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Ist Kant ein Kompatibilist?

Jochen Bojanowski

Zu den Grundproblemen der Debatte um die Willensfreiheit gehört auch das Kom-
patibilitätsproblem: Ist Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar? Auf die-
ses Problem scheint es genau zwei mögliche Reaktionen zu geben: die verneinende
und die bejahende. Die Vertreter der bejahenden Reaktion werden Kompatibili-
sten genannt, weil sie die beiden Thesen ›der menschliche Wille ist frei‹ und ›der
menschliche Wille ist determiniert‹ für kompatibel halten. Die Vertreter der vernei-
nenden Reaktion werden Inkompatibilisten genannt, weil sie davon überzeugt sind,
dass beide Thesen sich gegenseitig ausschließen. Der Inkompatibilist behauptet
daher: Der menschliche Wille ist nur dann frei, wenn er nicht determiniert ist.
Kant geht es nach eigener Aussage in der Auflösung der Freiheitsantinomie um
die »Vereinigung« von Natur und Freiheit (B 566). Deshalb ist es prima facie nahe-
liegend, Kant als einen Kompatibilisten zu bezeichnen. Andererseits ist der Frei-
heitsbegriff, den er in Anspruch nimmt, dezidiert inkompatibilistisch, so dass es
auch einen guten Grund gibt, Kant einen Inkompatibilismus zuzuschreiben. Mit der
Frage, ob Kant ein Kompatibilist sei, wendet man sich also dem grundsätzlichen
Problem zu, wie genau seine Behauptung zu verstehen ist, dass »dieselbe Hand-
lung« zugleich »ganz frei« sein und unter der »unvermeidlichen Naturnothwendig-
keit« stehen kann (V 95; Hervorhebung J. B.). Kant im Rahmen der gegenwärtigen
Systematik zu verorten, hat seinen Interpreten große Schwierigkeiten bereitet. In
der Kantliteratur wird Kant nicht nur als Inkompatibilist (Allison 1990), sondern
auch als Kompatibilist (Meerbote 1984a und b; Hudson 1994; Horstmann 1997;
Horn 2002), ja sogar als Kompatibilist von Inkompatibilismus und Kompatibilismus
bezeichnet (Wood 1984).
Ich möchte hier der Frage nachgehen, wo man Kants Theorie im Rahmen der ge-
genwärtigen Debatte zu verorten hat. Dazu möchte ich zunächst dafür argumentie-
ren, dass man Kant einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff zuschreiben muss,
der sich gegen den kompatibilistischen Standardeinwand – das Zufallsargument –
widerspruchsfrei explizieren lässt. Gleichwohl will Kant seinen Determinismus
nicht aufgeben. Das hat Anlass dazu gegeben, Kant als einen Kompatibilisten zu
verstehen. In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, warum keiner der Kompa-
tibilismen, die man Kant zugeschrieben hat (klassischer Kompatibilismus, Meta-
kompatibilismus und Davidsons anomaler Monismus), seine Theorie angemessen
repräsentiert. Schließlich möchte ich dafür argumentieren, dass Kants Determinis-
mus nicht in der Weise deterministisch ist, dass er die Möglichkeit eines inkom-
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patibilistischen Freiheitsbegriffs ausschließt. Meine These ist, dass Kant einen In-
kompatibilismus, genauer: einen Indeterminismus hinsichtlich der Naturursachen
des menschlichen Handelns vertritt, wobei sein Freiheitsbegriff der moralischen
Autonomie seine Theorie fundamental von allen gegenwärtigen inkompatibilisti-
schen Freiheitstheorien unterscheidet.

1.

Kant ist davon überzeugt, dass eine Handlung nur dann im eigentlichen Sinne frei
ist, wenn ihre »Ursache in der Erscheinung […] nicht so bestimmend war, daß nicht
in unserer Willkür eine Causalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und
selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen […]«. Dementspre-
chend definiert Kant die Freiheit als »das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von
selbst anzufangen« (B 562). Nehmen wir die Begriffe ›Kausalität‹ und ›Ursache‹ hier
zunächst unanalysiert hin, dann können wir festhalten, dass für Kant menschliche
Handlungen nur dann frei sind, wenn die Ursache der Handlung (der Wille) selbst
nicht durch eine andere Ursache verursacht ist. Wir werden uns noch genauer
mit Kants Determinismus auseinandersetzen. Wenn wir aber vorläufig und negativ
den Determinismus so bestimmen, dass er die Möglichkeit von Freiheitskausalität
ausschließt, inkompatibilistische Freiheit eine Freiheitskausalität des Willens aber
gerade voraussetzt, dann wird verständlich, warum Kant ein Freiheitsbegriff zuge-
schrieben werden muss, der nicht mit dem Naturdeterminismus kompatibel ist.
Kompatibilisten halten den indeterministischen Freiheitsbegriff für widersprüch-
lich. Sie versuchen dies mit dem sogenannten Zufallsargument zu beweisen. Der
interne Widerspruch des inkompatibilistischen Freiheitsbegriffs werde offenkundig,
wenn man sich verdeutlicht, dass ein indeterminierter Wille und die Handlung,
die daraus hervorgeht, in keinem Zusammenhang mit unserer bisherigen Lebens-
geschichte ständen. Ein solcher Wille bräche gewissermaßen aus einem »kausalen
Vakuum« über uns herein und wir müssten ihn als einen Willen betrachten, der
»von der Erfahrung der Urheberschaft weit entfernt wäre«. Ein unbedingt freier
Wille wäre also ein Wille, der uns »zustößt«. Mit den Eigenschaften »Unbeeinfluß-
barkeit«, »fehlende Urheberschaft«, »Fremdheit« weise dieser Wille die Merkmale
auf, die nicht als ein Fall von Freiheit, sondern als ein Fall äußerster Unfreiheit
begriffen werden müssten (Bieri 2001, 230 f.; Frankfurt 2001, 79 ff.; ebenso be-
reits Schulz 1783, 164 und 170). Ein inkompatibilistischer Freiheitsbegriff könne
nicht erklären, warum wir für unser Handeln verantwortlich sind. Denn ein absolut
freier Wille wäre nicht das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, bei dem wir uns
durch biographisch gewachsene Überzeugungen bestimmen, vielmehr hätte dieser
zufällige, ja »launische« Wille mit unserer Person überhaupt nichts zu tun. Losge-
löst von dieser Person wären die »Handlungen«, die auf ihn zurückzuführen sind,
nicht uns, sondern dem Zufall zuzurechnen und wir nicht für sie verantwortlich (so
bereits Hume 1748, 77 und Schulz 1783, 164; ebenso Bieri 2001, 237 f.). Die begriff-
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lichen Verwechslungen, die dem Vertreter eines inkompatibilistischen oder abso-


