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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

WÜRFELSPIEL DES ZUFALLS


Aleatorischer Materialismus – ein politisch-philosophisches Projekt
von Louis Althusser

DUNJA LARISE

Tectum Verlag 2007

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Der aleatorische Materialismus

1. DIE ENTWICKLUNGEN DES DENKENS IM SPÄTWERK

Der Bruch

I nnerhalb von zehn Jahren, beginnend mit 1965, veröffentlichte Louis Althus-
ser seine bekanntesten Werke: Pour Marx und Lire le capital. Unter anderem
wurden in dieser Zeit auch die Werke wie Lénine et la Philosophie, Philosophie
et philosophie spontanée des savants sowie eine Reihe selbstkritischer Texte un-
ter dem Namen Élements d´autocritique publiziert. Seine späteren Veröffentli-
chungen unterscheiden sich von diesen Texten durch ihre selbstkritische Hal-
tung. Althussers Texte nach 1977 sind von einem Moment der Krise gekenn-
zeichnet.
Im April 1977 erscheint in der Tageszeitung Le Monde ein Text, der dieses
Denken der Krise einleitet – Ce qui ne peut plus durer dans le parti communiste.
Er zieht Bilanz über die gegenwärtige marxistische Theorie, die sich nicht mehr
in der Lage sieht den Anforderungen der Praxis zu entsprechen. Fast zu gleicher
Zeit nimmt Althusser in Venedig an einem Kongreß von Il Manifesto teil, wo er
seine, mit Enfin la crise du marxisme betitelte, Rede mit den folgenden Worten
beginnt: „Etwas ist zerbrochen“. Etwas ist zerbrochen in der organisierten Ar-
beiterbewegung, was nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, aber, so
glaubt Althusser zu dieser Zeit, einer Revision unterzogen werden muss.
Im Laufe des Jahres 1978 arbeitet er an einem Text, der während seines Lebens
zum Großteil unveröffentlicht bleibt – Marx dans ses limites. Es handelt sich um
eine Sammlung von Aufsätzen, in denen er angesichts der ihm bewusst gewor-
denen Krise der marxistischen Theorie die Kernprobleme, die er in Lire le capi-
tal und Pour Marx postuliert hatte, wieder aufgreift und erneut behandelt. Ein
guter Kenner der beiden genannten Werke wird vielleicht nach der Lektüre die-

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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

ser Textsammlung überrascht sein, denn darin finden sich einige diametral ent-
gegengesetzte Schlussfolgerungen zu denselben Prämissen.
Was hat zu dieser Wende geführt? War es die immer offensichtlichere Krise der
internationalen Arbeiterbewegung, die durch die schrecklichen Enthüllungen,
die der 20. Parteitag der KpdSU zu Tage brachtei und die die internationale Ar-
beiterbewegung spalteten? Möglicherweise. Warum aber erst 1978, wenn der
20. Parteitag bekanntlich schon 1956 stattfand? Gab es eine Verbindung mit der
persönlichen Krise, die sich in wiederkehrenden Depressionen niederschlug, oft
von auto-destruktiven Phasen begleitet, oder war das ein vielleicht unbewusster
Versuch, wie es Etienne Balibarii als eine Möglichkeit nahe legt, mittels einer
radikalen Kritik des früher Gesagten, es gerade zu unterstreichen bzw. es im
heideggerschen Sinne durchzustreichen, ohne es völlig aufzuheben, indem man
das Durchgestrichene annulliert, ohne sich dadurch seiner Existenz zu entledi-
gen?
Althusser selbst gab uns nie eine direkte Antwort auf die Frage nach seiner
Wende, doch seine Überlegungen über die Bedeutung der Selbstkritik bei Marx,
für die das Nachwort der zweiten deutschen Ausgabe des Kapitals (1. Band)
zum Vorbild wurde, könnten uns vielleicht einige Hinweise zu dem bieten, was
er über die Instanz der Selbstkritik zum Zeitpunkt des Schaffens seiner Haupt-
werke, also Mitte sechziger Jahre, gedacht hatte.
„ … la critique n’est pas pour Marx le jugement que prononce l’Idée (vraie) sur
le réel existant lui – même (soit par un autre réel, soit par la contradiction interne
au réel). Pour Marx, la critique c’est le réel se critiquant lui – même, éliminant
lui – même ses propres déchets, pour dégager et réaliser laborieusement sa ten-
dance, active en lui.”iii
Selbstkritik ist etwas, das Althusser permanent ausübt. Man kann beobachten,
dass sich eine immer weiter vertiefende Selbstkritik wie ein roter Faden durch
sein ganzes Schaffen hindurch zieht und zwar nicht nur unmittelbar auf den vo-
rangehenden Text bezogen, sondern das ganze Werk umfassend. Diese Tendenz
einer permanenten Selbstkritik ist in der Zeit von 1965 – 1975 besonders stark
ausgeprägt. Sie kulminiert in der Schrift Elemente der Selbstkritik, wo er gewis-
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Der aleatorische Materialismus

se Gedankengänge aus seinen früheren Werken wieder aufgreift und revidiert.


Althusser selbst spricht oft über sein Verständnis der Selbstkritik innerhalb der
Theorie, in der er immer wieder die arbiträre Rolle der Praxis in der Beurteilung
der Wahrhaftigkeit einer Theorie betont. Die Praxis bietet den Boden, auf dem
die Theorie ihre Arbeit an den Begriffen aufnimmt.
Doch nach 1977 ist es nicht mehr Selbstkritik, in dem oben zitierten Sinne, die
sein Schaffen dominiert, sondern eine Krise, die in seinem Denken wirksam
wird. Es ist der Gedanke, dass das Reale selbst nicht (mehr) denkbar ist.
In den Texten, die nach 1980 entstanden sind, wird diese Krise durch seine per-
sönliche Tragödie unterstrichen, noch vertieft und mündet schließlich in einer
Theorie des „Materialismus der Begegnung“, später „aleatorischer Materialis-
mus“ genannt, die durch eine antiteleologische Vorstellung von Geschichte do-
miniert wird.
Ganz gewiss sind die Überlegungen über die Ursachen des Bruches von 1977,
die wir angeführt haben, nicht grundlos und höchst wahrscheinlich spielen alle
genannten Elemente eine Rolle im Denken des späten Althusser, doch der
Hauptantrieb für diese Wende ist, meiner Meinung nach, anderswo zu suchen.
Einen weiteren Hinweis gibt uns Althusser selbst, vier Jahre nach Marx dans ses
limites, in einem Textiv, der zur ausschlaggebenden Referenz seines Schaffens
nach 1980 wird. In dieser Abhandlung führt er eine neue Kategorie, die in sei-
nen früheren Werken nur eine Nebenrolle spielte, in das Denken des Politischen
ein– die Kategorie der Kontingenz. In demselben Text, der auch die Hauptrefe-
renz der vorliegenden Arbeit darstellt, erörtert Althusser die Möglichkeit einer
Neufassung der marxistischen Theorie aus der Position eines radikalen Indeter-
minismus, der auch eine immanente Kritik der mythologischen „Metaerzählun-
gen“ der Moderne darstellt.
Der Bruch in der Theorie Althussers steht an der Schwelle eines Zustands, den
wir nach J.F. Lyotard als postmodern bezeichnen können. Althusser diagnosti-
zierte diesen neuen Zustand anhand seiner Symptome zu derselben Zeit; der spä-
te Kapitalismus weitet die Macht der ideologischen Staatsapparate (im folgen-

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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

den ISA) bis zu dem Punkt aus, in welchem keine Differenzierung zwischen
dem Staat und der Gesellschaft mehr möglich wird.
Die Ausbeutung verläuft nicht mehr gemäß einer pyramidenartig aufgebauten
Hierarchie, nicht einmal mehr entlang der Klassengrenzen (die sich ebenfalls in
einem Zustand des Wandels befinden), sondern quer durch das Bewusstsein der
Individuen, die erst durch die ISA als Subjekte berufen und konstituiert werdenv.
Die Macht der ISA weitet sich über alle Ebenen des Gesellschaftlichen und des
Individuellen, deren Grenzen genauso verschwinden wie die der traditionellen
Klassen zugunsten einer schizophrenen Partikularität.vi Daher auch Althussers
Rekurs auf Hobbes und sein Rückblick auf die Determinante dessen politischer
Theorie, gemäß welcher jede Macht absolut ist bzw. das Wesen der Macht,
durch ihren Anspruch absolut zu sein, erst definierbar wird. (Mit diesem Gedan-
ken werden wir uns im zweiten Kapitel näher befassen)
„Etwas ist zerbrochen“ ist keine Feststellung wie jede andere. Um ihrer Bedeu-
tung näher zu kommen, müssen wir uns zunächst mit der Bedeutung ihrer verba-
len Struktur beschäftigen. Wir haben es hier mit der passiven Perfektform eines
aktiven Verbs („zerbrechen“) zu tun. Aus diesem Blickwinkel deutet der Satz
auf eine unwiderruflich verlorene Möglichkeit hin. Die Möglichkeit einer even-
tuellen Wiederherstellung ist genauso nichtig, wie die Erwartung ein zusam-
mengeflicktes Zerbrochenes werde seiner Form und seiner Widerstandsfähigkeit
nach einem unversehrten Ding jemals wieder gleichkommen. Die Betonung des
Satzes liegt in diesem Fall eindeutig auf der Widerstandsfähigkeit.
„Zerbrochen ist die Möglichkeit des Kampfes von Angesicht zu Angesicht“, wie
es im Zusammenhang mit dem althusserschen Bruch Antonio Negrivii feststellt,
und daher auch die Möglichkeit des dialektischen Materialismus als seiner Stra-
tegie. Ebenfalls wird der Bezug auf die Theoretiker des Marxismus der Moderne
bis zur Unmöglichkeit erschwert, zumindest in der Art und Weise, in der er bis
zum Bruch möglich war.
Dieser Bruch bedeutet auf keinen Fall, Althusser hätte die Konzeption der Klas-
sengesellschaft und vor allem des Klassenkampfes aufgegeben (wobei eine
Klassengesellschaft für ihn immer Klassenkampf bedeutet). Das ist im Gegenteil
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Der aleatorische Materialismus

eine Sache, an der er nie öffentlich zweifelte, doch der postmoderne Definitions-
rahmen der Klasse verschob sich bis an die äußersten Grenzen ihrer Definier-
barkeit; eine Verschiebung, der sich Althusser bewusst war.
Der dialektische Materialismus als eine Kritik der politischen Ökonomie der
Ausbeutung basierte auf einer positiven, sogar einer konstitutiven Eigenschaft
der Krise für die Überwindung der Bedingungen der Reproduktion der Exploita-
tionssysteme, vor allem in der Etablierung einer klar definierten Kampfstrategie,
die, die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nutzend,
sich zu einem endgültigen Ziel (der Geschichte) durchzukämpfen in der Lage
sah: der Abschaffung des Staates als Inbegriff der Repression und ihrer Legiti-
mation. Die veränderten Bedingungen des Klassenkampfs stellten diese Eigen-
schaft der Krise in Frage und mit ihr auch die gesamten bisherigen Strategien
des Klassenkampfes, die unter dem gemeinsamen theoretischen Nenner des dia-
lektischen Materialismus standen.
Althusser verstand sehr wohl, dass die Ursache der Krise des Marxismus nur in-
nerhalb der marxistischen Theorie zu suchen ist, die sich unfähig zeigte, „ihre
eigene Geschichte zu verstehen“viii und sich einer grundlegenden Selbstkritik zu
stellen. Doch er glaubt zu diesem Zeitpunkt (1978) noch an eine Möglichkeit der
Korrektur und Revision und an eine Möglichkeit der positiven Nutzung der Kri-
se für die Arbeiterbewegung. „…enfin la crise a éclate! Enfin elle devient vi-
sible pour tous! Enfin un travail de correction et de révision est possible!”ix
Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den wir noch weiter verfolgen müssen, wenn
wir den Schlüssel für das Verständnis seiner Texte nach 1980 finden wollen. Die
Ursachen der Krise sind also in der marxistischen Theorie zu suchen und aus
diesem Grund muss gerade sie einer kritischen Prüfung unterzogen werden. „Je
pose donc la question limite (la plus difficile est toujours la meilleure question):
que pouvons – nous donc aujourd’hui retenir de Marx, que soit vraiment essen-
tiel a sa pensée, et qui n’a peut – être (et sûrement) pas toujours été bien com-
pris?”x
Seine Bemühungen, die marxistische Theorie richtig zu verstehen und demnach
auch von dem, was in ihrer Geschichte missverstanden wurde, zu befreien, kön-
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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

