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Carl G.

Hempel
Zur Wahrheitstheorie des
logischen Positivismus 1
( 1 935)

Dieser Aufsatz wurde durch eine Diskussion angeregt, die vor


kurzem zwischen Schlick und Neurath stattgefunden hat,
durch zwei Artikel in Band 4 der Erkenntnis' öffentlich
bekannt wurde und hauptsächlich die positivistische Auffas-
sung von Verifikation und Wahrheit betrifft.
Für die folgende Darstellung ist es vielleicht nützlich, auf die
allgemein bekannte grobe Klassifikation Bezug zu nehmen,
durch die die verschiedenen Wahrheitstheorien in zwei
Hauptgruppen aufgeteilt werden, nämlich die Korrespon-
denz- und die Kohärenztheorien der Wahrheit. Nach den
Korrespondenztheorien besteht Wahrheit in einer bestimmten
Übereinstimmung oder Korrespondenz zwischen einer Aus-
sage und den sogenannten »Tatsachen« bzw. der »Realität«;
nach den Kohärenztheorien ist Wahrheit dagegen eine mög-
liche Eigenschaft ganzer Aussagensysteme, d. h. eiri:e be-
stimmte Übereinstimmung von Aussagen miteinander; bei
extremen Kohärenztheorien wird Wahrheit geradezu mit der
wechselseitigen Vereinbarkeit der Elemente eines solchen Sy-
stems gleichgesetzt.
Die Wahrheitstheorie des logischen Positivismus entwickelte
sich Schritt für Schritt von einer Korrespondenztheorie zu
einer eingeschränkten Kohärenzthe.orie. Wir wollen kurz die
wichtigsten logischen Stufen dieses Prozesses betrachten (die
sich nicht vollkommen mit den historischen decken).
Die philosophischen Ideen, die L. Wittgenstein in seinem
Tractatus Logico-Philosophicus entwickelt hat, stellen den lo-
gischen und den historischen Ausgangspunkt für die For-
.schungen des Wiener Kreises dar und sind offensichtlich
durch eine Korrespondenztheorie der Wahrheit geprägt.
Nach einer von Wittgensteins grundlegenden Thesen ist eine
Aussage dann als wahr zu bezeichnen, wenn die von ihr
;tusgedrückte Tatsache oder der von ihr ausgedrückte Sachver-
halt existiert; andernfalls muß man die Aussage als falsch
96
bezeichnen. Nach Wittgensteins Theorie bestehen nun die für
die Welt konstitutiven Tatsachen letztlich aus bestimmten
elementaren Tatsachen, die sich ihrerseits nicht auf weitere
Tatsachen zurückführen lassen. Sie werden atomare Tatsachen
genannt, und die aus ihnen zusammengesetzten Tatsachen
heißen »molekular<<. Diesen beiden Arten von Tatsachen ent-
sprechend soll es auch zwei Arten von Aussagen geben:
atomare Aussagen, um atomare Tatsachen auszudrücken, und
molekulare Aussagen, um die molekularen Tatsachen auszu-
drücken. Die logische Beziehung zwischen molekularen und
atomaren Aussagen entspricht der formalen Struktur der Tat-
sachen; ebenso wie die Existenz oder Nicht-Existenz einer
molekularen Tatsache von der Existenz oder Nicht-Existenz
ihrer atomaren B.estandteile abhängt, wird ganz konsequent
auch die Wahrheit oder Falschheit einer molekularen Aussage
durch die entsprechenden Eigenschaften der atomaren Aussa-
gen bestimmt; anders gesagt: jede Aussage wird als eine
Wahrheitsfunktion der atomaren Aussagen aufgefaßt.
Wittgensteins Vorstellungen über Wahrheit wurden in der
Frühzeit des Wiener Kreises sehr weitgehend übernommen.
Neurath zweifelte als erster und entwickelte sich bald zu
einem sehr entschiedenen Gegner dieser Auffassung. Carnap
erkannte als erster die Tragweite von Neuraths Ideen. Er
machte sich einige von dessen wichtigsten Thesen zu eigen
und formulierte sie präziser; er und Neurath beeinflußten sich
gegenseitig und entwickelten aus diesen Ideen die Wahrheits-
theorie, mit der wir uns beschäftigen wollen.
