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ÜBER KANTS FRÜHESTE ETHIK 1

Versuch einer Rekonstruktion


von Dieter Henridi, Berlin

Kants handschriftlicher Nachlaß zur Moralphilosophie ist vollständig


zugänglich erst seit zwei Jahrzehnten. Durch ihn mußte es klarwerden,
daß die Entwicklung Kants zum Standpunkt seiner späteren Ethik
schon in den Jahren zwischen der Publikation der Beobachtungen und der
Träume eines Geistersehers um entscheidende Schritte vorangekommen ist.
In dieser Zeit gelang es ihm, zum ersten Mal die Formel eines kategori-
schen Imperativs zu fassen als die innere Allgemeinheit und Übereinstim-
mung des Willens mit sich2). Zur gleichen Zeit begann er damit, eine Ver-
öffentlichung über die metaphysischen Anlangsgründe der praktischen
Weltweisheit vorzubereiten8). Es kann heute kein Zweifel mehr daran
sein, daß die zwanzig Jahre später schließlich erschienene Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten kontinuierlich auf diesen Plan zurückgeht. Daß
er sich so lange verzögerte, ist zwar nicht aus äußeren Gründen zu er-
klären. Kant fand sich in großen und mehrfach sich erneuernden Schwie-
rigkeiten, als er daran ging, seine Grundidee zu explizieren, in sich kon-
sequent zu machen und in Übereinstimmung mit der Lösung von Pro-
blemen der theoretischen Philosophie zu bringen, die er ebenfalls über
mehrere Stufen voranbrachte 4). Auch in der Grundlegung ist dieser Prozeß
nur vorläufig abgeschlossen; und man kann sagen, daß eine endgültige
und in allen Zügen verbindliche Gestalt der Ethik im Werk Kants über-
haupt nicht zustande gekommen ist. Aber der Gedanke, an dem sich diese
Entwicklung orientierte, ist seit der Mitte der Sechziger Jahre stets der-
selbe geblieben. Es ist die kleine Schrift vom Herbst 1756, in der Kant
*) Der Aufsatz entwickelt den ersten der vier Gedankengängef die im Collo-
quium vorgetragen wurden.
*) vgl. Josef Sdimucker, „Die Ursprünge der Ethik Kants", Meisenheim 1961,
IV. Kapitel sowie vom Vf. „Hutdieson und Kant", Kantstudien 49, 1957/8r III. Ab-
schnitt Auf eine Würdigung der Literatur, deren Ergebnisse im Folgenden vor-
ausgesetzt sind, mußte wegen des. knappen Raumes verzichtet werden.
s
) Brief an Lambert vom 31. 12. 1765.
4
) Vf. „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der
Vernunft", in: „Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken", Tübingen 1960.

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Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalben-
jähre gab, die vor allem dafür verantwortlich gemacht werden muß, daß
der früheren Kantforschung dieser für das Verständnis der Entwicklung
Kants grundlegende Sachverhalt verborgen geblieben ist. Ohne die Be-
kanntschaft mit anderen Quellen ist es kaum möglich, in ihr jene Züge
der frühen Kantischen Ethik zu entdecken, die sie mit der Konzeption der
späteren Werke verbindet. In ihr werden nur die Autoren genannt, die
bei Begründung der Moralphilosophie am .weitesten gelangt sind', über
die .Methode der sittlichen Untersuchung1 wird nur insoweit gehandelt,
wie es nötig ist, den Aufbau des Kollegs zu erläutern. Da in diesem Zu-
sammenhang die Engländer und Rousseau erscheinen, war für die Kant-
forschung der Irrtum kaum vermeidbar, daß die in diesen Jahren von
Kant gelehrte Ethik etwa das Gegenteil seiner späteren Überzeugungen
gewesen sein müsse. So entstand die nunmehr revidierte Vorstellung, daß
sich auch in seinem Denken über die Probleme der Moralität gegen 1769
eine grundstürzende Revolution vollzogen haben müsse. Die Forschung
hat noch nicht alle Konsequenzen aus dieser neuen Lage gezogen. Zwei
Fragen sind es, die sich von selbst stellen, wenn es sich erwiesen hat, daß
schon der Magister Kant nach dem ersten Jahrzehnt seiner Dozentenzeit
im Besitz einer eigenen Begründung der philosophia practica war, deren
wichtigste Elemente er auch in die Schriften der kritischen Periode über-
nommen hat: Die erste von ihnen macht den Kantischen Entwicklungsgang
nach 1765 zum Thema. Eine Antwort auf sie müßte erklären, welche Pro-
bleme Kants Nachdenken über Fragen der Moralphilosophie weiter in Be-
wegung gehalten haben. Sie würde zeigen können, daß auch noch die
Differenzen, die zwischen den drei Hauptwerken zur Ethik bestehen, aus
den Problemen dieser Entwicklungsphase zu erklären sind. Die andere
Frage führt zu dem Versuch, den Prozeß verständlich zu machen, der zu
der Position von 1765 geführt hat, die Kant bereits als selbständigen
Theoretiker der Moralität ausweist. Zur Antwort auf diese Frage soll im
Folgenden ein weiterer Beitrag gegeben werden.
Um das Thema einer genetischen Analyse dieser frühesten Ethik Kants
zu differenzieren, muß darauf hingewiesen werden, daß sich die Kantische
Entwicklung in der Moralphilosophie auch nach einem anderen Gesichts-
punkt und somit auf andere Weise in zwei Perioden gliedern läßt. Man
kann in ihr eine Periode der Entstehung einer selbständigen Position von
einer Periode ihrer Entwicklung unterscheiden. Die zweite unterscheidet
sich von der ersten dadurch', daß Kant in ihr im Besitz eines eigenen Leit-
fadens ist, die überkommenen Theorien der Moralphilcsophie zu prüfen
und eine eigene Theorie der Moralität aufzubauen. Dieser Leitfaden ist

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die Untersdieldung zwischen einem Willen, der an und für sich gut Ist,
und einer anderen, bloß respektiven und somit restringierten Güte. Der
Gedanke von einem solchen Unterschied ist offenbar vorauszusetzen, wenn
Kant den Versuch macht, eine Regel der Beurteilung zu finden, durch die
das rechte Wollen ohne Rücksicht auf seinen Erfolg bei der Verwirk-
lichung erkannt werden kann; ein Versuch, der dann zur Formulierung des
kategorischen Imperativs im Jahre 1765 geführt hat. Er liegt auch der
Konzeption einer »Autonomie der Vernunft* zugrunde, und zwar so sehr,
daß diese sich als der Begriff von der Möglichkeit eines für sich guten
Willens darstellen läßt. Kants spätere Entwicklung vollzog sich als eine
Folge von Versuchen, den Begriff der besonderen Güte des Willens zu
entfalten und durchzuhalten gegen alle Motive für eine Theorie, welche
schließlich dazu geführt hätten, ihm seine Stellung als orientierenden
Grundbegriff der Moralphilosophie zu nehmen. Der Weg, der in der Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten vom Begriff des schlechthin guten Wil-
lens zur Formel des kategorischen Imperativs und weiter zur Lehre von der
Autonomie der Vernunft führt, ist auch der historische Weg der Kanti-
schen Ethik gewesen.
Vom Beginn seiner Selbständigkeit an ist Kant in anderer Weise als
zuvor auf die Leistungen derer eingegangen, die ihm vorangingen. Man
darf annehmen, daß^ er bis zur Ausarbeitung jener grundlegenden Unter-
scheidung vor allem damit befaßt war, ihre Theorien zu analysieren und
die Schwierigkeiten aufzudecken, in die sie sich verstricken5). Seit er die
Bedeutung jenes Unterschieds erkannt hatte, mußte er die Theorien der
Vorgänger eher daraufhin mustern, welche Elemente in ihnen dazu dienen
konnten, eine Ethik zu entwickeln, die sich an der Unterscheidung einer
Güte des sittlichen Willens von nur bedingter Güte orientiert. Mit ihrem
Anfang ging die Periode der kritischen Bindung Kants an seine Vorgänger
zu Ende, deren Struktur sich von der folgenden deutlich unterscheiden
läßt, so sehr auch Kants Kritik von Beginn an in systematischer Absicht
erfolgte.
Die erste explizite Darstellung von Problemen der Ethik, die uns aus
Kants Hand überkommen ist, wurde in den letzten Monaten des Jahres
1762 niedergeschrieben6). In ihr gibt Kant der Unterscheidung des guten
Willens Vom glücklichen Erfolg noch nicht die Bedeutung, grundlegend und
systembildend für alle Ethik zu sein. An der Stelle, die ihr später zu-
kommen sollte, findet sich noch eine andere Unterscheidung: die zwischen
der unmittelbaren Notwendigkeit, etwas zu tun und der Notwendigkeit
Beispiele solcher Analysen werden im Folgenden gegeben.
vgl. Vorländer, Einleitung in die Ausgabe der Phil. Bibl. 1905, S. XXII.

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etwas zu tun unter der Voraussetzung, daß etwas anderes schon gewollt
wird. Beide sind Notwendigkeit des Tuns, nicht des Wollens als solchen.
Sie unterscheiden sich nur dadurch voneinander, daß die eine nötigt, Mittel
beizubringen, während die andere nötigt, Zwecke zu verfolgen.
Dennoch kann kein Zweifel daran sein, daß Kant aus dieser Unter-
scheidung nur wenig später jene andere abgeleitet hat, die ihrerseits die
Voraussetzungen zur Entdeckung des Formalismus im kategorischen Im-
perativ enthielt. Sie findet sich in der Reflexion 6484, die mit großer Wahr-
scheinlichkeit früher /anzusetzen ist als die Bemerkungen in Kants Hand-
exemplar zu den Beobachtungen, die aus derselben Unterscheidung die
Formel des kategorischen Imperativs gewinnen. Auch schon in der Schrift
von 1762 lassen sich Züge erkennen, die darauf hinweisen, daß Kant dem
Unterschied zwischen der Notwendigkeit der Zwecke und der necessitas
problematica eine Bedeutung beimaß, die über die in der Schrift selbst ge-
gebenen Formeln hinausdrängen mußte. Um sie aufzeigen zu können* ist
es nötig, näher auf den moralphilosophischen Paragraphen der Preissdirift
von 1762 einzugehen.
Hier muß jedoch zunächst die Stelle angegeben werden, die eine solche
Analyse im Zusammenhang des folgenden Gedankenganges hat, Sie ergibt
sich aus dem Ziel, zu dem er führen soll. Die Preissdirift ist das erste
Dokument für eine Geschichte der Entwicklung Kants in der Ethik, das
unmittelbar zu deren Sachproblemen spricht. Da es zugleich eine Stufe
dieser Entwicklung repräsentiert, die nach unserer neuesten Kenntnis be-
reits an das Ende ihrer ersten Periode gehört, läßt es sich in doppelter
Absicht auswerten: Es ist möglich, es als den Anfang der uns noch zu-
gänglichen Entwicklung Kants zu betrachten und den Versuch zu machen,
deren folgende Stufen auf es zurückzuleiten, soweit nicht äußere Anstöße
zu ihrer Erklärung dienen müssen. Dies ist das Verfahren in der älteren
Literatur gewesen. Es ist aber auch möglich, dieses Dokument und die
Entwicklung, die Kant im Anschluß an die in ihm niedergelegten Gedanken
durchlief, als Grundlage für einen Rückgang in die'Entstehungszeit der
Position der Preisschrift zu gebrauchen, die uns in eigenen Dokumenten
nicht oder doch nur spärlich belegt ist. Der Zusammenhang, der zwischen
der Preisschrift und den auf sie folgenden Quellen besteht, macht es mög-
lich, in ihr selbst jene Voraussetzungen ins Licht zu stellen, die Kant in
der Zeit erarbeitet hat, in der er zu einer Publikation noch nicht hinrei-
chend vorbereitet war und zu ihr auch nicht gedrängt wurde, wie im Falle
der Preisarbeit In dieser Absicht werden wir uns in der Folge der Preis-
sdirift zuwenden. Sie soll dabei helfen, den Ausgangspunkt einer selb-
ständigen Entwicklung Kants in der Ethik zu ermitteln. Dieser Punkt muß

