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Joseph Vogl

IV.2 Poetologie des Wissens


1 Problemstellung
Begreift man eine Geschichte des Wissens nicht nur als eine Geschichte von Aus-
sagen und Ausgesagtem, sondern stellt auch die dazugehörigen Aussageweisen
in Rechnung, so ist damit eine Perspektive eröffnet, die den Status von Wissens-
objekten und Erkenntnisbereichen mit den Formen ihrer Darstellung korreliert.
Dies prägt die Arbeitsweise einer ‚Poetologie des Wissens‘ und folgt der Annahme,
dass jede Wissensordnung bestimmte Darstellungsoptionen ausbildet, sodass in
ihrem Inneren besondere Verfahren wirksam sind, die über die Möglichkeit, über
Sichtbarkeit und Aussagbarkeit, über die Konsistenz und die Korrelation ihrer
Gegenstände befinden. In diesen Operationen lässt sich die ‚poietische‘ Kraft
einer Wissensform erkennen, die nicht von ihrem Erkenntniswillen, nicht von
der Art und Weise zu trennen ist, wie sie ihren eigenen Objektbereich sondiert,
fasst und systematisiert. Mit solchen Konstellationen ergeben sich einige metho-
dische Problemfelder, die den Untersuchungsbereich, die Untersuchungsebene,
das Konzept des Wissens und die allgemeine theoretische Ausrichtung einer Poe-
tologie des Wissens betreffen.
Das bedeutet erstens, dass sich die damit unterstellte Konzeption von Wissen
nicht mit jenen normativen Beschränkungen deckt, die sich in einer langen
abendländischen Tradition ausgebildet haben. Obwohl der Begriff des Wissens in
der griechischen Antike noch die verschiedenen Bereiche von praktischen, tech-
nischen und poietischen Tätigkeiten umschloss, wurde bereits bei den Vorsok-
ratikern eine Einengung auf den spekulativen Gebrauch bemerkbar. Spätestens
seit Platon und Aristoteles führte die Ausgrenzung der doxa, des Meinens und
Glaubens  – aber auch der phronesis, der praktischen Kenntnisse und privaten
Einsichten, und der aisthesis, der bloßen Sinneswahrnehmung –, aus dem Reich
der episteme zu einer Verschmelzung von Wissen und Erkenntnislehre: eine fol-
genreiche Eingrenzung des Wissensbegriffs, deren Spuren und Abwandlungen
sich bis in die Neuzeit verfolgen lassen. So hatte sich einerseits eine Verknüpfung
von Wissen und wissenschaftlicher Erkenntnis ergeben, die eine befragende,
‚inquisitorische‘ Aktivität bestimmt und sich auf die verborgenen Konstanten
und Gesetzmäßigkeiten der Natur bezieht: eine epistemologische Konfiguration,
die etwa den engen Zusammenhang zwischen Wissen, Wissenschaftlichkeit und
Experimentalkultur begründete. Andererseits dokumentierte sich die Einheit von
Wissen und Erkenntnis auch dort, wo man die Rationalität eines Erkenntnissub-
jekts durch begriffliche Tätigkeit und entsprechende Beweisverfahren definierte.

https://doi.org/10.1515/9783110410648-024

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Poetologie des Wissens   461

Hier wird Wissen als gerechtfertigtes Fürwahrhalten bestimmt, als true-justified


belief, der auch eine gegenwärtige ‚Standardanalyse‘ des Wissens charakterisiert:
Wissen zeichnet sich demnach dadurch aus, dass der Gegenstand einer Propo-
sition erstens geglaubt wird, dass er zweitens wahr ist und dass man drittens
gute und adäquate Gründe zur Rechtfertigung des Glaubens an die Wahrheit des
Geglaubten vorzubringen vermag (Williams 2001, 13–27).
Demgegenüber operiert eine Poetologie des Wissens mit einem schwach
determinierten Wissensbegriff, der nicht mit der Gestalt propositionalen, das
heißt aussagenlogisch explizierbaren Wissens koinzidiert. So erscheinen ‚Wis-
sensobjekte‘ nicht einfach als gegebene und stabile Referenten von Aussagen,
sie erweisen sich vielmehr als Schauplatz unterschiedlicher Verfahren, deren
Dynamik und deren Spuren die Gestalt ihres Gegenstandsbereichs prägen. Wis-
senschaftliche oder epistemische Objekte stellen nicht eine ‚Natur draußen‘ dar,
sie sind vielmehr das Resultat von konkreten Manipulationen, von materiellen
und symbolischen Praktiken, denen sie ihre Existenz im System des Wissens
verdanken. Erst daraus ergibt sich die Möglichkeit, ihren Status und ihre Qua-
lität im Prozess gelehrter wie kultureller Verständigung zu klären; und erst
mit ihrer ‚poietischen‘ Dimension werden Wissensobjekte in die Welt gebracht
und ‚verwirklicht‘. In Aussagesätzen lassen sich Referenten unschwer, schon
in experimentellen Anordnungen meist aber nur sehr umständlich repräsen-
tieren. In dieser Hinsicht bietet die normative Umschreibung von Wissen als
‚wahre gerechtfertigte Meinung‘ nicht einfach eine Lösung, sie stellt vielmehr das
Problem und legt einige methodische Vorbehalte nahe. Dabei geht es nicht nur
darum, die vielfältigen und kontroversen Verfahren in Betracht zu ziehen, die
zu einem gerechtfertigten Fürwahrhalten führen mögen (Gettier 1963); sondern
auch darum, die damit reklamierte Differenz des Wissens ins Milieu ihrer histo-
rischen Profilierung zu versetzen. Die Frage nach einer Geschichte des Wissens
koinzidiert eben nur partiell mit einer Geschichte philosophischer und erkennt-
nistheoretischer Lehrmeinungen über das, was gewusst werden kann oder was
der Begriff des Wissens bedeutet.
Dies legt zwei weitere Konsequenzen nahe. So folgt eine Poetologie des
Wissens einerseits der Unterstellung, dass sich ihr Verhältnis zu den Objekten
der Wissensgeschichte von einem wissenschaftlichen Objektverhältnis selbst
unterscheidet. Schon der Bezug zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsge-
schichte ist weder unproblematisch noch direkt und legt die Vorsicht gegenüber
einem Vorgehen nahe, das wissenschaftshistorische Gegenstände nach der Rela-
tion von Wissenschaften zu ihren Objekten modelliert. Das betrifft nicht nur die
unterschiedliche Rolle, die etwa Irrtümer, falsche Ansichten oder barer Unsinn
hier wie dort einnehmen; das betrifft auch die Frage danach, wie man mit den
Sanktionen und Auslöschungen verfährt, die ebendiese Wissens- und Wissen-