Eine grobe, aber typische Formulierung von Neuraths
Hauptthesen sieht etwa folgendermaßen aus :J
Wissenschaft ist ein Aussagensystem, das aus Aussagen von
nur einer Art besteht. Jede Aussage kann mit jeder anderen
kombiniert oder verglichen werden, z. B. um aus den kombi-
nierten Aussagen Folgerungen abzuleiten oder um festzustel-
len, ob die betreffenden Aussagen miteinander verträglich sind
oder nicht. Aber Aussagen werden niemals mit einer »Reali-
tät«, mit »Tatsachen« verglichen. Niemand von denen, die
sich für eine Trennung zwischen Aussagen und Realität aus-
sprechen, kann präzise angeben, wie sich ein Vergleich zwi-
schen Aussagen und Tatsachen überhaupt soll durchführen
lassen, und wie wir uns Gewißheit über die Struktur der
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Tatsachen verschaffen könnten. Daher ist diese Trennung nur
das Resultat einer verdoppelnden Metaphysik und alle mit ihr
verbundenen Probleme sind bloß Scheinprobleme.
Aber wie läßt sich von einem solchen Standpunkt aus Wahr-
heit beschreiben? Offensichtlich verlangen Neuraths Ideen
nach einer Kohärenztheorie.
Erstmalig entwickelte Camap eine bestimmte Form einer
geeigneten Kohärenztheorie, deren Grundidee sich durch fol-
gende Überlegung klarmachen läßt: Wenn es möglich wäre,
die Relation zu den »Tatsachen« aus Wittgensteins Theorie zu
eliminieren und eine bestimmte Klasse atomarer Aussagen als
wahr auszuzeichnen, dann könnte man vielleicht Wittgen-
steins wichtige Gedanken über Aussagen und die Verbindun-
gen zwischen ihnen aufrechterhalten, ohne weiter von der
"fatalen Gegenüberstellung von Aussagen und Tatsachen und
den damit verbundenen unangenehmen Konsequenzen ab-
hängig zu sein.
Die erwünschte Klasse von Propositionen fand sich in der
Klasse derjenigen Aussagen, die Ausdruck reiner unmittelba-
rer Erfahrung ohne irgendeinen theoretischen Zusatz sind. Sie
wurden Protokollsätze genannt und ursprünglich glaubte
man, daß· sie keines Beweises bedürften.
Die Ersetzung der atomaren Aussagen durch Protokollsätze
war der erste Schritt bei der Abkehr von Wittgensteins Wahr-
heitstheorie.
Eine Veränderung der Auffassung von der formalen Struktur
des Systems wissenschaftlicher Aussagen bildet den zweiten
Schritt der Entwicklung, die von Wittgensteins Wahrheits-
theorie zu der von Camap und Neurath führt.
Nach Wittgenstein hat eine Proposition, die nicht letztlich
irgendwie verifiziert werden kann, keine Bede\ltung; mit an-
deren Worten: eine Aussage hat genau dann Bedeutung, wenn
sie eine Wahrheitsfunktion der atomaren Propositionen ist;
Die sogenannten Naturgesetze können - wie unten gezeigt
werden wird - nicht gänzlich verifiziert werden; nach dem
Tractatus sind sie daher überhaupt keine Aussagen, sondern
nur Anweisungen für die Bildung sinnvoller Aussagen.
Aber als Camap die Theorie, von der ich spreche, entwickel-
te, berücksichtigte er, daß in der Wissenschaft empirische
Gesetze in derselben Sprache formuliert werden wie andere
98
Aussagen, und daß sie mit singulären Aussagen verbunden
werden, um Vorhersagen abzuleiten. Daher schloß er, daß
Wittgensteins Bedeutungskriterium zu eng war und durch ein
weniger enges ersetzt werden müßte. Er charakterisiert empi-
rische Gesetze als allgemeine folgerungsreiche Aussagen, die
sich durch ihre Form von den sogenannten singulären Aussa-
gen wie »Hier herrscht im Moment eine Temperatur von 20
Grad« unterscheiden.
