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2005 05 Kants Moralphilosophie -Einführung- korr 2010-01

[leicht veränderte Fassung des Kapitels: Georg Mohr, „Freiheit, Moral, Sittlichkeit: Kant“,
in: Handbuch Deutscher Idealismus, hg. v. H. J. Sandkühler, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005, S. 146-54]

Georg Mohr (Bremen)

Kants Moralphilosophie. Eine Einführung

I. Teil: Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft


II. Teil: Achtung und Autonomie

I. Teil:
Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

1. Maximen und praktische Gesetze

Die Kritik der praktischen Vernunft beginnt in § 1 mit einer Logik praktischer Sätze. Kant un-
terscheidet dort zunächst zwischen zwei Arten von „praktischen Grundsätzen“: „Maximen“ und
„praktischen Gesetzen“. Praktische Grundsätze im allgemeinen definiert Kant als „Sätze, wel-
che eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter
sich hat“. 1

Maximen sind eine Unterart von solchen praktischen Grundsätzen und demnach von einem ho-
hen Allgemeinheitsgrad: sie enthalten „mehrere praktische Regeln unter sich“. Es ist wichtig,
dies nicht aus dem Auge zu verlieren, denn die Beispiele, die häufig in der Literatur für Maxi-
men gebracht werden, gehen an dieser grundlegenden Begriffsbestimmung vollständig vorbei.
Maximen sind allgemeine Handlungsgrundsätze, in denen eine Person ihre Auffassung vom
moralisch Richtigen formuliert. Sie betreffen die Art (Leitsätze) der Lebensführung dieser Per-
son insgesamt. Eine Maxime ist ein subjektiver praktischer Grundsatz insofern, als die Person
ihn sich zu eigen macht und für sich als gültig anerkennt. Was einen praktischen Grundsatz zu
einer Maxime macht, ist der Umstand, dass eine Person ihn zu ihrem Grundsatz macht. In Kants
Formulierung, eine Maxime läge dann vor, „wenn die Bedingung nur als für den Willen des
Subjekts gültig von ihm angesehen wird“ 2 , ist das „nur“ nicht ausschließend zu verstehen, son-
dern so, dass das Definiens einer Maxime ihr Anerkanntsein durch ein Subjekt ist.

1 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), § 1, AA V, S. 19.


2 Ebd.
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Praktische Gesetze definiert Kant demgegenüber als objektive praktische Grundsätze, deren
Bedingung als „für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird“. Allgemeine
Willensbestimmungen sind beide, die subjektive Maxime und das objektive praktische Gesetz.
Objektiv ist aber nur das praktische Gesetz, insofern nämlich, als es nicht an die Bedingung
einer bestimmten, subjektiven Zwecksetzung geknüpft ist. Während die Maxime also ein fakti-
sches Moment enthält, nämlich ihr Anerkanntsein durch eine Person, hat das praktische Gesetz
einen normativen Charakter, insofern es sich nämlich an alle vernünftige Wesen richtet. Eine
Maxime ist ein Grundsatz, den ich mir tatsächlich gebe. Ein praktisches Gesetz ist ein Grund-
satz, der für jede Person als vernünftiges Wesen gilt und den ich mir daher geben soll.

Damit ist die beim Menschen, der kein rein vernünftiges, sondern auch sinnliches Wesen ist,
prinzipiell mögliche Diskrepanz zwischen der Geltung eines praktischen Gesetzes und seiner
Befolgung bzw. möglichen Nichtbefolgung angesprochen. An solche Wesen, wie wir Menschen
sind, richten sich praktische Gesetze im Modus des Imperativs.

2. Hypothetische und kategorische Imperative

Unter einem Imperativ versteht Kant einen praktischen, d.h. handlungsanleitenden Satz, der die
illokutionäre Funktion hat, einen Willen zu ‘nötigen’. Er ist eine „Regel, die durch ein Sollen,
welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird“. 3 Ein vollkommen
guter („heiliger“) Wille, der schon hinreichend „durch die Vorstellung des Guten bestimmt
werden kann“ 4 , bedarf keiner Nötigung, da er „automatisch“ das moralisch Richtige will und
auch handlungswirksam werden lässt. Bei ihm ist „das Sollen […] am unrechten Orte, weil das
Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist“. 5 Auf den menschlichen
Willen trifft dies jedoch nicht zu. Da der Mensch Vernunft hat, ist er zwar einerseits der Ein-
sicht in die Richtigkeit moralischer Gesetze prinzipiell fähig. Da aber bei ihm „Vernunft nicht
ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist“ 6 , tut er andererseits jedoch „nicht immer darum
etwas […], weil ihm vorgestellt wird, dass es zu tun gut sei“. 7

Imperative richten sich mit der in ihnen ausgedrückten Nötigung an einen sinnlich affizierbaren
Willen, an Wesen also, die nicht rein vernünftig verfasst sind, sondern ebenso eine Sinnlichkeit
und durch diese bedingte Neigungen und Begierden haben. Nur solche Wesen sind Adressaten
von Imperativen, denn reine Vernunftwesen brauchen nicht und bloße Sinnenwesen können
nicht (zumindest nicht durch Vernunft oder Sprache) genötigt werden. Während bei bloßen

3 Ebd., S. 20.
4 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 414.
5 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 414.
6 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), 20 (§ 1); vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten (1785), AA IV, S. 413.
7 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 413.
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Sinnenwesen Neigungen ‘automatisch’ unmittelbar handlungswirksam werden, tritt bei sinn-


lich-vernünftigen Wesen ein bewertendes Urteil zwischen die auftretenden Neigungen und die
Handlung. Menschen verfügen über die Fähigkeit der selbstbewertenden Stellungnahme zu
ihren eigenen Neigungen im Lichte von überlegten Handlungszielen (Absichten, Vorsätzen,
gesetzten Zwecken) und anerkannten Handlungsregeln. Nur unter diesen Voraussetzungen, die
die der Menschen sind, können und müssen (nach Kant) moralische Gesetze die Form von Im-
perativen annehmen.

