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LOGISCHE FORM UND LOGISCHES WERKZEUG

HISTORISCHE ELEMENTE EINER FORMALEN THEORIE UND


TECHNISCHEN KONZEPTION DER LOGIK

von Karl Anton Sprengard, Mainz

I. Über den Mythos vom PbilosotVisdnen Dogma und die


Wirklichkeit der Logisaen Wissenschaft
S. Kierkegaards Gleichnis von der Philosophie als einer sich ewig häutenden
Schlange, in deren jeweils abgelegten Häute die dümmeren Anhänger hinein-
kriechen1, mag als Sinnspruch über einem schnellebigen Geschäft stehen. In die-
ser ständig sich selbst überholenden Bewegung der philosophischen Vernunft,
deren materiale Diszipline im Strudel von Kritik und Antikritik nie dauerhaf-
ten Boden gefunden haben2, scheint die Logik eine seltsame Stütze zu bieten,
erwächst doch in ihr „das einzige Dogma der Philosophie, das sich gehalten hat" *.
Kein geringerer als I. Kant hat in jenem Werk, da er in der Götterdämmerung
der alten Metaphysik die überkommenen Vorstellungen von Gott, Seele und Welt
zu Götzen der unkritischen Vernunft erklärte, dazu beigetragen, der Logik diesen
Nimbus einer fertigen Sache zu verschaffen4. Daß schnell jedoch die Schleier
dieses unkritischen Dogmas zerreißen und den Blick auf ein spannungsgeladenes
Feld unentwegter Forschung freigeben, ist der Lohn einer einleitenden Bemühung
um den Stand fortschrittlichen logischen Problembewußtseins.
Schon die einfache Frage, was sind und was sollen logische Gebilde, zeigt
vordergründig, wie schwierig zu antworten ist. Die sich vorschnell anbietenden
1
Die Tagebüdier, ausgewählt u. übersetzt v. Th. Haecker, Innsbruck 1923,1, 71.
2
Vgl. G. W. F. Hegels Kritik der These, Philosophie sei eine „Galerie der Narr-
heiten" oder Kette von „Verirrungen", in Vorlesungen über die Gcsaichte der Philo-
sophie, Berliner Einleitung.
* R. Heiss, Wesen und Formen der Dialektik, Köln u. Berlin 1959,15.
4
Kr. d. r. V., B VIII: Daß die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten
Zeiten her gegangen sei, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun
dürfen ... Merkwürdig ist noch an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts
hat tun können und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint.
— B IX: Daß es der Logik so gut gelungen ist, diesen Vorteil hat sie bloß ihrer Einge-
schränktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt ... ist, von allen Objekten der Er-
kenntnis ... zu abstrahieren, und in ihr also der Verstand es mit nichts weiter als sidi
selbst und seiner Form zu tun hat. — Vgl. B 81.

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Formeln, Logik sei Lehre vom Denken (λόγος als νοεΐν) oder sinnvollen Sprechen
(λόγος als λέγειν) stellen sich als zu d rftig und vieldeutig heraus, als da sie be-
friedigen 5. Audi die Eingrenzung auf ,formallogisdie Gebilde5 und die sich flugs
einstellende Redewendung von gedanklichen Formen und Werkzeugen bleibt in
roher Naivit t stecken. Diese zu berwinden, ist die M he einiger Denkbewe-
gungen wert, die Tatbestand, Fragestellung und Aufgabe der Logik umrei en
sollen.
(1.1) Der logische Tatbestand. Gesichertster Besitz ist der logische Tatbestand.
Er umfa t 1. die in der Erfahrung gew hrleisteten Tatsachen und 2. die ge-
schichtlichen Daten ihrer Entdeckung, Erfindung oder Auslegung.
(1.11) Logische Tatsachen: Πάντες άνθρωποι του είδέναι ορέγονται φύσει6. Diese
Anzeige pers nlichen Wissensdranges und gedanklichen Wirkens ist die anthropo-
logische Version jenes Horizontes, innerhalb dessen Ausmessungen das logische
Ph nomen f r uns berhaupt sichtbar wird. Es zeigt sich in dreifacher Urbedeu-
tung als 1. λόγος τινός (Anzeiger eines Gegenstandes), 2. λόγος της "ψυχής (seelischer
Elementarproze ) und 3. τα αναλυτικά (formallogisches Gebilde, das bei formaler
Analysis der Denkvorg nge als deren formale Struktur zum Vorschein kommt).
Letztere Klasse ist, da sie eigens hier thematisch wird, klarzustellen:
Versteckt in Lebensregungen des Alltagsverhaltens 7, aufbereitet und gespeichert
in der logischen Summe reichen Schrifttums, geh ren formallogisdie Tatsachen zu
den festen Gegebenheiten, an denen nicht zu r tteln ist. Die logische Aufkl rung
bt seit Anbeginn ihrer literarischen Aufzeichnung bei Plato und Aristoteles einen
unausweichlichen Zwang auf die Geister aus. Dieser stellt sich beim Lesen lterer
wie junger Texte ebenso .ein, wie er dann wirkt, wenn der Tatbestand umst nd-
lich in nat rlicher Sprache verfa t oder knapp in mathematisch anmutenden
Symbolismen pr zisiert ist. Einige willk rlich aufgerufene Beispiele m gen die
angedeutete Sache vertreten.
Die erste der Schlu figuren (σχήματα των κατηγορίων) 8 aus der assertorischen
Syllogistik 9, verdeutlicht am Beispiel der ber hmten Diairese aus dem Sopbistes,
ist heute wie fr her einleuchtend.

* Die dunkle Ambivalenz des Terminus ,Denklehre* beklagt etwa G. Frege mit Blick
auf dessen psychologische Verwaschenheit: „Und so kamen dann unsere diien Logik-
b cter zustande, aufgedunsen von ungesundem psydiologisdiem Fette, das alle feineren
Formen verh llt", in Grundgesetze der Arithmetik, Jena 1893,1, XXV.
β
Aristoteles, Metaphysik A l, 980 a.
7
Beispiel von P. Lorenzen, Methodisches Denken, Frankfurt 1968, 10: Sdion f nf-
j hrige Kinder sdilie en mit der gr ten Bequemlichkeit. Liest man etwa einem Kinde
aus der Speisenkarte in einem Restaurant vor, es k nne Eis oder Schokolade bekommen,
und fugt der Kellner hinzu, Eis k nne es heute leider nicht bekommen, so sddie t das
Kind bestimmt sofort, also k nne es Schokolade bekommen.
8
Aristoteles, Analytica priora, I 4, 25b 32—35.
f
Aristoteles, Topik, I l, 100* 25—27: Der Syllogismus ist aber ein Logos, in wel-
diem, indem gewisse Voraussetzungen gemacht werden, etwas anderes als diese
Voraussetzungen mit Notwendigkeit eben wegen dieser Voraussetzungen folgt. — Vgl.
Anal. Pr., I l, 24b 18—22.

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Verhalten sich drei Termini so zueinander, da der letzte Im mittleren als Im Gan-
zen und der Mittlere im ersten als im Ganzen ist oder nicht ist, so ergibt sich not-
wendig aus den u eren Termini ein vollkommener Schlu ια.

maior M —P
minor S —M
conclusio S —P

hnlich verbindlich u ert sich die Ableitung der Modi (τρόποι τη; σχημάτων),
die sich aus der Kombinatorik aller m glichen, nach Quantit t und Qualit t der
Urteile differenzierten Vorders tze ergeben. Beispiel ist die Schlu weise »Barba-
ra* ll.
Wenn A von jedem B ει το Α κατά παντός του Β
und Β von jedem C, και το Β κατά παντός του Γ
mu Α von jedem C . ανάγκη το Α κατά παντός του Γ
ausgesagt werden κατηγορεΐσθαι
Aus dem Archiv megarisch-stoisdier Logik bekundet sich die Definition des
aussagenlogischen Funktors der Konjunktion (συμπεπλεγμένον, coniunctum, co-
pulatum) ebenso zeitlos g ltig. Sie besagt, da konjunkt zusammenh ngende
S tze dann und nur dann wahr sind, wenn alle Glieds tze wahr sind 12.
,P. Scipio, Sohn des Paulus, war zweimal Konsul und hatte einen Triumph und war
Zensor und war in der Zensur Kollege des L. Mummius.' In jedem konjunktivcn
[Satz] wird, wenn ein [Teil] falsch 'ist — auch falls die anderen wahr sind —, das
Ganze falsch genannt. Denn w rde ich all dem, was ich von jenem Scipio wahr gesagt
habe, hinzusetzen: ,und hat Hannibal in Afrika besiegt', was falsch ist, dann w rde
auch all das unwahr sein, was damit konjunktiv ausgesagt ist: wegen dieses einen fal-
schen Zusatzes, weil [alles] zugleich ausgesagt wird.
So sehr sich .auch antike und mittelalterliche Logiker beim Aufsuchen, Sammeln
und Beschreiben bzw. Herstellen logischer Tatsachen Verdienste erworben haben,
so wenig l t sich verheimlichen oder bestreiten13, da die modernen Vertreter
der Logik (auch Logistik, symbolische oder mathematische Logik genannt) dank

10
Plato, Sopkistes 218D—221C. — Form in der Analytik (siehe Anm. 8):
Die erwerbende Kunst ist in der Kunst im allgemeinen enthalten
die nachstellende Kunst ist in der erwerbenden Kunst enthalten
Die nachstellende Kunst ist in der Kunst im allgemeinen enthalten
11
Analytica Priora I, 4, 25b 37 ff. — Beispiel:
Wenn Lebewesen jedem Menschen zukommt
und Mensch jedem Griechen zukommt,
dann mu Lebewesen auch jedem Griechen zukommen.
12
Aulus Gellius, Noctium Atticorum libri XX, ed. M. Hertz et C. Hosius, tom 2,
Lipsiae 1903, XVI 8; in Obers. I. M. Bodienski, Formale Logik, Freiburg-M nchen
1956 M39.
13
Vgl. die Kritik an der Einordnung mathematischer Logik in die logica perennis
von G. Jacoby, Die Anspr che der Logistiker auf die Logik und ihre Geschichtsschrei-
bung, Stuttgart 1962. — B. v. Freytag-L ringhoff, Logik, Ihr System und ihr Ver-
h ltnis zur Logistik, Stuttgart 1955 3.

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größerer formaler Strenge, symbolischer Vereinfachung, axiomatisdier Grundle-
gung und kalkülmäßiger Operationsbreite bei zugleich vermehrten Inhalten das
bestentwickelte Compendium logicum an die Hand geben, das seit den Gründer-
jahren verfügbar ist14.
(1.12) Umriß ihrer Geschichte: Ober Tatsachen gibt es nichts zu streiten. Man
hat sie hinzunehmen, gleichwie man sich mit dem Algorithmus 7 + 4 = 11 ab-
findet. Dennodi haben sie eine Geschichte und gleichwohl muß unterstellt werden,
daß es recht nützlich sein mag, auch den historischen Tatbestand erinnerlich zu
machen. Dieser ist wiederum als Geschichte der Formalen Logik ein engerer15
und, insofern formallogische Gegebenheiten ihr volles Verständnis erst in einer
allogischen Theorie erwarten, als Geschichte der Philosophie, speziell der Logik
im weiteren Sinn, ein weiterer.
Eines ist die mehr und mehr um sich greifende Erforschung formaler Struk-
turen und Zusammenhänge. Zeiten hoher Forschungsintensität (Peripatos, mega-
.risdi-stoische Schule, Scholastik, byzantinisch-arabische Tradition, neologische Be-
wegung) lösen Phasen vorwiegender Kompilatorik und Tradierung (ausgehende
Antike, 17. und 18. Jahrhunden) ab bzw. überschneiden sidi mit Tendenzen einer
erstaunlichen Mißachtung (perenne Mystik, rezenter Irrationalismus). Ergebnis
dieses Ablaufes ist die in der Generationenfolge16 erarbeitete Summe formallogi-
scher Daten17.
Ein: anderes ist Einordnung, Deutung und Verwertung des so Erworbenen.
Audi,diese Vorgänge haben ihre sehr bewegte eigene Geschichte, welche eng mit
dem Schicksal der Gesamtvernunft verwoben ist. In diesem allgemeinen geistes-
geschichtlichen Rahmen wird der formallogische Tatbestand protologisch18 und