luten Freiheitsbegriffes unterlaufen, führen aus Sicht des Kompatibilisten damit
letztlich dazu, dass er das, wozu er das Konzept der absoluten Freiheit glaubte ein-
führen zu müssen – die Sicherung menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit –,
durch ihn gerade auflöst. Wären die Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffes bes-
sere Analytiker gewesen, hätten sie bemerkt, dass sie »Notwendigkeit« mit »Zwang«
und »Bedingtheit« mit »Unfreiheit« verwechselt haben und dadurch zu dem Schluss
verleitet worden sind, »Freiheit« mit »Unbedingtheit« gleichsetzen zu können. Mit
dieser Gleichsetzung aber habe sich der Inkompatibilist eines fundamentalen Kate-
gorienfehlers schuldig gemacht (vgl. auch Dennett 1986, 78–83).
Im Gegensatz zu dieser Konzeption der absoluten Freiheit entwickelt der Kompa-
tibilist sein Konzept der »bedingten Freiheit« (vgl. ebenfalls bereits Hume 1748, 78).
Wir sind genau dann frei, wenn wir unsere Entscheidungen an Gründe binden und
unser Handeln mit diesen Entscheidungen zur Deckung bringen können. Für diese
Art von Freiheit ist es nicht erforderlich, dass wir diese Gründe ursprünglich selbst
hervorgebracht haben oder uns zu ihnen immer noch indifferent verhalten können.
Gerade weil die Gründe das Produkt unserer Lebensgeschichte sind, sind es unsere
Gründe. Gelingt es uns, unseren durch jene Gründe bedingten Willen gegen äußere
und innere Zwänge handlungswirksam werden zu lassen, sind wir frei.
Die Freiheit des Willens kann also, dieser Argumentation zufolge, aus konzep-
tuellen Gründen gar nicht als absolut verstanden werden, sondern muss, damit
der Wille unser Wille sein kann, eine relative, bedingte Freiheit sein. Die bedingte
Freiheit ist determinismusverträglich. Die Frage, ob nun der menschliche Wille
auch tatsächlich (bedingt) frei sein kann, stellt für den Kompatibilisten kein wei-
teres Problem dar: Wir können durch Selbstbeobachtung feststellen, dass wir
dazu in der Lage sind, unseren Willen gegen innere und äußere Zwänge durch-
zusetzen. Die Wirklichkeit der bedingten Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen
werden.
Die argumentative Schuld, die man sich mit dem kompatibilistischen Freiheits-
begriff auflädt, ist vergleichsweise gering. Kant aber bezeichnet die hier skizzierte
kompatibilistische Lösung des Determinismusproblems als eine »kleine Wortklau-
berei« (V 96). Warum hätte Kant nicht, wie Jonathan Bennett geglaubt hat, den
inkompatibilistischen Freiheitsbegriff aufgeben und ihn gegen den kompatibilisti-
schen eintauschen können (Bennett 1974, 189–195)? Anders gefragt: Welche Funk-
tion erhält der inkompatibilistische Freiheitsbegriff in Kants Freiheitstheorie?
Kant streitet den kompatibilistischen Sinn von Freiheit nicht ab. Er ist aber da-
von überzeugt, dass menschliche Praxis nicht ohne die absolute Dimension dieses
Begriffes auskommt. Doch im Unterschied zu den gegenwärtigen Vertretern eines
inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes behauptet Kant, dass uns die absolute Di-
mension verschlossen bleiben muss, solange wir uns nur mit Handlungsalterna-
tiven befassen, die unsere biographisch bedingten Präferenzen betreffen: Soll ich
nach Colorado oder Hawaii in den Urlaub fahren? Soll ich ins Kino oder in die Oper
gehen? Soll ich eine Ausbildung beginnen oder eine Familie gründen? (Kane 2002b,
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415; Roth 2003, 167 und 74 f.; Rössler 2001, 122 f.)? Auf die inkompatibilistische
Dimension des Freiheitsbegriffes stößt man Kant zufolge nur dann, wenn man
in einer zugespitzten moralischen Entscheidungssituation steht, in der Vernunft
und Neigung sich gegenseitig ausschließen. In dieser Situation bemerken wir, dass
selbst wenn alle unsere biographisch bedingten Handlungsgründe dagegen spre-
chen, wir dennoch einen Vernunftgrund haben, der gegen die Verwirklichung un-
serer subjektiv-privaten Interessen spricht.
In der zweiten Kritik möchte Kant anhand zweier pointiert angeordneter Ent-
scheidungskonflikte zeigen, dass wir uns erst durch das Moralgesetz – als Fak-
tum der Vernunft – der absoluten Freiheit bewusst werden (vgl. Bojanowski 2006,
86–90): Im ersten Szenarium wird jemand vor die Wahl gestellt, entweder seine
Wollust zu befriedigen und anschließend getötet zu werden, oder aber jenes Bedürf-
nis zu suspendieren und auf diese Weise sein Leben zu retten. Im zweiten Szenario
soll jemand als Zeuge in einem Gerichtsverfahren auftreten und kann entweder die
Wahrheit sagen, was zur Konsequenz hätte, dass sein »Fürst« ihn töten ließe oder
er kann auf Drängen dieses »Fürsten« eine Falschaussage über einen Unschuldigen
abgeben und auf diese Weise sein eigenes Leben retten (V 30).
Im ersten Szenarium lässt Kant zwei Naturtriebe in Konkurrenz zueinander tre-
ten. Er setzt implizit voraus, dass der Überlebenstrieb in der Regel stärker ist,
weshalb er sagt, dass man »nicht lange raten« müsse, wie die Antwort ausfallen
wird (ebd.). Unter Androhung der unverzüglichen Todesstrafe wird derjenige, der
vorgibt, er könne seiner Wollust nicht widerstehen, feststellen, dass er sie suspen-
dieren und an dem »Hause, da er diese Gelegenheit trifft«, vorbeigehen kann (ebd.).
Zweifellos macht dieser Mensch hier die Erfahrung von Freiheit. Aber – und das
ist es, was Kant uns durch den Kontrast mit dem zweiten Szenarium vor Augen
führt – die Freiheit, die er hier erfährt, ist nur relativ und nicht etwa absolut. Denn
›überleben zu wollen‹, verweist auf einen Naturtrieb, der kein Fall von praktischer
Erkenntnis ist. Solange wir nur zwischen gegebenen sinnlichen Bedürfnissen aus-
wählen, hängt das Ergebnis unserer Wahl nur davon ab, von welcher Entscheidung
wir uns ein größeres Vergnügen beziehungsweise einen geringeren Schmerz ver-
sprechen (V 22 f.). Wir stellen hier also sehr wohl fest, dass wir durch Vorstellungen
unsere unmittelbaren Handlungsimpulse überwinden können, doch dabei machen
wir nicht die Erfahrung, dass wir von allen sinnlichen Motivationsgründen frei sind
und aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln können. Kant glaubt, dass wir
diese absolute Freiheit erst im moralischen Konflikt zwischen Vernunft und Neigung
erfahren. Nachdem er im ersten Szenario einen Konflikt zwischen zwei fundamen-
talen Naturtrieben dargestellt hat, lässt er nun im zweiten Szenario ein ungleich-
