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Christoph Paret
University of Vienna
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Christoph Paret
Blindes Misstrauen
Bruno Latour wurde oft genug seine unterminierende Denkweise vorgeworfen
(man denke an die sogenannten science wars). So war es für ihn irritierend, als
ihm ein zweifelssüchtiges Denken in Gestalt von Leuten entgegentrat, die er vor-
mals gerne in die Rubrik naiver, blinder und erst noch Aufzuklärender einsortiert
hätte:
Wie schön war doch die Zeit, als Universitätsprofessoren auf einfache Leute herab-
sahen, weil diese Hinterwäldler naiv an Kirche, Mutterschaft und Apfelkuchen
glauben konnten. Seitdem hat sich viel geändert, zumindest in meinem Dorf. Heute
bin ich als einziger so naiv, an ein paar Fakten zu glauben, während die anderen
Leutchen zu unsophisticated sind, um gutgläubig zu sein. (Latour 2007, S. 10)
Die Gefahr läge dann nicht mehr in einem exzessiven Vertrauen auf ideologische
Argumente, die sich als Tatsachen ausgeben – Argumente der Art, wie wir sie so
wirksam zu bekämpfen gelernt haben – sondern in einem exzessiven Mißtrauen in
solide Tatsachen, die man als ideologische Vorurteile ausgibt! (Ebd. S. 13)
C. Paret (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: christoph.paret@univie.ac.at
Wenn man Latour hier folgen will, dann besteht das eigentlich irritierende
Moment an den ‚neuen Rechten‘ darin, dass ihr Verhältnis zu Autorität nicht
anders als kritisch genannt werden kann. Weit entfernt davon, sich bereitwillig
zu unterwerfen, über Gebühr fügsam zu sein und einem blinden Gehorsam zu
frönen, seien sie über die Maßen misstrauisch gesinnt gegenüber Autoritäten und
Tatsachen-Behauptungen. Sie würden eher durch Ungehorsam auffallen als durch
die Bereitschaft, sich zu unterwerfen. Sie seien weniger in dumpfen Irrtümern
befangen als vielmehr in dem Irrtum, zu vieles zu hinterfragen.
Das heißt nicht, dass man nicht auch an ihren Vorstellungen und Haltungen
vieles zurecht kritisch hinterfragen könnte, sei es ein problematisches Verhält-
nis zum Rechtsstaat und zur Demokratie, der Glaube an so etwas wie das „wahre
Volk“, seien es Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus – all dies
lasse ich im Folgenden jedoch absichtlich beiseite, um mich auf ihr ‚kritisches
Bewusstsein‘ allein zu konzentrieren: Ab dem Moment, wo das Problem darin
besteht, dass jemand „zu unsophisticated“ ist „um gutgläubig zu sein“, fragt
sich: Wie stellt man kritisches Bewusstsein bei jemandem her, dessen Haupt-
problem darin zu bestehen scheint, dass er es in übergroßem Maße besitzt? Wie
könnte man sich von jemandem distanzieren, der sich selbst als Meister von
Distanzierungen erweist? Wie lassen sich Formen der Widerspenstigkeit denken
– und beantworten –, die gerade nicht Ausweis von Freiheit sind? Ist es also
vielleicht an der Zeit, die Analyse des autoritären Charakters um die Analyse des
anti-autoritären Charakters zu ergänzen?
Die folgenden Überlegungen starten bei einer kritischen Einstellung gegen-
über Autorität, wenn nicht gar bei Widerstandpraktiken gegenüber von Autori-
täten, die sich dann erst im zweiten und dritten Schritt auf ungeahnte Art und
Weise in stabile Beziehungen zu Autoritäten verheddern: Ironien des Anti-
Autoritären. Es geht mir dabei nicht darum, das Bild eines anti-autoritären
Charakters zu entwerfen im Sinne eines positiven oder negativen Gegentyps
zum autoritären. Es geht mir viel eher darum, jene kritischen Energien, die bei
der Konstruktion des autoritären Charakters am Werk sind, selbst kritisch unter
die Lupe zu nehmen. Dabei wird sich zeigen, dass sich das Anti-Autoritäre nicht
zu einem wie auch immer starren oder flexiblen Charakter verdichtet, sondern
stabilen Beziehungsmustern Raum gibt. Und dabei konzentriere ich mich weniger
auf eine Analyse von Gegenwartsphänomenen, die natürlich ganz unterschied-
liche Akzente setzen kann, sondern auf ein Buch, das die Phänomene blinder
Ungläubigkeit und ungesunden Misstrauens auf exemplarische Weise analysiert
hat. Die Rede ist von Richard Sennetts (2008) gleichnamiger Studie über Autori-
tät, die auf eine Sigmund Freud Memorial Lecture aus dem Jahr 1977 zurückgeht
und die weitgehend unbeachtet geblieben ist. Sennetts Schrift hat das Zeug, das
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 249
1 „Ablehnungsbindung“
Es sind fast entschuldigende Worte, mit denen Richard Sennett sich im Vorwort
zur deutschsprachigen Aussage von Autorität an seine Leser wendet:
Deutsche Leser könnten den Eindruck gewinnen, daß dieser Versuch über die
Autorität alles das beiseite läßt, worauf es eigentlich ankommt. Es finden sich in
diesem Buch keine Untersuchungen zum Nazismus, zum Faschismus oder zum
Stalinismus, und ich erwäge auch nicht die allgemeine Frage, warum der Traum-
wunsch nach wirklicher Autorität in einen dieser Alpträume umschlagen konnte.
(Sennett 2008, S. 13)1
1 Im Übrigen hätte ihm Hannah Arendt in diesem Schritt, wenn auch aus anderen Gründen,
beigepflichtet. Arendt trennt zwischen Autoritarismus und Totalitarismus: „Ein autoritär
geleitetes Gemeinwesen wie die Katholische Kirche ist nicht totalitär, und totale Herr-
schaft, wie wir sie von den Hitler- und Stalin-regimen kennen, hat mit Autorität nicht das
geringste zu tun. Aufgabe der Autorität ist immer gewesen, die Freiheit zu begrenzen und
gerade dadurch zu sichern, so daß eine autoritäre Staatsform ihre eigentliche Substanz ver-
liert, wenn sie die Freiheit schlechterdings abschafft. Sie ist dann eben nicht mehr autoritär,
sondern tyrannisch“ (Arendt 1994, S. S. 162).
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 251
Erwartet einen hier also eine unkritische Betrachtungsweise von Autorität, die
sich weigert, deren schlimmsten Auswüchse zur Kenntnis zu nehmen? Nicht
ganz. Der kritische Blick auf Autorität bildet weniger die Leerstelle als vielmehr
den Ausgangspunkt von Sennetts Überlegungen. In einer Gesellschaft, die sich
bereits als kritisch gegenüber von Autorität erweist, wird sich der Soziologe kaum
damit begnügen können, lediglich als ein weiterer Kritiker des Bedürfnisses nach
Autorität oder der Anmaßung von Autorität aufzutreten. Autorität, so Sennetts
Zeitdiagnose, hat
im modernen Bewußtsein den Status eines Tabus erlangt; als Ziel von Wünschen
ist sie undenkbar geworden. Die moderne Vorstellung von Autorität gleicht dem
Sexualtabu des 19. Jahrhunderts; das Verlangen nach Autorität scheint die Möglich-
keit eines Sturzes in die freiwillige Sklaverei zu eröffnen – so wie die Viktorianer
einst glaubten, die Menschen würden auf den Weg des sinnlichen Verfalls geraten,
wenn sie sich ihr Bedürfnis nach sinnlicher Lust eingeständen. (Sennett 2008, S. 14)
Tabu wäre also nicht so sehr ein kritisches Wort gegenüber einer bestimmten
Autorität, tabu wäre vielmehr die unkritische Hinnahme von Autorität, und erst
recht der Wunsch nach ihr. Dies hier ist nicht der rechte Ort, darüber zu befinden,
ob diese These der generellen Ablehnung von Autorität zutrifft (Niklas Luhmann
und Hanna Arendt haben sie geteilt2) – wohl aber, welche Implikationen es hätte,
falls sie denn stimmen sollte. In diesem Falle hätte man es tatsächlich mit einem
historischen Bruch zu tun. Aus der unkritischen Akzeptanz von welcher Autori-
tät auch immer, wie sie die erste Generation der Frankfurter Schule kritisierte,
wäre die Ablehnung von welcher Autorität auch immer geworden, wobei man
fragen kann, ob eine solche Ablehnung nun hyperkritisch oder nicht schlichtweg
unkritisch genannt werden muss.3 Ein solcher Vorgang hätte auch beachtliche
2 Arendt sagt Mitte der 1950er Jahre, „daß wir in der modernen Welt kaum noch Gelegen-
heit haben zu erfahren, was Autorität eigentlich ist“ (Arendt 1994, S. 159). Luhmann
beobachtet Mitte der 70er Jahre (also zu dem Zeitpunkt, wo Sennett seine Überlegungen
vorträgt), „daß die Frage nach der ‚Legitimität von Herrschaft‘ schlechthin (und nicht als
Frage nach der Legitimität eines Herrschers) gestellt wird; und heute schon zunehmend
(…) gar nicht mehr gestellt wird, sondern ihre Beantwortung im negativen Sinne unterstellt
wird“ (Luhmann 2003, S. 133).
