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August Thalheimer

Über die Kunst der Revolution und


die Revolution der Kunst
Ein Versuch

Erstveröffentlichung des vollständigen Manuskripts


2 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 3

Editorische Vorbemerkungen
von Theodor Bergmann

Die Familie Thalheimer lebte immer in schwierigen materiellen Verhältnissen.


Besonders schwierig wurde es in der Emigration. Die Tochter Sita und der Sohn
Roy-Ruben mussten sich selbständig durchschlagen. Materiell konnten die El-
tern kaum helfen. Aber soweit Postverkehr möglich war, gab es einen intensiven
Kontakt mit den Kindern. Von diesem Briefwechsel kennen wir nur die Korres-
pondenz mit dem Sohn, der über England nach Australien ging. Die Briefe be-
handeln nicht nur die täglichen Fragen und Pläne der Emigranten, sondern auch
Politik und geben dem Sohn Hinweise für seine Weiterbildung. Die Tochter Sita
war Künstlerin. So war der vorliegende Essay in erster Linie für sie geschrieben,
um sie zur Reflexion ihrer Arbeit und ihres Berufes anzuregen. Dieser Essay
war auch Folge von Gesprächen mit revolutionären Künstlern in Kuba, die wir
allerdings nicht kennen.
Der Essay kann aber auch als Teil der ständigen Auseinandersetzungen mit
der sehr widersprüchlichen Entwicklung des „ersten sozialistischen Großver-
suchs“ verstanden werden. Ein weiterer Teil dieser Auseinandersetzung ist das
Fragment Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion 1 (1946). Ob Thal-
heimer weitere Teile verfasst hat, bleibt ungeklärt, da alle anderen Manuskripte
und Entwürfe aus seiner kubanischen Exilperiode außer den Internationalen
Monatlichen Übersichten2 verloren gegangen sind.
Der Essay lässt deutlich Thalheimers Geschichtsverständnis erkennen. Er
sieht Geschichte nicht deterministisch, sondern offen: Immer gibt es Alternativen.
Menschen machen die Geschichte (unter den vorgefundenen Bedingungen),
wenn sie sich als Klasse organisieren. Er starb am 19. September 1948. Er hat
noch die erfolgreiche Ketzerei der jugoslawischen Kommunisten erlebt und den
nahen Sieg der chinesischen Kommunisten gesehen. Und in seiner sehr aus-
gewogenen Kritik an der stalinschen Degeneration der KPdSU warnt er vor
möglichen katastrophalen Folgen für den Bestand der Sowjetunion, die 1989 of-
fenbar wurden. Aber diese Warnung konnte seine tiefe Überzeugung von der
Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaft nicht erschüttern, die von den
arbeitenden Menschen erkämpft werden muss.
Vermutlich hat der Kunst-Essay seinen Weg von Havanna zuerst zu Thalhei-
mers dänischem Freund (und Vermittler zu den deutschen Genossen) Mogens
Boserup 3 genommen. Dieser fand keine Möglichkeit der Publikation, die auch
seinen deutschen Freunden nach 1945 unmöglich gewesen wäre. Boserup
übergab den Text (wie das meiste Material zur Arbeiterbewegung) dem Ar-
beiderbevaegelsens arkiv og bibliotek in Kopenhagen, wo wir ihn fanden. Roy
Thalheimer gab sein Einverständnis mit der Publikation. Auszüge erschienen
19714. Hier nun die erste vollständige Veröffentlichung.

1
Anfang 1946, o.O.u.J., Nachdrucke Stuttgart 1952, Bremen o.J.
2
Westblock-Ostblock. Welt- und Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Internationale monatliche
Übersichten 1945-48 von August Thalheimer. Erweitert durch Briefe und Dokumente. o.O. 1992
3
Mogens Boserup (1910-1978)
4
In: Arbeiterpolitik. Informationsbriefe der Gruppe Arbeiterpolitik, Jg. 12, Nr. 1 vom 5. 2. 1971 und W. Fähn-
ders, M. Rector: Literatur im Klassenkampf, München 1971, S 60 ff.
4 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Einführung in:
Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 5

von Theodor Bergmann

Zu den wenigen Arbeiten zur marxistischen Theorie, die Thalheimer in


Cuba verfasste und die erhalten geblieben sind, gehört der Essay »Über die
Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst«. Das Manuskript ist nach
Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden.
Die Vorbemerkung begründet kurz das allgemeine Interesse an der Frage-
stellung, betont zugleich, dass der Autor das Thema unter den gegebenen
Umständen (u.a. Fehlen einer marxistischen Referenzbibliothek) nicht er-
schöpfend behandeln kann; aber Anregungen für einige revolutionäre Künst-
ler, mit denen er im Gespräch war, zum Nachdenken in einer seit langem ak-
tuellen Debatte hofft er geben zu können. - Im ersten, philosophischen Kapi-
tel behandelt Thalheimer die Abbildung, die für Kunst und Wissenschaft ge-
meinsame und unterschiedliche Merkmale hat. Im zweiten Abschnitt behan-
delt er die wichtige Funktion der Kunst in ihren zahlreichen Formen in der Ur-
gesellschaft, in der es keine schriftliche Überlieferung gibt. Alle Kunst sei da
gesellschaftlich. In der Klassengesellschaft dagegen entspringt die Kunst ei-
ner bestimmten, der herrschenden Klasse und dient nur dieser. Kunst der
Urgesellschaft kann loben oder tadeln, damit soziale Normen vermitteln. Von
der kapitalistischen Klassengesellschaft geht Thalheimer über zur klassenlo-
sen sozialistischen Gesellschaft, die er vorerst nur als Hypothese oder Kon-
struktion - ohne Bezug zur sowjetischen Realität - diskutiert. Diese Zukunfts-
gesellschaft stattet er mit neun Grundmerkmalen aus:
1. Das Verschwinden der Klassen führt zu einer einheitlichen sozialen
Norm.
2. Die Gesellschaft wird nicht mehr durch Gewalt zusammengehalten.
3. »Die Grundlage (der Urgesellschaft) für ein religiös-phantastisches
Verhältnis zur Natur« entfällt.
4. Die Blutsbande werden durch die rein rationellen Bande der kollektiven
Arbeit ersetzt, die höheres Bewusstsein bedeuten und viel mehr Perso-
nen umfassen.
5. Die Individualität der spätkapitalistischen Gesellschaft geht als ein Mo-
ment in das kollektive Leben ein.
6. Voraussetzung einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft ist eine
hohe gesellschaftliche Produktivität, die für alle ein Lebensniveau über
dem physiologischen Minimum garantiert, wobei die obere Grenze be-
weglich ist.
7. Muße und Freiheit für alle in wachsendem Umfang.
8. Hochentwickelte Formen der Mitteilung sind jedermann zugänglich.

5
Die Einführung folgt im wesentlichen dem Abschnitt 8.4. in: Die Thalheimers. Geschichte einer Familie
undogmatischer Marxisten. Hamburg 2004, S. 205-210
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 5

9. Die Fähigkeit zur »Verallgemeinerung in reiner, d. h. begrifflicher Form


ist hoch entwickelt«.
Man sieht sogleich, dass diese klassenlose sozialistische Gesellschaft
noch nirgendwo existiert, auch nicht in der Sowjetunion, noch nicht existieren
kann. (Später in diesem Essay kommt der Autor ausführlicher auf den Son-
derfall Sowjetunion zurück.) In dieser (noch hypothetischen) zukünftigen
klassenlosen Gesellschaft werden die sozialen Normen für alle gleich sein;
daher wird die gesellschaftliche Funktion der Kunst erweitert, aber im Gegen-
satz zur Urgesellschaft nicht mehr der religiös-phantastischen, irrationalen
Wurzel bedürfen.
Thalheimer versteht im Folgenden unter revolutionärer Kunst »nur die
Kunst, die einen revolutionären Inhalt hat, d. h. ... eine gesellschaftliche Re-
volution künstlerisch abbildet, widerspiegelt, übermittelt und überträgt«; sie
entsteht also in einer Periode vor dem Sieg der bisher unterdrückten Klasse.
Danach »hört auch die >revolutionäre Kunst< auf.«
Die Sowjetunion (und die Kunstentwicklung in dieser) bleibt für Thalheimer
ein Sonderfall, mit dem er sich nun erneut befasst, wie er sich immer wieder
mit der dortigen Entwicklung als Marxist auseinandersetzt. Er lehnt einige
Positionen entschieden ab, die Übertragung »unserer« Wünsche auf eine
völlig andersartige sozialökonomische und politische Lage einerseits, die
Verallgemeinerung dortiger (positiver oder negativer) Erscheinungen auf un-
sere Verhältnisse einer hoch industrialisierten Ökonomie und einer demokra-
tisch verfassten und erfahrenen Arbeiterklasse andererseits.
Die russische Arbeiterklasse steht nach der Revolution vor einer besonde-
ren, gewaltigen Aufgabe, der ursprünglichen Akkumulation in einem Entwick-
lungsland (der nachholenden Entwicklung) bei gleichzeitiger weltpolitischer
Isolation und ökonomisch-technologischem Boykott fast der gesamten kapita-
listischen Welt. Daher bleibt der Lebensstandard auf lange Zeit niedrig. Dazu
kommt dann der Abbau der anfänglichen proletarischen Demokratie, der Rä-
te, der Autonomie der Gewerkschaften und der innerparteilichen Demokratie.
Daher kann die quantitativ wachsende Arbeiterklasse nicht zu einer Klasse
für sich werden. An die Stelle der proletarischen Demokratie tritt »die zentra-
listische, staatliche Zwangsgewalt in immer steigendem Ausmaß. Nur die
immer mehr steigende und alle Ansätze der demokratischen Selbsttätigkeit
der Werktätigen verschlingende Zwangsgewalt konnte der Aufgabe der ur-
sprünglichen Akkumulation und der Selbstverwaltung unter den in Russland
gegebenen Bedingungen gerecht werden.«
Das sei nicht allein der Person Stalins geschuldet, wenn auch seine per-
sönlichen Anlagen dem günstig waren. Ob die »neue, streng hierarchisch
gegliederte führende Oberschicht« schon eine neue Klasse ist, lässt Thal-
heimer ausdrücklich offen. In ihr haben sich führende Elemente der KP mit
Teilen der bürgerlichen Intelligenz, der Bourgeoisie und der ehemaligen za-
ristischen Bürokratie verschmolzen. »Das Ergebnis ist der universale Polizei-
und Beamtenstaat, in dem die Regierungsmaschine alle selbständigen Re-
6 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

gungen der Gesellschaft ersetzt, in dem alle Organisationen von oben und
außen gelenkt sind.«
Die Liquidierung der Bourgeoisie als Klasse wird analysiert. Er stellt fest,
dass die proletarischen Massenorganisationen in der Sowjetunion fortbeste-
hen, »aber auch sie sind keine demokratischen Organisationen mehr. Und
schließlich ist aus der Kommunistischen Partei selbst jede Spur innerer De-
mokratie verschwunden.« Zwar sind die Klassen der Arbeiter und der Bauern
als Klassen an sich noch existent. Jedoch: »Als >Klasse für sich<, d.h. als
bewusst und selbständig kollektiv handelnde gesellschaftliche Gruppe ist
aber die Arbeiterklasse in Russland verschwunden. Alle ihre Organisationen:
Sowjets, Gewerkschaften, Genossenschaften, Partei sind ihr entfremdet, sind
aus Mitteln ihrer Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit zu Mitteln der Fremd-
bestimmung und der befohlenen, erzwungenen Tätigkeit von oben und au-
ßen geworden.«
Zwar seien die »Klassen für sich« verschwunden, aber eine klassenlose
Gesellschaft sei dadurch nicht entstanden. Denn eine solche setze das Ende
des Zwangs voraus. Jedoch sei das Gegenteil der Fall: verstärkter staatlicher,
bürokratischer Zwang. Diese neue Bürokratie sieht Thalheimer als Hindernis
für die zukünftige Selbstbestimmung aller Werktätigen, die ein wichtiges Kri-
terium des Sozialismus sei. Der Widerspruch zwischen Bürokratie und Werk-
tätigen könne nur gelöst werden, »wenn die atomisierten Arbeiter ein selbst-
bestimmendes und kollektiv handelndes Ganzes werden im Widerstand und
Kampf gegen die allmächtige Staatsmaschinerie. Nur dieser Kampf kann die
politischen Vorbedingungen schaffen für die klassenlose sozialistische Ge-
sellschaft!«
»Als bewusst und selbständig kollektiv handelnde, gesellschaftliche Grup-
pe ist aber die Arbeiterklasse in Russland verschwunden.« Auch die Konkur-
renz der Arbeiter untereinander ist »aufs höchste gesteigert worden«. Die
Sowjetunion hat sich zwar den wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozia-
lismus angenähert, sich aber von den politischen Bedingungen entfernt. Es
kann später zu einem Kampf der neuen Arbeiterklasse um ihre Selbstbe-
stimmung kommen, dessen Formen nicht vorher zu bestimmen sind. Wie bei
anderer Gelegenheit, sieht Thalheimer auch bei dieser sozialen Strukturana-
lyse durchaus die Möglichkeit, dass dieser erste Großversuch einer sozialisti-
schen Gesellschaft scheitern könnte: »Eine Lösung des Widerspruchs ist
auch der Untergang dieses ersten Versuches im großen Maßstab, den Hori-
zont der kapitalistischen Gesellschaft zu überschreiten.«
Diese Perspektive impliziert jedoch zugleich, dass es dann neue Versuche
geben wird und geben muss. Seine Kritik der stalinistischen Degeneration
anerkennt aber die trotz allem positive Bedeutung der Sowjetunion: »Die
Gegnerschaft der kapitalistischen Umwelt zur SU und der SU zur kapitalisti-
schen Umwelt ergibt sich aus dem Moment der Verneinung des Kapitalismus,
das die SU enthält. Und daraus ergibt sich auch, dass die Arbeiterklassen der
anderen Länder, soweit sie für den Sozialismus kämpfen, die SU als eine un-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 7

entbehrliche Hilfskraft im Kampf für den Sozialismus betrachten müssen, vor


allem als eine große, entscheidende militärische Hilfskraft.
Das Unvollendete des Sowjetmodells bedeutet andererseits, »dass die SU
für die Arbeiterklasse voll entwickelter kapitalistischer Länder, die für die so-
zialistische Revolution kämpfen, kein einfach zu kopierendes Vorbild sein
kann, weder dafür, wie sie den Kampf um die Macht zu führen haben, noch
dafür, wie sie nach Eroberung der Macht den Sozialismus aufzubauen ha-
ben.«
Auch eine Lösung durch einen Anstoß von außen - durch eine Revolution
in einem hoch entwickelten kapitalistischen Land - sei denkbar. Thalheimer
sieht die positiven und negativen Aspekte der sowjetischen Entwicklung, die
auf die Entfaltung einer neuen Kunst nach der Revolution einwirken können.
Positiv seien die allgemeine Alphabetisierung, die kulturelle Öffnung des Dor-
fes und die neuen Möglichkeiten für die Massen der Agrarbevölkerung, die
erzieherische Rolle der Roten Armee. Andererseits gehe die wachsende
Reglementierung der Kunst weit über die zaristische Zensur hinaus, die zwar
verboten habe, aber dennoch das Entstehen der großen klassischen, oft ge-
sellschaftskritischen Literatur nicht verhindern konnte. Und es gab schließlich
auch die Möglichkeiten illegaler Literatur. In der Stalinschen Periode (in der
dieser Essay entstand) werde nicht nur verboten, sondern auch vorgeschrie-
ben, was Kunst und Literatur aussagen dürfen und sollen - und das mit allen
schnellen Änderungen und Wendungen der politischen Linie. Kunst darf nun
nicht mehr kritisieren, was an den politischen Verhältnissen kritikwürdig ist,
sondern soll sich fügen, diese rechtfertigen und möglichst fördern: »Unter
solchen Bedingungen verliert die Kunst eine ihrer wichtigen, gesellschaftli-
chen Funktionen, sie muss verkrüppeln.« Da der »sozialistische Realismus«,
das Schlagwort für die Kunst und Literatur in Sowjetrussland, nur die positi-
ven Züge darstellen darf »tendiert er dahin, sich selbst aufzuheben..., wird
zur Schematik und Schönfärberei«, wird der Kunst ihre schöpferische Kraft
genommen. Denn »Alle wirkliche und große Kunst hat gesellschaftliche Ent-
deckungs- oder Pionieraufgaben zu erfüllen.«
Thalheimer anerkennt die ungeheure Bedeutung der russischen Revolution
und bewundert die Opfer und Leistungen, die vor- und nachher erbracht wur-
den: »Aber die Bewunderung und Anerkennung ... darf keine blinde, sie muss
einsichtige Bewunderung sein.« Zu unterscheiden sei, was Fortschritt und
was Rückschritt sei, »was allgemeine Bedeutung hat für den Befreiungs-
kampf der Arbeiterklasse der anderen Länder und was russischer Sonderfall
ist.«
Das Proletariat anderer Länder wird »nur anzufangen (haben) von einem
höheren Ausgangspunkt aus«: Die militärische Macht der Sowjetunion sei für
die Revolution anderer Länder wichtig, ja vielleicht unentbehrlich, aber nicht
vorbildlich. Ein solcher Neuanfang werde auch für die revolutionäre Kunst
nach der Revolution in Mittel- und Westeuropa gelten.
Die Arbeit wendet sich dann der Frage zu, wie die neue Bürokratie auch Li-
teratur und Kunst unterwarf und diese dadurch nach anfänglichem Auf-
8 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

schwung verkrüppeln müssen. Die Arbeit endet mit einer positiven Schluss-
note, die die heroischen Opfer und Leiden des russischen Volkes und seine
positiven Leistungen - trotz der Hindernisse der Bürokratie - auf vielen Gebie-
ten anerkennt und zu »einsichtiger Bewunderung« auffordert.
Im vorletzten Kapitel behandelt Thalheimer den Unterschied zwischen
Kunst und Propaganda. Schließlich wird das Verhältnis zwischen Künstler
und Publikum kurz erörtert. Der Wissenschaftler und Philosoph stellt die
Ideologie einer Klasse begrifflich dar, »der Künstler vermittelst sinnlicher An-
schauung.«

Dieser bisher unveröffentlichte Essay geht über die Probleme der Kunst
weit hinaus; er ist Teil der langjährigen, immer wiederkehrenden Beschäfti-
gung mit dem Problem der Beurteilung der widersprüchlichen Entwicklung
und weltpolitischen Wirkung der russischen Revolution und der Sowjetunion.
Es geht auch in diesem Fragenkomplex für Thalheimer um eine »Fortschrei-
bung« des Marxismus, wozu die Klassiker nichts sagen konnten; auch Lenin
hat kaum etwas dazu äußern können. Selbst die Begriffe der bisherigen mar-
xistischen Klassenanalyse sind vielleicht zur Einschätzung dieses nachmarx-
schen Phänomens ungeeignet.
Thalheimer ist gleich weit entfernt von kritikloser Euphorie wie von totaler
Verdammung. Er sieht die welthistorische Bedeutung der russischen Revolu-
tion, »des ersten Großversuches, die Grenzen des Kapitalismus zu über-
schreiten«, und das weltpolitische Gewicht der Sowjetunion. Er anerkennt die
positiven Leistungen, kritisiert die Erscheinungen des Niedergangs in der
Stalin-Ära und warnt vor der existentiellen Gefahr, wenn eine Korrektur aus-
bleiben sollte. Zugleich sieht er auch die objektiven Bedingungen und die
subjektiven Faktoren der Fehlentwicklung. Die Erkenntnis der subjektiven
Faktoren impliziert auch, dass es Alternativen geben muss, dass die stalinis-
tische Degeneration kein unvermeidlicher historischer Prozess ist. In diesem
Zugang erweist sich Thalheimer wieder als Schüler Rosa Luxemburgs, als
undogmatischer Marxist, der bessere sozialistische Alternativen sucht.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 9

August Thalheimer
Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst
Ein Versuch 6
Vorbemerkung
Der hauptsächliche Anlass zu den folgenden Bemerkungen waren Ausfüh-
rungen eines befreundeten bildenden Künstlers, der zugleich mit den revolu-
tionären Bewegungen unserer Zeit sympathisiert, über revolutionäre Kunst.
Dazu kamen Gespräche mit einem anderen bildenden Künstler, ebenfalls ein
Sympathisierender der revolutionären Bewegung unserer Zeit, der viel über
seine Kunst nachgedacht hatte und ernstlich bemüht war, zu klaren Begriffen
über das Wesen und die Ziele seiner Kunst zu kommen. Schließlich dachte
ich beim Niederschreiben dieser Ausführungen auch an die Probleme einer
mir verwandtschaftlich nahe stehenden jüngeren Künstlerin.
Weiter sind gerade in der letzten Zeit viele Fragen der bildenden Kunst wie
der anderen Künste unter den Nachkriegsbedingungen, und im Rahmen der
Auseinandersetzung der Sowjetunion mit der westlichen kapitalistischen Welt
aufgeworfen worden. Und schließlich sind auch viele Künstler West- und Mit-
teleuropas durch den Krieg und die Nachkriegswirkungen mächtig aufgerüt-
telt worden, und die Fragen der „revolutionären Kunst“ sind mit rein ge-
schichtlichen Fragestellungen aufgeworfen worden. Einerseits hat sich zwei-
fellos der Zerfall der kapitalistischen Welt beschleunigt und vertieft. Die darin
wirkenden Künstler sind, wie auch immer sie sich subjektiv einstellen mögen,
mehr oder weniger eng gebunden. Andererseits werden viele Künstler ange-
zogen durch den heute fast die ganze Welt durchziehenden Kampf gegen
diese zerfallende kapitalistische Welt; und für eine neue sozialistische Welt.
Sie leben als Künstler in der kapitalistischen Welt, aber zugleich als revoluti-
onäre Künstler wollen sie jenseits dieser zerfallenden alten Welt leben und
wirken. Hier liegt also ein Widerspruch. Er bedarf der Lösung.
Neue Gebiete sind außerhalb der SU entstanden, wo der Bruch mit der
kapitalistischen Welt vollzogen ist und der Künstler unmittelbar vor die Frage
gestellt wird, wie er sich dazu als Künstler verhalten soll. Hier lebt der Künst-
ler in einer Wirklichkeit, die bereits jenseits der kapitalistischen Welt liegt;
aber als ausgebildeter Künstler wurzelt er noch in der kapitalistischen Welt.
Hier wieder ein Widerspruch, diesmal in einer neuen Form. Wie man sieht,
eine Fülle, ja eine Überfülle von neuen Fragen.
Die nachfolgenden Bemerkungen haben nicht die Absicht und können sie
nicht haben, diese und die damit zusammenhängenden Fragen der revolutio-
nären Kunst in allen Einzelheiten und erschöpfend zu behandeln. Dazu wäre
eine umfassende Spezialarbeit nötig, wozu mir sowohl die Zeit wie auch das
ausreichende künstlerische und literarische Material fehlt. Was ich in dieser

6
Vollständiger Text des Manuskripts aus dem Jahr 1948. Quelle: Maschinenschriftliches Mauskript Privatar-
chiv Theodor Bergmann.
10 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

kleinen Arbeit versuche, ist, auf Grund der marxistischen Methode, einige der
wichtigsten Grundbegriffe die hier in Betracht kamen, klar zu stellen und hie
und da geschichtlich und völkerkundlich zu erläutern. Die begrifflichen Werk-
zeuge zu schaffen oder zu schärfen, mit denen diese Gegenstände mit Erfolg
bearbeitet werden können; dies scheint mir eines der dringendsten Bedürf-
nisse zu sein. Der folgende Versuch will ein Beitrag dazu sein. Der Verfasser
hoffte, dass es sowohl verschiedenen Künstlern als auch den wissenschaftli-
chen Arbeitern auf diesem Gebiet - Kunstgeschichtlern, Ästhetikern, Kritikern
- einige Anregungen geben möge.
Mag so der vorliegende Versuch auch eine „Gelegenheitsarbeit“ im eigent-
lichen Sinn des Wortes sein, so kann der Verfasser sagen, dass er über die
Gegenstände und Fragen der revolutionären Kunst, wenn auch ohne sie zu
einer „Spezialität“ zu machen, doch seit langer Zeit nachgedacht hat.
Und schließlich sei noch bemerkt, dass der Verfasser die marxistische Me-
thode anwendet, die allen seinen sonstigen Arbeiten zu Grunde liegt dass er
aber sich sonst an keine speziellen Dogmen oder gar Parteibeschlüsse ge-
bunden fühlt und den Gegenstand so behandelt, wie es sich dem unbefange-
nen Denker vermittelst dieser Methode darstellt. Und so hat er auch nicht die
Absicht, mit diesen Ausführungen irgendjemand Vorschriften zu geben, was
er tun oder nicht tun soll, oder gar einen kritischen Richterstuhl aufzurichten.
Es genügt ihm, wenn diese Ausführungen einigen Künstlern oder wissen-
schaftlichen Arbeitern auf dem Gebiet der Kunst einige Anregungen zu selb-
ständigem Nachdenken geben, und wenn sie dem oder jenem aus dem
kunstgenießenden Publikum zu etwas größerer Klarheit verhelfen sollten. Ich
habe hauptsächlich die Fragen ins Auge gefasst, wie sie vor dem bildenden
Künstler stehen, der sich auf den Standpunkt der sozialistischen Revolution
gestellt hat und ihr auch als Künstler, nicht nur als Parteimann, dienen will.
Der bloße Parteimann könnte vielleicht sagen: wozu das Bemühen? Haben
wir in der SU nicht ein Land, das 30 Jahre sozialistischer Revolution hinter
sich hat, in dem also die Fragen der revolutionären Kunst gelöst, ja deren Lö-
sung in so vielen Parteibeschlüssen festgelegt, das also in dieser Beziehung
allgemeingültiges Vorbild für die Kunst aller andern Länder ist, die revolutio-
när sein will? Der Verfasser ist nicht dieser Ansicht. Einmal liegen die Fragen
der Kunst verschieden in den Ländern, wo die Arbeiterklasse die Macht ero-
bert hat, und in den Ländern, wo sie erst noch um die Macht kämpft. Sodann
kann die SU auch für die anderen Länder, in denen die sozialistische Revolu-
tion siegen wird, kein allgemein gültiges Vorbild auf dem Gebiete der Kunst
sein. Russland ist in vieler Hinsicht ein Sonderfall. Man kann wohl sagen,
dass in den mehr als 30 Jahren der Entwicklung der russischen Revolution
die besonderen Züge dieser Entwicklung sich nicht weniger, sondern stärker
ausgeprägt haben. Wo sie vorhanden sind, sowohl in den besonderen ge-
schichtlichen, klassenmäßigen und kulturellen Bedingungen unter denen die
Revolution von 1917 sich vollzog, als auch in der tausendjährigen geschicht-
lichen Vergangenheit des Landes, wo sie nicht fortschreitend verblasst sind,
sondern umgekehrt, sich stärker ausgeprägt haben. Dies im Einzelnen zu be-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 11

legen ist hier nicht der Ort. Jedenfalls aber ergibt sich daraus, dass wohl ein-
zelne Züge dieser Entwicklung, einzelne Fragen, die hier gestellt sind, allge-
meine Bedeutung haben können, aber nicht die Gesamtheit.
Darüber wird im Zusammenhang dieser Abhandlung noch im Einzelnen zu
sprechen sein. Es gibt also nach der Meinung des Verfassers noch einige
Fragen der Kunst der Revolution und der Revolution der Kunst, die für die üb-
rige Welt noch nicht ein für alle mal gelöst und beschlussmäßig festgelegt
sind, und über die es sich lohnt, nachzudenken.