nen leicht missdeutet werden. Seit dem Tod von Marx versuchten einige seiner
Zeitgenossen und Mitstreiter, mit Engels beginnend, die Originalität seines
Denkens vor den Missverständnissen seiner Nachfolger zu retten und gingen da-
bei nicht selten selbst am Kern seiner Gedanken vorbei. Althusser versucht nicht
die marxistische Theorie „richtig“ zu verstehen, um sie den eigenen Vorstellun-
gen nach revidieren zu können, er versucht sie einer kritischen Prüfung der Zeit
zu stellen, um sie überlebensfähig zu machen. Und mit diesem Vorhaben steht er
sicherlich nicht alleine.
Doch die althussersche Kritik der marxistischen Theorie unterscheidet sich von
einer besonders im Westen dominanten linken Kritik vor allem dadurch, dass
man bei ihr nie eine Kompromissbereitschaft mit der Theorie der politischen
Ökonomie der Ausbeutung findet. Sie überprüft die marxistische Theorie auf ih-
re Mängel, als Mängel einer Waffe im Kampf und nicht nach ihrer Flexibilität
oder Anpassungsfähigkeit, die sie dem Spätkapitalismus gegenüber zeigen
könnte (daher auch die Kritik am Prager Frühling und an ähnlichen revisionisti-
schen Versuchen). In dieser kritischen Prüfung ist Althusser kompromisslos. In
der ganzen marxistischen Theorie gibt es zwei Punkte, zu welchen er sich nach
wie vor bekennt: den Klassenkampf und die repressive Rolle des Staates. Anders
steht es mit einer weiteren Kernfrage des Marxismus – der Verbindung zwi-
schen marxistischer Theorie und revolutionärer Bewegung. Sie markiert die
Richtungsänderung im althusserschen Denken nach 1977.
In der Periode seines Schaffens, die er selbst als theoretizistisch bezeichnete und
die teilweise auch seine Hauptwerke von 1965 (Lire le Capital und Pour Marx)
kennzeichnet, behauptet Althusser, die marxistische Theorie sei der Arbeiterbe-
wegung äußerlich. Außerhalb entstanden, wurde sie durch proletarische Intel-
lektuelle in die Arbeiterbewegung eingebracht. Besonders deutlich wird dieser
Gedanke in einem Text aus dem Jahr 1965 mit dem Titel Théorie, Pratique
théorique et Formation théorique. Idéologie et lutte idéologique formuliert.xi
In Marx dans ses limites stellt er allerdings eine genau entgegengesetzte Be-
hauptung auf. „La théorie marxiste n’est pas extérieure mais intérieure au mou-
vement ouvrier.”xii
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Der aleatorische Materialismus

Woher diese radikale Änderung des Standpunktes in einer so bedeutenden Fra-


ge?
Althusser selbst besteht nun vehement auf einem Engagement von Marx genau-
so wie Engels in der Arbeiterbewegung, uzw. nicht in der Rolle unabhängiger,
der Arbeiterbewegung äußerlicher Intellektueller, sondern in jener aktiver Mit-
streiter. Er versucht die Person von Marx in der Arbeiterbewegung zu veran-
kern, um seine These von der Immanenz der Theorie zu stärken. Eine organische
Verbindung zwischen Marx, einen bürgerlichen Intellektuellen, der sich ent-
scheidet „mit offenen Augen zu leben“, und der organisierten Arbeiterbewe-
gung, ist aus diesem Blickpunkt unerlässlich. Marx ist sicher nicht der erste, der
über den Klassenkampf spricht, er ist aber der erste, der es auf einer neuen
Grundlage tut, nämlich auf jener des dialektischen Materialismus, der nur einer
Praxis des organisierten Klassenkampfes entspringen konnte.
Seine früheren Probleme und die der anderen Theoretiker des Marxismus, vor
allem Lenins, die Immanenz der Theorie in der organisierten Arbeiterbewegung
zu behaupten, führt Althusser auf Karl Kautsky zurück, der als erster ein Neben-
einander von sozialistischem Bewusstsein und Arbeiterbewegung unterstellte. „
... la Conscience socialiste serait le résultat direct, nécessaire, de la lutte de
classe prolétarienne. Or cela est entièrement faux. ... Mais le socialisme et la
lutte des classes surgissent parallèlement et ne s’engendrent pas l’un l’autre. La
conscience socialiste d’aujourd’hui ne peut surgir que sur la base d’une pro-
fonde connaissance scientifique.“xiii
Althusser liegt es sehr am Herzen, die Unrichtigkeit einer solchen Betrach-
tungsweise zu beweisen und er versucht dies mit folgender Argumentation: Die
These von einem Import der Theorie kann deshalb nicht bestehen, weil sie ers-
tens den bürgerlichen Vorstellungen einer Teilung des Wissens entlang der
Klassengrenzen entspricht und zweitens der Arbeiterbewegung die Fähigkeit ei-
ner intellektuellen Reflexion verweigert. Diese Argumentation überzeugt nicht
völlig, weder im Vergleich mit der Argumentation von Kautsky, noch im Ver-
gleich mit seinen eigenen früheren Thesen, weil er diesmal auf eine ideologische
Argumentationsweise zurückgreift.
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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Es ist unwahrscheinlich, dass sich Althusser der Schwäche seiner Argumentati-


on nicht bewusst war, trotzdem besteht er auf diesem Terrainwechsel. Dafür gibt
es sehr wichtige Gründe. Wenn man die Krise des Marxismus als Krise seiner
Theorie definiert (was er jedenfalls tut), dann gibt es mindestens zwei Wege mit
diesem Problem umzugehen. Der erste wäre, die marxistische Theorie von der
Arbeiterbewegung abzukoppeln, indem man sie als einen, von Anfang an impor-
tierten Fremdkörper diffamiert, und ihre Krise auf ihre Fremdheit mit der Praxis
der Arbeiterbewegung zurückführt, und dadurch die Arbeiterbewegung von je-
der Mitschuld an der Krise der Theorie freispricht. In diesem Fall würde sich
aber zwingend die Konsequenz ergeben, dass die Arbeiterbewegung von ihrem
Anbeginn an mit einer fremdartigen bourgeoisen Theorie eine eigene Kampf-
praxis aufbauen wollte und offensichtlich unfähig war dieser Falle zu entkom-
men, anstatt im Gegenteil eine eigene Theorie zu bilden, die als Resultat ihrer
eigenen Kampfpraxis entstehen müsste.
Althusser selbst wählte einen zweiten Weg indem er glaubte, dass eine Theorie
sich immer im Anschluß an eine Praxis bildet und nicht umgekehrt. Eine Theo-
rie des Imports der marxistischen Theorie von außerhalb würde in diesem Fall
zu einem offensichtlichen Paradox werden, oder noch schlimmer, das wahre
Herz der marxistischen Theorie, die Fähigkeit der Arbeiterklasse ein eigenes
Bewusstsein als Klasse zu erlangen, gefährden. Daher muss die Theorie der Ar-
beiterbewegung immanent sein und nicht von außen importiert. Aus dieser Ar-
gumentationsfolge ergibt sich aber auch die Tatsache, dass die Krise der marxis-
tischen Theorie der Praxis der Arbeiterbewegung immanent sein muss und dass
ihr die Konsequenzen dieser Krise nicht erspart werden können.
Doch Althusser ist optimistisch. Er glaubt immer noch an eine Möglichkeit der
positiven Nutzung der Krise. Warum? Weil er zu dieser Zeit noch an die Stärke
der internationalen Arbeiterbewegung glaubt. Das ist der einzige Grund für sei-
nen Optimismus zur Zeit einer ihm immer bewusster werdenden Krise.
„Il ne s’agit pas même de parler de la crise de marxisme comme on tirerait une
sonnette d’alarme. Nous pouvons aujourd’hui, á cause de la force de mouvement
ouvrier et populaire dans le monde, oui, á cause de sa force, en dépit de ses très
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Der aleatorische Materialismus

graves contradictions, parler positivement et de sang – froid, de la crise de mar-


xisme, pour nous libérer enfin de ses causes connue, pour commencer du moins
a les connaître pour nous en libérer.”xiv
Heute, 25 Jahre später, sind wir Zeugen des weltweiten Zusammenbruchs der
organisierten Arbeiterbewegung. Es scheint, dass die Macht des ISA, des
Spätkapitalismus ihren globalen Triumph feiert, in welchem der dialektische
Materialismus nur ein metaphysischer Mythos unter anderen Mythen war.
Im Laufe der achtziger Jahre, die im Allgemeinen durch eine rapide Schwä-
chung der Arbeiterbewegung und durch die Auflösung des Realsozialismus ge-
kennzeichnet waren, verschwand der Optimismus aus den Texten Althussers. In
diesen Jahren entwickelt er eine neue Theorie der Geschichtlichkeit und des Ma-
terialismus. Er verließ eine deterministisch postulierte politische Theorie des
Klassenkampfes, die er dem dialektischen Materialismus unterstellte und begab
sich auf die Suche nach einer in der Geschichte des Abendlandes lange verkann-
ten Tradition eines anderen, antiteleologischen Materialismus, den er zuerst un-
ter dem Namen „Materialismus der Begegnung“ und später als „aleatorischer
Materialismus“ in die politische Theorie einbrachte.

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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Das Konzept des aleatorischen Materialismus

„Telle est le premier point que, découvrant d´emblée ma thèse essentielle, je


voudrais mettre en évidence: l´existence d´une tradition matérialiste presque
complètement méconnue dans l´histoire de la philosophie: le ´materialisme´... de
la pluie, de la déviation, de la rencontre, et de la prise.“ xv
In der Geschichte der abendländischen Philosophie gibt es eine Tradition, die als
ein immer verkannter Gegenpol zur herrschenden Philosophie ihre Existenz im
„Untergrund“ fristet. Auf diese Tradition kommt Althusser als Materialismus
einer besonderen Art zu sprechen, nämlich als den einer Begegnung „donc de
l‘aleatoire et de la contingence, qui s‘oppose comme une tout autre pensée aux
différentes matérialismes recensés ...“.xvi
Diese Philosophie steht historisch im Schatten einer anderen philosophischen
Tradition, die sich seit ihrem gemeinsamen Beginn als vorherrschend etablierte.
Um den Begriff des Materialismus, jeden Materialismus und so auch den des
aleatorischen zu begreifen, muss man mit „der Wissenschaft des Begriffes“ be-
ginnen – mit der Philosophie. Gleichzeitig mit ihrer Geburt setzt auch die Arbeit
an ihrer Klassifizierung ein und diese begleitet die Entstehung jeder Wissen-
schaft im antiken Griechenland.
Man kann sogar zu sagen wagen, dass die Entstehung des dichairetischen Denk-
systems, das eine Klassifizierung der Wissenschaften ermöglichte und die Ent-
stehung der Wissenschaften selbst, so wie wir sie heute definieren, bedingten
sich gegenseitig. Das dichairetische Denksystem ist eine Einteilung der Ordnung
„Genus proximum per differentiam spezificam“, und man findet es zum ersten
Mal bei Platon völlig ausgearbeitet. Ist es aus diesem Aspekt dann überraschend,
dass viele Theoretiker, unter ihnen auch Althusserxvii, den Beginn der abendlän-
dischen Philosophie mit dem Beginn der klassischen Periode der griechischen
Philosophie und Platon selbst gleichsetzen?

