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Bewusstsein

Wie erleben wir Gefühle, wie Bewusstsein? „Über unseren Kopf“ ist die naheliegende
Antwort. Was genau in unserem Gehirn bewirkt, dass uns Farben, Schmerz und Freude,
Vergangenheit und Zukunft, unser Selbst bewusst werden? Was geht in dem Gehirn eines
Komapatienten, eines Fetus, eines Hundes, einer Maus oder einer Fliege vor? Und was in
den „Gehirnen“ von Computern? Können diese jemals ein Bewusstsein erlangen?
Christof Koch geht in seinem sehr persönlichen, autobiographisch geprägten Buch auf
all diese Fragen ein. Er greift auch Fragen nach dem freien Willen auf, nach einer ­Theorie
des Bewusstseins und nach, wie er es nennt, dem „Schreckgespenst seiner Forschung“:
­Inwieweit ist die Quantenmechanik für das Verständnis des Bewusstseins relevant?

Christof Koch wurde 1956 im amerikanischen Mittleren Westen geboren, wuchs auf in
Holland, Deutschland, Kanada und Marokko, wo er im Jahre 1974 am Lycée Descartes
mit dem Baccalaureat abschloss. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität
Tübingen und erhielt seinen Doktor in Biophysik im Jahre 1982 am Max-Planck-Institut
für Biologische Kybernetik. Nach seiner Postdoktorandenzeit nahm Koch 1986 einen Ruf
ans California Institute of Technology in Pasadena an und ist heute zudem Chief Scientific
Officer am Allen Institute for Brain Science in Seattle. Von 1989 bis zu dessen Tod im Jahre
2004 arbeitete er mit Francis Crick an den neurobiologischen Grundlagen des Bewusst-
seins. Der begeisterte Läufer und Kletterer ist Verfasser von über 300 wissenschaftlichen
Veröffentlichungen sowie mehreren Büchern über Biophysik und Computer, die neurowis-
senschaftliche Grundlage der visuellen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Bewusstsein,
darunter das Sachbuch Bewusstsein - ein neurobiologisches Rätsel. Für weitere Informationen
sei seine Website unter http://www.klab.caltech.edu empfohlen.
Christof Koch

Bewusstsein
Bekenntnisse eines Hirnforschers

Aus dem Englischen übersetzt von Monika Niehaus


und Jorunn Wissmann
Christof Koch
Cal Tech
California
USA

Aus dem englischen übersetzt von Monika Niehaus und Jorunn Wissmann

ISBN 978-3-642-34770-2    ISBN 978-3-642-34771-9 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-34771-9

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-
nb.de abrufbar.

Springer Spektrum
Übersetzung der amerikanischen Ausgabe: Consciousness – Confessions of a Romantic
Reductionist von Christof Koch, erschienen bei The MIT Press, © 2012 Massachusetts
Institute of Technology. Alle Rechte vorbehalten.

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013


Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,
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betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Planung und Lektorat: Merlet Behncke-Braunbeck, Martina Mechler


Redaktion: Jorunn Wissmann, Monika Niehaus
Index: Bärbel Häcker
Einbandabbildung: Anna Zeligowski
Einbandentwurf: deblik, Berlin

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Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der
Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.
www.springer-spektrum.de
Für Hannele
Inhalt

Vorwort ���������������������������������������������������������������������������������������  XI

Dank ��������������������������������������������������������������������������������������������   XIII

1 In welchem ich das antike Körper-Geist-Problem


­vorstelle, erkläre, warum ich es mit logischem
D
­ enken und empirischer Forschung zu lösen ver-
suche, den geschätzten Leser mit Francis Crick
bekanntmache, erkläre, was dieser mit meinem 
Bestreben zu tun hat, ein Bekenntnis ablege und
mit einer etwas traurigen Passage ende��������������������������    1

2 In welchem ich darüber schreibe, woraus sich mein


innerer Konflikt zwischen Religion und Vernunft
speist, warum ich schon immer Wissenschaftler
werden wollte, weshalb ich eine Anstecknadel von
Professor Bienlein trage und wie ich in späten Jah-
ren noch zu einem zweiten Mentor kam��������������������������   17

3 In welchem ich erkläre, warum das Bewusstsein eine


Herausforderung für die wissenschaftliche Weltsicht
ist, wie man es empirisch erforschen und dabei mit
beiden Füßen fest auf dem Boden bleiben kann,
warum Tiere genau so ein Bewusstsein haben wie
Menschen und warum Selbst-Bewusstsein nicht so
wichtig ist, wie manche denken ��������������������������������������   37
VIII Bewusstsein

4 In welchem ich von Wissenschafts-Magiern erzähle,


die uns zwar sehen, aber nicht erkennen lassen, wie
sie die Spuren des Bewusstseins verfolgen, indem
sie in unsere Köpfe blicken, warum wir nicht mit
unseren Augen sehen, und warum Aufmerksamkeit
und Bewusstsein nicht dasselbe sind ������������������������������   69

5 In welchem wir von Neurologen und Neurochirur-


gen erfahren, dass sich manche Neurone sehr für
Berühmtheiten interessieren, dass das Zerteilen
der Großhirnrinde in zwei Hälften keineswegs auch
das Bewusstsein halbiert, dass die Welt durch den
Verlust einer kleinen corticalen Region alle Farbe
verliert und dass uns die Zerstörung eines zucker-
würfelgroßen Stücks Hirnstamm- oder Thalamusge-
webe zu einem Untoten macht ����������������������������������������  101

6 In welchem ich zwei Postulate verteidige, die mein


jüngeres Ich unsinnig fand: Wir sind uns der meisten
Dinge, die in unserem Kopf vorgehen, nicht bewusst,
und Zombies steuern in weiten Teilen unser Leben,
auch wenn wir der festen Überzeugung sind, darü-
ber selbst zu bestimmen ��������������������������������������������������  131

7 In welchem ich alle Vorsicht in den Wind schlage,


den freien Willen und den Ring der Nibelungen
aufs Tapet bringe und berichte, was die Physik über
Determinismus zu sagen hat, die beschränkte Wahl-
freiheit unseres Geistes erläutere und zeige, dass
unser Wille den Entscheidungen unseres Gehirns
hinterherhinkt und Freiheit nur eine Empfindung
unter vielen ist ������������������������������������������������������������������  161
Inhalt IX

8 In welchem ich argumentiere, dass Bewusstsein eine


grundlegende Eigenschaft von vernetzten Entitäten
ist, und von der Theorie der integrierten Information
schwärme, die viele rätselhafte Eigenschaften des
Bewusstseins erklärt und eine Vorlage für den Bau
empfindungsfähiger Maschinen liefert ������������������������   201

9 In welchem ich zeige, wie ein elektromagnetisches


Gerät zur Messung von Bewusstsein aussehen müss-
te, Bemühungen beschreibe, mithilfe von Gentech-
nik das Bewusstsein von Mäusen aufzuspüren und
mich beim Bau corticaler Observatorien ertappe ��������   243

10 In welchem ich über letzte Dinge nachsinne, die im


ernsthaften wissenschaftlichen Diskurs tabu sind,
nämlich über Witz, die Beziehung zwischen Wissen-
schaft und Religion, über die Existenz Gottes, darü-
ber, ob dieser Gott in den Lauf der Dinge eingreifen
kann, über den Tod meines Mentors und über die
Dinge, mit denen ich mich derzeit herumschlage ��������   265

Anmerkungen����������������������������������������������������������������������������   299

Literatur ������������������������������������������������������������������������������������   313

Sachverzeichnis ������������������������������������������������������������������������   323


Vorwort

In Ihren Händen halten Sie einen kurzen Abriss der gegen-


wärtigen Bewusstseinsforschung. In wenigen Stunden
können Sie sich damit darüber informieren, wie weit die
Naturwissenschaft heute eine der für uns existenziellsten
Fragen beantworten kann, nämlich: Wie gelangen subjek-
tive Gefühle, wie gelangt Bewusstsein in die Außenwelt?
„Über unseren Kopf“ ist die naheliegendste Antwort, doch
sie hilft nicht so recht weiter. Was genau in meinem Gehirn
bewirkt, dass mir Farben, Schmerz und Freude, Vergangen-
heit und Zukunft, ich selbst und andere bewusst werden?
Wie verhält es sich mit dem Gehirn eines Komapatienten,
eines Fetus, eines Hundes, einer Maus oder einer Fliege?
Und wie mit den „Gehirnen“ von Computern? Können
diese jemals ein Bewusstsein erlangen? Auf all diese Fragen
werde ich eingehen, und noch auf einige mehr, etwa die
nach dem freien Willen, nach einer Theorie des Bewusst-
seins und nach dem Schreckgespenst meiner Forschung:
Der Frage, inwieweit die Quantenmechanik für das Ver-
ständnis des Bewusstseins relevant ist.
Dennoch ist dies mehr als ein wissenschaftliches Buch –
es ist auch ein Bekenntnis und eine Autobiographie. Ich bin
nicht nur ein nüchterner Physiker und Biologe, sondern
XII Bewusstsein

auch ein Mensch, der nur ein paar Jahre Zeit dafür hat, hin-
ter die Geheimnisse unserer Existenz zu kommen. In den
letzten Jahren wurde mir klar, wie sehr meine unbewuss-
ten Tendenzen, meine Ansichten und meine persönlichen
Stärken und Schwächen mein Leben und meine Arbeit be-
einflussen. Ich erlebte, was der Autor Haruki Murakami in
einem beeindruckenden Interview beschrieb: „In uns gibt
es verschiedene Räume. Die meisten davon haben wir noch
nie betreten. Vergessene Räume. Von Zeit zu Zeit finden
wir den Weg dorthin. Wir stoßen auf seltsame Dinge …
alte Plattenspieler, Bilder, Bücher … sie gehören uns, aber
wir finden sie gerade zum ersten Mal.“ Einige dieser ver-
lorenen Räume werden Sie kennenlernen, denn sie sind re-
levant für das, was ich versuche – die Wurzeln des Bewusst-
seins aufzuspüren.

