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7/18/2020 Identitätspolitik: Die digitalen linken Spießer | ZEIT ONLINE

Identitätspolitik

Die digitalen linken Spießer


Die heutige Linke wacht mit polizeilichem Blick über Diskurshecken und
leugnet die eigene Macht, um ungestört moralisieren zu können. Das hilft
weder ihr noch anderen.

Ein Gastbeitrag von Jan Freyn


18. Juli 2020, 13:48 Uhr / 270 Kommentare /

Immer schön die eigene Diskurshecke im Blick: So ist der linke Spießer
heute (Symbolbild). © Sean Gallup/Getty Images

"Während wir dies von der radikalen Rechten nicht anders erwarten, breitet
sich auch in unserer Kultur zunehmend eine Atmosphäre von Zensur aus", hieß
es jüngst in einem offenen Brief von 153 Intellektuellen (darunter auch Noam
Chomsky, Margaret Atwood oder Salman Rushdie), der gleichzeitig in Harper’s
Magazine, Le Monde, La Repubblica und der ZEIT erschien
[https://www.zeit.de/2020/29/cancel-culture-liberalismus-rassismus-soziale-
gerechtigkeit].

Seine Botschaft in einem Satz: "mehr Toleranz" für abweichende Meinungen.


Der Aufruf ist bedenkenswert: Ein "Klima der Intoleranz" greife nicht nur in
radikal rechten Kreisen um sich, die ohnehin intolerant seien, sondern
vielmehr "in allen Lagern". Auch die politischen Gegner der radikalen Rechten
müssten aufhören, weiter in "ideologischer Konformität" zu verharren, die
eigene Kritik zum "Dogma" verkommen zu lassen und der verbreiteten Tendenz
zu frönen, "komplexe politische Fragen in moralische Gewissheiten zu
überführen".

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JAN FREYN Dass sich über diesen Aufruf gerade diejenigen Linken
studierte Philosophie und empörten, die sich hiervon nicht zu Unrecht
Deutsch an der Universität angesprochen fühlen durften, war ebenso wenig
zu Köln und arbeitete dort
überraschend wie der Umstand, dass viele ihrer
am Institut für Deutsche
Sprache und Literatur. Zum
Empörung in kurzen Tweets Ausdruck verliehen.
vorliegenden Text kam es, Natürlich entging ihnen die Ironie, dass sie ihre Kritik
nachdem Freyn mit einem an dem Aufruf in eben jenem Duktus der
geharnischten Leserbrief
"moralischen Gewissheit" formulierten, den der Brief
auf diesen Text
[https://www.zeit.de/kultur zuvor problematisiert hatte. Doch auch damit war zu
/2020-06/taz-polizei- rechnen, denn tatsächlich wird unsere Zeit
hengameh-yaghoobifarah- zunehmend und in nicht unerheblichem Maße von
satire-seehofer] reagiert
"linken" Gestalten geprägt, die alle genannten
hatte.
Momente in sich bündeln: einen Hang zu
Konformität, krasser Komplexitätsreduktion und
moralistischer Dogmatik.

Wie der Philosoph E.M. Cioran einmal hellsichtig bemerkt hat, kann es
geschehen, "daß die Linke, die in die Mechanik der Macht verstrickt … ist, ihre
Tugenden verliert, daß sie erstarrt und die Übel erbt, die gewöhnlich der
Rechten eignen". Diese Beschreibung trifft unsere kulturelle Situation sehr
genau.

Eine erstarrte und ins Pädagogische abgedriftete Linke, die sich durch ihre
Weigerung bestimmt, "ihr eigenes Machtstreben zu reflektieren, ihren Aufstieg
in den akademischen und kulturellen Institutionen" (Michael Hampe), ein
dergestalt zur Karikatur verkommener Linksliberalismus, der vergessen hat,
dass er nicht mehr unter allen Umständen subversiver Underdog ist, sondern
sich an Universitäten oder in Social-Media-Kontexten explizite Machtzentren
geschaffen hat, bringt einen epochalen Menschenschlag hervor: den digitalen
linken Spießer.

