Sie sind auf Seite 1von 9

DZPhil 58 (2010) 1 161

handeln würde, konstituiert ist: Man handelt moralisch, um „den moralischen Sanktionen zu
entgehen“ (306). Leitend ist dabei der „Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz“ durch
andere wie auch sich selbst, vermittels der bereits erwähnten Internalisierung. Aber auch hier
gilt, dass diese Erklärung vom falschen Ende her verfährt: Die Moral gilt umwillen derer,
die ohne ihren Schutz unmoralisch behandelt würden, darin liegt ihre Geltung und Norma­
tivität – als begründete Erwartung an eine jede Person, eine jede andere zu achten und zu
schonen. Der Rückbezug auf sich selbst und negative Konsequenzen einer Verletzung ist
demgegenüber sekundär und konstituiert nicht die moralische Normativität. Eine solche Per­
spektive sieht uns immer noch als Unterworfene eines Gesetzes einer mächtigen Instanz, die
primär eine drohende ist. Hier verbindet sich eine traditionelle Moralvorstellung mit einem
empiristischen Verständnis von Normativität, das davon ausgeht, dass es eines bestimmten
‚natürlichen Griffs‘ in das menschliche Getriebe bedarf, um von Normativität zu sprechen.
Diesen aber gibt es in der Art, wie Stemmer ihn sich vorstellt, nicht.

Normativität, Ontologie, Gründe

Antworten auf Michael Esfeld, Thomas Schmidt, Marco Iorio


und Rainer Forst

Von PETER STEMMER (Konstanz)

In dem Beitrag von Michael Esfeld sehe ich einen erhellenden und grundsätzlich zustim­
menden Kommentar zu der Ontologie des Normativen, wie ich sie in Normativität entwickelt
habe. Esfeld teilt die naturalistische Prämisse und scheint sich von einer stärkeren Berück­
sichtigung der Diskussion über die Natur des Mentalen weitere Fortschritte für die Ontolo­
gie des Normativen zu versprechen. Er stellt allerdings die – vermutlich mit einiger Skepsis
unterlegte – Frage, ob die vorgeschlagene Konzeption der Normativität wirklich allen For­
men des Normativen gerecht wird. Gibt es nicht auch Formen von Normativität, die nicht aus
dem Zusammenkommen der beiden konstitutiven Elemente: eines Müssens der notwendigen
Bedingung und eines Wollens entstehen? Ich nehme an, dass diese Frage besonders auf das
zweite Element, das Wollen, zielt. Ich habe in Normativität gewiss nicht alle Phänomene
behandelt, von denen es heißt, sie seien normativ. Esfeld verweist auf biologische Funktio­
nen. Von ihnen wird oft gesagt, sie seien normativ, und falls das so sein sollte, wäre das, so die
Annahme, eine wollensunabhängige, ontologisch objektive Art der Normativität. Hier wäre
meines Erachtens zunächst die Prämisse dieser Schlussfolgerung zu prüfen und zu fragen, ob
biologische Funktionen tatsächlich von uns unabhängige Phänomene in der Natur sind, wie
es die Biologie und unsere normale Art zu sprechen selbstverständlich voraussetzen. Oder
ob es Funktionen nur im Kontext einer Teleologie gibt, die wir der Natur und ihren kausalen
Prozessen zuvor imponiert haben. Und dann wäre zu klären, in welchem Sinn in Bezug auf
Funktionen von „normativ“ die Rede ist. Das Wort geht vielen Philosophen sehr leicht über
die Lippen, sein Bedeutungsgehalt bleibt dabei aber meistens vage, fast nie wird deutlich
gemacht, was damit gemeint ist. Nicht überall, wo von einem Müssen, einem Sollen, einem
Gut- oder Schlechtsein die Rede ist, liegt Normativität vor. Ein Herz oder eine Niere sind

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
162 Peter Stemmer, Normativität, Ontologie, Gründe

sicher keine Adressaten eines normativen Müssens. Normativität ist eine Eigenschaft von
Gründen, und Adressaten eines normativen Müssens können nur Wesen sein, die überlegen
können und sich in ihren Überlegungen auf das Pro und Contra von Gründen beziehen. Es
deutet also einiges darauf hin, dass, wenn gesagt wird, biologische Funktionen seien „norma­
tiv“, von einem Phänomen ganz anderer Art gesprochen wird.
Esfeld verweist des Weiteren darauf, dass nicht nur das Handeln, sondern auch das Wollen
Gegenstand des Überlegens und von Pro- und Contra-Gründen sein kann. Natürlich ist es so.
Das Wollen ist nicht nur ein Konstituens des normativen Müssens, es kann auch Gegenstand
eines solchen Müssens sein. Wir können nicht nur Gründe haben, eine Handlung zu tun oder
nicht zu tun, sondern auch Gründe, ein vorhandenes Wollen nicht handlungsleitend werden
zu lassen oder ein nicht vorhandenes Wollen auszubilden. Wir können Gründe haben, ein
Wollen zu suspendieren, es fallen zu lassen, uns langsam von ihm zu lösen. Die entscheidende
Frage lautet, ob eine solche Distanzierung vom eigenen Wollen letzten Endes immer relativ
auf ein anderes Wollen erfolgt oder ob es andere Instanzen gibt, die uns zu einem solchen
Zurücktreten vom eigenen Wollen nötigen. Generiert das Überlegen (oder wenn man so will:
die Vernunft) aus sich selbst heraus Kriterien, relativ auf die man ein faktisches Wollen sus­
pendieren muss? Oder gibt es so etwas wie ontologisch objektive Werte, relativ auf die man
ein Wollen aufgeben muss? Oder gibt es ganz normale, ontologisch unverdächtige Tatsachen,
die uns – ohne Bezug auf ein Wollen – sagen, dass wir bestimmte Dinge nicht wollen können?
Meines Erachtens gibt es solche externen, also wollensunabhängigen Gründe nicht, in keiner
der genannten Varianten. Ein Grund, das eigene Wollen zu suspendieren, muss deshalb, wie
ich meine, selbst wollensrelativ sein. Die Normativität ist auch hier auf ein Wollen bezogen.
Wir können nicht aus dem Netz unseres Wollens herausspringen, hinein in eine höhere Welt
des an sich Vernünftigen oder des an sich Wertvollen. Dies anzunehmen, bedeutet aber nicht,
die Willensfreiheit oder die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu leugnen.

