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LAMBERT UND HUME IN KANTS ENTWICKLUNG

VON 1769-1772-'
von Lewis White Beck, Rochester/New York

Wenn es Kant im Jahre 1768 gelungen wäre, in eine Professur einzutreten,


hätte er schon damals eine Inaugural-Dissertation vorlegen müssen. Vermutlich
wäre sie eine Zusammenfassung von Lehren gewesen, die er im vorhergehenden
Jahrzehnt schon veröffentlicht hatte, und sie hätte sich von der uns bekannten
Dissertation von 1770 beträchtlich untersdiieden, da Kant 1769 seine Lehre in
einigen wesentlichen Punkten revidierte.
Mir sdieint, daß Kant 1768 beim Antritt einer Professur folgende Lehrsätze zu
verteidigen bereit gewesen wäre:
1. Spekulative Metaphysik im Sinne einer Erkenntnis der Dinge und der Kräfte
von Substanzen jenseits der Erfahrung ist unmöglich.
2. Die eigentliche Aufgabe der Metaphysik ist die Bestimmung der Grenzen der
Erkenntnis und ihrer Grundlage. Die Metaphysik ist nicht imstande, Erkenntnis
in einem Reich jenseits der Erfahrung zu begründen.
3. Die eigentliche Methode der Metaphysik und jene der Wissenschaft sind ana-
log; das Modell für jene Methode ist das Verfahren Newtons, das der Philosoph
nachahmen soll.
4. Durch Analyse unserer Erfahrung finden wir einige unanalysierbare Be-
griffe und unbeweisbare Grundsätze, die eventuell als Grundlage für ein philo-
sophisches System dienen können; aber die Zeit ist noch nicht reif dazu.
5. Die richtigverstandene Metaphysik ist für die wahre und dauernde Wohl-
fahrt der Menschheit unentbehrlich *. Aber die spekulative Erkenntnis Gottes
und der Unsterblichkeit der Seele ist für die Praxis der Tugend nicht notwendig.
6. Der Raum ist euklidisch und newtonisch. Er ist absolut und ontologisdi ur-
sprünglich, nicht relativistisch und ontologisch abgeleitet, wie bei Leibniz. tr ist
kein Gedankending, sondern ontologisch real.

* Vortrag, gehalten am 28. 8. 1968 auf Einladung des Philosophisdien Seminars A


der Universität Bonn; zugleich ein Abschnitt aus meinem Buch Early German Philosopfyy
— Kant and bis Predecessors, das demnächst in der Harvard University Press erscheinen
wird.
* Brief an Mendelssohn, 8. April 1766, Akademieausgabe, Bd. X, S. 70.

