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WAS HEISST „BEDINGUNGEN DER MÖGLICHKEIT"?

von A. R. Raggio, Cordoba/Arg.

Kants Stellung innerhalb der Geschichte der Philosophie wird meistens — und
scheinbar auch richtig — folgendermaßen charakterisiert: statt das Seiende nach
seinen Grundstrukturen zu erforschen, will .er zuerst ihre subjektiven Bedingungen
analysieren; statt direkt nach dem Wesen der Substanz, der Kausalität zu fragen,
will er sich zuerst überlegen, wie Substanz, Kausalität.im Kontext der subjektiven,
menschlichen Erfahrung funktionieren. Erst nachdem diese Funktionsweisen inner-
halb der Erfahrung gegenseitig und genügend erforscht wurden, kann man die
Frage nach ihrem ontologischen Wesen sinngemäß stellen.
Diese drastische Beschränkung des theoretischen Rahmens, innerhalb dessen die
überlieferten philosophischen Probleme zu stellen sind, hat Kant in bewußter
Anlehnung an die naturwissenschaftliche Methode durchgeführt: hier spielt das
Experiment eine ähnliche Rolle wie dort die Erfahrung; beide sind oberste
Entscheidungsinstanzen, die das zu erforschende theoretische Feld genau ab-
stecken und vor unrechtmäßigen Eindringlingen schützen *.
Man pflegt auch zu sagen — und wohl mit Recht —, daß das eigentlich Kanti-
sche in der vorigen Überlegung in einer gewissen Verschärfung ihrer Formulierung
besteht. Wir sagten, Kant wolle die subjektiven Bedingungen von Substanz,
Kausalität erforschen. Es soll eigentlich heißen, er wolle die subjektiven „Bedin-
gungen der Möglichkeit" 2 von Substanz, Kausalität erforschen. Vom Problem der
Wirklichkeit der Substanz, der Kausalität wird abgesehen und auf deren bloße
Möglichkeit zurückgefragt. Eine Philosophie, so sagt man, die sich nicht mit der
bloßen Wirklichkeit der Dinge begnügt, sondern ihre Möglichkeit, ihre innere
Ermöglidiung untersucht, sei allen anderen vorzuziehen.
Diese Tatsache aber, daß sidi Kant auf die Ergründung der Möglichkeit von
Substanz, Kausalität konzentriert und die Frage nach deren Wirklichkeit nicht in
den Vordergrund stellt, wird zwar als etwas Entscheidendes in der Kantischen
Philosophie betrachtet, aber eine wirkliche Erklärung dafür wird nicht gegeben.

1
Vgl. Kr. d. r. V., B XVIII, Anmerkung: „Diese dem Naturforscher nadigeahmte
Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was
sich durdi ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt."
2
Diese berühmte Wendung kommt zum ersten Mal im Haupttext der Kr. d. r. V. in
B 39 vor. Bei allen von Kant beeinflußten Philosophen — zuletzt bei Husserl und
Heidegger — ist sie zu einer Art clichi der philosophischen Fadisprache geworden.

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Man hätte doch langst sehen können, daß es sich um ein sehr subtiles, modales
Argument handelt; und wie Nicolai Hartmann sehr überzeugend gezeigt hat,
bilden diese modalen Begriffe meistens den Kern jedes philosophischen Systems.
Wir wollen gerade diese Lücke auszufüllen versuchen und die so berühmte, aber
auch so wenig verstandene Kantische Wendung von den „Bedingungen der Mög-
lichkeit" zum formalen Leitfaden unserer Untersuchung nehmen.
Zuerst könnte man sich vielleicht fragen, ob Kant nicht eine Begründung der
Möglichkeit statt der Wirklichkeit deshalb gesucht hat, um ein einfacheres Problem
zu bewältigen. Ab esse ad fosse valet consequentia 3; hätte er Bedingungen der
Wirklichkeit, so hätte er zugleich Bedingungen der Möglichkeit, aber nicht umge-
kehrt. Die Kantische Wendung würde also einer beabsichtigten Bescheidenheit in
der Problemstellung, die offenbar im besten Einklang mit Kants Denkweise und
mit seiner sogenannten skeptischen Methode 4 stehen würde, entspringen.
Trotzdem würde unseres Erachtens diese Interpretation den ganzen Sinn der
Kritik mißdeuten; Kant will nicht eine nur mögliche Kausalität erklären, sondern
die allein wirkliche, diejenige, die empirische Realität hat, gerade weil sie transzen-
dentale Idealität besitzt. Man kann nicht das Mögliche mit der transzendentalen
Idealität (und folglich auch mit der empirischen Realität) und das Wirkliche mit
der transzendentalen Realität identifizieren, weil die Wirklichkeit nur aus dem
Kontext der menschlichen Erfahrung bestimmt werden kann und der Begriff einer
transzendentalen Realität ein bloß problematischer ist5.
Gibt es aber für unser Problem nicht eine sehr einfache Lösung, die darin be-
steht, die Bedingungen der Möglichkeit einfach als Bedingungen des Wesens aus-
zulegen? Man braucht sich nur auf die jahrtausendelange Tradition des meta-
physischen Dualismus zu berufen und sagen, daß Kant einfach Bedingungen des
Wesens der Substanz, der Kausalität gesucht hat. Jedes Seiende ist nach dieser
Metaphysik eine Verbindung von etwas Zufälligem und etwas Notwendigem,
von Materie und Form. Die erste Komponente ist das nur Mögliche, das durch
Hinzukommen der zweiten wirklich wird.
Kant hat aber leider dieses alte metaphysische Schema so heftig angegriffen, daß
es wenig ratsam ist, es als theoretische Grundlage für seine Interpretation zu neh-
men. In B 284 heißt es nämlich: „Allein dieses Hinzukommen zum Möglichen
kenne ich nicht"; und in B 322 zeigt er, wie Materie und Form keine konstitu-
tive, metaphysische, sondern bloß eine reflexive, erkenntniskritische Bedeutung
haben. Bedingungen der Möglichkeit sind nicht Bedingungen des Wesens, weil
kein Seiendes in Materie und Form zerfällt; nur unsere Erkenntnis von einem
Seienden nimmt abwechselnd gewisse ihrer Momente als Materie oder als Form an,
um es innerhalb eines langen und komplizierten Erkenntnisprozesses gegenständ-
lich zu bestimmen e.
3
Vgl. B 20, B 283.
4
Vgl. B 451, B 514.
5
Vgl. B 343.
6
Vgl. auch Cassirer, Erkenntnisproblem, Bd. III, S. 6 ff.