Thomas Schmidt stößt sich, anders als Esfeld, an der naturalistischen Prämisse meiner Über­
legungen, an der Annahme, dass die Welt vollständig aus materiellen Teilchen und zwischen
ihnen wirkenden Kräften besteht. Und an der Vorstellung, dass wir ausgehend von dieser
Annahme versuchen sollten, die normative Wirklichkeit zu verstehen. Wie kommt Normati­
vität in ein Universum dieser Art? Aus welchen Bausteinen entsteht sie, was sind die Konsti­
tuentien ihrer Existenz? Die eigentliche Intention Schmidts ist aber eine Kritik an der onto­
logischen Fragestellung überhaupt: Er plädiert dafür, das Phänomen der Normativität nicht
ontologisch anzugehen, sondern – zunächst – sprachphilosophisch oder semantisch. Man soll
die Semantik normativer Urteile, ihren Gebrauch und ihre inferentiellen Verbindungen unter­
suchen – und sich dabei möglichst von allen ontologischen Fragen fernhalten.
Zum ersten Punkt: Ich meine, wir müssen, wenn wir uns ein wissenschaftlich informiertes
und aufgeklärtes Bild von der Welt machen wollen, danach streben, zu verstehen, wie aus
einer Welt der Teilchen, die kein Leben kennt, die keinen Geist kennt, die keine Zwecke,
keine Bedeutung, keine Gründe, kein gut und schlecht und keinerlei normative Phänomene
kennt, die Welt entstehen konnte, in der es Leben gibt, in der es Geist und Sprache gibt, in
der es Zwecke, gut und schlecht und auch Normativität gibt. Innerhalb dieser Geschichte
sind einzelne Entwicklungsschritte offenbar von besonderem Interesse: die Entstehung des
Lebens, die Entstehung des Geistes, die Entstehung der Sprache. Der Entstehung höherer
mentaler Fähigkeiten kommt, wie es scheint, eine Schlüsselstellung zu, sie sind die Brücke zu
völlig neuen Phänomenen wie Zwecken, Bedeutungen und Normativität. Diese Phänomene
haben alle eine subjektive Ontologie, das heißt, ihre Existenz ist abhängig vom mentalen
Zugriff der Menschen (und vielleicht auch anderer Lebewesen) auf die Welt. Unabhängig von

