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Suhrkamp Verlag
edition suhrkamp 349
2. Auflage, I 1.-18. Tausend 1970
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 1969 . Erstausgabe. Printed in
Germany. Alle Rechte vorbehalten , i nsbesondere das der Übersetz ung, des ·
7 Einleitung
I8 György Markus
Ober die erkenntnistheoretischen Ansichten des jungen
Marx
7 3 Jindrich Zeleny
Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus
87 E. W. Iljenkow
Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im >Kapital<
von Marx
I 28 Hans-Georg Backhaus
Zur Dialektik der Wertform
I 5 3 Henri Lefebvre
Zum Begriff der >Erklärung< in der politischen Ökonomie
und in der Soziologie
q6 Henri Lefebvre
Perspektiven der Agrarsoziologie
I 94 Alfred Schmidt
Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte
267 Nachweise
Einleitung
7
sich Hegels buchstäbliche »Liquidation<< von Erkenntnistheorie:
seine Absage an jede .erkeontnis.vorgängige A�;,tJy.se des Er
kennt�lsverriiÖge�s zu eigen machen, ohne daß sie sich über die
=Yon-il1nen verworfenen - idealistischen Voraussetzungen des
Hegeischen Unternehmens gebührend Rechenschaft ablegen.
Das mußte in der Folge zu erheblichen Schwierigkeiten führen.
\yi_rd_llliJ:Illi<:h .. J-Iegels Kan�� fu:i.!!L��[�� übernommen und
zugT�ich 111ate,ri_alistisch die un_aufhebbare Differenz vori Begriff
und �I,JJ?5!gr.e!fm4e� .Sacite b_e]la,uptii,' so ergibt sich notwendig
�i.!L<!�m��i.�c.!Jer. 4J.>.bil9,�ß�a� wie er in· Lenins (��hr
parteigeschichtlich als philosophisch relevantem) Buch Materia
lismus und Empiriokritizismus kodifiziert wurde.
Damit ist freilich die erkenntnistheoretische Problematik des
dialektischen Materialismus keineswegs erledigt. Sieht Lenin in
seinem Kampf gegen die russischen Anhänger von Mach und
Avenarius sich genötigt, denjenigen Aspekt hervorzuheben,
den der Marxsche mit den vormarxschen Formen des Materia
lismus gemeinsam hat: die�ll��i���- J>ri: or!��-� <!e! �i.l1�.c:hyjs:_
.. . .
8
sen. - Marx will nicht, wie die Thesen mitunter interpretiert
werden, auf eine fragwürdige >>Synthese<< von Idealismus und
Materialismus hinaus. Erreicht wird vielmehr eine neue Di
mension des Denkens und Handelns. Marx möchte die bisher
�f!J_j!1?:�tl!rialisti$chen) Sensualismus, aberaü'di'von-Kant bloß
passiv verstandene >>Sinnlichkeit<< als tätig begreifen und die
�'!�-t�K�it« ��l; sinnlich, das heiß"t als gegenständllchesMoJ?ent
gegenstän,4licher :Wirklichkeit. Die in ihr sedimentierte s�,�b
$.kni{iä.t is.t. allematd.ie Jt!i.�haftiger, gesellschaftlich p�oduzie
r�nder Menschen umf i!lsofern llic:;hts, dem objektiven Sein
schlechthin Außerliebes und Fremdes.
iJieser-;;r;;�;-:M;t�r1aTisffiü5;;;Iä�� deshalb als materialisier
ter Kritizismus gelten, weil er die - freilich nicht mehr selbst
»theoretisch«-kognitiven - ��_dingungen der Möglichkeit von
(alltäg]iffi�LF:ie wissenschaftllCherf ,Erkenntnis- aufdeCKt: sie
su;d--i�j�wejJig�IJ Ganzen gesellschaftlicher Praxis enthalten.
Feuerbachs >>anschauender<< Materialismus bringt es mir zu
einem oberflächlichen Begriff von >>Praxis<< ; er hält sich an den
Augenschein der Welt des Schachers und verkennt deren Ver
mitteltheit durch die Totalität der herrschenden Produktions
verhältnisse. >>Feuerbachs >Auffassung< der sinnlichen Welt«,
schreiben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie, >>be
schränkt sich einerseits auf die bloße Anschauung derselben
und andrerseits auf die bloße Empfindung. [ . . .] Er sieht nicht,
wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar
von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern
das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes,
[ . . . ] ein geschichtliches Produkt. [.. .] Selbst die Gegenstände
der einfachsten >sinnlichen Gewißheit< sind ihm nur durch die
gesellschaftliche Entwicklung [ . . . ] gegeben.<<6 - Feuerbach
s Cf. ibid ., S. 7.
6 Die deutsche Ideologie, ibid. S. 42; 43· - Es ist von Interesse, daß Lenin
nach seiner Lektüre der Hegeischen Logik vom (gesellschafUich) unvermit
telten Objektivismus seiner erkenntnistheoretischen Schrift von 1908 ent
schieden abgerückt ist. So nähert er sich 1 9 2 1 in der Gewerkschaftsdebatte
der hier erörterten Position der Deutschen Ideologie, wenn er als wesent
liches Merkmal der materialistischen Dialektik anführt, daß •in die voll
ständige >Definition< eines .Gegenstandes die ganze menschliche Praxis
sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als praktische Determinante
des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht,
mit eingehen muß•. In : Zwei Arbeiten zur Gewerkschafts/rage, Berlin 1957,
s. 64.
9
fällt, mit anderen Worten, hinter das vom Idealismus (obzwar
in ideologischer Gestalt) Erreimte zurück. Undurchschaut bleibt
der Umstand, -��-�ie ?>Vertnittelnde Bewegung<<,. gesellsmaft
licbe _.t\z:�e.it, »in ihrem eignen Resultat verschwindet und"keme
Spur zurijdd�Bt«'.7 Ind�m Fe�erbach naiv-realistisch iibersieht,
in welchem Maße die Tatsamen der Wahrnehmung etwas Ge
wordenes, historisch »Konstituiertes<< sind, erfaßt er aum nicht
die politisme Notwendigkeit, >>die bestehende Welt zu revolu
tionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und
zu verändern<< . s Weltkonstitutive und weltverändernde Pra
xis liegen für Marx und Engels auf einer Ebene.
Die intersubjektiv gegebene Menschen- und Samwelt ist so we
nig wie der Perzeptionsapparat der Individuen eine feste, rein
natürliche Größe : >>Die Objekte, die den Sinnen gegenüberste
hen, von denen sie wahrgenommen werden, sind PJ:i::)duhe
einer- spezifischen Zivilisationsstufe und Gesellschaft; und die
. Si�-;;:e wiederum sind auf ihre Produkte hingeordnet. JJiese hi-
storische weChsell)ez1ehu�g-heeinflußt selbst die pr��är(!ii ?i_n:.
neseindrücke : . allen ihren Mitgliedern erlegt eine e�a.bE�!�.e
Gesellschaft dasselbe. Medium der Wahrnehmung_ a.uf; UJ1�
durch alle Unterschiede individueller und klassenmäßiger. P�r
spektiven, H()ri.�Pl1�e u.nd I-lintergründe hindurQJ. Ji�fett.. _ci,ie
Gesellschaft dieselbe allgemeine Erfahrungswelt.«9 Nam der
subJektiven wie· naeh der objektiven Seite ist derart präfor
miert, was die Menschen als für sie bedeutsam jeweils auf
nehmen.
Der spezifisch erkenntnistheoretische Frageansatz des dialek
tischen Materialismus ergibt sich daraus, daß Marx und Engels
Hegels Kant-Kritik akzeptieren, ohne zugleich deren spekulative
Basis akzeptieren zu können. Mit)-�eg�l behaupten sie die f:�
kennbarkeit des Wes�rls der "
Erscheinungen, mit Kant (ohne
sidi" frei!Id1"äuf die Kritik de r retnen Vernunft ZU berufen) 1:?�.::.
stehen sie auf. der Nicht�Identität von Form und Materie,
s_l!ki�!.:��. c:)_bj�kt d�� Erk� �p:��i�:-i;· k�-�mt so - obsChon
unausgesproChenermaßen - zu einer materialistismen Neuauf-
10
nahme der Konstitutionsproblematik.ro Diese ist mit dem
Hinfälligwerden ihrer idealistischen Prämissen keineswegs ab
getan. Marx »kombiniert« nicht (was purer Eklektizismus
wäre) Denkmotive idealistischer und materialistischer Her
kunft, sondern er kehrt den (von Kant bis Hege! verschieden
nuancierten) Gedanken der Vermitteltheit alles Unmittelbaren
gegen seine bislang idealistische Fassung. Das aber gelingt ihm
nur dadurch, daß er die Philosophie denkend überschreitet. Es
handelt sich fü� ihn ang�siclJ,ts _de_r ��ab�eisbareq g�sChiChtTid,.�
A:ür�1ien-aei.M �n�fh�it .11icbdä n ger dilr.Ym,"' von_ obe,.-�t�n . .
w�gs.:..:.
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II
jekt zeichnen sich ebensoviele Stufen materieller »Weltkonsti
tution«· ab. Die »Entwickl\lllgsgeschichte der Arbeit<< bildet,
wie Engels scnreiEt,-;;aen.".Schlüssel [ . . J zum Verständnis der
.
12
Objekt-Relation ist ( . . . ] nicht durch das Bild zweier kon
stanter, begrifflich völlig durchleuchteter Größen zu beschrei
ben, die sich aufeinander zubewegen - vielmehr stecken in den
als objektiv bezeichneten subjektive und in den sogenannten
subjektiven auch objektive Faktoren, und zwar so, daß wir
[. . . ] das Ineinanderspielen beider, als menschlicher und
außermenschlicher, individueller und klassenmäßiger, metho
dologischer und gegenständlicher Momente darzustellen haben,,
ohne jedes dieser Momente von den anderen in seiner Wirk-:
samkeit restlos isolieren zu könnc:_ti}l! J?�s zu erkJE�P.A�.<Jb:
je�t-�i!d dem Subjekt nu! �h.er"�ig �ygeQJ.V.OJl. YeJ:"ITiittl\Jfigep
zÜgänglld1Jf�J1fim}ei1�.fi} ni�g�_r��s\JJ.�enDiiQ.�P·
Die »konkreten Zustände<< und >>bestehenden Verhältnisse<<16,
an denen Marx zufolge die »wahre Theorie<< zu entwickeln ist,
werden also nur in dem �-���-�i�k.!LV..e.�_faßt.? ..�_i�_si�. _a]s.. �i.��o
risclle Produ:Kte-äürdlscnaut werden. D1e 'Frage nacti der Art
de'S""Objekt-�Bezug�s; von der 'wir, an das Hegeische Erbe in
Marx anknüpfend, ausgingen, verweist gerade, wenn sie ma
terialistisch gestellt wird, auf die (hier nur provisorisch behan
delte) Konstitutionsfrage; und diese wiederum auf den Ob
jekt-Bezug der begrifflichen Konstruktion insgesamt. Auch
hierin zeigt sich ein Zusammenhang der Marxschen Lehre mit
Kants Transzendentalphilosophie. Wie diese hält Marx unbe
schadet dessen, daß die Objekte der Erkenntnis »Konstituta<<
sind, an der Adäquationstheorie der Wahrheit fest - nur mit
dem schwerwiegenden Unterschied, daJLfür.. ihn.��e��n.stäl,ld
liche Wahrh��!..-n!sl_ltjp.d�� geis!igeiL Ordnungstunktionen
eines Bewußtse�ns überhaupt grünqet, sondern in der »gegen
ständli'chen tätigkeit<<'7 gesellschaftlicher Indivi�uen.
II
IJ
der erkenntnistheoretischen Diskussion im Marxismus. Diese ist
seit einigen Jahren in vollem Gange. Daß die naive Widerspie
gelungs-Konzeption, die den dialektischen Materialismus ein
halbes Jahrhundert lang »auf das infantile Stadium einer vor
kritischen Philosophie<<18 reduzierte, den theoretischen und
praktischen Erfordernissen unserer Zeit nicht gerecht wird,
spricht sich allmählich auch in orthodoxen Kreisen herum. Eine
brauchbare materialistische Erkenntnistheorie, die zugleich die
vom deutschen Idealismus erarbeitete Problematik konstituti
ver Subjektivität berücksichtigt, kann unter den heutigen Um
ständen nicht dem Hirn eines einzelnen Gelehrten entspringen.
Es bedarf vielmehr der kollektiven Anstrengung von Vertre
tern der verschiedensten Disziplinen. Daß eine solche Erkennt
nistheorie kein Selbstzweck sein kann, sondern als Bestandteil
einer kritischen Darstellung der Ökonomik unserer Epoche ver
standen werden muß, liegt auf der Hand.
Die Marxsche Dialektik schließt die beständige Reflexion auf
den Ort und die Funktion der Einzelwissenschaften im sozialen
Ganzen ein. Zu den für einen modernen Materialismus wichti
gen Forschungszweigen müssen gerade, wenn es darum geht,
szientistische Ideologien zu bekämpfen, auch die Naturwissen
schaften zählen. Selbst wer, wie der Herausgeber, gegenüber
dem Engelssehen Versuch, eine rein objektive Naturdialektik
nachzuweisen, erkenntniskritische Bedenken anmeldet, kommt
nicht umhin, die Realität der Natur, welche den historisch
sozialen Prozeß immer auch bedingt, sukzessive in ihn eingeht
und auf allen seinen Stufen begleitet, anzuerkennen, und zwar
im Medium der Theorie der Gesellschaft - nicht, wie Lukacs
neuerdings möchte, als eine der Welt des Menschen »ontolo
gisch<< vorgeordnete Struktur.
Wenden wir uns den einzelnen Beiträgen zu. Der (geringfügig
gekürzte und stilistisch überarbeitete) Aufsatz des ungarischen
Philosophen Markus ist deshalb bemerkenswert, weil er die
Pariser Manuskripte, die in der bürgerlichen Literatur seit
Jahrzehnten dazu benutzt werden, einen absoluten Bruch zwi
schen dem jungen, angeblich »existentiell<< und »anthropolo
gisch<< gerichteten Marx und dem späteren Kritiker der politi
schen Ökonomie zu konstruieren, unter einem neuen, wirklich
18 Roger Garaudy, Die Aktualität des Marxschen Denkens, Frankfurt am
Main/Wien 1969, S. 10.
weiterführenden Aspekt erörtert. Markus weist nicht nur
nach, daß Marx r 8 44 (bei allem Einfluß Feuerbachs) keines
wegs auf ein statisches »Menschenbild« hinauswill, sondern auf
eine konkret-geschichtliche Analyse der Gesellschaft. Dabei
werden Momente dessen sichtbar, was man die Marxsche »Uto
pie der Erkenntnis<< nennen könnte.
Der (ebenfalls leicht überarbeitete) Text von Zeleny, Philoso
phie-Professor an der Prager Hochschule für Ökonomie, be
ruht auf einem Vortrag, der im Februar 1 9 66 im Frankfurter
Institut für Sozialforschung gehalten wurde. Was Zeleny
unter dem Titel einer »Onto-praxeologischen<< Problematik be
handelt, entspricht thematisch dem, was der Herausgeber im
ersten Teil dieser Einleitung über die >>weltkonstitutive« Rolle
der historischen Praxis angedeutet hat. Zeleny zeigt, daß alle
vorkritische Ontologie mit der >>praktischen<< (was nicht heißt:
pragmatistischen oder praktizistischen) Auffassung der Wirk
lichkeit und Wahrheit hinfällig wird. Dabei äußert er beacht
liche Gedanken über die sachliche Beziehung von Marx und
Kant•9, die nicht dort gesucht werden darf, wo die neukantia
nisierenden Austro-Marxisten sie vermuteten.
Iljenkow ist ein Vertreter der neueren sowjetmarxistischen
Schule. Seine Studie ist ein (gekürztes) Kapitel eines 1 9 60
erschienenen Buches über das Kapital, das internationale Be
achtung fand. Iljenkow legt hier dar, daß Marx seine erkennt
nis- und wissenschaftstheoretischen Erwägungen an keiner Stelle
ablöst von den historisch vermittelten Inhalten der politischen
Ökonomie. Dabei wird deutlich, wie philosophisch relevant
gerade das Werk des reifen Marx ist. Von besonderem Inter
esse für den deutschen Leser dürfte Iljenkows Diskussion des
Verhältnisses von >>Forschungs-<< und >>Darstellungsweise<< im
Kapital sein.
Die Studie des aus der Frankfurter Schule hervorgegangenen
Soziologen Backhaus wurde eigens für diesen Band geschrieben.
Sie liefert Aspekte einer gründlichen Analyse der für die Marx
sche Ökonomie fundamentalen, in der gegenwärtigen Literatur
heftig umstrittenen Arbeitswertlehre. Backhaus untersucht die
bei Marx als »bloß philosophisch« diskreditierten Argumente
19 Cf. dazu auch ergänzend den Aufsatz von Zeleny Kant und Marx als
Kritiker der Vernunft, in : Kant-Studien, s 6 . Jahrgang, HeA: 3-4, Köln 1966,
s . 329-34 1 .
seiner Lehre von der Wertform der Ware und zeigt, daß
gesellschaftliche Objektivität, wie sie für den historischen Ma
terialismus entscheidend ist, ohne die Konzeption des Wertes
als »daseiende Abstraktion<< nicht gedacht werden kann. - Aus
der Backhaussehen Arbeit geht freilich nicht nur die Anfecht
barkeit seitheriger Marx-lnterpretationen hervor, sondern
ebensosehr die Tatsache, daß Marx' Unternehmen höchst frag
mentarisch ist und aus einer Reihe von Ansätzen besteht, von
denen in der vorliegenden Form keiner ganz befriedigt.
Die beiden folgenden Arbeiten des hierzulande inzwischen ein
geführten französischen Philosophen und Soziologen Lefebvre
dürften für den deutschen Leser noch immer wichtig sein, ob
wohl sie bereits 1 9 5 6 und 1 9 5 3 erschienen. Der erste Text er
örtert die Dialektik von Wesen und Erscheinung im Kapital
und überprüft die verschiedenen Interpretationen des Marx
schen Hauptwerks im Hinblick auf Einheit und Differenz öko
nomischer und soziologischer Kategorien. - Der zweite Aufsatz
hat programmatischen Charakter. Er diskutiert am Stoff einer
noch zu entwickelnden Agrarsoziologie das Verhältnis von So
ziologie und Geschichte. Sartre, dessen marxistische Wendung
der letzten Jahre Lefebvre nicht wenig zu verdanken hat, be
scheinigt diesem, er habe eine »einfache und unanfechtbare Me
thode aufgebaut [ . . ], um Soziologie und Geschichte unter dem
.
r6
gen einen allzu naiv verstandenen Geschichtsbegriff in den
Marxismus einzubringen. Dazu ist erforderlich, daß zwischen
dem historiographischen und dem theoretisch-konstruktiven
Begriff von Geschichte im Kapital unterschieden wird. Nur so
ist eine wirklich angemessene Kritik der Altbusserschen Marx
lnterpretation möglich.
Alfred Schmidt
György Markus
Ober die erkenntnistheoretischen Ansichten
des jungen Marx
18
bringt, so bringt es das Sein als aus Individuen bestehendes, in
Arten und Gattungen gegliedertes hervor.<< (Studia Filozoficzne,
S. 5 0.) Mit Hilfe der gesellschafl:lich gegebenen Formen der
Abstraktion und der Sprache gestaltet der Mensch, seinen Be
dürfnissen entsprechend, aus dem seiner Tätigkeit gegenüber
entstehenden >>Widerstand<< , aus dem >>ChaoS<< - wie sich Kola
kowski wiederholt ausdrückt - eine artikulierte, aus einzelnen,
bestimmten Objekten bestehende Natur aus. Eben deshalb
wünscht der Autor die Aussage von Marx - das Bewußtsein ist
die Vorstellung der Dinge - ein wenig zu >>Verallgemeinern<<:
Der obige Satz beziehe sich nur auf das Entstehen des Bewußt
seins, wenn wir jedoch hinsichtlich des Bildes der konkreten
Welt fragen, sei das Umgekehrte wahr : Das Ding ist die Ver
gegenständlichung des Bewußtseins (ibid., S. 5 9 ). In der vorlie
genden Studie wollen wir vor allem versuchen, die aufge
worfenen Fragen positiv zu beantworten. Natürlich ist die
Behandlung der erkenntnistheoretischen Problematik als selb
ständiges Thema nur in gewissen Grenzen möglich, spielen doch
diese Fragen in den Arbeiten des jungen Marx bei weitem
keine entscheidende Rolle ; der Charakter der einzelnen Lösun
gen ist durch auf andere Fragen bezügliche Konzeptionen de
terminiert. Eben deshalb werden auch wir an einzelnen Punk
ten unserer Untersuchungen gezwungen sein, die Grenzen des
durch uns gewählten Aspektes zu überschreiten und auch an
dere Probleme in Augenschein zu nehmen. Im allgemeinen
werden wir jedoch die Fragen der Erkenntnistheorie eingehen
der studieren, wobei wir die Kenntnis der Hauptrichtungen
und Etappen der philosophisch-ideellen Entwicklung des jun
gen Marx voraussetzen.
Im ersten Teil der Abhandlung sind wir bestrebt, einen
allgemeinen Umriß der Entwicklung dieser Anschauungen
zu entwerfen, wobei wir den einzelnen Eigenheiten der in
den ökonomisch-philosophischen Manuskripten erläuterten
Konzeption besondere Aufmerksamkeit widmen wollen. Im
weiteren wünschen wir diejenigen Tendenzen der hier erschei
nenden erkenntnistheoretischen Auffassung von Marx ein
gehender zu schildern, die - unserer Meinung nach - vom
Gesichtspunkt der richtigen Auslegung des Wesens der marxi
stischen Gnoseologie von großer und positiver Bedeutung sind.
19
Einige Probleme der Entwicklung von Marx
21
Gewohnheiten, Recht und Staat usw. des Volkes verwirk
licht wurde. »Sein (des philosophischen Systems - Bemerkung
des Autors) Verhältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis«
(ibid., S. 64.). Deshalb ist Marx in seinen kurzen Skizzen über
die Geschichte der griechischen Philosophie bestrebt, den Zu
sammenhang zwischen dem griechischen gesellschaftlich-politi
schen Leben und der Philosophie zu erschließen. (Cf. ibid.,
S. xoo-xo6 über die Pythagoreer, oder folgendes Zitat: >> . . . al
lein dieser Schein des Dualismus einerseits, das Dualistische
selbst, das das innerste Herz des Staats zu Anaxagoras' Zeit
zu zerspalten anfängt . . . «) Die Entwicklung der Philosophie
irgendeiner Epoche bedeutet eben deshalb auch das Bestreben,
den Zeitgeist in seiner Totalität zu erfassen, mit dem Endziel,
die » Weltphilosophie<< zu verwirklichen, die alle Probleme der
Zeit umfaßt und >>die abstrakten Prinzipien in ein einheitliches
Ganzes« vereinigt. Hiermit läßt sich die aktive, schöpferische
Rolle der Philosophie erklären: In der >>Weltphilosophie« hat
der Zeitgeist als theoretischer Geist sich selbst, seinen eigenen
vollständigen und freien Ausdruck gefunden. Als solcher steht
er der Welt selbst gegenüber, in der zwar das gleiche Selbstbe
wußtsein verkörpert wurde und sich in Substanz verwandelte,
aber das Wesen (eben weil es verwirklicht, materiell wurde)
sich nicht ohne Widerspruch verwirklichen konnte, sondern
bloß in entfremdeter Form: die Erscheinung, das unmittelbare
Sein, widerspricht dem Wesen, dem inneren geistigen Inhalt.
Für die Philosophie erscheint also die Welt als falsch, und so
wird sie selbst zu praktischer Energie, die sich gegen diese fal
sche Welt wendet. In dem Maße jedoch, wie diese praktische
Philosophie, die philosophische Kritik, sich selbst verwirklicht,
muß ihr die Tatsache klar werden, daß die Schranken und
Widersprüche, die sie in der ihr gegenüberstehenden Wirklich
keit zu entdecken wähnte, die Schranken und Widersprüche
ihres eigenen geistigen Inhaltes, Prinzips und nicht nur die der
Wirklichkeit sind. Indem sie ihre Prinzipien auf diese Weise
verwirklicht, befreit sie sowohl sich selbst als auch die Welt
von diesen Prinzipien und bereitet eine neue Epoche der Ent
wicklung des Selbstbewußtseins vor. > Nur so ist überhaupt
Philosophie, ja Leben nach der » W eltphilosophie<< möglich.
.1 •Es ist ein psychologisches Gesetz, daß der in sich frei gewordene theo
retische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreiche
22
In dieser Wechselwirkung und Einheit des passiv Spiegelnden
und aktiv Gestaltenden, des Theoretischen und des Prakti
schen, des Absoluten und historisch Relativen ist jedoch das
theoretische Moment bestimmend, nicht nur deshalb, weil jede
praktische Tätigkeit in dieser Periode bei Marx als geistig
kritische Tätigkeit erscheint, sondern auch infolge der Anwen
dung der Hegelschen, in ihrem gesellschaftlichen Inhalt tief
gehend radikalisierten Begriffs-Teleologie. Das immanente Ziel
der geschichtlichen Entwicklung ist die vollständige Umwand
lung der Substanz zum Subjekt : das Vertauschen aller als
natürlich auftretenden äußeren Bestimmungen und Schranken
des Individuums mit bewußter Selbstbestimmung. Die Per
spektive dieses Ziels ermöglicht die Erhebung über alle ge
schichtlich-national beschränkte Erkenntnis und bietet Gele
genheit, vom Niveau des »Landes der Vernunft<< aus (cf. ibid.,
S. 8 r ) zu urteilen.
Die Liquidierung dieser Konzeption und ihr radikales materia
listisches Aufheben erfolgen nicht auf der Ebene der abstrakten
philosophischen Spekulation, sondern sind das Ergebnis der
unbarmherzigen Analyse der praktisch-politischen Erfahrun
gen von Marx. (Natürlich sind gewisse theoretische Einflüsse,
vor allem die Bedeutung des Einflusses von Feuerbach, durch
aus nicht zu unterschätzen.) Während seines Mitwirkens bei
der Rheinischen Zeitung werden seine politischen Illusionen
zerstört. Der junge Marx hatte vorausgesetzt, daß nur im
Staate die materiellen Teile zu durchseelten Mitgliedern des
geistigen Ganzen werden und daß sich nur im Staat das gesell
schaftliche Ganze ausgestaltet, an dessen Leben teilzunehmen
des Amenthes hervortretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene
Wirklichkeit kehrt. [ . . . ] Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theore
tisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere
Wirklichkeit an der Idee mißt [ • • . ]. Begeistert mit dem Trieb, sich zu ver
wirklichen, tritt [sie] in Spannung gegen Anderes. Die innere Selbstgenüg
samkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur
verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergibt sich die Kon
sequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Wer
den der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, daß, was
sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist, daß gerade im
Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sie am Gegenteil als Schäden
bekämpft, und daß sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben
verfällt. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft ist immer dasselbe, was
sie ist, nur mit umgekehrten Faktoren.« (ibid., S. 64-6 5 .)
23
den Menschen zum Menschen macht. Von den Problemen des
wirtschaftlichen Lebens interessiert ihn nur eine gewisse Be
schränkung des Privateigentums auf politischem Wege. (Hier
durch meint er das Erstarren der gesellschaftlichen Schich
tung vermeiden zu können.) Ebendeshalb besteht das Wesen
seines sozialen Programms in der radikalen, jakobinisch-revo
lutionären Umgestaltung, Demokratisierung des Staates. Doch
während seiner journalistischen Tätigkeit, während der unmit
telbaren Berührung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit
wird ihm der viel kompliziertere Zusammenhang von Politik
und Wirtschaft, die Herrschaft der wirtschaftlichen Erscheinun
gen über die politischen klar. Zu dieser Zeit erfaßt er zum
ersten Male das Problem der »armen Klassen<< in seiner Ganz
heit, das >>in der bewußten Staatsgliederung noch keine
angemessene Stelle gefunden hat<< (ibid., S. 276) . Als er, dem
zufolge, im Frühjahr 1844 in eine politisch-weltanschauliche
Krise gerät, kehrt er, mit der für ihn charakteristischen Be
wußtheit und Selbstkritik des Denkens, zur Untersuchung sei
ner theoretisch-philosophischen Prämissen - zur kritischen Ana
lyse der Hegelschen Philosophie, vor allem der Staatstheorie
zurück (cf. sein Manuskript Zur Kritik der Hegeischen Rechts
philosophie) . Im Lichte seiner neuerworbenen revolutionären
Überzeugung, die, wenngleich noch in allgemeiner Form, über
die politische Umgestaltung hinaus auch die Umwandlung der
bürgerlichen Gesellschaft, die Vernichtung des entfremdeten
Privatcharakters ihrer Sphären fordert als Vorbedingung je
der demokratischen UmgestaltungJ, kritisiert nun Marx die
Regelsehe Gesellschafts-Konzeption und, weitergehend, den
Regelsehen Idealismus und die Regelsehe Dialektik im allge
meinen. All dies wird gerade dadurch ermöglicht, daß nicht
mehr die auf das politische Leben gerichtete geistig-kritische
Aktion, sondern die die materiellen Lebensbedingungen umge-
3 •Die Aufhebung der Bürokratie kann nur sein, daß das allgemeine Inter
esse wirklich [ . . . ] zum besonderen Interesse wird, was nur dadurch mög
lich ist, daß das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird . « (ibid.,
S. 4 5 7-458.) » I n der Demokratie ist der Staat als Besonderes nur Besonde
res, als Allgemeines, das wirkliche Allgemeine, d. h. keine Bestimmtheit im
Unterschied zu dem anderen Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies so
aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe.
Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht
mehr für das Ganze gilt. « (ibid., S. 4 3 5 .)
24
staltende revolutionäre Praxis als Verwirklicher des geschicht
lichen Fortschritts auftritt.
Dementsprechend ändert sich auch die Bewertung der spekula
tiv-philosophischen Erkenntnis. In seiner Dissertation betrachtet
Marx diese Erkenntnis eben wegen ihrer kritischen Beschaffen
heit als das >>wahre Wissen« . Indem die Philosophie die im aU
täglichen Denken den äußeren Gegenständen zugeschriebenen
Bestimmungen, Prädikate in selbständige Subjekte verwandelt,
diese nach ihrem in der Entwicklung des Selbstbewußtseins ein
genommenen wesentlichen Platz und ihrer RoHe betrachtet,
das heißt ihren >>Begriff« erfaßt, bietet sie einen kritischen
Maßstab, an dem nunmehr die einzelnen Gegenstände, als die
Erscheinungen dieser Bestimmungen des Selbstbewußtseins, ob
jektiv meßbar sind ; sie ermöglicht es, das von Zufä1ligkeiten
befreite Wesen den Objekten als bloß sinnlichen kritisch gegen
überzusteHen. Die Wertung dieser Methode geht nun ins Ge
gensätzliche über - Marx verwirft sie in seinem Manuskript
von Kreuznach gerade wegen ihres apologetischen Wesens. Da
das spekulative Denken die Prädikate von ihren eigenen Trä
gern und Subjekten absondert und an sich betrachtet, kann es
jenen überhaupt nur dadurch einen Sinn verleihen, daß es zwi
schen ihnen eine bestimmte Relation voraussetzt, in der jedes
durch die anderen determiniert ist. Auf diese Weise entsteht
ein abgerundetes, in sich geschlossenes, aprioristisches System
abstrakter Begriffe. Deren Losgetrenntsein von der Wirk
lichkeit aber, welches - wenn auch bei weitem nicht in so schar
fer Form aufgefaßt - Marx früher geneigt war, als die
notwendige Entfernung der Kritik von ihrem Gegenstand aus
zulegen, macht jede wirkliche Kritik unmöglich. Das in sich
geschlossene Denken, wenn es sich nunmehr, in Ermangelung
des inneren Inhaltes, der Wirklichkeit zuwendet und als deren
wahre Erkenntnis auftritt, entbehrt jedes Kriteriums, im un
mittelbar Gegebenen das Wirkliche, das Notwendige vom Zu
fäHigen, bloß Existierenden zu unterscheiden. Als einziges Kri
terium und einzige Forderung tritt auf, daß das Objekt in
irgendeinen abstrakten Begriff aufgelöst werden könne. Auf
diese Weise entsteht der »kritiklose Positivismus« und der
»Pseudokritizismus« des Denkens. Für das gewöhnliche Den
ken kann dieses philosophische Denken kritisch erscheinen, da
es den Gegenstand als die Verkörperung einer abstrakten
Bestimmung auffaßt und demzufolge sein vom Gegenstand ge
bildeter Begriff von dessen alltäglichem Begriff stark abwei
chen kann. Ihrem Wesen nach ist diese Methode aber apologe
tisch, weil sie den als Verwirklichung des Selbstbewußtseins,
des Geistes usw. erfaßten Gegenstand in seiner Unmittelbar
keit, so wie er in der alltäglichen Erfahrung gegeben ist, auf
faßt und annimmt und ihn hierdurch bestätigt. Zugleich ist die
ses Erkennen formal, unfähig, das Spezifikum des Gegenstan
des zu erschließen, und also überhaupt kein Erkennen.4
Nur eine solche Erkenntnis kann zu einer wahrhaft kritischen
werden, die der spezifischen Logik ihres Gegenstandes folgt,
dessen wirkliche innere Gegensätze erschließt. Diese Auffassung
der wissenschaftlichen Erkenntnis ist aber noch sehr allgemein.
Die Methode der idealistischen Dialektik ist bei weitem nicht
endgültig besiegt. Es handelt sich nicht allein darum, daß wir
bei Marx Formulierungen finden, die dies widerspiegeln, sondern
auch darum, daß er auch später noch in den Manuskripten das
durch eine lange Reihe von Vermittlungen zustande gekom
mene Resultat eines geschichtlichen Vorganges nicht selten als
das immanente Ziel und den »Begriff« des Vorganges, als des
sen Wesen betrachtet, um auf diese Weise einen kritischen
Maßstab zu gewinnen gegenüber den konkreten geschichtlichen
»Erscheinungen« des Vorganges, die dem Wesen widersprechen
und ihm entfremdet sind. Die Forderung der immanenten Kri
tik wird daher nicht immer erfüllt. Die endgültige Abrechnung
mit diesen Problemen tritt erst in der Deutschen Ideologie auf.
Was aber die positive Lösung der Frage, die Ausarbeitung
einer wissenschaftlichen Methodologie betrifft, so geriet gerade
dieses Problem in den Mittelpunkt des späteren philosophi
schen Interesses von Marx.
Die hier erwähnte Auffassung spiegelt in hohem Maße den
Einfluß Feuerbachs wider. Die Auffassungen der beiden Den
ker stimmten jedoch auch in dieser Zeit - selbst in dieser Be
ziehung - nicht vollständig überein. Während nach Feuerbach
das Organ der Erkenntnis der Wirklichkeit die kultivierte,
4 »Das einzige Interesse ist, >die Idee< schlechthin, die >logische Idee< in
jedem Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden, und die
wirklichen Subjekte, wie hier die >politische Verfassung<, werden zu ihrem
bloßen Namen, so daß nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden
ist. « (ibid., S. 4u.)
z6
menschlich gewordene Sinnlichkeit, die Anschauung ists, geht
Marx in seiner Arbeit von der rational-logischen, diskursiven
Erkenntnis aus als einer, die zur Erschließung der »Logik des
Dinges« fähig ist. Dieser Unterschied zeigt sich zum Beispiel
in scharfer Weise in jener abweichenden Wertung, die der He
gelsche Gedanke des »Weges vom Abstrakten zum Konkreten«
- jene methodologische Forderung, wonach die wissenschaftli
che Erkenntnis vom Abstrakten dem Konkreten entgegen
schreiten muß - bei Feuerbach und dem jungen Marx erhält.
Feuerbach sieht hierin nichts anderes als die indirekte, inkon
sequente theologische Anerkennung der Wirklichkeit der sinn
lich-anschaulichen Welt, die er ebendeshalb ablehnt: die Er
kenntnis muß in ihrer eigenen Unmittelbarkeit das Unmittel
bare erfassen und jede Bestimmtheit in ihrer konkret-anschau
lichen Beschaffenheit erschließen. Das Denken kann zu keiner
wahren Selbständigkeit gelangen, es hat nur als ein die An
schauung bereicherndes, diese kultivierendes Moment Berechti
gung, aber nicht in seiner Isoliertheit hiervon6 ; die Abstraktion
an sich ist nur ein Mittel zur Vereinfachung, zur Mittei
lung, nicht aber ein Mittel zur Erkenntnis. Marx hingegen kri
tisiert Hege! gerade deshalb; weil er das durch ihn formulierte
5 »Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar
durch sich selbst gewiß ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, un
mittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht - das schlechthin Ent
schiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist
nur das Sinnliche ; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und
Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit . •
( L . Feuerbam, Philosophische Kritiken und Grundsätze. Sämtliche Werke,
2. Bd., S. 3 o r .)
6 »Die Aufgabe der Philosophie, der Wissenschaft überhaupt, besteht daher
nicht darin, von den sinnlichen, d . i . wirklichen Dingen weg, sondern zu
ihnen hin zu kommen - nicht darin, die Gegenstände i n Gedanken und
Vorstellungen zu verwandeln, sondern darin, das den gemeinen Augen Un
sichtbare sichtbar, d . i. gegenständlich zu machen.
Die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht
wie sie sind ; sehen in den D ingen nicht sich selbst, sondern nur ihre Ein
bildungen von ihnen, legen ihr eigenes Wesen i n sie hinein, untersmeiden
nicht den Gegenstand und die Vorstellung von ihm. Die Vorstellung liegt
dem ungebildeten, subjectiven Menschen näher, als die Anschauung [ • • • ] .
Erst i n neuerer Zeit ist die Menschheit wieder, wie einst i n Griechenland
nach Vorausgang der orientalischen Traumwelt, zur sinnlichen, d. h. un'll er
fälschten objecti'lle n Ansd!auun g des Sinnlichen, d. i. Wirklichen, aber eben
damit erst auch zu sich selbst gekommen.• (L. Feuerbam, Philosophische
Kritiken und Grundsätze, S. 305-306.)
:q
methodische Prinzip nicht verwirklicht, nur den Schein seiner
Verwirklichung bietet. Während der Gang des Denkens bei
Hegel scheinbar vom Einseitigen zum Zusammengesetzten
führt (so konstituiert sich die abstrakte I dee des Organismus
als Staat), ist in Wirklichkeit gerade das Entgegengesetzte der
Fall. Hege! identifiziert die konkrete Erscheinung mit deren
einseitiger Bestimmung, stellt nicht das Konkrete als die kom
plizierte Gesamtheit abstrakter Bestimmungen wieder her,
sondern gelangt nur bis zur Ausarbeitung der abstrakten Be
stimmung, was häufig überflüssig ist, da diese, allem wissen
schaftlichen Denken vorangehend, als fertiges geschichtliches
Produkt gegeben ist. >>Der Wahrheit nach hat Hege! nichts
getan, als die >politische Verfassung< in die allgemeine ab
strakte Idee des >Organismus< aufgelöst, aber dem Schein und
seiner eigenen Meinung nach hat er aus der allgemeinen I dee
das Bestimmte entwickelt.« (MEGA, Bd. I, Hbd. I, S. 4 q.)
Diese erkenntnistheoretisch-methodologische Abweichung birgt
tiefere Unterschiede der Auffassung in sich. Feuerbach ist,
ebenso wie später Marx, von der Hegeischen Philosophie aus
gegangen und suchte für die durch diese aufgeworfenen Pro
bleme eine materialistische Lösung. So akzeptierte er einen der
wichtigsten Sätze der Hegeischen Philosophie, demzufolge es
die Gesellschaft ist, die primär dem Individuum gegenübersteht
und nicht umgekehrt. Er versuchte jedoch, jenem gesellschaft
lichen >>Ganzen «, der gesellschafttimen Substanz, deren Wesen
Hegel noch in Moral, Gewohnheiten, Religion, Gesetzen und
vor allem in der Staatlichkeit des gegebenen Zeitalters und
Volkes gesehen hat, eine materialistische Interpretation zu ge
ben. Diese Grundlage glaubt Feuerbach in der materiellen A b
hängigkeit zwischen den Menschen zu finden, derzufolge der
einzelne unfähig ist, allein, ohne die anderen Menschen, zu le
ben. Diese materielle Abhängigkeit unterzieht Feuerbach jedoch
keiner konkret-geschichtlichen Untersuchung, sondern faßt
die geschlechtliche Verbindung als ihr Wesen und ihre primäre
Form, als Prototyp jeder menschlichen Verbindung.? So er-
28
scheinen für ihn die gesellschafllichen Bestimmtheiten als kul
tivierte Naturbestimmtheiten.
Das bedingt auch sein Verhältnis zu den Problemen der Er
kenntnistheorie. Feuerbach anerkennt, daß das Denken das
höchste Produkt der Entwicklung des Menschen, der unmittel
barste Ausdruck und die Verkörperung seines Menschentums
ist. »Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen; das
Herz vertritt die besonderen Angelegenheiten, die Individuen,
der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten ; er ist die über
menschliche, d. h. : die über- und unpersönliche Kraft oder We
senheit im Menschen . << (L. Feuerbach, Das Wesen des Christen
tums, I, Berlin 19 5 6, S. 8 3.) Im Denken tritt der einzelne Mensch
als Verkörperer des Menschengeschlechtes auf. Ebendeshalb hat
Feuerbach >>Vorbehalte« dem Denken gegenüber. Im Denken
erscheint die Gattung als Gattung, frei von jeder natürlichen
Abhängigkeit und Vorbedingung. Demnach ist das denkende
Individuum als denkendes Individuum vollkommen frei, un
abhängig von jeder natürlichen und gesellschaftlichen Bindung.
So kann das höchste, ideale Produkt der Entwicklung der Gat
tung, wenn es vom Ganzen des Lebens der Gattung abgetrennt
wird, zur Negation des realen Seins des Menschen, der gesell
schaftlich-natürlichen Abhängigkeit des Menschen werden. Des
halb sieht Feuerbach gerade im abstrakten Denken die subjekti
ve Bedingung aller Entfremdung. Und eben darum ist es nicht
das selbständig gewordene Denken, sondern die Anschauung, in
der die gesellschaftlichen und natürlichen Momente sich in Ein
heit befinden, die menschliche Wahrnehmung, die sich über den
individuellen, egoistischen Bedarf und das Interesse erhebt und
den Gegenstand als das Schöne, als die spezifische Manifesta
tion des Wesens von Natur und Mensch, als die Bejahung des
Wesens des Menschen auffaßt - wobei sie jedoch passiv und
von ihrem Gegenstand abhängig bleibt : dies ist die einzige
richtige Form und das einzige Mittel der menschlichen Er
kenntnis.
Marx waren und blieben gerade die Grundlagen der Feuer
bachsehen Konzeption fremd. In der Dissertation und in den in
der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln teilt er voll
ständig Hegels Anschauung über das Primat wie auch über den
Charakter der gesellschaftlichen Substanz. Und er sucht dann
für das »gesellschaftliche Ganze<< eine materialistische Erklä-
29
rung zu bieten, wobei ihm als Ausgangspunkt eben die . von
Feuerbachs naturalistischer Gesellschaftsauffassung außer acht
gelassenen wirtschaftlichen Erscheinungen dienen.
In seiner Kritik der H egelseben Rechtsphilosophie begegnen
wir noch keineswegs einer eindeutigen Lösung. Marx tritt
einesteils entschieden gegen die Mystifikation der Regelsehen
Philosophie auf, die die von den einzelnen Individuen abge
trennte Gesellschaft zum selbständigen Subjekt machte und als
verborgenen Schöpfer der Geschichte handeln ließ. In diesem
Zusammenhang betont er, daß nur die in ihrer unmittelbaren
materiellen Wirklichkeit aufgefaßten Individuen die realen
Schöpfer der Geschichte sind. Aber die materialistische Erklä
rung des von Hegel betonten »gesetzmäßigen« Charakters der
menschlichen Geschichte, der »hinter. dem Rücken<< der ver
schiedene Ziele anstrebenden menschlichen Handlungen zur
Geltung kommenden allgemeinen gesellschaftlichen Beziehun
gen und Vorgänge, ist noch lange nicht abgeschlossen. Diese
materialistische Erklärung kann nicht allein in der einfachen
Zurückführung der Erscheinungen des Staates, des politischen
Lebens auf die bürgerliche Gesellschaft bestehen, insbesondere
nicht, wenn keine Antwort auf die Frage vorhanden ist, womit
die Änderung ihrer wirtschaftlichen Bedingungen selbst erklärt
werden kann. Diese Frage wurde von Marx zur Zeit der Ab
fassung der Kritik der Rechtsphilosophie noch keiner Prüfung
unterzogen. Hieraus erklärt sich, daß diese Arbeit, wie auch
die nicht viel später entstandene Schrift Zur Juden/rage, neben
der materialistischen Beantwortung einzelner sehr wesentlicher
konkreter Fragen (Verhältnis von Staat und bürgerlicher Ge
sellschaft, die Entfremdung des Staates und ihre Folgen usw.)
gerade beim Aufwerfen allgemeiner geschichtsphilosophischer
Fragen viele ausgesprochen idealistische Formulierungen ent
hält, indem, unter Berufung auf die Entwicklung des >>mensch
lichen Geistes«, des >>Selbstbewußtseins<< einzelne Probleme er
läutert werden.s
8 •Der Wille eines Volks kann ebenso wenig über die Gesetze der Vernunft
hinaus als der Wille eines Individuums [ . . . ] . Die gesetzgebende Gewalt
macht das Gesetz nich t ; sie entde<kt und formuliert es nur.« (MEGA, Bd. I,
Hbd. r, S. 468.) Die Staatsverfassung ist nichts anderes als das Produkt
einer gewissen Entwi<klungsstufe des Bewußtseins. (Vgl. MEGA. Bd. I,
Hbd. r, S. 590.) • Aber der religiöse Geist kann auch ni ch t wirklich verwelt·
licht werden , denn was ist er selbst, als die unweitliehe Form einer Ent·
JO
All dies spiegelt sich auch in den erkenntnistheoretischen An
schauungen von Marx. Einesteils vermag nur die ganze
Menschheit in ihrer eigenen >>allgemeinen Sache<<, in der Wis
senschaft die Erkenntnis der Wirklichkeit zu realisieren. >>Die
reine Idealität einer wirklichen Sphäre könnte aber nur als
Wissenschaft existieren. << (MEGA, Bd. I, S. 4 I o.) Gleichzeitig
stellt er die wissenschaftlich-theoretische Erkenntnis in diesem
Zeitabschnitt so wie früher mit voller Entschiedenheit der ma
teriellen Praxis gegenüber. Das praktische Bedürfnis erscheint
als bloß biologisches, egoistisches Interesse, für das das innere
Wesen, das Spezifikum des Gegenstandes, vollständig gleichgül
tig ist : ein Interesse, das den Gegenstand äußerlich an eigenem
Maßstab mißt oder nach den >>Regeln irgendeiner Konvention<<
betrachtet, während ihn die Theorie als >>an und für sich<< aus
der »Natur der Sache<< hervorgehend auffaßt. (Cf. MEGA,
Bd. I, Hbd. I, S. 4 I o.) Die Weltanschauung des praktischen
Bedürfnisses ist von Natur aus beschränkt und erschöpft sich in
einigen Zügen. Das praktische Bedürfnis ist passiv, seine
Entwicklung9 kann nur durch die Xnderung der äußeren
Bedingungen hervorgerufen werden, und so kann es nicht als
Grundlage und Erklärung des sich ständig entwickelnden theo
retischen Denkens dienen.
Der junge Marx gelangt nur dadurch zur Schaffung einer
konsequent materialistischen Weitsicht, Gesellschaftsbetrach
tung und Erkenntnistheorie, daß er diese Bewertung der prak
tischen Tätigkeit völlig aufgibt. Nur durch Erschließung
der mensch- und geschichtsgestaltenden Rolle der Arbeit erfüllt
sich sein philosophischer Materialismus, wird er zum logischen
Ganzen. Diese Wendung tritt im Sommer I 844 in den Pariser
ökonomisch-philosophischen Manuskripten ein.10 Es ist uns
widdungsstufe des menschlichen Geistes ? Der religiöse Geist kann nur ver•
wirklicht werden, insofern die Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes,
deren religiöser Ausdruck er ist, in ihrer weltlichen Form heraustritt und sich
konstituiert. Dies geschieht nur im demokratischen Staat• (MEGA, Bd. I,
Hbd. I , S. 576 - Zur juden/rage.)
9 •[ . • . ] das praktische Bedürfnis, dessen Verstand der Eigennutz ist, sich
passiv verhält und sich nicht beliebig erweitert, sondern sich erweitert findet
mit der Fortentwicklung der gesellschaftlichen Zustände.• (MEGA, Bd. I,
Hbd. I, S. 6o4.)
I O Bezüglich dieser Frage weicht unser Standpunkt von der in der marxisti
schen Philosophiegeschichte im allgemeinen angenommenen Auffassung ab,
wonach Marx zu gleicher Zeit Materialist und Kommunist wurde und wo-
31
hier nicht möglich, die Bedingungen und Ursachen dieser Ent
wicklung zu beleuchten. Es soll lediglich darauf hingewiesen
werden, daß die Wendung nicht hätte zustande kommen kön
nen, hätte Marx inzwischen nicht die Arbeit, die produktive
Tätigkeit, aus einer über ihren in der kapitalistischen Gesell
schaft eingenommenen Platz hinausweisenden geschichtlichen
Perspektive, aus dem Klassenstandpunkt des Proletariats er
kannt.
Die Pariser Manuskripte sind also die erste Arbeit, in der der
philosophische Materialismus von Marx in Form einer logisch
geschlossenen Konzeption vor uns erscheint, in dem Sinne, daß
die »Zurückführung« des ideologisch-politischen Lebens auf
das wirtschaftliche durch die materialistische Auslegung dieses
letzteren, durch die Erschließung der geschichtlichen Rolle der
materiellen Produktion ergänzt wird. Dennoch weicht die hier
erörterte Auffassung von der Konzeption der späteren reifen
Marx-Werke in gewissen, sehr wesentlichen Fragen noch ab.
Es handelt sich nicht allein darum, daß die geschichtlich-gesell
schaftliche Konzeption von Marx hier noch in gedanklicher
Allgemeinheit, mehr als geschichtsphilosophisches Prinzip vor
handen ist ; daß die grundlegenden Begriffe der marxistischen
Theorie und Methodologie (gesellschaftliche Formation, gesell
schaftliche Verhältnisse, Ideologie usw.) damals nur in ihrem
Keim und in ihrer Tendenz erscheinen - wir haben es nicht
nur mit der Knderung der Betonung, des Interesses und der
Anschauungsart zu tun, sondern mit einer eigenartigen, sich
nach mehreren Richtungen hin auswirkenden und mani-
J2
festierenden Auffassung, von der - so scheint es - Marx später
abrückt. Diese Konzeption berührt vor allem die Frage der
Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft.