3
In seinen ideengeschichtlichen Ausführungen zum Autoritätsbegriff führt Herbert
Marcuse die unkritische Hinnahme von Autorität als solcher auf die Lutherische Trennung
von Amt und Person zurück: „Das Amt behält seine unbedingte Autorität, auch wenn die
amtierende Person diese Autorität nicht verdient.“ (Marcuse 2005, S. 144) Bemerkens-
werterweise resultiert für Marcuse daraus nicht die Ablehnung von Autorität per se, Viel-
mehr gelte es einen „positiven Autoritätsbegriffs“ zu entwerfen (Marcuse 2005, S. 210).
252 C. Paret
Wenn es stimmt, dass Autorität schlechthin genauso abgelehnt wird, wie es ver-
mieden wird, den eigenen Willen per Zwang durchzusetzen, dann sind wir in
eine Situation eingetreten, wo die althergebrachten Begrifflichkeiten nicht mehr
funktionieren. Man hält sich an einem Ort jenseits zwingender Macht und ein-
nehmender Autorität auf, ohne dass man deshalb sagen könnte, Macht und
Autorität seien gänzlich verschwunden (dies ist der Grund, weshalb ich Autorität
fortan in Anführungsstrichen setze).
Autorität ist, wie es mit Friedrich Engels heißt, in zweierlei Hinsicht unabdingbar: Als
„Sach-Autorität“, und zwar auch noch in „einer zukünftigen Gesellschaft“, die den
Kapitalismus hinter sich gelassen haben wird, und sodann in Form jener Autorität, die für
den Übergang in ebendiese Art der Gesellschaft ursächlich sein wird. Eine entscheidende
Funktion „echter Autorität“ wäre nämlich die „Rolle der Führung und der führenden Partei
in der Revolution“ (Marcuse 2005, S. 210 f.).
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 253
Jedenfalls fühlte sich selbst Adorno, „der ich schließlich für die ‚Authoritarian
Personality‘ wesentlich verantwortlich bin“, in den späten 60er Jahren bemüßigt,
darauf hinzuweisen, dass die „Art, in der man – psychologisch gesprochen – zu
einem autonomen, also mündigen Menschen wird“ (…) „nicht einfach das Auf-
mucken gegen jede Art von Autorität“ sei, sondern den schmerzhafte Prozess zur
Bedingung habe, eine ‚Autorität‘ zu verinnerlichen: „Das Moment der Autori-
tät ist, meine ich, als ein genetisches Moment von dem Prozeß der Mündig-
werdung vorausgesetzt.“ (Adorno 1971, 139 f.) So weit geht Sennett nicht.
Die aktuelle Totalablehnung von ‚Autorität‘ ist für Sennett keineswegs Anlass,
‚Autorität‘ neu zu installieren und ihre Unabdingbarkeit in Erinnerung zu rufen.
Er zieht aus seiner Zeitdiagnose also nicht eine Konsequenz, die freilich nahe-
liegt, wenn ‚Autorität‘ und Sexualität auf die gleiche Ebene gestellt werden als
gleichermaßen verleugnete Größen. Es geht ihm nicht etwa, in Analogie zur
sexuellen Befreiung, um eine Art ‚autoritärer Befreiung‘, und es geht nicht ein-
mal darum, ‚Autorität‘ zu einem positiven, wenn nicht gar unschuldigen Ansehen
zu verhelfen. Stattdessen geht er der Frage nach, warum die Ablehnung von
Autorität per se nicht zu einer Welt ohne ‚Autorität‘ geführt hat.
Bemerkenswerterweise greift Sennett für das Fortdauern von ‚Autorität‘ trotz
verbreiteter Ablehnung nicht auf zwei gängige Erklärungen zurück: Der Fort-
bestand von ‚Autorität‘ wird weder dadurch erklärt, dass sie funktional erforder-
lich sei noch dadurch, dass sie irgendein psychologisches Bedürfnis befriedige
und das „Ziel von Wünschen“ bilde. Letzterer Punkt ist hervorzuheben: Sennett
argumentiert nicht entlang irgendeiner vulgär-psychoanalytischen Linie. ‚Autori-
tät‘ hat weniger als Gegenstand unserer verdrängten Wünsche Bestand denn
als Gegenstand offener Ablehnung. Die eigentliche Stütze aktueller Formen
von ‚Autorität‘ bestünde just im Widerstand, der ihnen entgegengebracht wird.
Diese Möglichkeit hatte Arendt nicht bedacht: Dass der radikale Zweifel „an
der Legitimität von Autorität überhaupt“ (Arendt 1994, S. 160) nicht unbedingt
zu einem „Autoritätsverlust“ (ebd. 159) führen würde, sondern zu einer anderen
Ausprägung von ‚Autorität‘ führen kann. Nun ist es vielleicht kein Zufall, dass
derartiges in einer Sigmund Freud-Vorlesung zur Sprache kommt, ist doch der
„Widerstand“ des Analysanden gegenüber seinem Psychoanalytiker keines-
wegs Zeichen eines emanzipativen oder egalitären Arzt-Patienten-Verhältnisses,
sondern Ausweis dafür, dass die Analyse zwar auf einem guten Weg, aber noch
lange nicht abgeschlossen ist (Freud 2000, S. 286). Geheilt ist man in der Analyse
nicht, bevor man nicht von seinem Widerstand abgelassen hat. Es geht Sennett
dementsprechend weniger darum, den sichtbaren Distanznahmen gegenüber
‚Autoritäten‘ und ‚Autorität‘ eine heimliche Bindung gegenüberzustellen, als
254 C. Paret
4 Bei dieser Art der Negation von Autoritäten handelt es sich, mit Jon Elster gesagt, um
eine aktive anstelle einer passiven Negation (in Analogie etwa zum Unterschied zwischen
der Ablehnung des Atheisten und der Indifferenz des Agnostiker) Im Hintergrund
schwebt hier die Frage, ob die wahre Freiheit besser gegen oder ohne alle Autorität zu
erlangen ist. Wenn Sennetts Kritik zutrifft, dann bestünde die entscheidende, nämlich die
emanzipierende, Differenz zur Autorität letztlich in Indifferenz. Und dafür wäre es immer
schon zu spät, sobald man die Autorität auch nur in den Blick genommen hätte. Vgl. Elster
(1985).
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 255
Eine Woche später erschien sie wieder in der Beratungsstelle und klagte, das
Mittel sei nicht stark genug gewesen. Der Arzt erkundigte sich, wie die Pillen ein-
genommen hatte, und es stellte sich heraus, daß sie weniger als verordnet und nur
in unregelmäßigen Abstanden genommen hatte. Daraufhin schlug ihr der Arzt eine
Therapie vor. Sie war einverstanden, verlangte aber einen anderen Therapeuten, weil
sie der Meinung war, der erste Arzt habe ihrem Begehren nach Pillen zu rasch nach-
gegeben. (Sennett 2008, S. 38)
Jene Rebellion nicht gegen die ‚Autorität,‘ sondern innerhalb der ‚Autorität‘,
von der Sennett spricht und welche die familiäre Situation für alle Beteiligten
zusehends unerträglich werden lässt, wird in der Therapie nur auf neuer Ebene
fortgesetzt. Und zwar noch bevor sie analysiert und überwunden werden könnte.
