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Alfred Schmidt, geboren 1931, ist Lehrbeauftragter für Geschichte

der Philosophie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen


Seminar der Univers ität Frankfurt am Main.
Die Absicht, die Herausgeber und Verlag mit dieser Sammlung von
Aufsätzen verfolgen, ist eine Klä rung der inhaltlichen Bestimmung
und der methodologischen Möglichkeiten philosophischer E rkennt­
nis, die nicht von ihrer eigenen Position in Geschichte und Gesell­
schaft abstrahiert. Die Autoren diskutieren die verschiedenen Aspekte
dieses Problems - philosophische, soziologische, historische - und
machen, indem sie traditionelle epistemologische Formen und Be­
griffe einerseits kritisch beleuchten, andererseits weiterentwickeln,
Ansätze zu einer konkreten Theorie des E rkenntnisprozesses deutlich.
Beiträge zur marxistischen
Erkenntnistheorie
Herausgegeben von Alfred Schmidt
Aufsätze von György Markus, Jindfich Zeleny, E. W. Iljenkow,
Hans-Georg Backhaus, Henri Lefebvre, Alfred Schmidt

Suhrkamp Verlag
edition suhrkamp 349
2. Auflage, I 1.-18. Tausend 1970
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 1969 . Erstausgabe. Printed in
Germany. Alle Rechte vorbehalten , i nsbesondere das der Übersetz ung, des ·

öffentlichen Vortrags und der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,


auch einzelner Teile. Satz, i n Linotype Garamond, Druck und Bindung bei
Georg Wagner, Nördlingen. Gesamtausstattung Willy Fleckhaus.
Inhalt

7 Einleitung
I8 György Markus
Ober die erkenntnistheoretischen Ansichten des jungen
Marx
7 3 Jindrich Zeleny
Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus
87 E. W. Iljenkow
Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im >Kapital<
von Marx
I 28 Hans-Georg Backhaus
Zur Dialektik der Wertform
I 5 3 Henri Lefebvre
Zum Begriff der >Erklärung< in der politischen Ökonomie
und in der Soziologie
q6 Henri Lefebvre
Perspektiven der Agrarsoziologie
I 94 Alfred Schmidt
Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte
267 Nachweise
Einleitung

»Die wahre Theorie muß innerhalb konkreter Zustände und an be­


stehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt werden.«
Kar! Marx, 1842

>>Marxistische Erkenntnistheorie<< - dieser schulmäßig einge­


führte Begriff ist weit belasteter; als es den Anschein hat. Zu­
nächst einmal: Marx und Engels sind keine Erkenntnistheore­
tiker im traditionellen Sinn. Es gibt bei ihnen keinen von den
�!!halten der politischen ökoli:ömi _e undaer<:;'e"sctiidi-ie (sei es
auch-nur reiat!:ITJ..Qlf.enop_��n \v�<i_er sidi mit den
Quellen, dem Zustandekommen und der Gült:igkeitVön-Fr.:
keiüitn.IslJe5�iffit.iS --·vl1t:er-crem ···Eiilaiüd{-ae;- HegeiSC11en
Kntik an Kants Annahme eines >>Dinges an sich<< halten sich
die Begründer des dialektischen Materialismus daran, daß nur
inhaltlich erkennend etwas übe� Erkenntnis ausgemacfit -;e;_
dei1ka'"nni-<faß' sich die dialektische Methode am konkreten
Stoff zti\)ew1ihren hat:: Die Kritik der politi�Cheil. ..Ökono­
mie' bedärf"keine�- �ie >>fundierenden<< erkenntnistheoretischen
Standpunkts: J.h!..?>S_!�E�P.��kt�< is: J h � ;i �e�er y��l.z��· Hegels
Phänomenologie des Geistes Dleibi: dann ffir Marx und Engels
verbindlich, daß auch sie sich weigern, die Subjekt-Objekt­
Problematik >>abstrakt<< zu behandeln. An die Stelle einer ein
für allemal fixier- und beschreibbaren Beziehung von Subjekt
und Objekt tritt bei ihnen ein - allerdings materieller als bei
Hege! gefaßter - Prozeß, in dem sich der konkrete Reichtum
der Weisen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses entfaltet. Wäh­
rend Hegels phänomenologische Dialektik >>das Bewußtsein in
seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz
seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen<< dar­
stellt, also beansprucht, >>alle For111-en_ 4,'=�_yerllähn,iss.e.uk§..}l��
:wußtseins zum Qb]�t-�;;r··zu durChlaufen, ist d.i�_�er.Pr()zeßJ�r
die. Materiafut.enM�r�.ui?:d. �n.g�ls nich_t nllr.vor,-läufig uniJ.pge­
schlossen, sondern auch prin:zipi�ll u_1_1:J,b,S9J_}i�ß]:,�r. Sie wollen
x Hege!, Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Leipzig 1951, S. 29 (Hervor­
hebung vom Verfasser).

7
sich Hegels buchstäbliche »Liquidation<< von Erkenntnistheorie:
seine Absage an jede .erkeontnis.vorgängige A�;,tJy.se des Er­
kennt�lsverriiÖge�s zu eigen machen, ohne daß sie sich über die
=Yon-il1nen verworfenen - idealistischen Voraussetzungen des
Hegeischen Unternehmens gebührend Rechenschaft ablegen.
Das mußte in der Folge zu erheblichen Schwierigkeiten führen.
\yi_rd_llliJ:Illi<:h .. J-Iegels Kan�� fu:i.!!L��[�� übernommen und
zugT�ich 111ate,ri_alistisch die un_aufhebbare Differenz vori Begriff
und �I,JJ?5!gr.e!fm4e� .Sacite b_e]la,uptii,' so ergibt sich notwendig
�i.!L<!�m��i.�c.!Jer. 4J.>.bil9,�ß�a� wie er in· Lenins (��hr
parteigeschichtlich als philosophisch relevantem) Buch Materia­
lismus und Empiriokritizismus kodifiziert wurde.
Damit ist freilich die erkenntnistheoretische Problematik des
dialektischen Materialismus keineswegs erledigt. Sieht Lenin in
seinem Kampf gegen die russischen Anhänger von Mach und
Avenarius sich genötigt, denjenigen Aspekt hervorzuheben,
den der Marxsche mit den vormarxschen Formen des Materia­
lismus gemeinsam hat: die�ll��i���- J>ri: or!��-� <!e! �i.l1�.c:hyjs:_
.. . .

senschaftlieh auf »Materie<< reduzierten) Natur gegenüber dem


fu;i(�ßtse!�;s� beschreiten Marx und Engels im Vormärz den
gerade umgekehrten Weg. Sie entwickeln in ihrer Polemik
gegen Feuerbach die Keime eines qualitativ neuen, ••praktisch­
kritischen«> Materialismus. Dieser läßt insofern alle seitheri­
gen Spielarten materialistischer Philosophie hinter sich, als er
einsieht, �,9J.e" ge.s_��� t�pdli�-si.n11li<:he .. :Wir�licl1keit nicht
<!Hs�roJießE9!_�YD�e.r der Foi:m des. Qpjek_�s oqer der. /\nscha,u­
.ung.<<l gefaßt werden.dari: sie'istnicht nur eine an sich.. s.ei�n<!e
�ik�l��}<ö'�����l.tJßO_llde�� sfet�:.��.ch. »Sinnlich-mensch­
liche ""'fEiK��!�<.> higo.ri.§dte Praxis. Den subjektiven Faktor,
..

die »tätige Seite«4 des Wirkllc1len..b.at der neuzeitliche Idealis­


mus, namentlich in seiner Bewegung von Kant bis Hege!, ener­
gisch hervorgehoben. Das erkennen die Marxschen Thesen
über Feuerbach an, fügen aber sogleich hinzu, daß es den Idea­
listen nur um den Preis einer mehr oder minder radikalen ••Ent­
stofflichung« der produktiven Subjektivität geglückt ist, die
naive Vorstellung unableitbar ••gegebener<< Objekte aufzulö-
.1 Thesen über Feuerbach, i n : Marx/Engels, Werke, Band J, Berlin 1 962,
s.5·
3 Ibid.
4 Ibid.

8
sen. - Marx will nicht, wie die Thesen mitunter interpretiert
werden, auf eine fragwürdige >>Synthese<< von Idealismus und
Materialismus hinaus. Erreicht wird vielmehr eine neue Di­
mension des Denkens und Handelns. Marx möchte die bisher
�f!J_j!1?:�tl!rialisti$chen) Sensualismus, aberaü'di'von-Kant bloß
passiv verstandene >>Sinnlichkeit<< als tätig begreifen und die
�'!�-t�K�it« ��l; sinnlich, das heiß"t als gegenständllchesMoJ?ent
gegenstän,4licher :Wirklichkeit. Die in ihr sedimentierte s�,�b­
$.kni{iä.t is.t. allematd.ie Jt!i.�haftiger, gesellschaftlich p�oduzie­
r�nder Menschen umf i!lsofern llic:;hts, dem objektiven Sein
schlechthin Außerliebes und Fremdes.
iJieser-;;r;;�;-:M;t�r1aTisffiü5;;;Iä�� deshalb als materialisier­
ter Kritizismus gelten, weil er die - freilich nicht mehr selbst
»theoretisch«-kognitiven - ��_dingungen der Möglichkeit von
(alltäg]iffi�LF:ie wissenschaftllCherf ,Erkenntnis- aufdeCKt: sie
su;d--i�j�wejJig�IJ Ganzen gesellschaftlicher Praxis enthalten.
Feuerbachs >>anschauender<< Materialismus bringt es mir zu
einem oberflächlichen Begriff von >>Praxis<< ; er hält sich an den
Augenschein der Welt des Schachers und verkennt deren Ver­
mitteltheit durch die Totalität der herrschenden Produktions­
verhältnisse. >>Feuerbachs >Auffassung< der sinnlichen Welt«,
schreiben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie, >>be­
schränkt sich einerseits auf die bloße Anschauung derselben
und andrerseits auf die bloße Empfindung. [ . . .] Er sieht nicht,
wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar
von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern
das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes,
[ . . . ] ein geschichtliches Produkt. [.. .] Selbst die Gegenstände
der einfachsten >sinnlichen Gewißheit< sind ihm nur durch die
gesellschaftliche Entwicklung [ . . . ] gegeben.<<6 - Feuerbach
s Cf. ibid ., S. 7.
6 Die deutsche Ideologie, ibid. S. 42; 43· - Es ist von Interesse, daß Lenin
nach seiner Lektüre der Hegeischen Logik vom (gesellschafUich) unvermit­
telten Objektivismus seiner erkenntnistheoretischen Schrift von 1908 ent­
schieden abgerückt ist. So nähert er sich 1 9 2 1 in der Gewerkschaftsdebatte
der hier erörterten Position der Deutschen Ideologie, wenn er als wesent­
liches Merkmal der materialistischen Dialektik anführt, daß •in die voll­
ständige >Definition< eines .Gegenstandes die ganze menschliche Praxis
sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als praktische Determinante
des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht,
mit eingehen muß•. In : Zwei Arbeiten zur Gewerkschafts/rage, Berlin 1957,
s. 64.

9
fällt, mit anderen Worten, hinter das vom Idealismus (obzwar
in ideologischer Gestalt) Erreimte zurück. Undurchschaut bleibt
der Umstand, -��-�ie ?>Vertnittelnde Bewegung<<,. gesellsmaft­
licbe _.t\z:�e.it, »in ihrem eignen Resultat verschwindet und"keme
Spur zurijdd�Bt«'.7 Ind�m Fe�erbach naiv-realistisch iibersieht,
in welchem Maße die Tatsamen der Wahrnehmung etwas Ge­
wordenes, historisch »Konstituiertes<< sind, erfaßt er aum nicht
die politisme Notwendigkeit, >>die bestehende Welt zu revolu­
tionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und
zu verändern<< . s Weltkonstitutive und weltverändernde Pra­
xis liegen für Marx und Engels auf einer Ebene.
Die intersubjektiv gegebene Menschen- und Samwelt ist so we­
nig wie der Perzeptionsapparat der Individuen eine feste, rein
natürliche Größe : >>Die Objekte, die den Sinnen gegenüberste­
hen, von denen sie wahrgenommen werden, sind PJ:i::)duhe
einer- spezifischen Zivilisationsstufe und Gesellschaft; und die
. Si�-;;:e wiederum sind auf ihre Produkte hingeordnet. JJiese hi-
storische weChsell)ez1ehu�g-heeinflußt selbst die pr��är(!ii ?i_n:.
neseindrücke : . allen ihren Mitgliedern erlegt eine e�a.bE�!�.e
Gesellschaft dasselbe. Medium der Wahrnehmung_ a.uf; UJ1�
durch alle Unterschiede individueller und klassenmäßiger. P�r­
spektiven, H()ri.�Pl1�e u.nd I-lintergründe hindurQJ. Ji�fett.. _ci,ie
Gesellschaft dieselbe allgemeine Erfahrungswelt.«9 Nam der
subJektiven wie· naeh der objektiven Seite ist derart präfor­
miert, was die Menschen als für sie bedeutsam jeweils auf­
nehmen.
Der spezifisch erkenntnistheoretische Frageansatz des dialek­
tischen Materialismus ergibt sich daraus, daß Marx und Engels
Hegels Kant-Kritik akzeptieren, ohne zugleich deren spekulative
Basis akzeptieren zu können. Mit)-�eg�l behaupten sie die f:�­
kennbarkeit des Wes�rls der "
Erscheinungen, mit Kant (ohne
sidi" frei!Id1"äuf die Kritik de r retnen Vernunft ZU berufen) 1:?�.::.
stehen sie auf. der Nicht�Identität von Form und Materie,
s_l!ki�!.:��. c:)_bj�kt d�� Erk� �p:��i�:-i;· k�-�mt so - obsChon
unausgesproChenermaßen - zu einer materialistismen Neuauf-

7 Marx, Das Kapital, Band I, Berlin r9 5 5 , S. 99·


8 Die deutsche Ideologie, 1. c., S. 42.
9 Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main 1969,
S. 6o f.

10
nahme der Konstitutionsproblematik.ro Diese ist mit dem
Hinfälligwerden ihrer idealistischen Prämissen keineswegs ab­
getan. Marx »kombiniert« nicht (was purer Eklektizismus
wäre) Denkmotive idealistischer und materialistischer Her­
kunft, sondern er kehrt den (von Kant bis Hege! verschieden
nuancierten) Gedanken der Vermitteltheit alles Unmittelbaren
gegen seine bislang idealistische Fassung. Das aber gelingt ihm
nur dadurch, daß er die Philosophie denkend überschreitet. Es
handelt sich fü� ihn ang�siclJ,ts _de_r ��ab�eisbareq g�sChiChtTid,.�
A:ür�1ien-aei.M �n�fh�it .11icbdä n ger dilr.Ym,"' von_ obe,.-�t�n . .

Seins- und Erkenntnisprinzipien her zu argumentieren (wobei


eswenig""versdilägt, ob diese spiritu�ll oder n1at!!riell ge.4!;)ut. �t
werden);·son:"'deiif<iarum, auszugehen von der - alles ander_e_als
oni:ologisdfen - >>Materialität« der menschlichen Lebep.$Ver­
häfiiiisse; ·are ·;;von··vorn.liereiri [� . ] praktische, also..durgu!ie
.

Ta·t-oegrunäei:eVerhältnisse�11 sind: Produktions- und Klas­


senverhältnisse. Diese reflektiere� je�eils nicht nur das Maß, in
dem die Gesellschaft reale Macht über die Natur erlangt hat,
sondern bestimmen auch das Was und Wie des m�11J!ffiJ.i.fb�11
Erkennens, den ällgemeinen-Rörizoni::·--wort';; es sich be-
• • •• ' '

w�gs.:..:.
• -.c - ··
--- -,·� ·---·- · · ., . • ._. • • • • • • •· . � · · ·• -

In den wichtigsten, weil qualitativ voneinander abgehobenen


Gestalten des kognitiven Verhältnisses von Subjekt und Ob-

10 Der Verfasser hat wiederholt versucht, diese Problematik (und damit


den •Ort• der Marxschen Konzeption zwischen Kant und Hege[) näher zu
bestimmen. CL seine Schrift Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx,
Frankfurt am Main 1962, S. 90 ff., vor allem S. 101 ff. Cf. auch das 1968
entstandene Vorwort zur erweiterten italienischen Ausgabe Il concetto di
natura in Marx, Bari 1969, S. 8; ferner seine Diskussion mit Oskar Negt
auf dem Frankfurter Colloquium vom September 1967, dessen Materialien,
herausgegeben von Walter Euchner und Alfred Schmidt, unter dem Titel
Kritik der politischen Ökonomie heute. roo Jahre >Kapital< erschienen sind
(Frankfurt am Main/Wien 1968, S. 49 ff.) .
1 1 Marx, Randglossen zu Adolph Wagners Lehrbuch der politischen Öko­
nomie<, in: Marx/Engels, Werke, Band 19, Berlin 1962, S. 362 (Hervor­
hebung von Marx).
12 CL dazu auch Mao Tse-tungs Schrift Vber die Praxis (in: Ausgewählte
Werke, Band I, Peking 1968, S. 348 f.) , wo dargelegt wird, wie sich mit dem
Fortschreiten der menschlichen Produktionstätigkeit •aud_!_]if��nn"t!iis"
sowohl derN'atiir.äTs audl.aer Geselfsdla:lf durCh. die Menschen.[ . . ] von .

li'ieaeren· :m hßhereri"Stufen,··dadteißt von:· der· Qberflädie in di� Tiefe, v��


Ei�;;itigen iuin VielSeitigen" entwic:Xeli« FÜr "die Jahrh�ndert�. währende
. .

-mii.Seiilg'Km-aes·Tefs1:an3n:lsses- -der. Sozialgeschichte macht Mao Tse-tung

II
jekt zeichnen sich ebensoviele Stufen materieller »Weltkonsti­
tution«· ab. Die »Entwickl\lllgsgeschichte der Arbeit<< bildet,
wie Engels scnreiEt,-;;aen.".Schlüssel [ . . J zum Verständnis der
.

gesamt�.t1-..G-�s.d!icht� �er Gesellscha]t<<'3, damit auch des Er-


-kel!..lltnispmz.esses.. Seine marxistische Analyse muß ·na:di dem
hier Entwickelten auf zwei logischen Ebenen stattfinden: auf
der konstitutiven und der kognitiven. Beide sind miteinander
verbunden, aber nicht identisch. Dadurch daß, Kantisch ge­
sprochen, die Beding1J11ge11 �.e.!!vföglichkeit von Gegenständen
der Erkenntnis-. -11icht rein �ei�tig s1Jl..([, sö��ern.' reaTe-Exisi:enz:­
l>edmgungen gesamtgesellsChaftlicher Praxis, fa1leii. 'sie auCh
nicht mit den _{siim1iehen, iiiielfe'kttielfen -una aiheoreiischenr
-Beomgungen d�r�}i()gli�keit von Erkenntnis zusammen;�Da:.
her-Oie.beiden Ebenen. Der >>Entstehungsprozeß des 'Konkre­
ten selbst«, betont Marx"gegentil)er d-e� spekulativen Iliealis­
mus, ist streng zu unterscheiden von >>der Art für das Denken
[ . ], sich das Konkr:_��-e .. at:l:z;.u�;:ig_Q.�n<< .'4 Die notwendige Ana­
. .

fyse"de;"hi�tor15Ch.-gesellschaftlichen Struktur, kraft derer den


Menschen ein allgemeiner (ihnen nicht bewußt werdender)
Rahmen vorgezeichnet ist, worin >>Welt<< erfahren wird, ent­
hebt uns keineswegs der Aufgabe, darauf zu reflektieren, wie
das erkennende Subjekt sich einzelne Objekte wie Objektbe­
reiche innerhalb dieses Rahmens erschließt und wie jene Ana­
lyse seiner struktiven Voraussetzungen geschieht.
Die materialistische Theorie ist kein >>Abbild<< oder bloßer
>>RefleX<< der gegenständlichen Welt. Diese stünde ihr sonst in
absoluter Transzendenz gegenüber, Wissen und Sein wären
starr getrennt. Wie vor ihm bereits Feuerbach bricht auch Marx
mit der Reinheit des cartesianischen Schemas - ein entschei­
dender Gesichtspunkt, den Horkheimers Konzeption der
dreißiger Jahre nachdrücklich verfochten hat: »Die Subjekt-

einerseits die »Voreingenommenheit der Ausbeuterklassen•, andererseits den


•engen Umfang der Produktion« verantwortlich, der •den Gesichtskreis der
Menschen beschränkte. Erst als [ . . . ] mit [ . ..] der Großindustrie [ . ..] das
moderne Proletariat auf den Plan trat, konnten die Menschen zum allseiti­
gen geschichtlichen Verständnis [ ...] der Gesellschaft gelangen und ihre
Erkenntnis [ . .. ] in eine Wissenschaft verwandeln«.
1 3 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen
Philosophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 21, Berlin 1962, S. 307.
1 4 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Einleitung, Berlin 1951•
s. 2$7.

12
Objekt-Relation ist ( . . . ] nicht durch das Bild zweier kon­
stanter, begrifflich völlig durchleuchteter Größen zu beschrei­
ben, die sich aufeinander zubewegen - vielmehr stecken in den
als objektiv bezeichneten subjektive und in den sogenannten
subjektiven auch objektive Faktoren, und zwar so, daß wir
[. . . ] das Ineinanderspielen beider, als menschlicher und
außermenschlicher, individueller und klassenmäßiger, metho­
dologischer und gegenständlicher Momente darzustellen haben,,
ohne jedes dieser Momente von den anderen in seiner Wirk-:
samkeit restlos isolieren zu könnc:_ti}l! J?�s zu erkJE�P.A�.<Jb:
je�t-�i!d dem Subjekt nu! �h.er"�ig �ygeQJ.V.OJl. YeJ:"ITiittl\Jfigep
zÜgänglld1Jf�J1fim}ei1�.fi} ni�g�_r��s\JJ.�enDiiQ.�P·
Die »konkreten Zustände<< und >>bestehenden Verhältnisse<<16,
an denen Marx zufolge die »wahre Theorie<< zu entwickeln ist,
werden also nur in dem �-���-�i�k.!LV..e.�_faßt.? ..�_i�_si�. _a]s.. �i.��o­
risclle Produ:Kte-äürdlscnaut werden. D1e 'Frage nacti der Art
de'S""Objekt-�Bezug�s; von der 'wir, an das Hegeische Erbe in
Marx anknüpfend, ausgingen, verweist gerade, wenn sie ma­
terialistisch gestellt wird, auf die (hier nur provisorisch behan­
delte) Konstitutionsfrage; und diese wiederum auf den Ob­
jekt-Bezug der begrifflichen Konstruktion insgesamt. Auch
hierin zeigt sich ein Zusammenhang der Marxschen Lehre mit
Kants Transzendentalphilosophie. Wie diese hält Marx unbe­
schadet dessen, daß die Objekte der Erkenntnis »Konstituta<<
sind, an der Adäquationstheorie der Wahrheit fest - nur mit
dem schwerwiegenden Unterschied, daJLfür.. ihn.��e��n.stäl,ld­
liche Wahrh��!..-n!sl_ltjp.d�� geis!igeiL Ordnungstunktionen
eines Bewußtse�ns überhaupt grünqet, sondern in der »gegen­
ständli'chen tätigkeit<<'7 gesellschaftlicher Indivi�uen.

II

Der vorliegende Band vereinigt Aufsätze von Autoren aus Ost


und West. Die Auswahl möchte dem Leser einen möglichst um­
fassenden überblick verschaffen über den gegenwärtigen Stand
15 Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, in: Kritische Theorie,
herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I, S. 50.
16 Cf. das Motto dieser Einleitung.
17 Cf. die ersten beiden Thesen über Feuerbach, I. c., S. 5·

IJ
der erkenntnistheoretischen Diskussion im Marxismus. Diese ist
seit einigen Jahren in vollem Gange. Daß die naive Widerspie­
gelungs-Konzeption, die den dialektischen Materialismus ein
halbes Jahrhundert lang »auf das infantile Stadium einer vor­
kritischen Philosophie<<18 reduzierte, den theoretischen und
praktischen Erfordernissen unserer Zeit nicht gerecht wird,
spricht sich allmählich auch in orthodoxen Kreisen herum. Eine
brauchbare materialistische Erkenntnistheorie, die zugleich die
vom deutschen Idealismus erarbeitete Problematik konstituti­
ver Subjektivität berücksichtigt, kann unter den heutigen Um­
ständen nicht dem Hirn eines einzelnen Gelehrten entspringen.
Es bedarf vielmehr der kollektiven Anstrengung von Vertre­
tern der verschiedensten Disziplinen. Daß eine solche Erkennt­
nistheorie kein Selbstzweck sein kann, sondern als Bestandteil
einer kritischen Darstellung der Ökonomik unserer Epoche ver­
standen werden muß, liegt auf der Hand.
Die Marxsche Dialektik schließt die beständige Reflexion auf
den Ort und die Funktion der Einzelwissenschaften im sozialen
Ganzen ein. Zu den für einen modernen Materialismus wichti­
gen Forschungszweigen müssen gerade, wenn es darum geht,
szientistische Ideologien zu bekämpfen, auch die Naturwissen­
schaften zählen. Selbst wer, wie der Herausgeber, gegenüber
dem Engelssehen Versuch, eine rein objektive Naturdialektik
nachzuweisen, erkenntniskritische Bedenken anmeldet, kommt
nicht umhin, die Realität der Natur, welche den historisch­
sozialen Prozeß immer auch bedingt, sukzessive in ihn eingeht
und auf allen seinen Stufen begleitet, anzuerkennen, und zwar
im Medium der Theorie der Gesellschaft - nicht, wie Lukacs
neuerdings möchte, als eine der Welt des Menschen »ontolo­
gisch<< vorgeordnete Struktur.
Wenden wir uns den einzelnen Beiträgen zu. Der (geringfügig
gekürzte und stilistisch überarbeitete) Aufsatz des ungarischen
Philosophen Markus ist deshalb bemerkenswert, weil er die
Pariser Manuskripte, die in der bürgerlichen Literatur seit
Jahrzehnten dazu benutzt werden, einen absoluten Bruch zwi­
schen dem jungen, angeblich »existentiell<< und »anthropolo­
gisch<< gerichteten Marx und dem späteren Kritiker der politi­
schen Ökonomie zu konstruieren, unter einem neuen, wirklich
18 Roger Garaudy, Die Aktualität des Marxschen Denkens, Frankfurt am
Main/Wien 1969, S. 10.
weiterführenden Aspekt erörtert. Markus weist nicht nur
nach, daß Marx r 8 44 (bei allem Einfluß Feuerbachs) keines­
wegs auf ein statisches »Menschenbild« hinauswill, sondern auf
eine konkret-geschichtliche Analyse der Gesellschaft. Dabei
werden Momente dessen sichtbar, was man die Marxsche »Uto­
pie der Erkenntnis<< nennen könnte.
Der (ebenfalls leicht überarbeitete) Text von Zeleny, Philoso­
phie-Professor an der Prager Hochschule für Ökonomie, be­
ruht auf einem Vortrag, der im Februar 1 9 66 im Frankfurter
Institut für Sozialforschung gehalten wurde. Was Zeleny
unter dem Titel einer »Onto-praxeologischen<< Problematik be­
handelt, entspricht thematisch dem, was der Herausgeber im
ersten Teil dieser Einleitung über die >>weltkonstitutive« Rolle
der historischen Praxis angedeutet hat. Zeleny zeigt, daß alle
vorkritische Ontologie mit der >>praktischen<< (was nicht heißt:
pragmatistischen oder praktizistischen) Auffassung der Wirk­
lichkeit und Wahrheit hinfällig wird. Dabei äußert er beacht­
liche Gedanken über die sachliche Beziehung von Marx und
Kant•9, die nicht dort gesucht werden darf, wo die neukantia­
nisierenden Austro-Marxisten sie vermuteten.
Iljenkow ist ein Vertreter der neueren sowjetmarxistischen
Schule. Seine Studie ist ein (gekürztes) Kapitel eines 1 9 60
erschienenen Buches über das Kapital, das internationale Be­
achtung fand. Iljenkow legt hier dar, daß Marx seine erkennt­
nis- und wissenschaftstheoretischen Erwägungen an keiner Stelle
ablöst von den historisch vermittelten Inhalten der politischen
Ökonomie. Dabei wird deutlich, wie philosophisch relevant
gerade das Werk des reifen Marx ist. Von besonderem Inter­
esse für den deutschen Leser dürfte Iljenkows Diskussion des
Verhältnisses von >>Forschungs-<< und >>Darstellungsweise<< im
Kapital sein.
Die Studie des aus der Frankfurter Schule hervorgegangenen
Soziologen Backhaus wurde eigens für diesen Band geschrieben.
Sie liefert Aspekte einer gründlichen Analyse der für die Marx­
sche Ökonomie fundamentalen, in der gegenwärtigen Literatur
heftig umstrittenen Arbeitswertlehre. Backhaus untersucht die
bei Marx als »bloß philosophisch« diskreditierten Argumente
19 Cf. dazu auch ergänzend den Aufsatz von Zeleny Kant und Marx als
Kritiker der Vernunft, in : Kant-Studien, s 6 . Jahrgang, HeA: 3-4, Köln 1966,
s . 329-34 1 .
seiner Lehre von der Wertform der Ware und zeigt, daß
gesellschaftliche Objektivität, wie sie für den historischen Ma­
terialismus entscheidend ist, ohne die Konzeption des Wertes
als »daseiende Abstraktion<< nicht gedacht werden kann. - Aus
der Backhaussehen Arbeit geht freilich nicht nur die Anfecht­
barkeit seitheriger Marx-lnterpretationen hervor, sondern
ebensosehr die Tatsache, daß Marx' Unternehmen höchst frag­
mentarisch ist und aus einer Reihe von Ansätzen besteht, von
denen in der vorliegenden Form keiner ganz befriedigt.
Die beiden folgenden Arbeiten des hierzulande inzwischen ein­
geführten französischen Philosophen und Soziologen Lefebvre
dürften für den deutschen Leser noch immer wichtig sein, ob­
wohl sie bereits 1 9 5 6 und 1 9 5 3 erschienen. Der erste Text er­
örtert die Dialektik von Wesen und Erscheinung im Kapital
und überprüft die verschiedenen Interpretationen des Marx­
schen Hauptwerks im Hinblick auf Einheit und Differenz öko­
nomischer und soziologischer Kategorien. - Der zweite Aufsatz
hat programmatischen Charakter. Er diskutiert am Stoff einer
noch zu entwickelnden Agrarsoziologie das Verhältnis von So­
ziologie und Geschichte. Sartre, dessen marxistische Wendung
der letzten Jahre Lefebvre nicht wenig zu verdanken hat, be­
scheinigt diesem, er habe eine »einfache und unanfechtbare Me­
thode aufgebaut [ . . ], um Soziologie und Geschichte unter dem
.

Blickwinkel der materialistischen Dialektik zu vereinen<< . 2°


Der letzte Beitrag schließlich wurde vom Herausgeber für die­
sen Band verfaßt. Teile daraus wurden im April dieses Jahres
in der Hamburger Universität vorgetragen. Den Autor beschäf­
tigt vorab die erkenntnistheoretisch-metaphysische Seite des
Pariser Strukturalismus, dessen Diskussion bei uns soeben be­
gonnen hat. Er sucht im Sinne immanenter Kritik nachzuwei­
sen, daß Levi-Strauss seinem Anspruch, einen Beitrag zur
Marxschen überbau-Lehre zu liefern, in keiner Weise gerecht
wird. Dabei ist der Autor sich darüber im klaren, daß seine
Kritik dringend einer Ergänzung nicht nur in philosophischer,
sondern mehr noch in linguistischer und ethnologischer Hinsicht
bedarf. - Ein zweiter Teil, der in absehbarer Zeit erscheinen
soll, wird die hier vorgelegten Thesen konkretisieren. Es gilt,
die tragfähigen Ergebnisse der strukturalistischen Polemik ge-
2o Jean-Paul Sartre, Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Metho­
dik, Reinbek bei Harnburg 1964, S. 44·

r6
gen einen allzu naiv verstandenen Geschichtsbegriff in den
Marxismus einzubringen. Dazu ist erforderlich, daß zwischen
dem historiographischen und dem theoretisch-konstruktiven
Begriff von Geschichte im Kapital unterschieden wird. Nur so
ist eine wirklich angemessene Kritik der Altbusserschen Marx­
lnterpretation möglich.

Alfred Schmidt
György Markus
Ober die erkenntnistheoretischen Ansichten
des jungen Marx

Im Rahmen dieser Studie wollen wir einen speziellen Aspekt


der Entwicklung des jungen Marx untersuchen - die Entwick­
lung seiner erkenntnistheoretischen Anschauungen. Dieses
Thema ist besonders aktuell geworden, da in jüngster Zeit über
dasselbe eine Anzahl falscher Interpretationen veröffentlicht
wurde. Als Beispiel könnten wir Kolakowskis Studie Karl
Marx und die klassische Definition der Wahrheit anführen
(Studia Filozofic zne 1 9 5 9 , Nr. 2).* In dieser Schrift stellt Kola­
kowski die erkenntnistheoretischen Anschauungen von Marx
dem »positivistischen Scientismus<< Engels' und Lenins scharf
gegenüber. Während die letzteren angeblich daran glaubten,
daß die wissenschaftlichen Theorien die Spiegelbilder irgend­
einer von unserem Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit sind
und die Praxis bloß als das Kriterium der Theorie ansahen,
lehnte Marx, laut Kolakowski, den Begriff der vom mensch­
lichen Bewußtsein unabhängig existierenden Wirklichkeit als
falsch definierten, sinnlosen Begriff ganz und gar ab. Laut dem
von Kolakowski interpretierten Marx ist das Objekt der Er­
kenntnis nicht die >>an sich<< bestehende, vom Menschen unab­
hängig existierende Natur, sondern das Verhältnis des bewuß­
ten Menschen und des seiner Tätigkeit gegenüberstehenden
äußeren Widerstandes; ein Verhältnis, dessen zwei Glieder wir
in ihrer Unabhängigkeit niemals erkennen können. Die Er­
kenntnis ist ein Teil der auf die Befriedigung der Bedürfnisse
gerichteten, die Natur dementsprechend >>organisierenden<<
praktischen Tätigkeit und wird durch diese bestimmt. Die ein­
zelnen Objekte, gegenständlichen Eigenschaften und Verhält­
nisse entstehen nur als Ergebnis der durch die Bedürfnisse be­
stimmten und diesen dienenden intellektuellen Tätigkeit und
existieren vorher nicht. >>Wenn auch das menschliche Bewußt­
sein, der praktische Verstand, das Sein an sich nicht zustande
* Kolakowskis Studie ist enthalten in seiner Essay-Sammlung Traktat
über die Sterblichkeit der Vernunft, Münd:len 1 967. (A. d. H.)

18
bringt, so bringt es das Sein als aus Individuen bestehendes, in
Arten und Gattungen gegliedertes hervor.<< (Studia Filozoficzne,
S. 5 0.) Mit Hilfe der gesellschafl:lich gegebenen Formen der
Abstraktion und der Sprache gestaltet der Mensch, seinen Be­
dürfnissen entsprechend, aus dem seiner Tätigkeit gegenüber
entstehenden >>Widerstand<< , aus dem >>ChaoS<< - wie sich Kola­
kowski wiederholt ausdrückt - eine artikulierte, aus einzelnen,
bestimmten Objekten bestehende Natur aus. Eben deshalb
wünscht der Autor die Aussage von Marx - das Bewußtsein ist
die Vorstellung der Dinge - ein wenig zu >>Verallgemeinern<<:
Der obige Satz beziehe sich nur auf das Entstehen des Bewußt­
seins, wenn wir jedoch hinsichtlich des Bildes der konkreten
Welt fragen, sei das Umgekehrte wahr : Das Ding ist die Ver­
gegenständlichung des Bewußtseins (ibid., S. 5 9 ). In der vorlie­
genden Studie wollen wir vor allem versuchen, die aufge­
worfenen Fragen positiv zu beantworten. Natürlich ist die
Behandlung der erkenntnistheoretischen Problematik als selb­
ständiges Thema nur in gewissen Grenzen möglich, spielen doch
diese Fragen in den Arbeiten des jungen Marx bei weitem
keine entscheidende Rolle ; der Charakter der einzelnen Lösun­
gen ist durch auf andere Fragen bezügliche Konzeptionen de­
terminiert. Eben deshalb werden auch wir an einzelnen Punk­
ten unserer Untersuchungen gezwungen sein, die Grenzen des
durch uns gewählten Aspektes zu überschreiten und auch an­
dere Probleme in Augenschein zu nehmen. Im allgemeinen
werden wir jedoch die Fragen der Erkenntnistheorie eingehen­
der studieren, wobei wir die Kenntnis der Hauptrichtungen
und Etappen der philosophisch-ideellen Entwicklung des jun­
gen Marx voraussetzen.
Im ersten Teil der Abhandlung sind wir bestrebt, einen
allgemeinen Umriß der Entwicklung dieser Anschauungen
zu entwerfen, wobei wir den einzelnen Eigenheiten der in
den ökonomisch-philosophischen Manuskripten erläuterten
Konzeption besondere Aufmerksamkeit widmen wollen. Im
weiteren wünschen wir diejenigen Tendenzen der hier erschei­
nenden erkenntnistheoretischen Auffassung von Marx ein­
gehender zu schildern, die - unserer Meinung nach - vom
Gesichtspunkt der richtigen Auslegung des Wesens der marxi­
stischen Gnoseologie von großer und positiver Bedeutung sind.

19
Einige Probleme der Entwicklung von Marx

In seiner ersten Arbeit, der Doktorarbeit über den Unterschied


zwischen der Naturphilosophie von Demokritos und der von
Epikuros, ist an dem gnoseologischen Standpunkt von Marx
der Einfluß Hegels noch stark fühlbar. Das alleinige Organ des
richtigen Erkennens der Wirklichkeit ist, laut Marx, die Philo­
sophie, als >>wahres Wissen «, das in dieser seiner Eigenschaft
nicht nur der Sinnlichkeit, dem alltäglichen Bewußtsein gegen­
übersteht - durch deren »vollständiges Negieren << es allein zu­
stande kommen kann -, sondern auch den empirischen, experi­
mentellen Naturwissenschaften. Die letzteren, wie dies Marx
im Zusammenhang mit der Naturphilosophie des Demokritos
betont, setzen gegenüber dem menschlichen Bewußtsein im­
mer etwas Transzendentes voraus, und ihr Ziel ist nur, die
Vielfältigkeit der sinnlichen Wahrheit aus einfachen und allge­
meinen Hypothesen abzuleiten. Aus diesen Gründen steht die
Wissenschaft der Religion nicht konsequent gegenüber, die
in ihrer vollbrachten Form, im Christentum, nichts anderes
ist als die >>vollendete Philosophie der TranszendenZ<< (Marx­
Engels-Gesamtausgabe. Moskau - im weiteren MEGA -
Abt. I, Bd. I, Hbd. I, S. 138). Anderseits ist die auf realen
Möglichkeiten beruhende Methode der Naturwissenschaft, die
Methode der logischen Grundlegung, von einseitigem und ver­
standesmäßigem Charakter (ibid. S. 23) : Indem diese Methode
für jede einzelne Erscheinung den Kreis der Ursachen und Be­
dingungen usw., die ihr Sein unterbauen, feststellt, zerstückelt
sie das universale und einheitliche Leben der Natur. Dem­
gegenüber ist die Philosophie das Negieren jeder Transzen­
denz. Ihr Gegenstand ist Geist, d. h. Selbstbewußtsein. Eben
deshalb setzt die Philosophie nicht mehr voraus, daß die
Prädikate die Bestimmungen irgendeiner außergedanklichen
Wirklichkeit, eines außergedanklichen Gegenstandes seien ; sie
betrachtet diese Prädikate in ihrer Gesamtheit, in ihrem Ober­
gang und in ihrer Bewegung, als selbständiges Subjekt und als
ihren eigentlichen Gegenstand : >>Das gewöhnliche Denken hat
immer abstrakte Prädikate fertig, die es trennt von dem Sub­
jekt. Alle Philosophen haben die Prädikate selbst zu Subjekten
gemacht<< (ibid., S. 119) . Jene Tatsache also, in der späterhin
Feuerbach, und nach ihm auch Marx, den methodischen Haupt-
20
fehler der idealistischen Philosophie entdeckt, wertet Marx zu
diesem Zeitpunkt, seinem hegelianischen Standpunkt entspre­
chend, auf das positivste - die Philosophie vertritt eben des­
halb die höchste und einzig wahre Art der Erkenntnis der
Wirklichkeit, weil sie die Prädikate in Subjekte umwandelt,
weil sie die Substanz zum Subjekt macht.
Jener Geist (Selbstbewußtsein), der sich als wahrer Gegenstand
der Philosophie erweist, ist nicht das empirische individuelle
Selbstbewußtsein, das, unfähig, die ganze Natur zu durchdrin­
gen, zu >>idealisieren<<, bloß von ihr zu abstrahieren vermag
und ihr jede unabhängig existierende objektive Realität ab­
spricht.' Dieser Geist ist das konkret-allgemeine, das sich ge­
staltende und entwickelnde geschichtliche Selbstbewußtsein der
Menschheit, das, sich in der Natur selbstoffenbarend, diese
nicht verzerrt, da es seinem Wesen nach nichts anderes darstellt
als das Endprodukt und Bewußtwerden der Entwicklung der
in der Natur wirkenden Kräfte geistigen Charakters. Somit ist
das philosophische Erkennen zugleich das Erkennen der als ein
An-sich genommenen Natur. >> Indem wir die Natur als
vernünftig erkennen, hört unsere Abhängigkeit von derselben
auf. Sie ist kein Schrecken unsres Bewußtseins mehr, und ge­
rade Epikur macht die Form des Bewußtseins, in ihrer Unmit­
telbarkeit, das Fürsichsein zur Form der Natur. Nur indem die
Natur ganz frei gelassen wird von der bewußten Vernunft, als
Vernunft in ihr selber betrachtet wird, ist sie ganz Eigentum
der Vernunft. Jede Beziehung zu ihr, als solche, ist zugleich ein
Entfremdetsein derselben « (ibid., S. 1 44 .).
Die Rolle der Philosophie erschöpft sich jedoch nicht in der pas­
siven Aufgabe des Bewußtmachens. Wenn der Gegenstand der
Philosophie das Selbstbewußtsein ist, vermag sie darüber nicht
mehr zu sagen, als was es ist; das Selbstbewußtsein kann in der
Theorie (post festum) nur so erscheinen, wie es auf der gege­
benen geschichtlichen Stufe im wirklichen Leben, in Moral,
I •· • • die Absolutheit und Freiheit des Selbstbewußtseins ist das Prinzip
der epikureischen Philosophie, wenn auch das Selbstbewußtsein nur unter
der Form der Einzelheit gefaßt wird. Wird das abstrakt-einzelne Selbst­
bewußtsein als absolutes Prinzip gesetzt: so ist zwar alle wahre und wirk­
liche Wissenschaft insoweit aufgehoben, als nicht die Einzelheit in der Natur
der Dinge selbst herrscht. Allein zusammenstürzt auch alles, was gegen das
menschliche Bewttßtsein sich transzendent verhält, also dem imaginierenden
Verstande angehört.• (ibid., S. p.)

21
Gewohnheiten, Recht und Staat usw. des Volkes verwirk­
licht wurde. »Sein (des philosophischen Systems - Bemerkung
des Autors) Verhältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis«
(ibid., S. 64.). Deshalb ist Marx in seinen kurzen Skizzen über
die Geschichte der griechischen Philosophie bestrebt, den Zu­
sammenhang zwischen dem griechischen gesellschaftlich-politi­
schen Leben und der Philosophie zu erschließen. (Cf. ibid.,
S. xoo-xo6 über die Pythagoreer, oder folgendes Zitat: >> . . . al­
lein dieser Schein des Dualismus einerseits, das Dualistische
selbst, das das innerste Herz des Staats zu Anaxagoras' Zeit
zu zerspalten anfängt . . . «) Die Entwicklung der Philosophie
irgendeiner Epoche bedeutet eben deshalb auch das Bestreben,
den Zeitgeist in seiner Totalität zu erfassen, mit dem Endziel,
die » Weltphilosophie<< zu verwirklichen, die alle Probleme der
Zeit umfaßt und >>die abstrakten Prinzipien in ein einheitliches
Ganzes« vereinigt. Hiermit läßt sich die aktive, schöpferische
Rolle der Philosophie erklären: In der >>Weltphilosophie« hat
der Zeitgeist als theoretischer Geist sich selbst, seinen eigenen
vollständigen und freien Ausdruck gefunden. Als solcher steht
er der Welt selbst gegenüber, in der zwar das gleiche Selbstbe­
wußtsein verkörpert wurde und sich in Substanz verwandelte,
aber das Wesen (eben weil es verwirklicht, materiell wurde)
sich nicht ohne Widerspruch verwirklichen konnte, sondern
bloß in entfremdeter Form: die Erscheinung, das unmittelbare
Sein, widerspricht dem Wesen, dem inneren geistigen Inhalt.
Für die Philosophie erscheint also die Welt als falsch, und so
wird sie selbst zu praktischer Energie, die sich gegen diese fal­
sche Welt wendet. In dem Maße jedoch, wie diese praktische
Philosophie, die philosophische Kritik, sich selbst verwirklicht,
muß ihr die Tatsache klar werden, daß die Schranken und
Widersprüche, die sie in der ihr gegenüberstehenden Wirklich­
keit zu entdecken wähnte, die Schranken und Widersprüche
ihres eigenen geistigen Inhaltes, Prinzips und nicht nur die der
Wirklichkeit sind. Indem sie ihre Prinzipien auf diese Weise
verwirklicht, befreit sie sowohl sich selbst als auch die Welt
von diesen Prinzipien und bereitet eine neue Epoche der Ent­
wicklung des Selbstbewußtseins vor. > Nur so ist überhaupt
Philosophie, ja Leben nach der » W eltphilosophie<< möglich.
.1 •Es ist ein psychologisches Gesetz, daß der in sich frei gewordene theo­
retische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreiche

22
In dieser Wechselwirkung und Einheit des passiv Spiegelnden
und aktiv Gestaltenden, des Theoretischen und des Prakti­
schen, des Absoluten und historisch Relativen ist jedoch das
theoretische Moment bestimmend, nicht nur deshalb, weil jede
praktische Tätigkeit in dieser Periode bei Marx als geistig­
kritische Tätigkeit erscheint, sondern auch infolge der Anwen­
dung der Hegelschen, in ihrem gesellschaftlichen Inhalt tief­
gehend radikalisierten Begriffs-Teleologie. Das immanente Ziel
der geschichtlichen Entwicklung ist die vollständige Umwand­
lung der Substanz zum Subjekt : das Vertauschen aller als
natürlich auftretenden äußeren Bestimmungen und Schranken
des Individuums mit bewußter Selbstbestimmung. Die Per­
spektive dieses Ziels ermöglicht die Erhebung über alle ge­
schichtlich-national beschränkte Erkenntnis und bietet Gele­
genheit, vom Niveau des »Landes der Vernunft<< aus (cf. ibid.,
S. 8 r ) zu urteilen.
Die Liquidierung dieser Konzeption und ihr radikales materia­
listisches Aufheben erfolgen nicht auf der Ebene der abstrakten
philosophischen Spekulation, sondern sind das Ergebnis der
unbarmherzigen Analyse der praktisch-politischen Erfahrun­
gen von Marx. (Natürlich sind gewisse theoretische Einflüsse,
vor allem die Bedeutung des Einflusses von Feuerbach, durch­
aus nicht zu unterschätzen.) Während seines Mitwirkens bei
der Rheinischen Zeitung werden seine politischen Illusionen
zerstört. Der junge Marx hatte vorausgesetzt, daß nur im
Staate die materiellen Teile zu durchseelten Mitgliedern des
geistigen Ganzen werden und daß sich nur im Staat das gesell­
schaftliche Ganze ausgestaltet, an dessen Leben teilzunehmen
des Amenthes hervortretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene
Wirklichkeit kehrt. [ . . . ] Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theore­
tisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere
Wirklichkeit an der Idee mißt [ • • . ]. Begeistert mit dem Trieb, sich zu ver­
wirklichen, tritt [sie] in Spannung gegen Anderes. Die innere Selbstgenüg­
samkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur
verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergibt sich die Kon­
sequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Wer­
den der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, daß, was
sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist, daß gerade im
Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sie am Gegenteil als Schäden
bekämpft, und daß sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben
verfällt. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft ist immer dasselbe, was
sie ist, nur mit umgekehrten Faktoren.« (ibid., S. 64-6 5 .)

23
den Menschen zum Menschen macht. Von den Problemen des
wirtschaftlichen Lebens interessiert ihn nur eine gewisse Be­
schränkung des Privateigentums auf politischem Wege. (Hier­
durch meint er das Erstarren der gesellschaftlichen Schich­
tung vermeiden zu können.) Ebendeshalb besteht das Wesen
seines sozialen Programms in der radikalen, jakobinisch-revo­
lutionären Umgestaltung, Demokratisierung des Staates. Doch
während seiner journalistischen Tätigkeit, während der unmit­
telbaren Berührung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit
wird ihm der viel kompliziertere Zusammenhang von Politik
und Wirtschaft, die Herrschaft der wirtschaftlichen Erscheinun­
gen über die politischen klar. Zu dieser Zeit erfaßt er zum
ersten Male das Problem der »armen Klassen<< in seiner Ganz­
heit, das >>in der bewußten Staatsgliederung noch keine
angemessene Stelle gefunden hat<< (ibid., S. 276) . Als er, dem­
zufolge, im Frühjahr 1844 in eine politisch-weltanschauliche
Krise gerät, kehrt er, mit der für ihn charakteristischen Be­
wußtheit und Selbstkritik des Denkens, zur Untersuchung sei­
ner theoretisch-philosophischen Prämissen - zur kritischen Ana­
lyse der Hegelschen Philosophie, vor allem der Staatstheorie
zurück (cf. sein Manuskript Zur Kritik der Hegeischen Rechts­
philosophie) . Im Lichte seiner neuerworbenen revolutionären
Überzeugung, die, wenngleich noch in allgemeiner Form, über
die politische Umgestaltung hinaus auch die Umwandlung der
bürgerlichen Gesellschaft, die Vernichtung des entfremdeten
Privatcharakters ihrer Sphären fordert als Vorbedingung je­
der demokratischen UmgestaltungJ, kritisiert nun Marx die
Regelsehe Gesellschafts-Konzeption und, weitergehend, den
Regelsehen Idealismus und die Regelsehe Dialektik im allge­
meinen. All dies wird gerade dadurch ermöglicht, daß nicht
mehr die auf das politische Leben gerichtete geistig-kritische
Aktion, sondern die die materiellen Lebensbedingungen umge-
3 •Die Aufhebung der Bürokratie kann nur sein, daß das allgemeine Inter­
esse wirklich [ . . . ] zum besonderen Interesse wird, was nur dadurch mög­
lich ist, daß das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird . « (ibid.,
S. 4 5 7-458.) » I n der Demokratie ist der Staat als Besonderes nur Besonde­
res, als Allgemeines, das wirkliche Allgemeine, d. h. keine Bestimmtheit im
Unterschied zu dem anderen Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies so
aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe.
Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht
mehr für das Ganze gilt. « (ibid., S. 4 3 5 .)

24
staltende revolutionäre Praxis als Verwirklicher des geschicht­
lichen Fortschritts auftritt.
Dementsprechend ändert sich auch die Bewertung der spekula­
tiv-philosophischen Erkenntnis. In seiner Dissertation betrachtet
Marx diese Erkenntnis eben wegen ihrer kritischen Beschaffen­
heit als das >>wahre Wissen« . Indem die Philosophie die im aU­
täglichen Denken den äußeren Gegenständen zugeschriebenen
Bestimmungen, Prädikate in selbständige Subjekte verwandelt,
diese nach ihrem in der Entwicklung des Selbstbewußtseins ein­
genommenen wesentlichen Platz und ihrer RoHe betrachtet,
das heißt ihren >>Begriff« erfaßt, bietet sie einen kritischen
Maßstab, an dem nunmehr die einzelnen Gegenstände, als die
Erscheinungen dieser Bestimmungen des Selbstbewußtseins, ob­
jektiv meßbar sind ; sie ermöglicht es, das von Zufä1ligkeiten
befreite Wesen den Objekten als bloß sinnlichen kritisch gegen­
überzusteHen. Die Wertung dieser Methode geht nun ins Ge­
gensätzliche über - Marx verwirft sie in seinem Manuskript
von Kreuznach gerade wegen ihres apologetischen Wesens. Da
das spekulative Denken die Prädikate von ihren eigenen Trä­
gern und Subjekten absondert und an sich betrachtet, kann es
jenen überhaupt nur dadurch einen Sinn verleihen, daß es zwi­
schen ihnen eine bestimmte Relation voraussetzt, in der jedes
durch die anderen determiniert ist. Auf diese Weise entsteht
ein abgerundetes, in sich geschlossenes, aprioristisches System
abstrakter Begriffe. Deren Losgetrenntsein von der Wirk­
lichkeit aber, welches - wenn auch bei weitem nicht in so schar­
fer Form aufgefaßt - Marx früher geneigt war, als die
notwendige Entfernung der Kritik von ihrem Gegenstand aus­
zulegen, macht jede wirkliche Kritik unmöglich. Das in sich
geschlossene Denken, wenn es sich nunmehr, in Ermangelung
des inneren Inhaltes, der Wirklichkeit zuwendet und als deren
wahre Erkenntnis auftritt, entbehrt jedes Kriteriums, im un­
mittelbar Gegebenen das Wirkliche, das Notwendige vom Zu­
fäHigen, bloß Existierenden zu unterscheiden. Als einziges Kri­
terium und einzige Forderung tritt auf, daß das Objekt in
irgendeinen abstrakten Begriff aufgelöst werden könne. Auf
diese Weise entsteht der »kritiklose Positivismus« und der
»Pseudokritizismus« des Denkens. Für das gewöhnliche Den­
ken kann dieses philosophische Denken kritisch erscheinen, da
es den Gegenstand als die Verkörperung einer abstrakten
Bestimmung auffaßt und demzufolge sein vom Gegenstand ge­
bildeter Begriff von dessen alltäglichem Begriff stark abwei­
chen kann. Ihrem Wesen nach ist diese Methode aber apologe­
tisch, weil sie den als Verwirklichung des Selbstbewußtseins,
des Geistes usw. erfaßten Gegenstand in seiner Unmittelbar­
keit, so wie er in der alltäglichen Erfahrung gegeben ist, auf­
faßt und annimmt und ihn hierdurch bestätigt. Zugleich ist die­
ses Erkennen formal, unfähig, das Spezifikum des Gegenstan­
des zu erschließen, und also überhaupt kein Erkennen.4
Nur eine solche Erkenntnis kann zu einer wahrhaft kritischen
werden, die der spezifischen Logik ihres Gegenstandes folgt,
dessen wirkliche innere Gegensätze erschließt. Diese Auffassung
der wissenschaftlichen Erkenntnis ist aber noch sehr allgemein.
Die Methode der idealistischen Dialektik ist bei weitem nicht
endgültig besiegt. Es handelt sich nicht allein darum, daß wir
bei Marx Formulierungen finden, die dies widerspiegeln, sondern
auch darum, daß er auch später noch in den Manuskripten das
durch eine lange Reihe von Vermittlungen zustande gekom­
mene Resultat eines geschichtlichen Vorganges nicht selten als
das immanente Ziel und den »Begriff« des Vorganges, als des­
sen Wesen betrachtet, um auf diese Weise einen kritischen
Maßstab zu gewinnen gegenüber den konkreten geschichtlichen
»Erscheinungen« des Vorganges, die dem Wesen widersprechen
und ihm entfremdet sind. Die Forderung der immanenten Kri­
tik wird daher nicht immer erfüllt. Die endgültige Abrechnung
mit diesen Problemen tritt erst in der Deutschen Ideologie auf.
Was aber die positive Lösung der Frage, die Ausarbeitung
einer wissenschaftlichen Methodologie betrifft, so geriet gerade
dieses Problem in den Mittelpunkt des späteren philosophi­
schen Interesses von Marx.
Die hier erwähnte Auffassung spiegelt in hohem Maße den
Einfluß Feuerbachs wider. Die Auffassungen der beiden Den­
ker stimmten jedoch auch in dieser Zeit - selbst in dieser Be­
ziehung - nicht vollständig überein. Während nach Feuerbach
das Organ der Erkenntnis der Wirklichkeit die kultivierte,

4 »Das einzige Interesse ist, >die Idee< schlechthin, die >logische Idee< in
jedem Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden, und die
wirklichen Subjekte, wie hier die >politische Verfassung<, werden zu ihrem
bloßen Namen, so daß nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden
ist. « (ibid., S. 4u.)

z6
menschlich gewordene Sinnlichkeit, die Anschauung ists, geht
Marx in seiner Arbeit von der rational-logischen, diskursiven
Erkenntnis aus als einer, die zur Erschließung der »Logik des
Dinges« fähig ist. Dieser Unterschied zeigt sich zum Beispiel
in scharfer Weise in jener abweichenden Wertung, die der He­
gelsche Gedanke des »Weges vom Abstrakten zum Konkreten«
- jene methodologische Forderung, wonach die wissenschaftli­
che Erkenntnis vom Abstrakten dem Konkreten entgegen­
schreiten muß - bei Feuerbach und dem jungen Marx erhält.
Feuerbach sieht hierin nichts anderes als die indirekte, inkon­
sequente theologische Anerkennung der Wirklichkeit der sinn­
lich-anschaulichen Welt, die er ebendeshalb ablehnt: die Er­
kenntnis muß in ihrer eigenen Unmittelbarkeit das Unmittel­
bare erfassen und jede Bestimmtheit in ihrer konkret-anschau­
lichen Beschaffenheit erschließen. Das Denken kann zu keiner
wahren Selbständigkeit gelangen, es hat nur als ein die An­
schauung bereicherndes, diese kultivierendes Moment Berechti­
gung, aber nicht in seiner Isoliertheit hiervon6 ; die Abstraktion
an sich ist nur ein Mittel zur Vereinfachung, zur Mittei­
lung, nicht aber ein Mittel zur Erkenntnis. Marx hingegen kri­
tisiert Hege! gerade deshalb; weil er das durch ihn formulierte
5 »Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar
durch sich selbst gewiß ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, un­
mittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht - das schlechthin Ent­
schiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist
nur das Sinnliche ; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und
Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit . •
( L . Feuerbam, Philosophische Kritiken und Grundsätze. Sämtliche Werke,
2. Bd., S. 3 o r .)
6 »Die Aufgabe der Philosophie, der Wissenschaft überhaupt, besteht daher
nicht darin, von den sinnlichen, d . i . wirklichen Dingen weg, sondern zu
ihnen hin zu kommen - nicht darin, die Gegenstände i n Gedanken und
Vorstellungen zu verwandeln, sondern darin, das den gemeinen Augen Un­
sichtbare sichtbar, d . i. gegenständlich zu machen.
Die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht
wie sie sind ; sehen in den D ingen nicht sich selbst, sondern nur ihre Ein­
bildungen von ihnen, legen ihr eigenes Wesen i n sie hinein, untersmeiden
nicht den Gegenstand und die Vorstellung von ihm. Die Vorstellung liegt
dem ungebildeten, subjectiven Menschen näher, als die Anschauung [ • • • ] .
Erst i n neuerer Zeit ist die Menschheit wieder, wie einst i n Griechenland
nach Vorausgang der orientalischen Traumwelt, zur sinnlichen, d. h. un'll er­
fälschten objecti'lle n Ansd!auun g des Sinnlichen, d. i. Wirklichen, aber eben
damit erst auch zu sich selbst gekommen.• (L. Feuerbam, Philosophische
Kritiken und Grundsätze, S. 305-306.)

:q
methodische Prinzip nicht verwirklicht, nur den Schein seiner
Verwirklichung bietet. Während der Gang des Denkens bei
Hegel scheinbar vom Einseitigen zum Zusammengesetzten
führt (so konstituiert sich die abstrakte I dee des Organismus
als Staat), ist in Wirklichkeit gerade das Entgegengesetzte der
Fall. Hege! identifiziert die konkrete Erscheinung mit deren
einseitiger Bestimmung, stellt nicht das Konkrete als die kom­
plizierte Gesamtheit abstrakter Bestimmungen wieder her,
sondern gelangt nur bis zur Ausarbeitung der abstrakten Be­
stimmung, was häufig überflüssig ist, da diese, allem wissen­
schaftlichen Denken vorangehend, als fertiges geschichtliches
Produkt gegeben ist. >>Der Wahrheit nach hat Hege! nichts
getan, als die >politische Verfassung< in die allgemeine ab­
strakte Idee des >Organismus< aufgelöst, aber dem Schein und
seiner eigenen Meinung nach hat er aus der allgemeinen I dee
das Bestimmte entwickelt.« (MEGA, Bd. I, Hbd. I, S. 4 q.)
Diese erkenntnistheoretisch-methodologische Abweichung birgt
tiefere Unterschiede der Auffassung in sich. Feuerbach ist,
ebenso wie später Marx, von der Hegeischen Philosophie aus­
gegangen und suchte für die durch diese aufgeworfenen Pro­
bleme eine materialistische Lösung. So akzeptierte er einen der
wichtigsten Sätze der Hegeischen Philosophie, demzufolge es
die Gesellschaft ist, die primär dem Individuum gegenübersteht
und nicht umgekehrt. Er versuchte jedoch, jenem gesellschaft­
lichen >>Ganzen «, der gesellschafttimen Substanz, deren Wesen
Hegel noch in Moral, Gewohnheiten, Religion, Gesetzen und
vor allem in der Staatlichkeit des gegebenen Zeitalters und
Volkes gesehen hat, eine materialistische Interpretation zu ge­
ben. Diese Grundlage glaubt Feuerbach in der materiellen A b­
hängigkeit zwischen den Menschen zu finden, derzufolge der
einzelne unfähig ist, allein, ohne die anderen Menschen, zu le­
ben. Diese materielle Abhängigkeit unterzieht Feuerbach jedoch
keiner konkret-geschichtlichen Untersuchung, sondern faßt
die geschlechtliche Verbindung als ihr Wesen und ihre primäre
Form, als Prototyp jeder menschlichen Verbindung.? So er-

7 •Die mittelbare, vernünftige, naturhistorische Einheit der Gattung und


des Individuums gründet sich nur auf das Geschlecht . I ch bin nur Mensch
als Mann oder Weib.« (L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Berlin
1 9 5 6, Bd . I. S . 246.)

28
scheinen für ihn die gesellschafllichen Bestimmtheiten als kul­
tivierte Naturbestimmtheiten.
Das bedingt auch sein Verhältnis zu den Problemen der Er­
kenntnistheorie. Feuerbach anerkennt, daß das Denken das
höchste Produkt der Entwicklung des Menschen, der unmittel­
barste Ausdruck und die Verkörperung seines Menschentums
ist. »Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen; das
Herz vertritt die besonderen Angelegenheiten, die Individuen,
der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten ; er ist die über­
menschliche, d. h. : die über- und unpersönliche Kraft oder We­
senheit im Menschen . << (L. Feuerbach, Das Wesen des Christen­
tums, I, Berlin 19 5 6, S. 8 3.) Im Denken tritt der einzelne Mensch
als Verkörperer des Menschengeschlechtes auf. Ebendeshalb hat
Feuerbach >>Vorbehalte« dem Denken gegenüber. Im Denken
erscheint die Gattung als Gattung, frei von jeder natürlichen
Abhängigkeit und Vorbedingung. Demnach ist das denkende
Individuum als denkendes Individuum vollkommen frei, un­
abhängig von jeder natürlichen und gesellschaftlichen Bindung.
So kann das höchste, ideale Produkt der Entwicklung der Gat­
tung, wenn es vom Ganzen des Lebens der Gattung abgetrennt
wird, zur Negation des realen Seins des Menschen, der gesell­
schaftlich-natürlichen Abhängigkeit des Menschen werden. Des­
halb sieht Feuerbach gerade im abstrakten Denken die subjekti­
ve Bedingung aller Entfremdung. Und eben darum ist es nicht
das selbständig gewordene Denken, sondern die Anschauung, in
der die gesellschaftlichen und natürlichen Momente sich in Ein­
heit befinden, die menschliche Wahrnehmung, die sich über den
individuellen, egoistischen Bedarf und das Interesse erhebt und
den Gegenstand als das Schöne, als die spezifische Manifesta­
tion des Wesens von Natur und Mensch, als die Bejahung des
Wesens des Menschen auffaßt - wobei sie jedoch passiv und
von ihrem Gegenstand abhängig bleibt : dies ist die einzige
richtige Form und das einzige Mittel der menschlichen Er­
kenntnis.
Marx waren und blieben gerade die Grundlagen der Feuer­
bachsehen Konzeption fremd. In der Dissertation und in den in
der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln teilt er voll­
ständig Hegels Anschauung über das Primat wie auch über den
Charakter der gesellschaftlichen Substanz. Und er sucht dann
für das »gesellschaftliche Ganze<< eine materialistische Erklä-
29
rung zu bieten, wobei ihm als Ausgangspunkt eben die . von
Feuerbachs naturalistischer Gesellschaftsauffassung außer acht
gelassenen wirtschaftlichen Erscheinungen dienen.
In seiner Kritik der H egelseben Rechtsphilosophie begegnen
wir noch keineswegs einer eindeutigen Lösung. Marx tritt
einesteils entschieden gegen die Mystifikation der Regelsehen
Philosophie auf, die die von den einzelnen Individuen abge­
trennte Gesellschaft zum selbständigen Subjekt machte und als
verborgenen Schöpfer der Geschichte handeln ließ. In diesem
Zusammenhang betont er, daß nur die in ihrer unmittelbaren
materiellen Wirklichkeit aufgefaßten Individuen die realen
Schöpfer der Geschichte sind. Aber die materialistische Erklä­
rung des von Hegel betonten »gesetzmäßigen« Charakters der
menschlichen Geschichte, der »hinter. dem Rücken<< der ver­
schiedene Ziele anstrebenden menschlichen Handlungen zur
Geltung kommenden allgemeinen gesellschaftlichen Beziehun­
gen und Vorgänge, ist noch lange nicht abgeschlossen. Diese
materialistische Erklärung kann nicht allein in der einfachen
Zurückführung der Erscheinungen des Staates, des politischen
Lebens auf die bürgerliche Gesellschaft bestehen, insbesondere
nicht, wenn keine Antwort auf die Frage vorhanden ist, womit
die Änderung ihrer wirtschaftlichen Bedingungen selbst erklärt
werden kann. Diese Frage wurde von Marx zur Zeit der Ab­
fassung der Kritik der Rechtsphilosophie noch keiner Prüfung
unterzogen. Hieraus erklärt sich, daß diese Arbeit, wie auch
die nicht viel später entstandene Schrift Zur Juden/rage, neben
der materialistischen Beantwortung einzelner sehr wesentlicher
konkreter Fragen (Verhältnis von Staat und bürgerlicher Ge­
sellschaft, die Entfremdung des Staates und ihre Folgen usw.)
gerade beim Aufwerfen allgemeiner geschichtsphilosophischer
Fragen viele ausgesprochen idealistische Formulierungen ent­
hält, indem, unter Berufung auf die Entwicklung des >>mensch­
lichen Geistes«, des >>Selbstbewußtseins<< einzelne Probleme er­
läutert werden.s
8 •Der Wille eines Volks kann ebenso wenig über die Gesetze der Vernunft
hinaus als der Wille eines Individuums [ . . . ] . Die gesetzgebende Gewalt
macht das Gesetz nich t ; sie entde<kt und formuliert es nur.« (MEGA, Bd. I,
Hbd. r, S. 468.) Die Staatsverfassung ist nichts anderes als das Produkt
einer gewissen Entwi<klungsstufe des Bewußtseins. (Vgl. MEGA. Bd. I,
Hbd. r, S. 590.) • Aber der religiöse Geist kann auch ni ch t wirklich verwelt·
licht werden , denn was ist er selbst, als die unweitliehe Form einer Ent·

JO
All dies spiegelt sich auch in den erkenntnistheoretischen An­
schauungen von Marx. Einesteils vermag nur die ganze
Menschheit in ihrer eigenen >>allgemeinen Sache<<, in der Wis­
senschaft die Erkenntnis der Wirklichkeit zu realisieren. >>Die
reine Idealität einer wirklichen Sphäre könnte aber nur als
Wissenschaft existieren. << (MEGA, Bd. I, S. 4 I o.) Gleichzeitig
stellt er die wissenschaftlich-theoretische Erkenntnis in diesem
Zeitabschnitt so wie früher mit voller Entschiedenheit der ma­
teriellen Praxis gegenüber. Das praktische Bedürfnis erscheint
als bloß biologisches, egoistisches Interesse, für das das innere
Wesen, das Spezifikum des Gegenstandes, vollständig gleichgül­
tig ist : ein Interesse, das den Gegenstand äußerlich an eigenem
Maßstab mißt oder nach den >>Regeln irgendeiner Konvention<<
betrachtet, während ihn die Theorie als >>an und für sich<< aus
der »Natur der Sache<< hervorgehend auffaßt. (Cf. MEGA,
Bd. I, Hbd. I, S. 4 I o.) Die Weltanschauung des praktischen
Bedürfnisses ist von Natur aus beschränkt und erschöpft sich in
einigen Zügen. Das praktische Bedürfnis ist passiv, seine
Entwicklung9 kann nur durch die Xnderung der äußeren
Bedingungen hervorgerufen werden, und so kann es nicht als
Grundlage und Erklärung des sich ständig entwickelnden theo­
retischen Denkens dienen.
Der junge Marx gelangt nur dadurch zur Schaffung einer
konsequent materialistischen Weitsicht, Gesellschaftsbetrach­
tung und Erkenntnistheorie, daß er diese Bewertung der prak­
tischen Tätigkeit völlig aufgibt. Nur durch Erschließung
der mensch- und geschichtsgestaltenden Rolle der Arbeit erfüllt
sich sein philosophischer Materialismus, wird er zum logischen
Ganzen. Diese Wendung tritt im Sommer I 844 in den Pariser
ökonomisch-philosophischen Manuskripten ein.10 Es ist uns
widdungsstufe des menschlichen Geistes ? Der religiöse Geist kann nur ver•
wirklicht werden, insofern die Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes,
deren religiöser Ausdruck er ist, in ihrer weltlichen Form heraustritt und sich
konstituiert. Dies geschieht nur im demokratischen Staat• (MEGA, Bd. I,
Hbd. I , S. 576 - Zur juden/rage.)
9 •[ . • . ] das praktische Bedürfnis, dessen Verstand der Eigennutz ist, sich
passiv verhält und sich nicht beliebig erweitert, sondern sich erweitert findet
mit der Fortentwicklung der gesellschaftlichen Zustände.• (MEGA, Bd. I,
Hbd. I, S. 6o4.)
I O Bezüglich dieser Frage weicht unser Standpunkt von der in der marxisti­
schen Philosophiegeschichte im allgemeinen angenommenen Auffassung ab,
wonach Marx zu gleicher Zeit Materialist und Kommunist wurde und wo-

31
hier nicht möglich, die Bedingungen und Ursachen dieser Ent­
wicklung zu beleuchten. Es soll lediglich darauf hingewiesen
werden, daß die Wendung nicht hätte zustande kommen kön­
nen, hätte Marx inzwischen nicht die Arbeit, die produktive
Tätigkeit, aus einer über ihren in der kapitalistischen Gesell­
schaft eingenommenen Platz hinausweisenden geschichtlichen
Perspektive, aus dem Klassenstandpunkt des Proletariats er­
kannt.
Die Pariser Manuskripte sind also die erste Arbeit, in der der
philosophische Materialismus von Marx in Form einer logisch­
geschlossenen Konzeption vor uns erscheint, in dem Sinne, daß
die »Zurückführung« des ideologisch-politischen Lebens auf
das wirtschaftliche durch die materialistische Auslegung dieses
letzteren, durch die Erschließung der geschichtlichen Rolle der
materiellen Produktion ergänzt wird. Dennoch weicht die hier
erörterte Auffassung von der Konzeption der späteren reifen
Marx-Werke in gewissen, sehr wesentlichen Fragen noch ab.
Es handelt sich nicht allein darum, daß die geschichtlich-gesell­
schaftliche Konzeption von Marx hier noch in gedanklicher
Allgemeinheit, mehr als geschichtsphilosophisches Prinzip vor­
handen ist ; daß die grundlegenden Begriffe der marxistischen
Theorie und Methodologie (gesellschaftliche Formation, gesell­
schaftliche Verhältnisse, Ideologie usw.) damals nur in ihrem
Keim und in ihrer Tendenz erscheinen - wir haben es nicht
nur mit der Knderung der Betonung, des Interesses und der
Anschauungsart zu tun, sondern mit einer eigenartigen, sich
nach mehreren Richtungen hin auswirkenden und mani-

nach die in den Deutsch-französischen Jahrbüchern ers<hienenen Artikel, vor


allem die Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie . Einleitung zur seihen
Zeit geschrieben wurden. Natürlich ist die Wandlung des jungen Marx zum
Materialisten das Ergebnis eines Entwicklungsvorganges und läßt sich schwer
an einen Augenblick oder gar an einen Artikel knüpfen. Wir haben gesehen,
daß die Arbeit Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie Marx schon auf
dem Wege zum Materialismus zeigt und daß die materialistischen Tendenzen
auch in seiner Arbeit Zur judenfrage wesentlich erstarken. Es scheint jedoch,
daß aus den Schriften der Jahrbücher die materialistische Erläuterung der
wirtschaftlichen Entwicklung noch fehlt, das Begreifen der Rolle der mate­
riellen Produktion, ohne das die Erklärung des geschichtlichen Materialismus
unvorstellbar ist. Die Arbeit Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Ein­
leitung bietet, obwohl die idealistischen Schwankungen der vorangegangenen
Arbeiten in ihr nicht mehr zu entdecken sind, noch keine positive Grundlage
zu dieser Schlußfolgerung.

J2
festierenden Auffassung, von der - so scheint es - Marx später
abrückt. Diese Konzeption berührt vor allem die Frage der
Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft.
Das Problem von Individuum und Gesellschaft ist, wie bereits
erwähnt, eines derjenigen gewesen, die Marx, sich an das He­
gelsche philosophische Erbe anschließend, sich am frühesten in
entschiedenster Weise bewußt machte. In seinen früheren Wer­
ken vertritt er selbst noch den Standpunkt Hegels, wonach die
als geistiger Organismus aufgefaßte Gesellschaft das Primäre
ist, während das einzelne Individuum bloß den abstrakten
Ausdruck dieser gesellschaftlichen Substanz darstellt. In der
Kritik der Rechtsphilosophie bleibt das Prinzip des Primats
der Gesellschaft unverändert, obwohl Marx, sich kritisch gegen
die antidemokratischen und idealistischen Züge der Hegeischen
Philosophie wendend, energisch betont, daß diese Züge unter
anderem gerade in der Abtrennung der Gesellschaft von den in
ihr lebenden Individuen, durch ihre Umwandlung in ein
außerhalb der Individuen schwebendes selbständiges Subjekt,
Ausdruck fanden. Nicht weniger betont er in den Pariser Ma­
nuskripten das Moment der Einheit von Individuum und Ge­
sellschaft. >>Es ist vor allem zu vermeiden, die >Gesellschaft<
wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren.
Das Individuum ist das gesellschaflliche Wesen. Seine Lebens­
äußerung - erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form
einer gemeinschafllichen, mit andern zugleich vollbrachten
Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Bestätigung
des gesellschafllichen Lebens. Das individuelle und das Gat­
tungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch
- und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen
Lebens eine mehr besondre oder mehr allgemeine Weise des
Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr
besondres oder allgemeines individuelles Leben ist. « (MEGA,
Abt. I, Bd. 3, S. 1 1 7 .) In dieser Arbeit meldet sich überdies
gegenüber den früheren Werken ein weiterer Zug an : das
ständige Bestreben von Marx, das Leben der Gesellschaft aus
der Eigenart, aus dem Charakter der Tätigkeit des einzelnen
Individuums, richtiger des produzierenden Individuums, die
wirtschafllichen Verhältnisse aus dem Verhältnis des A rbeiters
zu seiner eigenen Tätigkeit abzuleiten. So tritt das Individuum
- innerhalb dieser Einheit - in gewissem methodologischem
33
Sinne als primär auf. Diese Bestrebung kommt am klarsten in
jener viel kommentierten und diskutierten Auffassung der Ma­
nuskripte zum Ausdruck, wonach das Privateigentum die
Folge der Entfremdung der Arbeit, das Verhältnis zwischen
Kapitalist und Arbeiter durch das Verhältnis des Arbeiters zu
seiner eigenen Tätigkeit bedingt und hervorgerufen sei."
Die theoretische Grundlage dieser Auffassung ist unschwer zu
erschließen. Die Gesellschafl: ist nichts anderes als die Summe
der Verhältnisse, Beziehungen der einzelnen Individuen. An­
dererseits sind diese Verhältnisse durch die materielle Produk­
tion des Individuums bestimmt und zustande gebracht - und
gerade hierin besteht der grundlegend neue Gedanke der Manu­
skripte. Aus alledem gelangt Marx zu der Schlußfolgerung,
daß die oben erwähnten, zwischen den Individuen bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse die Erscheinungen des Verhält­
nisses des produzierenden Individuums zu seiner eigenen Iatig­
keit darstellen. Dies wird von Marx wiederholt klar aus­
sprochen. »Die Entfremdung des Menschen, überhaupt jedes
Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst steht, ist erst ver­
wirklicht, drückt sich aus in dem Verhältnis, in welchem der
Mensch zu den andren Menschen steht. « (MEGA, Abt. I, Bd. J ,
s . 89.)
»Man bedenke noch den vorher aufgestellten Satz, daß das
Verhältnis des Menschen zu sich selbst ihm erst gegenständlich,
wirklich ist durch sein Verhältnis zu den andern Menschen.
I I · Also durch die entfremdete, entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das
Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu
dieser Arbeit. Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhält­
nis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn
nennen will. Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die
notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhält­
nisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.
Das Privateigentum ergibt sich also durch Analyse aus dem Begriff der ent­
äußerten Arbeit, d. i. des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit,
des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen.
Wir haben allerdings den Begriff der entäußerten Arbeit (des entäußerten
Lebens) aus der Nationalökonomie als Resultat aus der Bewegung des Pri­
vateigentums gewonnen. Aber es zeigt sich bei Analyse dieses Begriffs, daß,
wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit
erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist, wie auch die Götter
ursprünglich nicht die Ursache, sondern die Wirkung der menschlichen
Verstandesverirrung sind. Später schlägt dieses Verhältnis in Wechselwir­
kung um.« (MEGA, Abt. I, Bd. 3, S. 9 I-92.)

