mark gegen die Slawen, waren die Deut-
schen als Grund-, Berg- und Ratsherren die Staats- und Kulturträger gewesen, die
5
Siehe L. Ward: Soziologie von heute. Verlag Wagner, Innsbruck 1904.
6
Rezensionen sind zu nennen nur von wenigen, während G. selbst sehr viel kritisierte. Vgl.
die Bio-bibliographie v B. Zebrowski, Verlag R. Prager, Berlin 1926 [Bernhard Zebrowski:
Ludwig Gumplowicz: Eine Bio-Bibliographie].
84 I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926)
7
Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. 1. Auflage Wien 1907.
I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926) 85