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i. D a s Wollen
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2. D i e Triebe
,,,Ich', sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber der Grössere ist
. . . dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich
. . . Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. ,Was sind
mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens?' sagt es sich. Ein Umweg
zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich's und der Einbläser
seiner Begriffe" ( N I E T Z S C H E 1925, S. 36 f.).
Mit diesen Worten N I E T Z S C H E S ist jene ganze Forschungsrichtung
gekennzeichnet, die die Motivation des menschlichen Handelns von den
Ansprüchen des menschlichen Organismus her versteht. Wir bezeichnen
diese Grundannahme mit S C H W A R Z als „physiologische Willensmeta-
physik" ( S C H W A R Z 1900, S. 1 9 ff.). Darin wird nicht nur angenommen,
daß jene Entscheidungen, die wir im täglichen Leben auf das Wirken
eines freien Willens zurückführen, lediglich körperlichen Ansprüchen
genügen, sondern auch, daß diese Ansprüche „angeboren" seien. Der
Wille, so argumentiert man, sei ganz und gar mit angeborenen Zwecken
erfüllt; keineswegs eine „tabula rasa", sondern von Anfang an eine voll-
beschriebene Tafel, trage er alle die Ziele, auf die er sich während des
ganzen Lebens richte, schon von Hause aus in sich. „Der gewöhnliche
Name für diese Willensrichtungen, die auf angeborene Zwecke gehen
sollen, ist .Triebe'. Die in Rede stehende Auffassung heisst daher pas-
send die Trieblehre oder noch genauer die nativistische Trieblehre. Sollen
die angeborenen Willensrichtungen ihren Trägern im Kampfe ums Da-
sein nützen, so müssen sie unseren leiblichen Lebensbedingungen genau
entsprechen. Die Triebe mit den ihnen mitgegebenen Willenszielen, so
fährt man daher fort, ständen durchgehends mit körperlichen Erforder-
nissen in Einklang" ( S C H W A R Z 1900, S. 23 f.). Hierbei vermeidet
S C H W A R Z , wie er sagt, absichtlich den Begriff der „körperlichen Bedürf-
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Der Begriff wurde von dem Physiologen W . B . CANNON 1 9 3 2 in die Wissenschafts-
sprache eingeführt. E r bezog sich zunächst auf rein physiologische Prozesse (z. B.
die Konstanthaltung der Körpertemperatur innerhalb eines Organismus), w i r d aber
heute auch in der Psychologie vielfach angewendet. So ist etwa audi die „sensory-
tonic field theory" von WERNER und WAPNER ein homöostatisches Modell (vgl. das
Postulat I in WAPNER & WERNER I J J J , S. I f.).
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3 . K r i t i k der Trieblehren
3 Keiler, Wollen
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„Welche Triebe darf man aufstellen und wie viele? Dabei ist offen-
bar der Willkür ein weiter Spielraum gelassen" ( F R E U D 1967b, S. 2x6).
In diesen Worten FREUDS zeigt sich die ganze Problematik der poly-
thematischen Trieblehren. D a es offensichtlich kein verbindliches Krite-
rium für Anzahl und Zielinhalt der Triebe gibt, bleibt es wiederum der
„Vorstellungsfülle" des einzelnen Psychologen überlassen, ob er mit
einem „sparsamen" Modell mit zwei Trieben (z. B. die späte FREUDsche
Lehre 19 ) auskommt oder ob er ein umfangreicheres in Form einer Trieb-
liste (z. B. die Theorie von M U R R A Y ) aufstellt, um damit die empirische
Wirklichkeit zu erfassen. „Wie man sieht, haben verschiedene Forscher
nicht nur verschiedene Grundtriebe angenommen, sondern auch verschie-
19 Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die FREUDsche Lehre in ihrer frühesten
Fassung auch zwei A r t e n v o n Trieben unterschied.