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7. Wir kennen den Raum nicht empirisch, durch Empfindung, sondern durch einen
Grundbegriff oder eine Anschauung der inneren Sinne nach einer Idee der
Vernunft 2 .
8. Die Mathematik fängt von diesen Anschauungen und Grundbegriffen an und
verfährt nach einer synthetischen Methode. Die Methode der Mathematik ist da-
bei von der der Philosophie durchaus verschieden.
9. Die im Räume beobachtbaren Dinge sind durch Kausalgesetze determiniert.
Aber wir können ihre inneren Kräfte nur insoweit kennen, wie sie sich in den
Beziehungen zwischen ihren Phänomenen darstellen. (Mit Newton hätte Kant
sagen können: Hypotbesis non fingo.)
Diese Thesen also wäre Kant vermutlich 1768 zu verteidigen bereit gewesen,
aber — Kant wurde 1768 nicht promoviert. Daher hat er dieses Lehrgebäude nicht
publice aufrechterhalten müssen. Da wir heute den unschätzbaren Vorteil vor Kant
selbst haben, seine eigenen späteren Werke schon zu kennen, können wir sehen,
was er selbst wahrscheinlich 1768 nicht sah, nämlich wieviel Lockerheit und ver-
schleierte Inkonsequenz in diesem Lehrgebäude lag, und als Kant endlich nach zwei
Jahren seine Professur übernahm und die Dissertation schrieb, hatte er einige seiner
Oberzeugungen völlig geändert. Er glaubt jetzt wieder an die Möglichkeit einer
theoretischen, spekulativen Metaphysik, und er bestimmt den ontologischen Status
des Raumes völlig neu. Daß ihm das Jahr 1769, wie er schrieb, „ein großes Licht
brachte" s, ist dafür verantwortlich, daß viele seiner Lehrsätze ganz weggefallen
sind, die er meiner Ansicht 1768 noch verteidigt hätte. Man kann sozusagen die
expliziten Lehrsätze des Jahres 1770 von den vermuteten Lehrsätzen des Jahres
1768 subtrahieren, um die Veränderungen herauszufinden, die das Jahr 1769
gebracht hat.
Die wesentliche Änderung besteht in der neuen Einsicht, daß keine Kontinuität
zwischen Wissenschaft (einschließlich Mathematik) und Metaphysik bestehe, den-
noch aber beide möglich seien. Den Grund dieser Meinungsänderung glaubt
man in Kants Beschäftigung mit der erst kurz vorher veröffentlichten Nouveaux
Essais von Leibniz zu finden, in seinem Studium Platons, seiner Erfindung der
Raumantinomie, dem Einfluß Humes usw. Nur die zwei ersten dieser Gründe schei-
nen mir glaubhaft. In der Dissertation finden sich viele terminologische Ausdrücke,
die von Leibniz oder Platon herrühren; und gewiß ist die Verneinung der Konti-
nuität zwischen Erfahrung und metaphysischer Erkenntnis bei Betonung der
Möglichkeit beider echt Leibnizisdx und echt Platonisch. Das Dictum: Nihil es t
in intellectu quod non fuerit prius in sensu excipe intellectus ipsey hat Kant erst
vom Leibniz der Nouveaux Essais lernen können; und diese Leibnizsdie Lehre un-
terschied sich beträchtlich von jenem Leibnizianismus, den er bislang gekannt hat-
te. Dies und die platonische Diskontinuität zwischen Erfahrung und Intelligiblem
2
Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume, Akademieaus-
gabe, Bd. II, S. 383.
3
Reflexion 5037, Akademieausgabe, Bd. XVIII, S. 69.

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begründen meines Ermessens den Hauptunterschied zwischen der mutmaßlichen
Dissertation von 1768 und der Dissertation von 1770.
Ich möchte dies noch präzisieren: Die wesentliche Entdeckung war die des
Unterschieds zwischen Sinnen und Denkvermögen als eines Unterschieds zweier
Quellen der Erkenntnis. Das Sinnliche war jetzt nicht mehr bloß dunkler und
diffuser Gedanke, sondern überhaupt kein Gedanke, ein vom Gedanken grund-
sätzlich Verschiedenes. Von dieser radikalen Unterscheidung hing alles weitere ab,
so der Unterschied zwischen Phänomen und . Noumenon, zwischen Anschauung
und Begriff und die neue Kantisdie Deutung des Unterschieds zwischen Form
und Stoff. Form und Stoff fanden sich jetzt auf beiden Seiten der Scheidewand
zwischen Anschauung und Begriff. Damit entstand die Möglichkeit, Baumgartens
Idee einer Wissenschaft der Sinneserkenntnis, der Ästhetik, aufzugreifen und zu
entwickeln. Die sinnliche Welt lieferte nicht mehr bloß den Stoff für die logischen
Formen, sondern hat auch ihre eigenen notwendigen Formen in sich, notwendige,
aber nicht logisch, sondern anschaulich notwendige Formen. Dies gab Kant den
Schlüssel zum Problem der mathematischen Erkenntnis und der Raumwahrneh-
mung in die Hand.
Aus dieser Entdeckung im „großen Licht" des Jahres 1769 erwuchsen der
Dissertation drei Aufgaben: 1. Die Bestimmung der Formen und Prinzipien
der sinnlichen, durch Anschauung erkannten Welt; 2. die Bestimmung der Formen
und Prinzipien der intelligiblen, durch reine Vernunft erkannten Welt; 3. die
Beschreibung der Weisen, in der beides einander durchdringt, legitim und not-
wendig in der Mathematik und Naturwissenschaft, illegitim in der Metaphysik.
Diese drei Aufgaben legen die Struktur der Dissertation fest: 1. In Sectio III
des kleinen Werks entwickelt sich die wohlbekannte Kantisdie Theorie des Raumes
und der mathematischen Erkenntnis, die zu einem konstitutiven Teil des reifen
Kantischen Systems wurde. 2. Sectio IV enthält eine typische Metaphysik des 18.
Jahrhunderts, in der man die Existenz Gottes usw. beweist. Interessant ist sie
meiner Ansicht nur deswegen, weil sie der letzte Ausdruck von Kants Drang
nach theoretischem metaphysischem Wissen ist. Während Kant, als er die Kritik
der reinen Vernunft schrieb, Sectio III mit wenigen Änderungen hat übernehmen
können, ist von Sectio IV fast nichts bewahrt geblieben, — es sei denn als Gegen-
stand der Kritik, die zeigt, wie unmöglich eine solche Metaphysik ist. 3. Sectio V
werde ich im folgenden näher besprechen, denn in ihr liegt der Keim des spätem
Kantianismus verborgen.
Die Metaphysik enthält die ersten Grundsätze des usus reale der Vernunft, aber
ihr voraus liegt eine propädeutische Wissenschaft, Kritik, deren Zweck es ist, die
Reinheit der Metaphysik zu bewahren. Die Kritik unterscheidet zwischen sensibler
und intellektueller Erkenntnis und bewahrt die Metaphysik vor der Vermengung
(contagium) beider. Die Kritik verbietet, sensible Begriffe auf Noumena anzuwen-
den. Wir müssen uns hüten, die Vernunft zu sensifizieren (den Fehler Lockes zu be-·
gehen) und die Sinne zu intellektualisieren (den Fehler Leibniz' zu begehen).
Kein Urteil kann echt metaphysisch sein, das irgendeine Erkenntnis vom Raum oder

