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FORMALE UND MATERIALE PRINZIPIEN

IN KANTS ETHIK
von Hans-Dieter Klein, Wien

i Es gehört zu den vielgerühmten Verdiensten Kants, als erster mit vollem Be-
wußtsein und mit Nachdruck die Formalität des Sittengesetzes, der keinerlei ma-
! teriale Elemente beigemischt werden dürfen, betont zu haben. Andererseits hat
i Kant in seiner Metaphysik der Sitten eine inhaltlich differenzierte Ethik vorge-
j legt, die in manchen Punkten erstaunlich detailliert bestimmt, was sittlich ist und
| was nicht. Einerseits wird betont, daß nur das Gewissen darüber entscheiden
; könne, was Pflicht ist, andererseits erhalten wir ausführlich darüber Auskunft,
daß z. B. lügen unter allen Umständen pflichtwidrig ist, selbst dann, wenn es dar-
um geht, gewalttätige Verfolger von einem Flüchtenden abzulenken 1. Man kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier eine unausgeglichene Diskrepanz im
Kantischen Opus sichtbar wird. Ihr nachzuspüren und auch über das im engeren
Sinne historische Interesse systematisch nachzuspüren, ist die Aufgabe des vorlie-
genden Aufsatzes. Das Problem desselben formuliert R. Kroner folgendermaßen:
„Wenn das moralisdie Gesetz nidit aufhören soll, moralisches Gesetz zu sein, sobald
es im Leben als inhaltlich erfülltes Pfliditgebot auftritt; wenn die Vernunft nidit auf-
hören soll, Vernunft zu sein, sobald sie im Leben als „gemeine Menschen Vernunft" sidi
bestimmter sittlidier Regeln oder gar der Pflichtmäßigkeit einer einzelnen. Handlung be-
wußt wird (und beides ist natürlich Kants Überzeugung), so muß mit Notwendigkeit
die Vereinigung von Form und Materie, von reiner und empirisdi-bedingter Vernunft ge-
dacht werden. Das inhaltlidi erfüllte Gebot ist weder das abstrakte moralisdie Gesetz,
denn es entleiht seinen Inhalt (da es ihn durch das Gesetz nidit vorgesdirieben be-
kommt) von dem empirischen Willen, — noch ist es eine Maxime der Klugheit oder über-
haupt ein heteronomer, hypothetischer Imperativ. Als was ist es anzusehen, und wie ist es
möglich?" 2
Zunächst sei näher expliziert, was Kant unter Formalität des Sittengesetzes
genauer versteht. In populärer Weise formuliert er den Grundgedanken seiner
Ethik bereits zu Beginn des ersten Abschnitts seiner Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten, wo es heißt:
1
VIII, 425 ff. — Wenn nidit anders angegeben, zitiere ich Kant nach der Akademie-
ausgabe. Hierbei bezeidmen die römischen Ziffern die Band-, die arabischen die Seitenzahl
der betreffenden Stelle. Die Kritik der praktischen Vernunft zitiere idi nadi der Original·^
ausgäbe von 1788, die Kritik der Urteilskraft nadi der 2. Auflage der Originalausgabe
(1893).
2
R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1961, S. 199.

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„Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille"9.
In den folgenden Sätzen wird dieser Gedanke in dreifacher Weise abgegrenzt:
gegen Güterethik, gegen Tugendethik im Sinne einer sittlichen Hodischätzung be-
stimmter Gemütseigenschaften wie Zähigkeit und Ausdauer und gegen Erfolgs-
ethik. Bekanntlich war für Kant eine Handlung nur dann sittlich, wenn sie allein
um der Pflicht willen gesetzt wird. In der Kritik der praktischen Vernunft wird
nun dieser Gedanke gründlicher ausgeführt. Kant fragt hier zunächst nach der
Möglichkeit von praktischen Gesetzen. Diese bestimmt er als Unterart der prakti-
schen Grundsätze zum Unterschied von den Maximen folgendermaßen:
„Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens ent-
halten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv oder Maximen,
wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird;
objektiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes
vernünftigen Wesens gültig erkannt wird"4.
Ein praktisches Gesetz ist also ein praktischer Grundsatz, dessen Allgemeinver-
bindlichkeit und Notwendigkeit in seinem Inhalt impliziert ist. Nun sind aber alle
Inhalte in Neigung, also in Sinnlichkeit begründet, somit zufällig und speziell,
nicht allgemein und notwendig. Daher kann ein praktisches Gesetz gar keinen an-
deren Inhalt haben als die Form des Gesetzes selbst, weshalb es auch nur ein Ge-
setz der Praxis geben kann, das Kant als kategorischen Imperativ bekanntlich
so formuliert hat, daß man so handeln solle, daß die Maxime des Willens jeder-
zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Es ist damit
nichts anderes gesagt, als daß die Form der Gesetzmäßigkeit selbst der einzig mög-
liche Inhalt eines praktischen Gesetzes ist5.
Nun ist die Formulierung des kategorischen Imperativs derart, daß er so leer
ist, daß schließlich doch nur die Neigungen als positive Inhalte übrigbleiben. Man
könnte also meinen, der kategorische Imperativ sei ein Schlag ins Leere. Es kommt
daher darauf an zu untersuchen, wie Kant sich die Vermittlung zwischen katego-
rischem Imperativ und Neigungen, zwischen praktischem Verstand und praktischer
Sinnlichkeit dachte, um überhaupt beurteilen zu können, was dieses Grundgesetz
im Konkreten leisten soll. Ebenso kann man von den Kategorien nur sinnvoll re-
den, wenn man überprüft, wie sie sich mit der Sinnlichkeit vermitteln. Analog de*
Problematik der Kritik der reinen Vernunft wird diese Frage als Frage nach dem

3
Phil. Bibl. Bd. 41, S. 10.
4
Kr. d. pr. V., S. 35.
5
G. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenscbaftstheorie, Köln 1960, S. 199,
weist im Hinblick auf das Problem der Vermittlung dieses formalen Begriffes der Sittlich-
keit mit dem Kantischen Prinzip der Spontaneität auf das Problem hin, daß eine am Prin-
zip der Spontaneität des sittlichen Handelns orientierte Ethik nicht unbedingt in Kants
rein formale Ethik münden muß: „Diese Spontaneität des sittlichen Handelns ist für Kant
das leuchtende Grundphänomen alles sittlichen Geschehens, und dies Grundphänomen der
Spontaneität ist unabhängig von allen Standpunkten, die in der Ethik eingenommen wer-
den können, auch vom kantischen Standpunkt einer rein formalen Ethik."