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Versuchen wir jetzt, nadidem die zwei ersten Lösungsansätze mißlungen sind,
unser Problem von einem ganz anderen Standpunkt aus anzupacken: von seiner
formalen Struktur aus. Die Kantische Wendung spricht von Bedingungen; daß
sie subjektive sein sollen, unterliegt keinem Zweifel. Kant ist doch der große
Erbe des neuzeitlichen Subjektivismus; die Abgeschlossenheit und die theoretische
Erschöpf barkeit 7 der Vernunft — in welchen Kant offenbar allzu weit gegangen
ist — machen sie zur ausgezeichneten Grundlage für jede philosophische Erklärung
der Substanz, der Kausalität. Die Entgegensetzung von metaphysischer und tran-
szendentaler Deduktion 8 bringt diese Vorrangstellung der menschlichen Vernunft
und Subjektivität noch schärfer zum Ausdruck. Was aber nicht explizit gesagt
wird, ist: ob diese subjektiven Bedingungen zureichende oder notwendige — oder
beides — sein sollen.
Bei einem als gegeben vorausgesetzten Bedingungsverhältnis T ->· R ist T
zureichende Bedingung von R und R notwendige Bedingung von T. Aus T kann
man auf R schließen, aber aus nicht-T darf man nicht auf nicht-R schließen; aus
nicht-R kann man auf nicht-T schließen, aber aus R nicht auf T. Eine zureichende
Bedingung stellt etwas Bedingendes dar; eine notwendige etwas Bedingtes. Da in
der Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen aus dem Subjekt stammen
sollen, bestehen nur die folgenden beiden Möglichkeiten — wobei S und G an das
Subjektive und an das Gegenständliche erinnern sollen —:
(1) S -> G oder
(2) G -> S
In (1) ist S zureichende Bedingung von G. Da nun Kant, wie wir oben gesehen
haben, das modale Gesetz „Ab esse ad posse valet consequentia" anerkennt, kann
man aus (1) ganz einfach durch Kettenschluß den Satz ableiten, daß S zureichende
Bedingung der Möglichkeit von G ist. In Zeichen:
(1) S - > G
(3) G -> M(G) (M bedeutet Möglichkeit)
(4) S -> M(G)
Wenn also (1) zutrifft, d.h. wenn Kant zureichende Bedingungen gesucht
hat, dann kommt man sehr rasch zu einer Interpretation der Kantischen Wendung
von den Bedingungen der Möglichkeit: (4) sagt nämlich, daß S zureichende Be-
dingung der Möglichkeit von G ist. Es erhebt sich aber sofort die Frage, wieso
Kant für seine endgültigen theoretischen Formulierungen statt des stärkeren
Satzes (1) den wesentlichen schwächeren (4) gewählt hat. Aus (4) kann man
nämlich nicht (1) ableiten. Das mutet schon sehr eigentümlich und forciert an.
7
Vgl. B 89: „Er [der Verstand] ist also eine für sich selbst beständige, sich selbst ge-
nügsame und durch keine äußerlich hinzukommenden Zusätze zu vermehrende Einheit.
Daher wird der Inbegriff seiner Erkenntnis ein unter einer Idee zu befassendes und zu
bestimmendes System ausmachen, dessen Vollständigkeit und Artikulation zugleidi eine»
Probirstein der Richtigkeit und Äditheit aller hineinpassenden Erkenntnisstücke abgeben
kann/'
* Vgl. B 159.