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
DZPhil 58 (2010) 1 163

den Menschen (und möglicherweise anderen Lebewesen mit entwickelten mentalen Fähig­
keiten) kann es diese Phänomene nicht geben. Eine umfassende Theorie müsste verschie­
dene Entwicklungsstufen mentaler Fähigkeiten mit der Existenz verschiedener Phänomene
mit subjektiver Ontologie korrelieren können. Blickt man in dieser Weise auf die Welt, sieht
man etwas sehr Wichtiges: Lebendiges entsteht aus nicht-lebendigen Elementen, und genauso
entsteht Geistiges aus nicht-geistigen Elementen. Vielleicht kann das schon auf die eben­
so wichtige Einsicht vorbereiten, dass auch das Normative aus nicht-normativen Elementen
entsteht. Es sind diese – jetzt wenigstens angedeuteten – Überlegungen, die den Rahmen für
meine Theorie der normativen Wirklichkeit bilden.
Schmidt stützt seine anti-naturalistischen Vorbehalte allein mit einem Hinweis auf die
Ontologie mathematischer Gegenstände. Das scheint mir nicht viel beizutragen. Zahlen kön­
nen, so Schmidt, „kaum sinnvoll als Gegenstände in Raum und Zeit aufgefasst werden“ (151).
Wer hätte das je behauptet? Wenn es eine Implikation der naturalistischen Prämisse sein soll,
dass Zahlen und andere mathematische Gegenstände als Dinge in Raum und Zeit aufgefasst
werden müssen, wäre das ein gewaltiges Missverständnis. Ich wünschte, ich wüsste mehr
über die Ontologie mathematischer Gegenstände zu sagen. Aber es scheint mir naheliegend
zu sein, dass Gegenstände dieser Art eine subjektive Ontologie haben. In einer Welt ohne
Menschen und ihre mentalen Fähigkeiten würde es keine Zahlen geben.
Schmidt will das Phänomen des Normativen, wie gesagt, durch semantische Analysen und
nicht ontologisch aufklären. Das ist, so nötig semantische Analysen sind, in meinen Augen
aussichtslos. Eine Aussage wie: „In Deutschland muss man bei Rot an der Ampel anhalten“
kann offensichtlich wahr oder falsch sein. Auch die Aussage: „Wenn Sie bei dieser Erkran­
kung eine Heilungschance haben wollen, müssen Sie sich einer Chemotherapie unterziehen“
kann wahr oder falsch sein. Ebenso die Aussage: „Allein die Direktoren sind befugt, den
Reaktorraum zu betreten.“ Eine semantische Analyse ohne „ein substanzielles Wahrheitsprä­
dikat“ (152), für die Schmidt votiert, ist hier also gar keine Option. Wenn es so ist, stellt sich
die Frage, wodurch Aussagen dieser Art wahr sind und was die Existenzbedingungen für das
Müssen sind, von dem sie sprechen. Und wie kommt es, dass die Tatsache, dass man bei Rot
anhalten muss, dazu führt, dass die Leute in der Regel tatsächlich anhalten? Das Müssen ist
offensichtlich mit einem Handlungsdruck verbunden. Wie aber kommt es zu diesem Hand­
lungsdruck, was konstituiert ihn? Mit all diesen Fragen ist man bereits in der Ontologie, und
es ist nicht zu sehen, wie man sich von ihnen fernhalten kann und warum man das tun sollte.
Genauso mit einer Befugnis, einem Recht oder einer Pflicht. Man kann eine Befugnis
nicht sehen, man kann sie nicht in die Hand nehmen. Dennoch gibt es sie. Aber was ist
ihre – anscheinend rätselhafte – Seinsweise? Wie kommt sie in die Welt? Worin unterscheidet
sich eine Welt, in der eine Person die Befugnis hat, x zu tun, von einer anderen Welt, in der
sie diese Befugnis nicht hat? Wodurch unterscheiden sich diese beiden Welten konkret? Was
gibt es in der einen, was in der anderen fehlt? Oder nehmen wir die Aussage, dass jemand
einen Grund hat, ein Medikament einzunehmen. Auch diese Aussage kann offenbar wahr
oder falsch sein. Ein Ding welcher Art ist aber ein Grund? Wenn man aus dem Fenster schaut,
sieht man allerlei, aber keinen Grund. Und man kann auf diese Weise lange suchen, man wird
keinen Grund finden. Von welcher Seinsweise also sind Gründe?
Schmidt glaubt, meine Konzeption des Normativen habe „unerwünschte Implikationen“
(aus denen einige Zeilen weiter unversehens „unplausible“ Implikationen werden; vgl. 150).
Die eine, die er nennt, liegt darin, dass es kein wollensunabhängiges Müssen, also kein kate­
gorisches Müssen gibt, jedes Müssen vielmehr als eines seiner Konstituentien ein Wollen
enthält und zwar ein Wollen dessen, der muss. Für wen, so möchte man fragen, ist dieses
Ergebnis unerwünscht? Aber tatsächlich ist „erwünscht oder unerwünscht?“ nicht die rich­

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
164 Peter Stemmer, Normativität, Ontologie, Gründe

tige Frage, es geht darum, ob es ein wollensunabhängiges Müssen gibt oder ob wir es hier
mit einem philosophischen Konstrukt zu tun haben. Dieser Frage wird man sich nur nähern
können, wenn man untersucht, was generell ein normatives Müssen konstituiert, was die Exis­
tenzbedingungen eines solchen Müssens sind. Und damit ist man wieder in der Ontologie. Im
Übrigen ist, wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass es ein wollensunabhängiges normatives
Müssen nicht geben kann, dieser Befund nicht unerwünscht. Unerwünscht ist dann die gegen­
teilige Auffassung. Denn sie ist falsch.