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Bezog sich unsere bisherige Kritik ausschließlich auf das Problem der
Thematik der Trieblehren und damit ein inhaltliches Moment, so sollen
sich unsere weiteren Überlegungen darauf richten, ob denn überhaupt ein
physiologisch-metaphysischer20 Ansatz notwendig ist, wenn es darum
geht, Aussagen über die Motiviertheit menschlichen und tierischen Ver-
haltens zu machen. Richtet sich denn „tatsächlich" unser Verhalten auf
bewußseins jenseitige physiologisch-metaphysische Ziele? SCHWARZ schreibt
in diesem Zusammenhang: „Der blinde Wille zum L e b e n . . . soll aus
unserem Willen zur Nahrung sprechen? Indessen, nicht allein darauf,
dass hier ein Wollen in den Dienst des Körpers tritt, muss man sehen,
sondern auch darauf, wie es geschieht. — Wie regelt sich nun aber unsere
Speisezufuhr? In einer Weise, die im Gegenteil erkennen lässt, dass sich
die Strebethätigkeit gar nicht unmittelbar auf die Leibeserfordernisse rich-
t e t . . . Wenn nämlich der Zeitpunkt naht, wo die leiblichen Funktionen
ohne erneuerte Nahrungsaufnahme gestört werden würden, . . . haben
wir die Organempfindung des Hungers und begleitende Unlustgefühle.
Der Stachel dieser Unlust ist das eine Mittel, mit dem die Natur unseren
Willen in ihren Dienst zwingt. Unlust aller A r t möchten wir meiden;
auch das Schmerzgefühl des Hungers scheuen wir, und die physiologische
Verkettung des Nervennetzes giebt schon dem Kinde die Mittel, es los zu
werden" (SCHWARZ 1900, S. 27 f.). Wenn dem hungrigen Kind der ge-
eignete Gegenstand von außen dargeboten wird, so gelangt durch
Schnapp-, Saug- und Schluckbewegungen neuer Nahrungsstoff in den
Magen, der Hunger hört auf und die ihn begleitenden unangenehmen
Organempfindungen vergehen. (Unter „geeignetem Gegenstand" soll
hier alles verstanden werden, was auf Grund seiner Größe auf natür-
lichem Wege in den Magen gelangen kann und dort durch chemische Um-
20 Es muß angemerkt werden, daß FREUD sich des Umstandes, daß seine Trieblehre
metaphysisdie Annahmen implizierte, völlig bewußt war. So in den Gesammelten
Werken ( X V , 1967f, S. 101): „ D i e Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. D i e
Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in
unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher,
sie scharf zu sehen."
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21 Diese von SCHWARZ im Jahre 1900 formulierten Annahmen decken sich — soweit
w i r sehen — was den Lernvorgang betrifft, weitgehend mit den Überlegungen der
effektorientierten Lerntheorien neueren Datums, wenn hier auch „mentalistische"
Begriffe wie „Begehren" und „Vorstellung" vermieden werden. Den ScHWARZschen
Überlegungen scheint uns die Theorie TOLMANS am nächsten zu stehen.
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Nun soll hier keineswegs geleugnet werden, daß die Leiblichkeit unseres
psychophysischen Ich Ansprüche an uns stellt (SCHWARZ spricht in diesem
Zusammenhang von den „Erfordernissen unserer körperlichen Maschine"
— SCHWARZ 1900, S. 29). Gewiß müssen wir das einzige für uns un-
mittelbar vorfindliche „Werkzeug", das uns zur Erreichung unserer Wil-
lensziele dient, „pflegen". A n dieser Stelle sei uns ein veranschaulichen-
des Beispiel erlaubt, ohne daß wir damit den Standpunkt beziehen woll-
ten, der Mensch sei eine Maschine: Auch ein Auto müssen wir pflegen,
müssen es waschen, müssen tanken, ö l wechseln, abschmieren. Gewiß —
manchen Leuten wird die Pflege ihres Autos zum Selbstzweck, ebenso
wie anderen die Pflege ihres Leibes zum Selbstzweck wird; aber dies ist
doch nicht generell so. Wenn wir die uns gesteckten Willensziele errei-
chen wollen, müssen wir zwar den Ansprüchen unseres Körpers Genüge
tun, aber dieser „Vertrag", dem wir uns unser ganzes Leben lang nicht
entziehen können, ist ein „Vertrag auf Gegenseitigkeit". Wenn wir den
Ansprüchen unserer Leiblichkeit genügen, „handeln" wir dafür die Re-
alisation angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Z u s t ä n d i g -
keiten ein; außerdem wird es uns möglich, andere viel entscheidendere
Willensziele zu verfolgen. Wir befinden uns damit in Widerspruch zu
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Bevor wir diese Frage beantworten, sind jedoch noch einige einlei-
tende Begriffsklärungen notwendig, in denen wir Rechenschaft über die
formale Beschaffenheit von Willenszielen überhaupt ablegen.