Eine allgemeine Aussage wird überprüft, indem man ihre
singulären Konsequenzen untersucht. Weil aber jede allgemei-
ne Aussage eine unendliche Klasse singulärer Konsequenzen
festlegt, kann sie durch sie nicht endgültig und vollständig
verifiziert, sondern nur mehr oder weniger gestützt werden:
eine allgemeine Aussage ist keine Wahrheitsfunktion singulä-
rer Aussagen, sondern hat im Verhältnis zu ihnen den Charak-
ter einer Hypothese. Die gleiche Tatsache kann man auch
folgendermaßen ausdrücken: ein allgemeines Gesetz kann
nicht formal aus einer endlichen Menge singulärer Aussagen
abgeleitet werden. Jede endliche Menge von Aussagen läßt
unendlich viele Hypothesen zu, von denen jede alle singulären
Aussagen impliziert, auf denen diese Menge beruht. Beim
Aufbau wissenschaftlicher Systeme gibt es daher ein konven-
tionelles Moment; wir müssen zwischen vielen Hypothesen
wählen, die logisch gleichermaßen möglich sind, und, wie
Poincare und Duhem häufig betonten, wählen wir im allge-
meinen eine durch ihre formale Einfachheit herausgehobene
Hypothese.
Außerdem ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß die
singulären Aussagen selbst im Vergleich zu den Protokollsät-
zen den Charakter von Hypothesen haben, wie Carnap in
»Unity ofScience« gezeigt hat. Konsequenterweise hängt also
auch die Frage, welche singulären Aussagen wir akzeptieren
und als wahr 4nerkennen, davon ab, welches der formal
möglichen Systeme wir wählen.
Unsere Wahl ist logisch gesehen zufällig, aber, wie besonders
Neurath betont hat, ist die große Anzahl von Wahlmöglich-
keiten praktisch durch psychologische und soziologische Fak-
toren beschränkt.
Auch ein zweites fundamentales Prinzip des Tractatus ist
daher abzulehnen: man kann Wahrheit oder Falschheit aller
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Aussagen nicht mehr unter Bezug auf die Wahrheit oder
Falschheit bestimmter Basisaussagen definieren, seien dies nun
atomare Aussagen, Protokollsätze oder andere singuläre Aus-
sagen. Denn es wurde gezeigt, daß auch die normalen singulä-
ren Aussagen im Vergleich zu Basisaussagen Hypothesen
sind. Eine Hypothese kann nicht vollständig und endgültig
durch eine endliche Menge · singulärer Aussagen verifiziert
werden und ist daher keine Wahrheitsfunktion singulärer
Aussagen; eine singuläre Aussage, die nicht selbst eine Basis-
aussage ist, kann deswegen auch keine Wahrheitsfunktion von
Basisaussagen sein.
Die verfeinerte Analyse der formalen Struktur des Aussagen-
systems führt daher zu einer weitgehenden Lockerung oder
des Wahrheitsbegriffs; denn aufgrundder eben
erwähnten Uberlegungen könnten wir sagen: In der Wissen-
schaft wird eine Aussage als wahr akzeptiert, wenn sie durch
Protokollsätze ausreichend untermauert wird. [...p• .
Und das kennzeichnet einen wesentlichen Zug, den die hier
betrachtete Theorie immer noch mit Wittgensteins Ansicht
gemeinsam hat: das Prinzip, die Oberprüfung jeder Aussage
auf eine bestimmte Art von Vergleich zwischen der betreffen-
den Aussage und einer bestimmten Klasse von Basisaussagen
zurückzuführen, die ihrerseits als endgültig und unbezweifel-
bar angesehen werden.
Die dritte und letzte Phase der hier behandelten logischen
Evolution läßt sich als der Prozeß der Eliminierung selbst
noch dieses Merkmals aus der Wahrheitstheorie beschreiben.
