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Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Institut für Philosophie


SoSe 2022
Aristoteles: Nikomachische Ethik
Dr. Christoph Schamberger

Aristoteles- Freier Wille im unfreien Wandel

Sinan Can Tumani


cantumani@icloud.com
Transkulturalität, 2.FS
Matr. Nr.: 2808776
Abgabedatum: 23.09.2022
Einleitung

Individualismus, Selbstbestimmung, persönliche Freiheit: Die Geisteshaltung unserer


Zeit ist geprägt von Begriffen rund um den Willen einer Person und dieser ist frei, also
autonom gewählt. Die Vorstellung eines freien Willens als persönlich gewählte Ein-
stellung ist in der sogenannten westlichen Welt elementar für das Grundverständnis
der Selbstwahrnehmung. Dabei ist die kollektive Durchsetzung dieser Wertvorstellung
in der Historie relativ neu und unterliegt Entwicklungen, die sich besonders durch den
politischen Erfolg der Aufklärung ergeben haben.
Ein Individuum hat das Recht auf seinen freien Willen, sprich: Von außen darf ihm
niemand eine von ihm unerwünschte Handlung aufzwingen (Steuern zahlen, Strafen
bei Gesetzesbrüchen etc. ausgenommen), und bestimmt seine Handlungen auf Basis
des eigens Gewollten.

Soziologisch betrachtet entwickelte sich die Vorstellung dieses freien Willens aus ei-
ner kollektiven Emanzipation von repressiven Wertesystemen. Heute symbolisieren
religiöse Institutionen, traditionelle Rollenbilder der Geschlechter oder andere Sitten
oft einen Angriff auf die Selbstbestimmung. Freier Wille ist unter diesen Aspekten als
eine Ablehnung von äußerem Zwang zu verstehen. In der selbstschützenden Berufung
auf ihn sieht sich das Individuum als primären Initiator seiner Handlungen und meidet
es, sich als reaktives Rad in einer sozialen Maschinerie von übergeordneten Wertesys-
temen zu verstehen, wodurch dem Willen eher der Charakter des Bedürfnisses zuge-
schrieben werden sollte. In dieser Selbstwahrnehmung entsteht ein isolierter Fokus auf
die eigenen Befindlichkeiten und eine Missachtung des gewaltigen Einflusses der so-
zialen Umgebung auf das eigene Wollen. Schließlich steht der Wille eines Menschen
immer in Position zu etwas. Diese Position soll in der vorliegenden Hausarbeit unter-
sucht werden. Konkret stellt sich dabei die Frage: Wie ist der soziale Habitus1 am
Entstehen des Willens in einer Situation oder Umgebung beteiligt?

Genau diese Leitfrage soll in Anlehnung an Aristoteles´ Ausführungen über den Wil-
len reflektiert werden. Dabei wird deutlich, dass Aristoteles den Willen eines Men-
schen auf die soziale Situation zurückführt und eine Definition des freien Willens auch

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In Anlehnung an die Biologie, in der „Habitus“ den direkten Überlebensraum eines Wesens kennzeich-
net, soll hier von einem sozialen Habitus als die relevanten Gegebenheiten des sozialen Alltages eines
Individuums die Rede sein.
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erst in dieser Situation gemacht werden kann. Hierbei handelt es sich nicht um eine
Widerlegung der Willensfreiheit, sondern vielmehr von einem Verständnis des freien
Willens, dessen Bezugsrahmen berücksichtigt wird.