155
Nun gibt es ein sehr wichtiges, aber wenig beachtetes Gedankenmotiv in der
Kritik der reinen Vernunft, das die Berechtigung von (1) — oder (4) —, eine
adäquate Formulierung der Struktur der Kantischen Beweise zu sein, in einem
ganz neuen Licht erscheinen läßt. Schon in A XI parallelisiert Kant die Methode
seiner Kritik mit der hypothetisch-deduktiven. Die Stelle lautet: „Da das letztere
— das Vermögen zu denken — gleichsam eine Aufsuchung der Ursache zu einer ge-
gebenen Wirkung ist, und insofern etwas einer Hypothese Ähnliches an sich hat (ob
es gleich, wie ich bei anderer Gelegenheit zeigen werde, sich in der That nicht
so verhält), so scheint es, als sei hier der Fall, da ich mir die Erlaubnis nehme, zu
meinen, und dem Leser also auch freistehen müsse, anders zu meinen/' Kant kann
also die tiefe Verwandtschaft seiner Methode mit der hypothetisch-deduktiven
nicht leugnen, will aber zugleich — wahrscheinlich beeindruckt vom Newtonschen
„Hypothesis non fingo" — die Differenzen nicht übersehen ö. Man kann nämlich
einen Satz aus vielen sich ausschließenden Hypothesen ableiten. In (1) ist S eine
Hypothese, die G erklärt. Nach der vorhin erwähnten Verwandtschaft sollte
man erwarten, auch andere Hypothesen Slf S2 ... Sn finden zu können, die
theoretisch dasselbe leisten: nämlich zureichende Bedingungen von G zu sein. So
verhält es sich auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und der hypothetisch-
deduktiven Methode. Aber in der Kritik, so fügt Kant hinzu und verspricht, später
einen Beweis dafür zu geben, verhält es sich anders. Hier gibt es zu einem ge-
gebenen Satz nur eine einzige Hypothese. Oder anders gesagt: hier sind die zu-
reichenden Bedingungen zugleich notwendige.
Den versprochenen Beweis von der Unizität der Hypothesen in der Transzen-
dentalphilosophie findet man fast am Ende der Kritik der reinen Vernunft im Ab-
schnitt der transzendentalen Methodenlehre, betitelt „Die Disciplin der reinen
Vernunft in Ansehung ihrer Beweise". Dies ist natürlich kein Zufall; die Transzen-
dentale Methodenlehre enthält nämlich Kants eigene Untersuchungen über die
logische Struktur der Kritik oder wie er selbst sagt, „die Bestimmung der formalen
Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft" (B 735). Besonders
hier und nicht in der Analytik oder in der Dialektik kann man von einer aus-
drücklichen metatheoretischen Einstellung reden.
Im erwähnten Abschnitt gibt Kant drei Regeln für einen korrekten transzen-
dentalen Beweis an. In der zweiten sagt er, „daß zu jedem transzendentalen
Satze nur ein einziger Beweis gefunden werden könne" (B 815). Die dritte be-
hauptet, „daß ihre Beweise — der reinen Vernunft — niemals apagogiscb, son-
dern jederzeit ostensiv sein müssen" (B 817). Beide Regeln gehören zusammen
und entspringen der Kantischen Grundkonzeption des Verhältnisses von Transzen-
dentalphilosophie und Mathematik. Der Abschnitt der Transzendentalen Me-
thodenlehre, betitelt „Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Ge-
brauche" (B 741 bis 766), analysiert dieses Verhältnis und stellt folgende Ge-
sichtspunkte in den Vordergrund.

• Vgl. A IX.

