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Metallregen
Es gab keinen Ort auf der Welt, der mich so anzog wie Mejoora.
Mejoora war dadurch entstanden, daß drei Städte aus drei verschiedenen
Himmelsrichtungen zusammenwuchsen und etwas ergab, das von
Stilbrüchen wimmelte. Die älteste Stadt hieß Menos, und sie war das
Zentrum der irdischen zoologischen Forschung.
Jorache, die Stadt, die am Meer emporgewachsen war, beherbergte
schon seit Urzeiten Urlauber aus aller Welt, und Aranad, die dritte Stadt,
war früher einmal ein landwirtschaftliches Zentrum.
Diese Städte krochen wir erkaltende Lava aufeinander zu, verkrallten
sich ineinander und bekamen einen gemeinsamen Namen: Mejoora. Es
war eine Ortschaft neuen Typs. Der Höhenbau, der Tiefenbau und der
Breitenbau flossen zusammen. Drei gegensätzlich architektonische
Strömungen ergeben zumeist ein Chaos. Nicht so in Mejoora. Die Stadt
steigt, wenn man vom Festland her kommt, so sanft und allmählich an,
daß man den Eindruck eines endlosen Daches hat.
Noch eine Besonderheit gibt es. Aus der Zeit, da die Stadt noch gar
nicht existierte, stammt ein Dekret, das bestimmt, daß der nördliche
Klippensaum nicht bebaut werden darf. Dort findet man seltene
Pflanzen und interessante Meeresbewohner, und man hat sie unter
Schutz gestellt.
Dort an jenem Klippensaum gab es Verkarstungen und Höhlen,
schmale Sandstreifen und wilde Buschgruppierungen. Dort konnte ich
nach Herzenslust graben.
Stundenlang schickte ich den Energiestrahl in das Erdreich, sah zu,
wie die Löcher tiefer und tiefer wurden, sich schließlich mit
Grundwasser füllten und zusammenstürzten. Nur, ein Zeugnis aus der
Vergangenheit fand ich nicht. Einmal verbrannte ich mich an der
rechten Hand. Ich weiß nicht, warum ein Teil des Energostrahls
zurückkam. So ging ich zu einer Medkeule und schob meine Finger in
die Öffnung, über der eine stilisierte Hand abgebildet war. Es fauchte
und schlurfte in dem Apparat, und als ich die Hand hervorzog, sah sie
wieder recht ordentlich aus. Auch die Schmerzen waren weg.
Und dann kam der dringende Ratschlag, einen Grundkurs über
geologische Archäologie zu absolvieren.
Ich habe diesen Kurs bis heute nicht besucht. Tut mir leid.
Ich holte mir ein Metallometer, denn ich war überzeugt, auf Metall
gestoßen zu sein. Meinen Spaten fand ich, er lag unberührt auf dem
Sand, doch Metall entdeckte ich nicht. Ich hatte den Spaten also
irgendwo auf dem Weg zur Medkeule abgelegt, hatte kein Kennzeichen
dort hinterlassen, wo der Energostrahl reflektiert worden war. Wo
immer ich suchte, die Lampe des Metallometers glomm grün auf. Es
gab nicht eine Spur von Metall. Dieses unübersichtliche Land schien
unaufhörlich zu wachsen, endlos zu werden. Ich hatte wie ein Spürhund
gesucht, war stets mit gesenktem Kopf gegangen. So erinnerte ich mich
auch nicht, wo ich mich verbrannt hatte. Zudem hatte mich der Schmerz
augenblicklich betäubt und blind für meine Umgebung gemacht. Ich
wußte nicht, woher ich gekommen, wohin ich gegangen war. Immer
wieder stieß ich auf von mir gegrabene Löcher, ohne mich zu erinnern,
daß ich hier schon gewesen sein sollte.
Und dann fand ich zu allem Unglück noch zwei Tierarten, eine
Krabbenart und kleine Schildkröten, die ebenfalls Höhlen graben, so
daß ich nicht einmal mehr mit Bestimmtheit sagen konnte, ob eins der
Tiere oder ob ich die Ursache für die vielen Löcher war. Die
widerstreitendsten Gefühle waren in mir. Ich hatte Metall gefunden.
Metall. Vielleicht war das meine Zeitmaschine. Und ich würde diese
Spur nie wiederfinden, weil täglich neue Vertiefungen von Krabben und
Kröten hinzukamen und alles mehr und mehr verwirrten. Zwei Wochen
lief ich wie ein aufgeschrecktes Huhn über das zerklüftete Land, suchte,
ließ das Metallometer im Dauerbetrieb detektieren und geriet allmählich
in Verzweiflung. Zweimal sollte ich irgendeine Persönlichkeit nach
irgendwohin begleiten.
„Laßt mich in Ruhe“, schimpfte ich in den Sprechgeber, und natürlich
ließen sie mich in Ruhe.
„Bitte melden, wenn auftragsbereit“, verabschiedete sich die
Lenkerzentrale von mir.
Dann, an einem späten Nachmittag, die Farben der Klippen und des
Meeres waren blaßgrünlich überhaucht, der Wind ruhte, und nur die
Sonne brannte heiß auf mich nieder, zeichnete sich plötzlich ein
Schatten auf dem kleinen Glasoktaeder ab.
Ein Schatten. Also Metall. Ich befestigte einen Markierungsstrahl auf
der Erde.
Dann ließ ich mich erschöpft nieder. Betrachtete die verschwommene
Silhouette der Stadt, die sich wie eine Tuschzeichnung ausnahm.
Die Sphäroklänge drangen jetzt deutlicher an mein Ohr. Es war Musik
zum Nachdenken, Nachruhen, zur Besinnung.
Man wurde eingestimmt auf einen feierlichen Abend. Ich wollte
weiterarbeiten, aber die Musik störte mich.
Immer wieder wurde ich nachdenklich, machte Pause, konnte mich
nicht mehr auf meine Aufgabe konzentrieren.
Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, ehe ich einen zweiten
Markierungsstrahl verankert hatte.
Immer mehr dieser schwach fluoreszierenden Strahlen von einem
halben Meter Länge standen auf dem Boden zwischen Strandhafer und
Bambuspflänzchen. Es war der neue Meeresbambus, der bis in
Wassertiefen von zwölf Metern wächst und die wundersamsten Blüten
trägt.
Als ich meine Arbeit beendet hatte - ich fühlte ein Dröhnen in meinem
Kopf, denn die Musik begleitete in dieser Stunde die Menschen bei der
Tätigkeit des Umkleidens, beim Anlegen der Feststundengarderobe -
sah ich mir den gewonnenen Umriß des Metallklumpens an und
entdeckte, daß er irgendwie eckig aussah. Beinahe quadratisch.
Ich wußte, daß man einen Gegenstand solchen Ausmaßes lange nicht
gefunden hatte.
Meine Phantasie entzündete sich an dem mächtigen, in der Erde
ruhenden Objekt. Womöglich war dies meine Zeitmaschine, und ich
würde reisen können, so wie jenes Mädchen in dem Film. Dann aber
überkam mich Unruhe. Ich erinnerte mich des Überfalls in dem Haus.
Ich wollte sichergehen. Also betrat ich Mejoora, und sofort fühlte ich
mich elend. Überall wurde getanzt, man begegnete sich festlich, und ich
stakste in meinem Außerstadtoverall umher.
Wohin wollte ich ausweichen?
Bis in die Nacht habe ich mit den anderen getanzt und Freundlich-
keiten getauscht, nachdem ich mich umgezogen hatte. Dann aber, als die
Musik der Ruhe und des Schlafens einsetzte, als sich die Straßen in
Minutenschnelle leerten, holte ich mir zuerst einen Schallisolator, den
ich unauffällig an meinem Kopf befestigte. Nun war die Welt stumm
und lautlos.
Ich atmete auf, und die beginnende Müdigkeit schwand. Dann
besorgte ich mir die größte Sommerhaut, die ich finden konnte, und
spannte sie über der Fundstelle auf. Damit war ich nicht nur gegen
fremde Blicke, sondern auch gegen jede Störung gesichert.
Den Schallisolator ließ ich in der Stadt zurück. Ich bereute es, denn ich
fühlte schon bald, daß meine Muskeln erschlafften und ich mich
schrecklich müde fühlte. Meine Arme sanken herab.
Schließlich kroch ich aus der Sommerhaut und sah, daß irgendein
Automat in freundlicher Absicht eine dieser Sphäroklangtafeln in
meiner Nähe aufgebaut hatte.
Ich nahm den Spaten, zielte auf die Tafel und drückte ab. Der
Energostrahl zerfetzte das dünne Ding, und die Musik verstummte. Nun
war es das Meer, dessen Geräusche mich wach hielten, mich aktivierten
und zu neuer Tätigkeit anstachelten. Auch das hohle Heulen des Windes
war Musik, die mich erfrischte. Denk mal an, dachte ich, so also machen
sie es. Und auf der Kommuschule haben sie kein Wort zu den
Sphäroklängen gesagt.
Vorsichtig schickte ich also den ersten Energostrahl in die Tiefe. Es
kam nur wenig Erde heraus. Ich arbeitete ruhig weiter, systematisch und
vorsichtig.
Dann kam eine glänzende Kante in zwei Meter Tiefe zum Vorschein.
Den anfallenden. Sand schaffte ich etappenweise nach draußen und ließ
ihn ins Meer rinnen. Allmählich wurden meine Bewegungen müde und
langsam. Ich konnte kaum noch abdrücken, fühlte mich unbehaglich
und wollte meine Arbeit beenden. Während ich mir ein provisorisches
Nachtlager errichtete, begriff ich, was geschehen war. Irgendeiner dieser
Reparaturrobbys hatte die zerstörte Tafel durch eine neue ersetzt. Im Nu
war ich draußen und sah das Maschinchen befriedigt davontippeln.
Erneut richtete ich den Spaten gegen die Tafel, und sie zersprang mit
einem feinen, schrillen Ton.
Der Robby hielt inne, wandte sich um und betrachtete den Schaden.
Wie ein apportierender Hund jagte er davon und kam mit einer neuen
Tafel zurück.
Ich hatte auf ihn gewartet, und noch ehe die Tafel montiert war, hatte
ich sie in Schrott verwandelt. Wieder hetzte das Maschinchen fort und
brachte eine neue Tafel. Diesmal hatte ich eine Fallgrube gebaut und sie
mit Bambus und feinem Sand unsichtbar gemacht. Der Robby und die
Tafel verschwanden in der Tiefe, und als ich herantrat, sah ich, daß die
Maschine wie ein Käfer auf dem Rücken lag und zappelte. Ich begrub
den Robby und stampfte die Erde fest. Dann rief ich, gegen das Erdreich
gerichtet: „Nicht bewegen. Andernfalls gefährdest du einen Menschen.“
Das stimmte zwar nicht, aber die unglückselige Maschine mußte, ob
sie wollte oder nicht, unbeweglich liegenbleiben, bis sie ein Widerruf
von dem Befehl befreite. Sollte sie liegenbleiben. Ich hatte einen ersten
Sieg errungen. Über eine ganze Welt, wie es mir damals schien. Mein
Wille galt etwas...
Noch immer stand das blasse, erstarrte Bild aus der Kristallatorscheibe
im Raum. Die Medizinerin befreite sich aus den Riemen des
Hängesitzes, baumelte noch einen Moment mit den Beinen, bevor sie
aufsprang. Dann ging sie mit gesenktem Kopf auf und ab.
„Sie haben sich nicht verändert“, sagte sie. „Dieser verschüttete
Robby. Ich vermute, Soyosa hat für Sie den Stellenwert dieses Robbys.
Wichtig ist doch nur für Sie, daß Ihr Wille gilt. Das alles so ist, wie Sie
sich das denken. Und Sie glauben, daß die Menschheit noch nicht reif ist
für das Tyrsoleen? Und was Ihre Träume anbelangt, wollen Sie wissen,
was ich glaube? Ihr Instrukteur hat Sie gelenkt, Sie sind nicht Ihrer
eigenen Initiative gefolgt. Er hat Ihnen das vermittelt, was Sie jetzt von
sich selbst behaupten: den Sinn des Lebens gefunden zu haben. Oder
irre ich mich?“
„Das sind schwerwiegende Vorwürfe“, sagte Hater, und seine Augen
wirkten ein wenig matt, „Sie werfen mir allen Ernstes vor, ich würde
Soyosa und diesen Robby mit den gleichen Wertigkeiten versehen?
Wenn es so ist, warum sind Sie dann noch hier? Ich meine das ernst: Sie
können doch gehen. Einen solchen Egozentriker hoffen Sie doch nicht
etwa durch Argumente weichzuklopfen? Bitte antworten Sie
augenblicklich: Bin ich in Ihren Augen derjenige, der Maschinen und
Menschen gleichsetzt - oder nicht...? Sprechen Sie!“
Eine ungeheure Erregung hatte sich des Mannes bemächtigt. Immer
wieder schüttelte er den Kopf, seine Augen waren schmal, und seine
Finger bewegten sich unablässig.
„Ich habe Sie jetzt verletzt“, erwiderte die Frau, „ich wollte das, und
selbst wenn Sie mich hinauswerfen, nützt es Ihnen nichts. Ihr Name ist
augenblicklich in aller Mund. Das Infozentrum sucht sicher Geschichten
über Sie. Und Tyrsoleen ist eine solche Geschichte. Denken sie an die
Betroffenen und deren Angehörige. Sie werden in einer Flut von
Anfragen ersticken. Sie werden hunderttausend Besucher haben. Sie
werden Bärenkräfte entwickeln müssen, wenn Sie Hunderttausende
hinauswerfen wollen. Aber ich habe auch Ihr Gesicht gesehen, Hater,
als Sie meine Tochter betrachteten. Ich erblickte Entsetzen und Jammer
darin, Verzweiflung und - tiefes Nachdenken.
Feste menschliche Bindungen, Familienleben, kann man das lernen?
Sie haben in Ihren hundertzwanzig Kalenderjahren nie lange mit
jemandem zusammengelebt. Ihre Partnerinnen sind heute Greisinnen
und einige sind schon tot. Ein Fluch der Zeitdilatation. Aber ist es nur
das? Ich kenne Ihre Geschichte aus der Anamnese: Zehn Jahre waren
Sie auf einem Jupitermond. Das war dieses Raumeiweißprojekt.
Überschußernährung. Sie haben mehr als dreißig Jahre in einem Labor
zugebracht. Ich meine, Sie können ausdauernd und treu sein, wenn es
um Arbeit geht, nicht aber, wenn von Menschen die Rede ist... Jetzt
haben Sie vielleicht verstanden, was ich meine?“
Hater zog die Luft hörbar ein, stieß sie ebenso aus. Er trat an eine der
Wände, die den Raum abgedunkelt hatten, und als er davorstand, lösten
sich die Schattenpartikelchen auf, und die Wand war nun aus Glas, gab
den Blick auf die weitgestreuten Anlagen dieses Komplexes frei.
Zwischen den Gebäuden erhoben sich dichte, samtschwarz wirkende
Baumgruppen, und ein silbrig überzogenes Flüßchen glänzte wie
getriebenes Metall. „Für Sie bin ich also ein Relikt aus dem Gestern, ein
egoistischer Rechthaber, fast ein Psychopat? Wenn Sie das von mir
denken, zwingen Sie mich, Ihnen alles zu sagen und zu zeigen. Und ich
würde Sie zurückhalten, wenn Sie jetzt gehen wollten, bevor ich mich
rehabilitieren kann. Lassen wir also den Film weiterlaufen. Sie werden
alles sehen...“
„KFA 36-9-81, bitte melden“, flüsterte die Lautsprecherstimme in der
Kapuze.
Der Kommufacharbeiter Amon Deltar löste sich aus der
Gravitorschlinge, in der er über das langgestreckte Oval des Strudelba-
des hatte schweben wollen, und erregte damit den Unwillen einer
Gruppe junger Leute auf der anderen Seite des Bassins. Sie protestierten
gegen die Spielunterbrechung, und einige riefen: „Ist dir wohl zu
schwer, was? Dreifach Stutterem und Rückschwingen“
Amon winkte ab. „Hier KFA 36-9-81“, sprach er dann ins Mikrofon
seiner Kombination, „ich höre.“
„Bitte augenblicklich zur Zentrale“, das war erneut die Stimme in der
Kapuze, dicht an seinem Ohr.
„Ich muß zur Zentrale“, rief nun Amon seinen Freunden zu, lief - so
wie er war - weg vom Bassin und bestieg ein heranrollendes Fahrzeug,
das mit ihm eilends davonfuhr.
Unterwegs begann Amon nachzudenken. Er sah die heitere Silhouette
der Stadt, die spielenden Kinder und die dichte Begrünung, hinter der
die meisten Gebäude unsichtbar blieben. Was ist denn? dachte er. Wenn
es ein neuer Auftrag ist, dann hätten sie ihn mir doch durchgeben
können. Merkwürdig...
Allmählich schwand seine Fröhlichkeit. Er blickte - ernster, als es
seinem Alter anstand - auf die Menschen, die die Bänder entlangglitten,
beobachtete die Kinder auf den elektronisch gesteuerten Spielplätzen.
Das hätte es damals geben sollen, dachte er, ein Spielgelände, das sich
immer wieder wandelt. Man steigt eine Treppe hinauf, und die Treppe
wird länger und länger und nimmt erst dann ein Ende, wenn man
erschöpft ist, und doch befindet man sich nur einen halben Meter über
dem Boden. Oder ein Baum wächst, während man durchs Geäst hangelt.
Und immer ist man in ungefährlicher Bodennähe. Ein Tunnel, der sich
endlos in die Länge zieht, Bausteine, die immer höhere Geschicklichkeit
erfordern. Die Wandelspielplätze... Und dann die programmierten Tiger
und Urechsen. Welches Kind vergaß hier nicht Zeit und Raum und
lernte doch Ausdauer und viele Fertigkeiten...
In der Ferne schob sich der stumpfweiße Flachbau der KFA-Zentrale
heran, beherrschte immer mehr das Blickfeld.
VORSICHT - RÜCKSICHT - NACHSICHT. Amon Deltar las die drei
wichtigsten Regeln, die Buchstaben wurden von dichtgepflanzten
lachsroten Rosen gebildet. Das Fahrzeug rollte am Portal aus, und das
Dach klappte zur Seite.
„Danke“, sagte Amon Deltar und ging auf eine ovale Tür zu. Er
durchschritt die Pforte, betrachtete still lächelnd die Türen, hinter denen
die Prüflinge befragt wurden, und folgte dem Amon-Deltar-Pfeil durch
einen langen Gang. Hier war er noch nie gewesen. Endlich drückte er
auf die Ankunftstaste, und eine Tür glitt nach oben.
Amon trat ein. „KFA 36-9-81“, sagte er ein wenig übertrieben
sachlich.
Zwei Männer saßen an einem Tisch, tranken einen gelbgrünen Saft
und musterten den Besucher interessiert.
Als Amon in einem von ihnen seinen Instrukteur erkannte, lächelte er
erfreut.
„Setz dich, Junge“, sagte der Instrukteur, und feine Lachfältchen
erschienen um seine Augen. „Setz dich und höre uns aufmerksam zu.“
Amon nahm Platz, goß sich auch etwas Saft in das bereitstehende Glas
und nahm einen tiefen Schluck.
„Zuerst dachte ich, daß du ein Maulwurf werden wolltest“, sagte der
Instrukteur, „als ich erfuhr, mit welcher Besessenheit du die Erde
umgräbst. Dann habe ich mir im archäologischen Museum deine
Fundstücke angesehen. Interessante Sachen sind dabei. Aber ich habe
auch erkannt, daß dich diese Dinge gar nicht interessieren. Du suchst
nicht, weil du Historiker werden willst... Habe ich da recht?“ Amon
Deltar nickte zustimmend.
„Ich dachte schon, daß deine Verletzung dich von dem Grabefieber
heilen würde, doch du bleibst dabei“, fuhr der Instrukteur fort, „du hältst
durch. Da habe ich mich gefragt, warum macht er das? Ohne
Ausbildung. Ohne Vorkenntnisse und ohne diesbezügliche
Ambitionen...“ Der Instrukteur hielt inne, lächelte abwesend. Er war mit
seinen Gedanken nicht mehr in diesem Raum.
„Weißt du es denn selbst?“ fragte unerwartet der andere den jungen
Mann.
Amon Deltar wurde rot. Seine Gedanken überschlugen sich. Er dachte
an das Maschinenkind, das er sein sollte, an das schöne Gesicht jener
Frau, von der er nie wußte, ob es sie gab oder nicht. An den Vorwurf,
ein Rhesuid zu sein. Er dachte an Gledis und die verpatzten Prüfungen,
ihm ging so vieles durch den Kopf. Auch die Konserve mit der
Zeitreise. Dein Vater ist Pilot und deine Mutter Wissenschaftlerin, hatte
das Mädchen erfahren...
„Manchmal habe ich so eine Ahnung“, sagte er langsam, „aber
genau...“ Er stockte, sah den Instrukteur hilfesuchend an.
„Deine Entwicklerin hat uns geschrieben“, sagte der Instrukteur, „es
tut ihr sehr leid; sie weiß jetzt erst, wie falsch sie dich eingeschätzt hat,
wie du gelitten hast. Sie ist eine hervorragende Erzieherin geworden. Ich
weiß, was du jetzt denkst, Amon: Was nützt mir das? Das stimmt, dir
nützt diese späte Erkenntnis nichts. Wir haben uns jedoch hier
zusammengesetzt, deinetwegen. Wenn auch nur einer von Milliarden
Menschen sich nicht so entwickelt, wie es ihm zukommt, ist das
schlimm genug. Wir haben hin und her überlegt, glaube mir das, Junge.
Aber jetzt meinen wir, eine Lösung gefunden zu haben. Da ist ein
Problem, etwas, was dir Sorgen bereitet. Wenn du weißt, was du suchst,
dann ist es gut. Aber vielleicht weißt du es nicht einmal. Dann forsche
weiter. Wir dürfen dir nicht einmal sagen, was es ist. Weißt du es...?“
„Der Pilot...“, stieß Amon hervor und spürte, wie seine Wangen
glühten. „Vielleicht ist er gar nicht der Vater des Mädchens, sondern...“
„Richtig“, unterbrach ihn der Instrukteur, „du suchst deinen Piloten.
Ich habe mir dieselbe Bildkonserve bestellt, übrigens ein Computer-
Auftragswerk. Man hat sie wohl extra für dich anfertigen lassen; sie ist
der Allgemeinheit nicht zugänglich. Ja, du suchst den Piloten, bildlich
gesprochen. Wir haben uns an die Zentralverwaltung von Euras
gewandt. Sie haben zugestimmt. Du bist nicht mehr nur
Kommufacharbeiter 36-9-81, sondern darfst von diesem Augenblick an
überall tätig sein. Am Ende jeden Jahres gibst du uns einen Bericht über
deine Studien, dein erworbenes Wissen, die Erfahrungen, die du
gemacht hast. Und dann kannst du wieder tun, was du für richtig hältst.
Ich gratuliere dir und wünsche dir viel Erfolg.“
Der Instrukteur und der andere Mann erhoben sich. Auch Amon stand
auf. Der Fremde drückte Amon fest die Hand, sah ihm dabei in die
Augen. Amon erwiderte den Druck. Der Instrukteur umarmte den
Kommufacharbeiter.
„Manchmal werden wir dir noch Aufträge erteilen“, sagte er, „doch
wenn du etwas Wichtiges verfolgst, dann laß es uns wissen, und wir
ziehen den Auftrag zurück.“
„Danke“, sagte Amon und wußte nicht, wie ihm geschah. „Danke.
Ich..., ich werde meine Eltern finden...“
„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte der Instrukteur, dann brachte er
den Fremden zur Tür, verabschiedete sich dort von ihm.
„War das der Protokollant?“ wollte Amon wissen. Der Instrukteur
lachte herzlich. „Es war Disorra“, sagte er schmunzelnd, „Disorra.“
Amon starrte seinen Instrukteur an. „Disorra von der Weltverwaltung
Mensch und Wissenschaft?“ Seine Frage klang ungläubig.
„Du glaubst es wohl nicht?“
„Ich meine“, Amon wirkte hilflos, „Milliarden Menschen, von denen
einige hunderttausend im Raum sind..., und ich bin nichts als ein
Kommufacharbeiter...“
„Aber du bist ein Mensch“, sagte der Instrukteur voller Überzeugung,
„und ohne dich fehlte einer an den Milliarden...“
Amon Deltar befand sich in einem solchen Stimmungshoch, daß er zu
Fuß nach Hause ging. Er kletterte mit zwei Halbwüchsigen um die
Wette, verabredete sich mit zwei Mädchen an demselben Ort und zur
selben Zeit und betrat den Häuserblock, in dem er wohnte. Das
zweistöckige Gebäude war von einer efeuimitierenden Grünalge
überwachsen. Nur die Ovale der Fenster wurden alle vier Tage
nachgeschnitten, weil auch sie sonst zugewachsen wären. Die Algen
hatten ihren Ursprung in einem unterirdischen Bottich voll Nährlösung.
Amon lief die Treppe hinauf. Als er in sein Dreifachquartier eintrat,
stockte ihm der Atem: Eine der Schimmerwände zeigte kein Bild,
sondern eine flammende Schrift. Suche O'Delta, und du hast dich
gefunden.
Er starrte die Schrift an, die allmählich gröber wurde und zu zerlaufen
begann. Und dann dachte er: Ich heiße Deltar und soll einen O'Delta
suchen. Wie ähnlich das klingt!
Amon Deltar zog die neue Kombination an, die seinem Sonderstatus
entsprach, und verließ, mit dem Gravosspaten unter dem Arm, eilends
das Haus. Er verstärkte die Sphäroklänge rings um sich, so daß man zu
ihm hinsehen und mehr noch ihn hören mußte. Er wollte bemerkt
werden, ja, er wollte es...
Das Bild erstarrte erneut und wurde blaß.
„Da wird berichtet, daß Sie andere Aufgaben erhielten, daß Sie eine
Montur angezogen haben, die Ihrer neuen Würde entsprach. Sie werden
vor lauter Bedeutsamkeit noch zum Monument“, sagte die Ärztin bitter.
„Was soll das alles? Sie stehen einer Mutter gegenüber, die um das
Leben ihres Kindes kämpft. Und es gibt keine Macht auf dieser Welt,
die mich davon abhalten könnte.“
„Ich sehe es“, Hater trat vom Fenster weg, dann blickte er nach-
denklich zu Boden. „Ich habe da eine Idee, sie ist mir soeben ge-
kommen. Warten Sie aber ab, bis ich Ihnen alles erzählt habe. — Ja, wie
war das damals?
Ich verließ also den Wohnblock, wie im Taumel. Suche O'Delta, und
du hast dich gefunden. Zerrissen war ich, im Siegestaumel und
aufgeregt. So bestieg ich den Expreß und fuhr nach Mejoora. Ich speiste
nicht, trank nichts und ging allen Gesprächen aus dem Weg. Man fragte
mich sogar, ob ich niedergeschlagen sei.
Ich dachte darüber nach, wer mir nachstellte, wer mir immer wieder in
den Weg trat und mich anstiftete, Dinge zu tun, die ich allein nicht
begonnen hätte. Ich dachte auch über die Konserve nach, die mir diesen
Film vorgegaukelt hatte. Der Pilot. Das war es. Ich sollte einen Piloten
finden.
Als der Express in Mejoora einlief, hatten sich Hunderte von
Menschen versammelt, die den Fremden die Stadt zeigen wollten. So
war das damals. Man ging, wenn ein Express ankam, einfach zur
Endhaltestelle, und wer einem gefiel, dem zeigte man die Stadt.
Meistens wohnte man dann noch eine Zeitlang zusammen, ehe man sich
trennte. Ein, wie mir scheint, schöner Brauch, und ich finde es schade,
daß heute dieses ‚Abholen’ auf einen rein elektronischen Vorgang
reduziert wurde.
Ich hatte damals alle Mühe, den Abholern klarzumachen, daß es mich
zu jenem verlassenen Stück Natur hinzog, von dem ich schon
gesprochen habe. Aber schließlich war ich auf dem Rondell, auf dem
die Fahrzeuge standen, und ich ließ mich zu dem Klippensaum fahren.
Wie atmete ich tief durch, als mich die frische Meeresbrise traf!
Ich war glücklich, fühlte mich auf eine mir bisher unbekannte Art
geborgen im Schoß der Menschen, der - lächeln Sie nur ironisch, Ainina
- Menschheit. In einer sternenklaren Nacht, umgeben vom Wind und
von dem ewigen Summen der unterirdischen Großaggregate, die die
ferne Stadt am Leben hielten, ging ich daran, meinen Fund von allem
Sand zu befreien. Dabei mußte ich innehalten, denn das Summen der
Aggregate, ich hatte es bisher für Töne aus dem Meer gehalten,
beschäftigte mich.
Wenn sie nun einmal innehalten, dachte ich entsetzt, wenn dann die
Luftzirkulation in den Bauwerken zum Erliegen käme, die Le-
bensmittelproduktion stockte, und keine Abfälle mehr beseitigt und
aufbereitet würden. Sie wissen, wie das ist. Als junger Mensch denkt
man immer: Wie, wenn es unterbrochen wird. Später wagt man sich an
solche Gedanken nicht mehr heran und tut so, als ob nichts, gar nichts
mehr passieren kann.
Schließlich wurde ich wieder ruhiger und wandte mich dem
sandverkrusteten Gegenstand aus der Tiefe zu.
Es gab nichts, wo ich Feinstarbeit leisten mußte, denn das Ding war
völlig glatt und zudem von einer ungeheueren Härte. Ich schoß mit dem
Spaten den verkrusteten Schlamm einfach weg. Zuerst erschien ein
mattblauer Metallbuckel.
Schließlich, als ich alles, so gut es ging, gereinigt hatte, erkannte ich,
wie hoch das Ding war. Es überragte mich sogar. Und dann geschah
etwas, was einen besonnenen Menschen gewarnt hätte: Sand und
Schlamm bröckelten unvermittelt von allein ab, und das Ding stand
funkelnd und glänzend vor mir und warf mein verzerrtes Abbild zurück.
Doch es war äußerst merkwürdig: Das Ornament des schauenden
Menschen, das bei meinem Anzug auf der Herzseite angebracht war,
erschien im Spiegelbild nicht etwa links, wie es sein sollte, sondern auf
der anderen Seite. Ich sah mich zum erstenmal so, wie andere mich
sehen mußten. Ein seltsamer Anblick, vertraute Züge waren plötzlich
fremd. Und dann geschah noch etwas: Teile von mir wurden vergrößert.
Erst die Haare, dann die Stirn, die Augen und die Nase, der Mund. Es
war nicht, wie man es aus einem Panoptikum kennt, sondern es schien
mir eine stumme Anfrage, eine Probe, ein Test, und ich wußte nicht, wie
ich mich verhalten sollte.
Mich beunruhigte, daß ich keine Schalter, Hebel oder ähnliche Gebilde
entdecken konnte. Ich beklopfte das Ding von allen Seiten. Es gab kein
Geräusch. Nicht das leiseste. Der Metallpanzer mußte sehr dick sein.
Als alles umsonst war, schoß ich mit dem Mut der Verzweiflung eine
Spatenladung gegen die Schildkröte ab. Sie leuchtete einige Sekunden
brennend orange auf und schimmerte dann wieder in dem
schwarzblauen Grundton. Und während das Ding grellfarbig wurde, sah
ich mein Porträt überdeutlich abgebildet. Den Spaten konnte ich nicht
erkennen. Auch jetzt geschah nichts. Ich setzte mich in den Sand und
schlug mit der Faust auf den Boden. Dann erhob ich mich auf die Knie
und kroch um meinen geheimnisvollen Fund herum. Dabei entdeckte
ich eine Inschrift, die ich augenblicklich notierte: Vereinigtes
Terrestrisches Raumfahrtkommando/Typ: Solarschiff A 75 600-series.
Personen und Materialschutz - System: MS0.09/RSP 04/austr. Nun hatte
ich etwas. Ich konnte mich informieren. Ich mußte nur nachfragen,
wenn es ein Vereinigtes Terrestrisches Raumfahrtkommando gegeben
hatte, wohin dieses Raumschiff A 75 600 gestartet war und was RSP 04
bedeutete. AUSTR. hieß sicher Austras eins oder, wie Sie es früher
nannten, Australien.
Würde man meine Fragen beantworten, konnte ich meinen Fund
zeitlich datieren und würde auch wissen, wie man damals solche
Schildkröten gehandhabt hatte. In Mejoora würde ich keine Antwort
bekommen, denn Mejoora verfügte nur über die üblichen Zeitspeicher.
Ich mußte also nach Wendynck. Zur Leitinfostelle für Raumfahrt.
Wendynck...
Davon hatte der Mann gesprochen. Jener Überfall. Er hatte mir
geweissagt, daß ich nach Wendynck mußte. Und nun war es Tatsache.
Allerdings nicht, um einen Piloten ausfindig zu machen, sondern um
eine Schildkröte zu entlarven...
Als ich in Wendynck, ein wenig benommen von dem unruhigen Flug,
aus dem Gleiter gekrochen war, stand ich lange unbeweglich. Mir war
es, als sei ich auch durch die Zeit gereist und weit in der Vergangenheit
angekommen. So mußte es einst gewesen sein: Keine Begrünung, keine
Gewässer, nichts. Rund um die Stadt erhoben sich wilde, zerklüftete
Berge. Und in diesem Talkessel, in dem auch ich mich befand, standen
graue Blöcke, zumeist fensterlos. Ich wußte damals noch nicht, wie
wichtig die hier gesammelten Informationen waren und daß das
ungefilterte Licht der Sonne den Maschinen und ihren empfindlichen
Gedächtnissen sehr schaden konnte. Für mich war Wendynck ein Ort
aus einer Urzeit. Alles ragte himmelauf und schien im nächsten Moment
auf mich niederzustürzen zu wollen. Die Menschen in ihren
englischroten Kombinationen, die Wendynckmarke am Latz, wirkten
auf mich wie Kyborgs. Ich verließ den Landeplatz nur zögernd, ging
gemächlich durch die Straßen und sprach längere Zeit mit einer
Kommufacharbeiterin. Meine Entschlossenheit geriet ins Wanken.