Ziel dieser Hausarbeit liegt deshalb darin, unter Zuhilfenahme des Werkes „Nikoma-
chische Ethik“ von Aristoteles (hauptsächlich das Kapitel „Das Gewollte“ von S.95-
112) den freien Willen des Menschen in einem situativen Bezugsrahmen zu verstehen
und zu verdeutlichen, warum dieser so entscheidend ist.
Anlass zu einer Auseinandersetzung mit diesem Bezugsrahmen gibt die massive Be-
einflussung menschlicher Werdegänge unserer Zeit: Eine veränderte Umwelt in na-
hezu allen Lebensbereichen ist nicht nur so abrufbar, sondern auch so unausweichlich
wie nie. Die Ausrichtung menschlichen Handelns richtet sich heutzutage mehr denn je
nach einer Umgebung, welche aufgrund ihrer Schnelllebigkeit instabiler ist als die iso-
lierte Welt früherer Tage. Dadurch wird der Mensch als willentlicher Initiator seiner
Handlungen in ungleich mehr Situationen seines Alltages mit der eigenen Unbestän-
digkeit konfrontiert. Ein Bewusstsein für eine permanente Neuentstehung des Willens
(und seine unfreien Komponenten) ist unverzichtbar für ein Selbstbewusstsein im Um-
gang mit der Komplexität des Alltags und für die Frage, was man eigentlich will.
Zu diesem Zwecke gliedert sich der Hauptteil in drei Abschnitte:
Zuerst wird der dynamische Charakter des Willens in der Nikomachischen Ethik her-
ausgearbeitet. Das prozessuale Verständnis des Willens wird hier analysiert.
Im Anschluss bedient sich der nächste Abschnitt konkreter Beispiele aus unserer heu-
tigen Sozial-und Arbeitswelt und durchleuchtet sie mit den im Abschnitt eins erarbei-
teten analytischen Werkzeugen.
Der Abschluss des Hauptteils konzipiert als Endkonsequenz einen neuen Begriffs-
spielraum, innerhalb dessen überhaupt von freiem Willen gesprochen werden kann
und wie dies zu tun ist.
Das abschließende Fazit fasst zusammen, wie der Begriff „freier Wille“ unter Reflek-
tion Aristoteles´ verstanden werden kann und bettet dieses Verständnis in die offene
Frage nach einem zukünftigen Verständnis von Gesellschaft und Individuum ein.

2. „Das Gewollte“- und wie es entsteht

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Unser kritisch zu analysierender Ausgangspunkt liegt wie in der Einleitung beschrie-
ben auf folgendem, weitverbreitetem Verständnis des freien Willens: Er bedeutet, ei-
nen Willen als Ist-Zustand zu haben und zu diesem wird sich frei entschieden. Diesen
Willen „bringt“ man vorsätzlich durch Handlung in seine Umwelt hinein; er kann sy-
nonym auch als Bedürfnis beschrieben werden.
Aristoteles´ Argumentation illustriert anschaulich, dass menschliche Handlungen und
Entscheidungen weniger nach geplantem Inhalt ablaufen. Im Folgenden werden einige
Kernaussagen des dritten Buches des Werkes Nikomachische Ethik zusammengefasst.
Das Gewollte definiert Aristoteles als jenes, „dessen Ursprung im Handelnden selbst
liegt, wobei er die einzelnen Bedingungen kennt, unter denen die Handlung stattfin-
det.“2 Die einzelnen Bedingungen werden zuvor ausführlich beschrieben und beziehen
sich darauf, „wer handelt, was er tut, in Bezug auf was und in welchem Bereich er
handelt (...), zu welchem Zweck (...), und wie er es tut.“3 Ein Potential zum Willen
kann prinzipiell also als „primärer Rohstoff“ im Menschen vorhanden sein, doch ob
die Handlung in der realen Situation dann „gewollt“ ist, das hängt davon ab, ob er in
der Situation seiner Handlung auch die Kenntnis über die zugrundeliegenden Faktoren
besitzt.
Aristoteles unterstellt jedem Handelnden, der sich über eines der genannten Bedingun-
gen nicht bewusst ist, er würde nicht gewollt handeln.4 Somit offenbart sich das Ge-
wollte bzw. das Ungewollte eines Handelnden erst nach der Handlung. Elementar
wichtig ist der Unterschied, den Aristoteles zwischen dem Gewollten und dem Vorsatz
macht: „Nicht die Unwissenheit im Vorsatz macht ja die Handlung zu einer gegen das
Wollen (...), sondern die Unkenntnis des Einzelnen, das heißt der Umstände, unter de-
nen das Handeln stattfindet, (...).“5 Hier kommt deutlich zum Ausdruck, wie der Vor-
satz einer Handlung noch nicht darüber entscheidet, ob man etwas als Gewollt be-
zeichnen kann. Erst in der Handlungssituation ergibt sich der Wille oder Unwille und
die Handlungssituation selbst ist durchzogen von Umständen, über die man im Laufe
der Situation in Kenntnis gelangen kann. Hier wird die Dynamik der Umstände, die
den Handelnden zu einer Reflektion seines Kenntnisstandes zwingen, deutlich. Diese
Dynamik soll im Folgenden an einem Beispiel erläutert werden, dass Aristoteles selbst