Systematisch lassen sich die möglichen Konzeptionen von Moralphilosophie laut Kant im we-
sentlichen anhand von einigen Grundunterscheidungen zwischen Typen von Imperativen glie-
dern. Kant unterscheidet (a) zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen und (b)
zwischen problematischen, assertorischen und apodiktischen Imperativen. Beide Unterschei-
dungen orientieren sich an Kants allgemeiner Urteilstheorie 8 . Die Unterscheidung (a) bezieht
sich auf die „Relation“, (b) auf die „Modalität“ des Urteils.

(a) Ein hypothetischer Imperativ gebietet eine Handlung H unter der Bedingung, dass die
Adressatin einen Zweck Z will und die Handlung H ein erforderliches und verfügbares Mittel
dazu ist. Die Zweck-Mittel-Relation besteht dann, wenn zwischen Z und H das Verhältnis einer
Realimplikation besteht. Die Realisierung von Z hat dann die Realisierung von H zur notwendi-
gen Voraussetzung. Ein hypothetischer Imperativ hat demnach die Form: „ich soll etwas tun,
darum, weil ich etwas anderes will“. 9 Auf eine Formel gebracht: Wenn du Z willst, sollst du H
wollen. Er gebietet nur solchen Adressaten („nötigt“ nur diejenigen Adressaten), H (als Mittel)
zu realisieren, auf die diese Bedingung, Z (als Zweck) zu wollen, zutrifft. Unklar ist jedoch, ob
und nach welcher Logik das Bestehen einer durch Realimplikation (theoretisch) begründeten
Zweck-Mittel-Relation auch tatsächlich hinreichend sein sollte für die (praktische) Gültigkeit
eines hypothetischen Imperativs. Kants Charakterisierung hypothetischer Imperative als analyti-
sche praktische Sätze ist umstritten. 10

Ein kategorischer Imperativ gebietet eine Handlung ohne die Bedingung eines aus anderen
Gründen vorausgesetzten Zwecks. Während hypothetische Imperative offen lassen, ob denn der
“Zweck vernünftig und gut sei“, und nur angeben, „was man tun müsse, um ihn zu erreichen“, 11
gebieten kategorische Imperative eine Handlung als einen schlechthin vernünftigen und guten
Zweck. Während es bei hypothetischen Imperativen stets um die „Materie der Handlung“ und
ihre Folgen geht, betrifft der kategorische Imperativ „die Form und das Prinzip, woraus [die
Handlung] selbst folgt“. 12 Und während schließlich bei hypothetischen Imperativen der Bereich

8 Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/87), A 70/ B 95.


9 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 444.
10 Vgl. u.a. Cramer 1972, Seel 1989, Ludwig 1999, Mohr 1999.
11 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 415.
12 Ebd., S. 416.
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der Adressaten auf diejenigen eingeschränkt ist, die jeweils einen bestimmten materialen Zweck
wollen, richtet sich ein kategorischer Imperativ an alle sinnlich-vernünftigen Wesen.

(b) Unter den hypothetischen Imperativen unterscheidet Kant die problematischen und die as-
sertorischen. Problematisch ist ein Imperativ, der eine Handlung gebietet, „um irgend eine da-
durch zu bewirkende bloß mögliche Absicht zu erreichen“. 13 Er hat die Form: „Es ist möglich,
dass du H sollst“, unter der Bedingung nämlich, dass die Adressatin Z will. Dabei wird die all-
gemeine Voraussetzung gemacht: Immer wenn du Z willst, dann sollst du H wollen. Problema-
tisch-hypothetische Imperative gebieten die Wahl der jeweils geeigneten und verfügbaren „Mit-
tel zu allerlei beliebigen Zwecken“ 14 und sind als solche „technische“ 15 „Regeln der Geschick-
lichkeit“. 16

Ein assertorischer Imperativ gebietet nach Kant ein Handeln, das zu einer allen Menschen ge-
meinen wirklichen Absicht gut und notwendig ist. 17 Er hat die Form: „Es ist wirklich, dass du H
sollst“. Vorausgesetzt wird dabei, dass alle Menschen wirklich Z wollen. Nach Kant (im An-
schluss an die antike Moralphilosophie) gibt es in der Tat einen solchen Zweck, den man bei
allen Menschen „als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß
haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, dass sie [eine] solche insgesamt
nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit.“ 18 Asserto-
risch-hypothetische Imperative gebieten die Wahl der „Mittel zur Beförderung der Glückselig-
keit“ 19 , „zu seinem eigenen größten Wohlsein“ 20 , und sind als solche „pragmatische“ 21
„Ratschläge der Klugheit“. 22