Pasadena, Kalifornien Mai 2011


Dank

Ein Buch zu schreiben, zu lektorieren und zu veröffent-


lichen, erfordert das Zusammenwirken vieler Menschen.
Bücher sind ein Zeugnis für das Gute im Menschen – die
Freude daran, auf ein fernes Ziel hinzuarbeiten, mit dem
Gefühl, etwas gut zu machen, als unmittelbarem Lohn.
Blair Potter lektorierte meinen Text. Sie erkannte die drei
grundlegenden Themen in meinem Geschreibsel und ent-
wirrte es. Wenn mein Text wie aus einem Guss wirkt, dann
ist das ihr Verdienst. John Murdzek und Katherine Almeida
lasen alles akribisch Korrektur, und Sara Ball, Amy Chung-
Yu Chou und Kelly Overly gaben wertvolle Hinweise zum
Lektorat.
Volney Gay, Professor für Psychiatrie und Religionswis-
senschaft an der Vanderbilt University in Nashville, lud
mich ein, im Frühjahr 2007 im Rahmen der Templeton Re-
search Lectures drei Vorträge zum Thema „Das Problem des
Bewusstseins in Philosophie, Religion und Wissenschaft“
zu halten – damit nahm dieses Buch seinen Anfang. Ich
danke der John Templeton Foundation dafür, dass sie diese
öffentlichen Vorträge so großzügig finanziell gefördert hat.
Würdigen möchte ich zudem die vielen Studenten,
Freunde und Kollegen, die Teile des Buches gelesen und
XIV Bewusstsein

mich auf sprachliche Mängel, Widersprüche und nicht be-


legte Aussagen hinwiesen – Ralph Adolphs, Ned Block,
Bruce Bridgeman, McKell Ronald Carter, Moran Cerf, Da-
vid Chalmers, Michael Hawrylycz, Constanze Hipp, Fat-
ma Imamoglu, Michael Koch, Gabriel Kreiman, Uri Maoz,
Leonard Mlodinow, Joel Padowitz, Anil Seth, Adam Shai,
Giulio Tononi und Gideon Yaffe. Heather Berlin schlug
den Buchtitel vor, Bruce Bridgeman, McKell Carter und
Giulio Tononi nahmen sich die Zeit, den gesamten Text
sorgfältig durchzugehen und zu korrigieren. Dank ihrer
Mühen sowie ihrer indirekten und direkten Kritik liest sich
das Buch flüssiger und hat weniger irritierende Ecken und
Kanten.
Ich danke den vielen Institutionen, die mir ein sicherer
Hafen waren, vor allem dem California Institute of Tech-
nology, das 25 Jahre lang meine intellektuelle Heimat war.
In jenen Jahren, den schwierigsten meines Lebens, waren
das Caltech und seine Leute mein Fels in der Brandung.
Sie halfen mir im Großen und im Kleinen, Dinge zu be-
wältigen. Die Korea University in Seoul bot mir im Fernen
Osten ein Refugium und die Möglichkeit, zu schreiben, zu
denken und über all das zu reflektieren, womit sich dieses
Buch beschäftigt. Das Allen Institute for Brain Science in
Seattle gewährte mir großzügig die Zeit, das Buch zu voll-
enden.
Die Forschung meines Labors wird von der National Sci-
ence Foundation, den National Institutes of Health, dem
Office of Naval Research, der Defense Advanced Research
Projects Agency, der G. Harold & Leila Y. Mathers Foun-
dation, der Swartz Foundation, der Paul G. Allen Family
Dank XV

Foundation und dem World-Class-University-Programm


der südkoreanischen National Research Foundation unter-
stützt. Ich danken ihnen allen.
Kapitel 1
In welchem ich das antike Körper-
Geist-Problem vorstelle, erkläre, warum
ich es mit logischem Denken und ­empirischer
Forschung zu lösen ­versuche, den geschätzten
Leser mit Francis Crick ­bekanntmache, erkläre,
was dieser mit ­meinem Bestreben zu tun hat,
ein Bekenntnis ablege und mit einer etwas
­traurigen Passage ende

I can’t tell you what it really is, I can only tell you how it
feels like.
– Eminem, „Love the Way You Lie“ (2010)

Es war eine ganz alltägliche Begebenheit, die meinem Le-


ben eine neue Wendung gab. Ich hatte schon ein Aspirin
genommen, aber die Zahnschmerzen waren noch da. Da
lag ich im Bett und konnte nicht schlafen, weil es in mei-
nem unteren Backenzahn pochte.
Um mich von dem Schmerz abzulenken, fragte ich mich,
wie es eigentlich dazu kam, dass es so wehtat. Ich wusste,
dass eine Entzündung der Zahnpulpa elektrische Signa-
le den Trigeminusnerv hinauf bis zu dessen Ursprungsort
im Hirnstamm sendet. Einige Schaltstellen weiter werden
Nervenzellen in einem bestimmten Teil der neocorticalen
grauen Substanz aktiv und senden ihrerseits elektrische Im-
pulse aus. Derartige bioelektrische Aktivität in diesem Teil
C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_1,
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
2 Book
  B Title
ewusstsein

des Gehirns geht mit dem Bewusstsein von Schmerz und


der Pein einher, die man dabei empfindet.
Aber – da war gerade etwas im Grunde Unerklärliches
geschehen. Wie kann Aktivität im Gehirn, dieser wabbeli-
gen Masse, Gefühle auslösen? Wie kann bloßes Fleisch – so
wird der Körper in Cyberpunkromanen oft abfällig genannt
– subjektives Empfinden hervorrufen? Oder allgemeiner
gesagt: Wie kann etwas Physisches etwas Nichtphysisches,
subjektive Zustände erzeugen? Ob es der Zahnschmerz ist,
den ich an einem fernen Sommertag an der Atlantikküste
verspürte, die Freude beim Anblick meiner Kinder oder der
Geschmack eines moussierenden Vouvray, sie alle haben
denselben problematischen Ursprung in der Aktivität von
Nervengewebe.
Problematisch deshalb, weil zwischen dem Nervensys-
tem und seiner Innenansicht, den subjektiven Empfin-
dungen, die es erzeugt, eine scheinbar unüberbrückbare
Kluft besteht. Auf der einen Seite befindet sich das Ge-
hirn, das komplexeste Objekt des bekannten Universums,
ein materielles Ding, das den Gesetzen der Physik ge-
horcht. Auf der anderen Seite befindet sich die Welt der
Bewusstheit, die Welt dessen, was wir sehen und hören,
der Furcht und des Zorns, der Lust, der Liebe und der
Langeweile.
Diese beiden Welten sind eng miteinander verwandt, wie
ein Schlaganfall oder ein heftiger Schlag auf den Kopf ein-
drucksvoll belegen. Oscar Wilde drückte es poetisch aus:
„Erst im Gehirn ist der Klatschmohn rot, duftet der Ap-
fel und trillert die Lerche.“ Aber – wie geht diese Trans-
formation nun genau vor sich? Wie konstruiert das Gehirn
1  Bewusstsein: der Einstieg   3

bewusstes Erleben? Über seine Gestalt, seine Größe, seine


Aktivität, seine Komplexität?
Bewusstsein taucht in den grundlegenden Gleichun-
gen der Physik nicht auf, auch nicht im Periodensystem
der chemischen Elemente oder den endlosen molekularen
ATGC-Sequenzen unserer Gene. Aber wir beide – ich, der
Autor dieser Zeilen, und Sie, der Leser – sind bewusste,
fühlende Wesen. Das ist das Universum, in dem wir uns
befinden, ein Universum, in dem spezifische Vibrationen
hoch organisierter Materie bewusste Gefühle erzeugen. Das
Ganze erscheint ebenso magisch wie eine Öllampe, an der
man reibt und der ein Lampengeist entsteigt, der uns drei
Wünsche erfüllt.
Ich bin ein Nerd. Als Kind baute ich mir meinen eige-
nen Heimcomputer, um die booleschen Gesetze der Logik
umzusetzen. Ich lag wach im Bett und entwarf im Geis-
te komplizierte Tunnelbohrmaschinen. Daher lag es nahe,
dass mich meine Zahnschmerzen überlegen ließen, ob ein
Computer wohl Schmerz empfinden könnte. Angenom-
men, ich würde einen Temperatursensor an meinen Laptop
anschließen und diesen so programmieren, dass bei zu ho-
her Zimmertemperatur das Wort „Schmerz“ in großen ro-
ten Lettern auf dem Bildschirm erscheint. Aber würde sich
„Schmerz“ für meinen Mac nach irgendetwas anfühlen? Ich
schreibe Apple-Produkten gern alle möglichen Eigenschaf-
ten zu (vor allem Coolness), nicht jedoch Empfindungen.
Aber warum eigentlich nicht? Weil mein Laptop nach
­anderen physikalischen Gesetzen arbeitet? Anstelle von posi-
tiv oder negativ geladenen Natrium-, Kalium-, Calcium-
und Chloridionen, die durch die ­Nervenzellmembranen­
ein- und ausströmen, fließen Elektronen über die Gatter
4 Book
  B Title
ewusstsein