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schaftsgeschichten hinterlassen haben. In dieser Hinsicht mochte es ratsam


erscheinen, die Vergangenheit einer Wissenschaft nicht mit derselben Wissen-
schaft in ihrer Vergangenheit zu verwechseln (Canguilhem 1981, 15); und für eine
weiter gefasste Geschichte des Wissens bedeutet das den Bezug auf den Bereich
eines Wissens, das heute nicht (mehr) selbstverständlich gewusst werden kann.
Andererseits wird damit eine Grenze dessen markiert, was eine propositionale
Explikation von Wissen überhaupt erfassen kann. Dies öffnet den Blick auf eine
Reihe von materiellen und symbolischen Formatierungsprozessen, die sich der
Verständigung über die Geltung des Wissens entziehen und als dessen Bedin-
gungen nur insofern wirksam werden, als sie sich eben nicht als Bedingungen
explizieren (Polanyi 1978, 49–65, 162).
Zweifellos setzt man sich mit Überlegungen dieser Art einer erweiterten Kon-
zeption von ‚Wissen‘ aus, die auf ein instabiles Feld und einen schwach struktu-
rierten Referenzbereich verweist. Daraus ergibt sich eine Reserve, die dazu anrät,
mit dem Begriff des Wissens nicht ein logisches Kontrollprogramm abzurufen,
sondern jene Unterscheidungen, jene internen und externen Schwellen und
Grenzen in Betracht zu ziehen, an denen sich die Frage nach einer spezifischen
Wissensgestalt, ihrer Relevanz, ihrer Konsistenz und ihrer Haltbarkeit jeweils
erneut stellt. ‚Wissen‘ wird somit als Kollektivsingular begriffen, der auf eine Viel-
heit von Wissensformen verweist und auf deren Wechselverhältnis aufmerksam
macht: auf das Verhältnis zwischen ars und scientia, zwischen theoretischen
und praktischen, expliziten und impliziten, alltäglichen und wissenschaftlichen,
öffentlichen und geheimen, hegemonialen und apokryphen Wissensformen,
deren immanente Regeln nicht unter ein einheitliches Format subsumierbar
sind. Dabei kommen auch Dramen des Übergangs in den Blick, welche jeweils die
Schwellen zu disziplinären, institutionell gesicherten, epistemologisch geordne-
ten oder stark formalisierten Wissensgebieten markieren. Mit diesen Grenzzie-
hungen und Verwerfungen, mit diesen normativen Regulierungen, aber auch
mit institutionellen und sozialen Prozeduren von Einschließung und Exklusion
erscheint Wissen als variables, umkämpftes und polemogenes Feld, dessen histo-
rische Dimension sich nicht am Leitfaden spezifischer Erkenntnis- und Rationali-
tätsformeln beschreiben und ausrichten lässt.
Eine Poetologie des Wissens erarbeitet also keine Geschichte der wissen-
schaftlichen Gegenstände und Referenten, sondern führt Problematisierungswei-
sen dessen vor, was man Wahrheit oder Erkenntnis nennen mag. Sie untersucht
nicht die umwegigen oder asymptotischen Annäherungen an einen Horizont von
Realitäten, sie orientiert sich nicht am Ursprung und an der Begründung einer
erkennenden Subjektivität. Mit der Frage der Poetologie wird vielmehr  – zwei-
tens – eine Perspektive eröffnet, die Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche über
den Prozess ihrer Herstellung und die Formen ihrer Darstellung begreift. Sie folgt

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Poetologie des Wissens   463

der These, dass jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbil-


det und privilegiert, und sie interessiert sich demnach für die Regeln und Ver-
fahren, nach denen sich ein historischer Äußerungszusammenhang formiert und
abschließt und dabei die Gestalten diktiert, in denen er seine performative Kraft
sichert. ‚Poetologie‘ ist dabei als eine Lehre von der Verfertigung der Wissensfor-
men – von ihrer poiesis – zu verstehen, als Lehre von deren Genres und Darstel-
lungsmitteln, die den Gattungsbegriff morphologisch ausweitet und etwa noch in
einem statistischen Diagramm, in einer Karte, in einer Aufzählung, in einer Kurve
bestimmte Regelsysteme für die Organisation von Wissensfeldern erkennt. Eine
Poetologie des Wissens verfährt darum induktiv und schließt textuelle und pikt-
urale, diskursive und nichtdiskursive, technische und mediale Repräsentations-
weisen gleichermaßen ein. Der Begriff der Gattung wird dabei in einem elemen-
taren Sinn verstanden. Er verknüpft die Aspekte von Genre, Genese, Genealogie
und Generation, bezieht sich auf Gebilde, die sich durch das Vermögen aus-
zeichnen, sich in bestimmter Form zu reproduzieren (Derrida 1994b); und er legt
damit den Akzent auf diejenigen Differenzierungen und Verfahren, mit denen die
Wissensobjekte ihre Unterscheidbarkeit in der Anschauung, im Symbolischen,
im Begrifflichen garantieren. Eine Poetologie des Wissens unterstellt also, dass
sich jede epistemische Sachlage, jede epistemologische Klärung mit einer ästhe-
tischen beziehungsweise darstellungslogischen Entscheidung verknüpft.
Was allerdings drittens in dieser poetologischen Dimension sichtbar wird, ist
die Geschichtlichkeit des Wissens selbst, ist die Tatsache, dass es jenseits seiner
Darstellungsform keine Gegebenheiten gibt, die in einem zeitlosen und unbe-
rührten Außen darauf warten, von Diskursen, von Aussagen, von Existenzbe-
hauptungen bezeichnet, erweckt und sichtbar gemacht zu werden. Jede Bezeich-
nung, jede Fassung eines Wissensobjekts vollzieht zugleich eine diskursive
Bewerkstelligung desselben Objekts, eine Verfertigung, in der sich die Kodes und
die Wertsetzungen einer Kultur, die Systematik und die Praxis eines Wissensbe-
reichs reproduzieren. Dies betrifft nicht nur die Frage, an welchen Knotenpunk-
ten und Verzweigungen sich einzelne Wissensordnungen, Fachgebiete, Diszip-
linen und deren jeweiligen Regeln und ‚Kulturen‘ ausgeprägt haben. Vielmehr
gewinnt dadurch die Frage nach Diskontinuitäten im historischen Verlauf einen
besonderen, arbeitstechnischen Wert. Die Dauerhaftigkeit von Themen und The-
menkomplexen etwa verschlägt nicht, dass sich die dazugehörigen Objekte und
Referenzbereiche gründlich verändert haben. Eine Geschichte des Wissens spielt
sich nicht nach dem Modell eines Bühnengeschehens ab, sie trennt die Epochen
nicht wie ein Vorhang die Akte und Schauplätze. Die ominöse und kontrovers
diskutierte ‚Diskontinuität‘ im Prozess des Wissens fungiert vielmehr als heuristi-
sche Hypothese, als Annahme, dass historische Gegenstände sich nicht in guten
Bekanntschaften und Vertrautheiten spiegeln. Wie jede konsequente Analyse