artiges Prinzip – die Sittlichkeit – mit dem stärkeren der beiden Triebe konfligieren.
Es kommt hinzu, dass die Lüge keine strafrechtlichen Konsequenzen für den Täter
haben wird, weil der Staat ihn in Person des »Fürsten« gerade zur Lüge zwingen
möchte. Angst vor Strafe scheidet damit als Motiv, die moralisch gebotene Handlung
zu vollziehen, aus. Kant behauptet nun, dass selbst wenn alle subjektiv-privaten
Interessen ausscheiden, wir dennoch einen Grund dafür haben, in diesem Fall die
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Wahrheit zu sagen. Dieser Grund beruht nicht auf unseren Neigungen, sondern auf
der Erkenntnis, dass wir die Maxime einer solchen Handlung nicht verallgemeinern
können.
Also impliziert nicht jede Art von Sollensansprüchen (so z. B. Pereboom 2005,
559 f.) und auch nicht jede Art von Moral, sondern nur eine solche, deren Sol-
lensansprüche voraussetzungslos sind, einen absoluten Freiheitsbegriff. Nur wenn
reine Vernunft für sich selbst – und nicht etwa wie bei Humes instrumentalistischer
Konzeption der praktischen Vernunft nur unter Voraussetzung sinnlich gegebener
Wünsche – praktisch werden kann, muss man einen absoluten Freiheitsbegriff
in Anspruch nehmen. Deshalb sagt Kant: »Wäre nicht das moralische Gesetz in
unserer Vernunft […], so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas als
[transzendentale; J. B.] Freiheit […] anzunehmen« (V 4). Der kategorische Sol-
lensanspruch des Moralgesetzes versichert uns, dass wir absolut frei sind, weil wir
aus reiner Vernunft handeln sollen. Das Moralgesetz ist damit die ratio cognoscendi,
der nachträglich bestimmende Erkenntnisgrund, der absoluten Freiheit.
Es ist hier nicht der Ort, die Probleme der kantischen Moralphilosophie zu be-
sprechen. Wir wollen uns nur verdeutlichen, welche Funktion dem absoluten Frei-
heitsbegriff in der kantischen Theorie der Moral zukommt. Doch selbst wenn der
Skeptiker bereit wäre zuzugeben, dass eine Moraltheorie kategorisch-gebietende
Imperative nur dann mit Recht in Anspruch nehmen kann, wenn der Wille absolut
frei ist, folgt daraus noch nicht, dass das Zufallsargument falsch ist. Das Zufallsar-
gument könnte vielmehr ein guter Grund dafür sein, von einer Moraltheorie mit
kategorisch-gebietenden Imperativen Abstand zu nehmen.
Das Zufallsargument ist aber nicht stichhaltig. Wenn wir uns im moralischen
Konfliktfall für oder gegen das moralische Gesetz entscheiden, sind wir nicht etwa
indifferent gegenüber unseren Gründen, so dass unsere Entscheidung mit uns über-
haupt nichts mehr zu tun hätte. Der Vertreter des Zufallsarguments wirft dem Li-
bertarier vor, dass er ›Notwendigkeit‹ mit ›Zwang‹ verwechsle und auf diese Weise
›Determinismus‹ rhetorisch der ›Freiheit‹ entgegensetze (Schlick 1978, 160 ff.; Ayer
1954). Tatsächlich dramatisiert der Prädeterminist selbst den Begriff des Indetermi-
nismus, indem er ›indeterminiert‹ als ›zufällig‹ missversteht und auf diese Weise die
Konnotation ›unzurechenbar‹ dramatisch auszunutzen sucht. Doch von der Inde-
terminiertheit einer Handlung führt kein direkter Weg zu ihrer Unzurechenbarkeit.
Auch wenn unsere Entscheidung nicht determiniert war, bedeutet das noch nicht,
dass sie unzurechenbar ist. Kant unterscheidet das menschliche Begehrungsver-
mögen vom tierischen dadurch, dass »Sinnlichkeit [unsere; J. B.] Handlung nicht
nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unab-
hängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen«
(B 562). Das bedeutet gerade nicht, dass wir, wenn wir frei handeln, grundlos han-
deln. Unsere naturkausale Vorgeschichte ist nur nicht so beschaffen, dass sie nur
eine Entscheidung zulässt.
Wir können uns dies an Kants Beispiel verdeutlichen: Derjenige, dem die To-
desstrafe angedroht wird, damit er eine Falschaussage ablegt, hat sowohl Gründe
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die Wahrheit zu sagen als auch eine Falschaussage abzulegen. Kants These ist
bekanntlich, dass die Falschaussage letztlich nicht zu rechtfertigen ist und also
nicht vollkommen rational ist. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn wir uns für die
Falschaussage entscheiden, wir damit auch unser Vermögen, aus einem reinen Ver-
nunftgrund heraus handeln zu können, verloren hätten. Dieses Beispiel soll ja ge-
rade auch plausibel machen (nicht beweisen), dass wir nicht bloß aus Gründen von
Lust und Unlust, sondern auch aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln
können. Genau deshalb behauptet Kant, dass wir uns auch »unabhängig von der
Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst […] bestimmen« können (ebd.).
Kants inkompatibilistischer Freiheitsbegriff ist also nicht durch das Zufallsargu-
ment gefährdet. Ein absolut freier Wille ist gerade kein launischer Wille, sondern
ein Wille, der das Vermögen hat, durch einen reinen Vernunftgrund zur Handlung
bestimmt zu werden. Diese Gründe sind weder – wie der Kompatibilist es will – das
notwendige Produkt unserer Lebensgeschichte noch – wie der Kompatibilist es dem
Inkompatibilisten unterstellt – launische Einfälle. Es sind vielmehr Gründe, die so
ursprünglich unsere sind, dass sie uns überhaupt erst zu moralischen und der Zu-
rechnung nach kategorischen Gesetzen fähigen Wesen machen. Diese Gründe sind
uns, wie Kant sagt, »unmittelbar« (V 29) und »apodiktisch« bewusst (V 47). Es sind
unsere Gründe, weil wir (Kants Moraltheorie vorausgesetzt) erkennen, dass wir
so handeln sollen. Wer sich von diesen Gründen lossagen wollte, müsste zugleich
seine Vernunftfähigkeit aufgeben. Kants inkompatibilistischer Freiheitsbegriff impli-
ziert also sehr wohl, dass unser Wille durch Naturkausalität nicht so determiniert
ist, dass er nicht hätte anders entscheiden können. Er impliziert aber nicht, dass
eine freie Handlung ein Produkt des Zufalls ist und mit unserer Person überhaupt
nichts zu tun hat. Genau darin besteht die entscheidende begriffliche Konfusion
vieler Kompatibilisten: Sie identifizieren ›indeterminiert‹ mit ›unverursacht‹. Diese
Identifikation führt sie wiederum dazu, ›indeterminiert‹ mit ›zufällig‹ gleichzuset-
zen, und auf diese Weise sind sie dann schließlich erneut bei der absurden Kon-
sequenz angelangt, dass die absolut freie Handlung nicht eigentlich dem Subjekt,
sondern dem Zufall zuzurechnen ist.