1. Die künstlerische Abbildung

Das Wesen aller Kunst ist wohl das der Abbildung. Es ist dies der Begriff, der
bereits von Aristoteles 7 als allgemeiner Grundbegriff aller Kunst bestimmt
worden ist. Der griechische Ausdruck dafür ist mimesis, was im Deutschen
gewöhnlich mit Nachahmung übersetzt wird. „Abbildung“ scheint uns die ge-
nauere Wiedergabe zu sein.
Abbildung ist auch ein scharf umrissener mathematischer Begriff. Aller
Wissenschaft liegt letzten Endes auch die Abbildung der Wirklichkeit als Mo-
tiv und Zweck zu Grunde. Aber sie beschränkt sich nicht darauf, der Grund ist
noch nicht das Gebäude selbst. Die Abbildung durch die Kunst und durch die
Wissenschaften haben nicht nur ein Gemeinsames, sie unterscheiden sich
zugleich. Die der Wissenschaft ist begrifflich, unanschaulich, die der Kunst ist
sinnlich-anschaulich. Der Begriff der „Abbildung“ oder des Bildes ist ein sehr
weiter Begriff. Er umfasst die Abbildung eines einzelnen sinnlichen Gegen-
standes, eine Vielheit von sinnlichen Gegenständen, die konstruktive, willkür-
liche Gruppierung von Elementen, die aus sinnlichen Gegenständen in der
oder jener Weise abgeleitet und umgeleitet sind. Das letztere spielt eine be-
sondere Rolle in der so genannten abstrakten Kunst. Man glaubt, damit in
besonders hohem Grade die schöpferische Rolle des Menschen, die
menschliche „Freiheit“ gegenüber der gegebenen Wirklichkeit auszudrücken.
Aber es ist falsch, zu glauben, dies sei eine Besonderheit der Kunst im All-
gemeinen oder der abstrakten Kunst im Besonderen.
Auch die Mathematik und die Naturwissenschaften bedienen sich des kon-
struktiven Verfahrens. In besonders hohem Grade die Mathematik, weshalb
manche Mathematiker entrüstet dagegen protestieren, wenn man ihre Wis-
senschaft als eine der Naturwissenschaften bezeichnet. In der Tat, die Ma-
thematik nimmt die Wirklichkeit, die sie wissenschaftlich abbildet, keineswegs
in ihrem Rohzustand. Sie ist idealisiert und sie baut Schemata der Wirklich-
keit auf. Aber das tun auch, wenn auch in verschiedenen Graden, die Natur-
wissenschaftler im engsten Sinn des Wortes. Die botanische Beschreibung
etwa der Rose ist ein Schema, das vermittelst des Prozesses der Verallge-
7
Aristoteles (384-322 v.u.Z.) bedeutender griechischer Philosoph, 342 Erzieher Alexanders III. von Makedo-
nien, kehrte 336 nach Athen zurück, gründete die Schule der Peripatetiker. Nach Alexanders Tod musste er,
der Gottlosigkeit bezichtigt, aus Athen fliehen.
12 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

meinerung aus dem Rohstoff der sinnlichen Wirklichkeit herausgearbeitet


worden ist. Auf dem anderen Pol ist aber auch die Theorie des Atoms ein
Schema. Sie ist es schon dadurch, dass sie eine mathematische, d. h. quali-
tative Theorie ist. Aber auch in qualitativer Einsicht handelt es sich um ein
Schema, und das heißt um fortschreitende Annäherung an die Wirklichkeit
vermittels begrifflicher Konstruktionen. Das „Schematische“ setzt dort ein, wo
die begriffliche Analyse jeweils an ihrer Grenze angelangt ist. Diese Grenze
ist beweglich, aber sie ist in jedem Augenblick auch gegeben. Das Schemati-
sche wechselt daher ständig seine Stelle, aber es hat zugleich immer seine
Stelle, es lässt sich niemals vollständig ausmerzen. Ein Beispiel für ein sol-
ches Schema ist etwa in der Mathematik der Begriff des Kontinuums der
rechten Zahlen, in der heutigen Physik die Begriffe der Elektronen, Protonen
usw.
Weder die Kunst noch die Wissenschaft nehmen den Rohstoff der sinnli-
chen Wirklichkeit als Rohstoff auf. Sie verarbeiten ihn, jede in der ihr eigen-
tümlichen Weise.
Diese elementaren, begrifflichen Hinweise sollen dazu dienen, den naiven
„Realismus“, der vermeint, die Wirklichkeit in ihrem sozusagen Rohzustand
sich aneignen zu können, auf eine der Grenzen des Realismus hinzuweisen,
die in der Natur der Sache selbst, d.h., der künstlerischen oder wissenschaft-
lichen Abbildung der Wirklichkeit liegen.
Auf der anderen Seite hat man sich phantastisch übertriebene Vorstellun-
gen vom Konstruktionsvermögen oder der „schöpferischen Freiheit“ in der
Kunst und der Wissenschaft gemacht. Die praktische Wirklichkeit ist nicht nur
der unentbehrliche Rohstoff und Ausgangspunkt der künstlerischen oder wis-
senschaftlichen Abbildung, sie ist auch ihr letzter Maßstab, ihr Kriterium. Sie
setzt der „schöpferischen Freiheit“, der Subjektivität des Künstlers wie des
Wissenschaftlers objektive Grenzen nach der anderen Seite hin.
Die Abbildung oder das Bild fällt nie vollständig oder absolut mit der Wirk-
lichkeit zusammen. Aber es muss eine, wie immer auch geartete „Korrespon-
denz“ zu ihr haben, wenn es nicht aufhören soll, Abbildung zu sein, und das
heißt letzten Endes, wenn es nicht aus dem Rahmen der Kunst oder der
Wissenschaft überhaupt herausfallen soll, innerhalb dieser entgegengesetz-
ten Grenzen ist Raum genug für die schöpferische Freiheit, für die Subjektivi-
tät des Künstlers oder des Wissenschaftlers. Die Abbildungsfunktion der
Kunst und der Wissenschaft hat bei aller Verschiedenheit in den Mitteln, we-
sentliche Züge gemeinsam.
Da ist zuerst der Charakter der „Allgemeinheit“.
In der Wissenschaft liegt er auf der Hand. Er ist hier schon durch ihr Werk-
zeug, den Begriff, gegeben. Er liegt weniger an der Oberfläche in der Kunst,
weil sie sich sinnlicher Mittel zur Abbildung bedient und das Allgemeine nur
sinnlich als Einzelheit darstellen kann. Aber der sinnlichen Einzelheit, vermit-
tels derer der Künstler darstellt, enthält die Allgemeinheit oder das „We-
sen“ des Gegenstandes. Der Künstler kann immer nur eine begrenzte Aus-
wahl von Zügen geben, während der Gegenstand an sich eine unbegrenzte
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 13

Reihe von Zügen, Merkmalen, Eigenschaften, Wirkungen usw. enthält, oder


„wissenschaftlich“ ist. Er vollzieht durch Auswahl, indem er das Wesentliche
vom Zufälligen, das Typische vom Untypischen, das Bleibende vom Vorüber-
gehenden, letzten Endes also immer das Allgemeine vom Einzelnen trennt.
Dies Verfahren tritt klar zu Tage, wenn man beispielsweise dem künstleri-
schen Porträt eine Augenblicksphotographie gegenüberstellt.
Zweitens, die Kunst sowie die Wissenschaft heben doch mit den verschie-
denen Mitteln, derer sie sich zur Abbildung bedienen, den Gegenstand aus
dem Fluss des Werdens heraus, sie machen ihn zeitlos, sie „vereinigen“ ihn.
Sie halten ihn somit fest, sie erhalten ihn. Aber sie können ihn als Abbil-
dung der Wirklichkeit, die ein unablässiges Werden ist, nur erhalten, indem
sie in seinem Dasein selbst als Abbildung das Werden einbeschließen, indem
sie ein solches Dasein selbst als ein Ergebnis, einen Niederschlag des Wer-
dens, darstellen.
In der Wissenschaft leistet dies das Gesetz, in der Naturwissenschaft das
Naturgesetz, in der Mathematik die Funktion. In der Kunst leistet dies das
Festhalten das „fruchtbaren Moments“, d. h. der Moment, der nach vorwärts
und rückwärts das Werden enthält, das über sein unmittelbares Dasein hin-
ausweist. Er weist aber über sein unmittelbares Dasein hinaus, indem er so
gewählt ist, dass er nicht sich selbst genügt, sondern der Ergänzung durch
bildliche Fortsetzung nach vorwärts und rückwärts bedarf. Und das heißt den
Augenblick darzustellen, fassbar, insofern er wesentlich Nichtaugenblick, ein
gesetzlicher oder dauernder, ist.
Drittens, die Wissenschaft und die Kunst heben den Gegenstand aus ei-
nem größeren Zusammenhang heraus, sie wählen ihn. Aber in dieser Isolie-
rung muss zugleich der Zusammenhang, ein Teil des Ganzen abgebildet,
dargestellt, ausgedrückt sein.
Die Wissenschaft erzielt dies durch den systematischen Zusammenhang
und Gliederung ihrer Begriffe und ihrer Einzelsätze. Der einzelne Begriff aus
dem einzelnen Satz gilt in dem wissenschaftlichen Aufbau eines ganzen nur
in ihrem Zusammenhang. Was die wissenschaftliche Analyse zerlegt und iso-
liert hat, baut die Synthese aus den so gewonnenen Elementen stufenweise
wieder auf und zwar so, dass jetzt der Zusammenhang selbst erscheint, ab-
gebildet ist. Die Kunst erzielt dies, indem sie solche Grenzen für ihre Abbil-
dung wählt, dass innerhalb ihrer die Einzelzüge einen inneren Zusammen-
hang haben, dass die Teile ein Ganzes bilden, das seinerseits auf ein umfas-
sendes Ganzes hindeutet. Die Grenze, als Grenze eines Ganzen, das auf ein
umfassenderes Ganzes hindeutet, hebt sich sonst zugleich als Grenze auf.
Soviel scheint mir nötig an elementarer Begriffebestimmung um zunächst ei-
nen allgemeinen Rahmen zu ziehen, um das Verhältnis der Kunst zur Wirk-
lichkeit, gegen Gewaltüberschreitungen nach der einen wie auch der anderen
Seite zu sichern.
14 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

2. Die gesellschaftliche Funktion in der Urgesellschaft

Die folgenden Betrachtungen sind einmal dadurch veranlasst, dass in den


Ausführungen unseren befreundeten Künstlers viel von „sozialer Kunst“ die
Rede war, ohne dass irgendwo klar gesagt wäre, was darunter zu verstehen
ist. Zum anderen aber kann die geschichtliche Rolle der Kunst in der Urge-
sellschaft - wir meinen damit aber die Gesellschaftsformen, die vor der in
Klassen geteilten und auf Privateigentum an den Produktionsmitteln beru-
henden Gesellschaftsform liegen, wertvolle Hinweise darüber geben, was in
einer künftigen, klassenlosen Gesellschaft die gesellschaftliche Funktion der
Kunst sein wird. Und die wiederum sollte zur Aufklärung wichtiger Seiten
dessen dienen, was man als „revolutionäre Kunst“ bezeichnen kann. Außer-
dem glauben wir, dass die Einsicht in die gesellschaftlichen Funktionen der
Kunst in der Urgesellschaft wichtige Fingerzeige gibt über die Frage des Ur-
sprunges der Kunst. Der Ursprung wieder wirft Licht auf die Zukunft der
Kunst.
Der Ausdruck „soziale Kunst“ ist so vieldeutig und unbestimmt, dass er
besser gar nicht gebraucht wird.
Wörtlich genommen ist „soziale Kunst“ gesellschaftliche Kunst. Aber alle
Kunst ist „gesellschaftliche“. Sie ist es in allen Gesellschaftsformen, nicht nur
in den verschiedenen geschichtlichen Formen der Klassengesellschaften,
sondern auch in den Gesellschaftsformen, die vor den Klassengesellschaften
liegen, und sie wird es auch in einer sozialistischen Gesellschaft der Zukunft
sein.
In welchem Sinne und warum? Grundlegend ist hier die Tatsache, dass al-
le Kunst als Abbildung die Form der Allgemeinheit hat, und zwar in sinnlich-
anschaulicher Gestalt. Die Form der Allgemeinheit ist schon an sich gesell-
schaftliche Form, da sie die Form der Mitteilung oder, wenn man will, eine
„Sprache“ im weiteren Sinne des Wortes ist. Alle Kunst wendet sich schon
durch ihre wesentliche Form der Allgemeinheit an die Gesellschaft, aus der
sie hervorgegangen ist. Sie teilt „der Gesellschaft“ etwas mit, was immer das
auch sein möge, sie will sie in irgendeiner Weise beeinflussen, und wenn es
auch nur wäre, sie zu unterhalten.
Die Kunst kann sich aber an die Gesellschaft nur wenden, wenn nicht nur
ihre Form gesellschaftlich ist, sondern auch der Inhalt, der Stoff, der in ihr ge-
formt ist. Das Kunstwerk muss etwas abbilden, das für die Gesellschaft von
irgendwelcher Bedeutung ist. Und dies bedingt, dass auch der Stoff der
Kunst letzten Endes aus der Gesellschaft stammt, dem Leben der Gesell-
schaft entnommen ist, sie wiederspiegelt, kurz, dass er geformtes gesell-
schaftliches Leben ist. Aber wenn dies für alle Gesellschaftsformen gilt, gilt
es auch für alle Teile oder Zweige der Kunst? Wir meinen ja, wobei aber ein-
geschlossen ist, dass nicht alle Zweige der Kunst die selbe gesellschaftliche
Funktion haben. So ist etwa die gesellschaftliche Funktion des Ornaments
nicht dieselbe wie die des Epos, die der Heiligenbilder nicht die des weltli-
chen Dramas, die des lyrischen Gedichts nicht die des Romans. Die Unter-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 15

suchung im Einzelnen gehört nicht hierher. Dem scheint zu widersprechen


der besonders in der neueren Zeit häufige Fall, wo der Künstler nur seine ei-
gene Individualität auszudrücken scheint. Der Widerspruch ist nur scheinbar.
Der Künstler selbst, wie er sich auch anstellen möge, ist gesellschaftliches
Wesen, gesellschaftliches Produkt. Indem er sich künstlerisch ausdrückt,
drückt er unvermeidlich Gesellschaftliches aus. Ein klassisches Beispiel die-
ser Art ist Goethe, der sein ganzes Kunstschaffen als eine große und fortlau-
fende „Konfession“ bezeichnet. Der Gehalt dieser Individualität war von her-
vorragender gesellschaftlicher Bedeutung, die künstlerische Form gab die-
sem Gehalt auch die gesellschaftlich wirkende Form. Es ist eben das Be-
wusstsein über die gesellschaftliche Bedeutung des Gehalts einer künstleri-
schen Individualität, die sie zum künstlerischen Ausdruck, zu der ihr eigenen
Art der Mitteilung an die Gesellschaft drängt. Der nur - individuelle Gehalt ei-
ner Person dagegen ist kein Motiv, kein Stoff und keine Form, um sich künst-
lerisch auszudrücken. Die Einzelheit schlechtweg als Einzelheit, d. h. in ihrer
Trennung von der Allgemeinheit, ist nicht mitteilbar, weder sprachlich, noch
künstlerisch. Nicht weil dies „Unaussprechliche“ ein besonders Wertvolles ist,
wie manche glauben, sondern gerade umgekehrt, weil es das Gleichgültige,
Bedeutungslose auch zufällig in der Kunst ist. Nur das Einzelne ist wertvoll,
das zugleich ein Allgemeines enthält. Und darum ist dieses Einzelne auch
ausdrückbar, darstellbar, ja es drängt sich zur Mitteilung. Im wirklichen Sinne
genommen ist also der Ausdruck „soziale Kunst“ eine reine Phraseologie,
nichts sagend.
Die gesellschaftliche Rolle der Kunst ist allen Gesellschaftsformen ge-
meinsam, aber sie ist verschieden in den verschiedenen Gesellschaftsformen,
nach Art und Umfang der Bedeutung. Es ist gerade die Kunst der primitiven
Gesellschaften, das heißt derjenigen, in denen noch keine Klassenteilung
existiert, und das Privateigentum an Produktionsmitteln noch nicht die aus-
schlaggebende Rolle spielt, die im hervorragenden Sinne als gesellschaftlich
bezeichnet werden kann, d.h., eine besonders hervorragende Rolle für das
Leben der betreffenden Gesellschaft spielt. Es ist eine Kunst, die der Gesell-
schaft als einem Ganzen entspringt, und sich daher auch an die ganze Ge-
sellschaft wendet, und von ihr aufgenommen wird. Insofern gibt diese Kunst
wertvolle Fingerzeige, einmal, um die wesentlichen Unterschiede in der ge-
sellschaftlichen Funktion der Kunst in der Klassengesellschaft zu erkennen,
wo die Kunst einer bestimmten Klasse entspringt, das Innere einer bestimm-
ten Klasse ausdrückt und nur bestimmten Klassen der Gesellschaft wahrhaft
entsprechend und zugänglich ist: z.B. der Sklave ist kein Publikum für die
Kunst der Antike, wenn er auch zuweilen ihr Gegenstand sein mag. Der höri-
ge Bauer ist kein Publikum für die höfische Poesie usw. Andererseits gibt die
gesellschaftliche Rolle der Kunst in primitiven Gesellschaften wertvolle Aus-
kunft über die Funktion und dank dessen aber auch für den Gehalt der Kunst
in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft, in der die Klassen verschwun-
den sein werden. Prüft man das ungeheure Material der Kunst der primitiven
16 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Völker von diesem Gesichtspunkt aus, so fallen durchgehend zwei große


Klassen oder Arten ins Auge.
Erstens, Kunstwerke, die solche Eigenschaften und Fähigkeiten haben, die
die bestehende Gesellschaft als für sich förderlich betrachtet, lobend und er-
höhend darstellen: das Loblied, Preislied, Heldenlied, Epos, usw. Es ist vor
allem der hervorragende Jäger, der tapfere und gewandte Krieger, der erfah-
rene Ratgeber oder Unterhändler, der in körperlichen Übungen Hervorragen-
de, der so gelobt, erhöht wird.
Dahin gehören auch die bildnerischen Darstellungen der Gestalten, oder
die Taten der Helden irgendeiner Art, und schließlich auch die Darstellungen
der Götter. Ferner viele Tänze mit Musikbegleitung, die Heldentaten oder
Göttergeschichten dramatisch-mimisch wiedergeben, und schließlich sind es
auch viele Ornamente, die aus der Darstellung von Helden- und Götterfiguren
entwickelt worden sind.
Auch viele Parabeln, Sprüche, Fabeln sollen die von der betreffenden Ge-
sellschaft erwünschten Eigenschaften versinnlichen oder sie in knapper, ein-
prägender, bildlicher Form lebhaft aussprechen.
Zweitens: die Klasse oder Kunst, in der solche Eigenschaften oder Taten,
die die betreffende Gesellschaft als schädlich oder tadelnswert betrachtet,
verspottet, getadelt, kritisiert werden. Dahin gehört vor allem das Spottlied,
der Spottspruch, aber auch viele Fabeln, Erzählungen, usw.
In primitiven Gesellschaften sind überall diese beiden entgegengesetzten
Grundformen der Kunst zu finden.
Diese beiden Grundformen der Kunst primitiver Völker haben eine hervor-
ragende gesellschaftliche Bedeutung. Sie sind ein mächtiges Mittel der be-
treffenden Gesellschaft, um ihre gesellschaftliche Moral, Sitte, Rechtsvorstel-
lungen usw., kurz ihre Formen der Allgemeinheit in der künstlerischen Form
einzuprägen, um die Einzelnen durch die künstlerisch geformte öffentliche
Meinung anzuspornen oder zurechtzuweisen, d. h. den Einzelnen dem ge-
sellschaftlichem Ideal entsprechend zu formen.
Die gesellschaftliche Bedeutung dieser künstlerischen Mittel ist in primiti-
ven Gesellschaften um so größer, je geringer die Rolle der Gewalt ist, um die
Normen dieser Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen durchzusetzen, und je
mehr der Einzelne in seinem ganzen Wesen und Treiben auf die Kollektivität
angewiesen und mit ihr verwachsen ist. Die in künstlerischer Form, positiv
oder negativ sich aussprechende gesellschaftliche Meinung ist hier eine ge-
waltige Kraft, von der wir, die wir in Klassengesellschaften aufgewachsen
sind, uns schwer eine ausreichende Vorstellung machen können, die aber
von allen guten Beobachtern wohl bezeugt ist. Es ist für uns deshalb so
schwer, uns eine ausreichende Vorstellung von dieser Macht zu machen,
weil erstens in den Klassengesellschaften die allgemeine gesellschaftliche
Norm tatsächlich verschwindet, wie sie sich in verschiedene Klassennormen
spaltet, und zweitens, wie in der Klassengesellschaft die Gewalt in der oder
jener Form eine ausschlaggebende Rolle spielt in der Durchsetzung der
Normen der herrschenden Klassen gegenüber den unterdrückten Klassen.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 17

Worin besteht die besondere Eignung gerade der künstlerischen Form zur
Durchsetzung gesellschaftlicher Normen in primitiven Gesellschaften? Offen-
bar in Folgendem: Erstens, die Kunst hat als Abbildung die Form der Allge-
meinheit, aber nicht in begrifflich-unsinnlicher sondern in sinnlich-
anschaulicher Weise. Sie wirkt nicht nur auf den Verstand, sondern auch auf
die Phantasie und das Gefühl. Die ästhetische Wirkung verstärkt die mora-
lisch-sittliche.
Überhaupt zeigt es sich, wie schwierig es primitiven Völkern ist, das Allge-
meine, auf irgendwelchen Gebieten, sich in seiner reinen, d. h. unsinnlichen
Form anzueignen. Die Versinnlichung des Allgemeinen durch die künstleri-
sche Form ist überall in der Frühzeit der gesellschaftlichen Entwicklung eine
unentbehrliche Vorstufe zur reinen Form der Allgemeinheit.
Und schließlich spielt daher noch eine wesentliche Rolle, dass wir in der
Frühzeit der Gesellschaft uns auf dem Gebiet der mündlichen Überlieferung
befinden, dass es noch keine Schrift gibt. Die künstlerische, insbesondere die
dichterische Form ist aber besonders geeignet, mit einem Höchstmaß von
Genauigkeit und Vollständigkeit überliefert zu werden, zumal, da der Regel
nach die musikalische Form dazukommt. Einer der schlagendsten Beweise
dafür ist die erstaunliche Genauigkeit, mit der die so umfangreichen Lieder-
sammlungen der indischen Sprachen jahrhundertlang ausschließlich münd-
lich überliefert worden sind. Auch die epische Überlieferung ist lange Zeit nur
mündlich.
Die Schrift ändert die Sachlage. Sie erscheint nicht zufällig an der Grenze,
die die Wildheit und Barbarei von der so genannten Zivilisation scheidet, d. h.
beim Auftauchen des Privateigentums, die Schrift der Klassen und des Staa-
tes. Die Schrift entsteht dann und dort, wo sie einem mächtigen gesellschaft-
lichen Bedürfnis entspricht, oder wird dann und dorthin übertragen, wo ein
entsprechendes Bedürfnis entstanden ist. Die schriftliche Festlegung von
Rechtssätzen, wo sie von den verschiedenen Klassen bestritten werden, und
wo das Monopol und die Willkür den mündlichen Rechtsüberlieferungen ein
Privileg des grundbesitzenden Adels ist, das gebrochen werden soll; oder zur
Festlegung der Dekrete, zur Verzeichnung der Siege, Eroberungen und des
Besitzes, zur Verteidigung der Taten einer despotischen Macht, die sich über
die Gesellschaft aufgeschwungen hat; oder zur Niederlegung von geschäftli-
chen Verträgen, die alle schließlich Privateigentümer betreffen, als Mittel zur
Buchführung von Handelgeschäften usw. Es sind also Bedürfnisse, die mit
der Entstehung des Privateigentums, mit dem Kampf der Klassen mit dem
Entstehen des Staates und seinem über der Gesellschaft stehenden Verwal-
tungs- und Machtapparat zusammenhängen. Der alte demokratische Zunft-
beamte kam ohne Schrift aus, der „Bürokrat“, der Beauftragte des anfängli-
chen despotischen Staatswesens, bedurfte ihrer. Der Naturalaustausch, des-
sen Grundlage überall kollektive Wirtschaftsformen sind, ist ohne Schrift
möglich, der Warenaustausch, der auf dem Privateigentum besteht, nicht
mehr. Mit diesem Übergang wird also der Bereich der Kunstform und ihre ge-
sellschaftliche Funktion eingeengt. Das Reich der Prosa breitet sich aus. Dies
18 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

ist aber nicht nur Verlust. Es wird damit zugleich einer höheren Stufe der
Verallgemeinerung ihrer begrifflich-unanschaulichen, d. h. reinen Erfassung
die Bahn eröffnet.
Man kann dies auch noch von einer anderen Seite fassen. Die Kunstform
primitiver Völker ist innerhalb gewisser Grenzen nicht nur an die Primitivität
der gesellschaftlichen Verhältnisse geknüpft, sondern auch an die Primitivität
ihrer Technik, die ihrerseits die Grundlage der primitiven Gesellschaftsformen
ist. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Schrift ein gewaltiger technischer
Fortschritt. Schon Marx bemerkt schlagend, dass das Epos oder das Helden-
lied als Form der Kriegsberichterstattung unvereinbar ist mit der Existenz der
Druckerpresse, des Telegrafs, usw. Formen der Kunst primitiver Völker set-
zen sich auch in Klassengesellschaften fort; aber sie zeigen dann Umfor-
mungen, die für den Übergang von Vorklassen zu Klassengesellschaftsfor-
men bezeichnend sind, sie spiegeln geradezu den Übergang wieder. Es ist
heute allgemein bekannt, dass der Ilias8 und dem Nibelungenlied9 einzelne
Heldenlieder, „Reihenlieder“, vorausgingen. Diese „Reihenlieder“ aber wur-
zeln noch in einer demokratischen, klassenmäßig undifferenzierten oder noch
wenig differenzierten, kollektivistischen Gesellschaftsform. Der Held ist Stan-
desheld, Volksheld vermöge seiner Tapferkeit. In der Ilias, wie im Nibelun-
genlied, die bereits klassenmäßig differenzierte Gesellschaftsformen wider-
spiegeln, sehen wir im Mittelpunkt der Darstellung gerade den tragischen
Konflikt des einfachen, alten Recken (Achilles, Siegfried) mit dem reichen
und mächtigen Herrscher neueren Stils, der keineswegs an reinem Helden-
tum sich mit dem alten Recken vergleichen kann, der aber mächtiger ist,
vermöge seines Reichtums und des von ihm beherrschten Gebieten. Aga-
memnon, der „Herrscher der Völker“ und Gunther, der Herrscher des reichen
Burgundenlandes.
Übrigens hat bereits Aristoteles die beiden geschilderten entgegengesetz-
ten Grundnormen der Kunst primitiver Völker, die lobend-erhöhende und die
häßlich-verspottende, in der entwickelteren Kunst seiner Zeit in feiner Art
herausgefunden und analysiert.
Es sagt darüber: „Da aber diejenigen, die nachahmen (die Künstler), Han-
delnde nachahmen, die notwenigerweise tüchtig oder schlecht sind, so ah-
men sie notwendigerweise diejenigen nach, die entweder besser sind als wir,
oder schlechter oder gleich.“ (Aristoteles, Poetica)
Die Dreiteilung bei Aristoteles ist so in dem Bedürfnis der formellen Voll-
ständigkeit geschildert. In der Anwendung herrscht bei ihm die Zweiteilung
vor. Er stellt unter deren Gesichtspunkt in der Malerei den Peligius dem Dio-
nysius10 gegenüber, in der Dichtkunst den Homer11 dem Heginius. Dieser Un-

