Sie sind auf Seite 1von 20

Seminararbeit:

Die Kontroverse zwischen Kant und Garve

verfasst von: Markus Liebscher

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
2. Missverständnisse in Garves Darstellung der Moralphilosophie Kants
2.1. Erstes Missverständnis: Moralische Vervollkommnung als der einzige Endzweck
des Menschen
2.2. Zweites Missverständnis: Die sittliche Selbstgesetzgebung des Menschen
verlangt, von der eigenen Glückseligkeit abzusehen
3. Einwände Garves zur Moralphilosophie Kants
4. Diskussion

1
1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich mit einem moralphilosophischen Problem
befassen, das Anlass zu einer Kontroverse zwischen Immanuel Kant und dem
Publizisten und Philosophen Christian Garve gegeben hat. Garve hatte im ersten Teil
seines 1782 in Breslau erschienenen Werkes „Versuche über verschiedene Gegenstände
aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben“ Einwände gegen ein
grundlegendes Theorem der Kantischen Moralphilosophie hervorgebracht: die
Unterscheidung eines Handelns „aus Pflicht“ von einem nur pflichtgemäßen, durch das
menschliche Streben nach Glückseligkeit motivierten Handeln. Garve versuchte zu
zeigen, dass solche theoretischen Unterscheidungen für die Praxis jegliche Bedeutung
verlieren. Kants erster Teil seines 1793 erschienenen Aufsatzes „Über den
Gemeinspruch“ ist eine Auseinandersetzung mit der Kritik Christian Garves.
Meine Arbeit rückt die Kantische Perspektive zu dieser Auseinandersetzung etwas
stärker in den Blick als diejenige Garves. Das hat mehrere Gründe. Zum einen äußert
sich Kant um einiges gründlicher als Garve, dessen Argumente nicht immer die
Ausführlichkeit besitzen, die eine kritische und angemessene Auseinandersetzung nötig
hätte. Zum Anderen waren die Einwände Garves in Kants Schrift „Über den
Gemeinspruch“ wohl eher Anlass für Kant, sich mit einem generellen Typ ethischer
Argumentation - dem Eudämonismus – auseinander zu setzen, als sich auf eine
gründliche Beschäftigung mit einem philosophischen System einzulassen.
Ich denke, dass es Kant selbst in seiner Auseinandersetzung mit Christian Garve nicht
nur darum ging, die Mängel und Widersprüche aufzudecken, die in den Äußerungen
seines Gegenübers zu finden sind. Vielmehr möchte er prüfen, in wie weit Garve die
Kant'sche Position richtig aufgefasst hat, um damit Missverständnisse aus dem Weg
räumen zu können. So schreibt Kant zu Beginn seines Aufsatzes, er wolle „sehen, ob
wir uns einander auch verstehen.“1 Bei einem Ausräumen von Missverständnissen bleibt
er jedoch nicht stehen. Wie zu zeigen sein wird, verteidigt er die zentralen Theoreme
seiner eigenen Moralphilosophie gegen Garve und zeigt damit grundlegende Mängel
der Garv'schen Position auf.

1
Kant: Über den Gemeinspruch, A 208

2
Ich möchte also in der folgenden Arbeit die Kontroverse zwischen Kant und Garve
darstellen und kritisch beleuchten. Dabei lasse ich mich von folgenden Fragen leiten:
Hat Garve Kant tatsächlich missverstanden? Gibt Kant die Garv'sche Position adäquat
wieder? Auf welche der herausfordernden Argumente Garves findet Kant eine
überzeugende Antwort?
Im ersten Abschnitt meiner Arbeit soll es zunächst um grundlegende Missverständnisse
gehen, die in Garves Darstellung der Kantischen Moralphilosophie bestehen, um
schließlich, im zweiten Teil der Arbeit die tatsächlichen Einwände zur Sprache zu
untersuchen, die Garve zur Sprache bringt.

2. Missverständnisse in Garves Darstellung der Moralphilosophie Kants

Kant geht zu Beginn seiner Schrift „Über den Gemeinspruch“ auf zwei Aussagen
Christian Garves ein. Garve äußert die Ansicht, dass für Kant „die Beobachtung des
moralischen Gesetzes (…) der einzige Endzweck für den Menschen“ sei, dass sie „als
der einzige Zweck des Schöpfers angesehen werden müsse“2. Desweiteren interpretiert
er Kant dahingehend, dass eine konsequente Befolgung des moralischen Gesetzes
bedeutet, dass man gänzlich von der eignen Glückseligkeit absehen müsse.
Kant nutzt die Gelegenheit, um diese beiden in seinen Augen grundlegenden
Missverständnisse auszuräumen. Kants Einwand soll kurz vorweggenommen werden,
bevor ich ihn ausführlicher beleuchte. Zum ersten sei die Unterwerfung unter das
Sittengesetz, wodurch die moralische Vervollkommnung des Menschen bewirkt wird,
„für sich allein“3 nicht der höchste Zweck des Menschen. Zum anderen müsse der
Mensch, der nicht nur sittliches, sondern auch Naturwesen ist, Rücksicht auf seine
Glückseligkeit nehmen, denn letztere ist nicht zuletzt sein „natürlicher Zweck“.4
Ich möchte nacheinander auf beide Einwände Kants genauer eingehen.

2
Kant: Über den Gemeinspruch, A 210
3
ebenda
4
Ebenda, A 209

3
2.1. Erstes Missverständnis: Moralische Vervollkommnung als der einzige Endzweck
des Menschen

Ich möchte zunächst die Frage stellen, warum Kant die These, dass Glückseligkeit der
„einzige Endzweck“ für das menschliche Leben ist, verworfen hat. Danach möchte ich
erwägen, warum auch die Moralität für Kant nicht Endzweck im alleinigen und
höchsten Sinne sein kann. Schließlich soll sein Lösungsansatz des Problems, der in
Lehre vom „höchsten Gut“ zu finden ist, vorgestellt werden.