34
Wenn er sich also zu dem Produkt seiner Arbeit, zu seiner
vergegenständlichten Arbeit, als einem fremden, feindlichen,
mächtigen, von ihm unabhängigen Gegenstand verhält, so ver­
hält er sich zu ihm so, daß ein andrer, ihm fremder, feindlicher,
mächtiger, von ihm unabhängiger Mensch der Herr dieses
Gegenstandes ist. Wenn er sich zu seiner eigenen Tätigkeit als
einer unfreien verhält, so verhält er sich zu ihr als der Tätig­
keit im Dienst, unter der HerrschaA:, dem Zwang und dem
Joch eines andern Menschen.
Jede Selbstentfremdung des Menschen von sich und der Natur
erscheint in dem Verhältnis, welches er sich und der Natur zu
andern, von ihm unterschiedenen Menschen gibt. « (MEGA,
Abt. I, Bd. 3, S. 9 0-9 r .)
Aus dieser Konzeption ergab sich offenbar auch die Tatsache,
daß die materialistische Auslegung des >>gesellschaA:lichen Gan­
zen« noch völlig unausgearbeitet, der Begriff der gesellschaA:­
lichen Verhältnisse noch gänzlich unausgestaltet war. (In den
Manuskripten analysiert Marx praktisch nur das abstrakte
Verhältnis des einzelnen Arbeiters zum einzelnen Kapitalisten.)
Alle diese Erklärungen genügen jedoch nicht. Im Zusammen­
hang mit obigem erheben sich mindestens zwei Probleme.
r . Wie kam Marx zu der Meinung, daß die wesentlichen Züge
der gesellschaA:lichen Verhältnisse und mit diesen der ganze
geistige, politische usw. Oberbau verständlich und ableitbar
sind aus dem Verhältnis des einzelnen Produzierenden zu sei­
ner eigenen Tätigkeit, wo doch die von Marx studierte Gesell­
schaA: gerade durch den Umstan4 gekennzeichnet war, daß sie
im Gegensatz zu der unglaublichen Kompliziertheit der ge­
sellschaA:lichen Verhältnisse die Tätigkeit, das Leben des ein­
zelnen äußerst einseitig, beschränkt machte und verzerrte?
2. Was bedeutet eigentlich die Formel, daß das Privateigentum
aus dem Verhältnis des Arbeiters zur eigenen Tätigkeit als
einer entfremdeten entsteht? Was ist unter diesem Verhältnis
zu verstehen, wonn besteht das Wesen der Entfremdung
selbst?
Um auf diese Fragen antworten zu können, müssen wir die
Analyse weiterführen.
Die Wurzeln dieser Konzeption sind nämlich durchaus nicht
nur theoretischer Natur. Unserer Meinung nach spielten hierbei
gewisse praktische Voraussetzungen keine geringe Rolle, die,
35
obwohl sie im Text der Manuskripte nicht explizit enthalten
sind, rekonstruiert werden können, vor allem mii Hilfe einzel­
ner späterer Arbeiten, hauptsächlich der Deutschen Ideologie.
Es handelt sich hier um das Problem der Arbeitsteilung. Die
Bewertung der Arbeitsteilung ist in der Kritik der Regelsehen
Rechtsphilosophie positiv. In der >>Demokratie<< ist die Ar­
beitsteilung als natürlich vorausgesetzt ( >>der einzelne wäre
sonst die wahre Sozietät und machte die Sozietät überflüssig<<,
MEGA, Bd. I, Hbd. I , S. 5 4 I) ; es handelt sich nicht um die
Aufhebung der einzelnen, durch die Arbeitsteilung bestimmten
Funktionen, sondern darum, daß diese unmittelbar als gesell­
schaflliche Funktionen erscheinen sollen. (Cf. die Gegenüber­
stellung der einzelnen konkreten Funktionen und der Teil­
nahme am staatlichen Leben, MEGA, Bd. I, Hbd. I, S. 4 60
usw.). In den Manuskripten hingegen wird die Arbeitsteilung
als entfremdete Form des gesellschaftlichen Charakters der
Produktion bezeichnet. Im weiteren müssen wir uns auf die
Deutsche Ideologie stützen. In dieser Arbeit setzt Marx aus­
drücklich voraus, daß die kommunistische Gesellschaft die Ar­
beitsteilung beseitigen wird ; daß diese Gesellschaft eine solche
Entwicklung der Produktionsmittel und der produzierenden
Individuen zustande bringen wird ; daß im Prinzip jedes ein­
zelne Individuum fähig sein wird, in jeglichem Zweige der ge­
sellschaftlichen Produktionstätigkeit zu wirken und die Totali­
tät der gesellschaftlichen Fähigkeiten potentiell in sich schließen
wird. In dieser Epoche wird also der Reichtum der Gesellschaft
unmittelbar - sowohl im objektiven als auch im subjektiven
Sinne - mit dem Reichtum des Individuums zusammenfallen
und an ihm meßbar sein.n Diese auf die Aufhebung der Ar-

u • Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen
bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird,
aus dem er nicht heraus kann ; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer
Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren
will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen
ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen
Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt
und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, mor­
gens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach
dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe ; ohne je Jäger, Fischer,
Hirt oder Kritiker zu werden . • (MEGA, Abt. r, Bd. 5, S. 22.)
•Bei allen bisherigen Aneignungen blieb eine Masse von Individuen unter
beitsteilung abzielende Konzeption läßt sich nicht einfach aus
dem Bestreben erklären, das humanistische Ideal des vielsei­
tigen Menschen zu verwirklichen. Hierbei spielte die theoreti­
sche Vorstellung von Marx keine geringe Rolle, wonach die
Fabrikarbeit, die Benützung der Maschinen jede produktive
Arbeit auf einfache Arbeit reduziert und so allen die Teil­
nahme an den verschiedenen Arbeitsvorgängen ermöglicht,
während die aus den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus
hervorgehende Fluktuation der Arbeitskraft den Produzenten
zwingt, die entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln.
Dieser Gedanke der Aufhebung der Arbeitsteilung bestand be­
reits zur Zeit der Abfassung der Pariser Manuskripte. Nur
hieraus läßt sich die Tatsache erklären, daß Marx in der kom­
munistischen Gesellschaft jeden einzelnen Gegenstand als Ver­
körperer der Wesenskräfte sowohl des einzelnen Individuums
wie auch der ganzen Gesellschaft betrachtet. ' 3
Diese Konzeption der Aufhebung der Arbeitsteilung tritt übri­
gens in dem sehr wesentlichen, aber im allgemeinen vernach­
lässigten Manuskript auf, das von den Herausgebern der
MEGA unter dem Titel ökonomische Studien (Exzerpte)
( 1 844-1 845) publiziert wurde. (Cf. MEGA, Abt. I, Bd. J ,
s. 54 6- 547 ·)
ein einziges Produktionsinstrument subsumiert ; bei der Aneignung der Pro­
letarier müssen eine Masse von Produktionsinstrumenten unter jedes Indivi­
duum und das Eigentum unter Alle subsumiert werden . • (MEGA, Bd. s,
s. j8.)
»Die exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und
seine damit zusammenhängende Unterdrückung i n der großen Masse ist
Folge der Teilung der Arbeit. Wenn selbst in gewissen gesellschaftlichen
Verhältnissen Jeder ein ausgezeichneter Maler wäre, so schlösse dies noch
gar nicht aus, daß Jeder auch ein origi neller Maler wäre. [ . . . ] Bei einer
kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort die Sub­
sumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein
aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums
unter d iese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlich Maler, Bildhauer usw.
ist, [ . . . ] In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler sondern
höchstens Menschen, die unter Anderem auch malen. • (MEGA, Bd. 5, S. 37 3 .)
13 •Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die
gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte,
als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen We­
senskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung
seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichen­
den Gegenstände, als seine Gegenstände, d. h., Gegenstand wird er selbst.«
(MEGA, Bd. 3 , S. " 9·)

37
Wir glauben, mit der Klärung dieses Moments auch die
Beantwortung der oben angeführten Fragen zu ermöglichen.
Vor allem setzen wir voraus, daß schon in den Manuskripten
für Marx das wesentlichste Moment und die Grundlage der Ent­
fremdung gerade die A rbeitsteilung bildete und daß die Ablei­
tung des Privateigentums aus der Entfremdung mit deren Ab­
leitung aus der Arbeitsteilung identisch war. Es ist bekannt,
daß Marx noch in der Deutschen Ideologie schreibt : »Übrigens
sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Aus­
drücke - in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit
dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in Bezug auf das Pro­
dukt der Tätigkeit ausgesagt wird. << (MEGA, Bd. 5, S. 2 2 . ) In
den Exzerpten beurteilt Marx die Arbeitsteilung als identisch
mit der Arbeitsteilung zwischen Kapitalist und Arbeiter, mit
der Trennung von Kapital und Arbeit. (Cf. MEGA, Abt. I,
Bd. 3, S. 5 39·)
Diese Voraussetzung kann auf den ersten Blick als grundlos
erscheinen, da Marx in den Manuskripten die Arbeitsteilung
an mehreren Stellen als Manifestation der Entfremdung be­
zeichnet. Es ist bekannt, daß Marx die Entfremdung an mehre­
ren Stellen auch als Manifestation des Privateigentums behan­
delt, und nur an oben zitierter entscheidender Stelle erhellt,
daß das ursprüngliche Verhältnis umgekehrt ist. Es ist nämlich
offenbar, daß seit dem Vorhandensein des Privateigentums
Entfremdung und Arbeitsteilung in Wechselwirkung zueinan­
der stehen und daß bei der Untersuchung irgendeiner konkre­
ten Erscheinung jede von den beiden primär sein kann ; zur Be­
leuchtung ihres wirklichen Verhältnisses kann es nur bei der
Frage der geschichtlichen Ausgestaltung kommen. In der Ver­
bindung von Privateigentum und Entfremdung hat Marx dies
an der zitierten Stelle klargelegt. Die Frage, wie die Entfrem­
dung entsteht, wirft er jedoch nur auf ; eine Antwort ist uns
nicht erhalten geblieben und wurde vielleicht gar nicht ge­
schrieben, das Manuskript bricht gerade zu Beginn der Behand­
lung dieses Problems ab. Gleichzeitig zeigt die Analyse des Be­
griffs der entfremdeten Arbeit klar, daß das entscheidende
Moment der Entfremdung, das Wesen des entfremdeten Ver­
hältnisses zur eigenen Tätigkeit, für Marx damals gerade die
Arbeitsteilung bildete. Besonders klar tritt dies in der Erörte­
rung hervor, die wir in den Exzerpten finden : >>In der Er-
werbsarbeit liegt : 1 . die Entfremdung und Zufälligkeit der Ar­
beit vom arbeitenden Subjekt ; 2. die Entfremdung und Zufäl­
ligkeit der Arbeit vom Gegenstand derselben ; 3· die Bestim­
mung des Arbeiters durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die
ihm aber fremd und ein Zwang sind, dem er sich aus egoistischem
Bedürfnis, aus Not unterwirft und die ftir ihn nur die Bedeu­
tung einer Quelle der Befriedigung für seine Notdurft, wie er
für sie nur als ein Sklave ihrer Bedürfnisse vorhanden ist ;
4 · daß dem Arbeiter die Erhaltung seiner individuellen Existenz
als Zweck seiner Tätigkeit erscheint und sein wirkliches Tun
ihm nur als Mittel gilt ; daß er sein Leben bestätigt, um Lebens­
mittel zu erwerben. « (MEGA, Bd. 3, S. 5 39.) Nur wenn wir auf
diese Weise das Verhältnis von Entfremdung und Arbeits­
teilung klären, wird das Ganze der Konzeption von Marx
verständlich. Nur unter Beachtung dessen kann vollständig be­
leuchtet werden, daß die Entfremdung nicht bloß das subjekti­
ve Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit dar­
stellt (er fühlt sich nicht »heimisch<< in seiner Arbeit, die
Arbeit ist nicht sein Selbstausdruck usw.), sondern ein objekti­
ver materiell-geschichtlicher Vorgang ist. Im frühen, primitiven
Stadium der Entwicklung ist das Individuum nur fähig (in
Gemeinschaft mit seinen Genossen) zu produzieren, was zur
Aufrechterhaltung seines Lebens notwendig ist und nicht mehr.
Ebendeshalb sind Individuum und Individuum, Gesellschaft
und Individuum identisch ; die Harmonie der Bedürfnisse und
der Fähigkeiten ist noch nicht zerrüttet. Im weiteren Verlaufe
führt die Entwicklung der Produktionstätigkeit dahin, daß
der Mensch fähig ist, mehr zu produzieren als zur Befriedigung
seiner allernotwendigsten Bedürfnisse nötig ist. Dies vermag
er jedoch nur dadurch zu vollbringen, daß sich seine Tätigkeit
vom Ganzen der Natur auf einen kleinen, engen Kreis der Na­
turerscheinungen und Gegenstände beschränkt (dies ist die Art,
wie die Arbeitsteilung innerhalb der individuellen Tätigkeit
charakterisiert wird.) Durch diese Ausgestaltung der Arbeits­
teilung als Entfremdung der gesellschaftlichen Tätigkeit wird
dem jungen Marx zufolge das Privateigentum oder wenigstens
dessen Vorbedingung zustande gebracht. Nur durch Aufhe­
bung des Privateigentums entstehen aufs neue Harmonie und
Identität von Mensch und Gesellschaft, und die Gesellschaft
selbst wandelt sich zu >>einer Person « (MEGA, Bd. 3, S. 5 5 8).
39
Wenn also Marx auch bei der Untersuchung der kapitalisti­
schen Gesellschaft das Prinzip verfolgt, daß man, von der
Tätigkeit des einzelnen Individuums (richtiger : von der Tä­
tigkeit des Arbeiters und von seinem Verhältnis zur eigenen
Tätigkeit) ausgehend, das Ganze der Gesellschaft zu verstehen
hat (siehe vorerwähnten methodologischen Individualismus) ,
so benützt er das Endergebnis, das » Ziel« der Entwicklung der
Gesellschaft als Maßstab zur Erkenntnis ihrer konkreten For­
men. Wir stehen hier also einem gewissen Überbleibsel der
kritisch-teleologischen Methode gegenüber.
Das hat wesentliche Auswirkungen auf das Ganze der in den
Manuskripten erscheinenden gesellschaftlich-geschichtsphiloso­
phischen Konzeptionen. Auf alle Details können wir hier nicht
eingehen, und diese sind für unser Thema auch ohne Belang. Es
sei bloß erwähnt, daß gerade der Begriff der »Entfremdung<<
sich als geeignetes Mittel erweist, für sämtliche allgemeinen Er­
scheinungen der kapitalistischen Gesellschaft kritische Erhel­
lung zu bieten ; völlig ungenügend ist jedoch der Begriff
der Entfremdung bei der Charakterisierung der spezifischen
Züge und Funktionen der einzelnen Sphären. Noch wichtiger
ist die Tatsache, daß die unrichtige Auffassung des Verhält­
nisses von Individuum und Gesellschaft Marx unfähig macht,
die materialistische Geschiehtsauffassung durchweg folgerichtig
zur Geltung zu bringen . Da aus der geschichtlichen Verände­
rung der Betätigung des einzelnen Individuums das Ganze der
gesellschaftlichen Entwicklung nicht abgeleitet werden kann, ist
Marx häufig gezwungen, was eigentlich geschichtliches Produkt
ist, als Fertiges vorauszusetzen . So erscheint an einzelnen Stel­
len (hauptsächlich in den Exzerpten) bei ihm noch die morali­
sierende Kritik des Kapitalismus und gleichzeitig die Ableitung
der Notwendigkeit der sozialistischen Gesellschaft aus dem >>kol­
lektiven<< Charakter des menschlichen Wesens. Bezeichnend ist
ferner, daß die Manuskripte ausgesprochen mit der Gegenüber­
stellung von tierischem und menschlichen Wesen operieren ; nir­
gends wird die Frage des Hervorgangs des zweiten aus dem
ersten aufgeworfen. Schließlich nimmt Marx die Produktions­
tätigkeit - obwohl er sie im allgemeinen als Vorgang zwei­
fachen Charakters und Ergebnisses, als Vorgang der Aneig­
nung und zugleich Vergegenständlichung der Fähigkeiten, als
die »Humanisierung der Natur<< und die »Naturalisierung des
Menschen« charakterisiert (siehe die Erörterung dieses Themas
im folgenden) - dort, wo er einzelne konkrete Fragen unter­
sucht, häufig einseitig nur als Vergegenständlichung schon vor­
handener Fähigkeiten und Eigenschaften zur Kenntnis.'4
All dies beweist die noch unüberwundene Wirkung der Feuer­
bachsehen Anthropologie. Gleichzeitig wäre es aber ein schwe­
rer Fehler, diese Tendenzen zu verallgemeinern - ihnen
gegenüber zeigen sich andere, in entgegengesetzter Richtung
wirkende, den späteren reifen Arbeiten zustrebende Tenden­
zen : den Menschen als Produkt seiner eigenen Arbeit aufzu­
fassen, die Notwendigkeit des Sozialismus aus den Entwick­
lungsgesetzen der kapitalistischen Gesellschaft abzuleiten, im
Zusammenhang damit die aktiv-geschichtliche Rolle der Arbei­
terklasse zu betonen. Dieses komplizierte Gemisch von vor­
wärtsweisenden und noch spekulativen Tendenzen bestimmt
den spezifischen Charakter der Manuskripte.
Die hier behandelte Konzeption des Verhältnisses von Indivi­
duum und Gesellschaft hinterließ bedeutende Spuren auch in
der erkenntnistheoretischen Auffassung von Marx. Dies kommt

1 4 Das Erscheinen gewisser metaphysischer Momente in der Geschichtsauf­


fassung von Marx ist (selbst zeitweilig) nicht das Ergebnis seiner Entwick­
lung zum Materialisten. Es handelt sich dabei darum, daß diese Züge nur
bis zu einem gewissen Grade klarer werden ; sie finden sich aber auch in den
früheren idealistischen Werken von Marx vor. Das ist kein Zufall. Diese
Züge erscheinen nämlich in viel größerem Maße in der Geschichtsphilosophie
von Hege!, deren radikale dialektische Beschaffenheit oft übertrieben wird.
Es ist wohl wahr, daß Hege! versucht hat, die geschichtliche Entwicklung aus
dem Gegensatz von Subjekt und Objekt, aus dessen dialektischer, geschicht­
licher Bewegung zu erklären. Doch unabhängig davon, daß Hege! voraus­
setzte, die ganze Entwicklung gehe auf der Seite des Subjekts als eine Be­
wußtseinsentwicklung vor sich (siehe die Phänomenologie), unabhängig auch
von dem wohlbekannten Gedanken des • Endes der Geschichte• muß darauf
hingewiesen werden, daß für ihn der sich geschichtlich wandelnde Gegensatz
von Subjekt und Objekt nur eine geschichtliche Ausdrucksform für jenen
übergeschichtlichen , ewigen Widerspruch, für jene Spaltung war, die die Na­
tur des Menschen charakterisiert. Der Mensch als geistiges Wesen ist der Aus­
druck einer allgemeinen, für sämtliche Menschen gemeinsamen kollektiven
Wesenheit und ist in dieser Relation identisch mit den anderen Menschen.
Gleichzeitig jedoch ist er als körperlicher, materieller Mensch vom anderen
vollständig verschieden, unzugänglich und undurchdringbar. Die ganze Kon­
zeption der Entfremdung ist von dieser idealistisch-metaphysischen Grund­
voraussetzung durchdrungen, und diese bestimmt das Faktum, daß die
Aufhebung der Entfremdung für Hege! immer mit der Liquidierung aller
Gegenständlichkeit, Stofflichkeit zusammenfällt.
unmittelbar zum Ausdruck im Kult der Sinnlichkeit, der An­
schauung (im vollständigen Gegensatz zu den früheren Arbei­
ten), den wir in den Pariser Manuskripten finden. Hier handelt
es sich nicht lediglich u � äußeren Feuerbachianismus. Wie Marx
voraussetzt, daß mit der Aufhebung der Entfremdung die phy­
sischen >>Wesenskräfte<< des Individuums die ganze Totalität
der gesellschaftlichen » Wesenskräfte<< potentiell umfassen wer­
den und das Individuum in seiner unmittelbaren Lebenstätig­
keit den ganzen Reichtum der Gesellschaft verwirklichen wird,
so setzt er auf geistiger Ebene voraus, daß das unmittelbar sinn­
liche Bewußtsein des Individuums den ganzen Reichtum des
gesellschaftlichen Bewußtseins umfassen und in sich aufnehmen
wird. In der Gesellschaft des Privateigentums, der Entfrem­
dung besteht der schärfste Gegensatz und der größte Abgrund
zwischen Praktischem und Theoretischem, zwischen Sinnlichem
und Gedanklichem. Das unmittelbare sinnlich-praktische Be­
wußtsein ist den rohesten physischen Bedürfnissen und der
Entfremdung aller Bedürfnisse - dem Bedürfnis nach Besitz
unterworfen. Ebendeshalb verliert das Objekt für dieses Be­
wußtsein sein spezifisches Wesen, seinen natürlichen Reichtum
und wird zu seinem Objekt nur als Mittel der Befriedigung
dieser Bedürfnisse. Anderseits löst sich das abstrakte Denken
sowohl von der Natur als auch von der menschlichen Tätigkeit ;
e s steht ihnen fremd gegenüber - und zwar nicht allein das
>>falsche«, spekulative Denken, sondern auch das theoretische
Verhältnis des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft. Al­
lerdings wurde die Naturwissenschaft »Zur Grundlage des wah­
ren menschlichen Lebens« - obwohl in entfremdeter Form -,
und dies war nur dadurch möglich, daß sie von der Natur wah­
res Wissen bot ; doch ist die Richtung der Naturwissenschaft
materialistisch und zugleich idealistisch (nach der damaligen
Terminologie von Marx) . Sie ist >>materialistisch«, weil sie der
Philosophie fremd gegenübersteht und unfähig ist, den Ganz­
heitscharakter des Lebens der Natur zu erfassen ; sie vermag
diese Totalität nur in Stücke zerteilt zu untersuchen, nicht aber
den Zusammenhang dieser Teile, um aus ihnen ein Ganzes zu­
stande zu bringen. Sie ist >>idealistisch«, weil sie sich von den
menschlichen Bedürfnissen, von der menschlichen Tätigkeit und
Sinnlichkeit gelöst hat ; dem Selbstbewußtsein des empirischen
Individuums entfremdet, existiert sie als gesonderte, für Un-
eingeweihte unverständliche und geheimnisvolle Sphäre. Diese
Verselbständigung des abstrakten Denkens ist die Folge der
Entfremdung. >>Das Positive, was Hegel hier vollbracht hat ­
in seiner spekulativen Logik - ist, daß die bestimmten Begriffe,
die allgemeinen fixen Denkformen in ihrer Selbständigkeit ge­
gen Natur und Geist ein notwendiges Resultat der allgemeinen
Entfremdung des menschlichen Wesens, also auch des mensch­
lichen Denkens sind [ . . . ] << (MEGA, Bd. 3, S. 1 68).
Der Kommunismus verwandelt mit der Aufhebung der Ent­
fremdung sowohl die abstrakte Wissenschaft als auch die ab­
strakte Sinnlichkeit in menschliche Wissenschaft und mensch­
liche Sinnlichkeit. Die Wissenschaft wird nicht mehr eine dem
Individuum gegenüberstehende, von ihm unabhängige und
fremde Sphäre sein - sie schöpft ihren Ursprung aus dem sinn­
lichen Bewußtsein und aus dem Bedürfnis und kehrt auch zu
ihnen, sie bereichernd, zurück. Die Selbständigkeit der Wissen­
schaft wird nur relativ und vorübergehend, nur ein Moment in
der Einheit der Sinnlichkeit und des Denkens sein. Die Sinnlich­
keit verliert ihre enge, egoistisch-praktische Eigenschaft. Indem
sie sich durch die Gattungsbetätigung der Menschheit, irrfolge
der Entwicklung ihrer wahren Praxis, der Produktion und der
Wissenschaft ständig bereichert, die Ergebnisse dieser Entwick­
lung ständig assimiliert, >>menschlich<<, das heißt >>natürlich<< zu
sehen, zu hören usw. lernt, wird die Anschauung gerade dieser
geschichtlichen Vermittlung zufolge fähig, das Objekt unmit­
telbar in der Fülle seiner eigenen Bestimmungen, in seiner spe­
zifischen Eigenschaft und gleichzeitig in seinen Zusammen­
hängen mit dem Ganzen, die Natur in ihrer Wahrheit zu
erfassen . ' 5
1 5 »Die Sinnlichkeit (siehe Feuerbach) muß die Basis aller Wissenschaft sein.
Nur, wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt, sowohl des sinnlichen
Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses ausgeht - also nur wenn die
Wissenschaft von der Natur ausgeht - ist sie wirkliche Wissenschaft. Damit
der • M ensch• zum Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und das Bedürfnis
des >Menschen als Menschen< zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze
Geschichte die Vorbereitungsgeschichte.« (MEGA, Bd. J, S. 1 2 3 .)
» Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Welt­
geschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die mensch­
liche Arbeit, [ . . . ] so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis
von seiner Geburt durch sich selbst [ . . . ] Indem die Wesenhaftigkeit des
Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein
der Natur, und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen prak-

43
Es mag paradox erscheinen, daß Marx gerade in dieser Arbeit,
in der er sich - hinsichtlich des Ganzen seiner Weltanschau­
ung - entschieden von Feuerbach entfernt und mit der Neube­
wertung der menschlichen Praxis eine materialistische Philoso­
phie von grundlegend neuem Typ hervorbringt, in einzelnen,
nicht unwesentlichen soziologisch-erkenntnistheoretischen Fra­
gen sich der Feuerbachsehen Auffassung nähert. Die Khnlich­
keit der beiden Auffassungen darf jedoch nicht übertrieben
werden. Der Gegensatz in den Grundfragen zeigt sich auch
hier und verleiht selbst den Berührungspunkten und Khn­
lichkeiten einen entschieden abweichenden Inhalt. Wir dürfen
nicht vergessen, daß Feuerbach niemals fähig war, die Gründe
der Entfremdung des Bewußtseins befriedigend und eindeutig
zu klären, und obwohl seine Philosophie in dieser Hinsicht bei
weitem nicht frei von Widersprüchen ist, betrachtete er die
Entfremdung des Bewußtseins letzten Endes als autonom und
primär. Die Verwirklichung des »Himmels auf Erden « erwar­
tete Feuerbach von der Reform des Bewußtseins, während
Marx von der >>praktischen Entfremdung«, von der Entfrem­
dung der Arbeit ausgeht und der Meinung ist, daß nur eine die
Entfremdung vernichtende kommunistische Revolution die
grundlegende Knderung des Bewußtseins mit sich bringen kann.
Dieser Gegensatz der beiden Denker geht sehr klar aus ihrem
Verhältnis zur Dialektik und innerhalb dieser zur Negation
hervor, Feuerbachs Verhältnis zur Dialektik, als zur rationali­
sierten Form der Theologie, als zu einem entfremdeten Den­
ken, ist eindeutig negativ. Für Marx hingegen ist, im Gegensatz
zu Feuerbach, das dialektische Denken der notwendige Aus­
druck und das Produkt der Entfremdung des materialistisch­
gesellschaftlichen Lebens, deren Spiegelbild. Und obwohl Marx
in den Manuskripten voraussetzt, daß die Dialektik (im Sinne
der Methode), wie im allgemeinen jedes Vermitteltsein, in
emer Gesellschaft unnötig wird, in der die Entfremdung auf-
tisch, sinnlich anschaubar geworden ist [ . . . ] • (MEGA, Bd. J, S. 1 2 5 .)
•Die abstrakte Feindschaft zwischen Sinn und Geist ist notwendig, so lang
der menschliche Sinn für die Natur, der menschliche Sinn der Natur, also
auch der natürliche Sinn des Menschen, noch nicht durch die eigne Art des
Menschen produziert ist. • (MEGA, Bd. J, S. I J 3-I 34·l Eben deshalb tritt
der Kommunismus als Lösung und Aufhebung der Gegensätze von Praxis
und Theorie, Wesen und Existenz, Tätigkeit und Leiden usw. auf. (Cf.
MEGA, Bd. 3, S. 1 2 1 .)

44
gehoben ist, hält er gleichzeitig die Dialektik für die einzig
richtige Methode der Erkenntnis innerhalb der entfremdeten
Gesellschaft. Das dialektische Denken - ist entfremdetes Den­
ken, zugleich aber auch ein Denken, das fähig ist (und es allein
ist fähig), den entfremdeten Charakter der Gesellschaft und
seiner selbst zu erschließen. Die Dialektik ist die Logik der
noch nicht menschlich gewordenen, aber menschlich werdenden
Geschichte. 16
(Diese Feststellung rechtfertigt natürlich bei weitem nicht den
Satz der bürgerlichen Philosophiehistoriker [Kojeve, Calvez ] ,
daß i n der Auffassung des jungen Marx der Gegenstand der
Dialektik das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt in der
entfremdeten Gesellschaft ist. In dieser Frage müssen wir zwi­
schen objektiver und subjektiver Dialektik einen klaren Unter­
schied machen. Marx hat von seinen frühesten Werken an die
dialektische Entwicklungskonzeption, die objektiven Gesetze
der Dialektik sowohl auf die Natur als auch auf die Gesell­
schaft ausgedehnt. Hierfür erbringt zum Beispiel Garaudy klare
Beweise im Zusammenhang mit den ökonomisch-philosophi­
schen Manuskripten. Gleichzeitig vertritt Marx - wie wir dies
oben zu belegen suchten - in diesem Werk ausdrücklich die An­
schauung, daß das Erkennen dieser objektiven Dialektik in der
sozialistischen Gesellschaft - als Folge des dialektischen Vor­
ganges der historischen Vermittlung - unmittelbar, in der kul­
tivierten Sinnlichkeit, in der Anschauung des sozialistischen
Menschen sich verwirklichen kann.)
Die weitere Entwicklung von Marx wollen wir nicht detailliert
erörtern. Die Untersuchung de� konkreten gesellschaftlich­
historischen Erscheinungen entfernt Marx immer mehr von der
hier eingehend geschilderten Konzeption. Dabei widmet er im-
I6 » Feuerbach faßt also die Negation der Negation nur als Widerspruch
der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie
(Transzendenz etc.) bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Ge­
gen.atz zu sich selbst bejaht. [ . . . ]
Aber indem Hege! die Negation der Negation - der positiven Beziehung
nach, die in ihr liegt, als das wahrhaft und einzig Positive - der negativen
Beziehung nach, die in ihr liegt, als den einzig wahren Akt und Selbstbetä­
tigungsakt alles Seins - aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen,
spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch
nicht die wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Sub­
jekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist.«
(MEGA, Bd. J , s. I p-I 5 3 ·)

45
mer mehr Aufmerksamkeit der inneren Gliederung der Gesell­
schaft, der Unterstützung der gesellschaftlichen Verhältnisse,
die im Pariser Manuskript noch in sehr abstrakter Form erschie­
nen waren. Die Erkenntnis der Bedeutung der Klassenverhält­
nisse, ihre eingehende Analyse, bringen Marx zu der Überzeu­
gung, daß die komplizierte Gliederung der Gesellschaft nicht
aus der Analyse der Tätigkeit des einzelnen Individuums abge­
leitet werden kann, da diese letztere gerade durch die gesell­
schaftliche Struktur determiniert ist. In ähnlicher Richtung
dürfte auch die Erkenntnis gewirkt haben, die mit großem Ge­
wicht im Elend der Philosophie erscheint, daß nämlich die die
Produktion bestimmenden gesellschaftlichen Bedürfnisse nicht
auf die unmittelbaren Bedürfnisse der einzelnen Individuen
zurückgeführt werden können, sondern das Rückgrat der inne­
ren Bedürfnisse der Produktion als eines einheitlichen gesell­
schaftlichen Organismus bilden. Jedenfalls ist es Tatsache, daß
die Anschauung von Marx über das Verhältnis vom Indivi­
duum und Gesellschaft eine wesentliche .Anderung erfährt. In
der Deutschen Ideologie ist er nicht mehr bestrebt, aus dem
Verhältnis des Individuums zur eigenen Tätigkeit die gesell­
schaftlichen Verhältnisse zu verstehen, sondern er betrachtet
umgekehrt die letzteren als primär den ersteren gegenüber.
Dies drücken in klassischer Form die Feuerbach-Thesen aus :
»In seiner Wirklichkeit ist es (das menschliche Wesen - Bemer­
kung des Verfassers) das ensemble der gesellschaftlichen Ver­
hältnisse.<< (MEGA, Bd. 5, S. 5 3 5 .) All dies bedeutet natürlich
nicht die Wiederherstellung der idealistischen Hegeischen Ge­
sellschaftsauffassung, sondern lediglich, daß das Individuum
als menschliches Individuum nur innerhalb der menschlichen
Gesellschaft, in einem seiner Existenz vorhergehenden und von
dieser unabhängig ausgestalteten, aus realen menschlichen In­
dividuen bestehenden Ganzen existieren kann. Diese Gesell­
schaft ist mit ihren materiellen und geistigen Zügen für das In­
dividuum gegeben, es wird nur hineingeboren. Was aus ihm
wird, wie es leben und handeln wird, wird von diesen von
vornherein gegebenen materiellen und geistigen Zügen in ent­
scheidendem Maße bestimmt (also eigentlich - von der Tätig­
keit und Lebensweise der übrigen von ihm unabhängig exi­
stierenden Individuen und von der materiellen Umgebung,
welche durch die Tätigkeit der ebenfalls von ihm unabhängig
46
gewesenen vorangegangenen Generation ausgestaltet wurde) .
Seine Handlungen ändern natürlich die in weitem Sinne auf­
zufassende Umgebung; die Möglichkeiten und Grenzen dieser
Handlungen werden jedoch in engeren oder weiteren Grenzen,
von dieser Umgebung selbst bestimmt.
Diese Auffassung widerspricht also durchaus nicht der Tat­
sache, daß der Mensch durch seine eigene, in erster Linie
materielle Tätigkeit sich selbst und seine eigene Geschichte
gestaltet. Nur geht Marx nun bei der Untersuchung der ge­
schichtlichen Entwicklung nicht mehr von der unmittelbar
individuellen, in actu verstandene Tätigkeit, sondern von der
im gesamtgesellschaftlichen Rahmen stattfindenden Vergegen­
ständlichung dieser Tätigkeit, von den Produktionsmitteln als
primären und bestimmenden Faktoren aus. Das ist eine allbe­
kannte Tatsache, die zu interpretieren oder detailliert zu erör­
tern sich erübrigt.
Allmählich, wenngleich langsamer, ändert sich die Auffassung
von Marx auch bezüglich der Arbeitsteilung und der Verbin­
dung zwischen Arbeitsteilung und Privateigentum. Es sei nur
erwähnt, daß zum Beispiel in der Schrift Zur Kritik der poli­
tischen Ökonomie die Arbeitsteilung schon als der von der
materiellen Seite betrachtete, als Gebrauchswerte hervorbrin­
gende allgemeine Zustand der gesellschaftlichen Arbeit er­
scheint. Auf die detaillierte Untersuchung dieser Frage können
wir jedoch hier nicht eingehen.
Was die erkenntnistheoretischen Ansichten von Marx betrifft,
so wollen wir deren Entwicklung erst dann besprechen, wenn
wir die gnoseologische Konzeption der Manuskripte über die
bereits erwähnten Teilaspekte hinaus in ihrer Ganzheit und in
ihren Zusammenhängen untersucht haben.'?

1 7 B e i dieser weiteren Untersuchung werden w i r u n s hinsichtlich d e r in den


Manuskripten enthaltenen widersprüchlichen Tendenzen bei der Interpreta­
tion in erster Linie auf die vorausweisenden stützen ; die Manuskripte selbst
betrachten wir aus der etwas späteren Perspektive des reifen Marx.

47
Die Arbeit und die Universalität des Menschen

Die Bedeutung der ökonomisch-philosophischen Manuskripte


für die marxistische Erkenntnistheorie besteht vor allem darin,
daß sich die konkreten gnoseologischen Fragestellungen hier
mit der eingehenden philosophischen Untersuchung des Sub­
jekts der Erkenntnis, des Menschen, paaren und einen aus­
reichenden philosophisch-anthropologischen Unterbau besit­
zen, wenngleich von dieser Anthropologie im besten Falle nur
unter Anführungszeichen gesprochen werden kann, da das
einzige Ergebnis der Untersuchung des menschlichen >>Wesens<<,
dem Grundgedanken von Marx nach nur der Beweis sein kann,
daß ein solches im absoluten, übergeschichtlichen Sinn aufgefaß­
tes menschliches Wesen nicht existiert. Marx ist jedoch bestrebt,
die Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen der Entwicklung des
sich geschichtlich verändernden Menschen zu beleuchten und
baut seine erkenntnistheoretischen Schlüsse auf diese auf. Letz­
tere sind ohne die ersteren unverständlich. Unter diesem Ge­
sichtspunkt verdient die Auffassung von Marx von der Uni­
versalität des Menschen besondere Beachtung.
Der Mensch ist wie jede andere Tierart ein bestimmtes und
beschränktes Produkt der Natur ; er ist jedoch fähig, sich über
diese Schranken zu erheben, das Ganze der Natur seiner eige­
nen Macht unterzuordnen, zu seinem eigenen >>anorganischen
Körper<< zu machen, und gerade hierin � nterscheidet er sich
vom Tier. Das Tier ist bloß eine >>Art« (species) ; es gehört im­
mer einer >>Gattung<< an, während der Mensch >>Gattung<< ist,
dem jede Naturerscheinung als >>Art<< angehört. Die Ursache
der Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier ist im Unter­
schied ihrer Lebenstätigkeit zu suchen. ' 8
Das Tier ist, gleich dem Menschen, nur durch seine eigene Akti­
vität fähig, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Seine Tätigkeit
richtet sich darauf, daß es den Gegenstand des Bedürfnisses er­
fasse und entsprechend verbrauche, das heißt >>verzehre<< . Diese
Tätigkeit fällt unmittelbar mit der aktiven Befriedigung der

r8 Selbstverständlich ist die Lebenstätigkeit des Menschen genetisch aus der


biologischen Lebenstätigkeit des Tieres hervorgegangen. Der Unterschied
zwischen beiden darf schon aus diesem Grunde nicht verabsolutiert werden.
Im weiteren werden wir jedoch nur jene Momente behandeln, die ihren
relativen Gegensatz bestimmen.
gegebenen Bedürfnisse zusammen. Diese bestimmen die Be­
schaffenheit des Tieres als beschränktes Naturwesen. Das Tier
ist beschränkt, da es nur einen relativ kleinen, mehr oder weni­
ger scharf umgrenzten Kreis von Naturgegenständen zum Ob­
jekt seiner Tätigkeit und seines Lebens zu machen fähig ist, nur
jene Objekte, deren physikalische, chemische usw. Eigenschaf­
ten die das Wesen seiner Spezies bildenden ständigen, ererbten
Bedürfnisse befriedigen. Wenn diese objektiven Bedingungen
fehlen, geht es zugrunde. Wenn auch die Lebenstätigkeit des
Tieres beschränkt ist, so doch nicht primär in dem Sinn, daß
sein Verhalten unbedingt stereotyp und starr ist - können
doch in gewissen Fällen infolge individueller Anpassung an das
gegebene Milieu auch vollständig neue Verhaltensformen zu­
stande kommen -, sondern in dem Sinn, daß sowohl das Ziel
als auch die einfachen Elemente der Verwirklichung der tieri­
schen Tätigkeit, die elementaren >> Fähigkeiten<< des Tieres de­
terminiert, mit seinem Sein gegeben und im wesentlichen un­
veränderlich sind. Demnach sind also auch jene natürlichen
Zusammenhänge, die das Tier für sein eigenes Verhalten in der
Wirklichkeit nutzbar zu machen, in seine Tätigkeit >>einzu­
bauen<< fähig ist, von verhältnismäßig beschränkter Zahl und
prinzipiell vorausbestimmt. Zwar wird die Tätigkeit des Tie­
res durch die Verhaltensformen der Art niemals erschöpft. Im
Verlaufe seiner eigenen Entwicklung werden diese von einem
mehr oder weniger entwickelten Netz von individuellen An­
passungen, Gewohnheiten usw. überzogen, denen jedoch durch
den biologisch-physiologischen Organismus immer bestimmte
Grenzen gesetzt sind.'9
1 9 •Das praktisdie Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung
der unorganisdien Natur ist die Bewährung des Mensdien als eines bewußten
Gattungswesens, d . h . eines Wesens, das sidi zu der Gattung als seinem
eignen Wesen oder zu sidi als Gattungswesen verhält. Zwar produziert audi
das Tier. Es baut sidi ein Nest, Wohnungen, wie die Biene, Biber, Ameise
etc. Allein es produziert nur, was es unmittelbar für sidi oder sein Junges
bedarf; es produziert einseitig, während der Mensdi universell produziert ;
es produziert nur unter der Herrsdiaft des unmittelbaren physisdien Be­
dürfnisses, während der Mensdi selbst frei von physisdien Bedürfnissen
produziert und erst wahrhaft produziert in der Freiheit von denselben ; es
produziert nur sidi selbst, während der Mensdi die ganze Natur reprodu­
ziert ; sein Produkt gehört unmittelbar zu seinem physisdien Leib, während
der Mensdi frei seinem Produkt gegenübertritt. Das Tier formiert nur nadi
dem Maß und dem Bedürfnis der species [ . . . ] .• (MEGA, Bd. 3, S. 8 8 . )

49
Diese beschränkte, unmittelbare Betätigung bestimmt auch die
>>Erkenntnis<<, die Orientierungstätigkeit des Tieres : >> [ . . . ] das
Tier verhält sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier
existiert sein Verhältnis zu andern nicht als Verhältnis. <<
(MEGA, Bd. 5 , S. 20.) Da das >>Ziel <<, das Motiv des Handeins
des Tieres (das, was es zum Handeln antreibt) mit dem Gegen­
stande der Handlung zusammenfällt (mit dem, worauf sich die
Handlung richtet), tritt für das Tier der Gegenstand niemals
in seiner Objektivität, vom Bedürfnis unabhängig auf, sondern
ist immer mit diesem Bedürfnis verschmolzen. Für das Tier gibt
es keine von seinen Bedürfnissen unabhängige Welt als Objekt,
und das Tier selbst existiert auch nicht als von seinem Gegen­
stand unabhängiges Subjekt. Anderseits >>nimmt<< das Tier in
Wirklichkeit nur so viel von seinem Gegenstand >>wahr<<, wie
zur Befriedigung seiner Bedürfnisse notwendig ist, so viel, wie
mit diesen verbunden ist. Infolgedessen ist jene Struktur
der Welt, die im >>Kopf<< des Menschen »existiert<<, nicht bloß
ärmer oder reicher als die im Kopf eines Tieres, nicht bloß ab­
weichend und verschieden. Der entscheidende Unterschied be­
steht darin, daß es für das Tier keine so beständige Struktur
und Artikulation gibt wie für den Menschen. Wenn der gleiche
Gegenstand in verschiedenen Lagen in Verbindung mit ver­
schiedenen Bedürfnissen erscheint, verliert er für das Tier seine
Identität, und dadurch wird es unfähig, auf ihn in derselben
Weise zu reagieren, auch wenn diese Reaktion völlig adäquat
und erfolgreich wäre. Obwohl die Welt auch für das Tier in
jedem Augenblick artikuliert ist, ist es doch nicht gegenständ­
lich artikulierten Wesens.
Das Spezifikum des menschlichen Bewußtseins und der mensch­
lichen Erkenntnis kann nur anhand der eigenartigen Beschaf­
fenheit der menschlichen Lebenstätigkeit beleuchtet werden.
Diese menschliche Lebenstätigkeit ist die Arbeit.>0
20 Eine der bezeichnendsten theoretisch-philosophischen Verzerrungen der
bürgerlichen und revisionistischen Marx-Interpretationen besteht darin, daß
diese den Anschein erwecken wollen, als ob Marx bei seinen philosophischen
Untersuchungen vom Menschen als einem mit biologischen Bedürfnissen be­
hafteten Wesen ausgegangen wäre, und daß dies das Wesen und das Novum
seiner Auffassung gebildet hätte. Einmütig behaupten dies z . B. Calvez und
Kolakowski. » Der Mensch ist ein natürliches Wesen, wie auch die Natur
nichts anderes darstellt, als den Vorgang der Humanisation . In diesem ele­
mentaren Verhältnis, das das ganze dialektische Sein beherrscht, erscheint

50
Die Arbeit ist aber eine Tätigkeit, die sich nicht unmittelbar,
sondern nur durch Vermittlung auf die Befriedigung des Be­
dürfnisses richtet. »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen
Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoff­
wechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt
und kontrolliert<< - schreibt Marx im Kapital (Berlin I 95 3 ,
B d . I, S. 1 8 5 ) . Diese Vermittlung erscheint I . als Arbeitsmittel,
das der Mensch zwischen sich und den Gegenstand seines Be­
dürfnisses schiebt ; 2 . als vermittelnde Tätigkeit, die Arbeit
selbst, die der Benutzung des Gegenstandes vorausgeht und
diese ermöglicht. Demzufolge ändert sich das allgemeine Ver­
hältnis der Tätigkeit zur Natur. Das Ergebnis der Tätigkeit
des Tieres besteht im Verzehren, in der Vernichtung einzelner
Gegenstände der Natur und in der unmittelbaren Anpassung
anderer Gegenstände an seinen eigenen Körper. Obwohl das
der Mensch als >Bedürfniswesen< , als Komplex der der Natur zustrebenden
Bedürfnisse, während die Natur das Element der Befriedigung dieser Be­
dürfnisse ist . « (Calvez, La pensee de Kar! Marx. E. du Seuil. 1 9 5 6 . S. 3 8o.)
» Die Anwesenheit dieses Bedürfnisses im Menschen ist die Anwesenheit einer
substantiellen Kraft, einer fundamentalen, den Menschen bildenden Absicht­
lichkeit, die Anwesenheit eines ihm angeborenen Dynamismus, der sein We­
sen aufrechterhält. « (Ebd. S. 3 84.) • Der Ausgangspunkt der ganzen erkennt­
nistheoretischen Reflexion von Marx besteht in d·er Überzeugung, daß das
Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung nichts anderes ist
als das Verhältnis zwischen der Art und den Gegenständen seiner Bedürf­
nisse. « (Kolakowski, Studia Filozoficzne, 1 9 5 9, 2, S. 47.)
Marx betont wahrlich sowohl in den Manuskripten als auch in der Deutschen
Ideologie, daß der Ausgangspunkt der Geschichtsbetrachtung nur der mit
den realen, materiell-natürlichen Bedürfnissen behaftete Mensch sein kann,
dessen Tätigkeit sich auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse richtet. Doch
würden wir vom menschlichen Charakter dieser Bedürfnisse abstrahieren,
wenn wir nicht beachteten, daß diese nur als durch die materielle Produk­
tionstätigkeit des Menschen hervorgebracht aufgefaßt werden können und in
der menschlichen Arbeit, durch Arbeit zustande kommen . (• [ . . . ] daß das
befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon
erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt - und
diese Erzeugung neuer Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat.• (MEGA,
Bd . 5, S. 1 8 .) Wenn wir dieses geschichtliche Determiniertsein der mensch­
lichen Bedürfnisse aus den Augen verlieren, sie als primär und absolut be­
handeln, so biologisieren oder zumindest anthropologisieren wir die Ansich­
ten von Marx. Er faßte das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nicht als
das zwischen der Art und dem Gegenstand ihrer Bedürfnisse (wie dies Kola­
kowski behauptet) - dies trifft gerade auf das Tier zu - sondern er legte
dieses Verhältnis als Verhältnis zwischen der Gattung und der durch ihre
Produktionstätigkeit geschaffenen Objekte aus. Laut Marx bildet die Arbeit
das »Wesen • des Menschen.
letzte Ziel auch der menschlichen Produktionstätigkeit der
Verbrauch ist, entstehen - vor allem dadurch, daß diese Akti­
vität, abgesehen von den primitivsten Anfängen, keinen fertig
vorgefundenen Naturgegenstand, sondern einen ebenfalls be­
arbeiteten als Arbeitsgerät voraussetzt - aus dem Arbeitsvor­
gang ständig Gegenstände, wodurch die Umgebung des Men­
schen sich allmählich verändert. Die »natürliche« Umgebung
wird zur >>Kulturumgebung<< - sie ist das Ergebnis einer frühe­
ren Arbeitstätigkeit - einer Umgebung, in der menschliche
Fähigkeiten und Bedürfnisse zu Gegenständen wurden. Nur
dadurch, daß der Mensch in einer solchen menschlich geworde­
nen Welt lebt; daß die in der Vergangenheit entfalteten mensch­
lichen Fähigkeiten und Bedürfnisse in ihrer Gegenständlichkeit
schon an seiner Wiege stehen und er über das Ergebnis der
ganzen vorausgegangenen gesellschaftlichen Entwicklung in
materieller Form verfügt, wird es möglich, daß er die Ent­
wicklung nicht von vorn, sondern dort beginnt, wo die voran­
gegangenen Generationen ihre Tätigkeit beendeten. Nur die
Arbeit als die Vergegenständlichung2' des menschlichen We­
sens gestaltet überhaupt die Möglichkeit von Geschichte.
zr Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß einige der Marx-Interpre­
tationen unter an derem dadurch bei der Auslegung des jungen Marx und
hauptsächlich der Manuskripte Verwirrung hervorrufen, daß sie ganz unbe­
rechtigt, von Hege! ausgehend, den Ausdruck • Vergegenständlichung• mit
dem Ausdruck •Entfremdung• (oder, ähnlich, mit »Entäußerung•) identi­
fizieren . (Als neues Beispiel könn ten wir den Aufsatz von Lucien Goldmann
über Vergegenständlichung in Les Temps Modernes, 1 9 5 9 , Nr. 2-3 , oder
die schon öfters erwähnte Arbeit von Kolakowski anführen .) Marx hinge­
gen unterscheidet in den Manusk ripten die beiden Begriffe äußerst scharf
voneinander : • Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem
Gegenstand fi xiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der
Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese
Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand
als Entwirklichung des Arbei ters, die Vergegenständlichung als Verlust und
Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Ent­
äußerung.• (MEGA, Abt. 1, Bd. J, S. 8 3 . ) Erst später beginnt Marx i n der
Deutschen Ideologie diese beiden Begriffe als gleichbedeutend zu gebrauchen .
Dem ist noch hinzuzufügen, daß an einzelnen Stellen der Grundrisse die
erwähnte Unterscheidung von neuem auftritt.
Die Identifizierung dieser beiden Begriffe kommt deshalb so häufig vor, weil
dieser einfache Kunstgriff die Möglichkeit dafür bietet, daß einzelne bürger­
liche Ideologen den Begriff der Entfremdung als ewige Kategorie, als un­
trennbares Charakteristikum der menschlichen Tätigkeit darstellen und
interpretieren können.
Wir wollen nun die Ergebnisse und Folgen dieser speziellen
menschlichen Tätigkeit zuerst von der objektiven, dann von
der subjektiven Seite untersuchen.
I . Dadurch, daß sich die menschliche Tätigkeit nicht unmittel­
bar auf die Befriedigung des Bedürfnisses richtet, nimmt der
Kreis der Gegenstände zu, die als Objekt der Tätigkeit dienen
können. Einerseits wächst dadurch, daß der Mensch die Gegen­
stände in umgewandelter Form benutzt, die Zahl jener Gegen­
stände, die seine Bedürfnisse befriedigen. Anderseits werden
Gegenstände, die zur Befriedigung des unmittelbaren Bedürf­
nisses nicht geeignet sind, als Mittel der Arbeitstätigkeit not­
wendig. Damit wird der Kreis der Naturerscheinungen, auf
den sich die Tätigkeit des Menschen zu richten vermag, ständig
größer und im Prinzip universell. >>Die Universalität des Men­
schen erscheint praktisch eben in der Universalität, die die
ganze Natur zu seinem anorganischen Körper macht, sowohl
insofern sie I ) ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie
2 ) die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner
Lebenstätigkeit ist. « (MEGA, Bd. 3 , S. 8 7.) Der Mensch ist fä­
hig, sämtliche Gegenstände der Natur in Gegenstände seiner
Tätigkeit umzuwandeln, in seine Tätigkeit einzubeziehen.
2. Das Hervorbringen eines Gegenstandes erscheint bei Marx
als dessen Vermenschlichung. Diese Definition allein ist noch
einseitig. Die Vergegenständlichung des Menschen bedeutet zu­
gleich die Aneignung des Gegenstandes. Diese Aneignung ist
nicht bloß in dem Sinn zu verstehen, daß infolge der Tätig­
keit die Benutzung des Gegenstandes möglich wird ; die Aneig­
nung des Gegenstandes bedeutet zugleich die Aneignung der
gegenständlich gewordenen menschlichen W esenskrafl:. Der
Mensch entwickelt seine Fähigkeiten nur dadurch, daß er sie
vergegenständlicht. Die geschichtlich erste Schaffung des Ge­
genstandes erfolgt niemals auf adäquate Weise und ist immer
- mehr oder weniger - »glücklichen Umständen << zu verdan­
ken, einem Zusammenspiel der Ereignisse, das in relativ reiner
Form die objektiven Zusammenhänge erschließt, mit deren
Hilfe der Gegenstand auch auf Grund der bestehenden unvoll­
kommenen Fähigkeiten geschaffen werden kann. (Natürlich
kann dieser »Zufall« ohne jedes menschliche Eingreifen zu­
stande kommen, aber gleichzeitig, auf höherem Niveau, auch
als Ergebnis aktiver menschlicher Forschungstätigkeit.) Nur
53
das Zustandebringen des Gegenstandes und die Wiederholung
dieses Zustandebringens befähigen den Menschen, diese Tätig­
keit auch unter weniger günstigen Umständen zu verrichten,
und hierdurch gestaltet sich die gegenständliche Fähigkeit zu
einem Ganzen aus. 22
Dieser Vorgang der Aneignung tritt im Laufe der Ontogenese
ebenfalls auf. Für das Kind ist die menschliche Umgebung ge­
geben, die Gegenstände jedoch sind in ihrer menschlichen
Eigenschaft nicht gegeben. Als menschliche Gegenstände sind sie
nur aufgegeben, als Aufgabe gestellt. Damit das Kind sich zu
diesen Gegenständen als zur Vergegenständlichung der mensch­
lichen Wesenskräfte zu verhalten und sie auf menschliche Weise
zu benutzen vermag, muß es die gleichen Fähigkeiten und We­
senskräfte auch in sich entwickeln. Das ist natürlich in diesem
Falle kein spontaner Vorgang mehr und verwirklicht sich nur
durch die Vermittlung der Erwachsenen, also der Gesellschaft ;
eben deshalb kann sich der Vorgang i n s o unglaublich kurzer
Zeit abspielen. 2 3
Worin besteht nun der objektive Inhalt der angeeigneten Fä­
higkeit? Die Fähigkeit zur Herstellung irgendeines Gegenstan­
des bedeutet, sich eine Tätigkeitsform anzueignen, die das
Mittel und den Gegenstand in die zur Verwirklichung des ge­
wünschten Zieles notwendige Verbindung bringt. Die Fähig­
keit erscheint also als Transposition gewisser objektiver
Zusammenhänge, Wechselwirkungen in subjektive Tätigkeit.
Diese subjektive Tätigkeit entspricht natürlicherweise den
Funktionsgesetzen des menschlichen Organismus, der mensch­
lichen Organe. Die Entwicklung der Fähigkeiten bedeutet, daß
2 2 In sehr primitiven Formen können wir dies auch bei den Tieren wahr­
nehmen. Dazu, daß der Affe zum Erreichen der Nahrung den Stock ge­
braucht, ist es notwendig, daß Nahrung und Stock sich im gleichen Blickfeld,
möglichst nahe beieinander, befinden. Später wird das Tier den Stock aktiv
suchen usw. Das Wesentliche beim Tier ist jedoch, daß diese Fähigkeiten bei
ihm niemals in Form eines wahrhaft: gegenständlichen, von seiner Existenz
unabhängigen, von ihm hergestellten Mittels erscheinen, und so verliert sich
die individuelle Erfahrung bei jeder Gelegenheit und wird an die übrigen
Tiere nicht weitergegeben.
2 3 Dieser Aspekt der Aneignung wurde vor kurzem von dem berühmten
sowjetischen Psychologen Leontjew eingehend beleuchtet. Cf. seine Studie
Der historische Aspekt bei der Untersuchung der menschlichen Psyche, in :
Ergebnisse der sowjetischen Psychologie, herausgegeben von Hans Hiebsch,
Berlin 1 967.

54
der Mensch in seinem Verhalten fähig wird, auch solche Natur­
gesetzmäßigkeiten zu verwerten, die nicht die Gesetzmäßigkei­
ten seiner biologischen, physiologischen usw. Natur sind, ohne
daß er die letzteren verändern würde. In diesem Sinne spricht
Marx davon, daß der wirkliche, körperliche Mensch alle Na­
turkräfte in sich ein- und ausatmet. (Cf. MEGA, Bd. 3, S. 16o.)
Der Mensch ist fähig, sämtliche Zusammenhänge, Gesetze der
Natur zum Gesetz, zum Prinzip seiner eigenen Tätigkeit zu er­
heben.
3 · Schließlich ist, wenn auch für jeden individuellen Akt der
menschlichen Tätigkeit Ziel und Bedürfnis als Vorbedingung
gegeben sind, das Verhältnis im gesamtgeschichtlichen Vorgang
umgekehrt. Der Mensch, als biologisches Wesen, hat natürlich
bestimmte ständige Bedürfnisse. Jedoch kann die menschliche
Arbeitstätigkeit nicht als auf die Befriedigung dieser ewigen
und unveränderlichen Bedürfnisse gerichtete Tätigkeit auf­
gefaßt werden. Die Bedürfnisse, die die Produktion in Wirk­
lichkeit determinieren, sind nicht diese in ihrer natürlichen
Derbheit genommenen Bedürfnisse - sie werden von der Pro­
duktion selbst hervorgerufen. Nur der durch den Menschen
hergestellte Gegenstand bringt das kollektive menschliche Be­
dürfnis zustande. 2 4
Dieser geschichtliche Charakter der menschlichen Bedürfnisse
geht aus der Arbeitstätigkeit selbst hervor, und zwar aus fol­
genden Gründen :
1. Der zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse die­
nende Gegenstand ist kein unmittelbar natürlicher, sondern
ein durch die Produktionstätigkeit veränderter Gegenstand ; so
richten sich die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen
nicht (wie das Tier) auf ein Naturprodukt mit bestimmten che­
mischen, physikalischen usw. Eigenschaften, sondern auf ein be­
stimmtes Produkt von menschlich-gesellschaftlichem Charakter.
Für einen Franzosen sind die Produkte der polynesischen
Küche keine Speisen, keine augeeigneten Gegenstände zur Be­
friedigung seiner Bedürfnisse. Damit sie zu solchen werden,
muß der Franzose selbst andere Bedürfnisse entwickeln, wenn
24 Auf dieses Problem kommt Marx später wiederholt zurü.X, vor allem in
den Grundrissen zum Teil in dem bekannten Paragraphen über die Methode,
zum Teil im Zusammenhang mit der Kritik an Adam Smith . (Cf. Grundrisse
der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 3 , S. 5 0 5 .)

55
auch diese Bedürfnisse nichts and eres sind als einfache Nega­
tionen des ganzen geschichtlichen Reichtums seiner ausgebilde­
ten Bedürfnisse.
2 . Es entstehen völlig neue, auch ihrem Ursprung nach gesell­
schaftliche Bedürfnisse. Der vermittelte Charakter der mensch­
lichen Tätigkeit, die Tatsache, daß der Mensch das Verhältnis
zu den Gegenständen seiner Bedürfnisse nur über andere Na­
turgegenstände und andere Menschen, vermittels der mensch­
lichen Gesellschaft verwirklicht, bringt auch gesellschaftliche
Bedürfnisse bezüglich dieser Gegenstände hervor ; es entwickeln
sich in den Menschen Bedürfnisse ihres Zusammenlebens, die
keine biologischen Gegebenheiten, ja nicht einmal die Humani­
sation biologischer Bedürfnisse sind.
Nur im Lichte der Ausgestaltung dieser in der materiellen Pro­
duktion entstehenden qualitativ neuen Bedürfnisse ist es ver­
ständlich, daß neben der materiellen Produktionstätigkeit,
aber deren Gesetzmäßigkeit unterworfen, auch andere mensch­
liche Formen der Aneignung der Natur (unter anderem des
Menschen als Naturwesim), andere Arten der menschlichen
Produktion entstehen. Marx betont dies öfter : >>Religion, Fa­
milie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur
besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemei­
nes Gesetz. Die positive Aufhebung des Privateigentums, als
die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive
Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Men­
schen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d. h.
gesellschaftliches Dasein. « (MEGA, Bd. 3, S. I I 5 .) 2 5 So wird
das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung immer
komplizierter und vielseitiger. Die ganze Natur und der ganze
Mensch werden zum menschlichen Bedürfnis.
Alle diese Züge zusammen erschließen den Sinn dessen, was
Marx die >>Humanisierung der Natur« genannt hat. Diese ist
- wie wir sehen konnten - überhaupt keine bloße Bewußtseins­
tätigkeit.26 Als Veränderung der Natur durch menschliche
25 Auf diese Auffassung kommt Marx später nicht weniger ausdrücklich
zurück, doch bereits auf der Ebene der poEtökonomischen Probleme. Cf.
hierzu auch seine Außerungen zur produktiven und unproduktiven Arbeit
im Kapitalismus und im Sozialismus - am ausführlichsten in den Theorien
über den Mehrwert. I . Bd., Kap. 4·
26 Hierin liegt die grundlegende Verschiedenheit zwischen dem marxisti­
schen Materialismus und dem Agnostizismus der Marx-Interpretation von
Arbeitstätigkeit bedeutet die Humanisierung zugleich die
Veränderung des Menschen. Der Mensch ist nur insoweit fähig,
die Natur zu humanisieren, als er sich selbst »na turalisiert<<,
und zwar naturalisiert in dem Sinne, daß er aus einem be­
schränkten Naturprodukt zu einem universellen Wesen wird,
fähig, seine Tätigkeit immer mehr der Totalität der Natur­
gesetze anzupassen und dementsprechend die ganze Natur zu
verändern. Die menschliche Tätigkeit bedeutet, so verstanden,
keine äußerliche Veränderung, Umgruppierung usw. der durch
die Naturentwicklung hervorgebrachten Gegenstände. Infolge
ihrer oben erwähnten Züge ist diese Tätigkeit die Weiterfüh­
rung und Erfüllung der Naturentwicklung. »Die Geschichte
selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens
der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später
ebenso wohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wis­
senschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich
subsumieren : es wird eine Wissenschaft sein.<< ( MEGA, Bd. 3 ,
S. I 2 J .)

Kolakowski. Für Kolakowski ist die »Humanisierung der Natur• gleich­


bedeutend damit, daß die Artikulation der Natur nur als Ergebnis einer
durch die Bedürfnisse determinierten und diesen dienenden intellektuellen
Tätigkeit entsteht und vorher nicht ex istiert. Wenn auch das menschliche
Bewußtsein das Sein an sich nicht erschafft, so • bringt es doch das Sein als aus
Individuen bestehendes, in Arten und Gattungen gegliedertes, zustande«.
(Studia Filozoficzne, 1959, Bd. 2 , S. 50.) Das heißt, diese Interpretation
sucht die Humanisierung der Natur im Verhältnis der Natur zum Bewußt­
sein. Während nach Kolakowski eine gesellschaftlich-geschichtliche Psycholo­
gie das gegebene konkrete Bild der Natur erklärt (dies drüd<t seine oben
erwähnte These aus : die Dinge sind die Vergegenständlichung des Bewußt­
seins) , bietet, laut Marx , die Geschichte der Industrie, der Produktion die
Erklärung für das • Wesen • des Menschen, für seine sämtlichen Fähigkeiten
und unter diesen, allerdings nj cht ausschließlich, für sein Bewußtsein. •Man
sieht wie die Geschichte der Indust rie und das gewordene gegenständliche
Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräf/e,
die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem
Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer
äußern Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde [ . . . ] . • (MEGA, Bd. J, S. 1 2 1 .)

57
Die A rbeit und das Menschlichwerden der Sinne

Untersuchen wir nun den gleichen Vorgang von seiner subjek­


tiven Seite.
Dadurch, daß die menschliche Tätigkeit vermittelt wird, hört
das Zusammenfallen von Motiv und Objekt der Handlung
auf ; die auf den Gegenstand gerichtete Handlung ist nicht
mehr identisch mit der unmittelbaren Befriedigung des Bedürf­
nisses - diese erscheint als das jene lenkende, bestimmte Ziel.
Das Mittelbarwerden der menschlichen Tätigkeit hat notwen­
digerweise zur Folge (und zur Voraussetzung) die Liquidie­
rung des tierischen Verschmolzenseins von Subjekt und Objekt.
Der Gegenstand, die gegenständliche Welt erscheinen, unab­
hängig vom augenblicklichen Verhältnis des Menschen zu ih­
nen, als ständige objektive Wirklichkeit. Gegenüber der gegen­
ständlichen Welt als Objekt werden auf diese Weise die mensch­
lichen Wünsche, Ziele, Absichten und Bedürfnisse, die innere Ge­
fühls- und Gedankenwelt des Menschen als subjektive Gege­
benheiten bewußt. Inwiefern diese Absd nderung des Objek­
tiven, seine Erscheinung im menschlichen Bewußtsein bloß
zwangsläufige Illusion bedeutet, inwiefern eine von der Tätig­
keit usw. des menschlichen Subjekts wirklich abstrahierende,
den Gegenstand an sich erfassende Erkenntnis möglich ist -
diese Frage hat jede Gnoseologie zu beantworten.
Wenn das Sein der humanisierten materiellen Wirklichkeit
die objektive ist, so bildet die Ausgestaltung des menschlichen
Bewußtseins die subjektive Bedingung dafür, daß der Mensch
aus einem natürlichen Wesen zu einem gesellschaftlich-ge­
schichtlichen »Gattungswesen<< wird. Die Aneignung der Er­
fahrung der vorangegangenen menschlichen Gesellschaft durch
das Individuum ist subjektiv nur dadurch möglich, daß von
der Welt ein solches gedankliches Bild existiert, das in seinen
grundlegenden Zügen sämtlichen Individuen gemeinsam ist, so
daß die einzelnen Individuen fähig sind, einander ihre Erfah­
rungen mitzuteilen sie haben etwas mitzuteilen, da sich die
-

Erfahrungen auf eine objektive und intersubjektive Welt be­


ziehen, also nicht bloß persönlich sind, und sich demzufolge
die Möglichkeit bietet, diese Mitteilungen zu verstehen und
auch nützlich anzuwenden. >>Die bewußte Lebenstätigkeit un­
terscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Le-
benstätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen.
Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h., sein eignes Leben ist
ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. << (MEGA,
Bd. 3 , S. 88.)
Wenn also in diesem Sinne das Bewußtsein die Bedingung für
die gesellschaftliche Beschaffenheit des Menschen ist, so existiert
anderseits das menschliche Bewußtsein nur als gesellschaftliches
Bewußtsein, nur als ein durch die Gesellschaft zustande ge­
brachtes und bedingtes Bewußtsein. Die einzelnen Formen des
Bewußtseins, vor allem das sinnliche Bewußtsein, erscheinen
unmittelbar, als Ergebnis der unmittelbaren Verbindung zwi­
schen dem äußeren Gegenstand und den menschlichen Sinnes­
organen. Dieser unmittelbare, passive und individuelle Cha­
rakter der sinnlichen Erkenntnis ist bloßer Schein. Der Mensch
muß auch seine geistige Nahrung entsprechend zubereiten : das
heißt, die Gegenstände müssen als Elemente des Bewußtseins
geistig angeeignet werden (cf. MEGA, Bd. J, S. 8 7 ) . Das
menschliche Bewußtsein ist in allen seinen Formen eine aktive,
auf die Aneignung der Natur abzielende Tätigkeit.27
Der Mensch sieht die Welt nicht so, wie sie sich auf seiner Netz­
haut spiegelt. Der Mensch sieht nicht Farben, Linien, Lichter,
sondern Gegenstände, deren Form, Farbe und Gestalt vom
Spiegelbild auf der Netzhaut sehr wesentlich abweichen kön­
nen. Die Wahrnehmung ist eine Tätigkeit, in deren Verlauf der
Mensch aus den, vom Gegenstande her, seine Sinnesorgane
fortlaufend berührenden Reizen jene »herausgreift,,, mit deren
Hilfe er den Gegenstand als das Objekt der gesellschafilich­
menschlichen Praxis zu erkennen und zu identifizieren vermag.
Wie jede wirklich menschliche Tätigkeit ist auch diese Tätigkeit
gesellschaftlichen Ursprungs. >> die unmittelbare sinnliche
• • •

Natur für den Menschen ist unmittelbar die menschliche Sinn­


lichkeit (ein identischer Ausdruck), unmittelbar als der andere
sinnlich für ihn vorhandene Mensch ; denn seine eigne Sinnlich­
keit ist erst durch den andren Menschen als menschliche Sinn­
lichkeit für ihn selbst. << (MEGA, Bd. 3 , S. 1 2 3 .) Der Mensch
27 •Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an,
also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt,
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, empfinden,
wollen, tätig sein, lieben, kurz alle Organe seiner Individualität [ . . . ] sind in
ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand
die Aneignung desselben. << (MEGA, Bd. 3, S. I I 8 .)

59
muß Sehen, Hören usw. lernen, und das Ergebnis des Lernens
steht sd10n vor diesem Vorgang als Aufgabe bereit, vor allem
in Form der menschlichen Sprache bzw. des in der Sprache
fixierten allgemeinen menschlichen Bewußtseins. Wenn sich der
Mensch in das Leben der Gesellschaft einfügen will, muß er
eine solche ständige phänomenale Artikulation zustande brin­
gen, deren Struktur jener Struktur und Artikulation entspricht,
die in der Sprache, im materialisierten gesellschaftlichen Be­
wußtsein, von ihm völlig unabhängig gegeben ist. Der Mensch
muß sich die Welt nicht nur in seiner materiellen, sondern auch
in seiner geistigen Tätigkeit aneignen. Natürlich ist die oben
erwähnte Struktur keine willkürliche ; sie wird durch die Be­
schaffenheit des Gegenstandes und unserer Sinnesorgane be­
grenzt. Die Grenzen sind jedoch relativ weit. Wenn jemand
zum erstenmal im Leben eine Uhr sieht und nicht weiß, wozu
und wie diese benutzt wird, wird er sie anders sehen als je­
mand, für den die Uhr das bekannte Instrument des Zeitmes­
sefis ist ; sie wird ihm anders auffallen, er wird sie anders arti­
kulieren. Um die Uhr als solche zu sehen, muß er lernen, sie als
Uhr zu benutzen. Der primitive Mensch, dessen Welt unmittel­
bar voll von mystischen Partizipationen ist, und ein Europäer
von heute, für den die einzelnen kausalen und mechanischen
Verbindungen nicht weniger unmittelbar sind, sehen den glei­
chen Gegenstand, die gleiche Gegend, die gleiche Erscheinung
auf verschiedene Weise. Die menschliche Anschauung hat ge­
schichtlichen Charakter. » [ ] weil . . . mein Gegenstand nur
. • •

die Betätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur


so für mich sein kann, wie meine Wesenskraft als subjektive
Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn eines Gegenstandes für
mich (nur Sinn für einen ihm entsprechenden Sinn hat) grade
so weit geht, als mein Sinn geht, darum sind die Sinne des
gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesell­
schaftlichen [ . . . ] . Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der
ganzen bisherigen Weltgeschichte. << (MEGA, Bd. J, S. r 2 o . )
Für Marx ist jedoch diese geschichtliche Xnderung der Sinnlich­
keit ein Vorgang von bestimmter Richtung, die als Entwick­
lung, als >>Menschlichwerden der Sinne«, erscheint. 28 Worin be­
steht die Tendenz dieses Vorgangs?
z 8 In Kolakowskis Interpretation verlieren, durch seinen allgemeinen Agno­
stizismus, die • Menschwerdung der Natur• und der Vorgang der Erkenntnis

6o
Der Mensch verhält sich - in dieser Hinsicht unterscheidet er
sich nicht vom Tier - zu seiner unmittelbaren Umgebung in
praktischer Weise. Vor allem erkennt er jene Beziehungen die­
ser Umgebung - und diese Beziehungen spiegeln sich auch in
seinem sinnlichen Bewußtsein vor allen anderen -, die die Ob­
jekte zur Befriedigung seiner Bedürfnisse geeignet macht, die er
braucht, um mit diesen Gegenständen als Mitteln der Befrie­
digung seiner Bedürfnisse operieren zu können. Der Unter­
schied zwischen Mensch und Tier ist nur aus der verschiedenen
Beschaffenheit dieser Praxis zu verstehen.
Das Tier verhält sich im Rahmen einer beschränkten Tätigkeit
unmittelbar zum Gegenstand seiner biologisch bestimmten,
ständigen Bedürfnisse. Demzufolge ist nicht nur der Kreis jener
Gegenstände eng beschränkt, die es in seine Tätigkeit einzu­
beziehen vermag, sondern auch, was es von diesen Gegenstän­
den fähig ist, »ZU erkennen « . Jene Artikulation der Außen­
welt, die es phänomenal verwirklicht - und die, wie bereits

ihren progressiven, fortschreitenden geschichtlichen Charakter. Wenn das


Wesen der »humanisierten Natur• in der Tatsache besteht, daß der Mensch
niemals die Natur an sich erkennt, sondern diese immer durch das Prisma
der gesellschaftlich gegebenen Sprache, der Begriffskategorien, der gesell­
schaftlichen und individuellen Bedürfnisse usw. sieht, dann ist es sinnlos,
darüber zu sprechen, daß auf einer primitiven Stufe der Entwicklung des
Menschen (insofern er hier schon über gewisse elementare Bedingungen [z. B .
d i e Sprache] verfügt, d i e m i t seiner Existenz zwangsläufig einhergehen) die
Natur weniger humanisiert ist als auf irgendeiner späteren Stufe. Kola­
kowski erläutert dies in seinem Aufsatz auch ganz klar : • Von der Minute
an, als der Mensch begann, in seiner Phylo- und Ontogenese über die Welt
der Dinge intellektuell zu herrschen, also seit er über die Mittel verfügt, mit
deren Hilfe er die Welt zu organisieren und diese Organisation in Worten
auszudrücken vermag, findet er die Welt nicht mehr nach einer natürlichen
Klassifikation aufgebaut und differenziert, sondern nach einer Klassifika­
tion, welche vom Bedürfnis der praktischen Orientation in der Umgebung
ausgestaltet wurde . • Aus dieser Sicht ist die Humanisierung der Natur ein
aus dem Wesen der allgemeinsten menschlichen Situation entspringender Zu­
stand. Marx faßt sie jedoch als geschichtlichen Vorgang auf, der zwar
notwendig aus dem » Wesen• des Menschen hervorgeht (da, laut Marx, das
Wesen nichts anderes als die Arbeit ist), jedoch nur in der kommunistischen
Gesellschaft seine Erfüllung finden kann. Für den primitiven oder den der
Macht der direkten physischen Bedürfnisse unterliegenden Menschen besteht
•das menschliche Wesen der Natur• nicht ; für ihn ist die Natur keine huma­
nis ierte Natur, seine Sinne sind keine • menschlichen• im speziellen Sinne
des Wortes.
erwähnt, keinen gegenständlich-ständigen Charakter besitzt -,
ist ebenfalls durch diese Bedürfnisse determiniert. Natürlich ist
diese Artikulation nicht willkürlich - die Tatsache, daß gewisse
>>Stücke« der Materie gleichermaßen fähig sind, ein gegebenes
Bedürfnis zu befriedigen, entspricht einer gewissen objektiven
Homogeneität desselben. Diese Homogeneität kann jedoch
völlig einseitig sein, ihr Maßstab ist völlig äußerlich - das tie­
risChe Bedürfnis.•9 Für das Tier sind nur jene Eigenschaften des
Gegenstandes signifikant, die ihm eine Wirkung von biologi­
scher Bedeutung vermitteln. Nicht nur formt das Tier die Ma­
terie nach Maß und Bedürfnis seiner eigenen Art - es vermag
sie auch nur nach diesem Maß >>ZU erkennen« .
Der Mensch hingegen stellt zwischen sich und seinen Gegen­
stand ein Mittel. Demzufolge wird das unmittelbare, untrenn­
bare fixe Verhältnis, das beim Tier zwischen dem über entspre­
chende biologische Gegebenheiten verfügenden Organismus
und dem Gegenstand besteht, vermittelt und veränderlich.
Jene gegenständlichen Eigenschaften, die im Verhältnis des Ge­
genstandes zum Organismus bedeutungslos sind, können deter­
minierend sein im Verhältnis zu einem anderen Gegenstand als
zu einem Mittel irgendeiner bestimmten Tätigkeit ; jene gegen­
ständlichen Eigenschaften, di e praktisch nicht signifikant sind
und sich deshalb subjektiv nicht widerspiegeln, solange die
Verbindung zum Gegenstand unmittelbar ist, können sich be­
merkbar machen, können erscheinen, sobald diese Verbindung
durch einen anderen materiellen Gegenstand vermittelt wird.
Infolge des universellen Charakters der menschlichen Arbeits­
tätigkeit
wird r . jeder Gegenstand zum Gegenstande der menschlichen
Tätigkeit ;
bringt 2 . der Mensch jeden einzelnen Gegenstand mit immer
mehr Gegenständen in aktive Verbindung ;
verrichtet 3 · der Mensch diese Tätigkeit mit dem Zustande­
kommen neuer Bedürfnisse und neuer Produktionsarten auf

2 9 Wir können hier auf eine Beobachtung Pawlows verweisen : Das Tier
reagiert auf den für es biologisch bedeutsamen Gegenstand (unbedingter
Reizerreger) wie auf einen Gegenstand, der im Zuge der individuellen Er­
fahrung zu dessen Signal wurde (bedingter Reizerreger) ; es differenziert die
beiden Gegenstände nicht. Pawlow beschreibt an mehreren Stellen, wie der
Hund die Lichtsignale der Nahrung »erfaßt• und » frißt• .
ganz neuen Ebenen und in neuen Zusammenhängen (z. B. wis­
senschaftliches Experiment). All dies hat zum Ergebnis, daß der
Mensch über die gegenständliche Welt eine immer vielseitigere
Kenntnis erlangt. Diese Vielseitigkeit ist, wie gesehen, nicht
bloß quantitativer Natur. Da nach der Auffassung von Marx
die menschliche Tätigkeit ihrem Charakter nach eine univer­
selle Tätigkeit ist, ist auch die menschliche Erkenntnis univer­
sell. Dadurch, daß der ständig wachsende, im Prinzip endlose
Kreis der gegenständlichen Verhältnisse in die menschliche Tä­
tigkeit eingeht, erschließen sich dem menschlichen Denken stets
neue Relationen, neue Eigenschaften der Gegenstände. Diese
Eigenschaften und Relationen sind nichts dem Wesen äußer­
liches : es gibt keinerlei rätselhaftes, unerreichbares Wesen an
sich, das prinzipiell nicht angeeignet werden könnte. Die »Na­
tur« des Gegenstandes besteht gerade in der Summe, in der
Totalität seiner Eigenschaften, Beziehungen, wie auch die Ma­
terie nichts anderes ist als die Summe und Einheit der objektiv
(wenn auch nid:tt absolut) differenzierten, artikulierten Gegen­
stände und ihrer Wed:tselwirkungen, ihrer gegenseitigen Ver­
hältnisse.
Auf diese Weise verfügt das menschliche Bewußtsein (damit
auch das sinnliche Bewußtsein) über eine doppelte Vermittelt­
heit : Es ist einerseits in seinem Verhältnis zum Gegenstand ver­
mittelt durch die Gesellschaft, durch die schon erreichte Stufe
des gesellschaftlichen Bewußtseins, der Erkenntnis, die es sich
(wenigstens zum Teil) aneignen muß, anderseits ist es in seiner
individuellen Entwicklung vermittelt : durch die menschliche
Tätigkeit, in seiner primären und ungegliederten Form durch
die Arbeitstätigkeit. Das letztere Vermitteltsein ist kennzeich­
nend auch für solche Formen des Bewußtseins, deren Verhält­
nis zum Gegenstand völlig unmittelbar scheint, zum Beispiel
für die Sinnlichkeit.l0
30 Zum Beweis dafür können wir uns auf die durch die moderne Psycholo­
gie erschlossenen Tatsachen berufen, in erster Linie auf die Experimente von
Am es, I ttelson und andere. Wir wollen kurz nur auf eines der bekanntesten
Experimente von Am es verweisen : Das Subjekt betrachtet zwei Zimmer­
Modelle durch eine Öffnung i n der Wand. Die beiden Modelle weichen
wesentlich voneinander ab, die Wände des einen sind nicht senkrecht, die
Decke ist schief usw., das andere Modell aber ist normal, der Gesichtspunkt
jedoch ist so fixiert, daß, infolge der Gesetze der Perspektive, die beiden
Zimmer vollständig gleich erscheinen. Das Subjekt vermag sie auch dann
Die geschichtlichen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins
sind daher für Marx bei weitem nicht gleichrangig in ihrem
Verhältnis zu ihrem Gegenstand, zur objektiven Außenwelt.3 '
Für den am Beginn der Geschichte stehenden, von der Natur
abhängenden Menschen existiert der Gegenstand nur in seiner
abstrakten Beschaffenheit und nur insofern, als er seine Bedürf­
nisse befriedigt. Die spezifischen Eigenschaften des Gegenstan­
des, alle seine übrigen Bestimmungen, existieren für diesen
Menschen nicht. In dem Maße jedoch, wie der Gegenstand mit
immer mehr Seiten und Eigenschaften sich in die gesellschaft­
liche Produktion, Tätigkeit einschaltet, eignet sich das Invidi­
duum ein immer konkreteres und vielfähigeres Bild des Gegen­
standes an und realisiert diesen reichhaltigen Inhalt nunmehr
in seinem eigenen empirischen Bewußtsein auch beim Erblicken
des Gegenstandes. Die Entwicklung der menschlichen Sinnlich-

nicht zu unterscheiden, wenn es weiß, daß das eine · Modell verzerrt ist.
Wenn es sich aber zielbewußt gegenständlich betätigt (es hat einen ange­
gebenen Punkt an der Wand, aus dem fixierten Gesichtspunkt betrachtet, mit
einem kleinen Ball zu treffen usw.), wobei diese Beziehungen als wesentlich,
für den Erfolg der Tätigkeit entscheidend erscheinen, lernt das Subjekt all­
mählich, diese Unterschiede zu sehen , unmittelbar zu empfinden, so daß es
auch bei anderen mit ähnlichen Verzerrungen erbauten Modellen jene objek­
tiven räumlichen Bestimmungen unmittelbar sieht, die aus dem gegebenen
Gesichtspunkt für den ungeübten Betrachter vollständig unbemerkbar sind.
Allgemein gesprochen, handelt es sich hier darum, daß im Verlaufe gegen­
ständlicher Tätigkeit, durch diese geleitet, eine solche subjektive sinnliche
Orientierungstätigkeit zustande kommt (richtiger : es ändert sich die schon
vorhandene Orientierungstätigkeit}, die von den infolge ih res redundanten
oder insignifikanten Charakters bisher nicht verwerteten, vom Gegenstand
kommenden Reizsignalen jene » auswählt• und bei Veränderung des sinn­
lichen Bildes des Gegenstandes zu Bewußtseinstatsachen transformiert, die
zum Signalisieren dieser objektiven Bestimmtheit fähig sind und mit ihr in
relativ ständiger Verbindung stehen (sie werden in der amerikanischen psy­
chologischen Literatur » CUe• genannt) .
3 1 Die folgende unhaltbare Behauptung schreibt Kolakowski Marx zu. Für
den von Kolakowski interpretierten Marx ist das von einer Fliege wahr­
genommene Bild der Welt ebenso » wahr• wie jene Spiegelung, die im Kopf
eines Menschen von heute existiert. (Cf. Studia Filozoficzne, 1 9 59, Nr. 2,
S. p . ) Hierdurch wird die ganze Geschichtsbetrachtung von Marx relativi­
stisch, seine Erkenntl'listheorie agnostizistisch, in krassem Gegensatz zu sei­
nem hier eingehend besprochenen Gedankengang. Es ist also kein Zufall,
daß in seinem neuesten Artikel die Lehre des Marxismus vom gesellschaft­
lichen Fortschritt und der Entwicklung ganz und gar pamphletartig als
Endziel des irdischen Lebens, als theologische Lehre vom absoluten Ende
der Geschichte erscheint.
keit führt den Gegenstand vom Abstrakt-Einseitigen zum
Konkreten, zum Erschließen seiner Spezifität. >> . . . der reiche
und tief allsinnige Mensch<< verhält sich zum Gegenstand nicht
mehr bloß wegen seiner Nützlichkeit und sieht ihn nicht nur
in seinen biologisch bedeutsamen Beziehungen ; der Gegenstand
der Sinneswelt eines solchen Menschen ist nunmehr der an und
für sich existierende Gegenstand. >>Der unter dem rohen prak­
tischen Bedürfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornier­
ten Sinn. Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die
menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Da­
sein als Speise : ebenso gut könnte sie in rohster Form vorlie­
gen, und es ist nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungs­
tätigkeit von der tierischen Nahrungstätigkeit unterscheide.
Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das
schönste Schauspiel ; der Mineralienkrämer sieht nur den mer­
kantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche
Natur des Minerals ; er hat keinen mineralogischen Sinn ; also
die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in
theoretischer als praktischer Hinsicht, gehörte dazu, sowohl um
den Sinn des Menschen menschlich zu machen, als um für den
ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens ent­
sprechenden menschlichen Sinn zu schaffen.« (MEGA, Bd. J ,
S. 1 20-1 2 1 .) »Die Aufhebung des Privateigentums ist daher
die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und
Eigenschaften ; aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch,
daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv
als objektiv geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen
Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaft­
lichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrüh­
renden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmit­
telbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich
zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein
gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum
Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuß ha­
ben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße
Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen
Nutzen geworden ist. << (MEGA, Bd. J, S. 1 1 8- 1 1 9 .) Dieses
Theoretischwerden des praktischen Verhältnisses bedeutet kein
Transzendieren der gegenständlichen Welt, kein Lostrennen
der Erkenntnis von jedem menschlichen Bedürfnis, keine reine
Kontemplation, sondern gerade das Gegenteil. Das Theo­
retischwerden des praktischen Erkennens (was soviel bedeutet,
daß der Gegenstand, als an sich seiender und wie er an sich
existiert, erkannt wird) ist das Ergebnis dessen, daß die die
Erkenntnis auch weiterhin bestimmenden Bedürfnisse nunmehr
selbst vielseitig, universell werden, sich dem ganzen Gegen­
stand, der ganzen Natur und dem totalen Menschen zuwenden.
Das ist aber nur durch die Entwicklung der materiellen Pro­
duktion, die menschliche Vergegenständlichung, durch Univer­
sellwerden der Umwandlung der Natur möglich.
Dieses Zusammenfallen des Praktischen und des Theoretischen
ist ein geschichtlicher Vorgang, und dieser hat keinen fortlau­
fenden, evolutionären Charakter. Wir verweisen lediglich auf
die Tatsache, daß, da das Verhältnis des Menschen zur Natur
nur über gesellschaftliche Vermittlungen existiert, seine Herr­
schaft über die Natur nur dann adäquat realisiert werden
kann, wenn er fähig ist, seine gesellschaftlichen Verhältnisse
zu beherrschen. Es soll hier nicht untersucht werden, wie die
Tatsache der Entfremdung auf die erkennende Tätigkeit des
Menschen einwirkt und wie sie sich im menschlichen Bewußt­
sein widerspiegelt. Es sei nur nochmals erwähnt, daß für Marx
in dieser Beziehung eine der Hauptfragen darin bestand, daß
irrfolge der Entfremdung das, was die Gesellschaft als Ganzes
sich geistig angeeignet hatte, für das einzelne Individuum nicht
als angeeignet vorhanden war ; und demzufolge bildete sich der
Gegensatz des unmittelbaren empirischen Bewußtseins und der
von diesem losgetrennten gesellschaftlichen Bewußtseinsfor­
men (Moral, Wissenschaft, Kunst, Politik usw.) heraus. Diese
Entfremdung kann durch das Zustandekommen von » Ideolo­
gien.- in sämtlichen Formen des Erkennens nur zu einem be­
schränkten und letzten Endes falschen Inhalt führen, unabhän­
gig vom Fortschritt des menschlichen Wissens. Nicht weniger
wesentlich ist die Tatsache, daß Marx diese geistige Form der
Entfremdung auf dem Wege der Umwälzung des materiellen
Unterbaus für aufhebbar hielt, was natürlich für ihn bei wei­
tem nicht das Ende der Erkenntnis, ihre absolute Erfüllung,
vielmehr ihren eigentlichen Beginn bedeutete.
Es ist natürlich, daß eine absolute Identität von Theorie und
Praxis, von abstraktem wissenschaftlichem Denken und unmit­
telbarem sinnlichem Bewußtsein auch mit der Aufhebung der
66
Entfremdung nicht zustande kommt. Zur verständlicheren Er­
läuterung dieser Frage haben wir noch ein wesentliches Pro­
blem zu erwähnen.
Das Bild des Gegenstandes, wie es im Bewußtsein des Menschen
erscheint, hängt nicht allein von der Natur des Gegenstandes
und vom bestimmten Niveau der gesellschaftlichen Tätigkeit
und Bedürfnisse ab. Wie der Gegenstand in unserem Bewußt­
sein erscheint, hängt zugleich von den gewissen beständigen,
teils natürlichen, teils gesellschaftlichen >>Bestimmtheiten « des
menschlichen Bewußtseins ab. Marx wirft dieses Problem in
den Manuskripten vor allem hinsichtlich der Relation der
menschlichen Empfindung auf : » ( . . ] Gegenstand wird er
.

selbst. Wie sie (die Gegenstände, G. M.) ihm als seine werden,
das hängt von der Natur des Gegenstandes und der Natur der
ihr entsprechenden Wesenskraft ab ; denn eben die Bestimmtheit
dieses Verhältnisses bildet die besondre, wirkliche Weise der
Bejahung. Dem Auge wird ein Gegenstand anders als dem Ohr
und der Gegenstand des Auges ist ein andrer als der des Ohrs.
Die Eigentümlichkeit jeder Wesenskraft ist gerade ihr eigen­
tümliches Wesen, also auch die eigentümliche Weise ihrer Ver­
gegenständlichung, ihres gegenständlichen wirklichen, lebendi­
gen Seins. << (MEGA, Bd. J, S. I I 9- r 2o.)
Es könnte also scheinen, daß, unabhängig davon, ob der
Mensch fähig oder nicht fähig ist, sämtliche Bestimmungen der
Wirklichkeit und deren Zusammenhänge zum Gegenstand sei­
ner Erkenntnis zu machen, der objektive Charakter dieser Er­
kenntnis bei weitem nicht gesichert ist. Das im Bewußtsein
zustande kommende Bild hängt von den ständigen, unabstreif­
baren Eigenschaften der menschlichen Sinnesorgane, der Sprache
usw. ab, aus denen herauszutreten oder die zu überholen dem
Menschen unmöglich ist, und so wird das Bild der objektiven
Wirklichkeit unbedingt verzerrt.
Wir verweisen nur auf einen einzigen, gewiß nicht ausschließ­
lichen Aspekt, den diese Anschauung nicht beachtet und der in
den Manuskripten eine bestimmte Rolle spielt. Die geistige An­
eignung der Welt, die menschliche Erkennungstätigkeit ist nicht
homogen und ungegliedert. Das phänomenale Bild des Gegen­
standes ist das Ergebnis einer vielseitigen, aus verschiedenen
Teilvorgängen sich zusammensetzenden Gesamttätigkeit. Die
Entwicklung des Erkennens findet ihren Ausdruck nicht allein
darin, daß dieses Ergebnis immer reicher und vielseitiger wird.
Die »Vermenschlichung der Sinne<< hebt, nach Marx, das Abso­
lutwerden, die Entfremdung der Teilbetätigungen auf und
bringt gleichzeitig die vollständige Ausgestaltung der Eigen­
arten aller menschlichen Erkennungsvermögen, deren Erfül­
lung und relative Selbständigkeit zustande. So wird aus allen
»Organen der Individualität des Menschen<< jeweils ein Organ
der Aneignung der gegenständlichen Welt. Das Bewußtsein des
auf der Anfangsstufe der Entwicklung stehenden Menschen ist
vollständig ungegliedert in dem Sinne, daß ein einheitliches,
unauflösbares Ergebnis aus den Daten der verschiedenen Or­
gane, der sprachlichen und gedanklichen Vermittlungen als
Summe dieser Daten zustande kommt. Erst wenn die Verbin­
dungen und Zusammenhänge zwischen den Gegebenheiten viel
komplizierter werden, entsteht die Möglichkeit, zwischen den
gesehenen, gehörten, getasteten Bildern zu unterscheiden (wel­
che Unterscheidung jedoch niemals absolut und niemals voll­
kommen ist, da jede Tätigkeit von den übrigen bedingt und
gesteuert wird). Wenn sich die Differenzierung schon relativ
herausgebildet hat, entsteht die Möglichkeit zum aktiven, be­
wußten Vergleich der von den einzelnen Organen gelieferten
Daten. Diese Tätigkeit und die ihr entspringenden Wider­
sprüche (ein ganz elementares Beispiel : das visuelle »Gebro­
chensein<< eines ins Wasser getauchten Stockes und dessen
»Geradesein<< beim Tasten), die neue Probleme aufwerfen,
schließlich die auf deren Lösung abzielende praktische und
theoretische Aktivität sind in ihrem geschichtlichen Prozeß fä­
hig, die natürlichen Schranken der einzelnen Teiibetätigungen
aufzudecken, bewußt zu machen und hierdurch den Gegen­
stand in seiner objektiven Beschaffenheit zu erkennenY
Die Tätigkeit des Erkennens ist also durch einen ständigen
Vorgang gekennzeichnet, in dessen Verlauf sich das Erkennen
32 Für das Oberwinden solcher • unüberschreitbaren • Schranken bietet ein
ausgezeichnetes Beispiel (natürlich wird die Kompliziertheit des Beispiels
durch die hier gegebene ganz allgemeine Schilderung keineswegs erschöpft)
das bekannte und oft wiederholte Experiment Strattons zur künstlichen
Verzerrung der menschlichen Perspektive (durch Aufsetzen besonderer Bril­
len, die Oben und Unten, Rechts und Links usw. vertauschen) . Die Experi­
mente haben erwiesen, daß der tätige Mensch (der bloß beschauliche nicht)
auch unter solchen Umständen fähig ist, die richtige Orientierung zu finden,
ja diese Orientierung wird wieder unmittelbar und gewinnt den Charakter

68
seiner Schranken allmählich bewußt wird und sie dadurch
überschreitet. Das geschieht in. erster Linie durch abstraktes,
begriffliches Denken. Nur diese Tätigkeit ermöglicht es, die
Grenzen des Erkennens ständig zu erweitern. Nach der Mei­
nung von Marx - in den Pariser Manuskripten - können aber
alle Ergebnisse, zu denen das Denken gelangt, durch die
menschliche Anschauung angeeignet, assimiliert werden. Als
Resultat dieser ständigen gedanklichen Vermittlung vermag
der Mensch in seinem sinnlichen Bewußtsein, in dessen »Spra­
che<<, aus dessen Materie, aus den Empfindungen eine subjek­
tive Struktur hervorzubringen, die (im Hinblick auf die
Tendenz ihrer Entwicklung) der Struktur der objektiven
Wirklichkeit und ihrer Gliederung vollständig entspricht und
in jeder Hinsicht isomorph ist.

Die weitere Entwicklung von Marx: praktisches und theore­


tisches Erkennen

Gerade diese letztere Behauptung unterzieht Marx im Ver­


laufe seiner weiteren Entwicklung einer Revision. Die Ände­
rung seines erkenntnistheoretischen Standpunktes ist die di­
rekte Folge jener Änderung, die sich in seiner Auffassung des
gegenseitigen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft
vollzieht. Marx faßt die Harmonie der Entwicklung von Indi­
viduum und Gesellschaft nicht mehr als die unmittelbare An­
eignung sämtlicher gesellschaftlicher Fähigkeiten durch jedes
einzelne Individuum auf und verwirft damit auch die Konzep­
tion, daß das empirische Bewußtsein des Individuums den gan­
zen Reichtum des gesellschaftlichen Erkennens zu assimilieren
vermag. Diesbezüglich müssen wir wenigstens auf zwei Sach­
verhalte hinweisen.
Erstens ist das, was gesellschaftlich notwendig und »interes­
sant<< ist, durchaus nicht für jedes einzelne Individuum in des­
sen alltäglicher Praxis notwendig (man kann sich sogar vorstel­
len, daß es für die entscheidende Mehrheit der Individuen nicht
der Anschauung : das Subjekt kehrt nach einer gewissen Zeit die auf den
Kopf gestellte Welt • wieder um«. Es sei erwähnt, daß nach den Versuchen
von Erismann selbst die entwickeltsten Tiere sich unfähig gezeigt haben, die
Aufgabe zu lösen, sich die richtige Orientierung zu erarbeiten.
notwendig ist) . Demnach ist die Gesellschaft als Ganzes,
als selbständiger Organismus, .genötigt, durch eine für die­
sen Zweck sich spezialisierende Gruppe der Individuen das
Erkennen über die Grenze der unmittelbaren individuellen,
empirischen Bedürfnisse hinaus fortzusetzen. So entsteht die
wissenschaftliche Tätigkeit als selbständiger Zweig der gesell­
schaftlichen Arbeitsteilung und die Wissenschaft selbst >>als
allgemeines Produkt der menschlichen Entwicklung« (Marx­
Engels-Archiv, Moskau 1 9 3 3 , Bd. I I . [VI I ] , S. 9 8 ) . Indem sich
die Wissenschaft im Verlauf ihrer geschichtlichen Entwicklung
ausgestaltet, bringt sie immer mehr spezifische Mittel, Metho­
den zur geistigen Aneignung der Wirklichkeit hervor und
wird immer mehr zu einer eigenartigen, über innere Gesetz­
mäßigkeiten, über relative Selbständigkeit verfügenden geisti­
gen Sphäre, zu einem selbständigen Organismus. Da der
Unterschied zwischen gesellschaftlichen und individuellen Be­
dürfnissen nicht beseitigt werden kann, ist diese Tatsache
gleichfalls von allgemeiner Geltung.
Zweitens wird das unmittelbare, empirische Bewußtsein und
damit die menschliche Betrachtung im Laufe der geschichtlichen
Entwicklung ständig reicher und spiegelt die Welt immer viel­
seitiger wider. Dieser Vorgang entspricht dem Umstand, daß
auch der Kreis der Bedürfnisse und Fähigkeiten des Individu­
ums sich ständig erweitert. Nur wenn das Individuum sich die
gesellschaftlich bedeutsamen Eigenschaften des Gegenstandes
aneignet, wenn es lernt, diese zu erkennen und auf sie entspre­
chend zu reagieren, wird es fähig, die Gegenstände auf mensch­
liche Weise, ihrer gesellschaftlichen Bestimmung entsprechend,
zu benutzen. Im empirisch-allgemeinen gesellschaftlichen Be­
wußtsein werden die für diesen gesellschaftlichen Gebrauch
notwendigen Eigenschaften des Gegenstandes fixiert. Da das
Individuum nicht bloß Konsument, sondern zugleich Produ­
zent ist, ist es möglich, daß es infolge seiner speziellen Tätig­
keit dem Gegenstand auch in anderen Beziehungen begegnet,
demnach gezwungen ist, die anderen Beziehungen des Gegen­
standes kennenzulernen. In diesem Sinne kann das individuelle
Bewußtsein reicher sein als das empirisch-allgemeine gesell­
schaftliche Bewußtsein ; es ist jedoch unbedingt ärmer als das
>>konkret-allgemeine« Bewußtsein, als die adäquate Form des
gesellschaftlichen Erkennens, die Wissenschaft. Jedenfalls bildet
die Widerspiegelung jener Eigenschaften der gegenständlichen
Welt, die für den menschlichen Gebrauch, zur Befriedigung der
unmittelbaren individuellen Bedürfnisse notwendig sind, den
Kern des alltäglichen Denkens und der Anschauung.
Es soll noch einmal betont werden, daß der Mensch mit seiner
zunehmenden Herrschaft über die Natur immer größere Be­
reiche, und zwar in stets neuer Form, zum Gegenstand der Be­
dürfnisse des Individuums umzugestalten vermag. Jedoch bil­
den die unmittelbaren individuellen Bedürfnisse immer nur
einen Teil des Ganzen der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Hier­
aus folgt, daß das individuelle Bewußtsein das Ganze des kon­
kret-gesellschaftlichen Bewußtseins nicht umfassen kann. An­
derseits kann es auch nicht mit einem bestimmten Teil des
letzteren zusammenfallen. Das Individuum findet die Grund­
schemata seines Verhaltens, seiner Tätigkeiten in gewissem Sinn
>>fertig« vor. Diese Schemata hat es sich im spezifischen Sinne
des Wortes anzueignen. Sie entstanden im Laufe einer langen
geschichtlichen Entwicklung, weshalb sie einen bestimmten
Grad des Erkennens der gegenständlichen Welt voraussetzen
und enthalten. Für das Individuum ist jedoch ihr geschichtliches
Vermitteltsein nicht gegeben, es findet diese Tätigkeitsformen
fertig vor und eignet sie sich als solche an. Es ist unbedingt not­
wendig, daß dem Individuum der Gegenstand in gewissem
Maße bekannt sei, damit es fähig sei, seine Tätigkeit dem
Gegenstand anzupassen, sie entsprechend der Natur des Gegen­
standes zweckmäßig zu verrichten. Es ist jedoch nicht unbe­
dingt nötig, daß das Individuum die innere Verbindung zwi­
schen den Bestimmtheiten des einzelnen Gegenstandes sich
aneigne - die Verbindung zwischen dem Gegenstand und der
»fertig« gelieferten menschlichen Tätigkeit ist relativ unmittel­
bar. So ist die Kenntnis des Hochofenarbeiters über den Vor­
gang der Stahlproduktion unbedingt umfangreicher als die des
Philosophen. Und dies ist in sehr weiten Grenzen zu verstehen.
Die Tätigkeit des Hochofenarbeiters bringt in einer gegebenen
Relation speziell entwickelte Sinne zustande. Da für ihn Farbe
und Licht des Eisens zu Zeichen von Gegenstandszuständen
werden, die in seiner Arbeitstätigkeit eine entscheidende Rolle
spielen, sinkt die Grenze der Unterscheidung der Farben, die
Unterschiedsschwelle (dies scheint eine rein physiologische Ge­
gebenheit zu sein) im Vergleich zur Norm um das Mehrfache.

71
Indessen kann er visuelle Fähigkeiten entwickeln, über die die
Mehrzahl der Menschen nicht verfügt, eine visuelle Welt, die
reicher ist als die normale, ohne daß er zugleich jene realen
Verbindungen kennt, auf Grund derer sich die einzelnen
Eigenschaften und Zustände ändern. Die gegenständlichen
Eigenschaften treten unmittelbar als Zeichen für bestimmte
Phasen seiner Tätigkeit auf. Für den Hochofenarbeiter ist es
nicht notwendig, das Wesen aller physikalischen und chemi­
schen Vorgänge zu kennen, die vor seinen Augen ablaufen, die
er benutzt, obwohl ohne diese Kenntnisse das Hüttenwesen in
seiner heutigen Großbetriebsform in gesamtgesellschaftlichem
Maßstab unvorstellbar wäre. So reich auch das alltägliche Den­
ken an Bestimmtheiten und Kenntnissen ist (ob diese nun sinn­
licher oder begrifflicher Art sind), - die Gliederung dieser
Kenntnisse untereinander, die zwischen ihnen bestehende Ver­
bindung entspricht weder ihrer Vielschichtigkeit noch ihrem
Reichtum. Im alltäglichen Denken trägt das vom Gegenstand
geschaffene Bild immer mehr oder weniger den Charakter der
»chaotischen Vorstellung<< . (Cf. Grundrisse der Kritik der poli­
tischen Ökonomie, S. 2 1 - 2 2 . )
Die Aufhebung des Privateigentums verändert das Verhältnis
von Individuum und Wissenschaft. (Cf. ibid., S. 78-So.) Mit
der Aufhebung des Privateigentums verschwindet die Gegen­
überstellung, der Gegensatz von Wissenschaft und alltäglichem
Bewußtsein. Der zwischen diesen bestehende Unterschied je­
doch bleibt notwendig bestehen.
Die Aufmerksamkeit von Marx richtet sich in seinen späteren
Werken nicht primär auf die detaillierte Charakterisierung
dieses Problems. Was für ihn im Laufe seiner späteren Tätig­
keit immer wichtiger wird, ist gerade die Untersuchung des­
sen, wie die Aneignung des Gegenstandes als Ganzes durch den
»denkenden Kopf<< möglich ist, wie sich das objektive Erken­
nen durch die Wissenschaft verwirklicht, wie sich die Gesetz­
mäßigkeiten der Wissenschaft spontan Bahn brechen und wie
sie bewußt gemacht und bewußt angewendet werden können.
Dieser Ausgangspunkt kennzeichnet die hochwichtigen metho­
delogischen Untersuchungen von Marx. Ihre Diskussion ist je­
doch nicht mehr die Aufgabe der vorliegenden Arbeit.
Jindrich Zeleny
Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen
Materialismus

Bekanntlich wurde unter dialektischem Materialismus in den


letzten hundert Jahren sehr Verschiedenes verstanden. Es
scheint mir nicht sinnvoll zu sein, all diese verschiedenen Kon­
zeptionen in einer oberflächlichen übersieht anzuführen, son­
dern ich möchte unser Thema in erster Linie so fassen, daß wir
unter dialektischem Materialismus verstehen, was Marx als den
»neuen« oder >>praktischen<< Materialismus bezeichnete. Wir
fragen also zuerst nach der Marxschen Auffassung von Wissen­
schaft und wollen diese unter einigen Aspekten erörtern. Da­
bei stellen sich namentlich folgende Fragen :
1 . In welchem Sinn kann die Marxsche Auffassung von Wis­
senschaft, wie sie insbesondere in seiner Kritik der politischen
Ökonomie zum Ausdruck kommt, als ein neuer, spezifischer
Typus wissenschaftlichen Denkens betrachtet werden?
2 . In welchem Sinn hat der neue Wissenschaftsbegriff von
Marx - dessen Selbstverständnis nach - eine Aufhebung der
Philosophie zur Voraussetzung? Es ist dies die Frage nach dem
Verhältnis von Marx zur traditionellen Ontologie.