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Sowohl die Mathematik als auch die Transzendentalphilosophie sind synthetische
Erkenntnisse a priori. Als synthetische Erkenntnisse brauchen sie ein Drittes,
welches im entsprechenden Urteil zwischen Prädikat und Subjekt vermitteln kann.
Die analytische Erkenntnis dagegen kann dieses Dritten entbehren, weil die Ver-
mittlung im Urteil zwischen Prädikat und Subjekt durch das Teil-Ganzes-Ver-
hältnis übernommen wird. Als synthetische Erkenntnisse a priori brauchen aber
die Mathematik und die Transzendentalphilosophie kein zufälliges Drittes — wie
z. B. sinnliche Anschauung — sondern ein notwendiges. Die erste hat in den An-
schauungen a priori von Raum und Zeit dieses notwendige Dritte. Durch Kon-
struktion seiner Begriffe in Raum und Zeit kann die Mathematik zugleich synthe-
tisch und a priori sein. Die zweite dagegen kann nicht über eine intellektuelle
Anschauung verfügen, in welcher sie ihre Begriffe (Kausalität, Substanz usw.)
konstruieren könnte. Es gibt aber eine Einheit der menschlichen Erfahrung, und
diese kann als Ersatz für die fehlende intellektuelle Anschauung dienen. So wie
Raum und Zeit formale Momente der sinnlichen Anschauung und nicht Anschau-
ungen von abstrakten Formen sind 10, so ist auch die Einheit der Erfahrung ein
formales Moment unserer sinnlichen Erfahrung und natürlich kein abstraktes
Prinzip der Metaphysik. Auf diese Einheit der Erfahrung kann sich die transzen-
dentalphilosophische Synthesis stützen, genauso wie die mathematische Synthesis
auf den Anschauungen a priori von Raum und Zeit basiert. In beiden Fällen
operiert Kant mit seinem im Amphibolie-Kapitel herausgearbeiteten erkennt-
niskritischen Gegensatz von Form und Materie.
Hier aber bricht der Parallelismus ab. Kant hat noch gewagt, Raum und Zeit
für Anschauungen a priori zu halten. Die Einheit der Erfahrung dagegen ist keine
Anschauung, nicht einmal eine formale; sonst wäre die menschliche Vernunft
absolute Spontaneität, und das kann er seinen tiefsten metaphysischen Überzeugun-
gen gemäß nicht annehmen. Dies ist der Grund, warum die Konstruktion einen
ganz anderen Sinn in der Mathematik als in der Transzendentalphilosophie hat.
Dort ist sie Konstruktion der Gegenstände in den a priori gegebenen Anschauungen
von Raum und Zeit; hier ist sie bloß Konstruktion der Gegenstände in den a
posteriori gegebenen sinnlichen Anschauungen, aber nach Regeln, die die not-
wendigen Bedingungen der formalen Einheit der Erfahrung enthalten. Oder wie
Kant an einer sehr wichtigen Stelle der Transzendentalen Methodenlehre selbst
sagt (B 750): „Den mathematischen Begriff eines Triangels würde ich construiren,
d. i. a priori in der Anschauung geben, und auf diesem Wege eine synthetische,
aber rationale Erkenntnis bekommen. Aber wenn mir der transscendentale Be-
griff einer Realität, Substanz, Kraft, etc. gegeben ist, so bezeichnet er weder eine
empirische noch reine Anschauung, sondern lediglich die Synthesis der empirischen
Anschauungen (die also a priori nicht gegeben werden können) und es kann also
aus ihm, weil die Synthesis nicht a priori zu der Anschauung, die ihm correspon-
diert, hinausgehen kann, auch kein bestimmender synthetischer Satz, sondern nur
i'.Vgl B 147, B 160 Anm., B 206, B 298, B 324, B 347 und auch H. Sdholz, Das
Vermächtnis der Kantisthen Lehre von Raum und 2eit, Kant-Studien, Bd. XXIX, S. 36.

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ein Grundsatz der Synthesis möglicher empirischer Anschauungen entspringen.
Also ist ein transscendentalcr Satz ein synthetisches Vernunfterkenntnis nach
bloßen Begriffen, und mithin discursiv, indem dadurch alle synthetische Einheit
der empirischen Erkenntniss allererst möglich, keine Anschauung aber dadurch
a priori gegeben wird" n.
Kehren wir nun zu unserem Hauptthema zurück: warum fordert Kant in den
oben erwähnten zwei Regeln die Ostensivität und die Unizität jedes transzenden-
talen Beweises? Die Antwort liegt jetzt auf der Hand: ein transzendentaler Be-
weis ist eine Konstruktion, zwar keine mathematische in den Anschauungen a priori,
aber eine solche nach Regeln der Einheit der Erfahrung. Nun ist einerseits jede
Konstruktion ein Prozeß, in dem alle Konstruktionsschritte und der konstruierte
Gegenstand einzeln ausgewiesen werden, d.h. jede Konstruktion ist ostensiv.
Andererseits gibt es zu jedem gegebenen Gegenstand wesentlich nur eine Kon-
struktion, d. h. jede Konstruktion genügt der Unizitätsforderung12.

11
Vgl. audi B 195, B 259, B 315.
12
In der Kritik der reinen Vernunft findet man zwei gegensätzliche Motive in der
Auffassung der Subjektivität: nach dem einen bildet sie eine theoretische Einheit, die
ersdiöpfend erkannt werden kann (vgl. Anm. 7); folglich sind alle transzendentalen
Probleme entscheidbar und man versteht, warum Kant einmal die Idee hatte, einen
»transzendentalen Algorithmus* aufzubauen (vgl. Reflexion 5047). Typisch für diese Auf-
fassung ist die folgende Stelle aus A XIV (vgl. auch A VII und A VIII): „Nun ist
Metaphysik, nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller
Wissenschaften, die sidi eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit, und mit nur
weniger, aber vereinigter Bemühung, versprechen darf, so daß nichts für die Nachkommen-
schaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten,
ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können. Denn es ist nichts als das
Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet. Es kann
uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich
nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald
man nur das gemeinschaftliche Princip desselben entdeckt hat. Die vollkommene Einheit
dieser Art Erkenntnisse, und zwar aus lauter reinen Begriffen ohne daß irgend etwas
von Erfahrung, oder auch nur besondere Anschauung, die zur bestimmten Erfahrung
leiten sollte, auf sie einigen Einfluß haben kann, sie zu erweitern und zu vermehren,
madit diese unbedingte Vollständigkeit nicht allein thunlich, sondern auch nothwendig,..."
Nach dem zweiten Motiv dagegen bildet die Subjektivität ein theoretisches Feld, das
wir nie ganz erschließen können werden. Typisch für diese Auffassung ist die berühmte
Stelle aus dem Schematismus-Kapitel (B 180): „Dieser Schematismus unseres Verstandes ...
ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele ..."
Nun ist es sehr leicht, das erste Motiv mit vielen Grundgedanken der kritischen Philo-
sophie in Beziehung zu setzen. Wahrscheinlich hat auch die in der dritten oben genannten
Regel ausgesprochene Konstruktivitätsforderung hier eine Rolle gespielt — die erste von
uns nicht angeführte Regel (B 814) weist auch in dieselbe Richtung hin —; Konstruktivität
fällt zwar nicht mit Entscheidbarkeit zusammen — in der Sprache der rekursiven Funk-
tionen gesagt: rekursiv aufzählbar ist nicht mir rekursiv identisch — aber steht ihr doch
sehr nahe. Kant konnte natürlich diesen Unterschied nicht sehen — es handelt sich um
ein Ergebnis der Dreißiger Jahre — aber er hat allem Anschein nach die Ähnlichkeit be-
merkt. Hier wie sonst im Kantischen Denken ist es leicht, aus dem Arsenal der modernen
Grundlagenforschung Fehler in den Kantischen Beweisen und Argumentationen zu finden