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auf einer Linie liegen, die von der Position von 1765 durch die der Preis-
schrift in die Vergangenheit gezogen werden kann.
Glücklicherweise ist es möglich, auch auf der anderen Seite der Linie
einige Punkte zu markieren, Denn aus der füheren Dozentenzeit Kants sind
einige Quellen überliefert, die zuverlässige Rückschlüsse auf Bedingungen
gestatten, unter denen sich seine Entwicklung in der Moralphilosophie
vollzogen haben muß. Sie reichen zwar nicht aus, um zugleich auch deren
Schritt über gängige Positionen der Zeit hinaus zur Eigenständigkeit zu
rekonstruieren. Man kann sie aber mit dem verbinden, was sich aus dem
Rückschluß von den Dokumenten der Jahre nach 1762 ergibt und auf solche
Weise die Möglichkeiten zur Rekonstruktion verbessern. Wir beginnen mit
Hinweisen auf die früheren Quellen.

I. Kants Kritik der Theodizee von Leibniz und das Problem einer
Begründung der Ethik
Unter den Themen, mit denen sich Kant in den Jahren vor 1760 vor
allem beschäftigte, ist eines, das in besonderer Weise geeignet war, den
Entwicklungsgang seiner Ethik mitzubestimmen: Das Problem einer na-
türlichen Theologie, und zwar in der Gestalt, die Kant in seiner Schrift
über den einzig möglichen Beweisgrund eines Gottesbeweises zur Voll-
endung brachte. Seine Bedeutung ergibt sich daraus, daß es in fast allen
Schriften seit 1755 eine ausgezeichnete Stellung einnimmt. Mit der Hilfe
des Materials im Nachlaß ist es sogar möglich, eine Periode von fast zehn
Jahren zu überschauen, in der Kant dieses Problem vorangetrieben hat7).
Er hatte das Bewußtsein, in ihr einen Beitrag zur Vollendung einer Meta-
physik in der Zukunft geleistet zu haben. Daß diese Meinung zu Recht
bestand, zeigt nicht nur die Originalität der Sache, sondern auch die Re-
sonanz, die sie bei bedeutenden Metaphysikern der Zeit gefunden hat.
Daß der Beweisgrund, den Kant 1762 für eine Demonstration von Gottes
Dasein angibt, der einzig mögliche sei, folgt für ihn nicht allein daraus,
daß alle anderen Beweise faktisch gescheitert sind, sondern auch daraus,
daß sie allesamt einen unangemessenen Begriff von Gott voraussetzen
und deshalb auch außerstande sind, Gottes Dasein außer Zweifel zu
stellen. Die Funktion dieser Schrift über den Gottesbeweis ist es also
ebensosehr, eine rationale Theologie zu entwickeln, die überhaupt von
7
) Dies sind die wichtigsten Quellen in dironologisdier Folge: Refl. 3703—3707,
„Allgemeine Naturgeschichte', vor allem Vorrede und Dritter Teil, Nova DU.
Prop. VII, Scholion, Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus, Der
einzig mögliche Beweisgrund. * ' .

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Gott spricht, das heißt aber von einem Wesen, das schlechthin unweg-
denkbar und somit notwendig, das allgenugsam und somit in keiner
Weise von anderem abhängig ist.
Davon, daß eine solche Theologie bisher nicht bestehef hatte sich Kant
durch eine kritische Revision der Grundlagen von Leibnizens Theodizee
überzeugt. Diese Revision wurde veranlaßt durch eine Preisaufgabe der
Berliner Akademie. Durch ihre „Frage auf das Jahr 1755" hat sie auch
jene Niederschrift bewirkt, die uns in den frühesten Losen Blättern Kants
zur Metaphysik im handschriftlichen Nachlaß überkommen ist. Sie sind
spätestens in das Jahr 1754 zu datieren8). Und auf Grund ihrer ist es mög-
lich, einige Gedanken zu erkennen, die auch für Kants Überlegungen zur
Moralphilosophie bedeutsam werden mußten.
Der Grundriß der Schrift, die Kant plante, läßt sich noch leicht er-
kennen: Er unterschied zwei Systeme der Theodizee: den Optimismus von
Leibniz und eine Lehre, die er Pope's Essay on the Man unterstellte,
auf den sich die Preisfrage der Akademie bezog. Der Vorzug des zweiten
sollte aus den Mängeln des ersten deutlich werden. Um sie aufzuweisen,
hat Kant mit viel Scharfsinn die Grundlagen von Leibniz' Theodizee ana-
lysiert. Und diese Analyse ist der Beginn seiner späteren Bemühungen um
die rationale Theologie gewesen.
Leibniz' „Rechtfertigung Gottes in der Zumutung, daß er vielleicht der
Urheber des Bösen sein möge", (Refl. 3705 9), S. 236) ergibt sich aus dem
Gedanken, Gott habe die Ausnahmen von der Vollkommenheit aller
Dinge in der Welt als unvermeidbar und somit als notwendigen Mangel
erkannt und seine Wahl mit Rücksicht auf das beste Mögliche getroffen.
In diesem Gedanken ist ein Begriff von Verhältnis Gottes zu aller Mög-
lichkeit vorausgesetzt, der in der Konsequenz dazu führt, den Begriff von
Gott selbst aufzuheben. Denn er hat zur Folge, daß man das „höchst
seelige Wesen in eine gewisse Art Mißfallen" versetzen muß. Die wesent-
liche Notwendigkeit, unter der alle möglichen Dinge stehen, »hat etwas,
welches dem allgemeinen Willen Gottes widerstreitet und ihm die Zu-
lassung abnötigt, ohne dessen Wohlgefallen erworben zu haben". Gott
kann die Unvollkommenheit, die er in Kauf nehmen muß, nicht wohlge-
8
) vgl. Adidces, A. A. XVII, 229 Anm.
e
) Zur Methode des Zilierens; Um den Gebrauch aller Ausgaben zu ermög-
üdien, werden Kants Werke nach Kapiteln, Paragraphen und Abschnitten zitiert,
die Reflexionen nach ihren Nummern und eventuell nach der Seitenzahl. Die Werke
anderer Autoren erscheinen, wo möglich, in leicht verständlichen Abkürzungen.
Gleichlautende Titel werden durch Vorausstellen eines Buchstabens gekennzeich-
net (z.B. WMet, BMet, CMet = Wolff Metaphysik, Baumgarten Metaphysik,
Crusius Metaphysik).

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fällig sein, obwohl er den Entschluß billigen kann und muß, sie dennoch
zuzulassen.
Der Fehler im System von Leibniz beruht darauf, daß er den Plan der
besten Welt sowohl in eine Abhängigkeit, als auch in eine Unabhängig-
keit von Gott setzt. Abhängig von Gott ist sie, soweit er sie zum Besten
ordnen kann, nach den Möglichkeiten, die von der wesentlichen Notwen-
digkeit eingeräumt werden. Unabhängig ist sie jedoch dadurch, daß die
Grenzen alles Planens von jener Notwendigkeit vorbestimmt sind Um
diesen Mängeln zu entgehen, muß man die ewigen Naturen in eine Ab-
hängigkeit vom Wesen Gottes bringen. Dann ist es nicht mehr möglich, daß
die Dinge Eigenschaften haben, .die nicht vollkommen zur Ausdrückung
seiner Vollkommenheit zusammenstimmen11 (a.a.O. S. 233/4). Die einzige
Theologie, die solche Bedingungen erfüllt, ist die aus dem Grundgedanken,
der auch noch die Schrift über den Beweisgrund für den Gottesbeweis vom
Jahr 1762 beherrscht: Sie muß zeigen, daß selbst alle Möglichkeit von
Gottes Wesen abhängig ist. Es liegt nahe anzunehmen, daß Kant sich
deshalb nicht um den Preis von 1755 beworben hat, weil er nicht zur
rechten Zeit damit zu Ende kam, den Gedanken von der Abhängigkeit
aller Möglichkeit von Gott auszuarbeiten und gegen den Einwurf zu
schützen, er führe zum Pantheismus oder zur Cartesianischen Lehre von
dem Ursprung aller Möglichkeit in Gottes Willkür. Er hat diese Aufgabe
anscheinend dm Sommer 1755 gelöst, in der Zeit zwischen der Abfassung
der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels und der Nova
Dilucidatio10).
Obwohl die Reflexionen der frühen Losen Blätter auf Fragen der Mo-
ralphilosophie nicht eingehen, ist es doch nicht schwer, die Konsequenzen
zu bemerken, die sich aus ihnen für Kants Urteil über die Leibniz-
Wolffische philosophia practica universalis ergeben mußten. Sie laufen
auf eine Aufhebung auch von deren Grundlagen hinaus. Denn das Schema,
das die Leibnizische Theodizee beherrscht und das der Kantischen Kritik
verfällt, ist dasselbe, das auch der Wolffischen Theorie vom Wesen der
sittlichen Willensbestimmung zugrunde liegt. Nach Wolff wird der Pro-
zeß der Selbstentfaltung der Seele, die vis repraesentativa universi dst,
auf folgende Weise in Gang gehalten: In der Anschauung von Überein-
stimmung, Ordnung und Vollkommenheit von Vorstellungen empfindet die
Seele Lust, durch die sie, nunmehr als Wille, dazu bestimmt wird, sich
in den Besitz des Vollkommenen zu setzen. Eine Ordnung im Gegenstand
ist also der Grund dafür, daß Lust entsteht und daß Wille sich betätigt11).
10
) Zur Differenz zwischen „Nov. Dil.m und .e.m. Beweisgrund" vgl. Klaus
Reich in der Einleitung zur Ausgabe der Phil. Bibl. 1963, S. XLV ff.
») vgl. Psydi. emp. § 511, 880/1, WMef. 878, dazu WMef. II, 9 327.