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unterstellt auch eine Poetologie des Wissens die Unselbstverständlichkeit ihrer


Objekte. Wenn es dabei tatsächlich um ein keineswegs schnell entscheidbares
Spiel zwischen Dauerhaftigkeit und Brüchen geht, wenn es darum geht, unter-
schiedliche Zeitverläufe und unterschiedlich lange Dauern zu identifizieren,
so prägt diese Spannung den Einsatz dessen, was man eine Geschichte von
Problemstellungen nennen mag. Ein Modell dafür hat schon vor längerer Zeit
François Jacobs Logik des Lebendigen geboten. Eine Geschichte der Biologie und
ihrer Themen wird hier durchkreuzt von einer Problemgeschichte, die es wenig
sinnvoll erscheinen lässt, Georges-Louis Leclerc de Buffons Naturgeschichte und
Charles Darwins Evolutionstheorie auf demselben Feld miteinander zu verglei-
chen. Und das heißt: Verschiedene Disziplinen und Diskurse können einander
über einen bestimmten Zeitraum hinweg mehr ähneln, als das unterschiedliche
Ausformungen ein und derselben Disziplin über längere Zeitstrecken hinweg tun
(Jacob 1972; Lepenies 1989, 129) – dies ist der heuristische Einsatz des Diskonti-
nuierlichen, der dazu anhält, Themen nicht mit Objekten und das Beharrungs-
vermögen von Ausdrücken nicht mit der Dauer von Begriffen zu verwechseln.

2 poiesis und episteme


Diese dreifache Problemstellung einer Poetologie des Wissens – die Frage nach
den Formaten des Wissens, nach dem Verhältnis von Wissen und Darstellungs-
form, nach dem Einsatz der Geschichte – kann diverse Herkunftslinien und Inspi-
rationen beanspruchen. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, dass der Begriff
der poiesis eine besondere Auswahl aus verschiedenen Tätigkeitsprofilen getrof-
fen hat. Während etwa das griechische prattein auf das Telos und die Vollendung
einer Handlung hin ausgerichtet ist und während dran den Aspekt des Tuns und
Begehens, ein Entscheidungsmoment im Handeln umschließt, akzentuiert poiein
ein Hervorbringen, ein Herstellen und Machen, eine Arbeit am Gegenstand und
bezeichnet einen Prozess, der in der téchne begründet ist und in dessen Vollzug
konkrete Umstände, materielle Widerstände und technische Bedingungen glei-
chermaßen eingegangen sind. In dieser Hinsicht lässt sich poiesis auch als ein
umstandsbedingtes Tun begreifen, als ein Überführen in empirische Realität, in
dessen Effekten und Resultaten die Spuren prozesshafter Bewerkstelligung ein-
geschlossen sind (Aristoteles 1995, 1140a1–1140a23; Snell 1928, 10–19; Derbolav
1989). Einerseits werden darin partielle Überschneidungen zur lateinischen
fictio virulent. Denn so wenig der Fiktionsbegriff auf die bloße Repräsentation
von Imaginärem oder Illusionen reduzierbar ist (Iser 1991), so sehr umfasst er
ebenso Akte der Hervorbringung, des Bewerkstelligens, des Realisierens und der

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Poetologie des Wissens   465