Ein apodiktischer Imperativ schließlich gebietet eine Handlung als notwendig. Er hat die Form:
„Es ist notwendig, dass du H sollst“. Die Handlung ist dabei selbst der Zweck, der als gut be-
stimmt wird. Es kommen keine anderen, außerhalb dieser Handlung selbst liegenden Zwecke in
Betracht. Das Gebot gilt unbedingt. Ein apodiktischer Imperativ ist ein kategorischer Imperativ.
Nur apodiktisch-kategorische Imperative sind „moralische“ 23 „Gebote (Gesetze) der Sittlich-
keit“. 24

13 Ebd., S. 415. Hervorh. nicht im Orig.


14 Ebd.
15 Ebd., S. 416.
16 Ebd.
17 Vgl. ebd., S. 415.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Ebd., S. 416.
21 Ebd., S. 417.
22 Ebd., S. 416.
23 Ebd., S. 417.
24 Ebd., S. 416.
5

Obwohl Kant den Terminus „Imperativ“ der Terminologie der Grammatik entlehnt, ist zu be-
achten, dass die Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen kei-
neswegs lediglich an der sprachlichen oder auch logischen Form der entsprechenden Sätze fest-
zumachen ist. 25

3. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft


als Kriterium praktischer Geltung

Das Grundgesetz praktischer Geltung 26 kann nach Kant nur ein kategorischer Imperativ sein.
Eine Norm ist nach Kant nur dann eine verpflichtende, allgemeinverbindliche Norm, wenn sie
„schlechthin“, d.h. unbedingt gebietet. Hypothetische Imperative erfüllen diese Bedingungen
nicht, da sie stets nur unter der Voraussetzung bestimmter Handlungsziele etwas (als Mittel)
gebieten, die von den Absichten der jeweiligen Person sowie von der jeweiligen Handlungssitu-
ation abhängen. Daher kann, so Kant, nur ein kategorischer Imperativ allgemeines Kriterium der
„Sittlichkeit“, d.h. von allgemein gültiger Normativität sein. In § 7 der Kritik der praktischen
Vernunft (1788) nennt Kant dieses Kriterium bzw. den Grundsatz, der es formuliert, den
„Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“. Es lautet:

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz-
gebung gelten könne.“ 27

Es ist die Form der Gesetzmäßigkeit selbst, die Inhalt des kategorischen Imperativs als höchstes
praktisches Gesetz ist. Diese Form ist durch die Vernunft selbst gegeben. Es ist die Gesetzesfä-
higkeit, an der die praktische Geltung, die moralische Qualität, einer Maxime zu messen ist.

„Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktische Principien, d.i. Maximen, entwe-
der gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muss annehmen, dass die bloße Form
derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum prakti-
schen Gesetze mache.“ 28

„Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unab-
hängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als
bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angese-
hen.“ 29

Die Vernünftigkeit der Maxime ist selbst Zweck der Handlung. Vernunft ist das einzige, „was
notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist“. 30 Kant verbindet diese

25 Vgl. Beck 1960/1974, Cramer 1972, Seel 1989.


26 Vgl. Oberer 1997a und Oberer 2002.
27 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), § 7, AA V, S. 30.
28 Ebd., § 4, AA V, S. 27.
29 Ebd., § 7, AA V, S. 31.
30 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 428.
6

These mit der weiteren: „die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“. 31 Da Men-
schen vernunftbegabte Wesen sind, ist die Menschheit Zweck an sich selbst. 32 Der kategorische
Imperativ wird daher von Kant auch in die Formel gefasst:

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, je-
derzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 33

Diesen Gedanke bindet Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ausführlicher in die Begriff-
lichkeit seiner Moralphilosophie ein und verleiht ihm mit der Rede von der „Heiligkeit“ des
moralischen Gesetzes einen geradezu emphatischen Nachdruck:

„Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die
Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will,
und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm
jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Ge-
setzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wil-
le, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung
mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen,
die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen
könnte, möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrau-
chen.“ 34

Der kategorische Imperativ ist kein bloßes theoretisches Konstrukt, das sich nur unter den spezi-
fischen systematischen Voraussetzungen der Kantischen Philosophie entwickeln ließe. Viel-
mehr ist es − nach Kants Selbstverständnis − ein „Faktum der Vernunft“, das für jeden Men-
schen als Vernunftwesen verfügbar ist und sich jedem in seinem Gewissen als verbindliches
Sittengesetz aufdrängt. Seit Menschengedenken kennen wir den kategorischen Imperativ (zu-
mindest sinngemäß) und wenden ihn in unseren moralischen Urteilen an.