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Zwischen Wille und Willensobjekt besteht also die gleiche Beziehung wie
zwischen Wille und „ewiger Möglichkeit" in Leibnizens Theodizee.
Daß der Wille zum Guten einen anderen Grund haben muß als die
Gewahrung gegenständlicher Ordnung, folgt aus Kants Kritik an Leibniz
auf doppelte Weise, durch eine immanente Kritik von Leibniz' Gedanken
und durch die Folgerungen, die der Sache nach aus dieser Kritik zu ziehen
sind. Nach Leibnizens Vorstellung besteht in Gottes Wesen ein „uner-
forschlicher Streit zwischen dem allgemeinen Willen Gottes, der nur auf
das Gute abzielt, und der metaphysischen Notwendigkeit der ewigen Na-
turen" (a.a.O. S. 236). Solcher Streit ist aber nur dann verständlich, wenn
— im Willen Gottes ein Prinzip der Beziehung auf Güte gelegen ist, das
aus der Vorstellung möglicher Ordnung in der Welt nicht abgeleitet wer-
den kann. Gott als der Beste überragt also die Notwendigkeit der ewigen
Naturen durch einen nur ihm selbst eigenen Grund des Wollens und
Wohlgefallens, der nur auf das uneingeschränkt Gute geht.
Zu dem gleichen Ergebnis wird man geführt, wenn man erwägt, auf
welche Weise Gottes Wille von einet Theorie verstanden werden kann,
welche selbst die Möglichkeit der Dinge von seinem Wesen abhängig
macht. Einem solchen Gott kann alle Möglichkeit. nicht vorliegen, wie es
die Leibniz-Wolffische Theorie angenommen hat. Wenn das Begehren
Gottes in der gleichen Weise eine Realität sein soll, wie seine Beziehung
zu der ursprünglichen Möglichkeit der Dinge, so kann es nicht vom Vor-
liegen der Möglichkeit abhängen, sondern muß ebenso als Ursprung auf
sie bezogen sein.
Beide Überlegungen nötigen dazu, den Begriff der Vollkommenheit
anders als in der Wolffischen Philosophie zu bestimmen. Er kann nicht
mehr genommen werden als eine Struktur im Gegenstand, von dem der
Wille abhängig ist, sondern muß umgekehrt aus der vorgängigen Be-
ziehung auf Begehren und Wohlgefallen definiert werden. Nicht der Wille
ist vollkommen, der etwas Gutes will, sondern der Gegenstand eines
guten Willens ist das Vollkommene.
In der Schrift von 1762 sind diese Konsequenzen gezogen. Die Unter-
suchungen über den Begriff der Vollkommenheit, über die Kant in ihr be-
richtet, sind also von demselben Problem ausgegangen, das der Schrift
im Ganzen zugrunde liegt. Wahrscheinlich hat er zunächst die von gegen-
ständlicher Vorstellung unabhängige Natur des Willens gegen Wolff zur
Geltung gebracht, um in der Folge den Begriff der Vollkommenheit selbst
umzubilden. Dafür spricht, daß die ersten Reflexionen des Nachlasses zur
Logik, die spätestens in das Jahr 1756 gehören, zwar 'schon vom Willen
wie von einem eigenen Vermögen reden, aber den Wolffischen Begriff

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der Vollkommenheit, der in Meiers Lehrbuch ständig gebraucht wird, nicht
kritisieren, sondern bestätigen12).
Die Nova Dilucidatio von 1775 vertritt zwar die Wolf fische Freiheits-
lehre. Das bedeutet aber durchaus nicht, daß ihr gegenüber dem Grundriß
der praktischen Philosophie bei Wolff und in seiner Schule jede kritische
Distanz fehlte. Es läßt sich in ihr deutlich erkennen, daß Kant die Wolff-
ische Willenstheorie ganz unabhängig von ihren Voraussetzungen in der
allgemeinen Psychologie verteidigt und daß er das Willensphänomen ohne
den Intellektualismus faßt, der für Wolff und auch für Baumgarten cha-
rakteristisch ist. So ist »lubitus' für Wolff die Folge einer Wahl mit dem
Blick auf Vollkommenheit (Psych. emp. § 937 ff), für Baumgarten eine Er-
kenntnis der Substanz vom Grund ihrer Bestimmung zur Handlung (3 Met.
§ 712). Kant aber nimmt ,lubitus' als identisch mit ,voluptas' und erklärt
dies Phänomen aus einer ,Anlockung' (allectamentum) des Willens durch
das Objekt und somit durch ein Wort, das in der Wolf fischen Willens-
lehre keinen Platz finden kann. Denn ihr zufolge liegt der voluptas eine
Erkenntnis der Güte des Objektes zugrunde. Audi in der kleinen Schrift
über den Optimismus vom Jahre 1759 trifft man Kants Identifikation von
Belieben und Gefallen13).
Man muß nun die Frage stellen, auf welche Weise sich der Begriff der
Vollkommenheit dem Inhalt nach verändert, wenn „vollkommen41 nicht
mehr die Struktur eines Gegenstandes ist, die für sich ausreicht, den Willen
zum Handeln zu veranlassen. Zumindest jene Gegenstände, die wegen
ihrer Vollkommenheit begehrt werden, können dann diese Eigenschaft
nur insofern haben, als sie mit einer im Willen selbst gelegenen Tendenz
übereinstimmen. Im Jahre 1762 ist Kant der Meinung, daß es nicht sinnvoll
ist, von dieser aus dem Willen abgeleiteten Bedeutung von Vollkommen-
heit noch eine ontologische perfectio essendi zu unterscheiden14). Alle
Dinge können nur insofern gut und vollkommen genannt werden, als
sie mit einer Begierde zusammenstimmen. Daraus folgt aber, daß es nicht
möglich ist, ein Seiendes allein wegen der Ordnung, die in ihm herrscht,
vollkommen zu nennen. Ist der Wille selbst Grund von Vollkommenheit,
so kann das Gute in den Dingen nur in dem gesucht werden, was er we-
sentlich zur Absicht hat. „Das Gute steckt nur in der Erreichung. des
Zwecks11 und „die natürliche Ordnung hat unmittelbar keinen Grund eines
12
) In diesem Nadilaßstück, das für die Kantisdie Entwicklungsgeschichte be-
rücksichtigt werden muß, vgl. Refl. 1570 mit 1753 und 3316.
1S
) vgl. den vorletzten Abschnitt.
14
j CMet. § 186 ff. Kants Bemerkung in „e. m. Beweisgrund", daß alle Realität
nicht schon dasselbe wie alle Vollkommenheit sei (I, 4, 3.), richtet sich zwar un-
mittelbar gegen Baumgarten (BMet. §§ 147, 190), trifft aber indirekt auch Crusius.

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Vorzuges in sich, weil sie nur nach der Art eines Mittels betrachtet werden
kann" (emB. II, 4,1.).
„Einige stehen in der Meinung, daß das Formale der natürlichen Ver-
knüpfung der Folgen mit ihren Gründen an sich selbst eine Vollkommen-
heit wäre41 (emB. ebd.). Diese Meinung betrachtet Kant offenbar als das
Gegenstück seines Begriffs von Vollkommenheit als Verwirklichung von
Zwecken. Sie ist die Meinung von Christian Wolff, der also nicht nur in
der Willenslehre, sondern ebenso in der Theorie der Vollkommenheit der
Gegner ist, den Kant vor Augen hat.
Wolffs Begriff der Vollkommenheit nun, der dem Anschein nach leicht
aufzufassen ist, witd durch die Motive, die implizit in ihn eingehen, zu
einem Gebilde, das sich nur sehr schwer durchsichtig machen läßt. In der
Folge soll gezeigt werden, daß Kants Weg zur Eigenständigkeit auch in
der Moralphilosophie über eine gründliche Analyse dieses Begriffes ge-
führt hat. Eine solche Analyse mußte noch weit mehr zutage bringen als
die Unterscheidung, deren sich Kant in der Schrift über den einzig mög-
lichen Beweisgrund allein bedient: Zwischen einer Wirklichkeit, die des-
halb vollkommen ist, weil sie mit Zwecken des Willens übereinstimmt,
und einem Zusammenhang von Mitteln, der selbst nicht verdient, voll-
kommen genannt zu werden.
Aus einer Übersicht über die Quellen zur Kantischen Philosophie vor
der Preisschrift von 1762 ergibt sich also, daß die Auseinandersetzung
Kants mit Leibniz' natürlicher Theologie auch einen kritischen Gesichts-
punkt für die philosophia practica von Wolff und der Wolffschule abgeben
mußte. Er nötigte dazu, dem Willen eigene, ihm selbst immanente Prin-
zipien zuzusprechen, die nicht auf den Intellekt zurückgeführt werden
können. In der Folge davon mußte der Begriff der Vollkommenheit um-
gebildet werden. Es ergab sich eine explizite Entgegensetzung zwischen
der Relation von Mittel und Zweck und der Vollkommenheit, die allein
als Verwirklichung von Zwecken des Willens aufzufassen ist. Daß diese
Kritik nicht allein auf eine Rezeption der Polemik gegen Wolff in der
zeitgenössischen Philosophie zurückgeht, ergibt sich daraus, daß sie eine
Folgerung aus einer nur Kant eigenen Problematik ist. Dennoch ist sie
nur wenig originell. In fast allen Zügen ist sie in gleicher Weise Eigentum
der pietistischen Philosophie wie auch des Empirismus der Engländer und
Schotten. Die für den frühen Kant so wichtige Beziehung zu Crusius liegt
auch hinsichtlich ihrer auf <Jer Hand, Daß der Wille eine .besondere, von
dem Verstande unterschiedene Grundkraft' sei, hatten schon Rüdiger und
Hoffmann, Crusius' Gewährsleute, gegen Wolff eingewendet. In gleicher
Weise hat Crusius die Ordnung in den Dingen, auf welche nur der Ver-

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stand bezogen ist, von derjenigen Vollkommenheit unterschieden, die sich
aus der Übereinstimmung mit einem Endzweck des Willens ergibt (C Met
5 185 ff). Crusius und Kant unterscheiden sich nur insoweit voneinander,
als Kant den Sinn von Vollkommenheit schlechthin an den Willen bindet,
während Crusius sowohl eine logische als auch eine ontologische perfectio
einräumt, die nicht aus der Beziehung auf die Zwecke eines Willens defi-
niert werden soll. Diese Differenz besteht auch in der Preisschrift von
1762 fort. Man muß sie im Auge behalten, wenn man den Versuch macht,
auf Grund dieser Schrift und der unmittelbar auf sie folgenden Entwick-
lung den Ursprung der Kantischen Ethik weiter aufzuklären, als es allein
mit Hilfe der frühen Dokumente gelingt.