Für die Vertreter der eudämonistischen Ethik, so unterschiedlich ihre Ansätze gewesen
sein mögen, war das höchste Telos menschlichen Lebens die Glückseligkeit
(εὐδαιμονία). Nie ging es den Philosophen jedoch um eine reine Glücksmaximierung,
ohne Rücksicht auf Moralität. Im Gegenteil: Glück und Moral wurden stets in einem
engen Verhältnis zueinander gedacht, ob man nun die Moral als notwendiges Mittel zum
Zweck der Glückseligkeit, als eine wesentliche, konstitutive Komponente derselben
oder sogar als mit der Glückseligkeit identisch betrachtete. All diese verschiedenen
Facetten des Eudämonismus teilten jedoch die „Auffassung, nach der es das Streben
des Menschen nach Glück ist, was es rechtfertigt, dass er das Gebot, moralisch gut zu
handeln, als ein für ihn verbindliches Gebot akzeptiert.“5
Dass der Eudämonismus der Ethik Verbindlichkeit zu geben in der Lage war, davon
konnte sich Kant nicht überzeugen lassen. Er betrachtet es zwar als eine unbestreitbare
Tatsache, dass alle Menschen nach Glück streben. In ihren Vorstellungen darüber, worin
dieses Glück „inhaltlich“ besteht, sind sich die Menschen aber auf Grund der
Unterschiedlichkeit ihrer Neigungen und Naturanlagen höchst uneinig. Man könnte es
anders formulieren: ein wichtiger Grund dafür, dass es keinen festen, inhaltlich
bestimmten Glücksbegriff geben kann, der für alle Verbindlichkeit hat, ist für Kant die
Tatsache, dass im menschlichen Glück unzählige empirische, d.h. zufällige und höchst
subjektive Momente zusammen kommen. Glückseligkeit wird von Kant als „die
Befriedigung aller unserer Neigungen sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben,
als intensive, dem Grade und auch protensive, der Dauer nach“6 und nicht als die
Konsequenz der Realisierung einer objektiven Vorstellung von einem umfassend „guten
5
Weidemann, Hermann Münster, S. 23/24
6
Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, A 806/B 834

4
Leben“ gedacht.
Ein weiterer Grund, warum Glückseligkeit nicht der höchste Zweck des Menschen sein
kann liegt in der Unzweckmäßigkeit der menschlichen Natur in Bezug auf dieses Ziel.
„Wäre (…), so schreibt Kant, an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, seine
Erhaltung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit, der eigentliche
Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die
Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle
Handlungen, die es in dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze Regel seines
Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet, und jener Zweck weit
sicherer dadurch haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft
geschehen“7
Wie steht es nun mit dem Verhältnis von Moral und Glückseligkeit? Für Kant der
Eudämonismus dadurch gekennzeichnet, dass er die Moral letztendlich nur in ein
instrumentelles, untergeordnetes Verhältnis zu Zwecken der Glückseligkeit stellte.
Fragen wir, so würde ein Eudämonist nach Kantischer Lesart argumentieren, nach den
letzten Gründen unserer Moralität, dann würde uns bewusst, dass wir nur um der
Glückseligkeit willen moralisch sind. Das folgende Zitat aus der Metaphysik der Sitten
soll als Beleg für die Position Kants dienen: „Nun sagt der Eudämonist: diese Wonne,
diese Glückseligkeit ist der eigentliche Bewegungsgrund, warum er tugendhaft handelt.
Nicht der Begriff der Pflicht bestimme unmittelbar seinen Willen, sondern nur
vermittelst der im Prospekt (d. h. im Vorblick) gesehenen Glückseligkeit werde er
bewogen, seine Pflicht zu tun“8. Eine so verortete Moral ist nach Kants Auffassung
keine Moral, denn tugendhaftes Handeln erscheint hier gleichbedeutend mit dem
Befolgen eines Ratschlages der Klugheit. Damit würden die moralischen Pflichten des
Menschen nur eine bedingte Gültigkeit besitzen (nämlich nur insofern sie der
Glückseligkeit zuträglich sind und das Streben nach Glückseligkeit der anderen nicht
behindern). Ihnen käme nur der Status von „hypothetischen Imperativen“ zu. 9 In der

7
Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 395
8
Kant, I.: Metaphysik der Sitten, AA VI 377
9
In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt Kant: „ … ist der Imperativ, der sich auf die
Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i. die Vorschrift der Klugheit, noch
immer
hypothetisch; die Handlung wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer andern
Absicht
gebotenª , Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 416

5
Metaphysik der Sitten spricht Kant sogar davon, dass ein solcher Eudämonismus den
„sanften Tod aller Moral“ zur Folge hätte.10 Die moralische Pflicht, so Kant, muss aber
kategorisch, das heißt unbedingt, ohne Hinblick auf einen bestimmten Zweck, geboten
sein. Der Vernunft genügt die Vorstellung eines objektiv gültigen Gesetzes (welches das
Sittengesetz ist), um zu wissen, was moralisch geboten ist. Es ist der formale Gedanke
einer objektiven Verallgemeinerbarkeit, nicht eine subjektive Zwecksetzung, die den
Willen bestimmen soll. Kant schreibt, dass es dem Menschen im Angesicht eines
solchen objektiv gebietenden Gesetzes obliegt, von seinen subjektiven Neigungen zu
„abstrahieren“11.
Es wird deutlich, dass sich für Kant die Glückseligkeit aus drei Gründen als Kandidat
für das alleinige höchste Gut disqualifiziert:
1. Es kann keine allgemeingültige inhaltliche Bestimmung des Begriffes
„Glückseligkeit“ geben, weil er in höchstem Maße von unseren zufälligen
Neigungen abhängig ist;
2. Unsere menschliche Natur ist nicht zweckmäßig für das Erreichen von
Glückseligkeit ausgestattet, da ihr die starken Instinkte fehlen, die Tiere haben;
3. Glückseligkeit als höchstes Gut könnte keine verbindliche Moral hervorbringen
bzw. sicher stellen, weil moralische Pflichten nur hypothetisch, in Bezug auf das
Ziel der Glückseligkeit, nicht jedoch kategorisch geboten wären.

