Sie sind auf Seite 1von 5

82 I.

6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926)

Er hat seinen Erfolg noch erlebt und begeisterte Anhänger in Italien, Nordame-
rika, Polen gehabt, als er aus Gesundheitsrücksichten 1908 vom Lehramt zurück-
trat. Seinem Freunde Lester Ward schrieb er 1908 von einer Zungenverletzung, die
von den Ärzten als Krebs diagnostiziert werde. Nachdem er sein letztes Werk, die
„Sozialphilosophie“ beendet hatte, schied er im März 1909 mit seiner erblindeten
Gattin in gegenseitigem Einverständnis freiwillig aus dem Leben. Die Nachrufe
von Ward und Kochanowski (im American Journal of Sociology, Band XV, 1909)
zeugen von der Trauer, die ob dieses Verlustes in der wissenschaftlichen Welt
herrschte.
Von seinen Schülern und Anhängern ist zunächst Franco Savorgnan zu nennen,
dessen gesammelte erste Aufsätze unter dem Titel „Soziologische Fragmente“2 er-
schienen sind. Er hat den „Beitrag zur Soziologie der Eroberung und Unterwer-
fung“ seinem Lehrer gewidmet und mit der Erklärung der Berichte Livingstones
und Ratzels von dem Reich der Makololo, der ephemeren Staatsgründung Sebitu-
anes, einen der schönsten Belege für Gumplowicz’s Theorie beigebracht. Wie
Gumplowicz selbst Vorläufer und Verwandte in der Geistesgeschichte entdeckte,
vor allem ist sein Hinweis auf Ibn Chaldun bedeutsam, hat Savorgnan in Carlo
Cattaneos Werken Anklänge und Vorahnungen der neuen Staatslehre mit ihrem
Kampf- und Interessenprinzip gefunden. Cattaneo (1801–69) ist in seiner Heimat
mehr als Vorkämpfer des Risorgimento denn als Staatstheoretiker bekannt.
Einen anderen Schüler, Kochanowski, hat Gumplowicz überschätzt. Seine „Ur-
zeitklänge“3 (und sein Vortrag über „Führer und Masse“) enthalten zwar eine origi-
nelle Massenpsychologie, sind aber ohne systematische Ordnung. Sein nächster
Freund und Schüler war Gustav Ratzenhofer, durch ihn hat seine Lehre auf Small
und auch Ross, die bekannten amerikanischen Soziologen, gewirkt.
In Deutschland hat außer Ratzenhofer nur Franz Oppenheimer Gumplowicz’s
Lehre aufgenommen und fortgebildet. Seine glänzend geschriebene Monografie
„Der Staat“ erschien 1908, noch zu Lebzeiten des Meisters. Inzwischen ist diese
kleine Schrift zu seinem umfassenden Werke: „Soziologie des Staates“ (System
der Soziologie, II. Teil) geworden, das in der Staatserklärung auf der Eroberungs-
und Unterjochungsthese beruht.4 Vom primitiven Eroberungsstaat ausgehend wird
die Entwicklung des Feudal- und Stände-, des absoluten und konstitutionellen
Staats entwickelt als Rechtsinstitution der herrschenden Klasse. Mit einer impo-

2
Verlag Wagner, Innsbruck 1909, und Studi critici di Sociologica, Modena 1925.
3
Urweltklänge und Wetterleuchten. Geschichtliche Gesetze, Verlag Wanger, Innsbruck 1910.
4
Vgl. den Beitrag Oppenheimers zum I.  Band des „Jahrbuchs der Soziologie“, Karls-
ruhe, 1925.
I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926) 83