MS 0.09, dachte ich, was kann das sein? M könnte Material heißen
oder auch Marianne... Aber das geht ja wohl nicht. Wer eine solche
Schildkröte Marianne Schulz nennt, der muß schon sehr viel Humor
haben. Nein, nein, es war kein Name. Es war eine Sachbezeichnung.
Zum Glück wußte ich, welches dieser Gebäude mein Ziel war. Ich sah
Bauten, die dem Profil der Felsen folgten, während andere wie die
Säulen des Herakles den Himmel zu stützen schienen, wieder andere
erinnerten mich an riesige und durchsichtige Nadeln. Manche krochen
auch echsengleich über den Boden und erhoben sich nicht über die
zweite Etage.
Das Gebäude, in dem ich erfahren wollte, was mich interessierte,
ähnelte einem ruhenden Tier. Der Kopf war der Eingangskomplex mit
der dreiteiligen Schleuse, während der Leib anscheinend die Datenbank
beherbergte.
Ich kam an der Schleuse von Komplex I an, pfiff eine bekannte
Melodie gegen die Sphäroklänge und erreichte, daß der Polyromat mich
mißtrauisch mit seinen drei Kameraaugen betrachtete.
„Na, Alterchen“, sagte ich munter, „beeile dich! Ich muß darein.“
„Unmöglich“, sagte die Maschine…
Ich habe sicher nicht sehr intelligent ausgesehen, als ich dieses. Wort
hörte. Was war unmöglich? „Ich muß da rein“, wiederholte ich fester.
„Unmöglich“, sagte die blechern kratzende Stimme des Polyromaten
erneut.
„So... Und was soll das?“ Ich strich mir die Kombination glatt, damit
diese Maschine sehen konnte, daß ich ein Studierender war.
„Das soll nichts“, sagte die Maschine. „Das ist unmöglich...“
„Und warum?“ Ich trat von einem Bein aufs andere und versuchte, die
Kameraaugen zu fixieren, aber da es drei waren, pendelte mein Blick
hin und her.
„Weil Ihnen ein Grundkurs fehlt“, erklärte er freundlich, „ein
Sechsmonategrundkurs und ein Dreimonatespezialkurs. Zu absolvieren
in Komplex zwei. Ab sofort...“ Sein Kopf wackelte hin und her, und die
Augen glommen gelblich.
„Und wenn ich die Kurse später nachhole?“ sagte ich. „Du kannst
mich ruhig erst mal reinlassen!“
„Unmöglich“, antwortete er.
Ich drehte mich um und ging. Weg war mein Elan. Ich war ein
Fremder in einer fremden Stadt. Plötzlich spürte ich Hunger. Ich betrat
also eine Speisegaststätte und ließ mich erschöpft auf einen Sitz fallen.
An der Wand glomm die Speisekarte auf, und ich tastete, ohne recht
hinzusehen, nach dem Laserstift und umrandete mit dem Lichtstrahl das,
was ich essen wollte. Dann noch ein Getränk.
Das Menü kam auf dem ausgefahrenen Band an, und ich griff zu,
stellte die Teller und Schüssel, die Schalen und die Sauciere auf meinen
Tisch. Das Besteck schob sich aus dem Tischspalt. Ich wollte schon zu
essen beginnen und wartete auf das GUTEN APPETIT der Anlage, als
ich die beiden kleinen Dinge entdeckte. Eine Metallmarke und einen
Zettel. Verwundert nahm ich sie an mich.
Du wirst O'Delta finden, stand auf dem Papier, und die Marke war
nichts anderes als eine Marke für neun Monate zur Benutzung jenes
Gebäudes, bei dem der mir verhaßte Polyromat Dienst tat.
Ich reagierte diesmal ungewöhnlich schnell. Mein Menü war aus
einem der Zuführtrakte der Garine gekommen. Wer eine Manipulation
vorhatte, mußte sich dort aufhalten, weit vom Eingang entfernt. Ich sah
einen Mann, dessen Kopf und Körper von einem sandfarbenen Umhang
völlig verdeckt waren, und dieser Mann verließ eilenden Schrittes die
Gaststätte.
Es war der Unbekannte! Der Mann mit der Bildkonserve und der
Flammenschrift. Es war der, der mich überfallen hatte. Na warte, du,
dachte ich und sprang auf. Die Juicekanne klirrte gegen die
Suppenterrine, und die beiden Flüssigkeiten mischten sich. Das alles
kümmerte mich wenig. Ich lief los, prallte gegen Stühle, erntete
mißbilligende Blicke und erreichte schließlich die Tür. Ich stieß gegen
zwei Rhesuiden, die ausgerechnet jetzt eintraten. Aber noch ehe ich
ganz den Boden berührt hatte, war ich schon wieder oben und stürmte
hinaus.
Als ich auf der Straße war, hatte ich noch die Witzeleien der Gäste im
Ohr, die mich sicher für einen Absolventen hielten, der kurz vor der
großen Prüfung steht.
Von dem Mann sah ich keine Spur. Er mußte sich in Luft aufgelöst
haben. Unwillkürlich blickte ich nach oben. Ich sah die Fassade hoch,
gewahrte einen Regensammler über mir, der leicht schwankte, und
glaubte sogar einen Augenblick lang, daß der Fremde die senkrechte
Fassade hinaufgeturnt sein könnte.
Unschlüssig sah ich immer wieder nach rechts und nach links. Ein
merkwürdiges Gefühl erwachte in mir. Ich hätte vorher alles dafür
gegeben, wenn ich den Polyromaten hätte überlisten können. Einmal,
weil er eine Maschine und ich ein Mensch war. Und dann auch, weil
MS auf mich wartete. Marianne, wie ich sie heimlich nannte. Nun aber,
da ich offiziell das Gebäude betreten würde, hatte ich keine rechte Lust
dazu. Man hatte mir Vertrauen entgegengebracht, hatte mir eine
Lernstufe verliehen, die ich regelrecht nicht erreicht hatte. Und ich sollte
nun diesen Vertrauensbeweis mißbrauchen. Konnte ich die Marke
benutzen?
Unerwartet war eine Stimme an meinem Ohr. „Junge“, sagte mein
Instrukteur, „in der Gaststätte, in der du eben warst, da ist ein Mensch,
der die Kommuhilfszentrale braucht...“
„Ich gehe schon“, rief ich voller Eifer und wandte mich zurück.
„Dummkopf“, die Stimme wurde durch Lachsalven unterbrochen, „du
solltest nicht gehen.“
„Und warum nicht?“ wollte ich erstaunt wissen.
„Na, weil der verwirrte Mensch Juice mit Suppe mischte, fast zwei
Rhesuiden demontierte und einem Phantom nachjagt. Du müßtest dich
selbst begleiten...“ Wieder das prallvolle Lachen.
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich war auf mich angesetzt
worden.
„Was soll ich tun?“ fragte ich ungläubig.
„Geh los“, sagte er, „mach einen Bogen um die Gaststätte. Und jage
keine Phantome mehr.“
Man sagt, daß Maschinen kein Seelenleben haben. Ich weiß nicht
recht. Der Polyromat von Komplex I sah mich mehr als verwundert an.
Er betrachtete die Marke an meinem Mitteltäschchen und verglich sie
sorgfältig mit dem Endloszeitgeber über seinem Kopfteil.
„Neun Monate“, murmelte er verwirrt, „neun Monate...“
„Kann ich passieren“, fragte ich ruhig.
„Un...“, begann er, „un...unter diesen Umständen natürlich... neun
Monate...“ Ich ging gemessenen Schrittes durch die Schleuse.
„Sie sollten auch einmal Phantom spielen“, Ainina richtete sich auf,
unterbrach Hater.
„Sie meinen...“, der Wissenschaftler verstand den Einfall sofort. Er
vollendete den Satz nicht, wartete ab.
„Genau das meine ich“, sagte Ainina, „geben Sie mir eine Benut-
zerkarte und einen Plan, die mich zu dem Medikament führen...“ Sie
dachte nach, sah Hater scharf an.
„Außerdem bezweifle ich“, sagte sie dann und wog die Worte ab, „daß
Ihr Gewissen damals wirklich so rebellisch war, wie Sie es mir jetzt
einreden wollen. Sie sollten bedenken, daß man später immer eine
Ausrede für sich selbst sucht, vielleicht eine Entschuldigung für die
Torheiten der Jugend. Sie haben den Komplex eins betreten. Das zählt
für mich. Nicht, was Sie heute meinen, daß Sie es damals dachten oder
fühlten. Sie pochen beinahe darauf, daß die Verantwortlichen der
Weltverwaltung Mensch und Wissenschaft großzügig Ihnen gegenüber
waren. Nur: Gelernt haben Sie von diesen Menschen nichts. Wo ist Ihre
Großzügigkeit den Zehntausenden gegenüber, die krank in den
Hospitälern liegen und auf Hilfe warten?
Wo ist Ihre Toleranz, wo ist Ihr Vertrauen uns gegenüber? Ach...“ Sie
schwieg, lehnte sich in den Sitz zurück und kaute auf einem ihrer
Fingernägel.
„Bitte“, Hater spreizte die Finger, setzte sie gegeneinander, „wir haben
eine Abmachung. Sie warten und schweigen, bis wir am Ende der
Erzählung sind. Gedulden Sie sich...“
„Und wie lange? Aininas Gesicht war nun einen Schein fahler. „Wie
lange denn? Soyosa hat kaum mehr als fünf oder sechs Tage Zeit. Dann
werde ich vor dem medizinischen Gremium stehen und werde als
Mutter verantworten müssen. Hater, mehr Zeit habe ich nicht.“
„Wendynck“, sagte Hater, „verbarg nichts vor mir. „Ich durchquerte
die Schleuse als Sieger und Zweifler in einem. Und meine Zweifel
waren begründet. Bereits im ersten Maschinensaal blieb ich stehen,
erstarrte. Die Apparate und die Art der Programmierung waren mir
unbekannt. Wendynck war ein alter Ort, und als er entstand, nannte man
ihn Weltdatenbank. Die Speicher selbst waren so alt wie jenes Wort.
Und immer hatte man alles so belassen, wie es war. Schließlich
existierten dort derart viele Informationen, daß man fürchten mußte, daß
bei einer Überführung Wichtiges verloren gehen könnte.
Kaum hatte sich damals meine Erstarrung gelegt, da wanderte ich
durch die Säle, stand staunend vor den Maschinengiganten und hatte
nicht die geringste Vorstellung von dem, was zu tun sei. Es schien mir
auch nicht ratsam, einen der hier Beschäftigten anzusprechen. Was
sollte ich ihm sagen?
Ich studierte also alles, was ich an Schrift auf und neben den
Maschinen fand, versuchte mir daraus ein Bild zu machen, und kam
doch keinen Schritt voran. Heute, daß wissen Sie ja auch, ist Wendynck
ein Museum. Mehr als neunzig Prozent aller Informationen sind in die
Kleinspeicher von Yusuma überführt. Aber damals... Ich landete
schließlich in einem Raum, der zweihundert mal vierhundert Meter maß
und in dem in Fünfmeterabständen Steuerpulte standen. Kaum eines der
Pulte war an das Energiesystem angeschlossen, da es nur wenige
Benutzer gab.“
In der Solarabteilung war nur eine Person, eine Frau, kaum älter als
ich selbst, und sie kam auch gleich zu mir heran. „Prüfung?“ wollte sie
wissen und ging neben mir her.
Ich schüttelte verneinend den Kopf. „Ich brauche die Daten für einen
archäologischen Fund.“
Sie sah mich forschend an. „Archäologie wollte ich auch machen“,
sagte sie leise, „aber bei der Geräteprüfung kam ich nie zurecht. Mit
dem Energospaten habe ich einem Mitglied der Prüferkommission das
Gesicht verbrannt. Er mußte Kunsthaut bekommen. Und mit dem
Rubindilatator zerriß ich die Wand des Prüfungsraumes, anstatt eine
gefundene Metalldose vom Sand zu befreien. Vielleicht wäre ich heute
geschickter. Wer weiß... Und was für Funde hast du gemacht?“
„Es sind Solarschiffsplitter“, sagte ich und sah sie an, erwartete einen
Hinweis.
„Eigentlich merkwürdig“, ihr Gesicht schien mir eine einzige Frage,
„es sollen doch alle Solarschiffe draußen geblieben sein. Man nennt sie
nicht umsonst die Abtrünnigen.“
„Vergiß nicht die Meteoritenbahnen“, ich gab mein gesamtes kos-
misches Wissen preis, „diese Dinge können auf Meteoritenbahnen
daherkommen.“
„Aber doch frühestens in zwanzigtausend Jahren.“ Ich sah sie
zweifelnd an, dann lächelte ich ihr zu. „Weißt du, daß du ein sehr
hübsches Mädchen bist. Ich möchte mir von dir gern die Umgebung von
Wendynck zeigen lassen, und ich möchte mit dir sprechen. Aber im
Augenblick suche ich etwas. Und...“ Ich unterbrach mich. Sollte ich ihr
sagen, daß ich mit diesen Maschinen nichts anfangen konnte?
Wirklich, ich mußte etwas tun. Also setzte ich mich an eins der
Steuerpulte, während sie achtungsvoll hinter mir stehen blieb. Es war
das modernste.
Ich hatte etwas gegen Regeltechnik, als ich ausgebildet wurde. Das
zahlte sich jetzt aus. Und wie. Zuerst ließ ich Energie kommen. Das
ging noch. Die Kontrollämpchen blinzelten mir vertrauensvoll zu. Aber
dann ging es schon nicht mehr weiter. Mußte man zuerst den
Massenspeicher abrufen oder über den Baum der logischen
Möglichkeiten von oben nach unten vorgehen? Ich wartete vergebens
auf das Eingreifen einer höheren Macht. Sie beugte sich vor und
berührte meine Schultern.
„Was ist los?“
„Ich bin so aufgeregt“, erwiderte ich und saß wie ein Stück Blei
unbeweglich auf dem Schaumer, „ich weiß vor Spannung nicht einmal,
was ich machen soll.“
„Laß mich mal.“ Sie lächelte und griff über mich hinweg. Sie
durchbrach die Lichtschranken, von denen es einige hundert gab, in
atemberaubendem Tempo. Dabei lächelte sie mir zu und suchte meine
Augen.
„Und nun brauche ich die Information“, sagte sie nebenher.
„Vereinigtes terrestrisches Raumfahrtkommando“, gab ich mein erstes
Teilgeheimnis preis. Sie gab die Information ein.
„Personen- und Materialschutz.“ Der Apparat schluckte alles.
„Solarschiff A 75 600-series.“ Die Maschine bestätigte den Empfang.
„System: MS 0.09/RSP04/austr.“ Unverzüglich antwortete uns die
Maschine.
XXO-antwort: das vereinigte terrestrische raumfahrtkommando exi-
stierte bis vor sechshundert Jahren, dann ging es über in die nordsüd-
liga. solarschiffe existierten vier, von A 75 600 bis A 75 603. alle so-
larschiffe scheiterten, keine besatzung wurde gerettet, bau wurde ein-
gestellt.
ms 0.09 bedeutet: manshadow. die mannschaftsmitglieder, die die
nummer 09 trugen, wurden durch ms 0 vor extraterrestrischen gefahren
bewahrt, ms 0 ist ein kampfsystem mit rational-logischer maschi-
nenintelligenz.
kommandant der A 75 600 war jaun wetdar. nach einem unglücksfall
wurde es markus o'delta. rsp 04 ist raketenstartplatz 04 in austras eins,
heute ist dort kleinstsiedlung und markus-o'delta-archiv. letztes
privatarchiv der eheleute sebal.
für die richtigkeit:System 265a/11842yy/0221.
Das war nicht viel. Kein Wort über das Ziel der langen und gefähr-
lichen Reise, bei der ein Jaun Wetdar umgekommen war, nichts über
das Ende. Nichts. Wahrscheinlich mußte man, wenn man mehr wissen
wollte, dieses Privatarchiv der Sebals aufsuchen. Es waren auch keine
Bilder gespeichert.
„Ein bißchen dürftig“, sagte das Mädchen und sah mich enttäuscht an.
„Na ja“, sagte sie dann tröstend, „immerhin besser als nichts.“
„Finde ich auch“, stimmte ich zu, „ich habe wenigstens erwartet, daß
der Zweck des Fluges oder das Ziel genannt wird. Also werde ich nach
Austras eins müssen. In dieses Archiv der Wetdars...“
„Der Sebals“, verbesserte sie mich.
„Wieso Sebals“, ich sah sie an, „hießen die nicht Wetdar?“
„Wetdar war der Kommandant“, sagte sie mit Bestimmtheit und ließ
die gespeicherten Informationen noch einmal durchsagen.
„Stimmt“, gab ich zu, „du hast recht. Also auf, zum Archiv der
Sebals...“
Als ich wieder auf der Straße stand, als die Aufregung abgeklungen
war, fühlte ich erneut jene alte Unruhe. Der Begriff Austras eins und der
Name des Kommandanten hatten mich aufgewühlt. Ein Ring schließt
sich, dachte ich. Immer wieder war es mir beim Erwachen, als hätte ich
von Austras eins geträumt, als ziehe mich etwas dorthin. Nun mußte ich
reisen, wenn ich nicht steckenbleiben wollte. Aber aus einem anderen
Grund als dem, der mir durch die Traumbilder vorgegaukelt wurde. Ich
sollte O'Delta finden und hatte seine Spur im Zusammenhang mit MS
0.09 entdeckt. Was hatte das alles miteinander zu tun?
Ich vergaß, daß ich am Abend verabredet war, und flog sofort nach
Mejoora zurück. Ich brannte darauf, meine Schildkröte zu sehen diesen
maschinenintelligenten Beschützer der Mannschaft.
„Du heißt nicht Rumpelstilzchen“, begrüßte ich sie, „sondern
Manshadow, und ich werde dir klarmachen, daß wir nicht geschützt
werden müssen.“
Gemächlich ging ich um den Apparat herum, besah ihn mir von allen
Seiten. Mir schien es, als blinzelte mir das glänzende Metall mit den
durch die Schutzhaut abgeschwächten Sonnenreflexen zu.
Unerwartet entdeckte ich einen Spalt, der in das Innere des Apparates
führte. Einen Spalt, gerade so breit, daß eine Menschenhand bequem
hineinpaßte. Er war so angebracht, daß man stehend hineingreifen
konnte, und als ich es vorsichtig versuchte, war ich verblüfft, weil dieser
Spalt die Form eines nach innen gestülpten Handschuhs besaß. Für
jeden Finger gab es eine Röhre. Ich suchte nun im Innern Kontakte oder
andere Schaltelemente, und in meinem Eifer fuhr ich immer wieder
hinein, bis meine ganze Hand in diesem „Handschuh“ steckte. Alles war
glatt. Poliert. Sandfrei. Dann geschah es.
Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann. Es war, als hätte sich die
Welt auf mir unerklärliche Weise geändert. Das Licht schien mir greller,
unangenehm. Die Gegenstände traten deutlicher, überplastisch hervor.
Alles war wie vorher und doch auch wieder nicht. Und ich konnte meine
Hand nicht mehr aus der Öffnung nehmen. Ich konnte sie einfach nicht
mehr bewegen. Sie war nicht taub oder paralysiert. Ich hatte Gefühl in
ihr. Ich spürte auch keinen Schmerz.
So stand ich da, betrachtete eher erstaunt als fassungslos den im Metall
steckenden Armstumpf und wußte nicht, was ich denken sollte.
Allmählich beschlich mich ein Gefühl der Unsicherheit. Die Maschine
reagierte nicht, gab nicht einmal zu verstehen, daß sie etwas mit mir
vorhatte, ließ mich aber auch nicht mehr los. Zugleich, und dies
bewahrte mich vor der anfänglich aufsteigenden Angst, sah ich Bilder,
die mir Dinge mitteilten, ohne daß ich sie einordnen konnte.
Da war zum Beispiel der Kopf einer energischen Frau mit schwarzen
Haaren. Silberfäden durchzogen diese Haare, die Züge wurden
verkniffen, und unerwartet glänzten mir blanke Schädelknochen
entgegen. Ich sah einen Mann, der sich durch eine Grotte schleppte,
während um ihn unheimliche Maschinen standen, die seine Schritte
beobachteten. Dann sah ich einen Baum, der in fremdartig anmutenden
Farben prangte, sah unzählige kleine Herzen an ihm hängen. Ich
erblickte aufreißende Kontinente, Lavaströme, die von allen Seiten auf
mich zuzukommen schienen.
Ein flaches, dreieckiges Gebilde raste in einen Feuersturm hinein und
blähte sich augenblicklich zu einem glasigen Hitzeball auf.
‚Tyrsos’, spürte ich da einen fremden Gedanken in mir, Kamerad...
Ich sah Zeiger, die in rasendem Lauf über Skalen hinflogen und in rote
Überlastbereiche federten und einen schwarzen Blitz, der alles
abdunkelte.
Es waren apokalyptische Bilder eines Weltenuntergangs, die
dichtgedrängt, von Namen und Gedanken untermalt wurden. Ich ahnte
wohl, daß mir MS 0.09 diese Bilder vermittelte, daß sie eine Botschaft
für mich waren, aber einen Sinn ergab das nicht. Zugleich fürchtete ich,
daß die Schildkröte hilflos dastehen mußte, falls sie auf meine
Gedanken erpicht war. Wir stammten nicht nur aus unterschiedlichen
Jahrhunderten, sondern waren in unterschiedlichen Räumen wirksam.
Sie im Universum, ich auf der Erde. Wie konnten wir uns da
verständigen?
O weh, dachte ich schließlich, wenn dieses Ding nun einfach losflog?
Der Speicher hatte nicht gesagt, daß sie flugunfähig war. Wenn sie nun
losflog und mir die Hand abriß?
Oder wenn sie erneut in die Erde kroch? Dann würde sie mich
zwischen Sand, Gestein und Magma zerdrücken oder ersticken. Und das
Meer in seiner endlosen Weite und Tiefe war auch nur ein paar Schritte
weit fort...
Wieviel Zeit vergangen war und wieviel aus der Angst geborene
Gedanken mich gequält hatten, weiß ich nicht mehr. Mitten hinein in
den Strom der Furcht aber drang eine klare Stimme: „Signalempfang.“
Meine Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. Mir war es, als
wäre jemand in meiner Nähe. Ich fühlte jemanden, den ich nicht sehen
konnte. „Hallo“, sagte ich halblaut, „ich hänge hier fest...“
Niemand antwortete mir. Natürlich, wer kommt auch hierher. Ich war
weiterhin mit der Schildkröte allein. Ich begriff: Im Innern der
Maschine summte es wie in einem Bienenstock. Leise, aber unhörbar.
Und das Geräusch schwoll an.
„Commander O'Delta“, sagte da eine Stimme, die ich mein Leben lang
nicht vergessen werde, „chronologische Achsmessung nicht möglich.
Zeitstrom zerrissen. Die Raumparameter sind fremd und doch vertraut.
Analoge Schwerefelder wie auf der Erde. Analog, nicht identisch.
Mögliche Katastrophenfolgen nicht auszuschließen ... Erbitte
Informationen ... erbitte dringendst Informationen.“
Die Maschine vibrierte. Sie begann zu arbeiten, auch wenn sie sich
nicht rührte.
„Am Horizont Intelligenzballung“, fuhr die Stimme nach einiger Zeit
fort, „erbitte Informationen. Erbitte Informationen.“
„Mejoora“, sagte ich und erschrak über meine Stimme. Vor Aufregung
krächzte ich nur.
Im Innern der Maschine schienen die Vibrationen zuzunehmen. Lange
Zeit geschah nichts.
„Ich brauche meine Hand“, stieß ich endlich hervor. „Ich habe
schließlich nur zwei davon. Ich bin doch kein Tausendfüßler ... Das muß
doch zu machen sein, daß ich sie zurückbekomme...“
„Altersstruktur nicht mit dir identisch“, die Stimme der Maschine
klang beinahe ungehalten, „Commander, du bist mit dir nicht identisch
... Logische Unmöglichkeit. Dein Zellmaterial ist nur neun Jahre im
Maximum. Kläre bitte die logische Unmöglichkeit auf. Erbitte
Informationen. Erbitte Informationen.“ Nach einer Pause sagte sie noch:
„Wo sind die anderen?“
Die letzten Worte klangen unruhig. Etwa so, als erinnere sich die
Maschine plötzlich einer noch zu lösenden Aufgabe.
„Ja, wo sind sie?“ wiederholte ich und überlegte, wie man unver-
fänglich antworten konnte. Die Maschine schien nicht einmal zu ahnen,
wie lange sie im Erdreich geruht hatte.
„Ich habe folgendes ermittelt“, meldete sie mir nun, „wir sind auf
einem Planeten der Intelligenzklasse c4 gelandet. Keine a-Intelligenz,
keine b-Intelligenz. Auch cl bis c3 scheidet aus. Harmonisierung der
Ökosphäre linear. Nicht kausal, nicht hyperboloid. Linear. Noch hoher
Energieverschleiß und -verlust durch offenes System. Waffen habe ich
nicht geortet. Droht den anderen Gefahr?“
„Schon lange nicht mehr“, antwortete ich und dachte an die Jahr-
hunderte, die die anderen tot waren.
„Warum sind sie nicht hier?“ wollte die Maschine nun wissen. „War
der Archimedesschaden irreparabel?“
Ich hätte der Maschine die Wahrheit sagen können. Die verflossene
Zeit, der Tod der Mannschaft. Ich hätte es wohl, aber ich fürchtete, daß
ein metallener Glockenton erklungen und MS 0.09 wieder in ihrer
Dornröschenschlaf gesunken wäre. Das war meine Angst. Und
schließlich: Ich brauchte ja tatsächlich meine Hand. Sollte das
verfluchte System von mir aus in einen neuen Winterschlaf verfallen,
doch meine Hand mußte es freigeben.
„Sie werden Mittag essen“, sagte ich überzeugt, „oder ein Bad.
nehmen. Woher soll ich wissen, was sie momentan tun.“
„Ich empfange ihre Sender nicht“, wies mich die Maschine zurecht,
„nur ein zaghafter, sehr entfernter Einzelimpuls. Du bist der
Commander. Du mußt es wissen.“ •
Noch ehe ich antworten konnte, kam noch eine Frage: „Warum ist die
Nuklearbatterie des einzelnen Senders fast verbraucht?“
Einen Augenblick war ich wie betäubt. Ein wohliges Gefühl rann
durch meinen Körper: Meine Hand war frei.
„Gib mir den Auftrag, sie aufzuspüren“, forderte die Maschine. Ich
sah, daß Veränderungen an meiner Schildkröte vorgegangen waren.
Klappen sprangen auf, vier scheinwerferähnliche Gebilde schoben sich
vor. Aus dem Buckel ganz oben glitten silbrige Antennen hervor. Ein
schlankes Rohr zeigte sich noch. Lautlos begannen die Antennen zu
rotieren. Die Grundfarbe der Schildkröte war nun dunkelgrün. Sie
erinnerte tatsächlich an ein Tier. An ein niedergeducktes, sprungbereites
böses Tier. Sie glitt aus dem Loch, zerriß das Sommerzelt und blieb
unter freiem Himmel stehen.
Ich folgte ihr und suchte zu erraten, was sie wohl als nächstes tun
würde.
Am Horizont tauchte ein fahler Lichtschein auf. Es war der Postator,
der auf seinem Leitstrahl von Kontinent zu Kontinent glitt und die
Neuigkeiten nach Mejoora trug. Die Schildkröte duckte sich so, daß die
Scheinwerfer in den Himmel hinaufwiesen. Dann sah ich etwas, was
mich an einen zarten Glasfaden erinnerte, und die Rakete zerplatzte. Das
Feuerwerk überraschte mich, erschreckte mich. Ich war bestürzt. Ich sah
Fahrzeugtrümmer, blasig aufgetriebene Kleinstcontainer und Tausende
sprechnotierter Grüße ins Meer regnen.
„Anhalten“, schrie ich aus Leibeskräften, „bist du wahnsinnig ge-
worden. Das darfst du nicht.“
Die Schildkröte zog all ihre Armaturen ein und sah wieder so aus, wie
ich sie gefunden hatte. Mehr noch, sie erschien mir irgendwie
eingeschnappt.
„Hör mal“, sagte ich, „du hast selbst gesagt, daß du keine Waffen
ortest. Es gibt hier keine Waffen. Alles ist friedlich. Es wird nicht mehr
geschossen.“
„Verstanden“, erwiderte sie sachlich.
„Du kannst mich hören“, sagte ich, „auch aus Entfernung?“
„Ja“, antwortete die Maschine, und in der Klappe erschien ein
winziges Sprechgerät, „ich höre dich über zweihundert Meilen.“
„Dann paß auf“, es war die Stunde meiner Ideen, „du gehst ins Meer.
Zweihundert Meter tief. Das kannst du doch? Dort hältst du dich fit, bis
ich dich abrufe. Wirst du das alles tun?“
„Und was wirst du tun?“
„Ich gehe zum mejooranischen Rat. Schließlich habe ich einen
Schaden angerichtet. Ich werde es aufklären müssen. Das ist so.
Aber du bleibst friedlich. Es besteht keine Gefahr für mich. Hast
du begriffen?“
„Verstanden.“ Die Maschine glitt wie ein Rochen über die Klippen
und verschwand im Meer.
Ich blieb noch lange stehen, wußte schon bald nicht mehr, ob ich mir
das alles nur eingebildet hatte oder ob es Wirklichkeit war...
Sie kamen nie zurück
„Kommen Sie“, sagte Hater, „wir müssen nicht hierbleiben. Die
anderen Kristallscheiben wurden zerstört, und die Räume sind nicht
einladend. Ich werde Ihnen erzählen, wie es weiterging. Aber nicht
hier“.
Schweigend verließen sie den Raum, den der Rhesuid augenblicklich
annektierte, und stiegen in das Gefährt, das sie hergebracht hatte. Hater
programmierte, und während der Flugminuten - es war nicht einmal
nötig, die Bolidenbahn zu erreichen - hing jeder seinen Gedanken nach.
Als die Klappwände herabfuhren, erreichte gleichmäßiges
Wellenrauschen ihre Ohren.
Ainina erhob sich und blickte auf das Meer, auf dessen Wasser sich
die Lichter des Schneckenovals spiegelten. „Hier zieht es Sie hin“, sagte
sie und vertiefte sich in den Anblick des gläsernen Gebäudes, das, aus
den Fluten auftauchend, hoch aufragte und seine schimmernden
Zufahrtswege wie Spinnenweben gegen den begrünten Strand schickte.
„Ja, hierher“, antwortete Hater, „dies ist der Punkt, an dem alles
begann. Der einst wilde Strand von Mejoora. Jetzt ist das Zentrum der
bildenden Kunst hier. Aber auch der Musikalienmarkt, wie die
Tonschaffenden es nennen, und ein Erholungszentrum. Ich liebe beides:
die Erinnerung an damals und die Schönheit des Bauwerks.
Sie fuhren durch das Rohr weit hinauf auf das Gebäude im Meer,
betraten den ersten Schneckengang. Ainina pflückte sich zwei
Hibiskusblüten und steckte sie ins Haar. „Ich war noch nie hier“,
erklärte sie, „das liegt daran, daß ich zweimal am Tag bei Soyosa bin.
Sie denken jetzt sicher, daß das sinnlos ist, und vielleicht ist es das auch.
Sinnlos. Vergeblich. Es hilft ihr ja doch nicht. Aber ich muß es tun.“ Sie
kniete nieder, sah durch das Glas hinunter auf die Wellen, die zwanzig
Meter unter ihnen ihr ewiges Spiel trieben.
Hater kniete sich neben sie, befestigte eine der Blüten erneut. „Sie
müssen es tun“, erklärte er, „ja, Sie müssen es tun. Solange Sie sich
nicht zum Sklaven dieses Gefühls machen...“
Ainina wandte das Gesicht ab. „Ja, Hater“, sagte sie nun, ihre Stimme
wurde kühler, bestimmter, „es gibt auch noch anderes Leid auf dieser
Welt als nicht zu wissen, wer Mutter und Vater sind. Tatsächlich. Und
es gibt andere Wünsche, als einen Piloten zum Vater zu haben...“
„Sie sind verbittert“, Hater ergriff impulsiv ihre Hand, hob Ainina von
dem Polster auf, trat mit ihr zwischen den Pflanzen hindurch an die
Wand, hinter der die Weite des Meeres lag, „das kann nicht anders sein.
Nur dürfen Sie nie die Menschen mit den Fungi verwechseln.
Pilze haben Soyosa an das Bett gefesselt. Nicht die Gesellschaft. Kein
Mensch... Wissen Sie, daß ich einen Kyborg kannte, den ich mehr
schätzte als viele andere Menschen...? Ich muß einfach weiter erzählen,
damit Sie begreifen...“
„Hater“, Ainina betrachtete kopfschüttelnd das Wasser, „ist das nun
Einbildung, oder sind die Wellen größer?“
„Im Laufe von zwölf Stunden“, erklärte Hater, „bewegt sich dieser
Schneckengang so, daß wir einmal in dreihundert Meter Tiefe und
einmal in hundertfünfzig Meter Höhe sind. Eine architektonische und
technische Spitzenleistung.“
„Ich bin nie aus Euras herausgekommen“, sagte Ainina, „nie...“
„Ja und?“ Hater begriff nicht.
„Und Sie haben lange Jahre in Austras gelebt“, fuhr die Frau fort, „Sie
fühlen sich mir überlegen, weil sie auch die ungebändigte Natur
kennen...“
Hater wurde unversehens ernst. Er deutete auf die Konstruktion des
Schneckenovals. „Das hier konnte nur jemand schaffen, der Euras nie
verlassen hatte. Verstehen Sie? Ich weiß, wie manche unserer
Landschaften und Parks verändert werden können, damit sie
anziehender werden. Ich kann Hinweise geben, wie man den
Raumreisenden Fähigkeiten anerzieht, die es jenen ermöglichen, auf
fremden Planeten zu überleben. Aber ich kann nicht die Schönheit des
Lebens in Architektur, in Musik oder Worte fassen. Man muß eine
Sache lebenslang tief kennen, um das zu können. Nein, ich schaue auf
niemanden herab.“
„Ich möchte Ihnen gern glauben, Hater“, Ainina sah den Mann
abschätzend an, „aber Ihre Reaktion auf dieses Tyrsoleen, die läßt das
nicht zu. Erzählen Sie weiter, erzählen Sie...“
„Marianne“, rief ich in den Sprechgeber und beobachtete die metallene
Schildkröte, die wie ein buckliges Untier aus den Wellen des Meeres
kam. Ja, ich hatte sie versteckt, sie ins Meer geschickt, denn ich wollte
erst alles wissen, was sie an Wissen barg, bevor ich meinen Fund aus
den Händen geben würde. Und ich hatte sie Marianne genannt.