Das Problem von Individuum und Gesellschaft ist, wie bereits
erwähnt, eines derjenigen gewesen, die Marx, sich an das He
gelsche philosophische Erbe anschließend, sich am frühesten in
entschiedenster Weise bewußt machte. In seinen früheren Wer
ken vertritt er selbst noch den Standpunkt Hegels, wonach die
als geistiger Organismus aufgefaßte Gesellschaft das Primäre
ist, während das einzelne Individuum bloß den abstrakten
Ausdruck dieser gesellschaftlichen Substanz darstellt. In der
Kritik der Rechtsphilosophie bleibt das Prinzip des Primats
der Gesellschaft unverändert, obwohl Marx, sich kritisch gegen
die antidemokratischen und idealistischen Züge der Hegeischen
Philosophie wendend, energisch betont, daß diese Züge unter
anderem gerade in der Abtrennung der Gesellschaft von den in
ihr lebenden Individuen, durch ihre Umwandlung in ein
außerhalb der Individuen schwebendes selbständiges Subjekt,
Ausdruck fanden. Nicht weniger betont er in den Pariser Ma
nuskripten das Moment der Einheit von Individuum und Ge
sellschaft. >>Es ist vor allem zu vermeiden, die >Gesellschaft<
wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren.
Das Individuum ist das gesellschaflliche Wesen. Seine Lebens
äußerung - erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form
einer gemeinschafllichen, mit andern zugleich vollbrachten
Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Bestätigung
des gesellschafllichen Lebens. Das individuelle und das Gat
tungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch
- und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen
Lebens eine mehr besondre oder mehr allgemeine Weise des
Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr
besondres oder allgemeines individuelles Leben ist. « (MEGA,
Abt. I, Bd. 3, S. 1 1 7 .) In dieser Arbeit meldet sich überdies
gegenüber den früheren Werken ein weiterer Zug an : das
ständige Bestreben von Marx, das Leben der Gesellschaft aus
der Eigenart, aus dem Charakter der Tätigkeit des einzelnen
Individuums, richtiger des produzierenden Individuums, die
wirtschafllichen Verhältnisse aus dem Verhältnis des A rbeiters
zu seiner eigenen Tätigkeit abzuleiten. So tritt das Individuum
- innerhalb dieser Einheit - in gewissem methodologischem
33
Sinne als primär auf. Diese Bestrebung kommt am klarsten in
jener viel kommentierten und diskutierten Auffassung der Ma
nuskripte zum Ausdruck, wonach das Privateigentum die
Folge der Entfremdung der Arbeit, das Verhältnis zwischen
Kapitalist und Arbeiter durch das Verhältnis des Arbeiters zu
seiner eigenen Tätigkeit bedingt und hervorgerufen sei."
Die theoretische Grundlage dieser Auffassung ist unschwer zu
erschließen. Die Gesellschafl: ist nichts anderes als die Summe
der Verhältnisse, Beziehungen der einzelnen Individuen. An
dererseits sind diese Verhältnisse durch die materielle Produk
tion des Individuums bestimmt und zustande gebracht - und
gerade hierin besteht der grundlegend neue Gedanke der Manu
skripte. Aus alledem gelangt Marx zu der Schlußfolgerung,
daß die oben erwähnten, zwischen den Individuen bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse die Erscheinungen des Verhält
nisses des produzierenden Individuums zu seiner eigenen Iatig
keit darstellen. Dies wird von Marx wiederholt klar aus
sprochen. »Die Entfremdung des Menschen, überhaupt jedes
Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst steht, ist erst ver
wirklicht, drückt sich aus in dem Verhältnis, in welchem der
Mensch zu den andren Menschen steht. « (MEGA, Abt. I, Bd. J ,
s . 89.)
»Man bedenke noch den vorher aufgestellten Satz, daß das
Verhältnis des Menschen zu sich selbst ihm erst gegenständlich,
wirklich ist durch sein Verhältnis zu den andern Menschen.
I I · Also durch die entfremdete, entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das
Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu
dieser Arbeit. Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhält
nis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn
nennen will. Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die
notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhält
nisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.
Das Privateigentum ergibt sich also durch Analyse aus dem Begriff der ent
äußerten Arbeit, d. i. des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit,
des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen.
Wir haben allerdings den Begriff der entäußerten Arbeit (des entäußerten
Lebens) aus der Nationalökonomie als Resultat aus der Bewegung des Pri
vateigentums gewonnen. Aber es zeigt sich bei Analyse dieses Begriffs, daß,
wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit
erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist, wie auch die Götter
ursprünglich nicht die Ursache, sondern die Wirkung der menschlichen
Verstandesverirrung sind. Später schlägt dieses Verhältnis in Wechselwir
kung um.« (MEGA, Abt. I, Bd. 3, S. 9 I-92.)
34
Wenn er sich also zu dem Produkt seiner Arbeit, zu seiner
vergegenständlichten Arbeit, als einem fremden, feindlichen,
mächtigen, von ihm unabhängigen Gegenstand verhält, so ver
hält er sich zu ihm so, daß ein andrer, ihm fremder, feindlicher,
mächtiger, von ihm unabhängiger Mensch der Herr dieses
Gegenstandes ist. Wenn er sich zu seiner eigenen Tätigkeit als
einer unfreien verhält, so verhält er sich zu ihr als der Tätig
keit im Dienst, unter der HerrschaA:, dem Zwang und dem
Joch eines andern Menschen.
Jede Selbstentfremdung des Menschen von sich und der Natur
erscheint in dem Verhältnis, welches er sich und der Natur zu
andern, von ihm unterschiedenen Menschen gibt. « (MEGA,
Abt. I, Bd. 3, S. 9 0-9 r .)
Aus dieser Konzeption ergab sich offenbar auch die Tatsache,
daß die materialistische Auslegung des >>gesellschaA:lichen Gan
zen« noch völlig unausgearbeitet, der Begriff der gesellschaA:
lichen Verhältnisse noch gänzlich unausgestaltet war. (In den
Manuskripten analysiert Marx praktisch nur das abstrakte
Verhältnis des einzelnen Arbeiters zum einzelnen Kapitalisten.)
Alle diese Erklärungen genügen jedoch nicht. Im Zusammen
hang mit obigem erheben sich mindestens zwei Probleme.
r . Wie kam Marx zu der Meinung, daß die wesentlichen Züge
der gesellschaA:lichen Verhältnisse und mit diesen der ganze
geistige, politische usw. Oberbau verständlich und ableitbar
sind aus dem Verhältnis des einzelnen Produzierenden zu sei
ner eigenen Tätigkeit, wo doch die von Marx studierte Gesell
schaA: gerade durch den Umstan4 gekennzeichnet war, daß sie
im Gegensatz zu der unglaublichen Kompliziertheit der ge
sellschaA:lichen Verhältnisse die Tätigkeit, das Leben des ein
zelnen äußerst einseitig, beschränkt machte und verzerrte?
2. Was bedeutet eigentlich die Formel, daß das Privateigentum
aus dem Verhältnis des Arbeiters zur eigenen Tätigkeit als
einer entfremdeten entsteht? Was ist unter diesem Verhältnis
zu verstehen, wonn besteht das Wesen der Entfremdung
selbst?
Um auf diese Fragen antworten zu können, müssen wir die
Analyse weiterführen.
Die Wurzeln dieser Konzeption sind nämlich durchaus nicht
nur theoretischer Natur. Unserer Meinung nach spielten hierbei
gewisse praktische Voraussetzungen keine geringe Rolle, die,
35
obwohl sie im Text der Manuskripte nicht explizit enthalten
sind, rekonstruiert werden können, vor allem mii Hilfe einzel
ner späterer Arbeiten, hauptsächlich der Deutschen Ideologie.
Es handelt sich hier um das Problem der Arbeitsteilung. Die
Bewertung der Arbeitsteilung ist in der Kritik der Regelsehen
Rechtsphilosophie positiv. In der >>Demokratie<< ist die Ar
beitsteilung als natürlich vorausgesetzt ( >>der einzelne wäre
sonst die wahre Sozietät und machte die Sozietät überflüssig<<,
MEGA, Bd. I, Hbd. I , S. 5 4 I) ; es handelt sich nicht um die
Aufhebung der einzelnen, durch die Arbeitsteilung bestimmten
Funktionen, sondern darum, daß diese unmittelbar als gesell
schaflliche Funktionen erscheinen sollen. (Cf. die Gegenüber
stellung der einzelnen konkreten Funktionen und der Teil
nahme am staatlichen Leben, MEGA, Bd. I, Hbd. I, S. 4 60
usw.). In den Manuskripten hingegen wird die Arbeitsteilung
als entfremdete Form des gesellschaftlichen Charakters der
Produktion bezeichnet. Im weiteren müssen wir uns auf die
Deutsche Ideologie stützen. In dieser Arbeit setzt Marx aus
drücklich voraus, daß die kommunistische Gesellschaft die Ar
beitsteilung beseitigen wird ; daß diese Gesellschaft eine solche
Entwicklung der Produktionsmittel und der produzierenden
Individuen zustande bringen wird ; daß im Prinzip jedes ein
zelne Individuum fähig sein wird, in jeglichem Zweige der ge
sellschaftlichen Produktionstätigkeit zu wirken und die Totali
tät der gesellschaftlichen Fähigkeiten potentiell in sich schließen
wird. In dieser Epoche wird also der Reichtum der Gesellschaft
unmittelbar - sowohl im objektiven als auch im subjektiven
Sinne - mit dem Reichtum des Individuums zusammenfallen
und an ihm meßbar sein.n Diese auf die Aufhebung der Ar-
u • Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen
bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird,
aus dem er nicht heraus kann ; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer
Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren
will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen
ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen
Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt
und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, mor
gens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach
dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe ; ohne je Jäger, Fischer,
Hirt oder Kritiker zu werden . • (MEGA, Abt. r, Bd. 5, S. 22.)
•Bei allen bisherigen Aneignungen blieb eine Masse von Individuen unter
beitsteilung abzielende Konzeption läßt sich nicht einfach aus
dem Bestreben erklären, das humanistische Ideal des vielsei
tigen Menschen zu verwirklichen. Hierbei spielte die theoreti
sche Vorstellung von Marx keine geringe Rolle, wonach die
Fabrikarbeit, die Benützung der Maschinen jede produktive
Arbeit auf einfache Arbeit reduziert und so allen die Teil
nahme an den verschiedenen Arbeitsvorgängen ermöglicht,
während die aus den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus
hervorgehende Fluktuation der Arbeitskraft den Produzenten
zwingt, die entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln.
Dieser Gedanke der Aufhebung der Arbeitsteilung bestand be
reits zur Zeit der Abfassung der Pariser Manuskripte. Nur
hieraus läßt sich die Tatsache erklären, daß Marx in der kom
munistischen Gesellschaft jeden einzelnen Gegenstand als Ver
körperer der Wesenskräfte sowohl des einzelnen Individuums
wie auch der ganzen Gesellschaft betrachtet. ' 3
Diese Konzeption der Aufhebung der Arbeitsteilung tritt übri
gens in dem sehr wesentlichen, aber im allgemeinen vernach
lässigten Manuskript auf, das von den Herausgebern der
MEGA unter dem Titel ökonomische Studien (Exzerpte)
( 1 844-1 845) publiziert wurde. (Cf. MEGA, Abt. I, Bd. J ,
s. 54 6- 547 ·)
ein einziges Produktionsinstrument subsumiert ; bei der Aneignung der Pro
letarier müssen eine Masse von Produktionsinstrumenten unter jedes Indivi
duum und das Eigentum unter Alle subsumiert werden . • (MEGA, Bd. s,
s. j8.)
»Die exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und
seine damit zusammenhängende Unterdrückung i n der großen Masse ist
Folge der Teilung der Arbeit. Wenn selbst in gewissen gesellschaftlichen
Verhältnissen Jeder ein ausgezeichneter Maler wäre, so schlösse dies noch
gar nicht aus, daß Jeder auch ein origi neller Maler wäre. [ . . . ] Bei einer
kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort die Sub
sumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein
aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums
unter d iese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlich Maler, Bildhauer usw.
ist, [ . . . ] In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler sondern
höchstens Menschen, die unter Anderem auch malen. • (MEGA, Bd. 5, S. 37 3 .)
13 •Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die
gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte,
als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen We
senskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung
seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichen
den Gegenstände, als seine Gegenstände, d. h., Gegenstand wird er selbst.«
(MEGA, Bd. 3 , S. " 9·)
37
Wir glauben, mit der Klärung dieses Moments auch die
Beantwortung der oben angeführten Fragen zu ermöglichen.
Vor allem setzen wir voraus, daß schon in den Manuskripten
für Marx das wesentlichste Moment und die Grundlage der Ent
fremdung gerade die A rbeitsteilung bildete und daß die Ablei
tung des Privateigentums aus der Entfremdung mit deren Ab
leitung aus der Arbeitsteilung identisch war. Es ist bekannt,
daß Marx noch in der Deutschen Ideologie schreibt : »Übrigens
sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Aus
drücke - in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit
dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in Bezug auf das Pro
dukt der Tätigkeit ausgesagt wird. << (MEGA, Bd. 5, S. 2 2 . ) In
den Exzerpten beurteilt Marx die Arbeitsteilung als identisch
mit der Arbeitsteilung zwischen Kapitalist und Arbeiter, mit
der Trennung von Kapital und Arbeit. (Cf. MEGA, Abt. I,
Bd. 3, S. 5 39·)
Diese Voraussetzung kann auf den ersten Blick als grundlos
erscheinen, da Marx in den Manuskripten die Arbeitsteilung
an mehreren Stellen als Manifestation der Entfremdung be
zeichnet. Es ist bekannt, daß Marx die Entfremdung an mehre
ren Stellen auch als Manifestation des Privateigentums behan
delt, und nur an oben zitierter entscheidender Stelle erhellt,
daß das ursprüngliche Verhältnis umgekehrt ist. Es ist nämlich
offenbar, daß seit dem Vorhandensein des Privateigentums
Entfremdung und Arbeitsteilung in Wechselwirkung zueinan
der stehen und daß bei der Untersuchung irgendeiner konkre
ten Erscheinung jede von den beiden primär sein kann ; zur Be
leuchtung ihres wirklichen Verhältnisses kann es nur bei der
Frage der geschichtlichen Ausgestaltung kommen. In der Ver
bindung von Privateigentum und Entfremdung hat Marx dies
an der zitierten Stelle klargelegt. Die Frage, wie die Entfrem
dung entsteht, wirft er jedoch nur auf ; eine Antwort ist uns
nicht erhalten geblieben und wurde vielleicht gar nicht ge
schrieben, das Manuskript bricht gerade zu Beginn der Behand
lung dieses Problems ab. Gleichzeitig zeigt die Analyse des Be
griffs der entfremdeten Arbeit klar, daß das entscheidende
Moment der Entfremdung, das Wesen des entfremdeten Ver
hältnisses zur eigenen Tätigkeit, für Marx damals gerade die
Arbeitsteilung bildete. Besonders klar tritt dies in der Erörte
rung hervor, die wir in den Exzerpten finden : >>In der Er-
werbsarbeit liegt : 1 . die Entfremdung und Zufälligkeit der Ar
beit vom arbeitenden Subjekt ; 2. die Entfremdung und Zufäl
ligkeit der Arbeit vom Gegenstand derselben ; 3· die Bestim
mung des Arbeiters durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die
ihm aber fremd und ein Zwang sind, dem er sich aus egoistischem
Bedürfnis, aus Not unterwirft und die ftir ihn nur die Bedeu
tung einer Quelle der Befriedigung für seine Notdurft, wie er
für sie nur als ein Sklave ihrer Bedürfnisse vorhanden ist ;
4 · daß dem Arbeiter die Erhaltung seiner individuellen Existenz
als Zweck seiner Tätigkeit erscheint und sein wirkliches Tun
ihm nur als Mittel gilt ; daß er sein Leben bestätigt, um Lebens
mittel zu erwerben. « (MEGA, Bd. 3, S. 5 39.) Nur wenn wir auf
diese Weise das Verhältnis von Entfremdung und Arbeits
teilung klären, wird das Ganze der Konzeption von Marx
verständlich. Nur unter Beachtung dessen kann vollständig be
leuchtet werden, daß die Entfremdung nicht bloß das subjekti
ve Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit dar
stellt (er fühlt sich nicht »heimisch<< in seiner Arbeit, die
Arbeit ist nicht sein Selbstausdruck usw.), sondern ein objekti
ver materiell-geschichtlicher Vorgang ist. Im frühen, primitiven
Stadium der Entwicklung ist das Individuum nur fähig (in
Gemeinschaft mit seinen Genossen) zu produzieren, was zur
Aufrechterhaltung seines Lebens notwendig ist und nicht mehr.
Ebendeshalb sind Individuum und Individuum, Gesellschaft
und Individuum identisch ; die Harmonie der Bedürfnisse und
der Fähigkeiten ist noch nicht zerrüttet. Im weiteren Verlaufe
führt die Entwicklung der Produktionstätigkeit dahin, daß
der Mensch fähig ist, mehr zu produzieren als zur Befriedigung
seiner allernotwendigsten Bedürfnisse nötig ist. Dies vermag
er jedoch nur dadurch zu vollbringen, daß sich seine Tätigkeit
vom Ganzen der Natur auf einen kleinen, engen Kreis der Na
turerscheinungen und Gegenstände beschränkt (dies ist die Art,
wie die Arbeitsteilung innerhalb der individuellen Tätigkeit
charakterisiert wird.) Durch diese Ausgestaltung der Arbeits
teilung als Entfremdung der gesellschaftlichen Tätigkeit wird
dem jungen Marx zufolge das Privateigentum oder wenigstens
dessen Vorbedingung zustande gebracht. Nur durch Aufhe
bung des Privateigentums entstehen aufs neue Harmonie und
Identität von Mensch und Gesellschaft, und die Gesellschaft
selbst wandelt sich zu >>einer Person « (MEGA, Bd. 3, S. 5 5 8).
39
Wenn also Marx auch bei der Untersuchung der kapitalisti
schen Gesellschaft das Prinzip verfolgt, daß man, von der
Tätigkeit des einzelnen Individuums (richtiger : von der Tä
tigkeit des Arbeiters und von seinem Verhältnis zur eigenen
Tätigkeit) ausgehend, das Ganze der Gesellschaft zu verstehen
hat (siehe vorerwähnten methodologischen Individualismus) ,
so benützt er das Endergebnis, das » Ziel« der Entwicklung der
Gesellschaft als Maßstab zur Erkenntnis ihrer konkreten For
men. Wir stehen hier also einem gewissen Überbleibsel der
kritisch-teleologischen Methode gegenüber.
Das hat wesentliche Auswirkungen auf das Ganze der in den
Manuskripten erscheinenden gesellschaftlich-geschichtsphiloso
phischen Konzeptionen. Auf alle Details können wir hier nicht
eingehen, und diese sind für unser Thema auch ohne Belang. Es
sei bloß erwähnt, daß gerade der Begriff der »Entfremdung<<
sich als geeignetes Mittel erweist, für sämtliche allgemeinen Er
scheinungen der kapitalistischen Gesellschaft kritische Erhel
lung zu bieten ; völlig ungenügend ist jedoch der Begriff
der Entfremdung bei der Charakterisierung der spezifischen
Züge und Funktionen der einzelnen Sphären. Noch wichtiger
ist die Tatsache, daß die unrichtige Auffassung des Verhält
nisses von Individuum und Gesellschaft Marx unfähig macht,
die materialistische Geschiehtsauffassung durchweg folgerichtig
zur Geltung zu bringen . Da aus der geschichtlichen Verände
rung der Betätigung des einzelnen Individuums das Ganze der
gesellschaftlichen Entwicklung nicht abgeleitet werden kann, ist
Marx häufig gezwungen, was eigentlich geschichtliches Produkt
ist, als Fertiges vorauszusetzen . So erscheint an einzelnen Stel
len (hauptsächlich in den Exzerpten) bei ihm noch die morali
sierende Kritik des Kapitalismus und gleichzeitig die Ableitung
der Notwendigkeit der sozialistischen Gesellschaft aus dem >>kol
lektiven<< Charakter des menschlichen Wesens. Bezeichnend ist
ferner, daß die Manuskripte ausgesprochen mit der Gegenüber
stellung von tierischem und menschlichen Wesen operieren ; nir
gends wird die Frage des Hervorgangs des zweiten aus dem
ersten aufgeworfen. Schließlich nimmt Marx die Produktions
tätigkeit - obwohl er sie im allgemeinen als Vorgang zwei
fachen Charakters und Ergebnisses, als Vorgang der Aneig
nung und zugleich Vergegenständlichung der Fähigkeiten, als
die »Humanisierung der Natur<< und die »Naturalisierung des
Menschen« charakterisiert (siehe die Erörterung dieses Themas
im folgenden) - dort, wo er einzelne konkrete Fragen unter
sucht, häufig einseitig nur als Vergegenständlichung schon vor
handener Fähigkeiten und Eigenschaften zur Kenntnis.'4
All dies beweist die noch unüberwundene Wirkung der Feuer
bachsehen Anthropologie. Gleichzeitig wäre es aber ein schwe
rer Fehler, diese Tendenzen zu verallgemeinern - ihnen
gegenüber zeigen sich andere, in entgegengesetzter Richtung
wirkende, den späteren reifen Arbeiten zustrebende Tenden
zen : den Menschen als Produkt seiner eigenen Arbeit aufzu
fassen, die Notwendigkeit des Sozialismus aus den Entwick
lungsgesetzen der kapitalistischen Gesellschaft abzuleiten, im
Zusammenhang damit die aktiv-geschichtliche Rolle der Arbei
terklasse zu betonen. Dieses komplizierte Gemisch von vor
wärtsweisenden und noch spekulativen Tendenzen bestimmt
den spezifischen Charakter der Manuskripte.
Die hier behandelte Konzeption des Verhältnisses von Indivi
duum und Gesellschaft hinterließ bedeutende Spuren auch in
der erkenntnistheoretischen Auffassung von Marx. Dies kommt
43
Es mag paradox erscheinen, daß Marx gerade in dieser Arbeit,
in der er sich - hinsichtlich des Ganzen seiner Weltanschau
ung - entschieden von Feuerbach entfernt und mit der Neube
wertung der menschlichen Praxis eine materialistische Philoso
phie von grundlegend neuem Typ hervorbringt, in einzelnen,
nicht unwesentlichen soziologisch-erkenntnistheoretischen Fra
gen sich der Feuerbachsehen Auffassung nähert. Die Khnlich
keit der beiden Auffassungen darf jedoch nicht übertrieben
werden. Der Gegensatz in den Grundfragen zeigt sich auch
hier und verleiht selbst den Berührungspunkten und Khn
lichkeiten einen entschieden abweichenden Inhalt. Wir dürfen
nicht vergessen, daß Feuerbach niemals fähig war, die Gründe
der Entfremdung des Bewußtseins befriedigend und eindeutig
zu klären, und obwohl seine Philosophie in dieser Hinsicht bei
weitem nicht frei von Widersprüchen ist, betrachtete er die
Entfremdung des Bewußtseins letzten Endes als autonom und
primär. Die Verwirklichung des »Himmels auf Erden « erwar
tete Feuerbach von der Reform des Bewußtseins, während
Marx von der >>praktischen Entfremdung«, von der Entfrem
dung der Arbeit ausgeht und der Meinung ist, daß nur eine die
Entfremdung vernichtende kommunistische Revolution die
grundlegende Knderung des Bewußtseins mit sich bringen kann.
Dieser Gegensatz der beiden Denker geht sehr klar aus ihrem
Verhältnis zur Dialektik und innerhalb dieser zur Negation
hervor, Feuerbachs Verhältnis zur Dialektik, als zur rationali
sierten Form der Theologie, als zu einem entfremdeten Den
ken, ist eindeutig negativ. Für Marx hingegen ist, im Gegensatz
zu Feuerbach, das dialektische Denken der notwendige Aus
druck und das Produkt der Entfremdung des materialistisch
gesellschaftlichen Lebens, deren Spiegelbild. Und obwohl Marx
in den Manuskripten voraussetzt, daß die Dialektik (im Sinne
der Methode), wie im allgemeinen jedes Vermitteltsein, in
emer Gesellschaft unnötig wird, in der die Entfremdung auf-
tisch, sinnlich anschaubar geworden ist [ . . . ] • (MEGA, Bd. J, S. 1 2 5 .)
•Die abstrakte Feindschaft zwischen Sinn und Geist ist notwendig, so lang
der menschliche Sinn für die Natur, der menschliche Sinn der Natur, also
auch der natürliche Sinn des Menschen, noch nicht durch die eigne Art des
Menschen produziert ist. • (MEGA, Bd. J, S. I J 3-I 34·l Eben deshalb tritt
der Kommunismus als Lösung und Aufhebung der Gegensätze von Praxis
und Theorie, Wesen und Existenz, Tätigkeit und Leiden usw. auf. (Cf.
MEGA, Bd. 3, S. 1 2 1 .)
44
gehoben ist, hält er gleichzeitig die Dialektik für die einzig
richtige Methode der Erkenntnis innerhalb der entfremdeten
Gesellschaft. Das dialektische Denken - ist entfremdetes Den
ken, zugleich aber auch ein Denken, das fähig ist (und es allein
ist fähig), den entfremdeten Charakter der Gesellschaft und
seiner selbst zu erschließen. Die Dialektik ist die Logik der
noch nicht menschlich gewordenen, aber menschlich werdenden
Geschichte. 16
(Diese Feststellung rechtfertigt natürlich bei weitem nicht den
Satz der bürgerlichen Philosophiehistoriker [Kojeve, Calvez ] ,
daß i n der Auffassung des jungen Marx der Gegenstand der
Dialektik das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt in der
entfremdeten Gesellschaft ist. In dieser Frage müssen wir zwi
schen objektiver und subjektiver Dialektik einen klaren Unter
schied machen. Marx hat von seinen frühesten Werken an die
dialektische Entwicklungskonzeption, die objektiven Gesetze
der Dialektik sowohl auf die Natur als auch auf die Gesell
schaft ausgedehnt. Hierfür erbringt zum Beispiel Garaudy klare
Beweise im Zusammenhang mit den ökonomisch-philosophi
schen Manuskripten. Gleichzeitig vertritt Marx - wie wir dies
oben zu belegen suchten - in diesem Werk ausdrücklich die An
schauung, daß das Erkennen dieser objektiven Dialektik in der
sozialistischen Gesellschaft - als Folge des dialektischen Vor
ganges der historischen Vermittlung - unmittelbar, in der kul
tivierten Sinnlichkeit, in der Anschauung des sozialistischen
Menschen sich verwirklichen kann.)
Die weitere Entwicklung von Marx wollen wir nicht detailliert
erörtern. Die Untersuchung de� konkreten gesellschaftlich
historischen Erscheinungen entfernt Marx immer mehr von der
hier eingehend geschilderten Konzeption. Dabei widmet er im-
I6 » Feuerbach faßt also die Negation der Negation nur als Widerspruch
der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie
(Transzendenz etc.) bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Ge
gen.atz zu sich selbst bejaht. [ . . . ]
Aber indem Hege! die Negation der Negation - der positiven Beziehung
nach, die in ihr liegt, als das wahrhaft und einzig Positive - der negativen
Beziehung nach, die in ihr liegt, als den einzig wahren Akt und Selbstbetä
tigungsakt alles Seins - aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen,
spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch
nicht die wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Sub
jekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist.«
(MEGA, Bd. J , s. I p-I 5 3 ·)
45
mer mehr Aufmerksamkeit der inneren Gliederung der Gesell
schaft, der Unterstützung der gesellschaftlichen Verhältnisse,
die im Pariser Manuskript noch in sehr abstrakter Form erschie
nen waren. Die Erkenntnis der Bedeutung der Klassenverhält
nisse, ihre eingehende Analyse, bringen Marx zu der Überzeu
gung, daß die komplizierte Gliederung der Gesellschaft nicht
aus der Analyse der Tätigkeit des einzelnen Individuums abge
leitet werden kann, da diese letztere gerade durch die gesell
schaftliche Struktur determiniert ist. In ähnlicher Richtung
dürfte auch die Erkenntnis gewirkt haben, die mit großem Ge
wicht im Elend der Philosophie erscheint, daß nämlich die die
Produktion bestimmenden gesellschaftlichen Bedürfnisse nicht
auf die unmittelbaren Bedürfnisse der einzelnen Individuen
zurückgeführt werden können, sondern das Rückgrat der inne
ren Bedürfnisse der Produktion als eines einheitlichen gesell
schaftlichen Organismus bilden. Jedenfalls ist es Tatsache, daß
die Anschauung von Marx über das Verhältnis vom Indivi
duum und Gesellschaft eine wesentliche .Anderung erfährt. In
der Deutschen Ideologie ist er nicht mehr bestrebt, aus dem
Verhältnis des Individuums zur eigenen Tätigkeit die gesell
schaftlichen Verhältnisse zu verstehen, sondern er betrachtet
umgekehrt die letzteren als primär den ersteren gegenüber.
Dies drücken in klassischer Form die Feuerbach-Thesen aus :
»In seiner Wirklichkeit ist es (das menschliche Wesen - Bemer
kung des Verfassers) das ensemble der gesellschaftlichen Ver
hältnisse.<< (MEGA, Bd. 5, S. 5 3 5 .) All dies bedeutet natürlich
nicht die Wiederherstellung der idealistischen Hegeischen Ge
sellschaftsauffassung, sondern lediglich, daß das Individuum
als menschliches Individuum nur innerhalb der menschlichen
Gesellschaft, in einem seiner Existenz vorhergehenden und von
dieser unabhängig ausgestalteten, aus realen menschlichen In
dividuen bestehenden Ganzen existieren kann. Diese Gesell
schaft ist mit ihren materiellen und geistigen Zügen für das In
dividuum gegeben, es wird nur hineingeboren. Was aus ihm
wird, wie es leben und handeln wird, wird von diesen von
vornherein gegebenen materiellen und geistigen Zügen in ent
scheidendem Maße bestimmt (also eigentlich - von der Tätig
keit und Lebensweise der übrigen von ihm unabhängig exi
stierenden Individuen und von der materiellen Umgebung,
welche durch die Tätigkeit der ebenfalls von ihm unabhängig
46
gewesenen vorangegangenen Generation ausgestaltet wurde) .
Seine Handlungen ändern natürlich die in weitem Sinne auf
zufassende Umgebung; die Möglichkeiten und Grenzen dieser
Handlungen werden jedoch in engeren oder weiteren Grenzen,
von dieser Umgebung selbst bestimmt.
Diese Auffassung widerspricht also durchaus nicht der Tat
sache, daß der Mensch durch seine eigene, in erster Linie
materielle Tätigkeit sich selbst und seine eigene Geschichte
gestaltet. Nur geht Marx nun bei der Untersuchung der ge
schichtlichen Entwicklung nicht mehr von der unmittelbar
individuellen, in actu verstandene Tätigkeit, sondern von der
im gesamtgesellschaftlichen Rahmen stattfindenden Vergegen
ständlichung dieser Tätigkeit, von den Produktionsmitteln als
primären und bestimmenden Faktoren aus. Das ist eine allbe
kannte Tatsache, die zu interpretieren oder detailliert zu erör
tern sich erübrigt.
Allmählich, wenngleich langsamer, ändert sich die Auffassung
von Marx auch bezüglich der Arbeitsteilung und der Verbin
dung zwischen Arbeitsteilung und Privateigentum. Es sei nur
erwähnt, daß zum Beispiel in der Schrift Zur Kritik der poli
tischen Ökonomie die Arbeitsteilung schon als der von der
materiellen Seite betrachtete, als Gebrauchswerte hervorbrin
gende allgemeine Zustand der gesellschaftlichen Arbeit er
scheint. Auf die detaillierte Untersuchung dieser Frage können
wir jedoch hier nicht eingehen.
Was die erkenntnistheoretischen Ansichten von Marx betrifft,
so wollen wir deren Entwicklung erst dann besprechen, wenn
wir die gnoseologische Konzeption der Manuskripte über die
bereits erwähnten Teilaspekte hinaus in ihrer Ganzheit und in
ihren Zusammenhängen untersucht haben.'?
47
Die Arbeit und die Universalität des Menschen
49
Diese beschränkte, unmittelbare Betätigung bestimmt auch die
>>Erkenntnis<<, die Orientierungstätigkeit des Tieres : >> [ . . . ] das
Tier verhält sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier
existiert sein Verhältnis zu andern nicht als Verhältnis. <<
(MEGA, Bd. 5 , S. 20.) Da das >>Ziel <<, das Motiv des Handeins
des Tieres (das, was es zum Handeln antreibt) mit dem Gegen
stande der Handlung zusammenfällt (mit dem, worauf sich die
Handlung richtet), tritt für das Tier der Gegenstand niemals
in seiner Objektivität, vom Bedürfnis unabhängig auf, sondern
ist immer mit diesem Bedürfnis verschmolzen. Für das Tier gibt
es keine von seinen Bedürfnissen unabhängige Welt als Objekt,
und das Tier selbst existiert auch nicht als von seinem Gegen
stand unabhängiges Subjekt. Anderseits >>nimmt<< das Tier in
Wirklichkeit nur so viel von seinem Gegenstand >>wahr<<, wie
zur Befriedigung seiner Bedürfnisse notwendig ist, so viel, wie
mit diesen verbunden ist. Infolgedessen ist jene Struktur
der Welt, die im >>Kopf<< des Menschen »existiert<<, nicht bloß
ärmer oder reicher als die im Kopf eines Tieres, nicht bloß ab
weichend und verschieden. Der entscheidende Unterschied be
steht darin, daß es für das Tier keine so beständige Struktur
und Artikulation gibt wie für den Menschen. Wenn der gleiche
Gegenstand in verschiedenen Lagen in Verbindung mit ver
schiedenen Bedürfnissen erscheint, verliert er für das Tier seine
Identität, und dadurch wird es unfähig, auf ihn in derselben
Weise zu reagieren, auch wenn diese Reaktion völlig adäquat
und erfolgreich wäre. Obwohl die Welt auch für das Tier in
jedem Augenblick artikuliert ist, ist es doch nicht gegenständ
lich artikulierten Wesens.
Das Spezifikum des menschlichen Bewußtseins und der mensch
lichen Erkenntnis kann nur anhand der eigenartigen Beschaf
fenheit der menschlichen Lebenstätigkeit beleuchtet werden.
Diese menschliche Lebenstätigkeit ist die Arbeit.>0
20 Eine der bezeichnendsten theoretisch-philosophischen Verzerrungen der
bürgerlichen und revisionistischen Marx-Interpretationen besteht darin, daß
diese den Anschein erwecken wollen, als ob Marx bei seinen philosophischen
Untersuchungen vom Menschen als einem mit biologischen Bedürfnissen be
hafteten Wesen ausgegangen wäre, und daß dies das Wesen und das Novum
seiner Auffassung gebildet hätte. Einmütig behaupten dies z . B. Calvez und
Kolakowski. » Der Mensch ist ein natürliches Wesen, wie auch die Natur
nichts anderes darstellt, als den Vorgang der Humanisation . In diesem ele
mentaren Verhältnis, das das ganze dialektische Sein beherrscht, erscheint
50
Die Arbeit ist aber eine Tätigkeit, die sich nicht unmittelbar,
sondern nur durch Vermittlung auf die Befriedigung des Be
dürfnisses richtet. »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen
Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoff
wechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt
und kontrolliert<< - schreibt Marx im Kapital (Berlin I 95 3 ,
B d . I, S. 1 8 5 ) . Diese Vermittlung erscheint I . als Arbeitsmittel,
das der Mensch zwischen sich und den Gegenstand seines Be
dürfnisses schiebt ; 2 . als vermittelnde Tätigkeit, die Arbeit
selbst, die der Benutzung des Gegenstandes vorausgeht und
diese ermöglicht. Demzufolge ändert sich das allgemeine Ver
hältnis der Tätigkeit zur Natur. Das Ergebnis der Tätigkeit
des Tieres besteht im Verzehren, in der Vernichtung einzelner
Gegenstände der Natur und in der unmittelbaren Anpassung
anderer Gegenstände an seinen eigenen Körper. Obwohl das
der Mensch als >Bedürfniswesen< , als Komplex der der Natur zustrebenden
Bedürfnisse, während die Natur das Element der Befriedigung dieser Be
dürfnisse ist . « (Calvez, La pensee de Kar! Marx. E. du Seuil. 1 9 5 6 . S. 3 8o.)
» Die Anwesenheit dieses Bedürfnisses im Menschen ist die Anwesenheit einer
substantiellen Kraft, einer fundamentalen, den Menschen bildenden Absicht
lichkeit, die Anwesenheit eines ihm angeborenen Dynamismus, der sein We
sen aufrechterhält. « (Ebd. S. 3 84.) • Der Ausgangspunkt der ganzen erkennt
nistheoretischen Reflexion von Marx besteht in d·er Überzeugung, daß das
Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung nichts anderes ist
als das Verhältnis zwischen der Art und den Gegenständen seiner Bedürf
nisse. « (Kolakowski, Studia Filozoficzne, 1 9 5 9, 2, S. 47.)
Marx betont wahrlich sowohl in den Manuskripten als auch in der Deutschen
Ideologie, daß der Ausgangspunkt der Geschichtsbetrachtung nur der mit
den realen, materiell-natürlichen Bedürfnissen behaftete Mensch sein kann,
dessen Tätigkeit sich auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse richtet. Doch
würden wir vom menschlichen Charakter dieser Bedürfnisse abstrahieren,
wenn wir nicht beachteten, daß diese nur als durch die materielle Produk
tionstätigkeit des Menschen hervorgebracht aufgefaßt werden können und in
der menschlichen Arbeit, durch Arbeit zustande kommen . (• [ . . . ] daß das
befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon
erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt - und
diese Erzeugung neuer Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat.• (MEGA,
Bd . 5, S. 1 8 .) Wenn wir dieses geschichtliche Determiniertsein der mensch
lichen Bedürfnisse aus den Augen verlieren, sie als primär und absolut be
handeln, so biologisieren oder zumindest anthropologisieren wir die Ansich
ten von Marx. Er faßte das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nicht als
das zwischen der Art und dem Gegenstand ihrer Bedürfnisse (wie dies Kola
kowski behauptet) - dies trifft gerade auf das Tier zu - sondern er legte
dieses Verhältnis als Verhältnis zwischen der Gattung und der durch ihre
Produktionstätigkeit geschaffenen Objekte aus. Laut Marx bildet die Arbeit
das »Wesen • des Menschen.
letzte Ziel auch der menschlichen Produktionstätigkeit der
Verbrauch ist, entstehen - vor allem dadurch, daß diese Akti
vität, abgesehen von den primitivsten Anfängen, keinen fertig
vorgefundenen Naturgegenstand, sondern einen ebenfalls be
arbeiteten als Arbeitsgerät voraussetzt - aus dem Arbeitsvor
gang ständig Gegenstände, wodurch die Umgebung des Men
schen sich allmählich verändert. Die »natürliche« Umgebung
wird zur >>Kulturumgebung<< - sie ist das Ergebnis einer frühe
ren Arbeitstätigkeit - einer Umgebung, in der menschliche
Fähigkeiten und Bedürfnisse zu Gegenständen wurden. Nur
dadurch, daß der Mensch in einer solchen menschlich geworde
nen Welt lebt; daß die in der Vergangenheit entfalteten mensch
lichen Fähigkeiten und Bedürfnisse in ihrer Gegenständlichkeit
schon an seiner Wiege stehen und er über das Ergebnis der
ganzen vorausgegangenen gesellschaftlichen Entwicklung in
materieller Form verfügt, wird es möglich, daß er die Ent
wicklung nicht von vorn, sondern dort beginnt, wo die voran
gegangenen Generationen ihre Tätigkeit beendeten. Nur die
Arbeit als die Vergegenständlichung2' des menschlichen We
sens gestaltet überhaupt die Möglichkeit von Geschichte.
zr Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß einige der Marx-Interpre
tationen unter an derem dadurch bei der Auslegung des jungen Marx und
hauptsächlich der Manuskripte Verwirrung hervorrufen, daß sie ganz unbe
rechtigt, von Hege! ausgehend, den Ausdruck • Vergegenständlichung• mit
dem Ausdruck •Entfremdung• (oder, ähnlich, mit »Entäußerung•) identi
fizieren . (Als neues Beispiel könn ten wir den Aufsatz von Lucien Goldmann
über Vergegenständlichung in Les Temps Modernes, 1 9 5 9 , Nr. 2-3 , oder
die schon öfters erwähnte Arbeit von Kolakowski anführen .) Marx hinge
gen unterscheidet in den Manusk ripten die beiden Begriffe äußerst scharf
voneinander : • Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem
Gegenstand fi xiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der
Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese
Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand
als Entwirklichung des Arbei ters, die Vergegenständlichung als Verlust und
Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Ent
äußerung.• (MEGA, Abt. 1, Bd. J, S. 8 3 . ) Erst später beginnt Marx i n der
Deutschen Ideologie diese beiden Begriffe als gleichbedeutend zu gebrauchen .
Dem ist noch hinzuzufügen, daß an einzelnen Stellen der Grundrisse die
erwähnte Unterscheidung von neuem auftritt.
Die Identifizierung dieser beiden Begriffe kommt deshalb so häufig vor, weil
dieser einfache Kunstgriff die Möglichkeit dafür bietet, daß einzelne bürger
liche Ideologen den Begriff der Entfremdung als ewige Kategorie, als un
trennbares Charakteristikum der menschlichen Tätigkeit darstellen und
interpretieren können.
Wir wollen nun die Ergebnisse und Folgen dieser speziellen
menschlichen Tätigkeit zuerst von der objektiven, dann von
der subjektiven Seite untersuchen.
I . Dadurch, daß sich die menschliche Tätigkeit nicht unmittel
bar auf die Befriedigung des Bedürfnisses richtet, nimmt der
Kreis der Gegenstände zu, die als Objekt der Tätigkeit dienen
können. Einerseits wächst dadurch, daß der Mensch die Gegen
stände in umgewandelter Form benutzt, die Zahl jener Gegen
stände, die seine Bedürfnisse befriedigen. Anderseits werden
Gegenstände, die zur Befriedigung des unmittelbaren Bedürf
nisses nicht geeignet sind, als Mittel der Arbeitstätigkeit not
wendig. Damit wird der Kreis der Naturerscheinungen, auf
den sich die Tätigkeit des Menschen zu richten vermag, ständig
größer und im Prinzip universell. >>Die Universalität des Men
schen erscheint praktisch eben in der Universalität, die die
ganze Natur zu seinem anorganischen Körper macht, sowohl
insofern sie I ) ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie
2 ) die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner
Lebenstätigkeit ist. « (MEGA, Bd. 3 , S. 8 7.) Der Mensch ist fä
hig, sämtliche Gegenstände der Natur in Gegenstände seiner
Tätigkeit umzuwandeln, in seine Tätigkeit einzubeziehen.
2. Das Hervorbringen eines Gegenstandes erscheint bei Marx
als dessen Vermenschlichung. Diese Definition allein ist noch
einseitig. Die Vergegenständlichung des Menschen bedeutet zu
gleich die Aneignung des Gegenstandes. Diese Aneignung ist
nicht bloß in dem Sinn zu verstehen, daß infolge der Tätig
keit die Benutzung des Gegenstandes möglich wird ; die Aneig
nung des Gegenstandes bedeutet zugleich die Aneignung der
gegenständlich gewordenen menschlichen W esenskrafl:. Der
Mensch entwickelt seine Fähigkeiten nur dadurch, daß er sie
vergegenständlicht. Die geschichtlich erste Schaffung des Ge
genstandes erfolgt niemals auf adäquate Weise und ist immer
- mehr oder weniger - »glücklichen Umständen << zu verdan
ken, einem Zusammenspiel der Ereignisse, das in relativ reiner
Form die objektiven Zusammenhänge erschließt, mit deren
Hilfe der Gegenstand auch auf Grund der bestehenden unvoll
kommenen Fähigkeiten geschaffen werden kann. (Natürlich
kann dieser »Zufall« ohne jedes menschliche Eingreifen zu
stande kommen, aber gleichzeitig, auf höherem Niveau, auch
als Ergebnis aktiver menschlicher Forschungstätigkeit.) Nur
53
das Zustandebringen des Gegenstandes und die Wiederholung
dieses Zustandebringens befähigen den Menschen, diese Tätig
keit auch unter weniger günstigen Umständen zu verrichten,
und hierdurch gestaltet sich die gegenständliche Fähigkeit zu
einem Ganzen aus. 22
Dieser Vorgang der Aneignung tritt im Laufe der Ontogenese
ebenfalls auf. Für das Kind ist die menschliche Umgebung ge
geben, die Gegenstände jedoch sind in ihrer menschlichen
Eigenschaft nicht gegeben. Als menschliche Gegenstände sind sie
nur aufgegeben, als Aufgabe gestellt. Damit das Kind sich zu
diesen Gegenständen als zur Vergegenständlichung der mensch
lichen Wesenskräfte zu verhalten und sie auf menschliche Weise
zu benutzen vermag, muß es die gleichen Fähigkeiten und We
senskräfte auch in sich entwickeln. Das ist natürlich in diesem
Falle kein spontaner Vorgang mehr und verwirklicht sich nur
durch die Vermittlung der Erwachsenen, also der Gesellschaft ;
eben deshalb kann sich der Vorgang i n s o unglaublich kurzer
Zeit abspielen. 2 3
Worin besteht nun der objektive Inhalt der angeeigneten Fä
higkeit? Die Fähigkeit zur Herstellung irgendeines Gegenstan
des bedeutet, sich eine Tätigkeitsform anzueignen, die das
Mittel und den Gegenstand in die zur Verwirklichung des ge
wünschten Zieles notwendige Verbindung bringt. Die Fähig
keit erscheint also als Transposition gewisser objektiver
Zusammenhänge, Wechselwirkungen in subjektive Tätigkeit.
Diese subjektive Tätigkeit entspricht natürlicherweise den
Funktionsgesetzen des menschlichen Organismus, der mensch
lichen Organe. Die Entwicklung der Fähigkeiten bedeutet, daß
2 2 In sehr primitiven Formen können wir dies auch bei den Tieren wahr
nehmen. Dazu, daß der Affe zum Erreichen der Nahrung den Stock ge
braucht, ist es notwendig, daß Nahrung und Stock sich im gleichen Blickfeld,
möglichst nahe beieinander, befinden. Später wird das Tier den Stock aktiv
suchen usw. Das Wesentliche beim Tier ist jedoch, daß diese Fähigkeiten bei
ihm niemals in Form eines wahrhaft: gegenständlichen, von seiner Existenz
unabhängigen, von ihm hergestellten Mittels erscheinen, und so verliert sich
die individuelle Erfahrung bei jeder Gelegenheit und wird an die übrigen
Tiere nicht weitergegeben.
2 3 Dieser Aspekt der Aneignung wurde vor kurzem von dem berühmten
sowjetischen Psychologen Leontjew eingehend beleuchtet. Cf. seine Studie
Der historische Aspekt bei der Untersuchung der menschlichen Psyche, in :
Ergebnisse der sowjetischen Psychologie, herausgegeben von Hans Hiebsch,
Berlin 1 967.
54
der Mensch in seinem Verhalten fähig wird, auch solche Natur
gesetzmäßigkeiten zu verwerten, die nicht die Gesetzmäßigkei
ten seiner biologischen, physiologischen usw. Natur sind, ohne
daß er die letzteren verändern würde. In diesem Sinne spricht
Marx davon, daß der wirkliche, körperliche Mensch alle Na
turkräfte in sich ein- und ausatmet. (Cf. MEGA, Bd. 3, S. 16o.)
Der Mensch ist fähig, sämtliche Zusammenhänge, Gesetze der
Natur zum Gesetz, zum Prinzip seiner eigenen Tätigkeit zu er
heben.
3 · Schließlich ist, wenn auch für jeden individuellen Akt der
menschlichen Tätigkeit Ziel und Bedürfnis als Vorbedingung
gegeben sind, das Verhältnis im gesamtgeschichtlichen Vorgang
umgekehrt. Der Mensch, als biologisches Wesen, hat natürlich
bestimmte ständige Bedürfnisse. Jedoch kann die menschliche
Arbeitstätigkeit nicht als auf die Befriedigung dieser ewigen
und unveränderlichen Bedürfnisse gerichtete Tätigkeit auf
gefaßt werden. Die Bedürfnisse, die die Produktion in Wirk
lichkeit determinieren, sind nicht diese in ihrer natürlichen
Derbheit genommenen Bedürfnisse - sie werden von der Pro
duktion selbst hervorgerufen. Nur der durch den Menschen
hergestellte Gegenstand bringt das kollektive menschliche Be
dürfnis zustande. 2 4
Dieser geschichtliche Charakter der menschlichen Bedürfnisse
geht aus der Arbeitstätigkeit selbst hervor, und zwar aus fol
genden Gründen :
1. Der zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse die
nende Gegenstand ist kein unmittelbar natürlicher, sondern
ein durch die Produktionstätigkeit veränderter Gegenstand ; so
richten sich die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen
nicht (wie das Tier) auf ein Naturprodukt mit bestimmten che
mischen, physikalischen usw. Eigenschaften, sondern auf ein be
stimmtes Produkt von menschlich-gesellschaftlichem Charakter.
Für einen Franzosen sind die Produkte der polynesischen
Küche keine Speisen, keine augeeigneten Gegenstände zur Be
friedigung seiner Bedürfnisse. Damit sie zu solchen werden,
muß der Franzose selbst andere Bedürfnisse entwickeln, wenn
24 Auf dieses Problem kommt Marx später wiederholt zurü.X, vor allem in
den Grundrissen zum Teil in dem bekannten Paragraphen über die Methode,
zum Teil im Zusammenhang mit der Kritik an Adam Smith . (Cf. Grundrisse
der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 3 , S. 5 0 5 .)
55
auch diese Bedürfnisse nichts and eres sind als einfache Nega
tionen des ganzen geschichtlichen Reichtums seiner ausgebilde
ten Bedürfnisse.
2 . Es entstehen völlig neue, auch ihrem Ursprung nach gesell
schaftliche Bedürfnisse. Der vermittelte Charakter der mensch
lichen Tätigkeit, die Tatsache, daß der Mensch das Verhältnis
zu den Gegenständen seiner Bedürfnisse nur über andere Na
turgegenstände und andere Menschen, vermittels der mensch
lichen Gesellschaft verwirklicht, bringt auch gesellschaftliche
Bedürfnisse bezüglich dieser Gegenstände hervor ; es entwickeln
sich in den Menschen Bedürfnisse ihres Zusammenlebens, die
keine biologischen Gegebenheiten, ja nicht einmal die Humani
sation biologischer Bedürfnisse sind.
Nur im Lichte der Ausgestaltung dieser in der materiellen Pro
duktion entstehenden qualitativ neuen Bedürfnisse ist es ver
ständlich, daß neben der materiellen Produktionstätigkeit,
aber deren Gesetzmäßigkeit unterworfen, auch andere mensch
liche Formen der Aneignung der Natur (unter anderem des
Menschen als Naturwesim), andere Arten der menschlichen
Produktion entstehen. Marx betont dies öfter : >>Religion, Fa
milie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur
besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemei
nes Gesetz. Die positive Aufhebung des Privateigentums, als
die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive
Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Men
schen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d. h.
gesellschaftliches Dasein. « (MEGA, Bd. 3, S. I I 5 .) 2 5 So wird
das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung immer
komplizierter und vielseitiger. Die ganze Natur und der ganze
Mensch werden zum menschlichen Bedürfnis.