14
Auslese grundlegender oder einführender Schriften: A. N. Whitehead and B. Rus-
sell, Principia Mathematlca, 3 Vol., Cambridge 1910—1913. — D. Hiltert und W.
Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, Berlin 1928 (Prädikatenkalkül). — H.
Sdiolz, Grundzüge der mathematischen Logik, 2 Bde., Münster 1949—1950. — O.
Bedter, Einführung in die Logistik, Meisenheim 1952 (Modalkalkül). — I. M. Bö-
dienski und A. Menne, Grundriß der Logistik, Paderborn 1954 (Aussagenkalkül). — P.
Lorenzen, Formale Logik, Berlin 1958. *
15
Zur Gesdiicfate: C. Prantl, Geschichte der Logik Im Abendlande, 4 Bde., Leipzig
1855—1870 — I. M. Bochenski, Formale Logik. — H. Sdiolz, Abriß der Geschickte der
Logik, Freiburg und Münster o. J.; vgL 7—21 (Namensgesdiidite).
w
Zur Kontinuität der Forschung: J. Lukasiewicz, Arlstotle's Sylloglstlc from the
standpoint of modern loglc, Oxford 1951. — F. v. Kutsdiera, Das Verhältnis der
modernen zur traditionellen Logik, in Philos. Jahrbuch, LXXI (1964), 219—229. —
Beispiel: Einordnung der Syllogistik in die Prädikatenlogik; vgi. A. Menne, Logik und
Existenz, Meisenheim 1954, und G. Patzig, Die aristotelische Syllogistik, Göttingen 1959.
11
Ähnlich wie die Mathematik (etwa in Dimensionen Hilbertsdier Metamathematik)
darf die Logik heute als offenes Entwiddungsfeld gelten, dessen Rahmen eine Metalogik
auszuspannen hat. Beispiel: Mehrwertige Logiken.
18
Unter „protologisch" L S. von nach Vorbild der Aristoteli-
schen verstehe ich: Lehre vom Sein und den Ursachen logischer Gebilde.

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mctalogisch19 ausgebaut. Diese Verkettung der Logik mit dem Wandel der Philo-
sophie verläuft zyklisch. Auf Aufstieg und Zerfall des logisdien Bewußtseins er-
folgte bisher stets eine Wiederbelebung20.
Nach den aufsehenerregenden Uraufführungen formaler Analysen in der atti-
schen Philosophie und dem Hellenismus der älteren und mittleren Stoa ging die
logische Kunst im Ausgang der Antike in der Rhetorik auf, „als nicht mehr das
kritische Prüfen, sondern das Glauben eine Tugend wurde"21. Dem mittelalter-
lichen Adlatus zunächst in spärlichen Kompendien überliefert (Boethius, Porphyr,
Martianus Capella), bot sie sich den Scholaren der fides-quaerens-intellectum-Be-
wegung als einzig zuverlässiges Instrumentarium rationalen Verstehens dar. Der
so eiligst aufgenommenen Magd der Theologie, deren Leistungsfähigkeit seit
Bekanntwerden der Hauptschriften des Organon im 12. Jahrhundert durch aller-
lei Kunststücke vervollkommnet wird, verfielen nahezu alle großen Geister der
Zeit. Ausgebaut zur Sic-et-non-Methode, angewandt in der disputativen Tedmik,
regierte die logica magna als allgebietender Zeremonienmeister die gelehrten Tur-
niere, nahm sie die Gestalt einer fast totalen Verfahrensordnung an, deren Aus-
maß in Einzelfällen zum Gipfel menschlichen Intellektes erklärt wurde22. Ende
des Mittelalters erschütterte zwar bereits der Einbruch der logica fidei und die
rationale Askese der via mystica die Alleinherrschaft, ebenso wie die humanisti-
sche Ästhetik die barbarische Verrohung formalistischer Sprachwendungen verlei-
dete. Doch führte erst die neue Wissenschaft dazu, daß das altgediente Werkzeug
der Vernunft mißachtet wurde., R. Descartes23 und Fr. Bacon24 verwerfen
das Rüstzeug der Syllogistik, indem sie das aus bloßen Begriffen formal schließen-
de Können als Mißbrauch der Vernunft tadeln. Solches Tun schade der Wahr-
heitsfindung mehr als es ihr nütze; es verfestige eher bestehende Irrttümer, als
daß es bessere Einsichten erwerbe. Die alte ars demonstrativa wich der ars inve-
niendi. Darin.erscheinen nun Experiment und mathematische Formel als neue
Kunstfertigkeiten einer verheißungsvollen Aufklärung. Lange Zeit vermag das

19
Unter „metalogisch" verstehe ich Theoreme höherer Stufe über logische Theoreme.
20
Vgl. knappe Umriße bei P. Lorenzen, Methodisdux Denken 7—9, 13—23. — R.
Heiss, Wesen und Formen der Dialektik, 13—21.
11
P. Lorenzen, Metbodhajes Denken, 14. .
22
Johannes Gerson (nachgewiesen von P. Lorenzen, Methodisches Denken, 14): Haec
ars est principium ad omnes scientias, et ideo, non oportet professorein huius scientiae
habere notitiam de aliis scientiis.
23
Discours de la methode, 2. — Regulae ad directionem ingenii, in: Oeuvres, ed.
par. Ch. Adam et P. Tannery, Paris 1908, X, 405 f.
24
Novum Organon, Aphorismen 11: Sicut scienriae, quae nun habentur, inutiles
sunt ad inventionem operum; ita et logica, quae nunc habetur, inutilis est ad inven-
tionem scientiarum. — 12: Logica ... ad errores stabiliendos et figendos valet, potius
quam ad inquisitionem veritatis. — 12: Syllogismus ad principia scientiarum non adhibe-
tur, ad media axiomata frustra adhibetur, cum sit subtilitari naturae longe impar:
assensum itaque constringit, non res.

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Streben nach einer „neuen" Logik25 der alten nichts Gleichwertiges entgegenzu-
setzen, so daß I. Kant Anlaß genug findet, um der alten und ewig jungen Wis-
senschaft eine überschwengliche Apologie zu widmen20. Gleichwohl steht es mit
der Formalen Logik bis ins 19. Jahrhundert sehr zum Argen. Obwohl die dann
einsetzende neologische Bewegung einen Aufschwung brachte, der in der bisherigen
Geschichte seinesgleichen nicht findet, vermochte sich der formallogische Geltungs-
anspruch nicht durdizusetzen. Dem Dogma vom unverrückbaren Tatbestand er-
wuchs seit G. W. F. Hegels Wissenschaft der Logik in der Dialektik ihr berühmte-
ster und gefährlichster Widerpart27.
(1.2) Die logische Frage. Tatsachen zu kennen und um ihre Geschichte zu wis-
sen, ist Anfang, nicht Ende der logischen Frage. E. Husserls Wort von der „Naivi-
tät höherer Stufe" 28, in welcher die bloße Formale Logik befangen bleibe 29, ist
nur eines von vielen Anzeichen eines kuriosen Paradoxon. Das logische Zeitalter
der Gegenwart hat zugleich seine grundlegende logische Krise80. Zu einer Zeit,

25
Descartes Regulae haben sidi nicht durchgesetzt; J. St. Mills induktive Logik, eine
späte methodisdie Ergänzung zu Bacon, blieb Komplement der klassischen Logik.
26
Kant ist freilidi selbst über die Formale Logik hinausgegangen, indem er
ihren Hervorgang aus „reinem Verstande" zu sichern suchte.
27
G. W. F. Hegels Logik des Widersprudies weitete sidi zum Siegeszug einer Meta-
physik des Widerspruches mit materiell-ökonomischen (Marx), lebensphilosophisdien
(Nietzsche) und existenzialen Varianten (Kierkegaard) aus. — Erstelle' in Wiss. d.
Logik, WW (Glocknerausgabe), IV 87 ff.: Sein, reines Sein ... ist die reine Unbestimmt-
heit , und Leere. — Nichts, das reine Nidits ... ist ... vollkommene Leerheit, Be-
srimmungs- und Inhaltslosigkeit. — Das reine Sein und das reine Nichts ist also das-
selbe. — Nietzsche, WW III, 326: Der Widerspruch ist das wahrhafte Sein ... So
heißt die Welt in ihrer Tiefe verstehen, den Widerspruch verstehen. — Kierkegaardsches
Paradoxon, Entweder-Oder, hrsg. v. H. Diem und W. Rest, Köln und Ölten 1960, I 49:
Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen; heirate oder hei-
rate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du
bereust beides.
28
Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der Logischen Vernunft,
Halle 1929, 2.
19
Formale und transzendentale Logik, 137: Denn darauf geht unser Hauptabsehen,
zu zeigen, daß eine geradehin auf ihre eigentliche thematisdie Sphäre gerichtete und
ausschließlkh an ihrer Erkenntnis tätige Logik in einer Naivität stecken bleibt, die ihr
den philosophischen Vorzug radikalen Sichselbstverstehens und prinzipieller Selbstrecht-
fertigung .versdiließt, oder was dasselbe ist, den Vorzug vollkommener Wissenschaftlich-
keit, den zu erfüllen die Philosophie da ist, und vor allem die Philosophie als Wissen-
sdiaftslehre.
*° Vgl. H Scholz, Abriß, 21: Denn heute muß man auf alles gefaßt sein: nicht nur
auf eine Logik der Philosophie (E. Lask, 1960 = Gesammelte Werke, hrsg. v. E.
Herrigel 1923, II, l—282), sondern auch auf eine Logik der Ästhetik (Fr. J. Böhm,
1930; Heidelberger Abhdlg. v. Philosophie u. ihrer Geschidite, H. 20), des konkreten
Begriffs (E. Mannheim, 1930), eine Logik der Gemeinschaft (H. Pidiler, 1924) usf. Wir
setzen diese Aufzählung nicht fort; denn die angegebenen Arbeiten, in denen natürlich
nidit einmal der Versuch zu einer Interpretation des Logikterms gemacht wird, genügen
für die Erhärtung des Satzes, daß die Logik in eine Krise hineingesteuert ist, die sie
mit ihrer Auflösung bedroht.

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da wir uns in Pr dikaten- und Klassenlogik auskennen, den aussagenlogischen
Kalk l ben, in Relationenlogik bewandert sind und in mehrwertigen Logiken
neue Wege erproben, entziehen wir uns verlegen der Frage, wie denn das tiefste
Wesen logischer Gebilde auszulegen und ihr h chster Zweck zu bestimmen sei.
Husserls Appell zum Vollzug eines „radikalen Sichselbstverstehens" (gerade auch
der blo en formalen Strukturen) hat trotz seiner Anstrengungen31 nicht dazu
gef hrt, da sich eine allogische Theorie als Logik der Logik hat durchsetzen
k nnen. Die logische Potenz des Zeitalters ist in vielen Pfr nden zersplittert; ein
einigendes Band urspr nglichen Verstehens fehlt.
(1.21) Der panlogische Problemkreis: Das geschichtlich eingerichtete, aktuelle
panlogische Problemfeld weist Dominanten auf, deren globale Aufz hlung ahnen
l t, wieweit die allogische Bewegung ausufert und einen wie kleinen Teil der
allogischen Diskussion das Material der formallogischen Tatsachen ausmadit. Die-
se Dominaten sind:
1. Der ontologisdi-metaphysische Problemkreis. Diese lteste und grundlegendste
Logik82 weckt die Vorstellung eines logisdien Seins33, das als Weltgrund, sei
es immanent34, sei es transzendent35 den Gestaltwandel der φύσις informiert
und steuert. Oftmals als eigentliche Wirklichkeit aufgefa t, fungiert es als Komple-
ment zur Materie oder gar als jenseits aller nat rlichen Grenzen abgelegenes Ab-
solutum. Ihre weltliche Bewandtnis enth llt sich dann als intellectus archetypus.
Der Mensdi bildet dabei, wesentlich als ζώον λόγον έχον verstanden, entweder ein
Ballungszentrum der logischen Urgewalt, in dem diese selbst zu h herem Be-
wu tsein gelangt, oder er wird in der Hierarchie abgestufter Qualifikationen als
Mittelwesen eingestellt. Diesem ist dann die doppelte Aufgabe berantwortet,
einmal als vern nftiger Sachwalter der Unterwelt und zum anderen als gehor-

31
Ideen zu einer reinen Ph nomenologie und ph nomenologischen Philosophie, Hus-
serliana, Bd. III—V, Den Haag 1950—1952.
32
VgL Heraklit, Fragmente d. Vorsokratiker I, 22; Logoslehre B 32, 87, 112—119
(Logos als allgemein-verbindliche Vorstellung des Weltenlaufes, d.i. als Weltplan, und
Ma (μέτρον, νόμος) der Bewegung, d.i. als oberste Steuerungsmstanz). — B 114: Wenn
man mit Verstand reden will, mu man sldi stark madien mit dem allen Gemeinsa-
men (=* Weltvernunft, λόγος) wie eine Stadt mit dem Gesetz. N hren sidi dodi alle
mensdilidien Gesetze von dem einen g ttlichen; denn dieses gebietet, soweit es nur will,
und reicht aus f r alle (und alles) und ist sogar nodi dar ber. — B 45: Der Seele Gren-
zen kannst du im Gehen nicht ausfindig madien. Und ob du jegliche Stra e abschrittest,
einen so tiefen Logos hat sie. — Vgl. B 40 — Beispiel: platonisches είδος als logisdies
Urbild der Sinnendinge und eigentlidies Seiendes im χωρισμός des τόπος νοητός.
w
Platonisdie ψυχή als λογιστικδν; diristlidie anima creata als imago dei; carte-
sianisdie res cogitans als substantia finita.
84
Herakliteisdi-stoisdie Weltvernunft bzw. Weltgesetz; spinozistisdi rationales Attri-
but der nat rlidien Weltsubstanz; Hegelsdie Selbstverwirklidiung des Absoluten im
dialektisdien Proze der Gesdudite.
35
Platos mundus intelligibilis (αισθητά — νοητά); Aristotelisdier νους ποιητικός
und πρώτον κινούν άκίνητον als νόησις νοήσεως; christlidier Gott als ens a se
und zugleich intellectus archetypus der Welt.