Weder ist die Patientin gegenüber dem Therapeuten fügsam (sie hält sich nicht
an seine Verordnung bzw. Verschreibung), noch lässt sie es zu, dass er ihr gegen-
über Fügsamkeit an den Tag legt (sie wirft ihm umgekehrt vor, ihrem Wunsch
nach einem Medikament zu schnell nachgegeben zu haben). Sie verlangt sich
selbst also nicht weniger Widerstand ab, als sie ihm Widerstand abverlangt. Das
Resultat dieser Forderung besteht bemerkenswerterweise nicht darin, dass alle
Beteiligten freien Herzens agieren könnten, sondern dass sie auf unglückliche Art
und Weise aneinander gekettet sind.
Derartige Beobachtungen scheinen 1977 übrigens in der Luft gelegen haben.
Auch die widerborstigen Unterschichtsjugendlichen, die Paul Willis in seinem
Gründungswerk der Cultural Studies beobachtet hat, die lads, beugten sich aus-
gerechnet durch ihre widerständig gemeinten Praktiken dem herrschenden
System:
Eine gewisse Zeit ihres Lebens glauben die lads in einem Turm zu hausen, in den
Kummer nicht eindringen kann. Diese Zeit des unzerstörbaren Vertrauens entspricht
gerade der Zeit, in der alle wichtigen Entscheidungen ihres Lebens zu ihrem Nach-
teil ausfallen. (Willis 2013, S. 174)
Die Totalablehnung von Autorität (also nicht einfach nur die Ablehnung dieser
oder jener Autorität, sondern von Autorität als solcher) führt nicht umstandslos
zu einer Welt ohne Autorität, sondern vielmehr zu ganz besonderen Bindungen
zu ‚Autoritäten‘. Dabei ist Sennett gar nicht der Ansicht, dass alle Formen
machtvoller Positionen von einer derartigen Entwicklung völlig unvorbereitet
getroffen würden. Für diese ist diese neue Entwicklung womöglich sogar am
allerwenigsten ein Problem, da das Asymmetrische ihrer Position gerade darin
besteht, vom möglichen Ungehorsam der Gegenseite nicht sonderlich betroffen
zu sein.
256 C. Paret
Was bleibt einer ‚Autoritäts‘-Figur übrig, die erfährt, dass die ihr Unterworfenen
zwar nicht ohne sie sein können, aber deshalb noch lange nicht für sie sind,
sondern dazu tendieren, sich gegen sie positionieren? Wie reagiert man, wenn
damit zu rechnen ist, dass man gebraucht wird zu dem einzigen Grund, sich
einem zu widersetzen und sich an einem zu reiben? Sennetts These: Indem man
nicht mehr Gehorsam abverlangt, sondern einfach gewähren lässt. Hier stellt
sich sofort die Gegenfrage, inwiefern man denn noch seine ‚Autorität‘ ins Spiel
bringt, indem man Spielraum gibt? Warum kann es einen befangen machen,
wenn einem freie Hand gelassen wird? Verwunderlich ist dies insbesondere vor
dem Hintergrund der vulgär-liberalen Vorstellung, wonach das Problem der Frei-
heit in der Herausforderung besteht, bestimmte Freiheitsparzellen zu errichten.
Indem gewährleistet ist, dass man von seiner Freiheit lediglich in bestimmten ein-
gezäunten Bereichen Gebrauch macht, soll es den einzelnen individuellen Willen
erlaubt sein, sich nicht in die Quere kommen. Das Mantra lautet: Die eigene Frei-
heit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt und umgekehrt.5 Ich rufe
diese Vorstellung hier weniger in Erinnerung, um sie direkt zu kritisieren, sondern
um deutlich zu machen, dass sie, weit entfernt davon, eine Sensibilität gegenüber
Autoritäten zu kultivieren, gegenüber der vorherrschenden Form, die Autorität
mittlerweile angenommen hat, blind macht. ‚Autorität‘ wird nämlich zunehmend
dadurch ausgeübt, Handlungsfreiheit zu gewähren.6
In diesem Zusammenhang diskutiert Sennett eine Fallstudie, die 1965 in der
Harvard Business Review erschienen ist. Sie wird zu seiner Zeit als Blaupause
dafür gehandelt, wie ein Arbeitgeber („Blackman“) auf einen Angestellten
(„Dodds“) reagieren soll, der Forderungen erhebt. (Zaleznik 1976, bes. S. 88–94).
Der Labormitarbeiter Dodds unterrichtet seinen Chef davon, dass er ein Stellen-
angebot von einer anderen Firma erhalten habe – in der Hoffnung, dieser werde
ihn darum bitten, zu bleiben und ihm versichern, dass die Firma alles Erdenkliche
daransetzen werde, um ihn zu halten. Der Chef tut ihm diesen Gefallen nicht.
Stattdessen demonstriert er seine eigene Unabhängigkeit, indem er augenschein-
5
Ich denke hier etwa an die kantische Bestimmung des Rechts als „Inbegriff der
Bedingungen […][,] unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach
einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Kant 1979,
S. 337 [AB 33]).
6 Dies ist der Grund, weshalb die Erschütterung des Autoritätsbegriffs nicht den Macht-
lich Dodds‘ Unabhängigkeit wahrt und ihm ungerührt zu verstehen gibt, dass
dieser selbstverständlich jederzeit gehen könne, wenn ihm der Sinn danach stehe:
„Ich ärgere mich gar nicht. Wenn Sie glauben, es sei das Beste für Sie, anders-
wohin zu gehen – mir soll es recht sein.“ (Sennett 2008, S. 131) Der Arbeitgeber
beschneidet die Wahl des Angestellten nicht durch Direktiven und er erleichtert
ihm seine Wahl auch nicht durch Anreize. Stattdessen stellt er die Unabweis-
barkeit der Wahl erst recht ins Licht: „Sie müssen es wissen“, „Sie müssen eine
Entscheidung treffen.“ (Ebd. 130) Das wird dadurch auf die Spitze getrieben,
dass Blackman Dodds nicht nur mit der Entscheidung alleine lässt, sondern
ihm zusätzlich in Erinnerung ruft, dass es sich, um seiner seelischen Gesund-
heit willen, empfiehlt, derartige Entscheidungen auf ein Mindestmaß begrenzen:
Attraktive Angebote von außen bekomme man als „guter Mann“ immer, darauf
jedes Mal anzuspringen, würde einen doch völlig durcheinanderbringen: „Ich
sage nur, daß Sie damit nicht um die Frage herumkommen, ob Sie irgendwo auf
Dauer bleiben wollen und wo das sein soll.“ (Ebd.) Auch die Entscheidung gegen
ein Übermaß an Entscheidungen bleibt damit dem Angestellten überlassen, der
von seinem Chef halb anerkennend, halb abschätzig zu hören bekommt: „Sie sind
so offen, wie man es nur sein kann.“ (Ebd. 131) Jeder Versuch des Angestellten,
seinen Chef zu stellen, ihm ein Angebot, eine Einschätzung zu entlocken oder
auch nur eine Meinung abzuringen, schlägt fehl: „Wir sprechen über Sie, nicht
über mich.“ (Ebd. 134) Blackman baut eine undurchdringliche Fassade auf, die
alles an sich abperlen lässt. Er hat, anders formuliert, keine Identität, mit der
er bekunden würde, was ihm wichtig ist, und mit der er fasslich würde: „Die
Wirkung des Einflusses besteht darin, zu verschleiern, was der Chef will und
wofür er einsteht.“ (Ebd. 153) Blackman wirkt insofern autonom, als er Dodds
auflaufen lässt. Bei Kant besteht die philosophische Position darin, noch die
Abkehr von der Mündigkeit den Unmündigen zuzurechnen, die folgerichtig
auf eine selbstverschuldete Weise unmündig sind. Die Stichworte sind „Selbst-
bestimmung zur Fremdbestimmung“, „Autonomie zur Heteronomie“ (Prauss
1983, S. 94) oder auch „freiwillige Knechtschaft“, mit denen Generationen von
Theoretikern aus der sicheren Außenposition die aktive Zustimmung hinter ver-
meintlich passiven Formen von Unterwerfung aufzuspüren gedachten. Bei
Sennett wird die Frage der Zurechnung nun in den sozialen Prozess selbst hinein-
gezogen. Es ist die ‚Autoritäts‘-Person, die durch ihre Unergründlichkeit und
ihre Weigerung, die Entscheidungen des Untergebenen zu kommentieren, zu
kritisieren oder zu dirigieren, dafür sorgt, dass dieser nicht umhinkommt, sich
sein vergangenes und künftiges Tun selbst zuzurechnen:
258 C. Paret
In der Unterredung zwischen Dodds und Blackman [...] lenkt der Arbeitgeber die
Aufmerksamkeit durchaus nicht auf sich. Er verweist den Angestellten immer
wieder auf dessen eigene Reaktionen, Bestrebungen und Empfindungen zurück.
