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Eine verdrängte Kategorie der Praktischen Philosophie?

Versuch über ‚Schuld‘


Author(s): HAJO SCHMIDT
Source: ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law
and Social Philosophy, Vol. 75, No. 3 (1989), pp. 313-330
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: https://www.jstor.org/stable/23680164
Accessed: 05-06-2023 04:26 +00:00

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Eine verdrängte Kategorie der Praktischen Philosophie?
Versuch über,Schuld'

VON HAJO SCHMIDT, HAGEN

1. Zur Sache: Probleme mit der Schuld

Die Schuld-Problematik bildet keinen Knotenpunkt zeitgenössischer philosophischer


Reflexionen. Zu Recht konstatiert Honnefelder: „Während der Ausdruck,Schuld'...
in unserem alltäglichem Sprechen nach wie vor gängig ist, ja in der Debatte über
gesellschaftliche Mißstände und deren Urheber eher häufiger als früher verwendet wird
und dieser Debatte einen ausgeprägt moralischen Zug verleiht, begegnet er als spezifi
scher Terminus in der philosophischen Diskussion der Gegenwart selten"1. Demselben
Autor verdanken wir eine bedenkenswerte semantische Differenzierung, indem er drei
Sinnmomente am Schuldbegriff unterscheidet: „(a) Schuld als das Gesollte, das debi
tum, das .Soll'; (b) Schuld als die Tat, und zwar insofern sie vom Täter als selbstbegan
gene Verfehlung übernommen oder ihm als solche zugelastet wird...; (c) Schuld als das
böse Resultat dieses Tuns, als die getane Tat und das durch die Tat Angerichtete, als die
Verschuldenswirklichkeit"2.
Alle drei Sinnmomente will auch dieser Essay präsent halten, allerdings in veränder
ter Gewichtung: während Honnefelder sich der Aufhellung des als zentral beurteilten
zweiten, an das Begehen der Tat gebundenen Schuldaspekts annimmt, sollen hier vor
allem das erste und das dritte Sinnmoment hervorgehoben werden. Dies schon darum,
weil ich anders als Honnefelder weder das Problem eines handlungsvorgängigen Sollens
bzw. Verschuldetseins in die Frage nach dem sittlich Guten aufzulösen noch das
Problem der Verschuldenswirklichkeit als im Begriff des sittlich Bösen abgedeckt zu
sehen vermag.3
Hilft es nur wenig, unter anderen philosophischen Titeln nach einer angemessenen
Aufarbeitung der Schuldthematik zu suchen, so möchte ich den Ausgangsbefund
sogleich thesenhaft zuspitzen und konkretisieren. Nicht nur versagen die Existenzphi
losophie und die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts vor der Schuldpro
blematik.4 Für zentrale Fragen wie: Ist die Schulderfahrung des,modernen Menschen'
eine spezifisch andere als die seines mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Vorgän
gers? Wie entsteht und wo verbleibt etwaig anfallende Schuld? Wie wird ihr gegenüber
früheren Zeiten doch erheblich gesteigertes Ausmaß—alldieweil wir Tiere nicht mehr
einzeln, sondern gleich massenhaft quälen, wir gesellschaftliche Außenseiter und Mino
ritäten nicht mehr unbedingt spontan und lokal, sondern industriell und flächendeckend

1 Ludger Honnefelder, Zur Philosophie der Schuld, in: Theologische Quartalschrift 155 (1975), 31. —
Daß dieser Mangel einem bestimmten Zeitbewußtsein entspricht, läßt sich den feinen Beobachtungen
E. Drewermanns entnehmen (Psychoanalyse und Moraltheologie I, Mainz 1982,105 ff.), für den die
eigentümliche Schulderfahrung des Zeitgenossen darin besteht, „Schuld eigentlich gar nicht zu
empfinden", stattdessen aber „eine Art negativen Existenzgefühls" (107 f.).
2 Honnefelder (Fn. 1), 31 f.
3 Ebda, 32. — Über Sinn und Berechtigung dieser Distanzierung muß der weitere Gedankengang
Aufschluß geben.
4 Vgl. hierzu das Fazit von W. Schulz, Wandlungen der Begriffe .Schuld' und .Verantwortung', in:
Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie 16 (1968), 203.

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314 Hajo Schmidt

liquidieren5 — erträglich, wodurch wir


Fragen und ihre Beantwortung scheint
Philosophie der Moderne weder zuständig
unterschiedlichen Varianten: die Aufkl
tiv-idealistische, die marxistische Philo
gerade letztere ihr gerüttelt Maß zur Be
matik beigetragen.
Schon eine kursorische Durchsicht gän
Lexika mag diesen Verdacht erhärten. De
marxistischen Lexika6 ab, Begriff und
etwas einseitig betonte Inaktualität d
können; ja: zumindestdie Wörterbücher
inhaltlich, dem Schuldbegriff weiterhi
tung zuzusprechen. Allerdings läßt eine
einige verbreitete Züge erkennen, die d
matik als insgesamt reduktiv und unbef
Hoffmeisters Wörterbuch der philosop
dem je konkreten Handeln vorausliegen
es Schuld als „seiner Herkunft nach e
.Schuldigkeit' " charakterisiert, als auch
gleiche Sprachwurzel zurückgehenden
einer Leistung (lat. obligatio), das Schul
Befund eine mögliche Beschneidung der
Subjekts abzugewinnen, beschränkt Hof
fend, auf eine juridische Verarbeitun
Verschulden von der bloßen Urheberscha
keit einer „Person" bindet, sondern auch
hältnisses die Selbstverpflichtung zur Z
Dieser juristischen Reduktion der Pro
Philosophische(m) Wörterbuchu, das de
einem Beschluß des Bundesgerichtshofes

Es erscheint mir symptomatisch, daß der m .W.


außeruniversitären Zusammenhängen entsta
Potential Mengele, in: Die Republik (hgg. v
Philosophisches Wörterbuch (hgg. v. G. Kla
Kritisches Wörterbuch des Marxismus (hgg.
Berlin 1983 ff.
„. . . eine in sich kohärente .Philosophie de
Honnefelder (Fn. 1), 44.
Mehr als eine Indexfunktion soll für die untersu
stellte sich nicht nur das Selektivitätsprob
entwickelte Gegenstandsverständnis ihrer V
einschlägige Problembewußtsein der Zeit hoch
zum Opfer fällt.
Hamburg 21955.
Ebda, 545.
Stuttgart211982.