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Der aleatorische Materialismus

Die Neuheit bei Platon war nicht nur seine Methode, sie prägte auch seinen Ge-
genstand. Er war der erste, der die Frage nach dem Nous der vorklassischen Phi-
losophen mit der Frage nach dem Logos austauschte und dadurch auch die Frage
nach dem Wesen der Dinge aufwarf, die noch Jahrhunderte nach seinem Tod die
abendländische Philosophie beherrschen wird und zu ihrer vorherrschenden Fra-
gestellung, sogar zum Inbegriff ihres Gegenstands wurde.
Die dominante Strömung des abendländischen Denkens war, und ist es zum Teil
immer noch, eine logozentrische Philosophie, deren Definition in der Funktion
des Logos besteht, und deren Aufgabe die Suche nach dem Sinn jeder Realität
ist.
Wir können nun den Unterschied zwischen zwei Strömungen, von welchem
Althusser ausgeht (der dominanten logozentrischen Philosophie des Abendlan-
des einerseits und dem unterirdischen Strom des Materialismus der Begegnung
anderseits) in seiner ganzen Deutlichkeit sehen.
Der Materialismus der Begegnung gründet auf einer Philosophie, die „ ...n’est
plus énoncé de la Raison et de l’Origine des choses, mais théorie de leur contin-
gence ... Toute question d’Origine est récusée, comme toutes les grandes ques-
tions de la philosophie ...“xviii
Der Ursprung der Philosophie ist wie der Ursprung der Welt nicht in einem ge-
regelten System bzw. in einer Ordnung der besonderen Art, die es zu entdecken
gilt, zu suchen, sondern schlicht und einfach im Nichts. Am Anfang gab es
nichts, und es gibt keinen Anfang vor dem Anfang. Der Anfang ist viel mehr ei-
ne Sache des theoretischen Konsenses, der im Nachhinein etabliert wird, um die
Kette der Kausalität und des historischen Ereignisses aus dem Nichts zu formen,
„il n’y a pas de commencement, parc qu’il n’a jamais rien existé, avant quoi que
ce soit“.xix
Die Philosophie, die mit nichts beginnt, ist auch durch keinen äußeren Gegen-
stand bedingt. Ihre Dominanten entwickeln sich mit den geschichtlichen Um-
ständen, zu welchen sie gezählt werden. Sie werden durch sie determiniert, aber
nur in letzter Instanz. Das heißt, dass der Gegenstand der Philosophie relativ au-
tonom ist, letztendlich aber durch das Spiel der gesellschaftlichen Verhältnisse
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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

determiniert wird. Ihre absolute Autonomie würde eine Abkoppelung von der
Realität des Seins bedeuten und folglich auch eine transzendente Determinante
sein, was wiederum nichts anderes wäre als eine Bestimmung außerhalb der Ka-
tegorien der Praxis – folglich ein Idealismus.
Die Geschichte ist kein Weg zu einem Ziel, sondern „n’y est que la révocation
permanente du fait accompli par un autre fait indéchiffrable á accomplir ...“xx
Unter diesen Umständen kann ihr Gegenstand alles sein, alles und nichts. Sie
wird keinem festgelegten Objekt zugeordnet, sie entleert vielmehr jedes Objekt,
dem sie zugeordnet wird bis zu dem Maße, dass jedes beliebige Objekt, in jedem
Augenblick kontingent, eine gleiche Wertstellung in seinem entleerten Objekt-
sein der Philosophie besetzen kann.
Als eine Philosophie der Leere und als Leere selbst fällt die Philosophie mit ih-
rem Gegenstand zusammen. Erst dadurch bekommt sie auch ihre Existenz.
“On aura ainsi remarqué que cette philosophie est en tout et pour tout une philo-
sophie du vide: non seulement la philosophie, qui dit que le vide préexiste aux
atomes qui tombent en lui, mais une philosophie qui fait le vide philosophique
pour se donner l’existence...“xxi
Nach Althusser ist die Definition des Materialismus der Begegnung am besten
in bestimmten Interpretationen des Heideggerschen „es gibt“, das auch ein „es
gab immer schon“ und ein „es gibt nicht“ beinhaltet, wie in der Vorgängigkeit
jeder Sache vor jedem Ursprung, die auch im „Primat der Positivität über die
Negativität“ (Deleuze) oder im „Primat der Dissemination über das Setzen des
Sinns“ (Derrida) zu finden ist.xxii
Ist das noch immer als Materialismus zu bezeichnen?
Die Arbeit an der Klassifikation der Philosophie begann, wie wir gesehen haben,
mit dem Beginn der Philosophie selbst, und nahm in den verschiedenen ge-
schichtlichen Epochen verschiedene Formen an. Friedrich Engels unterschied
zwischen einer „idealistischen“ und einer „materialistischen“ Philosophie mit
dem Ziel, der marxistischen Philosophie ein nominalistisches und praktisches
Fundament zu geben, vor allem aber um sie von der feindlichen und vorherr-
schenden bürgerlichen Philosophie abzugrenzen. Die materialistische Philoso-
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Der aleatorische Materialismus

phie sollte ein Primat der Praxis über die Theorie sowie eine radikale Immanenz
bezeichnen, wogegen eine idealistische Philosophie eine Philosophie des We-
sens, der Transzendenz und des Primats der Vernunft ist.
Die Begriffe des Materialismus und des Idealismus wurden zu Grundtermini der
marxistischen Philosophie, mit welchen sie ihre Identität aufbaute. Die von En-
gels eingeführten Bezeichnungen waren zwar neu, die auf ihnen gründende
Klassifikation aber nicht. „Wir sind alle Nominalisten“, würde Foucault sagen,
um jenen Gestus zu bezeichnen, der dem kritischen Intellektuellen erlaubt, sich
von vorgefertigten Kategorien und vorgegebenen Erzählungen zu trennen.
Der Nominalismus bezeichnet jene philosophische Anschauung, die im 11.
Jahrhundert die Bühne der Geschichte betrat und die behauptete, die Universali-
en, d.h. die Allgemeinbegriffe seien nichts anderes als menschliche Überein-
künfte, Zeichen, die außerhalb des Denkens d.h. außerhalb der Praxis, nichts zu
besagen haben. Die Realität, deren Signifikanten sie darstellen, lässt sich nur
durch die Praxis verifizieren und nicht umgekehrt, im Gegensatz zu den Realis-
ten, die die Universalien „ante rebus“ stellten, also in eine Konstellation, in wel-
cher die Vernunft das Reale determiniert. Der Nominalismus geht auf die Kyni-
ker und Stoiker zurück, allein der Name entstand zur Zeit der Scholastik.
Die Philosophie, die wir seit Engels materialistische nennen, hat eine lange Vor-
geschichte, die sich nicht nur im Rahmen des Abendlandes abspielte. Nehmen
wir als Beispiel nur einige Schulen des Buddhismus, die von Althusser selbst
unter dem Überbegriff Zen (nicht zu Unrecht) in seinen Stammbaum der aleato-
rischen Materialisten miteinbezogen wurden. Es besteht sogar eine erstaunliche
Parallele zwischen dem Materialismus der Begegnung und manchen Texten des
frühen Buddhismus, besonders des Sunnata-loka-suttamxxiii oder der Dialektik
der Leere Nagarjunasxxiv, wie auch zu den Arbeiten der buddhistischen Philoso-
phen des 20. Jahrhunderts, vor allem Nishidasxxv. Auf derselben Trennlinie einer
philosophischen Unterscheidung, auf welcher sich die Begriffspaare wie Materi-
alismus und Idealismus oder Nominalismus und Realismus umkämpft hatten,
beruht auch die althussersche Unterscheidung zwischen dem aleatorischen Ma-
terialismus und „dem ganzen Rest“. Der dialektische Materialismus, der sogar
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Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

für Althusser selbst lange Zeit der Inbegriff einer Philosophie der Praxis war,
versäumte es seine materialistische Basis zu bewahren und wurde zu einer Theo-
rie der Teleologie, zum Idealismus selbst. In der Suche nach einer Tradition des
Materialismus der Begegnung, den Althusser nun als einzig wahren Materialis-
mus betrachtet, bezieht er sich auf verschiedene Quellen, von Epikur bis Deleu-
zexxvi, jedoch nie direkt auf die Stoiker (als Antireferenz) oder ganz selten auf
die Nominalistenxxvii, genauso wenig wie auf die dialektischen Materialisten o-
der auf Marx selbst, obwohl die Beziehung durch „eine symptomatische Lektü-
re“xxviii ohne Zweifel herausgelesen werden könnte. Der Bezug auf den dialekti-
schen Materialismus ist nicht mehr möglich, und der Bezug auf Marx selbst ist
höchst ambivalent geworden. Althusser entdeckt zu dieser Zeit zwei Denkpfade
bei Marx, einen, der in der Tradition eines antiteleologischen Materialismus
steht und einen zweiten, der im Zeichen einer deterministischen Dialektik steht.
Dieses Verhältnis wird noch ausführlicher behandelt werden.
Wenn wir diese Denktradition des Materialismus im Auge behalten, können wir
auch unsere Frage, die auch die von Althusser ist: „Est-ce encore du matérialis-
me?“xxix beantworten. Ja, unter der Bedingung, dass man die überlieferten Ein-
teilungen und ihre Nomenklaturen in der Philosophie bis zu einem gewissen
Maße akzeptiert, bis zu dem Zeitpunkt, wo man sie als provisorische Hilfsmittel
nicht mehr braucht.xxx „ ...il faut bien savoir ... que ce matérialisme de la ren-
contre échappe aux critères classiques de tout matérialisme, et qu’il faut bien un
mot pour désigner la chose”xxxi, und weiter: „Nous dirons que le matérialisme de
la rencontre n’est dit matérialisme que par la provision, pour bien sentir son op-
position radicale á tout idéalisme de la conscience, de la raison, qu’elle qu’en
soit la destination.”xxxii
Ich glaube es ist nicht weit hergeholt, den Materialismus der Begegnung als ei-
nen Begriff der Differenz zu bezeichnen, die ein Raum zu besetzen hat, in wel-
chem sich ein bestimmter Denkprozess entwickelt, der eher durch eine radikale
Absage an den Idealismus bestimmt ist als durch eine Affirmation der positiven
Bestimmungen des eigenen Begriffes, der gerade durch die Negation konstituiert

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Der aleatorische Materialismus

wird. Es fällt eine Parallele mit der „differance“ von Derridaxxxiii auf, die weder
ein Begriff noch ein Wort ist, sondern ein Raum der unbestimmten Potenz.
Der aleatorische Materialismus wurde durch die Geschichte der Philosophie
hindurch verkannt, und wenn doch erkannt, nie beim Namen (als Materialismus)
genannt, sondern als ein „Idealismus der Freiheit“xxxiv verkleidet. Warum? Viel-
leicht, weil sich die Theorie mit der Schwierigkeiten konfrontiert sah, ein Den-
ken, das Althusser selbst nicht restlos als Materialismus bezeichnen könnte, in
die Schubladen des abendländischen Denkens einzuordnen. Vielleicht aber auch
aus einem anderen Grund. Der aleatorische Materialismus war in der Geschich-
te nicht nur verkannt, sondern vielmehr unterdrückt, weil zu gefährlich.
Althusser führt diese Behauptung nicht weiter aus. Wenn wir aber versuchen sie
weiter zu denken, könnten wir zu einem der Kernpunkte seines Denkens gelan-
gen – nämlich dazu, dass die Philosophie nichts anderes ist als die Politik
selbst. Aus dieser Perspektive erscheint die Subversivität der Philosophie wie
auch die Bedrohung, die sie potenziell darstellen könnte, zum ersten Mal real.
Die Politik ist kein Wesen der Realität, sondern das Wesen der Praxisxxxv. Sie ist
Kampf, oder, mit Machiavelli gesprochen, discordo.
Althusser nimmt also selbst eine Einteilung der Philosophie vor, in der er auf die
eine Seite den aleatorischen Materialismus stellt (der den einzig wahren Mate-
rialismus darstellt) und auf die andere jene Denkrichtungen, die in ihrem Kern
nichts anderes sind als eine mehr oder weniger versteckte idealistische Rechtfer-
tigung der Macht. Zu diesen ist auch jede Denkrichtung zu zählen, die einer ra-
tionalistischen Tradition entstammt, insbesondere der dialektische Materialis-
mus als eine der Figuren des Idealismus.
Die wahrhaftig materialistische Philosophie muss jeden teleologischen Horizont
zerstören, um die Rolle des Menschen im geschichtlichen Prozess richtig verste-
hen zu können oder, wie es François Matheron im Anschluß an Althusser treff-
lich definierte: „le philosophie matérialiste est celui qui‚ prend le train in mar-
che’, tandis que le philosophie idéaliste prend le train á la gare de départ, et y
demeure jusque-là gare de destination.“xxxvi