Dieser droht die Linke leider für Leute von außerhalb dieser Blasen mittelfristig
noch unattraktiver zu machen, als sie es ohnehin schon ist, denn auch und
gerade für politische Bewegungen gilt: An ihren Langweilern sollst du sie
erkennen. Der neue linke Spießer betrachtet Gegenwart und Vergangenheit mit
puritanischem und polizeilichem Blick und genießt es, unablässig den Wuchs
der Diskurshecken zu prüfen, mit der Gartenschere in der Hand.

Bestenfalls Memes und Twi erbotschaften


Wahlweise stört er sich an den Scherzen von John Cleese oder Terry Gilliam, an
einer Zeile von Nick Cave oder Steely Dan, an einer Karikatur von Ralf König
oder an den Witzchen des Theoretikers Slavoj Žižek, von dem sein

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konservativer Freund Tylor Cowen behauptet, er habe den Humor eines


"moderate right-winger", worauf sich Žižek gegenüber Cowen empört
verteidigt: "Als ich jung war, war das noch linker Humor!"

Die linken Spießer begegnen allen unsensibel scherzenden oder gar


andersdenkenden Zeitgenossen mit offener Verachtung, beweisen aber eine
hohe Sensibilität, sobald man ihre eigene progressive Rolle in Zweifel zieht.
Dies zu tun, ist jedoch nötig, denn ihr Zorn trifft in jüngerer Zeit sogar
historische Figuren, auf deren Schultern sie stehen könnten, wenn sie deren
Erbe nicht verspielten. Die Folge jener "ungeheuren Herablassung der
Nachwelt" (eine Wendung von E.P. Thompson, die immer wahrer wird) ist ein
äußerst abgeflachtes Verhältnis zur großen Andersheit namens Geschichte, die
neuerdings ebenfalls von allen krummen Zweigen, von allen
Irritationsmomenten bereinigt werden soll – jedenfalls sind es deftige
Werturteile, die gegenwärtig geistesgeschichtliche Verdienste überschatten.

Zuletzt teilten bekannte italienische Linksintellektuelle, Politikerinnen und


Aktivisten in den sozialen Netzwerken, anknüpfend an den alten Slogan von
Lonzi, mannigfach ein Bild mit der Aufschrift "Sputiamo su Hegel" ("Wir
spucken auf Hegel"): Der deutsche Philosoph – so der sozial-mediale Tenor –
sei letztlich nämlich nichts weiter als ein bösartiger Sexist gewesen. In der
Verkürzung abstrus, aber ein exemplarischer Fall, finden doch in Deutschland
längst vergleichbare "Debatten" statt (wobei hierzulande zufälligerweise Kant
unter Beschuss gerät).

Es ist bedauerlich, dass ein Teil der Linken nicht mehr liest und wenn doch,
dann bestenfalls Memes und Twitterbotschaften, zumindest ist das der
Referenzrahmen, in dem dann die weitere Auseinandersetzung stattfindet.
Aber spuckt nicht, wer auf Hegel spucken möchte, zugleich auch auf die
bedeutende Rolle, die dieser für die Entwicklung des emanzipatorischen
Denkens gespielt hat – und noch immer spielt: bei Judith Butler, Axel Honneth
oder Jacques Rancière? Kennen die neuen linken Militanten die feministische
Hegellektüre von Simone de Beauvoir, in der die Dialektik von Herr und Knecht
analog zum Emanzipationsverhältnis von Mann und Frau gedacht wird? (Von
den zahlreichen feministischen Lektüren der Antigone-Diskussion bei Hegel
ganz zu schweigen...)

Gewiss: Der Hinweis darauf, dass die Beziehung zwischen Hegel und dem
Feminismus auch gegenwärtig im Zentrum ernsthafter internationaler
Debatten steht, ist für diejenigen, die den Autor der Phänomenologie des Geistes
auf stumpfsinnige Weise abtun möchten, vollkommen uninteressant: Er lässt
sich nämlich kaum für die eigene mediale Selbstinszenierung verwerten, die ja
auch und gerade die Nicht-Leser unter den Linken motiviert. Aus demselben
Grund geht sie auch jene Ambivalenz buchstäblich nichts an, die darin liegt,
dass Hume, Kant oder Hegel zweifelsfrei rassistisch oder sexistisch schrieben

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und trotzdem ein unverzichtbarer Teil der europäischen Geistestradition sind,


welche die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, die Erklärung der
Menschenrechte oder die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter
hervorbracht hat.