2.

Selbst wenn man Kant zugibt, dass der Zufallseinwand seinen Freiheitsbegriff nicht
trifft und darüber hinaus auch noch dazu bereit ist, den begrifflichen Zusammen-
hang zwischen einem inkompatibilistischen Freiheitsbegriff und dem kategorisch-
gebietenden Imperativ zu akzeptieren, wird der Kompatibilist das Determinismus-
argument gegen Kant geltend machen. Dabei dreht er Kants Schluss vom Sollen
aufs Können um und verneint die Wahrheit der Antezedenz: Wir können nicht aus
absoluter Freiheit handeln, also sollen wir auch nicht nach kategorisch-gebieten-
den Imperativen handeln. Der Kompatibilist bezweifelt also, dass unser vermeintli-
ches Wissen um kategorische Verpflichtung ein Argument gegen die Wahrheit des
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Determinismus darstellen könnte. Kant scheint dagegen beides zu wollen: sowohl


einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff als auch den Determinismus. Und seine
Lösung scheint in einer Zwei-Welten-Theorie zu bestehen, die den Determinis-
mus in die phänomenale und die Freiheit in die noumenale Welt verweist. Allen
Wood hat Kants Position deshalb als »Kompatibilismus von Inkompatibilismus und
Kompatibilismus« (Wood 1984, 74) bezeichnet. Demnach sind wir frei und deter-
miniert, weil wir zwei Welten angehören. In der phänomenalen Welt sind wir ei-
nem Naturdeterminismus unterworfen, in der noumenalen Welt sind wir frei. Der
Kompatibilismus gilt also für die phänomenale Welt, der Inkompatibilismus für die
noumenale Welt (ebd). Wood glaubt, dass der Inkompatibilist notwendig jede Art
von Determination (also auch Vernunftdetermination) ablehnt und einen Begriff
der Freiheit der Indifferenz vertritt. Deshalb bezeichnet Wood Kants Theorie als
Kompatibilismus. Der Inkompatibilist wendet sich aber nicht gegen jede Art von
Determinismus, sondern nur gegen einen Naturdeterminismus. Woods sogenannter
Metakompatibilismus ist in Wahrheit kein Kompatibilismus, sondern ein Zwei-Wel-
ten-Parallelismus, weil er nicht verständlich machen kann, wie »dieselbe Handlung«
determiniert und frei zugleich sein kann. Vielmehr lässt diese Art des sogenannten
Kompatibilismus letztlich die Frage unbeantwortet, warum wir überhaupt berech-
tigt sind, den phänomenalen Menschen für sein unmoralisches Verhalten zu ver-
urteilen, wenn wir lediglich die Freiheit des noumenalen Menschen voraussetzen
können (z. B. Beck 1998, 190).
Andere Interpreten versuchen Kant vor diesen absurden Konsequenzen zu
bewahren, wollen ihm aber ebenfalls einen Kompatibilismus zuschreiben. Hud
Hudson will weder, wie der klassische Kompatibilismus, Kants Freiheitsbegriff ab-
schwächen noch, wie der Metakompatibilist, in den sauren Apfel beißen und Kant
einen Zwei-Welten-Parallelismus zuschreiben. Stattdessen versucht Hudson Kants
Freiheitstheorie als einen Kompatibilismus zu interpretieren, der sich auf einen
anomalen Monismus im Sinne Donald Davidsons gründet (Hudson 1994 im An-
schluss an Meerboote 1984a und b). Hudson glaubt, dass man Kant, wenn man ihn
als einen Zwei-Aspekte-Theoretiker versteht, Davidsons These einer Token-Token-
Identität von physischen und mentalen Ereignissen zuschreiben könne: Ding an
sich und Erscheinung sind nicht zwei distinkte Gegenstände, sondern zwei unter-
schiedliche Betrachtungsarten ein und desselben Dinges. Dasselbe Ereignis wird
demnach als physisches Ereignis (Erscheinung) und als mentales Ereignis (Ding an
sich) betrachtet. Als physisches unterliege das Ereignis dem Grundsatz der Kausali-
tät, der die Freiheit ausschließe. Als mentales Ereignis unterliege es dagegen diesem
Grundsatz nicht. Denn, so lautet das Argument, Kant habe in der Einleitung zu den
Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften bewiesen, dass die Psy-
chologie nicht mathematisierbar ist und psychologische Gesetze prinzipiell ausge-
schlossen sind. Dieses Argument wird von Hudson so verstanden, dass der Grund-
satz der Kausalität sich nicht auf mentale Zustände anwenden lasse. Kant vertrete
also einen kausalen Determinismus auf der physikalischen (phänomenalen) Ebene
und einen Indeterminismus auf psychologischer (noumenaler) Ebene. Wenn men-
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tale Ereignisse token-token-identisch mit physischen Ereignissen sind, können sie


auch auf der Grundlage von physischen Ereignissen erklärt werden. Wenn man
aber dieselben Ereignisse in mentalem Vokabular beschreibt (Wollen, Wünschen,
Denken), widersetzen diese sich einer naturkausalen Erklärung. Darin liege die
Anomalie von Davidsons (und Kants) Monismus. Die mentale und die physikali-
sche Ebene seien nun genau deshalb miteinander vereinbar, weil mentale Erklä-
rungen nicht mit den physikalischen Erklärungen derselben Ereignisse in Konkur-
renz treten. Davidson und Kant hätten demnach beide eine Token-Token-Identität
und Type-Type-Irreduzibilität von physischen und mentalen Ereignissen vertreten.
Ob Kant tatsächlich einen anomalen Monismus vertritt, ist fraglich. Zunächst
ist die Gleichsetzung von mentalen mit noumenalen Ereignissen problematisch.
Zumindest für einige dieser Ereignisse scheint zu gelten, dass sie als Gegenstände
des inneren Sinnes selbst Erscheinungen sind (z. B. Hoffnungen, Wünsche). Ein
zweiter Kritikpunkt setzt bei der Beobachtung an, dass für Kant das Grundproblem
der zweiten Kritik gerade darin besteht, ob reine Vernunft für sich selbst praktisch
sein kann. Die Praktizität der Vernunft wird von Kant als Vernunftkausalität ver-
standen. Wäre Kant ein anomaler Monist im Sinne Davidsons, dürfte er indes nicht
behaupten, dass die Vernunft kausal die psychophysische Wirklichkeit verändert.
Das scheint aber gerade der Punkt zu sein, auf den es Kant bei seinem Begriff der
Freiheit als Erstursächlichkeit ankommt.
Es ist schließlich drittens auch bereits deshalb nicht plausibel, Kant einen ano-
malen Monismus zuzuschreiben, weil man dabei ein Argument für einen Zweck
funktionalisiert, den es im Rahmen der kantischen Texte nachweislich nicht ein-
nimmt. Kant wendet sich gegen die Vertreter eines psychologischen Determinismus
gerade nicht mit seiner prinzipiellen Kritik an der Psychologie als ›eigentlicher Wis-
senschaft‹. Selbst wenn man aus den kantischen Texten einen anomalen Monismus
zusammensetzen könnte, macht Kant von diesem Argument nachweislich keinen
Gebrauch, wenn er für die menschliche Freiheit argumentiert. Im Gegenteil: Kant
setzt in der ersten und zweiten Kritik hypothetisch einen psychologischen Deter-
minismus voraus, dessen Gesetze sich an den strikten Gesetzen der newtonschen
Mechanik orientieren und hält dennoch an der menschlichen Freiheit fest:

»Mann kann also einräumen, daß wenn es für uns möglich wäre, in eines Men-
schen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen
zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede auch die mindeste Triebfeder dazu uns
bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man
eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond-
oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß
der Mensch frei sei« (V 99; Hervorhebung J. B.; Parallelstelle in B 577 f.).
Diese Mondfinsternispassage, wie ich sie nennen möchte, macht zunächst deutlich,
dass Kant seine Theorie der Freiheit nicht auf einen bloß epistemischen Indetermi-
nismus gründet. Kant begeht nicht den Fehler, von unserer faktischen Unfähigkeit
sichere Voraussagen über die Zukunft anzustellen, auf einen ontologischen Inde-
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terminismus zu schließen. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Hirnforscher unser
Handeln (noch) nicht mit vollkommener Sicherheit voraussagen können, bedeutet
nicht auch, dass die Welt selbst nicht deterministisch verfasst ist. Von einem sol-
chen epistemischen Indeterminismus führt also kein direkter Weg zum ontologi-
schen Indeterminismus. Es wäre ja durchaus möglich, dass in der Welt alles deter-
ministisch zugeht, wir aber (noch) nicht die richtigen Theorien entwickelt haben,
mit denen wir diese deterministische Welt angemessen in den Griff bekommen.
Diese Passage macht aber auch deutlich, warum wir Kant nicht mit Recht einen
Kompatibilismus zuschreiben können, der auf einem anomalen Monismus gründet.
Kant setzt hier hypothetisch die Wirklichkeit von psychologischen Verlaufsgesetzen
voraus. Das Gesetz hat die folgende Form: Immer wenn Denkungsart x, Triebfeder y
und Umstandsbedingung z zur Zeit t vorliegen, dann folgt notwendig Handlung h.
Kontrafaktisch gewendet: Handlung h wäre nicht eingetreten, wenn (ceteris paribus)
Denkungsart x, Triebfeder y und Umstandsbedingung z zur Zeit t nicht vorgelegen
hätten. Der anomale Monist behauptet nun, dass, wenn es Gesetze der Psychologie
gäbe, die Freiheit nicht zu retten sei. Kant behauptet dagegen, dass die Existenz
derartiger Gesetze die Freiheit des Menschen nicht ausschließt. Kants Verteidigung
eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes beruht also gerade nicht auf einer
Gesetzesskepsis (wie z. B. bei Keil 2007). Wir können diese Passage also auch so
verstehen, dass Kant seine Freiheitstheorie ausdrücklich nicht von einem anomalen
Monismus abhängig machen will. Kant behauptet hier, dass auch dann, wenn der
anomale Monismus nicht zutrifft, die Möglichkeit der Freiheit nicht ausgeschlossen
ist. Davidsons Kompatibilismus ist also nicht der Kompatibilismus Kants.
Wir müssen Kant in dieser Passage vielmehr so verstehen, dass er mit Blick auf
die Vertreter eines Determinismus sagt: Ich gebe den Deterministen einen psycho-
logischen Determinismus zu. Ich will sogar einräumen, dass sie das menschliche
Handeln mit derselben Sicherheit voraussagen können, wie die newtonsche Physik
die Planetenbewegung vorausberechnen kann. Ich könnte zwar gegen sie argumen-
tieren, dass derartige Gesetze aus prinzipiellen Gründen unmöglich sind, aber von
diesem Argument muss ich keinen Gebrauch machen. Denn auch wenn es Natur-
gesetze für menschliches Verhalten gäbe, kann ich »dennoch dabei behaupten, daß
der Mensch [absolut; J. B.] frei sei« (V 99).

3.

Wenn Kant seine Freiheitstheorie nicht auf einen anomalen Monismus gründet, ste-
hen wir nun erneut vor dem eingangs skizzierten Dilemma: Entweder wir schwä-
chen den kantischen Freiheitsbegriff ab und schreiben ihm einen schwachen, kom-
patibilistischen Freiheitsbegriff zu oder wir halten an dem absoluten Freiheitsbegriff
fest und lesen Kant als den Vertreter eines Zwei-Welten-Parallelismus. Mit dem er-
sten Horn des Dilemmas schlagen wir den klassischen kompatibilistischen Weg ein.
Die Mondfinsternispassage legt eine solche Lesart nahe. Kant hätte Freiheit dann als
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das Vermögen verstanden, das zu verwirklichen, was wir tun wollen. Die Frage, ob
der Wille selbst naturkausal determiniert ist, wäre dann nicht mehr von Bedeutung.
Entscheidend wäre nur, dass der Wille die intendierte Handlung auch verwirklichen
kann. Doch es ist gerade diese kompatibilistische Vereinbarkeitsstrategie von Frei-
heit und Naturdeterminismus, die Kant, wie wir oben gesehen haben, kurz zuvor
explizit als eine »kleine Wortklauberei« und einen »elenden Behelf« zurückweist.
Mit dem ersten Horn würden wir also Kants inkompatibilistischen Freiheitsbegriff
gerade aufgeben. Das zweite Horn würde dagegen einen Rückfall in die Zwei-Wel-
ten-Theorie bedeuten. Kant könnte dann prinzipiell nicht verständlich machen, wie
dieselbe Handlung zugleich frei und naturkausal determiniert sein kann.
Ich denke, dass ein wirklich haltbarer Ausweg aus diesem Dilemma bei Kants
Determinismusbegriff ansetzen muss. Dabei hat man sich oft auf eine Lesart der
zweiten Analogie der Erfahrung berufen, die den Grundsatz der Kausalität als ei-
nen bloß regulativen Grundsatz verstehen will. Demnach sei es Kant mit dem
Grundsatz der Kausalität gerade nicht um den Beweis des Uniformitätsprinzips der
Kausalität gegangen, wonach gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben. Die zen-
trale These der zweiten Analogie sei vielmehr, dass überhaupt nur ein objektives
Ereignis (»Geschehen«) möglich ist, weil wir voraussetzen, dass jedes Ereignis eine
Ursache haben muss (vgl. Buchdahl 1969, 670 f.; Beck 1978b, 147–153). Kant habe
also mit der zweiten Analogie lediglich dieses allgemeine Kausalprinzip beweisen
wollen, wonach jedes Ereignis eine Ursache hat (vgl. Beck 1978a, 126). Ursache
und Wirkung sind insofern »notwendig« miteinander verknüpft als sie in der Zeit
nicht umkehrbar sind. Dieses Prinzip schließt eine Freiheitskausalität prinzipiell
nicht aus, weil die Freiheitskausalität gerade nicht in der Zeit geschieht, selbst kein
Ereignis ist und somit selbst nicht wiederum eine Ursache haben muss.
Über die Existenz spezieller Kausalgesetze macht die zweite Analogie der Erfah-
rung keine Aussage. Spezielle Kausalgesetze lassen sich nicht aus transzendental-
philosophischer Reflexion ableiten. »Es muß Erfahrung dazu kommen«, um sie zu
erkennen. Aber wie Erfahrung überhaupt zustande kommen kann, davon »geben
allein jene Gesetze a priori Belehrung« (B 165). Um ein Urteil, das eine objektive
Zeitfolge ausdrückt, fällen zu können, müssen wir nicht im Besitz spezieller Kau-
salgesetze sein (Guyer 1987, 252). Kant sagt vielmehr, dass, wenn wir ein Ereig-
nis erfahren, wir voraussetzen müssen, dass es eine Ursache hat. Die speziellen
Kausalgesetze müssen erst noch aufgesucht werden. Damit ist nicht auch schon
garantiert, dass wir derartige Gesetze finden werden.
Doch mit dieser schwachen Lesart der zweiten Analogie der Erfahrung machen
wir uns die Sache zu leicht. In der zitierten Mondfinsternispassage setzt Kant ja
gerade hypothetisch voraus, was die schwache Lesart der zweiten Analogie offen
lassen will: die Existenz spezieller Kausalgesetze für menschliche Handlungen.
Diese Gesetze sollen es uns ermöglichen, das Verhalten eines Menschen mit Sicher-
heit voraussagen zu können. Zur Erinnerung: In dieser Passage behauptet Kant,
dass auch wenn Handlung h nicht hätte anders sein können, wenn Denkungsart
x, Triebfeder y und Umstandsbedingung z zur Zeit t vorliegen, wir dennoch die
Ist Kant ein Kompatibilist? 69