8
Ilias, Iliade, griechisches Epos Homers vom Trojanischen Krieg. Ilias war der antike Name von Troja
9
Nibelungenlied, um 1200 entstandenes mittelhochdeutsches strophisches Heldenepos eines unbekannten
Dichters aus dem Donauraum um die mythologischen Sagen um Brunhilde und Siegfried und der Historie
um den Untergang der Burgunder.
10
Dionysos, auch Bakchos, nach dem griechischen Mythos Vegetations- und Fruchtbarkeitsgott, Gott der
Baumzucht und des Weins
11
Homer, Homeros, 8. Jh. v.u.Z., Dichter der griechischen Epen Ilias und Odyssee
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 19

terschied gilt auch in Bezug auf die Tragodie-Komödie. „Diese nämlich soll
bessere, jene aber schlechtere Menschen nachahmen, als die heutigen
sind.“ Richtiger wäre, die eine, die Tragödie, erhöht ihre Gestalten, die ande-
re, die Komödie, setzt sie herab, verspottet sie.
Wenn die Kunst der primitiven Völker und Gesellschaften in hervorragen-
der Weise gesellschaftliche Funktion hat, so sind aber alle Funktionen damit
noch nicht erschöpft. Den innergesellschaftlichen Verhältnissen steht gegen-
über das Verhältnis einer primitiven Gesellschaft zur Natur. Eben als primitive
Völker sind sie in höchstem Grade abhängig von der Natur. Sie verstehen
noch nicht, sie methodisch zu beherrschen. Daraus entspringt das Religiöse
und Mythologische, d. h. irrationale und phantastische Verhältnis zur Natur,
das sich naturgemäß so in ihrer Kunst widerspiegelt. Daher die mythologi-
sche Naturauffassung als Hintergrund und Untergrund aller primitiven Kunst.
Es ist z. B. zweifellos, dass die Höhlenmalereien der Steinzeit ganz bezwin-
gende magische Bedeutung hatten, d. h. dem betreffenden Jägerstamm rei-
ches Wild als Jagdertrag sichern sollten. Aber bis zur Erklärung, dass alle
Kunst ursprünglich magische Zwecke hatte oder von der Magie abstammt, ist
ein weiter Sprung.
Es heißt einfach die gesellschaftlichen Funktion der Kunst der primitiven
Völker übersehen. Diese gesellschaftliche Funktion der Kunst ist aber ein Ra-
tionales. Nur das Verhältnis der primitiven Gesellschaft zur Natur spricht die
Kunst dieser Gesellschaft wesentlich irrational-mystisch, d. h. phantastisch
aus, und sie kann es gar nicht anders, weil ihr reales Verhältnis zur Natur
noch kein durchgehendes oder überwiegendes Rationales ist.
Ist es ein Wunder, dass die moderne (bürgerliche) Forschung sich fast
ausschließlich auf diese irrationelle Seite der Kunst der Urgesellschaft be-
schränkt und die reale Seite so gut wie übersehen hat?
In der Praxis der primitiven Kunst sind diese beiden Seiten durchgehend
eng miteinander verbunden. Das religiös-mythologisch-phantastische bildet
zumeist den Untergrund, auf den das rationale-gesellschaftliche aufgetragen
wird.
Aber gerade dieses Rationelle, Menschliche, Natürliche ist das in die Kunst
weisende, das dauernd ästhestische Anziehungskraft ausübende, das uns
die Kunstwerke vergangener Gesellschaftsformen zugänglich macht, vermit-
telt. Achill, seine Taten, Gefühle, Leidenschaften als menschlicher Held, nicht
als der fast unverwundbare Sohn der Meergöttin Thotis, Brunhilde als Barba-
renweib mit gewaltigen Leidenschaften, bedingen die künstlerische Dauer
dieser Gestalten.
Wir glauben, dass sich aus den vorstehenden Hinweisen auf die geschicht-
liche Funktion der Kunst ergibt, dass es eine außerordentlich lohnende Arbeit
sein würde, das gesamte vorliegende urgeschichtliche, frühgeschichtliche
völkerkundliche, folkloristische Material der Kunst von diesem Gesichtspunkt
aus systematisch wissenschaftlich durchzuarbeiten. Der Überblick, den wir
gegeben haben, weist darauf hin, der Kunst einen doppelten Ursprung zu
geben, einen innergesellschaftlichen und einen außergesellschaftlichen, der
20 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

im Verhältnis der Gesellschaft zur Natur begründet ist. Daraus ergeben sich
aber bereits wichtige Folgerungen einerseits für die Kunst der Klassengesell-
schaft, die die Urgesellschaft ablöst, andererseits für die einer klassenlosen
sozialistischen Gesellschaft in der Zukunft. Wir stellen zunächst die Frage:
was ändert sich in einer Klassengesellschaft in Bezug auf die gesellschaftli-
che Funktion der Kunst?

Das wesentliche ist hier Folgendes:


1. In der Klassengesellschaft treten an die Stelle der einheitlichen, auf alle
Gesellschaftsmitglieder sich gleichermaßen erstreckenden und ihren wirkli-
chen Interessen entsprechenden gesellschaftlichen Normen die Klassennor-
men, die Normen der herrschenden Klasse oder Klassen; in der Sklavenge-
sellschaft in ihrem ungebrochenen Zustand ist der Sklave von diesen Normen
ausgeschlossen. Die gesellschaftlichen Normen sind die Normen der Freien.
Der Sklave gilt nur als unbegabtes Werkzeug. So noch bei Aristoteles und
Plato12. Das Christentum, Erzeugnis der niedergehenden und bereits in sich
gebrochenen antiken Gesellschaft, lässt für das Diesseits die entgegenge-
setzten Klassennormen gelten, stellt aber für das Jenseits wieder eine ein-
heitliche, dafür aber phantastische Norm her. Es ist so die für ein phantasti-
sches Jenseits geltende Wiederherstellung der einheitlichen Norm der Urge-
sellschaft - das in das Jenseits des irdischen Lebens versetzte „goldene Zeit-
alter“, in dem in den Äußerungen der Klassengesellschaft die Sehnsucht
nach Brüderlichkeit, Gleichheit und Eintracht der Urgesellschaft sich aus-
drückte. Es zeigt dies, nebenbei, die ungeheure Anziehungskraft der einheit-
lichen Normen der Urgesellschaft auf die unterdrückten Klassen und Schich-
ten der späteren Klassengesellschaften. Der christliche Urkommunismus, die
„Bruderschaft in Christo“ in den ursprünglichen Christengemeinden sind teil-
weise und darüber hinaus Wiederherstellungen der Urgesellschaft im Bezirk
eines Teiles des gesellschaftlichen Lebens - eben dem religiösen, getrennt
und in Gegensatz zum weltlichen und profanen Leben. Die christlichen Ur-
gemeinden sind gewissermaßen urgeschichtliche Ornamente am Gebäude
der Sklavengesellschaft. In der christlichen Klassengesellschaft tritt so eine
doppelte Reihe von getrennten gesellschaftlichen Normen ein: einerseits die
Trennung der Normen entsprechend den Klassentrennungen und Klassen-
gegensätzen in der wirklich vorhandenen, diesseitigen Gesellschaft; anderer-
seits die durchgehende, für alle Klassen geltende Trennung der gesellschaft-
lichen Normen in diesseitige und jenseitige, profane und kirchliche, weltliche
und überweltliche. Die Einheit der jenseitigen Normen hat zur Voraussetzung
und ist das Gegenstück zur Spaltung der diesseitigen Normen.
In der feudalen Gesellschaft ist die Spaltung der gesellschaftlichen Normen
aufs Äußerste getrieben, entsprechend der Aufspaltung der Gesellschaft in
„Stände“. Die ritterliche Norm der Herrenstände gilt nur für einen sehr eng
umschriebenen Kreis. Nicht nur der hörige Bauer ist von dieser Norm ausge-

12
Platon, lateinisch Plato (427-347 v.u.Z.) griechischer idealistischer Philosoph aus vornehmer Familie
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 21

schlossen, sondern auch der ständische Kaufmann, Handwerker, Geselle


und die (wachsende) Schicht des Vorproletariats, des Mittelstandes, die nicht
mehr den feudalen Bedingungen unterliegen. Umso stärker aber entwickelt
sich hier das Bedürfnis nach den religiösen jenseitigen Normen als phantasti-
sches Gegenstück gegen die profane Aufspaltung der Gesellschaftsnormen.
Die kapitalistische Gesellschaft vereinfacht die Klassentrennung, vergli-
chen mit der feudalen Gesellschaft. Sie erweitert in ihren Anfängen den Kreis
der zur herrschenden Klasse Gehörigen und erleichtert den Aufstieg in sie.
Die tatsächlich in ihr geltenden Gesellschaftsnormen sind auch hier die Nor-
men der herrschenden Klasse. Aber sie treten jetzt mit dem Anspruch auf
Allgemeingültigkeit auf: Jeder ist „Citoyen“13. Die „Standesmoral“ fällt, indem
an die Stelle der streng getrennten Stände die rechtlich gleichen Staatsbür-
ger treten.
Es tritt so eine profane, weltliche, wenn auch das formelle, d. h. nur die
Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens umfassende Vereinheitlichung ge-
sellschaftlicher Normen ein. An die Stelle der Einheitlichkeit der profanen
rechtlichen und teilweise der politischen Normen, tritt die Einheit der religiö-
sen, aber die Spaltung der rechtlichen und politischen Normen der feudalen
Gesellschaft. Schon dadurch verlieren die religiösen jenseitigen Normen an
gesellschaftlicher Kraft und Bedeutung. Dazu kommen aber noch wesentliche
neue Erscheinungen. In der revolutionären Krise, in der die kapitalistische
Gesellschaft mit dem Feudalismus den Kampf um die politische Macht führt,
greift die Bourgeoisie vielfach zur Waffe des Materialismus, die sie gegen die
Kirche als feudale Organisation und Ideologie kehrt. Die von der Kirche aus-
gehenden religiösen Normen werden so zeitweilig gesellschaftlich entwertet.
Aber eine zweite starke Gegenkraft gegen die religiösen Normen entspringt
dem Verhältnis der kapitalistischen Gesellschaft zur Natur. Sie lernt sie me-
thodisch zu beherrschen und streift ihr damit die Phantastik ab. Das irrationa-
le Verhältnis zu ihr war die Hauptquelle der Religiosität der primitiven Gesell-
schaft wie der vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Diese Quelle ver-
siegt in der kapitalistischen Klassengesellschaft, dafür aber sprudelt ein neu-
er Quell in der zugrunde liegenden Problematik der kapitalistischen Gesell-
schaft selbst, und naturgemäß umso stärker, je mehr sie absteigt und in die
Krise gerät.
Aus dem Gesagten folgt nun, dass die gesellschaftliche Funktion der Kunst
in Klassengesellschaften überhaupt eingeschränkt sein wird im Verhältnis zu
ihrer gesellschaftlichen Funktion in der Urgesellschaft, schon weil sie nicht
mehr eine allgemeine, gleiche, reale gesellschaftliche Norm verkörpert oder
übermitteln kann. Die allgemein-gesellschaftliche Kunst der Urgesellschaft
wird klassenbedingte Kunst oder Klassenkunst. Die gesellschaftlichen Nor-
men, die sie vermittelt, sind die Normen der herrschenden Klassen. Die be-
herrschten Klassen stehen entweder überhaupt außerhalb des Bereiches
dieser Kunst, oder es werden ihnen nur solche Teile daraus vermittelt, die sie
13
Citoyen, franz. „Bürger“, ursprünglich der wahlberechtigte Stadtbürger, nach der Revolution jeder Staats-
bürger.
22 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

in ihrer dienenden Funktion erhalten und bestärken oder ihnen eine gewisse
phantastische, jenseitige Kompensation gewähren.
Das ist vor allem für die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen in der
feudalen Gesellschaft die Funktion der christlich-religiösen Kunst, die in ihr
vorherrscht, führt. Daneben gibt es in dieser Gesellschaft eine sozusagen
Festkunst des Volkes, in der sich die Kunst der Urgesellschaft trümmerhaft,
mehr oder weniger verkrüppelt, fortsetzt. (Das Volkslied, das Märchen, die
Sage, die Fabel, Sprichwörter, Volksmusik, Volkstanz, Volkskunst usw.) Be-
sonders deutlich und bedeutsam ist dies Nebeneinander der „hohen“ und der
„niederen“ Kunst, in der Musik, bedeutsam deswegen, weil die Weiterent-
wicklung der „höheren“ Musik unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingun-
gen wesentlich unter dem Einfluss der weltlichen und volksmäßigen Musik er-
folgt. Bekannt ist auch, wie sich im 18. und 19. Jährhundert die Lyrik unter
dem Einfluss des Volksliedes erneuert.
In den Anfängen der kapitalistischen Gesellschaft erweitert sich wieder die
gesellschaftliche Funktion der Kunst. Aber die Arbeiterklasse und die Bauern
stehen im Wesentlichen außerhalb ihres Bereiches. Wir sagen im Wesentli-
chen; denn alle die verschiedenen Bewegungen der „Kunst für das Volk“ än-
dern nichts Wesentliches an diesem Verhältnis, das sowohl durch den Inhalt
der Klassenkunst, wie durch die wirtschaftliche Lage der arbeitenden Klassen
bestimmt ist. Der Arbeiter wie der Bauer bleiben, im Verhältnis zur Kunst der
herrschenden Klassen, mehr oder weniger „Barbaren“, der Bauer mehr, der
Arbeiter etwas weniger. Tolstoi 14 hat diese Tatsache mit schneidender Klar-
heit und Schärfe hervorgehoben - die Folgerungen, die er aus dieser Tatsa-
che zieht, sind allerdings andere, als sie ein Sozialist ziehen würde.
Verschwindet so in der Klassengesellschaft überhaupt die ursprüngliche
Einheit der gesellschaftlichen Normen und wird damit die Rolle der gesell-
schaftlichen Funktion der Kunst eingeschränkt, vor allem, soweit sie eine ra-
tionale Funktion ist, so kommt noch als ein zweites wesentliches Moment
hinzu, dass es in allen Klassengesellschaften letzten Endes die Gewalt ist,
die die Normen der herrschenden Klassen durchsetzt. Die überragende Rolle
der Kunst als Vermittlerin der gesellschaftlichen Normen in der Urgesellschaft
ist denen, die in Klassengesellschaften aufgewachsen sind und in ihren Vor-
stellungen und Methoden gefangen bleiben, überhaupt nicht mehr recht vor-
stellbar, weil in der Klassengesellschaft die Voraussetzungen dafür ver-
schwunden sind, vor allem das kollektive Dasein und Leben und das ihm ent-
sprechende kollektive Bewusstsein. Die Macht des kollektiven Bewusstseins
der Urgesellschaft und primitiver Völker und damit auch ihre Kunst setzt da-
her immer wieder die Beobachter, die aus Klassengesellschaften stammen,
in Erstaunen. Was die religiös-phantastische Wurzel der Kunst anbelangt, so
schafft zwar die kapitalistische Gesellschaft durch ihre Technik und Wissen-
schaft die Voraussetzung, um sie zu beseitigen, aber erzeugt sie dafür aufs
14
Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828-1910) russischer Schriftsteller und Graf. Schrieb sozialkritische Romane
und plädierte für soziale Gerechtigkeit und gegen die bestehende Ordnung, Verzicht auf Eigentum, ein Le-
ben „von seiner Hände Arbeit” und Ergebung. Er wurde 1901 aus der orthodoxen Kirche ausgeschlossen.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 23

Neue aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst heraus, und zwar


mächtiger als je. Denn der Grad und der Umfang der gesellschaftlichen Irrati-
onalität ist in der absteigenden und untergehenden kapitalistischen Gesell-
schaft unvergleichlich viel größer, als in allen vorausgehenden Formen der
Klassengesellschaft. Es äußert sich durch periodische wirtschaftliche und po-
litische Weltkatastrophen, durch die Vernichtung von Menschen und Gütern,
die alles bisher in der Geschichte dagewesene übertreffen, durch die zeitwei-
ligen Umschläge der höchsten Zivilisation in die tiefste Barbarei. Die irrationa-
le Blindheit des gesellschaftlichen Geschehens wird den Gliedern dieser Ge-
sellschaft umso geheimnisvoller, furchtbarer, überwältigender, als sie Hand in
Hand geht mit der wachsenden Rationalität der Technik und der Organisation
der Massenproduktion in den großen Produktionseinheiten der kapitalisti-
schen Wirtschaft. So nähert sich die Gesellschaft auf der einen Seite der reli-
giösen und mythologischen Phantastik der primitiven Völker, während sich
auf der anderen Seite die rationale gesellschaftliche Funktion der Kunst in ihr
fast vollständig verflüchtigt und unvorstellbar wird.
Vergleichen wir nun eine sozialistische klassenlose Gesellschaft mit der
Urgesellschaft und mit den Klassengesellschaften auf den Bezug der gesell-
schaftlichen Funktion der Kunst in ihr. Wir haben hier nicht zu untersuchen,
ob der Begriff der klassenlosen Gesellschaft, wie ihn Marx und Engels abge-
leitet haben, auf Grund der Erfahrungen, die in der SU gemacht worden sind,
überhaupt beseitigt oder wesentlich geändert werden muss.
Wir nehmen sie hier als eine mögliche Hypothese oder Konstruktion, wie
der Mathematiker ein bestimmtes System von Axiomen auswählt und dann
zusieht, welche Folgerungen sich daraus ergeben, ohne Rücksicht darauf, ob
in der Wirklichkeit Erscheinungen gefunden werden können, auf die diese
Axiome anwendbar sind. Nur soviel sei hier bemerkt, dass wie man auch die
russische Erfahrung nach ihrer allgemeinen Bedeutung hin einschätze, das
offenbar nichts an der Tatsache ändern kann, dass der Typus der Klassen-
gesellschaft sich historisch entwickelt hat aus Gesellschaftsformen, die nicht
die Scheidung in Klassen kannten, und daher eine unvermeidliche geschicht-
liche Logik dazu führt, anzunehmen, dass dieser Typus, da er nachweislich
geschichtlich entstanden ist, nicht ewig sein kann, sondern auch ein ge-
schichtliches Ende haben wird. In diesem sehr allgemeinen und weiten ge-
schichtlichen Raum fassen wir die „klassenlose sozialistische Gesell-
schaft“ ohne uns auf besondere Züge derselben festzulegen, die nicht in der
geschichtlichen Logik oder Dialektik begründet sind, die zur Aufstellung die-
ses Begriffes geführt haben, sondern die den konkreten Erfahrungen ent-
nommen sind. Die „klassenlose sozialistische Gesellschaft“ in diesem allge-
meinen weiteren Sinne ist also jedenfalls nicht nur eine mögliche, sondern
geradezu eine notwendige Hypothese. Aber wir wiederholen, sie ist für hier
kein Dogma, sondern eine Hypothese oder Konstruktion, die auf Grund der
geschichtlichen Logik und Dialektik aufgestellt wird. Diese Hypothese statten
wir nun mit folgenden Grundzügen aus.
24 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

1. Mit dem Verschwinden der Klassen entsteht wieder eine einheitliche ge-
sellschaftliche Norm.
2. Die Gesellschaft wird nicht durch Gewalt zusammengehalten, wie in den
Klassengesellschaften
3. Die in der Urgesellschaft vorhanden gewesene Grundlage für ein religi-
ös-phantastisches Verhältnis zur Natur ist aufgehoben.
4. Aufgehoben sind auch die Blutsbande (wirklicher oder vermeintlicher
gemeinsamer Abstammung), die die Kollektivität der Urgesellschaft zusam-
men hielt; an ihre Stelle sind die rein rationellen Bande der kollektiven Arbeit
getreten. Aus Keimen, die bereits in der kapitalistischen Gesellschaft ange-
legt waren, entwickelt sich eine neue Art gesellschaftlicher Bindungen, die
sich von denen der Urgesellschaft dadurch unterscheiden, dass sie vollstän-
dig rational sind, dass sie einen weit höheren Grad der Bewusstheit haben,
und dass sie einen weit größeren Personenkreis umfassen.
5. Im Verlauf der klassengesellschaftlichen Entwicklung, insbesondere in
einem gewissen Stadium der kapitalistischen Gesellschaft, ist die Individuali-
tät freigesetzt worden. Sie geht nicht in ihrer alten Gestalt sondern als ein
Moment in das kollektive Leben der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft
ein.
6. Das Werden und der Bestand einer klassenlosen sozialistischen Gesell-
schaft setzen voraus, dass die gesellschaftliche Produktion ausreicht, um für
alle Gesellschaftsmitglieder ein Lebensniveau zu schaffen, das über dem
physisch-unentbehrlichen oder Minimum liegt, kurz ein reiches kulturelles Le-
bensniveau - wobei die Maßstäbe dafür, was darunter zu verstehen ist, ge-
schichtlich bedingt, geschichtlich veränderlich sein mögen, aber sich doch im
Großen und Ganzen bestimmt fassen lassen. Die Bestimmung ist negativ:
die Überwindung des materiellen Mangels, der materiellen Not für alle, positiv:
materieller Reichtum für alle. Die untere Grenze liegt mehr oder weniger fest,
die obere Grenze ist beweglich.
7. Muße, Freiheit für alle, und in wachsendem Umfang.
8. Schrift, Buchdruck, Telegraph, Telefon, Radio usw., kurz hoch entwickel-
te technische Formen der Mitteilung sind vorhanden.
9. In der Zwischenzeit ist auch das Vermögen der Verallgemeinerung in
reiner, d. h. begrifflicher Form hoch entwickelt worden.

Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Voraussetzungen für die


gesellschaftliche Funktion der Kunst in einer klassenlosen sozialistischen
Gesellschaft? Die erste Folgerung, die sich ergibt, ist, dass im Verhältnis zur
Periode der Klassengesellschaft eine große Erweiterung der gesellschaftli-
chen Funktion der Kunst stattfinden wird, schon dadurch, dass die Einheit-
lichkeit der gesellschaftlichen Normen wieder hergestellt ist und dass die in-
nergesellschaftliche Rolle der Gewalt verschwindet.
Eine solche Erweiterung findet aber auch statt im Verhältnis zur Urgesell-
schaft. Einmal dadurch, dass in der Kunst einer klassenlosen sozialistischen
Gesellschaft die in der Urgesellschaft vorhandene irrational religiös-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 25

phantastische Wurzel der Kunst wegfällt. Schon dadurch. wird der Bereich
der rationalen Funktionen der Kunst über das in der Urgesellschaft vorhan-
dene Maß erweitert. Dies findet aber auch auf dem innergesellschaftlichen
Gebiet statt. Das kollektive Leben der Urgesellschaft wurzelte in der kol-
lektiven Form der Arbeit, diese aber fand statt im Rahmen der Gemeinschaf-
ten, die durch wirkliche oder vermeintliche Blutbande zusammengehalten wa-
ren (Gentilgesellschaft, Horde usw.). Das fällt in einer klassenlosen sozialisti-
schen Gesellschaft weg. Das kollektive Leben der Gesellschaft hat hier eine
rein rationale Grundlage, die kollektive Arbeit auf Grund der kollektiven Ver-
fügung über die Produktionsmittel.
Gleichzeitig wird der Personenkreis und der geographische Umfang des
kollektiven Lebens ungeheuer erweitert. Die Urgesellschaft legte den Weg
zurück von der lokalen Horde bis zum Bund von Stämmen - der „Nati-
on“ (nicht zu verwechseln mit dem modernen Begriff der Nation). Die klas-
senlose sozialistische Gesellschaft kann nur auf sozialistischer Weltbrüder-
schaft beruhen, sie ist daher ihrem Wesen und Ziel nach eine Weltgesell-
schaft und ihre Kunst Weltkunst.
Daraus ergibt sich eine ungeheure äußerliche Erweiterung, der gesell-
schaftlichen Funktionen der Kunst.
Andererseits wird der äußere Bereich der Kunst dadurch erweitert, dass
jetzt Muße, freie Zeit für alle vorhanden ist.
Damit tritt aber eine andere Funktion der Kunst stärker hervor, als das bis-
her der Fall war. Ja, sie kann sich erst jetzt voll entfalten, Wir meinen die in-
dividuelle Funktion der Kunst, d.h. die Kunst als Mittel zur Gestaltung, Berei-
cherung und Erhöhung des individuellen Lebens. Diese Funktion der Kunst
hat ihren Keim in den Klassengesellschaften. Er kam innerhalb des Rahmens
der Klassengesellschaften zur höchsten Entfaltung in gewissen Abschnitten
der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Ein Muster dafür ist Goethe.
Aber die Kunst als Mittel der Gestaltung des individuellen Lebens beschränk-
te sich in der Klassengesellschaft nur auf einen engen Kreis von Personen
der herrschenden Klassen. In einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft
sind die Voraussetzungen gegeben, dass die individuelle Funktion der Kunst
auf die ganze Breite der Gesellschaft ausgedehnt werden kann.
Diese Verallgemeinerung der individuellen Funktion der Kunst muss aber
ihrerseits zurückschlagen auf ihre gesellschaftliche Funktion. Und zwar nur
auf die kollektive Arbeit, auf die Produktion. In einer Wirtschaftsform, die nicht
mehr auf Warenproduktion, sondern auf Produktion für den Gebrauch einge-
stellt ist, muss die künstlerische Gestaltung der für den individuellen Konsum
bestimmten Güter mehr und mehr sich durchsetzen. Die Produktion ist hier
aber eine gesellschaftliche kollektive Tätigkeit. Aus dem künstlerischen Ge-
stalten des individuellen Lebens entspringt hier also notwendigerweise zu-
gleich eine Erweiterung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst, unmittel-
bar in der Produktion.
Es ist in diesem Zusammenhang schon viel darüber spekuliert worden ob
und wie die maschinelle, die Massenproduktion künstlerisch gestaltet werden
26 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

kann, oder ob die künstlerische Gestaltung mindestens eine teilweise Rück-


kehr zu den Formen der handwerklichen Arbeit verlangt. Wir gehen nicht wei-
ter auf diese Einzelfrage ein. Nur soviel sei allgemein dazu bemerkt, dass ei-
ne allgemeine oder vorwiegende Rückkehr zu den Formen der handwerkli-
chen Produktion mir als eine Utopie erscheint und dass hier vielfach eine
Verwechslung der technischen und der gesellschaftlichen Rolle der Maschine
zugrunde liegt. Es ist nicht die Maschine an sich, die die Quelle der Verherrli-
chung der Produktion ist, sondern die Maschine als Mittel der Massenproduk-
tion für den Profit, von Waren, deren Zweck ist, Träger von Profit oder allge-
mein gefasst, von Mehrwert zu sein. In dem Augenblick, wo die Maschinen-
produktion und das heißt die Massenproduktion auf den Gebrauch eingestellt
ist, und die Produktivkräfte eine solche Höhe erreicht haben, dass über die
Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse der Gesellschaft hinaus
produziert werden kann, stellt sich für den Künstler die künstlerische Gestal-
tung der maschinellen Produktion als eine neue Aufgabe. Es wäre unsinnig,
die Lösung dieser Aufgabe auch nur in den Umrissen vorwegnehmen zu wol-
len, ehe die Aufgabe selbst und mit ihr zugleich die Bedingungen für ihre Lö-
sung durch neue gesellschaftliche Verhältnisse gestellt ist. Heute ist sie noch
nirgends gestellt, auch nicht in Russland, wo die Produktion zwar kollektiv ist,
aber bei weitem noch nicht die Höhe erreicht hat, wo die elementaren Mas-
senbedürfnisse ausreichend befriedigt werden können.
Eine klassenlose sozialistische Gesellschaft wird von der Urgesellschaft
auch die weit überlegenen technischen Mittel der Mitteilung voraus haben:
Schrift, Buchdruck, Telegraf, Telefon, Radio usw. Schon dadurch, aber auch
durch eine ganze Reihe anderer Errungenschaften der Klassengesellschaf-
ten, die die sozialistische klassenlose Gesellschaft übernimmt, ist bedingt,
dass ihre Kunst nicht einfach Rückkehr zu der Urgesellschaft sein kann, son-
dern ihre Wiederherstellung auf einer höheren gesellschaftlichen und techni-
schen Grundlage.
Dazu kommt noch ein anderes. Inzwischen hat sich die reine, d. h. die be-
griffliche Form der Verallgemeinerung, die Wissenschaft, entwickelt. Eine der
Folgen dieser Tatsache wird sein, dass die Kunst selbst in reinerer Form sich
entwickeln kann, als das in ihrer Urzeit oder Frühzeit der Fall war. Es wird,
um ein Beispiel zu geben, nicht mehr notwendig oder angebracht sein, Philo-
sophie in der Form eines Lehrgedichts vorzutragen, wie Aesop15 in „De natu-
ra rerum“ und Lucretius16 oder Caeins; die Herausbildung und Aufnahme der
Wirtschaft schneidet hier einerseits der religiös-mythologischen Phantasie die
Wurzeln, aber erweitert dafür ungeheuer das Material der Wirklichkeit, das
die Kunst auf ihre Weise formen kann. Es sei dabei nur daran gedacht, was
die Ergebnisse der gesellschaftswissenschaftlichen Analyse für den Künstler
bedeuten können, der einen bestimmten Geschichteabschnitt, eine bestimm-
te Gesellschaftsklasse oder Gruppe künstlerisch erfassen und darstellen will.
15
Aesop (636-564 v.u.Z.), Sklave, Dichter der ersten „Tierfabeln“, die menschliches Verhalten kritisch dar-
stellten
16
Lucretius (97-55 v.u.Z.), römischer Dichter, Materialist
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 27

Wir haben die Kunst der Urgesellschaft, der Klassengesellschaften, der


klassenlosen sozialistischen Gesellschaft nebeneinander gestellt und in ihren
allgemeinen Zügen charakterisiert, weil sie sich wechselseitig beleuchten.

3. Was ist revolutionäre Kunst?

Darüber, was revolutionäre Kunst ist, herrscht viel Verwirrung. Diese Ver-
wirrung geht wesentlich darauf zurück, dass nicht unterschieden wird zwi-
schen der Form und dem Inhalt oder der Gestalt der Kunst. Unter dem Inhalt
der Kunst verstehen wir ganz allgemein das, was der Künstler durch sein
Kunstwerk seinem Publikum mitteilen will oder was er auf es übertragen will.
Es kann dies von der verschiedensten Art sein. Man hat den Inhalt auch viel-
fach „die Idee“ des Kunstwerks genannt. Der letztere Ausdruck hat den Nach-
teil, dass er an die „Idee“ im Sinne des philosophischen Idealismus erinnert.
Die „Idee“ eines Kunstwerks, wie die Künstler selbst diesen Ausdruck ge-
brauchen, und wie er auch von uns gelegentlich gebraucht wird, ist jedoch
frei von dieser Gedankenverbindung. Er bedeutet dann nicht mehr das, was
durch das Kunstwerk auf den Beschauer oder Hörer übertragen werden soll.
Er ist so analog dem Sinn oder der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks.
Unter der Form im allgemeinen verstehen wir die Art und Weise, die Mittel,
durch die der Inhalt dem Publikum übermittelt werden soll. Form und Inhalt
eines Kunstwerks können nicht absolut voneinander getrennt werden, d.h. sie
können in der Wirklichkeit nicht selbständig, getrennt voneinander existieren.
Es gibt keine absolut inhaltliche Form sowie es keinen absolut formlosen In-
halt gibt, ohne dass der Bereich der Kunst verlassen wird. Aber die Unter-
scheidung zwischen Form und Inhalt ist nicht desto weniger wesentlich; sie
ist nicht bloß eine gedankliche Trennung, sondern es entspricht ihr etwas in
der Wirklichkeit - sowohl in der Tätigkeit des Künstlers, als in dem Ergebnis
seiner Tätigkeit, dem Kunstwerk. Im Schaffen des Künstlers lassen sich sehr
wohl das Erfassen des Inhalts und die Schaffung der ihm angemessenen
Form, zeitlich und der Art nach unterscheiden. Das Finden oder Auffassen
des Inhalts kann der Schaffung der Form vorausgehen, was der häufigere
Fall sein wird. Der Künstler kann aber auch von einer ihn anziehenden Form
ausgehen, zu der er einen angemessenen Inhalt sucht.
Form und Inhalt lassen sich auch gradweise unterscheiden, obwohl sich
kein exaktes mathematisches Maß angeben lässt. Form kann über den Inhalt
vorwiegen, oder der Inhalt über die Form, oder sie können beide sich die
Wage halten oder im Gleichgewicht sein. Reine Form ohne Inhalt, reiner In-
halt ohne Form sind unmöglich; aber zwischen diesen beiden Grenzpunkten,
die selbst ausgeschlossen sind, sind unbegrenzt viele Stufen oder Grade im
Verhältnis von Form und Inhalt möglich. Diese Grade oder Stufen bilden also
im mathematischen Sinne eine „offene Menge“. In der Nachbarschaft der Ext-
reme schlägt die Form selbst in Inhalt, der Inhalt in Form um. Dies in dem
Sinne, dass die fast-reine Form einen ganz bestimmten gesellschaftlichen In-
28 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

halt oder Bedeutung hat, und dass der fast-reine Inhalt selbst eine bestimmte
Kunstform ist.

Unter revolutionärer Kunst verstehen wir nur die Kunst, die einen revolutio-
nären Inhalt hat, d.h. in irgendeiner Weise und nach irgendeiner Seite hin ei-
ne gesellschaftliche Revolution künstlerisch abbildet, widerspiegelt, übermit-
telt und überträgt.
Die Wirkung eines revolutionären Kunstwerks in diesem Sinne wird sein,
Vorstellungen, Gefühle, Willensantriebe zu erzeugen, die im gesellschaftli-
chen Sinne revolutionär sind, d.h. die bestehende gesellschaftliche Ordnung
in Frage stellen oder erschüttern, und auf dem Weg einer neuen und ge-
schichtlich höheren Gesellschaftsform liegen; oder die eine vollzogene oder
sich vollziehende gesellschaftliche Revolution widerspiegeln und damit befes-
tigen, ausbreiten und weiter entwickeln.
Revolutionäre Kunst in diesem Sinne fällt also nicht in jedem Falle mit dem
zusammen, was man Nicht-Konformität, Nichtübereinstimmung mit der je-
weils herrschenden Meinung genannt hat. Es ist dies nur der Fall, solange
die revolutionäre Klasse oder Klassen noch um die Macht kämpfen, es ist
nicht der Fall, nachdem sie gesiegt haben. Wir werden in einem späteren Ab-
schnitt sehen, wie, je nach dem historischen Charakter einer Revolution, die
einen oder die anderen dieser Seiten verschiedene Rollen spielen; die Rolle
der Kunst in der Vorbereitung der Revolutionen und ihre Rolle in der Durch-
führung, im Aufbau einer siegreichen Revolution.
Von der revolutionären Kunst im Sinne ihres revolutionären gesellschaftli-
chen Gehaltes unterscheiden wir nun die raschen und großen Änderungen,
die sich von Zeit zu Zeit in den Formen der Kunst vollziehen. Diese Unter-
scheidung ist deshalb wesentlich, weil die geschichtliche Erfahrung zeigt,
dass die beiden Erscheinungen auseinanderfallen, ja entgegengesetzt sein
können, dass mit der Revolutionierung der Kunstform an sich noch nicht der
gesellschaftlich-revolutionäre Inhalt gegeben ist, und mit dem gesellschaft-
lichrevolutionären Inhalt noch nicht die Revolutionierung oder Erneuerung der
Kunstform.
Alle denkbaren Kombinationen sind hier zeitweilig möglich:
revolutionärer Inhalt in traditionellen Formen, revolutionäre Kunstformen
mit konservativem, reaktionärem, ja konterrevolutionärem Inhalt. Konservati-
ver Inhalt in konservativen, traditionellen Kunstformen. Auf die Länge werden
revolutionäre Inhalte auch neue revolutionäre Kunstformen oder Mittel su-
chen und finden. Der Unterschied zwischen revolutionären Inhalt und traditi-
oneller Form ist zweifellos ein Mangel, ein Widerspruch, insofern, dass Form
und Inhalt letzten Endes in Wechselwirkung stehen.
Der Widerspruch drängt zur Auflösung. Aber ehe er aufgelöst ist, besteht
er. Die Kunstform hat im Verhältnis zum Inhalt eine gewisse „Trägheit“. Zwi-
schen dem Zeitpunkt, wo ein revolutionärer Inhalt auch eine neue revolutio-
näre Kunstform, gewonnen hat, sehen wir fast immer eine Zwischenzeit, wo
der neue Wein in alten Schläuchen geboten wird.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 29

Das Umgekehrte trifft aber nicht zu. Eine neue Kunstform (und der Aus-
druck „revolutionäre“ bedeutet hier im Grunde nichts weiter, als dass es sich
um ein wesentlich und rasch eintretendes Neues handelt), muss (durchaus)
nicht unbedingt sich in einem gesellschaftlich-revolutionären Inhalt erfüllen.
Die neue Kunstform und der traditionelle Inhalt stellen gewiss auch einen Wi-
derspruch dar. Es kann sich aber lösen durch einen neuen reaktionären oder
konterrevolutionären Inhalt. Solch neuem reaktionärem oder konterrevolutio-
närem Inhalt wird in der Regel in rascher Auffassung Folge gegeben werden,
wenn eine gegebene herrschende Gesellschafsform sich in tiefer und rascher
Zersetzung befindet, zu tiefen und rasch aufeinander folgenden gesellschaft-
lichen Katastrophen führt, kurz, wenn diese Gesellschaft sich in einem Zu-
stand der Krise befindet. Die Verwirrung über den Begriff der revolutionären
Kunst hat zumeist ihre Wurzeln in subjektivem Denken oder Fühlen des
Künstlers, der eine Revolutionierung der Kunstform einleitet oder mitmacht,
auch dann, wenn sie mit keinem revolutionären Gehalt verbunden ist. Der
Künstler, der die traditionelle Kunstform zerbricht und eine neue an ihre Stelle
setzt, stößt naturgemäß, mindestens im Anfang, auf den Widerstand der Ver-
treter der alten Kunstformen. Er sucht in diesem Stadium ebenso naturge-
mäß Sympathie auf der Seite der revolutionären Klassen. Diese ihrerseits
sind geneigt, jeden Kampf gegen Tradition zu begrüßen. Mit der Zeit wird
sich aber das wechselseitige Missverständnis aufklären. Die neue Kunstform,
wird schließlich Sieger und ihr Gehalt klarer zu Tage treten als im Anfang.
Beiden Seiten wird das Auseinanderfallen des nichtrevolutionären oder ge-
genrevolutionären Inhalts mit der neuen Form zum Bewusstsein kommen.
Aus dem vorstehenden wird man ohne weiteres die Unterscheidung ver-
stehen zwischen dem revolutionären Künstler und dem künstlerischen Revo-
lutionär, zwischen der Kunst der Revolution und der Revolution der Kunst.
Der erste und dritte Ausdruck beziehen sich auf den gesellschaftlichen Inhalt,
der zweite und vierte auf die künstlerische Form an sich. Revolutionäre Kunst
setzt natürlich die Klassengesellschaft voraus, da im Begriff der Revolution
selbst der Übergang der Macht von einer Klasse zur anderen, oder von einer
Gruppe von Klassen zu einer anderen Gruppe einbegriffen ist. Diese Be-
stimmung gilt für die revolutionäre Kunst, die zeitliche Begrenzung, sowohl
nach rückwärts wie nach vorwärts.
Die Kunst einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft ist daher nicht
mehr revolutionäre Kunst im Verhältnis zu dieser Gesellschaft, sie ist es nur
noch im Verhältnis zu der Kunst der neben ihr bestehenden Klassengesell-
schaften. Mit der allgemeinen Aufhebung der Klassen hört die gesellschaftli-
che Entwicklung auf, die Form der Revolution anzunehmen, und damit hört
auch die „revolutionäre Kunst“ auf. Dies mag paradox klingen, aber es liegt in
der Natur der Sache.
30 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

4. Die Rolle der Kunst in der Vorbereitung der bürgerlichen


und der sozialistischen Revolution

Wir haben im vorigen Abschnitt über revolutionäre Kunst im Allgemeinen


gesprochen. Wir haben die Kunst der Revolution und die Revolution der
Kunst vom Gesichtspunkt des Inhalts und der Form unterschieden. Wir ge-
hen jetzt über zur Unterscheidung der revolutionären Kunst je nach dem
Klassencharakter der Revolution, wobei wir die bürgerliche und die sozialisti-
sche Revolution als historische Haupttypen unterscheiden. Fassen wir zu-
nächst die Rolle der Kunst in der Vorbereitung der bürgerlichen und der sozi-
alistischen Revolution ins Auge.
Diese Rollen sind augenscheinlich wesentlich verschieden. Man kann also
nicht einfach das, was von der einen gilt, auf die andere übertragen. Letzten
Endes geht dieser Unterschied darauf zurück, dass die Bourgeoisie bereits
ihre Wirtschaft und Kultur im Schoße der feudalen Gesellschaft entwickelt,
noch ehe sie die politische Macht erobert hat, während die Arbeiterklasse ei-
ne neue Wirtschaftsform und eine neue Kulturform aufzubauen hat und sie
erst durchsetzen kann, nachdem sie die Macht erobert hat. Oder anders aus-
gedrückt, die Bourgeoisie tritt dem Feudalismus als die neue besitzende
Klasse gegenüber, die den feudalen Klassen wirtschaftlich und kulturell über-
legen ist. Die Arbeiterklasse ist aber ihrem Begriff nach die nicht-besitzende
Klasse und als solche ist sie nicht Träger einer eigenen Kultur. Die Bourgeoi-
sie hat sich daher überall bereits zur geistig führenden Klasse emporge-
schwungen, noch ehe sie den Feudalismus und Absolutismus praktisch ge-
stürzt hat. Die feudalen Klassen vertreten zwar, solange sie noch die Staats-
macht inne haben, die herrschende Ideologie in dem Sinne, dass der feudale
und absolutistische Herrschaftsapparat sich auf die feudale Ideologie stützt
und sie ihrerseits vertritt und verteidigt. Aber es ist die Bourgeoisie, in der
Gestalt ihrer Ideologen auf allen Gebieten, die sich zur geistigen Führung der
Nation emporgeschwungen, die ihre Mehrheit ideologisch erobert hat, noch
ehe sie die politische Macht gewonnen hat. Während die feudale Ideologie
versumpft, sich zersetzt, und als geistige Rückständigkeit erscheint, verkör-
pert die bürgerlich-revolutionäre Ideologie den geistigen Fortschritt der Nation
und darüber hinaus sogar den geistigen Fortschritt und Gipfelpunkt der euro-
päischen Kultur überhaupt.
Wenn z. B. das 18. Jahrhundert in Europa als das „Zeitalter der Aufklä-
rung“ bezeichnet wird, wenn in ihr der „französische Geist“ zur europäischen
Führung gelangt, was heißt das anderes, als dass die in Frankreich entwi-
ckelte, fortgeschrittene bürgerlich-revolutionäre Ideologie die Führung des
europäischen Geisteslebens gewinnt, und das in einer Zeit, wo praktisch der
Absolutismus-Feudalismus noch fest überall die Macht in Händen hält (die
große Ausnahme ist England).
Es sind vor allem die Gebiete der Naturwissenschaften, der Philosophie,
der Literatur, in denen die Bourgeoisie sich durchsetzt, und die sie als Waffen
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 31

gegen die alte Gesellschaft kehrt und zur Vorbereitung der neuen Gesell-
schaft benützt.
Es sind nacheinander Italien, England, die Niederlande, Frankreich,
Deutschland, zum Teil Russland, die sich in der Rolle der geistigen Führung
Europas ablösen. Dabei spielen die verschiedenen Zweige der bürgerlich-
revolutionären Ideologie verschiedene Rollen.
Die französische Führung im 18. Jahrhundert drückt sich vor allem aus in
ihren Naturwissenschaften, ihrer Philosophie und Literatur, die deutsche in ih-
rer klassischen Philosophie und Literatur, die russische fast ausschließlich in
ihrer schönen Literatur.
Was die bildende Kunst (speziell die Malerei) anbelangt, so hat bereits
Heinrich Heine17 in seinen Pariser Berichten vor mehr als hundert Jahren da-
rauf hingewiesen, dass die französische Malerei des 16. Jahrhunderts nach-
hinkte, von der Revolution „überrascht“ wurde. Die Hofmalerei, das Schäferi-
dyll usw. ragen hier noch vor, als die Literatur längst in der Kampflinie stand.
Das hing sicher damit zusammen, dass die Malerei in Frankreich des 18.
Jahrhunderts in der Hauptsache Luxuskunst war, der Verklärung und Ver-
schönerung des Hofs - und des adligen Lebens diente, während die bürgerli-
chen Klassen noch nicht in größerem Umfang Maler oder Bildhauer beschäf-
tigten. Wie in England, so auch in Frankreich, durchläuft die bürgerliche Klas-
se zunächst ein Stadium der Frugalität, der Sparsamkeit, wo das Erwerben
des Reichtums über seinen Genuss vorwiegt, wo die Frugalität als spezifisch
bürgerliche Tugend erscheint, das Parasitentum dagegen lehrt Verschwen-
den als die spezifischen Merkmale des adligen Lebens. (Später ändert sich
das.)
Nur vereinzelt tauchen auch schon Darstellungen des bürgerlichen Lebens.
(Wohlgemerkt, wir haben hier Frankreich im Auge, es ist anders im Holland
des 17. und 18. Jahrhunderts, auch in Italien des 16. Jahrhunderts, auf die
auch besonders Diderot18 als Kunstkritiker hingewiesen hat, mit dem Nach-
druck auf die bürgerlichen Tugenden der Einfachheit, der Sparsamkeit, des
glücklichen Familienlebens usw.) Aber die andere Richtung wiegt vor (Wat-
teau19, Fragonard20, usw.)
War so der Inhalt der vorrevolutionären französischen Malerei des 18.
Jahrhundert vorwiegend noch absolutistisch-feudal, so heben andererseits
die Kunsthistoriker hervor, dass in den Formen und Mitteln dieser Malerei
sich Neues Bahn bricht, in dem der Einfluss bürgerlichen Denkens spürbar ist.
Dieser Zwiespalt wurzelt wohl darin, dass zwar die Kunden des Künstlers die
Höfe und die Adelsschlösser sind, die dem Werke den Inhalt seiner Darstel-
lung vorschreiben, dass aber der Künstler selbst in der Regel der bürgerli-
chen oder kleinbürgerlichen Klasse entspringt und so nicht umhin kann, we-

17
ursprünglicher jüdischer Name Harry Heine (1797-1856)
18
Denis Diderot (1713-1784) führender französischer materialistischer Aufklärungsphilosoph, Schriftsteller,
und Kunsttheoretiker, Mitherausgeber der Encyclopédie
19
Jean-Antoine Watteau (1684-1721) französischer Maler des Barock
20
Jean Honoré Fragonard (1732-1806) französischer Maler des Rokoko
32 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

nigstens in den Formen und den Mitteln seiner Kunst von dem allgemeinen
Strom der bürgerlichen Ideologie beeinflusst zu sein.
Wie steht es hier mit der Musik? Hier seien nur einige Andeutungen ge-
macht. Wir sehen hier sich auch widersprechende Momente, wie in der Male-
rei. Einerseits ist die Musik des 18. Jahrhunderts noch zu einem erheblichen
Teil Zubehör des höfischen und adligen Lebens. Die Musiker sind „Hofbe-
diente“, die der Verschönerung des gesellschaftlichen Lebens der Fürstenhö-
fe und der großen Adelshäuser zu dienen haben (so noch Haydn 21). Ande-
rerseits ist die musikalische Sprache vieldeutiger, feiner als die literarische
Sprache. Sie drückt ja in der Hauptsache keine bestimmten Vorstellungen
aus, sondern Gefühl, Stimmungen. Der Inhalt der Musik kann also von den
Auftraggebern nicht mit der Bestimmtheit vorgeschrieben werden, wie bei der
Malerei. Die Bestimmung des Auftraggebers erstreckte sich in der Musik
mehr auf die Formgestaltung als auf den Inhalt. Selbst in Bezug auf die For-
men ist der Musiker nicht völlig gebunden, es werden von dem schöpferi-
schen Musiker, dem Komponisten innerhalb bestimmter Grenzen neue For-
men von seinem Auftraggeber erwartet. Aber es ist vor allem in Bezug auf
den Inhalt, in dem der Musiker größere Freiheit hat, als der Maler. Und so ist
ein Zusammenwirken der Gefühlswelt, die die Musik des 18. Jahrhundert und
des beginnenden 19. Jahrhunderts ausdrückt, mit der Gefühlswelt, die sich in
der gesellschaftlichen Literatur ausdrückt, nicht zu verkennen, ebenso wenig
wie die Neuerungen in den musikalischen Formen mit der Veränderung der
Gefühlswelt zusammenhängen, die zum Ausdruck gebracht werden sollen.
Man kann zahlreiche Hinweise darauf in der musik-geschichtlichen Literatur
finden.
Besonders aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die Hinweise von Ro-
main Rolland 22 in seinen verschiedenen musikgeschichtlichen Arbeiten, so-
wie die Arbeit von Ernst Meyer „English Chamber Music“23, die den gesell-
schaftlichen Zusammenhängen in England während einer bestimmten Perio-
de zum ersten Mal systematisch nachgeht. Jedoch können wir hier nicht auf
Einzelheiten eingehen.
Soviel steht jedenfalls fest, dass weder die bildende Kunst noch die Musik
eine führende Rolle spielen in der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution.
Der entscheidende Grund dafür ist offenbar bei beiden, dass sie unter den
gesellschaftlichen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts vorwiegend an die
fürstlichen Höfe und die adligen Häuser als Kunden, Auftraggeber und Markt
gebunden sind, dass sie mehr oder weniger dem Luxus dienen, während die
schöne Literatur ein viel breiteres Publikum als Markt hat und ihre Erzeugnis-
se durch die damals gegebenen technischen und gesellschaftlichen Verhält-