santen Architektonik ist hier das Gebäude aufgeführt, zu dem Gumplowicz den
Grundstein legte.
In Italien haben die Sozialdarwinisten wie Vaccaro und Vanni seinen Einfluß
erfahren. Vor allem Vaccaros Buch „Le basi del diritto e dello Stato“ (Turin 1893)
hat ähnliche Thesen wie „Der Rassenkampf“ verfochten.
Das Schweigen der deutschen Professoren, auch Ratzenhofer gegenüber, erklärt
Gumplowicz selbst im Vorwort zur dritten Auflage des Staatsrechts, S. XII (1897):
„Ex Oriente kommt beides? Soll das neue deutsche Reich von Österreich her Ge-
danken importieren? Nein! (…) Sie werden die unbeliebte Marke ‚made in Aus-
tria‘ schon doch einmal beziehen müssen, wenn auch auf dem Umwege über das
weite und weiteste Ausland.“ Er meinte über Amerika, wo Ward die Lehre vom
Rassenkampf als bedeutendsten Beitrag einer wirklich aufbauenden Soziologie
(1904) bezeichnet hatte.5
Über die schwarzweißroten Grenzpfähle hat die österreichische Wissenschaft
selten herübergewirkt. Das neue deutsche Reich und das alte Österreich waren kul-
turell, wie politisch geschieden. Natürlich mußte die Trennung eine gesonderte
Entwicklung der mit Politik und Kulturpolitik zusammenhängenden Wissenschaf-
ten ergeben. Die Österreicher wirkten in Italien, Westeuropa, Amerika mehr als in
Deutschland, wo sie als Außenseiter erschienen, wie z. B. die beiden Menger, oder
als völlig eigene Schule, wie die Neomarxisten und Grenznutzler. Lorenz von Stein
hat nach seinem Tode ehrenvolle Nachrufe als einziges Echo seit seiner Übersied-
lung erhalten. Gumplowicz und Ratzenhofer wurden totgeschwiegen.6 – Die Öster-
reicher waren auch in ganz anderen Verhältnissen und vor Problemen, die man in
Preußen-Deutschland nicht verstand oder nicht verstehen wollte, und sicher ist als
eine Voraussetzung und Bedingung österreichischer Staatswissenschaft die beson-
dere politische Lage anzusehen, der Nationalitätenkampf; vor allem bei Gumplo-
wicz. In der „Sozialphilosophie“, in der der radikale Pole die Parteien des alten
Österreich bekämpft und der Positivist als Enkel der Aufklärer spricht, ist er natür-
lich subjektiver als in „Rassenkampf“ und „Staatsrecht“, in denen der Mensch der
geistigen Ober- und sozialen Unterklasse die Ideen des politisch-ökonomischen
Kampfes als Gruppentheorien, Illusionen und Suggestionen enthüllt und wie ein
Neutraler versucht, zwischen den Streitenden zu stehen.
In dem Koloniallande Österreich, der Mark gegen die Slawen, waren die Deut-
schen als Grund-, Berg- und Ratsherren die Staats- und Kulturträger gewesen, die

5
Siehe L. Ward: Soziologie von heute. Verlag Wagner, Innsbruck 1904.
6
Rezensionen sind zu nennen nur von wenigen, während G. selbst sehr viel kritisierte. Vgl.
die Bio-bibliographie v B. Zebrowski, Verlag R. Prager, Berlin 1926 [Bernhard Zebrowski:
Ludwig Gumplowicz: Eine Bio-Bibliographie].
84 I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926)

Fremdvölker ohne Oberklasse „geschichtslos“. Durch die Volksvertretung kamen


die Völkerschaften wieder zum Vorschein. Der Absolutismus mit seiner Staatsrai-
son mußte nur noch das Gleichgewicht halten. Wie früher die Stände wurden jetzt
die Nationalitäten in ihren Interessen maßgebend. Der soziale Kampf ums Dasein
der Gruppen im Staate, ein dauernder Rassen- und (damit gleichbedeutend) Klas-
senkampf, der Staat als Machtmittel herrschender Gruppen – das mußte als Erfas-
sung der wirklichen Zeitlage der Stoff der wissenschaftlichen Lehre vom Staate
und der Gesellschaft sein. Österreich oder das Haus Habsburg im 19. Jahrhundert,
nach der Metternichschen Restauration, bildete einen absolutistischen Staat, ge-
stützt auf Feudalität und Hochklerus, der durch die verlorenen Kriege gegen
Savoyen-Piemont und Preußen einen Quasi-Parlamentarismus zuließ. Mit dem
ökonomisch-politischen Aufstieg der Mittel- und Unterklassen aber kam das Nati-
onalitätenproblem herauf als Problem der Demokratie.7 Der ständige Streit der
österreichisch-ungarischen Länder und Völker war das Erfahrungsobjekt von
Gumplowicz’s Kampf-, Eroberungs- und Unterjochungstheorie.
Während in Deutschland die Staatstheorie sich auf das Staatsrecht beschränkte,
auf das Feld der Konstruktionen zurückzog, als Bismarck dem Satze „Macht geht
vor Recht“ Geltung verschaffte, haben die Nationalitätenkämpfe in Österreich die
Aktualität und freie Entwicklung der Staatstheorie ermöglicht. Ähnlich wie die
Volkswirtschaftslehre mit der Lösung der gesellschaftlichen Wirtschaft vom Staate
beginnt, hat sich die eigentliche Staatslehre mit der Verselbstständigung der staats-
bildenden Gruppen und der Beobachtung und Feststellung ihres gesetzlichen Han-
delns über die bloße Routine der Staatsmänner hinaus zu einer „Theorie“ entwi-
ckelt. Was ihre Wirkung anlangt, so konnte sie vor allem in Italien eintreten, wo das
Risorgimento eine freie Entwicklung der politischen Wissenschaft zuließ. In Öster-
reich dagegen mußte die Theorie der Praxis gegenüber resignieren und einen ge-
wissen Fatalismus ausdrücken.
Dabei spielt die persönliche Gleichung des Begründers der soziologischen
Staatstheorie eine gewisse Rolle. Die Staatstheorie eines Angehörigen unterdrück-
ter Nationen muß den dauernden Kriegszustand nicht nur zwischen, sondern vor
allem in den Staaten nicht als Staatsmann, sondern als Untertan sehen und die Ur-
sachen und Gesetze der Über- und Unterordnung erklären. In der Kampftheorie
Gumplowicz’s ist ein negatives Selbstbewußtsein versteckt, das die fatale Lage der
unterworfenen und untergeordneten Gruppen naturgesetzlich erklärt und nicht na-
turrechtlich Aufstieg und Anspruch rechtfertigt.
Gegenüber der revolutionären oder utopistischen Kampflehre des Proletariats
ist die kontemplativ-historische Anschauung bürgerlicher Denker gegen Ende des