Marco Iorio diskutiert drei der vier Merkmale, durch die ich das normative Müssen zu
bestimmen versuche: dass dieses Müssen mit einem Handlungsdruck verbunden ist, dass es
eine subjektive Ontologie hat und dass es nicht determinierend ist. Diese drei Bestimmungen
leisten, so Iorio, nicht, was sie leisten sollen. Mit jeder stimme etwas nicht.
Die Rede vom Handlungsdruck sei irreführend und könne das Phänomen des normativen
Müssens nicht aufhellen. Doch warum? Sie bringt meines Erachtens sehr gut zum Ausdruck,
was wir meinen, wenn wir sagen, etwas sei normativ und speziell ein Müssen sei normativ.
Ich nehme sogar an, dass wir auf diese Ausdrucksweise gar nicht verzichten können. Unter­
scheiden wir zwei Situationen. In Situation 1 ist es eine Tatsache, dass Person a dafür, einen
Marathon laufen zu können, trainieren muss. a hat allerdings überhaupt nicht im Sinn, einen
Marathon zu laufen. In Situation 2 ist alles wie in Situation 1, nur dass a jetzt einen Marathon
laufen will. Was bedeutet diese Veränderung für a? In Situation 1, so kann man sagen, berührt
ihn die Tatsache, dass er trainieren muss, gar nicht, sie geht ihn nichts an. Während sie ihn
in Situation 2 etwas angeht, sie hat jetzt für ihn eine Bedeutung. Genauer ist es, zu sagen,
das Trainieren-Müssen werde durch das Hinzukommen des Wollens zu einem normativen
Müssen. Zu einem Müssen also, wie wir es von einer Norm kennen. Eine Norm bedeutet,
dass man etwas tun muss, und dieses Müssen ist eines, das die Adressaten der Norm nicht nur
etwas angeht, sondern sie nötigt, sich normkonform zu verhalten. Sagt man, das Trainieren-
Müssen sei in Situation 2 ein normatives Müssen, gibt man also zu verstehen, dass es einen
nötigenden Charakter hat. Und damit ist man schon bei der Rede vom Handlungsdruck. a
steht in Situation 2 ohne Zweifel unter einem Handlungsdruck, er steht unter dem Druck,
zu trainieren. Was diesen Druck konstituiert, ist nicht schwer zu sagen. Wenn a anders als
„gemusst“ handelt, also nicht trainiert, muss er eine negative Konsequenz hinnehmen: Er
erreicht nicht, was er erreichen will. Eben darin liegt der Unterschied zwischen Situation 1 und
Situation 2: In Situation 2 steht das Trainieren-Müssen in einem Kontext, der bewirkt, dass,
wer anders als „gemusst“ handelt, eine negative Konsequenz hinnehmen muss. In Situation 1
gibt es diesen Kontext nicht, und deshalb passiert nichts Negatives, wenn a nicht trainiert.
Das Müssen, bei dem, wenn man anders handelt, etwas Negatives passiert, nennen wir „nor­
mativ“, und genau dieses Müssen ist mit einem Handlungsdruck verbunden. Wobei, das sei
der Deutlichkeit halber betont, das Trainieren-Müssen in Situation 1 und Situation 2 dasselbe
Müssen der notwendigen Bedingung ist. – Man kann also, anders als Iorio sagt, leicht verste­
hen, warum die Kombination eines Müssens der notwendigen Bedingung und eines Wollens
einen Handlungsdruck erzeugt. Und der Handlungsdruck ist, anders als Iorio sagt, sehr wohl
ein Merkmal, durch das sich das normative Müssen vom nicht-normativen Müssen unter­
scheidet.
Iorio attackiert auch die Unterscheidung zwischen der ontologisch objektiven und der
ontologisch subjektiven Wirklichkeit, wie sie John Searle gemacht hat und wie ich sie für
das Verständnis der normativen Wirklichkeit eingesetzt habe. Zunächst scheint er nur sagen
zu wollen, die Unterscheidung sei möglich, aber nicht besonders hilfreich, dann spricht er
aber von einem „anthropozentrischen Fehlschluss“, davon, dass die Unterscheidung „Aus­

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
DZPhil 58 (2010) 1 165

druck dualistischen Denkens“ und das Konzept der subjektiven Ontologie „dubios“ sei (156).
Diese Kritik geht meines Erachtens an der Sache vorbei, und sie verkennt ganz die Bedeutung
und das Gewicht der Unterscheidung von ontologisch objektiver und ontologisch subjektiver
Wirklichkeit. Die Unterscheidung impliziert nicht, wie Iorio meint, dass der Geist auf eine
neue Weise der Natur enthoben und ihr entgegengestellt wird. Das Mentale ist Teil der Natur,
nicht ihr Gegenüber. Aber mit dem Geist, das ist der entscheidende Punkt, entstehen völlig
neue Phänomene, wie zum Beispiel Zwecke, Gründe und Bedeutungen. In einer Welt ohne
Geist kann es diese Dinge nicht geben. Bedeutungen etwa kann es nur geben, wenn es Lebe­
wesen gibt, die in der Lage sind, physikalischen Gegenständen wie Lauten und Lautfolgen
Funktionen zuzuweisen. Es ist offenkundig, dass Bedeutungen, Gründe, Pflichten und Befug­
nisse eine andere Ontologie haben als Sterne, Erdteile, Berge und Lebewesen. Und wenn es
so ist, muss man den Unterschied auch begrifflich fassen. Wenn wir die Welt verstehen wollen
und die Art und Weise, wie die Menschen sich auf sie beziehen, scheint mir die Unterschei­
dung von Dingen mit objektiver und Dingen mit subjektiver Ontologie deshalb zentral zu
sein. Und die Einsicht, dass das normative Müssen wie alles Normative ontologisch subjektiv
ist, ist keineswegs trivial. Nicht umsonst zieht sie so starke Widerstände auf sich. Wer glaubt,
das Normative sei ontologisch objektiv, hat in meinen Augen ein falsches, in jedem Fall aber
ein ganz anderes Bild von der Welt.
Mit einem Dualismus hat die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Ontologie
nichts zu tun. Denn man muss zu den materiellen Teilchen, aus denen das Universum besteht,
nichts hinzutun, um die mentalen Fähigkeiten, die einige Lebewesen besitzen, und die durch
sie erst möglich werdende ontologisch subjektive Wirklichkeit erklären zu können. Mit dieser
Unterscheidung gibt man also nicht eine monistische Konzeption auf, man schafft mit ihr
vielmehr erst – und darin liegt ihre Bedeutung – die Voraussetzung für eine erfolgverspre­
chende Version einer solchen Konzeption. Für eine Version nämlich, die das Offenkundige:
dass es eine normative Wirklichkeit gibt, zu verstehen vermag, ohne ein ontologisch abge­
trenntes, eigenes Reich des Normativen anzunehmen und ohne das Normative zu einer bloßen
Fiktion zu erklären, von der man sich befreien sollte.
Iorio kritisiert schließlich die Annahme, das normative Müssen sei nicht determinierend.
Er verbindet mit dieser Kritik offenbar sehr viel weitergehende Vorbehalte. So sagt er, dass
das normative Müssen, von dem ich spreche und das er das „vermeintlich normative Müs­
sen“ nennt, „vielleicht […] nicht sonderlich viel mit Normativität zu tun“ habe und dass ich
mich „vielleicht […] zu sehr auf ein randständiges Phänomen fixiert“ habe (ebd.). Das wird
nicht weiter ausgeführt, und ich kann deshalb nichts dazu sagen. Unfraglich aber ist, dass ein
Stein, den ich loslasse, auf Grund von Naturgesetzen nach unten fallen muss, und es nicht
sein kann, dass er nicht nach unten fällt. Und dass ein Stück Zucker, das ich ins Wasser tue,
sich auflösen muss, und es nicht sein kann, dass es sich nicht auflöst. Und unfraglich ist zum
anderen, dass ich, wenn ich bei Rot anhalten muss, dennoch durchfahren kann, und dass ich
ein Versprechen, obwohl ich es halten muss, dennoch brechen kann. Das normative Müssen
lässt das Anders-Handeln zu. Das ist eines seiner wesentlichen Merkmale. Und eine Theorie
der Normativität muss dieses offenkundige Phänomen erklären können. Man kann die Erklä­
rung, die ich in Normativität gegeben habe, falsch finden. Aber dass das normative Müssen
nicht determinierend ist, kann man, meine ich, nicht bestreiten.