21
(Franz) Joseph Haydn (1732-1809) österreichischer Komponist
22
Romain Rolland (1866-1944) französischer Schriftsteller und Musikhistoriker, war leidenschaftlicher
Kriegsgegner und Humanist, erhielt 1915 den Nobelpreis für Literatur
23
Ernst Herman Meyer (1905-1988) deutscher Komponist, 1933 Emigration in England. English Chamber
Musik erschien 1951 in London. Nach 1948 Rückkehr in die DDR und Professor an der Humboldt-Universität
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 33

nisse viel leichter zur Massenverbreitung fähig waren. Die Oper nimmt in die-
ser Hinsicht eine Zwischenstellung zwischen Literatur und Musik ein.
Die Rolle der Kunst bei der Vorbereitung der sozialistischen Revolution ist
gänzlich verschieden von der bei der Vorbereitung der bürgerlichen Revoluti-
on, weil die Lage der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Gesell-
schaft gänzlich verschieden ist von der der bürgerlichen Klassen innerhalb
der feudalen Gesellschaft und des feudalen und absolutistischen Staates.
Als besitzlose Klasse schafft die Arbeiterklasse als Klasse keine eigene
Kunst, ehe sie gesiegt hat, und kann keine schaffen.
Was sie sich selber schafft, sind ihre eigenen Klassenorganisationen, Ge-
werkschaften, Genossenschaften, politische Parteien. Ihre materiellen Le-
bensbedingungen innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft und im bürgerli-
chen Staat bedingen und fordern den Aufbau dieser Organisationen. Sie
übernimmt eine Theorie der Gesellschaftswissenschaften (den „wissenschaft-
lichen Sozialismus“) die ihr als Führerin in ihrem Kampf innerhalb der kapita-
listischen Gesellschaft und zu ihrem Sturz dienen können. Wir sagen aus-
drücklicht sie übernimmt diese Theorie, nicht, sie schafft sie. Geschaffen ist
sie von Intellektuellen, im Besitz von wissenschaftlichen Errungenschaften
und Methoden der bürgerlichen Gesellschaft, an der Grenze, wo bürgerliche
und sozialistische Revolution sich berühren oder sich trennen, was dasselbe
ist. Diese Intellektuellen haben die Unzulänglichkeit der nur bürgerlichen Re-
volution für die Lösung der von ihrer Zeit gestellten gesellschaftlichen Aufga-
ben erkannt, sich folgerichtig auf die Seite der sozialistischen Revolution ge-
stellt und ihr eine wissenschaftliche Grundlage gegeben. Auch die theoreti-
sche Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus ist, vor dem Sieg
der Arbeiterklasse, in der Regel die Sache von Intellektuellen gewesen, die
aus bürgerlichen Kreisen kamen. Es genügt hier Namen zu nennen wie
Kautsky, Lafargue, Labriola, Hilferding, Otto Bauer, Rosa Luxemburg, Meh-
ring, Plechanov, Lenin24 usw. Die Rolle der Arbeiterklasse ist hier keineswegs
rein aufnehmend. Indem sie als Klasse handelt, schafft sie neue Formen und
Methoden des Kampfes. Aber die theoretische Verallgemeinerung dieser
neuen Kampfformen setzt eine allgemeine und spezielle wissenschaftliche
Schulung voraus, die den Arbeitern innerhalb der kapitalistischen Gesell-
schaft in der Regel nicht zugänglich ist. Die kapitalistische Gesellschaft ist
nicht so selbstmörderisch veranlagt, um es ihren Todfeinden zu erleichtern,
sich in der Theorie der sozialistischen Revolution auszubilden.
Die sozialistische Theorie wird von der Arbeiterklasse aufgenommen, weil
sie den unmittelbaren Zwecken ihres Kampfes dient. Die Kunst hat nicht die-
se unmittelbare Beziehung zu ihrem Kampf. Sie ist gewiss, wenn einmal ge-
schaffen, an sich leichter aufzunehmen als die wissenschaftliche Theorie,
weil sie nicht den Grad der Abstraktion verlangt, wie die Wissenschaft, son-
dern der sinnlichen Erfahrung näher steht. Aber die Bedingungen um Kunst
24
Karl Kautsky (1854-1938), Paul Lafargue (1842-1911), Antonio Labriola (1843-1904), Rudolf Hilferding
(1877-1941), Otto Bauer (1881-1938), Rosa Luxemburg (1870/71-1919), Franz Mehring (1846-1919), Geor-
gij Walentinowitsch Plechanow (1856-1918), Wladimir Iljitsch Lenin (eigentl. Uljanow 1870-1924)
34 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

zu schaffen, die dem sozialistischen Klassenkampf entsprachen, sind inner-


halb der kapitalistischen Gesellschaft viel schwieriger als die für die Schaf-
fung und Weiterentwicklung sozialistischer Theorie.
Der Ausbildung des Künstlers, der aus den Reihen der Arbeiterklasse
stammt, stehen in der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen dieselben
materiellen Hindernisse im Wege wie der des sozialistischen Wissenschaft-
lers. Aber dem aus bürgerlichen Kreisen stammenden Künstler steht vor al-
lem die Tatsache entgegen, dass der Markt für die Kunst in der kapitalisti-
schen Gesellschaft im großen Ganzen ein Luxusmarkt ist und das Kunstwerk,
Werke der Kunst, vor allem der bildenden, nicht in den Konsum der arbeiten-
den Massen eingehen. Selbst die bürgerlichen Klassen sind in der kapitalisti-
schen Gesellschaft keineswegs in ihrer ganzen Breite Konsumenten von
Kunst. Der verhältnismäßig weiteste Kreis ist hier der schönen Literatur zu-
gänglich, aber auch er umfasst nur die besitzenden Klassen, der Kreis ver-
engert sich für bildende Kunst und Musik, wenn es sich um die Aufnahme
wirklicher Neuschöpfungen handelt.

Der kapitalistische Warenmarkt für Konsumtionsmittel teilt sich normaler-


weise in zwei große Abteilungen die Abteilung für den Massenkonsum und
die Abteilung für den Luxuskonsum, d. h. den Konsum, der für die besitzen-
den Klassen berechnet ist, Kunst gehört in der kapitalistischen Gesellschaft
immer in die zweite Klasse. Eine Klasse, die gerade auf das zum Leben not-
wendige beschränkt ist, auf das, was absolut nötig ist, um sie als Arbeitskraft
zu erhalten und sie zu reproduzieren, ist gewiss durch ihre Klassenlage keine
„Macht“ für die Kunst. Für die Arbeiterklasse im Ganzen ist also, im Rahmen
der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft, Kunst im Allgemeinen ein für
sie unzugängliches. Für eine gewisse Schicht der Arbeiterklasse ist die Lite-
ratur der sozialistischen Theorie ein Bedürfnis, das oft mit großen Opfern be-
friedigt wird. Im Vergleich damit ist die Kunst ein weit entfernteres, weniger
dringliches Bedürfnis.
Beim selbst arbeitenden Bauern kamen in der Regel dazu rein ländliche
Isolierung, seine Überhäufung mit schwerer physischer Arbeit und seine Be-
schränkung auf die elementarste Schulbildung, die ihn als Macht für die
Kunst ausscheiden. Der arbeitende Bauer ist wohl richtig als „Barbar“ in der
zivilisierten Gesellschaft bezeichnet, er ist es natürlich nicht durch eigene
Schuld. Beim Bauern lebt vielfach die primitive Kunst weiter (Volkslied, Mär-
chen, Sage, Sprichwörter usw.). Aber diese Kunst ist immer nur ein Bruch-
stück der Vergangenheit, es ist nicht die lebendige zeitgenössische Kunst.
Zu diesen grundlegenden wirtschaftlichen Faktoren kommen nun die in-
haltlichen dazu. Die zeitgenössische Kunst innerhalb der kapitalistischen Ge-
sellschaft ist ihrem Inhalt nach die Kunst der herrschenden Klasse. Sie spie-
gelt das wider, was sie bewegt. Solange der Klassenkampf noch nicht be-
gonnen hat oder unentfaltet ist, ist es wesentlich die absolut und relativ nied-
rige Lebenshaltung der arbeitenden Klasse, die die Aufnahme der Kunst der
herrschenden Klasse verhindert. Je mehr sich aber der Klassenkampf entfal-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 35

tet und verschärft, umso größer wird der Abstand zwischen dem Inhalt der
Kunst der herrschenden Klasse und dem Denken und Fühlen der arbeiten-
den Klasse.
Und das bezieht sich nicht nur auf die künstlerische Widerspiegelung der
gesellschaftlichen Verhältnisse, wo der Gegensatz naturgemäß am unmittel-
barsten hervortritt. Er erstreckt sich auch auf die künstlerische Darstellung
der Natur und auf die Anschauung der Welt im Ganzen. Das eine Gebiet der
künstlerischen Darstellung färbt auf die beiden anderen ab. Die Kunst einer
Klasse auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung weist jeweils dem Inhalt
nach ein einheitliches Gepräge auf.
Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur an den Entwick-
lungsgang des Naturgefühls des letzten Jahrhunderts und seinen Zusam-
menhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu erinnern.
So sei hier nur beispielsweise daran erinnert, dass es besonderer gesell-
schaftlicher Bedingungen bedurfte, damit die Schönheit der Gebirge den Eu-
ropäern zum Bewusstsein kam. Für die antike römische Auffassung z. B. wa-
ren die Alpen abstoßend hässlich, wie man das bei der Schilderung des Al-
penübergangs Hannibals 25 des Löwen feststellen kann. Diese Auffassung
geht noch tief bis ins 18. Jahrhundert hinein. Das reine Naturgefühl, wie es z.
B. bei Rousseau26 zum Ausdruck kommt, hängt zweifellos zusammen mit der
Gegenüberstellung des von der aufsteigenden Bourgeoisie als „künst-
lich“ empfundenen Hof- und feudalen Lebens, der herrschenden Konventio-
nen der feudalen Gesellschaft überhaupt, denen sie, die bürgerliche Klasse,
die „Natur“ gegenüberstellte, in ihrer Einfachheit und vor allem in ihrer Eigen-
gesetzlichkeit. Zugleich spielt hier hinein der Gegensatz zur christlichen Na-
tur- und Sinnesfeindschaft, Literatur, bildende Kunst, vor allem die Malerei,
die Musik, spiegeln die verschiedenen geschichtlich-gesellschaftlich beding-
ten Formen des Naturgefühls wider.
Für die Gegensätzlichkeit in der künstlerischen Darstellung der Weltan-
schauung oder des Weltgefühls im Ganzen bedarf es wohl keiner Beispiele.
Gerade dieser letztere Gehalt ist heute nur in dem Hinweis auf den Inhalt der
kapitalistischen Gesellschaft besonders scharf, wo die herrschende Klasse
von einem tiefen Gefühl des Pessimismus erfüllt ist, wo die „Angst“ zu ihrem
Grundgefühl geworden ist, das sich ebenso philosophisch wie künstlerisch
ausdrückt, wo Mystik und Irrationalismus charakteristisch sind für ihr Verhält-
nis zur Welt überhaupt, der gesellschaftlichen wie der Natur. Wir haben hier
nicht im Einzelnen zu entwickeln, wie diese Grundeinstellungen und Grund-
gefühle sich in der künstlerischen Abbildung der Natur wie der gesellschaftli-
chen Verhältnisse widerspiegeln. Der Zusammenhang im Ganzen liegt jeden-
falls auf der Hand.

25
Hannibal (247/246-183 v.u.Z.) Feldherr Karthagos, der Pyrenäen und Alpen überquerte und im Herbst 218
in Norditalien Rom besiegte
26
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schweizerisch-französischer Schriftsteller und Philosoph der Aufklä-
rung
36 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Die Arbeiterklasse kann aber nicht kämpfen, ohne von entgegengesetzten


Grundeinstellungen und Gefühlen auszugehen, dem Gefühl des Optimismus
in Bezug auf ihre eigene Fähigkeit, die Gesellschaft umzugestalten, und dem
Vertrauen darauf, dass eine neue Ordnung der Gesellschaft möglich ist, die
den Gesetzen der Vernunft unterliegt, die die Herrschaft der menschlichen
Vernunft über die gesellschaftliche Entwicklung verwirklicht. Da klafft hier al-
so ein tiefer Abgrund zwischen den Klassen, und er muss in dem ganzen In-
halt der Kunst der herrschenden Klassen zum Ausdruck kommen.
Mit diesem Inhalt steht natürlich die künstlerische Form, in der er sich aus-
drückt, in Zusammenhang. Aber abgesehen davon, neue Kunstformen sind
überhaupt den Ungeschulten nicht ohne weiteres zugänglich. Darüber wird
noch zu sprechen sein.
Soweit die Arbeiterklassen in Europa ein Bedürfnis nach einer ihnen mehr
oder weniger angemessenen Kunst entwickeln und befriedigen können, so
befriedigen sie es in der Hauptsache mit den Erzeugnissen der bürgerlichen
Kunst früherer Zeiten, wo die bürgerlichen Klassen noch fortschrittlich, kämp-
ferisch, ja revolutionär waren: die klassische Literatur in Deutschland, die des
18. Jahrhunderts in Frankreich usw. Aber widerspricht dem hier Angeführten
nicht die „sozialistische Kunst“ die in einigen Ländern noch innerhalb der ka-
pitalistischen Gesellschaft auftaucht? Wir denken hier etwa an Gorki, Jack
London, Traven, Andersen-Nexö27 und einige andere.
Aber erstens handelt es sich in allen diesen Fällen um Einzelerscheinun-
gen, nicht um eine ganze Gattung neuer Kunst.
Zweitens liegen in jedem dieser Fälle besondere Bedingungen vor. Im Fall
Gorki28 ist es die Tatsache, dass es die bürgerlich-demokratische Revolution
war, um die es sich zunächst in Russland handelte und deren Stimme die
russische Literatur war, Gorkis künstlerische Rolle erklärt sich vollkommen
zureichend aus der führenden Rolle, die die russische Arbeiterklasse, dank
besonderer geschichtlicher Umstände, in dieser bürgerlich-demokratischen
Revolution spielte, und den Formen, die diese Revolution durch die führende
Rolle, die die Arbeiterklasse in ihr annahm. Es ist die Rolle, die sich in dem
Gorki von und bis 1917 widerspiegelte. Er ist demgemäß der linke Flügel-
mann in der russischen bürgerlichen Literatur, die die bürgerliche Revolution
vorbereitet. Aus dieser Rolle erklärt sich auch der Bruch, der bei Gorki eintritt,
wie die bürgerliche in die sozialistische, die Februar- in die Oktoberrevolution
übergeht. Gorki war bekanntlich ein Gegner der Oktoberrevolution und hat
erst später den Anschluss an sie gefunden.
Jack London29 ist ein gänzlich verschiedener Fall. In den Vereinigten Staa-
ten seiner Zeit lag die bürgerlich-demokratische Revolution weit zurück, und
es gab keine Klassenbewegung, die sich die sozialistische Revolution als na-
27
Martin Andersen-Nexö (1869-1954) sozialistischer dänischer Schriftsteller
28
Maxim Gorki, eigentlich Alexej Maximowitsch Peschkow (1868-1936) sozialistischer russischer Erzähler,
Dramatiker und Essayist
29
Jack London, eigentlich John Griffith (1876-1916) US-amerikanischer Schriftsteller, der neben seinen be-
kannten Abenteuerromanen auch sozialkritische und sozialistische Bücher schrieb (Die eiserne Ferse, Mar-
tin Eden)
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 37

hes Ziel setzte (wie sie es heute dort noch nicht gibt). Die Vereinigten Staa-
ten waren und sind noch das Land, wo die bürgerliche Gesellschaft in einer
Reinheit und allgemeinen Anerkanntheit wie nirgends sonst existiert - ohne
Reste einer feudalen Vergangenheit, ohne Beisatz anderer, früherer, Gesell-
schaftsformen. Gleichzeitig ist dort das Kapital höchst konzentriert. Die Klas-
sengegensätze sind dort objektiv äußerst scharf zugespitzt, aber subjektiv
sind sie noch latent, unbewusst. Die Arbeiterklasse kämpft dort zuweilen mit
großer Energie für ihre unmittelbaren wirtschaftlichen Zwecke, die ihm Rah-
men der gegebenen Gesellschaft liegen, aber nicht über sie hinausgehen. Es
sind nur einzelne, besonders energische, rebellische und weitsichtige Cha-
raktere die auf Grund ihrer Lebenserfahrungen und natürlich auch auf Grund
der in Europa entwickelten sozialistischen Ideen, über diesen Rahmen hinaus
getrieben werden. Jack London ist einer dieser Charaktere. Er vermag daher
als Künstler diese Gesellschaft vom Standpunkt des Sozialismus objektiv-
plastisch darzustellen. Aber bei der Solidität der bürgerlichen Gesellschaft in
den Vereinigten Staaten ist solche Darstellung keine Gefahr für sie. Und
eben weil die revolutionär-sozialistische Darstellung der bürgerlichen Gesell-
schaftsgestaltung in den Vereinigten Staaten kein gefährlicher Zündstoff war,
konnte sie passieren, als ein Seitenstück zu den Wild-West-Geschichten, der
Darstellungen aus der Welt der Pioniere im Neuland, aus dem Leben der
primitiven Völkerstämme.
Für Traven30 ist der Hindergrund die bürgerlich-demokratische antiklerikale
und antimilitaristische revolutionäre Bewegung des Landes, gesehen mit den
Augen eines Europäers, der die sozialistisch-revolutionäre Arbeiterbewegung
Europas erlebt und begriffen hat. Wie steht es hier mit der bildenden Kunst?
Das meiste, was hier vorhanden ist, ist satirisch-künstlerische Darstellung der
herrschenden Gesellschaft in einer Form, die zur Massenverbreitung geeig-
net ist (Graphik, Zeichnungen für Tageszeitungen, Zeitschriften, Plakate
usw.). Charakteristisch dafür sind die Zeichnungen von George Grosz31 aus
den Jahren 1918-19. Es ist Kunst, die der revolutionären Propaganda dienen
kann. Malerei und Plastik, die auf den reichen Einzelkäufer angewiesen sind,
spielen hier kaum eine Rolle. Der einzelne Arbeiter kann in der Regel keine
originalen Kunstwerke kaufen, höchstens Reproduktionen. Der reiche Bürger
und sein Staat aber, die nur als Käufer von Originalkunstwerken in Betracht
kommen, wollen keine Kunstwerke kaufen, die sie als Klasse verneinen,
bloßstellen, lächerlich oder gar verächtlich machen und den revolutionären
Kampf gegen sie befördern.
Man kann im allgemeinen beobachten, dass die besitzenden Klassen ei-
nen genügend sicheren Klasseninstinkt besitzen, um die Kunst, die Fleisch
von ihrem Fleische ist, so sehr sie in Bezug auf Kunstformen und das subjek-
tive Gestalten ihrer Träger sich als „revolutionär“ gebärden mag, unterschei-
den können von solcher Kunst, die ihrem Inhalt nach sozialistisch-
revolutionär ist. Die besitzenden Klassen vermögen sehr wohl ihren eigenen
30
B. Taven Pseudonym, wahrscheinlich von Ret Marut (1883-1969)
31
George Grosz, eigentl. Georg Ehrenfried Groß (1883-1959)
38 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Zerfall künstlerisch zu genießen, zumal wenn seine Darstellung in den Kate-


gorien dieses Zerfalls selbst erfolgt und aus dem Zerfall selbst ästhetischen
Wert schöpft. Etwas ganz anderes aber ist dieser Zerfall, gesehen mit den
Augen der revolutionären Klasse, wo es die Erhebung über den Zerfall, den
Kampf gegen ihn und seine Überwindung einschließt. Die Geschichte der bil-
denden Kunst und der Literatur zeigt Fälle genug, wo aus dem gesellschaftli-
chen Zerfall bestimmte ästhetische Werte gezogen wurden. Die Kunst, die
das tut, gehört eben zu der Gesellschaft, oder zu den Klassen der Gesell-
schaft, deren Zerfall sie künstlerisch spiegelt, und ihre künstlerische Wider-
spiegelung von diesem Gesichtspunkt aus enthält, bewusst oder unbewusst,
jedenfalls aber des tatsächlichen Wirkens nach, ihre Verteidigung und Recht-
fertigung mit den Mitteln der Kunst.
Die Kunst des Zerfalls ist meist auch zerfallende Kunst - aber immer noch
Kunst. Sie ist der Schatten, den die zerfallende Gesellschaft wirft. Es ist na-
türlich lächerlich, so wie die Nazis dies taten, deren Schatten zu verneinen
und der Kunst des Zerfalls irgendwelche Kunst der noch mehr als gesunden
Vergangenheit dieser Gesellschaft ihr entgegenzustellen. Wenn der Zerfall
die Signatur einer bestimmten Gesellschaft in einem bestimmten Zeitab-
schnitt ist, so ist die Kunst, die ihn widerspiegelt oder ausdrückt, immerhin die
lebendige Kunst der Zeit, gegen die keine Schatten der Vergangenheit an-
kämpfen können, sondern nur eine ebenfalls lebendige Kunst, die aus ande-
ren Wurzeln stammt, und das heißt, die eine aufsteigende gesunde Welt wie-
derspiegelt oder ausdrückt. Dies aber ist ein Kapitel, das besonders behan-
delt werden soll.

5. Die Kunst nach dem Siege der sozialistischen Revolution

Wir bringen hier zunächst einige allgemeine Betrachtungen über die Kunst
nach dem Siege der sozialistischen Revolution und behandeln dann den rus-
sischen Sonderfall. Es ist klar, dass der Sieg der Arbeiterklasse im allgemei-
nen nicht sofort die klassenlose sozialistische Gesellschaft bringen kann. Die
Klassen bestehen zunächst weiter und damit auch der Klassenkampf. Zwi-
schen dem Ende der kapitalistischen Klassenherrschaft und der hypotheti-
schen klassenlosen Gesellschaft liegt notwendigerweise eine Periode des
Übergangs, in deren Verlauf die Klassen zum Verschwinden gebracht wer-
den. Die Dauer und die Formen dieses Übergangs hängen wesentlich davon
ab, unten welchen bestimmten Klassenverhältnissen der Sieg der Arbeiter-
klasse in einem gegebenen Lande erfolgt, von den allgemeinen und natürli-
chen Voraussetzungen des Landes und von der internationalen Umgebung,
in der der Sieg erfolgte und in der die siegreiche sozialistische Revolution
sich entwickelt hat.
Daraus geht hervor, dass die Formen und die Dauer dieses Übergangs in
verschiedenen Ländern sehr verschieden sein werden, aber auch, dass eine
Übergangsperiode überhaupt unvermeidlich ist. Und daraus folgt wieder,
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 39

dass die Kunst der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft nirgends unmit-


telbar die Kunst der kapitalistischen Gesellschaft ablösen kann. Dieser Perio-
de des geschichtlichen Überganges wird eine Kunst des Überganges ent-
sprechen, man kann sie die eigentliche Periode der revolutionären sozialisti-
schen Kunst oder die der Kunst der sozialistischen Revolution nennen. Als
Kunst des Überganges von der einen in die andere Gesellschaftsform wird
sie noch Elemente der Kunst der Klassengesellschaft aufweisen, aber zu-
gleich auch Elemente oder Anhaltspunkte für die Kunst der klassenlosen so-
zialistischen Gesellschaft entwickeln. Die Elemente der Klassengesellschaft,
die in ihr enthalten sein werden, darf man sich aber nicht vorstellen als die
einfache Fortsetzung der bürgerlichen Klassenkunst. Es wird die Kunst der
Arbeiterklasse sein, die zur herrschenden Klasse geworden ist und die am
Werke ist, die anderen Klassen und damit sich selbst als Klasse aufzuheben.
Diese Aufhebung selbst trägt zwei wesentliche Züge. Sie ist einerseits selbst
noch Klassenkampf, wenn auch unter neuen Bedingungen, andererseits ist
sie Aufbau und Entfaltung sozialistischer Wirtschaft.
Das erste Moment bedingt den revolutionären und Klassencharakter der
Kunst der Übergangsperiode, d. h. diese Kunst wird den Kampf der Arbeiter-
klasse widerspiegeln, abbilden. Das zweite Moment bedingt die sozialisti-
schen oder kollektivistischen und klassenlosen Züge dieser Kunst. In dem
Maße, wie der geschichtliche Übergang selbst fortschreitet, werden auch in
der Kunst diese beiden Momente ihr Verhältnis zueinander ändern.
In Russland hat man viel gestritten, ob man für diese Übergangszeit von
„proletarischer Kunst“ reden könne oder nicht. Die einen haben die Frage
verneint, indem sie sich darauf bezogen, dass die Arbeiterklasse ihre Herr-
schaft antritt als eine Klasse, die keinen oder nur einen geringen Anteil an der
bürgerlichen Kultur, also auch nicht an ihrer Kunst hat, und die andern haben
das Moment betont, dass die Arbeiterklasse, indem sie diesen Übergang er-
kämpft, zunächst als neue herrschende Klasse auftritt, und auf den Prozess
der Aufhebung des Proletariats als Klasse im Lauf das Überganges und als
Ziel des Überganges für eine bestimmte Periode, die mehr oder weniger lang
sein kann, bleibt. Die Lösung dieses Widerspruchs kann nur darin liegen,
dass dem Prozess des Überganges ein Prozess der ständigen Verschiebung
der beiden Elemente der Kunst des Überganges entspricht, ihr ein Moment
des proletarischen Klassenkampfes und des sozialistischen und klassenlosen
Zielzustandes entspricht. Dieser Übergang ist eine Bewegung oder Verände-
rung, er kann nur durch sich bewegende veränderliche gesellschaftliche Be-
griffe oder Begriffsmomente zutreffend wiedergegeben werden. Das Moment
der proletarischen Klassenkunst, die sich ihrer Aufhebung zubewegt, vergeht,
das Moment der sozialistischen, klassenlosen Kunst, die sich ihrer Entfaltung
zubewegt, entsteht. Indem man nun diese beiden Momente fixiert, festhält,
hebt man die Bewegung des Übergangs selbst auf. Der Übergang ist nun
aber nicht das ruhige Nebeneinander, es erscheint als Kampf der beiden ge-
gensätzlichen Momente. Die Phasen ihres Kampfes aber werden durch den
Verlauf des gesellschaftlichen Übergangs selbst bestimmt.
40 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Unmittelbar nach dem Siege der sozialistischen Revolution wird notwendi-


gerweise das revolutionäre, proletarische Klassenkampf-Moment überwiegen.
Dies schon deshalb, weil jede sozialistische Revolution zunächst und unab-
wendlicherweise mit einem Rückschlag der Produktion und damit auch in der
Lebenshaltung der siegreichen Klasse verbunden ist. Es ist die Phase, in der
der Abbau, die Vernichtung der alten Gesellschaft nach allen ihren Seiten
vorwiegt, eine Zeit des erbitterten Kampfes, schwerer Entbehrungen und Op-
fer von Seiten der Arbeiterklasse, und nicht des Genusses.
Das Moment der sozialistischen und klassenlosen Kunst kann aber nur
entstehen und wachsen in dem Maße, wie die neue Gesellschaft den Klas-
senkampf führt und die materielle Not überwindet, neue Lebensformen entwi-
ckelt, Lebensformen des Kollektivismus der Arbeit und des Genusses der
Freizeit.
Dies gilt besonders für die bildende Kunst. Revolutionäre schöne Literatur
kann gedeihen in Zeiten schwerer materieller Not. Damit eine neue bildende
Kunst möglich wird, muss für die Gesellschaft als Ganzes das Stadium der
materiellen Not überschritten sein, neue, höhere Lebensformen, Sitten, Ge-
wohnheiten, Gefühle müssen sich herausgebildet haben. Die Literatur kann
sie in gewissem Umfang vorwegnehmen - aber auch nur in gewissem Um-
fang, wenn sie die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht karikieren, entstellen,
umlügen und damit ihre bewegende und umbildende Kraft selbst aufgeben
will. Sie kann nicht frei erfinden, sie kann aber Vorhandenes formen, extrapo-
lieren.
Die bildende Kunst ist ihrer Natur nach enger an die sinnliche Anschauung
gebunden. Ferner aber, die neue Gesellschaft kann sich der Produktion bil-
dender Kunst in größerem Umfang erst widmen, und eine Nachfrage in ge-
sellschaftlichem Umfang kann erst entstehen, wenn die Gesellschaft im Gan-
zen und für die Dauer der Periode des „Absolut-Notwendigen“ überschritten
hat. Das „schöne Leben“ in gesellschaftlichem Umfang kann erst kommen,
wenn das Leben überhaupt gesichert ist.