Zur ersten Frage wurden in den letzten Jahrzehnten nicht


wenige Deutungen geäußert. Um beispielsweise zwei einander
entgegengesetzte und sich ausschließende Auffassungen anzu­
führen, können wir auf Otto Bauer verweisen, der im Kapital
in methodologischer Hinsicht nichts als eine konsequente An­
wendung der Methoden der neuzeitlichen mathematischen
Naturwissenschaft auf das gesellschaftliche Leben sah. >>Marx
hat<< - schrieb Bauer• >>dem Verfahren der mathemathischen
Naturwissenschaft ein neues Arbeitsfeld erobert. << Marx for­
dere eine solche begriffliche Bearbeitung des Historischen, daß
die geschichtlichen Erscheinungen als Einzelfälle eines Bewe-
' Otto Bauer, Die Geschichte eines Buches, in : Neue Zeit, I. Jahrgang,
1 907/o 8 , S. 30 f.

73
gungsgesetzes in einer Gesetzeswissenschaft begriffen werden,
die nach dem Verfahren mathematischer Naturwissenschaft
qualitative Bestimmtheiten auf quantitative Veränderungen
reduziert. Das Historische müsse als Exemplar eines Gesetzes
verstanden werden. Marx habe auf diese Weise das mathema­
tische Bewegungsgesetz der Geschichte entdeckt. Demgegenüber
halten Hyppolite, Bigo und andere Autoren die Marxsche
Analyse und Kritik der bürgerlichen Ökonomie für eine exi­
stentielle Analyse der menschlichen Situation und betonen den
grundsätzlichen Unterschied der Marxschen Methode von der
seiner naturwissenschaftlich orientierten Vorgänger. So schreibt
Bigo• : »Der Ricardianismus im Kapital ist nur eine Fas­
sade.«
Auch die Diskussionen in den sozialistischen Ländern während
der letzten Jahre ergaben eine ähnlich gegensätzliche Deutung
des Marxschen Wissenschaftsbegriffs. Oskar Lange etwa in sei­
nem Buch Ekonomia polityc zna3 (das - nebenbei bemerkt -
eine höchst positive Rolle bei der Modernisierung des mathe­
matischen Apparats des zeitgenössischen marxistisch-ökonomi­
schen Denkens spielt) vertritt die Ansicht, die Marxsche Me­
thode bilde nur einen Spezialfall des in der neuzeitlichen Wis­
senschaft geläufigen Typs von Analyse. Im Kapital seien die
drei Hauptarten des Schließens - Deduktion, Reduktion und
Induktion - angewandt, ganz wie in allen anderen theoretisch
begründeten Erfahrungswissenschaften vor und nach Marx. Im
Gegensatz dazu betonen die Arbeiten des sowjetischen Philo­
sophen Iljenkow die methodologische Eigenart der Marxschen
·
Analyse und den prinzipiellen Unterschied zwischen dem
Marxschen und dem Ricardoschen, überhaupt dem an der neu­
zeitlichen mathematischen Naturwissenschaft orientierten Wis­
senschaftsbegriff. 4
Der kritische Hinweis darauf, daß all diese Interpretationen
unseres Erachtens einseitig und unrichtig sind, kann zur posi­
tiven Kennzeichnung der Matxschen Konzeption von Wissen­
schaftlichkeit selbstverständlich nur wenig beitragen ; doch
kann er als Ausgangspunkt dienen.
2 Cf. seine Schrift Marxisme et humanisme, Paris 1 9 54, S. 2 ,
3 Warschau 1 9 5 9 , S. 8 5-1 3 1 .
4 Cf. etwa sein Buch Dialektika abstraktnogo i konkretnogo v KapitaU
Marksa, Moskau 1 960.

74
Zunächst einmal vermag eine elementare vergleichende Ana­
lyse klarzumachen, daß zwischen dem Ricardoschen und dem
Marxschen Wissenschaftsbegriff kein solcher Hiatus besteht,
wie ihn einige an Marx von Hegels Phänomenologie aus heran­
tretende Autoren behaupten. Ricardos Analyse des Kapitalis­
mus enthält eine Auffassung wissenschaftlichen Erklärens, wel­
che in erster Annäherung folgendermaßen charakterisiert wer­
den kann :
a. Die empirische Oberfläche wird vom Wesen unterschieden.
b. Das Wesen wird als etwas Unveränderliches, für immer Ge­
gebenes, analog zu Newtons Prinzipien angesehen. Die empiri­
schen Erscheinungsformen werden als unmittelbare Ausdrudts­
formen des fixen Wesens verstanden ; sie sind ebenfalls fixiert
im Sinn des Nicht-Historischen ; sie sind aber veränderlich im
Sinn quantitativer Abwandlungen.
c. Die Fragen, welche die Gesamtanalyse zu beantworten hat,
lauten in verallgemeinerter Form :
c a. Welche gesetzmäßigen quantitativen Abwandlungen der
empirischen Formen entstehen in Abhängigkeit von den quan­
titativen Änderungen des Wesens?
c b. Welche gesetzmäßigen Abwandlungen der empirischen
Formen entstehen, wenn sich einige von ihnen, die in Wechsel­
wirkung zueinander stehen, quantitativ verändern?
Untersuchen wir, was aus dem einseitigen Quantitativismus
Ricardos in der neuen Konzeption wissenschaftlichen Erklärens
wird, wie sie Marx' Kapital repräsentiert, so können wir vor
allem feststellen, daß Marx Ricardos Erforschung der Ände­
rungen quantitativer Verhältnisse nicht als bedeutungslos für
das Begreifen der »Natur des Kapitals« ablehnt. Sie ermöglicht
jedoch nach Marx nur eine ungenügende, >>mangelhafte Dar­
stellung« und wird dann »fehlerhaft«, wenn man ihre unter­
geordnete Rolle in der Erkenntnis des Wesens des Gegenstan­
des nicht begreift, wenn sie, mit anderen Worten, für das
Ganze dieser Erkenntnis ausgegeben wird. Marx' Oberwin­
dung des einseitigen Quantitativismus bedeutet nicht, daß bei
ihm der quantitativen Bestimmtheit der Gegenstände eine ge­
ringere Aufmerksamkeit gewidmet würde. Sie wird vielmehr
überall dort gerrauer und vollständiger erkannt, wo das für
die wissenschaftliche Erklärung des Gegenstandes im Sinn von
Marx, das heißt für die dialektisch-materialistische, struktu-

75
reH-genetische Analyse des Gegenstandes bedeutsam ist. Marx
erkennt die Berechtigung einer Begrenzung und Konzentration
auf das Erforschen quantitativer Änderungen für gewisse
Phasen der Wissenschaftsentwicklung an. Diese Einschränkung
kann zum einseitigen Quantitativismus werden, sie kann je­
doch auch eine völlig legitime Phase eines Erkenntnisprozesses
darstellen, der auf dem Boden der Marxschen Auffassung
steht, wenn man sich des Stellenwerts und der Funktion einer
auf das Quantitative begrenzten Erkenntnis bewußt wird.
Würden wir allgemeiner nach Marxens Verhältnis zur neuzeit­
lichen Idee des Mathematismus fragen, wie es in seinem Werk
implizite zum Ausdruck kommt, so würden wir feststellen :
Wenn auch Marx die Idee des Mathematismus in ihren absolu­
tistischen Ansprüchen ablehnt, so hält er deshalb nicht wie
Hegel die mathematische Erkenntnis für eine prinzipiell infe­
riore Wissensart, die nicht zu einer »wahrhaft wissenschaft­
lichen« Erkenntnis gehören sollte. Er setzt sich vielmehr für
eine maximale und potentiell zunehmende Anwendung von
Mathematik in der Erkenntnis ein, und zwar auch in bezug
auf Prozesse dialektischen Charakters. (Bemerkenswert ist in
dieser Hinsicht ein Brief von Marx an Engels über den Ver­
such, »die Hauptgesetze der Krisen mathematisch zu bestim­
men«.s)
Sosehr sich Marx in der hohen Wertschätzung des mathema­
tischen Wissens von Hegel und dessen »Philippiken gegen die
Zahl«6 distanziert, so wesentlich und unabdingbar ist seine
Nähe zu Hegel und die Anknüpfung an ihn in vielen Grund­
fragen der Struktur von wissenschaftlicher Erklärung und
Kritik des Kapitalism1,1s - in dem, was Marx »dialektische Ent­
wicklung«, »dialektische Ableitung<< oder »dialektische Deduk­
tion« nennt.
Marxens »dialektische Entwicklung<< als »die Art für das Den­
ken, sich das Konkrete (theoretisch) anzueignen, es als ein gei­
stig Konkretes zu reproduzieren<<7, stellt eine strukturell-gene­
tische Analyse sui generis dar. Sie drückt in konzentrierter

5 Brief vom 3 1 . 5· 1 87 3 , in : Marx/Engels, Werke, Band 3 3 , Berlin 1966,


s. 82.
6 Cf. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in : Werke, Band 3 , Berlin
1 962, S. 5 0 I .
7 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 I , S. 2 5 7.
Weise die immanente Natur des untersuchten Gegenstands aus.
Die Inferenz-Relation, die der »dialektischen Ableitung« zu­
kommt, hat die äußere Gestalt des Hervorgehens eines Begriffs
aus dem anderen. Durch ihren Gehalt aber ist sie Ausdruck der
prozessualen Struktur der wirklichen Formen. Sie hängt also
von einer neuen Konzeption der ontologischen Struktur der
Wirklichkeit ab. Marx knüpft kritisch an die Gedanken über
die ontologische Struktur der Wirklichkeit an, welche die deut­
sche Transzendentalphilosophie, insbesondere Hegel, im Ge­
gensatz zur Galilei-Descartesschen Wissenschaft und ihrer Auf­
fassung von Bewegung und Kausalität ausgesprochen hat.
Dabei wird von der materialistischen Deutung des Hegeischen
Geistbegriffes ausgegangen, das heißt vom zu erkennenden Ge­
genstand als einem widerspruchsvollen »Werden«, als einer
>>Bewegung des Sichselbstsetzens<<, als der >>Vermittlung des
Sichanderswerdens mit sich selbst<<. Die >>dialektische Entwick­
lung<< hat die wirkliche Struktur des Gegenstands als eines
reich gegliederten, selbstbewegten Ganzen zur Grundlage und
ist nach Marx zur Erkenntnis von Realitäten solcher Art un­
umgänglich.
Ich bin mir dessen bewußt, daß ich in der soeben angedeuteten
generellen Charakteristik einige Begriffe gebraucht habe, die
vieldeutig sind - etwa >>ontologische Struktur« oder kritische
>>Anknüpfung<< an Hegel. Es gilt im weiteren zu klären, was
damit im Zusammenhang mit dem Wissenschaftsbegriff des
dialektischen Materialismus gemeint ist. Bevor ich mich dieser
Aufgabe unterziehe, ist noch zu bemerken, daß Marx die wis­
senschaftliche Darstellung des von ihm erforschten Gegenstan­
des in Gestalt der >>dialektischen Entwicklung<< nur unter eini­
gen Bedingungen für berechtigt hielt :
a. Unter der Bedingung, daß die vorangegangene Forschungs­
tätigkeit genügend viel Erkenntnisstoff bereitgestellt hat, der
sich letztlich aus der Sinneswahrnehmung herleitet8 ;
b. daß das untersuchte, sich entwickelnde Ganze in der Wirk­
lichkeit ein gewisses Reifestadium erreicht hat, und zwar der­
art, daß seine inneren notwendigen Zusammenhänge hervor­
getreten sind und ihre Tendenzen offenbart haben ;
8 Cf. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 3 ,
S. 2 3 ; Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil, in : Marx/Engels, Werke,
Band 26.3, Berlin 1 968, S. 49 1 .

77
c. daß »die dialektische Form der Darstellung ihre Grenzen
kennt<ä; die theoretische Darstellung des sich entwickelnden
Ganzen durch >>dialektische Entwicklung« muß notwendiger­
weise an gewissen Punkten auf die historisch-faktische Wirk­
lichkeit als ihre konstatierte, dialektisch nicht mehr ableitbare
Voraussetzung stoßen.
Hier ist nicht der Ort, ausführlich die einzelnen Vorgänge und
logischen Formen zu diskutieren, wie sie im ökonomischen
Werk von Marx zur Geltung kommen - wiewohl dies im Zu­
sammenhang mit unserem Thema wichtige Resultate bringen
könnte, zum Beispiel, was die Konzeption von Analyse und
Synthese anbelangt, die Konzeption der Grund-Folge-Bezie­
hung oder des Charakters der dialektischen Deduktion im
Vergleich zur formal-logischen Folgerung aus der Defini­
tion etwa bei Tarski. Wir sind aber - unserem Thema gemäß ­
am Marxschen Wissenschaftsbegriff nicht nur im Hinblick auf
seine konkrete Anwendung bei der Analyse der bürgerlichen
Okonomie interessiert, sondern wollen ihn in seiner allgemei­
neren Problematik untersuchen. Es scheint mir, daß das
Grundlegende zu dieser allgemeineren Problematik der Wis­
senschaftsauffassung von Marx vom Standpunkt des »prakti­
schen« Materialismus in seinen Werken dargelegt wurde, die
um die Mitte der vierziger Jahre entstanden, das heißt wäh­
rend seiner Entwicklungsphase von den Pariser Manuskripten
zur Deutschen Ideologie. Bekanntlich formuliert Marx hier die
Voraussetzungen eines neuen Wissenschaftsbegriffs vermittels
der Kritik der spekulativen, überhaupt aller »ideologischen«
Philosophie und Theorie. Anstelle der spekulativen und ab­
strakt-materialistischen Auffassung von Natur und Geschichte
will er - wie er sagt - >>die wirkliche, positive Wissenschaft, die
Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Ent­
wicklungsprozesses der Menschen« setzen.10 Was soll das für
eine Wissenschaft sein? Wie ist eine solche Wissenschaft mög­
lich? Bei Marx findet sich keine im Sinn der Kantischen Er­
kenntniskritik gestellte Frage nach den Bedingungen der Mög­
lichkeit, nach der Grundlegung einer solchen Wissenschaft, weil
er die ursprüngliche kritizistische Fragestellung selber noch als
9 Cf. Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, ibid. , S. 364 f.,
S. 945 und passim.
10 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in : ibid. , S. 27.
»unkritisch<<, als einen Rückfall in spekulatives Philosophieren
angesehen hätte.
Obwohl eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Kants
Kritik der reinen Vernunft bei Marx - soweit ich sehe - unter­
bleibt, treten seine Gründe für eine grundsätzliche Ablehnung
des Kantischen Denkansatzes etwa in der Deutschen Ideologie
ziemlich klar hervor. Menschliche Wissenschaft - und es gibt
keine andere - ist nach Marx eine spezifische und arbeitsteilig
abgesonderte Tätigkeitsform der wirklichen Menschen, das
heißt der Menschen, wie sie materiell und geistig produzieren,
also »wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Will­
kür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingun­
gen tätig sind<< . 1 1 Das Denken, auch das in wissenschaftlichen
Formen sich bewegende Denken, ist ein Moment des prakti­
schen, gesellschaftlich-individuellen Lebensprozesses der Men­
schen. Soll eine Untersuchung der Denkformen, einschließlich
des Begründungsproblems der Wissenschaft, nicht abstrakt (im
Marxschen Sinn), spekulativ, >>ideologisch<< sein, so muß sie
von vornherein diesen Momentcharakter des menschlichen Be­
wußtseins und Denkens innerhalb des praktisch-historischen
Lebensprozesses berücksichtigen. Da die Kantische Fragestel­
lung dies nicht tut, ist sie als spekulativ und »ideologisch<< zu
verwerfen.
Die Analyse und gedankliche Reproduktion des wirklichen Le­
bensprozesses der Menschen in der Epoche der bürgerlichen Ge­
sellschaft ist für Marx zugleich die Grundlage der Analyse und
Kritik der Formen des zur kapitalistischen Ära gehörenden
wissenschaftlichen Denkens, die Grundlage des rechten Ver­
ständnisses des hier herrschenden Typs von Rationalität. In
diesem Sinn ist Marxens Auffassung des Problems der Grund­
legung von Wissenschaft eine Negation und prinzipielle Auf­
gabe des Kantischen Ansatzes. Versuchen wir nun zu skizzieren,
worin sie trotzdem eine Anknüpfung an einige Grundmotive
der deutschen Transzendentalphilosophie darstellt, worin sie
diese fortentwickelt.
Indem Marx in seiner ersten These über Feuerbach seine Auf­
fassung der Wirklichkeit von der Feuerbachschen· abhebt, for­
muliert er seine Differenz von der Transzendentalphilosophie
und gleichzeitig seine Anerkennung ihres theoretischen Bei­
u Ibid., S. 2 5 .

79
trags. Der Hauptmangel des bisherigen Materialismus beruht
nach Marx darauf, >>daß der Gegenstand, die Wirklichkeit,
Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschau­
ung gefaßt wird ; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit,
Praxis ; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Ge­
gensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der na­
türlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt ­
entwickelt« . 1 2
Will Marx sagen, der Gegenstand, die Wirklichkeit müsse nicht
nur unter der Form des Objekts und der Anschauung, sondern
auch als menschliche Tätigkeit, Praxis aufgefaßt werden (wo­
bei dann allerdings weitere Fragen entstehen, etwa, wie dieses
>>Nicht-nur-sondern-auch« aufzufassen wäre) ? Oder soll Mar­
xens Kritik des Feuerbachsehen und alles bisherigen Materialis­
mus bedeuten, die Wirklichkeit sei ausschließlich als mensch­
liche Tätigkeit aufzufassen, wobei keine Wirklichkeit existierte,
die unter der Form des Objekts aufgefaßt werden könnte? Ich
halte die erste Interpretation für den richtigen Ausgangs­
punkt.
Die Belege' 3, die ich hier selbstverständlich nicht ausführlich
anführen kann, scheinen mir zu beweisen, daß die erste Feuer­
bach-These nicht im Sinn einer Reduktion aller Wirklichkeit
auf die praktisch-menschliche Tätigkeit zu interpretieren ist,
wie zum Beispiel der junge Lukacs in seinem einflußrei­
chen Werk Geschichte und Klassenbewußtsein anzunehmen
scheint.'4
Vom Standpunkt des >>praktischen« Materialismus erscheint
Marx die traditionelle Kontraposition von Bewußtsein und
Gegenstand, von Denken und Sein vereinfachend und abstrakt.
(»Abstrakt<< zunächst in der Bedeutung des Feuerbachsehen Be­
griffs des Abstrakten, das heißt »losgelöst vom wirklichen
Menschen « . Marx ersetzt freilich die Feuerbachsehe >>ideologi­
sche<< Auffassung des Menschen durch seine eigene ; dann hat
die Antithese »abstrakt-konkret« einen anderen Sinn als bei
Feuerbach. Auch dieser ist für Marx noch abstrakt in allen sei­
nen philosophischen Konzeptionen, sofern ihm nämlich eine ge-
u Ibid., S. 5 .
1 3 Cf. etwa ibid., S. 379 oder S. 447, ferner S. 4 5 2 f. und passim.
1 4 Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1 9 2 3 , S. 2 8 ,
S. 1 60 u n d passim.

So
schichtlieh-praktische Auffassung von Mensch und Wirklichkeit
fehlt.)
Das Denken ist allemal ein Moment des Seins' s , wobei unter
»Sein<< die »praktische« Konzeption der Wirklichkeit ver­
standen wird. Auf Grund eines derart aufgefaßten Seins
unterscheidet Marx bei der Analyse der gesellschaftlichen
Wirklichkeit, die er vor sich hat, verschiedene Formen der
Gegenständlichkeit:
I. Diejenige, die von Menschen geschaffen wird, durch das Zu­
sammenwirken vieler Individuen entsteht und je nach den ver­
schiedenen sozialen Bedingungen a) entweder gegen die tätigen
Individuen als fremde Macht in Form einer äußeren Notwen­
digkeit auftritt, oder b) nicht diesen Charakter einer entfrem­
deten Gegenständlichkeit hat, ein Moment bewußter Selbstver­
wirklichung der Menschen ist ;
2.. die Gegenständlichkeit, deren Existenz nicht durch die Tä­

tigkeit der Menschen vermittelt wird, die also etwas »ohne


Zutun des Menschen<< 16 Vorhandenes ist und je nach den histo­
rischen Bedingungen früher oder später als materielles Substrat
in den menschlichen Arbeits- und Lebensprozeß einbezogen
wird ;
3 · die Gegenständlichkeit menschlicher Subjektivität als Mo­
ment der gesamten Praxis.
Die wissenschaftliche Aufgabe des »Begreifens der Praxis«
wird allerdings für Marx nicht dadurch erfüllt, daß in den
Thesen über Feuerbach und in der Deutschen Ideologie die all­
gemeinsten Bestimmungen einer neuen, keineswegs objektivi­
stischen, aber auch nicht subjektivistischen Auffassung der
Wirklichkeit herausgearbeitet werden. Auch die Beziehung des
Allgemeinen und Besonderen wird wie alle traditionell proto­
philosophischen Fragen im >>praktischen<< Materialismus Mar­
xens neu gefaßt. Verstünden wir diese allgemeinsten Bestim­
mungen (Subjektivität-Objektivität, »Wesen« des Menschen
und andere) als überhistorische Abstraktionen, als formelle,
auf Subsumtion beruhende Allgemeinheiten, wären wir uns
nicht dessen bewußt, daß sie in ihrer Abstraktheit zum
Verständnis der Praxis in ihrer jeweils historisch bestimmten
konkreten Form nicht ausreichen, dann würden wir - laut
x s Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in : ibid., S. 246.
x6 Marx, Das Kapital, Band I , Berlin 1 9 5 5 , S. 47 ; cf. aum S. x 8 6.

8!
Marx - den historischen Boden verlassen und befänden uns
wieder im Bann der Ideologie.'7 »An sich, losgelöst von der
wirklichen Geschichte, haben diese Abstraktionen überhaupt
keinen Wert.« 1 s Werden sie aber als geschichtlich vollzogene
Abstraktionen aufgefaßt, so haben sie, was Marx insbesondere
in der Polemik gegen Stirner zu beweisen sucht, große philoso­
phische und methodologische Bedeutung. Sie sind ein Moment
des wirklichen Wissens, unerläßlich für das »Begreifen der Pra­
xis« und damit auch für die wirklich revolutionäre, die >>Um­
wälzende<< Praxis.
Eine ausführlichere Interpretation des problemgeschichtlichen
Zusammenhangs des Marxschen WissenschaA:sbegriffs mit der
Behandlung der >>tätigen Seite<< im deutschen Idealismus müßte
von Kants >>transzendentaler Deduktion der reinen Verstan­
desbegriffe<< ausgehen, bei der die Erfahrung und Erfahrungs­
realität im wesentlichen als Verstandeshandlung und deren
Produkt, also unter der Form eines Tuns aufgefaßt wird. Man
müßte verfolgen, wie Fichte den Ansatz des Karrtischen Tran­
szendentalismus durch die Liquidation des »Dinges an sich<<
radikalisiert und den Weg zur Dialektik der Subjekt-Objekt­
Beziehung, damit zu einer Theorie des Seins als eines Produ­
zierens freimacht ; wie SeheHing die Karrtische Idee eines >>intel­
lectus archetypus<< fortführt und den Transzendentalismus um
die gesellschaA:lich-historische Dimension bereichert ; wie Hegel
bemüht ist, mit der Lehre von der Selbstproduktion des Geistes
auf der Basis des Transzendentalismus eine konsequentere
Theorie der Gesamterfahrung und zugleich der Freiheit zu ge­
ben, als es Kant, Fichte und SeheHing vermochten. An die
Hegeische Philosophie der Selbsterzeugung des Geistes knüpf!:
Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten an bei
seiner Diskussion der philosophischen Voraussetzungen seiner
Kritik der politischen Ökonomie und seines damaligen, von
Feuerbach inspirierten Kommunismus. Die Selbstproduktion
des philosophischen Selbstbewußtseins, wie Hegels Phänome­
nologie sie schildert, wird als spekulativer Ausdruck des ge­
schichtlichen Prozesses der Selbsterzeugung des Menschen er­
klärt ; diese Konzeption wird dann in der Deutschen Ideologie
17 »Ideologie• in der von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie
verwandten Bedeutung. Cf. ibid., S. zs f., S. 461 , S. 466 ff.
I 8 Ibid. , s. Z7 0

82
nach Ausschaltung der eschatologischen und >>ideologischen<<
Elemente Feuerbach-Regelseher Provenienz kritisch zu einer
>>praktischen<< Auffassung der Wirklichkeit im Sinn des >>neuen
Materialismus<< fortgebildet.
Eine grundlegende Rolle für den von Marx in den Thesen über
Feuerbach und in der Deutschen Ideologie erreichten philoso­
phischen Standpunkt spielt also weder die Frage der Beziehung
von >>Substanz« und >>Subjekt<<, noch der Begriff »Mensch
überhaupt<<, noch der einer »Materie überhaupt<< 1 9, noch sonst
ein Prinzip im Sinn der alten Ontologie, sondern die »prak­
tische<< Auffassung von Wirklichkeit und Wahrheit. Den Platz
der alten, vorkritischen Ontologie nimmt die niemals abge­
schlossene, mit der Entwicklung der menschlichen materiell­
geistigen Praxis stets von neuem sich ergebende Untersuchung
und Klärung der »Onto-praxeo-logischen<< Problematik ein, je­
ner also, die bruchstückhaft und embryonal in den Thesen über
Feuerbach skizziert ist. Insofern kann man in Marxens »prak­
tischer« Auffassung der Wirklichkeit eine neue Antwort
respektive den Keim neuer Antworten auf jene Fragen sehen,
welche die traditionelle Ontologie und auch die deutsche Tran­
szendentalphilosophie gestellt hatten. Es ist dies eine Antwort,
welche die Destruktion der vorkantischen, »dogmatischen«
Ontologie in wesentlichen Punkten voraussetzt und akzeptiert
und auf einem durch die neuzeitliche Transzendentalphiloso­
phie vorbereiteten Boden entsteht.
Der »onto-praxeologische<< Standpunkt Marxens knüpft darin
an das Denkmotiv des Kamischen Transzendentalismus an,
daß Marx, wie vor ihm Kant, die Gegenständlichkeit, die
Wirklichkeit nicht als etwas einfach Gegebenes auffaßt, was
vom Menschen unmittelbar, bloß rezeptiv angeeignet und er­
kannt werden kann. Beide Denker fragen nach der mensch­
lichen Vermittlung der Wirklichkeit und Wahrheit. Es besteht
selbstverständlich ein großer Unterschied darin, wie Kant und
Marx diese Frage beantworten. Der praktische und geschicht­
liche Materialismus Marxens hat neue Dimensionen : der pro­
blemgeschichtliche Zusammenhang mit der deutschen Tran­
szendentalphilosophie bleibt aber wesentlich.
Aus dem Bereich der onto-praxeologischen Untersuchungen
möchte ich zum Schluß noch ein Problem berühren, das mit der
19 lbid., S. 81 ff.
Frage der allgemeinen Gültigkeit der in der Marxschen Kritik
der bürgerlichen Ökonomie angewandten strukturell-geneti­
schen Analyse, mit ihrem Grundbegriff der >>konkreten Totali­
tät«, mit ihrem notwendigen Fortschreiten vom Abstrakten
zum Konkreten zusammenhängt. Marx bindet seine Methode
1 . an den untersuchten Stoff ; 2. an die Entwicklungsstufe der
gegebenen Wissenschaft (das heißt der Erforschung des gegebe­
nen Stoffs) ; 3· an die Entwicklungsstufe des untersuchten
Gegenstands. Schon daraus folgt, daß man das Verfahren der
Analyse, wie es in der dialektisch-materialistischen Kritik der
bürgerlichen Ökonomie vorliegt, keineswegs als fertiges Schema
verwenden kann und daß alle Versuche, die im Kapital vor­
kommenden Denkformen zu verabsolutieren und in verallge­
meinerter Form als System einer »dialektischen Logik« zu
fixieren, mißlingen müssen. Wenn der Wissenschaftsbegriff des
»praktischen« Materialismus eine Enthüllung der »spezifischen
Logik des spezifischen Gegenstandes« fordert, dann sind damit
radikal alle Versuche abgelehnt, aus einer vor hundert Jahren
durchgeführten Analyse eines historisch-konkreten Gegen­
stands eine fertige dialektische Methodologie zu abstrahieren
- Versuche also, die marxistische Dialektik im Geiste Lassalles
um- und mißzudeuten. Dadurch wird allerdings zugleich ein
ganzes Gebiet bis jetzt wenig bearbeiteter Probleme eröffnet,
derjenigen, die sozusagen auf einer zweiten Allgemeinheits­
ebene liegen ; so die Frage, wie diese Konkretheit und Verän­
derlichkeit verstanden werden soll, wie der Übergang von den
traditionell-logischen Denkschritten zu den dialektischen, wie
das jeweilige Eingehen analytisch gewonnener Begriffe ins
Ganze der dialektischen Untersuchung aufzufassen ist.
Der Begriff des >>logischen Typus wissenschaftlichen Denkens <<
setzt, sofern er mit Rücksicht auf die vormarxistischen Ent­
wicklungsstufen der menschlichen Erkenntnis gebraucht wird,
eine gewisse Stabilität der kategorialen und allgemein-metho­
dologischen Konzeptionen voraus. Infolge seiner Konkretheit
und seines »praktischen« Charakters kennt der dialektische
Materialismus jedoch nicht jene Stabilität der Konzeptionen,
durch die sich etwa der Galileische oder Lockesche Denktypus
auszeichnete. Ein stabiles Element (und eine neue, relative Sta­
bilität der zweiten Ebene) ist, im Gegenteil, die ständig neu
entstehende Notwendigkeit, die relative Stabilität der ersten
Ebene in der Entwicklung des Marxismus (als Moment der Ge­
sellschaftsentwicklung) zu überwinden.
Der Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus in sei­
ner ersten Entwicklungsphase, das heißt in der Marxschen Kri­
tik der bürgerlichen Ökonomie, Politik und Philosophie, ist
wesentlich an diejenigen Formen des praktischen Lebenspro­
zesses der Menschen gebunden, welche durch Versachlichung
der Personen und Versubjektivierung der Sachen gekennzeich­
net sind. Unter Teilnahme der heute lebenden Generation
scheint diese Grundstruktur des praktischen Lebens in Bewe­
gung geraten zu sein, insbesondere irrfolge der bisherigen Re­
sultate der revolutionären Arbeiterbewegung und der fort­
schreitenden technisch-wissenschaftlichen Revolution. Sehen
wir in diesen Umwälzungen eine Tendenz, neue Lebensformen
durchzusetzen, unter denen nicht mehr die abstrakte Arbeit
und verselbständigte Bewegung der Wertverhältnisse, sondern
>>die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums [ . . . ] als
der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums « 1 0
erscheinen wird, dann muß diese Ansicht weitreichende Folgen
für den Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus
der Gegenwart haben. Es gilt, die Auffassung des Logischen
und der Rationalität entsprechend der neuen Phase der prak­
tisch-theoretischen Kritik der bürgerlichen Epoche auszuarbei­
ten - und damit den Marxschen Wissenschaftsbegriff kritisch
weiterzuentwickeln.
Es läßt sich bezweifeln, ob man dieser Aufgabe mit Konzep­
tionen gerecht wird, die zwar auf der Oberfläche radikal kri­
tisch aussehen, im Grunde aber bloß den durch die Stalinsche
Interpretation naturalistisch vereinfachten Marxismus-Leninis­
mus umkehren. Wenn etwa der Heidegger-Marxismus die Um­
kehrung von Subjekt und Objekt im Kopfe »korrigiert«
und der menschlichen Subjektivität den Vorrang gibt, so
äußert er letztlich nur einen romantischen Protest gegen die
Versachlichung der Personen und bewegt sich im wesentlichen
innerhalb der Polaritäten und Grenzen derjenigen Denkfor­
men, die der mit den kapitalistischen Wertverhältnissen ver­
bundenen Umkehrung von Subjekt und Objekt eigen sind.
Diese Fragen bedürfen natürlich einer besonderen Untersu­
chung und Interpretation. Wir waren bemüht, hinsichtlich die­
zo Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, ibid., S. 593 ·
ser offenen Probleme des gegenwärtigen Marxismus einen Blick
zurückzuwerfen auf den Zeitabschnitt, in dem der Wissen­
schaftsbegriff des dialektischen Materialismus entstand, um
einige seiner Aspekte hervorzuheben, die uns wichtig erschei­
nen für die Lösung seiner theoretischen Aufgaben in der
Gegenwart.
E. W. Iljenkow
Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten
im >Kapital< von Marx

Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten

I Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin ' 9 5 1 > S. 2 5 7 ; 2 5 8 .


2 Ibid., S. 2 57.
3 Ibid.
Geis,es«, Liest einer die zitierten Sätze un a t s1 a e1 a n
eine solche Auffassung des Abstrakten und des Konkreten,
welche die des engen Empirismus und des Neukantianismus ist,
so verfällt er ins Absurde und verfehlt die Theorie der Wider­
spiegelung völlig. Man unterliegt dann dem Trug, als empfehle
Marx auszugehen von der Abstraktion des Geistes als einer
unmittelbaren Gegebenheit, um sich aufzuschwingen zum Ab­
bild der lebendigen Anschauung wie zu etwas Sekundärem,
vom Denken Abgeleiteten. Es ist deshalb bei der Marx-Lektüre
vor allem erforderlich, darauf zu achten, daß man sich nicht
durch Auffassungen beirren läßt, die unkritisch irgendwel­
ch� n vormarxistischen und neukantianischen erkenntnistheore­
tischen Traktaten entlehnt sind.
Unter dem Gesichtspunkt der Bestimmungen, die Marx selbst
vom Abstrakten und Konkreten geliefert hat, charakterisieren
die angeführten Sätze genau die Dialektik des Obergangs von

der l�b�_n.digen Anschauung z� äbStrakten Denken, ':Qn An­
schauung un� Vorst_�llung zum Begriff, vom Konk���l!>- wie�
der A11sch�!!!:IP.g Ul}.<i.Yorstellung gegeben ist, ZJ.lm �on.kiTlc:ll.�­
wie es sich im theoretischen Denken manifestiert. Marx ist vor
. -
alle m em Materialist. Er geht, mit anderen' W�rten, von der
Tatsache aus, .J!e!Lalle Abstraktionen, mit deren Hilfe, mit
deren Synthese der Theoretiker die Welt denkend rekonstru­
iert, g,ein,ig$; � partikulärer Momente qer objekt!ven
�i!:kli��!!. ��lbe!:_E_arstelk&_Momente, die von der An.�.lY:�L
_a� �J...!IE.<Jen. Anders gesagt, es versteht sich hier von
selbst, daß jede für sich genommene Bestimmtheit da!'J>roqukt_
� Yeri!llg.emeinerung und Analyse unmittelbarer Ge_gebcm:
h�it};P. E�.r-�ch_� uung ist:. In t!_��c:._�_f!:!_n_g !}�-�!.!!!22i n!!!
__

ist sie das Produkt T - der >>Reduktion<< des Konkreten in der


wf�k.ü�k:ei't...�� s ei�e n zusammenfassend�g-51:.�ten.
Ausdruck im Bewußtsein. Was die Bestimmungen angeht, de­
ren sich die vormarxistische politische Ökonomie bediente, so
88
erklärt Marx, daß sie allesamt Produkte der Bewegung des
vorstellungsmäßig Konkreten sind - hin zu immer dürreren
Abstraktionen. !?,eJ.h�l!?.. .�ei,UJ,�(!ichnc,t . . er _den . yog .,g�r . po]i#­
��E .Q k��9���ß!�chi�,!!i �Lz..�r��g_e��g!�':!... Weg als einen,
__

o er vo� -������-��-Kon_!net::_I!._.J�!!!J._ zunächst zu


�-��n.,��.ll: i\!lg��lj_J:!�J�I?:� .f!i.h!:t.��
. ..
.E:J.l:.q� t dann von diesen zu
.

!ti!l(:JJLSxswn ...za.L,,e.iner Sxnthese, einer Verbindung von Ab-


.Str�lgi()g�g)_4i!! .!!iB�1'h!:<>.rit:.Ril9.�:_Die »Reduktion« der kon­


..

kreten Fülle der Wirklichkeit auf ihren abstrakten Ausdruck


i-;:;;-Jk-;-��- ßt��i�-i� =-;-i�-;;�- ���lbst versteht - die Bedin­
;;:
gu g;-�J.;;;:�;.;;,:;;I;ne keine theoretische Spezialforschung sich ent­
falten oder auch nur anfangen kann. Mehr noch, sie ist nicht
nur ein��_r.pi sse«... eine vorgeschichtliche Bedingung der
theoretischen Aneignung der Welt, sondern auch !::i,!l_Qrg�lli:­
sches _Mom�n.tcJ�s.J)rgz��S�S.. .S..dw t, worin ein System wissen­
schafl:licher Bestimmungen aufgebaut wird, das heißt ein Mo­
nt s Iäti.&k.f!i_t ,<!e�Qeistes :··--
--­

.lll� g�!..§Y!!!h� .i!��den


... . - -- ---

Wohlgemerkt, der Theoretiker findet die Bestimmungen, die


er zu einem System gestaltet, nicht im Stadium (auf der
»Stufe<<) von Erkenntnis fertig vor. Keineswegs erschöpft sich
seine Aufgabe darin, magere Abstraktionen formell zusam­
menzustellen und die dafür bekannten Regeln anzuwenden.
'JIenn .. er die_ .Y-Il.r:!�z.e!!.<!e.!.l�ereits gewo�enen Abstraktion�
Z.l!l!l_ §yge_l11_orga!!�!i�!. u.n�er:wi r:f.l:. .�:r: .�.i.e ste� krit!�<h�h.P.�
__

Jys�.i.. �LY��,&e1 J.nd�_!ll_!!:.�.. ie den Tatsachen ge�über­


_§J:�h .1!9-.Q.i.O i� .ze'Yi�s�JI!_Sin,!l sogar den Prozeß wie erhol_t,
. .

..deL§i@ _y_Q.m.. .Konkreten in der Wirklichkeit zum Abstrakten


l.rn .Q�nk�urh�_Q t. Peshai b .is u!i".S�..t:�b..!;l.�.tieg « nich!_���E..�E..<!
nicht so sehr eine >>Prämisse<< des Aufbaus eines wissenschaft-
.. .- .......... ..-... . . . . . - . .

�s���m� als :vidm�bt. �ÜLorgani§sb�s M.Q.m .. . . ··-�---·····-------··J


�n.L<;lic,§.�i.AJJ
.. .. ....�.. ··· ••··----..
-
__

baus selbst.
-:Bi; einzelnen abstrakten B_estimmungen, deren Synthese das
»Gedankenkonkretum<< lief�r.S bilden sich im Verlaufe eben
dieses Prozesses erst heraus. Daher ist der theoretische Prozeß,
der zur konkreten ErkenntlJ5"" flihrt;--z.t;-greJ.Chäüch äuf jeder
seiner Etappen wie in seiner Totalität ein Prozeß der Reduk­
tion des Konkreten aufs Abstrakte. Man kann auch sagen, daß
..4.�� -�.lli�!.�i.ge.p. vom Konkreten zum Abstrakten auf der einen
- ��it_l:! .\111� d��.All.f��!!ize.l:! OY.!?m .A�.m:i!!Hm.m Ko nkmen aufl
_4e.r2.!14�ren zwei Formen sind_._.die sich.JWm...t�Qretischen An : -
.,eignungsprozeß der Welt im >>abstrakten Denk��- we!h��tsei­
!iK. imPli��,. Eine jede realisiert sich nur vermit�-�.J!lres
Gegenteils, in der Einheit mit ihm. Der Aufstieg vom Abstrak­
ten zum Konkreten würde sich ohne sein Gegenteil, den Auf­
stieg vom Konkreten zum Abstrakten, in ein rein scholastisches
Zusammenfügen magerer Abstraktionen verwandeln, die, fer­
tig vorliegend, von irgendwoher aufgenommen werden. Um­
gekehrt kann eine Reduktion des Konkreten aufs Abstrakte,
die auf gut Glück erfolgt, ohne eine allgemeine Idee klar kon­
zipierter Forschung, ohne Hypothese, ebensowenig eine Theo­
rie liefern und wird es auch nicht. Höchstens einen ungeordne­
ten Haufen kahler Abstraktionen.
Warum aber macht Marx, der all das berücksichtigt, gerade
aus derjenigen Methode, die darin besteht, >>vom Abstrakten
zum Konkreten aufzusteigen«, die einzig wissenschaftlich mög­
liche und richtige Methode der theoretischen (widerspiegeln­
den) Aneignung der Welt? peshalb, weil die Dialektik (im
Gegensatz z;um EklduiW��m .P.J:iigi,p_��il! et?
��Jis®iw,._.�n.9�mJ�1s m.e _pJ:g!m!!l�mi!<.. ..

herrschende Seite beze\41Jl!<h. ..4eLM.Q!!l�!l1 .d.�X.,.,l;.inh�iJ Ji�r


��ide.nd.�.c.

j.§t Es ist . dies ein AxiQm.


der Dialektik.
I�--d�� Ta·t ·n't�cht es die Besonderheit des Prozesses der theore­
tischen Aneignung (im Unterschied zur einfachen empirischen
Kenntnisnahme der Tatsachen) aus, .rl.e� ic::�.�J�Lsif!L.&enom­
mene »Abstraktion« sich im Verlaufe der allgemeinen Bewe­
gung des Fonchens h�rausbildetl jp. einer Bewegung, die zu
..

einer immer�en1 voll_�-�!14iKC::.!'�lo!.t.A.��-��-LkQ!l.k�


,b.uffassung des Objekts führt. J e <!e j�g!i.�!:.!�_Y.e..r��in�: .

.!�l}g (derc;:n Formel lautet : »VOm Konkreten Z�_!!! AbstraJt..:


!e!l«} hat deshalb nur den Sin.!h.. ein2_<hÖ.!1.�m �.Q.!J.Jg!:.�J.�r.:.
_g_r.c::Jf�Eil <!�L�irklichkeit ZU �l!l-�uL�i!l_�_tp._ W�e_ge,,.g_c�r si.sh YQ!!l
�rik.t.�:n Spiegcolp.�j��,i.m_De_i!!tel!._z_\!.§.ctinem. stet�
.. .

. ko_gkr��qJ.!EMi,c:n Ausdr!:!._ck i!!!,.�iff erhebt.


Ist ein gegebener Akt der Verallgemeinerung nicht zugleich ein
Schritt vorwärts in der Entwicklung der Theorie, auf dem
Wege, der von einer schon erreichten zu einer neuen, vollstän­
digeren Erkenntnis führt, bringt er nicht die Theorie insgesamt
voran, bereichert er sie nicht um eine neue allgemeine Bestim­
mung (sondern wiederholt nur Bekanntes), dann ist dieser Akt
vom Standpunkt der Entwicklung der Theorie ganz einfach
sinnlos. Anders ausgedrückt : das »Konkrete« {das heißt die
��u�te�bE�.<:l!�ne Bewegung hin zu einem stets konkreteren Be�
greif�n) igJ�j_er das spezifische Ziel des theoretischen Denkens,
Insofern bestimmt das »Konkrete« gesetzmäßig die Hand­
lungsweise des Theoretikers (es geht hier, wohlgemerkt, um
geistiges Handeln) in jedem einzelnen Fall, bei jeder Verallge­
memerung.
Unter diesem Aspek� ist das >>!\!>.�trakte<< nicht_g�.rZ.weck, son­
dern nur das Mittel des theoretischen Prozesses. und jeder Akt
der Verallgemeinerung (das heißt der Reduktion des Konkre­
ten aufs Abstrakte) erscheint als >>verschwindendes<< Moment
in der allgemeinen Bewegung. In der Sprache der Dialektik ist
ein >>verschwindendes Moment« ein solches, dem, abgelöst von
anderen Momenten, keine eigene Bedeutung zukommt, sondern
nur im Zusammenhang, in lebendiger Wechselwirkung mit je­
nen, im Übergang. So steht die Sache. _Als Dialektiker begnügt
sich Marx nicht damit, einfach die Tatsadte festzusteHen, daß
cj�� _ p_ro:z;eß des theoretis.cit.� n De_n_�en� ebe�so -�ie �c:w�0.ig
YomX<mkreten zum Abstrakten wie die vom Abstrakten zum
Konkreten beinhaltet� sondern er hebt vor -aiiem -(fle -Form- der
penkbe�eg��g"h�r�o�� �di�- i�-bet�;:dlt�ten - Fair vöriler�sdlt
lmd das Gewil=ht der ihr entgegengesetzteii"Form besi1ffill}i� .In
der spezialisierten theoretischen Forschung herrscht die sich
vom Abstrakten zum Konkreten erhebende Form vor. Sie 1st'
deshalb die spezifische Form theoretischen Denkens.
Das bedeutet natürlich keineswegs, daß die andere Form völlig
fehlt, sondern allein, daß die Reduktion der konkreten Fülle
der Tatsachen auf ihren abstrakten Ausdruck im Bewußtsein
weder die spezifische noch die bestimmende Form der theore­
tischen Widerspiegelung der Welt ist. Der Mensch ißt, um zu
leben und lebt nicht, um zu essen. Aber man müßte verrückt
sein, daraus zu folgern, der Mensch müsse auf Nahrung ver­
zichten ; ebenso töricht wäre es, wollte man dieses Sprichwort
anklagen, die Rolle der Ernährung »herabzusetzen« .
Unser Fall ist ähnlich. Die Absorption der konkret-sinnlichen
Fülle der Tatsachen im Schoß der Abstraktion als die haupt­
sächliche und bestimmende Form der intellektuellen Tätigkeit
des Theoretikers ansehen, hieße hinsichtlich der Wissenschaft
völlig unbeschlagen sein. Sie ist hier nur ein Mittel, notwendig,
um sich einer ernsteren, spezifischeren Aufgabe zu widmen : der
theoretischen Aneignung der Welt, dem wirklichen Ziel der
Tätigkeit des Gelehrten. Die Reproduktion des Konkret�n im
Denken ist da§jwige Ziel, w:elch�� da$ s"ezifisrhe Ge�icllt. und...
..

di�J�ede�tung jedes einzelnen A§tes_Qer Verallgemeinerung


determiniert.
Freilich ist das Konkrete im Denken kein Selbstzweck, nicht
das Endziel. Die Theorie insgesamt ist auch nur ein >>Ver:
'schwi11dendes Moment« im prakt!sche���-�..t.Qffw�f:h:­
s!U§ zw:isffien Mensch und Nat'!I:. Von der Theorie wird zur
Pr�js übergegangen, und auch dieser üben�an� läßt sich als
.ri!W-?�..Y21J!...h.!lli!M.t�!,l zum _JiQrrkr�te,g�-_k�}�!!?:�L<;h!!�.!l;... :P�e
J,J�a:x;i� hat . au�ß�r �i�clJ. . k�in .. h§!J.�res _Zi!!L !Dehs__�i�_s-��ckt_ si�
selbst ihre Ziele, sie ist ein Ziel an sich. Eben deshalb wird auch
·b-�i�-Ä�s;:rherien der Theorie jeder SChritt, jede Verallgemei­
nerung beständig mit den Daten der Praxis konfrontiert und
1auf diese als das höchste Ziel der theoretischen Tätigkeit bezo­
gen. Darum notiert Lenin, als er über die Methode des Kapi­
tals spricht, als einen ihrer charakteristischsten Züge : >>Die
Oberprüfung durch die Tatsachen resp. durch die Praxis findet
hier bei jedem Schritt der Analyse statt.«4
Das fortwährende ln-Beziehung-Setzen >>jedes SchrittS<< der
Analyse mit der Orientierung am gesamten Gang der wissen­
schaftlichen Forschung, in letzter Instanz mit der Praxis, ergibt
sich aus dem innersten Wesen der marxistischen Konzeption
vom eigentümlichen Charakter der theoretischen Aneignung

der Welt. Je��Scl_l!,it_!_ier Anal e, ieder A�!. der.A:!.<i�tion
des Konkreten auTs Absträkte mu von Anb��iru:! �!.-G.an�
-r�-�Ji&]ii�iQ': daLYQ!l: der Vorstellyni, d�r..khrn.d� An:-
Jcha_EJ!!l.K.Y�rhi.iJb: wü:4 ."�.m9 _d.�ss.en Spj�g das oberste Ziel
..

..
__

..<!.�-theoretischen Arbeit ist (wohlgemerkt : nur soweit es_ sich


�.m diese handelt, soweit der Mensch sich mit der Welt nur .a.uf
.. .�heoretischer Ebene beschäftigt), Darin besteht der tief dialek­
tische Sinn der Marxschen These über die Methode des Auf­
steigens vom Abstrakten zum Konkreten. Das bedeute!...J!�ß.
allCL.e.!?Hrak,ten, y.rirk.lich W:�§�!!�ffiaftlich!m-:_;;.; (h't-m��i�nären
_

��tJ.e.�re!l_.A�s-�iEJ._I!l_Engen im Kopf des Menschen keineswegs


.�ls ��s.!l.! t_a�-ej_!l.�� l1.!!h�<!e.4� MmLz ufälli gcm Reduktion .des.
.. . .

Konkreten aufs Abstrakte erscheinen, sondern els Er�ebnjs


4 Lenin, Philosophische Hefte, in : Werke, Band 3 8 , Berlin 1 964, S. 3 1 9 .
systematischen Fortschreitens des Bewußtseins im Verlaufe des
��!� äßi!$,€!11>. aJlg���i.!!.�.� ,P!pze�s�-���[ � der ���­
sensChaA:�. def..ß.9.1lJ�I�tis�!J:PJLdes bestehenden Wissens un�
seiner kritischen Transformation. Man darf die Dinge nicht s 9
darstellen, als müßte jede Wissenschaft zunächst das Stadium
eines ausschließlich analytischen Zugangs zur Welt durchlau­
fen, das ein Stadium rein induktiver Reduktion des Konkreten
aufs Abstrakte wäre, um dann, wenn diese Arbeit vollständig
geleistet ist, sich daranmachen zu können, die gewonnenen Ab­
straktionen zum System zu »verknüpfen<<, vom »Abstrakten
zum Konkreten aufzusteigen<< .
Wenn Marx auf die Geschichte der bürgerlichen politischen
Ökonomie eingeht und dabei unterstreicht, daß diese, als sie
entstand, faktisch den Weg einseitiger Analyse eingeschlagen
und sich erst später auf eine »wissenschaftlich richtige<< Bahn
begeben hat, dann will er damit selbstverständlich nicht sagen,
daß jede gegenwärtige Wissenschaft diesem Beispiel folgen und
ein erstes, rein analytisches Stadium durchlaufen muß, ehe sie
sich vom Abstrakten zum Konkreten erhebt.
Die ausschließlich analytische Methode ist kein nachahmens­
wertes Modell. Sie hat vielmehr die unvermeidlichen geschicht­
lichen Schranken der bürgerlichen politischen Ökonomie ausge­
drückt, die vor allem auf dem Fehlen einer ausgearbeiteten
Methode dialektischen Denkens beruhten. _Pie diale,k�ische__..ko­
gik �!ll.l'§�hlt der heutigen W:issen���fr keineswegs mit r�:g,._c:r
Ar1�ly�_und Reduktion des Konkreten aufs Abstrakte zu be­
gigll�E,!tn d g�QJ?. �!L.!!in�r �P�!!.tQ_rein�.!L�Y.!Hh�.s.e. ü!Jerzu�ehe:%
�.u_ eil!� n;i!!C:Il. A.l!fgLc:g vom Abstrakten�.l!m.Kg_n1t:C:!e!1, Ein
solcher Weg würde nicht zur konkreten Erkenntnis führen oder
wenn er zu ihr führte, dann nur auf den Umwegen, wie sie die
vormarxsche politische Ökonomie zurückgelegt hat.
Das von Marx angeführte Beispiel ist eher ein Argument da­
für, daß die Wissenschaft heute von Anbeginn einen richtigen
Weg einzuschlagen hat, ohne die Umwege des siebzehnten
Jahrhunderts zu wiederholen ; daß sie sich der dialektischen
Me�hode des Aufsteigens vom AbStrakten zum Konkreten be­
dienen muß, bei der 1\g�.JY�C: und �Y!U.h��-2!Eian� verknüpft
. �jnd. Das Marxsche Beispiel spricht für .4i� b\l{ge.b.e d�r_ Wis­ ..

s �M• ... YQILY.<U.nh�ßiD.jJu:.Li.ll�.k.tm.. lk��imm�ll..Ag:­


art. <ll!�.t.Y.b.ci�q.
ru: daß §i!;; je.d.�Y.Qll ihnet1ZJ.L.eine.m.Scbritt .der .
93
allmählichen Bewegung zur konkreten Wahrheit ma(;ht, zur
Erkenntnis der Wirklichkeit als ein sich entwickelndes Ganzes.
Ist die Wissenschaft wirklich WtssensdlaH und keine bloße An­
sammlung von Tatsachen und Informationen, dann muß sie
von A_qQ_�n iht:�!LG��.IfS.���� ��g�_�tieren und ihre Bestim­
mungen in der Weise entwickeln, die Marx als die allein mög­
liche und korrekte bezeichnet hat ; sie darf sich diese Methode
nicht »als Nachspeise« aufsparen, als literarischen Ausdruck
bereits bewiesener Ergebnisse, wozu neukantianische Revisioni­
sten vom Schlage Cunows, Renners und ihresgleichen geraten
haben.
Wohl ist die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum
Konkreten in denjenigen Marxschen Arbeiten in reinster Form
verkörpert, in denen eine ..IT2�t:.!J2<tt!§Q1�J?!tr.S.t.�Jl4ng. .lli:r.�Theo­
-�·i_e geb2_ten wird : in der Schrift Zur Kritik der politischen Öko­
nomie, in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökono­
mie sowie im Kapital.J}as bedeut�t. ap�Lk�iQ.��weg.sJ�JL�
»Da._!stel�ng« _einer g:f]Jn.cl,le.ge.!1.4..a..l!9..���-�el_ho4�nterliegt
als die »Forschung« und daß die Weise, in der Marx seine For­
"5Cliungen..oetrei6t, derjenigen direkt entgegengesetzt wäre, de-
ren er sich bedient, um seine »Forschungsresultate« darzu­
stellen.
Wäre dem so, dann trüge, streng genommen, die Analyse der
>>Logik des Kapitals« nichts zum Verständnis der von Marx
bei seinen Forschungen angewandten Methode bei ; nichts zur
Behandlung der Gegebenheiten von Anschauung und Vorstel­
lung. Dann wäre das Kapital allein wegen seiner literarischen
Darstellungsweise der Ergebnisse instruktiv, keineswegs auf
Grund der Methode, durch welche diese gewonnen wurden. Es
käme dann darauf an, die Forschungsweise von Marx nicht
etwa anhand der Analyse des Kapitals zu ermitteln, sondern
auf dem Wege einer Untersuchung der Entwürfe, Notizen,
Skizzen und Erwägungen, wie sie im Kopf von Marx während
seiner unmittelbaren und ersten Kenntnisnahme der ökonomi­
schen Tatsachen entstanden sind. Das hieße der vulgären Be­
hauptung des Verfassers einer der zahllosen antimarxistischen
Broschüren, des Politologen I. Petscher zustimmen, der ver­
kündet: »Die von Marx im Kapital befolgte Methode ist im
wesentlichen die gleiche, die auch von bürgerlichen Wissen­
schaftlern angewandt wird. Die Dialektik diente ihm dabei,
94
wie er selbst im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals
sagt, nur als >Darstellungsweise< ; eine Darstellungsweise, die
freilich eine Reihe großer Vorzüge besitzt, auf die hier nicht
näher eingegangen werden kann<< 5 ; denn das hat nichts mit
dem Problem der Erkenntnismethode zu tun.
Petscher verdreht hier den Sinn der bekannten Marxschen For­
mulierung, daß der Ausdl"ll:ck.. c;_i n�r The()rje .i11 . ihr:eu!lJ..W.:�d­
t�nf_o_!E!_IlOt�_inilig_ygm. Gap.z..frlit�L!J�: l
t:hen m�ß, 2ie_:l_u_ i_hr geführ! h_abe11; l!:�e_r._ de_L» formelle<<
_ _ __ __ __

�llter��i�4 dieser . Y29_j�_Ee._r_,_ ..Y2E. dem Marx spricht, bejrifft


��1-"f.��QrJ!!!Q!�_der �.km_e�h9J!� die Art, die Ge­
_g���nheiten vo�_ �_llcS�-�u� ng und Vorstellung in Begriffe zu
übertüllr en. Dieses Verfahren der Analyse ist dasselbe, und
zwar dialektisch geblieben, bei der vorläufigen Behandlung der
Gegebenheiten ebenso wie bei ihrer endgültigen Verarbeitung,
wenn es sich natürlich auch in dem Maße vervollkommnet hat,
wie Marx zum Kapital fortschritt.
Der Hauptvorteil dieser »Darstellungsweise«, die weit von
einem bloß literarischen und stilistischen Charakter entfernt
ist, besteht eben darin, daß c!�J:". Yerfu55�r des Kapitals keines­
_y."egs _;;tu_f dog�a�i��-.9�E--.ili�h��<:h.e Art fertige Ergebnisse
V9J:fQhrt, von �e.!!�!l. ..I_!l�.n.lü.c:ht . eJ:fä.h,r:t, .w�e �ie.. �Y§.�AJ.J!e _ge:
_ __ ___ ...

kg����_s_i�d��nd��E�aß er vo��Augen des Lesers den


ge._saJ!lten For._sch!J!l..K�!E>Zeß ablauf�E.Jä.fu.,__4e r zu diesen Er-
_ge.._bnissen führt. »Der Leser, der mir überhaupt folgen will,
_

muß sich entschließen, .:w.n dem ein.zelP..eJ1-hl,I.!JJ .ß.l!_g�m�in�n


..i.!J.kl:!ltsigen«6, hob Marx seit seinem Vorwort zu der Schrift
·Zur Kritik der politischen Ökonomie hervor. Diese Methode
der »Darstellung<< führt den Leser zum Verständnis der beson­
deren Details, vo� Abstrakten �;;_:�IR�� 'im��r- k��kret�r�;;,
entwickelteren und allgem�i.n�ren . Ansicht Y.QD..s!eL9kon.omi::.
.. .

sehen Wirk!is;ll kei.L..�.Y..I!!._A IJ_g�frgebois der


�.9:!�elseit!ge._g _:Qurch4.rii1Kil!1Z._4er besonderen Momente ist.
Freilich wird dabei der Forschungsprozeß nicht in all seinen
Einzelheiten und Umwegen von Untersuchungen reproduziert,
die mehr als fünfundzwanzig Jahre dauerten, sondern in sei­
nen wesentlichen Knotenpunkten, von denen die Forschung
selbst gezeigt hat, daß sie das Denken in der konkreten Er-
5 In : Christen oder Bolschewisten, Stuttgart 1 9 57, S. 89 .
6 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, ibid., S. I I .

95
kenntnis effektiv vorangebracht haben. Bei seiner endgültigen
Richtigstellung der Tatsachen für den Druck hat Marx nicht
die zahlreichen Um- und Nebenwege des Hauptthemas wieder­
holt, wie sie bei der Arbeit eines jeden Gelehrten unvermeid­
lich sind. Im Laufe wirklicher Untersuchungen werden oft Tat­
sachen geprüft, die keine unmittelbare Beziehung zum Gegen­
stand haben : letztlich kann nur ihre Analyse ergeben, ob sie
sich auf den Gegenstand beziehen oder nicht. Oberdies muß
der Theoretiker in jedem Augenblick zum Studium von Tat­
sachen zurückkehren, die bereits gründlich studiert zu sein
schienen. � Fon>chun� folgt keinem systematischen Ablauf_;
�Jiex�gung ist komplex, schlecht überschaubar und schreitet
f.llrt. irul.em .sie.�UYiiick�w ol;>�L!:§ hä.!!fi&...�. ':! ..

Abw�ffi �.!!�l)..!lYÜÜl��Ü�:W.�..k2.mmt.
Die endgülti�e Darstellung'reproduziert nicht alle diese Etap ­
pen, auf Grund deren der Forschungsprozeß unter seinem
wahrhaften Aspekt erscheint, gereinigt von Zufälligem und
Abschweifungen. Sie !§.LgJ�i.sh.�am ;�edressiert« und offenbart
Q�.!L�E.e!e.�ter:_.�j;_�..�!:!.W,�gli.!!K.�S!.C:!Q��-is�.�-.E<:>.rtsc4rei��2._im
Ei n_k1.�!1K... mit 9.c:m�W..§�_l.d�
.. l.nSL L».�:w.�g.Y.PU.�L. T.a.ti<l.<;h�1J..
selbst. Das Denken geht jetzt nicht mehr von der Analyse einer
Tat-;;che zu der einer anderen über, ehe es sie wirklich erschöp­
fend oehandelt hat ; es braucht deshalb nicht mehr stets aufs
neue auf dieselbe Sache zurückzukommen, um zu vollenden,
was unerledigt geblieben war.
Daher ist die >>:Q.arstellun�sweise« <!.äh.kiJals...J!�fh.t.<i .L:m �res_
als s.ei�.JC::<!.�!iJ�. !K§.� ::: .JC>r rigit;!L!l�J �Ul�ii.rli_ffi, _�n:
dex..!l. strikt ...!le.�.A�.!l XQm fC>r.sch,ung�pJ:Q.�ß_!\�.llls.t .9.iJgj_c:x.t�lJ.­
...

..

g�en; Anders gesagt, Qi�-llir�l�.lh . mgs.we!se ist in diesem


Fall von allen nur mitspielenden Momenten gereinigt; sie �-:
!l.M.Kt m:�ng dcrp_ob�.ktiv�n G:�setzen der Eorschugg. Die »for­
..

mellen« Unterschiede, von denen Marx im Nachwort zur zwei­


ten Auflage des Kapitals spricht, betreffen ganz andere Um­
stände, insbesondere die Tatsache, daß Marx persönlich mit
den verschiedenen Sphären der kapitalistischen Warenhölle in
einer Reihenfolge Kontakt aufgenommen hat, die ihrem Ent­
wicklungsgesetz, wie es vom Kapital dargetan wird, nicht ent­
sprach.
Die Abfolge, in der dieser oder jener Aspekt eines zu studie­
renden Gegenstands aus diesem oder jenem Grund einem Theo-
retiker oder einer ganzen Wissenschaft sich darbietet, entspricht
nicht dem Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten. Dieses
_orientiert sic;h allein an dem Nac;heinru1�as den wech&l:
seit.i_g�I1L 9.�kkti��n Bezic;hung�_9.er v�rschiedenen Momente
der zu studierenden »Totalität« ents richt. Diese wirkliche
·SukzesSion wu ni t s agartig er a t. 12.�1.31� darf man die
1fetho.d.�-- �§ Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten
..

!!icht. recl_ltf�t:t.igen wg!Je.l1_ .anhand der wissenschaftlichen Bio­


gr;lphied,e�-- jeweilige!1..Th�_oretikers oder selbst des geschicht­
_lic�en E.!1tv.J.�Ll!!1�Z esses der Wissenschaft. Auch diese ge­
langt, als Ganzes genommen, erst nach langen und mühsamen
Forschungen zu ihrem wahrhaften Ausgangspunkt. So � !-��a
MaE_:l\:.��r. A,n_aly_S(! und :Zl!ll:1 Y_erständn!.!E�r ökonopisch��­
ziehungen gelangt, indem er von dc;!Ljl!ri§li�_sb._cm_.llll<i.l!.oliti:
sch�n Yerhältnissen zwische_n A�!! Mens.<P-�� 3E.S� ..J2ie
. .

�Ph�I"� -�O.IJc :Recht un<f. . Politik YI!l-1" für !h!1Aer --��.A.l:!!>K���


..

punkt« für das Studium der St�uktur _ de§_ g(!se.llscl_laftJid!�


ganismus . .. Bei. ger _»I?amel!!:!!!K�' 4.ex 'Ihe.gr_i.e_4�§_hJgorischel).
..

:M:aterialisml]� fgr:<f�n.Mu� kdo ch. a.IJ,SZJJ.geh,en_von .de.cKon­


__ .. .

zeption der ök<;>nQXIJi$s;h.�m:�..teriellen Verhähnisse� . Jltn.. Y.Qll


ihn.en. z.urK9nZ.•A.X..QU.. l\�t.®dJ?clitik.iPxP:1.J§ffir.eit�;n.
Theoretiker wie Petscher könnten hierzu erklären, daß die
Marxsche These, wonach der Ausgangspunkt des Begreifens
aller sozialen Phänomene die Ökonomie und nicht Recht und
Politik sein müssen, nur die literarische Darstellungsweise der
Theorie betrifft, während Marx und die Marxisten bei ihrer
>>Forschung« genau so verfahren sind wie irgendein bürger­
licher Gelehrter . . .
So sehr jedoch Marx Recht und Politik studiert hat, ehe er
seine ökonomischen Studien unternahm, sosehr bleibt festzu­
hal ten, ga_ß diese _ 1_3ereic.:l1� YQlljbnL\:!.�� Q:li1 1}.:Y-!!ssen§chafl:lich
.•

(in materialistischer Weise) und richtig verstanden wurden, als


er die Ökonomie, wenn auch . züllifcEst A\l��iiJc�lJireg_�j�!Jlci:in ­
sten Zllgen, analysiert hatte. Dasselbe gilt von Marx' Ansich­
ten in der polit!scllen Ökonomie. Wohl kannte er die Bewe­
gungsgesetze von Geld, Profit und Grundrente, ehe er den
Doppelcharakter der Ware und der diese hervorbringenden
Arbeit begreifen konnte. Aber in dem Maße, wie er das wirk­
liche Wesen des Wertes nodt nicht erfaßt hatte, gelangte er
auch zu keiner richtigen Auffassung des Geldes und der Rente.
97
Im Elend der Philosophie teilt er noch die Illusionen der Geld­
und Rententheorie Ricardos. Erst die klare Einsicht in die Na­
tur des Wertes, zu der er in den fünfziger Jahren gelangte,
rückte Geld und Rente ins rechte Licht. Vorher war es funda­
mental unmöglich, das Geld zu begreifen. Anfang der fünfzi­
ger Jahre wandte Marx viel Zeit auf, um die mit dem Geld­
umlauf in Krisen- und >>Prosperitäts <<perioden einhergehenden
Kollisionen zu verstehen. Diese Versuche haben ihn dann zu
dem Schluß geführt, daß er die Gesetze der Geldzirkulation
nicht erfassen konnte, ohne vorher den Wertbegriff ganz de­
tailliert ausgearbeitet zu haben. Erst nachdem dies geschehen
war, wurde ihm klar, daß er vorher Ricardos Illusionen ge­
teilt hatte.
Deshalb ist das Verfahren nicht zu rechtfertigen, das darin
besteht, die Tatsachen so zu studieren, daß man vom Abstrak­
ten zum Konkreten aufsteigt und sich dabei an die Reihen­
folge hält, in der das Studium der Materialien sich geschicht­
lich vollzogen hat. Diese Methode drückt die Sukzession aus,
in der sich im Bewußtsein des Theoretikers die objektive An­
sicht niederschlägt, die dem anvisierten Gegenstand entspricht,
und nicht die Abfolge, in der dieser oder jener Aspekt der
Wirklichkeit aus diesem oder jenem Grund die Aufmerksam­
keit der Theoretiker erregt und in den Handlungsbereich der
Wissenschaft fällt. Diese Methode drückt ein inneres Entwick­
lungsgesetz der wissenschaftlichen Konzeption aus, das sich im
Laufe der Geschichte durchsetzt inmitten einer Masse von
Kontingenzen und Abweichungen und häufig von Umwegen,
die als solche den Theoretikern selbst unbekannt bleiben. Es
ist daher nicht so leicht, es auf der Oberfläche der wissenschaft­
lichen Entwicklung (das heißt im Bewußtsein der Theoretiker)
zu entdecken. Dieses Gesetz kann sich unter Umständen lange
Zeit hindurch nicht im Bewußtsein der Theoretiker niederschla­
gen oder aber unter einer Form erscheinen, unter der es nicht
erkannt. wird. Wie Marx bemerkte, _ß.���e�!_e� ��l!§g1_ .4aß ..

ein .Wiss�sch;tf!leE �in_e. "öJlig_f�l�Eh��-�f�! f!'l.S.. !!lg Y.Q!Ld�.m.Jgt,


was er treibt oder wie er verfährt. Daher kann man einen
D���--�i�ht �eh d�r Y;;;i�U!:!be�i!!i .rii_ len, �t;_er sich �
.s..!.s\Lselbst mach..!:... W!�!��-wi��er (und schwieriger) ist es, .
._diJ:._o.b�ßs:geutuQg_§�ine!_A��g_��n Rolle im
_l;,nt:Y.t.i�htr1&�RfO.��ß 9�.LWi.��!.l�m_aJ:l:�u fz@._«!cken.
..
Deshalb lassen sich der wahrhafte Sinn der Elemente einer
wissenschaftlichen Biographie, die wahrhafte Abfolge der wis­
senschaftlichen Bestimmungen nicht durch einfache biographi­
sche Forschungen aufhellen. Häufig genug weicht der wirkliche
Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis (das heißt der
systematische Gang des Denkens hin zur konkreten Wahrheit}
erhebJich von der chronologischen Ordnung ab. In seinem
Fragment Zur Frage der Dialektik weist Lenin darauf hin,
daß »Chronologie in bezug auf Personen« nicht erforderlich
ist, wenn es darum geht, die Logik der Entwiddung der Er­
kenntnis zu analysieren ; gaß �u��e Chronologie nicht immer
5:tel!l _l:�Een _?�l!ft!J.1Ka�gg··· q�r_._gedanklichen Durchdrin&un� des
Q.Jili!kts �-�l'�i.ciJ._t,_ .
Aus alledem geht hervor,A�ß..Ei� chara}J!!ri�.t.�Ql-�!LZiigL�
Marxschen For�c!J.Y.!!K5,.1�1lt!.! -o_Q_e im Kapital. selbst miJ P.��..\ill:
ten Klarheit und Reinheit erscheinen �· �nd nicbl.in" d�_ILE!ltJY.iir:
··
7en! !I�tizFu;d F:;(W.ägu�g;�:-are ;�bar i� Kopf von
Marx während seines Studiums der ökonomischen Tatsachen
e�t�t;�de� -�i-;;.d. Hier �ffe;;ba-;t �iCh 'die ·;;�kiiche Abfolge der
wissenschaftlichen Bestimmungen, die nur allmählich im Laufe
der vorhergehenden Untersuchungen zutage getreten ist und
deren Marx selbst sich nicht immer klar bewußt war. Stets hat
er auf das entschiedenste Selbstkritik geübt: so manches Mal
hat er die auf früheren Stufen seiner Arbeit begangenen Irr­
tümer und Versäumnisse »im nachhinein« resolut verbessert.
Die Körner objektiver Wahrheit lassen sich erst später streng
objektiv von der Form unterscheiden, die sie ursprünglich im
Bewußtsein annahmen ; die Andeutungen auf Höheres lassen
.Ji.Q! en.J. c{a.nn .. richtig yer_!iteh�nL.w.�nn . di.esf;!s. . �ch<m be�annt
....

i.s t,
Versucht man also, die_forsch\l_ng�IUeth<?���-J4�� nicht
nach dem Kapital zu rekonstruieren, sondern nach der Masse
von Entwürfen und Skizzen, wie sie in seinen Archiven erhal­
ten sind, so wird das die Arbeit nur komplizieren. !lm §.i.� . ..

richtig zu verstehen, ist zunäch.§t das Kfl..tll.tßLz u analysieren.


Sonst wird man nicht einmal die »Andeutungen auf Höhres«
ermitteln. Ferner versteht man absolut nicht, weshalb es erfor­
derlich sein soll, die frühere und vorläufige Ausdrucksform
eines qedankens einer späteren, geschliffeneren und reiferen
vorzuziehen. Das würde nur dazu führen, diese frühere Aus-
99
drucksform als ideal zu betrachten und die spätere als Verfäl­
schung. Das hieße tatsächlich die Formulierungen des Kapitals
und dessen Entwicklungsmethode aufs Konto literarischer
Darstellung setzen und nicht auf das der Vertiefung des Den­
kens, des Verständnisses der Forschungsmethode.
(Dieses tölpelhafte Verfahren wird hartnäckig von den moder­
tJ.en Revisionisten angewandt, für die der »authentische Mar­
xismus<< in den Manuskripten des jungen Marx und nicht in
seinen reifen Werken gesucht werden muß. Für sie ist das
Kapital eine »verfälschende Ausdrucksform« der Konzeptio­
nen des >>realen Humanismus<<, wie Marx und Engels ihn
1 8 4 3 - 1 8 44 entwickelt haben sollen.) Eben deshalb hat J:.�e!IJ!l
angedeutet, daß es_, um die >>Große Logik« des Marxisn:�s au�
z_�:�:l.r�.�?iten1 <l_ar�l!LE:�.-Y.QL�!t�� .J�� ßg.pi_tq:[ ,_?.,u. 6e:­
trachten; daß die von Marx hier an ewandte »Darstellun s-
�e!se;,· alsBe�i-�Lßir dj_alektisdles Begre1 en er Wir li keit
durch das Denken dienen muß, als Beispiel d� Studium_Ll!!_ld
deE._fu!�arbeitung der Dial��lgemein_eQ.
Nach diesen vorläufigen Überlegungen können wir zu einem
eingehenderen Studium de� M.�.!h2.d�- de�l!h..t�i:g�!lS.. Y:().l!l Ab­
strakten zum Konkreten als einer richtigen Methode, wissen-
sChaftliSll.�l�-�Ql l�.� illnH g�� .P.ilde� l1r11J.Ii·q;g����J.i �{!i�:y.Q�
l.e\!�nsii�::�r Wal:u:.lldlmJ.ul�cLY�x�lillluJ.� tb-c;;QTe.tism_?aLYJ:t::.
�-
Erinnern wir uns hierbei noch einmal daran, daß bei Marx
unter diesen Gegebenheiten nicht bloß dasjenige verstanden
wird, was sich das Individuum unter der Form eines sinnlichen
Abbilds vorstellt. Das wäre eine äußerst enge und völlig ver­
kehrte Interpretation: die der vormarxistischen Philosophie
und der anthropologischen Konzeption des Subjekts der Er­
kenntnis. Marx verstand unter piesen Geg�benheiteo .s.tets..die
Masse gesellschaftlich �IIKehäuft_� empi!}scher Erfahrung, die
ganze ungeheuere Fülle empirischer Daten, die dem Theoreti­
ker durch Bücher, Statistiken, Zeitungen und Zeugnisse gelie­
fert werden. A!Je_r _d!e _ S)pei����-- �e._s_ so��Je..!l._§�,<;l��!.nlsses
b..emren alle die�e e!!!Pir.i�<:h!m_Gc:.gel>_enheiten in einer ve_r­
ki.irztei:Ull!d ...t.chon ,e.g{ cf�ll �i?s.u:a,.�!_e.!l ��s�t:��-_g_�� r.afh�!l.
. __ __ . . __ ..

F�.\ll1i Sie sind bereits sprachlich, terminologisch, zahlen­


mäßig, in Tabellen und anderen >>abstrakten« Formen ausge­
drückt. :pie spezifis<:!_le _A\lfga��. ci.es. Ih.�gre,tik�_rs, 4er y()n,__<;lie�
1 00
�.CJ@Il�I.!formation über die Wirklichkeit _a.Jllgehh_besteht;,
-�<>tA�t:��_!_�S-!lJcht d.e!..� diesem >>ab�tr'!_kten<< Ausg�e
I]Q� a�traktere Form zu verlei�.Jm..Ge�nteil, er.]2eg.innt
1.t.«:t.� .�9J. �<l.�_!!.I_zu _e!g�rJ�riti��.Antt.lYs e der Abstraktionen
auf �!f_�mpirischen Ebene der Erkenntnis übergeht und jene
neuerlich durchdenkt, um sod�UUl fOJ.;tkuschreüen. indem er di�
f.:ng�-.!!��deß �1llÜ�-�.tiv,!�J.lll!�-qie��L.ÖE�ll"ß:.lst ionen kritisiert;
•.

indem er die in ihnen enthaltenen Illusionen zerstört vom


����dp��k��:-J��-���iJ'cit.k.�-�!)!ljH!.t?E.J�E.�rete Totalität. In
tJ
t�ld��f-1:;:�-
ein üb �
�i�t��������l�����Ts
.[.!�.��-.b:��E��-�E-�ull} K_!?l}k���!L''.
Natürlich ist unter einem bestimmten Bii-;Iwinkel das Aufstei-
gen von der Erkenntnis der einfachen Warenform zur Einsicht
in solche entwickelten Formen des bürgerlichen »Reichtums<<
wie der Zins_2-�.ch eine Bewe�ß___de�EoE.�E����J!i!.l..�.!:l­
af!�trgl!;J!!!...f.Q!men:Jfer En�),IJ;H:: djeses.Konkreten auf der
Oberfläche der Ersch�inungeq. So drückt der Zins in seiner
quantitativen, unpersönlichen Sprache die komplexesten, in
der Tiefe vor sich gehenden Prozesse der kapitalistischen Pro­
duktion aus. Der Mehrwert erhält im Zins seine »abstrakteste«
Form. Diese selbst aber Täßt sich nur so erklären, daß vom
k<:>nkreten Inhalt ausgegangen wird. :Qas_jedoch bedeutet zu­
gJ.�is!:b..A_aJU�des abstrakte Moment der Wirklichkeit sich nur
im konkreten System der Bedingungen wirklich entfal�
es .J�-e��l?fadg_ haben. Folglich wird der Zins konkreL
(wiss��schaftlich) erst am_!:;���zr�if!<'2... F"Jili
rm.sL<:.Lsil:luwL
de�QJ>�d!.�c:!!�::_ der_]I.l'!:h.ri!ll,lngel} "!!Ja..�ÜD�J:Qnn d.er größten
•.

Abstra�!�<?PJnanifestieLLJ . . . ]

Die Ansichten von Marx über die Entwicklung wissenschaft­


licher Erkenntnis

Die Frage der Beziehungen des Abstrakten und Konkreten im


Denken hat sich Marx im Licht einer anderen, allgemeineren
Frage vorgelegt : »Wie ist die Wissenschaft zu entwickeln?«7
Schon die Formulierung der Frage ·setzi: ·:voräü5;'ää� die wis­
senschaftliche Entwicklung als _ein nat��g_es.fhichtlicher P;ozeß
7 Cf. Zur Kritik der politischen Ökonomie, ibid., S. 2�6 ff.
I OI
.a!!g�e.h�JL]'{Ü:I;i. Marx war die linkssektiererische Auffassung
des kulturellen Lebens entschieden fremd, die alle früheren Er­
rungenschaften des menschlichen Denkens ignoriert. In der
Wissenschaft verwirklicht sich wie in anderen geistigen Kultur­
bereichen die wahrhafte Bewegung nach vorn stets über die
Entwicklung dessen, was die gesamte vorangehende Geschichte
an Wertvollem hervorgebracht hat ; sie geht nicht aus von der
tabula rasa Lockes, sondern von einem theoretisch gebildeten
Kopf.
Es versteht sich von selbst, daß die Aneignung der Ergebnisse
der früheren Entwi95-hm� nicht'bedeutet, daß fertige Formeln
einfaCh' ubei:'ilom�en werden, sondern daß es sich hier um einen
komplexen Vorgang kritischer Neueinschätzung handelt, der
·aieKOrrespoii<feiiz--c1leS�r�nmt .!1eD.·:m��l:flen;···aem
Teoen�-<rerPräXiitb'et;ifft. Wie revolutionär eine neue Theorie
Iiädi Inhalt ilii0Tra'gwe1te auch sein mag - sie entsteht allemal
in der kritischen Oberprüfung vorangehender Theorien. Diese
Tatsache wurde seinerzeit von Lenin in seinem Kampf gegen
das linke Sektierertum der Proletkult-Leute unterstrichen, für
die eine proletarische Kultur dadurch zu schaffen war, daß
man sie »unmittelbar aus dem Leben« schöpfte, nachdem man
einmal alle Errungenschaften menschlichen Denkens als unnüt­
zen Plunder verworfen hatte.
Je revolutionärer eine Theorie ist, desto mehr tritt sie das
wahrhafte Eroe . der theoretisChen Vergangenheit an, desto
inehr eignenie sich den in der Wissenschaft vor ihr aufgespei�
Cherten »rationellen Kern« an. Mit den früheren Theorien
"»kritisch ins reine zu kommen«, ist keineswegs ein untergeord­
netes, nebensächliches Geschäft, sondern ein notwendiges Mo­
ment der Ausarbeitung der Theorie selbst. Es ist kein Zufall,
wenn das Kapital den Untertitel oder vielmehr zweiten Titel
trägt : Kritik der politischen Ökonomie.
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Fii �It�J�J{ tB ��it f� �1�4;i::�� f�k�: ::�
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��e.-.4�b: h��;;�-��::��Y::!e:����:o:�:
.. ..

fb.Y�.,�.J�,ti;,,�,,.,J�"����mm."'� P
senschaftlieh-theoretischen Forschung verschmelzen zu einem
einheitlichen Prozeß. Jeder von ihnen ist ohne den anderen
nicht denkbar oder möglich. Wie die kritische Analyse der Be­
griffe unm�wenn manSleVönaerÄ.naTyse .cter. Tat-
........ ----- --�-�-----· ., ...� - - - .. . �.��... . . . �·· . ..� ._ " .

1 02
sachen abl�.Anal�� Tatsachen
uiimogtiöi, wenn man nicht über Begriffe_ -y,erßig,h QJlEffi.s!ie sie
�usgedrückt ·weraen· köniien: i5leaiaTeliische�k von Marx
trägt der Wichtigkeit dieses Umstands";C,H.Rechnung. Aus die­
sem nämlichen Grund vollzieht die Dialektik die bewußte und
gewollte Koinzidenz des Moments der Induktion und des der
Deduktion:Oelae"sinci un:ZerfteniiliChe -Momeiite' Jir-·unter:
süchung 'und implizieren einander.
Die alte Logik verstand mehr oder weniger folgerichtig unter
>>Indukti�m« die Ana!r�_e.A.�muziri;sbe�r./zgJ11 den Pro­
zeR, in �alytische Bestimmungen einer Tatsache zu­
standekommen. Deshalb erschien die Induktion, wenn nicht als
einziges, so doch fundamentales Mittel, zu einer neuen Er­
kenntnis vorzustoßen. Was die Deduktion angeht, so wurde
sie wesentlich als Prozeß der An�.'A�.sELff.�J:t<:!.G.Iiltet,
dessen immanente DistmK"i:1oneri1ierausgearbeitet werden. In­
sofern erschien sie vor allem als Vorgang und Form der Expli­
kation, der Darstell!l_ng_ einer bereits abgeschlossenen, im Kopf
vorhandenen Erkenntnis, keineswegs aber als Art, neue Er­
kenntnisse, neue Begriffe hervorzubringen. !?St�<h.{soweit
er die Tatsachen wirklich durchdenkt) .�\1-lX��tUli�._emp.U;i�
sehen Tatsachen nicht mit .e�nem »leereiJ.� lk.JVI.lß�t:il,l��n.dl:,.r,n,
m1t iiriem �urch g���leh.2�9,��I�ick�h��•.Pas heißt, .er tritt aJ,l
die Tatsachen aifemaruriter ctem Jjii�winkel cliese�,Qd�t jw.e�
:SegrlffS hera:n·. - ot> er- W:ill oder nidit; nur so k�nn er aktiv
den'ken.;·'ale''!a't's a chen erfassen ; andernfalls könnte er sie höch­
stens aktiv konstatieren.
Schon in der einfachsten Verallgemeinerung sind Induktion
und Deduktion unauflöslich miteinander verknüpft : der
Mensch drückt die Tatsachen in Begriffen aus, was bedeutet,
daß jede 'neue a��Iyfif<:li�lJellriitJ§jüf�ThtsaP��:��_al s·
"
_neue; K.oi}Kre.tere BestimrouQ.K cle�.J3egriffs entsteht, unter d�s-1
sen Gesichtspunkt er die Tatsachen''·<tefik.t. !mumge'ketlrten
FäliDltaetSiCliK'elnerTei-·a:ria1ytisdle Bestimmu ng der Tatsache
heraus.
Wer glaubt, die Tatsachen >>absolut ohne vorgefaßte Idee«
auszudrücken, ohne irgendeinen >>von vornherein zugelasse­
nen« Begriff, ist von diesem keineswegs frei. Im Gegenteil, er
ist unvermeidlich der Sklave der vulgärsten und absurdesten
B-egriffe. Auch hier besteht die Freiheit nicht darin, der Not-
IOJ
wendigkeit zu entgehen, sondern darin, sich ihr bewußt anzu­
passen. Wirkliche Absenz von Vorurteilen bedeutet nicht, daß
man dieT�ts;�h�;:}''olirie d�'ii' mindesten »VOn vomherein zuge-
t ausdrückt
y:::!:f ���� �i�;�t ��r,:��;;:!, ���ri�:.
es � �r & r
Das hat Engels bei se1nerl<ri!ik des Empirismus großartig ge­
zeigt hinsichtlich der philosophischen Kategorien. Der Wissen­
schaftler, der sich seiner ••Freiheit<< gegenüber jeder logischen
Kategorie rühmt, ist in der Regel der Gefangene der vulgär­
sten Vorstellungen über ihren Gegenstand. Er ist außerstande,
sie von sich aus hervorzubringen, >>indem er von den Tatsachen
ausgeht<< ; das hieße nämlich, ganz allein realisieren zu wollen,
was die Menschheit nur in ihrer ganzen Evolution leisten kann.
Deshalb entlehnt er faktisch die logischen Kategorien stets
einer Philosophie : einem schlechten Modesystem oder einem
System, das wirklich die letzte Stufe der Entwicklung reprä­
sentiert und auf der ganzen Geschichte der Forschungen und
Errungenschaften des menschlichen Denkens beruht.
Das gilt natürlich nicht nur von den philosophischen Begriffen,
sondern von den Kategorien einer jeden Wissenschaft. Der
Mensch beginnt niemals zu denken, indem er >>VOm Anfang<<,
unmittelbar von den Tatsachen ausgeht. Ohne Gedanken im
Kopf nimmt man keine Tatsache wahr, sagte Pawlow :)2i�,
>>Anschauung<< ohne Bedeutung und die » Induktion<< ohne Idee
.

slnTe'bensoliktiv";iedäs'"':�rein;i5��'k��;,15i;"E;;;PI;:Srer1-;die
"'v orgeöen-;-aner;;· ;;i·t" a;;:; Ta!sa<nen-zu· ·aenken, hantieren in
Wirklichkeit stets »vorzugsweise mit überkommenen Vorstel­
lungen, mit größtenteils veralteten Produkten des Denkens
ihrer Vorgänger [ . . . ] << . 8 Deshalb verwechseln sie leicht die
Abstraktion mit der Wirklichkeit, die subjektiven Illusionen
mit objektiven Tatsachen und die Begriffe, die sie ausdrücken,
mit Abstraktionen. Im Regelfall konkretisieren sie unter der
Form faktenmäßiger Bestimmungen gängige Abstraktionen.
rDi�,.-��mJ2iri.�c/le . Induktion<< vollzieht sich infolgedessen . als
1"'�<2-�eß der Konkr�tisieruiig; dei Darsteilung de� Begi{ffe, init
dene;""ffi�"rnim"fnt;"ille TatsaChen ZU untersuche�, das
netßfafS"!Jeäu'lttioll,ais'l'rozeirder Veri.nhaltlichung 'd er Aus­
garlg5beg?iffe <furel1-n:f� fi·;.r ·B�stimmungen, die auf der Basis
.
-Vüii ThtSacben durch Absi:raki:ion gewonnen wurden.
s ·· En�;i�:·'fj;�i:r:it"?t;
i ;·'f·fa(<;;;; ß�;li� ;9·5 �.·s. �·4 2. •

1 04
Q�l!1e$JaJi�tit<:h��.!!ie L�!g�l!..!lllsJ;?.w.w.��
!.!: du�;_i.<ziJ.l!!1.4....P.�.2!;i�!ion >> �t;!_f�h� D��:dukt� t
aur, em Vorgang form;re;:-Extraktion von Ji�.�tun..iil!l li �_!..u
sem;-dle'�przorz'1ri einem Begriff enthaft·e;;. sind, u1,1d wird ZU
einem Vorgang der wirkliclieri En-twicklung von E�ke�ntni'�en
über .die Tatsachen in ihrer Bewegung und 1nnen;� \v�d;sei­
�i�kung .. Diese Deduktion bi�gt_ in .�i_<;lt -��s��mri.�i���..2,.,mel!!.i. .
's1e �esclueht gerade durm strellgste. :t\n<l:h:�.�- ��� n;ctJ:en
Tatsachen, durcl! Induktion. Hier drücken die Bezel�un­
·g eri » Induktion« un<f;;bedi.ik.tion << eine bloß formale Ahnlim­
keit der Methode der ��!��.Diilik.Q.� und der ent­
sprecl!enden Methoden der traditionellen Logik aus. Jene ist
weder Induktion nocl! Deduktion, sondern etwas anderes, das
heide alS- ,;aüTge!iot>enes MOment<< eniliärt. Sie erflilie� · ;,�eh zÜ­
.gieldl .äis .Gegensätie, die einander i�p fizieren und gerade da­
durcl! eine höhere Form logiscl!er Entwicklung herbeiführen.
Diese höhere Form, welcl!e die Analyse der Tatsamen orga­
ruscti m1t.. oerA.narse
..--- ··--Y.. 'der . ':Be·Kri1fe ver15inoet;'i5t"<tie-Forin oes
- Obergangs vom Abstrakten zum Konkreten, von dem Marx
. . . . ..... ........ .. _•., ,..". . . .. . ,.. ·-- -···�·- · .
-

�spriClli:"""Si'tit stille�eirizige logisChe 'EiltW:id{tüngsform der Er­


kenntnis, die das wirklime Wesen des Objekts berücksimtigt.
Nur mit ihr läßt das Konkret-Objektive sim im Denken
'als g�:�.cli191tfic'h. ·e-;t�ickelt:e Wii:k.Ilc!�-�lif<i
lJ ?�AI§:e�L·�f
irgendeinem anderen Wege nicl!t.
Die sim vom Abstrakten zum Konkreten erhebende Methode
kann sicl! als solme keinesfalls darin erscl!öpfen, die Darstel­
lungsweise einer fertigen Erkenntnis zu sein, die vorher auf
andere Art gewonnen wurde, wie die Revisionisten des Mar­
xismus mitunter behaupteten, welche die Methode des Kapitals
flam neukantianisch entstellten. [ . . . ] Diese kann nicl!t mehr
als ein bloß logiscl!es Verfahren gedeutet werden, fertige Ab­
straktionen, die vorher rein analytiscl! gewonnen wurden, zu
einem einheitlimen System zu synthesieren. Die Ansicht, der­
zufolge die Erkenntnis zunämst durm eine ,>�E�ine<< Analyse
gesmieht, in deren Verlauf eine Vielheit von ÄBSiraKi:'lon en
ausgearbeitet wird, sodann durcl! eine ebenso »�eine<< ?t�!��-=­
- diese Ansicht gehört zu denselbel2._�_lla nt;J.Sien 4er m.e!aQ�Y_51-
smen'f Erkenntnistheorie wie die von der Induktion ohne
'Deduktion.
'' Das heißt hier • undialektisdien• , A. d. Ü.

