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Ansgar Beckermann

Kristian Köchy Neuronale Determiniertheit und Freiheit1


Dirk Stederoth (Hg.)

1.

Können wir gleichzeitig neuronal determiniert und frei sein? Auf den
ersten Blick klingt das wie ein Widerspruch, und so sehen es auch
Willensfreiheit Psychologen und Neurobiologen wie Wolfgang Prinz, Gerhard Roth
und Wolf Singer.2 Ihrer Meinung nach gibt es keinen freien Willen,
als interdisziplinäres eben weil alle unsere Entscheidungen neuronal determiniert sind. Das
Gefühl, daß unser Wille oder wir selbst unsere Handlungen entschei-
Problem dend steuern – dieses Gefühl ist in ihren Augen nichts als eine Illusi-
on. Als Begründung für diese weitreichende Behauptung verweisen
die Autoren hauptsächlich darauf, daß die Hirnforschung zweifelsfrei
erwiesen habe, daß unser Gehirn schon vor jeder bewußten Entschei-
dung zu einer Handlung anfängt, diese Handlung zu initiieren. Dies
zeigten besonders die Experimente Benjamin Libets, die in letzter Zeit
von Haggard und Eimer wiederholt wurden.
Diese Experimente sehen so aus:3 Eine Versuchsperson erhält die
Instruktion, innerhalb eines bestimmten Zeitraums aus dem Ruhe-
zustand heraus einen Finger zu krümmen, wann immer sie dies tun
möchte. Sie soll, so Libet wörtlich, „den Impuls zu handeln von allein
und zu jeder Zeit auftauchen lassen, ohne vorauszuplanen oder sich

Freiburg/München
1
Dieser Aufsatz überschneidet sich teilweise mit meinem Aufsatz. A. Beckermann,
Verlag Karl Alber 2006 „Biologie und Freiheit“, in: H. Schmidinger und C. Sedmak (Hg.) Der Mensch – ein
freies Wesen? Darmstadt 2004.
2
Siehe z.B. W. Prinz, „Freiheit oder Wissenschaft?“, in: M. von Cranach und K. Foppa
(Hg.) Freiheit des Entscheidens und Handelns. Heidelberg 1996, S. 86-103; ders.,
„Die Reaktion als Willenshandlung“. Psychologische Rundschau 49/1998, S. 10-20;
ders., „Kognitionspsychologische Handlungsforschung“. Zeitschrift für Psycho-
logie 208/2000, S. 32-54; G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln – Wie das Gehirn
unser Verhalten steuert, Frankfurt a. M. 2001; W. Singer, Ein neues Menschenbild?
Frankfurt a. M. 2003.
3
Vgl. H. Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit. Paderborn 1998, S. 302-308.
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auf die Handlung zu konzentrieren“.4 Die Versuchsperson hat ferner entschieden, und umgekehrt: wenn mein Gehirn etwas entscheidet,
die Aufgabe, sich den Zeitpunkt zu merken, an dem ihr die Entschei- wird es nicht von mir entschieden. Diese Entgegensetzung zwischen
dung, den Finger zu krümmen, bewußt wird. Zu diesem Zweck beo- Ich und Gehirn – oder allgemeiner: zwischen Ich und Natur – ist aber
bachtet sie eine Uhr, deren Zeiger aus einem schnell rotierenden Punkt keineswegs so selbstverständlich, wie sie Vertretern inkompatibilisti-
besteht. Was sich die Versuchsperson merken soll, ist die Position des scher Freiheitskonzeptionen oft erscheint.
Punktes zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Intention, die Finger zu
bewegen, zum ersten Mal spürt, d.h. zu dem Zeitpunkt, an dem ihr
bewußt wird, „eine bestimmte vorgegebene, selbstinitiierte Bewegung
durchführen zu ‚wollen’.“5 2.
Das Ergebnis dieses Experiments war verblüffend: Die Versuchs-
personen verspüren ihren Wunsch oder ihren Drang, die Finger zu Inkompatibilisten vertreten die These, daß Determinismus und Freiheit
bewegen, im Mittel 0,2 Sekunden, bevor sie die Bewegung ausführen. unvereinbar sind. Warum? In erster Linie, weil Freiheit voraussetzt,
0,5-0,7 Sekunden vor dem Beginn der Bewegung läßt sich aber schon daß ich eine Wahl habe. Und, so fragen Inkompatibilisten, wie kann
ein Bereitschaftspotential ableiten. Mit anderen Worten: Offenbar be- ich eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen haben, wenn zu
ginnt das Gehirn schon ca. 0,5 Sekunden, bevor der Versuchsperson jedem Zeitpunkt durch den jeweiligen Zustand der Welt und durch die
ihre Entscheidung bewußt wird, mit der Vorbereitung der Fingerbe- Naturgesetze festgelegt ist, wie es zu diesem Zeitpunkt weitergeht?