Wie Neurath schon ziemlich früh betonte,.ist es in der Tat
ohne weiteres vorstellbar, daß das Protokoll eines bestimmten
Beobachters zwei Aussagen enthält, die einander widerspre-
chen, z. B. »Ich sehe diesen Fleck ganz dunkelblau und auch
ganz hellrot«. Und wenn das in der Wissenschaft passiert,
dann läßt man wenigstens einen der beiden Protokollsätze
fallen. ·
Protokollsätze können daher nicht mehr als unveränderliche
Grundlage des ganzen Systems wissenschaftlicher Aussagen
angesehen werden, obgleich es richtig ist, daß wir häufig zu
Protokollsätzen zurückgehen, wenn eine Proposition
werden soll. Oder, wie Neurath sagt: Wir sind nicht gegen
einen Richter, der darüber entscheidet, ob eine Aussage ak-
100
zeptiert oder abgelehnt w:erden soll; einen solchen Richter
stellt das System der Protokollsätze dar. Aber unser Richter
ist absetzbar. Carnap vertritt dieselbe Ansicht und sagt: Es
gibt keine absolut ersten Aussagen, auf denen sich die Wissen-
schaft errichten ließe; bei jeder empirischen Aussage, selbst
bei Protokollsätzen kann weitere Bestätigung verlangt wer-
den; die Protokollsätze eines bestimmten Beobachters können
z. B. mit Hilfe der Aussagen eines psychologischen Berichts
über die Zuverlässigkeit des Beobachters vor und sogar wäh-
rend seiner Beobachtungen gerechtfertigt werden ..
Jeder empirischen Aussage läßt sich also eine Kette von
Testschritten zuordnen, in der es kein absolut letztes Glied
gibt. Wir müssen entscheiden, wann wir den Test abbrechen,
und der Vergleich der Wissenschaft mit einer Pyramide, die
auf festem Grund steht, trifft nicht mehr zu. Statt dessen
vergleicht Neurath die Wissenschaft mit einem Schiff, das
ständig auf offener See umgebaut wird und das niemals in ein
Trockendock gelegt und vom Kiel an aufwärts neu konstruien
werden kann.
Diese Grundvorstellungen implizieren offensichtlich eine
Kohärenztheorie der Wahrheit. Es muß aber betont werden,
daß Carnap und Neurath, wenn sie nur von Aussagen spre-
chen, damit keineswegs sagen wollen: »Es gibt keine Tatsa-
chen, es gibt nur Propositionen«; im Gegenteil wird das
Vorkommen einer bestimmten Aussage in einem Beobach-
tungsprotokoll oder in einem wissenschaftlichen Buch . als
empirische Tatsache angesehen und die vorkommenden Pro-
positionen als empirische Objekte. Was die Autoren sagen
wollen, läßt sich vielleicht präziser mit Hilfe von Carnaps
Unterscheidung zwischen der materiellen und formalen
Sprechweise4 klarmachen.
Wie Carnap gezeigt hat, gehön jede nicht-metaphysische
philosophische Überlegung zum Bereich der Wissenschaftslo-
gik, sofern sie nicht eine empirische Frage betrifft und daher
zur empirischen Wissenschaft gehört. Und jede Aussage der
Wissenschaftslogik läßt sich so formulieren, daß sie nur be-
stimmte Eigenschaften und Relationen wissenschaftlicher
Propositionen betrifft. Auch der Begriff der Wahrheit kann in
dieser formalen Sprechweise bestimmt werden, nämlich, grob
gesprochen, als hinreichende Übereinstimmung zwischen dem
101
System anerkannter Protokollsätze und den logischen Konse-
quenzen, die sich aus der fraglichen Aussage sowie den ande-
ren Aussagen, die wir bereits anerkannt haben, ziehen lassen.
Und es ist nicht nur möglich, sondern sogar viel korrekter,
diese formale und nicht die materielle Haltung einzunehmen.
Denn letztere führt zu vielen Pseudoproblemen, die sich in
der korrekten formalen Sprechweise nicht formulieren lassen.
Wenn·man sagt, daß empirische Aussagen »Tatsachen aus-
drücken« und Wahrheit dementsprechend in einer bestimm-
ten Korrespondenz zwischen Aussagen und den von ihnen
ausgedrückten »Tatsachen« besteht, dann bedient man sich
einer für die materielle Sprechweise typischen Formulierung.