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Versuch über ,Schuld ' 315

innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Me


sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befäh
gegen das Unrecht zu entscheiden .. .",12 dann zeigt sich
zeitgenössischen Schuld-Denkens: Schuld und Schuldgef
den als Leistungen resp. Äußerungen eines grundsätzlic
lungen und deren Motiven gewissen und mächtigen Sub
Vossenkuhl im Lexikon der Ethik13: „Moralisch schuldi
Handlungen oder Unterlassungen oder durch bloßen Vo
Entscheidung gegen sein Gewissen und sitüiche Nor
Imprägnierung dieses Art. wird nicht nur deudich an Vo
lische Schuld (setze) als Kriterium die Freiheit des Men
seiner sitüichen Pflicht und einem sitüich nicht zu rech
sondern vor allem auch in der Behauptung, daß der mo
selbst (verfehle). Er verstößt gegen die Verantwortung, d
Würde als Person gegenüber hat."14
Die hier zu Ende kommende Hypertrophie des neuzei
Kantischen Gewändern läßt sich auch, versetzt mit ein
schen common sense, in H. D. Lewis' Art. „Guilf in The
ausmachen. Wie Vossenkuhl definiert Lewis die moralische Situation durch den
Widerstreit von Pflicht und Neigung; auch Lewis behauptet eine innere Transparenz der
schuldgenerierenden Situation und verankert diese Schuld allein in der freien, amorali
schen Entscheidung des Individuums. „If we fail to make the effort of will — an
absolutely free one in this case — to overcome some weakness of character, and if we
thus follow the line of least résistance rather than the call of duty, we incur moral guilt."16
Kant-Reminiszenzen lassen sich zweifellos auch im christlich orientierten Schuld
verständnis von Bruggers Philosophische(m) Wörterbuch17 ausmachen, das aber darü
ber hinaus eine weitere Anstößigkeit zeitgenössischer Schuldphilosophie eindrucksvoll
widerspiegelt. Das Schuldgefühl, heißt es ohne weiteren Kommentar, sei „der Ausdruck
der unverletzlichen Würde der eigenen Person und eines hochstehenden, feinen Gewis
sens. Allerdings gibt es auch ein krankhaftes Schuldgefühl, das auf Täuschung beruht."18
Wie das — doch im innersten Kern der moralischen Person anzusiedelnde — Schuld
gefühl derart versagen, ja pervertieren kann, ohne darum die sittliche Verfassung der be
treffenden Person gänzlich außer Kraft zu setzen, bleibt hier dunkel; und weiter hilft uns
in dieser Frage auch weder Vossenkuhls Feststellung: „Wenn das Schuldgefühl unbe
wußt genossen und aufrechterhalten wird, ist es Ausdruck einer Neurose",19 noch die
knappe Bemerkung Hoffmeisters, in „Psychologie und Psychotherapie (spiele) das
Schuldgefühl als besondere Form des Eigenwertgefühls und als Ursache vieler neuro
tischer Erkrankungen eine große Rolle."20 Und warum, so sei nun dezidiert gefragt, spielt
das Schuldgefühl diese „große Rolle" nicht auch in der Philosophie?

Ebda, 622.
Hgg. v. O. Höffe, in Zus.arbeit mit M. Forschner et al., München 1977.
Ebda, 205 f.
Vol. III, New-York/London 1972.
Ebda, 396.
Freiburg/Basel/Wien 131967.
Ebda, 327.
AaO. (Fn. 13) 206.
AaO. (Fn. 9) 546.

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316 Hajo Schmidt

In den nun folgenden historischen Abs


den Ursprungsort der angemahnten
darüber in eine Kritik heutiger philosop
größter Wichtigkeit scheint zunächst di
als vielleicht anspruchsvollste Ausprä
sichtlich maßgeblich bleibt für den dok
folgen (2.2) Darstellung und Kritik der
nicht nur einen Anstoß für die Juridifi
das wirkmächtige Muster einer institut
lieferten — ein sozial- bzw. geschichtsp
seinsphilosophischen Subjektivismus Ka
diskutiere ich die Position Freuds (2.3), d
den Verhältnis von (philosophisch zu le
und (philosophisch nicht zu rechtfertige
sondern der überhaupt der Schuldthem
kannt — wenn auch nicht gesichert hat
Meine Freud-Kritik markiert den—er
rierten —Übergang zu einer, in den hist
tisch gerichteten Skizze (3), die meine ei
den Bemerkungen diskutierten Problem
benennt exemplarisch zwei Problemstel
denen deren Fruchtbarkeit und Sacha
könnten.

2. Historie: Austreibung vs. Anerkennu

2.1 Kant Den Ruf von Kants praktisc


Autonomie der praktischen Vernunft.
Willens nicht in seinen Inhalt, sondern sei
innovativ als die transzendentalphilos
kenntnis durch die Gesetze eben dieser u
zu sehen. Dieter Henrich hat darüberhi
hat Bedeutung nicht nur für die intern
Gesamt-Sinn desselben —, daß die .pr
Kants war: „Sie erfolgte schon im Jahr
kam, die Gegenstände der Erkenntnis k
Anschauung richten, hatte er bemerkt,
bestimmten Gegenständen des Willens .n
gelinge', wenn er annahm, daß die Gegen
hier aus führt der Weg zu den Lehrsätz
nämlich „alle praktischen Prinzipien,
Willens voraussetzen,... insgesamt empi
abgeben (können)", daß aber „von ein
Gegenstand des Willens (als Bestimmung
als die bloße Form einer allgemeinen Ge

D. Henrich, Das Problem der Grundlegung der


Engelhardt (Hg.): Sein und Ethos, Mainz 196
Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart (

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Versuch über,Schuld ' 317

Erhebt die autonome Vernunft die bloße Geset


rungsfähigkeit unserer Handlungsmaximen zum Be
äußert sich dieses Grundgesetz der sittlichen Vernu
Handlungszentrum immer zugleich sinnlich, also pat
tiv: „Handle so, daß die Maxime deines Willens je
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."23 Kategori
deswegen, weil er für jedes Individuum verbindlich, s
und durch keine andere Geltungs-Instanz im Mensch
Das sich jedem Menschen als„Faktum der Vernunf
moralischen Gesetzes gibt der in der Kritik der reine
Freiheit des Menschen eine positive Bedeutung, näm
Realität"24. Ist das Sittengesetz ratio cognoscendi der
des Sittengesetzes. Wie Freiheit oder Praktizität de
entzieht sich unserer Kenntnis, daß es so ist, versiche
Volle Autonomie aber kann der Mensch seiner Vernu
nur frei in ihrer Gesetzgebung, sondern fähig zug
„Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlun
moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimm
einem Wesen, das dauernd sinnlich präokkupiert, d
unablässig empirisch-materiell bestimmt ist? Ka
allein vom Gesetz bestimmten Willens, einer „Kausal
menschlichen Bedürfnisstruktur innigst verbundene
zu transformieren, daß es zur „Achtung für das Gese
des empirischen Willens zu werden vermag.26 Nota
Wirkung, nicht Ursache (der Anerkennung) des Ge
letztes Mal und definitiv sich im Abgrund sinnlich
Die Etablierung der jedem Menschen zueigenen Ve
lungs- wie Ausführungsprinzip des Guten resümiert,
eigentliche Revolution der Kantischen Doktrin.27 D
Legion, zentrale Vorwürfe bis heute nicht widerlegt
legbar: die Äquivozität im Freiheitsbegriff (also: fü
durchs Gesetz und zugleich für die tätige Akzeptan
müssen), die Erschleichung der Freiheitsgewißheit,
kollisionen, seine Behauptung eines intellektuell ge
rama nun zweihundertjähriger wohlbegründeter Kan
der großartige Anspruch und die gedankliche Kühnh
Zentrierung des Menschen in der Welt hervorge
gängigen moralischen Praxis, die sich als unabhä
heteronomen Instanzen; inklusive der religiösen: was
ler Bürgerkriege und theologisch legitimierter Mass

Ebda, 53.
Ebda, 93; 10.
Ebda, 117.
Vgl. ebda, 117 ff. („Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft").
Henrich erinnert, daß Kant zwar sofort das principium diiudicationis, erst Mitte der 80er Jahre aber
eine (unbefriedigende) Lösung der durch das principium executionis bonitatis aufgeworfenen
Schwierigkeiten gefunden habe (aaO. (Fn. 21) 358).

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Gerade die Radikalität und Konsequen


Position schuldtheoretisch interessant u
genommener moralischer Erfahrung mu
schiedlichkeit der jeweiligen moralische
allgemeingültigen, in sich wie untereina
Feldes moralischen Handelns als unange
taugt diese Unterstellung, so ließe sich s
Postulat und Maßstab demokratischer V
prozesse über soziales Zusammenleben s
daran teilnehmen können), als kontra
Handeln in der Regel eine Vorgeschic
betrifft nicht nur das Tun, sondern zug
durch einen mystischen Sprung aus dem
Mensch nur auf den erworbenen Charak
len Menschen aufbauen, dann wird an d
des empirischen Ichs Problem.29
Diese—gegen Kant und Fichte: auf kei
Konstitution aber geht notwendigerwei
struktion gelebter Intimität, Verwerfu
Entfaltung gewährender Anstöße, Verni
Phylo- wie Ontogenese bezeugen eine on
und juridischen Zurechnung, die im übri
sozialer Interaktion, menschlichen Verk
Im Kantischen Kosmos vernunftsident
wesenüich als ein Versagen vor dem res
Gesetz.30 Die im moralisch gebundenen
und gewürdigt als Mit-Repräsentante
Imperativen operationalisierten Sitteng
nicht intentional, so doch sachlogisc
dungsfall; deren je spezifische Involvier
wie ihre dabei geltendgemachte Leiblich
Recht, zählt nur als Medium, nicht als S
lichkeit. Die Vielfalt der von der Metaph
unsere Mitmenschen, zusammengefaßt g
seligkeit,31 sollte uns nicht täuschen: H
rung des menschlichen Strebens nach E

Immerhin zeigt die Kantische Ethik, daß es k


und (anerkannter) Schuld gibt. (Anerkannt
Bedingung moralischer Entscheidung.
Zu diesem Problemkreis sei verwiesen auf d
Schulz, Philosophie in der veränderten Welt,
Diese grundsätzliche Sicht wird auch gedeck
Metaphysik der Sitten (s. insbesondere „Einlei
Gesetz entsprechend tut, ist „Schuldigkeit
„Verschuldung (demeritum)" (Akad. Ausg. 6,
Vgl. MS, „Einleitung in die Tugendlehre" IV

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diese als Bedingung und Ausfluß der „Würde der Mensc


ihrer Vernunftsnatur mithin, gelten dürfen!32
So verdankt sich der Verlust des Anderen, als konk
moralischer Verpflichtung und Verschuldung, Kants d
Newtonischen Physik wie der neuzeiüichen Staatstheo
sung zum ersten, seiner Abwertung der Natur, des „A
Böhme), zum zweiten.
Wir sehen die .Dialektik der Aufklärung' bei der Ar
lebensspendenden Natur zur kargen „Existenz der Din
zunächst der abendlandspezifischen Hypostase des Men
Instrument und Mittel sich verkleinert,34 schlägt um
innersten Strebungen und Individuationsbedingungen
weltgeschichtliche Bilanz dieser Dialektik haben andere
zur Ökologiebewegung, aufgemacht. Auf eine bestimm
Erscheinung derselben sei jedoch, aus aktuellem Anlaß,3
Kant kein Vorläufer oder gar Vordenker des Faschism
dennoch bleiben nationalsozialistischer Rassenwahn
eben, auch auf den Kantischen Moral-Humanismus bez
der das Moralkriterium sich aller natürlichen und sozia
tionen entschlägt, in der sich das konkrete moralisch
reinen Mensch-Vernunftnatur entsinnlicht und entindi
che Vernunft keinen konstitutiven Verweis auf ih
Fundament mehr bereithält—eine solche Konzeption a
auch einer anderen, die über die Qualität, Mensch ode
instanz oder moralische quantité négligeable zu sein, al
Blut oder die Nase der Juden, die Blödigkeit der Geist
Zumindest erinnert sei an dieser Stelle an den beachte
Boden einer transzendentalen Handlungslehre aus die m
des konkreten Anderen zu sichern und zugleich die sittl
ihrer naturalen Verhaftung zu bewahren. Fichte schein
in Kants Formel des kategorischen Imperativs weder d
Wesens außer dem imperativisch (selbst-)angesprochen
wer darunter falle.36 Dieses Problem durchdacht zu hab
sten, philosophiegeschichtlich leider folgenlosen Le