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Aristoteles: Nikomachische Ethik. Reinbek bei Hamburg 2006, Rowohlt Verlag GmbH (nach der Paginie-
rung der Bekker-Ausgabe). 1110 b.
3
Ebd., 1110 b.
4
Ebd., 1110 b.
5
Ebd., 1111 a.
3
bringt. Die Rede ist von einem Szenario, in welchem Güter bei Sturm über Bord ge-
worfen werden.6 Die Güter werden über Bord geworfen, da nach Kenntnis der Seeleute
nur dadurch das eigene und das Leben der Anderen gerettet werden könne. Die Um-
stände scheinen zunächst eindeutig zu sein: Das Schiff ist beladen mit Gütern, bei
Sturm kann eine Seenot entstehen, welcher man mit dem Überbordwerfen der Güter
entgegenzugehen versucht. Die Kenntnis der Seeleute liegt also in der abrufbaren In-
formation, dass sie sich retten können, wenn sie die Güter wegwerfen. Diese Handlung
wird von Aristoteles trotz eigener kritischer Überlegungen am Ende als gewollte
Handlung bezeichnet, zumindest im Hinblick auf den Zeitpunkt der Handlung.
Um dieses Szenario weiterzudenken, kann man eine hypothetische Information hinzu-
fügen: Es könnte ja sein, dass einer der Seeleute über die Kenntnis verfügt, dass der
Sturm schnell vorüberziehen und das Abwerfen der Güter nicht nötig sein wird, ähn-
lich wie Piloten Turbulenzen gut abschätzen können und dann die Entscheidung tref-
fen, trotzdem weiter auf Kurs zu bleiben. Dadurch ändert sich nicht der Umstand des
Sturms, jedoch erzeugt die Kenntnis von der kurzen Dauer des Sturms eine neue Ein-
schätzung bezüglich der Notwendigkeit des Güterabwurfes.
Vom Ziel des Gütertransporter über die Reaktion, die Güter abwerfen zu wollen bis
zum Abwägen einer fehlenden Notwendigkeit des Abwurfes: Was die Akteure wollen,
ist eine Anpassung an die Situation. Das Gewollte zeichnet sich in diesem Beispiel
klar als Reaktion auf Informationen aus der Umwelt und nicht als feste, vorsätzliche
Entscheidung.
Solche Ausführungen scheinen trivial. Schließlich würde niemand leugnen, dass ver-
änderte Informationen aus der Umwelt eine Anpassung erfordern und erstrecht würde
niemand eine situative Reaktion dem Willen entgegensetzen. Der springende Punkt
liegt darin, dass jener Wille auch in weniger dramatischen und offensichtlichen Situa-
tionen geformt und situativ erzeugt wird. Aristoteles schafft ein Bewusstsein für die
Formbarkeit des Willens durch die Situation.
Dieser Abschnitt zeichnet ein Bild von einem reaktiven Willen in Situationen, in denen
sich der Kenntnisstand der Akteure über ihre Umgebung schnell ändert und wo reak-
tives Handeln erforderlich ist. Als nächstes widmen wir uns anhand eines weiteren
Beispiels einem stabileren sozialen Habitus von Werten, der den Willen einer Person
auf subtilere und komplexere Art und Weise bestimmt.

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Ebd., 1110 a.
4
3. „Freie Lebensentscheidung“- Eine Illusion des Unfreien?