von Transistoren und lassen diese umschalten. Ist das der


entscheidende Unterschied? Ich glaube nicht. Wie mir
scheint, sind es offenbar die funktionalen Beziehungen der
einzelnen Gehirnteile zueinander, die letztlich den Aus-
schlag geben. Und die lassen sich, zumindest im Prinzip,
mit einem Computer nachahmen. Liegt es womöglich dar-
an, dass Menschen organisch sind und aus Knochen, Mus-
keln und Nerven bestehen, während Computer synthetisch
sind und aus Titan, Kupferdraht und Silizium gebaut?
Auch das scheint mir nicht entscheidend zu sein. Besteht
der Grund dann vielleicht darin, dass sich Menschen nach
den Gesetzen von Zufall und Notwendigkeit entwickelt
haben, Maschinen aber gezielt entworfen werden? Die Evo-
lutionsgeschichte von Tieren ist eine ganz andere als die di-
gitaler Apparate, und diese Andersartigkeit schlägt sich in
ihren unterschiedlichen Bauplänen nieder. Allerdings sehe
ich nicht, wie das beeinflussen sollte, wer von beiden ein
Bewusstsein hat. Es muss also die physikalische Beschaffen-
heit des Systems selbst sein, die den Unterschied macht,
und nicht wie es dazu wurde, was es ist.
Was ist der Unterschied, der den Unterschied macht?
In der Philosophie bezeichnet man die Schwierigkeit zu
erklären, warum jemand etwas fühlen kann, oft als „das
schwierige Problem“ des Bewusstseins (Hard Problem). Der
Begriff wurde von dem Philosophen David Chalmers ge-
prägt. Dieser machte sich Anfang der 1990er-Jahre einen
Namen, indem er nach einer schlüssigen, logischen Argu-
mentationskette zu dem Ergebnis kam, dass sich bewusstes
Erleben nicht auf die physikalischen Gesetze zurückführen
lässt, denen das Universum gehorcht. Diese Gesetze gelten
ebenso in einer Welt ohne Bewusstsein oder mit einer an-
1  Bewusstsein: der Einstieg   5

deren Art von Bewusstsein. Es wird niemals eine reduktio-


nistische, mechanistische Erklärung dafür geben, wie die
objektive und die subjektive Welt miteinander verbunden
sind. Der Ausdruck „das schwierige Problem“, „the Hard
Problem“ (mit großem H), wurde bald allerorts übernom-
men. Niemand stellt infrage, dass die physikalische und die
phänomenale Welt tagtäglich in Milliarden Menschen aufs
Engste miteinander verbunden sind. Es ist die Frage nach
dem Warum, die uns vor ein Rätsel stellt.
Durch Dave Chalmers habe ich eine wichtige Eigenschaft
von Philosophen kennengelernt. Ich hatte ihn eingeladen,
vor einigen Neurobiologen und Ingenieuren zu sprechen.
Hinterher saßen wir bei einer Flasche Wein zusammen,
und ich war überrascht, als er darauf bestand, dass keine
empirische Tatsache, keine Entdeckung in der Biologie und
kein konzeptueller Fortschritt in der Mathematik ihn von
dieser Vorstellung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen
beiden Welten abbringen könne. Dem schwierigen Prob-
lem war mit solchen Entwicklungen nicht beizukommen.
Ich war entgeistert. Wie konnten bloße Worte, ganz ohne
mathematischen oder physikalisch-empirischen Unterbau,
etwas mit einer solchen Gewissheit festlegen? Nach meinem
Empfinden hatte Chalmers zwar gewichtige Argumente auf
seiner Seite, aber ganz gewiss keinen Beweis.
Seitdem bin ich etlichen Philosophen begegnet, die von
der Richtigkeit ihrer Vorstellungen mehr als überzeugt
waren. Solches Vertrauen in die eigenen Ideen – ohne sich
von den unzähligen konkurrierenden Ideen der anderen
irritieren zu lassen, die ja nicht alle richtig sein können
– findet man bei Naturwissenschaftlern selten. Da wir es
im Experiment ständig mit unserer chaotischen Mutter
6 Book
  B Title
ewusstsein

­ atur zu tun haben, die uns zwingt, selbst die brillan-


N
testen und ästhetisch ansprechendsten Theorien zu modi-
fizieren, mussten wir wohl oder übel lernen, einer Idee
erst zu vertrauen, wenn alle berechtigten Zweifel an ihr
ausgeräumt sind.
Auf irgendeiner unterbewussten Ebene aber hatten diese
Streitgespräche eine gewisse Wirkung auf mich. Ihr Tenor
war, dass die Wissenschaft in ihrem Streben, die phänome-
nale Welt zu erklären, an ihre Grenzen stieß, und dass sich
das Bewusstsein rationalen Erklärungen und wissenschaft-
lichen Analysen jenseits empirischer Bestätigungen entzog.
Hier setzt die Religion an. Sie liefert eine intuitive, plau-
sible Erklärung für das Phänomen des Geistes: Wir sind
bewusste Wesen, weil wir eine unsterbliche Seele besitzen,
unser wahres, inneres Selbst. Die Seele ist untrennbar mit
einer transzendentalen Wirklichkeit jenseits von Katego-
rien wie Raum und Zeit und Kausalität verbunden. Diese
Seele strebt nach der Vereinigung mit Gott am Ende der
Zeit. Das jedenfalls waren die traditionellen Antworten,
mit denen ich in meiner gläubigen katholischen Familie
aufgewachsen bin.
Religion und Naturwissenschaft sind zwei Wege, sich
die Welt, ihren Ursprung und ihre Bedeutung zu erklären.
Historisch gesehen waren sie stets Widersacher. Seit der
Aufklärung ist die Religion in der westlichen Welt auf dem
Rückzug und verliert eine Schlacht nach der anderen. Ein
Rückschlag war die Kopernikanische Wende, mit der die
Erde aus dem Mittelpunkt des Universums an den Rand
einer Galaxie mit Hunderten Milliarden Sternen gerückt
wurde. Das schlimmste Desaster aber richtete Darwins
Theorie von der Evolution durch natürliche Selektion an.
1  Bewusstsein: der Einstieg   7

Diese enthob den Menschen seiner gottgleichen Herrschaft


über den Planeten und ersetzte die Schöpfungsgeschichte
durch eine Geschichte, die sich über ganze Erdzeitalter er-
streckt, voller Dramatik und dennoch bedeutungslos. Die
Evolution entthronte den Menschen; wir sind nur noch
eine Spezies unter unzähligen anderen. Die molekularen
Spuren in unseren Genen verraten, dass wir uns von der
Primatenstammlinie ableiten und in tiefster Vergangenheit
der Ursuppe entstiegen sind.
Vieles, was die Religion lehrt, ist folglich mit der moder-
nen Weltsicht nicht mehr kompatibel. Das ist keine große
Überraschung, entstanden doch die Mythen und Lehren
der großen monotheistischen Religionen in Zeiten, als man
über die Größe, das Alter und die Evolution der Erde und
der auf ihr lebenden Organismen kaum etwas wusste.
Viele Menschen glauben, die Naturwissenschaften raub-
ten dem Tun, Hoffen und Träumen des Menschen seinen
Sinn und ließen nichts als Verzweiflung und Leere zurück.
Jacques Monod, ein Wegbereiter der Molekularbiologie,
beschrieb dieses Verlorenheitsgefühl so:
Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung auf-
nimmt, dann muß der Mensch endlich aus seinem tausend-
jährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit,
seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er
seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums
hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen
seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Zu Collegezeiten schmückte dieses Epigramm mit ein paar


ähnlich frostigen Sprüchen von Friedrich Nietzsche und an-
deren mein Studentenzimmer. Schließlich aber ­rebellierte
8 Book
  B Title
ewusstsein

ich gegen diese Darstellung der existenziellen kosmischen


Gleichgültigkeit.
Es wird Zeit für ein Bekenntnis. Rückblickend gesehen
ist mir nun klar, was mich dazu brachte, mich mit dem Be-
wusstsein zu beschäftigen: das zwingende und gänzlich un-
bewusste Bedürfnis, meinen instinktiven Glauben an einen
Sinn des Lebens zu rechtfertigen. Ich dachte, die Naturwis-
senschaften könnten nicht erklären, wie Gefühle entstehen.
Indem ich mich ganz der Erforschung des Bewusstseins
widmen und damit scheitern würde, würde ich zu meiner
eigenen Befriedigung beweisen, dass die Naturwissenschaf-
ten das Wesen der Trennlinie zwischen Geist und Körper
nicht hinreichend verstehen, das Mysterium der eigent-
lichen phänomenalen Existenz nicht erklären kann, und
dass Monods Verlorenheitsgefühle unangebracht waren.
Am Ende aber kam es anders. Und so brachten mich meine
Zahnschmerzen auf eine Entdeckungsreise in die Gefilde
des Bewusstseins, mit dem schwierigen Problem als Leit-
stern.
Am Anfang erforschte ich das Körper-Geist-Problem
(oder auch Leib-Seele-Problem) gemeinsam mit dem Physi-
ker und Biochemiker Francis Crick. Er hatte 1953 gemein-
sam mit James Watson die Doppelhelixstruktur der DNA,
also des Moleküls der Vererbung, entdeckt. Dies einzigarti-
ge Ereignis, das die Ära der Molekularbiologie einläutete,
ist das am besten dokumentierte und berühmteste Beispiel
für eine revolutionäre wissenschaftliche Entdeckung. Sie
wurde 1962 mit dem Nobelpreis für Medizin gewürdigt.
Wie in dem Buch Der 8. Tag der Schöpfung, einer exzel-
lenten Geschichte der Molekularbiologie, von Horace Free-
land Judson beschrieben, wurde Francis zum ­wichtigsten
1  Bewusstsein: der Einstieg   9