Rainer Forst wirft mehr Einwände auf, als ich im Rahmen dieser Diskussion beantworten
kann. Die Einwände, die die Ontologie des Normativen betreffen, lasse ich beiseite. In den
Antworten auf Schmidt und Iorio habe ich dazu einige Bemerkungen gemacht. Forst fragt als
Erstes wie Esfeld nach der Normativität, die sich nicht auf das Handeln, sondern auf das Wol­

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
166 Peter Stemmer, Normativität, Ontologie, Gründe

len bezieht. Ich habe in meiner Antwort auf Esfeld dazu auch bereits etwas gesagt. Forst geht
es darum, das Wollen eines anderen im Rekurs auf Gründe zu kritisieren, die von jeglichem
Wollen des anderen unabhängig sind, aber dennoch Gründe für ihn sind. Es geht also um eine
Kritik durch externe Gründe. Wie schon gesagt, bin ich der Meinung, dass es solche Grün­
de nicht gibt. Wer das Gegenteil annimmt, müsste, so meine ich, Auskunft darüber geben,
welche Umstände (ohne Wollensbezug) es sind, die den begrifflichen „Hut“ eines Grundes
verdienen, weil sie für ein Handeln oder Wollen sprechen und zu einem entsprechenden Ver­
halten zu motivieren vermögen. Auch wäre zu wünschen, dass, wer eine Kritik anderer mittels
externer Gründe intendiert, zumindest als Mahnung zur Vorsicht B. Williams’ Bemerkung im
Ohr hat, dass eine solche Kritik nur ein „Bluff“ sei. Weil man auf diese Weise suggeriert, man
habe etwas Substanzielles in der Hand, an dem sich das Wollen der anderen als unbegründet
erweist, ohne dass es tatsächlich so ist. Man macht sich stärker, als man ist, und gibt persön­
liche Präferenzen, Wertvorstellungen und Ideale oder metaphysische, weltanschauliche und
religiöse Überzeugungen als etwas aus, was auch für den anderen verbindlich ist. Forst weckt
diesen Verdacht, wenn er davon spricht, wie in dem Beispielfall, den er schildert, der, der
schon nachgedacht hat, den in seinem Wollen kritisiert, der „noch nicht recht“ nachgedacht
hat und deshalb die gegen ihn vorliegenden Gründe „(noch) nicht“ sieht (158). Was, wenn
der Kritisierte darauf bestünde, dass er diese externen Gründe nicht nur nicht sieht, sondern
dass es sie gar nicht gibt? Wie immer, die entscheidende Frage ist hier, ob sich die Vorstellung
externer Gründe verständlich machen lässt oder nicht.
Forst meint weiter, unser Wollen könne für uns nur von Belang sein, wenn es begründet
sei. Das führt sogleich wieder zu der Annahme externer Gründe, weil unser intrinsisches
Wollen dann nur durch Gründe getragen werden kann, die ihrerseits nicht mehr wollensrela­
tiv sind. Meines Erachtens offenbart sich in der Vorstellung, auch unser intrinsisches Wollen
müsse begründet sein und dürfe nicht einfach ein faktisches Wollen sein, ein basaler Fehler,
nämlich ein verzerrtes Bild vom menschlichen Leben. Einer der stärksten Wünsche der Men­
schen ist es, weiter zu leben, und dieses Wollen generiert eine große Zahl anderer Wünsche
und hat deshalb eine äußerst breite und vielfältige Resonanz in unserem Handeln. Aber haben
wir dieses Wollen, weil etwas dafür spricht, es zu haben? Haben wir dieses Wollen, weil es
einen Grund gibt, es zu haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir als die Wesen, die wir
sind, dieses elementare Wollen faktisch haben und dass es uns dennoch nicht schwer fällt, es
als das zu akzeptieren, was es ohnehin ist: als unser Wollen? Und wie ist es mit dem für die
Menschen ebenfalls elementaren Wunsch, von anderen anerkannt und akzeptiert zu werden?
Auch dieser Wunsch erzeugt vielfache Handlungsgründe und beeinflusst unser Wollen und
Handeln auf eine kaum bewusste, untergründige, aber äußerst effektive Weise. Haben wir
dieses Wollen, weil etwas dafür spricht, es zu haben? Haben wir überlegt, ob es begründet
wäre, dies zu wollen? Oder ist es nicht auch hier so, dass wir dieses Wollen faktisch haben,
weil wir die Wesen sind, die wir sind? Und, um ein letztes Beispiel zu nennen, haben wir die
Präferenz für eine bestimmte Lebensform, sagen wir für ein theoretisches Leben und nicht für
ein politisches oder für ein geldbezogenes Leben und nicht für ein intellektuelles, weil exter­
ne, personenirrelative Gründe dafür sprechen, so und nicht anders zu leben? Auch das scheint
ganz und gar nicht der Fall zu sein. Sich dies klarzumachen, bedeutet nicht, den Menschen zu
depotenzieren oder, wie Forst meint, seiner Natur als ein „begründendes Wesen“ (159) nicht
gerecht zu werden. Natürlich beziehen sich die Menschen auf Gründe, aber, wie es scheint,
auf Gründe, die wollensrelativ sind und deshalb letzten Endes nur auf ein faktisches Wollen
bezogen sein können.
Forst überträgt die Vorstellung, es könne Gründe für jemanden auch ohne Bezug auf sein
Wollen geben, in einem weiteren Schritt auf eine spezielle Art von Gründen: auf Normen. Er

