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https://doi.org/10.1515/9783110410648-024
eine konstitutive Position darin besetzen und doch keine Einheit und keine Syn-
these des Gegenstands unterstellen. Und dieses Wissen wäre damit ein Bereich,
3 Verfahren
Aus diversen Richtungen hat also eine Poetologie des Wissens einige sachliche,
thematische und methodische Impulse erhalten und nimmt eine Pluralität von
Wissensformen in Zusammenhang mit deren Repräsentationsweisen in den
Blick. Sie bezieht sich damit auf einen Gegenstandsbereich, den man – sehr vor-
läufig – ‚kulturelles Wissen‘ nennen könnte. Dieses kulturelle Wissen lässt sich
als ein Feld beschreiben, auf dem sich wesentliche Objekte und Referenzbereiche
kultureller Verständigung, deren Regeln und Verfahrensweisen und schließlich
die Kontroversen und Konflikte über Relevanz, Funktion und Gewichtung von
Wissensobjekten abzeichnen. Die Verschränkung von Wissen und Kultur ver-
weist auf ein dynamisches Ensemble aus symbolischen Ordnungen, Technolo-
gien und Strategien, die das Verhältnis von Gesellschaften zu sich selbst, zu ihrer
Geschichte und zu jeweils anderen Gesellschaftsformationen bestimmen. Wenn
Kultur allgemein als Horizont einer Verständigung darüber bestimmt werden
kann, wozu Gesellschaften fähig sind, so sollte auch ‚kulturelles Wissen‘ als ein
sozialer Möglichkeitsraum verstanden werden: als ein Bezirk, in dem sich die
Grenzen, die Gesetzmäßigkeiten und Ausdrucksweisen dessen reflektieren, was
in einer Gesellschaft innerhalb bestimmter Zeiträume ausgesagt und formuliert
werden kann. Dieses Wissen kann weder Subjekten noch Menschen zugerech-
net werden und erscheint allenfalls als eine „in der Kommunikation praktizierte
Zurechnungskonvention“ (Luhmann 1990, 142).
Von hier aus lassen sich einige methodische und thematische Orientierun-
gen formulieren, welche die Verfahren und Objekte einer Poetologie des Wissens
prägen. So werden erstens die Gegenstände des (kulturellen) Wissens nicht auf
privilegierte Weise in den Wissenschaften und durch sie bereitgestellt. Sie sind
weder in einer Teleologie szientifischer Erkenntnisprozesse noch in den Ratio-
nalitätsformen einzelner Fachgebiete auflösbar, sie gewinnen ihre größte Sicht-
barkeit vielmehr an deren Rändern, an Randgebieten und in Übergangsfeldern,
die nicht unbedingt an logischer Konsistenz und begrifflicher Einheit gemessen
werden können. Wissensobjekte werden somit auf ihre divergenten Herkunftsli-
nien und auf die heterogenen Spuren ihrer Verfertigung bezogen, sie lassen sich
allenfalls als ein komplexes referentielles System begreifen, das nicht auf eine
identische Sache zurückführbar ist (Vogl 2011, 64–65). In dieser Hinsicht ver-
folgt eine Poetologie des Wissens nicht eine unterstellte Einheit ihres Objekts,
sondern jene Verteilungen und Migrationen von Kenntnissen, die an der Gestal-
tung dieser Gegenständlichkeit beteiligt sind. Der Blick auf deren interne Man-
nigfaltigkeit schafft überhaupt erst die Voraussetzung dafür, die Geltung von der
Genese des Wissens zu unterscheiden und deren uneindeutiges Verhältnis zu
beobachten. Wahrheitsregeln für Diskurse und Formationsregeln für Wissensob-
jekte sind nicht aufeinander abbildbar, sie lassen sich nicht aufeinander reduzie-
ren. Während aber Wahrheitsansprüche wenig über den historischen Schauplatz
ihrer Formulierung verraten, geben Entstehungsprozesse Auskunft über Rele-
vanzkriterien, mithin über den Status und den strategischen Einsatzbereich des
jeweiligen Wissens.