(Ebd. 133)
Sennett spricht von der „Umkehrreaktion“. Diese hat den merkwürdigen Effekt,
dass die Reaktionen, Bestrebungen und Empfindungen des Angestellten in dem
Moment, wo sie das Fundament seiner Entscheidungen abgeben müssten, aus-
gehöhlt werden. Weit entfernt davon, befreit von äußeren Prüfkriterien, nun
seine Aufmerksamkeit auf jenen Probierstein der Wahrheit lenken zu können,
den Dodds in Gestalt seines Innenlebens vermeintlich in sich selbst trägt, sieht
er sich nun in heillose Verwirrung gestürzt: Er wird dazu veranlasst, Farbe zu
bekennen („Sie müssen es wissen!“); und zugleich wird ihm die Fragwürdigkeit
seines Tuns und seines Wollens vor Augen geführt („Warum erzählen Sie mir
das alles?“ (Sennett 2008, S. 129), „Kommt es denn nicht auch darauf an, wie
verläßlich man sein will?“ (Ebd. 130). Der Chef belässt es dabei, leise Zweifel an
Dodds Loyalität aufkommen zu lassen, ohne ihn jedoch eindeutig zu verurteilen:
„Weil der Chef von sich nichts preisgibt, ist es der Angestellte, der hier seine
Loyalität selbst testet“ (Ebd. 134), kommentiert Sennett. Dabei besteht Problem
darin, dass dieser Test in Ermangelung sicherer Kriterien kein eindeutiges Ergeb-
nis haben kann, aber eines haben muss. Kein Wunder, dass Dodds zusehends
die Fassung verliert, und das umso weniger, als sein Vorgesetzter im Gegensatz
dazu die Ruhe selbst bleibt. Irgendwann ruft Dodds halb verzweifelt, halb empört
aus „Glauben Sie denn, ich würde, nirgendwo auf der Welt lieber sein als hier in
diesem Labor…?“ (Ebd. 131) Die Wut und Verunsicherung, die in diesen Worten
mitschwingen, resultieren nicht nur daraus, dass er unter Zugzwang gesetzt wird,
sich gerade im Moment größter Verunsicherung festzulegen. Sie erklären sich
auch daraus, dass er in der Person seines Chefs jemanden vor Augen hat, der
geradezu wie eine Verkörperung jener Festigkeit wirkt, die ihm mangelt.
Die eigene Freiheit kann also dadurch eingeschränkt werden, dass sie
einem gewährt wird. Diese Gefährdung der Freiheit hat nichts damit zu tun,
dass Blackman Dodds‘ Freiraum beschneiden würde. Dodds‘ Autonomie wird
umgekehrt gerade dadurch gefährdet, dass ihm seitens seines Chefs ein Freiraum
eingeräumt wird.
Ulrich Bröckling trägt dieser Verschiebung der Machtverhältnisse Rechnung,
wenn er die bis zum Überdruss analysierte Anrufungsszene Althussers durch eine
Polizistenszene auswechselt, die sich bei Kafka findet. Im „kleinen theoretischen
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 259
Schauspiel“ Althussers (2010, S. 88–91)7 ruft der Polizist einen unschuldig des
Weges entlang spanzierenden Passanten von hinten mit seinem barschen „He, Sie
dort!“ an. Daraufhin dreht sich dieser wie ertappt um, auch wenn er nicht weiß,
was er falsch gemacht haben soll. Althusser zufolge „verfehlen die praktischen
Telekommunikationen der Anrufung fast niemals ihren Mann […], der
Angerufene erkennt immer genau, dass gerade er es war, der angerufen wurde“.
Im Beispiel Kafkas dagegen geht umgekehrt der Passant auf einen Polizisten zu,
um ihn nach dem Weg zu fragen. Dabei erweist sich dieser gerade nicht als eine
jener Autoritäten, die sagen ‚wo es lang geht‘: „‘Gibs auf, gibs auf‘, sagte er und
wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen
allein sein wollen.“8 ‚Autoritäts‘-Figuren, die nichts von einem wollen bzw. die
„mit ihrem Lachen allein sein wollen“, die keine Direktiven, keine Anweisungen,
keine Ratschläge und keine Unterstützung geben, können eine enigmatische
Faszinationskraft auf jene ausüben, die ihnen nicht (und dann eben wieder doch!)
unterworfen sind.
Dieses Problem wurde von gängigen Autoritätstheorien niemals gestellt, und
zwar aus dem einfachen Grund, dass man die Freiwilligkeit zum unentbehrlichen
Element jeden Autoritätsverhältnisses gemacht hat. Autorität, so die gängige
Vorstellung, unterscheide sich geradezu definitorisch von sonstigen Zwangs-
verhältnissen dadurch, dass man sich ihr freiwillig füge.9 Für diese freiwillige
Willfährigkeit lassen sich dann verschiedene Gründe und Ursachen angeben. Aus
dem Blick gerät dabei jedoch diese ganz besondere ‚Autorität‘, deren hervor-
stechendes Merkmal darin besteht, diese Freiwilligkeit ganz offen herauszu-
streichen, indem sie es einem freistellt, ihr zu gehorchen oder nicht. Anders
gesagt: Diese Art von ‚Autorität‘ erscheint nicht legitim, sodass man sich ihr frei-
willig beugt. Im Gegenteil, wenn sie denn überhaupt noch legitim erscheint, dann
schöpft sie ihre ganze Legitimität daraus, ihrem Umfeld allererst zu verstehen
zu geben, sich aber bitte wirklich nur freiwillig zu beugen. Ihre ‚Legitimität‘ ist
also das Ergebnis ihres ausdrücklichen Angebots, freimütig zu agieren, anstatt
dass die freiwillige Unterwerfung aus ihrer Legitimität resultierte. Erstaunlicher-
weise hat dieses Angebot der Freiheit gerade nicht zur Folge, dass die derart Frei-
gestellten aus freien Stücken agieren könnten. Ich kenne keine andere Theorie
als diejenige Richard Sennetts, die für diesen bemerkenswerten Umstand eine
Erklärung liefert. Sennett schlägt eine Blickumkehr vor, indem er zeigt, dass die
eigentlich unabhängige Figur in dieser Machtkonstellation weniger diejenige ist,
der ausdrücklich freie Hand gelassen wird, sondern diejenige, die sie frei agieren
lässt. Seine entscheidende Einsicht besteht darin, dass es in allererster Linie der
Unabhängige ist, der es sich überhaupt leisten kann, seinem sozialen Umfeld
freie Hand zu lassen. Der Akt Handlungsspielraum einzuräumen lässt weniger
Selbstständigkeit zu als dass er sie bekundet. Und dies kann eine durchaus ent-
mutigende Wirkung haben: „Daß jemand sein eigener Herr ist, kommt selten
vor; es gebietet Achtung: Freilich, ein Mensch, der sein eigener Herr ist, weckt
nicht nur Respekt – er scheint auch über eine Stärke zu verfügen, die andere ein-
schüchtert.“ (Sennett 2008, S. 110) Nur jemand, der „sein eigener Herr ist“, hat
es nicht nötig, sich zum Herrn über andere aufzuschwingen. Er ist auf sie nicht
angewiesen. Warum gilt nicht das umgekehrte? Warum ist man auf diejenigen
angewiesen, die nicht auf einen selbst angewiesen sind?