16
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Der Mensch ist kein Subjekt der Geschichte, sondern ein Subjekt in der Ge-
schichte. Daraus definiert sich die Rolle der Philosophie als die einer Arbeit an
der Befreiung des Subjekts aus einer deterministischen Sackgasse.
Dieses Denken, in all seiner Radikalität, wurde zum ersten Mal in einer Textrei-
he, die im Jahre 1982 und danach entstand, in eine geschlossene schriftliche
Form gebracht, doch die Prämissen und Kerngedanken, die in diesen Texten, vor
allem im CSMR, in ihrer vollen Klarheit entfaltet sind, finden wir bereits in sei-
nen früheren Texten. Einem von ihnen gilt unser besonderes Interesse: dem
Werk Für Marx. In diesem Buch können wir bereits eine Gedankenkette vorfin-
den, die eine aleatorische Denklinie voraussetzt und sich um die Begriffe der
Determinierung in letzter Instanz abspielt.
Im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie entwirft Marx eine Metapher,
einen Begriff, der weitreichendere Folgen für die marxistische Theorie haben
wird als irgendein anderer: die Metapher von Basis und Überbau. Demnach wird
das Bild der Gesellschaft mit einem Gebäude verglichen, das aus einer Basis
und Formen des Überbaus besteht. Die Basis ist die ökonomische Basis, die das
Dasein der Überbauformen in letzter Instanz determiniert. Diese Metapher wur-
de theoretisch oft missbraucht (besonders im Vulgärmarxismus), um eine abso-
lute Dominanz der Ökonomie über alle anderen gesellschaftlich–politischen
Ebenen auszumalen, die den Überbauformen jedes eigene Dasein absprechen.
Es ist Engels, der sich gegen eine solche Leseart stellt: „Es ist nicht, daß die
ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wir-
kungen. Sondern es ist eine Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter In-
stanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit“.xxxvii
Althusser fügt dem Basis–Überbau Schema ein neues Element hinzu: das der
Instanz. Er charakterisiert jede Ebene dieses Gebäudes als eine Instanz. Das Ge-
bäude bei Althusser bleibt aber nicht unbeweglich. Die verschiedenen Instanzen
sind keine von vornherein etablierten Kategorien, sondern vielmehr die Kräfte,
die um die Besetzung ihrer Rollen in der Hierarchie der Instanzen miteinander
konkurrieren und sich gegenseitig bekämpfen, wodurch sich auch an sonst leere
Instanzen erst als solche etablieren. Die Topik der marxschen Metapher kann bei
17
Der aleatorische Materialismus

Althusser nur noch als eine Topik der leeren Orte überleben, die durch die Pra-
xen beansprucht werden.xxxviii
Die Struktur der gesellschaftlichen Ordnung ist dennoch eine hierarchische
Struktur. Sie steht unter einer dominanten Praxis, nur ist die Dominante keine
substantielle Eigenschaft einer Praxis, sondern ein Ort, den es zu besetzen gilt.
Jede gesellschaftliche Struktur ist eine „Struktur mit Dominante“xxxix. Diese
Struktur besagt aber nicht von vornherein, welche Praxis die dominante Rolle
besetzen wird. Die Besetzung ist vielmehr aleatorisch.
Überträgt man diese Formel auf die Ideologie, wie es Althusser in dem berühm-
ten Text über die ISA tut, erkennt man, dass die Ideologie ebenfalls dem Zufall
des Kampfes angehört und zwar als eine die gesellschaftlichen Verhältnisse be-
stimmende Struktur. Sie artikuliert und durchzieht die politisch umkämpften
Räume auf eine Art und Weise, die letztendlich nur durch den Zufall des Kamp-
fes immer neu bestimmt wird.
Der Übergang zum aleatorischen Materialismus als einer bestimmenden Struktur
des gesellschaftlichen Ganzen geht mit der Verschiebung der Produktionsweise
in der nachmodernen Gesellschaft einher, die die Produktion der ökonomischen
„Basis“ von einer materiellen zu einer immateriellen verlagert. Das bedeutet auf
keinen Fall, dass es so etwas wie industrielle Produktion nicht mehr gibt, es be-
deutet lediglich, dass sie ihre Rolle als Basis der gesellschaftlichen Produktion
zu Gunsten einer Produktion von Dienstleistungen aller Art immer mehr ein-
büßt. Es bedeutet auch nicht, dass die Realität der ökonomischen Exploitation zu
Gunsten einer abstrakten oder vergeistigten Ausbeutung verschwindet, sondern
dass sich die Grenzen der ausbeuterischen Praktiken so massiv ausweiten, dass
sie jeden Aspekt der menschlichen Existenz unmittelbar einschließen.
Wie wir bereits erwähnt haben, beseitigt die spätkapitalistische Totalität der
Macht jede Art von Theorie die auf dem Spiel (Kampf) der Gegensätze aufbaut.
Hier liegt auch der Unterschied zwischen den Schlussfolgerungen, die die Defi-
nition des dialektischen Materialismus aus dem Für Marx und der radikalen
Modifizierung der Definition des Materialismus aus den Schriften nach 1980
ausmachen. Die Kohärenz der kapitalistischen Herrschaft und die Subsumtion
18
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

der Gesellschaft unter das Kapital lässt die Totalität der ideologischen Kontrolle
sichtbar werden, in dem der Raum für die Differenzierung unterschiedlicher
Praxen spurlos verschwindet. Der Widerstand liegt nicht außerhalb der Totalität
der Herrschaft, er ist ein vereinzeltes, inselhaftes Ereignis, eine Singularität in
der Totalität. Daher auch die Unmöglichkeit von Massenbewegungen, die zur
Zeit des industriellen Kapitalismus die ganze Macht und alle Hoffnung des
Kommunismus und Sozialismus darstellten.
Die „Produktivkräfte“ und die „Produktionsverhältnisse“ haben die Basis ihrer
dialektischen Beziehung eingebüßt – ihre Unterscheidbarkeit.
Einzig der Zufall des Ereignisses, seine aleatorische Natur lässt eine offen ste-
hende Möglichkeit des Eingreifens der Singularität in eine leere Totalität beste-
hen, die dennoch dicht gefügt ist. „Wenn wir das Zentrum (der kapitalistischen
Gesellschaft) analysieren, dann werden wir entdecken, daß es einem leeren Ort
gleichkommt. Der Staat, die politischen Parteien und die ideologischen Produ-
zenten des Seins sind in ihm zusammengefaßt: es hat allerdings jede Konsistenz
eingebüßt: es stellt ein Loch dar, das nur noch die Ideologie möglich macht.“xl
Wenn Philosophie ein Kampfplatz ist, und das ist sie nach der letzten von drei
prägnanten Definitionen, die Althusser für sie entwirftxli, dann kann ihr Gegen-
stand nichts anderes sein als die Leere selbst, in welcher jeder Würfelwurf mög-
lich ist. „Si les atomes d’Epicure qui tombe en une pluie parallèle dans le vide,
se rencontrent, c’est alors pour bien faire reconnaître, dans la déviation que pro-
duit le clinamenxlii, l’existence de la liberté humaine dans le monde même de la
nécessite.“xliii
Die Leere ist notwendig, um die Offenheit des Möglichen in einer aleatorischen
Welt, die keine Sicherheit bietet, außer der, dass es keine Sicherheit gibt, zu ga-
rantieren. Die aleatorische Formel besagt, dass es in der Welt nichts gibt als
Leere und Begegnung der Elemente in ihr, die jederzeit möglich ist. Im Feld des
absolut Möglichen erübrigt sich jeder Begriff der Sicherheit. Eine Begegnung,
die in einem Moment stattfindet, kann sich im nächsten gleich wieder ins Nichts
auflösen oder nur eine unbestimmte Zeit von Dauer sein. Ihr Entstehen, genauso
wie ihr Vergehen, ist nur vom Zufall abhängig. Auf die Ebene des alltäglichen
19
Der aleatorische Materialismus

Lebens angewendet, besagt diese Formel, dass jedes Gesetz nur für eine be-
stimmte Zeit Geltung hat und dass keine Existenz, insbesondere keine politische
Existenz, jemals eine Strategie entwerfen wird können, um ihre Herrschaft abzu-
sichern. Ein kleines clinamen, eine durch ein Nichts verursachte Katastrophe,
wird genügen, um jedes mühsam errichtete System zum Einsturz zu bringen und
eine neue Begegnung, einen neuen Kampf und neue Gesetze zu ermöglichen,
deren Zukunft genauso unbestimmbar sein wird, wie die ihrer Vorgänger.
Dieser Materialismus kann auf den ersten Blick düster erscheinen, eher als eine
Metaphysik, die jede Strategie des Kampfes ihres Wesens entleert, nämlich, dass
sie zu einem Ziel führt, sowie dass die Dauerhaftigkeit dieses endlich erreichten
Ziels von irgendetwas anderem abhängt, als von purem Zufall.
In der Zeit, in der wir leben, mag die althussersche Formel Hoffnung bringen
oder zumindest jenen Optimismus, den Antonio Negri angesichts des aleatori-
schen Materialismus verspürte: eine Philosophie des Positiven, als Politik ver-
standen, ein Ort der Kontingenz, als ein Raum der Leere und der Subversion. In
diesem Raum gilt es auch eine neue Sprache des Widerstandes als Singularität
zu entwickeln, die in der Lage sein wird, einen anderen leeren Raum, den des
neoliberalen Kapitalismus, zu denken und zu bekämpfen.

20
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Die Leere

Einer der Schlüsselbegriffe, die für das Verständnis der Entwicklungen im Den-
ken des späten Althusser, aber auch für das Verständnis seines Werkes im Gan-
zen, von entscheidender Bedeutung ist, ist der Begriff der Leere. In seinen spä-
ten Texten stellt er die Kategorie der Leere an die zentrale Position der Philoso-
phie überhaupt. In dem CSMR von 1982 wird die Leere zum Inbegriff der Philo-
sophie schlechthin und 1986 in Materialisme aleatoire die zentrale Kategorie
der Philosophie.
Das Wort Leere kehrt in seinen Texten immer wieder. Man wird ihm in den ver-
schiedensten Zusammenhängen begegnen. Angefangen bei seinen frühen Schrif-
ten über Hegel bis zu seinen letzten Schriften über den aleatorischen Materia-
lismus oder über Machiavelli stoßen wir bei der Lektüre seiner Werke auf die
Momente des Mangels, der radikalen Abwesenheit. Doch folgt die Entfaltung
dieses Begriffes keinesfalls einer kontinuierlichen Linie. Sie ist voller Sprünge
und unerwarteter Wendungen. Trotz seiner Inhomogenität ist es möglich, ihn,
um mit Althusser zu sprechen, als einen unterirdischen Pfad aus seinen Werken
herauszulesen oder viel mehr auszugraben.
In Das Kapital lesen entwickelt Althusser eine Methode des kritischen Lesens,
die er als symptomatische Lektüre bezeichnet. Er schreibt sie Marx zu, der sich
in seiner Lektüre der klassischen Ökonomen ihrer bedient haben soll. Marx las
in den Werken von Smith und Ricardo nicht einzig und nur das Vorhandene,
sondern vielmehr gerade auch das Absente, das Ungeschriebene, welches durch
seine Absenz auf seine versteckte Existenz verweist. Das Denken des Sympto-
matischen finden wir bereits in seinen frühen Schriften über Hegel. „Á chaque
moment, avec plus ou moins de clarté, le vide est en quelque sorte la révélation
que le contenu est déjà (la), somme l’illimité est déjà là dans la conscience de la
limite“.xliv Die Schwäche seines Begriffsystems hinderte Smith daran, das Un-
21
Der aleatorische Materialismus