II. Der Begriff der Verbindlichkeit bei Crusius und Kants Preisschrift
von 1762
Das Besondere der Position Kants im moralphilosophischen Paragraphen
der Preisschrift tritt deutlicher hervor, wenn man sich die Frage vorlegt,
warum Hutcheson und nicht Crusius der Autor ist, den K^nt als seinen
Vorgänger nennt.
Einige Gründe, die sich dafür leicht angeben lassen, sind zu äußerlich,
um für eine befriedigende Erklärung auszureichen: Kant hat niemals
die theologische Interpretation der gesetzlichen Verbindlichkeit von Cru-
sius geteilt, sondern ist jederzeit mit Wolff darin einig gewesen, daß es
eine natürliche Sittlichkeit gibt, deren Wesen nicht in das Bewußtsein
unserer Dependenz von Gott gesetzt werden darf. — Man kann es auch
als sicher annehmen, daß Kant schon zu jener Zeit anthropologische
Untersuchungen über die Bedingungen eines sittlichen Lebens in der be-
sonderen Natur des Menschen anstellte. Sie ergaben sich aus der kos-
mologischen Dimension, welche die Kantische Anthropologie seit der
Schrift über die Naturgeschichte des Himmels besaß. Schon in ihr nimmt
Kant Rücksicht auf besondere Einschränkungen, denen die Sittlichkeit im
Menschen auf dieser Erde unterliegt und die sich nicht allein schon daraus
ergeben, daß er ein endliches Wesen ist15). Nach Rousseaus Vorbild hat
er seinen frühen Ansatz später zu einer eigenen Methode sittlicher Unter-
suchungen ausgebaut. Sie konnten von den empirisch-psychologisch orien-
tierten Arbeiten der Engländer eher gewinnen, als von der abstrakt-
analytischen Psychologie von Crusius oder gar von den Deduktionen aus
dem Wesen der Seele in Wolffs Metaphysik.
16
) vgl. III. Teil der „Allgemeinen Naturgeschichte'.

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Beide Gründe zusammen erklären zwar, warum sich Kant Hutdieson
näher als Crusius fühlen konnte. Die Probleme aber, die er in der Preis-
schrift behandelt, sind solche einer Grundlegung der Ethik in der all-
gemeinen praktischen Philosophie. Und auf diesem Felde stimmt Kant mit
Crusius in einem Maße überein, das eine besondere Erklärung dafür ver-
langt, daß er sich nicht auf ihn, sondern auf Hutcheson beruft, obwohl im
theoretischen Teil der Schrift Crusius als derjenige zitiert wird, der „der
rechten Denkungsart der Philosophie" nahe ist (§ 3). Es hat den Anschein,
daß diese Übereinstimmung, die angesichts der Priorität der Theorie von
Crusius auf eine Abhängigkeit hinausliefe, sich auch auf die beiden.
Thesen Kants erstreckt, die er besonders hervorgehoben hat: Auf die
Unterscheidung der beiden Weisen des Sollens, die er sich selbst als Ver-
dienst anrechnet, und auf die Lehre vom Gefühl als Ursprung sittlicher
Gewißheit, die er Hutdieson zuschreibt.
Was die erste anlangt, so ist schon gezeigt worden, daß sie ins-
besondere in der Formulierung, die sich in der Preisschrift findet, ohne
den Vorgang von Crusius nicht verständlich gemacht werden kann16). Er
ist es gewesen, der gegen Wolff den Unterschied zwischen dem Streben
nach Zwecken, von denen geboten ist, daß man sie haben soll, und dem
klugen Gebrauch von Mitteln bei der Suche nach dem Glück zur Geltung
gebracht hat, In Formulierungen, denen die Kantischen sehr nahekommen,
hat er gegen Wolff eingewendet, man könne zwar alle Pflichten als
Mittel zur eigenen Vervollkommnung darstellen, jedoch beseitige man in
ihnen dann gerade das, was sie zu Pflichten und somit zu moralischen
Willensbestimmungen macht17).
Aber auch in der zweiten These scheinen Crusius und Kant ganz ähn-
licher Meinung zu sein. Crusius lehrt die unableitbare Eigenständigkeit
des Willens, die sich nicht aus dem Verstande begreifen läßt. Daraus
folgt, daß ,Wille' für sich allein nicht ausreichend ist, um bestimmtes
Wollen zu veranlassen. .Wollen' ist nur ein allgemeiner Begriff, „eine
wollende Kraft aber etwas Determiniertes41 (Met. § -447). Es muß also
Triebe geben, durch die alles Wollen von Etwas ermöglicht wird. Und
wenn auch viele Triebe auf andere zurückgeführt werden können, so
müssen ihnen allen doch gewisse beständige Grundtriebe in der Seele
vorausgehen. Sie richten sich auf ein Objekt. Die Vorstellung von ihm
muß also angeboren sein. SIQ dst aber dem Trieb immanent, nicht das
Produkt einer Leistung des Verstandes. Allen moralischen Endzwecken
und den Akten, vermittels deren sie gewollt werden, liegt der Gewissens-
1
) vgl. Schmucker a. a. O., S. 86.
17
) CMet § 131, CMor. 5 162 u. eu

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trieb zugrunde. Audi das Gewissen ist kein theoretisches Urteil des Vei
Standes, was man ,auch schon daraus urteilen kann, weil es erfreuet und
ängstigt* (Mor. § 132). In diesem Zusammenhang erkennt Crusius auch
die Existenz eines .moralischen Geschmacks' an. Ihm liegen unsere Emp-
findungen zugrunde, die wir haben .von der Übereinstimmung oder dem
Streite der Sachen mit gewissen Begierden unseres Willens" (Mor.
§ 108)18).
Diese Crusianischen Lehren sind Kant gewiß bekannt gewesen. Auf
die Schriften von Crusius zur theoretischen Philosophie ist er oft ein-
gegangen. Und wenn er den Begriff der necessitas legalis auch in An-
lehnung an seine Metaphysik hätte bilden können (Met. § 131), so steht
doch fest, daß er auch seine Moral gründlich studiert hat. Noch bei der
Niederschrift der Kritik der praktischen Vernunft erinnerte er sich des
Beispiels von König Franz und Kaiser Karl, die in ihrem Willen über-
einstimmen, Mailand zu besitzen. Crusius gebraucht es im § 125 seiner
Moral.
Darf Kant also behaupten, daß der Begriff der Verbindlichkeit noch
wenig bekannt sei, und sich fast demonstrativ auf Hutcheson und nicht
auf Crusius berufen, wenn er die Bedeutung des moralischen Gefühls
hervorhebt? Eine Antwort auf diese Frage wird man am leichtesten finden,
wenn man auf das achtet, wodurch sich Kants Gedanken von der Natur
der Verbindlichkeit, die offenbar auf Crusius zurückgehen, nichtsdesto-
weniger von dessen Lehre unterscheiden. Es wird sich dann nämlich
zeigen, daß sie polemisch formuliert sind nicht nur gegen Wolff (und
darin in Übereinstimmung mit Crusius), sondern ebensosehr gegen
Crusius selbst. Nach Kant sind aber die Mängel in der Analyse des Be-
griffs der Verbindlichkeit verantwortlich zu machen für die Dunkelheit
und den Mangel an Evidenz in der praktischen Weltweisheit. Es ist des-
halb wahrscheinlich, daß sich auf diese Weise auch erklären läßt, warum
Hutcheson Kant in der Preisschrift, wie überhaupt in der Zeit sedner
ersten Kollegs zur Moralphilosophie so »ausnehmend wert* gewesen ist19).
Kant teilt mit Crusius die Auffassung, daß der Begriff der Verbind-
lichkeit zu den ersten Begriffen der praktischen Weltweisheit gehört. Im
zweiten· Satz des § 2 (IV) der Preisschrift. übernimmt er auch die Defini-
tion von Crusius, der gemäß Verbindlichkeit ein Zustand ist, in dem eine
moralische Notwendigkeit besteht, daß dieses getan oder jenes gelassen
18
) über den Zusammenhang zwischen der deutschen Wolffkritik und dem eng-
lischen Empirismus liegt noch keine SpezialUntersuchung vor.

) vgl. Borowski in seiner Kantbiographie, ed. Deutsche Bibliothek, Berlin 1912,
S. 78.

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werden soll (CMor. § 160, vgl. § 164 Anm.). Kant weicht aber von Crusius
darin ab, daß er nur solches »Sollen1 Verbindlichkeit nennt, das unmittel-
bar Zwecke gebietet. Crusius hatte zwei Weisen von Verbindlichkeit an-
genommen: Die der Tugend und die der Klugheit (CMor. § 162). Diese
zweite bezieht sidi auf die Notwendigkeit der Wahl der rechten Mittel
und ist dem nahe verwandt, was Kant necessitas problematica nennt. Sie
ist nicht mit ihr identisch. Denn wenn Crusius die Verbindlichkeit der
Klugheit nur auf solche Zwecke bezieht, „welche wir vermöge unserer
Natur begehren" (CMor, ebd.), so besteht nach Kant eine necessitas pro-
blematica mit Rücksicht auf die Mittel, die irgendwelchen Zwecken dienen,
ganz gleich von welcher Art. Daß Klugheit nicht unter die Verbindlich-
keiten gezählt werden darf, will Kant klarmachen, indem er darauf hin-
weist, daß kein Unterschied besteht zwischen dem Gebrauch von solchen
Mitteln, die unsere Glückseligkeit befördern, und Mitteln, die geeignet
sind, eine Strecke zu halbieren (zwei Kreuzbögen). Die Formulierung:
„beides sind gar keine Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines
geschickten Verhaltens" muß als ein Einwand gegen Crusius gelesen
werden20). Dieser Einwand bleibt eher implizit, da der schärfste Angriff
der ganzen Schrift wie auch dieses Paragraphen gegen die Meinung der
Wolffianer geht, daß in ihrer philosophia practica Deutlichkeit und Evi-
denz herrsche. Die These des Paragraphen ist aber nicht auf eine Po-
lemik gegen Wolff eingeschränkt. Zeitgenössische Leser mußten sie als
eine Distanzierung auch von Crusius verstehen. Der Einwand gegen ihn
ist in der Substanz kein anderer als der gegen Wolff: Er hat den Begriff
der Verbindlichkeit nicht hinreichend aufgeklärt.
Man muß sich diesen Einwand weiter ausgeführt vorstellen, wenn man
sich in den Gesichtspunkt versetzen will, von dem aus Kant im Jahre 1762
die Aufgaben einer Grundlegung der Ethik beurteilte. Indem Kant Crusius'
Unterscheidung der beiden Bedeutungen von »Sollen' übernimmt, erkennt
er zwar an, daß er mit Recht Distinktionen gegen die Wolffische Philo-
sophie vorgebracht hat, die deren Monismus auch in der Willenslehre
sprengen. Zugleich aber hat er diese Distinktionen nicht bis zu der Klar-
heit gebracht, die nötig ist, um die besondere Problematik der praktischen
Philosophie zu erkennen. Ohne über den Ursprung des Bewußtseins vom
Sollen nachzudenken, stellt sie zwei praktische Notwendigkeiten neben-
einander. Die eine von ihnen ,ist aus dem Gebrauch des Verstandes im
Handeln leicht zu verstehen? es ist gar nicht nötig, sie aus der Klugheit
abzuleiten, die als Beziehung auf die uns wesentlichen Zwecke zu denken
ist. Um so schwieriger aber ist es, die andere Notwendigkeit .in einem
Sollen zu begreifen, das zu wirklicher Verbindlichkeit führt.
») Mitte des 1. Abschnitts von IV, § 2.
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In der Tat hat Crusius keine besondere Anstrengung unternommen,
die gesetzliche' Verbindlichkeit verständlich zu machen. Sie ergibt sich
daraus, daß neben zwei anderen Grundtrieben in der Natur des Menschen
auch ein .Gewissenstrieb' besteht, der auf die angeborene Vorstellung
von einem göttlichen Gesetz geht und der dazu bewegt, dieses Gesetz
um des Bewußtseins der Depedenz von Gott willen, also aus Gehorsam
zu befolgen (CMet. § 452, CMor. § 132). Daß ein besonderer Trieb vor-
liegen muß, wenn bestimmtes Wollen Zustandekommen soll, ergibt sich
unmittelbar aus der Psychologie, derzufolge fWille' für sich allein etwas
Abstraktes und Unbestimmtes ist (CMet. § 447). Er hat sich aber die ent-
scheidende Frage nicht gestellt, wie es überhaupt möglich ist, daß ein
Trieb auf ein Gesetz geht, das zugleich die Forderung einschließt, es solle
gemäß diesem Gesetz gehandelt werden. Geht der Trieb auf das, was das
Gesetz gebietet, so geschieht die Handlung auf Grund des Verlangens,
nicht der gesetzlichen Nötigung in der Verbindlichkeit. Ist aber die ge-
setzliche Nötigung der Grund der Handlung, so kann sie es nicht durch
einen Trieb sein, der vorgängig schon auf Gehorsam und Erfüllung des
Gesetzes geht. Die theologische Wendung in der Ethik von Crusius ist
nur deshalb scheinbar ohne Bruch möglich, weil eine Analyse der in die
Lehre vom Gewissenstrieb eingehenden Vorstellungen unterblieben ist.
So hat Crusius zwar richtig die Verbindlichkeit zu Zwecken als Eigen-
tümlichkeit des sittlichen Phänomens angegeben, er hat sie aber nicht ver-
ständlich gemacht. Und eben das hätte geschehen müssen, wenn der ,erste
Begriff der Verbindlichkeit' vollständig hätte bekannt werden sollen. Es ist
klar, daß Kants Andeutungen über das Ergebnis seines langen Nach-
denkens einen Begriff davon vermitteln, sollen, auf welche Weise es
möglich sein könnte, das von Crusius übergangene Problem zu lösen und
den Ursprung der Vorstellung von der Verbindlichkeit aufzuklären. Der
letzte Satz des Paragraphen kommt ausdrücklich auf diese Aufgabe zurück
und weist das Vorhergehende als einen Beitrag nur zu dieser Frage aus.
Nachdem Kant, ebensosehr im Anschluß an Crusius wie im Gegenzug
zu ihm, sein Problem so weit entwickelt hatte, konnte er die Trieblehre
seines Vorgängers unmöglich noch als ausreichende Grundlage für eine
Theorie des Sittlichen übernehmen. Der Ursprung der Verbindlichkeit muß
auf andere Weise verstanden werden, jedoch so, daß das Resultat er-
halten bleibt, das schon Crusius erzielt hatte, daß nämlich Verbindlich-
keit nicht wie die necessitas problematica aus der Vernunft bewiesen
werden kann. Schon Menzer hat mit Recht bemerkt, daß Kants eigener
Versuch unter anderem darin besteht, die crusianische Unterscheidung