Die Welt im 21. Jahrhundert stellt sich Fragen, die zu stellen man sich vor nicht allzu
langer Zeit größtenteils nicht leisten konnte: Welcher Beruf macht mich glücklich?
Welcher Partner? Solche Fragen sind uns heutiger Tage eine Selbstverständlichkeit
und spiegeln unsere ebenso selbstverständliche Vorstellung von freien Lebensent-
scheidungen wider.
Im Folgenden soll die berufliche Laufbahn als Beispiel dienen, welches innerhalb der
im letzten Abschnitt gezogenen Bedingungslinien analysiert wird.
Gehen wir von einem Studenten aus, der sich am Anfang seiner akademischen Lauf-
bahn befindet. Er hat seinen Studiengang frei gewählt auf Basis von Interessen, die er
für sich selbst erkannt hat als jene, die er wissenschaftlich verfolgen möchte. Bei dieser
Entscheidung ist er in Kenntnis über den Umstand, was sein Interesse ist, doch viel-
leicht nicht in Kenntnis dessen, dass ihm im Studium zu trockene Inhalte unterrichtet
werden. Hat er nun frei gehandelt? Niemand hat ihn gezwungen, er ist seinem Wunsch
gefolgt, doch er war bei seiner Entscheidung zum Studium in dem Umstand gefangen,
die akademische Mühseligkeit dieses Faches nicht zu kennen. Bis zu diesem Zeitpunkt
war sein Wille zum Studium frei, denn seine Umgebung spielte sich aufgrund seiner
Wahrnehmung vielleicht in dem begrenzten Rahmen einer Vorstellung ab, dass Stu-
dium sei eine lustige Fortsetzung seiner Interessen. Sein Wille entpuppt sich nach Aris-
toteles da als unfrei, wo er mit einer konträren Realität („zu trockene Studieninhalte“)
konfrontiert wird, denn erst an diesem Punkt lernt er die Umgebung ein Stück besser
kennen. Wachsende Kenntnis über die Umgebung schneidet die anfängliche Freiheit.
Nun ist eine Situation in Bezug auf eine freie Entscheidung jedoch nicht sofort been-
det, nur weil sie an einen Punkt der Unfreiheit gelangt ist. Ab hier wird eine neue
Entscheidung getroffen werden müssen: Bleibt der Student in seinem Fach oder nicht?
Die Trockenheit des Studiums ist nun ein bekannter Faktor in der direkten Umwelt, in
welches hinein er handelt. Weitere Faktoren bestehen: Sein neues soziales Umfeld,
dass mit ihm gemeinsam studiert und dessen er Teil ist. Es animiert ihn dazu, das Stu-
dium fortzusetzen und außerdem die trockenen Inhalte als lästigen, aber notwendigen
Baustein seiner Zukunft zu verstehen, denn am Ende des Studiums soll ein Abschluss
stehen, der ihm die Tore zu beruflichen Perspektiven öffnet. Schließlich ist ein Uni-
Abschluss in der Arbeitswelt sehr angesehen und für Unternehmen guter Grund, eine
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Bewerbung nicht sofort wegzulegen. Hier kommen drei weitere Räume der Umgebung
hinzu, die direkt auf den Willen einwirken werden: Erst die soziale Gruppe, die ihn
emotional animiert (und welcher zu entsagen eine Herausforderung für jeden ist, der
sich in ihr wohlfühlt), dann die (wahrscheinliche) Erkenntnis, dass langweilige As-
pekte einer Ausbildung nicht zu umgehen sind und daher kein Hindernis darstellen
dürfen und zu guter Letzt der Arbeitsmarkt, in welchem sich zu behaupten durch das
Abschließen einer Hochschule leichter sein wird.
Ist sich der Student über diese Bedingungen bewusst und nimmt auch den Faktor
„langweilige Studieninhalte“ in Kauf, so handelt er frei, wenn er sich in diesem Mo-
ment des Kenntnisstandes für ein Fortsetzen des Studiums entscheidet.
Es können aber noch weitere Einflüsse vorliegen, welche überhaupt nicht bewusst
sind. Zum Beispiel kann alleine der Status „Student“ einer sein, der mehr soziales An-
sehen generiert als der Status „Azubi“ o.ä. Es könnte eine Ausbildung geben, die den
Studenten sogar behilflicher im Erreichen des beruflichen Zieles sein könnte, da Un-
ternehmen in der angestrebten Branche z.B. explizit nach einer abgeschlossenen Aus-
bildung verlangen und höher schätzen als einen Hochschulabschluss. Die zwei sich
hierbei ergebenden Umstände beinhalten zum einen also den sozialen Status, mit dem
sich der Student (gemeinsam mit der Gruppe) wertvoll fühlt und zum anderen die Tat-
sache, dass seine beruflichen Ziele in seinem konkreten Fall einen Hochschulabschluss
nicht so zwingend vorsehen, wie er es anfänglich dachte. Diese Umstände werden vom
Studenten nicht gewusst, sein Wille weiter zu studieren entpuppt sich erneut als unfrei,
in dem Moment, in welchem man neue Einflussfaktoren in Betracht zieht.
So könnte man dieses Beispiel lange weiterspinnen. Z.B. kann ein kulturelles Umden-
ken in der grundsätzlichen Arbeitskultur dazu führen, dass der Abschluss an Schulen
keinen Wert mehr hat, weil die Gesellschaft sich in einer raschen Entwicklung vom
militärisch geprägten Notenbewertungssystem emanzipiert und sich nun auf Werte wie
z.B. Sozialkompetenz beruft. Dadurch würde der Zwang, überhaupt einen Abschluss
haben zu müssen, komplett vernichtet werden und der Wille weiter zu studieren könnte
im Falle unseres Studenten wieder wechseln.
Jedoch wird schon nach einem kurzen Überblick deutlich, dass der gesamte Entschei-
dungsprozess kein einmalig gewählter ist. Es sind die Umstände der Kenntnis, die aus
dem (sozialen) Habitus generiert werden in einem dynamischen Lauf von Versuch und
Irrtum.