Manshadow klang mir einfach zu abenteuerlich, zu brutal. Das Wort
paßte nicht mehr in meine Zeit. Ich sah sie durch das Wasser kommen,
sah sie, wie sie sich mir näherte und unmittelbar vor mir stoppte.
„Ich hoffe“, sagte ich zu ihr, „daß du dich nicht gelangweilt hast. Es
gibt manchmal für mich viel zu tun, und dann kann ich nicht kommen.
Ich möchte heute, daß du mir von dir erzählst, von dem was du gesehen
hast, von den Flügen. Ich werde bald reisen. Ohne dich. Und da
bekomme ich sehr viele Informationen. Auch solche, nach denen du
immer wieder fragst. Sage mir, was du beobachtet hast. Früher,
unterwegs im Raum...“
„Wir hatten dieselbe Reise, Commander“, sagte die Schildkröte
unsicher, „aber du hast vieles vergessen. Es liegt an der veränderten
Altersstruktur... Ich berichte: Du hast mich in der Spindel untergebracht.
Der Kurs war vorgegeben. Wahrscheinlich RSP-4. Ich habe keine
sicheren Informationen darüber. Bei Atmosphärenkontakt stieg die
Erhitzung der Spindel über die zulässigen Werte. Da wurde ich als sehr
schwerer Körper ausgestoßen. Ich bremste, so gut es ging. Die
Chronographen aber litten unter der Überhitzung. Auch andere
periphere Zentren. Mehr nicht. Ich bin auf ein Wasser geprallt,
versunken und war schließlich vom Schlamm umgeben. Meeresschlick.
Niemand rief mich. Ich wartete lange. Aber: niemand forderte mich an.
Da bin ich auf das Ufer zugekrochen und habe mich im Sand
eingewühlt. Außer meinem Rufimpulsgeber wurde alles abgeschaltet.
Das Solarschiff ARCHIMEDES rief mich nie mehr. Das Ziel der Reise
war der dritte Planet der Sonne Theta im Sternbild der Hyaden...“
„Nein“, sagte ich, denn ich erinnerte mich, daß dies eine meiner
Prüfungsfragen gewesen war, „Theta ist die jüngste Supernova, die wir
kennen. Da ist kein Planet.“
„Das Ziel der Reise“, wiederholte die Maschine energisch, war der
dritte Planet der Sonne Theta in den Hyaden.“
„Dann meinen wir beide etwas anderes“, sagte ich.
Die Metallhaut der Schildkröte wurde nachtschwarz, und ich sah die
mir bekannten Sternbilder, sah das Regengestirn und dann die
Zielmarkierung. Eine Supernova konnte ich nicht entdecken.
„Es sollte eine Pflanze von diesem Planeten geborgen werden“, sprach
die Maschine weiter, „eine Pflanze, die auf der Erde gebraucht wurde.
Ich kann dabei alle Zwischenstationen als bekannt voraussetzen. Du
weißt, Commander, daß wir ankamen... Du mußt es wissen... Wir kamen
an, ohne im vollen Umfang zu entladen. Ich hab nicht gespeichert,
warum wir nicht vollständig entluden. Viele Aggregate wurden
entenergetisiert und als Müll vernichtet. Auch die Mannschaft ging nicht
von Bord. Bis auf den einen Mann. Bis auf deinen Freund. Aber die
Lande- und Verladeeinheiten waren vonnöten. Eine Maschinenkette
wurde gebildet, und nur der eine überwachte sie, regelwidrig, aber
notwendig.
Unerwartet bekamen wir volle Energie. Der Boden wurde porös.
Sulfur. Ammoniak. Hydrargyrum. Gesteinsaufweichung. Gebirge
verschoben ihren Standort. Wir kreiselten. Fanden das Gleichgewicht.
Dann die Alarmstartvariante durch dich. Die Geräte verblieben am
Einsatzort. Die Oberfläche blieb zurück. Stationäre Bahn. Ich folgte dir
dann zur Spindel. Und die Spindel löste sich von der ARCHIMEDES.
Ich war abgeschaltet. Später flog ich getrennt von der Spindel, erreichte
das Meer, schlug auf.“ Die Maschine verstummte.
„Aber die Zeit“, rief ich aus, „wie ist das mit der Zeit? Lief alles
hintereinander ab? Wie im Film?“
„Zeitspeicher defekt“, erklärte mir die Schildkröte, „Zwischen
einzelnen Sätzen liegen nach deiner Zeitrechnung vielleicht nur
Minuten. Zwischen anderen Jahrhunderte...“
Ich ordnete an: „Geh zurück in das Meer und warte dort, bis ich dich
erneut rufe. Dann werde ich dir alles erklären. Du wirst ein neues
Programm bekommen. Mit dem Wissen, das du benötigst. Lebewohl...“
„Verstanden“, sagte das System und glitt aus dem Gebüsch, überquerte
den öden Uferstreifen und verschwand im Wasser.
Wenn ein Geheimnis zu übermächtig ist, dann droht es immer, den
Besitzer zu verschlingen. So ging es mir. Ich suchte Kontakt, lud mich
bei einer Libelle ein und verbrachte zwei Tage mit dem Mädchen aus
Wendynck. Aber Ruhe fand ich nicht. Manchmal nahm ich einen
Anlauf. Dann wollte ich reden, suchte einen Mitwisser.
Yovana hieß die Libelle, und sie war so zärtlich und freundlich, daß
ich bei ihr alle Vorsicht vergaß und ihr den Anfang der Archimedes-
Geschichte erzählte. Es war nur gut, daß sie nicht zwischen der Realität
und einem Film unterschied, und so konnte ich abbrechen und ihr sagen,
daß der Film zuletzt immer schlechter wurde, bis ich aufstand und ging.
Es war klar, daß ich in jenes Privatarchiv mußte, in jenes Markus-
O'Delta-Archiv. Aber etwas ließ mich zögern, hielt mich zurück, denn
Austras eins ist voll naturisiert.
Dort arbeiteten Zoologen, Ethologen und Botaniker, auch Ökologen
und Informatologen. Die Städte waren vor Urzeiten aufgegeben worden,
und Pflanzen und Tiere aus aller Welt wurden dort angesiedelt. Ein
menschenleerer, wilder Kontinent.
Im nördlichsten Norden, direkt am Meer, gab es ein Urlauberzentrum,
doch das Landesinnere war wenig einladend.
Nie wollte ich dorthin, aber was blieb mir übrig, ich brauchte die
Fakten aus dem Archiv.
In der Infozentrale für personelle Daten erfuhr ich einiges von dem,
was ich wissen wollte: Nora und Viktor Sebal haben vor mehr als 450
Jahren ein Privatarchiv gegründet. Es handelt sich um einen
Gebäudekomplex, in dem sie wohnen, Führungen veranstalten und
wissenschaftlich arbeiten. Dieses Archiv entstand an der Stelle, wo
vordem ein RSP war - nähere Auskunft über RSP in Wendynck, bei
Geprära. Dieser Ort heißt in der offiziellen Nomenklatur Archimedes.
Archimedes besteht aus einer Wohneinheit, mehreren Garagen, einer
Wasseraufbereitungsanlage, einem Denkmal und dem Labor.
Gruppen oder Einzelpersonen, die den Ort besichtigen wollen, melden
sich bitte unter der Abgreifziffer: VYR-04-8 455 115.
Auch astrobotanische und astrozoologische Forschung wird dort in
schmalem Rahmen betrieben. Mir kam das alles lächerlich vor. Auf der
Venus hatten wir die gekühlten Algogroßgärten, und auf der
Schattenseite des Merkurs die Subbulurenkulturen.
Man konnte in den schwebenden Gewächskugeln auf der
Mondoberseite ebenso tätig sein, wie auf den Jupitermonden das
Direkteiweiß ernten. Überall hatten kluge Köpfe Möglichkeiten
gefunden um dem Menschen notwendige Produkte zukommen zu
lassen.
Und diese beiden haben sich vor Jahrhunderten eingeigelt, verzichten
auf alle moderne Technik und alle Helfer und züchten unter sicher
primitivsten Bedingungen Lebewesen aus dem Raum...
Vielleicht, so dachte ich auch, würde ich nichts weiter finden als
einige Sanddünen. Es war ja möglich, daß im Laufe der Zeit alles
zerfallen war. Damit wären die letzten Spuren des Raumschiffes
verwischt.
Ich wandte mich unverzüglich an ein Reisegeberlein. Eigentlich
mochte ich diese Einrichtungen nicht, weil sie immer alles kalkulieren
wollen, nicht prompt ein Reisekärtchen ausgeben, sondern berechnen,
ob wohl bestimmte Wissenschaftler oder Ratsmitglieder in der nächsten
Zeit auf ebendiese Reise gehen wollen. So etwas kann unter Umständen
einen halben Tag dauern, ehe sie ihre Wahrscheinlichkeitsrechnungen
beendet haben und das Kärtchen freigeben. In diesem Fall aber erfuhr
ich augenblicklich, daß seit mehr als vierzig Jahren zwar kein Besucher
mehr registriert sei, aber das Anwesen sich in einem tadellosen Zustand
befinde.
Es gab einen Aer, den man bestellen konnte und der bis nach
Taipanville - ich wußte zu meinem Glück nicht, was dieser Name
bedeutete - flog. Den letzten Rest der Reise würde ich zu Fuß zu-
rücklegen müssen.
Aber das würde, so meinte ich, mich kaum stören, weil ich ein geübter
Rollbandfahrer war.
Landung im Sand
Austras, so wußte ich aus dem Reiseprogramm, verlangt eine andere
Kleidungsart, als sie sonst üblich ist. Es war selbstverständlich, daß ich,
als ich die Konfektio-Hohlkugel betrat, nicht meine neue Kombination
trug. Ich entledigte mich ihrer und legte sie draußen ab. Die würde ich
nie mehr hergeben, selbst, wenn sie nur noch aus Klebstreifen bestehen
sollte. Natürlich fragte mich der Automat, ob ich nackt durch die Stadt
gekommen sei. Sollte ich auf eine solche Frage antworten?
Ich bestellte mir Kleidung für Austras. Was aber aus der Klappe kam,
warf ich sofort in die Vernichtungsanlage. Gelblichbraune Stücke, aus
einem Material, das man Wildleder nannte. „Andere“, wies ich die
Maschine an.
Wieder kamen jedoch Kleidungsstücke aus dem Spalt, die den vorigen
wie ein Ei dem anderen ähnelten. Ich schüttelte den Kopf, fürchtete, daß
die Kreativschaltung des Apparats gestört war und zeichnete mit dem
Impulser Kleidungsstücke auf, wie sie mir für eine solche Reise
vorschwebten. Auch die Farben gab ich an, und die entsprechenden
Muster.
„Ich produziere“, antwortete der Automat, „gebe aber zu bedenken,
daß solche Kleidung ungeeignet für Austras ist.“
„Überlaß das getrost mir“, sagte ich und hielt Minuten später das in
den Händen, was ich entworfen hatte.
Draußen ließ ich die Quellungen aus meiner Kombination und steckte
das kleine Päckchen in eine Ärmeltasche.
Ich fühlte mich ein wenig wie der Entdecker der Welt, als ich in
meinen selbstentworfenen Kleidungsstücken. durch die Straßen glitt Ich
spürte mehr Blicke als sonst auf mir ruhen und wurde immer wieder
gefragt, ob denn schon wieder die Zeit sei, da das Fest der quarrenden
Blumen gefeiert werde.
Geduldig klärte ich die Frager auf, erzählte von Austras und seiner
wilden Natur. Ich hatte den Eindruck, daß man mich nicht so richtig
verstand. Manche hielten mich für einen Humoromaten. Allmählich
zweifelte ich an dem Verständnis der Menschen für meine Pläne und
antwortete nur noch knapp. Mich störte das Lachen, denn ich meinte
nicht anders, als daß sie über mich lachten. Freundliche Zurufe deutete
ich zu witzelnden Anspielungen um.
Ich benutzte also nur noch die Schnellbänder und freute mich schon
nicht mehr an dem Drallercape, das lustig im Winde flatterte. Auch die
Gardirolen, die ich zum Schutz meiner Hände trug, und die das Licht
vielfach brachen und Regenbogenblitze aufsprühen ließen, erfreuten
mich wenig. Und als ich das erstemal mit meinen türkisenen
Bauschhosen hängen blieb und stürzte, verfluchte ich die stumme
Bereitschaft des Automaten, der mir meine Kreationen nicht ausgeredet
hatte.
Im Aer waren vier Menschen. Drei von ihnen trugen tatsächlich jene
Kleidung, die man auch mir angeboten hatte. Nur ein Mädchen war
anders gekleidet. Sie trug ein Erholungsticket am Handgelenk. Sie
würde also an der Küste von Austras den Aer verlassen. Ich setzte mich
zu ihr, weil uns unsere Kleidung zu Verbündeten machte. Sie sah mich
flüchtig an, dann vertiefte sie sich in ein Videobuchscheibchen, das ihr
Satz für Satz vorführte und zugleich leise die Geschichte vorlas.
Ich wünschte ihr einen guten Tag.
Wieder sah sie hoch, ohne zu antworten.
„Waren Sie schon einmal in Austras?“ fragte ich leise.
„Ich möchte lesen“, sagte sie, ohne aufzusehen, „laß mich also...“
Mein Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte mich geduzt, hielt
mich also für eine Maschine. „Hören Sie“, sagte ich scharf und böse,
„was soll das? Wofür halten Sie mich?“
„Für einen Servieromaten oder einen Hostessofunktionator“, erwiderte
sie ungerührt und folgte interessiert ihrer Lektüre.
„Ich bin KFA“, drängte es mich, zu erklären. „Warum denken Sie'
denn, daß ich ein lebloses Gebilde bin?“
Sie hob überrascht den Kopf, musterte mich mit offenem Mund und
deutete mit ihrem Videobuch, das immer noch die Geschichte fortführte,
auf meine Kleidung.
„Und die da“, ich deutete nach hinten, wo die anderen drei saßen, die
zudem merkwürdige Leinensäcke mit zwei Riemen bei sich hatten, „die
da sind dann wohl Walzblechvermesser?“
Ihre Augen wurden grimmig, musterten mich ohne jedes Verständnis.
„Die da“, sagte sie, „sind Wissenschaftler, Menschen, die Entbehrungen
auf sich nehmen für ihre Wissenschaft. Für uns alle und also auch für
Sie, mein Herr...“
„Das sehen Sie“, empörte ich mich, „aber daß ich ähnliche Ent-
behrungen auf mich nehmen werde, sieht man natürlich nicht.“
„Natürlich nicht“, jetzt lachte sie tatsächlich los, „man könnte viel eher
denken, daß Sie zu einem Paradiesvogelausscheid wollen. Da hätten Sie
alle Aussichten, einen der ersten drei Plätze zu belegen. Auch ohne
Vogel...“
Beleidigt schwieg ich und sah aus dem Fenster.
Der Flug wurde ermüdend. Wir holperten von einem Gleitstrahl auf
den nächsten und mußten dabei Posttransporter und Maschinendriften
vorlassen.
Einmal fiel mir ein, was wohl passiert wäre, wenn ein Aer über das
Meer gekommen wäre, damals, als die Schildkröte mir ihre Schießkunst
vorführte. Mir wurde übel. Dann aber erinnerte ich mich, daß sie ja
nicht auf Menschen schießen kann. Es wäre nichts geschehen...
Ich saß da, apathisch und desinteressiert. Einmal noch versuchte das
Mädchen, sie langweilte sich allmählich ebenfalls, ein Gespräch mit
mir. Doch den Paradiesvogel konnte ich nicht vergessen, und ich
antwortete so sparsam, daß sie nicht mehr weiter fragte, sondern sich
erhob und sich zu den drei Wissenschaftlern setzte. Ich war allein.
Schließlich landeten wir an dem Urlaubsstreifen von Austras eins. Das
Mädchen entledigte sich seiner Numerohaut, darunter hatte sich ein
filigranmusterübersätes Kleid gebildet. Strahlend sah sie uns vier der
Reihe nach an und verließ so den Aer. Aber niemand schloß sich ihr an,
denn wir hatten andere Ziele. Dafür stiegen zwei Frauen und ein Mann
zu. Sie sahen schrecklich müde aus. Ich wagte sie kaum näher
anzusehen. Ihre Kleidung war schmutzig und ohne allen Glanz. Ihre
Gesichter schienen fast schwarz. Eine Mischung aus einer ungesunden
Bräune und der Spur eines mir unbekannten Färbemittels ließen ihre
Haut beinahe wie Leder erscheinen. Ich will ehrlich sein: So stellte ich
mir die mächtigen Menschenaffen der Vorzeit vor. So gewalttätig,
ledern, stupide. Sie begannen sofort eine Unterhaltung mit den drei
weiter hinten sitzenden Männern, und wie es mir schien, fanden sie eine
gemeinsame Sprache. Einmal nur stockten sie und musterten mich mit
den gleichen bedeutsamen oder traurigen Blicken, mit denen mich
vorher die drei angesehen hatten.
Eine erste Strapaze begann: Der Aer schwankte schrecklich. Wir
waren in einem Gebiet unvollständiger Leitstrahlen, das bedeutete, daß
der Eigenantrieb immer wieder einmal unterstützend laufen mußte. Es
schüttelte und rüttelte mich auf meinem Platz.
„Amon Deltar zum Ausstieg. Taipanville.“
Sitzen bleiben, dachte ich, so tun, als ob es dich nichts angeht.
Denn was ich gesehen hatte, reichte mir vollauf. Ich meinte damit
nicht die Menschen, an die man sich wohl gewöhnen konnte, sondern
die Landschaft unter mir. Ein Alptraumland, in dem es keine
Ordnung gab. Nichts. Keine Laufbänder. Vielleicht nicht einmal
Sphäroklänge. Wer wollte das sagen?
„Amon Deltar...“
„Ja“, ich sprang auf, „ich komme ja schon.“
Ich ging, aber als ich die Klappe greifen wollte, rutschte ich einfach
weg und lag auf dem Boden. Man half mir auf die Beine und riß die
Klappe schwungvoll auf. Als der Greifer nach mir faßte - die alten Aers
haben alle diese sogenannten fliegenden Wechsel -, habe ich geschrien.
Dann hing ich in der Luft, und Sand, endlos viel Sand, nahm mir die
Sicht, verwandelte meine Augen in zwei schmerzende, glühende Bälle.
Ich hing in der Luft, griff um mich, wollte etwas fassen. Ein Schmerz
durchzuckte meine Knöchel, ich stand. Die fauchenden Geräusche des
Aers wurden leiser und leiser. Eine unheimliche Stille umgab mich.
Langsam fiel der Nebel aus Staub und Sand, und ich rieb mir die
Augen.
„Nicht reiben“, sagte eine Stimme zu mir, die mich zutiefst er-
schreckte, „nur nicht reiben. Dann wird es schlimmer.“
Allmählich konnte ich wieder sehen. Aber auch die Hitze spürte ich.
Es war unangenehm heiß. Drückend heiß. Und um mich war nichts als
Sand. Und wenn mich nicht alles täuschte, würde ich vergeblich ein
Schutzsystem suchen. Ich wagte es gar nicht zu denken: Hier kann man
verunfallen, wenn man nicht achtgibt. Dann sah ich den Mann mit dem
Elektromobil. Er war groß, sehnig. Mit dunklem Gesicht. Wie die
Zugestiegenen. Seine grauen Augen sahen mich spöttisch an.
„Da ist ja der verlorene Sohn“, sagte er, und wieder beunruhigte mich
seine Stimme, schreckte mich auf, „na, dann komm schon. Ich bin
Sebal. Viktor Sebal.“
Achtung, Lebensgefahr!
Was war das für ein Tag! Die Sonne schien heller, freundlicher, er-
innerte mich an Euras. Die Pflanzen waren frischer und heiter, und
selbst die Dornensträucher erinnerten mich an weiche Kissen. Es gab an
diesem Tag keinen Wind, und kein Sand rieselte gegen die Hauswand,
jedenfalls nahm ich nichts dergleichen wahr. Eine neue, eine frisch
gewaschene Welt begrüßte mich. Die Känguruhs hüpften fröhlich durch
den Sand, und die Antilopen zogen anmutiger vorüber. Die ewig
unruhige akustische Kulisse war verblaßt, und nur einige Singvögel
schickten ihre zarten Lieder in das tiefe Blau des Himmels.
Freundlich war alles. Freundlich und hell. Die Ferne schien mir näher
gekommen und die Horizontlinie ein greifbarer Streifen. Nun konnte
mich nichts mehr im Labor überraschen. Jetzt nicht mehr. Ich würde es
gegen jeden Spuk aufnehmen. Also fuhr ich wieder hinunter, betrat die
Hauptstraße, sah mich um, mußte einfach etwas tun. Ich klopfte an die
Scheibe der Meerschweinburg und erzeugte ein vielstimmiges
Pfeifkonzert. Dann sah ich zehn Minuten lang dem emsigen Treiben der
Ratten zu, bestaunte ihre Geschicklichkeit.
„Amon Deltar“, befahl mir unerwartet eine Stimme, „bitte kommen
Sie! Commander Markus O'Delta wünscht Sie zu sprechen.“
„Wie?“ Ich sah mich um. O'Delta war einige hundert Jahre tot. Was
sollte das?
„Wer ist denn da?“ fragte ich aufs Geratewohl.
„Ich, mein Herr“, antwortete der Robby vom Gang her und erschien
auch schon diensteifrig in der Tür des Labors.
„Und was soll der Quatsch mit Markus O'Delta?“ wollte ich wissen.
„Sagen Sie bloß das nicht“, die Maschine erregte sich, „der
Commander ist der Grundstein dieses Archivs. Ohne ihn wäre nichts
hier. Nicht einmal Sie...“
„Ich möchte wissen“, meine Stimme klang ärgerlich, denn die
ausschweifende Art des Robbys störte mich, „warum du gesagt hast, daß
ich sofort zu dem Commander kommen soll. Das ist doch Unsinn.“
„Was soll ich gesagt haben?“ Der Robby wurde steif und sah noch
hagerer als gewöhnlich aus.
„Du hast mich doch gerufen“, warf ich ihm vor.
„Das käme mir nie in den Sinn, mein Herr, niemals, obgleich es nicht
unhöflich wäre, wenn Sie sich ab und an mit mir ein wenig unterhalten
könnten...“
„Aber einer hat doch hier gesprochen“, unterbrach ich ihn.
„Ich nicht!“ Er sagte es voller Entschiedenheit.
„Amon Deltar! Sofort zu Commander O'Delta!“
Die Stimme. Sie war wieder da. Und die Sprecheinheit des Robbys
war erloschen. Er war es also nicht. Und wer? Wer denn?
„Vorwärts“, rief ich der Maschine zu, „fahre mich zum Ende dieses
Ganges, augenblicklich und mit Höchstgeschwindigkeit.“
„Der Herr haben verwirrende Einfalle“, antwortete der Robby und
folgte mir zu dem Dreirad, „aber man spricht in unseren Kreisen schon
lange davon, daß der Mensch den Zappeltod sterben wird, wenn er
nichts gegen seine Nervosität unternimmt. Ich könnte Ihnen für
Meditation und stromonotones Training einen ausgezeichneten
Großrechner empfehlen, so Sie es wünschen.“
Natürlich fuhren wir nicht sonderlich schnell den Gang entlang. Ich
hätte sicher nebenherlaufen können.
Mutter, dachte ich, ich finde den Eindringling und werde ihn
unschädlich machen.
„Was jetzt?“ erkundigte sich der Robby, als wir uns dem Gangende
näherten.
„Das weiß ich noch nicht“, sagte ich und sah mich zornig um. Was
hatte ich erwartet? Ein Lebewesen oder einen Gegenstand...?
„Nicht so langsam“, flüsterte es erneut, „der Commander hat nicht
ewig Zeit...“
„Wo bist du denn?“ schrie ich los.
„Hier, hinter Ihnen, mein Herr“, antwortete der Robby ebenfalls
schreiend.
„Nicht du“, ich winkte müde ab, ohne mich umzuwenden, „ich meine
dich nicht. Hast du nichts gehört?“
„Doch“, antwortete er.
„Na, siehst du“, „ich gewann Oberwasser, „und das suchen wir.“
„Aber das waren Sie, mein Herr“, sagte er, „Sie haben geschrien: Wo
bist du denn?“
„Den meine ich nicht“, ich verhaspelte mich, „ich meine: Mich meine
ich nicht, sondern den, der mich zum Commander schicken will.“
„Sie waren beim Commander“, erklärte die Maschine, „Sie haben ihn
doch gesehen, in Stein. Vor der Tür. Zu seinen Füßen Arpje Tyrsos.
Man muß das Denkmal besichtigen, wenn man ankommt.“
„Das ist er?“ Ich sprang vom Fahrzeug, umrundete es zweimal und
stützte mich dann auf die metallenen Oberschenkel der Maschine. „Und
du irrst dich nicht?“
„Mein Herr“, sagte er distanziert, „was sollen diese Vertraulichkeiten?
Das sind meine Beine, auf denen Ihre Hände ruhen. Vielleicht finden
Sie für Ihre Extremitäten einen anderen Aufbewahrungsort. Und ich irre
mich nie.“
„Markus O'Delta...“, ich muß sehr einfältig ausgesehen haben, „aber
wenn das der Commander ist, dann kann er nur...“ Mir fielen die
verstrichenen Jahrhunderte ein. Das ging nicht. Und doch, diese
Ähnlichkeit mit mir. „Steht das Denkmal... Der Commander, steht der
schon lange dort?“
„Knapp fünfhundert Jahre“, erklärte die Maschine geduldig, „und nur
einmal strukturerneuert. Sehr gutes Material und ausgezeichnet
klimatisiert...“
„Fünfhundert...!“ Es war eher ein Schrei als eine Feststellung.
„Deltar“, flüsterte die Stimme noch einmal, „du hast genau noch fünf
Minuten Zeit. Dann verschwinden wir.“
Ich stieg wieder auf das Dreirad. „Da du natürlich wieder nichts gehört
hast, fahr einfach los!“ erklärte ich und dachte immer wieder:
Fünfhundert, fünfhundert, fünfhundert...
„Aber wohin, mein Herr?“
„Du elender Blechkasten“, schimpfte ich, „was kann ich dafür, daß dir
jede Sensibilität abgeht. Fahre einfach... Ist ganz egal, wohin.“
„Das kann ich nicht“, erwiderte er frostig, „zudem scheinen Sie mir
verstört. Ich muß das Schlimmste für uns befürchten, wenn ich Ihnen
gehorche.“
„Widerling“, rief ich noch, trat mit dem Fuß gegen das Gefährt und
sprang ab. Dann lief ich los, während der Robby unbeweglich an seinem
Platz blieb. Nur seine Kameraaugen glommen hell auf, und er verfolgte
alle meine Bewegungen, als müsse er eingreifen.
Ich durchquerte Gänge, Nebenräume und Laboratorien, folgte immer
wieder der Stimme und fand keine Ruhe. Als ich um eine Kurve kam,
stieß ich mit Nora zusammen.
„Mutter...“
Sie lächelte, und diese Regung verschönte ihr Gesicht. „Du schwitzt
ja“, sagte sie, „ist es so schwer, eine Mutter zu haben?“
„Hier stimmt etwas nicht“, gab ich ihr Antwort, „ich weiß nicht, was
es ist, aber hier ist etwas, was... Zuerst war Gledis hier, eine Sängerin,
dann ein Mädchen, das ich aus Wendynck kenne, und dann riefst du
mich - betörend. Deshalb bin ich doch zu dir gekommen. Dachte, daß
dies eine Art Werbung sein sollte. Jetzt, nachdem alles zwischen uns
klar ist, ruft mich der tote Commander O'Delta. Und ich jage ihm nach,
finde ihn nicht, höre nur immer wieder diese Worte, diese Stimme. Ich
hasse sie förmlich...“
„Du erinnerst dich an die Wand“, fragte sie.
„Die Wand?“ ich dachte nach, „welche Wand meinst du?“
„Eine Wand hat dich beobachtet“, erinnerte sie mich.
„Ja natürlich, das war zu Beginn meines Aufenthaltes in Austras.“
„Die Wand und die Stimme“, Nora lehnte sich an das Tragegitter, „das
ist eine Person, ein und derselbe Täter. Und jetzt gehen wir ihn
unschädlich machen.“
„Ich wäre schon froh“, sagte ich, dann wandte ich mich an den Robby.
„Mein lieber Kraftfahrer, würdest du die Freundlichkeit besitzen,
abzusteigen und deine Beinchen zu nutzen, um zum Ausgang
zurückzugehen. Wir brauchen das Gefährt und sind zwei Personen.“
Ich verstand nicht, was er brummelte, aber er stieg ab, wenn auch
widerwillig und steifbeinig. Nora nahm Platz, und ich lenkte.
Sie wies mich ein. „Das hier“, erklärte sie, „ist der zoologische Trakt,
und hier lebt ein eigenartiger Quälgeist, der nicht jeden mag. Aber wen
er sich als Kumpan aussucht, der erlebt die Hölle. Es ist immer so, wie
du es erlebt hast. Wir gehen jetzt zu ihm, ich werde dir sagen, was zu
tun ist, damit du zukünftig in Ruhe forschen und arbeiten kannst.“
Langsam schritten wir an den Käfigen und Gehäusen der stellaren
Tiere vorbei. Manche Behälter schienen mir leer, während es in anderen
quirlte und brodelte. Ziemlich nahe der Rückwand des Raumes blieben
wir stehen. Ein Terrarium, in dem eine Schicht welker und teilweise in
Fäulnis übergegangener Blätter lag, war unser Ziel. Die Myette mit der
künstlichen Nahrung hing nahe der Vorderscheibe. Ich suchte das Tier,
aber wenn es nicht sehr klein war, mußte es entflohen sein.
„Da“, Nora tippte gegen das Glas, deutete auf eines der fauligen
Blätter, „das ist es.“
„Seit wann reden Blätter mit mir“, ich lachte. Das Blatt, so erkannte
ich jetzt, hatte sich vorzüglich angepaßt. Nur zwei Doppelreihen
resedagrüner Punkte unterschieden es von den echten Blättern.
Das Blatt näherte sich wie von einem Windhauch getragen, der
Scheibe.
„Amon Deltar“, flüsterte die Stimme so dicht vor mir, daß ich zu-
rückfuhr, „du bist da. Das ist gut. Der Commander erwartet uns.
Schnell, öffne diesen elenden Glaskasten vor dir. Öffne ihn. Er ist
leer...“
„Da ist sie“, sagte ich gepreßt, „die Stimme. Ich soll das Behältnis
öffnen.“
„Jetzt kennst du das Existenzprinzip deines Freundes“, Nora schien
sich zu amüsieren, „es sucht die Bioströme, tastet sie ab und ruft die
hochemotional gespeicherten Sinneseindrücke ab. Ein Spätling der
Evolution, der in einer apsychischen Welt nicht existieren könnte. Es
verwirrt also seine Opfer und wartet, an einem Ast hängend, daß sie sich
ihm nähern. Dann läßt es sich fallen, kriecht in den Luftsack des Opfers
und lebt dort fort bis an sein Lebensende. Ein Warnton verhindert, daß
zwei Tiere einen gemeinsamen Wirt haben. Frißt ein Raubsuchler jenes
Wirtstier, verendet unser kleiner Freund auch, weil Raubtiere keine
Luftsäcke besitzen. Es wird dann verdaut. Allerdings werden dabei
seine Sporidien freigesetzt, und es wird ein Junges geboren.“
„Wie schön“, kommentierte ich Noras Exkurs, „und wie heißt das
Biest?“
„Energophagier pseudocommuniscens andromachi“, antwortete Nora.
„Ich würde es Pseudoknarre oder Seelenteufelchen nennen“, sagte ich
„Drücke auf diesen Knopf hier“, unterbrach mich Nora, „dann sendest
du den Drohlaut und hast zukünftig Ruhe.“
Als der Ton erklang, fühlte ich einen nadelfeinen Stich in beiden
Schläfen und sah, wie das „Blatt“, ich hatte seinen Namen schon
vergessen, eilends in den Hintergrund des Behälters abzog. Nun wies
mich Nora auf andere Sehenswürdigkeiten in diesem Trakt hin. Über
uns hing ein Baumstamm, der zerbrechlich wirkte. Ich sah, wie er
langsam seinen Weg fortsetzte, ohne daß etwas an ihm sichtbar war,
was diese Bewegungen vollführt hätte. Ich wies nach oben.
„Wo er lebt“, Noras Gesicht wurde streng, „gibt es äußerst reak-
tionsschnelle Raubtiere mit ausgeprägtem Gesichtssinn. Dort kann kein
Pflanzenfresser Arme, Beine, Schwänze, Nasen oder Ohren ausbilden.
Es würde ihn verraten und zu einer leichten Beute machen.“
Wir blieben dann, bei dem flossenpedalen Wasserhörnchen stehen,
sahen seinen anmutigen Bewegungen zu.
Auch die samtrote Gleiterspinne machte Eindruck auf mich. Sie saß
majestätisch auf einem Ast und blickte hoheitsvoll um sich.
„Das Weibchen und die Jungen“, erklärte Nora, „haben sich in das für
uns unsichtbare Flechtnest zurückgezogen.“
Ein knallender Laut ließ mich zusammenzucken. Ich wandte meine
Aufmerksamkeit jenem Gehäuse zu, das sich hinter mir befand. Schon
dessen Ausstattung zeigte mir, daß jenes Tier, das hier wohnte, über
erhebliche Kräfte verfügen mußte. Das Glas war halbmeterdick und
wies die Linearglanzlinien auf, die nur eine Glasart besitzt:
Trirodonglas, das sonst nur in der Raumfahrt Verwendung findet.