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von formalen und materialen Grundsätzen für die Ethik zu übernehmen21).
Man könnte meinen, daß sich Kant auf diese Weise als konsequenter
Schüler von Crusius erweise. Das Gegenteil ist der Fall. Kant will mit
Hilfe dieses Unterschieds, den er in der Ethik von Crusius nicht fand und
nicht finden konnte, einen Mangel beseitigen, der Crusius daran gehindert
hat, in die praktische Philosophie hinreichende Deutlichkeit zu bringen.
Hier ist nicht der Ort, die Schwierigkeiten zu entwickeln, in die Kants
eigener Entwurf deshalb kommen muß, weil in ihm das Verhältnis der
formalen zu den materialen Gründen der Verbindlichkeit nicht eindeutig
und nicht widerspruchslos gefaßt worden ist. Es genügt, darauf zu
achten, daß beide Gründe dazu dienen sollen, das Bewußtsein der Ver-
bindlichkeit verständlich zu machen. Der formale Grund, ob er nun durch
Abstraktion zustande kommt oder ob ihm ein von den materialen Ge-
fühlen verschiedenes besonderes Bewußtsein zugrunde liegt, stellt dem
Willen die Verbindlichkeit als solche vor. Die materialen Gründe in den
Gefühlen des Guten ergeben Postulate, Grundsätze der Beurteilung von
Handlungen und der Aufforderung zu ihnen. Sie können nicht auf einen
Trieb zurückgeführt werden, der wie jeder andere Trieb in der Seele
wirksam ist. Er könnte kraft seiner Struktur nicht ursprünglich eine In-
stanz der Beurteilung und der Aufforderung zum Handeln sein.
Die Trieblehre von Crusius und Kants Hinweis auf das Gefühl als
Quelle aller Verbindlichkeit haben wohl den Gegensatz gegen den Wolf-
fischen Rationalismus miteinander gemeinsam. Sie unterscheiden sich aber
dadurch voneinander, daß Kant mit dem Begriff des Gefühls einen Sach-
verhalt verständlich machen will, den Crusius zwar auch bemerkt hat,
dessen Besonderheit er aber nicht gerecht geworden ist.
Sieht man dies, so ist es nicht mehr verwunderlich, daß Kant sich
mit Hutcheson mehr als mit Crusius verbunden wußte 22 ). Hutdieson hat
zwar den Begriff des moral sense nicht gebildet, um den Begriff der Ver-
bindlichkeit aufzuklären. Im übrigen aber geht in die Definition von
„moral sense* alles das ein, was Kant in der Ethik von Crusius entbehren
mußte: Er ist ein Gefühl, das sich von allen Gefühlen in der Befriedigung
eines Triebes dadurch unterscheidet, daß es ursprünglich dazu bestimmt
ist, über andere Triebe und Gefühle eine Kontrolle auszuüben, indem es
bewirkt, daß sie mißbilligt oder gebilligt werden, als schön oder als häß-
*l) vgl. Kantstudien II, 1898, -S. 305 ff. f aber ohne Kenntnis des Textes von
Crusius.
**) In meinem Aufsatz über „Hufcheson und Kant", vgl. Anm. 2, war diese
Frage noch unbeantwortet geblieben. Wie ich nachträglich ^sehe, finden sich die
ersten brauchbaren Hinweise auf Hutcheson bei Josef Bohatec,* .Die BeJ/gions-
phisosophie Kants.. /, Hamburg 1938, S. 89 ff.

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lieh erscheinen23). Aus diesem Bewußtsein könnte sich die Vorstellung
von einer Verbindlichkeit entwickeln lassen. Das ist Kants Meinung im
Jahre 1762 gewesen.
Daß dabei allerdings große Schwierigkeiten zu erwarten sind, ge-
steht er selbst offen ein. Es muß geklärt werden, daß es zulässig ist, aus
einem Gefühl Grundsätze für alles Handeln abzuleiten. Und dazu ist es
nötig, den Begriff dieses Gefühls anders zu fassen, als in Hutchesons
Theorie geschehen war, nämlich als „ersten, -inneren Grund des Begeh-
rungsvermögens41 24), nicht als ein besonderes Gefühl neben anderen.
Dann wird es allerdings schwierig, die vielen besonderen materialen
Grundsätze, denen auch viele Empfindungen zugrunde liegen müssen,
aus einem Gefühl zu erklären, das anscheinend ein singulare tantum
sein muß.
Wir wissen, daß nur kurze Zeit vergangen ist, bis Kant seinen Ent-
wurf von 1762 aufgegeben hat. Er hat dann den ersten inneren Grund des
Begehrungsvennögens konkreter als Freiheit gefaßt und das Gefühl, das
aller Billigung zugrunde liegt, näher bestimmt als Gefühl von der inneren
Allgemeinheit, Soziabilität und größten Ausweitung der Freiheit in sich25).
Damit war das Problem, das 1762 hinsichtlich der Beziehung zwischen den
formalen und den materialen Prinzipien der Verbindlichkeit bestand, in
der Weise gelöst, welche für die gesamte Ethik Kants charakteristisch ge-
worden ist. Dieser Lösung liegt die Einsicht zugrunde, daß die sittliche
Verbindlichkeit eine Forderung für das Wollen und für das Handeln auf-
stellt und daß es darauf ankommt, diesen Sachverhalt nicht nur anzuer-
kennen, sondern hervorzuheben und in der Theorie über den Grund der
Verbindlichkeit zu erklären. Diese Einsicht ermöglicht es erst, den kate-
gorischen Imperativ als Regel der inneren Allgemeinheit nur des Wollens
zu formulieren. Kant wird spätetens im Jahre nach der Preisschrift in
ihren Besitz gekommen sein.
w
) Im Gesamtzusammenhang der neueren Ethik ist es das Besondere der
Schule der Moralphilosophie, die auf Shaftesbury zurückgeht, daß ihr wichtigstes
Problem das der Billigung von Handlungen und Neigungen war. Dieses Phänomen
nötigt dazu, die Reflexivität des sittlichen Bewußtseins zum Thema zu machen. Die
Interpretationen der früheren Moral-sense Schule gehören deshalb in die unmit-
telbare Vorgeschichte einer Ethik, die Theorie des Selbstbewußtseins ist.
**) Preissduift, letzter Satz vor der Nachschrift.
M
) In den lateinischen „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl
des Schönen und Erhabenen",, A.A. XX, vor allem. S. 147—162.

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III. Der Begriff der Vollkommenheit bei Wolff und der Ausgangspunkt
der Kantisdien Ethik
Der Weg Kants auf dem Gebiet der praktischen Philosophie hatte mit
einer Unterscheidung zwischen den Prinzipien des Willens und des Ver-
standes begonnen. Er war dann dazu fortgeschritten, den Begriff der Voll-
kommenheit dem der Realität dadurch entgegenzusetzen, daß er ihn an
den des Willens band und mit Rücksicht auf die Verwirklichung von
Zwedcen dachte. Damit war er nicht nur von Wolff, sondern auch von
Crusius abgewichen. Die besonderen Probleme der Ethik sind aber in
diesen Unterscheidungen noch nicht berücksichtigt. Die Preisschrift von 1762
läßt erkennen, daß Kant sie in der gleidien Weise zu fördern suchte:
Durch eine Analyse, die Differenzen zwischen Vorstellungen und Begriffen
angibt, welche vorher außer acht gelassen worden sind. Solche Differenzen
sind die zwischen der Verbindlichkeit und der necessitas problematica
(1762) sowie zwischen der Güte des Bezweckten und der Güte der bloßen
Absicht (des Zweckes selbst), also des Willens als eines solchen (wahr-
scheinlich 1763).
Das Verfahren dieser Analyse entspricht dem Begriff von der Methode
der Philosophie, den Kant zur gleichen Zeit für den allein angemessenen
hielt: Zusammengesetzte Begriffe auflösen, ihre Elemente voneinander
unterscheiden und zuletzt auf einfache Begriffe zurückbringen. Betrachtet
man es unter historischen Gesichtspunkten, so ist es das Verfahren, das
die zeitgenössischen Philosophen entwickelt haben, um sich den Sophis-
men der Wolffischen Philosophie und ihren monistischen Vorstellungen
von einer Deduktion aller Erkenntnis zu entziehen. Auch Kant hat es
zuerst bei der Kritik der Fundamente des Leibniz-Wolffischen Systems
gebraucht. Noch in der Preisschrift ist der Kampf gegen die Wolffianer
das dominante Motiv. Aus den frühesten Reflexionen zu Baumgartens
Initia philosophiae practicae universalis können wir entnehmen, daß Kant
die bei Wolff außer acht gelassenen Unterscheidungen als erste Korrek-
turen in sein Exemplar des neuen Kollegtextes eingetragen hat 26 ). Auch
die Untersuchungen über den Begriff der Vollkomenheit, von denen Kant
in der Schrift zum Gottesbeweis berichtet, gewannen ihre Dringlichkeit
aus den Schwierigkeiten in dem von Wolff überkommenen Begriff 27 ).
Man muß also davon ausgehen, daß alle Differenzierungen, die Kant
hinsichtlich der Grundbegriffe der Ethik gelangen, als ersten negativen
Bezugspunkt die Wolffisdie philosophia practica voraussetzen, in der

») z.B. Refl 6456, 6463.


vgl. 1,4,3 mit 1,4,4 4. Absatz und 11,4,1 1. Absatz.