23 Das enthaltsame Leben vieler Asketen beweist, daß die Befriedigung sexueller Be-
dürfnisse nidit unbedingt notwendige Voraussetzung der Verwirklichung von mehr
geistigen Willenszielen ist (ohne daß dies freilidi als Argument für die Berechtigung
der FREUDsdien Sublimierungsannahme anzuführen wäre).
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i. W e r t e u n d W e r t g e g e n s t ä n d e
4 Keiler, Wollen
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Welcher Begriff soll nun aber für das Gesamt aller Verwirklichungen
von Werten gelten? In Anlehnung an S C H E L E R (1930, S . 21) kommen wir
zu der Feststellung, daß in der Verwirklichung von Werten ebenfalls
ein Wert zu sehen ist, und zwar ein umfassenderer, als er sich in den
speziellen Werten darstellt. Die Verwirklichung von Werten ist somit
der allgemeinste Wert, er wird in der Realisation spezieller Werte
verwirklicht (wir werden auf dieses Problem anläßlich der Unterschei-
dung zwischen „realen" und ¿irrealen" Werten zurückkommen).
Wie der einzelne Willensakt, die einzelne Willensregung, die ein-
zelne Strebung auf die je spezielle Verwirklichung eines je speziellen
Wertes oder auf einen je speziellen Wertgegenstand gehen, geht das
Gesamt dieser Willensakte und -regungen, der Wille, auf die Ver-
wirklichung von Werten und auf Wertgegenstände überhaupt. Der posi-
tive Gegenstand des Willens sind die Verwirklichung von Werten und
Wertgegenstände überhaupt.
Nun geht das Wollen aber nicht nur auf das, was ihm als zu Ver-
wirklichendes gilt, sondern auch auf das, was ihm als „nicht zu Ver-
wirklichendes" gilt, auf das, dessen Existenz und/oder Sosein es „nicht
will". So stehen den Werten (positiven Werte) Unwerte (negative
Werte) gegenüber. Wie wir den Werten Wertgegenstände oder Güter
4.
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Nachdem wir den Begriff des Wertes in seiner formalen Eigenart als
mittelbares (im Falle eines speziellen Wertes) oder unmittelbares (im
Falle des allgemeinsten Wertes der Verwirklichung von Werten über-
haupt) Ziel analysiert haben, wollen wir uns nun einer inhaltlichen
Analyse dessen widmen, was als Ziel des Wollens und somit des inten-
dierten Verhaltens angesehen werden kann.
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2. Zustandswerte
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81 D a ß dem Masochisten „Schmerz" als positives Willensziel gilt, darf hier nicht ver-
wirren, denn es muß angenommen werden, daß dem Masochisten „Schmerz" eine
angenehme Zuständlichkeit ist.
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So wäre denn die Ansicht, die Realisation angenehmer und die Ver-
meidung unangenehmer Zuständlichkeiten sei das einzige Ziel des Wol-
lens und Handelns, als „gemäßigter Hedonismus"32 zu bezeichnen. Die
Beispiele, die für eine Berechtigung der gemäßigten hedonistischen
Annahme sprechen, sind vielfältig und überzeugend. Den kurzen Abriß
einer einfachen gemäßigten hedonistischen Theorie gibt Y O U N G in dem
erwähnten Artikel ( Y O U N G I967). Hier scheint uns das hedonistische
Prinzip auf einleuchtende Weise auch in dem Bereich der experimentel-
len Tierpsychologie konsequent und fruchtbar angewandt. Y O U N G läßt
im übrigen keinen Zweifel daran, daß seine hedonistische Theorie auch
im Bereich der Tierpsychologie den Wertbegriff involviert: „The pre-
ferential behavior of my rats is definitely evaluative and indicative of
built-in evaluative mechanisms. These mechanisms can be studied objec-
tively, quantitatively, experimentally, critically. Although complex
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U m Mißverständnisse zu vermeiden, weisen w i r darauf hin, daß w i r unter „ H e d o -
nismus" im Rahmen unserer Probleme ein wissensdiaftlidies „Erklärungsprinzip"
verstehen, keineswegs die als „Epikuräismus" bekannte Weltanschauung, die im
Streben nach Lust die entscheidende Lebensmaxime sieht (z. B. in O . WILDES „Dorian
Gray").