„Der schmetterlingsflüglige Drasser“, erklärte mir Nora leise, während
ich in das Behältnis blickte. Er sah harmlos aus, erinnerte an eine kleine
Großkopfschildkröte.
In diesem Augenblick gewahrte mich das Tier. Es flog mit voller
Wucht gegen die Scheibe.
Ich zuckte erneut zurück.
Das Tier kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück, ließ die Luft ab und
war nur noch halb so groß. Dann kam es erneut heran, knallte mit
weitaus größerer Wucht gegen das Hindernis und kehrte zu seinem
Ruheplatz zurück. Der Vorgang wiederholte“ sich ein weiteres Mal:
Luft ablassen, Flug, verstärkter Anprall. Immer mehr verkleinerte es
sich, und immer heftiger war der Aufprall auf die Scheibe.
Als es nur noch so groß wie mein Daumen war, berührte Nora meine
Schulter. „Komm“, sagte sie, „vollständig ist der Drasser noch nicht
erforscht. Wissenschaftler haben ihn so lange gereizt, bis er nur noch die
zehnfache Größe eines Eiweißmoleküls hatte. Dann entkam er ihnen,
vergrößerte sich in Freiheit auf eine Gesamthöhe von zwölf Metern und
mußte getötet werden. Man behauptet, daß es nicht sein Minimum war.
Aber schon, wenn er die Größe eines kleinen Virus erreicht, gibt es für
ihn kein Hindernis mehr. Läßt man ihn allein, ist er nicht bestrebt, seiner
Gefangenschaft ein Ende zu machen. Auch den Fütterrobby toleriert er.
Nur Lebewesen lehnt er ab. Kein Mensch weiß, ob wir Weibchen oder
Männchen haben, oder ob es eine solche Unterscheidung überhaupt gibt.
Ein interessantes, wenn auch unbekanntes Tier.“
Im Gang sah ich überrascht, daß der Robby wieder auf seinem
Stammplatz saß und uns entgegensah.
„Ich mache Ihnen, meine Herrschaften, einen Vorschlag“, sagte er und
deutete eine Verbeugung an, „wie Sie wissen, kann man uns nur unserer
Pflichten entbinden, wenn man uns nachweist, daß unsere Leitungen
angerostet sind. Dies ist bei mir nicht der Fall. Darf ich Sie nicht einzeln
zum Ausgang kutschieren. Sie werden mit mir nicht unzufrieden sein...“
Ich sah Nora an, und wir beide mußten lachen.
„Ich bleibe hier, Mutter“, sagte ich und benutzte die Anrede wie eine
Zärtlichkeit, die so kein anderer benutzen durfte, „laß dich von ihm
fahren. Ich brauche ihn erst später. Es gibt hier noch viel zu sehen.“
„… vorderen Teil aber nur!“ rief sie mir im Davonfahren zu.
Ich hatte es nicht richtig verstanden. Irgend etwas war mit dem
vorderen Teil. Also mußte es noch einen hinteren Teil geben, einen
Abschnitt, den ich noch nicht gesehen hatte.
Ich hatte einen Einfall, während ich in entgegengesetzter Richtung den
Gang entlangschritt. Ich dachte an eine Sache, die schon längere Zeit
zurücklag. In einer der Mittelstufen meiner Ausbildung hatte ich einen
Freund. Wie Kinder sind, verrieten wir uns unter dem Siegel tiefster
Verschwiegenheit unsere bestgehüteten Geheimnisse. Er hörte von dem
Maschinenkind aus Mejoora, und ich wußte, daß sein Vater bei einem
Satellitenunfall genetisch erneuert worden war.
Eines Tages aber kam mein Freund nicht wie gewohnt, und ich suchte
ihn auf. Er war verstört, und seine Augen waren verweint. Seine Mutter
war wegen Organverpilzung in eine Klinik gekommen. Um ihm
Hoffnung zu geben, versprach ich ihm, Arzt zu werden und etwas zu
finden, was ihr helfen würde. Das war aber unmöglich. Die Ergebnisse
der Prüfung machten es mir unmöglich, Medizin zu studieren.
Das tat er dafür, obwohl er als Kind nichts mit diesem Fachgebiet zu
tun haben wollte.
Aber dieser Gedanke hatte mich nie verlassen: die Organverpilzung zu
bekämpfen, mir medizinisches Wissen anzueignen. Auch nicht, als ich
nach Archimedes kam, da erst recht nicht.
Nachdem ich mich ein wenig eingewöhnt hatte, hoffte ich auf nichts
so sehr wie darauf, neben astronomischen auch einige medizinische
Kenntnisse zu erlangen. Und als ich die Meerschweine und Ratten sah,
als ich von den selbstproduzierten Seren hörte, da stand für mich fest,
daß ich mich hier medizinisch betätigen konnte.
Es gab einen hinteren Teil des Archivs. Mir war klar, was ich in
diesem Abschnitt finden würde: Laboratorien, Forschungsräume für
Humanmedizin.
Die ersten drei Gänge, die ich absuchte, endeten an mächtigen
metallenen Türen, die ich nicht öffnen konnte. Zu allem Übel hatte ich
meinen Gürtel nicht um und vermochte Nora nicht zu rufen, die mir
hätte sagen können, wie man diese Türen öffnet. Der vierte Gang, es
war der letzte, der in diese Richtung führte, endete wie die vorigen.
Doch unmittelbar neben der Metalltür war eine mannshohe offene
Klappe.
Der dahinterliegende Gang war in Dämmer getaucht. In regelmäßigen
Abständen brannten kleine blaue Lampen, die ein gespenstisches Licht
auf die Steine warfen. Ich schritt immer weiter. Die blauen Lichtspender
flackerten. Was war das...? Eine Ahnung überkam mich. Ich hatte
immer geglaubt, die Archimedes - oder Taipanville, wie es beim
Reisegeberlein hieß - hing am interkontinentalen Energienetz. Das
Flackern zeigte mir, daß es nicht so war. Archimedes besaß ein autarkes
Energienetz und versorgte sich selbst. Aber wie? Was besaß es für
mächtige Aggregate, die Tag und Nacht Strom lieferten?
Ich ging weiter, brachte eine enge Kurve hinter mich und sah zwei
Warnleuchten und darunter die Schrift: ACHTUNG, LE-
BENSGEFAHR!
Und darunter, wesentlich kleiner, aber doch stechend, fast unerträglich
für die Augen: FÜR SCHUTZANZUGTRÄGER: HELM
ABDICHTEN. HANDSCHUHE AUSFAHREN. ISOLIERBE-
SCHICHTUNG MAXIMAL VERSTÄRKEN.
Noch nie in meinem Leben war mir ein solches Schild begegnet.
Gedankenfetzen jagten mir durch den Kopf, formten sich zu ver-
worrenen Annahmen. Neben dem Schild hingen an Haken eine ganze
Reihe von Skaphandern. Ich suchte einen aus, der mir paßte, riß ihn
herunter, klappte ihn auf und stieg in fliegender Hast ein. Dann folgte
ich der Aufforderung der Leuchtschrift.
Ich stand da, starrte in die vor mir liegende Finsternis und suchte das
Objekt, das mir gefährlich werden konnte. Aber alles war stumm und
leer, und ich sah nichts Gefahrdrohendes. Ich begann weiter zu gehen,
vorsichtig und in Erwartung eines... eines dieser Lebewesen aus den
Käfigen, die ich angesehen hatte.
Dann lag die letzte Kurve hinter mir. Der Weg war nun gerade, leicht
abfallend und endete an einer rostrot gefärbten Eisenleiter, die senkrecht
in die Tiefe führte. Eine Glaswand trennte mich von der Leiter und dem
jähen Abgrund. Hinter dem Glas, fahl ausgeleuchtet und kulissenhaft
unwirklich erhob sich die urtümlichste und größte Maschine, die ich je
gesehen hatte. Das Ding bestand aus Metall, soviel war klar. Sein
Grundriß war ein Achteck. Die Wände zeigten eine Vielzahl kleiner
Rillen, die sich alle in der Spitze trafen. Rohrbüschel entsprangen der
Basis der Maschine und liefen wenige Meter unter der Spitze in den
Koloß hinein. Die Spitze ragte hoch auf und reichte bis fast an die
Decke. Über die Riesenmaschine lief ab und an ein schwaches, diesiges
Flackern,
Ich stand an diesem Abgrund und war unfähig, etwas Vernünftiges zu
tun. Es waren nicht die angenehmsten Gedanken, die ich hatte. Auch
wenn ich dieses Ding nicht kannte, schien es mir nicht sehr
vertrauenserweckend, und schließlich war da ja die Schrift im Gang:
Achtung, Lebensgefahr.
Plötzlich bewegte sich eine affenähnliche Gestalt über die Maschine
hin. Mich verwirrte die Geschicklichkeit dieses Wesens. Es hangelte an
den Rohren hoch, konnte sich auch, sich irgendwie in den Rillen
festkrallend, um die Maschine herumbewegen und trug dabei eine Last
auf dem Rücken, die schwer sein mußte. Ich sah, wie sich das Material
unter diesen Füßen förmlich eindrückte. Dann entzog sich das Wesen
meinen Blicken, arbeitete auf der Rückseite und kam nach einer
geraumen Zeit wieder zum Vorschein. Und wieder war es beladen.
Diesmal nutzte es ein Seil, an dem es bis auf den Boden hinunterklomm.
Unten angekommen, richtete es sich zu seiner ganzen Größe auf und
verschwand hinter dem Koloß.
Ich wartete noch zehn Minuten, aber nichts tat sich. So ging ich den
Weg zurück. Die Schrift war erloschen. Es bestand keine Lebensgefahr
mehr. Ich zog den Skaphander aus, hängte ihn nach dort, wo ich ihn
gefunden hatte, und verließ den Gang.
Kaum daß ich in der gewohnten Umgebung war, als auch schon der
Robby angefahren kam. „Wünschen Sie befördert zu werden, mein
Herr?“ fragte er mich höflich.
„Ja“, erwiderte ich, „was ist da in dem Gang?“ Ich deutete über meine
Schulter nach hinten.
„Ein Notausstieg“, antwortete er auf meine Frage.
„Und daneben?“
„Es gibt kein Daneben“, erklärte“ er mir.
Ich sah mich um, wischte mir über die Augen. Der Eingang existierte
nicht mehr. Dort war eine glatte Steinmauer.
„Das gibt es doch nicht.“
„Doch nicht“, sagte die Maschine, „ist unlogisch, entweder doch oder
nicht. Beides schließt sich aus.“
„Jetzt hör einmal gut zu“, erwiderte ich, „dort wo jetzt die Wand ist,
war gerade noch keine Wand. Dahinter liegt ein Gang. Ich war da drin.
Und am Ende ist ein Abgrund, und dort steht eine ungeheure Maschine.
Und du weißt das, denn du hast den Eingang gesehen. Also, was ist
es...?“
„Den Eingang habe ich gesehen, mein Herr“, der Robby kratzte sich
die Speicherelemente, „aber er endet nach drei Schritten blind. Vor
langer Zeit hat mich Herr Sebal dort hineingeschickt. Fünf Schritte kam
ich voran, dann stieß ich gegen eine Wand und kehrte um.“
„Nur fünf Schritte“, ich lachte auf, „und eine Glastafel hast du dann
natürlich nicht gesehen und Warnleuchten und die Glasscheibe ebenso
wenig wie die Maschine, die rostige Leiter und den Abgrund?“
„Nein, mein Herr, denn uns fehlt die humanoide Phantasie“, erklärte er
würdevoll, „man meint, es wäre ein Mangel, aber ich habe noch nie
dergleichen beobachten können. Wir sind die besseren Realisten.“
„Dann sage mir wenigstens“, ich stieg auf, gab mit der Hand das
Zeichen, daß er losfahren könne, „welchen Zweck ein Gang hat, in dem
sich nichts befindet...“
„Gar keinen Zweck, mein Herr“, vermutete er zu Recht.
„Wenn er keinen Zweck hat“, ich triumphierte, „weshalb schafft man
ihn dann und verschließt ihn mit einer steinernen Wand, die ihn
verbirgt? Einen leeren Gang...“
„Das weiß ich auch nicht“, entgegnete er und schüttelte den Kopf.
So erreichten wir den Hauptgang. Hier war alles freundlich und mir
vertraut. Ich sprang vom Beifahrersitz. „Schwirr ab!“ rief ich, innerlich
erleichtert, daß jene alptraumhafte Welt keine Macht mehr über mich
hatte.
Er stoppte kurz. „Mein Herr“, sagte er voller Wehmut, „leider sind wir
nicht als Flugmaschinen konstruiert. Es ist mir unmöglich, zu schwirren.
Wobei zu beachten ist, daß Schwirren eine spezielle und sicher
schwierige Art des Fliegens ist. Ein Mangel an uns, wie ich zugebe, und
es beruhigt mich keineswegs, daß Sie auch nicht schwirren können.“
Dann setzte sich das Gefährt erneut in Bewegung.
Ich ging geradewegs zu einem der Rattenversuchsräume, in dem
einige mir noch nicht näher bekannte Experimente liefen, weil dort ein
Videosprecher war und ich Nora alles erzählen konnte, was ich
beobachtet hatte. Kaum, daß ich jenes Biolabor betreten hatte, als mich
ein piepsiger Ton erreichte und ich eine gleichförmige Stimme hörte:
„Alarm... Alarm... Alarm...“
Ich kannte das. Alarm bedeutete Havarie. Wenn einer der Energie-
saugschlote oder auch nur ein Wasserrohr defekt ist, wenn man über die
Evakuierungsrohre in ein anderes Wohnquartier gestromert wird, weil in
dem gegenwärtigen für einige Stunden keinerlei Lebenskomfort mehr
existiert, dann wird eine solche Aktion durch ebenjenes Wort
eingeleitet: Alarm. Ich blieb also stehen, weil ich erwartete, man würde
mich in ein anderes Laboratorium stromern. Doch nichts geschah mit
mir.
Aber mit den Ratten - sie waren in vier Etagen untergebracht, und jede
Etage bestand aus sieben Glashäusern -, mit denen geschah schon etwas.
Sie wurden müde. Sie kamen schnüffelnd an das Glas, manche
beleckten es, sie hatten also Durst. Sie sahen überhaupt nicht
schrecklich aus. Eher komisch oder lustig. Auch die drei farbigen
Stempel trugen dazu bei. Lila waren die Symbole der Versuchsart,
hellblau war der Serienstempel und ocker die Individualnummer. Viele
Ratten waren müde, legten sich auf die Seite und Schliefen ein. Ich sah
zu, wie immer mehr Tiere in Schlaf verfielen.
Zuletzt lagen sie alle in ihren Behältnissen. Ich trat näher an das Glas
heran, denn an die gleichmäßige Alarm-Stimme hatte ich mich gewöhnt.
Doch wer kann mein Entsetzen beschreiben, als ich sah, daß die Tiere
nicht schliefen, sondern tot waren. Sie atmeten nicht mehr und wurden
schließlich von einem automatischen Greifer entfernt und einer
Entseuchungsanlage zugeführt.
Ich wollte Informationen haben und betätigte den entsprechenden
Knopf.
„Einmalinformation“, sagte die Stimme, und ich wußte, daß alles
gelöscht werden würde, nachdem ich erfahren hatte, was nun folgte:
„Durch Fremdeinwirkung eine Rattenphage eingeblasen. Ohne
Bedeutung für andere Lebewesen, sofort tödlich für Versuchstiere.“
Jemand blockierte die Versuche der Sebals, vernichtete, was er nicht
geschaffen hatte. Natürlich fiel mir jener Spinnenaffe ein, den ich bei
der Maschine gesehen hatte. Und der Robby will nicht wissen, daß ein
Gang existiert, der zu einem mir unbekannten Zentrum führt. Und das,
obwohl er schon dort war. Mich fröstelte. Ich rief Nora, aber sie war
nicht in ihrem Zimmer. Sie war überhaupt nicht im Haus. Auch Viktor
meldete sich nicht. Ich versuchte es wieder und wieder. Dann ließ ich es
und warf noch einen Blick auf die Käfigwand: Neue Ratten liefen
herum, bewegten sich munter und interessiert, schnüffelten. Ich trat
nahe heran. Besah mir die Stempel. Es handelte sich scheinbar um
dieselben Versuche, um dieselbe Serie und um dieselben Tiere, wenn
man den Individualnummern trauen durfte. Das war Betrug! Nora und
Viktor mußten annehmen, daß dies die Tiere sind, die ich hatte sterben
sehen. Aber niemand würde mir glauben, denn ich konnte nicht bewei-
sen, was hier geschehen war.
Ich verließ leise das Labor. Alles schien mir nur noch halb so hell:
denn irgendwo in diesem Labyrinth gab es jemanden, von dem keiner
wußte, und dieses Wesen schien systematisch die Sebalsche Arbeit zu
stören, sorgte dafür, daß diese Versuche, mochten sie betreffen, was
immer sie wollten, nie zu Ende geführt werden konnten, verfälschte die
Ergebnisse.
Das war zuviel für mich, der ich aus einer Welt kam, in der Sicherheit
und Wahrheit nach jahrtausendelangem Ringen die Oberhand gewonnen
hatten. Es war einfach zuviel für mich. Ich wünschte mir das Feuerrohr
herbei, wagte aber auch nicht, das Labyrinth zu verlassen. Ich ging
durch die Räume, sah mir alles an und fand in einer
Chemikalienkammer eine Wachsflasche, in der Fluorwasserstoff war.
Wer einmal Versuche mit dieser aggressivsten aller Substanzen
angesehen hat, wer beobachten konnte, wie sich selbst Glas unter der
Wirkung der Flußsäure zersetzt, der weiß, was er in die Hand nimmt,
wenn er nach einer solchen Flasche greift. Für mich war es eine Waffe
gegen den bärenstarken Spinnenaffen, wie ich das Wesen nun einmal
nannte. Ich würde ihn finden müssen, ehe die Sebals zurück waren.
Vielleicht wurde durch eine Überwachungseinheit an alle Räume
signalisiert, was ich in meinen Händen hielt, jedenfalls vermied es auch
der Robby, mich zu fragen, ob er mich fahren sollte. Niemand kam. Ich
lief, verlassen und auf böse Überraschungen gefaßt, durch die Gänge.
Ich sah in die Lichtothek und das eigentliche Archiv, drückte mir
fröstelnd und auch schwitzend die Nase an den Gewächshäusern platt
und hoffte, ihn hier zu finden. Ich trabte noch einmal zu dem Ort
zurück, wo nun eine Mauer, vorher aber ein Gang war. Ich sah vieles
Neue, aber den Spinnenaffen fand ich nicht. Und dann, gerade als ich
beschlossen hatte, die gefährliche Flasche in das Chemiekabinett
zurückzutragen und die unterirdische Welt zu verlassen, geschah es. Ich
befand mich im Gewirr einiger dämmriger Verbindungsgänge, als ich
spürte, daß etwas hinter mir war.
Ich fuhr herum. Knapp fünf Meter hinter mir war eine mächtige,
finstere Gestalt. Ich erkannte sie wieder. Ich hätte sie überall wieder
erkannt, unter allen Verkleidungen: Es war jener Unbekannte, der mich
einst überfallen hatte. Sein Gesicht war in der Dämmerung nicht zu
erkennen, nur die Augen glommen wie zwei glühende Metallstücke.
Nicht ein Gedanke regte sich in mir. Ich riß die Hand, den Arm mit der
Flasche zurück und schleuderte sie mit aller Gewalt gegen den
Angreifer. Es geschah unglaublich schnell, und doch sah ich alles in
Zeitlupentempo, sah, wie die Flasche durch die Luft flog, sah auch wie
der Fremde noch schneller zur Seite sprang, auf mich zuhastete, mich
einfach packte und mit mir, als wäre ich gewichtslos, den Gang
entlangstürmte. Ich vernahm auch den feinen Ton, als das Wachs
zerbrach, sah weit hinten die weiße, dampfartige Wolke aufsteigen.
Aber da hatten wir den Hauptgang erreicht, eine Schleuse schloß den
vergifteten Gang hermetisch ab, und ich fühlte wieder Boden unter
meinen Füßen. Das Gesicht, das jetzt dicht vor mir war, beraubte mich
der letzten Vernunft. Es war das von Viktor...
„Du warst das“, stieß ich, den Tränen nahe, hervor, „du hast mich
überfallen. Du hast mir die Karte zwischen das Menü gelegt. Du warst
das!“
Er lehnte sich an die Wand, lächelte, wie mir schien, verloren. „Ja,
Amon“, erwiderte er nur, „ich war das. Eines Tages wirst du alles
verstehen, und dann wirst du es verwunden haben. Eines Tages...“
„Ich war bereit, dich zu töten“, sagte ich schroff, weil ich nicht wußte,
was ich noch sagen sollte.
„Nicht mich“, Viktors Lächeln hielt unverändert an, „nicht mich. Du
hast etwas gesucht, von dem du annahmst, daß es mich und Nora und
damit auch dich bedroht. So war es doch...“
„Ich habe eine Maschine gesehen“, versuchte ich zu erklären, „eine
Maschine von ungeheuren Dimensionen, und da war etwas...“
„Ja“, Viktor stimmte unbewegt zu, „da war etwas. Ganz recht. Aber
das arbeitet in unserem Auftrag, nicht gegen uns. Beruhige dich, Junge.
Es ist alles in Ordnung.“
„In Ordnung?“ Ich sah ihn ungläubig an. „Und der Robby“, rief ich
empört aus, „er lügt...“
„Nein“, sagte Viktor geduldig, „er lügt nicht. Auch wenn er behauptet
daß der Gang blind endet. Das stimmt für den Roboter sogar. Überall,
wo Energie erzeugt wird, können die Maschinen einfach nichts mehr
sehen, es sei denn, sie arbeiteten dort. Die Orte sind im Programm
skotomisiert, einfach ausgeblendet - aus Sicherheitsgründen.
„Für die Maschine endet der Gang tatsächlich nach wenigen
Schritten?“ fragte ich staunend. „Und dabei hält sich der Apparat für
den größten irdischen Realisten...“
„Das ist er sicher auch“, Viktor lachte auf, und auch ich fühlte, wie
sich etwas löste, wie in mir alles leicht und frei wurde, „auf seine Art.
Denn er ist frei von Phantasie und Wünschen. Du kannst auch nicht
ultraviolettes Licht oder Röntgenstrahlen sehen. Sie sind in deinem
Wahrnehmungssystem auch skotom. Aber dennoch ist das Abbild der
Welt für dich richtig.“
„Und was ist das für eine Maschine?“ fragte ich abschließend.
„Laß uns darüber oben sprechen, Amon“, antwortete Viktor.
„Warum sagst du es nicht?“
Viktor hob die Schultern. „Ein Neutrino-Rückstrom-Aktor“, sagte er
sachlich.
„Das Ganymed-Ding?“ fragte ich atemlos.
„Ja“, sagte Viktor, und das Ja klang nicht sonderlich freundlich, „ja, er
hat Ganymed weggesprengt. Das lernt man wohl als erstes auf euren
Schulen. Nur vergessen eure Lehrer, daß diese Dinger jahrzehntelang
dafür gesorgt haben, daß die Menschheit aus der Energiekrise
herauskam. Ihr habt sicher auch nie gehört, daß erst der Neutrino-
Rückstrom-Aktor die Raumfahrt beflügelte und weite Reisen zuließ. Die
Dinger sind sicher. Und Ganymed, das war ein Meteorit. Aber ein
solcher Meteorit könnte auch ein plattentektonisches Kraftwerk
zerstören und jedes Gezeitenwerk, Vulkanhybridatoren und den
Mondspeichertransmitter. Er könnte das Solargitter zertrümmern und
würde selbst ein Biokraftwerk lahmlegen können.
Aber du bist nicht der erste, der so denkt. Man sprach von Zeit-
bomben, deren Zeiger sich mit stupider Gleichmäßigkeit gegen die
Zündkontakte bewegen. So jedenfalls argumentierte man in alten Zeiten.
Das stimmt nicht.
Nur: Wenn du dir ein Flugzeug aus rostigen Autoteilen baust und die
einzelnen Teile mit Schnur zusammenhälst, dann darfst du dich nicht
wundern, wenn deine Kiste beim Versuch, die Schallmauer zu
durchstoßen, auseinanderfällt. Es gab damals rücksichtslose
Produzenten, die, des großen Geschäfts wegen, Ausschuß produzierten.
Das hat aber nichts mit dem Aktor zu tun. Absolut nicht. Noch eine
Frage?“
„Nein“, sagte ich, der ich zwar meine Fassung wiedergewonnen hatte,
aber über die Art, wie Viktor mich belehrte, empört war.
Ich fand Nora im Garten. „Weißt du schon?“ sprach ich sie an.
Sie nickte. „Ich habe mitgehört“, antwortete sie schließlich und lehnte
sich an einen Baobab, dessen mächtiger Stamm mich vom ersten Tage
an fasziniert hatte.
„Er tut immer, als ob ich ein Kind wäre, das euch ärgern will“, be-
schwerte ich mich, „die Ganymed-Geschichte kannte ich nur halb. Aber
dafür kann ich nichts. Dann soll er meinem Dozenten seine Predigt
halten und nicht mir.“
„Nimm es nicht tragisch“, Nora sah mir in die Augen, „aber der Aktor
und Viktor, das wird nie anders werden. Nie.“
Jetzt erst fielen mir die Ratten wieder ein. „Man hat eure Ratten
getötet“, sagte ich, um es nicht wieder zu vergessen, „glaube es mir,
denn ich habe zugesehen.“
Noras Augen weiteten sich. Einen Augenblick war sie sehr blaß.
Langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück. „Du hast dich nicht
geirrt?“ sagte sie eindringlich.
„Nein, unmöglich. Ich dachte erst, die Tiere würden schlafen. Sie
waren alle tot, sind ausgeräumt und durch gesunde Tiere ersetzt worden.
Alle.“
„Sage Viktor aber nichts“, wies mich Nora an, „es sind seine Ver-
suche, und ich ahne schon, wo der Fehler steckt. Sprich nicht mehr
darüber. Er wird die Versuche fortsetzen und nicht einmal wissen, was
geschehen ist...“
„Wenn nun aber die neuen Tiere gesund sind“, unterbrach ich sie,
„dann kommt Viktor nie zu einem Ergebnis. Woran arbeitet er?“
„Pilze...“ Nora hatte wohl keine rechte Lust, darüber zu sprechen.
„Pilze“, ich griff begeistert das Thema auf, „Organverpilzung, was?
Ich habe darüber geschrieben. In der sechsten Entwicklungsstufe.
Ätiologische Überlegungen zu einer von mir gewählten Krankheit, hieß
das Thema. Ich habe die Organverpilzung genommen aus einem
aktuellen Anlaß. Ich habe in meiner Arbeit behauptet, daß irgendwann
einmal der genetische Bausatz jeder Art ermüdet. Und so wird man nie,
habe ich geschrieben, die letzte Ursache des Sterbens der mächtigen
Dinosaurier und Ursäuger klären.
Oder nur dann, wenn eine strukturelle Lebenseinheit aus einem Skelett
entwickelt werden kann. Nehmen wir an, der genetische Satz ermüdet,
ein Tripel dieser Basen-DNS bricht heraus und ein Fungi-Tripel setzt
sich an seine Stelle. Dann haben wir eine Erklärung für die bisherige
Unheilbarkeit der Organverpilzung und auch eine Erklärung dafür,
warum ein solcher Patient nicht als Double aufgebaut werden kann: In
seinem Erbsatz ist die Krankheit enthalten. Zugleich könnten wir
ableiten, warum in so kurzer Zeit eine Art ausstirbt. Und je
komplizierter ein Lebewesen ist, desto länger muß sein genetischer
Bausatz sein, und also auch anfälliger. Er ermüdet beschleunigt. Hatten
die Saurier zweihundert Millionen Jahre Zeit, dann ist unsere vielleicht
auf sechzig Millionen begrenzt... Wie findest du das, Nora?“
„Intelligent“, antwortete sie und sah mich freundlich an, „ja, Amon,
ich finde es intelligent. Und das hast du dir ausgedacht? Es ist deine
eigene Überlegung?“
Ich nickte.
„Viktor ist von einer anderen Grundlage ausgegangen“, erläuterte sie
mir, „er meint, daß die vielen tausend Schimmelarten sich kreuzen
können. Er geht von mehreren Millionen Unterarten aus und sucht also
die eine Art, die völlig neue Eigenschaften besitzt und von anderen
Arten getarnt wird. Man kommt auch so voran, aber es frißt Zeit.
Möglicherweise mehr Zeit, als ein oder zwei Menschengenerationen
haben. Stell dir viele Millionen Unterarten vor. Alle wollen sie überprüft
werden auf das Spektrum der Wirkstoffe, die sie erzeugen können. Man
ist also jetzt schon bei der Milliarde angekommen. Und jede von ihnen
produzierte Substanz muß nun noch auf Hunderte von Medikamenten
hin untersucht werden. Dazu muß man noch wissen, welche
Kombinationen unsere Stoffwechselprodukte mit ihnen ergeben und
warum Reptilien, Amphibien, Fische, Vögel und niedere Tiere
überhaupt nicht befallen werden. Endlose Zahlenkolonnen werden das,
und jede Ziffer bedeutet einen Versuch. Selbst wenn man neunzig
Prozent aller Versuche rechnerisch meistern könnte, es bleibt noch
genug, um Generationen zu beschäftigen...“ Sie dachte nach.
„Hast du nicht Lust, an solchen Versuchen teilzunehmen? Mit deiner
Hypothese?“ fragte sie dann.
Natürlich wollte ich. Das war es doch, was ich mir immer vorge-
nommen hatte: Die Organverpilzung bekämpfen.
Gesternbesucher
Ein griesiger, dunstiger Morgen in Archimedes - ich wußte gar nicht,
daß es so etwas gab. Tiefhängende Wolken zogen vorbei, ballten sich
und sahen wie feuchte Wattestreifen aus.
„Nun wirst du die Landschaft so erleben, wie ich sie am ersten Tag
hier kennengelernt habe“, sagte Nora, „es wird nämlich Regen geben,
und danach erkennst du die Steppe nicht wieder.“
„Warum?“ erkundigte ich mich und goß Nora von dem Tee ein, den
Viktor selbst angebaut hatte.
„Die Steppe wird blühen. Du siehst keinen Sand mehr. Nur noch
Blüten.“ Ich dachte an Noras Kleid.
„Ich werde dir daraus ein neues Kleid flechten“, sagte ich und sah sie
an.
„Das wird dir nicht gelingen.“
„Aber da unten, in dem Gewächshaus, da blüht es doch auch das ganze
Jahr über“, wandte ich ein.
„Das ist anders“, erwiderte Nora, „die stellaren Gewächse sind uns
fremd. Ich bewundere ihre Wildheit und ihre Anpassungsfähigkeit. Ein
Bedürfnis, sie zu berühren, entsteht bei mir nicht..., aber die
Steppenblumen, die möchte ich haben. Einen Strauß...“
„Du meinst einen Emu“, wandte ich ein, „oder einen Kasuar?“
Nora lachte mich aus.
„Einen Strauß aus Blumen meine ich. Unterschiedliche Blumen
zusammengefaßt, abgeschnitten und überreicht.“
„Aber Blüten sterben, wenn man sie abschneidet.“
„Stimmt“, sagte Nora, und ihr Gesicht drückte aus, daß sie eigentlich
noch nie daran gedacht hatte, „nur sterben sie nicht gleich. Man kann sie
ins Wasser stellen und freut sich daran.“
„Du freust dich, obgleich sie sterben müssen?“
„Du solltest es kennenlernen, dann würdest du nicht mehr
theoretisieren“, rief sie gespielt beleidigt aus. „Vielleicht.“
„Die Steppe bringt schöne Blumen hervor“, erklärte Nora verzückt,
„Blumen in allen Farben. Viele sind sehr klein. Stumpfe Farben, weißt
du. Man möchte sie einfach in die Hand nehmen. Sie sind aus der Not
des ewigen Wassermangels geboren, und das macht ihre Faszination
aus.“
Draußen begann es zu regnen. Die Tropfen klatschten gegen die
Scheibe, wo sie, krakelige Kanäle bildend, herabflossen.
Ich stand auf und riß das Fenster auf. Der Regen klatschte mir in das
Gesicht, und ich empfand es als angenehm.
„Ich glaube“; rief ich Nora zu, während mir das Wasser in Nase und
Mund drang, „die Konstrukteure der Meteorologie haben drüben sogar
unseren Regen gebändigt.“
„Warum nicht?“ fragte ich Nora zurück.
„Wo ist eigentlich Viktor?“ Als Antwort hupte es.
„Viktor hat eine Botanikerin abgeholt“, sagte Nora, „sie wird drei
Tage hier wohnen. Sie sammelt Proben.“
„Und wie heißt sie?“
„Isina“, erinnerte sich Nora, „Isina Trefon.“
Wir gingen den Ankömmlingen entgegen. Isina war dunkelhäutig,
schlank und hatte ungewöhnlich helle Haare. Sie war mit einer
olivgrünen Kombination gekleidet, die Gesicht, Haare und Hände
schützte, ohne die natürlichen Linien zu verwischen. Sie sah mich einige
Sekunden an.
„Willkommen“, sägte ich, „ich freue mich.“
„Glückliche Stunden“, antwortete sie und ergriff meine Hände, „was
dein Gesicht für eine Farbe hat, du. Es erinnert mich an Holz. Dunkles
Holz...“
Dunkles Holz, dachte ich, ja, das war es. Als ich am Aer war, tat-
sächlich, das lag ein Jahr zurück, da waren mir die Gesichter der
zusteigenden Wissenschaftler dunkel, beinahe verbrannt vorgekommen.
Und sah ich auch so aus? Gab es das? Ich sah so aus. Und die Zeit, was
war das für ein seltsames Gebilde? Jeder Tag schien mir eine kleine
Ewigkeit, endlos lang und interessant, während die Gesamtzeit mir
scheinbar nichts als ein einziger Augenblick war.
Als ich aus meinen Überlegungen aufschreckte, war ich mit Isina
allein. „Komm“, sagte ich, und wir spazierten zu einem lichten Hain, in
dem ich manchmal gelegen hatte. Kaum dort angekommen, flatterte es
über mir, und auf dem untersten Ast saß mein Kakadu und krächzte mir
freudig seinen Gruß entgegen.