458
samer Diener der Oberwelt mannigfache Rechte und Pflichten auszu ben.
Sprache und Erkenntnis werden bei diesen dem Menschen zukommenden Diensten
entscheidende Medien metaphysischer Transparenz.
2. Der psychologisch-anthropologische Problemkreis. Diese menschlichste aller
Logiken, ebenfalls weit in die griechische Kultur hinein zu verfolgen36, ver-
steht das logische Gebilde als seelische Leistung 37 des denkenden Menschen. Das
logische Interesse bem chtigt sich des Verstandes als Organ und T tigkeitsfeld
einer theoretischen Leistung. Dabei kommt es darauf an, diesen Vernunfteffekt
hinsichtlich seines Ursprungs im seelischen Proze und seiner Stellung im mensch-
lichen Leben zu berdenken. In Abw gung innerer38 und u erer 39 Verhal-
tensstrukturen und -bedingungen ergeben sich neben der alten Erkenntnispsycho-
logie unter dem Einflu m chtiger neuerer Philosophien beachtliche Varianten
einer anthropologischen Erkl rung logischer Erscheinungen. An solcher Einrede
sind Lebensphilosophie40 und Psychoanalyse41, die historische42 und die sozio-
logische Bewegung 4S und nicht zuletzt die Biologie 44 beteiligt.
3. Der wissenschaftstheoretische Problemkreis. Diese wohl j ngste 45, angesichts
der Verwissenschaftlichung moderner Existenz aber meistbeaditetste Logik

86
Erster H hepunkt war die griediisdie Aufkl rung, in welcher Sophistik gerade das
eigent mlich mensdiliche Werk, das des Vernunftgebraudies, f r -θέσει, nicht φύσει er-
kl rt wurde. — Homo-mensura-Satz des Protagoras, Fragmente der Vorsokratiker, B 1:
Πάντων χρημάτων μέτρον εστίν άνθρωπος, των μεν όντων ως εστίν, των δε ουκ όντων
ως ουκ εστίν. — Es bleibt dem Belieben des einzelnen berlassen, dank rhetorisdier
T chtigkeit „die sdiw diere Meinung zur st rkeren zu machen" (B 6b: Τον ηττω ...
λόγον κρείττω ποιειν).
37
Ζ. Β. in der Tradition aristotelischer Akt-Potenz Lehre als actus animae.
88
Platonische Anamnese; aristotelisch-thomistische Abstraktion; Humes association.
39
Platonisches Theorem vom Leib als Grabmal der Seele; stoisdie und Cartesiani-
sche Affektenlehre; moderner historischer, sozialer und konomisdier Determinismus.
40
Vernunft als biophysisdier Funktion r oder als Widersadier der Seele. — Vgl. Fr.
Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Sdireiben: Unbek mmert, sp ttisch,
gewaltth tig — so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen
Kriegsmann. — L. Klages, Der Geist als Widersaaer der Seele, Bd. l, Leben und
Denkverm gen, Berlin und Leipzig 1929: das ungest m vorw rtsdr ngende Leben ver-
blutet an der starren Lebensfeindlidikeit der Begriffe gleichwie an einem Stadieldraht.
41
S. Freuds These von der Evolution des Bewu tseins aus dem Unterbewu ten.
42
W. Diltheys Kritik der historischen Vernunft (Was der Mensch und die Vernunft
ist, erfahren wir nur aus der Geschichte ihrer Wechself lle), vgl. Einleitung in die
Geisteswissenschaften, 1883.
48
A. Comtes soziologische Genese des Positivismus; vgl. das enzyklop disdie Gesetz
im Dlscours sur l'Esprit Positif.
44
Logische Potenz als Ersatzorgan eines biologischen M ngelwesens, vgl. A. Port-
mann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Mensaen, 1944, und Biologie und Geist,
Z rich 1956.
45
Seit sokratisdi-platonisdi geschulte Kopfe des λόγος διδόναι bten, wurden die
dunklen M chte von μύθος und δόξα verdr ngt; dennoch gestaltete sich die Mehrung
der Wissenschaften zu einer immer dringlicheren Frage nach den Quellen dieser »g tt-
lichen Gabe der Vernunft*.

459
macht sich einen Begriff von Grund, Wesen und Zweck der Wissenschaft4G. Wohl
eingedenk des alten Leitbildes 47, demnach das Wissen die Hochkultur des logischen
Phänomens darstellt, ist dem modernen Sachverständnis klargeworden, daß des-
sen Qualität vom Selbstverständnis der logischen Bedingungen seiner Möglichkeit
abhängt. Diese , wissenslogischen' Daten sind vorzüglich in drei bzw. vier
Theorientypen ausgelegt, genauer, in der formalen Logik48 und dessen Pendant
(der materialen), der transzendentalen49, der dialektischen50 und der sprach-
positivistischen Logik 51.
Während erstere logische Form von logischer Materie unterscheidet und so
Denkformen, formale Operationen, Regeln und Gesetze hervorhebt, die bei der
Herstellung des aus einer Synthese beider bestehenden Gegenstandes hervortre-
ten, läßt die transzendentale Logik diese Fakten zumeist zwar gelten53, sieht
aber die eigentlich einer Lösung .harrende Aufgabe M darin, die reinen Ver-
nunftgründe zu offenbaren, aus deren Möglichkeitsbedingungen sie erwachsen55.
Diese „ganz neue Wissenschaft..., von welcher niemand auch nur den Gedanken

46
Formale Logik erfährt als Teil eine letzte Auslegung nur im Ganzen der Wissen-
schaftslehre.
47
Die alte Gleichsetzung eines erfüllten menschlichen Daseins mit erfolgreichem Ver-
nunftgebrauch zeigt sich an Beispielen, da Plato das Absterben der sinnlichen Existenz
propagiert und das philosophische Sein zum Tode fordert, da scholastische Theologie
in der visio beatifica himmlicher Glückseligkeit eine reine Schau des Geistes als finis
ultimus predigt, da Descartes das Üenken, das sich selbst denkt, als höchsten Triumpf
feiert und Hegel gar die Selbstverwirklichung des Absoluten im gesdiichtlichen Prozeß
einer irdischen Phänomenologie des Geistes erlebt.
48
Formale Logik hat sich seit den Anfängen von Platos und
erhalten.
49
Die drei repräsentativen Typen der transzendentalen Logik haben I. Kant (Kr.d.r.V.;
tr. Analytik und Dialektik), J. G. Fichte (Über das Verhältnis der Logik zur Philo-
sophie oder Transzendentale Logik, WW IX, 105—400) und E. Husserl Formale und
transz. Logik) hinterlassen. — VgL H. Krings, Transzendentale Logik, München 1964;
W. Bröcker, Formale, transzendentale und spekulative Logik, Frankfurt 1962 (mehr
konzentriert auf die spekulative Logik); H. Krings bringt 26—37 einen knappen Ver-
gleich.
*° Heraklit, Platos Parmenides und Sophistes (B. Liebrucks, Platons Entwidslung zur
Dialektik, Frankfurt 1949), Mystik, Nikolaus von Cues. — Neuer Phänomenansatz
in Hegels Wissenschaft der Logik und der Phänomenologie des Geistes; Th. W. Adorno,
Negative Dialektik, Frankfurt 1966.
51
L. Wittgenstein, Logisa-philosophische Abhandlung.
M
Begriffe, Urteile, Schlüsse bzw. Prädikate, Klassen, Aussagen, Relationen.
M
Vgl. Kants stillschweigende Voraussetzung der Urteilsformen, Husserls formale
Apophantik als Vorstufe der transzendentalen Phänomenologie.
54
L Kant, Kr. d. r. V., A 62: In einer transzendentalen Logik isolieren wir den
Verstand und heben bloß den Teil des Denkens aus unserem Erkenntnisse heraus, der
lediglich seinen Ursprung im Verstünde hat.
w
Kants transzendentale Deduktion der. reinen Verstandesbegriffe als Bedingung der
Möglichkeit synthetischer Urteile apriori. — Fichtes transzendentale Genesis und gene-
tische Erkenntnis (WW IX, 107, 131, 149—151, 308). — Husserls eidetische Reduktion
in der ideierenden Wesensschau.

460
vorher gefa t hatte, wovon selbst die blo e Idee unbekannt war" 56, wird von
Fichte57 und Husserl68 als die eigentlidie Logik oder „Wissensdiaftslehre"
der „gemeinen Logik" 9 gegen bergestellt.
Wenn auch die dialektische Logik Hegels das formale Denken zumindest als
Merkmal der Verstandesbestimmungen aufzuheben und die transzendentale
Intention auf ein Denken, das sich im , eigenen ph nomenologisdien Apriori
auslegt, beizubehalten wei , so tritt doch hier der alten Formalen Logik und, so-
weit die transzendentale Logik diese als Resultat der Spontaneit t kategorialer
Synthesis oder logischer Genesis anerkennt, auch dieser selbst eine radikal andere
Wissenschaftsidee entgegen. Die klassische Formale Logik steht und f llt mit der
Macht des Positiven; die dialektische hingegen lebt von dem negativem Moment
des~ dialektischen Dreischrittes. Jene ist die beharrende Gestalt allgemeing ltiger
Inhalte; in welcher Weise nach Platonischer Rede Wissenschaft berhaupt nur
statthaben kann eo. Diese aber huldigt einem permanenten logisdien Flu , in dem
keine Form als das, was sie eben ist, bestehen kann, sondern „verfl ssigt" wird.
Vor dem Hintergrund des alten Gedankens von der Identit t des Denkens und
Sprechens 61 neigt die neopositivistische Sprachlogik dazu, die Sprache als Material
logischer Formkunst und damit zugleich als einzigen Topos der wissenschaftlichen
Genese, anzusetzen. Der Verstandesgebrauch zeigt sich in dem Ma , in dem es
gelingt, die Sprache logisch umzubilden, und der Vernunfteffekt ist ganz und gar
im solcherma en gelungenen Spracheffekt gegeben. Dabei ist es f r diese Vorstel-

δβ
Ϊ. Kant, Prolegomena; WW IV, 262.
57
J.G. Fichte, ber das Verh ltnis der Logik zur Philosophie, WW, IX 325: Wie
soll nun der Philosophie, wenn sie ... Anspruch madit auf eine bersinnliche Erkennt-
nis, geholfen werden? ... Eben Wissensdiaft zu sein: genetisdie Erkenntnis, nidit fakti-
sdie; das Denken nicht zu finden als ein Gegebenes, sondern es einzusehen aus einem
Gesetze als ein notwendiges. Oder eben selber zu denken im Philosophieren, nidit zu
beobachten; und zwar das Denken selber zu denken, d.i. es in der Notwendigkeit
seines faktischen Seins, nicht in der blo en Anschauung desselben zu finden.
58
Formale und transz. Logik, 14: Also nur eine im ph nomenologisdien Sinne tran-
szendental aufgekl rte und gerechtfertigte Wissensdiaft kann letzte Wissensdiaft sein, nur
eine transzendental-ph nomenologisdi aufgekl rte Welt kann letztverstandene Welt
sein, nur eine transzendentale Logik kann eine letzte Wissensdiaftslehre, eine letzte,
tiefste und universalste Prinzipien- und Nonnenlehre aller Wissenschaften sein.
w
J.G. Fidite, ber das Verh ltnis der Logik zur Philosophie, WW IX, 122: Nadi
der gemeinen Logik ist das Denken eine zuf llige Weiterbestimmung der ersten Vor-
stellung des faktisch vorausgesetzten Wissens ... nach der Philosophie ist es eine ur-
spr ngliche Bestimmung des Wissens, ohne welche die Vorstellung gar nidit ist; und
die Vorstellung selbst ist eine Operation des Denkens. — Ebd., 131: (Die tr. Aufgabe
ist es, alles) in Genesis aufzul sen, was freilich als fertig und gemadit dem unwissen-
schaftlichen Sinne sich stellt; da wird sich dann zeigen, ob diese Gestaltung dem Wissen
durch sich selbst oder durch etwas anderes geworden ist. Dies tut Kant und die Wissen-
schaftslehre. .
M
Philebos, 58 A (Definition der Ontologie): ή περί το 8ν καΐ το δντως καΐ το
κατά ταύτόν αεί πεφυκός γνώσις.
β1
Plato, Sophistes, 263 Ε: διάνοια μεν καΐ λόγος ταύτόν; Theaetet, 189 Ε, 163 Β ff.