105
Um diese Ansicht zu stützen, führt man zuweilen die Entwick­
lung der Wissenschaft im siebzehnten und achtzehnten Jahr­
hundert an. Das aber heißt die Tatsachen unfreiwillig verge­
waltigen. Selbst wenn man zugibt, daß der analytische Zugang
zu den Tatsachen kennzeichnend für diese Periode ist (wenn

man sich auch trotz der Illusionen der Theoretiker der Syn­
these gewidmet hat), so ist dennoch nicht zu vergessen, daß es
sich hier nicht um die erste Stufe der wissenschaftlichen Ent­
wicklung der Menschheit handelt und ._4�ß _<!ie.Jiir diesen Zeit­
_

abschnitt kennzeichne11<:le . ausschließliche Analyse die altgrie­


chische 'WissensChaft voraussetzt. Für diese, das heißt für das
"wirkl��f�ilg�si��t�� A�i "wissen!0��lid_len -��twicklung
�.?:�z.J!LY�!�c:���.<!�.r 2'ver.��ke.l!!�llf��.t syFtfieusche« Ge­ __

'slclitspunk.!_ ch�!:.a..�r� is!isffi,.. Bezieht man sich auf die Ge­


saudite-der Metaphysik des siehzehnten und achtzehnten Jahr­
liunderts, so ist nicht zu vergessen, daß es sich hier nicht um die
erste, sondern um die zweite der großen Epochen des Denkens
handelt. :Qi����ls� und. E�cht .�.ie. Analyse stellt sich
histori_sc;h als 4k �:r�te Sture der J3e.1iandlung der Tatsachen
· durdi. das Denke.n där: 'Dieses Beispiel beweist demnach das
.. Gegenteiroessen, was 'es beweisen soll.
Analyse und Synthese sind (und waren stets) dem Denkprozeß
immanente Gegensätze und ebenso unzertrennlich wie Deduk-·
tion und Induktion. Wenn diese oder jene Epoche diese auf
Kosten jener überbewertet hat, so ist daraus kein Gesetz zu
machen, dem das Denken künftig gehorchen muß, ein logisches
Gesetz, demzufolge jede Wissenschaft zunächst ein »rein ana­
lytisches« Stadium durchlaufen muß, um, auf dieses gestützt,
zu einem synthetischen überzugehen. Und doch gründet sich
auf eine solche Auffassung der Gedanke, daß die Methode des
Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten erst dann ange­
wandt werden kann, wenn der Prozeß der »Reduktion<< ' des
Konkreten aufs Abstrakte abgeschlossen ist.
Da diese Methode vor allem der Analyse wirklicher, empiri­
scher Tatsachen dient, schließt sie als notwendigen inneren
Gegensatz die »umgekehrte« Bewegung ein ; jeder Schritt ist
dabei nichts als ein Akt, der sich vom sinnlich gegebenen Kon­
kreten zu dessen abstrakt-theoretischem Ausdruck erhebt. Des­
wegen ist der Prozeß des Aufst�igens vom Abstrakten zum
Konkr;ten imw Oeil'.lren zugl�I;:t eine sich unaufhörlich erneu-
----- ,----.-�-- �.... .... ' ·-. ... .�. - -- � - -····

x o6
ernde Bewegung vom Konkreten in der Ansd:!aul.!n�pJ,nd.V:or­
stellung zum Konkreten' im Begriff. Die abstrakten Bestim­
mungen der sinnlich gegebefleh T,:�;�'ijCJi�:i\l:ni� Syst�ili
syiitneslert werdeii;-wenii man -zur konkreten Wahrb�jt, al,lf:­
steigt, bilden sich während der Bewegung selbst heraus. Kei­
nesfalls findet man sie als fettige Produkte einer frliheren, so­
zusagen rein analytischen Stufe der logischen Erkenntnis
vor.
Soll die Behauptung einigermaßen sinnvoll sein, daß man, um
sich vom Abstrakten zum Konkreten zu erheben, nach rein
analytischer Art das empirisch-sinnlich Konkrete auf einen
wesentlich abstrakten Ausdruck bringen muß, der als voran­
gehende, besondere Phase der logischen Tätigkeit in der Zeit
zu gelten hat, dann insofern, als die theoretische Untersuchung
der Realität das Vorhandensein eines entwickelten Vokabulars
voraussetzt, einer spontan konstituierten Terminologie, eines
Systems abstrakt-allgemeiner Vorstellungen. Dieses »rein ana-:,
lytische Stadium« der Reflexion der objektiVen-Wi'rldidikeft
, im Bewußtsein ist nur die Prämisse der ,
theoret�sch-l<;:>g!sshen
'Tätigkeit - nicht ihre erste Phase.
Wir können somit zusammenfassen : die Metlw.d�, ,!:le,s<,AJ,Jfstei­
gens vom Abstrakten, z yrn J�9nkr.e.tei:i" '1�t_eine sp,e.�ifj,$�,F,QEm
der Perk�ätigkeit u11� logischen Verarbeitung, d7r-�-!l�sh�
und Vorstelli.ing'z� Begriffen. l{eineswegs 'isfsie'' e�n künstliches
Verfahren, eine Darstellungsweise fertiger Erkenntnisse oder
ein formales Mittel, bereits bestehende Abstraktionen zu sy­
stematisieren. Sie ist vielmehr das »natürliche« Gesetz der
th�2�ti_§_�ick.lygg 9er:Jvtensclilieit; Jas von ,der ,r•
_

sophie aufgedeckt und dann zu einer bewußt augewandten


EntwiCk1ungsi:riei:hode �er The'o , rie üingesi:altet wirg.
} ed� fü.r_ si.cl1 , ��nommene »}rid}l�t1Je:� y�r�J!��-IE-einerung ( de­
_
_

ren Formef lautet : vom Konkreten in der AnsChauung zum


Abstrakten im Denken) verwirklicht sich stets im Kontext der
allgemeinen Bewegung der Erkenntnis und ist insofern nur ein
>>verschwindendes �oment<< i�,_ g�.!l g ß.er. �!f'�!I}:�I��e­
gung, die 'Zur koilkreten Wahrheit führt. So ist das Aufsteigen
a l
�1m��o�r;n���z��!��;:er�� ?! t��s � ��� �:��
�örgTiffilgae"'ill,esdtwerlichen Gang vom Abstrak­
f

ten zum Konkreten exzerpiert hat, den HegelJw. letzten Ab-


I OJ
schnitt der Großen Logik vorführt, ihn so charakterisiert:
»Dieser Auszug gibt gar nicht übel eine Art Zusammenfassung
dessen, was Dialektik ist.<<9
Der von Lenin angeführte Abschnitt charakterisiert den Denk­
prozeß gerade als einen, der sich vom Abstrakten zum Konkre­
ten erhebt : >> [ . . . ] so wälzt sich das Erkennen von Inhalt zu
Inhalt fort. Fürs erste bestimmt sich dieses Fortgehen dahin,
daß es von einfachen Bestimmtheiten beginnt und die folgen­
den immer reicher und konkreter werden. Denn das Resultat
enthält seinen Anfang, und dessen Verlauf hat ihn um eine
neue Bestimmtheit bereichert. Das Allgemeine macht die
Grundlage aus ; der Fortgang ist deswegen nicht als ein Fließen
von einem Andern zu einem Andern zu nehmen. Der Begriff in
der absoluten Methode erhält sich in seinem Anderssein, das
Allgemeine in seiner Besonderung, in dem Urteile und der Rea­
lität; es erhebt auf jede Stufe weiterer Bestimmung die ganze
Masse seines vorhergehenden Inhalts und verliert durch sein
dialektisches Fortgehen nicht nur nichts, noch läßt es etwas
dahinten, sondern trägt alles Erworbene mit sich und berei­
chert und verdichtet sich in sich [ . . . ] << Eben diese Partien der
Hegeischen Logik hebt Lenin in seinen Zusammenfassungen als·
diejenigen hervor, die am wenigsten von Idealismus durch­
tränkt sind und vor allem von der dialektischen Methode han­
deln. »Bemerkenswert, daß im ganzen Kapitel über die >abso­
lute Idee< fast mit keinem Wort Gott erwähnt ist (höchstens,
daß da einmal zufällig ein >göttlicher< >Begriff< entschlüpft),
und außerdem dies NB - hat das Kapitel fast gar nicht spe­
-

zifisch den Idealismus zum Inhalt, sondern sein Hauptgegen­


stand ist die dialektische Methode. Fazit und Resümee, das
letzte Wort und der Kern der HegeisChen Logik"ist die dialek­
tische Methode - das ist äußerst bemerkenswert. Und noch
eins : In diesem idealistischsten Werk Hegels ist am wenigsten
Idealismus, am meisten Materialismus. >Widersprechend<, aber
Tatsache ! << 1 0
Betrachtet man den Erkenntnisprozeß dialektisch, dann stellt
die sich vom Abstrakten zum Konkreten, von der theoretisch­
allgemeinen Bestimmtheit des in der Anschauung und Vorstel-
9 Lenin, Philosophische Hefte, in : ibid., S. 2 2 3 . - Das oben folgende Hegel­
zitat befindet sich auf derselben Seite.
IO Ibid., s. 227.

ro8
lung gegebenen Objekts zu stets konkreter werdenden Bestim­
mungen sich erhebende Methode die theoretisch richtige Form
dar, empirische Tatsachen in Begriffe zu überführen. So sieht
Marx die Dinge in seiner Einleitung zur Kritik der politischen
Ökonomie und Lenin in seinen Bemerkungen zu den letzten
Kapiteln der Hegeischen Logik.

Die materialistische Grundlage des Obergangs vom Abstrakten


zum Konkreten bei Marx

Marx hat sich nicht darauf beschränkt, das Gesetz des Auf­
steigens vom Abstrakten zum Konkreten allgemein-theoretisch
zu begründen ; er hat es beim Ausarbeiten einer konkreten Wis­
senschaft auch angewandt : der politischen Ökonomie. Das
Kapital enthält den praktischen, kon!!:,t;�tJ;�!l �ul!4 �e.ntwig(�ltro
_Beweis'der Nötwe!J.digke,ifdieser)A�th_od.e! .�� ze ! ��Jh.�e !':}r�­
liche, ma terialistislite, Jla,üs. �Js die einer Methode, welCfie (t�r

Dialektik der Entwicklung der.-oT:i)ek'iiven·WifgT1�liiii: eJ�J-


spricht.
·

Die Analyse des Kapitals unter dem Gesichtspunkt der in ihm


benutzten Forschungsmethode muß das konkrete Wesen der
hier erörterten Methode aufdecken. Diese wird sich als die
einzige erweisen, die es vermag, die zentrale Aufgabe wissen­
schaftlicher Forschung zu lösen, wie sie sich für die materiali­
stische Dialektik abzeichnet : die konkr.ete1 wechselseitige Be­
dingtheit der Erscheinung�n Zli"veriofgen) di�"xe,n:n.iit��f i.�rer
-Interaktion ein System erzeugen, das geschichtlich__entspringt
und sich in stets neuen Daseinsforl11 eitüliJT!mere.D-:W�r­
kungen entwickelt .und manifestiert. · · .
· . . ·�

Völlig falsch wäre es, wollte man die Notwendigkeit dieser


Methode allein darin erblicken, daß das menschliche Bewußt­
sein außerstande ist, die ganze Komplexität eines Objekts mit
einem Sd1lag zu erfassen, und daß es sich deshalb von einer un­
vollständigen, einseitigen (abstrakten) Vorstellung des Objekts
zu einer vollkommeneren Erkenntnis »erheben<< muß. Das
wäre keine Erklärung, sondern die bloße Wiederholung einer
trivialen Tatsache. Es versteht sich von selbst, daß das_ Bewußt­
sein effektiv derart beschaffen is�: Aber seine Eigenschaften be�
ailrfen selbst einer materialistischen Erkfärung. überdies be-
lehrt uns, strenggenommen, dieser einfache Verweis auf die
Natur des Bewußtseins nicht über die Spezifität der Methode,
die sich vom Abstrakten zum Konkreten erhebt, als der
Methode wissenschaftlich-theoretjscher Forschung. Die bloße
Kenntnisnahme von einem Objek� einer . Erscheinung oder
.
. emem Systemvon'Ersctieiiiül{g��- Üiufl: �benfalls als ein Proz�ß
iltriiäh1idier "u!}<l (q{t�Chrei��:ll der Än,eignung stets neuer Ein­
''Ze1helien' ab ; sie geht von einer einseitigen und armen Vorstel­
luiii .z!:l. 'einer vollständi �eren (aber dabei rein empirischen)
über. Der Prozeß des Anhäufens empirischer Gegebenheiten,
mit d�;;n Hilfe die Wirklichkeit wahrgenommen, . aber n9ch
mdir erhnnt· ·wird,· verläuft · ebenfalls wie eine Entwicklung
'\Töii ae"i"�rrsemgen Erkennt� is �ur vielseitigen.
· ·· ·

'UieMethode · des Aufsteigefis vom Abstrakten zum KonJueten


tscnurein:e Methode, die konkrete Wirklichkeit im De11.ken zu
reflektieren: K.eines'Wegs-�eiiie Methode, diese Wirkliilikeit, wie
oel Heg·a;- kraft des Denkens ZU erzeugen. Deshalb hängen
Ausgangspunkt und Entwicklung des logischen Gangs der Be­
griffe nicht vom Denken, sondern, wie Marx gezeigt hat, allein
von den Beziehungen ab, welche die verschiedenen Aspekte
eines konkreten Ganzen zueinander haben. Die Methode der
logis clle.n E n.tw.icklung mu�. del?_n_a�. der . �ri: der itmeren G lie­
cferung jenes Ganzen entspreChen, der Dialekti.k des. Erschei­
nens ·eines Konkreten · atiß iihiiR. :fl�f R�?�ens, was letztlich
1leißt; -äer -gescnic1i'i1idie ii-Entwicklung dieses Ganzen, wenn
auch, wie wir noch zeigen werden, diese Entsprechung nicht
einfach und starr ist und nur von den allgemeinen Momenten
der Entwicklung gilt.
Die Formel des Materialismus in der Erkenntnistheorie und
Logik ist der oben zitierten gerade entgegengesetzt : das Objekt
ist so beschaffen, daß ihm nur eine solche Tätigkeitsform des
Bewußtseins entspricht und nicht irgendeine andere ; es ist so
beschaffen, daß es im Bewußtsein nur durch diesen Vorgang
reflektiert werden kann. Anders gesagt, das Problem dq Me­
thod_e}o�isc�;r. Tiit.i&��it_ xer:wa,J,ldelt . sich nn:lie::tJptersuchi.ii;lg
aes gegenständlichen Wes.ens der Wi rkli_chkei.t c!er Qbjekte sowie
in Vertiefungen. der Kategorie des �;KonkreteJ,l�< ..als einer K�­
tei�ri�; die sich aufs Objekt b ezieht und die universelle Da­
seinSTorrii '�d!!t' Wirklichkeit ausd'rüclU. Auch hier herrscht das
"PrlnZijS'"des Zusariimtmfallens von Logik, Erkenntnistheorie

I IO
und Dialektik: eine zunächst rein logisch erscheinende Frage
erweist sich letztlich als die nach den universellen Fpp:ii�fi;jn
denen das Konkret-ObjektiveWird und siCh entwickelt.
_

-Man:··rzallll die Richt�gkeit u-nd Notwendigkeit (fe� ·Methode


des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten nur dann ma­
terialistisch begründen, wenn man die wirklich allgemeinen
Gesetze aufdeckt, denen jedes konkrete System_ von_ Erschei­
nungen gehor,cht1 die �ich in. In!er�kti<?rl ��.€n4e,��{das . kap1tal1-
stisdle' Warensystem gesellschaftlicher Verhältnisse, das Son­
nensystem, die chemische oder biologische Form der Wechsel­
beziehungen etc.). Hier aber stoßen wir erneut auf eine schon
bekannte dialektische Schwierigkeit : die Dialektik kommt
selbst in der Weise ins Spiel, in der die Frage nach ihr gestellt
wird. Offenkundig ist es unmöglich, die allgemeinen Gesetze
des Werdens irgendeines Konkretums theoretisch zu erhellen
und auszudrücken, wenn man sich dabei induktiver Verallge­
meinerung bedient, der Abstraktion aus dem, was das kapita­
listische Warensystem, das Sonnensystem, die biologische Form
natürlicher Wechselwirkungen und deren elektromagnetische,
chemische oder andere Formen an gemeinsamen und ähnlichen
Zügen aufweisen.
Die Frage so stellen, heißt sich eine ihrem ganzen Wesen nach
absolut unlösbare Aufgabe vornehmen. Allerdings geht die
Erkenntnis aller Fälle konkreter Wechselwirkungen in der
unendlichen Natur nicht bloß über die Möglichkeiten des
Autors eines Werkes, sondern der Menschheit insgesamt hin­
aus. Nichtsdestoweniger stellt sich uns die Aufgabe, die univer­
sellen Gesetze des Werdens eines jeden konkret-objektiven
Systems von Wechselwirkungen g�nau zu enthüllen. Anders
gesagt, wir stehen wieder vor einem der >>ewigen Probleme«
der Philosophie : ist .es möglich - und wenn ja, wie - auf der
Basis des Studiums eines beschränkten, notwendig endlich�n
fatsaclienbereich� eine wahrhaft u�fassende und unendliche
·yir�J�gemeinerung ausz�arbe�ten?
. , . ,. , , , ' "· -

Glücklicherweise war die Philosophie niemals wirklich be­


strebt, induktiv zu einer solchen Konzeption zu gelangen. Die
wirkliche Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie hat
diese >>Antinomie<< seit langem schon praktisch gelöst, die nur
dann prinzipiell unlösbar erscheint, wenn man sie metaphysisch
formuliert. Faktisch ist die Menschheit, ob in der Philosophie
III
oder auf einem anderen Erkenntnisgebiet zu >>unendlichen<<,
universellen Verallgemeinerungen und Schlüssen gelangt, und
zwar nicht durch Abstraktion aus dem, was alle möglichen
Fälle an Ahnliehern aufweisen, sondern durch Analyse, sei es
auch nur eines typischen Falls. Es genügt hierbei, an das zu
erinnern, was Engels in der Dialektik der Natur schreibt : >>Ein
schlagendes Exempel, wie wenig die Induktion den Anspruch
nat, einzige oder doch vorherrschende Form der wissenschafl:­
lichen Entded<.ung zu sein, bei der Thermodynamik : Die
Dampfmaschine gab den schlagendsten Beweis, daß man
Wärme einsetzen und mechanische Bewegungen erzielen kann.
r oo ooo Dampfmaschinen bewiesen das nicht mehr als Eine,
drängten nur mehr und mehr die Physiker zur Notwendigkeit,
dies zu erklären. Sadi Carnot war der erste, der sich ernstlich
dranmachte. Aber nicht per Induktion. Er studierte die Dampf­
maschine, analysierte sie, fand, daß bei ihr der Prozeß, auf
den es ankam, nicht rein erscheint, von allerhand Nebenpro­
zessen verded<.t wird, beseitigte diese für den wesentlichen Pro­
zeß gleichgültigen Nebenumstände und konstruierte eine ideale
Dampfmaschine (oder Gasmaschine), die zwar ebensowenig
herstellbar ist wie z. B. eine geometrische Linie oder Fläche,
aber in ihrer Weise denselben Dienst tut wie diese mathemati­
schen Abstraktionen : Sie stellt den Prozeß rein, unabhängig,
unverfälscht dar. << 1 1
Nicht die Induktion� die an einer Abstraktion . orientiert ist, in
der �1Ch a�sd�ü ck� -��s 'all�n· be�onderen Fällen gemei�sa !TI ist,
sonaern '�i �i x�tl,�ji�, ,,h.�;t}y�e .ein�s b��qr.uleren Fall�, daran.
o'rientieri; J. en :forsch1Jn,&mm��ßjro . >>R eixgy sr<J.p.d.�l.....Z.U .offen�
baten · .:.. d�dn bes,tilJJ.d . über.aJLund. stets, der ..Wez A.�r..Ph!l<>so­
.phie, w�nn si � \V ir�li � �ll <.>eie.�Ji ye n.. E,n�A�<;k v»�P . fiJhr.!�:
Nur Ie'ui:e wi'e Comte und Spencer versuchten, den Weg der
Induktion und Abstraktion einzuschlagen. Die Ergebnisse ihrer
Anstrengungen entsprachen dem, was zu erwarten war.
Die Philosophie war stets bestrebt, ihre spezifischen Probleme
zu lösen, die sehr verschieden sind von den Bemühungen, die
man anstellen kann, um zu entded<.en, was das Krokodil und
der Jupiter oder das Sonnensystem und der Reichtum abstrakt
gemeinsam haben. Stets hatte die Philosophie ernste Fragen,
bei deren Lösung sie darauf abzielte, universelle Gesetze all
I I Engels, Dialektik der Natur, I. c., S. 2 4 3 ·

I I2
dessen zu entdecken, was extstlert, sowie darauf, den Inhalt
der Kategorien ans Licht zu bringen. Marx hat bekanntlich
das Hegeische System universeller Kategorien nicht so einer
kritischen Analyse unterzogen, daß er diese Kategorien mit
dem verglich, was die Menschheit mit dem Atomkern verbin­
det und diesen oder jene mit der Struktur des Weltalls . ..R11ß

� �-<;l:� -��!l:.P! ��2E�-�1�&2.�ien.. ."":u:4 e�..<ll!fg:.�hs>�.. �!l. ...w���en_i.
liCn. aurch seine kritisme Konfrontation mit einem - freili ..:u.
.
• .•

typ1schen-�-Fä1TdT�Iek!isd;';� ·E-nt;Rk1��g ; di� bi�l�kxi k d e �


iesellsmä:IU1dieii· Pröd1iktiönsverhältnisse auf eine; ilirer E.nt­
·

wiekl���s��u f�n·. b�ä� ·ist: Cfer wirkliChe Weg, -der..s"'i:ets -cfie · Ä�f:·
fassung vom Inhalt der allgemeinen Kategorien weitergebracht
hat.
��P..E2b.L�11.1 der . theor(!tisch.en . Analyse ..de�
Allgemeinen lä,Ufl;
Wirklichkeit immer auf die Analyse des Einmaligen unterm
__

Gesichtsj:niiikt des ·Allgemeinen hinaus. Man muß beim Einma:


ligennur festzull'atet n :wrss·en� ·niali: ·-was die E.in��li&�ei.i t�ii.C!
Besoiider1e1t e!�es Falles k()nstit�iert, sm1der�-se1ne Allge111 �i}1:-.
heit." Ari ·eben �diesem Punkt gilt es, über den bewußtesten Zu­
ga�g zur Abstraktion zu verfügen sowie über die Mittel, zu
ihr zu gelangen. Der gewöhnlichste Irrtum in der theoretischen
Forschung besteht darin, daß für die allgemeine Form einer
einzelnen Tatsache gehalten wird, was in Wirklichkeit bezogen
ist auf ein bestimmtes Zusammentreffen vorübergehender Um­
stände, deren begriffenes Wesen der Anschauung diese wirklich
allgemeine Form darbietet.
Sosehr man auch dazu gelangt sein mag, den Inhalt einer so
umfassenden Kategorie wie des Konkreten vollständiger zu
enthüllen - das Problem . kann und muß gelö�t werd�:n durch
das Studium-eine� Falles, der typisch ist (ür cla.s sicl:tJliakkti.�<:h..
entwickelnde Syst�111 objektiyer E.r�<:lu:!iP.!l!lgei!l.cli� �?..W:�sh��l­
wirkullg �t��n. Ein für das System dieser Art typischer
•.

Fall ist der der ��_pit<tl_is.t!schell..t1!1d War,�nbezi!:lllll


l g�!l.}�I!!er
den Menschen·: Von ihnen werden wir als einem besonderen,
��th.ar:�n. f�!!.A�� ..�<?.r..Jsr��:A im. AI��mein..!!.Jl i1J.S,g�fun.-:-
ein Fall, an dem die allgemeinen Umrisse des konkreten Gan­
zen aufgehellt werden können und müssen. Wir werden uns
nur dann auf andere Bereiche berufen, wenn wir in ihnen auf
Materialien stoßen, die für sich selbst sprechen. Unsere Aus­
wahl ist nicht durch subjektive Laune oder persönliche Neigun-
IIJ
gen bestimmt. Ein weit entscheidenderer Umstand, der sie
empfiehlt, beruht darin, daß bislang noch kein anderes Kon­
kretum durchs Denken ebenso gründlich erfaßt worden ist.
Als Marx �ich vornahm, das allgemeine Gesetz des Kapitalis­
mus als solches zu enthüllen, diesen als geschichtlich bestimmtes
System gesellschaftlicher Produktion, ist er keineswegs so vor­
gegangen, daß er ausnahmslos alle Fälle der zu seiner Zeit auf
dem Erdball bestehenden kapitalistischen Entwicklung induk­
tiv verglichen hätte. Als Dialektiker verfuhr er anders :,.$.J.ha_L
sich den charakteris}i_si!,sten uni:.�!t!!W, !���l �� �erzJ'f-?l �or�enom-.
�warclie eng'IlsC1iekapitahstisdie und Waren-Wirk­
IiCllkei t sowie deren theoretischen Reflex in der eriglischen.öko­
nomisdie� iit�ratl!'r�-·E;:- ·li:.:t' 'eine allgemeine ökonomische
�I<feJ!1_ )n'df.�r��.,�i 0 . ��1JR�s.ä�ch��� auf das . ein-
.··

:!}le,??!e·�en�
genenae Stud1um d1eses emzelnen. Tatl>estands stutzte.
Daoei'ließ"' er ;ich da�'oii· r;it��;··diifdi� �Ifge.meiiien Gesetze
der kapitalistischen Entwi�lung für alle Länder dieselben
sind und daß England, das auf dem Weg der kapitalistischen
Entwicklung am weitesten gegangen war, alle Phänomene am
reinsten darbot. Was in anderen Ländern als schwache Andeu­
tung vorlag, die zu artikulieren schwer ist, entweder als Ten­
denz, die sich noch nicht völlig manifestiert hatte, oder die
durch äußere, zufällige Umstände verdeckt und kompliziert
wurde, war in England in geradezu klassischer Reinheit ent­
wickelt. Marx ist auf gewisse Züge der kapitalistischen Ent­
wicklung nur in ganz bestimmten Fällen eingegangen (so be­
ruft er sich auf zahlreiche Aspekte der ökonomischen Entwick­
lung der russischen Landwirtschaft bei seiner Analyse der
Bodenrente) .
Von denselben Erwägungen muß fraglos ausgehen, wer die
Frage der Kategorien der Dialektik aufwirft. In der Tat ist es
die kapitalistische Warenwelt, die sich uns in der theoretischen
Entwicklung des Kapitals und anderer, benachbarter Werke
(von Marx selbst und seinen besten Schülern und Nachfolgern,
vor allem Engels und Lenin) als das entwickeltste Bild des hi­
storisch Konkreten darbietet. Außerdem bleibt das Kapital ein
unübertroffenes Modell bewti"ßter An�endung der dialekti-
5��11-. Meilioae; der dialel{tischen.· ·Logik im ganzen Reichtum
I�res Inhalts. Es zeigt zahlreichen Wissenschaften ihr eigenes
· M-orgen und enthält alle methodischen Gesichtspunkte, die in
anderen Wissenschaften noch nicht ebenso folgerichtig verwirk­
licht sind. Zu bemerken ist ferner, daß die k<:>llS.truktiv,e KritiJ!:.
der voran�ehende11. Tl}.eorj�q, notwendi ges Moment der ge­
danklichen Verarbeitung der wissenschaftlichen Probleme einer
Epoche, _ygr_;tuss �!Z.k. d � ßAie _kri# sp e J\ �fl:l:;thll?-� �i �.�-l} e�l),�m
theor�tischen �e!!:.Ii.�Ly_9n ._9�te�_Qu �l�:�.t }l,llt:i an · ?'�t.U:!!t��l}
__

bet_ii:Eigt,_ die..��P:.v���!e.�-�11ct�l} !-.9l},��PJ!911�I1�d�r . W..!.r �JJ�k,�,


der jey,r�ihAa.� Interesse . des F(),rsch�t� gjJt'"'W�ä.cillich. "iil>e;k-:;.
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_g�!l §in.d.
Im Fall der ökonomischen Theorie waren die hauptsächlichen
Widersacher, gegen die Marx seine Konzeption der Wirklich­
keit ausarbeitete, die Klassiker der politischen Okonomie, nicht
die Vulgärökonomen seiner Zeit oder die Vertreter der >>uni­
versitären Verfallsform<< der Theorie. Diese Vertreter waren
nur zeitlich gesehen die Zeitgenossen von Marx, keineswegs
aber vom Gesichtspunkt theoretischen Scharfsinns. Hierin stan­
den sie unendlich tiefer als die Klassiker und stellten keine
theoretische Opposition dar, die eines ernsthaften Streits wert
gewesen wäre. Bei der Darlegung seiner Konzeption der Wirk­
lichkeit, eine Darlegung, welche die Form einer ernsthaften De­
batte mit den Klassikern hat, beschränkt sich Marx darauf,
sich spöttisch von "Theoretikern<< wie Senior, Bastiat, MacCul­
loch, Roseher und anderen abzuwenden.
Soweit es um philosophische Kategorien geht, bleibt auch heute
noch die klassische bürgerliche Philosophie der einzige wert­
volle Gegner der Philosophie des dialektischen Materialismus,
was - wohlgemerkt - nicht bedeutet, den unerbittlichsten
Kampf gegen die reaktionären zeitgenössischen Systeme von
der Tagesordnung zu streichen, sondern dazu beiträgt, ihre
Leere und ihre Tendenz zu offenbaren, den großen philosophi­
schen Fragen ängstlich auszuweichen.
Marx, Engels und Lenin nahmen gegenüber Hege! und Feuer­
bach eine völlig andere Haltung ein als gegenüber Schopen­
hauer oder Comte, Mach oder Bogdanow. Bei ihrer strengen
Kritik der Spekulationen kleiner Idealisten waren sie niemals
bestrebt, bei ihnen einen >>rationellen Kern<< zu finden. Um die
sophistische Argumentation der Macbisten zu entkräften, führt
sie Lenin vor allem auf den klassischen, klaren und fundamen­
talen Ausdruck zurück, welchen die von ihm bekämpfte Posi­
tion bei Berkeley und Fichte erreicht hatte. Das ist kein pole-
misches Verfahren, sondern das sicherste Mittel, theoretisch das
Wesen einer Position bloßzulegen. Wenn Lenin andererseits
vor dem Problem steht, den dialektischen Materialismus mög­
lichst genau auszuarbeiten, läßt er die Machisten, diese theore­
tischen Zeitgenossen Berkeleys, beiseite und kehrt zur kriti­
schen Analyse von Hegels Wissenschaft der Logik zurück als
dem wahrhaften Gipfel des bürgerlichen Denkens auf dem Ge­
biet einer Konzeption der allgemeinen Bewegungsgesetze der
Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens.
Wir können also zusammenfassen : im Kapital von Marx Uf1d
gilt es, die wahr:
_d}l�-�� A.:l13JY��-- �.�LIJ-��:J.2gi�meri:.Siru ktur�.u,�h�.!l?.
E3.ß:��on��tLG��!!�Jk"r.Methode Z!: ... ? ie si ch, vom
Abstrakten zum Konkreteil erhebt, als der . einzigen · lögischel1
· �ll!�iliiY:P���hgd�:�gr; .wis��"fiscll aftlKh. richtig ist und de�
·


- i.e..� �.���.I?i.� L��"ti.� � e��ß!.;..
vas Kapita l verwirkrIcn! syst(;!matisch da� . ?.us��!ll enfallen
von Logik, Erkenntnistheorie und Dialekt1k�.d<l§ d!e Marxsche
Forsehungsmei:hode wesentlich kennzeichnet� es v'erwirklicht
das Zusammenfallen von Induktion und Deduktion, Analyse
und Synthese, das die Methode charakterisiert, die vom Ab­
;trakten i'um Konkreten aufsteigt. Wir wollen die Frage zu­
' !l�chst ihrem konkret-ökonomischen Ausdruck nach unter­
suchen, um dann zu Schlußfolgerungen allgemein-methodolo­
gischer Art überzugehen.
Stellen wir folgende Frage : ist es möglich, das objektive We­
sen von Erscheinungen wie Mehrwert und Profit theoretisch zu
begreifen (in einem Begriff zu reproduzieren), wenn man nicht
zuvor und unabhängig die Kategorie des Wertes analysiert
hat? Kann man das Geld erfassen, wenn man nicht die Gesetze
kennt, denen die Bewegung des einfachen Marktes gehorcht?
Jeder, der das Kapital gelesen hat und die Problematik der
politischen Okonomie kennt, weiß, daß das eine unlösbare
Aufgabe ist.
Kann man den Begriff (die konkrete Abstraktion) des Kapitals
auf dem Wege rein induktiver Verallgemeinerung abstrakter
Merkmale bilden, die man unter allen verschiedenen Aspekten
des Kapitals beobachtet? Wird diese Abstraktion wissenschaft­
lich befriedigen? Die innere Struktur des Kapitals im allge­
meinen als spezifische Form der ökonomischen Wirklichkeit
ausdrücken? Es genügt, die Frage so zu stellen, um einzusehen,
1 16
daß die Antwort notwendig negativ ausfallen muß. Wohl
drückt eine solche Abstraktion das Identische an Industrie-,
Bank-, Handels- und Wucherkapital aus. Sicher erspart sie uns
Wiederholungen. Damit aber hört ihr wirklicher wissenschaft­
licher Wert auf. Sie drückt das konkrete Wesen keiner dieser
. Kapitalfor �� n ;t'U �.JThe�sowe�;i' re pr��u�ie�t si� d�� 1;.o�k;��e
Wese�Cihi�rJ!:!2:iproken Y.e �b�ndenheit. und Wechselwirkung.
Eben darum ist sie abstrakt. Es ist aber gerade die konkret,�
�:chsei_wirkung, kou�re.ter . Ersch�i�uii&t:.��. qie für die Dialek:..
tik Gegenstand und Ziel_ begriffhellen penkens ausmacht ... Die
·

Bedeutung des Allgemeinen ist widerspruchsvoll, hat Lenin


unterstrichen ; es macht aus der lebendigen Wirklichkeit einen
Leichnam, ist aber zugleich die. einzige Stufe, auf der an jene
heranzukommen ist. Es leuchtet jedoch ein, daß das Allgemeine
im hier erörterten Fall das Konkrete ertötet, sich von ihm
entfernt und nicht zugleich ein Schritt hin zu ihm ist. Dieses
Allgemeine sieht vom Konkreten wie von etwas >>Unwesent­
lichem<< ab. Eine solche Abstraktion drückt nicht mehr das kon­
kret-allgemeine Wesen des Industrie-, Bank- oder Handels­
kapitals (und damit jedes Kapitals) aus.
Marx zeigt im Kapital höchst einleuchtend, .daß die konkret­
ökonomische Natur des Handelskapitals - als konkreter
Aspekt der kapitalistischen, auf Warenproduktion beruhen<;lep
Totalität - ihrem Prinzip nach nicht begriffen und durch eine
·

�heöretisehe Abstraktion ausgedrückt werden kann, we_nn nicht


zuvor das ·
wo ra-e!1·T;t:·Industriekapital
· · · ·
in .�einer . illneren. S�rukt.Yr exfaß t
·· · · ·· ··

Tiie'"Uilters;Jchung des Industriekapitals in seinen immanenten


Bestimmungen läuft darauf hinaus, das Wesen des Kapitals im
allgemeinen bloßzulegen. Dabei versteht es sich, daß das In-

��i�i;��h-tf1el ;h{·zt-��h�rrin, ��b�71�·El·�i� 11r;;s�i�


des Mehrwerts kennt. Auf dem umgekehrten Weg begreift man
ni l'un, ni l'autre.<< " Unterstreich_e_� -�it:Lcl_�ß. �s _ sich A<l:r\ll11,
handelt, zu begreifen \Jri Begrlffe_n auszudrii�en) ; denn man
. .

K'arin .nädirfich auch eine Abstraktion des Profits im aÜgemei'­


. nen lierstellen. Dabei genllgt es, die empirisch b�obadi.teten Er­
-�einurigen auf einen abstrakten Ausdruck zu bringen.�Dieser
wird völlig genügen, um die Erscheinungen des Profits zuver-
12 Marx, Das Kapital, Band I , Berlin 1 9 5 9, S. 224, Fußnote.

1 17
lässi g von anderen Erscheinungen zu unterscheiden, um den
Profit »wiederzuerkennen<<. Der kleinste Unternehmer ist da­
zu- imstatid�; denn auf Anhieb erkennt er den . Profit des Loh-
nes, .des Geldes und so fort.
-

Aher der Unternehmer begreift dadurch nicht, was der Profit


ist. Das hat er übrigens auch nicht nötig. Er handelt in der Pra­
xis als instinktiver Parteigänger der positivistischen Philoso­
phie und empirischen Logik. Er beschränkt . sich darauf, den
unter seinem Blickwinkel wiattl.ge�· Erscheinungen einen ver­
..

allgefueinerren- Pi:usäruek'"zi:iv"etTeiti'en, unter deni Blickwinkel


seinef' ·sub)eK:tive"itZwecti; 'und 'dieser verallgemeinerte Aus­
aruclrc!erTrscnemurigeii illeiif ihm in der Praxis hinreichend
als Be.gdf( .der--e·s- ih'ffi" gestattet, Profit von Nicht-Profit zu
�en. Als wahrer Positivist betrachtet er, subjektiv ehr­
..

lich, alle Erörterungen über die innere Natur des Profits, über
das Wesen dieser Erscheinung, die seinem Herzen so teuer ist,
als metaphysische Scholastik, fern der Weisheit des Lebens.
Jeder kann Geld als solches benutzen, ohne zu wissen, was
Geld ist.
Der praktische, auf Nutzen bedachte Verstand ist, wie Marx
zu F. List in einer Fußnote des ersten Kapitels der Schrift Zur
Kritik der politischen Ökonomie bemerkt, dem Begreifen
feindlich und fremd. Einem Unternehmer ist es sogar abträg­
lich, zu sehr über die Frage nach der Natur des Profits nach­
zudenken. Während er versucht, die Zusammenhänge zu ver­
stehen, sind einfallsreichere und praktischere Geschäftsleute da­
bei, sich seines Anteils zu bemächtigen. Und ein Geschäftsmann
wird niemals einen realen Profit gegen die Einsicht in das ver­
tauschen, was er sein mag.
In der Wissenschaft jedoch, im Denken kommt es gerade auf
das Begreifen, auf die Konzeption an. Die .Wissenschaft, das
,heißt ,l?enken ig ]3egriffen, begi11nt e.rst dort, wo das Bewußt­
�ein aufhört, die Vorstellungen vo� den Dingen, die ihm spon­
tan geliefert werden, bloß auszudrücken und zu wiederholen ;
wo es sich anstrengt, orie�tiert und kritisch ebenso die Dinge
ZuänalySieren- wie� die Vorstellungen, die es von ihne11 hat.
§e"Erscnein��i""bezrelJertll�ißt' �hre�·. Ort . und ihr�.-�olle i�:­
nerliälbaes'Systems der in Wechsefwirkung stehenden Erschei�
__. __

iiün.geri· erheUen,.iri dem sie sich notwendig reaJisie.r�;Jt!!,i ßt ge­


ra�e die· "ßesonderheiten erhellen, vermöge . d�rer äiese. Er��et-
II8
nung eben diese Rolle . in einem Ganzen �piel�!l kan,n. Eine
Emheinung begreifen heißt die Weise ihres Auftret�ns erhel­
len, die >>Regel«, nach der dieses Auftreten sich mit einer Not­
wendigkeit vollzieht, die durch ein bestimmtes Ensemble von
Bedingungen verhüllt wird ; heißt schließlich eben die Bedin­
gungen des Auftretens der Erscheinung analysieren. Derart ist
die allgemeine Formel der Begriffsbildung, des Begreifens (der
Konzeption).
Den Profit begreifen heißt den allgemeinen und notwendigen
Charakter seines Erscheinens und seiner Bewegung im Inne­
ren des Systems kapitalistischer Warenproduktion aufdecken ;
heißt seine spezifische Rolle in der Gesamtbewegung des Sy­
stems insgesamt aufdecken. peshalb kann man einen konkreten
_!l_egri_f!.�L...��pit!:.!�. -�ige_� .k<>mpl�x;�xi��s·��:tl.ii-�g:n�,�J)�!l:it'R:­
E9E_e!_!._Y.�L"\'t.:!�!!ili�.!lt.. die ... eine Erscheinung durch das Ganze
der Bedingungen ihres Auftretens ausdrücken. Als Wissenschaft:
oegilln·i- <Jie- pofiiisChe Ukonomie ei-'st . iri dem Augenblick, wo
die stets wiederkehrenden Erscheinungen ( >>Profit«, »Lohn«,
» Interesse« etc.) nicht nur mit Hilfe allgemein genommener
und zugelassener Bezeichnungen fixiert werden (das geschieht
vor und außerhalb der Wissenschaft im Bewußtsein derer, die
praktisch an der Produktion teilhaben), sondern wo sie ver­
mittels der Analyse ihres Ortes und ihrer Rolle in einem Sy­
stem konkret begriffen werden.
Es ist also fundamental unmöglich, den Profit zu begreifen,
(in einem Begriff auszudrücken), wenn der Mehrwert und seine
Erscheinungsweisen nicht vorher und unabhängig begriffen
worden sind. Warum ist es unmöglich? Wenn wir diese Frage
allgemein-theoretisch beantworten, tun wir zugleich die wirk­
liche Notwendigkeit der Methode dar, die sich vom Abstrak­
ten zum Konkreten erhebt ; wir beweisen zugleich ihre Gültig­
keit in allen Er kenn tnisbereichen. [ . . . ]

Die Deduktion und das Problem des Historismus

Obgleich Ricardo seinen Untersuchungsgegenstand, die kapita­


listische WarenwirtschaA:, als ein einheitliches, in all seinen Ma­
nifestationen kohärentes Ganzes und als System von Produk­
tions- und Distributionsverhältnissen betrachtete, die einander
I I9
bedingen, begriff er dieses System nicht in seinem geschicht­
lichen Werden, als organisches Ganzes von Verhältnissen zwi­
schen den in den Produktionsprozeß eingespannten Menschen
und Dingen, als ein Ganzes, das eine geschichtliche Vergangen­
heit hat und sich fortentwickelt. Alle Verdienste der For­
schungsmethode Ricardos hängen innerlich mit dem Gesichts­
punkt der Substanz zusammen, das heißt mit der Auffassung
des Gegenstands als einheitliches, kohärentes Ganzes. Umge­
kehrt gründen alle Mängel seiner Methode im völligen Unver­
ständnis dafür, daß dieses Ganze geschichtlich geworden ist.
Die kapitalistische und Warenform der Produktion erschien
ihm als >>natürliche<<. und ewige Form aller Produktion. Daher
der ungeschichtliche (selbst antihistorische) Charakter seiner
Abstraktion. Wenn die Deduktion der Kategorien mit einer
ungeschichtlichen Auffassung des Objekts einhergeht, das sie
begrifflich reproduzieren soll, fällt diese Deduktion unver­
meidlich rein formal aus.
Es fällt nicht schwer zu bemerken, daß die Deduktion ihrer
ganzen Form nach einer Vorstellung von der Entwicklung ent­
spricht, das heißt der Bewegung vom Einfachen, Ungeteilten
und Allgemeinen hin zum Komplexen, Geteilten und Besonde­
ren. Wird aber die deduktiv in Begriffen reproduzierte objek­
tive Wirklichkeit selbst als etwas verstanden, das sich nicht
entwickelt, als ewiges und natürliches System von Erscheinun­
gen, die sich in Wechselwirkung befinden, dann wird die De­
duktion unvermeidlich nur als künstlicher Vorgang der Ent­
wicklung des Denkens betrachtet. In diesem Fall kehrt die
Logik notwendig zu dem von Descartes ausgedrückten Ge­
sichtspunkt hinsichtlich des Wesens der Deduktion zurück.
Als Descartes sich daran begibt, sein Weltsystem zu konstru­
ieren und alle komplexen Formen von Wechselwirkung in der
Natur aus der Bewegung einfacher materieller Teilchen abzu­
leiten, die rein geometrisch bestimmt sind, rechtfertigt er dies
Verfahren, eine Theorie aufzubauen, folgendermaßen : Die
Natur der Dinge »läßt sich [ . . ] weit besser verstehen, wenn
man sie nach und nach auf diese Weise entstehen sieht, als
.

wenn man sie nur als ohne weiteres fertig betrachtet. << 1 3 Zu­
gleich aber macht er, um nicht in offenen Konflikt mit der
Lehre von der Weltschöpfung zu geraten, folgenden charak­
'3 Descartes, Abhandlung über die Methode, Harnburg 1 9 5 7 , S. 3 8 .

1 20
teristischen Vorbehalt : >>Trotzdem beabsichtigte ich nicht, aus
dem allen zu schließen, daß diese Welt in der von mir ange­
gebenen Weise geschaffen worden ist ; denn es ist bei weitem
wahrscheinlicher, daß Gott sie von Anfang an so gemacht hat,
wie sie sein mußte.« 1 4
Descartes ist sich darüber im klaren, daß die von ihm bewußt
angewandte Form der Deduktion sich letztlich einer Entwick­
lungskonzeption nähert, einer Lehre des notwendigen Auftre­
tens und Ursprungs der Dinge. So stand er einem heiklen
Problem gegenüber : wie läßt die Deduktion sich mit der Auf­
fassung vereinbaren, derzufolge das Objekt ewig mit sich
identisch bleibt und - da es einmal von Gott geschaffen wurde
- von nirgendwo herstammt?
Ricardo befand sich in einer ähnlichen Lage. Er verstand sehr
gut, daß allein die Bewegung deduktiven Denkens die Pro­
bleme in ihrem inneren Zusammenhang ausdrücken konnte ;
daß man diesen aber nur so erkennen konnte, daß man das
allmähliche Auftreten der verschiedenen Formen des Reich­
tums anhand einer ihnen allen gemeinsamen Substanz anvi­
sierte, der Waren produzierenden Arbeit. Wie aber ließ sich
dies mit der Auffassung vereinbaren, nach der das bürgerliche
System natürlich und ewig ist und im Grunde weder ent­
springen noch sich entwickeln kann? Ricardo versöhnt diese
beiden absolut unvereinbaren Auffassungen, was sich in seiner
Denkmethode und in seiner Art, Abstraktionen zu bilden,
widerspiegeln muß. Wenn der Aufbau der Theorie mit der
Kategorie des Wertes beginnt, um dann zur Untersuchung
anderer Kategorien überzugehen, so läßt sich das dadurch
rechtfertigen, daß die Kategorie des Wertes der allgemeinste
Begriff ist und Profit, Zins, Grundrente, Kapital und alles
weitere impliziert ; sie ist ein gattungsmäßiges Abstraktum aus
all diesen realen, besonderen und einzelnen Phänomenen.
Die Denkbewegung, die von einer abstrakt-allgemeinen Kate­
gorie zum Ausdruck der Besonderheiten wirklicher Erschei­
nungen führt, stellt sich damit als eine Bewegung dar, die sich
ausschließlich im Denken und nicht in der Wirklichkeit ab­
spielt. In dieser existieren alle Kategorien - Profit, Kapital,
Rente, Lohn, Geld etc. - gleichzeitig nebeneinander, und die
Kategorie des Wertes drückt das ihnen Gemeinsame aus. Der
14 Ibid.

I2I
Wert existiert real nur im abstrahierenden Kopfe, als Reflex
dessen, was die Ware mit dem Geld, dem Profit, der Rente,
dem Lohn, dem Kapital etc. gemeinsam hat. Der Wert ist der
gattungsmäßige Begriff, der alle besonderen Kategorien um­
faßt.
So dachte Ricardo im Geist der nominalistischen Logik seiner
Zeit, die gegen den mittelalterlichen Realismus aufbegehrte
und gegen die kreationistischen Vorstellungen etwa eines Tieres
im allgemeinen, das vor dem Pferd, dem Fuchs, der Kuh oder
dem Hasen existiert, vor den besonderen Tierarten, wobei sich
dieses Tier im allgemeinen anschließend durch >>Disjunktion«
in ein Pferd, einen Fuchs, eine Kuh oder einen Hasen ver­
wandelt. Nach Ricardo kann der Wert als solcher nur post
rem existieren, als gedankliche Abstraktion aus den verschie­
denen Aspekten des Wertes, keineswegs aber ante rem, unter
der Form einer unabhängigen Realität, die zeitlich dem Auf­
treten seiner besonderen Aspekte vorangeht. Diese besonderen
Aspekte des Wertes existieren ewig nebeneinander und gehen
so wenig aus dem Wert hervor wie das Pferd aus dem Tier
im allgemeinen.

Obwohl die nominalistische Auffassung des Allgemeinbegriffs


mit Recht die Hauptthese des mittelalterlichen Realismus an­
greift, eliminiert sie bedauerlicherweise ganz wie dieser aus
der realen Welt die singulären Dinge und die Idee ihrer re­
alen Entwicklung. In dem Maße, wie Ricardo die Sichtweise
des Bürgertums bei seiner Konzeption der Natur der bürger­
lichen Wirtschaft übernahm, erschien ihm die einseitige und
höchst metaphysische Auffassung des Nominalismus in der Lo­
gik als die natürlichste und angemessenste. Allein die einzelnen
Erscheinungen, welche den besonderen Aspekten des Wertes
zukommen, haben seit jeher existiert und werden es auch
künftig: Ware, Geld, Kapital, Profit, Grundrente und andere.
Was den Wert angeht, so ist er eine Abstraktion aus diesen ein­
zelnen und besonderen Erscheinungen ; es gilt: universalia post
rem und nicht universalia ante rem. Deshalb hat Ricardo nicht
den Wert als solchen studiert, den Wert an sich, die strengste
Abstraktion von Profit, Lohn, Rente und Konkurrenz.
Nachdem er den Wertbegriff formuliert hatte, ging er unmit­
telbar zur Untersuchung der entwickelten besonderen Katego-
1 22
rien über sowie zur direkten Anwendung des Wertbegriffs auf
die Erscheinungen des Profits, Lohns, der Rente, des Geldes
etc. Das ist der natürlichste logische Gang, wenn die 'von ihm
reproduzierte Wirklichkeit aufgefaßt wird als ewiges System
von Wechselwirkungen zwischen den besonderen Wertformen.
Es ist klar, daß man vorgehen muß wie Ricardo, wenn man
den Inhalt des Allgemeinbegriffs, auf dem jedes theoretische
System beruht, als Summe von Charakteren versteht, die allen
besonderen und einzelnen Phänomenen abstrakt gemeinsam
sind. Konzipiert man das Allgemeine als abstrakte, ausnahms­
los allen einzelnen und besonderen Erscheinungen gemeinsame
Eigenschaft, so ist im Falle des Wertes, will man ihn theoretisch
bestimmen, insbesondere der Profit und die Rente zu betrach­
ten und aus ihnen zu abstrahieren, was sie gemein haben. Eben
so geht Ricardo vor. Und deshalb kritisiert Marx ihn beson­
ders streng ; denn darin drückte sich die antihistorische Einstel­
lung Ricardos gegenüber dem Wertproblem und seinen Aspek­
ten aus.
Marx erblickte den wesentlichen Mangel der Forschungsmetho­
de Ricardos darin, daß er der theoretischen Bestimmung des
Wertes als solchen nicht eigens in ihrer strengen Abhängigkeit
vom Produktionsprozeß des Mehrwerts, von der Konkurrenz,
von Profit, Lohn und allen anderen Erscheinungen nachgegan­
gen ist. Im ersten Kapitel des grundlegenden Werks von Ri­
cardo geht es nicht nur um den Austausch von Ware gegen
Ware (das heißt um die einfache Wertform), sondern ebenso
um den Profit, den Lohn, das Kapital, die durchschnittliche
Profitrate und ähnliches.
»Man sieht, wenn man Ricardo zu große Abstraktion vorwirft,
wäre der umgekehrte Vorwurf der berechtigte ; Mangel an Ab­
straktionskraft, Unfähigkeit, bei den Werten der Waren die
Profite zu vergessen, ein aus der Konkurrenz ihm gegenüber­
tretendes fact. « ' 5
Dieses Verlangen nach objektiver Erfülltheit der Abstraktion
läßt sich jedoch nicht befriedigen, wenn man nicht erst einmal
auf die formale und metaphysische Auffassung vom Allge­
meinbegriff (als einem simplen Abstraktum aus den besonderen
und einzelnen Phänomenen, auf die er sich bezieht) verzichtet
I S Theorien über den Mehrwert, in : Marx/Engels, Werke, Band z6.z,
Berlin 1 967, S. 1 8 8 .

1 23
und wenn man, zweitens, nicht zum Historismus* bei der Be­
griffsbildung übergeht (im gegebenen Fall bei der Entwicklung,
die vom Wert zum Profit führt). Marx fordert von der Wis­
senschaft, das ökonomische System als ein sich entwickelndes
System zu begreifen und in der logischen Entwicklung der
Kategorien die wirkliche Geschichte des Auftretens und der
Entfaltung des Systems zu reproduzieren.
Ist dem aber so, dann muß der Wert als Ausgangspunkt der
theoretischen Konzeption als eine objektiv-ökonomische Wirk­
lichkeit begriffen werden, die auftritt und existiert, ehe noch
Phänomene wie Profit, Kapital, Lohn, Rente etc. auftreten
und existieren konnten. Deshalb dürfen die theoretischen Be­
stimmungen des Wertes nicht abstraktiv aus dem geschöpft
werden, was Ware, Geld, Kapital, Profit, Lohn und Rente ge­
meinsam haben, sondern sind auf gänzlich anderem Wege zu
ermitteln. Man unterstelle, daß all diese Sachen nicht existie­
ren. Sie waren nicht von Ewigkeit her da, sondern sind auf
irgendeiner Stufe erschienen, und eben dieses Erscheinen muß
die Wissenschaft in seiner Notwendigkeit aufdecken.
Der Wert ist die reale und objektive Bedingung, ohne die we­
der Kapital noch Geld, noch alles übrige möglich ist. Die theo­
retischen Bestimmungen des Wertes als solchen lassen sich nur
so gewinnen, daß man eine objektive ökonomische Wirklich­
keit untersucht, die vor allen und außerhalb und unabhängig
von allen Phänomenen existieren kann, die später auf ihrer
Basis entstanden sind. Diese elementare, objektiv-ökonomische
Wirklichkeit hat lange vor dem Auftreten des Kapitalismus
und allen Kategorien existiert, die seine Struktur ausdrücken.
Diese Wirklichkeit ist der direkte Austausch einer Ware gegen
eine andere.
Wir haben gesehen, daß die Klassiker der politischen Ökono­
mie den allgemeinen Wertbegriff derart ausarbeiteten, daß sie
diese Wirklichkeit untersuchten, wenn sie sich auch hinsichtlich
des wirklichen philosophischen und theoretischen Sinns dessen,
was sie taten, keine Rechenschaft ablegten. Ricardo wäre wohl
höchst verwirrt gewesen, hätte einer seine Aufmerksamkeit
'' »Historismus • bedeutet im sowjetmarxistischen Sprachgebrauch abweichend
vom herkömmlichen keinen bloßen Relativismus, sondern eine geschichtliche
Betrachtungsweise, die sich an der Dialektik von Relativem und Absolutem
orientiert. (A. d. 0.)

! 24
darauf gelenkt, daß seine Vorläufer und er selbst eine allge­
meine Kategorie ihrer Wissenschaft ausgearbeitet haben -
nicht, indem sie die abstrakt-allgemeine Regel untersuchten,
der ausnahmslos alle Dinge gehorchen, die einen Wert besitzen,
sondern ganz im Gegenteil so, daß sie die seltenste Ausnahme
von der Regel untersuchten : den direkten, geldlosen Austausch
einer Ware gegen eine andere. In dem Maße, wie sie so ver­
fuhren, gelangten sie zu einer wirklich objektiven Konzeption
des Wertes. In dem Maße aber, wie sie sich nicht sehr streng
an die Schranken der Untersuchung dieser ganz besonderen
und äußerst seltenen Art ökonomischer Wechselbeziehung hiel­
ten, waren sie außerstande, den Wert ganz zu begreifen.
Darin jedoch besteht der dialektische Charakter der Auffas­
sung vom Allgemeinen bei Marx ; darin besteht die Dialektik
der Konzeption, nach der eine allgemeine Kategorie des Sy­
stems der Wissenschaft auszuarbeiten ist. Leicht kann man sich
da von überzeugen, daß eine solche Konzeption nur dann mög­
lich ist, wenn man sich auf einen grundlegend geschichtlichen
Ansatz beim Studium dc;r objektiven Wirklichkeit stützt.
Die sich auf einen bewu ßten Historismus stützende Deduktion
wird zur einzigen logischen Form, die dem Gesichtspunkt ent­
spricht, für den das Objekt nicht fertig vorliegt, sondern histo­
risch entstanden ist und sich historisch fortentwickelt. >> [ . ]
die ganze Klassifikation der Organismen ist durch die Ent­
. .

wicklungstheorie der Induktion abgenommen und auf eine


>Deduktion<, die Abstammung zurückgeführt - eine Art wört­
lich von einer andern durch Abstammung deduziert - und die
Entwicklungstheorie durch bloße Induktion nachzuweisen un­
möglich, da sie ganz anti-induktiV. << 1 6
Das Pferd und die Kuh gehen natürlich nicht aus einem >>Tier
im allgemeinen« hervor, ganz wie die Birne oder der Apfel
keine Produkte der Selbstentäußerung des allgemeinen Begriffs
der Frucht sind. Es ist jedoch zweifellos so, daß die Kuh und
das Pferd irgendwo in der Nacht der Jahrhunderte einen ge­
meinsamen Ahnen hatten und daß ebenso der Apfel und die
Birne Produkte der Differenzierung einer gemeinsamen
Fruchtform sind. Dieser wirkliche, gemeinsame Ahne der Kuh,
des Pferdes, des Hasen, des Fuchses und aller anderen gegen­
wärtig lebenden Tiergattungen existierte nicht im Schoß der
1 6 Engels, Dialektik der Natur, ibid., S. 242.

125
göttlichen Vernunfl: oder als Idee des Tieres im allgemeinen,
sondern in der Natur selbst als höchst reale und besondere
Art, aus der die anderen Arten durch Differenzierung hervor­
gehen mußten.
Diese allgemeine Form des Tieres oder, wenn man will, dieses
Tier als solches, ist keineswegs eine Abstraktion, die nur das
enthält, was die gegenwärtig lebenden Tierarten verbindet.
Dieses Allgemeine ist zugleich eine besondere Art, die nicht
nur und nicht in der nämlichen Weise die Züge aufweist, die
sich bei allen ihren Abkömmlingen durchgehalten haben und
ihnen gemeinsam sind, sondern hat ihre eigenen, ganz spezi­
fischen Züge, die teilweise von der Nachkommenschaft ererbt
wurden, während ein anderer Teil sich verloren hat und durch
andere Merkmale ersetzt wurde. Es ist absolut unmöglich, ein
konkretes Modell des gemeinsamen Vorfahren zu konstruieren,
von dem alle heute existierenden Arten abstammen sollen,
'wenn man dabei von den Charakteren ausgeht, die diesen Ar­
ten unmittelbar gemeinsam sind.
Verführe man derart in der Biologie, so schlüge man den
schlechten Weg ein, auf dem Ricardo die Bestimmungen des
Wertes als solchen, die allgemeine Wertform suchte, indem er
unterstellte, daß diese Bestimmungen aus dem Profit, der Ren­
te, dem Kapital und aus all den anderen Wertformen abstra­
hiert werden müßten, die er vor Augen hatte.
Mit dem Konzept von der Entwicklung als einer Abfolge von
Phänomenen, die auseinander hervorgehen, verbindet sich die
materialistisch-dialektische Ansicht des Prozesses der Deduk­
tion der Kategorien, eines Prozesses, der sich vom Abstrakten
zum Konkreten erhebt, vom Allgemeinen (das an sich ein voll­
ständig bestimmtes Besonderes ist) zum Besonderen (das auch
eine allgemeine und notwendige Bestimmung des Objekts aus­
drückt). Die allgemeine Grundlage des Ansatzes zu einem
System theoretischer Bestimmungen (der Begriff, mit dem eine
Wissenschaft anfängt) drückt, vom Gesichtspunkt der Dialek­
tik, die konkreten (theoretischen) Bestimmungen eines typi­
schen Phänomens aus, das vollständig partikulär und determi­
niert ist, der empirischen Anschauung vollständig gegeben in
der sinnlichen, der gesellschafl:lichen Praxis und im Experiment.
Die Besonderheit dieses Phänomens beruht darauf, daß es
wirklich (außerhalb des theoretisierenden Kopfes) der Aus-
126
gangspunkt der Entwicklung des Ganzen der studierten, in
Wechselwirkung stehenden Phänomene ist, eines konkreten
Ganzen, das jeweils den Gegenstand der logischen Reproduk­
tion bildet.
Die Wissenschaft: muß mit dem anfangen, womit die wirkliche
Geschichte anfängt. Die logische Entwicklung der theoretischen
Bestimmungen muß also den konkret-geschichtlichen Prozeß
des Werdens und der Entwicklung des Objekts ausdrücken. Die
logische Deduktion ist nur der theoretische Ausdruck des ge­
schichtlichen Werdegangs des studierten Konkretums.
Das rechte Verständnis dieses Prinzips setzt einen hinreichend
konkreten, wesentlich dialektischen Blick auf die Natur der
geschichtlichen Entwicklung voraus. Dieser äußerst wichtige
Punkt der Marxschen Logik - die Lösung des Problems des
Verhältnisses der wissenschafl:lichen Entwicklung zur histori­
schen (das Verhältnis des Logischen zum Historischen) - muß
speziell untersucht werden.
Hans-Georg Backhaus
Zur Dialektik der Wertform

Bei einer kritischen Durchsicht der Sekundärliteratur zum Ka­


pital läßt sich der Nachweis erbringen, daß die Arbeitswert­
theorie nur in einer grob vereinfachten und häufig gänzlich
entstellten Form rezipiert oder kritisiert worden ist. So ist es
vor allem der positivistischen Marx-Interpretation eigentüm­
lich, klassische und marxistische Werttheorie zu identifizieren.
Schumpeter steht stellvertretend für andere, wenn er die
Eigenständigkeit der Marxschen Wertanalyse bestreitet : >>Das
wirkliche Verständnis seiner Wirtschaftslehre beginnt mit der
Erkenntnis, daß er als Theoretiker ein Schüler Ricardos war.
[ . . . ] Seine Werttheorie ist die Ricardianische. [ . . . ] Marxens Ar­
gumente sind bloß weniger höflich, weitschweifiger und >philo­
sophischer< im schlimmsten Sinne des Wortes<< . ' Die >>ökonomi­
stische« Interpretation muß jedoch die kritische Intention der
Marxschen Werttheorie verfehlen : aus der >>Kritik der politi­
schen Ökonomie<< wird eine »Wirtschaftslehre« neben vielen
anderen. Das positivistische Verständnis führt notwendig da­
zu, die Marxsche Theorie der Gesellschaft in ein Bündel von
soziologischen und ökonomischen Hypothesen oder » Tatsa­
chenbeobachtungen << aufzulösen. Die von Böhm-Bawerk als
»dialektischer Hokuspokus « oder von Schumpeter als »philoso­
phisch<< diskreditierten Argumente finden sich vor allem in der
Lehre von der Wert/orm. Soweit diese überhaupt zur Darstel­
lung kommt, wird sie entweder unverständlich oder aber
kommentarlos referiert. Die Verständnislosigkeit der Inter­
preten ist um so erstaunlicher, als Marx, Engels und Lenin wie­
derholt auf die eminente Bedeutung der Wertform-Analyse
hingewiesen haben. Im Vorwort zum Kapital warnt Marx
nachdrücklich davor, die Lehre von der Wertform zu vernach­
lässigen : » Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Waren­
form des Arbeitsproduktes oder die Wertform der Ware die
ökonomische Zellenform. Dem Ungebildeten scheint sich ihre
I J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1 9 5 0 ,
S. 4 4 , 46 u n d 47·

128
Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten herumzutreiben. << Die
Ricardo-Schule eingeschlossen, habe sie >>der Menschengeist seit
mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht« . Aus
dem Zitat geht hervor, daß Marx in Anspruch nimmt, zum
ersten Mal in der Geschichte der Forschung diese >>rätselhafte
Form« durchschaut zu haben.
Die mangelhafte Rezeption der Wertform-Analyse ist aber
nicht allein einer gewissen Problemblindheit der Interpreten
anzulasten. Die Unzulänglichkeit ihrer Darstellungen läßt sich
wohl nur von der Annahme her verstehen, daß Marx keine
abgeschlossene Fassung seiner Arbeitswertlehre hinterlassen
hat. Obwohl er sie in der Kritik der politischen Ökonomie
bereits entwickelt hatte, sah Marx sich genötigt, die Wertfarm­
Analyse in drei · weiteren, jeweils voneinander abweichenden
Fassungen darzustellen, >>weil selbst gute Köpfe die Sache nicht
ganz richtig begriffen, also etwas Mangelhaftes in der ersten
Darstellung sein muß, speziell in der Analyse der Ware«2 • Eine
zweite, gänzlich neue Darstellung gibt Marx in der Erstauf­
lage des Kapitals. Doch schon während der Drucklegung wurde
Marx von Engels und Kugelmann auf die >> Schwerverständ­
lichkeit« der Wertform-Analyse hingewiesen und deshalb an­
geregt, eine dritte, nunmehr popularisierte Darstellung als
Anhang hinzuzufügen. Eine vierte, wiederum von den vorher­
gegangenen Darstellungen abweichende Fassung wird für die
zweite Auflage des Kapitals erarbeitet. Weil aber in dieser
vierten und letzten Fassung die dialektischen lmplikationen
der Wertform-Problematik immer mehr verblassen und Marx
bereits in der Erstauflage >> die Analyse der Wertsubstanz [ . . . ]
möglichst popularisiert« hat, mußten erhebliche Meinungsver­
schiedenheiten in der Interpretation dessen auftreten, was
Marx mit den Begriffen >>Wertsubstanz « und >> abstrakte Ar­
beit« bezeichnen wollte.3 Es bleibt daher ein vordringliches
Desiderat der Marx-Forschung, aus den mehr oder minder
fragmentarischen Darstellungen und den zahlreichen, in ande­
ren Werken verstreuten Einzelbemerkungen das Ganze der
Werttheorie zu rekonstruieren.
2 Marx/Engels, Briefe über >Das Kapital<, Berlin 1 9 5 4 , S. 1 3 2 .
3 C f . hierzu d i e Diskussionsbeiträge v o n 0. Lendle u n d H. Schilar z u r Pro­
blematik der Wa re-Geld-Beziehung im Sozialismus, in : Wirtschaf/swissen­
schaflen, 9· Jahrg. , Berlin 1 96 1 .

1 29
Im Vorwort zur Erstauflage des Kapitals spricht Marx noch
ausdrücklich davon, daß >>Dialektik« seine Darstellung der
Arbeitswertlehre kennzeichne. Wenn die herkömmlichen Inter­
pretationen ausnahmslos diese Dialektik ignorieren, so muß
der Frage nachgegangen werden, ob das >>Mangelhafte der
Darstellung« nicht nur die Wertform-Analyse, sondern
schon die beiden ersten Abschnitte im ersten Kapitel des Kapi­
tals betrifft. Lenin insistiert auf dem dialektischen Charakter
des Marxschen Verfahrens : >>Man kann das Kapital von Marx
und besonders das erste Kapitel nicht vollkommen begreifen,
wenn man nicht die ganze Logik Hegels durchstudiert und
begriffen hat. « Er schließt hieraus : » Folglich hat nach einem
halben Jahrhundert keiner von den Marxisten Marx begrif­
fen ! ! «4 Hat also >>nach einem ganzen Jahrhundert keiner von
den Marxisten Marx begriffen« , oder ist Marx in seiner Popu­
larisierung der beiden ersten Abschnitte des Kapitels Die 'Ware
so weit gegangen, daß die >Deduktion< des Werts sich über­
haupt nicht mehr als dialektische Bewegung begreifen läßt?
Im ersten Abschnitt geht Marx bekanntlich in der Weise vor,
daß er von dem >empirischen< Faktum Tauschwert ausgeht und
diesen als »Erscheinungsform eines von ihm unterscheidbaren
Gehaltes« bestimmt. Dasjenige, was dem Tauschwert >ZU­
grunde< liegen soll, wird Wert genannt. Im Fortgang der Ana­
lyse ist dieser zunächst jedoch unabhängig von seiner Form zu
betrachten. Die von der Erscheinungsform unabhängige Ana­
lyse des Wesens führt nun dazu, daß Marx gänzlich unvermit­
telt, ohne Aufweis einer inneren Notwendigkeit, zur Analyse
der Erscheinungsform zurückkehrt : >>Wir gingen in der Tat
vom Tauschwert der Waren aus, um ihrem darin versteckten
Wert auf die Spur zu kommen. Wir müssen jetzt zu dieser Er­
scheinungsform des Werts zurückkehren«. Ist nun diese
Entwicklung noch als Ausdruck jener Methode verstehbar, die
Marx in der Einleitung seiner Schrift Zur Kritik der politischen
Ökonomie als das Aufsteigen >>Vom Abstrakten zum Konkre­
ten « charakterisiert? Die >>Reproduktion des Konkreten«, das
sich nunmehr als »reiche Totalität von vielen Bestimmungen «,
als >>Einheit des Mannigfaltigen« darstellen soll, wird doch
wohl erst von folgender Fragestellung her verständlich : Wie
wird der Wert zum Tauschwert und zum Preis - warum und in
4 Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1954, S. 99·

IJO
welcher Weise hat der Wert sich im Tauschwert und im Preis
als den Weisen seines »Andersseins << aufgehoben ? Mir scheint,
daß die Darstellungsweise im Kapital keineswegs das erkennt­
nisleitende Motiv der Marxschen Wertform-Analyse durch­
sichtig macht, die Frage nämlich, »Warum dieser Inhalt jene
Form annimmt« . Die mangelhafte Vermittlung von Substanz
und Form des Werts kommt schon darin zum Ausdruck, daß in
der Entwicklung des Werts ein Bruch aufweisbar ist : Der
Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt des ersten Kapi­
tels ist als notwendiger Übergang nicht mehr einsichtig. Was
sich daher dem Leser einprägt, ist die scheinbar leichtverständ­
liche Lehre von der Wertsubstanz und dem Doppelcharakter
der Arbeit, die in den beiden ersten Abschnitten entfaltet wird.
Der dritte Abschnitt aber - die Lehre von der Wertform -
wird meist nur als zusätzlicher Beweis oder als »dialektisches<<
Ornament dessen verstanden, was in den beiden ersten Ab­
schnitten ohnehin schon abgeleitet wurde. Daß der >>allgemeine
Gegenstand<< als solcher, das heißt der Wert als Wert sich gar
nicht ausdrücken läßt, sondern nur in verkehrter Gestalt »er­
scheint<<, nämlich als >>Verhältnis<< von zwei Gebrauchswerten,
entzieht sich dem Verständnis des Lesers. Ist aber die Entwick­
lung Tauschwen-Wert-Wertform nicht mehr begreifbar als
dialektische >>Bewegung vom unmittelbaren >Sein< durch das
>Wesen< zur vermittelten >Existenz< [ . . . ] «, dergestalt, daß »die
Unmittelbarkeit aufgehoben und als vermittelte Existenz wie­
der gesetzt wird «r, so wird auch der Ursprung jener >dialek­
tischen Interpretationen< verständlich, die auf eine Karikatur
von Dialektik hinauslaufen. Die Marxsche Warenanalyse stellt
sich dann dar als - unvermittelter - >>Sprung vom Einfachen
zum Komplizierten, von der Substanz zur Erscheinungs­
form« .6 Das Wesen im Unterschied zur Erscheinungsform
wird formallogisch als das »Allgemeine, Typische und Haupt­
sächliche« bestimmt. Die Vermittlung von Wesen und Er­
scheinungsform ist nur noch als pseudodialektische Bewegung
pseudodialektischer Widersprüche konstruierbar : >>Das All­
gemeine existiert [ . . . ] nicht unabhängig von den Einzeler-
5 H. Marcuse, Zum Begriff des Wesens, in : Zeitschrift für Sozialforschung,
5 · Jg., 1936, Heft r, S. 2 1 f.
6 R. Banfi, Probleme und Scheinprobleme bei Marx und im Marxismus, in :
Folgen einer Theorie, Frankfurt/M. 1 967, S. 1 7 2 .

IJ I
scheinungen. Es ist als Allgemeines, Invariantes ( ! !) in ihnen
enthalten. «7 Selbst jene Autoren, die in Anspruch nehmen kön­
nen, >>die ganze Logik Hegels durchstudiert und begriffen zu
haben «, geben keinen Aufschluß darüber, in welcher Weise die
Grundbegriffe der Werttheorie dialektisch strukturiert sind.
Die dialektische Methode kann sich nicht darauf beschränken,
die Erscheinungsform nur auf das Wesen zurückzuführen : sie
muß darüber hinaus auch zeigen, warum das Wesen gerade
diese oder jene Erscheinungsform annimmt. Statt sich darauf
zu konzentrieren, die dunklen und scheinbar unerklärbaren
Stellen zu interpretieren, erfolgt die Darstellung bei jenen
>philosophischen< Marxisten vielfach rein referierend.
Der Bruch zwischen den beiden ersten Abschnitten und dem
dritten Abschnitt macht aber nicht nur die methodologische
Struktur der Wertlehre problematisch, sondern erschwert vor
allem das Verständnis dessen, was Marx unter der >>selbst eini­
germaßen geheimnisvollen Oberschrifh B : Der Fetischcharak­
ter der Ware und sein Geheimnis entwickelt. Diese Oberschrift
bezeichnet bekanntlich den vierten Abschnitt des ersten Kapi­
tels. Von einer unsystematischen und deshalb das Verständnis
der Lehre vom Fetischcharakter erschwerenden Gliederung der
ersten Abschnitte muß gesprochen werden, weil das >>Geheim­
nis « nicht erst im vierten, sondern bereits im dritten Abschnitt
sichtbar wird und in der Lehre von den drei Eigentümlichkei­
ten der 1\quivalentform dechiffriert sein soll. Daß der Inhalt
des vierten Abschnitts nur vom dritten her verständlich wird,
geht schon aus der Gliederung des Anhangs der Erstauflage
von I 8 67 hervor, dem Marx den Titel >>Wertform« vorange­
stellt hat. Dieser Anhang - nur als popularisierte Fassung der
Wertform-Analyse konzipiert - enthält die Analyse des Feti­
schismus, freilich nicht als selbständige Lehre, sondern lediglich
als »vierte Eigentümlichkeit« der 1\quivalentform.
Diese Zuordnung läßt erkennen, daß die Lehre vom Fetisch­
charakter - in der zweiten Auflage des Kapitals erweitert und
als vierter Abschnitt konzipiert - ihrem Inhalt nach nur als
verselbständigter Teil des dritten Abschnitts zu verstehen ist.
Die Eliminierung oder kommentarlose Darstellung des dritten
7 W. Jahn, Die Marxsche Wert- und Mehrwertlehre im Zerrspiegel bürger­
licher Ökonomen, Berlin 1 96 8 , S. I I 6 f.
8 K. Korsm, Kar/ Marx, Frankfurt/M. 1 967, S. 96.

IJ2
Abschnitts, der die >>Dunkelheit der ersten Kapitel des Kapital
über den Wert<<9 ausmacht, äußert sich vor allem in folgenden
Fehlinterpretationen :
r . Zahlreiche Autoren ignorieren den Anspruch der Arbeits­
wertlehre, das Geld als Geld abzuleiten und somit eine spe­
zifische Geldtheorie zu inaugurieren. Es ist dann nicht mehr
verwunderlich, wenn diese Interpreten nur die Werttheorie dar­
stellen, die Geldtheorie hingegen ausscheiden oder korrigieren
und deshalb kaum noch imstande sind, den Unterschied zwi­
schen der klassischen und der marxistischen Arbeitswerttheorie
plausibel zu machen. Sie verkennen, daß die Grundbegriffe der
Werttheorie nur dann verstanden sind, wenn sie ihrerseits
das Verständnis der geldtheoretischen Grundbegriffe ermög­
lichen.9a Die Werttheorie ist adäquat interpretiert, wenn die
Ware so gefaßt wird, daß sie sich im Prozeß eines »immanen­
ten über-sich-Hinausgehens << als Geld setzt. Dieser innere
Zusammenhang von Ware und Geld verbietet es, die Marxsche
Werttheorie zu akzeptieren und dabei die mit ihr gesetzte
Geldtheorie zu verwerfen. Die »Roheit und Begriffslosigkeit<<,
Produktions- und Zirkulationssphäre - »das organisch Zusam­
mengehörende<< - »Zufällig aufeinander zu beziehn, in einen
bloßen Reflexionszusammenhang zu bringen <<, kennzeichnend
für die Interpretation der austro-marxistischen Schule, ist Aus-
9 F. Petry, Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie, Jena 1 9 1 6, S. 1 6 .
- D e r fragmentarische Charakter d e r Lehre v o m Warenfetischismus wird
von Sartre erkannt : » [ . . . ] die von Marx in den Grundzügen entworfene
Theori e des Fetischismus ist niemals voll entwickelt worden . « In : Marxismus
und Existentialismus, Harnburg 1 964, S. 64. Wenn Sartre » die völlige Ver­
ständnislosigkeit der Marxisten anderen Ideen gegenüber• konstatiert - » Si e
verstehen buchstäblich k e i n Wort von dem, w a s s i e lesen • - so trifft dieser
Vorwurf auch zahlreiche marxistische Ökonomen hinsichtlich ihrer völligen
Verständnislosigkeit Marxschen Texten gegenüber. Ihre eigene Problemblind­
heit ist ein Paradebeispiel für jenes verdinglichte Denken, das sie forsch der
subjektiven Ökonom ie vorhalten. Reden sie von » Dialekti k « und » Ver­
d inglichung • , so meinen sie schon, der Anstrengung enthoben zu sein, » sich
überhaupt etwas unter Wert zu denken • . (Marx, Theorien über den Mehr­
wert, J. Teil, Berlin 1 96 1 , S. 1 44 . ) Begriffe wie •Substanz< des Werts,
•Realisierung<, ·Metamorphose<, •Erscheinungsform< werden mit derselben
kategorialen Bewußtlosigkeit vorgetragen, die Marx den Vertretern der
positivistischen Ökonomie vorgeworfen hat.
9a Der Zusammenhang von Wert- und Geldtheorie wird am klarsten von
Wygodski ausgesprochen : » Marx faßte das Verständnis der Kategorie
•Geld< als Kriterium dafür auf, ob das Wesen des Werts tatsächlich begrif­
fen ist« (Die Geschichte einer großen Entdeckung, Berlin 1 967, S. 5 4 ) .

133
druck der Unfähigkeit, die Werttheorie als Wertfarm-Analyse
zu verstehen.
2. Der Zusammenhang zwischen der Arbeitswertlehre marxi­
stischer Prägung und dem Phänomen der Verdinglichung bleibt
undurchsichtig. Marx hebt zwar im vierten Abschnitt aus­
drücklich hervor : >>Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß
die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Aus­
drücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Ar­
beit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der
Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen
Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit. [ . . . ] Die
Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit ist ein unter
den erscheinenden Bewegungen der relativen Warenwerte ver­
stecktes Geheimnis. Seine Entdeckung hebt den Schein der bloß
zufälligen Bestimmung der Wertgrößen der Arbeitsprodukte
auf, aber keineswegs ihre sachliche Form.<< 10 Diese klare Aus­
sage hält aber zahlreiche Autoren keineswegs davon ab, eben
jenes >>unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Wa­
renwerte versteckte Geheimnis<< als Untersuchungsgegenstand
der Marxschen Lehre vom Warenfetischismus auszugeben. Die­
sen Interpretationen zufolge ist es das »Geheimnis<< der Wert­
größe, nicht aber das »Geheimnis<< jenes »gegenständlichen
Scheins << oder der »sachlichen Form «, was den »mystischen
Charakter<< der Ware ausmacht. Dann aber war schon mit den
Entdeckungen der klassischen Arbeitswertlehre die Genesis der
Verdinglichung durchschaut. Wiederum zeigt sich, daß eine iso­
lierte Darstellung der Werttheorie die wesentliche Differenz
der Marxschen und der klassischen Analyse nicht mehr hervor­
treten läßt.
Die das Wesen des Warenfetischismus verfehlende Darstellung
läßt sich so kennzeichnen : Die Autoren referieren einige Sätze
aus dem Fetischkapitel des Kapitals und interpretieren sie be­
grifflich, meist auch terminologisch, in der Weise der Deutschen
Ideologie - ein Manuskript, in dem Marx und Engels die Be­
deutung der Arbeitswerttheorie noch verkannten. Das ein­
schlägige Zitat lautet : Den Produzenten »erscheinen [ . . . ] die
gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das was
sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse
der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als
x o Marx, Das Kapital, Band I , Berlin 1 960, S. So und 8 x .

I J4
sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaflliche Ver­
hältnisse der Sachen « . " Aus diesem Zitat wird lediglich her­
ausgelesen, daß die sozialen Verhältnisse sich den Menschen
gegenüber >>verselbständigt<< haben. Eine Feststellung, die das
Thema der Frühschriften ausmacht und unter dem Stichwort
»Entfremdung<< oder >>Entpersönlichung<< zum Gemeinplatz
konservativer Kulturkritik geworden ist. Worauf es in der
Kritik der politischen Ökonomie ankommt, ist aber nicht die
bloße Beschreibung dieses Tatbestands, sondern die Analyse
seiner Genesis.
Eine genuine Interpretation des Fetischcharakters hat demnach
diesen Text in folgender Weise aufzugliedern und zu unter­
suchen :
1 . Wie ist für Marx das >>gesellschaftliche Verhältnis der Sa­
chen<< strukturiert?
2. Warum und inwiefern läßt sich das >>Verhältnis der Sachen«
nur als >>eine ihm selbst äußerliche und bloße Erscheinungsform
dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse<< begreifen ?
Hieraus ergeben sich weitere Fragen.
a. Die >>menschlichen Verhältnisse<< werden als >>gesellschaft­
liche Beziehungen von Privatarbeiten<< oder auch als >> gesell­
schaftliche Verhältnisse der Produzenten zur Gesamtarbeit«
definiert. Was ist unter den Begriffen >> Verhältnis<< und »Ge­
samtarbeit<< zu verstehen ?
b. Was bezeichnet den Grund, warum >> gesellschaftliche Be­
ziehungen<< notwendig dem Bewußtsein als ein Anderes >>er­
scheinen<< ?
c. Was macht die Realität dieses Scheins aus : in welcher Weise
ist dieser Schein selber noch ein Moment der Wirklichkeit?
d. Wie ist die Genesis abstrakter Wertgegenständlichkeit zu
begreifen : in welcher Weise >>vergegenständlicht<< sich das Sub­
jekt, tritt es sich selbst als Objekt gegenüber? - Dieser myste­
riöse Sachverhalt läßt sich auch folgendermaßen beschreiben :
Der Wert eines Produkts ist als ein Gedachtes vom Produkt
selbst unterschieden. Andererseits jedoch ist der Wert immer
nur Wert eines Produkts und erscheint so als >>ideelle Form<<
eines Materiellen. Als ein Gedachtes ist der Wert dem Bewußt­
sein »immanent<<. In dieser Weise seines Seins wird er jedoch
nicht gewußt : er setzt sich dem Bewußtsein als ein Fremdes
I I Ibid. , s. 7 8 .

135
entgegen. Die Realität der Arbeitsprodukte ist schon voraus­
gesetzt. Problematisch wird hier allein die Tatsache, daß die
Arbeitsprodukte eine >>von ihrer Realität verschiedne phanta­
stische Gestalt« annehmen und nicht die Konstitution des ens
qua ens.
Wir werden uns hier nur mit der ersten Frage befassen : Wie
beschreibt Marx jene Struktur, die er als »gesellschafl:liches
Verhältnis der Sachen « bezeichnet? Es ist zunächst daran zu
erinnern, daß die Gebrauchswerte immer schon in Preis­
form gesetzt sind. Insofern ist die Redeweise, daß die Gleich­
setzung zweier Gebrauchswerte ein »Verhältnis<< herstellt,
mißverständlich : Rock und Leinwand werden nicht gleichge­
setzt, sondern sind je schon gleichgesetzt. Die Gleichsetzung ist
vollzogen, weil sie einem Dritten, dem Gold, gleichgesetzt
werden und auf diesem Umweg, einander gleich sind. »Das
Wertverhältnis ist stets Wertausdruck. << Diese Gleichsetzung ist
dann aber eine nur dem Wertinhalt nach, bezüglich der Form
jedoch eine Ungleichsetzung : das eine Produkt wird Ware, das
andere Geld . Das Verhältnis der Sachen, das »Wertverhältnis<<,
ist als »Wertausdruck << das Verhältnis von Ware und Geld. Als
Preise sind die Produkte »nur verschiedene Quanta desselben
Gegenstandes [ . . . ] nur noch vorgestellte Goldquanta von ver­
schiedener Größe <<. 1 2 Sofern die Waren je schon als »Geldpreise
dargestellt, [ . . ] kann ich sie vergleichen ; sie sind in fact schon
.

verglichen. Um aber die Werte als Preise darzustellen, muß


vorher der Wert der Waren als Geld sich dargestellt ha­
ben << . I 3
Dieses Problem impliziert die Lösung der Frage : »Wie kann
ich überhaupt eine Ware in einer andren oder Waren als Aqui­
valent darstellen ? << Der Inhalt der Marxschen Formanalyse
ist die Genesis des Preises als Preis. Im Unterschied zur klassi­
schen Arbeitswertlehre wird nunmehr der Ȇbergang<< vom
Wert zum Tauschwert oder Preis als Problem erkannt : »Es ist
einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie,
daß es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller
des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum Tausch­
wert macht, herailszufinden. << 14 Es blieb den Ricardianern ver-
11 Marx , Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 8 , S. 43 u . 6 8 .
1 3 Theorien . . . , 3 · Teil, S. 1 6 2 .
1 4 Marx, Das Kapital, Band I, I. c . , S. 86, Fußnote.
borgen, daß ihre Behauptung, die Arbeit bestimme den Wert
der Ware, dem Wertbegriff selbst äußerlich bleibt : Bestim­
mungsgrund und Bestimmungsobjekt dieser Aussage bleiben
unterschieden und stehen in keinem >>inneren Zusammenhang« .
Die Arbeit verhält sich zum Wert auch dann noch als ein Frem­
des, wenn die Wertgröße als Funktion der verausgabten
Arbeitsmenge bestimmt wird. So ist die Grundannahme der
klassischen Ökonomie bloß eine Versicherung - ein »metaphy­
sisches Dogma « . Baily, ein Vorläufer der subjektivistischen
Werttheorie, war mit seiner Kritik an der klassischen Schule
auf einen wunden Punkt gestoßen : >>Wenn die Ricardianer
dem Baily grob, aber nicht schlagend antworten, so nur, weil
sie bei Ricardo selbst keinen Aufschluß über den inneren Zu­
sammenhang zwischen Wert und Wertform oder Tauschwert
fanden. << 1 5 Der »absolute Wert<< der Ricardo-Schule konnte
deshalb von Baily als ein »der Ware Eignes <<, ihr »lnnewoh­
nendes « '6 und somit als »scholastische Erfindung« kritisiert _;

werden. Baily stellte die Frage : »Einen Wert besitzen, einen


Teil des Werts übertragen, die Summe oder Gesamtheit der
Werte usw. - ich weiß nicht, was das alles sagen will.«'7 Er
antizipiert die Kritik des modernen Subjektivismus, wenn er
Ricardo vorhält : »Ein Ding kann ebensowenig an sich wert­
voll sein ohne Bezug auf ein anderes Ding. [ . . . ] Der Wert einer
Ware muß ihr Wert in etwas sein [ . . ] . Es ist unmöglich, den .

Wert einer Ware zu bestimmen oder auszudrücken, es sei denn


durch eine Menge irgendeiner anderen Ware.<< ' s Wert und
Tauschwert oder Preis sind für Baily identisch und als ein bloß
quantitatives Verhältnis von Gebrauchswerten definiert. Zwar
ist der Wert nur als »relativer Wert «, als ein Verhältnis von
Dingen ausdrückbar. Allein, »die Ware steht nicht einfach dem
Geld gegenüber ; sondern ihr Tauschwert erscheint an ihr ideell
als Geld, als Preis ist sie ideelles Geld<<.'9 Das Verhältnis von
Ware und Geld ist also nicht nur ein quantitatives, sondern
in mysteriöser Weise qualitativ strukturiert : als Waren sind
die Produkte »ideelle Quanta Gold« , das Gold aber ist die

I5 Ibid . , S. 90, Fußnote.


x6 Zit. in : Marx, Theorien . . . , I. c., S. 140.
17 Zit . in : Marx, Theorien . . . , I. c., S. 1 3 0.
x8 Zit. in : Marx, Theorien . . . , I. c., S. 1 4 1 , 1 4 5 .
19 Grundrisse . . . , I. c . , S. 9 2 3 .