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
DZPhil 58 (2010) 1 167

wendet zunächst ein, dass Normen auch für diejenigen gelten, die die mit ihnen verbundenen
Sanktionen nicht fürchten und sie deshalb nicht vermeiden wollen. Sie gelten also unabhän­
gig von einem Wollen der Normadressaten. Nehmen wir an, in einer Rechtsgemeinschaft wird
Betrug mit einer Gefängnisstrafe geahndet. Müller erwägt einen Betrug, und seine Lebens­
umstände sind im Moment so miserabel, dass er einen Gefängnisaufenthalt nicht fürchtet. Es
fehlt Müller also das Wollen, auf das die rechtliche Norm setzt. Und damit ist klar, dass er den
Handlungsgrund, der mit der Norm entstehen soll, nicht hat. Er mag andere – normunabhän­
gige – Gründe haben, den erwogenen Betrug nicht zu realisieren. Aber darum geht es nicht.
Es geht um den Grund, der mit der Norm entsteht, und den hat Müller offenkundig nicht. Er
muss die betrügerische Handlung nicht unterlassen, um eine Konsequenz zu verhindern, die
er nicht will. Dies zeigt, dass der normgenerierte Grund wollensrelativ ist. Fehlt das Vermei­
den-Wollen der Sanktion, gibt es auch den Handlungsgrund nicht.
Was soll nun heißen, dass die Norm dennoch auch für Müller gilt? Bleibt man konkret,
kann man sagen, dass betrügerische Handlungen, weil sie sanktioniert werden, verboten sind
und dass Müller deshalb, wenn er den Betrug begeht, etwas Verbotenes tut. Und man wird ihn
auch ins Gefängnis sperren. All dies ist klar. Aber es ändert nichts daran, dass er den Grund,
der mit der Norm entsteht, nicht hat und dass ihn die Norm folglich nicht erreicht. Und dass es
für ihn deshalb keinen Handlungsdruck gibt, der ihn dahin drückt, den Betrug zu unterlassen.
Es kann allenfalls sein, dass ihn die Norm noch über einen Umweg erreicht. So zum Beispiel,
wenn er grundsätzlich nicht tun will, was verboten ist, wenn also das Faktum des Verboten­
seins ausreicht, um ihn von der Handlung abzuhalten. Aber auch dieser Handlungsgrund wäre
wollensrelativ. Würde es Müller nicht kümmern, ob seine Handlungen verboten sind oder
nicht, gäbe es auch diesen Grund nicht (vgl. hierzu ausführlicher Normativität, 194–197).
Dasselbe gilt für moralische Normen, wenn es so ist, dass auch sie sanktionskonstituiert
sind. Wer die moralischen Sanktionen nicht fürchtet, hat offenkundig den Grund nicht, der
über die Sanktionen künstlich für das Moralisch-Handeln geschaffen werden soll. Die mora­
lische Norm läuft dann ins Leere und verfehlt ihr Ziel. Eine Norm ist also dafür, dass sie ein
Handlungsgrund ist, für ihre Normativität und für ihr motivationales Potenzial, also für alles,
was sie ausmacht, auf ein Wollen des Adressaten angewiesen.
Forst schiebt dann den wesentlich grundsätzlicheren Punkt nach, dass „die Geltung von
Normen“ (159) den Sanktionen vorausgehe und Normen folglich gar nicht durch Sanktionen
konstituiert seien. Viele meiner Kritiker haben dies eingewandt. Und es ist aus Gründen, auf
die ich hier nicht eingehen kann, eine naheliegende Intuition. Aber es reicht nicht aus, auf
dieser Intuition zu beharren. Denn die Auffassung, das moralische Müssen (konzentrieren wir
uns auf dieses) sei sanktionskonstituiert, ist nur das Ergebnis vorausliegender anderer Über­
legungen. Niemand dürfte bestreiten, dass ein Sanktionsmechanismus der Art, dass der Hand­
lung x die Sanktion y folgt, dort, wo es ihn gibt, ein allgemeines Müssen und damit eine Norm
schafft: Alle, die die Sanktion y vermeiden wollen, müssen infolge des künstlich arrangierten
Mechanismus x unterlassen. Wer behauptet, dass eine Norm und das mit ihr gegebene Müssen
der Sanktionierung vorausgehe, sagt also, dass unabhängig von dem künstlich geschaffenen
Müssen schon ein andersgeartetes Müssen existiert. Es gibt also schon eine Norm vor der
Norm. Und die Frage ist, ob es dieses vorgängige – moralische – Müssen tatsächlich gibt.
Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Man wird wohl nicht behaupten wollen, dass es Hand­
lungen gibt, die an sich selbst die normative Eigenschaft haben, getan oder unterlassen wer­
den zu müssen. Das wäre ein Stück Mythologie. Kant und die, die ihm folgen, nehmen an, es
gebe ein solches vorgängiges Müssen in Form von Geboten der Vernunft. Kant hat versucht,
diese Idee zu plausibilisieren, aber ohne Erfolg. Seine Vorstellung kategorischer und allge­
meiner Vernunftgebote hängt an massiven metaphysischen Prämissen, die zu akzeptieren wir

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
168 Peter Stemmer, Normativität, Ontologie, Gründe

keinerlei Grund haben. Wer die Auffassung vertritt, dass Handlungen nicht verboten sind,
weil sie sanktioniert werden, sondern sanktioniert werden, weil sie verboten sind, muss also
dieses vorgängige Verbotensein aufklären. Wie kommt es in die Welt? Hier liegt der eigent­
liche Punkt der Auseinandersetzung. Tatsächlich geht, so meine ich, der Sanktionierung nicht
schon ein anderes Müssen voraus, sondern ein Wollen. Wenn die Mitglieder einer Gemein­
schaft gemeinsam wollen, dass bestimmte Handlungen in ihrer Gemeinschaft nicht getan
werden, entschließen sie sich vernünftigerweise dazu, das Unterlassen dieser Handlungen zu
einem „Muss“ zu machen. Und das tun sie, indem sie diese Handlungen künstlich mit nega­
tiven Konsequenzen verbinden. Es bedarf nicht des vorgängigen Unmoralischseins dieser
Handlungen, sie sind zunächst nur nicht gewollt und sie werden dann durch die Gemeinschaft
zu unmoralischen, zu moralisch verbotenen Handlungen gemacht.
Manchmal wird angenommen, wer das moralische Müssen als ein sanktionskonstituiertes
Müssen versteht, meine, jedes moralische Handeln sei durch den Blick auf die Sanktion moti­
viert. Das wäre natürlich abwegig. Es ist offensichtlich, dass man das, was man moralisch
tun muss, aus vielen Motiven tun kann, die mit dem Müssen und den hinter ihm stehenden
Sanktionen nichts zu tun haben. Dass in diesen Fällen das moralische Müssen als motivie­
render Grund nicht gebraucht wird, ist so, es ist aber nichts, was, wie Forst glaubt, in meine
Auffassung des moralischen Müssens schwer zu integrieren ist. Auch bei Kant kommt, wenn
jemand das Moralische aus Neigung tut, die Tatsache, dass er es tun muss, nicht zum Zuge.
Forst könnte seinen Einwand, „das moralische Müssen“ scheine dann „nicht mehr handlungs­
relevant zu sein“ (160), also auch gegen Kant vorbringen. Aber hier wie dort ginge er ins
Leere.
Man kann eine Norm unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisieren oder ablehnen. Die
Norm kann auf kognitiven Annahmen beruhen, die falsch oder unbegründet sind. Die Norm
kann den eigenen Interessen und Idealen nicht entsprechen, sie kann überflüssig sein, ihr
Gewicht kann in Relation zu anderen Normen zu groß oder zu klein sein und so weiter. Man
kann einer Norm gegenüber aber auch moralische Vorbehalte haben. Eine Norm nötigt ihre
Adressaten, Dinge zu unterlassen, die sie vielleicht gerne tun würden, und Dinge zu tun, die
sie vielleicht gerne unterlassen würden. Eine Norm nimmt ihren Adressaten also ein Stück der
Freiheit, das zu tun, was sie wollen. Stattdessen zwingen die, die die Norm setzen, vertreten
und zur Geltung bringen, den Normadressaten mittels der Norm ihren Willen auf. Und man
kann fragen, ob das moralisch in Ordnung ist. Tun die, die eine Norm setzen und durchsetzen,
damit nicht etwas Unmoralisches? Selbst wenn es unter bestimmten Bedingungen moralisch
unbedenklich sein sollte, bleibt die Frage, ob bei der jeweiligen Norm diese Bedingungen
erfüllt sind. Dieser moralische Verdacht ist nur in einer Welt möglich, in der es eine moralische
Norm gibt, die es verbietet, andere zu unterdrücken und anderen den eigenen Willen aufzu­
zwingen. Nur wenn es dieses Unterdrückungsverbot gibt, kann man die Frage stellen, ob die,
die eine Norm zur Geltung bringen, dies gerechtfertigterweise oder legitimerweise tun. Die
Frage, ob eine Norm gerechtfertigt ist, ist also nur in einer moralischen Welt möglich und setzt
eine bestimmte moralische Norm voraus. Forst fragt nun, von welcher Art diese besondere
Norm ist und ob sie in meine Konzeption der Moral passt. Die Unterdrückungsnorm ist von
keiner anderen Art als die anderen moralischen Normen auch. Sie ist eine positive, geschaffene
Norm, die aus den Interessen der Menschen kommt. Sie wollen nicht unterdrückt werden, und
deshalb engagieren sie sich für eine Norm, die dies verbietet. Das Unterdrückungsverbot ist