Ganz unbestreitbar haben sie die Geschichte der Emanzipation mitgeprägt. Ob


die neuen Linken ernstlich dem Aberglauben anhängen, wonach sich ein
historischer Akteur jederzeit am eigenen Schopf aus der Geschichte ziehen
könnte, um aus dem ahistorischen Ideenhimmel das moralisch Richtige zu
deduzieren, ist am Ende schwer zu sagen. Sicher ist nur, dass es sie unablässig
danach drängt, sich öffentlichkeitswirksam als moralische Instanz zu
präsentieren, und dass sich jeder echte Spießer – auch der linke und digitale –
durch sein Bedürfnis verrät, permanent als besonders tadelloses oder moralisch
sattelfestes Exemplar unserer denkwürdigen Spezies wahrgenommen zu
werden.

Schlimmer als schlimm


Das Schlimmste an den gegenwärtigen Spießern ist nun aber nicht, dass sie
ahistorisch denken, jedes (vermeintlich) verunglückte Wort zur Würde des
Skandals erheben, ständig Situationen des Verdachts organisieren (Wer hat was
zu wem gesagt?) oder aus den Menschen wieder reumütige Geständnistiere zu
machen versuchen. Das alles ist bloß schlimm. Schlimmer als schlimm ist, dass
sie sich immer noch widerständig und "alternativ" fühlen, obwohl sie längst
einem kulturell tonangebenden Milieu angehören. Eine unerlässliche
Voraussetzung von Toleranz – und dieser Satz steht fest – liegt im ehrlichen
Selbsteingeständnis von eigener Macht, auch diskursiver Macht (zum Beispiel
an den Universitäten).

Nur die, die wissen, dass sie über Macht verfügen, können sich überhaupt die
Frage stellen, ob sie andere tolerieren, das heißt: aushalten, erdulden möchten
– oder eben nicht. Hieraus folgt: Die neopuritanische Linke muss sich darüber
ehrlich machen, dass ihre Adepten in vielen politisch-kulturellen
Konstellationen mittlerweile zu nichts anderem als Figuren der Macht
geworden sind. Bislang versuchen sie es wortreich zu vermeiden, doch gerade
sie hätten es nötig, sich ein Mantra von Adorno, einem maßgeblichen Vertreter
der lesenden Linken, in Erinnerung zu rufen: "Wer innerhalb der Demokratie
Erziehungsideale verficht" – mahnte dieser nämlich streng – "ist
antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen
Rahmen der Demokratie propagiert."

Dass eine solche demokratische Gesinnung derzeit bei vielen Linken wenig
praktische Würdigung erfährt, mag auch von der althergebrachten Arroganz
herrühren, mit der insbesondere die einflussreichen französischen
Linksintellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor und nach

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1968 – über liberale Demokratien nachgedacht haben. Denn bezeichnen-


derweise interessiert sich etwa Deleuze noch in den Neunzigerjahren gerade für
ein "Demokratisch-Werden, das nicht mit den faktischen Rechtsstaaten
zusammenfällt", während bei Barthes, Foucault, Lacan oder Kristeva
demokratietheoretische Reflexionen fast gänzlich ausgespart werden. Anders
als in früheren Zeiten, in denen der vielerorts immer abwegiger wirkende
Terminus "linksalternativ" einen realen Sinngehalt hatte, fällt es indessen heute
ins Gewicht, wenn diskursmächtige Linke immer noch in Begriffen wie
"Subversion", "Aufstand", "Ereignis", "Unterlaufen", "Rebellion", "Widerstand"
oder "Ungehorsam" denken, statt sich über die ganz konkrete demokratische
Vermittlung progressiver Ideen den Kopf zu zerbrechen. Am Ende dieses
Gedankens wird eine Linke, die ihre reale Diskursmacht leugnet, zwangsläufig
moralisch totalitär. Sie duldet eben keinen Widerspruch, weil Widerspruch per
se falsch ist. Die Macht, die sie hat, reicht ihr nicht, sie möchte sie
weitestmöglich ausdehnen. Das aber zielt dann weder in faktischen
Rechtsstaaten noch in anderen Gebilden auf einen demokratisch organisierten
Diskurs.