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Wegen dieser Unizltätsforderung ist aber jede zureichende Bedingung für eine
transzendentale Wahrheit zugleich eine notwendige. Wenn wir also die Bedingun-
gen der Möglichkeit als zureichende Bedingungen interpretieren möchten, dann
würden wir auf zwei große Schwierigkeiten stoßen: erstens, wie wir am Anfang
bemerkt haben, würden Kants eigene Formulierungen seiner philosophischen
Hauptergebnisse allzu schwach sein, und zweitens sähen wir uns doch genötigt,
auch die zweite Interpretation mit Hilfe von notwendigen Bedingungen zu
berücksichtigen.
Gehen wir jetzt zur Analyse dieser letzten über. Nach Schema (2) sucht Kant
notwendige Bedingungen der Kausalität, der Substanz. Diese brauchen aber nicht
die einzigen zu sein; statt (2) sollte man eigentlich
(2') G -* St

haben. Aus der Falschheit eines S schließt man auf die Falschheit von G. Oder wie
Kant selbst sagt (B 819): „Der modus tollens der Vernunftschlüsse, die von den
Folgen auf die Gründe schließen, beweist nicht allein ganz strenge, sondern auch
überaus leicht. Denn wenn auch nur »eine einzige falsche Folge aus einem Satze
gezogen werden kann, so ist dieser Satz falsch." Dieser modus tollens bildet nun
meistens die Grundlage eines apagogischen oder indirekten Beweises; deswegen
fährt Kant fort: „Anstatt nun die ganze Reihe der Gründe in einem ostensiven
Beweise durchzulaufen, die auf die Wahrheit dieser Erkenntniss vermittelst der
vollständigen Einsicht in ihre Möglichkeit führen kann, darf man nur unter den
aus dem Gegentheil derselben fliessenden Folgen eine einzige falsch finden, so ist
dieses Gegenteil auch falsch, mithin die Erkenntnis, welche man zu beweisen hatte,
wahr/'
Nun argumentiert man auch so: zwar kann man aus der Wahrheit eines Sn auf
G nicht schließen, sondern nur aus der Falschheit eines Sn auf die Falschheit von
G. Aber wenn ein Sn wahr ist, dann ist dadurch G möglich geworden, denn wenn
Sn falsch wäre, würde auch G falsch. Die Wahrheit von einem Sn entfernt
sozusagen ein Hindernis für die Wahrheit von G.
Kant kennt eine ähnliche Situation und er beschreibt sie in B 818 folgender-
maßen: „Wenn die Gründe, von denen eine gewisse Erkenntniss abgeleitet werden
soll, zu mannigfaltig oder zu tief verborgen liegen, so versucht man, ob sie nicht
durch die Folgen zu erreichen sei. Nun wäre der modus ponens, auf die Wahrheit
einer Erkenntniss aus der Wahrheit ihrer Folgen zu schliessen, nur alsdann erlaubt,
— schon der Übergang von der Ostensivität auf die Unizität der Konstruktion ist nicht
unbeschränkt gültig — aber man darf andererseits nicht übersehen, mit welcher Genialität
Kant viele zeitgenössische Ideen vorweggenommen hat. Wir verweisen z. B. auf seine
Analysen der indirekten — apagogischen — und ostensiven Beweise (vgl. B 762, 817),
die uns fast wie von Brouwer geschrieben scheinen.