Kopf auf diesem Gebiet. An ihm und seinen Theorien


orientierten sich all die anderen, die fieberhaft den univer-
sellen Code des Lebens zu entziffern suchten. Als das er-
reicht war, wandte sich Francis von der Molekularbiologie
ab und der Neurobiologie zu. Im Jahre 1976, im Alter von
60 Jahren, stürzte er sich in diese neue Thematik; gleichzei-
tig zog er von der Alten Welt in die Neue, von Cambridge
nach Kalifornien.
Im Laufe von 16 Jahren verfassten Francis und ich ge-
meinsam zwei Dutzend wissenschaftliche Artikel und Auf-
sätze, die sich allesamt mit der Anatomie und Physiologie
des Primatengehirns und deren Zusammenhang mit dem
Bewusstsein befassten. Als wir Ende der 1980er-Jahre mit
dieser Herzensangelegenheit begannen, galt es als Zeichen
kognitiven Verfalls, über Bewusstsein zu schreiben. Nobel-
preisträger im Ruhestand konnten so etwas machen, Mysti-
ker und Philosophen auch, aber doch nicht ernsthafte Na-
turwissenschaftler! Ein Interesse am Körper-Geist-Problem
mehr als hobbymäßig zu verfolgen, war für einen jungen
Professor (und besonders für einen, der noch keinen un-
befristeten Vertrag hatte) nicht unbedingt ratsam. Bewusst-
sein war ein wenig angesehenes Thema; die graduierten
Studenten, stets bestens angepasst an die Gepflogenheiten
ihrer Altvorderen, rollten mit den Augen und lächelten
nachsichtig, wenn es zur Sprache kam.
Doch mit der Zeit änderte sich dies. Mit einer Hand-
voll Kollegen – Bernie Baars, Ned Block, David Chalmers,
Jean-Pierre Changeux, Stanislas Dehaene, Gerald Edelman,
Steven Laureys, Geraint Rees, John Searle, Wolf Singer und
Giulio Tononi, um nur einige zu nennen – schufen wir eine
Wissenschaft vom Bewusstsein. Diese steckt zwar noch in
10 Book
  B Title
ewusstsein

den Kinderschuhen, steht aber für einen echten Paradig-


menwechsel und die Einigkeit darüber, dass das Bewusstsein
ein legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist.
Als Geburtshelferin wirkte dabei die rasante Entwick-
lung der computergestützten bildgebenden Verfahren mit,
die es erlaubten, das menschliche Gehirn ohne Gesund-
heitsgefährdung routinemäßig in Aktion darzustellen. Die-
se Techniken hatten eine elektrisierende Wirkung auf die
Alltagskultur – MRT- (Magnetresonanz-) Bilder des Ge-
hirns mit vielsagenden Hot Spots begegnen uns heute auf
Zeitschriftentiteln, auf T-Shirts und in Filmen.
Die Erforschung der biologischen Grundlagen des Be-
wusstseins ist heute eine ganz normale, legitime wissen-
schaftliche Betätigung.
Im Laufe der letzten 25 Jahre habe ich zwei Dutzend
Studenten, Postdocs und Mitarbeiter des California In-
stitute of Technology (Caltech) betreut, die sich dieser
Erforschung widmen. Ich habe mit Physikern, Biologen,
Psychologen, Psychiatern, Anästhesisten, Neurochirurgen,
Ingenieuren und Philosophen zusammengearbeitet. Ich
habe an unzähligen psychologischen Tests teilgenommen.
Ich habe mein Gehirn starken magnetischen Impulsen und
schwachen elektrischen Strömen ausgesetzt, meinen Kopf
in MRT-Scanner gesteckt, um zu sehen, was sich darin ab-
spielt, und meine Gehirnwellen aufzeichnen lassen, wäh-
rend ich schlief.
Im vorliegenden Buch berichte ich aus vorderster Front
von der heutigen Forschung zur Neurobiologie des Bewusst-
seins. So wie Licht sein eigenes Fehlen, die Dunkelheit, vo-
raussetzt, setzt Bewusstsein das Unbewusste voraus. Wie
­Sigmund Freud, Pierre Janet und andere im ausgehenden
1  Bewusstsein: der Einstieg   11

19. Jahrhundert erkannten, ist vieles von dem, was in unse-


rem Kopf vorgeht, unserem Bewusstsein nicht zugänglich –
es ist unbewusst. Wenn wir nach innen sehen, täuschen wir
uns ohnehin stets selbst, denn wir betrachten dabei tatsäch-
lich nur einen winzigen Teil dessen, was sich in unserem
Kopf abspielt. Diese Täuschung ist der Grund dafür, dass
die Philosophie des Selbst, des Willens und anderer Aspekte
unseres Geistes seit über 2000 Jahren nicht sehr fruchtbar
war. Dennoch kann, wie ich an späterer Stelle beschreiben
werde, das Unbewusste unser Verhalten grundlegend beein-
flussen. Auch auf das dem verwandte Problem des freien
Willens gehe ich ein, auf das Gefühl, eine Handlung be-
wusst initiiert zu haben, und auf die Frage, wie Physik,
Psychologie und Neurochirurgie diesen metaphysischen
Knoten nach und nach lösen. In aller Stille haben nämlich
Entdeckungen auf diesen Gebieten einen entscheidenden
Aspekt des Problems des freien Willens enträtselt.
Zu guter Letzt beschreibe ich eine plausible quantitati-
ve Theorie des Bewusstseins, die erklärt, warum bestimmte
Arten hoch organisierter Materie, insbesondere Gehirne,
ein Bewusstsein haben können. Die Theorie der integrier-
ten Information, entwickelt von dem Neurowissenschaftler
und Psychiater Giulio Tononi, erklärt ausgehend von zwei
grundlegenden Axiomen letztlich alles Phänomenale in
der Welt. Das ist keine spekulative Philosophie, sondern
führt zu konkreten neurobiologischen Erkenntnissen, zur
Konstruktion eines Bewusstseinsmessers, der das Ausmaß
des Bewusstseins bei Tieren, Babys, Schlafenden, Kranken
und anderen abschätzen kann, die sich nicht selbst zu ihrem
Erleben äußern können. Die Theorie hat weit reichen-
de Auswirkungen, die in manchem an die prophetischen
12 Book
  B Title
ewusstsein

­ edanken von Pierre Teilhard de Chardin erinnern (über


G
ihn später mehr).
Wie Entdeckungen in der Astronomie und Kosmologie
zeigen, begünstigen die Gesetze der Physik die Bildung
stabiler, schwerer Elemente über Wasserstoff und Helium
hinaus. Diese Gesetze greifen unglaublich exakt ineinander
und setzen eine exakte Balance der vier Grundkräfte der
Physik voraus; andernfalls hätte unser Universum niemals
das Stadium erreicht, in dem Wasserstoff und Helium un-
geheure glühende Massen bilden – langlebige Sterne, die
die Felsplaneten in ihren Umlaufbahnen mit einem unend-
lichen Strom an Energie versorgen. Die Materie, aus der
diese Planeten mit ihrer Hülle aus Gestein, Erde und Luft
bestehen – Silizium, Sauerstoff und dergleichen – entstand
im Inneren der nuklearen Schmelzöfen der ersten Genera-
tion von Sternen und verteilte sich mit deren explosivem
Todeskampf im umgebenden Raum. Wir bestehen, ganz
wörtlich, aus Sternenstaub. Dieses dynamische Universum
gehorcht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: Die
Entropie eines geschlossenen Systems kann nicht abneh-
men, oder anders gesagt: Das Universum entwickelt sich
hin zu maximaler Unordnung und Gleichförmigkeit. Das
schließt aber nicht die Bildung stabiler Inseln der Ord-
nung aus, die sich aus dem umgebenden Ozean freier Ener-
gie speisen. Die ausnahmslose Gültigkeit dieses Gesetzes
brachte die statistische Gewissheit mit sich, dass auf eini-
gen dieser Inseln im Kosmos letztlich langkettige, komplexe
Moleküle entstehen würden.
Als dieser entscheidende Zustand einmal erreicht war,
wurde der nächste Schritt ebenso wahrscheinlich: Genesis,
die Entstehung des Lebens in einer Höhle oder in einem
1  Bewusstsein: der Einstieg   13

Gewässer auf der frühen Erde oder auch andernorts, unter


fremden Himmeln. Die durch Fossilfunde belegte, immer
größer werdende Komplexität der Organismen ist eine
Konsequenz des gnadenlosen Wettstreits um das Überle-
ben, der die Evolution vorantreibt.
Im Zuge dieser Entwicklung entstanden erste Nerven-
systeme und ein erster Anflug von subjektivem Empfinden.
Die anhaltende Komplexifikation der Gehirne, um einen
Begriff von Teilhard de Chardin zu verwenden, förder-
te das Bewusstsein, bis schließlich das Selbst-Bewusstsein
entstand: ein über sich selbst reflektierendes Bewusstsein.
Dieser Prozess setzte vor Millionen von Jahren bei einigen
höher entwickelten Säugetieren ein. Im Homo sapiens hat er
seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Doch die Komplexifikation hört mit dem individuellen
Selbst-Bewusstsein nicht auf. Sie findet weiter statt, und
das sogar mit zunehmender Geschwindigkeit. In den heu-
tigen hochtechnisierten und miteinander eng verwobenen
Gesellschaften nimmt sie supraindividuelle, kontinentum-
spannende Formen an. Angesichts der blitzschnellen welt-
weiten Kommunikation, die Mobiltelefon, E-Mail und
soziale Netzwerke bieten, prophezeie ich, dass die wim-
melnden, milliardenstarken Menschenmassen mit ihren
Computern eines Tages in einer gewaltigen Matrix, einem
weltumspannenden Übergeist, miteinander verknüpft sein
werden. Wenn es der Menschheit gelingt, den Untergang
infolge eines atomaren Infernos oder kompletter Umwelt-
zerstörung zu vermeiden, gibt es keinen Grund, warum sich
dieses Netz wuchernden Bewusstseins nicht auf die anderen
Planeten und letztlich durch das Dunkel des Universums in
der gesamten Galaxis ausbreiten sollte.
14 Book
  B Title
ewusstsein