I J7
»Realität ihres eignen Preises <<.'0 Der Versuch Bailys, den Wert
auf eine bloß quantitative Relation zu reduzieren, eskamotiert
also die Problematik der Ware-Geld-Gleichung. »Weil er es in
der monetary expression ausgedrückt findet, braucht er nicht
zu >begreifen<, wodurch dieser Ausdruck möglich wird [ . . . ] und
was er in der Tat ausdrückt. <<2 1 - Marx kritisiert die subjekti­
vistische Position in einer Weise, deren grundlegende Bedeu­
tung für die Kritik am modernen Positivismus, zumal dem der
linguistischen Analyse, nur unzulänglich erkannt ist : >>Es zeigt
uns dies die Art der Kritik, die die in den widersprechenden
Bestimmungen der Dinge selbst liegenden Schwierigkeiten gern
als Reflexionsprodukte oder Widerstreit der definitions weg­
schwatzen will. [ . . . ] Daß das Paradoxon der Wirklichkeit sich
auch in Sprachparadoxen ausdrückt, die dem common sense
widersprechen, dem what vulgarians mean and believe to talk
of, versteht sich von selbst. Die Widersprüche, die daraus
hervorgehn, daß [ . . . ] Privatarbeit sich als allgemeine gesell­
schaftliche darstellt, [ . . . ] liegen in der Sache, nicht in dem
sprachlichen Ausdruck der Sache.<<22 Seiner minuziösen Ausein­
andersetzung mit Baily ist aber auch zu entnehmen, daß Marx
den »rationellen Kern<< der semantischen Kritik ernst nimmt.
Der »absolute Wert<<, der nur seine »eigne Quotität und Quan­
tität<< ausdrückt, ist in der Tat ein Sprachparadox oder eine
>>Mystifikation <<, jedoch ein »Paradoxon der Wirklichkeit<< oder
eine »reelle Mystifikation<<.'3 Als ein »Verhältnis von Perso­
nen<< wird es erst dann dechiffrierbar, wenn die Vermittlung
von »absolutem<< und >>relativem<< Wert aufgezeigt worden
ist.
Marxens Feststellung, daß die Ricardianer sich ausschließlich
für den Bestimmungsgrund der Wertgröße interessieren - »die
Form als solche<< ist ihnen »eben weil natürlich, gleichgültig<< ;
die ökonomischen Kategorien »gelten ihrem bürgerlichen Be­
wußtsein für [ . . . ] selbstverständliche Naturnotwendigkeit<< 1 4 -,
gilt auch für die gegenwärtige Okonomie. Die Eliminierung
der Formproblematik ist nach Marx darauf zurückzuführen,

20 Ibid., S. 9 2 3 .
21 Theorien . . . , 1. c . , S. 1 5 6.
l2 Ibid., s. I J O, ' 3 5 ·
23 Marx, Zur Kritik . . . , 1 . c . , S . 4 5 .
24 Marx, Das Kapital, 1 . c . , S . 87.
daß die Schulökonomie an den Bestimmungen der formalen
Logik festhält : »Es ist kaum verwunderlich, daß die Ökono­
men, ganz unter dem Einfluß stofflicher Interessen, den Form­
gehalt des relativen Wertausdrucks übersehen haben, wenn vor
Hege[ die Logiker von Profession sogar den Forminhalt der
Urteils- und Schlußparadigmen übersahen. « 2 5
Die Analyse der logischen Struktur der Wertform ist nicht zu
trennen von der Analyse ihres historisch-sozialen Gehalts. Die
klassische Arbeitswerttheorie stellt aber nicht die Frage nach
der historisch-sozialen Beschaffenheit jener Arbeit, die sich als
»wertbildende<< darstellt. Die Umsetzung der Arbeit in eine ihr
fremde Form wird nicht reflektiert : >>Die Arbeitszeit stellt sich
sofort bei Franklin ökonomistisch einseitig als Maß der Werte
dar. Die Verwandlung der wirklichen Produkte in Tausch­
werte versteht sich von selbst. <<26 Die von Marx gerügte »öko­
nomistische Einseitigkeit<< besteht also darin, daß die Ökono­
mie als separater Zweig der wissenschaftlichen Arbeitsteilung
auf der Ebene bereits konstituierter ökonomischer Gegenstände
operiert. >>Die politische Ökonomie hat [ . . ] zwar, wenn auch
.

unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in


diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals
auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form
annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert [ . . . ] des Arbeits­
produkts darstellt. << 2 7
Die linken Ricardianer, die eine Theorie des >>gerechten Loh­
nes<< entwickelten, fragten daher : >>Wenn die Arbeitszeit das
immanente Maß der Werte ist, warum nehmen wir ein anderes
äußeres Maß ? << Wenn die Arbeit den Wert der Waren bestim­
me, müsse die Wertrechnung nur als >>Umweg<< angesehen und
in ihrer die Ausbeutung verschleiernden Funktion verworfen
werden. Die Produkte sollten unmittelbar in Arbeitszeiteinhei­
ten berechnet und das Geld durch Arbeitszertifikate ersetzt
werden. Sie stellen nicht die Frage, warum in der Warenpro­
duktion die Arbeit als Tauschwert der Produkte, als >>eine von
ihnen besessene sachliche Eigenschaft<<28 ausgedrückt wird. Den

25 M arx/Engels, Studienausgabe I I , ed. I. Fetscher, Frankfurt/M. 1 966,


s. 274·
26 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 8 , S. 54·
27 Marx, Das Kapital, Band I , I. c . , S. 8 5 f.
28 Marx, Kritik des Gothaer Programms, Berlin 1 9 5 5 , S. 2 2 .

I J9
verborgenen Grund für die Existenz der Wertrechnung sieht
Marx in einem das Wesen der Produktionssphäre kennzeich­
nenden Widerspruch : in dem für seine Gesellschaftstheorie emi­
nent bedeutsamen Widerspruch von privater und gesellschaft­
licher Arbeit. Daß in der Warenproduktion gesellschaftliche
Arbeit nur als gesellschaflliche Arbeit privater Produzenten ge­
leistet wird - dieser grundlegende Widerspruch äußert sich in
dem abgeleiteten, daß der Austausch von Tätigkeiten und Pro­
dukten durch ein besonderes und zugleich allgemeines Produkt
vermittelt werden muß. Bei aller Schärfe seiner Kritik an den
utopischen Sozialisten hält auch Marx die Forderung für reali­
sierbar, die Wertrechnung aufzuheben - freilich nur dann,
wenn die Warenproduktion, das heißt die Produktion unab­
hängiger einzelner für den Markt, beseitigt wird. Diese For­
derung ist eine zwingende Konsequenz, ein substantieller und
nicht nur akzidenteller Bestandteil der Marxschen Werttheorie.
Der eigentliche Sinn der >>Kritik der ökonomischen Katego­
rien << besteht darin, die sozialen Bedingungen aufzuzeigen,
welche die Existenz der Wertform notwendig machen. »Die
Analyse der herrschenden Form von Arbeit ist gleichzeitig
eine Analyse der Voraussetzungen ihrer Abschaffung [ . . . ]
(Die Marxschen) Kategorien sind negativ und zur gleichen Zeit
positiv : sie schildern einen negativen Zustand im Lichte seiner
positiven Aufhebung. << 2 9 Der historische Charakter der Wert­
form-Analyse besteht eben darin, »daß gleich in der einfachsten
Form, der der Ware, der spezifisch gesellschaftliche, keineswegs
absolute Charakter der bürgerlichen Produktion analysiert
ist<< .3°
Ricardos mangelhafte Analyse der Wertform hatte neben der
subjektivistischen Kritik Bailys und der Arbeitsgelddoktrin der
utopischen Sozialisten noch die weitere Konsequenz, daß die
»Gestalt - die besondere Bestimmung der Arbeit als Tausch­
wert schaffend << nicht untersucht wird. Ricardo »begreift daher
durchaus nicht den Zusammenhang zwischen der Bestimmung
des Tauschwerts durch Arbeitszeit und der Notwendigkeit der
Waren, zur Geldbildung fortzugehen. Daher seine falsche
Geldtheorie. [ . . . ] Diese falsche Auffassung des Geldes beruht
aber bei Ricardo darauf, daß er überhaupt nur die quantita-
29 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, Neuwied 1 962, S. 260.
30 Marx/Engels, Briefe über >Das Kapital<, Berlin 1 9 5 4 , S. 1 00.
tive Bestimmung des Tauschwerts im Auge hat [ . . . ) <<3 1 Die fal­
sche Geldtheorie Ricardos ist die Quantitätstheorie, deren Kri­
tik die Analyse der Wertform intendiert.
Obwohl an der mühsam errungenen Einsicht festzuhalten ist,
daß die Marxsche Kritik der ökonomischen Kategorien den
Bereich der Fachökonomie transzendiert, ist die Wertform­
Analyse - an philosophischen Kategorien orientiert - in ihrer
Funktion zu verstehen, fachökonomische Antinomien aufzu­
heben. In Abwandlung der vierten These über Feuerbach läßt
die Marxsche Kritik an Ricardo sich folgendermaßen kenn­
zeichnen : Ricardo geht aus von dem Faktum der ökonomi­
schen Selbstentfremdung, der Verdopplung des Produkts in ein
Wertding, ein vorgestelltes und ein wirkliches Ding. Seine
Theorie besteht darin, den Wert in Arbeit aufzulösen. Er
übersieht, daß die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache
nämlich, daß das Produkt sich von sich selbst abhebt und sich,
ein selbständiges Reich ökonomischer Kategorien, jenseits des
Bewußtseins fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und
dem Sich-selbst-Widersprechen der gesellschaftlichen Arbeit zu
erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch
verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs
praktisch revolutioniert werden. Also z. B . : nachdem die Ar­
beit als das Geheimnis des Werts entdeckt ist, muß nun erstere
selbst theoretisch kritisiert und praktisch umgewälzt werden.
Methodisch handelt es sich hier um die schon aufgezeigte Pro­
blematik des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten,
vom Wert zur Erscheinungsform des Werts.
Befassen wir uns nunmehr mit der Frage, wie das qualitative
Verhältnis von Ware und Geld strukturiert ist, was also den
» Formgehalt des relativen Wertausdrucks<< ausmacht. Setze ich
Goldwährung voraus, so sind 2 0 Ellen Leinwand x Gramm =

Gold oder 2 0 Ellen Leinwand sind x Gramm Gold wert. Diese


Gleichung besagt, daß Leinwand und Gold nicht nur gleich
große Werte vorstellen, sondern auch in einer eigentümlichen
Weise ineinander verschränkt sind : die Leinwand ist dem Gold
»größengleich<< und »wesensgleich<< gesetzt. Statt in Gold ist
der Wert der Leinwand im Gebrauchswert eines jeden anderen
Produkts ausdrückbar, etwa als Rock. >> Ihr Wertsein kommt
zum Vorschein, drückt sich aus in einem Verhältnis, worin eine
3 1 Marx, Theorien . . . , 2 . Teil, Berlin 1 9 5 9 , S. 1 5 5 , 5 00.
andere Warenart, der Rock ihr gleichgesetzt wird oder als ihr
Wesensgleiches gilt<<.l 2 Die Leinwand als Gebrauchswert ist
durch Gold nicht vertretbar. Leinwand ist Leinwand und nicht
Gold. Die Produkte sind >>relative Werte<< nur dann, wenn die
Relata schon als Werte, und zwar als >> absolute Werte« dem
Gold >>wesensgleich<< gesetzt sind. Als Wert gleicht die Lein­
wand dem Gold >>wie ein Ei dem anderen<<.B »Als Wert ist sie
Geld<< : als Wert ist somit die Leinwand Gold. »All der Zauber
und Spuk, welcher Arbeitsprodukte auf Grundlage der Waren­
produktion umnebelt<d4, äußert sich in dem paradoxen Ver­
hältnis, daß die Ware sie selbst und zugleich ihr Anderes ist :
Geld. Sie ist also Identität von Identität und Nichtidentität.
Die Ware ist dem Geld wesensgleich und doch zugleich von ihm
unterschieden. Diese »Einheit in der Verschiedenheit« wird be­
kanntlich mit dem Hegeischen Terminus »Verdopplung<< be­
zeichnet. Dieser dialektische Begriff wird von Marx verwandt,
um die Struktur der Ware-Geld-Gleichung zu kennzeichnen :
Der Warenaustausch »produziert eine Verdopplung der wtlre in
wtlre und Geld, einen äußeren Gegensatz, worin sie ihren im­
manenten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert darstel­
len <<.l5
Die wtlre-Geld-Gleichung ist die ökonomische Aufhebung des
Satzes der Identität. Stets hat man sich den strukturellen Un­
terschied zwischen dem »Maßstab<< des Werts und dem Maß­
stab einer natürlichen Eigenschaft zu vergegenwärtigen. So
wird ein Liter Wasser als Gewichtsmaß Kilogramm genannt.
Ein Quantum Wasser wird als Einheit von Schwere definiert.
Das bedeutet aber keineswegs, daß die Schwere eines Dings in
der räumlichen Dimension des Wassers »erscheint« und sich
»realisiert<< . Nicht das Wasser als Wasser ist die Erscheinungs­
form von Schwere. Das Ding als »Vergegenständlichung<< von
Schwere steht zum wirklichen Wasser nicht in einem dialekti­
schen Verhältnis dergestalt, daß das Ding als Schwere mit dem
Wasser als einer raumerfüllenden Erscheinung identisch und
zugleich als ein qualitativ bestimmtes Etwas von ihm verschie­
den ist. Das Ding »entzweit«, »verdoppelt<< sich nicht etwa in
32 M arx/Engels, Kleine ökonomische Schriften, Berlin 1 9 5 5 , S. 266.
33 Das Kapital !, S. 57.
34 Ibid., S. 82.
35 Ibid., s . I 09.
,. Träger« von Schwere und Wasser - es ist nicht zugleich es
selbst und sein Anderes. Eben in dieser Weise aber ist die Be­
ziehung von Ware und Geld bescb.affen. Der Wert einer Ware
läßt sich von ihrem Gebrauchswert nur dadurch unterscheiden,
daß er in Gestalt eines anderen Gebrauchswerts ausgedrückt
wird, daß somit »die Ware, in ihrem unmittelbaren Dasein als
Gebrauchswert, nicht Wert ist, nicht die adäquate Form des
Werts ist, = daß sie als ein sachlich andres oder gleichgesetzt
einer andren Sache dies ist. <<3 6 Die Ware wird ein »sachlich an­
dres« und bleibt doch in ihrem Anderssein sie selbst. In dem
Ausdruck >> 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert« ist der Wert
einer Sache durch eine andere ausgedrückt. Dieser Wertaus­
druck bewirkt eine merkwürdige >>Verkehrung<< : Der Rock
»wie er leibt und lebt<< , der Rock als Gebrauchswert, gilt un­
mittelbar als Wert : >>Im Geld ist der Wert der Sachen von ihrer
Substanz getrennt. [ . . . ] Aber einerseits bleibt der Tauschwert
natürlich zugleich eine inhärente Qualität der Waren, wäh­
rend er zugleich außer ihnen existiert. [ . . ] Im Geld tritt ihr
.

(der Ware) daher der Tauschwert als etwas andres gegenüber.


[ . . . ] Alle Eigenschaften der Ware als Tauschwert erscheinen
als ein von ihr verschiedner Gegenstand. [ . . . ] Der Tauschwert
[ . . . ] hat eine von ihr unabhängige, in einem eignen Material,
in einer spezifischen Ware verselbständigte Existenz gewon­
nen. <d7 Die mysteriöse Gleichsetzung von Leinwand und Rock
ändert die ökonomische Bestimmtheit des Rockes. Indem die
Leinwand »ihn als Wert sich gleichsetzt, während sie sich zu­
gleich als Gebrauchsgegenstand von ihm unterscheidet, wird
der Rock die Erscheinungsform des Leinwand-Werts im Gegen­
satz zum Leinwand-Körper [ . . . ] Da sie als Wert gleichen We­
sens mit dem Rock ist, wird die Naturalform Rock so zur
Erscheinungsform ihres eignen Werts. <<38 Das Geld als Geld
wird von Marx als eine widersprüchlich strukturierte Einheit
bestimmt : ein Besonderes erscheint unmittelbar als sein eigenes
Gegenteil, als Allgemeines. >>Statt auseinanderzufallen, reflek­
tieren sich die gegensätzlichen B estimmungen der Ware hier

3 6 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 3 •


S . 68o.
37 lbid., S. 67, 69, 103 , 63, 1 0 3 .
3 8 Marx/Engels, Studienausgabe II, I. c . , S. 2 2 7 , 2 2 8 .

14 3
ineinander. [ ] Es ist, als ob neben und außer Löwen, Ti­
. . .

gern, Hasen und allen anderen wirklichen Tieren [ . ] auch . .

noch das Tier existierte, die individuelle Inkarnation des gan­


zen Tierreichs. Ein solches Einzelne, das in sich selbst alle
wirklich vorhandenen Arten derselben Sache einbegreift, ist
ein Allgemeines, wie Tier, Gott usw.«l9 Die Frage stellt sich,
ob von hier aus auch das Wesen des Werts faßbar wird.
Wir haben die >>Bewegung« eines Etwas beschrieben, das die
merkwürdige Eigenschaft besitzt, sich zu >>verwandeln<<, zu
>>verdoppeln <<, >>auszudrücken<<, sich >>jeweils im anderen Ex­
trem zu erhalten «, seine >>Naturalform abzustreifen << und sich
zu >>realisieren <<. Dieses Etwas - sinnlich nicht wahrnehmbar
- wird >>gemessen <<, »übertragen << usw. Der »Träger<< dieses
Geschehens ist ein >>Gedankending<<, >>abstrakte Gegenständ­
lichkeit ohne weitere Qualität und Inhalt<< . Die Gedankenlosig­
kei t zahlreicher Vertreter der Arbeitswerttheorie, die mit die­
sen Begriffen bewußtlos operieren und deren logischen Status
nicht einmal als Problem erkennen, macht die Tendenz der se­
mantischen Kritik verständlich, Argumentationen marxisti­
scher Ökonomen als puren Wortfetischismus zu verwerfen. Es
scheint mir daher eine vordringliche Aufgabe der marxistischen
Ökonomie, die eigenen Begriffe zu problematisieren. Das gilt
vor allem für die Grundbegriffe der Werttheorie : >>absoluter
Wert<< und >>Ware<<. Wir haben bereits darauf verwiesen, daß
der Wert als ein dem Bewußtsein >> Immanentes << nicht gewußt
wird ; er setzt sich dem Bewußtsein als ein Fremdes ent­
gegen.
Es ist eben diese Problematik, die Simmel veranlaßt hat, den
Wert als metaphysische Kategorie zu bestimmen : >>Als solc}.J.e
steht er [ . ] jenseits des Dualismus von Subjekt und Objekt.<<4°
. .

Zwar ist der Wert ein Gedachtes, aber kein >>Begriff<< im Sinne
der formalen Logik : eine spezifische Differenz läßt sich eben­
sowenig aufzeigen wie ein materielles Korrelat. Er ist kein
Gattungsbegriff, sondern >>ein vom logischen Umfang, der
Merkmalseinheit irgendwelcher Einzelelemente total verschie­
denes Begriffliches «.4' Der Hinweis auf den traditionellen
Gottesbegriff zeigt, daß Marx »Allgemeines.- als eine Einheit
39 Ibid., S. 229, 234.
40 G. Simmel, Philosophie des Geldes, Berlin 1 9 5 8 , S. 24.
4 1 Th. W. Adorno, in : Sociologica I I , Frankfurt/M. 1 962, S. 2 1 7.

1 44
begreift, welche die Totalität aller Bestimmungen in ihrer
Verschiedenheit in sich enthält. Ist nun diese Bestimmung, die
unmittelbar nur das Wesen des Geldes bezeichnet, auch für
den >>allgemeinen Gegenstand<< Wert gültig? Der Wert er­
scheint nur in >>Einheit<< mit dem Gebrauchswert. Diese »Ein­
heit<< wird Ware genannt - ein »sinnlich-übersinnliches Ding<< .
Ding i m Sinne der traditionellen Philosophie ist entweder ein
Materielles oder aber »transzendentaler Gegenstand<<. Die
Ware als ein Etwas, dem Sinnliches und übersinnliches, Ge­
brauchswert und Wert als Eigenschaften zukommen, ist nicht
denkbar. Diese Eigenschaften werden nicht von einem Dritten
umfaßt, das wie eine Klammer die in sich reinen Schichten zur
Einheit zusammenfügt.
Vorläufig läßt die Ware sich folgendermaßen beschreiben. Ge­
geben ist ein ,,Verhältnis<< von Gebrauchswerten. Als Ge­
brauchswerte sind die Waren aber »gleichgültige Existenzen
füreinander und vielmehr beziehungslos << . Das Unmittelbare
ist aber stets auch ein Vermitteltes. Das Verhältnis des einen
Gebrauchswerts zu sich selbst als zu einem Anderen erscheint
als eine unmittelbare Beziehung zweier mit sich selbst identi­
scher Gebrauchswerte. Es wird vergessen, daß in der Gleichset­
zung von zwei Gebrauchswerten der eine mit sich selbst un­
gleich gesetzt wird : »Ich setze jede der Waren = einem Dritten ;
d. h. sich selbst ungleich. <<4 2 Daß die Ware als Gebrauchswert
nicht Wert ist, kann nur bedeuten >>daß sie als ein sachlich
andres oder als gleichJ;esetzt einer andren Sache dies ist<< .43 Als
»etwas von sich Ungleiches<< bleibt das Ding im Unterschied,
den es als eignen in sich selbst hat, mit sich identisch. Es »unter­
scheidet [ . . ] sich [ . ] von sich selbst als Gebrauchswert<<44 und
. . .

gewinnt konkrete Identität. Die »Einheit<< von Wert und Ge­


brauchswert, die Einheit in der Selbstunterscheidung stellt sich
dar als Verdopplung der Ware in Ware und Geld. »Der in der
Ware eingehüllte innere Gegensatz [ . . . ] wird also dargestellt
durch einen äußeren Gegensatz. <<45 Zugleich tritt eine » Ver­
kehrung« ein : Der Wert der Ware, der das Gold erst zum Geld
macht, erscheint an der Ware nur noch als ideelles Quantum
42 Marx, Grundrisse . . . , I. c . , S. 6 1 .
43 Ibid., S . 68o.
44 Marx/Engels I I , I. c . , S. 226 (Hervorhebung von Marx).
45 Marx, Das Kapital, I. c., S. 1 09.

145
Gold, d. h. als Tauschwert oder Preis. >>Die vermittelnde Be­
wegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine
Spur zurück.«46 Im Unterschied zur klassischen Arbeitswert­
theorie ist für Marx der Wert nicht nur der Bestimmungsgrund
der Wertgröße, sondern in seiner >>Vermittelnden Bewegung«
jenes Konstituens, das die Beziehung erst als Beziehung konsti­
tuiert. Wert ist also für Marx nicht eine unbewegliche Substanz
in ununterschiedner Starrheit, sondern ein sich selbst in Unter­
scheidungen Entfaltendes : Subjekt. >>Aber das Ganze der Zir­
kulation an sich betrachtet liegt darin, daß derselbe Tausch­
wert, der Tauschwert als Subjekt, sich einmal als Ware, das
andre Mal als Geld setzt, und eben die Bewegung ist, sich in
dieser doppelten Bestimmung zu setzen und sich in jeder der­
selben als ihr Gegenteil, in der Ware als Geld und im Geld als
Ware zu erhalten. <<47
Es versteht sich, daß die Verdopplung der Ware in Ware und
Geld erst dann dechiffriert ist, wenn sich nachweisen läßt, daß
diese antagonistische Beziehung von Dingen eine Beziehung
von Menschen ausdrückt, die in gleicher Weise antagonistisch
strukturiert ist. Umgekehrt müssen diese >>gesellschaftlichen
Verhältnisse der Personen« so bestimmt werden, daß von ihrer
Struktur her das antagonistische »Verhältnis der Sachen<< ver­
stehbar wird.
Das >>sinnlich-übersinnliche« Ding bezeichnet eine Realität sui
generis, die sich weder auf die technologischen und physiolo­
gischen Aspekte des Arbeitsprozesses noch auf die Bewußtseins­
und Unbewußtseinsinhalte der Menschen reduzieren läßt. Ab­
strakte Wertgegenständlichkeit ist für Marx gesellschaftliche
Objektivität schlechthin. Dadurch daß diese Dimension der
Wirklichkeit subjektiv und objektiv zugleich ist, unterscheidet
sie sich von jenen sozialen Beziehungen, die allein durch be­
wußtes Handeln konstituiert werden.
Die Wertform-Analyse ist in dreifacher Hinsicht für die Marx­
sche Theorie der Gesellschaft bedeutsam : sie ist die Nahtstelle
von Soziologie und Wirtschaftstheorie ; sie inauguriert die
Marxsche Ideologiekritik und eine spezifische Geldtheorie, die
den Primat der Produktionssphäre gegenüber der Zirkula­
tionssphäre und somit der Produktionsverhältnisse gegenüber
46 Ihid., S. 99·
47 Marx, Grundrisse . . . , I. c., S. 1 77.
dem »Überbau« begründet. »Die verschiednen Formen des Gel­
des mögen der gesellschaftlichen Produktion auf verschiednen
Stufen besser entsprechen, die eine Übelstände beseitigen, de­
nen die andere nicht gewachsen ist ; keine aber, solange sie
Formen des Geldes bleiben, [ . ] kann die dem Verhältnis des
. .

Geldes inhärenten Widersprüche aufheben, sondern sie nur in


einer oder andern Form repräsentieren. [ ] Ein Hebel mag. . .

besser den Widerstand der ruhenden Materie überwinden, als


der andre. Jeder beruht darauf, daß der Widerstand bleibt.<< 4 8
Der einer rationalen Gestaltung des materiellen Reproduk­
tionsprozesses sich entgegensetzende »Widerstand<< ist für
Marx die abstrakte Wertgegenständlichkeit. Eine spezifische
Form der materiellen Produktion - gesellschaftliche Arbeit
privater Produzenten - ist der Grund dafür, daß im histori­
schen Materialismus der Produktions- und Reproduktionspro­
zeß als >>Basis<< , die bewußten Beziehungen hingegen nur als
Ȇberbau<< bestimmt werden - >>Hebel<<, die darauf beruhen,
»daß der Widerstand bleibt« . Sofern die Individuen »weder
subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch
andrerseits als bewußt Gemeinschaftliche das Gemeinwesen
unter sich subsumieren, muß es ihnen als den Unabhängigen
Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußer­
liches, zufälliges, Sachliches ihnen gegenüber existieren. Es ist
dies eben die Bedingung dafür, daß sie als unabhängige Pri­
vatpersonen zugleich in einem gesellschaftlichen Zusammen­
hang stehn«.49
Geld ist für Marx kein ,,bloßes Zeichen« , sondern Schein und
Realität zuglei ch : der vergegenständlichte gesellschaftliche Zu­
sammenhang der isolierten Individuen. »Es selbst ist das Ge­
meinwesen und kann kein andres über ihn stehendes dulden. <<5°
Für die nominalistische Geldtheorie hingegen sind >>Gold und
Silber [ ] wertlose Dinge, aber innerhalb des Zirkulations­
. . .

prozesses erhalten sie eine fiktive Wertgröße als Repräsentan­


ten der "Waren. Sie werden durch den Prozeß nicht in Geld,
sondern in Wert verwandelt.« 5 ' Wird das Zirkulationsmittel
ausschließlich als »Geldschleier<< des Güterstroms begriffen, so
48 Ibid., S. 42 f.
49 Ibid ., S. 909.
50 Ibid ., S. I 34·
SI Zur Kritik . . . , I. c., S. 1 7 8 .

147
ist die Geldzirkulation überhaupt nur eine sekundäre Bewe­
gung. Diese Theoretiker verkennen nach Marx das Wesen
der Verkehrung und somit auch die begriffliche Genesis des
Geldes. »Das Geld ist ursprünglich der Repräsentant aller Wer­
te ; in der Praxis dreht sich die Sache um, und alle realen Pro­
dukte [ . . . J werden die Repräsentanten des Geldes. [ . . . J Als
Preise sind alle Waren unter verschiednen Formen Repräsen­
tanten des Geldes <<.!' Es bleibt zu untersuchen, ob sich ein Zu­
sammenhang von nominalistischer Geldtheorie und pluralisti­
scher Gesellschaftstheorie nachweisen läßt.
Wenden wir uns abschließend einer Reihe von Problemen zu,
die von positivistischen Autoren zwar erkannt, aber nicht ge­
löst wurden, die sich aber von der Marxschen Formanalyse her
verstehen lassen und somit deren Aktualität erweisen. Hin­
sichtlich der nicht-marxistischen Ökonomie stellt Jahn zutref­
fend fest : >> Für sie ist das Kapital bald Geld - bald Ware : zum
einen Produktionsmittel - zum anderen eine Wertsumme. Es
bleibt in der vereinzelten Erscheinungsform erstarrt und steht
in keiner inneren Beziehung zur anderen. [ . . . ] Was im Kapi­
talkreislauf prozessiert, ist weder Geld noch Ware, noch Pro­
duktionsmittel noch >Arbeit<, sondern es ist der Wert, der ab­
wechselnd in der Geld-, Waren- und produktiven Form er­
scheint. Nur der Wert ist zu dieser Metamorphose fähig. << 5 3

52 Grundrisse . . . , I. c . , S. 6 7 f . , r o6.
5 3 W. ]ahn, I. c . , S. 332 ff. ]ahn unterläßt es allerdings, die Argumente
Erich Preisers, der Kapital nur als Geldkapital definiert, hinreichend zu
würdigen. Preiser geht es nicht zuletzt darum, den Begriff >Metamorphose<
zu eliminieren : » Es scheint mir wenig zweckmäßig zu sein, diese einfachen
Sachverhalte als Metamorphosen des Kapitals zu bezeichnen oder durch
andre Bilder zu verdunkeln. Geld kann sich nicht in Ware verwandeln,
das Wirtschafhieben ist keine Zaubervorstel lung« (Bildung und Verteilung
des Volkseinkommens, Göttingen 1963, S. r o6) . Die Feststellung, daß das
Sprachparadox ein Paradoxon der Wirklichkeit ausdrückt, bleibt eine bloße
Versicherung, solange die ma rxistische Theorie nicht zeigen kann, wie jene
sozialen Beziehungen beschaffen sind, die sich notwendig als Metamorphose
von Ware und Geld darstellen. Ob freilich die herrschende ökonomische
Schulmeinung imstande ist, die Eliminierung des Begriffs Real- oder Pro­
duktivkapital in jeder Teildisziplin durchzuhalten, darf bezweifelt wer­
den. Schneider schließt sich der Meinung Preisers an, daß man die ökono­
misch relevanten Vorgänge exakt beschrei b en kann, ohne den Kapitalbegriff
zu gebrauchen. In seiner Darstellung der Wachstumstheorie steigen die eben
noch negierten Begriffe >Erzeugersachkapital< und >Kapitalstock< wie der
Phönix aus der Asche auf.
Kapital ist einerseits Geld, andererseits Ware. Scheinbar ein
Drittes. Eben dies irritiert. Es ist weder das eine noch das an­
dere und doch sowohl das eine wie das andere. Das also, was
ein »Übergreifendes« genannt wird. Um dieses übergreifende
zu denken, sieht man sich gezwungen, das zu denken, was sich
auf der Basis der subjektiven Werttheorie gar nicht denken
läßt : den »absoluten Wert«. Ein Etwas, das sich einmal in Ge­
stalt von Gold darstellt - ohne jedoch mit diesem Gold als
Gold identisch zu sein - dann wiederum als Ware oder gar als
Arbeitskraft. Beim einfachen Warenaustausch scheint dieses
Dilemma sich noch nicht zu stellen : die Ware erscheint als Ding
und unterscheidet sich als solches von dem anderen Ding Gold.
Hier glaubt man noch auf die Analyse des >>inneren Zusam­
menhanges<< und der >>inneren Bewegung<< verzichten zu kön­
nen. Beim Kapital hingegen sieht man sich gezwungen, eine
»abstrakte Wertsumme<< zu konstruieren, die mit dem Gold als
Gold nicht identisch sein darf, weil sie sich doch auch in ande­
ren Kapitalgütern >>verkörpern« soll. >>Alles Kapital befindet
sich in einem beständigen Gestaltwechsel<<, schreibt Zwieden­
edU4 Es muß jedoch befremden, wenn Vertreter der subjekti­
ven Ökonomie von >>Gestaltwechsel<< sprechen, die Marxsche
Formel des Kapitalumschlages G1 - W - G2 rezipieren, aber
jenes Subjekt nicht benennen können, das die Eigenschaft be­
sitzt, diesen >>Gestaltwechsel<< zu vollziehen.
Der Problemgehalt der Wertform läßt sich nicht dadurch aus
der Welt schaffen, daß man die Marxsche Lösung und Darstel­
lung ignoriert. Es zeigt sich nämlich, daß die Kritiker der
Arbeitswerttheorie gelegentlich in selbstkritischer Einsicht die
Unlösbarkeit eben jener Probleme konstatieren, die den Gegen­
stand der von ihnen ignorierten Wertfarm-Analyse ausmachen.
Die Bewußtlosigkeit jenes Zusammenhangs zwischen der eben
noch kritisierten, als >>metaphysisches Dogma << verworfenen
objektiven Werttheorie und der in den folgenden Abschnit­
ten dargestellten qualitativen Wertprobleme äußert sich exem­
plarisch in der Abhandlung Joan Robinsons Doktrinen der
Wirtschaflswissenschafl. Die Autorin verkennt, daß sie mit
ihrer Frage nach der Qualität ökonomischer Quantitäten und
nach dem Wesen ökonomischer Grundbegriffe genau jenen
5 4 0. v . Zwiedeneck-Südenhorst, Allgemeine Volkswirtschaflslehre, Berlin
1 9 J 2 , s. 1 02 ,

1 49
Problemkomplex beschreibt, um den das Marxsche Denken
kreist : »Es ist noch immer üblich, Modelle zu konstruieren, in
denen Quantitäten von >Kapital< erscheinen, ohne daß man
die geringste Angabe darüber macht, wovon dies eine Quanti­
tät sein soll. Wie man das Problem, dem Nutzenbegriff einen
praktischen Inhalt zu geben, gewöhnlich umgeht, indem man
ein Diagramm zeichnet, so entzieht man sich auch dem Problem,
der Quantität von >Kapital< einen Sinn zu geben, durch
Übersetzung in Algebra. K ist Kapital, .d K ist Investition.
Was aber ist K? Was soll das heißen ? Kapital natürlich. Es
muß einen Sinn haben, also wollen wir mit der Analyse fort­
fahren und uns nicht mit spitzfindigen Pedanten abplagen, die
zu wissen begehren, was gemeint ist.<< H Joan Robinson enthüllt
die paradoxe Situation des modernen Ökonomen, der einerseits
komplizierte mathematische Methoden entwickelt, um die Be­
wegungen der Preise und des Geldes zu berechnen, andererseits
das Nachdenken darüber verlernt hat, was das wohl sein mag,
was den Gegenstand seiner Berechnungen ausmacht. Verbleibt
man jedoch in der Denkweise Joan Robinsons, dann läßt sich
ihre der modernen Ökonomie entgegengehaltene Frage :
»Quantität wovon? .: von ihrer eigenen Position her nur als
»metaphysisch<< charakterisieren ; denn es ist eben diese Pro­
blemstellung, die als Frage nach der Genesis der »übernatür­
lichen Eigenschaft<< Wert oder - was dasselbe besagt - als Frage
nach der »Substanz « des Werts Gegenstand der Marxschen
Überlegungen ist. Der positivistischen Manier, qualitative Pro­
bleme zu eliminieren - »Geld und Zinssatz erweisen sich wie
Güter und Kaufkraft als unfaßliche Begriffe, wenn wir wirk­
lich versuchen sie festzuhalten<< 56 - entspricht jener berüchtigte
5 5 J. Robinson, Doktrinen der Wirtschaflswissenschafl, München 1 9 6 5 , S. 8 5 .
5 6 Ibid., S . 1 09 . Die nominalistische Geldtheorie hätte sich mit dem merk­
würdigen Phänomen zu beschäftigen , •daß die Namen, die bestimmte ali­
quote Gewichtsteile des Goldes (edlen Metalls) erhalten, Pfund, Shilling,
Pence etc., durch irgendeinen unerklärlichen Prozeß sich selbständig verhal­
ten gegen die Substanz, deren Namen sie sind« (Marx, Grundrisse . . . , I . c.,
S. 684). Im Unterschied zu den Begründern der nicht-metallistischen Geld­
theorie, die jener •unerklärliche Prozeß< noch irritiert hatte, halten die
modernen Lehrbücher der Geldtheorie dieses Problem nicht einmal für er­
wähnenswert. Knapp stellte immerhin fest : •Eine wirkliche Definition des
Zahlungsmittels dürfte schwerlich zu geben sein • (Zit. in: K. Elster, Die
Seele des Geldes, Jena 1 92 3 , S. 4). Seinem Schüler Elster zufolge glaubte er
• den Begriff des Zahlungsmittels, dessen Definition ihm nicht gelingen will,
Formalismus, der von Joan Robinson folgendermaßen glossiert
wird : »Die modernen Vertreter der neoklassischen Ökonomie
flüchten sich in immer kompliziertere mathematische Manipu­
lationen und ärgern sich immer mehr über Fragen nach deren
mutmaßlichem Gehalt<< .57
Wenn maßgebliche Darstellungen der modernen Geldtheorie
sich darauf beschränken, Geld als >>allgemeines Tauschmittel<<
zu definieren, so bleibt immer noch die Frage offen, was den
spezifischen Unterschied von besond6rem und allgemeinem
Tauschmittel, Ware und Geld ausmacht. Erst wenn die Bezie­
hung beider als Einheit in der Verschiedenheit begriffen ist,
verschwindet auch jener »Spuk<<, der das Ökonomistische Den­
ken zwingt, Geld als >>unfaßlichen Begriff<< auszugeben.
Daß die Beziehung von Ware und Geld nur als soziale, nicht
aber als dingliche Beziehung faßbar ist, diese an sich triviale
Einsicht wird auch von Vertretern der subjektiven Ökonomie
ausgesprochen. Von der Feststellung ausgehend, daß der sub­
jektive Wert nur eine psychische Beziehung zwischen einem
Subjekt und einem Objekt zum Inhalt hat, stellt Amonn
zutreffend fest : >>Eine in ihrem Wesen davon verschiedne Be­
ziehung objektiver Natur ist zum Ausdruck gebracht im Be­
griff des >objektiven Tauschwerts<. Das ist eine soziale Bezie­
hung.<<5s Diese Überlegung soll die ökonomische Analyse in
eine soziologische überführen. Soziale Beziehungen sind für
Amonn >>Bewußtseinstatsachen<< und >>Willensbeziehungen<<
wie Staat, Familie, Freundschaft etc. >>Kapital, Geld, Unter­
nehmung sind ebensolche sozialen Tatsachen<<59. Kapital gilt
als einen jener letzten, ursprünglichen Begriffe betrachten zu sollen, die kei­
ner weiteren Definition mehr zugänglich sind• (K. Elster, I. c., S. 4 f.).
Elster selbst spricht von dem Problem der Wirtschaft •an dessen Lösbarkeit
ich nicht zu glauben vermag. [ . . . ] Die inneren psychischen Beziehungen des
Menschen zu den Gegenständen der Wirtschaft - der Nutzen, als die Lust,
nach der der Wirtschafter strebt [ . . . ], diese psychischen Tatbestände vermö­
gen nie und nimmer zu zahlenmäßigen Ausdrücken zu gelangen. Zwei ganz
verschiedenen Welten gehören sie an : der Wert und die Zahl, das heißt : der
Preis • . Die Vertreter der subjektiven Werttheorie stünden hier • vor einem
jener Probleme, die menschlichem Begreifen nicht mehr faßbar sind • .
( K . Elster, I. c . , S. p f.) 5 7 Ibid ., S. r s 6
5 8 A . Amonn, Volkswirtschaflliche Grundbegriffe und Grundprobleme, Bern,
1 944· s. ' 34·
5 9 A . Amonn, Objekt und Grundbegriff der Nationalökonomie, Wien 1 9 I I ,
S. 409 ff . - Neuere Versuche, eine • gesellschaftliche Theorie des Geldes•
(Gerloff) zu erarbeiten oder •Nationalökonomie als Soziologie• (Albert) zu

rp
ihm als >>konzentrierte und abstrakte [ . ] unpersönliche so­
. .

ziale Macht«, der Unternehmer >>als Träger der konzentrierten


und abstrakten individuellen Verfügungsmacht<< . Es ist offen­
sichtlich, daß dieser Begriff seinem Anspruch nicht genügt,
ökonomische Kategorien soziologisch aufzulösen. >>Abstrakte
Verfügungsmacht« ist nur ein anderer Name für jenen ökono­
mischen Tatbestand, der als soziale Beziehung erklärt werden
soll : Kaufkraft. Die tautologische Umschreibung ökonomischer
Kategorien verleitet Amonn, Kapital wie Freundschaft und
Familie bloß als >>Bewußtseinstatsache« und >>soziale Bezie­
hung« zu verstehen. Diese Bestimmung wird jedoch von ihm
selbst negiert, wenn er feststellt, daß abstrakte Verfügungs­
macht ein an >>reale Güter gebundenes, aber doch von ihnen
wesentlich Unterschiedenes ist<<. Die >>Gebundenheit<< an mate­
rielle Güter unterscheidet aber abstrakte Verfügungsmacht
qualitativ von anderen sozialen Beziehungen wie Freundschaft
oder Familie. Jenes Etwas, das an reale Güter gebunden und
doch zugleich von ihnen unterschieden ist, stellt freilich ein
Problem, das sich dem Verständnis der positivistischen Hand­
lungstheorie entzieht : die materialistische Form der Synthesis.
Eine soziologische Theorie, die gesellschaftliche Beziehungen
aus einem bewußten >>Sich-aufeinander-Beziehen<< verschiede­
ner Individuen abzuleiten sucht und >>Reflexivität« und >> In­
tentionalität<< als konstitutive Merkmale sozialen Handeins
ausgibt, muß allein schon daran scheitern, daß ökonomische
Kategorien sich nicht auf Bewußtseins- und Unbewußtseins­
inhalte reduzieren lassen. >> Ihr (der Produzenten) >mind<, ihr
Bewußtsein, mag durchaus nicht wissen, für es mag nicht exi­
stiern, wodurch in fact der Wert ihrer Waren oder ihre Pro­
dukte als Werte bestimmt sind. Sie sind in Verhältnisse gesetzt,
die ihren mind bestimmen, ohne daß sie es zu wissen brauchen.
Jeder kann Geld als Geld brauchen, ohne zu wissen, was Geld
ist. Die ökonomischen Kategorien spiegeln sich im Bewußtsein
sehr verkehrt ab. <<6o
konstituieren, kommen über die Position Amonns nicht hinaus. Nach Albert
führt .die soziologische Interpretation der Preisproblematik [ . . . ] von der
Werttheorie zur Ma ch tanalyse. [ . . • ] Das Machtphänomen [ . . . ] wird damit
zum Zentralproblem einer Nationalökonomie, die als integrierender Be­
standteil der Soziologie aufzufassen ist•. (H. Albert, Marktsoziologie und
Entscheidungslogik, Neuwied 1 9 6 5 , S. 496.)
6o Theorien . . . , 3 · Teil, I. c., S. r 64.
Henri Lefebvre
Zum Begriff der >Erklärung< in der politischen
Ökonomie und in der Soziologie

Die Marxisten waren die ersten Sozialisten, die die Frage auf­
warfen, ob eine Analyse nicht nur der ökonomischen, sondern
aller Seiten des sozialen Lebens notwendig ist, heißt es bei
Lenin.'

Ich stelle den Vortrag unter das Zeichen dieser Bekundung Le­
nins, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen. Erstens, weil
man heute nicht einfach von Marxismus sprechen kann, es sei
denn in abkürzender Weise, sondern nur von Marxismus­
Leninismus. Es ist unmöglich, das Denken von Marx anders zu
erfassen als über das Denken (und Werk) Lenins ; und die mei­
sten Irrtümer und Mißverständnisse ergeben sich daraus, daß
man dieses wesentliche Kettenglied ausläßt. Der zweite Grund
ist der, daß der Leninsche Satz als Schlußfolgerung meines
Vortrags dienen könnte, der versuchen wird, ihn methodolo­
gisch zu entfalten.
Der philosophische Mut und die wissenschaftliche Strenge von
Herrn Gurvitch haben uns gestattet, eine Reihe von Problemen
aufzuwerfen, von denen wir seit dem ersten Tag dieses Collo­
quiums glauben, daß sie über den Rahmen der Soziologie hin­
ausgehen.
Einige sagen, diese Probleme sind ausgedacht und machen die
Diskussion scholastisch. Andere, etwas weniger streng, sagen,
daß man sie löst, indem man die Dinge weitertreibt, arbeitet,
Forschungen anstellt. Ich bin demgegenüber der Ansicht, daß
es hier nicht nur um die Schwierigkeiten eines philosophischen
und methodologischen Begriffs (des Begriffs der Erklärung)
geht, noch bloß um die Sorgen eines Gelehrten : des Soziologen,
der den Ungewißheiten seiner Wissenschaft ausgesetzt ist. Es
handelt sich im Grunde um eine allgemeine Krise der Sozial­
wissenschaften, der Wissenschaften von der menschlichen Wirk-
r Was sind die • Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemo­
kraten? In : Werke, Band r, Berlin 1963, S. I 54·

I5J
lichkeit : um ihre spezifischen Definitionen - ihre Gegenstände
und Methoden - ihre wechselseitigen Beziehungen und Zusam­
menhänge - und schließlich um ihre Beziehungen zu jenem un­
endlich komplexen und doch in seiner Komplexität einheit­
lichen »Objekt<< : der totale Mensch. Ich bestehe sehr auf diesen
Worten. Denn ich glaube, für den Marxismus ist allein der
Mensch total. Und diese Formel begründet auch einen Huma­
nismus. Es kann keine gesellschaftliche Tatsache oder Erschei­
nung geben, die nicht Träger oder Stütze des totalen Menschen
wäre.
Die Krise der Soziologie ist nur ein Sonderfall der Krise der
Wissenschaften vom Menschen. Einige Teilnehmer dieses Collo­
quiums haben mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, daß
sie dieser Ansicht waren. Alle haben zugegeben, daß es unmög­
lich ist, die soziologischen Fragen zu isolieren, sie für sich zu
behandeln. Man wird erklären, daß diese Situation nicht neu
ist ; daß die Wissenschaften vom Menschen niemals einen end­
gültigen Status finden konnten und daß das sehr gut so ist ; daß
die Wissenschaften und Gelehrten deshalb nicht schlechter dar­
an sind ; daß sie diese Krise seit langem aushalten ; mit einem
Wort, daß diese Krise fruchtbar ist.
Das ist vielleicht bis zu einem gewissen Punkt nicht einmal
falsch. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß uns heute die
Lage der Wissenschaften vom Menschen und insbesondere der
Soziologie beunruhigender erscheint als früher. Als Beweis
möchte ich nur die Bündnisangebote erwähnen, die hier mit
diplomatischen Theatercoups einander abgelöst haben. Kalter
Krieg? Fortsetzung der imperialistischen Politik mit anderen
Mitteln? Aktive friedliche Koexistenz? Vorspiel einer allge­
meinen Umarmung? Hin und wieder konnte man sich das
fragen.
Worin besteht angesichts dieser Lage, dieser Krise die Haltung
des Marxismus? Ich bin Ihnen einige vorläufige »Erklärungen<<
schuldig. Wenn ich auch keineswegs beauftragt bin, so fühle ich
mich Ihnen gegenüber doch verantwortlich für das marxisti­
sche Denken und die marxistische Forschung. Ich nehme diese
Verantwortung auf mich, ohne daß meine Ausführungen für
die anderen Marxisten verbindlich wären ; denn es gibt bei uns
verschiedene Tendenzen, verschiedene Temperamente und ver­
schiedene Weisen, die Methode anzuwenden. Bei uns wie an-
1 54
derswo. Der Marxismus ist kein homogenes Ganzes, kein mo­
nolithisches Ungeheuer. Und doch gibt es eine gewisse Einheit,
ohne welche die Bezeichnung keinen Sinn mehr hätte.
Steht der Marxismus völlig außerhalb dieser Krise? Steht er
über ihr? Sind wir bloße Zeugen? Kommen wir als Schieds­
richter und Sachverständige? Ich glaube, diese Auffassung
wäre unfruchtbar und nicht frei von Dogmatismus. Nein, der
Marxismus steht nicht radikal außerhalb der anderen Denk­
richtungen in der Welt, auch nicht außerhalb derjenigen, die er
bekämpft und die er in einem freien, friedlichen Wettbewerb
zu besiegen hofft, auf der intellektuellen und >>geistigen« Ebene.
Er steht nicht außerhalb der Probleme ; denn es gibt solche, die
nicht nur den Menschen entspringen, die sie stellen, nicht nur
Mängeln oder dem Klassencharakter ihres Nachdenkens, son­
dern immer auch ihrer objektiven Wirklichkeit, dem mensch­
lichen Werden.
Ich möchte versuchen, hier als Marxist zu sprechen, im Namen
des Marxismus-Leninismus. Ich werde also versuchen, zugleich
als Philosoph und Soziologe zu sprechen, als Erkenntnistheo­
retiker, der auf ein Spezialfach reflektiert, auf eine Einzelwis­
senschaft. Man wird sagen, daß diese Weise, die Frage zu stel­
len, bereits eine Antwort enthält oder die Unmöglichkeit einer
Antwort. Auf diesen Einwand erwidere ich, daß alle, die hier
gesprochen haben, ob freiwillig oder nicht, ob bewußt oder
nicht, dieselbe Position eingenommen haben. Sie haben philoso­
phische Begriffe angewandt und behandelt, die erkenntnistheo­
retisch relevant sind, vor allem die der Erklärung, des Verste­
hens, des Determinismus, der Totalität usw. Sie haben sich
nicht innerhalb einer Sonderdisziplin, der Soziologie, placieren
und einrichten können und vermochten nicht, in ihr zu ver­
bleiben.
Wie dem auch sei, als Marxist, der einer Richtung des Denkens
und Handeins angehört, deren Weltbedeutung künftig kaum
noch zu verkennen ist, glaube ich vorausschicken zu können,
daß ich weder gewillt bin, eine bereits feststehende Entschei­
dung vorzuführen, noch den hier gestellten Problemen, die mir
in der Tat real erscheinen, eine fertige Lösung vorzuschrei­
ben.
Es liegt mir nichts daran, die Schläge und die Punkte zu zäh­
len, ebensowenig will ich die Stücke zusammenlesen. Diese auf
155
Kunstgriffe bedachte Auffassung von Dialog und Diskussion
scheint mir unergiebig und falsch. Für mich hat der Dialog
einen Sinn und Inhalt und muß ihn haben. Sonst ist es zweck­
los, ihn aufzunehmen. Ich führe nur meinen Dialog über den
Begriff der gesellschaftlichen Klassen mit Herrn Gurvitch an,
der vor anderthalb Jahren, wohl im Januar 1 9 5 5 , stattfand
und sechs Monate später in der Zeitschrift Critique erschien.
Dieser Text hatte einen wirklichen und tiefen Inhalt, der sei­
nerzeit leider nicht vollständig entfaltet wurde. Warum? Es
würde zu weit führen, den Gründen nachzugehen. Heute je­
doch erscheint dieser Dialog in einem neuen Licht. Worum han­
delte es sich im Kern, im Inhalt? Um die Vielheit der Wege
zum Sozialismus. Denn zwischen Kapitalismus und Sozialis­
mus - das heißt die Transformation der gesellschaftlichen Ver­
hältnisse durch das Handeln der Arbeiterklasse - gibt es nicht
mehrere Lösungen ; es gibt keine grundlegend andere Wahl (um
mich in einer Sprache auszudrücken, die nicht ganz marxistisch
ist !). Kurz, es gibt kein geschichtliches Tertium.
Der Pluralismus hat also in gewissen Grenzen recht, bis zu
einem gewissen Punkt. Er hat recht, ohne daß wir deshalb in
den völligen Relativismus zurückfallen, ohne daß der Begriff
einer Wahrheit, eines Sinnes der Geschichte und der Soziologie
allen Wert verliert. Denn - stellen wir das sogleich fest - diese
Vielheit von Wegen, die zu einem Ziel führen, das an sich
durch seinen Begriff, den Sozialismus, bestimmt ist, eröffnet sie
nicht dem Soziologen und der Soziologie ein Feld für For­
schungen? Ich bringe diesen Gedanken als Hypothese vor, die
vielleicht fruchtbar ist. So kann man vergleichsweise die jugo­
slawische Erfahrung und die der anderen Länder studieren, die
sich auf dem Wege zum Sozialismus befinden. Ich füge hinzu,
daß aus den Arbeiten Lenins bereits seit langem das Bestehen
zweier Hauptwege zum Sozialismus hervorging : der Weg der
Industrie und der Weg der Landwirtschaft in den vorwiegend
agrarischen Ländern. Dementsprechend und infolgedessen gibt
es so viele Wege wie Nationen und nationale Besonderheiten.
Lenin hat sich darüber mit der allergrößten Klarheit auf den
letzten Seiten seiner Schrift Der »linke Radikalismus" , die
Kinderkrankheit im Kommunismus ausgesprochen. Ich weiß,
daß hier nicht alle dem zustimmen, was ich vorbringe. Ich weiß
nicht einmal, ob Herr Gurvitch mir beipflichten wird. Ich
r 56
möchte lediglich unterstreichen, daß der Dialog einen Inhalt
hatte und behält.
Es kann in dieser Frage auch unter Marxisten Uneinigkeit und
Diskussionen, und zwar polemische, geben. So hat mich Roger
Garaudy anläßlich des oben erwähnten Dialogs heftig ange­
griffen, zur seihen Zeit, als er Herrn Gurvitch angriff. Ga­
raudy warf uns nicht nur vor, die gesellschaftlichen Klassen
schlecht zu definieren, was sein Recht war (wenn er sich auch
damit begnügte, einer Untersuchung eine wohlbekannte Defi­
nition entgegenzuhalten), sondern auch, in die Definition und
den Begriff der Arbeiterklasse die Theorie der Diktatur des
Proletariats nicht mit aufzunehmen ! Das war unverzeihlich.
Denn er vermengte nicht nur Politisches und Gesellschaftliches,
Soziologisches und ökonomisches, sondern seine Position war
politisch falsch. Denn schließlich, wenn die Aktion der Arbei­
terklasse, die darauf abzielt, die kapitalistischen Produktions­
verhältnisse in sozialistische zu überführen, wenn diese Aktion
unter bestimmten Umständen auf parlamentarischem Wege
vonstatten gehen kann, dann kann es nicht mehr um die not­
wendig gewaltsame Diktatur des Proletariats gehen ; die Theo­
rie der Diktatur des Proletariats muß eingeschränkt, präzisiert
und von anderen politischen Möglichkeiten unterschieden wer­
den. Ich hoffe, daß mein Freund Garaudy mir nicht darüber
böse ist, daß ich in einem wissenschaftlichen Kolloquium einen
Irrtum berichtige, der der marxistischen Wissenschaft ebenso
abträglich ist wie der Wissenschaft im allgemeinen und der
Möglichkeit von Dialogen und einer einheitlichen Position.
Ich fasse zusammen. Eine bestimmte Auffassung vom Dialog
scheint mir in dem Sinn überholt, daß sie scheinbar eine Unter­
haltung in Gang brachte und diese dabei auf einen verbalen
Austausch, auf ein Zeremoniell reduzierte. Für mich gibt es den
Dialog, weil es wirkliche Probleme gibt ; der Dialog und die
Diskussion sind im beweglichen Rahmen einer Einheit zu ver­
folgen, die sich im Dialog selbst herstellt und ihm entspringt,
eine Einheit, welche die der Erkenntnis und der Wissenschaft
ist. Aber, wird man sagen, weshalb halten Sie dann an Ihrem
marxistischen »Gesichtspunkt<< fest? Warum treten Sie weiter
als Marxist auf und stellen den Marxismus nicht in Frage? Wo­
her kommt Ihre Sicherheit, wenn nicht aus einem Dogmatis­
mus? Ich antworte zunächst so, daß mir die dialektische Me-
I57
thode imstande scheint, die Probleme zu lösen, ja sie richtig zu
stellen, was bereits mehr bedeutet als die allzu selbstgefällige
Eignung für die Probleme einer >>Problematik« als solcher.
Ich antworte ferner mit dem Hinweis, daß die besonderen Pro­
bleme der Wissenschaft vom Menschen konkret, im Kontakt
mit dem Wirklichen und unendlich komplexen Objektiven ge­
löst werden. Und zwar insofern, als kein Problem dem Gang
der Erkenntnis und der Praxis apriorische Grenzen setzen, ihn
eindämmen kann. Im Gegenteil : die Probleme haben etwas
Fruchtbares ; und ich wiederhole, sie stellen heißt bereits sie
lösen, weil man sie nur stellt, wenn man begonnen hat, sie zu
lösen. Das ist ein wichtiger Aspekt der marxistischen dialekti­
schen Methode, ihr materialistischer. Aus eben diesen Gründen
hat auch das Wort »Krise « für uns nicht den unangenehmen
Klang, den es für viele andere hat. Es hat für uns marxistische
Dialektiker seinen ursprünglichen Sinn : Augenblick der Diffe­
renzierung und Erneuerung, in dem das Werden auf neuer
Stufe weitergeht.
Die Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß der als histori­
scher Materialismus betrachtete Marxismus (und Leninismus)
die Entwicklung der Gesellschaft und die Herausbildung des
Menschen als einen komplexen Prozeß bestimmt - viel kom­
plexer als ihn sich der Evolutionismus vorgestellt hat -, in
mehrfacher Hinsicht widerspruchsvoll, aber determiniert : als
eine (sich bewegende, das versteht sich von selbst) Totalität.
Man kann sogar sagen, daß Marx als erster klar auf wissen­
schaftlicher Ebene (nach Hege!, bei dem er auf philosophischer
vorliegt) diesen Begriff der Einheit und Totalität der gesell­
schaftlichen Entwicklung des Menschen gehabt hat.
Worin besteht aber beim Studium dieses Prozesses die Rolle,
der Ort, die Methode, der Gegenstand der Einzelwissenschaf­
ten? Die Gesellschaft ist für Marx der gesellschaftliche Mensch
(und keine ihm äußerliche Wesenheit oder Macht ; wenn sie als
solche erscheint, handelt es sich um eine Entfremdung, eine
» Verdinglichung«). Aber der Mensch kann sich nicht als reines
Subjekt verstehen. Er ist auch das Produkt des gesellschaft­
lichen Lebens ; er ist für sich selbst und für die anderen Men­
schen nur, sofern er Objekt ist, handelndes physisches Wesen,
Objekt von Begierden, von Bedürfnissen, deren erstes das
soziale Bedürfnis ist. Er ist nur insofern gesellschaftlich, als er
Objekte erzeugt, als er damit Macht über die Natur erlangt,
die ebenfalls objektiv ist. Der Mensch ist ein Objekt-Subjekt.
Aber selbst, wenn man auf dem Vorrang und Primat objekti­
ver Bestimmungen besteht, kann man Objektives und Subjek­
tives nicht voneinander trennen und bestimmten Wissenschaf­
ten das Menschen-Objekt zuordnen, anderen das Menschen­
Subjekt.
Das Kapital hat für ein Werk der politischen Ökonomie gegol­
ten und gilt häufig immer noch als solches. Es dient sogar seit
Jahrzehnten als Feldzeichen für Schulen von Ökonomen, die
sich für Marxisten halten oder vielmehr für wahrhafte Vertre­
ter des Marxismus (was ihnen Polemiken mit nicht-marxisti­
schen Ökonomen einträgt, die freilich den Marxismus als Sy­
stem der politischen Ökonomie angreifen). Das ist aber eine
Interpretation des Marxismus, eine von rechts, die ihn verun­
staltet. Man vergißt den Untertitel des Kapitals: Kritik der
politischen Ökonomie. Marx kritisiert nicht nur die klassische
oder die vulgäre politische Ökonomie, er kritisiert die politische
Ökonomie im allgemeinen, als solche. Und doch baut er gleich­
zeitig eine neue und wissenschaftliche politische Ökonomie
auf.
Was ist das Kapital? Ebenso eine Geschichte des Kapitalismus
wie ein Traktat der politischen Ökonomie. Marx selbst hat ge­
sagt, daß die klassischen Ökonomen die Anatomie der kapita­
listischen Gesellschaft geliefert hatten und er bemüht war, ihre
Physiologie zu liefern. Dieselbe Analogie fortsetzend, begrüßt
es Lenin, daß Marx in seinem großen Werk das durch die Ana­
lyse und ökonomische Theorie gewonnene Gerippe mit Fleisch
und Blut umgeben hat ; daß er an die konkreten gesellschafl­
lichen Manifestationen herangekommen ist, an die Tatsachen
des täglichen Lebens, an die lebendige Wirklichkeit der bürger­
lichen Gesellschaft mit ihren Kämpfen, Antagonismen, Ideen
und Institutionen, mit den bürgerlichen Familienverhältnissen.
Lenin erkannte damit im Kapital einen Traktat wissenschaft­
licher Soziologie.• Das große Werk von Marx hat also einen
>>totalen« Charakter und Sinn, und zwar obwohl oder weil es
eine Gesellschaft studiert, die kapitalistische.
Gleichwohl sah - wie gesagt - ein Flügel der marxistischen
Bewegung, der rechte Flügel, im' Kapital lediglich einen poli-
2. Ibid., S. ' 3 ' ·

1 59
tisch-ökonomischen Traktat und in Marx den Begründer einer
Richtung von Ökonomen. Das war die Einstellung insbesonde­
re der deutschen marxistischen Sozialisten, die von Hilferding
und Kautsky. Als der rechte und opportunistische Flügel der
Arbeiterbewegung, vor allem in Frankreich, sich bereit fand,
im Werk von Marx und im Marxismus eine Soziologie zu se­
hen, geschah dies einzig, um in ihm nur noch eine Soziologie
zu sehen ; um diese dem Marxismus als Methodologie, als Welt­
ansicht, als ökonomische Wissenschaft entgegenzusetzen ; um zu
verkünden, daß über den Marxismus als Philosophie, als poli­
tische Ökonomie oder Geschichte und selbst als Soziologie hin­
ausgegangen werden könnte, ja schon hinausgegangen worden
se1.
Auf dem linken, dem revolutionären Flügel waren die Dinge
nicht einfacher. Die Interpretation des Marxismus von Lukacs,
zumindest in seinen ersten Schriften, schloß die Soziologie aus
und reduzierte den Marxismus auf einen Historismus (wobei
die Geschichte selbst als » katastrophisch<<, eschatologisch auf­
gefaßt wurde) . Nehmen wir das berühmte Werk von Lukacs
über Geschichte und Klassenbewußtsein. Es zeigt, wie die bür­
gerliche Gesellschaft die menschlichen Beziehungen, die Men­
schen, Tätigkeiten und Ideen verdinglicht. Es zeigt auch,
wie die Geschichte in einer unaufhörlichen Bewegung diese
Verdinglichung auflöst, sie negiert oder >> vernichtet<< . Diese zu­
gleich theoretische und praktische Auflösungsbewegung ist für
Lukacs identisch mit dem Klassenbewußtsein des Proleta­
riats - betrachtet als absolutes geschichtliches Subjekt, als
Träger des Bewußtseins, der Zukunftsvision und revolutionä­
ren Aktion. Es gibt damit eine reine Geschichtlichkeit des Pro­
letariats, seiner Realität, seines Klassenbewußtseins. Dem
Objektivismus, dem Ökonomismus des rechten Flügels ent­
sprach so der Subjektivismus der Klasse auf dem linken Flügel
mit dem »reinen« Historismus und der Katastrophentheorie
der Geschichte.
Die Frage ist nicht einfach. Befragen wir die heutigen marxi­
stischen Ökonomen, so behaupten sie mit guten Gründen, daß
ihre Wissenschaft nicht die Produktion zum Gegenstand hat. In
der Tat, schon Marx hatte unterstrichen, daß andere Wissen­
schaften für die Produktion zuständig sind : die Naturwissen­
schaften, die Technologie, die Anthropogeographie etc. Die po-
I 6o
litische Ökonomie hat zum Gegenstand nicht die Produktion
oder die Produktivkräfte als solche, sondern die Produktions­
verhältnisse (die durch die Analyse von den Produktivkräften
unterschieden werden) . Nun haben sich diese Produktionsver­
hältnisse historisch herausgebildet ; sie haben sich historisch ver­
ändert. Sie sind gesellschaftliche Verhältnisse. Die politische
Ökonomie befaßt sich keineswegs mit der »Produktion«, son­
dern mit den gesellschafllichen Beziehungen der Menschen in
der Produktion, mit der gesellschafllichen Struktur der Pro­
duktion (Lenin) .3 Dann aber sind die von der marxistischen
politischen Ökonomie untersuchten Tatsach�n und Gesetze hi­
storisch. Im unlängst von der Akademie der Wissenschaften der
UdSSR veröffentlichten Lehrbuch4 heißt es denn auch mit
Recht : Die politische Ökonomie ist eine historische Wissen­
schaft. Worin aber besteht genau ihr Verhältnis zur Geschichte?
Das Lehrbuch schweigt sich fast ganz über diese Frage aus.
Man fragt sich, ob man hier nicht vor einem circulus vitiosus
steht : die Geschichte ist auf der politischen Ökonomie zu be­
gründen, auf dem Studium der Produktionsverhältnisse - und
die Produktionsverhältnisse sind historisch, damit auch die Be­
griffe und Kategorien der politischen Ökonomie. Ebenso muß
die Soziologie historisch werden oder bleiben ; und das Studium
der Geschichte muß sich auf das der Gesellschaft gründen.
In Wirklichkeit wissen wir, daß es hier keinen circulus vitiosus
gibt, sondern Wechselwirkung, wechselseitige Abhängigkeit,
aber vielleicht auch ein Problem. Der Okonom und der Histo­
riker untersuchen die Seiten der ökonomischen Gesellschaftsfor­
mation, ein Grundbegriff des Marxismus, wie Lenin hervorge­
hoben hat. Ein Begriff, der die Entwicklung der Gesellschaft
und des Menschen bezeichnet, ihre Komplexität und die Tat­
sache, daß - für sich genommen - weder das ökonomische,
noch das Historische, noch das Gesellschaftliche diese Entwick­
lung erschöpft. Es bleibt dabei, daß hier eine Schwierigkeit und
ein Problem vorliegt, wenn es sich nicht um eine Absurdität
handelt. Daher die vielfachen Verwechslungen, Vermengun­
gen, Divergenzen und Trennungen, die ebenso irreführend sind
wie die Vermengungen. Daher unter den Gelehrten, die sich
3 Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland; in : Werke, Band J, Berlin
1956, s. 5 1 ·
4 Deutsche Ausgabe : Politische Ökonomie, Berlin 1 9 5 5 , S . u .

x6x
auf den Marxismus berufen, die reinen >>Ökonomen«, Ökono­
men mit historischer Tendenz und Historiker mit ökonomi­
scher. Daher auch die merkwürdigen Mischungen aus Marxis­
mus und Anti-Marxismus sowie aus ökonomismus, Historis­
mus und Soziologismus, wobei einer der merkwürdigsten Fälle
in dem uns interessierenden Bereich der von Schumpeter war,
den zu analysieren ich hier nicht die Zeit habe.
Kehren wir zu Lenins Denkweise zurück. Für ihn, das sagt
er ausdrücklich, ist der Marxismus eine wissenschaftliche Sozio­
logie. Er ist die wissenschaftliche Soziologie. Wird aber der
Marxismus oder historische Materialismus insgesamt mit der
wissenschaftlichen Soziologie gleichgesetzt, so hört diese auf,
eine besondere oder Einzelwissenschaft zu sein. Es gibt für eine
Einzelwissenschaft keinen Platz mehr neben der Geschichte, der
politischen Ökonomie usf. Entweder jene Wissenschaften ver­
schwinden in der allgemeinen Soziologie oder aber diese selbst
verschwindet im historischen Materialismus, der als umfas­
sende und einheitliche Wissenschaft betrachtet wird. Das scheint
die Position des philosophischen Wörterbuchs von Judin und
Rosental zu sein. Im Artikel »Soziologie« lesen wir : Der Mar­
xismus ist der Ansicht, daß es für alle Gesellschaftsformationen
allgemeine ökonomische Gesetze gibt, die soziologischen Geset­
ze. Sie gelten für alle Phasen der gesellschaftlichen Entwick­
lung, da sie alle Formationen zu einem einheitlichen Prozeß
verbinden [ . . ] . s
.

E s müssen aber auch die geschichtlichen Perioden studiert wer­


den, die historischen Gesetze, die den inneren Gegensatz, das
Dasein, die Entwicklung, den Verfall und Untergang dieser
Perioden regieren.
Im Denken Lenins würden demnach Soziologie, historischer
Materialismus und politische Ökonomie zusammenfallen und
sich die Geschichte unterordnen als Studium der Perioden, der
besonderen Formationen, zum Beispiel des Kapitalismus, der
feudalen Produktionsweise etc. Das ist nicht klar und nicht zu­
friedenstellend. Umso weniger, als wir Lenin unaufhörlich als
Soziologen denken und handeln sehen, aber in einem völlig
anderen Sinne : in dem eines Studiums der Gegenwart in ihrer
Komplexität und Neuheit. In den Jahren von r 8 9 o bis 1 9 00
5 Petit dictionnaire philosophique, Moskau 1 9 5 5 , S. 572 (eigene Überset­
zung) .
vermehrt er die Enqu�ten, die konkreten Untersuchungen
über die neuen Phänomene. Insbesondere in seinen Arbeiten
über die Bauernfragen, die historisch und politisch ungeheuer
wichtig sind. Aber auch, was die das Proletariat betreffenden
Fragen angeht, die Löhne, die Arbeitsorganisation in den Fa­
briken usw. - Lenin erhellt die Tatsachen mit den von Marx
stammenden Begriffen, aber er stellt die Tatsachen empirisch
zusammen.
Daraus haben sich viele Ungewißheiten und Schwierigkeiten
ergeben. Ich kann in diesem Punkt Zeugnis ablegen und, wenn
man es so nennen will, Selbstkritik üben. Was war die Soziolo­
gie? Alles oder nichts ? Oder doch etwas ? Aber was? Ich habe
sehr gezögert und geschwankt, und ich war nicht der einzige,
der zögerte und schwankte. Vor einigen Jahren haben wir (das
heißt die Marxisten) die folgende Lösung angenommen. Für
uns hatte das Wort >> Soziologie« einen doppelten Sinn : einen
weiten und einen engen. Im weiteren Sinne umfaßte die Sozio­
logie das Studium der gesellschaftlichen Gesamtentwiddung.
Sie vermengte sich so mit dem historischen Materialismus und
war unzureichend von der politischen Ökonomie unterschieden.
Sie neigte sogar dazu, sich auf politische Ökonomie zu reduzie­
ren, das heißt die sozialen Tatsachen mehr oder weniger deut­
lich durch Reduktion aufs ökonomische zu erklären. Anderer­
seits, im engeren Sinne, studierte die Soziologie die Oberbauten
oder vielmehr einen Teil der überbauten (wobei auch der Hi­
storiker und der Jurist seinen Teil beanspruchte) .
Diese Position hatte mehrere Unannehmlichkeiten. Nament­
lich eine, die zunächst paradox scheint. Sie stellte die marxi­
stischen Soziologen den Soziologen der ameriKanischen Schule
gegenüber, aber auf derselben Ebene. Denn diese amerikani­
schen Soziologen studieren bewußt, im Namen ihres Empiris­
mus, überbauten, die sozusagen auf der Oberfläche der
Gesellschaft erscheinen, und studieren nur sie. Die marxistischen
Soziologen studierten überbauten mit dem Hintergedanken,
sie auf ihrer Basis zu reduzieren. Die amerikanischen Soziolo­
gen studierten sie, indem sie sie von jeder Basis ablösten, sie
also hypostasierten, indem sie Pseudo-Begriffe aus ihnen
schöpften, oberflächliche Forschungsinstrumente (wie die Pseu­
do-Begriffe von »patterns <<, vom sozialen Kontinuum, von
Schichten etc.) . Eine solche Lage mußte Polemiken auslösen,
1 63
weil sie keinen anderen Sinn als einen polemischen hatte. Ich
werde nur kurz auf diese heftigen Polemiken zurückkommen.
Wir waren nicht die Angreifer. Der Anti-Marxismus ist eine
konstante Größe der amerikanischen Soziologie.
Es ist unbestreitbar, daß die Psychologie, Soziologie und
Psychosoziologie amerikanischen Ursprungs ausgenutzt wor­
den sind und noch werden. Und zwar politisch in einem Sinne,
den man kritisieren muß, im Namen der Wissenschaft selbst.
Ich erinnere kurz an die »public relations« und an die Auswei­
tung des >>case-work«, wobei gute Absichten, guter Wille und
gewisse empirische Erkenntnisse in den Dienst von Interessen
gestellt werden, über die sich zumindest streiten läßt. Die gu­
ten Absichten machen die Anwendung dieser ideologischen In­
strumente noch gefährlicher, die darauf abzielen, >> Spannun­
gen« zu beseitigen und »Feindseligkeiten<< zum Verschwinden
zu bringen. Ich erinnere ferner an bestimmte Untersuchungen,
die, mitunter in großem Maßstab, in den Kolonien, bei halb­
kolonialen Völkern usw. durchgeführt werden und von Unter­
suchungen abgehoben were m müssen, die andere Gelehrte in
unabhängiger und wahrhaft wissenschaftlicher Weise durchge­
führt haben.
Nein, diese Polemiken, diese großen Kämpfe auf wissenschaft­
lichem Gebiet sind nicht zu bedauern. Sie haben dazu beige­
tragen, viele Fragen von erstrangiger Wichtigkeit zu klären,
wie die des beschreibenden Empirismus oder die der Techno­
kratie. Sie bedauern, sie vergessen machen hieße den wissen­
schaftlichen Geist aufgeben, die schöpferische Inspiration in der
Wissenschaft, den Atem und die revolutionäre Seele des Mar­
xismus. Dies gesagt, kann mich nichts mehr erleichtern als zu­
zugeben, daß es Übertreibungen, Extrapolationen, globale und
dogmatische Verdammungen gegeben hat. Es kam mitunter zur
Verwechslung der Ebenen, zum Übergang vom Politischen "zum
Lehrmäßigen und umgekehrt. Eine Richtigstellung wird not­
wendig werden. Umso notwendiger, als es für uns selbst als
Marxisten unerläßlich ist, mehrere unserer Begriffe zu überprü­
fen, zu erproben und zu revidieren.
Die Schwierigkeiten erwachsen daraus, daß sich eine gewisse
A rbeitsteilung beim Studium der gesellschaftlichen Wirklichkeit
hergestellt hat. Diese Teilung hat sich zunächst auf praktische
und unfreiwillige Weise hergestellt, damit auf die Tatsachen
gegründet, ist aber allmählich von Ideologie, von falschen oder
richtigen technischen Verfahren durchdrungen worden. Schließ­
lich hat sie sich im Rahmen der Universität, der wissenschaft­
lichen Forschung und des Staates >>institutionalisiert<< . Sie hat
zu abgespaltenen, engen Spezialisierungen geführt. Die Be­
dingungen dieser Arbeitsteilung mußten in der bürgerlichen
Gesellschaft einfach ausarten infolge gewisser Befürchtungen,
infolge einer gewissen theoretischen und praktischen Ohnmacht
angesichts der von der Entwicklung der Gesellschaft und des
Menschen aufgeworfenen Probleme. Die technische Teilung der
Arbeit in den Wissenschaften war und ist mitunter, wo nicht
oft, eine ideologische und abstrakte Teilung. Also willkürlich.
Das Willkürliche wird dann bei einem großen Teil der ameri­
kanischen Soziologie in ein rein technisches Verfahren verklei­
det. Es ist nicht erstaunlich, daß derartige Rahmen heute an
allen Seiten aufbrechen. Einander widerstreitende Symptome
dieses Aufbrechens haben wir sogar hier enthüllt.
Es gibt
a) den Imperialismus der Wissenschaften und der Gelehrten,
die einer Wissenschaft entlehnte Einheitskonzeption, der Ab­
solutismus im Namen der Einheit der menschlichen Realität,
die Versuche, in die anderen Bereiche gewaltsam einzudringen
und sie zu reduzieren.
b) den reinen Relativismus, die Zerstückelung, die Theorie der
»Gesichtspunkte<< oder »Faktoren<<, die Aufteilung des totalen
Menschen durch Spezialisten, die partiellen Determinismen.
Also letztlich der Eklektizismus, die Zerbröckelung, die stets
durchbrochenen und stets wiedererrichteten »hermetischen
Scheidewände<<.
Was die Erklärung angeht, so finden wir die gleichen Tenden­
zen :
a) Die Erklärung durch Reduktion einer Ebene auf eine an­
dere, einer Wissenschaft auf eine andere (der Soziologie auf
die politische Ökonomie oder umgekehrt - der Psychologie auf
die Physiologie oder umgekehrt) .
b) Die Erklärung im Rahmen der Zerstückelung, der »Ge­
sichtspunkte« und des reinen Relativismus. Danach soll es für
jede Wissenschaft ein Bezugssystem und eine interne Erklä­
rungsweise geben. Damit eine der soziologischen, ökonomi­
schen usw. Erklärung entgegengesetzte historische.
Es ist klar, daß beide Einstellungen, beide Systeme unhaltbar
sind. Es kann beim Studium des totalen Menschen weder ab­
gespaltene Sektoren geben - noch die Reduktion eines Sektors
auf einen anderen. Halten wir fest, daß beide Einstellungen
sich wechselseitig stützen und hervorbringen. Man geht not­
wendig von der Reduktion zur Isolierung über (oder umge­
kehrt) und vom Absolutismus zum reinen Relativismus der
»Gesichtspunkte <<. Es ist ebenso klar, daß dieser Typ von Er­
klärung einem Typ angehört, den ich logisch-metaphysisch
nennen möchte. Man verabsolutiert auf die eine oder andere
Art ein Element, eine Seite, eine Ebene ; und man beschäftigt
sich damit, die anderen sei's zu reduzieren, sei's zu isolieren.
Das ist aber ein metaphysisches Vorgehen. Von der so ge­
schaffenen Wesenheit will man erklärende Schemata ableiten,
und das ist eine logische, keine dialektische Operation.
Sollen wir deshalb auf Erklärung verzichten? Sollen wir, wie
heute üblich, das Verstehen der Erklärung entgegensetzen, die
Deskription der Erforschung des Wesentlichen? Sollen wir die
Erklärung den Naturwissenschaften überlassen? Nein. Denn
Erkennen heißt zugleich Verstehen und Erklären. Das eine ge­
schieht im anderen und durchs andere. Ein Verzicht auf Er­
klärung ist ein Verzicht auf Verständnis. Und das heißt so­
gleich, daß man sich entgleiten läßt, was man verstehen will,
daß man sich auf immer entlegenere und oberflächlichere »An­
näherungen << beschränkt. Besser, sich bei der Erklärung zu
irren und umherzutasten als zu verzichten, als mit dem Unwe­
sentlichen das Wesen, mit dem Phänomen das Gesetz zu ver­
werfen, um sich mit den Erscheinungen und der pedantischen
Beschreibung dieser Erscheinungen zu begnügen.
Desgleichen ist ein Verwerfen der Kausalität unter dem Vor­
wand, sie sei unzureichend, eine Verstümmelung der Forschung
und Erkenntnis. Anstatt den mechanischen und vereinfachten
Begriff der Kausalität zu bereichern, verzichtet man auf ihn,
will man auf ihn verzichten. Nach einer berühmten Engels­
sehen Formel schüttet man das Kind mit dem Bade aus. Was
diesen Punkt angeht, so weise ich als Philosoph darauf hin,
daß die großen philosophischen Konzeptionen sehr tiefe Ana­
lysen der Kausalität enthielten. So wird formale oder struktu­
relle Kausalität bei Aristoteles hinsichtlich ihrer Unzulänglich­
keit behandelt.
1 66
Es sieht so aus, als befänden wir uns in einer ausweglosen
Lage. Es muß erklärt werden - und wir können es nicht. Die
Erklärung ist zugleich notwendig und unmöglich. Aber gerade
in diesem Augenblick bemerken wir den Ausweg, haben wir
die Tür und den Weg ins Freie vor uns. Um ihn zu vertiefen
und zu bereichern, gilt es, den Begriff der Erklärung neu zu
durchdenken. Man muß ihn vom logisch-metaphysischen Po­
stulat ablösen, um ihn zu dialektisieren.
Bis zu diesem Punkt glaube ich mit Herrn Gurvitch einer Mei­
nung zu sein. Aber jetzt frage ich mich, ob nicht Divergenzen
aufkommen werden. Oder vielmehr wieder aufkommen wer­
den . . . In der Tat scheint es mir hier unmöglich - um den
offenen Weg einzuschlagen, um zu einem Ausweg zu gelan­
gen -, sich nicht auf eine Erkenntnistheorie, eine Philosophie
zu berufen. Denn wir müssen Begriffe, Kategorien einführen,
die fraglos eine Beziehung zur Wirklichkeit haben, die also in
dieser unmittelbaren Beziehung verstanden werden können -
die jedoch durch die Philosophen und die Philosophie ausgear­
beitet, durchgeformt und systematisiert worden sind. Ich
möchte zunächst über die Begriffe Erscheinung und Wesen
sprechen und über ihre dialektischen Beziehungen (das heißt
über ihre Einheit in ihren Widersprüchen) .
Jede Erscheinung oder jedes Ensemble von Erscheinungen
schließt etwas Wesentliches ein ; das heißt zugleich, sie oder es
enthält dieses Wesentliche und verbirgt es, offenbart und mani­
festiert es. Das Wesentliche, das ist das Gesetz, die Ursache
oder die Gesamtheit der Ursachen im dialektischen Sinn, die
Grundlage, die Basis oder auch der Inhalt. Das Wesentliche
als solches und es allein muß die Erscheinung erklären. Es
könnte beispielsweise sein, daß das ökonomische oder Histori­
sche gegenüber dem Gesellschaftlichen oder Soziologischen als
solchem das Wesentliche ist. Aber Vorsicht. Eine wichtige For­
mel Hegels und Lenins, die man bislang allzuoft vernachlässigt
hat, lautet: die Erscheinungen lassen sich nicht aufs Wesen zu­
rückführen. Und wenn die Erscheinungen das objekte Wesen
>>widerspiegeln«, so fügen sie einem An-sich etwas hinzu. Das
Wesen ist verlassen, sagt Hegel in merkwürdig tiefer Weise.
Das Gesetz ist nur die ruhige Seite der Wechselwirkung der
Erscheinungen, das ruhige Abbild des Wesens in der Erschei­
nung. Die Erscheinung ist reicher als das Wesen, daher kom-
plexer (einfach weil sie es zugleich enthält, verbirgt und offen­
bart), daher in höherem Maße wirklich. In gewissem Sinn ist
sie sogar das einzig Wirkliche. Es gilt also nicht nur, von ein­
mal ermittelten Wesen zu den Erscheinungen zurückzukehren,
um sie als solche zu erfassen, in ihrem Reichtum, indem man
untersucht, wie und warum sich das Wesen in ihnen, vermittels
ihrer, manifestiert hat. Sondern einzig die Erscheinungen sind
lebendig, bewohnt und nicht verlassen. Derart, daß das Be­
dingte reicher und wirklicher ist als seine Bedingung, als seine
objektive >>Basis<< oder Grundlage.
Ohne eine solche Bestimmung des Verhältnisses von Wesent­
lichem und Erscheinendem gibt es keine Entwicklung, keine
Dialektik, sondern eine logische Reduktion des einen aufs an­
dere. Ich möchte hinzufügen, daß die unendliche Komplexität
jeder Erscheinung sich namentlich darin manifestiert, daß es in
ihr mehrere Wesen gibt : und sogar verschieden tiefe Wesen
(>>Sphären<<), die einander durchdringen, aufeinander einwir­
ken und sich im Konflikt befinden. Das heißt Wesentliches, das
in sich widerspruchsvoll ist, und mehr oder weniger Wesent­
liches oder, wenn man will, unbeständig Wesentliches, je nach
dem Augenblick und den herrschenden Widersprüchen. Ferner
ist, was gegenüber einer Erscheinung oder einem Ensemble von
Erscheinungen wesentlich ist, ebensosehr Erscheinung gegen­
über einem anderen Wesen, das verborgener, tiefer und in
einem gewissen Sinn auch ärmer ist.
Was diese >> Sphären<< und Wesenheiten, die in einer unaufhör­
lichen Wechselwirkung ineinander verschränkt sind und eine
bewegte Totalität bilden, an Tiefendimensionen implizieren,
das ist für mich der dialektische Materialismus. Und das ist
der Ausdruck des totalen Menschen; denn der Mensch trägt
in sich Physikalisches und Chemisches, Physiologisches und
ökonomisches, Gesellschaftliches und Psychologisches usw. Und
wir können weder eine dieser Bestimmungen zerstören noch sie
auf Kosten der anderen erweitern. Wir müssen sie daher in
ihrer Implikation als Elemente oder Momente einer Totalität
denken. Und es gibt beispielsweise keinen physiologischen
Sektor und einen gesellschaftlichen oder ein physiologisches
Stockwerk und ein gesellschaftliches. Diese Bilder oder Pseudo­
Begriffe sind überholt. Jeder menschliche Akt ist zugleich physi­
kalisch, physiologisch, ökonomisch, gesellschaftlich etc., so daß
r 68
wir uns die Totalität vorstellen müssen, ohne etwas miteinan­
der zu verwechseln und ohne es zu trennen. Im Grunde sind
wir uns alle einig über diese Punkte. Es kommt aber darauf
an, sie in klaren Begriffen darzustellen und aus ihnen eine
kohärente Methodologie abzuleiten.
Ich glaube dem Denken von Marx und Lenin treu zu sein,
wenn ich den Nachdruck zugleich auf die unendliche Tiefe des
Wirklichen lege - auf das, was die Wesenheiten in der Totali­
tät an Mehrstufigkeit implizieren - und auf den unendlichen
Reichtum der menschlichen Erscheinungen, sofern sie alle in­
einander verschränkte Wesensstrukturen, die von der Analyse
unterschieden werden, enthalten und manifestieren. Eine solche
Konzeption muß sich in einer Erkenntnistheorie entfalten, die
mit einer Weltansicht verbunden ist. Ebenso und gleichzeitig
mit einer dialektischen Logik, die darlegt, wie die Kategorien
und Begriffe, welche die >>Wesensheiten« ausdrücken, methodo­
logisch zu bestimmen und zu handhaben sind. Was die Erklä­
rung angeht, so möchte ich nur sagen, daß sie zwar der Er­
kenntnis notwendig innewohnt, aber notwendig unendlich ist ;
denn sie ist bestimmt als Erkenntnis der Totalität. Ihr nähert
man sich >>asymptotisch<<, indem man von den Erscheinungen
zu den Wesenheiten übergeht (und umgekehrt) und von einem
Wesen zu einem anderen, verborgeneren. Und umgekehrt.
Wichtig ist, daß man auf sie abzielt.
Ich muß mich dafür entschuldigen, als Philosoph zu sprechen,
das heißt abstrakt. Wenigstens dem Anschein nach. Ich glaube
jedoch, daß diese Abstraktionen sehr konkret sind.
Fassen wir nunmehr die menschliche Wirklichkeit anders als
anhand von Beispielen oder Illustrationen ins Auge. Jeder der
Termini : psychologisch, soziologisch, historisch, ökonomisch,
physiologisch usf. bezeichnet eine >>Wesentlichkeit<<, eine Wirk­
lichkeitsstufe, eine Sondersphäre, wie sie durch eine jahrhun­
dertelange Analyse ermittelt wurde. Wir lassen den Begriff
der Basis oder objektiven Grundlage nicht fallen. Es gibt eine
physiologische Grundlage aller menschlichen Tätigkeit ; aber
die menschliche Tätig�eit reduziert sich nicht auf diese Basis.
Selbst sie ist in einem gewissen Sinne reicher, viel reicher und
komplexer. Ebenso gibt es eine ökonomische Basis der gesell­
schaftlichen Tatsachen (das heißt, wir stoßen unterhalb der ge­
sellschaftlichen Beziehungen auf die Beziehungen zur Natur) -
1 69
oder eine soziologische Basis der psychologischen Erscheinun­
gen, ohne daß diese sich auf jene zurückführen ließen, so sehr
sie Manifestation und Erscheinung jener Basis sind. So können
die einen Sonderbereich ausdrückenden Begriffe nicht ohne Be­
zug auf die objektive Grundlage, auf die Basis, auskommen ;
ohne ihn sinken sie auf die Stufe von Pseudo-Begriffen herab
(wie die der amerikanischen Soziologie) . Und doch haben sie
einen spezifischen, also irreduktiblen Charakter. Mit anderen
Worten, es gibt keine >>reine« Geschichte, keine >>reine<< Öko­
nomie oder Soziologie. Aber wenn uns der Weg der Erklärung
von einer Erscheinung oder einem »Wesen<< auf ein anderes
Wesen verweist, so gibt es hier einen Obergang von einer
Sphäre zur anderen und keineswegs eine Vermengung. Keine
Spezialität oder vielmehr Spezifität ist isolierbar oder allein
gültig - weder anderen äußerlich noch mit ihnen vermischt.
Folglich : keine Reduktionen, keine Zerstückelungen, keine
Antinomien und keine Verwechslungen.
Demnach sind die >> Sphären<<, Wesenheiten oder Wirklichkeits­
stufen zu einem bestimmten Zeitpunkt in verschiedenem Grade
gegenwärtig, wirklich, aktiv in ihrer ununterbrochenen Wech­
selwirkung und in der Bewegung der Totalität. Ihr jeweiliger
Ort wechselt. Ebenso übrigens wie der Rhythmus oder das
»Tempo<< der Bewegung, die sich bald in dieser oder jener
Sphäre verlangsamt oder beschleunigt, bald >>Krisen<< durch­
macht, in deren Verlaufe die Verhältnisse umgewälzt werden.
Und zwar dergestalt, daß die eine Stufe oder Sphäre in die
andere eindringt. Zum Beispiel dringt das ökonomische bei
strukturellen Krisen und Konflikten ins Innere des Gesellschaft­
lichen ein - oder das Physiologische (das ist der Fall bei einem
demographischen Wachstum oder einer schweren Epidemie
usw.).
Aus diesen Erwägungen können wir einige Konsequenzen
ziehen. Es gibt spezifische Erscheinungen, damit Verkettungen,
Tendenzen und Gesetze im Inneren einer »Sphäre.:. Aber wir
können damit rechnen, auf Beziehungen zwischen dieser und
jener Sphäre zu stoßen, auf Übergänge und Verkettungen, auf
Tendenzen ihrer Wechselwirkung und auf Gesetze. Wir kön­
nen erwarten, auf spezifisch soziologische Erklärungen zu sto­
ßen, aber auch auf die Erklärung eines solchen soziologischen
Ensembles von Tatsachen in einer anderen Sphäre, in der öko-
nomischen, historischen usw. Leider muß ich die Analyse von
so wichtigen Kategorien wie denen des Gesetzes und des De­
terminismus beiseite lassen. Für den dialektischen Materialis­
mus und schon für Marx konnte es sich nur um das Gesetz des
Werdens handeln, um das tendenzielle Gesetz (Beispiel : das Ge­
setz des Entstehens der durchschnittlichen Profitrate im Kapi­
talismus der freien Konkurrenz). Ein solches Gesetz unterstellt,
daß der Wechselwirkung und dem Werden eine relative Regel­
mäßigkeit und Wiederholbarkeit innewohnen. Das wäre einer
Analyse wert. Ich glaube, daß dieser Begriff von Tendenz und
tendenziellem Gesetz geschmeidig genug ist, die Begriffe des
partiellen Determinismus, der Regelmäßigkeit in der Wechsel­
wirkung usw. zu umfassen. Sind die Revolutionen nicht totale
gesellschaftliche Phänomene, welche die Strukturen ändern?
Jede Revolution hat einen originären, einzigartigen Charak­
ter ; sie geht aus einer geschichtlichen Verbindung von Umstän­
den hervor, aus einer konkreten Lage, also aus einer »singulä­
ren« Kausalität. Und doch, behauptete Lenin, haben selbst die
Revolutionen Gesetze ! (cf. Der » linke Radikalismus« , die Kin­
derkrankheit im Kommunismus; in : Ausgewählte Werke in
zwei Bänden, Band II, Berlin 1 9 5 5, S. 7 2 9 ) .
Gehen wir näher auf die Fragen ein. An der ökonomischen
Gesellschaftsformation, einem unendlich komplexen Prozeß,
studiert die politische Ökonomie eine Seite. Nicht die Produk­
tion im allgemeinen (das heißt die Beziehungen der Menschen
zur Natur), nicht die Produktivkräfte als solche, sondern die
gesellschaftlichen Beziehungen in der Produktion (einschließ­
lich der Massen, der Klassen als Produktionselemente, als As­
pekt der Teilung und Organisation der Arbeit, das heißt die
materiellen Basen der Klassenkämpfe - einschließlich der
Eigentumsverhältnisse als Ausdruck der Produktionsverhält­
nisse). Sie bestimmt damit ökonomische Kategorien (gesell­
schaftliche Arbeit, Teilung der Arbeit, Tauschwert und Ware
usw.). Sie deckt so die Grundlagen, die allgemeinsten Gesetze
der gesellschaftlichen Entwicklung auf, in denen sich die zu­
nehmende Macht des Menschen über die Natur ausdrückt.
Kurz, die Analyse unterscheidet bei der Produktionsweise, bei
der ökonomischen Gesellschaftsformation in einer bestimmten
Etappe der Entwicklung zwei Seiten : Produktivkräfte und ge­
sellschaftliche Verhältnisse. Die politische Ökonomie studiert
wesentlich die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Elemen­
ten oder Seiten : einerseits die Produktivkräfte, andererseits
die gesellschaftlichen Verhält11isse. Sie erschöpft weder die einen
noch die anderen. Sie verkapselt sich nicht in sich selbst. Sie
ist weder total noch »rein<<. Die Geschichte studiert die gesell­
schafllichen Kräfte und ihre bewegten Beziehungen, die sich in
Ereignisse umsetzen, in individuelle Zielsetzungen und Aktio­
nen, in Ideen und Institutionen. Sie studiert die Oberbauten,
sofern sie auf die ökonomische Basis zurückwirken (also ins­
besondere politisch) . Es besteht daher keinerlei Grund, wie
Herr Gurvitch gesagt hat, das Ereignishafte vom Institutionel­
len zu trennen.
Die Geschichte studiert so die Massen, die Völker, die Klassen
und ihre Kämpfe - die an diesen bewegenden Klassenkämpfen
der menschlichen Entwicklung teilhabenden Menschen, Ideen
und Institutionen. Sie analysiert das Wechselspiel und die
Widersprüche von Zufällen und bewußten Akten, die zu Er­
gebnissen führen, die von den handelnden Menschen nicht vor­
hergesehen wurden. Dadurch bleibt Raum für das Studium der
Oberbauten als solcher : Studium des Rechts und der Rechtsge­
schichte, Geschichte der Ideen, der Erkenntnis etc.
Die Soziologie schließlich studiert die gesellschaftlichen Ver­
hältnisse, soweit sie über die Sphäre der ökonomischen Katego­
rien hinausgehen. Sie studiert die gesellschaftlichen Phänome­
ne, soweit sie komplexer sind als ihre Bedingungen, ihre
Basis. Soweit also weder die Okonomie noch die Geschichte,
noch auch die Psychologie sie erschöpfen. Aber innerhalb der
bestimmten ökonomischen und geschichtlichen Bedingungen
manifestieren die aus ihnen hervorgehenden Gruppen ein ei­
gentümliches Leben, konkrete menschliche Beziehungen. Es
handelt sich also nicht mehr um ein einfaches Studium von
Oberbauten, sondern ebenso von wirklichen Beziehungen. Die
Soziologie ist bestimmt durch die Okonomie zuzüglich eines
Neuen und Spezifischen, durch die Geschichte zuzüglich eines
Neuen : der menschlichen Beziehungen als solchen. (Zu dieser
wesentlichen Kategorie der Soziologie würde ich gern philo­
sophischere Begriffe hinzufügen, wie den der Entfremdung.
Das aber würde uns viel zu weit führen.)
Diese zunächst negative Bestimmung verwandelt sich in posi­
tive Bestimmungen. Halten wir effektiv fest, daß der Mensch
1 72
ein nicht-technisches, nicht-ökonomisches, nicht unter die öko­
nomischen Kategorien fallendes Verhältnis hat zur Natur, zur
eigenen Natur, zu sich selbst. Aus diesem ursprünglich biologi­
schen oder physiologischen Verhältnis, das freilich in mensch­
liche Beziehungen transformiert ist, ergibt sich eine Reihe von
Erscheinungen, für welche die Soziologie spezifisch zuständig
ist : die Familie, die blutsverwandtschaftliehen Bande sowie die
unmittelbare Bindung der Menschen an den Boden und das
Gebiet, damit das Dorf, die Stadt oder Nationalität und die
Nation usw. In diesem Verhältnis des (gesellschaftlichen) Men­
schen entstehen, gestalten und formulieren sich Bedürfnisse.
Wir gehen so zu einem weiteren Bereich über, in dem wir auch
versuchen können, soziale Typen zu ermitteln, Typen von In­
dividuen, von Kultur- und Zivilisationsstufen und dergleichen.
Die Ideen und Ideologien erwachsen aus der gesellschaftlichen
Praxis und kehren in sie zurück. Soweit ihre - häufig seltsamen
und mystifizierenden - Folgen nicht spezifisch geschichtlich sind,
bieten sie uns komplexe Erscheinungen spezifisch soziologischer
Art : die konkreten und alltäglichen Formen des Klassen­
kampfes, das gesellschaftliche Bewußtsein, die Magie und die
Religion, die gesellschaftlichen Sitten und Gewohnheiten etc.
Ich möchte übrigens bemerken, daß die Erscheinungen der Ma­
gie, der Religiosität und Religion - der Entfremdung - ver­
wandelt in den modernen Gesellschaften wiederkehren.
Gehen wir noch einen Schritt weiter, um der Frage noch näher
zu kommen ; ich nehme ein sehr konkretes Beispiel : das Dorf.
Wir haben hier eine Wirklichkeit vor uns, die verhältnismäßig
einfach ist und doch unendlich komplex, unendlich verschieden­
artig und mannigfaltig, eine Wirklichkeit von unerwarteter
Variationsbreite. Die unmittelbare Beschreibung mit ihren
Techniken, die als solche der Annäherung bezeichnet werden,
wird uns Informationen liefern, die die >>Sphären<< durchein­
ander bringen und die von der Analyse nach Reihen geordnet
werden müssen, wobei einige von ihnen zeitweilig eliminiert
und im Augenblick der Erklärung wiederaufgenommen wer­
den. Das Dorf unterliegt einer Geschichte, die mehr oder we­
niger präsent und sichtbar ist, mehr oder weniger dramatisch.
Es trägt ein Datum oder mehrere Daten. Es ist Gegenstand der
politischen Ökonomie, die allein uns gestatten kann, die Auf­
gliederung der Grundrenten und Einkünfte zu analysieren, die
1 73
Struktur des Eigentums, die Schichten und Klassen im Dorf
und ähnliches. Es ist ferner Gegenstand der Geographie, der
Physiologie (Ernährung, Krankheiten usw.).
Der Soziologe trifft eine Auswahl aus diesen verwirrenden In­
formationen ; er eliminiert das Nicht-Soziologische (bei einiger
Erfahrung wird dieser kritische Augenblick unwichtiger und
verschwindet sogar ; aus einem rational gebildeten Instinkt
geht der Soziologe geradenwegs aufs Soziologische zu) . Es ver­
bleiben die Beziehungen zwischen den Gruppen oder Klassen,
die Individuen und Familien, die nicht von den Bedingungen
getrennt werden können, sich aber auch nicht auf sie reduzieren
lassen, weil sie eine Eigenrealität haben.
Diese besonderen Verhältnisse, die zum Dorf als solchem ge­
hören, können relativ stabil sein und eine verhältnismäßig
eigenständige Entwicklung aufweisen : Wachstum, Gleichge­
wicht oder Konflikt, Umgestaltungen, oder Verfall.
In gewissen Fällen wird so der konkrete, gegenwärtige Augen­
blick, bestimmt durch Beschreibung und Analyse, durch einen
früheren soziologischen Zustand erklärt und dadurch, daß man
sie weitertreibt. Das erlaubt es, nach Typen und selbst nach
Gesetzen zu forschen.
In anderen konkreten Fällen jedoch liegt die Erklärung an­
derswo, in einer anderen Sphäre. Insbesondere wenn eine Um­
wälzung (geschichtlichen, ökonomischen, geographischen usw.
Ursprungs) vorliegt. Es gilt dann, die innere Verkettung in
einer wechselseitigen Kausalität, einer weiter gefaßten Wech­
selwirkung wiederherzustellen. Der Umbruch einer Wirklich­
keit, einer soziologischen Struktur wie der des Dorfes oder
eines Dorftyps bringt im allgemeinen eine Kausalität anderer
Ordnung an den Tag. Der Konflikt zwischen den Wirklich­
keitsstufen nimmt dann einen bestimmenden und erklärenden
Charakter an. Man kann seine Gesetze aufsuchen. Es sind auch
die Fälle zu berücksichtigen, bei denen die angegriffene Struk­
tur sich der einer anderen Sphäre entstammenden Umwälzung
widersetzt, sich wenigstens eine gewisse Zeitlang anpaßt oder
wiederanpaßt, indem sie sich derartige >> Funktionen << bewahrt,
indem sie sie herbeiführt. Das ergibt einen anderen >>Typ« . ­
Um diesen Vortrag abzuschließen, von dem ich weiß, daß er
etwas Hypothetisches hat (aber warum sich der Hypothesen
enthalten ?) - und etwas Revisionsbedürftiges (es gibt freilich
keine absolut feste Wahrheit), gestatte ich mir, an das oberste
methodische Prinzip der Dialektik zu erinnern :
DIE WAHRHEIT IST I MMER KONKRET.
über eine Lösung der vielfachen Probleme hinaus, die sich
stellen, fördert der Marxismus heute das Bewußtsein des
Reichtums der Wirklichkeit. Er möge uns dienen, er möge allen
als Schranke gegen den Dogmatismus dienen.