Alle diese Züge zusammen erschließen den Sinn dessen, was
Marx die >>Humanisierung der Natur« genannt hat. Diese ist
- wie wir sehen konnten - überhaupt keine bloße Bewußtseins
tätigkeit.26 Als Veränderung der Natur durch menschliche
25 Auf diese Auffassung kommt Marx später nicht weniger ausdrücklich
zurück, doch bereits auf der Ebene der poEtökonomischen Probleme. Cf.
hierzu auch seine Außerungen zur produktiven und unproduktiven Arbeit
im Kapitalismus und im Sozialismus - am ausführlichsten in den Theorien
über den Mehrwert. I . Bd., Kap. 4·
26 Hierin liegt die grundlegende Verschiedenheit zwischen dem marxisti
schen Materialismus und dem Agnostizismus der Marx-Interpretation von
Arbeitstätigkeit bedeutet die Humanisierung zugleich die
Veränderung des Menschen. Der Mensch ist nur insoweit fähig,
die Natur zu humanisieren, als er sich selbst »na turalisiert<<,
und zwar naturalisiert in dem Sinne, daß er aus einem be
schränkten Naturprodukt zu einem universellen Wesen wird,
fähig, seine Tätigkeit immer mehr der Totalität der Natur
gesetze anzupassen und dementsprechend die ganze Natur zu
verändern. Die menschliche Tätigkeit bedeutet, so verstanden,
keine äußerliche Veränderung, Umgruppierung usw. der durch
die Naturentwicklung hervorgebrachten Gegenstände. Infolge
ihrer oben erwähnten Züge ist diese Tätigkeit die Weiterfüh
rung und Erfüllung der Naturentwicklung. »Die Geschichte
selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens
der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später
ebenso wohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wis
senschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich
subsumieren : es wird eine Wissenschaft sein.<< ( MEGA, Bd. 3 ,
S. I 2 J .)
57
Die A rbeit und das Menschlichwerden der Sinne
59
muß Sehen, Hören usw. lernen, und das Ergebnis des Lernens
steht sd10n vor diesem Vorgang als Aufgabe bereit, vor allem
in Form der menschlichen Sprache bzw. des in der Sprache
fixierten allgemeinen menschlichen Bewußtseins. Wenn sich der
Mensch in das Leben der Gesellschaft einfügen will, muß er
eine solche ständige phänomenale Artikulation zustande brin
gen, deren Struktur jener Struktur und Artikulation entspricht,
die in der Sprache, im materialisierten gesellschaftlichen Be
wußtsein, von ihm völlig unabhängig gegeben ist. Der Mensch
muß sich die Welt nicht nur in seiner materiellen, sondern auch
in seiner geistigen Tätigkeit aneignen. Natürlich ist die oben
erwähnte Struktur keine willkürliche ; sie wird durch die Be
schaffenheit des Gegenstandes und unserer Sinnesorgane be
grenzt. Die Grenzen sind jedoch relativ weit. Wenn jemand
zum erstenmal im Leben eine Uhr sieht und nicht weiß, wozu
und wie diese benutzt wird, wird er sie anders sehen als je
mand, für den die Uhr das bekannte Instrument des Zeitmes
sefis ist ; sie wird ihm anders auffallen, er wird sie anders arti
kulieren. Um die Uhr als solche zu sehen, muß er lernen, sie als
Uhr zu benutzen. Der primitive Mensch, dessen Welt unmittel
bar voll von mystischen Partizipationen ist, und ein Europäer
von heute, für den die einzelnen kausalen und mechanischen
Verbindungen nicht weniger unmittelbar sind, sehen den glei
chen Gegenstand, die gleiche Gegend, die gleiche Erscheinung
auf verschiedene Weise. Die menschliche Anschauung hat ge
schichtlichen Charakter. » [ ] weil . . . mein Gegenstand nur
. • •
6o
Der Mensch verhält sich - in dieser Hinsicht unterscheidet er
sich nicht vom Tier - zu seiner unmittelbaren Umgebung in
praktischer Weise. Vor allem erkennt er jene Beziehungen die
ser Umgebung - und diese Beziehungen spiegeln sich auch in
seinem sinnlichen Bewußtsein vor allen anderen -, die die Ob
jekte zur Befriedigung seiner Bedürfnisse geeignet macht, die er
braucht, um mit diesen Gegenständen als Mitteln der Befrie
digung seiner Bedürfnisse operieren zu können. Der Unter
schied zwischen Mensch und Tier ist nur aus der verschiedenen
Beschaffenheit dieser Praxis zu verstehen.
Das Tier verhält sich im Rahmen einer beschränkten Tätigkeit
unmittelbar zum Gegenstand seiner biologisch bestimmten,
ständigen Bedürfnisse. Demzufolge ist nicht nur der Kreis jener
Gegenstände eng beschränkt, die es in seine Tätigkeit einzu
beziehen vermag, sondern auch, was es von diesen Gegenstän
den fähig ist, »ZU erkennen « . Jene Artikulation der Außen
welt, die es phänomenal verwirklicht - und die, wie bereits
2 9 Wir können hier auf eine Beobachtung Pawlows verweisen : Das Tier
reagiert auf den für es biologisch bedeutsamen Gegenstand (unbedingter
Reizerreger) wie auf einen Gegenstand, der im Zuge der individuellen Er
fahrung zu dessen Signal wurde (bedingter Reizerreger) ; es differenziert die
beiden Gegenstände nicht. Pawlow beschreibt an mehreren Stellen, wie der
Hund die Lichtsignale der Nahrung »erfaßt• und » frißt• .
ganz neuen Ebenen und in neuen Zusammenhängen (z. B. wis
senschaftliches Experiment). All dies hat zum Ergebnis, daß der
Mensch über die gegenständliche Welt eine immer vielseitigere
Kenntnis erlangt. Diese Vielseitigkeit ist, wie gesehen, nicht
bloß quantitativer Natur. Da nach der Auffassung von Marx
die menschliche Tätigkeit ihrem Charakter nach eine univer
selle Tätigkeit ist, ist auch die menschliche Erkenntnis univer
sell. Dadurch, daß der ständig wachsende, im Prinzip endlose
Kreis der gegenständlichen Verhältnisse in die menschliche Tä
tigkeit eingeht, erschließen sich dem menschlichen Denken stets
neue Relationen, neue Eigenschaften der Gegenstände. Diese
Eigenschaften und Relationen sind nichts dem Wesen äußer
liches : es gibt keinerlei rätselhaftes, unerreichbares Wesen an
sich, das prinzipiell nicht angeeignet werden könnte. Die »Na
tur« des Gegenstandes besteht gerade in der Summe, in der
Totalität seiner Eigenschaften, Beziehungen, wie auch die Ma
terie nichts anderes ist als die Summe und Einheit der objektiv
(wenn auch nid:tt absolut) differenzierten, artikulierten Gegen
stände und ihrer Wed:tselwirkungen, ihrer gegenseitigen Ver
hältnisse.
Auf diese Weise verfügt das menschliche Bewußtsein (damit
auch das sinnliche Bewußtsein) über eine doppelte Vermittelt
heit : Es ist einerseits in seinem Verhältnis zum Gegenstand ver
mittelt durch die Gesellschaft, durch die schon erreichte Stufe
des gesellschaftlichen Bewußtseins, der Erkenntnis, die es sich
(wenigstens zum Teil) aneignen muß, anderseits ist es in seiner
individuellen Entwicklung vermittelt : durch die menschliche
Tätigkeit, in seiner primären und ungegliederten Form durch
die Arbeitstätigkeit. Das letztere Vermitteltsein ist kennzeich
nend auch für solche Formen des Bewußtseins, deren Verhält
nis zum Gegenstand völlig unmittelbar scheint, zum Beispiel
für die Sinnlichkeit.l0
30 Zum Beweis dafür können wir uns auf die durch die moderne Psycholo
gie erschlossenen Tatsachen berufen, in erster Linie auf die Experimente von
Am es, I ttelson und andere. Wir wollen kurz nur auf eines der bekanntesten
Experimente von Am es verweisen : Das Subjekt betrachtet zwei Zimmer
Modelle durch eine Öffnung i n der Wand. Die beiden Modelle weichen
wesentlich voneinander ab, die Wände des einen sind nicht senkrecht, die
Decke ist schief usw., das andere Modell aber ist normal, der Gesichtspunkt
jedoch ist so fixiert, daß, infolge der Gesetze der Perspektive, die beiden
Zimmer vollständig gleich erscheinen. Das Subjekt vermag sie auch dann
Die geschichtlichen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins
sind daher für Marx bei weitem nicht gleichrangig in ihrem
Verhältnis zu ihrem Gegenstand, zur objektiven Außenwelt.3 '
Für den am Beginn der Geschichte stehenden, von der Natur
abhängenden Menschen existiert der Gegenstand nur in seiner
abstrakten Beschaffenheit und nur insofern, als er seine Bedürf
nisse befriedigt. Die spezifischen Eigenschaften des Gegenstan
des, alle seine übrigen Bestimmungen, existieren für diesen
Menschen nicht. In dem Maße jedoch, wie der Gegenstand mit
immer mehr Seiten und Eigenschaften sich in die gesellschaft
liche Produktion, Tätigkeit einschaltet, eignet sich das Invidi
duum ein immer konkreteres und vielfähigeres Bild des Gegen
standes an und realisiert diesen reichhaltigen Inhalt nunmehr
in seinem eigenen empirischen Bewußtsein auch beim Erblicken
des Gegenstandes. Die Entwicklung der menschlichen Sinnlich-
nicht zu unterscheiden, wenn es weiß, daß das eine · Modell verzerrt ist.
Wenn es sich aber zielbewußt gegenständlich betätigt (es hat einen ange
gebenen Punkt an der Wand, aus dem fixierten Gesichtspunkt betrachtet, mit
einem kleinen Ball zu treffen usw.), wobei diese Beziehungen als wesentlich,
für den Erfolg der Tätigkeit entscheidend erscheinen, lernt das Subjekt all
mählich, diese Unterschiede zu sehen , unmittelbar zu empfinden, so daß es
auch bei anderen mit ähnlichen Verzerrungen erbauten Modellen jene objek
tiven räumlichen Bestimmungen unmittelbar sieht, die aus dem gegebenen
Gesichtspunkt für den ungeübten Betrachter vollständig unbemerkbar sind.
Allgemein gesprochen, handelt es sich hier darum, daß im Verlaufe gegen
ständlicher Tätigkeit, durch diese geleitet, eine solche subjektive sinnliche
Orientierungstätigkeit zustande kommt (richtiger : es ändert sich die schon
vorhandene Orientierungstätigkeit}, die von den infolge ih res redundanten
oder insignifikanten Charakters bisher nicht verwerteten, vom Gegenstand
kommenden Reizsignalen jene » auswählt• und bei Veränderung des sinn
lichen Bildes des Gegenstandes zu Bewußtseinstatsachen transformiert, die
zum Signalisieren dieser objektiven Bestimmtheit fähig sind und mit ihr in
relativ ständiger Verbindung stehen (sie werden in der amerikanischen psy
chologischen Literatur » CUe• genannt) .
3 1 Die folgende unhaltbare Behauptung schreibt Kolakowski Marx zu. Für
den von Kolakowski interpretierten Marx ist das von einer Fliege wahr
genommene Bild der Welt ebenso » wahr• wie jene Spiegelung, die im Kopf
eines Menschen von heute existiert. (Cf. Studia Filozoficzne, 1 9 59, Nr. 2,
S. p . ) Hierdurch wird die ganze Geschichtsbetrachtung von Marx relativi
stisch, seine Erkenntl'listheorie agnostizistisch, in krassem Gegensatz zu sei
nem hier eingehend besprochenen Gedankengang. Es ist also kein Zufall,
daß in seinem neuesten Artikel die Lehre des Marxismus vom gesellschaft
lichen Fortschritt und der Entwicklung ganz und gar pamphletartig als
Endziel des irdischen Lebens, als theologische Lehre vom absoluten Ende
der Geschichte erscheint.
keit führt den Gegenstand vom Abstrakt-Einseitigen zum
Konkreten, zum Erschließen seiner Spezifität. >> . . . der reiche
und tief allsinnige Mensch<< verhält sich zum Gegenstand nicht
mehr bloß wegen seiner Nützlichkeit und sieht ihn nicht nur
in seinen biologisch bedeutsamen Beziehungen ; der Gegenstand
der Sinneswelt eines solchen Menschen ist nunmehr der an und
für sich existierende Gegenstand. >>Der unter dem rohen prak
tischen Bedürfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornier
ten Sinn. Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die
menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Da
sein als Speise : ebenso gut könnte sie in rohster Form vorlie
gen, und es ist nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungs
tätigkeit von der tierischen Nahrungstätigkeit unterscheide.
Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das
schönste Schauspiel ; der Mineralienkrämer sieht nur den mer
kantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche
Natur des Minerals ; er hat keinen mineralogischen Sinn ; also
die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in
theoretischer als praktischer Hinsicht, gehörte dazu, sowohl um
den Sinn des Menschen menschlich zu machen, als um für den
ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens ent
sprechenden menschlichen Sinn zu schaffen.« (MEGA, Bd. J ,
S. 1 20-1 2 1 .) »Die Aufhebung des Privateigentums ist daher
die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und
Eigenschaften ; aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch,
daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv
als objektiv geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen
Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaft
lichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrüh
renden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmit
telbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich
zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein
gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum
Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuß ha
ben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße
Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen
Nutzen geworden ist. << (MEGA, Bd. J, S. 1 1 8- 1 1 9 .) Dieses
Theoretischwerden des praktischen Verhältnisses bedeutet kein
Transzendieren der gegenständlichen Welt, kein Lostrennen
der Erkenntnis von jedem menschlichen Bedürfnis, keine reine
Kontemplation, sondern gerade das Gegenteil. Das Theo
retischwerden des praktischen Erkennens (was soviel bedeutet,
daß der Gegenstand, als an sich seiender und wie er an sich
existiert, erkannt wird) ist das Ergebnis dessen, daß die die
Erkenntnis auch weiterhin bestimmenden Bedürfnisse nunmehr
selbst vielseitig, universell werden, sich dem ganzen Gegen
stand, der ganzen Natur und dem totalen Menschen zuwenden.
Das ist aber nur durch die Entwicklung der materiellen Pro
duktion, die menschliche Vergegenständlichung, durch Univer
sellwerden der Umwandlung der Natur möglich.
Dieses Zusammenfallen des Praktischen und des Theoretischen
ist ein geschichtlicher Vorgang, und dieser hat keinen fortlau
fenden, evolutionären Charakter. Wir verweisen lediglich auf
die Tatsache, daß, da das Verhältnis des Menschen zur Natur
nur über gesellschaftliche Vermittlungen existiert, seine Herr
schaft über die Natur nur dann adäquat realisiert werden
kann, wenn er fähig ist, seine gesellschaftlichen Verhältnisse
zu beherrschen. Es soll hier nicht untersucht werden, wie die
Tatsache der Entfremdung auf die erkennende Tätigkeit des
Menschen einwirkt und wie sie sich im menschlichen Bewußt
sein widerspiegelt. Es sei nur nochmals erwähnt, daß für Marx
in dieser Beziehung eine der Hauptfragen darin bestand, daß
irrfolge der Entfremdung das, was die Gesellschaft als Ganzes
sich geistig angeeignet hatte, für das einzelne Individuum nicht
als angeeignet vorhanden war ; und demzufolge bildete sich der
Gegensatz des unmittelbaren empirischen Bewußtseins und der
von diesem losgetrennten gesellschaftlichen Bewußtseinsfor
men (Moral, Wissenschaft, Kunst, Politik usw.) heraus. Diese
Entfremdung kann durch das Zustandekommen von » Ideolo
gien.- in sämtlichen Formen des Erkennens nur zu einem be
schränkten und letzten Endes falschen Inhalt führen, unabhän
gig vom Fortschritt des menschlichen Wissens. Nicht weniger
wesentlich ist die Tatsache, daß Marx diese geistige Form der
Entfremdung auf dem Wege der Umwälzung des materiellen
Unterbaus für aufhebbar hielt, was natürlich für ihn bei wei
tem nicht das Ende der Erkenntnis, ihre absolute Erfüllung,
vielmehr ihren eigentlichen Beginn bedeutete.
Es ist natürlich, daß eine absolute Identität von Theorie und
Praxis, von abstraktem wissenschaftlichem Denken und unmit
telbarem sinnlichem Bewußtsein auch mit der Aufhebung der
66
Entfremdung nicht zustande kommt. Zur verständlicheren Er
läuterung dieser Frage haben wir noch ein wesentliches Pro
blem zu erwähnen.
Das Bild des Gegenstandes, wie es im Bewußtsein des Menschen
erscheint, hängt nicht allein von der Natur des Gegenstandes
und vom bestimmten Niveau der gesellschaftlichen Tätigkeit
und Bedürfnisse ab. Wie der Gegenstand in unserem Bewußt
sein erscheint, hängt zugleich von den gewissen beständigen,
teils natürlichen, teils gesellschaftlichen >>Bestimmtheiten « des
menschlichen Bewußtseins ab. Marx wirft dieses Problem in
den Manuskripten vor allem hinsichtlich der Relation der
menschlichen Empfindung auf : » ( . . ] Gegenstand wird er
.
selbst. Wie sie (die Gegenstände, G. M.) ihm als seine werden,
das hängt von der Natur des Gegenstandes und der Natur der
ihr entsprechenden Wesenskraft ab ; denn eben die Bestimmtheit
dieses Verhältnisses bildet die besondre, wirkliche Weise der
Bejahung. Dem Auge wird ein Gegenstand anders als dem Ohr
und der Gegenstand des Auges ist ein andrer als der des Ohrs.
Die Eigentümlichkeit jeder Wesenskraft ist gerade ihr eigen
tümliches Wesen, also auch die eigentümliche Weise ihrer Ver
gegenständlichung, ihres gegenständlichen wirklichen, lebendi
gen Seins. << (MEGA, Bd. J, S. I I 9- r 2o.)
Es könnte also scheinen, daß, unabhängig davon, ob der
Mensch fähig oder nicht fähig ist, sämtliche Bestimmungen der
Wirklichkeit und deren Zusammenhänge zum Gegenstand sei
ner Erkenntnis zu machen, der objektive Charakter dieser Er
kenntnis bei weitem nicht gesichert ist. Das im Bewußtsein
zustande kommende Bild hängt von den ständigen, unabstreif
baren Eigenschaften der menschlichen Sinnesorgane, der Sprache
usw. ab, aus denen herauszutreten oder die zu überholen dem
Menschen unmöglich ist, und so wird das Bild der objektiven
Wirklichkeit unbedingt verzerrt.
Wir verweisen nur auf einen einzigen, gewiß nicht ausschließ
lichen Aspekt, den diese Anschauung nicht beachtet und der in
den Manuskripten eine bestimmte Rolle spielt. Die geistige An
eignung der Welt, die menschliche Erkennungstätigkeit ist nicht
homogen und ungegliedert. Das phänomenale Bild des Gegen
standes ist das Ergebnis einer vielseitigen, aus verschiedenen
Teilvorgängen sich zusammensetzenden Gesamttätigkeit. Die
Entwicklung des Erkennens findet ihren Ausdruck nicht allein
darin, daß dieses Ergebnis immer reicher und vielseitiger wird.
Die »Vermenschlichung der Sinne<< hebt, nach Marx, das Abso
lutwerden, die Entfremdung der Teilbetätigungen auf und
bringt gleichzeitig die vollständige Ausgestaltung der Eigen
arten aller menschlichen Erkennungsvermögen, deren Erfül
lung und relative Selbständigkeit zustande. So wird aus allen
»Organen der Individualität des Menschen<< jeweils ein Organ
der Aneignung der gegenständlichen Welt. Das Bewußtsein des
auf der Anfangsstufe der Entwicklung stehenden Menschen ist
vollständig ungegliedert in dem Sinne, daß ein einheitliches,
unauflösbares Ergebnis aus den Daten der verschiedenen Or
gane, der sprachlichen und gedanklichen Vermittlungen als
Summe dieser Daten zustande kommt. Erst wenn die Verbin
dungen und Zusammenhänge zwischen den Gegebenheiten viel
komplizierter werden, entsteht die Möglichkeit, zwischen den
gesehenen, gehörten, getasteten Bildern zu unterscheiden (wel
che Unterscheidung jedoch niemals absolut und niemals voll
kommen ist, da jede Tätigkeit von den übrigen bedingt und
gesteuert wird). Wenn sich die Differenzierung schon relativ
herausgebildet hat, entsteht die Möglichkeit zum aktiven, be
wußten Vergleich der von den einzelnen Organen gelieferten
Daten. Diese Tätigkeit und die ihr entspringenden Wider
sprüche (ein ganz elementares Beispiel : das visuelle »Gebro
chensein<< eines ins Wasser getauchten Stockes und dessen
»Geradesein<< beim Tasten), die neue Probleme aufwerfen,
schließlich die auf deren Lösung abzielende praktische und
theoretische Aktivität sind in ihrem geschichtlichen Prozeß fä
hig, die natürlichen Schranken der einzelnen Teiibetätigungen
aufzudecken, bewußt zu machen und hierdurch den Gegen
stand in seiner objektiven Beschaffenheit zu erkennenY
Die Tätigkeit des Erkennens ist also durch einen ständigen
Vorgang gekennzeichnet, in dessen Verlauf sich das Erkennen
32 Für das Oberwinden solcher • unüberschreitbaren • Schranken bietet ein
ausgezeichnetes Beispiel (natürlich wird die Kompliziertheit des Beispiels
durch die hier gegebene ganz allgemeine Schilderung keineswegs erschöpft)
das bekannte und oft wiederholte Experiment Strattons zur künstlichen
Verzerrung der menschlichen Perspektive (durch Aufsetzen besonderer Bril
len, die Oben und Unten, Rechts und Links usw. vertauschen) . Die Experi
mente haben erwiesen, daß der tätige Mensch (der bloß beschauliche nicht)
auch unter solchen Umständen fähig ist, die richtige Orientierung zu finden,
ja diese Orientierung wird wieder unmittelbar und gewinnt den Charakter
68
seiner Schranken allmählich bewußt wird und sie dadurch
überschreitet. Das geschieht in. erster Linie durch abstraktes,
begriffliches Denken. Nur diese Tätigkeit ermöglicht es, die
Grenzen des Erkennens ständig zu erweitern. Nach der Mei
nung von Marx - in den Pariser Manuskripten - können aber
alle Ergebnisse, zu denen das Denken gelangt, durch die
menschliche Anschauung angeeignet, assimiliert werden. Als
Resultat dieser ständigen gedanklichen Vermittlung vermag
der Mensch in seinem sinnlichen Bewußtsein, in dessen »Spra
che<<, aus dessen Materie, aus den Empfindungen eine subjek
tive Struktur hervorzubringen, die (im Hinblick auf die
Tendenz ihrer Entwicklung) der Struktur der objektiven
Wirklichkeit und ihrer Gliederung vollständig entspricht und
in jeder Hinsicht isomorph ist.
71
Indessen kann er visuelle Fähigkeiten entwickeln, über die die
Mehrzahl der Menschen nicht verfügt, eine visuelle Welt, die
reicher ist als die normale, ohne daß er zugleich jene realen
Verbindungen kennt, auf Grund derer sich die einzelnen
Eigenschaften und Zustände ändern. Die gegenständlichen
Eigenschaften treten unmittelbar als Zeichen für bestimmte
Phasen seiner Tätigkeit auf. Für den Hochofenarbeiter ist es
nicht notwendig, das Wesen aller physikalischen und chemi
schen Vorgänge zu kennen, die vor seinen Augen ablaufen, die
er benutzt, obwohl ohne diese Kenntnisse das Hüttenwesen in
seiner heutigen Großbetriebsform in gesamtgesellschaftlichem
Maßstab unvorstellbar wäre. So reich auch das alltägliche Den
ken an Bestimmtheiten und Kenntnissen ist (ob diese nun sinn
licher oder begrifflicher Art sind), - die Gliederung dieser
Kenntnisse untereinander, die zwischen ihnen bestehende Ver
bindung entspricht weder ihrer Vielschichtigkeit noch ihrem
Reichtum. Im alltäglichen Denken trägt das vom Gegenstand
geschaffene Bild immer mehr oder weniger den Charakter der
»chaotischen Vorstellung<< . (Cf. Grundrisse der Kritik der poli
tischen Ökonomie, S. 2 1 - 2 2 . )
Die Aufhebung des Privateigentums verändert das Verhältnis
von Individuum und Wissenschaft. (Cf. ibid., S. 78-So.) Mit
der Aufhebung des Privateigentums verschwindet die Gegen
überstellung, der Gegensatz von Wissenschaft und alltäglichem
Bewußtsein. Der zwischen diesen bestehende Unterschied je
doch bleibt notwendig bestehen.
Die Aufmerksamkeit von Marx richtet sich in seinen späteren
Werken nicht primär auf die detaillierte Charakterisierung
dieses Problems. Was für ihn im Laufe seiner späteren Tätig
keit immer wichtiger wird, ist gerade die Untersuchung des
sen, wie die Aneignung des Gegenstandes als Ganzes durch den
»denkenden Kopf<< möglich ist, wie sich das objektive Erken
nen durch die Wissenschaft verwirklicht, wie sich die Gesetz
mäßigkeiten der Wissenschaft spontan Bahn brechen und wie
sie bewußt gemacht und bewußt angewendet werden können.
Dieser Ausgangspunkt kennzeichnet die hochwichtigen metho
delogischen Untersuchungen von Marx. Ihre Diskussion ist je
doch nicht mehr die Aufgabe der vorliegenden Arbeit.
Jindrich Zeleny
Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen
Materialismus
73
gungsgesetzes in einer Gesetzeswissenschaft begriffen werden,
die nach dem Verfahren mathematischer Naturwissenschaft
qualitative Bestimmtheiten auf quantitative Veränderungen
reduziert. Das Historische müsse als Exemplar eines Gesetzes
verstanden werden. Marx habe auf diese Weise das mathema
tische Bewegungsgesetz der Geschichte entdeckt. Demgegenüber
halten Hyppolite, Bigo und andere Autoren die Marxsche
Analyse und Kritik der bürgerlichen Ökonomie für eine exi
stentielle Analyse der menschlichen Situation und betonen den
grundsätzlichen Unterschied der Marxschen Methode von der
seiner naturwissenschaftlich orientierten Vorgänger. So schreibt
Bigo• : »Der Ricardianismus im Kapital ist nur eine Fas
sade.«
Auch die Diskussionen in den sozialistischen Ländern während
der letzten Jahre ergaben eine ähnlich gegensätzliche Deutung
des Marxschen Wissenschaftsbegriffs. Oskar Lange etwa in sei
nem Buch Ekonomia polityc zna3 (das - nebenbei bemerkt -
eine höchst positive Rolle bei der Modernisierung des mathe
matischen Apparats des zeitgenössischen marxistisch-ökonomi
schen Denkens spielt) vertritt die Ansicht, die Marxsche Me
thode bilde nur einen Spezialfall des in der neuzeitlichen Wis
senschaft geläufigen Typs von Analyse. Im Kapital seien die
drei Hauptarten des Schließens - Deduktion, Reduktion und
Induktion - angewandt, ganz wie in allen anderen theoretisch
begründeten Erfahrungswissenschaften vor und nach Marx. Im
Gegensatz dazu betonen die Arbeiten des sowjetischen Philo
sophen Iljenkow die methodologische Eigenart der Marxschen
·
Analyse und den prinzipiellen Unterschied zwischen dem
Marxschen und dem Ricardoschen, überhaupt dem an der neu
zeitlichen mathematischen Naturwissenschaft orientierten Wis
senschaftsbegriff. 4
Der kritische Hinweis darauf, daß all diese Interpretationen
unseres Erachtens einseitig und unrichtig sind, kann zur posi
tiven Kennzeichnung der Matxschen Konzeption von Wissen
schaftlichkeit selbstverständlich nur wenig beitragen ; doch
kann er als Ausgangspunkt dienen.
2 Cf. seine Schrift Marxisme et humanisme, Paris 1 9 54, S. 2 ,
3 Warschau 1 9 5 9 , S. 8 5-1 3 1 .
4 Cf. etwa sein Buch Dialektika abstraktnogo i konkretnogo v KapitaU
Marksa, Moskau 1 960.
74
Zunächst einmal vermag eine elementare vergleichende Ana
lyse klarzumachen, daß zwischen dem Ricardoschen und dem
Marxschen Wissenschaftsbegriff kein solcher Hiatus besteht,
wie ihn einige an Marx von Hegels Phänomenologie aus heran
tretende Autoren behaupten. Ricardos Analyse des Kapitalis
mus enthält eine Auffassung wissenschaftlichen Erklärens, wel
che in erster Annäherung folgendermaßen charakterisiert wer
den kann :
a. Die empirische Oberfläche wird vom Wesen unterschieden.
b. Das Wesen wird als etwas Unveränderliches, für immer Ge
gebenes, analog zu Newtons Prinzipien angesehen. Die empiri
schen Erscheinungsformen werden als unmittelbare Ausdrudts
formen des fixen Wesens verstanden ; sie sind ebenfalls fixiert
im Sinn des Nicht-Historischen ; sie sind aber veränderlich im
Sinn quantitativer Abwandlungen.
c. Die Fragen, welche die Gesamtanalyse zu beantworten hat,
lauten in verallgemeinerter Form :
c a. Welche gesetzmäßigen quantitativen Abwandlungen der
empirischen Formen entstehen in Abhängigkeit von den quan
titativen Änderungen des Wesens?
c b. Welche gesetzmäßigen Abwandlungen der empirischen
Formen entstehen, wenn sich einige von ihnen, die in Wechsel
wirkung zueinander stehen, quantitativ verändern?
Untersuchen wir, was aus dem einseitigen Quantitativismus
Ricardos in der neuen Konzeption wissenschaftlichen Erklärens
wird, wie sie Marx' Kapital repräsentiert, so können wir vor
allem feststellen, daß Marx Ricardos Erforschung der Ände
rungen quantitativer Verhältnisse nicht als bedeutungslos für
das Begreifen der »Natur des Kapitals« ablehnt. Sie ermöglicht
jedoch nach Marx nur eine ungenügende, >>mangelhafte Dar
stellung« und wird dann »fehlerhaft«, wenn man ihre unter
geordnete Rolle in der Erkenntnis des Wesens des Gegenstan
des nicht begreift, wenn sie, mit anderen Worten, für das
Ganze dieser Erkenntnis ausgegeben wird. Marx' Oberwin
dung des einseitigen Quantitativismus bedeutet nicht, daß bei
ihm der quantitativen Bestimmtheit der Gegenstände eine ge
ringere Aufmerksamkeit gewidmet würde. Sie wird vielmehr
überall dort gerrauer und vollständiger erkannt, wo das für
die wissenschaftliche Erklärung des Gegenstandes im Sinn von
Marx, das heißt für die dialektisch-materialistische, struktu-
75
reH-genetische Analyse des Gegenstandes bedeutsam ist. Marx
erkennt die Berechtigung einer Begrenzung und Konzentration
auf das Erforschen quantitativer Änderungen für gewisse
Phasen der Wissenschaftsentwicklung an. Diese Einschränkung
kann zum einseitigen Quantitativismus werden, sie kann je
doch auch eine völlig legitime Phase eines Erkenntnisprozesses
darstellen, der auf dem Boden der Marxschen Auffassung
steht, wenn man sich des Stellenwerts und der Funktion einer
auf das Quantitative begrenzten Erkenntnis bewußt wird.
Würden wir allgemeiner nach Marxens Verhältnis zur neuzeit
lichen Idee des Mathematismus fragen, wie es in seinem Werk
implizite zum Ausdruck kommt, so würden wir feststellen :
Wenn auch Marx die Idee des Mathematismus in ihren absolu
tistischen Ansprüchen ablehnt, so hält er deshalb nicht wie
Hegel die mathematische Erkenntnis für eine prinzipiell infe
riore Wissensart, die nicht zu einer »wahrhaft wissenschaft
lichen« Erkenntnis gehören sollte. Er setzt sich vielmehr für
eine maximale und potentiell zunehmende Anwendung von
Mathematik in der Erkenntnis ein, und zwar auch in bezug
auf Prozesse dialektischen Charakters. (Bemerkenswert ist in
dieser Hinsicht ein Brief von Marx an Engels über den Ver
such, »die Hauptgesetze der Krisen mathematisch zu bestim
men«.s)
Sosehr sich Marx in der hohen Wertschätzung des mathema
tischen Wissens von Hegel und dessen »Philippiken gegen die
Zahl«6 distanziert, so wesentlich und unabdingbar ist seine
Nähe zu Hegel und die Anknüpfung an ihn in vielen Grund
fragen der Struktur von wissenschaftlicher Erklärung und
Kritik des Kapitalism1,1s - in dem, was Marx »dialektische Ent
wicklung«, »dialektische Ableitung<< oder »dialektische Deduk
tion« nennt.
Marxens »dialektische Entwicklung<< als »die Art für das Den
ken, sich das Konkrete (theoretisch) anzueignen, es als ein gei
stig Konkretes zu reproduzieren<<7, stellt eine strukturell-gene
tische Analyse sui generis dar. Sie drückt in konzentrierter
77
c. daß »die dialektische Form der Darstellung ihre Grenzen
kennt<ä; die theoretische Darstellung des sich entwickelnden
Ganzen durch >>dialektische Entwicklung« muß notwendiger
weise an gewissen Punkten auf die historisch-faktische Wirk
lichkeit als ihre konstatierte, dialektisch nicht mehr ableitbare
Voraussetzung stoßen.
Hier ist nicht der Ort, ausführlich die einzelnen Vorgänge und
logischen Formen zu diskutieren, wie sie im ökonomischen
Werk von Marx zur Geltung kommen - wiewohl dies im Zu
sammenhang mit unserem Thema wichtige Resultate bringen
könnte, zum Beispiel, was die Konzeption von Analyse und
Synthese anbelangt, die Konzeption der Grund-Folge-Bezie
hung oder des Charakters der dialektischen Deduktion im
Vergleich zur formal-logischen Folgerung aus der Defini
tion etwa bei Tarski. Wir sind aber - unserem Thema gemäß
am Marxschen Wissenschaftsbegriff nicht nur im Hinblick auf
seine konkrete Anwendung bei der Analyse der bürgerlichen
Okonomie interessiert, sondern wollen ihn in seiner allgemei
neren Problematik untersuchen. Es scheint mir, daß das
Grundlegende zu dieser allgemeineren Problematik der Wis
senschaftsauffassung von Marx vom Standpunkt des »prakti
schen« Materialismus in seinen Werken dargelegt wurde, die
um die Mitte der vierziger Jahre entstanden, das heißt wäh
rend seiner Entwicklungsphase von den Pariser Manuskripten
zur Deutschen Ideologie. Bekanntlich formuliert Marx hier die
Voraussetzungen eines neuen Wissenschaftsbegriffs vermittels
der Kritik der spekulativen, überhaupt aller »ideologischen«
Philosophie und Theorie. Anstelle der spekulativen und ab
strakt-materialistischen Auffassung von Natur und Geschichte
will er - wie er sagt - >>die wirkliche, positive Wissenschaft, die
Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Ent
wicklungsprozesses der Menschen« setzen.10 Was soll das für
eine Wissenschaft sein? Wie ist eine solche Wissenschaft mög
lich? Bei Marx findet sich keine im Sinn der Kantischen Er
kenntniskritik gestellte Frage nach den Bedingungen der Mög
lichkeit, nach der Grundlegung einer solchen Wissenschaft, weil
er die ursprüngliche kritizistische Fragestellung selber noch als
9 Cf. Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, ibid. , S. 364 f.,
S. 945 und passim.
10 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in : ibid. , S. 27.
»unkritisch<<, als einen Rückfall in spekulatives Philosophieren
angesehen hätte.
Obwohl eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Kants
Kritik der reinen Vernunft bei Marx - soweit ich sehe - unter
bleibt, treten seine Gründe für eine grundsätzliche Ablehnung
des Kantischen Denkansatzes etwa in der Deutschen Ideologie
ziemlich klar hervor. Menschliche Wissenschaft - und es gibt
keine andere - ist nach Marx eine spezifische und arbeitsteilig
abgesonderte Tätigkeitsform der wirklichen Menschen, das
heißt der Menschen, wie sie materiell und geistig produzieren,
also »wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Will
kür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingun
gen tätig sind<< . 1 1 Das Denken, auch das in wissenschaftlichen
Formen sich bewegende Denken, ist ein Moment des prakti
schen, gesellschaftlich-individuellen Lebensprozesses der Men
schen. Soll eine Untersuchung der Denkformen, einschließlich
des Begründungsproblems der Wissenschaft, nicht abstrakt (im
Marxschen Sinn), spekulativ, >>ideologisch<< sein, so muß sie
von vornherein diesen Momentcharakter des menschlichen Be
wußtseins und Denkens innerhalb des praktisch-historischen
Lebensprozesses berücksichtigen. Da die Kantische Fragestel
lung dies nicht tut, ist sie als spekulativ und »ideologisch<< zu
verwerfen.
Die Analyse und gedankliche Reproduktion des wirklichen Le
bensprozesses der Menschen in der Epoche der bürgerlichen Ge
sellschaft ist für Marx zugleich die Grundlage der Analyse und
Kritik der Formen des zur kapitalistischen Ära gehörenden
wissenschaftlichen Denkens, die Grundlage des rechten Ver
ständnisses des hier herrschenden Typs von Rationalität. In
diesem Sinn ist Marxens Auffassung des Problems der Grund
legung von Wissenschaft eine Negation und prinzipielle Auf
gabe des Kantischen Ansatzes. Versuchen wir nun zu skizzieren,
worin sie trotzdem eine Anknüpfung an einige Grundmotive
der deutschen Transzendentalphilosophie darstellt, worin sie
diese fortentwickelt.
Indem Marx in seiner ersten These über Feuerbach seine Auf
fassung der Wirklichkeit von der Feuerbachschen· abhebt, for
muliert er seine Differenz von der Transzendentalphilosophie
und gleichzeitig seine Anerkennung ihres theoretischen Bei
u Ibid., S. 2 5 .
79
trags. Der Hauptmangel des bisherigen Materialismus beruht
nach Marx darauf, >>daß der Gegenstand, die Wirklichkeit,
Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschau
ung gefaßt wird ; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit,
Praxis ; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Ge
gensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der na
türlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt
entwickelt« . 1 2
Will Marx sagen, der Gegenstand, die Wirklichkeit müsse nicht
nur unter der Form des Objekts und der Anschauung, sondern
auch als menschliche Tätigkeit, Praxis aufgefaßt werden (wo
bei dann allerdings weitere Fragen entstehen, etwa, wie dieses
>>Nicht-nur-sondern-auch« aufzufassen wäre) ? Oder soll Mar
xens Kritik des Feuerbachsehen und alles bisherigen Materialis
mus bedeuten, die Wirklichkeit sei ausschließlich als mensch
liche Tätigkeit aufzufassen, wobei keine Wirklichkeit existierte,
die unter der Form des Objekts aufgefaßt werden könnte? Ich
halte die erste Interpretation für den richtigen Ausgangs
punkt.
Die Belege' 3, die ich hier selbstverständlich nicht ausführlich
anführen kann, scheinen mir zu beweisen, daß die erste Feuer
bach-These nicht im Sinn einer Reduktion aller Wirklichkeit
auf die praktisch-menschliche Tätigkeit zu interpretieren ist,
wie zum Beispiel der junge Lukacs in seinem einflußrei
chen Werk Geschichte und Klassenbewußtsein anzunehmen
scheint.'4
Vom Standpunkt des >>praktischen« Materialismus erscheint
Marx die traditionelle Kontraposition von Bewußtsein und
Gegenstand, von Denken und Sein vereinfachend und abstrakt.
(»Abstrakt<< zunächst in der Bedeutung des Feuerbachsehen Be
griffs des Abstrakten, das heißt »losgelöst vom wirklichen
Menschen « . Marx ersetzt freilich die Feuerbachsehe >>ideologi
sche<< Auffassung des Menschen durch seine eigene ; dann hat
die Antithese »abstrakt-konkret« einen anderen Sinn als bei
Feuerbach. Auch dieser ist für Marx noch abstrakt in allen sei
nen philosophischen Konzeptionen, sofern ihm nämlich eine ge-
u Ibid., S. 5 .
1 3 Cf. etwa ibid., S. 379 oder S. 447, ferner S. 4 5 2 f. und passim.
1 4 Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1 9 2 3 , S. 2 8 ,
S. 1 60 u n d passim.
So
schichtlieh-praktische Auffassung von Mensch und Wirklichkeit
fehlt.)
Das Denken ist allemal ein Moment des Seins' s , wobei unter
»Sein<< die »praktische« Konzeption der Wirklichkeit ver
standen wird. Auf Grund eines derart aufgefaßten Seins
unterscheidet Marx bei der Analyse der gesellschaftlichen
Wirklichkeit, die er vor sich hat, verschiedene Formen der
Gegenständlichkeit:
I. Diejenige, die von Menschen geschaffen wird, durch das Zu
sammenwirken vieler Individuen entsteht und je nach den ver
schiedenen sozialen Bedingungen a) entweder gegen die tätigen
Individuen als fremde Macht in Form einer äußeren Notwen
digkeit auftritt, oder b) nicht diesen Charakter einer entfrem
deten Gegenständlichkeit hat, ein Moment bewußter Selbstver
wirklichung der Menschen ist ;
2.. die Gegenständlichkeit, deren Existenz nicht durch die Tä
8!
Marx - den historischen Boden verlassen und befänden uns
wieder im Bann der Ideologie.'7 »An sich, losgelöst von der
wirklichen Geschichte, haben diese Abstraktionen überhaupt
keinen Wert.« 1 s Werden sie aber als geschichtlich vollzogene
Abstraktionen aufgefaßt, so haben sie, was Marx insbesondere
in der Polemik gegen Stirner zu beweisen sucht, große philoso
phische und methodologische Bedeutung. Sie sind ein Moment
des wirklichen Wissens, unerläßlich für das »Begreifen der Pra
xis« und damit auch für die wirklich revolutionäre, die >>Um
wälzende<< Praxis.
Eine ausführlichere Interpretation des problemgeschichtlichen
Zusammenhangs des Marxschen WissenschaA:sbegriffs mit der
Behandlung der >>tätigen Seite<< im deutschen Idealismus müßte
von Kants >>transzendentaler Deduktion der reinen Verstan
desbegriffe<< ausgehen, bei der die Erfahrung und Erfahrungs
realität im wesentlichen als Verstandeshandlung und deren
Produkt, also unter der Form eines Tuns aufgefaßt wird. Man
müßte verfolgen, wie Fichte den Ansatz des Karrtischen Tran
szendentalismus durch die Liquidation des »Dinges an sich<<
radikalisiert und den Weg zur Dialektik der Subjekt-Objekt
Beziehung, damit zu einer Theorie des Seins als eines Produ
zierens freimacht ; wie SeheHing die Karrtische Idee eines >>intel
lectus archetypus<< fortführt und den Transzendentalismus um
die gesellschaA:lich-historische Dimension bereichert ; wie Hegel
bemüht ist, mit der Lehre von der Selbstproduktion des Geistes
auf der Basis des Transzendentalismus eine konsequentere
Theorie der Gesamterfahrung und zugleich der Freiheit zu ge
ben, als es Kant, Fichte und SeheHing vermochten. An die
Hegeische Philosophie der Selbsterzeugung des Geistes knüpf!:
Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten an bei
seiner Diskussion der philosophischen Voraussetzungen seiner
Kritik der politischen Ökonomie und seines damaligen, von
Feuerbach inspirierten Kommunismus. Die Selbstproduktion
des philosophischen Selbstbewußtseins, wie Hegels Phänome
nologie sie schildert, wird als spekulativer Ausdruck des ge
schichtlichen Prozesses der Selbsterzeugung des Menschen er
klärt ; diese Konzeption wird dann in der Deutschen Ideologie
17 »Ideologie• in der von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie
verwandten Bedeutung. Cf. ibid., S. zs f., S. 461 , S. 466 ff.
I 8 Ibid. , s. Z7 0
82
nach Ausschaltung der eschatologischen und >>ideologischen<<
Elemente Feuerbach-Regelseher Provenienz kritisch zu einer
>>praktischen<< Auffassung der Wirklichkeit im Sinn des >>neuen
Materialismus<< fortgebildet.
Eine grundlegende Rolle für den von Marx in den Thesen über
Feuerbach und in der Deutschen Ideologie erreichten philoso
phischen Standpunkt spielt also weder die Frage der Beziehung
von >>Substanz« und >>Subjekt<<, noch der Begriff »Mensch
überhaupt<<, noch der einer »Materie überhaupt<< 1 9, noch sonst
ein Prinzip im Sinn der alten Ontologie, sondern die »prak
tische<< Auffassung von Wirklichkeit und Wahrheit. Den Platz
der alten, vorkritischen Ontologie nimmt die niemals abge
schlossene, mit der Entwicklung der menschlichen materiell
geistigen Praxis stets von neuem sich ergebende Untersuchung
und Klärung der »Onto-praxeo-logischen<< Problematik ein, je
ner also, die bruchstückhaft und embryonal in den Thesen über
Feuerbach skizziert ist. Insofern kann man in Marxens »prak
tischer« Auffassung der Wirklichkeit eine neue Antwort
respektive den Keim neuer Antworten auf jene Fragen sehen,
welche die traditionelle Ontologie und auch die deutsche Tran
szendentalphilosophie gestellt hatten. Es ist dies eine Antwort,
welche die Destruktion der vorkantischen, »dogmatischen«
Ontologie in wesentlichen Punkten voraussetzt und akzeptiert
und auf einem durch die neuzeitliche Transzendentalphiloso
phie vorbereiteten Boden entsteht.
Der »onto-praxeologische<< Standpunkt Marxens knüpft darin
an das Denkmotiv des Kamischen Transzendentalismus an,
daß Marx, wie vor ihm Kant, die Gegenständlichkeit, die
Wirklichkeit nicht als etwas einfach Gegebenes auffaßt, was
vom Menschen unmittelbar, bloß rezeptiv angeeignet und er
kannt werden kann. Beide Denker fragen nach der mensch
lichen Vermittlung der Wirklichkeit und Wahrheit. Es besteht
selbstverständlich ein großer Unterschied darin, wie Kant und
Marx diese Frage beantworten. Der praktische und geschicht
liche Materialismus Marxens hat neue Dimensionen : der pro
blemgeschichtliche Zusammenhang mit der deutschen Tran
szendentalphilosophie bleibt aber wesentlich.
Aus dem Bereich der onto-praxeologischen Untersuchungen
möchte ich zum Schluß noch ein Problem berühren, das mit der
19 lbid., S. 81 ff.
Frage der allgemeinen Gültigkeit der in der Marxschen Kritik
der bürgerlichen Ökonomie angewandten strukturell-geneti
schen Analyse, mit ihrem Grundbegriff der >>konkreten Totali
tät«, mit ihrem notwendigen Fortschreiten vom Abstrakten
zum Konkreten zusammenhängt. Marx bindet seine Methode
1 . an den untersuchten Stoff ; 2. an die Entwicklungsstufe der
gegebenen Wissenschaft (das heißt der Erforschung des gegebe
nen Stoffs) ; 3· an die Entwicklungsstufe des untersuchten
Gegenstands. Schon daraus folgt, daß man das Verfahren der
Analyse, wie es in der dialektisch-materialistischen Kritik der
bürgerlichen Ökonomie vorliegt, keineswegs als fertiges Schema
verwenden kann und daß alle Versuche, die im Kapital vor
kommenden Denkformen zu verabsolutieren und in verallge
meinerter Form als System einer »dialektischen Logik« zu
fixieren, mißlingen müssen. Wenn der Wissenschaftsbegriff des
»praktischen« Materialismus eine Enthüllung der »spezifischen
Logik des spezifischen Gegenstandes« fordert, dann sind damit
radikal alle Versuche abgelehnt, aus einer vor hundert Jahren
durchgeführten Analyse eines historisch-konkreten Gegen
stands eine fertige dialektische Methodologie zu abstrahieren
- Versuche also, die marxistische Dialektik im Geiste Lassalles
um- und mißzudeuten. Dadurch wird allerdings zugleich ein
ganzes Gebiet bis jetzt wenig bearbeiteter Probleme eröffnet,
derjenigen, die sozusagen auf einer zweiten Allgemeinheits
ebene liegen ; so die Frage, wie diese Konkretheit und Verän
derlichkeit verstanden werden soll, wie der Übergang von den
traditionell-logischen Denkschritten zu den dialektischen, wie
das jeweilige Eingehen analytisch gewonnener Begriffe ins
Ganze der dialektischen Untersuchung aufzufassen ist.
Der Begriff des >>logischen Typus wissenschaftlichen Denkens <<
setzt, sofern er mit Rücksicht auf die vormarxistischen Ent
wicklungsstufen der menschlichen Erkenntnis gebraucht wird,
eine gewisse Stabilität der kategorialen und allgemein-metho
dologischen Konzeptionen voraus. Infolge seiner Konkretheit
und seines »praktischen« Charakters kennt der dialektische
Materialismus jedoch nicht jene Stabilität der Konzeptionen,
durch die sich etwa der Galileische oder Lockesche Denktypus
auszeichnete. Ein stabiles Element (und eine neue, relative Sta
bilität der zweiten Ebene) ist, im Gegenteil, die ständig neu
entstehende Notwendigkeit, die relative Stabilität der ersten
Ebene in der Entwicklung des Marxismus (als Moment der Ge
sellschaftsentwicklung) zu überwinden.
Der Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus in sei
ner ersten Entwicklungsphase, das heißt in der Marxschen Kri
tik der bürgerlichen Ökonomie, Politik und Philosophie, ist
wesentlich an diejenigen Formen des praktischen Lebenspro
zesses der Menschen gebunden, welche durch Versachlichung
der Personen und Versubjektivierung der Sachen gekennzeich
net sind. Unter Teilnahme der heute lebenden Generation
scheint diese Grundstruktur des praktischen Lebens in Bewe
gung geraten zu sein, insbesondere irrfolge der bisherigen Re
sultate der revolutionären Arbeiterbewegung und der fort
schreitenden technisch-wissenschaftlichen Revolution. Sehen
wir in diesen Umwälzungen eine Tendenz, neue Lebensformen
durchzusetzen, unter denen nicht mehr die abstrakte Arbeit
und verselbständigte Bewegung der Wertverhältnisse, sondern
>>die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums [ . . . ] als
der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums « 1 0
erscheinen wird, dann muß diese Ansicht weitreichende Folgen
für den Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus
der Gegenwart haben. Es gilt, die Auffassung des Logischen
und der Rationalität entsprechend der neuen Phase der prak
tisch-theoretischen Kritik der bürgerlichen Epoche auszuarbei
ten - und damit den Marxschen Wissenschaftsbegriff kritisch
weiterzuentwickeln.
Es läßt sich bezweifeln, ob man dieser Aufgabe mit Konzep
tionen gerecht wird, die zwar auf der Oberfläche radikal kri
tisch aussehen, im Grunde aber bloß den durch die Stalinsche
Interpretation naturalistisch vereinfachten Marxismus-Leninis
mus umkehren. Wenn etwa der Heidegger-Marxismus die Um
kehrung von Subjekt und Objekt im Kopfe »korrigiert«
und der menschlichen Subjektivität den Vorrang gibt, so
äußert er letztlich nur einen romantischen Protest gegen die
Versachlichung der Personen und bewegt sich im wesentlichen
innerhalb der Polaritäten und Grenzen derjenigen Denkfor
men, die der mit den kapitalistischen Wertverhältnissen ver
bundenen Umkehrung von Subjekt und Objekt eigen sind.