Zweitens bedeutet das auch eine Suche nach operativen Themen und Fakto-
ren, die auf verschiedenen Sachgebieten wiederkehren, jeweils eine konstitutive
Position darin besetzen und doch keine Synthese und kein kohärentes Objektfeld
nahelegen. Als Beispiel dafür ließen sich etwa die Konzepte von Überfluss, Über-
schuss und Zirkulation im 18. Jahrhundert nennen, die eine Verflechtung und
Korrespondenz verschiedener Wissensbereiche prägen: Sie erklären die Mecha-
nismen des Warentausches und des Geldumlaufs in der politischen Ökonomie,
sie beschreiben auf medizinischem Gebiet den Haushalt und die Homöostase
von Körperflüssigkeiten, sie bestimmen die Formierung und den Austausch
von Zeichen, sie werden in der Darstellung diätetischer oder naturhistorischer
Sachverhalte bemüht. Terme oder Kategorien dieser Art sind also keine Ideen,
sofern man darunter abgegrenzte und homogene Vorstellungen versteht, deren
Wirksamkeit die Einheit eines Wissenszusammenhangs begründen würde. In
den weitläufigen Diskussionen über ‚Luxus‘, Schwulst und Verschwendung, über
‚Frivolität‘, hitzige Leidenschaften und Schwärmerei durchqueren sie nicht nur
die unterschiedlichen Gebiete von Naturgeschichte, Ökonomie, Medizin, Ästhe-
tik usw., sie sind vielmehr in jedem dieser Gebiete selbst nur als begriffliche
Mannigfaltigkeiten fassbar und stellen in ihrer Heterogenität einen immanen-
ten Verweiszusammenhang her. Diese Kette, diese transversale Linie hat keinen
Ursprung außerhalb ihrer selbst. Sie ist kein gemeinsames Maß der verschie-
denen Bereiche; sie lässt nicht den Schluss zu, die Gebiete seien auf ähnliche
Weise strukturiert oder mit denselben Gegenständen befasst. Ihre Besonderheit
konstituiert sich vielmehr durch eine interne Resonanz oder ein Ensemble von
Implikationsrelationen. So enthält etwa die Frage der Übersetzung ein Problem
des Werts, so provoziert die Schatzbildung einen desaströsen Bedeutungsverlust
der Wörter, so ist der Blutandrang kaum ohne Affektstörung denkbar, so ist etwa
die Kommunikation von Zeichen korrelativ zu einer Hydraulik der Ströme (Vogl
1994). Diese wechselseitigen Implikationen errichten einen überdeterminierten
Zusammenhang zwischen verschiedenen Wissensregionen, von denen keine
und Motive oder eine Serie von Prädikationen und Referenzakten reduzieren.
Jeder literarische Text erscheint vielmehr als Teil von Wissensordnungen, sofern
er die Grenzen von Aussagbarem und Nichtaussagbarem fortsetzt, bestätigt,
korrigiert oder verrückt. Literarischer Text und Wissensordnung stehen in keiner
vorhersehbaren und entschiedenen Relation zueinander, ihr Zusammenhang
ergibt sich vielmehr in einem uneindeutigen Modus der Disparität. So sehr die
Differenzierung von (schönen) Künsten und Wissenschaft seit Ende des 18. Jahr-
hunderts die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen ermöglicht hat,
so unterschiedlich wurden diese Relationen reflektiert – von der romantischen
Einheit von Poesie und Wissenschaft über naturalistische Adaptionen szienti-
fischer Paradigmen bis hin zur Frage genuin literarischer Erkenntnisleistungen
(Musil 1978). Literatur kann selbst als eine spezifische Wissensform angesehen
werden, dort etwa, wo sie zum besonderen Organ und Medium von Einheiten wie
Werk oder Autor geworden ist; Literatur ist Gegenstand des Wissens, dort etwa,
wo sie eine bestimmte Art des Kommentierens hervorgerufen und die Möglichkeit
eines eigentümlichen Sprechens über das Sprechen geschaffen hat; Literatur ist
ein Funktionselement des Wissens, dort etwa, wo sie, wie in der geistesgeschicht-
lichen Tradition, das Feld einer schöpferischen Subjektivität auf herausragende
Weise besetzt; und Literatur wird schließlich durch eine Ordnung des Wissens
produziert, dort etwa, wo ihre Sprache wie keine andere beauftragt schien, das
Uneingestandene zu sagen, das Geheimste zu formulieren, das Unsagbare ans
Licht zu holen.