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gleichen Weise, wie sein Entwurf einer rationalen Theologie die für ihn
durch Leibniz repräsentierte Gotteslehre der Tradition. Zur Auseinander-
setzung mit ihnen war er schon allein dadurch in noch höherem Maße als
Crusius veranlaßt, daß er seit dem Wintersemester 1756/57 in ziemlich
regelmäßiger Folge nach Texten der Wolffschule Kolleg las. Aus der Ent-
stehungsgeschichte anderer Lehrstücke in der kritischen Philosophie
wissen wir bereits, daß bei ihrer Erklärung der konkrete Zusammenhang
des Lehrbuches von Baumgarten ein wichtiger Faktor ist28). Hat man
diesen Zusammenhang auch für die praktische Philosophie vor Augen, so
wird man die Dynamik in der Entwicklung auch der Ethik Kants besser
verstehen können.
Es muß allerdings eigens begründet werden, in welchem Sinne und aus
welchem Grunde im Falle der Moralphilosophie der Rückgang auf Christian
Wolff selbst erlaubt ist. Denn für die Metaphysik ist es eben Baumgarten
und nicht sein Lehrer, von dem man Aufschluß über Motive in Kants Ge-
dankenentwicklung erhält. Unmittelbare Wirkungen der Werke von Wolff
selbst lassen sich in dieser Disziplin kaum nachweisen. Im Falle der prak-
tischen Philosophie bestanden aber andere Bedingungen. Im Jahre 1740
war die Ethica philosophica von Baumgarten erschienen. Nur nach ihr hat
Kant Kolleg gelesen, bis zum Erscheinen der Initia philosophiae practicae
primae, die aber erst 1760 herauskam. Die Ethica ist ein im Inhalt gegen-
über Wolff weitgehend unabhängiges Buch, ein Umstand, der noch nicht
beachtet wurde, der aber wichtig ist für das Verständnis der konkreten
Gehalte der Kantischen Lehre von den Pflichten. In ihren ,Prolegomenaf
erscheinen die Wolffischen Formeln für die sittlichen Imperative,. ohne
daß sie begründet würden (§ 10). Die Vorrede verweist ausdrücklich auf
Wolff als auf den Autor, dem der Verfasser am meisten verdankt. Nur in
Wolffs eigenem Werk also konnte Kant die Aufklärung über die Grund-
lagen der Ethik erhalten, die für eine kritische Analyse unerläßlich war.
Einige Grundbestimmungen von dessen Theorie werden zwar aus der
Ontologia entnommen und konnten deshalb für Kant dort unmittelbar zu-
gänglich sein. Für sie würde dann wiederum Baumgarten der Kantische
Gewährsmann sein, dessen Metaphysica bereits 1739 erschienen war. Bei
den ontologisdien Bestimmungen von Vollkommenheit, wie auch bei den
psychologischen über den Willen, hat es .jedoch keine Differenzen zwi-
schen Wolff und Baumgarten gegeben. Durch die Publikation der Initia
philosophiae practicae primae ist allerdings ein neues Moment in Kants
Untersuchungen über Moralphilosophie gekommen. Denn dieses Werk

M) Vf. .Der ontologlsdie Gottesbevreis', Tübingen I960, S. 62 ff.

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entwickelt die Grundbegriffe der Ethik in einer von Wolff ganz abwei-
chenden Folge und vielfach auch in einem anderen Sinn. Kant sieht aber
schon in der Preisschrift auf eine .lange1 Zeit des Nachdenkens über Grund-
fragen der Ethik zurück. Die noch frühere Schrift über den Gottesbeweis
läßt bereits Ergebnisse seines Nachdenkens erkennen. Es ist deshalb nicht
möglich, Kants Kritik an Wolffs Theorien aus Baumgarten allein zu ver-
stehen. Die Begründungen von Wolff selbst müssen ihm vorgelegen haben.
Kennt man sie in ihrem Zusammenhang, so ist es möglich, wenigstens
den Ausgangspunkt der Bewegung zu verstehen, in der Kant sich nicht
nur von Wolff, sondern von der gesamten Ethik seiner Zeit abgesetzt hat.
Weiteres muß Studien über die Entwicklung Kants im Zusammenhang der
Diskussion über Grundlagen der Ethik zwischen Schülern und Gegnern
Wolffs überlassen bleiben.
Als Kants Ethik ausgereift war, wurde auch Wolffs Moralprinzip unter
die ,materialen Bestimmungsgründe1 eingereiht und somit dem Verdikt
unterworfen, Heteronomie zu sein und auf „das allgemeine Prinzip der
Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit" hinauszulaufen29).
Dieses Verdikt hat viele Voraussetzungen in Kants eigener Psycho-
logie des Begehrens, von denen man weder annehmen kann, daß sie schon
zur frühesten Zeit der eigenständigen Entwicklung Kants bestanden, noch
auch daß sie geeignet sind, den eigenen Sinn der mit ihrer Hilfe kriti-
sierten Theorien wiederzugeben. Selbst in der Kritik der praktischen Ver-
nunft läßt sich der Gang des Gedankens von Lehrsatz I unmittelbar zu
Lehrsatz III führen. Es ist nicht notwendig, die eine Lehre, daß alle ma-
terialen Bestimmungsgründe empirisch sind, durch die andere zu stützen,
daß empirische Bestimmungsgründe immer auf dem Glücksverlangen be-
ruhen. Man muß sich also davor hüten, mit den späten und reifen Ge-
danken Kants, die'über viele Zwischenglieder vermittelt sind, den Ge-
sichtspunkt erfassen zu wollen, von dem aus er die Wolffische Moralphilo-
sophie zu einer Zeit betrachtet hat, in der er noch nach einem Ansatz zu
einer befriedigenden Theorie der Moralität suchte. Eine auch nur flüchtige
Kenntnis von Wolffs Ethik macht es zudem ganz unmöglich, sie für eine
M
) Neben dieser Reduktion Wolffs auf das Gemeinsame aller Ethik vor Kant
(Kr. d. pr. V. Orig. 40) finden sich noch mehrere anders lautende Diagnosen der
Wolf fischen philosophia practica. Es wäre interessant, sie unter dem Gesichtspunkt
zu untersuchen, wie die Wolffstudien der frühesten Entwicklungszeit in Kants
Erinnerung wirksam werden. Auf die Stellen Kr. d. pr. V. Orig. 70 und Grundig.
A. A. 390/91 sei ausdrücklich verwiesen. Sie sind sehr geeignet, die folgende Inter-
pretation zu unterstützen: Kants Einwände laufen darauf hinaus, daß Wolff den
schon für die Fragestellung der Ethik entscheidenden Unterschied nicht ausge-
arbeitet hat. Mit einem Einwand dieser Art gegen Wolff hat Kant schon lange
vor 1762 seinen eigenen Weg in der Ethik begonnen.
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Theorie zu halten, die Moralität aus Selbstliebe erklären will. Das Gegen-
teil scheint der Fall zu sein.
Denn die Philosophie Wolffs faßt den Willen als eine „inclinatio
animae ad objectum11 (Psych. emp. § 579), die auf das Gute um seiner
selbst willen geht. (Psych. emp. § 586 ff.). Der Wille neigt sich einer Sache
nicht zu, weil er durch die Erwartung von Lustgefühlen bewegt wird. Das
kann schon deshalb nicht geschehen, weil der Akt der Lust, der dem Wollen
allerdings vorausgehen kann, selbst nur eine anschauende Vorstellung
einer Vollkommenheit in der Sache ist. (Psych. emp. § 511, u. Met. § 403).
Mit der Erkenntnis des Guten ist er von einer Art, und Bewegungsgrund
für den Willen wird er nur, weil er eine Güte vorstellig macht. Das Gute
an sich bewirkt also die Lust in eben der Weise, wie es den Willen
bewegt. Nichts wird darum gut genannt, weil es in den Zustand der Lust
versetzt oder weil ein Wollen auf es geht, das in ihm seine Befriedigung
findet. Für eine Theorie, die Sittlichkeit auf Selbstliebe reduziert, fehlen
bei Wolff alle psychologischen Grundlagen.
Dagegen kann man Wolff mit Recht entgegenhalten, daß nach seiner
Meinung jegliches Gefallen selbstlos ist und alles Begehren sich nur auf
das Gute richtet. Die Freude an der sittlichen Vervollkommnung des Men-
schen und der Genuß einer gut bereiteten Mahlzeit sind für ihn Akte von
ein und derselben Art. Sie unterscheiden sich nur durch den Grad der
Lust, gemäß der verschiedenen Höhe der Vollkommenheit, die in ihnen
zur Anschauung kommt. Man wird unterstellen dürfen, daß Kant diesen
Einwand gemacht haben wird. Denn schon in der Preisschrift ist es seine
Lehre, daß man zwei Weisen des Begehrens voneinander unterscheiden
muß, die der Art nach verschieden sind: Ein Begehren, das auf der inneren
Schönheit einer Sache beruht, und ein Begehren, das unmittelbar auf
Zwecke der Glückseligkeit geht. Wolff hat diesen Unterschied ignoriert
und darum beide mißverstanden.
Die Theorie Wolffs über Lust und Wille ist eine Folgerung aus dem
monistischen Aufbau seines Systems. Weil die Grundkraft der Seele eine
Vorstellungskraft ist, müssen alle anderen Phänomene in ihr interpretiert
werden als Folgen einer gegenständlichen Vorstellung. So kann die Lust
nur die Vorstellung von Gegenständen bestimmter Struktur sein und der
Wille nur* die Anstrengung der Seele, entweder solche Vorstellungen zu
entwickeln oder in ihnen zu verharren. Daß dieser Monismus mit Hilfe
von Sophismen begründet werden kann, muß hier nicht im einzelnen nach-
gewiesen werden30). Dagegen ist es nötig, weitere Konsequenzen zu be-
achten, 'die sich aus ihm für die praktische Philosophie ergeben.
30
) vgl. Anra. 4, S. 95.