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wenn alle möglichen Folgen daraus wahr sind; denn alsdann ist zu diesen nur
ein einziger Grund möglich, der also auch der wahre ist. Dieses Verfahren aber ist
unthunlich, weil es über unsere Kräfte geht, alle möglichen Folgen von irgend
einem angenommenen Satze einzusehen; doch bediente man sich dieser Art zu
schliessen, obzwar freilich mit einer gewissen Nachsicht, wenn es darum zu thun
ist, um etwas bloss als Hypothese zu beweisen, indem man den Sdhluss nach der
Analogie einräumt: dass, wenn so viele Folgen, als man nur immer versucht hat,
mit einem angenommenen Grunde wohl zusammenstimmen, alle übrigen möglichen
auch darauf einstimmen werden. Um deswillen kann durch diesen Weg niemals
eine Hypothese in demonstrirte Wahrheit verwandelt werden." Kant unterscheidet
also zwei Fälle. Im ersten hat man alle Folgen eines gegebenen Satzes und aus
deren Wahrheit schließt man auf ihn; zwar nicht, wie Kant behauptet, weil dann
nur ein einziger Grund zu allen diesen Folgen möglich wäre, sondern ganz einfach
weil unter allen Folgen eines gegebenen Satzes er selbst enthalten sein muß. Im
zweiten Fall verfügt man nur über einige und nicht alle Folgen eines gegebenen
Satzes, und von der Wahrheit dieser einigen schließt man auf dessen Wahrheit.
Kant bemerkt ganz richtig, daß es sich um .einen Analogieschluß — eine unvoll-
ständige Induktion — handelt.
In unserem im vorletzten Absatz angeführten Argument wird auch ein Analo-
gieschluß angewandt; zwar keine unvollständige Induktion, sondern sogar die
klassische Form einer Analogie: aus A -> B leiten wir — A -> — ab. Die
logische Rekonstruktion unseres Argumentes nimmt folgende Gestalt an:
(2') G -* Si (i = l, 2,... n)
(3) -, M(Si) -> -, M(G)
(4) M(Si) -> M(G)
Si -> M(Si)
(5) Si -^ M(G)
Der Übergang von (2J) auf (3) entspricht einem gültigen modallogischen Gesetz;
derjenige von (3) auf (4) ist ein logisch ungültiger Analogieschluß. Folglich kann
man nicht nach dieser Rekonstruktion (5) aus (2*) ableiten. Es gilt aber noch mehr:
weder kann (5) aus (2') folgen noch umgekehrt (2*) aus (5). Man kann nämlich
solche G und Si angeben, die das eine wahr machen und das andere falsch
und umgekehrt. Im ersten Fall wähle man für G .einen logischen Widerspruch
und für Si einen beliebigen wahren Satz; im zweiten Fall für G einen beliebigen
wahren Satz und für Si einen logischen Widerspruch. Unter Voraussetzung der
üblichen modalen Gesetze kann man also nicht behaupten, daß „S ist notwendige
Bedingung von G" gleichbedeutend ist mit „S ist zureichende Bedingung von der
Möglichkeit von G".
Es gibt aber viele Stellen in der Kritik der reinen Vernunft, die ohne Zweifel
zeigen, daß Kant mindestens auf der Ebene seines intuitiven Denkens und der
entsprechenden Sprachlogik jene Sätze für gleichbedeutend hält. B 203 heißt es
z.B.: „Eine extensive Grosse nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der

160
Theile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also nothwendig vor dieser
vorhergeht)." Da diese Stelle nicht ausdrücklich philosophische Behauptungen
enthält, ist sie sehr aufschlußreich für die Eigentümlichkeiten von Kants sprach-
logischem Begriff der Möglichkeit. Eine philosophisch dagegen sehr wichtige
Stelle ist die folgende (B 259): -„Nun ist aber alles dasjenige, in Ansehung der
Gegenstände der Erfahrung, nothwendig, ohne welches die Erfahrung von diesem
Gegenstand selbst unmöglich sein würde" 13.
Der Übergang von der durch die zwei obigen (leicht zu vermehrenden) Bei-
spiele nachgewiesenen Gleichwertigkeit von „S ist notwendige Bedingung von G"
und „S ist zureichende Bedingung der Möglichkeit von G" innerhalb des Kantischen
Sprachdenkens zu ihrer logischen Rechtfertigung wird durch gewisse modallogische
Gesetze verbaut. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, kann man einfach den
ersten Satz als eine Definition des zweiten betrachten, wodurch auch gleichzeitig
eine Gebrauchsdefinition eines neuen spezifisch Kantischen Begriffs der Möglich-
keit (Mk) eingeführt wird.
S -* Mk(G) = df G -> S
Dadurch bleiben wir der Kantischen intuitiven Sprachlogik treu und vermeiden
den unsinnigen Versuch, sie durch eine logisch ungültige Analyse zu rekonstruieren.
Unser Ergebnis lautet: wenn Kant von den Bedingungen der Möglichkeit irgend-
einer gegenständlichen Gegebenheit spricht, so meint er eigentlich notwendige
Bedingungen dieser Gegebenheit. Ein und dasselbe transzendentalphilosophische
Problem kann er als die Aufsuchung der subjektiven Bedingungen, worunter
etwas möglich wird, oder als die Aufsuchung ihrer subjektiven und notwendigen
Bedingungen kennzeichnen. Viele Unklarheiten in den Kantischen Argumenta-
tionen kommen aber gerade von seinen sprachlich nicht klar genug formulierten
Begriffen.
Es wurde oft bemerkt, daß die Kantische Kritik im Gegensatz zu seinen eng-
lischen Vorläufern Locke und Hume die wichtigsten Ergebnisse der damaligen
Wissenschaft gar nicht widerlegt, sondern nur neu erklärt hat. Hume's Kritik des
traditionellen Substanzbegriffes vernichtet die newtonsche Physik; Kant dagegen
hegt gar keine Zweifel an der Gültigkeit dieser Wissenschaft. Man hat die Sache
so überspitzt und gesagt, daß eine Kanonisierung von Aristoteles, Euklid und
Newton in der Kritik der reinen Vernunft zu finden ist. Kant sagt nämlich (B 20):
„von diesen Wissenschaften [er meint die Mathematik und die reine Natur-
wissenschaft], da sie wirklich gegeben sind, lässt sich nun wohl geziemend fragen,
wie sie möglich sind; denn dass sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklich-
keit bewiesen". Und an einer anderen Stelle lesen wir (B 127): „Die empirische
Ableitung aber, worauf beide [Kant meint Locke und Hume] verfielen, läßt sich
18
Vgl. auch B 232: „So ist demnach die Beharrlidikeit eine notwendige Bedingung ..."