461
lung einer spradigebundenen Vernunft unerheblich, ob die Sprache selbst mysti-
sches Relikt bleibt und nur ih're faktische Logifizierung verstehbare Ausmaße an-
nimmt (Wittgenstein w) oder ob es viele Sprachen gibt, von denen aber nur eine
als solche ausgezeichnet ist, in welcher sich die wissenschaftliche Selbstverwirk-
lichung ereignetw, während alle anderen irrationale Sprachspiele darstellen M.
(1.22) Reduktion seiner Phänomene: Die jüngere Logik beliebt, das geschicht-
lich diffuse Problem einer anthropologischen Reduktion zu unterwerfen und auf
die sachlichen Elemente von Akt, Inhalt und Form logischer Gebilde zu verdich-
ten. Die schwierige Aufgabe, die eine nicht geringe Meisterschaft beansprucht,
ist dabei die phänomenologische Kunst der Unterscheidung. Darum bemüht, Denk-
inhalt von Denkakt abzuheben, treten besonders B. Bolzano und E. Husserl65
gegen den Psychologismus auf, während formale Logiker logische Formen ohnehin
von beiden abzusetzen gewohnt sind .
Andererseits zielen starke Bestrebungen dahin, diese drei Bestandteile des lo-
gischen Grundphänomens mit wechselnder Basis zu fusionieren. So versucht F.
Brentano67 vermittels des Begriffes der Intentionalität Logik und Erkenntnis-
theorie in Psychologie grundzulegen, während etwa E. Cassirer und H. Leisegang
im Ansatz der „symbolischen Konstruktion" bzw. der „Denkform" Modelle ent-
wickelten, welche alle Teile aus der transzendentalen Folie eines geistesgeschicht-
lich verstandenen Vernunftprozesses deuten.
(1.3) Die logische Aufgabe. Ein so geschärftes Sach- und Problemverständnis
verflüchtigt den Mythos von einer fertigen und unfehlbaren Logik. Zugleich stellt
es sich die Aufgabe, die Bahnen einer kritischen Logik zu beschreiten. Der hiesige
Beitrag unternimmt indessen nur, die Begriffe „logische Form" und „logisches
Werkzeug" als Inbegriff des Selbstverständnisses Formaler Logik zu überprüfen.
(1.31) Aktuelle Dringlichkeit: Der Begriff Formale Logik ist in den Merkmalen
logisch und formal ebenso verworren, wie deren instrumentaler Charakter undeut-
lich sich abhebt. Wenn A. Menne meint, „formale Strukturen" (formallogische
Tatsachen) haben unmittelbar nichts mit dem Denken zu tun 68 und G. Patzig
62
Tractatus 5.6 (Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt),
5.61 (Die Logik erfüllt die Welt), 6.13 (Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegel-
bild der Welt). Vgl. 6.2, 6.211, 6.22, 7.
Tractatus, 4.11 (Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissen-
schaft, 4.111 (Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften), 4.112 (Der Zwei
der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken).
64
Vgl. G. Funke, Einheitsspraae, Sprachspiel und Sprachauslegung bei Wittgenstein,
in Zeitschr. f. philos. Forschung, XXII (1968), 3—30, 216—247.
M
Wissenschaftslebre, Sulzbadi 1837, §§ 19—33: Vom Daseyn der Wahrheiten an
sidi. — Logische Untersuchungen I, Halle 1928.
66
P. Lorenzen, Methodisches Denken 13; A. Menne, Was ist und was kann Logistik,l3.
67
?5jo&o/og/e vom empirischen Standpunkte, Wien 1874.
68
Was ist und was kann Logistik, 13: Daß logische Probleme sidi u. U. rein me-
chanisch lösen lassen, beweist nochmals, daß Logik als solche es weder mit Denken noch
Gedanken unmittelbar zu tun hat, sondern mit formalen Strukturen, die sidi auch
medianisch darstellen und überprüfen lassen.

462
seine ästhetisch-linguistische Definition vorträgt69, fragt es sich, in welchem Sinn
der Ausdruck ,logisch' hierfür noch am Platze ist. Angesichts der separatistischen
Tendenzen des logischen Formalismus, demzufolge logische Tatsachen ein Reservat
eigener wissenschaftlicher Inhalte darstellen, wird auch der Terminus ,formal'
unsicher.
(1.32) Der logische Streit und die Abhebung der eigenen Absicht: Die formal-
logische' Einengung der Untersuchung bedarf noch einer neuerlichen Schwer-
punktbildung, die erst präzisiert werden kann, wenn über den logischen Streit
berichtet wurde, der selbst unter denen ausgebrochen ist, welche die Existenz der
Formalen Logik einräumen.
Das angesprochene Zerwürfnis besteht zwischen den formallogischen Absolu-
tisten und den Relativisten. Die einen, z. B. H. Ridkert, verweisen den Gedanken,
es könne „verschiedene Logiken" geben, als „logische Absurdität"70. Andere, so
H. Leisegang 71, vertreten die These von „mehreren Logiken". Erstere gehen von
dem alten Ideal allgemeingültiger Formen und unverrückbarer Gesetze aus; letztere
tragen dem alternierenden „geschichtlichen Bewußtsein" Rechnung. Dieser nicht-
dialektische Ansatz ist-der Versuch, geschichtliche und logische Komponenten zu-
sammenzubringen. Dabei kommt die grundlegende Vorstellung eines tatenfroh
sich wandelnden geistigen Lebens zum Vorschein. Seit etwa D. Dilthey in sei-
nen Studien zur Geistesgeschichte die historio-logisdie Antinomie72 aufstellte,
sich ,zur Variabilität der menschlichen Daseinsformen und der Mannigfaltigkeit
der -Denkweisen bekannte7S, die „Wurzel aller Weltanschauungen" in der „Le-
bendigkeit" ermittelte, verschärfte sich die Frage nach dem Zusammenhang der
fonnallogischen Bildung des Menschengeschlechtes mit dem historisch (Historis-

99
Logik, in Philosophie (Fischer-Lexikon), hrg. v. A. Diemer u. L Frenzel, 150:
(Logik ist die) Lehre von gewissen Eigenschaften von Aussagen ... Denn Aussagen
sind, im Gegensatz zu Gedanken, Dinge, die wir wahrnehmen.
70
H. Rickert, Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontotogie, 1930, 49,
Anm. 1: Der Gedanke ..., daß es mehrere verschiedene ,Logiken' geben könne, ist
von vornherein eine logisdie Absurdität. Wenn jemand berichtet, es sei ihm in der
Wissensdiaft gelungen, sich über die eine Logik zu erheben, so schenke ich ihm so viel
Glauben wie dem Freiherrn von Mündihausen, der erzählt, er habe sich am eigenen
Zopfe aus dem Wasser gezogen.
71
H. Leisegang, Denkformen, Berlin 195l2, 10: Es gibt nun ... nidit nur unsere
eine ..«.Logik, sondern < mehrere, wenn man unter Logik überhaupt die Gesamtheit
der Denkgesetze versteht, an die sich das bewußte Denken eines Menschen oder einer
Menschengruppe bindet.
72
Weltansdjauungslehre, WW (Teubnerausgabe), VIII 6 f. und 78 ff. Die Antinomie
liegt in der historisdim Kenntnis einer sidi stets wandelnden Kultur und dem philo-
sophischen Anspruch auf objektive und absolute Gültigkeit wissenschaftlicher Sätze. .
75
Ebd., 6: Der Variabilität der mensdilidien Daseinsformen entspricht die Mannig-
faltigkeit der Denkweisen,- Religionssysteme, sittlichen Ideale und metaphysisdien Syste-
me ... So erweisen sie sich als geschichtlich bedingte Erzeugnisse ... Der Gegenstand
der Metaphysik ist aber die objektive Erkenntnis des Zusammenhanges der Wirklidi-
keit...

463
mus) oder soziologisch (Comtes Soziologismus 74) ausgelegten Lebensverhalten als
„Struktur psychischer Totalität".
Wenn auch zunächst die Logik der Weltanschauung, wie etwa bei K, Jaspers 75, in
die Nähe zur Psychologie abwich, so lenkte doch, nicht zuletzt durch Husserls Front
gegen den Psychologismus gestärkt, eine starke Bewegung auf eine transzenden-
tale Bewußtseinsanalyse ein. In diesem Sinne dachten E, Cassirer™ und H.
Leisegang77. Jener weist am Beispiel etwa mythischen Denkens jedem geistigen
Bereich eine „unterschiedene Struktur*' und „eigentümliche Modalität der geisti-
gen Auffassung und der geistigen Formung" zu78. Dieser versucht, freilich gegen
Husserls Grundsatz phänomenologischer Forschung, „daß das, was für ein Ich
erkennbar ist, prinzipiell für jedes erkennbar sein muß"79, „Denkformen"80
und „logische Strukturen"81 an einigen „Denkmodellen"82 zu konkretisieren.
Die also aufgeworfene Frage, ob der Mensch nebeneinander über ein naturwis-
senschaftliches, geisteswissenschaftliches, künstlerisches und mythisches Bewußt-
sein mit jeweils zugeordneten Logiken verfügt oder ob er, wie E. Spranger83
meint, nur eine Lebensform besitzt, in die er alle Kulturerscheinungen allfällig
einpaßt, bleibt unberührt· Das eigene Tun begibt sich demnach auf die Suche nach
dem formalen und organologischen Begriff, welcher jener Phänomenserie eignet,
die sich von Aristoteles bis zur Logistik als einheitliche Sache erhalten hat.

74
Cours de Philosophie positive, 6 Bde., Paris 1830—1842.
75
Psychologie der Weltanschauung, 1919, 4: Was alles an weltansdiaulidien Einstel-
lungen, Weltbildern, Strebungen, Gedanken in Menschenköpfen entstanden ist, kann nicht
absolut nichtig sein ... Man kann es nicht abtun als einen Irrgarten von Täuschungen ...
Alles dies ist einmal Ausdruck und Bedürfnis für Menscfaenseelen gewesen, und statt
nach der objektiven ... Richtigkeit können wir fragen nach der seelischen Wirklichkeit
der Wirkung.
7e
Die Begriffsform im mythlsAen Denken, 1921; Philosophie der symbolischen For-
men, 3 Bde., 1923—1929.
77
Denkformen.
78
Die Begriffsform Im mythischen Denken, 4 f.
79
In Jb. f. Philos. u. phänom. Forschung, I (1922), 90.
80
Denkformen, 15 f.: Unter einer Denkform verstehe ich das m sich zusammenhän-
gende Ganze der Gesetzmäßigkeiten des Denkens, das sich aus der Analyse von schrift-
lich ausgedruckten Gedanken eines Individuums ergibt.
81
Ebd., 52: Unter einer logischen Struktur wird dabei der formale Zusammenhang
realer oder idealer Gegenstände oder Sachverhalte, Vorgänge oder Prozesse verstanden,
der sich aus ihnen herausheben und sich durch ein anschauliches Sdiema, ein Denkmodell,
oder ... ein System von Zeichen darstellen läßt.
82
Ebd., 61—142: „Gedankenkreis", 143—207: „Der Kreis von Kreisen", 208—286:
„Die Begriffspyramide", 287—315: „Die euklidisdi-mathematisdie Denkform", 316—354:
„Antinomien",
83
Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit,
Halle 1921.