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„Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft'3 gestellt6. Gegen-
stand derselben ist das Gute und Böse. Dieses grenzt Kant wie an vielen Stellen so
auch im zitierten Kapitel gegen das Angenehme, gegen Wohl und Übel etc. ab,
mit dem schon zu Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formulier-
ten Resultat, gut sei kein wie immer geartetes Objekt, sondern lediglich der Wille
selbst. Dieser ist also sein eigener Gegenstand, in welchem sich wieder analog der
Analytik in der Kritik der reinen Vernunft ursprüngliche Synthesis und Sinn-
lichkeit vermitteln. Dies vollzieht sich hier so, daß „das Mannigfaltige der Begeh-
rungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden
praktischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen" 7 sei.
Kant sagt hierzu näher folgendes:
„Da nun die Begriffe des Guten und Bösen, als Folgen der Willensbestimmung a priori,
auch ein reines praktisdies Prinzip, mithin eine Kausalität der reinen Vernunft voraus-
setzen, so beziehen sie sich ursprünglich nicht (etwa als Bestimmungen der synthetisdien
Einheit des Mannigfaltigen gegebener Ansdiauungen in einem Bewußtsein) auf Objekte,
wie die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien der theoretisdi gebrauchten Vernunft,
sie setzen diese vielmehr als gegeben voraus; sondern sie sind insgesamt Modi einer einzi-
gen Kategorie, nämlich der der Kausalität, sofern der Bestimmungsgrund derselben in der
Vernunftvorstellung eines Gesetzes derselben besteht, weldies, als Gesetz der Freiheit, die
Vernunft sich selbst gibt und dadurch sich a priori als praktisch beweist" 8.
Die Kategorien der Freiheit handeln auch durchwegs von der Vermittlung von
Begierden im praktischen Vernunftgesetz.
Die Kategorien der Freiheit sind jedoch den sinnlichen Triebfedern noch getrennt
gegenübergestellt. Ihre Vermittlung versucht Kant zu leisten, indem er den Be-
griff der „Typik der reinen praktischen Urteilskraft" 9 einführt, der architekto-
nisch dem Schematismus entspricht. Den Begriff des Typus erklärt Kant folgender-
maßen:
„Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese:
Frage didi selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nadi einem Gesetze der
Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen
Willen möglidi ansehen könntest? Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Hand-
lungen, ob sie sittlich gut oder böse sind"10
Die Idee einer solchen Natur ist, wie R Cassirer sich treffend ausdrückt:
„ein Vorbild, ein Typus, an dem wir jede besondere Willensbestimmung messen, nidit
ein dinglidi bestehendes Urbild, das sidi losgelöst von dieser praktisdien Beziehung für
sidi ansdiauen läßt. Was sie mit der sinnlich-physischen Welt gemein hat, ist lediglich das
Moment des Bestandes, der e i n e n unverrückbaren Ordnung, das wir in beiden gleich-
mäßig denken, — aber in dem einen Falle handelt es sich um eine Ordnung, die wir als
außer uns vorhandene ansdiauen, in dem ändern um eine soldie, die wir kraft der Auto-
nomie des sittlidien Gesetzes tätig hervorbringen" u.
6
Kr. d. fr. V., S. 100 ff.
? Kr. d. fr. V., S. 115.
8
Kr. d. pr. V., S. 114.
• Kr. d. pr. V., S. 119 ff.
10
Kr. d. pr. V., S. 122.
" Kants Leben und Lehre, Berlin 1918, S. 276—277.

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Für die Interpretation Kants ist nun wichtig, daß er einen solchen Typus genau
vom Begriff des Gesetzes der praktischen Vernunft unterscheidet. Die Typik ist
notwendig, um den kategorischen Imperativ, der ansonst inhaltsleer wäre, über-
haupt auf empirische Handlungen anwenden zu können. Niemals aber darf das
Resultat einer solchen Überlegung der praktischen Urteilskraft, das schließlich
eine bestimmte Handlung motivieren mag, mit einem praktischen Gesetz verwech-
selt werden. Das Urteil vermittels des Typus kann irren, der kategorische Impera-
tiv jedoch nicht. Würde Kant diese Unterscheidung zwischen Gesetz und Typus
nicht machen, würde er Gesetz und Typus identifizieren, dann hätte er den Grund
zu einer rationalistischen Ethik gelegt, die deduktiv aus dem kategorischen Impe-
rativ eine Natur aus Freiheit konstruierte, ein sittliches Universum, das freilich
empirisch nicht existiert, weil die Menschen in ihrer Unvernunft doch anders han-
deln. Sittlich handeln hieße in diesem Falle: so handeln als ob jenes intelligible
Reich wirklich wäre und als ob jeder Mensch seinen Gesetzen entsprechend sich
verhielte. Ein solches Reich läßt sich leicht konstruieren, so daß man unvermerkt
aus dem kategorischen Imperativ imstande ist, eine Unzahl bestimmter Imperative
abzuleiten. Die Formalität des kategorischen Imperativ wäre solcherart in die
Materialität rationalistischen Naturrechts verwandelt, die Autonomie des indivi-
duell handelnden Gewissens wäre wieder verloren. Kant hat jedoch mit seinem Be-
griff des Typus der reinen praktischen Urteilskraft sehr fein die Formalität des
kategorischen Imperativ bewahrt und doch aufgezeigt, wie sich dessen an sich in-
haltsleere Intelligibilität im Empirischen konkretisiert. Oberhaupt ist es ja die
Aufgabe der Urteilskraft bei Kant, sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als
auch in der Kritik der praktischen Vernunft, das Intelligible, das sonst „über-
schwänglich" wäre, für die Sinnlichkeit nicht zu bestimmen, aber doch bestimmbar
zu machen. Die Kritik der Urteilskraft erweitert diese Aufgabe ja noch über
Theorie und Praxis hinaus, wie noch zu erörtern sein wird. Hier hat die Einfüh-
rung der Urteilskraft folgenden Sinn: es bleibt dabei, daß nur das Gewissen je-
dem sagen kann, was er zu tun hat. Ein theoretisches Rezept im Sinne einer Ethik,
die dem Handelnden die von Fall zu Fall immer neue Gewissensentsdieidung und
ihr Risiko abnehmen könnte, indem sie es theoretisch absichert, ist eine Illusion.
Andererseits ist das Gewissen doch nicht nackte, negative Irrationalität, sondern
durch Urteil zu bestimmen, wenngleich die Urteilskraft das Gewissen, wie man
sich heute ausdrücken würde, nicht einholen kann. Die Bestimmung des Gewissens
durch das Urteil, durch die Frage: was ist, wenn jeder das tut? entzieht das Ge-
wissen der Unbestimmbarkeit und macht Mitteilbarkeit und argumentative Be-
arbeitung der Entscheidungen desselben möglich, wenngleich das Urteil nie abso-
lute Sicherheit haben kann, sondern fehlbar ist, zum Unterschied vom Gewissen.
Die Differenz von Gewissen und Urteil bewahrt die Endlichkeit des Menschen in
sittlicher Hinsicht, die Kant zu seiner Polemik gegen Stoa und Epikureismus be-
stimmte. Ebenso wie er dem Urteil die Fähigkeit aberkannte, das Gewissen risiko-
los bestimmen zu können, leugnete er, daß der Wille der Menschen jemals absolut
heilig sein könne. Der Typus der reinen praktischen Urteilskraft diente ihm zur