genügen seiner Werttheorie zu sehen. „Was Smith noch nicht sehen und begriff-
lich fassen konnte, erscheint hier nur als radikaler Mangel.“xlv
Mit Hilfe der neuen theoretischen Methode gelingt es nun Marx, die Lücken und
Leerstellen bei Smith als Anwesenheiten zu lesen. Dies zeigt Althusser am Bei-
spiel der Werthierarchie der klassischen Ökonomie, die den Wert der Arbeit aus
den zu ihrer Reproduktion notwendigen Aufwendungen bestimmt. Diese Defini-
tion des Wertes wird von Marx als falsch bezeichnet und von Althusser als leer,
denn was bedeutet die Arbeit, von der am Anfang dieser Behauptung gespro-
chen wird und was die vom Ende? Ist es die gleiche Arbeit, die reproduziert
wird, wie die, deren Wert daraus gerechnet wird? Wenn ja, dann besagt diese
Behauptung gar nichts, außer vielleicht, dass der Wert der Arbeit aus ihrer eige-
nen Reproduktion abgeleitet wird, was wiederum wenig Sinn ergibt.
Marx füllt die Lücke dieser Behauptung, indem er das Wort Arbeit vom Ende
des Satzes gegen das Wort Arbeiter vertauscht und dadurch eine Differenz
sichtbar macht, die von vornherein in der Realität präsent war, aber kein be-
griffliches, theoretisches Korrelat besaß. Doch auch diese neue Definition macht
eine weitere Lücke sichtbar, die ebenfalls von vornherein präsent war und darauf
„wartete“, konstatiert zu werden: die der mangelnden Unterscheidung zwischen
den Begriffen Arbeit und Arbeiter. Diese Diskrepanz wird Marx durch ein neues
Begriffspaar auflösen: durch die Kategorien des Lohnes und der Lohnarbeit; Ka-
tegorien, die den Arbeiter und die von ihm geleistete Arbeit gleichzeitig begriff-
lich trennen wie auch verbinden.
Diese Methode des kritischen Lesens, die er bei Marx zu finden glaubt, wendet
Althusser in Das Kapital lesen auf die Lektüre von Marx selbst an, um die Stär-
ken und Schwächen der marxschen Theorie zu untersuchen. Die symptomatische
Lektüre ist, wie Jacques Ranciére sie zutreffend beschreibt, ein Spiel zwischen
Leere und Fülle. Sie ist ein Bild der Leere, die ihre Präsenz ankündigt. Daher
kommt das Unsichtbare einem Symptomxlvi gleich, einem Symptom der Schwä-
che einer Theorie. „Um das Unsichtbare und die ‚Versehen’ sichtbar zu machen,
um die Lücken in der Dichte des Textes und die leeren Stellen in seinem Zu-
sammenhang zu identifizieren, bedarf es eines wissenden, eines neuen
22
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Blicks“xlvii, dessen Aufgabe es ist, die Identifizierung und die Lokalisierung der
Abwesenheit vorzunehmen. Diese Aufgabe ist nach Althusser rein philosophi-
scher (und nicht zum Beispiel wissenschaftlicher) Natur.
Damit kommen wir auch zu einer weiteren Eigenschaft der Leere bei Althusser.
Die Leere, definiert als ein Raum der Abwesenheit, den es zu besetzen gilt, be-
zeichnet den Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft. Oben haben
wir schon die althussersche Konzeption von Wissenschaft, die er zum Großteil
der Epistemologie Gaston Bachelards entnimmt, kurz angeschnitten.xlviii
Die Wissenschaft besetzt Räume, die schon besetzt waren, die sogar bis zum
letzten Moment der Neubesetzung auch besetzt bleiben - besetzt durch das vor-
wissenschaftliche Denken. Die Wissenschaft besetzt sie neu, indem sie das Vor-
gefundene modifiziert oder zerstört. Die wissenschaftliche Besetzung ist dem-
nach nur als Kampf denkbar. Die Leere, die durch die Zerstörung eröffnet wird,
wird, kaum eröffnet, schon wieder besetzt. Die wissenschaftliche Leere ist bes-
tenfalls provisorisch.
Die Leere der Philosophie ist hingegen substanziell. Sie hat keinen Gegenstand,
wie die Wissenschaft einen hatxlix. Sie hat keinen realen Gegenstandl, weil das
Reale kein Gegenstand ist, sondern sich lediglich im Vermögen des Denkens zur
Unterscheidung manifestiert. Sie produziert Differenzen und Demarkationsli-
nien zwischen „Wahrheit und Irrtum oder zwischen dem Wissen und der Mei-
nung, zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen, zwischen der Vernunft
und dem Verstand, zwischen dem Geist und der Materie usw.“li Sie produziert
Distanzen. Sie herrscht über ein „Reich aus Vorstellungen und Wörtern“, sie
bildet ein System, „das zwar brillant sein kann, aber in der Luft hängt, besser
noch, im luftleeren Raum.“lii Der luftleere Raum der Distanzen ist kein Proviso-
rium. Die Leere ist der Raum der Philosophie schlechthin.
Eine Philosophie, durch die Leere einer Distanz definiert, hat eine nicht zu über-
sehende Parallele zu Lenin und zu einem anderen Begriff, den Althusser aus ei-
nem ähnlichen Blickwinkel heraus definiert wie die Philosophie: dem Materia-
lismus. Der Materialismus ist eine klare Demarkationslinie zwischen dem Rea-
len und dem Denken des Realen. „Das Wirkliche und seine verschiedenen As-
23
Der aleatorische Materialismus

pekte (das Konkret-Reale, der Realprozess, die reale Totalität usw.) ist das eine;
das Denken des Realen und seinen verschiedenen Aspekten (der Denkprozess,
die Totalität des Denkens, das Gedanken-Konkretum usw.) ist das andere.“liii
Daraus folgt nach Althusser ein Zweifaches: erstens das Primat des Realen ge-
genüber dem Gedanken vom Realen und zweitens die Sonderstellung des Den-
kens in Bezug auf das Reale, die durch ihre gegenseitige Beziehung, die reine
Erkenntnisbeziehung ist, besteht.
Wenn wir diesen Gedanken weiter verfolgen, ergibt sich noch eine Überlegung:
der Materialismus und die Philosophie haben denselben Gegenstand, nämlich
das Reale, das wiederum kein wahrer Gegenstand ist, sondern bestenfalls ein
Terrain, und beide, sowohl der Materialismus als auch die Philosophie, bezeich-
nen die Demarkationslinien zwischen diesem Realen und seinem gedanklichen
Korrelat.
Diese substanzielle Ununterscheidbarkeit oder bewusste Identifizierung des Ma-
terialismus und der Philosophie aus dem Aspekt einer erkenntnistheoretischen
Leere ihrer Gegenstände, aber auch aus der berühmten Definition der Philoso-
phie als Kampfplatz, wird Althusser bis in die späten Texte begleiten und sich
gleichzeitig verschärfen. Ähnliche Schlussfolgerungen werden wir auch in Lenin
und die Philosophie finden, nur wird diesmal das Grundmerkmal des Materia-
lismus, ein Vermögen, zwischen dem Realen und dem Denken von Realem un-
terscheiden zu können, sowie eine Demarkationslinie zwischen den beiden zu
sein, im Anschluss an Lenin der Wissenschaft zugeschrieben. Die Philosophie
hat nach wie vor kein Objekt, diesmal aber wird daraus eine Konsequenz gezo-
gen: da sie kein Objekt hat, kann sie auch keine Geschichte haben. „Die Philo-
sophie hat im Grunde keine Geschichte; sie ist jenes theoretische Gebiet, auf
dem sich eigentlich nichts ereignet, es sei denn eben diese Wiederholung von
nichts. Dass sich in der Philosophie nichts ereignet, bedeutet, daß sie nirgendwo
hinführt, weil sie keinen Weg einschlägt: Alle Wege, die sie eröffnet, sind, wie
es vor Heidegger schon Dietzgen gesagt hatte, ‚Holzwege’.“liv
Aus diesem Zitat sind mindestens drei Schlüsse zu ziehen. Erstens: Philosophie
ist ein theoretisches Gebiet; zweitens: sie ist ein theoretisches Gebiet, auf wel-
24
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

chem sich nichts ereignet und drittens: sie führt nirgendwo hin. Diese Argumen-
tationsfolge mag in Hinblick auf zwei andere Thesen, denen Althusser mit äu-
ßerster Vehemenz bis in die letzten Texte folgt, sonderbar erscheinen; nämlich
die in Anschluss an Gramsci entwickelte These von der Philosophie als einer
Form der Praxis und die in Anschluss an Engels entstandene These von der Phi-
losophie als Kampfplatz. Der dritte Schluss, nach welchem die Philosophie nir-
gendwo hinführt, wird in seinen späten Texten wieder aufgegriffen und als eine
radikale Absage an die Dialektik weiter ausgeführt. Doch es wird bald klar wer-
den, dass der „Ort an welchem sich nichts ereignet“, doch nicht so leer ist, wie
es im ersten Augenblick erscheint.
Engels, und nach ihm Lenin, bezeichneten die Geschichte der Philosophie als
eine jahrhundertelange Auseinandersetzung zwischen zwei theoretischen
Grundpositionen: die des Materialismus und die des Idealismus. Die Philosophie
wird somit zu einem Terrain, auf dem ein Kampf um die Dominanz der Katego-
rien ausgetragen wird. „Die Philosophie käut ununterbrochen Argumente wie-
der, in denen in kategorialer Form ihr Grundkonflikt ausgetragen wird. Dieser in
der Philosophie nicht zu benennende Grundkonflikt hält die ewige nichtige Um-
kehrung am Leben, deren geschwätziges Theater die Philosophie ist: die Um-
kehrung des fundamentalen Begriffspaares Materie/Geist. Wo zeigt sich nun
hierin eine Richtung? Sie zeigt sich in der hierarchischen Ordnung, die zwischen
den beiden Termini hergestellt wird: eine Ordnung mit Dominanzcharakter.“lv
Aus dieser Perspektive wird verständlich, wie die Philosophie gegenstandslos
bleiben und dennoch einen Kampfplatz darstellen kann.
Doch in einer so postulierten Topographie wird die Philosophie ihre Rolle als
Demarkationslinie zwischen der Theorie und der Praxis sowie zwischen dem
Geist und der Materie, als auch die Rolle des Verfechters für das Primat des
zweiten über den ersten einbüßen. Sie wird auf die Ebene der Wissenschaft ver-
lagert. Lenin seinerseits räumt der Wissenschaft das Primat über die Philosophie
bedingungslos ein, obwohl er darauf besteht, ihr Verhältnis als ein besonderes
zu bezeichnen. Er leitet seine Thesen aus der für die Moderne charakteristischen
Überzeugung an die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis ab. Der Be-
25
Der aleatorische Materialismus

zug Althussers zu diesem Thema ist sehr komplex und sehr unterschiedlich in
den verschiedenen Perioden seines Schaffens, doch in Lenin und die Philosophie
bezeichnet er dieses besondere Verhältnis, der Bedingtheit der Philosophie
durch die Wissenschaft, folgendermaßen: „Man müßte diesen Gedanken genau-
er prüfen, um – immer auf empirischen Wege – festzustellen, daß Hegel schließ-
lich nicht zu Unrecht behauptete, die Philosophie beginne ihren ‚Flug erst in der
Dämmerung’: nämlich dann, wenn die mit der Morgenröte entstandene Wissen-
schaft bereits die Zeit eines langen Tages durchlaufen hat.“lvi Und weiter: „Es ist
klar, daß neue philosophische Kategorien im Vollzug einer neuen wissenschaft-
lichen Arbeit geformt werden. Es stimmt aber auch, daß in manchen Fällen (hier
wären gerade Platon und Descartes zu nennen) das sogenannte Gebiet der Philo-
sophie auch als theoretisches Experimentierfeld dient, auf dem die auf Grund
neuer wissenschaftlicher Begriffe notwendig gewordenen neuen Kategorien er-
probt werden.“lvii
Philosophie bleibt also nicht nur topographisch bestimmt. Sie ist kein Weg, der
irgendwohin führt, sie ist viel mehr ein Mittel, einen Weg zu bestimmen. Sie
weist nicht nur auf die Differenzen hin, sie erzeugt sie, indem sie sie begrifflich
bestimmt. Sie bleibt „die Leere einer vollzogenen Distanzierung“.
Man könnte Gefahr laufen, aus dem oben genannten Zitat den Schluss zu ziehen,
wonach die Philosophie ihren Anfang in der Wissenschaft hat, und diese wiede-
rum in der Zerstörung oder der Modifizierung (die auch eine Art Zerstörung ist)
des Vorgefundenen. Doch dieser Schluss wäre, zumindest was die Philosophie
betrifft, voreilig.
Auf den ersten Seiten seiner frühen Schrift über Hegellviii, in Bezug auf seine
Philosophie, bezeichnet Althusser die Leere als eine doppeldeutige Kategorie.
Einerseits hat sie die Bedeutung einer falschen Anwesenheit und andererseits die
des Symptoms des Mangels, der seinen Gegensatz, das Anwesende konstituiert.
Die Leere, die als absolute Abwesenheit bestimmt ist, ist kein Raum und kein
Terrain auf dem etwas Neues entstehen kann, sie ist eine Art negative, unpro-
duktive Leere. Nur eine aus der Zerstörung aller präetablierten Kategorien ent-
standene Leere ist eine produktive Kategorie, da sich jedes Denken nur in der
26
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Abwesenheit einer vorbestimmenden Geschichte entwickeln kann, was für jedes