Aus dem Französischen von Alfred Schmidt


Henri Lefebvre
Perspektiven der Agrarsoziologie'�

Ein früherer Artikel der Cahiers lnternationaux de Sociologie'


hat einige Fragen der Agrarsoziologie aufgeworfen. Es scheint
nunmehr an der Zeit, die Perspektiven dieses Zweigs der So­
ziologie insgesamt herauszuarbeiten, indem man den Entwurf
eines Hand- oder Lehrbuchs vorlegt und der Diskussion an­
heimstellt. Man kann von einer bäuerlichen >>Welt« sprechen.
Nicht in dem Sinne, daß die bäuerliche Wirklichkeit eine iso­
lierte »Welt<< bildet, sondern aufgrund ihrer außerordentlichen
Vielfalt und ihrer eigentümlichen Merkmale.
Heben wir nochmals ein (offenkundiges) Paradox hervor : diese
Wirklichkeit war lange unbekannt, und zwar besonders, als
sie das gesellschaftliche Leben quantitativ und qualitativ be­
herrschte. Obwohl die >>Städtische« Wirklichkeit mit ihren In­
stitutionen und Ideologien - die einander ablösenden Produk­
tionsweisen mit ihren überbauten - in ein ländliches Milieu
eingetaucht waren und auf einer breiten landwirtschaftlichen
Basis beruhten, schenkten die Menschen aus den herrschenden
Kreisen und Klassen den Bauern kaum Aufmerksamkeit. Man
dachte nicht mehr an sie als man an seinen Magen und seine
Leber denkt, solange es einem gut geht ! Das bäuerliche Leben
stellte sich dar als eine der bekannten Realitäten, die natürlich
scheinen und erst sehr spät zu Gegenständen der Wissenschaft
werden. über aller Methodologie der Sozialwissenschaften
sollte der Ausspruch Hegels stehen : »Das Bekannte ist darum,
weil es bekannt ist, noch nicht erkannt. « Eine wertvolle Wahr­
heit, was die Gesten des täglichen Lebens angeht - beispiels­
weise die des Kaufens und Verkaufens eines Gegenstands -,
was das soziale Leben insgesamt angeht, damit auch das bäu­
erliche. Die bäuerlichen Realitäten wurden in dem Augenblick
* Perspectives de Ia Sociologie Rurale, in : Cahiers Internationaux de Socio­
logie, Vol. XIV, Paris 1 9 5 3 , S. 1 2 2-140. - Der Verfasser hat neuerdings das
methodologische Konzept dieses Aufsatzes weitergeführt in seinem Buch Le
Iangage et Ia socihe, Paris 1 966, cf. besonders das zweite Kapitel . (A. d. V.)
1 Prob/emes de Sociologie rurale, La Communaute paysanne et ses Pro­
blemes historico-sociologiques, Vol. VI, 1 949.

q6
Gegenstand der Wissenschaft, wo sie praktische Probleme auf­
warfen.
I n Frankreich beginnen um die Mitte des neunzehnten Jahr­
hunderts die Zerstückelung des Erbes und der Grundstücke,
die Teilung der Vermögen und die Landflucht die Behörden
zu beunruhigen. Die Herausbildung des inländischen Marktes
bringt einen Umbruch der Agrarstruktur mit sich : eine Kon­
zentration des Eigentums, eine Kommerzialisierung und Spe­
zialisierung der Produktion. Dann überlagern die durch den
Weltmarkt gestellten Fragen, später die der modernen Arbeits­
verfahren, die erstgenannten : Preisschutz, Rentabilität, Ein­
führung von Maschinen. Allmählich werden die vertrauten und
unbekannten Realitäten als des Interesses und wissenschaftli­
cher Studien würdig erachtet. Wenn sich die Agrarsoziologie
in den USA entwickelt hat, so hat das seine klare Ursache in
der Bauernfrage, welche die einander ablösenden Regierungen
stark beschäftigt.•
Gegenwärtig hat sich in der ganzen Welt die >>Bauernfrage«
unter verschiedenen Formen gestellt oder stellt sich noch. Fast
überall haben Bodenreformen stattgefunden oder sind im
Gange : in den Volksdemokratien, in China, Mexiko, Ägypten,
Italien, Japan, Indien usw., ganz zu schweigen von den großen
Transformationen der Landwirtschaft in der UdSSR. Es ver­
steht sich, daß diese Transformationen und Reformen je nach
den Verhältnissen und politischen Systemen höchst verschieden
sind. Und doch bezeichnen sie das ungeheure Ausmaß und die
weltumspannende Aktualität der Agrarfragen. So sind die So­
ziologen vom Studium der Primitiven zu dem städtischer und
industrieller Bereiche übergegangen, um sich sozusagen kopf­
über in diese zeitlich und räumlich so ausgedehnte Realität zu
stürzen. In Frankreich wurde das Studium der bäuerlichen
Wirklichkeit von den Historikern und Geographen begonnen.J
Aber deren Arbeiten müssen heute korrigiert, das heißt zu­
gleich konkretisiert und einer Gesamtkonzeption eingegliedert
werden, die allein von einer Soziologie geliefert werden kann,
2 Cf. dazu besonders die jüngst erschienenen Werke von Daniel Guerin und
die Romane von Steinbeck, Caldwell und anderen.
3 Durch die Vertreter der Schule der » geographie humaine•. Bei dieser
Gelegenheit sei Herrn Sorre, dem Leiter des »Centre d'Etudes Sociologi­
ques« für die Förderung gedankt, die er Untersuchungen auf dem Gebiet der
Agrarsoziologie zuteil werden ließ.

177
die als Studium der Totalität des gesellschaftlichen Prozesses
und seiner Gesetze betrachtet wird.
Man kann nicht entschieden genug auf die Tatsache hinweisen,
daß die großen Einheiten (Inland- und Weltmarkt, soziale und
politische Strukturen) ganz erheblich dazu beigetragen haben,
die Agrarstrukturen umzugestalten. So waren die S pezialisie­
rungen bedingt durch den Inland- und Weltmarkt (auf der
nationalen Ebene können wir als Beispiel den Weinbau des
Südens anführen und auf der globalen die Kaffeeplantagen
Brasiliens) . Die gesellschaftliche und politische Organisation,
die Tätigkeit des Staates, die Pläne - oder deren Fehlen oder
Scheitern - haben auf den kleinsten Landbesitz ein- und zu­
rückgewirkt. Es gibt heute keinen Bauern, selbst in Afrika oder
Asien, der nicht von Weltereignissen abhinge.

Nicht weniger ist es indessen erforderlich, den anderen Aspekt


der Wirklichkeit zu unterstreichen, der dem eben genannten
widerstreitet : die Landwirtschaft schleppt Rückstände und
Überbleibsel der entlegensten Vergangenheit mit sich. Und das
besonders in den nicht planwirtschaftlich organisierten, zurück­
gebliebenen oder unterentwickelten Gebieten, das heißt in den
Kolonialländern, aber auch in den europäischen, >>westlichen<<
Ländern. In ein und derselben Gegend, den Pyrenäen, läßt
sich in geringem Abstand das eine wie das andere beobachten :
die archaischste Bodenkultur mit der Hacke (die >>laya« auf
spanischer Seite), der latinische räderlose Pflug, der Traktor,
das Fortbestehen der Agrargemeinschaft (kollektiver Besitz
und kollektive Nutzung von Weideland), die moderne Genos­
senschaft, maschinell arbeitende Betriebe großen Stils . . . Die
bäuerliche Wirklichkeit stellt sich daher in einer doppelten
Komplexität dar :
a) Horizontale Komplexität. In den agrarischen Gebilden und
Strukturen gleichen geschichtlichen Datums - insbesondere in
denjenigen, die von den großen gesellschaftlichen und politi­
schen Einheiten der Gegenwart bestimmt sind - treten wesent­
liche Unterschiede zutage, die bis zum Antagonismus gehen.
So stößt man in den USA auf den Grenzfall eines Agrarkapi­
talismus, der einhergeht mit einer sehr weit getriebenen An­
wendung von Maschinen bei der Bearbeitung des Bodens. Der
kapitalistische >>Eigentümer« oder Farmer, der über hochent-
wickelte Geräte verfügt, kann wenigstens die Hälfte des Jahres
in der Stadt verbringen. Er begibt sich auf sein Gut, wenn die
Feldarbeiten anfallen, die er mit einer perfektionierten Tech­
nik und Saisonarbeitern verrichtet. Nach den Ernten und dem
Verkauf des Ertrags kehrt er wieder in seine Stadtwohnung
zurück. Am anderen Pol, mit einer ebenso fortentwickelten
Maschinerie und Technik, aber einer völlig anderen Gesell­
schaftsstruktur, haben wir die sowjetischen Kolchosen und
Sowchosen sowie die künftigen »Agrostädte « (in denen sich
eine Gruppe von Kolchosdörfern miteinander verbindet) . Zwi­
schen diesen beiden Extremen finden wir Zwischenformen.
M. J. Chombart de Lauwe hat unlängst den C.U.M.A. (Co­
operatives pour l'Utilisation en Commun de Materie! Agricole
en France) eine interessante Studie gewidmet. Produktionsge­
nossenschaften wie die der Emilia (Gegend von Bologna in
Italien) oder die der Volksdemokratien sind ebenfalls vermit­
telnde und übergangsformen zwischen den oben erwähnten
Polen.
In jedem Fall, auf jeder Stufe ist eine soziologische Studie
möglich, die sich auf dem Wege des Vergleichs um die Techni­
ken kümmert, um ihr Verhältnis zur menschlichen Gruppe und
zur Gesellschaftsstruktur, um die Produktivität der Landar­
beit, um Verschiebungen innerhalb der Bevölkerung, mit einem
Wort, um das Ensemble der Bedingungen.
b) Vertikale Komplexität. Die ländliche Welt von heute bietet
der Beobachtung und Analyse ein Koexistieren von Gebilden
verschiedenen Alters und Datums. Wie oben bemerkt, läßt sich
dieses paradoxe Nebeneinander - das Archaische steht neben
dem Ultramodernen - mitunter auf beschränktem Raum fest­
stellen. Ein weiteres Beispiel ist Nordafrika, wo das auf Vieh­
zucht beruhende Nomadenturn und Halbnomadentum, wo
Hütten, die auf dem Rücken eines Menschen transportiert wer­
den können (noualas) an die fortgeschrittenste Technik an­
grenzen. In der ländlichen Welt ist, deutlicher noch als beim
Handwerk, nichts gänzlich verschwunden. Und die bloße Tat­
sache dieser Erhaltung von Archaismen und >>soziologischen
Fossilien« - eine relative Erhaltung, welche die Einflüsse, die
Auswüchse des Archaischen, seine mehr oder weniger geglück­
te Eingliederung in neuere Einlieiten nicht ausschließt - diese
bloße Tatsache wirft zahlreiche Probleme auf.
Die beiden Komplexitäten - diejenige, die wir horizontal
nennen und diejenige, die wir vertikal nennen und die man
als historisch bezeichnen könnte - überschneiden sich, gehen
ineinander über und wirken aufeinander ein. Daraus ergibt
sich eine Verflechtung der Tatsachen, die nur eine brauchbare
Methodologie entwirren kann. Es gilt, zugleich die Gegen­
stände und Ziele festzulegen, die für die Agrarsoziologie er­
heblich sind - und deren Verhältnis zu den Wissenschaften und
Disziplinen zu bestimmen, die ihr Beistand leisten : Sozialgeo­
graphie, politische Ökonomie, Ökologie, Statistik usw. Die
Agrarsoziologie hat sich in den Vereinigten Staaten breit ent­
faltet. Wir wissen, warum. Jede Universität hat einen Lehr­
stuhl für Agrarsoziologie ; es gibt bereits zahlreiche Studien,
Hand- und Lehrbücher. Eine Tatsache fällt jedoch bei der Lek­
türe dieser Werke auf : es fehlt der Bezug zur Geschichte. Grei­
fen wir das große Sammelwerk Rural Life in the USA (Knopf
I 942) heraus. In historischer Hinsicht enthält es nur eine demo­
graphische Studie über die Bevölkerung, die Kolonisation und
über Bevölkerungsverschiebungen auf dem Land im Laufe der
industriellen Entwicklung (S. I 3 - 3 6) . Dieser statistische Teil ist
beachtlich (cf. S. 2 7-29 über die nationale Herkunft der einge­
wanderten Landarbeiter), aber er liefert keine Agrargeschichte.
Man findet in diesen Abhandlungen nicht einmal eine Anspie­
lung auf das wesentliche Merkmal der kurzen amerikanischen
Agrargeschichte : die Kolonisation (weit gefaßt als Niederlas­
sung von Bauern) und Besiedelung freien Bodens. Die Marxi­
sten unterscheiden die Kolonisation preußischen Typs (Koloni­
sation auf bereits angeeignetem Boden) und die Kolonisation
amerikanischen Typs. Im letzteren Fall gibt es kein Grund­
eigentum feudalen Ursprungs. Bis zur Konzentration des ka­
pitalistischen Eigentums, bis zum Einschreiten von Banken und
Trusts wird selten Pachtgeld gezahlt ; mittlerer Landbesitz
herrscht vor ; der produzierende Bauer hat keinem Eigentümer
des von ihm bearbeiteten Bodens eine Grundrente zu zahlen.
Damit bleibt ein wichtiger Teil des Nationaleinkommens unbe­
rührt von jeder parasitären Klasse. Feudale Fesseln für die
ursprüngliche Entfaltung der Produktivkräfte sind nicht vor­
handen ; der Kapitalismus kann sich beschleunigt entwickeln,
bis seine inneren Widersprüche seine Entwicklung lähmen.
Eben dieser Umstand erklärt den außerordentlichen wirtschaft-
I 8o
Iichen Aufschwung der USA während des neunzehnten Jahr­
hunderts. Die amerikanischen t:Skonomen und Soziologen sind
also nicht einmal in der Lage, ernsthaft die Bedingungen dieses
Aufschwungs zu studieren, dessen Ergebnisse sie empirisch fest­
stellen. Weder verfolgen sie die Ausbildung des inneren Mark­
tes noch die charakteristischen Züge einer Landwirtschaft, die
eine Massenproduktion erreicht hat und dabei weitgehend
extensiv und in ihrer Produktivität (pro Hektar oder Acker
bebauten Bodens) schwach geblieben ist.
Die Tatsache, daß die Besitznahme des Bodens von den Städ­
ten ausging, wird nicht in ihren Folgen studiert. In Europa
ging die Landwirtschaft der Industrie voraus, und die Stadt
entwickelte sich in einer ländlichen Umwelt. Der italienische
oder französische Bauer (cf. frz. >>paysan«, d. 0.) ist ursprüng­
lich ein »palen<< (paganus) . Das bäuerliche Leben hat seine Sit­
ten, Bräuche und Traditionen. In gewissem Umfang kann man
von einer bäuerlichen >>Kultur« reden. Demgegenüber beziehen
die amerikanischen Landgebiete ihre kulturellen Modelle
( »patterns «) von der Stadt. Soweit es eine bäuerliche Kultur
gibt, weist sie keine ursprünglich tradierten Elemente auf; sie
stellt nur einen Schatten der städtischen Kultur dar oder deren
allmähliche Aneignung ( >>Akkulturation «). Es gibt keinen
Konflikt zwischen der bäuerlichen Tradition, ihren Sitten und
Gebräuchen auf der einen Seite und der Religion auf der ande­
ren. Weil es eine ursprünglich bäuerliche >>Kultur« nicht gibt,
und die isolierten Bauern sich die wissenschaftliche Kultur auch
nur langsam aneignen, ist die Religion die einzige auf dem
Lande herrschende Ideologie. Es ist daher nicht erstaunlich,
wenn die Agrarsoziologen in den USA die Kirche bis ins ein­
zelne als gesellschaftliche Institution studieren (cf. Lowry Nel­
son, Rural Sociology, American Book Cy, 1 94 8 , S. 74-3 2 3 ) ,
den religiösen Aufbau der Bevölkerung feststellen ( cf. Lynn
Smith, The Sociology of the Rural Life, Harper Brothers,
1 947, S. 87 ff.) oder auch das Ausmaß kirchlichen Einflusses in
irgendeiner >>Landgemeinde« schildern im Hinblick auf den
Kirchenbesuch des Briefträgers oder des Arztes. Es ist klar, daß
sich die Probleme der Agrarsoziologie in den >>historischen
Ländern« anders stellen als in den USA.
Die rein beschreibende und empirische Methode konnte nur in
einem Land ohne Geschichte entstehen oder, genauer, ohne
r8r
große historische »Belastung<< . Die menschliche Wirklichkeit
wird hier sozusagen auf den platten Boden gestellt. Damit
vereinfachen die Soziologen das methodologische Problem. Sie
gelangen zu einem alles umfassenden Empirismus, zu einem
statistischen Formalismus. Wir haben gesehen, daß diese Me­
thode nicht einmal für ein >>ungeschichtliches<< Land geeignet
ist, das in seiner unmittelbar gegebenen Wirklichkeit nur we­
nige historische Grundlagen und Sedimente aufweist.4 Wir
stehen folglich, was Frankreich und den größten Teil der
Agrarwelt betrifft, vor einem methodologischen Problem : wie
sind die Beziehungen zwischen der Soziologie und der Ge­
schichte, da wir einer Wirklichkeit gegenüber stehen, die eine
Geschichte hat - und die sie in sich aufbewahrt, die archaische
und .»moderne<< Bildungen nebeneinanderstellt.
Das Problem ist heikel, zumal es sich nicht darum handeln
kann, die Soziologie in der Geschichte aufgehen zu lassen, und
andererseits die Agrarsoziologie auf den Beistand der Ge­
schichte als einer Hilfswissenschaft nicht verzichten kann. Die
Soziologie muß von den gegenwärtigen Tatsachen, von ihrer
Beschreibung ausgehen. Wenn aber diese Tatsachen historisch
»belastet<< sind, wie könnte man darüber hinwegsehen? Das
Problem wird irrfolge der bereits angedeuteten Lage noch
heikler.
Gerade die Historiker haben bestimmte Begriffe ausgearbeitet
und in Umlauf gebracht, die, falls sie sich bestätigten, die
Agrarsoziologie beherrschen würden. So hat Mare Bloch von
einem » regime agraire.: oder einer »civilisation agraire.: ge­
sprochen. Ihm zufolge stoßen in Frankreich »Zwei große
Formen agrarischer Zivilisation zusammen, die man, mangels
eines besseren Ausdrucks, Zivilisation des Nordens und Zivili­
sation des Südens nennen kann<<.s Und er kennzeichnet diese

4 Selbst in den USA wäre eine Agrargeschichte unerläßlich, besonders, was


den Süden angeht, wo man, wie in Europa, noch auf Spuren der Feudalität
stößt, auf die Pacht zum halben Ertrag (eine halbfeudale Einrichtung) sowie
auf Ausläufer und Folgen der Sklaverei. Verweisen wir nochmals auf das
Buch von Faul Landis, Rural Life in Process. Dieser Autor ist einer der
wenigen, die die ländliche Wirklichkeit Amerikas in ihrem Werden erfaßt
haben und der eine (in gewissem Umfang) kritische Darstellung der wirk­
lichen Lage der amerikanischen Bauern geliefert hat.
5 Mare Bloch, Les caracteres originaux de l'histoire rurale franfaise,
A. Colin, ' 9 5 2 ·
grundlegenden Zivilisationen oder Strukturen durch Gegen­
sätze :
Norden Süden
gemeinwirtschaftliche Individualismus
Zwänge
Räderpflug räderloser Pflug
langgezogene Felder unregelmäßig angelegte Felder
offene Felder umfriedete Felder
dreijährige Koppelwirtschaft zweijährige Koppelwirtschaft
Der Begriff des »regime agraire<< entspricht dem von den Geo­
graphen verwendeten Begriff des >>Lebensstils<< (>>genre de
vie « ). Ob die Gelehrten der sozialgeographischen Schule ihn
an die Historiker weitergegeben oder ob sie ihn von diesen erst
empfangen haben, macht hier (was Frankreich angeht) wenig
aus. Wesentlich ist, daß diese beiden Begriffe eng miteinander
verbunden sind und beide eine sehr alte, stabile oder, genauer,
statische Wirklichkeit bezeichnen, die sich nur unter dem Druck
des Maschinenwesens auflöst. Das heißt, sie ist archaisch oder
nahezu archaisch und »natürlich« (wofern man sie nicht den
Kollektivvorstellungen einer Rasse, eines Landes oder Volkes
zuschreibt) .6
Eine subtilere Analyse löst die starren Gegensätze, die stati­
schen Unterschiede zwischen den Strukturen auf. Sie ersetzt die
Gegensätze der Agrar-»regimes<< durch ein grundsätzlich ande­
res Schema. Zum Beispiel trifft man dreijährige Koppelwirt­
schaft im Süden Frankreichs an und zweijährige im Norden
und im Osten (insbesondere im Elsaß) . Man stößt im Süden
auf zweijährige Koppelwirtschaft mit Brache und auf zwei­
jährige Koppelwirtschaft mit ununterbrochenem Anbau (ohne
Brache) und entsprechend im Norden auf ununterbrochene
dreijährige Koppelwirtschaft oder auf solche mit Brache. Dabei
korrespondiert der ununterbrochene Anbau einem technischen
Fortschritt, einer besseren Bodennutzung, einer Erhöhung
seiner Produktivität. In jedem Gebiet hat es je nach den geo-
6 Um die Tatsachen zu erklären, schwankte Mare Bloch zwischen einer
technizistischen These (Rolle des Räderpflugs) und der Berufung auf die
kollektive Mentalität (Gemeingeist und individualistische Einstellung) . Seit­
her waren bestimmte Soziologen bemüht, einen Gegensatz von •natürlichem•
und technischem oder •maschinellem« Milieu aufzustellen, der uns genauso
erkünstelt scheint wie die anderen .
graphischen Gegebenheiten wie nach den gesellschaftlichen Ver­
hältnissen und den politischen Ereignissen ein mehr oder weni­
ger rasches Wachstum der Produktivkräfte gegeben, gehemmt
oder beschleunigt durch die verschiedenen Bedingungen, zu­
weilen mit Stagnationen, Rückständigkeiten und Rückfäl­
len.
Wären die Agrarstrukturen starr und getrennt, wie das die
Historiker und Geographen geglaubt haben, so brauchte der
Soziologe nur detailliert zu beschreiben, was die Spezialisten
dieser Wissenschaften gemeinsam ermittelt haben. Wenn es
keine Agrar-»regimes « oder -»civilisations« oder »Lebens­
stile<< gibt, sondern ein - ungleichmäßiges und komplexen Be­
dingungen unterworfenes - Wachstum der Produktivkräfte, so
gelangt die Soziologie mit einem Mal wieder zu einem Auf­
gabenbereich, zu einer objektiven Methode und zu dem Recht
auf eine Gesamtsicht der Tatsachen. Die Technologen und
Ökonomen werden den Soziologen über diese Produktivkräfte
belehren. Der Historiker wird ihm mittei i en, welche Handlun­
gen, Ereignisse und politischen Systeme diese Entwicklung be­
schleunigt, gehemmt oder aufgehalten haben. Der Soziologe
schließlich muß und kann das gegenwärtige Resultat beschrei­
ben ; er wird für es eine Erklärung suchen und den Gesamt­
prozeß bestimmen, der zu diesem gegenwärtigen Resultat ge­
führt hat. So scheint der Süden Frankreichs sehr viel weniger
durch Individualismus, den räderlosen Pflug oder unregelmä­
ßig angelegte Felder gekennzeichnet als durch ein gewisses Zu­
rückbleiben gegenüber der landwirtschaftlichen Entwicklung
des Nordens von Frankreich. Dem Norden ist die Halbpacht7
fast völlig unbekannt, die mit dem Wachstum der Produktiv­
kräfte und der kapitalistischen Entwicklung durch die Geld­
pacht (fermage, d. V.) ersetzt wird. Das häufige Vorkommen
der Halbpacht im mittleren Süden Frankreichs verdient ein
Studium und verlangt nach einer Erklärung. Wir stellen fest,
daß die Halbpacht in England völlig verschwunden ist, fast
ganz im Norden Frankreichs und Italiens, dagegen in Süd­
frankreich und in einem Teil Italiens fortbesteht. Warum? Der
7 Padlt (metayage, d. U.) eines •Teilpädlters • , Form des Landbesitzes,
wobei ein Teil des Ertrages (ein bestimmter Prozentsatz von dieser oder
jener Produktion) an den Eigentümer abgeführt wird, der den Boden und
einen Teil der Produktionsinstrumente besitzt.
Historiker belehrt uns darüber. Es ist klar, daß die Abnahme
der Bedeutung des Mittelmeergebiets seit dem sechzehnten
Jahrhundert dieser Tatsache nicht äußerlich gewesen ist ; eine
Abnahme, die damit zusammenhängt, daß die Südprovinzen
Frankreichs im Verhältnis zu Paris - dem wirtschaA:lichen und
politischen Zentrum - peripher und entlegen sind ; die mit
merkwürdigen Überbleibseln wie den Dialekten und Provin­
zialismen zusammenhängt, also mit besonderen und ursprüng­
lichen Lebensformen, keineswegs aber mit unbeweglichen >>Le­
bensstilen« .
Wir sagen : >>Allmähliche, beschleunigte, unterbrochene, ver­
zögerte Entwicklung der Produktivkräfl:e« . Dieses Schema soll
jedoch nicht eine Art undifferenzierter Kontinuität in den
bäuerlichen Realitäten nahelegen. Wir vermuten unterhalb der
gegenwärtigen Erscheinungen radikale Umgestaltungen und
frühere Umwälzungen. Zum Beispiel wurde der östliche Teil
der Pyrenäen (Catalogne, Roussillon) nach den Einfällen der
Sarazenen auf neue Weise wiederbevölkert. Die Einführung
der Halbpacht in der Toskana wälzte die vorher bestehende
Struktur um usf. Wir ahnen ungeheuere und langwierige Kon­
flikte, die verschiedene Formen annahmen, wie den zwischen
dem kleinen Eigentum und dem großen (gallo-romanische
latifundia ; herrschaA:liche Besitztümer ; große kapitalistische
Betriebe) . Wir wissen, daß wenigstens dreimal umfassende
»Agrarreformen<< in Frankreich die Struktur veränderten : die
Einfälle der Barbaren - die Befreiung der Leibeigenen - der
Verkauf der Güter des Klerus und der Emigranten.

Die >>landwirtschaA:liche Revolution <<, die im achtzehnten


Jahrhundert beginnt, zeichnet bereits in groben Umrissen die
Physiognomie des gegenwärtigen bäuerlichen Frankreich vor.
Und besonders die ökonomische Entwicklung des mittleren
Nordens mit ihren Folgen. Geht es hier um eine Auflösung der
Soziologie in Geschichte? Natürlich nicht. Der Soziologe muß
zunächst etwas feststellen und analysieren, um es zu erklären.
Er bedient sich der Geschichte als einer untergeordneten und
Hilfsdienste leistenden WissenschaA:, um den gesellschaftlichen
Prozeß in seiner Totalität zu studieren.
Wir werden daher veranlaßt, in der Agrarsoziologie verschie­
dene Methoden, Techniken und Verfahren zu beseitigen :
a. Die ethnographische oder ethnologische Methode. Sie läuft
stets Gefahr, gesellschaftliche Tatsachen als natürlich ·ZU be­
trachten, die von der Geschichte und den gegenwärtig vorlie­
genden Strukturen des Ganzen zutiefst geprägt sind. Diese
Tatsachen scheinen in einer offenkundigen Simplizität, einer
>>Ursprünglichkeit« gegeben. Die Ethnographie interessiert sich
sehr für die marginalen oder archaischen Gebilde, die diesen
Schein mehr als die anderen hervorrufen.
b. Für die unlängst aufgekommene Theorie der >>archaischen
Zivilisation« (>>archeocivilisation<<, d. V.) gilt dieselbe Kritik.
Nach dieser Theorie soll sich eine überkommene bäuerliche
Zivilisation bis zu einer jüngst vergarigenen Epoche (neun­
zehntes Jahrhundert in Frankreich, das heißt Einführung der
Maschinerie) erhalten haben und soll seitdem verschwunden
sein. Sie läßt sich demnach nicht mittels der ethnographischen
Methode untersuchen. Man soll sid wiederherstellen oder re­
konstruieren als ein Ganzes, das sich bei allem oberflächlichen
Wandel eine gewisse Beständigkeit bewahrt hat vom Seßhaft­
werden des Menschen bis zu ihrem Verschwinden.
Diese These beruht auf dem (falschen) Gegensatz von natür­
licher Umwelt und technischer Umwelt. In ihrem gesellschaft­
lichen Kontext sind Hacke oder auch Räderpflug ebenso >>tech­
nisch« wie eine Drehbank. Außerdem wissen wir aus der Ge­
schichte, daß längst vor der Einführung der Maschinerie durch
das individuelle Privateigentum, den Handelskapitalismus und
die Geldwirtschaft irrfolge der Herausbildung eines (städti­
schen und bäuerlichen) Bürgertums auf dem Lande Umwälzun­
gen in der Agrarstruktur und in den ländlichen Gesellschaften
herbeigeführt wurden.
c. Die kulturhistorische Theorie hat einige Forschungen ange­

regt, aber sie hat einen Hauptnachteil : sie gestattet die will­
kürliche Konstruktion von »Komplexen« und ersetzt das
Studium der Tatsachen durch ein hypothetisch-deduktives Ver­
fahren, das von diesen Komplexen ausgeht, die sich aus einer
Technik und einer Ideologie zusammensetzen. (Dieser Mangel
tritt in dem sonst bemerkenswerten Buch von Frau Lavisa
Zambotti über die Grands courants de civilisation zutage.)
d. Die monographische Methode ist mit sehr großer Vorsicht
anzuwenden. Eine oft enttäuschende Erfahrung zeigt, wie sel­
ten gute Monographien (über das Dorf, das Land) sind und
r 86
wie wenig soziologisch brauchbare Aufschlüsse sie gewähren.
Die Sozialforscher verlieren sich in den örtlichen Einzelheiten,
in der Beschreibung der heimischen Verhältnisse oder des An­
baus usw. Das Wesentliche, das dem geübten Soziologen ins
Auge springt, entgeht ihnen mangels einer guten Bildung, die
sich nur langsam erwerben läßt. Die gegenwärtigen Bedingun­
gen der wissenschaftlichen Forschung begünstigen das Entste­
hen erfahrener Soziologen leider nicht. Wie dem auch sei : die
monographische Untersuchung und die Interpretation von
Dokumenten setzen eine Gesamtsicht der Probleme voraus.
Und die gute wissenschaftliche Methode zielt stets darauf ab,
zum Wesentlichen zu gelangen, dadurch, daß man es von der
zufälligen, oberflächlichen oder abweichenden Tatsache unter­
scheidet. Die monographische Methode kann den Erfordernis­
sen der Klassifikation und der Typologie ländlicher Gruppen
nicht genügen. Sie dient der Forschung als Hilfstechnik. Dabei
gilt natürlich weiterhin, daß jede aufs Ganze gehende Arbeit
sich auf eine möglichst große Anzahl örtlicher und regionaler
Monographien stützen muß.
e. Die technologische Methode weist die allgemeinen Grenzen
der Technologie auf. Die Erfindung, Obernahme und Auswei­
tung der Techniken lassen sich nicht abgelöst von den wirk­
lichen gesellschaftlichen Verhältnissen begreifen. Die Technik
ist zugleich bestimmend und bestimmt (wie das oberflächlichste
Studium der modernen Mechanisierung der Landarbeit be­
weist) . Die technologischen Studien sind deshalb der allgemei­
nen Konzeption des Ganzen untergeordnet : der umfassenden
Bewegung, die seit den Anfängen die Produktivität der Land­
arbeit allmählich steigerte und zu den gegenwärtigen Struktu­
ren führte.
Wir schlagen nunmehr eine sehr einfache Methode vor, die sich
der Hilfstechniken bedient und mehrere Momente umfaßt.
Diese sind :
a. Deskriptiv. Untersuchung, aber mit einem an der Erfah­
rung und an einer allgemeinen Theorie geschulten Blick. An
erster Stelle steht : anteilnehmende Beobachtung auf dem Un­
tersuchungsfeld. Vorsichtiger Gebrauch der Forschungstechni­
ken (Interviews, Fragebogen, Statistiken) .
b. Analytisch-regressiv. Analyse der beschriebenen Wirklich­
keit. Bestreben, sie genau zu datieren (um sich nicht damit be-
gnügen zu müssen, sich beständig auf undatierte >>Archaismen«
zu stützen, die miteinander nicht verglichen sind) .
c. Historisch-genetisch. Studium der Veränderungen, die sich
an dieser oder jener vorher in ihrem Alter bestimmten Struktur
ergeben haben irrfolge der weiteren (inneren oder äußeren)
Entwicklung sowie deshalb, weil sie den Strukturen des Gan­
zen untergeordnet ist. Versuch in Richtung auf eine genetische
Klassifikation der Gebilde und Strukturen im Rahmen des Ge­
samtprozesses. Schließlich ein Versuch, zum vorher beschrie­
benen heutigen Zustand zurückzugelangen, um wieder zur Ge­
genwart zu finden, aber zur aufgehellten, verstandenen - zur
erklärten.
Nehmen wir als Beispiel die Halbpacht: Es empfiehlt sich zu­
nächst, sie genau zu beschteiben (Grundrente, die in Naturalien
gezahlt wird, teilweises Eigentum an den Produktionsmitteln,
Dienstleistungen, die zur Rente hinzutreten usf.) ; ferner, sie zu
datieren (sie geht einher mit der Ausbildung eines städtischen
Marktes, des Bürgertums, wo aber der Kapitalismus sich ent­
wickelt, weicht sie der Geldpacht; sie ist also halbfeudalen Ur­
sprungs) . Schließlich kommt es darauf an, ihre Umwandlungen
und ihr Fortbestehen zu erklären (Zurückbleiben der wirt­
schaftlichen Entwicklung in den Gebieten der Halbpacht,
Fehlen von Kapitalien usw.). Als Beispiel ließe sich auch die
Dorfgemeinschaft mit ihren Überbleibseln wählen oder die
bäuerliche Familie mit eigenen Merkmalen.

Diese Studien erheischen einen allgemeinen Rahmen, eine


Konzeption des Gesamtprozesses (unterstreichen wir nochmals,
daß man stets die Wechselwirkung der Strukturen berücksich­
tigen muß sowie den Einfluß der Strukturen jüngeren Datums
auf die alten Strukturen, die jenen untergeordnet oder inte­
griert sind.
A. Zunächst stoßen wir auf die Landgemeinde oder Dorf­
gemeinschaft. Dieser Ausdruck bezeichnet nichts Mystisches,
>>Prälogisches«, sondern eine geschichtliche und soziale Tat­
sache, die sich ungefähr überall nachweisen läßt. B Da sie
8 Cf. die fünfzig ersten Seiten des kürzlich übersetzten B uches von Lord
Ernle über L'histoire rurale de I' Angleterre, Paris I 9 5 2 · Cf. auch das
Buch von Denise Paulme über L'Organisation Sociale des Dogons und die

188
smwach gegenüber der Natur sind und nur über gemeinsam
verwendbare Instrumente und Techtl.iken verfügten, mußten
die Mensmen lange gesellschaftliche Gruppen mit großem Zu­
sammenhalt bilden, um sim der landwirtschaftlichen Aufgaben
zu entledigen : Urbarmachung von Land, Eindeichen, Bewäs­
sern, Anbau (häufig aum das Bewachen von Herden usw.). Die
bäuerliche Gruppe blieb daher stark organisiert, wurde durch
kollektive Zucht zusammengeschweißt ; sie besaß kollektive
Eigenschaften sehr verschiedener Art.
Später hat sich die bäuerliche Gemeinschaft langsam differen­
ziert, ist sie auseinandergegangen. Der Fortschritt der Land­
wirtschaft hat zu ihrer Auflösung geführt, die ebenfalls auf
sehr verschiedene Arten erfolgte, die aber allgemeine Züge auf­
wies (Stärkung des Privateigentums, Klassendifferenzierungen,
örtliche Verwaltungen, Auftreten von Tausch und Geld, Unter­
ordnung unter die anschließenden Produktionsweisen). In der
bäuerlichen Gemeinschaft stellt man zunächst ein Vorherrschen
blutsverwandtschaftlicher Bande fest. Lösen sie sich ,auf, so. tritt
an ihre Stelle die gebietsmäßige Zugehörigkeit, die auf dem
Wohnsitz, dem Reichtum, dem Eigentum, dem Prestige und der
Autorität beruht. Man geht so von ausgedehnten Verwandt­
smaften zur beschränkten Familie (mit männlicher Vorherr­
schaft) und zu nachbarlichen Beziehungen über.
Indessen ist die Geschichte der bäuerlichen Gemeinschaft noch
komplexer als dieses Schema vermuten läßt. Sie ist dem Druck
späterer Produktionsweisen unterworfen sowie verwaltungs­
mäßigen, fiskalischen, juridischen und politischen Instanzen.
Bald gibt sie nach, bald leistet sie Widerstand ; bis zu ihrer
Auflösung durch den Individualismus (der auf der Konkurrenz
beruht, dem Handel usw.) zeigt sie eine erstaunliche Lebens­
kraft. Das europäische Mittelalter und das Verschwinden der
mittelalterlichen (feudalen) Produktionsweise sind unserer An­
sicht nach unverständlich, wenn man nimt das Neuerstarken
der bäuerlichen Gemeinsmaft berücksichtigt und ihren erheb­
lichen Widerstand gegenüber der Aneignung des Bodens durch
die Feudalen. Nur so erklären sich die Begriffe der Gewohnheit
und des Gewohnheitsrechts, die beim Studium agrarischer Tat­
sachen so wichtig sind. Jeder Brauch impliziert eine gesell-
z ahllosen (nodt nidtt systematisierten) Studien in versdtiedenen Spradten
und Ländern.
schafHiebe Unterlage - die Gemeinschafl: - und einen Wider­
stand gegenüber Erpressungen (>>exactions«, d. 0.), das heißt
gegenüber demjenigen, der außerhalb der Gewohnheit han­
delt (ex-agere).
B. Auf Sklaverei beruhende und feudale Produktionsweisen.
Unmöglich, die bäuerlichen Realitäten in Afrika, auf den An­
tillen, im Süden der USA zu studieren, ohne auf die Sklaven­
halterei, ihre Überbleibsel oder Folgen zu verweisen. Man muß
die verschiedenen Abarten der feudalen Produktionsweise
kennen (die asiatische, die auf dem Eigentum an Gewässern
und an dem Bewässerungssystem beruht - die mohammedani­
sche, die auf der Herrschafl: über die städtischen, handwerk­
lichen und Handelszentren beruht, eine Herrschafl:, die sich auf
die umgebenden Landgebiete ausdehnt - die europäische, die
auf dem Grundeigentum beruht), um die gegenwärtigen
bäuerlichen Realitäten in einer großen Anzahl von Ländern
(einschließlich Süditaliens, Südfrankreichs usw.) zu erklären.
Diese Realitäten offenbaren ihre Komplexität nur dann, wenn
sie in vielfacher Weise angegangen werden. Zum Beispiel hat
der Süden Frankreichs am römischen Recht festgehalten oder
ist bei dessen Wiederauftreten sehr früh von ihm durchdrun­
gen worden ; und doch haben sich in Frankreich die Gewohn­
heiten auf dem Lande am besten bewahrt (einschließlich ört­
licher Dialekte und Mundarten usw.).
C. Der Kapitalismus läßt eine Agrarrevolution zu, die in
England sehr weit geht, weniger weit in Frankreich und Ita­
lien. In Frankreich hat er eine Agrarreform ermöglicht (die je
nachdem zur Wiederherstellung, Ausweitung und Herausbil­
dung des kleinen und mittleren Eigentums führte) . Hernach
hat er eine Konzentration des Eigentums an gutem Boden in
der Nähe der Märkte im Gefolge (was eine maximale Grund­
rente ergibt) . Er hat zum Vorherrschen der Geldpacht gegen­
über der Halbpacht geführt, zum Individualismus, zur Maschi­
nerie, zur Industrialisierung der Landwirtschafl: usf. Wie soll
man die agrarischen Realitäten studieren können, ohne sich
unaufhörlich auf diese Produktionsweise zu beziehen?
Die auf Sklaverei beruhenden und feudalen Produktionswei­
sen haben frühere Agrarstrukturen teilweise überlagert (so
sehr sie auch zum Entstehen von »latifundia<< und Herren­
gütern geführt liaben). Deshalb sind Überreste oder (teilweise)
Wiederherstellungen dieser >>gemeinwirtschaA:lichen<< Struktu­
ren möglich gewesen. Die kapitalistische Produktionsweise hat
jedoch seit ihren Anfängen (Geld- und Warenwirtschaft) die
Agrarstrukturen von innen und außen zugleich gründlich um­
gewälzt. Das Privateigentum kapitalistischen Typs hat sich die
alten Eigentumsformen auf hundert Weisen untergeordnet : die
Stammes- oder sippenmäßige, genossenschaftliche oder feudale.
Diese Tatsache tritt beim Studium der Agrarstruktur >>Unter­
entwickelter<< Länder klar zutage : in Kolonien oder halbkolo­
nialen Ländern, in zurückgebliebenen Bereichen der kapitali­
stischen Länder.
D. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Einführung
von Maschinen, die landwirtschaftliche Großproduktion und
die Zunahme der Produktivität entwickeln sich heute auf zwei
einander entgegengesetzte Weisen : Kapitalismus und Sozialis­
mus. Die sozialistischen Umgestaltungen der Landwirtschaft
vollziehen sich in drei Stadien : Agrarreform - Genossenschaft
- Aufbau von Agrostädten, die noch kaum ins Auge gefaßt
wurden. Jede dieser Etappen verläuft gemäß den von Land zu
Land verschiedenen Modalitäten. Insbesondere die landwirt­
schaftliche Genossenschaft (Produktionsgenossenschaften ; Kol­
chosen, die von den Produktionsgenossenschaften sehr verschie­
den sind) etabliert sich auf der Grundlage des Dorfes, das
heißt, sie gestattet eine gewisse Wiederbelebung - auf einer
völlig verwandelten Stufe, mit neuen technischen Mitteln und
einer ebenso neuen Struktur - der Agrargemeinschaft, der
Nachbarschaftsbeziehungen, der kollektiven Zwänge usf.
Wir gelangen so zu einer Gesamtsicht der bäuerlichen Realitä­
ten. Man könnte sie mit einem Fächer vergleichen, der Formen
verschiedenen Alters zeigt und einander gegenüberstellt, ver­
fehlte dieses Bild nicht die beständige Wechselwirkung der Ge­
bilde und deren Unterordnung unter Totalitäten (neue Struk­
turen ; kapitalistischer und sozialistischer Weltmarkt etc.).
Diese Gesamtsicht zeigt ein Zurückbleiben der landwirtschaft­
lichen Entwicklung gegenüber der industriellen - ein Zurück­
bleiben, das einzig von der sozialistischen Struktur überwun­
den werden kann - und das ein besonderes Studium erfordert.
Dieses Gesamtbild schließt Widersprüche ein (namentlich den
im Laufe der Geschichte erbittert geführten Kampf zwischen
dem Groß- und dem Kleinbetrieb) und Oberbleibsei im ideolo-
gischen Bereich (Überbleibsel von Agrarmythen, Folklore und
dergleichen) sowie im strukturellen (Dorf, bäuerliche Familie
usw.) .

Aus diesem Gesamtbild ergibt sich der Plan eines Lehr- oder
Handbuchs der Agrarsoziologie. Es muß beginnen mit einer
Studie über die gegenwärtigen Totalitäten, der (kapitalisti­
schen und kollektivistischen) Strukturen neueren Datums und
des (kapitalistischen und kollektivistischen) Weltmarkts. Es
enthält eine Studie über die Agrargemeinschaft, ihre Auf­
lösung, ihre Oberreste und ihre Wiederbetebungen und hebt
dabei den Obergang von den Blutsbanden zu denen gebiets­
mäßiger Zugehörigkeit hervor (mit dem Konflikt beider und
dem Sieg der letzteren) ; sie hebt die Differenzierungen, Hier­
archien und Nachbarschaftsbeziehungen hervor.
Aus dieser Gesamtstudie läßt sich eine Typologie der Dörfer
ableiten (Gemeinschaften, die noch lebendig sind - solche, die
sich auflösen - individualistische Dörfer - Dörfer, die dunh
die Nähe eines Handels- od�r Industriezentrums, von Groß­
eigentum oder durch die Genossenschaft bestimmt oder geprägt
sind) . Wichtige Kapitel sind der bäuerlichen Familie zu wid­
men, der Lage der Frauen, der größeren oder kleineren Kinder,
der Greise und .Älteren bei den verschiedenen Dorf- und Fa­
milientypen. Das Problem der Klassen (oder Schichtungen) auf
dem Lande erfordert ein detailliertes Studium der Eigentums­
und Nutzungsformen des Bodens (Halbpacht, Geldpacht, klei­
ner oder mittlerer Besitz).
Schließlich kommt es stets auch darauf an, die studierte bäuer­
liche Gruppe (im allgemeinen das Dorf) im Verhältnis zu
größeren Strukturen und zu Institutionen zu situieren -
Marktflecken und Stadt - Provinz und Nation. Die bäuerliche
»Kultur« (im engeren Sinne) kann so endlich konkret bestimmt
werden. Soweit das Bauerntum eine » Kultur<< oder einen Bei­
trag zu Kultur hervorbringt, handelt es sich nicht um Ideologie
im eigentlichen Verstande (wenn auch dieser bäuerliche Beitrag
einen ideologischen Inhalt hat, von dem nur die Philosophen
oder Theoretiker deutlich machen, daß er einer anderen, ent­
wickelteren Gesellschaftsstruktur entstammt) . Es handelt sich
um eine Kultur ohne Begriffe, mündlich überliefert, die beson-
ders Anekdoten, Erzählungen, Interpretationen von Riten und
Magien enthält sowie Beispiele, die dazu dienen, die Praxis
auszurichten, die Sitten zu erhalten oder an Neues anzupassen,
die Gefühle und Handlungen zu lenken, indem man direkt auf
sie einwirkt.
Man stellt dann fest, daß der bäuerliche Beitrag zur Geschichte
der Ideologien - wirr, unbestimmt, formuliert von Städtern "­

beträchtlich gewesen ist. Insbesondere die großen Agrarmythen


(Mutter Erde) sind durch die Dichtung, Kunst und Philosophie
seit den Ursprüngen bis auf unsere Tage hindurchgegangen.
Aber auch die christlichen Häresien haben eine großenteils
agrarische Basis gehabt (Nachwirkungen der bäuerlichen Ge­
meinschaft und Erinnerungen an sie). Von dieser Seite kann
die Agrarsoziologie einen nicht zu übersehenden Beitrag zum
Studium der Ideen liefern, das heißt zur Philosophie.

Aus dem Französischen von Al/red Schmidt


Alfred Schmidt
Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte

Die Marx-Interpretation der Althusser-Schule

Wenn ein großer Mann, nach Hegels Wort, die Menschen dazu
verdammt, ihn zu explizieren, so gilt das nicht zuletzt von
Marx, seinem entschiedenen Kritiker und Meisterschüler, des­
sen Hauptwerk der Forschung noch immer erhebliche Schwie­
rigkeiten bereitet. Sie stellen sich heute schon dort ein, wo die
- scheinbar überflüssige - Frage nach dem spezifischen »Gegen­
stand« des Kapitals aufgeworfen wird - nicht erst auf der
Diskussionsebene einzelner Lehrsätze und Thesen. Das ur­
sprüngliche Interesse des Marxschen Konzepts, dasjenige also,
was die Kritik der politischen Ökonomie qualitativ von ihren
theoretischen Quellen unterscheidet, ist in den letzten Jahren
von der Pariser Althusser-Schule neu angegangen worden. Daß
der dabei durchgeführte »strukturalistische<< Ansatz die Marx­
Exegese außerordentlich belebt und manche ihrer seitherigen
Positionen erschüttert hat, duldet keinen Zweifel, so sehr sie
sich selbst der Kritik aussetzt, was hier versuchsweise gezeigt
werden soll.
Halten wir uns zunächst an die verdienstvolle Seite des marxi­
stisch orientierten Strukturalismus. Nach den eindringlichen
Studien Althussers und seiner Schüler geht es nicht mehr an,
das Kapital, wie dies früher oft geschah, unter die Rubriken
herkömmlicher Wissenschaftssystematik zu bringen. Mit Recht
erinnert Nicos Poulantzas ein Vertreter der Pariser Richtung,
daran, daß Marx' Buch unter den Fachleuten fast nur von
Ökonomen und Historikern gelesen wurde, wobei diese an­
nahmen, das Kapital sei >>in gewissen Partien ein geschichts­
wissenschaftliebes Werk im unmittelbaren Sinne ihrer eigenen
I Cf. seine Arbeit Theorie und Geschichte. Kurze Bemerkungen über den
Gegenstand des >Kapitals<, in : Kritik der politischen Ökonomie. 100 Jahre
>Kapital<, herausgegeben von Walter Eudmer und Alfred Sd!midt, Frank­
furt am Main/Wien 1968, S. 5 8-69. - Die Arbeit beruht auf der Studie
Althussers L'objet du Capital, in : Althusser/Balibar/Establet, Lire le Capi­
tal, Il, Paris 1 9 6 5 > S. 9- 1 84.

1 94
Praxis«, und jene, es sei eine rein »ökonomische Abhandlung«•.
Erkenntnistheoretisch ergab sich daraus der zähe Streit zwi­
schen Gelehrten, die das Kapital wesentlich als »>abstrakte<
Wirtschaftstheorie« betrachtetenJ, und solchen, die glaubten,
ibm eine » Untersuchungsmethode der >konkreten< Geschichte« 4
entnehmen zu können. Diese Interpretation bezeichnet Pou­
lantzas als »historizistisch«, jene als »ökonomistisch«, wobei
die ökonomische für ihn »mir eine Variante der allgemeinen
historizistischen Interpretation ist«s. Er verwirft beide, weil es
ihnen versagt blieb, den theoretischen Gegenstand des Kapitals
zu erfassen. Nicht weniger verfehlt ist für Poulantzas die ge­
läufige Redeweise, das Kapital enthalte sowohl eine ökono­
misch-systematische Strukturanalyse als auch eine historische
Methode, und zwar verwirft er sie weniger deshalb, weil sie
sich, unbestimmt-eklektisch, der schwierigen Aufgabe entzieht,
Einheit und Verschiedenheit von »Logisch-Abstraktem« und
,.Historisch-Konkretem« im Aufbau des Marxschen Werks zu
untersuchen, sondern deshalb, weil diese Redeweise - hier
beruft Poulantzas sich auf Böhm-Bawerk - »einen [ . . . ] unzu­
lässigen Bruch in den theoretischen Status seines Gegenstands
einführte«6. Den Strukturalisten geht nichts über Einheit, Syste­
matik und Homogeneität des Denkens, auch wenn sie, wie wir,
sehen werden, dabei über Konflikte in der Sache hinwegglei­
ten.
Poulantzas reduziert (ganz auf Althussers Linie) die von ihm
verworfenen Interpretationen des im Kapital behandelten
,.Gegenstands« auf eine den Interpreten gemeinsame, nämlich

1. lbid., s. 59·
3 Nicos Poulantzas, I. c. - Schon aus tagespolitisch-agitatorischen Gründen
empfahl sich eine (von der vermittelnden Geschichte absehende) Deutung des
Marxschen Werks, die hervorhob, wie geeignet es ist, den Arbeitern die
Unmittelbarkeit des kapitalistischen Alltags zu erklären. - Zur politischen
Wirkungsgeschichte des Kapitals cf. auch den instruktiven Abriß und die
Quellensammlung von RoH Dlubek und Hannes Skambraks >Das Kapital<
t>on Karl Marx in der deutschen Arbeiterbewegung J867-1878, Berlin 1967.
Ober die Aufnahme des Buches in der offiziellen Nationalökonomie unter­
richtet der Aufsatz von Ernst Theodor Mohl Anmerkungen zur Marx-Re­
z�ption, in : Folgen einer Theorie. Essays über >Das Kapital< von Karl
Marx, Frankfurt am Main 1 967, S. 7-26.
4 Nicos Poulantzas, I. c.
5 Ibid. , s . 5 8 .
6 Ibid., S. 59·

19 5
»historizistische Problematik des Subjekts«7, die uns noch
beschäftigen soll. Lassen wir einmal beiseite, daß einzelwissen­
schaftliche Versuche, die Marxsche Intention dadurch zu erfas­
sen, daß man sie unter die Methoden der eigenen Forschungs­
praxis subsumiert, tatsächlich unangemessen sind, so fällt auf,
wie umstandslos er auch die en 1sthaften Bemühungen solcher
»philosophischen« Marxisten wie Lukacs, Korsch, Lefebvre,
Sartre, Gramsei und Galvano della Volpe abtut, mit dem kom­
plizierten Verhältnis von Theorie und Geschichte beim reifen
Marx zu Rande zu kommen. Verständlich wird Poulantzas'
Schroffheit, wenn man bedenkt, daß sein Lehrer Althusser aus­
ging von dem bekannten Bruch, den die Marxschen Thesen
über Feuerbach mit jeglicher »Anthropologie« vollzogen, das
heißt mit dem Kultus eines abstrakten, vom histo";ischen Le­
bensprozeß der Gesellschaft unabhängig gedachten »mensch­
lichen Wesens« . 1 94 5 kam es in Frankreich mit dem (jetzt von
Sartre selbst als Ideologie gekennzeichneten)- Existentialismus
zur Wiederbelebung von Positionen leerer Subjektivität, die
Marx bereits im Vormärz an den bewußtseins-idealistischen
Zerfallsprodukten der Schule Hegels (Bauer, Stirner) scharf
kritisiert hatte. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU entstand
in einigen sozialistischen Ländern neben ernsthaften philoso­
phischen Neuansätzen (etwa bei Schaff, Zeleny und Kos1k)
ein häufig naiver Anthropozentrismus und ethisierender Perso­
nalismus, der noch immer von den Resten eines >>Existenz«­
Denkens zehrt, dessen Glanz bei westlichen Intellektuellen
längst erloschen ist. Politisch nach dem heillosen Staatsabsolu­
tismus der Stalinschen Xra nur zu verständlich, mußten die
positiven Ontologien sachlich-gedanklich nicht nur hinter ent­
scheidende Ergebnisse der Marxschen Lehre, sondern auch hin­
ter den Stand der Geschichte zurüddallen ; es trat ein, was
Lukacs » Verflachung durch Tiefe« genannt hat. Daß der we­
sentliche Inhalt der materialistischen Dialektik in der Kritik
der politischen Ökonomie besteht, wurde nahezu vergessen,
und nidlt wenige, östliche Autoren folgten der im Westen aka­
demisch verbreiteten Tendenz, den »jungen Marx« gegen den
reifen auszuspielen, von dem behauptet wurde, er sei im Fach­
ökonomischen steckengeblieben.
Angesichts dieser höchst ideologischen Entwicklung wird d as
7 Ibid.

1 96
Aufkommen einer Schule wie' der Althussers verständlich, die
- von vornherein »objektiv« gerichtet - um ein neues Studium
der Marxschen Ökonomie bemüht war. Freilich auf der Basis
eines, näher betrachtet, überaus anfechtbaren Verfahrens. Pa­
radoxerweise wirkt sich nämlich die erbitterte Frontstellung
der Althusser-Leute gegen die (vorab an den Pariser Manu­
skripten orientierte) »existentielle « Anthropologie gerade so
aus, daß deren negativ gemeinte These, der reife Marx habe
den >>realen Humanismus<< seiner Frühschriften zugunsten
szientistischer Objektivität verworfen, >>von links<< aufgegriffen
und ins Positive verkehrt wird. Dabei wird nicht nur die un­
dialektische, über der Verschiedenheit die Einheit vergessende
Behauptung vom absoluten Bruch im Marxschen Werk zu
einem Zeitpunkt gestützt, wo sie selbst in der bürgerlichen
Literatur angezweifelt wird - Althusser und seine Schüler nei­
gen dazu, den fundamentalen Mangel aller Spielarten moder­
ner Ontologie, ihre völlige Geschichtsfremdheit, womöglich
noch zu übertrumpfen.
Waren die Existentialisten bei den starren Befindlichkeiten
»des Menschen schlechthin<< stehen geblieben, hatten sie sich mit
einer abstrakten Subjekti_vität begnügt, so verfallen die radi­
kalen Vertreters des Strukturalismus ins entgegengesetzte Ex­
trem : ·sie lösen alle Subjektivität auf in über- und intersubjek­
tive >>Strukturen<< Eine Tendenz, die sich in Althussers Schule
in der Form durchsetzt, daß sie wie oben erwähnt, mit dem
bricht, was sie die >>historizistische Problematik des Subjekts<<9
nennt. Diese sei stets - und das ist eine der anfechtbarsten
Thesen dieser Richtung - gebunden an eine >>empiristisch-prag­
matistische Konzeption der Erkenntnis« 10• Es ist schwer ein­
zusehen, wie die Althussersche Interpretation sich bei alledem
im Einklang mit Marx wähnen kann. Sie behauptet, dieser sei
im Kapital (tendenziell schon seit 1 8 4 5 ) zu einer gegenüber den
Jugendschriften radikal neuen »theoretischen Grundlage« ge-
8 Soweit der Verfasser sich über die umfangreiche französische Literatur
über den Strukturalismus einen Überblick verschaffen konnte, hat es den
Anschein, daß Althusser (neben Foucault) weit über die Konzeption von
Levi-Strauss hinausgeht, auf den er sich beruft. Dieser spricht immerhin
noch von einer •Komplementarität• strukturaler und genetischer Methoden
und betrachtet die übergreifende Struktur als • vermittelndes• Moment.
9 Poulantzas, I. c., S. 6 5 .
1 0 Jbid., cf. S. 6 4 ff .

19 7
langt, indem er an die Stelle unbrauchbarer »ideologischer«
Begriffe wie »Wesen des Menschen«, >> Selbstentfaltung der
Gattung«, »Entfremdung«, »Arbeit«, »Praxis«, kurz aller
spekulativen, in dieser oder jener Weise subjektiv gefärbten
Kategorien streng wissenschaftliche treten ließ. Althusser nennt
in diesem Zusammenhang die bekannten Termini Gesellschafts­
formation, Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Oberbau
und Ideologie. Mit ihrer Aufnahme durch Marx geht, was für
Althusser besonders wichtig ist, zweierlei einher : die »radikale
Kritik der theoretischen Ansprüche jedes philosophischen Hu­
manismus« und die »Definition des Humanismus als Ideolo­
gie«."
Von hier aus kommt die strukturalistische Interpretation zu
der neuerdings stark diskutierten These vom >>theoretischen
Anti-Humanismus« und »Anti-Historizismus« der Marxschen
Lehre. »An den Menschen etwas erkennen«, schreibt Althusser,
»kann man nur unter der absoluten Bedingung, daß der philo­
sophische (theoretische) Mythos vom Menschen zu Asche re­
duziert wird.«11 Dieser abstrakten, alle Kontinuität und
alle Obergänge vernachlässigenden Aufteilung des Marxschen
Werks in eine »ideologische« und eine >>wissenschaftliche« Phase
entspricht es, wenn Althusser mit der so aktuellen Idee eines
»sozialistischen Humanismus« nichts anzufangen vermag. So­
zialismus ist für ihn ein wissenschaftlicher Begriff, Humanismus
ein ideologischer, das heißt, er ist für den Aufbau des theoreti­
schen Konzepts bedeutungslos. Gleichwohl (und hierin unter­
sdieidet sich sein Denken etwa von dem Foucaults) kommt
Althusser praktisch-politisch ebensowenig ohne den Humanis­
mus aus wie die von ihm abgelehnten »historizistischen« Marxi­
sten : von der reinen Theorie gilt es zur Untersuchung der
handfesten Fragen zurückzukehren, wenn anders die von
Marx anvisierte Transformation der Gesellschaft stattfinden
soll.

II Althusser, Marxismus und Humanismus, in : Für Marx, Frankfurt am


Main 1968, S. 176 (Hervorhebungen von Althusser).
11. Cf. ibid., S. 179 (Hervorhebungen von Althusser) ; sowie Althusser/
Balibar/Establet, Lire le Capital, li, I. c., S. 7 3 .
Althussers Ideologienlehre

Wenn Althusser dem theoretisch verschmähten Humanismus


einen praktischen Wert durchaus zuerkennt, so hängt das da­
mit zusammen, daß er von Marx und Engels erheblich ab­
weicht, was die Ideologienlehre betrifft. Ein Punkt, der hier
wegen seiner Wichtigkeit für eine Kritik der strukturalistischen
Interpretation des Kapitals zu erörtern ist.
Die Begründer des dialektischen Materialismus sprechen in
dreierlei Hinsicht von >> Ideologie« . Einmal (das gilt vor allem
für die nach 1 8 50 entstandenen Schriften), wenn sie global und
,.wertneutral« den außerökonomischen Lebensbereich der Ge­
sellschaft kennzeichnen wollen ; ferner dann, wenn sie auf den
sozial-psychischen Habitus bestimmter Gruppen, Schichten und
Klassen eingehen, auf spezifische Denkhaltungen, Vorurteile
und Illusionen (etwa des Kleinbürgertums) ; schließlich - und
das ist der verbindlichste Wortgebrauch -, wenn sie den mit der
Warenproduktion notwendig einhergehenden >>gegenständ­
lichen Schein«' 3 denunzieren, als seien die >>gesellschaftlichen
Charaktere« der menschlichen Arbeit »Natureigenschaften der
Arbeitsprodukte«.14 Sowenig es sich hier darum handeln kann,
diese Theorie zu diskutieren - fest steht, daß sie bei Marx im
Hinblick auf einen menschlichen Zustand ausgesprochen wird,
der des ideologischen Scheins nicht länger bedarf.
Demgegenüber geht Althusser die Problematik der Ideologien
gänzlich anders an, wobei er freilich nicht nur von der struktu­
ralen Methode, sondern auch von parteikommunistischen Tra­
ditionen bestimmt ist, die mit dem authentischen Marxismus
insofern nichts gemein haben, als sie »Geistiges überhaupt« mit
,.Ideologischem« gleichsetzen. So folgt er der amtlichen Auf­
weichung und Neutralisierung des Ideologiebegriffs, wenn er
den strategischen und pejorativen Akzent, den dieser bei Marx
hat, im Grunde abstreift und behauptet, »die Ideologie als sol­
che« sei >>in organischer Weise Teil jeder gesellschaftlichen Ge­
samtheit. [ . . . ] Die menschlichen Gesellschaften scheiden die
Ideologie aus wie ein Element oder eine Atmosphäre, die für
ihre Atmung, für ihr geschichtliches Leben unerläßlich sind.
Nur eine ideologische Weltanschauung (wenn es seiner Argu-
13 Marx, Das Kapital, Band I , Berlin 1 9 5 5 , S. 8o.
1 4 Ibid., S. 77.

1 99
mentation paßt, erinnert sich auch Althusser des ursprünglich
kritischen Sinns dieses Terminus, A. S.) konnte Gesellschafl:en
ohne Ideologien erdenken und die utopische Idee einer Welt
zulassen, in der die Ideologie [ . . . ] verschwinden würde, um
durch die Wissenschaft ersetzt zu werden.« 1 5 Dadurch, daß Alt­
husser die Ideologien primär nach ihrer funktionellen Seite hin
untersucht und die ihrer geschichtlichen Genesis beiseite läßt,
kann er sie als unbewußt wirkende >>Systeme von Vorstellun­
gen<< 16 betrachten, die sich >>der Mehrzahl der Menschen [ . . . ]
vor allem als Strukturen auf(drängen), ohne durch ihr >Be­
wußtsein< hindurchzugehen. Sie sind wahrgenommene-ange­
nommene-ertragene kulturelle Objekte<< '7, soziale Formen,
in denen die Individuen ihre »Welt<<, das heißt die Art aus­
drücken, >>wie sie ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen
leben<< . 1 8 Entscheidend dabei ist für Althusser, daß Ideologie
als dieser Ausdruck stets so beschaffen ist, daß sie Wirkliches
und Imaginäres (Bilder und Mythen) verknüpf!: : >>In der Ideo­
logie ist das wirkliche Verhältnis unvermeidlich in das imagi­
näre Verhältnis eingelassen : ein Verhältnis, das eher einen
(konservativen, konformistischen, reformistischen, revolutio­
nären) Willen, ja sogar eine Hoffnung oder eine Sehnsucht
ausdrückt, als daß es eine Wirklichkeit beschreibt. << 1 9 Daß
Althusser in der Klammer dieses Zitats höchst verschiedene
politische Willensimpulse nebeneinander aufzählt und unter
>>Ideologie<< subsumiert, macht deutlich, wie belanglos die -
unabdingbar philosophische - Wahrheitsfrage letztlich für
seine szientistische Konzeption ist. Selbst die Mannheimsehe
Wissenssoziologie hatte jene Richtungen des Willens noch
qualitativ auseinandergehalten und bestimmten Stufen und
Tendenzen des geschichtlichen Prozesses zugeordnet. Mehr
noch als Mannheim fehlt es Althusser an theoretisch brauch­
baren Kriterien, die es gestatten würden, einen plausiblen
Grund dafür anzugeben, daß man für diese und gegen jene
Einstellung optieren soll. Es geht denn auch seiner Konzep­
tion im Gegensatz zur Marxschen weniger darum, Ideologien
I5 Für Marx, I. c., S. I 8 2 (Hervorhebungen von Althusser) .
I6 Ibid.
I7 lbid., S. I 8 3 (Hervorhebung von Althusser) .
I8 Jbid., S. I 84.
I 9 Ibid. (Hervorhebungen von Althusser) .

200
(falsches Bewußtsein und Verhalten) zu durchschauen, histo­
risch-dialektisch zu relativieren, als darum, ihre unaufhebbare
"Existenz und notwendige Funktion anzuerkennen. Letztere
besteht in sogenannten primitiven wie modernen Gesellschaf­
ten unbeschadet der sachlichen »Wahrheit« oder >>Falschheit<<
des von ihnen Ausgedrückten darin, zur »Sozialen Logik«,
zur inneren Kohärenz der betreffenden >>Ordnung« beizu­
tragen (die als solche, wie es bei Levi-Strauss heißt, allemal
•dem Chaos überlegen« 20 ist) . Ähnlich wie seinerzeit Bogda­
nows verkappt-idealistischer >>Empiriomonismus << betont Alt­
husser die den Rohstoff sinnlicher Erfahrung kollektiv >>har­
monisierende<< und >>organisierende<< Rolle der Ideologien.
Wird aber deren Bereich, wie dies im marxistischen Struktu­
ralismus geschieht, nicht zu einer verschwindend-scheinhaften,
sondern für das gesellschaftliche Leben >>wesentlichen Struk­
tur«21 erklärt, dann entsteht eine positive Ideologienlehre.
Althusser kann, was er mit Recht die >>brennendste Frage« des
historischen Materialismus nennt, die nämlich nach der Ab­
schaffbarkeit der Ideologien, nur so beantworten, daß er ver­
sichert, es lasse sich nicht vorstellen, »daß selbst eine kommuni­
stische Gesellschaft je ohne Ideologie auskommen könnte
[ . . . ] « .22 Im Gegenteil, sie ist >>als System von Massenvorstel­
lungen« in jeder Gesellschaft unentbehrlich, >>um die Menschen
zu bilden, sie zu verändern und in die Lage zu versetzen, den
Anforderungen ihrer Existenzbedingungen zu genügen«.23
Eben das leisten die den Menschen aufgenötigten ideologischen
Bewußtseinsformen und Verhaltensschemata allenthalben nur
zu gut.
Um seine problematische Marx-Interpretation abzusichern,
muß Althusser selbst die den ideologie-bedürftigen Zustand auf­
hebende, bewußte Kontrolle des Produktionsapparats durch

20 Claude Levi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968,


S. 27 ; c f . auch S. 2o-2 3 . - Urs jaeggi weist in seiner überaus instruktiven
Studie Ordnung und Chaos. Strukturalismus als Methode und Mode (Frank­
furt am Main 1968, S. 1 30) auf die - tendenzielle - Indifferenz der Struk­
turalisten gegenüber der Wahrheitsfrage hin, die bei Uvi-Strauss zwar
nicht bis zur einfachen I dentifikation von Magie und Wissenschaft geht,
aber doch beide Bewußtseinsweisen eng aneinander rückt.
2 1 Althusser, Marxismus und Humanismus, in : I. c., S. 1 8 3 .
2 2 Ibid., s . I h .
2 3 Ibid., s . I 8 6 f.

201
die Individuen als »ideologisch« vermittelt bezeichnen.'4 Zwar
denkt er dabei mehr an das nachrevolutionäre Fortbestehen
von Moral, Kunst und allgemeinen Vorstellungen, in denen
sich die Menschen ihr Verhältnis zur Welt vergegenwärtigen,
weniger an die Religion, mit deren Kritik die Marxsche Ent­
wicklung zum materialistischen Dialektiker einsetzt. Aber es
scheint doch von Interesse, seine Ansicht mit der Marxschen
Religionskritik im Kapital zu konfrontieren, weil auf diese
Weise die sachliche Differenz deutlich hervortritt. >>Der reli­
giöse Widerschein der wirklichen Welt«, heißt es hier, >>kann
überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des prak­
tischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig
vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. «
Das aber ist nur möglich, wenn »die Gestalt des gesell­
schaftlichen Lebensprozesses [ . . . ] als Produkt frei vergesell­
schafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kon­
trolle steht«.'5 Man sieht : nicht durch »die Wissenschaft<<, also
einen Inbegriff von Formen instrumenteller Rationalität, wird
hier Ideologie aufgelöst, wie Althusser ihrer klassischen Kritik
unterstellt,>6 sondern durch einen objektiv vernünftigen Zu­
stand der Gesellschaft.

Althussers theoretischer »Anti-Humanismus« und »Anti­


Historizismus«

Wenden wir uns nach diesem Exkurs über die strukturalisti­


sche Ideologienlehre nochmals dem bei Marx angeblich vorlie­
genden »theoretischen Anti-HumanismuS<< und »Anti-Histori­
zismus« zu. Althusser setzt sich großen Schwierigkeiten aus,
wenn er an seiner starren Dichotomie von »wissenschaftlichen<<
und »ideologischen« Begriffen festhalten will. So ist für
ihn, wie oben angeführt, das Konzept eines »sozialistischen
Humanismus« theoretisch wertlos, weil es zwei völlig getrennte
Bereiche zu verbinden sucht : Wissenschaft und Ideologie. Wie
aber, bleibt zu fragen, will Althusser die »Ideologie« des
Humanismus »in ein Instrument der reflektierten Einwirkung
24 Cf. ibid., s. I 87.
2 5 Marx, Das Kapital, Band I , I. c., S. 8 5 .
2 6 Cf. Althusser, I . c., S. 1 82 •

.20.2
auf die Geschichte [ . . . ] verwandeln«27, wenn theoretische Re­
flexion sich nur auf Kategorien erstreckt, die keiner Philoso­
phie des Menschen verhaftet sind? Und was bedeutet nach der
schroffen Trennung des Theoretischen vom »Ideologischen«
Althussers Rede von den »ideologischen Termini der marxisti­
sdten Theorie« ?28 Probleme, die in dem freilich unglücklichen
Ausdruck »wissenschaftliche Ideologie<<, der gelegentlich in
Lenins Schriften auftaucht, zumindest anvisiert sind. Bei Alt­
husser hingegen bleibt das Interesse an einer besseren Gesell­
sdtaft dem eigentlich theoretischen Prozeß äußerlich. Die
widerspruchsvolle Einheit von Theorie und Praxis, ein entschei­
dendes Thema, wird nicht wirklich dialektisch behandelt. Dem
Humanismus spricht Althusser wesentlich zwei politische Auf­
gaben zu, die nach dem Entwickelten theoretisch gar nicht legi­
timiert sein können. Er ist, im Weltmaßstab, »Ablehnung aller
Diskriminierungen, seien es rassische, politische, religiöse [ . . . ] .
Er ist Ablehnung jeder ökonomischen Ausbeutung und politi­
schen Knechtschaft. Er ist Ablehnung des Krieges«. In der So­
wjetunion betrifft er »die Aufhebung der Periode der Diktatur
des Proletariats<<.29 Trotz dieser praktisch-politischen Funktion
vermag der Humanismus den erkenntnistheoretischen Bruch
(»la rupture epistemologique«l0) nicht ZU beseitigen. Treffend
beschreibt Jaeggis Buch die Aporie des Altbusserschen Ansat­
zes : >>Die Wissenschaft wird >formalisiert<, die Ideologie >hu­
manisiert< und als reine Praxis verstanden ; das >Anthropolo­
gische< an Marx wird als bloß Subjektives über Bord geworfen,
wird pure Gesinnung. Das expurgierte Denken aber hat das
Wissenschaftliche am Marxismus weiterzutreiben, [ . . ] d. h. in
.

ein lückenloses System zu binden. [ . . . ] Die angebliche Rationa­


lität eines wissenschaftlichen, systemgerechten Denkens wird
[ . . . ] bezahlt durch die effektive Irrationalität der möglichen
Praxis, in die sich nach Althusser die humanistische Ideologie
umsetzen soll.«l' Was die strukturalistische Marx-Interpreta­
tion um jeden Preis vermeiden möchte, tritt jetzt erst recht ein :
auf Ideologie im Sinn von »unwissenschaftlichem« Denken
27 Ibid., S. 1 8 3 .
28 Ibid., S. 1 9 2 (Hervorhebung vom Verfasser) .
29 Ibid., S. 1 89.
30 Althusser, Lire le Capital, I I , I . c., S. 73·
3 1 Urs Jaeggi, Ordnung und Chaos. Der Strukturalismus als Methode und
Mode, I. c. , S. 1 54 ; S. 1 5 5 .

203
reduziert, verflacht der Humanismus zu bloßer Kulturkritik,
welche die »entfremdenden« Wirkungen von Technologie und
gesteuertem Massenkonsum beklagt, ohne sich auf eine inhalt­
lich-gesellschaftliche Analyse einzulassen. Indem das Haupt­
interesse Althussers sich auf die gegebenen Strukturen richtet
und deren Vergangenheit und Zukunft außer acht läßt, ver­
liert er die historische Dialektik von Möglichkeit und Wirk­
lichkeit aus dem Blick, wie sie im Marxschen Begriff der >>ob­
jektiven Tendenz« ebenso angelegt ist wie in Blochs Idee einer
>> Tendenzwissenschaft« in utopisch-antizipatorischer Absicht
oder im Konzept des »Entwurfs « bei Sartre und Marcuse. Mit
Grund rügt Jaeggi an Althusser, daß er zwar die »rein analy­
tische Funktion der Wissenschaft<d 2 fördert, aber irrfolge seiner
(Hegelsch gesprochen) abstrakten Trennung von Geschichte
und Theorie, Humanismus und Theorie, Theorie und Praxis
gezwungen wird, der begrifflichen Konstruktion im nachhinein
aufzupfropfen, was nicht angemessen mit ihr vermittelt wur­
de.H

Die »originäre Problematik« des »Kapitals«

Wie nun sieht auf Grund der erörterten Prämissen der Alt­
hussersche Zugang zur >>originären Problematik« des Kapitals
aus ? Althusser, und dem ist zunächst beizupflichten, empfiehlt
eine >>symptomatische Lektüre« des Marxschen Werks, eine
solche nämlich, die jenen Motiven nachspürt, die objektiv in
ihm angelegt sind, aber erst heute interessant werden ; Marx
selbst mußten sie unbewußt bleiben. Der Verfasser dieses Auf­
satzes vertritt seit Jahren die Ansicht, daß Marx in seinen pro­
gramatischen Vor- und Nachworten, die immer wieder als ver­
bindlich zitiert werden, weit hinter dem zurückbleibt, was er in
seinen materialen Untersuchungen theoretisch leistet. Daraus
nun aber - wie dies bei Althusser geschieht - zu schließen, das
Marxsche Selbstverständnis sei völlig belanglos für die philo­
sophische Interpretation, ist ebenso verfehlt wie ein allzu
naives Hinnehmen der Texte. Wohin es führt, wenn die
Selbsteinschätzung eines so reflektierten Schriftstellers wie
3 2 Ibid., S. 1 5 6.
33 lbid., cf. S. 1 5 5 .

204
Marx gänzlich mißachtet wird, zeigt sich besonders scharf an
der Tendenz des »Strukturalisierten« Marxismus, jedes sachli­
che Fortwirken Hegels im Kapital zu leugnen, nur um ja dem
Marxschen Unternehmen den Glanz radikalen Neubeginns
verleihen zu können. So fegt Althusser die gesamte Literatur
über Marx seit Geschichte und Klassenbewußtsein beiseite,
wenn er »die ganze modische Theorie der >Verdinglichung<<< zu
einer bloßen Projektion der Entfremdungstheorie der Früh­
sdtriften auf die Analyse des Fetischcharakters der Ware im
Kapital stempelt.H Es geht hier, wohlgemerkt, nicht darum,
den inflationären - Marx hätte gesagt »belletristischen« - Ge­
brauch der Kategorie der Entfremdung oder des Humanismus
zu verteidigen, wie er sich neuerdings bei Theologen eingebür­
gert hat. Althusser ist zuzustimmen, wenn er dagegen polemi­
siert, daß >>die Zuflucht zur Moral, die tief in jeder humanisti­
sdten Ideologie verankert ist«, oft genug dazu dient, reale
Probleme >>imaginär« zu behandeln.J5 - Ebenso berechtigt ist es,
wenn er daran erinnert, wie sehr die kritische Theorie nach
1 8 50 genötigt war, objektiven Strukturen gegenüber subjektiv­
menschlichen Momenten den Vorrang einzuräumen ; die Ent­
fremdungsthematik kommt zwar dem Begriff wie der Sache
nach beim reifen Marx durchaus noch vor, aber sie wird nicht
mehr an den abstrakten Kategorien eines (von Feuerbach in­
spirierten) aktivistischen Humanismus, sondern an den Inhal­
ten der politischen Ökonomie entwickelt.
Freilich - und das wird von Strukturalisten meist übersehen
- sind die Menschen für den dialektischen Materialismus kei­
neswegs nur >>Objekte« fester Ordnungen, sondern immer
auch »Subjekte« ihrer jene Ordnungen stets wieder aufspren­
genden Geschichte. Diese entsteht »dank der einfachen Tat­
sache, daß jede Generation die von der alten Generation
erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial
für ;,.eue Produktion dienen [ . . ] Die sozi ile Geschichte der
. .

Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Ent­


wicklung, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht«.J6 Am
Anfang des Achtzehnten Brumaire hebt Marx in einem be-
34 Cf. Marxismus und Humanismus, in : I. c . , S. 1 80, Fußnote.
3 5 Ibid . , cf. S. 201 f.
36 Marx an P. W. Annenkow Brief vom 28. u. 1 846, in: Marx/Engels,
Ausgewählte Schrift� Berlin 1 966, S. 4 1 2 f.
rühmten Satz hervor, daß die Menschen »ihre eigene Ge­
schichte« machen, wenn auch »nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundnen, gegebenen und über­
lieferten Umständen« ,37 Aus beiden Zitaten geht schlagend
hervor, daß Marx darin streng dialektisch dachte, daß er nie
über den fertigen Produkten das Produzieren, nie über den
Strukturen d ie strukturierende Titjgkeil; JU:.tgaß. Die dialekti­
schen Materialisten, betont auch der reife Marx, verbinden
>> die wissenschaftliche Einsicht in die ökonomische Struktur der
bürgerlichen Gesellschaft« mit dem Kampf >>Um selbstbewußte
Teilnahme an dem unter unsern Augen vor sich gehenden ge­
schichtlichen Umwälzungsprozeß der Gesellschaft«.3s Auch
hier bilden Struktur und Prozeß eine untrennbare Einheit.
Jede Gegenwart ist durch Vergangenes strukturiert und bringt
einen neuen, künftigen Zustand aus sich hervor.
Was das Kapital angeht, dasjenige Werk also, auf das Althus­
ser sich besonders gern beruft, so liefert es ebensowenig eine
Handhabe für >>theoretischen Anti-Humanismus<< und »Anti­
Historizismus<< wie die anderen Arbeiten der Autoren. Unter­
suchen wir vorerst den Komplex des »Anti-Humanismus<< .
In der Tat gibt e s beim reifen Marx nicht wenige Äußerungen,
die auf den ersten Blick eine rein objektivistische Interpreta­
tion nahelegen. So unterstreicht er in seiner Polemik gegen
Adolph Wagner, daß seine » analy tis ch e Methode« keineswegs
»von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebnen Ge­
sellschaftsperiode« ausgeht.39 Im >>Rohentwurf« des Kapitals
heißt es ausdrücklich : >>Die Gesellschaft besteht nicht aus Indi­
viduen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhält­
nisse aus, worin diese IndiYidueiJ zueinander stehn<<4° ; sie ist,
anders gesagt, ein objektiver Funktionszusammenhang. Im
Kapital selbst schließlich schreibt Marx besonders drastisch, es
handle sich bei seiner Untersuchung »um die Personen nur, so­
weit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind,

37 I n : ibid., Band I, Berlin 1 966, S. 116.


3 8 Marx, Herr Vogt, Berlin I 9 5 J • S. 7 5 ; 76.
39 Marx, Randglossen zu Adolph Wagners >Lehrbuch der politischen Öko­
nomie<, in : Marx/Engels, Werke, Band 19, Berlin 1 962, S. 3 7 1 (Hervor­
hebungen von Marx) .
40 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 3 >
S. 176 (Her vorhebungen vom Verfasser) .

206
Träger von bestimmten Klassenverhältnisen und lnteres­
sen c .4 '

Aber diese den Strukturalisten so imponierende Objektivität


des Sozialen ist für den Dialektiker Marx kein unableitbar
Letztes. Er begreifl sie als produziert, >>Vermittelt« durch die
zwar subjektiv bewußten, aber hinsichtlich ihres gesellschaft­
lichen Gesamtresultats unbewußten Handlungen der Men­
schen. »Sosehr nun«, entwickelt der Marxsche Rohentwurf,
»das Ganze [ . . . ] als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und so­
sehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten
Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, so­
sehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver
Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht ; zwar aus dem
Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber
weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie
subsumiert wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert
ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht
[ . . . ] . Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinan­
der als verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie
nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger
Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt
nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist«.4
Wenn irgendwo, dann wird hier einsichtig, wie unzulänglich
die strukturalistische Interpretation der Marxschen Ökonomie
ist. Bei aller Präponderanz der objektiven Strukturen im ka­
pitalistischen System denkt Marx gar nicht daran, deren Ver­
mitteltheit durch die lebendigen Menschen zu ignorieren. Daß
diese zu bloßen >>Trägern<< und >>Vollzugsorganen« eines unab­
hängig von ihnen bestehenden »objektiven Zusammenhangs«
herabgesetzt werden, ist für ihn nicht etwa wissenschaftliche
Norm, sondern Anlaß zu schärfster Kritik ; denn »der Mensch<<
kann als >>freies gesellschaftliches Individuum<< zum Ausgangs­
punkt des Denkens erst dann werden, wenn er in der Realität
kein Anhängsel entfremdeter, weil unbeherrschter Strukturen
mehr ist. Marcuse hat denn auch nachdrücklich auf Elemente
eines >>kommunistischen Individualismus<< bei Marx und Engels
41 Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 8 ; Vorwort zur ersten Auflage.
42 Marx, Grundrisse, I. c., S. 1 I I (Hervorhebung von Marx) . - Cf. zu die­
ser Dialektik von objektiver Struktur und subjektiven, sie konstituierenden
Akten auch S. 1 5 5 f.
hingewiesen43 ; darauf, daß die Autoren bereits in der Theorie
j e"den Fetischdienst hinsichtlich der Sozialisierung der Produk­
tionsmittel oder des Wachstums der Arbeitsproduktivität zu­
rückweisen ; daß sie diese Faktoren der I dee einer allseitigen
Entfaltung individueller Anlagen und Kräfte unterordnen.
Soweit die Strukturalisten sich dabei bescheiden, vorhandene
Strukturen aufzuweisen und zu zergliedern, versehen sie diese
mit einer Art metaphysischer Weihe ; ihre Theorie wird, mit
anderen Worten, ungewollt zur Apologetik des Bestehenden.
So übersieht Althusser völlig, daß seine Reduktion der (in
Wahrheit geschichtlich motivierten) Lehre von der materiellen
Produktionsweise des Lebens auf eine »Kombinatorik«, ein
»System von Formen<<44 den - im theoretischen Sinn - kriti­
schen Impuls bei Marx unterschlägt. Solange >>les vrais >Sujets<
(au sens de sujets constituants du proces) « nicht >>les >individus
concrets<, les >hommes nfels< <<45 sind, sondern die subjektlos­
naturwüchsigen Produktionsverhältnisse, herrscht ein falscher
Zustand. Ihn kann die strukturalistische Marx-Interpretation
innertheoretisch nicht wirklich bewältigen, weil die (auch
materialistisch nicht zu überspringende) Konstitutionsfrage
außerhalb ihres Horizonts verbleibt ; sie kann ihn lediglich
moralisch verdammen - in den Kategorien eines der politischen
Sphäre entlehnten Humanismus. Daß sich die bürgerlichen
Produktionsverhältnisse nicht auf eine >>intersubjectivite an­
thropologique«46 (die freilich stets auch die produktive Bezie­
hung der Menschen zur Natur einschließt) zurückführen lassen,
steht bei Marx gerade zur Kritik. Althusser jedoch trennt, wie
wir bereits sahen, seine theoretische Konstruktion von der Idee
der Weltveränderung, an welcher der Wissenschaftsbegriff des
dialektischen Materialismus gerade orientiert ist.
Erkenntnistheoretisch ist Althussers Interpretationsansatz im
strengen Sinn »naiv<<, weil er die ökonomische Subjekt­
Objekt-Dialektik zugunsten eines formalisierten Objektivis­
mus aufgibt. Für Marx ist der wahre Gegenstand der Erkennt­
nis »ein von der zufälligen Erscheinung wesentlich unter-

43 Cf. die Darstellung der Marxs<hen Theorie in seinem Bu<h Vernunft und
Revolution, Neuwied/Berlin I962, insbesondere S. 2 5 9 f.
44 Cf. J aeggi, I. c . , S. I S 3 .
4 5 Althusser, Lire l e Capital, I. c . , S . I 5 ,. .
46 Ibid.