Wie bestimmt nun Kant das Verhältnis von Moral und Glückseligkeit? In der Theorie
und Praxis-Schrift schreibt er: „Nach meiner Theorie ist weder die Moralität des
Menschen für sich noch die Glückseligkeit für sich allein, sondern das höchste in der
Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und Zusammenstimmung beider besteht,
der einzige Zweck des Schöpfers.“12
In seiner Lehre vom höchsten Gut macht er die moralische Vervollkommnung des
Menschen zu einer Bedingung bzw. Voraussetzung für die Erlangung von
Glückseligkeit. Dies kommt in seiner Rede von der Moral als „Wissenschaft, die (…)
lehrt, (…) wie wir (…) der Glückseligkeit würdig werden sollen“13 zum Ausdruck.
Glückswürdigkeit durch ein sittliches Leben zu erlangen, ist der Teil des höchsten
10
Kant, I.: Metaphysik der Sitten, AA VI 378
11
Vgl.: Kant: Über den Gemeinspruch, A 212
12
Kant: Über den Gemeinspruch, A 210
13
ebenda, A 209

6
Gutes, der allein durch das Zutun des Menschen erlangt werden kann. Die Erlangung
von Glückseligkeit aber liegt nach Kant nicht im Vermögen des Menschen und bedarf
Gottes Mitwirkung und den Glauben an Fortleben der menschlichen Seele nach dem
Tod.
Wieso konnte Garve Kant in dieser Sache falsch verstehen? Bernd Ludwig bemerkt in
seinem Artikel „Kant, Garve, and the Motives of Moral Action“, dass Garve nicht ohne
weiteres genaue Kenntnis des Kantischen Konzepts des höchsten Guts haben konnte.
„Surely, there is no place to be found where Kant spoke so clearly before 1792. The
only detailed passages where he writes about morality as dignity to be happy is in the
doctrine of Method of the Critique of Pure Reason (B 837) but there he does not at all
claim that one cannot renounce happiness as a natural end.“14

2.2. Zweites Missverständnis: Die sittliche Selbstgesetzgebung des Menschen


verlangt, von der eigenen Glückseligkeit abzusehen

Kant ist des Öfteren zur Zielscheibe unangemessener Auslegungen geworden.


Besonders hartnäckig hat sich in Bezug auf seine Moralphilosophie eine rigoristische
Deutung gehalten, nach welcher Kant die Unterdrückung und Verleugnung der
sinnlichen Natur des Menschen für eine Bedingung der Moralität hält. Garve lässt sich
auf Grund der oben zitierten Auffassung ebenfalls in diese Tradition der
Missverständnisse einordnen. Kant erwidert ihm, dass der Mensch nach seiner Ansicht
nicht auf Glückseligkeit, den Endzweck seiner sinnlichen Natur, verzichten solle,
geschweige denn es jemals könne. Da der Mensch in den Augen Kants sowohl ein
sinnliches Wesen als auch ein zur Sittlichkeit fähiges Vernunftwesen ist (und in diesem
Sinne eine untrennbare Einheit darstellt), stellt sich ihm die Aufgabe, Sinnlichkeit und
Vernunftnatur auf die beste Weise zu verbinden.
Was die Moral betrifft, so muss aber der Vernunft, die uns den Begriff der Pflicht
liefert, der Vorrang gegeben werden. Diesen Vorrang der Vernunft innerhalb der Sphäre
des Moralischen drückt Kant in seiner Schrift „Über den Gemeinspruch“ folgender
maßen aus: „Denn zuerst muß ich sicher sein, daß ich meiner Pflicht nicht zuwider
handle; nachher allererst ist es mir erlaubt, mich nach Glückseligkeit umzusehen, wie
14
Ludwig, Bernd: Kant, Garve, and the Motives of Moral Action,
http://mpj.sagepub.com/cgi/content/abstract/4/2/183, S. 186

7
viel ich deren mit jenem meinem moralisch- (nicht physisch-) guten Zustande vereinigen
kann“15
Man darf, so denke ich, Kant nicht falsch verstehen und annehmen, dass es in der
Mehrzahl unserer alltäglichen Entscheidungssituationen um eine strenge, moralische
Selbstprüfung geht, die zu Tage fördern soll, ob das eigene Tun für alle Menschen
gewollt werden kann. Es gibt zahlreiche Lebenssituationen, die außerhalb der Sphäre
moralischer Relevanz liegen. Etwas anderes anzunehmen wäre in meinen Augen wenig
sinnvoll und würde verschleiern, dass Kant für zahlreiche Lebensbereiche ein Streben
nach Glück für durchaus angebracht hält, solange es nicht mit moralischen Pflichten in
Konkurrenz tritt. Es geht Kant demnach vielmehr um eine Einschränkung der
Sinnlichkeit im Bereich der Sittlichkeit, nicht um eine Selbstverleumdung oder einen
Verzicht.