Denken gültig ist und demnach auch für das philosophische. Das ist der Gedan-
ke, der durch die „Positivität der Leere“ in Erscheinung tritt.
Althusser räumt Hegel die Rolle eines Denkers ein, der im Gegensatz zu Kant
die „positivité du vide“ gedacht hat.lix Das Kantische an sich wird, da dessen Re-
ferenzebene in einer idealen Totalität gründet, in diesem Kontext als ein Dasein
ohne Inhalt und ohne Determination, als reine Leere angesehen.
Die Positivität der Leere als Anbeginn durch ein Nichts, durch eine Leere, in de-
ren „Natur es liegt, Angst von sich selbst zu haben“lx. Das Denken hat keinen
bestimmbaren Anfang, dessen Inhalt einen Beginn und ein Ende hätte. Der In-
halt kann sich selbst als Gegebenheit fassen, doch nie als Inhalt selbst. Aus einer
solchen Auffassung sollte sich eine radikale Antiteleologie bei Hegel ergeben,
doch das ist nicht der Fall.
Die Frage der „Gegebenheit“ oder, mit Heidegger gesprochen, eines „Da-seins“
eines Inhalts, der bei Hegel gleichzeitig als gegeben und auch als Resultat eines
Denkprozesses gefasst wird, gab Althusser Grund für eine spätere Kritik der he-
gelschen Teleologie, die auf der „Zirkularität des hegelschen Konzepts“ beruht.
Die Frage der Entwicklung eines Prozesses bei Hegel, in dem es keinen Anfang
gibt, gründet in einem procés sans sujetlxi. Doch das wahre Subjekt der hegel-
schen Logik bleibt für Althusser nach wie vor die Idee, doch nicht als ein Ele-
ment des Prozesses begriffen, sondern als die Selbstentfremdung im Prozess. Es
gibt immer ein Sujet, auch wenn es nicht als ein Element erscheint, und daher in
letzter Konsequenz auch eine Teleologie.
Um einen Prozess zu denken, muss man den Prozess ohne Subjekt negativ ver-
stehen und alle Sicherheit einer Ontologie ablehnen, die sich in den Begriffen
von Anfang und Ende versteckt, um eine Position der Leere zu etablieren, in
welcher ein kreatives Potential entfaltet werden kann.
Im Vorwort in Für Marx wird ein solcher Prozess am Beispiel der Entstehungs-
geschichte der Französischen Kommunistischen Partei sichtbar. An einer Stelle
in diesem Vorwort, wo das Wort Leere vorkommt, wird es in folgendem Zu-
sammenhang erwähnt: „Die französische Partei ist unter diesenlxii Bedingungen
27
Der aleatorische Materialismus

theoretischer Leere entstanden, und sie ist trotz dieser Leere gewachsen, indem
sie so gut wie möglich die existierenden Lücken stopfte, ...“lxiii
Neben Spinoza, dessen philosophischer Gegenstand gerade die Leere istlxiv, was
im nächsten Kapitel genauer diskutiert wird, wird Althusser nur noch einem
Menschen die Position der radikalen philosophischen Leere einräumen: Machia-
vellilxv. Machiavelli ist ein Denker, der ein Ereignis in Abwesenheit seiner Be-
dingungen denkt. Er versucht, vermittels eines revolutionären Ereignisses, in ei-
nem zersplitterten Italien die Möglichkeit der Etablierung eines Königreichs zu
sehen. Das ist die Aufgabe für einen Mann ohne Herkunft und ohne Namen, für
einen Mann, der an keiner Art Vorbestimmung leidet. „Un homme de rien, parti
de rien, et partant d´un lieu inassignable, voila pour lui les conditions da la ré-
génération.“lxvi
Der Ort der politischen Vorbestimmungslosigkeit wird also ein Ort der Leere, an
welchem jede Begegnung möglich wird. Leere und Begegnung sind beim späten
Althusser ein Begriffspaar. Damit eine Begegnung zwischen Elementen einer
möglichen Struktur stattfindet und damit diese Struktur denkbar wird, muss ein
Raum der Begegnung bestimmt werden. Dieser Raum ist die Leere. Die Leere,
die gleichzeitig jede Beliebigkeit und jegliche Möglichkeit beinhaltet.

28
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Telos und Kontingenz

Seit dem Altertum beherrscht ein Bild die schicksalhafte Verwicklung zwischen
menschlichem Leben und der Ungewissheit, die dem Ablauf der Zeit folgt. Es
ist das Bild des schreibenden Gottes, der auf einer leeren Tafel die Geschichte
der Welt von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende festlegt. Die leere Tafel Gottes
heißt im antiken Griechenland grammatéion. Im Latein wird es als tabula rasa
übersetzt werden.
In einer seiner Schriften vergleicht Aristoteles die Vernunft nous, oder das Den-
ken als Potenz, mit einer Tafel, auf der noch nichts in Wirklichkeit (enteléléchie)
geschrieben ist, und prägt damit gleichermaßen das ganze Bild der teleologi-
schen Darstellungen im abendländischen Europa wie auch im Islam.
Nach Aristoteles kann nichts Erschaffenes ewig dauern und dementsprechend
kann auch etwas Unerschaffenes vergehen. Diese Auffassung steht im Gegen-
satz zur platonischen Sicht der Welt als einer geschaffenen aber unvergängli-
chen Substanz. Diese Sichtweise beinhaltet eine streng gefasste Kausalität, die
für Aristoteles charakteristisch ist. Sein Denken der Potenz und damit auch seine
Auffassung von Kontingenz und Notwendigkeit, unterliegen mindestens drei
Axiomen, die den modalen Status des Geschehens sichern: dem Prinzip der
möglichen Realisierung, dem der bedingten Notwendigkeit und dem der Unver-
änderlichkeit der Vergangenheit.
Im Kontext unserer Auseinandersetzung mit dem Materialismus der Begegnung
ist das erste Axiom von besonderer Bedeutung. Es besagt, dass aus der reinen
Möglichkeit nichts in die Aktualität überzuleiten ist, da die modale Konklusion
nur dann legitim ist, wenn sie a fortiori erfolgt. Die Überlegungen über das
Mögliche können somit erst im Nachhinein angestellt werden, d.h. nachdem der
Prozess ihrer Realisierung abgeschlossen ist.

29
Der aleatorische Materialismus

Wenn Althusser über die Welt und über die Ereignisse in dieser Welt spricht,
sagt er etwas, das in seiner Grundbedeutung mit dem ersten Axiom von Aristo-
teles übereinstimmt. „Le monde peut être dit le fait accompli, dans lequel, une
fois le fait accompli, s’instaure le règne de la raison, du Sens, de la Nécessité et
de la Fin. Mais cet accomplissement du fait n’est que pur effet de contingence,
puisqu’il est suspendu á la rencontre aléatoire des atomes due á la déviation de
clinamen. Avant l’accomplissement du fait, avant le monde, il n’y a que le no-
naccomplissement du fait, le non – monde qui n’est que l’existence irréelle des
atomes.“lxvii
Doch in seinen Arbeiten über den Materialismus der Begegnung bezieht sich
Althusser nie auf Aristoteles, als auf eine mögliche Referenz des antiteleologi-
schen Denkens. Diese Rolle räumt er ausschließlich Epikur ein. Das erste Axi-
om, das wir aus De cael, herauslesen können, bezeugt eine Haltung von Aristo-
teles, die mit Fatalismus und mit der Zielausgerichtetheit des Seins wenig zu tun
hat. Warum nimmt dann Althusser keinen Bezug auf Aristoteles?
Die griechische philosophische Tradition kennt eine lange Auseinandersetzung
bezüglich des Problems, das unter dem Namen „Meisterargument“ bekannt ist
und die Kontingenz und die Notwendigkeit der Welt behandelt, und dessen
wichtigste Strömungen wir aus den Schriften von Epiktet kennen. In dieser Aus-
einandersetzung nimmt Aristoteles eine Mittelposition zwischen den fatalisti-
schen Stoikern und den Megarikern, sowie den zufallsliebenden Epikureern ein.
Für die ausgeprägt zum Fatalismus neigende Schule der Megariker ist alles Zu-
künftige entweder notwendig oder unmöglich. Alles, was geschieht, genauso
wie das, was nicht geschieht, ereignet sich notwendigerweise. Daraus folgt, dass
alles Zukünftige ebenfalls wie alles Vergangene notwendig ist, indem es statt-
findet oder nicht stattfindet. Die aristotelische Kritik der Megariker, als Feinde
jeder Möglichkeit, zeichnet sich durch eine nicht zu übersehende Ironie aus.lxviii
Die Stoiker und insbesondere Diodor galten ebenfalls als Fatalisten. Diodors
Definition des Möglichen ist folgende: nur das ist möglich, was schon der Fall
ist oder was noch der Fall sein wird. Die logische Folge dieser Definition ist,
dass alles was sein wird, notwendigerweise sein wird, da sein Gegenteil weder
30
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

ist, noch sein wird und dadurch unmöglich ist. Ihm wird auch die berühmte
„Ernte-Argumentation“ zugeschrieben, die Leibniz zu seinem logischen Deter-
minismus inspiriert hat.lxix
Es fällt sofort auf, dass die stoische Argumentation auf einem Sophismus grün-
det. Die antike Kritik, vor allem Cicero, stützt sich gerade auf diesen Punkt.
Diesen fatalistischen, logischen Sophismus versucht er durch einfache empi-
risch-logische Beobachtung der zukünftigen Ereignisse zu stürzen. In Diodors
Argumentation fallen der Vergangenheit und der Zukunft gleiche Eigenschaften
zu, was nicht zutreffen kann. Er verwechselt eine temporale Determination und
die Notwendigkeit eines Ereignisses.
Es ist interessant, dass keiner der Kritiker des stoischen Fatalismus bis in die
Neuzeit (Leibniz mit eingeschlossen), mit Ausnahme der nominalistischen Kri-
tik, auf den Sophismus Diodors als ein linguistisches Problem hinweist.
Althusser selbst erwähnt in seinen Abhandlungen über den aleatorischen Mate-
rialismus keinen der oben behandelten Philosophen, weder Stoiker oder Megari-
ker noch Aristoteles; nicht einmal als Referenz im negativen Sinne. Doch in der
Arbeit jedes dieser Theoretiker gibt es Bezüge, die als solche angesprochen
werden und die, allerdings erst nach einer eingehenden Lektüre, als stillschwei-
gende Bezugspunkte herausgelesen werden müssen.
Eine solche Referenz stellt für Althusser die klassische griechische Philosophie
dar. Um die Radikalität des althusserschen Antiteleologismus verstehen zu kön-
nen, benötigt man ein Verständnis des Meisterarguments.
„Et dans interprétations triomphe une certaine conception de la philosophie et de
l’histoire de la philosophie qu’on peut, avec Heidegger, qualifier d’occidentale,
car elle domine depuis les Grecs notre destin, et de logocentrique car elle identi-
fie la philosophie avec une fonction du Logos chargé de penser l’antécédence du
Sens sur toute réalité.“lxx
Einer der scharfsinnigsten Kritiker des stoischen Fatalismus kommt aus den
Reihen der Nominalisten. Es ist Wilhelm von Ockham.lxxi Sein Hauptargument
in der Kritik der diodorschen Konklusion ist, dass dieser reale und grammatika-
lische Zeit verwechselt. Es gibt Modalitäten in dictu und Modalitäten in re. Die
31
Der aleatorische Materialismus