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Der Unterschied zum Beispiel der Seeleute liegt in der Dringlichkeit: Die Seeleute
müssen eine schnelle Entscheidung treffen um zu überleben, der Student macht über
einen langen Zeitraum Erfahrungen, die seine Entscheidung formen und als frei oder
unfrei definieren. Freier Wille als situative Reaktion ist bei den Seeleuten schnell zu
erkennen, beim Studenten ist es die Informationsgewinnung aus einem stabilen, aber
gerade deshalb viel subtiler wirkenden Habitus. Beide Szenarien jedoch verdeutlichen
Aristoteles´ Vorstellungen vom Willen: Es ist die Umgebung, die den Willen als frei
oder unfrei markiert. Diese Freiheit unterliegt dem Diktat eines dynamischen Erkennt-
nisprozesses, der in der realen Situation gemacht und nie von vornherein „mitge-
bracht“ wird, da sich viele Komponenten der Umgebung erst im Kontakt mit ihr erge-
ben.
Angestoßen wurde bis hierhin vor allem eine Sensibilisierung für die in modernen Ge-
sellschaften eher unsichtbare Unfreiheit des anfänglich frei gewählten. Mithilfe der
klar und deutlich gezogenen Grenzen für den freien Willen soll nun im nächsten und
letzten Abschnitt des Hauptteils ein neuer Definitionsraum beschrieben werden.