Für eine Poetologie des Wissens ergeben sich also die Konsistenz kulturel-
len Wissens und die Gestalt der darin identifizierbaren Wissensobjekte durch
ein mehrfaches Beziehungsgeflecht: durch ein referentielles System, das unter-
schiedliche Darstellungspraktiken miteinander korrespondieren lässt; durch
Implikationsrelationen, mit denen sich analoge Darstellungsregeln auf unter-
schiedlichen thematischen Gebieten identifizieren lassen; und mit der Feststel-
lung einer Überschneidungsdichte, die Äußerungsweisen unterschiedlicher
Ordnung und Art an spezifischen Knotenpunkten zusammenführt. Damit sind
schließlich zwei weitere Konsequenzen verbunden. Das bedeutet einerseits, dass
jede Wissensform auch einen begrenzten Platz für die entsprechenden Subjektpo-
sitionen einräumt, dass sie also die – institutionellen, strategischen – Prämissen
liefert, unter denen man sich im Verhältnis zu diesem Wissen artikuliert. Ande-
rerseits zeichnet sich kulturelles Wissen durch normative Implikationen aus und
ruft eine Wissenspragmatik auf den Plan, die ein besonderes Wissensformat mit
schwach über mäßig bis stark definierten Handlungsoptionen und Handlungsan-
weisungen verknüpft. Jede Wissensform korrespondiert direkt oder indirekt mit
nomologischen Kenntnissen und bestimmt damit die Art und die Regeln ihrer
Anschlüsse beziehungsweise Fortsetzungen: Optionen also, die darin bestehen,
dass Wissen je nach Fall und auf die eine oder andere Weise eben gerechtfertigt,
verwirklicht, befolgt, geschützt, preisgegeben, bekämpft, optimiert, gelehrt etc.
werden muss.
4 Schluss
Das Verfahren einer Poetologie des Wissens operiert mit einem offenen, pluralen
und schwach determinierten Wissensbegriff, verfolgt die spezifische Korrespon-
denz zwischen Darstellungsweisen und Wissensobjekten und beschreibt damit
die historische Singularität von Wissensordnungen. Inspiriert von einer his-
torischen Epistemologie, von genealogischen Problemstellungen und von Theo-
rien zur ‚poietischen‘ Verfasstheit von Wissen wird sie von zwei grundlegenden
Arbeitshypothesen geleitet. Sie folgt einerseits der Annahme, dass epistemolo-
gische Klärungen unmittelbar mit ästhetischen Entscheidungen verknüpft sind
und dabei zur Ausbildung besonderer Darstellungstypen – Genres oder Gattun-
gen im weitesten Sinn – führen. Andererseits nimmt sie Wissensordnungen nicht
allein über thematische und sachliche Einheiten, über Fachgebiete, Disziplinen
oder spezialisierte Wissenschaften in den Blick; sie konzentriert sich vielmehr
auf Beziehungsgeflechte und Korrespondenzen, die in der Einheit von Wissens-
objekten eine Vielzahl heterogener Herstellungsverfahren und – umgekehrt – auf
unterschiedlichen thematischen Gebieten und Disziplinen analoge Bildungs-
regeln ausweisen können. Mit diesen Elementen charakterisiert sich eine Poeto-
logie des Wissens durch ein idiosynkratisches Vorgehen und unterscheidet sich
von einer robusten Methode dadurch, dass sie die Eingangsbedingungen ihres
Verfahrens zu reduzieren versucht, deren normative Implikationen in Rechnung
stellt und die Subsumtionskraft ihrer Begriffe minimiert. Während eine robuste
Theorie ihre Gegenstände – etwa das Wissen, die Wissenschaft, die Realien, die
Literatur, die Vernunft – immer schon kennt und darum keine Theorie benötigt,
setzt ein idiosynkratisches Verfahren die Unerklärtheit seines Untersuchungs-
bereichs voraus und provoziert mit ihrer analytischen auch eine theoretische
Aktivität, mithin die Arbeit an der Adaptionsfähigkeit ihrer Beschreibungen.
Sofern sich eine Poetologie des Wissens weder epistemologisch noch in einer Phi-
losophie des Bewusstseins begründet, hat sie ein paganes Wissen im Blick, wenn
‚pagan‘ (lat. pagus) sich auf einen lokalen, abgegrenzten und keineswegs globali-
sierbaren Bezirk bezieht. Das prägt auch ihr Verhältnis zur Geschichte als Kritik.
In Abgrenzung gegen einen kritischen „Gerichtshof“, der sich auf die Unterschei-
dung richtiger Erkenntnis von falschen Vorstellungen spezialisiert (Platon 1958,
201c), geht sie auf die Geschichtlichkeit derartiger Urteilsformen zurück und fragt
Weiterführende Literatur
Borgards, Roland, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.) (2013). Literatur
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