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kritischen Abgrenzung seiner Ethik gegen Empirismus und Mystizismus, wie er
seine Kritik an der Spekulation gegen Empirismus und Rationalismus abgrenzen
mußte. Hören wir ihn zu diesem Thema selbst:
„Übrigens, da von allem Intelliglbelen sdilediterdlngs nidits als (vermittels des morali-
sdien Gesetzes) die Freiheit, und audi diese nur, sofern sie eine von jenem unzertrennlidie
Voraussetzung ist, und ferner alle intelligibelen Gegenstände, auf welche uns die Vernunft
nadi Anleitung jenes Gesetzes etwa nodi führen möchte, wiederum für uns keine Realität
weiter haben als zum Behuf desselben Gesetzes und des Gebraudies der reinen praktisdien
Vernunft, diese aber zum Typus der Urteilskraft die Natur (der reinen Verstandesform
derselben nadi) zu gebraudien berechtigt und auch benötigt ist: so dient die gegenwärtige
Anmerkung dazu, um zu verhüten, daß, was bloß zur T y p i k der Begriffe gehört, nidit
zu den Begriffen selbst gezählt werde. Diese also,.als Typik der Urteilskraft, bewahrt
vor dem E m p i r i s m u s der praktisdien Vernunft, der die praktisdien Begriffe des
Guten und Bösen bloß in Erfahrungsfolgen (der sogenannten Glückseligkeit) setzt, obzwar
diese und die unendlidien nützlidien Folgen eines durdi Selbsthilfe bestimmten Willens,
wenn dieser sich selbst zugleidi zum allgemeinen Naturgesetze machte, allerdings zum ganz
angemessenen Typus für das Sittlidigute dienen kann, aber mit diesem dodi nidit einerlei
ist. Ebendieselbe Typik bewahrt audi vor dem M y s t i z i s m u s der praktisdien Ver-
nunft, welcher das, was nur zum S y m b o l diente, zum S c h e m a macht, d. i. wirklidie
und dodi nidit sinnlidie Ansdiauungen (eines unsiditbaren Reichs Gottes) der Anwendung
der moralisdien Begriffe unterlegt und ins Übersdiwenglidie hin^ussdiweift"12·
Die Ablehnung der materialen Werte, mit ihr die Ablehnung einer den Primat der
Praxis beschneidenden theoretischen Sicherheit in sittlichen Belangen, weldie den-
noch nicht der Beliebigkeit der Erfahrung und des Geschmacks überlassen werden,
sondern deren Verbindlichkeit bestimmbar ist, ermöglicht Kant die Ablehnung
von moralischer Leichtfertigkeit ebensosehr als von Pedanterei, von Pharisäer-
tum ebensosehr wie von moralischer Hypochondrie, welche alle von der unver-
drossenen Annäherung an das Sittengesetz ablenken. An einer anderen Stelle sagt
er dazu folgendes:
„Der Satz von der moralisdien Bestimmung unserer Natur, nur allein in einem ins Un-
endliche gehenden Fortsdiritte zur völligen Angemessenheit mit dem Sittengesetze gelangen
zu können, ist von dem größten Nutzen nidit bloß in Rücksicht auf die gegenwärtige Er-
gänzung des Unvermögens der spekulativen Vernunft, sondern audi in Ansehung der Reli-
gion. In Ermangelung desselben wird entweder das moralische Gesetz von seiner H e i -
l i g k e i t gänzlidi abgewürdigt, indem man es sidi als n a c h s i c h t i g (indulgent)
und so unserer Behaglidikeit angemessen verkünstelt, oder audi seinen Beruf und zugleidi
Erwartung zu einer unerreidibaren Bestimmung, nämlidi einem verhofften völligen Er-
werb der Heiligkeit des Willens, spannt und sidi in schwärmende, der Selbsterkenntnis
ganz widersprediende t h e o s o p h i s c h e Träume verliert, durdi weldies beides das
unaufhörliche S t r e b e n zur pünktlidien und durdigängigen Befolgung eines strengen,
unnadisiditlidien, dennoch aber nicht idealisdien, sondern wahren Vernunftgebots nur ver-
hindert wird. Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Un-
endliche, von niederen zu höheren Stufen der moralisdien Vollkommenheit möglich"ls.
Die Vermittlung, welche Kant in der Typik zwischen der Intelligibilität des
kategorischen Imperativ, der ohne Begierden leer, und diesen, die ohne jenen

12
Kr. d. pr. V., S. 124—125.
13
Kr. d. fr. V., S. 220—221.

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blind wären, vornimmt, zeigt sehr deutlich, wie er bei Aufrechterhaltung der For-
malität des Sittcngesetzes dieses doch als materialisierbar angesetzt und dadurch
allein zum Handeln tauglich erklärt hat. Dennoch bleibt die Ablehnung aller
materialer Wertethik als unkritisch aufrecht: materiale Wertethik erkennt nicht
die Endlichkeit des Menschen, in diesem Fall nicht die Endlichkeit seiner motivie-
renden Theorie des Urteils angesichts der Praxis. Es bleibt die Frage offen, ob
Kant nicht in seiner Metaphysik der Sitten späterhin doch selbst Typen des
Sittengesetzes mit Sittengesetzen verwechselt hat.
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sind jedoch noch einige Bemerkungen
zum weiteren Verlauf, den die Kritik der praktischen Vernunft selbst nimmt,
zu machen. Die deutsche Philosophie nach Kant, etwa Fichte, hat ja späterhin
das Verhältnis von Pflicht und Trieb so angesetzt, daß diese nicht schlechthin und
absolut als aus ganz verschiedenen „Wurzeln" stammend einander entgegengesetzt
sind. Vielmehr lehrte Fichte im Anschluß an Leibniz, daß jeder Trieb bereits in
seiner Unmittelbarkeit die Sittlichkeit anstrebe, wenn auch im Widerspruch mit
sich selbst. Es handelt sich hier um eine Problematik, die der deutsche Idealismus an
die beiden Kritiken Kants in analoger Weise anknüpfte. Man vergleiche hierzu
einen Aufsatz von P. Heintel14, wo gezeigt wird, daß die Sinnlichkeit nicht als
bloß rezeptives Vermögen, sondern selbst spontan gedacht werden muß, bzw.
um dasselbe in Hegels Terminologie auszudrücken: daß Sinnlichkeit nicht als ein
Unmittelbares außerhalb aller Vermittlung festgehalten werden darf, sondern
selbst bereits vermittelte Unmittelbarkeit ist. Ebenso ist es mit dem Trieb. Audi
er kann nicht als ein bloß Tierisches dem freien Handeln gegenübergestellt wer-
den, sondern: um Motiv für Freiheit überhaupt sein zu können, muß er selbst
bereits frei sein und Freiheit wollen. Allerdings ist Trieb in Anlehnung an Fichte
als unfreie Freiheit aufzufassen, weshalb der sich triebhaft bestimmende Mensch
immer mit sich im Widerspruch steht, mit sich nicht einstimmig ist. Sittlich sein
heißt dann: handle jedesmal mit dir selbst in Übereinstimmung! Dies ist ja deut-
lich mit Kants kategorischem Imperativ identisch. Indem der deutsche Idealismus
danach strebte, die Sinnlichkeit und das Intelligible nicht wie Kant in seinen
Analytiken als zwei vorgegebene Bausteine zu nehmen, aus denen das Ganze des
Ich hinterher zusammenzusetzen ist, weil so die von Kant selbst kritisierte „Phy-
siologie des Verstandes", das Affektionsschema, doch wieder in die Philosophie
einkehren würde, weil die Philosophen nach Kant diese Momente als im Unbe-
dingten, dem Ausgangspunkt der Kantischen Dialektik, vermittelt zu betrachten
gezwungen waren, tauchte für sie der dialektische Schein bereits bei den Proble-
men der Analytik selbst auf. So wird das für Kant der Pflicht ganz Andere der
Begierde zu einem Anderen deshalb, weil es diese selbst, Pflicht in ihrem unauf-
gehobenen Widerspruch ist. Im Gegensatz zu Leibniz, für den Trieb eine ver-
worrene Weise der intelligiblen Bestimmung des Willens ist, der also insofern be-
reits die genannten nachkantischen Gedankengänge vorwegnahm, ist Sinnlichkeit
14
Die Stellung der „transzendentalen Ästhetik" in der „Kritik der reinen Vernunft",
Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psydiologie und Pädagogik, Bd. VIII, (1965), S. 65 ff.