464
II. Was sind Logische Formen?

Das Wesen formaler Strukturen wird in einem doppelten Horizont aufgelichtet,


dessen Dimensionen von Aristoteles, Kant, Hegel einerseits und Frege, Boole,
Wittgenstein andererseits abgesteckt sind.
(2.1) Aristoteles, Kant, Hegel — Dimension einer Selbstauslegting des Denkens.
Der erste Versuch bewegt sich innerhalb des bekannten Dreiphasengangs der
vorkantisdien, Kantisdien und Hegelsdien Logik.
(2.11) (Metaphysische) Analysis der logischen Formen. Τα αναλυτικά84 oder
[τα] εκ των κειμένων85 hei t Aristoteles den Gegenstand der logisdien Unter-
suchungen. Der Name „formallogisch" fehlt, die Sache selbst liegt aber vor86.
Materialobjekt ist der sprachliche (λέγειν) bzw. gedankliche (νοειν) topos der
Vernunft (λόγος), als u ere und innere Rede vorausgesetzt87, genauer der
Schlu 88 bzw.-die Satzfolge, in deren Struktur Urteile (άπόφασις) bzw. S tze
(πρότασις) und Begriffe (ορισμός) bzw. Termini (ορός) erscheinen 89. Formalobjekt
ist aber eindeutig jene blo e Form der Schl sse, wie sie sich in den Schlu figuren
und Schlu weisen zeigt90. Die formale Richtigkeit der Schl sse h ngt nur von
de formalen Bedingungen der Folgerichtigkeit, nicht von den materialen Wahr-
heiten der Pr missen (πρότασις) ab. Logische Strukturen sind also solche, inner-
halb deren Formen und deren Gesetzen die Vernunft die ihr gem e T tigkeit
verrichtet. x
. Diese vorl ufige, abstrakt leere Fassung mu angesichts empirischer, psychischer,
ontischer, formaler und technischer Implikationen 91 weiter bestimmt werden.
1.· Empirisch implizieren logische Formen die griechische Sprache und einen
damit gleichgeschalteten VerstandesgebrauchM. So gewonnene logische Tatsachen
sind relativiert; ihr Geltungsbereich ger t in Verdacht, nur in den begrenzten
Rahmen ausgewiesener Erfahrung zu passen93. Daraus folgt: Das.totale Ausma
m glichen Vernunftgesch ftes bleibt ungewi , kann doch einerseits weder mit den
Mitteln einer solchen empirischen Logik die M glichkeit einer »anderen* Logik
84
Anal Post., I 22; 84a 7 f.
85
Ebd., I 32; 88a 18 und 30.
8e
Der Streit im Peripatos dar ber, ob Logik eine Wissenschaft oder nur eine Kunst
sei, zeigt, wie wenig Aristoteles selbst ber den logischen topos reflektiert hatte.
** "Anal, fost., I 10; 76b 24 f.
« Topik, 11; lOOa 18 ff. und a 25—b 25; Anal Pr., I 1; 24b 18—22.
8
* Anal. fr. I 1; 24a 16 f. und 24b 16 ff.: Ein Satz nun ist ein Logos, welcher
etwas von etwas bejaht oder verneint ... Einen Terminus nenne idi das, worin der
Satz zerf llt, d. h. das, was ausgesagt wird, und das, wor ber ausgesagt wird.
M
I.M. Bodienski, Formale Logik, 54, preist die Definition des Syllogismus (Anm.
88) als erste historische Formel der Formalen Logik.
91
Prantls Geschichte und- Trendelenburgs Logische Untersuchungen waren geschrie-
ben, um die materiale Verflechtung der aristotelischen Logik herauszustellen.
92
Vgl. A. H. Sayce extreme Bemerkung in Introduction to the Science of fanguage,
London 1880, II 328: Had Aristotle been a Mexican, his System of logic would have
assumed a wholly different form ... formal logic is based on language.
91
Vor allem die Arbeiten von B. L. Whorf legen diese Folgerung nahe.

465
ausgeschlossen noch andererseits die innere Bef higung Alogischen' Verhaltens
erprobt werden. So zwar dem Verstehenshorizont logischer Empirie ausgeliefert,
lernt die Vernunft, sich davor zu h ten, diese zu verabsolutieren. Sie wei , da
das, was sie ber sich erf hrt, nicht ausreicht, um vollends ber sich Bescheid
zu wissen M. Die empirische Faktizit t bleibt unerkl rt.
2. Psychisch implizieren logische Strukturen die Teilnahme an seelischen Pro-
zessen. In diesen Vorg ngen verformen sie das auf dem Erkenntnisweg der
Abstraktion gewonnene logische Material. In material- und formallogische
Akte gespalten, macht die Denkt tigkeit deutlich, da sie sich nicht darin er-
sch pft, alogischen Rohstoff zu rezipieren und durch Zutaten formaler Strukturen
zu logifizieren. Die materiallogischen Akte enth llen eigens ein formgebendes
Tun. So sind bereits die den formallogischen Akten als Material dienenden
species intelligibles Ergebnis eines Verformungseffektes, welchen der νους ποιητικός
auf den νους παθητικός aus bt. Dieser kommt zudem nur durch abstraktives
Einwirken auf die Singular-materiellen Daten der αΐσθησις zustande, in dem
das allgemein-immaterielle είδος νοητός den αισθητά als Werk rationaler Urver-
formung abgewonnen wird. berdies wird dann allerdings die in der materialen
Begriffsbestimmung (ορισμός) erreichte Eingrenzung des Inhaltes (= materialer
Fonneffekt), spradilogisdi als Terminus (ορός) erscheinend, weiteren Oberfor-
mungsmodi, Urteilen, Schl ssen, unterzogen (formaler Verformungseffekt). In der
psychischen Epiphanie des Logos-tut sich so ein doppelter Verformungseffekt
dar. Die gegenstandsneutrale formallogische Denkform zeigt sich als formales
Komplement oder als hyperlogische Form gegenstandbezogener Denkformen.
Die Vernunft wird so gewahr, da sie nur etwas wissen kann, sofern sie in
die Lage versetzt wird, diesem Wissensdrang doppelten Ausdruck zu verleihen.
Logische Strukturen geben sich nach Aspekten aristotelischer Denkpsychologie
als Ausdrucksf nnen von'Auffassungsformen zu erkennen. Ihr letzter M g-
lichkeitsgrund ist transpsychisch in der Metaphysik gelagert.
3. Ontisdi implizieren logische Strukturen Dinge au erhalb der Seele, erste
Substanzen (πρώτη ουσία) und deren reale Akzidentien. Diese fungieren als
materiale remotum des formalen Prozesses, dementgegen die inhaltlich be-
stimmte Denkt tigkeit als materiale proximum gelten darf. Da die Vernunft
urspr nglich nichts ist (tabula-rasa-Theorem), sondern erst alles im Beschaffen
von Gegenst nden95, d.i. im Eingehen auf die Welt, wird, tritt klar hervor,
da logische Formen von realen Formen abh ngig sind. Dieser Vorgang ist inten-

94
Aristoteles freilich ist den offenen Fragen der empirischen Implikation nidit eigens
nachgegangen, wiewohl Plato bereits Metamorphosen der Vernunft diskutierte, die
έπέκεινα της ουσίας (καΐ του λόγου) liegen sollten. Antike Mystik, neuplatonische
Hyperlogik und platonisierende Christen sind dabei nicht ihm, sondern Plato als Meister
der Mystagogie gefolgt,
05
De anima, III 4; 429a 27—-29': εϊ δη l λέγοντες την ψυχήν είναι τόπον εΙδών, πλην
δπ οδτε δλη αλλ1 ή νοητική, οδτε έντελεχεία αλλά δυνάμει τα είδη. — 8; 43lb 21: ή
ψυχή τα οντά πώς εστί πάντα.

466
tional und reflexiv. In jenem wird der Verstand auf Dinge als ursprünglichem
Rohstoff aufmerksam; er verwertet ihn, indem er ihn jSprachlich' und ,logisch'
modifiziert. In diesem findet die Vernunft, die in der intentionalen Abwendung
sich selbst entfremdet schien, wieder zu sich zurück. Die reale Intention, erklärt
in der hylemorphistisdien Metaphysik, offenbart, daß die Dinge nur kraft ihrer
wißbaren Formen (= universalia in re) die Aktionen des Verstandes realisieren
können, und umgekehrt, daß die rationale Information des subjektiven Geistes
von der realen Rezeption bedingt ist.
Die rationale Reflexion bringt die Einsicht, daß die Vernunft nur das ist,
was sie machen kann. Da ihr Tun aber darin besteht, sich als Gefäß der Dinge
herzurichten, als getreues speculum naturae die Welt wiederzugeben, kann sie
ihre Selbsterkenntnis nur mit dem ausstatten, was sie als logischer und sprach-
licher Moderator realer Formen leistet. Einmal der Rezeptivität der Sinnlich-
keit ausgeliefert, tut sie nur das, was die Natur ihr als Stoff möglicher Hand-
lungen zuspielt; sie ist selbst Geformte. Zum anderen in der Spontaneität des
intellectus agens frei, kann sie nadi abstraktivem Belieben und selektiver Inter-
essennahme inhaltliches.Auffassen und formales Ausdrücken der realen Informa-
tionen handhaben; sie erlebt so einen dreifachen Verformungseffekt, zu dem sie
mächtig ist.
4. Formal- implizieren logische Formen ein materiales Komplement, alle
formalen Theorien ein hylemorphistisches Erklärungsfeld, welches den Formbe-
griff in Bezug auf das, was selbst formlos (etwa auch im Sinn der materia sig-
nata) ist, aber der Verformung bedarf und fähig ist, klarlegt. Nun gehört aber
der Aristotelische Hylemorphismus, ursprünglich eine ontologisdie Doktrin zur
Erklärung der Wesenskonstitution sinnenfälliger Dinge, zu den überaus dunklen
Theorien ( samt der zwangsläufigen These von der materia als princi-
pium individuationis). Ober eine logische Variante hat Aristoteles nicht reflek-
tiert. So bleibt zwar die Faktizität formalen Vernunftgebrauches unbestritten,
ihre metaphysischen Hintergründe aber sind im Dunkel belassen06. Die Ver-
nunft legt blind logische Strukturen einer Materie an.
5. Methodisch implizieren logische Operationen apodiktische07 und dialek-
tische98 Beweise, materiale Verfahren. Sicherlich ertüchtigt die fleißige Übung
jener zum richtigen Denken ( ). Wer nach allen Regeln der analyti-
schen und topischen Kunst schlüssig verfährt, darf der Ergebnisse wissenschaftlich'
versichert sein. Allerdings taugt dieses Organon nur dazu, um das, was die Ver-
nunft bereits hat, zu erweitern. Die Syllogistik lebt von Voraussetzungen, die
zu beschaffen ihrer eigenen formalen Stärke nicht beschieden ist. Der sichere Gang
formaler Deduktionen hat, gemessen am höheren Interesse der materialen Wahr-

te Duns Scotus hat den meines Wissens bedeutendsten Versuch gemacht, durch seine
Lehre vom esse formalis und der distinctio formalis die Parallelität formaler logischer
und ontisdier Strukturen hylcmorphistisdi zu begründen.
97
Anal post., 2, 71b 12—22, — vgl. audi Anm. 98.
w
Topik, 11, lOOa 25—lOOb 19.