Die mit dieser Sprechweise verbundenen Pseudoprobleme
leben noch in vielen Einwänden gegen die Ideen Carnaps und
Neuraths fort; das gilt auch für einige Einwände aus dem
Aufsatz von Schlick (und einige diesen sehr ähnliche Überle-
gungen, die kürzlich B. v. Juhos entwickelte))
Schlick wendet zunächst ein, daß der vollkommene Verzieht
auf die Idee eines Systems unveränderlicher Basissätze schließ-
lich auch der Vorstellung einer absolut sicheren Grundlage des
Wissens den Boden entzieht und daher zu einem vollständigen
Relativismus bezüglich des Wahrheitsproblems.führt.
Dem muß jedoch entgegnet werden, daß eine syntaktische
Theorie wissenschaftlicher Verifikation unmöglich eine theo-
retische Erklärung für etwas geben kann, was es im System der
wissenschaftlichen Verifikation überhaupt nicht gibt. Und
tatsächlich wird man nirgends in ·der Wissenschaft ein absolut
unbezweifelbares Kriterium finden. Um einen relativ hohen
Grad an Gewißheit zu erreichen, wird man auf die Protokoll-
sätze zuverlässiger Beobachter zurückgehen; aber auch sie
können anderen gut bestätigten Aussagen und generellen Ge-
setzen weichen. Es ist daher nicht angemessen, nach einem
absoluten Wahrheitskriterium für empirische Aussagen zu
verlangen; eine' solche Forderung geht von einer falschen
Voraussetzung aus.
Wir können sagen, daß . die Suche nach einem absoluten
Wahrheitskriterium eines der auf die materielle Sprechweise
zurückzuführenden Pseudoprobleme ist: Tatsächlich erweckt
die Formulierung, daß das Prüfen einer Aussage darin besteht,
sie mit den Tatsachen zu vergleichen, sehr leicht die Vorstel-
102
lung einer definiten Welt mit gewissen definiten Eigenschaf-
ten, und daher ist man leicht versucht, nach dem einen System
von Aussagen zu fragen, das eine vollständige und wahre
Beschreibung dieser Welt darstellt und als absolut wahr zu
bezeichnen wäre. Bei Verwendung der formalen Sprechweise
verschwindet das Mißverständnis, durch das eine korrekte
Formulierung verhindert wird, und damit verschwindet auch
das Motiv, nach einem Kriterium für absolute Wahrheit zu
suchen.
Schlick setzt voraus, daß es eine absolut sichere Grundlage
des Wissens gibt; andererseits räumt er aber ein, daß es
vorteilhaft ist, im Rahmen einer Wahrheitstheorie nur Propo-
sitionen zu betrachten. Daher bleibt für ihn nur ein Weg,
Wahrheit zu bestimmen, nämlich die Annahme, daß es eine
bestimmte Klasse von Aussagen gibt, die sowohl synthetisch
als auch absolut und unbezweifelbar wahr sind; durch Ver-
gleich mit ihnen kann dann jede andere Aussage überprüft
werden. Und tatsächlich nimmt Schlick an, daß es derartige
Aussagen gibt; er nennt sie »Konstatierungen« und gibt ihnen
die Form »Hier jetzt so und so«, z. B. »Hier jetzt blau und
gelb nebeneinander« oder »Hier jetzt Schmerz«.
Da Schlick aber selbst zugibt, daß alle wissenschaftlichen
Aussagen Hypothesen sind und verworfen werden können,
muß er annehmen, daß seine unabdingbaren >>Konstatierun-
gen« keine wissenschaftlichen Aussagen sind, sondern nur der
Anlaß, mit ihnen korrespondierende Protokollsätze aufzustel-
len; z. B.: »Der Beobachter Müller sah zu jener Zeit an jenem
Ort blau und gelb nebeneinander«.