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zum Verstand hier nicht in einem graduellen Gegensatz größerer oder geringerer
Verworrenheit bzw. Klarheit der Repräsentation. Eine solche Auffassung würde
den von Kant in seiner Dialektik der reinen Vernunft auch für seine Nachfolger
bindend kritisierten Fortgang vom Endlichen zur Totalität der Perzeptionsgrade
erfordern. Wenn die Philosophen von Fichte an den Leibnizschen Gedanken der
„einen Wurzel der Gemütskräfte" gegen Kant ins Spiel brachten und dabei doch
nicht unter das Niveau der Kantischen Kritik fallen wollten, so mußten sie die
Kompetenz der Dialektik erweitern, indem sie die Abgrenzung der Analytiken
gegen das Unendliche zugleich in den Bereich des Endlichen hineinlegten. Dies
wird uns jedoch weiter unten beschäftigen. Hier soll nur angemerkt werden, daß
Kant selbst einen wesentlichen Schritt in dieser Richtung selbst tat, indem er dar-
auf hinwies, daß der kategorische Imperativ in seiner bloßen Intelligibilität kei-
nerlei Macht hätte, motivierendes Prinzip auch nur einer einzigen Handlung zu
sein, hätte er nicht im Bereiche des Sinnlichen selbst seine eigene Triebfeder: die
Achtung. Achtung ist für Kant das allein sittliches Streben ermöglichende Paradox,
daß das Sittengesetz, das als solches allem Triebe in seiner Mannigfaltigkeit
schlechthin entgegengesetzt ist, selbst als ein Trieb unter anderen auftritt. Erst
durch die Achtung vermitteln sich die auseinanderklaffenden Momente, erst durch
sie kann sittliches Streben, das bis dahin bloß als möglich denkbar war, als ein
Wirkliches erklärt werden. Daß „Achtung" als „moralisches Gefühl" nicht den
Pflichtbegriff ins „Pathologische" abspannt, zeigt treffend H. Cohen:
„Es ist daher jetzt nicht zu besorgen, daß in dem Pfliditgefühl dem Sittengesetze ein
materialer, empirisdier Bestimmungsgrund unterlegt würde; denn dieses eigentümlidie, in
aller Psychologie alleinstehende, intellektuelle Gefühl ist so wenig und soviel Lust als Un-
lust, also b e i d e s nidit. Wenn man die Pflidit mit einem Namen des Gefühls benennen
will, so ist A c h t u n g der geeignete Ausdruck. Der Grund der Achtung demütigt unser
Selbstbewußtsein, und erhebt zugleidi diesen Grund, da er doch unser ist, als Bestim-
mungsgrund in uns wirkt. Und wenn man überhaupt von einem m o r a l i s c h e n Ge-
f ü h l e reden darf, so verdient die Achtung diesen umfassenden Namen" **.
Im übrigen muß betont werden, daß auch für Kant Ethik nicht zu verstehen ist
als ein Kompendium von guten Ratschlägen, wie man sittlich sein oder werden
soll. Derartiges kann, als Methodenlehre der praktischen Vernunft im Verein mit
der Anthropologie, einer Ethik allenfalls angeschlossen werden. Die Ethik hat je-
doch dem Gewissen keine Vorschriften zu machen, sondern zu erklären, was Ge-
wissen ist. Kant betont immer wieder, wenn er ethische Prinzipien aufstellt, daß
15
H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, nebst ihren Anwendungen auf Recht, Reli-
gion und Geschichte, Berlin 1910, S. 322—323. Vielleicht ist interessant, daß das Wort
„Achtung" nichtdeutsdispradiigen Autoren, aus dem Problem der Obersetzung heraus,
manche Differenzierung aufzwingt, vgl. H. J. Paton, Der Kategorische Imperativ. Eine
Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962, S. 64: „Idi glaube, wir sind be-
reditigt, das Kantisdie Wort „Aditung" in einem Sinn zu behandeln, der ihm eine andere
Atmosphäre gibt, als es im üblidien deutschen Gebrauch hat. Das in Frage stehende Ge-
fühl hat zweifellos Abstufungen. Wenn wir — etwa bei einer gewöhnlichen moralischen
Handlung — nicht sehr tief bewegt sind, kann es wohl dem Respekt nahekommen; aber
wenn es in seiner ganzen Tiefe vorhanden ist, dann scheint es mir viel näher mit der Ehr-
furdit verwandt zu sein."