467
heit, nur dann einen Sinn, wenn die vorhandenen Hypothesen material abge-
sichert werden können. Logische Operationen bleiben solange eine leere Kunst,
wie sie keine Symbiose mit der Metaphysik eingehen.
Dieser Abriß einer ungeschriebenen, implizit aber gesicherten formalen Theorie
aristotelischer Logik ergibt zwei Einsichten in den klassischen Formalbegriff:
1. Formale Gebilde sind durch ihr materiales Komplement definiert. 2. Die
aristotelische Formale Logik ist in der Philosophie integriert, ihr Begriff in
metaphysischen Implikationen erklärt.
(2.12) (Transzendentale) Kritik der logisdien Formen: Der ungeschriebene
metaphysische Kommentar, welcher aristotelischer Logik jeher anhaftet, wird von
I. Kant durch den transzendentalen ersetzt. In ihm werden logische Strukturen
nicht im Überstieg in die reale Welt grundgelegt, sondern im Verstande iso-
liert und in den transzendentalen Bedingungen ihrer Möglichkeit vor aller Er-
fahrung freigelegtM. Kant nimmt die Faktizität, etwa der synthetischen Urteile
apriori hin, bleibt dabei aber nicht stehen, sondern fragt weiter nach den Be-
dingungen ihrer Möglichkeit aus reinem Verstande. Wenn er in der transzenden-
talen Deduktion der reinen Verstandesformen zwölf Kategorien als formales
Konstitutiv der kategorialen Synthesis ausweist, dann enthält diese Logik
ebenfalls Implikationen.
Neben der 1. empirischen (Beschränkung auf naturwissenschaftliche und mathe-
matische Sätze), 2. formalen (logische Konstitution der alogischen Erscheinung
bzw. Anschauung als Material der Empfindung bzw. des Verstandes), 3. metho-
dischen (logische Konstitution, dialektische Regulation, transzendentale Deduktion)
treten insbesondere 4.—5. die beiden kritischen, die metaphysisdh und psychologisch
negative, und 6. die transzendentale hervor.
Logische Strukturen implizieren keine realen Formen mehr. Sie schließen allen-
falls über den Erscheinungseffekt Dinge nur noch als bloßes Material ein. Logik
wird negativ kritisch gegen Dinge. Weiter implizieren sie andererseits aber auch
keine psychischen Formen mehr (etwa cartesianische ideae innatae). Sie sind
reine Formsn, d.h. selbst formlos und leer. Diese aktualisieren sich kraft der
Spontaneität des transzendentalen Subjektes durch den Schematismus der Zeit erst
im Verein mit der Anschauung zum empirisch-realen Objekt. Die Logik wird
negativ kritisch-gegen eine Seelensubstanz. Die Vernunft erkennt sich nicht als
solche, die immer schon zur psychischen Substanz ausgeformt ist, sondern als
transzendentale Spontaneität, die sich in der Konstitution der Erfahrung erst
selbst entwirft. Logische Formen sind keine festen psychischen Organismen; sie
erscheinen erst im transzendentalen Prozeß; sie erfüllen ihre eigentümliche Be-
stimmung, wenn sie aus der transzendentalen Idealität heraustreten und empirisch
reale Gestalt annehmen.

99
Kr. d. r. V., A 62: In einer transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand
und heben bloß den Teil des Denkens aus unserem Erkenntnisse heraus, der lediglidi
seinen Ursprung im Verstande hat.

468
Logische Strukturen implizieren wohl aber ihre transzendentalen Möglich-
keitsbedingungen. Diese Auffassung bringt einen doppelten Formbegriff zutage.
Einerseits enthalten naturwissenschaftliche und mathematische Urteile empirisch-
reale logische Formen, genau die nämlich der klassischen Logik. Andererseits sind
diese Tatsachen als Werk reiner Verstandestätigkeit nur das empirisch-reale Pro-
dukt einer transzendental-idealen Verformung des empirischen Materials.
Der Kantsdie Formalbegriff stellt an Grundsätzen diese fest: 1. Es gibt zwei
Arten logischer Gebilde, die empirisch-realen und die transzendental-idealen
Formen. 2. Erstere können nicht metaphysisch oder psychologisch erklärt werden,
sondern 3. allein durdi die transzendentale Reduktion auf reine Verstandesfor-
men zurückgeführt werden.
(2.13) (Dialektische) Aufhebung der logischen Formen: G. W. F. Hegels spe-
kulative Logik hebt die formale und transzendentale im wesentlichen dadurch
auf, daß er deren Formen sowohl geschidits- wie denkphänomenologisdi als
Durchgangsmomente im dialektischen Prozeß „verflüssigt". Seine Ausführungen
in der Wissenschaft der Logik kommen nur insoweit in Betracht, als sie dazu
dienen, das Verständnis der vorkantischen und Kantisdien Formalen Logik zu
erweitern 10°.
Hegels Logik ist radikal anders, als es die sind, die bislang überliefert wur-
den. Die anderen sind unkritisch, seine ist kritisch; jene sind empirisch, die
eigene dialektisch spekulativ. Hegels Logik ist kritisch, indem sie in der herrschen-
den,'Logik, der Kant nachrühmt, sie habe sich seit Aristoteles nicht verändert,
positive und negative Momente zu unterscheiden weiß. Jene machen die „meta-
physische Logik" aus, die sich seit dem Organon des Stagiriten bis zu Kants
Kritik der reinen Vernunft durchgehalten hat. Diese ergeben die „transzendentale
Logik", welche Kant bereits formuliert hat, ohne sich jedoch der logischen
Negativität, also des Gegensatzes dieser seiner Logik zu der des Aristoteles, voll
bewußt zu werden. Hegel billigt zwar Kants Zertrümmerung der Metaphysik,
kann aber dessen Konservierung der formalen Logik nicht gutheißen. Ebensosehr
wie er jenen ersten Triumpf der kritischen Wissenschaft als erhabenen Fort-
schritt der Philosophie feiert, tadelt er das Ausbleiben der letzten und entschei-
denden kritischen Tat, die alles Philosophieren revolutionieren sollte, der näm-
lich einer gänzlichen Umgestaltung der Logik. Gerade weil diese stagnierte, wäh-
rend allenthalben der kritische Fortschritt wuchs, „bedürfe" sie umso mehr einer
„totalen Umarbeitung".
Hegels Logik ist weiter dialektisch-spekulativ, nicht empirisch wie die seiner
Vorgänger. In Betracht kommt hier nur die Auseinandersetzung mit der „empi-
rischen" Logik. Diese ist das Denken des „definierenden" und „klassifizierenden"
Verstandes, der „bestimmt" und an seinen „Bestimmungen" „festhält". In dieser
Denkweise versteht sich das Denken immer nur als das, was es ist (— faktisch

100
G. W. F. Hegel, System der Philosophie I, Wissenschaft der Logik, §§ 26—78;
WW (Glodtnerausgabc), VIII 99—184.

469
reale Denkform), oder als das, was es nicht ist (= faktisch nicht-reale Denkform,
reine Vcrstandesform). Diese empirische Verfallenheit und Starre ist in der me-
taphysischen wie transzendentalen Logik ausgebreitet. In jener weiß das Denken,
was es ist (nämlich receptaculum rerum, real bestimmt); es weiß aber nicht, was
es nicht ist (Unwissenheit über sich selbst, ideal unbestimmt). In dieser weiß das
Denken, was es nicht ist (kein receptaculum rerum, also ideal frei); es weiß aber
nicht, was es ist (Denken ohne Anschauung ist nach Kant leer; also bleibt, obwohl
das Denken sich selbst denkt, die ideale Unbestimmtheit erhalten).
Die dialektisch-spekulative Logik hingegen ist das Denken der „negativen"
und „dialektischen Vernunft", deren Kampf gegen den Verstand darin besteht,
das, was dieser „fixiert" hat, zu überwinden. In diesem Vorgang schreitet das
Denken vermittels der Dialektik fort. Hegel preist diese als erste wissenschaft-
liche Methode der Logik überhaupt, d.i. als Form des Denkens, die ihr eigenes
Verfahren mitbringt, oder als Verfahren des Denkens, das seine eigenen Inhalte
selbst zeugt. Die Dialektik begreifen, heißt den „logischen Satz" erkennen, „daß
das Negative ebensosehr positiv ist", sich keineswegs in das „abstrakte Nichts auf-
löst", sondern immer als „Negation einer bestimmten Sache", „die sich auf-
löst" fungiert. Es hat somit einen „Inhalt", das aber heißt, „sie ist ein neuer
Begriff". Dieser ist „reicher", „höher" als der „vorhergehende", den er verneint,
insofern er ihn „enthält" und doch zugleich darüber hinaus ist. Das Negative
„ist die Einheit seiner selbst und seines Entgegengesetzten". Das „wahrhaft
Dialektische eines Begriffes" ist eben dies Negative, das er in sich hat und das ihn
weiterleitet; es ist die „Form der inneren Selbstbewegung des Inhaltes". In die-
ser Denkweise begreift sich das vernünftig gewordene Denken selbst, indem es
nunmehr weiß, daß es das, was es ist, zugleich nicht ist, und das, was es nicht
ist, zugleich ist.
Nach diesem kurzen Abriß der Hegelsdien Vorstellung vom Ablauf der gei-
stesgesdiichtlichen Selbstentfaltung des Denkens in den Stufen metaphysischer,
transzendentaler und dialektischer Logik wenden wir uns seiner Deutung der for-
malen Theorie zu, die er in der Konkretion des Begriffes metaphysischer Logik
ausgebreitet denkt.
Hegel nennt drei Momente vorkantischer Logik, das der Trennung, der
Angleichung und der Versaiedenheit. Im Moment der Trennung weiß sich das
Denken gespalten in „Materie" („Stoff",. „Inhalt") und „Form". Den Inhalt
versteht es „als eine fertige Welt außerhalb des Denkens", die „an und für
sich vorhanden" ist.
Die Form erfaßt es als „für sich leer"; es weiß, daß es selbst nur „reales Erken-
nen" wird, wenn es sich in der Weise mit Materie „anfüllt", indem es äußerlich zu
dieser hinzutritt.
Im Moment der Angleichung kommt sich das Denken als „etwas Mangel-
haftes" vor, diesem. Schaden es nur entkommen kann, „vervollständigt es sich"
an einem bereits „Fertigen" in der Weise, daß es ganz darin aufgeht, sich die-
sem „angemessen zu machen". Diese Angleichung führt das Denken seinem inne-

470
ren Zweck, der Wahrheit, zu, dodi so, daß es dieser Wahrheit nur inne wird,
„fügt" und „bequemt" es sich nach seinem Gegenstand.
Im Moment der Verschiedenheit nähert sich der erste Standpunkt schon be-
denklidi der inneren Selbstauflösung. Hier wird das Denken gewahr, daß der
eingefüllte Gegenstand als „Ding an sich" „schlechthin ein Jenseits des Denkens"
bleibt. Das Denken lernt begreifen, daß alles Sich-bequemen nach Dingen doch
nur eine „Modifikation" seiner selbst mit sich bringt. Form und Materie sind
und bleiben eine je vom anderen „geschiedene Sphäre". In diesen Momenten der
Konkretion erfüllt sich der abstrakt-allgemeine Begriff metaphysischer Logik in-
sofern, als das Denken sich als formale Metaphysik oder, betrachtet es sich nur
als das, was es selbst ist, als formale Logik bestimmt. Die formale Metaphysik
ist das Denken, das sich versteht, insoweit es Dinge versteht; nur so weiß es,
was es ist, nämlich Form der Dinge. Diese Philosophie, in der die Metaphysik
bestimmt, was Logik ist, steht unter dem Leitsatz: Habe ich die Dinge bestimmt,
habe ich das Denken bestimmt. Die formale Logik ist das Denken, das dem Ideal
der Entwicklung einer reinen Logik nachzukommen sucht. Es versucht dabei
zu bestimmen, was es selbst ohne Materie ist. Dieses Unternehmen, durch Be-
stimmung der Form-an-sidi zu einem reinen Begriff seiner selbst zu gelangen,
muß jedoch scheitern. Die Form des Denkens kann als solche nicht bestimmt
werden, ist sie doch ohne ihre Materie inhaltslos. Es bleibt also die Einsicht:
Wenn immer das metaphysische Denken danach strebt, sich so zu erkennen, wie
es ohne Dinge ist, dann führt das nur dazu, daß es nicht weiß, was es nicht ist.
Das heißt, es kann ohne Dinge nichts mit sich anfangen. Gerade in diesem Ne-
gativen scheint aber der eigentliche Begriff des Denkens zu stecken (
, transzendentale Wende).
Hegels Logik trägt also folgendes bei: 1. Dialektische Logik ist die ganze Wahr-
heit des Denkens, in welcher formale und transzendentale Logik aufgehoben ist.
2. Formale Logik ist eine Schöpfung des Verstandes, der sich metaphysisch als leere
Form realer Bestimmungen denkt. 3. Ein Selbstverständnis des Denkens aus einer
derartigen formalen Theorie ist unmöglich.
(2.2) Frege, Boole, Wittgenstein — Dimension einer Sezession des Denkens.
Der zweite Versuch verläuft in den von Frege, Boole und Wittgenstein aus-
gezeichneten Wegen der neologischen Bewegung.
(2.21) (Mathematische) Fusion der logisdien Formen: G. Frege, gern als zwei-
ter Aristoteles gepriesen, wollte wohl weniger ein logischer Revolutionär wie
Hegel sein. Dennoch ist die Fusion der Logik mit der Mathematik, an der er
mitwirkte, folgenschwer gewesen101. Die „formale Natur" der mathematischen
Zahlen und logischen Gebilde wird zur verbindenden Brücke beider Bereiche. Die-
se wird in der „formalen Theorie" in Grundsätzen bzw. Ableitungen solcher Art
101
Grundgesetze der Arithmetik, 2 Bde., Jena 1893—1903, I 1: In meinen Grund-
lagen der Arithmetik habe ich wahrscheinUch zu machen gesudit, daß die Arithmetik
ein Zweig der Logik sei, und weder der Erfahrung noch der Anschauung irgendeinen
Beweisgrund zu entnehmen brauche.