6. Der russische Sonderfall

Indem wir nun zur Frage der Kunst in Russland übergehen, schicken wir
voraus, dass es hier nicht unsere Absicht sein kann, die russische Entwick-
lung in ihren Einzelheiten zu analysieren. Wir beschränken uns darauf, dieje-
nigen wesentlichen Züge der russischen Entwicklung herauszuheben, die sie
zu einem Sonderfall machen, sowohl in gesellschaftlicher Hinsicht als auch in
Bezug auf die Entwicklung der Kunst.
Um die Besonderheit dieser Entwicklung zu kennzeichnen, ist es zuerst
nötig zu sagen, was als der normale, klassische oder typische Fall der sozia-
listischen Revolution angesehen werden muss. Der normale oder klassische
Fall ist offenbar der, wo die sozialistische Revolution einer voll entwickelten
kapitalistischen Wirtschaft und dem entsprechenden bürgerlichen Staat, Ge-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 41

sellschaft und Kultur entspringt. Wir betonen ausdrücklich, dass wir nicht
ausgehen von irgendwelchen „westlichen“ Vorstellungen, Normen oder Ideen,
von dem, was die „normale“ sozialistische Revolution sein soll - dies wäre ei-
ne idealistische Art, die Frage zu behandeln - sondern von den materiellen
geschichtlichen und natürlichen Voraussetzungen oder Vorbedingungen der
Revolution.
Die Besonderheit der russischen Voraussetzung ist nirgends klarer und
einfacher formuliert worden als seinerzeit von Lenin, wenn er sagte: „Wir ha-
ben bei uns in Russland alle politischen Voraussetzungen, um den Sozialis-
mus aufzubauen (die politische Macht in der Hand der Arbeiterklasse), aber
es fehlen uns die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür; umgekehrt sind in
den USA alle wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sozialismus vorhan-
den, dafür fehlen dort die politischen Voraussetzungen.“ In Russland handel-
te es sich zunächst darum, eine außerordentlich verspätete bürgerliche Re-
volution durchzuführen. Dabei ist zu beachten, dass die Rückständigkeit
Russlands in Bezug auf die bürgerliche Revolution nicht nur das Ergebnis
seiner inneren klassenmäßigen Voraussetzungen war, sondern auch der in-
ternationale Klassen- und Machtverhältnisse. Die internationale Bourgeoisie
stützte das zaristische Regime, solange sie konnte, weil im absteigenden Ast
der kapitalistischen Entwicklung jede Revolution das kapitalistische Gesamt-
system in Gefahr bringt. Der Zarismus musste erst fallen, und dann konnte
erst die bürgerliche Revolution in Russland durchgeführt werden, (nachdem
die internationale kapitalistische Klassensolidarität zeitweilig durch den ersten
Weltkrieg gebrochen war).
Die kapitalistische Unreife Russlands führt nun zu dem besonderen ganz
ausnahmsweisen Fall, dass es die russische industrielle Arbeiterklasse ist,
die die Führung der bürgerlichen Revolution übernimmt, und das hat zur Fol-
ge, dass sie in einer weiteren Etappe die Revolution über den bürgerlichen
Rahmen hinausgeführt wird.
Die Führung der Arbeiterklasse in der bürgerlichen Revolution Russlands
aber hat zur Folge, dass diese bürgerliche Revolution selbst ganz besondere
Züge annimmt, die sie von den bürgerlichen Revolutionen in andern Ländern
unterscheidet. Worin bestehen die besonderen Züge der bürgerlichen Revo-
lution in Russland? Sie bestehen vor allem darin, dass das negative, zerstö-
rende Werk der bürgerlichen Revolution, die Vernichtung des Absolutismus
und der Reste des Feudalismus dort so gründlich und vollständig durchge-
führt wird, wie in keiner vorhergehenden bürgerlichen Revolution, selbst nicht
in der französischen Demokratie, wo sie nur eine kurzlebige Episode bleibt,
dass sie sich nicht einwurzeln und entfalten kann; die vorhandene wirtschaft-
liche Grundlage für eine kapitalistische Entwicklung wird nicht durch die bür-
gerliche Revolution freigesetzt, wie das in „normalen“ bürgerlichen Revolutio-
nen der Fall war, sondern die zur politischen Macht gelangte Arbeiterklasse
sieht sich vor die paradoxe Aufgabe gestellt, selbst das zu schaffen, was
sonst die kapitalistische Klasse schafft.
42 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Eine andere Besonderheit der von der Arbeiterklasse geführten bürgerli-


chen Revolution in Russland ist, dass neben die bürgerliche Demokratie
gleich bei ihrer Entstehung die Ansätze zu einer neuen, höheren Form der
Demokratie - der „Sowjetdemokratie“ - treten, die dann in kurzer Frist die
Formen der bürgerlichen Demokratie mit Stumpf und Stiel ausrottet und sich
an ihre Stelle setzt. Die russische Arbeiterklasse, nachdem sie die negative,
zerstörende Seite gegenüber dem Absolutismus und Halbfeudalismus, die
sonst der kapitalistischen Klasse obliegt, gründlich, energisch und überra-
schend schnell durchgeführt hat, sieht sich nun vor eine Aufgabe gestellt, die
„normalerweise“ ebenfalls eine Aufgabe der Kapitalistenklasse ist, die Aufga-
be der „ursprünglichen Akkumulation“, d. h. der Industrialisierung des riesigen
und dünn bevölkerten, technisch und kulturell höchst rückständigen Landes.
Von vorwärts, von der Zukunft aus gesehen ist es, um den leninschen Aus-
druck zu gebrauchen, die Aufgabe, die wirtschaftlichen und kulturellen Vor-
bedingungen für den Sozialismus zu schaffen. Es ist klar, dass eine solche
außergewöhnliche, widerspruchsvolle Aufgabe nicht „normale“ Entwicklung
zum Sozialismus erlaubt, sondern zu Widersprüchen, zu Abnormitäten ganz
besonderer Art führen musste.
Der alte und grundlegende Widerspruch und (die) Abnormität liegen auf
dem wirtschaftlichen Gebiet selbst. Die „ursprüngliche Akkumulation“ in
Russland verschlang zuerst wirtschaftlich die halbfeudalen Grundbesitzer
und die Kapitalisten. Sie werden ohne Entschädigung enteignet. Aber das
reicht nicht weit. Es bleiben somit nur die Arbeiter und Bauern selbst, um die
ungeheuren Kosten der ursprünglichen Akkumulation zu tragen. Dies führt zu
der Abnormität und dem Widerspruch, dass die sozialistische Umstellung der
Wirtschaft die Lebenshaltung beider Klassen zwar in bestimmten Grenzen
vom Ausgangspunkt ab auf- und absteigend, aber im großen (und) ganzen
Jahrzehnte hindurch, nicht das außergewöhnlich niedrige Niveau überschrei-
ten lässt, ein Niveau, das für die große Masse nicht über das „strikt-
Notwendige“, ein Niveau der materiellen Not hinausgeht, wobei das „strikt-
Notwendige“ durch die aus der Zarenzeit stammenden niedrigen Lebensge-
wohnheiten bestimmt ist. Es ist unendlich viel diskutiert worden über die Ent-
wicklung der Lebenshaltung der breiten Masse der Arbeiter und Bauern in
Russland. Unbestreitbar ist, dass während der ganzen bisherigen Entwick-
lung das Niveau der materiellen Not, der unzulänglichen Versorgung mit
Konsumtionsmitteln, nicht überschritten worden ist. Jedenfalls von einer ra-
schen und wesentlichen Hebung der Lebenshaltung der breiten Massen der
Arbeiter und Bauern kann keine Rede sein. Jedermann, der Russland aus ei-
gener, längerer Anschauung kennt, weiß, das die grundlegenden Ursachen
dafür nicht nur die Bedürfnisse der ursprünglichen Akkumulation in einem
großen rückständigen Lande sind, sondern auch der Umstand, dass die rus-
sische Revolution isoliert blieb, in ständiger Gefahr, von der kapitalistischen
Umwelt erdrückt zu werden und daher einen außergewöhnlich großen Teil
seiner Produktion der Kriegsproduktion widmen musste und noch muss.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 43

Die ursprüngliche Akkumulation und die Kriegsproduktion verschlangen in


Jahrzehnten das, was unter anderen wirtschaftlichen Voraussetzungen,
nehmen wir eine voll entwickelte kapitalistische Wirtschaft als Ausgangspunkt,
sich in eine rasche und gewaltige Erhöhung und Hebung der Lebenshaltung
der arbeitenden Bevölkerung, d. h. des ganzen Volkes, hätte umsetzen müs-
sen. Der zweite Weltkrieg brachte einen neuen gewaltigen Rückschlag und
erhöhte die Bedürfnisse der Rüstungsproduktion.
Wir kritisieren hier nicht, wir stellen fest und erklären.
Der zweite Widerspruch, (die zweite) Abnormität der russischen Revolution
ist die Folge des ersten grundlegenden Widerspruchs.
Es ist der, dass die neue überlegene Form der Demokratie, die noch in der
bürgerlichen Phase der Revolution aufgetaucht war, die Demokratie, die sich
nicht fortlaufend weiterentwickelte, bis zu dem, von Lenin ins Auge gefassten
logischen Ziel dieser Entwicklung, zum „Absterben des Staates“, sondern
dass diese Entwicklung nach wenigen Jahren abbricht und das die Staats-
macht umgekehrt immer stärker und stärker wird, bis sie eine Stufe erreicht,
die nirgendwo in der Geschichte ihresgleichen hat und nirgendwo in der heu-
tigen Welt ihresgleichen hat, auch nicht in den faschistischen Staaten, oder in
den Diktaturen lateinamerikanischen Stils.
Die sozialistische Demokratie lebte in der Periode des Bürgerkrieges. Sie
lebte, solange die Aufgabe des Abbaus der alten Gesellschaft und des
Kampfes gegen ihre Wiederkehr vorwiegend war. Sie verschwand, als die
Aufgaben des Aufbaus, der ursprünglichen Akkumulation, der Industrialisie-
rung des Landes in den Vordergrund traten.
Die bürgerliche Demokratie ist in Russland nur ein verschwindendes Mo-
ment der bürgerlichen Phase der Revolution gewesen. Und (eben) darum
war die sozialistische Demokratie nur ein verschwindendes Moment der sozi-
alistischen Phase der Revolution. Die bürgerliche Demokratie sieht für ihren
längeren, dauernden Bestand eine kapitalistische Entwicklung voraus, die der
Kapitalistenklasse erlaubt, mindestens einem Teil der Arbeiterklasse für sie
erträgliche und fortschreitende Lebensbedingen zu gewähren. Die sozialisti-
sche Demokratie, oder, um den allgemeinen Ausdruck zu wählen, die Demo-
kratie der Werktätigen, setzt voraus, dass die sozialistische Wirtschaft im-
stande ist, die Lebensbedingungen der Werktätigen über die Linie des „Strikt-
Notwendigen“ hinaus, oder über ihre traditionelle Lebenshaltung hinaus zu
erheben.
Diese Bedingungen waren bisher in Russland nicht gegeben und sind auch
heute noch nicht gegeben, trotz der ungeheuren Arbeitsleistung, die das rus-
sische Volk seit der Oktoberrevolution vollbracht hat. Damit war die sozialisti-
sche Demokratie zum Absterben verurteilt. Und sie ist abgestorben. Zwar be-
stehen die Sowjets formell noch. Aber sie sind keine demokratische Organi-
sation mehr im Sinne der demokratischen Selbstbestimmung und der Selbst-
tätigkeit der Werktätigen. Ebenso bestehen die Gewerkschaften weiter, die
nach der Absicht Lenins das große Übertragungsmoment von der kommunis-
tischen Partei zur Parteimacht der Arbeiter sein sollten, aber auch sie sind
44 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

keine demokratische Organisation mehr. Und schließlich ist auch in der


kommunistischen Partei selbst jede Spur innerer Demokratie verschwunden.

Was ist an die Stelle der Sowjetdemokratie, der Gewerkschaftsdemokratie,


der Demokratie innerhalb der kommunistischen Partei getreten? Die zentrali-
sierte, staatliche Zwangsgewalt in immer steigendem Ausmaß. Nur die immer
mehr steigende und alle Ansätze der demokratischen Selbsttätigkeit der
Werktätigen verschlingende, staatliche Zwangsgewalt konnte die Aufgabe
der ursprünglichen Akkumulation und der Selbstverwaltung unter den in
Russland gegebenen Bedingungen gerecht werden.
Alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens in Russland stehen unter dem
Zeichen der zwangsmäßigen Regelung von oben und äußern (sich) in einer
symptomatischen Vollständigkeit und Folgerichtigkeit, wie sie noch nie und
nirgendwo dagewesen ist. Diese Entwicklungslinie ist keineswegs durch die
Person Stalins bestimmt, wenn auch dazu persönliche Anlagen außerge-
wöhnlich für sie geeignet waren. Sie ist durch objektive Bedingungen be-
stimmt. Sie ist schon unter Lenins Führung eingeleitet worden in der Periode
der „Neuen ökonomischen Politik“, der so genannten NEP. Eine neue, streng
hierarchisch gegliederte, führende Oberschicht hat sich herausgebildet. Wir
gebrauchen ausdrücklich den neutralen Ausdruck „Schicht“ um der unendlich
viel diskutierten Frage, ob es sich um eine neue „Klasse“ handele, aus dem
Wege zu gehen. In ihr haben sich führende Elemente der Kommunistischen
Partei mit Elementen aus der bürgerlichen Intelligenz, aus der Bourgeoisie
selbst und aus der ehemaligen zaristischen Bürokratie verschmolzen.
Marx hat einmal über den zaristischen Staat gesagt, dass er viel mehr als
mit den absolutistischen Monarchien Westeuropas mit dem Staatswesen des
„orientalischen Despotismus“ (vergleichbar) sei, und er kennzeichnet diese
Staatsform als eine solche, die sich auf der Grundlage einer urkommunistisch
organisierten, wirtschaftlich sich selbst genügenden Gesellschaft erhebt, die
aber wegen dieser Selbstgenügsamkeit des überlokalen Zusammenhangs
entbehren. Es ist die despotische Staatsgewalt, die diesen Zusammenhang
herstellt und für sich ausbeutet.
Es ist zumeist der Bauer und die Regulierung großer Bewässerungswerke,
die dieses Bedürfnis des überlokalen Zusammenhangs schaffen (Ägypten,
Babylon-Assyrien, China usw.). Die sowjetische Staatsmacht baut sich
selbstverständlich nicht auf urkommunistischen Gemeinden auf. Aber sie
baut sich auf der Atomisierung aller Klassen der Gesellschaft, auf der Aufhe-
bung aller eigenständigen, selbständigen Organisationen auf. Das Ergebnis
ist der universale Polizei- und Beamtenstaat, in dem die Regierungsmaschine
alle selbständigen Regungen der Gesellschaft ersetzt, in dem alle Organisa-
tionen von oben und außen gelenkt sind.
Kein Wunder, dass auf der neuen Grundlage viele der „Schönheiten“ des
zaristischen Staates wieder entstanden sind: der „Tschin“, die kastenmäßige
Gliederung der Regierungsmaschine selbst, Titel und Orden, die fortschrei-
tende Uniformierung, die allgegenwärtige Geheimpolizei, die alles durchdrin-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 45

gende Spitzelei und wechselseitige Denunziation, der Terror in Permanenz,


die Vergötterung des Führers und der Unterführer, würdeloses Kriechen nach
oben, barbarisches Missachten und Misshandlung nach unten, der großrus-
sische Chauvinismus mit der Verherrlichung und Rechtfertigung aller Barba-
rei der Vergangenheit, der Panslavismus, die Ausnützung der orthodoxen
Kirche für Regierungszwecke usw. Der Gegensatz zwischen den ursprüngli-
chen Grundsätzen und Zielen der sozialistischen Revolution und der Wirk-
lichkeit drückt sich aus in einer allgemeinen offiziellen Heuchelei.
Was ist inzwischen aus den Klassen geworden?
Die alte Bourgeoisie und Großgrundbesitzerklasse als solche sind ver-
schwunden. Teile von ihnen haben sich in die sowjetische Regierungsma-
schine eingegliedert, sind mit ihr verschmolzen. Die Arbeiterklasse, existiert
sie überhaupt noch als Klasse? Hat sie sich der „Klassenlosigkeit“ genähert?
Marx unterscheidet die „Klasse an sich“ und die „Klasse für sich“ (Hegel-
sche Kategorien32). Die „Klasse an sich“ ist die Klasse, wie sie objektiv im
Verhältnis zu anderen Klassen der Gesellschaft existiert. Die „Klasse für
sich“ ist die Klasse, soweit ihr dieses Verhältnis bewusst geworden ist, und
sie entsprechend diesem Bewusstsein kollektiv handelt. Als „Klasse an
sich“ existieren noch die der Arbeiter und der Kollektivbauern, insofern ihre
Produktionsformen noch verschieden sind. Der Arbeiter ist Glied einer zentra-
lisierten Planwirtschaft.
Die Kollektivwirtschaft hat noch die Form der lokalen organisierten Genos-
senschaft, wenn sie auch durch die Traktorenstationen der zentralisierten
Planwirtschaft angegliedert und von ihr beherrscht wird. Der Kollektivbauer
hat außerdem immer noch ein Stück Land und Produktionsmittel, die er indi-
viduell bewirtschaftet. Er ist also noch in einem Übergangsstadium zum voll-
ständigen sozialistischen Großbetrieb. Der Unterschied ist also noch nicht
verschwunden, aber er hat sich gegenüber dem Zwischenstadium der Kollek-
tivierung der Landwirtschaft, wo der Bauer seinen Betrieb noch individuell
bewirtschaftet, sehr verringert. Als „Klasse an sich“ existieren also noch die
der Arbeiter und der Kollektivbauern, wenn auch mit sehr abgeschwächten,
klassenmäßigen Unterscheidungsmethoden. Als „Klasse für sich“ d. h. als
bewusst und selbständig kollektiv handelnde, gesellschaftliche Gruppe ist
aber die Arbeiterklasse in Russland verschwunden. Alle ihre Organisationen:
Sowjet, Gewerkschaften, Genossenschaften, Partei usw. sind ihr entfremdet,
sind aus Mitteln ihrer Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit zu Mitteln der
Fremdbestimmung und der befohlenen, erzwungenen Tätigkeit von oben und
außen geworden.
Dazu kommt noch etwas Entscheidendes: Eine der ersten Stufen, in der
innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiter fortschreiten zur
„Klasse für sich“, besteht darin, dass sie die Konkurrenz unter sich gegen-
über den Kapitalisten überwinden und ihm gemeinsam handelnd gegenüber-
treten. In der Sowjetunion ist mit allen erdenklichen Mitteln die Konkurrenz
32
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) war der wichtigste Vertreter des philosophischen deutschen
Idealismus. Hegelsche Kategorien siehe Wissenschaft der Logik. Nürnberg 1812-1816
46 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

der Arbeiter unter sich aufs höchste gesteigert worden („Stachanovismus“33,


„Aktivisten“, „Stücklohn“, usw.). Es nennt sich dies „Sozialistischer Wettbe-
werb“. Wir nennen es die Atomisierung der Arbeiterklasse, ihre Aufhebung
als Klasse für sich. Der Arbeiter sowie der Kollektivbauer stehen unter allge-
meinem ständigem Zwang und Kontrolle von oben und außen. Zwischen dem
„normalen“ freien Arbeiter und Kollektivbauern und dem Zwangsarbeiter in
den Lagern besteht nur ein gradueller, nicht ein prinzipieller Unterschied. Der
Zwangsarbeiter im eigentlichen Sinne des Wortes ist nur der extreme Fall ei-
nes allgemeinen Zustandes. Und es bedarf keines besonders tiefen Nach-
denkens, um zu finden, dass die Atomisierung der Arbeiterklasse und die
Verselbständigung der Regierungsmaschine ihr gegenüber in Wechselwir-
kung stehen, wobei aber die Initiative von der Regierungsmaschine ausgeht.
Ähnliches gilt von den Kollektivbauern.
Ein wohlbekanntes Gegenstück dazu ist die Organisation der bürgerlichen
Klassenarmee und insbesondere der alten preußischen Armee, wo dem
streng zentralisierten und hierarchisch gegliederten Offizierskorps der einfa-
che Soldat als streng gesonderter Einzelner gegenübergestellt wird. Demge-
mäß war sogar die gemeinsame Beschwerde von zwei Leuten streng unter-
sagt. Es handelt sich aber hier um keine neue Erfahrung, sondern um ein be-
stehendes und in allen Einzelheiten ausgearbeitetes Herrschaftssystem.
Wenn also in Russland der Unterschied zwischen Arbeitern und Bauern als
Klasse an sich sehr abgeschwächt ist, wenn sie als „Klasse für sich“ zum
Verschwinden gebracht worden sind, nähern wir uns also in Russland der
„klassenlosen Gesellschaft“?
Dies ist doch die offizielle Lehre. Nur eine Kleinigkeit steht für einen Mar-
xisten im Wege, um diese offizielle Lehre anzunehmen. Es ist die Kleinigkeit
der allmächtigen Regierungsmaschine, des alle Seiten dieser Gesellschaft
beherrschenden Zwangs. Die wirkliche klassenlose Gesellschaft setzt das
Verschwinden des gesellschaftlichen Zwangs (voraus) oder wenigstens seine
Zurückführung auf ein Mindestmaß, und stattdessen das freiwillige, von der
Selbstdisziplin geleitete, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene
und bewusste kollektive Handeln. Dies setzt voraus das objektive Verschwin-
den der Klassen, der „Klasse an sich“, aber auf der anderen Seite nicht die
Atomisierung der Klassen, sondern eine Entwicklung gerade in der entge-
gengesetzten Richtung, und zwar:
1. die Erweiterung des Klassenbewusstseins zum einheitlichen gesell-
schaftlichen Kollektivbewusstsein,
2. die höchste Steigerung dieses Kollektivbewusstseins und die feste Um-
gestaltung der Gewohnheit des kollektiven Handelns. Wir wiederholen hier:
Wir kritisieren hier nicht, wir bestreben uns nur zu erklären.