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jedermann die Achtung vor dem Sittengesetz empfindet, wenn er sich auch gleich
nicht danach hält. Auch der Typus wird nicht als persönliche Entdeckung Kants
vorgeführt, sondern es heißt: „Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann
Handlungen, ob sie sittlich gut oder böse sind"le.
Die Analytik der reinen praktischen Vernunft hat gezeigt, wie Freiheit als
positive, sittliche, d. h. nicht nur als negative (Unabhängigkeit vom Trieb, die
indes noch keinen Inhalt setzt) möglich ist* Sie ist die Grundlage für einen zwei-
fachen Weg der Philosophie. Einerseits kann, nachdem nun einmal gezeigt wor-
den ist, was Sittlichkeit überhaupt ist, deren Prinzip inhaltlich differenziert wer-
den: dies tut Kant in seiner Metaphysik der Sitten. Andererseits kann die Dia-
lektik der praktischen Vernunft untersucht werden, die sich ergibt, wenn das Un-
bedingte des Gegenstandes der praktischen Vernunft, das höchste Gut, gesucht wird.
Während die Dialektik der reinen spekulativen Vernunft mit einem negativen
Resultat endet, das lediglich den Verweis auf die praktische Vernunft enthält
im Sinne des Programms, das Wissen aufzuheben, um dem Glauben Platz zu
machen, führt die Dialektik des höchsten Gutes zu einem positiven Resultat, wenn
auch nicht zu einem theoretisch-positiven: zu den Postulaten. Sie formulieren den
Inhalt des reinen Vernunftglaubens. Dieser muß weiterhin als Richtmaß der ge-
schichtlichen Offenbarung differenziert werden, wie es Kant in seiner Schrift Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft tut. Es darf darauf hin-
gewiesen werden, daß dieses Kantische Systemprogramm noch von Hegel in der
gleichen Weise durchgeführt wird. Hegel fundiert den theoretischen, subjektiven
Geist in der Freiheit. Diese wird doppelt differenziert. Einerseits im Sinne der
Metaphysik der Sitten als System des objektiven Geistes. Andererseits als Sy-
stem des absoluten Geistes, von welchem aus das gesamte Material der geschicht-
lichen Offenbarung aufgearbeitet werden sollte. Die Kantische Religionsphilo-
sophie ist nicht das eigentliche Thema dieses Aufsatzes, weshalb ich auf ihre
Problematik nicht näher eingehe. Es ist jedoch nunmehr unsere Aufgabe, die ein-
gangs gestellte Frage genauer zu erörtern, ob nach der Kritik der praktisd^en
Vernunft eine inhaltliche Ethik vom Stil der Metaphysik der Sitten überhaupt
noch möglich ist bzw. wie man diese mit jener in Einklang bringen kann.
Für Kant war die Metaphysik der Sitten eine Erkenntnis a priori vom Rechten
und Sittlichen, insoferne es von empirischen, also individuellen oder geschicht-
lichen, soziologischen etc. Bedingungen völlig frei ist. Da Recht und Sittlichkeit
für Kant Bestimmungen der Freiheit waren, mußte er deren Erkenntnis als eine
rein apriorische ansehen, da jede empirische Erkenntnis die Freiheit als einen
reinen Vernunftbegriff gar nicht zu fassen imstande wäre. Weil diese Bestimmun-
gen als apriorische nun allgemein und notwendig sind, ergibt sich das Problem, ob
hier nicht ein Kanon inhaltlich bestimmter Gesetze entwickelt wurde, der in ge-
wisser Weise doch wieder über dem Gewissen steht, also: ein Kanon materialer
Werte. Hören wir zunächst, was Kant selbst dazu zu sagen hat:

1
Kr. d. fr. V., S. 122.

190
„Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt. Nur sofern sie als a priori ge-
gründet und notwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze; ja die Begriffe
und Urteile über uns selbst und unser Tun und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn
sie das, was sich bloß von der Erfahrung lernen läßt, enthalten, und wenn man sich etwa
verleiten läßt, etwas aus der letzteren Quelle zum moralischen Grundsatze zu machen, so
gerät man in die Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrtümer. Wenn die Sittenlehre
nichts als Glückseligkeitslehre wäre, so würde es ungereimt sein, zum Behufe derselben sich
nach Prinzipien a priori umzusehen" 17.
Reiter sagt Kant sehr aufschlußreich:
„Wenn . . ein System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen M e t a p h y s i k
heißt, so wird eine praktische Philosophie, welche nicht Natur, sondern die Freiheit der
Willkür zum Objekte hat, eine Metaphysik der Sitten voraussetzen und bedürfen: d. i.
eine solche zu h a b e n ist selbst P f l i ch t , und jeder Mensch hat sie auch, obzwar ge-
meiniglich nur auf dunkle Art, in sich; denn wie könnte er ohne Prinzipien a priori eine
allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben glauben? Sowie es aber in einer Metaphysik
der Natur auch Prinzipien der Anwendung jener allgemeinen obersten Grundsätze von
einer Natur überhaupt-auf Gegenstände der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine
Metaphysik der Sitten daran nicht können mangeln lassen, und wir werden oft die be-
sondere N a t u r des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande
nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien
zu zeigen; ohne daß jedoch dadurch der Kernigkeit der letzteren etwas benommen noch
ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. — Das will soviel sagen als:
eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet aber doch auf sie an-
gewandt werden"18.
Hier wird ein weiteres Stück im System der Kantischen praktischen Philosophie
eingeführt, nämlich die von ihm sogenannte Anthropologie. Ober diese und ihr
Verhältnis zur Metaphysik der Sitten, mit welcher zusammen sie den dogmatischen
Teil von Kants praktischer Philosophie zum Unterschied zur Kritik der prakti-
schen Vernunft ausmacht, sagt Kant im weiteren folgendes:
„Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten als das andere Glied der Einteilung der
praktischen Philosophie überhaupt, würde die moralische Anthropologie sein, welche aber
nur die subjektiven, hindernden sowohl als begünstigenden, Bedingungen der A u s f ü h -
r u n g der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung
und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung, der Schul- und Volksbelehrung)
und dergleichen andere sich auf die Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften ent-
halten würde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht vor jener voraus-
geschickt oder mit ihr vermischt werden muß; weil man alsdann Gefahr läuft, falsche
oder wenigstens nachsichtliche moralische Gesetze herauszubringen, welche das für uner-
reichbar verspiegeln, was nur eben darum nicht erreicht wird, weil das Gesetz nicht in
seiner Reinigkeit (als worin auch seine Stärke besteht) eingesehen und vorgetragen wer-
den, oder gar unechte und unlautere Triebfedern zu dem, was an sich pflichtmäßig und
gut ist, gebraucht werden, welche keine sicheren moralischen Grundsätze übrig lassen;
weder zum Leitfaden der Beurteilung noch zur Disziplin des Gemüts in der Befolgung
der Pflicht, deren Vorschrift schlechterdings nur durch reine Vernunft a priori gegeben
werden muß"19.