7
Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. 1. Auflage Wien 1907.
I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926) 85

19. Jahrhunderts im allgemeinen ohne Glauben an Freiheit und Fortschritt und


stellt nicht Entwicklung, sondern Schicksal vor. Die bürgerliche Gesellschaft, de-
ren Mittelschichten absinken, steht in einem sinnlosen Kampf ums Leben, und so
entsprechen denn die seit der Mitte des Jahrhunderts wirksamen politischen An-
schauungen der Lagerung der bürgerlichen Schichten; während die arrivierten feu-
dale Rechtfertigungen aus der Geschichte suchen, müssen die Erklärungen der
deprimierten Schichten kleinbürgerliche Verzweiflung ausdrücken.
Wenn seit Schopenhauer der sinnlose Wille, seit Darwin der zufällige Kampf
ums Dasein, sei[t] Gobineau das blinde Schicksal der Geburt oder seit Nietzsche
der ewige Kreislauf in der Welt herrschen und Weltanschauung sind, so sind diese
Lehren als Selbsterklärungen „Zeitgeist“ der Staat und Kultur tragenden Schich-
ten[,] Ausdruck der Ohnmacht des Geistes. An die Macht des Geistes und den Sinn
des Willens und Kampfes dagegen glaubt die proletarisch-revolutionäre Unter-
schicht, die das Erbe der Aufklärung und des Idealismus, des Naturrechts und der
Geschichtsphilosophie behauptet. Die Krisen- und Dekadenzlehren, die Rassen-
und Massentheorien dagegen sind die Ideologien der Gebildeten, die die Kultur
wie die Natur in einem ewig gleichen Kreislauf sehen. Kampf ums Dasein ohne
Sinn, ohne Vernunftfortschritt und Wertsteigerung, ist der trostlose Gedanke der
„herrschenden“ bürgerlichen Gesellschaft.
Die Gebildeten, die sich früher einmal als Geistesaristokratie um eine neue
Ständeschichtung bemühten, und als Kulturschöpfer und -träger die Nation zu sein
behaupteten, haben mit der Herrschaft auch auf die Führerschaft verzichtet, von
Genie, Eminenz und Elite ist keine Rede mehr, seit die bürgerliche Gesellschaft,
deren Aufstieg die Bildung bewirkte, die Werke der Kulturschicht nur zu privatem
Gebrauche beiseite stellt. Die Kulturkrise ist eine Krise der Kulturträger. Zweifel
und Verzweiflung an der Welt und am Staate sind das Kennzeichen einer Schicht
geworden, die Theorie von der Praxis trennt, esoterische Spekulationen für engste
gelehrte Kreise liefert oder, in den Dienst bestimmter Gruppen getreten, unselbst-
ständig fremde Tendenzen vertritt, während die große Mehrzahl in Berufen völlig
untergetaucht ist und jedes öffentliche Interesse verloren hat. Wenn diese Erklä-
rung auch besonders typisch in deutschen Ländern ist, so ist sie doch allgemeine
Bestimmung der kulturproduzierenden und -konsumierenden Schicht. Die Privati-
sierung der bürgerlichen Gesellschaft ist jedenfalls die Voraussetzung dafür, daß
Theoretiker der Politik unwirksam werden. Das Bewußtseins des Outsiders gibt
auch dem Werke von Gumplowicz den Zug von Resignation.
„Von Gumplowicz stammt wohl das erste, wenigstens das erste noch heute nen-
nenswerte Buch in deutscher Sprache, das die Soziologie auf dem Titelblatt führt“
(Tönnies). Was fand Gumplowicz in seiner Zeit vor und mit welchen Richtungen
mußte er sich auseinandersetzen? Der Positivismus hatte den Idealismus verdrängt,
86 I.6 Ludwig Gumplowicz: Geschichte der Staatstheorien (1926)