Mit Bezug auf diese »Konstatierungen« behauptet Schlick
folgendes: ( 1) Im Unterschied zu gewöhnlichen empirischen
Aussagen werden sie in einem Akt verstanden und verifiziert,
nämlich durch Vergleich mit den Tatsachen. Damit kehrt er
also zu der materiellen Sprechweise zurück und beschreibt
»Konstatierungen« sogar als die festen Berührungspunkte
zwischen Wissen und Wirklichkeit. Auf die unangenehmen
Konsequenzen derartiger Überlegungen haben wir gerade
hingewiesen. (2) »Konstatierungen« können nichi: wie ge-
wöhnliche Aussagen aufgezeichnet werden und sind nur in
dem Moment gültig, in dem sie aufgestellt werden. Aber dann
ist unverständlich, wie eine »Konstatierung« mit einer ge-
IOJ
wöhnlichen wissenschaftlichen Aussage soll verglichen wer-
den können. Und ein solcher Vergleich ist notwendig, wenn
man wie Schlick annimmt, daß jede empirische Aussage am
Ende mit Hilfe von »Konstatieiungen« überprüft wird.
Trotzdem bleibt es wichtig, Schlicks Ausgangsüberlegung· zu
diskutieren: Die These von Carnap und Neurath, daß in der
Wissenschaft eine Aussage dann als wahr anerkannt wird,
wenn sie durch Protokollsätze hinreichend bewährt worden
ist, führt zu unsinnigen Ergebnissen, sofern die Idee absolut
wahrer Protokollsätze abgelehnt wird; denn offensichtlich
kann man sich viele verschiedene Systeme von Protokollsätzen
und durch sie hinreichend bestätigten Hypothesen vorstellen;
und nach dem formalen Kriterium von Carnap und Neurath
wäre jedes dieser verschiedenen, miteinander vielleicht unver-
einbaren Systeme wahr. Für jedes Märchen könnte ein System
von Protokollsätzen aufgestellt werden, durch das es hinrei-
chend bestätigt wird; wir nennen das Märchen jedoch falsch
und die Aussagen der empirischen Wissenschaft wahr, ob-
gleich beide diesem formalen · Kriterium gleichermaßen
genügen.
Kurz: Welches sind für Carnap und Neurath·die Merkmale,
mit deren Hilfe man die wahren Protokollsätze unserer Wis-
senschaft von den falschen eines Märchens unterscheiden
kann?
Wie Carnap und Neurath betonen, gibt es tatsächlich zwi-
schen diesen beiden Systemen keinen formalen oder logischen
Unterschied, jedoch einen empirischen. Das von uns als wahr
bezeichnete System von Protokollsätzen, auf das wir uns im
täglichen Leben und in der Wissenschaft beziehen, läßt sich
vielleicht nur durch die historische Tatsache auszeichnen, daß
es dasjenige System ist, welches die Menschheit und besonders
die Wissenschaftler unseres Kulturkreises tatsächlich akzep-
tien!n; »wahre« Aussagen sind vielleicht generell diejenigen
Aussagen, die von diesem tatsächlich akzeptierten System von
Protokollsätzen hinreichend bestätigt werden. 6
Die akzeptierten Protokollsätze werden als gesprochene
oder geschriebene physikalische Objekte angesehen, die von
den gerade erwähnten Subjekten hervorgebracht werden; und
es wäre möglich, daß die von verschiedenen Menschen hervor-
gebrachten Protokollsätze die Konstruktion eines· einheitli-
104
eben Systems wissenschaftlicher Aussagen nicht zulassen,
d. h. eines Systems, das von der Gesamtheit der Protokollsät-
ze verschiedener Menschen hinr<:ichend bestätigt wird; doch
glücklicherweise ist dies nicht der Fall: tatsächlich kommt der
bei weitem größere Teil der Wissenschaftler früher oder später
zu einer Übereinstimmung, und so ergibt sich als empirische
Tatsache aus ihren Protokollsätzen ein stets wachsendes und
sich ausdehnendes System kohärenter Aussagen und
Theorien.
Bei der Antwort auf einen Einwand von Zilsel7 macht Car-
nap8 eine Bemerkung, die es uns vielleicht erlaubt, diese
glückliche empirische Tatsache zu erklären.
Wie lernen wir, »wahre« Protokollsätze hervorzubringen?