„Man kann das Bewusstsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht
aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln kann.“ 35

Das praktische Grundgesetz darf nicht mit der Goldenen Regel (Was du nicht willst, das man dir
tu, das füg‘ auch keinem andern zu.) verwechselt werden. Diese unterscheidet sich vom katego-
rischen Imperativ grundlegend dadurch, dass sie, im Vordersatz, die subjektiven Wünsche und
Interessen einer bestimmten individuellen Person zum allgemeinen Maßstab macht. 36 −

Da der kategorische Imperativ als oberstes praktisches Gesetz ausgezeichnet ist, müssen sich
alle moralischen Pflichten, sowohl die Pflichten gegen andere als auch die Pflichten gegen sich
selbst, aus diesem Prinzip ableiten lassen. Dies zumindest in dem Sinne, dass auf jede Pflicht,

31 Ebd., S. 429.
32 Ebd., S. 430.
33 Ebd., S. 429.
34 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, S. 87.
35 Ebd., S. 31.
36 Ebd., S. 430 Anm.
7

die als solche zur Prüfung ansteht, das Grundgesetz der praktischen Vernunft als Geltungskrite-
rium angewandt werden können muss. Kant selbst hat aber nur für wenige Fälle vorgeführt, wie
er sich eine solche Ableitung bzw. Prüfung vorstellt. Selbst in seiner ausgeführten Tugendleh-
re 37 , die eine Pflichtenethik ist, entwickelt Kant die konkreten Pflichten nicht auf dem Wege
ihrer expliziten Ableitung aus dem kategorischen Imperativ. Versuche, diese Lücke nachträglich
zu schließen, sind selten und fragmentarisch geblieben. 38

37 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendleh-
re.
38 Vgl. Ebbinghaus 1959/1988.
8

II. Teil:
Achtung und Autonomie

4. Achtung als moralisches Gefühl

Die rationale Einsicht in die Richtigkeit (Gültigkeit) eines praktischen Gesetzes hat, zumal bei
nicht rein vernünftigen, sondern auch sinnlichen Wesen wie den Menschen die dem Gesetz fol-
gende Handlung nicht zur automatischen Folge. Der rationale Grund der Bejahung eines norma-
tiven Geltungsanspruchs ist nicht ipso facto der motivationale Grund entsprechend zu handeln.
Noch weniger versteht sich von selbst, dass ein solches Gesetz aufgrund der Anerkennung sei-
ner praktischen Geltung befolgt wird, und nicht etwa aus kontingenterweise konvergierenden,
jedoch nicht durch dieses Gesetz selbst bestimmten Gründen. Dieser Problemstellung wendet
sich Kant im Kapitel über die „Triebfeder der reinen praktischen Vernunft“ zu. 39 Er teilt die
Kritik der empiristischen Moralphilosophie Hutchesons, Humes und Smith’s an rationalisti-
schen Moralkonzepten: Vernunft analysiert Kausalzusammenhänge, bildet Urteile, Gesetze,
formuliert Prognosen – aber sie ist kein Vermögen der Stellungnahme, der Zustimmung oder
Ablehnung und der Übersetzung rationaler Erkenntnis in handlungswirksame Motivation. Es
reicht nicht, in der Vernunft die praktischen Gesetze zu finden, es bedarf außerdem einer adä-
quaten philosophischen Explikation, wie solche Gesetze handlungswirksam werden können. In
der von Kant in § 1 der Kritik der praktischen Vernunft eingeführten Terminologie: Wie und
warum macht ein Subjekt sich ein praktisches Gesetz zur Maxime? Es bedarf einer „Triebfe-
der“, das Sittengesetz „in sich zur Maxime zu machen“. 40 Diese Triebfeder ist nach Kant das
moralische Gefühl der Achtung für das Gesetz. Er übersetzt und integriert damit die Moral-
Sense-Theorie der britischen Empiristen in seine Konzeption der praktischen Vernunft. Da nach
seiner eigenen Begrifflichkeit Gefühle außenbestimmte Einwirkungen (‘Affektionen’) auf das
Subjekt sind, der sittliche (moralische) Wert einer Handlung jedoch gerade darin bestehen soll,
„dass das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme“ 41 , muss er diesem Gefühl einen
eigenen funktionalen Ort mit einer eigenen, nicht äußeren Kausalität zuweisen. Dies geschieht
bereits in der Grundlegung.

„Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluss empfangenes, sondern
durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die
sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden. Was ich unmittelbar als Gesetz
für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewusstsein der Unterordnung meines
Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet. Die un-
mittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewusstsein derselben heißt Achtung, so

39 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, S. 71-89.


40 Ebd., S. 76.
41 Ebd., S. 71.
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dass diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.
[…] Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz.“ 42

In der zweiten Kritik ergänzt Kant diese Überlegungen.

„Wäre dieses Gefühl der Achtung pathologisch und also ein auf dem inneren Sinne gegründetes Ge-
fühl der Lust, so würde es vergeblich sein, eine Verbindung derselben mit irgend einer Idee a priori
zu entdecken. Nun aber ist es ein Gefühl, was bloß aufs Praktische geht und zwar der Vorstellung ei-
nes Gesetzes lediglich seiner Form nach, nicht irgend eines Objekts desselben wegen anhängt, mithin
weder zum Vergnügen, noch zum Schmerze gerechnet werden kann und dennoch ein Interesse an der
Befolgung desselben hervorbringt, welches wir das moralische nennen; wie denn auch die Fähigkeit,
ein solches Interesse am Gesetze zu nehmen, (oder die Achtung fürs moralische Gesetz selbst) eigent-
lich das moralische Gefühl ist.