Jetzt wissen Sie, warum mich der Neuropsychologe Mar-


cel Kinsbourne einen romantischen Reduktionisten nennt:
Reduktionist, weil ich in der rastlosen und stets variablen
Aktivität von Milliarden winziger Nervenzellen und ihren
Zehntausenden von Synapsen nach quantitativen Erklä-
rungen für das Bewusstsein suche; romantisch, weil ich fest
daran glaube, dass das Universum Spuren von Bedeutung
aufweist, die wir wie Kondensstreifen am Himmel über uns
und in unserem tiefsten Inneren erkennen können. Es gibt
eine Sphärenmusik, und wir können Fetzen davon hören,
ja sogar eine Ahnung von ihr als Ganzes bekommen, wenn
wir nur genau hinhören.
Der Untertitel dieses Buches gebraucht das vielverspre-
chende Wort „Bekenntnisse“. Dieses Genre wurde von
Augustinus in der Spätantike begründet, und bis zu den
heutigen Talk- und Realityshows im Fernsehen hat es einen
(manchmal üblen) Geruch von Exhibitionismus, Eigen-
nutz und Verlogenheit an sich. Ich will mit derlei nichts zu
tun haben. Außerdem gilt für mich als schreibender Wis-
senschaftler eigentlich das strikte Gebot, keine subjektiven,
persönlichen Aspekte einzubringen. Darum werden wissen-
schaftliche Artikel oft im blutarmen Passiv formuliert: „Es
wurde nachgewiesen, dass …“ – um nur ja den Eindruck
zu vermeiden, dass Forschung von Menschen aus Fleisch
und Blut betrieben wird, und das womöglich nicht nur aus
hehren Gründen.
Auf den nächsten Seiten werde ich Ihnen von mir und
meinem Leben erzählen, jedenfalls soweit es für die Fra-
gen relevant ist, was mich – bewusst oder unbewusst –
bewogen hat, bestimmten Problemen auf den Grund zu
gehen, und warum ich eine bestimmte wissenschaftliche
1  Bewusstsein: der Einstieg   15

Haltung eingenommen habe. Letztlich verraten wir ja mit


der Wahl unseres Berufesfeldes viel über unsere innere
Motivation.
In den letzten Jahren, da mein Leben unweigerlich sei-
nen Zenit überschritten hat, bin ich von meinem Weg
abgekommen. Leidenschaften, die ich nicht kontrollieren
konnte oder wollte, führten mich in eine ernste Krise, die
mich dazu zwang, mich meinem Glauben und meinen in-
neren Dämonen zu stellen. Im ersten Gesang der Hölle (In-
ferno) findet Dante in seiner Göttlichen Komödie dafür die
richtigen Worte:

Als unseres Lebens Mitte ich erklommen,


Befand ich mich in einem dunklen Wald,
da ich vom rechten Wege abgekommen.

Aber bevor ich zu sehr solchen Nachtgedanken nachhänge,


will ich Ihnen von meinen jungen Jahren berichten und
davon, welche Bedeutung sie für meine wissenschaftliche
Arbeit und mein Bild vom Gehirn haben.
Kapitel 2
In welchem ich darüber schreibe, wor-
aus sich mein innerer Konflikt zwischen
Religion und Vernunft speist, warum
ich schon immer Wissenschaftler werden
wollte, weshalb ich eine Anstecknadel
von Professor Bienlein trage und wie
ich in späten Jahren noch zu einem
zweiten Mentor kam

Bedenkt doch euren Ursprung, denkt, ihr seid


Nicht wie das Vieh! und nie dürft ihr erkalten
Bei dem Erwerb von Kenntnis, Tüchtigkeit.

Als diese kleine Rede ich gehalten,


Da setzt ich die Genossen so in Brand,
Daß ich sie kaum dann mehr zurückgehalten!

Zum Osten hin ward unser Heck gewandt;


Die Ruder: Schwingen zu dem tollen Fliegen!
So hielten wir uns immer linker Hand.
– Dante Alighieri Die göttliche Komödie, Hölle (1531)

Meine Kindheit war glücklich, besessen von Wissen, Struk-


tur und Ordnung. Meine beiden Brüder und ich wurden
von unseren Eltern in bester liberal-katholischer Tradition
erzogen, wobei die Naturwissenschaften – auch die Evolu-

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_2,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
18 Book
  B Title
ewusstsein

tion durch natürliche Selektion – im Großen und Ganzen


als Erklärung für die materielle Welt akzeptiert wurden.
Ich war Ministrant, sprach lateinische Gebete und lauschte
den gregorianischen Gesängen, Messen, Passionen und Re-
quiems von Lasso, Bach, Vivaldi, Haydn, Mozart, Brahms
und Bruckner. In den Sommerferien besichtigte unsere Fa-
milie unzählige Museen, Burgen sowie Barock- und Roko-
kokirchen. Meine Eltern und mein älterer Bruder betrach-
teten ehrfürchtig Deckenmalereien, Buntglasfenster, Sta-
tuen und Fresken, die religiöse Szenen darstellten, während
meine Mutter alle Einzelheiten über das jeweilige Objekt
zu unserer Erbauung laut vorlas. Ich fand diese kunsthis-
torische Zwangsernährung zwar grässlich langweilig und
kann bis heute nur mit einem gewissen Schaudern den
dreibändigen Kunstführer meiner Mutter im Bücherregal
betrachten, aber ich entwickelte eine Liebe für den magi-
schen Singsang jahrhundertealter lateinischer Gebete und
der sakral-schlichten Musik jener Komponisten.
Mutter Kirche war eine gelehrte, weltumspannende, kul-
turell fruchtbare und moralisch unanfechtbare Institution,
und das seit ihrer Entstehung vor 2000 Jahren in Rom und
Jerusalem. Ihr Katechismus bot eine altehrwürdige und be-
ruhigende Erklärung des Lebens, die mir einleuchtete. Die
Religion gab mir so viel, dass ich sie weitergab. Meine Frau
und ich zogen unsere Kinder als Christen auf, ließen sie
taufen, sprachen das Tischgebet, gingen sonntags zum Got-
tesdienst und schickten sie zur Erstkommunion.
Mit den Jahren jedoch begann ich, immer mehr kirch-
liche Lehren abzulehnen. Die traditionellen Antworten, die
ich bekam, waren mit einer wissenschaftlichen Weltsicht
nicht vereinbar. Meine Eltern sowie meine Jesuiten- und
2  Persönliches 19

Laienlehrer hatten mir bestimmte Werte vermittelt, doch


Bücher, Vorlesungen und das Labor vermittelten mir an-
dere. Mein Blick auf die Realität war dadurch gespalten.
Außerhalb der Messe beschäftigte ich mich kaum mit The-
men wie Sünde, Opfer, Erlösung und Jenseits. Ich dachte
über die Welt, die Menschen und mich selbst unter rein
naturwissenschaftlichen Aspekten nach. Diese beiden Ge-
dankengerüste – das religiöse und das säkulare, das eine für
sonntags, das andere für wochentags – hatten nichts ge-
meinsam. Die Kirche verlieh Bedeutung, indem sie mein
kümmerliches Leben in Zusammenhang mit der gewalti-
gen göttlichen Schöpfung und dem Opfer des Gottessoh-
nes für die Menschheit stellte. Die Naturwissenschaften er-
klärten die Fakten des Universums, in dem ich lebte, und
seine Entstehung.
Zwei Erklärungen anzuhängen, einer für supralunare
und einer für sublunare Angelegenheiten, um die aristote-
lischen Begriffe zu verwenden, ist keine ernsthafte intellek-
tuelle Einstellung. Ich musste den Konflikt zwischen bei-
den Erklärungsmodellen lösen, und ihr daraus resultieren-
der Widerstreit begleitete mich jahrzehntelang. Doch mir
war klar, dass es da draußen nur eine Wahrheit gab, und
den Naturwissenschaften gelingt es immer besser, sie zu be-
schreiben. Die Menschheit ist nicht dazu verdammt, auf
immer im epistemologischen Nebel umherzuwandern und
nur die Oberfläche der Dinge zu kennen, nicht aber ihre
wahre Natur. Wir können etwas sehen, und je länger wir
hinsehen, umso besser verstehen wir es.
Erst in den letzten Jahren gelang es mir, diesen Konflikt
zu lösen. Langsam, aber sicher verlor ich meinen Glauben
an einen personifizierten Gott. Ich glaubte nicht mehr da-
ran, dass da jemand über mich wacht, in meinem Sinne
20 Book
  B Title
ewusstsein

in die Welt eingreift und meine Seele im Jenseits erlösen


wird. Ich habe meinen kindlichen Glauben verloren, nie
aber meinen festen Glauben daran, dass alles so ist, wie es
sein soll! In meinem tiefsten Inneren spüre ich, dass das
Universum eine für uns erkennbare Bedeutung hat.