Offensichtlich durch Konditionierung. Gerade so, wie wir ein
Kind daran gewöhnen, Kirschkerne auszuspucken, indem wir
ihm ein gutes Beispiel geben oder in seinen Mund fassen,
gerade so konditionieren wir es auch dazu, )mter bestimmten
Umständen bestimmte gesprochene oder geschriebene Äuße-
rungen hervorzubringen, z. B. »Ich bin hungrig« oder »Dies
ist ein roter Ball«.
Und wir können sagen, daß junge Wissenschaftler auf diesel-
be Weise konditioniert werden, wenn man ihnen in ihren
Universitätsveranstaltungen beibringt, unter bestimmten Be-
dingungen solche. Äußerungen zu machen, wie »Der Zeiger
steht nun auf der Skalenmarkierung Nummer 5« oder »Dieses
Wort ist Althochdeutsch« oder »Dieses historische Dokument
stammt aus dem 17· Jahrhundert«.
Vielleicht kann die allgemeine und ziemlich übereinstimmen-
de Konditionierung der Wissenschaftler bis zu einem gewissen
Grad die Tatsache des einheitlichen Wissenschaftssystems er-
klären.
Die Entwicklung des Wahrheitsbegriffes, die wir betrachtet
haben, ist eng mit einem Auffassungswandel bezüglich der
logischen Funktion von Protokollsätzen verbunden. Ich
möchte diesen Artikel mit einigen Bemerkungen dazu ab-
schließen.
U rsprunglich führte Carnap den Begriff des Protokollsatzes
ein, um die Basis der Überprüfung empirischer Aussagen zu
bezeichnen; in Abweichung von den Prinzipien Wittgensteins
zeigte er, daß selbst singuläre Aussagen in Relation zu den
105
Protokollsätzen hypothetischen Charakter haben: sie können
nicht endgültig verifiziert, sondern von ihnen nur mehr oder
weniger gut bestätigt werden. Und es gibt keine Regel, die
dasjenige Minimum an Bestätigung präzise festsetzte, das
notwendig ist, damit eine Aussage akzeptiert werden kann:
letzten Endes hängt die Anerkennung oder Ablehnung einer
Aussage von einer Entscheidung ab.
Und in der neuen Form der Theorie von Carnap und Neu-
rath sind Protokollsätze noch radikaler ihres Basis-Charakters
entkleidet:· sie verlieren die ihnen ursprünglich zugesprochene
Unwiderlegbarkeit; selbst die Protokollsätze erweisen sich im
Verhältnis zu anderen Aussagen des ganzen Systems als Hy-
pothesen; und so werden auch die Protokollsätze wie alle
anderen Aussagen schließlich aufgrund einer Entscheidung
angenommen oder abgelehnt.
Am Ende bleibt also, wie ich glaube, kein wesentlicher
Unterschied zwischen Protokollsätzen und anderen Sätzen
mehr übrig.
Neurath schlägt vor, den Ausdruck »Protokollsatz« auf
Aussagen einer bestimmten Form zu beschränken, nämlich
auf solche, in denen der Name eines Beobachters und das
Ergebnis einer Beobachtung vorkommen. Dadurch will er den
empirischen Charakter der Wissenschaft betonen, in der eine
gründliche Überprüfung meist auf Beobachtu1.1gssätze zu-
rückführt.
Carnap hingegen hebt hervor, daß (r) nicht jeder Test auf
solche Beobachtungssätze zurückführt, daß (2) Beobach-
tungssätze, wie sie Neurath vorschweben, selbst getestet wer-
den können, indem man sie womöglich auf Aussagen einer
anderen Form zurückführt. Und (3) betont er, daß die Festle-
gung der formalen Merkmale von Protokollsätzen in jedem
Fall eine Frage der Konvention und keine Tatsachenfrage ist.
Er illustriert diesen Standpunkt durch eine Skizze dreier ver-
schiedener Konventionen, von denen jede zu einer formalen
Charakterisierung einer Klasse von Protokollsätzen gewählt
werden könnte. Eine dieser Konventionen wurde von Popper
vorgeschlagen; sie besteht darin, daß Aussagen jeder Form als
Protokollsätze auftreten dürfen. Carnap hält Poppers Kon-
vention für die bequemste und einfachste der drei von ihm
diskutierten Konventionen. Auch ich glaube, daß diese Kon-
ro6
vention am ehesten Carnaps und Neuraths Grundüberzeu-
gungen über Verifikation und Wahrheit entspricht.