3. Einwände Garves zur Moralphilosophie Kants


3.1. Erster Einwand Garves

Der erste Einwand, den Garve formuliert, möchte ich zunächst in meinen eigenen
Worten paraphrasieren und ihn anschließend vollständig zitieren. Garve hält es für
unbegreiflich, dass der Mensch uneigennützig seine Pflicht tun kann, ohne dabei nach
Glückseligkeit zu streben. Im Text lautet der Garv'sche Einwand folgendermaßen: Die
Kantianer, so schreibt Garve, seien sich „einig, daß der Tugendhafte, bei seinem
uneigennützigen Gehorsam gegen das Sittengesetz, jenen Gesichtspunkt (gemeint ist der
Aspekt, dass die Tugend die Würdigkeit verleiht, glücklich zu sein) nie aus den Augen
verlieren könne noch dürfe. Nicht dürfe, sage ich, weil er sonst den Übergang in die
unsichtbare Welt, den zur Überzeugung vom Dasein Gottes und von der
Unsterblichkeit, gänzlich verlöre, die doch nach der Theorie dieser Philosophen selbst
durchaus notwendig ist, dem moralischen System Halt und Festigkeit zu geben. Der
Tugendhafte strebt also, diesen Prinzipien zufolge, unaufhörlich danach, der
Glückseligkeit würdig, aber – insofern er wahrhaft tugendhaft ist – nie danach,
glücklich zu sein.“16
Aufgeschlüsselt in seine Einzelaussagen kann das Argument so dargestellt werden:
15
Kant: Über den Gemeinspruch, A 220/221
16
ebenda, A 214

8
i) Das moralische System erhält seinen Halt und seine Festigkeit durch die
Überzeugung vom Dasein Gottes sowie der Unsterblichkeit der Seele.
ii) Die Überzeugung vom Dasein Gottes sowie der Unsterblichkeit der Seele sind
nur möglich, wenn der Mensch die Moral unter dem Gesichtspunkt, dass sie zur
Glückseligkeit würdig macht, im Auge behält.
------------------------------------------------------------------------------------
Daraus folgt: Damit das moralische System Halt und Festigkeit erhalten kann, muss der
Mensch den Glückswürdigkeit verleihenden Aspekt der Moral im Auge behalten, das
heißt, er muss nach Glückswürdigkeit streben

Desweiteren schreibt Garve Kant folgende These zu:


iii) Des Menschen Streben, der Glückseligkeit würdig zu werden, kann, wenn es
auf die Moral ankommt, völlig unabhängig von seinem Streben nach Glückseligkeit
(von welchem er absehen muss) Bestand haben.

Kant zeigt in seiner Antwort auf Garves zweiten Einwand, dass die Stabilität des
Systems der Moral nicht, wie in Satz i) behauptet, von der Überzeugung von Gottes
Existenz und der Unsterblichkeit der Seele abhängt. Diese Ideen folgen nämlich nach
Kant aus dem Ideal eines höchsten Guts, welches ein notwendiger Gegenstand der
reinen praktischen Vernunft ist. Sie können also das moralische System nicht
stabilisieren, da sie selbst erst durch die reine praktische Vernunft begründet werden.
Doch was heißt eigentlich Stabilität und Halt in diesem Zusammenhang? Worauf es für
das moralische System ankommt, wenn es darum geht Stabilität (oder „Halt und
Festigkeit“, wie Garve es ausdrückt) zu haben, macht Kant in einem Nebensatz explizit:
auf einen „sicheren Grund und die erforderliche Stärke einer Triebfeder“17.
Unter einem sicheren Grund muss nach Kant ein Prinzip verstanden werden, dessen
Wirken das ganze moralische Leben der Menschen durchdringt und festigt. Für Kant ist
dies das Prinzip der Autonomie, der „Selbstgesetzgebung der Vernunft“.
Unausweichlich ist jeder Mensch mit dem Sittengesetz in sich konfrontiert. Jeder
Mensch, unabhängig von seinen Begabungen, weiß, wenn er seine Vernunft befragt,
was moralisch geboten ist. Die zuvor beschriebene Unsicherheit und Zufälligkeit, die

17
Kant: Über den Gemeinspruch, A 211

9
aus der sinnlichen Natur des Menschen folgt, hat hier keinen Einfluss, weil es sich um
ein Prinzip der reinen praktischen Vernunft handelt.
Der zweite Aspekt, den Kant nennt, ist die „Stärke einer Triebfeder“. Diese Bemerkung
ist äußerst interessant und führt auf eine neue Fährte. Der Begriff der Triebfeder,
übersetzt man ihn in den modernen Sprachgebrauch, meint die zu einer Handlung
notwendige Motivation. Das Wort „Triebfeder“ ist der Mechanik entnommen und legt
nahe, dass der menschliche Willensakt durch eine Kausalität erklärt werden kann. So ist,
nach diesem Modell, die Ausführung einer gewählten Handlungsoption die Wirkung
einer bestimmten Triebfeder. Ist die Triebfeder zu schwach, bleibt das Handeln aus.
Zum Beispiel kann die Aussicht auf eine Belohnung oder auf Anerkennung eine starke
Triebfeder für den Menschen abgeben. Das folgende Zitat zeigt, dass die Idee der
Bewegung des Willens durch eine treibende Kraft, d.h. das Phänomen der Motivation
bei Kant mit dem Begriff der Triebfeder verbunden ist. „Urteilen kann der Verstand
freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß es eine Triebfeder
werde, den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen.“18
Angemerkt sei, dass man in den Werken Kants oft neben dem Begriff der „Triebfeder“
die Rede von „Beweggründen“ findet. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin,
dass sich Triebfedern auf subjektive Zwecksetzungen beziehen, Beweggründe dagegen
auf objektive, für alle vernünftigen Wesen gültige Zwecke.19
Es wurde deutlich, dass nach Kant zur Stabilisierung des moralischen Systems zwei
Dinge notwendig sind: ein Prinzip, das die Grundlage für moralische Überzeugungen
bilden kann und ein motivationaler Aspekt, der das Handeln entsprechend der
gewonnenen Überzeugungen ermöglicht. Gott, Unsterblichkeit oder ein höchstes Gut
liefern für Kant keine annehmbare Grundlage der Moral. Damit hätte sich auch hier der
oben aufgeführte Satz i) aus Garves Einwand als Missverständnis herausgestellt.
Das gesuchte Prinzip findet die Vernunft in sich selbst, ohne den Bezug auf einen
höchsten Zweck zu brauchen. Das höchste Gut, das könnte man Garve vielleicht
zugestehen, könnte man sich durchaus als eine Triebfeder denken, wenn es nur
schlechthin auf die Stärke eines Anreizes ankäme. Denn eine Motivation ist nötig, wie
oben gezeigt wurde, da eine bloße Verstandeserkenntnis den Willen nicht bewegen