Isina schrie entsetzt auf, und ich konnte sie gerade noch am
Handgelenk fassen und festhalten.
„He“, sagte ich, „das ist ein Freund von mir... Stimmt's?“ Das letzte
hatte ich an den weißen Vogel gerichtet, der sich nun auf den Boden
niederließ und gemächlich auf mich zu watschelte, wobei sein Körper,
um das Gleichgewicht zu halten, von einer Seite auf die andere
pendelte.
Isina schien nicht begeistert.
„Ein lustiger Kerl“, sagte ich und setzte mich auf die Erde, kraulte ihm
den Kopf, „komm Mädchen, setz dich auch.“
„Ich wäre schon lieber in einem Röhrenbad“, ihre Stimme klang
unwillig, „ich würde dir gern ein wenig Zärtlichkeit schenken.“
„Ich denke“, sagte ich, „du bist Botanikerin... nicht Libelle.“
Sie lachte mir ins Gesicht, stieß dabei vorsichtig, aber entschieden den
Kakadu weg, der sich ihren Beinen näherte. „Es gibt doch keine
Libellen mehr“, klärte sie mich auf, „die Libellen, die solche sind, haben
die Wahl, etwas anderes zu werden oder nicht. Aber neue werden nicht
ausgebildet. Wozu auch? Sind wir nicht omnipotent genug, alle-
Aufgaben unseres Lebens zu meistern? Wie lange bist du hier?“
„Ein Jahr“, sagte ich ein wenig stolz.
„Tapfer, tapfer“, sie meinte es auch so, „aber dann weißt du nichts
vom letzten Weltkongreß der Planungsbehörde. Es ist vorbei mit den
Überspezialisierungen. Das werden die Automaten übernehmen. Es ist
ein neuer Grundbausatz entwickelt worden, mit dem man jede benötigte
Spezialisierung erreichen kann. Damit sind wir davon erlöst,
Fachidioten zu werden. Der Mensch wird der sein, der den allgemeinen
Überblick hat und der an den Schnitt- und Brennpunkten der
Wissenschaft und Technik entscheidet. - Da auch die Libelle etwas
Hochspezialisiertes ist, wurde sie abgeschafft. Und jeder von uns wird
etwas Libellisches an sich haben. Deshalb wollte ich in ein Röhrenbad
mit dir. Ich wollte dir zeigen, wie zärtlich ich sein kann.“
„Wir haben weit draußen einen Badesee“, schlug ich vor.
„Danke“, sagte sie kühl, „beim Anblick dieses schaurigen Landes hier
erwartest du doch nicht etwa, daß ich zärtlich sein könnte. Schon wenn
ich nur wüßte, daß dieses weiß bepuderte Kakadu-Scheusal da im
Umkreis von tausend Kilometern sein Unwesen treibt, hätte ich soviel
Angst, daß an Freundlichkeiten nicht zu denken wäre...“
„Schade“, sagte ich, „aber wenn man sich nicht gerade auf eine
Königskobra legt, ist es ganz romantisch hier.“
„Ich weiß nicht, was es ist“, sagte sie, „aber wir wollen von etwas
Freundlicherem reden. Womit beschäftigst du dich?“
„Mykologie“, sagte ich einsilbig. Ich war eingeschnappt. Mich störte
die mäklige Art dieses Mädchens, weil ich jetzt erst begriff, was ich
war, als ich hier ankam. Ich dachte an das Drallercape und die
Gardiolen. Und damals war mir alles ebenso normal vorgekommen, wie
jetzt mein Wildlederzeug. Ich hatte zwei Stunden in Archimedes bleiben
wollen und mich sicher entsprechend benommen. Isina wollte drei Tage
lang Pflanzen sammeln, und ich würde sie begleiten. Es war schließlich
nicht ungefährlich für einen Neuling...
Nach dem Abendbrot suchte ich Isina. Ich lief durch das ganze Haus,
ohne ihr zu begegnen. Auf der Terrasse traf ich mit Nora zusammen.
„Wo ist sie?“ erkundigte ich mich.
„Sie hat den letzten Aer genommen und ist zur Hotelsiedlung ge-
flogen“, sagte Nora, „sie wollte nicht über Nacht hier bleiben. Sie hatte
Angst.“
Ich schluckte. Meine Arme fielen herab.
„Was ist“, Nora legte ihren Arm um meine Schultern, schmiegte sich
an mich, „hast du dich verliebt?“
„Ach“, sagte ich ärgerlich, „Unsinn. Nur sie hätte mir schließlich
sagen können, daß sie geht. Wer weiß, wer sie dort erwartet. Ich mag
solche Geheimniskrämerei nicht.“
„Ja, ja“, Nora lächelte verschmitzt, „streite es nur ab. Aber Eindruck
hat sie auf dich gemacht. Gewaltigen Eindruck.“
„Ich fühle mich schon fast als Austraside“, sagte ich, „ich komme
nicht los von diesem Fleck..., auch nicht von den Versuchen. Und erst
recht nicht von meiner Hypothese. Ist das nicht verbohrt?“
„Es ist willensstark“, sagte Nora, bog meinen Kopf zu sich herab und
küßte mich auf die Stirn, „und Ausdauer braucht man in der
Wissenschaft.“
„Ich glaube“, ich löste mich aus ihrer Umarmung, stützte mich auf das
hölzerne Geländer, „ich glaube, ein wenig liebe ich sie. Ich werde sie
morgen fragen, ob sie nicht hier nächtigen will. Ich werde ihr viel zu
erzählen haben. Ja, ich glaube, ich fühle ein wenig von dem, was du in
deinen Gedichten immer wieder heraufbeschwörst. Ich fühle es...“
„Du wirst erwachsen“, Nora stand wieder neben mir, „und wir beide
haben Zeit. Ich will dir etwas erzählen, Amon, etwas, was du jetzt
wissen kannst. Höre mir also zu...“
Zweites Buch
Die Jagd
nach dem Baum des Lebens
Boje 14222
Professor Friedhart Hofmant blickte in den mannshohen Spiegel, der
die Innenseite seines Barockschrankes ausfüllte. Hofmant begutachtete
sich von allen Seiten, strich sich noch einmal über die ordentlich
gescheitelten Haare und erinnerte sich voller Stolz der Studentinnen des
ersten Studienjahres, die allen seinen Bewegungen mit angehaltenem
Atem folgten, die sich keine Phase seines großartigen Schauspiels,
Vorlesung genannt, entgehen ließen.
Hofmant lächelte sich selbst zu, während vor seinem inneren Auge die
Hörsaalbilder vorüberzogen. Dann hob er leicht die Augenbrauen. Nur
ein wenig. Er versuchte den herrischen Ausdruck seiner Augen
abzuschwächen, ohne daß es ihm gelang. Er wußte nicht, woher das
kam, aber es war so: Er konnte nicht interessiert oder freundlich
dreinsehen.
Hofmant schloß schließlich die Schranktür und trat an den
Sprechgeber. „Wo ist dieser O'Delta?“ fragte er unwirsch, nachdem er
den entsprechenden Knopf niedergedrückt hatte. „Er ist dabei, die Boje
in die Entladestation zu bringen, Herr Professor“, war die Antwort der
Sekretärin.
Hofmant konnte schrecklich wütend werden, wenn einer, und wäre es
auch nur die Sekretärin gewesen, seinen Titel vergessen hätte. Es gab
damals nicht wenige, die wollten wissen, daß Hofmant die Professur
einem undurchsichtigen Ränkespiel verdankte. Deshalb ahnte Hofmant
augenblicklich Gefahr, wenn einer den Professor vergaß.
Er gehörte zu den Menschen, die ständig heimlichen Widerstand und
Intrigen vermuteten, weil sie selbst sich dieser unsauberen Mittel
bedienten.
Sein Weg begann in den unruhigen Zeiten des energetischen
Umbruchs. Hofmant war damals Neulaborant für Biozösie. Einem
Freund, der als Chefenergetiker an den Ligasitzungen teilnahm,
verdankte Hofmant, daß zwei Ligisten auf ihn aufmerksam wurden und
ihn förderten, ohne ihn zu fordern. So war er erster Biologe geworden
und promovierte über das Thema: Neuenergiegewinnung und
exemplarischer Monoprinzipalismus. Aus dieser Zeit stammt auch sein
Lieblingszitat: Principales est principelles. Die Leitung irrt nie. So ließ
er schließlich in den groben Stein über dem Hauptgebäude des Instituts
die Abkürzung PEP einmeißeln, nachdem er die Professur erhalten
hatte.
Der neuernannte Professor tauschte alle fähigen Mitarbeiter des
Instituts gegen solche des Mittelmaßes aus. Nicht umsonst fürchtete
Hofmant, daß ein Fähiger ihn demaskieren und lächerlich machen
könnte. Das war die Hofmantsche Angst. Es reichte die intelligente
Frage eines Studenten in der Vorlesung, und schon war dieser nach
Hofmants Ansicht für die Universitätslaufbahn untragbar.
O'Delta war die Ausnahme. Markus O'Delta hatte anderenorts studiert
und bewarb sich am Institut, während Hofmant im Urlaub war. Das
Einstellungsgespräch wurde von zwei anderen Mitarbeitern, Smith und
Gaistchen, geführt, sie konnten an O'Delta nichts Ungewöhnliches
entdecken. Diese Fähigkeit konnte man Hofmant nämlich nicht
absprechen: Er erahnte das Ungewöhnliche sehr schnell, hatte einen
Instinkt für Intelligenz und Genialität. Sie stellten O'Delta sorglos ein.
Aber jetzt, neun Monate später, herrschte bereits ein gespanntes
Verhältnis zwischen Hofmant und Markus, der zwar viele seiner
Gedanken wenn auch trivialisiert bei Hofmantreden wiederfand,
zugleich aber immer von dem Professor erfuhr, er sei mit seinen Ideen
in einer Sackgasse.
O'Delta hatte zudem Gedanken, die den Professor beunruhigten, ihn
aufstöberten, bis in seine Träume verfolgten.
Als Hofmant selbst noch ein kleiner Junge war, als ihn seine Mutter ab
und an züchtigte, als er sich zu einem Schwätzer und Petzer entwickelte,
Einzelgänger wurde und in der Schule hemmungslos strebte, nicht aber
lebte, da wurden vierzehntausendfünfhundert automatische Bojen in alle
Raumrichtungen gestartet.
Dieses Unternehmen Lebenskralle sollte den Nachweis erbringen, daß
es Leben in den Tiefen der Galaxis gab. Aber weder der neue Antrieb
noch die Heimfindespulen, auf der Basis von Brieftaubenneuronen
entwickelt, brachten den gewünschten Erfolg. Im Laufe von
fünfundvierzig Jahren - nach ebendieser Zeit erloschen die
automatischen neuralen Steuerimpulse - waren gerade zwanzig Bojen
zurückgekehrt. Siebzehn Bojen waren mit leeren Containern, demoliert
und zerschlissen, angekommen, und zwei der drei anderen hatten einige
bekannte Mineralien an Bord, die auch von der Erde stammen konnten.
Nur in einer war ein erfolgversprechender Samen gewesen: Die allseits
beliebte Kicheralge konnte auf der Erde angesiedelt werden. Leider
hatten immer wieder Schüler, die einen Topf Kicheralgen in den
Klassenschrank stellten, dafür gesorgt, daß diese fröhliche Pflanze bald
in Verruf kam.
Nun war noch ein Nachzügler am Himmel erschienen. Die Boje
14222.
Man hatte sie ordnungsgemäß gelandet und im Hofmantschen Institut
untergebracht. Fernsehen, Bildberichten und Journalisten waren
geladen, auch die Kapazitäten verwandter Wissenschaftszweige, und sie
saßen allesamt in der Kuppel des Entladeraumes und sahen hinter einer
Schutzscheibe aus Panzerglas die zerschrammte Boje vor sich, an der
der Landeleiter, O'Delta und Frau Doktor Piefky, alle drei vorsorglich in
Schutzanzüge gehüllt, arbeiteten. Die Berichterstatter waren auch der
Grund, weshalb Hofmant noch einmal in den Spiegel gesehen hatte.
Als er den gigantischen Saal betrat und merkte, daß ihn niemand sah,
verließ er mit einer scharfen Wendung den Raum und zog draußen den
Sprechgeber aus der Tasche. „Brotjahr“, belferte er, „kommen Sie raus.“
Brotjahr kam unbeholfen und ein wenig ängstlich dreinschauend auf
den Korridor.
„Nun“, erkundigte sich Hofmant, „alles in Ordnung da drinnen?“
„Natürlich“, antwortete Brotjahr und hüstelte verlegen.
„Ich werde jetzt kommen“, sagte Hofmant, „Sie können es den
anderen mitteilen.“ Und so geschah es, daß Hofmant unter stürmischem
Applaus eintrat, kurz ein paar Worte zur Bedeutung dieser Boje sagte,
O'Delta mit einem bösen Blick maß und erklärte, daß die Boje geöffnet
sei. Damit allerdings hatte er den Ereignissen weit vorgegriffen, denn es
sollte noch fast zwei Stunden dauern, bis die drei hinter der
Schutzscheibe mit den altertümlichen Schweißnähten fertig wurden.
Kurz bevor dieser Vorgang abgeschlossen war, trat ein Mann in den
Raum, dessen Erscheinen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Das schulterlange schneeweiße Haar des Mannes schien sich mit dem
bis auf die Brust reichenden Bart zu vereinen. Dazwischen schimmerte
die Haut in einem kräftigen Bronzeton. Hellgelbe Augen sahen ernst
und abgeklärt in die Welt. Das war Professor Ala Rabause.
Rabause schaute über die Reihen der Anwesenden, und ein feines
Lächeln lag auf seinem Gesicht. Als sein Blick Hofmant erreichte,
wurden seine Züge gespannt, lösten sich aber gleich wieder, und sein
Lächeln wurde intensiver. Es war, als mache sich der alte Mann über
Hofmant lustig.
Die Klappe der Boje fiel polternd zu Boden. Frau Doktor Piefky, die
nicht rechtzeitig auswich, bekam das schwere Metall gegen ein Bein
und stürzte. Man trug sie hinaus, um sie von einem Rettungsberger
behandeln zu lassen.
Hofmant versuchte den Vorfall mit einigen Bemerkungen zu
bagatellisieren, aber immerhin: Man hatte es gefilmt. Hofmant
knirschte heimlich mit den Zähnen. Diese Piefky, dachte er grimmig,
welch eine Schande für uns. Bleibt einfach stehen...
Das Thanato-Anbio-Gas war durch mehr als fünfzig Prozent
Sauerstoff ersetzt. Alle warteten gespannt, was sich im Innern der Boje
befinden würde.
Enttäuschung Nummer eins: Die Sprechzelle der Boje war ausgefallen,
so daß es keinerlei Erklärungen gab.
Schließlich aber kam der Kopf einer in allen Farben schimmernden
Echse zum Vorschein, deren gespaltene Augen unruhig in das Rund
blickten.
Das Tier entrollte spinnwebfeine Fühler, die die Luft peitschten. Der
Blick des Tieres wurde wehmütig, fast traurig. Als sich die Echse weiter
und weiter aus der Öffnung zwängte, konnten alle das feine, dichte
Haarkleid sehen, das den zierlichen Körper einhüllte. An den Seiten trug
das Tier eine Reihe ebenmäßiger nebelgrauer Auswüchse.
Endlich stieß sich das Tier, während die Filmkameras surrend alles
registrierten, vom Rand seines Gefängnisses ab, entfaltete zwei
Doppelflügel und schwebte in der Luft umher. Mit seinen Krallen
versuchte es, den Schutzanzug des Landeleiters zu beschädigen, ohne
daß dies gelang. Nachdem die Echse gelandet war, lief sie auf den
Hinterbeinen trippelnd umher. Es war offensichtlich, daß sie einen
Ausweg aus dem gläsernen Gefängnis suchte.
Dann hielt sie vor Markus O'Delta, sah ihn aus großen,
feuchtschimmernden Augen an.
O'Delta fühlte alles in sich klamm werden, denn plötzlich waren
Worte in seinem Kopf:
Wo sind die Kinder... Bitte... Sie werden ohne mich sterben müssen...
Bitte ...Ich muß nach Haus... Bitte... Ich muß zu ihnen...
O'Delta fühlte sich wie im Traum. Man müßte das Panzerglas
zertrümmern und mit dieser Frau - er dachte beim Anblick jener Echse
tatsächlich mit dieser Frau - einfach fliehen. Die Kinder suchen.
Zugleich dachte er: Das ist Schizophrenie. Echsen können nicht denken.
Nicht ihre Kinder suchen. Nicht reden. Nicht Frau sein. Echsen können
nichts. Da erhob sich das Tier erneut. Warum können Echsen nicht Frau
sein und nicht Kinder haben... ?
Dies waren die nächsten Gedanken, die Markus empfing. Dann ging
alles rasend schnell. Das Tier beschleunigte seinen Flug und prallte wie
ein regenbogenfarbenes Geschoß gegen das Glas, wo es augenblicklich
mit gebrochenem Genick und verblassenden Flügeln, mit stumpfer,
farbloser Haut und glasigen Augen abstürzte und unbeweglich
liegenblieb.
„Unsere Institution hatte eine Anästhesieentladung angeraten“, sagte
Ala Rabause in das aufgestellte Mikrofon und erreichte damit, daß
Hofmant grau wie Marmor wurde, „aber natürlich wußte Kollege
Hofmant alles besser.“
Hofmant zog den Kopf ein, konnte aber angesichts des toten Tiers
keine Antwort geben. Ein nicht mehr gutzumachender Schaden war
entstanden.
O'Deltas Gesicht verriet seine Haltung, zeigte Hofmant erneut, daß
ihm da jemand ein Kuckucksei ins Nest gelegt hatte.
„Überhaupt“, setzte Rabause seine Rede fort, „ist es ein Unding, mit
einer räuberischen Boje irgendwo einzudringen und zu nehmen, was
sich greifen läßt. Allerdings zeigt uns die hohe Verlustrate, daß nicht
alles Leben wehrlos ist gegen Übergriffe und Verschleppung. Das war
einer der letzten menschlichen Irrtümer aus der Zeit der Waffen und
Kriege. Landen, Rauben, Verschwinden. Nicht auszudenken, was
geschehen wäre, wenn man einer höheren Intelligenz begegnet wäre, die
an Vergeltung gedacht hätte. Wie gefiele es uns, wenn es
kirchturmgroße Zylinder regnete, wenn man uns zu Tausenden
aufsaugte und entführte? Dabei ist eine solche Technologie bei dem
Stand unseres Wissens heute nicht einmal undenkbar.“
„Bravo!“ rief O'Delta. „Bravo, Professor Rabause.“
Spontaner Beifall klang auf.
Zwei Blüten schwebten aus der Boje. Die Gebilde umgaukelten
einander. Sie torkelten den Scheinwerfern entgegen und kamen dann
wieder herunter. Ihre unruhige Flugbahn schien ohne Ziel. Rabause sah
es zuerst. Die Blüten näherten sich immer wieder und jedesmal mehr
dem Landeleiter, der ihrem Spiel ebenso fasziniert zusah wie die
anderen.
Nun waren sie bei ihm. Die eine der Blüten näherte sich dem Mann
von der rechten Seite, die andere von der linken, und als sie ihn erreicht
hatten, riß der mit einem Ruck den Schutzhelm ab.
Alles sprang auf. Die Kameras surrten.
Sie sahen, wie stoßweise Blut aus Nase, Mund, Ohren und Augen des
Landeleiters quoll, sich zu einem breiten sickernden Strom vereinigte,
der sich über das makellose Blau des Schutzanzuges ergoß. Der Mann
taumelte wie trunken im Rund der gläsernen Arena umher, ehe er über
der toten Echse zusammenbrach. Noch waren die Menschen im Banne
des Geschehens, als die schwebenden Blüten sich O'Delta näherten.
„Vorsicht, O'Delta!“ klang da die durchdringende Stimme Ala
Rabauses durch das Mikrofon, „sie kommen zu dir.“
Markus O'Delta sah sich gehetzt um und schlug nach den
Schwebblüten, die sich ihm von vorn und von hinten näherten.
Er hechtete nach vorn, packte den schweren Schneidbrenner, mit dem
die Boje geöffnet worden war, und versuchte, ihn in Gang zu
bekommen.
„Öffnen Sie den Fluchtweg, Hofmant“, forderte Rabause scharf.
„Das kann ich nicht“, Hofmants Antwort war ein Gestammel, „ich
kann nicht gegen das Seuchenschutzgesetz handeln.“
Ein regelrechter Tumult entstand. Die Filmreporter schrien, daß man
aus dem Weg gehen solle, denn sie wollten von nun an alle Einzelheiten
des dramatischen Zweikampfes festhalten, andere Beobachter gaben, je
nachdem, aus welchem Winkel sie das Geschehen sahen, dem verstörten
O'Delta die unterschiedlichsten Ratschläge. Der erkundigte sich
brüllend, wie denn der verdammte Brenner zu entflammen sei, und
zugleich erschien ein gallertartiger Klumpen, der sich dem Einstieg der
Boje 14222 entwand und leicht über den Boden glitt. Er näherte sich
dem Toten und dem verendeten Tier.
Als nach einer geraumen Weile der Brenner immer noch nicht
arbeitete, warf O'Delta das schwere Gerät nach einer der mörderischen
Blüten, ohne sie allerdings zu treffen. Dann lief der Assistent quer durch
den Raum hinter der gläsernen Schutzwand, sprang über das klumpige
Wesen, das sich über die toten Körper wie ein Tuch ausgebreitet hatte,
und hielt erst inne, als er den Handscheinwerfer erreicht hatte. O'Delta
versuchte die Blüten mit Licht zu irritieren. Unbeirrt von dem
gleißenden Leuchten, näherten sich die schwebenden Gebilde erneut
dem wehrlosen Menschen.
Das Geschrei und die Schreckensrufe aus den Zuschauerrängen
nahmen zu. Nun schienen die Blüten unsicher. Sie taumelten ziellos hin
und her, verloren den Kontakt zueinander und schienen auch nicht mehr
zu wissen, wo O'Delta stand, denn sie entfernten sich von ihm.
„Schreien“, verlangte Ala Rabause über Mikrofon, „um Gottes willen,
meine Damen und Herren, schreien Sie, was Sie können. Nur so ist
O'Delta zu retten.“
Markus O'Delta wurde gerettet, und die Blüten zerfielen in griesigen
Staub. Inzwischen aber hatte jenes Eiweißgebilde den Körper des
Landeleiters und den der Echse aufgelöst...
Alles andere geschah unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Es kamen
nur noch mumifizierte Kadaver zum Vorschein. Eine stahlblaue
Rippenspinne. Ein Regenbogenhörnchen. Ein Wimmelmull. Ein knapp
fingerlanger Kuhschellenmakak und eine Schachtelhalmsifaka.
An Pflanzen fand sich die getrocknete Nackelflalle und eine
Sammlung vielmündiger Renjyrmas. Auch Isionen gab es, wenn sie
auch kaum noch kenntlich waren. Zuletzt kam ein Stück Ast ans Licht
des Tages, an dem fünf Blätter und zwei Früchte hingen.
Die Blätter sahen gelborange aus und hatten eine blasse Maserung. Die
Früchte aber, violett und leuchtend, zeigten eine blaßblaue Spitze und
ein grellrotes Tigermuster. Ihre Form erinnerte an ein Säugetierherz.
Futuristengestammel
Die durchsichtige Schnecke hatte den Meeresboden erreicht.
Schwaches violettes und purpurnes Licht drang durch das Glas, und
rätselhafte Lebewesen bewegten sich teils heftig zuckend oder
schwimmend, teils kriechend über das Gestein, durch Tang- und
Algenwälder, überwanden lautlos Korallenstöcke, um in der fernen
Finsternis zu verschwinden...
Ainina, die Medizinerin, lag mit offenen Augen in einer Arachnoile
direkt an dem meeresgekühlten Glas und träumte in das Meer hinein.
Manchmal sah sie nicht Fische, sondern Raumreisende, im
Korallenwald verschwand ein Gleiter, und sie wußte, daß alle seine
Insassen tot, skelettiert sein würden. Eine Meeresschildkröte wurde zur
Archimedes, der Papageienfisch in seiner strengen Linienführung
konnte nur Janka Chomain heißen und die weißbäuchigen Haie waren
die Herren, die das GeLaDeAl versenken wollten. So träumte die
Ärztin, während Amon Hater hinter ihr in einem Schlorrer schwebte und
erzählte.
Wenn er nicht weiter wußte, weil ihm Worte fehlten oder sich
Trockenheit in seinem Mund einstellte, dann durchbrach er mit dem
kleinen Finger der linken Hand die kaum wahrnehmbare Mikro-
Lichtschranke seiner Axillarbürette, und das Gerät fuhr in seiner Diktion
und mit seiner Stimme fort zu erzählen. Es reproduzierte, was es bei der
Aufzeichnung im Informationsvideoarchiv gespeichert hatte, schmückte
es, immer den Regeln der Logik gehorchend, auch aus und sorgte dafür,
daß es keine Kunstpausen, keine Besinnung für Ainina gab, sondern
eine gleichmäßige Erzählung, ein folgerichtiger Rapport zustande kam.
Ainina hatte vergessen, wo sie sich befand und, vor allem, warum sie
hier war. Sie hatte vergessen, daß sie Hater von seinem Podest holen
wollte. Nicht, daß sie nicht gewußt hätte, daß da eine kranke Tochter auf
ihre Hilfe wartete, sie hatte zum erstenmal seit Wochen oder Monaten
Stunden, in denen ihre Gedanken und Gefühle auf anderes gerichtet
waren. Sie war zum erstenmal innerlich frei, hatte das stählerne Band
der Selbstbezichtigungen gesprengt, pendelte nicht mehr nur zwischen
der Krankenstation, ihrem Arbeitsort und dem Schlafquartier.
Hater schwieg und nutzte die Pause, zwei Erfrischungsgetränke zu
holen. Als er ihr stumm das Glas vor das Gesicht hielt, zuckte sie
zusammen, löste den träumenden Blick aus der Welt in drei-
hundertfünfzig Meter Tiefe, aus einer Welt, die man mittels Vibro-Sand
durch sich selbst erleuchtet hatte, drehte sich um und sah den Mann an,
der direkt aus der Archimedes zu ihr herabgestiegen schien.
„Und das...“, waren ihre ersten Worte, „das war so? Ich meine, die
vielen sinnlosen Toten? Jaun...“
„Sie werden alles sehen“, beschwor sie Hater leise, „so, wie ich das
sah. Damals blieb meine Mutter nicht mit mir auf der Terrasse, sondern
wir fuhren in der winzigen Kabine hinab, und sie ging mit mir in das
eigentliche Archiv, diesen unbedeutendsten aller Räume in dem
weitläufigen unterirdischen Labyrinth. Sie hatte diesen Tag gründlich
vorbereitet. Alle Filme, Bilder, Spulen, Tagebücher und Videographen
waren in logischer Folge bereitgestellt, und jener veraltete Robby mit
den Manieren eines englischen Butlers war unser sichtbarer, in einem
Nebenraum hantierender Vorführer all des Materials; er war aber auch
unser Koch und Kellner, der uns mit dem versorgte, was wir gerade
benötigten.
Man verliert in einem Keller schnell das Zeitgefühl, besonders wenn
man keinen Chronographen sieht, und ich kann nicht sagen, ob wir nun
vierundzwanzig Stunden oder vier Tage dort waren. Hyperiomaten
regulierten unseren Schlaf, und wenn ich an der Seite meiner Mutter
erwachte, wenn die Nebelsprühvorrichtung uns wusch und erfrischte
und wir anschließend unsere inzwischen gewaschenen und parfümierten
Kombinationen anlegten und der Robby die Vorführung wieder
einschaltete, dann schon waren die Schlafpausen nichts Wirkliches
mehr, und man hatte sie vergessen. Sie werden das auch sehen.
Ich möchte, daß auch Sie das Archiv besichtigen, daß Sie die
Gesichter der Tapferen sehen, dann wenn ich mit der Erzählung zu Ende
bin...
Wäre es bei dieser Reise nur um Entdeckungen gegangen, man hätte
sie die erfolgreichste seit Menschengedenken nennen können. Vier
Lebenträger auf einem Flug, das gab es weder vorher noch später. Die
traurige Geschichte vom Paradies 245/19 kennen Sie und jenen
überalterten Planeten mit seinem menschenfressenden GeLaDeAl auch.
Bevor die Archimedes aber ihr Ziel erreichte, fand noch eine
Begegnung im Raum statt. Da war eine Sonne namens Epsilon-cxc-
1800/41, ein heißer blauer Zwerg...“
„Guten Morgen, Janka“, Arpje Tyrsos lächelte den Bildschirm an, auf
dem Janka Chomains verschlafenes Gesicht sichtbar war.
„Morgen“, maulte die Astronomin, „und jetzt geh raus. Eine er-
wachende Frau ist nur in einer Geschichte schön.“
„Sie gefallen mir auch verschlafen“, sagte Arpje, „aber ich tue Ihnen
den Gefallen. Tschüß also...“
Das Bild erlosch, und der junge Mann rieb sich kräftig die Augen.
Dann trat er auf die Schleuse zu, die seinen Schlafraum von dem langen
Gang abtrennte.
Die Wände und Decken des Raumschiffes waren mit Platten
ausgelegt, die alles, was die Sensorelemente der Archimedes erfaßten,
naturgetreu abbildeten. Man spazierte also unentwegt unter den sich nur
zäh wandelnden Sternbildern entlang. Das heißt: Natürlich hatte es
einen Sprung gegeben. Zwischen dem anabiotischen Einschlafen und
dem Aufwachen hatte eine unsichtbare Kraft nicht nur die Sternbilder
durcheinandergewirbelt, sondern auch ganz neue Konstellationen und
Galaxien geschaffen. Als sie dann das Gebilde sahen, dessen Äste ihnen
auf der Erde ständig Begleiter am Nachthimmel waren, als sie hörten,
dies ist die Milchstraße, und ungefähr an dieser Stelle liegt die Sonne,
von der mit bloßem Auge nichts zu erkennen war, da war es fast allen
einen Moment lang schwer ums Herz geworden.
Ja, sagte sich Arpje, Nachteulen werden wir. Immer ist ein nächtlicher
Himmel um uns. Die naheste Sonne, einmal von den beiden
Planetenreisen abgesehen, war gerade so groß wie eine Glasmurmel. Sie
hätten lieber Bilder von der Erde an die Wände projizieren sollen.
Immer mal etwas anderes: Grand Canyon. Eine große Stadt.
Pazifikromantik...
Er durchschritt die Schleuse, und seine Gedanken rissen ab. Man
konnte die Raumprojektionen auf den Wänden blaß werden lassen,
wenn man die unsichtbaren Lichtquellen zwischen den Plattenfugen auf
maximale Leistung schaltete. Hatte das jemand getan?
Den Gang hüllte beizendes blaues Licht ein. Das Licht brannte,
schmerzte, biß in die Augen. Es lag auf dem Bodenbelag und den
Gegenständen, hüllte Stangen, Säulen und Fahrzeuge ein. Es kam aus
dem Raum, hatte alle Sterne erstickt, ihre Lichter gelöscht und waberte
durch den Gang. Hier gab es keine Sonne, nur einen schmerzhaft
brennenden Punkt jenseits der Archimedes, und aus diesem Punkt quoll
blaues Licht.
Tyrsos fühlte ein Dröhnen in seinem Kopf, ein Pochen und Pulsieren,
und konnte doch nicht die Augen von der Erscheinung lassen. Als Kind
hatte er einmal den Lichtbogen eines Elektro-Schweißgerätes gesehen.
Sein Vater hatte ihm erklärt, daß man es nicht darf. Trotzdem stand der
kleine Arpje unbemerkt und starrte in das Licht, bis ihm die Augen
schmerzten und er drei Tage lang intensiv mit einem schaumigen Gelee
behandelt werden mußte. Und genau das schien sich zu wiederholen. Er
stand und starrte, konnte den Blick nicht abwenden. Zunehmend stellte
sich das Gefühl ein, er stürze in einen endlosen blauen Schacht.
Schließlich sah er die nachtschwarze Kugel, um die es grellblau
flackerte. Er versuchte nun, sich mit den Blicken an diesem schwarzen
Loch festzusaugen, aber das ging nicht. Immer wieder suchte er den
Punkt, dem das Licht entquoll.
Da stieß etwas gegen seinen Kopf und augenblicklich war das Licht
abgeschwächt.
„Du willst sie hypnotisieren, was?“
Arpje sah undeutlich Genario Oskuses Gesicht vor sich, und dieses
ihm vertraute Gesicht steckte unter einem Schutzglas, das nun auch über
seinem eigenen Kopf war.
„Ist das eine Explosion?“ fragte Arpje leise, „ich finde das
schrecklich...“
„Kennst du das Rätsel“, Oskuse schien voller Gleichmut, „wenn du es
siehst, siehst du nichts mehr?“
„Nein“, sagte Arpje gelassen, „sicher ein kompliziertes sizilianisches
Rätsel.“
Oskuse lachte dröhnend. „Eines von der Raumakademie“, erklärte er,
„man meint damit blaue Zwergsonnen. Wenn solch eine Sonne als
Körper sichtbar wird, dann bist du so dicht dran, daß sie dich wie ein
Butterstück auf einer heißen Pfanne zerlaufen läßt. Du mußt soviel
Abstand halten, daß sie selbst unsichtbar bleibt. Und ihr Licht, das ist
ekelhaft, wie wir feststellen können.“
„Und wie viele Stunden müssen wir das ertragen?“
„Stunden“, Oskuse hieb Arpje Tyrsos auf die Schulter, „frag lieber,
wie viele Wochen oder Monate. Wir sind nämlich nicht zufällig hier.