 orglose Kindheit und aufkeimender


S
Forscherdrang
Mein Vater hatte Jura studiert und war Diplomat im Diens-
te der Bundesrepublik Deutschland geworden. Meine Mut-
ter war Ärztin und hatte einige Jahre in einem Kranken-
haus gearbeitet. Dann gab sie ihren Beruf für meinen Vater
auf und konzentrierte ihren beträchtlichen Ehrgeiz auf uns
Kinder.
Ich kam 1956 in Kansas City, Missouri, zur Welt, ein Jahr
nach meinem Bruder Michael. Heute kann man meine Her-
kunft aus dem Mittleren Westen nicht mehr heraushören,
weil mein Amerikanisch einen ziemlich starken deutschen
Akzent hat. Als ich zwei Jahre alt war, zogen wir fort, und es
begann ein rastloses Dasein; wir lebten zunächst vier Jahre
lang in Amsterdam, wo mein jüngerer Bruder Andreas gebo-
ren wurde. Anschließend zogen wir nach Bonn, der dama-
ligen Hauptstadt von Westdeutschland. Nach der Grund-
schule und zwei Jahren an einem Jesuitengymnasium zogen
wir wieder auf die andere Seite des Atlantiks, nach Ottawa.
Ich lernte Englisch in einer katholischen Ordensschule, aller-
dings nicht lange, denn drei Jahre später ging es nach Rabat in
Marokko. Dort ging ich auf eine sehr weltliche französische
Schule, das Lycée Descartes (was vielleicht meine anhaltende
2  Persönliches 21

Vorliebe für diesen Philosophen erklärt). Trotz der ständig


wechselnden Wohnorte, Schulen und Freunde und obwohl
ich eine dritte Sprache lernen musste, schlug ich mich ziem-
lich gut und legte 1974 meine Prüfung als Bakkalaureus in
Mathematik und Naturwissenschaften ab.
Ich kann mich glücklich schätzen, weil ich schon sehr
früh wusste, was ich werden wollte, „wenn ich einmal groß
bin“. Als Kind träumte ich davon, ein Naturforscher und
Zoodirektor zu sein, der in der Serengeti das Verhalten der
Tiere erforscht. Etwa mit Beginn der Pubertät verlagerten
sich meine Interessen in Richtung Physik und Mathema-
tik. Ständig führte ich mir Sachbücher über Raumfahrt,
Quantenmechanik und Kosmologie zu Gemüte. Ich liebte
den Gedanken an die Paradoxien relativistischer Zeitrei-
sen, daran, hinter dem Zeithorizont in ein Schwarzes Loch
zu stürzen, an Weltraumlifts und dergleichen. Gern erin-
nere ich mich an die Lektüre des skurrilen Mr. Tompkins
im Wunderland von George Gamow, in dem der Held eine
surreale Welt erklärt, worin ein Radfahrer Lichtgeschwin-
digkeit erreichen kann. Oder „Mr. Tompkins erforscht
das Atom“ ( Mr. Tompkins Explores the Atom), in dem das
Plancksche Wirkungsquantum so groß ist, dass Billard-
kugeln Quantenverhalten zeigen. Diese Bücher formten
im Teenageralter meinen Geist. Immer, wenn ich mir von
meinem wöchentlichen Taschengeld ein wissenschaftliches
Taschenbuch kaufte, schrieb ich liebevoll meinen Namen
hinein und trug es wie einen Schatz umher, um bei jeder
Gelegenheit darin zu lesen.
Meine Eltern förderten meinen wissenschaftlichen Wis-
sensdurst, indem sie Michael und mir Kosmos-Experimen-
tierkästen schenkten. Durch verschiedene Experimente
22 Book
  B Title
ewusstsein

zum Selbermachen vermittelten diese wohldurchdachten


Spielzeuge physikalische, chemische, elektronische oder as-
tronomische Kenntnisse. Einer dieser Kästen begann mit
den grundlegenden Gesetzen der Elektrizität, führte dann
weiter zum Zusammenbau eines elektromagnetischen Re-
lais und Induktionsmotors und endete schließlich mit der
Konstruktion eines Mittel- und Ultrakurzwellen-Radio-
empfängers. Unzählige Stunden bastelte ich an der Elektro-
nik herum, eine Erfahrung, die viele Kinder heute gar nicht
mehr machen. Ein anderer Experimentierkasten vermittelte
die Prinzipien der anorganischen Chemie. Ich nutzte mein
neu erworbenes Wissen, um Schwarzpulver anzumischen.
Als ich eine Bazooka baute und der Metallstab, der eigent-
lich die Rakete lenken sollte, schmolz (der Treibstoff zünde-
te nicht schnell genug), schritt mein Vater ein und beendete
meine Karriere als Waffenkonstrukteur frühzeitig. Damit
rettete er mir vermutlich Arme, Beine und Augenlicht.
Mein Vater kaufte uns ein Spiegelteleskop mit einem
5-Inch-Spiegel, ein wirklich beeindruckendes Gerät. Ich
kann mich noch gut erinnern, wie Michael und ich eines
Nachts auf dem Dach unseres Hauses in Rabat auf einer
Sternenkarte die Position des Uranus berechneten (im Hin-
tergrund erklang Wagners Der fliegende Holländer). Welch
erhebendes Gefühl, als der schimmernde Planet, nachdem
wir die geschätzten Werte für Azimut und Höhe im Tele-
skop eingestellt hatten, tatsächlich ins Bild wanderte. Was
für ein eindrucksvoller Beleg für die Ordnung im Univer-
sum!
Während meiner Zeit in Nordafrika begann meine le-
benslange Liebe zu den Abenteuern von Tim und Struppi.
Der belgische Junge Tim ist eigentlich Reporter, tatsächlich
2  Persönliches 23

aber Forscher, Detektiv und ein Allroundheld; weitere Fi-


guren sind sein weißer Foxterrier Struppi (im französisch-
sprachigen Original Milou genannt), sein polteriger Freund
Kapitän Haddock und der verrückte Wissenschaftler, das
Genie schlechthin, der brillante, aber zerstreute, äußerst
schwerhörige Professor Bienlein. Sie waren die ersten Co-
micfiguren meines Lebens, denn meine Eltern hielten Co-
mics entweder für zu kindisch oder für zu derb und standen
ihnen skeptisch gegenüber. Ich habe meinen Kindern alle
24 Tim und Struppi-Bände gegeben, die sie ebenso lieben
wie ich und die bei ihnen keinen erkennbaren Schaden an-
gerichtet haben. Im Flur unseres Hauses hängt sogar ein
Tim-und-Struppi-Poster. Professor Bienlein ist der Archety-
pus des weltfremden Gelehrten, der zwar versteht, was das
Universum im Innersten zusammenhält, sich aber im Alltag
ziemlich tollpatschig anstellt. Er hat meinen jungen Geist
dermaßen geprägt, dass ich eine Anstecknadel der Figur am
Revers meiner Jacke trage, seit ich im April 1987 meine An-
trittsvorlesung als Professor hielt.
Da ich in verschiedenen Ländern aufwuchs, verschie-
dene Schulen besuchte und verschiedene Sprachen lernte,
konnte ich besser als meine weniger mobilen Freunde über
die jeweiligen Besonderheiten der Kulturen hinwegsehen
und die zugrunde liegenden universalen Merkmale erken-
nen. Das war einer von vielen prägenden Gründen dafür,
dass ich, als ich von zu Hause auszog, Physiker werden
wollte.
Im Jahre 1974 schrieb ich mich an der Eberhard-Karls-
Universität Tübingen ein. Diese wunderschöne kleine Uni-
versitätsstadt ist wie ihre bekanntere Rivalin Heidelberg um
ein Schloss herum entstanden. An der Universität erlebte
24 Book
  B Title
ewusstsein

ich die Kameradschaft einer schlagenden Studentenverbin-


dung. Wenn Ihnen solche teutonischen akademischen Ge-
pflogenheiten nicht vertraut sind – stellen Sie sich einfach
Pfadfinder an einer romantischen, 500 Jahre alten Univer-
sität vor, dann wissen Sie, was ich meine. Außerdem sam-
melte ich reichlich (und nicht nur gute) Erfahrungen mit
Alkohol, Frauen, Tanz, Friedrich Nietzsche und Richard
Wagner. Ich verbrachte das erste Weihnachtsfest fern von
zu Hause – ein Freund und ich zogen uns in ein entlegenes
Dorf zurück, verzückt von unserer Lektüre von Also sprach
Zarathustra sowie Libretto und Musik von Tristan und Isol-
de und Der Ring des Nibelungen. Ich war damals ein junger,
unreifer Nerd und brauchte diese Selbstfindungsreise durch
die lärmenden und grandiosen Irrungen und Wirrungen
des Lebens.
Im Jahre 1979 schloss ich mein Physikstudium in Tübin-
gen mit dem Diplom ab. Über mein Nebenfach Philoso-
phie hatte ich Bekanntschaft mit dem Idealismus gemacht,
jener Form des Monismus, die lehrt, dass das Universum
nur eine Manifestation des Geistes ist.
Dann aber dämmerte mir, dass meine mathematischen
Fähigkeiten nicht ausreichten, um Weltklasse-Kosmologe
zu werden. Glücklicherweise begeisterte ich mich zu dieser
Zeit für Computer. An ihnen faszinierte mich die Aussicht
auf eine selbstgenügsame virtuelle Welt, die ich vollständig
kontrollieren konnte. In dieser vereinfachten Umwelt fol-
gen alle Ereignisse den Regeln – dem Algorithmus –, die
der Programmierer festgelegt hat. Jede Abweichung geht
stets auf Denkfehler oder falsche Annahmen zurück. Wenn
ein Programm nicht funktionierte, war niemand anderes als
man selbst dafür verantwortlich. Ich schrieb (anfangs auf
2  Persönliches 25

Lochkarten, die dem Zentralcomputer der Universität zu-


geführt wurden) Programme für Astrophysiker und Kern-
physiker in Algol und Assemblersprache.