Diese Fragen bedürfen natürlich einer besonderen Untersu
chung und Interpretation. Wir waren bemüht, hinsichtlich die
zo Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, ibid., S. 593 ·
ser offenen Probleme des gegenwärtigen Marxismus einen Blick
zurückzuwerfen auf den Zeitabschnitt, in dem der Wissen
schaftsbegriff des dialektischen Materialismus entstand, um
einige seiner Aspekte hervorzuheben, die uns wichtig erschei
nen für die Lösung seiner theoretischen Aufgaben in der
Gegenwart.
E. W. Iljenkow
Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten
im >Kapital< von Marx
baus selbst.
-:Bi; einzelnen abstrakten B_estimmungen, deren Synthese das
»Gedankenkonkretum<< lief�r.S bilden sich im Verlaufe eben
dieses Prozesses erst heraus. Daher ist der theoretische Prozeß,
der zur konkreten ErkenntlJ5"" flihrt;--z.t;-greJ.Chäüch äuf jeder
seiner Etappen wie in seiner Totalität ein Prozeß der Reduk
tion des Konkreten aufs Abstrakte. Man kann auch sagen, daß
..4.�� -�.lli�!.�i.ge.p. vom Konkreten zum Abstrakten auf der einen
- ��it_l:! .\111� d��.All.f��!!ize.l:! OY.!?m .A�.m:i!!Hm.m Ko nkmen aufl
_4e.r2.!14�ren zwei Formen sind_._.die sich.JWm...t�Qretischen An : -
.,eignungsprozeß der Welt im >>abstrakten Denk��- we!h��tsei
!iK. imPli��,. Eine jede realisiert sich nur vermit�-�.J!lres
Gegenteils, in der Einheit mit ihm. Der Aufstieg vom Abstrak
ten zum Konkreten würde sich ohne sein Gegenteil, den Auf
stieg vom Konkreten zum Abstrakten, in ein rein scholastisches
Zusammenfügen magerer Abstraktionen verwandeln, die, fer
tig vorliegend, von irgendwoher aufgenommen werden. Um
gekehrt kann eine Reduktion des Konkreten aufs Abstrakte,
die auf gut Glück erfolgt, ohne eine allgemeine Idee klar kon
zipierter Forschung, ohne Hypothese, ebensowenig eine Theo
rie liefern und wird es auch nicht. Höchstens einen ungeordne
ten Haufen kahler Abstraktionen.
Warum aber macht Marx, der all das berücksichtigt, gerade
aus derjenigen Methode, die darin besteht, >>vom Abstrakten
zum Konkreten aufzusteigen«, die einzig wissenschaftlich mög
liche und richtige Methode der theoretischen (widerspiegeln
den) Aneignung der Welt? peshalb, weil die Dialektik (im
Gegensatz z;um EklduiW��m .P.J:iigi,p_��il! et?
��Jis®iw,._.�n.9�mJ�1s m.e _pJ:g!m!!l�mi!<.. ..
..
__
95
kenntnis effektiv vorangebracht haben. Bei seiner endgültigen
Richtigstellung der Tatsachen für den Druck hat Marx nicht
die zahlreichen Um- und Nebenwege des Hauptthemas wieder
holt, wie sie bei der Arbeit eines jeden Gelehrten unvermeid
lich sind. Im Laufe wirklicher Untersuchungen werden oft Tat
sachen geprüft, die keine unmittelbare Beziehung zum Gegen
stand haben : letztlich kann nur ihre Analyse ergeben, ob sie
sich auf den Gegenstand beziehen oder nicht. Oberdies muß
der Theoretiker in jedem Augenblick zum Studium von Tat
sachen zurückkehren, die bereits gründlich studiert zu sein
schienen. � Fon>chun� folgt keinem systematischen Ablauf_;
�Jiex�gung ist komplex, schlecht überschaubar und schreitet
f.llrt. irul.em .sie.�UYiiick�w ol;>�L!:§ hä.!!fi&...�. ':! ..
Abw�ffi �.!!�l)..!lYÜÜl��Ü�:W.�..k2.mmt.
Die endgülti�e Darstellung'reproduziert nicht alle diese Etap
pen, auf Grund deren der Forschungsprozeß unter seinem
wahrhaften Aspekt erscheint, gereinigt von Zufälligem und
Abschweifungen. Sie !§.LgJ�i.sh.�am ;�edressiert« und offenbart
Q�.!L�E.e!e.�ter:_.�j;_�..�!:!.W,�gli.!!K.�S!.C:!Q��-is�.�-.E<:>.rtsc4rei��2._im
Ei n_k1.�!1K... mit 9.c:m�W..§�_l.d�
.. l.nSL L».�:w.�g.Y.PU.�L. T.a.ti<l.<;h�1J..
selbst. Das Denken geht jetzt nicht mehr von der Analyse einer
Tat-;;che zu der einer anderen über, ehe es sie wirklich erschöp
fend oehandelt hat ; es braucht deshalb nicht mehr stets aufs
neue auf dieselbe Sache zurückzukommen, um zu vollenden,
was unerledigt geblieben war.
Daher ist die >>:Q.arstellun�sweise« <!.äh.kiJals...J!�fh.t.<i .L:m �res_
als s.ei�.JC::<!.�!iJ�. !K§.� ::: .JC>r rigit;!L!l�J �Ul�ii.rli_ffi, _�n:
dex..!l. strikt ...!le.�.A�.!l XQm fC>r.sch,ung�pJ:Q.�ß_!\�.llls.t .9.iJgj_c:x.t�lJ.
...
..
i.s t,
Versucht man also, die_forsch\l_ng�IUeth<?���-J4�� nicht
nach dem Kapital zu rekonstruieren, sondern nach der Masse
von Entwürfen und Skizzen, wie sie in seinen Archiven erhal
ten sind, so wird das die Arbeit nur komplizieren. !lm §.i.� . ..
Abstra�!�<?PJnanifestieLLJ . . . ]
fb.Y�.,�.J�,ti;,,�,,.,J�"����mm."'� P
senschaftlieh-theoretischen Forschung verschmelzen zu einem
einheitlichen Prozeß. Jeder von ihnen ist ohne den anderen
nicht denkbar oder möglich. Wie die kritische Analyse der Be
griffe unm�wenn manSleVönaerÄ.naTyse .cter. Tat-
........ ----- --�-�-----· ., ...� - - - .. . �.��... . . . �·· . ..� ._ " .
1 02
sachen abl�.Anal�� Tatsachen
uiimogtiöi, wenn man nicht über Begriffe_ -y,erßig,h QJlEffi.s!ie sie
�usgedrückt ·weraen· köniien: i5leaiaTeliische�k von Marx
trägt der Wichtigkeit dieses Umstands";C,H.Rechnung. Aus die
sem nämlichen Grund vollzieht die Dialektik die bewußte und
gewollte Koinzidenz des Moments der Induktion und des der
Deduktion:Oelae"sinci un:ZerfteniiliChe -Momeiite' Jir-·unter:
süchung 'und implizieren einander.
Die alte Logik verstand mehr oder weniger folgerichtig unter
>>Indukti�m« die Ana!r�_e.A.�muziri;sbe�r./zgJ11 den Pro
zeR, in �alytische Bestimmungen einer Tatsache zu
standekommen. Deshalb erschien die Induktion, wenn nicht als
einziges, so doch fundamentales Mittel, zu einer neuen Er
kenntnis vorzustoßen. Was die Deduktion angeht, so wurde
sie wesentlich als Prozeß der An�.'A�.sELff.�J:t<:!.G.Iiltet,
dessen immanente DistmK"i:1oneri1ierausgearbeitet werden. In
sofern erschien sie vor allem als Vorgang und Form der Expli
kation, der Darstell!l_ng_ einer bereits abgeschlossenen, im Kopf
vorhandenen Erkenntnis, keineswegs aber als Art, neue Er
kenntnisse, neue Begriffe hervorzubringen. !?St�<h.{soweit
er die Tatsachen wirklich durchdenkt) .�\1-lX��tUli�._emp.U;i�
sehen Tatsachen nicht mit .e�nem »leereiJ.� lk.JVI.lß�t:il,l��n.dl:,.r,n,
m1t iiriem �urch g���leh.2�9,��I�ick�h��•.Pas heißt, .er tritt aJ,l
die Tatsachen aifemaruriter ctem Jjii�winkel cliese�,Qd�t jw.e�
:SegrlffS hera:n·. - ot> er- W:ill oder nidit; nur so k�nn er aktiv
den'ken.;·'ale''!a't's a chen erfassen ; andernfalls könnte er sie höch
stens aktiv konstatieren.
Schon in der einfachsten Verallgemeinerung sind Induktion
und Deduktion unauflöslich miteinander verknüpft : der
Mensch drückt die Tatsachen in Begriffen aus, was bedeutet,
daß jede 'neue a��Iyfif<:li�lJellriitJ§jüf�ThtsaP��:��_al s·
"
_neue; K.oi}Kre.tere BestimrouQ.K cle�.J3egriffs entsteht, unter d�s-1
sen Gesichtspunkt er die Tatsachen''·<tefik.t. !mumge'ketlrten
FäliDltaetSiCliK'elnerTei-·a:ria1ytisdle Bestimmu ng der Tatsache
heraus.
Wer glaubt, die Tatsachen >>absolut ohne vorgefaßte Idee«
auszudrücken, ohne irgendeinen >>von vornherein zugelasse
nen« Begriff, ist von diesem keineswegs frei. Im Gegenteil, er
ist unvermeidlich der Sklave der vulgärsten und absurdesten
B-egriffe. Auch hier besteht die Freiheit nicht darin, der Not-
IOJ
wendigkeit zu entgehen, sondern darin, sich ihr bewußt anzu
passen. Wirkliche Absenz von Vorurteilen bedeutet nicht, daß
man dieT�ts;�h�;:}''olirie d�'ii' mindesten »VOn vomherein zuge-
t ausdrückt
y:::!:f ���� �i�;�t ��r,:��;;:!, ���ri�:.
es � �r & r
Das hat Engels bei se1nerl<ri!ik des Empirismus großartig ge
zeigt hinsichtlich der philosophischen Kategorien. Der Wissen
schaftler, der sich seiner ••Freiheit<< gegenüber jeder logischen
Kategorie rühmt, ist in der Regel der Gefangene der vulgär
sten Vorstellungen über ihren Gegenstand. Er ist außerstande,
sie von sich aus hervorzubringen, >>indem er von den Tatsachen
ausgeht<< ; das hieße nämlich, ganz allein realisieren zu wollen,
was die Menschheit nur in ihrer ganzen Evolution leisten kann.
Deshalb entlehnt er faktisch die logischen Kategorien stets
einer Philosophie : einem schlechten Modesystem oder einem
System, das wirklich die letzte Stufe der Entwicklung reprä
sentiert und auf der ganzen Geschichte der Forschungen und
Errungenschaften des menschlichen Denkens beruht.
Das gilt natürlich nicht nur von den philosophischen Begriffen,
sondern von den Kategorien einer jeden Wissenschaft. Der
Mensch beginnt niemals zu denken, indem er >>VOm Anfang<<,
unmittelbar von den Tatsachen ausgeht. Ohne Gedanken im
Kopf nimmt man keine Tatsache wahr, sagte Pawlow :)2i�,
>>Anschauung<< ohne Bedeutung und die » Induktion<< ohne Idee
.
•
slnTe'bensoliktiv";iedäs'"':�rein;i5��'k��;,15i;"E;;;PI;:Srer1-;die
"'v orgeöen-;-aner;;· ;;i·t" a;;:; Ta!sa<nen-zu· ·aenken, hantieren in
Wirklichkeit stets »vorzugsweise mit überkommenen Vorstel
lungen, mit größtenteils veralteten Produkten des Denkens
ihrer Vorgänger [ . . . ] << . 8 Deshalb verwechseln sie leicht die
Abstraktion mit der Wirklichkeit, die subjektiven Illusionen
mit objektiven Tatsachen und die Begriffe, die sie ausdrücken,
mit Abstraktionen. Im Regelfall konkretisieren sie unter der
Form faktenmäßiger Bestimmungen gängige Abstraktionen.
rDi�,.-��mJ2iri.�c/le . Induktion<< vollzieht sich infolgedessen . als
1"'�<2-�eß der Konkr�tisieruiig; dei Darsteilung de� Begi{ffe, init
dene;""ffi�"rnim"fnt;"ille TatsaChen ZU untersuche�, das
netßfafS"!Jeäu'lttioll,ais'l'rozeirder Veri.nhaltlichung 'd er Aus
garlg5beg?iffe <furel1-n:f� fi·;.r ·B�stimmungen, die auf der Basis
.
-Vüii ThtSacben durch Absi:raki:ion gewonnen wurden.
s ·· En�;i�:·'fj;�i:r:it"?t;
i ;·'f·fa(<;;;; ß�;li� ;9·5 �.·s. �·4 2. •
1 04
Q�l!1e$JaJi�tit<:h��.!!ie L�!g�l!..!lllsJ;?.w.w.��
!.!: du�;_i.<ziJ.l!!1.4....P.�.2!;i�!ion >> �t;!_f�h� D��:dukt� t
aur, em Vorgang form;re;:-Extraktion von Ji�.�tun..iil!l li �_!..u
sem;-dle'�przorz'1ri einem Begriff enthaft·e;;. sind, u1,1d wird ZU
einem Vorgang der wirkliclieri En-twicklung von E�ke�ntni'�en
über .die Tatsachen in ihrer Bewegung und 1nnen;� \v�d;sei
�i�kung .. Diese Deduktion bi�gt_ in .�i_<;lt -��s��mri.�i���..2,.,mel!!.i. .
's1e �esclueht gerade durm strellgste. :t\n<l:h:�.�- ��� n;ctJ:en
Tatsachen, durcl! Induktion. Hier drücken die Bezel�un
·g eri » Induktion« un<f;;bedi.ik.tion << eine bloß formale Ahnlim
keit der Methode der ��!��.Diilik.Q.� und der ent
sprecl!enden Methoden der traditionellen Logik aus. Jene ist
weder Induktion nocl! Deduktion, sondern etwas anderes, das
heide alS- ,;aüTge!iot>enes MOment<< eniliärt. Sie erflilie� · ;,�eh zÜ
.gieldl .äis .Gegensätie, die einander i�p fizieren und gerade da
durcl! eine höhere Form logiscl!er Entwicklung herbeiführen.
Diese höhere Form, welcl!e die Analyse der Tatsamen orga
ruscti m1t.. oerA.narse
..--- ··--Y.. 'der . ':Be·Kri1fe ver15inoet;'i5t"<tie-Forin oes
- Obergangs vom Abstrakten zum Konkreten, von dem Marx
. . . . ..... ........ .. _•., ,..". . . .. . ,.. ·-- -···�·- · .
-
105
Um diese Ansicht zu stützen, führt man zuweilen die Entwick
lung der Wissenschaft im siebzehnten und achtzehnten Jahr
hundert an. Das aber heißt die Tatsachen unfreiwillig verge
waltigen. Selbst wenn man zugibt, daß der analytische Zugang
zu den Tatsachen kennzeichnend für diese Periode ist (wenn
man sich auch trotz der Illusionen der Theoretiker der Syn
these gewidmet hat), so ist dennoch nicht zu vergessen, daß es
sich hier nicht um die erste Stufe der wissenschaftlichen Ent
wicklung der Menschheit handelt und ._4�ß _<!ie.Jiir diesen Zeit
_
x o6
ernde Bewegung vom Konkreten in der Ansd:!aul.!n�pJ,nd.V:or
stellung zum Konkreten' im Begriff. Die abstrakten Bestim
mungen der sinnlich gegebefleh T,:�;�'ijCJi�:i\l:ni� Syst�ili
syiitneslert werdeii;-wenii man -zur konkreten Wahrb�jt, al,lf:
steigt, bilden sich während der Bewegung selbst heraus. Kei
nesfalls findet man sie als fettige Produkte einer frliheren, so
zusagen rein analytischen Stufe der logischen Erkenntnis
vor.
Soll die Behauptung einigermaßen sinnvoll sein, daß man, um
sich vom Abstrakten zum Konkreten zu erheben, nach rein
analytischer Art das empirisch-sinnlich Konkrete auf einen
wesentlich abstrakten Ausdruck bringen muß, der als voran
gehende, besondere Phase der logischen Tätigkeit in der Zeit
zu gelten hat, dann insofern, als die theoretische Untersuchung
der Realität das Vorhandensein eines entwickelten Vokabulars
voraussetzt, einer spontan konstituierten Terminologie, eines
Systems abstrakt-allgemeiner Vorstellungen. Dieses »rein ana-:,
lytische Stadium« der Reflexion der objektiVen-Wi'rldidikeft
, im Bewußtsein ist nur die Prämisse der ,
theoret�sch-l<;:>g!sshen
'Tätigkeit - nicht ihre erste Phase.
Wir können somit zusammenfassen : die Metlw.d�, ,!:le,s<,AJ,Jfstei
gens vom Abstrakten, z yrn J�9nkr.e.tei:i" '1�t_eine sp,e.�ifj,$�,F,QEm
der Perk�ätigkeit u11� logischen Verarbeitung, d7r-�-!l�sh�
und Vorstelli.ing'z� Begriffen. l{eineswegs 'isfsie'' e�n künstliches
Verfahren, eine Darstellungsweise fertiger Erkenntnisse oder
ein formales Mittel, bereits bestehende Abstraktionen zu sy
stematisieren. Sie ist vielmehr das »natürliche« Gesetz der
th�2�ti_§_�ick.lygg 9er:Jvtensclilieit; Jas von ,der ,r•
_
ro8
lung gegebenen Objekts zu stets konkreter werdenden Bestim
mungen sich erhebende Methode die theoretisch richtige Form
dar, empirische Tatsachen in Begriffe zu überführen. So sieht
Marx die Dinge in seiner Einleitung zur Kritik der politischen
Ökonomie und Lenin in seinen Bemerkungen zu den letzten
Kapiteln der Hegeischen Logik.
Marx hat sich nicht darauf beschränkt, das Gesetz des Auf
steigens vom Abstrakten zum Konkreten allgemein-theoretisch
zu begründen ; er hat es beim Ausarbeiten einer konkreten Wis
senschaft auch angewandt : der politischen Ökonomie. Das
Kapital enthält den praktischen, kon!!:,t;�tJ;�!l �ul!4 �e.ntwig(�ltro
_Beweis'der Nötwe!J.digke,ifdieser)A�th_od.e! .�� ze ! ��Jh.�e !':}r�
liche, ma terialistislite, Jla,üs. �Js die einer Methode, welCfie (t�r
�
I IO
und Dialektik: eine zunächst rein logisch erscheinende Frage
erweist sich letztlich als die nach den universellen Fpp:ii�fi;jn
denen das Konkret-ObjektiveWird und siCh entwickelt.
_
I I2
dessen zu entdecken, was extstlert, sowie darauf, den Inhalt
der Kategorien ans Licht zu bringen. Marx hat bekanntlich
das Hegeische System universeller Kategorien nicht so einer
kritischen Analyse unterzogen, daß er diese Kategorien mit
dem verglich, was die Menschheit mit dem Atomkern verbin
det und diesen oder jene mit der Struktur des Weltalls . ..R11ß
�
� �-<;l:� -��!l:.P! ��2E�-�1�&2.�ien.. ."":u:4 e�..<ll!fg:.�hs>�.. �!l. ...w���en_i.
liCn. aurch seine kritisme Konfrontation mit einem - freili ..:u.
.
• .•
wiekl���s��u f�n·. b�ä� ·ist: Cfer wirkliChe Weg, -der..s"'i:ets -cfie · Ä�f:·
fassung vom Inhalt der allgemeinen Kategorien weitergebracht
hat.
��P..E2b.L�11.1 der . theor(!tisch.en . Analyse ..de�
Allgemeinen lä,Ufl;
Wirklichkeit immer auf die Analyse des Einmaligen unterm
__
:!}le,??!e·�en�
genenae Stud1um d1eses emzelnen. Tatl>estands stutzte.
Daoei'ließ"' er ;ich da�'oii· r;it��;··diifdi� �Ifge.meiiien Gesetze
der kapitalistischen Entwi�lung für alle Länder dieselben
sind und daß England, das auf dem Weg der kapitalistischen
Entwicklung am weitesten gegangen war, alle Phänomene am
reinsten darbot. Was in anderen Ländern als schwache Andeu
tung vorlag, die zu artikulieren schwer ist, entweder als Ten
denz, die sich noch nicht völlig manifestiert hatte, oder die
durch äußere, zufällige Umstände verdeckt und kompliziert
wurde, war in England in geradezu klassischer Reinheit ent
wickelt. Marx ist auf gewisse Züge der kapitalistischen Ent
wicklung nur in ganz bestimmten Fällen eingegangen (so be
ruft er sich auf zahlreiche Aspekte der ökonomischen Entwick
lung der russischen Landwirtschaft bei seiner Analyse der
Bodenrente) .
Von denselben Erwägungen muß fraglos ausgehen, wer die
Frage der Kategorien der Dialektik aufwirft. In der Tat ist es
die kapitalistische Warenwelt, die sich uns in der theoretischen
Entwicklung des Kapitals und anderer, benachbarter Werke
(von Marx selbst und seinen besten Schülern und Nachfolgern,
vor allem Engels und Lenin) als das entwickeltste Bild des hi
storisch Konkreten darbietet. Außerdem bleibt das Kapital ein
unübertroffenes Modell bewti"ßter An�endung der dialekti-
5��11-. Meilioae; der dialel{tischen.· ·Logik im ganzen Reichtum
I�res Inhalts. Es zeigt zahlreichen Wissenschaften ihr eigenes
· M-orgen und enthält alle methodischen Gesichtspunkte, die in
anderen Wissenschaften noch nicht ebenso folgerichtig verwirk
licht sind. Zu bemerken ist ferner, daß die k<:>llS.truktiv,e KritiJ!:.
der voran�ehende11. Tl}.eorj�q, notwendi ges Moment der ge
danklichen Verarbeitung der wissenschaftlichen Probleme einer
Epoche, _ygr_;tuss �!Z.k. d � ßAie _kri# sp e J\ �fl:l:;thll?-� �i �.�-l} e�l),�m
theor�tischen �e!!:.Ii.�Ly_9n ._9�te�_Qu �l�:�.t }l,llt:i an · ?'�t.U:!!t��l}
__
_g�!l §in.d.
Im Fall der ökonomischen Theorie waren die hauptsächlichen
Widersacher, gegen die Marx seine Konzeption der Wirklich
keit ausarbeitete, die Klassiker der politischen Okonomie, nicht
die Vulgärökonomen seiner Zeit oder die Vertreter der >>uni
versitären Verfallsform<< der Theorie. Diese Vertreter waren
nur zeitlich gesehen die Zeitgenossen von Marx, keineswegs
aber vom Gesichtspunkt theoretischen Scharfsinns. Hierin stan
den sie unendlich tiefer als die Klassiker und stellten keine
theoretische Opposition dar, die eines ernsthaften Streits wert
gewesen wäre. Bei der Darlegung seiner Konzeption der Wirk
lichkeit, eine Darlegung, welche die Form einer ernsthaften De
batte mit den Klassikern hat, beschränkt sich Marx darauf,
sich spöttisch von "Theoretikern<< wie Senior, Bastiat, MacCul
loch, Roseher und anderen abzuwenden.
Soweit es um philosophische Kategorien geht, bleibt auch heute
noch die klassische bürgerliche Philosophie der einzige wert
volle Gegner der Philosophie des dialektischen Materialismus,
was - wohlgemerkt - nicht bedeutet, den unerbittlichsten
Kampf gegen die reaktionären zeitgenössischen Systeme von
der Tagesordnung zu streichen, sondern dazu beiträgt, ihre
Leere und ihre Tendenz zu offenbaren, den großen philosophi
schen Fragen ängstlich auszuweichen.
Marx, Engels und Lenin nahmen gegenüber Hege! und Feuer
bach eine völlig andere Haltung ein als gegenüber Schopen
hauer oder Comte, Mach oder Bogdanow. Bei ihrer strengen
Kritik der Spekulationen kleiner Idealisten waren sie niemals
bestrebt, bei ihnen einen >>rationellen Kern<< zu finden. Um die
sophistische Argumentation der Macbisten zu entkräften, führt
sie Lenin vor allem auf den klassischen, klaren und fundamen
talen Ausdruck zurück, welchen die von ihm bekämpfte Posi
tion bei Berkeley und Fichte erreicht hatte. Das ist kein pole-
misches Verfahren, sondern das sicherste Mittel, theoretisch das
Wesen einer Position bloßzulegen. Wenn Lenin andererseits
vor dem Problem steht, den dialektischen Materialismus mög
lichst genau auszuarbeiten, läßt er die Machisten, diese theore
tischen Zeitgenossen Berkeleys, beiseite und kehrt zur kriti
schen Analyse von Hegels Wissenschaft der Logik zurück als
dem wahrhaften Gipfel des bürgerlichen Denkens auf dem Ge
biet einer Konzeption der allgemeinen Bewegungsgesetze der
Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens.
Wir können also zusammenfassen : im Kapital von Marx Uf1d
gilt es, die wahr:
_d}l�-�� A.:l13JY��-- �.�LIJ-��:J.2gi�meri:.Siru ktur�.u,�h�.!l?.
E3.ß:��on��tLG��!!�Jk"r.Methode Z!: ... ? ie si ch, vom
Abstrakten zum Konkreteil erhebt, als der . einzigen · lögischel1
· �ll!�iliiY:P���hgd�:�gr; .wis��"fiscll aftlKh. richtig ist und de�
·
�
- i.e..� �.���.I?i.� L��"ti.� � e��ß!.;..
vas Kapita l verwirkrIcn! syst(;!matisch da� . ?.us��!ll enfallen
von Logik, Erkenntnistheorie und Dialekt1k�.d<l§ d!e Marxsche
Forsehungsmei:hode wesentlich kennzeichnet� es v'erwirklicht
das Zusammenfallen von Induktion und Deduktion, Analyse
und Synthese, das die Methode charakterisiert, die vom Ab
;trakten i'um Konkreten aufsteigt. Wir wollen die Frage zu
' !l�chst ihrem konkret-ökonomischen Ausdruck nach unter
suchen, um dann zu Schlußfolgerungen allgemein-methodolo
gischer Art überzugehen.
Stellen wir folgende Frage : ist es möglich, das objektive We
sen von Erscheinungen wie Mehrwert und Profit theoretisch zu
begreifen (in einem Begriff zu reproduzieren), wenn man nicht
zuvor und unabhängig die Kategorie des Wertes analysiert
hat? Kann man das Geld erfassen, wenn man nicht die Gesetze
kennt, denen die Bewegung des einfachen Marktes gehorcht?
Jeder, der das Kapital gelesen hat und die Problematik der
politischen Okonomie kennt, weiß, daß das eine unlösbare
Aufgabe ist.
Kann man den Begriff (die konkrete Abstraktion) des Kapitals
auf dem Wege rein induktiver Verallgemeinerung abstrakter
Merkmale bilden, die man unter allen verschiedenen Aspekten
des Kapitals beobachtet? Wird diese Abstraktion wissenschaft
lich befriedigen? Die innere Struktur des Kapitals im allge
meinen als spezifische Form der ökonomischen Wirklichkeit
ausdrücken? Es genügt, die Frage so zu stellen, um einzusehen,
1 16
daß die Antwort notwendig negativ ausfallen muß. Wohl
drückt eine solche Abstraktion das Identische an Industrie-,
Bank-, Handels- und Wucherkapital aus. Sicher erspart sie uns
Wiederholungen. Damit aber hört ihr wirklicher wissenschaft
licher Wert auf. Sie drückt das konkrete Wesen keiner dieser
. Kapitalfor �� n ;t'U �.JThe�sowe�;i' re pr��u�ie�t si� d�� 1;.o�k;��e
Wese�Cihi�rJ!:!2:iproken Y.e �b�ndenheit. und Wechselwirkung.
Eben darum ist sie abstrakt. Es ist aber gerade die konkret,�
�:chsei_wirkung, kou�re.ter . Ersch�i�uii&t:.��. qie für die Dialek:..
tik Gegenstand und Ziel_ begriffhellen penkens ausmacht ... Die
·
1 17
lässi g von anderen Erscheinungen zu unterscheiden, um den
Profit »wiederzuerkennen<<. Der kleinste Unternehmer ist da
zu- imstatid�; denn auf Anhieb erkennt er den . Profit des Loh-
nes, .des Geldes und so fort.
-
lich, alle Erörterungen über die innere Natur des Profits, über
das Wesen dieser Erscheinung, die seinem Herzen so teuer ist,
als metaphysische Scholastik, fern der Weisheit des Lebens.
Jeder kann Geld als solches benutzen, ohne zu wissen, was
Geld ist.
Der praktische, auf Nutzen bedachte Verstand ist, wie Marx
zu F. List in einer Fußnote des ersten Kapitels der Schrift Zur
Kritik der politischen Ökonomie bemerkt, dem Begreifen
feindlich und fremd. Einem Unternehmer ist es sogar abträg
lich, zu sehr über die Frage nach der Natur des Profits nach
zudenken. Während er versucht, die Zusammenhänge zu ver
stehen, sind einfallsreichere und praktischere Geschäftsleute da
bei, sich seines Anteils zu bemächtigen. Und ein Geschäftsmann
wird niemals einen realen Profit gegen die Einsicht in das ver
tauschen, was er sein mag.
In der Wissenschaft jedoch, im Denken kommt es gerade auf
das Begreifen, auf die Konzeption an. Die .Wissenschaft, das
,heißt ,l?enken ig ]3egriffen, begi11nt e.rst dort, wo das Bewußt
�ein aufhört, die Vorstellungen vo� den Dingen, die ihm spon
tan geliefert werden, bloß auszudrücken und zu wiederholen ;
wo es sich anstrengt, orie�tiert und kritisch ebenso die Dinge
ZuänalySieren- wie� die Vorstellungen, die es von ihne11 hat.
§e"Erscnein��i""bezrelJertll�ißt' �hre�·. Ort . und ihr�.-�olle i�:
nerliälbaes'Systems der in Wechsefwirkung stehenden Erschei�
__. __
wenn man sie nur als ohne weiteres fertig betrachtet. << 1 3 Zu
gleich aber macht er, um nicht in offenen Konflikt mit der
Lehre von der Weltschöpfung zu geraten, folgenden charak
'3 Descartes, Abhandlung über die Methode, Harnburg 1 9 5 7 , S. 3 8 .
1 20
teristischen Vorbehalt : >>Trotzdem beabsichtigte ich nicht, aus
dem allen zu schließen, daß diese Welt in der von mir ange
gebenen Weise geschaffen worden ist ; denn es ist bei weitem
wahrscheinlicher, daß Gott sie von Anfang an so gemacht hat,
wie sie sein mußte.« 1 4
Descartes ist sich darüber im klaren, daß die von ihm bewußt
angewandte Form der Deduktion sich letztlich einer Entwick
lungskonzeption nähert, einer Lehre des notwendigen Auftre
tens und Ursprungs der Dinge. So stand er einem heiklen
Problem gegenüber : wie läßt die Deduktion sich mit der Auf
fassung vereinbaren, derzufolge das Objekt ewig mit sich
identisch bleibt und - da es einmal von Gott geschaffen wurde
- von nirgendwo herstammt?
Ricardo befand sich in einer ähnlichen Lage. Er verstand sehr
gut, daß allein die Bewegung deduktiven Denkens die Pro
bleme in ihrem inneren Zusammenhang ausdrücken konnte ;
daß man diesen aber nur so erkennen konnte, daß man das
allmähliche Auftreten der verschiedenen Formen des Reich
tums anhand einer ihnen allen gemeinsamen Substanz anvi
sierte, der Waren produzierenden Arbeit. Wie aber ließ sich
dies mit der Auffassung vereinbaren, nach der das bürgerliche
System natürlich und ewig ist und im Grunde weder ent
springen noch sich entwickeln kann? Ricardo versöhnt diese
beiden absolut unvereinbaren Auffassungen, was sich in seiner
Denkmethode und in seiner Art, Abstraktionen zu bilden,
widerspiegeln muß. Wenn der Aufbau der Theorie mit der
Kategorie des Wertes beginnt, um dann zur Untersuchung
anderer Kategorien überzugehen, so läßt sich das dadurch
rechtfertigen, daß die Kategorie des Wertes der allgemeinste
Begriff ist und Profit, Zins, Grundrente, Kapital und alles
weitere impliziert ; sie ist ein gattungsmäßiges Abstraktum aus
all diesen realen, besonderen und einzelnen Phänomenen.
Die Denkbewegung, die von einer abstrakt-allgemeinen Kate
gorie zum Ausdruck der Besonderheiten wirklicher Erschei
nungen führt, stellt sich damit als eine Bewegung dar, die sich
ausschließlich im Denken und nicht in der Wirklichkeit ab
spielt. In dieser existieren alle Kategorien - Profit, Kapital,
Rente, Lohn, Geld etc. - gleichzeitig nebeneinander, und die
Kategorie des Wertes drückt das ihnen Gemeinsame aus. Der
14 Ibid.
I2I
Wert existiert real nur im abstrahierenden Kopfe, als Reflex
dessen, was die Ware mit dem Geld, dem Profit, der Rente,
dem Lohn, dem Kapital etc. gemeinsam hat. Der Wert ist der
gattungsmäßige Begriff, der alle besonderen Kategorien um
faßt.
So dachte Ricardo im Geist der nominalistischen Logik seiner
Zeit, die gegen den mittelalterlichen Realismus aufbegehrte
und gegen die kreationistischen Vorstellungen etwa eines Tieres
im allgemeinen, das vor dem Pferd, dem Fuchs, der Kuh oder
dem Hasen existiert, vor den besonderen Tierarten, wobei sich
dieses Tier im allgemeinen anschließend durch >>Disjunktion«
in ein Pferd, einen Fuchs, eine Kuh oder einen Hasen ver
wandelt. Nach Ricardo kann der Wert als solcher nur post
rem existieren, als gedankliche Abstraktion aus den verschie
denen Aspekten des Wertes, keineswegs aber ante rem, unter
der Form einer unabhängigen Realität, die zeitlich dem Auf
treten seiner besonderen Aspekte vorangeht. Diese besonderen
Aspekte des Wertes existieren ewig nebeneinander und gehen
so wenig aus dem Wert hervor wie das Pferd aus dem Tier
im allgemeinen.
1 23
und wenn man, zweitens, nicht zum Historismus* bei der Be
griffsbildung übergeht (im gegebenen Fall bei der Entwicklung,
die vom Wert zum Profit führt). Marx fordert von der Wis
senschaft, das ökonomische System als ein sich entwickelndes
System zu begreifen und in der logischen Entwicklung der
Kategorien die wirkliche Geschichte des Auftretens und der
Entfaltung des Systems zu reproduzieren.
Ist dem aber so, dann muß der Wert als Ausgangspunkt der
theoretischen Konzeption als eine objektiv-ökonomische Wirk
lichkeit begriffen werden, die auftritt und existiert, ehe noch
Phänomene wie Profit, Kapital, Lohn, Rente etc. auftreten
und existieren konnten. Deshalb dürfen die theoretischen Be
stimmungen des Wertes nicht abstraktiv aus dem geschöpft
werden, was Ware, Geld, Kapital, Profit, Lohn und Rente ge
meinsam haben, sondern sind auf gänzlich anderem Wege zu
ermitteln. Man unterstelle, daß all diese Sachen nicht existie
ren. Sie waren nicht von Ewigkeit her da, sondern sind auf
irgendeiner Stufe erschienen, und eben dieses Erscheinen muß
die Wissenschaft in seiner Notwendigkeit aufdecken.
Der Wert ist die reale und objektive Bedingung, ohne die we
der Kapital noch Geld, noch alles übrige möglich ist. Die theo
retischen Bestimmungen des Wertes als solchen lassen sich nur
so gewinnen, daß man eine objektive ökonomische Wirklich
keit untersucht, die vor allen und außerhalb und unabhängig
von allen Phänomenen existieren kann, die später auf ihrer
Basis entstanden sind. Diese elementare, objektiv-ökonomische
Wirklichkeit hat lange vor dem Auftreten des Kapitalismus
und allen Kategorien existiert, die seine Struktur ausdrücken.
Diese Wirklichkeit ist der direkte Austausch einer Ware gegen
eine andere.
Wir haben gesehen, daß die Klassiker der politischen Ökono
mie den allgemeinen Wertbegriff derart ausarbeiteten, daß sie
diese Wirklichkeit untersuchten, wenn sie sich auch hinsichtlich
des wirklichen philosophischen und theoretischen Sinns dessen,
was sie taten, keine Rechenschaft ablegten. Ricardo wäre wohl
höchst verwirrt gewesen, hätte einer seine Aufmerksamkeit
'' »Historismus • bedeutet im sowjetmarxistischen Sprachgebrauch abweichend
vom herkömmlichen keinen bloßen Relativismus, sondern eine geschichtliche
Betrachtungsweise, die sich an der Dialektik von Relativem und Absolutem
orientiert. (A. d. 0.)
! 24
darauf gelenkt, daß seine Vorläufer und er selbst eine allge
meine Kategorie ihrer Wissenschaft ausgearbeitet haben -
nicht, indem sie die abstrakt-allgemeine Regel untersuchten,
der ausnahmslos alle Dinge gehorchen, die einen Wert besitzen,
sondern ganz im Gegenteil so, daß sie die seltenste Ausnahme
von der Regel untersuchten : den direkten, geldlosen Austausch
einer Ware gegen eine andere. In dem Maße, wie sie so ver
fuhren, gelangten sie zu einer wirklich objektiven Konzeption
des Wertes. In dem Maße aber, wie sie sich nicht sehr streng
an die Schranken der Untersuchung dieser ganz besonderen
und äußerst seltenen Art ökonomischer Wechselbeziehung hiel
ten, waren sie außerstande, den Wert ganz zu begreifen.
Darin jedoch besteht der dialektische Charakter der Auffas
sung vom Allgemeinen bei Marx ; darin besteht die Dialektik
der Konzeption, nach der eine allgemeine Kategorie des Sy
stems der Wissenschaft auszuarbeiten ist. Leicht kann man sich
da von überzeugen, daß eine solche Konzeption nur dann mög
lich ist, wenn man sich auf einen grundlegend geschichtlichen
Ansatz beim Studium dc;r objektiven Wirklichkeit stützt.
Die sich auf einen bewu ßten Historismus stützende Deduktion
wird zur einzigen logischen Form, die dem Gesichtspunkt ent
spricht, für den das Objekt nicht fertig vorliegt, sondern histo
risch entstanden ist und sich historisch fortentwickelt. >> [ . ]
die ganze Klassifikation der Organismen ist durch die Ent
. .
125
göttlichen Vernunfl: oder als Idee des Tieres im allgemeinen,
sondern in der Natur selbst als höchst reale und besondere
Art, aus der die anderen Arten durch Differenzierung hervor
gehen mußten.
Diese allgemeine Form des Tieres oder, wenn man will, dieses
Tier als solches, ist keineswegs eine Abstraktion, die nur das
enthält, was die gegenwärtig lebenden Tierarten verbindet.
Dieses Allgemeine ist zugleich eine besondere Art, die nicht
nur und nicht in der nämlichen Weise die Züge aufweist, die
sich bei allen ihren Abkömmlingen durchgehalten haben und
ihnen gemeinsam sind, sondern hat ihre eigenen, ganz spezi
fischen Züge, die teilweise von der Nachkommenschaft ererbt
wurden, während ein anderer Teil sich verloren hat und durch
andere Merkmale ersetzt wurde. Es ist absolut unmöglich, ein
konkretes Modell des gemeinsamen Vorfahren zu konstruieren,
von dem alle heute existierenden Arten abstammen sollen,
'wenn man dabei von den Charakteren ausgeht, die diesen Ar
ten unmittelbar gemeinsam sind.
Verführe man derart in der Biologie, so schlüge man den
schlechten Weg ein, auf dem Ricardo die Bestimmungen des
Wertes als solchen, die allgemeine Wertform suchte, indem er
unterstellte, daß diese Bestimmungen aus dem Profit, der Ren
te, dem Kapital und aus all den anderen Wertformen abstra
hiert werden müßten, die er vor Augen hatte.
Mit dem Konzept von der Entwicklung als einer Abfolge von
Phänomenen, die auseinander hervorgehen, verbindet sich die
materialistisch-dialektische Ansicht des Prozesses der Deduk
tion der Kategorien, eines Prozesses, der sich vom Abstrakten
zum Konkreten erhebt, vom Allgemeinen (das an sich ein voll
ständig bestimmtes Besonderes ist) zum Besonderen (das auch
eine allgemeine und notwendige Bestimmung des Objekts aus
drückt). Die allgemeine Grundlage des Ansatzes zu einem
System theoretischer Bestimmungen (der Begriff, mit dem eine
Wissenschaft anfängt) drückt, vom Gesichtspunkt der Dialek
tik, die konkreten (theoretischen) Bestimmungen eines typi
schen Phänomens aus, das vollständig partikulär und determi
niert ist, der empirischen Anschauung vollständig gegeben in
der sinnlichen, der gesellschafl:lichen Praxis und im Experiment.
Die Besonderheit dieses Phänomens beruht darauf, daß es
wirklich (außerhalb des theoretisierenden Kopfes) der Aus-
126
gangspunkt der Entwicklung des Ganzen der studierten, in
Wechselwirkung stehenden Phänomene ist, eines konkreten
Ganzen, das jeweils den Gegenstand der logischen Reproduk
tion bildet.
Die Wissenschaft: muß mit dem anfangen, womit die wirkliche
Geschichte anfängt. Die logische Entwicklung der theoretischen
Bestimmungen muß also den konkret-geschichtlichen Prozeß
des Werdens und der Entwicklung des Objekts ausdrücken. Die
logische Deduktion ist nur der theoretische Ausdruck des ge
schichtlichen Werdegangs des studierten Konkretums.
Das rechte Verständnis dieses Prinzips setzt einen hinreichend
konkreten, wesentlich dialektischen Blick auf die Natur der
geschichtlichen Entwicklung voraus. Dieser äußerst wichtige
Punkt der Marxschen Logik - die Lösung des Problems des
Verhältnisses der wissenschafl:lichen Entwicklung zur histori
schen (das Verhältnis des Logischen zum Historischen) - muß
speziell untersucht werden.
Hans-Georg Backhaus
Zur Dialektik der Wertform
128
Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten herumzutreiben. << Die
Ricardo-Schule eingeschlossen, habe sie >>der Menschengeist seit
mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht« . Aus
dem Zitat geht hervor, daß Marx in Anspruch nimmt, zum
ersten Mal in der Geschichte der Forschung diese >>rätselhafte
Form« durchschaut zu haben.
Die mangelhafte Rezeption der Wertform-Analyse ist aber
nicht allein einer gewissen Problemblindheit der Interpreten
anzulasten. Die Unzulänglichkeit ihrer Darstellungen läßt sich
wohl nur von der Annahme her verstehen, daß Marx keine
abgeschlossene Fassung seiner Arbeitswertlehre hinterlassen
hat. Obwohl er sie in der Kritik der politischen Ökonomie
bereits entwickelt hatte, sah Marx sich genötigt, die Wertfarm
Analyse in drei · weiteren, jeweils voneinander abweichenden
Fassungen darzustellen, >>weil selbst gute Köpfe die Sache nicht
ganz richtig begriffen, also etwas Mangelhaftes in der ersten
Darstellung sein muß, speziell in der Analyse der Ware«2 • Eine
zweite, gänzlich neue Darstellung gibt Marx in der Erstauf
lage des Kapitals. Doch schon während der Drucklegung wurde
Marx von Engels und Kugelmann auf die >> Schwerverständ
lichkeit« der Wertform-Analyse hingewiesen und deshalb an
geregt, eine dritte, nunmehr popularisierte Darstellung als
Anhang hinzuzufügen. Eine vierte, wiederum von den vorher
gegangenen Darstellungen abweichende Fassung wird für die
zweite Auflage des Kapitals erarbeitet. Weil aber in dieser
vierten und letzten Fassung die dialektischen lmplikationen
der Wertform-Problematik immer mehr verblassen und Marx
bereits in der Erstauflage >> die Analyse der Wertsubstanz [ . . . ]
möglichst popularisiert« hat, mußten erhebliche Meinungsver
schiedenheiten in der Interpretation dessen auftreten, was
Marx mit den Begriffen >>Wertsubstanz « und >> abstrakte Ar
beit« bezeichnen wollte.3 Es bleibt daher ein vordringliches
Desiderat der Marx-Forschung, aus den mehr oder minder
fragmentarischen Darstellungen und den zahlreichen, in ande
ren Werken verstreuten Einzelbemerkungen das Ganze der
Werttheorie zu rekonstruieren.
2 Marx/Engels, Briefe über >Das Kapital<, Berlin 1 9 5 4 , S. 1 3 2 .
3 C f . hierzu d i e Diskussionsbeiträge v o n 0. Lendle u n d H. Schilar z u r Pro
blematik der Wa re-Geld-Beziehung im Sozialismus, in : Wirtschaf/swissen
schaflen, 9· Jahrg. , Berlin 1 96 1 .
1 29
Im Vorwort zur Erstauflage des Kapitals spricht Marx noch
ausdrücklich davon, daß >>Dialektik« seine Darstellung der
Arbeitswertlehre kennzeichne. Wenn die herkömmlichen Inter
pretationen ausnahmslos diese Dialektik ignorieren, so muß
der Frage nachgegangen werden, ob das >>Mangelhafte der
Darstellung« nicht nur die Wertform-Analyse, sondern
schon die beiden ersten Abschnitte im ersten Kapitel des Kapi
tals betrifft. Lenin insistiert auf dem dialektischen Charakter
des Marxschen Verfahrens : >>Man kann das Kapital von Marx
und besonders das erste Kapitel nicht vollkommen begreifen,
wenn man nicht die ganze Logik Hegels durchstudiert und
begriffen hat. « Er schließt hieraus : » Folglich hat nach einem
halben Jahrhundert keiner von den Marxisten Marx begrif
fen ! ! «4 Hat also >>nach einem ganzen Jahrhundert keiner von
den Marxisten Marx begriffen« , oder ist Marx in seiner Popu
larisierung der beiden ersten Abschnitte des Kapitels Die 'Ware
so weit gegangen, daß die >Deduktion< des Werts sich über
haupt nicht mehr als dialektische Bewegung begreifen läßt?
Im ersten Abschnitt geht Marx bekanntlich in der Weise vor,
daß er von dem >empirischen< Faktum Tauschwert ausgeht und
diesen als »Erscheinungsform eines von ihm unterscheidbaren
Gehaltes« bestimmt. Dasjenige, was dem Tauschwert >ZU
grunde< liegen soll, wird Wert genannt. Im Fortgang der Ana
lyse ist dieser zunächst jedoch unabhängig von seiner Form zu
betrachten. Die von der Erscheinungsform unabhängige Ana
lyse des Wesens führt nun dazu, daß Marx gänzlich unvermit
telt, ohne Aufweis einer inneren Notwendigkeit, zur Analyse
der Erscheinungsform zurückkehrt : >>Wir gingen in der Tat
vom Tauschwert der Waren aus, um ihrem darin versteckten
Wert auf die Spur zu kommen. Wir müssen jetzt zu dieser Er
scheinungsform des Werts zurückkehren«. Ist nun diese
Entwicklung noch als Ausdruck jener Methode verstehbar, die
Marx in der Einleitung seiner Schrift Zur Kritik der politischen
Ökonomie als das Aufsteigen >>Vom Abstrakten zum Konkre
ten « charakterisiert? Die >>Reproduktion des Konkreten«, das
sich nunmehr als »reiche Totalität von vielen Bestimmungen «,
als >>Einheit des Mannigfaltigen« darstellen soll, wird doch
wohl erst von folgender Fragestellung her verständlich : Wie
wird der Wert zum Tauschwert und zum Preis - warum und in
4 Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1954, S. 99·
IJO
welcher Weise hat der Wert sich im Tauschwert und im Preis
als den Weisen seines »Andersseins << aufgehoben ? Mir scheint,
daß die Darstellungsweise im Kapital keineswegs das erkennt
nisleitende Motiv der Marxschen Wertform-Analyse durch
sichtig macht, die Frage nämlich, »Warum dieser Inhalt jene
Form annimmt« . Die mangelhafte Vermittlung von Substanz
und Form des Werts kommt schon darin zum Ausdruck, daß in
der Entwicklung des Werts ein Bruch aufweisbar ist : Der
Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt des ersten Kapi
tels ist als notwendiger Übergang nicht mehr einsichtig. Was
sich daher dem Leser einprägt, ist die scheinbar leichtverständ
liche Lehre von der Wertsubstanz und dem Doppelcharakter
der Arbeit, die in den beiden ersten Abschnitten entfaltet wird.
Der dritte Abschnitt aber - die Lehre von der Wertform -
wird meist nur als zusätzlicher Beweis oder als »dialektisches<<
Ornament dessen verstanden, was in den beiden ersten Ab
schnitten ohnehin schon abgeleitet wurde. Daß der >>allgemeine
Gegenstand<< als solcher, das heißt der Wert als Wert sich gar
nicht ausdrücken läßt, sondern nur in verkehrter Gestalt »er
scheint<<, nämlich als >>Verhältnis<< von zwei Gebrauchswerten,
entzieht sich dem Verständnis des Lesers. Ist aber die Entwick
lung Tauschwen-Wert-Wertform nicht mehr begreifbar als
dialektische >>Bewegung vom unmittelbaren >Sein< durch das
>Wesen< zur vermittelten >Existenz< [ . . . ] «, dergestalt, daß »die
Unmittelbarkeit aufgehoben und als vermittelte Existenz wie
der gesetzt wird «r, so wird auch der Ursprung jener >dialek
tischen Interpretationen< verständlich, die auf eine Karikatur
von Dialektik hinauslaufen. Die Marxsche Warenanalyse stellt
sich dann dar als - unvermittelter - >>Sprung vom Einfachen
zum Komplizierten, von der Substanz zur Erscheinungs
form« .6 Das Wesen im Unterschied zur Erscheinungsform
wird formallogisch als das »Allgemeine, Typische und Haupt
sächliche« bestimmt. Die Vermittlung von Wesen und Er
scheinungsform ist nur noch als pseudodialektische Bewegung
pseudodialektischer Widersprüche konstruierbar : >>Das All
gemeine existiert [ . . . ] nicht unabhängig von den Einzeler-
5 H. Marcuse, Zum Begriff des Wesens, in : Zeitschrift für Sozialforschung,
5 · Jg., 1936, Heft r, S. 2 1 f.
6 R. Banfi, Probleme und Scheinprobleme bei Marx und im Marxismus, in :
Folgen einer Theorie, Frankfurt/M. 1 967, S. 1 7 2 .
IJ I
scheinungen. Es ist als Allgemeines, Invariantes ( ! !) in ihnen
enthalten. «7 Selbst jene Autoren, die in Anspruch nehmen kön
nen, >>die ganze Logik Hegels durchstudiert und begriffen zu
haben «, geben keinen Aufschluß darüber, in welcher Weise die
Grundbegriffe der Werttheorie dialektisch strukturiert sind.
Die dialektische Methode kann sich nicht darauf beschränken,
die Erscheinungsform nur auf das Wesen zurückzuführen : sie
muß darüber hinaus auch zeigen, warum das Wesen gerade
diese oder jene Erscheinungsform annimmt. Statt sich darauf
zu konzentrieren, die dunklen und scheinbar unerklärbaren
Stellen zu interpretieren, erfolgt die Darstellung bei jenen
>philosophischen< Marxisten vielfach rein referierend.