Was die alte poststrukturalistische linke Avantgarde angeht, so bestach sie aus
heutiger Sicht freilich durch ihren – für die linken Spießer der Gegenwart
empörenden – Mangel an moralistischer Dogmatik. Sie verehrte de Sade,
studierte Heidegger und rehabilitierte mit Nietzsche einen der politisch
unkorrektesten Autoren der Geistesgeschichte. Im Übrigen betonte etwa
Foucault, dass sich Fragen der Ent-Unterwerfung niemals dogmatisch,
systematisch oder gar verwaltungstechnisch entscheiden ließen; vielmehr
zähle der subversive Umgang mit Einzelfällen. Und auch Richard Rorty – der
ein zentraler Vertreter der sogenannten postmodernen amerikanischen Linken
war – glaubte nicht daran, dass sich gesellschaftliche Wirklichkeiten mit
starren sprachlichen Regeln verändern ließen. Vielmehr brauche es
idiosynkratische Einbildungskraft – "kreativen Sprachmissbrauch" –, eine
Position, zu der sich auch Judith Butler einmal bekannt hat.

Den dominanten Strang der gegenwärtigen Linken, die mit dogmatischen


Lösungen flirtet, ohne ihren Underdog-Status aufgeben zu wollen, vermag dies
ebenso wenig zu beunruhigen wie der Umstand, dass sie keine
funktionierenden ökonomischen Konzepte hat, um der sozialen Frage zu
begegnen – man denke etwa an die exorbitanten Mietpreise oder an die
prekären Lebensbedingungen des neuen Dienstleistungsproletariats. Aber auch
das ist nicht verwunderlich, kann doch ökonomische Konzeptlosigkeit
überhaupt als ein Grund dafür angesehen werden, sich mit derart verbissenem
pädagogischen Eifer auf das Feld der Kultur zu stürzen.

Es geht nicht darum, jedes Interesse für Begriffe oder jede differenziertere
Bewertung historischer Persönlichkeit zu diskreditieren. Die Verbissenheit aber,
mit der man Debatten mit zugleich geleugneter diskursiver Macht moralistisch

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zu dominieren versucht, führt letztlich zu populistischer Reaktanz und


schwächt die Linke noch dort, wo sie reale Probleme bekämpft. Denn natürlich
gibt es, anders als es die politische Rechte behauptet, tatsächlich strukturellen
Sexismus und Rassismus in Deutschland, und unter denen, die in universitären
oder sozial-medialen Kontexten diskursmächtig sind, finden sich auch
Menschen, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten benachteiligt oder
marginalisiert werden. Das Problem der Linken besteht offenkundig nicht
darin, dass sie sich den Reaktionären entgegenstellt, die sich das kulturelle
Zeichensystem der Fünfzigerjahre zurückwünschen und auf alle Ewigkeit
stillstellen möchten. Sondern darin, dass sie diesen Kampf mit den
zensorischen Instinkten führen möchte, die lange Zeit der politischen Rechten
gehörten (anstatt an das selbstständige Urteil mündiger Menschen zu
appellieren) und dass sie noch dazu die Klassendimension unterschlägt, die
allen diesen Kämpfen inhärent ist.

Dass heute die AfD bei manchen Wahlen mehr Arbeiter-Stimmen erhält als jede
andere Partei, ist in jedem Fall auch ein trauriges Zeugnis für die
naserümpfende, spießig gewordene Linke, die in ihren schlechtesten
Momenten zugleich den Eindruck erweckt, einen Klassenkampf "von oben" zu
betreiben: eine Rebellion der tadellosen Vier-Zimmer-Altbau-Bourgeoisie gegen
das schrecklich vulgäre, unaufgeklärte und politisch unkorrekte Proletariat.
Solange die Linke das nicht begreift, werden sich ihre politischen Gegner die
Hände reiben.

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