Verwechslung von beiden kann zu einer Illusion des Necessitarismus führen, die
in einem ultimativen Fatalismus gründet. Die Argumente von Diodor sind So-
phismen, aber nicht ausschließlich, sie sind auch Paralogismen, weil ihnen ein
grundlegendes Missverständnis in der Unterscheidung zwischen der Realität und
der Sprache von der Realität innewohnt.lxxii Die Modalitäten der Zweckkausalität
sind demnach die Eigenschaften der Diskurse und nicht die Eigenschaften der
Dinge.
Erinnern wir uns an die Metapher des Schreibers vom Anfang dieses Abschnitts.
Sie stammt von Aristoteles. Die Schreibtafel als Denken in Potenz. Doch was
bedeutet diese Metapher für Aristoteles genauer? Ihre Doppeldeutigkeit ist kaum
zu übersehen. Einerseits mag sie das Bild der reinen Kontingenz darstellen,
gleichzeitig aber das des reinsten Fatalismus. Der Unterschied liegt in dem Akt
des Schreibenslxxiii, in welchem das Denken als Potenz ins Schreiben als Akt der
Determinierung übergeht. Wenn die Potenz erst durch den Akt realisiert wird,
aber kein zukünftiger Akt als solcher notwendigerweise determiniert, wird die
Kontingenz und damit die Freiheit der Entscheidung gewährleistet; sollte aber
die Potenz den Akt von vornherein festlegen, wird eine Kausaldetermination
folgen, die den Weg des Fatalismus vorwegnimmt. Die verschiedenen Deutun-
gen der aristotelischen Schreibtafel haben vor allem die islamische Philosophie
und den Fatalismus der sunnitischen theologischen Schule der Ash’ariten, ge-
prägt.lxxiv
Aristoteles selbst folgt in seiner Argumentationsweise vor allem dem Prinzip der
Paradoxienfreiheit. Da er keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Notwen-
digkeit kennt, und Wahrheit als ewig betrachtet, ist für ihn das, was einmal wahr
war, für immer wahr; also, ein Ereignis ist nur dann wahr, wenn es geschieht.
Die Ereignisse sind daher aber auch notwendig; zumindest die, die sich tatsäch-
lich ereignen, auch wenn ihr Zum–Ereignis–Werden kontingent ist. Diese Ar-
gumentation bringt ihn in die Nähe der Stoiker, doch seine Überlegungen über
die kausalen Ketten, die diesen Ereignissen zeitlich vorangestellt sind, entfernen
sein Denken wieder vom stoischen Standpunkt.

32
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Für die kontingenten Ereignisse gibt es eine Grenze in der rückwärtsgewandten


Analyse ihrer Ursachen, da bei manchen Ursachen kein nachvollziehbarer Ent-
stehungsprozess diagnostiziert werden kann, sondern nur ein momentanes Sich–
ergeben. Diese Gedanken brachten Aristoteles scharfe Kritik aus dem Lager der
Stoiker ein, die ihn in die Nähe Epikurs geraten sahen. Doch der Unterschied
zwischen den „essentiellen“ und den „akzidentellen“ Kausalketten sieht Aristo-
teles in der Tatsache, dass die ersten einer einzigen immanenten Teleologie fol-
gen, während die zweiten mehrere teleologische Ketten beinhalten.
Während die Stoiker die Kausalketten in einer einzigen ewigen Folge der sich
nacheinander reihend bedingenden Notwendigkeiten, dem Fatum, sehen, sieht
Aristoteles die Akzidenzien als ein Zusammentreffen von zwei unabhängigen
Kausalketten, die ihrerseits entweder ewig verfolgbar sind oder nur bis zum
nächsten Kreuzungspunkt mit anderen Kausalketten. Im Gegensatz zu den Stoi-
kern, ist der Zufall bei Aristoteles möglich, aber im Gegensatz zu Epikur ist er
kausal bedingt und teleologisch.
Jetzt können wir wieder zur Frage zurückkommen, warum Aristoteles in der
Aufzählung von Althusser fehlt. Althussersche radikale Antiteleologie steht in
engem Zusammenhang mit seiner Ablehnung des abendländischen Logozent-
rismus und seinem Antihumanismus. Sein Antihumanismus stellt eine Kritik des
Antropozentrismus dar, der die Philosophie seit den Griechen beherrscht und der
sich gerade im Glauben an die Zweckkausalität widerspiegelt. Die Zweckkausa-
lität stellt immer eine menschliche Arroganz zur Schau, die die herrschende Phi-
losophie nie gänzlich ablegen konnte.
Ein Ziegel, der sich in einem Sturm von seiner Konstruktion loslöst, vom Dach
fällt und einen Menschen trifft, wird für idealistische Philosophen, zu denen all
diejenigen zu zählen sind, die an ein Telos glauben, gefallen sein um den Men-
schen zu töten. All die Umstände, all die Kausalketten: der Ziegel, die wackelige
Konstruktion, genauso wie der verheerende Sturm müssten zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt zusammentreffen, um den Menschen zu töten. Es war das Schick-
sal des Menschen, an diesem bestimmten Ort, zu dieser bestimmten Zeit zu ster-
ben. Jede teleologische Philosophie ist daher nichts anderes als eine Rechtferti-
33
Der aleatorische Materialismus

gung der Macht – der, des Menschen als Mittelpunkt des Universums oder der
der Klasse, die diese Macht zu einer bestimmten Zeit repräsentiert.
Obwohl das aristotelische Denken der Potenz sehr komplex ist und eine Vielfalt
von Deutungen zulässt, bleibt Aristoteles für Althusser der Vertreter einer „Vor-
gängigkeit des Sinnes vor aller Realität“. Aristoteles kann eine Welt, die nicht
auf der Macht der Kausalketten beruht, nicht denken. Wenn es kein Telos gibt,
dann kann es auch keine Wissenschaft geben, da die Wissenschaft auf Gesetzen
gründet. In einem Universum der Kontingenz ist kein Gesetz bindend und sogar
der Lernprozess, als Bedingung des menschlichen Daseins, wird in Frage ge-
stellt.

Aristoteles führt diese Argumentation nicht weiter aus, aber es fällt nicht
schwer, die weiteren Konsequenzen dieser Ordnung, bezogen auf die Politik o-
der das Ganze der Gesellschaft, zu ziehen.

Gerade an diesem Punkt knüpft eine weitere Kritik an. Althusser sieht die Ge-
setze als jedem Prozess immanent. Sie entstehen in ihm und etablieren sich
durch ihn, doch sie sind keineswegs, einmal festgelegt, für immer gültig. Einer
der größten Verdienste Rousseaus für die politische – und die Philosophie über-
haupt, sieht Althusser gerade in seinem Erkennen dieser instabilen Natur der
Gesetze. „ ... la nécessité des lois issue de la prise provoquée par la rencontre
est, jusque dans sa plus grande stabilité hantée par une instabilité radicale, qui
explique ce que nous avons tant de mal á comprendre, car cela heurte notre
„convenances“, savoir que les lois puissent changer – non qu’elles puissent va-
loir pour un temps et pas pour l’éternité ...“lxxv Jede Gegebenheit, wie auch jedes
Gesetz, entspricht einem „jet de des“ – einem Würfelwurf.

Wie die dominante logozentristisch-rationalistische Strömung der abendländi-


schen Philosophie, entsteht auch ihr Antipode, eine Philosophie des Seins und
der Kontingenz, im antiken Griechenland. Ihre Denker sind Demokrit und Epi-
kur, der auch eine eigene philosophische Schule gründete und der, vor allem
durch die Zeugenschaft von Lukrez, die erste Referenz Althussers für die Tradi-
tion eines unterirdischen Stroms des Materialismus der Begegnung wird.

34
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

Anmerkungen

i Das öffentliche Eingeständnis der Verbrechen aus der Zeit der Herrschaft Stalins, 1956.
ii
Ètienne Balibar, Für Althusser, Edition Bronski – Band 2, Mainz, 1994, S.34/35.
iii
Louis Althusser, Marx état – il „marxiste“ in Marx dans ses limites, Écrits philosophiques
et politiques – Tome I, Éditions STOCK/IMEC, Paris, 1994. S.380.
iv
Althusser, Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre, Paris, 1994
v
Ideologische Staatsapparate, Vgl. Louis Althusser, Anmerkungen über die ideologischen
Staatsapparate, Westberlin, 1977.
vi
Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie I, Suhr-
kamp, Frankfurt 1977.
vii Antonio Negri, Pour Althusser. Notes sur l´évolution de la pensée du dernier Althusser in:

Sur Althusser – Passages (1993), Editions L’Harmattan, Paris 1993.


viii
Louis Althusser, Marx dans ses limite, Paris 1994, S. 370.
ix
Ibid. S. 372.
x
Ibid. 375.
xi
„La science marxiste–léniniste, qui est au service des intérêts objectifs de la classe proléta-
rienne: elle a été produite par la pratique théorique d’intellectuels possédant une très haute
culture, Marx, Engels et Lénine, et elle a été apportée „du dehors“ á la pratique proléta-
rienne.“
( Die marxistisch–leninistische Wissenschaft, die im Dienste der objektiven Interessen der
Arbeiterklasse steht: sie ist ein Produkt der theoretischen Praxis der Intellektuellen, die im
Besitz einer viel höheren Kultur waren - Marx, Engels und Lenin importierten sie in die Ar-
beiterbewegung).
Althusser, MDSL, Fußnote S.386
xii
Louis Althusser, Überschrift zum vierten Kapitel von MDSL.
xiiixiii „Das sozialistische Bewußtsein müßte das direkte und unabdingbare Resultat des Klas-
senkampfes der Arbeiterklasse sein. Andernfalls ist es völlig falsch... Aber das sozialistische
Bewußtsein und der Klassenkampf entstehen parallel und vergrößern sich nicht gegenseitig.
Das sozialistische Bewußtsein heute kann nur auf der Basis eines tiefen wissenschaftlichen
Bewußtseins entstehen“
Karl Kautsky, zitiert nach Althusser, MDSL, Paris, 1994, S.384.
xiv
Louis Althusser, MDSL, Paris, 1994, S. 374.
xv
Althusser, CSMR, S.553.
xvi
„... also der Aleatorik und der Kontingenz, die sich als ein völlig unterschiedliches Denken,
den verschiedenen rezenten Materialismen entgegensetzt ...“ Ibid. S. 554.
xvii
In einem Text von 1967 erklärt Althusser die Rolle Platons in der Geschichte der Philoso-
phie folgendermaßen: „Platon: commencement de la philosophie, comme discipline nouvelle,
inaugurant une histoire de la philosophie. Avant Platon, pas de philosophie.“ Althusser, Sur la
Philosophie von 28. Okt. 1967, in Ecrits, Tome II. S. 318.
xviii
„ ... nicht mehr der Ausdruck der Vernunft und der Ursprung der Dinge ist, sondern Theo-
rie ihrer Kontingenz ...Jede Frage nach dem Ursprung wird verworfen, wie alle großen Fragen
der Philosophie...“. Althusser, CSMR, S. 556.
xix
„Es gibt keinen Anfang, weil nichts jemals existiert hat, bevor es auch nur irgend etwas
gab.“ Althusser, CSMR, S.576.
xx
„nur eine permanente Aufhebung des „fait accompli“ durch eine andere, nicht auszu-
machende Tat ...“ Althusser: CSMR, S. 561.
xxi
„Man wird also bemerkt haben, daß diese Philosophie insgesamt und pro toto eine Philoso-
phie der Leere darstellt, nicht nur eine Philosophie ist, die behauptet, daß die Leere präexis-
tent ist, gegenüber den Atomen, die in ihm fallen, sondern auch eine Philosophie ist, die eine
philosophische Leere herstellt, um sich Existenz zu verschaffen ...“ Althusser: CSMR, S. 561.
xxii
Ibid. S. 576.
35
Der aleatorische Materialismus