471
gesehen, welche sich ohne Rücksicht auf Inhalte über „alles Denkbare erstrecken"102.
Die Logik gewinnt den Charakter einer mathematischen Grundlagenwissenschaft,
da es „keine eigentümlichen Schlußweisen gibt, welche sich nicht auf die allge-
meinen der Logik zurückführen lassen" 10S.
Wie sehr auch der Logik wohlgetan ist, wenn Frege sie lobt als „keiner ge-
ringeren Genauigkeit fähig als wie die Mathematik selbst" 103, und wiewohl Frege
nicht darauf aus ist, ihre philosophischen Bande zu zerschneiden104, so ist doch
mit ihrer Annäherung an die Mathematik eine Entwicklung eingeleitet, welche
zu ihrer Sezession von der Gesamtvernunft führen sollte.
(2.22) (Formalistische) Isolation der logischen Formen: Dieser Prozeß einer
innerlogischen Absonderung schritt im 19. Jahrhundert fort, als sich in Kreisen
logisch interessierter Mathematiker die Auffassung durchsetzte, Logik sei ein Teil
der Mathematik, und man zurückhaltend meinte, es stünde ihr gut an, darüber
hinaus keine Ambitionen an den Tag zu legen. B. Booles Mathematical Analysis
of Logic (1847) kehrt den Spieß um und lehrt den Logiker so ohne Philosophie
auszukommen wie es erfolgreiche Mathematiker seit langem gelernt zu haben
glaubten. Er präzisiert vorbildlich die formalistische Deutung formallogischer Tat-
sachen. Diese sind Strukturen und Operationen, deren Gültigkeit wie die „die
Gültigkeit der Verfahren der Analysis nicht von der Deutung der Symbole ab-
hängt, die gebraucht werden, sondern ausschließlich von den Gesetzen ihrer
Kombination" 105. Er fordert also Trennung von der Metaphysik und Anschluß
an die Mathematik loe. Zu einer /Zeit, da nicht nur die Philosophie im Nieder-
gang begriffen war, sondern gar der Logik selbst in der Dialektik ein tödlicher
innerer Feind zu erwachsen drohte, konnte ihr anscheinend nichts Besseres gesche-
hen, als in den Schoß der unantastbaren Mathematik heimgeholt zu werden.
Dennoch liegt in diesem Vorteil, den mathematische Hilfe verschaffte, der Nach-
teil, daß ihr Einfluß auf die Gesamtvernunft zurückging. Sie führte zunehmend
ein von der Philosophie isoliertes Dasein, vergleichbar dem der Mathematik. Hatte
diese zu Descartes, Lockes, Leibnizens, ja noch zu Kants Lebzeiten stärkste Impul-
se auf grundlegende philosophische Fragen abgegeben, so ging ihr Einfluß auf

102
Über formale Theorien der Arithmetik, in Jenaische Zeitsdir. f. Naturw., XIX
(1886), 94 f. . .
104
Freges philosophischer Standpunkt ist ähnlich dem Leibniz* und Bolzanos ein lo-
gischer Idealismus. Mathematische und logische Sätze repräsentieren ewige Wahrheiten
(veritis de raison, Sätze an sich).
105
The Mathematical Analysis of Logic, London und Cambridge 1847; Neudruck
in G. Boole's Collect. Log. Works, ed. by P. E. B. Jourdain, 2 Bde., New York 1951 s,
3 f. (Obers, v. I. M. Bodienski, Formale Logik 325.
1M
Ebd., 13 (Obers, v. L M. Bodienski, 326): Gemäß dem Prinzip einer wahren
Klassifikation sollten wir nicht länger Logik und Metaphysik, sondern Logik und Mathe-
matik verbinden ... Die geistige Disziplin, welche durch das Studium der Logik als
einer exakten Wissenschaft geboten wird, ist — in species — dieselbe wie (Jene)> weldie
durch das Studium der Analysis geboten wird.

472
neuere Richtungen zurück. Ähnlich erging es nun auch der Formalen Logik. Ihr
eine allogische Theorie beizugeben, wollte so antiquiert erscheinen, wie der Mathe-
matik vorhalten, sie sei nichts weiter als rationale Explikation des akzidentellen
Quantums materieller Substanzen.
(2.23) (Antimetaphysischer) Positivismus logischer Formen: Wie sehr diese An-
fänge alles darauf abstellten, die logischen Tatsachen in eine positivistisdie Reser-
vation abzudrängen, zeigt der Wiener Kreis, insbesondere Wittgensteins neo-
positivistische Sprachlogik. Die Philosophie, im Traktat107 destruiert auf logische
Sprachanalyse bzw. logische Konstruktion einer exakten (naturwissenschaftlichen)
Einheitsspradie, vermag der auf idealspradiliches Bewußtsein geschrumpften Ver-
nunft keine Auskunft mehr über das zu geben, was ihr als formales Praktikum
noch zu tun übrig gelassen wurde. Über Sprache108 legt sich ebenso wie über
logische Formen109 das Schweigen des Mystikers. Metaphysische Transzendenz
der Einheitssprache bleibt ebenso verschlossen110 wie deren transzendentale De-
• duktion1U rational nicht ausgemessen werden kann112. Wie solchermaßen die
Logik das ganze philosophische Geschäft an sich reißt und es sprachanalytisch
weginterpretiert, leistet sie keine Beihilfe mehr zur Erhellung außersprachlicher
Anliegen; sie wird selbst zur formalen Faktizität verdammt, insofern sie hinter
deren Sinn nicht schauen kann. Auch der Vernunft, die ganz der Gefangene der
Sprache ist, verhilft sie nimmermehr dazu, sich selbst (transzendental) zu ergrün-
den oder ihre alogischen „Lebensformen" zu verstehen. Ähnlich wie sich Philo-
sophie in Logik auflöst, ergeht es der Wissenschaft, die, einer sprachlichen Re-
duktion unterworfen, auf das Phänomen der von Carnap 11S näher behandelten

107
Traktat 4.0031 (Alle Philosophie ist „Sprachkritik"), 6.3 (Die Erforsdiung der
Logik bedeutet die Erforsdiung aller Gesetzmäßigkeit).
108
Traktat 6.54 und 7.
109
Traktat 6; besonders 6.1 (Die Sätze der Logik sind Tautologien), 6.1 L (Die Sätze
der Logik sagen also nichts), 6.121 (Die Sätze der Logik demonstrieren die logisdien
Eigenschaften der Sätze, indem sie sie zu nichtssagenden Sätzen verbinden); vgl. 6.211,
6.22, 4.12 (Der Satz kann.die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das
darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können
— die logisdie Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns ...
außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt), 4.121 (Der Satz
kann die logisdie Form nicht darstellen, sie spiegelt sidi in ihm ... Was sidi in der Spradie
ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken).
110
Vgl. 4.112 (Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit), 4.003 (Die
meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge gesdirieben worden sind,
sind nidit falsch, sondern unsinnig).
111
Zu Wittgensteins 6.13, Die Logik ist transzendental, und E. Stenius* Wittgen-
stein äs a kantian philosopher, in Wittgensteins Tractatus, Oxford 1960, 214—226,
vgl. G. Funke, Einheitssprache, 17 ff.
Die Termini „aspektivische Logik" (Philos. Unters., II 11, S. 193) und „apriori-
sche Logik" geben zwar Möglidikeitsgründe des topiscten und utopischen Bewußtseins
an, entziehen sich aber selbst einer positiv logisdien Konstruktion. Vgl. G. Funke, 239 ff.
111
Symbolische Logik, Wien 1954, besonders 169 ff. und 183 ff.; Der logische Auf-
bau der Welt und Scbeinprobleme in der Philosophie, Hamburg 1961.

473
naturwissenschaftlichen Sprache beschränkt zu werden droht. Wo der Wissen-
schaftsanspruch sich in seiner vollen Weite selbst aufgibt, ergreifen die irrationalen
Mächte grassierender Individualität die Macht. Der nicht allein seligmachenden
rationalen Einheitssprache gesellen sich sdiier unzählige „Privatsprachen" des
topischen Bewußtseins zu 114. Entscheidende Interessenbereiche entgleiten so der
Kontrolle der Vernunft und werden wilden Spekulationen willkürlicher Sprach-
spiele anheim gegeben.
Die durchlaufene Position ergibt folgenden Umriß: L Logische Gebilde sind
in ihren formalen Eigenschaften mathematischen Zahlen gleichzustellen. 2. Diese
formalen Eigenschaften können vom allogischen Phänomen abgelöst und — nach
formalistischer Deutung — in einer eigenen Disziplin, ähnlich der Mathematik,
isoliert werden. 3. Diese exakte Wissenschaft ist — dem logischem Neopositivis-
mus nach — einziges Kriterium von Vernunft und Wissenschaft; es äußert sich
einzig als formales Konstitutiv der Sprache; über dessen Faktizität kann — nach
Wittgenstein — nicht hinausgegangen werden.

III. Was sollen Logische Formen?

Der Nutzen formaler Werkzeuge der Vernunft soll in dem doppelten Ver-
stehenshorizont eingekreist werden, der von Abaelard, Thomas von Aquin, W.
Ockham und Fr. Bacon bzw. Leibniz, Boole und der modernen logischen Prag-
matik (Wiener) abgeschritten ist. '
(3.1) Abaelard, Thomas, Ockham, Bacon — Logisches Werkzeug als Maxime
zur Einrichtung der Wissenschaften. Der erste Ansatz berücksichtigt Aufstieg und
Niedergang der mittelalterlichen Auffassung von der Syllogistik als Organon zur
Einrichtung der Wissenschaften11S.
(3.11) (Disputative) Demonstration des logisdien Werkzeuges: Die Bildungs-
beflissenheit scholastischer doctores entdeckte wieder den instrumentalen Nutzen
formaler Strukturen, welche bereits im Peripatos und in stoischer sowie neu-
platonischer Propädeutik in Gestalt eines logischen Werkzeuges gebraucht wur-
den. Die zur Sic-et-non-Methode Abaelards ausgebaute ars dialectica berauschte
die Köpfe der gelehrten Welt, die sich ihrer fürderhin als entscheidendes Element
der scholastischen Methode bediente. Logik, in der Artistenfakultät emsig erprobt,
gewann dank ihrer technischen Eigenschaften als wiedergewonnener Schlüssel zum
verlorenen Paradies des mundus intelligibilis höchstes Ansehen. Die aristotelische
Syllogistik, mit ihrem doppelten Kern, dem apodiktischen und dialektischen Be-
weis, funktionierte als vorzügliches Mittel der Wissensbildung, während anderer-
seits damit eine Verschmelzung mit Rhetorik und Grammatik einherging. Erst
114
A. J. Ayer, The Conceft of a Person and Other Essays, London und New York
1963; darin Philosophy and language l—35 und Can there be a private language
36-51.
115
Vgl. K. A. Sprengard, Systematisch-historische Untersuchungen zur Philosophie des
XIV. Jahrhunderts, 2 Bde., Bonn 1967—1968,1,111—127.