Das Bewusstsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz doch als mit einem unver-
meidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden,
ist nun die Achtung fürs Gesetz.“ 43

Die Antwort auf die Frage nach der Triebfeder ist damit klar:

„Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfe-
der, so wie dieses Gefühl auch auf kein Objekt anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet
ist.“ 44

Trotz der immensen Bedeutung, die diese Theorie des moralischen Gefühls in Kants Moralphi-
losophie hat, wird ihm in der Rezeption keine allzu große Beachtung geschenkt. Wie wichtig
Kant selbst den systematischen Stellenwert des moralischen Gefühls einschätzte, zeigt diese
Stelle aus der Metaphysik der Sitten, in der Einleitung zur Tugendlehre in einem Unterabschnitt
mit der Überschrift „Das moralische Gefühl“:

„Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Emp-
findung wäre er sittlich tot, und wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft
keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach
chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwie-
derbringlich vermischt werden.“ 45

5. Legalität und Moralität

Auf der Grundlage dieser Theorie kann Kant den Begriff der Pflicht präzisieren. Die in ihm
gedachte Verbindlichkeit hat einen objektiven und subjektiven Aspekt. Er fordert zum einen „an
der Handlung, objektiv, Übereinstimmung mit dem Gesetze“. Zum anderen fordert er „an der

42 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Erster Abschnitt, AA IV, S. 401.
43 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, S. 80.
44 Ebd., S. 78.
45 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), AA VI, S. 400. Zum moralischen Gefühl vgl. auch ebd., AA VI,
S. 376.7, 387, 399-401, sowie in der Grundlegung, AA IV, S. 401, 410, 441-3, 459-60; Kritik der
praktischen Vernunft, AA V, S. 38-40.
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Maxime derselben [sc. der Handlung] aber, subjektiv, Achtung fürs Gesetz, als alleinige Be-
stimmungsart des Willens durch dasselbe“. 46 Damit kann auch die für Kants praktische Philo-
sophie insgesamt und insbesondere auch für die Systematik der Differenzierung in Ethik und
Recht so fundamentale Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität, zwischen pflichtmä-
ßigem Handeln und Handeln aus Pflicht vorgenommen werden. Alle Handlungen, die objektiv
mit dem Gesetz übereinstimmen und so, aus welchen Neigungen auch immer (subjektiv), das
vom Gesetz Geforderte erfüllen, sind pflichtmäßige Handlungen. Für die Pflichtmäßigkeit (Ge-
setzmäßigkeit, Legalität) der Handlung ist die Triebfeder des Handelns irrelevant. Eine „Hand-
lung aus Pflicht“ ist hingegen nur eine solche, die „bloß um des Gesetzes willen“ geschieht und
bei der die (intendierte) Übereinstimmung mit dem Gesetz selbst die Triebfeder des Handelns
ist. Letzteres nennt Kant „Moralität“. Nur solche Handlungen haben einen „moralischen Wert“.
Für die moralische Beurteilung von Handlungen kommt also alles darauf an, auf das „subjektive
Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben“. 47

6. Freiheit als Autonomie

In der „transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft (in der „Dritten Antinomie“)
zeigt Kant, dass unter den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der klassischen Metaphysik
in der Frage, ob es „Freiheit im Menschen“ gebe oder ob vielmehr „keine Freiheit [ist], sondern
alles […] in ihm Naturnothwendigkeit“ 48 , nur antinomische Aussagen herauskommen können.
Für den Fall des Freiheitsbegriffs, bei dem die Aussagen laut Kant im Verhältnis des subkonträ-
ren Widerstreits stehen, heißt dies, dass beide Aussagen wahr sein können, obwohl sie bean-
spruchen, jeweils das Gegenteil der konkurrierenden These zu behaupten. Dass es sich tatsäch-
lich um ein subkonträres und nicht um ein kontradiktorisches Gegenteil handelt, wird allerdings
erst unter der Voraussetzung der transzendentalphilosophischen Unterscheidung von Ding an
sich und Erscheinung einsehbar. Dann aber, so Kant, steht tatsächlich „Kausalität durch Frei-
heit“ nicht im Widerspruch zur Gesetzmäßigkeit der Natur und zur Notwendigkeit der Naturge-
setze, die wir für die Erfahrung der Sinnenwelt kategorial voraussetzen müssen. Wir können
nach Kant die allgemeine Gültigkeit des Kausalprinzips für alle Erscheinungen der Natur gelten
lassen und dennoch annehmen, dass der Mensch unabhängig von der Nötigung der Antriebe der
Sinnlichkeit zu handeln imstande ist. Diese Unabhängigkeit ist jedoch keine bloße Indifferenz,
sondern ihrerseits Bestimmtheit durch Gesetze. Es kann nach Kant nichts geben, was nicht
durch Gesetze bestimmt ist. Die Frage ist nur, welche Gesetze es sind: Naturgesetze einer exter-
nen, sinnlichen Determination oder Gesetze einer internen Kausalität der Vernunft.

46 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, S. 81.