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Es ist nicht möglich, eine psychologische Theorie wie die Wolffische
über Lust und Wille aufzubauen, wenn nicht auch die intentionalen Kor-
relate dieser objektivierenden Akte als Strukturen von reiner Objekti-
vität gefaßt werden. Solche Strukturen sind die des ,perfectum' und des
»bonum4. Diese Begriffe hat Kant nach eigenem Zeugnis mit besonderer
Aufmerksamkeit »zergliedert. Die Definitionen, die Wolff für sie gegeben
hat, führen aber zu denselben Schwierigkeiten, die sich auch in seiner
Lehre von Lust und Wille aufweisen lassen: Zwei voneinander ganz ver-
schiedene Arten von Güte werden nicht unterschieden. In diesem Falle
geschieht das jedoch auf eine Weise, die nicht nur im Hinblick auf die
Phänomene kritisiert werden muß. Die Schwierigkeiten treten im Gang
der Theorie selbst hervor.
Wolff s Begriff der Vollkommenheit ist schon zu seiner Zeit häufig
kritisiert worden, besonders mit Rücksicht auf seinen Gebrauch in der
Moralphilosophie. Vollkommenheit ist ein .consensus in varietate1 (Ontol.
§ 503). »Der Wandel des Menschen besteht aus vielen Handlungen; wenn
diese alle mit einander zusammenstimmen, ... so ist der Wandel, des
Menschen vollkommen* (WMef. 152). Wolff hat auf diese Weise ein for-
males Kriterium für die Güte von Handlungen gewinnen wollen. Dieser
Versuch hat für die Geschichte der Entdeckung des kategorischen Impera-
tivs eine gewisse Bedeutung, wenn er audi nach Kants Meinung durchaus
gescheitert ist. Denn Wolffs Regel ist nach Kant ebenso wie nach der
Meinung früherer Wolffgegner tautologisch: auch die üblen Handlungen
eines Bösewichts stimmen zueinander. Wolff selbst hat diesen Einwurf
für unberechtigt gehalten51).
Denn zu jeder Übereinstimmung gehört ein Gesichtspunkt, unter der
sie als solche bemerkt werden kann. Gleichheit läßt sich zwar daran er-
kennen, daß verschiedene Dinge dieselben Eigenschaften haben. Consen-
sus ist aber eine Ordnung, in der sie realiter aufeinander bezogen sind.
Deshalb läßt sich ein consensus nur bei gemeinsamer Tendenz auf eines
hin finden. Unvollkommenheit ist also dort, wo „eines wider das andere
läuft" (Met. § 152). Worauf das Verschiedene übereinstimmmend tendiert,
kann man sein Ziel (Absicht, finis) nennen. Übereinstimmung unterein-
ander ist also nur dort, wo ein gemeinsames Ziel gegeben ist, aus dem
der consensus verstanden werden kann82).
31
) Ontol. § 504 Schol., auch J.' F. Striebitz, „Erläuterung der Wolitischen Ver-
nünftigen Gedanken von allefi Dingen überhaupt../, 2. Aufl. Magdeburg 1747,
S. 232 f.
**) Wolff nennt das, worauf das Vollkommene gemeinsam, tendiert, die .ratio*'
der Vollkommenheit. Vermittels ihrer steht alle Vollkommenheit unter dem Satze
des zureichenden Grundes. Da es eine der wichtigsten Aufgaben ist, die Wolff

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Wolffs Begriff der Vollkommenheit, der die nur formale Struktur der
Übereinstimmung bezeichnet, wird also in unmittelbarer Konsequenz zu
einem teleologischen Begriff. Gegenüber der Tradition bleibt aber der
charakteristische Unterschied bestehen, daß der Begriff des Zieles um
willen der Übereinstimmung eingeführt wird. Die Teleologie ist die Weise,
in der sich consensus ergibt, nicht aber ist der consensus eine bloße Folge
der Finalität. Die Wurzeln dieser Umkehrung reichen weit in die Genese
der neueren Ontologie zurück83).
Wolffs Beispiele für einen vollkommenen Consensus sind allesamt te-
leologisch: Eine Uhr ist vollkommen, wenn alle ihre Teile zur Anzeige
der Zeit übereinstimmen; der Wandel des Menschen ist vollkommen, wenn
alle seine Handlungen zur Erreichung seiner Absicht übereinstimmen
(Ontol. § 503 WMef. § 152). Zwischen den Handlungen eines Ruchlosen
(scelestus) ist gar keine Übereinstimmung möglich, weil sie nicht auf das
eine natürliche Ziel des Menschenlebens gehen (Ontol. § 504 Schol.). Der
Übergang, den Wolff von der formalen Ethik des Consensus zur Ethik
des ,natura convenienter vivere' der stoischen Tradition nimmt, mag auf
den ersten Blick widerspruchsvoll erscheinen.
Er wird aber vom Begriff der Vollkommenheit selbst ermöglicht und
geradezu erzwungen, weil nur ein natürliches Ziel der Formel von der
„Übereinstimmung in der Mannigfaltigkeit41 einen bestimmten Inhalt geben
kann.
So ergibt sich der Wolff eigentümliche und für ihn höchst charakteristi-
sche Sachverhalt, daß um seiner selbst willen Gefallen finden soll, was
als Mittel zu einem Ziele dient. Denn je mehr Dinge und Handlungen zu
einem Ziele tendieren, umso eher wird dieses Ziel erreicht werden, umso
größer ist aber auch die Übereinstimmung unter ihnen. Darin liegt offen-
bar eine Paradoxie. Denn wenn das Mittel um des Zieles willen besteht,
so ist es paradox zu sagen, daß es nichtsdestoweniger um seiner selbst
willen begehrt werde. Diese Paradoxie ist die Grundlage dafür, daß man

sich stellt, die allgemeine Geltung dieses Satzes zu beweisen, betont er sogar
die Abhängigkeit alles Vollkommenen von einer ratio (OntoL § 505 ff., WMef.
§ 153 ff). In der Anwendung wird diese ratio ausschließlich als „finis" gefaßt. Das
beste Beispiel für Wolff ist die perfectio eines Hauses, deren Grund die „Absicht
des Bauherrn" ist (WMef. II, § 153, Anfangsgründe aller math. Wfss., Anfangs·
gründe der Baukunst I, 5. Erklärung), „Perfectio aedificii est convenientia adae-
quata cum finibus Fundatoris" (Elementa Architecturae Civilis, in: Elementa
Matheseos Universae IV, 316 a).
M
) Das Ende der Teleologie des Aristotelismus in Metaphysik und Anthropo-
logie war für die neuere Geschichte der Ethik von weitreichender Bedeutung. Eine
konkrete Untersuchung zu diesem Thema, diesseits der Allgemeinheiten, die sich
leicht aussprechen lassen, steht noch aus.

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dodi mit einem gewissen Recht sagen kann, Wolff kenne nur eine hypo-
thetische Notwendigkeit des Handelns, für die das Ziel der Steigerung
des eigenen Lebens sdion vorausgesetzt ist. Aber damit ist auf eine Kon-
sequenz verwiesen, die sich aus Wolffs Begriff der Vollkommenheit er-
gibt, die aber seine eigenen Vorstellungen von der Intention des sitt-
lichen Willens nicht angemessen erfaßt. Erwägt man diesen Zusammen-
hang, so erscheint eine Stelle aus Kants Schrift zum Gottesbeweis in neuer
Bedeutung. Kant bestreitet hier die Meinung, daß „das Formale der na-
türlichen Verknüpfung der Folgen mit ihren Gründen an sich selbst eine
Vollkommenheit wäre" (II, 3, 1). Diese Kritik an Wolff steht zwar im
Zusammenhang einer ontologischen Problematik. Wendet man sie aber
auf die Probleme der Moralphilosophie an, die Wolff behandelt hat, so
führt sie nicht nur zur Unterscheidung einer necessitas der Mittel von
einer Notwendigkeit der Zwecke, sondern auch zu der Frage, auf welche
Weise begriffen werden kann, daß etwas per se begehrenswert ist und
nur auf Grund dessen, was es selber ist, gewollt werden kann. Diese
Frage ist dieselbe, die Kants Analyse von Verbindlichkeit in der Preis-
schrift leitet. Und sie hat weitergeführt zur Unterscheidung eines Gesetzes
nur für die Freiheit des Willens von einer faktischen Nötigung, Zwecke
anzustreben und zu verwirklichen, denen keine bonitas in se zukommt.
Daß Wolffs Philosophie auf diesen Weg führen muß, wenn man das
Geflecht seiner Begriffsbestimmungen auseinanderwindet, ergibt sich noch
besser aus seiner Lehre von der .bonitas' der Handlungen. Wolff unter-
scheidet ,bonum' von .perfectio' durch zwei Bestimmungen: gut ist das,
wodurch eine Vollkommenheit gesetzt wird (1), aber nur im Falle einer
solchen Vollkommenheit, die von uns gewollt werden kann, die also uns
und unserem Zustand zukommt (2) (Psych. emp. § 554, Met. § 422).
Die zweite wird von Baumgarten nicht übernommen, der nicht nur eine
auf den Willen bezogene, sondern auch eine ontologische Güte kennt
(BMef. § 100). Sie soll hier außer acht bleiben. Um die erste zu verstehen,
ist es wichtig, die Formel genauer zu fassen, der zufolge gut ist „quicquid
perficit". (Psych. emp. § 554). Als Beispiel für ein solches Gut dient die
,ars inveniendi', die unser Erkenntnisvermögen vollkommener macht. Sie
tut das nicht wie ein beliebiges Mittel, das der Erkenntniskraft erlaubt,
sich freier zu entfalten, sondern als ein Teil im ganzen Zusammenhang
der Erkenntnismöglidikeit, der dazu beiträgt, daß sie in höherem Maße
und weiteren Sinne Erkenntnis wird. Das Ziel also, zu dem die ars inve-
niendi als Mittel beiträgt, hat für es zugleich die Bedeutung der essenüa
in einer Beziehung zum essentiale (vgl. ß Met. § 99). Alles, 'Wasan diesem