Man kann, so Sennett, schwerlich mit dem Eindruck der Unabhängigkeit
eines anderen konfrontiert sein, ohne dadurch in eine merkwürdige Abhängig-
keit zu ihm zu geraten. Wenn dieser demonstrativ Selbstständige die Leute um
sich herum gewähren lässt, ist das nämlich schwerlich davon zu unterscheiden,
ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Was die Außenwirkung anbelangt, ist also
die Gleichmut permissiven Verhaltens deckungsgleich mit aufreizender Gleich-
gültigkeit. Deshalb nennt Sennett die Autonomie eine „Autorität ohne Liebe.“
(Ebd S. 110) Statt das Laisser-faire zum Anlass dafür zu nehmen, freimütig zu
handeln, agieren die Freigestellten merkwürdig befangen:
Jemand, der sich teilnahmslos zeigt, weckt in uns den Wunsch, von ihm anerkannt
zu werden, wir wollen, daß dieser Mensch merkt, daß wir seine Beachtung ver-
dient haben. Selbst wenn wir ihn provozieren oder angreifen, geht es uns vor
allem darum, ihm eine Reaktion zu entlocken. Wir fürchten seine Gleichgültigkeit,
begreifen nicht, woher seine Reserviertheit rührt, und werden dadurch emotional
abhängig von ihm. (Ebd., S. 113)
Man hat es hier mit einer eigentümlichen Form der Unterwerfung zu tun, mit
einer Unterwerfung gegenüber einer Person nämlich, die einem derartiges gerade
nicht abverlangt.
Sennett versagt sich somit den landläufigen Schritt, Autonomie gegen Macht
in Stellung zu bringen. Er unterlässt es also, sich zu fragen, wie wir unsere Auto-
nomie gegenüber Höhergestellten bewahren oder erringen können. Stattdessen
nimmt er die besondere Form von ‚Autorität‘ ins Visier, die Menschen ausüben,
indem sie autonom auftreten. Statt also wissen zu wollen, wie man es anstellen
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 261
kann, sich nur an sich selbst auszurichten, fragt sich Sennett: Wie kann es sein,
dass man sich vorzüglich an so jemandem ausrichtet, der sich offenbar an sich
selbst orientiert? Warum sticht jemand dadurch, dass er sich einfach nur heraus-
hält, besonders heraus? „Es klingt seltsam, daß die Entfaltung eines kohärenten
Selbst andere stigmatisiert, doch genau dies ist die soziale Begleiterscheinung
von Autonomie.“ (Ebd, S. 120).
Man muss diese Behauptung von der in den letzten Jahrzehnten geläufigen
These abgrenzen, wonach die Unterwerfung durch andere zunehmend einer
Selbstunterwerfung gewichen sei. Neuere Machtkonstellationen würden sich
dadurch kennzeichnen, dass man als das „Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“
(Foucault 1992, S. 260) fungiere. Noch zuletzt konnte Byung-Chul Han in diesem
Sinne schreiben: „Das Ich als Projekt, das sich von äußeren Zwängen befreit zu
haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen und Selbstzwängen in Form
von Leistungs- und Optimierungszwang.“ (Han 2014, S. 9) Der springende Punkt
hierbei soll also sein, dass man sich nicht mehr (wenn auch freiwillig) einer
fremden Autorität unterwirft, sondern dass man sich seiner selbst unterwirft.
Äußere Machtinstanzen scheinen hier von der Bildfläche verschwunden zu sein.
Sie haben sich in Form einer Internalisierung ins Innere des Subjekts verflüchtigt.
Und das Problem soll sein, dass man sich im Vergleich zu äußeren Macht-
instanzen als der viel effizientere und unerbittlichere Überwacher und Antreiber
seiner selbst erweist.10 Vor dem Hintergrund der vielzähligen Diskussionen
über die Einebnung von Hierarchien, welche dazu führe, dass man gleichsam
als sein eigener Chef fungiere, übersieht man leicht, dass der Unterschied zu
früheren Machtkonstellationen auch woanders liegen könnte. Es könnte durchaus
sein, dass weiterhin obere Ränge bekleidet werden, dass die Inhaber der höher-
gestellten Positionen es aber tunlichst vermeiden, den Untergeordneten strikten
Gehorsam abzuverlangen und es unterlassen, von ihnen Unterwerfungsgesten
zu fordern. Ich habe es bereits zitiert: „Diese Gestalten vermeiden ein schroffes,
paternalistisches, diktatorisches Auftreten; sie beachten das Tabu.“ (Sennett 2008,
S. 14 f.) Das heißt nun aber gerade nicht, dass sie damit aufhörten, wichtige
Bezugspunkte für die ‚Freigestellten‘ zu sein. Die ‚Autoritäten‘ erfahren gerade
dann, wenn sie darauf verzichten, ihre Autorität in die Waagschale zu werfen,
einen eigentümlichen Zugewinn an ‚Autorität‘, der es unmöglich macht, sie zu
ignorieren.
[Die] autonome Person kann andere dadurch disziplinieren, daß sie ihnen Scham-
gefühl einflößt. Gleichgültigkeit gegenüber „gewöhnlichen Menschen“ hat natürlich
eine beschämende Wirkung, sie läßt sie spüren, daß es auf sie nicht ankommt. (Ebd.,
S. 121)
Wohlgemerkt, das Problem besteht nicht einfach in einem ganz offen daher-
kommenden verächtlichen Verhalten der ‚autonomen‘ Person:
Das Schamgefühl, das eine Person, die über Autonomie verfügt, bei Unterlegenen
hervorrufen kann, ist eine stillschweigende Kontrolle. Der Arbeitgeber braucht nicht
eindeutig zu sagen: „Du bist Dreck“ oder „Schau, wieviel besser ich bin“, er braucht
nur seine Arbeit zu tun – seine Fertigkeiten, seine Gelassenheit, seine Teilnahms-
losigkeit ins Spiel bringen. (Ebd, S. 125)
Aus einer anderen Passage geht klar hervor, dass eine Lösung dieses Problems
auch nicht einfach darin besteht, die Unterlegenen offen anzuerkennen und für
ihre Fertigkeiten zu loben. Wenn der Vorstand eines englischen Industrieunter-
nehmens in einer Ansprache sagt: „Ich will mich auf gar keinen Fall in Ihre
Arbeit einmischen. Offen gestanden, ich verstehe die Feinheiten dessen, was
die meisten von Ihnen tun, gar nicht, so wie Sie die Schwierigkeiten der Ent-
scheidungen, vor denen ich stehe, nicht verstehen“ (ebd., S. 116), dann dürften
die meisten der Arbeiter dies gerade als einen stillschweigenden Hinweis auf
fundamentale Unterschiede hinsichtlich der Fertigkeiten verstehen.
Kommen wir noch einmal zurück zu dem eigentümlichen Aufeinandertreffen
von „Blackman“ und „Dodds“: Während auf den ersten Blick die ostentative
Überlegenheit und Gelassenheit des Vorgesetzten Dodds in die Bredouille bringt
und ihn letztlich noch mehr an seinen Chef bindet – nicht obwohl, sondern gerade
weil dieser ihm freie Hand lässt –, verdeutlicht die schiere Tatsache, dass das
Gesprächsprotokoll einem Führungsratgeber entstammt, wie wenig überlegen und
selbstbewusst derartige Chefs womöglich sind, wie sehr ihre ausgestellte Selbst-
ständigkeit aufgesetzt ist. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass derartige
‚Spielchen‘ in Wahrheit gerade ihren Mangel an Autonomie bezeugen. Sobald
man das Einräumen von Wahlfreiheit als einen großartigen Trick versteht, um
sich durchzusetzen, ist der unheilvolle Zauber dieses Tricks schon fast wieder
gebannt, denn man hat es mit Leuten zu tun, die derartiges nötig haben. Und
so bewegt sich die ‚Autorität‘ infolge von Autonomie, die Sennett beschreibt,
in einer grundsätzlichen Spannung. Entweder will der ‚Macht‘-Ausübende den
Machtunterworfenen zu irgendwelchen Handlungen bewegen: Dann ist es nicht
weit her mit seiner Autonomie, sondern er steht in einer gewissen Abhängigkeit
zu ihm. Oder aber er ist wahrhaft autonom: Dann hat er es auch nicht nötig, in
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 263
dessen Handeln einzugreifen. Dass diese Spannung existiert, bringt freilich das
Problem nicht zum Verschwinden. Auch wenn letzterer Fall zutrifft, kann es ohne
weiteres dazu kommen, dass sich der Autonome unfreiwillig auf einmal von
Anhängern umringt sieht, die ihm, unergründlich wie er wirkt, zu Diensten sein
wollen.