47 Ebd., S. 81. Vgl. auch Grundlegung (1785), AA IV, S. 397-403, 406, und Metaphysik der Sitten
(1797), Einleitung, AA VI, S. 219.
48 So später Kants Formulierung im Brief an Christian Garve vom 21. September 1798, AA XII, S. 257.
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Kants Auflösung der Freiheits-Antinomie besteht nun darin, die Unterscheidung zwischen Ding
an sich und Erscheinung auf handelnde Subjekte anzuwenden:

„Und da würden wir an einem Subjekte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben,
wodurch seine Handlungen als Erscheinungen durch und durch mit anderen Erscheinungen nach be-
ständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen und von ihnen als ihren Bedingungen abgeleitet
werden könnten und also mit diesen in Verbindung Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung
ausmachten. Zweitens würde man ihm noch einen intelligibelen Charakter einräumen müssen, da-
durch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Be-
dingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist. Man könnte auch den ersteren den
Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich
selbst nennen.

Dieses handelnde Subjekt würde nun nach seinem intelligibelen Charakter unter keinen Zeitbedingun-
gen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich
selbst. In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Ge-
setze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen unterworfen sein: dass alles, was geschieht, in den
Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe. Mit einem Worte, die Kausalität des-
selben, so fern sie intellektuell ist, stände gar nicht in der Reihe empirischer Bedingungen, welche die
Begebenheit in der Sinnenwelt notwendig machen. […]

Nach seinem empirischen Charakter würde also dieses Subjekt als Erscheinung allen Gesetzen der
Bestimmung nach der Kausalverbindung unterworfen sein; und es wäre so fern nichts, als ein Teil der
Sinnenwelt, dessen Wirkungen, so wie jede andere Erscheinung aus der Natur unausbleiblich abflös-
sen. […]

Nach dem intelligibelen Charakter desselben aber (ob wir zwar davon nichts als bloß den allgemeinen
Begriff desselben haben können) würde dasselbe Subjekt dennoch von allem Einflusse der Sinnlich-
keit und Bestimmung durch Erscheinungen freigesprochen werden müssen; und da in ihm, so fern es
Noumenon ist, nichts geschieht, keine Veränderung, welche dynamische Zeitbestimmung erheischt,
mithin keine Verknüpfung mit Erscheinungen als Ursachen angetroffen wird, so würde dieses tätige
Wesen so fern in seinen Handlungen von aller Naturnotwendigkeit, als die lediglich in der Sinnenwelt
angetroffen wird, unabhängig und frei sein. […] So würde denn Freiheit und Natur, jedes in seiner
vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit ihrer intelligibelen
oder sensibelen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden.“ 49

Wir können nach Kant also widerspruchsfrei annehmen, dass eine empirische Wirkung in der
Sinnenwelt der Erscheinungen eine Ursache hat, die ihrerseits nicht empirisch ist, sondern eine
intelligible Kausalität. 50 Das Ergebnis der Ausführungen in der ersten Kritik ist aber, wie Kant
selbst wiederholt betont, nicht etwa ein positiver, sondern lediglich ein negativer Freiheitsbe-
weis, d.h. der Nachweis der widerspruchsfreien Denkmöglichkeit von Freiheit neben der An-
nahme der Geltung von Naturgesetzen. 51 Das Ergebnis der transzendentalen Dialektik ist die
logisch mögliche Vereinbarkeit des „allgemeinen Gesetze[s] der Naturnotwendigkeit“, das für
Erscheinungen und damit den empirischen Charakter gilt, mit einer „Kausalität durch Frei-
heit“ 52 , die für den intelligiblen Charakter gilt. Ob die Unterscheidung zwischen empirischem

49 Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/87), B 567-9/ A 539-41.


50 Vgl. ebd., B 572/ A 544.
51 Vgl. ebd., B 585-6/ A 557-8.
52 Ebd., B 566/ A 538.
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und intelligiblem Charakter 53 als eine solche zwischen zwei ontologisch differenten „Welten“
(ontologischer Dualismus) oder aber zwischen zwei Aspekten oder Beschreibungsweisen (Be-
schreibungsdualismus) zu interpretieren ist, ist bis heute strittig. 54

Ein positiver Beweis der „Realität“ des Freiheitsbegriffs wird in der Kritik der praktischen Ver-
nunft geliefert. Zwar weist Kant diejenige Kausalität, die durch Freiheit gesetzt wird, bereits in
der ersten Kritik der Vernunft und dem Willen bzw. Sollen zu (die Vernunft selbst hat Kausali-
tät; „Diese Causalität heißt der Wille“ 55 ) und stellt die Beantwortung der Freiheitsfrage auch
andeutungsweise in den Kontext einer (noch auszuführenden) Moralphilosophie. 56 Aber der
Begriff einer „reinen praktischen Vernunft“, verbunden mit der These, dass „reine Vernunft für
sich allein praktisch ist“, wird explizit erst in der zweiten Kritik entwickelt (die auch in dieser
Hinsicht deutlicher wird und weiter geht als die Grundlegung). Den Freiheitsbegriff thematisiert
Kant gleich zu Beginn der Vorrede. Und die zentrale These, die in §§ 7-8 vorgetragen wird,
wird bereits hier mitgeteilt: die Idee der Freiheit „offenbart sich durchs moralische Gesetz“. 57
Was Kant in der Grundlegung noch nicht so klar war, stellt er jetzt ganz in den Vordergrund der
zweiten Kritik.

„Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Mög-
lichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes
ist, welches wir wissen.“ 58

In dem betreffenden Paragraphen 7 wird der Bedingungszusammenhang von Freiheit und mora-
lischem Gesetz scheinbar jedoch anders herum dargestellt: dass man das Bewusstsein des mora-
lischen Gesetzes „nicht aus […] dem Bewusstsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher
gegeben) herausvernünfteln kann“. 59 In Ermangelung einer „intellektuellen Anschauung“, über
die Menschen nach Kant nicht verfügen, könne die Freiheit des Willens eben nicht vorausge-
setzt werden. Wie sind beide Behauptungen miteinander zu vereinbaren?

„Damit man hier nicht Inkonsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung
des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung nachher behaupte, dass das moralische Gesetz
die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewusst werden können, so will ich nur er-
innern, dass die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz
aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Ver-
nunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob

53 In der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten verwendet Kant die Termini
homo phaenomenon und homo noumenon. Vgl. AA V, S. 94-103, und AA VI, S. 239.
54 Zur Auflösung der Freiheitsantinomie und zur Interpretation der Unterscheidung zwischen empiri-
schem und intelligiblem Charakter, vgl. insbes. Allison 1990, Part I, und Willaschek 1992, §§ 6-9.
55 Kant, Nachträge im Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft, AA XXIII, S. 50.
56 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/87), B 575 ff./ A 547 ff. Zur „Moralität der Handlungen“
vgl. B 579/ A 551 Anm.
57 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, S. 4.
58 Ebd., S. 4.
59 Ebd., S. 31.
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diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische
Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.“ 60

Jetzt ist es klar, dass jene „Kausalität durch Freiheit“, von der in der Kritik der reinen Vernunft
die Rede ist, die Bestimmung des Willens durch das Sittengesetz ist. Reine praktische Vernunft
hat Kausalität durch ihr eigenes Gesetz. Somit findet erst hier, in der Kritik der praktischen
Vernunft, die einen solchen positiven Begriff einer Kausalität der praktischen Vernunft durch
das Sittengesetz einführt, die Auflösung der Freiheits-Antinomie der reinen „spekulativen Ver-
nunft“ ihren endgültigen Abschluss. Darüber hinaus wird hier auch die Tragweite der These des
transzendentalen Idealismus deutlich, die zwar im Zentrum der Kritik der reinen Vernunft steht,
hier aber ihre fundamentale Bedeutung gerade auch für die praktische Philosophie und deren
Grundbegriff einer positiven Freiheit offenbart.

„Die Vereinigung der Kausalität als Freiheit mit ihr als Naturmechanism, davon die erste durchs Sit-
tengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjekte, dem Menschen,
fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das
zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im empirischen Bewusstsein vorzustellen. Ohne
dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich.“ 61

Der durch den positiven Beweis der Realität der Freiheit gesicherte Begriff von „Freiheit im
positiven Verstande“ ist der von der „eigene[n] Gesetzgebung […] der reinen, und, als solche,
praktischen Vernunft“. 62 Dieser Beweis ist unabhängig von deskriptiven Annahmen über die
physiologische oder psychologische Natur des Menschen – einen empirischen Beweis von Frei-
heit kann es nicht geben. Und er ist ebenso unabhängig von spekulativen Schlüssen aus nicht-
empirischen Begriffen, an denen sich die vorkantische Metaphysik versucht hatte – einen Be-
weis aus bloßen Begriffen kann es ebenso wenig geben. Ein positiver Beweis der Realität von
Freiheit ist nach Kant nur im Kontext einer Theorie praktischer Vernunft möglich. Er besteht im
wesentlichen aus drei Schritten: (1) Es gibt reine praktische Vernunft, d.h. Vernunft ist „für sich
allein praktisch“. (2) Diese praktische Vernunft gibt ein „moralisches Gesetz“, dessen unbeding-
ter Verbindlichkeit wir uns unmittelbar bewusst sind. (3) In diesem „Faktum der Vernunft“ „of-
fenbart sich“ Freiheit.

„In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte)
und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren
eine Maxime fähig sein muss, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber
ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Ver-
nunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die
Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit.“ 63

Der negative transzendentale Freiheitsbegriff der spekulativ-theoretischen Vernunft wird somit


erst und nur durch die praktische Vernunft fortbestimmt zu einem positiven Begriff eines Ver-

60 Ebd., S. 4 Anm.
61 Ebd., S. 6 Anm.
62 Ebd., S. 33.
63 Ebd., S. 33.
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mögens unbedingter Selbstbestimmung: Autonomie der Vernunft. Der Gedanke des Unbeding-
ten findet erst hier seinen positiven Sinn: Bestimmtsein der Vernunft durch eigene Gesetze.

7. Dasein Gottes, Unsterblichkeit der Seele, Glückseligkeit:


Postulate der praktischen Vernunft

Nicht Glückseligkeit, sondern Glückswürdigkeit ist nach Kant der „Lohn“ moralischen Han-
delns. Und obwohl Glückseligkeit auch nicht der Zweck („Bestimmungsgrund“) des morali-
schen Handelns sein kann – nur die Moralität als Selbstzweck zeichnet ein Handeln als morali-
sches aus –, so ist doch die ‘genaue Proportion von Sittlichkeit (Tugend) und Glückseligkeit’
ein notwendiger Gegenstand des Wollens vernünftiger Wesen. In diesem besteht nach Kant „das
höchste Gut einer möglichen Welt“. 64

„Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das notwendige Objekt eines durchs moralische
Gesetz bestimmbaren Willens.“ 65

Die notwendigen Bedingungen einer solchen zumindest denkmöglichen und zudem von der
praktischen Vernunft unausweichlich gebotenen Bewirkung des höchsten Guts sind nach Kant
das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Sie sind zu postulieren, da nur unter ihrer
Voraussetzung das höchste Gut möglich ist: Gott als höchste Intelligenz, die allwissend, allgütig
und allmächtig die Ursache und damit der Garant einer moralisch vollkommenen Welt ist, so-
wie die Unsterblichkeit der Seele als Bedingung eines unendlichen Progressus zur „völligen
Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“.