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* 3 Daß bei Tieren der A u f w e i s von Verhalten mit Zeichencharakter wegen des Fehlens
einer Sprache i. e. S. z w a r erschwert, aber dennodi möglich ist, zeigen die interessan-
ten Untersuchungen v. FRISCHS ( 1 9 2 3 ) . Auch in den Alltags-„Theorien" gilt ja z. B.
das „Schnurren" von Katzen als eindeutiges Zeichen dafür, daß diese sich in einer
angenehmen Zuständlichkeit befinden, usw.
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Daß diese Definition, die nur die Bezogenheit des Spiels auf an-
genehme Zuständlichkeiten berücksichtigt, dennoch nicht ausreicht, wenn
auch in anderer als in der von G R O O S intendierten Richtung, welche
„Triebe" berücksichtigt, wird klarwerden, wenn wir im Rahmen der
Einführung des Begriffes der „Personwerte" nachweisen, daß im Spiel
auch Personwerte verwirklicht werden. Zunächst interessiert uns jedoch
nur das erste Motiv für das Spiel, die „Lustbezogenheit".
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Es muß außer den Zustandswerten also noch andere Werte geben, auf
deren Verwirklichung unser Verhalten gerichtet sein kann. Erst wenn
wir diese aufgewiesen haben, wird es uns möglich sein, die Zustands-
werte als nur eine von mehreren möglichen Wertkategorien darzustellen.
3. P e r s o n w e r t e
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So werden wir selbst, unsere eigene Person, zum positiven oder nega-
tiven Gegenstand des Gefallens und ebenso alles, was damit assoziiert ist
wie: Fähigkeiten, sozialer Status, Name usf. D a ß die Setzimg von Per-
sonwerten ein eigenständiges psychologisches Phänomen ist, das die Exi-
stenz eines kognitiv wertenden Bewußtseins notwendig voraussetzt,
dürfte aus den vorangegangenen Überlegungen klarwerden. Es sind
kognitive Prozesse, in denen wir das erlebte Sosein unseres Selbst mit
den angestrebten Möglichkeiten vergleichen und danach unser Verhalten
einrichten.
Dazu gehört u. a. auch das Innesein des eigenen Könnens und der
eigenen Kraft, das Wissen, daß man selbst es ist, der mit seinen Hand-
lungen Veränderungen in der Welt sdiafft. So sieht auch GROOS in den
die Bewegungen der Glieder begleitenden angenehmen Zuständlichkeiten
nicht die einzige Motivation für das Spiel, als ebenso wichtig gilt ihm die
Freude am Ursacbesein' (am Können, an der Macht)" (GROOS 1896,
S. 29 j). Z w a r ist die hier angesprochene Freude eindeutig eine ange-
nehme Zuständlidikeit, sie unterscheidet sich jedoch von anderen Zu-
ständlichkeiten dadurch, daß sie sekundär ist und Folge eines kognitiven
Prozesses (des Gefallens), der etwas anderes zum Gegenstand hat als eine
Zuständlichkait, nämlich die eigene Person 36 . In der Verwirklichung eines
Personwertes liegt in diesem Falle der positive Gegenstand des Wollens
und nicht in der Realisation der darauffolgenden angenehmen Zuständ-
lichkeit. So liegt zwar in vielen Fällen — jedoch niemals notwendiger-
weise — eine Koppelung der Verwirklichungen von Zustandswerten und
Personwerten vor, aber in den meisten Fällen ist es der Personwert und
nicht der Zustandswert, auf dessen Verwirklichung unser Wollen gerich-
86 A u f das Problem der „sekundären Zuständlidikeiten" werden wir später noch zu-
rückkommen.
5 Keiler, Wollen
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H i e r b e i ist uns selbstverständlich k l a r , daß die Beschreibungen KÖHLERS durchaus
methodisch anfechtbar u n d die „ G r ü n d e " , die er f ü r das V e r h a l t e n der Schimpansen
angibt, nicht beobachtet, sondern „ a t t r i b u i e r t " sind; seine Schilderungen gelten uns
jedoch als anschauliches Beispiel, ohne d a ß w i r uns direkt mit den Ausführungen
KÖHLERS identifizieren.