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Sinne eine perfectio hervorbringt, kann nach Wolffs Definition ein ,bo-
num* genannt werden.
Diese Formel enthält aber ein problematisches claire-obscure, das sich
eben daraus ergibt, daß der Begriff der perfectio selber das Doppelgesicht
eines per se appetibile und eines Zwedc-Mittel-Zusammenhangs zeigt.
Wenn die perfectio, die um ihrer selbst willen begehrt wird, als eine
Beziehung von Mitteln auf einen Zweck verstanden werden kann, so ist
es leicht zu verstehen, daß ein bonum, das den Charakter eines Mittels
für diesen Zweck hat, als ein bonum per se ausgegeben werden muß. Im
Begriff der perfectio, der dem des bonum vorausgeht, sind selbst schon
Glieder eines Ganzen als Mittel zu einem Zweck gedacht. Was mit diesem
Begriff gemeint wird, ist aber ihre Convenienz. Der Begriff des bonum
meint jedoch das Conveniente als solches. In ihm tritt deshalb die eigent-
liche Natur der perfectio noch deutlicher hervor.
Das kann nicht ohne Folgen für die Grundlegung der Ethik bleiben. In
dieser Wissenschaft wird nämlich nicht nur über das Genießen und Begehren
des Guten, sondern zugleich über die Güte des Begehrens selber geredet.
Denn die spezifische Differenz der Ethik anderen Wissenschaften gegen*
über ist die Freiheit des Willens der Menschen. Sie ermöglicht ein bewußtes
Begehren aus den Motiven des Guten und ein Urteil über Recht und Un-
recht von Handlungen. Es ergibt sich also die Frage, ob Wolffs Begriff
vom bonum imstande ist, die Güte einer sittlichen Handlung verständlich
zu machen.
Wolff lehrt in aller nur wünschbaren Eindeutigkeit, daß es Handlungen
gibt, die ,in se bona' sind (Phil, pract. § 56), daß sie auch um ihrer selbst
willen begehrt werden müssen (ebd. § 96). Auch hier ist er also von einer
expliziten Moral der Selbstliebe so weit entfernt wie möglich. Gleichwohl
wirkt sich die Ambivalenz im Begriff der perfectio und des bonum dahin
aus, daß jene ,per se1 guten Handlungen faktisch nur die Bedeutung von
Mitteln bekommen, in diesem Falle aber nicht einmal essentialen. Das
geschieht in folgendem Gang, den Wolffs Gedanke geht und der leicht zu
übersehen ist: Freie Handlungen können zur Vollkommenheit nur dann
beitragen, wenn sie die natürlichen Zwecke des Menschen fördern (ebd.
§ 49). Da aber alles was uns und unseren äußeren Zustand vollkommener
macht, gut genannt wird (gemäß Psydi. emp. § 53), müssen solche freien
Handlungen gute Handlungen, genannt werden (Phil, pract. § 53),
Von diesen Handlungen kann jedoch im Unterschied zur ars inveniendi
nicht mehr gesagt werden, daß sie zugleich ein Teil sind, der in die na-
türliche Vollkommenheit des Menschen seinem Ziele gemäß eingeht. Sie
sind zwar durch dieselben Zwecke bestimmt, unter denen auch die Natur

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des Menschen steht, an ihnen selbst aber von ganz anderer Qualität. Die
Güte der freien Handlung ist also eine Güte nur als Mittel. Es gibt kein
Gefallen an ihr, das unmittelbar auf sie selber geht. Von einer perfectio
der Freiheit kann deshalb auch keine Rede sein. In ihr ist kein determi-
nierender Grund für einen consensus zu finden. Und dennoch fordert
Wolff, daß freie Handlungen durch sich selbst gut sein und um ihrer selbst
willen getan werden sollen. Was ein Paradox im Begriff der Vollkommen-
heit gewesen ist, wird zu einem Widerspruch in der Theorie von der guten
Tat.
Kant wird sich diesen Zusammenhang nicht in der Distanz einer hi-
storischen Interpretation der Werke Wolffs deutlich gemacht haben. Daß
in Wolffs Lehre von der Vollkommenheit und in den Folgerungen, die
er aus ihr zog, die genannten Zweideutigkeiten und .Ungereimtheiten1
herrschen, hat er mit Gewißheit erkannt. Sie zwingen dazu, Unterschei-
dungen zu machen, die Wolff implizit benutzt, in der Theorie aber über-
gangen hat. Die Relation der Mittel zum Zweck muß dem Wollen eines
Zweckes entgegengesetzt werden. Dabei dürfen Dunkelheiten nicht daraus
entstehen, daß diese Relation mit der der essentialia zur essentia iden-
tifiziert wird. Zugleich muß die Frage festgehalten werden, die in Wolffs
Theorie durch den Verweis auf den consensus ad finem nur scheinbar
beantwortet war: Wie es verstanden werden kann, daß ein Ziel nicht nur
faktisch Zweck ist, sondern wegen seiner inneren Güte zum Gegenstand
des Willens werden kann. Beide Überlegungen zusammengenommen ge-
nügen, um die Orientierung zu erklären, die Kants Weg im Jahre 1762
bereits besaß und die in konsequenter Folge zur Ethik des kategorischen
Imperativs führte. Sie genügen auch, um es verständlich zu machen, daß
er trotz aller Übereinstimmung mit Crusius doch Hutcheson die größere
Bedeutung beimaß. Denn der Ethik von Hutcheson liegen beide Aufgaben
zugrunde, die sich für Kant aus einer Analyse von Wolffs Vollkommen-
heitstheorie ergeben mußten. Bei Crusius ist aber nur eine von ihnen
aufgenommen und gelöst34).
*4) Wenn man die Unterscheidung vor Augen hat, die Kant gegen die Wolffische
Philosophia practica vorbrachte, so kann man Hutcheson in eine Beziehung zum
Problem von Hume bringen, die zwischen ihm und Crusius nicht hergestellt wer-
den kann: Moral sense und andere affections sind nidit nur verschiedene Triebe,
sondern „Triebe" ganz verschiedener Art. Ebenso hatte Hume gelehrt, daß lo-
gischer Grund und realer Grund nicht nur Gründe verschiedener Ordnung, son-
dern daß sie in ganz verschiedenem Sinne Grund seien. Kant hat diese Unter-
scheidung hinsichtlich des Problems vom Grunde erst nach der Preisschrift auf-
genommen, aber doch nur ein halbes Jahr später, in der Schrift über „Begriff der
negativen Größen". Eine ganz analoge Unterscheidung hinsichtlich des Problems
des Guten ging ihr voraus. Eine eigene Untersuchung über Kants früheste Hume-
Studien steht noch aus. Sie sind sicher bezeugt (Borowski), aber nur schwer zu
belegen, wenn man von Humes anthropologischen Essais absieht.
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Damit ist der Versuch in sein Ende gekommen, den historischen Aus-
gangspunkt der Kantischen Ethik zu erschließen. Da nur wenige Quellen
zur Verfügung stehen, war es nötig, ein eigenes Verfahren der Rekon-
struktion zu gebraudien. Die Argumentation mußte notwendig ver-
wickelter werden, als bei der Interpretation überlieferter Texte: Zunächst
sollte aus den frühesten Quellen gezeigt werden, daß der Weg Kants zur
Eigenständigkeit mit einer Kritik der psychologischen Grundlagen von
Wolffs Ethik begann. Auf Grund der Preisschrift sollte sich dann erweisen,
daß Kants Entwicklung nicht hinreichend aus der Opposition von Cmsius
gegen Wolff verstanden werden kann. Schon im Jahre 1762 hatte Kant
Unterscheidungen zum Problem gemacht, die Crusius nicht beachtet hatte.
Sie finden sich bei Hutcheson. So könnte man meinen, das Kants Weg im
Wesentlichen durch die Beschäftigung mit den Engländern bestimmt wor-
den wäre. Ihr Einfluß ist sicher auch beträchtlich gewesen. Es ist jedoch
wahrscheinlich, daß er unter Bedingungen erfolgte, die sich aus der „sorg-
fältigen Untersuchung" der Wolffischen Grundbegriffe ergaben, die Kant
mit Gewißheit angestellt hat. Zu welchen Ergebnissen sie. führen mußte,
ist im dritten Gedankengang gezeigt worden. Es sind dieselben Ergebnisse,
die Kants Überlegungen in der Preisschrift bewegen. Wenig später haben
sie zu einer Theorie geführt, die in der Geschichte der Ethik Epoche ma-
dien sollte.
Zwischen dem Ausgang der Kantischen Ethik in dem Optimismusfrag-
ment von 1754 und ihrem ersten Abschluß in der Mitte des folgenden
Jahrzehnts besteht noch ein Zusammenhang ganz anderer Art. Kant hatte
schon damals erfaßt, daß eine uneingeschränkte Schätzung des Guten nicht
aus der Erkenntnis eines Gegenstandes begriffen werden kann. Das Pro-
blem, vor das er auf diese Weise geriet, hat er in der Frage festgehalten,
wie die Vorstellung eines Größten (maximum) überhaupt erklärt werden
könne. Die Theologie des einzig möglichen Beweisgrundes enthält eine
erste Antwort auf sie. Zu einer Lösung, die ihn auch in der Zeit der Kri-
tiken noch befriedigte, ist er aber erst gekommen, als er begann, die Vor-
stellung des maximum als einen Entwurf und somit die Vernunft selbst
als reine Aktivität zu denken. Das geschah sicher nicht ohne ausdrück-
liche Beziehung auf den Stand seiner Moralphilosophie: Die größte innere
Allgemeinheit des Willens mit sich, die in der Formel des kategorischen Im-
perativs gedacht wird, ist nämlich ,maximum' und läßt sich doch nicht als
eine Vorstellung von Gegenständen denken35). Diese Formel hat Kant in
35
) Die Nachwirkungen des Grundgedankens von Kants früher rationaler Theo-
logie lassen sich in allen zentralen Lehrstücken der kritischen Philosophie aufwei-
sen: In der Lehre vom mundus sensibilis, in der Theorie von der Einheit der
Apperzeption und auch in der Lehre vom kategorischen Imperativ.

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der Zeit des nahen Kontaktes mit Rousseau entwickelt. Und Rousseau
verdankt er auch das rechte Verständnis des Wortes, mit dem er in Zu-
kunft den Entwurf eines maximum bezeichnete: des platonischen Wortes
,Idee'. Für es hatte er seither einen „gewissen Aberglauben", weil es
„einem großen Kopf11 eingefallen war (Refl. 5017). Es wurde ihm durch
Rousseaus Vermittlung in einer Phase seines Entwicklungsganges geläufig,
die auch für seine spätere Ethik von entscheidender Bedeutung war 36 ).
An anderem Ort soll sie in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte ihrer
Entstehung dargestellt werden.

3e
) Aufschluß darüber gibt eine Stelle aus der Danziger Kollegnachschrift zur
Religionsphilosophie, bei Breyer, .Kants Vorlesungen über die philosophische
Religionslehre', Halle 1937, S. 109, Zeile 28 ff. Sie geht zurück auf Rousseaus
Schrift „De l'Imitation thoatrale*, die zuerst in Amsterdam im Jahre 1764 heraus-
kam, und in ihr auf S. 216/17 in „Oeuvres", T. XI., Paris 1820). Daß Kant diese
Schrift nicht erst zu der Zeit gelesen hat, in der er das Kolleg hielt, sondern schon
zur Zeit des Erscheinens und wenig nach dem „Emile", läßt sich aus seinem Erinne-
rungsfehler schließen. Die Anwendung, die Kant auf den Geschichtsschreiber macht,
findet sich nicht in „L'Imitation theatrale", wohl aber ähnlich im „Emile", Buch IV.,
Oevr. a. a. O. T. VIIL, S. 476 ff. Kant hat in der Erinnerung beide Stellen ineinan-
der geschoben, was deshalb nahelag, weil der Gedanke in „L'Imitation täatrale*
nicht ganz symmetrisch gebaut ist. Ein zusätzlicher Beleg läßt sich aus Refl. 6611
gewinnen. Nach Borowski kannte Kant alle Schriften von Rousseau (a. a. O., S. 79).
Der Vergleich der Stelle in der Kollegnachschrift mit Kants Quellen erlaubt einen
höchst interessanten Einblick in die Weise, wie Kant Rousseau gelesen und auf-
genommen hat. ..

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