Formung, die sich in spezifischen Gebilden oder Figuren manifestieren und  –


diesseits des Stigmas von Unwahrheit und Täuschung – auch die pragmatische
Wirksamkeit gerechtfertigter oder heuristischer Fiktionen in verschiedenen
Wissensgebieten und im Prozess intellektueller Welterschließung einbeziehen
(Stierle 2001, 380–389; Vaihinger 1986). Andererseits wurde das damit verbun-
dene Wissen systematisch vom theoretischen Wissen der episteme unterschie-
den. Bereits Platon separierte die poetische Tätigkeit der Dichter von den Bezir-
ken gesicherten Wissens (Platon 1957, 536c; Schlaffer 2005, 11–25), und als Wissen
vom Allgemeinen, vom Notwendigen und Prinzipiellen hat Aristoteles’ episteme
das situative Hervorbringen aus seinem Geltungsbereich ausgeschlossen (Aris-
toteles 1995, 1139b15−1139b31). Gerade diese Spannung – die noch in der Unter-
scheidung zwischen knowing how und knowing that durchscheint (Ryle 2002,
26–77) – wird aber zum Ausgangspunkt einer Poetologie des Wissens, die in der
Geltung von Wissensordnungen genetische Spuren und variable Gestaltungen,
aber auch kontingente Faktoren und Umstandsbestimmungen aufsucht.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich eine Poetologie des Wissens nicht
nur mit den performativen oder rhetorischen Überschüssen diskursiver Darlegun-
gen und nicht nur mit jenen ‚metaphorischen‘ Rudimenten an Vieldeutigkeit, die
innerhalb einer auf Eindeutigkeit abzielenden Begriffssprache insistieren (Blu-
menberg 2007). Sie verknüpft vielmehr den kreativen Aspekt von Wissensbildun-
gen mit deren Konsistenzanspruch (Pethes 2003, 208), reklamiert die Kategorie
des Gemachtseins für die Untersuchung von Wissensobjekten überhaupt und
lässt dabei zunächst einige Anknüpfungspunkte zur jüngeren Wissens- und Wis-
senschaftsgeschichte erkennen. In diesen science studies wird die Konstruktions-
weise epistemischer Objekte verfolgt, eine Vielzahl verschiedenartiger, interner
und externer Faktoren  – Praktiken, Labortechniken, symbolische Operationen,
das Zusammenwirken von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren oder
Agenten – in Rechnung gestellt und der wissenschaftshistorische Schauplatz vom
Progress szientifischer Rationalität gelöst (Latour 2000; Rheinberger 1992). Diese
Fragestellungen verweisen auf Untersuchungen der historischen Epistemologie
und der Wissenssoziologie in den dreißiger Jahren zurück. Dabei geht es um den
Status des ,Wissenschaftswirklichen‘, um den Verfertigungsprozess wissenschaft-
licher Tatsachen und nicht zuletzt darum, das Thema der Diskontinuitäten und
epistemologischen Brüche in die Geschichte des Wissens einzuführen (Bachelard
1988, 11; Fleck 1980). Mit einer mehrfachen Distanzierung  – zum wissenschaft­
lichen Faktum als Abbild, zur einheitsstiftenden Figur des Subjekts, zur Evidenz
prädiskursiver Erfahrungen und zur invarianten Struktur von Erkenntnis  –
wurden die Fachgebiete und Wissenschaften in Richtung auf ihr eigenes Außen
überschritten, und zwar in einer Weise, die die wissenschaftliche Aussage in
einem heterogenen Komplex von Praktiken und Prozeduren lokalisiert. Die Aus-

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bildung wissenschaftlichen Wissens führt nicht von Gegenständen zu Begriffen,


sie verläuft vielmehr in umgekehrter Richtung, Beobachtung und Experiment sind
nur unter dem Zwang vorausgehender Bahnungen möglich. Diese Denaturalisie-
rung des wissenschaftlichen Tatsachenbegriffs bezieht das Gegebensein auf die
Begriffspraxis selbst, an der sich die Institution des Faktischen entscheidet. Mit
den Perspektiven einer historisierenden Epistemologie wurde der Blick auf die
immanenten Normierungsprozesse gelenkt, die die verschiedenen wissenschaftli-
chen Tätigkeiten begründen und leiten, vor allem aber auf die Abschattung jener
Kräfte, Interessen, Praktiken und ‚Phänomenotechniken‘, die an der Formierung
von Erkenntnisobjekten unmittelbar beteiligt sind (Schäfer 2013, 37–39).
Ein zweiter Anknüpfungspunkt liegt in Konzeptionen, die sich schon seit
dem 19.  Jahrhundert und in verschiedenen Disziplinen  – von der politischen
Ökonomie über die Philosophie bis zur Ethnologie oder Psychoanalyse  – mit
den Wirksamkeiten unverfügbaren Wissens, mit der Virulenz ungewussten oder
unbewussten Wissens, mit dem Einschluss von Nichtwissen im Wissen beschäf-
tigten. So war Friedrich Nietzsches genealogisches Verfahren nicht nur von der
Annahme geprägt, dass jede strenge Begriffsbildung mit dem Vergessen einer
„primitiven Metaphernwelt“ (Nietzsche 1969a, 316) koinzidiert und die Funktion
der Sprachform selbst nicht an Logizität und Erkenntnissubstraten, sondern an
effizienten Täuschungspotentialen und Beherrschungsgesten gemessen werden
muss. Nietzsches Genealogie lässt sich auch als Historisierung dessen begreifen,
was bisher keine Geschichte hatte, was nicht oder nur schwer historisierbar
erschien. Grundbegriffe der Moral, der Erkenntnis und der Metaphysik werden
ebenso wie Affekte, Körperzustände und die Komponenten der Menschenform
überhaupt auf eine historische Analyse bezogen, die sich von historischer Wis-
senschaft wie Geschichtsphilosophie gleichermaßen unterscheidet. Das bedeutet
einerseits, dass scheinbare Beständigkeiten wie moralische Empfindungen und
Rationalitätsformen, Wahrheits- und Wertbegriffe nicht auf ideale Ursprünge,
sondern auf verstreute Herkünfte bezogen werden, die sich dauerhaften Bezugs-
systemen nicht assimilieren lassen. Andererseits liegt die Adresse genealogischer
Untersuchung stets im Wissen und in den Gewissheiten der eigenen Gegenwart –
die Genealogie schreibt sich selbst nur ein partielles und perspektivisches Wissen
zu (Nietzsche 1969b, 1969c). Spätestens seit dem 19. Jahrhundert jedenfalls kann
man eine Auflösung der Einheit von Wissen, Bewusstsein und Erkenntnis bemer-
ken. Sei es Nietzsches genealogisches Interesse, sei es der Marx’sche Begriff der
‚Ideologie‘ oder Sigmund Freuds Konzept der Interpretation: In all diesen Fällen
wird eine Differenz zwischen Bewusstsein und jenem nicht gewussten Wissen
gezogen, das sich in sozialen Formationen, aber auch in Instinkten, Physiologien
und Körperzuständen zu einer notwendigen Illusion verdichtet hat und gerade
mit seiner Latenz eine besondere Wirksamkeit entfaltet.