Handlung so betrachten dürfen, dass sie absolut frei war. Wir dürfen deshalb die
Gültigkeit von Kants inkompatibilistischem Freiheitsbegriff nicht einfach von einer
schwachen Lesart der zweiten Analogie der Erfahrung abhängig machen. Wir müs-
sen vielmehr die Vereinbarkeit oder Kompatibilität des absoluten Freiheitsbegriffes
auch mit diesem empirischen Determinismus beweisen.
Kant selbst bezeichnet dieses Unternehmen als die »Vereinigung« von »Freiheit«
und »Naturnothwendigkeit« (B 566). Deshalb ist es auch naheliegend, Kant eine
Art von Kompatibilismus zuzuschreiben. Der Determinismus, den die Mondfinster-
nispassage in Anspruch nimmt, verpflichtet Kant indes nicht auf den Kompatibilis-
mus, wie er uns aus der gegenwärtigen Freiheitsdebatte bekannt ist. Wenn wir also
Kants Theorie in der gegenwärtigen Debatte situieren wollen, müssen wir dieser
Bezeichnung widerstehen. Denn selbst wenn aus x, y, z zu t notwendig h folgt, so
könnte Kant sagen, dass zumindest ein Teil der Bedingungen selbst in der Macht
des Handelnden liegt.
Folgt man Kants sogenannter »Inkorporationsthese« (Allison 1990), dann kann
der Mensch »durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden […],
als nur sofern [er] sie in seine Maxime aufgenommen hat […]; so allein kann eine
Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der
Freiheit) zusammen bestehen« (VI 24). Nur wenn wir uns dafür entscheiden, eine
Triebfeder in unsere Maxime aufzunehmen, und nicht etwa, indem sie unvermit-
telt als Naturtrieb uns bestimmt, werden unsere Triebfedern handlungswirksam.
In der Mondfinsternispassage ist die »Maxime« mit dem Begriff der »Denkungs-
art« angesprochen. Wenn dem empirischen Psychologen die Denkungsart vollkom-
men bekannt wäre und er mit Sicherheit die Handlungen vorausberechnen könnte,
dann, so Kants These, ist damit die Möglichkeit inkompatibilistischer Freiheit nicht
ausgeschlossen. Sie wäre aber sehr wohl ausgeschlossen, wenn auch die Entschei-
dung des Handelnden selbst nicht in der Macht des Handelnden läge. Kant hat
ganz deutlich gesehen, dass die eigentliche Gefahr für den inkompatibilistischen
Freiheitsbegriff nicht der Determinismus, sondern, wie er es in der Religionsschrift
genannt hat, der »Prädeterminismus« ist:

»Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft als ganz begreiflich vorspiegeln,


machen durch das Wort Determinismus (den Satz der Bestimmung der Willkür
durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierig-
keit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand
denkt; sondern: wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlun-
gen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit ha-
ben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der
Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augen-
blicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen
könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird.« (VI 49 f.)

Es ist also nicht die Möglichkeit von sicheren Handlungsprognosen, die unsere ab-
solute Freiheit bedroht. Es ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Bedingungen, bei
70 Jochen Bojanowski

denen diese Prognosen ansetzen, selbst nicht in der Macht des Handelnden sind.
Die empirische Forschung kommt, sofern sie auf die Handlungsprognose gerich-
tet ist, immer zu spät, um die Möglichkeit absoluter Freiheit auszuschließen. Nur
wenn die Denkungsart ihrerseits stets durch Naturursachen so bestimmt ist, dass
sie nicht hätte anders sein können, ist die Möglichkeit inkompatibilistischer Freiheit
ausgeschlossen. Die Wirklichkeit eines solchen Prädeterminismus wird aber in der
Mondfinsternispassage gerade nicht behauptet.
Kant hält das Problem des Prädeterminismus bekanntlich für ein notwendiges
Vernunftproblem. Es entsteht, wenn die Grundsätze des Verstandes durch die Syste-
matizitätsbestrebungen der Vernunft über die Erfahrung hinaus bis zum Unbeding-
ten erweitert werden. Der Widerspruch, die »Antinomie«, wie Kant sagt, zwischen
Freiheit und Prädeterminismus entspringt erst aus dem Konflikt zwischen den Sy-
stematizitätsforderungen der Vernunft und den möglichen Synthesisleistungen ei-
nes sinnlichen Erkenntnisvermögens. Genauer liegt diesem Konflikt das folgende
Argument zugrunde:

1. Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der Bedingungen
gegeben.
2. Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben.
3. Also ist uns die ganze Reihe aller Bedingungen derselben (der Gegenstände)
gegeben (B 525, B 364).

Diese allgemeine Argumentationsfigur, die allen Vernunftwidersprüchen als hy-


pothetischen Vernunftschlüssen zugrunde liegt, lässt sich auf den Sonderfall der
dritten Antinomie übertragen:

1. Wenn etwas Bewirktes gegeben ist, dann sind alle Ursachen des Bewirkten
ebenfalls gegeben.
2. Nun ist uns etwas Bewirktes gegeben.
3. Also sind auch alle Ursachen des (gegebenen) Bewirkten gegeben.

Der Grundsatz dieses Syllogismus postuliert die vorhandene Totalität der Ursachen.
Aus ihr entsteht der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst. Es wird behauptet,
dass die vollständige Reihe der Ursachen, und damit das Unbedingte selbst gegeben
ist. Das Unbedingte ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Deshalb ist dieser
Grundsatz kein empirischer, sondern ein Grundsatz a priori. Es ist ein synthetischer
Grundsatz a priori, »denn das Bedingte bezieht sich analytisch zwar auf irgend eine
Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte« (B 364).
Das Unbedingte wird von dem Vertreter eines inkompatibilistischen Freiheitsbe-
griffes und dem Vertreter eines universellen Prädeterminismus auf jeweils unter-
schiedliche Weise gedacht. These und Antithese der dritten Antinomie legen ihrer
eigenen Position jeweils einen anderen Begriff des »Unbedingten« zugrunde. Zum
einen kann das Unbedingte als Erstursächlichkeit verstanden werden. In diesem
Fall ist es ein Teil der Kausalreihe, dem die anderen Ursachen untergeordnet sind,
der selbst aber ein absolut Erstes der Kausalreihe darstellt. In diesem Fall bedeutet
Ist Kant ein Kompatibilist? 71