4. Freiheit als Trennung-Wille als Reaktion

Eine entscheidende Dynamik in den bisher getätigten Ausführungen soll hier noch
einmal der Wichtigkeit halber zusammengefasst werden. Die Willensfreiheit, die einer
Handlung zugesprochen werden kann, wird ihr im Rahmen der Unkenntnis konträrer
Umgebungsumstände zugeschrieben. Diese Umstände werden aber durch genau diese
freie Handlung erst ins Bewusstsein über die Umgebung geholt. Eine freie Tat macht
sich durch den Erkenntnisfortschritt, den sie anstößt, unfrei. Die plumpe Frage danach,
ob eine Tat mit freiem Willen getätigt wurde oder nicht, konzentriert sich auf einge-
frorene und vom Fluss der Situation abgeschnittene Momente, ähnlich einem Mosaik-
stück, welches als unbedeutende Scherbe definiert wird, weil man die anderen „Scher-
ben“ noch nicht kennt und daher nicht zusammensetzen kann.
Freiheit in dem hier erarbeitetem Raum von dynamischen Erkenntnisprozessen kann
so nicht mehr betrachtet werden. Beide Beispiele, sowohl die der Seeleute als auch die
des Studenten tragen eine Definition von Freiheit in sich, die eher jener Aristoteles´
entspricht: Freiheit ist das Streben danach, Erkenntnisse zu gewinnen, auf deren Basis
weitere Entscheidungen getroffen werden. Die Freiheit liegt im Treffen der Entschei-
dung selbst, in der stetigen Sicherheit, dass diese Entscheidungen früher oder später
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zwangsläufig den ursprünglichen Willen als unfrei entlarven werden, da er an neue
Informationen aus der Umgebung kommt und im alten Bezugsrahmen seiner Hand-
lung ja gar nicht über den neuen vollständig in Kenntnis sein kann.
Jetzt sieht sich der Begriff des freien Willens in einem Raum, in dem er keine Mo-
mentaufnahme mehr ist. Er ist eine fließende, sich selbst zerstörende und wiederauf-
bauende Dynamik, die den Handelnden ständig an seine Umgebung anpasst. Er ist ein
Streben, dass stattfindet. Der Handelnde ist hier nicht mehr ein Individuum mit einem
freien Willen, sondern die sich ergebende Unfreiheit des Willens zwingt das Indivi-
duum dazu sich als unfrei zu erkennen, solange es sich als freies Individuum und Ini-
tiator sieht.
Freiheit entsteht hier durch die Trennung vom alten Bezugsrahmen, ohne Endziel die-
ses Prozesses. Die Trennung wirft stetig Konfrontationen mit den neuen Grenzen auf
und führt so die weiteren Handlungen durch Befreiung des Alten an das Eingesperrt
sein im Neuen.
In diesem Verständnis ist der Wille als frei gewählte Präferenz nichts weiter als ein
hoffnungsloser Versuch der Selbsttäuschung. Das Beispiel der Seeleute macht den
Überlebenscharakter von Entscheidungen deutlich heraus, da eine direkte Gefahr für
das Überleben bei falschen Entscheidungen steht. Das auch Entscheidungen, die in
Bezug auf eine „beständige“ Umgebung getroffen werden, von Überlebenswichtigkeit
für die menschliche Natur sind, ist zunächst nicht einfach zu sehen. Es soll hier keine
Zusammenfassung von komplexen, evolutionsbiologisch geprägten Mechanismen be-
müht werden, doch dass die Entscheidungen hinsichtlich Berufswahl und die damit
verbundenen Vorbereitungen durch Ausbildung etc. indirekt mit existenziellen Ängs-
ten vor ökonomischem und sozialem Misserfolg zusammenhängen, macht die zu tref-
fenden Entscheidungen nicht weniger relevant für das Überleben als im Beispiel der
Seeleute. Bei unserem Studenten-Beispiel wirkt diese Form vom subtilen und bestän-
digen Entscheidungsdruck, der auf den situativen Willen ausgeübt wird. Wille ist so
gesehen eine Reaktion in Positionierung zur Umgebung, in welcher Entscheidungen
getroffen werden, hochgradig beeinflusst durch den Kenntnisstand des handelnden
Akteurs über diese Umgebung.
Das Bemühen darum, den Fokus der freien Willensfindung auf seine Einflussfaktoren
zu legen, liefert keine neuen und bahnbrechenden Kenntnisse. Schließlich ist jedem
klar, dass die Biographie eines jeden Menschen Mächten unterliegt, die nicht in seiner

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Kontrolle liegen. Zweck dieser Ausführungen besteht wie erwähnt darin, den Fokus
auf den (sozialen) Habitus, in welchem sich ein Individuum befindet, zu verschieben.
Im nächsten und letzten Abschnitt soll ein Fazit aus diesem neuen Fokus geschlossen
und erfragt werden, inwiefern dieser mit dem heutigen Verständnis zusammenge-
bracht werden kann, um einen sinnvollen Beitrag zum Selbstbewusstsein einer Gesell-
schaft zu leisten.

5. Fazit: Bewusster Handeln- Konflikt mit unserem Selbstverständ-


nis?