der Glaube an Naturwissenschaft war allgemein und Sozialdarwinismus eine herr-


schende Ansicht. Völkerpsychologie und Kulturgeschichte hatten die Stelle der
Geschichtsphilosophie eingenommen, soweit nicht die Anthropologie in der Ras-
sentheorie, die Ethnologie in der Lehre vom Völkergedanken die alte Volksgeist-
lehre ersetzte. Lazarus,Steinthal, Lippert, Bastian, Ratzel, Gobineau, das waren die
Namen. Spencer wirkte (in der Übersetzung) seit den Achtzigerjahren, Buckles
Klima- und Taines Milieutheorie kamen hinzu, Evolutionismus und Determinis-
mus als Weltanschauung durchzusetzen. Als Wissenschaft der Zukunft erschien
eine „Naturgeschichte der Menschheit“.
Soziologie war eine literarische Neuheit, nicht akademischer „bon ton“; zu
stark wirkten Hegelianismus und Historismus gegen ihre Aufnahme in Deutsch-
land. Bis 1905 erschienen zwar Werke von Eleutheropolus, Achelis, Eisler, Scher-
rer, auch die ersten Schriften von Tönnies und Simmel. Aber nur mit Ratzenhofer
wirkte Gumplowicz zusammen, ein „System“ der Soziologie zu schaffen. Es war
ein Unternehmen von Outsidern. In Frankreich waren Fouillée und Tarde seine
Antipoden, in Amerika Ward sein Korrespondent. Wenn Gumplowicz selbst an-
nahm, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe, bloß neue Formen zum Bau ge-
fügt würden, so muß man ihm doch den Anspruch zugestehen, selbstständig und
eigenartig sein theoretisches Gebäude, einsam wie im Vorort, aufgerichtet zu haben.
Vorausgegangen ist der Soziologie in Deutschland eine eigenartige Geschichts-
philosophie. Die Kultur ist das Terrain, auf dem sich der Kampf der sozialen
Mächte in der Geschichte abspielt. Ihre Erklärung versucht in Deutschland zu-
nächst die „Kulturgeschichte“, der letzte Abkomme der historischen Ideenlehre,
die an die Anfange, die Menschheitsgeschichten des 18. Jahrhunderts, wieder erin-
nert. Aus den Ideen als „Archetypen“, als metaphysische Mächte, werden bloß
psychologische Faktoren und das Verhältnis der Eminenzen zu den Kollektivvor-
gängen wird erst als Antizipation, dann nur als Repräsentanz begriffen. Die Kollek-
tivität erscheint als wirkende Macht; das Substrat „Volk“ (im Gegensatz zu dem
Subjekt „Gesellschaft“) wird nicht mehr der metaphysischen Kausalität unterwor-
fen. Aus der logischen Ideenwird eine psychologische Kausalerklärung, indem die
bei Hegel angedeutete Erklärung des Volksgeistes aus Anlage und Milieu, Gesell-
schaftsform und Kulturverbindung ausgeführt wird und in der Entwicklung die
Kontinuität hervorgehoben ist, die über die Grenzen von Hegels Weltgeschichte
hinaus die Natur und Naturgeschichte, die Naturvölker und Vorgeschichte in die
Erklärung einbezieht. Als natürliches Substrat der kontinuierlichen Entwicklung
erscheint die Gesellschaft bis zur bürgerlichen Gesellschaft hin. Die bürgerliche
Gesellschaft steht dem Staate gegenüber und wird in ihrer natürlichen Entwicklung
zur Macht empirisch-kausal erklärt. Die politische Geschichte soll in die kulturelle
einbezogen, die Bedeutung der sozialen Mächte für Recht und Sitte, Herrschaft

Das könnte Ihnen auch gefallen