18
Zitiert bei: Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der
sittlichen Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler, S. 32
19
Vgl.: Eisler: Kant-Lexikon, Artikel „Motiv“, http://www.textlog.de/32526.html

10
kann. Die Glückseligkeit, als Teil des höchsten Guts, wird nach Kant als moralischer
Antrieb disqualifiziert, da dies im Widerspruch zum Moralprinzip selbst stehen würde
und eine Heteronomie des Willens zur Folge hätte. Resümiert man bis hierhin, so stellt
man fest, dass Kant zwar ein Moralprinzip, jedoch noch keine Triebfeder gefunden hat.
Dieser Mangel wird durch das Gefühl der Achtung behoben, wie im folgenden Zitat aus
der Grundlegung zu erkennen ist: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne,
erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens
unter einem Gesetze, ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn, bedeutet. Die
unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben
heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als
Ursache desselben angesehen wird.“20 Durch die Achtung, die kein in unserer
sinnlichen Natur verankertes Gefühl, sondern „vernunftgewirkt“ ist, erhält der Mensch
nach Kant die sittliche Motivation, entsprechend dem, was er durch seine Vernunft als
geboten erkennt, zu handeln. Eine bloße vernunftmäßige Vorstellung von der sittlichen
Pflicht vermag den Menschen nicht zu bewegen. „Das 'vernunftgewirkte' Gefühl der
Achtung“, so schreibt Susanne Weiper, „ist also jenes, welches den „Hiatus zwischen
der reinen Formalität des Gesetzes […] und der sinnlich-endlichen Vernunftnatur des
Menschen“ überbrückt und dadurch eine „unmittelbare Willensbestimmung“ möglich
macht, und zwar dadurch, dass sie „das den für den reinen Willen objektiv bestimmende
Gesetz für die Willkür [zu einem] subjektiven Bestimmungsgrund ihrer Maximenwahl
[macht].“21
Damit hat sich gezeigt, dass das moralische System seine Stärke und Festigkeit in den
Augen Kants nicht im höchsten Gut oder den Ideen von Gott und Unsterblichkeit hat,
sondern im Sittengesetz selbst, welches durch die nicht-sinnliche Triebfeder des
Gefühls der Achtung den Willen direkt bestimmt.
Es stellt sich im Hinblick auf die Garv'schen Einwände die Frage, welche Rolle das
höchste Gut spielt, wenn es als Moralität ermöglichendes Element nicht in Betracht
Die Unterscheidung zwischen dem Grund des allgemeinen Pflichtbegriffs und dem
Objekt, welches das höchste Gut ist, bildet das entscheidende Argument Kants. Es
bedarf jedoch der Auslegung. Kant schreibt, dass der Begriff der Pflicht „keinen

20
Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 395
21
Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen
Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler, S. 49/50

11
besonderen Zweck zum Grunde zu legen nötig habe“, sondern dass er „einen andern
Zweck für den Willen des Menschen herbeiführe“.22

Das höchste Gut als Bedürfnis

In einer Fußnote erklärt Kant, dass die Annahme eines höchsten Guts als Bedürfnis des
Menschen angesehen werden kann.23 Er nennt zwei Möglichkeiten, durch die sich ein
solches Bedürfnis speisen könnte. Zum einen kann es dem Menschen an Motivation
fehlen, moralisch zu handeln, so dass er der Aussicht auf ein höchstes Gut im Sinne
eines Antriebs bedarf. Garve ging von einer solchen Funktion des höchsten Gutes,
welches für ihn allerdings nur die Glückseligkeit allein darstellte, aus. Diese Option
lehnt Kant ab, da ein auf Glückseligkeit gerichtetes Handeln kein moralisches Handeln
sein kann (auch wenn sie in Proportion zur Glückswürdigkeit erstrebt würde). Zum
anderen könnte es sein, dass der gute Wille, der seinerseits bereits eine Triebfeder
besitzt, auf ein höchstes Gut hin gerichtet ist, weil es eben für ihn eine denknotwendige
Idee ist. Diese zweite Option ist Kant zuzuschreiben und deckt sich mit Aussagen wie
der folgenden: "Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber
derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines
vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein
solches zum Versuche denken, gar nicht zusammenichbestehen."24
Garve scheint sich nicht vorstellen zu können, dass wir durch unsere Moralität eine
Glückswürdigkeit erlangen, die nicht als logische Konsequenz ein Glücksstreben nach
sich zieht. In Bezug auf die oben aufgeführte These iii), die Garve Kant zuschreibt,
äußert er: „Ich für meinen Teil gestehe, daß ich diese Teilung der Ideen mit meinem
Kopfe sehr wohl begreife, daß ich aber die Teilung der Wünsche und Bestrebungen in
meinem Herzen nicht finde – daß es mir sogar unbegreiflich ist, wie irgendein Mensch
sich bewußt werden kann, sein Verlangen der Glücksseligkeit würdig zu sein, von dem
Verlangen nach Glückseligkeit selbst rein abgesondert – und also die Pflicht ganz
uneigennützig ausgeübt zu haben.“25 Man kann vielleicht den Gedanken Garves durch
einen Vergleich nachvollziehen. Es wäre so ähnlich, als würden wir einen
22
Vgl.: Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 211
23
ebenda
24
Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, AA V 110
25
Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 221/222