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von der Zeit erfordert oder voraussetzt. Infolgedessen sind die Probleme, die
später als die Antinomien auftreten werden (Unendlichkeit der Welt; unendliche
Teilbarkeit der Substanzen usw.), keine echten Probleme der Metaphysik. Die
Fehlerhaftigkeit aller angeblichen Lösungen dieser Probleme bleibt unvermeidlich,
bis die Kritik die naive und dogmatische Anmaßung aufhebt, daß die Grenzen
des Gemüts auch die Grenzen seien, die im Wesen der Dinge liegen. Dieser dog-
matische Fehler ist besonders folgenreich, da das menschliche Gemüt keine
Noumena, sondern nur sinnlich, d. h. nur Phänomene anschaut.
Man sieht sofort eine Schwierigkeit, die Kant erst später, im Brief an Herz
(Februar 1772) anmerkte: wie nämlich ist es möglich, die nicht von Objekten
hergenommenen Begriffe dann überhaupt auf Objekte zu beziehen? Da sich alle
Erkenntnisse nur durch Anschauung auf Gegenstände beziehen, müßte der
Mensch eine intellektuelle Anschauung besitzen, um überhaupt Erkenntnis
intellektueller Gegenstände erlangen zu können. Das volle Gewicht dieser Frage
war Kant damals noch nicht bewußt. Mit seinem caveat: „ne principia sensitivae
cognitionis domestica terminos suos migrent ac intellectualia afficant" 4, hat er,
ohne es zu bemerken, seine eigene Metaphysik als eine Erkenntnis der intelligiblen
Welt unmöglich gemacht.
Doch nicht jede „Vermengung" der beiden Arten von Grundsätzen will Kant
preisgeben. In der Mathematik findet sich ein fruchtbares Zusammenwirken,
und außerdem gibt es axtomata subrepticia, die Kant für nützlich oder gar un-
entbehrlich zur Erforschung der Natur hielt: das Kausalgesetz, die Beharrungsge-
setze und jene Maxime, die er später als Regel der reflektierenden Urteilskraft
erfaßte. Diese „Axiome" sind insgesamt intellektuell und nicht sinnlich, wenn es
auch scheint, als seien sie von den Gegenständen hergenommen; wir nehmen sie auf,
als seien sie tatsächlich Axiome, obgleich sie lediglidi unbeweisbare (indes aber
auch unentbehrliche) Regeln sind.
Eine besonders interessante, die „dritte", Art der subreptiösen Axiome ent-
springt nicht auf dem Wege der Ableitung intelligibler Prinzipien aus der Er-
fahrung, sondern aus dem Umstand, daß eine Anwendung der intellektuellen
Erkenntnis nur durch Hilfe sinnlicher Daten möglich wird, bzw. nur durch ihre
Hilfe erkannt werden kann, ob etwas unter einem bestimmten intellektuellen Be-
griff enthalten ist5. Es ist, als ob wir nur durch die Erfahrung entdecken könnten,
was in einem intellektuellen Begriff liegt. So kommt man z.B. zu dem erschlichenen
Grundsatz: „Alles, was zufällig existiert, hat irgendwann nicht existiert", aus
dem man ein empirisches Kriterium der Zufälligkeit ableitet. Insofern geht man
zwar ganz richtig vor e, nicht aber, wenn man das subjektive Prinzip bzw. Kri-
terium der Zufälligkeit nachträglich und stillschweigend in eine objektive
Bedingung verwandelt, als ob ohne den empirischen Zusatz überhaupt keine
Zufälligkeit stattfände. Denn in der Ontologie muß man objektiv-gültige Sätze
4
De mundi sensibilis, § 24.
5
De mundi sensibilis, § 29.
« Vgl. Kr. d. r. V., B 290.