Als Beleg sehe man die Begründung der „Pflicht der Wohltätig
§ 30 (AA 6,453).
KpV, 73.
Hierin erkenntG. Anders zurecht die „fürchterliche General-Lizenz, die nichts außer dem Menschen
ein Tabu zugesteht und alles andere als für den Menschen geschaffen unterstellt"; dieser
Anthropozentrismus sei „das Manko unserer .abendländischen' Ethik" (Die Antiquiertheit des
Menschen, Bd. II, 31984,433 Anm. 8). Für Kant sind nicht nur die Objekte der unbelebten Natur, für
ihn sind alle nicht-menschlichen Naturwesen „Sachen"; eine Sache aber ist ein .jedes Objekt der
freien Willkühr, welches selbst der Freiheit ermangelt" (AA 6,223; 462).
Ich denke hier an den bundesdeutschen, von J. Habermas dankenswerter Weise vom Zaune
gebrochenen .Historikerstreit'.
S. Fichtes Brief an Reinhold vom August 1795, in; Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften, III, 2,385 ff.

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320 Hajo Schmidt

System. Methodologisch gerichtet auf d


dingungen des wirklichen Selbstbewußts
Sittenlehre die diesbezügliche Unverzich
vermittelter praktischer Anerkennung.
nungsprozesses durch den Begriff der
Entstehung des je individuellen Rechts-
die Selbstbeschränkung und Freiheitsan
gängigen Anstoß. Nur noch ein Schritt
Grundlagen seines Systems freilich t
Rechts- noch Moralbewußtsein denkb
rung: Denn genau diese wäre die ange
Fichte als Grundmodell aller menschlic
Aufforderungsvorgangs. Daß das Objek
zwingend erkennbar sei, daß m.a.W. die
eines artikulierten Ganzen und zumal s
Menschen zum Ausdruck bringenden—O
Rechts- und Moralsubjekte eindeutig be
führungen des Jenenser Naturrechts\
einschränkungslos, „ist dem Menschen
Die immense Bedeutung dieser Bemüh
auf der Hand, ohne daß jene darum als g
philosophische Rahmen besorgt, daß F
sches Diktum vom nicht-festgestellten W
Sartres These, der Mensch erfinde den M
Nachweis der Anwendbarkeit des Rechts
und leibnah ausgeführte Anerkennungs-
so soll sie nicht die grundsätzliche Struk
keinen notwendigen Zusammenhang v
dern nur einen einmaligen, freilich un
endlichen Vernunftswesens. Zuletzt sche
Anthropo- und Logozentrismus noch zu
sichtig eingeklagter Ich-Identität und al
Ex post läßt sich also der Preis, den d
Autonomisierung und Körperdemontag
entschuldeten moralischen Subjekts und
nicht übersehen: die ontologische Präro
moralischen Gegenüber vom unreduzier
Handelns zum kontingenten Anstoß des
der Subjekte, die ethische und a fortior

Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien de


Ebda, 84. Vgl. 80: „Durch die Unmöglichkeit
unterzulegen, als den seiner selbst, wird je
seinesgleichen zu halten."
Zur Differenz der Behandlung der Intersubjektiv
zur immanenten Kritik derselben s. insbesond
Standort zwischen Kant und Hegel, Stuttgart-

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Versuch über,Schuld ' 321

menschlichen Lebens40. Schuld läßt sich zweifellos


ren in dieser Perspektive: als Übertretung des Gesetz
de — Verletzung der Menschenwürde (zunächst) des
fem aber ist diese Engführung der Thematik bereits
wie noch dem Lebensgefühl des voraufklärerisch
drängnis durch die Erfahrung des Schuldig- und Ver
Vorbehalt gegen den anthropologischen und Geschi
dieses aber gilt auch vom großen Nach- und Gegende
— wenn auch aus anderen Gründen.

2.2 Hegel Zunächst ist unübersehbar, daß Hegels Schuldbegriff ein wesentlich juristi
scher,43 an den Begriff des Vorsatzes gekoppelter und als causa, cutí a zu verstehen ist.44
In diesem Sinne kann Hegel erklären (§ 115 Z), daß alles, was „als Bedingung, Grund,
Ursache" einer durch Handeln bewirkten Wirklichkeitsveränderung sich zeigt, als ein
solches anzusehen ist, das an dieser Veränderung „schuld... sei oder wenigstens schuld
daran habe."45 Zweifellos aber sagt die hier angezeigte semantische Reduktion des
Schuld-Begriffes noch wenig über die spezifische Verschiebung und Lösung der
überkommenen Schuld-Problematik. Verlor sich der Schuldgedanke im allgemeinen
und erst recht die Anerkennung objektiv vorgängiger wie subjektiv produzierter Schuld
verhältnisse als Bedingungen moralischen Handelns in Kants Aufriß moralischer
Autonomie, so wird die hier implizierte Tiefe und Dramatik subjektiver Entscheidungen
bei Hegel weitgehend absorbiert durch die—teleologisch wie ontologisch auf den Staat
bezogene—Entwicklung der Sphären des objektiven Geistes. Konkretisieren läßt sich
dieser Vorgang an Hegels Behandlung der Kantischen Moralität.
Gewiß ist, daß Hegel diese nicht einfach als perennierendes, daher steriles Sollen und
unfruchtbar-unüberwindbaren Dualismus von moralischer Praxis und sozialer Wirk
lichkeit abgetan, sondern zugleich die welthistorische Bedeutung und sittliche Qualität
ihres Inhalts eingeräumt hat: die Wahrheit der Subjektivität, des innerlich-freien
Willens. Ist J. Ritter also darin zuzustimmen, daß die „Aufhebung" auch der Kantischen