wegung. Dies scheint jedoch nur verständlich, wenn man annimmt, Freiheit, so der Inkompatibilist, setzt voraus, daß die Zukunft offen ist,
daß die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt schon getroffen ist. d.h. daß es im Weltverlauf Zeitpunkte gibt, an denen es so oder so
Auf den ersten Blick ist es also gar nicht verwunderlich, daß Prinz, weiter gehen kann, an denen der weitere Weltverlauf nicht durch vo-
Roth und Singer aus den Resultaten der Libet-Experimente den rangegangene Ereignisse determiniert ist. Doch das ist bestenfalls die
Schluß ziehen: Wenn wir den Eindruck haben, eine Entscheidung zu Hälfte der Geschichte. Denn wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt
treffen, ist diese Entscheidung längst getroffen – von unserem Gehirn. die Wahl zwischen zwei Handlungen A und B habe, wenn also – dem
Unser Gehirn entscheidet, nicht wir. Das Bewußtsein läuft immer hin- Inkompatibilisten gemäß – zu diesem Zeitpunkt nicht naturgesetzlich
terher. „Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun.“6 Das determiniert ist, daß ich A bzw. B tue, dann würden wir trotzdem
ist die prägnante Formel, auf die Wolfgang Prinz diese Überlegung nicht von einer freien Handlung reden, wenn es reiner Zufall wäre,
gebracht hat. Und hinter dieser Formel steht offenbar die Überlegung: daß ich in dieser Situation, sagen wir, die Handlung A ausführe. Frei-
Wie kann das, was ich tue, von mir abhängen, wenn es doch offenbar heit setzt in den Augen der meisten Inkompatibilisten nicht nur vor-
auf Vorgängen im Gehirn beruht, die stattfinden, bevor ich die Ab- aus, daß meine Handlungen nicht naturgesetzlich determiniert sind,
sicht, etwas tun zu wollen, überhaupt ausbilde? Und wie kann ich es sondern auch, daß das, was ich tue, nicht rein zufällig passiert, daß
sein, der eine Wahl trifft, wenn die Wahl schon zuvor von meinem vielmehr ich selbst es bin, der bestimmt, welche Handlung ausgeführt
Gehirn getroffen wurde? wird. Roderick Chisholm hat das in seinem bekannten Aufsatz „Die
Wer so argumentiert, setzt allerdings voraus, daß es eine strikte menschliche Freiheit und das Selbst“ so formuliert: „Das metaphysi-
Trennung zwischen Gehirn und Person bzw. zwischen Gehirn und Ich sche Problem der menschlichen Freiheit kann folgendermaßen zu-
gibt. Wenn Ich etwas entscheide, wird es nicht von meinem Gehirn sammengefaßt werden: ‚Menschliche Wesen sind verantwortliche
Handelnde; aber diese Tatsache scheint einer deterministischen Sicht
des Handelns zu widerstreiten – der Sicht, daß jedes Ereignis, das zu
4
B. Libet et al., „Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral ac- einer Handlung gehört, durch ein anderes Ereignis verursacht ist. Und
tivity“, in: Brain 106/1983, S. 625; vgl. auch B. Libet (und Kommentatoren), „Uncon-
scious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action“, in:
sie scheint auch der Sicht zu widerstreiten, daß einige der Ereignisse,
Behavioral and Brain Sciences 8/1985, S. 529-566. die für die Handlung wesentlich sind, überhaupt nicht verursacht sind.’
5
6
Ebd., S. 627. Ich glaube, um das Problem zu lösen, müssen wir einige weitreichende
W. Prinz, „Freiheit oder Wissenschaft?, S. 98ff.
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Annahmen über das Selbst oder den Handelnden machen – über den außerhalb der physischen Welt eine Art von Cartesischem Eigenleben
Menschen, der die Handlung vollzieht.“7 „Wir dürfen … nicht sagen, führt. Die zweite Zumutung beruht auf der ersten; sie besteht in der
daß jedes Ereignis, das zu der Handlung gehört, durch ein anderes Er- Auffassung, daß das Psychische nicht nur ein außerphysisches Eigen-
eignis verursacht ist. Und wir dürfen nicht sagen, daß einige der Er- leben führt, sondern darüber hinaus sogar in der Lage ist, auf den Be-
eignisse, die für die Handlung wesentlich sind, überhaupt nicht verur- reich des Physischen kausal einzuwirken. Schließlich besteht die dritte
sacht sind. Die Möglichkeit, die also bleibt, ist diese: Wir sollten sa- metaphysische Zumutung in der Annahme eines „prinzipiellen lokalen
gen, daß mindestens eines der Ereignisse, die an der Handlung betei- Indeterminismus“. „Die Idee der Willensfreiheit mutet uns zu, in ei-
ligt sind, nicht durch irgendwelche anderen Ereignisse, sondern statt nem ansonsten deterministisch verfaßten Bild von der Welt lokale Lö-
dessen durch etwas anderes verursacht ist. Und dies andere kann nur cher des Indeterminismus zu akzeptieren. … Allerdings geht es hier
der Handelnde sein – der Mensch.“8 nicht … lediglich um die Abwesenheit von Determination …, sondern
Letzten Endes läßt sich die Freiheitskonzeption des Inkompatiblis- um etwas völlig anderes, wesentlich Radikaleres: um nicht weniger als
mus also folgendermaßen illustrieren: die Ersetzung der gewöhnlichen kausalen Determination durch eine
andere, kausal nicht erklärbare Form von Determination. Diese geht
A von einem autonom gedachten Subjekt aus, das selbst frei, d.h. nicht
determiniert ist. … Die Idee der Willensfreiheit verlangt uns ab, jedes
Ich Subjekt als eine eigenständige, autonome Quelle der Handlungsdeter-
mination anzusehen.“9
B Der genaue Wortlaut des Zitats macht deutlich, daß es Prinz gar
nicht um die problematische Annahme eines „lokalen Indeterminis-
Oder, um es noch einmal in Worten zusammenzufassen. Wenn ich in mus“ geht. Als eigentliche Zumutung empfindet er die für den Inkom-
einer bestimmten Situation S aus freien Stücken die Handlung A patibilismus zentrale Idee, Subjekte könnten eigenständige, autonome
ausführe, dann setzt das dem Inkompatibilismus zufolge voraus: Quellen von Handlungsdetermination sein. Und mir scheint, daß Prinz
damit weitgehend Recht hat. Das Freiheitsbild des Inkompatibilisten
1. In S ist nicht naturgesetzlich determiniert, daß die Handlung A ist naturwissenschaftlich gesehen tatsächlich eine Zumutung. Aber
ausgeführt wird; naturgesetzlich ist es genauso gut möglich, daß auch für Philosophen sprechen viele Gründe gegen dieses Bild.
die Handlung B ausgeführt wird. Erstens: Wenn nicht andere Umstände festlegen, wie ich mich ent-
scheide, sondern ich selbst diese Entscheidung herbeiführe, muß ich
2. Die Handlung A geschieht aber auch nicht zufällig, sie geht viel-
selbst offenbar ein Wesen sein, das außerhalb des normalen Weltver-
mehr kausal auf mich als den Handelnden zurück.
laufs steht und in der Lage ist, von außen in diesen Weltverlauf ein-
3. Daß ich die Handlung A verursache, ist selbst nicht determiniert. zugreifen. Die Auffassung, daß handelnde und entscheidende Perso-
nen nicht Teil der natürlichen Welt sind, sondern von außen in diese
Jemand, der dieses Freiheitsverständnis sehr klar durchschaut hat, ist Welt eingreifen, ist aber mit all den Problemen konfrontiert, die schon
Wolfgang Prinz, der in seinem Aufsatz „Freiheit oder Wissenschaft?“ gegen den Cartesischen Interaktionismus ins Feld geführt wurden.
von drei „metaphysischen Zumutungen“ spricht, die mit diesem Frei- Zweitens: Die Auffassung des Inkompatibilisten setzt voraus, daß
heitsverständnis verbunden sind. Die erste dieser Zumutungen besteht es eine eigene Art von Kausalität gibt, über die nur handelnde und ent-
in seinen Augen in der Annahme, daß es einen grundsätzlichen Gra- scheidende Personen verfügen – Akteurskausalität. Und diese Art von
ben zwischen Psychischem und Physischem gibt, daß das Psychische Kausalität ist äußerst mysteriös. Normalerweise sind Ursachen und
Wirkungen Ereignisse. Mit dem Satz „Die Scheibe zerbrach, weil sie
7
R.M. Chisholm, „Die menschliche Freiheit und das Selbst“. In: U. Pothast (Hg.),
Seminar: Freies Handeln und Determinismus. Frankfurt a. M 1978, S. 71.
8 9
Ebd., S. 76. W. Prinz, „Freiheit oder Wissenschaft?, S. 92.
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von einem Stein getroffen wurde“ führen wir ein Ereignis (das Zer- 3.
brechen der Scheibe) auf ein anderes Ereignis zurück (das Auftreffen
des Steins auf die Scheibe). Ursachen sind Ereignisse, die andere Er- Kompatibilisten gehen in der Regel von klaren Fällen von Unfreiheit
eignisse – ihre Wirkungen – mit naturgesetzlicher Notwendigkeit zur aus, und versuchen, durch genaue Analyse dieser Fälle herauszufin-
Folge haben. Und d.h. zumindest: Immer wenn die Ursache vorliegt, den, was den Handelnden jeweils fehlt, was in den jeweiligen Situati-
tritt auch die Wirkung ein. Diese Art von Ereigniskausalität ist uns onen dafür verantwortlich ist, daß die Handelnden nicht frei sind. Ein
wohl vertraut. Aber was soll Akteurskausalität sein? Offenbar eine Art klarer Fall von Unfreiheit liegt z.B. vor, wenn eine Person eingesperrt,
von Geschehenmachen. Aber im allgemeinen kann man etwas nur da- gefesselt oder gelähmt ist. Eine solche Person kann nicht tun, was sie
durch geschehen machen, daß man etwas anderes tut – ich mache das tun will. Ihr fehlt, wie man sagt, Handlungsfreiheit. Sie unterliegt äu-
Licht an, indem ich den Schalter betätige. Wie kann ich also A ge- ßeren Zwängen. In der Philosophie hat es eine ganze Reihe von Auto-
schehen machen, ohne etwas anderes zu tun, woraus sich A zwangs- ren – wie Hobbes und Hume – gegeben, die nachdrücklich die Auffas-
läufig ergibt? sung vertreten haben, daß Handlungsfreiheit die einzige Art von Frei-
Drittens: Akteurskausalität wird von Inkompatibilisten eingeführt, heit ist, die wir wirklich haben, aber auch die einzige, an der wir inte-
um verantwortliches von bloß zufälligem Handeln zu unterscheiden. ressiert sein können. „Denn was verstehen wir unter Freiheit in ihrer
Letztlich sind aber freie Entscheidungen im inkompatibilistischen Anwendung auf Willenshandlungen? Sicherlich nicht, daß Handlun-
Sinn trotzdem immer rein zufällig und nicht erklärbar. Zur Situation, gen eine so geringe Verknüpfung mit Beweggründen, Neigungen und
in der sich die Person entscheidet, gehören nämlich auch die Gründe, Umständen haben, daß nicht jene mit einer gewissen Gleichförmigkeit
die sie zu diesem Zeitpunkt für die verschiedenen Alternativen hat, aus diesen folgten [}] Denn dies sind offenbare und anerkannte Tat-
sowie das relative Gewicht dieser Gründe. Wenn sie sich für die Al- sachen. Also können wir unter Freiheit nur verstehen: eine Macht zu
ternative A entscheidet, entscheidet sie sich also angesichts dieser handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Wil-
Gründe für A. Und wenn sie sich für die Alternative B entscheidet, lens; das heißt, wenn wir in Ruhe zu verharren vorziehen, so können
entscheidet sie sich angesichts derselben Gründe für B. Wenn man wir es; wenn wir vorziehen, uns zu bewegen, so können wir dies auch.
angesichts genau derselben Gründe einmal A und ein anderes Mal B Diese bedingte Freiheit wird nun aber einem jedem zugestanden, der
wählt, ist diese Wahl selbst aber offenbar unbegründet. nicht ein Gefangener in Ketten ist.“10
Prinz hat also Recht mit seiner Kritik am Freiheitsbild des Schon Thomas Reid11 hat jedoch darauf hingewiesen, daß diese Po-
Inkompatibilisten. Allerdings geht er noch einen Schritt weiter. Denn sition unbefriedigend ist. Frei können wir uns nach Reid nur nennen,
er setzt voraus, daß dieses Bild das einzig mögliche Freiheitsbild ist. wenn wir nicht nur tun können, was wir wollen, sondern wenn wir auch
Und genau deshalb kommt er zu dem Schluß, Freiheit sei nichts als unseren Willen selbst bestimmen können. Wirkliche Freiheit setzt
eine Illusion. Daß das Freiheitsbild des Inkompatibilisten das einzig voraus, daß wir bestimmen, aufgrund welcher Motive, Wünsche und
mögliche Freiheitsbild ist, ist aber mehr als unumstritten. Kompatibi- Überzeugungen wir handeln; wenn Umstände, die außerhalb unseres
listen haben seit vielen hundert Jahren für die These gestritten, daß es Einflußbereichs liegen, bestimmen, welche dieser Beweggründe hand-
eine Alternative zu diesem Freiheitsbild gibt. Und angesichts der lungswirksam werden, sind wir nicht frei. Für verantwortliches Han-
Probleme, die mit diesem Bild verbunden sind, lohnt es sich auf jeden deln reicht Handlungsfreiheit also nicht aus, der Handelnde muß auch
Fall, diese These genauer zu untersuchen. über Willensfreiheit verfügen – über die Fähigkeit, seinen eigenen

10
D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. von R. Richter,
mit einer Einleitung hg. von J. Kulenkampff. Hamburg 1993, S. 112f.
11
Vgl. Th. Reid, „The Liberty of the Moral Agent“, aus: Essays on the Active Powers, in:
Inquiry and Essays, hgg. von R.E: Beanblossom und K. Lehrer, Indianapolis/In. 1983,
S. 297-368.
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Willen zu bestimmen, zu bestimmen, welche seiner Motive, Wünsche man sich gut vorstellen, daß der Drogensüchtige neben dem Wunsch,
und Überzeugungen handlungswirksam werden sollen. Drogen zu nehmen, auch den Wunsch hat, genau diesen Wunsch,
Daß Reid mit dieser Analyse zumindest im Prinzip Recht hat, zeigt Drogen zu nehmen, nicht zu haben. Er wäre froh, wenn er diesen
ein zweiter klarer Fall von Unfreiheit – der Fall des Drogensüchtigen. Wunsch los wäre oder zumindest, wenn er erreichen könnte, daß sich
Drogensüchtige können tun, was sie wollen; sie sind in ihren Hand- dieser Wunsch nicht mehr gegen seine anderen Wünsche durchsetzt.
lungen frei. Trotzdem machen wir sie nicht verantwortlich. Sie sind Nach Frankfurt ist eine Person in ihrem Wollen frei, wenn ihr Handeln
nicht äußerlich, sondern innerlich unfrei; sie unterliegen einem inne- durch die Wünsche erster Stufe bestimmt wird, von denen sie auf der
ren Zwang. Der Drogensüchtige kann zwar tun, was er will, aber in zweiten Stufe will, daß sie handlungswirksam werden.
seinem Willen, in seinen Entscheidungen ist er nicht frei. Sein Wille Diese Definition hat sicher den Vorteil, daß sie das Problem des
führt gewissermaßen ein Eigenleben. Auch wenn er sich anders ent- Süchtigen zu treffen scheint. Der Süchtige könnte auch keine Drogen
scheiden möchte, sein Wunsch, Drogen zu nehmen, wird sich durch- nehmen, wenn sein Wunsch, Drogen zu nehmen, nicht handlungs-
setzen. Der Drogensüchtige ist nicht Herr seiner Wünsche. Mit einem wirksam würde. Doch eben dies verhindert seine Sucht. Selbst wenn
Wort: Was ihm fehlt ist Willensfreiheit. Wenn Handlungsfreiheit darin ihm klar ist, wie schädlich die Einnahme von Drogen ist, und wenn er
besteht, daß man tun kann, was man tun will, worin besteht dann aber aus diesem Grund möchte, daß der Wunsch, Drogen zu nehmen, nicht
Willensfreiheit? handlungswirksam wird, wird dies nicht geschehen. Sein Wunsch,
Eine Möglichkeit scheint darin zu bestehen, Willensfreiheit ganz Drogen zu nehmen, ist stärker. Selbst wenn der Süchtige wollte, daß
analog zur Handlungsfreiheit zu definieren. So schreibt etwa George es nicht so wäre; er kann diesen Wunsch nicht unter Kontrolle brin-
Edward Moore in seinem Buch Grundprobleme der Ethik: „Wenn wir gen. Er ist in seinem Wollen unfrei, weil sich auf der ersten Stufe die
sagen, wir hätten etwas tun können, das wir nicht getan haben, und Wünsche durchsetzen, von denen er auf der zweiten Stufe nicht möch-
damit oft bloß meinen, wir würden es getan haben, wenn wir uns dazu te, daß sie sich durchsetzen.
entschieden hätten, dann meinen wir vielleicht mit der Aussage, daß Leider ist jedoch auch Frankfurts Theorie nicht unproblematisch.
wir uns dazu hätten entscheiden können, lediglich, daß wir uns so ent- Denn reicht es für Willensfreiheit wirklich aus, daß auf der ersten Stu-
schieden haben würden, wenn wir uns entschieden hätten, diese Ent- fe genau die Wünsche handlungswirksam werden, von denen wir auf
scheidung zu treffen.“12 der zweiten Stufe wollen, daß sie handlungswirksam werden? Müssen
So wie wir in unseren Handlungen frei sind, wenn wir tun können, wir nicht darüber hinaus fordern, daß auch die Wünsche zweiter Stufe
was wir tun wollen, wären wir also in unserem Willen frei, wenn wir frei sind? Und würde das in Frankfurts Theorie nicht bedeuten, daß sie
wollen können, was wir wollen wollen. In letzter Zeit hat besonders den Wünschen dritter Stufe entsprechen? Usw. usw. Es droht ein un-
Harry Frankfurt versucht, mit der Unterscheidung zwischen Wün- endlicher Regreß. Außerdem wird in dieser Theorie ein für Willens-
schen erster und zweiter Stufe zu erläutern, was mit dieser auf den ers- freiheit entscheidender Gesichtspunkt außer Acht gelassen – der Ge-
ten Blick eher eigenartig klingenden Formel gemeint sein kann.13 Die sichtspunkt der Wertung und des moralischen Urteils. Wenn ich vor
meisten unserer Wünsche beziehen sich auf Handlungen. Der eine der Wahl stehe, A oder B zu tun, dann frage ich mich, was unter den
möchte sich ein Auto kaufen, die andere an der Ostsee Urlaub ma- gegebenen Umständen die richtige Handlung ist – die Handlung, die
chen. Solche Wünsche nennt Frankfurt Wünsche erster Stufe. Neben ich unter den gegebenen Umständen tun sollte. Und die Fähigkeit, der
diesen gibt es aber auch Wünsche zweiter Stufe, die Wünsche erster Einsicht in die Richtigkeit einer Handlung zu folgen, ist für Freiheit
Stufe zum Gegenstand haben. Im Fall des Drogensüchtigen z.B. kann zentral. Jedenfalls spielt diese Idee schon in John Lockes Theorie der
Willensfreiheit eine entscheidende Rolle.
In seinen Überlegungen zum Problem des freien Willens im Kapitel
12
G. E. Moore, Grundprobleme der Ethik, München 1975, S. 129f.
21 Von der Kraft des zweiten Buches seines Versuchs über den
13
Vgl. H. Frankfurt, „Freedom of the Will and the Concept of a Person“, in: Journal menschlichen Verstand geht auch Locke davon aus, daß die für dieses
of Philosophy 68/1971, S. 5-20; ders., The Importance of What We Care About. Problem entscheidende Frage lautet: Was bestimmt unseren Willen?
New York 1988.
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Die erste Antwort auf diese Frage lautet nach Locke, daß unser Wille delnden, durch das Abwägen von Gründen hätte beeinflußt werden
jeweils durch das getrieben wird, was wir als das bedrückendste Un- können. Fischer und Ravizza15 haben das so ausgedrückt: Eine Ent-
behagen empfinden. Doch zum Glück ist das nicht die ganze Wahr- scheidung ist dann frei, wenn sie auf einem Prozeß beruht, der für
heit. Denn, so Locke: Menschen haben – zumindest in vielen Fällen – Gründe zugänglich ist. Und auch Peter Bieri schreibt in seinem Buch
die Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten und zu überlegen, was Das Handwerk der Freiheit: „Die Freiheit des Willens liegt darin, daß
sie in der gegebenen Situation tun sollten, was moralisch gesehen das er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Ur-
Richtige wäre oder was ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse am teilen“.16
meisten dienen würde. „Da in uns sehr zahlreiche Unbehaglichkeiten Tatsächlich paßt diese Definition noch sehr viel besser auf den Fall
vorhanden sind, die uns fortwährend beunruhigen und stets bereit des Drogensüchtigen als die Frankfurts. Denn was dem Drogensüchti-
sind, den Willen zu bestimmen, so ist es, wie gesagt, natürlich, daß die gen fehlt, ist doch, daß er selbst, wenn er einsieht, daß die Drogen-
stärkste und dringendste von ihnen den Willen zur nächsten Handlung sucht seine Gesundheit ruinieren wird, nicht anders kann, als sich für
bestimmt. Das geschieht denn auch meist, allerdings nicht immer. die Drogen zu entscheiden. Was dem Drogensüchtigen fehlt, ist also
Da der Geist, wie die Erfahrung zeigt, in den meisten Fällen die Kraft die Fähigkeit, so zu entscheiden, wie es aufgrund seiner eigenen Über-
besitzt, bei der Verwirklichung und Befriedigung irgendeines Wun- legungen richtig wäre. Er mag die Fähigkeit haben, zu überlegen und
sches innezuhalten und mit allen andern Wünschen der Reihe nach einzusehen, daß das, was er tut, ihm selbst schaden wird und daß es
ebenso zu verfahren, so hat er auch die Freiheit, ihre Objekte zu be- möglicherweise sogar unmoralisch ist. Doch auf seine Entscheidungen
trachten, sie von allen Seiten zu prüfen und gegen andere abzuwägen. hat das keinen Einfluß. Sie werden durch Umstände determiniert, die
Hierin besteht die Freiheit, die der Mensch besitzt } [W]ir [haben] durch solche Überlegungen nicht beeinflußt werden können.
die Kraft, die Verfolgung dieses oder jenes Wunsches zu unterbre- Auch der § 20 StGB paßt gut zu Lockes Überlegungen. „Ohne
chen, wie jeder täglich bei sich selbst erproben kann. Hier scheint mir Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften
die Quelle aller Freiheit zu liegen; hierin scheint das zu bestehen, was seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung
man (meines Erachtens unzutreffend) den freien Willen nennt. Denn oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen
während einer solchen Hemmung des Begehrens, ehe noch der Wille Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach
zum Handeln bestimmt und die (jener Bestimmung folgende) Hand- dieser Einsicht zu handeln.“ (Hervorh. vom Vf.) Auch unserem Straf-
lung vollzogen wird, haben wir Gelegenheit, das Gute oder Üble an gesetz zufolge sind für Schuldfähigkeit letztlich also zwei Fähigkeiten
der Handlung, die wir vorhaben, zu prüfen, ins Auge zu fassen und zu entscheidend – die Fähigkeit, das Unrecht des eigenen Handelns ein-
beurteilen. Haben wir dann nach gehöriger Untersuchung unser Urteil sehen zu können, und die Fähigkeit, dieser Einsicht gemäß handeln zu
gefällt, so haben wir unsere Pflicht erfüllt und damit alles getan, was können.
wir in unserm Streben nach Glück tun können und müssen; und es ist Damit läßt sich jetzt der Unterschied zwischen Lockes kompatibi-
kein Mangel, sondern ein Vorzug unserer Natur, wenn wir, entspre- listischer Freiheitskonzeption und dem oben beschriebenen inkompa-
chend dem Endergebnis einer ehrlichen Prüfung, begehren, wollen tibilistischen Freiheitsbild besser fassen. Zunächst einmal: Lockes Frei-
und handeln.“14 heitskonzeption ist kompatibilistisch, weil Locke explizit der Meinung
Willensfreiheit beruht nach Locke also auf der Fähigkeit, vor dem ist, daß es unserer Freiheit keinen Abbruch tut, wenn unsere Entschei-
Handeln innezuhalten und zu überlegen, was man in der jeweiligen dungen – unser Wille – mit kausaler Notwendigkeit durch das Ergeb-
Situation tun sollte, welche Gründe für die eine oder andere Alternati- nis unserer Überlegungen bestimmt werden. Nur ein Narr könnte sich
ve sprechen. Eine Entscheidung, kann man daher sagen, ist frei, wenn wünschen, daß es anders wäre. „Würde wohl jemand ein Dummkopf
sie so zustande gekommen ist, daß sie durch Überlegungen des Han- sein mögen, weil ein solcher durch verständige Erwägungen we-

14 15
J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1, 4. durchg. Aufl. in 2 Bän- Vgl. J. Fischer, M. Ravizza Responsibility and Control. Cambridge 1998.
16
den. Hamburg 1981, § 47. P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München 2001, S. 80.
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niger bestimmt wird als ein Weiser? Verdient es den Namen Freiheit, Freiheit voraussetzt, daß wir in unseren Entscheidungen durch Über-
wenn man die Freiheit besitzt, den Narren zu spielen und sich selbst in legungen beeinflußt werden können, in denen rationale Argumente
Schande und Unglück zu stürzen? Wenn Freiheit, wahre Freiheit, dar- eine entscheidende Rolle spielen, ist das doch zumindest prima facie
in besteht, daß man sich von der Leitung der Vernunft losreißt und sehr unplausibel. Wenn in biologischen Wesen alle Entscheidungen
von allen Schranken der Prüfung und des Urteils frei ist, die uns vor auf neuronalen Prozessen beruhen – und genau das scheint die Neuro-
dem Erwählen und Tun des Schlechteren bewahren, dann sind Tolle biologie zu beweisen –, wie sollen sie dann durch rationale Argumen-
und Narren die einzig Freien; allein ich glaube, keiner, der nicht schon te und Überlegungen beeinflußt werden können? Mir scheint, daß die-
toll ist, wird um einer solchen Freiheit willen wünschen, toll zu wer- ser Einwand nicht wirklich stichhaltig ist. Doch zunächst sollten wir
den. Das stete Verlangen nach Glück und der Zwang, den es uns auf- festhalten: Empirisch ist völlig unbestreitbar, daß Wesen wie wir zu-
erlegt, um seinetwillen zu handeln, wird meines Erachtens niemand mindest manchmal überlegen und daß sie zumindest manchmal für
als eine Schmälerung der Freiheit ansehen oder wenigstens nicht als Argumente zugänglich sind.
eine Schmälerung, die zu beklagen wäre.“17 Stellen wir uns folgenden Fall vor: Ich liege im Bett; der Wecker
Doch zurück zum Grundsätzlichen. Für Locke hängt die Freiheit ei- klingelt. Einerseits sollte ich aufstehen; denn in einer Stunde beginnt
ner Entscheidung nicht davon ab, daß ein außerhalb des Naturzusam- eine Sitzung der Fakultätskonferenz. Andererseits ist es gestern spät
menhangs stehendes Ich kausal bestimmt, wie es an einer bestimmten geworden, und es wäre schön, wenn ich noch etwas weiterschlafen
Stelle im Weltverlauf weitergeht. Frei ist eine Entscheidung in seinen könnte. Nehmen wir an, daß ich gerade dabei bin, mich zu entschei-
Augen, wenn der Handelnde zum Zeitpunkt der Entscheidung über den, noch etwas im Bett zu bleiben. Genau in diesem Augenblick ruft
zwei zentrale Fähigkeiten verfügt – die Fähigkeit, vor der Entschei- eine Kollegin an und sagt: „Du mußt unbedingt kommen. Heute steht
dung zu überlegen, was in der gegebenen Situation zu tun richtig wä- eine wichtige Wahl an; und dabei kann Deine Stimme ausschlagge-
re, und die Fähigkeit, dem Ergebnis dieser Überlegung gemäß zu ent- bend sein.“ Es steht völlig außer Frage, daß dieser Anruf einen Effekt
scheiden und zu handeln. Eine Entscheidung ist für Locke meine Ent- auf meine Entscheidung haben kann. Warum sonst sollte die Kollegin
scheidung, wenn sie – nicht auf mich als außerweltliches Subjekt, anrufen? Offenbar kann meine Entscheidung also durch das beeinflußt
sondern – auf meine Wünsche, meine Präferenzen und meine Überle- werden, was die Kollegin sagt. Und das heißt, offenbar kann meine
gungen zurückgeht. Und eine Entscheidung ist frei, wenn ich (a) vor Entscheidung durch die Gründe beeinflußt werden, die sie mir nennt.
der Entscheidung innehalten und überlegen kann, was ich in der gege- Also gibt es nur die folgende Alternative: Entweder beruhen nicht alle
benen Situation tun sollte, und wenn (b) in diesem Fall meine Ent- Entscheidungen auf neuronalen Prozessen, oder es gibt neuronale Pro-
scheidung durch das Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird. Bei- zesse, die durch Überlegungen und Argumente beeinflußt werden
de Bedingungen können auch dann erfüllt sein, wenn es im Weltver- können.
lauf keine Lücken der Indeterminiertheit gibt. Daß dies tatsächlich möglich ist, ergibt sich meiner Meinung nach
aus einer Beobachtung, die jedem vertraut ist, der auch nur ein biß-
chen Ahnung von Computern hat: Viele physische Prozesse lassen sich
auf sehr verschiedene Weise beschreiben – auf der einen Seite physi-
4. kalisch, auf der anderen Seite aber auch theoretisch-funktional. In ei-
nem Computer etwa kann derselbe Vorgang sowohl eine bestimmte
An dieser Stelle liegt trotzdem ein Einwand nahe. Selbst wenn Frei- Bewegung von Elektronen durch ein Transistorennetz als auch das
heit generell mit Determiniertheit vereinbar sein sollte, heißt das, daß Berechnen der Summe zweier Zahlen sein. Unter den vielen integrier-
sie dann auch mit neuronaler Determiniertheit vereinbar ist? Wenn ten Schaltkreisen, die man heute überall im Handel erwerben kann,
gibt es z.B. 4-bit Volladdierer mit zweimal 4 Eingängen und 5 Aus-
gängen. Diese Schaltkreise sind auf der einen Seite Ansammlungen
17
J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1, 4. durchg. Aufl. in 2 Bän- von Transistorelementen, die auf bestimmte eingehende elektrische
den. Hamburg 1981, § 50.