12
Hochschulabschluss erlangen, ohne automatisch die positiven Konsequenzen des Berufs
(Selbstverwirklichung, soziale und finanzielle Konsequenzen, etc.), den auszuüben er
uns legitimiert (und vielleicht auch „würdig“ macht), zu wollen. Die Würdigkeit wird
hier in einem hierarchischen Verhältnis zu dem gedacht, wozu sie würdig macht, wobei
Letzteres übergeordnet ist. Glückswürdigkeit, da sie als konstitutiver Bestandteil der
Glückseligkeit gedacht werden kann, erscheint für Garve als Mittel zum eigentlichen
Zweck. Nun denke ich, dass Garve übersehen hat, dass die Glückswürdigkeit auch als
„Zweck an sich“ verstanden werden kann. In diesem Sinne braucht ein Streben nach
Glückswürdigkeit keinen direkten Bezug zum Glücksstreben. Man könnte – an Kant
angelehnt - folgendermaßen argumentieren: Wenn Gott uns die Gabe der Vernunft
verliehen hat und das Sittengesetz in uns gelegt hat, dann braucht die Realisierung
dieser Vernunftbegabung in der Sittlichkeit keinen Bezug zur menschlichen
Glückseligkeit. So strebt der Mensch als Vernunftwesen nach Moralität, als
Sinneswesen nach Glück, während eine jede der beiden „Naturen“ des Menschen in
ihrer Zweckbestimmung unabhängig von der anderen gerechtfertigt werden kann. Nur
in der Realisierung ihrer Zwecke müssen beide Naturen des Menschen aufeinander
abgestimmt werden, wobei Kant der Vernunft den Vorrang gibt.

Glückseligkeit als Antrieb menschlichen Handelns

Christian Garve ist überzeugt davon, dass die Aussicht auf Glückseligkeit der einzig
wirksame Antrieb unseres menschlichen Handelns ist. Dabei scheint er in seinen
Überzeugungen sehr nah an David Humes empiristischer Position orientiert zu sein.
Garve versucht zu zeigen, dass wir keinen Begriff des Guten und Bösen haben können,
es sei denn, dass wir ihn aus der Wahrnehmung guter und weniger guter
Empfindungszustände ableiten. Ähnlich wie David Hume, der die Ansicht vertrat, dass
wir uns nichts denken oder vorstellen können, was uns nicht zuvor in der unmittelbaren
Wahrnehmung gegeben war, denkt Garve: „In der Ordnung der Begriffe muss das
Wahrnehmen und Unterscheiden der Zustände, wodurch einem vor dem andern der
Vorzug gegeben wird, vor der Wahl eines unter denselben und also vor der
Vorausbestimmung eines gewissen Zwecks vorhergehen.“26 Garve liefert uns eine Art

26
Zitiert bei: Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 215

13
psychologisches Handlungsmodell, das seiner Ansicht nach all unser Verhalten erklären
soll. Im Einzelnen müssen folgende Prozesse ablaufen, damit wir uns für eine Handlung
entscheiden.

Empfindung eines gegenwärtigen Zustandes

Bewusste Wahrnehmung des Zustandes

Unterscheiden des gegenwärtig wahrgenommenen Zustandes von anderen, in der


Erinnerung gegebenen Zuständen

Vergleichen der Zustände im Hinblick darauf, wie angenehm sie jeweils erscheinen

Vorziehen des angenehmsten Zustandes

Streben nach Herstellung des angenehmsten Zustandes

Ich habe in diesem Schema bewusst den Begriff des „angenehmen Zustandes“ gewählt,
obgleich ihn Garve in seinem Text nicht verwendet. Zu Beginn seines Kommentares zur
Kantischen Moralphilosophie benutzt er zwei mal den Begriff des „Wohlseins“, im
weiteren Verlauf geht er jedoch dazu über, von guten und bösen Zuständen 27 zu
sprechen. Dadurch, dass die Bewertung der Zustände als „gut“ und „böse“ bei Garve
allein von der Wahrnehmung der vorhandenen Empfindungen abhängig gemacht wird,

27
„Ein Zustand aber, den ein mit dem Bewußtsein seiner selbst und seiner Zustände begabtes Wesen
(…) andern Arten zu sein vorzieht, ist ein guter Zustand.“ (S. 136); „Wo ein Wesen ist, das den einen
seiner Zustände mit Wohlgefallen, den andern mit Widerwillen ansieht: da sind auch andere
vernünftige Wesen, welche dieses bemerken, berechtigt, jenen Zustand und seine Ursachen als gut zu
betrachten, diesen nebst dem, was ihn hervorbringt, unter die Klasse des Bösen zu rechnen;...“ (S.
138)

14
scheint mir die These, dass für ihn gut und angenehm sowie böse und unangenehm
austauschbare Begriffspaare sind, naheliegend.
Nach einer solchen Theorie wären wir alle nur nach Lustgewinn strebende Egoisten und
Moral könnte es nicht geben. Damit Moral aber möglich wird, muss Garve noch ein
intersubjektives Element ergänzen. Am Ende des Aufsatzes „Über die Geduld“ findet
sich dieses Element, das sehr stark an Humes Konzept der „Sympathie“ angelehnt ist.
„... mit dieser Theorie,“, schreibt Garve, „die aus den ersten Urbegriffen des Guten
und des Zwecks hergeleitet ist, stimmen auch die gemeinen Begriffe und die natürlichen
Empfindungen guter Menschen zusammen, die, da sie sich gewisse Pflichten gegen die
Tiere auflegen, da sie an den Schicksalen derselben einen dem Mitleiden und der
geselligen Freude ähnlichen Anteil nehmen, bezeigen, daß sie dieselben und ihr Wohl
und Weh von ihren Endzwecken nicht ausschließen und daß sie das Dasein und das
Wohlsein der Tiere mit zu dem System von Glückseligkeit rechnen, nach welchem sie
auch über den Endzweck der Welt urteilen.“28 Eine Pflicht, die Glückseligkeit anderer
glückssuchender Wesen zu befördern leitet sich für Garve, wie das Zitat gezeigt hat, aus
dem Mitgefühl her.
Auf diese empiristische These reagiert Kant mit dem Einwand, dass der Begriff „gut“
eine Ambivalenz in sich trägt, die von Garve übersehen wurde. Er kann zum einen gut
im Sinne von „an sich und unbedingt gut“29 bedeuten. Andererseits kann gut die
Bedeutung von „immer nur bedingterweise gut“30 annehmen. Betrachtet man
Empfindungen, so können diese stets nur in Relation zu anderen Empfindungen als gut
angesehen werden. Ein „komparativ besserer Zustand“, so stellt Kant treffend fest, kann
„an sich selbst aber doch böse sein“. Denn man muss sich verschiedene Grade der Güte
als auf einem Kontinuum befindliche Qualitäten vorstellen. Gut im unbedingten Sinn
unterscheidet sich jedoch der Art, nicht nur dem Grad nach vom Bösen. Durch diese
Unterscheidung gelingt es Kant das Prinzip des guten Willens, der allein vom Begriff
der Pflicht bestimmt ist von einer Maxime der Glückseligkeit klar abzugrenzen. Es sei
angemerkt, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die gleiche Abgrenzung
vornimmt und zeigt, dass die deutsche Sprache für das lateinische „bonum“ und
„malum“ jeweils zwei Worte besitzt. Bonum in Bezug auf Handlungen, die einem durch