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Solange man das „Wollen von Macht" lediglich als eine Möglichkeit
unter vielen auf dem Wege zu einer „höheren Soseinslage der eigenen
Person" betrachtet, also „Macht" als nur einen Personwert unter vielen
anderen möglichen, mag man N I E T Z S C H E und A D L E R (und diesem auch
40
Es muß darauf hingewiesen werden, daß w i r uns nicht mit dem tiefenpsydiologi-
schen Ansatz v o n ADLER identifizieren, er soll uns lediglich als Beispiel einer
extrem personwertzentrierten Motivationslehre dienen, ohne daß w i r ihn in seinen
Einzelheiten bewerten wollen.
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Tabellarische Übersicht I
Formal-inhaltliche Einteilung der
Eigenwerte
Zuständlichkeit :
angenehme
Zuständlidikeit + Zustandswert
unangenehme
Zuständlidikeit Zustandsunwert
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Bei der Setzung eines Fremdwertes wird völlig von der eigenen
Person und ihren Zuständlichkeiten abgesehen. „Arbeitend, helfend,
6 Keiler, Wollen gj
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Eine genauere Analyse zeigt, daß wir es hier recht eigentlich mit
einem Scheinproblem zu tun haben. Indem wir nämlich nur einen
inhaltlichen Aspekt der Wertbegriffe berücksichtigen, ließen wir un-
bemerkt die Tür für Widersprüche offen, über die wir jetzt stolpern.
42 D e m Terminus „Welt für uns alle" stellt HOLZKAMP den Begriff der „ W e l t für jeden
einzelnen" gegenüber. Die Annahme einer „Welt für uns alle" stellt nicht nur eine
Absage an jede Form von Solipsismus dar, sondern ist unseres Erachtens die V o r -
aussetzung für jede A r t v o n intersubjektiver Wissenschaft (vgl. HOLZKAMP 1964,
S. 66 f.).
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Tabellarische Übersicht I I
altruistisch: individueller
—> individuell
altruistischer Wert
+
konkordant 4 ® dem Wollen überindividueller
überindividuell
des angezielten Subjektes altruistischer W e r t
(oder der angezielten S u b -
jekte) bezüglich seiner (oder individueller
ihrer) Eigenwerte individuell —»
altruistischer Unwert
überindividueller
überindividuell —>
altruistischer Unwert
inaltruistisch: individueller
individuell
inaltruistischer Wert
+
diskordant 4 ' dem Wollen überindividueller
—> überindividuell — »
des angezielten Subjektes inaltruistischer Wert
(oder der angezielten S u b -
jekte) bezüglidi seiner (oder individueller
ihrer) Eigenwerte oder So- individuell ~* inaltruistischer
seinslage einer „Sache" Unwert
(oder mehrerer „Sachen"),
die nicht wollen kann (kön-
überindividueller
nen)
—> überindividuell inaltruistischer
Unwert
43 Indem wir als Kriterium der Kategorisierung „altruistisch" oder „inaltruistisch" die
erlebte oder erwartete Konkordanz oder Diskordanz unseres Wollens mit dem der
anderen wählten, schlössen wir die Möglichkeit einer Täuschung aus, die den R a h -
men des Lebensraumaspektes überschritten hätte. Es ist also nicht entscheidend, was
der andere „wirklich" will, sondern wie uns sein Wollen gegeben ist. Diese Bestim-
mung läßt jedoch die Möglichkeit offen, daß ein Wollen meinerseits zu verschie-
denen Zeitpunkten einmal als konkordant, das andere Mal als diskordant dem
Wollen der anderen beurteilt werden kann. Wir werden auf dieses Problem später
zurückkommen.
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Bei F R O M M hat Liebe sowohl einen Fremdwertaspekt als audi den Aspekt der Selbst-
verwirklidiung ( F R O M M 1 9 6 8 ) .