So kennzeichnet die Rede von Pflichten gegen Tiere gerade die „Amphibolie der moralischen
Reflexions-Begriffe": des Menschen „vermeinte Pflicht gegen andere Wesen" ist in Wirklichkeit
„bloß Pflicht gegen sich selbst"! (A4 6,442)
Bezeichnenderweise findet sich im Enzyldopädische(n) Wörterbuch der kritischen Philosophie (Bd.
5 der Ausgabe Jena 1802—1803) des Kantianers G. S. A. Meilin s.r. „Schuld" nur ein Verweis auf
„Uebertretung" (sc. des Gesetzes), vgl. ebda, 605—608.
„Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur sofern ich zugleich mich
selbst verbinde: weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner
eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde." (A4 6,417 f.) An die
Stelle abzutragender (konkreter) Schuld tritt bei Kant durchgehend die verdienstvolle (zugegeben:
situativ angemessene) Befolgung einer (allgemeinen) Tugend. Die Überzeugungskraft dieses
Verfahrens wird verständlicher, akzeptiert man die von Kittsteiner (Von der Gnade zur Tugend, in:
Festschrift J. Taubes, 1983,135 ff.) für die Aufklärung konstatierte Ablösung der „Gnade" durch die
„Tugend" als Leitkategorie sozialen Verhaltens.
Vgl. Schulz (Fn. 4), 201.
Vgl. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 115—118 (sowie Hegels, u.a. der
Hoffmeisterschen Ausgabe beigegebene, eigenhändige Randbemerkung zu § 115).
Hervorhebungen des Originals bleiben unberücksichtigt.

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322 Hajo Schmidt

Moralität immer zugleich als „Bewahrung


hinzuzusetzen, daß Ritter selbst am b
Kantischen Lehrbestand nicht nur komp
Hegel darauf besteht, daß subjektiv-mor
dann zuletzt darum, weil er „(wie Arist
tionen, Gesetze, Gewohnheiten in einem
Wirklichkeit subjektiver Freiheit begrei
der Beschränkung auf die Pflichten der i
als ihre .Wirklichkeit' (actualitas) bezog
Besteht also wahre, vom Stigma des Par
„institutionelle Wirklichkeit" menschlic
eigentliche und letzte Schuldigkeit des e
institutionell verlangten Pflichten und
Verhältnissen kaum mehr wahrgenomm
Generaltugend „Rechtschaffenheit", als
an die Pflichten der Verhältnisse, den
sittlichen Verhältnissen, und d.h. für H
verwirklichenden Staate, bleibt der einz
in seinen Verhältnissen vorgezeichnet,
konzediert auch Hegel die Möglichkeit un
schuldig macht, aber ohne jeden Nach
Ausnahme" konzipiert er nicht als Verm
rung oder tätige Umschaffung der Insti
„heroische Möglichkeit, sich und sein G
gewordenen Institutionen geltend zu ma
Besteht nach allem kein Zweifel, daß
durch Kants Subjektivitätsprinzip (bz
aktualisiert, so scheint mir kaum wenig
Kants an dieser Umarmung durch den ob
Geschieht dies am Ende ,zum Nutzen
recht gegeben werden, wenn er auf die
schen Handelns in Sitten, Gewohnheiten

Zum Verhältnis von Aufheben und Aufbewah


Hegels Auseinandersetzung mit der Kantisch
Rechtsphilosophie II, Frankf./M. 1975,219.
Ebda, 235.
Ebda, 224.
Ebda, 234.
Ebda, 238. Das hier beschäftigende Problem hat Schulz am Verhältnis von Staat und Gewissen
entwickelt. Hegel erkläre „einerseits: ,Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des
subjektiven Selbstbewußtseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und
Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß,
was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist.' Aber Hegel hat andererseits diesen
absoluten Rückzug auf die Subjektivität getadelt. Er ist dabei aber zweifellos zu weit gegangen, wenn
er erklärt, daß das Gewissen von dem Staat als Träger der Sittlichkeit aufgehoben werde." Schulz: „Es
gibt ethische Konflikte, die nicht von überpersönlichen Mächten her entscheidbar sind." (AaO. (Fn.
29) 748 f.)

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Versuch über,Schuld' 323

letzteren tatsächlich nicht nur eine sittliche Qualitä


gegenüber den sie ausfüllenden oder den von ihnen g
die meisten Institutionen des gesellschaftlichen u
moralischer Wille, sondern auch — ebenso fortwirk
Gewalt eingegangen ist, erscheint der Zusammenhan
.sittlicher' Verobjektivierung desselben schon im Nor
Daß Hegel diese Differenzierung nicht zum Probl
begründet, daß für ihn Vernunft immer dialektisch,
rohester Gewalt, sich durchsetzt und verwirklicht. H
Ethik, der im 19. und 20. Jahrhundert, in bürgerlich
ten, Weltgeltung erlangt, und der dem einzelnen nur in
Schuld und tätigen Widerstand gegen die Schuldabso
tionen und zumal der Spitzen-.Geist'-Objektivation .

2.3 Freud Freuds späte Metapsychologie und Kult


Ansprüche als Angriff auf Kants dualistische Autono
das identitätsphilosophische Gerüst der Hegeischen G
phie. Erfaßt Freuds Genetisierung des Geltungs-A
kategorischen Imperativ als undurchschaute Introjek
setzender Unterwerfungs- und Identifizierungsproz
strieren lassen, daß die jeweilige historische Realität
anderes ist als die Verkörperung des Begriffs, Schatt
wußter Konflikte und Tendenzen. Interessanteste Fa
lichen Gegenbewegung scheint mir Freuds Rehabiliti
Schuldgefühl wird zum „wichtigste(n) Problem der
Das Schuldgefühl bzw. Schuldbewußtsein, triebtheo
des ewigen Kampfes zwischen Eros und Thanatos, be
Freuds auf der Spannung zwischen Ich und Über-Ich
eine der Kritik des Über-Ichs entsprechende angstbes
(wie im übrigen auch phylogenetisch ist das Schuldg
Ödipus-Komplexes, wie Über-Ich, Gewissen und M
chend im Schuldgefühl) lebt nicht nur die Strafenergie
jenes kehrt darüber hinaus und unvermuteterweise d
gressivität des Ichs freigesetzte destruktive Energie
selbst: „Je mehr ein Mensch seine Aggression meist
Aggressionsneigung seines Ideals (sc. seines Über-Ich
Die Erkenntnis dieses Paradoxons wie des untr
Aggression und Schuld, letzterer Entstehung (gehem
Besetzung (umgewandte Destruktionsenergie) betref
psychoanalytisch Entscheidende. Was Freud