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Poetologie des Wissens   467

Ausgehend von Nietzsches prospektiver Geschichte des Wahrheitswillens


haben sich insbesondere die Studien Michel Foucaults einer genealogischen
Wendung verpflichtet; und mit den damit verbundenen Fragen nach einem
abendländischen ‚Willen zum Wissen‘ und seiner Morphologie können Foucaults
historische Untersuchungen in mehrfacher Hinsicht profilgebende Bedeutung
für eine Poetologie des Wissens beanspruchen. Das bedeutet zunächst die Wahl
einer Beschreibungsebene, die den Rückgriff auf globale Konzepte und Katego-
rien und insbesondere auf anthropologische, philosophische oder politische
Universalien meidet, reduziert oder skrupulös kontrolliert. So wenig Foucault
von dauerhaften Gegebenheiten des Wahnsinns, des Lebens, der Sexualität, des
Staates oder der Delinquenz sprechen mag, so wenig lassen sich die Bestände
und Transformationen historischer Wissensordnungen mit Bezug auf konstante
Einheiten wie ‚Erfahrung‘ und ‚Sinn‘, ‚Erkenntnis‘, ‚Subjekt‘ oder ‚Vernunft‘
fassen (Foucault 2005a). Zugleich wird eine genealogische Frage dort virulent,
wo Erkenntnis als ‚Erfindung‘ und Wissen selbst als Vollzug eines polemischen
Akts, als Motiv und Effekt eines Machtwillens interpretiert werden sollen, wie
Foucault das etwa am Verhältnis zwischen juridischer Praxis und Erkenntnis-
prozeduren interpretierte (Foucault 2002a). Sinnbeziehungen werden als Macht-
relationen ausgelegt; und diese „politische Geschichte“ von Erkenntnis und
Erkenntnissubjekt (Foucault 2002b, 683) führt einerseits dazu, dass keine Über-
einstimmung, kein affines Verhältnis zwischen Erkenntnis, Welt und mensch-
licher Natur unterstellt werden kann. Andererseits wird der Blick damit auf
‚Wahrheitsspiele‘ gelenkt, in denen sich Machtbeziehungen und Erkenntniswei-
sen wechselseitig unterstützen und steigern. Wissen ist demnach nicht durch
die Achse ‚Bewusstsein – Erkenntnis – Wissenschaft‘ definiert. Was hier in den
Blick genommen werden soll, ist vielmehr die Konfiguration eines Wissens,
das weder in den Disziplinen und Wissenschaften aufgehoben ist, noch bloß
lebensweltlichen Charakter besitzt, das vielleicht vorbegrifflich oder vorlogisch
strukturiert, aber nicht vordiskursiv ist, das verstreut und zusammenhängend
zugleich erscheint und die diversen Genres und Diskurse durchquert. Dieses
Wissen ist jenes Milieu, in dem diskursive Gegenstände ebenso ermöglicht
werden wie Subjekte, die darüber reden, es ist ein Gebiet, das die Regeln zur
Koordination und Subordination von Aussagen bereitstellt, es ist ein Raum,
der den Grenzziehungen zwischen Fächern, Disziplinen und Wissenschaften
vorausliegt und allenfalls als entzogenes Wissen, als „positives Unbewußtes“
virulent wird (Foucault 1971, 11; 1981, 259–260). Dieses Wissen meint also weder
Wissenschaft noch Erkenntnis, es verlangt vielmehr die Suche nach operativen
Faktoren und Themen, die auf verschiedenen Territorien wiederkehren, jeweils
Sil-Space?

eine konstitutive Position darin besetzen und doch keine Einheit und keine Syn-
these des Gegenstands unterstellen. Und dieses Wissen wäre damit ein Bereich,

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auf dem unvergleichbare Redeweisen, Äußerungsformen und Textsorten mitei-


nander korrespondieren.
Drittens schließlich bestehen wesentliche Resonanzen zwischen einer Poeto-
logie des Wissens und einigen grundlegenden Überlegungen zum Verhältnis von
Wissen und poetischen Formen. Der von Jacques Rancière geprägte Titel einer
„Poetik des Wissens“ meint die „Untersuchung aller literarischer Verfahren,
durch die eine Rede sich der Literatur entzieht, sich den Status einer Wissen-
schaft gibt und ihn bezeichnet“ (Rancière 1994, 17). Er verweist auf eine elemen-
tare Verschränkung von Erzählung und Wissenschaft in der Konstitution histo-
rischen Wissens, und er schließt damit an jene Studien zu einer Metageschichte
an, mit denen Hayden White historiographische und geschichtsphilosophische
Diskurse am Leitfaden von charakteristischen Tropen und Erzählformen ana-
lysierte (White 1991). Damit werden einerseits eine poietische Durchdringung
historisch-hermeneutischer Erkenntnisse und die rhetorische beziehungsweise
tropologische Verfassung argumentativer Strukturen überhaupt reklamiert; die
spezifische Beziehung zwischen Gegenstand und Darstellung muss als grundle-
gende wissenshistorische Fragestellung begriffen werden (Althusser und Balibar
1972, 13).
Andererseits liegt der historische Horizont dieser Verschränkung in einer
Transformation diskursiver Sachverhalte seit dem 19.  Jahrhundert, die den
Nenner eines linguistic turn erhalten hat und an die materiellen, arbiträren und
selbstreferentiellen Dimensionen sprachlicher Äußerungen geknüpft ist. Gerade
in den Überlegungen zum Status von Poetik und literarischen Sprachformen in
der Moderne – von Mallarmé bis zum nouveau roman – wurden poiesis und die
formative Kraft der Fiktion als ein der Sprache innewohnendes Vermögen der
Selbstreferentialität behauptet, als Fähigkeit, „dem Abwesenden eine Gestalt
zu geben oder das Anwesende in eine Abwesenheit zu entheben“ (Stierle 2001,
420; Foucault 1971, 369–371). Der moderne Fiktionsbegriff selbst hat sich damit
von repräsentativen Aspekten, von referentiellen Illusionen und der Darstellung
des Imaginären gelöst, bezieht sich auf Momente referenzlosen Erscheinens und
ermisst nicht die signifikative Distanz von Sprache und Dingen, sondern die in
die Sprachform selbst eingelassene Distanz, als die „sprachliche Ader dessen,
was so, wie es ist, nicht existiert“ (Foucault 2001a, 381). Jeder verweisenden
Funktion geht ein autoreferentieller Bezug voraus, der die Unterscheidungen
zwischen Wirklichkeit und Imagination unterläuft, und gerade der literarische
Diskurs erprobte damit ein Sprechen, für das die Geltung des Satzes vom Wider-
spruch aufgeschoben ist: „Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb: ‚Es
ist Mitternacht. Der Regen peitschte ans Fenster.‘ Es war nicht Mitternacht. Es
regnete nicht.“ (Beckett 1976, 243) Das Fiktive als Abstand der Sprache zu sich
selbst lässt sich somit als ein Darstellungshaftes begreifen, als genuine Poetizi-

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Poetologie des Wissens   469

tät, die jede repräsentative Darstellung bedingt, unterschiedslos die Diskursarten


und Gattungen durchzieht (Bellour 1991) und in dieser Wendung auch als Mög-
lichkeitsbedingung für eine Poetologie des Wissens begriffen werden muss.