Der Bruch zwischen den beiden ersten Abschnitten und dem
dritten Abschnitt macht aber nicht nur die methodologische
Struktur der Wertlehre problematisch, sondern erschwert vor
allem das Verständnis dessen, was Marx unter der >>selbst eini
germaßen geheimnisvollen Oberschrifh B : Der Fetischcharak
ter der Ware und sein Geheimnis entwickelt. Diese Oberschrift
bezeichnet bekanntlich den vierten Abschnitt des ersten Kapi
tels. Von einer unsystematischen und deshalb das Verständnis
der Lehre vom Fetischcharakter erschwerenden Gliederung der
ersten Abschnitte muß gesprochen werden, weil das >>Geheim
nis « nicht erst im vierten, sondern bereits im dritten Abschnitt
sichtbar wird und in der Lehre von den drei Eigentümlichkei
ten der 1\quivalentform dechiffriert sein soll. Daß der Inhalt
des vierten Abschnitts nur vom dritten her verständlich wird,
geht schon aus der Gliederung des Anhangs der Erstauflage
von I 8 67 hervor, dem Marx den Titel >>Wertform« vorange
stellt hat. Dieser Anhang - nur als popularisierte Fassung der
Wertform-Analyse konzipiert - enthält die Analyse des Feti
schismus, freilich nicht als selbständige Lehre, sondern lediglich
als »vierte Eigentümlichkeit« der 1\quivalentform.
Diese Zuordnung läßt erkennen, daß die Lehre vom Fetisch
charakter - in der zweiten Auflage des Kapitals erweitert und
als vierter Abschnitt konzipiert - ihrem Inhalt nach nur als
verselbständigter Teil des dritten Abschnitts zu verstehen ist.
Die Eliminierung oder kommentarlose Darstellung des dritten
7 W. Jahn, Die Marxsche Wert- und Mehrwertlehre im Zerrspiegel bürger
licher Ökonomen, Berlin 1 96 8 , S. I I 6 f.
8 K. Korsm, Kar/ Marx, Frankfurt/M. 1 967, S. 96.
IJ2
Abschnitts, der die >>Dunkelheit der ersten Kapitel des Kapital
über den Wert<<9 ausmacht, äußert sich vor allem in folgenden
Fehlinterpretationen :
r . Zahlreiche Autoren ignorieren den Anspruch der Arbeits
wertlehre, das Geld als Geld abzuleiten und somit eine spe
zifische Geldtheorie zu inaugurieren. Es ist dann nicht mehr
verwunderlich, wenn diese Interpreten nur die Werttheorie dar
stellen, die Geldtheorie hingegen ausscheiden oder korrigieren
und deshalb kaum noch imstande sind, den Unterschied zwi
schen der klassischen und der marxistischen Arbeitswerttheorie
plausibel zu machen. Sie verkennen, daß die Grundbegriffe der
Werttheorie nur dann verstanden sind, wenn sie ihrerseits
das Verständnis der geldtheoretischen Grundbegriffe ermög
lichen.9a Die Werttheorie ist adäquat interpretiert, wenn die
Ware so gefaßt wird, daß sie sich im Prozeß eines »immanen
ten über-sich-Hinausgehens << als Geld setzt. Dieser innere
Zusammenhang von Ware und Geld verbietet es, die Marxsche
Werttheorie zu akzeptieren und dabei die mit ihr gesetzte
Geldtheorie zu verwerfen. Die »Roheit und Begriffslosigkeit<<,
Produktions- und Zirkulationssphäre - »das organisch Zusam
mengehörende<< - »Zufällig aufeinander zu beziehn, in einen
bloßen Reflexionszusammenhang zu bringen <<, kennzeichnend
für die Interpretation der austro-marxistischen Schule, ist Aus-
9 F. Petry, Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie, Jena 1 9 1 6, S. 1 6 .
- D e r fragmentarische Charakter d e r Lehre v o m Warenfetischismus wird
von Sartre erkannt : » [ . . . ] die von Marx in den Grundzügen entworfene
Theori e des Fetischismus ist niemals voll entwickelt worden . « In : Marxismus
und Existentialismus, Harnburg 1 964, S. 64. Wenn Sartre » die völlige Ver
ständnislosigkeit der Marxisten anderen Ideen gegenüber• konstatiert - » Si e
verstehen buchstäblich k e i n Wort von dem, w a s s i e lesen • - so trifft dieser
Vorwurf auch zahlreiche marxistische Ökonomen hinsichtlich ihrer völligen
Verständnislosigkeit Marxschen Texten gegenüber. Ihre eigene Problemblind
heit ist ein Paradebeispiel für jenes verdinglichte Denken, das sie forsch der
subjektiven Ökonom ie vorhalten. Reden sie von » Dialekti k « und » Ver
d inglichung • , so meinen sie schon, der Anstrengung enthoben zu sein, » sich
überhaupt etwas unter Wert zu denken • . (Marx, Theorien über den Mehr
wert, J. Teil, Berlin 1 96 1 , S. 1 44 . ) Begriffe wie •Substanz< des Werts,
•Realisierung<, ·Metamorphose<, •Erscheinungsform< werden mit derselben
kategorialen Bewußtlosigkeit vorgetragen, die Marx den Vertretern der
positivistischen Ökonomie vorgeworfen hat.
9a Der Zusammenhang von Wert- und Geldtheorie wird am klarsten von
Wygodski ausgesprochen : » Marx faßte das Verständnis der Kategorie
•Geld< als Kriterium dafür auf, ob das Wesen des Werts tatsächlich begrif
fen ist« (Die Geschichte einer großen Entdeckung, Berlin 1 967, S. 5 4 ) .
133
druck der Unfähigkeit, die Werttheorie als Wertfarm-Analyse
zu verstehen.
2. Der Zusammenhang zwischen der Arbeitswertlehre marxi
stischer Prägung und dem Phänomen der Verdinglichung bleibt
undurchsichtig. Marx hebt zwar im vierten Abschnitt aus
drücklich hervor : >>Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß
die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Aus
drücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Ar
beit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der
Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen
Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit. [ . . . ] Die
Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit ist ein unter
den erscheinenden Bewegungen der relativen Warenwerte ver
stecktes Geheimnis. Seine Entdeckung hebt den Schein der bloß
zufälligen Bestimmung der Wertgrößen der Arbeitsprodukte
auf, aber keineswegs ihre sachliche Form.<< 10 Diese klare Aus
sage hält aber zahlreiche Autoren keineswegs davon ab, eben
jenes >>unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Wa
renwerte versteckte Geheimnis<< als Untersuchungsgegenstand
der Marxschen Lehre vom Warenfetischismus auszugeben. Die
sen Interpretationen zufolge ist es das »Geheimnis<< der Wert
größe, nicht aber das »Geheimnis<< jenes »gegenständlichen
Scheins << oder der »sachlichen Form «, was den »mystischen
Charakter<< der Ware ausmacht. Dann aber war schon mit den
Entdeckungen der klassischen Arbeitswertlehre die Genesis der
Verdinglichung durchschaut. Wiederum zeigt sich, daß eine iso
lierte Darstellung der Werttheorie die wesentliche Differenz
der Marxschen und der klassischen Analyse nicht mehr hervor
treten läßt.
Die das Wesen des Warenfetischismus verfehlende Darstellung
läßt sich so kennzeichnen : Die Autoren referieren einige Sätze
aus dem Fetischkapitel des Kapitals und interpretieren sie be
grifflich, meist auch terminologisch, in der Weise der Deutschen
Ideologie - ein Manuskript, in dem Marx und Engels die Be
deutung der Arbeitswerttheorie noch verkannten. Das ein
schlägige Zitat lautet : Den Produzenten »erscheinen [ . . . ] die
gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das was
sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse
der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als
x o Marx, Das Kapital, Band I , Berlin 1 960, S. So und 8 x .
I J4
sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaflliche Ver
hältnisse der Sachen « . " Aus diesem Zitat wird lediglich her
ausgelesen, daß die sozialen Verhältnisse sich den Menschen
gegenüber >>verselbständigt<< haben. Eine Feststellung, die das
Thema der Frühschriften ausmacht und unter dem Stichwort
»Entfremdung<< oder >>Entpersönlichung<< zum Gemeinplatz
konservativer Kulturkritik geworden ist. Worauf es in der
Kritik der politischen Ökonomie ankommt, ist aber nicht die
bloße Beschreibung dieses Tatbestands, sondern die Analyse
seiner Genesis.
Eine genuine Interpretation des Fetischcharakters hat demnach
diesen Text in folgender Weise aufzugliedern und zu unter
suchen :
1 . Wie ist für Marx das >>gesellschaftliche Verhältnis der Sa
chen<< strukturiert?
2. Warum und inwiefern läßt sich das >>Verhältnis der Sachen«
nur als >>eine ihm selbst äußerliche und bloße Erscheinungsform
dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse<< begreifen ?
Hieraus ergeben sich weitere Fragen.
a. Die >>menschlichen Verhältnisse<< werden als >>gesellschaft
liche Beziehungen von Privatarbeiten<< oder auch als >> gesell
schaftliche Verhältnisse der Produzenten zur Gesamtarbeit«
definiert. Was ist unter den Begriffen >> Verhältnis<< und »Ge
samtarbeit<< zu verstehen ?
b. Was bezeichnet den Grund, warum >> gesellschaftliche Be
ziehungen<< notwendig dem Bewußtsein als ein Anderes >>er
scheinen<< ?
c. Was macht die Realität dieses Scheins aus : in welcher Weise
ist dieser Schein selber noch ein Moment der Wirklichkeit?
d. Wie ist die Genesis abstrakter Wertgegenständlichkeit zu
begreifen : in welcher Weise >>vergegenständlicht<< sich das Sub
jekt, tritt es sich selbst als Objekt gegenüber? - Dieser myste
riöse Sachverhalt läßt sich auch folgendermaßen beschreiben :
Der Wert eines Produkts ist als ein Gedachtes vom Produkt
selbst unterschieden. Andererseits jedoch ist der Wert immer
nur Wert eines Produkts und erscheint so als >>ideelle Form<<
eines Materiellen. Als ein Gedachtes ist der Wert dem Bewußt
sein »immanent<<. In dieser Weise seines Seins wird er jedoch
nicht gewußt : er setzt sich dem Bewußtsein als ein Fremdes
I I Ibid. , s. 7 8 .
135
entgegen. Die Realität der Arbeitsprodukte ist schon voraus
gesetzt. Problematisch wird hier allein die Tatsache, daß die
Arbeitsprodukte eine >>von ihrer Realität verschiedne phanta
stische Gestalt« annehmen und nicht die Konstitution des ens
qua ens.
Wir werden uns hier nur mit der ersten Frage befassen : Wie
beschreibt Marx jene Struktur, die er als »gesellschafl:liches
Verhältnis der Sachen « bezeichnet? Es ist zunächst daran zu
erinnern, daß die Gebrauchswerte immer schon in Preis
form gesetzt sind. Insofern ist die Redeweise, daß die Gleich
setzung zweier Gebrauchswerte ein »Verhältnis<< herstellt,
mißverständlich : Rock und Leinwand werden nicht gleichge
setzt, sondern sind je schon gleichgesetzt. Die Gleichsetzung ist
vollzogen, weil sie einem Dritten, dem Gold, gleichgesetzt
werden und auf diesem Umweg, einander gleich sind. »Das
Wertverhältnis ist stets Wertausdruck. << Diese Gleichsetzung ist
dann aber eine nur dem Wertinhalt nach, bezüglich der Form
jedoch eine Ungleichsetzung : das eine Produkt wird Ware, das
andere Geld . Das Verhältnis der Sachen, das »Wertverhältnis<<,
ist als »Wertausdruck << das Verhältnis von Ware und Geld. Als
Preise sind die Produkte »nur verschiedene Quanta desselben
Gegenstandes [ . . . ] nur noch vorgestellte Goldquanta von ver
schiedener Größe <<. 1 2 Sofern die Waren je schon als »Geldpreise
dargestellt, [ . . ] kann ich sie vergleichen ; sie sind in fact schon
.
I J7
»Realität ihres eignen Preises <<.'0 Der Versuch Bailys, den Wert
auf eine bloß quantitative Relation zu reduzieren, eskamotiert
also die Problematik der Ware-Geld-Gleichung. »Weil er es in
der monetary expression ausgedrückt findet, braucht er nicht
zu >begreifen<, wodurch dieser Ausdruck möglich wird [ . . . ] und
was er in der Tat ausdrückt. <<2 1 - Marx kritisiert die subjekti
vistische Position in einer Weise, deren grundlegende Bedeu
tung für die Kritik am modernen Positivismus, zumal dem der
linguistischen Analyse, nur unzulänglich erkannt ist : >>Es zeigt
uns dies die Art der Kritik, die die in den widersprechenden
Bestimmungen der Dinge selbst liegenden Schwierigkeiten gern
als Reflexionsprodukte oder Widerstreit der definitions weg
schwatzen will. [ . . . ] Daß das Paradoxon der Wirklichkeit sich
auch in Sprachparadoxen ausdrückt, die dem common sense
widersprechen, dem what vulgarians mean and believe to talk
of, versteht sich von selbst. Die Widersprüche, die daraus
hervorgehn, daß [ . . . ] Privatarbeit sich als allgemeine gesell
schaftliche darstellt, [ . . . ] liegen in der Sache, nicht in dem
sprachlichen Ausdruck der Sache.<<22 Seiner minuziösen Ausein
andersetzung mit Baily ist aber auch zu entnehmen, daß Marx
den »rationellen Kern<< der semantischen Kritik ernst nimmt.
Der »absolute Wert<<, der nur seine »eigne Quotität und Quan
tität<< ausdrückt, ist in der Tat ein Sprachparadox oder eine
>>Mystifikation <<, jedoch ein »Paradoxon der Wirklichkeit<< oder
eine »reelle Mystifikation<<.'3 Als ein »Verhältnis von Perso
nen<< wird es erst dann dechiffrierbar, wenn die Vermittlung
von »absolutem<< und >>relativem<< Wert aufgezeigt worden
ist.
Marxens Feststellung, daß die Ricardianer sich ausschließlich
für den Bestimmungsgrund der Wertgröße interessieren - »die
Form als solche<< ist ihnen »eben weil natürlich, gleichgültig<< ;
die ökonomischen Kategorien »gelten ihrem bürgerlichen Be
wußtsein für [ . . . ] selbstverständliche Naturnotwendigkeit<< 1 4 -,
gilt auch für die gegenwärtige Okonomie. Die Eliminierung
der Formproblematik ist nach Marx darauf zurückzuführen,
20 Ibid., S. 9 2 3 .
21 Theorien . . . , 1. c . , S. 1 5 6.
l2 Ibid., s. I J O, ' 3 5 ·
23 Marx, Zur Kritik . . . , 1 . c . , S . 4 5 .
24 Marx, Das Kapital, 1 . c . , S . 87.
daß die Schulökonomie an den Bestimmungen der formalen
Logik festhält : »Es ist kaum verwunderlich, daß die Ökono
men, ganz unter dem Einfluß stofflicher Interessen, den Form
gehalt des relativen Wertausdrucks übersehen haben, wenn vor
Hege[ die Logiker von Profession sogar den Forminhalt der
Urteils- und Schlußparadigmen übersahen. « 2 5
Die Analyse der logischen Struktur der Wertform ist nicht zu
trennen von der Analyse ihres historisch-sozialen Gehalts. Die
klassische Arbeitswerttheorie stellt aber nicht die Frage nach
der historisch-sozialen Beschaffenheit jener Arbeit, die sich als
»wertbildende<< darstellt. Die Umsetzung der Arbeit in eine ihr
fremde Form wird nicht reflektiert : >>Die Arbeitszeit stellt sich
sofort bei Franklin ökonomistisch einseitig als Maß der Werte
dar. Die Verwandlung der wirklichen Produkte in Tausch
werte versteht sich von selbst. <<26 Die von Marx gerügte »öko
nomistische Einseitigkeit<< besteht also darin, daß die Ökono
mie als separater Zweig der wissenschaftlichen Arbeitsteilung
auf der Ebene bereits konstituierter ökonomischer Gegenstände
operiert. >>Die politische Ökonomie hat [ . . ] zwar, wenn auch
.
I J9
verborgenen Grund für die Existenz der Wertrechnung sieht
Marx in einem das Wesen der Produktionssphäre kennzeich
nenden Widerspruch : in dem für seine Gesellschaftstheorie emi
nent bedeutsamen Widerspruch von privater und gesellschaft
licher Arbeit. Daß in der Warenproduktion gesellschaftliche
Arbeit nur als gesellschaflliche Arbeit privater Produzenten ge
leistet wird - dieser grundlegende Widerspruch äußert sich in
dem abgeleiteten, daß der Austausch von Tätigkeiten und Pro
dukten durch ein besonderes und zugleich allgemeines Produkt
vermittelt werden muß. Bei aller Schärfe seiner Kritik an den
utopischen Sozialisten hält auch Marx die Forderung für reali
sierbar, die Wertrechnung aufzuheben - freilich nur dann,
wenn die Warenproduktion, das heißt die Produktion unab
hängiger einzelner für den Markt, beseitigt wird. Diese For
derung ist eine zwingende Konsequenz, ein substantieller und
nicht nur akzidenteller Bestandteil der Marxschen Werttheorie.
Der eigentliche Sinn der >>Kritik der ökonomischen Katego
rien << besteht darin, die sozialen Bedingungen aufzuzeigen,
welche die Existenz der Wertform notwendig machen. »Die
Analyse der herrschenden Form von Arbeit ist gleichzeitig
eine Analyse der Voraussetzungen ihrer Abschaffung [ . . . ]
(Die Marxschen) Kategorien sind negativ und zur gleichen Zeit
positiv : sie schildern einen negativen Zustand im Lichte seiner
positiven Aufhebung. << 2 9 Der historische Charakter der Wert
form-Analyse besteht eben darin, »daß gleich in der einfachsten
Form, der der Ware, der spezifisch gesellschaftliche, keineswegs
absolute Charakter der bürgerlichen Produktion analysiert
ist<< .3°
Ricardos mangelhafte Analyse der Wertform hatte neben der
subjektivistischen Kritik Bailys und der Arbeitsgelddoktrin der
utopischen Sozialisten noch die weitere Konsequenz, daß die
»Gestalt - die besondere Bestimmung der Arbeit als Tausch
wert schaffend << nicht untersucht wird. Ricardo »begreift daher
durchaus nicht den Zusammenhang zwischen der Bestimmung
des Tauschwerts durch Arbeitszeit und der Notwendigkeit der
Waren, zur Geldbildung fortzugehen. Daher seine falsche
Geldtheorie. [ . . . ] Diese falsche Auffassung des Geldes beruht
aber bei Ricardo darauf, daß er überhaupt nur die quantita-
29 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, Neuwied 1 962, S. 260.
30 Marx/Engels, Briefe über >Das Kapital<, Berlin 1 9 5 4 , S. 1 00.
tive Bestimmung des Tauschwerts im Auge hat [ . . . ) <<3 1 Die fal
sche Geldtheorie Ricardos ist die Quantitätstheorie, deren Kri
tik die Analyse der Wertform intendiert.
Obwohl an der mühsam errungenen Einsicht festzuhalten ist,
daß die Marxsche Kritik der ökonomischen Kategorien den
Bereich der Fachökonomie transzendiert, ist die Wertform
Analyse - an philosophischen Kategorien orientiert - in ihrer
Funktion zu verstehen, fachökonomische Antinomien aufzu
heben. In Abwandlung der vierten These über Feuerbach läßt
die Marxsche Kritik an Ricardo sich folgendermaßen kenn
zeichnen : Ricardo geht aus von dem Faktum der ökonomi
schen Selbstentfremdung, der Verdopplung des Produkts in ein
Wertding, ein vorgestelltes und ein wirkliches Ding. Seine
Theorie besteht darin, den Wert in Arbeit aufzulösen. Er
übersieht, daß die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache
nämlich, daß das Produkt sich von sich selbst abhebt und sich,
ein selbständiges Reich ökonomischer Kategorien, jenseits des
Bewußtseins fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und
dem Sich-selbst-Widersprechen der gesellschaftlichen Arbeit zu
erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch
verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs
praktisch revolutioniert werden. Also z. B . : nachdem die Ar
beit als das Geheimnis des Werts entdeckt ist, muß nun erstere
selbst theoretisch kritisiert und praktisch umgewälzt werden.
Methodisch handelt es sich hier um die schon aufgezeigte Pro
blematik des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten,
vom Wert zur Erscheinungsform des Werts.
Befassen wir uns nunmehr mit der Frage, wie das qualitative
Verhältnis von Ware und Geld strukturiert ist, was also den
» Formgehalt des relativen Wertausdrucks<< ausmacht. Setze ich
Goldwährung voraus, so sind 2 0 Ellen Leinwand x Gramm =
14 3
ineinander. [ ] Es ist, als ob neben und außer Löwen, Ti
. . .
Zwar ist der Wert ein Gedachtes, aber kein >>Begriff<< im Sinne
der formalen Logik : eine spezifische Differenz läßt sich eben
sowenig aufzeigen wie ein materielles Korrelat. Er ist kein
Gattungsbegriff, sondern >>ein vom logischen Umfang, der
Merkmalseinheit irgendwelcher Einzelelemente total verschie
denes Begriffliches «.4' Der Hinweis auf den traditionellen
Gottesbegriff zeigt, daß Marx »Allgemeines.- als eine Einheit
39 Ibid., S. 229, 234.
40 G. Simmel, Philosophie des Geldes, Berlin 1 9 5 8 , S. 24.
4 1 Th. W. Adorno, in : Sociologica I I , Frankfurt/M. 1 962, S. 2 1 7.
1 44
begreift, welche die Totalität aller Bestimmungen in ihrer
Verschiedenheit in sich enthält. Ist nun diese Bestimmung, die
unmittelbar nur das Wesen des Geldes bezeichnet, auch für
den >>allgemeinen Gegenstand<< Wert gültig? Der Wert er
scheint nur in >>Einheit<< mit dem Gebrauchswert. Diese »Ein
heit<< wird Ware genannt - ein »sinnlich-übersinnliches Ding<< .
Ding i m Sinne der traditionellen Philosophie ist entweder ein
Materielles oder aber »transzendentaler Gegenstand<<. Die
Ware als ein Etwas, dem Sinnliches und übersinnliches, Ge
brauchswert und Wert als Eigenschaften zukommen, ist nicht
denkbar. Diese Eigenschaften werden nicht von einem Dritten
umfaßt, das wie eine Klammer die in sich reinen Schichten zur
Einheit zusammenfügt.
Vorläufig läßt die Ware sich folgendermaßen beschreiben. Ge
geben ist ein ,,Verhältnis<< von Gebrauchswerten. Als Ge
brauchswerte sind die Waren aber »gleichgültige Existenzen
füreinander und vielmehr beziehungslos << . Das Unmittelbare
ist aber stets auch ein Vermitteltes. Das Verhältnis des einen
Gebrauchswerts zu sich selbst als zu einem Anderen erscheint
als eine unmittelbare Beziehung zweier mit sich selbst identi
scher Gebrauchswerte. Es wird vergessen, daß in der Gleichset
zung von zwei Gebrauchswerten der eine mit sich selbst un
gleich gesetzt wird : »Ich setze jede der Waren = einem Dritten ;
d. h. sich selbst ungleich. <<4 2 Daß die Ware als Gebrauchswert
nicht Wert ist, kann nur bedeuten >>daß sie als ein sachlich
andres oder als gleichJ;esetzt einer andren Sache dies ist<< .43 Als
»etwas von sich Ungleiches<< bleibt das Ding im Unterschied,
den es als eignen in sich selbst hat, mit sich identisch. Es »unter
scheidet [ . . ] sich [ . ] von sich selbst als Gebrauchswert<<44 und
. . .
145
Gold, d. h. als Tauschwert oder Preis. >>Die vermittelnde Be
wegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine
Spur zurück.«46 Im Unterschied zur klassischen Arbeitswert
theorie ist für Marx der Wert nicht nur der Bestimmungsgrund
der Wertgröße, sondern in seiner >>Vermittelnden Bewegung«
jenes Konstituens, das die Beziehung erst als Beziehung konsti
tuiert. Wert ist also für Marx nicht eine unbewegliche Substanz
in ununterschiedner Starrheit, sondern ein sich selbst in Unter
scheidungen Entfaltendes : Subjekt. >>Aber das Ganze der Zir
kulation an sich betrachtet liegt darin, daß derselbe Tausch
wert, der Tauschwert als Subjekt, sich einmal als Ware, das
andre Mal als Geld setzt, und eben die Bewegung ist, sich in
dieser doppelten Bestimmung zu setzen und sich in jeder der
selben als ihr Gegenteil, in der Ware als Geld und im Geld als
Ware zu erhalten. <<47
Es versteht sich, daß die Verdopplung der Ware in Ware und
Geld erst dann dechiffriert ist, wenn sich nachweisen läßt, daß
diese antagonistische Beziehung von Dingen eine Beziehung
von Menschen ausdrückt, die in gleicher Weise antagonistisch
strukturiert ist. Umgekehrt müssen diese >>gesellschaftlichen
Verhältnisse der Personen« so bestimmt werden, daß von ihrer
Struktur her das antagonistische »Verhältnis der Sachen<< ver
stehbar wird.
Das >>sinnlich-übersinnliche« Ding bezeichnet eine Realität sui
generis, die sich weder auf die technologischen und physiolo
gischen Aspekte des Arbeitsprozesses noch auf die Bewußtseins
und Unbewußtseinsinhalte der Menschen reduzieren läßt. Ab
strakte Wertgegenständlichkeit ist für Marx gesellschaftliche
Objektivität schlechthin. Dadurch daß diese Dimension der
Wirklichkeit subjektiv und objektiv zugleich ist, unterscheidet
sie sich von jenen sozialen Beziehungen, die allein durch be
wußtes Handeln konstituiert werden.
Die Wertform-Analyse ist in dreifacher Hinsicht für die Marx
sche Theorie der Gesellschaft bedeutsam : sie ist die Nahtstelle
von Soziologie und Wirtschaftstheorie ; sie inauguriert die
Marxsche Ideologiekritik und eine spezifische Geldtheorie, die
den Primat der Produktionssphäre gegenüber der Zirkula
tionssphäre und somit der Produktionsverhältnisse gegenüber
46 Ihid., S. 99·
47 Marx, Grundrisse . . . , I. c., S. 1 77.
dem »Überbau« begründet. »Die verschiednen Formen des Gel
des mögen der gesellschaftlichen Produktion auf verschiednen
Stufen besser entsprechen, die eine Übelstände beseitigen, de
nen die andere nicht gewachsen ist ; keine aber, solange sie
Formen des Geldes bleiben, [ . ] kann die dem Verhältnis des
. .
147
ist die Geldzirkulation überhaupt nur eine sekundäre Bewe
gung. Diese Theoretiker verkennen nach Marx das Wesen
der Verkehrung und somit auch die begriffliche Genesis des
Geldes. »Das Geld ist ursprünglich der Repräsentant aller Wer
te ; in der Praxis dreht sich die Sache um, und alle realen Pro
dukte [ . . . J werden die Repräsentanten des Geldes. [ . . . J Als
Preise sind alle Waren unter verschiednen Formen Repräsen
tanten des Geldes <<.!' Es bleibt zu untersuchen, ob sich ein Zu
sammenhang von nominalistischer Geldtheorie und pluralisti
scher Gesellschaftstheorie nachweisen läßt.
Wenden wir uns abschließend einer Reihe von Problemen zu,
die von positivistischen Autoren zwar erkannt, aber nicht ge
löst wurden, die sich aber von der Marxschen Formanalyse her
verstehen lassen und somit deren Aktualität erweisen. Hin
sichtlich der nicht-marxistischen Ökonomie stellt Jahn zutref
fend fest : >> Für sie ist das Kapital bald Geld - bald Ware : zum
einen Produktionsmittel - zum anderen eine Wertsumme. Es
bleibt in der vereinzelten Erscheinungsform erstarrt und steht
in keiner inneren Beziehung zur anderen. [ . . . ] Was im Kapi
talkreislauf prozessiert, ist weder Geld noch Ware, noch Pro
duktionsmittel noch >Arbeit<, sondern es ist der Wert, der ab
wechselnd in der Geld-, Waren- und produktiven Form er
scheint. Nur der Wert ist zu dieser Metamorphose fähig. << 5 3
52 Grundrisse . . . , I. c . , S. 6 7 f . , r o6.
5 3 W. ]ahn, I. c . , S. 332 ff. ]ahn unterläßt es allerdings, die Argumente
Erich Preisers, der Kapital nur als Geldkapital definiert, hinreichend zu
würdigen. Preiser geht es nicht zuletzt darum, den Begriff >Metamorphose<
zu eliminieren : » Es scheint mir wenig zweckmäßig zu sein, diese einfachen
Sachverhalte als Metamorphosen des Kapitals zu bezeichnen oder durch
andre Bilder zu verdunkeln. Geld kann sich nicht in Ware verwandeln,
das Wirtschafhieben ist keine Zaubervorstel lung« (Bildung und Verteilung
des Volkseinkommens, Göttingen 1963, S. r o6) . Die Feststellung, daß das
Sprachparadox ein Paradoxon der Wirklichkeit ausdrückt, bleibt eine bloße
Versicherung, solange die ma rxistische Theorie nicht zeigen kann, wie jene
sozialen Beziehungen beschaffen sind, die sich notwendig als Metamorphose
von Ware und Geld darstellen. Ob freilich die herrschende ökonomische
Schulmeinung imstande ist, die Eliminierung des Begriffs Real- oder Pro
duktivkapital in jeder Teildisziplin durchzuhalten, darf bezweifelt wer
den. Schneider schließt sich der Meinung Preisers an, daß man die ökono
misch relevanten Vorgänge exakt beschrei b en kann, ohne den Kapitalbegriff
zu gebrauchen. In seiner Darstellung der Wachstumstheorie steigen die eben
noch negierten Begriffe >Erzeugersachkapital< und >Kapitalstock< wie der
Phönix aus der Asche auf.
Kapital ist einerseits Geld, andererseits Ware. Scheinbar ein
Drittes. Eben dies irritiert. Es ist weder das eine noch das an
dere und doch sowohl das eine wie das andere. Das also, was
ein »Übergreifendes« genannt wird. Um dieses übergreifende
zu denken, sieht man sich gezwungen, das zu denken, was sich
auf der Basis der subjektiven Werttheorie gar nicht denken
läßt : den »absoluten Wert«. Ein Etwas, das sich einmal in Ge
stalt von Gold darstellt - ohne jedoch mit diesem Gold als
Gold identisch zu sein - dann wiederum als Ware oder gar als
Arbeitskraft. Beim einfachen Warenaustausch scheint dieses
Dilemma sich noch nicht zu stellen : die Ware erscheint als Ding
und unterscheidet sich als solches von dem anderen Ding Gold.
Hier glaubt man noch auf die Analyse des >>inneren Zusam
menhanges<< und der >>inneren Bewegung<< verzichten zu kön
nen. Beim Kapital hingegen sieht man sich gezwungen, eine
»abstrakte Wertsumme<< zu konstruieren, die mit dem Gold als
Gold nicht identisch sein darf, weil sie sich doch auch in ande
ren Kapitalgütern >>verkörpern« soll. >>Alles Kapital befindet
sich in einem beständigen Gestaltwechsel<<, schreibt Zwieden
edU4 Es muß jedoch befremden, wenn Vertreter der subjekti
ven Ökonomie von >>Gestaltwechsel<< sprechen, die Marxsche
Formel des Kapitalumschlages G1 - W - G2 rezipieren, aber
jenes Subjekt nicht benennen können, das die Eigenschaft be
sitzt, diesen >>Gestaltwechsel<< zu vollziehen.
Der Problemgehalt der Wertform läßt sich nicht dadurch aus
der Welt schaffen, daß man die Marxsche Lösung und Darstel
lung ignoriert. Es zeigt sich nämlich, daß die Kritiker der
Arbeitswerttheorie gelegentlich in selbstkritischer Einsicht die
Unlösbarkeit eben jener Probleme konstatieren, die den Gegen
stand der von ihnen ignorierten Wertfarm-Analyse ausmachen.
Die Bewußtlosigkeit jenes Zusammenhangs zwischen der eben
noch kritisierten, als >>metaphysisches Dogma << verworfenen
objektiven Werttheorie und der in den folgenden Abschnit
ten dargestellten qualitativen Wertprobleme äußert sich exem
plarisch in der Abhandlung Joan Robinsons Doktrinen der
Wirtschaflswissenschafl. Die Autorin verkennt, daß sie mit
ihrer Frage nach der Qualität ökonomischer Quantitäten und
nach dem Wesen ökonomischer Grundbegriffe genau jenen
5 4 0. v . Zwiedeneck-Südenhorst, Allgemeine Volkswirtschaflslehre, Berlin
1 9 J 2 , s. 1 02 ,
1 49
Problemkomplex beschreibt, um den das Marxsche Denken
kreist : »Es ist noch immer üblich, Modelle zu konstruieren, in
denen Quantitäten von >Kapital< erscheinen, ohne daß man
die geringste Angabe darüber macht, wovon dies eine Quanti
tät sein soll. Wie man das Problem, dem Nutzenbegriff einen
praktischen Inhalt zu geben, gewöhnlich umgeht, indem man
ein Diagramm zeichnet, so entzieht man sich auch dem Problem,
der Quantität von >Kapital< einen Sinn zu geben, durch
Übersetzung in Algebra. K ist Kapital, .d K ist Investition.
Was aber ist K? Was soll das heißen ? Kapital natürlich. Es
muß einen Sinn haben, also wollen wir mit der Analyse fort
fahren und uns nicht mit spitzfindigen Pedanten abplagen, die
zu wissen begehren, was gemeint ist.<< H Joan Robinson enthüllt
die paradoxe Situation des modernen Ökonomen, der einerseits
komplizierte mathematische Methoden entwickelt, um die Be
wegungen der Preise und des Geldes zu berechnen, andererseits
das Nachdenken darüber verlernt hat, was das wohl sein mag,
was den Gegenstand seiner Berechnungen ausmacht. Verbleibt
man jedoch in der Denkweise Joan Robinsons, dann läßt sich
ihre der modernen Ökonomie entgegengehaltene Frage :
»Quantität wovon? .: von ihrer eigenen Position her nur als
»metaphysisch<< charakterisieren ; denn es ist eben diese Pro
blemstellung, die als Frage nach der Genesis der »übernatür
lichen Eigenschaft<< Wert oder - was dasselbe besagt - als Frage
nach der »Substanz « des Werts Gegenstand der Marxschen
Überlegungen ist. Der positivistischen Manier, qualitative Pro
bleme zu eliminieren - »Geld und Zinssatz erweisen sich wie
Güter und Kaufkraft als unfaßliche Begriffe, wenn wir wirk
lich versuchen sie festzuhalten<< 56 - entspricht jener berüchtigte
5 5 J. Robinson, Doktrinen der Wirtschaflswissenschafl, München 1 9 6 5 , S. 8 5 .
5 6 Ibid., S . 1 09 . Die nominalistische Geldtheorie hätte sich mit dem merk
würdigen Phänomen zu beschäftigen , •daß die Namen, die bestimmte ali
quote Gewichtsteile des Goldes (edlen Metalls) erhalten, Pfund, Shilling,
Pence etc., durch irgendeinen unerklärlichen Prozeß sich selbständig verhal
ten gegen die Substanz, deren Namen sie sind« (Marx, Grundrisse . . . , I . c.,
S. 684). Im Unterschied zu den Begründern der nicht-metallistischen Geld
theorie, die jener •unerklärliche Prozeß< noch irritiert hatte, halten die
modernen Lehrbücher der Geldtheorie dieses Problem nicht einmal für er
wähnenswert. Knapp stellte immerhin fest : •Eine wirkliche Definition des
Zahlungsmittels dürfte schwerlich zu geben sein • (Zit. in: K. Elster, Die
Seele des Geldes, Jena 1 92 3 , S. 4). Seinem Schüler Elster zufolge glaubte er
• den Begriff des Zahlungsmittels, dessen Definition ihm nicht gelingen will,
Formalismus, der von Joan Robinson folgendermaßen glossiert
wird : »Die modernen Vertreter der neoklassischen Ökonomie
flüchten sich in immer kompliziertere mathematische Manipu
lationen und ärgern sich immer mehr über Fragen nach deren
mutmaßlichem Gehalt<< .57
Wenn maßgebliche Darstellungen der modernen Geldtheorie
sich darauf beschränken, Geld als >>allgemeines Tauschmittel<<
zu definieren, so bleibt immer noch die Frage offen, was den
spezifischen Unterschied von besond6rem und allgemeinem
Tauschmittel, Ware und Geld ausmacht. Erst wenn die Bezie
hung beider als Einheit in der Verschiedenheit begriffen ist,
verschwindet auch jener »Spuk<<, der das Ökonomistische Den
ken zwingt, Geld als >>unfaßlichen Begriff<< auszugeben.
Daß die Beziehung von Ware und Geld nur als soziale, nicht
aber als dingliche Beziehung faßbar ist, diese an sich triviale
Einsicht wird auch von Vertretern der subjektiven Ökonomie
ausgesprochen. Von der Feststellung ausgehend, daß der sub
jektive Wert nur eine psychische Beziehung zwischen einem
Subjekt und einem Objekt zum Inhalt hat, stellt Amonn
zutreffend fest : >>Eine in ihrem Wesen davon verschiedne Be
ziehung objektiver Natur ist zum Ausdruck gebracht im Be
griff des >objektiven Tauschwerts<. Das ist eine soziale Bezie
hung.<<5s Diese Überlegung soll die ökonomische Analyse in
eine soziologische überführen. Soziale Beziehungen sind für
Amonn >>Bewußtseinstatsachen<< und >>Willensbeziehungen<<
wie Staat, Familie, Freundschaft etc. >>Kapital, Geld, Unter
nehmung sind ebensolche sozialen Tatsachen<<59. Kapital gilt
als einen jener letzten, ursprünglichen Begriffe betrachten zu sollen, die kei
ner weiteren Definition mehr zugänglich sind• (K. Elster, I. c., S. 4 f.).
Elster selbst spricht von dem Problem der Wirtschaft •an dessen Lösbarkeit
ich nicht zu glauben vermag. [ . . . ] Die inneren psychischen Beziehungen des
Menschen zu den Gegenständen der Wirtschaft - der Nutzen, als die Lust,
nach der der Wirtschafter strebt [ . . . ], diese psychischen Tatbestände vermö
gen nie und nimmer zu zahlenmäßigen Ausdrücken zu gelangen. Zwei ganz
verschiedenen Welten gehören sie an : der Wert und die Zahl, das heißt : der
Preis • . Die Vertreter der subjektiven Werttheorie stünden hier • vor einem
jener Probleme, die menschlichem Begreifen nicht mehr faßbar sind • .
( K . Elster, I. c . , S. p f.) 5 7 Ibid ., S. r s 6
5 8 A . Amonn, Volkswirtschaflliche Grundbegriffe und Grundprobleme, Bern,
1 944· s. ' 34·
5 9 A . Amonn, Objekt und Grundbegriff der Nationalökonomie, Wien 1 9 I I ,
S. 409 ff . - Neuere Versuche, eine • gesellschaftliche Theorie des Geldes•
(Gerloff) zu erarbeiten oder •Nationalökonomie als Soziologie• (Albert) zu
rp
ihm als >>konzentrierte und abstrakte [ . ] unpersönliche so
. .
Die Marxisten waren die ersten Sozialisten, die die Frage auf
warfen, ob eine Analyse nicht nur der ökonomischen, sondern
aller Seiten des sozialen Lebens notwendig ist, heißt es bei
Lenin.'
Ich stelle den Vortrag unter das Zeichen dieser Bekundung Le
nins, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen. Erstens, weil
man heute nicht einfach von Marxismus sprechen kann, es sei
denn in abkürzender Weise, sondern nur von Marxismus
Leninismus. Es ist unmöglich, das Denken von Marx anders zu
erfassen als über das Denken (und Werk) Lenins ; und die mei
sten Irrtümer und Mißverständnisse ergeben sich daraus, daß
man dieses wesentliche Kettenglied ausläßt. Der zweite Grund
ist der, daß der Leninsche Satz als Schlußfolgerung meines
Vortrags dienen könnte, der versuchen wird, ihn methodolo
gisch zu entfalten.
Der philosophische Mut und die wissenschaftliche Strenge von
Herrn Gurvitch haben uns gestattet, eine Reihe von Problemen
aufzuwerfen, von denen wir seit dem ersten Tag dieses Collo
quiums glauben, daß sie über den Rahmen der Soziologie hin
ausgehen.
Einige sagen, diese Probleme sind ausgedacht und machen die
Diskussion scholastisch. Andere, etwas weniger streng, sagen,
daß man sie löst, indem man die Dinge weitertreibt, arbeitet,
Forschungen anstellt. Ich bin demgegenüber der Ansicht, daß
es hier nicht nur um die Schwierigkeiten eines philosophischen
und methodologischen Begriffs (des Begriffs der Erklärung)
geht, noch bloß um die Sorgen eines Gelehrten : des Soziologen,
der den Ungewißheiten seiner Wissenschaft ausgesetzt ist. Es
handelt sich im Grunde um eine allgemeine Krise der Sozial
wissenschaften, der Wissenschaften von der menschlichen Wirk-
r Was sind die • Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemo
kraten? In : Werke, Band r, Berlin 1963, S. I 54·
I5J
lichkeit : um ihre spezifischen Definitionen - ihre Gegenstände
und Methoden - ihre wechselseitigen Beziehungen und Zusam
menhänge - und schließlich um ihre Beziehungen zu jenem un
endlich komplexen und doch in seiner Komplexität einheit
lichen »Objekt<< : der totale Mensch. Ich bestehe sehr auf diesen
Worten. Denn ich glaube, für den Marxismus ist allein der
Mensch total. Und diese Formel begründet auch einen Huma
nismus. Es kann keine gesellschaftliche Tatsache oder Erschei
nung geben, die nicht Träger oder Stütze des totalen Menschen
wäre.
Die Krise der Soziologie ist nur ein Sonderfall der Krise der
Wissenschaften vom Menschen. Einige Teilnehmer dieses Collo
quiums haben mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, daß
sie dieser Ansicht waren. Alle haben zugegeben, daß es unmög
lich ist, die soziologischen Fragen zu isolieren, sie für sich zu
behandeln. Man wird erklären, daß diese Situation nicht neu
ist ; daß die Wissenschaften vom Menschen niemals einen end
gültigen Status finden konnten und daß das sehr gut so ist ; daß
die Wissenschaften und Gelehrten deshalb nicht schlechter dar
an sind ; daß sie diese Krise seit langem aushalten ; mit einem
Wort, daß diese Krise fruchtbar ist.
Das ist vielleicht bis zu einem gewissen Punkt nicht einmal
falsch. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß uns heute die
Lage der Wissenschaften vom Menschen und insbesondere der
Soziologie beunruhigender erscheint als früher. Als Beweis
möchte ich nur die Bündnisangebote erwähnen, die hier mit
diplomatischen Theatercoups einander abgelöst haben. Kalter
Krieg? Fortsetzung der imperialistischen Politik mit anderen
Mitteln? Aktive friedliche Koexistenz? Vorspiel einer allge
meinen Umarmung? Hin und wieder konnte man sich das
fragen.
Worin besteht angesichts dieser Lage, dieser Krise die Haltung
des Marxismus? Ich bin Ihnen einige vorläufige »Erklärungen<<
schuldig. Wenn ich auch keineswegs beauftragt bin, so fühle ich
mich Ihnen gegenüber doch verantwortlich für das marxisti
sche Denken und die marxistische Forschung. Ich nehme diese
Verantwortung auf mich, ohne daß meine Ausführungen für
die anderen Marxisten verbindlich wären ; denn es gibt bei uns
verschiedene Tendenzen, verschiedene Temperamente und ver
schiedene Weisen, die Methode anzuwenden. Bei uns wie an-
1 54
derswo. Der Marxismus ist kein homogenes Ganzes, kein mo
nolithisches Ungeheuer. Und doch gibt es eine gewisse Einheit,
ohne welche die Bezeichnung keinen Sinn mehr hätte.
Steht der Marxismus völlig außerhalb dieser Krise? Steht er
über ihr? Sind wir bloße Zeugen? Kommen wir als Schieds
richter und Sachverständige? Ich glaube, diese Auffassung
wäre unfruchtbar und nicht frei von Dogmatismus. Nein, der
Marxismus steht nicht radikal außerhalb der anderen Denk
richtungen in der Welt, auch nicht außerhalb derjenigen, die er
bekämpft und die er in einem freien, friedlichen Wettbewerb
zu besiegen hofft, auf der intellektuellen und >>geistigen« Ebene.
Er steht nicht außerhalb der Probleme ; denn es gibt solche, die
nicht nur den Menschen entspringen, die sie stellen, nicht nur
Mängeln oder dem Klassencharakter ihres Nachdenkens, son
dern immer auch ihrer objektiven Wirklichkeit, dem mensch
lichen Werden.
Ich möchte versuchen, hier als Marxist zu sprechen, im Namen
des Marxismus-Leninismus. Ich werde also versuchen, zugleich
als Philosoph und Soziologe zu sprechen, als Erkenntnistheo
retiker, der auf ein Spezialfach reflektiert, auf eine Einzelwis
senschaft. Man wird sagen, daß diese Weise, die Frage zu stel
len, bereits eine Antwort enthält oder die Unmöglichkeit einer
Antwort. Auf diesen Einwand erwidere ich, daß alle, die hier
gesprochen haben, ob freiwillig oder nicht, ob bewußt oder
nicht, dieselbe Position eingenommen haben. Sie haben philoso
phische Begriffe angewandt und behandelt, die erkenntnistheo
retisch relevant sind, vor allem die der Erklärung, des Verste
hens, des Determinismus, der Totalität usw. Sie haben sich
nicht innerhalb einer Sonderdisziplin, der Soziologie, placieren
und einrichten können und vermochten nicht, in ihr zu ver
bleiben.
Wie dem auch sei, als Marxist, der einer Richtung des Denkens
und Handeins angehört, deren Weltbedeutung künftig kaum
noch zu verkennen ist, glaube ich vorausschicken zu können,
daß ich weder gewillt bin, eine bereits feststehende Entschei
dung vorzuführen, noch den hier gestellten Problemen, die mir
in der Tat real erscheinen, eine fertige Lösung vorzuschrei
ben.
Es liegt mir nichts daran, die Schläge und die Punkte zu zäh
len, ebensowenig will ich die Stücke zusammenlesen. Diese auf
155
Kunstgriffe bedachte Auffassung von Dialog und Diskussion
scheint mir unergiebig und falsch. Für mich hat der Dialog
einen Sinn und Inhalt und muß ihn haben. Sonst ist es zweck
los, ihn aufzunehmen. Ich führe nur meinen Dialog über den
Begriff der gesellschaftlichen Klassen mit Herrn Gurvitch an,
der vor anderthalb Jahren, wohl im Januar 1 9 5 5 , stattfand
und sechs Monate später in der Zeitschrift Critique erschien.
Dieser Text hatte einen wirklichen und tiefen Inhalt, der sei
nerzeit leider nicht vollständig entfaltet wurde. Warum? Es
würde zu weit führen, den Gründen nachzugehen. Heute je
doch erscheint dieser Dialog in einem neuen Licht. Worum han
delte es sich im Kern, im Inhalt? Um die Vielheit der Wege
zum Sozialismus. Denn zwischen Kapitalismus und Sozialis
mus - das heißt die Transformation der gesellschaftlichen Ver
hältnisse durch das Handeln der Arbeiterklasse - gibt es nicht
mehrere Lösungen ; es gibt keine grundlegend andere Wahl (um
mich in einer Sprache auszudrücken, die nicht ganz marxistisch
ist !). Kurz, es gibt kein geschichtliches Tertium.
Der Pluralismus hat also in gewissen Grenzen recht, bis zu
einem gewissen Punkt. Er hat recht, ohne daß wir deshalb in
den völligen Relativismus zurückfallen, ohne daß der Begriff
einer Wahrheit, eines Sinnes der Geschichte und der Soziologie
allen Wert verliert. Denn - stellen wir das sogleich fest - diese
Vielheit von Wegen, die zu einem Ziel führen, das an sich
durch seinen Begriff, den Sozialismus, bestimmt ist, eröffnet sie
nicht dem Soziologen und der Soziologie ein Feld für For
schungen? Ich bringe diesen Gedanken als Hypothese vor, die
vielleicht fruchtbar ist. So kann man vergleichsweise die jugo
slawische Erfahrung und die der anderen Länder studieren, die
sich auf dem Wege zum Sozialismus befinden. Ich füge hinzu,
daß aus den Arbeiten Lenins bereits seit langem das Bestehen
zweier Hauptwege zum Sozialismus hervorging : der Weg der
Industrie und der Weg der Landwirtschaft in den vorwiegend
agrarischen Ländern. Dementsprechend und infolgedessen gibt
es so viele Wege wie Nationen und nationale Besonderheiten.
Lenin hat sich darüber mit der allergrößten Klarheit auf den
letzten Seiten seiner Schrift Der »linke Radikalismus" , die
Kinderkrankheit im Kommunismus ausgesprochen. Ich weiß,
daß hier nicht alle dem zustimmen, was ich vorbringe. Ich weiß
nicht einmal, ob Herr Gurvitch mir beipflichten wird. Ich
r 56
möchte lediglich unterstreichen, daß der Dialog einen Inhalt
hatte und behält.
Es kann in dieser Frage auch unter Marxisten Uneinigkeit und
Diskussionen, und zwar polemische, geben. So hat mich Roger
Garaudy anläßlich des oben erwähnten Dialogs heftig ange
griffen, zur seihen Zeit, als er Herrn Gurvitch angriff. Ga
raudy warf uns nicht nur vor, die gesellschaftlichen Klassen
schlecht zu definieren, was sein Recht war (wenn er sich auch
damit begnügte, einer Untersuchung eine wohlbekannte Defi
nition entgegenzuhalten), sondern auch, in die Definition und
den Begriff der Arbeiterklasse die Theorie der Diktatur des
Proletariats nicht mit aufzunehmen ! Das war unverzeihlich.
Denn er vermengte nicht nur Politisches und Gesellschaftliches,
Soziologisches und ökonomisches, sondern seine Position war
politisch falsch. Denn schließlich, wenn die Aktion der Arbei
terklasse, die darauf abzielt, die kapitalistischen Produktions
verhältnisse in sozialistische zu überführen, wenn diese Aktion
unter bestimmten Umständen auf parlamentarischem Wege
vonstatten gehen kann, dann kann es nicht mehr um die not
wendig gewaltsame Diktatur des Proletariats gehen ; die Theo
rie der Diktatur des Proletariats muß eingeschränkt, präzisiert
und von anderen politischen Möglichkeiten unterschieden wer
den. Ich hoffe, daß mein Freund Garaudy mir nicht darüber
böse ist, daß ich in einem wissenschaftlichen Kolloquium einen
Irrtum berichtige, der der marxistischen Wissenschaft ebenso
abträglich ist wie der Wissenschaft im allgemeinen und der
Möglichkeit von Dialogen und einer einheitlichen Position.