S. hierzu R. Heinz: Psychoanalyse undKantianismus, Würz


Studienausgabe, hgg. v. A. Mitscherlich et al., Frankf./M. 19
Vgl. Stud. III, 351 : „Der kategorische Imperativ Kants ist so
Ebda, 321.
Vgl. etwa Stud. IX, 250: „Die (sc. auswärts gewandte, kulturfeindliche) Aggression wird introjiziert,
verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene

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324 Hajo Schmidt

therapeutische(n) Reaktion"56 des Neurot


Normalmenschen: Es gibt ein — horrib
darf behaupten, „daß ein großes Stück d
müsse, weil die Entstehung des Gewisse
welcher dem Unbewußten angehört."57 S
zugleich als ein „System unbewußter M
die zu Mißerfolg führen, delinquentes V
etc."58. Ist das unbewußte Schuldgef
beurteilen wie das bewußte, so läßt es si
benennen und verstehen. Entscheidend a
larvierten Formen — als Unbehagen od
Leben wie die geschichtliche Entwicklu
Die Frontstellung der psychoanalytisc
schen Auffassungen von Schuld nimmt
bestreitet Freud eine notwendige Bin
Bewußtsein, die Transparenz der Schuldv
von Schuldgefühl und Handlungsakt bz
da gewußte „Reue"60). Anders als Kant v
das konkrete Objekt schuldgenerierend
ders als Hegel erkennt Freud in der Ges
sein, sondern im,Schuldunbewußtsein'61
len Mittel, dieses — womöglich zum bit
Natürlich erweist sich die Leistungsfä
ihrem ureigensten Gebiet der Beurteilun
ter Schuldgefühle, deren proprium bew
lich blieb: Wie kann das Schuldgefühl,
der sittlichen Verfassung eines Mensch
die gleichwohl keinen Zusammenbruch,
intakten Persönlichkeitsstruktur des N
dieser kein schuldbesessenes, moralisch
vor allem ein moralisch übersensibler
zugleich aber auch die Grenzen seiner P
Übermaß bewußter und unbewußter Ver
digend zu erklären, noch die selbstverst
in die gesellschaftliche Normalität als Zie

Ich gewendet. Dort wird sie von einem Ant


übrigen entgegenstellt und nun als .Gewissen '
ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden
Stud. 111,316.
Ebda, 318.
J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2, Frankf./M. 41980,458.
Stud. IX, 250; 254; 261 f.
Ebda, 262 f.
Zur AngemessenheitdiesesTerminus vgl. H. Lang,Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans
Grundlegung der Psychoanalyse, Frankf./M. 1986, 210 f.; sowie N. Bolz, Freud und der wahre
Glaube, in; Niemandsland H. 4,1 (1987), 124.
In beiderlei Betracht wäre die Normalitäts- (als Autonomie-)Verweigerung des Neurotikers zuletzt

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Versuch über,Schuld' 325

am Ende, ver-rückterweise, der Schuldkranke der


der nicht nur die destruktive Tendenz seiner verbotenen Wünsche in einer vom Normal
bewußtsein abgeblendeten Schärfe empfindet, sondern der zugleich — und damit
allerdings in ausweglose Lage geratend — der Doppelbödigkeit des Über-Ichs, dessen
schuldhaften Verstricktseins in eine vorgeblich nur entschuldende Normalität innewird?
Sollten wir tatsächlich, vor aller Prüfung, das Über-Ich resp. die von ihm repräsentier
ten Autoritäten, Institutionen und Verhältnisse von den verschuldenden Gewalt-Zügen
freisprechen, die dem hypermoralischen Adressaten seiner Beschuldigungen zum
unlösbaren Problem wurden? Es zeigt sich, daß Freud am Ende sich nur analytisch und
nicht kritisch verhält zum schuldtheoretischen Befund und dessen sachlichen Konditio
nen; daß nicht die Abstraktheit, sondern die Statik, die Immobilität des metapsycholo
gischen Rahmens Freuds Versuch defizitär erscheinen läßt.
Wenn hier das Schulddelir des Neurotikers als ohnmächtiger, da im Modus anhaf
tender Krankheit erfolgender, Protest gegen das unsensible Entschuldungswesen des
normalen Menschen (,1a faute à Kant') wie den Gewaltvorbehalt vorgeblich gewaltbe
reinigter Normalität (,1a faute à Hegel') geltend gemacht wird, dann unter Inanspruch
nahme weiterer Prämissen, die hier im einzelnen nicht zu entwickeln sind. Diese
verdanken sich wesentlich der Fort- und Umschreibung Freuds durch Rudolf Heinz, die
um die Aktualisierung der Freudschen Todestriebtheorie bemüht und von der Psycho
analysephilosophie Lacans und einiger dissidenter Lacaniens (Guattari, Irigaray) beein
flußt ist.63
Heinz' „Pathognostik", Einspruch zugleich gegen den psychoanalytischen Subjek
tivismus mitsamt seinem Anpassungswesen, der noch die radikalisierten Psychoanaly
seversionen M. Kleins und H. Kohuts beherrscht, wie Versuch einer gesellschaftstheo
retisch anspruchsvollen Refundierung der zentralen Freudschen Kategorien, zielt auf
das Objektivitätsfundament der neurotischen Symptomatik. Der Angst- und Schuld
kranke erliegt nicht mehr der Gewalt und dem Übermaß seiner subjektiv-projektiven
Zutaten zu einer unschuldigen Realität, sondern der lebenspraktischen Aporie einer
(wissenspsychologisch schwer zu charakterisierenden) ihm eigenen Vor-Erkenntnis:
Erkenntnis der Identität seiner eigenen mit der die gesellschaftliche Reproduktion
durchherrschenden Extremgewalt, Erkenntnis-Kurzschluß im Zusammenfall von indi
viduellem (Mikro-) und gesellschaftlichem (Makro-)Gewalt-Unbewußtem — schier
aussichtslos, da jeden festen qua nichtinfizierten Halt beseitigend. Grundlage dieser
entscheidenden Perspektivänderung ist eine Neuinterpretation des Ödipus-Komplexes,
dessen vorgeblicher „Untergang"64 sich als ebenso unhaltbar erweist wie dessen rein

nichts als unangemessen, die Adaptions- und Entschuldungskompetenz der gesellschaftlichen