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beweisen können, ohne daß dazu ein Umweg durch die Erfahrungswelt nötig
wäre.
Im September 1770 schickte Kant ein Exemplar seiner Dissertation an Johann
Heinrich Lambert, mit dem er schon seit einigen Jahren in Briefwechsel stand.
Lambert lobte das Werk, erhob aber drei Einwände. Zwei davon lassen wir
beiseite; Kant entgegnete ihnen erst in der Kritik der reinen Vernunft. Aber
eine der Einwendungen Lamberts mußte ihm sehr schwerwiegend erscheinen. Lam-
bert schrieb: „... so ist es in der Ontologie nützlich, auch die vom Schein ge-
borgte Begriffe vorzunehmen, weil ihre Theorie zuletzt doch wider bey den
Phaenomenis angewandt werden muß7." Lamberts Kritik traf zwar nicht die
radikale Unterscheidung der intellektuellen und anschaulichen Erkenntnis — denn
er selbst vertrat diese Unterscheidung —, aber sie traf Kants Ansichten über
die „dritte Art" der subreptiösen Axiome. Seine Kritik besagt kurz: es ist keines-
wegs illegitim, es ist sogar notwendig, Erfahrungserkenntnis zu benutzen, wenn
man reine Begriffe auf Gegenstände bezieht. In der Ontologie müssen empirische
Begriffe aufgenommen werden, denn die ontologische Theorie muß schließlich
doch wieder auf die Phänomene angewandt werden.
Dieser Einwand Lamberts ist wichtig, denn er zeichnet die Problematik der
Anwendung reiner Begriffe auf Objekte überhaupt vor, — und vielleicht auch
die Unmöglichkeit einer nichtphänomenalen Objektivität ontologisdier Begriffe.
Aber augenscheinlich schätzte Kant zunächst die Wichtigkeit dieses Einwands doch
nicht richtig ein. Ob er sich später Lamberts erinnerte, als er den Wert des Ein-
wandes zu beurteilen vermochte? In dieser Zeit stand er nicht mehr mit Lambert
in Briefwechsel — und er bereute das lange —, aber bis zu Lamberts Tode beab-
sichtigte er, ihm die Kritik der reinen Vernunft zu dedizieren! Kant schrieb nichts
von einer „Erinnerung Lamberts", aber meiner Ansicht ist der Hinweis Lamberts
auf diese Schwierigkeit der Dissertation ebenso wichtig wie die „Erinnerung
Humes" es ist.
Kant spielte auf diese Schwierigkeit erst in einem Brief an Marcus Herz (21.
Februar 1772) an, ohne jedoch Lambert ausdrücklich zu nennen. Nachdem er von
seinem Buch Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft berichtet hat, das
bald erscheinen werde, bemerkt er, daß ihm „noch etwas wesentliches mangele,
welches ich bey meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andre, aus
der Acht gelassen hatte und welches in der That den Schlüßel zu dem gantzen
Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys:, ausmacht."
Ihm mangelte eine Antwort auf die allgemeine Frage: „auf welchem Grunde
beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den
Gegenstand8?" Ich sage, auf die allgemeine Frage, denn wie im besonderen
empirische Begriffe auf die Erscheinung angewandt werden, ist nach Meinung Kants
leicht einzusehen.

7
Akademieausgabe, Bd. X, S. 103.
8
Akademieausgabe, Bd. X, S. 124.

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Gewiß ist der Lambertsche Vorschlag, vom Schein (= Phänomene) Begriffe zu
borgen, Kants ganzer Einstellung in der Metaphysik zuwider, deswegen aber nicht
wirkungslos, denn Kant muß gestehen, daß er sich in der Dissertation damit be-
gnügt habe, die intellektuellen Begriffe bloß negativ zu erklären, ohne zu fragen,
wie denn sonst „eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von
ihm auf einige Weise afficirt zu seyn" möglich sei, und er fragt, woher denn die
intellektuellen Vorstellungen mit den Dingen, wie sie an sich selbst sind, über-
einstimmen, „ohne daß diese Obereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen
Hülfe entlehnen"9. Er verzeichnet knapp die Unzulänglichkeit der Antworten
von Platon, Malebranche und Leibniz und scheint bereit, seine eigene Antwort
sogleich vorzutragen. Stattdessen aber wendet er sich einem neuen Thema zu
und stellt die Frage, der wir später in der metaphysischen Deduktion begegnen
werden. Dabei scheint ihm die metaphysische Deduktion noch zureichend, denn
er verspricht Herz, sein Werk innerhalb von drei Monaten zu vollenden.
Gleichwie wir uns eine fiktive Dissertation des Jahres 1768 skizziert haben,
können wir auch eine fiktive Kritik der reinen Vernunft des Mai 1772 entwerfen.
Das Werk wäre im allgemeinen eine Erweiterung der Dissertation gewesen, mit
dem Zusatz einer verfrühten Fassung der metaphysischen Deduktion und nebst
einer Ontologie, in der die deduzierten Kategorien die Hauptrolle gespielt hätten.
Aber „etwas wesentliches" hätte immer noch gefehlt. Denn, wie wir aus der
Rückschau wissen, die metaphysische Deduktion leistet nichts zur Lösung des
Lambertschen Problems der Beziehung zwischen reinen Begriffen und Gegen-
ständen, und an der Kantischen Lösung dieses Problems, wie sie uns von später
bekannt ist, wäre die aus der Dissertation übriggebliebene Ontologie gescheitert.
Glücklicherweise hat Kant das Buch damals nicht veröffentlidit. Statt drei Monate
dauerte die Ausarbeitung der Kritik der reinen Vernunft, und darin audi die
Beantwortung des Lambertschen Einwands, neun Jahre. Vermutlich wird Kant
in diesen drei Monaten, die er ursprünglich für die Vollendung seines Werks
vorgesehen hatte, die „Erinnerung Humes" überrascht haben.
Das Humesche Problem scheint zunächst wenig mit dem Lambertschen zu tun zu
haben. Lambert fragte, oder gab Kant Anlaß zu fragen, wie ein Begriff, der nicht
aus der Erfahrung stammt, mit der Erfahrung bzw. mit den Gegenständen der Er-
fahrung übereinstimmen könne. Hume fragte: wie kann ein' Begriff mit einem
zweiten in Übereinstimmung stehen oder mit ihm verknüpft sein, wenn zwischen
beiden kein logisches Verhältnis besteht? Das ist der Sinn von Humes Unter-
scheidung zwischen „relations of ideas" und „matters of fact". In ersterem findet
man eine logische Beziehung zwischen beiden Begriffen, wobei das diese Beziehung
behauptende Urteil nicht falsch sein kann. Hume zeigte überzeugend, daß zwi-
schen dem Begriff eines Geschehens als Ursache und dem eines zweiten Geschehens
als Wirkung kein solches Verhältnis besteht. Ihre Beziehung muß vielmehr in der
Erfahrung gegeben sein oder aufgesucht werden. Entsprechend, nur aus anderen

9
Akademieausgabe, Bd. X, S. 125.

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Gründen, hat Lambert darauf bestanden, daß ontologlsche Begriffe auf Erfahrung
angewandt und von ihr geborgt werden müssen.
Diese Lehre Humes wurde von Kant verallgemeinert. „Ich versuchte also zuerst,
ob sich nicht Humes Einwurf allgemein vorstellen ließe, und fand bald: daß der
Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige
sei, durch den der Verstand apriori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, viel-
mehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe.10" Auf diesem Wege gelangte
Kant schließlich zum Begriff des synthetischen Urteils, einem Begriff, der schon seit
Leibniz und Locke sozusagen in der Luft lag, aber nie präzis ausgeprägt worden
war.
Daß die Berufung auf die Erfahrung unvermeidlich' ist, erzwingt nun nach
Humes Meinung den Schluß: synthetische Urteile können nur a posteriori sein.
Diese Meinung teilte Kant allerdings nicht. Die Berufung auf die Erfahrung schließt
noch keine Preisgabe der Apriorität ein, und den Grund dieser Apriorität hatte
Kant glücklicherweise schon in der Dissertation gelegt, im Begriff der notwendigen
Formen der Anschauung, die zugleich notwendige Formen aller Erfahrung sind.
Aber betrachten wir audi die andere Seite dieses Erfolgs: jener Grund, auf dem zwei
Begriffe in notwendigen Zusammenhang gebracht werden können und müssen,
ist zugleich der Grund dafür, daß keine Erkenntnis des Intelligiblen, keine
synthetische Erkenntnis ohne Anschauung möglich ist. Die zweite Aufgabe der
Dissertation erweist sich so als unlösbar, und „der stolze Name einer Ontologie"
muß dem „bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz
machen".
Was hat Lambert damit zu tun? Er allein sehr wenig, zusammen mit Hume aber
sehr viel. In genialer Weise hat Kant immer wieder eine Antwort auf zwei ver-
schiedene und oft entgegengesetzte Fragen gefunden n, und hier gab Kant dieselbe
Antwort sowohl auf Lamberts als auf Humes Frage. Die regelgemäße, aber
nicht formallogische Beziehung zweier Begriffe zueinander (Humes Problem)
ist auch die notwendige Beziehung eines oder mehrerer Begriffe zum Gegenstand
der möglichen Erfahrung. Kant stellte fest, daß die Bedingung beider Beziehun-
gen, der Humeschen wie der Lambertschen, die Anwendung auf die Anschauung
sei und daß diese Anschauung eine notwendige Anschauung sein müsse, wenn
das Urteil a priori ist. Da Kant 1769 die radikale Unabhängigkeit der Sinnes-
anschauung vom Denken erkannt hatte, konnte er jetzt über eine zweite, irreduzible
Art von Notwendigkeit verfügen, um die Unzulänglichkeit der formallogischen
Notwendigkeit zu ergänzen. Die aus der penuria intellectus entspringenden sub-
reptiösen Axiome brauchten daher nicht mehr als subreptiös zu gelten; im Ge-
genteil entsprang nunmehr aus dieser penuria eine der Hauptlehren der kritischen

10
Prolegomena, Einleitung. Akademieausgabe, Bd. IV, S. 260.
11
In meinem Aufsatz, Kant's Strategy (Journal of the History of Ideas, Bd. XXVIII,
S. 224—236 [1967]) versudie idi zu zeigen, dies sei eine diarakteristisdie Art Kantisdier
Argumentation überhaupt.

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Philosophie: Begriffe ohne Anschauung sind leer und haben bloß analytische
Beziehungen zueinander.
Ich möchte annehmen, daß Lambert nicht nur eines der zentralen Probleme der
Kantischen Philosophie zuerst aufwarf, sondern auch einen Wink zu seiner Lö-
sung gab. Sogleich nach dem schon zitierten Passus, in dem er das „Lambertsche Pro-
blem" aufgab, fährt Lambert fort: „Denn so fängt auch der astronome beym
Phaenomeno an, leitet die Theorie des Weltbaues draus her, und wendet sie in
seinen Ephemeriden, wieder auf die Phaenomena und deren Vorherverkündigung
an. In der metaphysic, wo die Schwürigkeit vom Schein so viel Wesens macht,
wird die methode des Astronommen wohl die sicherste seyn.12"
Hat Kant sich vielleicht an diesen Satz erinnert, als er von seiner kopernika-
nischen Wendung sprach?

12
Akademieausgabe, Bd. X, S. 103 f.

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