28
S. 138
29
Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 217
30
ebenda

15
das Sittengesetz bestimmten Willen entspringen heißt „gut“ (entsprechend heißen jene
Handlungen „böse“, die einem heteronomen Willen entspringen). Bonum in Bezug auf
angenehme Empfindungen heißt Wohl, malum, als Bezeichnung von Unlustgefühlen
wird als Übel übersetzt.31

Garves zweiter Einwand

Im letzten Abschnitt meiner Arbeit möchte ich mich Kants zentralsten Anliegen seiner
Schrift über den Gemeinspruch widmen, welches darin bestand, zu zeigen, dass das,
was in der Theorie gilt auch für die Praxis von Bedeutung ist. Christian Garve hatte
Kant vorgeworfen, dass er Unterscheidungen in der Theorie vornehme, die im
Nachdenken über konkrete Beispiele (particuläre Gegenstände) an Nachvollziehbarkeit
verlieren, im Bereich der Praxis jedoch völlig irrelevant werden. Welche
Unterscheidungen hatte Garve im Blick, als er diesen Einwand formulierte? Ein
Zurückverfolgen des Textes zeigt, dass es ihm hier um die vermeintliche These Kants
ging, dass der Tugendhafte unaufhörlich danach strebt, „der Glückseligkeit würdig, aber
(…) nie danach, glückselig zu sein.“32 Es geht Garve, zumindest hat Kant es so
aufgefasst, um den Unterschied, der zwischen dem Handeln aus reiner Pflicht und
einem Handeln aus empirischen Beweggründen besteht.
Kant antwortet Garve, wie könnte es anders sein, mit einem konkreten Beispiel. Zu
zeigen, dass seine theoretischen Unterscheidungen sich am konkreten Gegenstand nicht
„verdunkeln“, wie Garve behauptet, sondern in ihrer praktischen Relevanz gerade
besonders deutlich hervor treten, ist Ziel der Auseinandersetzung.
Kant wählt das Beispiel eines Depositums, das sich in den Händen eines gütigen und
wohltätigen Mannes befindet, dessen Familie jedoch in schlimme wirtschaftliche Not
geraten ist. Zum Zeitpunkt der nunmehr ausweglos erscheinenden Situation stirbt der
Besitzer des Depositums, dessen rechtmäßige Erben, die zudem reich, lieblos und
äußerst verschwenderisch sind, nichts vom Vorhandensein des anvertrauten Gutes
wissen. Würde der Mann das Depositum behalten, könnte er die Not seiner Familie
vollständig lindern. Wie soll er sich entscheiden?33 Das Depositum-Beispiel dient Kant
dazu, zwei wichtige Aspekte seiner Unterscheidung der Prinzipien der Pflicht und der

31
Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, AA V 60
32
Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 214
33
Vgl.: ebenda: A 226/A227

16
Glückseligkeit herauszustellen.

Die moralische Beurteilung einer Situation

Der erste Aspekt ist die moralische Beurteilung in einer relevanten Situation. Nach dem
Prinzip der Pflicht fällt es leicht zu entscheiden, was in der Situation geboten ist zu tun.
Kant ist überzeugt, dass ein 8-9jähriges Kind, würde man ihm die Entscheidungsfrage
im Depositumbeispiel vorlegen, die gebotene Pflicht sofort erkennen würde. Die
Sicherheit, die wir Menschen darüber haben, was in einer Situation Pflicht ist, leitet sich
nach Kant vom rein formalen Charakter des Sittengesetzes ab.
Möchte man die Entscheidung im Hinblick darauf fällen, was die eigene Glückseligkeit
(und die Glückseligkeit der Nächsten) befördert, so sind dazu stets
Klugheitsüberlegungen, die ihrerseits eine beträchtliche Menge empirischer
Informationen erfordern, notwendig. Es geht nicht mehr um ein allgemeines, formales
Prinzip (Kann ich wollen, dass meine Handlungsmaxime allgemeines Gesetz wird?),
sondern um die Verwirklichung eines (der Glückseligkeit zuträglichen) „materialen“
Zieles. Da die Erreichung solcher Ziele von vielfältigen empirischen Bedingungen
abhängig ist, kann sie nie mit Sicherheit vorher gesagt werden. Kant zeigt am Beispiel
des Depositums, wie viel Verstand es erfordert, Für und Wider einer bestimmten
Handlungsoption abzuwägen. Die Zurückgabe des Depositums an die Erben könnte eine
Belohnung oder ein gutes Ansehen, das weitreichende positive Folgen hat, einbringen.
Das Behalten des Depositums könnte andererseits Misstrauen über den raschen Wandel
der wirtschaftlichen Lage der Familie wecken. Kant liegt in meinen Augen völlig
richtig, wenn er resümiert, dass die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens solcher oder
ähnlicher Hoffnungen und Befürchtungen sehr schwer abzuschätzen sind.
Damit hätte Kant, in Bezugnahme auf allgemein-menschliche Erfahrungen, gezeigt,
dass der Unterschied zwischen einer Orientierung am moralischen Prinzip der Pflicht
einerseits und der Ausrichtung an einem eudämonistischen Klugheitsprinzip
andererseits für die Beurteilung moralisch relevanter Situationen in der Praxis sehr
große Auswirkungen hat.
Orientiere ich mich an der moralischen Pflicht, so habe ich einen Begriff, der nach Kant