Der Akteur entdeckt durch Handeln stetig neue Bedingungen, die seinen ursprüngli-
chen Willen als unfrei entlarven und muss sich ständig neu positionieren. Wille ist kein
Ausgangspunkt, aus dem heraus gehandelt wird, sondern eine Reaktion bedingt durch
sein Umfeld. Die Frage „Wie ist der soziale Habitus7 am Entstehen des Willens in
einer Situation oder Umgebung beteiligt?“ ist der Ausgangspunkt der hier erarbeiteten
Überlegungen unter Zuhilfenahme der Nikomachischen Ethik und eine prägnante Ant-
wort darauf lautet: Der soziale Habitus gibt dem Handelnden seine Grenzen vor, ohne
dass dieser sich über sie gewahr ist. Freier Wille entsteht in einer Auseinandersetzung
zwischen Akteur und Umgebung, das Entstehen einer nicht endenden Wechselwir-
kung spiegelt den freien Willen.
Welche Fragen ergeben sich daraus für das Selbstverständnis heutiger Gesellschaften
im Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung? Der Schmied in früheren Zeiten wurde
Schmied aufgrund des Umstandes seiner Umgebung, dass sein Vater selbst einer war;
Know-How wurde an die direkte Nachkommenschaft weitergegeben in einer Zeit, in
der Arbeiten und Arrangement mit dem materiellen Überlebensdruck war. Über diese
Bedingung bewusst, war auch ein Schmied, der in die Fußstapfen seines Vaters trat,
durchaus frei, auch wenn es uns heute zuwider wäre, dies als frei zu bezeichnen. Aus
heutiger Perspektive würden wir argumentieren, frei wäre ein Heranwachsender in sei-
ner Berufswahl, wenn er das macht, was ihn interessiert und was er will, doch was das
heutzutage ist, entscheidet meist was Bildungsinstitution und gesellschaftliche Vor-
stellung von Werthaftem vorgeben. Der Horizont hat sich im Vergleich zum Schmied

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zwar erweitert, doch wie wir gesehen haben gibt es in jedem Fall Bedingungen und
das Bewusstsein über diese entscheidet, ob die Handlung und der Wille frei sind.
Heute ist dieses Bewusstsein um die Bedingungen in weite Ferne gerückt und morali-
sche Appelle wie „Suche dein individuelles Glück“ gaukeln Freiheiten vor, die wir
nicht haben. Dadurch ergeben sich ganz eigene Probleme: Der Lebensgefährte, Beruf
oder Freundeskreis, der nicht mehr als berauschend empfunden wird, wird zum „für
das individuelle Glück nicht richtiger“ degradiert und die Suche nach dem Richtigen
eifrig fortgesetzt. Dabei missachtet das Individuum die problematischen Aspekte im
Raum seiner selbst, wodurch er sich in seiner ewigen Suche immer nur mit denselben
Grenzen konfrontiert, ohne seinen Willen zu durchleuchten als abhängig von der in-
neren Landkarte von Entscheidungsfindung, zu welchem das äußere Handeln immer
in Position steht. Vereinfacht ausgedrückt: Vor Konflikten wegzulaufen ist leichter
denn je und wird auch noch als freier Wille empfunden. Unter Rücksichtnahme aris-
totelischer Sicht können die problematischen Kreisläufe, in welchen sich Handelnde
oft befinden, gebrochen werden: Die Umstände werden analysiert, der Kenntnisstand
wird breiter und dadurch können in derselben Situation bewusster Entscheidungen ge-
troffen werden, welche ihre Dynamik verändern. Was man vorher als Käfig der eige-
nen Freiheit empfunden hat und von der man sich mit der Illusion eines freien Willens
zu entledigen versuchte wird in alchemistischer Manier zu Fahrkarte in einen freien
Willen in aristotelischem gewandelt.
In Konflikt kann dieses Streben nach wahrer Freiheit mit der aktuellen Realität unserer
Werthaltungen kommen. Individualismus als Ich-zentrierte Initiation von Lebensent-
scheidungen ist das Rückgrat unserer Wirtschaft, denn er drängt das den Handelnden
dazu, sich in seinem Tun zu definieren. Diese Identitätsdefinition kann geschickt durch
Werbung bedient und gelenkt werden. Eine Willen-lose Masse ist die Basis von Mas-
senkonsum; ein Bewusstsein um die Umstände, wie dieser Wille entsteht, könnte zur
Erkenntnis führen, zu vielen Dingen aus Konformität gezwungen zu sein. Dieser
Zwang kann durch aristotelische Reflektion abgelegt werden. So könnte der Wille zum
wahllosen Konsum vergehen und die Grundfesten des Kapitalismus erschüttern.
So wenig, wie die Argumentation Aristoteles´ eine Widerlegung von Individualismus
und Selbstbestimmung ist, so tief ist auch der Graben zwischen dem, was er als freien
Willen definiert und dem, was für freien Willen gehalten wird.

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