Ein lebenstragender Planet umkreist dieses Scheusal. Und wir haben
Funkkontakt und werden landen...“ Oskuse wurde ernst, seine schweren
Lider bedeckten das halbe Auge, verliehen seinem Gesicht einen
schläfrigen, aber auch drohenden Zug. „Wir werden unseren
Lieblingsgleiter benutzen“, sagte er, „den von Paradies 245/19... So ist
das...“
„Und dieser Planet?“
Oskuses Miene wurde grimmig. „Der hat nur vier Prozent Sauerstoff,
dafür jede Menge Phosgene, Cyanide und Halogene. Die reinste
Giftküche“, sagte er. „Und doch lebt auch dort etwas. Rotatorien.
Scheibner. Nackelflallen und Pseudoanimalier. Das größte Exemplar
von ihnen kannst du in einem Werferfutteral unterbringen. Alles
Anaerobier. Leben ohne Sauerstoff. Die Bodenstruktur ist mehr als
merkwürdig. Es besteht sogar die Hypothese, daß dieser Planet einst von
hochentwickeltem Leben besetzt war, aber es ist zerfallen...“
„Ich denke, ihr hattet Funkkontakt?“
„Das ist es ja“, Oskuse schob Arpje in einen der Duschräume, ließ die
Schleuse herab. Jetzt konnten sie die Schutzgläser abnehmen, „hatten
wir auch. Aber jetzt nicht mehr. Und andere Planeten gibt es nicht. Was
schlußfolgerst du also?“
„Der Funker hat keine Lust mehr“, sagte Arpje Tyrsos und ließ sich in
das Wasser gleiten, „er macht Urlaub. Vielleicht ist versehentlich
Sauerstoff in sein Haus eingedrungen, und er erholt sich in einem
Blausäuresumpf...“
„Du bist eben keine Maschine“, Oskuse lachte und sprang in das
aufspritzende Naß, „dir fehlt noch viel, wenn du Computer werden
willst. Die Erklärung ist viel einfacher: Es gibt zwei Planeten. Auf einer
identischen Bahn. Und sie stehen in Opposition. Der andere ist also
hinter der Sonne. Na? Wie klingt das?“
„Also fliegen wir an der Sonne vorbei und schauen uns den Ver-
schwundenen an, ja?“
„Ach, Arpje“, sagte Oskuse gespielt gequält, „du vergißt alles. Laß
dich entschlacken. Mein Rätsel. Wir können nicht an der Sonne vorbei,
ohne gegrillt zu werden. Wir müssen beinahe der Planetenbahn folgen.
Viel näher als jener können wir nicht heran. Weil dieser häßliche blaue
Zwerg nicht nur Licht und Hitze speit, sondern auch jede Menge
mörderischer Strahlung abgibt. Ich bin jedenfalls gespannt, wie das
planetare Völkchen vor der Strahlung geschützt ist...“
„Hat noch keiner dem Commander gesagt“, fragte Arpje, „daß er die
Übertragung dieses häßlichen Lichts abschalten soll? Das geht einem ja
auf die Nerven...“
„Dazu brauchen wir keinen Commander, das macht die Automatik
ganz allein, zu unserem Schutz. Filter für Filter hat sie da vorgeschraubt
und zuletzt alles abgeschaltet. Nur die Radioortung blieb in Betrieb...“
„Na und?“
Oskuse legte sich auf den Rücken, trieb auf dem kristallklaren Wasser.
„Du siehst es doch selbst: Die Gänge leuchten blau, wir sehen rot und
ärgern uns schwarz. Oder nicht?“
„Ich denke, es ist abgeschaltet“, sagte Arpje ärgerlich.
„Ist es auch!“ Prustend stieß Oskuse einen Wasserstrahl senkrecht in
die Luft. „Aber dieser häßliche Zwerg ist so energiereich, daß er sich
nicht mehr an unseren Befehl hält. Er überbrückt einfach die getrennte
Leitung und zeigt sich uns in seiner ganzen himmlischen Pracht. Und
das so viele Wochen und Monate, wie wir brauchen, bis wir auf dieser
Planetenbahn an ihm vorbei sind. Schöne Aussichten, sage ich dir...“
Arpje Tyrsos wurde nachdenklich. Er tauchte einigemal unter, kam
hoch, aber schien den Gedanken noch nicht abgeschüttelt zu haben, der
ihn bewegte. „Was wirst du eigentlich mit deinen Früchten machen“,
fragte er unerwartet.
„Mit meinen Früchten?“ Oskuse betrachtete erstaunt den Jüngeren.
„Wie meinst du das: Mit meinen Früchten?“
„Ich habe auf ein Kilo Erderinnerungen verzichtet“, erklärte Arpje,
„obwohl ich gern noch ein paar Bücher an Bord gebracht hätte. Da kann
ich ein Kilo von diesen Früchten unterbringen. Meine Früchte...“
„Du mußt ja glauben“, erwiderte der Sizilianer, „daß wir inmitten
einer Hyanodendron-Plantage niedergehen und uns ein freundlicher
Gärtner bittet, ihn von seinem Fallobst zu erlösen. Ich denke mir das
ganz anders. Jemand wollte uns foppen. Ein glänzendes Raumschiff aus
einer fernen Galaxie ist gelandet. Edle, aber witzige Raumfahrer
schweben über den Planeten hin und entdecken so ein armseliges
Maschinchen mit der Kennzahl 14 222. Und dieses Maschinchen sucht
nach etwas Verstaubarem. Natürlich dauert das die Reisenden, und sie
holen ein paar Apfelsinen, jene geschätzten Früchte, und stopfen sie
heftig kichernd in die 14 222. Und wir denken, die wachsen hier...“
Tyrsos sah Oskuse fassungslos an. Der lachte hellauf. „Und wir Esel
kommen und suchen etwas, was es überhaupt nicht gibt“, fuhr er dann
beschwörend fort, „und ein kleiner Oberesel will noch ein Kilo für sich
persönlich...“
„Du machst Spaß“, sagte Tyrsos unsicher.
„Ich“, Oskuse schlug sich an die Brust, „traust du mir das zu? Oder
stell dir einen Planeten wie dieses ‚Paradies’ vor. Wir sehen von oben
die herrlichsten Früchte, können sie aber nicht pflücken, weil wir im
selben Augenblick tot wären...“
„Das ist Unsinn“, Arpje lachte los. „Wir haben Maschinen, die die
Arbeit für uns erledigen...“
„Und wenn die Früchte unter unseren Bedingungen ebenso sterben wie
wir unter den planetaren?“
„Dann wären sie nie zur Erde gekommen“, sagte Arpje voller
Überzeugung.
„Also gut. Eins zu null für dich. Und lachen kannst du auch schon
wieder. Das ist in Ordnung. Ich dachte, dir war der blaue Zwerg auf die
Lachmuskeln geschlagen. Weißt du, daß ich überhaupt keine
Erderinnerungen habe? Siebenundzwanzig Kilo Früchte kann ich mir
unter das Kopfkissen stecken. Du mußt mir nur sagen, was ich damit
soll?“
„Hofmant hat die ewige Jugend versprochen“, flüsterte Arpje, „und
Heilung von sämtlichen Krankheiten. Markus hat gesagt, daß das Zeug
seiner Ansicht nach alle Schlackestoffe aus dem Körper schwemmt und
die DNS-Kette auf unbekannte Art stabilisiert, vielleicht sogar die
Eigendrehung der DNS verzögert. Man kann damit alle Krankheiten
heilen. Man erkrankt gar nicht erst, weil alle auf der Erde entstandenen
Mikroben mit einer solchen Gen-Konstruktion einfach nichts anfangen
können und sie ignorieren...“
„Wenn das so ist“, sagte Oskuse nachdenklich, „und du alle fünf Jahre
deine Frau wechselst, weil sie viel zu schnell altert, dann ist das ja der
Himmel auf Erden.“
„Ich würde es meiner Freundin auch geben“, sagte Arpje.
„Sicher“, Oskuse stieg aus dem Wasser, ließ sich abtrocknen und zog
seine Dienstkombination an, „das kannst du. Du kannst dann auch
Schätze horten, weil es welche geben wird, die alles dafür hingeben,
ewig jung zu sein. Aber du kannst auch an deinen Früchten sterben.
Wenn einer beispielsweise sehr gierig darauf ist und nicht den
entsprechenden Gegenwert besitzt. Was sollte ihn hindern, dich zu
töten, das Zeug zu nehmen und seine zwanzig Jahre Umerziehung
abzusitzen, denn danach ist er ebenso jung wie vorher...“
„Also ist es gar nicht gut, wenn wir die Früchte bringen?“
„Denk an Lug und Betrug, den Verrat und den Haß, denk an Neid und
Depressionen, an Verzweiflung und Enttäuschung. Das alles wäre
wieder möglich... Wir sind unterwegs, um einer himmlischen Fee ein
kleines Stückchen von ihrem Kleid abzuschneiden. Dieser Stoffetzen
erfüllt alle menschlichen Wünsche, aber nur wenige haben etwas davon.
Und du willst ein Kilo für dich allein haben...“
„Nein“, sagte Arpje sehr entschieden, „nein, es ist nicht gut, die
Früchte zur Erde zu bringen. Es ist nicht gut.“
„Gut“, Oskuse sah nachdenklich seinem Freund zu, wie der sich
ankleidete und die Haare glattstrich, „nicht gut. Was heißt das? Das sind
Begriffe für eine besorgte Mama. Das gibt es gar nicht. Was für
Hofmant gut war, um ein Beispiel zu nennen, war für Markus schlecht.
Was für einen raffgierigen GeLaDeAl-Chef gut war, das war für die
Produktiven schlecht. Was ist gut? Was ist schlecht? Leblose Begriffe,
wenn man sie in kein vernünftiges Koordinatensystem einführt. Die
Früchte sind schlecht, wenn die Verpilzung zu einer Existenzfrage
anwachsen würde, die Menschheit sich jedoch nicht weiterentwickelt
hat. Sie sind gut, wenn man um ihre Gefahren weiß, sie ordentlich
unterbringt, sie als Forschungsobjekte behandelt und erst die Ergebnisse
preisgibt, sobald die Serienproduktion aufgenommen ist. Die Frucht als
Mittel kosmetischen Jugendzaubers ist schlecht. Als Heilmittel ist sie
gut.“
„Und wo ist die Grenze zwischen gut und böse? Zwischen sinnvoll
und sinnlos?“ Arpje erinnerte an einen Richter der obersten Behörde,
wie er Oskuse mit flammenden Augen ansah, die Lippen
zusammengepreßt. „Wo ist die Grenze“, fuhr er dann heftig fort,
„zwischen Kosmetik und Medizin? Kosmetik, denkt man, das sind
Glimmercreme und Bleichtonimitat. Aber auch Hautersatz, Trans-
plantatzähne und Verhaarungsgeberinyl gibt es. Und die Medizin
verwaltet alles. Dabei ist es nicht Medizin, sondern Kosmetik.
Es ist der natürliche Lauf der Dinge, das wir Zähne verlieren, unsere
Haut runzlig wird und uns die Haare ausgehen. Das ist natürlich und
biologisch. Also sind solche Reparaturen eigentlich Kosmetik. Dahinter
steht keine Krankheit. Und ist nicht eine Lebensverlängerung, und wenn
auch nur um ein Jahr, ebenfalls Kosmetik? Das ist nicht Medizin.
Natürlich sprechen die Ärzte von Heilung und nicht von
Verschönerung...“
„Du bist ein gelehrsamer Schüler“, Oskuse lächelte, „einer, der im
rechten Moment seinen Lehrer überwindet. Deine Meinung stimmt
sogar. Nur: Es gehört auch zu unserem Menschsein, daß unser Leben
immer leichter und schöner wird. Wofür sonst all die Anstrengungen,
die wir unternehmen? Sicher nicht, um wie ein angeschlagener Wolf
dahinzusiechen. Sicher nicht...“
„Markus hat einmal gesagt“, erinnerte sich Arpje Tyrsos, „daß er
nötigenfalls eigenhändig kontrollieren würde, ob unsere Früchte nur
verwendet werden, um ein Mittel gegen die Verpilzung zu finden...“
„Da hat der Commander den Mund ein wenig zu voll genommen“,
Oskuse winkte ab, „dann müßte er durch alle Reagenzgläser,
Zentrifugen und Retorten, durch alle Filter, Analysatoren und
Erlmeyerkolben kriechen und prüfen, was dort gerade produziert wird.
Er müßte seine Hände über alle soeben entstehenden Produkte und
deren Zwischenstufen halten und die scheinbar unwesentlichsten
Abfälle nicht aus den Augen lassen, um die Kontrolle nicht zu verlieren.
Er müßte Pflanzenkreuzungen ebenso überwachen wie die
Pharmakologie, müßte in chemischen Großproduktionsstätten in alle
Papiere und Gläser sehen und darauf achten, daß man nicht eine
ähnliche Substanz synthetisch herstellt. Solange er das nicht tut, gibt es
keine Sicherheit gegen Mißbrauch.“
„Und was wirst du tun, Genario“, Arpje blickte den breitschultrigen
Mann unsicher an.
„Mit meinem Leben dafür einstehen“, sagte er ernst, „daß selbst eine
Frucht, wenn es nur eine gäbe, in die Hände von O'Delta und damit zur
Erde kommt.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Arpje, „du hast doch gerade...“
„Es kommt auch nicht darauf an“, unterbrach ihn der Sizilianer, „daß
man alles versteht. Handeln muß man. Das ist wichtig.“
Sie hatten die blaue Sonne im Rücken, als sie den Planeten erblickten.
Jetzt, da das gespenstische Licht des blauen Zwerges seine Zauberkraft
verloren hatte - es sah so aus, als sei ein feiner blauer Nebel im All, der
die Sterne sanft umspielte - war wieder Alltag an Bord.
Der Planet, der sich aus diesem Lichtschleier herausschälte, war
wohltuend ockerfarben. Sie sahen die stark abgeplatteten Pole und den
mächtigen Äquatorgürtel. Auch Wasser konnten sie erkennen. Dann
aber, als die ersten Aufnahmen ankamen, wurde ihre Freude ein wenig
gedämpft. Die Bilder zeigten erodiertes Land, rissig und ausgetrocknet,
verkarstet und von jämmerlichen Pflanzen spärlich durchwirkt.
Später kamen die Fotos von den Nutzgebieten. Vierfach wurde der
gute Boden genutzt, und auch die Städte waren flächenmäßig nicht groß,
aber in ihrer vertikalen Ausdehnung beträchtlich. Gollnou, so hieß der
Planet, wenn man dem Funkfeuer glauben durfte, erwies sich als Planet
der Hochbauten und Brücken. Es gab einen Gürtelkontinent, der den
Äquator umspannte und die Wasser in ein Nord- und ein Südmeer
trennte. Verbindungskanäle waren nicht auszumachen, wohl aber
Brücken, über die Schiffe von einem Ozean in den anderen glitten.
Es war derselbe Gleiter wie auf Paradies 245/19. Sie stiegen ein, und
ihre Fröhlichkeit blätterte von ihnen ab. Ihre Augen wanderten immer
wieder über das Metall hin, das den Gefährten zum Sarg geworden war,
suchten irgend etwas, was ihnen verraten könnte, in welcher Gestalt der
Tod hier erschienen war. Sie setzten sich auf dieselben Sitze, auf denen
vorher die Skelette gesessen hatten, trugen die gleichen
Planetenkombinationen, die gleichen Stiefel und waren auch nicht
anders ausgerüstet. O'Deltas Kombination zierte das gleiche C, das
vorher auf Jauns Skaphander geleuchtet hatte, und er saß auf ihrem
Platz.
In den chemobiologischen Labors hatten sie an der Entwicklung der
Schutzhäute gearbeitet. Ein Material, das, auf die nackte Haut
geschäumt, mit dieser verschmilzt und den Menschen ebenso vor allen
Unbilden bewahrt wie sonst ein Skaphander. Aber man war nicht ganz
fertig geworden mit dem neuen Material, und der Oberingenieur hatte
sie vertröstet und ihnen gesagt, daß die nächste Landung ganz sicher in
den Schutzhäuten erfolgen würde. So waren sie in die bekannten
Kombinationen geklettert...
Der Gleiter ging auf einer freundlichen Wiese nieder. Noch während
das Gefährt fauchend ausrollte, klappten die Türen auf, die Spitze
öffnete sich nach oben und die Notausstiege glitten zurück. Ein
stürmischer Wind riß die Haare der Reisenden nach hinten, nahm ihnen
den Atem, peitschte ihre entwöhnten Gesichter. Es dröhnte und knatterte
ohrenbetäubend, und die Männer und Frauen, die in dem leisen
Gleichmaß der Archimedes die irdischen Töne vergessen hatten, rissen
die Münder auf, hielten sich die Hände schützend gegen das Gesicht,
stöhnten und erschauerten. Nur langsam begriffen sie, daß keine
Katastrophe den Gleiter zerfetzt hatte, daß alles normal, ja heiter war.
„Markus“, schrie Arpje, der als erster hinausgesprungen war,
„Markus...“
O'Delta stieg aus, folgte mit seinem Blick dem ausgestreckten Arm
des Freundes.
Der Himmel war nicht etwa, wie man hätte annehmen müssen,
tiefblau, sondern rubinrot. Von der Erde her kannten sie das Rot als die
Farbe des Sonnenuntergangs und demnach als gemäßigtes,
abgeschwächtes Licht. Hier war das anders. Es war heller als je auf der
Erde, und trotzdem spannte sich über sie ein Rubinhimmel: Mitten drin
aber war ein zerklüftetes blaues Loch, das alles an sich zu reißen schien.
„Nein“, sagte O'Delta, „man kann diese Sonne auch hier nicht als
Körper sehen. Ein Strudel ist sie. Ein winziger Malstrom aus Licht...“
Die Pflanzen schimmerten sanft violett, und dort, wo das nackte
Erdreich zutage trat, herrschten Grüntöne vor.
„Lange kann man es hier sicher nicht aushalten“, fuhr der Commander
fort, „und dabei haben wir uns alle nach einem Planeten gesehnt. Aber
gegen diesen hier ist die Archimedes wirklich ein Zuhause... Wie das
vor den Augen flirrt, wenn man lange irgend etwas betrachtet.
Abscheulich, was?“
Wortlos bestätigte es Tyrsos.
Noch standen sie herum wie eine Gruppe Touristen, die nicht wissen,
was sich anzusehen lohnt. Noch waren sie ohne eigentliche Aufgabe
und übten die Anpassung an diese ihnen so fremde Welt. Einige
machten ein paar hilflose Schritte, kamen aber augenblicklich zu den
Versammelten zurück.
„Da“, sagte Arpje, „da kommen welche...“
Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. Sie waren Menschen.
Das war offensichtlich. Aufrecht kamen sie über eine Wiese, schritten
auf die Raumreisenden zu. Je näher sie kamen, desto deutlicher konnten
die Männer und Frauen um O'Delta erkennen, daß es tatsächlich
Menschen waren. Ihre Schritte waren anders als die der Irdischen. Sie
gingen schwankend. Ihre Körper pendelten hin und her. Sie waren auch
fast vollständig nackt und von einem feinen goldenen Haarflaum
eingehüllt, der eine Art Lichtschein um sie erzeugte.
Der Anführer, ein goldhaariges Wesen mit stark entwickelten
Oberarmen, einer fliehenden Stirn und mächtigen Kaumuskeln, blieb
dicht vor O'Delta stehen, stand breitbeinig da und stützte die fleischigen
Hände in die Hüften. Es sah aus, als wollte er fragen: Und was wollt
ihr? Haut doch endlich ab, ihr...“
Die Frauen aber schienen von den Irdischen fasziniert. Sie boten ihnen
ihre straffen Milchbrüste an, zeigten mimisch, daß man daraus trinken
kann, und machten allerlei Verrenkungen, bei denen der Unterleib eine
nicht geringe Rolle spielte. Nur dann, wenn sich der Anführer einmal
umwandte, wobei ihm zunehmende Nervosität anzumerken war,
verhielten sie, taten unbeteiligt und ließen ihre Blicke über das violette
Gras wandern.
„Ich finde“, sagte Arpje zu Markus, „daß der Anführer ausgesprochen
dumm in die Welt schaut...“
Der Commander schüttelte einigemal den Linguiyter. Aus der kleinen
Maschine kamen nur Schmatz- und Knurrlaute. „Das kann ja heiter
werden“, sagte er hastig, „mein Übersetzer ist gestört...“
Aber die anderen bestätigten O'Delta, daß ihre Maschinen auch nichts
anderes hergaben.
„Ich denke, wir hatten Kontakt“, murmelte O'Delta, „na, dann viel
Spaß im Pantomimentheater.“
Eins der Weiber, ein noch sehr junges Ding, hatte sich unterdessen
Arpje Tyrsos genähert, berührte ihn zuerst sacht und versuchte ihm ihre
Brust in den Mund zu stecken.
Arpje wurde nacheinander rot und blaß und versuchte verzweifelt, die
planetare Schönheit loszuwerden, ohne daß er damit Erfolg hatte.
Der Anführer der Gruppe senkte den Kopf, krümmte die Finger, an
denen er beachtliche Krallen hatte, und schickte sich an, auf Arpje
loszugehen.
Oskuse hatte im selben Moment den Werfer in der Hand, richtete ihn
auf das aggressive Wesen... Es war ein gefährlicher Augenblick.
„Suh - schuh“, klang da ein Ton auf, der, zischend und weich zugleich,
unüberhörbar war.
Der Anführer strich sich mehrmals durch das goldene Lockenhaar,
grinste einfältig und wandte sich, wenn auch zögernd, ab. Das Weib ließ
von Arpje und trottete dem Blonden hinterher. Oskuse steckte den
Werfer wieder ein. Alles sah friedlich aus. Nein, nicht eigentlich
friedlich, eher wie der Abbruch einer absurden Theaterszene durch
einen zornigen Regisseur.
„Commander“, rief Tsi Ling, der Soziologe, „sehen Sie nur. Hinter
uns.“
Ein ockergelbes Tier, auf einer Vielzahl tentakelartiger Gebilde
gleitend, näherte sich ihnen. Es hielt inne. und musterte die Menschen
aus seinen fünf halbkugeligen Augen. „Suh - schuh“, machte es, und die
Irdischen wußten, wer das Geräusch erzeugt hatte. Es ließ dabei eine
ganze Anzahl seiner Tentakeln von einer Seite auf die andere
schwingen.
„Geht in den Stall“, erklang es aus den Linguiytern. „Suh - schuh. Beeilt
euch schon, ihr Dickköpfe...“
Die goldhaarigen „Menschen“ trotteten davon, nicht ohne daß einige
Weiber noch anzeigten, wo sich ihre Unterkunft befand. Je weiter sie
sich von den Raumreisenden entfernten, desto eiliger liefen sie. Zuletzt,
sie waren schon winzig, hätte man sie mit einer galoppierenden
Pferdeherde verwechseln können.
„Und ihr...“, der Fünfäugige dachte nach, stützte alle seine Tentakeln
ins Gras, „was seid ihr denn für welche? Sicher Neuzüchtungen, die ihre
Blöße bedecken. Dabei sind die Goldhaarigen die befehlsbravsten. Was
man so alles züchtet...“ Dann schwang er wieder seine Tentakeln und
machte mehrmals: „Suh - schuh, suh - schuh, suh - schuh!“
„Die hören nicht auf mich“, murmelte der Fünfäugige dann enttäuscht,
„elende Kreuzungsbastarde. Geht in den Stall, sag ich euch!“
Bis jetzt hatten die Erdenmenschen atemlos den Worten der
Übersetzungsmaschine gelauscht, jetzt aber drängte es sie, zu erklären,
daß hier offensichtlich eine Verwechslung vorlag. Es fiel ihnen schwer
zu glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten: Menschen, die
keine Menschen, sondern eine Art Haustiere waren, und diese
krakenartigen Fünfaugen, die sprechen und offensichtlich auch denken
konnten.
„Du kannst mich jetzt verstehen“, wandte sich O'Delta an den
Pentocularier, „sage uns, wie man jene Wesen nennt, die sich dort am
Horizont entfernen.“
Als der Pentocularier die Raumreisenden sprechen hörte, knickten ihm
die Tentakeln ein, und er lag auf dem Rücken. Seine Augen nahmen alle
möglichen Farbschattierungen an, und sein vorher sandfarbener Körper
glühte weinrot. Mühsam kam er wieder hoch. Das Farbenspiel der
Augen wollte nicht aufhören.
„Stoppelopps“, stöhnte der Pentocularier und sah von einem zum
anderen, „Stoppelopps.“
„Und du denkst, daß wir auch Stoppelopps sind“, sprach O'Delta nun
sehr ruhig weiter, „so denkst du. Aber das stimmt nicht. Wir sind mit
diesem Apparat dort“, er wies auf den Gleiter, „aus dem Raum der
Sterne gekommen und möchten die sprechen, denen du dich
unterordnen mußt. Das verstehst du?“ Der Pentocularier klappte
einigemal nach vorn.
„Ja“, sagte er, „ich bin Terarist. Mache nicht viel. Achte, daß die
Stoppelopps sich nicht wegen der Weibchen zanken. Treibe sie in die
Ställe. Helfe mit ausmisten, denn sie sind sehr schmutzig...“ Er leuchtete
nun türkis.
„Innen jedenfalls“, fuhr er dann fort, „außen glänzen ihre Ställe. Mit
ihren Doppelzungen lecken sie die Wände und Wege blitzsauber, aber
man darf nicht in die Schlafecken. Sie sind eben sehr schmutzig. Und
sie können einander nicht ausstehen. Deshalb kam ich. Ich dachte, es
gibt Streit ... Na ja, auch die Jungen knuffen und treten sie. Das darf
aber nicht sein, weil so etwas den Plan gefährdet. Jedes Junge, das
wegen Mißhandlung stirbt, gibt einen Abzug in dem Zuchtplan. Man
muß schnell sein, wenn man eingreift. Wenn ich mit Futter zu ihnen
gehe, dann treten und schubsen sie sich rücksichtslos, um sich, sobald
sie satt sind, gegenseitig abzulecken und zu liebkosen. Nur wenn wir sie
schlachten müssen, dann ist es traurig. Wir nutzen dann ihre Liebe zu
glänzenden Dingen aus, und sie folgen den kleinen schimmernden
Bronzesternchen ganz freiwillig in die Maschinen ... Sie haschen nach
dem Flitter, bis die Multisäge sie entsprechend der Vorschrift zerlegt...
Traurig ist das. Ich bin Terarist. Das ist wenig. Aber sie tun mir leid. Ich
wäre dafür, daß wir endlich beginnen, die Seebotter zu züchten. In
gigantischen Aquarien zum Beispiel oder in künstlichen Teichen. Sie
sind ertragsreicher und haben keinen Kopf, kein Hirn ... Ich gehe jetzt.
Hole einen Genisten. Der wird alles besser wissen als ich...“
Er glitt davon, kam noch einmal zurück.
„Woher kommt ihr?“ fragte er und rieb sich mit einem Tentakel über
die Augen.
„Von der Erde“, erwiderte O'Delta lächelnd, „aus dem Sternenraum...“
„Barsou“, der Pentocularier hob wie zur Abwehr die Tentakeln, „von
dem Unheilbringer...“
„Die Erde sieht man nicht“, erklärte O'Delta.
„Barsou auch nicht“, wimmerte der Pentocularier und wurde sehr
klein.
O'Delta meinte, daß dies nur der zweite Planet sein konnte, fragte sich
aber zugleich, woher sie von dessen Existenz wußten, besaßen sie doch
keinerlei Flugaggregate. „Barsou sieht man nicht, weil zwischen ihm
und euch immer die Sonne ist. Die Erde aber sieht man nicht, weil sie so
weit entfernt ist.“
Das verstand das Lebewesen mit den fünf Augen, wiederholte
alles noch einmal und glitt endgültig davon.
Genario Oskuse fand als erster die Sprache wieder. „Da sieht man erst
einmal, was aus einem werden kann, wenn ein anderer für dich handelt
und denkt, dich füttert, tränkt und lenkt... Haben wir ein Glück, daß es
auf der Erde nie Fünfäuglein gab, was?“
„Na, meine Herren Stoppelopps, dann schlendert mal in die Ställe“,
sagte Janka lachend über die Kopfhörer. Sie schien die einzige zu sein,
die nicht bedrückt und peinlich berührt war, „und vergeßt nicht, nach
den goldenen Sternlein zu hüpfen, wenn es zur Schlachtmaschine geht.“
„Janka“, O'Deltas Stimme war ein einziger Vorwurf, „denk lieber
daran, daß die Stoppelopps unsere Morphologie besitzen. Ihr Hirn muß
ähnlich angelegt sein, auch wenn sie sich streckenweise quadriped
bewegen wie bei der Flucht in die Ställe.“
„Ich glaube“, Jankas Stimme klang spöttisch, „ihr müßt euch von
dieser falschen Sentimentalität frei machen. Oder würdet ihr im
dämmrigen Wald auch auf eine Baumwurzel schießen, nur weil sie
einem Drachen ähnelt? Wenn euch euer Gewissen dazu treibt, dann laßt
den Stoppelopps ein Exemplar der Entstehung der Arten und ein Kapital
da. Wundert euch aber nicht, wenn sie damit ihre Lager tapezieren oder
sich ihr Hinterteil abwischen.“
Sie kamen zu sechst angeglitten. Immer sah ihre Bewegungsweise
weich und fließend aus, und immer bewegten sie sich lautlos.
Der Terarist mußte sehr genau Bericht erstattet haben, denn als die
sechs die Gruppe um O'Delta erreicht hatten, versuchten sie es mit einer
leichten Verbeugung.
Markus erwiderte diesen Gruß und sagte: „Ich grüße euch, Bewohner
dieses lichten Planeten.“
Sie berührten sich gegenseitig mit den Tentakeln. Na bitte, schienen
sie zu sagen, der Terarist hat also die Wahrheit gesagt: Sehen aus wie
Stoppelopps und reden wie wir. Ungeheuer.
„Auch wir grüßen euch“, ergriff einer das Wort, „und laden euch im
Namen des Gremiums in unsere Spitzenstadt ein.“
„Sie kommen von einem sehr fernen Stern“, sagte ein anderer und
schaute sehnsüchtig zum Himmel hinauf, „und er heißt Erde, nicht
Barsou...“
Der Gleiter brachte sie alle in ruhigem Schwebeflug in eine schlanke,
hoch aufragende Riesenstadt, deren Bauweise von einer einmaligen
Technik kündete: Sie stand auf Stelzen.
Die Unterhaltung verlief sehr freundlich.
Die Pentocularier waren fasziniert, als sie die Bilder von der Erde
sahen und noch mehr, als sie die Aufnahmen des eigenen Planeten
betrachten konnten. Sie entsetzten sich über das Ausmaß der
Bodenerosion und lobten ihre Städte. Und so schilderten sie sich selbst:
In einem Verbund leben neben- und miteinander drei Gruppen. Die
Teraristen sind praktische Wesen mit geschickten Tentakeln, wachen
und harten Augen, die alle manuellen Arbeiten erledigen können und
den Stoppelopps die Aggressionen austreiben. Die Genisten, die
Begleiter der Irdischen gehörten dieser Gruppe an, beschäftigen sich mit
der Wissenschaft. Sie sind die, die aus Ideen und Theorien den
praktischen Teil schöpfen und ihn den Teraristen klarmachen. Genisten
sind immer vielseitig und könnten ebensogut Teraristen wie Futuristen
sein.
Letztere bilden die dritte Gruppe. Sie sind die Hüter aller edler
Gedanken, die Produzenten der künstlerischen Produkte, die Schöpfer
der Architektur und aller Werte, die länger als ein Pentocularierleben
halten sollen. Was ein Futurist sagt, hat Bestand, gilt, ist immer
Richtschnur des Handelns der anderen. Sie dürfen sich um nichts
kümmern, was in Alltag und Gewohnheit einmünden könnte, und so
werden sie mit allem versorgt, was sie benötigen.
Es war die Ökologin Stefka Radels, die diese umständlichen und
wohlformulierten Erklärungen als erste ermüdeten, denn unerwartet hob
sie den Kopf und fragte: „Ich begreife nicht, wie konnte das mit Ihrem
Boden geschehen. Sie haben Wasser, eine sehr fruchtbare Krume und
Licht in Hülle und Fülle, und Sie lassen Ihren Boden erodieren...“
„Ja, der Boden..., der Boden“, die Genisten fächelten sich gegenseitig
Luft mit den Tentakeln zu, blickten sich treuherzig in die Augen,
wackelten mit dem Kopfbruststück, als schüttele sie jähes Fieber, „eine
Sache ist das, oh, eine Sache... Aber es ist wahr, der Boden. Kann man
nichts dagegen sagen. Man sieht es ja, und besonders von ganz oben...
Von dem Sternenschiffen der Menschen... Das ist eine schlimme
Sache... Und sie wird kaum besser... Nein, nein.“
„Vielleicht“, schaltete sich Stefka erneut ein, „könnten Sie das alles
logisch und wissenschaftlich klar ausdrücken, denn ich habe eigentlich
noch gar nichts verstanden.“
Lange funkelten sich die verwirrten Genisten an. Dann ergriff einer
von ihnen das Wort.
„Es geht etwas schief“, sagte er, „mit unserem Anbau. Wir kennen
Barsou. Dort gibt es kein intelligentes Leben mehr. Aber auch kaum
Sauerstoff. Eines Tages wird es ihn geben. Dann werden wir
übersiedeln. Zuvor müssen wir noch Flugapparate schaffen. Kom-
pliziert, was?“
„Und was, bitte, hat Barsou mit Ihrer Landwirtschaft zu tun?“ Stefka
Radels hob den Kopf, sah wechselweise dem Wortführer in seine fünf
schimmernden Augen.
„Sie wissen es“, fuhr er fort, und mit ihm ließen auch die anderen die
Tentakeln müde herabhängen, „Sie haben Barsou gesehen. Von dort
sind sie gekommen: Aggressoren. Sie haben genau so eine blühende
Kultur gehabt wie die Gollnouer. Aber sie haben Raubbau getrieben,
und schließlich ist ihnen alles eingegangen. Da kam ihre Raumflotte
hier an. Und nichts, nichts haben sie verschont. Und wurden nicht
geschont. Das war der große Krieg...“
„Und wo sind die Barsouer jetzt?“ Der Commander wandte sich an
den Sprecher.
„Die haben von Gollnou Besitz ergriffen und leben auf diesem
Planeten.“
„Die Stoppelopps“, erkundigte sich O’Delta.