33
Stachanow-Bewegung, Kampagne in der UdSSR zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in den Betrieben,
benannt nach Alexej Grigorjewitsch Stachanow (1905-1977), der am 31. August 1935 in einer Kohlengrube
im Donbass in einer Schicht 102 Tonnen Kohle förderte und damit die gültige Arbeitsnorm um das Dreizehn-
fache überbot
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 47

Was sich in Russland unter den gestellten Bedingungen vollzogen hat, ist
ein gegensätzlicher Prozess, gesehen vom Standpunkt einer klassenlosen
Gesellschaft. Eine Annäherung an diese in objektiver Hinsicht, vom Ge-
sichtspunkt des Abbaus der objektiven Klassenunterschiede zwischen Arbei-
tern und Kollektivbauern. Eine Entfernung von ihr durch den fortschreitenden,
auf die Spitze getriebenen Abbau der Selbsttätigkeit, des bewussten kol-
lektiven Handelns der Arbeiter und Bauern und ihre Unterstellung unter eine
mächtige Regierungs- und Staatsmaschine, die aus ihrer Mitte hervorgegan-
gen ist, sich aber ihnen gegenüber verselbständigt hat, und in deren Hand al-
les bewusste, kollektive Handeln konzentriert ist.
Oder anders ausgedrückt: Eine Reihe der negativen Bedingungen für die
klassenlose Gesellschaft sind erfüllt oder nähern sich der Erfüllung, die posi-
tiven Bedingungen dafür sind abgebaut, aufgehoben, vernichtet worden.
Auch dafür gibt es ganz bestimmte geschichtliche Vorbilder, z. B. das alte
römische Kaiserreich mit seiner Allmacht der Kaiser und der allgemeinen
Versklavung der ehemaligen römischen Bürger wie der Nichtbürger, die ne-
gative Herstellung der bürgerlichen Gleichheit, dazu die allgemeine gleiche
Rechtlosigkeit der Untertanen. Und auch sonst bestehen hier eine Reihe
Analoge: die Vergötterung des Kaisers, die Beibehaltung vieler der alten,
aber leer gewordenen Formen und Sprache, die allgemeine kollektivistische
Gesinnung usw. Natürlich ist die gesellschaftliche Grundlage sehr verschie-
den.
Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Wille, von vornherein poli-
tische Bedingungen (die Staatsmacht in der Hand der Arbeiterklasse), die
nicht vorhandenen wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozialismus zu
schaffen. Die Aufgabenstellung selbst ist abnorm, widerspruchsvoll, aber sie
ist nicht willkürlich gewählt, sondern durch den besonderen geschichtlichen
Umstand bestimmt, dass in Russland die Bourgeoisie die Durchführung ihrer
eigenen geschichtlichen Aufgabe, die Umgestaltung des Landes nicht ausge-
führt hat, und infolgedessen die Arbeiterklasse eine doppelte Klassenaufgabe
auf die Schultern nimmt, die bürgerliche, soweit es sich um die Industrialisie-
rung das Landes handelt, die proletarische, soweit es sich um, die sozialisti-
sche Zielsetzung handelt. Diese doppelte Klassenaufgabe ist kein einfacher
Nebencharakter, sie ist eine Verbindung sich widersprechender Momente
und daraus schon ist zu schließen, dass auch die Lösung nicht glatt, harmo-
nisch, in sich übereinstimmend sein kann, sondern in sich gegensätzliche
Momente enthalten muss.
Was ist nun der Endpunkt, das Ergebnis, gemessen am Ausgangspunkt?
Was ist die Lösung gemessen an der Aufgabe? Dies ist die innerrussische,
wenn man will, wichtigste Fragestellung. Die äußere Fragestellung zerfällt in
zwei Fragen: Die erste: Was ist heute Sowjetrussland im Verhältnis zu seiner
kapitalistischen Umwelt? Die zweite: Was ist es im Verhältnis zu den Arbei-
terklassen außerhalb Russlands und ihren Klassenkämpfen?
Zur ersten Fragestellung ist zu antworten: Sowjetrussland hat sich die wirt-
schaftlichen Bedingungen für den Sozialismus ausgewählt, aber es hat sie
48 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

noch nicht vollständig erreicht. Gleichzeitig hat es sich von den politischen
Bedingungen für den Sozialismus entfernt. Es hat sich den wirtschaftlichen
Bedingungen für den Sozialismus angenähert, indem es die Kapitalisten und
Großgrundbesitzer enteignete, die kapitalistischen Betriebe in staatlichen Be-
sitz und Betrieb überführte, das Land nationalisierte. Einbegriffen darin ist
auch die große zahlenmäßige Veränderung der industriellen Arbeiter, aus
dem Reservoir der Landbevölkerung, die Schaffung höherer Arbeitslaufbah-
nen, die Herausbildung einer breiten Schicht technischer und organisatori-
scher Intelligenz, sowie sie in fortschreitendem Maße die Industrialisierung
des Landes durchführte, Planwirtschaft einführte, die Landwirtschaft kollekti-
visierte.
Es hat die wirtschaftlichen Bedingungen für die Durchführung des Sozia-
lismus noch nicht erreicht, da die wirkliche Produktionskraft der Arbeiter noch
nicht ausreicht, um der Gesamtheit der Arbeitenden eine ausreichende Be-
friedigung ihrer Bedürfnisse zu sichern, da die Landwirtschaft die sozialisti-
sche Betriebsform noch nicht voll erreicht hat.
Es hat sich gleichzeitig von den politischen Bedingungen für den Sozialis-
mus entfernt, indem es die sozialistische Demokratie und überhaupt alle
sonstigen Ansätze für eine Demokratie der Werktätigen beseitigte, indem es
die Staatsmaschine ungeheuer verstärkte und der Masse der Arbeitenden als
universelle Zwangsgewalt gegenüberstellte, indem es so die Selbsttätigkeit
und Selbstbestimmung der Masse der Arbeitenden aufhob. So wurden die
positiven politischen Bedingungen für die Durchführung des Sozialismus auf-
gehoben, und nur eine negative Bedingung dafür geschaffen: der Abbau das
Klassenunterschiedes zwischen Arbeiter und Kollektivbauern. Die beiden
Reihen, die wirtschaftliche und die politische, haben sich also in Russland
gegensätzlich entwickelt.
So spiegelt sich der Widerspruch in der Aufgabenstellung im Widerspruch
des Prozesses der Lösung.
Kann dieser Widerspruch überwunden werden? und wie?
Es genügt da nicht, zu sagen, dass wenn die wirtschaftlichen Bedingungen
für den Sozialismus voll erreicht sein werden, dann die staatliche Zwangsge-
walt in ihrer heutigen extremen Form, die heutige herrschende Oberschicht
„überflüssig“ und deshalb „irgendwie“ zum Verschwunden gebracht wird.
Es ist wichtig, gerade dieses Wie scharf ins Auge zu fassen. Die wirtschaft-
lichen Bedingungen sind nicht vollständig, um die ihnen angemessenen Wir-
kungen durchzusetzen. Dazu gehören die notwendigen politischen Bedin-
gungen, die große politische Kraft. Diese Bedingungen können nur bestehen
in der Umkehrung des Prozesses, der die Arbeiterklasse in Russland atomi-
siert, als Klasse für sich aufgehoben hat. Die Umkehrung kann nur erfolgen,
wenn die atomisierten Arbeiter ein selbstbestimmendes und kollektiv han-
delndes Ganzes werden im Widerstand und Kampf gegen die allmächtige
Staatsmaschine. Nur dieser Kampf kann die politischen Vorbedingungen
schaffen für die „klassenlose sozialistische Gesellschaft“. Über die Formen,
die dieser Kampf annehmen wird, wenn es dazu kommt, lässt sich heute
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 49

noch nichts bestimmen. Wir sagen ausdrücklich, wenn es dazu kommt. Eine
Lösung des Widerspruchs ist auch der Untergang dieses ersten Versuches,
in großem Maßstab, den Horizont der kapitalistischen Gesellschaft zu über-
schreiten.
Aber lassen wir die Frage dahingestellt, ob die Lösung des in der russi-
schen Gesellschaft gegebenen Widerspruchs vorwiegend von innen oder von
außen durch den Anstoß der Entwicklung der Arbeiterklasse anderer Länder
kommen wird.
Bei dem Widerspruchsvollen und der Abnormität sowohl des Ausgangs-
punktes der russischen Revolution wie ihrer bisherigen Entwicklung, begreift
es sich leicht, wie schwierig es ist, das bisherige Ergebnis dieser Entwicklung,
die heutige Sowjetunion, ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsform durch eine
einfache begreifliche Formel zu erfassen: Ist die Wirtschaft der SU vorkapita-
listisch, ist sie schon Sozialismus, ist sie Staatskapitalismus oder Staatsso-
zialismus, oder ist sie, wie Hilferding es wollte, etwas was ganz außerhalb
sowohl des Kapitalismus wie des Sozialismus liegt?
Es ist klar, dass kein vorgegebenes, einfaches und starres Schema darauf
passt und dass ihr Wesen nur erfasst werden kann durch einen Begriff, der
selbst einen Widerspruch in sich birgt. Es ist eine Wirtschaft, die bereits jen-
seits des Kapitalismus liegt, denn das kapitalistische Eigentum ist in ihr auf-
gehoben, die aber auch noch kein durchgeführter Sozialismus ist, denn die
Bedingungen für seine Durchführung sollen erst geschaffen werden.
Also müssen wir einen Begriff wählen, der diese beiden Seiten zugleich
enthält: das Jenseits des Kapitalismus, das Diesseits vom durchgeführten
Sozialismus, aber mit der Bewegung vom Kapitalismus und in der Richtung
des Sozialismus. Der entsprechende Begriff kann nur der eines Anfanges
des Sozialismus sein. Eines Anfangs, nicht des Anfangs, denn die Form die-
ses Anfangs ist nicht allgemein gültig, sie ist eine besondere Form. Im „An-
fang“ ist eben der Widerspruch enthalten des Verlassens des Ausgangspunk-
tes, aber (des) noch nicht Erreichthabens des Endpunktes, als Beugung von
einem zum anderen.

Die Frage stellen als entweder eine Form des Kapitalismus oder eine Form
des durchgeführten Sozialismus heißt, sie falsch stellen, d. h. sie so stellen,
dass sie nicht angemessen beantwortet werden kann. Analoges gilt für die
Kennzeichnung der Staatsform und der Gesellschaftsform. Schließlich ist es
ja auch begreiflich, dass etwas Neues, Eigenartiges, Widerspruchsvolles vor-
kommen kann, und dass es daher nicht einfach in alte Schemata gepresst
werden kann.
Aus dieser dialektischen Begriffsfassung ergibt sich auch folgerichtig das
Verhältnis einerseits zur kapitalistischen Umwelt, andererseits zum revolutio-
nären Klassenkampf der Arbeiterklasse außerhalb Russlands. Die Gegner-
schaft der kapitalistischen Umwelt zur SU und der SU zur kapitalistischen
Umwelt ergibt sich aus dem Moment der Verneinung des Kapitalismus, das
die SU enthält. Und daraus ergibt sich auch, dass die Arbeiterklassen der
50 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

anderen Länder, soweit sie für den Sozialismus kämpfen, die SU als eine un-
entbehrliche Hilfskraft im Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozia-
lismus betrachten müssen. Vor allem als eine große, entscheidende militäri-
sche Hilfskraft.

Aber das andere Moment, dass in der SU die Bedingungen für den durch-
geführten Sozialismus noch nicht erreicht sind, bedingt, dass die SU für die
Arbeiterklasse voll entwickelter kapitalistischer Länder, die für die sozialisti-
sche Revolution kämpfen, kein einfach zu kopierendes Vorbild sein kann,
weder dafür, wie sie den Kampf um die Macht zu führen haben, noch dafür,
wie sie nach Eroberung der Macht den Sozialismus aufzubauen haben. Auf
die Einzelheiten einzugehen ist hier nicht der Ort; meine Aufgabe war hier nur,
das grundsätzliche Verhältnis festzustellen, da dieses grundsätzliche Ver-
hältnis auch bestimmend sein muss für das Verhältnis der „revolutionären
Kunst“, die sich nach dem Sieg der sozialistischen Revolution und zum Teil
während des Kampfes um die Macht in kapitalistisch entwickelten Ländern
herausbilden kann, und der revolutionären Kunst, die sich in Russland entwi-
ckelt hat. Die hier gegebene ausführliche Behandlung der russischen Ent-
wicklung im Ganzen war kein Überfluss, sie war nicht zu umgehen, wenn das
Thema der revolutionären Kunst in unserer Zeit behandelt werden sollte.
Aus dem bisher Gesagten versteht sich ohne weiteres, dass die bildende
Kunst in Russland bis heute keine hervorragenden neuen Leistungen aufzu-
weisen hat, weder die Malerei, noch die Skulptur, noch die Architektur. Es
fehlten und fehlen heute noch dafür die wirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Voraussetzungen. So war denn auch das, was Russland in der Pariser
Weltausstellung von 1938 zeigte, künstlerisch gänzlich bedeutungslos. Be-
deutungslos nicht deshalb, weil es mit der „modernen“ Kunst der kapitalisti-
schen Welt nichts zu tun hatte - was an sich ein Plus wäre - sondern weil es
nichts Neues von Bedeutung aufwies, und in der Hauptsache ältere Phasen
der bürgerlichen bildenden Kunst schülerhaft und talentlos wiederholte, kurz
das war, was der Künstlerjargon „Kitsch“ nannte.
Neue, revolutionäre Kunst wurde in Russland nur geschaffen auf dem Ge-
biet der schönen Literatur, des Theaters und im Film.
Aber auch hier ist sichtlich der Höhepunkt überschritten. Die stärksten
Leistungen der revolutionären schönen Literatur, auch des Films in Russland
sind nicht zufällig mit der Periode des Bürgerkriegs und der noch bestehen-
den sozialistischen Demokratie verbunden, sei es die, die während des Bür-
gerkriegs geschaffen und veröffentlicht wurde, sei es, dass sie später ent-
stand, aber doch den Bürgerkrieg zum Thema hat, die in ihm vorherrschen-
den Gefühle, Stimmungen, Vorstellungen widerspiegelt. Der Höhepunkt die-
ser Schöpfungen ist wohl Scholochows34 „Der stille Don“. Ein Abstieg beginnt
sichtlich mit der Periode des wirtschaftlichen Aufbaus. Und dies sicher nicht
deshalb, weil der Aufbau nicht auch ein künstlerischer Gegenstand wäre,
34
Michail Alexandrowitsch Scholochow (1905-1984), Hauptwerk Der stille Don, begonnen 1928 und erst
1940 abgeschlossen, 1965 erhielt er hierfür den Nobelpreis für Literatur
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 51

sondern weil damit verbunden war der Abbau und die schließliche Beseiti-
gung der sozialistischen Demokratie, das Lahmlegen aller kollektiven Selbst-
tätigkeit überhaupt, der Aufbau der allmächtigen und allgegenwärtigen
Staatsmacht.
Es ist nicht, wie oft behauptet wird, der Bestand einer despotischen
Staatsmacht an sich, die das Entstehen großer Kunst unmöglich macht. Da-
gegen sprechen zu viele geschichtliche Beispiele. Persien, Indien, China usw.
liefern genug Beispiele für die Produktion großer Kunst in Staaten des orien-
talischen Despotismus. Frankreich produzierte zweifellos große Kunst unter
der absoluten Monarchie Ludwig des XIV.35 usw.
Es kommt offenbar auf die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen an,
die unter einer despotischen Staatsmacht herrschen und auf die spezifische
geschichtliche Rolle, die sie spielt. Orientalische Despoten lassen das Eigen-
leben der lokalen, gesellschaftlichen Einheiten, auf denen sie sich erheben,
vielfach mehr oder weniger ungestört, sind ihnen nur äußerlich aufgesetzt.
Als zentrale Regierungen können sie ebenso eine geschichtlich fortschrittli-
che wie auch eine rückschrittliche Rolle spielen. Dass die absolute Monarchie
in Frankreich für bestimmte Zeiten eine Rolle gespielt hat in der Eindämmung
der feudalen Gewalten, in der Förderung der Entwicklung der Bourgeoisie, in
der Herstellung der nationalen Einheit, in der Zentralisierung der Staatsge-
walt, das ist so bekannt, dass es keiner weiteren Auseinandersetzung bedarf.
Die gegensätzliche Rolle, die die Sowjetregierung in Bezug auf die Schaf-
fung der wirtschaftlichen und der politischen Bedingungen für den Sozialis-
mus gespielt hat, ist oben in den allgemeinen Umrissen beschrieben worden.
Hier sind noch einige besondere Züge nachzutragen, insofern sie auf die
Entwicklung der Kunst im Lande gewirkt haben und noch wirken.
Ein positiver Zug ist hier der Kampf für den Abbau und die Beseitigung des
Analphabetismus, die Befreiung breiter Schichten der ländlichen Bevölkerung
aus der ländlichen Isolierung, das Hineintragen von Elementen der Kultur in
das Dorf selbst, die allgemeine kulturelle und erzieherische Rolle der Roten
Armee, usw.
Auf der negativen Seite steht vor allem die wachsende Reglementierung
der Kunst. Das geht weit hinaus über das, was die Zensur im zaristischen
Russland getan hatte. Die zaristische Zensur beschränkte sich auf das Ver-
bieten. Bei alledem ist eben unter dieser zaristischen Zensur die große klas-
sische Literatur Russlands erschienen, die fast durchweg gesellschaftlich und
meist auch kritisch gegenüber dem zaristischen Regime ist. Es ist die Litera-
tur, die die bürgerliche Revolution Russlands vorbereitete. Die Zensur traf vor
allem die politische Literatur. Aber sie hatte die Möglichkeit, illegal gedruckt
und verbreitet zu werden.
Das Regime des Sowjetstaates in der stalinschen Periode geht viel weiter.
Literatur und Kunst werden reglementiert, d. h. es wird ihnen nicht nur vorge-
schrieben, was sie nicht zu sagen haben, sondern auch, was sie zu sagen

35
Ludwig XIV. (1638-1715) war seit 1643 König von Frankreich und Navarra, genannt „der Sonnenkönig“
52 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

haben. Und das, was ihnen zu sagen vorgeschrieben wird, ist nicht ein für al-
lemal Feststehendes, es kann sich, je nach der Änderung der allgemeinen
politischen Linie, sehr rasch und sehr gründlich ändern. Wehe dem, der da
nachhinkt oder vorschnellt.
Natürlich kann man das allgemeine Verhältnis der sozialistischen Literatur
und Kunst überhaupt zum Regime nicht dem der klassischen russischen Lite-
ratur zum zaristischen Regime gleichsetzen. Im letzten Falle bestand ein
grundsätzlicher Gegensatz - eben der zwischen der bürgerlichen Revolution
und einem Regime, das die Spitze und das Bollwerk einer halbfeudalen Ge-
sellschaft ist.
Im ersten Falle besteht kein Gegensatz, sondern Übereinstimmung zwi-
schen der revolutionären Literatur und Kunst, und dem politischen Regime,
insoweit es die wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozialismus schafft.
Aber wir haben gesehen, wie dieses Regime eine gegensätzliche Rolle spielt
in Bezug auf die Schaffung der politischen Bedingungen für die sozialistische
Revolution. Und in dieser Beziehung haben Literatur und Kunst im heutigen
Russland nicht nur nicht die Möglichkeit, diese Seite der künstlerischen Kritik
zu unterziehen, gegen sie anzukämpfen; sie haben sich ihr zu fügen, sie zu
rechtfertigen, sie zu fördern. Unter solchen Bedingungen verliert die Kunst
eine ihrer wichtigsten, gesellschaftlichen Funktionen, sie muss verkrüppeln.
Der „sozialistische Realismus“, der das Schlagwort für die Kunst und Lite-
ratur in Sowjetrussland ist, soll die gesellschaftliche Wirklichkeit so erfassen,
dass er in ihr die Züge heraushebt, die nach vorwärts zum Sozialismus wei-
sen. Dies ist eine an sich richtige Aufgabenstellung. Aber ihre Erfüllung wird
verkrüppelt, wenn es der Kunst und Literatur verboten ist, die Züge des Re-
gimes selbst künstlerisch zu erfassen, die der Lösung dieser Aufgabe im
Wege stehen, die von ihr abführen. Der „sozialistische Realismus“ tendiert so
dahin, sich selbst aufzuheben; der „Realismus“ wird so zur Schematik und
Schönfärberei, das sozialistische Moment wird verstümmelt oder gar ampu-
tiert. Die künstlerische Schöpfung wird so in ihren Wurzeln selbst beschädigt,
denn sie ist nicht möglich, ohne dass der Künstler die Wirklichkeit und alle
äußeren Momente allzeitig erfahren und neue Seiten aus ihr zu Tage fördern
kann, die die Obrigkeit nicht vorgesehen hat. Alle wirkliche und große Kunst
hat gesellschaftliche Entdeckungs- oder Pionieraufgaben zu erfüllen. Diese
Aufgabe ist unmöglich zu erfüllen, wo alle Neuentdeckungen den Behörden
vorbehalten sind und die Kunst nur von oben und außen vorgegebene Ge-
genstände und dazu noch in einer vorgegebenen Weise zu behandeln hat.
Wir werden später sehen, dass es gerade dieser Punkt ist, der Kunst von
Propaganda unterscheidet.
Die Bedingungen für revolutionäre Kunst, die in der Periode des Bürger-
krieges und der noch bestehenden sozialistischen Demokratie vorhanden
waren, sind nach dieser Periode fortschreitend eingeschränkt worden und
schließlich fast verschwunden.
Der Schluss aus alledem ist, dass schöne Literatur und Kunst im heutigen
Sowjetrussland nicht das Vorbild für eine zu schaffende revolutionäre Kunst
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 53

in der Ländern holen kann, wo die sozialistische Revolution dem voll entwi-
ckelten Kapitalismus entsprungen ist. Und für die revolutionäre Kunst im Be-
sonderen gilt das, was für das Verhältnis der russischen Revolution zu den
künftigen sozialistischen in kapitalistisch entwickelten Ländern gilt: Die ge-
schichtliche Initiative, mit der Russland zuerst den Bannkreis der kapitalisti-
schen Gesellschaft durchbrochen hat und zum Sozialismus vorgestoßen ist,
verdient die höchste Bewunderung und Anerkennung. Es gehört dazu eine
ungeheure Kühnheit, eine gewaltige Energie und eine unerschöpfliche Aus-
dauer. Die Opfer und Leiden, die das russische Volk auf diesem Weg auf sich
genommen hat, sind beispiellos. Und die Folgen dieser Initiative waren in der
Tat weltenweit. Sie hat die ganze kapitalistische „Welt erschüttert“.
Aber die Bewunderung und Anerkennung dieser Initiative und die Ausdau-
er in ihrer Fortsetzung darf keine blinde, sie muss einsichtige Bewunderung
sein. Wir müssen verstehen, an der russischen Revolution und ihrem Fort-
gang zu unterscheiden, was dem sozialistischen Ziel zuführt, was an diesem
Ziel Fortschritt und was Rückschritt ist, was allgemeine Bedeutung hat für
den Befreiungskampf der Arbeiterklasse der anderen Länder und was russi-
scher Sonderfall ist, Sonderfall nicht in dem Sinne ein für allemal feststehen-
der nationaler Eigenschaften, sondern in dem Sinne der besonderen ge-
schichtlichen Bedingungen, unter denen die Revolution ihren Gang angetre-
ten und ihn weiter verfolgt hat, sowie auch die Jahrtausende zurückreichende
Vorgeschichte, sowie die Naturbedingungen, die dieses Volk geformt haben.
Die Arbeiterklassen der anderen Länder, vor allem der kapitalistisch entwi-
ckelten Länder, können also nicht einfach fortsetzen an dem Punkt, an dem
die russische Entwicklung angelangt sein wird, wenn sie einsetzen. Die Auf-
gabe, die ihnen dann durch die eigene geschichtliche Bedingung vorgezeich-
net ist, ist nicht fortzusetzen, wo die Russen aufgehört haben, sondern neu
anzufangen, von einem höheren Ausgangspunkt aus. Die geschichtlichen
Leistungen Russlands werden dabei nicht verloren sein, insofern sie die Leh-
ren, wie es zu machen ist, und insofern der Niederschlag ihrer bisherigen
russischen Entwicklung, die Macht Russlands, eine militärische Macht, für
den Sieg der sozialistischen Revolution in anderen Ländern unentbehrlich ist.
Aber Unentbehrlichkeit ist nicht Vorbildlichkeit. Man kann sicher sein, dass, in
welchen Formen und Verhältnissen immer, die geschichtlichen Vorausset-
zungen der anderen Länder sich früher oder später geltend machen, sich
durchsetzen werden. Je früher, umso besser, die Kraft der revolutionären Ini-
tiative Russlands und seine Ausdauer, haben selber ihre geschichtlichen
Wurzeln. Die ungeheure Verspätung der bürgerlichen Revolution zwang
Russland zum gewaltigen Sprung darüber hinaus, in die sozialistische Revo-
lution. Die jahrhundertelange geschichtliche Rückständigkeit Russlands ver-
lieh ihm eine ungebrochene, barbarische Kraft.
In Mittel- und Westeuropa aber ist es nicht die ursprüngliche Barbarei,
sondern die in noch schlimmere, sekundäre Barbarei umschlagende Zivilisa-
tion selbst, die dort der Arbeiterklasse voranschreitet. Was für Mittel- und
Westeuropa im Verhältnis zur russischen Revolution allgemein gilt, dass gilt
54 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

auch im Besondern für die dort zu schaffende revolutionäre Kunst. Auch ihre
Aufgabe ist nicht, fortzusetzen, wo die Russen aufgehört haben, sondern neu
anzufangen.

7. Der Unterschied zwischen Kunst und Propaganda

Traum der Sommernacht! Phantastisch


Zwecklos ist mein Lied, Ja, zwecklos
Wie die Liebe, wie das Leben,
Wie der Schöpfer samt der Schöpfung!

Nur der eigenen Lust gehorchend,


Galoppierend oder fliegend,
Tummelt sich im Fabelreiche
Mein geliebter Pegasus.

Ist kein nützlich tugendhafter


Karrengaul des Bürgertums,
Noch ein Schlachtpferd der Parteiwut,
Das pathetisch stampft und wiehert.