Realität bliebe außer Frage und gölte uneingeschränkt (Freuds Subjektivismus, s.u. die Kritik von
Heinz).
Wenngleich Heinz bisher keine eigene Schuldphilosophie im engeren Sinne vorgelegt hat, finden sich
zentrale Implikate einer solchen in zahlreichen philosophie- und psychoanalysekritischen
Untersuchungen entfaltet. Verwiesen sei insbesondere auf Heinz' Beiträge in: Die Eule,
Diskussionsforum für rationalitätsgenealogische, insbesondere feministische Theorie, (Münster,
dannLollar) 1 (1979) ff., sowie zuletzt: Pathognostische Studien I, II,Essen 1986f.—Arbeiten,deren
—der Entwicklung des Gedankens wie dem Niveau der abgearbeiteten Referenztheorien (Kritische
Theorie, .Poststrukturalismus') geschuldete — hermetische Sprache dem Leser eine einläßliche
Befassung abverlangt.
Vgl. etwa Freuds „Der Untergang des Ödipuskomplexes" (1924), Stud. V, 243—251.

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326 Hajo Schmidt

familiale Verortung. Reflektiert der ps


pus-Komplexes, fernab aller familialen
tingenzbeseitigung, eine grenzenlose Se
ist überhaupt nicht einzusehen, warum d
Rahmen, sich auflösen sollte in eine
Schuldbilanzen. Vielmehr dilatiert sie,
gen und Selbstobjektivationen des Mens
die, als gesellschaftlich sanktionierte (a
ne), dem nichtaufgeschreckten .Norma
verbürgen.
Vindizieren wir in dieser Perspektive,
Schuldproblem die ganze ihm zukomme
dungsleidenschaft des Menschen fort b
Gewalt und — nach Ablösung des famil
Introjizierung der Elternimagines, der A
dabei anfallende Schuld. Unglückliche
Gewissen, als ,Reue' — nur dann bewuß
offiziellen (Über-Ich-)Normen entsprin
des im Über-Ich eingelagerten phylogen
der von ihm repräsentierten Gewalten, a
gelten, bieten aber eben deswegen de
gungsmöglichkeiten. Hier also fallen, ve
Schuld an: Der soziale Reproduktionspro
Verschuldungs- und Verdrängungsvorg
larvierter zugänglich ist und nun, vero
imponiert: die technische Apokalypse a

3. Systematik: Rationalität, Gewalt und

Fragen wir nun, was die bisherigen Aus


und -kritische Auffassung von Schuld
chen Subjekts. Ich versuche, das im his
Genommene systematisch zu bündeln un
Schuld, Gewalt und Rationalität resp. Ve
Schuld entsteht, so denke ich, im Aner
ge Leistungen Dritter einerseits, durch
kung einseitig gegen leidensfähige Wes
sich um bewußte Akte moralisch zurech
Schuldgenerierungsprozesse interpretier
ler (in einem Ethos) oder universell (eth
heischender Normen. Schuld wird abgea
wußtmachung, Schuldanerkenntnis und
wollter Gewalt und/oder als versuchte
sich formulieren als Forderungen einer
Vernunft Einer Vernunft, die sich ihre
durch Handeln und Verhalten anderer w
hergestellte Schuld, als Binnenaspekt
ebensowenig beseitigen wie deren Auße
tigkeit.

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Versuch über,Schuld' 327

Es wurde deutlich, daß die neuzeitliche Auszeichnu


der reinen praktischen Vernunft (als dieser Selbstref
humaniora, nur zu leicht verdeckt, daß durch diese
oder bedeutungslos, sondern auf spezifische Weise
erzeugt wird. Ein in modernen philosophischen, pol
und Diskussionen—aufgrund der faktischen und/od
des autonomen, des mündigen, verantwortlichen un
meist unbeachteter oder verdrängter allfälliger Zus
Straf- bzw. Opferbedürfnis wird sichtbar. Der Me
dung wie durch seine Einpassung in eine rationalität
sättigte67 Normalität, durch Handeln wie durch N
Sozialität bzw. Soziabilität konstituierenden und da
nissen. Diese sind äußerst unterschiedlicher, von der
ihrer soziokulturellen und politischen Einfassun
Schuldverhältnisse).
Die Ausbreitung der neuzeitlichen Rationalität und
ihren ungeheuren Gewaltpotentialen und Gewaltent
Sinn subjektiven Handelns, begreifen als Schuldverd
mißlingendes) Entschuldungsangebot. Wenn Rati
beseitigen, sondern im Gegenteil neue gar erzeugen
ganze Schuld? Es zeigt sich nun, daß institutionalisie
führung eben doch auch entschulden und Schuld (pa
nämlich spezifische Opfer verlangen resp. Strafen v
Hier ist nicht nur der Moralproduktion der prakti
sittlich verobjektivierenden absoluten Geistes H
scheint die in alle kulturellen Objektivationen eing
(Freud) bzw. die einseitig gerichtete Gewalt der Men
Verfassung uno actu entschuldet. Denn einmal hebt
litätsanspruch und Vernunftsbezug (nämlich: disku
sein), die besonderen Handlungsmotive und -motiv

.Rationale Gesinnung' bzw. .rationale Lebensführung'


institutionalisierten Rationalisierungsschübe in Ökono
(Politik).
Natürlich soll nicht behauptet werden, daß diese Subjekthypertrophie die neuzeitliche, i.w.S.
praktische Philosophie einzig kennzeichne, schon das hier skizzierte Beispiel Hegel spricht da eine
andere Sprache. Andererseits läßt sich nicht verkennen, daß gerade das Selbstbewußtsein des
modernen Menschen erschütternde Konzeptionen ihre Beachtung nicht zuletzt der versprochenen
Restitution eben des Subjekts verdanken, dessen Anmaßungen und Verblendungen sie soeben
aufgezeigt hatten; das von den dunklen Kräften des „Es" befreite „Ich" der Freudschen Ich
Psychologie ist hier nicht weniger einschlägig als Marxens postrevolutionäres Subjekt im „Reich der
Freiheit". Auch ist daran zu erinnern, daß aktuelle theoretische oder ideologische Stilisierungen des
Subjekts ihr reales Substrat an Verhältnissen haben, in denen nicht nur jeder politische Wahlakt,
sondern tendenziell bereits jeder Konsumakt als Ausweis selbstzweckhafter Subjektautonomie
figuriert.
Insofern nämlich rationales Handeln grundsätzlich eingreift in bestehende Natur-, Geschichts- und
geistige Zusammenhänge. (Selbst das 3egreifen* des Begriffs übt Gewalt, indem es trennt und
ausschließt) Sicherlich läßt sich Gewalt rechtfertigen, nicht jedoch durch Verschweigen ihres
potentiellen oder faktischen Schuldaspekts.