Neben den Ideen der rationalistischen Metaphysik des Mittelalters, dem Dasein Gottes, der
Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit der Seele, erhält auch die seit der Antike die Ethik
beherrschende Idee der Glückseligkeit einen neuen aber wichtigen Ort in Kants praktischer Phi-
losophie. Dies ist ein wesentlicher Grundzug des Kantischen Philosophierens und insbesondere
des Umgangs mit der philosophischen Tradition: Entdeckt er Defizite in der theoretischen Fun-
dierung bestimmter Schlüsselbegriffe, so diagnostiziert er die Defizite methodologisch präzise,
bevor er Schlussfolgerungen für das weitere Schicksal dieser Begriffe zieht. Die Ideen von Gott,
Freiheit, Unsterblichkeit sowie Glückseligkeit werden nicht insgesamt verabschiedet, aber ihr
Rang im Wissen und Wollen der Menschen wird philosophisch neu verortet. Die Behauptung
etwa, das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele seien nichtsinnliche Gegenstände
bzw. Eigenschaften, von denen objektives Wissen aus bloßen Begriffen der Vernunft möglich
wäre, wird von Kant in der Kritik der reinen Vernunft mit großem Aufwand widerlegt (siehe die
transzendentale Dialektik), aber das ‘Interesse’ der Vernunft an diesen Ideen, deren Bedeutung

64 Ebd, S. 110. Zum „Ideal des höchsten Guts“ in der Kritik der reinen Vernunft und zu einigen Schwie-
rigkeiten mit diesem Kantischen Lehrstück vgl. Mohr 2004, S. 361-368.
65 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, S. 122.
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für die Menschheit, wird bestätigt und sogar noch unterstrichen. Wenn Kant in der Vorrede zur
zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt: „Ich musste also das Wissen aufheben,
um zum Glauben Platz zu bekommen“ 66 , dann wird diese zunächst erstaunliche Mitteilung spä-
testens im Anhang zur transzendentalen Dialektik in dem Abschnitt „Von der Endabsicht der
natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ sowie im Kanon der reinen Vernunft, dem
zweiten Hauptstück der Methodenlehre 67 , nicht nur verständlich, sondern erweist sich schließ-
lich sogar als höchst bedeutsam in Kants Denken insgesamt. In den Ideen artikuliert sich nach
Kant das fundamentale praktische Interesse der reinen Vernunft, sie sind als solche Gegenstand
eines notwendigen moralischen Vernunftglaubens und erhalten in der Kritik der praktischen
Vernunft als „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ einen positiven systematischen Stel-
lenwert in Kants kritischer Philosophie.

Von der Freiheit des Willens zeigt Kant ebenfalls im Zuge seiner Kritik der dialektischen Meta-
physik, dass es keinen Beweis von ihr als einem Gegenstand objektiver Erkenntnis geben kann,
wenn gleich ihre widerspruchsfreie Denkmöglichkeit sichergestellt werden kann. Erst in der
Kritik der praktischen Vernunft wird ein positiver Freiheitsbeweis erbracht, allerdings aus Grün-
den des Bewusstseins der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, dessen Existenzbedingung
sie ist, nicht als Gegenstand theoretischer Erkenntnis.

Schließlich erfährt die in vielen Ethiken seit der Antike als „höchstes Gut“ proklamierte Glück-
seligkeit eine kritische Neubewertung. Von Natur streben die Menschen nach Glückseligkeit.
Was macht es da für einen moralphilosophischen Sinn, es ihnen noch zur Pflicht zu machen? Es
ist aber auch nichts Unmoralisches an der Verfolgung der eigenen Glückseligkeit. Moralisch
kommt es laut Kant vielmehr darauf an, dass jeder in den Verfolg seiner eigenen Glückseligkeit
die Beförderung der Glückseligkeit der anderen mit einschließt. Laut Tugendlehre der Metaphy-
sik der Sitten sind die Vervollkommnung seiner selbst (seiner eigenen Anlagen) und die Beför-
derung der Glückseligkeit anderer die beiden Zwecke, die zugleich Pflicht sind. 68 Als Merkmal
einer zu hoffenden Welt, in der die Glückseligkeit die „moralisch-bedingte, aber doch notwen-
dige Folge“ der Sittlichkeit (Moralität) ist, stellt sie nach Kant sogar eines der beiden Momente
des höchsten Guts dar.

66 Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage, 1787), B XXX.


67 Ebd., B 697-732/ A 669-704 und B 823-859/ A 795-831. Vgl. dazu Mohr 2004, S. 315-323 und 347-
372.
68 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre, AA VI 379-388.
G. Mohr, 2005 05 Kants Moralphilosophie -Einführung- korr 2010-01 16

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