Ich fasse zusammen. Eine bestimmte Auffassung vom Dialog
scheint mir in dem Sinn überholt, daß sie scheinbar eine Unter
haltung in Gang brachte und diese dabei auf einen verbalen
Austausch, auf ein Zeremoniell reduzierte. Für mich gibt es den
Dialog, weil es wirkliche Probleme gibt ; der Dialog und die
Diskussion sind im beweglichen Rahmen einer Einheit zu ver
folgen, die sich im Dialog selbst herstellt und ihm entspringt,
eine Einheit, welche die der Erkenntnis und der Wissenschaft
ist. Aber, wird man sagen, weshalb halten Sie dann an Ihrem
marxistischen »Gesichtspunkt<< fest? Warum treten Sie weiter
als Marxist auf und stellen den Marxismus nicht in Frage? Wo
her kommt Ihre Sicherheit, wenn nicht aus einem Dogmatis
mus? Ich antworte zunächst so, daß mir die dialektische Me-
I57
thode imstande scheint, die Probleme zu lösen, ja sie richtig zu
stellen, was bereits mehr bedeutet als die allzu selbstgefällige
Eignung für die Probleme einer >>Problematik« als solcher.
Ich antworte ferner mit dem Hinweis, daß die besonderen Pro
bleme der Wissenschaft vom Menschen konkret, im Kontakt
mit dem Wirklichen und unendlich komplexen Objektiven ge
löst werden. Und zwar insofern, als kein Problem dem Gang
der Erkenntnis und der Praxis apriorische Grenzen setzen, ihn
eindämmen kann. Im Gegenteil : die Probleme haben etwas
Fruchtbares ; und ich wiederhole, sie stellen heißt bereits sie
lösen, weil man sie nur stellt, wenn man begonnen hat, sie zu
lösen. Das ist ein wichtiger Aspekt der marxistischen dialekti
schen Methode, ihr materialistischer. Aus eben diesen Gründen
hat auch das Wort »Krise « für uns nicht den unangenehmen
Klang, den es für viele andere hat. Es hat für uns marxistische
Dialektiker seinen ursprünglichen Sinn : Augenblick der Diffe
renzierung und Erneuerung, in dem das Werden auf neuer
Stufe weitergeht.
Die Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß der als histori
scher Materialismus betrachtete Marxismus (und Leninismus)
die Entwicklung der Gesellschaft und die Herausbildung des
Menschen als einen komplexen Prozeß bestimmt - viel kom
plexer als ihn sich der Evolutionismus vorgestellt hat -, in
mehrfacher Hinsicht widerspruchsvoll, aber determiniert : als
eine (sich bewegende, das versteht sich von selbst) Totalität.
Man kann sogar sagen, daß Marx als erster klar auf wissen
schaftlicher Ebene (nach Hege!, bei dem er auf philosophischer
vorliegt) diesen Begriff der Einheit und Totalität der gesell
schaftlichen Entwicklung des Menschen gehabt hat.
Worin besteht aber beim Studium dieses Prozesses die Rolle,
der Ort, die Methode, der Gegenstand der Einzelwissenschaf
ten? Die Gesellschaft ist für Marx der gesellschaftliche Mensch
(und keine ihm äußerliche Wesenheit oder Macht ; wenn sie als
solche erscheint, handelt es sich um eine Entfremdung, eine
» Verdinglichung«). Aber der Mensch kann sich nicht als reines
Subjekt verstehen. Er ist auch das Produkt des gesellschaft
lichen Lebens ; er ist für sich selbst und für die anderen Men
schen nur, sofern er Objekt ist, handelndes physisches Wesen,
Objekt von Begierden, von Bedürfnissen, deren erstes das
soziale Bedürfnis ist. Er ist nur insofern gesellschaftlich, als er
Objekte erzeugt, als er damit Macht über die Natur erlangt,
die ebenfalls objektiv ist. Der Mensch ist ein Objekt-Subjekt.
Aber selbst, wenn man auf dem Vorrang und Primat objekti
ver Bestimmungen besteht, kann man Objektives und Subjek
tives nicht voneinander trennen und bestimmten Wissenschaf
ten das Menschen-Objekt zuordnen, anderen das Menschen
Subjekt.
Das Kapital hat für ein Werk der politischen Ökonomie gegol
ten und gilt häufig immer noch als solches. Es dient sogar seit
Jahrzehnten als Feldzeichen für Schulen von Ökonomen, die
sich für Marxisten halten oder vielmehr für wahrhafte Vertre
ter des Marxismus (was ihnen Polemiken mit nicht-marxisti
schen Ökonomen einträgt, die freilich den Marxismus als Sy
stem der politischen Ökonomie angreifen). Das ist aber eine
Interpretation des Marxismus, eine von rechts, die ihn verun
staltet. Man vergißt den Untertitel des Kapitals: Kritik der
politischen Ökonomie. Marx kritisiert nicht nur die klassische
oder die vulgäre politische Ökonomie, er kritisiert die politische
Ökonomie im allgemeinen, als solche. Und doch baut er gleich
zeitig eine neue und wissenschaftliche politische Ökonomie
auf.
Was ist das Kapital? Ebenso eine Geschichte des Kapitalismus
wie ein Traktat der politischen Ökonomie. Marx selbst hat ge
sagt, daß die klassischen Ökonomen die Anatomie der kapita
listischen Gesellschaft geliefert hatten und er bemüht war, ihre
Physiologie zu liefern. Dieselbe Analogie fortsetzend, begrüßt
es Lenin, daß Marx in seinem großen Werk das durch die Ana
lyse und ökonomische Theorie gewonnene Gerippe mit Fleisch
und Blut umgeben hat ; daß er an die konkreten gesellschafl
lichen Manifestationen herangekommen ist, an die Tatsachen
des täglichen Lebens, an die lebendige Wirklichkeit der bürger
lichen Gesellschaft mit ihren Kämpfen, Antagonismen, Ideen
und Institutionen, mit den bürgerlichen Familienverhältnissen.
Lenin erkannte damit im Kapital einen Traktat wissenschaft
licher Soziologie.• Das große Werk von Marx hat also einen
>>totalen« Charakter und Sinn, und zwar obwohl oder weil es
eine Gesellschaft studiert, die kapitalistische.
Gleichwohl sah - wie gesagt - ein Flügel der marxistischen
Bewegung, der rechte Flügel, im' Kapital lediglich einen poli-
2. Ibid., S. ' 3 ' ·
1 59
tisch-ökonomischen Traktat und in Marx den Begründer einer
Richtung von Ökonomen. Das war die Einstellung insbesonde
re der deutschen marxistischen Sozialisten, die von Hilferding
und Kautsky. Als der rechte und opportunistische Flügel der
Arbeiterbewegung, vor allem in Frankreich, sich bereit fand,
im Werk von Marx und im Marxismus eine Soziologie zu se
hen, geschah dies einzig, um in ihm nur noch eine Soziologie
zu sehen ; um diese dem Marxismus als Methodologie, als Welt
ansicht, als ökonomische Wissenschaft entgegenzusetzen ; um zu
verkünden, daß über den Marxismus als Philosophie, als poli
tische Ökonomie oder Geschichte und selbst als Soziologie hin
ausgegangen werden könnte, ja schon hinausgegangen worden
se1.
Auf dem linken, dem revolutionären Flügel waren die Dinge
nicht einfacher. Die Interpretation des Marxismus von Lukacs,
zumindest in seinen ersten Schriften, schloß die Soziologie aus
und reduzierte den Marxismus auf einen Historismus (wobei
die Geschichte selbst als » katastrophisch<<, eschatologisch auf
gefaßt wurde) . Nehmen wir das berühmte Werk von Lukacs
über Geschichte und Klassenbewußtsein. Es zeigt, wie die bür
gerliche Gesellschaft die menschlichen Beziehungen, die Men
schen, Tätigkeiten und Ideen verdinglicht. Es zeigt auch,
wie die Geschichte in einer unaufhörlichen Bewegung diese
Verdinglichung auflöst, sie negiert oder >> vernichtet<< . Diese zu
gleich theoretische und praktische Auflösungsbewegung ist für
Lukacs identisch mit dem Klassenbewußtsein des Proleta
riats - betrachtet als absolutes geschichtliches Subjekt, als
Träger des Bewußtseins, der Zukunftsvision und revolutionä
ren Aktion. Es gibt damit eine reine Geschichtlichkeit des Pro
letariats, seiner Realität, seines Klassenbewußtseins. Dem
Objektivismus, dem Ökonomismus des rechten Flügels ent
sprach so der Subjektivismus der Klasse auf dem linken Flügel
mit dem »reinen« Historismus und der Katastrophentheorie
der Geschichte.
Die Frage ist nicht einfach. Befragen wir die heutigen marxi
stischen Ökonomen, so behaupten sie mit guten Gründen, daß
ihre Wissenschaft nicht die Produktion zum Gegenstand hat. In
der Tat, schon Marx hatte unterstrichen, daß andere Wissen
schaften für die Produktion zuständig sind : die Naturwissen
schaften, die Technologie, die Anthropogeographie etc. Die po-
I 6o
litische Ökonomie hat zum Gegenstand nicht die Produktion
oder die Produktivkräfte als solche, sondern die Produktions
verhältnisse (die durch die Analyse von den Produktivkräften
unterschieden werden) . Nun haben sich diese Produktionsver
hältnisse historisch herausgebildet ; sie haben sich historisch ver
ändert. Sie sind gesellschaftliche Verhältnisse. Die politische
Ökonomie befaßt sich keineswegs mit der »Produktion«, son
dern mit den gesellschafllichen Beziehungen der Menschen in
der Produktion, mit der gesellschafllichen Struktur der Pro
duktion (Lenin) .3 Dann aber sind die von der marxistischen
politischen Ökonomie untersuchten Tatsach�n und Gesetze hi
storisch. Im unlängst von der Akademie der Wissenschaften der
UdSSR veröffentlichten Lehrbuch4 heißt es denn auch mit
Recht : Die politische Ökonomie ist eine historische Wissen
schaft. Worin aber besteht genau ihr Verhältnis zur Geschichte?
Das Lehrbuch schweigt sich fast ganz über diese Frage aus.
Man fragt sich, ob man hier nicht vor einem circulus vitiosus
steht : die Geschichte ist auf der politischen Ökonomie zu be
gründen, auf dem Studium der Produktionsverhältnisse - und
die Produktionsverhältnisse sind historisch, damit auch die Be
griffe und Kategorien der politischen Ökonomie. Ebenso muß
die Soziologie historisch werden oder bleiben ; und das Studium
der Geschichte muß sich auf das der Gesellschaft gründen.
In Wirklichkeit wissen wir, daß es hier keinen circulus vitiosus
gibt, sondern Wechselwirkung, wechselseitige Abhängigkeit,
aber vielleicht auch ein Problem. Der Okonom und der Histo
riker untersuchen die Seiten der ökonomischen Gesellschaftsfor
mation, ein Grundbegriff des Marxismus, wie Lenin hervorge
hoben hat. Ein Begriff, der die Entwicklung der Gesellschaft
und des Menschen bezeichnet, ihre Komplexität und die Tat
sache, daß - für sich genommen - weder das ökonomische,
noch das Historische, noch das Gesellschaftliche diese Entwick
lung erschöpft. Es bleibt dabei, daß hier eine Schwierigkeit und
ein Problem vorliegt, wenn es sich nicht um eine Absurdität
handelt. Daher die vielfachen Verwechslungen, Vermengun
gen, Divergenzen und Trennungen, die ebenso irreführend sind
wie die Vermengungen. Daher unter den Gelehrten, die sich
3 Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland; in : Werke, Band J, Berlin
1956, s. 5 1 ·
4 Deutsche Ausgabe : Politische Ökonomie, Berlin 1 9 5 5 , S . u .
x6x
auf den Marxismus berufen, die reinen >>Ökonomen«, Ökono
men mit historischer Tendenz und Historiker mit ökonomi
scher. Daher auch die merkwürdigen Mischungen aus Marxis
mus und Anti-Marxismus sowie aus ökonomismus, Historis
mus und Soziologismus, wobei einer der merkwürdigsten Fälle
in dem uns interessierenden Bereich der von Schumpeter war,
den zu analysieren ich hier nicht die Zeit habe.
Kehren wir zu Lenins Denkweise zurück. Für ihn, das sagt
er ausdrücklich, ist der Marxismus eine wissenschaftliche Sozio
logie. Er ist die wissenschaftliche Soziologie. Wird aber der
Marxismus oder historische Materialismus insgesamt mit der
wissenschaftlichen Soziologie gleichgesetzt, so hört diese auf,
eine besondere oder Einzelwissenschaft zu sein. Es gibt für eine
Einzelwissenschaft keinen Platz mehr neben der Geschichte, der
politischen Ökonomie usf. Entweder jene Wissenschaften ver
schwinden in der allgemeinen Soziologie oder aber diese selbst
verschwindet im historischen Materialismus, der als umfas
sende und einheitliche Wissenschaft betrachtet wird. Das scheint
die Position des philosophischen Wörterbuchs von Judin und
Rosental zu sein. Im Artikel »Soziologie« lesen wir : Der Mar
xismus ist der Ansicht, daß es für alle Gesellschaftsformationen
allgemeine ökonomische Gesetze gibt, die soziologischen Geset
ze. Sie gelten für alle Phasen der gesellschaftlichen Entwick
lung, da sie alle Formationen zu einem einheitlichen Prozeß
verbinden [ . . ] . s
.
q6
Gegenstand der Wissenschaft, wo sie praktische Probleme auf
warfen.
I n Frankreich beginnen um die Mitte des neunzehnten Jahr
hunderts die Zerstückelung des Erbes und der Grundstücke,
die Teilung der Vermögen und die Landflucht die Behörden
zu beunruhigen. Die Herausbildung des inländischen Marktes
bringt einen Umbruch der Agrarstruktur mit sich : eine Kon
zentration des Eigentums, eine Kommerzialisierung und Spe
zialisierung der Produktion. Dann überlagern die durch den
Weltmarkt gestellten Fragen, später die der modernen Arbeits
verfahren, die erstgenannten : Preisschutz, Rentabilität, Ein
führung von Maschinen. Allmählich werden die vertrauten und
unbekannten Realitäten als des Interesses und wissenschaftli
cher Studien würdig erachtet. Wenn sich die Agrarsoziologie
in den USA entwickelt hat, so hat das seine klare Ursache in
der Bauernfrage, welche die einander ablösenden Regierungen
stark beschäftigt.•
Gegenwärtig hat sich in der ganzen Welt die >>Bauernfrage«
unter verschiedenen Formen gestellt oder stellt sich noch. Fast
überall haben Bodenreformen stattgefunden oder sind im
Gange : in den Volksdemokratien, in China, Mexiko, Ägypten,
Italien, Japan, Indien usw., ganz zu schweigen von den großen
Transformationen der Landwirtschaft in der UdSSR. Es ver
steht sich, daß diese Transformationen und Reformen je nach
den Verhältnissen und politischen Systemen höchst verschieden
sind. Und doch bezeichnen sie das ungeheure Ausmaß und die
weltumspannende Aktualität der Agrarfragen. So sind die So
ziologen vom Studium der Primitiven zu dem städtischer und
industrieller Bereiche übergegangen, um sich sozusagen kopf
über in diese zeitlich und räumlich so ausgedehnte Realität zu
stürzen. In Frankreich wurde das Studium der bäuerlichen
Wirklichkeit von den Historikern und Geographen begonnen.J
Aber deren Arbeiten müssen heute korrigiert, das heißt zu
gleich konkretisiert und einer Gesamtkonzeption eingegliedert
werden, die allein von einer Soziologie geliefert werden kann,
2 Cf. dazu besonders die jüngst erschienenen Werke von Daniel Guerin und
die Romane von Steinbeck, Caldwell und anderen.
3 Durch die Vertreter der Schule der » geographie humaine•. Bei dieser
Gelegenheit sei Herrn Sorre, dem Leiter des »Centre d'Etudes Sociologi
ques« für die Förderung gedankt, die er Untersuchungen auf dem Gebiet der
Agrarsoziologie zuteil werden ließ.
177
die als Studium der Totalität des gesellschaftlichen Prozesses
und seiner Gesetze betrachtet wird.
Man kann nicht entschieden genug auf die Tatsache hinweisen,
daß die großen Einheiten (Inland- und Weltmarkt, soziale und
politische Strukturen) ganz erheblich dazu beigetragen haben,
die Agrarstrukturen umzugestalten. So waren die S pezialisie
rungen bedingt durch den Inland- und Weltmarkt (auf der
nationalen Ebene können wir als Beispiel den Weinbau des
Südens anführen und auf der globalen die Kaffeeplantagen
Brasiliens) . Die gesellschaftliche und politische Organisation,
die Tätigkeit des Staates, die Pläne - oder deren Fehlen oder
Scheitern - haben auf den kleinsten Landbesitz ein- und zu
rückgewirkt. Es gibt heute keinen Bauern, selbst in Afrika oder
Asien, der nicht von Weltereignissen abhinge.
regt, aber sie hat einen Hauptnachteil : sie gestattet die will
kürliche Konstruktion von »Komplexen« und ersetzt das
Studium der Tatsachen durch ein hypothetisch-deduktives Ver
fahren, das von diesen Komplexen ausgeht, die sich aus einer
Technik und einer Ideologie zusammensetzen. (Dieser Mangel
tritt in dem sonst bemerkenswerten Buch von Frau Lavisa
Zambotti über die Grands courants de civilisation zutage.)
d. Die monographische Methode ist mit sehr großer Vorsicht
anzuwenden. Eine oft enttäuschende Erfahrung zeigt, wie sel
ten gute Monographien (über das Dorf, das Land) sind und
r 86
wie wenig soziologisch brauchbare Aufschlüsse sie gewähren.
Die Sozialforscher verlieren sich in den örtlichen Einzelheiten,
in der Beschreibung der heimischen Verhältnisse oder des An
baus usw. Das Wesentliche, das dem geübten Soziologen ins
Auge springt, entgeht ihnen mangels einer guten Bildung, die
sich nur langsam erwerben läßt. Die gegenwärtigen Bedingun
gen der wissenschaftlichen Forschung begünstigen das Entste
hen erfahrener Soziologen leider nicht. Wie dem auch sei : die
monographische Untersuchung und die Interpretation von
Dokumenten setzen eine Gesamtsicht der Probleme voraus.
Und die gute wissenschaftliche Methode zielt stets darauf ab,
zum Wesentlichen zu gelangen, dadurch, daß man es von der
zufälligen, oberflächlichen oder abweichenden Tatsache unter
scheidet. Die monographische Methode kann den Erfordernis
sen der Klassifikation und der Typologie ländlicher Gruppen
nicht genügen. Sie dient der Forschung als Hilfstechnik. Dabei
gilt natürlich weiterhin, daß jede aufs Ganze gehende Arbeit
sich auf eine möglichst große Anzahl örtlicher und regionaler
Monographien stützen muß.
e. Die technologische Methode weist die allgemeinen Grenzen
der Technologie auf. Die Erfindung, Obernahme und Auswei
tung der Techniken lassen sich nicht abgelöst von den wirk
lichen gesellschaftlichen Verhältnissen begreifen. Die Technik
ist zugleich bestimmend und bestimmt (wie das oberflächlichste
Studium der modernen Mechanisierung der Landarbeit be
weist) . Die technologischen Studien sind deshalb der allgemei
nen Konzeption des Ganzen untergeordnet : der umfassenden
Bewegung, die seit den Anfängen die Produktivität der Land
arbeit allmählich steigerte und zu den gegenwärtigen Struktu
ren führte.
Wir schlagen nunmehr eine sehr einfache Methode vor, die sich
der Hilfstechniken bedient und mehrere Momente umfaßt.
Diese sind :
a. Deskriptiv. Untersuchung, aber mit einem an der Erfah
rung und an einer allgemeinen Theorie geschulten Blick. An
erster Stelle steht : anteilnehmende Beobachtung auf dem Un
tersuchungsfeld. Vorsichtiger Gebrauch der Forschungstechni
ken (Interviews, Fragebogen, Statistiken) .
b. Analytisch-regressiv. Analyse der beschriebenen Wirklich
keit. Bestreben, sie genau zu datieren (um sich nicht damit be-
gnügen zu müssen, sich beständig auf undatierte >>Archaismen«
zu stützen, die miteinander nicht verglichen sind) .
c. Historisch-genetisch. Studium der Veränderungen, die sich
an dieser oder jener vorher in ihrem Alter bestimmten Struktur
ergeben haben irrfolge der weiteren (inneren oder äußeren)
Entwicklung sowie deshalb, weil sie den Strukturen des Gan
zen untergeordnet ist. Versuch in Richtung auf eine genetische
Klassifikation der Gebilde und Strukturen im Rahmen des Ge
samtprozesses. Schließlich ein Versuch, zum vorher beschrie
benen heutigen Zustand zurückzugelangen, um wieder zur Ge
genwart zu finden, aber zur aufgehellten, verstandenen - zur
erklärten.
Nehmen wir als Beispiel die Halbpacht: Es empfiehlt sich zu
nächst, sie genau zu beschteiben (Grundrente, die in Naturalien
gezahlt wird, teilweises Eigentum an den Produktionsmitteln,
Dienstleistungen, die zur Rente hinzutreten usf.) ; ferner, sie zu
datieren (sie geht einher mit der Ausbildung eines städtischen
Marktes, des Bürgertums, wo aber der Kapitalismus sich ent
wickelt, weicht sie der Geldpacht; sie ist also halbfeudalen Ur
sprungs) . Schließlich kommt es darauf an, ihre Umwandlungen
und ihr Fortbestehen zu erklären (Zurückbleiben der wirt
schaftlichen Entwicklung in den Gebieten der Halbpacht,
Fehlen von Kapitalien usw.). Als Beispiel ließe sich auch die
Dorfgemeinschaft mit ihren Überbleibseln wählen oder die
bäuerliche Familie mit eigenen Merkmalen.
188
smwach gegenüber der Natur sind und nur über gemeinsam
verwendbare Instrumente und Techtl.iken verfügten, mußten
die Mensmen lange gesellschaftliche Gruppen mit großem Zu
sammenhalt bilden, um sim der landwirtschaftlichen Aufgaben
zu entledigen : Urbarmachung von Land, Eindeichen, Bewäs
sern, Anbau (häufig aum das Bewachen von Herden usw.). Die
bäuerliche Gruppe blieb daher stark organisiert, wurde durch
kollektive Zucht zusammengeschweißt ; sie besaß kollektive
Eigenschaften sehr verschiedener Art.
Später hat sich die bäuerliche Gemeinschaft langsam differen
ziert, ist sie auseinandergegangen. Der Fortschritt der Land
wirtschaft hat zu ihrer Auflösung geführt, die ebenfalls auf
sehr verschiedene Arten erfolgte, die aber allgemeine Züge auf
wies (Stärkung des Privateigentums, Klassendifferenzierungen,
örtliche Verwaltungen, Auftreten von Tausch und Geld, Unter
ordnung unter die anschließenden Produktionsweisen). In der
bäuerlichen Gemeinschaft stellt man zunächst ein Vorherrschen
blutsverwandtschaftlicher Bande fest. Lösen sie sich ,auf, so. tritt
an ihre Stelle die gebietsmäßige Zugehörigkeit, die auf dem
Wohnsitz, dem Reichtum, dem Eigentum, dem Prestige und der
Autorität beruht. Man geht so von ausgedehnten Verwandt
smaften zur beschränkten Familie (mit männlicher Vorherr
schaft) und zu nachbarlichen Beziehungen über.
Indessen ist die Geschichte der bäuerlichen Gemeinschaft noch
komplexer als dieses Schema vermuten läßt. Sie ist dem Druck
späterer Produktionsweisen unterworfen sowie verwaltungs
mäßigen, fiskalischen, juridischen und politischen Instanzen.
Bald gibt sie nach, bald leistet sie Widerstand ; bis zu ihrer
Auflösung durch den Individualismus (der auf der Konkurrenz
beruht, dem Handel usw.) zeigt sie eine erstaunliche Lebens
kraft. Das europäische Mittelalter und das Verschwinden der
mittelalterlichen (feudalen) Produktionsweise sind unserer An
sicht nach unverständlich, wenn man nimt das Neuerstarken
der bäuerlichen Gemeinsmaft berücksichtigt und ihren erheb
lichen Widerstand gegenüber der Aneignung des Bodens durch
die Feudalen. Nur so erklären sich die Begriffe der Gewohnheit
und des Gewohnheitsrechts, die beim Studium agrarischer Tat
sachen so wichtig sind. Jeder Brauch impliziert eine gesell-
z ahllosen (nodt nidtt systematisierten) Studien in versdtiedenen Spradten
und Ländern.
schafHiebe Unterlage - die Gemeinschafl: - und einen Wider
stand gegenüber Erpressungen (>>exactions«, d. 0.), das heißt
gegenüber demjenigen, der außerhalb der Gewohnheit han
delt (ex-agere).
B. Auf Sklaverei beruhende und feudale Produktionsweisen.
Unmöglich, die bäuerlichen Realitäten in Afrika, auf den An
tillen, im Süden der USA zu studieren, ohne auf die Sklaven
halterei, ihre Überbleibsel oder Folgen zu verweisen. Man muß
die verschiedenen Abarten der feudalen Produktionsweise
kennen (die asiatische, die auf dem Eigentum an Gewässern
und an dem Bewässerungssystem beruht - die mohammedani
sche, die auf der Herrschafl: über die städtischen, handwerk
lichen und Handelszentren beruht, eine Herrschafl:, die sich auf
die umgebenden Landgebiete ausdehnt - die europäische, die
auf dem Grundeigentum beruht), um die gegenwärtigen
bäuerlichen Realitäten in einer großen Anzahl von Ländern
(einschließlich Süditaliens, Südfrankreichs usw.) zu erklären.
Diese Realitäten offenbaren ihre Komplexität nur dann, wenn
sie in vielfacher Weise angegangen werden. Zum Beispiel hat
der Süden Frankreichs am römischen Recht festgehalten oder
ist bei dessen Wiederauftreten sehr früh von ihm durchdrun
gen worden ; und doch haben sich in Frankreich die Gewohn
heiten auf dem Lande am besten bewahrt (einschließlich ört
licher Dialekte und Mundarten usw.).
C. Der Kapitalismus läßt eine Agrarrevolution zu, die in
England sehr weit geht, weniger weit in Frankreich und Ita
lien. In Frankreich hat er eine Agrarreform ermöglicht (die je
nachdem zur Wiederherstellung, Ausweitung und Herausbil
dung des kleinen und mittleren Eigentums führte) . Hernach
hat er eine Konzentration des Eigentums an gutem Boden in
der Nähe der Märkte im Gefolge (was eine maximale Grund
rente ergibt) . Er hat zum Vorherrschen der Geldpacht gegen
über der Halbpacht geführt, zum Individualismus, zur Maschi
nerie, zur Industrialisierung der Landwirtschafl: usf. Wie soll
man die agrarischen Realitäten studieren können, ohne sich
unaufhörlich auf diese Produktionsweise zu beziehen?
Die auf Sklaverei beruhenden und feudalen Produktionswei
sen haben frühere Agrarstrukturen teilweise überlagert (so
sehr sie auch zum Entstehen von »latifundia<< und Herren
gütern geführt liaben). Deshalb sind Überreste oder (teilweise)
Wiederherstellungen dieser >>gemeinwirtschaA:lichen<< Struktu
ren möglich gewesen. Die kapitalistische Produktionsweise hat
jedoch seit ihren Anfängen (Geld- und Warenwirtschaft) die
Agrarstrukturen von innen und außen zugleich gründlich um
gewälzt. Das Privateigentum kapitalistischen Typs hat sich die
alten Eigentumsformen auf hundert Weisen untergeordnet : die
Stammes- oder sippenmäßige, genossenschaftliche oder feudale.
Diese Tatsache tritt beim Studium der Agrarstruktur >>Unter
entwickelter<< Länder klar zutage : in Kolonien oder halbkolo
nialen Ländern, in zurückgebliebenen Bereichen der kapitali
stischen Länder.
D. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Einführung
von Maschinen, die landwirtschaftliche Großproduktion und
die Zunahme der Produktivität entwickeln sich heute auf zwei
einander entgegengesetzte Weisen : Kapitalismus und Sozialis
mus. Die sozialistischen Umgestaltungen der Landwirtschaft
vollziehen sich in drei Stadien : Agrarreform - Genossenschaft
- Aufbau von Agrostädten, die noch kaum ins Auge gefaßt
wurden. Jede dieser Etappen verläuft gemäß den von Land zu
Land verschiedenen Modalitäten. Insbesondere die landwirt
schaftliche Genossenschaft (Produktionsgenossenschaften ; Kol
chosen, die von den Produktionsgenossenschaften sehr verschie
den sind) etabliert sich auf der Grundlage des Dorfes, das
heißt, sie gestattet eine gewisse Wiederbelebung - auf einer
völlig verwandelten Stufe, mit neuen technischen Mitteln und
einer ebenso neuen Struktur - der Agrargemeinschaft, der
Nachbarschaftsbeziehungen, der kollektiven Zwänge usf.
Wir gelangen so zu einer Gesamtsicht der bäuerlichen Realitä
ten. Man könnte sie mit einem Fächer vergleichen, der Formen
verschiedenen Alters zeigt und einander gegenüberstellt, ver
fehlte dieses Bild nicht die beständige Wechselwirkung der Ge
bilde und deren Unterordnung unter Totalitäten (neue Struk
turen ; kapitalistischer und sozialistischer Weltmarkt etc.).
Diese Gesamtsicht zeigt ein Zurückbleiben der landwirtschaft
lichen Entwicklung gegenüber der industriellen - ein Zurück
bleiben, das einzig von der sozialistischen Struktur überwun
den werden kann - und das ein besonderes Studium erfordert.
Dieses Gesamtbild schließt Widersprüche ein (namentlich den
im Laufe der Geschichte erbittert geführten Kampf zwischen
dem Groß- und dem Kleinbetrieb) und Oberbleibsei im ideolo-
gischen Bereich (Überbleibsel von Agrarmythen, Folklore und
dergleichen) sowie im strukturellen (Dorf, bäuerliche Familie
usw.) .
Aus diesem Gesamtbild ergibt sich der Plan eines Lehr- oder
Handbuchs der Agrarsoziologie. Es muß beginnen mit einer
Studie über die gegenwärtigen Totalitäten, der (kapitalisti
schen und kollektivistischen) Strukturen neueren Datums und
des (kapitalistischen und kollektivistischen) Weltmarkts. Es
enthält eine Studie über die Agrargemeinschaft, ihre Auf
lösung, ihre Oberreste und ihre Wiederbetebungen und hebt
dabei den Obergang von den Blutsbanden zu denen gebiets
mäßiger Zugehörigkeit hervor (mit dem Konflikt beider und
dem Sieg der letzteren) ; sie hebt die Differenzierungen, Hier
archien und Nachbarschaftsbeziehungen hervor.
Aus dieser Gesamtstudie läßt sich eine Typologie der Dörfer
ableiten (Gemeinschaften, die noch lebendig sind - solche, die
sich auflösen - individualistische Dörfer - Dörfer, die dunh
die Nähe eines Handels- od�r Industriezentrums, von Groß
eigentum oder durch die Genossenschaft bestimmt oder geprägt
sind) . Wichtige Kapitel sind der bäuerlichen Familie zu wid
men, der Lage der Frauen, der größeren oder kleineren Kinder,
der Greise und .Älteren bei den verschiedenen Dorf- und Fa
milientypen. Das Problem der Klassen (oder Schichtungen) auf
dem Lande erfordert ein detailliertes Studium der Eigentums
und Nutzungsformen des Bodens (Halbpacht, Geldpacht, klei
ner oder mittlerer Besitz).
Schließlich kommt es stets auch darauf an, die studierte bäuer
liche Gruppe (im allgemeinen das Dorf) im Verhältnis zu
größeren Strukturen und zu Institutionen zu situieren -
Marktflecken und Stadt - Provinz und Nation. Die bäuerliche
»Kultur« (im engeren Sinne) kann so endlich konkret bestimmt
werden. Soweit das Bauerntum eine » Kultur<< oder einen Bei
trag zu Kultur hervorbringt, handelt es sich nicht um Ideologie
im eigentlichen Verstande (wenn auch dieser bäuerliche Beitrag
einen ideologischen Inhalt hat, von dem nur die Philosophen
oder Theoretiker deutlich machen, daß er einer anderen, ent
wickelteren Gesellschaftsstruktur entstammt) . Es handelt sich
um eine Kultur ohne Begriffe, mündlich überliefert, die beson-
ders Anekdoten, Erzählungen, Interpretationen von Riten und
Magien enthält sowie Beispiele, die dazu dienen, die Praxis
auszurichten, die Sitten zu erhalten oder an Neues anzupassen,
die Gefühle und Handlungen zu lenken, indem man direkt auf
sie einwirkt.
Man stellt dann fest, daß der bäuerliche Beitrag zur Geschichte
der Ideologien - wirr, unbestimmt, formuliert von Städtern "
Wenn ein großer Mann, nach Hegels Wort, die Menschen dazu
verdammt, ihn zu explizieren, so gilt das nicht zuletzt von
Marx, seinem entschiedenen Kritiker und Meisterschüler, des
sen Hauptwerk der Forschung noch immer erhebliche Schwie
rigkeiten bereitet. Sie stellen sich heute schon dort ein, wo die
- scheinbar überflüssige - Frage nach dem spezifischen »Gegen
stand« des Kapitals aufgeworfen wird - nicht erst auf der
Diskussionsebene einzelner Lehrsätze und Thesen. Das ur
sprüngliche Interesse des Marxschen Konzepts, dasjenige also,
was die Kritik der politischen Ökonomie qualitativ von ihren
theoretischen Quellen unterscheidet, ist in den letzten Jahren
von der Pariser Althusser-Schule neu angegangen worden. Daß
der dabei durchgeführte »strukturalistische<< Ansatz die Marx
Exegese außerordentlich belebt und manche ihrer seitherigen
Positionen erschüttert hat, duldet keinen Zweifel, so sehr sie
sich selbst der Kritik aussetzt, was hier versuchsweise gezeigt
werden soll.
Halten wir uns zunächst an die verdienstvolle Seite des marxi
stisch orientierten Strukturalismus. Nach den eindringlichen
Studien Althussers und seiner Schüler geht es nicht mehr an,
das Kapital, wie dies früher oft geschah, unter die Rubriken
herkömmlicher Wissenschaftssystematik zu bringen. Mit Recht
erinnert Nicos Poulantzas ein Vertreter der Pariser Richtung,
daran, daß Marx' Buch unter den Fachleuten fast nur von
Ökonomen und Historikern gelesen wurde, wobei diese an
nahmen, das Kapital sei >>in gewissen Partien ein geschichts
wissenschaftliebes Werk im unmittelbaren Sinne ihrer eigenen
I Cf. seine Arbeit Theorie und Geschichte. Kurze Bemerkungen über den
Gegenstand des >Kapitals<, in : Kritik der politischen Ökonomie. 100 Jahre
>Kapital<, herausgegeben von Walter Eudmer und Alfred Sd!midt, Frank
furt am Main/Wien 1968, S. 5 8-69. - Die Arbeit beruht auf der Studie
Althussers L'objet du Capital, in : Althusser/Balibar/Establet, Lire le Capi
tal, Il, Paris 1 9 6 5 > S. 9- 1 84.
1 94
Praxis«, und jene, es sei eine rein »ökonomische Abhandlung«•.
Erkenntnistheoretisch ergab sich daraus der zähe Streit zwi
schen Gelehrten, die das Kapital wesentlich als »>abstrakte<
Wirtschaftstheorie« betrachtetenJ, und solchen, die glaubten,
ibm eine » Untersuchungsmethode der >konkreten< Geschichte« 4
entnehmen zu können. Diese Interpretation bezeichnet Pou
lantzas als »historizistisch«, jene als »ökonomistisch«, wobei
die ökonomische für ihn »mir eine Variante der allgemeinen
historizistischen Interpretation ist«s. Er verwirft beide, weil es
ihnen versagt blieb, den theoretischen Gegenstand des Kapitals
zu erfassen. Nicht weniger verfehlt ist für Poulantzas die ge
läufige Redeweise, das Kapital enthalte sowohl eine ökono
misch-systematische Strukturanalyse als auch eine historische
Methode, und zwar verwirft er sie weniger deshalb, weil sie
sich, unbestimmt-eklektisch, der schwierigen Aufgabe entzieht,
Einheit und Verschiedenheit von »Logisch-Abstraktem« und
,.Historisch-Konkretem« im Aufbau des Marxschen Werks zu
untersuchen, sondern deshalb, weil diese Redeweise - hier
beruft Poulantzas sich auf Böhm-Bawerk - »einen [ . . . ] unzu
lässigen Bruch in den theoretischen Status seines Gegenstands
einführte«6. Den Strukturalisten geht nichts über Einheit, Syste
matik und Homogeneität des Denkens, auch wenn sie, wie wir,
sehen werden, dabei über Konflikte in der Sache hinwegglei
ten.
Poulantzas reduziert (ganz auf Althussers Linie) die von ihm
verworfenen Interpretationen des im Kapital behandelten
,.Gegenstands« auf eine den Interpreten gemeinsame, nämlich
1. lbid., s. 59·
3 Nicos Poulantzas, I. c. - Schon aus tagespolitisch-agitatorischen Gründen
empfahl sich eine (von der vermittelnden Geschichte absehende) Deutung des
Marxschen Werks, die hervorhob, wie geeignet es ist, den Arbeitern die
Unmittelbarkeit des kapitalistischen Alltags zu erklären. - Zur politischen
Wirkungsgeschichte des Kapitals cf. auch den instruktiven Abriß und die
Quellensammlung von RoH Dlubek und Hannes Skambraks >Das Kapital<
t>on Karl Marx in der deutschen Arbeiterbewegung J867-1878, Berlin 1967.
Ober die Aufnahme des Buches in der offiziellen Nationalökonomie unter
richtet der Aufsatz von Ernst Theodor Mohl Anmerkungen zur Marx-Re
z�ption, in : Folgen einer Theorie. Essays über >Das Kapital< von Karl
Marx, Frankfurt am Main 1 967, S. 7-26.
4 Nicos Poulantzas, I. c.
5 Ibid. , s . 5 8 .
6 Ibid., S. 59·
19 5
»historizistische Problematik des Subjekts«7, die uns noch
beschäftigen soll. Lassen wir einmal beiseite, daß einzelwissen
schaftliche Versuche, die Marxsche Intention dadurch zu erfas
sen, daß man sie unter die Methoden der eigenen Forschungs
praxis subsumiert, tatsächlich unangemessen sind, so fällt auf,
wie umstandslos er auch die en 1sthaften Bemühungen solcher
»philosophischen« Marxisten wie Lukacs, Korsch, Lefebvre,
Sartre, Gramsei und Galvano della Volpe abtut, mit dem kom
plizierten Verhältnis von Theorie und Geschichte beim reifen
Marx zu Rande zu kommen. Verständlich wird Poulantzas'
Schroffheit, wenn man bedenkt, daß sein Lehrer Althusser aus
ging von dem bekannten Bruch, den die Marxschen Thesen
über Feuerbach mit jeglicher »Anthropologie« vollzogen, das
heißt mit dem Kultus eines abstrakten, vom histo";ischen Le
bensprozeß der Gesellschaft unabhängig gedachten »mensch
lichen Wesens« . 1 94 5 kam es in Frankreich mit dem (jetzt von
Sartre selbst als Ideologie gekennzeichneten)- Existentialismus
zur Wiederbelebung von Positionen leerer Subjektivität, die
Marx bereits im Vormärz an den bewußtseins-idealistischen
Zerfallsprodukten der Schule Hegels (Bauer, Stirner) scharf
kritisiert hatte. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU entstand
in einigen sozialistischen Ländern neben ernsthaften philoso
phischen Neuansätzen (etwa bei Schaff, Zeleny und Kos1k)
ein häufig naiver Anthropozentrismus und ethisierender Perso
nalismus, der noch immer von den Resten eines >>Existenz«
Denkens zehrt, dessen Glanz bei westlichen Intellektuellen
längst erloschen ist. Politisch nach dem heillosen Staatsabsolu
tismus der Stalinschen Xra nur zu verständlich, mußten die
positiven Ontologien sachlich-gedanklich nicht nur hinter ent
scheidende Ergebnisse der Marxschen Lehre, sondern auch hin
ter den Stand der Geschichte zurüddallen ; es trat ein, was
Lukacs » Verflachung durch Tiefe« genannt hat. Daß der we
sentliche Inhalt der materialistischen Dialektik in der Kritik
der politischen Ökonomie besteht, wurde nahezu vergessen,
und nidlt wenige, östliche Autoren folgten der im Westen aka
demisch verbreiteten Tendenz, den »jungen Marx« gegen den
reifen auszuspielen, von dem behauptet wurde, er sei im Fach
ökonomischen steckengeblieben.
Angesichts dieser höchst ideologischen Entwicklung wird d as
7 Ibid.
1 96
Aufkommen einer Schule wie' der Althussers verständlich, die
- von vornherein »objektiv« gerichtet - um ein neues Studium
der Marxschen Ökonomie bemüht war. Freilich auf der Basis
eines, näher betrachtet, überaus anfechtbaren Verfahrens. Pa
radoxerweise wirkt sich nämlich die erbitterte Frontstellung
der Althusser-Leute gegen die (vorab an den Pariser Manu
skripten orientierte) »existentielle « Anthropologie gerade so
aus, daß deren negativ gemeinte These, der reife Marx habe
den >>realen Humanismus<< seiner Frühschriften zugunsten
szientistischer Objektivität verworfen, >>von links<< aufgegriffen
und ins Positive verkehrt wird. Dabei wird nicht nur die un
dialektische, über der Verschiedenheit die Einheit vergessende
Behauptung vom absoluten Bruch im Marxschen Werk zu
einem Zeitpunkt gestützt, wo sie selbst in der bürgerlichen
Literatur angezweifelt wird - Althusser und seine Schüler nei
gen dazu, den fundamentalen Mangel aller Spielarten moder
ner Ontologie, ihre völlige Geschichtsfremdheit, womöglich
noch zu übertrumpfen.
Waren die Existentialisten bei den starren Befindlichkeiten
»des Menschen schlechthin<< stehen geblieben, hatten sie sich mit
einer abstrakten Subjekti_vität begnügt, so verfallen die radi
kalen Vertreters des Strukturalismus ins entgegengesetzte Ex
trem : ·sie lösen alle Subjektivität auf in über- und intersubjek
tive >>Strukturen<< Eine Tendenz, die sich in Althussers Schule
in der Form durchsetzt, daß sie wie oben erwähnt, mit dem
bricht, was sie die >>historizistische Problematik des Subjekts<<9
nennt. Diese sei stets - und das ist eine der anfechtbarsten
Thesen dieser Richtung - gebunden an eine >>empiristisch-prag
matistische Konzeption der Erkenntnis« 10• Es ist schwer ein
zusehen, wie die Althussersche Interpretation sich bei alledem
im Einklang mit Marx wähnen kann. Sie behauptet, dieser sei
im Kapital (tendenziell schon seit 1 8 4 5 ) zu einer gegenüber den
Jugendschriften radikal neuen »theoretischen Grundlage« ge-
8 Soweit der Verfasser sich über die umfangreiche französische Literatur
über den Strukturalismus einen Überblick verschaffen konnte, hat es den
Anschein, daß Althusser (neben Foucault) weit über die Konzeption von
Levi-Strauss hinausgeht, auf den er sich beruft. Dieser spricht immerhin
noch von einer •Komplementarität• strukturaler und genetischer Methoden
und betrachtet die übergreifende Struktur als • vermittelndes• Moment.
9 Poulantzas, I. c., S. 6 5 .
1 0 Jbid., cf. S. 6 4 ff .
19 7
langt, indem er an die Stelle unbrauchbarer »ideologischer«
Begriffe wie »Wesen des Menschen«, >> Selbstentfaltung der
Gattung«, »Entfremdung«, »Arbeit«, »Praxis«, kurz aller
spekulativen, in dieser oder jener Weise subjektiv gefärbten
Kategorien streng wissenschaftliche treten ließ. Althusser nennt
in diesem Zusammenhang die bekannten Termini Gesellschafts
formation, Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Oberbau
und Ideologie. Mit ihrer Aufnahme durch Marx geht, was für
Althusser besonders wichtig ist, zweierlei einher : die »radikale
Kritik der theoretischen Ansprüche jedes philosophischen Hu
manismus« und die »Definition des Humanismus als Ideolo
gie«."
Von hier aus kommt die strukturalistische Interpretation zu
der neuerdings stark diskutierten These vom >>theoretischen
Anti-Humanismus« und »Anti-Historizismus« der Marxschen
Lehre. »An den Menschen etwas erkennen«, schreibt Althusser,
»kann man nur unter der absoluten Bedingung, daß der philo
sophische (theoretische) Mythos vom Menschen zu Asche re
duziert wird.«11 Dieser abstrakten, alle Kontinuität und
alle Obergänge vernachlässigenden Aufteilung des Marxschen
Werks in eine »ideologische« und eine >>wissenschaftliche« Phase
entspricht es, wenn Althusser mit der so aktuellen Idee eines
»sozialistischen Humanismus« nichts anzufangen vermag. So
zialismus ist für ihn ein wissenschaftlicher Begriff, Humanismus
ein ideologischer, das heißt, er ist für den Aufbau des theoreti
schen Konzepts bedeutungslos. Gleichwohl (und hierin unter
sdieidet sich sein Denken etwa von dem Foucaults) kommt
Althusser praktisch-politisch ebensowenig ohne den Humanis
mus aus wie die von ihm abgelehnten »historizistischen« Marxi
sten : von der reinen Theorie gilt es zur Untersuchung der
handfesten Fragen zurückzukehren, wenn anders die von
Marx anvisierte Transformation der Gesellschaft stattfinden
soll.
1 99
mentation paßt, erinnert sich auch Althusser des ursprünglich
kritischen Sinns dieses Terminus, A. S.) konnte Gesellschafl:en
ohne Ideologien erdenken und die utopische Idee einer Welt
zulassen, in der die Ideologie [ . . . ] verschwinden würde, um
durch die Wissenschaft ersetzt zu werden.« 1 5 Dadurch, daß Alt
husser die Ideologien primär nach ihrer funktionellen Seite hin
untersucht und die ihrer geschichtlichen Genesis beiseite läßt,
kann er sie als unbewußt wirkende >>Systeme von Vorstellun
gen<< 16 betrachten, die sich >>der Mehrzahl der Menschen [ . . . ]
vor allem als Strukturen auf(drängen), ohne durch ihr >Be
wußtsein< hindurchzugehen. Sie sind wahrgenommene-ange
nommene-ertragene kulturelle Objekte<< '7, soziale Formen,
in denen die Individuen ihre »Welt<<, das heißt die Art aus
drücken, >>wie sie ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen
leben<< . 1 8 Entscheidend dabei ist für Althusser, daß Ideologie
als dieser Ausdruck stets so beschaffen ist, daß sie Wirkliches
und Imaginäres (Bilder und Mythen) verknüpf!: : >>In der Ideo
logie ist das wirkliche Verhältnis unvermeidlich in das imagi
näre Verhältnis eingelassen : ein Verhältnis, das eher einen
(konservativen, konformistischen, reformistischen, revolutio
nären) Willen, ja sogar eine Hoffnung oder eine Sehnsucht
ausdrückt, als daß es eine Wirklichkeit beschreibt. << 1 9 Daß
Althusser in der Klammer dieses Zitats höchst verschiedene
politische Willensimpulse nebeneinander aufzählt und unter
>>Ideologie<< subsumiert, macht deutlich, wie belanglos die -
unabdingbar philosophische - Wahrheitsfrage letztlich für
seine szientistische Konzeption ist. Selbst die Mannheimsehe
Wissenssoziologie hatte jene Richtungen des Willens noch
qualitativ auseinandergehalten und bestimmten Stufen und
Tendenzen des geschichtlichen Prozesses zugeordnet. Mehr
noch als Mannheim fehlt es Althusser an theoretisch brauch
baren Kriterien, die es gestatten würden, einen plausiblen
Grund dafür anzugeben, daß man für diese und gegen jene
Einstellung optieren soll. Es geht denn auch seiner Konzep
tion im Gegensatz zur Marxschen weniger darum, Ideologien
I5 Für Marx, I. c., S. I 8 2 (Hervorhebungen von Althusser) .
I6 Ibid.
I7 lbid., S. I 8 3 (Hervorhebung von Althusser) .
I8 Jbid., S. I 84.
I 9 Ibid. (Hervorhebungen von Althusser) .
200
(falsches Bewußtsein und Verhalten) zu durchschauen, histo
risch-dialektisch zu relativieren, als darum, ihre unaufhebbare
"Existenz und notwendige Funktion anzuerkennen. Letztere
besteht in sogenannten primitiven wie modernen Gesellschaf
ten unbeschadet der sachlichen »Wahrheit« oder >>Falschheit<<
des von ihnen Ausgedrückten darin, zur »Sozialen Logik«,
zur inneren Kohärenz der betreffenden >>Ordnung« beizu
tragen (die als solche, wie es bei Levi-Strauss heißt, allemal
•dem Chaos überlegen« 20 ist) . Ähnlich wie seinerzeit Bogda
nows verkappt-idealistischer >>Empiriomonismus << betont Alt
husser die den Rohstoff sinnlicher Erfahrung kollektiv >>har
monisierende<< und >>organisierende<< Rolle der Ideologien.
Wird aber deren Bereich, wie dies im marxistischen Struktu
ralismus geschieht, nicht zu einer verschwindend-scheinhaften,
sondern für das gesellschaftliche Leben >>wesentlichen Struk
tur«21 erklärt, dann entsteht eine positive Ideologienlehre.
Althusser kann, was er mit Recht die >>brennendste Frage« des
historischen Materialismus nennt, die nämlich nach der Ab
schaffbarkeit der Ideologien, nur so beantworten, daß er ver
sichert, es lasse sich nicht vorstellen, »daß selbst eine kommuni
stische Gesellschaft je ohne Ideologie auskommen könnte
[ . . . ] « .22 Im Gegenteil, sie ist >>als System von Massenvorstel
lungen« in jeder Gesellschaft unentbehrlich, >>um die Menschen
zu bilden, sie zu verändern und in die Lage zu versetzen, den
Anforderungen ihrer Existenzbedingungen zu genügen«.23
Eben das leisten die den Menschen aufgenötigten ideologischen
Bewußtseinsformen und Verhaltensschemata allenthalben nur
zu gut.
Um seine problematische Marx-Interpretation abzusichern,
muß Althusser selbst die den ideologie-bedürftigen Zustand auf
hebende, bewußte Kontrolle des Produktionsapparats durch
201
die Individuen als »ideologisch« vermittelt bezeichnen.'4 Zwar
denkt er dabei mehr an das nachrevolutionäre Fortbestehen
von Moral, Kunst und allgemeinen Vorstellungen, in denen
sich die Menschen ihr Verhältnis zur Welt vergegenwärtigen,
weniger an die Religion, mit deren Kritik die Marxsche Ent
wicklung zum materialistischen Dialektiker einsetzt. Aber es
scheint doch von Interesse, seine Ansicht mit der Marxschen
Religionskritik im Kapital zu konfrontieren, weil auf diese
Weise die sachliche Differenz deutlich hervortritt. >>Der reli
giöse Widerschein der wirklichen Welt«, heißt es hier, >>kann
überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des prak
tischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig
vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. «
Das aber ist nur möglich, wenn »die Gestalt des gesell
schaftlichen Lebensprozesses [ . . . ] als Produkt frei vergesell
schafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kon
trolle steht«.'5 Man sieht : nicht durch »die Wissenschaft<<, also
einen Inbegriff von Formen instrumenteller Rationalität, wird
hier Ideologie aufgelöst, wie Althusser ihrer klassischen Kritik
unterstellt,>6 sondern durch einen objektiv vernünftigen Zu
stand der Gesellschaft.