F orschungsarbeit zur Biophysik der


Nervenzellen
Außerdem faszinierte mich die Vorstellung ungeheuer, dass
das Gehirn eine Art von Computer ist und Informationen
verarbeitet. Ausgelöst wurde diese Leidenschaft durch die
sehr anregende Lektüre des Buches Gehirngespinste: Neuro-
anatomie für kybernetisch Interessierte des deutsch-italieni-
schen Anatomen Valentin Braitenberg. Diese große Persön-
lichkeit lieferte den Beweis dafür, dass man gleichzeitig ein
herausragender Wissenschaftler, Ästhet, Musiker, Bonvi-
vant und Mensch sein kann.
Valentin Braitenberg war Direktor des Max-Planck-In-
stituts für biologische Kybernetik in Tübingen. Durch ihn
fand ich dort Arbeit als Codierer für den italienischen Phy-
siker Tomaso Poggio. Tommy, wie ihn jeder nennt, ist einer
der größten Theoretiker der Informationsverarbeitung. Er
entwickelte die erste funktionierende Formel, um aus zwei
unterschiedlichen Ansichten derselben Szene räumliche
Tiefe abzuleiten. Er betreute meine Doktorarbeit, bei der
ich an einem Computermodell darstellte, wie die exzitato-
rischen und inhibitorischen Synapsen an einer einzelnen
Nervenzelle miteinander interagieren.
Lassen Sie mich kurz einige Konzepte erläutern, die in
diesem Buch immer wieder auftauchen. Wie alle Orga-
ne besteht das Nervensystem aus Milliarden miteinander
26 Book
  B Title
ewusstsein

v­ ernetzter Zellen, von denen den Neuronen die wichtigste


Aufgabe zufällt. So wie sich Nierenzellen grundlegend von
Blut- oder Herzmuskelzellen unterscheiden, gibt es (wo-
möglich bis zu tausend) unterschiedliche Arten von Neuro-
nen. Wichtigstes Unterscheidungskriterium ist die Frage,
ob sie die Neuronen, mit denen sie in Verbindung stehen,
erregen oder hemmen. Neurone sind höchst verschieden-
artige, komplizierte Prozessoren, die Daten über Synapsen
– Kontakte mit anderen Nervenzellen – sammeln, verarbei-
ten und weiterleiten. Input erhalten sie über ihre fein ver-
zweigten Dendriten, die mit Tausenden von Synapsen be-
stückt sind. Jede Synapse erhöht oder senkt für kurze Zeit
die elektrische Leitfähigkeit der Membran, und die daraus
resultierende elektrische Aktivität wird durch eine ausge-
feilte, in den Membranen der Dendriten und des Zellkör-
pers sitzende Maschinerie in einen oder mehrere elektrische
Alles-oder-nichts-Impulse, die berühmten Aktionspoten-
ziale oder Spikes, übersetzt. Jeder dieser Impulse hat eine
Amplitude von etwa einem Zehntelvolt und dauert weniger
als eine Tausendstelsekunde. Aktionspotenziale werden ent-
lang der neuronalen Outputbahn ausgesandt, dem Axon,
das über Synapsen mit anderen Neuronen in Verbindung
steht. (Einige spezialisierte Neurone senden ihren Output
an Muskeln.) So schließt sich der Kreis. Neuronen kommu-
nizieren über Synapsen mit anderen Neuronen. Und dies
ist der Ort des Bewusstseins.
Die Stärke des Nervensystems liegt nicht in der schne-
ckenhaften Geschwindigkeit seiner Bestandteile, sondern
in seiner außerordentlichen Befähigung zur parallelen
Kommunikation und Informationsverarbeitung – seiner
Fähigkeit, sehr große und sehr heterogene Neuronenkoali-
2  Persönliches 27

tionen über große Entfernungen in sehr spezifischen syn-


aptischen Mustern zu verknüpfen. Wie ich 30 Jahre später
demonstrierte, erwächst unser Bewusstsein eben aus diesen
Mustern. Synapsen entsprechen Transistoren. Unser Ner-
vensystem umfasst schätzungsweise 1000 Billionen Synap-
sen, die etwa 86 Mrd. Neuronen miteinander verbinden.
Unter Tommys Anleitung löste ich die Differenzialglei-
chungen, die beschreiben, wie die elektrische Ladung in-
nerhalb und außerhalb der Nervenzellmembran durch die
verzweigten Dendriten und die Konstruktion ihrer Synap-
sen transformiert wird. Heute sind solche Modelle Routi-
neangelegenheiten und allgemein anerkannt, doch damals
waren die Biologen verblüfft darüber, dass ich Vorgänge im
Gehirn mithilfe der Physik beschrieb. Bei der ersten inter-
nationalen Tagung, bei der ich meine Forschungsarbeit mit
einem Poster anderen Wissenschaftlern vorstellte, steckte
man mich noch in die hinterste Ecke der Konferenzhalle.
Nur zwei Besucher verirrten sich zu mir, von denen einer
eigentlich die Toilette suchte, aber aus Höflichkeit stehen
blieb und mit mir sprach. Ich betrank mich an jenem Abend
und fragte mich, ob ich mir das richtige Forschungsgebiet
ausgesucht hatte. Trotz solcher Fehlschläge aber wurde ich
1982 in Biophysik promoviert.
Während meiner Jahre als Doktorand verliebte ich mich
in Edith Herbst, und wir heirateten. Edith ist Kranken-
schwester und in Tübingen geboren und aufgewachsen.
Während sie mit unserem Sohn Alexander schwanger war,
tippte sie meine Doktorarbeit in den Hauptrechner des
Instituts (mit einem 128-Kilobyte-Hauptspeicher!). Als
mein Doktorvater, wie es in Deutschland so schön heißt,
Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT)
28 Book
  B Title
ewusstsein

in Cambridge wurde, folgten wir ihm in die USA. Mit 25


Jahren wagte ich als frischgebackener Doktor in einem
fremden Land den Neuanfang.
Das MIT war eine intellektuelle Offenbarung. Ich blieb
vier Jahre lang im Fachbereich Psychologie und am Labor
für künstliche Intelligenz. Ich durfte frei forschen, schlicht
und einfach. So lange bei einem Betreuer zu bleiben, ist
ungewöhnlich, aber es zahlte sich für meinen beruflichen
Weg aus. Tommy und ich haben heute immer noch Kon-
takt, was beweist, wie dauerhaft die Verbindung zwischen
Doktorvater und Doktorand ist.

 altech, Lehre, Forschung und wie ein


C
Physiker das Gehirn sieht
Im Herbst 1986 zogen meine – inzwischen um unsere
Tochter Gabriele angewachsene – Familie und ich weiter
nach Westen; ich ging als Assistant Professor für Biolo-
gie und Ingenieurwissenschaft ans California Institute of
Technology. Das Caltech, eine der anspruchsvollsten und
strengsten naturwissenschaftlich-technischen Hochschulen
der USA, befindet sich in Pasadena, einem Vorort von Los
Angeles. Von breiten, von Palmen, Orangenbäumen und
Eichen gesäumten Straßen durchzogen, liegt es am Fuße
der San Gabriel Mountains. Ich war sehr stolz darauf, ein
Mitglied der Fakultät zu werden.
Das Caltech ist eine agile Privatuniversität – sie zählt
etwa 280 Professoren und 2000 Studenten – und hat zum
Ziel, die besten und hellsten Köpfe in Logik, Mathematik
und darin auszubilden, gezielt über Natur nachzudenken.
2  Persönliches 29

Das Caltech und seine Leute stehen für alles, was großartig
und nobel an Universitäten ist, Institutionen, wie es sie seit
800 Jahren gibt. Es ist ein Elfenbeinturm im besten Wort-
sinne und bietet reichlich Freiraum und Ressourcen, um
dem Wesen des Bewusstseins und des Gehirns nachzuspü-
ren.
Wenn jemand erfährt, dass ich Professor bin, kommt
stets als erstes die Frage „Und was unterrichten Sie?“. Die
meisten Menschen denken bei einem Professor in erster Li-
nie an seine traditionelle Rolle als Hochschullehrer. Ich bin
gern so ein Professor und unterrichte verschiedene Kurse.
Herausragende, motivierte Studenten zu unterrichten, die
ohne Zögern auf Fehler oder Unstimmigkeiten hinweisen,
ist eine intellektuelle Herausforderung erster Güte und
emotional sehr befriedigend. Immer wieder gelangte ich,
während ich meine Vorlesungen vorbereitete oder Fragen
in einer Veranstaltung beantwortete, zu neuen Einsichten,
die lange gewälzte Probleme aus unerwarteter Perspektive
beleuchteten.
Die Vertreter meines Stammes aber beziehen ihr Selbst-
wertgefühl zumeist aus ihrer Forschungsarbeit. Wo wir in
der Stammeshierarchie stehen, wird dadurch bestimmt,
wie erfolgreich unsere Forschung ist. Forschung treibt uns
an und ist unser größter Quell der Freude. Bemessen wird
unser Erfolg nach der Zahl und Qualität unserer Veröffent-
lichungen in angesehenen, von Wissenschaftlerkollegen re-
digierten und untereinander scharf konkurrierenden Wis-
senschaftsjournalen.
Je größer die Auswirkung unserer Entdeckungen in die-
ser exklusiven Welt, desto größer ist unser Ansehen. Die
Lehre spielt für das kollektive Selbstbild der Szene nur eine
30 Book
  B Title
ewusstsein