17
M. d. S., Phil. Bibl. Bd. 42, Hamburg 1959, S. 16.
i* M. d. S., S. 18.
» M. d. S., S. 18—19.

191
Vorschnell von der Einteilung der praktischen Doktrin in eine empirische und
eine apriorische verführt, könnte man zu der Behauptung gelangen, Kant habe
vollends seine kritische Leistung vergessen und sei zu einer rationalistischen Ethik
zurückgekehrt, welche oberste moralische Grundsätze deduziert und den Anspruch
erhebt, diese jedem Gewissen andemonstrieren zu können, weil es eben diese
Grundsätze, wie sich Kant in der eben zitierten Stelle in Anlehnung an die ratio-
nalistische Metaphysik ausdrückt, schon auf „dunkle" Weise in sich hat. Eine sol-
che Ethik würde die Praxis des autonomen Gewissens wieder durch den schließ-
lichen Primat einer apriorischen moralischen Theorie einschränken. Wenn man sich
jedoch die Vorgangsweise der Metaphysik der Sitten sowie die eben zitierten De-
finitionen genau ansieht, so wird man zu dem Resultat gelangen müssen, daß
man durch einen solchen Vorwurf Kant sehr Unrecht tun würde, wenn er auch,
wie wir noch sehen werden, ein Körnchen Wahrheit enthält. Kant betont nämlich
ganz ausdrücklich die Kluft zwischen Metaphysik der Sitten und Anthropologie.
Das ist in Hinblick auf das Problem der Ethik so zu verstehen, daß die Gesetze
der praktischen Vernunft, die als Differenzierung des kategorischen Imperativ
aufzufassen sind, ebenso wie dieser keine unmittelbar subsumptive Anwendung
auf Motive gestatten. Wenn also etwa Selbstentleibung als eine Verletzung einer
vollkommenen Pflicht des Menschen gegen sich selbst a priori deduziert wird,
so weigert sich Kant doch, eine einfache Subsumption zuzulassen, welche Selbst-
entleibung in jedem Falle, gewissermaßen ex opere operato, als unsittlich darzu-
tun imstande wäre. Deshalb hat er jedes Gesetz der praktischen Vernunft um
ein kasuistisches Kapitel erweitert, welches einige Fragen aufwirft, die entstehen,
wenn die Reinheit des deduzierten Gesetzes auf konkrete Fälle angewandt wer-
den soll. Weil diese immer ein empirisches Moment bei sich führen, können sie
an der Allgemeinheit und Notwendigkeit des praktischen Gesetzes insofern
nicht teilhaben. Verbindlich ist eine Handlung nämlich nur dann, wenn sie ein
Gesetz a priori repräsentiert. Dieses kann sie aber nur repräsentieren, insofern
sie nicht empirisch ist. Da es aber keine konkrete Handlung geben kann, die
nicht in irgendeiner bestimmten empirischen Situation stünde, so steht die Sub-
sumption derselben gewissermaßen mit einem Fuße im Bereich des Empirischen,
welcher vom Krebsgeschwür alles Empirischen, daß es nämlich nicht allgemein
notwendig und verbindlich ist, sondern die Unsicherheit eines bloß Hypotheti-
schen und Riskierten bei sich führt, befallen ist — wodurch die ganze Handlung
in betreff ihrer Sittlichkeit niemals den Anspruch des Absoluten, den das Sitten-
gesetz als solches hat, erheben darf. Die unüberbrückbare Differenz zwischen dem
Sinnlichen und Sittlichen, welche Kant zur Lehre von der Typik der reinen prak-
tischen Urteilskraft geführt hat, ist also auch für die Metaphysik der Sitten gül-
tig. Sie bewahrt davor, daß aus der Differenzierung des kategorischen Imperativ
in sich selbst 'eine materiale Wertethik wird, welche die Einsichten der Typik wie-
der zunichte macht. Man beachte in diesem Zusammenhang, daß die kasuistischen
Erläuterungen, die Kant seinen Gesetzen beifügt, fast durchwegs in Frageform
gehalten sind und daß Kant diese Fragen fast nie beantwortet, sondern offenläßt.

192
Nun wäre es freilich unsere Aufgabe nachzuprüfen, wie eine Differenzierung
des kategorischen Imperativ sich methodisch mit der Typik der reinen prakti-
schen Urteilskraft verträgt. Daß Kant die Konsequenzen seiner Typik in
der Metaphysik der Sitten nicht vergessen hat, haben wir nun gezeigt. Indes bleibt
die Frage offen, wieso er sich von den Voraussetzungen der Metaphysik der Sitten
her überhaupt an die Typik hat erinnern dürfen. Mit anderen Worten dieselbe
Frage: Wie ist von den Voraussetzungen der Typik her eine apriorische Differen-
zierung des kategorischen Imperativ überhaupt möglich? Ist eine solche nicht not-
wendig ein Rückfall in vorkritische Verstandesethik? — Die gestellte Frage läßt
sich aus Kant nicht beantworten, sondern gehört zu jenen Problemen, die von
Kant her über Kant hinausweisen. Denn dazu hätte Kant sich in der Einleitung der
Metaphysik der Sitten genauer über deren Methode aussprechen müssen. Es wird
hier aber lediglich mitgeteilt, daß die Methode Deduktion a priori sei, wie auch aus
den im vorliegenden Aufsatz zitierten Stellen hervorgeht. Nun sagt das Wort
„a priori" nicht sehr viel. Welcher Art die apriorische Erkenntnis der Meta-
physik der Sitten ist und wie sie sich zu den Ergebnissen der Kritik der prakti-
schen Vernunft verhält, hat Kant jedoch keiner ausführlichen Untersuchung für
wert gehalten.
Das Fehlen einer solchen Reflexion hat sich freilich auch an der Qualität man-
cher Äußerungen Kants über moralische Fragen gerächt20. Seine Kasuistik zeigt
nämlich nicht immer jenen Ton der Selbstbeschränkung, der nach den Einsichten
der Typik aller Kasuistik geziemt. Mitunter urteilt Kant nämlich mit großem
moralischen Pathos im Sinne von eindeutig materialen Werten, so z. B. in seiner
Kasuistik zum Problem der Lüge. Dieses zeitweise Abgleiten Kants in eine mate-
riale Methode der Kasuistik erklärt sich philosophisch daraus, daß er die Methode
seiner Metaphysik nicht ausführlicher durchdacht und ihr Verhältnis zur Methode
der Kritik nicht eindeutig festgelegt hat. Daher muß die Beantwortung der
Frage, ob der kategorische Imperativ überhaupt inhaltlich differenziert werden
kann bzw. wenn dies möglich ist, wie man sich dazu anstellen müsse, aus der
Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie als solcher heraustreten. Sie soll uns
in diesem kleinen Aufsatz auch nicht näher beschäftigen.
Das Fehlen der Reflexion Kants auf die Methode seiner Metaphysik der Sitten
ist jedoch ein Beispiel für einen allgemeineren Mangel von dessen Philosophie:
daß er nämlich zwar auf Einzelwissenschaft und Verstandesmetaphysik kritisch
reflektierte, nicht jedoch auf die Methode seines eigenen Denkens, sei es nun die
des kritischen oder die des dogmatischen Geschäfts. Es handelt sich also hier um
eine Endlichkeit der Kantischen Leistung für die Philosophie, die bereits von den
ersten Kantianern bemerkt und zur Sprache gebracht wurde. Wenn wir unsere
Betrachtungen über die Ethik Kants fundieren wollen, so ist es erforderlich, sie
20
Vgl. hierzu audi R. Reininger, Kant, seine Anhänger und seine Gegner, München
1923, S. 192: „Es liegt in der Natur der Sache, daß in dieser angewandten Ethik, der Ein-
haltung strengsten Formalismus ungeaditet, mehr der Mensch Kant zu uns spridit als der
Philosoph und zwar der schon gealterte und in seiner Eigenart erstarrte Kant."