208
smiedner und sie bestimmender Hintergrund«, der sim freilich
zugleich in der Ersmeinung manifestiert, in ihr aufscheint, durm
sie >>durchleumtet«, wobei letztere immer aum konstitutiv fürs
Wesen ist.47 Dieser den materialistisch-dialektismen Begriff
von Wissensmaft geradezu definierende Gedanke ist für den
Strukturalismus unbrauchbar, wo nicht gar sinnlos. Zwar gibt
es auch für Althusser einzelne >>Ebenen« der gesellsmaftlimen

Wirklichkeit, die durch ihre Beziehungen zum Ganzen signifi­


kant werden. Aber, und darin liegt die entscheidende Differenz
zu Marx, solche Beziehungen sind, wie Jaeggi darlegt, >>keine
Phänomene, keine Widerspiegelungen, kein Ausdru� eines
Ganzen, das sich [ . . . ] hinter ihnen befände ; sie sind im Gegen­
teil das Reale selbst, bilden das Ganze, innerhalb dessen sie
ihre Signifikanz annehmen<< .4s
Indem sich Althusser, ähnlich übrigens wie die amerikanisme,
funktionalistism gerichtete Soziologie (vor allem Parsons) am
kahlen Modell eines komplex strukturierten Ganzen orientiert,
das heißt an einem fertigen System, in das untergeordnete
Strukturen (ideologische Bereime) einzugliedern sind, wird
sein Denken >>eindimensional<< im Sinn Marcuses. Mit den leib­
haftigen Menschen und ihren ungestillten Bedürfnissen, die (in
seiner Theorie jedenfalls) der starren Logik des sozialen Sy­
stems überantwortet werden, eliminiert Althusser materiale
Gesmichte, mit ihr die Idee des Werdens überhaupt.

Lejebvre und Sartre als Kritiker des »Anti-Historizismus«

Eben dieser >>Anti-Historizismus<<, der letztlim auf eine Ab­


sage an alle Dialektik hinausläuft, auch wenn er deren Termi­
nologie teilweise beibehält und sich gebärdet, als sei es ihm nur
um Hegel-Kritik zu tun, ist in jüngster Zeit, zumal in Frank­

reim, von marxistischer Seite smarf angegriffen worden.


47 Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 69.
48 Jaeggi, I. c., S. 5 3 ; cf. audt S. p, wo Jaeggi darauf hinweist, daß der
Strukturbegriff, wie Althusser ihn benutzt, nidtt mit dem dialektisdten Be­
gnff von Totalität gleidtgesetzt werden kann. » Struktur• ist vielmehr ein
•methodolog1sme1' Operator [ . . . ], der es ermöglidtt, das Versdtiedene und
das Vielfältige zu erklären ; gleidtzeitig zeigt die Struktur, daß das Ganze
(- stets sdton als feste Größe gegeben -, A. S.) nidtts anderes ist als die
Versdtiedenheit, die das Reale ausmamt•.
Lefebvre, der sich besonders um die linguistischen Grundlagen
der strukturalen Methode kümmert, spricht geradezu von
einem »neuen Eleatismus<<49, der im Gegenteil zum alten nicht
die sinnliche Bewegung überhaupt leugnet, sondern die der Ge­
schichte ; der sich des historischen Werdens dadurch entledigt,
daß er entweder behauptet, es sei ihm weder Orientierung
noch Sinn zu entnehmen, oder aber dieser Sinn sei mit der
Herrschaft technologischer Rationalität erfüllt. Methodisch
neigen die Strukturalisten zu einer »archeologie des sciences
sociales« ; das geschichtliche Denken ist ein irrationales über­
bleibsel. 5 o Während Marx das Gegenwärtige als immer noch
archaisch, verstrickt in unwandelbare Natur, denunziert, wol­
len die Strukturalisten, insbesondere Levi-Strauss, im Archa­
ischen die auch fürs Gegenwärtige (sozial) verbindlichen, unbe­
wußt wirkenden Invarianten aufdecken. - Sartre hebt ganz
wie Lefebvre die ideologische Funktion des Strukturalismus
hervor ; er ist für ihn >>die letzte Barriere, die das Bürgertum
noch gegen Marx errichten kann« . Selbst wo die neue Lehre
Wandel gelten läßt, wo sie noch Epochen, ein Vorher und ein
Nachher unterscheidet, ersetzt sie die wirkliche Bewegung der
>entdramatisierten< Geschichte (Lefebvre) >>durch aufeinander­
folgende lmmobilitäten«.P - Was Althusser anbetrifft, so
pflichtet ihm Sartre bei, wenn er einen »einfachen Historizis­
mus « bekämpft, der sich einbildet, der Mensch sei so, >>wie die
Geschichte ihn fordert«, er leiste an der ihm zugewiesenen Stel­
le »genau die AJ;beit, die sie von ihm erwartet« Y Dadurch
aber, daß Althusser die naive Ansicht von einer >>fordernden
Geschichte« methodisch durch die »Strukturelle Gesamtheit«
verdrängt, welche die Menschen umgibt und bedingt, bleibt
Geschichte, soweit er sie überhaupt noch berücksichtigt, >>in den
Strukturen gefangen«. Und Sartre rekurriert entschieden auf
die oben umrissene Marxsche Position, wenn er unterstreicht,
daß es einen »ständigen Widerspruch zwischen der praktisch­
trägen Struktur« - >le pratico-inerte< in der Kritik der dialek-
49 Cf. seine Studie Claude Uvi-Strauss et le nouvel 6/eatisme, in : l'homme
et Ia societe, in : Revue internationale de recherches � t de syntheses sociologi­
ques, Nr. r, Paris 1 966, S. 2 1-3 1 ; und ibid., Nr. 2 , Paris 1 966, S. 8 r- r o2 .
so Cf. ibid., Nr. r , S. 27 und S. 2 7 f.
s r ]ean-Paul Sartre antwortet, Interview mit Bernard Pingaud, in : alter­
native, Heft 54, Strukturalismusdiskussion, Berlin 1 967, S. u9.
5 2 Ibid., s. I J2.

2IO
tischen Vernunft >>und dem Menschen gibt, der entdeckt, daß
-

er von ihr bedingt ist. Jede Generation nimmt zu diesen Struk­


turen eine andere Distanz ein, und diese [ . . . ] erlaubt den Wan­
del der Strukturen selbst. [ . . . ] Es geht immer darum, für oder
gegen die Geschichte zu denken. Wenn man [ . . . ] zugesteht, daß
die historische Bewegung eine unaufhörliche Totalisierung ist,
daß jeder Mensch in jedem Augenblick Totalisierender und
totalisiert ist, stellt die Philosophie das Bemühen des totalisier­
ten Menschen dar, den Sinn der Totalisierung zu erfassen«.n
Sartre wirft, mit anderen Worten, den Strukturalisten vor, daß
sie sich fetischistisch an das halten, was die bestehende Welt aus
den Menschen gemacht hat. Ihr wissenschaftlicher Determinis­
mus wird in dem Maße resignativ, wo nicht reaktionär, wie er
versäumt, sich selber als determiniert zu erkennen : durch die
kollektive Praxis der Menschen. Die Strukturen bezeichnen die
passive Seite der Realität, dasjenige, was den Individuen tag­
täglich auferlegt wird. Ihre aktive Seite aber >>ist die Geschich­
te selbst, das :wirkliche überschreiten dieser Strukturen [ . . . ] «,H
Philosophie hat die Aufgabe, beide Seiten als durcheinander
vermittelt zu begreifen. Sartre erfaßt den inneren Zusammen­
hang zwischen dem erkenntnistheoretischen, das heißt welt­
konstitutiven und dem politischen, das heißt weltverändernden
Begriff der Praxis. Umgestalten können die Menschen nur, was
sie als ihr geschichtliches Produkt durchschaut haben. Dazu
aber bedarf es der dialektischen Methode. Nur sie kann »Wirk­
liche Zukunft«, nämlich eine, die über bloße Vermutungen hin­
ausgeht und nicht »auf die Gegenwart reduzierbar<<H ist, in die

S3 Ibid. und S. r 3 3 ·
S -4 Ibid., S. 1 3 3 . - Ahnlieh wie Sartre argumentiert Roger Garaudy (der
den Marxismus als • Methodologie der geschichtlichen Initiative« betrachtet)
in seinem Aufsatz Strukturalismus und der > Tod des Menschen< : •Marx
maßt [ . . . ] beide Momente : das Moment der Struktur, die Strukturierung
durch die Vergangenheit, aber auch das Moment der schöpferischen Tätig­
keit des Menschen, der diese Strukturen geschaffen hat.• I n : Marxismus in
IUIS�rer Zeit, Marxistische Blätter, Sonderheft r / r 96 8 , S. 70. - Zur Kritik
der französischen KP-Autoren am Strukturalismus (auch in seiner Althus­
serschen Version) cf. vor allem die Sondernummer von La Pensee, Hell: r 3 s ,
Oktober 1 967. - Cf. ferner das kenntnisreiche Buch von Günther Schiwy
Dn französische Strukturalismus, Reinbek bei Harnburg 1969, dessen III.
Kapitel den »Strukturalismus als Ideologie• behandelt.
ss Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Harnburg 1 9 67 ,
s. 24.

2II
Theorie aufnehmen ; den geschichtsfeindlichen Autoren der
>>linken Frustration« (Amery) ist ihrem ganzen Ansatz nach
die Dimension der Zukunft verschlossen.

Levi-Strauss' »methodologischer« Rousseauismus

Bei aller polemischen Schärfe, mit der die Debatte zwischen


Strukturalisten und Anti-Strukturalisten geführt wird, ist her­
vorzuheben, daß letztere nicht etwa die strukturale Methode
als solche ablehnen, die sich vielfach bewährt und den Geistes­
wissenschaften zu dem (freilich fragwürdigen) Erfolg verhol­
fen hat, es an Strenge und Exaktheit den Naturwissenschaften
gleichzutun. Was die Anti-Strukturalisten verwerfen, ist die
sich immer deutlicher abzeichnende Tendenz, aus einem heuri­
stisch brauchbaren Verfahren eine anspruchsvolle intellektuelle
Mode, ja eine Philosophie des technischen Zeitalters zu ma­
chen oder aber, wie Schiwy56 sagt, eine »Ideologie der Nicht­
Ideologie« - jenen Gruppen gemäß, die >>ins weltanschauliche
Vakuum geraten sind<<. Beide Weisen, die einzelwissenschaft­
lich gesetzten Schranken der strukturalen Methode zu über­
schreiten, sind indessen verwandter, als es zunächst den An­
schein hat.
Was den zur (mehr oder weniger artikulierten) Philosophie
erhobenen Strukturalismus anbelangt57, so ist er bei dem für
56 Cf. sein unter Fußnote 54 genanntes Buch, S. 27 f.
5 7 Günter Kröber nennt ihn im Gegensatz zur einzelwissenschaftlich prak­
tizierten •strukturalen• Methode einen • kategorischen Strukturalismus•, der
nicht damit rechnen könne, im Marxismus einen Weggefährten zu finden.
Wichtig scheinen Kröbers Überlegungen über das Verhältnis von • Struktur•,
• System• und • Funktion•. Sie treten dafür ein, den Begriff der Struktur
stets im Hinblidt auf die Struktur von Systemen zu verwenden, die nicht
ohne •Elemente• denkbar sind, deren Relationen ein Ganzes biltlen : »Die
Struktur eines Systems bestimmt die Variationsbreite seiner Funktionen
und möglichen Verhaltensweisen. Zwischen Struktur und Funktion besteht
indes kein umgekehrt eindeutiger Zusammenhang. Aus der Funktion und
Verhaltensweise eines Systems kann nicht mit Sicherheit auf seine Struktur
geschlossen werden, da ein und dieselbe Funktion durch voneinander ver­
schiedene Systeme realisiert werden kann . • · (In : Deutsche Zeitschrift für
Philosophie, Heft I I , 1 6 . Jahrgang, Berlin 1968, S. 1 3 14, Hervorhebungen
von Kröber.) An Foucault nun erläutert Kröber, wohin ein Denken führt,
das • Struktur und Element nicht als dialektische Einheit im System• be­
trachtet, sondern die Struktur zum Primären und Determinierenden erklärt,

212
die ganze Richtung maßgebenden Levi-Strauss eigenartig
rousseauistisch gefärbt. Wohl glaubt er im Gegensatz zu man­
eben Literaten des achtzehnten Jahrhunderts nicht an den »bon
sauvage<<, aber - darauf wurde bereits verwiesen - die archa­
ischen Gesellschaften empfehlen sich ihm doch durch ihr klares
und übersichtliches Gefüge. »Rousseau«, erklärt Levi-Strauss
am Schluß seines Buches Traurige Tropen, »verdanken wir es,

wenn wir heute wissen, wie man nach der Zerstörung aller
Ordnungen die Prinzipien entdecken kann, die den Aufbau
einer neuen Ordnung erlauben. Rousseau [ . . . ] vermied es, den
natürlichen mit dem gesellschaftlichen Zustand zu vermischen,
denn er wußte, daß dieser [ . . . ] dem Menschen zugehört. Zwar
leugnete er nicht, daß dieser Zustand gewisse Übel mit sich
bringt, doch lautete für ihn die wesentliche Frage, ob diese
Obel dem gesellschaftlichen Zustand inhärent sind oder nicht.<< i s
Und Levi-Strauss erblickt das große Verdienst Rousseaus, der
(obwohl er nie fremde Länder bereist hat) >>von allen Philoso­
phen am meisten Ethnograph<<59 war, darin, daß er der
Wissenschaft den Weg wies, »jenseits von Mißbrauch und Ver­
brechen [ . . . ] nach den unerschütterlichen Grundlagen der
menschlichen Gesellschaft «6o zu suchen, von denen die geschicht­
lich vorliegenden Gemeinwesen sich zu ihrem Verderben im­
mer mehr entfernt haben.
Ein vorbehaltloses Bekenntnis zu Rousseau, an dem einem auf­
geht, wie sehr dieser bei aller Kritik an den »philosophes « dem
rationalistisch-konstruktiven Geist seines Zeitalters verhaftet
war. Von Rousseau haben die (im weiteren Sinn anthropolo­
gisd:t interessierten) Strukturalisten das Verfahren idealer
Typisierung als Voraussetzung und Basis von Vergleichen :
•Wenn man [ . . . ] nach den Merkmalen forscht, die der Mehr­
heit der menschlichen Gesellschaften gemeinsam sind, so dient

das •vor und unabhängig von den Elementen und vom System selbständige
Existenz haben soll. [ . . . ] Aus der Tatsache, daß Strukturen unabhängig
davon betrachtet und erforscht werden können, welche Elemente in welchen
Systemen sie verbinden, wird der Schluß gezogen, daß sie auch unabhängig
und vor allen Elementen existieren können, daß sie selbständige Wesenhei­
ttn darstellen, die sich ihre Elemente selbst schaffen.• (Ibid., S. 1 3 1 7 , Her­
:..orhebungen von Kröber.)
s8 Köln/Berlin I 960, s. )60.
5 9 Ibid.
6o Ibid. , S. 360 f.

213
der [ . . . ] Vergleich dazu, einen Typus herauszuarbeiten, dem
zwar keine Gesellschaft genau entspricht, der jedoch die Rich­
tung angibt, in die sich die Forschung zu bewegen hat. <<6' Diese
verliert sich nicht in schlecht-romantischer Schwärmerei für die
naturhafte Unmittelbarkeit des Lebens der sogenannten Wil­
den, sondern trägt dazu bei, >>ein theoretisches Modell der
menschlichen Gesellschaft zu entwickeln, das zwar keiner der
Beobachtung zugänglichen Wirklichkeit entspricht, das uns je­
doch dazu verhilft, >das Ursprüngliche vom Künstlichen in der
heutigen Natur des Menschen zu trennen, einen Zustand von
Grund auf kennenzulernen, den es nicht mehr gibt, den es viel­
leicht nie gegeben hat, den es wahrscheinlich niemals geben
wird und über den wir uns trotzdem eine genaue Vorstellung
machen müssen, wenn wir unseren gegenwärtigen Zustand be­
urteilen wollen<«.6z
Erstaunlich, in welchem Maße Levi-Strauss die ahistorischen
Thesen Rousseaus übernimmt; besonders, wenn man bedenkt,
daß er, nicht zuletzt in seiner Diskussion mit Sartre, sich immer
wieder auf Marx beruft. Für diesen waren die vom konstruk­
tiven Denken fixierbaren »allgemeinen Bedingungen aller Pro­
duktion« nichts als abstrakte Momente, »mit denen keine
wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist«.63 Marx
denkt historisch-dialektisch, Levi-Strauss gerät in den »Bann­
kreis traditioneller Philosophie«64, ohne sich darüb�r hin­
länglich Rechenschaft abzulegen. Der Modellbegriff, so un­
entbehrlich er innerhalb seiner Grenzen sein mag, führt,
strukturalistisch gewendet, zu dem, was Lefebvre »Une ontolo­
gie du Systeme«65 nennt.
61 Ibid., S. 3 6 1 . - In der Tat kann Rousseau als ein beachtlicher Vorläufer
modernen Modell-Denkens gelten, in seiner Lehre vom •Gesellscha f!sver­
trag•, aber auch schon im Discours Vber den Ursprung und die Grundlagen
der Ungleichheit unter den Menschen, in dem er seine Methode folgender­
maßen beschreibt : • Man darf die Untersuchungen [ . . . ] nicht als historische
Wahrheiten betrachten, sondern als hypothetische und bedingte Vernunft­
schlüsse, die mehr das Wesen der Dinge erklären, als ihren wahren Ursprung
zeigen. Wir verfahren dabei ähnlich wie unsere Physiker, wenn sie über die
Entstehung der Welt nachdenken. • (Ausgabe Berlin 1 9 5 5 , S. 4 5 .)
62 Ibid., S. 362. - Levi-Strauss zitiert hier aus der Vorrede der unter Fuß­
note 61 genannten Schrift Rousseaus.
63 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 1 , S. 242.
64 Jaeggi, I. c., S. 50.
65 Cf. seinen Aufsatz über Levi-Strauss, in : I. c., Nr. 2, S. 9 0 .

214
Es gehört zu den ins allgemeine Bewußtsein längst übergegan­
genen Einsichten der Marxschen Theorie, daß die Menschen ein
notwendig falsches Verständnis von ihrem gesellschaftlichen
Sein und Tun haben ; daß man Zeitaltern und Schriftstellern
nicht ohne weiteres glauben darf, wenn sie von sich selbst spre­
dten. Levi-Strauss hingegen verfällt den >>phantasielosen Ein­
bildungen des r 8 . Jahrhunderts [ . ], die keineswegs [ . . . ] bloß
. .

einen Rückschlag gegen Überfeinerungen und Rückkehr zu


einem [ . . ] Naturleben ausdrücken<< . Marx fügt dem hinzu,
.

daß auch Rousseaus Cantrat social, der »die von Natur inde­
pendenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbin­
dung bringt«, durchaus nicht >>auf solchem Naturalismus
beruht<< .66 Indem Levi-Strauss den konkreten Gang der Ge­
sdlldtte trotz mitunter anders lautenden Versicherungen igno­
riert, verwechselt er den Ȋsthetischen Schein<< der Sache mit
dieser selbst. In der Konkurrenzgesellschaft, die im Jahrhun­
dert der Aufklärung anfängt, den Individuen als eigengesetz­
lidtes System gegenüberzutreten, »erscheint<<, wie Marx detail­
liert gezeigt hat, »der einzelne losgelöst von den Naturbanden
[. .], die ihn in frühren Geschichtsepochen zum Zubehör eines
.

[ . . ] begrenzten menschlichen Konglomerats madten. Den


.

Propheten des r 8 . Jahrhunderts [ . ] schwebt dieses Indivi­


. .

duum des r 8. Jahrhunderts - das Produkt, einerseits der


Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andrerseits der
seit dem r 6. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte -
als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangne sei. Nicht als
historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Ge­
sdlldtte. Weil als das naturgemäße Individuum, angemessen
ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein
geschichtlich entstehndes, sondern von der Natur gesetzteS. <<67
- Dieser von Marx aufgedeckten Dialektik des Scheins, die
darin besteht, daß der von den Aufklärern für natürlich ge­
haltene Menschentyp in Wahrheit ein historisch vermittelter
ist, während derjenige der vorbürgerlichen Epochen, den sie
für >>künstlich<< hielten, gerade naturwüchsig war - dieser
Dialektik vermag sich auch Levi-Strauss nur schwer zu ent­
ziehen. Zwar behauptet er, das - eigenartig zwischen Realität
und Fiktion oszillierende - Modell des »natürlichen Menschen<<
66 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, I. c., S. 2 3 5 und 2 3 5 f .
67 Ibid., S. 236 (Hervorhebungen von Marx) .

215
sei weder bloß ausgedacht noch historisch abgeleitet ; der
>>natürliche Mensch<< sei >>der Gesellschaft weder vorausgegan­
gen, noch [ . . . ] ihr äußerlich<< .68 Da er jedoch an Rousseaus
Unterscheidung von Natur und Kultur, von Ursprünglichem
und Künstlichem als einer objektiv begründeten festhält,
kommt er ohne Werden (inhaltlich erfüllte Zeit) nicht aus -
so sehr er sein Modell >>außerhalb von Raum und Zeit«69
situieren möchte. - Der Rousseausche Gedanke, daß es für
die Menschheit besser gewesen wäre, ein Gleichgewicht zwi­
schen der >>Passivität des primitiven Zustands<< und der
»unbändigen Aktivität unserer Eigenliebe<<7° zu erhalten, wie
es bei den Wilden allenthalben anzutreffen sei, wird von Levi­
Strauss merkwürdigerweise dahingehend interpretiert, daß
»jenes Gleichgewicht keineswegs an einen primitiven Zustand
gebunden sei, daß es im Gegenteil einen gewissen Fortschritt
voraussetze ( . . . ], daß es aber auch von keiner der beschriebenen
Gesellschaften rein verkörpert werde [ . . . ] << .7 1 Solche halben Zu­
geständnisse an historisches Denken dürfen freilich nicht dar­
über hinwegtäuschen, wie sehr Levi-Strauss dazu neigt, die
Wirklichkeit der Geschichte buchstäblich »wegzudenken << . Sei­
ner Wissenschaft stellt er die Aufgabe, den >>natürlichen Men­
schen<< wiederzufinden, der die geheime Basis des gesellschaft­
lichen Zustands überhaupt darstellt, und die Erkenntnis seiner
Beschaffenheit für die jeweils gegebene Ordnung auszunutzen.
Dabei stört es ihn wenig, daß dieses >>ewige und universelle<<72
Konzept Rousseaus Gefahr läuft, den geschehenden WaQ.del
zu unterschätzen. Allen Tatsachen der Ethnographie und Ge­
schichte glaubt Levi-Strauss vielmehr entnehmen zu können,
»daß die Menschen immer und überall im Hinblick auf ein
gleiches Ziel die gleichen Aufgaben unternommen [ . . . ] und sich
im Laufe der Zeit nur verschiedener Mittel bedient haben<< .73
Die Frage, ob nicht die Verschiedenheit jener Mittel die ab­
strakte Identität des Ziels stets wieder durchbrochen und so
einen inhaltlich reichen Prozeß ermöglicht hat, kommt gar
nicht erst auf. Uvi-Strauss reduziert die Geschichte auf die
68 Levi-Strauss, Traurige Tropen, Köln!Berlin 1 960, S. 362.
69 Ibid. , S. 363.
70 Ibid., S. 362.
71 Ibid.
72 Ibid ., S. 363.
73 Ibid.

216
dürre These, immer seien die Menschen darauf bedacht gewe­
sen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben läßt. »Seit
Jahrtausenden« hat sich deshalb der Mensch »immer nur wie­
derholt«. Angesichts dessen aber gilt es, » Zugang zu finden zu
jenem Adel des Denkens, der jenseits aller Wiederholungen
darin besteht, die unbeschreibliche Größe der Anfänge zum all­
einigen Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu machen<<.74
Höchst problematische Sätze, die ihrem Verfasser nicht unver­
dient den Sanreschen Vorwurf einer kontemplativen und ar­
chaisierenden Haltung eintrugen.

Levi-Strauss' rationalistische Metaphysik der Erkenntnis

Wir gehen bei der Analyse des Strukturalismus als umfassen­


der Philosophie - Goldmann spricht in diesem Zusammenhang
von einem »rationalisme ultra-formaliste<<75 und Lefebvre von
•panstructuralisme<<76 - auf Levi-Strauss deswegen ausführ­
licher ein, weil seine Position für die uns hier primär beschäf­
tigende Marx-Interpretation Althussers besonders wichtig ist ­
obgleich dieser meint, Levi-Strauss an methodischer Strenge,
aber auch an erkenntnistheoretischer Selbstreflexion überbie­
ten zu müssen.
In der Tat steht Levi-Strauss trotz weitreichender philoso­
phischer Konsequenzen seines Verfahrens und gelegentlicher
Exkurse philosophischer Art spezifisch philosophischen Frage­
stellungen eher unbekümmert gegenüber. Ihm kommt es, wie
den meisten einzelwissenschafl:lichen Forschern, zunächst weni­
ger auf die Klärung der erkenntnistheoretischen Prämissen sei­
ner Arbeitsweise an als auf deren Fruchtbarkeit. Gleichwohl
beginnt seine intellektuelle Laufbahn mit einer »methodologi­
schen Frage<<77, die nicht nur erkenntnistheoretisch bedeutsam
ist, sondern eine ganze Metaphysik impliziert. Von der Geolo­
gie, von Freud und Marx grundsätzlich darüber belehrt, daß

74 Ibid., S. 364.
75 Cf. Lucien Goldmann, Structuralisme, marxisme, existentialisme, in :
L'homme et Ia socihf., Nr. z, I. c., S. 1 0 5 ff.
76 Ibid. , S. 8z.
77 Cf. dazu Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus, I. c., S. 36 f.

2. 1 7
die wahre Realität niemals im unmittelbar Gegebenen aufgeht,
sucht Levi-Strauss erst als Soziologe, später als Ethnologe
nach einem Verfahren, das es gestattet, das sinnlich Wahrnehm­
bare ins rational Erfaßbare (Intelligible) einzugliedern, jenes
auf dieses zu reduzieren, ohne daß dabei seine Qualitäten
eingebüßt werden. Existiert - wovon Levi-Strauss überzeugt
ist - »eine unbekannte Größe, die dem Bekannten eine
Ordnung gibt, ein Unbewußtes, das allem Bewußten Struk­
tur verleiht«, dann muß Wissenschaft darin bestehen, » dieses
Unbekannte bekannter und das Unbewußte bewußter zu
machen<< .7 8
Die dafür zuständige Methode bot sich Levi-Strauss in der
»strukturalen Linguistik« de Saussures an.79 Dieser hatte indi­
viduelles Sprechen (parole) streng von der Sprache selbst (Ian­
gue) unterschieden. Letztere betrachtete de Saussure als »sozia­
les Band«, als ein schlechthin objektives »grammatikalisches
System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr
in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen [ . . . ] . Die
Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person ; sie ist
das Produkt, welches das Individuum [ . ] einregistriert ; sie
. .

setzt niemals eine vorherige Überlegung voraus, und die Refle­


xion ist dabei nur beteiligt, sofern sie die Einordnung und Zu­
ordnung betätigt«.s o Mit diesem radikalen Versuch, »das zur
Sprache als solcher Gehörige rein darzustellen<<s ', das heißt ab­
zusehen von den wechselnden Weisen der Menschen, sich ihrer
zu bedienen, war notwendig der Vorrang eines statisch-de­
skriptiven, »synchronischen« Denkens verbunden, das die >>dia­
chronische<<, geschichtliche Betrachtung der Sprache nahezu
völlig entwertete. Für die französischen Sozialwissenschaften
sollte diese Absage an die »Diachronie<< zugunsten der »Syn­
chronie<< überaus wichtig werden ; nicht zuletzt auf sie geht die
Geschichtsfremdheit, ja -feindschaft der nach-existentialisti-
7S Ibid., S. 37·
79 Es versteht sich, daß es den Rahmen dieser (der vorläufigen Selbstver­
ständigung dienenden) Arbeit überschritte, wollte sie die mit der •struktu­
ralen Linguistik« auftauchenden Fragen detailliert erörtern - ganz ab­
gesehen davon, daß der Verfasser auf diesem Gebiet alles andere als
kompetent ist. Er folgt, was die sprachwissenschaftliche Vorgeschichte des
Strukturalismus betrifft, im wesentlichen der knappen Darstellung Schiwys.
So De Saussure, zitiert bei Schiwy, ibid., S. 39·
Sr Ibid.

2!8
sehen Intelligenz zurück - ein bewußtes Verdrängen der Ge­
schichte aus dem Denken, ein degout vor ihr, der sich um so
merkwürdiger ausnimmt, als er zu einem Zeitpunkt um sich
greift, wo Sartre ernsthaft bemüht ist, von den armen Bestim­
mungen Heideggerscher »Geschichtlichkeit« zur Materialität
des historisch-sozialen Prozesses vorzustoßen.
Zum Sprecher der neuen Generation wurde Levi-Strauss, der
sich namentlich der von der Prager »phonologischen Schule«
fortentwickelten Linguistik anschloß. Ihr rechnet er es hoch an,
daß sie es verstanden hat, auf wirklich wissenschaftliche Weise
»über die immer oberflächlichen bewußten und historischen
Bekundungen hinaus objektive Realitäten zu erreichen. Diese
bestehen aus Bezugssystemen, die wiederum das Ergebnis der
unbewußten Tätigkeit des Geistes sind.« 82 Und Levi-Strauss
fragt sich, ob eine solche Reduktion auch bei anderen gesell­
schaftlichen Phänomenen möglich sei, die beim heutigen Stand
der Forschung einer wissenschaftlichen Analyse noch nicht so
zugänglich sind wie die Sprache. Inzwischen (der soeben ange­
führte Text stammt aus dem Jahre 1 9 5 1 ) hat er seine Hypo­
these, daß »Verschiedene Formen des sozialen Lebens im we­
sentlichen gleicher Natur sind : Verhaltenssysteme, die jeweils
Projektionen allgemeiner, die unbewußte Tätigkeit des Geistes
regierender Gesetze auf die Ebene des bewußten und gesell­
schaftlichen Denkens sind<<sl, längst in eine folgenreiche Theo­
rie überführt. Sie zielt ab auf die Erkenntnis der »universalen
Gesetze, aus denen die unbewußte Tätigkeit des Geistes be­
steht«84 ; sie will die »tiefe Identität empirisch verschiedener
Objekte« 8 s naturwissenschaftlich exakt nachweisen, wobei sie
vom Bewußten zum tragenden Unbewußten, vom Besonderen
zum Allgemeinen übergeht. Letzteres ergibt sich also nicht
durch Abstraktion aus dem Vergleich verschiedener Tatbestän­
de, sondern ist allererst die Bedingung der Möglichkeit eines
Vergleichs. >>Wenn ( . . . ] die unbewußte Tätigkeit des (freilich
objektiv, nicht subjektiv-transzendental verstandenen, A. S.)
Geistes darin besteht, einem Inhalt Formen aufzuzwingen, und
wenn diese Formen im Grunde für alle Geister, die alten und
82 Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1 967, S. 7 1 .
83 Ibid., S. 71 f.
84 Ibid., S. 79·
85 Ibid., S. 3 5 .

2 19
die modernen, die pnm1t1ven und die zivilisierten dieselben
sind - wie die Untersuchung der symbolischen Funktion, wie
sie in der Sprache zum Ausdruck kommt, überzeugend nach­
weist -, ist es notwendig und ausreichend, die unbewußte
Struktur, die jeder Institution oder jedem Brauch zugrunde
liegt, zu finden, um ein Interpretationsprinzip zu bekommen,
das für andere Institutionen und andere Bräuche gültig ist,
vorausgesetzt natürlich, daß man die Analyse weit genug
treibt.<<s6 - Das Erkenntnisinteresse der (nicht von ungefähr
im weitgehend organisierten Spätkapitalismus sich durchset­
zenden) strukturalistischen Theorie besteht darin, hinter dem
Mannigfaltigen die Einheit, hinter dem Ungeordneten das
übersichtlich, ja tabellarisch Geordnete aufzudecken. Handelt
es sich etwa darum, eine bestimmte Eingeborenenmythe zu un­
tersuchen, so hat der Ethnologe zunächst die verschiedenen
Ebenen zu isolieren und zu vergleichen, auf denen sie wirksam
wird : die geographische, ökonomische, soziologische und kos­
mologische. Dann muß er nachweisen, daß er es auf all diesen
Ebenen mit der symbolischen Modifikation und Verkleidung
ein und derselben unbewußt-logischen Struktur zu tun hat, aus
der sich auch die - teilweise beträchtlichen - Varianten der be­
treffenden Mythe erklären lassen müssen, wenn sie verschiede­
nen Wohnsitzen desselben Volks entstammen. 8 7 Freilich : indem
Levi-Strauss betont, die Analyse archaischer Gesellschaften ziele
darauf ab, >>hinter dem Chaos der Regeln und Bräuche ein ein­
heitliches Schema wiederzufinden, das in den verschiedenen
örtlichen und zeitlichen Zusammenhängen gegenwärtig ist und
wirkt<<,ss beschreibt er ebensosehr und mehr noch den Zustand
der gegenwärtigen Welt, die in der Tat alle individuellen Re­
gungen in >>ein identisches soziales Schema<<s9 preßt.
Oben wurde angedeutet, daß die von Levi-Strauss vertretene
Methode über alles Einzelwissenschaftliche hinaus insofern eine
Metaphysik impliziert, als sie sich nicht damit begnügt, prakti­
sche Regeln für die Feldforschung aufzustellen, sondern zum
rein Objektiven vorzustoßen sucht. Daher sein Ausgang von
86 Ibid.
8 7 Cf. hierzu die sehr instruktive Studie von Uvi-Strauss, Die Sage von
Asdiwal, in : Religions-Ethnologie, herausgegeben von Carl August Schmitz,
Frankfurt am Main 1 964, S. 1 5 4-1 9 5 .
8 8 Uvi-Strauss, Strukturale Anthropologie, I. c . , S. 36.
8 9 Ibid., S. 37·

220
einer Linguistik, welche, wie er meint, berechtigt ist, die Spra­
che als ein >>soziales Phänomen« anzusehen, »das ein vom Be­
obachter unabhängiges Objekt darstellt<<,9° eine systemhafte
Realität, die >>bis zur Entstehung einer wissenschaftlichen
Grammatik unbekannt bleibt und [ . . . ] auch dann noch die
Rede unabhängig vom Bewußtsein des Subjekts formt, indem
sie seinem Denken Begriffsrahmen aufdrängt [ . . . ] « .9' Indivi­
duellem Denken und Sprechen wird damit jede eigenständige
Tätigkeit versagt ; es soll von der vorgegebenen Sprachstruktur
stets schon konstituiert, nicht aber selber für diese konstitutiv
sein. Merkwürdigerweise beruft sich Levi-Strauss' These, die
Sprache sei unabhängig von jedem Beobachter (oder Benutzer)
auf die moderne Physik, in der nichts so angefochten ist wie
die Vorstellung eines schlechterdings subjekt-unabhängigen
Objekts : »Die moderne Physik mußte erst entdecken, daß eine
semantische Welt alle Eigenschaften eines absoluten Objekts
besitzt, damit man erkennen konnte, daß die Art und Weise,
wie die Primitiven ihre Welt begrifflich fassen, nicht nur ko­
härent ist, sondern« - und hier folgt Levi-Strauss' Definition
der Sprache - >>gerade diejenige, die sich angesichts eines Ob­
jekts, dessen elementare Struktur das Bild einer diskontinuier­
lichen Komplexität zeigt, aufdrängt.«9 2
Dem Ethnologen Boas, der sich namentlich mit den Kulturen
und Sprachen der nordamerikanischen Indianer beschäftigt hat,
spricht Levi-Strauss das Verdienst zu, »die unbewußte Natur
der kulturellen Phänomene« von der Sprache her >>definiert zu
haben<<.93 Boas erblickt den wichtigsten Unterschied zwischen
sprachlichen und kulturellen Tatbeständen darin, >>daß die er­
steren niemals aus dem klaren Bewußtsein stammen, während
die letzteren, obwohl sie den gleichen unbewußten Ursprung
haben, sich oft bis in die Höhe des bewußten Denkens erheben
[ . . . ] <<.94 Ein Unterschied, der für Uvi-Strauss nur graduell ist
und weder ihre >>tiefe Identität<< verbirgt noch den >>exemplari­
schen Wert der linguistischen Methode für die ethnologischen

90 Ibid., S. 70.
91 Ibid. , S. 33 f.
92 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 308 (Hervorhebungen vom Ver­
fasser) .
93 Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, I. c., S. 3 3 ·
94 Zitiert ibid., S. 34·

221
Forschungen«9S schmälert. Obwohl Boas' Analyse - trotz sei­
ner Einsichten - noch dem bewußten Denken von Individuen
verhaftet bleibt, bescheinigt ihm Levi-Strauss, es sei ihm gelun­
gen, >>die Kategorien [ . . . ] individuellen Denkens [ . . . ] weitge­
hend zurückzudrängen und von allen menschlichen Beiklängen
zu befreien«.96 Erst die ausgebildete strukturale Linguistik
stößt zum wahrhafl: Objektiven vor : aus den Wörtern extra­
hiert sie die »phonetische Wirksamkeit der Phoneme« und aus
dieser die (unbewußt-) >>logische Wirklichkeit<<97 von Zeichen­
systemen. Mit ihr als der schlechthin tragenden, überge­
schichtlichen (wenn auch an den Bestand der menschlichen
Gattung gebundenen) Grundlage der gesellschafl:lichen Lebens­
formen hat Sozialwissenschafl: sich zu befassen ; sie bedarf zwar
des empirischen Studiums, erschöpfl: sich aber nicht in ihm,
sondern zielt ab auf das Paradoxon einer subjektlosen, »ab­
solut-objektiven« Theorie des Geistes und der Erkenntnis.
Levi-Strauss steht darin entschieden in der Tradition der neue­
ren, durch Durkheim eingeleiteten französischen Soziologie,
daß er äußerst spekulative mit positivistischen Motiven ver­
knüpfl:. Wie Durkheims idealistische Lehre von der >>conscien�e
collective« methodisch ausgeht von seinem »chosistischen«
Forschungsprinzip, die sozialen Tatsachen seien als schlechthin
Gegebenes, individuellem Bewußtsein Transzendentes zu un­
tersuchen, so trägt auch Levi-Strauss eine extrem rationalisti­
sche und idealistische These >>naturalistisch« verkleidet vor ; er
reduziert das Zerstreute, Mannigfaltige auf Einheit, die ange­
borene Struktur des >>Geistes<<, um von der Oberfläche zum
Gesetz, vom bloß >>Erlebten<< zum »Wirklichen<< zu gelangen.
Indem er aber dabei >>das unmögliche Ziel verfolgt [ . . . ], diese
geistige Struktur mit einem >realen<, >natürlichen< Objekt zu
identifizieren<<9s, verharrt Levi-Strauss im Bereich fundieren­
der Ontologie. Mit Recht verweist Jaeggi darauf, daß der
Strukturalismus gerade deshalb in Metaphysik umschlägt, weil
er, positivistisch, den >>Primat der exakten Methode << verficht ;
er erst >>ermöglicht die problematische Übertragung des sprach-

95 Ibid.
96 Ibid., S. 3 5 .
97 Ibid.
98 Jaeggi, I. c., S. so.

222
liehen Strukturbegriffes auf die gesellschaftlichen Phänome­
ne« .99
Der schon erwähnte Vorwurf, seine Position sei forciert ratio­
nalistisch, kümmert Levi-Strauss nicht sonderlich, zumal er
selbst von Anbeginn auf eine Art »super-rationalisme<< hinaus­
wollte.'00 Zuweilen gibt er ihn an seine Kritiker (Sartre und
dessen Anhänger) zurück, indem er hervorhebt, wie viel sie
dem - immerhin geschichtlich konkretisierten - cartesianischen
Cogito verdanken. Dabei übersieht er, daß Subjektivität, so
sehr seine Theorie sich dagegen sperrt, gerade in seinem objek­
tiv gerichteten Begriff von Methode und System am Werk ist ;
daß er dem klassischen Rationalismus weit mehr als seine Geg­
ner insofern verhaftet ist, als bei ihm eine geheime, erkenntnis­
theoretisch nicht näher befragte Analogie zwischen Denken
und Sein unterstellt wird. Ordo et conexio idearum und ordo
et conexio rerum fallen bei Levi-Strauss wie bei einem Meta­
physiker des siebzehnten Jahrhunderts zusammen : die dem
»erzeugenden« Geiste immanenten Gesetze sind zugleich die
des menschlichen (und außermenschlichen) Universums. »Die
Anthropologie<<, erklärt er in seiner Schrift Das Ende des To­
temismus, »bringt [ . . . ] in jeder ihrer praktischen Unterneh­
mungen eine Strukturähnlichkeit zwischen dem menschlichen
Denken bei der Arbeit und dem menschlichen Gegenstand, auf
den es sich richtet, zum Ausdruck. « Lassen sich bei der Struk­
turanalyse Form und Inhalt nicht trennen, dann spiegelt »die
methodologische Integration von Form und Inhalt [ . . . ] auf
ihre Weise eine weit wesentlichere Integration wider: die der
Methode und der Wirklichkeit«. 101
In seiner Einleitung zu Durkheims Buch Soziologie und Philo­
sophie rügt Adorno an Durkheim, sein Verfahren ersetze die
Objektivität gesellschaftlicher Lebensprozesse durch die der
»Conscience c;:ollective<< ; dadurch werde der Geist einer Gesell­
schaft zu ihrer Substanz erklärt und die Möglichkeit, richtiges
und falsches Bewußtsein zu unterscheiden, gehe verloren.' 01
Eine knappe Analyse der von Levi-Strauss in seiner berühm-

99 Ibid., S. 5 1 ·
1 00 Cf. dazu Schiwy, I . c., S . 3 7 ·
1 0 1 Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, Frankfurt am M a i n 1965,
S. 1 1 9. - Cf. hierzu auch Jaeg gi, I. c . , S. 5 0 ; und Schiwy, I. c . , S. 5 0 f.
102 Frankfurt am Main 1 967, cf. S. 9·

223
ten Arbeit Das wilde Denken entwickelten Konzeption kann
bereits darüber belehren, wie sehr sich im Strukturalismus die
idealistischen Tendenzen der älteren französischen Theorie ge­
steigert haben.

Uvi-Strauss' » Theorie des Oberbaus«

Oben war von Levi-Strauss' Bekenntnis zu Rousseau die


Rede, davon, daß er dessen Unterscheidung des >>natürlichen<<
vom »künstlichen« Menschen, von »Natur« und >>Kultur<<
methodologisch akzeptiert. Verfolgen wir jetzt, was sich dar­
aus für seine viel erörterte Lehre vom »wilden Denken« ergibt,
deren erkenntnistheoretischer Gehalt103 uns besonders beschäf­
tigen soll. Levi-Strauss versteht sein Buch in erster Linie als
Beitrag zur Marxschen ldeologienlehre'04, als >>Skizzierung
einer Theorie des überbaus« . 105 Sehen wir zu, inwieweit es
seinem damit gesetzten Anspruch gerecht wird, materialistisch
zu verfahren.
Zunächst einmal sei daran erinnert, daß Levi-Strauss nicht das
- bei Marx historisch wandelbare - Verhältnis von Geist und
tragender Gesellschaft erforschen, sondern diese selbst noch
fundieren will. Der >>eminente Wert« der Ethnologie soll darin
liegen, daß sie >>hinter der empirischen Vielfalt der menschli­
chen Gesellschaften« sich durchhaltende Muster, >> lnvarian­
ten<< 106 ermittelt. Der soziale Prozeß wird so zum bloßen
Derivat von anonymen, vorgesellschaftlichen Strukturen (em­
pirischen und zugleich intelligiblen Wesens), zum >>sekundären
Bezugssystem« '07 herabgesetzt.
IOJ Daß dieser auch (und vor allem) ein metaphysischer Gehalt ist, wurde
oben dargetan. Aus ihm leitet die strukturale Ethnologie ihren Anspruch
'
ab, als Universalwissenschaft nicht nur die traditionelle Anthropologie, son­
dern auch die Soziologie zu ersetzen, die zu einem » Spezialfach der Ethno­
graphie• wird, soweit sie • eine Gesamtheit von positiven Untersuchungen•
bildet, »die auf die Organisation und das Funktionieren der Gesellschaften
von sehr komplexem Aufbau hinauslaufen•. (Strukturale Anthropologie,
I. c., S. u . )
r o4 Cf. Das wilde Denken, I. c., S. I 54·
IOj Ibid., s. I 3 9·
ro6 Ibid., S. 284; cf. auch S. 287 .
I 07 Zitiert von Schiwy nach : L e s Structures elementaires de I a parente,
I. c., s. 47·

224
Demgegenüber untersucht das Marxsche Kapital in notwendi­
gen Etappen 1 . »das aktive Verhalten des Menschen zur Na­
tur, seinen unmittelbaren Lebensprozeß«, 2. seine damit gege­
benen »gesellschaftlichen Lebensverhältnisse« und schließlich
3· die »ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen<<. 108 Sosehr
freilich der dialektische Materialismus die für den Gang der
Geschichte grundlegenden »Verhältnisse der Menschen zur Na­
tur« von vornherein als >>praktische, also durch die Tat begrün­
dete Verhältnisse« '09 ansieht, so wenig vernachlässigt er dabei
die Rolle der - von den Strukturalisten hypostasierten - Spra­
che. Schon in der Deutschen I t,leologie heben Marx und Engels
energisch hervor, daß es ohne Sprache und Sprechen kein
menschliches Bewußtsein gibt, das freilich immer gesellschaft­
lich bestimmt ist : »Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein ­
die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existie­
rende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Be­
wußtsein, und die Sprache. entsteht, wie das Bewußtsein, erst
aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern
Menschen. << I I O Zwar ist die Sprache »unmittelbare Wirklichkeit
des Gedankens<<, aber weder dieser noch die Sprache insgesamt
bilden »für sich ein eignes Reich<< ; sie sind nur >>Ji.ußerungen
des wirklichen Lebens« . ' " Daß dieses andererseits stets durch
Sprache mitkonstituiert wird, geht für die Autoren schon dar-

Io8 Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 3 8 9 .


I 09 Marx, Randglossen zu Adolf Wagners >Lehrbuch d e r politischen Öko­
nomie<, in : Marx/Engels, Werke, Band I9, Berlin I 962, S. 362.
I I O Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin I95 3 , S. 27 (Hervorhe­
bung von Marx und Engels). Cf. zur soziogenetischen Seite der Sprache
auch Engels' Aufsatz Anteil der A rbeit an der Menschwerdung des Affen,
wo es heißt : •Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache - das sind
die wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in
das bei aller i\hnlichkeit weit größere und vollkommnere eines Menschen
allmählich übergegangen ist. • (In : Dialektik der Natur, Berlin I 9 5 2 , S. I 8 3 .)
Ahnlieh äußerst sich Marx zur Sprachentstehung in seinen unter Fußnote I 09
zitierten Randglossen, S. 3 62 f. - Bela Fogarasi beschäftigt sich in seiner
Logik, Berlin I 9 5 5 , S. 88 ff., mit dem Verhältnis von Arbeit, Sprache und
Denken. - Daß die Marx/Engelsschen Ansätze zu einer Sprachtheorie bei
aller grundsätzlichen Richtigkeit heutigen Erfordernissen nicht genügen, liegt
auf der, Hand, So verschiedene Autoren wie Habermas, Lefebvre, Cornforth
und Schaff haben denn auch in den letzten Jahren versucht, Methoden und
Ergebnisse der moderen Sprachwissenschaft kritisch in die Theorie der Ge­
sellschaft aufzunehmen .
I I I Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, I. c., S. 473 und S. 474·

22 5
aus hervor, daß sozialer Consensus, ja das spezifisch mensch­
liche »Verhältnis« zur objektiven Welt, ihre praktisch-geistige
Aneignung, ohne sie undenkl;>ar wäre.11 1 Sobald kollektive Ar­
beit ihre »erste, instinktartige Form« abgestreift hat, verwirk­
licht sie Zwecke, die vorher im sprachgebundenen Bewußtsein
der Individuen bereits antizipiert waren."3
So korrektur- und ergänzungsbedürftig die hier angedeutete
Theorie sein mag - sie weist gegenüber der strukturalistischen
Konzeption zwei wichtige Vorzüge auf : 1 . anerkennt sie die
Spra che als ebenso vermitteltes wie vermittelndes Moment der
menschlich-praktischen Realität, ohne daß sie deren konkreten
Reichtum auf eine zeitlose Sprachlichkeit reduziert ; sie bleibt
sich, mit anderen Worten, der geschichtlichen Relativität ihres
Redens von Sprache bewußt. 2. vermeidet es die Marx/Engels­
sche Theorie, das Denken mit der Sprache, die Logik mit der
Grammatik (Syntax) zu identifizieren, wie dies in der seman­
tischen Philosophie, aber auch im Strukturalismus in dem
Maße geschieht, wie er seine »Logik des Unbewußten« mit der
allgemeinsten Sprachstruktur gleichsetzt.
Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zu Levi-Strauss zu­
rück. Oben wurde dargestellt, daß seine überbau-Lehre inso­
fern von der Marxschen abweicht, als sie nicht nach (künftig
aufzuhebenden) innerhistorischen Abhängigkeiteil fahndet,
sondern Geschichte als solche hinter sich läßt und die verschie­
denen sozialen Formen als bloß zeitliche Modalitäten, Emana­
tionen eines zeitlos Gültigen betrachtet. Da dieses als bedin­
gende Realität letzter Instanz stets schon gegeben ist, fällt es
Levi-Strauss nicht schwer, innerhalb des selbst derivativ ge­
dachten historischen Bereichs materialistisch zu argumentieren :
>>Wir vertreten [ . . . ] keineswegs die Ansicht, daß ideologische
Wandlungen soziale Wandlungen erzeugen. Einzig die umge­
kehrte Reihenfolge ist wahr : die Auffassung, die Menschen
sich von den Beziehungen zwischen Natur und Kultur machen,
hängt von der [ . . . ] Weise ab, wie sich ihre eigenen sozialen
Beziehungen verändern.«"4 Wie wenig ernst solche Versiche­
rungen zu nehmen sind, geht auch daraus hervor, daß Levi­
Strauss Durkheims These vom gesellschaftlichen Ursprung des
IU Cf. ibid., s. 27.
1 1 3 Cf. Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 1 86 .
1 1 4 Levi-Strauss, D;:zs wilde Denken, I. c . , S. 1 39.
logischen Denkens einfach bestreitet. >>Obwohl zwischen der
sozialen Struktur und dem System der Kategorien zweifellos
eine dialektische Beziehung besteht, ist das letztere dennoch
weder Folge noch Resultat der ersteren : beide bringen [ . ] be­
. .

stimmte historische und lokale Modalitäten der Beziehungen


zwischen Mensch und Welt zum Ausdruck, die ihr gemeinsames
Substrat bilden.« " 5 Dieses aber - und darauf kommt es an -
ist alles andere als >>materiell« im Marxschen Sinn ; es ist
sprachförmig, unbewußtes Denken. Wohl leugnet Uvi-Strauss
nicht, daß die Vernunft, wie Sartre nachzuweisen sucht, sich
praktisch entfaltet und verändert ; daß sich in der Denkweise
eines Menschen sein Verhältnis zur Welt und zu anderen Men­
schen abzeichnet. »Aber damit Praxis als Denken gelebt wer­
den kann, muß zunächst (in einem logischen und nicht histori­
schen Sinn) das Denken existieren : seine Ausgangsbedingungen
müssen also in der Form der objektiven Struktur des psychi­
schen Mechanismus und des Gehirns gegeben sein, ohne die es
weder Praxis noch Denken geben würde. « 1 16
Dieses von jeder Soziogenese abgeschnittene, nur im Hinblick
auf eine psychologisch-physiologische Basis gekennzeichnete
Denken ist das des hypothetischen »Naturmenschen« Rous­
seaus. Levi-Strauss bemüht zwar unentwegt den Begriff der
Dialektik, aber es gelingt ihm nicht, den sachlich begründeten
Zirkel zu bewältigen, der darin besteht, daß die historische
Praxis das Denken voraussetzt, wie umgekehrt dieses, und
zwar mehr noch, jene. Dadurch daß er einen (das unbewußt
Logische einschließenden) >>Natur«-Hintergrund der >>künstli­
chen« Lebensformen der Gesellschaft voraussetzt, treten wich­
tige Probleme des dialektischen Materialismus, etwa sein Ver­
hältnis zum naturalistischen Materialismus, gar nicht erst in
sein Blickfeld. Es entgeht ihm, daß >>die Veränderung der Na­
tur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein [ . . ] .

die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen


Denkens «"7 bildet. Abermals stoßen wir auf das Paradoxon
des Strukturalismus, eine geistige Einheit hinter dem Mannig­
faltigen aufdecken zu wollen, die zugleich ein »natürliches Ob­
jekt«, Ding unter Dingen ist.
I I 5 Ibid., s. 248.
I I 6 Ibid., s. JOJ f.
I I 7 Engels, Dialektik der Natur, I. c., S. 2 4 5 .
Alle terminologischen Finessen, auch Zweideutigkeiten vermö­
gen den Vorwurf der Kritiker Levi-Strauss' nicht zu entkräf­
ten, daß die philosophischen Konsequenzen seiner Ansicht
extrem idealistisch sind. Weit davon entfernt, die Marxsche
Ideologienlehre sei's zu kritisieren, sei's zu vervollkommnen,
verwandelt sie Levi-Strauss in ihr gerraues Gegenteil. Das dy­
namische Verhältnis von Überbau und Basis wird bei ihm zu
dem statischen Verhältnis des Gegenstands der Geschichte zu
dem der Ethnologie. Diese hat es mit den >>unbewußten Be­
dingungen des sozialen Lebens<<, jene mit dessen >>bewußten
.Außerungen « 1 1 8 z u tun. Insofern ist Ethnologie »Zunächst eine
Psychologie <<, 1 1 9 während es der Geschichtswissenschaft über­
lassen bleibt, die Marxschen Unter- und überbauten zu analy­
sieren. Da es aber, wie Levi-Strauss in seiner Polemik gegen
Sartre unterstreicht, vergeblich ist, ein Oberflächen-Phänomen
wie das historische Bewußtsein darauf hin zu befragen, welcher
seiner Positionen ein der Wahrheit näherer >>Sinn<< zukommt ­
die überbauten sind allemal nur >>sOzial >erfolgreiche< Fehllei­
stungen<< 1 10 - verschwindet die Hegel-Marxsche Problematik
einer Dialektik des Relativen und Absoluten, mit ihr (wie bei
Levi-Strauss' Schüler Althusser) die Möglichkeit falsches von
richtigem (wenngleich situationsverhaftetem) Bewußtsein zu
unterscheiden. Levi-Strauss vernachlässigt den Umstand, daß
>>Überbau« und >> Ideologie« keine kongruenten Begriffe sind
(wie denn auch seine Marx-Interpretation insgesamt ziemlich
gewaltsam ist) .

Levi-Strauss' Ethnologie: em subjektloser » Transzendentalis­


mus«

Daß die strukturale Ethnologie vorab >>eine Psychologie« sein


soll, verweist trotz aller gegenteiligen Bekundungen ihrer Ver­
fechter auf einen Rückfall in den Idealismus. Davon war hier
wiederholt die Rede. Wir möchten aber unsere These noch da­
durch etwas erhärten, daß wir sie näher noch nach ihrer er­
kenntnistheoretischen Seite hin untersuchen. Das ist deshalb
r r 8 Uvi-Strauss, Strukturale Anthropologie, I. c., S. 33·
I I9 Uvi-Strauss, Das wilde Denken, S. I 5 5 .
u o Ibid., S . 2 9 2 .

228
nicht ganz einfach, weil es Levi-Strauss in diesem Punkt an
Präzision fehlen läßt und sich auf seine materialen Forschun­
gen zurückzieht. Soviel läßt sich ausmachen : es geht seiner
Schule um jene ursprüngliche, »elementare Logik [ . . ] , die .

gleichsam der kleinste gemeinsame Nenner alles Denkens ist<<


- eine Logik, die wir als >>den direkten Ausdruck der Struktur
des Geistes (und hinter dem Geist zweifellos des Gehirns) << an­
zusehen haben, >>nicht um ein passives Erzeugnis des Einwir­
kens des Milieus auf ein amorphes Bewußtsein<< . Es handelt
sich hier um eine - klassifikatorische - >>Logik der Gegensätze
und Wechselbeziehungen, der Ausschließungen und Einschlie­
ßungen, der Vereinbarkeiten und Unvereinbarkeiten<<. 1 2 1
Schärfer noch tritt dieser zugleich »geistige<< und »physische <<,
ja >>physikalische « Zwangscharakter der >>structures mentales <<
hervor in einer programmatischen Erklärung wie dieser in Le
Cru et le Cuit: »A partir de l'experience ethnographique, il
s'agit toujours de dresser un inventaire des enceintes mentales,
de reduire des donnees, apparemment arbitraires a un ordre,
de rejoindre un niveau ou une necessite se revele immanente
aux illusions de la liberte. << 122
Ein Determinismus von geradezu spinozistischer Strenge, zu
dessen bloßen Modi und Vollzugsorganen Bewußtsein und
Verhalten der Individuen herabsinken. Wie bei de Saussure
Sprache als »Norm aller andern Kußerungen der menschlichen
Rede<< betrachtet wird, als »ein Ganzes in sich<<, das sich als
»Prinzip der Klassifikation <<, 1 23 als »Einheit der menschlichen
Rede<< 12 4 betätigt, so möchten seine sozialwissenschaftliehen
Nachfolger, indem sie den linguistischen Begriff des Unbewuß­
ten mit dem - veränderten - psychoanalytischen verbinden,
ein schlechthin Objektives eruieren, das den Menschen unan­
fechtbar vorgeordnet ist. Wenn es keinen vernünftigen >>Sinn
der Geschichte <<, keine >>verite a faire<< gibt, wie sie Sartre und
den Marxisten vorschwebt, dann wird, wie sich Foucault im
Anschluß an Levi-Strauss und Lacan ausdrückt, das System
dasjenige, >>was uns im Tiefsten durchdringt, was uns in der

ur Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, I. c., S. r r 7 f .


122 Paris 1 964, S. r 8 .
123 Zitiert bei Schiwy, I. c . , S. r o 8 und 1 09 .
1 24 Ibid., S. r r o.

229
Zeit und im Raum hält<< . 1 2 5 Dieser neue Apriorismus, der die
allein relevante Frage nach den historischen Bedingungen, un­
ter denen er selbst aufkommen konnte, geflissentlich überhört,
verfolgt das Ziel, >>VOr jeder menschlichen Existenz, vor jedem
menschlichen Denken« 1 2 6 ein »System vor jeglichem System«
dingfest zu machen. Es gibt für Foucault ein wiederzuentdek­
kendes Wissen, das sich in uns weiß und denkt, und dem wir uns
zu überlassen haben. Er ist sich völlig darüber im klaren, daß
diese Position zur Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts
zurückführt - allerdings mit dem wesentlichen Unterschied,
daß sie nicht den Menschen an die Stelle Gottes rückt, sondern
ein >>anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoreti­
sches ohne Identität« ." ?
Wir werden diese höchst belasteten Kategorien einer Erkennt­
nislehre ohne »erkennendes Ich«, ja ohne Subjekt-Objekt-Re­
lation auch bei Althusser antreffen. Verweilen wir zunächst
noch bei der linguistisch betriebenen >>Dezentrierung« (decen­
trement) des Subjekts. Lacan, von dem dieser Ausdruck
stammt, möchte zwar den sich in jeder Rede bekundenden >>sub­
jektiven<< Aspekt der Sprache gewahrt wissen, aber diese be­
hält doch den unbestrittenen Primat : sie ist >>das Unbewußte
als überindividuelle Realität<< . 12s Auf Grund seiner rigorosen,
von de Saussure und Levi-Strauss inspirierten Neuinterpreta­
tion Freuds gelangt Lacan zu den Thesen, daß das sprechende.
Subjekt nicht das bewußte Subjekt ist und das Unbewußte die
Rede des anderen. 12 9 Lief das Freudsche Unternehmen bei al­
ler Einsicht in den ephemeren Charakter des Ichs allemal auf
das Programm hinaus : »Wo Es war, soll Ich werden«, so feiert
der psychoanalytische Strukturalismus das seit Mach in der
modernen Literatur immer wieder ausgesprochene Dahin­
schwinden der ichliehen Konsistenz. Foucault bejaht, daß die
us Michel Foucault, Absage an Sartre, in : alternative, Heft 54, Struktura­
lismusdiskussion, Berlin 1 967, S. 91 f.
u6 Ibid., S. 92.
1 27 Ibid. - Günter Kröber verweist darauf, daß Foucaults wiederzuent­
deckendes • anonymes Denken• eine Reprise der Platonischen Ideenlehre
darstellt, ohne die der •Nativismus• der rationalistischen Philosophie in
der Tat undenkbar wäre. (Die Kategorie >Struktur< und der kategorische
Strukturalismus, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft r r , 16, Jahr­
gang, Berlin 1968, S. 1 3 1 8 . )
u 8 Cf. Schiwy, I. c., S. 73·
U9 Cf. ibid.

230
jüngsten Tendenzen sogar »die Idee vom Menschen in der For­
schung und im Denken überflüssig [ . . . ] machen « . Probleme wie
das der Versöhnung, des künstlerischen Schaffens, selbst des
Glücks sind ihm zufolge »Zwangsvorstellungen, die es in kei­
ner Weise verdienen, theoretische Probleme zu sein. [ . . . ] Un­
sere Aufgabe ist es, uns endgültig vom Humanismus zu be­
freien . « '30 Das >> Ich« ist unwiederbringlich dahin. Nun gilt es,
das >>Es-gibt<<, das >>Man« zu entdecken . ' J ' Die - sich ideologie­
kritisch gebärdende - strukturalistische Ideologie ratifiziert
begrifflich, was die Menschen unter den sich eisern konsolidie­
renden Produktionsverhältnissen des Spätkapitalismus werden
mußten : steuerbare Anhängsel eines allmächtigen Apparats.
Kehren wir zu Levi-Strauss' Ausgangsthese zurück, die struk­
turale Ethnologie sei vorab eine Psychologie. Was hier »Psycho­
logie« heißt, wurde oben bereits skizziert : eine Theorie un­
bewußt wirksamer Mechanismen des menschlichen Geistes,
welche die von der Ethnographie gelieferten sozialen Tatsa­
chen zu Modellkonstruktionen weiterverarbeitet. Daß dieses
Konzept nicht wenige Fragen aufwirft, die weit über alles bloß
Einzelwissenschaftliche oder Methodologische hinausgehen, liegt
auf der Hand. Verfolgen wir deshalb näher, was es mit dem
im Zentrum dieser Theorie stehenden >>structures mentales «

1 3 0 alternative, I. c., S. 9 3 ·
1 3 1 Ibid., S. 91. - Jaeggi weist bei seiner Diskussion des strukturalistisd:!en
•Anti-Humanismus • (cf. I. c., S. 1 59 f.) im Ansd:!luß an Dufrenne darauf
hin, daß die französisd:!en Autoren neuerdings den (ebenfalls extrem id:!­
feindlid:!en) logisd:!en Positivismus für sid:! entde<ken und diesen mit der
Philosophie des späten Heidegger verbinden, während sie Sartre sd:!roff
ablehnen. Das Interesse der Strukturalisten an Heidegger ist keineswegs so
abwegig, wie es sd:!einen mag. In Sein und Zeit wird die Anonymität des
• Man• nod:! kritisiert unter dem Aspekt einer (wie immer ontologisd:! ver­
mummten) Subjektphilosophie : •Das Man ist das Niemand, dem alles Da­
sein im Miteinandersein sid:! je sd:!on ausgeliefert hat• (Tübingen 1 9609,
§ 17, S. u 8 ) . Oder, sd:!ärfer nod:! : •Zunäd:!st >bin< nid:!t >id:!< im Sinne des
eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man (ibid., S. 119).
Demgegenüber führt Heidegger im Brief über den •Humanismus< (enthal­
ten i n : Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1 9 5 4 2 , S. 53 ff.) eine andere
Sprad:!e. Argumentiert Sartres damaliger Existentialismus von einer Ebene
aus, auf der es nur die Mensd:!en gibt (ibid., S. So), so hat es Fundamental­
ontologie primär mit dem Sein zu tun : • Denn das •es<, was es hier >gibt<,
ist das Sein Selbst• (ibid.). • Soll aber der Mensd:! nod:! einmal in die Nähe
des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren•
(ibid., S. 6o) .

2J I
auf sich hat, deren überzeitliche, kollektive Verbindlichkeit
hier immer wieder pointiert wurde. Dabei scheint es ratsam,
von den Überlegungen auszugehen, die Micheie Jalley-Crampe
in ihrem Aufsatz La notion de structure mentale dans les tra­
vaux de Claude Levi-Strauss 132 anstellt. Die Autorin verweist
zunächst auf eine erkenntnistheoretische Schwierigkeit, die
sich unleugbar daraus ergibt, daß der Strukturalismus einer­
seits von » Psychologie<< spricht, andererseits aber diese Diszip­
lin derart vom Verhalten der leibhaftigen Menschen ablöst,
derart >>konzeptualisiert<<, daß eher von einer >>Logik<< die
Rede sein müßte, wie sie Kants Kritik der reinen Vernunft
unter dem Titel der >>transzendentalen Analytik<< behan­
delt. 1 33 Kant vermag diese Schwierigkeit dadurch, wenn auch
nicht zu lösen, so doch zu mildern, daß sein Idealismus mit
einer (durchaus sachlich motivierten) Zweideutigkeit behaftet
ist. Sosehr er nämlich konstitutive Subjektivität - Bedingung
der Möglichkeit von Erkenntnis wie ihrer Gegenstände - als
Inbegriff reiner Formen und Funktionen versteht, so wenig
gelingt es ihm, ohne die Leistungen des Bewußtseins empiri­
scher, raum-zeitlich bedingter Menschen auszukommen. Das­
jenige, wovon im Begriff des Transzendentalen abgesehen
wird, ist gleichwohl zu berücksichtigen, wenn der Rede vom
»Subjekt« überhaupt ein Sinn verliehen werden soll. Sinnliche
Rezeptivität ist ohne rezipierende Individuen undenkbar.
Levi-Strauss hingegen befindet sich in einer anderen Situation.
Er beruft sich zwar ausdrücklich auf den Kantianismus1 l4,
aber da er, weitaus radikaler als Kant, nicht nur alles Indivi­
duell-Menschliche aus der Theorie verbannt, sondern Subjek­
tivität schlechthin, stellt sich ihm das schier unlösbare Problem,
das in dieser Studie wiederholt bezeichnet wurde, die Frage
nämlich, wie von einer überindividuellen, unbewußten und
doch geistigen Tätigkeit (und deren universellen Gesetzen) ge­
sprochen werden kann, wenn diese völlig subjektlos sein soll -
»Natur<<. Sicher gibt es gewisse Analogien zwischen dem struk­
turalen und dem transzendentalen Verfahren. Aber man sollte

I 3 2 I n : La Pensee, Nr. I J 5 , Sonderheft Structuralisme et marxisme, Paris


I 967, s. p-61.
I 3 3 Cf. ibid ., s. 54·
I 34 Cf. ibid. - Bei Foucault heißt es lapidar : »Nous sommes tous n�okan­
tiens « . In: La Quinzaine litteraire, Nr. 8, Ausgabe vom I. 7· I 966, S. 3· -

2J2
sie nicht überbewerten. Bei Levi-Strauss verhält sich die bunte
Fülle der Kulturphänomene (erkenntnistheoretisch ausgedrückt :
das >>Mannigfaltige«) zur logischen Einheit wie der bewegte
Schein zum ruhenden Sein. Seine Reduktionen finden, anders
gesagt, in der Sphäre des nach Kant bereits >>Konstituierten«
statt. Demgegenüber ist bei Kant das zu vereinheitlichende
Mannigfaltige, der berühmte >> Stoff« der Erkenntnis, ein theo­
retisch von deren Formen, in die er immer schon eingegangen
ist, Abgelöstes. Eigentliche >>Realität<< besitzt er nicht. - Der
»transzendentale« Strukturalismus, wie Garaudy ihn kritisch
nennt, ' 3 5 erinnert eher an Max Adlers Lehre vom gattungs­
mäßig-kollektiven Charakter des Bewußtseins-Zusammenhangs
(»soziales Apriori<<), in manchem auch an den Sprach-Trans­
zendentalismus des frühe�, Wittgenstein, vor allem aber an
Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen«.'36
Cf. dazu audt den kritisdten Aufsatz von Lucien Seve Methode structurale
et mhhode dialectique, in : La Pensee, Nr. 1 3 5 , I . c., vor allem S. 9 1 . - Paul
Ricoeur, der sidt besonders um den erkenntnistheoretisdten Aspekt des
Strukturalismus gekümmert hat, interpretiert Levi-Strauss als •Kantianer
ohne transzentales Subjekt • . So heißt es in seiner Arbeit Structure et her­
mfmeutique (in : Esprit, November 1963, S. 6oo) : •Les lois linguistiques
designant un niveau inconscient et en ce sens non-reflexif, non-historique
de l'esprit, cet inconscient n 'est pas l'inconscient freudien de Ia pulsion,
du desir de puissance de symbolisation ; c'est pluttlt un inconscient kantien
que freudien, un inconscient categoriel, combinatoire ; c'est un ordre fin i,
ou le finitisme d'un ordre, mais tel qu'il s'ignore. Je dis inconscient kantien
mais par egard seulement pour son organisation, car il s 'agit bien pluttlt
d'un systeme categoriel sans rHerence a un sujet parlant [ . . . ]. Aussi
bien cet esprit inconscient peut-il �tre homologue a Ia nature, peut-�tre
m�me est-il nature.«
1 3 5 Cf. sdn Budt Marxismus im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Harnburg
1 969, s. 62 f.
1 3 6 Habermas' Untersudtung dieser Konzeption liest sidt streckenweise wie
eine Kritik der strukturalen Ethnologie. Cf. seine Studie Zur Logik der
Sozialwissenschaften (in : Philosophische Rundschau, herausgegeben von
Hans-Georg Gadamer und Helmut Kuhn, Beiheft 5, Tübingen 1 967), wo die
Philosophie der symbolisdten Formen als • logisdte Analyse der Spradte in
transzendentaler Einstellung« (S. 9) gekennzeidtnet wird. •Dem Geist•,
heißt es hier, •wird Innerweltlidtes in dem Maße präsent, in dem er Formen
aus sidt herausspinnt, die eine intuitiv unzugänglidte Wirklidtkeit repräsen­
tieren können.• Wie später bei den Strukturalisten lassen sidt bei Cassirer
die ursprünglidten Leistungen des Geistes • indirekt aus den grammatisdten
Beziehungen der symbolisdten Formen entziffern• (ibid .). Die hödtste Wahr­
heit, zu weldter das Denken gelangen kann, ist nadt Cassirer die Einsidtt
in • die Form seines eigenen Tuns• (zitiert von Habermas, S. 10). Auf nidtts
anderes zielt letztlidt die Theorie des »wilden Denkens• ab. Vorwegge-

233
Freilich dürfen solche sich vorderhand anbietenden Vergleiche
der strukturalen Denkweise mit gewissen Spielarten der Trans­
zendentalphilosophie nicht darüber hinwegtäuschen, daß die
verborgene Ordnung, die es unter der Inkohärenz, Vielheit
und Willkür der gesellschaftlichen Befunde aufzuspüren gilt,
in keinem im Karrtischen Sinn »konstitutiven « Subjekt grün­
det. Die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit struktural­
ethnologischer Aussagen basiert auf dem Objekt der Lingui­
stik : der Sprache, welche die soziale Tatsache, ja das Unbe­
wußte par excellence bildet'37, das jedem gesellschaftlichen
Kontext vorausgeht, ihn allererst ermöglicht.
Es fehlt daher nicht an Kritikern, die Levi-Strauss vorwerfen,
in seiner Theorie sei insofern ein extremer Idealismus am
Werk, als Sprache bei ihm gleichsam zum Demiurgen der Ge­
sellschaft werde. Lefebvre etwa, der wichtigste dieser Kritiker,
schreibt in seiner Arbeit Claude Uvi-Strauss ou le nouvel
eleatisme: >>Le langage, comme systeme, definit la societe
comme systeme, et aussi les formes de la pensee. Il detient donc
une sorte de fonction transcendentale. C'est le >lieu de notre
installation<. Nous sommes pris dans le systeme du langage,
dans l'implication de signifiants et de signifi.es [ . . ] . Le dog­
.

matisme de la structure verse dans un idealisme [ . . . ] assez


stupefi.ant. Par un vieux procede [ . . . ] il met le monde a
l'envers. Il voit dans la vie sociale l'oeuvre du langage, au
lieu de concevoir le langage comme une oeuvre de la societe. Il
pense que les autres >champs< sont les simples resultats du lan­
gage, il met les mots avant et au-dessus des choses, au lieu de
montrer comment les mots et les choses et leurs connexions sont
nommen wird der Strukturalismus audt in der Oberzeugung Cassirers, »daß
die versdtiedenen Grammatiken von Kunst und Mythos, Religion und Wis­
sensdtaA: unter denselben Kategorien arbeiten« (S. ro f.) ; daß dieser Man­
nigfaltigkeit ein Einheitsprinzip zugrunde liegt. Nadtdrücklidt hebt Haber­
mas hervor, daß die »Gleidtursprünglidtkeit der Symbolsysteme• (S. r r ) , das
heißt das Versdtwinden jeder qualitativen Differenz zwisdten wissensdtaA:­
lidten Aussagen und Mythen, bei Cassirer - wiederum ganz wie im Struk­
turalismus - daraus resultiert, daß eine »Entwicklungsgesdtidtte des tran­
szendentalen Bewußtseins• (ibid.) unterbleibt. Wie für Uvi-Strauss die
empirisdten Befunde bloßes Rohmaterial sind, so betradttet Cassirer die
KulturwissensdtaA:en als bloße • Zuträger für eine allgemeine Grammatik
der symbolisdten Formen ; [ . . . ] sie sind StrukturwissensdtaA:en, vor deren
Blick die Gesdtidtte verdampA: [ . . . ]« (S. r r ) .
1 37 Cf. Midtele Jalley-Crampe, I. c . , S. 5 5 ·

234
des oeuvres. << 1 3 8 Des weiteren bemängelt Lefebvre, daß die
»reine Sprachtheorie« sich von vornherein der Frage entzieht,
wer wie über was spricht. Auch Marx zerstört den Schein der
Unmittelbarkeit dessen, was die Strukturalisten als »le vcku«
bezeichnen. Aber die wissenschaftliche Sprache (>>le discours
scientifique«), vermittels derer er diesen Schein auflöst, kreist
nicht in sich selbst, sondern bezieht sich auf einen konkreten,
außersprachlichen (obzwar durch Sprache mitkonstituierten)
Inhalt. >>Le reel«, das für die strukturalistische Methodik die
höhere Wahrheit des unmittelbar Bewußten bildet, ist bei
ihm die jeweilige Totalität der Produktionsverhältnisse, die
auf Grund des Standes der Naturbeherrschung erreichte ge­
sellschaftliche Praxis. Indem der Strukturalismus die Nöte
der Alltagswelt und mit ihr die verschiedenen Bereiche, in de­
nen menschliche Tätigkeit sich verkörpert (>> l'ensemble des
oeuvres<<) ignoriert, bestenfalls als Rohmaterial betrachtet, ge­
rät er in Gefahr, sich in leere Tautologien zu verlieren. I 39
»Im Fall des soziologischen wie dem des linguistischen Stu­
diums <<, sagt Levi-Strauss, >>sind wir im vollen Symbolis­
mus«. 1 40 Jede wirkliche Erfahrung und Rede der Individuen
ist unausweichlich geprägt von der Sprache als der Struktur.
Das Vokabular, dessen sich jene bedienen, >>ist weniger wich­
tig als die Struktur«, die identisch bleibt und wodurch die >>sym­
bolische Funktion« sich erfüllt. '4' Daraus, daß die Menschen
in ihrer Praxis genötigt sind, in einer bereits >>symbolisierten
Welt<< 141 zu agieren, zieht Levi-Strauss den Schluß, daß sich
die Symbole nicht aus puren Verhaltensweisen ableiten lassen,
wie dies ein grober, positivistisch verkürzter Materialismus
behaupten würde : »Die Sprache bleibt ein nicht Zurückführ­
bares, das nur im Logischen begriffen und gedacht werden
kann, niemals im Historischen : die erste Symbolisierung, von
der aus sich alle Geschichte entwickelt, historisch entstehen las­
sen zu wollen, ist ein sinnloses Unterfangen, denn es existiert
kein wirklicher Unterbau, den man als ihre Quelle ansehen
könnte.<< '43
138 I n : l'homme et Ia socihe, Nr. 2 , I. c . , S. 8 3 und S. 95 f.
I 39 Cf. ibid . , s . 93 ff.
<40 Strukturale Anthropologie, I. c . , S. 67.
141 Ibid. , S. 224.
142 Jaeggi, I. n., S. 40.
143 Ibid.

23 5
Dies� treffende Darlegung der quasi-transzendentalen Posi­
tion Levi-Strauss' durch Jaeggi zeigt abermals, wie es um das
Marx-Verständnis des Strukturalismus bestellt ist. Stets auf
der Suche nach einem letzten, einheitstifl:enden Substrat der
Erscheinungswelt, unterstellt er der Marxschen Theorie die­
selbe Tendenz und möchte sie dadurch überbieten, daß er die
Sprache allen anderen Strukturen gegenüber privilegiert : sie
wird zum irreduktiblen Unterbau aller möglichen, historisch
untersuchbaren Unter- und überbauten. »Die Linguistik«, ver­
sichert Levi-Strauss bis zur Monotonie, >>Stellt uns einem [ . . . ]
außerhalb (oder unterhalb) des Bewußtseins oder Willens ste­
henden Sein gegenüber. « Unerfindlich bleibt dabei, worin die
von Uvi-Strauss eigens hervorgehobene dialektische Qualität
dieses »Seins« der Sprache bestehen soll. Zwischen ihr als vor­
gegebenem System und den Weisen individuellen Sprechens
waltet starre Abhängigkeit - keine vermittelnde Reziprozität :
>>Als nicht reflektive Totalisation ist die Sprache eine mensch­
liche Vernunfl:, die ihre Gründe hat und die der Mensch nicht
kennt«, der in ihr »seine apodiktische Erfahrung finden
kann«'44, auf der sich alle anderen Sphären erheben.
Nun hat der Marxismus von Anbeginn, zuletzt noch in Stalins
Linguistik-Briefen (die charakteristischerweise im Ostblock
eine Rehabilitierung der formalen und symbolischen Logik ein­
leiteten), nicht nur allgemein darauf bestanden, daß den geisti­
gen Gebilden gegenüber den ökonomischen Strukturen eine
relative Unabhängigkeit zukommt. Er hat insbesondere betont,
daß die Sprache kein materialistisch ableitbarer >>Überbau« ist,
weil sie, immer mit Bewußtsein und Denken verbunden, das
(keineswegs homogene) »Sein« der ökonomischen Basis mitbe­
stimmt. Diese ist zugleich konkretes Werden, historische Praxis.
Ihr Begriff ist reicher als der bislang jedenfalls von Sartre ent­
wickelte Begriff geschichtlicher Bewegung. Uvi-Strauss wirfl:
denn auch der Kritik der dialektischen Vernunft vor, sie
bleibe im Programmatischen stecken. Sie wolle den bürgerli­
chen Subjektivismus hinter sich lassen und münde ein in Sozial­
psychologie ; das Cogito werde bloß äußerlich »soziologi­
siert<< 145 und Sartre liefere - entgegen seiner Absicht - kein
»konkretes Bild der Geschichte, sondern ein abstraktes Schema
1 44 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 290.
145 Ibid., S. z 8 7 .
von Menschen, die eine Geschichte machen [ ] . << 146 Daran ist
. . .

soviel wahr, daß es Sartre trotz großer Anstrengungen noch


immer nicht geglückt ist, sich ganz von dem - bei ihm anthro­
pologisch gewendeten - Heideggerschen Konzept zu lösen,
demzufolge es d;rrauf ankommt, materiale Geschichte (an der
allein Dialektik ihr Substrat hat) durch den Aufweis formaler
Strukturen der menschlichen Situation zu »fundieren<< . Nur ist
damit Sartres >>diachronischer<< Gedanke nicht erledigt, »daß es
eine menschliche Geschichte mit einer Wahrheit und einer In­
telligibilität gibt<< ; 147 daß » Totalisierung<< im Gegensatz zu
Levi-Strauss' Generalthese sich nicht im puren Gegeben-Sein
der von gesellschaftlicher Arbeit, Herrschaft und anzueig­
nender Natur künstlich isolierten Sprache erschöpft, son­
dern »Ständig als Geschichte und als historische Wahrheit ab­
läuft<< . ' 4 8
Micheie Jalley-Crampe, davon gingen wir aus, fragt nach den
Bedingungen der Möglichkeit einer - strukturalen - Ethnologie
als Wissenschaft. Levi-Strauss erblickt sie in unbewußt tätigen
»structures mentales <<, die von der Wissenschaft offenbart wer­
den, die so - das ist ein besonders heikler Punkt - zum Be­
wußtsein eines Objekts erklärt wird, das sich jenem beharrlich
entzieht. Der Dualismus von Beobachter und beobachtetem
Objekt, der die Naturwissenschaften kennzeichnet, wird von
der Ethnologie in den Menschen selbst verlegt, was zur Folge
hat, daß si� die Unterscheidung von Menschlichem und Natür­
lichem fortschreitend beseitigt. Dabei unterliegen, wie Micheie
Jalley-Crampe exakt belegt'49, das wissenschaftliche Bew ußt­
sein wie sein Objekt, die geistigen Strukturen, gleichermaßen
einer Askese ; diese werden von der lebendigen Erfahrung ab­
gespalten, jenes verzichtet darauf, Selbstreflexion Z\1 sein : »La
conscience apparait ainsi comme l'ennemie secrete des scien­
ces de l'homme, sous le double aspect d'une conscience
spontahee, immanente a l'objet d'observation et d'une cons-
146 Ibid., S. 2 9 2 .
147 Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, I. c., S. 72 (Hervorhebungen
von Sartre) .
1 4 8 lbid., S. 8 6 8 . - Was die inhaltlime Seite dieser Problematik betrifft, so
sei ihre Darstellung dem zweiten Teil dieser Studie vorbehalten, der sim
ausdrücktim mit dem Marxsmen Gesmimtsbegriff besmäftigt.
1 49 Cf. zum folgenden ihren Aufsatz La notion de structure mentale dans
les travaux de Claude Uvi-Strauss, I. c., S. H f.

237
cience reflechie - conscience de Ia conscience - chez le
savant. « 1 5° Hiernach hat es der Ethnologe mit einem - menta­
len - Tatbestand zu tun, der unmittelbar, empirisch nicht erfaßt
werden kann. Die sozio-kulturelle Sachwelt ist kein Letztes,
in und durch sich Bestimmtes ; sie bildet, näher betrachtet, ein
Ganzes von geistigen Produkten, von Formen entäußerten,
vergegenständlichten Denkens. Dieses aber darf nicht mit
menschlicher Tätigkeit, mit der eines (idealistisch oder materia­
listisch gedeuteten) »Subjekts« zusammengebracht werden. ' P
Dessen Elimination aus der Theorie ermöglicht e s gerade, die
geistigen Strukturen rein »synchronisch«, ohne Rekurs auf
konkrete Geschichte, ohne den beschwerlichen Stufengang einer
»Phänomenologie des Geistes<< zu behandeln.

Methode und Realität

Wie unergiebig der in der Literatur immer wieder angestellte


Vergleich der strukturalen mit der transzendentalen Methode
letzten Endes ist, wird evident, wenn wir uns der (hier bereits
in anderem Zusammenhang erörterten) Frage zuwenden, wie
Methode und Realität sich zueinander verhalten.
Levi-Strauss bezeichnet es geradezu als >>Grundprinzip<<, daß
der ethnologische Strukturbegriff (insbesondere der Begriff
der >>sozialen Struktur<<) sich nicht >>auf die empirische Wirk­
lichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten
Modelle bezieht« ' P ; ihm haftet daher stets etwas Programma­
tisches, Vorläufiges an. Die Frage nun, »woraus diese Modelle
bestehen, die das eigentliche Objekt der Strukturanalysen bil­
den«'D, hängt nicht ab vom empirischen Stand der Ethnologie,
sondern von der ihrem Verfahren immanenten Erkenntnis­
theorie : Levi-Strauss legt einen Katalog von >>Definitionen<<
dessen vor, was eine Struktur ausmacht, ohne dabei auf das
1 5 0 Levi-Strauss, in : Revue internationale des Seiences s.ociales, Band 1 6 ,
Nr. 4, 1964, zitiert in : ibid. , S. 5 5 .
1 5 1 S o heißt e s etwa i n L e Cru e t le Cuit (1. c . , S . 20) besonders drastism :
•Nous n e pretendons pas montrer comment !es hommes pensent dans !es
mythes, mais comment !es mythes se pensent dans !es hommes, et a leur
lflSU . «
1 5 2 Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, I. c., S. 3 0 1 .
1 5 3 Ibid. (Hervorhebung vom Verfasser)
Rohmaterial seiner Arbeiten zurückzugreifen.'H Der wissen­
schaftliche Intellekt beschäftigt sich mit den sozialen Befunden
nur in dem Maße, wie diese schon aufbereitet, in Modellkon­
struktionen übersetzt worden sind. Er hat es, anders gesagt,
nicht mit >>Sachen«, sondern wesentlich mit eigenen Erzeugnis­
sen zu tun. Nicht unbegründet ist es daher, wenn Schiwy - bei
aller Anerkennung der Kritik am rohen Empirismus - zu be­
denken gibt, ob nicht die strukturale Methode einen gefährli­
chen Selbstbetrug ihrer Verfechter begünstigt : sie wähnen etwa,
ein Phänomen wie das bisher »Totemismus« genannte endlich
begriffen zu haben, während sie in Wahrheit nur seinen prä­
fabrizierten, rationalistisch entleerten »Begriff« beschrieben
haben.'S5
Freilich ist bereits das Konzept einer strukturalistischen >>Er­
kenntnistheorie<< in sich widersprüchlich. Wir brauchen nur an
Uvi-Strauss' massiven Objektivismus der Sprache (als fun­
dierender Tiefenstruktur) zu erinnern - daran, daß seine
methodischen Postulater s 6 gerade beseitigen, was seit der An­
tike zu jeder Erkenntnistheorie gehört hat : die Selbstreflexion
eines Subjekts. - Die Kategorie des >>Modells<<, mit der die
Strukturalisten vorzugsweise arbeiten, soll die überkommene,
im neueren Denken kritizistisch oder dialektisch behandelte
Subjekt-Objekt-Problematik ersetzen. Modelle sind weder
naiv-realistische Wiederholungen der vorliegenden Wirklich­
keit noch Produkte freier Imagination. Sie verdanken sich
einer selbst objektiven, das Objekt buchstäblich >>Zur Sprache
bringenden« Tätigkeit, eben der strukturalistischen, die von
Roland Barthes (der im übrigen mit Uvi-Strauss keineswegs
übereinstimmt) folgendermaßen geschildert wird : »Schöpfung
oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer >Abdruck< der
Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der, ersten
ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen
will [ ] «. 1 57 Die konstruktiv - durch Zergliedern und an-
. . .

I 5 4 Cf. ibid., s. JOl.


1 5 5 Cf. Schiwy, I. c., S. 50.
1 5 6 Garaudy sucht nachzuweisen, daß diese Postulate Levi-Strauss' mit der
strukturalen Methode als solcher nicht notwendig einhergehen, ja ihr wider­
sprechen. Cf. seine schon erwähnte Schrift Marxismus im 20. Jahrhundert,
I. c., S. 6z f.
1 5 7 Roland Barthes, Die strukturalistische Tätigkeit, in : Kursbuch J, Mai
1 966 : Strukturalismus, S. 1 9 2 .