161
mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben,
nämlich der reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft, nicht ver-
einigen und wird also durch das Factum widerlegt." Aber gerade dieser Vorrang
der wissenschaftlichen Ergebnisse, die als unbezweifelbare harte Fakten angesehen
werden, steht im besten Einklang mit dem Umstand, daß in unserem Schema (2)
die Prämisse aus der gegenständlichen Seite und nicht aus der subjektiven ge-
schöpft wird. Weil Kant wissenschaftliche Sätze über die gegenständliche Struktur
der Welt — der Raum ist euklidisch, die Zeit ist ein eindimensionales Kontinuum,
es gibt eine eindeutige Zeitbestimmung der Gegenstände, usw. — als Prämissen
seiner transzendentalen Beweise benutzt, kann seine transzendentale Logik nicht
diesselbe produktive Funktion ausüben wie seinerzeit, nach der feinen Bemerkung
Husserls 14, die Platonische Dialektik auszuüben vermochte. Kant kann wissen-
schaftliche Ergebnisse analysieren, aber nie widerlegen oder korrigieren. Wie
könnte er das tun, wenn er gerade diese wissenschaftlichen Ergebnisse als Prämissen
in seinen transzendentalen Beweisen benutzen muß?
Husserl sieht den wesentlichen Unterschied zwischen Phänomenologie und
Kritizismus 15 gerade darin, daß die erste zu einem intuitiven, der zweite nur zu
einem regressiven Idealismus führt. Regressiver Idealismus heißt aber eine Philo-
sophie, die die Subjektivität am Leitfaden der gegenständlichen Weltstruktur zu
rekonstruieren versucht. Für Kant gibt .es keinen unmittelbaren, eben intuitiven
Zugang zur Subjektivität; deswegen muß er subjektive, aber notwendige Be-
dingungen der gegenständlichen Weltstruktur suchen, um auf diesem Umweg sich
einen mittelbaren, aber logisch fundierten Zugang zur Subjektivität zu verschaffen.
Das Mißtrauen gegen die Selbsterkenntnis bildet ein konstantes und schwer-
wiegendes Motiv im Kantischen Denken. Schon gegenüber den Engländern be-
hauptet er die Phänomenalität des empirischen Subjekts 16 und trennt scharf die
empirische Selbsterkenntnis von dem denkenden Selbstbewußtsein. B 406 heißt
es: „Nicht dadurch,, daß ich bloß denke, erkenne ich irgend ein Object; sondern nur
dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Be-
wußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegen-
stand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mir meiner
als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir der Anschauung meiner selbst, als
in Ansehung der Function des Denkens bestimmt, bewußt bin. Alle Modi des
Selbstbewußtseins im Denken, an sich, sind daher noch keine Verstandesbegriffe
von Objecten (Kategorien), sondern bloße logische Functionen, die dem Denken
14
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Jb. für Phil, und phänomenologisdie
Forsdiung, Bd. X, Halle 1929, S. 2.
15
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Pkäno-
menologle, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954, §§ 28—32.
16
Vgl. z. B. B 334, „... da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüth mit
einer anderen Ansdiauung, als der unseres inneren Sinnes zu beobachten."