474
dieses enge Einvernehmen von Logik und Sprache, in welchem Begriffe und Worte
als wechselseitig korrespondierende modi significandi der Dinge geschätzt wur-
den, erweiterte die logische Technik zur disputativen Schlagkraft11 .
Abgesehen von der theologischen Normenkontrolle, welcher die Logik lange
Untertan war, erlaubt die so vereinte logisch-sprachliche Kunst alle gelehrten
Interessen zu disputieren, nach argumenta pro et contra zu sondieren und in
Gestalt der disputatio doctrinalis bzw. dialectica zu entscheiden. Vorausgesetzt
allerdings blieb, daß hinreichende Prämissen (notwendige oder wahrscheinliche)
vorhanden, keine mysteria stricte dicta berührt waren und die menschliche Schwäche
von groben Unzulänglichkeiten verschont war. Faktisch überflutete die im Hoch-
gefühl gefeierter Erfolge schwelgende Dialektik alle Gebiete des damals gängi-
gen geistigen Sichtkreises. Ihr Imperium reichte von gewagten Spekulationen über
deus unus et deus trinus bis zu Urgründen der materia prima. Thomas von
Aquins Summe philosophischen und theologischen Wissens darf noch heute als
besonnenstes Zeugnis jener Triumphe gelten, welche der geschulte Intellekt
feierte117.
Aus diesem Tun leitet sich folgende Elementarkonzeption ab: 1. Formale Struk-
turen eignen sich (im Verein mit sprachlichen Dimensionen) als Werkzeuge des
Denkens. 2. Sie werden benutzt, um aus wenigen gegebenen Prinzipien die
Gänze der Wahrheit zu explizieren.
(342) (Nominal-konzeptuale) Restriktion des logischen Werkzeuges: Im 14.
Jahrhundert allerdings wurde der scholastische Betrieb so selbstkritisch, daß zahl-
reiche Gelehrte die bisherigen Errungenschaften verdächtigten, sie seien aus unbe-
wiesenen Voraussetzungen erworben. Die innere Krise geht von metaphysischen
und wissenstheoretischen Bedenken aus. Jene erklären viele Prinzipien als ,meta-
physisdi' und damit nur ungenügend beweisbar. Diese rühren an die Leistungs-
kraft des logisch-sprachlichen Rüstzeuges, welches, wie bei Wilhelm von Ockham,
wohl noch als Werkzeug des Sprechens und Denkens, aber nicht mehr als unge-
brochenes Machtmittel über das Sein der Dinge in Frage kommt. Wenn Ockham
vor dem Hintergrund seines nominalen Konzeptualismus formallogische Hilfs-
mittel nur mehr als Zeichen für Zeichen U8 oder Albert von Sachsen noch stren-
ger als Zeichen für Zeichen als Zeichen119 ausgibt, dann wird die Vernunft
ihrer stärksten Stütze bei der Erkenntnis der Außenwelt beraubt.
So ergibt sich: 1. Formale Strukturen sind ebenso wie Namen nützliche konzep-
tuaie bzw. sprachlich-semantische Werkzeuge der Vernunft. 2. Angewandt auf
Dinge, versagen sie deren echte Repräsentanz.
(3.13) (Empirische bzw. rationale) Destruktion des logischen Werkzeuges: War
in der innerscholastischen Krise die Tauglichkeit des logisdien Organon auf bloße

"· Ebd., 127—139.


117
Ebd., 87—138.
118
Summa totius logicae, I, c 12 (Boehnerausgabe 39 f., Zeilen 39—41).
llf
Pcrutiüs logica, I 9, editio Venetiis 1522, fol. 4va (übers, bei Bodienskl,
Formale Logik, 178 f.).

475
Vernunft- und Sprachangelcgenheiten herabgesetzt, so wird sie vollends zerstört
in jener äußeren Krise, welche durch Einspruch der empiristisch-induktiven neuen
Methodologie Fr. Bacons geschaffen wurde. Die aus bloßen Begriffen oder Sätzen
deduzierende Wissenschaft wird samt dem zugehörigen Werkzeug der alten
Syllogistik verworfen und eine neue Ausrüstung zu erfinden gesucht. Auf diesem
Weg zu einem neuen Organon macht Bacon klar, daß eigentliche Gebiete mensch-
lichen Interesses in einer ars inveniendi erst entdeckt werden müssen. Die äußere
und innere Natur wurden durch die alte Denktechnik verstellt120. Das alte
Organon kann erst peripher ansetzen, wenn das neue bereits gewirkt hat.
Daraus folgt: 1. Logische Strukturen sind kein primäres Instrument wissen-
schaftlichen Handelns. 2. Das alte Organon läßt sich bestensfalls als epigonale
Technik benutzen.
(3.2) Leibniz, Boole, Wiener — Logisches Kalkül als Maxime zur Ausübung
der Technik. Der neuzeitliche Geist, in welchem das alte Organon begraben wurde,
hat indessen seine Auferstehung vorbereitet. Der zweite Ansatz untersucht jene
Tendenzen einer technischen Konzeption, deren Züge von Leibniz über Boole zur
modernen logischen Pragmatik (Wieners Kybernetik) verlaufen.
(3.21) (Universale) Vision des logischen Kalküls: Leibnizens Idee einer formal-
allgemeinen und rechnerisch durchführbaren Operation der ratio enthält zwei
Grundvorstellungen, das „Alphabet der menschlichen Gedanken" m und die „Ma-
thesis universales"122. Dieses ist der Gedanke einer zu schaffenden Idealsprache,
welche die an unzähligen Zweideutigkeiten krankenden „Alltagssprachen" ersetzen
soll123. Das ist dann der Fall, wenn allen möglichen Gedanken eindeutig zuge-
ordnete Symbole beigelegt sind. Durch Kombination der Buchstaben dieses Alpha-
betes und durch Analyse der aus ihnen entstandenen Worte könnte alles aufge-
funden (inveniri) und entschieden (dijudicari) werden121. Jene hat „zwei Teile,
die Ars combinatoria über die Verschiedenheit der Dinge und ihre Formen oder
Qualitäten im allgemeinen, soweit, sie der genaueren Schlußfolgerung unterwor-
fen sind, und über das Gleiche und Ungleiche, und die Logistik oder Algebra über
die Quantität im allgemeinen" 122. Die allgemeine Kunst rechnerischer Operation
ist also ein formales Verfahren, welches nicht nur mit Zahlen oder Quanten,
sondern mit der Algebra der Gedanken rechnen soll. Vorausgesetzt, die Ge-
dankensymbolik ist perfekt und wird in solch einem fiktiven logischen Dämon
richtig kombiniert und richtig geschlußfolgert, dann wird „eine Auseinandersetzung
zwischen Philosophen nicht mehr notwendig sein, [so wenig] wie zwischen zwei
Rechnenden. Es wird vielmehr genügen, die Feder zur Hand zu nehmen und
sich an Rechentische [ad abacos] zu setzen und zueinander zu sagen: Rechnen
wir" **\ Die geballte Kraft dieser Vision einer vereinten „Algebra der Gedan-
120
Auch Descartes überwindet den methodisdien Zweifel primär nur durch eine
Sdiau der rationalen Grundlagen.
121 \^ (Gerhardtausgabe der philosoph. Sdiriften), VII 185.
122 WW (Gerhardtausgabe der math. Sdiriften), VII 205.
128
WW (philos. Sdiriften), VII 200.

476
ken" und der „Mathesis universalis" repräsentiert einen philosophischen Dä-
mon124, dessen formale Operationen alle Wahrheiten aktualisieren. Dieser
logisch-philosophische Dämon steht würdig neben dem mathematisch-mechanischen
von Laplace.
Aus dieser großen Hoffnung, die, wenn sie sich erfüllt, den totalen Besitz
der Wahrheit einbringt, bleibt dies: 1. Formale Strukturen sind als Elemente
eines möglichen symbolisch-kombinatorischen Kalküls voll rehabilitiert. 2. Die
Durchführung dieser Vision bleibt offen.
(3.22) (Mathematische) Einübung des logisdien Kalküls: Der hohe Ansatz einer
technischen Verwertbarkeit der Logik ließ sich indessen nicht durchhalten. Als
Boole die Logik weitgehend dem mathematischen Wirkungsbereich einverleibte,
betraf diese Vereinnahme zugleich den logisdien Kalkül. Unter extremer Mathe-
matisierung baute Boole an einem eng verschlungenen mathematisch-logischen
Kalkül. Auf diese mathematisdie Einübung der logisdien Kunstfertigkeit trifft
das unter 2.22 Gesagte analog zu. Daraus leitet sidi ab: 1. Logische Strukturen
sind ähnlich wie mathematisdie kalkulierbar; sie sind innerhalb der mathematisdi-
logischen Technik brauchbar. 2. Der Sezession der logischen Formen folgte die
des logisdien Werkzeuges. Diese Entwöhnung der Logik von. den allgemeinen
Übungen der Vernunft war zwar nicht die notwendige, wohl aber faktische,
verbreitete Folge der Mathematisierung.
(3.23) (Technische) Anwendung des logisdien Kalküls: Immerhin war dieses
der Gesamtvernunft entfremdete Organon in der Mathematik so erfolgreich, daß
es bereits im 19. Jahrhundert den angesehen Platz eines mathematisdien Konstitu-
tivs einnahm. Darüber hinaus wurde ihm dadurdi Erfolg besdiieden, daß es sidi
als nützliches Glied der angewandten Industrietedmik unentbehrlich madite. So
hat sie in der Tedinik der Datenverarbeitungsmasdiinen so wesentlichen Anteil,
daß die Informations- und Steuerungssysteme in einer Weise funktionieren,
welche die Kapazität menschlicher Kopfredmung verschwinden läßt. Die instru-
mentale Eigenschaft formaler Strukturen der Logik ist nicht nur in N. Wieners
Kybernetik gewürdigt, in programmgesteuerten Rechenautomaten angewendet,
sondern bereits in vielen Disziplinen angewandt12 .
Fundamentalelemente der tedinisdien Konzeption sind diese: 1. Logische Struk-
turen sind in der Industrietechnik anwendbar; nach Auffassung des pragmatischen
Operationalismus ist ihre technische Leistungsfähigkeit entscheidendes Kriterium
einer pragmatisch verstandenen Vernunft; Vernunft ist Handeln, vernünftiges

lt4
Dieser Gedanke kommt mit den Grundsätzen der Monadologie überein, denen
zufolge die perzeptive Tätigkeit der Monade allemal die ganze Welt repräsentiert und
es nur auf den Grad möglidier Bewußtseinssteigerung, der appetitiven Tätigkeit, an-
kommt, inwieweit die Allrepräsentanz ins volle Licht tritt.
125
H. Reidienbadi, Philosophie joundations of Quantum Meckanics, Berkeley 1946;
U. Klug, Juristische Logik, Berlin 1951; J.H. Woodger, The Axiomatic Aiethod in
Biology, Cambridge 1937.

477
Handeln aber Ist das technisch erfolgreiche Handeln allein. 2. Die Sezession
des technisch* erfolgreichen Kalküls von der Gesamtvernunft vertieft sich.
Versuche, historische Elemente einer formalen Theorie und technischen Kon-
zeption der (Formalen) Logik zu ermitteln, ergeben ein theoretisches und prak-
tisches Spannungsfeld. Jenes läßt die logisdien Tatsachen einmal als Elemente
einer metaphysischen, transzendentalen oder dialektischen Selbstauslegung des
Denkens erscheinen, während es andererseits — nach Art der Mathematik — von
einer logischen Sezession und damit Selbstbeschränkung der Vernunft Kunde
gibt. Dieses zeigt, daß ein ursprünglich glanzvoller Höhenflug, in welchem die
logisch gleichsam verlängerte Hand der Vernunft in metaphysische Gründe griff
und transzendente Arbeit verrichtete, alsbald in einer vorsichtigen Beschränkung
auf sprachliche und gedankliche Geschäfte endete und der instrumentale Nutzen
der Logik nach der neuerlichen Vision eines totalen logischen Dämons schließlich
in den positivistisdi abgesteckten Grenzen einer logisch konstruierten Sprache
beschieden wird.
Während das gut entwickelte kritische Bewußtsein gegenüber weniger streng
logifiziertem Material den hohen Stand des Zeitalters dokumentiert, herrscht
indessen eine weit verbreitete logische Krise. Eine ihrer Ursachen ist das unkritische
Verhalten gegenüber der logischen Faktizität. Soll diese zum Besseren gewendet
werden, muß über die höhere Naivität des Faktums hinausgegangen werden.

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