Während Sennett zufolge die Begegnung von Dodds und Blackman in
„Management-Kreisen […] oft als Beispiel dafür angeführt [wird], wie ein
Arbeitgeber mit einem Angestellten, der Ansprüche stellt, umgehen soll“ (Ebd.,
S. 129), offenbart ein Blick auf den Originaltext eine weitere Merkwürdigkeit:
Sein Verfasser, Abraham Zaleznik, schenkt dem Agieren des Chefs nicht die
geringste Aufmerksamkeit, geschweige denn, dass er es als Vorbild präsentiert.
Aus der Sicht Zalezniks ist Blackman gegenüber dem schwierigen Unter-
gebenen Dodds völlig wehrlos, dessen Verhalten ihm zufolge einen „klaren Fall
der Herrschaft durch Passivität“ (Zaleznik 1976, S. 80) darstellt. Dodds mutet es
seinem Chef zu, sich mit den eigenen Zweifeln und schwankenden Ansichten zu
beschäftigen. Dabei sei er auf eine passive Art und Weise aggressiv und weigere
sich, die Verantwortung zu übernehmen, sodass der Vorgesetzte Gefahr läuft,
„vom Dilemma, in dem sich der Untergebene befindet, aufgerieben“ (Ebd., S. 94)
zu werden. Während Sennett zufolge Blackman Dodds durch seine ostentative
Ungerührtheit beherrscht, beherrscht Zaleznik zufolge umgekehrt Doods
Blackman durch seine Unsicherheit, Zerrissenheit und sein Aufgewühltsein.
zumindest muss man sagen, dass sie in der herrschenden Ordnung nicht aufgeht.
Diese These wird sowohl jene Kritiker wie jene Verteidiger der vorherrschenden
Ordnung verwundern, die unbesehen davon ausgehen, dass die herrschenden
Autoritäten zuallererst für diese herrschende Ordnung stehen und für sie ein-
stehen. Michel Foucault hat etwa die These vertreten, Autoritäten repräsentierten
die vorherrschende Ordnung und übten eine ‚normalisierende‘ Funktion aus.
Gemeint ist dies im Falle von Foucault nicht als eine Bestimmung der Macht, wie
sie zu allen Zeiten gültig ist, sondern als ihre neuartige Erscheinungsweise seit
dem 19. Jahrhundert:
Das wodurch die Macht im 19. Jahrhundert wirkt, ist die Gewohnheit, die
bestimmten Gruppen auferlegt wurde. Die Macht kann ihren Aufwand von früher
aufgeben. Sie nimmt die hinterlistige, alltägliche Form der Norm an, so verbirgt sie
sich als Macht und wird sich als Gesellschaft geben. (Foucault 1976, S. 123)11
Man denke aber auch an die von Luther verfochtene Trennung von Amt und
Person: So unwürdig sich einzelne Amtsvertreter auch gebären mögen, ihnen
sei unbedingt Folge zu leisten, weil ohne die „unbedingte Anerkennung der
herrschenden Autoritäten das ganze System der irdischen Ordnung auseinander-
fallen würde.“12 Sennett hält dagegen, wenn er zeigt, dass ‚Autoritäten‘ einzig
und allein dadurch ‚Autorität‘ gewinnen, dass in ihrer Gestalt diese Ordnung
suspendiert ist. Das erinnert an die These Niklas Luhmanns, dass die vor-
rangige Funktion der Macht nicht in der Normalisierung, sondern in der Chance
bestünde, „die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher
Selektionszusammenhänge zu steigern“ (Luhmann 2003, S. 12): „Durch Macht
entsteht […] aus der diffusen Impulsivität und dem spontanen Zielstreben des
sozialen Lebens eine ‚unnatürliche‘ Verteilung des Wollens und Nichtwollens als
Bedingung spezifischer Operationen.“ (Ebd., S. 34)13 Macht sichert sich demnach
nicht ab durch Formen der ‚Naturalisierung‘, sondern ist die beste Chance auf
jede Form der De-Naturalisierung. Das ist auch die implizite These Sennetts:
Für die beiden ‚Autoritäts‘-Figuren, die er beschreibt, gilt: Sie sind ‚Autori-
täten‘ nur insoweit, als sie die Ausnahme von der vorherrschenden Ordnung,
wenn nicht gar einen Widerpart zur vorherrschenden Ordnung darstellen. Für
Sennett schließen sich deshalb übrigens auch der Blick auf anonyme Strukturen
und der Blick auf mächtige, autoritative Individuen überhaupt nicht aus. Mächtig
und autoritativ sind diese Individuen, insofern sie von den anonymen Strukturen
nicht verschluckt werden und ihnen nicht unterliegen. Die beiden Figuren der
‚Autorität‘, die Sennett unterscheidet (den paternalistischen Chef und den Fach-
mann), profilierten sich vor dem Hintergrund eines um sich greifenden Marktes
und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Diese ‚Autoritäten‘ sind grund-
legend unzeitgemäß – und eben dies ist es, was ihnen ‚Macht‘ und ‚Legitimität‘
verleiht. Was diese ‚Autoritäten‘ letztlich zu solchen werden lässt, ist nämlich
die Tatsache, dass sie die Wertgesichtspunkte des Schutzes und der Unabhängig-
keit in einer Welt hochhalten, wo Schutz und Unabhängigkeit im Grunde keinen
angestammten Platz haben:14 „Diese beiden Autoritätsgestalten […] waren nicht
einfach Ausformungen der Marktideologie, Kraft ihrer Stärke sollten sie viel-
mehr Störungen des Marktes beheben und seine Unwägbarkeiten kompensieren.“
(Sennett 2008, S. 59) Die beiden maßgeblichen Figuren von ‚Autorität‘, die das
19. Jahrhundert unserer Gegenwart vermacht hat, sind dadurch charakterisiert,
marktbereinigte Sonderzonen des Schutzes und der Selbstständigkeit errichtet zu
haben. Das heißt nicht unbedingt, dass sie deshalb aus dem Markt herausführen.
Sennett spricht nicht umsonst von ihrer kompensatorischen Funktion. Sie wiegen
die Mängel des Marktes aus und verlängern auf diese Weise unter Umständen
sogar den Status quo. Doch zugleich stehen sie dafür ein, dass es ein Außerhalb
des Marktes gibt. Diese ‚Autoritäten‘ können also eine ideologische Funktion
erfüllen, weil ohne die Kompensation des Marktes durch die Unabhängigkeit des
Fachmanns oder die Väterlichkeit des Chefs der Markt kaum akzeptiert würde.
Sie üben aber zugleich eine kritische Rolle aus, weil der Fachmann und der Chef
erklärte Ausnahmen von der Marktordnung sind, weil sie leibhaftig jene Werte
verkörpern, die in dieser Ordnung systematisch unterlaufen werden, wobei der
Fachmann selbst ein stückweit unabhängig vom Markt ist (er ist viel weniger den
Marktschwankungen unterworfen, als es die ungelernten Arbeiter sind) und der
Paternalist andere vom Markt unabhängig hält (er sorgt dafür, dass sie nicht den
Marktschwankungen unterworfen sind).
Der im vorangegangenen Unterkapitel behandelte Autonome wird zur
‚Autorität‘, weil er der lebendige Beweis dafür ist, dass man in einer Welt, in
der einem die radikale Abhängigkeit von anonymen Marktgesetzen unablässig
vor Augen geführt wird, dennoch unabhängig sei kann: „Tocqueville bezeichnet
14 Zu den sozialen Verwerfungen der Marktgesellschaft vgl. Polanyi (1978, S. 224–243).
266 C. Paret
die ‚Unabhängigen‘ als die einzigen Menschen seiner Zeit, die tatsächlich in der
Lage seien, anderen Respekt und Furcht einzuflößen.“ (Ebd.)