17
„einfacher, klarer, für jedermann zum praktischen Gebrauch faßlicher und natürlicher“
ist.34
Die Triebfeder einer Handlung

Ein zweiter Aspekt, der im Abschnitt zum Depositum angedeutet ist, scheint mir noch
zu fehlen: der Aspekt der Ausführung einer Handlung, welcher eng mit der Idee der
Motivation („Triebfeder“) verbunden ist. Ich möchte hier die in Kapitel 3.1. begonnene
Diskussion zur Frage der Motivation fortführen und auf das Depositumbeispiel
beziehen. Es ist zu bemerken, dass bei Kant das moralische Urteil (Es ist meine Pflicht
x zu tun) und das Handeln entsprechend diesem Urteil zwei verschiedene Dinge sind.
Es ist möglich, dass ein Mensch erkennt, was moralisch geboten ist, jedoch
entgegengesetzt handelt.
In Platons Dialog „Menon“ vertritt der platonische Sokrates eine dem entgegen gesetzte
These, nämlich dass Tugend Wissen sei. Diese Position der Ethik, die oft als
„intellektualistisch“ bezeichnet wird, geht davon aus, dass das Tun des Bösen nur einer
Unkenntnis dessen entspringt, was „gut“ ist. Jemand, der das Gute kennt, könne nicht
anders, als es zu tun. Kant wiederspricht dieser Theorie vehement. „Es ist niemand,“ so
schreibt Kant in der Grundlegung, „selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst
Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit
in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und
des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vorteilen
und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, dass er auch so gesinnt sein
möchte.“35 An anderer Stelle heißt es: „... es gibt keinen so verruchten Menschen, der
bei dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlte und eine Verabscheuung
seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß.36
Man kann sich also fragen, woher es kommt, dass jemand sich dem Prinzip der
Selbstliebe unterordnet, obwohl sein Verstand der Einsicht in der Prinzip der Sittlichkeit
fähig ist.
Eine mögliche Antwort könnte sein, dass der Mensch, als sinnliches Naturwesen, ein
sehr starkes und dauerhaftes Streben nach Glückseligkeit in sich findet, seine Antriebe

34
Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 226
35
Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 454
36
Kant, I.: Metaphysik der Sitten, VI 379

18
zur Sittlichkeit, die eine Fähigkeit seiner Vernunftnatur ist, jedoch ungleich schwächer
sind. Für Kant kommt jedoch an diesem Punkt die Erziehung ins Spiel. Die Menschheit,
das ist Kants Überzeugung, wäre im Hinblick auf die Moral an einem anderen, weitaus
„glückwürdigeren“ Punkt angelangt, wenn die Tugend nicht in Verbindung mit den
positiven Konsequenzen, die aus ihrer Realisierung folgen, gelehrt, sondern vielmehr
die Pflicht, die für sich gut ist, ins Zentrum der Erziehung gerückt worden wäre. Die
Idee der Pflicht hat nach Kant eine viel größere Kraft, die Menschheit moralisch zu
beflügeln. Dass die Abhebung der Idee der Pflicht von einem nur pflichtgemäßen
Handeln für die Praxis die höchste Relevanz hat, sieht Kant nun als bewiesen an.
Anzunehmen, die Idee der Pflicht habe für die Praxis keine Bedeutung, „widerspricht
…der Erfahrung, die nur innerlich sein kann, daß keine Idee das menschliche Gemüth
mehr erhebt und bis zur Begeisterung belebt, als eben die von einer die Pflicht über
alles verehrenden, mit zahllosen Übeln des Lebens und selbst den verführerischsten
Anlockungen desselben ringenden und dennoch (wie man mit Recht annimmt, daß der
Mensch es vermöge) sie besiegenden reinen moralischen Gesinnung.37

Resümee

In der vorliegenden Arbeit habe ich versucht, die wichtigsten Konzepte zu beleuchten,
die in der Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Christian Garve eine
entscheidende Rolle gespielt haben. In diesem Zusammenhang konnten einige
Missverständnisse näher untersucht werden, die in Garves Darstellung der
Moralphilosophie Kants enthalten waren. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass Garves
moralphilosophisches Denken sehr eng an David Humes Empirismus angelehnt ist.
Schließlich hat sich die Vermutung ergeben, dass Garve von einigen wichtigen
Eckpunkten der Moralphilosophie Kants (der Idee des höchsten Guts als Verbindung
von moralischer Vervollkommnung und Glückseligkeit, dem Gefühl der Achtung als
Triebfeder sittlichen Handelns) keine genauere Kenntnis hatte, weshalb Kant die
Gelegenheit nutzt, einige seiner Grundbegriffe in aller Ausführlichkeit darzulegen. Eine
zentrale Idee, die in Kants Schrift „Über den Gemeinspruch“ entfaltet wurde, ist die
Klarheit und Stärke des Pflichtbegriffs, aus der sich seine Bedeutung für die Praxis

37
Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 229

19
ergibt.

Literaturliste

Eisler: Kant-Lexikon

Garve, Christian: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der
Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Hildesheim (u.a.): Olms, 1985
(Nachdruck der Ausgabe Breslau, 1792 und 1796)

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner, 1998

Ludwig, Bernd: Kant, Garve, and the Motives of Moral Action,


http://mpj.sagepub.com/cgi/content/abstract/4/2/183, Zuletzt aufgerufen: 10.1.2009

Weidemann, Hermann: Kants Kritik am Eudämonismus und die Platonische


Ethik. In: Kant-Studien: philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, Berlin:
de Gruyter, Band 92, 2001, S. 19–37.

Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der
sittlichen Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler. Königshausen u.
Neumann (2000)

20

Das könnte Ihnen auch gefallen