193
mit diesem Haupt- und Grundmangel der Kantischen Philosophie in Zusammen-
hang zu bringen. Er besteht nicht darin, daß Kant an irgendeiner substantiellen
Stelle seiner Philosophie Falsches gelehrt hätte, sondern darin, daß seine Frage-
stellung nur bis zu einem bestimmten Punkt, aber nicht weiter gegangen ist.
Wenn die Philosophiegeschichte Mängel an einer bestimmten Philosophie fest-
zustellen gezwungen ist, so darf sie dies nicht in der Form tun, daß sie diese in
der Person des Philosophen begründet, die philosophiegeschichtlich ganz uninter-
essant ist. Vielmehr muß es sich um eine bestimmte Endlichkeit des geschichtlichen
Fragehorizontes selbst handeln, die zu begründen ist. Hierbei haben soziologische,
politologische und ähnliche Untersuchungen lediglich korrollarischen Wert und
können nicht philosophiegeschichtlich substantielle Kriterien der Beurteilung lie-
fern, will man nicht die Möglichkeit der Philosophie überhaupt bestreiten und sie
lediglich als einen ideologischen Überbau bestimmter ökonomischer, gesellschaft-
licher oder psychologischer Situationen entlarven. Sollen philosophiegeschichtliche
Kriterien der Philosophie nicht äußerlich sein, so kann es sich bei einer Differenz
in der Philosophiegesdiidite lediglich um ein verändertes Verhältnis, das der
Systemanspruch der Philosophie zu seiner Tradition hat, handeln. Wollen wir also
die beschriebene Endlichkeit der Kantischen Ethik philosophiegeschichtlich erklä-
ren, so dürfen wir dabei nicht etwa die Moral der bürgerlichen Gesellschaft zu
Hilfe nehmen, was ergänzungsweise zweifellos unumgänglich und in mancher Be-
ziehung erhellend ist — wesentlich allein wird sein, wie sich die Kantische Philo-
sophie in ihrem Systemanspruch zu ihrer Geschichte verhalten hat und wie sich
dieses Verhältnis in die Geschichte der Beziehung der Philosophie zu ihrer Ge-
schichte einfügt. Zu diesem Zweck muß in aller Kürze etwas weiter ausgeholt wer-
den und auf die erste große Formulierung des transzendentalen Gedankens in
der Neuzeit, auf Descartes, zurückgegriffen werden.
Die Kantische Kritik an der Verstandesmetaphysik ist nämlich nicht nur von
erkenntnistheoretischer Bedeutung, sie beruht vielmehr darüber hinaus auf einer
gegenüber der Verstandesmetaphysik vertieften Einsicht der Philosophie in ihre
eigene Geschichtlichkeit. Freilich war dieser Hintergrund der kritischen Bemühun-
gen ihnen selbst noch nicht bewußt — erst Schelling und insbesondere Hegel
machten auf dieses Problem aufmerksam. Die Verstandesmetaphysik, um diesen
später von Hegel beanspruchten Terminus hier zu gebrauchen, entstand als Durch-
führung des mit dem cartesischen Zweifelspostulat verbundenen Absolutheits-
anspruchs. Dieses Zweifelspostulat wandte sich gegen eine Philosophie, die ihre
Tradition als perenne, die immer schon im Besitz der absoluten Wahrheit gewesen
sein soll, interpretierend ansetzt. Die Perennität der Tradition soll zunächst total
negiert werden. Im Verbrennungsprozeß alles als perenn Übernommenen bleibt
ein Absolutes übrig: cogitans sum. Nur was aus diesem sich absolut vermittelt,
ist für die Verstandesmetaphysik im Ansdiluß an Descartes absolut und wird
zum außerhalb der Perennität stehenden Maßstab dessen, was perenn ist.
Die Kritik wendet sich nun gegen diesen, von Leibniz großartig durchdachten
Methodenanspruch einer vom cogitans sum her sich auf das zunächst im Zweifel

194
Negierte fortpflanzenden Absolutheit. Kant leugnet die Möglichkeit einer unab-
hängig vom Empirischen oder — wie Leibniz es nennt, „Historischen" — sich
a priori fundierenden Gegenstandserkenntnis. Unabhängig von der Empirie ist
nur die Einsicht in die Entwürfe des erfahrenden Verstandes und seiner Hand-
lungen selbst, denen allererst die empirischen Zufälligkeiten begegnen. Absolut,
d. h. außerhalb bloß erscheinender Zufälligkeit ist für Kant also die Freiheit der
Handlung des entwerfenden Bewußtseins, und zwar sowohl der sich auf Nicht-
bewußtsein richtenden Verstandeshandlung, als auch der sich auf das Bewußtsein
und seinen freien Entwurf rückbeziehenden sittlich praktischen Vernunft. Diese
erkenntnistheoretische und ethische Position hat nun freilich eine genaue Entspre-
chung in der Art, wie die Kantische Philosophie die Philosophiegeschichte und
ihre eigene Stellung in derselben interpretierte. Kant war der Ansicht, daß die
Philosophie solange keine absolute Wahrheit, die über geschichtlich relative
Standpunkte hinausgeht, erreichen konnte, als sie meinte — im Sinne der dog-
matischen Verstandesmetaphysik — einen solchen absoluten Punkt unmittelbar er-
reichen zu können. Erst der dem Dogmatismus entgegengesetzte Skeptizismus
(Hume), welcher Kant aus dem dogmatischen Schlummer erweckte, weil er lehrte,
daß alles absolut Scheinende - nur geschichtlich bedingte Gewohnheit, Konvention,
sei, bereitete — paradoxerweise — das Feld für eine absolute Fundierung der
Philosophie. Denn: lediglich die Einsicht in die geschichtliche Relativität alles
philosophischen Anspruchs ist selbst absolut. Von Hume unterscheidet Kant der
Anspruch, daß sich die skeptische Einsicht in sich differenzieren und in ein System
in sidi vermittelter Momente explizieren läßt, durch welche Explikation der
Skeptizismus zum Kritizismus wird. Wie eine solche Explikation aber selbst me-
thodisch möglich sei, darauf hat Kant nicht hinreichend reflektiert. Er stellte
nicht die Frage, welche Geschichtlichkeit die Einsicht in die Geschichtlichkeit der
Philosophie, welche die unmittelbare, ihr nicht bewußte Geschichtlichkeit derselben
sprengt, selbst hat. Ins Erkenntniskritisdie gewendet läuft der eben ausgesprochene
Mangel auf den seit langem bekannten zurück: Kant hat nicht danach gefragt,
wie Transzendentalphilosophie selbst methodisch möglich sei. Dies führt in die
bekannte Schwierigkeit, daß das transzendentale Ich einerseits nicht empirisch
verfälscht werden soll, andererseits aber auch nicht leer, negativ bleiben darf,
weil ein bloß Negatives auch nichts konstruieren kann. Alle empirischen Aus-
legungsmöglichkeiten des transzendentalen Ich erwiesen sich als Sackgassen: der
psychologische, soziologische, historische verliert das transzendentale Motiv der
Methodenkonstitution, der an formalen Methodenmaximen orientierte geltens-
logische Weg der Kantinterpretation verliert das Motiv der Wirklichkeit des
transzendentalen Ich, weshalb für ihn die Trennung von spielregelartig konven-
tionell angesetzten Methodenmaximen auf der einen, empirisch zufälligen, nach be-
liebigen Abstraktionskoordinaten geordneten Fakten auf der anderen Seite als
letzte Konsequenz übrigbleibt. Kant selbst hat sich nicht auf eine dieser Sack-
gassen eingelassen, sondern alle Motive hübsch beisammen gelassen, andererseits
jedoch nicht bedacht, wie denn nun wirklich4 dieser Strauß von Absichten in die