Auch in Gestalt des Paternalismus hat man es mit einer ‚Autorität‘ dadurch
zu tun, dass jemand die übliche Ordnung durchbricht. Die paternalistische
‚Autorität‘, die darauf baut, eine väterliche Funktion auszuüben, kommt näm-
lich erst dann zum vollen Durchschlag, wenn man eben nicht mehr allgemein
der Ansicht ist, die ganze Gesellschaft sei eine Familie (Patriarchalismus) und
wenn die Vaterschaft auch nicht mehr in die materiellen, vertragsmäßigen
Strukturen einer patrimonialen Ordnung übertragbar ist, derart, dass man auf ganz
selbstverständliche Weise die gesellschaftliche Position des Vaters erbt. Wenn
also Sennett sagt, die Zeit des Paternalismus sei zugleich die Ära des Hoch-
kapitalismus im 19. Jahrhundert gewesen, so widerspricht dies keineswegs der
berühmten Diagnose aus dem Kommunistischen Manifest, dass die zur Herrschaft
gekommene Bourgeoisie „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhält-
nisse“ zerstört habe: „Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen
an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein
anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte
Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘.“ (Marx/Engels 1977, S. 464) Sennett
schreibt:
Während im 17. Und 18. Jahrhundert die meisten Väter tatsächlich die „Chefs“
ihrer Kinder waren — auf Bauernhöfen und in Geschäften, die als Familienbetrieb
geführt wurden —, war der Satz „Der Chef ist ein Vater“ unter den brüchigen
Familienverhältnissen des 19. Jahrhunderts nur noch eine Metapher. (Sennett 2008,
S. 67)
Ein Kind braucht sich nicht zu schämen, wenn es seinem Vater gehorcht. Als aber
Außenstehende [...] das soziale Leben in Pullmans Stadt kritisierten, kamen sie
immer wieder darauf zu sprechen, wie „beschämend“ es sei, wenn ein Erwachsener
andere Erwachsene so behandelt, als sei er ihr Vater. (Ebd., S. 93)
‚Autorität‘ konstituiert sich in diesem Fall dadurch, dass sie in auffälliger Weise
nicht dem üblichen Gang der Dinge unterliegt. Gegen alle Natur und gegen alle
Gewohnheit macht sie aus einem Arbeiter einen ‚Sohn‘ und aus einem Chef
einen ‚Vater‘. Bei dieser Art des Paternalismus, das sei hervorgehoben, handelt
es sich nicht um einen erneuten Versuch, Autorität im politischen oder wirtschaft-
lichen Sinn am Modell der präpolitischen Sphäre der Familie zu orientieren.
Denn jeder kritische Einwand, dass das Eltern-Kind-Verhältnis kein Analogon
finde im Verhältnis von Angestellten zu ihrem Vorgesetzten oder von Staats-
bürgern zu ihrem Staatschef, würde hier nur offene Türen einrennen. Dass diese
Analogie beschworen wird und in ihrer Unangemessenheit allen Beteiligten
268 C. Paret
klar und deutlich vor Augen steht, ist ja erst die Ursache für die übergroße
‚Autorität‘ des Paternalisten. Deshalb versagt hier auch das gängige Patent-
rezept der Machtkritik, welches darin besteht, die ‚Kontingenz‘ der Machtver-
hältnisse herauszustellen. Seit nunmehr sechzig Jahren hört man allenthalben:
Es gelte, die ‚Evidenz‘ der aktuellen Verhältnisse zu erschüttern, indem man
in ‚genealogischer‘ Manier das Zufällige und das Kleinlich-Beschämende
ihrer historischen Entstehung in Erinnerung ruft.15 Doch was hilft es, dem
paternalistischen Chef seinen angeblichen täuschenden Anschein des Natürlichen
zu rauben, wenn er sich umgekehrt dezidiert den Anschein des Un-Natürlichen
gibt? Die unausgesprochene Botschaft des Paternalisten lautet: „Ich behandele
euch als meine Kinder, und dies ist derart außergewöhnlich und unnötig, dass ihr
mir dafür etwas schuldig seid.“
Dank Sennett wird denn auch begreiflich, warum das Ansinnen, gesellschaft-
liche Verhältnisse kontingent zu setzen und ihnen dadurch den Nimbus des
Selbstverständlichen zu nehmen, nicht nur keine Lösung für das Machtproblem
darstellt, vielmehr bildet ein allgemeines Kontingenzbewusstsein das Ausgangs-
problem, auf das die ‚Autoritäts‘-Figuren des Paternalisten und des Fachmanns
immer schon die Antwort bilden sollen:
Es sei dahingestellt, ob das Bild, das Sennett hier von den vorkapitalistischen
Gesellschaftsformen zeichnet, zu idyllisch ist. Entscheidender scheint mir, worin
genau denn das Idyllische besteht. Bezeichnend ist, dass hier zwei Merkmale
zusammenfallen, die sich nach heutiger Ansicht eigentlich ausschließen müssten:
ein vollständiges Bewusstsein der Schicksalshaftigkeit und die Kontingenz
der eigenen Position. Schicksalhaft erschien die eigene gesellschaftliche
15 Um nur ein Beispiel zu nennen. Pierre Bourdieu zufolge geht es darum, die „primären
Evidenzen“ zu durchbrechen. Als Weg dahin empfehle sich „die Historisierung, die es
ermöglicht, die Auswirkungen dieser Naturalisierung und insbesondere das Vergessen
der individuellen und kollektiven Genese einer Gegebenheit, die sich als durch und durch
natürlich ausgibt und als bare Münze genommen werden will, taken for granted, zumindest
im Bereich der Theorie zu entschärfen“ (Bourdieu 2001, S. 233 f.).
Ironien des Anti-Autoritären. Eine Relektüre … 269
Stellung, insofern sie unabänderlich war. Kontingent war sie, insofern man mit
ihr gewissermaßen nichts zu tun hatte, und in einem eminenten Sinne nicht
verantwortlich für sie war. Ob man Diener war oder Herr, erlaubte keiner-
lei Rückschlüsse auf den eigenen Charakter, auf persönliche Verdienste oder
Verfehlungen, auf die eigene Vitalität. Es lag fern des Leistungsprinzips. Dies
ist auch der Grund, weshalb man ohne weiteres eine nachrangige Position
einnehmen konnte, ohne sich dessen schämen zu müssen. Die einzelnen
gesellschaftlichen Abstufungen waren in einem derart dramatischen Ausmaß
unpersönlich, dass sich dagegen die moderne Trennung von Rolle und Person
schwächlich ausnimmt. Deshalb konnte es gerade in der metaphysisch ver-
ankerten, weil göttlich verfügten Hierarchie der Ständegesellschaft dazu
kommen, dass jemand Niederrangiges einem Höhergestellten auf gänzlich
unbefangene Weise gegenübertrat. Wie zum Ausgleich dafür, dass die eigene
Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie unverrückbar ist, musste man sich
nämlich immerhin nicht vorhalten lassen, sie nicht selbst verrückt zu haben.
Der eigene Posten, so herausragend oder nachrangig er auch sein mochte,
offenbarte niemandem, wer man wirklich war. Dies änderte sich in der Industrie-
gesellschaft:
Der in den letzten Dekaden unermüdliche Hinweis auf die historische Kontingenz
von Subjektivierungsformen täuscht sich somit in vielerlei Hinsicht über
die Mechanismen der Emanzipation. Denn erstens ist diese Kontingenz kein
Geheimnis, das gelüftet werden müsste. Es handelt sich bei ihr um das unver-
hüllte Gesicht einer Welt, die in den Kapitalismus eingetreten ist und für die ein-
zig die dauernde Veränderlichkeit ‚normal‘ ist, für die das Instabile Gewohnheit
geworden ist (dies ist es, was der Theoretiker der Normalisierung nicht wahr-
haben wollte). Und zweitens ist die ‚Verflüssigung‘ sozialer Verhältnisse nicht
per se emanzipativ.16 Die generelle Veränderlichkeit der sozialen Verhältnisse
16 Füreine derartige Verflüssigung spricht sich etwa der späte Foucault aus, wenn er die
Momente problematisiert, wo sich reversible Machtbeziehungen zu Herrschaftsverhält-
nissen versteinern. Vgl. Foucault (2005, S. 878).
270 C. Paret
v erbürgt für sich genommen nämlich noch nicht, dass man selbst es ist, der sie
verändern kann. Umgekehrt führt gerade der Anspruch, man habe als der Urheber
der eigenen gesellschaftlichen Position zu fungieren, dazu, dass jeder, der in eine
unvorteilhafte Position einrückt, dazu tendiert, dies dem eigenen Ungenügen
zuzurechnen. Eine niederrangige Stellung nimmt man in dieser Welt immer
selbstverschuldet ein.