„Iiiih!“ Alle Genisten erzeugten diesen Ton gleichzeitig.
„Pentocularier“, sagte der Wortführer der Genisten mit Bedacht.
„Sie“, fragte Stefka überrascht, „Sie sind die einstigen Bewohner von
Barsou? Ja, haben Sie denn nicht wenigstens aus Ihren Fehlern gelernt?
Die Erosion ist hier auch schön weit fortgeschritten. Wo wollen Sie hin,
wenn dieser Planet Sie einmal nicht mehr trägt?“
„Das ist es ja“, ein zweiter Pentocularier ergriff das Wort, „das macht
uns Sorgen. Schon die Flugapparate werden nie mehr entstehen, denn
ein Zufallsgenerator bestimmt von vornherein, wer Terarist, wer Genist
und wer Futurist ist. Man kann nichts dagegen machen. Nicht die
Leistung entscheidet, sondern der Generator. Vielleicht hüten unsere
fähigsten Leute die Stoppelopps, und das edle Gedankengut wird von
Minderintelligenten festgelegt. Der Stempel bei der Geburt setzt alles
fest. Eine Korrektur ist nicht möglich. Einige sagen auch, daß die
Futuristen ihren Nachkommen“, seine Stimme knickte ab, wurde leiser,
„den Futuristenstempel besorgen können.“
„Vielleicht können Sie uns einige Ratschläge geben“, fuhr der
Wortführer der Genisten fort, „Sie kommen von weit her. Bei Ihnen ist
sicher vieles anders, was?“
„Das kann man sagen“, murmelte Arpje Tyrsos, „bei uns werden
Tintenfische gegessen, und Menschen entscheiden über die Zukunft.
Menschen...“ Er brach ab und dachte wohl an das Stoppeloppweibchen.
„Was sind Tintenfische?“ erkundigte sich der Wortführer.
„Kleine achtarmige Teufel“, dröhnte Oskuses Stimme durch das
Fahrzeug, „lecker und unkompliziert. Na, nichts für ungut, das war nur
so ein Gedanke von mir.“ O'Delta sah ihn strafend an.
„Wer wacht eigentlich über die Ordnung“, wollte Stefka wissen, „an
der niemand rütteln darf?“
„Ich“, sagte der Wortführer bescheiden, „ich bin Köcher. Oberster
Köcher. Mir stehen achtzig Stellvertreter zur Seite!“
„Sie?“ Stefka verschluckte sich fast vor Lachen, und die Pentocularier
sahen sie fassungslos und betreten an; sie mochten eine Ähnlichkeit mit
den Stoppelopps erkannt haben, „da ändern Sie doch das, was Sie stört!“
„Dann entmündigen mich meine Stellvertreter“, sagte der
Pentocularier schlicht, „sie entmündigen mich, weil immer nur der, der
alles am korrektesten erhält, Oberster Köcher sein kann.“
„Sprechen Sie sich doch mit den anderen ab“, warf Arpje ein, „ich
denke, daß Sie alle Mißstände kennen und beseitigen wollen.“
„Das verbieten mir mein Titel und mein Stolz“, erklärte der Oberste
Köcher, „mich mit den anderen gemein zu machen. Vergessen Sie bitte
nicht, daß ich Oberster Köcher und nicht einfach Köcher bin...“ Er sah
in die Runde. „Wir haben nur eine Hoffnung“, verkündete er gewichtig,
„die behüteten Futuristen. Sie werden es schaffen.“
„Ein informatives Gespräch“, O'Delta beendete die Unterhaltung „ich
würde jetzt gern wissen, was das hier für Bauwerke sind...“
Die behüteten Futuristen waren in der abgelegenen Tabustadt un-
tergebracht. Hinter Glas. In einer Nährgelantine. Nicht der gesamte
Futurist, sondern nur der lebende Kopf. Und man erhielt diese Köpfe am
Leben. Man erhielt auch ihre Gedanken am Leben.
„Sie haben Jahrtausende Zeit“, erklärte der Oberste Köcher, „sie
werden alle Probleme lösen. Auch das der Erosion. Dumm ist eigentlich
nur, daß wir ihre Sprache nicht mehr verstehen. Unsere Sprache hat sich
so gewandelt, daß wir nicht wissen, was sie uns mitteilen wollen. Sie
aber, die Sie, aus dem Sternenraum kommend, auch uns verstehen, Sie
haben doch Möglichkeiten.“
„Unser Botaniker kann Ihnen zwanzig Lösungsmöglichkeiten
vorschlagen“, sagte O'Delta, dem es nicht behagte, zum Übersetzer
degradiert zu werden.
„Verzeihen Sie“, der Köcher verneigte sich bis zur Erde, ihm schien
diese neuerworbene Geste offensichtlich Vergnügen zu bereiten, „aber
alles, was ich erfahren habe, scheint mir radikal und nicht gut für unsere
Ordnung. Seien Sie nicht böse, aber es ist so.“
O'Delta verständigte sich mit Janka, und sie schaltete den Bordrechner
ein. Nun würden alle Gedanken der behüteten Futuristen über ein
Lautsprechersystem den Männern und Frauen im Raumschiff ebenso
wie der Landegruppe und den Pentoculariern verständlich werden.
Die Maschinerie begann zu arbeiten.
Es knackte einigemal. Dann hörten sie alle deutlich die Gedanken des
Philosophen:
„Trallala, bin wieder da. Bin immer da. Was ist denn das? Fruchtsoße
mit pikanten Pulken. Ein Genuß. Himmlisch. Und Ausscheiden erst.
Man scheidet himmlisch Pulken aus. Sie sollen mich ja entleeren, diese
Banditen da draußen. Immer lassen sie alles zu lange in mir, und ich
denke doch: Du machst dir in den Latz. Ollebolle, auf dem Sitz da hockt
ein Trolle. Scholle, Schelle, Schule, Schuhe. Wir sitzen in dem Schuh,
und raus bist du. Nacht, ihr Lieben. Müde, immer müde.
Fressenentleerung nicht vergessen. Ich kann's mir leisten, ihr Feisten. O
mein Fütterchen, wie saubeutelig ist die Welt. Damals, als Kuki kam, da
war was los. Geschenke auf grüner Wiese. Und jetzt? Die Kiemen voller
Blabber und kein Eiapopeia. Mein Schätzchen mit dem feinen Lätzchen.
Wo ist mein Essen? Mein Fraß. Kompott. Komplott. Komplett...“
„Nun“, Janka hatte O'Delta in seiner Kajüte besucht, saß auf seinem
Bett, während der Commander den Sessel bevorzugte, „sind Sie endlich
geheilt von Ihrem medikamentösen Jungsein? In Ihrer Hand liegt es, ob
wir die Teufelsfrüchte nehmen oder hängenlassen. Phantastisch, was die
für edle Gedanken wälzen.“
„Das sind Greise“, O'Deltas Widerstand war schwächer, als er es
vermutet hatte, „die keine Sinneseindrücke von der Welt empfangen und
einen Großteil des Leibes los sind. Das ist anders, als wenn ein wacher
und gesunder Mensch ein paar Jahrzehnte länger lebt.“
„Und wenn der Speicher im Kopf voll ist?“
„Kein Aufzug, der nicht das Fünffache der aufnotierten Last bewegt,“
sagte Markus und dachte plötzlich an Jaun, an ihre Wärme, an die
glücklichen Stunden in diesem Raum, „und keine Nerven-
zellensammlung, die nicht Freiräume hat...“
Operation Hyanodendron
Die Sonne Thau-ccc-414/00.
Von hier war die Boje 14 222 gestartet und hatte die Erde erreicht. Sie
hatte von einem lebensprallen Planeten gekündet, auf dem ein
rätselhafter Baum wuchs.
An diesem Baum hingen eigenartige rotviolette Früchte, deren
orangenes Aderwerk bis in die lichtblaue Spitze reichte. Substanzen aus
diesen Früchten hatten Ratten in Schaum gehüllt, hatten sie entschlackt
und verjüngt.
Den Paradiesern verabfolgt, würden sie ein normales Leben ga-
rantieren. Ein Leben von bestimmt hundert Jahren. Auf dem Planeten
des GeLaDeAl würden sie revolutionäre Impulse setzen, Schönheit und
Ebenmaß allen garantieren.
Den Gollnouern würden sie den Urverstand der behüteten Futuristen
garantieren.
Den Frauen und Männern um Markus O'Delta hatte bisher kein
glücklicher Stern den Weg gewiesen, und sie ahnten auch nicht, daß es
nach der Archimedes nur noch vier Sternenschiffe der Solarklasse
gegeben hatte und sie nun schon zweihundert Jahre nicht mehr
produziert wurden. Drei der fünf Raumflugkörper waren irgendwo in
der Tiefe des Alls aufgeflammt, waren Feuerkugeln geworden,
spurenfrei vernichtet...
Oskuse kam in die Zentrale, setzte sich, als sei dies normal, in den
Konturenlieger des Zweiten Commanders, streckte die Beine aus.
„Wir haben die ersten Oberflächenaufnahmen“, sagte O'Delta, „nicht
sehr ermutigend.“
„Und wenn sie recht hat?“
O'Delta sah Oskuse scharf an. Natürlich wußte er, wen der Freund
meinte.
„Hat sie dich auch überzeugt“, brauste O'Delta auf, „dann seid ihr ja
schon drei gegen mich. Und du meinst, daß ihre Behauptungen, nur weil
sie Astronomin ist, richtig sein müssen? Wir sind nach dem Plan
geflogen, und die Trajektorie hat uns hierhergelenkt. Und plötzlich sagt
Janka Chomain: Nein, das ist nicht der Planet. Zuviel Staub und Metall
in der Luft, da gibt es kein Leben... Und was soll ich machen? Alle
Hyadensonnen abgrasen? Alle Planeten besuchen? Auf jedem einen
Jahreszyklus abwarten, ob sich nicht vielleicht die Früchte aus dem
Boden schieben? Es muß etwas geben, wonach man sich richten kann,
sonst ist man verloren. Und wir richten uns nach dem Flugprogramm.
Wir sind bei der Sonne Thau-ccc-414/00 angekommen. Wollen wir
mehr?“
„Bei uns sagt man“, entgegnete Oskuse ruhig, „getroffene Hunde
bellen. Ich sage: Enttäuschte Commander schreien. Du bist enttäuscht,
Markus, verbittert...“
„Hast du die Temperaturwerte gesehen“, fuhr O'Delta heftig fort,
„diese Schlangenlinie, die sich Planetenbahn nennt? Ich habe mit vielem
gerechnet, selbst mir einem mehrjährigen Aufenthalt hier, weil wir
zufällig im Winter ankommen. Aber das..., das...“ Seine Stimme wurde
leise, schwach, müdigkeitsschwer. „Vielleicht hat sie recht, und es
existiert tatsächlich kein Leben mehr auf dieser Kugel. Es ist der
ehemals dritte Planet, und er bewegt sich jetzt zwischen dem ersten und
zweiten und nähert sich mehr und mehr dem ersten. Ich kann mit meiner
Uhr errechnen, wann er in die Sonne stürzt...“
„Und was meint Janka im einzelnen?“
„Sie behauptet, daß dieser Planet nicht zu diesem System gehört. Er
wandert nicht nur entgegen den übrigen um den Zentralkörper, sondern
auch seine Rotation ist entgegengesetzt. Sie meint, er ist ein Wanderer,
der, aus unerklärlichen Tiefen kommend, eingefangen wurde und eine
Zeitlang quasistabil die Sonne umlief. Und Stefka erklärt, daß er
Lebenskeime mitbrachte. Und daß das Leben auf ihm nicht
Hyadenleben ist. Daher die unerklärlichen Strukturen, an denen
Hofmant gescheitert ist. Leben aus einem anderen Raum, einer anderen
Zeit...“
Oskuse gähnte. Seine Lider sanken herab. Er betrachtete O'Delta aus
schmalen Augenschlitzen. „Und jetzt?“
„Wir steigen ab!“
„Soll ich mich mit dem Gleiter umsehen?“ Oskuse blickte Markus
eindringlich an.
Der Commander wußte, daß Oskuse das nicht nur so gesagt hatte. „Die
Atmosphäre ist eine nach Eisenfeilspänen schmeckende Staubsuppe. Du
kommst mit dem Gleiter da nie wieder raus. Also müssen wir dich
sowieso holen. Nein, wir werden landen. Wir werden...“ O'Delta dachte
nach.
Er hatte gehofft, einen Planeten zu finden, der sich ruhig durch die
Biosphäre der Sonne bewegte. Auf einem solchen Planeten können sich
Pflanzen bilden, die das Wunderbare in sich speichern. Mochte die
Sonne sein, wie sie wollte. Oft ist es der Widerstand, der die Stärke
schafft.
Markus O'Delta hatte sich diesen Planeten genau so vorgestellt. Aber
woher sollte er wissen, daß sich einst achtundfünfzig Planeten in
Millionen Jahren auf diese Sonne zubewegten, daß von ihnen nur noch
vier übrig waren und daß ein jeder Planet einmal den Lebensbereich
durchlaufen, eine ungeheure Vielfalt an Lebendigem erzeugt und
schließlich wieder verbrannt hatte, nachdem er den Lebensring passiert
hatte, und schließlich in die glasige Sonnenhitze gestürzt war.
Als die Archimedes auf dem Boden des Planeten stand, überraschte
die Raumfahrer die Dämmerung. Dieses Bild, das auf der Erde ein
starkes Gewitter ankündigte, der schwefelgelbe bis giftgrüne Himmel,
die beinahe schwarzviolette Wolkenwand, der Orkan, der Sand, Staub
und Metallteile mit sich führte, kündete von dem beginnenden Inferno,
von dem Grauen des Untergangs.
Über den trockenen, verkarsteten Boden jagte ein böiger Sturm, der
Geröll, Sand und weiße, glitzernde Kristalle vor sich her trug. Sie sahen
Gebilde, die an geplatzte Röhren erinnerten und an denen ein tintiger,
fellähnlicher Besatz hing. Das Ende der Ebene, auf der die stolze
Archimedes stand, war in wabernde, zuckende Finsternis getaucht.
Greller Feuerschein flackerte auf, verlor sich. Spitze Blitze jagten den
Wolken entgegen, vermischten sich, bildeten, verästelte Lichtzeichen.
„Commander“, die Stimme des Planetologen klang durch die Zentrale,
„darf ich Ihnen etwas erklären...?“
Schweigend sah O'Delta dem Mann entgegen.
„Dieser Planet hat offensichtlich Leerstellen in der Mendelejewtafel.
Eine Reihe bestimmter Stoffe existiert hier nicht. Und dann: Die
anderen Planeten wurden von unseren Satelliten als instabil definiert.
Alles nähert sich der Sonne. Langsam, aber unaufhaltsam...“
„Das ist ein bißchen viel.“ O'Deltas gefurchte Stirn kündete von der
Anstrengung, die es ihm kostete, die Informationen einzuordnen.
„Dieser Planet hier ist ein Gast im System“, erklärte der Planetologe
einfach, „er ist ein Vagabund. Entweder hat er das System einer anderen
Sonne verlassen, oder er entstand auf anderem Weg. Er zog jedenfalls
durch den Raum. Millionen Jahre? Milliarden Jahre? Vom Ursprung an?
Wir können die Frage nicht entscheiden. Und dann hat er sich von
dieser Sonne einfangen lassen, war anfangs einer der äußeren Planeten,
wanderte, wie die anderen Planeten auch, immer näher und näher. Er hat
sich eingeordnet. Sicher ist, daß seine Bahn niemals stabil war. Dann
geriet er in den Lebensbereich, und was immer er als Sporen oder
Lebenskeime trug, erwachte. Es gab sicher einige Entwicklungen, die
scheinbar entgegen den Gesetzen der Evolution abliefen. Während sie in
ihren Räumen oder zu ihrer Zeit sicher unauffällige Lebensformen
waren, blühten sie jetzt und hier auf...“
„Was sagen die Biologen?“
O'Delta wollte es nicht wissen. Doch er mußte fragen, denn es gehörte
zu den Verfahrensweisen.
„Sie sagen, daß es den Baum wahrscheinlich nicht mehr gibt. In den
Jahrhunderten von dem Eintreffen unserer Boje bis heute hat sich die
Bahn des Planeten der kritischen Grenze so weit genähert, daß Leben
kaum noch möglich ist.“
Die automatischen Auswertungen wurden weiterhin fortgesetzt, die
ersten Verluste an Material und Technik mußten hingenommen werden.
Markus O'Delta befand sich in seiner Kabine, hatte die Kom-
mandoleitung übernommen und horchte in das Stimmengewirr der
unterschiedlichen Arbeitsgruppen.
Er erinnerte sich an das Hofmantsche Institut. Da gab es so etwas. In
der Kantine. Wenn sie in die Kantine gingen, strömten viele Stimmen zu
einer einzigen zusammen, und die erreichte jeden, wo immer er war.
„Kein Leben“, sagte O'Delta gedehnt zu seinem grauen Spiegelbild auf
dem Bildschirm, „kein Leben also... Ein Leben, unser aller Leben, für
eine Idee vergeudet. Für eine Fiktion.“
Er schien nicht zu bemerken, daß die kleine gläserne Kugel mit den
eingelegten Farbmustern, die er unablässig zwischen den Händen
drehte, daß diese kleine Kugel einst Jaun Wetdars Zimmer geziert hatte.
„Commander...?“ Es war wieder einer in der Kommandoleitung, der
ihn sprechen wollte.
„Bitte.“
„In den zerfetzten Röhren, so wissen wir mit Sicherheit, lebte einst
intelligentes Leben. Alles ist kunstvoll und geplant geschaffen... Wir
sind auf einer apokalyptischen Steinkugel niedergegangen. Es regnet
Feuer und Steine. Gebirge zerbersten, und flüssige Metalle kommen
kochend aus der Hefe... Noch scheint es auf der Nachtseite des Planeten
friedlicher zu sein, aber möglich auch, daß dort gerade Pause ist.“
Pause, dachte O'Delta müde.
„Und Wasser?“ erkundigte er sich.
„Ich weiß, Commander“, die Stimme wurde besorgt, „wir brauchen es
für den Rückflug. Wir müssen suchen. Mit allen Systemen...“
„Ich befürworte es“, O'Delta erhob sich, „suchen Sie mit allen
Systemen. Die maschinellen Verluste sind unwichtig.“
„Darf ich, Janka?“
„Kommen Sie, Markus“, sie ging ihm entgegen, „setzen Sie sich.
Möchten Sie etwas trinken?“
„Trinken“, O'Delta schnaufte hörbar, „wir brauchen Wasser. Wasser
für den Rückflug. Wir haben etwas mehr als tausend Tonnen durch das
Aggregat und dreihundert Tonnen in unseren Gewächshäusern benötigt.
Das müssen wir haben...“
Die Frau dachte nach. „Es reicht nicht“, sagte sie dann entschieden,
„wenn wir die automatischen Stationen hinauslassen, daß sie nach
Wasser suchen, wir müssen auch alle Landegleiter mit Menschen, mit
Freiwilligen, einsetzen. Irgendwo muß es doch Wasser geben.“ O'Delta
nickte stumm.
„Soll ich das sofort durchgeben?
„Sie haben mich früher nicht gefragt“, O'Delta lächelte schwach, „jetzt
ist jede Frage Zeitverschwendung. Handeln Sie, Janka...“
Sie gab mit, wie es O'Delta schien, schneidender Stimme die ent-
sprechenden Befehle in die Kommandoleitung.
„Was ist mit Ihnen, Markus?“ fragte sie dann.
„Ich bin müde“, O'Delta rieb sich die Augen, beugte sich nach vorn,
betrachtete in der spiegelnden Glasfläche des Tisches sein Abbild, „nur
noch müde. Ich begreife nichts mehr. Wir finden Leben. Unerwartetes
Leben. Vielfältiges Leben. Dort aber, wo wir es vermuten, wo wir
Nachricht von ihm haben, dort geht es in eben dieser Zeit zugrunde ...
Es ist eine Wiederholung in meinem Leben ... Damals hieß er Raapita.
Ein Freund und Mitarbeiter. Er wollte gesund sein! Nichts weiter. Und
er ist nicht nur gestorben, sondern die Urgeneration einer neuen Geißel
der Menschheit wurde gezüchtet. Raapita. Allerdings haben zwei andere
ihr Einverständnis zu dem Experiment gegeben. Und einer von denen
war ich ... Und jetzt ist es Hyanodendron. Die Geschichte wiederholt
sich für mich. Wir finden unerwartetes Leben, und das erwartete stirbt...
Vielleicht sollte ich mich als Freiwilliger für einen Gleiter melden.“
Sie schwiegen beide.
„Das wäre wenigstens eine Aufgabe“, fuhr der Commander fort, „da
draußen. Gegen den Orkan und alle Unbilden.“
„Dann wäre ich die“, erklärte Janka sachlich, „die den Werfer ziehen
müßte, um sie an die Paragraphen betreff des Commanderdaseins zu
erinnern. Und ich würde nicht zögern...“
„Kann ich mir denken“, O'Delta erhob sich, seine Worte klangen
grimmig, „außerdem haben Sie noch etwas vergessen: Ich habe
schließlich nur von mir geredet. Sie sollten mir sagen: Dann hätten Sie
die ganze Expedition allein absolvieren können, wenn es Ihr
Hyanodendron ist. Sie hätten mir sagen müssen, daß ich Sie und die
anderen wieder einmal entmündige. Das haben Sie vergessen, Janka. ..“
„Ich habe es gedacht“, erwiderte der Zweite Commander und setzte
sich auf den frei gewordenen Sessel, „ich habe es gedacht, Markus...“
Aber sie blieb nicht sitzen, sondern sprang auf, stand dicht vor O'Delta.
Ihre Augen glänzten. „Was sind Sie für ein Mann“ rief sie heftig aus,
„ich habe immer gedacht, ich bin empfindsam. Aber verglichen mit
Ihnen habe ich das Gemüt einer Galapagosriesenschildkröte, Sie
Mimose. Trauen Sie mir eigentlich auch einmal einen freundlichen
Gedanken zu?“
Die Borduhr zeigte Mittag. Die Wolken waren an einigen Stellen
aufgerissen. Das gelbe Licht der Sonne drang hindurch. Spitzes,
nadelfeines Licht.
Die Kundschaftergleiter waren hinauskatapultiert worden. Janka
Chomain hatte die Männer verabschiedet. Nun flogen sie, lagen immer
zu zweit auf dem Boden, neben tickenden oder rasselnden Apparaturen,
und schauten nach unten.
Sie starteten am Tag, durchstießen die kochende Dämmerung,
tauchten in die Nacht. In ein neues, unheimliches Dunkel. Eine Nacht
der ungewohnten Geräusche, der gespenstisch glühenden Wolken, der
tiefschwarzen Abgründe und der brüllenden Lichtwände.
Da waren Löcher, Spalten und Risse, unbestimmbare Wesen, die ihre
Feuerglieder hinaufschoben zu den Kundschaftergleitern.
Niedergeduckte Rauchbänke sahen immer wieder wie drohende
Gebirgszüge aus, die sich träge den Maschinen in den Weg stellten.
Die Männer lagen auf dem Bauch, beobachteten die Tiefe.
Sie suchten Wasser. Aber sie hofften mehr zu finden: das letzte,
verlorene Leben auf diesem Planeten. Egal, wohin es geflüchtet war. Ob
in der Tiefe einer Grotte oder in der dünnen Luft der Gebirge, in den
Niederungen dampfender Quecksilbersümpfe oder in den glühenden
Ebenen zwischen brüllenden Vulkanen - sie suchten es, hofften und
bangten um dieses Leben und um die Nische, in die es geflüchtet sein
konnte. So fühlten sie sich als Wettläufer, die durch einen Nebel
hindurch einem unsicheren Ziel zustrebten, und sie wußten, daß der Tod
auf der Nebenbahn lief und denselben Zielstreifen anvisiert hatte.
„Hier GeKa eins“, meldete sich Oskuse, „ich rufe die Archimedes.
Archimedes, melden!“
„Koordinator vom Dienst, van Deerten“, antwortete der augen-
blicklich, „sprechen Sie, Oskuse.“
Lauschend stand Markus O'Delta am Übertragungsschirm. Eine nicht
bestimmbare Unruhe hatte den Commander erfaßt. Er hatte nicht
gewollt, daß Genario startete. Ich habe Jaun verloren, hätte er am
liebsten gesagt, ich möchte nicht auch noch meinen Freund verlieren.
Er konnte es nicht sagen, um nicht die Mannschaft zu demoralisieren.
So hatte er zum Abschied Oskuse mit einem langen Blick, in dem auch
die Angst sichtbar war, angesehen, und Oskuse hatte leise geantwortet:
„Mensch, Markus — mit mir machen die das nicht...“
Die, das war alles. Das war die Zerstörung, das Chaos. Das war
Untergang und Metallregen. Das war ein versagendes Aggregat und ein
versiegender Leitstrahl.
„Unter uns ist eine Grabenformation“, erklärte Oskuse, „es glimmt
darin. Vielleicht sind das Leuchtalgen ... Sie könnten in Symbiose mit
anderen Organismen leben...“
„Vielleicht“, erwiderte van Deerten mechanisch, „wissen kann man
das nicht...“
„Wir wollen etwas Material bergen“, schlug Oskuse vor, „gebt uns die
Erlaubnis.“
„Auf keinen Fall.“ Van Deerten schrie es fast. Er merkte jetzt erst, was
seine gedankenlose Wiederholung der Oskusehypothese her-
aufbeschwor, „die Außentemperatur beträgt wenig über achthundert
Grad, Oskuse. Das ist mineralogisches Wärmeglimmen. Nein, dort lebt
keine Alge ... Und selbst wenn es eine Alge wäre, dürfte niemand
landen. Nur Intelligenz, Wasser oder dieser verfluchte Hyanodendron
sind Landegründe. Nichts anderes...“
„Und Intelligenz erkenne ich wohl daran, daß sie mir einen Ausweis
vorhält?“
Oskuses Stimme klang ätzend, böse.
O'Delta dachte an die Echse, derentwegen er einige Sekunden lang
bereit gewesen war, den Hofmantschen Glaskäfig zu zertrümmern, um
mit ihr gemeinsam die verlorenen Kinder zu suchen.
„Intelligenz macht sich dir verständlich, Genario“, sagte er leise in die
Leitung und erstickte damit im Keim den Streit, der sonst zwischen van
Deerten und Oskuse unweigerlich ausgebrochen wäre, „sie gibt sich dir
zu erkennen. Nicht durch Krawatte, schwarzen Lederkoffer und Paß,
sondern durch sich selbst...“
„Ich glaube dir, Markus“, sagte der Sizilianer und dachte an seine
Heimat, dachte an die karge Insel im Mittelmeer, auf der man andere,
feinere Lebensbegriffe kannte, als es die Gewächshausgärtner der
übrigen Welt meinten. Er kannte die geheimen Kräfte des scheinbar
vertrockneten Grases auf dürren Felsspitzen, die sofort ergrünten, wenn
ein Wassertropfen sie berührte.
„Unsere Planetologen“, erklärte O'Delta, „glauben, daß sich ungeheure
Spannungsfelder im Kern des Planeten entwickeln oder schon
entwickelt haben. Sie erwarten einen Zusammenbruch der normalen
Struktur. Wir können nur ahnen, was das bedeutet. Es geht also um Zeit.
Ihr fliegt gegen die Zeit oder meinetwegen auch mit der Zeit um die
Wette. Darum dürft ihr euch nicht aufhalten, nirgends verweilen. So ist
das...“
„Hier GeKa fünf, schaltete sich eine andere Stimme ein, „es spricht
Holman. Ich rufe die Archimedes.“
„Es spricht van Deerten“, gab der Koordinator Auskunft, „sprechen
Sie, Holman.“
Holman berichtete von einer Hochebene voller Glutpfannen. Er sprach
davon, daß es überall kochte und brodelte und glühende Steinfontänen
bis in ihre Flughöhe aufspritzten, dann wieder schmatzend und gurgelnd
in sich zusammenfielen. Er berichtete von Feuerkugeln, die jaulend
auseinanderspritzten und wie Geschosse über die Ebene dahinjagten.
Holman bat dann, den Kurs ändern zu dürfen. Er wollte nach Norden
ausweichen. Der Koordinator erlaubte es nicht. Er wies in knappen
Worten darauf hin, daß sie einen präzisen Plan ausgearbeitet hätten und
jede Kursänderung einen höheren Zeitaufwand bedeutete. Noch war van
Deertens Erklärung nicht beendet, als sich GeKa acht meldete. Parstener
wartete nicht erst die Bestätigung ab, sondern erklärte sofort, daß er und
Merringer nur langsam vorankamen. Da waren Staubwolken-
formationen, die fast bis auf den Boden des Planeten hinabreichten und
ihnen nicht nur die Sicht, sondern auch das Radarbild trübten. Der
Gleiter wand sich förmlich zwischen Felsnadeln, Feuersäulen und
schräg aufragenden Granitgebilden hindurch, und die Piloten fürchteten,
daß sie schon bald mit einem Hindernis kollidieren könnten. Zweimal
waren Flammenzungen gegen den Gleiter geprasselt und hatten sie zu
Tode erschreckt. Aber noch war alles intakt, und es war kein Defekt
entstanden. Hinzu kam, daß überall eine Art dürrer Metallnadeln aus
dem Boden sprießte, die meistens dünner als ein Finger waren, aber
möglicherweise sehr stabil sein konnten. Der Autopilot arbeitete auf
Stufe neun und ließ sich immer wieder von den Menschen bestätigen, ob
seine Entscheidung richtig war. Das war die Situation. Man konnte nach
oben ausweichen und damit den Bodenkontakt verlieren. Oder man
wich in eine andere Richtung aus.
„Fliegt weiter“, sagte van Deerten ruhig, „jeder von euch hat einen
Grund, seinen Kurs zu verlassen. Da können wir ja gleich ein Meeting
bei der Archimedes veranstalten, und alles weitere wäre gelaufen.“
„Ich will nicht“, unterbrach Merringer van Deerten, „hörst du,
Koordinator: Ich will nicht jämmerlich krepieren. Nicht hier in dieser
Finsternis. Ich will nicht!“
„Dann steig einfach aus und komm zu Fuß zurück“, entgegnete van
Deerten kalt, „beeil dich aber, weil sonst dein Kaffee kalt wird...“
O'Delta wollte sich in die Leitung einschalten. Er hatte vor, van
Deerten zurechtzuweisen und Merringer Mut zuzusprechen. Doch er
zögerte.
„Du Idiot“, grollte Merringer, und statt der Angst schwang unerwartet
Zorn in seiner Stimme, „gut, ich halte durch. Aber wenn wir uns
begegnen, schlage ich dir alle Zähne ein. Alle...“
„Immerzu“, rief van Deerten und lachte, „darauf bin ich schon richtig
gespannt...“ Es war einige Minuten still.
„Hier GeKa neun. Feimovi. Ich rufe Archimedes. Melden“, kam die
nächste Stimme aus den Lautsprechern.
Van Deerten forderte Feimovi zum Sprechen auf.
„Ein mächtiger Berg rutscht wie ein betrunkenes Pantoffeltier über die
Landschaft, die wir observieren“, berichtete Feimovi, „alles wird von
ihm glattgewalzt wie von einer mächtigen Dampfwalze...“
Feimovi holte noch einmal Luft.
„Hör mal, van Deerten“, sagte er dann, und seine Stimme klang ernst,
„ich habe alles gehört, was inzwischen über den Funkkanal ging. Wir
alle fliegen parallel zueinander und haben denselben Kurs. Und alle
melden wir dasselbe: Unter uns nur noch Tod und Verderben. Ihr aber
laßt uns stur weiterfliegen. Es gibt auch nicht den geringsten Hinweis
dafür, daß dreitausend Kilometer weiter etwas anderes als hier unter uns
ist. Verdammt noch mal, wenn ihr nicht entscheidungsfähig seid, dann
gebt dem Großrechner alle unsere Daten und laßt ihn entscheiden. Ich
habe keine Angst, hier zu verrecken, aber für nichts als eine verrückte
Idee verrecken, das ist etwas anderes, und dagegen habe ich etwas...“
„Alle Daten gehen ohne unsere Zensur an den Großrechner“, erwiderte
van Deerten, und in seiner Stimme schwang zum erstenmal
Unsicherheit, „aber die Maschine enthält sich jedes Kommentars. Die
Computer lassen uns allein... Und ihr da draußen macht es mir nicht
leichter. Ahnt ihr nicht, was es bedeutet, wenn wir ohne Frischwasser
starten müssen? Ohne Hyadendronfrüchte zur Erde zurückkehren...?
Der Koordinator lachte hart auf.
„Ich biete euch folgendes an“, sagte er dann unfreundlich, „wer Angst
hat oder keine Nerven, der kommt zurück. Setzt sich hierher. Ich starte
für ihn. Ich kenne, noch eine Reihe von Männern, die euch da draußen
ablösen können. Kommt auf Raketenparabeln, zurück... Ich warte...“
Die Männer in den Gleitern berichteten nun von Formationen, die kein
Mensch vor ihnen gesehen hatte und keiner nach ihnen sehen würde. Sie
beschrieben brüllende Feuerseen und wabernde Schluchten,
weißglühende Blöcke, die wie Lebewesen dahintorkelten, und
blendendhelle Inseln, die in der Tiefe der planetaren Nacht versanken.
Aber keiner sprach mehr davon, daß er den Kurs ändern wollte.
Die weißen Flecken auf der Planetenkarte nahmen zusehends ab.
Perlenkettenartig reihte sich Beobachtung an Beobachtung. Aufnahme
an Aufnahme. Es entstand der seltsamste Globus der
Menschheitsgeschichte. Jedes Bild, das hinzukam, stimmte schon in
dem Augenblick nicht mehr, da es auf der Zweimeterkugel seinen Platz
gefunden hatte. Es waren die Bilder einer stürmischen Vergangenheit,
die sie aneinanderreihten. Nur eins war klar: Leben konnte es da
nirgends geben. Kein Leben, kein Wasser und erst recht keine
Intelligenz.