Vgl. hierzu P. Stemmer, Die Rechtfertigung moralischer Normen, in: Zeitschrift für philosophische
Forschung, 58 (2004), 483–504; und ders., Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsver­
bot, in Vorbereitung.

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23
DZPhil 58 (2010) 1 169

zunächst eine moralische Norm neben den anderen moralischen Normen. Aber sie gewinnt
eine besondere Stellung, weil man auch mit Normen unterdrücken kann und die Normen der
Moral deshalb selbst dem Unterdrückungsverbot entsprechen müssen. Forsts Eindruck, die
Annahme einer solchen Norm passe nicht zu meinen sonstigen Aussagen zur Moral, ist, so
scheint mir, unbegründet. Das Unterdrückungsverbot fällt so wenig vom Himmel wie die
anderen moralischen Normen. Die Menschen wollen, wie gesagt, nicht unterdrückt werden
und deshalb wollen sie ein entsprechendes Verbot.
Ich kann jetzt auch auf einen anderen Einwand eingehen. Forst meint, die Internalisie­
rung äußeren Drucks und das Entstehen innerer Sanktionen sei auf „moralische Einsichten“
(159) angewiesen. Man muss zunächst, so die Idee, erkennen, dass bestimmte Handlungen
moralisch verwerflich oder verboten sind. Wenn sie dies sind, ist ihre Sanktionierung recht­
mäßig. Und sie für rechtmäßig zu halten, ist eine notwendige Voraussetzung für die Interna­
lisierung. Das Unmoralisch-Sein der Handlungen geht hier also erneut ihrer Sanktionierung
voraus und ist der Maßstab ihrer Legitimität. Aber wie gesagt: Der Sanktionierung geht nur
ein Nicht-gewollt-Sein der Handlungen voraus, zu etwas Unmoralischem und moralisch Ver­
botenem werden sie erst durch eine bestimmte Art der sozialen Ablehnung. Das heißt aber
nicht, dass man eine Sanktionierung nicht kritisieren kann. Natürlich ist es eine elementare
Frage, ob die richtigen Handlungen sanktioniert werden. Richtig gemessen woran? Man kann
eine Sanktionierung kritisieren, weil sie – gemessen an den eigenen Interessen und Idealen –
die falschen Handlungen sanktioniert. Eine solche – interessenbezogene – Kritik kennt noch
nicht den Begriff des Rechtmäßigen. Man kann eine Sanktionierung aber auch moralisch
kritisieren, als eine Form repressiver Machtausübung. Diese Kritik ist freilich nur möglich,
wenn es das Unterdrückungsverbot gibt. Relativ auf dieses Verbot kann man die Sanktionie­
rung bestimmter Handlungen als moralisch nicht in Ordnung, nämlich als erpresserisch oder
als moralisch unbedenklich und deshalb als verpflichtend beurteilen. Und es ist gewiss so,
dass der Prozess der Internalisierung zumindest beschleunigt und intensiviert wird, wenn die
Betreffenden es vernünftig und moralisch unbedenklich finden, dass gerade die Handlungen
sanktioniert werden, die sanktioniert werden.
Noch eine kurze Bemerkung, um ein Missverständnis zu vermeiden. Normativität und
Legitimität sind zwei ganz verschiedene Dinge, und man sollte sie nicht ineinanderschie­
ben, wie es Forst nahezulegen scheint. Auch hier spielt in seiner Überlegung der Begriff der
Geltung seine ungute, verunklärende Rolle. Die Normen eines Tyrannen können keinerlei
Legitimität beanspruchen, aber es gibt sie, und sie haben ohne Zweifel die Eigenschaft der
Normativität. Die Normadressaten haben offensichtlich einen Grund, sich normkonform zu
verhalten. Denn wenn sie es nicht tun, müssen sie mit negativen Konsequenzen rechnen. Und
sie stehen unter einem Handlungsdruck, sie müssen so handeln, wie die Normen es vorgeben.
Es wäre also ganz verfehlt, anzunehmen, Normativität komme aus Legitimität.

Bereitgestellt von | ULB Bonn


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.03.15 18:23

Das könnte Ihnen auch gefallen