195
Realität umgesetzt und methodisch gerechtfertigt werden könnte. Für ihn galt
vielmehr als Modell für die transzendentale Methode das alte verstandesmetaphy-
sische Ideal einer Erkenntnis a priori, die er naiv annahm und für möglich hielt,
wenn sie sich nur nicht auf Gegenstände, sondern auf das Ich als Bedingung der
Möglichkeit aller Gegenstände richtet. Dementsprechend hielt er unter veränder-
ten Vorzeichen an der philosophiegeschichtlichen Hoffnung aller Verstandesmeta-
physik fest, daß es nicht allzulange mehr dauern könne, bis alle Fragen, die bis-
her die Menschheit bewegt haben und zu keiner Lösung gelangt sind, in verbind-
licher Weise für alle befriedigend wissenschaftlich gelöst sein werden. Er beschließt
daher die Kritik der reinen Vernunft mit folgenden Sätzen:
„Wenn der Leser" den kritischen Weg, der nadi Dogmatismus und Hume allein noch
offen isr, „in meiner Gesellschaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt hat, so
mag er jetzt urteilen, ob nicht, wenn es ihm beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um die-
sen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen, dasjenige, was viele Jahrhunderte nidit leisten
konnten, nodi vor Ablauf des gegenwärtigen erreidit werden möge: nämlich, die mensch-
liche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblidi, besdiäftigt
hat, zur völligen Befriedigung zu bringen" 21.
Genau an dieser Stelle haben nun die späteren systematisdien Entwürfe einge-
setzt, insbesondere die von Schelling und Hegel. Beide wenden ihre Studien von
Anfang an den konkreten Inhalten der Geschichte und den fundamentalphilosophi-
schen Problemen zu. Das transzendentale Ich als absoluter Geist im Sinne Hegels
verliert seine Abstraktheit und Leere, indem das konstituierende Absolute die
Geschichtlichkeit des Geistes selbst ist. Hegel versucht die Absolutheit dessen,
woran nicht mehr gezweifelt werden kann, als eine geschichtlich Gewordene zu
vermitteln und umgekehrt die Geschichte von jener Absolutheit her systematisch
zu entwickeln. Dementsprechend vertritt er auch die Auffassung, daß das indivi-
duelle Gewissen konstituiert sei in der sittlichen Substanz, die als Absolutes einer
Zeit geschichtlich geworden ist. Er sagt dazu folgendes:
„Für das G u t e , als das substantielle Allgemeine der Freiheit, aber nodi A b s t r a k -
t e sind daher ebenso sehr Bestimmungen überhaupt und das Princip derselben, aber als
mit ihm i d e n t i s c h , g e f o r d e r t , wie für das G e w i s s e n , das nur abstrakte
Princip des Bestimmens die Allgemeinheit und Objektivität seiner Bestimmungen gefordert
ist. Beide, jedes so für sich zur Totalität gesteigert, werden zum Bestimmungslosen, das
bestimmt seyn soll. — Aber die Integration beider relativen Totalitäten zur absoluten Iden-
tität ist schon a n s i c h vollbracht, indem eben diese für sidi in ihrer Eitelkeit ver-
schwebende Subjektivität der r e i n e n G e w i ß h e i t seiner selbst i d e n t i s c h ist
mit der a b s t r a k t e n A l l g e m e i n h e i t des Guten; — die, somit k o n k r e t e ,
Identität des Guten und des subjektiven Willens, die Wahrheit derselben ist die S i t t -
lichkeit"22.
Seit der intellektuellen Anschauung Sdiellings war es die Auffassung der idea-
listischen Philosophie, daß die transzendentale Konstitution zugleich endlich, em-
pirisch (anschaulich und intellektuell!) geleistet werden müsse, daß die Einsicht in

21
Kr. d. r. V., A856/B884.
22
Hegel, Jubiläumsausgabe, hg. v. H. Glöckner, Bd. VII, S. 223.

196
die geschichtliche Endlichkeit der Philosophie zugleich geschichtlich zu vermitteln
sei. Wie eine solche transzendental-spekulative Empirie möglich ist, daran arbei-
teten Sdielling und Hegel in unaufhörlich neuen Entwürfen. Dieser systematische
Grundgedanke wirkte sich auf die Ethik so aus, daß Hegel in der eben zitierten
Stelle meint, daß die geschichtlich vermittelte Substanz der positiven Sittlichkeit,
in welcher die „Integration beider relativen Totalitäten zur absoluten Identität
schon an sich vollbracht" ist, mehr sei als bloß empirisch aufgreifbare Sitte, der
die Formalität des abstrakten individuellen Gewissens abstrakt entgegensteht. In
ihr ist vielmehr Positivgegebenes mit dem formalen Absoluten des Gewissens
zusammengeschlossen.
Ob ein solcher Versuch, über Kant hinaus die Kantischen Probleme zu bewäl-
tigen, wirklich durchführbar ist, ist eine andere Frage, die jedoch im vorliegenden
Aufsatz nidit eingehend behandelt, sondern nur angedeutet werden kann, da sie
seine Grenzen bei weitem überschreitet. Ebenfalls angedeutet kann hier nur wer-
den, daß Kant selbst als erster den ersten Schritt in die eben bezeichnete Richtung
getan hat, zwar nicht in speziell ethischer Hinsicht, sondern im fundamental-
philosophischen Bereich, und zwar in seiner dritten Kritik. Diese erteilt der
Urteilskraft bereits eben jene Vermittlungsfunktion zwischen den beiden von der
Kritik säuberlich getrennten Reichen23, welche Sdielling und Hegel später aus-
führlich zu durchdenken versuchten. Dies sei mit einem abschließenden Zitat aus
der Kritik der Urteilskraft belegt, welches zum Abschluß der hier gestellten
Thematik genügen muß, da eine einläßliche Behandlung der hier neu auftauchen-
den Probleme eine speziellere und umfangreichere Arbeit erfordern würde. Kant
schreibt hier folgendes:
„Der Verstand gibt, durch die Möglidikeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen
Beweis davon, daß diese von uns nur als Ersdieinung erkannt werde, mithin zugleich An-
zeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber laßt dieses gänzlich u n b e s t i m m t .
Die Urteilskraft versdiafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur nach
möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlidien Substrat (in uns sowohl
als außer uns) B e s t i m m b a r k e i t d u r c h das i n t e l l e k t u e l l e V e r m ö -
g e n . Die Vernunft aber gibt ebendemselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die
B e s t i m m u n g ; und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Natur-
begriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich" 24.

2a
Vgl. hierzu H. J. Paton, Der Kategorische Imperativ — Eine Untersuchung über
Kants Moralphilosophie, Berlin 1962, S. 192: „Und diese Ansicht wird soweit bestätigt,
daß Kant von einer Analogie zwischen dem Reich der Zwecke und dem Reich der Natur
spricht/'
** Kr. d. U., S. LV—LVL

197

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