239
schließendes Zusammensetzen des Objekts - gewonnene Struk­
tur ist zwar nur dessen »simulacrum (Abbild, Schattenbild),
aber ein gezieltes, >interessiertes< Simulacrum, da das imitierte
Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Ob­
jekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich
blieb.« l 5 s
Das im kognitiven Sinn ,. Wirkliche « ist nicht unmittelbare
Empirie, sondern das » Intelligible« . In den einsichtig geworde­
nen Denksystemen drückt sich eine Aktivität aus, die mit der­
jenigen zusammenfällt, die der strukturalistische Forscher aus­
übt. Dadurch, daß an die Stelle erkenntnistheoretischer Refle­
xion ein dogmatischer >> Isomorphismus« tritt, werden Methode
und Objekt praktisch ununterscheidbar - identisch. Mit gro­
ßem Nachdruck hebt Micheie Jalley-Crampe hervor, daß
diese einfach gesetzte >>identite ontologique« keineswegs genü­
gen kann, wenn es sich darum handelt, Ethnologie als - derart
anspruchsvolle - Wissenschaft zu begründen : >>Car, fonder le
rapport de la mchhode et de l'objet sur l'identite operatoire
de l'esprit humain qui se traduit dans l'activite scientifique
comme dans la pensee objectivee, ne suffit pas a expliquer la
possibilite de la science elle-m�me. Comment rendre compte
de ce dedoublement de l'esprit qu'implique l'activite scienti­
fique de l'ethnologue? Et comment est possible, si l'objet de
l'ethnologie est l'ensemble des structures mentales inconscien­
tes, cette prise de conscience que represente l'ethnologie ? N'est
elle pas la conscience de soi d'un esprit jusque la demeure
etranger a soi-m�me?« l 59 - Überlegungen, die noch einmal die
Schwierigkeiten verdeutlichen, denen sich eine Lehre aussetzt,
die zwar - über das ethnographische Studium - zu einer
» transzendentalen« Inventarisierung der allgemeinsten Struk­
turen menschlichen Geistes gelangt, es sich aber zugleich verbie­
tet, diesen a priori als das anzuerkennen, wodurch allein das
Verfahren gerechtfertigt würde : als konstitutive Subjektivität.
Daran hat die von Levi-Strauss scheinbar im Kantischen Sinn
geübte >>Kritik« : der Rückgang von dem im gegebenen Kon­
text von Erfahrung gleichsam schon auskristallisierten Lei­
stungen des Geistes zu dessen reinen Formen ihre unüberschreit­
bare Schranke. Uvi-Strauss möchte die Einheit und Notwen-
I 5 8 Ibid., s. ' 9 ' ·
1 59 Micheie Jalley-Crampe, I. c ., S. 57·
digkeit der von ihm untersuchten getsttgen Strukturen nicht
subjektiv, sondern rein objektiv begründen : ihre Totalität
nimmt den Charakter eines mit eigener Wirklichkeit ausge­
statteten Objekts an, das unabhängig von jedem subjektiven
Bewußtsein besteht. • 6o

Das Denken als »Ding unter Dingen«

Von hier aus stellt sich die ganze Theorie des »wilden Den­
kens« als ein stets weitergetriebener Versuch dar, die - er­
kenntnistheoretische - Paradoxie des Strukturalismus mit
einem metaphysischen Gewaltstreich zu beseitigen. Die Frage
nämlich, wie denn in einer schlechthin »subjektlosen << Philoso­
phie ein höheres Wissen vorzustellen sei, das - prinzipiell un­
geschieden vom alltäglichen wie vom szientivischen Wissen -
über die Operationen eines Geistes Auskunft erteilen kann, der
nichts von seinem Tun weiß - diese Frage beantworten Levi­
Strauss' Schriften seit den Traurigen Tropen so, daß sie das
Denken als ein Objekt unter den Objekten dieser Welt >>defi­
nieren«. Gleiches wird durch Gleiches erkannt - dieser schon
auf die Vorsokratik zurückgehende Gedanke beherrscht den
strukturalistischen Erkenntnisbegriff. Wenn der Ethnologe das
objektivierte Denken untersuchen kann, so deshalb, weil Den­
ken selbst ein Objekt ist und im Sinne strenger Mechanismen,
ja eines »determinisme absolu<< den Gesetzen der Dingwelt
unterworfen bleibt.•6•
Daß diese metaphysische These die Schwierigkeit nicht zu til­
gen vermag, liegt auf der Hand. Es verbleibt ein dialektisch
nicht durchreflektierter (ohne inhaltlich entfaltete Geschichte
nicht zu bewältigender) Zirkel. Einerseits kann das Bewußt­
sein des Ethnologen nur darum zur Einsicht in ein Denken
führen, das ohne es unaufgehellt bliebe, weil jener nur in Kon­
takt mit dem unbewußten Denken Zugang zu seinem eigenen
Denken gewinnt ; weil die objektiv gegebenen Denkstrukturen
die strukturale Denkweise des Forschers erheischen. Anderer­
seits aber kann das unbewußte Denken nur vermittels ethnolo-

r 6o Cf. ibid ., S. 5 8
I 6 I Cf. ibid.
giseher Wissenschaft Gestalt annehmen.162 - Der Vorbehalt
Levi-Strauss', es komme primär darauf an, die Denkmecha­
nismen als solche zu erforschen, weniger darauf, welchen Status
man ihnen oder dem sie studierenden Denken zuspreche, ist
wenig stichhaltig. Daß eine Methode zu brauchbaren Ergeb­
nissen führt, entbindet diejenigen, die sich ihrer bedienen,
nicht davon, sie erkenntnistheoretisch zu reflektieren - beson­
ders dann nicht, wenn sie philosophisch so belastet ist wie der
Strukturalismus. Ungelöst - so Micheie Jalley-Crampe - bleibt
die kitzlige Aufgabe zu klären, >>comment l'ethnologie peut
prendre conscience de mecanismes qui ne se savent pas ; com­
ment, si la nature de l'esprit est inconsciente, la rencontre de
deux pensees peut eclairer l'esprit sur lui-m�me ; comment en­
fin, la pensee peut se penser m�me « . '6J
Nun lautet Uvi-Strauss' metaphysisch-gnoseologische Haupt­
these zwar, daß den verschiedenen Kulturphänomenen geistige
Strukturen zugrunde liegen, aber - und das bildet den Kern
seiner Lehre vom »wilden Denken« - er betont zugleich, daß
diese Strukturen objektiv, ja ein Stück Natur sind, wie es der
Gelehrte unter dem Mikroskop betrachtet. Nicht nur in dem
Sinn, daß die (ans System der Sprache gebundene) Logik dem
individuellen Bewußtsein als ein je schon Gegebenes, dinghafl:
Festes entgegentritt. >>Natur« sind jene Strukturen für Levi­
Strauss vor allem insofern, als sie auf der unwandelbaren Be­
schaffenheit des menschlichen Gehirns und damit des materiel­
len Universums basieren. Darauf kamen wir wiederholt zu
sprechen ; es handelt sich jetzt darum, die Konsequenzen dieses
- spekulativen - »Naturalismus« näher zu erörtern.
Das Zusammenfallen von Methode und Realität, von forschen­
dem und zu erforschendem Geist beruht darauf, daß beide im
natürlichen System der Dinge gründen ; daß in der Erkenntnis
nicht nur der Geist vom Geiste Informationen entgegennimmt,
sondern ebenso die Natur von der Natur. Die durch den Men­
schen hindurch erreichbaren Wahrheiten gehören zur materiel­
len Welt schlechthin, die letztlich auch das Muster unserer ab­
straktesten Denkoperationen bildet. Levi-Strauss zögert nicht
1 62 Cf. ibid. - Zu diesem Zirkel in der Selbstbegründung von (strukturali­
stisdter) Erkenntnis cf. audt Manfred Bierwisdt, zitiert in : Sdtiwy, I. c.,
s. 4 5 ·
1 6 3 Ibid.
zu behaupten, daß selbst die Sätze der reinen Mathematik, so
befreit von allem Stofflichen sie erscheinen mögen, den Aufbau
des Universums reproduzieren. Sie spiegeln, wie er im Wilden
Denken schreibt, >>das freie Funktionieren des Geistes wider«
- damit aber »die Tätigkeit der Zellen der Hirnrinde, die von
allem äußeren Zwang frei sind und nur ihren eigenen Gesetzen
gehorchen. Da auch der Geist ein Ding ist, unterrichtet uns das
Funktionieren eines Dings über die Natur der Dinge : selbst die
reine Reflexion läuft auf eine lnteriorisierung des Kosmos
hinaus<< . 1 64 Unsere Begriffe veranschaulichen symbolisch die
Struktur des Außermenschlichen. Levi-Strauss zitiert in diesem
Zusammenhang die Formulierung E. W. Beths, daß Logik und
Logistik »empirische Wissenschaften sind, die eher zur Ethno­
gr<tphie als zur Psychologie gehören« .16s
An dieser Stelle der Diskussion scheint es geboten, auf den be­
reits erwähnten methodologischen »Rousseauismus« von Levi­
Strauss zurückzukommen. Rousseau, schreibt er in seiner Ab­
handlung über den Totemismus, hat » das zentrale Problem der
Anthropologie« aufgestellt : »das des Übergangs von der Na­
tur zur Kultur<< .1 66 Dieser ist zugleich ein Obergang »von der
Tierheit zur Menschheit, [ . . . ] von der Affektivität zur lntel­
lektualität«. 167 Das (im logischen, nicht im genetischen Sinn)
ursprüngliche Denken ist nicht etwa »prälogisch<<, wie Levi­
Bruhls Theorie annahm, sondern - darin war Rousseau bereits
weiter als die spätere Wissenschaft - die »Quelle der ersten
logischen Operationen«. 168 Sie bestehen im klassifikatorischen
»Verständnis für die . >spezifische< Struktur der Tier- und
Pflanzenwelt« und gehen einer »sozialen Differenzierung«
voraus, »die erst gelebt werden kann, nachdem sie gedacht
worden ist«. 169 .
Der - idealistische - Primat des »Denkens « vor dem »Leben«
bestimmt Levi-Strauss' Rousseau-Interpretation insgesamt. So
unterstreicht er besonders, daß der Genfer »als Gegensatz zum
Naturzustand<< häufig nicht den »Gesellschaftszustand« angibt,

1 64 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 2 8 5 , Fußnote.


165 Ibid.
1 66 Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, I. c . , S. 1 29 .
1 67 Ibid., S. 1 3 1 .
168 Ibid., S . 1 29.
1 69 Ibid., cf. auch S. 1 3 1 , wo Levi-Strauss »die Verschiedenheit der Gat-
sondern diesen ableitet aus dem >>Denkzustand<< 1 7° im Sinn des
Vorwaltens »analytischer Reduktion<< . '7' Ihr gehen umfas­
sende Kategorien voraus, welche >>die Wahrnehmungsgegen­
stände und die Emotionen, die sie wachrufen, in einer Art
Überwirklichkeit verschmelzen<<. 1 7 1 Dieses dichterisch-meta­
phorische Denken, das Affektives und Intellektuelles, den ein­
zelnen mit den anderen, Mensch und Tier identifiziert, geht
über in ein differenzierendes Denken, das sich namentlich
am Gegensatzpaar Natur-Kultur (Menschliches-Nichtmensch­
liches) orientiert.
In dem Maße, wie der Ethnologe den Formen nachspürt, in
denen der Geist, Objekt unter Objekten, diese in Vorstellun­
gen >>Übersetzt<<, wird ihm klar, wie sehr seine Disziplin ihre
Wahrheit in den Naturwissenschaften findet. Wohl heißt es im
Wilden Denken, es sei der Ethnologie darum zu tun, >>hinter
der empirischen Vielfalt der menschlichen Gesellschaften<< auf
analytischem Wege sprachlich-logische >>lnvarianten<< 1 73 zu er­
mitteln. Aber das ist für Levi-Strauss nur ein erster Schritt.
Sein wahres Ziel besteht nicht darin, besondere menschliche
Gruppen und deren Strukturen >>in einer allgemeinen Mensch­
lieit aufgehen zu lassen<<, sondern darin, >> die Kultur in die Na­
tur und schließlich das Leben in die Gesamtheit seiner physiko­
chemischen Bedingungen zu integrieren<< . '74
Die wesentlich klassifikatorische Tätigkeit des Geistes, die sich
auf den verschiedenen Ebenen darstellt, auf denen menschliches
Denken die physische und soziale Welt bestimmt, hat ihr Mo­
dell an der Natur. Diese ist systematisch und enthält zugleich,
was Levi-Strauss >>differentielle Abstände<< '75 nennt. Als >>di­
versite concrete ordonnee en series <<'76 liegt Natur den Taxo­
nomien, den Organisationsweisen gesellschaftlicher Funktionen
zu Grunde ; sie liefern »homologe<< Obersetzungen (nicht etwa

tungen als begrifflime Unterlage der sozialen Differenzierung• versteht.


170 Ibid., s. 1 J O.
1 7 1 Ibid., s. 1 ) 2 .
1 72 Ibid.
173 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 284.
174 Ibid., cf. aum S. 28 5.
175 Ibid. , cf. etwa S. 92.
1 7 6 Mimeie Jalley-Crampe, I. c . , S. 5 9· - Uvi-Strauss kommt im Wilden
Denken immer wieder auf diesen Modellmarakter der Natur zurück. Cf.
I. c . , S. 24 f., S. 5 4 f., S. 5 7 f., S. 7 5 f. und S. 84 f.

244
ausgedachter, sondern tatsächlich vorhandener) Reihen pflanz­
licher oder tierischer Typen. Levi-Strauss erläutert den Mo­
dellcharakter des naturalen Seins an der Kategorie der >>Art«.
Diese bezeichnet ebenso eine »Sammlung von Individuen<< wie
ein »System von Definitionen << 1 77 und gestattet das »sinnliche
Verstehen eines von der Natur objektiv gegebenen Kombina­
tionssystems [ . . . ] << . 1 7 8
Freilich wäre es falsch anzunehmen, die Tatsache, daß es unter­
scheidbare botanische und zoologische Arten wirklich gibt,
bilde ein »endgültiges und unmittelbares Modell«I79 des Den­
kens. Eher dient sie als »Mittel des Zugangs zu anderen Unter­
scheidungssystemen<<, die - was wichtig ist - »auf das erste
zurückwirken<< .• s o Im Gegensatz zur naturalistischen Ethnolo­
gen!Schule hebt Levi-Strauss hervor, daß die Naturphäno­
mene als solche keineswegs dasjenige sind, »was die Mythen zu
erklären suchen<< . 1 s 1 Ihr spezifisches >>Denkobjekt<< bilden viel­
mehr die (jeweils historisch-gesellschaftlich) vermittelten Bezie­
hungen der Menschen zur Natur - eine Realität, vermittels
derer »die Mythen Realitäten zu erklären suchen, die selbst
nicht natürlicher, sondern logischer Ordnung sind<< . 1 82 Daß
diese - logischen - Realitäten für den Strukturalismus selbst
zur >>Natur<< gehören, wurde hier wiederholt dargetan und
vermag die Triftigkeit des im letzten Abschnitt über das Ver­
hältnis von Methode und Realität Entwickelten nicht zu
schmälern. Wie Spinozas >>naturale<< Weltsubstanz sich der
Erkenntnis gleichzeitig über die Attribute der extensio und
der cogitatio erschließt, so stellt sich auch bei Levi-Strauss, ob­
schon auf dem Niveau zeitgenössischer Wissenschaftstheorie,
die Welt als eine dar, die »Zugleich physische und semantische
Eigenschaften « • 8 J aufweist. Die moderne Entdeckung, daß die
Welt der Information und Kommunikation dem physischen
Universum angehört, daß, anders gesagt, Naturgesetze in sol­
che der Information übergehen, »schließt die Gültigkeit des
umgekehrten Übergangs ein : dessen, der seit Jahrtausenden
1 77 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 1 60.
178 Ibid., S. 1 6 1 f.
1 79 Ibid., S. 1 60.
180 Ibid.
181 Ibid., S. 1 1 4.
182 Ibid.
183 Ibid ., S. 308.

24 5
dem Menschen erlaubt, sich den Naturgesetzen auf dem Wege
der Information zu nähern« . ' s4

Magie und Wissenschaft

Dieser Übergang aber charakterisiert, was Levi-Strauss das


»wilde Denken« nennt : eine in Praxis umgesetzte »Philosophie
der Endlichkeit«. Gemeint damit ist unter anderem, daß dieses
Denken mit einem »beschränkten Vokabular« auskommt, mit
einer »Systematik endlicher Klassen« und einem »aus Bedeutung
gefertigten Universum« , , ss Merkmale, die keineswegs besagen,
daß die Formen des bislang (im abschätzigen Sinn) als »primi­
tiv« bezeichneten Denkens dem heutigen praktischen, einzel­
wissenschaftlichen oder philosophisch reflektierten Bewußtsein
unterlegen sind, seine rohe Vorstufe darstellen. Ganz im Ge­
genteil. Levi-Strauss bemüht sich nachzuweisen, daß das
»wilde Denken« gerade nicht das »Denken der Wilden« oder
das »einer primitiven oder archaischen Menschheit ist, sondern
das Denken im wilden Zustand, das sich von dem zwecks
Erreichung eines Ertrages kultivierten oder domestizierten
Denken unterscheidet« . ' 86 Wesentlich dabei ist für den Struk­
turalismus, daß dieser Unterschied nicht als ein historisch ge­
wordener verstanden werden darf. Es handelt sich hier, wie
Levi-Strauss immer wieder betont, um ein Nebeneinander, eine
Koexistenz von Formen, die sich nicht selten durchdringen. In
dem Maße, wie das seither »primitiv<<, von Comte »spontan«
genannte Denken darauf abzielt, »Ordnung im Universum zu
etablieren «, ist es keine der Wissenschaft zeitlich vorangehende
Phase des Bewußtseins, sondern die natürliche »Grundlage
jedes Denkens« ' 87 (die freilich - hier nimmt Levi-Strauss'
Theorie romantische Züge an - stets mehr von Domestikation
bedroht wird 'SS). Wohl hat Comte, besser übrigens als spätere
I 84 Ibid., S. 309 ; cf. hierzu auch S. 3 I O,
I 8 5 Ibid . , s. 307.
I 8 6 Ibid ., s. 2 5 J .
I 87 Ibid . , s . 2 I .
I 8 8 E s gibt jedoch, wie Uvi-Strauss i n diesem Zusammenhang bemerkt,
»noch immer Zonen , in denen das wilde Denken [ . • • ] relativ geschützt ist :
das ist der Fall in der Kunst, der unsere Zivilisation den Status eines Na­
turschutzparks zubilligt [ • . . ] ; und das ist besonders auf vielen Sektoren
Verfechter der von Levi-Strauss bekämpften Totemismus­
These, die »Ökonomie und Tragweite« des »klassifi.katorischen
Systems<< ' 8 9 begriffen, wie es dem ursprünglichen Denken inne­
wohnt, aber sein Cours de philosophie positive rechnet es den
fetischistischen und polytheistischen Unterabschnitten des
»theologischen Stadiums« zu, also einer bestimmten Periode
der Geschichte. Wo Comte, unbewußt-dialektisch, einerseits
am vorwissenschaftliehen Denken »Einheit und Methode« und
»Homogeneität der Lehre<< 1 9° rühmt, andererseits aber dessen
historisch begrenzten Charakter betont, sieht Levi-Strauss nur
einen schlechten Widerspruch. Für ihn bilden logisch-systemati­
sches und linear-genetisches (diachronisches) Denken einen un­
überbrückbaren Gegensatz. Damit jedoch bringt er sich um
jede Möglichkeit, »Differenz so gut wie Einheit von mythischer
Natur und aufgeklärter Naturbeherrschung«'9' wirklich zu be­
greifen. Was Horkheimer und Adorno »Dialektik der Auf­
klärung« genannt haben : der konkrete Prozeß bürgerlich­
westlicher Zivilisation, in dem Mythos sich als Aufklärung er­
weist und diese in Mythologie zurückschlägt, wird zugunsten
einer problematischen Metaphysik beiseitegeschoben, welche
die Abfolge der Bewußtseinsgestalten leugnet und letztere zu
bloßen Modalitäten einer immer schon feststehenden, jedem
geschichtlichen Wandel entzogenen begrifflichen (wie »natür­
lichen<<) Schematik herabsetzt. So gibt es für Uvi-Strauss kei­
nen geschichtlichen Übergang von der Magie zur artikulierten
Religion. Beide sind stets gegebene Komponenten des Geistes,
»bei denen einzig die Dosierung variiert<< . ' 9 1 Dem entspricht,
daß er die geläufige These ablehnt, Magie sei eine »schüchterne
und stammelnde Form der Wissenschaft<< , 1 93 Das magische
des sozialen Lebens der Fall, die noch nicht gerodet sind und in denen -
aus Gleichgültigkeit oder aus Ohnmacht, und meistens ohne daß wir wüßten,
warum - das spontane, wilde Denken auch weiterhin gedeiht•. Ibid., S . .1 5 3 .
I 8 9 Ibid., s . .1 p .
1 9 0 Zitiert ibid., S . .1 5 3 .
1 9 1 Max Horkheimer u n d Theodor W . Adorno, Dialektik der Aufklärung,
Amsterdam 1 947, S. 1 0 . - Entscheidend ist für die Autoren das vom Struk­
turalismus außer acht gelassene Moment der Unwahrheit des mythischen als
eines naturverfallenen Denkens : » Seit je hat er (der Mythos, A.S.) durch
Vertrautheit und Enthebung von der Arbeit des Begriffs sich ausgewiesen.«
Ibid., S. 8 f.
19.1 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S . .1 5 6.
1 9 3 Ibid., S . .1 5 .

2 47
Denken ist >>eher ein Schatten, der den Körper ankündigt<< als
»eine Etappe der technischen und wissenschaftlichen Entwick­
lung [ . . ] << . Es ist nicht ein »erster Versuch, ein Anfang, eine
.

Skizze, der Teil eines noch nicht verwirklichten Ganzen ; es


bildet ein genau artikuliertes System und ist in dieser Hinsicht
unabhängig von dem anderen System, das die Wissenschaft
später begründen wird, abgesehen von der formalen Analogie,
die sie beide einander näherbringt und die aus dem ersten eine
Art metaphorischen Ausdrucks der letzteren macht<< . 1 94
Magie und Wissenschaft sind für Uvi-Strauss nur hinsichtlich
ihrer theoretischen und praktischen Ergebnisse Gegensätze -
nicht hinsichtlich ihrer mentalen Grundlage, die darin besteht,
das gegebene Material zu >>Strukturieren<< . Er tritt entschieden
dafür ein, sie als zwei parallele >>Arten der Erkenntnis<< 1 9!, ja
»Wissenschaftlichen Denkens<< 1 96 schlechthin zu betrachten. Ge­
gen die Comtesche, aber auch Marxsche Geschichtstheorie be­
hauptet er, Magie und Wissenschaft seien >>Funktion nicht etwa
ungleicher Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes «
- eine solche kann es für den Strukturalismus nicht geben -,
>>sondern zweier strategischer Ebenen [ . ] , auf denen die Natur
. .

mittels wissenschaftlicher Erkenntnis angegangen werden kann,


wobei die eine, grob gesagt, der Sphäre der Wahrnehmung und
der Einbildungskraft angepaßt, die andere von ihr losgelöst
wäre ( . . . ] << . 1 97 Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten des
erkennenden Geistes, sich seinem Objekt, dem Geflecht not­
wendiger Abhängigkeiten und Relationen, zu nähern : er kann
dies auf sinnliche oder auf begriffliche Weise tun. In diesem
Fall hält er sich von vornherein an die >>formalen Eigenschaf­
ten<< der Dinge, in jenem an ihre »wahrnehmbaren Quali­
täten<< . 1 9 8
Dabei ist das begrifflich geschärfte Wissen (hier trifft sich Uvi­
Strauss mit Nietzsche, einem ebenfalls romantisch beeinflußten
Denker) keineswegs unbedingt dem sinnlich-intuitiven vor­
zuziehen. Das >>Vorwissenschaftliche<< Denken antizipiert das
wissenschaftliche nicht nur so, daß es gelegentlich Erfolge zei-

1 94 Ibid.
195 Ibid ., S. z s .
1 96 Ibid., s . Z7.
197 Ibid.
198 Ibid. , S. 3 1 0.
tigt, die später zur Regel werden. Es gelangt auch zu Methoden
und Resultaten, welche die Wissenschaft noch längst nicht ganz
erreicht hat, welche ihr erst später zugänglich werden. Das
Schwierigste, nicht das Einfachste, steht für Levi-Strauss am
Anfang : >>die Systematisierung auf der Ebene der sinnlich
wahrnehmbaren Gegebenheiten, denen die Wissenschaft lange
Zeit den Rücken gekehrt hat und die sie erst langsam wieder in
ihr Gesichtsfeld zurückholt. « '99 Levi-Strauss erinnert in diesem
Zusammenhang an die moderne Informationstheorie, die, wie
er meint, dazu beigetragen hat, die getrennten Wege der Er­
kenntnis zusammenzuführen, denjenigen, der sich die physische
Welt über die Kommunikation erschließt, und denjenigen, der
über die Physik zur Welt der Kommunikation findet.'00 Und
er spricht die nach Marx und Nietzsche philosophisch jeden­
-

falls problematische - Zuversicht aus, daß >>der gesamte Pro­


zeß der menschlichen Erkenntnis« auf diese Weise »den Cha­
rakter eines geschlossenen Systems<< 201 angenommen hat oder
dabei ist, ihn anzunehmen.
Es ist kein geringes Verdienst der strukturalen Ethnologie, daß
sie radikal mit dem zählebigen Vorurteil aufgeräumt hat, das
magisch-mythische Denken der sogenannten Naturvölker sei
von dem unsrigen toto coelo verschieden, es sei grob und gehe
in der puren Unmittelbarkeit biologischer oder praktischer
Lebensinteressen auf. Demgegenüber weist Levi-Strauss in
zahlreichen konkreten Studien nach, wie differenziert, wie
methodisch, ja wissenschaftlich geschärft das Bewußtsein der
Wilden ist. Es ordnet die toten und belebten Naturerscheinun­
gen >>mittels eines umfassenden Systems von Bezügen<< . 202 Daß
die Ethnologen so lange zögerten, sich über die hö<hst subtilen
S<hemata der Klassifikation zu informieren, erklärt Uvi­
Strauss aus ihrer Neigung, von einem sehr niedrigen technisch­
ökonomis<hen Niveau allzu rasch auf ein entsprechendes gei­
stiges Niveau zu schließen. »Primitivität<< ist nicht, wofür sie
bislang gehalten wurde : »Niemals und nirgends war der >Wil­
de< wohl jenes Lebewesen, das, ka.um dem tierischen Zustand
entwachsen, noch der Herrschaft seiner Bedürfnisse und In-
1 99 Ibid., S. 2 3 .
2oo Cf. ibid., S. 3 0 7 ff .
201 Ibid., s. J I O.
202 Ibid., S. 5 5 .

2 49
stinkte ausgeliefert ist, wie man es sich allzu oft vorgestellt
hat, noch repräsentiert er jenen Bewußtseinstypus, der durch
die Affektivität beherrscht wird und in Verworrenheit und
Partizipation versinkt.« 203 Hier also heißt es umlernen. Die
Primitiven sind gerade nicht »primitiv«. Ihr gesamtes Leben
wird, weit mehr als das der Zivilisierten, durch bewußte Ge­
danken-Komplexe determiniert.
Freilich ist es Levi-Strauss nicht geglückt, die seitherigen Theo­
rien über das von ihm »wild« genannte Denken in seine Kon­
zeption als relatives Moment der Wahrheit hinüberzuretten.
Der sicher falschen Vorstellung, das Denken der Eingeborenen
sei rein utilitaristisch bestimmt, hält er abstrakt die Antithese
entgegen, ihr primäres Interesse sei kein praktisches, sondern
ein kognitives. Tier- und Pflanzenarten sind ihnen nicht durch
ihre Nützlichkeit bekannt, sondern »sie werden für nützlich
oder interessant erachtet, weil sie bekannt. sind«. 204 Levi­
Strauss betont mit Recht, daß >>ein so systematisch entwickel­
tes Wissen« wie das der Wilden »nicht allein vom praktischen
Nutzen abgeleitet werden kann<< . 20 S Nur geht es nicht an, die
Komponente der materiellen Praxis derart gering zu veran­
schlagen, daß man behauptet, die archaische Wissenschaft ge­
nüge vorab »intellektuellen Ansprüchen, vor oder anstelle der
bloßen Befriedigung von Bedürfnissen<<.'06 Bei aller Autono­
mie des Theoretischen gegenüber den handfesten Lebenstat­
sachen - auch Althusser hebt sie im Anschluß an Levi-Strauss
hervor - bleibt zu beachten, daß der Erkenntnisprozeß auf
allen Stufen der (vom Strukturalismus geschmälerten oder gar
geleugneten) Geschichte ein konstitutives wie abgeleitetes Mo­
ment menschlicher Praxis bildet. So anachronistisch es wäre,
wollte man Freuds These in Totem und Tabu umstandslos fol­
gen, wonach sich in der Magie bereits die »unerschütterliche
Zuversicht auf die Möglichkeit der Weltbeherrschung<< 207 aus­
drückt - diese ist stets auch, wie immer keimhaft, in jener ent­
halten. zo s
203 Ibid.
204 Ibid., S. 20.
205 Ibid., s. I9·
206 Ibid., S. 20.
207 Sigmund Freud, Totem und Tabu, Frankfurt am Main 1 9 5 6 , S. r o r .
2 0 8 Mehr nodt i n der Mythologie. Marx hat in seiner Einleitung z u r Kri­
tik der politischen Ökonomie die beiden Momente des Mythos, das seiner
Die so befremdlichen Denkformen der Wilden - das ist Levi­
Strauss' Grundgedanke - werden uns in dem Maße zugäng­
licher, wie es uns gelingt, sie unter dem Aspekt der »Forderung
nach Ordnung« 109 zu sehen. Wenn etwa die Pawnee-Indianer
beim überqueren eines Flusses sich einer rituellen Anrufungs­
formel bedienen, die aus mehreren Teilen besteht, die peinlich
genau der jeweils von den Reisenden zurückgelegten Etappe
entsprechen, dann interpretiert Levi-Strauss dieses Verhalten
sogleich als Ausdruck der »Sorge um eine erschöpfende Beob­
achtung und eine systematische Bestandsaufnahme der Bezüge
und Verbindungen«.1 10 Nur dadurch, daß er gewaltsam von
allen spezifischen Bestimmtheiten abstrahiert, kann Levi­
Strauss eine (nahezu) bruchlose, überzeitliche Einheit des
menschlichen Denkens behaupten. Dessen Urform und blei­
bende Grundlage ist das sogenannte primitive Denken, dessen
Struktur unter dem Postulat einer unwandelbaren »Ordnung
des Universums«11 1 steht.
Fraglich ist nur, ob die von Levi-Strauss angeführten Züge des
Denkens, die in denen des magischen Bewußtseins gründen sol­
len, wirklich für alles Denken gelten. Handelt es sich hier nicht
vielmehr um die - voreilige - Projektion der ausgebildeten
Elemente des esprit positif, also einer geschichtlich entsprunge­
nen und (möglicherweise) aufhebbaren Stufe des Denkens, auf
dessen noch unbeholfene Anfänge? Levi-Strauss verstößt gegen
die Hegeische Einsicht, daß wahrhafte Identität stets konkre­
te, inhaltlich erfüllte Identität ist und insofern allemal Nicht­
identität, Werden und Veränderung einschließt.m Was bei ihm
(relativen) Autonomie und das seiner Gebundenheit an eine bestimmte hi­
storische Praxis, herausgearbeitet. Mythologie ist einmal, vor jeder bewuß­
ten Kunstproduktion , • unbewußt künstlerische Verarbeitung der Nature
(und als solche die Voraussetzung etwa der griechischen Kunst) . Zum ande­
ren »Überwindet und beherrscht und gestaltet• sie • die Naturkräfte in der
Einbildung und durch die Einbildung : verschwindet also mit der wirklichen
Herrschaft über dieselben« . (In : Zur Kritik der politischen Ökonomie, I. c.,
S. 269 ; S. 268.) - Der Strukturalismus reduziert demgegenüber die Mythen
auf ihren (von der Praxis abgelösten, ja ihr fundierend vorgeordneten) rein
kognitiven Aspekt : sie sind • eine Art intellektueller Bastelei«. (Cf. Das
wilde Denken, I. c . , S. 29.)
209 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c . , S. 2 1 .
2 1 0 Ibid., S . 22.
2 1 1 Ibid., S. 2 1 .
2 1 2 Nur so ist es zu verstehen, daß Levi-Strauss - unbeschwert von allen
geschichtlichen Erwägungen - die Logik der totemistischen Klassifikation als
als ewige, primär theoretische »Sorge<< um >>erschöpfende Be­
obachtung<<, um »systematische Bestandsaufnahme der Bezüge
und Verbindungen<< figuriert, spiegelt in Wirklichkeit die Er­
fordernisse instrumenteller Vernunft wider, deren schranken­
loses Walten - insofern ist dem Strukturalismus ironisch beizu­
pflichten - die seitherige Geschichte stets auch einer negativen
Ontologie angeähnelt hat. - Es ist keineswegs so, daß das
Denken vor der immer gleichen Aufgabe steht, ein gegebenes
»Chaos<< zu bändigen, Ordnung und Einheit der gegenständ­
lichen Welt zu stiften. Beide Mon;1ente bilden sich vielmehr in
einem zugleich leidvollen und befreienden gattungs- und so­
zialgeschichtlichen Prozeß erst zu jener Reinheit von Momenten
- kontemplativer - Erkenntnis heraus, von denen Levi-Strauss
als von einem unmittelbaren Vorfindlichen spricht. Jenen Pro­
zeß der fortschreitenden Naturbeherrschung, in dem Sprache
und Denken als (freilich unauslaßbare) Glieder menschlicher
Arbeit auftreten, bewertet Levi-Strauss nur nach seiner nega­
tiven Seite ; die historische Praxis hat seither >>nichts anderes
getan als Millionen von Strukturen zerstört, die niemals mehr
integriert werden können<< . 1 1 3 Ihm geht es demgegenüber um
ein dem - hypothetisch anzusetzenden - Stande Rousseauscher
Unschuld entsprechendes » Strukturieren <<, wie es in der älte­
sten (und, wie er meint, jüngsten) Tätigkeit des menschlichen
Geistes am Werke ist.11 4

Determinismus und menschliche Praxis

Die Problematik, die sich daraus ergibt, daß Uvi-Strauss


einerseits dem geschichtlichen Gang der Praxis eine Reihe von
Kategorien gleichsam abdestilliert, andererseits aber danach
trachtet, sie jeder Praxis ontologisch vorzuordnen - diese Pro­
blematik wird besonders deutlich, wenn wir untersuchen, wie
strukturale Ethnologie an die Frage des Determinismus heran­
tritt. - Uvi-Strauss erblickt in der Zauberei (in Anlehnung an
Ausdruck eines Denkens betrachtet, •das in allen spekulativen Verfahren
bewandert ist und das dem Naturforscher und Geheimwissenschaftler der
Antike und des Mittelalters nahesteht : Galen, Plinius, Hermes Trismegistos,
Albertus Magnus . . . « . In : ibid., S. 5 5 .
2 1 3 Levi-Strauss, Traurige Tropen, Köln/Berlin 1 960, S . 367.
2 1 4 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., cf. S. 2 3 .
Forscher wie Hubert, Mauss und Evans-Pritchard) das System
einer Naturphilosophie, eine Theorie der Ursachen. Zwar
stellt sie nicht selten illusorische Beziehungen zwischen den
Phänomenen her, aber sie unterscheidet sich von strenger Wis­
senschaft »weniger durch die Unkenntnis oder die Geringschät­
zung des Determinismus als vielmehr durch einen weit gebie­
terischeren [ . . . ] Anspruch auf Determinismus«.11S Magie setzt
einen »globalen und integralen Determinismus « voraus, wäh­
rend Wissenschaft »Stufen unterscheidet, von denen nur einige
gewisse Formen des Determinismus zulassen, die auf anderen
Stufen nicht anwendbar sind«. 1 16 Damit fiele dem wissen­
schaftlichen Denken die Rolle einer geläuterten Magie zu, und
diese wäre vermöge der Präzision ihrer rituellen Praktiken
»Ausdruck einer unbewußten Ahnung von der Wahrheit des
Determinismus [ . . . ] , derart, daß der Determinismus im Ganzen
vermutet und manipuliert würde, noch bevor man ihn erkennt
und respektiert«."7
Ist aber, wie es bei Levi-Strauss in diesem Kontext heißt, der
Determinismus die »Seinsweise der wissenschaftlichen Phäno­
mene «, was doch wohl besagt : der in Wissenschaft überführten,
vorwissenschaftlich gegebenen Phänomene, so · läßt sich diese
>> Seinsweise « nicht abgelöst von der menschlichen Praxis, nicht
rein kognitiv bestimmen. Den verschiedenen Formen des De­
terminismus, die Levi-Strauss erwähnt, entsprechen nicht nur
verschiedene Stufen der materiellen Welt, sondern ebensoviele
Stufen ihrer praktischen Aneignung. Ohne sie wäre Determi­
nismus gerade als theoretische Kategorie undenkbar. Levi­
Strauss preist - davon war oben die Rede - die >> Sorge« des
magischen Denkens >>um eine erschöpfende Beobachtung« und
»systematische Bestandsaufnahme« der objektiven Zusammen­
hänge. Deren Notwendigkeit aber geht selbst aus exaktester
Empirie nicht hervor. Darauf hat Engels in seiner Dialektik
der Natur mit großem Nachdruck hingewiesen. Kausalität
wohnt der Natur an sich inne, der hinreichende Beweis ihrer
Notwendigkeit jedoch ist durch Beobachtung nicht zu erbrin-

2 I 5 Jbid., $. 22.
2 1 6 Ibid., S. 2 3 .
2 1 7 Ibid., Hervorhebungen v o n Levi-Strauss. - Bemerkenswert, wie sehr
diese Kennzeichnung des magischen Denkens von der oben angeführten,
rein • theoretischen• abweicht.

253
gen ; er »liegt in der menschlichen Tätigkeit, im Experiment, in
der Arbeit<<.21 8 Levi-Strauss fällt in den Feuerbachianismus zu­
rück, wenn er die Kategorie des gesetzmäßigen Zusammen­
hangs der Dinge von dem isoliert, was die gesellschaftliche
Produktion (wie bescheiden sie auch sei) jeweils mit diesen
Dingen anfängt. Die ihre Geschichte hervorbringenden Men­
schen begnügen sich nicht damit, die »regelmäßige Aufeinan­
derfolge gewisser Naturphänomene«219 zu registrieren - in der
Mehrzahl der Fälle stoßen sie überhaupt erst dadurch auf die
objektive Gesetzmäßigkeit der Außenwelt, daß sie diese ver­
ändern.220 Indem es der Industrie gelingt, nicht nur vorhan­
dene Bewegungen auszunutzen, sondern auch solche herzustel­
len, »die in der Natur gar nicht vorkommen [ ], wenigstens
. . .

nicht in dieser Weise, [ ] begründet sich die Vorstellung von


. . .

Kausalität, die Vorstellung, daß eine Bewegung die Ursache


einer andern ist«.221 Nur die gesellschaftliche Praxis vermag
(kraft der ihr immanenten Erkenntnisfunktion) den Rume­
schen Skeptizismus zu erschüttern. Das regelmäßige post hoc
kann erst dann ein propter hoc begründen, »Wenn ich das post
hoc machen kann«, wenn es »mit dem propter hoc identisch
wird<<. ' 22
Was Levi-Strauss als >>neolithisches Paradox«"3 bezeichnet : der
Umstand, daß moderne Wissenschaft erst seit der Renaissance
besteht, während der entscheidende Durchbruch zur Zivilisa­
tion bereits im Neolithikum erfolgte - dieser Umstand setzt in
der Tat >>Jahrhunderte aktiver und methodischer Beobachtun­
gen voraus, kühne und kontrollierte Hypothesen, die entweder
verworfen oder mittels unermüdlich wiederholter Experimente
verifiziert werden«.224 Vom dialektischen Materialismus, des­
sen Position in dieser Frage soeben angedeutet wurde, unter­
scheidet sich die strl.l kturale Ethnologie insofern, als sie (ähnlich

2 1 8 Engels, Dialektik der Natur, I. c. , S. 244.


2 1 9 Ibid.
220 Ein schon in Hege! angelegter Gesichtspunkt, der im neueren Marxis­
mus besonders von Mao Tse-tung hervorgehoben wird. Cf. seine Schrift
Ober die Praxis, in : Ausgewählte Werke, Band I , Peking 1968, vor allem
s . 349 ff.
221 Engels, Dialektik der Natur, I. c., S. 244·
222 Ibid.
223 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 26.
224 Ibid.

254
übrigens wie der frühe Lukacs) den gesellschaftlichen Praxis­
Charakter des naturwissenschaftlich-experimentellen Wissens
bestreitet. Nur so kann sie eine sich über Jahrhunderte erstrek­
kende wissenschaftliche Geisteshaltung und Tradition dem
Neolithikum225 als der Phase des revolutionären Übergangs
vom »Natürlichen« (das hier - idealistisch - mit einem be­
stimmten Denktypus gleichgesetzt wird !) zum »Domestizier­
ten« (zur »Praxis«) voranstellen.
Daß zwischen der neolithischen Revolution und der heutigen
Wissenschaft einige Jahrtausende nahezu völligen Stillstands
zu verzeichnen sind, sucht Levi-Strauss nicht etwa historisch­
gesellschaftlich zu begreifen - vielmehr sieht er darin seine
Theorie bestätigt, daß es grundsätzlich zwei Wege gibt, »die
notwendigen Beziehungen, die den Gegenstand jeder Wissen­
schaft bilden«,226 zu erreichen : einen, der der Wahrnehmung
und Imagination verhaftet bleibt, und einen, der sich vom
Sinnlichen emanzipiert. Levi-Strauss bevorzugt den ersteren
Weg, weil seine Ergebnisse den zeitlos gültigen - mentalen -
Unterbau aller Zivilisation bilden. In den Mythen und Riten
haben sich >>Beobachtungs- und Denkweisen« erhalten, wie die
Natur sie gestattete »Unter der Voraussetzung der Organisa­
tion und [ . . . ] spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehm­
baren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren« .227
Wohl ist die archaische, am Qualitativen orientierte »Wissen­
schaft vom Konkreten«, wie Levi-Strauss diese Denkweise
nennt, >>vielumfassend« und >>begrenzt«22 8 zugleich, mehr und

225 »Im Neolithikum•, sc:hreibt Uvi-Strauss (ibid.), •setzt sic:h die Beherr­
sc:hung der wesentlic:hen Fertigkeiten der Zivilisation durc:h : Töpferei, We­
berei, Landwirtsc:haft und Tierzuc:ht. • Diese Betonung der neolithisc:hen (aber
auc:h der neuzeitlic:hen) Kultursc:hwelle findet sic:h ganz ähnlic:h in Arnold
GehJens Urmensch und Spätkultur. Cf. hierzu Wolf Lepenies, Der franzö­
sische Strukturalismus - Methode und Ideologie, in : Soziale Welt, Zeitsc:hrift
für sozialwissensc:haftlic:he Forsc:hung und Praxis, Göttingen 1968, Jahrgang
19, Heft 3/4, S. 308.
226 Levi-Strauss, Das wilde Denken, I. c., S. 27.
227 Ibid., S. 29. - Cf. auc:h ibid., S. 304, wo Uvi-Strauss das wilde Denken
als ein • System von Begriffen• bezeic:hnet, • die in Bildern verdic:htet sind •.
2\hnlic:h auf Seite 303 : •Das wilde Denken vertieft seine Erkenntnis mit
Hilfe von imagines mundi. Es baut Gedankengebäude, die ihm das Ver­
ständnis der Welt erleic:htern, um so mehr als sie ihm gleic:hen . In diesem
Sinn konnte man es als Analogiedenken definieren. «
228 Ibid.

255
weniger als das szientivische Bewußtsein. Aber sie bleibt inso­
fern fundamental für jedes Denken, als sie >>unzerstörbare Bau­
steine für strukturale Arrangements<<119 liefert, die es ermög­
lichen, »das natürliche und soziale Universum in der Form
einer organisierten Totalität zu erfassen<< .l3° Nichts anderes
erstrebt die moderne Wissenschaft, die nach Levi-Strauss neuer­
dings dabei ist, die (von ihr zunächst auf Quantitatives
reduzierten) sogenannten >>primären Qualitäten<< wieder zu
berücksichtigen.l31

Philosophische und strukturale Anthropologie

Aus der bisherigen Diskussion dürfte erhellen, wie wenig sich


die in der kritischen Literatur immer wieder auftauchende
These halten läßt, der französische Strukturalismus sei an­
nehmbar als Methode, aber verwerflich als Ideologie (oder
Philosophie) . In dem Maße, wie die strukturale Methode ihre
Gegenstände gemäß einer entschieden idealistischen Invarian­
tenlehre präformiert, ist sie keine bloß einzelwissenschaftlich
zu erörternde Methode mehr. Davon muß ausgehen, wer den
Strukturalismus wirksam kritisieren will. Wenden wir uns, um
die hier vorgebrachten Einwände näher noch zu begründen, am
Schluß des ersten Teils der Studie nochmals der Strukturalen
Anthropologie zu, in der Levi-Strauss sein Konzept schärfer
hervortreten läßt als im Wilden Denken (einer bei aller Wich­
tigkeit uneinheitlicheren Schrift) . Dabei können wir auf einige
der zu Beginn angestellten Erwägungen zurückkommen, die
sich nunmehr konkreter darstellen dürften.
Uvi-Strauss' Ethnologie verfährt reduktionistisch. Sie möchte,
im Einklang mit der synchronisch gerichteten Sprachwissen­
schaft, >>Über die immer oberflächlichen bewußten und histori­
schen Bekundungen hinaus objektive Realitäten erreichen.
Diese bestehen aus Bezugssystemen, die wiederum das Ergeb­
nis der unbewußten Tätigkeit des Geistes sind<<.232 Von hier aus
gelangt Levi-Strauss zu der 19 5 I noch hypothetisch vorge-
229 Ibid., S. 4 8 .
230 lbid., S. I 59·
231 Cf. ibid., S. 3 5 ·
232 Strukturale Anthropologie, I . c., S. 71.
tragenen, inzwischen längst zur Doktrin erhobenen These,
»daß verschiedene Formen des sozialen Lebens im wesentlichen
gleicher Natur sind : Verhaltenssysteme, die jeweils Projektio­
nen allgemeiner, die unbewußte Tätigkeit des Geistes regieren­
der Gesetze auf die Ebene des bewußten und gesellschaftlichen
Denkens sind« . 2 J3 Bei dem, was hier >>unbewußte Tätigkeit des
Geistes« genannt wird, handelt es sich stets um die »Neuord­
nung der sinnlichen Erfahrung innerhalb eines semantischen
Systems « ;'H stets werden einem (natürlichen oder künstlichen)
Inhalt außerhalb des Geistes Formen aufgezwungen, von de­
nen Levi-Strauss überzeugt ist, daß sie " für alle Geister, die al­
ten und die modernen, die primitiven und die zivilisierten die­
selben sind«.•Js Die strukturale Ethnologie behauptet zwar, sie
mache sich nicht anheischig, eine Totalerkenntnis der Gesell­
schaften zu erzielen. Es sei ihr nur darum zu tun, »Konstanten<<
zu ermitteln, »die an anderen Orten und zu anderen Zeiten
ebenfalls gelten<<.'J6 Aber gerade in dieser Universalität liegt
ein Anspruch, der sich philosophischer Kritik stellen muß.
Wenn Levi-Strauss vom »Unbewußten<< spricht, so ist dieser
Terminus weder psychoanalytisch im Sinne Freuds noch in dem
seiner revisionistischen Nachfolger zu verstehen. Insbesondere
wäre der Vergleich mit C. G. Jungs Begriff des »kollektiven
Unbewußten<< oder seiner Lehre von den »Archetypen<< ver­
fehlt. Levi-Strauss unterstreicht, daß allein die Formen, ge­
nauer : deren Beziehungen, nicht aber die Inhalte allen Men­
schen zukommen : »Wenn es gemeinsame Inhalte gibt, muß der
Grund dafür entweder in den objektiven Eigenschaften be­
stimmter [ . . . ] Dinge oder in der Verbreitung und Übernahme,
das heißt in beiden Fällen außerhalb des Geistigen, gesucht
werden.«137 Ebensowenig bildet das » Unbewußte<< des Struk­
turalismus, weil schlechthin überindividuell wirksam, eine Art

2 3 3 Ibid., S. 71 f.
234 Ibid. , S. r r o.
235 Ibid . , S. 35. - Dieses Theorem der Oberzeitli<hkeit und Universalität
der geistigen Strukturen nimmt Levi-Strauss bereits in seiner S<hrift Das
Ende des Totemismus vorweg, wo es heißt, »daß jeder mens<hli<he Geist
ein Ort mögli<her Erfahrung ist, um zu kontrollieren, :"... as si<h in den
mens<hli<hen Geistern abspielt, wie groß au<h immer die Entfernungen sind,
die sie trennen• . L. c . , S. I 34·
236 Strukturale Anthropologie, I. c., S. 96.
237 Das wilde Denken, I. c., S. 82.

2 57
>>Kollektivbewußtsein<< im Sinne der Durkheim-Schule. Für
diese sind die Gruppenvorstellungen zwangshaft, dem Indivi­
duum äußerlich. Levi-Strauss ist demgegenüber radikaler. Er
verspricht sich von seiner sprachwissenschaftlich orientierten
Konzeption die Möglichkeit, >>eines Tages die Antinomie zwi­
schen der Kultur als kollektiver Angelegenheit und den Indivi­
duen, die sie verkörpern, aufzulösen« .2J8 Auch das Durkheim­
sche »Kollektivbewußtsein« ist kein letztes Substrat, sondern
eine selbst noch abzuleitende Größe - ein »dem individuellen
Verhalten gemäßer Ausdruck bestimmter vergänglicher Moda­
litäten der universalen Gesetze, aus denen die unbewußte Tä­
tigkeit des Geistes besteht«. 2 l9 - Das Unbewußte umfaßt bei
Uvi-Strauss eine Gesamtheit (subjektloser, aber gleichwohl)
formativer Strukturen ; es hört auf, wie bei Freud, >>der Auf­
enthaltsort einer einzigartigen Geschichte zu sein, die aus jedem
von uns ein unersetzliches Wesen macht. Es beschränkt sich auf
[ . . . ] die symbolische Funktion, die zwar spezifisch menschlich
ist, die sich aber bei allen Menschen nach denselben Gesetzen
vollzieht ; die sich in Wahrheit auf die Gesamtheit dieser Ge­
setze zurückführen läßt« 2 4°, hinter die nicht zurückgegangen
werden kann, weil sie die schlechthin tragende Realität bilden.
Aus dieser Konzeption des Unbewußten folgt für Levi-Strauss
die Notwendigkeit, zwischen dem Unbewußten und dem Un­
terbewußten schärfer zu unterscheiden, als dies in der heutigen
Psychologie geschieht. Während das Unterbewußtsein - >>Spei­
cher von Erinnerungen und Bildern, die sich im Laufe jedes Le­
bens ansammeln«2 4 1 - Inhalte aufweist, die immer gegeben,
2 3 8 Strukturale Anthropologie, I . c., S. 79.
2 3 9 Ibid. - Oben war vom Zusammenhang des Strukturalismus mit der
Kantischen Transzendentalphilosophie die Rede. Ebensowenig läßt sich eine
sachliche Nähe zu Hege! leugnen . Lepenies (I. c., S. 3 I I) erinn"ert an die
Phänomenologie des Geistes, welche Geschichte als den •an die Zeit entäußer­
ten Geist• bestimmt. (Hoffmeister, Harnburg I 9 5 2 , S. 5 6 3 ) In der Tat kehrt
Hegels »Aufhebung• der zeitlichen Abfolge der Bewußtseinsgestalten in die
ewige Gegenwart des absoluten Begriffs (Wissens) als der »Offenbarung der
Tiefe• (ibid., S. 5 64) in der strukturalistischen Konzeption wieder, die Ge­
schichte sei letztlich bloßer Ausdruck vergänglicher Modalitäten u nvergäng­
licher Strukturen. - Der zweite Teil dieser Studie kommt auf das Problem
einer •strukturalen Dialektik• anhand von Hegels Naturphilosophie zurück.
240 Strukturale Anthropologie, I . c., S. 2 2 3 . - Es bedarf keiner Frage, daß
Althussers theoretischer •Anti-Humanismus• und •Anti-Historizismus• we­
sentlich auf diesem Verständnis des Unbewußten beruhen.
24I Ibid.
wenn auch nicht jederzeit verfügbar sind, »ist das Unbewußte
immer leer ; gerrauer gesagt, es ist den Bildern ebenso fremd wie
der Magen den Lebensmitteln, die durch ihn hindurchgehen.
Als Organ einer spezifischen Funktion beschränkt es sich dar­
auf, unartikulierten Elementen, die von außen kommen - wie
Antrieben, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen - Struk­
turgesetze aufzuerlegen, die seine Realität erschöpfen. << 24' Das
Unterbewußte stellt das >>individuelle Lexikon« dar, worin
sich die lebensgeschichtlichen Tatbestände der Menschen ansam­
meln, in einem bestimmten »Vokabular« niederschlagen. Dieses
aber wird für uns und andere nur in dem Maße bedeutsam,
wie »das Unbewußte es gemäß seinen Gesetzen formt und eine
Rede daraus macht« 2 43 - Strukturgesetze, die »für alle Gelegen­
heiten, bei denen jenes seine Tätigkeit ausübt, und für alle In­
dividuen und Materien dieselben sind« .'44 Dem fügt Levi­
Strauss ausdrücklich hinzu, daß die Zahl dieser Gesetze (For­
men) begrenzt ist. Darüber darf die unendliche Vielfalt der
vom Unterbewußten gelieferten Stoffe nicht hinwegtäuschen.
Die erkenntnistheoretische Problematik bei Levi-Strauss ist
die einer »Anthropologie« - verstanden als universelle Wis­
senschaft, die »mit einer bestimmten Weltansicht oder mit einer
originellen Art, die Probleme zu stellen, zusammenhängt, die
beide anläßlich der Untersuchung sozialer Phänomene zum
Vorschein kommen« ;'45 und die, möchte man ergänzen, schon
im Forscher vorhanden sein müssen, wenn es zu jener Unter­
suchung kommen soll. Strukturale Anthropologie zielt ab auf
die »allgemeinen Merkmale des gesellschaftlichen Lebens « 2 4 6 ,
die nicht inhaltlich-geschichtlich bestimmt sind, sondern einer
»Theorie der Beziehungen «'47 unterliegen. Merkwürdig, daß
Uvi-Strauss glaubt, sich bei dieser Theorie auch noch auf den
historischen Materialismus stützen zu können. Dabei führt er
die unleugbare Tatsache an, daß der reife Marx (auch Engels
in seinen Altersbriefen) stets betont hat, wie vielfältig die Ebe­
nen sind, die das System von Unterbau und Oberbau ausma­
chen. Für den Marxismus gibt es verschiedene Weisen der kom-
242 Ibid ., S. 223 f.
243 Ibid . , S. 224.
244 Ibid.
245 Ibid . , S. 370.
246 Ibid.
247 Ibid., s. I I I .

2 59
plizierten Umsetzung des »Ökonomischen« ins »Ideologische« .
Daraus folgert Levi-Strauss, e s sei möglich, >> letzten Endes und
abgesehen von allen Inhalten verschiedene Gesellschaftstypen
durch Umwandlungsgesetze zu charakterisieren : Formeln, die
die Zahl, die Macht, den Sinn und die Ordnung der Verschlin­
gungen anzeigen, die man - wenn man so sagen darf - annul­
lieren müßte, um eine Beziehung idealer Homologie (logisch,
nicht moralisch) zwischen den verschiedenen strukturierten
Ebenen zu erkennen << . 2 4 s
Daß man derart vorgehen kann, beweist das ganze struktura­
listische Unternehmen. Nur darf, wer so verfährt, sich nicht
einbilden, er habe etwas mit dem historischen Materialismus
oder gar der Kritik der politischen Ökonomie zu tun. Das
meint Levi-Strauss, wenn er (gegen Gurvitchs Einwände pole­
misierend) behauptet, jene Reduktion sei zugleich eine Kritik :
»Wenn der Anthropologe an die Stelle eines komplexen Mo­
dells ein einfaches Modell mit einem besseren logischen Effekt
setzt, entschleiert er die [ . . ] Künstlichkeiten, zu denen jede
.

Gesellschaft greift, um zu versuchen, die ihr innewohnenden


Widersprüche zu lösen oder jedenfalls zu verschleiern. « 249
Levi-Strauss fühlt selbst, wie sehr ihn dieses Argument dem
Verdacht aussetzt, es lasse die besonderen Bestimmtheiten der
hier und jetzt zu erkennenden und zu verändernden Gesell­
schaft in der allgemeinen Rede untergehen, >>jede Gesellschaft«
sei >>mit dem gleichen Fehler behaftet [ ] , der sich unter dem
. . .

doppelten Aspekt einer logischen Disharmonie und einer sozia­


len Ungerechtigkeit bekundet<<.' 5° Entsprechend schwach fällt
denn auch seine Abwehr der Kritik von Gurvitch aus.
Marx und Engels haben stets den konkret-historischen Charak­
ter ihres Verfahrens'P hervorgehoben, und Lenin betont in
248 Ibid., S. 36o.
249 Ibid.
2so Ibid.
2 p So heißt es im Anti-Dühring (in : Marx/Engels, Werke, Band 20, Ber­
lin 1968, S . 1 3 6 f., Hervorhebung von Engels) : ·Die politisme Okonomie•
- deren grundlegende Bedeutung für den Iogismen Aufbau des historismen
Materialismus von Levi-Strauss übersehen wird - •kann [ . . . ] nimt dieselbe
sein für alle Länder und für alle gesmimtlimen Epomen. [ . • • ] Wer die
politisme Okonomie Feuerlands unter dieselben Gesetze bringen wollte mit
der des heutigen Englands, würde damit augensmeinlim nimts zutage för­
dern als den allerbanalsten Gemeinplatz. Die politi.P,e Okonomie ist somit
wesentlim (sie !) eine historische Wissensmaft. Sie behandelt einen stets wem-

z6o
seiner Polemik gegen die »subjektive Soziologie« der Volks­
tümler, daß Marx im Kapital (wie schon Titel und Untertitel
des Werks besagen) nicht etwa herausfinden will, was Gesell­
schaft überhaupt sei. Das hieße, der materialistischen Lehre
>>Ansprüche zuzuschreiben, die sie niemals geltend gemacht
hat<<.Z52 Marx - darin bestand sein Verdienst - verwarf alle
»Betrachtungen über Gesellschaft [ . . . ] im allgemeinen « und
lieferte statt dessen >>die wissenschaftliche Analyse einer be­
stimmten Gesellschaft, nämlich der kapitalistischen<<.253 Ihren
»wirklichen historischen Prozeß<< haben die Materialisten
»richtig und exakt darzustellen«254 - nicht die Geschichte ins­
gesamt, wie von denjenigen unterstellt wird, die außerstande
sind, »den Unterschied zu begreifen zwischen dem Versuch, die
ganze Geschichtsphilosophie zu erfassen, und dem Versuch, die
bürgerliche Ordnung wissenschaftlich zu erklären<<.255
Der von Levi-Strauss vertretene Strukturalismus setzt das
Dynamische zur wandelbaren Modalität eines Statischen her­
ab, die Geschichte zum Oberflächenphänomen bleibender
Strukturen. Das » klassifikatorische Bedürfnis << , die »latente
Philosophie<<, aus denen Adorno das soziologisch übliche Ne­
beneinander von Statik und Dynamik als starr getrennten
Wissenszweigen und Methoden ableiten wollte2 5 6, entwickelt
seinden Stoff ; sie untersudtt zunädtst die besondern Gesetze jeder einzelnen
Entwicklungsstufe der Produktion und des Austausdts und wird erst am
Sdtluß dieser Untersudtung die wenigen, für Produktion und Austausdt
ü berhaupt geltenden, ganz allgemeinen Gesetze aufstellen können. Wobei
es sidt jedodt von selbst versteht, daß die für bestimmte Produktionsweisen
und Austausdtformen gültigen Gesetze audt Gültigkeit haben für alle Ge­
sdtidttsperioden, denen jene Produktionsweisen und Austausdtformen ge­
meinsam sind.«
2 5 2 Lenin, Was sind die • Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die
Sozialdemokraten?, in : Werke, Band I , Berlin I963, S. 1 3 6 ; cf. audt
S . I 34 f. und passim .
2 5 3 Ibid ., Hervorhebung von Lenin .
2 5 4 Ibid., S. 1 5 6.
2 S S Ibid. , s. I J S .
2 5 6 Cf. seinen Aufsatz Ober Statik u n d Dynamik als soziologische Kate­
gorien, in : Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Sociologica I I , Frank­
furt am Main I 962, S. 2 2 5 . - Freilidt berufen sidt die Strukturalisten bei
ihrer Untersdteidung von Statisdtem (Wesenhaftem) und Dynamisdtem (Ober­
flädtlidtem) nidtt auf Comte und seine Sdtule, die, ausgehend von Bedürf­
nissen der Methodologie, •das Ordnungssdtema anstelle der Same selbst«
installierte (ibid., S. 22 5 ; cf. audt S. 2 2 8 ) . Bei ihnen sdtimmert die vom
Comtismus u nterdrückte konkret-gesdtidttlidte Herkunft der Untersdteidung

.161
sich im Strukturalismus zur »subtilen Ideologie<< (Lepenies).
Diese gestattet es, »die sogenannten Invarianten gar nicht
nachzuweisen, sondern nur die Varianten, die angeblich aufs
Immergleiche verweisen<<.2l7
Levi-Strauss (wie der Strukturalismus insgesamt) versichert
zwar, wie weit er allen (existentialistischen, aber auch marxi­
stisch-humanistischen) Anthropozentrismus hinter sich gelassen
habe, wie sehr es strenger Wissenschaft darauf ankomme, die
menschliche Realität ins umfassende, naturale Sein zu reinte­
grieren - sein Programm bleibt nichtsdestoweniger das einer
philosophisch gerichteten Anthropologie. Wie Feuerbach>s 8 ,
auf dessen Spuren wir ihn wiederholt sahen, versteht sich Levi­
Strauss als »geistiger Naturforscher<< . Die von ihm voraus­
gesetzten Strukturen - das die Formen reflektierten Denkens
tragende Unbewußte - basieren ihrerseits auf organischen
Vorgängen, das heißt auf der Beschaffenheit der materiellen
Welt. Das aber hebt den anthropologischen, will sagen ideali­
stischen Charakter seines Unternehmens nicht auf. Wie Scheler
vor über vierzig Jahren fahndet Levi-Strauss nach einem
>>Ewigen im Menschen« . An Schelers These, daß >>die indivi­
duelle Person eines jeden Menschen unmittelbar im ewigen
Sein und Geiste verwurzelt ist<<,2l9 hätte er wohl - mutatis
mutandis - ebensowenig auszusetzen wie daran, daß es Auf­
gabe von Anthropologie ist, >> genau zu zeigen, wie aus der
Grundstruktur des Menschseins [ . . ] alle spezifischen Monopole,
.

Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen<<.26 o


Dabei sind allerdings die Differenzen zwischen der von Scheler
inaugurierten Anthropologie und der strukturalen nicht zu
und des Bedürfnisses nam ihr nom durm. Saint-Simons Smriften - die theo­
retisme Quelle der Comtesmen Soziologie - spremen von zwei Typen von
Perioden der Mensmheitsgesmichte : erganisdie (stationäre) und kritisme
(bewegte und revolutionäre) , wobei diese Periode jener entspringt. Ahnlim
behandelt Marx das Verhältnis des ausgebildeten Kapitals zu seiner (natur­
wümsig-• gesmimtslosen•) Vorgesmimte. - Zu Lcvi-Strauss' Interpretation
dieses Aspekts der Marxsmen Gesmimtsproblematik cf. den zweiten Teil
der Studie.
2 5 7 Wolf Lepenies, I. c . , S. 3 1 9.
258 Cf. Feuerbachs Vorrede zur zweiten Auflage seiner Smrift Das Wesen
des Christentums, Ausgabe Berlin 1 9 5 6 , S. 16 f.
2 5 9 Max Smeler, Philosophische Weltanschauung, Bern 1 9 54, S. t 5 (Her­
vorhebung von Smeler).
260 Max Smeler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern 1 9626, S. 87.

262
vernachlässigen. Sie drücken zwei Etappen der spätkapitalisti­
schen Gesellschaft und ihrer Ideologie aus. Waren Scheler und
seine Nachfolger noch daran interessiert, eine Norm zu ent­
decken, die dem Leben des einzelnen in der Welt, wie sie ist,
Sinn verleiht ; waren sie noch bestrebt, das menschliche Han­
deln in festen Wesenseinsichten zu begründen ; 261 konnten sie
sich (wenn auch nur abstrakt-individualistisch : Person als >>gei­
stiges Aktzentrum«) noch darauf berufen, daß die Menschen
bei aller unverrückbaren Objektivität des Ganges ihrer Ge­
schichte deren Subjekte bleiben, so hat sich seitdem die gesell­
schaftliche Situation grundlegend geändert. Wohl erklärte be­
reits die Anthropologie der zwanziger Jahre Geschichte zu
einem Sekundären (weil ontologisch zu >> Fundierenden «) .26 2
Aber sie ließ deren Inhalt und Stufengang zumindest gelten.
- Demgegenüber zeichnet sich im Strukturalismus (und in der
von ihm beeinflußten kraß geschichtsfeindlichen Soziologie)
eine neue, die >>organisierte<< Periode des Kapitalismus ab, dem
es gelungen ist, durch die >> Erfindung und Entwicklung von
Regulierungsmechanismen, die in erster Linie staatlichen Ein­
griffen zu verdanken sind, einen fortgesetzten wirtschaftlichen
Aufschwung<< herbeizuführen >>und gerade dadurch die inneren
sozialen und politischen Krisen beträchtlich (zu) verringern
und sogar (zu) verhindern<< , 2 63
Aller Wandel wird nur noch als einer innerhalb des Gegebenen
verstanden, Geschichte als ewige Wiederholung. Drückte sich in
der älteren Anthropologie wenigstens noch das - sicher ohn­
mächtige und ideologische - Bedürfnis aus, den Menschen über
den Bruch zwischen der lautstark verkündeten Autonomie des
Individuums und der Naturmacht der ökonomischen Mechanis­
men, denen sein Leben unterworfen war, hinwegzuhelfen, so
ist dieses Bedürfnis in der strukturalistischen Ideologie ver-

26 r Cf. zu den historisch-gesellschaftlichen Bedürfnissen, die der modernen


Lehre vom (statischen) Wesensaufbau des Menschen zugrunde liegen, vor
allem Max Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie,
in : Kritische Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I, Frank­
furt am Main 1 96 8 , S. 203 ff.
262 Cf. dazu etwa Schelers Aufsatz Mensch und Geschichte ( 1 926), in :
Philosophische Weltanschauung, I. c., S. 62 ff. - Scheler ordnet hier den ver­
schiedenen • Menschenbildern• entsprechende •Historiken• zu.
263 Lucien Goldmann, Zur Entstehung einer unhistarischen Soziologie, in :
alternative, Heft 5 4 , Strukturalismusdiskussion, Berlin 1 967, S. u6.
stummt. Sie weiß sich insgeheim als Produkt der erwähnten
>>Wende vom Krisenkapitalismus zum organisierten <<164 und
verkündet sans phrase die das Individuum abschaffende Ge­
walt des allgegenwärtigen »Systems<< . Die »tiefgründige In­
terpretation der Gegenwart<<, die inmitten herrschender Un­
freiheit auf »die Möglichkeit des >echten< Lebens oder gar des
>echten< Todes <<16s verweist, wird vollends unglaubwürdig. An
die Stelle verklärender Metaphysik tritt ein - vermeintlich -
illusionsloser Szientismus, der jede Spannung zwischen (ideolo­
gischem) Schein und Wirklichkeit insofern einzieht, als er, ein­
seitig-reduktiv, die Differenz zwischen Überbau und Tiefen­
struktur nicht als konkrete Bestimmtheit jener Tiefenstruktur
selbst ansieht, sondern als dieser äußerlich, als vergängliche
Emanation. Dadurch wird, nach Adornos Wort, der ·- fetischi­
sierte - Unterbau sein eigener Überbau.
übriggeblieben von der älteren Anthropologie ist in der struk­
turalen das Dogma, es gebe letzte, überzeitliche Fundamente,
auf die alle Erkenntnis abziele. Es ist im Grunde gleich, ob
einer mit Scheler >>die Person << als »ein monarchisch angeord­
netes Gefüge von geistigen Akten << bezeichnet, »das eine [ . . ] .

individuelle Selbstkonzentration des einen [ . . ] unendlichen


.

Geistes darstellt, in dem auch ·die Wesensstruktur der objekti­


ven Welt wurzelt<<166, oder ob er mit Levi-Strauss und seinen
Anhängern (insbesondere Foucault) - radikal »finitistisch << -•67
das Individuum als geschichtlich tätiges Subjekt völlig streicht
und sich an die unbewußten »Strukturgesetze<< des Geistes
hält•6 8 , die in der physischen Natur wie im ·reflektierten Den­
ken•69 wiederkehren. Beide Male verflüchtigt sich die Eigenbe­
stimmtheit des historischen Prozesses. Bei Scheler wird Ge­
schichte, obwohl formell anerkannt, zum Feld, auf dem
geschichtstranszendente Wesenhei ten (»Werte<<) verwirklicht
werden, bei Levi-Strauss läuft die Idee des Fortschritts auf eine
Fiktion hinaus : »Der Mensch hat sich seit Jahrtausenden im­
mer nur wiederholt. << Es kommt deshalb darauf an, Zugang zu
264 Ibid.
265 Horkheimer, I . c . , S. 205 ; S. 204.
266 Max Scheler, Philosophische Weltanschauung, I . c., S. 1 4 (Hervorhe­
bung von Scheler) .
267 Cf. etwa Strukturale Anthropologie, I. c . , S . 224.
268 Cf. ibid ., S. 223 f., S. 71 f. und passim.
269 Cf. ibid., S. 222.
finden »Zu jenem Adel des Denkens, der jenseits aller Wieder­
holungen darin besteht, die unbeschreibliche Größe der An­
fänge zum alleinigen Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu
machen <<.'7° Wie diese im einzelnen aussehen, wurde hier, vor
allem bei der Diskussion des >>wilden Denkens<<, zu zeigen ver­
sucht.
Die neue Anthropologie bleibt wie die ältere dem verhafl:et,
was Nietzsche in der Götzendämmerung als den >>Ägyptizis­
mus « der Philosophen gebrandmarkt hat, als >>Mangel an hi­
storischem Sinn <<, der so weit geht, >> die Veränderung, den
Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbar­
keit«27 ' zu nehmen. Obwohl gewitzigter als die erklärt meta­
physische Anthropologie, kommt auch der Strukturalismus
ohne metaphysische Prämissen nicht aus, insbesondere nicht
ohne die These eines einheitlichen, sich identisch durchhalten­
den Menschenwesens, dessen bloße Superstruktur die Geschich­
te sein soll, soweit sie überhaupt noch als erheblich erachtet
wird. Historisch-materialistische Kritik hat längst dargetan,
daß die anthropologische Problemstellung >>eine feste begriff­
liche Hierarchie<< voraussetzt, wodurch sie »dem dialektischen
Charakter des Geschehens widerspricht, in das die Grundstruk­
tur des Seins von Gruppen und Individuen jederzeit verfloch­
ten ist<<. ' 72 Weder die physiologische noch die psychologische
noch auch die logische »Natur<< des Menschen (dessen Wirklich­
keit nur von den Menschen erfüllt wird) bleibt identisch im
fortwährenden Kampf von Gesellschaft: und anzueignender
Welt.

270 Levi-Strauss, Traurige Tropen, I. c., S. 364. - Cf. auch S . 366 ff., wo
Uvi-Strauss (fast im Stil Theodor Lessings) Geschichte als universellen Ver­
fall interpretiert.
2 7 1 Stuttgart 1 9 5 4 , S. 94 und S. 97·
2 7 2 Horkheimer, I. c., S. 2 0 2 .
Nachweise

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jungen Marx ( I 96o ) , in : Studia Philosophica Academiae Scien tiarum
Hungaricae 3 , Varia, Akademiai Kiad6, Budapest I 963.
Zeleny, Jindfich, Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materia­
lismus, Vortrag im Institut für Sozialforschung, F rankfurt, Februar
I 966, ungedruckt.
Iljenkow, E. W., Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im
>Kapital< von Marx, in : Recherche internationales a la lumiere du
marxisme, September/Dezember I 96 2 , Nr. 3 3 / 3 4 ( • Philosophie sovie­
tique « ) , Paris I 96 3 , S. 99-I 5 8 ; der Text bildet das III. Kapitel eines
Buches von Iljenkow, das den Titel trägt Die Dialektik des Abstrak­
ten und Konkreten im » Kapital« von Marx. Es wurde I 96o vom
Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR
herausgegeben und erschien im Verlag der Akademie der Wissen­
schaften.
B ackhaus, Hans-Georg, Zur Dialektik der Wertform, erweiterte Fas­
sung eines Vortrags im Institut für Politikwissenschaft, Frankfurt
r 96 5 , unveröffentlicht.
Lefebvre, Henri, Zum Begriff der >Erklärung< in der politischen Öko­
nomie und in der Soziologie, in : Cahiers lnternationaux de Sociolo­
gie, Vol. XXI, Paris I 9 5 6 .
ders., Perspektiven der Agrarsoziologie, in : Cahiers lnternationaux
de Sociologie, Vol. XIV, Paris 1 9 5 3, S. r 2 2- I 40.
Schmidt, Alfred, Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte,
unveröffentlicht.
Schriften zu Politik und Soziologie in der edition suhrkamp

Heribert Adam
Südafrika. Soziologie einer Rassengesellschaft

Theodor W. Adorno
Stichworte. Kritische Modelle 2

Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft. Mit Beiträgen von


H . Marcuse, A . Rapoport, K. Horn, A. Mitscherlich, D . Senghaas und
M. Markovic

Rudolf Augstein, Meinungen zu Deutschland

Paul A . Baran, Unterdrückung und Fortschritt. Essays

Lelio Basso
Zur Theorie des politischen Konflikts

Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie


Herausgegeben von Alfred Schmidt

Ernst Bloch, über karl Marx

Ernst Bloch, Widerstand und Friede, Aufsätze zur Politik

Helmut Böhme
Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im
19. und 20. Jahrhundert

Hermann Broch, Zur Universitätsreform

Die verhinderte Demokratie : Modell Griechenland


Herausgegeben von Marios Nikolinakos und Kostas Nikolaou

Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik.


Herausgegeben von Gert SchäferJCarl Nedelmann

Armando C6rdova J Hector Silva Michelena


Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas. Drei Studien zur politischen
Okonomie der Unterentwicklung

Hans Magnus Enzensberger


Deutschland, Deutschland, unter anderm . .i'i.ußerungen zur Politik

Hans Magnus Enzensberger


Einzelheiten I. Bewußtsein,;-lndustrie
Frantz Fanon, Aspekte der Algerischen Revolution

Helmut Fleischer, Marxismus und Geschichte

Folgen einer Theorie. Essays über >Das Kapital< von Kar! Marx

Peter Gäng I Reimut Reiche


Modelle der kolonialen Revolution. Beschreibung und Dokumente

Daniel Guerin, Anarchismus. Begriff und Praxis

Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform

Jürgen Habermas
Technik und Wissenschaft als > Ideologie<

Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus

Eric J. Hobsbawm
Industrie und Empire 1 und 2. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1 7 5 0

Werner Hofmann
Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts

Werner Hofmann
Universität, Ideologie, Ges-ellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie

Jürgen Horlemann
Modelle der kolonialen Konterrevolution. Beschreibung und Dokumente

Jürgen Horlemann I Peter Gäng


Vietnam. Genesis eines Konflikts

Jörg Huffschmid, Die Politik des Kapitals .


Konzentration und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik

Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik


Herausgegeben von Benhold Sirnonsohn

Otto Kirchheimer
Politische Herrs-chaft. Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat

Reinhard Kühn!, Rainer Rilling, Christine Sager


Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei

Henri Lefebvre, Probleme des Marx ismus, heute

Henri Lefebvre, Der dialektis-che Materialismus


Stephan Leibfried
Die angepaßte Universität. Zur Situation der Hochschulen i n der Bundes­
republik und den USA

Manfred Liebe! I Franz Wellendorf, Schülerselbstbefreiung.


Voraussetzungen und Chancen der Schülerrebellion

Herbert Marcuse
Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft

Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft 1 und 2

Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung

Antworten auf Herbert Marcuse


Herausgegeben von Jürgen Habermas

Gu�tav Mayer
Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie

Kritik der Mitbestimmung


Mit Beiträgen von Frank Deppe, Jutta von Freyberg, Christof Kieven­
heim, Regine Meyer, Frank Werkmei�ter

Barrington Moore, Zur Geschichte der politischen Gewalt

Moral und Gesellschaft


Mit Beiträgen von Kare! Kosfk, Jean-Paul Sartre, Cesare Luporini, Roger
Garaudy, Galvano della Volpe, Mihailo Markovic und Adam Schaff

Die Münchner Räterepublik


Zeugnisse und Kommentar. Herausgegeben von Tankred Dorst

Kritik der Notstandsgesetze


Kommentierungen. Mit dem Text der Notstandsverfassung. Herausgegeben
von Dieter Sterze!

Carl Oglesby I Richard Shaull


Amerikanische Ideologie. Zwei Studien über Politik und Ge�llschaft m
den USA

Helge Pross
Ober Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepubli k

Ulrich K. Preuß
Das politische Mandat der Studentenschaft

Trutz Rendtorff I Heinz Eduard Tödt


Theologie der Revolution. Analysen und Materialien
Bero Rigauer, Sport und Arbeit

Hans Rosenberg
Probleme der deutschen Sozialgeschichte

Dieter Schneider I Rudolf Kuda


Arbeiterräte in der Novemberrevolution . Ideen, Wirkungen, Dokumente

Stuart R. Schram, Die permanente Revol ution in China

Bernhard Schütze
Rekonstruktion der Freiheit. Die politischen Oppositionobewegungen in
Spanien

Ulrich Sonnemann
Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des
Ungehorsams in Deutschland

Kritik der Strafrechtsreform


Beiträge von Carl Nedelmann, Peter Thoss, . Hubert Bacia und Walther
Ammann

Thesen zur Kritik der Soziologie. Herausgegeben von Bernhard Schäfers

Predrag Vranicki, Mensch und Geschichte

Albrecht Wellmer
Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus

Robert Paul Wolff


Das Elend des Liberalismus
Bibliothek Suhrkamp

r 57 Hermann Broch, Esch oder die Anarchie


I 58 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft
I 59 Marguerite Duras, Die Verzückung der Lol V. Stein
I 6o Carlo Emilio Gadda, Erzählungen
I6r Nelly Sachs, Späte Gedichte
I 62 Paul Valery, Herr Teste
I63 Stan islaw Witkiewicz, Das Wasserhuhn. Narr und Nonne
r 64 Marcel Proust, Tage der Freuden
r65 Joseph Roth, Das falsche Gewicht
r 66 Tage Aurell, Martina. Erzählung
r 67 Sherwood Anderson, Dunkles Lachen. Roman
r68 Slavko Kolar, Das Narrenhaus.Erzählung
1 69 Tarjei Vesaas, Nachtwache. Roman
I70 Georges Poulet, Marcel Proust. Essays
I7I Jean Cocteau, Kinder der Nacht. Roman
I 72 Carlos Droguett, Eloy. Roman
I73 Hjalmar Söderberg, Doktor Glas. Roman
1 74 Hugo von Hofmannsthal, Gedichte und kleine Dramen
I75 Jean-Paul Sartre, Die Kindheit eines Chefs. Erzählung
1 76 Witold Gombrowicz, Die Ratte. Erzählungen
1 77 Seumas O'Kelly, Das Grab des Webers. Erzählung
I78 Jaroslaw Iwaszkiewicz, Heydenreich. Mephisto-Walzer
1 79 Georg Heym, Gedichte
r8r Hermann Hesse, Der vierte Lebenslauf Josef Knechts. Zwei Fassungen
I 82 Wladimir Majakowskij, Politische Poesie
I 84 Rainer Maria Rilke, Ausgewählte Gedichte
I85 Tommaso Landolfi, Erzählungen
I 86 Anna Seghers, Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe
r 88 lvan Olbracht, Wunder mit Julka
I 90 Leon-Paul Fargue, Der Wanderer durch Paris
I9I Wright Morris, Die gläserne Insel. Roman
192 Christian Branner, Erzählungen
I93 Aime Cesaire, Zurück ins Land der Geburt. Zweisprachig
I 94 ltalo Svevo, Vom guten alten Herrn und vom schönen Mädchen
I95 J. M. Synge, Drei Stücke
196 Richard Weiner, Der leere Stuhl. Erzählungen
197 Willy Kyrklund, Meister Ma
I98 Henry Miller, Das Lächeln am Fuße der Leiter. Erzählung
199 Hermann Broch, Demeter. Romanfragment
200 James Joyce, Dubliner. Kurzgeschichten
201 Philippe Soupault, Der Neger. Roman
202. Gottfried Benn, Weinhaus Wolf
203 Veijo Meri, Der Töter und andere Erzählungen
204 Hermann Broch, Die Erzählung der Magd Zerline
205 Jean-Jacques Mayoux, Joyce
206 Bertolt Brecht, Turandot
207 Leszek Kolakowski, Der Himmelsschlüssel
208 Sylvia Plath, Die Glasglo<ke
209 Heinrich Mann, Politische Schriften
2IO Scholem-Alejchem, Tewje der Milchmann. Roman
2I I Werner Kraft, Pranz Kafka. Durchdringungen und Geheimnis
2I2 Katherinc Anne Porter, Was vorher war. Essays
2I3 Rudolf Borchardt, Gedichte
2I4 Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer. Erzählung
2I5 Zofia Nalkowska, Medaillons. Geschichten
2I6 Lars Gyllensten, Kains Memoiren. Fiktive Aufzeichnungen
2I7 James Joyce, Verbannte. Schauspiel
2I 8 Viktor sklovskij, Kindheit und Jugend
2I9 Kar! Krolow, Neue Gedichte
220 Max Jacob, Der Würfelbecher
22 I Heinrich Bö II, Geschichten aus zwölf Jahren
222 Konstanty I ldefons Galczynski, Die Grüne Gans. Satiren
223 Marieluise Fleißer, Abenteuer aus dem Englischen Garten. Erzählungen
224 John Fletcher, Samuel Be<ketts Kunst
225 Max Frisch, Biografi e : Ein Spiel
227 Hermann Hesse, Siddhartha
228 Bertolt Brecht, Meti. Buch der Wendungen
229 Thomas Bernhard, Verstörung. Roman
230 Marcel Proust, Pastiches. Die Lemoine-Affäre
23 I Marie Luise Kaschnitz, Vogel Rod.. Unheimliche Geschichten
232 Walter Benjamin, Ober Literatur
233 A lexander M itscherlich, Die Idee des Friedens und die menschliche
Aggressivität. Drei Abhandlungen
234 Ernst Bloch, Die Kunst, Schiller zu sprechen, und andere literarische
Aufsätze
235 Marcel .Jouh;,ndeau, Pariser Bilder
236 Theodor W. Adorno, Minima Moralia
2 37 Andor Endre Gelleri, B . und andere Prosa
238 Wladimir W. Majakowskij, Liebesbriefe an Lilja
239 Marcel Proust, Briefwechsel mit der Mutter
240 James Joyce, Giacomo Joyce
2 55 Peter Weiss, Trotzki im Exil
edition suhrkamp

3 1 5 Eric J. Hobsbawm, Industrie und Empire r. Britische Wirtschafts­


gesdtidtte seit 1 7 5 0
3 r 6 Eric J. Hobsbawm, Industrie und Empire 2. Britische Wirtsdtafts­
geschidtte seit 1 7 5 0
3 1 7 Ulridt K. Preuß, Das politische Mandat der Studentenschaft. Mit Gut­
amten von R. Havemann, W. Hofmann und J. Habermas/A. Wellmer
3 1 8 Reinhard Kühn! / Rainer Rilling I Christine Sager, Die NPD. Struk­
tur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei
3 1 9 Helge Pross, über die B ildungschancen von Mäddten in der Bundes­
republik
320 H. C. Artmann, Frankenstein in Sussex I Fleiß und Industrie
3 2 1 Kritik der Notstandsgesetze. Kommentierungen und Text der Not·
standsgesetzc:,.. Herausgegeben von Dieter Sterze!
322 Peter Handke, Kaspar
323 Helmut Fleischer, Marxismus und Gesdtidtte
324 Thesen zur Kritik der Soziologie. Herausgegeben von Bernhard
Schäfers
3 2 5 Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik. Herausgegeben
von Berthold Sirnonsohn
326 Reden zum IV. Kongreß des Tsdtedtoslowakisdten Sdtriftstellerver-
bandes. Prag, Juni 1 967
327 Jens Kruuse, Oradour
3 2 8 Josef Jedlicka, Unterwegs
329 Herbert Marcuse, Versudt über die Befreiung
3 3 0 Roman Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Laut-
gesetze
33 r Ror Wolf, Danke sdtön. Nidtts zu danken. Gesdtidtten
3 3 2 Bertolt Bredtt, Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar. Romanfragment
3 3 3 Herbert Malecki, Spielräume. Aufsätze zur ästhetischen Aktion
3 34 Miroslav V:Hek, Gedichte
3 3 5 Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus
3 3 6 Manfred Liebe! I Franz Wellendorf, Sdtülerselbstbefreiung. Voraus-
setzungen und Chancen der Schülerrebellion
3 3 7 Frantz Fanon, Aspekte der Algerisdten Revolution
3 3 8 Alexander Skinas, Fälle. Prosa
3 3 9 Bertolt Brecht, Der Brotladen. Ein Stückfragment.
Die Bühnenfassung und Texte aus dem Fragment
340 Hans Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgesdtidtte
3 4 1 Carl Oglesby/Ridtard Shaull, Amerikanische Ideologie. Zwei Studien
über Politik und Gesellschaft in den USA
342 Hans Mayer, Das Gesdtehen und das Sdtweigen. Aspekte der Lite-
ratur
343 Heribert Adam, Südafrika. Soziologie einer Rassengesellsdtaft
344 Pierre Bertaux, Hölderlin und die Französisdte Revolution
345 Peter Weiss, Nadtt mit Gästen I Wie dem Herrn Mackinpott das Lei­
den ausgetrieben wird. Zwei Stücke
346 Thomas Freeman I John L. Cameron I Andrew McGhie, Studie zur
dtronisd>en Sdtizophrenie
347 Theodor W. Adorno, Stidtworte. Kritisdte Modelle 2
348 Bero Rigauer, Sport und Arbeit
349 Beiträge zur Erkenntnistheorie. Hrsg. v. Alfred Sdtmidt
3 5 0 Edward Bond, Sdtmaler Weg in den tiefen Norden
3 5 I Jürgen Becker, Ränder
3 5 2 Robert Paul Wolff, Das Elend des Liberalismus
3 5 3 Thomas Bernhard, Watten. Ein Nadtlaß
3 5 4 Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hodtsdtulreform
3 5 5 Manfred Riede!, Studien zu Hegels Redttsphilosophie
3 5 6 Predrag Vranicki, Mensdt und Gesdtidtte
3 5 7 Materialien zu J ames J oyce Dubliner
3 5 8 Kritik der Mitbestimmung. Mit Beiträgen von Frank Deppe I Jutta
von Freyberg I Christof Kievenheim I Regine Meyer I Frank Werk­
meister
3 5 9 Erika Runge, Frauen. Versudle zur Emanzipation
360 im Dialog: Hartmut Lange, Die Gräfin von Rathenow. Komödie
362 Bertolt Bredtt, Kuhle Wampe. Protokoll des Films und Materialien
363 Elena HodtmaniHeinz Rudolf Sonntag, Christentum und politisdte
Praxis : Camilo Torres
364 I vo Midtiels, Ordtis militaris. Ein Beridtt
365 Zbigniew Herbert, Ein Barbar in einem Garten 2
366 Americo Boavida, Angola. Zur Gesdtidtte des Kolonialismus
367 Revolution und Räterepublik in Bremen. Herausgegeben von Peter
Kuckuk
368 Lerke Gravenhorst, Soziale Kontrolle abweidtenden Verhaltens. Fall­
studien an weiblichen Insassen eines Arbeitshauses
369 Bertolt Bredtt, Die Gesidtte der Sirnone Madtard
370 Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklidtkeit in der BRD.
Herausgegeben von Gert Sdtäfer und Carl Nedelmann. Zwei Bände
3 7 5 Gesprädte mit Eingesdtlossenen. Gruppenprotokolle aus einer Jugend­
strafanstalt. Aufgezeichnet von Tilmann Moser. Mit einem Kommen­
tar von Eberhard Künzel.
3 9 I Walter Benjamin, Ober Kinder, Jugend und Erziehung
3 9 5 im Dialog: Alf Poss, Zwei Hühner werden gesdtlachtet
4 1 0 KRIWET, Apollo Amerika
A lphabetisches Verzeichnis der edition suhrkamp

Abendroth, Sozialgesmimte r o6 B loch, Widerstand und Friede 2 5 7


Adam , Sü dafrika 3 4 3 Ober Ernst Bloch 2 p
Adorno, D r e i S t u d i e n zu Hege! 3 8 Blotk, Ausgewählte Au fsätze 7 I
Adorno, Eingriffe 1 0 Blumenberg, Wende 1 3 8
Adorno, Impromptus 267 Boavida, Kolonialismus 366
Adorno, Jargon d e r Eigentlimkeit 9 ' Bedker, Zustand Harley 309
Adorno, Moments musicaux 5 4 Böhme, Soz.- u . Wirtsch aflsges ch . 2 5 3
Adorno, Ohne Leitbild 2 0 1 Bond, Schmaler Weg 3 5 0
Adorno, Stichworte 347 Brandys, G ranada 1 67
Ober Theodor W. Adorno 249 B redtt, Antigone I Materialien 1 3 4
Aggression und Anpassung 282 Brecht, Arturo U i 1 44
Andersm, Die Blindheit I 3 3 B recht, Ausgewählte Gedichte 8 6
Antworten a u f H . Marcuse 263 B r e ch t , Baal 1 70
A n:h i tektur als Ideologie 243 Brecht, Baal der asoziale 248
Artmann, Frankenstein/Fleiß 3 2 0 B recht, Brotladen H9
A u g s t e i n , Meinu ngen 2 1 4 B recht, Der gute Mensch 73
Baczko, Weltanschauung 3 0 6 Materialien z u >Der gute Mensch< 247
Baran, Unterd rückung 1 79 Bredu, D i e Dreigroschenoper 219
Baran, Z u r politisch. Okonom i e 277 Bremt, Die heilige Johanna I I J
Barthes, Mythen des Alltags 92 Brecht, D i e Tage der Commune 1 69
Barthes, Kritik u n d Wah rheit 2 I 8 Brecht, Gedichte a u s Stiitken 9
Barthes, Literat u r 303 B recht, Herr Puntila 1 0 5
Basso, Theorie d . polit. Konfl i kts 3 0 8 Brecht, Im D i ck i ch t 246
Baudelaire, Tableaux Parisiens 3 4 B recht, Jasager - Neinsager 1 7 1
Baumgart, Literatur f. Zeitgen . r 86 Brecht, J u l i u s Cäsar 3 3 2
Betker, Felder 6 r Brecht, Kaukasischer Kreidekreis J I
Betker, Ränder J P Materialien zum >Kreidekreis< I H
Beckett, A u s einem Werk 1 4 5 Brecht, Kuhle Wampe 362
Betkett, F i n d e partie • Endspiel 9 6 Brecht, Leben des G alilei r
Materialien z u m )Endsp i el < z 8 6 Materialien zu B rechts )Galilei< 44
Betkett, Warten a u f G o d o t 3 Brecht, Leben Edu ards I I . 245 .
Beiträge zur Erkenntnistheorie 349 B recht, Mahagonny 2 r
Benjam i n , Das Kuns twerk 2 8 Brecht, Mann ist Mann 2 5 9
Benjam i n , O b e r K i n d e r 3 9 1 B recht, Mutter Cou rage 4 9
Benjamin, Kritik d e r Gewalt 1 0 3 Materialien zu B rechts >Courage< 5 0
Benjamin, Städtebilder I 7 Materialien zu ) D i e Mutter• 3 0 5
Benjam in, Versuche über Brecht 1 7 2 Brecht, Schweyk I 3 2
O b e r Walter Benjamin 2 5 0 B r e ch t , Sirnone M a ch a r d 3 6 9
Bergman, W i l d e Erdbeeren 79 B r e ch t , Ober L y r i k 7 0
Bernhard, Amras 1 42 B roch, Univers itäts reform 3 0 1
Bernhard, Prosa 2 1 3 B rooks , Paradoxie i m G e d i ch t I 2 4
Bernhard, Ungenach 279 Brudziflski, Katzenj ammer 1 61
Bernhard, Watten 3 5 3 B u rk e , Dichtung 1 5 3
Bertaux, Hölderli n 344 B urke, Rhetorik 23 r
Bloch, Avicenna 2 2 Cabral de Melo Neto, Gedichte 295
B l o ch , Christian Thom a s i u s I 9J Carr, Neue Gesellschall 2 8 1
Biom, Durch d i e Wüste 74 Celan, Ausgewählte Gedi<hte 262
B l o ch , Tübinger Einleitung I I I C6rdova/Michelena, Lateinam . J I I
B l o ch , Tübinger Einleitung I I 5 8 CosiC, Wie u nsere Klaviere 1 8 9
Bloch, Ober Kar! Marx 2 9 1 Creeley, Gedichte 227

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