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Auf der anderen Seite ist es fraglich, ob wir in bezug auf andere Per-
sonen überhaupt inaltruistisch wollen. Daß die theoretische Möglichkeit
besteht, die wir in unserer Begriffsbildung vorgesehen haben, ist ja noch
lange kein Beweis dafür, daß diese Einteilung mehr als nur einen forma-
len Zweck erfüllt. Tritt der Fall der Diskordanz unseres Wollens mit
dem Wollen anderer in bezug auf deren Eigenwerte denn auch in Wirk-
lichkeit auf? Wir meinen, ja. Wenn uns die Handlungen einer Person als
zur Realisation einer unangenehmen Zuständlichkeit oder Soseinslage-
minderung der Person oder des personhaften Individuums führend er-
scheinen, ist die Verhinderung dieser Handlungen in den meisten Fällen
positiver Gegenstand unseres Wollens. Und zwar ist unser Wollen dem
der angezielten Person nicht nur in den Fällen diskordant, wo diese Per-
son die Folgen der Handlung in bezug auf ihre Eigenwerte nicht reali-
siert, sondern auch dort, wo sich ihr in einer Umkehrung der Werte das,
was ihr bisher als Unwert galt, zum Wert wird (z. B. wenn jemand den
eigenen Untergang zum positiven Gegenstand seines Wollens macht und
Selbstmord verübt). Hier hat unser Wollen, wenn wir den Selbstmord
verhindern, einen Zweck, der gemeinhin als „sittlich" bezeichnet wird,
auch wenn unser Wollen als dem des anderen diskordant kogniziert wird.
Daß es sich tatsächlich um einen inaltruistischen Wert handelt, der hier
verwirklicht wird, beweist der Umstand, daß wir bemüht sind, auch
wiederholte Selbstmordversuche zu verhindern, das Wollen des anderen
sich also als konsistent diskordant unserem Wollen herausstellt. Daß wir
bei unseren Handlungen nicht aus Eigennutz den anderen von der Ver-
wirklichung seiner Werte abhalten, dürfte unmittelbar einleuchten. Und
in den meisten Fällen geht es uns auch bei einer Lebensrettung nicht um
eine abstrakte Idee, die wir in unserer Tat verwirklichen; es zählt für
uns allein das, was wir als „Wohl" des anderen ansehen.
Es gibt auch den umgekehrten Fall, wo wir Elend und Untergang des
anderen wollen, wo wir — diskordant dem Wollen des anderen — einen
„unsittlichen" Zweck verfolgen oder zulassen, daß dem anderen ein Leid
oder eine Demütigung widerfährt. „Das Zweckwidrige im sittlichen
Leben hat zwei Quellen: die sittliche Schwäche und die sittliche Bos-
heit . . . Jene führt zu dem Zweckwidrigen in negativer Form, der Un-
terlassung des Guten, diese zum Zweckwidrigen in positiver Form, der
Erzeugung des Schlechten. Wer einen Nebenmenschen den er retten
könnte umkommen läßt, weil er Gefahr oder Ungemach für sich selbst
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7 Keiler, Wollen
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T
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Läßt sich die Genese des Wollens von „Schönheit" eindeutig dort
zurückverfolgen, wo „Schönheit" mit „Zweckmäßigkeit" gepaart ist, so
bleibt sie uns dort unverständlich, wo ein Gegenstand bloß „schön" ist,
ohne überhaupt „zweckmäßig" zu sein. Und warum bevorzugen wir bei
zwei Gegenständen, die gleich zweckmäßig sind, den schöneren? Warum
wollen wir über die auf unsere Person bezogene Soseinslage eines ande-
ren oder einer „Sache" hinaus eine Soseinslageerhöhung der Person des
anderen oder der Sache48? Warum sind für uns überhaupt Dinge „außer
uns", die sich in keiner Weise auf unsere Person oder ihre Zuständlich-
keiten beziehen, Gegenstand des Wollens? Wir müssen eingestehen, daß
wir nicht erklären können, warum wir überhaupt die Verwirklichung
48 Die gleichen Fragen können natürlidi bezüglich des Wollens von „Häßlichem" oder
»Bösem" gestellt werden.
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j. U n v e r b i n d l i c h e Werte
Wir haben bisher immer nur den Fall berücksichtigt, daß ein be-
stimmter Wertgegenstand dem jeweils angezielten Subjekt als Gut oder
Übel Gegenstand seines Wollens ist. Die hier involvierten Werte haben
wir, da sie für eben dieses Subjekt verbindlich sind, als „verbindliche"
Werte bezeichnet.