3 Verfahren
Aus diversen Richtungen hat also eine Poetologie des Wissens einige sachliche,
thematische und methodische Impulse erhalten und nimmt eine Pluralität von
Wissensformen in Zusammenhang mit deren Repräsentationsweisen in den
Blick. Sie bezieht sich damit auf einen Gegenstandsbereich, den man – sehr vor-
läufig – ‚kulturelles Wissen‘ nennen könnte. Dieses kulturelle Wissen lässt sich
als ein Feld beschreiben, auf dem sich wesentliche Objekte und Referenzbereiche
kultureller Verständigung, deren Regeln und Verfahrensweisen und schließlich
die Kontroversen und Konflikte über Relevanz, Funktion und Gewichtung von
Wissensobjekten abzeichnen. Die Verschränkung von Wissen und Kultur ver-
weist auf ein dynamisches Ensemble aus symbolischen Ordnungen, Technolo-
gien und Strategien, die das Verhältnis von Gesellschaften zu sich selbst, zu ihrer
Geschichte und zu jeweils anderen Gesellschaftsformationen bestimmen. Wenn
Kultur allgemein als Horizont einer Verständigung darüber bestimmt werden
kann, wozu Gesellschaften fähig sind, so sollte auch ‚kulturelles Wissen‘ als ein
sozialer Möglichkeitsraum verstanden werden: als ein Bezirk, in dem sich die
Grenzen, die Gesetzmäßigkeiten und Ausdrucksweisen dessen reflektieren, was
in einer Gesellschaft innerhalb bestimmter Zeiträume ausgesagt und formuliert
werden kann. Dieses Wissen kann weder Subjekten noch Menschen zugerech-
net werden und erscheint allenfalls als eine „in der Kommunikation praktizierte
Zurechnungskonvention“ (Luhmann 1990, 142).
Von hier aus lassen sich einige methodische und thematische Orientierun-
gen formulieren, welche die Verfahren und Objekte einer Poetologie des Wissens
prägen. So werden erstens die Gegenstände des (kulturellen) Wissens nicht auf
privilegierte Weise in den Wissenschaften und durch sie bereitgestellt. Sie sind
weder in einer Teleologie szientifischer Erkenntnisprozesse noch in den Ratio-
nalitätsformen einzelner Fachgebiete auflösbar, sie gewinnen ihre größte Sicht-
barkeit vielmehr an deren Rändern, an Randgebieten und in Übergangsfeldern,
die nicht unbedingt an logischer Konsistenz und begrifflicher Einheit gemessen
werden können. Wissensobjekte werden somit auf ihre divergenten Herkunftsli-
nien und auf die heterogenen Spuren ihrer Verfertigung bezogen, sie lassen sich
allenfalls als ein komplexes referentielles System begreifen, das nicht auf eine
identische Sache zurückführbar ist (Vogl 2011, 64–65). In dieser Hinsicht ver-

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470   Interdisziplinäre Implikationen und Konzepte: Kulturpoetiken

folgt eine Poetologie des Wissens nicht eine unterstellte Einheit ihres Objekts,
sondern jene Verteilungen und Migrationen von Kenntnissen, die an der Gestal-
tung dieser Gegenständlichkeit beteiligt sind. Der Blick auf deren interne Man-
nigfaltigkeit schafft überhaupt erst die Voraussetzung dafür, die Geltung von der
Genese des Wissens zu unterscheiden und deren uneindeutiges Verhältnis zu
beobachten. Wahrheitsregeln für Diskurse und Formationsregeln für Wissensob-
jekte sind nicht aufeinander abbildbar, sie lassen sich nicht aufeinander reduzie-
ren. Während aber Wahrheitsansprüche wenig über den historischen Schauplatz
ihrer Formulierung verraten, geben Entstehungsprozesse Auskunft über Rele-
vanzkriterien, mithin über den Status und den strategischen Einsatzbereich des
jeweiligen Wissens.
Zweitens bedeutet das auch eine Suche nach operativen Themen und Fakto-
ren, die auf verschiedenen Sachgebieten wiederkehren, jeweils eine konstitutive
Position darin besetzen und doch keine Synthese und kein kohärentes Objektfeld
nahelegen. Als Beispiel dafür ließen sich etwa die Konzepte von Überfluss, Über-
schuss und Zirkulation im 18.  Jahrhundert nennen, die eine Verflechtung und
Korrespondenz verschiedener Wissensbereiche prägen: Sie erklären die Mecha-
nismen des Warentausches und des Geldumlaufs in der politischen Ökonomie,
sie beschreiben auf medizinischem Gebiet den Haushalt und die Homöostase
von Körperflüssigkeiten, sie bestimmen die Formierung und den Austausch
von Zeichen, sie werden in der Darstellung diätetischer oder naturhistorischer
Sachverhalte bemüht. Terme oder Kategorien dieser Art sind also keine Ideen,
sofern man darunter abgegrenzte und homogene Vorstellungen versteht, deren
Wirksamkeit die Einheit eines Wissenszusammenhangs begründen würde. In
den weitläufigen Diskussionen über ‚Luxus‘, Schwulst und Verschwendung, über
‚Frivolität‘, hitzige Leidenschaften und Schwärmerei durchqueren sie nicht nur
die unterschiedlichen Gebiete von Naturgeschichte, Ökonomie, Medizin, Ästhe-
tik usw., sie sind vielmehr in jedem dieser Gebiete selbst nur als begriffliche
Mannigfaltigkeiten fassbar und stellen in ihrer Heterogenität einen immanen-
ten Verweiszusammenhang her. Diese Kette, diese transversale Linie hat keinen
Ursprung außerhalb ihrer selbst. Sie ist kein gemeinsames Maß der verschie-
denen Bereiche; sie lässt nicht den Schluss zu, die Gebiete seien auf ähnliche
Weise strukturiert oder mit denselben Gegenständen befasst. Ihre Besonderheit
konstituiert sich vielmehr durch eine interne Resonanz oder ein Ensemble von
Implikationsrelationen. So enthält etwa die Frage der Übersetzung ein Problem
des Werts, so provoziert die Schatzbildung einen desaströsen Bedeutungsverlust
der Wörter, so ist der Blutandrang kaum ohne Affektstörung denkbar, so ist etwa
die Kommunikation von Zeichen korrelativ zu einer Hydraulik der Ströme (Vogl
1994). Diese wechselseitigen Implikationen errichten einen überdeterminierten
Zusammenhang zwischen verschiedenen Wissensregionen, von denen keine