162
gar keinen Gegenstand, mithin mich selbst auch nicht als Gegenstand zu erkennen
geben. Nicht das Bewußtsein des bestimmenden, sondern nur das des bestimm-
baren Selbst, d. i. meiner inneren Anschauung (so fern ihr Mannigfaltiges der all-
gemeinen Bedingung der Einheit der Apperception im Denken gemäß verbunden
werden kann), ist das Object."
Aber gerade dieses Mißtrauen gegenüber dem Erkenntniswert der Reflexion und
der Selbsterkenntnis paßt genau in unsere formale Analyse der transzendentalen
Beweise. Kant ist einerseits der Erbe von Descartes, Locke und Hume; die alten
klassischen Begründungen durch Ausweis eines komplexen ontologischen Bedingungs-
zusammenhanges haben für ihn keine Geltung mehr. Andererseits sieht er in der
menschlichen Subjektivität keinen festen Boden, woraus sichere Prämissen für
seine Beweise zu schöpfen wären. Vergessen wir nicht, daß es zu seiner Zeit keine
wissenschaftliche Psychologie von der Leistungsfähigkeit der newtonschen Physik
gegeben hat.
Er muß also subjektive Bedingungen suchen, weil die anderen — die gegen-
ständlichen, objektiven — was ihre Evidenz betrifft, suspekt und, was ihre Be-
deutung anlangt, zweideutig sind. Er kann aber nicht subjektive und zureichende
Bedingungen suchen, weil die Subjektivität keine tragfähige Basis für eine tran-
szendentale Kritik ist. Hier aber setzt das unseres Erachtens charakteristische und
originelle Motiv des Kantischen Denkens ein: die gesuchten Bedingungen sollen
zwar subjektiv, aber notwendig sein. Damit vollzieht Kant innerhalb der Tradi-
tion des Subjektivismus eine Wendung zu einem philosophischen Denken vom
Gegenstande her.

ANHANG
Zur Kantischen Auffassung der Modalitäten

Durch Einführung der folgenden Definition haben wir die Bedingungen der
Möglichkeit mit den notwendigen Bedingungen identifiziert,
T->Mk(S) = df S->T
Die Bedingungen der Möglichkeit sind Gründe der Möglichkeit; die Beziehung
,Grund zu sein" ist transitiv, nicht-symmetrisch und, je nach der Auffassung, re-
flexiv oder nicht. Nun kann man sich fragen, ob nach unserer Definition die
Beziehung Bedingung der Möglichkeit von" solche strukturellen Eigenschaften
besitzt.

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Die Transitivität ist leicht zu beweisen
T-*Mk(S) = df S->T
S -* Mk(X) = d{ X -> S

T->Mk(X) = di X-^T
Die Nicht-Symmetrie ergibt sich einfach aus dem Umstand, daß es Fälle gibt wo
S —> T gilt, aber T ->· S nidit gilt. Endlich d& S -* S immer gilt, ist unsere
Beziehung reflexiv. Wollten wir eine nicht-reflexive Beziehung, dann sollten wir
die Definition etwas abändern.
Unsere Definition der kantischen Möglichkeit (Mk) ist keine absolute, sondern
nur eine sogenannte Gebraudisdefinition innerhalb eines bestimmten Kontextes.
Man könnte eine absolute Definition folgendermaßen einführen,
Mk(S) = a{

In Worten gesagt: S ist kantisch möglich, wenn S eine wahre notwendige Be-
dingung hat. Da aber zu jedem S ein T gefunden werden kann, das aus S ableitbar
und wahr ist (z. B. S V R, mit wahrem R), ist diese Definition zu umfassend.
Eine vernünftige Einschränkung wäre:
(1) Mk(S) = df (3T) ((S -> T) -,(!·-> S) T)
Das heißt: S ist kantisch möglich, wenn es ein wahres T gibt, das aus S ableitbar
ist, aber aus welchem S nicht ableitbar ist. Nun bedeutet (1), daß S keine logische
Wahrheit ist. Nämlich, wenn S logisch wahr ist, dann ist T -^ S für alle T wahr
und das Definiens wird dadurch falsch. Wenn dagegen S keine logische Wahrheit
ist, dann kann man als T einfach S V R mit einem wahren R, aus welchem S
nicht ableitbar ist, wählen, und das Definiens wird dadurch offensichtlich wahr.
Mit Hilfe der Carnapschen Terminologie könnte man sagen, daß S kantisch mög-
lich ist, wenn er keinen kleinsten L-Inhalt besitzt.
Die kantische Notwendigkeit könnte man nachher, wie üblich, mit Hilfe der
kantischen Möglichkeit und der Negation einführen.

Nk(S)= d ! -iMk(-,S)
Man kann leicht beweisen, daß Nk(S) ->· Mk(S) (Wenn —i S eine logische
Wahrheit ist, dann ist S keine logische Wahrheit). Aber die grundlegenden Formeln
Nk(S) -> S und S -> Mk(S)
sind leider nicht beweisbar. Deswegen hat die von uns vorgeschlagene absolute
Definition der kantischen Möglichkeit wenig Aussicht, einen brauchbaren Begriff
zu bestimmen.

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Zum Schluß sei folgende Perle aus der Geschichte der Logik erwähnt. B 284
sagt Kant: „Was unter Bedingungen, die selbst bloß möglich sind, allein möglich
ist, ist es nicht in aller Absicht." Kant bestreitet hier die Gültigkeit von.
MM(S) -> M(S)
und bezieht sich dabei auf eine Hierarchie von Bedingungsstufen, die nicht auf
die unterste zu reduzieren sind. Ein ähnliches Argument hat Oskar Becker 17 auch
benutzt. Es handelt sich vielleicht um die erste historisch belegbare Absage an die
Gültigkeit jenes modalen Gesetzes.

17
Vgl. O. Bedcer, 2ur Logik der Modalitäten, Jb. für Phil, und phänomenologisdie
Forsdiung, Bd. XI, Halle 1930, S. 58.

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