Janka stand in ihrer Kabine und dachte über Zufall und Not-
wendigkeiten nach. Sie dachte nach, ohne eigentlich zu einem Ziel
kommen zu wollen. Sie versuchte, ihre Verzweiflung denkend zu
übertönen. Man müßte von Gollnou Wasser holen, überlegte sie immer
wieder. Das hier beenden und von Gollnou Wasser holen. Ein anderer
Gedanke, einer, den sie, ohne es zu bemerken, ängstlich vor sich selbst
verbarg, drängte immer ungestümer an die Oberfläche ihres
Bewußtseins. Es war dies der Gedanke, der an ihre Angst geknüpft war.
Sie sah mit gläserner Deutlichkeit, daß in den nächsten Minuten etwas
Grauenhaftes geschehen mußte. Sie empfand dies so plastisch, so
deutlich, daß sie nicht einmal die Fassung verlor, als wenige Minuten
nach dieser Erkenntnis die Radarregistratur meldete: GeKa neun ohne
Muster... Muster von GeKa neun erloschen.“
Sie stand da und lauschte auf die Reaktionen aus den einzelnen
Sektoren. Aber die Mannschaft und selbst der Commander zeigten keine
Reaktion. Ging es allen so wie ihr selbst? Hatten alle gewußt, daß es
geschehen müßte?
Janka strich sich über das Haar. Ihr Körper neigte sich leicht vornüber,
und sie faßte nach den Haltegriffen, um nicht zu stürzen. Schwankend
hielt sie sich aufrecht.
„Ich atme“, flüsterte sie, „ich atme noch. Die Männer nicht mehr. Aber
ich habe Angst, bald auch nicht mehr atmen zu können... Wenn das nur
ein erster Auftakt war, wenn uns der Planet nicht mehr losläßt... Wir
kennen nicht die Kräfte, die auftreten, wenn ein Planetenkern zerreißt
oder die Oberfläche durchstößt. Wir verlassen uns auf die Schubkräfte
der Archimedes. Dabei existieren in jedem Bergmassiv tausendfach
stärkere Kräfte. Und dieser Planet hat uns deutlich gezeigt: Es ist nicht
weit her mit unserer gepriesenen Technik...“
Und sie dachte noch: Nein, das ist kein glücklicher Stern, unter dem
unsere Expedition steht...
„O'Delta...“, Janka bediente die Rufertaste, „hörst du mich, O'Delta?“
Sie wartete auf eine Antwort. Die Sekunden verstrichen. Reihten sich
aneinander, wurden Minuten. Dann schwang die Kabinentür auf, und
der Gerufene trat ein. Er war sehr blaß, und unter seinen Augen
zeichneten sich dunkle Ringe ab.
Schweigend sah der Commander seine Stellvertreterin an. Er hob die
Brauen. Mehr nicht.
„Wenn wir im Raum sind“, sagte Janka, und all ihre Sicherheit
bröckelte von ihr ab, „wenn das hier beendet ist und wir liegen or-
dentlich auf Kurs... Ich meine, wenn Sie einverstanden sind, Com-
mander, dann würde ich gern..., ich möchte ein Kind von Ihnen haben.
Nicht Sie, Commander. Ein Kind...“
O'Delta drehte sich schweigend um und verließ die Kabine, ohne zu
erkennen gegeben zu haben, wie er die Bitte, die Offenbarung der
Astronomin, aufgenommen hatte.
Janka sah auf die Tür wie auf einen lebenden Menschen.
„Wasser...! Wasser...! Wasser...! Wasser!“ schrien die Lautsprecher.
Immer wieder dieses eine Wort. Das Leben wohnte neben dem Tod.
Noch waren sie alle gelähmt, dachten an die beiden Toten. Das Wort
Wasser war die Dusche, der kalte Guß, der sie in das Jetzt zurückholte.
Sogar Janka schrak auf und verließ eiligst ihre Kabine.
„Ein gigantischer Krater“, jauchzte es im Lautsprecher, „voller
Wasser. Wunderbares, glasklares Wasser füllt den Krater. Hier gibt es
grüne, blaue, rote Pflanzen und Tiere. Ich kann Fische entdecken.
Fische... O Leute... Es ist unglaublich. Wir sind direkt am Nordpol des
Planeten...“
Die Archimedes stand im Wasser. Einem silbrig glänzenden, tief
eingerammten Pfahl gleich, stand sie im Wasser, verdampfte die
tausendfach regenerierten Wasservorräte und sog gierig das frische
Wasser auf.
Gleichzeitig arbeiteten die automatischen Fangmaschinen in rasender
Eile und besetzten Aquarien, Paludarien und Terrarien mit allem, was
sich greifen ließ. Die Gewächshäuser wurden ebenfalls mit Pflanzen
angefüllt, und die ersten Präparate kamen in die Unterdruckkammern.
Markus O'Delta stand mit fiebrig glänzenden Augen an der
Dreifachsichtanlage. Sein Herz schlug Alarm. Kaum daß er zu atmen
wagte, denn in den nächsten Minuten oder Stunden würde sich alles
entscheiden. Er wartete auf das Zauberwort.
Genario Oskuse war der erste, der mit seinem Gleiter eintraf. Dann
folgten die anderen Gleiter. Sie kamen in der typischen Parabelbahn an,
da sie dabei die Maximalgeschwindigkeit fliegen konnten.
Man umarmte und beglückwünschte sich. Oskuse stürmte noch im
Flugskaphander in die Kommandozentrale.
„Markus“, dröhnte seine Stimme durch den Raum, und er umarmte
den Commander überschwenglich, „sie werden sie finden, ganz
bestimmt.“
Er sagte nicht, was sie finden würden, und doch gab es nur ein Ding,
das in diesen Augenblicken durch aller Gedanken ging, und als eine
automatische Sonde dessen Namen nannte, glaubten sie alle, sich
verhört zu haben.
Erst als die Station leidenschaftslos ihre Meldung wiederholte, da
glaubten, da begriffen sie es:
„Fundort... von... Hyanodendron coriformes... beziehungsweise...
Hyanodendron succulentoides... ausgemacht... Fundort von
Hyanodendron coriformes ausgemacht!“
Sie jubelten und schrien, sie tanzten und schienen aus dem Häuschen.
Alles mischte sich in diesen Jubel. Alles: die grausige Wirkung des
Newtonstrudels ebenso, wie die Erkenntnisse aus dem gelobten Land
der Alten, das Gestammel der Futuristen wie der Verlust von GeKa
neun. Die Hoffnung am Beginn der Reise und die Resignation im
Angesicht der Feuerseen.
Alle Forschungsprogramme wurden augenblicklich unterbrochen. Die
Maschinen bewegten sich, ein schweigender metallischer Trauerzug,
entlang der Strandregion dorthin, wo die automatische Sonde stand und
ununterbrochen ihren Ruf aussandte.
Es gab sie also, die Herzfrüchte, einige hatte die Apokalypse
übersehen, und diese würden der Menschheit zum Segen gereichen.
Man konnte alle Krankheiten besiegen. Man konnte in den Jungbrunnen
steigen. Eine jugendliche und doch weise Menschheit würde den Garten
Eden bewohnen...
„Markus!“
Der Commander, eingehüllt in einen wunderbaren Traum von einer
glücklichen Menschheit, wandte sich langsam dem Sprecher zu und sah
in das offene Gesicht von Arpje Tyrsos.
„Arpje...“ Markus nickte dem Jungen erlöst zu.
„Ein Mann muß die Maschinen überwachen“, sagte Arpje sehr
energisch und lächelte schwach, „das heißt, eigentlich müssen es zwei
sein. Aber bei der Situation hier wird ja wohl nur einer dürfen. Ich habe
noch gar nichts getan. All die vielen Jahre habe ich doch nichts
Wirkliches getan. Schick mich.“
„Dich?“ fragte Markus O'Delta und blinzelte einige Augenblicke
nervös. „Verläßlichkeit ist mehr wert als Heldentum und Opferbe-
reitschaft...“
Dann entstand eine steile Furche über der Stirn des Commanders. Er
dachte an die Unsinnigkeit, seinen Freund belehren zu wollen. Jetzt.
Hier, in diesem Augenblick.
„In Ordnung, Arpje“, sagte er dann, „flieg mit dem Dreiecksgleiter los
und achte darauf, daß die besten Früchte zu uns kommen. Wenn du ganz
junge Bäume entdeckst, laß sie ausgraben. Alles, was für uns von Wert
ist, muß her...“
Sie umarmten sich beide, und dann stürmte Arpje Tyrsos hinaus.
Mit dröhnenden Aggregaten jagte der Gleiter aus dem Schacht, verlor
sich in der Ferne. Als in den Lautsprechern das Geräusch der Aggregate
verebbt war, kam Tyrsos' Stimme über die Lautsprecher.
„Commander“, meldete er sich so offiziell wie möglich, „hier ist ein
mächtiger Hain dieser Bäume. Und die Früchte erst. Sie sehen wirklich
wie Herzen aus. Jetzt kommen unsere Maschinen an. Sehr diszipliniert
sind sie. Ungeheuer. Ich weise die Maschinen ein.“
Er schwieg, und O'Delta lächelte bei der Vorstellung, wie Arpje jetzt
die befehlstreuen Maschinen heftig einweisen würde.
Es dauerte auch nicht lange, da war die Stimme des Jungen wieder da,
„Die Ernte beginnt“, sagte er, „die Containerwürste saugen mit ihren
Rüsseln die Früchte von den ausgelegten Schaomounterlagen. Das
solltet ihr sehen, wie hier gearbeitet wird. Da ist keine Bewegung
überflüssig. So, die ersten Containerwürste schweben schon los und
bringen euch Früchte...“
Flieg, Spindel, flieg...
Selbstvergessen stand Markus O'Delta vor der Vollsichtscheibe der
Kühlzelle und sah zu, wie die erste Containerwurst sich selbst entlud
und die Früchte ordentlich und einzeln in die Mikrofächer legte.
Er kannte diese Früchte gut, in seinen Träumen waren sie einmal
größer und einmal kleiner gewesen. Aber das hier, das waren sie
tatsächlich. Die Farben waren so leuchtend und klar, wie es nur bei
frischen Früchten möglich ist, und da noch keinerlei Wasserverlust
eingesetzt hatte, erinnerten sie noch stärker an ein Herz. An das Herz
eines Warmblüters. Im Biozen hatte er es sich gewünscht: einmal eine
ganze Kiste solcher Früchte zu haben und mit ihnen arbeiten zu können.
Und hier lagen sie nun. Der Ausgangsstoff einer neuen
Medikamentengeneration. Sie hatten sie gefunden. Teuer hatten sie
dafür bezahlt. Gleichzeitig aber fragte sich O'Delta, ob er tatsächlich
einmal Assistent bei Hofmant gewesen war. Konnte das alles nicht ein
Traum, ein Film gewesen sein? Vielleicht war das Gerede von der Erde
ein ebensolcher Traum. Der Commander hatte keine lebendige
Erinnerung mehr an den Heimatplaneten. Gleichmäßig stark oder
schwach waren die Bilder der lebentragenden Planeten neben dem Bild
der Erde, so daß sich O'Delta ein wenig heimatlos und verloren vorkam.
O'Delta wandte sich von der Kammer ab und durchquerte den Gang.
Als er in der Zentrale ankam, empfing ihn Janka schon mit einer Reihe
ihr wesentlich erscheinender Detailfragen zum ausgeladenen
Maschinenpark.
„Wir laden nichts mehr ein“, sagte der Commander, „alles bleibt
draußen. Für uns sind die Maschinen nichts als unnötiger Ballast, und
die Erde wird sie auch entbehren können. Möglich sogar, daß wir die
Maschinenhallen brauchen werden, um Pflanzenmaterial einzulagern.
Wie es aussieht, gibt es dort ungeheuer viele Früchte. Sicher wird Arpje
auch Schößlinge und vielleicht gar Keimlinge finden. Jedenfalls sollten
wir uns darauf einstellen, daß eine ungeheure Menge dieser Früchte auf
uns wartet. Und bei dem Erntetempo können wir, ohne Gewissensbisse
zu bekommen, die dreifache Menge laden...“
Ein mächtiger dröhnender Schlag ging plötzlich durch das Schiff und
unterbrach ihn. Irgendwo schlugen donnernd Schleusen zu, und
Zwischenwände wurden fauchend ausgefahren. Wie ein grausiger
Schrei schnitt er alle menschlichen Gedanken ab, und die grellen
Alarmlichter blendeten die Raumreisenden. Aus den Wänden kamen
gummierte Greifer und preßten die Menschen in die Sitze.
Wie eine glühendheiße Nadel brannte es sich in O'Deltas Hirn und
blieb dort stecken. Gleichzeitig spürte der Commander den dumpfen
Schlag gegen seine Eingeweide. In seinen Ohren war das maschinelle
Gebrüll der Triebwerke...
Alarmstart.
Etwas Außergewöhnliches mußte geschehen sein. Der Bordrechner
hatte den Alarmstart ausgelöst. Alles, was sich in diesem Augenblick
außerhalb der Titanburg befand, war dem Tod ausgeliefert.
Alarmstart: Es gibt keinen Übergang, keine Vorbereitungs- oder
Anwärmphase. Die Triebwerke arbeiten sofort mit vollem Schub. Es
geht um Zehntelsekunden.
Markus O'Delta wollte sich gegen die schreckliche Klammer, die ihn
in den Sessel preßte, wehren. Er kämpfte mit all seiner Kraft.
„Janka!“ schrie er gellend durch die Zentrale. „Janka, ich komme hier
nicht los... Sie müssen das Notgleitrohr für Tyrsos öffnen ... Das
Notgleitrohr wird ihn aufnehmen... Janka...!“
Wimmernde Laute waren die Antwort. Schreckliche wimmernde
Laute. O'Delta drehte den Kopf gegen das Dröhnen und Brüllen der
Maschinen, gegen die blendenden Alarmlichter - gegen alles, was sich
hier verschworen hatte. Seine Augen erfaßten das Oval des
Sichtschirmes. O'Delta sah die ausgedehnte Landschaft, den
meerähnlichen Krater und den grünen Uferstreifen, sah all das zu-
sammengedrängte Leben und die tiefrote Morgensonne, die hinter dem
Horizont auftauchte.
Aber die Wasserfläche, scheinbar unbeweglich, zeigte sich konkav
eingezogen. Im nächsten Moment wölbte sie sich wie eine Blase nach
oben.
O'Delta sah den gläsernen Baum, der sich aus dem Wasser erhob, der
himmelan wuchs, sich ausbreitete und Millionen Äste mit Milliarden
Blättern auszustoßen schien und in grellflammendem Orangeton zu
leuchten begann.
Alarmstart!
Der Boden unter der Archimedes begann sich zu neigen, verlor alle
Festigkeit. Er hob und senkte sich, ließ das gigantische Raumschiff wie
einen Schilfhalm im Wind schwanken, das Entsetzen nahm den
Besatzungsmitgliedern jede Orientierung und saß als steinerner Kloß im
Magen. Langsam, fast unmerklich rutschte der Raumflugkörper auf den
feurigen Detonationsbaum zu, glitt dem Inferno, das sich anbahnte,
entgegen. Immer mehr Kontrollämpchen glommen um O'Delta auf.
Sicherungen rasteten aus, und Zeiger schnellten augenblicklich nach
oben.
Die Aggregate gaben vollen Schub. Aus der vollständigen Ruhe
heraus in den vollen Schub. Das Kraterwasser verlor sich in der Tiefe,
Sekunden später kehrte es als feuriger Dampf zurück und hüllte die
Archimedes ein. Der Raumflugkörper neigte sich nach rechts, dann nach
links. Schwankte zurück und kam in die Nulllage. Der Strom der
glühenden Teilchen war gegen den porösen Untergrund gerichtet. Sie
suchten Widerstand. Zermalmten alles, was sie berührten, und sorgten
zugleich dafür, daß die Archimedes nicht einsank in das zerbröckelte
Bodenprofil des Planeten.
Vor den Sichtschirmen wallten Wasserdämpfe und Staubnebel und
gewährten keine Durchsicht, und doch spürte der Commander, daß der
Aufstieg begann. Sie hatten sich vom Untergrund gelöst, standen auf
dem Antrieb und arbeiteten sich langsam nach oben.
Als sie die Wasserdampfschicht durchstoßen hatten, sah der
Commander nieder auf das Gemisch aus Wasser, Feuer, Metallstaub,
Gestein und Glut. Die Gebirge am fernen Kraterhorizont zerbröckelten
und stürzten in die Tiefe. Wasser strömte in das Feuer und kam als eine
dampfende Fontäne zurück...
Aber all das berührte den Commander nicht. Seine Qualen und Ängste
gipfelten in dem letzten von ihm wahrgenommenen Bild, bevor auch
sein Kopf in die Konturunterlage gedrückt wurde: Eine flache
dreikantige Scheibe erschien. Sie kam direkt aus dem apokalyptischen
Feuerwassergemisch herausgerast. „Arpje!“
O'Delta schrie es gegen den Andruck, der seine Brust zusam-
menpreßte, bunte Kreise vor seinen Augen zeichnete und ihm die Luft
nahm.
„Arpje...!“
Da kam er in seinem Gleiter angerast, der jüngste der Expedition. Der
Mann, der auch etwas tun wollte, weil er all die Jahre nichts getan hatte,
als anwesend zu sein.
„Markus... Markus... Janka...“
Es war ein zartes Piepsen. Die Worte klangen verzerrt, schienen von
einem Kind ausgestoßen. Einem hilflosen Kind, das in seiner Not die
Eltern ruft: Markus.,. Janka...
„Das Notgleitrohr, verdammt noch mal!“
O'Deltas Schrei wurde vielfach von der Akustoanlage
zurückgeworfen, aber weder der Bordrechner noch das
Selbstschutzsystem der Archimedes reagierten darauf. Das Risiko, daß
es zu Materialermüdungserscheinungen kam, war zu groß.
Immer größer und größer wurde die flache Scheibe.
„Die Erde, Markus...“, kam es schwach und verloren aus dem
Lautsprecher, „die Erde, da gibt es...“
O'Delta spürte deutlich, daß die Archimedes immer mehr ihren Flug
beschleunigte. Er spürte es, und doch weigerte er sich, dies
anzuerkennen.
Auf dem Sichtschirm veränderte sich nun nichts mehr. Der Abstand
zwischen der Scheibe und dem Mutterschiff blieb endlose Zeit konstant.
Dann aber erkannte O'Delta deutlich, daß der Gleiter kleiner wurde.
Die Archimedes flog also bereits schneller als der Gleiter. Und ihre
Beschleunigung nahm zu. Sekunde für Sekunde. Das winzige Gefährt
wurde kleiner und kleiner, blieb zurück, könnte mit dem mächtigen
Raumflugkörper nicht mehr Schritt halten.
Und O'Delta mußte mit ansehen, wie Arpje den Gleiter wendete und
mit Höchstgeschwindigkeit in das atomare Chaos hineinjagte...
Jemand schrie. O'Delta betastete mit der freien Linken seinen Mund.
Der war geschlossen, zusammengepreßt. Er hatte nicht geschrien. Er
nicht, Arpje auch nicht, weil sein Schrei fern und undeutlich gewesen
wäre. Dann blieb nur noch Janka. Janka hatte geschrien...
Janka Chomain ließ die Tür zum Bildlabor aufschwingen. Sie sah
Markus O'Delta am Tisch sitzen und durch ein Mikroskop etwas
betrachten.
„Commander.“ Ihre müde Stimme füllte den Raum. O'Delta hob den
Kopf und sah Janka an, ohne sie eigentlich wahrzunehmen.
„Was ist?“ Seine Frage kam von weit her.
„Sie führen Tagebuch?“ erkundigte sich Janka überrascht.
„Ja, ich führe Tagebuch“, erklärte sich O'Delta selbst diesen Vorgang,
„ich führe Tagebuch, weil ich nicht weiß, was noch geschehen wird.
Vom ersten Tag an, und ich miniaturisiere unsere Fotos und Filme, ein
freundlicher Fotograf hat mich sehr geduldig in diese Technik
eingewiesen, und speichere alles in diesen Kristallen. Einfach so für den
Fall, daß wir die Erde nicht mehr sehen sollten. Niemand weiß, was für
märchenhafte Erzählungen Jaun auf diesem Kristall gespeichert hat. Ihre
Stimme lebt noch. Die Erdenmenschen werden sie hören... Ich mache
das, weil all die maschinellen Tagebuchaufzeichnungen unsinnig sind.
Wen, außer vielleicht den Konstrukteur der Archimedes und ein paar
Physiker, interessieren schon Andruck und Teilchenbombardement, Be-
schleunigungskoeffizient und Lebenstyp eines Planeten? Und es war
gut, daß ich es tat, es war so gut. Jauns Stimme, ihre Bewegungen, ihr
Lächeln, alles werden die Menschen sehen können. Sie werden wissen,
was ein Newtonstrudel bewirkt und wie es im gelobten Land zugeht. Sie
werden wissen, was aus einem Genie wird, wenn man es aus seiner Zeit
herauslöst, von den anderen abkoppelt, und sie werden ahnen, was auf
Barsou falsch gemacht wurde. Sie werden die Stoppelopps beobachten
können und schließlich das Inferno eines planetaren Untergangs erleben,
und alles das kann auch den Menschen helfen. Sie werden wissen, daß
es lächerlich ist, sich aufzublähen wie jener Frosch, der dem Ochsen
gleichen wollte...“
Van Deertens schmaler Kopf tauchte hinter Jankas Rücken auf.
„Commander...“ Seine klare, ruhige Art, das auszudrücken, was er zu
sagen hatte, hatte sich kaum merklich geändert. O'Delta schien es, als
hätte dieses Commander gepreßt geklungen.
„Treten Sie ein, van Deerten.“ O'Delta schob das Mikroskop zur Seite.
„Was gibt es?“
„Es gibt schwache, schwer meßbare Unregelmäßigkeiten in den
Aggregaten“, sagte er, während er an Janka vorbei in den Raum kam,
sich auf einem Hocker niederließ und die Hände auf die Knie legte.
„Sie wissen, O'Delta“, fuhr er dann in der gleichen Stimmlage fort,
„daß man auf der Erde so ein geflügeltes Wort hatte: Solarschiffe sind
Sonntagsschiffe. Man meinte damit, daß diese Konstruktionen keine
Überbeanspruchungen mögen. Der Alarmstart aber ist die extremste
Überbeanspruchung, die man sich denken kann. Selbst die für alle
Raumflugkörper notwendige Vorwärmphase fällt dabei weg, und die
Zusatztriebwerke, die maximal auf ein zehntausendstel Millimeter
genau axial eingebaut sind, reißen ebenfalls am Schiffskörper. Das alles
hat Spuren hinterlassen. Jene Unregelmäßigkeiten, über die die
Energetiker nur lächeln. Aber das ist nicht zum Lachen, denn drei
Monate Dauerantrieb reichen aus, uns in eine Mikrosonne zu
verwandeln...“
„Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?“ erkundigte sich O'Delta
und sah van Deerten gerade an.
„Wir müssen eine Generalreparatur vornehmen“, sagte der, „ich weiß,
es bedeutet, daß wir erst nach zwei Jahren und nicht nach vier Monaten
in die Anabiose eintauchen können, denn wir haben immerhin vier
Aggregate an Bord, und ein Teil unserer Maschinen steht auf dem
verfluchten Planeten, aber es gibt keinen anderen Weg. Gleichzeitig
müssen wir die Beschleunigung drosseln. Auf ungefähr ein Zehntel des
jetzigen Wertes. Ich werde das noch genau durchrechnen. Sind Sie
prinzipiell mit diesem Vorgehen einverstanden?“
„Ja“, O'Delta zog das Mikroskop an sich heran, „machen Sie das, van
Deerten, geben Sie die entsprechenden Anweisungen. Wenn es Proteste
gibt, Sie wissen ja, wo ich bin. Hier im Labor...“
Van Deerten und die Reparaturkolonne bewegten sich durch den
zweiten Havariegang auf den Bug der Archimedes zu. Sie wollten das
erste Aggregat abschalten, es auskühlen und zur Ruhe kommen lassen,
um dann mit der Arbeit zu beginnen. Sie gingen wie Männer, die
wußten, daß eine langwierige Arbeit ihrer harrte. Die Bewegungen
waren sparsam und zielgerichtet. Als sie die Schleuse drei öffneten,
erstarrten sie in ihren Bewegungen. Das Licht, dachte van Deerten,
woher kommt denn das Licht? Und dies war der letzte Gedanke, den
van Deerten hatte. Sein Hirn und sein Körper zerfielen augenblicklich,
und selbst die Roboteinheiten stürzten klirrend übereinander...
Die Alarmsirene trieb die Menschen hoch.
O'Delta riß die Spule vom Tisch und verstaute sie in seiner
Kombination. Dann verließ er das optische Labor. Überall begegneten
ihm hin und her hastende Menschen. Niemand wußte, was geschehen
war. Eine Gruppe von Aufzügen war mitten in der Bewegung erstarrt. In
einigen Kabinen hörte der Commander das Hämmern menschlicher
Fäuste. O'Delta sprang in einen Rollo und wollte zur
Kommandozentrale, aber schon nach einer siebenminütigen Fahrt
stoppte der Rollo. Die Schleusen waren hermetisch geschlossen, und
selbst auf das Commanderrufzeichen wurde diese Absperrung nicht
mehr aufgehoben. O'Delta sah sich um.
„Zur Kühlkammer“, wies er das Gefährt an, und es ging in atem-
beraubender Fahrt die Gänge entlang.
Unvermittelt erlosch das Licht, und die gespenstisch blaue Not-
beleuchtung flammte auf.
„Stop!“ schrie O'Delta, und das Gefährt hielt so plötzlich, daß es den
Commander über die Bordwand nach draußen schleuderte. Der weiche
Bodenbelag dämpfte den Sturz.
„Niemand außer mir kann dir Kommandos erteilen“, wies er, sich
taumelnd erhebend, die Maschine an und lief zu einem der Sprechgeber.
Es dauerte endlos lange, bis die Zentrale sich meldete.
„Markus“, es war Jankas erschöpfte Stimme, „ein Riß ist im Südtrakt
der Archimedes. Vielleicht hat die ungesteuerte Reaktion in einem der
Aggregate begonnen. Ich weiß nichts. Keine Meldung aus dem
technischen Trakt kommt durch. Als ob alles verschmort und
geschmolzen ist. Auch von Deerten meldet sich nicht...“
„Wo ist Oskuse?“
„Bei den Kühlzellen, glaube ich“, flüsterte Janka kraftlos.
„Danke“, O'Delta blieb noch einen Augenblick stehen, „wenn wir es
geschafft haben, reden wir noch einmal über deinen Wunsch. Kopf
hoch!“ Er lief zum Rollo zurück, den zwei Menschen in weißen Kitteln
in Gang zu bringen trachteten.
„Aus dem Weg!“ schrie der Commander, aber sie hörten nicht,
beachteten ihn nicht, schienen ihn nicht einmal zu sehen. Mit zitternden
Händen versuchten sie immer wieder die Sperre des Rollos zu lösen. Da
packte O'Delta den einen beim Kragen und stieß ihn wortlos gegen die
Wand des Ganges. Den anderen zerrte er vom Sitz und schlug ihm ins
Gesicht. Und in diesem Schlag lag sein angestauter Haß auf den
Weltraum und die menschenfressenden Planeten.
Wimmernd sank der Geschlagene zu Boden, aus seiner Nase sickerte
Blut. O'Delta beachtete ihn nicht, sprang in den Rollo und wiederholte
den Auftrag: „Zu den Kühlzellen!“
„Die Temperatur fällt kontinuierlich ab“, meldete ein Lautsprecher im
Gang, „Energiepegel ebenfalls.“
O'Delta kam es so vor, als schleiche der Rollo den Gang entlang,
obwohl ihn ein Blick auf den Tachometer eines Besseren belehrte. Und
überall, wo er vorüberfuhr, sah er fassungslose Mannschaftsmitglieder,
die sich hierhin und dorthin wandten und sich doch für keine
Fluchtrichtung entscheiden konnten.
Die Kühlzelle war offen, von Oskuse fehlte jede Spur. O'Delta rief
erneut die Zentrale. Jankas Stimme drang kaum durch den gestiegenen
Rauschpegel.
„Zwei Massen“, zirpte es schwach an O'Deltas Ohr, „zwei Massen, die
sich, dem Trägheitsgesetz folgend, einander annäherten. Es wäre der
Sofortuntergang von uns allen gewesen. Oskuse wollte etwas tun...“
O'Delta sah das Bild vor seinem inneren Auge: Der hühnenhafte
Oskuse im Schutzanzug durchquert Schleuse für Schleuse. Immer
heißer wird es, und die unsichtbaren schnellen Teilchen lassen den
Innenhelmindikator aufglühen. Der Mann läuft. Steht am Rand des
Abgrunds und wuchtet etwas hinein. Irgend etwas. Ein Metallding. Ein
mächtiges Werkzeug, einen Reparaturautomaten. Das ist gleichgültig.
Wichtig ist: Die Massen nähern sich nicht weiter an, pendeln zurück.
Verharren vorübergehend. Genario Oskuse aber kann sich jetzt Zeit
lassen. Er wird nicht zurückkehren können zu den Menschen. Wozu also
noch hasten und eilen. Vielleicht setzt er sich und blickt in die Tiefe.
Oder er läßt sich auch fallen. Wer weiß...
„Was ist noch intakt?“ O'Deltas Frage gellte durch den Gang.
„Die Commanderspindel“, antwortete Janka, „die Kühlzellen und Ms
0.09, die sich aus ihrem Raum befreit hat und dich sucht. Die ganze
linke Schiffsseite ist zerstört und aufgerissen. Alle Le-
benserhaltungssysteme sind an die Notstromaggregate angeschlossen.
Wir haben nicht mehr viel Zeit...“
„Ja“, wiederholte O'Delta mechanisch, „so muß es sein: Wir haben
nicht mehr viel Zeit.“
Und es beunruhigte den Commander nicht einmal. Es schien nur eine
Vermutung zu bestätigen.
„Sei tapfer, Mädchen“, sagte er noch, „zeig’ der Besatzung, dass du
der zweite Commander bist. Ich habe viel zu tun. Leb wohl, Janka...“
„Ich erwarte Ihre Befehle, Commander.“
O'Delta wandte sich von dem Sprachgeber ab. Vor ihm stand, tintig
glänzend und mit rotierenden Sensoren, Manshadow.
„Die Früchte...“, erklärte O'Delta hart, „sie müssen in die Com-
manderspindel. Niemand darf den Vorgang behindern. Niemand.
Niemand...!“
Eine Menschengruppe, die den Gang entlanggehetzt kam, traf ein
erstes Infraschallwellenbündel der Schildkröte. Lautlos fielen sie zu
Boden, lagen im Gang wie Puppen, die man aus Stoffresten angefertigt
hatte...
„Neun Kilo Früchte verladen“, meldete die Manshadoweinheit dem
erschöpften O'Delta.
„Da passen noch mehr hinein“, sagte der Commander schläfrig, denn
der Sauerstoffmangel begann sich auszuwirken, „das Zehnfache...“
„Die Kühlzelle ist zerfetzt“, gab das System Auskunft, „sie ist verloren
und mit ihr die anderen Früchte... Was soll ich tun?“
„Da“, O'Delta stieß mit dem Fuß gegen eine lose Metallplatte, „nimm
sie und ätze die Worte ein: Hyanodendron tyrsoleenii.“ Augenblicklich
begann Manshadow mit der Arbeit.
Das ist für Arpje, dachte O'Delta mit gerunzelter Stirn, für Arpje
Tyrsos... Mit unsicheren Schritten ging er in die Spindel und legte das
kristalline Tagebuch der Archimedes ab. Dann tauchte er wieder im
Gang auf.
Manshadow hatte die Arbeit beendet und legte die Metallplatte zu den
Früchten.
„Hör mich, Manshadow“, ordnete O'Delta nun an, „hör mich und
registriere es: Du wirst mit der Spindel fliegen. Wenn ihr anderswo als
auf der Erde niedergeht, wirst du die Früchte unter Einsatz aller
Waffensysteme verteidigen. Und müßten es zehntausend Jahre sein. So
lange, bis Menschen kommen und sie holen wollen. Dann gib sie frei.
Kannst du die Früchte nicht mehr verteidigen, weil die anderen dir
überlegen sind, zerstöre die Spindel und dich. Ende.“
Die Schildkröte wiederholte getreu die Anweisung.
O'Delta verschloß die Spindel ordnungsgemäß und ließ die
Schutzwand herab. Dann leitete er eigenhändig den Ausstoß der Spindel
ein. Erst als er sah, daß sie sich von der Archimedes gelöst hatte, wandte
er sich ab und betrat das danebenliegende astronomische Observerlabor.
Es war still und friedlich in diesem Raum. Die Sterne blickten herein
und vervollkommneten das Bild der Ruhe. Nur der Sauerstoff reichte
kaum noch zum Atmen. O'Delta bediente den Sprechgeber und verband
sich mit dem diensthabenden Ingenieur.
„Wie lange haben wir noch?“ fragte er.
„Vielleicht noch neunzig Minuten“, sagte der, „aber es ist nur ein
Schätzwert. Nichts Definitives...“
O'Delta trennte die Leitung und rief die Zentrale.
Das Rufzeichen kam an. Es klang wieder und wieder, ohne dass
jemand an den Sprechgeber ging. Die Bildübertragung funktionierte
schon nicht mehr.
Janka, dachte O'Delta und versuchte sich vorzustellen, was dort hinter
den hermetisch geschlossenen Schleusen vorgehen oder vorgegangen
sein mochte.
Dann dachte er an den Ingenieur, der auf seinem Platz saß und, soweit
dies noch möglich war, seinen Dienst versah. Und Markus fragte sich,
ob das der Mensch ist, der eigentliche Mensch, der seinen Dienst
versieht und so lange hofft, wie er selbst atmet...
Noch einmal bediente er den Sprechgeber.
„An alle“, sagte er und hoffte, daß man ihn in vielen Sektoren hören
würde, „jeder ist hiermit seiner Verpflichtung dem Raumgesetz, der
Erde und mir gegenüber entbunden. Wer für sich eine
Rettungsmöglichkeit wahrnimmt, kann sie nutzen, ohne deshalb
Meldung zu machen. Ich danke euch allen für eure Einsatzbereitschaft,
eure Aufopferung... Danke...“