Der springende Punkt besteht dabei nicht darin, dass Sennett es von vorn-
herein für ein Ding der Unmöglichkeit hielte, über seine gesellschaftlichen
Umstände triumphieren zu können. Derartiges kommt tatsächlich hin und wieder
einmal vor. Doch jeder, der dies vermag, wird eben dadurch unmittelbar zur
‚Autoritäts‘-Person. Darin besteht die inhärente Tragik der ‚Autorität‘. ‚Autori-
tät‘ ist im genauen Wortsinn außerordentlich. In einer Welt, in der Unabhängig-
keit außerordentlich ist, wird der Unabhängige sofort zu einer Autorität, die die
Unabhängigkeit anderer mindert. Das Problem ist also, dass all jene, die dem
Markt nicht gänzlich ausgeliefert sind und die überzeugend vorzuführen ver-
mögen, in einem gewissen Ausmaß über ihn zu stehen, unmittelbar zum Problem
für all jene werden, deren Marktabhängigkeit größer ist. Sicherlich, sie sind der
lebende Beweis, dass nicht jeder und jede unterschiedslos dem blinden Auf und
Ab des Marktes ausgesetzt sind. Insofern sie jedoch Hoffnung machen, geben
sie zugleich Grund zu einer allgemeinen Beschämung. Ironischerweise gäbe es
das Problem, dass man sich der eigenen unsouveränen Position schämt, gar nicht,
wenn alle dasselbe Problem hätten und niemand in der Lage wäre, Chancen
wahrzunehmen (man denke an Sennetts Hinweis auf die starre Feudalgesell-
schaft, die ihren Angehörigen paradoxerweise eine unbefangene Begegnung
ermöglicht). Genauso wenig gäbe es übrigens ein Problem, wenn die Verteilung
gesellschaftlicher Positionen restlos gemäß einer Lotterie funktionieren würde
und einem unverdienten Zufall unterläge (Borges‘ Lotterie von Babylon).17 Ein
Problem entsteht erst daraus, dass die Ordnung nicht gänzlich aufgeht, dass es
Ausnahmefälle von Unabhängigkeit in einer allgemeinen Marktabhängigkeit gibt,
dass es Beschützer gibt in der allgemeinen Schutzlosigkeit. Das Problem entsteht
erst, wenn es ‚Löcher‘ im System gibt, welche die ‚Autoritäten‘ leibhaftig ver-
körpern. Diese sind wandelnde Ausrufezeichen, und lebende Imperative dafür,
Herr seines Schicksals zu werden und sich über die Umstände zu erheben.
Daraus ergibt sich nun eine so einfache wie folgenreiche These für die Frage
des Widerstands. Wenn es stimmt, dass die Herrschenden die Ausnahme vom
und den Widerpart zum Vorherrschenden bilden, dann wird, gemäß dieser Logik,
Widerstand immer zwischen zwei Polen hin und herpendeln: Entweder wird er
sich gegen die Herrschenden richten (und sich auf eine ganz und gar nicht sub-
versive Weise positiv auf das Vorherrschende beziehen müssen) oder aber er wird
sich gegen das Vorherrschende richten (und sich damit unweigerlich in den Ein-
flussbereich der Herrschenden begeben, welche als fleischgewordene Ausnahme
von der Ordnung zu ‚Autoritäten‘ überhaupt erst wurden). Wer sich gegen die
vorherrschende Ordnung wendet, wird unwillkürlich auf die Seite jener getrieben,
die deren Ausnahme verkörpern, und das sind die Herrschenden, und wer gegen
die Herrschenden angeht, der ist gut beraten, die vorherrschende Ordnung gegen
sie auszuspielen. Die Unterworfenen wären demnach eingeklemmt zwischen
zwei gegensätzlichen Machtfiguren, dem Paternalisten und dem Autonomen und
diesen Machtfiguren und deren Verhältnissen. Sie würden hin und hergetrieben
zwischen dieser oder jener ‚Autorität‘ und zwischen der Lage der Dinge und den
Ausnahmefiguren der ‚Autoritäten‘.
Doch man sollte hier vielleicht nicht vorschnell von einem Dilemma sprechen
oder die Machtunterworfenen gleich die in doppelter Hinsicht Unterworfenen
nennen, weil sie entweder den gesellschaftlichen Strukturen unterliegen oder
den Herrschenden als denjenigen, die sich und andere von diesen Strukturen
ausnehmen. Aus diesem doppelten Unterworfensein erwächst aber auch ihre
doppelte Stärke. Sie erlaubt es nämlich, die Macht gegen die Ordnung und die
Ordnung gegen die Macht auszuspielen und derart einen Spielraum für sich zu
gewinnen. Hier weist sogar Sennetts eigener Umgang mit der paternalistischen
Position Schwächen auf. Sennett, der sonst ein gutes kritisches Gespür gegenüber
‚negativistischen‘ Autoritätskritiken aufweist, die trotz aller Kritik bestimmten
Autoritätsfiguren verhaftet bleiben, kritisiert den Paternalismus einfach, ohne
zu sehen, dass seine Kritik selbst dazu tendiert, Double Bind-Struktur anzu-
nehmen.18
Einerseits kritisiert er, dass die Liebe des paternalistischen Chefs eine falsche
ist: Sie ist an Bedingungen geknüpft. Letztlich, so sein Vorwurf, spielt dieser
Chef sich nur deshalb als Vater auf, um einen höheren Gewinn zu einzustreichen
und dies auf einem Markt, dessen Vormachtstellung somit auch für ihn außer
Frage steht. Er ist also insofern kein ‚wirklicher‘ Vater und stellt für das Problem
Und es kann jederzeit etwas schiefgehen, denn gerade dieses Risiko macht
die Marktordnung aus. Andererseits beobachtet Sennett jedoch, dass der
paternalistische Chef zu sehr Vater ist, und seine erwachsenen Arbeiter wie
Kinder behandelt. Dieser lässt es nicht zu, dass sie eigenständig werden und auf
dem Markt ihr eigenes Glück versuchen. Für den Fall des Fabrikbesitzers George
Pullmann zumindest gilt:
Seine Macht über das Erscheinungsbild der Gemeinde, über den Zugang zu ihr und
die Lebensweise ihrer Bewohner konnte er nur so lange aufrechterhalten, wie er
seinen Schützlingen die Chance verwehrte, selbst Eigentum zu erwerben. Kurz, das
Privateigentum bedrohte die paternalistische Kontrolle dieses überaus erfolgreichen
Kapitalisten. (Ebd.)
Beide Kritikpunkte mögen für sich genommen zutreffend sein, in ihrer Gesamt-
heit sind sie jedoch widersprüchlich und lassen das ganze Dilemma des
Paternalisten zu Tage treten: Weder entkommt er zur Gänze der Marktordnung,
um ein wirklicher Vater zu sein, noch kann er es zur Gänze zulassen, dass die
Marktordnung sich durchsetzt. Man kann ihn deshalb ohne weiteres vor sich her-
treiben, indem man ihm nacheinander zu verstehen gibt, einen nicht genügend
vor dem Markt zu beschützen und einen zu sehr zu kontrollieren, als dass man
selbst Marktteilnehmer sein könnte. Man kann sich mit einem paternalistischen
Chef also so oder so unzufrieden geben: Entweder er wird Zielscheibe der
Kritik, weil er es nicht vermag, den Druck des Marktes abzufedern und seiner
Rolle als Vater gerecht zu werden; oder aber er schafft eine überzeugende
Sondersituation und gibt einen überzeugenden Übervater ab, der einen vor
den unberechenbaren Schwankungen des Marktes abschirmt, dann steht man
auf demütigende Art und Weise in seiner Schuld, weil man als Erwachsener
zugleich jemandes Obhut unterstehen soll, als wäre man ein Kind, wofür man ihn
wiederum kritisieren kann. Die paternalistische Art und Weise, ‚Autorität‘ auszu-
üben, ist somit nicht nur inhärent instabil, sie gehorcht auch widersprüchlichen
274 C. Paret
Sie sei „keine richtige Chefin“ – Auf die Frage, was man denn unter einer „richtigen
Chefin“ verstehe, kamen Antworten wie diese: „Jemand, der einen wirklich fordert,
der aus einem mehr herausholt, als man glaubt, in sich zu haben.“ „Jemand, der
bereit ist, auch mal den Besen zu spielen, damit eine Sache erstklassig wird.“
„Jemand, der sagt: ‚Seht mal, Mädchen, wenn ich mich hier krummlege, könnt ihr
euch auch mal krummlegen.‘ Mit anderen Worten, eine richtige Chefin oder ein
richtiger Chef verschafft sich Achtung, indem er Druck und Zwang ausübt. (Ebd.)
Literatur