So ist der Begriff des Protokollsatzes am Ende vielleicht
überflüssig geworden. Aber er war doch zumindest ein höchst
wichtiger Hilfsbegriff, und seine Relativierung oder gänzliche
Abschaffung stellt erst den letzten Schritt in einer langwieri-
gen theoretischen Entwicklung dar.
Zuletzt wollen wir betrachten, was diese Entwicklung für
das, Problem der atomaren Tatsachen bedeutete, das in Witt-
gensteins Theorie eine beträchtliche Rolle spielt.
Nachdem die .zu lösenden Probleme korrekt in der formalen
Sprechweise formuliert wurden, erwies sich, daß die doppelte
Frage, was atomare Tatsachen und was atomare Aussagen
sind, in Wirklichkeit nur eine Frage ist, die zuerst in der
materiellen Sprechweise und dann in der formalen ausge-
drückt ist.
Es blieb also nur ein Problem, nämlich die Struktur der
atomaren Aussagen festzustellen, oder in der Formulierung
von Carnap: die logische Form von Protokollsätzen zu fin-
den. Dieses Problem wurde zunächst, nämlich in » U nity of
Science«, als eine Tatsachenfrage angesehen; aber dann führ-
ten Carnaps Überlegungen zu dem Ergebnis, daß die Form
von Protokollsätzen nicht vorgefunden werden kann,. sondern
mit Hilfe einer Konvention festgesetzt werden muß. Diese
Einsicht entfernt aus der Theorie des logischen Positivismus
über Verifikation und Wahrheit einen Rest von Absolutismus,
der auf metaphysischen Tendenzen beruht und durch eine
korrekte syntaktische Analyse der Wissenschaft nicht gerecht-
fertigt werden kann.

Anmerkungen

1 Leider war es notwendig, die Vorlage von Dr. Hempel leicht zu


kürzen. Der Hrsg. der Zeitschrift Analysis.
2 M. Schlick, »Über das Fundament der Erkenntnis«, in: Erkenntnis
4,79 ff.; 0. Neurath, »Radikaler Physikalismus und •wirkliche Welt<«,
in: Erkenntnis 4,346 ff.

107
3 (1) »Soziologie im Physikalismus«, in: Erkenntnis 2,293 ff.; (2-) »Physi-
kalismus«, in: Scientia Nov. 1931; (3) »Sozialbehaviourismus«, in:
Sociologus 8 (1932), S. 281 ff.; (4) »Einheitswissenschaft und Psycholo-
gie« in der Serie Einheitswissenschaft, Wien 1933 (Gerold); (5) »Proto-
kollsätze«, in: Erkenntnis 3,204 ff. .
3a Anm. d. übers.: Dieser Absatz sollte offenbar ursprünglich noch
einen weiteren Satz enthalten. Aufgrund eines Druckfehlers in dem mir
vorliegenden Ms. (Originaltext der Veröffentlichung in der Analysis)
kann ich diesen Satz jedoch nicht rekonstruieren.
4 Carnap, Logische Syntax der Sprache, Wien 1934; Ders.: »Philosophy
and Logical Syntax«, Londoner Vorlesungen aus dem Jahre 1934,
wiedergegeben in: Analysis, Bd. 2, H. 3· »The Unity of Science«, in:
Psyche Miniatures6;, L01idon 1934. ·
B. v. Juhos, »Kritische Bemerkungen zur Wissenschaftstheorie des
Physikalismus«, in: Erkenntnis, 4,397 ff.
6 Wahrheit wird also nicht ohne weiteres auf formale Eigenschaften eines
Aussagensystems reduziert: Carnap und Neurath setzen sich nicht für
eine reine Kohärenztheorie ein, sondern, wie wir zu Beginn sagten, für
eine eingeschränkte Kohärenztheorie der Wahrheit.
7 Zilsel, »Bemerkungen zur Wissenschaftslogik«, in: Erkenntnis 3,143 ff.
8 Carnap, »Erwiderung aufZilsel und Duncker«, in: Erkenntnis 3,177 ff.

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