Nun ist jedoch die Situation denkbar, daß ein bestimmter Gegenstand
zwar nicht Gegenstand meines Wollens (also für mich wertneutral) ist, aber
IOI
Sofern ich mir die Wertbezogenheit für andere von Objekten, die
bisher nicht Gegenstand meines Wollens waren, bezüglich meiner Eigen-
und Fremdwerte zunutze mache, weil ich sie zu Mitteln für die Errei-
chung des Zweckes der Verwirklichung von verbindlichen Werten er-
hebe, werden die bisher unverbindlichen Wertgegenstände zu verbind-
lichen. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Kaufmann für ihn völlig wertlose
Glasperlen bei afrikanischen Eingeborenen gegen Elfenbein oder Edel-
holz eintauscht, das den Eingeborenen im Vergleich zu den Glasperlen als
geringerer Wertgegenstand gilt. Für den Kaufmann repräsentieren Elfen-
bein und Edelholz dagegen den höheren Wert. Aus diesem Beispiel geht
hervor, daß der Tauschwert eines Objektes nicht so sehr davon abhängig
ist, daß er Gegenstand des eigenen Wollens, sondern daß er Gegenstand
eines fremden Wollens ist.
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Abschließende Bemerkungen
6. D i e V o l l s t ä n d i g k e i t d e r Willensziele
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I Verbindliche Werte
a) Eigenwerte
Das Wollen des Individuums ist auf die Verwirklichung von Zu-
standswerten (Streben nach Realisation angenehmer und Vermei-
dung unangenehmer Zuständlichkeiten) und die Verwirklichung von
Personwerten (Streben nach Soseinslageerhöhung der eigenen Person
und Vermeidung der Soseinslageminderung der eigenen Person) ge-
richtet.
b) Fremdwerte
Das Wollen eines Individuums oder mehrerer Individuen ist auf die
Verwirklichung altruistischer Werte gerichtet (Streben konkordant
mit dem Wollen eines Individuums oder mehrerer Individuen bezüg-
lich dessen oder deren Personwerte). Das Wollen eines Individuums
oder mehrerer Individuen ist auf die Verwirklichung inaltruistischer
Werte gerichtet (Streben diskordant mit dem Wollen eines Indivi-
duums oder mehrerer Individuen bezüglich dessen oder deren Per-
sonwerte — oder Streben bezüglich der Soseinslage einer Sache oder
mehrerer Sachen).
II Unverbindliche Werte
Die unter a) und b) aus dem jeweiligen Wertbegriff analytisch ab-
leitbaren Gegenstände sind nicht Gegenstand des Wollens des jewei-
lig betrachteten Individuums oder mehrerer jeweilig betrachteter
Individuen, sondern dieWertbezogenheit der Gegenstände für andere
ist diesem Individuum oder diesen Individuen lediglich kognitiv ge-
geben. Unverbindliche Werte sind somit keine Werte im eigentlichen
Sinne.
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Nachdem wir die Ziele des Willens und des intendierten Verhaltens
formal und inhaltlich gekennzeichnet haben, wollen wir im nächsten
Kapitel die beiden wertphilosophischen Richtungen des „Wertempiris-
mus" und des „Wertabsolutismus" gegenüberstellen. Diese Gegenüber-
stellung wird zwar über den Rahmen psychologischer Argumentation
hinausgehen. Es erscheint uns aber gerade deshalb sinnvoll, diese Frage
im folgenden zu behandeln, weil wir dadurch die Möglichkeit haben,
Wertpsychologie und Wertontologie besser gegeneinander abzugrenzen.
Beschäftigten wir uns in unserer in der Begriffswahl psychologisch orien-
tierten Wertlogik bisher hauptsächlich mit der phänographischen Be-
stimmung der Werte, so versucht die Wertontologie die Frage nach der
vom wertenden Subjekt unabhängigen Herkunft der Werte und ihrer
interindividuellen „Gültigkeit" zu beantworten. Danach ist die Klärung
der Seinsverankerung der Werte, wie sich zeigen wird, kein wertpsycho-
logisches, sondern ein wertmetaphysisches Problem.
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