›unbedingt‹ »absolute Selbsttätigkeit (Freiheit)« (B 445 f.). Zum anderen lässt sich
das Unbedingte aber auch als aktual-infiniter Regress denken, in dem alle Ereignisse
bedingt sind und nur die Kausalreihe selbst von keiner Bedingung abhängt. Auch
wenn man behauptet, die Kausalreihe sei »ohne Anfang, d. i. unendlich« (ebd.),
nimmt man also einen Begriff des Unbedingten in Anspruch.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass nicht, wie viele gemeint haben (z. B.
Strawson 1981, 181), nur der Vertreter des inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes
(These), sondern auch der Vertreter eines globalen (universalen) Prädeterminismus
(Antithese) einen Begriff des »Unbedingten« voraussetzt (vgl. Dimpker; Kraft; Schön-
ecker 1996, 182–185, 195 f., 209). Die Pointe des Vernunftwiderspruchs liegt gerade
darin, dass es eine Idee gibt, die auf zweifache sich einander widersprechende
Weise bestimmt wird. Im Fall der dritten Antinomie ist es die Idee der »absolute[n]
Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung« (B 443). Kant argumentiert nun
dafür, dass sich die objektive Realität dieser Idee in keiner uns möglichen An-
schauung beweisen lässt und weder die These noch die Antithese wahrheitsfähig
sind. Beim Zurückverfolgen der Ursachenreihe werden wir niemals Vollständigkeit
erreichen, aber damit ist nicht auch gesagt, dass der empirische Regress in jedem
Fall notwendig unendlich ist. Vielmehr ist bei dem Verhältnis von Ursache und
Wirkung immer nur »ein Glied der Reihe gegeben, von welchem der Regressus zur
absoluten Totalität allererst fortgehen soll« (B 541). Deshalb hält Kant hinsichtlich
des Regresses, der in der Erfahrung prinzipiell unabschließbar ist, an einer Dif-
ferenzierung fest, die in Bezug auf den Progressus bloß eine »leere Subtilität« ist
(B 539): Wenn nur ein Glied der Reihe und nicht etwa das Ganze in der empirischen
Anschauung gegeben ist, dann ist man lediglich dazu berechtigt, einen Regressus
in indefinitum und nicht etwa in infinitum anzunehmen (B 441 ff.). Kants Lösung
besteht nun darin, den synthetischen Grundsatz in ein bescheideneres ›analytisches
Postulat‹, eine Forschungsmaxime, umzuwandeln, die »klar und ungezweifelt ge-
wiß« ist: »[W]enn das Bedingte gegeben ist, [ist] uns eben dadurch ein Regressus
in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben […]« (B 526). Mit diesem
Satz wird die Frage, wie weit sich der Regress erstreckt, ob er endlich oder unend-
lich ist, offengelassen. Er fordert lediglich dazu auf, das zu suchen, was im Begriff
des ›Bedingten‹ beziehungsweise ›Bewirkten‹ analytisch bereits enthalten ist: die
Bedingungen beziehungsweise die Ursachen. Deshalb »erhebt sich [dieser Satz]
über alle Furcht vor transzendentale[r] Kritik« (ebd.). Gegen den Begriff des Unbe-
dingten als aktual-infiniter Regress setzt Kant also den Begriff des Unbedingten als
unbestimmter (potentiell-infiniter) Regress.
Kants Argumentationsstrategie für einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff
unterscheidet sich damit nicht vollkommen von der Strategie, die auch gegenwär-
tige Vertreter eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffes einschlagen (z. B. Keil
2007). Kant argumentiert nicht unmittelbar für die Wahrheit des Indeterminismus,
sondern dafür, dass der Prädeterminismus prinzipiell unbeweisbar bleiben muss.
Von dort schließt er nicht etwa auf die Wahrheit des Indeterminismus und die
Wirklichkeit einer Kausalität aus Freiheit. Vielmehr werden Determinismus und
72 Jochen Bojanowski

inkompatibilistischer Freiheitsbegriff beide zu regulativen Ideen ohne Wahrheits-


wert. Solange wir nur in empirischer Forschung die Ursachen einer Erscheinung
bestimmen, gibt es keinen Grund, von einem Determinismus abzurücken. Viel-
mehr führt die Voraussetzung eines Determinismus zur Vervollkommnung unserer
wissenschaftlichen Erkenntnis. Erst unser unmittelbares Bewusstsein kategorischer
Verpflichtung gibt uns einen Grund, einen Natur-Indeterminismus hinsichtlich des
menschlichen Willens anzunehmen. Dabei setzen wir implizit voraus, dass die Na-
turursachen »nicht so bestimmend« sind, so dass wir also »unabhängig von jenen
Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt« eine Wirkung in der Natur hervor-
bringen können (B 562). Anders gesagt: Wenn die Naturursachen so bestimmend
wären, dass wir nicht anders hätten wollen können, wären wir nicht frei. Es gibt
wohl kaum eine Formulierung, in der Kants inkompatiblistischer Freiheitsbegriff
deutlicher zum Ausdruck käme. Die moralisch-praktische Beurteilung menschlicher
Handlungen setzt also voraus, dass die Wirkung eine andere hätte sein können,
weil ihre Ursache eine andere hätte sein können. Das bedeutet aber auch, dass,
wenn wir aus praktischer Perspektive menschliches Handeln beurteilen, wir da-
von ausgehen können, dass es nicht vollständig determiniert ist. Wenn wir dem
menschlichen Willen die Idee der (absoluten) Freiheit zuschreiben, dann können
wir ihn nicht zugleich als vollständig naturkausal determiniert betrachten. Diese
Überzeugung macht Kant zu einem Inkompatibilisten von Freiheit und Naturde-
terminismus. Wenn wir den Gegenstand als determiniert betrachten, liegt dieser
Betrachtung vielmehr ein anderes Erkenntnisinteresse zugrunde. Wäre der mensch-
liche Wille tatsächlich prädeterminiert, dann wären wir nicht absolut frei und eine
Zurechnung nach kategorisch-gebietenden Imperativen ungerechtfertigt. Gleich-
wohl müssen wir, wenn wir die menschlichen Handlungen als Naturereignisse
zum Gegenstand empirischer Forschung machen, die Ursachenkette so betrachten,
»als ob [sie] an sich unendlich wäre […]« (B 700). Warum? Weil nur auf der Grund-
lage dieser Regel unsere empirische Forschung nicht willkürlich abbricht, sondern
der Erfahrungsgegenstand so weit wie möglich theoretisch bestimmt werden kann.
Kant hat nicht behauptet, dass die Aussagen, ›der menschliche Wille ist frei‹ und
›der menschliche Wille ist vollständig naturkausal determiniert‹ beide zugleich wahr
sein können (vgl. z. B. Rosefeldt in diesem Band). Er hat auch nicht behauptet, dass
es denkmöglich ist, dass wir Menschen zugleich (absolut) frei und vollständig natur-
determiniert handeln. Kant will vielmehr dafür argumentieren, dass wir, wenn wir
eine empirisch-psychologische Perspektive auf den Menschen einnehmen, ihn so
betrachten müssen, »als ob« seine Handlungen vollständig determiniert sind, und,
wenn wir eine moralische Perspektive einnehmen, ihn so betrachten müssen, »als
ob« er absolut frei ist. Die vollständige Prädetermination der Welt schließt die Frei-
heitskausalität und die Zurechnung nach kategorisch-gebietenden Imperativen aus.
Die prinzipielle Unbeweisbarkeit des universellen Prädeterminismus zusammen
mit dem unmittelbaren Bewusstsein kategorischer Verpflichtung geben uns einen
Grund, dem Menschen inkompatibilistische Freiheit zuzusprechen.
Ist Kant ein Kompatibilist? 73