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328 Hajo Schmidt

mein anerkannte und verbindliche Eben


rechtfertigungsfähigen) Subjektivismu
neuzeitlichen Rationalitätsverfassung e
wohnen. Zu denken ist hier zunächst und
Menschen an die Anforderungen seiner
Dabei aber bleibt es nicht: Wie es (bishe
gegeben hat, so gibt es keinen Technikf
Demokratie ohne gesteigerte Massenopf
Drittens nun, und das ist von fundame
Entschuldungskompetenz von Rationali
Beziehung zwischen Gewalt und Schuld
Gewalt schafft Schuld—Gewalt dient de
strieren die beiden Institutionen, die al
modernen Menschen gelten können: die
formulieren nicht nur je spezifische Opf
auf Opfer- resp. ungeheuerliche Gewalt-
denen Ebenen grenzenloses Gewaltm
dieser ihrer (sie offensichtlich untersc
tungen, muß die neuzeitliche Rationalit
Vernunft-Reflex, aufgrund ihrer souv
Natur und der damit gesetzten Gewalte
stanz der Neuzeit angesehen werden.
Hielten die hier vorgetragenen Gedan
Schuld und Gewalt einer historisch ans
tische Voraussetzungen entfaltenden Ü
zunächst abendlandspezifische, nun mu
und souveräne Vernunft sich als weder
überschießenden Verheißungen inne z
theoretisch zu relativieren, erscheint s
dernder Schuldabtrag Praktischer Philo
nunftskritik nicht, ,irrationalistisch', se
macht dagegen, ob diese Kritik auch pra
können—unausgemacht solange, als frag
und soziopolitischen Mächte sich ihr we

Den diesbetreffenden fundamentalen Untersc


haben so unterschiedliche Forscher wie M. We
{La part maudite, Paris 21967) eindrucksvoll h
Dürften sich die beiden ersten Behauptung
hinsichtlich der dritten zu erinnern an den
Verfassungen und dem Aufkommen von
Jahrhundert zunächst in Europa, dann weltwe
in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen
Kriege, das schließt die Entwicklung (vorl
Bevölkerung zum wechselseitigen Drohpoten

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Versuch über,Schuld' 329

4. Anwendungen

Es mag für einen Versuch wie den vorliegenden, d


hinwirft, jedenfalls nur begrenzt entwickeln und a
rechnen kann, angemessen und erlaubt sein, einige
seine analytische Fruchtbarkeit und argumentative
Was zunächst das Problem einer mittlerweile ma
ral (im räumlichen wie im zeitlichen Sinne verst
praktische Bedeutung von Verschuldung und Schuld
phie wohl Wichtiges zur Erklärung ihrer Entstehung
beitragen können. Galt eine solche Femmoral v
unwirklich-utopisch, gehörte sie für einen restaur
gelebte in den Bereich äußerst problematischer „Ela
als reflektierte in den „der Versuche und Irrtümer"
Schulz gelieferte Erklärung, ein universelles Veran
sches Handlungsäquivalent" für die „zunächst auf t
Weltverzahnung"72, eher diffus. Ein sich als morali
Schicksal entfernt lebender Menschen oder künftig
siges Vernunftskomplement zum Vorgang wisse
ökonomischer Weltverbindung und -Verfügung. E
moralisch-politischer Reflex durch ihre Taten und
Personengruppen verschuldeter sensibler Zeitgenos
heißen, weil sie das Angebot moralischer Entlastung
verzichtbare) Arbeitsteilung in ihrer Gesellschaft
ständnis (als einer „humanen" und „gerechten") wi
bel empfinden. Ihr Schuldgefühl verlangt nicht nur
der Folge notwendig, via Infragestellung der vorgeb
erneut verschuldenden Institutionen und Rationalpr
kritik.
Auch für die einst von Habermas angeregte73 Ref
tologisch noch geschichtsmetaphysisch diskreditie
orientierten Historischen Materialismus scheinen m
von Nutzen. Es dürfte kaum jemanden überraschen
Philosophie-Lexika dem Schuldbegriff keinen e
Hinsicht pflegen sehr unterschiedliche marxistische
entzauberten, aber (eben dadurch) autonomen S
gezeigt, entscheidende Bereiche des individuellen L
Entwicklung aus. Die hier vorgelegte Konzeption kor
primär, aber nicht ausschließlich aus der Sicht sub
den Materialismus einer Auffassung von Geschicht
verständlich zu machen sucht durch die Zurechnung
essen an kollektive Handlungssubjekte. Verläuft

70 Moral und Hypermoral. eine pluralistische Ethik, Frankf./


71 Ebda, 56.
72 AaO. (Fn. 29) 886 Anm. 10, auch ebda, 751.
73 Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Fran

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330 Hajo Schmidt

Interessenbegriffs, wird die Frage una


teten Klassen so wenig interessenadä
Interessen häufig genug nicht einmal
Hier setzt dann die marxistische Ideol
falschen Bewußtsein" etc. — Theorien
rischer und prognostischer Kraft die
verstattet wie an deren schwacher Pra
Unterdrückten und Gebeutelten (auch) d
weil sie, indem sie sich .rational' verha
subjektiven Bedürfnissen nachkomm
(Lohn, Subsistenz) zugleich ihre Selbst
Entschuldungsverlangen befriedigen. S
gesellschaftstheoretisch wie praxisphil
zu einem, wenn nicht dem entscheiden
nomisch anspruchsvoll sezierten „Basis
gar zur .Widerspiegelung' erklärten) „

Anschrift des Autors: Privatdozent Dr. Hajo S


Sozialwissenschaften, Feithstraße 140/AVZ

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