xxiii
Pali: Die Rede von der Leere der Welt
xxiv
Nagarjuna: Madhyamaha – karikah, in Sacred Books of the East Series, vol. 49. Oxford
University Press, 1885.
xxv
K. Nishida: Intelligibility and the Philosophy of Nothingness, Tokyo, Maruzen, 1958.
xxvi
L. Althusser : Portrait du philosophe Matérialiste (1986) in Ecrits I, S.595 – 596.
xxvii
In CSMR findet sich kein direkter Bezug auf die Nominalisten, hingegen in Entretiens
avec Fernanda Navarro (1984-1987), findet man eine explizite Äquivokation zwischen den
Begriffen von Nominalismus und Materialismus in einer Form als Materialismus der Begeg-
nung und der Singularität: „Cette superbe phrase dit tout, car il n’existe au monde que des cas,
des situations, des choses, qui nous tombent dessus sans avertir. Cette thèse, qu’il n’existe que
des cas, c’est-à-dire des individus singuliers totalement distincts les uns des autres, est la thèse
fondamentale du nominalisme.“ Und weiter : „Marx n´a-t-il pas affirmé que le nominalisme
était l´antichambre du matérialisme?
-Justement et j’irais plus loin. Je dirais que ce n’est pas seulement l’antichambre, mais que
c’est le matérialisme lui-même.“ Louis Althusser, Sur la Philosophie, Gallimard, Paris 1994.
S. 46f.
xxviii
Der Begriff stammt von Althusser.
xxix
„Ist das immer noch Materialismus?“ Althusser: CSMR, S. 557.
xxx
Althusser übernahm zum Großteil die Epistemologie Gaston Bachelards um den Prozess
der Entstehung einer neuen Wissenschaft zu erklären. Was er hinzu fügt ist eine Entstehungs-
geschichte der neuen Begriffe. Kein neues Wissen wird aus dem Nichts konstituiert, es beruht
auf Lehren, die vor ihm schon das Wissensfeld beansprucht haben, die seinen Gegenstand be-
trifft. Jede neue Wissenschaft modifiziert und zerstört mit ihrer Entwicklung gleichzeitig die-
ses überlieferte Gemeinwissen um ihre Begriffe durchzusetzen. Die Arbeit an der Entstehung
einer neuen Wissenschaft ist auch immer mit der Zerstörung des vorwissenschaftlichen Den-
kens verbunden.
Die Wissenschaft in der Entstehung, die einen neuen Kontinent umfasst, arbeitet vorläufig mit
den alten Begriffen, als provisorische Hilfsmitteln, da die Entstehung der neuen Begriffe den
Prozess der Entstehung der neuen Wissenschaft begleitet. Siehe dazu: Althusser, Lire le capi-
tal, Maspero, Paris, 1965. Althusser, Philosophie et philosophie spontanée des savants
(1967), Maspero, Paris 1974. Robert Pfaller, Das Schweigen im Text, Wilhelm Fink Verlag,
München, 1977.
xxxi
„...man muß eben wissen,... dass sich dieser Materialismus der Begegnung allen klassi-
schen Kriterien des Materialismus entzieht, und, dass man eben ein Wort braucht um die Sa-
che zu bezeichnen.“ Althusser, CSMR, S.557.
xxxii
„Sagen wir, dass der Materialismus der Begegnung nur provisorisch als solcher bezeich-
net wird, um seine radikale Opposition zu jedem Idealismus des Bewußtseins, der Vernunft,
oder welcher Spielart auch immer herauszustreichen.“ Althusser, CSMR, S. 576.
xxxiii
Derrida ist ebenfalls einer der Referenten des aleatorischen Materialismus bei Althusser.
xxxiv
Ibid. S. 576.
xxxv
Es ist sehr wichtig zu bemerken, dass Althusser den Begriff Praxis nie als einen Überbe-
griff verwendet, sondern eine strenge Unterscheidung zwischen verschiedenen Praxisformen
vornimmt. Er unterscheidet streng zwischen ökonomischer, ideologischer, theoretischer und
politischer Praxis. Es gibt keine Praxis. Es gibt nur Praxen.
xxxvi
„Die materialistische Philosophie ist die, die ‚auf einen fahrenden Zug springt’, während
die idealistische Philosophie diejenige ist, die den Zug auf dem Abfahrtsgleis besteigt und bis
zur Ankunft drinnen bleibt.“ Matheron, La récurrence du vide chez Louis Althusser
xxxvii
Friedrich Engels, Brief an W. Borgius vom 25.1.1994, in: Marx Engels Werke, Band 39,
Dietz, Berlin 1968, S. 206
xxxviii
Siehe dazu: Isolde Charim, Der Althusser-Effekt, Entwurf einer Ideologietheorie, Passa-
gen, Wien 2002.

36
Die Entwicklungen des Denkens im Spätwerk

xxxix
Siehe dazu: Für Marx, Über die materialistische Dialektik, Punkt 5: Struktur mit Domi-
nante: Widerspruch und Überdeterminierung.
xl
Antonio Negri, Anmerkungen über die Entwicklung des Denkens beim späten Althusser,
http://www.episteme.de/Negri.html
xli
Siehe dazu das 3. Kapitel dieser Arbeit.
xlii
clinamen (lat.): Neigung, Beugung.
xliii
„Wenn Epikurs Atome, die in einem parallelen Regen ins Leere fallen, sich begegnen,
dann, um in der Abweichung, die vom clinamen herbeigeführt wird, die Existenz der mensch-
lichen Freiheit in der Welt der Notwendigkeit wiedererkennen zu lassen“ Althusser, CSMR, S.
554.
xliv
„In jedem Moment, mit mehr oder weniger Klarheit, ruft eine enthüllte Leere einen Inhalt
an, aber die Leere ist auch eine Enthüllung dessen, dass ein Inhalt schon da ist, wie die Unbe-
grenztheit bereits da ist, im Bewusstsein einer Begrenztheit.“ Althusser, DCPH, S.68.
xlv
Althusser/ Balibar, Das Kapital lesen, S. 24.
xlvi
Die freudsche und später lacansche Terminologie bei Althusser sollte nicht verwundern.
Die Beziehung Althussers zur Psychoanalyse ist sehr stark und besonders ersichtlich aus sei-
nen Schriften über Ideologie, wo er eine Analogie zwischen der Funktionsweise der ISA und
der des Unbewussten bei Freud aufstellt. Seine Wertschätzung Freuds ist auch aus Das Kapi-
tal lesen ersichtlich, wo er ihn neben Marx und Newton als Begründer eines neuen wissen-
schaftlichen Kontinents sieht. Althussers Beziehung zu Freud ist jedoch sehr komplex und
sprengt bei weitem den Rahmen der vorliegenden Arbeit.
xlvii
Ibid. S. 31.
xlviii
Vgl. S. 13, Fußn. 26.
xlix
Vgl. Althusser, Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Berlin 1985,
S.24.
l
In Zusammenhang damit findet man in den Texten Althussers die Behauptung, Philosophie
hätte keinen Gegenstand, was oft zu Missinterpretationen führt.
li
Ibid. S. 20.
lii
Ibid. S. 23
liii
Ibid. S. 112
liv
Louis Althusser, Lenin und die Philosophie, Rowohlt, Reinbek 1974, S. 33
lv
Ibid. S. 35.
lvi
Ibid. S.22
lvii
Ibid. S. 22.
lviii
Louis Althusser, DCPH. Das erste Kapitel dieser Schrift, das den Titel Le naissance du
concept trägt, hätte ursprünglich L’horreur du vide betitelt werden sollen.
lix
Louis Althusser, DCPH, S. 108.
lx
Ibid. S. 110.
lxi
Prozess ohne Subjekt. Es ist wichtig die Vieldeutigkeit des Wortes sujet in der französi-
schen Sprache im Auge zu behalten. Es kann auch als Anlass, Grund, Thema oder Sujet über-
setzt werden.
lxii
Früher im Text werden die kulturellen Bedingungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts als
katastrophal geschildert. A. Comte berichtet von einer „unglaublichen Unkultur und Unwis-
senheit“.
lxiii
Althusser, Für Marx, Suhrkamp, Frankfurt 1968, S. 23.
lxiv
Althusser, CSMR, S. 563.
lxv
Die Relevanz der politischen Philosophie Machiavellis für das philosophische Denken Alt-
hussers in den verschiedenen Etappen seines Schaffens wird im nächsten Kapitel eingehend
untersucht.
lxvi
Ibid. S. 559.
lxvii
„Die Welt kann die vollendete Tatsache, fait accompli, genannt werden, in der sich, so-
bald die Tatsache einmal vollendet ist, die Herrschaft der Vernunft, des Sinnes, der Notwen-

37
Der aleatorische Materialismus

digkeit und des Zweckes errichtet. Aber diese Vollendung der Tatsache ist nichts als der rei-
ne Effekt der Kontingenz, da sie ja von der aleatorischen Begegnung der Atome abhängt, die
auf die Abweichung des clinamen zurückzuführen ist. Vor der Vollendung der Tatsache, vor
der Welt, gibt es nur die Nicht –Vollendung der Tatsache, die Nicht–Welt, die nur die irreale
Existenz der Atome ist.“ Althusser, CSMR, S. 556.
lxviii
„Nun gibt es aber einige, wie z.B. die Megariker, welche behaupten, ein Ding habe nur
dann ein Vermögen, wenn es wirklich sei, wenn jenes aber nicht wirklich tätig sei, habe es
auch das Vermögen nicht; z.B. derjenige, der eben nicht baut, vermöge auch nicht zu bauen,
sondern nur der Bauende, während er baut, und in gleicher Weise in den anderen Fällen.“
Aristoteles, Metaphysik, Neuntes Buch, 1046b 29-32 (Übersetzung von Hermann Bonitz).
Vgl. auch Jules Vuillemin, Necessity or Contingency - The Master Argument, S.62.
lxix
„It is fated, either that you reap or that you not reap; it cannot be but the one or the other,
between the two contradictories here is no middle; therefore, necessarily, whatever happens,
either you will reap or you will not reap“. Diodor, zitiert nach Necessity or Contingency, S.
64. Das diodorsche logische System gehört zu einem von modernen Logikern als S4 bezeich-
netem logisch modalem System.
lxx
„In diesen Interpretationen setzt sich ein bestimmter Begriff von Philosophie und Philoso-
phiegeschichte durch, den man mit Heidegger als abendländisch charakterisieren kann, denn
er bestimmt seit den Griechen unser Geschick, und als logozentrisch, denn er setzt die Philo-
sophie mit einer Funktion des Logos gleich, die damit beauftragt ist, die Vorgängigkeit des
Sinns vor aller Realität zu denken.“ Louis Althusser, CSMR, S.554.
lxxi
Ockham ist einer der heftigsten Gegner der aristotelischen Physik. Wegen seiner Redege-
wandtheit war er auch als „doctor invincibilis“ bekannt.
lxxii
Für Antonio Negri liegt das Unbehagen der westlichen Philosophie gerade in der Anma-
ßung das Reale denken zu wollen. Siehe dazu Antonio Negri, Anmerkungen über die Entwick-
lung des Denkens beim späten Althusser.
lxxiii
Schon Alexander von Aphrodisias hat bemerkt, dass Aristoteles vielleicht doch von epi-
tedeiótes – einer, mit einer Wachsschicht überzogenen Tafel, sprechen sollte, die für das
Schreiben schon vorgefertigt wurde, um den Unterschied zwischen dem Denken als einer rein
geistigen Potenz und dem Schreiben als einem Akt der Verwirklichung dieser Potenz in der
Realität aufzuzeigen.
Siehe dazu auch Giorgio Agamben, der die „Potenz des Nicht“ („wie der Zitherspieler ein
solcher ist, weil er die Zither auch nicht spielen kann“) als das große Geheimnis der aristote-
lischen Lehre von der Potenz ansieht. Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, Ber-
lin 1998.S.13.
lxxiv
Die Ash’ariten haben eine Ansicht vertreten, nach welcher der Schöpfungsakt als eine
momentane Produktion wunderbarer Vorfälle zu verstehen war, zwischen welchen es keinen
kausalen Beziehungen gab. Es ist immer der Gott selbst, dessen Wille die Ereignisse entste-
hen und vergehen lässt, ohne dass eine Möglichkeit oder Potenz zum andersartigen Gesche-
hen je existieren könnte. Gegen diese vorherrschende Strömung im sunnitischen Denken ex-
ponierte sich am stärksten die falâsifa Schule.
lxxv
„ … die Notwendigkeit der Gesetze, die aus der Begegnung hervorgegangen sind, werden
selbst in ihrer größten Stabilität von einer radikalen Instabilität bedroht. Das erklärt, was uns
so schwer fällt zu verstehen, denn es verletzt unseren Sinn von „Konventionen“ zu wissen,
daß sich Gesetze verändern können, daß sie nur für einen beschränkten Zeitraum gelten und
nicht für die Ewigkeit ...“ Althusser, CSMR, S. 583.

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