.20.2
auf die Geschichte [ . . . ] verwandeln«27, wenn theoretische Re
flexion sich nur auf Kategorien erstreckt, die keiner Philoso
phie des Menschen verhaftet sind? Und was bedeutet nach der
schroffen Trennung des Theoretischen vom »Ideologischen«
Althussers Rede von den »ideologischen Termini der marxisti
sdten Theorie« ?28 Probleme, die in dem freilich unglücklichen
Ausdruck »wissenschaftliche Ideologie<<, der gelegentlich in
Lenins Schriften auftaucht, zumindest anvisiert sind. Bei Alt
husser hingegen bleibt das Interesse an einer besseren Gesell
sdtaft dem eigentlich theoretischen Prozeß äußerlich. Die
widerspruchsvolle Einheit von Theorie und Praxis, ein entschei
dendes Thema, wird nicht wirklich dialektisch behandelt. Dem
Humanismus spricht Althusser wesentlich zwei politische Auf
gaben zu, die nach dem Entwickelten theoretisch gar nicht legi
timiert sein können. Er ist, im Weltmaßstab, »Ablehnung aller
Diskriminierungen, seien es rassische, politische, religiöse [ . . . ] .
Er ist Ablehnung jeder ökonomischen Ausbeutung und politi
schen Knechtschaft. Er ist Ablehnung des Krieges«. In der So
wjetunion betrifft er »die Aufhebung der Periode der Diktatur
des Proletariats<<.29 Trotz dieser praktisch-politischen Funktion
vermag der Humanismus den erkenntnistheoretischen Bruch
(»la rupture epistemologique«l0) nicht ZU beseitigen. Treffend
beschreibt Jaeggis Buch die Aporie des Altbusserschen Ansat
zes : >>Die Wissenschaft wird >formalisiert<, die Ideologie >hu
manisiert< und als reine Praxis verstanden ; das >Anthropolo
gische< an Marx wird als bloß Subjektives über Bord geworfen,
wird pure Gesinnung. Das expurgierte Denken aber hat das
Wissenschaftliche am Marxismus weiterzutreiben, [ . . ] d. h. in
.
203
reduziert, verflacht der Humanismus zu bloßer Kulturkritik,
welche die »entfremdenden« Wirkungen von Technologie und
gesteuertem Massenkonsum beklagt, ohne sich auf eine inhalt
lich-gesellschaftliche Analyse einzulassen. Indem das Haupt
interesse Althussers sich auf die gegebenen Strukturen richtet
und deren Vergangenheit und Zukunft außer acht läßt, ver
liert er die historische Dialektik von Möglichkeit und Wirk
lichkeit aus dem Blick, wie sie im Marxschen Begriff der >>ob
jektiven Tendenz« ebenso angelegt ist wie in Blochs Idee einer
>> Tendenzwissenschaft« in utopisch-antizipatorischer Absicht
oder im Konzept des »Entwurfs « bei Sartre und Marcuse. Mit
Grund rügt Jaeggi an Althusser, daß er zwar die »rein analy
tische Funktion der Wissenschaft<d 2 fördert, aber irrfolge seiner
(Hegelsch gesprochen) abstrakten Trennung von Geschichte
und Theorie, Humanismus und Theorie, Theorie und Praxis
gezwungen wird, der begrifflichen Konstruktion im nachhinein
aufzupfropfen, was nicht angemessen mit ihr vermittelt wur
de.H
Wie nun sieht auf Grund der erörterten Prämissen der Alt
hussersche Zugang zur >>originären Problematik« des Kapitals
aus ? Althusser, und dem ist zunächst beizupflichten, empfiehlt
eine >>symptomatische Lektüre« des Marxschen Werks, eine
solche nämlich, die jenen Motiven nachspürt, die objektiv in
ihm angelegt sind, aber erst heute interessant werden ; Marx
selbst mußten sie unbewußt bleiben. Der Verfasser dieses Auf
satzes vertritt seit Jahren die Ansicht, daß Marx in seinen pro
gramatischen Vor- und Nachworten, die immer wieder als ver
bindlich zitiert werden, weit hinter dem zurückbleibt, was er in
seinen materialen Untersuchungen theoretisch leistet. Daraus
nun aber - wie dies bei Althusser geschieht - zu schließen, das
Marxsche Selbstverständnis sei völlig belanglos für die philo
sophische Interpretation, ist ebenso verfehlt wie ein allzu
naives Hinnehmen der Texte. Wohin es führt, wenn die
Selbsteinschätzung eines so reflektierten Schriftstellers wie
3 2 Ibid., S. 1 5 6.
33 lbid., cf. S. 1 5 5 .
204
Marx gänzlich mißachtet wird, zeigt sich besonders scharf an
der Tendenz des »Strukturalisierten« Marxismus, jedes sachli
che Fortwirken Hegels im Kapital zu leugnen, nur um ja dem
Marxschen Unternehmen den Glanz radikalen Neubeginns
verleihen zu können. So fegt Althusser die gesamte Literatur
über Marx seit Geschichte und Klassenbewußtsein beiseite,
wenn er »die ganze modische Theorie der >Verdinglichung<<< zu
einer bloßen Projektion der Entfremdungstheorie der Früh
sdtriften auf die Analyse des Fetischcharakters der Ware im
Kapital stempelt.H Es geht hier, wohlgemerkt, nicht darum,
den inflationären - Marx hätte gesagt »belletristischen« - Ge
brauch der Kategorie der Entfremdung oder des Humanismus
zu verteidigen, wie er sich neuerdings bei Theologen eingebür
gert hat. Althusser ist zuzustimmen, wenn er dagegen polemi
siert, daß >>die Zuflucht zur Moral, die tief in jeder humanisti
sdten Ideologie verankert ist«, oft genug dazu dient, reale
Probleme >>imaginär« zu behandeln.J5 - Ebenso berechtigt ist es,
wenn er daran erinnert, wie sehr die kritische Theorie nach
1 8 50 genötigt war, objektiven Strukturen gegenüber subjektiv
menschlichen Momenten den Vorrang einzuräumen ; die Ent
fremdungsthematik kommt zwar dem Begriff wie der Sache
nach beim reifen Marx durchaus noch vor, aber sie wird nicht
mehr an den abstrakten Kategorien eines (von Feuerbach in
spirierten) aktivistischen Humanismus, sondern an den Inhal
ten der politischen Ökonomie entwickelt.
Freilich - und das wird von Strukturalisten meist übersehen
- sind die Menschen für den dialektischen Materialismus kei
neswegs nur >>Objekte« fester Ordnungen, sondern immer
auch »Subjekte« ihrer jene Ordnungen stets wieder aufspren
genden Geschichte. Diese entsteht »dank der einfachen Tat
sache, daß jede Generation die von der alten Generation
erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial
für ;,.eue Produktion dienen [ . . ] Die sozi ile Geschichte der
. .
206
Träger von bestimmten Klassenverhältnisen und lnteres
sen c .4 '
43 Cf. die Darstellung der Marxs<hen Theorie in seinem Bu<h Vernunft und
Revolution, Neuwied/Berlin I962, insbesondere S. 2 5 9 f.
44 Cf. J aeggi, I. c . , S. I S 3 .
4 5 Althusser, Lire l e Capital, I. c . , S . I 5 ,. .
46 Ibid.
208
smiedner und sie bestimmender Hintergrund«, der sim freilich
zugleich in der Ersmeinung manifestiert, in ihr aufscheint, durm
sie >>durchleumtet«, wobei letztere immer aum konstitutiv fürs
Wesen ist.47 Dieser den materialistisch-dialektismen Begriff
von Wissensmaft geradezu definierende Gedanke ist für den
Strukturalismus unbrauchbar, wo nicht gar sinnlos. Zwar gibt
es auch für Althusser einzelne >>Ebenen« der gesellsmaftlimen
2IO
tischen Vernunft >>und dem Menschen gibt, der entdeckt, daß
-
S3 Ibid. und S. r 3 3 ·
S -4 Ibid., S. 1 3 3 . - Ahnlieh wie Sartre argumentiert Roger Garaudy (der
den Marxismus als • Methodologie der geschichtlichen Initiative« betrachtet)
in seinem Aufsatz Strukturalismus und der > Tod des Menschen< : •Marx
maßt [ . . . ] beide Momente : das Moment der Struktur, die Strukturierung
durch die Vergangenheit, aber auch das Moment der schöpferischen Tätig
keit des Menschen, der diese Strukturen geschaffen hat.• I n : Marxismus in
IUIS�rer Zeit, Marxistische Blätter, Sonderheft r / r 96 8 , S. 70. - Zur Kritik
der französischen KP-Autoren am Strukturalismus (auch in seiner Althus
serschen Version) cf. vor allem die Sondernummer von La Pensee, Hell: r 3 s ,
Oktober 1 967. - Cf. ferner das kenntnisreiche Buch von Günther Schiwy
Dn französische Strukturalismus, Reinbek bei Harnburg 1969, dessen III.
Kapitel den »Strukturalismus als Ideologie• behandelt.
ss Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Harnburg 1 9 67 ,
s. 24.
2II
Theorie aufnehmen ; den geschichtsfeindlichen Autoren der
>>linken Frustration« (Amery) ist ihrem ganzen Ansatz nach
die Dimension der Zukunft verschlossen.
212
die ganze Richtung maßgebenden Levi-Strauss eigenartig
rousseauistisch gefärbt. Wohl glaubt er im Gegensatz zu man
eben Literaten des achtzehnten Jahrhunderts nicht an den »bon
sauvage<<, aber - darauf wurde bereits verwiesen - die archa
ischen Gesellschaften empfehlen sich ihm doch durch ihr klares
und übersichtliches Gefüge. »Rousseau«, erklärt Levi-Strauss
am Schluß seines Buches Traurige Tropen, »verdanken wir es,
wenn wir heute wissen, wie man nach der Zerstörung aller
Ordnungen die Prinzipien entdecken kann, die den Aufbau
einer neuen Ordnung erlauben. Rousseau [ . . . ] vermied es, den
natürlichen mit dem gesellschaftlichen Zustand zu vermischen,
denn er wußte, daß dieser [ . . . ] dem Menschen zugehört. Zwar
leugnete er nicht, daß dieser Zustand gewisse Übel mit sich
bringt, doch lautete für ihn die wesentliche Frage, ob diese
Obel dem gesellschaftlichen Zustand inhärent sind oder nicht.<< i s
Und Levi-Strauss erblickt das große Verdienst Rousseaus, der
(obwohl er nie fremde Länder bereist hat) >>von allen Philoso
phen am meisten Ethnograph<<59 war, darin, daß er der
Wissenschaft den Weg wies, »jenseits von Mißbrauch und Ver
brechen [ . . . ] nach den unerschütterlichen Grundlagen der
menschlichen Gesellschaft «6o zu suchen, von denen die geschicht
lich vorliegenden Gemeinwesen sich zu ihrem Verderben im
mer mehr entfernt haben.
Ein vorbehaltloses Bekenntnis zu Rousseau, an dem einem auf
geht, wie sehr dieser bei aller Kritik an den »philosophes « dem
rationalistisch-konstruktiven Geist seines Zeitalters verhaftet
war. Von Rousseau haben die (im weiteren Sinn anthropolo
gisd:t interessierten) Strukturalisten das Verfahren idealer
Typisierung als Voraussetzung und Basis von Vergleichen :
•Wenn man [ . . . ] nach den Merkmalen forscht, die der Mehr
heit der menschlichen Gesellschaften gemeinsam sind, so dient
das •vor und unabhängig von den Elementen und vom System selbständige
Existenz haben soll. [ . . . ] Aus der Tatsache, daß Strukturen unabhängig
davon betrachtet und erforscht werden können, welche Elemente in welchen
Systemen sie verbinden, wird der Schluß gezogen, daß sie auch unabhängig
und vor allen Elementen existieren können, daß sie selbständige Wesenhei
ttn darstellen, die sich ihre Elemente selbst schaffen.• (Ibid., S. 1 3 1 7 , Her
:..orhebungen von Kröber.)
s8 Köln/Berlin I 960, s. )60.
5 9 Ibid.
6o Ibid. , S. 360 f.
213
der [ . . . ] Vergleich dazu, einen Typus herauszuarbeiten, dem
zwar keine Gesellschaft genau entspricht, der jedoch die Rich
tung angibt, in die sich die Forschung zu bewegen hat. <<6' Diese
verliert sich nicht in schlecht-romantischer Schwärmerei für die
naturhafte Unmittelbarkeit des Lebens der sogenannten Wil
den, sondern trägt dazu bei, >>ein theoretisches Modell der
menschlichen Gesellschaft zu entwickeln, das zwar keiner der
Beobachtung zugänglichen Wirklichkeit entspricht, das uns je
doch dazu verhilft, >das Ursprüngliche vom Künstlichen in der
heutigen Natur des Menschen zu trennen, einen Zustand von
Grund auf kennenzulernen, den es nicht mehr gibt, den es viel
leicht nie gegeben hat, den es wahrscheinlich niemals geben
wird und über den wir uns trotzdem eine genaue Vorstellung
machen müssen, wenn wir unseren gegenwärtigen Zustand be
urteilen wollen<«.6z
Erstaunlich, in welchem Maße Levi-Strauss die ahistorischen
Thesen Rousseaus übernimmt; besonders, wenn man bedenkt,
daß er, nicht zuletzt in seiner Diskussion mit Sartre, sich immer
wieder auf Marx beruft. Für diesen waren die vom konstruk
tiven Denken fixierbaren »allgemeinen Bedingungen aller Pro
duktion« nichts als abstrakte Momente, »mit denen keine
wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist«.63 Marx
denkt historisch-dialektisch, Levi-Strauss gerät in den »Bann
kreis traditioneller Philosophie«64, ohne sich darüb�r hin
länglich Rechenschaft abzulegen. Der Modellbegriff, so un
entbehrlich er innerhalb seiner Grenzen sein mag, führt,
strukturalistisch gewendet, zu dem, was Lefebvre »Une ontolo
gie du Systeme«65 nennt.
61 Ibid., S. 3 6 1 . - In der Tat kann Rousseau als ein beachtlicher Vorläufer
modernen Modell-Denkens gelten, in seiner Lehre vom •Gesellscha f!sver
trag•, aber auch schon im Discours Vber den Ursprung und die Grundlagen
der Ungleichheit unter den Menschen, in dem er seine Methode folgender
maßen beschreibt : • Man darf die Untersuchungen [ . . . ] nicht als historische
Wahrheiten betrachten, sondern als hypothetische und bedingte Vernunft
schlüsse, die mehr das Wesen der Dinge erklären, als ihren wahren Ursprung
zeigen. Wir verfahren dabei ähnlich wie unsere Physiker, wenn sie über die
Entstehung der Welt nachdenken. • (Ausgabe Berlin 1 9 5 5 , S. 4 5 .)
62 Ibid., S. 362. - Levi-Strauss zitiert hier aus der Vorrede der unter Fuß
note 61 genannten Schrift Rousseaus.
63 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 1 , S. 242.
64 Jaeggi, I. c., S. 50.
65 Cf. seinen Aufsatz über Levi-Strauss, in : I. c., Nr. 2, S. 9 0 .
214
Es gehört zu den ins allgemeine Bewußtsein längst übergegan
genen Einsichten der Marxschen Theorie, daß die Menschen ein
notwendig falsches Verständnis von ihrem gesellschaftlichen
Sein und Tun haben ; daß man Zeitaltern und Schriftstellern
nicht ohne weiteres glauben darf, wenn sie von sich selbst spre
dten. Levi-Strauss hingegen verfällt den >>phantasielosen Ein
bildungen des r 8 . Jahrhunderts [ . ], die keineswegs [ . . . ] bloß
. .
daß auch Rousseaus Cantrat social, der »die von Natur inde
pendenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbin
dung bringt«, durchaus nicht >>auf solchem Naturalismus
beruht<< .66 Indem Levi-Strauss den konkreten Gang der Ge
sdlldtte trotz mitunter anders lautenden Versicherungen igno
riert, verwechselt er den Ȋsthetischen Schein<< der Sache mit
dieser selbst. In der Konkurrenzgesellschaft, die im Jahrhun
dert der Aufklärung anfängt, den Individuen als eigengesetz
lidtes System gegenüberzutreten, »erscheint<<, wie Marx detail
liert gezeigt hat, »der einzelne losgelöst von den Naturbanden
[. .], die ihn in frühren Geschichtsepochen zum Zubehör eines
.
215
sei weder bloß ausgedacht noch historisch abgeleitet ; der
>>natürliche Mensch<< sei >>der Gesellschaft weder vorausgegan
gen, noch [ . . . ] ihr äußerlich<< .68 Da er jedoch an Rousseaus
Unterscheidung von Natur und Kultur, von Ursprünglichem
und Künstlichem als einer objektiv begründeten festhält,
kommt er ohne Werden (inhaltlich erfüllte Zeit) nicht aus -
so sehr er sein Modell >>außerhalb von Raum und Zeit«69
situieren möchte. - Der Rousseausche Gedanke, daß es für
die Menschheit besser gewesen wäre, ein Gleichgewicht zwi
schen der >>Passivität des primitiven Zustands<< und der
»unbändigen Aktivität unserer Eigenliebe<<7° zu erhalten, wie
es bei den Wilden allenthalben anzutreffen sei, wird von Levi
Strauss merkwürdigerweise dahingehend interpretiert, daß
»jenes Gleichgewicht keineswegs an einen primitiven Zustand
gebunden sei, daß es im Gegenteil einen gewissen Fortschritt
voraussetze ( . . . ], daß es aber auch von keiner der beschriebenen
Gesellschaften rein verkörpert werde [ . . . ] << .7 1 Solche halben Zu
geständnisse an historisches Denken dürfen freilich nicht dar
über hinwegtäuschen, wie sehr Levi-Strauss dazu neigt, die
Wirklichkeit der Geschichte buchstäblich »wegzudenken << . Sei
ner Wissenschaft stellt er die Aufgabe, den >>natürlichen Men
schen<< wiederzufinden, der die geheime Basis des gesellschaft
lichen Zustands überhaupt darstellt, und die Erkenntnis seiner
Beschaffenheit für die jeweils gegebene Ordnung auszunutzen.
Dabei stört es ihn wenig, daß dieses >>ewige und universelle<<72
Konzept Rousseaus Gefahr läuft, den geschehenden WaQ.del
zu unterschätzen. Allen Tatsachen der Ethnographie und Ge
schichte glaubt Levi-Strauss vielmehr entnehmen zu können,
»daß die Menschen immer und überall im Hinblick auf ein
gleiches Ziel die gleichen Aufgaben unternommen [ . . . ] und sich
im Laufe der Zeit nur verschiedener Mittel bedient haben<< .73
Die Frage, ob nicht die Verschiedenheit jener Mittel die ab
strakte Identität des Ziels stets wieder durchbrochen und so
einen inhaltlich reichen Prozeß ermöglicht hat, kommt gar
nicht erst auf. Uvi-Strauss reduziert die Geschichte auf die
68 Levi-Strauss, Traurige Tropen, Köln!Berlin 1 960, S. 362.
69 Ibid. , S. 363.
70 Ibid., S. 362.
71 Ibid.
72 Ibid ., S. 363.
73 Ibid.
216
dürre These, immer seien die Menschen darauf bedacht gewe
sen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben läßt. »Seit
Jahrtausenden« hat sich deshalb der Mensch »immer nur wie
derholt«. Angesichts dessen aber gilt es, » Zugang zu finden zu
jenem Adel des Denkens, der jenseits aller Wiederholungen
darin besteht, die unbeschreibliche Größe der Anfänge zum all
einigen Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu machen<<.74
Höchst problematische Sätze, die ihrem Verfasser nicht unver
dient den Sanreschen Vorwurf einer kontemplativen und ar
chaisierenden Haltung eintrugen.
74 Ibid., S. 364.
75 Cf. Lucien Goldmann, Structuralisme, marxisme, existentialisme, in :
L'homme et Ia socihf., Nr. z, I. c., S. 1 0 5 ff.
76 Ibid. , S. 8z.
77 Cf. dazu Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus, I. c., S. 36 f.
2. 1 7
die wahre Realität niemals im unmittelbar Gegebenen aufgeht,
sucht Levi-Strauss erst als Soziologe, später als Ethnologe
nach einem Verfahren, das es gestattet, das sinnlich Wahrnehm
bare ins rational Erfaßbare (Intelligible) einzugliedern, jenes
auf dieses zu reduzieren, ohne daß dabei seine Qualitäten
eingebüßt werden. Existiert - wovon Levi-Strauss überzeugt
ist - »eine unbekannte Größe, die dem Bekannten eine
Ordnung gibt, ein Unbewußtes, das allem Bewußten Struk
tur verleiht«, dann muß Wissenschaft darin bestehen, » dieses
Unbekannte bekannter und das Unbewußte bewußter zu
machen<< .7 8
Die dafür zuständige Methode bot sich Levi-Strauss in der
»strukturalen Linguistik« de Saussures an.79 Dieser hatte indi
viduelles Sprechen (parole) streng von der Sprache selbst (Ian
gue) unterschieden. Letztere betrachtete de Saussure als »sozia
les Band«, als ein schlechthin objektives »grammatikalisches
System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr
in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen [ . . . ] . Die
Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person ; sie ist
das Produkt, welches das Individuum [ . ] einregistriert ; sie
. .
2!8
sehen Intelligenz zurück - ein bewußtes Verdrängen der Ge
schichte aus dem Denken, ein degout vor ihr, der sich um so
merkwürdiger ausnimmt, als er zu einem Zeitpunkt um sich
greift, wo Sartre ernsthaft bemüht ist, von den armen Bestim
mungen Heideggerscher »Geschichtlichkeit« zur Materialität
des historisch-sozialen Prozesses vorzustoßen.
Zum Sprecher der neuen Generation wurde Levi-Strauss, der
sich namentlich der von der Prager »phonologischen Schule«
fortentwickelten Linguistik anschloß. Ihr rechnet er es hoch an,
daß sie es verstanden hat, auf wirklich wissenschaftliche Weise
»über die immer oberflächlichen bewußten und historischen
Bekundungen hinaus objektive Realitäten zu erreichen. Diese
bestehen aus Bezugssystemen, die wiederum das Ergebnis der
unbewußten Tätigkeit des Geistes sind.« 82 Und Levi-Strauss
fragt sich, ob eine solche Reduktion auch bei anderen gesell
schaftlichen Phänomenen möglich sei, die beim heutigen Stand
der Forschung einer wissenschaftlichen Analyse noch nicht so
zugänglich sind wie die Sprache. Inzwischen (der soeben ange
führte Text stammt aus dem Jahre 1 9 5 1 ) hat er seine Hypo
these, daß »Verschiedene Formen des sozialen Lebens im we
sentlichen gleicher Natur sind : Verhaltenssysteme, die jeweils
Projektionen allgemeiner, die unbewußte Tätigkeit des Geistes
regierender Gesetze auf die Ebene des bewußten und gesell
schaftlichen Denkens sind<<sl, längst in eine folgenreiche Theo
rie überführt. Sie zielt ab auf die Erkenntnis der »universalen
Gesetze, aus denen die unbewußte Tätigkeit des Geistes be
steht«84 ; sie will die »tiefe Identität empirisch verschiedener
Objekte« 8 s naturwissenschaftlich exakt nachweisen, wobei sie
vom Bewußten zum tragenden Unbewußten, vom Besonderen
zum Allgemeinen übergeht. Letzteres ergibt sich also nicht
durch Abstraktion aus dem Vergleich verschiedener Tatbestän
de, sondern ist allererst die Bedingung der Möglichkeit eines
Vergleichs. >>Wenn ( . . . ] die unbewußte Tätigkeit des (freilich
objektiv, nicht subjektiv-transzendental verstandenen, A. S.)
Geistes darin besteht, einem Inhalt Formen aufzuzwingen, und
wenn diese Formen im Grunde für alle Geister, die alten und
82 Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1 967, S. 7 1 .
83 Ibid., S. 71 f.
84 Ibid., S. 79·
85 Ibid., S. 3 5 .
2 19
die modernen, die pnm1t1ven und die zivilisierten dieselben
sind - wie die Untersuchung der symbolischen Funktion, wie
sie in der Sprache zum Ausdruck kommt, überzeugend nach
weist -, ist es notwendig und ausreichend, die unbewußte
Struktur, die jeder Institution oder jedem Brauch zugrunde
liegt, zu finden, um ein Interpretationsprinzip zu bekommen,
das für andere Institutionen und andere Bräuche gültig ist,
vorausgesetzt natürlich, daß man die Analyse weit genug
treibt.<<s6 - Das Erkenntnisinteresse der (nicht von ungefähr
im weitgehend organisierten Spätkapitalismus sich durchset
zenden) strukturalistischen Theorie besteht darin, hinter dem
Mannigfaltigen die Einheit, hinter dem Ungeordneten das
übersichtlich, ja tabellarisch Geordnete aufzudecken. Handelt
es sich etwa darum, eine bestimmte Eingeborenenmythe zu un
tersuchen, so hat der Ethnologe zunächst die verschiedenen
Ebenen zu isolieren und zu vergleichen, auf denen sie wirksam
wird : die geographische, ökonomische, soziologische und kos
mologische. Dann muß er nachweisen, daß er es auf all diesen
Ebenen mit der symbolischen Modifikation und Verkleidung
ein und derselben unbewußt-logischen Struktur zu tun hat, aus
der sich auch die - teilweise beträchtlichen - Varianten der be
treffenden Mythe erklären lassen müssen, wenn sie verschiede
nen Wohnsitzen desselben Volks entstammen. 8 7 Freilich : indem
Levi-Strauss betont, die Analyse archaischer Gesellschaften ziele
darauf ab, >>hinter dem Chaos der Regeln und Bräuche ein ein
heitliches Schema wiederzufinden, das in den verschiedenen
örtlichen und zeitlichen Zusammenhängen gegenwärtig ist und
wirkt<<,ss beschreibt er ebensosehr und mehr noch den Zustand
der gegenwärtigen Welt, die in der Tat alle individuellen Re
gungen in >>ein identisches soziales Schema<<s9 preßt.
Oben wurde angedeutet, daß die von Levi-Strauss vertretene
Methode über alles Einzelwissenschaftliche hinaus insofern eine
Metaphysik impliziert, als sie sich nicht damit begnügt, prakti
sche Regeln für die Feldforschung aufzustellen, sondern zum
rein Objektiven vorzustoßen sucht. Daher sein Ausgang von
86 Ibid.
8 7 Cf. hierzu die sehr instruktive Studie von Uvi-Strauss, Die Sage von
Asdiwal, in : Religions-Ethnologie, herausgegeben von Carl August Schmitz,
Frankfurt am Main 1 964, S. 1 5 4-1 9 5 .
8 8 Uvi-Strauss, Strukturale Anthropologie, I. c . , S. 36.
8 9 Ibid., S. 37·
220
einer Linguistik, welche, wie er meint, berechtigt ist, die Spra
che als ein >>soziales Phänomen« anzusehen, »das ein vom Be
obachter unabhängiges Objekt darstellt<<,9° eine systemhafte
Realität, die >>bis zur Entstehung einer wissenschaftlichen
Grammatik unbekannt bleibt und [ . . . ] auch dann noch die
Rede unabhängig vom Bewußtsein des Subjekts formt, indem
sie seinem Denken Begriffsrahmen aufdrängt [ . . . ] « .9' Indivi
duellem Denken und Sprechen wird damit jede eigenständige
Tätigkeit versagt ; es soll von der vorgegebenen Sprachstruktur
stets schon konstituiert, nicht aber selber für diese konstitutiv
sein. Merkwürdigerweise beruft sich Levi-Strauss' These, die
Sprache sei unabhängig von jedem Beobachter (oder Benutzer)
auf die moderne Physik, in der nichts so angefochten ist wie
die Vorstellung eines schlechterdings subjekt-unabhängigen
Objekts : »Die moderne Physik mußte erst entdecken, daß eine
semantische Welt alle Eigenschaften eines absoluten Objekts
besitzt, damit man erkennen konnte, daß die Art und Weise,
wie die Primitiven ihre Welt begrifflich fassen, nicht nur ko
härent ist, sondern« - und hier folgt Levi-Strauss' Definition
der Sprache - >>gerade diejenige, die sich angesichts eines Ob
jekts, dessen elementare Struktur das Bild einer diskontinuier
lichen Komplexität zeigt, aufdrängt.«9 2
Dem Ethnologen Boas, der sich namentlich mit den Kulturen
und Sprachen der nordamerikanischen Indianer beschäftigt hat,
spricht Levi-Strauss das Verdienst zu, »die unbewußte Natur
der kulturellen Phänomene« von der Sprache her >>definiert zu
haben<<.93 Boas erblickt den wichtigsten Unterschied zwischen
sprachlichen und kulturellen Tatbeständen darin, >>daß die er
steren niemals aus dem klaren Bewußtsein stammen, während
die letzteren, obwohl sie den gleichen unbewußten Ursprung
haben, sich oft bis in die Höhe des bewußten Denkens erheben
[ . . . ] <<.94 Ein Unterschied, der für Uvi-Strauss nur graduell ist
und weder ihre >>tiefe Identität<< verbirgt noch den >>exemplari
schen Wert der linguistischen Methode für die ethnologischen
90 Ibid., S. 70.
91 Ibid. , S. 33 f.
92 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 308 (Hervorhebungen vom Ver
fasser) .
93 Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, I. c., S. 3 3 ·
94 Zitiert ibid., S. 34·
221
Forschungen«9S schmälert. Obwohl Boas' Analyse - trotz sei
ner Einsichten - noch dem bewußten Denken von Individuen
verhaftet bleibt, bescheinigt ihm Levi-Strauss, es sei ihm gelun
gen, >>die Kategorien [ . . . ] individuellen Denkens [ . . . ] weitge
hend zurückzudrängen und von allen menschlichen Beiklängen
zu befreien«.96 Erst die ausgebildete strukturale Linguistik
stößt zum wahrhafl: Objektiven vor : aus den Wörtern extra
hiert sie die »phonetische Wirksamkeit der Phoneme« und aus
dieser die (unbewußt-) >>logische Wirklichkeit<<97 von Zeichen
systemen. Mit ihr als der schlechthin tragenden, überge
schichtlichen (wenn auch an den Bestand der menschlichen
Gattung gebundenen) Grundlage der gesellschafl:lichen Lebens
formen hat Sozialwissenschafl: sich zu befassen ; sie bedarf zwar
des empirischen Studiums, erschöpfl: sich aber nicht in ihm,
sondern zielt ab auf das Paradoxon einer subjektlosen, »ab
solut-objektiven« Theorie des Geistes und der Erkenntnis.
Levi-Strauss steht darin entschieden in der Tradition der neue
ren, durch Durkheim eingeleiteten französischen Soziologie,
daß er äußerst spekulative mit positivistischen Motiven ver
knüpfl:. Wie Durkheims idealistische Lehre von der >>conscien�e
collective« methodisch ausgeht von seinem »chosistischen«
Forschungsprinzip, die sozialen Tatsachen seien als schlechthin
Gegebenes, individuellem Bewußtsein Transzendentes zu un
tersuchen, so trägt auch Levi-Strauss eine extrem rationalisti
sche und idealistische These >>naturalistisch« verkleidet vor ; er
reduziert das Zerstreute, Mannigfaltige auf Einheit, die ange
borene Struktur des >>Geistes<<, um von der Oberfläche zum
Gesetz, vom bloß >>Erlebten<< zum »Wirklichen<< zu gelangen.
Indem er aber dabei >>das unmögliche Ziel verfolgt [ . . . ], diese
geistige Struktur mit einem >realen<, >natürlichen< Objekt zu
identifizieren<<9s, verharrt Levi-Strauss im Bereich fundieren
der Ontologie. Mit Recht verweist Jaeggi darauf, daß der
Strukturalismus gerade deshalb in Metaphysik umschlägt, weil
er, positivistisch, den >>Primat der exakten Methode << verficht ;
er erst >>ermöglicht die problematische Übertragung des sprach-
95 Ibid.
96 Ibid., S. 3 5 .
97 Ibid.
98 Jaeggi, I. c., S. so.
222
liehen Strukturbegriffes auf die gesellschaftlichen Phänome
ne« .99
Der schon erwähnte Vorwurf, seine Position sei forciert ratio
nalistisch, kümmert Levi-Strauss nicht sonderlich, zumal er
selbst von Anbeginn auf eine Art »super-rationalisme<< hinaus
wollte.'00 Zuweilen gibt er ihn an seine Kritiker (Sartre und
dessen Anhänger) zurück, indem er hervorhebt, wie viel sie
dem - immerhin geschichtlich konkretisierten - cartesianischen
Cogito verdanken. Dabei übersieht er, daß Subjektivität, so
sehr seine Theorie sich dagegen sperrt, gerade in seinem objek
tiv gerichteten Begriff von Methode und System am Werk ist ;
daß er dem klassischen Rationalismus weit mehr als seine Geg
ner insofern verhaftet ist, als bei ihm eine geheime, erkenntnis
theoretisch nicht näher befragte Analogie zwischen Denken
und Sein unterstellt wird. Ordo et conexio idearum und ordo
et conexio rerum fallen bei Levi-Strauss wie bei einem Meta
physiker des siebzehnten Jahrhunderts zusammen : die dem
»erzeugenden« Geiste immanenten Gesetze sind zugleich die
des menschlichen (und außermenschlichen) Universums. »Die
Anthropologie<<, erklärt er in seiner Schrift Das Ende des To
temismus, »bringt [ . . . ] in jeder ihrer praktischen Unterneh
mungen eine Strukturähnlichkeit zwischen dem menschlichen
Denken bei der Arbeit und dem menschlichen Gegenstand, auf
den es sich richtet, zum Ausdruck. « Lassen sich bei der Struk
turanalyse Form und Inhalt nicht trennen, dann spiegelt »die
methodologische Integration von Form und Inhalt [ . . . ] auf
ihre Weise eine weit wesentlichere Integration wider: die der
Methode und der Wirklichkeit«. 101
In seiner Einleitung zu Durkheims Buch Soziologie und Philo
sophie rügt Adorno an Durkheim, sein Verfahren ersetze die
Objektivität gesellschaftlicher Lebensprozesse durch die der
»Conscience c;:ollective<< ; dadurch werde der Geist einer Gesell
schaft zu ihrer Substanz erklärt und die Möglichkeit, richtiges
und falsches Bewußtsein zu unterscheiden, gehe verloren.' 01
Eine knappe Analyse der von Levi-Strauss in seiner berühm-
99 Ibid., S. 5 1 ·
1 00 Cf. dazu Schiwy, I . c., S . 3 7 ·
1 0 1 Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, Frankfurt am M a i n 1965,
S. 1 1 9. - Cf. hierzu auch Jaeg gi, I. c . , S. 5 0 ; und Schiwy, I. c . , S. 5 0 f.
102 Frankfurt am Main 1 967, cf. S. 9·
223
ten Arbeit Das wilde Denken entwickelten Konzeption kann
bereits darüber belehren, wie sehr sich im Strukturalismus die
idealistischen Tendenzen der älteren französischen Theorie ge
steigert haben.
224
Demgegenüber untersucht das Marxsche Kapital in notwendi
gen Etappen 1 . »das aktive Verhalten des Menschen zur Na
tur, seinen unmittelbaren Lebensprozeß«, 2. seine damit gege
benen »gesellschaftlichen Lebensverhältnisse« und schließlich
3· die »ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen<<. 108 Sosehr
freilich der dialektische Materialismus die für den Gang der
Geschichte grundlegenden »Verhältnisse der Menschen zur Na
tur« von vornherein als >>praktische, also durch die Tat begrün
dete Verhältnisse« '09 ansieht, so wenig vernachlässigt er dabei
die Rolle der - von den Strukturalisten hypostasierten - Spra
che. Schon in der Deutschen I t,leologie heben Marx und Engels
energisch hervor, daß es ohne Sprache und Sprechen kein
menschliches Bewußtsein gibt, das freilich immer gesellschaft
lich bestimmt ist : »Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein
die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existie
rende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Be
wußtsein, und die Sprache. entsteht, wie das Bewußtsein, erst
aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern
Menschen. << I I O Zwar ist die Sprache »unmittelbare Wirklichkeit
des Gedankens<<, aber weder dieser noch die Sprache insgesamt
bilden »für sich ein eignes Reich<< ; sie sind nur >>Ji.ußerungen
des wirklichen Lebens« . ' " Daß dieses andererseits stets durch
Sprache mitkonstituiert wird, geht für die Autoren schon dar-
22 5
aus hervor, daß sozialer Consensus, ja das spezifisch mensch
liche »Verhältnis« zur objektiven Welt, ihre praktisch-geistige
Aneignung, ohne sie undenkl;>ar wäre.11 1 Sobald kollektive Ar
beit ihre »erste, instinktartige Form« abgestreift hat, verwirk
licht sie Zwecke, die vorher im sprachgebundenen Bewußtsein
der Individuen bereits antizipiert waren."3
So korrektur- und ergänzungsbedürftig die hier angedeutete
Theorie sein mag - sie weist gegenüber der strukturalistischen
Konzeption zwei wichtige Vorzüge auf : 1 . anerkennt sie die
Spra che als ebenso vermitteltes wie vermittelndes Moment der
menschlich-praktischen Realität, ohne daß sie deren konkreten
Reichtum auf eine zeitlose Sprachlichkeit reduziert ; sie bleibt
sich, mit anderen Worten, der geschichtlichen Relativität ihres
Redens von Sprache bewußt. 2. vermeidet es die Marx/Engels
sche Theorie, das Denken mit der Sprache, die Logik mit der
Grammatik (Syntax) zu identifizieren, wie dies in der seman
tischen Philosophie, aber auch im Strukturalismus in dem
Maße geschieht, wie er seine »Logik des Unbewußten« mit der
allgemeinsten Sprachstruktur gleichsetzt.
Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zu Levi-Strauss zu
rück. Oben wurde dargestellt, daß seine überbau-Lehre inso
fern von der Marxschen abweicht, als sie nicht nach (künftig
aufzuhebenden) innerhistorischen Abhängigkeiteil fahndet,
sondern Geschichte als solche hinter sich läßt und die verschie
denen sozialen Formen als bloß zeitliche Modalitäten, Emana
tionen eines zeitlos Gültigen betrachtet. Da dieses als bedin
gende Realität letzter Instanz stets schon gegeben ist, fällt es
Levi-Strauss nicht schwer, innerhalb des selbst derivativ ge
dachten historischen Bereichs materialistisch zu argumentieren :
>>Wir vertreten [ . . . ] keineswegs die Ansicht, daß ideologische
Wandlungen soziale Wandlungen erzeugen. Einzig die umge
kehrte Reihenfolge ist wahr : die Auffassung, die Menschen
sich von den Beziehungen zwischen Natur und Kultur machen,
hängt von der [ . . . ] Weise ab, wie sich ihre eigenen sozialen
Beziehungen verändern.«"4 Wie wenig ernst solche Versiche
rungen zu nehmen sind, geht auch daraus hervor, daß Levi
Strauss Durkheims These vom gesellschaftlichen Ursprung des
IU Cf. ibid., s. 27.
1 1 3 Cf. Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 1 86 .
1 1 4 Levi-Strauss, D;:zs wilde Denken, I. c . , S. 1 39.
logischen Denkens einfach bestreitet. >>Obwohl zwischen der
sozialen Struktur und dem System der Kategorien zweifellos
eine dialektische Beziehung besteht, ist das letztere dennoch
weder Folge noch Resultat der ersteren : beide bringen [ . ] be
. .
228
nicht ganz einfach, weil es Levi-Strauss in diesem Punkt an
Präzision fehlen läßt und sich auf seine materialen Forschun
gen zurückzieht. Soviel läßt sich ausmachen : es geht seiner
Schule um jene ursprüngliche, »elementare Logik [ . . ] , die .
229
Zeit und im Raum hält<< . 1 2 5 Dieser neue Apriorismus, der die
allein relevante Frage nach den historischen Bedingungen, un
ter denen er selbst aufkommen konnte, geflissentlich überhört,
verfolgt das Ziel, >>VOr jeder menschlichen Existenz, vor jedem
menschlichen Denken« 1 2 6 ein »System vor jeglichem System«
dingfest zu machen. Es gibt für Foucault ein wiederzuentdek
kendes Wissen, das sich in uns weiß und denkt, und dem wir uns
zu überlassen haben. Er ist sich völlig darüber im klaren, daß
diese Position zur Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts
zurückführt - allerdings mit dem wesentlichen Unterschied,
daß sie nicht den Menschen an die Stelle Gottes rückt, sondern
ein >>anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoreti
sches ohne Identität« ." ?
Wir werden diese höchst belasteten Kategorien einer Erkennt
nislehre ohne »erkennendes Ich«, ja ohne Subjekt-Objekt-Re
lation auch bei Althusser antreffen. Verweilen wir zunächst
noch bei der linguistisch betriebenen >>Dezentrierung« (decen
trement) des Subjekts. Lacan, von dem dieser Ausdruck
stammt, möchte zwar den sich in jeder Rede bekundenden >>sub
jektiven<< Aspekt der Sprache gewahrt wissen, aber diese be
hält doch den unbestrittenen Primat : sie ist >>das Unbewußte
als überindividuelle Realität<< . 12s Auf Grund seiner rigorosen,
von de Saussure und Levi-Strauss inspirierten Neuinterpreta
tion Freuds gelangt Lacan zu den Thesen, daß das sprechende.
Subjekt nicht das bewußte Subjekt ist und das Unbewußte die
Rede des anderen. 12 9 Lief das Freudsche Unternehmen bei al
ler Einsicht in den ephemeren Charakter des Ichs allemal auf
das Programm hinaus : »Wo Es war, soll Ich werden«, so feiert
der psychoanalytische Strukturalismus das seit Mach in der
modernen Literatur immer wieder ausgesprochene Dahin
schwinden der ichliehen Konsistenz. Foucault bejaht, daß die
us Michel Foucault, Absage an Sartre, in : alternative, Heft 54, Struktura
lismusdiskussion, Berlin 1 967, S. 91 f.
u6 Ibid., S. 92.
1 27 Ibid. - Günter Kröber verweist darauf, daß Foucaults wiederzuent
deckendes • anonymes Denken• eine Reprise der Platonischen Ideenlehre
darstellt, ohne die der •Nativismus• der rationalistischen Philosophie in
der Tat undenkbar wäre. (Die Kategorie >Struktur< und der kategorische
Strukturalismus, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft r r , 16, Jahr
gang, Berlin 1968, S. 1 3 1 8 . )
u 8 Cf. Schiwy, I. c., S. 73·
U9 Cf. ibid.
230
jüngsten Tendenzen sogar »die Idee vom Menschen in der For
schung und im Denken überflüssig [ . . . ] machen « . Probleme wie
das der Versöhnung, des künstlerischen Schaffens, selbst des
Glücks sind ihm zufolge »Zwangsvorstellungen, die es in kei
ner Weise verdienen, theoretische Probleme zu sein. [ . . . ] Un
sere Aufgabe ist es, uns endgültig vom Humanismus zu be
freien . « '30 Das >> Ich« ist unwiederbringlich dahin. Nun gilt es,
das >>Es-gibt<<, das >>Man« zu entdecken . ' J ' Die - sich ideologie
kritisch gebärdende - strukturalistische Ideologie ratifiziert
begrifflich, was die Menschen unter den sich eisern konsolidie
renden Produktionsverhältnissen des Spätkapitalismus werden
mußten : steuerbare Anhängsel eines allmächtigen Apparats.
Kehren wir zu Levi-Strauss' Ausgangsthese zurück, die struk
turale Ethnologie sei vorab eine Psychologie. Was hier »Psycho
logie« heißt, wurde oben bereits skizziert : eine Theorie un
bewußt wirksamer Mechanismen des menschlichen Geistes,
welche die von der Ethnographie gelieferten sozialen Tatsa
chen zu Modellkonstruktionen weiterverarbeitet. Daß dieses
Konzept nicht wenige Fragen aufwirft, die weit über alles bloß
Einzelwissenschaftliche oder Methodologische hinausgehen, liegt
auf der Hand. Verfolgen wir deshalb näher, was es mit dem
im Zentrum dieser Theorie stehenden >>structures mentales «
1 3 0 alternative, I. c., S. 9 3 ·
1 3 1 Ibid., S. 91. - Jaeggi weist bei seiner Diskussion des strukturalistisd:!en
•Anti-Humanismus • (cf. I. c., S. 1 59 f.) im Ansd:!luß an Dufrenne darauf
hin, daß die französisd:!en Autoren neuerdings den (ebenfalls extrem id:!
feindlid:!en) logisd:!en Positivismus für sid:! entde<ken und diesen mit der
Philosophie des späten Heidegger verbinden, während sie Sartre sd:!roff
ablehnen. Das Interesse der Strukturalisten an Heidegger ist keineswegs so
abwegig, wie es sd:!einen mag. In Sein und Zeit wird die Anonymität des
• Man• nod:! kritisiert unter dem Aspekt einer (wie immer ontologisd:! ver
mummten) Subjektphilosophie : •Das Man ist das Niemand, dem alles Da
sein im Miteinandersein sid:! je sd:!on ausgeliefert hat• (Tübingen 1 9609,
§ 17, S. u 8 ) . Oder, sd:!ärfer nod:! : •Zunäd:!st >bin< nid:!t >id:!< im Sinne des
eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man (ibid., S. 119).
Demgegenüber führt Heidegger im Brief über den •Humanismus< (enthal
ten i n : Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1 9 5 4 2 , S. 53 ff.) eine andere
Sprad:!e. Argumentiert Sartres damaliger Existentialismus von einer Ebene
aus, auf der es nur die Mensd:!en gibt (ibid., S. So), so hat es Fundamental
ontologie primär mit dem Sein zu tun : • Denn das •es<, was es hier >gibt<,
ist das Sein Selbst• (ibid.). • Soll aber der Mensd:! nod:! einmal in die Nähe
des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren•
(ibid., S. 6o) .
2J I
auf sich hat, deren überzeitliche, kollektive Verbindlichkeit
hier immer wieder pointiert wurde. Dabei scheint es ratsam,
von den Überlegungen auszugehen, die Micheie Jalley-Crampe
in ihrem Aufsatz La notion de structure mentale dans les tra
vaux de Claude Levi-Strauss 132 anstellt. Die Autorin verweist
zunächst auf eine erkenntnistheoretische Schwierigkeit, die
sich unleugbar daraus ergibt, daß der Strukturalismus einer
seits von » Psychologie<< spricht, andererseits aber diese Diszip
lin derart vom Verhalten der leibhaftigen Menschen ablöst,
derart >>konzeptualisiert<<, daß eher von einer >>Logik<< die
Rede sein müßte, wie sie Kants Kritik der reinen Vernunft
unter dem Titel der >>transzendentalen Analytik<< behan
delt. 1 33 Kant vermag diese Schwierigkeit dadurch, wenn auch
nicht zu lösen, so doch zu mildern, daß sein Idealismus mit
einer (durchaus sachlich motivierten) Zweideutigkeit behaftet
ist. Sosehr er nämlich konstitutive Subjektivität - Bedingung
der Möglichkeit von Erkenntnis wie ihrer Gegenstände - als
Inbegriff reiner Formen und Funktionen versteht, so wenig
gelingt es ihm, ohne die Leistungen des Bewußtseins empiri
scher, raum-zeitlich bedingter Menschen auszukommen. Das
jenige, wovon im Begriff des Transzendentalen abgesehen
wird, ist gleichwohl zu berücksichtigen, wenn der Rede vom
»Subjekt« überhaupt ein Sinn verliehen werden soll. Sinnliche
Rezeptivität ist ohne rezipierende Individuen undenkbar.
Levi-Strauss hingegen befindet sich in einer anderen Situation.
Er beruft sich zwar ausdrücklich auf den Kantianismus1 l4,
aber da er, weitaus radikaler als Kant, nicht nur alles Indivi
duell-Menschliche aus der Theorie verbannt, sondern Subjek
tivität schlechthin, stellt sich ihm das schier unlösbare Problem,
das in dieser Studie wiederholt bezeichnet wurde, die Frage
nämlich, wie von einer überindividuellen, unbewußten und
doch geistigen Tätigkeit (und deren universellen Gesetzen) ge
sprochen werden kann, wenn diese völlig subjektlos sein soll -
»Natur<<. Sicher gibt es gewisse Analogien zwischen dem struk
turalen und dem transzendentalen Verfahren. Aber man sollte
2J2
sie nicht überbewerten. Bei Levi-Strauss verhält sich die bunte
Fülle der Kulturphänomene (erkenntnistheoretisch ausgedrückt :
das >>Mannigfaltige«) zur logischen Einheit wie der bewegte
Schein zum ruhenden Sein. Seine Reduktionen finden, anders
gesagt, in der Sphäre des nach Kant bereits >>Konstituierten«
statt. Demgegenüber ist bei Kant das zu vereinheitlichende
Mannigfaltige, der berühmte >> Stoff« der Erkenntnis, ein theo
retisch von deren Formen, in die er immer schon eingegangen
ist, Abgelöstes. Eigentliche >>Realität<< besitzt er nicht. - Der
»transzendentale« Strukturalismus, wie Garaudy ihn kritisch
nennt, ' 3 5 erinnert eher an Max Adlers Lehre vom gattungs
mäßig-kollektiven Charakter des Bewußtseins-Zusammenhangs
(»soziales Apriori<<), in manchem auch an den Sprach-Trans
zendentalismus des frühe�, Wittgenstein, vor allem aber an
Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen«.'36
Cf. dazu audt den kritisdten Aufsatz von Lucien Seve Methode structurale
et mhhode dialectique, in : La Pensee, Nr. 1 3 5 , I . c., vor allem S. 9 1 . - Paul
Ricoeur, der sidt besonders um den erkenntnistheoretisdten Aspekt des
Strukturalismus gekümmert hat, interpretiert Levi-Strauss als •Kantianer
ohne transzentales Subjekt • . So heißt es in seiner Arbeit Structure et her
mfmeutique (in : Esprit, November 1963, S. 6oo) : •Les lois linguistiques
designant un niveau inconscient et en ce sens non-reflexif, non-historique
de l'esprit, cet inconscient n 'est pas l'inconscient freudien de Ia pulsion,
du desir de puissance de symbolisation ; c'est pluttlt un inconscient kantien
que freudien, un inconscient categoriel, combinatoire ; c'est un ordre fin i,
ou le finitisme d'un ordre, mais tel qu'il s'ignore. Je dis inconscient kantien
mais par egard seulement pour son organisation, car il s 'agit bien pluttlt
d'un systeme categoriel sans rHerence a un sujet parlant [ . . . ]. Aussi
bien cet esprit inconscient peut-il �tre homologue a Ia nature, peut-�tre
m�me est-il nature.«
1 3 5 Cf. sdn Budt Marxismus im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Harnburg
1 969, s. 62 f.