Heinrich Heine, Atta Troll, Caput III

Hier ist der Unterschied zwischen Kunst und Propaganda oder Publizistik
poetisch ausgedrückt von einem, der selbst zugleich ein großer Künstler war
und sich mit Recht einen „Freiheitskämpfer“ nannte.
Die Kunst ist „zwecklos“, während Propaganda oder Publizistik zweckhaft
ist. Um welche Zwecke handelt es sich, von denen die Kunst frei ist, während
die Propaganda oder Publizistik ihnen dient?
Der wesentliche Unterschied ist folgender: Die Kunst leiht ihre Gestaltun-
gen unmittelbar aus dem gegebenen Stoff der Wirklichkeit.
Propaganda verfährt umgekehrt. Ihr sind gewisse Ziele, Programme, Auf-
gaben, Ideen gegeben, für die sie im Stoffe der Wirklichkeit die sinnlich-
anschauliche Einkleidung sucht.
Auch die Kunst kann Ideen entwickeln und darstellen. Aber sie stellt sie
aus erster Hand dar, aus der autonomen Gestaltung des Stoffes.
Für die Propaganda kommt die Gestaltung aus zweiter Hand. Der Zweck
oder die Zwecke sind vorgegeben, sie sind mit anderen als künstlerischen
Mitteln gewonnen. Ein Kunstwerk und ein Propaganda/Stück kann ein und
dieselbe Idee erhalten. Aber sie ist in einem wie im anderen Fall auf ver-
schiedenen Wegen gewonnen. Die Idee, der Zweck ist im Falle der Propa-
ganda der Ausgangspunkt, im Falle der Kunst ist sie das Resultat. Die Kunst
geht vom Stoff zur Idee, die Propaganda geht von der Idee zum Stoff.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 55

Kunst ist in diesem Sinne zweckfrei (oder Selbstzweck), was dasselbe ist.
Das ist der Sinn der bekannten Kantschen36 Bestimmung. Sie ist eine blei-
bende und große Entdeckung, die Franz Mehring mit Recht übernahm. Und
in dieser Beziehung, besteht durchaus kein Gegensatz zwischen Hegel und
Kant.
Nicht nur ist diese Auffassung gemeinsamer Boden der klassischen deut-
schen Philosophie, sondern auch der klassischen deutschen Literatur. Die
Kantsche und Hegelsche Ästhetik drücken nur das begrifflich-abstrakte aus,
was die klassische deutsche Literatur war und tat. Und man braucht nur die
einzelnen Stellungnahmen von Marx und Engels zu Kunstfragen durchzusu-
chen, um auch hier darin gemeinsamen Boden zu finden. In Goethe und Hei-
ne suchen sie die Gipfelpunkte deutscher Kunst. In Shakespeare, in Balzac 37
bewunderten sie vollendete, objektive, künstlerische Abspiegelung der ge-
sellschaftlichen Wirklichkeit ihrer Zeit, wobei sie sich selbstverständlich klar
waren, dass die politischen Standpunkte eines Shakespeare und Balzac kei-
neswegs revolutionäre Standpunkte waren.
Die Kantsche und Hegelsche Ästhetik sind idealistisch, wobei wieder zwi-
schen Kant und Hegel der Unterschied besteht, dass die Kantsche Ästhetik
rationalistisch ist, die Hegelsche historisch-idealistisch.
Der Marx-Engelsche Standpunkt der Ästhetik ist natürlich historisch-
materialistisch, oder dialektisch-materialistisch.
Der Unterschied zwischen der idealistischen und der historisch-
materialistischen Auffassung der Kunst: Er bezieht sich auf das Verhältnis
der „Idee“, d. h. der gesellschaftlichen Ideen zur Wirklichkeit, der gesell-
schaftlichen wie der natürlichen. Für allen Idealismus stammt die Wirklichkeit
aus der Idee. Für den historischen Materialismus umgekehrt. Ist die Kunst in
diesem Sinne, d. h. im Sinne ihres Ausgangspunktes „zweckfrei“, so ist sie
aber doch nicht standpunktfrei. Eine allgemeine Orientierung im Klassen-
kampf ist auch für den Künstler unvermeidlich, sei sie ihm bewusst oder un-
bewusst, sobald einmal Klassengesellschaften vorhanden sind. Unter be-
stimmten geschichtlichen Bedingungen kann ein besonderer Klassenstand-
punkt sehr wohl mit den allgemeinen gesellschaftlichen Interessen zusam-
menfallen, dann nämlich, wenn eine bestimmte Klasse wegen ihrer Beson-
derheit führend ist im Kampf um die nächsthöhere politische oder gesell-
schaftliche Form. So etwa die französische Bourgeoisie und die auf ihrem
Standpunkt stehende Intelligenz im 18. Jahrhundert.
Aber es ist nur der Klassenstandpunkt im allgemeinen, der dem Künstler
vorgegeben ist, und von dem aus er die gesellschaftliche oder natürliche
Wirklichkeit sinnlich-anschaulich künstlerisch gestaltet, ausdrückt, abbildet.
Sobald es besondere, konkrete, durch das abstrakte Denken gewonnene
Zwecke sind, mit denen einer an die Wirklichkeit herantritt, um die vorgege-
benen Zwecke in die Wirklichkeit hineinzutragen, so tritt er aus dem Gebiet
der Kunst heraus.
36
Immanuel Kant (1724-1804); mit ihm begann die klassische deutsche Philosophie
37
William Shakespeare (vermutlich 1564-1616), Honoré Balzac (1799-1850)
56 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Das Entscheidende ist der Weg, die Art des Herangehens, im Falle der
Kunst vom Stoff zur Idee, im Falle der Nichtkunst von der Idee zum Stoff,
oder anders: die Kunst gestaltet ihren Stoff primär, die Propaganda sekundär,
oder: die Kunst gestaltet ihren Stoff ausschließlich und durchgehend nach ei-
nem Gestaltungsprinzip: dem der Abbildung der Wirklichkeit mit sinnlich-
anschaulichen Mitteln. Im Falle der Propaganda ist das Gestaltungsprinzip
gebrochen, gemischt, unrein: teils begrifflich-abstraktes Denken, als das Pri-
märe, teils sinnlich-anschauliche Form als das Sekundäre. Kunst trägt so den
Charakter der Ursprünglichkeit, Propaganda den der Abgebildetheit.
Kunst kann propagandistisch wirken, sie kann propagandistisch verwandt
werden. Sie wird umso stärker wirken, je ursprünglicher und reiner ihr Verfah-
ren als Kunst ist. Aber man darf beide, Kunst und Propaganda, nicht mitei-
nander verwechseln oder vermischen. Wo das geschieht, schädigt man auch
die propagandistische Wirkung der Kunst oder Halbkunst.
Ein reiches Anschauungsmaterial liefert die literarische Produktion von Leo
Tolstoi. Er hat beides hervorgebracht, künstlerisches und propagandistisches
Schaffen. Die ersteren haben stark gewirkt nicht nur in Russland, sondern
auch außerhalb und leben weiter. Die letzteren haben in Russland selbst und
außerhalb nur auf einen engen Gelehrtenkreis gewirkt und sind heute tot.
Die unvergleichlich wichtigere Wirkung des Künstlerischen beruht darauf,
dass es auch einer ursprünglichen und einheitlichen Wirklichkeit entspringt,
die selbständig und gleichberechtigt dasteht neben ihrer begrifflich-
gedanklichen Gestaltung.

8. Der schöpferische Künstler und sein Publikum, als


Verhältnis der Identität und des Unterschiedes

Wir betrachten hier das Verhältnis des Künstlers zu seinem Publikum, oder
zwischen Produzenten und Konsumenten der Kunst in seiner vollen Allge-
meinheit, d. h. als ein elementares Verhältnis, das für alle Gesellschaftsfor-
men gilt. Es handelt sich hier um ein grundlegendes Verhältnis, das seiner-
seits nur ein besonderer Fall seines allgemeinen Verhältnisses ist - nämlich
des Verhältnisses der Ideologie einer Gesellschaft oder einer Klasse. Fasst
man Ideologie in dem engeren Sinn, dass es falsches oder verkehrtes Be-
wusstsein ist, so können wir, um eine höhere Allgemeinheit zu erzielen, statt
dessen von gesellschaftlichem Bewusstsein überhaupt sprechen - sei es
ganz oder teilweise verkehrt, sei es richtig.
In der Form des Verhältnisses der Ideologie zu ihrer Klasse haben bereits
Marx-Engels diese Frage in ihrer „Deutschen Ideologie“ 38 behandelt. Dieses
Verhältnis, da es grundlegend und allgemein ist, so gibt es den Schlüssel zu
der Reihe von Erscheinungen, die sonst nicht verstanden werden, im Beson-

38
1845-1847 verfasstes Textkonvolut, hauptsächlich von Karl Marx, assistiert von Friedrich Engels und zeit-
weilig auch von Moses Hess (1812-1875), in: Marx-Engels-Werke Bd. 3, Berlin 1956ff, S. 5-530
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 57

deren auch für das Verhältnis des schöpferischen Künstlers zu seinem Publi-
kum.
Fassen wir die Frage zunächst in ihrer allgemeinen Form.
Die Ideologie einer Gesellschaft, einer Klasse oder Unterklasse erhebt das
zum Bewusstsein, was in der Klasse oder Gesellschaft bewusstlos vorhan-
den ist. In der Gesellschaft oder Klasse ist es vorhanden in der Form der Ein-
zelheit oder Besonderheit, der Ideologe erhebt es in die Form der Allgemein-
heit. Die Form der Allgemeinheit ist in der Form der Einzelheit oder Beson-
derheit enthalten aber sie ist nicht bewusst in ihr enthalten. Das Fortschreiten
von der Form der Einzelheit oder Besonderheit zu der der Allgemeinheit ist
also ein Fortschritt im Grad der Bewusstheit. Dies ist das eigentliche Werk,
die schöpferische Funktion der Ideologen, oder allgemein ausgedrückt, des
geistig-schöpferischen Menschen.
Der Wissenschaftler und Philosoph stellt dies allgemein dar vermittelst des
Begriffes, der Künstler vermittelst sinnlicher Anschauung.
Hegel gibt diesem Verhältnis einen besonderen Ausdruck, indem er sagt,
die Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfasst“. Ebenso könnte man sagen,
die Kunst ist ihre Zeit vermittelst sinnlicher Anschauung erfasst. Für Klassen-
gesellschaften müsste man noch die entsprechenden Besonderheiten an-
bringen, die jeweils das Verhältnis ausdrücken, in wieweit in gegebener Zeit
die oder jene Klasse oder Klassen zu einer bestimmten Zeit die Gesellschaft
im Ganzen ausdrücken oder vertreten. In diesem Verhältnis ist gleichzeitig
eine Identität und ein Unterschied enthalten, der bis zum Gegensatz und Wi-
derspruch fortschreiten kann, Identität dem gesellschaftlichen Inhalt nach,
Unterschied der Form nach. Der Formunterschied ist der der Einzelheit und
Besonderheit, gegenüber der Allgemeinheit, des bloßen Seins zum Bewusst-
sein oder zur Bewusstheit. Als Verhältnis, das zugleich die Identität und den
Unterschied enthält, ist es ein dialektisches Verhältnis.
Indem wir früher die gesellschaftliche Funktion der Kunst betrachteten, ha-
ben wir das Verhältnis nach der Seite der Identität, des gesellschaftlichen In-
halts betrachtet. Wir fassen jetzt dieses selbe Verhältnis nach der Seite des
Unterschieds (der Form) in Betracht. Beide Seiten sind gleich wesentlich.
Viele Schiefheiten und Verkehrtheiten der Auffassung sind dem Umstand ge-
schuldet, dass das Verhältnis nur nach der einen oder der anderen Seite be-
trachtet wird, dass über der Identität der Unterschied, über dem Unterschied
die Identität vergessen wird.
58 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

August Thalheimer - Biographische Skizze

Geboren am 18. März 1884 als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie in


Affaltrach, heutige Gemeinde Obersulm, Württemberg, gestorben am 19.
September 1948 in Havanna.
Er studierte Sprachwissenschaften und Philosophie und promovierte zum
Thema Pronomina der Sprachen Mikronesiens. 1910 trat er der SPD bei. Zu-
nächst arbeitete er als Volontär bei der sozialdemokratischen Leipziger
Volkszeitung, dann als Redakteur bei der Göppinger Freien Volkszeitung
(1911-1912) und beim Braunschweiger Volksfreund (1914-1916). 1914
schloss er sich als Gegner der Burgfriedenspolitik der Linken um Karl Lieb-
knecht und Rosa Luxemburg an, der Gruppe Internationale (später Sparta-
kusbund). 1916 wurde der Kriegsgegner Thalheimer zum Militär einberufen.
Wegen "politischer Unzuverlässigkeit" und Nachtblindheit musste er keine
Waffe tragen und wurde als Armierungssoldat und Dolmetscher eingesetzt.
1918/1919 war er zusammen mit Rosa Luxemburg Redakteur der Roten
Fahne, dem Zentralorgan von Spartakusbund und KPD. 1919 wurde er deren
führender Theoretiker und Chefredakteur von Internationale und Roter Fah-
ne. Bis Ende 1923 war er Mitglied der Parteizentrale, entwarf das Parteipro-
gramm und leitete 1923/24 gemeinsam mit Heinrich Brandler (1881-1967) die
Partei. 1924 wurde die Parteiführung durch die „Ultralinken“ um Ruth Fischer
und Arkadi Maslow abgelöst. Thalheimer und Brandler wurden nach Moskau
ins „Ehrenexil“ eingeladen, wo sie bis Mitte 1928 lebten. Thalheimer fand Ar-
beit im Marx-Engels-Institut bei David Rjasanow (1870-1938) und lehrte als
Professor der Philosophie an der Moskauer Sun-Yat-Sen-Universität. Mit
dem befreundeten Nikolai I. Bucharin (1888-1938) arbeitete er in der Pro-
gramm-Kommission der Komintern.
Anfang 1928 fand eine Geheimkonferenz der Stalin-Führung und der
Thälmann-Fraktion der KPD zur Ausschaltung der so genannten „Rechten“ in
der kommunistischen Bewegung statt. Brandler und Thalheimer setzten ge-
gen den Willen der Führungen von KPD und KPdSU die Rückkehr nach
Deutschland durch. Ende 1928 begannen die Massenausschlüsse in der
KPD gegen viele kritische Marxisten. Etwa 6.500 sammelten sich darauf in
der KPD-Opposition um Thalheimer, Heinrich Brandler, Robert Siewert, Erich
Hausen, Paul Frölich, Rosi Wolfstein, Jakob Walcher, Waldemar Bolze. Thal-
heimer war Mitglied der Reichsleitung der KPD-O, Herausgeber ihrer Zeit-
schriften Gegen den Strom und Arbeiterpolitik.
Die KPD-Opposition kritisierte an der KPD-Politik u. a. deren These, die
Sozialdemokratie sei „sozialfaschistisch“. Dagegen forderte sie die Einheits-
front aller proletarischen Organisationen gegen den Faschismus. Sie lehnte
die Spaltung der überparteilichen Massenorganisationen (Gewerkschaften,
Arbeitersportverbänden, Freidenker) ab, forderte innerparteiliche Demokratie
und lehnte die Bevormundung durch die sowjetische KP ab. Nach dem Spa-
nischen Bürgerkrieg und v. a. nach den Moskauer Prozessen 1936-38 kriti-
sierten sie offen die Sowjetunion und Stalin.
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 59

Thalheimer und seine Familie ging 1933 ins Exil, zunächst nach Paris, ab
1941 nach Kuba und lebte dort unter sehr schwierigen materiellen Bedingun-
gen. Im Exil erarbeitete Thalheimer wichtige philosophische und politische
Manuskripte, von denen große Teile verloren gegangen sind. Nach 1945
wurde ihm die Rückkehr nach Deutschland verwehrt. Er starb am 19. Sep-
tember 1948 in Havanna. Beerdigt wurde er auf dem jüdischen Friedhof in
Guanabacao.
Ausführliche Würdigungen Thalheimers als marxistischer Theoretiker und
kritischer Kommunist und seiner Mitkämpfer sind u. a. in den Arbeiten Theo-
dor Bergmanns nachzulesen:
Theodor Bergmann: Die Thalheimers - Geschichte einer Familie undogma-
tischer Marxisten. Hamburg 2004; Theodor Bergmann: Gegen den Strom -
Die Geschichte der KPD (Opposition). Hamburg 2001; Theodor Bergmann /
Mario Keßler (Hrsg.): Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays.
Hamburg 2000.

August Thalheimer, aufgenommen während der Emigration in Havanna


60 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Theodor Bergmann bei VSA-Verlag Hamburg


kontakt@vsa-verlag.de / www.vsa-verlag.de

 Theodor Bergmann: Die Thalheimers. Geschichte einer


Familie undogmatischer Marxisten 256 Seiten, mit zahl-
reichen Fotos und Dokumenten (2004) - Die Thalheimers
haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine we-
sentliche Rolle in der antimilitaristischen, marxistischen Ar-
beiterbewegung Deutschlands gespielt. Anhand der großen
politischen Veränderungen der Zeit zeichnet Theodor Berg-
mann die Aktivitäten und Geschichte dieser jüdischen Fami-
lie nach. Zu dem frühen Freundeskreis gehörten u.a. Fried-
rich Westmeyer, Clara Zetkin und Rosa Luxemburg. Die Sta-
tionen der Familie spiegeln Brüche und Katastrophen der
deutschen Geschichte, Erfolge und Niederlagen der deut-
schen Arbeiterbewegung wider.

 Helmut Arnold / Gert Schäfer (Hrsg.): "Dann fangen wir


von vorne an" Fragen des kritischen Kommunismus.
Theodor Bergmann zum 90. Geburtstag - 220 Seiten, mit
einer DVD des gleinnamigen Films von Thorsten Fuchshu-
ber, Julia Preuschel, Gabriele Reitermann und Danièle We-
ber (2007). Welches Motto passt besser zu einem auch in
Niederlagen standhaft gebliebenen Marxisten als die im Titel
abgewandelte Engels-Zeile? Aus Anlass von Theo Berg-
manns 90. Geburtstag entstanden, behandelt der Band Fra-
gen, die von der Linken noch lange nicht abschließend be-
antwortet wurden.

 Theodor Bergmann: Im Jahrhundert der Katastrophen. Autobiographie eines


kritischen Kommunisten. 288 Seiten (2000) - Theodor Bergmann wurde am 7.
März 1916 in Berlin als siebtes Kind eines Rabbiners geboren. 1927 trat er dem
Jungspartakusbund und dem Sozialistischen Schülerbund bei. Doch er verließ bald
beide Organisationen, da sie der KPD-Parteilinie unkritisch folgten. 1929 schloss er
sich der Jugendorganisation der soeben gegründeten KPD-Opposition an. 1933,
unmittelbar nach der Machtübergabe an Hitler, konnte er noch sein Abitur machen,
musste aber im selben Jahr emigrieren. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland
schloss er 1946 ein Studium der Agrarwissenschaften ab. Erst 1965 konnte Theo-
dor Bergmann eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität
Stuttgart-Hohenheim aufnehmen, 1973 erhielt er hier eine Professur für Internatio-
nal Vergleichende Agrarpolitik. Zahlreiche Forschungsreisen und sein Engagement
als kritischer Kommunist führten ihn in viele sozialistische und Entwicklungsländer.

 Theodor Bergmann (Hrsg.): ''Klassenkampf & Solidarität'' Geschichte der Stutt-


garter Metallarbeiter. 388 Seiten (2007) - Diese Geschichte der Stuttgarter Metall-
arbeiter vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart verdeutlicht die Be-
sonderheiten vor Ort und stellt überregionale Bezüge her.

 Theodor Bergmann: Rotes China im 21. Jahrhundert. 208 Seiten (August 2004) -
Theodor Bergmann, langjähriger ausgewiesener Kenner Chinas, skizziert die
Hauptlinien der Entwicklung seit der Gründung der Volksrepublik. Er stellt die zent-
August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst 61

ralen Herausforderungen der Gegenwart dar und diskutiert die Zukunftsperspekti-


ven dieses Landes.

 Theodor Bergmann / Wolfgang Haible / Gert Schäfer (Hrsg.): Geschichte wird


gemacht. Soziale Triebkräfte und internationale Arbeiterbewegung im 21.
Jahrhundert. 240 Seiten (2002) - Sozialer Fortschritt und Sozialismus – soziale
und politische Triebkräfte werden in diesem Band diskutiert. Der Niedergang der al-
ten Hauptströmungen der Arbeiterbewegung, von Sozialdemokratie und Stalinis-
mus zwingt die sozialistisch- kommunistische Linke zu einer offenen Debatte über
die Erneuerung des Marxismus und eine politische Strategie, die den veränderten
Bedingungen des Kampfes um soziale und politische Befreiung im 21. Jahrhundert
Rechnung trägt. Die Diskussion dieser Fragen stand im Mittelpunkt einer von mar-
xistischern Sozialwissenschaftlern organisierten internationalen Konferenz. Der vor-
liegende Band dokumentiert die wichtigsten Diskussionsbeiträge.

 Theodor Bergmann: "Gegen den Strom" Die Geschichte der KPD(Opposition).


624 Seiten (2001) - Eine umfassende Geschichte einer der wichtigsten Strömungen
innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung (mit zahlreichen Biographien von
KPD-O-Mitgliedern). Die KPD-O steht für eine alternative Entwicklungsmöglichkeit
der deutschen kommunistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit. Sie hat ei-
nen herausragenden Beitrag zu einer situationsgerechten marxistischen Theorie
und Praxis in den 20er und 30er Jahren geleistet: die erste marxistische Faschis-
mus-Analyse und den Kampf gegen das Führungsmonopol der KPdSU. Sie setzte
sich für die Selbständigkeit der KPD bei kritischer Solidarität mit der Sowjetunion
ein und bemühte sich schon früh um eine Einheitsfront gegen den Faschismus.
Diese Strategie hätte ein Beitrag dazu sein können, die große historische Niederla-
ge der deutschen Arbeiterbewegung 1933 mit all ihren furchtbaren Folgen noch ab-
zuwenden.

 Theodor Bergmann / Mario Keßler (Hrsg.): Ketzer im Kommunismus. 23 biogra-


phische Essays. 472 Seiten (2000) - Dieser Band enthält 23 Essays über undog-
matische, kritische Kommunisten und Sozialisten aus 13 Ländern. Sie wurden zur
Zeit des Ersten Weltkrieges aus der Sozialdemokratie und nach 1924 aus der offi-
ziellen kommunistischen Weltbewegung verdrängt, als Renegaten beschimpft, aus-
gestoßen. Diese Reformkommunisten und Linkssozialisten haben eigenständige
Analysen zur sozialökonomischen und politischen Lage ihrer Länder geliefert, die
marxistische Theorie und die Politik der sozialistischen und kommunistischen Be-
wegung weiterentwickelt, neue Fragen beantwortet. Neben der Darstellung des
theoretischen und politischen Erbes werden in den Essays die wichtigsten Lebens-
daten und historischen Entwicklungen behandelt.

 Theodor Bergmann / Wolfgang Haible / Galina Iwanowa: Friedrich Westmeyer.


Von der Sozialdemokratie zum Spartakusbund – eine politische Biographie.
(1998)

 Theodor Bergmann / Wladislaw Hedeler / Mario Keßler / Gert Schäfer (Hrsg.): Der
Widerschein der Russischen Revolution. Ein kritischer Rückblick auf das
Jahr 1917 und die Folgen. (1997)

 Theodor Bergmann / Mario Keßler / Joost Kircz / Gert Schäfer (Hrsg.): Zwischen
Utopie und Kritik. Friedrich Engels – ein Klassiker nach 100 Jahren. (1997)
62 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

Aus der Reihe Klassiker der Religionskritik bei alibri


verlag@alibri.de / www.alibri.de

Albert Dulk
„Nieder mit den Atheisten!“
Ausgewählte religionskritische Schriften aus der frühen Frei-
denkerbewegung
Herausgeber Heiner Jestrabek
Aschaffenburg-Berlin (1995)

Jakob Stern
Vom Rabbiner zum Atheisten
Ausgewählte religionskritische Schriften
Herausgegeben von Heiner Jestrabek
Aschaffenburg-Berlin (1997)

Rosa Luxemburg
Freidenkerin des Sozialismus
Ausgewählte Schriften zur Religions- und Bürokratiekritik
Herausgeber Heiner Jestrabek
Aschaffenburg (2003)

August Bebel
Die moderne Kultur ist eine antichristliche
Ausgewählte Reden und Schriften zur Religionskritik
Herausgeber Heiner Jestrabek
Aschaffenburg (2007)

August Thalheimer
Ausgewählte philosophische und religionskritische
Schriften
Herausgeber Heiner Jestrabek,
mit einem Vorwort von Theodor Bergmann
Aschaffenburg (erscheint im Herbst 2008)
August Thalheimer
Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst
Ein Versuch

Erstveröffentlichung des vollständigen Manuskripts

Inhalt:

Theodor Bergmann: Editorische Vorbemerkungen………..……………….... 03

Theodor Bergmann: Einführung ………………………………………….……. 04

August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die


Revolution der Kunst. Ein Versuch…………………………………………….. 09

Vorbemerkung
1. Die künstlerische Abbildung
2. Die gesellschaftliche Funktion in der Urgesellschaft
3. Was ist revolutionäre Kunst?
4. Die Rolle der Kunst in der Vorbereitung der bürgerlichen
und der sozialistischen Revolution
5. Die Kunst nach dem Siege der sozialistischen Revolution
6. Der russische Sonderfall
7. Der Unterschied zwischen Kunst und Propaganda
8. Der schöpferische Künstler und sein Publikum als
Verhältnis der Identität und des Unterschiedes

August Thalheimer - Biographische Skizze…………………………………… 58

Theodor Bergmann bei VSA …………………..……………………………….. 60

Klassiker der Religionskritik…………………………………………………….. 62

Impressum, Inhalt ……………………………………………………………….. 63

Impressum:
Herausgeber: Heiner Jestrabek - Verlag: Deutscher Freidenker-Verband
Ostwürttemberg e.V., Hellensteinstr. 3, 89518 Heidenheim
eMail: DFV-Ostwuerttemberg@t-online.de - 1. Auflage 2008

Editorische Ergänzungen: Fußnoten und Biographische Skizze sind zum


besseren Verständnis vom Herausgeber eingefügt. Die Literaturhinweise fol-
gen den Anzeigen der Verlage VSA bzw. alibri.
64 August Thalheimer: Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst

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