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Impulse hin bestimmte elektrische Impulse ausgeben. Auf der anderen Und auch dies ist keineswegs ausgeschlossen. Zunächst mag zwar die
Seite sind sie aber auch kleine Additionsmaschinen, die, wenn zwei Annahme nahe liegen, daß Neuronen nur auf elektro-chemische Im-
Zahlen (genauer: Zahlzeichen) an den zweimal 4 Eingängen eingege- pulse reagieren. Doch schon die Beispiele der Kantendetektoren oder
ben werden, an den Ausgängen das Zahlzeichen für die Summe dieser der Gesichtererkennungsneuronen machen deutlich, daß gerade die
beiden Zahlen ausgeben. Computer generell sind auf der einen Seite Verschaltung von Neuronen mit Rezeptoren und anderen Neuronen
elektronische Geräte, auf der anderen Seite aber auch Rechen- bzw. sicherstellt, daß Neuronen auch für Merkmale des visuellen Feldes
Symbolverarbeitungsmaschinen. und sogar für Merkmale der Umwelt empfänglich sind. Und offenbar
Dasselbe – oder zumindest etwas sehr Ähnliches – gilt auch für das sind Neuronen sogar sensitiv für Bedeutungen. Ohne Zweifel reagiert
Gehirn.18 Auf der einen Seite ist das Gehirn eine Ansammlung von viel- unser Gehirn auf einen Ausruf des Wortes „Feuer“ anders als auf den
fach miteinander verschalteten Neuronen, die auf unterschiedliche Wei- Ausruf „Freibier“. Und das liegt nicht daran, daß es sich hier um syn-
se feuern und sich in ihrem Feuerungsverhalten wechselseitig beein- taktisch verschiedene Wörter handelt. Denn auf die Wörter „Es
flussen. Wie selbst Neurowissenschaftler sagen, läßt sich dieses Feuern brennt“ reagiert unser Gehirn wahrscheinlich ähnlich wie auf das
von Neuronen aber auch auf einer kognitiven Ebene beschreiben – als Wort „Feuer“. Tatsächlich ist hier also die Bedeutung das Entschei-
das Wahrnehmen eines Gesichts, als Abrufen einer Erinnerung oder dende. Nehmen wir noch einmal den Fall, daß mich eine Kollegin an-
als die Entscheidung, den Arm zu heben. Dies zeigt sich schon an den ruft und sagt: „Du mußt unbedingt kommen. Heute steht eine wichtige
von Hubel und Wiesel entdeckten Kantendetektoren. Dies sind Neu- Wahl an; und dabei kann Deine Stimme ausschlaggebend sein.“ Wenn
ronenverbände, deren Feuerungsrate genau dann stark ansteigt, wenn ich darauf hin tatsächlich aufstehe und zur Fakultätskonferenz gehe,
sich an einer bestimmten Stelle im visuellen Feld einer Person eine ist das wohl am besten dadurch zu erklären, daß die neuronalen Pro-
Kante mit einer Orientierung von, sagen wir, 30q befindet. Genauso zesse, die zu meinem Aufstehen führten, auf die Bedeutung dessen,
gibt es auch Neuronenverbände, die auf Gesichter oder auf Gebärden was die Kollegin gesagt hat, reagiert haben – und auch auf das in ihrer
reagieren. Außerdem reden gerade Neurobiologen wie Roth und Sin- Äußerung enthaltene Argument. Meiner Meinung nach spricht also
ger oft davon, daß an bestimmten Stellen im Gehirn Entscheidungen alles dafür, daß bestimmte neuronale Prozesse Prozesse des Überle-
gefällt werden oder daß sich im mesolimbischen/mesocorticalen Sys- gens sind, die für Gründe und Argumente empfänglich sind.
tem ein Belohnungszentrum befindet. Es kann offenbar also gar kein Wenn das so ist, dann erscheinen die Ergebnisse der Experimente
Zweifel daran bestehen, daß auch neuronale Prozesse ganz unter- Libets aber in einem völlig anderen Licht; dann zeigt sich ihnen näm-
schiedlich beschrieben und aufgefaßt werden können. Damit steht a- lich, was von vornherein zu erwarten war. Bevor eine Entscheidung
ber der Annahme nichts mehr im Wege, daß es sich bei manchen neu- getroffen wird, laufen neuronale Prozesse ab, die zugleich mentale
ronalen Prozessen um Prozesse des rationalen Überlegens oder des Prozesse der Entscheidungsfindung sind – Prozesse des Überlegens
Abwägens von Gründen handelt. Oder anders ausgedrückt: Die Tatsa- und des Abwägens von Gründen oder andere Prozesse ähnlicher Art.
che, daß etwas ein neuronaler Prozeß ist, schließt keineswegs aus, daß Und natürlich lassen sich diese Prozesse als neuronale Prozesse über
es sich bei demselben Prozeß um einen Prozeß des Überlegens handelt Bereitschaftspotentiale oder andere meßbare Effekte nachweisen. Daß
– genau so wenig wie die Tatsache, daß etwas ein elektronischer Pro- diese Prozesse nicht vollständig bewußt sind, wird keinen verwundern,
zeß ist, ausschließt, daß es sich bei demselben Prozeß um das Berech- der mit den Ergebnissen der Kognitionswissenschaften vertraut ist. Denn
nen der Summe zweier Zahlen handelt. bei der Untersuchung kognitiver Prozesse läßt sich häufig beobachten,
Daß es sich bei einem neuronalen Prozeß um einen Überlegenspro- daß nur das Ergebnis, aber nicht die Prozesse selbst bewußt werden.
zeß handelt, müßte sich dann allerdings gerade daran zeigen, daß die- Wenn wir Menschen als biologische Wesen verstehen, deren mentales
ser Prozeß durch Gründe und Argumente beeinflußt werden kann. Leben neuronal realisiert ist, sind die Befunde Libets also alles
andere als rätselhaft. Und sie widersprechen auch nicht der Annahme,
daß wir zumindest manchmal frei entscheiden. Denn wenn freie Ent-
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Damit wird natürlich keineswegs gesagt, daß das Gehirn ein Computer ist, sondern scheidungen die Entscheidungen sind, bei denen man innehalten und
nur, daß sich auch das Gehirn auf verschiedenen Ebenen beschreiben läßt.
304 Ansgar Beckermann

überlegen kann, was für und was gegen die verschiedenen Handlungs-
optionen spricht, und bei denen die Entscheidung danach durch das
Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird, dann schließen sich neu-
ronale Determiniertheit und Freiheit keineswegs aus.

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