1 3 6 Habermas' Untersudtung dieser Konzeption liest sidt streckenweise wie
eine Kritik der strukturalen Ethnologie. Cf. seine Studie Zur Logik der
Sozialwissenschaften (in : Philosophische Rundschau, herausgegeben von
Hans-Georg Gadamer und Helmut Kuhn, Beiheft 5, Tübingen 1 967), wo die
Philosophie der symbolisdten Formen als • logisdte Analyse der Spradte in
transzendentaler Einstellung« (S. 9) gekennzeidtnet wird. •Dem Geist•,
heißt es hier, •wird Innerweltlidtes in dem Maße präsent, in dem er Formen
aus sidt herausspinnt, die eine intuitiv unzugänglidte Wirklidtkeit repräsen
tieren können.• Wie später bei den Strukturalisten lassen sidt bei Cassirer
die ursprünglidten Leistungen des Geistes • indirekt aus den grammatisdten
Beziehungen der symbolisdten Formen entziffern• (ibid .). Die hödtste Wahr
heit, zu weldter das Denken gelangen kann, ist nadt Cassirer die Einsidtt
in • die Form seines eigenen Tuns• (zitiert von Habermas, S. 10). Auf nidtts
anderes zielt letztlidt die Theorie des »wilden Denkens• ab. Vorwegge-
233
Freilich dürfen solche sich vorderhand anbietenden Vergleiche
der strukturalen Denkweise mit gewissen Spielarten der Trans
zendentalphilosophie nicht darüber hinwegtäuschen, daß die
verborgene Ordnung, die es unter der Inkohärenz, Vielheit
und Willkür der gesellschaftlichen Befunde aufzuspüren gilt,
in keinem im Karrtischen Sinn »konstitutiven « Subjekt grün
det. Die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit struktural
ethnologischer Aussagen basiert auf dem Objekt der Lingui
stik : der Sprache, welche die soziale Tatsache, ja das Unbe
wußte par excellence bildet'37, das jedem gesellschaftlichen
Kontext vorausgeht, ihn allererst ermöglicht.
Es fehlt daher nicht an Kritikern, die Levi-Strauss vorwerfen,
in seiner Theorie sei insofern ein extremer Idealismus am
Werk, als Sprache bei ihm gleichsam zum Demiurgen der Ge
sellschaft werde. Lefebvre etwa, der wichtigste dieser Kritiker,
schreibt in seiner Arbeit Claude Uvi-Strauss ou le nouvel
eleatisme: >>Le langage, comme systeme, definit la societe
comme systeme, et aussi les formes de la pensee. Il detient donc
une sorte de fonction transcendentale. C'est le >lieu de notre
installation<. Nous sommes pris dans le systeme du langage,
dans l'implication de signifiants et de signifi.es [ . . ] . Le dog
.
234
des oeuvres. << 1 3 8 Des weiteren bemängelt Lefebvre, daß die
»reine Sprachtheorie« sich von vornherein der Frage entzieht,
wer wie über was spricht. Auch Marx zerstört den Schein der
Unmittelbarkeit dessen, was die Strukturalisten als »le vcku«
bezeichnen. Aber die wissenschaftliche Sprache (>>le discours
scientifique«), vermittels derer er diesen Schein auflöst, kreist
nicht in sich selbst, sondern bezieht sich auf einen konkreten,
außersprachlichen (obzwar durch Sprache mitkonstituierten)
Inhalt. >>Le reel«, das für die strukturalistische Methodik die
höhere Wahrheit des unmittelbar Bewußten bildet, ist bei
ihm die jeweilige Totalität der Produktionsverhältnisse, die
auf Grund des Standes der Naturbeherrschung erreichte ge
sellschaftliche Praxis. Indem der Strukturalismus die Nöte
der Alltagswelt und mit ihr die verschiedenen Bereiche, in de
nen menschliche Tätigkeit sich verkörpert (>> l'ensemble des
oeuvres<<) ignoriert, bestenfalls als Rohmaterial betrachtet, ge
rät er in Gefahr, sich in leere Tautologien zu verlieren. I 39
»Im Fall des soziologischen wie dem des linguistischen Stu
diums <<, sagt Levi-Strauss, >>sind wir im vollen Symbolis
mus«. 1 40 Jede wirkliche Erfahrung und Rede der Individuen
ist unausweichlich geprägt von der Sprache als der Struktur.
Das Vokabular, dessen sich jene bedienen, >>ist weniger wich
tig als die Struktur«, die identisch bleibt und wodurch die >>sym
bolische Funktion« sich erfüllt. '4' Daraus, daß die Menschen
in ihrer Praxis genötigt sind, in einer bereits >>symbolisierten
Welt<< 141 zu agieren, zieht Levi-Strauss den Schluß, daß sich
die Symbole nicht aus puren Verhaltensweisen ableiten lassen,
wie dies ein grober, positivistisch verkürzter Materialismus
behaupten würde : »Die Sprache bleibt ein nicht Zurückführ
bares, das nur im Logischen begriffen und gedacht werden
kann, niemals im Historischen : die erste Symbolisierung, von
der aus sich alle Geschichte entwickelt, historisch entstehen las
sen zu wollen, ist ein sinnloses Unterfangen, denn es existiert
kein wirklicher Unterbau, den man als ihre Quelle ansehen
könnte.<< '43
138 I n : l'homme et Ia socihe, Nr. 2 , I. c . , S. 8 3 und S. 95 f.
I 39 Cf. ibid . , s . 93 ff.
<40 Strukturale Anthropologie, I. c . , S. 67.
141 Ibid. , S. 224.
142 Jaeggi, I. n., S. 40.
143 Ibid.
23 5
Dies� treffende Darlegung der quasi-transzendentalen Posi
tion Levi-Strauss' durch Jaeggi zeigt abermals, wie es um das
Marx-Verständnis des Strukturalismus bestellt ist. Stets auf
der Suche nach einem letzten, einheitstifl:enden Substrat der
Erscheinungswelt, unterstellt er der Marxschen Theorie die
selbe Tendenz und möchte sie dadurch überbieten, daß er die
Sprache allen anderen Strukturen gegenüber privilegiert : sie
wird zum irreduktiblen Unterbau aller möglichen, historisch
untersuchbaren Unter- und überbauten. »Die Linguistik«, ver
sichert Levi-Strauss bis zur Monotonie, >>Stellt uns einem [ . . . ]
außerhalb (oder unterhalb) des Bewußtseins oder Willens ste
henden Sein gegenüber. « Unerfindlich bleibt dabei, worin die
von Uvi-Strauss eigens hervorgehobene dialektische Qualität
dieses »Seins« der Sprache bestehen soll. Zwischen ihr als vor
gegebenem System und den Weisen individuellen Sprechens
waltet starre Abhängigkeit - keine vermittelnde Reziprozität :
>>Als nicht reflektive Totalisation ist die Sprache eine mensch
liche Vernunfl:, die ihre Gründe hat und die der Mensch nicht
kennt«, der in ihr »seine apodiktische Erfahrung finden
kann«'44, auf der sich alle anderen Sphären erheben.
Nun hat der Marxismus von Anbeginn, zuletzt noch in Stalins
Linguistik-Briefen (die charakteristischerweise im Ostblock
eine Rehabilitierung der formalen und symbolischen Logik ein
leiteten), nicht nur allgemein darauf bestanden, daß den geisti
gen Gebilden gegenüber den ökonomischen Strukturen eine
relative Unabhängigkeit zukommt. Er hat insbesondere betont,
daß die Sprache kein materialistisch ableitbarer >>Überbau« ist,
weil sie, immer mit Bewußtsein und Denken verbunden, das
(keineswegs homogene) »Sein« der ökonomischen Basis mitbe
stimmt. Diese ist zugleich konkretes Werden, historische Praxis.
Ihr Begriff ist reicher als der bislang jedenfalls von Sartre ent
wickelte Begriff geschichtlicher Bewegung. Uvi-Strauss wirfl:
denn auch der Kritik der dialektischen Vernunft vor, sie
bleibe im Programmatischen stecken. Sie wolle den bürgerli
chen Subjektivismus hinter sich lassen und münde ein in Sozial
psychologie ; das Cogito werde bloß äußerlich »soziologi
siert<< 145 und Sartre liefere - entgegen seiner Absicht - kein
»konkretes Bild der Geschichte, sondern ein abstraktes Schema
1 44 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 290.
145 Ibid., S. z 8 7 .
von Menschen, die eine Geschichte machen [ ] . << 146 Daran ist
. . .
237
cience reflechie - conscience de Ia conscience - chez le
savant. « 1 5° Hiernach hat es der Ethnologe mit einem - menta
len - Tatbestand zu tun, der unmittelbar, empirisch nicht erfaßt
werden kann. Die sozio-kulturelle Sachwelt ist kein Letztes,
in und durch sich Bestimmtes ; sie bildet, näher betrachtet, ein
Ganzes von geistigen Produkten, von Formen entäußerten,
vergegenständlichten Denkens. Dieses aber darf nicht mit
menschlicher Tätigkeit, mit der eines (idealistisch oder materia
listisch gedeuteten) »Subjekts« zusammengebracht werden. ' P
Dessen Elimination aus der Theorie ermöglicht e s gerade, die
geistigen Strukturen rein »synchronisch«, ohne Rekurs auf
konkrete Geschichte, ohne den beschwerlichen Stufengang einer
»Phänomenologie des Geistes<< zu behandeln.
239
schließendes Zusammensetzen des Objekts - gewonnene Struk
tur ist zwar nur dessen »simulacrum (Abbild, Schattenbild),
aber ein gezieltes, >interessiertes< Simulacrum, da das imitierte
Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Ob
jekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich
blieb.« l 5 s
Das im kognitiven Sinn ,. Wirkliche « ist nicht unmittelbare
Empirie, sondern das » Intelligible« . In den einsichtig geworde
nen Denksystemen drückt sich eine Aktivität aus, die mit der
jenigen zusammenfällt, die der strukturalistische Forscher aus
übt. Dadurch, daß an die Stelle erkenntnistheoretischer Refle
xion ein dogmatischer >> Isomorphismus« tritt, werden Methode
und Objekt praktisch ununterscheidbar - identisch. Mit gro
ßem Nachdruck hebt Micheie Jalley-Crampe hervor, daß
diese einfach gesetzte >>identite ontologique« keineswegs genü
gen kann, wenn es sich darum handelt, Ethnologie als - derart
anspruchsvolle - Wissenschaft zu begründen : >>Car, fonder le
rapport de la mchhode et de l'objet sur l'identite operatoire
de l'esprit humain qui se traduit dans l'activite scientifique
comme dans la pensee objectivee, ne suffit pas a expliquer la
possibilite de la science elle-m�me. Comment rendre compte
de ce dedoublement de l'esprit qu'implique l'activite scienti
fique de l'ethnologue? Et comment est possible, si l'objet de
l'ethnologie est l'ensemble des structures mentales inconscien
tes, cette prise de conscience que represente l'ethnologie ? N'est
elle pas la conscience de soi d'un esprit jusque la demeure
etranger a soi-m�me?« l 59 - Überlegungen, die noch einmal die
Schwierigkeiten verdeutlichen, denen sich eine Lehre aussetzt,
die zwar - über das ethnographische Studium - zu einer
» transzendentalen« Inventarisierung der allgemeinsten Struk
turen menschlichen Geistes gelangt, es sich aber zugleich verbie
tet, diesen a priori als das anzuerkennen, wodurch allein das
Verfahren gerechtfertigt würde : als konstitutive Subjektivität.
Daran hat die von Levi-Strauss scheinbar im Kantischen Sinn
geübte >>Kritik« : der Rückgang von dem im gegebenen Kon
text von Erfahrung gleichsam schon auskristallisierten Lei
stungen des Geistes zu dessen reinen Formen ihre unüberschreit
bare Schranke. Uvi-Strauss möchte die Einheit und Notwen-
I 5 8 Ibid., s. ' 9 ' ·
1 59 Micheie Jalley-Crampe, I. c ., S. 57·
digkeit der von ihm untersuchten getsttgen Strukturen nicht
subjektiv, sondern rein objektiv begründen : ihre Totalität
nimmt den Charakter eines mit eigener Wirklichkeit ausge
statteten Objekts an, das unabhängig von jedem subjektiven
Bewußtsein besteht. • 6o
Von hier aus stellt sich die ganze Theorie des »wilden Den
kens« als ein stets weitergetriebener Versuch dar, die - er
kenntnistheoretische - Paradoxie des Strukturalismus mit
einem metaphysischen Gewaltstreich zu beseitigen. Die Frage
nämlich, wie denn in einer schlechthin »subjektlosen << Philoso
phie ein höheres Wissen vorzustellen sei, das - prinzipiell un
geschieden vom alltäglichen wie vom szientivischen Wissen -
über die Operationen eines Geistes Auskunft erteilen kann, der
nichts von seinem Tun weiß - diese Frage beantworten Levi
Strauss' Schriften seit den Traurigen Tropen so, daß sie das
Denken als ein Objekt unter den Objekten dieser Welt >>defi
nieren«. Gleiches wird durch Gleiches erkannt - dieser schon
auf die Vorsokratik zurückgehende Gedanke beherrscht den
strukturalistischen Erkenntnisbegriff. Wenn der Ethnologe das
objektivierte Denken untersuchen kann, so deshalb, weil Den
ken selbst ein Objekt ist und im Sinne strenger Mechanismen,
ja eines »determinisme absolu<< den Gesetzen der Dingwelt
unterworfen bleibt.•6•
Daß diese metaphysische These die Schwierigkeit nicht zu til
gen vermag, liegt auf der Hand. Es verbleibt ein dialektisch
nicht durchreflektierter (ohne inhaltlich entfaltete Geschichte
nicht zu bewältigender) Zirkel. Einerseits kann das Bewußt
sein des Ethnologen nur darum zur Einsicht in ein Denken
führen, das ohne es unaufgehellt bliebe, weil jener nur in Kon
takt mit dem unbewußten Denken Zugang zu seinem eigenen
Denken gewinnt ; weil die objektiv gegebenen Denkstrukturen
die strukturale Denkweise des Forschers erheischen. Anderer
seits aber kann das unbewußte Denken nur vermittels ethnolo-
r 6o Cf. ibid ., S. 5 8
I 6 I Cf. ibid.
giseher Wissenschaft Gestalt annehmen.162 - Der Vorbehalt
Levi-Strauss', es komme primär darauf an, die Denkmecha
nismen als solche zu erforschen, weniger darauf, welchen Status
man ihnen oder dem sie studierenden Denken zuspreche, ist
wenig stichhaltig. Daß eine Methode zu brauchbaren Ergeb
nissen führt, entbindet diejenigen, die sich ihrer bedienen,
nicht davon, sie erkenntnistheoretisch zu reflektieren - beson
ders dann nicht, wenn sie philosophisch so belastet ist wie der
Strukturalismus. Ungelöst - so Micheie Jalley-Crampe - bleibt
die kitzlige Aufgabe zu klären, >>comment l'ethnologie peut
prendre conscience de mecanismes qui ne se savent pas ; com
ment, si la nature de l'esprit est inconsciente, la rencontre de
deux pensees peut eclairer l'esprit sur lui-m�me ; comment en
fin, la pensee peut se penser m�me « . '6J
Nun lautet Uvi-Strauss' metaphysisch-gnoseologische Haupt
these zwar, daß den verschiedenen Kulturphänomenen geistige
Strukturen zugrunde liegen, aber - und das bildet den Kern
seiner Lehre vom »wilden Denken« - er betont zugleich, daß
diese Strukturen objektiv, ja ein Stück Natur sind, wie es der
Gelehrte unter dem Mikroskop betrachtet. Nicht nur in dem
Sinn, daß die (ans System der Sprache gebundene) Logik dem
individuellen Bewußtsein als ein je schon Gegebenes, dinghafl:
Festes entgegentritt. >>Natur« sind jene Strukturen für Levi
Strauss vor allem insofern, als sie auf der unwandelbaren Be
schaffenheit des menschlichen Gehirns und damit des materiel
len Universums basieren. Darauf kamen wir wiederholt zu
sprechen ; es handelt sich jetzt darum, die Konsequenzen dieses
- spekulativen - »Naturalismus« näher zu erörtern.
Das Zusammenfallen von Methode und Realität, von forschen
dem und zu erforschendem Geist beruht darauf, daß beide im
natürlichen System der Dinge gründen ; daß in der Erkenntnis
nicht nur der Geist vom Geiste Informationen entgegennimmt,
sondern ebenso die Natur von der Natur. Die durch den Men
schen hindurch erreichbaren Wahrheiten gehören zur materiel
len Welt schlechthin, die letztlich auch das Muster unserer ab
straktesten Denkoperationen bildet. Levi-Strauss zögert nicht
1 62 Cf. ibid. - Zu diesem Zirkel in der Selbstbegründung von (strukturali
stisdter) Erkenntnis cf. audt Manfred Bierwisdt, zitiert in : Sdtiwy, I. c.,
s. 4 5 ·
1 6 3 Ibid.
zu behaupten, daß selbst die Sätze der reinen Mathematik, so
befreit von allem Stofflichen sie erscheinen mögen, den Aufbau
des Universums reproduzieren. Sie spiegeln, wie er im Wilden
Denken schreibt, >>das freie Funktionieren des Geistes wider«
- damit aber »die Tätigkeit der Zellen der Hirnrinde, die von
allem äußeren Zwang frei sind und nur ihren eigenen Gesetzen
gehorchen. Da auch der Geist ein Ding ist, unterrichtet uns das
Funktionieren eines Dings über die Natur der Dinge : selbst die
reine Reflexion läuft auf eine lnteriorisierung des Kosmos
hinaus<< . 1 64 Unsere Begriffe veranschaulichen symbolisch die
Struktur des Außermenschlichen. Levi-Strauss zitiert in diesem
Zusammenhang die Formulierung E. W. Beths, daß Logik und
Logistik »empirische Wissenschaften sind, die eher zur Ethno
gr<tphie als zur Psychologie gehören« .16s
An dieser Stelle der Diskussion scheint es geboten, auf den be
reits erwähnten methodologischen »Rousseauismus« von Levi
Strauss zurückzukommen. Rousseau, schreibt er in seiner Ab
handlung über den Totemismus, hat » das zentrale Problem der
Anthropologie« aufgestellt : »das des Übergangs von der Na
tur zur Kultur<< .1 66 Dieser ist zugleich ein Obergang »von der
Tierheit zur Menschheit, [ . . . ] von der Affektivität zur lntel
lektualität«. 167 Das (im logischen, nicht im genetischen Sinn)
ursprüngliche Denken ist nicht etwa »prälogisch<<, wie Levi
Bruhls Theorie annahm, sondern - darin war Rousseau bereits
weiter als die spätere Wissenschaft - die »Quelle der ersten
logischen Operationen«. 168 Sie bestehen im klassifikatorischen
»Verständnis für die . >spezifische< Struktur der Tier- und
Pflanzenwelt« und gehen einer »sozialen Differenzierung«
voraus, »die erst gelebt werden kann, nachdem sie gedacht
worden ist«. 169 .
Der - idealistische - Primat des »Denkens « vor dem »Leben«
bestimmt Levi-Strauss' Rousseau-Interpretation insgesamt. So
unterstreicht er besonders, daß der Genfer »als Gegensatz zum
Naturzustand<< häufig nicht den »Gesellschaftszustand« angibt,
244
ausgedachter, sondern tatsächlich vorhandener) Reihen pflanz
licher oder tierischer Typen. Levi-Strauss erläutert den Mo
dellcharakter des naturalen Seins an der Kategorie der >>Art«.
Diese bezeichnet ebenso eine »Sammlung von Individuen<< wie
ein »System von Definitionen << 1 77 und gestattet das »sinnliche
Verstehen eines von der Natur objektiv gegebenen Kombina
tionssystems [ . . . ] << . 1 7 8
Freilich wäre es falsch anzunehmen, die Tatsache, daß es unter
scheidbare botanische und zoologische Arten wirklich gibt,
bilde ein »endgültiges und unmittelbares Modell«I79 des Den
kens. Eher dient sie als »Mittel des Zugangs zu anderen Unter
scheidungssystemen<<, die - was wichtig ist - »auf das erste
zurückwirken<< .• s o Im Gegensatz zur naturalistischen Ethnolo
gen!Schule hebt Levi-Strauss hervor, daß die Naturphäno
mene als solche keineswegs dasjenige sind, »was die Mythen zu
erklären suchen<< . 1 s 1 Ihr spezifisches >>Denkobjekt<< bilden viel
mehr die (jeweils historisch-gesellschaftlich) vermittelten Bezie
hungen der Menschen zur Natur - eine Realität, vermittels
derer »die Mythen Realitäten zu erklären suchen, die selbst
nicht natürlicher, sondern logischer Ordnung sind<< . 1 82 Daß
diese - logischen - Realitäten für den Strukturalismus selbst
zur >>Natur<< gehören, wurde hier wiederholt dargetan und
vermag die Triftigkeit des im letzten Abschnitt über das Ver
hältnis von Methode und Realität Entwickelten nicht zu
schmälern. Wie Spinozas >>naturale<< Weltsubstanz sich der
Erkenntnis gleichzeitig über die Attribute der extensio und
der cogitatio erschließt, so stellt sich auch bei Levi-Strauss, ob
schon auf dem Niveau zeitgenössischer Wissenschaftstheorie,
die Welt als eine dar, die »Zugleich physische und semantische
Eigenschaften « • 8 J aufweist. Die moderne Entdeckung, daß die
Welt der Information und Kommunikation dem physischen
Universum angehört, daß, anders gesagt, Naturgesetze in sol
che der Information übergehen, »schließt die Gültigkeit des
umgekehrten Übergangs ein : dessen, der seit Jahrtausenden
1 77 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 1 60.
178 Ibid., S. 1 6 1 f.
1 79 Ibid., S. 1 60.
180 Ibid.
181 Ibid., S. 1 1 4.
182 Ibid.
183 Ibid ., S. 308.
24 5
dem Menschen erlaubt, sich den Naturgesetzen auf dem Wege
der Information zu nähern« . ' s4
2 47
Denken ist >>eher ein Schatten, der den Körper ankündigt<< als
»eine Etappe der technischen und wissenschaftlichen Entwick
lung [ . . ] << . Es ist nicht ein »erster Versuch, ein Anfang, eine
.
1 94 Ibid.
195 Ibid ., S. z s .
1 96 Ibid., s . Z7.
197 Ibid.
198 Ibid. , S. 3 1 0.
tigt, die später zur Regel werden. Es gelangt auch zu Methoden
und Resultaten, welche die Wissenschaft noch längst nicht ganz
erreicht hat, welche ihr erst später zugänglich werden. Das
Schwierigste, nicht das Einfachste, steht für Levi-Strauss am
Anfang : >>die Systematisierung auf der Ebene der sinnlich
wahrnehmbaren Gegebenheiten, denen die Wissenschaft lange
Zeit den Rücken gekehrt hat und die sie erst langsam wieder in
ihr Gesichtsfeld zurückholt. « '99 Levi-Strauss erinnert in diesem
Zusammenhang an die moderne Informationstheorie, die, wie
er meint, dazu beigetragen hat, die getrennten Wege der Er
kenntnis zusammenzuführen, denjenigen, der sich die physische
Welt über die Kommunikation erschließt, und denjenigen, der
über die Physik zur Welt der Kommunikation findet.'00 Und
er spricht die nach Marx und Nietzsche philosophisch jeden
-
2 49
stinkte ausgeliefert ist, wie man es sich allzu oft vorgestellt
hat, noch repräsentiert er jenen Bewußtseinstypus, der durch
die Affektivität beherrscht wird und in Verworrenheit und
Partizipation versinkt.« 203 Hier also heißt es umlernen. Die
Primitiven sind gerade nicht »primitiv«. Ihr gesamtes Leben
wird, weit mehr als das der Zivilisierten, durch bewußte Ge
danken-Komplexe determiniert.
Freilich ist es Levi-Strauss nicht geglückt, die seitherigen Theo
rien über das von ihm »wild« genannte Denken in seine Kon
zeption als relatives Moment der Wahrheit hinüberzuretten.
Der sicher falschen Vorstellung, das Denken der Eingeborenen
sei rein utilitaristisch bestimmt, hält er abstrakt die Antithese
entgegen, ihr primäres Interesse sei kein praktisches, sondern
ein kognitives. Tier- und Pflanzenarten sind ihnen nicht durch
ihre Nützlichkeit bekannt, sondern »sie werden für nützlich
oder interessant erachtet, weil sie bekannt. sind«. 204 Levi
Strauss betont mit Recht, daß >>ein so systematisch entwickel
tes Wissen« wie das der Wilden »nicht allein vom praktischen
Nutzen abgeleitet werden kann<< . 20 S Nur geht es nicht an, die
Komponente der materiellen Praxis derart gering zu veran
schlagen, daß man behauptet, die archaische Wissenschaft ge
nüge vorab »intellektuellen Ansprüchen, vor oder anstelle der
bloßen Befriedigung von Bedürfnissen<<.'06 Bei aller Autono
mie des Theoretischen gegenüber den handfesten Lebenstat
sachen - auch Althusser hebt sie im Anschluß an Levi-Strauss
hervor - bleibt zu beachten, daß der Erkenntnisprozeß auf
allen Stufen der (vom Strukturalismus geschmälerten oder gar
geleugneten) Geschichte ein konstitutives wie abgeleitetes Mo
ment menschlicher Praxis bildet. So anachronistisch es wäre,
wollte man Freuds These in Totem und Tabu umstandslos fol
gen, wonach sich in der Magie bereits die »unerschütterliche
Zuversicht auf die Möglichkeit der Weltbeherrschung<< 207 aus
drückt - diese ist stets auch, wie immer keimhaft, in jener ent
halten. zo s
203 Ibid.
204 Ibid., S. 20.
205 Ibid., s. I9·
206 Ibid., S. 20.
207 Sigmund Freud, Totem und Tabu, Frankfurt am Main 1 9 5 6 , S. r o r .
2 0 8 Mehr nodt i n der Mythologie. Marx hat in seiner Einleitung z u r Kri
tik der politischen Ökonomie die beiden Momente des Mythos, das seiner
Die so befremdlichen Denkformen der Wilden - das ist Levi
Strauss' Grundgedanke - werden uns in dem Maße zugäng
licher, wie es uns gelingt, sie unter dem Aspekt der »Forderung
nach Ordnung« 109 zu sehen. Wenn etwa die Pawnee-Indianer
beim überqueren eines Flusses sich einer rituellen Anrufungs
formel bedienen, die aus mehreren Teilen besteht, die peinlich
genau der jeweils von den Reisenden zurückgelegten Etappe
entsprechen, dann interpretiert Levi-Strauss dieses Verhalten
sogleich als Ausdruck der »Sorge um eine erschöpfende Beob
achtung und eine systematische Bestandsaufnahme der Bezüge
und Verbindungen«.1 10 Nur dadurch, daß er gewaltsam von
allen spezifischen Bestimmtheiten abstrahiert, kann Levi
Strauss eine (nahezu) bruchlose, überzeitliche Einheit des
menschlichen Denkens behaupten. Dessen Urform und blei
bende Grundlage ist das sogenannte primitive Denken, dessen
Struktur unter dem Postulat einer unwandelbaren »Ordnung
des Universums«11 1 steht.
Fraglich ist nur, ob die von Levi-Strauss angeführten Züge des
Denkens, die in denen des magischen Bewußtseins gründen sol
len, wirklich für alles Denken gelten. Handelt es sich hier nicht
vielmehr um die - voreilige - Projektion der ausgebildeten
Elemente des esprit positif, also einer geschichtlich entsprunge
nen und (möglicherweise) aufhebbaren Stufe des Denkens, auf
dessen noch unbeholfene Anfänge? Levi-Strauss verstößt gegen
die Hegeische Einsicht, daß wahrhafte Identität stets konkre
te, inhaltlich erfüllte Identität ist und insofern allemal Nicht
identität, Werden und Veränderung einschließt.m Was bei ihm
(relativen) Autonomie und das seiner Gebundenheit an eine bestimmte hi
storische Praxis, herausgearbeitet. Mythologie ist einmal, vor jeder bewuß
ten Kunstproduktion , • unbewußt künstlerische Verarbeitung der Nature
(und als solche die Voraussetzung etwa der griechischen Kunst) . Zum ande
ren »Überwindet und beherrscht und gestaltet• sie • die Naturkräfte in der
Einbildung und durch die Einbildung : verschwindet also mit der wirklichen
Herrschaft über dieselben« . (In : Zur Kritik der politischen Ökonomie, I. c.,
S. 269 ; S. 268.) - Der Strukturalismus reduziert demgegenüber die Mythen
auf ihren (von der Praxis abgelösten, ja ihr fundierend vorgeordneten) rein
kognitiven Aspekt : sie sind • eine Art intellektueller Bastelei«. (Cf. Das
wilde Denken, I. c . , S. 29.)
209 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c . , S. 2 1 .
2 1 0 Ibid., S . 22.
2 1 1 Ibid., S. 2 1 .
2 1 2 Nur so ist es zu verstehen, daß Levi-Strauss - unbeschwert von allen
geschichtlichen Erwägungen - die Logik der totemistischen Klassifikation als
als ewige, primär theoretische »Sorge<< um >>erschöpfende Be
obachtung<<, um »systematische Bestandsaufnahme der Bezüge
und Verbindungen<< figuriert, spiegelt in Wirklichkeit die Er
fordernisse instrumenteller Vernunft wider, deren schranken
loses Walten - insofern ist dem Strukturalismus ironisch beizu
pflichten - die seitherige Geschichte stets auch einer negativen
Ontologie angeähnelt hat. - Es ist keineswegs so, daß das
Denken vor der immer gleichen Aufgabe steht, ein gegebenes
»Chaos<< zu bändigen, Ordnung und Einheit der gegenständ
lichen Welt zu stiften. Beide Mon;1ente bilden sich vielmehr in
einem zugleich leidvollen und befreienden gattungs- und so
zialgeschichtlichen Prozeß erst zu jener Reinheit von Momenten
- kontemplativer - Erkenntnis heraus, von denen Levi-Strauss
als von einem unmittelbaren Vorfindlichen spricht. Jenen Pro
zeß der fortschreitenden Naturbeherrschung, in dem Sprache
und Denken als (freilich unauslaßbare) Glieder menschlicher
Arbeit auftreten, bewertet Levi-Strauss nur nach seiner nega
tiven Seite ; die historische Praxis hat seither >>nichts anderes
getan als Millionen von Strukturen zerstört, die niemals mehr
integriert werden können<< . 1 1 3 Ihm geht es demgegenüber um
ein dem - hypothetisch anzusetzenden - Stande Rousseauscher
Unschuld entsprechendes » Strukturieren <<, wie es in der älte
sten (und, wie er meint, jüngsten) Tätigkeit des menschlichen
Geistes am Werke ist.11 4
2 I 5 Jbid., $. 22.
2 1 6 Ibid., S. 2 3 .
2 1 7 Ibid., Hervorhebungen v o n Levi-Strauss. - Bemerkenswert, wie sehr
diese Kennzeichnung des magischen Denkens von der oben angeführten,
rein • theoretischen• abweicht.
253
gen ; er »liegt in der menschlichen Tätigkeit, im Experiment, in
der Arbeit<<.21 8 Levi-Strauss fällt in den Feuerbachianismus zu
rück, wenn er die Kategorie des gesetzmäßigen Zusammen
hangs der Dinge von dem isoliert, was die gesellschaftliche
Produktion (wie bescheiden sie auch sei) jeweils mit diesen
Dingen anfängt. Die ihre Geschichte hervorbringenden Men
schen begnügen sich nicht damit, die »regelmäßige Aufeinan
derfolge gewisser Naturphänomene«219 zu registrieren - in der
Mehrzahl der Fälle stoßen sie überhaupt erst dadurch auf die
objektive Gesetzmäßigkeit der Außenwelt, daß sie diese ver
ändern.220 Indem es der Industrie gelingt, nicht nur vorhan
dene Bewegungen auszunutzen, sondern auch solche herzustel
len, »die in der Natur gar nicht vorkommen [ ], wenigstens
. . .
254
übrigens wie der frühe Lukacs) den gesellschaftlichen Praxis
Charakter des naturwissenschaftlich-experimentellen Wissens
bestreitet. Nur so kann sie eine sich über Jahrhunderte erstrek
kende wissenschaftliche Geisteshaltung und Tradition dem
Neolithikum225 als der Phase des revolutionären Übergangs
vom »Natürlichen« (das hier - idealistisch - mit einem be
stimmten Denktypus gleichgesetzt wird !) zum »Domestizier
ten« (zur »Praxis«) voranstellen.
Daß zwischen der neolithischen Revolution und der heutigen
Wissenschaft einige Jahrtausende nahezu völligen Stillstands
zu verzeichnen sind, sucht Levi-Strauss nicht etwa historisch
gesellschaftlich zu begreifen - vielmehr sieht er darin seine
Theorie bestätigt, daß es grundsätzlich zwei Wege gibt, »die
notwendigen Beziehungen, die den Gegenstand jeder Wissen
schaft bilden«,226 zu erreichen : einen, der der Wahrnehmung
und Imagination verhaftet bleibt, und einen, der sich vom
Sinnlichen emanzipiert. Levi-Strauss bevorzugt den ersteren
Weg, weil seine Ergebnisse den zeitlos gültigen - mentalen -
Unterbau aller Zivilisation bilden. In den Mythen und Riten
haben sich >>Beobachtungs- und Denkweisen« erhalten, wie die
Natur sie gestattete »Unter der Voraussetzung der Organisa
tion und [ . . . ] spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehm
baren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren« .227
Wohl ist die archaische, am Qualitativen orientierte »Wissen
schaft vom Konkreten«, wie Levi-Strauss diese Denkweise
nennt, >>vielumfassend« und >>begrenzt«22 8 zugleich, mehr und
225 »Im Neolithikum•, sc:hreibt Uvi-Strauss (ibid.), •setzt sic:h die Beherr
sc:hung der wesentlic:hen Fertigkeiten der Zivilisation durc:h : Töpferei, We
berei, Landwirtsc:haft und Tierzuc:ht. • Diese Betonung der neolithisc:hen (aber
auc:h der neuzeitlic:hen) Kultursc:hwelle findet sic:h ganz ähnlic:h in Arnold
GehJens Urmensch und Spätkultur. Cf. hierzu Wolf Lepenies, Der franzö
sische Strukturalismus - Methode und Ideologie, in : Soziale Welt, Zeitsc:hrift
für sozialwissensc:haftlic:he Forsc:hung und Praxis, Göttingen 1968, Jahrgang
19, Heft 3/4, S. 308.
226 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 27.
227 Ibid., S. 29. - Cf. auc:h ibid., S. 304, wo Uvi-Strauss das wilde Denken
als ein • System von Begriffen• bezeic:hnet, • die in Bildern verdic:htet sind •.
2\hnlic:h auf Seite 303 : •Das wilde Denken vertieft seine Erkenntnis mit
Hilfe von imagines mundi. Es baut Gedankengebäude, die ihm das Ver
ständnis der Welt erleic:htern, um so mehr als sie ihm gleic:hen . In diesem
Sinn konnte man es als Analogiedenken definieren. «
228 Ibid.
255
weniger als das szientivische Bewußtsein. Aber sie bleibt inso
fern fundamental für jedes Denken, als sie >>unzerstörbare Bau
steine für strukturale Arrangements<<119 liefert, die es ermög
lichen, »das natürliche und soziale Universum in der Form
einer organisierten Totalität zu erfassen<< .l3° Nichts anderes
erstrebt die moderne Wissenschaft, die nach Levi-Strauss neuer
dings dabei ist, die (von ihr zunächst auf Quantitatives
reduzierten) sogenannten >>primären Qualitäten<< wieder zu
berücksichtigen.l31
2 3 3 Ibid., S. 71 f.
234 Ibid. , S. r r o.
235 Ibid . , S. 35. - Dieses Theorem der Oberzeitli<hkeit und Universalität
der geistigen Strukturen nimmt Levi-Strauss bereits in seiner S<hrift Das
Ende des Totemismus vorweg, wo es heißt, »daß jeder mens<hli<he Geist
ein Ort mögli<her Erfahrung ist, um zu kontrollieren, :"... as si<h in den
mens<hli<hen Geistern abspielt, wie groß au<h immer die Entfernungen sind,
die sie trennen• . L. c . , S. I 34·
236 Strukturale Anthropologie, I. c., S. 96.
237 Das wilde Denken, I. c., S. 82.
2 57
>>Kollektivbewußtsein<< im Sinne der Durkheim-Schule. Für
diese sind die Gruppenvorstellungen zwangshaft, dem Indivi
duum äußerlich. Levi-Strauss ist demgegenüber radikaler. Er
verspricht sich von seiner sprachwissenschaftlich orientierten
Konzeption die Möglichkeit, >>eines Tages die Antinomie zwi
schen der Kultur als kollektiver Angelegenheit und den Indivi
duen, die sie verkörpern, aufzulösen« .2J8 Auch das Durkheim
sche »Kollektivbewußtsein« ist kein letztes Substrat, sondern
eine selbst noch abzuleitende Größe - ein »dem individuellen
Verhalten gemäßer Ausdruck bestimmter vergänglicher Moda
litäten der universalen Gesetze, aus denen die unbewußte Tä
tigkeit des Geistes besteht«. 2 l9 - Das Unbewußte umfaßt bei
Uvi-Strauss eine Gesamtheit (subjektloser, aber gleichwohl)
formativer Strukturen ; es hört auf, wie bei Freud, >>der Auf
enthaltsort einer einzigartigen Geschichte zu sein, die aus jedem
von uns ein unersetzliches Wesen macht. Es beschränkt sich auf
[ . . . ] die symbolische Funktion, die zwar spezifisch menschlich
ist, die sich aber bei allen Menschen nach denselben Gesetzen
vollzieht ; die sich in Wahrheit auf die Gesamtheit dieser Ge
setze zurückführen läßt« 2 4°, hinter die nicht zurückgegangen
werden kann, weil sie die schlechthin tragende Realität bilden.
Aus dieser Konzeption des Unbewußten folgt für Levi-Strauss
die Notwendigkeit, zwischen dem Unbewußten und dem Un
terbewußten schärfer zu unterscheiden, als dies in der heutigen
Psychologie geschieht. Während das Unterbewußtsein - >>Spei
cher von Erinnerungen und Bildern, die sich im Laufe jedes Le
bens ansammeln«2 4 1 - Inhalte aufweist, die immer gegeben,
2 3 8 Strukturale Anthropologie, I . c., S. 79.
2 3 9 Ibid. - Oben war vom Zusammenhang des Strukturalismus mit der
Kantischen Transzendentalphilosophie die Rede. Ebensowenig läßt sich eine
sachliche Nähe zu Hege! leugnen . Lepenies (I. c., S. 3 I I) erinn"ert an die
Phänomenologie des Geistes, welche Geschichte als den •an die Zeit entäußer
ten Geist• bestimmt. (Hoffmeister, Harnburg I 9 5 2 , S. 5 6 3 ) In der Tat kehrt
Hegels »Aufhebung• der zeitlichen Abfolge der Bewußtseinsgestalten in die
ewige Gegenwart des absoluten Begriffs (Wissens) als der »Offenbarung der
Tiefe• (ibid., S. 5 64) in der strukturalistischen Konzeption wieder, die Ge
schichte sei letztlich bloßer Ausdruck vergänglicher Modalitäten u nvergäng
licher Strukturen. - Der zweite Teil dieser Studie kommt auf das Problem
einer •strukturalen Dialektik• anhand von Hegels Naturphilosophie zurück.
240 Strukturale Anthropologie, I . c., S. 2 2 3 . - Es bedarf keiner Frage, daß
Althussers theoretischer •Anti-Humanismus• und •Anti-Historizismus• we
sentlich auf diesem Verständnis des Unbewußten beruhen.
24I Ibid.
wenn auch nicht jederzeit verfügbar sind, »ist das Unbewußte
immer leer ; gerrauer gesagt, es ist den Bildern ebenso fremd wie
der Magen den Lebensmitteln, die durch ihn hindurchgehen.
Als Organ einer spezifischen Funktion beschränkt es sich dar
auf, unartikulierten Elementen, die von außen kommen - wie
Antrieben, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen - Struk
turgesetze aufzuerlegen, die seine Realität erschöpfen. << 24' Das
Unterbewußte stellt das >>individuelle Lexikon« dar, worin
sich die lebensgeschichtlichen Tatbestände der Menschen ansam
meln, in einem bestimmten »Vokabular« niederschlagen. Dieses
aber wird für uns und andere nur in dem Maße bedeutsam,
wie »das Unbewußte es gemäß seinen Gesetzen formt und eine
Rede daraus macht« 2 43 - Strukturgesetze, die »für alle Gelegen
heiten, bei denen jenes seine Tätigkeit ausübt, und für alle In
dividuen und Materien dieselben sind« .'44 Dem fügt Levi
Strauss ausdrücklich hinzu, daß die Zahl dieser Gesetze (For
men) begrenzt ist. Darüber darf die unendliche Vielfalt der
vom Unterbewußten gelieferten Stoffe nicht hinwegtäuschen.
Die erkenntnistheoretische Problematik bei Levi-Strauss ist
die einer »Anthropologie« - verstanden als universelle Wis
senschaft, die »mit einer bestimmten Weltansicht oder mit einer
originellen Art, die Probleme zu stellen, zusammenhängt, die
beide anläßlich der Untersuchung sozialer Phänomene zum
Vorschein kommen« ;'45 und die, möchte man ergänzen, schon
im Forscher vorhanden sein müssen, wenn es zu jener Unter
suchung kommen soll. Strukturale Anthropologie zielt ab auf
die »allgemeinen Merkmale des gesellschaftlichen Lebens « 2 4 6 ,
die nicht inhaltlich-geschichtlich bestimmt sind, sondern einer
»Theorie der Beziehungen «'47 unterliegen. Merkwürdig, daß
Uvi-Strauss glaubt, sich bei dieser Theorie auch noch auf den
historischen Materialismus stützen zu können. Dabei führt er
die unleugbare Tatsache an, daß der reife Marx (auch Engels
in seinen Altersbriefen) stets betont hat, wie vielfältig die Ebe
nen sind, die das System von Unterbau und Oberbau ausma
chen. Für den Marxismus gibt es verschiedene Weisen der kom-
242 Ibid ., S. 223 f.
243 Ibid . , S. 224.
244 Ibid.
245 Ibid . , S. 370.
246 Ibid.
247 Ibid., s. I I I .
2 59
plizierten Umsetzung des »Ökonomischen« ins »Ideologische« .
Daraus folgert Levi-Strauss, e s sei möglich, >> letzten Endes und
abgesehen von allen Inhalten verschiedene Gesellschaftstypen
durch Umwandlungsgesetze zu charakterisieren : Formeln, die
die Zahl, die Macht, den Sinn und die Ordnung der Verschlin
gungen anzeigen, die man - wenn man so sagen darf - annul
lieren müßte, um eine Beziehung idealer Homologie (logisch,
nicht moralisch) zwischen den verschiedenen strukturierten
Ebenen zu erkennen << . 2 4 s
Daß man derart vorgehen kann, beweist das ganze struktura
listische Unternehmen. Nur darf, wer so verfährt, sich nicht
einbilden, er habe etwas mit dem historischen Materialismus
oder gar der Kritik der politischen Ökonomie zu tun. Das
meint Levi-Strauss, wenn er (gegen Gurvitchs Einwände pole
misierend) behauptet, jene Reduktion sei zugleich eine Kritik :
»Wenn der Anthropologe an die Stelle eines komplexen Mo
dells ein einfaches Modell mit einem besseren logischen Effekt
setzt, entschleiert er die [ . . ] Künstlichkeiten, zu denen jede
.
z6o
seiner Polemik gegen die »subjektive Soziologie« der Volks
tümler, daß Marx im Kapital (wie schon Titel und Untertitel
des Werks besagen) nicht etwa herausfinden will, was Gesell
schaft überhaupt sei. Das hieße, der materialistischen Lehre
>>Ansprüche zuzuschreiben, die sie niemals geltend gemacht
hat<<.Z52 Marx - darin bestand sein Verdienst - verwarf alle
»Betrachtungen über Gesellschaft [ . . . ] im allgemeinen « und
lieferte statt dessen >>die wissenschaftliche Analyse einer be
stimmten Gesellschaft, nämlich der kapitalistischen<<.253 Ihren
»wirklichen historischen Prozeß<< haben die Materialisten
»richtig und exakt darzustellen«254 - nicht die Geschichte ins
gesamt, wie von denjenigen unterstellt wird, die außerstande
sind, »den Unterschied zu begreifen zwischen dem Versuch, die
ganze Geschichtsphilosophie zu erfassen, und dem Versuch, die
bürgerliche Ordnung wissenschaftlich zu erklären<<.255
Der von Levi-Strauss vertretene Strukturalismus setzt das
Dynamische zur wandelbaren Modalität eines Statischen her
ab, die Geschichte zum Oberflächenphänomen bleibender
Strukturen. Das » klassifikatorische Bedürfnis << , die »latente
Philosophie<<, aus denen Adorno das soziologisch übliche Ne
beneinander von Statik und Dynamik als starr getrennten
Wissenszweigen und Methoden ableiten wollte2 5 6, entwickelt
seinden Stoff ; sie untersudtt zunädtst die besondern Gesetze jeder einzelnen
Entwicklungsstufe der Produktion und des Austausdts und wird erst am
Sdtluß dieser Untersudtung die wenigen, für Produktion und Austausdt
ü berhaupt geltenden, ganz allgemeinen Gesetze aufstellen können. Wobei
es sidt jedodt von selbst versteht, daß die für bestimmte Produktionsweisen
und Austausdtformen gültigen Gesetze audt Gültigkeit haben für alle Ge
sdtidttsperioden, denen jene Produktionsweisen und Austausdtformen ge
meinsam sind.«
2 5 2 Lenin, Was sind die • Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die
Sozialdemokraten?, in : Werke, Band I , Berlin I963, S. 1 3 6 ; cf. audt
S . I 34 f. und passim .
2 5 3 Ibid ., Hervorhebung von Lenin .
2 5 4 Ibid., S. 1 5 6.
2 S S Ibid. , s. I J S .
2 5 6 Cf. seinen Aufsatz Ober Statik u n d Dynamik als soziologische Kate
gorien, in : Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Sociologica I I , Frank
furt am Main I 962, S. 2 2 5 . - Freilidt berufen sidt die Strukturalisten bei
ihrer Untersdteidung von Statisdtem (Wesenhaftem) und Dynamisdtem (Ober
flädtlidtem) nidtt auf Comte und seine Sdtule, die, ausgehend von Bedürf
nissen der Methodologie, •das Ordnungssdtema anstelle der Same selbst«
installierte (ibid., S. 22 5 ; cf. audt S. 2 2 8 ) . Bei ihnen sdtimmert die vom
Comtismus u nterdrückte konkret-gesdtidttlidte Herkunft der Untersdteidung
.161
sich im Strukturalismus zur »subtilen Ideologie<< (Lepenies).
Diese gestattet es, »die sogenannten Invarianten gar nicht
nachzuweisen, sondern nur die Varianten, die angeblich aufs
Immergleiche verweisen<<.2l7
Levi-Strauss (wie der Strukturalismus insgesamt) versichert
zwar, wie weit er allen (existentialistischen, aber auch marxi
stisch-humanistischen) Anthropozentrismus hinter sich gelassen
habe, wie sehr es strenger Wissenschaft darauf ankomme, die
menschliche Realität ins umfassende, naturale Sein zu reinte
grieren - sein Programm bleibt nichtsdestoweniger das einer
philosophisch gerichteten Anthropologie. Wie Feuerbach>s 8 ,
auf dessen Spuren wir ihn wiederholt sahen, versteht sich Levi
Strauss als »geistiger Naturforscher<< . Die von ihm voraus
gesetzten Strukturen - das die Formen reflektierten Denkens
tragende Unbewußte - basieren ihrerseits auf organischen
Vorgängen, das heißt auf der Beschaffenheit der materiellen
Welt. Das aber hebt den anthropologischen, will sagen ideali
stischen Charakter seines Unternehmens nicht auf. Wie Scheler
vor über vierzig Jahren fahndet Levi-Strauss nach einem
>>Ewigen im Menschen« . An Schelers These, daß >>die indivi
duelle Person eines jeden Menschen unmittelbar im ewigen
Sein und Geiste verwurzelt ist<<,2l9 hätte er wohl - mutatis
mutandis - ebensowenig auszusetzen wie daran, daß es Auf
gabe von Anthropologie ist, >> genau zu zeigen, wie aus der
Grundstruktur des Menschseins [ . . ] alle spezifischen Monopole,
.
262
vernachlässigen. Sie drücken zwei Etappen der spätkapitalisti
schen Gesellschaft und ihrer Ideologie aus. Waren Scheler und
seine Nachfolger noch daran interessiert, eine Norm zu ent
decken, die dem Leben des einzelnen in der Welt, wie sie ist,
Sinn verleiht ; waren sie noch bestrebt, das menschliche Han
deln in festen Wesenseinsichten zu begründen ; 261 konnten sie
sich (wenn auch nur abstrakt-individualistisch : Person als >>gei
stiges Aktzentrum«) noch darauf berufen, daß die Menschen
bei aller unverrückbaren Objektivität des Ganges ihrer Ge
schichte deren Subjekte bleiben, so hat sich seitdem die gesell
schaftliche Situation grundlegend geändert. Wohl erklärte be
reits die Anthropologie der zwanziger Jahre Geschichte zu
einem Sekundären (weil ontologisch zu >> Fundierenden «) .26 2
Aber sie ließ deren Inhalt und Stufengang zumindest gelten.
- Demgegenüber zeichnet sich im Strukturalismus (und in der
von ihm beeinflußten kraß geschichtsfeindlichen Soziologie)
eine neue, die >>organisierte<< Periode des Kapitalismus ab, dem
es gelungen ist, durch die >> Erfindung und Entwicklung von
Regulierungsmechanismen, die in erster Linie staatlichen Ein
griffen zu verdanken sind, einen fortgesetzten wirtschaftlichen
Aufschwung<< herbeizuführen >>und gerade dadurch die inneren
sozialen und politischen Krisen beträchtlich (zu) verringern
und sogar (zu) verhindern<< , 2 63
Aller Wandel wird nur noch als einer innerhalb des Gegebenen
verstanden, Geschichte als ewige Wiederholung. Drückte sich in
der älteren Anthropologie wenigstens noch das - sicher ohn
mächtige und ideologische - Bedürfnis aus, den Menschen über
den Bruch zwischen der lautstark verkündeten Autonomie des
Individuums und der Naturmacht der ökonomischen Mechanis
men, denen sein Leben unterworfen war, hinwegzuhelfen, so
ist dieses Bedürfnis in der strukturalistischen Ideologie ver-
270 Levi-Strauss, Traurige Tropen, I. c., S. 364. - Cf. auch S . 366 ff., wo
Uvi-Strauss (fast im Stil Theodor Lessings) Geschichte als universellen Ver
fall interpretiert.
2 7 1 Stuttgart 1 9 5 4 , S. 94 und S. 97·
2 7 2 Horkheimer, I. c., S. 2 0 2 .
Nachweise
Heribert Adam
Südafrika. Soziologie einer Rassengesellschaft
Theodor W. Adorno
Stichworte. Kritische Modelle 2
Lelio Basso
Zur Theorie des politischen Konflikts
Helmut Böhme
Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im
19. und 20. Jahrhundert
Folgen einer Theorie. Essays über >Das Kapital< von Kar! Marx
Jürgen Habermas
Technik und Wissenschaft als > Ideologie<
Eric J. Hobsbawm
Industrie und Empire 1 und 2. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1 7 5 0
Werner Hofmann
Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts
Werner Hofmann
Universität, Ideologie, Ges-ellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie
Jürgen Horlemann
Modelle der kolonialen Konterrevolution. Beschreibung und Dokumente
Otto Kirchheimer
Politische Herrs-chaft. Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat
Herbert Marcuse
Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft
Gu�tav Mayer
Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie
Helge Pross
Ober Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepubli k
Ulrich K. Preuß
Das politische Mandat der Studentenschaft
Hans Rosenberg
Probleme der deutschen Sozialgeschichte
Bernhard Schütze
Rekonstruktion der Freiheit. Die politischen Oppositionobewegungen in
Spanien
Ulrich Sonnemann
Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des
Ungehorsams in Deutschland
Albrecht Wellmer
Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus