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Der Traum (Verfasser unbekannt)

Oft schläft, wie edles Samenkorn,


Das Herz der Sterblichen in toter Schale,
Bis ihre Zeit gekommen ist.
Hölderlin

Was genau ist eigentlich ein Traum? Die Frage ist alt, manche Antworten ebenso,
manch neue interessant, die anderen abgeschmackt. Siegmund Freud hat sich vor hundert
Jahren des Themas angenommen und seine sexuellen Fantasien damit verknüpft. Das meinte
ich übrigens mit abgeschmackt. Ja, ich habe sein Buch gelesen und wieder weggelegt, denn es
hilft mir nicht dabei zu erklären, was Thorwald zugestoßen ist und weshalb. Schwer werden
die Dinge auch deshalb, weil Thorwald nur spärliche Informationen zurückgelassen hat, aus
denen mehr vermutet als sicher angenommen werden kann. Das Ganze ist nun auch schon
ein paar Jahre her, aber meiner Nachforschungen sind jetzt genug, so daß ich diese kleine Ge-
schichte erzählen kann.
Es ist also schon ein paar Jahre her. Die Frage nach Wirklichkeit und Traum ist Jahr-
hunderte alt. Wenn es ums echte, wirkliche Denken geht, dann muss man beim französischen
Philosophen René Descartes anfangen, denn der hat das erste Mal in der Denkgeschichte des
Menschen die Frage gestellt: Wie kann ich eigentlich wissen, ob ich träume oder ob ich wach
bin? Was, er soll der erste gewesen sein, der sich diese Frage gestellt hat? Nein, natürlich nicht.
Die Deutung von Träumen ist so alt wie die Menschheit selbst. Descartes war aber der erste,
der seine Zweifel ernst genommen hat. Die meisten Leute kennen nur sein cogito, ergo sum.
Dabei hat er das so nie gesagt. Aber Descartes hat etwas unternommen, was vor ihm noch kei-
ner getan hat und was im Alleszermalmer Immanuel Kant ein tausendfaches Echo fand: Er
überschritt sich selbst. Das Objekt seiner Philosophie war nicht länger die Außenwelt, nicht
mehr der Gegenstand, sondern das menschliche Bewußtsein, das Selbst. Das war ein ganz au-
ßerordentlicher Schritt in Richtung Humanismus, denn mit Decartes kam der Mensch auf die
Idee, von sich ausgehend nach Gott zu suchen. Klar, im 17. Jh. war es noch Gott, was man
suchte. Mag auch Giordano Bruno Ähnliches empfunden haben, bevor man ihn zu den römi-
schen, höheren Weihen der Verbrennung am Scheiterhaufen zuließ, Bruno wusste noch nichts
von der unfassbaren Größe dessen, was Descartes einleiten sollte und Immanuel Kant zur
Vollendung brachte: Die incurvatio in se ipsum, das Eingekrümmtsein in sich selbst. Der deut-
sche Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi hatte im Jahr der französischen Revolution ein Buch
herausgegeben, in welchem er davor warnte, daß man doch aus der Welt wechselseitiger Be-
dingtheiten nie zum Unbedingten, nie zum „Seyn“ (also Gott) aufsteigen könne. Fakt aber ist:
Kant sollte Sieger bleiben. Zumindest für eine Weile, bis die Naturwissenschaften gewisse As-
pekte seiner Philosophie widerlegte und seinen Subjektivismus anprangerte.
Was der denkende Mensch vor Descartes niemals tat, wurde nach ihm zur Bedingung
jeglicher Erkenntnis: Jetzt mußte zunächst der „Erkenntnisapparat“ untersucht werden, um zu
entscheiden, was er überhaupt erkennen konnte und was nicht. Der Mensch nach Kant mein-
te, sich selbst überschritten zu haben und erfand den Begriff der Selbsttranszendenz, ohne zu
wissen, daß er die Vorzeichen verkehrt hatte und vom Erkennen ins Vergessen marschierte. Er
vergaß, daß das Spiegelbild nicht das Original war. Die wahre Selbsttranszendenz des Men-
schen besteht aber gerade darin, beim Sehen sich selbst nicht zu sehen. Das Auge sieht nur
dann gut, wenn es sich selbst dabei nicht sieht. Sieht es etwas vom Eigenen, ist es krank. Und
so ist es auch mit dem Menschen: Er muss sich selbst vergessen, damit er den anderen sehen
kann. Nur der Mensch, der sich selbst vergisst, wird den anderen Menschen so sehen, wie
Gott ihn sieht, wird ihn respektieren, wird ein Geschöpf Gottes in ihm sehen, das Bild Gottes,
die imago dei der Theologen, das große Du, an dem das Ich erst zur Person werden kann.
Freilich wisst ihr alle, die das lest, daß ihr wach seid, und fragt euch auch nicht, träu-
me ich? denn wie könntet ihr im Traum lesen? Grundsätzlich kann jedermann behaupten, ich
kann im Traum lesen, aber philosophisch ist das nicht so einfach geklärt, denn im Traum
könnte ja auch jemand sagen: Das träumst du nur. Und was dann? Nein, da muss eine bessere
Erklärung her, sag ich. Und René Descartes meinte, die Antwort darauf gefunden zu haben.
Wieviel Schwachsinn ist seither nicht schon geschrieben und getrieben worden? Allein
der Berg an Makulatur, den die Psychoanalyse hervorgebracht hat, ist beredtes Zeugnis. Was
weiß schon der Akademiker, der den Staub schluckt, den er von hunderten Büchern bläst, was
weiß er denn schon im Vergleich zum Menschen wie du und ich einer sind, im Vergleich zum
Kind, das hier Dinge weiß, die dem Erwachsenen so fern sind wie unbegreiflich? Warum sol-
len wir uns von jenen belehren lassen, die sich als „Berufene“ wissen wollen? Wollen wir die
gelehrten Bücher fragen? Wollen wir einen Mathematiker bitten, uns eine Formel für die Lie-
be zu finden? Wollen wir die Liebe auf chemische Reaktionen zurückführen? Wollen wir so
absurd sein? Nein. Das wollen wir nicht. Und so will ich erzählen, was ich von Thorwald weiß,
will es erzählen, damit es jeder weiß, der es wissen will.
Dazu werde ich jemanden fragen, der es ganz genau weiß, weil er es selbst erlebt hat,
am eigenen Leibe, mit eigenem Bewusstsein, unbeschmutzt vom Gutdünken des Primars, der
mit wissender Miene und ohne Ahnung um 9:15, gefolgt vom Oberarzt samt seiner Legion
dienstbeflissener Schwestern zur Türe hereinplatzt, um gönner- und götterhaft seine Objekte
zu begutachten. Völlig unpassend übrigens, denn um diese Zeit rastet man ja gewöhnlich vom
Frühstück aus, sitzt bereits aufrecht und liest die Zeitung. Aber nein, jetzt ist er da, ja, der Gott
in Weiß, Alleswisser, lateinischer Begriffshochstapler und Dozent auf der Universität.
Es ist an der Zeit, sich zu erinnern und zu erzählen, was gewiss geschehen ist und des
Zweifels unwürdig, der sich vielleicht in den Herzen einiger Leser breit machen möchte, weil
die Geschichte doch etwas apart ist.
Ganz ungewiss ist, was unmittelbar vor diesem passiert ist. Der Film ist gerissen, mit-
ten im Leben. Der durchschnittliche Mensch erlebt so etwas nicht. In Thorwalds Leben war es
anders. Aber der Reihe nach. Als Thorwald eines morgens aus unruhigem Schlafe erwachte,
fand er sich ungefähr im dunkelsten Schwarz, das er je sah. Ein erster Eindruck erreichte
Thorwald. War es den Morgen, oder ist es die Nacht? Der Druck auf alle Gliedmaßen stellte
sich ein, und er begann sich zu orientieren. Er spürte ein Ziehen in den Schläfen, das er dem
Alkohol zuschrieb, dem er am Vortag wohl zugetan gewesen sein mußte. Habe ich wirklich
zu viel getrunken? Ich erinnere mich nicht. Aber wenn man dieses Ziehen spürt, weiß man:
Mist, gestern hab ich mich nicht beherrscht. Kontrollverlust. Zuviel war’s, ich kann mich nicht
erinnern. Aber was, mit wem und wo? Alleine? Nein, kann nicht sein. Aber es hätte der
Schmerz in den Schläfen marternder sein müssen; ein Wummern und Stechen, als ob jemand
mir den Kopf zertrümmert hat. Das Ziehen verging nach ein paar Sekunden, so rasch, wie er
es noch nicht erlebt hatte. Er schüttelte den Kopf in der typischen Bewegung, die man macht,
wenn man ganz schnell einen peinlichen Gedanken wieder loswerden möchte. Er streckte sich
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durch, daß die untern Wirbel knackten. Mit einem kurzen Schrei stieß er die eingegähnte Luft
aus und zog sich zusammen. Er fühlte sich bereit für den kommenden Tag.
Im Geist roch er schon seinen Meinlkaffee, die Bohnen selbst gemahlen, nicht zu heiß
überbrüht in einen Keramikfilter gegossen. Einstieg in den Tag erleichtern. Ritual: zur Haus-
türe, Zeitung holen, Beine auf den Tisch und bei einer heißen Tasse Kaffe den Kunst- und
Kulturteil studieren. Die anderen Zeitungsteile interessierten ihn nicht. Am allerwenigsten die
Dreckschleuder. Regierungsbildung. Neoliberales Neusprech, wo man auch liest. Schon dieses
Wort. Als gäbe es etwas zu bilden. Als wuchere das nicht vielmehr wie ein Geschwür, das sich
nicht mehr behandeln lässt, weil viele-allzuviele Ärzte daran herumdoktorten. Die Politiker,
grinste er, glaubten die denn wirklich, jemand glaube ihnen noch ein einziges Wort? Ganz si-
cher nicht. Sie sind das Personal, das die Aufgabe hat, den Menschen des Westens auf höfliche,
wenn auch geschwätzige Weise zu verheimlichen, was in den Toren der Macht geschah. Im
Grunde war er ihnen sogar dankbar. Mundus vult decipi, ergo decipiatur. Nein, Thorwald war
den Politikern nicht böse. Jahrelang müssen sich solche Menschen zurücknehmen, müssen
die hohe Schule der Schauspielkunst besser meistern als ihre besser bezahlten Kollegen in
Hollywood, und wenn sie die Leiter hochgeklettert sind, um von dort aus in die Wohnzimmer
der Menschen reden zu dürfen, dann sind sie nur noch leere Hüllen, sprechende Frisuren,
Verkünder neoliberaler Ideologie, Lautsprecher des Leisen, das hinter vorgehaltener Hand
von Männern gesagt wird, die den Ton angeben.
Ebensowenig interessierte sich Thorwald für die Wirtschaft. Er hatte genug, und das
genügte ihm. Neulich hatte er sich von Berufs wegen einen Vortrag über die Integration west-
licher und östlicher Erkenntnisse zur Hebung der Marktchancen anhören müssen, ausgerech-
net von einem Amerikaner aus Virginia, dem Geburtsland George Washingtons. Der rotzfre-
che Prahlhans hatte Mumm genug, seinen altehrwürdigen Vorfahren und ersten Chef des
indianischen Völkermords als Vorbild für Gerechtigkeit anzupreisen! Am liebsten hätte er
ihm ins Gesicht geschmettert: Well, du dollargeiler Mediokritätsreüssierer, wenn George Wa-
shington heute noch lebte, wäre er doch nicht mehr als ein Vorbild für Emporkömmlinge und
Mafiosi! Ein Getty, ein Rockefeller seiner Zeit und reichster Mann Amerikas, ein Land- und
Holzräuber, ein Ausbeuter! Gütig blickt er von der Dollarnote, gütig spricht er aus den Ge-
schichtsbüchern, gütig regierte er ein Volk von Volksmördern, die betend ein Imperium er-
schufen, an dessen vorderster Front heute ein Mann steht, dessen Macht nur von seiner Gier
nach noch mehr Macht und Geld übertroffen wird.
Wer sich gegen ihn auflehnte oder demonstrierte, der wurde dem rasenden Pöbel zu-
gerechnet, vor dem zu schützen unser lieber George dem amerikanischen Volk eifrig verspro-
chen hatte. Beinahe wie der heutige George, nur daß der seine Methoden – so plump sie im
Übrigen auch sein mögen – vorher gut mit seinen Beratern auf die Medien hin tauglich ge-
macht hat. Diese Höllenhunde der Plutokratie! Nein, davon hatte Thorwald die Schnauze voll.
Den Nachrichtenteil überging er genauso wie die Werbe- und Todesanzeigen.
Und dann der Sportteil, diese moderne Totalentäußerung des Menschen. Gerade neu-
lich sagte doch die Mutter dieser bekannten Radsportlerin in einem Interview im Fernsehen:
Wenn man als Sportler keinen Biß hat, ist man heutzutage ohnehin nicht dabei. Gefragt, was
denn „Biß“ sei, antwortete sie: Wenn ein Sportler an seine Grenze kommt und sie permanent
überschreitet, dann „leiste er erst etwas“. Pfui Teufel. Das ist nicht Sport. Aber: daher kommt
der Spruch mit dem Sport und dem Mord, da hat er seine volle Berechtigung. Nun, für Thor-
wald hatte der Spruch überhaupt seine Berechtigung, überall. Nein, nicht einmal die Sommer-
olympiade war Anlass genug, den Kasten anzuschalten. Schon die Eröffnungsfeier: Eine kulti-
sche Handlung für einen unbekannten Gott. Was mutet man uns eigentlich noch alles zu? Im
Zwielicht moralischer Zweideutigkeit schimpfte er in Gedanken weiter vor sich hin.
Schließlich riss er die Seiten schnell nach links, bis zum Kulturteil. Freilich: auch das,
was da geschmiert wird, ist eigentlich nicht Kultur, aber Neuigkeiten erfährt man nun einmal
zunächst und zumeist aus der Zeitung. Es war ein Artikel über das freche Schandwerk Gustav
Perlmanns angekündigt worden, der mit seiner bizarren Schreibweise in den 80er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts schon einmal das Herz der Literaturkritiker gewonnen hatte. Be-
sonders das Herz jenes großen-übergroßen Mannes aus dem literarischen Korsett, wie Thor-
wald es zu nennen pflegte. Der Brechstil, in dem Perlmann seine Bücher schrieb, hatte sämtli-
che Kritiker zu einem Aufschrei veranlasst. Aber im positiven Sinn. Sie waren von seinem Stil
begeistert. Das Zerhackte, Unzusammenhängende und Kaputte erheischt ja seit einem knap-
pen Jahrhundert immer der Literaten größtes Lob. Trümmerliteratur für rezensierende Trüm-
merhaufen, dachte sich Thorwald. Aber das „Schillerblatt“ beschäftigte einen Feuilletonisten,
der sich gegen die bestehende Literaturkritik verschworen zu haben schien. Als Ferenc Szyge-
ty Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ als kaputtestes, dabei in großartigem Stil geschriebe-
nes und daher umso verwerflicheres Machwerk eines gefährlichen Langweilers verrissen hat-
te, in Langerweile übertroffen vielleicht nur mehr von Peter Handkes komatöser
Glücklosigkeit, hatte Thorwald sich in ihn verliebt. Seit dem las er jeden Artikel, den Szygety
schrieb und ergötzte sich am Gift, das der Ungar auf literarische Perversionen verspritzte, die
sich als Neuigkeiten gerierten. Er stieg in seiner Achtung noch, als er sich weigerte, die ver-
ruchten fünfzig Grauschattierungen zu rezensieren.
Wie anders war da jener alte Kritiker aus Wloclawek, dessen erster und letzter Wunsch
es immer gewesen war, sich selbst zu präsentieren! Er hatte etwas von der Offenheit eines un-
benützten Grabes für all jene, die ihm nicht gefielen. Beinahe vierhundert mal spuckte er sein
Gift und seine Galle auf alles, was geschrieben worden war, ignorierte die Anwesenheit seiner
Beigesellten, cholerisch zischelnd über alles, was ihm nicht zu Gefallen stand, und war davon
überzeugt, ein großer Kenner und übrigens weiser Mensch zu sein. Thorwald war vom enor-
men Wissen dieses Mannes immer beeindruckt gewesen, bis er dahinter kam, daß man Wis-
sen auf eine Art und Weise haben kann, in der man auch die Krätze haben kann. Er freute
sich auf seinen Kaffee.
Thorwald mahlte seine Bohnen selbst. Das Aroma war unvergleichlich. Was Unbe-
darfte und Lästerer als Röstaromen bezeichneten, da nuancierte er zwischen Vanille (immer
die Vanille, immer diese Vanille) und Zimtnoten. Obwohl die gewöhnliche Nase Kaffee im-
mer schon für Kaffee gehalten hat. Er freute sich auf die erste Tasse. Und auf Szygety. Das Ge-
räusch einer Fliege konnte ihn während seiner Morgenlektüre rasend machen. Deshalb unter-
suchte er immer zuerst das Küchenfenster auf fliegende Eintagsparasiten. Die Klappe, die auf
einem Stoß alter Zeitungen lag, zeugte von ausgiebigem Gebrauch. Auf dem Griff stand in bil-
liger Merchandise-Prägung: Das Imperium schlägt zurück. Überhaupt bemühte sich Thor-
wald, alles, was zur Gattung der Insekten gehörte, als Teufels Beitrag zu Gottes Werk zu be-
trachten und es dementsprechend auszurotten. Selbstverständlich waren der Teufel und sein
Gegenspieler Metaphern, aber durchaus brauchbare. Die armseligen Gedankenhandwerker
der evangelischen Theologenschmiede, die die Existenz des alten Satanas leugneten – was wa-
ren sie mehr als die Totengräber des Begriffs, den sie im eigenen Wappen trugen? Evangelisch,
das hieß doch einst, frohe Botschaft bringe ich! Was soll denn eine Botschaft froh sein, die den
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Menschen aus den Händen eines Teufels errettete, der gar nicht existiert? Warum lässt man
solche Idioten willfahren, weshalb lässt man sie Begriffe zusammensuchen, die nicht die Ehre
Gottes, sondern allein ihren eigenen Ruhm befördern? Weil wir in einer Welt leben, die mit
dem Unheil schwanger geht, dachte sich Thorwald. Wehmütig dachte er an die Zeit, in der er
selbst noch geglaubt hatte, die Welt sei das Werk eines Gottes.
Ach, schöne alte Welt, dachte er sich. Gott der Allmächtige, er plant und schafft die
Welt, er freut sich seiner Geschöpfe und weint über ihren Fall. Weshalb hat er es trotz seiner
Allmacht nicht verhindert, daß sie sich gegen ihn wandten, jenen Engeln gleich, die Luzifers
Gefolge bildeten, um sich in reclamgelbem Schwefel gegen ihren Schöpfer zu wenden! Etwas
wehmütig dachte er an seine Sammlung kleiner gelber Bücher und an die Zeit in Paris, in der
er seinen Milton las, von schwülstigen Düften aus ätherischen Ölen nachbarlicher Klangscha-
lenzeremonie umweht, ihn las, damit er ihn zur rechten Zeit zur Sprache bringen konnte, son-
nenumflutet die Terrasse und vom Tokajer erwärmt seine Adern. Ein Lächeln legte sich auf
seine Lippen: Schweig, Irdischer, verstumme!
Das war seine heile Welt: er war ein Aussteiger im herkömmlichen Sinn; ein Mensch,
der sich vom Menschen zurückgezogen hatte, der nichts mehr vom Menschen wissen wollte.
Ein seelischer Emigrant. Er hatte es satt, die Menschen zu ertragen und zu durchschauen. Ob-
schon es ihm immer leicht gefallen war, fühlte er, daß es zu nichts führte. Der Preis der Ein-
samkeit ist hoch, doch wertvoll das Erworbene. Thorwald hatte sich sich immer dann im
Kreise seiner besten Freunde gewähnt, wenn er die Türe zu seiner kleinen Bibliothek hinter
sich geschlossen hatte. Morgens, wenn die Sonne ein paar Strahlen erübrigte, um sie durch
das winzige Fensterchen zu werfen, griff er nach Hölderlins Gedichtband, seufzte, setzte sich
schwer in seinen Schaukelstuhl und begann laut und betont zu lesen: „Nicht alle Tage nennet
die schönsten der, // Der sich zurücksehnt unter die Freuden, // wo Ihn Freunde liebten, wo
die Menschen // Über dem Jüngling mit Gunst verweilten.“ Er wusste, die allerwenigsten
Menschen verstehen diese hohe Dichtung. Es ist freilich nie ganz klar geworden, ob man ho-
hen Geistes oder gestört sein muss, um Hölderlins Wahnverse genießen zu können. Aber
Thorwald war das egal, oder besser gesagt, er dachte nicht, daß hier ein großer Unterschied
sein mußte. Er hielt sich für keinen Übermenschen im Geiste, aber er verstand Hölderlin,
punktum.
Zu Hölderlins Rätselsprüchen gehört ein Gläschen La Ferme du Mont. Zu Hölderlin
gehört Weißwein. Insiderwissen. Zu Schopenhauer trinkt man Schwarztee mit Milch. Abends
kann man Bier trinken und trotzdem Schopenhauer lesen, so gut schreibt der. Bravo. Zu Goe-
the muss man Rotwein trinken, aber das ist trivial, eine Flasche Château d`Armailhac, und du
verstehst den zweiten Teil vom Faust. Nietzsche liest man bei einem Glas klarem Wasser, weil
man ihn sonst nicht versteht. Vor allem dann nicht, wenn man weiß, wie feindselig dieser tolle
Mensch gerade dem Bier gegenüberstand. Auch Thorwald mochte die koketten Wanzen
nicht – er dachte ans literarische Korsett –, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Un-
endlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht, auch er mochte die
übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; Thorwald hasste die Müden und
Vernutzten, welche sich in Weisheit einwickeln und objektiv dreinblickten wie jene Experten
des Kreises, er haßte ebenso die zu Helden aufgeputzten Agitatoren, die eine Tarnkappe von
Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen. Er kicherte und freute sich kindisch über seine
Gedanken. Ach was! Strohwut, Grobianwut schoss in ihm hoch, er fühlte seine Adern kochen
vor Zorn: Hört auf, euch von Zeitungen, Politik, wagnerischer Musik und Bier zu ernähren,
ihr Idioten! Thorwald beruhigte sich wieder. Die Biographie eines amerikanischen Präsiden-
ten etwa oder ein Buch von David Yallop kann man durchaus mit Eistee genießen. So ist das.
Da kannte er sich aus. Er wusste um die Wahlverwandschaft von Werk und Getränk. Er bilde-
te sich ein, jedem Leser sagen zu können, welches Getränk zu welchem Schriftsteller passte. Er
bildete sich ein, das sei Kunst.
Nun aber Schluß mit den halluzinatorischen Halbträumereien! Er reckte er den Kopf
nach oben und rieb sich die Augen. Die Vorhänge waren noch zu, freilich, es war auch stock-
dunkel. Er fühlte sich ausgeschlafen und ausgerastet. Was machte er noch im Bett?
Vorsichtig griff er nach seinem Tischchen, reckte seine rechte Hand nach vorn und
tastete ins Leere. Die linke Hand einige Zentimeter vor die Augen haltend und dabei Adverbi-
en und Partizipien hassend, stieg er aus dem Bett. Er schlurfte ein paar Schritte, als er merkte,
daß er den Holztisch nicht erreichte. Die Kante hätte ihm genau in die Hüfte fahren müssen,
dämmerte ihm. Die verdammte Dunkelheit, es war doch längst Morgen! Wieso habe ich denn
die Jalousien runtergelassen, tu ich doch sonst nie, dachte er. Mit wem habe ich denn gestern
gezecht? Mit Christian? Aber nein, der ist ja verreist. Nach Irland oder sonstwohin. Es wollte
ihm nicht einfallen. Kopfweh hab ich auch keins, also war kein Alkohol im Spiel.
Dann schoss ihm die Erleuchtung ins Bewusstsein: das war weder sein Bett noch war
das sein Zimmer. Ein anderes Zimmer? Und was für ein Zimmer? Es muss ja riesig sein, dach-
te er nach ein paar weiteren Schritten. Was ist denn hier los? Er schüttelte sich, aber es ward
kein Licht. Er mußte den Schalter finden, irgendwo da an der Wand. Nur, wo zum Geier war
die Wand? Er tapste unbeholfen ein paar Schritte ins Nirgendwo hinein, stolperte, fürchtete,
sich die Nase anzuschlagen, fing sich wieder und lief ins Leere.
Der Schreck wich dem Entsetzen. Diese unsagbare Leere, dachte er, ich fühl’ keine
Müd’, keine Schwere. So versuchte er, das Entsetzen zu bannen, denn es war ihm sofort klar:
die Dinge liegen im Argen.
Er hatte Angst, etwas lauere in der Dunkelheit, er wusste nicht, was. Er wusste ja noch
nicht einmal, wie er hierher gekommen war. Da war etwas, das ihn hinderte, sich zu erinnern.
Aber es war nicht so, wie wenn der Suff vom Vorabend den Film hat reißen lassen. Wie kom-
me ich hier heraus? Wie bin ich überhaupt hier rein gekommen? Er schnüffelte und meinte,
einen schwachen Chemikalienduft zu wittern, den er aber nicht zuordnen konnte. Brav, dach-
te er sich, die Putze hat am Vortag den Boden desinfiziert. Es roch nach Formaldehyd und
Wachs. Brav, aber ekelhaft. Der Geruch von Krankheit und alten Menschen, der Geruch des
Sterbens, der Geruch, der der Nachbarswohnung entströmte, wenn der Alte von nebenan aus
seiner Schlurfwohnung kroch und morgens um 7:05 mit seiner Aktentasche zum Bus eilte.
Was hatte der in aller Herrgottsfrüh zu tun? Er war Ende siebzig, aber umtriebig wie ein Ma-
nager aus Silicon Valley. Einmal hatte er ihn mit seinem lächerlichen Blackberry erwischt, wie
er zerfahren und zerzaust auf die kleinen Tasten eindrückte, als müsse er seinem Friseur mit-
teilen, er sei soeben verstorben. Leben und Tod, ein ewiger Kreislauf. Da dämmerte ihm, daß
die Themen Tod und Leben am besten aufgehoben waren im Buch seiner Großmutter. Ach,
dachte er, daß doch die Fragen nach dem Woher und dem Wohin noch so keusch waren wie
die Musik in Robin Hood, dem König der Diebe, eine Musik, die noch naiv den Unterschied
zwischen Gut und Böse anzeigte in einem Film, den Kolporteure drehten, die diesen Unter-
schied schon längst nicht mehr kannten. Omas Buch, das alte Buch, dessen zittrige Seiten
beim Blättern knisterten, zerlesen, tränengetränkt und ausgetrocknet. Er konnte nicht verste-
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hen, was Oma so fesselte an diesem Buch, daß sie es er wusste nicht wie oft gelesen haben
mußte. Zeitweise war sie unerträglich gewesen, als er noch ein Kind war. Eine Philippika nach
der anderen ließ sie über den ungezügelten Bengel niedergehen, las ihm buchstäblich die Le-
viten, wenn er sein pubertierendes Fußballdribbling in ihren Blumengarten hin ausdehnte,
aber hey! Hat man je gesehen, daß Ronaldo auf der Grenzlinie Halt machte, nur um das Gras
außerhalb nicht zu zertreten? Doch Oma hatte andere Sorgen: sie wollte Thorwald erziehen,
eine Aufgabe, der seine Eltern ihrer Meinung nach nie nachgekommen waren. Ach Oma, du
und dein seltsames Buch.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Vielleicht wird die Dunkel-
heit noch Einsehen haben und mir etwas anderes leuchten lassen, dachte er und schüttelte
gleich darauf den Kopf über den dummen Gedanken.
Er schlurfte vorsichtig in die Richtung weiter, die er eingeschlagen hatte. Wahnsinn,
was für ein riesiges Zimmer! Nach zweiundzwanzig Augenblicken oder etwas länger kam es
ihm so vor, als sähe er etwas blinken. Vielleicht nur eine Täuschung. Dann aber eine gute,
dachte er. Dort vorne blinkte ein grüner Lichtpunkt. Und dahinter noch einer. Und dahinter
noch mehrere. Aha, da sind wir also. Ein Stäubchen Erleichterung rieselte ihm den Rücken hi-
nunter, völlig grundlos, wie er gleich darauf bemerkte.
Das Ende des Raumes mußte dort sein, wo die Reihen grünlicher Lichter im Abstand
von mehreren Sekunden aufflackerten. Was für ein seltsamer Ort. Vielleicht bin ich … ja, klar,
Außerirdische haben mich geholt, jetzt weiß ich’s! Er ärgerte sich über den blöden Einfall.
Thorwald hoffte, die Lichter würden den Raum begrenzen, ganz egal, ob E.T. oder der grüne
Heinrich ihn geholt hatten. Eine solche Dunkelheit, das macht zu schaffen. Es war warm, die
Luft war feucht und erinnerte ihn an den Chemiesaal. Sicher hatte die Putzfrau in Eifer und
Ungestüm den Eimer verschüttet. Zehn Hektar Boden und jede Menge Cif, na großartig. Er
blickte sich um. Auch hinter sich konnte er das Flackern der Lichter beobachten, aber in einer
Entfernung von etwa hundert Metern, wie er schätzte. Das ist allerhand, dachte er. Eine große
Halle oder so etwas. Bin ich in Quarantäne? Hausarrest? Was …? Sein Kopf schien nicht auf
Touren zu kommen; er wurde sich bewusst, daß er unangemessen reagierte. Hätte er nicht
schreien sollen? Muss man da nicht schreien? Was hab ich nur getan, als ich meinen Kopf
vom Licht losriss? Wohin bewege ich mich? Fort von allen Lichtern? Stolpere ich nicht fort-
während? Egal ob rückwärts oder seitwärts oder vorwärts? Und wo bleibt der Kaffee? Ach ja,
den machte er sich ja immer selber.
Die Lichterkette vor ihm sollte jetzt nicht weiter als fünf Meter von ihm entfernt sein.
Nur Mut, dachte er sich, das schaff ich auch noch. Schritt für Schritt tastete er sich heran. Als
er sich dem Leuchten bis auf einen oder zwei Meter genähert hatte, verblassten die Lichter un-
verhofft. Oder besser gesagt, er sah das Leuchten nicht mehr, denn als er sich einige Schritte
zurückbewegte, war es wieder da. Er sah nach oben, ging zu der Stelle, wo das Leuchten sein
mußte. Doch das Leuchten war weg. Es blieb dunkel. Er sah zurück. Ganz schwach erblickte
er sie wieder, die Lichterkette, die sich anfangs so weit vor ihm befunden hatte. Sollte er wie-
der hingehen? Warum? Den Weg konnte er sich sparen. Die Schlurferei ist ohnehin etwas
mühsam, dachte er. O über dieses ekle Entwerden! Die Lichter hingen also nicht an den Wän-
den des Raumes. Wieder versuchte er, sich zu erinnern. Wie war er hierher gekommen? Es
wollte ihm nicht gelingen. Es war, als wich die Erinnerung vor ihm zurück, als erschrecke sie
vor seinem Anblick. Sehe ich wirklich so furchtbar aus? Die Gedanken schweiften ab, sobald
er versuchte, sich zu konzentrieren. Er runzelte die Stirn und drehte sich langsam um. Was für
ein Grauen, das einen hier beschleicht: man muss es selbst erlebt haben, um zu wissen, wie
schlimm es ist. Nachdenklich ging er weiter.
Er mußte wohl an die dreißig Meter gegangen sein, als er vor sich eine weitere Lichter-
kette sah. Erschrocken wandte er sich um – etwa dreißig Meter hinter ihm pulsierten nach wie
vor diese grünen Lichtgebilde, im Abstand von vielleicht fünf Metern. Was war das hier?
Träumte er nur? Ah, wahrscheinlich bin ich in einem Raumschiff. So ein Dreck. So ein Un-
sinn. So ein Schmarrn. Einfach lächerlich, sowas. Einen solchen Raum gibt’s ja nicht. Dann
war er ganz sicher, daß er nicht träumte, denn er hatte Kontrolle über seine Handlungen; und
soweit er sich erinnern konnte, beherrschte er die Technik des luziden Träumens nicht.
Luzid- oder Wachträumer sind in der Lage, ihr Bewusstsein mit in den Schlaf zu neh-
men und Einfluss auf ihre Träume auszuüben. Eine Kuriosität, gewiß, aber doch nicht so sel-
ten, wie man meinen könnte. Gelegentlich passiert das dem einen oder anderen. Um es aber
zur Gewohnheit werden zu lassen, ist einiges Training vonnöten. Nein, verrückt war er nicht
geworden, verrückt nicht. Merkwürdig genug, daß sich seine Augen an die Dunkelheit nicht
anpassen wollten; er war jetzt lange genug hier, um auch einmal Hunger verspüren zu müssen;
er war sportlich, obwohl er nach seiner Ansicht keinen Sport trieb (er hatte immerhin den 2.
Dan in Karate und war zwei- bis dreimal im örtlichen Dojo, um seine Fähigkeiten zu erhalten)
und gewöhnt, morgens einen Riesenhunger zu haben. Doch nichts von alledem. Er stellte ver-
wundert fest, daß er nicht einmal aufs Klo mußte. Ja klar, wie auch, ohne Kaffee? Er beschloss,
weiterzugehen. Er ging und überlegte, sinnierte, stutzte, grübelte und fluchte, aber er kam
nicht ans Ende des Raumes.
Er schnob durch die Nase. Hustete. Schimpfte. Schrie. Die Dunkelheit zeigte sich von
seinen Emotionen unbeeindruckt. Er ging weiter und weiter und weiter. Vielleicht doch ein
Wachtraum, dachte er sich. Vielleicht gibt es auch so etwas wie eine Zwischenwelt, dachte er.
Eine Welt, die gar nicht dafür vorgesehen ist, daß das Bewusstsein hier erwacht. Sie befindet
sich zwischen Traum und Wirklichkeit. Man darf diese Welt keinesfalls mit Einschlafträumen
verwechseln, wie das esoterisierende Halb- und Dreiviertelspsychologen gerne tun, die sich
jetzt scharenweise aufmachen, um das bedürftige Volk zu therapieren. Ihr Poutpourri aus Zu-
sammengelesenem findet heute leider immer stärkeren Niederschlag. Man erkennt ihr
Schrifttum ja schon von weitem: Enneagramme, Sterne, Schutzengel, seltsame Interpretatio-
nen des Sprachzeichens „Gott“, Tarotkarten, Thorwald Dethlefsen, der gegen Ende seines Le-
bens einen Tempel bauen ließ, um dort mit seinen Anhängern das Bewußstein der Welt auf
eine höhere Ebene zu heben, was ihm leider nicht geglückt ist, woraufhin er seinen Kawwana-
Tempel wieder abreißen ließ. Die Steine nicht zu vergessen, die man derzeit dem Wasser bei-
fügen soll, bevor man es trinkt. Es belebt das Wasser. Selig sind, die da glauben, Amen. O über
diese selbsternannten Propheten, dachte Thorwald. Ums Haar wäre ich selbst einer geworden,
aber leider, mir fehlt das Quentchen Blödsinnigkeit gepaart mit jenem Hauch von Charisma,
dem Numinosen, das die aktiven und erfolgreichen Esoteriker umgibt.
Ideen wären wohl zuhanden gewesen, dachte er. Was man allein aus dem Sufismus,
der persischen und arabischen Geheimlehre und Mystik, entwenden und verdrehen könnte.
Man hat damit schon Geld gemacht, oh, man hat schon. Aber der Weg des Mönchs, des Fakirs
und des Sufis, er führt ins Nichts. Man bräuchte einen vierten Weg, einen, den noch keiner ge-
gangen ist. Was bremst mich eigentlich, nicht auch meine Erkenntnisse als neues Christusbe-
wusstsein oder feinstoffliches Brimborium irgendwelchen Irregeleiteten zu verkaufen, die sol-
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chen queeren Pipapo aufsaugen wie Schwämme das Regenwasser nach einer Dürreperiode,
enttäuscht wie sie sind von Welt und Mensch und Kirche? Soll ich nicht Hausfrauenverdreher
werden? Ein bisschen Reiki hier, ein wenig Chi-Gong dort, Homöopathie und Bach-Blüten
für logisch Nachholbedürftige, alles schön versammelt im Feldenkrais. Thorwald mußte
schmunzeln, als er an Frau Smelin dachte, die vor einem guten Jahr in die Nachbarwohnung
eingezogen war. Zuerst hatte sie versucht, seine Schwingungen zu lesen, seine „Aura“, wie sie
sagte. Schon nach wenigen Wochen erkannte sie ihren Irrtum und schwenkte auf Chi-Gong
um. Nur zwei Monate später wusste sie dann, daß man Thorwalds „inneren Spannungen“ mit
Reiki lösen musste. Sie wollte auch Thorwalds Spannungen lösen. Thorwald hatte ihr zuge-
hört, ihrem impulsiven Reden nach einiger Zeit etwas verspannt gewehrt und dann gespannt
darauf gewartet, welche Richtung ihr Hokuspokus nehmen werde. Es war das Pendel. Und so
kam es, daß er, Thorwald, sich von Frau Smelin, genauer: Silvana, auspendeln ließ. Silvana
pendelte sich also eifrig ins Zeug. Wenn sie doch nicht immerzu redete! Sie duftet nach Jas-
min, ob ich sie nach ihrem Parfum fragen sollte? Nein, das ist nur Deo; für Parfum war sie
eher nicht der Typ. Das Pendel bewirkt nichts bei mir, dachte er sich, aber ihre Eigenschwin-
gung übertrug sich sofort auf ihn. Thorwald folgte dem Pendel vorsichtig mit den Augen, als
sie seine Kopfwellen austestete. Auch ihre Augen waren ganz auf den Kupferkegel gerichtet, so
daß sie nicht gleich sah, wie sein Blick vom Pendel abgeglitten und in ihre Augen gefallen war.
Aber dann sah sie es doch, und ihr Blick hatte in exakt zwei Sekunden von erstaunt zu über-
rascht und zu ja gewechselt.
Aber nur nichts übereilen, denn wie hätte der arbiter elegantiarum, der Schiedsrichter
des guten Geschmacks geurteilt? Thorwald mußte schmunzeln. Damals hatte er auch gelächelt
und sich gefragt, welcher Weg am besten einzuschlagen war. Er entschied sich für den sponta-
nen. Sie war ja überhaupt nicht unhübsch, mußte er zugeben. Das müßte doch mit dem Teufel
zugehen, wenn man sie nicht in einem überschaubaren Zeitrahmen dazu bewegen könnte, ei-
ner etwas näheren und tieferen Bekanntschaft nicht abhold zu sein. Sie lächelte, als wüßte sie
über seine Überlegungen genauestens Bescheid, und sie zeigte ihm die Embleme der Liebe:
leuchtend rote Lippen – o Herzensnot verliebter Ritter! Schneeweiß wie das Elfenbein, dicht
gereiht und zierlich klein, standen glänzend ihre Zähne, ich weiß, es wird schon bald ge-
schehn! Und bald schon waren sie eins geworden, die vorher zwei gewesen waren. Zwei Stun-
den später hatten sich die Schwingungen in mehr oder weniger regelmäßige und bekannte Be-
wegungen aufgelöst und zu einer beiderseitigen Entspannungssituation, aber doch zu keiner
höheren Befriedigung geführt. Nicht zuletzt deshalb, sondern auch, weil das Fräulein hernach
keine allzu große Anlage von Verstand zeigte, wie Thorwald urteilte. Thorwald kehrte der kur-
zen Anwandlung von Esoterik alsbald den Rücken. Jetzt ging er, in sich gekehrt, weiter und
sann wieder über seine unangenehme Situation nach.
Diese Zwischenwelt. Wie hieß der nochmal, der in seinen Werken immer wieder da-
rauf hingedeutet hatte? Thorwald dachte intensiv nach, doch der Name wollte ihm nicht ein-
fallen. Die Zwischenwelt oder das Zwielicht, wie er einmal gelesen hatte, erreicht der Mensch
höchst selten, und immer ist es Zufall. Man kann nicht mit Absicht dahin gelangen, denn der
Eingang ist ähnlich seltsam wie der Ausgang in „Alice hinter den Spiegeln“: nicht vorwärts zu
erreichen. Eine Zeitlang war Thorwald der Meinung gewesen, man erreiche diesen Ort nur
durch die Einnahme von Drogen. Dafür bedarf es allerdings eines geeigneten Traumführers.
Ein Indianer wäre optimal. Don Juan, genau! Der wär’s. Thorwald war davon überzeugt, daß
Don Juan der Mann war, dessen Name ihm zuerst nicht einfallen wollte. Don Juan, ein brasili-
anisch-peruanischer Indianer, der seltsame Bücher verfasste. Der war dort gewesen, in jener
Zwischenwelt. War er jetzt auch da angekommen, Thorwald? War er das Opfer einer okkulten
Seance? Aber Einstein soll auch dort gewesen sein, denn wie die heutige Einsteinforschung
wissen will, hat Einstein Teile seiner Theorie unter dem Einfluss von Drogen im Jahre 1898
empfangen, und Einstein hatte mit außersinnlichen Wahrnehmungsgedöns wenig am Hute.
Er schüttelte seinen Kopf und verwarf die Zwischenwelttheorie. Er war aufgewacht,
nach dem er sich gestern alkoholisch wieder in eine andere Dimension gesprengt hatte. Jetzt
war er in die riesige Ausnüchterungszelle der Stadt München gebracht worden, wahrschein-
lich. Verdammt, wieso kann ich keinen klaren Gedanken fassen hier drin? Diese irritierenden
Lichtpunkte. Was ist das alles bloß? Und Thorwald ging und schritt voran und ging. Ja! Jetzt
weiß ich es! Es ist ein Trip! Na klar, was sonst! Mensch, bin ich ein Trottel. Grad vor ein paar
Tagen haben wir es doch verabredet: An der Isar werden wir es tun. Kalle hat dort unten ein
Schrebergärtchen, allerliebst. Fünf Leute können dort übernachten. Kalle würde die Pilze auch
besorgen können, weil: sie wachsen ja überall. Man muss sie nur kennen. Am liebsten wach-
sen sie in der Nähe von Kuhklattern oder auf Schafwiesen. Katzspiegeliger Kehlkopf. Spitzke-
geliger Kahlkopf. Und Kalle kannte sie. Er war sozusagen Psilocybinspezialist von Profession.
Von „Setting“ hatte er gesprochen. Daß man das „Setting“ beachten muss – das sei immens
wichtig, hatte er gesagt. Immer wieder. Thorwald hasste die englische Sprache. Jedes Wort
empfand er als Qual. Als ob man es auf deutsch nicht auch sagen könnte. Umgebung, Um-
stände, Umwelt, Einstellung, Haltung – es gibt doch ausreichend Begriffe in deutscher Spra-
che! Aber die Zauberpilze waren Kalle wichtiger als linguistische Befindlichkeiten. O über die-
sen Kalle! Er suhlte sich in seinem tumultuarischen Ressentiment und dackelte weiter.
Aber jetzt erinnerte er sich gar nicht mehr daran, daß sie sich an der Isar getroffen ha-
ben sollten. Nein. Wie könnte es gewesen sein? Lagen sie jetzt allesamt am Boden der Hütte,
gefangen in dem zauberpilzinduzierten Halbwelt-Schlaf, oder irrte er durch den Wald, gefan-
gen im eigenen Ich? War er an eine Traummaschine angeschlossen? Befand er sich gar im Un-
terbewusstsein eines Freundes? Thorwald fröstelte bei der Vorstellung, in Wirklichkeit durch
einen dunklen Wald zu irren, nicht wissend, wann er in welches Loch treten werde, wann
über welchen Baumstrunk stürzen, oh, es war einfach schrecklich. Hoffentlich, so dachte er,
haben wir uns nicht in jener Hütte getroffen.
Als ihm nach einigen Stunden nicht einmal die Füße weh taten, wusste er: er schätzte
die Zeit falsch ein. Ja, das ist keineswegs abwegig: bekanntlich vergeht die Zeit doppelt so
langsam, wenn man Schmerzen oder Fieber hat. Sie vergeht im Normalzustand ohnehin
schon langsam genug. Besonders, wenn man sinnlos vor sich hindämmert, wie das Thorwald
oft tat. Oder wenn man lange in einer Situation regungslos verharrt. Und dann erst doppelt!
Doch das war ja nicht der Fall, und die Zeit – er fand keine Erklärung. Warum taten die Füße
nicht weh? Lag das am Untergrund? Eigenartig, daß er noch nicht auf die Idee gekommen
war, den Boden zu betasten. Er bückte sich und befühlte den Boden mit seinen Fingerkuppen.
Der fühlte sich weich und warm an. Thorwald stampfte auf. Nichts. Kein dumpfes Geräusch,
das sein Stampfen hätte verursachen müssen. Nichts zu hören, wie wenn die Ohren verschla-
gen sind, dachte er.
Es mußte also doch ein luzider Traum sein. Vor ein paar Jahren hatte er einen solchen
Traum gehabt. Es war in einer abgelegenen Fabrikhalle gewesen. Jemand hatte ihn verfolgt, er
wusste es noch genau; und dieser Jemand hatte ohne jeden Zweifel böse Absichten mit ihm.
Es war einer dieser typischen Angstträume gewesen, die einen heimsuchen, wenn die Um-
stände des Lebens von Stress und Ärger erfüllt sind. Im Traum kann man sehen, wie die Seele
Der Traum (Verfasser unbekannt)
das erlebt: sie fürchtet um ihr Leben, sieht die Verkörperung jeder einzelnen bösen Situation
auf sich zukommen und will sich verstecken; aber das geht ja nicht, der Feind findet dich ja
doch. Deshalb bleibt dir nur die Flucht. Aber Thorwalds Fabrikhallentraum war anders gewe-
sen: er, Thorwald, hatte sich seinen Verfolgern gestellt. Ein muffiger Raum, voller Maschinen
und Geräte, die er nicht kannte. Es roch nach Öl und einer beißenden, fauligen Flüssigkeit. Je-
mand würde kommen, und dieser Jemand würde etwas aus Thorwald herausexerzieren wol-
len. Dafür waren diese Maschinen wohl da. Aber Thorwald wusste mit einem Male, daß die
Maschinen nichts als Produkte seiner Traumphantasie waren. Traumarbeit, Verdichtungsar-
beit. Verschiebungsarbeit. Nein, nein, nein. Das ist alles Blödsinn, dachte er. Sigmund Freud
kannte sich nicht aus mit luziden Träumen. Keine Zeit jetzt zum Nachdenken. Wie absurd:
nachzudenken in einem Traum.
Die Türe, die den Raum von der übrigen Fabrik abgeschottet hatte, hatte sich geöffnet.
Es war der Jemand gewesen. Und der Jemand war nicht alleine, sondern hatte andere Jemande
bei sich. Thorwald fürchtete sich nicht. Sollen sie nur kommen, diese Hunde, diese Mörder,
diese Quäler. Nun Volk steh auf und Sturm brich los! Er war ihnen mit liebenswürdiger
Mordbereitschaft noch ein Stück entgegengegangen und sie hatten ihn angestarrt, als wären
sie darüber erschrocken, daß sie in Thorwalds Augen keine Angst sehen konnten. Der hinters-
te Jemand hatte Thorwald ungläubig angeblickt; er schien den Fleischerhaken vergessen zu
haben, der in seiner Hand baumelte. Die Gesichter der Jemande hatten sich verzerrt. Die Ge-
sichtswinkel wurden länger, die Nasen verschwanden nach innen, die Augen wurden größer,
das Oval ihrer Form verzog sich zu einem bananenförmigen Grinsen; ein entsetztes Pfeifen
röchelte aus ihren verformten Mündern.
Dann waren sie auf ihn losgestürzt. Er hatte darauf gewartet. Endlich. Endlich. Die
Allmacht durchströmte ihn. Die Lust, etwas zu zerfleischen, pulsierte durch seine Adern. Er
konzentrierte sich auf den vordersten Angreifer. Es war der Jemand mit dem Fleischerhaken.
Thorwald fing den herniedersausenden Arm ab, drehte sich, den Arm festhaltend, in Richtung
des Angreifers ein, schlüpfte geschickt an dessen Seite durch, zog nach hinten und bohrte ihm
den Fleischerhaken ins Bein. Dann flog er förmlich auf die übrigen Jemande zu. Seine Fäuste
trommelten, seine Beine flogen und zertrümmerten, was sie trafen. Nach wenigen Augenbli-
cken war es getan. Was für ein berauschendes Gefühl war das gewesen! Er hatte mehrere An-
greifer erledigt, im wahrsten Sinn des Wortes. Als er an sich herabgeblickt hatte, war er
mordsglücklich über das Blut, das an ihm herabfloss.
Das alles hatte nicht lange gedauert, vielleicht zwei Minuten, nicht länger. Und da la-
gen vier Jemande und rührten sich nicht. Im Traum, hurra, war alles möglich.
Gerade dieser Umstand beruhigte ihn jetzt, hier, in dieser Nacht der blinkenden, grü-
nen Lichter. Im Traum damals war er der Herr gewesen, der alleinige Herr. Und auch jetzt
träumte er, nichts und niemand konnte ihm hier etwas anhaben. Aber genau das war auch das
Problem: hier war auch nichts und niemand. Könnte man die Blinklichter verändern? Seine
irrlichternden Gedanken lösten sich auf wie Zigarettenrauch im Nebel.
Thorwald ging und ging. Jedesmal, wenn er eine Lichterreihe passierte, achtete er
sorgsam darauf, genau unter eines dieser pulsierenden Dinger hineinzutreten. Das mußte er
tun. Er mußte es tun, weil es richtig war, das fühlte er. Der strikten deontologischen Ethik fol-
gend, tat er es aus dem einzigen Grund, weil es richtig war. Die Lichter wiesen den Weg;
Wahrheit, Licht und Leben, dachte Thorwald. Manche Wahrheiten sind urplötzlich da, man
hinterfragt sie nicht. Wie klar und deutlich Thorwald jetzt erkannte, welchen Sinn das alles
hatte! Der Sinn liegt doch auf der Hand. Wie konnte er das nicht schon vorher sehen? Da war
der dunkle Raum, und er war im Raum und der Raum war um ihn. Alles, was um ihn war,
war Raum. Und er kam in den Raum, und der Raum nahm ihn auf. Alle aber, die der Raum
nicht aufnahm, mußten draußen bleiben, wo Heulen und Zähneknirschen war.
Thorwald fühlte die Erhabenheit seiner Worte, die Erhabenheit seiner hochtrabenden
Gedanken. Jetzt war er zur Wahrheit geworden, jetzt brauchte er das Schicksal nicht mehr,
jetzt – das ist die Stunde der Erleuchtung. Wenn es nur nicht so dunkel wäre, dachte er.
Am liebsten arbeitete Thorwald mit den Schülern der Oberstufe, ein Jahr vor dem Abi-
tur. Da glaubten nämlich schon einige an ihr angesammeltes Wissen. Und versuchten sich ar-
gumentativ gegen Thorwald zu behaupten, der freilich seine Positionen etwas abschwächte,
damit er seine Schüler nicht frustrierte. Dabei stellte es sich heraus, daß gerade die Mädchen
den Punkt schneller erkannten, schneller ins Zentrum der Frage fanden. Man kann mit Fug
und Recht behaupten, ihr Gerechtigkeitssinn ist ausgeprägter als der der Jungen. Jungen wa-
ren in diesem Alter eher weniger an philosophischen Fragen interessiert, und auch manches
Mädchen schmierte mit dem Finger lieber auf dem Smartphone oder in einer Schminkdose,
als sich Gedanken über die Bedeutung des Guten, Schönen oder Wahren zu machen. Aber wie
dem auch war, Thorwald liebte seinen Job als Philosophielehrer, und was kann es auch Schö-
neres geben, als mit unverstellten jungen Menschen über die letzten Wahrheiten nachzusin-
nen? Herr Professor? – Ja, Natalie? – Hannah Ahrend hat einmal gesagt: „Vergebung ist der
Schlüssel zum Handeln und zur Freiheit.“ Sie sind doch auch ein Philosoph, oder nicht? Wie
passt dies mit Nietzsche zusammen? Ah Frauen, dachte er. Sie machen die Höhen höher und
die Tiefen häufiger. Rasend ging ihm dieser Begriff durch den Geist: Vergebung. Und gleich-
zeitig strömte ihm der Antichrist Nietzsches mit seiner Vernichtungs- und Hasslogik durchs
Bewusstsein. Etwas schwach hatte er ihr geantwortet: Weißt Du, Nietzsche sagte: „Einer hat
immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. Einer kann sich nicht beweisen: aber
zweie kann man bereits nicht widerlegen.“ Denk mal darüber nach! Er hatte sie absichtlich ins
Zwielicht geschickt, das wusste er, aber er hatte längst zuviel aus Nietzsches Weingeist getrun-
ken, als daß er sich hätte bewusst werden können, was er da tat.
Er litt daran, daß er sich außer Stande sah, den jungen Menschen in dieser kurzen Zeit
auch wirklichkeitsstiftende Wahrheiten zu vermitteln. Da waren sie nun, die jungen Men-
schen, allesamt Opfer ihrer Zeit, Opfer der sozialen Atomisierung, Opfer ideologischer Ma-
rotten und felsenfest von ihren Freiheiten und Rechten überzeugt. Sie besaßen buchstäblich
alles, nur eines nicht: Recht und Freiheit. Und er hätte ihnen das alles so gerne gegeben. We-
nigstens Gedankenfreiheit hätte er ihnen vermitteln wollen, wußten sie doch nicht, daß sie
nur nachplapperten, was ihnen politischer Opportunismus und linke Kollegen ins Unterbe-
wußtsein programmierten. Thorwald wußte um seine eigene Gedankenfreiheit, aber er wußte
auch, er hatte sie nur solange, als er seine Gedanken für sich behielt, solange er sie wie ein
Hündchen an der Leine der Innerlichkeit führte und ihnen nicht erlaubte, laut zu werden, da-
mit sie nicht sofort von den Bessermenschen erschlagen würden. So hatten seine Schüler also
eine Menge von Freiheiten, nur von Freiheit keine Spur.
Doch jetzt, wo sich die Wahrheit vor ihm verborgen hatte? Im Griechischen heißt
Wahrheit bekanntlich „Aletheia“. Lethe, das ist der mythisch-mythologische Fluss der griechi-
schen Unterwelt. Lethe hieß Vergessen. Doch das A in Verbindung damit war das Unverbor-
gene, das der Vegessenheit Entrissene. Nur daß es sich jetzt nicht zeigen wollte, sondern me-
Der Traum (Verfasser unbekannt)
tertief in der Lethe zu schwimmen schien. Was war schon Wahrheit? „Was ist Wahrheit,
Pilatus?“ schrie er mit verzerrtem Grinsen. Er wischte sich die Spucke aus dem Mundwinkel.
Ich brauch kein Licht hier. So ist das. Licht und Leben hatte er in sich selbst, wenn auch nicht
gerade viel davon. Großmutter hatte die Wahrheit gekannt. Hatte sie behauptet. Der Chris-
tengott sei Mensch geworden und für die Menschheit gestorben. Was für ein Gott, der seinen
Sohn schlachten lässt. Und das ist die Wahrheit? Ruf ’ ihn an in der Not! Pah, den Teufel werd’
ich tun, solange auch noch der letzte Tropfen Blut in meinen öden Adern rauscht. Thorwald
war jetzt erneut wütend. Er fühlte das Thymotische in ihm hochsteigen wie ein unterseelisches
Donnergrollen, das sich durch die glühende Mundhöhle entladen wollte.
Laut Lehrplan hatte er einen panoptischen Blick auf die deutsche Literatur werfen sol-
len, aber Thorwald hatte keine Lust, sich mit den Blumen- und Käferpoeten der Biedermeier-
zeit zu beschäftigen. Lehrplanwidrig hatte er stattdessen Reclamhefte mit dem Titel „Der Wil-
le zur Macht“ ausgeteilt und seine Schüler zum Selbststudium angeleitet. Und als ich die
Sprache Nietzsches vernahm, da ward mir seltsam zumute; ich meinte nicht anders, als ob das
Herz recht angenehm verblute. Ja, sollten seine Schüler Bekanntschaft mit der grausamen
Wirklichkeit machen, sollten sehen, die Welt war Kriegsschauplatz und kein Erlebnisparcours!
Er wollte sie nicht schützen vor Erwachsenenpessimismus, sondern sie mit dem harten Realis-
mus bekanntmachen, der sie täglich umgab. Er lächelte böse.
Dann atmete er tief ein, als er die Stelle durchschritt, an der das Licht pulsierte. Aber
es geschah natürlich gar nichts. Leg dich nieder, Thorwald! Ja, genau, ich muss ja ausrasten.
Während dieser Zeit könnte ich die Lichter zählen. Er legte sich auf den Rücken. Er war so
lange gegangen, daß er den Unterschied zwischen Gehen und Liegen nicht mehr fühlte. Es
kam ihm so vor, als ginge er noch. Nach einigen Minuten kamen seine Beine zur Ruhe. Lang-
sam hob und senkte sich sein Brustkorb, während das Blut in seinen Ohren rauschte.
Nach einer Weile fing er an, zu singen, englisch, obwohl er die Sprache nicht sehr
mochte.
„From the bridge I see a lifetime,
being washed upon the shore
oh life, he said, there must be more …”
Er sang lauter, fing an zu rufen, zu schreien, während er wild um sich schlug und Gri-
massen zog, die niemand sah. Aufspringen und rennen. Und dabei schreien. Ha, das war gut:
er konnte ja nirgends anstoßen. Laufen, Augen zu und Augen auf, alles egal. Nichts konnte
ihm geschehen — und nichts geschah auch. Er atmete wieder tief ein. Roch es hier nicht nach
Moder? Nein, Moder war das nicht. Es roch nach Erbrochenem. Hier riecht’s nach Kotze! He,
du Superputze, was ist mit deiner Schicht? Putz weg, putz weg, du Putzschlampe! Er hätte
auch Nigger gesagt, denn Thorwald hatte keine Angst vor politischer Korrektur und linkslibe-
ralem Gutmenschenwischiwaschi. Er hatte von Anfang an die Teile-und-herrsche-Taktik der
Volksverblöder durchschaut, die nichts im Sinn hatten, als auf hohem Niveau die Herde zu
teilen, damit die nicht auf die Idee käme, es gäbe neben ihren Hirten auch noch Besitzer. Die
Hirten hüten, die Besitzer essen. Danke Nietzsche! Wärest du nicht gewesen, ich wäre rechts
oder links gelandet, wäre konservativ oder liberal geworden, mein Gott, wie peinlich allen
Wissenden, allen Eingeweihten! Nietzsche hatte das alles damals schon durchschaut, als er
sagte: Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht
aus seinem Munde: Ich, der Staat, bin das Volk. Nietzsche, der Prophet. Aber der Staat lügt in
allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, ge-
stohlen hat er’s. Falsch ist alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beißt er, der Bissige. Falsch
sind selbst seine Eingeweide. O dieser Ekel, der mich durchströmt! Wie lange muß ich noch
unter euch sein, ihr Hellsten und Allerdümmsten? Zu Zeiten war ihm, als sei er Nietzsches
Reinkarnation. Wenngleich ihm auch Kunst und Geist fehlte, so spürte er doch den unendli-
chen Haß des Seins in sich aufwallen.
Meine Sinne täuschen mich, dachte Thorwald. Wenn ich schnuppere, rieche ich ein
Putzmittel. Und wenn ich nochmals schnuppere, ist es weg. Dieser Scheiß-Traum, verdammt
nochmal. Wie hieß es: wer luzide träumt, kann bestimmen, wann er aufwachen will. Also auf-
wachen. Jetzt. Sofort.
Nichts. Es war so unendlich still hier. Ein Gedanke kroch in seinen Geist und flüsterte
ihm zu: du bist hinausgefallen in die endgültige Beziehungslosigkeit und Verlassenheit von al-
ler Gemeinschaft, du bist aus der Gnade gefallen, bist in der Versteinerung des ewigen Allein-
seins mit dir selbst, denn du hast dein Leben für dich selbst verbraucht, und jetzt bist du im –
nein! Nein, bitte nicht der! Bitte nicht hello darkness my old friend, bitte nicht, Gevatter Hein.
Entsetzt schüttelte er den Gedanken von sich ab, aber der war auf klebriger Straße in seinen
Geist gekrochen und wollte ihn nicht verlassen. Ist doch der Tod der Sold, den der Mensch
seiner Gottverweigerung zahlen mußte? Gevatter Hein nannte er ihn, den Sensenmann, als sei
er ein Verwandter. Bin ich wirklich tot? Wieso kann ich dann fühlen? wieso muß ich meinen
Schmerz so spüren? Ich bin nicht tot, denn Gott kann mich nicht verlassen. Unsicher faßte er
seine Fußfesseln und starrte ins Leere. Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub und zupft mich:
Brüderl, kumm! Da stell ich mich am Anfang taub und schau mich gar nicht um. Ich mach
ihm Umständ, dem Herrn Hein, ich hau den Hobel in sein’ Schädel rein und zertrümmere
ihn, so siehts aus!
Schließlich war er aufgestanden und wieder in einen langsamen Trott verfallen; Nie-
dergeschlagenheit und brennende Lungen begleiteten ihn. Bei aller Niedergeschlagenheit aber
dachte er sich trotzig: verzweifelt bin ich nicht. Die sollen mir nur kommen! Ich dreh’ ihnen
die Hälse um. Wer, die? Nein, verzweifelt bin ich nicht. Es gibt gar keinen Grund dazu! Wa-
rum ist das Aufwachen nur so schwer?
Thorwalds Füße stapften zum hundertsten Mal grünen Lichterketten entgegen und er
begann zu zweifeln, daß dies ein Traum sei. Wieder einmal. All dies glich ja nichts, das er zu-
vor erlebt hatte. Warum bereitete ihm dieser Zustand bloß keine Angst? Das war doch para-
dox. Er sinnierte hin und her, kam zu keiner Lösung. Vielleicht war es doch ein Traum, nur
kein Wachtraum eben? Konnte man nicht auch träumen, daß man träumt? Was sagte Freud:
jeder Traum ein versteckter Wunsch. Was für ein Trottel Freud doch gewesen war. Thorwald
schmunzelte. Was für ein Narr! Und seine Epigonen erst! Gesammelte Ausbünde, dachte er.
Lauter Idioten. Es lag Jahre zurück, daß er Freuds Traumdeutung gelesen hatte. Er hätte sei-
nen Traum wohl deuten können. Es war paradox: langsam bekam er Angst, weil ihm das alles
keine Angst bereitete. Aber warum sich über eine Sache den Kopf zerbrechen, die einen nicht
weiterbringt? Das ist kein zielorientiertes Denken, dachte er. Es ist mit meinem Kopf etwas
nicht in Ordnung: die ratio verschiebt sich ins Sinnliche. Aber das ergab alles keinen Sinn.
Wie war das eigentlich: was war „zuletzt”? Ich bin Single, dachte Thorwald. Ich bin einsfünf-
undsiebzig, gut gebaut, athletisch nach Ansicht seiner Turnlehrerkollegen, und weit davon
entfernt, unattraktiv zu sein, und als ehemaliger Landesmeister im Verteidigungssport fit ge-
Der Traum (Verfasser unbekannt)
nug. Ich bin mit mir zufrieden.
Thorwalds Leben war im Grunde einfach. Er trank nicht und rauchte nicht. Neben sei-
nem Karatetraining machte er manchmal Ausflüge in die Berge. Gelegentlich leistete er sich
ein Mädchen. Er betrachtete sich als Gentleman. Er war keiner von denen, die Samstags spät
nachts einem Mädchen nachstellen. Oh, nein, so etwas hatte er nicht nötig. Die Mädchen ka-
men zu ihm, fielen ihm quasi in die Arme. Er war einfach da. Leistete sich ein Mädchen heißt
nicht, er suchte den käuflichen Sex. Nein, das war ihm zu billig, das wäre der Kauf einer
Dienstleistung, einer Ware. Thorwald wollte immer mehr als das, Sex ohne Erotik ist wie Es-
sen ohne Geschmack, geschmacklos eben. Leistete heißt, sich worauf einzulassen, was Unge-
plantes sozusagen. So wie Carina damals. Die hatte ihn glatt angebaggert in Tom’s Bar. Klar
hatte er sie mit nach Hause genommen. Er konnte sie ja nicht einfach da lassen; angetrunken,
wie sie war. Ein Samariter bin ich. Wer weiß, wer sonst sie nach hause gebracht und was ange-
stellt hätte mit ihr. Blondgelocktes Haar auf den Schultern, ihr Lächeln aus braunen Augen
und roten Lippen kess, unschuldig und neugierig. Oh, wie war sie warm und weich gewesen –
und auch sie duftend nach Jasmin. Ich lasse mir viel Zeit mit ihr. Ein Liedvers fiel ihm ein:

Und es summt mir ins Ohr die Tanzmusik:


„die schönste der Stunden kehrt nimmer zurück,
Dein ganzes Leben war nur ein Traum,
und diese Stunde ein Traum im Traum.”

Sie hatte es so genossen. Hatte sich gestreckt, die Arme nach oben gereckt, ein verhei-
ßendes Lächeln auf den Lippen, als Thorwald ihr das T-Shirt unerhört langsam nach oben
rollte. Ihr Rausch war noch nicht verflogen, das war zu sehen, und Thorwald wollte keinen
kampflosen Sieg. Er hatte ihr Verlangen bremsen wollen, aber sie hatte sich ihm entgegenge-
presst, ließ seiner Kavaliersabsicht keine Chance, wollte schnell mehr. Er genoss das Vibrieren
ihres Körpers, das Zittern ihrer Hüften. Als ihr Atem schwerer wurde, hatte er sich noch ge-
dacht: was bin ich für ein Liebhaber. Zittern soll sie doch, ja, zittere, du meine Kleine!
Thorwald unterrichtete fast nur die Oberstufe. Mit Kindern konnte und wollte er
nicht, und bei der Stundenplaneinteilung am Beginn des Schuljahres ließ er alle Register sei-
ner Rhetorik und hintergründigen Überredungskunst spielen. Wie gut, daß der Administrator
seiner Schule in seiner Schuld stand, denn Thorwald war der einzige, der zufällig mitbekom-
men hatte, daß Mag. Niele einen gewissen Hang zu Minderjährigen nicht gänzlich unterdrü-
cken konnte. Als Kustos war er eines Nachmittags an der Schule vorbeigegangen und hatte
Nieles Auto im Hinterwinkel erblickt. Daß der Administrator in den Ferien arbeitete, war
nicht ungewöhnlich, aber es war Anfang August, also mitten in den Ferien, und da dachte sich
Thorwald, ich geh auf einen Espresso rein und fühle für das kommende Schuljahr vor. Er war
den langen Gang entlanggeschlurft und genoß die Kühle des alten Gebäudes. An den beleuch-
teten Vitrinen mit Schlangen, Käfern und Spinnen vorbei steuerte er auf Nieles Tür zu, öffnete
sie und sah den langen Niele ekstatisch in seinem Drehstuhl sitzen. Auf ihm saß eine Siebt-
klässlerin im Minirock, eine seiner eigenen klugen Schülerinnen, Natalie, die erotische Philo-
sophin, unfassbar. Nicht, daß Thorwald ihr Reiz je entgangen wäre! Aber was einem die Ge-
danken in Sekundenschnelle nahelegen, verweigert man innerlich kopfschüttelnd seiner
Biographie. Selbstverständlich.
Die ganze Szene erstarrte im Nu: Jeder starrte erschrocken, dann wurde geräuspert
und zurechtgerückt. Thorwald hatte sich am Absatz umgedreht und war davon. Er war nicht
weit gekommen, da hörte er Niele ihm hinterherhasten. Thorwald! Thorwald, bleib stehen, ich
kann das erklären! Klar, Niele, klar kannst du, dachte Thorwald, „es ist nicht wie du denkst“,
vervollständigte er das Klischee. Er wußte andererseits: das war seine Chance. Wenn er jetzt
die Klappe hielt und die Sache nicht anzeigte, stünde Niele auf Jahre hinaus in seiner Schuld.
Er drehte sich zögerlich um. Nieles Tomatengesicht glühte. „Ich weiß, ich weiß, aber sie ist
quasi meine Nachbarin, verstehst du?“ Als ob das irgend einen Unterschied gemacht hätte.
„Was das bedeutet, brauch ich dir nicht zu sagen. Du schickst das Mädchen nach Hause und
ich habe nichts gesehen. Wir haben Ärger genug hier. Und mach deinen Hosenstall ordentlich
zu.“ „Was wolltest du eigentlich hier? Arbeiten doch sicher nicht, oder?“ „Nein, ich wollte ei-
nen Kaffee mit dir trinken, weil ich dein Auto gesehen hab. Aber ich denke, das ist jetzt gerade
keine gute Idee. Und ich wollte was wegen dem Stundenplan –“ „Thorwald ––– verlaß dich auf
mich!“ Er drehte sich um und zeigte ihm Daumen nach oben. Dann war er weg. Die adminis-
trierte Alternativlosigkeit des Stundenplans und ein vermurkstes Jahr mit Viertklässlern lie-
ßen die Direktorin zu dem Schluß gelangen: Am besten, er unterrichtet überhaupt nur mehr
in der Oberstufe.
Den Geruch der Pubertierenden konnte er gar nicht ausstehen. Unreife Pheromone,
vermischt mit Schweiß vom Vortag, pfui Teufel. Ab der sechsten und siebten Klassen war das
anders, zumindest bei den meisten Mädchen. Sie schminkten sich und rochen gut. Billigpar-
fum zwar, klar, wer hatte schon genug Geld für Atkinson, Chanel oder Yves Saint Laurent?
Nein, wie kindisch Niele doch war. Er selber sah in den Mädchen niemals Beute; dazu war
ihm ihr jugendliches Gehabe zu kindisch, die infantilen Einsichten seiner jungen Kollegen zu
manchen Mädchen in den beiden letzten Klassen widerten ihn geradezu an. Vielleicht des-
halb, weil er selbst sich nicht eingestehen wollte, daß er die Häschen biologisch zwar anzie-
hend empfand, sich aber lieber die Zunge abgebissen hätte, als es anderen auf die Nase zu bin-
den. Süß fand er diese Maus und jenes Häschen, achtete aber sorgsam darauf, präerotischen
Sympathien keinen Einfluss auf die Benotung zu erlauben, denn Integrität war für ihn unver-
zichtbarer Bestandteil seiner Didaktik. Die Sache mit Niele hätte ordentlich schiefgehen kön-
nen. Er wußte, daß er es hätte anzeigen müssen. Und noch dazu in dieser Zeit!
Freilich: Die Jugendlichen verhalten sich einem Lehrer gegenüber ganz anders als die
Schüler der unteren Stufen. Sie hängen an meinen Lippen, wenn ich spreche. Weil die Biester
im Grunde ja genau wissen, was auf sie zukommt. Die Reifediplomprüfung: Es geht ums Gan-
ze, und wehe denen, die ihre Lehrer jetzt noch verärgern – deren Teil wird sein bei den Heu-
lern und Zähneknirschern, dachte sich Thorwald, der Machthaber über die Noten. Gerade
jetzt, wo es immer schwerer wird, bei beliebten Studiengängen einen Platz zu bekommen.
Entweder man hatte die Noten, oder man unterzog sich der Nachprüfung, seit einiger Zeit
Kompensationsprüfung geheißen, damit es kompetenter klingt. Die aber fürchtete man, nicht
weil sie so schwer war, sondern weil die Uni meist davon erfuhr, die Sache dann aber zuweilen
ein Nachspiel hatte: Wenn man Pech hatte, kommt ein Professor auf den Lapsus zu sprechen,
und dann hat man mit blöden Bemerkungen zu tun.
Vor einigen Jahren hatte sich einer von Thorwalds Lieblingsschülern erhängt. Nicht
wegen einer Prüfung, nein. Intelligent war er und voller Esprit, voll sprühender Einfälle, dabei
Der Traum (Verfasser unbekannt)
so wenig tauglich für das wirkliche Leben. Aber es erwischt allzu oft diejenigen: untauglich zu
Lug und Trug, daher unfähig zum Politiker und Verkäufer, auch untauglich zu stumpfsinni-
gen Arbeiten, daher unfähig, ein Handwerk zu erlernen und saures Geld zu verdienen. An-
statt dessen die Seele eines Künstlers, ohne jedoch von den Musen geküsst worden zu sein. Es
hatte Thorwald schwer gekränkt, daß Linus sich erhängt hatte, ohne doch ihn, seinen Lehrer,
ins Vertrauen zu ziehen. Wo Linus doch genau gewusst hatte, daß Thorwald immer ein offe-
nes Ohr für ihn gehabt hätte. Alles nur vier Monate nach dem Abitur. Ein Scheiß-Leben. Er
hatte Linus zu dessen 17. Geburtstag Nietzsches Zarathustra geschenkt. 17 ist ein gutes Alter,
um mit Nietzsche anzufangen, hatte er damals gedacht. Auf die Idee, ihm damit einen Bären-
dienst erwiesen zu haben, kam er damals nicht. Großmutter war plötzlich wieder da. In sei-
nem Kopf. Ruf ’ ihn an in der Not! Großmutter, bitte laß gut sein. Laß mich in Ruhe mit dieser
Decadence-Religion, in die viele, allzuviele ihre philosophischen Halbwahrheiten hineingelo-
gen haben und jetzt als große Dogmen präsentieren. Die großen Erzählungen, das ist es doch
alles nicht, und wenn eine neuheidnische Welt, die an ein Leben nach dem Tode nicht mehr
glaubt, es davor suchen muss, dann war Thorwald gewiss der Letzte, der sie daran hinderte.
Die Verzweiflung hatte ihn ins Jenseits getrieben, den klugen Kerl, der wohl ebenso
viel Freude an Nietzsche hatte wie er selbst sie damals gehabt hatte. Am Ende war er der Hirte
der Schlange gewesen, die im Schlaf in seinen Mund gekrochen war. Er sollte ihr den Kopf ab-
beißen, um so als Verwandelter und Umleuchteter lachen zu können. Auf einem karierten
Zettel, schlampig aus einem Heft gerissen, standen tränenumflort und verschwommen die
Worte: Dich rufe ich, meinen abgründlichsten Gedanken! Krumm ist der Pfad der Ewigkeit! Ach,
der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder! – Das ist mein Überdruß
an allem Dasein! Ach, Ekel! Ekel! Ekel!“ Man hatte freilich sofort erkannt, dies waren Fetzen
aus dem Buche Zarathustra, und einhellig hatte man auch gefunden, ein junger Mensch soll
sich nicht mit diesem Buche beschäftigen. Was man nicht wußte, nicht einmal unter Kollegen,
war, daß Linus seine Ausgabe just von Thorwald bekommen hatte. Es ging Thorwald innerlich
wie jedem, der über schwere Dinge nachdenkt, er war unversehens auf einen Menschen getre-
ten. Und der war jetzt nicht mehr. Und Thorwald war Schuld daran. Er liebte den, der freien
Geistes und freien Herzens ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz
aber trieb ihn in den Untergang.
Thorwalds Gedanken schwenkten weiter wie die Scheinwerfer eines Gefängnisturmes
auf der Suche nach einem entflohenen Häftling. Das zittrige Licht suchte am Boden seiner Er-
innerungen nach dem Ausreißer. Er dachte an Katharina, seine Nachbarin. Sie war Ende drei-
ßig und hatte schon hie und da ein graues Haar in ihrer struwweligen Frisur. Wenn sie auf ei-
nen Sprung zu ihm hereinschaute, und das war nicht allzu oft, dann hieß das: Kerzenlicht,
jede Menge Tee und ein ordentlicher Joint. So saß sie in Thorwalds barockem Fauteuil, vertieft
in die Seligkeit einer Tüte Marihuana. Kein Dreck von der Straße, versteht sich, sondern reins-
tes und bestes Marihuana vom Rif-Gebirge in Marokko. Katharina unterrichtete Kunst an ei-
ner Hochschule und veranstaltete nebenher Vernissagen. Dabei lernt man die richtigen Leute
kennen, sagte sie. Lauter Verrückte: skandalbereit, vernichtungslustig und kultsehnsüchtig
stelzen sie um die Schmierereien der Postmoderne, dabei gelangweilt vom Leben und vom
Geldausgeben. Man kriegte von diesen Leuten immer, was man wollte. Verramschte Seelen,
alle miteinander, psychopathologische Existenzen. Aber voller Geld eben. Katharina war Spe-
zialistin, das Geld aus anderer Leute Tasche zu ziehen; sie könne einem Trottel mit Geld eine
selbstangefertigte Schweineblutschmiererei für einen „echten Nitsch” andrehen. Was sollte der
Geprellte schon machen? Den Schweineblutaktionisten fragen, ob die Sauerei von ihm sei?
Aber privat war Katharina ganz anders; sie war angeekelt von den seelischen Trümmerhaufen,
die sich auf ihren Kunsteröffnungen regelmäßig ihr Stelldichein gaben. Wenn sie Zeit hatte,
dann immer spontan. Sie läutete an und fragte, ob er Zeit hätte, Thorwald. Oder ob er gerade
am Sprung sei. Immer dieselbe Frage. Auf welchem Sprung sollte er schon sein, Thorwald?
Thorwald hatte immer Zeit für Katharina. Und während er seine Junggesellenwohnung in ei-
nen Zustand versetzte, der es einer Dame erlaubt, darin zu anzuwesen, hatte sie immer schon
eine Tüte fertig gedreht. Alles war so herrlich ungezwungen.
Der erste Zug hatte freilich immer ihr selbst gebührt. Krebserregend tief hatte sie an
der Tüte gesaugt. Erst wenn der Hanfharzdampf das Zimmer in die diffuse Atmosphäre der
späten Sechziger verwandelt hatte, die jeden Feuermelder wie am Spieß hätte schreien lassen,
hatten sie zu philosophieren begonnen. Ganz gleich, ob es sich um Frauenfragen, um franzö-
sischen Existenzialismus oder um den ontologischen Gottesbeweis gedreht hatte: die Tüte
Harz sorgte dafür, daß die Sätze und Ideen aus ihr herausquollen wie Wasser aus einer Ge-
birgsquelle. Thorwald war immer erstaunt gewesen, wie gebildet Katharina war. Sie las
Tucholsky, Thomas Mann und Günter Grass auf dem Klo, so währenddessen, du weißt schon,
hatte sie gesagt, und danach hatte sie einen Lachanfall bekommen mit ihrer rauchigen Alt-
stimme. Sie las Cioran gegen ihre Abendmelancholie, wie sie sagte. Nein, es war immer köst-
lich, sie zu Besuch zu haben. Kokain verabscheute sie, zur anfänglichen Verwunderung Thor-
walds, da doch bekannt war, daß man im Vergleich zum nüchternen Zustand mit Koks etwa
zehn- bis zwölfmal so viele Ideen haben kann und diese auch in der selben Zeit wie sonst nur
eine aussprechen kann. Später hatte sie ihm dann von den Künstlern erzählt. Als Ausstellerin
sah sie auch hinter die pittoresken Kulissen ihrer Vernissagen. Und was sie dort sah, all die
„Tage danach“, all die Depressionen, die Selbstvorwürfe und die grauenvoll-episodische Sucht
einiger selbsternannter Redekünstler ließ sie davor zurückschrecken, selbst einmal zu ziehen.
Erwin Schumel, der bekannte Ikonograph aus dem Süden Österreichs, war seit einiger Zeit
davon überzeugt, daß sich unter seiner Haut Käfer eingenistet haben. Er hatte sich mit einer
Rasierklinge den Unterarm vom Handgelenk aufwärts bis zur Ellenbeuge aufgeschnitten und
immer geschrieen: Ich widersage dem Bösen. Widerlich. Das hatte ihr gereicht, um den
rauschwinterlichen Schnee zu meiden. Daß Koks eine solche Wirkung haben sollte, das be-
zweifelte Thorwald, aber wer weiß schon, was Bohemiens á la Schumel sonst so konsumieren?
Einmal hatte er sie gefragt, ob sie auch glaube, daß man auf Kokain besser und länger
könne. Das wollte er ganz genau wissen, aber er hatte sich nie getraut, Katharina direkt zu fra-
gen. Also tat er es, als sie schon eine gehörige Menge geraucht hatten. Sie hatte einen Lachan-
fall bekommen und ihm erklärt, daß dazu schon eine gewisse Grundhaltung vonnöten sei.
Kokain, so hatte sie gesagt, sei ein Aphrodisiakum für genau die Klientel, die auch im nüchter-
nen Zustand an nichts anderes denkt als ans Kopulieren, haha. Dabei hatte sie versucht, ernst
dreinzuschauen, was einen Lachanfall bei Thorwald ausgelöst hatte. Na gut, hatte er sich ge-
dacht, dann eben nicht Kokain. Ist vielleicht besser so.
Seine Gedanken schweiften erneut. Neben Philosophie unterrichtete er das Fach
Deutsch, und hier speziell litt er unter dem Lehrplan, der vorsah, den Pubertierenden die Li-
teratur des 20. Jahrhunderts näherzubringen. Literarisch hasste er dieses Jahrhundert, fühlte
sich in seinem glühenden Zorn auf die literarische Vernichtung aller Träume nach dem 2.
Weltkrieg beinahe wohl in seinem Hass. Man könnte ihn füglich als Akrobat des Ressenti-
ments bezeichnen. Er wusste wohl um die Wichtigkeit der Vielschichtigkeit, doch als er sich
während seiner Studienzeit mit dem Expressionismus auseinandersetzen mußte, begann in
Der Traum (Verfasser unbekannt)
ihm der Abscheu gegen die Literatur des vergangenen Jahrhunderts zu wuchern. Es war
falsch, es ist falsch, guten Stil mit schlechten Inhalten zu kombinieren. So etwas hätte er einem
Montaigne, vielleicht sogar noch einem Rabelais zugestanden, nicht aber den ressentimentge-
ladenen Kulturbeschmutzern, die man gemeinhin die illustre Runde der Schriftsteller des 20.
Jahrhunderts nennt.
Thorwald hätte für die vermanschte Buchstabenkacke der Günter Grass, Martin Wal-
ser, Gerhard Szczesny nicht einmal auf seinem Klo Platz gehabt. Er hatte keinen Hehl vor sei-
nem Hass gemacht. Aber Katharina hatte nur gelacht. Du mußt das vielleicht nicht mögen,
aber in meiner Welt mußt du es zumindest kennen. Was hier unter der Literaturdiktatur die-
ser Säulenheiligen der deutschen Kultura produziert worden ist, gehört der Unterwelt und de-
ren Protagonisten an, davon war er überzeugt. Und obschon Thorwald in seiner Demoliertä-
tigkeit an literarischen Denkmälern alles andere als ein guter Christ war und somit gut
eingestellt für den deutschen Literaturbetrieb: hier blieb er sich selbst noch treu, hier bewahr-
te er Anstand, hier bedeuteten ihm noch Sittlichkeit, Form und Ehrlichkeit zu viel, als daß er
seine Zeit mit derlei Schmutzfinkerei vertun wollte. Wortverbunden blieb er den Gestalten,
gegen die er sich des Geistes wehrte – schon der abscheuliche Brecht-Kult erregte in ihm
Brechreiz. Was für ein Schwätzer! Ausgemergelte Altweiberlippen unter kalten, seelenlosen
Augen. Wahrlich, dachte er, du deutsches Volk hast wieder einmal nicht verstanden, was du
meiden sollst. Wem rührt sich nicht in tiefster Seele der Urabscheu vor dem Banalen, das die-
ser schleimige Theaterschmierer in bühnenwirksamer Rührseligkeit zu sozialen Anklagen
ausgewalzt hat? Und man findet noch immer Gefallen daran. Thorwald schüttelte sich bei
dem Gedanken. Es war ihm egal, daß ihm seine Kollegen seinen Abscheu vor Brecht mit dem
Mikromaß anmaßen und ankreideten. Thorwald war zu sensibel, zu gesund, zu wenig kaputt
an Anstand und Moral, als daß er die Selbstbesudelung gutheißen konnte, die soviel Anlass zu
großem Lob unter den Literaturkritikern anrichtete. Hier offenbart sich eben der ganze Ab-
grund deutschsprachiger Boden- und Seelenlosigkeit; erst das Kaputte, Dreckige, Nieder-
trächtige, das ganze Miasma der Literatur steigert bekanntlich die Verkaufszahlen.
Obschon er Nietzsche verehrte, wollte er die Umwertung der Werte nicht auf die Art
und Weise verstanden wissen. Dabei haben die deutschen Gegenwartsschriftsteller ganz
haarklein das getan: die Werte umgewertet, niedergebrochen, umgedreht. Thorwald wusste
das wohl, aber hier war er nicht konsequent genug zu fragen, ob nicht sein Liebling Nietzsche
selbst auch ein wenig Schuld haben konnte an dem Giftsumach, der aus den Tinten der Jetzt-
zeitschreiber spritzte. Hat der Naumburger nicht indirekt die Literatur aufgefordert, zur Zote
zu werden? Gut, Nietzsche war schizophren genug, gleichzeitig zu fordern und zu verdam-
men. Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das dritte Ohr hat, nicht
wahr? Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne
Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein „Buch“ genannt wird! Das sind
wahre Klänge Nietzsches, noch ganz frei von der Forderung nach der Umwertung. Hat sich
Nietzsche nicht in den letzten zehn Jahren seines Lebens auch selbst besudelt, hat er sich nicht
mit dem eigenen Kot und Urin eingeschmiert? Thorwald stiegen die Tränen jenes Mitleids in
die Augen, welches Nietzsche so gehaßt hatte. Der Unterschied ist nur: der heutige Leser ist
nicht wahnsinnig und besudelt sich dennoch mit dem Kot und Urin seiner Landsleute, die
von den Kritikern als „Autoren“ hochgelobt werden. Thorwald war überzeugt: hätte man
Nietzsche zum Zeitpunkt seiner Akme mit einem Stück deutscher Nachkriegsliteratur be-
straft – er wäre schon mit fünfunddreißig wahnsinnig geworden.
Dieser glühende Hass auf deutsche Literatur hatte bei Thorwald freilich seine Ursa-
chen. Im Deutschunterricht der Neunziger wurden eben Stücke aus der Kaputtoliteratur ana-
lysiert, und da seine Lehrerin ein Faible für das 20. Jh. hatte (wer kann’s ihr verdenken?), be-
gann sie, die viel zu jungen Schüler am Lehrplan vorbei mit den Dadaisten zu martern. Von
da an gings dann los zur Gruppe 47, von der Thorwald erst erlöst ward, als er diese Schule
verließ. Jedes Jahr zu Beginn eine Kompensationsprüfung, jedes Jahr der Ärger mit den El-
tern, jedes Jahr die Hänselei, jedes Jahr die Lektüre der verhassten Texte, es war, als hätte man
ihn jahrelang mit Haferbrei gefüttert, so daß allein der Klang des Begriffs ihn aggressiv ge-
macht hätte. Das und das allein war der Grund für den sinn- und bodenlosen Hass auf die
Autoren der Gruppe, denn auf die Idee, daß die Inhalte sekundär waren und er hätte bloß
dem Klang der Stimme lauschen müsse, war er damals freilich nicht gekommen, da er alles an
Nietzsche maß.
Thorwald selbst hatte nie versucht, zu schreiben. Vielleicht hätte er es tun sollen, viel-
leicht hätte er seine Gedanken herausschreien sollen, vielleicht wäre ein Körnchen Sand ganz
gut gewesen in die Augen derer, die jegliche Kritik an ihren Idolen als Lästerung bezeichne-
ten. Sie wälzen sich im Schmalz ihrer Medienpräsenz und drücken und furzen ihre qualifi-
zierten Abortmeinungen über alles, was ihnen nicht in den Kram passt. Wie indigniert er war,
als er erkennen mußte, wie er jedesmal in der Unterzahl war, wenn es um dieses Thema ging.
Aber Thorwald hatte sich in Rage gedacht, sein brodelnder Hass verbrühte seinen
Geist. Allein schon der Danziger Trilogie-Schmierer: wie man so viel Schlechtes in ein Buch
hineinschreiben kann, war ihm seit jeher ein Rätsel geblieben. Nach hundert Seiten Blech-
trommel kam ihm der Brechreiz. Aber aufs Klo passt er. Dort gehört er zu den ganz großen
Kulturgewalten, wie Nietzsche gesagt hätte. Am Klo könne man ihn lesen; auch hätte er den
Vorteil, daß man die Seiten seiner Bücher nach der Lektüre alternativer Verwendung zuführen
kann. Man hat schon gehört, daß Ratten den Kanal bis in den x-ten Stock hochklettern und
defäkierende Menschen fürchterlich erschrecken können – so hätten sie auf dem Wege in die
oberen Stockwerke große, deutsche Literatur vor sich.
Katharina wollte ihren Danziger eben auch dort nicht missen. Oh Danzig, welch Genie
hast du dagegen im Jahre 1788 hervorgebracht! Was für ein Glück, was für ein seltenes Ge-
schenk du der Menschheit an jenem 22. Februar doch gemacht hast! Welche Katharsis für die
deutsche Sprache und für deutsche Gedanken! Aber ach, es kam ja, wie es kommen mußte:
man hat Schopenhauer seit eh und je totgeschwiegen, diesen Liebhaber und Verehrer der
Wahrheit, den man auch dort noch lieben und schätzen muss, wo er gemeint hat, in seiner
seltsamen, indischen Philosophie die letzte Wahrheit entdeckt zu haben.
Thorwald lächelte unverwandt, als er sich Katharina vorstellte: Oskar Matzeraths ent-
glasendes Gekreische, während sie sich eine Stange Lehm aus dem Kreuz leierte.
Thorwald meinte, die deutsche Literatur des 20. Jhts. habe nur wenig Großes zu bieten.
Thorwald, der Literaturdilettant. Thorwald, der Außenseiter, Thorwald, der Gotteslästerer. Ka-
tharina nahm es ihm nicht krumm. „Du hast Grass oder Brecht gelästert? Ihre Barden werden
dich züchtigen, du getünchte Wand!“ So hatte sie im Scherz gesprochen, als er sie mit seiner
Privatmeinung konfrontiert hatte. Nein, Katharina war nicht verstimmt gewesen. Aber er
spürte eine gewisse Grenze, die er nicht übertreten durfte. Und schließlich war sie es, die das
Zeug zum Rauchen mitbrachte. Er hätte sich vor Angst in die Hosen gemacht, einen Dealer zu
kontaktieren und nach dem Zeug auch nur zu fragen.
Der Traum (Verfasser unbekannt)
Auch in seinen privaten Aufzeichnungen wetzte er seine Zähne über jedes, das er nicht
verstand, da biss und riss er, da pinkelte er Leuten ans Bein, die himmelhoch über ihm stan-
den, einfach, weil er sich insgeheim wünschte, ein Stilist zu sein, was kein Wunder war für ei-
nen Nietzschejünger. Und manchmal hatte er schon daran gedacht, seine Aufzeichnungen he-
rauszugeben, die man nun wirklich wenigstens als Geschreibsel bezeichnen könnte. Wir
dürfen wahrscheinlich froh sein, daß er darauf verzichtet hat.
Obschon seine Selbsteinschätzung den Wahrheitswert eines Zeitungsartikels hatte,
freute er sich seiner Selbstzufriedenheit. Letzten Donnerstag war’s, als er diesen unglaublichen
Durchfall gehabt hatte. Beinahe glaubte er an eine allergische Reaktion auf das Stück Geburts-
tagstorte, das er mit einem Gläschen Sekt genossen hatte. Martina, seine Kollegin aus der Ne-
benklasse, hatte die Torte angeblich selbstgekauft; überraschenderweise schmeckte sie nicht
nach Pappe und diversen E-Nummern. Vielleicht falsche Bescheidenheit, hatte sich Thorwald
gedacht. Aber kurz vor Unterrichtsende hatte er dann regen Verkehr in seinem Untergeschoß
gefühlt, hatte gemerkt, daß der Unterricht für ihn etwas früher als gewöhnlich zu Ende sein
mußte; mit Mühe und viel Not hatte er im Stillen und Geheimen seiner Beckenboden- und
Schließmuskulatur das Größte abverlangt. Als er sich entschuldigte, das Referat über Nietz-
sche – wieder einmal Nietzsche – kurz unterbrechen zu müssen, um einen dringenden Anruf
tätigen zu können, war es höchste Zeit gewesen, diesen „Anruf “ umgehend zu tätigen.
Katharina hatte herzlich gelacht, als er ihr von seiner Indisposition erzählt hatte. Thor-
wald war traurig, daß Katharina jetzt nicht da war. Sie hätte ihm helfen können, da war er si-
cher. Sie wusste immer, was zu tun war. Wenn man wissen wollte, wie man sich das Leben er-
leichtert – Kathis Repertoire an nützlichem Haushalts- und Lebenserleichterungswissen war
phänomenal. „Lifehacks“ nennt man das ein wenig unschön unter Jugendlichen. So fand sie
beispielsweise heraus: Wenn man Zitronen vor dem Auspressen mit dem Handballen am
Tisch rollt, geben sie mehr Saft. Thorwald mußte herzlich lachen über ihre mechanisch-alchi-
mistische Entdeckung. Bis er es dann ausprobierte und überrascht feststellte, daß sie recht hat-
te, wieder einmal. Wahrscheinlich hatte sie sich das von chinesischen YouTuberinnen abge-
schaut, jede Chinesin Klassenbeste im Klavierspielen, in der Mathematik, beim Sport, beim
Kochunterricht und im Schwimmen. Acht Stunden Training pro Tag, für jedes Fach, versteht
sich.
„Und du hast kein einziges Mal gekokst?“
„Nein. Auf einer Kokserparty fühlte ich mich so fehl am Platz wie ein Saunagast bei ei-
nem Staatsempfang. Jedes Mal, wenn ich versuchte zu sprechen, wussten die andern immer
schon, was ich sagen wollte. Das war gar nicht komisch. Jeder Kokser hält sein Geschwätz für
pulitzerpreisverdächtig. Und dazu das larmoyante Geseiere ihrer Partner, die den Stoff nicht
anrühren, nein danke.
„Ist klar. Ich frage mich, was die Rapper wohl ohne den Stoff machen würden? Die ge-
samte Rap-Lyrik ist ja das Ergebnis ausgiebiger Kokserei.“
„Ja, wenn Schillers Zeitgenossen Koks genommen hätten, wir wüssten heute nicht,
welchen Dichter wir lesen müssten. Glaube niemand, der Koks nimmt. Er würde niemals die
Wahrheit sagen. Das gehört mit zur Droge. Am schlimmsten ist es bei Anwälten. Die nehmen
den Stoff nicht etwa deshalb, daß sie ihre Mandanten eloquenter verteidigen können. Das ist
nur im Film so. Die schnupfen ihn, um ihre eigenen Lügen zu ertragen.“
Thorwald hatte ihr geglaubt. Hatte ihr immer geglaubt. Überhaupt beschränkten sich
seine Kontakte in letzter Zeit abgesehen vom geplanten Wochenende an der Isar ganz auf die
Besuche Katharinas, was vor einiger Zeit noch anders gewesen war. Noch vor einem halben
Jahr war er gelegentlich bei den Kollegenabenden anwesend. Aber mit der Zeit fragte er sich
immer öfter, weshalb er dort hin ging. Man beachtete ihn auch nicht mehr so wie früher. Und
wennschon. Jeder Lehrer kennt doch diese sporadischen Treffen unter seinesgleichen: entwe-
der geht es um Interna oder um Fußball, diesen primitiven Nachfolger der römischen Gladia-
torenspiele. Das hatte Thorwald nicht lange ausgehalten. Die schmierige Heuchelei, die ekel-
haften Versuche: wer dringt weiter hinein in den Allerwertesten des Direktors? Thorwald war
zuletzt immer „krank“ gewesen, wenn es ein solches Treffen gab. Er scherte sich einen Dreck
darum, was die anderen von ihm hielten. Sogar als ihm Hugo Kurtz, der stellvertretende
Oberstudienrat vom Dienst, persönlich eingeladen hatte, täuschte er echt weiblich eine hand-
feste Migräne vor. Er war gut genug in seinem Beruf, als daß er hätte befürchten müssen, raus-
gemobbt zu werden. Katharina nahm in, wie er war. Des Menschen Seele lechzt nach Aner-
kennung, und Katharina bewunderte ihn, weil er, wie sie sagte, der einzige Mensch sei, der
noch mehr las als sie selbst.
Katharina war übrigens kein einfacher Mensch. Sie flog mit achtzehn von der Schule,
nachdem sie zwei Lehrer angezeigt hatte, die sie auf einer Abschlussparty in der Gartenlaube
hinter dem Schulgebäude angeblich mißbraucht hatten. Die Sache kam aber nicht vor Gericht,
da ihre Eltern es für besser hielten, wenn die Sache nicht ans Licht komme. Sie holte das letzte
Jahr in Hannover nach und begann dann ein Studium der Psychologie, das sie fünf Jahre spä-
ter summa cum laude abschloss. Danach arbeitete sie eine Zeitlang in einem Frauenhaus, viel-
leicht, um ihr Trauma zu verarbeiten. Weil sie in jedem Mann einen potentiellen Vergewalti-
ger gesehen hatte, besonders aber, weil sie dem Chef höchstpersönlich eine höchst
unschmeichelhafte Bemerkung über seine Nase an den Kopf geworfen hatte, flog sie auch dort
raus. Die Freundschaft zu Thorwald war ganz ohne den Makel des Sexuellen – ein Umstand,
den sie offensichtlich genoss, denn Thorwald nahm auch sie so, wie sie war. Es war alles in al-
lem eine erfrischende Beziehung, und beinahe hätte sich Thorwald mehr gewünscht als das,
aber er wusste, daß dann alles zu Ende gewesen wäre, denn Katharinas Männerwelt existierte
nicht, und sie hatte ihm das unmissverständlich klargemacht.
Und jetzt? Wo war das alles geblieben hier in dieser Dunkelheit? In Thorwalds Seele
begann es zu brennen. Lass das nicht zu, schrie er sich selbst an. Das kannte er schon. Das
kam immer in ausweglosen Situationen. Er streckte die Zunge heraus und machte ein Ge-
räusch des Abscheus. Über dieses Chaos von Dreck und Rätsel einen erlösenden Himmel stül-
pen. Ja, deshalb werden Philosophien und Romane erschwitzt, Bilder geschmiert, Plastiken
gebosselt, Symphonien hervorgeächzt und Religionen erdacht. Genau so fühlte er sich jetzt:
verloren, verlassen und verzweifelt. Und doch auch nicht verzweifelt. Denn der Traum mußte
einmal enden, und zwar bald. Vielleicht war dies eine Möglichkeit, das Leben auf die Seinsfra-
ge hin abzuklopfen. Verdammt, jetzt werd’ ich sentimental, dachte er. Der Mensch ist ein We-
sen, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht. Geworfensein ins Dasein hin zum Tode. Der
Mensch ist das Säugetier, das gezwungen ist, sich die Welt zu deuten. Die hervorgeschwitzten
philosophischen Phrasen kannte er genugsam; leer, grau und völlig ohne jeglichen Sinn haben
sie schließlich jahrzehntelang die deutsche Universitätswelt geprägt. Das ist alles ohne Sinn,
dachte er.
Er selbst war das Produkt zweier Studenten und eines arbeitsfreien Nachmittages. Sei-
Der Traum (Verfasser unbekannt)
ne Eltern hatten damals nichts besseres zu tun gehabt als Partys feiern und ihr Kind alle mög-
lichen Bücher lesen zu lassen. Besser er liest: das bildet; das war der Wahlspruch seines Vaters.
Das war übrigens zu einer Zeit gewesen, als man Sprache noch so verwendete, wie die Sprache
das selbst wollte. Das Sprachsäuische blieb unserem Jetzt und Heute vorbehalten, unserer
postfaktischen Zeit, in der die Gerechtigkeit auf die Buchstaben ausgedehnt wird und sich je-
der Genderdeviante fürchten muss, wenn er aus der Schweigespirale heraustritt, um der Welt
seine Meinung kundzutun. In seinem Elternhaus gab es keine Schundliteratur (so sagten seine
Eltern), keine Belletristik, abgesehen von jenen Werken, die „zur Weltliteratur” gehörten. Na-
türlich. Don Quichotte las er mit dreizehn und verstand die Hälfte nicht. Dickens, Boyle,
Cooper; alles hatte er in sich hineingefressen. Dabei entsteht in einem jungen Kopf eine ge-
fährliche Konfusion: eine ungesunde Gemengelage, die gärt und gärt. Als er mit siebzehn den
Zarathustra las, schien sein Vater das erste Mal etwas verwirrt gewesen zu sein. Er bekam mit,
daß er sich mit seiner Mutter darüber unterhalten hatte: ob siebzehn wohl das richtige Alter
für Nietzsche sei? Genau deshalb hatte er auch Linus zum Siebzehnten den Zarathustra ge-
schenkt. Es ist Zeit zur Selbstüberwindung, Linus! Mit diesen Worten hatte er ihm das Buch
in die Hand gedrückt. Er hatte es in ein Tuch eingewickelt wie eine Pistole, denn es ist ein be-
sonderes Buch, ein Buch für alle und keinen. Ach Linus, schaffen wolltest du die Welt, vor der
du hättest knien können, und so wurde es deine letzte Hoffnung und Trunkenheit. Mag doch
alles zerbrechen, auch du, Linus! O, manches Haus gibt es noch zu bauen … Er wurde einen
Augenblick traurig. So sprach der wahre Zahratustra.
Seine Großmutter hatte Abscheu vor all diesen Büchern gehabt. Des Büchermachens
sei kein Ende, hatte sie gesagt. Ja, Omi, weißt du, die Leute leben davon, jedes Jahr einen neu-
en Roman zu veröffentlichen, denk doch nur an den amerikanischen Grusel-McDonalds, den
König aller Vielschreiber, meinst du, der verzichtet auf seinen Ausstoß, weil manche Anstoß
nehmen? Sie hatte kein Einsehen gehabt. Sie war es gewesen, die Thorwald mit den „Ideen des
Christentums” bekannt gemacht hatte, wie er das Katharina gegenüber einmal ausgedrückt
hatte. Als er später dann neben Geschichte auch ein Semester Theologie besuchte, da entstand
auch der Hass gegen alles Christentum. Während er Hebräisch, Latein und Griechisch büffel-
te, hatte er immer wieder in jenem Buch gelesen, das die Ursache für so viel Leid und Weh in
unserer Geschichte geworden war. Dieses Substrat ekstatischer Fanatiker. Bibel. Er hatte sich
fleißig durch Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums” gearbeitet, Karl Barth gele-
sen, Bultmann, Tillich und all die vertrockneten Köpfe der deutschen Leben-Jesu-Forschung.
An den Erdichtungen der Bibelkritik mußte sein jugendlicher Glaube schließlich Schiffbruch
erleiden.
Überhaupt ließ Thorwald alles in sich hinein, was in Büchern stand: er war es von Ju-
gend auf nicht anders gewohnt. Es führte ihn zweifelsohne zu einer gewissen Belesenheit,
wenn nicht sogar Bildung. Ruf ’ ihn an in der Not! Zum Geier, schon wieder dieser Gedanke.
Großmutter, du kannst mir hier nicht helfen, also tu mir den Gefallen und halt endlich den
Mund.
Der Scheinwerfer schwenkte weiter. Jetzt, mit sechsunddreißig, da hat man andere
Sorgen. Wo man sein Nest hinbaut, ob man jetzt doch einmal heiratet, ob man sich ins Aus-
land absetzt, jetzt, wo man noch Elan dazu hat. Mit sechsunddreißig spürt man bereits die
ersten Vorwehen des nahenden Alters samt den gespielt-bestürzten Dementis der Zeitgenos-
sen, wenn man diesen Umstand besorgt äußert. Haha, blablabla, mit sechsundreißig fängt das
Leben doch erst an und bestes Alter usw. Nun, man gewöhnt sich daran. Anfangs möchte man
was entgegnen, aber wenn man erst mal jenseits der vierzig ist und Bücher gelesen hat, dann
nicht mehr.
War es nicht schön gewesen, bei den Kollegen beliebt zu sein? Wehe, wenn er eine Par-
ty versäumt hatte! Bin ich nicht der perfekte Lückenfüller, wenn die Schnösel einmal nicht
mehr wissen, was sie tratschen sollen? Dann mime ich einen Politiker, einen Philosophen, ei-
nen echten Professor. Herrlich, wie sie dann alle lachen. Besonders Dr. Brode, der Lehrerspre-
cher. Er war Anfang 50, rundlich, angehende Glatze und Porsche Carrera. Daß er sich nicht
schämte mit einer solchen Schleuder. So billig sind die Mädchen nun auch nicht, daß sie den
fetten Brode wegen seines Autos bewunderten. Er war ja verheiratet, glücklich, hieß es, aber
das konnte auch heißen: Kabale. Jedenfalls war Brode ein netter Kerl, solange man ihn nicht
auf sein Auto ansprach. Einen silbernen Carrera mit einem Mords-Spoiler. Aber das macht
die Midlife-Crisis aus einem. Vorher hatte er einen Volvo gehabt. Einen dunkelblauen. Stan-
desgemäß. Aber die fliegende Untertasse war einfach lächerlich.
Die Lehrerparties gab meist Dr. Kraeplin, der Psychiater, ein Freund Brodes. Der war
ein gemachter Mann. In einer seiner Villen hatte Katharina sogar einmal eine Ausstellung ge-
leitet. Kunst und Psychiatrie, oder Kunst der Psychiatrie; Thorwald wusste es nicht mehr so
genau. Aber es passt irgendwie, dachte er sich. Er war sich seiner Haß-Liebe zur modernen
Kunst wohl bewusst; man muss Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend”, einfach bewun-
dern. Und dennoch strahlt eine solche Zerrissenheit aus diesem Bild, eine gefährliche und an-
steckende Seelenlosigkeit. Die Kunst der Postmoderne ist auf die Psychiatrie angewiesen, oder
vielmehr: sie zeigt, daß die Menschheit durch eben diese Kunst psychiatriert werden muss.
Das hatte Dr. Kraeplin gesagt. Im größeren Partyzimmer hing Pop-Art von Jim Dine und Ca-
rolee Schneemann. Diese Kunst versteht nicht jeder. Aber du spürst, daß sie dich nicht kalt
lässt.
Dr. Kraeplin Ruf als hervorragender Gastgeber eilte ihm voraus. Er scheute auch keine
Kosten, damit er diesem Ruf gerecht blieb. Aber — das ist vielleicht ein Klischee — man
konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er ein gewisses, hm, Abgrenzungsproblem zu
seinen Patienten hatte. Er wirkte leicht paranoid; so ließ er nach jeder Party seine Villa inven-
tieren, überprüfen, putzen. Jedes Taschentuch, das fehlte, mußte aufgeschrieben werden. Das
besorgte seine Zugehputzfrau, eine Mittfünfzigerin mit der Bestimmtheit eines Gestapoman-
nes und dem Auftreten Mussolinis. Ihr vertraute er vollkommen. Selbstredend, daß sie hinter
vorgehaltener Hand Opfer zahlloser Witzeleien wurde. Und Dr. Kraeplin nahm man seinen
Spleen nicht übel. Jede Party ein Zirkus verschrobener Gestalten, Ohrenbläser, Verleumder,
Gottesverächter, Freche, Übermütige, Prahler, erfinderisch im Bösen und Thorwald mittend-
rin. Thorwald erinnerte sich an die Zeit, als er sich noch für christliche Ideen interessiert hat-
te: die Eltern nicht zu Hause, und er noch viel zu jung, um sich gegen exzessiv-religiöse In-
doktrination zur Wehr setzen zu können. Oma wachte als Schutzengel über seiner Seele.
Später hatte er dann freiwillig auswendig gelernt, aus der Bibel und aus der Anti-Bibel, dem
Zarathustra. Da man diese Verse aus der Bibel so herrlich zu jedweder Gelegenheit anwenden
konnte, war Thorwald ihr auch heute noch nicht gram darüber. Bildung zeigt Wirkung, gera-
de bei den Angeheiterten unter ihren Verfechtern. Das konnte man mischen mit Zitaten von
Nietzsche (All das Schwache und Mißrathene soll zugrunde gehen, und man soll ihm dazu
auch noch helfen), Hölderlin (die Deutschen tatenarm und gedankenvoll) und mit ähnlichen
Pikanterien aus der Welt der Literatur. Man mußte nur darauf achten, daß es etwas gab, wo-
rauf die Sprüche passten.
Der Traum (Verfasser unbekannt)
Die Bibelsprüche freilich hatten die größte Wirkung, weil sie kernig waren und man
unweigerlich lachen mußte, wenn einer, der so gar nichts Religiöses an sich hat, mit ernster
Miene einen evangelischen Erweckungsprediger mimt. Thorwald kniff dann die Augenbrauen
zusammen, räusperte sich, reckte den erhobenen Zeigefinger weit in die Luft und begann sal-
bungsvoll, ein wenig Bergpredigt zu zitieren. Wenn er merkte, daß seine Mime gut ankam,
wurde er zu John Wesley. Er malte seinen Zuhörern die Schrecken der ewigen Verdammnis
aus, bis ihnen die Tränen waagerecht aus den Augen spritzen. Es muss Großmutter zu verdan-
ken sein und ihrer Zauberei, daß ich dann und wann Bedenken verspürte, mich über das alles
lustig zu machen. Aber ehrlich: Jeder Politiker versteht heute schon Satire. Wieviel mehr dann
denn Gott, wenn es ihn gäbe? Er war nicht sehr von seinen Selbstbeschwichtigungen über-
zeugt.
Die Zitate fielen Thorwald ein, je nach Bedarf. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen, jawohl. So sprach Goethe.
Aber dagegen sprach der Prophet Jeremiah: Arglistig ist das Herz mehr als alles und verderbt.
Thorwald wusste instinktiv, wer recht hat, Goethe oder der Prophet. Er kannte es aus seinem
eigenen Leben sehr genau. Schon seltsam, dachte er: auch die Bibelzitate fallen mir noch ein,
obschon ich mich doch völlig von der Materie gelöst habe. Aber hier hat die deutsche Sprache
doch einen guten Griff getan: die Verse fielen ihm ein, nein, sie fielen bei ihm ein wie die
Westgoten unter Alarich 410 nach Christus in Rom. Jeder einzelne Vers, in seine Seele ge-
drückt von der frommen, allzufrommen Großmutter, verursachte ihm jetzt aber Unbehagen.
„Nicht jeder soll ein Lehrer werden, denn die werden ein desto strengeres Urteil empfangen“,
hatte sie einmal zitiert, als er davon gesprochen hatte, welche berufliche Laufbahn er dereinst
einzuschlagen gedenke. Freilich verstand er damals noch nicht die Zweideutigkeit der Aussa-
ge, sondern bezog sie lächerlicherweise auf den profanen Lehrberuf. Erst später dann, beim
Theologiestudium, wurde ihm bewusst, worauf Oma angespielt hatte. Aber was denn für ein
Urteil? Vom Gott des Platonikers Paulus? Vom unbekannten Gott? Vom Gott, den Nietzsche
als toten Gott entlarvt hatte? Ach, welche Erinnerungen!
Kraeplins Sohn hatte gegen den Willen seines Vaters die Universität verlassen und hat-
te sich — ausgerechnet — einer Sekte angeschlossen. Das war auf den Parties tabu, aber die
Vermutungen, wem sich Peter angeschlossen hatte, reichten von den Zeugen Jehovas über
Hare Krishna bis zu den Promise Keepers. Scientologe war er keiner; das hätte sein Vater nicht
zugelassen, da hätte er alle Hebel seiner Macht spielen lassen, von den Rotariern bis zu den
Hochgradfreimaurern mit Zimmertemperatur, vernetzt war er ja genugsam, nachdem er zwei
psychiatrische Bestseller geschrieben hatte und einen der ganz großen Wirtschaftbosse durch
ein psychiatrisches Gutachten vor der Strafe für ein Kapitalverbrechen bewahrt hatte. Und
Scientology, das wäre kaum zu verbergen gewesen. Nicht die Scientologen. Man wollte sich im
Hause Kraeplin zwar Extravaganzen leisten, aber solche nicht. Die Scientology-Sekte war we-
gen irgendwelcher Spendenaffären immens in Verruf geraten. Dr. Kraeplin schien jedenfalls
zu wissen, welcher Gemeinschaft sich Peter angeschlossen hatte; er hatte diese Gemeinschaft
für ungefährlich gehalten, denn wenn nicht – was hätte Peter da geblüht! Man tat übrigens
besser daran, sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr damit zu beschäftigen, denn man
hätte ganz leicht das Mißfallen Kraeplins erregen können.
Thorwald mochte Peter; sein freundliches Wesen fand jedermann angenehm. Auf den
Parties hatte sich Peter stets abseits gehalten; er schien den Rummel nicht zu mögen. Er ver-
stand einfach keinen Spaß, fand Thorwald. Thorwald war einmal in seinem Zimmer gewesen:
spartanisch eingerichtet, ohne Schnickschnack, einige Bücher auf einem rustikalen Gestell
und ein riesiger Rhododendron in der Ecke. Sie hatten auf der Couch gesessen und Gin Tonic
aus Martinigläsern getrunken. Peter ausgenommen. Zu welcher Sekte Peter nun gehörte,
konnte Thorwald nicht ermitteln. Aber es war ja auch egal: hatte nicht jedermann das Recht
zu glauben, was er wollte? Durch Peter hatte er damals auch Claudia kennengelernt. Eher zu-
fällig. Sie waren zu dritt in ein Lokal, um „einen zu trinken“. Als aber Peter zu frömmeln an-
fing, hatte Thorwald beschlossen, ihn nicht mehr zu treffen. Sondern Claudia, die ebenso
nicht viel von Peters religiösem Enthusiasmus gehalten hatte.
Diese und andere Erinnerungen kreisten ständig in Thorwalds Kopf, während er
dumpf und von einer unsichtbaren Kraft angetrieben eine Lichterkette nach der anderen
durchschritt. Ob Claudia ihn lieben könnte? Claudia. Beim Klang dieses Namens wurde er
immer noch wehmütig. Wie hatte er sie gleichgültig behandelt, wie war ihm sein Training
wichtiger, als ihren täglichen Belangen zu lauschen, die doch immer die selben waren: Ihre Fi-
gur, ihre Eltern, ihre Geschwister, was die Leute wohl denken würden, wenn sie dies und das
machte und so weiter. Das wollte er sich nicht alles tausendmal anhören. Wieso denn Kampf-
sport? Ob er denn vorhabe, sich irgendwann zu prügeln usw. Ganz sicher mußte er das haben,
denn jeder, der etwas erlernt, will das Erlernte ja irgendwann anwenden. Man wird ja auch
nicht Koch, um dann in einem Büro zu sitzen. Auch der Arzt, und besonders der Chirurg:
wenn er das Handwerk schon erlernt, dann will er irgendwann schneiden. Ob sie denn meine,
hatte Thorwald ihr entgegengesetzt, daß es Ärzte gibt, die sich am Unglück der Patienten er-
freuten? Sie hatte entrüstet reagiert. Nun, hatte er gefragt, wie würden wohl alle Chirurgen ei-
nen großen Krankenhauses reagieren, wenn sie erführen, daß sie alle schlagartig arbeitslos ge-
worden sind, weil ein Heiler sein „Unwesen“ treibt und alle Patienten per Haundauflegung
heilt? Sie war beleidigt gewesen. Also hatte er immer weniger Zeit für sie gehabt, bis sie
schließlich von sich aus den Kontakt abgebrochen hatte. Thorwald war damals nicht unglück-
lich darüber gewesen. Jetzt war er es.
Das Schwimmbad war überfüllt gewesen an jenem Dienstagnachmittag, an dem er
Claudia damals kennengelernt hatte. Er hatte sich von ein paar Jugendfreunden – welche Aus-
nahme – dazu überreden lassen, den Nachmittag im Wasser zu verbringen. Thorwald war
nicht wasserscheu, haßte es aber, seinen Körper den Blicken der Menschen auszusetzen. Völlig
grundlos: war er gut gebaut und durchtrainiert. Er schimpfte immer auf den Sport. Es war
ihm wichtig, daß die Leute wussten: so sah er immer aus, auch ohne regelmäßiges Training.
Dabei trainierte er freilich regelmäßig, wenngleich ohne Fanatismus. An jenem Dienstagnach-
mittag hatte er sich vorgenommen, Claudia den Hof zu machen. Nein, eigentlich hatte er sich
vorgenommen, Claudia solle sich in ihn verlieben. Er schwamm ständig um sie herum,
scherzte, lächelte, zwinkerte ihr kaum merklich zu, wenn sie ihn ansah und – steter Tropfen
höhlt den Stein – schließlich hatte sie Interesse an ihm gewonnen, ließ sich von ihm anstub-
sen, berühren, ja, durch das Wasser tragen, als könne sie nicht schwimmen.
Er begann, sie mit seiner Nase am Oberarm zu stubsen. Bei der Nase blieb es freilich
nicht. Sie ließ alles gerne mit sich geschehen, genoss die Aufmerksamkeit, genoss, daß sie be-
gehrt wurde. Sie genoss, daß da jemand war, für den sie eine ganze Welt war, jemand, der für
nichts und niemand mehr Aufmerksamkeit hatte außer für sie, den ganzen lieben Tag, der sie
einhüllte in eine Wolke des Begehrt- und Bewundertwerdens. Es sollte, da war sich Thorwald
sicher, der Beginn einer wunderbaren Beziehung werden. Man verabredete sich vor- und für-
sorgleich gleich für nächsten Tag, damit nichts dazwischenkommen konnte. Nachdem dies
Der Traum (Verfasser unbekannt)
geklärt war, achtete Thorwald sorgsam darauf, es mit seinen Eroberungskünsten nicht zu weit
zu treiben, denn als Gentleman-Autodidakt war ihm klar: Jedes Stück Torte, das ich heute ge-
nieße, fehlt morgen am Teller. Und raube ich ihr nicht etwas, wenn ich mich ihr zu schnell nä-
here? Ist’s nicht, als nasche ich geradewegs an ihrer Seele, ohne daß sie sich wehren wollte, ja,
ohne daß sie sich wehren könnte? Thorwald hielt theoretisch nichts von der One-Night-Stand-
Mentalität der Gegenwart. Praktisch erlebte er sich anders. Trotzdem fand er, die Gegenwart
habe eine Unkultur eingeführt, in der die Begattung die Begrüßung abgelöst hatte. Eine Wer-
teumkehrung, gewiss, und eine äußerst geschmacklose dazu. Ihm war freilich klar, das kam,
wenn man viele vormoderne Romane liest, insbesondere wenn man dies in seiner Jugend tut,
und Thorwalds Vater hatte stets achtgegeben, was Thorwald zu lesen bekam in jüngsten Jah-
ren und auch späterhin. Was ihn beim Thema Nietzsche von dieser Vorsicht hatte absehen las-
sen, darauf konnte er sich selbst heute noch nicht den geringsten Reim machen. Schließlich
war er aus dem Wasser gestiegen, zu seinen Sachen getrottet, hatte sie zusammengepackt und
war nach Hause gefahren – Claudia in emotionaler Aufruhr zurücklassend.
Jetzt kämpfte er gegen diese Dunkelheit, gegen diese absolute Ratlosigkeit, die ihn ein-
hüllte, mehr und mehr. Er erreichte wieder eine Lichterkette. Er wollte aufgegeben, herauszu-
finden, woher die eigenartigen Lichterscheinungen rührten. Er nahm sich vor, die blöden
Lichter zu ignorieren, ja, sie mit Ignoranz zu bestrafen. Unvermittelt begann er, den Lichter-
ketten entlang zu wandern. Er konnte seinen Kurs jetzt genau halten.
Warum war er nicht früher darauf gekommen? Wie es dem Menschen eigen ist, wenn
sich die Hoffnungslosigkeit breit zu machen pflegt, dachte auch Thorwald daran, ein Gebet an
Gott zu richten. Nicht daß er überhaupt jemals an diese altmodische Vorstellung eines Gottes
als einer Person geglaubt hätte. Manchen Menschen ist das von Geburt auf verwehrt. Die See-
le ist bei der Geburt keine Tabula Rasa; gewisse Dinge hat man von Natur aus, zum Beispiel
eine Abneigung gegen Tomaten. Das ist nicht erlernt, denn Geschmack ist nicht erlernbar.
Man kann sich an etwas gewöhnen, ja, aber Geschmack ist etwas Einzigartiges, Unerlernbares.
Er ist immer schon da, man findet sich in ihm. Gott. Schon die Vorstellung. Gott? Nein. Nein,
Thorwald hatte nie an Gott geglaubt. Aber da war etwas in ihm, das ihm sagte, daß an der Sa-
che mehr dran ist, als er je gemeint hatte. Genau die Stimme in ihm, die er den Großteil seines
Lebens nicht beachtet hatte, meldete sich auch jetzt wieder. Er interpretierte diese Stimme als
Ausdruck der nach „außen” projizierten Hoffnung: die Sehnsucht seelischer Triebkraft, die
sich an das Unbekannte wendet, weil es in Not geraten ist.
Thorwald begann zu beten: Gott, sagte er, wenn es dich gibt … Er stockte. Was tat er
hier? Zu welchem Gott betete er da? Zu jenem, der zu seinen Lebzeiten auch nur zugesehen
hatte? Warum sollte ihn der ausgerechnet jetzt hören? Es gab ihn ja nicht. Er begann noch ei-
nigemale, seinen Hilfeschrei nach oben zu richten, doch ähnliche Gedanken wie anfangs hiel-
ten ihn davon ab, mehr als die ersten Wörter zu sprechen. Seine Hoffnung mischte sich mit
der Stimme seiner Großmutter (Ruf ’ ihn an…) und seinen theologischen Überlegungen. Er
hasste Gott, fluchte, spottete, schimpfte, drohte, schrie Lästerungen, bis ihm die Lungen weh
taten. Er tat mit vollem Bewusstsein das, welches die evangelische Kirche: „die Lästerung ge-
gen den heiligen Geist nannte”. Er lästerte den heiligen Geist. Eine Sünde, die nicht vergeben
wird, in Ewigkeit nicht. Pah! Die Kirche hatte es schon immer verstanden, ihre Schäflein auf
der Weide zu halten. Aber Thorwald wollte sein eigener Hirte sein. Immer schon.
Als er mit seinen Überlegungen fertig war, sprang ihn etwas aus der Dunkelheit an. Et-
was Vertrautes hatte sich von ihm gelöst. Die Angst kroch in seine Seele, ein osmotisches Ge-
fühl, wie der Morgennebel, der durch die Wälder zieht, grau und kalt. Es war völlig aussichts-
los, etwas gegen diese Angst zu unternehmen. Er schrie noch ein paarmal und fluchte,
versuchte, sich Mut zu machen. Er sehnte sich nach Müdigkeit. Wieviel Sinn hat es wohl, um-
zukehren? Aber an ein Umkehren war nicht zu denken. Man geht nach vorne, man geht nie-
mals zurück.
Als Thorwald mehrere Stunden längs der Lichter geschritten war, blieb er stehen.
Langsam drehte er sich um. Dabei fiel ihm auf, daß sich die Lichterkette krümmte. Ja, wenn er
genau hinsah, mußte er feststellen, daß die Lichter jetzt einen Bogen bildeten. Der Eindruck
verstärkte sich, als er abwechselnd auf die eine, dann auf die andere Kette blickte. Das war kei-
ne optische Täuschung. Es dauerte nicht lange, bis sich ihm eine schlimme Befürchtung auf-
drängte. Wenn er sich längs der Lichterketten bewegte, mußte er an ein Ende kommen. Es sei
denn, es war kein Raum, den er hier durchschritt. Wenn es aber kein Raum war, dann ––.
Thorwald verdrängte den Gedanken. Nein, das ist Kitsch, sagte er sich. Ich hätte nicht so viele
schlechte Filme ansehen dürfen. Nein, solche Gedanken wollte er nicht weiterverfolgen. Keine
Konsequenzen, keine Konsequenzen, keine Konsequenzen. Unaufhörlich plapperte er diese
zwei Worte vor sich hin. Er war überrascht, daß es ihm gelang, das innere Drängen und Su-
chen, ja, die Angst jetzt auszuhalten. Dann war es klar. Es war so einfach. Und brilliant. Er
mußte von vorne beginnen! Die Lichter bedeuteten gar nichts, außer, daß sie eben da waren.
Er würde sich aus seiner Situation herausmanövrieren, sich herausdenken. Er hob den linken
Fuß, um von vorne zu beginnen. Dümmlich grinsend schritt er weiter auf seinem Wege ins
Nichts. Und schritt weiter die Lichterkette entlang.
Im Leben eines jeden Menschen gibt es Momente, wo das Selbstverständliche in Frage
gestellt wird. Dann wiederum gibt es Momente der Verzweiflung, wo die Verzweiflung in ein
Stadium gerät, in dem sie sich selbst nicht mehr erkennt, sich nicht mehr erkennen will. Sie
sucht sich einen Ausweg. Sie findet ihn aber nicht, denn darin besteht gerade die Ver-
zweiflung: daß sie keinen Ausweg findet. Aber dieser Moment, der phantasiert sich einen Aus-
weg zusammen. In diesem Moment schützt sich die Verzweiflung davor, das Unechte am
phantasierten Ausweg zu sehen. Sie glaubt an ihr Phantasieprodukt. An diesem Punkt war
Thorwald jetzt angelangt.
Aber es gibt keinen Neuanfang, gab nie einen, würde ihn nicht geben. In unsinniger
Fröhlichkeit begann er, ein Lied zu trällern. Oh, böse Menschen haben keine Lieder. Wie recht
Nietzsche doch hatte. Aber wie hieß es doch gleich weiter? Wie kommt es, daß die Russen
dann Lieder haben? Nun gut, ich bin ja kein Russe. Die Russen waren ja immer die Bösen, zu-
mal zu Nietzsches Zeit. Heute sind die Bösen wieder die Russen. In Deutschland sind sie es
aus purer Einfallslosigkeit und Gewöhnung. Aber das ist nicht weiter von Belang. Thorwald
war nicht böse. Er hatte nichts Böses getan. Weder hatte er gestohlen, noch betrogen, ja, nicht
einmal gelogen. Denn da stand er drüber. Man muss zu seiner Tat stehen, hatte er immer ge-
sagt. Man muss stark genug sein, zu jeder Tat zu stehen. Er beruhigte sich und trällerte weiter.
Links neben ihm blubberten die Glühwürmchen auf und ab. Tauchte links eins auf, dann
sprang er in die Höhe, um dem Glühwürmchen zu zeigen, wie kraftvoll und voller Leben er
doch war. Das Würmchen kümmerte sich nicht um seine Pose, es pulsierte einfach nur weiter.
Es will mich ärgern, dachte Thorwald belustigt. Wie aus weiter Ferne drang ihm ein Gedanke
ins Bewusstsein: es ist alles nicht real, aber — so wirklich! Dunkel sind doch die Wege, die das
Schicksal geht.
Seit Tagen bin ich unterwegs, dachte Thorwald. Und gleich darauf sah er ein, wie un-
Der Traum (Verfasser unbekannt)
sinnig der Gedanke war. Man kann nicht tagelang wandern, ohne zu schlafen. Oder nächte-
lang. Thorwald versuchte wieder, sich zu erinnern, wie er an diesen Ort gelangt war. Was war
das letzte, an das ich mich erinnere? Ein Schlafwagen in einem Zug. Ein Gespräch mit einem
gut gekleideten Herrn am Gang. Über was hatten wir nochmal geredet? Wieso sind wir nicht
an die Isar gefahren? Oder liege ich im Drogenrausch in seiner Hütte? Er wusste es nicht
mehr. Eine Krankenstation tauchte auf. Ja, eine Krankenstation war da, oder besser, er war da.
Weiß, alles weiß. Und ein seltsames Stechen. Da waren Ärzte und Krankenschwestern,
und alle riefen und fuchtelten mit den Armen; die Mienen der Schwestern hatten zwischen
Erstaunen und maßlosem Entsetzen geschwankt. Beine und Arme – sie hatten sich nicht be-
wegen lassen. Er sah sich aus dem Krankenhaus gehen, auf einen Stock gestützt, nein, es war
eine Krücke. Aber er sah sich aus dem Krankenhaus hinausgehen. Daran erinnerte er sich ge-
nau. Er war nicht im Krankenhaus geblieben. Er hatte das Bewusstsein vielleicht nur kurze
Zeit verloren. Aber in diesem Zustand war er nicht: er hatte ja jetzt Bewusstsein. Der Unfall
war mehr als zwei Jahre her, erinnerte er sich. Nichts Ernstes, ein paar Prellungen; man hatte
ihn nach ein paar Tagen schon aus dem Krankenhaus entlassen.
Die Lichter. Thorwald blieb stehen. Langsam wandte er den Kopf nach links und starr-
te die Lichterkette an. Ungläubig ließ er die Gedanken laufen. Nicht ich denke, sondern es
denkt sich in mir. So ist das. Descartes, der alte Narr. Cogito, ergo sum. Was für ein Blödsinn.
Non cogito, tamen sum, hatten sie auf der Uni gewitzelt, ich denke nicht und bin trotzdem. Er
stäubte sich nicht gegen die Erkenntnis, die ihn mit Verwunderung, aber auch mit Enttäu-
schung erfüllte.
Thorwald sah die Welt von einer anderen Seite aus. Eines ist klar, dachte er sich: ich le-
be noch, wenn vielleicht auch nur in meinem Gehirn. Was, wenn Descartes nun doch recht
hatte? Wie war er bloß hierher geraten, in sein Gehirn? Wie konnte das sein, daß das Denken
überlebt hatte und bewusst sein konnte? Die Möglichkeit, seinen Körper zu empfinden und
ihn zu steuern, hatte Thorwald ja noch, oder etwa nicht? Bildete er sich seine Wanderung am
Ende nur ein?
Der Zug. Es muß im Zug geschehen sein, aber hier ließ ihn sein Gedächtnis noch im-
mer im Stich. Nun, da er zu der Erkenntis gelangt war, sich in seinem Gehirn zu befinden,
überlegte er sich, wie er es verlassen könnte. Er ahnte nicht, was er da dachte. Wenn das ein
Koma ist und ich mein Gehirn verlasse, dann … Oder bin ich mein Gehirn? Was ist „ich”?
Aufmerksam beobachtete der die pulsierenden Lichter. Wenn ich meine Gedanken nicht auf
mich selbst richte, so bin ich. Tue ich es aber, so bin ich jemand anders. Wenn du mich nicht
fragst, weiß ich genau, was Zeit ist, aber wenn du mich fragst, wird sie mir zum Rätsel.
Irgendwann, nach Stunden, Tagen, Wochen stellte Thorwald verwundert fest, daß ihm
seine endlose Wanderung zum Bedürfnis geworden war. Er fühlte zwar, daß ihn sein Weg nir-
gendwohin führen werde. Er fragte sich, ob er aus freiem Willen handelte? Ha! da war sie, die
endlose Frage. Die Gemüter hatten sich seit Jahrhunderten an dieser Frage erhitzt; ihm war es
da auf der Universität nicht anders ergangen. War er damals nicht zur Überzeugung gelangt,
daß die Vorstellung eines freien Willens ein Widerspruch in sich ist? Hatte nicht der große
Leibniz gezeigt, daß der Wille immer seine Beweggründe habe? Also ist er nicht frei. Oder
was bedeutet sonst frei sein? Frei sein von Beweggründen ist Unsinn. Daran hat sich auch bis
heute nichts geändert. „Liberum arbitrium” sagten die Scholastiker im Mittelalter. Freier Wil-
le. So, als ob ein Esel verhungern müsste, wenn er links und rechts von sich den gleichen Hau-
fen Heu erblickte. Das hatten die Strohköpfe im Mittelalter wirklich geglaubt und ihre grandi-
ose Erkenntnis dann auf den Menschen übertragen.
Aber so ist das mit Dingen, die man ins Extrem treibt: sie pendeln zurück und wan-
dern ins andere Extrem, um für eine kleine Zeit auch dort zu verweilen. Aus dem freien Wil-
len der Scholastiker wurde in unserer Zeit der totale Fatalismus, Determinismus, Vorausbe-
stimmtheit: der Geist nichts als das Produkt seines Gehirnes. Das hat — wie könnte es anders
sein — ein Amerikaner wissenschaftlich bestätigt: David Libet, der berühmte Gehirnforscher.
Den müsste man da haben, in dieser Situation. Thorwald war glücklich. Er entrann seiner Si-
tuation. Er konnte sich herausdenken aus all diesem Schlamassel. Wie wunderbar war es
doch, daß er ein so ein eifriger Leser gewesen war, von Kind auf schon. Wie wär’s, dachte er
sich, wenn ich mir Libet hier in mein Gehirn her-ein-lade. Er wäre dann da, und ich könnte
ein Gespräch mit ihm führen. Sehr verehrter Herr Professor! würde ich sagen. Und er würde
mir antworten: Ich danke ihnen für die nette Begrüßung, aber kenne ich Sie? Und Thorwald
würde dann sagen: Noch nicht, aber Sie sind das erste Mal in ihrem Leben dort, wohin Sie
schon immer hinwollten: in einem Gehirn. Hoppla, dachte sich Thorwald, das könnte Libet
falsch verstehen, als Beleidigung. Und beleidigen wollte er den Mann auf gar keinen Fall. Er
würde es anders formulieren: Nein, Sie kennen mich nicht, aber da Sie in meinem Gehirn
sind, sollten wir diesem Umstand abhelfen. Sie haben doch nachgewiesen, daß jede Handlung,
die ein Mensch tut, dem Bewusstseins dieser Handlung zeitlich vorausliegt? Das heißt also,
wenn ich meinen Arm heben will, zum Beispiel jetzt, so war die Absicht schon da, bevor sie
mir bewusst wurde? Und Libet würde sagen: Ja, genau so ist es. Ich habe diese Versuchsreihen
unter verschiedenen Bedingungen durchgeführt: immer mit dem selben Ergebnis. Das Bereit-
schafspotential für meine Handlung hat in meinem Gehirn bereits begonnen, bevor ich mich
entschließe, diese Handlung zu begehen. Oder besser gesagt, bevor ich mir meines Entschlus-
ses bewußt werde. Wenn ich meine Hand zur Faust zu ballen entschließe, dann hat mein Ge-
hirn schon etwa eine halbe Sekunde „beschlossen”, daß ich das beschließen werde. Ich selbst,
mein Bewusstsein oder wie immer Sie das nennen möchten, kann allenfalls ein Veto gegen
den primären Beschluß meines Gehirns einlegen. Nicht ich beginne eine Handlung, wie Kant
vermutlich gesagt hätte, sondern mein Gehirn beginnt sie. Das Ich ist daher Illusion, und die-
se Illusion ist eine Revolutionsprophylaxe des Geistes.
Das mußte Thorwald erst einmal verdauen: das Ich, das Selbst nur Echo der Gehirn-
substanz. Damit ist der Spielraum meines Ichs relativiert! Aber ich bin mir doch meiner selbst
als Instanz eines Regulationszentrums bewusst! Libet konnte Thorwalds Gedanken problem-
los folgen. Er fügte dem mentalen Schmerz Thorwalds hinzu: Ohne unbewusste neuronale
Vorbereitungen von Aktionen könnte der Mensch ebendiese Aktionen gar nicht ausführen.
Und Sie kennen das ja: Man spricht manchmal etwas aus, was uns dann überrascht; so hatte
man das gar nicht sagen wollen, oder, das hatte man eigentlich gar nicht sagen wollen. Aber
was man gesagt hat, ist vom Unterbewussten schon vorbereitet worden. Ich bestreite aber gar
nicht das Ich, sondern nur dasjenige, was wir uns unter Ich vorzustellen plegen. Wir haben ein
Bild von unserem Ich, und das ist falsch oder zumindest fraglich. Aber ist das nicht ein schö-
ner Ausdruck der Kreativität, wenn das emotionale Erfahrungsgedächtnis steuert — intelli-
gent, sozusagen —, was wir glauben, bewusst zu tun? O nein, dachte Thorwald. Aber es könn-
te die Spur zu meinem Aufenthaltsort sein. Was, wenn alles, was ich hier erlebe, also doch das
Echo dessen ist, was — sagen wir mal — eine halbe Sekunde „vor mir” geschieht? Wo bin ich
dann? Und was ist „Ich”? Wo zum Teufel bin ich hier? Im Resonanzraum der Hölle?
Der Traum (Verfasser unbekannt)
Libet war gegangen. Thorwald war alleine mit der Frage. Vielleicht, so dachte er sich,
ist das auch der falsche Ansatz zu fragen. Ob Koma oder Traum, wenn Descartes mit seiner
Behauptung recht hat, daß man am „Sein” teilhat, wenn man bewusst ist, dann bin ich noch
„da”, wo immer „da” auch bedeutet. Es ist also noch nicht aus. Aber da stand Thorwald vor
dem nächsten Problem: Seine Überlegungen waren nur dann richtig, wenn es ein „totales En-
de” gäbe. Wenn nun eine der vielen Religionen recht haben sollten? Wenn der Tod nicht das
Ende aller Dinge bedeutete? Wenn Schopenhauer unrecht hatte mit seiner Philosophie? Daß
man nicht verlischt, wie das Licht einer Kerze, wenn das Wachs zu Ende ist? Wo aber könnte
ich dann jetzt sein? Im Nirvana, in der Hölle? Aber wenn ich in der Hölle wäre, wo ist der
Teufel, wo das Feuer und alle anderen, die hier sein müssten? Thorwald sah sofort, daß das
nicht weiterführte. Auch Libet konnte sich irren. Nun gut, er war eine Kapazität unter den
Forschern, man betrachtete ihn bestimmt mit einer gewissen Scheu. Aber Thorwald war es
immer sauer aufgestoßen, daß in der Fachwelt — und nicht nur dort — die Floskeln „wissen-
schaftlich erwiesen” und „unwissenschaftlich” als Synonyme für wahr und unwahr gelten.
Wahr und unwahr sind Naturkonstanten. Man kann sie nicht fälschen. Es sind Archetypen,
würde ein Platoniker vielleicht sagen. War Carl Gustav Jung vielleicht ein solcher Platoniker?
Thorwald sah einen Mann mit einer Nickelbrille und einem weißen Schnauzbart auf
sich zukommen. Das war zweifelsfrei Carl Gustav Jung. Jung auch hier? dachte Thorwald. Er
hatte ein bitteres Lächeln in seinem alternden Gesicht. „Ich habe euch beiden zugehört”, sagte
er. „Es ist doch schlimm, welche Zweige eure moderne Wissenschaft schon treibt. Höre genau
zu, was ich dir jetzt sage: Wenn ein Feuer mich brennt, so zweifle ich nicht an der Realität des
Feuers. Wenn ich aber Angst habe, ein Geist könnte mir erscheinen, so suche ich Schutz hin-
ter dem Gedanken, es sei eine bloße Illusion. Aber wie das Feuer ein psychisches Bild eines
dinglichen Vorgangs ist, dessen Physik in letzter Linie noch unbekannt ist, so ist meine Angst
vor dem Spuk als psychisches Bild geistiger Herkunft ebenso real wie das Feuer mir realen
Schmerz verursacht — denn es macht mir reale Angst, genau wie mir das Feuer realen
Schmerz verursacht. Auf welchen geistigen Vorgang die Angst vor dem Spuk hinausläuft, ist
mir ebenso unbekannt wie die unbekannte Natur der Materie. Geist und Materie werden so-
mit zu bloßen Herkunftsbezeichnungen für die psychischen Inhalte, die in mein Bewusstsein
drängen. Psyche ist das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist.” Thorwald
starrte in das verblassende Gesicht des Mannes, den er sich eingebildet hatte. Er drosselte sei-
nen Gang. Er hatte Jung gesehen, daran war nicht zu zweifeln. Etwas verschwommen zwar,
aber immerhin. Jung war aber verschwunden, verschwunden in die Irrealität dieses verfluch-
ten Raumes. Das allerrealste Wesen, hatte Jung gesagt. Aha, dachte Thorwald triumphierend,
Jung ist kein Platoniker, sondern ein Staubkopf aus dem Mittelalter, ein Scholastiker: das aller-
realste Wesen ist ein Widerspruch. Entweder existiert etwas, und dann ist es real, oder es exis-
tiert nicht, und dann ist es auch nicht real. Allerrealstes Wesen, welche Monstrosität des Den-
kens! Wie sagte doch Nietzsche so schön über Gott: Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als
Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum… Daß die Menschen die Gehirnleiden
kranker Spinnweber hat ernst nehmen müssen!
Ja, manchmal in Jahrhunderten quält sich die Natur eine Perle heraus, die den anderen
Menschen weit voraus ist; sie ist im eigentlichen Sinn der Übermensch, der Vertreter des hö-
heren Menschentums. Oh, wie recht hatte doch Nietzsche, als er so sinnig bemerkte, daß gera-
de diejenigen die Freiheit ihres Willens am meisten suchen, die am festesten an allzu irdische
Veranlagungen gebunden sind. Es ist, meinte er, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines
Willens gerade im Spinnen suchte.
Thorwald war glücklich über Nietzsche. Nicht ohne meinen Nietzsche, hatte er jedes-
mal gedacht, wenn er verreiste. Das Nagen der Einsamkeit hatte Nietzsche zerfressen, der
Schmerz, die Krankheit und das Leiden hatten seine Philosophie hervorgeächzt und Thor-
wald liebte sie dafür. Typischerweise war gerade er es, den seine Großmutter am meisten hass-
te. Ihre Augen hatten sich geweitet, als sie den jungen Thorwald vor dem Zarathustra seines
Vaters gesehen hatte. Junge, hatte sie gewarnt, halte dich fern von diesem Satan — sie erhob
ihre Stimme nur selten, aber jetzt tat sie es — , das Böse sintert aus seinen Werken wie das
Blut aus den Augen der Gorgonen! Thorwald pflegte dann seinen Zarathustra zuzuschlagen
und wegzupacken. Großmutter ließ ihrer schicksalhaften Warnung meist noch ein paar Verse
aus der Heiligen Schrift, wie sie die Bibel nannte, folgen. Wehe denen, die Böses gut und Gu-
tes böse nennen; die Finsternis für Licht und Licht für Finsternis erklären; die Bitteres süß
und Süßes bitter nennen! So sprach sie immer. Und meinte damit, Nietzsche beschrieben zu
haben. Thorwald wusste zwar, daß sie damit nicht ganz unrecht hatte. Nietzsche hatte in der
Tat mit seiner Umwertung aller Werte Ähnliches gesagt. Aber es war doch einfach alles zu
kompliziert für Großmutter. Stell’ dir vor, dachte Thorwald, ich müsste mit Großmutter über
die Freiheit des Willens reden. Einfach schrecklich. Sie würde mich mit Bibelzitaten töten. Ei,
wer merkt denn nicht, daß Nietzsches Satz über den Seidenwurm ein wenig platt ist? Aber
man kann doch nicht in einer Konfrontation die Schwachstelle seiner eigenen Argumente zu-
geben. Wo käme man da hin? Die Zuhörer überfielen einen wie eine hungrige Meute Hyänen.
Da war wieder der Zug. Er sah unvermittelt einen Zug auf sich zukommen. Dann hat-
te er das Empfinden, als stände der Zug still und er selbst käme dem Zug mit rasender Ge-
schwindigkeit näher. Parallaxe. Der Zug und das Krankenhaus, der gutgekleidete Mann und
Nietzsche. Kopfschüttelnd schritt Thorwald weiter, die Dunkelheit tief in sich hineinatmend.
Das war ihm nicht fremd. Ja, er erinnerte sich, ein Freund hatte diese Worte einmal gebraucht,
ja, Peter war’s, der Sektenmensch, der wollte ihn damals zu seiner sinnlosen und hoffnungslos
veralteten Mitleidsreligion bekehren. Er, Thorwald, atme unentwegt die Dunkelheit in sich hi-
nein, hatte er gesagt. Was für eine Dunkelheit denn? Wie erfrischt und erleuchtet fühlte er
sich, wenn er dagegen Argument für Argument mit dem Hammer von Nietzsches Philosophie
erschlagen konnte. Ja, er fühlte eine böse Freude, wenn er daran dachte, daß sein Liebling ja
selbst mit dem Hammer philosophiert hatte. Immerzu dieses blöde Gerede von Demut. Er,
Thorwald? Nein. Er war kein getretener Wurm, der sich krümmte. Mögen sich die getretenen
Würmer nur krümmen, freute sich Thorwald, sie sind ja so klug, sie müssen das auch tun,
denn damit verringern sie die Wahrscheinlichkeit, von neuem getreten zu werden. Haha, in
der Sprache der Moral nennt man das Demut! Dümmlich grinsend schritt Thorwald weiter
und weiter und weiter.
Auch das Gespräch mit Peter damals war nichts weiter als eine Stufe gewesen, über die
er hinweggeschritten war. Eine weitere Stufe, die gemeint hatte, er wolle sich auf ihr niederlas-
sen. Peter pflegte stets abscheuliches Mitleit mit ihm zu haben. Stand nicht in der Bibel — in
seiner Bibel: „Was ist schädlicher als irgendein Laster? — Das Mitleiden der Tat mit allen
Mißrathenen und Schwachen — das Christenthum…” Thorwald bezeichnete Nietzsches Wer-
ke als seine Bibel. Er gefiel sich darin, seinen antibiblischen Übermut in dieser Weise zu küh-
len — ganz lapidar, sachlich, das „Mitleid” seines Freundes auskostend, aussaugend, zum
Schluss noch zertretend.
Irgendwie hatte Thorwald nach einer Unendlichkeit des Wanderns Mitleid mit den
Der Traum (Verfasser unbekannt)
Glühwürmchen. Das ging ihm so nach und nach auf. O welche Schande, dachte er sich. Ich
und Mitleid. Aber das Gefühl des Mitleids war echt. Er fühlte, daß er die Lichter liebte. Sie wa-
ren ja doch auch das einzige, was er in dieser Welt der Finsternis noch hatte. So lange sie da
waren, fühlte er sich einigermaßen sicher, hatte er ja doch noch irgendeine Hoffnung. Es war
ihm nur ganz und gar nicht klar, worauf er jetzt noch hoffen sollte. Die Hoffnung stirbt zu-
letzt! kreischte er. War nicht eine angenehme Ruhe an diesem Ort? Schließlich hatte er auch
niemals das Bedürfnis zu schlafen, zu essen, zu trinken oder sonst einer Sache, zu der einen
das Leben sonst zwingt.
Thorwald ging und ging. Manchmal stolzierte er, manchmal schnitt er Grimassen, be-
schimpfte die glimmenden Glühwürmchen, oder was zum Teufel sie auch immer waren. Das
Nichts nichtet. So ein dämlicher Spruch. Auswurf eines Existenzialisten. Von wem konnte so-
was sonst auch kommen? Mit solchen Sprüchen kann man die verdorrten Köpfe einiger Ge-
lehrter füttern. Die fressen solchen Mist bücherweise. Das ist das gleiche wie die Nahrung für
alle Banausen und Handwerker: das Fernsehen. Du erkennst den Geistesinhalt eines Hand-
werkers an der umgekehrt proportionalen Zeit, die er in die Glotze schaut. Thorwald streckte
wieder die Zunge heraus und machte erneut das Geräusch tiefsten Abscheus, ein Gollum, der
sich übergibt. Er konnte die Handwerkszunft mit allen ihren Gliedern nicht ausstehen. Platt
und dumm wie fünf Meter Feldweg, pflegte er zu sagen. Sie kennen nur die Arbeit; die Arbeit
ist ihr Heiligtum, ihr Anfangs- und Endpunkt, ihr Ziel, ihr Ein und Alles. Pfui Teufel. Die
meisten von ihnen arbeiten, um nicht denken zu müssen: ein anderes Wort für Faulheit. Ar-
beit ist der Fluch der trinkenden Klassen. Und waren nicht Claudias Geschwister und Freun-
de samt und sonders aus dieser üblen Zunft? Sie hatten die Bildung eines Holzbretts: flach und
verzogen; wenn man mit der Hand darüberfährt, zieht man sich einen Spahn ein. Daher hatte
Thorwald dieses Geschmeiß auch so gemieden. Thorwald versuchte, sich vorzustellen, was
wohl mit den Arbeitslosen geschähe, wenn die Arbeiter im Staate das Sagen hätten. Die Ant-
wort war einfach: es würde sie nicht geben. Zwangsarbeit und Arbeitslager und …
Die Suche nach Antworten versickerte in seinem Kopf wie Wasser im Wüstensand.
Sich eine Ewigkeit lange Sinnfragen stellen, um auf kurze Ergebnisse zu kommen? Was der
Sinn des Lebens sei, das wusste er bereits: die Menschen tragen zu wenig Hüte. Verdammt,
wie war doch gleich der Name des Christengottes? Er fiel ihm nicht ein. Das ist doch seltsam:
habe ich mich nicht jahrelang mit allem, was rund um diesen Christengott kreiste, be-
schäftigt? Habe ich nicht Theologie studiert? Naja, ein bißchen halt. Großmutter war wieder
da. Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Na-
men böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan? Ha-
ben wir nicht Exegese betrieben und historisch kritisch alles genau beurteilt und zu aller letzt
David Friedrich Strauß gelesen? Wie hieß nochmal der Titel seines Buches? Das Leben des
Nazaräners oder so ähnlich. Ja, ja, genau. Das Leben des Zimmermanns aus Nazareth. Eigent-
lich ein seltsamer Titel. Nietzsche hat ihn ordentlich verrissen. Gehet hinweg von mir, ich ha-
be euch nie gekannt.
Die Ewigkeit ist ein Kreis, hatten die Alten gesagt. Bis dieser Wirrkopf Einstein kam
und behauptete, der Raum sei eine Kugel. Dann ist die Zeit eine Schleife, ein Möbiusstreifen,
ein endlos geflochtenes Band. Es wäre gut, hierzubleiben; hier fehlte nichts. Das Leben des
Nazaräners (wie war nochmal sein Name?). Peter hatte gemeint, man müsse diesen Namen
anrufen, wenn man in Not sei — und man könne gerettet werden. Ein spöttisches Prusten
kam aus Thorwalds Brust. Jaa, ganz sicher: Jetzt den richtigen Namen rufen und Simsalabim
ist man aus allem raus. Wie Menschen sowas glauben können. Ein beißender Zweifel fraß sich
in Thorwalds Seele. Seine Großmutter war zwar religiös; dumm war sie aber nicht. Wie konn-
te sie all das glauben? Wenn Sie nun recht gehabt hätte? Nicht auszudenken. Er merkte, wie er
wieder zu grinsen anfing. Jetzt wusste er, daß er den Namen aus einem anderen Grunde wis-
sen wollte. Er wollte ihn verhöhnen und verspotten, denn in der Not war er ja nicht. Doch es
blieb dabei — der Name fiel ihm nicht ein. „I’m on a highway to hell!”, schrie er hinaus,
„highway to hell!”. Wie schön es doch gewesen war, wenn der Geist des Hardrock die Ruhe
seines jugendlichen Zimmer zerfetzt hatte. Wenn AC/DC, Black Sabbath und Mötly Crue die
Boxen zum Vibrieren brachten. In solchen Augenblicken war er überzeugt gewesen, daß auch
Nietzsche diese Musik gemocht hätte. Sie wertete einfach alles um. Diese vertrottelten Chris-
ten, die diese Musik für schädlich hielten; auf ihn hatte sie hingegen immer reinigend gewirkt,
eine echte Katharsis, die ihn jedesmal aus dem Komplex an Minderwertigkeitsgefühlen he-
rausriss, die sein dominanter Vater in ihm aufgebaut hatte. Wie die Pest hasste er seinen Vater,
aber er hatte diesen Gedanken früher nie zugelasssen. Der Hass ist ein Gefühl, so echt, daß
man die Echtheit selbst noch an diesem Gefühl messen konnte. „I’m on a highway to hell!”
hörte er sich schreien, während er dabei beobachtete, wie sich seine Stirnfalten zusammenzo-
gen, wie er die Nase rümpfte. Er formte seine Hände zu Krallen.
In diesem Moment, das wusste er, würde er jeden töten, der hier seine Seelenruhe
störte. Wo blieben die Jemande nur, wo blieben sie jetzt? „Father, I want to kill you…” Er
schrie und schrie und schrie; und als seine Stimme begann, immer mehr dem Krächzen eines
altersschwachen Raben zu ähneln, war ihm das kein Anlass, aufzuhören. Bald war sein Stim-
me nur mehr ein Hauch, und danach hatte er sie verloren. Wie war doch bloß dieser Name?
Er fühlte die unsägliche Qual, diesen Namen vergessen zu haben. Was würde er nicht alles an-
stellen, wenn er sich an diesen Namen erinnerte. Hatte man den Namen einer Sache, so hatte
man auch Gewalt über sie. So hatte er es auch seinen Schülern beigebracht. Das Lehrerkollegi-
um hatte ihn wegen seiner Fähigkeit, die Schüler zu motivieren, immer gelobt. Es war ihm ge-
lungen, den Gesamtnotendurchschnit der Abschlussklasse in Latein und Philosophie um eine
ganze Note zu erhöhen. Man mag ermessen, was das bedeutet! Und nein, dazu hatte er nicht
erst das Niveau absenken müssen, im Gegenteil, er hatte es ebenso signifikant erhöht! Sein
Faible für die Antike hatte es ihm erlaubt, die staubtrockene Rache Roms in lukianische Spott-
verse zu kleiden, die seine Schüler mit Vergnügen gelernt hatten — so war ihnen quasi erlaubt
gewesen, das Schmutzige in lateinischer Frischhaltefolie der Öffentlichkeit zu präsentieren,
nebenbei noch als gebildet zu gelten und nicht riskieren zu müssen, irgendwelche Rüffel zu
bekommen. Wer verstand schließlich schon Latein? So hatte er es auch verstanden, unter sei-
nen Schülern einen gewissen Elitedünkel aufzurichten; ja, wie oft hatte er sich daran ergötzt,
wenn er sich als Urheber des Lobes gewusst hatte, welches dann und wann aus den Mündern
der Professoren in die jungen und hocherhobenen Rotznasen geträufelt war.
Alkohol und Christentum, diese beiden, und Nietzsche, der den Stab darüber gebro-
chen hatte. Nietzsche liest man nicht, man lebt ihn, diesen Kyniker par excellence, diesen An-
tipoden alles Metaphysischen und Jenseitigen. Und Thorwald lebte seit seinem Studium nach
Nietzsche. Er hatte schwer an sich gearbeitet, sein Gewissen abzutöten, dabei allerdings kei-
nen Eindruck nach außen zu machen. Er hatte immer eine karamasowsche Kraft gefühlt, im
Laster zu ertrinken, seine Seele in Schande zu ersticken. Er wusste, daß dies nötig war, um
sich jenseits alles Guten und Bösen zu stellen. Das Gute existiert genausowenig wie das Böse;
es sind Bezeichnungen für Tatsachen, historisch gewachsen, durch die Aufklärung in Verwe-
Der Traum (Verfasser unbekannt)
sung begriffen und in der Neuzeit endlich auf den Mist der Zeit geworfen. Die Neuzeit und
die Postmoderne bewirkte den Umsturz des Menschensinnes; das Objekt wurde vom Subjekt
verschlungen und assimiliert, der Realismus löste die Metaphysik der Jenseitshoffnungen ab
und verwandelte das Leben des Menschen in das Tor zur Hölle. So sprechen alle Kleingeister,
dachte sich Thorwald. Die Lebensunwilligen. Die letzten Schranken der Moral sind durchbro-
chen und müssen es auch sein, um zum höheren Menschentum zu gelangen. Das Leben vor
dem Tode. Lasciate omni speranza, hatte Dante über dieses Tor geschrieben; lasset alle Hoff-
nung fahren. Ist es nicht interessant, wie sich der Wahrheitsbegriff in einer Welt verflüchtigt,
in der wahr und falsch nicht länger Pole einer Achse sind, sondern in der erforscht wird, „was
der Fall” ist? Metaphysik ist eben doch nicht notwendig, wie der alte verknöcherte Königsber-
ger gemeint hatte. Es gibt nicht Dualismus, es gibt nur grünes Leben, ein Leben, welches
Thorwald entschieden der gelehrsamen Vertrotteltheit und der doktoralen Dummheit vorzog.
Nach seinem Abschluss hatte er eine Zeitlang überlegt, ob er zwei weitere Jahre anhängen soll-
te, um zu promovieren. Es hatte ihn damals ein Ekel ergriffen, als ein Komilitone ihm stolz
seine Dissertation gezeigt hatte: Moral oder Aufklärung — ein ethischer Diskurs unter Be-
rücksichtigung der Dekonstruktion. Das hatte ihm gereicht. Daraufhin hatte er sein Prakti-
kumsjahr absolviert und war Lehrer geworden. Ist es schließlich nicht viel amüsanter, anderen
seine Ideen zu oktroyieren als die stickige Vorlesungsluft noch weitere zwei Jahre einzuatmen?
Eine Luft, die ihn zum blutarmen und an Lebensfrische vergreisten Fachidioten verpestet hät-
te? Aber seine eigenen Ideen den jugendlichen, ja, beinahe jungfräulichen Gehirnen einzuprä-
gen, verlieh doch eine gewisse Macht. Er hatte die Macht über die Gedanken seiner Schüler
haben wollen, hatte sie zu Propheten des Zarathustra erziehen wollen. Ein Spiel am lebenden
Objekt. Peter hatte ihn gemieden, als er ihm diese seine grandiose Idee eröffnete. Der bewuss-
te Eingriff, hatte Peter gemeint, sei die neue Sünde der alten Schlange; Machtwissen als Wis-
sensmacht zu mißbrauchen sei schändlich. Als ob je ein Lehrer etwas anderes getan hätte. Zur
psychologischen Betrachtung tue er das doch nur, hatte Thorwald gesagt. Alles muss erforscht
werden. Der Natur muß ihr Zauber entrissen werden, jawohl, haben wir nicht selbst von Gott
den Auftrag erhalten, uns die Natur zu unterwerfen? So werden wir uns selbst umer-
schaffen — vom Naturzauber zur Zaubernatur. Angehaucht vom Ungeist des Nihilismus sei
sein Vorhaben, hatte Peter gemeint. Was für ein Kleingeist! Oh, ihr Dreiviertelschristen, hatte
sich Thorwald gedacht; wie kann man je das Seziermesser der Argumentation gegen diese ver-
stockte Halbbildung gebrauchen? Entzückende Naivetät ist an sich eine reizende Blume, ver-
trottelte Ignoranz ist der Boden, der sie entsprießt.
Für Thorwald hatte immer festgestanden: was menschliche Vernunft nicht greifen
kann, ist Mythos. Dieser Grundsatz war es, den er allem im Leben entgegengetragen hatte.
Nicht daß er von sich selbst glaubte, je einst genug ergründen zu können: soviel gestand er der
ganzen Gelehrtheit der Welt nicht zu. Es war Thorwald nicht gelungen, der Welt auch nur ein
einziges ihrer Geheimnisse zu entreißen, doch hatte es ihm zutiefst widerstrebt, seine Zuflucht
zu einem Gedankensystem zu suchen, wie etwa das existenzialistische war: Jaspersche Zerbla-
senheit zum System erhoben, pfui Teufel. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, hat wahr-
lich die Konfusion auf der Welt vermehrt.
Längst merkte Thorwald nicht mehr die Inkonsequenz seines Denkens. Er begann, alle
möglichen Sentenzen und Aphorismen herzuleiern, die ihm einfielen. Er merkte nicht mehr,
welchen Unsinn er sich zusammenreimte, merkte nicht mehr, was er angriff und was vertei-
digte, und daß er manchmal das eine mit dem anderen verwechselte. Er versuchte, sich wie
Münchhausen aus dem Sumpf zu ziehen. Er fühlte, daß die gesamte Geisteswelt ein ständiges
Sichdrehen im Kreise ist, nur um sich die Tatsache verheimlichen zu können, daß sie nie ihren
Rücken wird sehen können. Die Philosophie liegt seit hundert Jahren im Sterben und kann es
nicht, weil sie nie bereit war, über das zu schweigen, worüber sie nicht reden konnte. Kritik
der zynischen Vernunft. Das genau war es, was Thorwald hier betrieb. Doch er merkte es
nicht mehr.
Manchmal schien es Thorwald, als verschmolzen die grünen Lichter zu einer einzigen
Linie; als wäre an ihrem Aufflackern abzulesen, was der Sinn des Ganzen sei. Er hätte viel-
leicht doch nicht seine besten Jahre dem Stumpfsinn sokratischer Epigonen opfern sollen, fiel
ihm ein. Versteht sich nicht die ganze Philosophie als Fußnote zu Platon? Hätte er doch ein-
fach mehr gelebt, ja, gelebt! Die Lichter schienen ihn daran zu erinnern. Einige Lichter began-
nen zu hüpfen, höher als andere. Dann sah er wieder nur eine Linie. Es war doch eine gute
Idee gewesen, längs der Lichter zu laufen.
Wie ein Blitz durchzuckte ihn eine Erinnerung. Er saß ihn einer U-Bahn. Da war
Dunkelheit. Das monotone Fahrgeräusch. Ta-tam, Ta-tam. Dann wurde es hell. Eine Station,
in das gleißende Licht der Scheinwerfer getaucht. Vorbeiflitzende Figuren ohne Gesichter.
Zwei, drei Säulen; Reklametafeln. Wieder Dunkelheit. Warum hielt die Metro nicht an? Es war
zu später Stunde, er erinnerte sich wieder. Das Abteil war beinahe leer gewesen. Er hatte einen
Anzug getragen, was merkwürdig war, weil er Anzüge nicht mochte. Auf seinen Beinen hatte
ein länglicher Gegenstand gelegen. Dann verließ ihn die Erinnerung wieder. Ich will jetzt
nicht an den Anzug denken, dachte er. Die U-Bahn, die Menschen im Abteil. Ein versoffener
Sack, der einen Menschen enthielt. Dürfte früher mal eine Hose gewesen sein. Dieser
Mensch — war es einer? — hatte langes Haar, das mit Sicherheit nur währnd der Regenzeiten
in Berührung mit Wasser kam. Grau, schmuddelig, fasrig, verklebt; das Haar eines Gossenlie-
gers eben. Fuhr sicher schwarz. Eine untergehende Art; stirbt aus, dachte Thorwald. Diese
Sorte Mensch nimmt von Tag zu Tag zu, erkannte Thorwald dann. Das Gegenteil ist sein eige-
ner Beweis. Oder causa sui. Wieder spürte Thorwald einen Ruck. Kein Schmerz, kein körper-
licher, wenn das Wort angebracht ist; man kann nicht sagen, daß Thorwald über ein Körper-
empfinden im herkömmlichen Sinne verfügte. Der Horizont vor ihm, das rhytmische
Aufblinken der Lichtbojen, die auf der Dunkelheit schwammen, bog sich. Er hatte das Emp-
finden, im Inneren einer gigantischen Kugel zu wandern, wobei die Schwerkraft nach allen
Seiten hin wirkte, nur nicht ins Zentrum. Daher also „klebte” er an der Innenseite dieser
Hohlwelt.
Er verwarf den Gedanken so rasch, wie er ihn gefasst hatte. Die Hohlweltperspektive
verschwand wieder. Gibt es am Ende einen Zusammenhang zwischen meiner Wirklichkeit
und meinem Denken? Er fühlte wieder stärker den Hang zur Zerstörung in sich aufkeimen. In
seinem Gehirn kämpften objektive Synapsen gegen subjektive; reduktionistische Theorien
verhöhnten holistische, Welt, Seele und Gott senkten sich als die drei unentbehrlichen Basen
auf ihn herab. Er sah seine Thesen und Antithesen zerschmelzen wie die Uhr auf Salvador Da-
lis Gemälde.
Zuletzt schossen Erinnerungen und Gedankenfetzen durch sein Gehirn. Sein Geist
verwirrte sich nun mehr und mehr, dieses Produkt seines Gehirnes und seiner Synapsen.
Denkt die Materie? Aber freilich, du Trottel, du, du selbst bist ja diese Materie! Denkst du dir
etwa ein Geistlein in deinem Kopf? Meinst du denn, die Immaterialität könnte das Zepter
schwingen über eine streng determinierte Materie? O heilige Ursache und Wirkung! Photo-
nen und Quanten, Deus ex machina! Transzendental, phänomenal, wir alle nur ein Gedanke
Der Traum (Verfasser unbekannt)
im Kopfe eines alten englischen Bischofs, der neben unsinnigen und noch dazu logisch fal-
schen Spekulationen auch noch so nebenbei philosophiert hatte. Wär’ der Depp doch Pfaff ’
geblieben. Berkeley. Nein, was für ein Narr.
Thorwalds Wahnsinn steigerte sich. Abwechselnd verfluchte er Kant, den deutschen
Idealismus, den englischen Empirismus, Konrad Lorenz, diesen Nils Holgerson der Evolution,
die Traumdeutung und die Farbe grün. Er fühlte ein seltsames Würgen. Die erste wirklich
körperliche Empfindung, dachte er. Die Dinge kommen in Bewegung. Er ahnte sich dem Aus-
gang entgegen. Ja, das Sein ist eigentlich ein Nichtsein, ein Sein zum Verschwinden, zum Ver-
löschen. Denn alles was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht.
Als Thorwald etwas mehr als ein paar unzählige Weiten durchschritten hatte — ob es
Tage waren oder Monate, ob er im Leibe oder außerhalb war, er wußte es nicht — , richtete er
seine Aufmerksamkeit vom Glühen seiner gedanklichen Exzesse erneut auf das Glühen der
Lichter. Er ging immer noch haargenau links neben ihnen her. Dieses phosphoreszierende
und faszinierende Leuchten. Es schien ihm jetzt, als seien die Abstände zwischen den einzel-
nen Lichtern kleiner geworden. Ich mag mich täuschen, dachte Thorwald. Aber Thorwald
täuschte sich nicht. Zu echt war diese Veränderung, als daß er sich täuschen mochte. Er hatte
alles versucht und alles verspielt. Und so kam die letzte Erkenntnis mit der letzten Erinne-
rung. Er war der U-Bahn noch entstiegen, hatte sich auf seine Krücke gestützt und auf die Ge-
leise gestarrt.
Das seltsame Oszillieren der grünen Lichter war also nichts anderes als — genau. Er
hatte sich mit dem Koma nicht geirrt. Das Oszilloskop war der einzige Faktor der Außenwelt,
der zu ihm vorgedrungen war. Und zuletzt war auch noch sein Herzschlag kurz schneller ge-
worden; die Abstände zwischen den Lichtern wurden kürzer. Dann hatte sein Herz aufgehört
zu schlagen. Ein Bildersturm durchzuckte sein Denken — der Zug — der Beschluß — die
letzte Sinnlosigkeit — der Sprung. Wie konnte er das überlebt haben?
Genau das war der Punkt. Er hatte es nicht überlebt. Die Hölle, der Feuersee, er brennt
mit dem Schwefel der Einsamkeit. Thorwalds Hölle nahm ihn in Empfang. Er wusste es just in
dem Augenblick, als das Leuchten der Lichter für immer erlosch.

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