Schluss

Kants Freiheitstheorie im Rahmen der gegenwärtigen Taxonomie zu verorten, macht


uns bereits deshalb so große Schwierigkeiten, weil dieser Taxonomie eine Äquivo-
kation zugrunde liegt. Die beiden Lager Kompatibilismus und Inkompatibilismus
setzen bei ihrer Antwort auf die Frage, ob Willensfreiheit mit dem Determinismus
vereinbar ist, jeweils einen anderen Begriff von Willensfreiheit voraus. Letztlich
sind sich alle darüber einig, dass der Begriff der absoluten Freiheit nicht prädeter-
minismusverträglich ist. Insofern sind wir eigentlich alle Inkompatibilisten. Einig-
keit besteht auch darüber, dass der schwache Freiheitsbegriff prädeterminismusver-
träglich ist. Insofern sind wir alle Kompatibilisten. Der eigentliche Konflikt betrifft
also zunächst den Freiheitsbegriff selbst und nicht das Kompatibilismusproblem.
Welche Art von Freiheit setzen unsere verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken
voraus? Ist der relative Freiheitsbegriff für diese Praktiken hinreichend oder fordert
die Aufgabe des absoluten Freiheitsbegriffes auch eine Revision dieser Praktiken?
Die Vertreter des relativen Freiheitsbegriffes glauben mit dem Zufallsargument zei-
gen zu können, dass es gerade nur der relative Begriff ist, der die menschliche
Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit begründen kann. Kants absoluter Freiheits-
begriff ist dagegen an eine Ethik mit kategorisch-gebietenden Imperativen geknüpft.
Er soll die Zurechenbarkeit nach kategorisch-gebietenden Imperativen legitimieren.
Im Unterschied zu den gegenwärtigen Freiheitstheoretikern möchte Kant zeigen,
warum wir, wenn wir über menschliche Freiheit sprechen, notwendig und primär
über Moraltheorie sprechen müssen. Er ist davon überzeugt, dass wir ohne die Er-
kenntnis des Moralgesetzes »niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde[n],
Freiheit in die Wissenschaft einzuführen« (V, 30). Die Erkenntnis der praktischen
Verpflichtung ist zugleich auch der Bewusstseinsgrund der absoluten Freiheit. Es ist
also nicht ein spekulatives Interesse, sondern die praktische Vernunft, die uns zuerst
das »unauflösliche Problem« mit dem Begriff der absoluten Freiheit aufgibt (V 30).
Erst eine Zurechnung nach kategorisch-gebietenden Imperativen macht eine Recht-
fertigung des absoluten Freiheitsbegriffes erforderlich. Im ersten Teil dieses Aufsat-
zes habe ich versucht zu zeigen, warum der Zufallseinwand gegen den absoluten
Freiheitsbegriff nicht stichhaltig ist. Die Vertreter eines relativen Freiheitsbegriffes
missverstehen den Begriff des Indeterminismus, indem sie ›indeterminiert‹ mit ›zu-
fällig‹ identifizieren. Auch wenn unsere Entscheidung nicht naturdeterminiert war,
bedeutet das noch nicht, dass die Entscheidung zufällig und unzurechenbar wäre.
Wir handeln, wenn wir frei handeln, nicht grundlos, aber die naturkausale Vorge-
schichte ist nicht so beschaffen, dass sie nur eine Entscheidung zulässt.
Doch auch wenn sich der absolute Freiheitsbegriff widerspruchsfrei explizieren
lässt, ist damit noch nicht die Kompatibilismusfrage beantwortet:

»[W]enn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Be-
gebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt
sein, und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür bestimmen, jede
74 Jochen Bojanowski

Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, so würde


die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit
vertilgen« (B 562).

Kant hat uns hier einen Einwand geliefert, der in der gegenwärtigen Freiheitsdis-
kussion unter dem Titel »Konsequenzargument« neu erfunden worden ist (van
Inwagen 1983, 16). Mit der Auflösung der dritten Antinomie möchte Kant dafür
argumentieren, dass einige »Kausalität in der Sinnenwelt« nicht »bloß Natur« ist. Er
möchte die logische Möglichkeit einer Kausalität aus absoluter Freiheit beweisen.
Ich denke nicht, dass wir Kants Auflösungsstrategie als Kompatibilismus bezeich-
nen sollten. Sein Freiheitsbegriff ist entschieden inkompatibilistisch. Seine Verein-
barkeitsstrategie ist gerade nicht darauf angelegt, mit Recht von einer Handlung
sagen zu dürfen, dass sie sowohl absolut frei als auch prädeterminiert ist. Vielmehr
müssen wir die Handlung, wenn wir sie theoretisch erklären wollen, so betrachten,
als ob sie prädeterminiert ist und, wenn wir sie moralisch beurteilen, so betrachten
als ob sie absolut frei ist. Wir haben es hier mit regulativen Prinzipien zu tun, die
weder wahr noch falsch sein können, weil sie über eine uns mögliche Erfahrung
hinausgehen. Kants Formulierung des Konsequenzarguments macht deutlich, dass
für ihn die Wahrheit oder Gültigkeit des Prädeterminismus die Möglichkeit von
Freiheit als Erstursächlichkeit ausschließen würde. Bereits deshalb dürfen wir Kant
nicht mit Recht als Kompatibilisten bezeichnen.
Doch selbst wenn Kants Lösung des Prädeterminismusproblems nicht befriedi-
gend ist, werden wir doch zumindest bei der Problemexposition an Kant anschlie-
ßen müssen. Kant hat die deterministischen Freiheitstheorien gekannt. Schon zu
Kants Zeit hat Johann Heinrich Schulz in aller Schärfe einen empirischen Determi-
nismus vertreten. Schulz trat damals für dieselbe Korrektur des Menschenbildes ein,
wie sie derzeit von einigen Hirnforschern gefordert wird (Roth 2003; Singer 2003;
Walter 1998). Auch Schulz plädierte damals für eine Revision der »Sittenlehre« und
des »Kriminalrechts«, der Begriffe »Lob und Tadel«, »Tugend und Laster«, »Schuld,
Zurechnung und Strafe« sowie unseres Gefühls der »Reue« (Schulz 1783, 76). Nie-
mand wird die Fortschritte der empirischen Wissenschaften seit Kants Zeiten leug-
nen wollen. Ebenso verkehrt wäre es jedoch zu meinen, diese Fortschritte stellten
uns vor prinzipiell neue Probleme und die philosophische Diskussion stünde ih-
nen unvorbereitet gegenüber. Kant hat die Schriften jener Deterministen gekannt,
Schulz’ Buch sogar selbst rezensiert. Doch obgleich ihm der Gedanke eines Deter-
minismus vertraut war, hält er an der Freiheit des menschlichen Willens fest. Der
Determinismus ist also keine Reaktion auf Kant, sondern andersherum können wir
Kants Freiheitstheorie als eine Reaktion auf den Determinismus verstehen. Dabei
hat Kant aber nicht mit einem auf empirischer Forschung basierenden »Beinahe-
determinismus« angesetzt (Honderich 1995, 11, 99, 116), sondern mit dem Prä-
determinismus, der die eigentliche Bedrohung für den absoluten Freiheitsbegriff
darstellt. Im Streit zwischen absoluter Freiheit und Prädeterminismus schlägt Kant
sich nicht dogmatisch auf eine Seite, sondern strengt einen fairen Prozess an. Beide
Ist Kant ein Kompatibilist? 75

Parteien, sowohl der Vertreter des Prädeterminismus als auch der Vertreter von
Erstursächlichkeit, sollen die Gültigkeit ihrer Position beweisen. Kant bemüht sich
dabei, den Grund und Ursprung des Streites zu diagnostizieren, weil er glaubt, dass
nur so auch der Therapieversuch eine Aussicht auf Erfolg haben kann. Wir gehen
zwar sehr wohl in der gegenwärtigen Debatte auf die Argumente der Gegner ein.
Der Versuch aber, den Ursprung dieses Konfliktes aufzuspüren, um zu erkennen,
warum dieser Konflikt nicht beizulegen ist, bleibt, soweit ich sehe, aus. Auch in
diesem Punkt könnten wir von Kant lernen.

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