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Poetologie des Wissens   471

als ursprünglich gedacht werden kann; sie konstituieren keinen einheitlichen


Gegenstand, sondern markieren eine Schwelle, an der sich die besondere Gestalt
der verschiedenen – ökonomischen, medizinischen, naturhistorischen, ästheti-
schen – Objekte formiert. Unterhalb thematischer Differenzierungen werden hier
gemeinsame Regelsysteme identifizierbar.
Damit lässt sich drittens ‚kulturelles Wissen‘ zugleich als eine Region begrei-
fen, in der aus verschiedenen Perspektiven eine begrenzte Reihe von möglichen –
relevanten, richtigen, falschen, kontroversen  – Aussagen formuliert werden
kann, die in ihrem Zusammentreffen eine unverwechselbare historische Materia-
lität konstituieren. Als Bedingung der Möglichkeit gemeinsamer Objekte verläuft
dieses Wissen über Äußerungsweisen unterschiedlicher Ordnung und Art und
erscheint in einem literarischen Text, in einer wissenschaftlichen Beobachtung,
in einer Abbildung oder in einem alltäglichen Satz gleichermaßen. Einerseits
werden damit Gegenüberstellungen wie die zwischen Subjektivem und Objekti-
vem, Realem und Imaginärem, Beweisbarkeit und Fiktion unterlaufen. Anderer-
seits ist keineswegs beabsichtigt, die jeweiligen Unterschiede zwischen Dichtung
und Wissenschaft, Kenntnissen und Fiktionen zu nivellieren, und ebenso wenig,
ein stabiles und entschiedenes Verhältnis von Wissenschaft, Wissen und etwa
Literatur zu unterstellen. Die Möglichkeit einer Beziehung zwischen Literatur
und Wissen liegt nicht in einer Widerspiegelung, sie liegt weder in einem Abbild-
verhältnis noch in einer Beziehung von Text und Kontext oder in einer Relation
zwischen Stoff und Form. Das Wissen literarischer Texte ist nicht auf den proposi-
tionalen Gehalt ihrer Aussagen beschränkt. Die Verknüpfung zwischen ‚Literatur‘
und ‚Wissen‘ legt vielmehr nahe, das Wissenssubstrat poetischer Gattungen und
die poetische Durchdringung von Wissensformen aufeinander zu beziehen und
beide damit im Milieu ihrer Geschichtlichkeit festzuhalten. Es sei dabei an eine
Bemerkung erinnert, die Gilles Deleuze einmal mit Blick auf Foucaults Arbeiten
gemacht hat: „Das Wesentliche besteht nicht in der Überschreitung der Duali-
tät Wissenschaft-Poesie [...]. Es liegt in der Entdeckung und Vermessung jenes
unbekannten Landes, in dem eine literarische Fiktion, eine wissenschaftliche
Proposition, ein alltäglicher Satz, ein schizophrener Unsinn usw. gleichermaßen
Aussagen sind, wenngleich ohne gemeinsames Maß, ohne jede Reduktion oder
diskursive Äquivalenz. Und dies ist der Punkt, der von den Logikern, den Forma-
listen und den Interpreten niemals erreicht worden ist. Wissenschaft und Poesie
sind gleichermaßen Wissen.“ (Deleuze 1987, 34) Die Besonderheit eines Wissens-
objekts ergibt sich für eine Poetologie des Wissens also aus der Überschneidungs-
dichte von Äußerungsweisen unterschiedlicher Ordnung und Art.
Wie eine Poetologie des Wissens nicht mit der Wahrheit der Aussagen, sondern
mit den Verfahren und Regeln beginnt, die gewisse Aussagen ermöglichen, so
lässt sich das Verhältnis von (literarischen) Texten und Wissen nicht auf Stoffe

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472   Interdisziplinäre Implikationen und Konzepte: Kulturpoetiken

und Motive oder eine Serie von Prädikationen und Referenzakten reduzieren.
Jeder literarische Text erscheint vielmehr als Teil von Wissensordnungen, sofern
er die Grenzen von Aussagbarem und Nichtaussagbarem fortsetzt, bestätigt,
korrigiert oder verrückt. Literarischer Text und Wissensordnung stehen in keiner
vorhersehbaren und entschiedenen Relation zueinander, ihr Zusammenhang
ergibt sich vielmehr in einem uneindeutigen Modus der Disparität. So sehr die
Differenzierung von (schönen) Künsten und Wissenschaft seit Ende des 18. Jahr-
hunderts die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen ermöglicht hat,
so unterschiedlich wurden diese Relationen reflektiert – von der romantischen
Einheit von Poesie und Wissenschaft über naturalistische Adaptionen szienti-
fischer Paradigmen bis hin zur Frage genuin literarischer Erkenntnisleistungen
(Musil 1978). Literatur kann selbst als eine spezifische Wissensform angesehen
werden, dort etwa, wo sie zum besonderen Organ und Medium von Einheiten wie
Werk oder Autor geworden ist; Literatur ist Gegenstand des Wissens, dort etwa,
wo sie eine bestimmte Art des Kommentierens hervorgerufen und die Möglichkeit
eines eigentümlichen Sprechens über das Sprechen geschaffen hat; Literatur ist
ein Funktionselement des Wissens, dort etwa, wo sie, wie in der geistesgeschicht-
lichen Tradition, das Feld einer schöpferischen Subjektivität auf herausragende
Weise besetzt; und Literatur wird schließlich durch eine Ordnung des Wissens
produziert, dort etwa, wo ihre Sprache wie keine andere beauftragt schien, das
Uneingestandene zu sagen, das Geheimste zu formulieren, das Unsagbare ans
Licht zu holen.
Für eine Poetologie des Wissens ergeben sich also die Konsistenz kulturel-
len Wissens und die Gestalt der darin identifizierbaren Wissensobjekte durch
ein mehrfaches Beziehungsgeflecht: durch ein referentielles System, das unter-
schiedliche Darstellungspraktiken miteinander korrespondieren lässt; durch
Implikationsrelationen, mit denen sich analoge Darstellungsregeln auf unter-
schiedlichen thematischen Gebieten identifizieren lassen; und mit der Feststel-
lung einer Überschneidungsdichte, die Äußerungsweisen unterschiedlicher
Ordnung und Art an spezifischen Knotenpunkten zusammenführt. Damit sind
schließlich zwei weitere Konsequenzen verbunden. Das bedeutet einerseits, dass
jede Wissensform auch einen begrenzten Platz für die entsprechenden Subjektpo-
sitionen einräumt, dass sie also die – institutionellen, strategischen – Prämissen
liefert, unter denen man sich im Verhältnis zu diesem Wissen artikuliert. Ande-
rerseits zeichnet sich kulturelles Wissen durch normative Implikationen aus und
ruft eine Wissenspragmatik auf den Plan, die ein besonderes Wissensformat mit
schwach über mäßig bis stark definierten Handlungsoptionen und Handlungsan-
weisungen verknüpft. Jede Wissensform korrespondiert direkt oder indirekt mit
nomologischen Kenntnissen und bestimmt damit die Art und die Regeln ihrer
Anschlüsse beziehungsweise Fortsetzungen: Optionen also, die darin bestehen,

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Poetologie des Wissens   473

dass Wissen je nach Fall und auf die eine oder andere Weise eben gerechtfertigt,
verwirklicht, befolgt, geschützt, preisgegeben, bekämpft, optimiert, gelehrt etc.
werden muss.

4 Schluss
Das Verfahren einer Poetologie des Wissens operiert mit einem offenen, pluralen
und schwach determinierten Wissensbegriff, verfolgt die spezifische Korrespon-
denz zwischen Darstellungsweisen und Wissensobjekten und beschreibt damit
die historische Singularität von Wissensordnungen. Inspiriert von einer his-
torischen Epistemologie, von genealogischen Problemstellungen und von Theo-
rien zur ‚poietischen‘ Verfasstheit von Wissen wird sie von zwei grundlegenden
Arbeitshypothesen geleitet. Sie folgt einerseits der Annahme, dass epistemolo-
gische Klärungen unmittelbar mit ästhetischen Entscheidungen verknüpft sind
und dabei zur Ausbildung besonderer Darstellungstypen – Genres oder Gattun-
gen im weitesten Sinn – führen. Andererseits nimmt sie Wissensordnungen nicht
allein über thematische und sachliche Einheiten, über Fachgebiete, Disziplinen
oder spezialisierte Wissenschaften in den Blick; sie konzentriert sich vielmehr
auf Beziehungsgeflechte und Korrespondenzen, die in der Einheit von Wissens-
objekten eine Vielzahl heterogener Herstellungsverfahren und – umgekehrt – auf
unterschiedlichen thematischen Gebieten und Disziplinen analoge Bildungs-
regeln ausweisen können. Mit diesen Elementen charakterisiert sich eine Poeto-
logie des Wissens durch ein idiosynkratisches Vorgehen und unterscheidet sich
von einer robusten Methode dadurch, dass sie die Eingangsbedingungen ihres
Verfahrens zu reduzieren versucht, deren normative Implikationen in Rechnung
stellt und die Subsumtionskraft ihrer Begriffe minimiert. Während eine robuste
Theorie ihre Gegenstände – etwa das Wissen, die Wissenschaft, die Realien, die
Literatur, die Vernunft – immer schon kennt und darum keine Theorie benötigt,
setzt ein idiosynkratisches Verfahren die Unerklärtheit seines Untersuchungs-
bereichs voraus und provoziert mit ihrer analytischen auch eine theoretische
Aktivität, mithin die Arbeit an der Adaptionsfähigkeit ihrer Beschreibungen.
Sofern sich eine Poetologie des Wissens weder epistemologisch noch in einer Phi-
losophie des Bewusstseins begründet, hat sie ein paganes Wissen im Blick, wenn
‚pagan‘ (lat. pagus) sich auf einen lokalen, abgegrenzten und keineswegs globali-
sierbaren Bezirk bezieht. Das prägt auch ihr Verhältnis zur Geschichte als Kritik.
In Abgrenzung gegen einen kritischen „Gerichtshof“, der sich auf die Unterschei-
dung richtiger Erkenntnis von falschen Vorstellungen spezialisiert (Platon 1958,
201c), geht sie auf die Geschichtlichkeit derartiger Urteilsformen zurück und fragt

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474   Interdisziplinäre Implikationen und Konzepte: Kulturpoetiken

nach den positiven Beschränkungen dessen, was Ereignisse der Universalisier-


barkeit ermöglicht. Dies bedeutet die Wahl einer Beschreibungsebene, die nicht
zwangsläufig die Teleologien und Kriterien ihrer Gegenstände reproduziert; und
das bedeutet eine Kritik, die ihre eigene Generalisierungstendenz unterbricht. Sie
ergibt sich aus einem historiographischen Unternehmen, das seinen Reflexions-
raum gerade dadurch gewinnt, dass es das Wissen schließlich nicht hinsichtlich
seines Wesens, seiner Natur, seiner Grundlegung und seiner Rechte, sondern
hinsichtlich seiner Aktualität befragt und damit die historische Begrenztheit des
eigenen Verfahrens konzediert.

Weiterführende Literatur
Borgards, Roland, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.) (2013). Literatur
und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar.
Gamper, Michael (2009). Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740–1870. Göttingen.
Geisenhanslüke, Achim (2011). Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. München.
Krause, Marcus und Nicolas Pethes (Hg.) (2005). Literarische Experimentalkulturen. Poetologien
des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg.
Pethes, Nicolas (2004). „Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers“.
Romantische Wissenspoetik. Die Künste und Wissenschaften um 1800. Hrsg. von Gabriele
Brandstetter und Gerhard Neumann. Würzburg: 341–372.
Renneke, Petra (Hg.) (2009). Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne.
Heidelberg.
Vogl, Joseph (Hg.) (1999). Poetologien des Wissens um 1800. München.

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