untergeordnete Rolle. Wir Professoren verbringen die meis-


te Zeit mit Forschung – mit Grübeln, Nachdenken und
Theoretisieren, mit Verarbeiten und Programmieren, mit
dem Besprechen von Ideen mit Kollegen und Mitarbeitern,
dem Lesen entsprechender Literatur, den eigenen Beiträgen
zu selbiger, Vorträgen in Seminaren und Tagungen, dem
Beantragen der zahllosen Fördergelder, die die Forschungs-
maschinerie in Gang halten und natürlich mit dem Beglei-
ten und Betreuen von Studenten und Postdocs, die ent-
werfen, erschaffen, messen, schütteln, aufrühren, abbilden,
scannen, aufzeichnen, analysieren, programmieren, Feh-
ler beseitigen und Informationen verarbeiten. Ich bin der
Häuptling von rund zwei Dutzend solcher Jungforscher.
Wir gehen nicht nur der visuellen Aufmerksamkeit und
dem visuellen Bewusstsein – mehr dazu später – auf den
Grund, sondern erforschen auch weiterhin die Biophysik
der Neurone. Das Gehirn ist ein hoch entwickeltes Organ,
aber auch ein physikalisches System, das den ehernen Ge-
setzen von der Energieerhaltung und der Erhaltung elektri-
scher Ladungen gehorcht. Das gaußsche und das ohmsche
Gesetz regeln die Verteilung von Ladungen innerhalb und
außerhalb von Nervenzellen und ihren assoziierten elektri-
schen Feldern. Alle oben beschriebenen synaptischen Vor-
gänge und Aktionspotenziale steuern zu dem elektrischen
Potenzial bei, das via Elektroden in der grauen Substanz
abgeleitet wird. Wenn Zehntausende von Neuronen mit
ihren Millionen von Synapsen aktiv sind, summieren sich
ihre Einzelwerte zu einem so genannten lokalen Feldpoten-
zial (LFP). Das ferne Echo dieser elektrischen Aktivität er-
scheint im immerwährenden Auf und Ab der Linien, die an
der Schädelaußenseite per Elektroenzephalographie (EEG)
2  Persönliches 31

aufgezeichnet werden. Das lokale Feldpotenzial wiederum


wirkt auf einzelne Neurone ein. Wir wissen heute, dass die-
ses Feedback Neurone dazu zwingt, ihre Aktivität zu syn-
chronisieren.
Diese wechselseitige Interaktion zwischen der lokalen
Aktivität von Neuronen und dem globalen Feld, das sie
in ihrer Gesamtheit erzeugen und von dem sie umgeben
sind, unterscheidet sich grundlegend von elektronischen
Silizium-Schaltkreisen, deren Konstrukteure Drähte, Tran-
sistoren und Kondensatoren so anordnen, dass eine Wech-
selwirkung vermieden und „parasitisches“ Übersprechen
minimiert werden. Mein Interesse für das elektrische Feld
des Gehirns sowie die Fragen, wie viele Informationen es
enthält und welche Rolle es für das Bewusstsein spielt, ist
groß.
Einem Physiker, der sich mit Gehirn und Geist beschäf-
tigt, fällt sogleich das Fehlen jeglicher Erhaltungssätze auf:
Synapsen, Aktionspotenziale, Neurone, Aufmerksamkeit,
Erinnerung und Bewusstsein werden nicht in irgendeiner
Form konserviert. Stattdessen verfügen Biologie und Psy-
chologie im Überfluss über empirische Beobachtungen –
Fakten. Es gibt keine vereinheitlichende Theorie, von Dar-
wins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion ein-
mal abgesehen, und obwohl die Evolutionstheorie ein un-
geheuer machtvolles Erklärungsgebäude darstellt, lässt sie
doch den Ausgang offen und trifft keine Vorhersagen. Die
Biowissenschaften verfügen stattdessen über zahllose Heu-
ristiken, Faustregeln, die Phänomene auf einer bestimmten
organismischen Ebene benennen und quantifizieren – so wie
das biophysische Modell, mit dem ich bei meiner Doktor-
arbeit arbeitete –, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit
32 Book
  B Title
ewusstsein

zu erheben. Das unterscheidet die Forschung auf diesen


Gebieten grundlegend von der Physik.

 rneut auf den Spuren des


E
Bewusstseins
Als ich in Kalifornien anfing, traf ich Francis Crick wieder.
Ich hatte ihn bereits im Sommer 1980 (er lag unter einem
Apfelbaum in einem Obstgarten vor den Toren Tübingens)
kennengelernt. Er war in die Stadt gekommen, um mit
Tommy Poggio darüber zu reden – Reden war seine Lieb-
lingsbeschäftigung –, wie unsere Arbeit an den Dendriten-
und Synapsenmodellen voranging.
Vier Jahre später und auf einem anderen Kontinent hatte
Francis mich und Shimon Ullman, einen Informatiker des
Labors für künstliche Intelligenz am MIT, für fünf Tage ans
Salk Institute eingeladen. Er wollte alles über ein Modell
der selektiven visuellen Aufmerksamkeit wissen, das Shi-
mon und ich gerade veröffentlicht hatten. Warum gerade
dieser Schaltplan? Wie viele Neurone waren beteiligt? Wie
hoch war ihre durchschnittliche Feuerrate? Wie viele Syn-
apsen bildeten sie aus? Was war ihre Zeitkonstante? In wel-
chen Thalamusteil projizierten ihre Axone? Konnte das die
Geschwindigkeit der Verhaltensreaktion erklären? So ging
es pausenlos vom Frühstück bis in den späten Nachmittag.
Nach einer Pause folgten das Abendessen und noch mehr
Konversation zum Thema Gehirn. Belanglose Gespräche
gab es mit Francis nicht. Ich war völlig ausgepumpt und
beeindruckt von seiner Frau Odile, die seit Jahrzehnten mit
dieser Intensität lebte.
2  Persönliches 33

Einige Jahre später begannen Francis und ich unsere Zu-


sammenarbeit, mit täglichen Telefonaten, Briefen, E-Mails
und monatlichen längeren Aufenthalten in seinem Haus in
den Hügeln von La Jolla, zwei Autostunden südlich von
Pasadena. Im Fokus unserer Arbeit stand das Bewusstsein.
Auch wenn Generationen von Philosophen und Gelehrten
vergebens versucht hatten, das Körper-Geist-Problem zu
lösen, glaubten wir, dass das Herangehen aus dem neuen
Blickwinkel der Neurowissenschaften helfen konnte, den
Gordischen Knoten zu lösen. Francis’ Forschungsmethode
als Theoretiker bestand in stillem Nachdenken, der tägli-
chen Lektüre relevanter Literatur – von der er beträchtliche
Mengen verschlingen konnte – und dem sokratischen Dia-
log. Sein Appetit auf Details, Zahlen und Fakten war un-
stillbar. Ununterbrochen fügte er Hypothesen zusammen,
um etwas zu erklären, und verwarf dann die meisten davon
wieder. Morgens bombardierte er mich meist mit einigen
neuen Hypothesen, die ihm mitten in der Nacht eingefallen
waren, als er nicht schlafen konnte. Ich schlief viel besser als
er und hatte darum nicht solche nächtlichen Eingebungen.
Seit Jahrzehnten lehre ich, arbeite und debattiere mit ei-
nigen der klügsten Menschen dieser Welt. Ich habe schon
brillante Geister und höchste Leistungen erlebt, aber nur
selten wahre Genies. Francis war ein intellektueller Gigant
und besaß den klarsten, tiefsten Geist, den ich je erlebt habe.
Er konnte dieselben Informationen aufnehmen wie alle an-
deren und dieselben Aufsätze lesen, und doch stellte er eine
ganz neue Frage oder leitete daraus etwas ganz Neues ab.
Der Neurologe und Autor Oliver Sacks, ein guter Freund
von uns beiden, erinnert sich, dass das Zusammensein
34 Book
  B Title
ewusstsein

mit Francis immer „ein bisschen so war, als säße man neben
einem intellektuellen Kernreaktor … Niemals sonst ver-
spürte ich ein solches Strahlen“. Man sagt, dass Arnold
Schwarzenegger zu seiner Zeit als Mr. Universum Muskeln
an Stellen hatte, wo andere Leute nicht einmal Stellen hat-
ten. Ersetzt man die Muskeln durch den rationalen Geist,
traf dies genau so auf Francis zu.
Ebenso bemerkenswert war, wie offen und zugänglich
Francis war. Er hatte keine Starallüren. Wie James Watson,
habe auch ich bei Francis nie erlebt, dass er sein Licht unter
den Scheffel stellte, aber er war auch niemals arrogant. Er
war bereit, mit jedem zu sprechen, vom Erstsemester bis
zum Nobelpreisträgerkollegen – vorausgesetzt, der Ge-
sprächspartner konnte mit interessanten Fakten und Be-
obachtungen, mit einem verblüffenden Postulat oder einer
Frage aufwarten, die er sich so noch nie gestellt hatte. Es
stimmt, dass er mit Leuten, die Unsinn erzählten oder nicht
begriffen, warum ihre Gedankengänge falsch waren, schnell
die Geduld verlor, aber er war einer der aufgeschlossensten
Gelehrten, die ich je kennengelernt habe.
Francis war ein Reduktionist, wie er im Buche steht. Vehe-
ment lehnte er jede Erklärung ab, die auch nur im Entferntes-
ten nach religiösem oder wirrköpfigem („woolly-headed“ eines
seiner Lieblingsworte) Denken aussah. Doch weder meine
metaphysischen Ansichten noch der Altersunterschied von
40 Jahren hielt uns davon ab, eine tiefe und beständige Men-
tor-Schüler-Beziehung zu entwickeln. Er schätzte die Mög-
lichkeit, pausenlos neue Ideen mit einem jüngeren Mann mit
viel Energie, Fachwissen, Freude am Spekulieren und dem
Mut, ihm gelegentlich mit Nachdruck zu ­widersprechen, zu
2  Persönliches 35

reflektieren. Es war mein großes Glück, dass er mich moch-


te und quasi zu seinem intellektuellen Ziehsohn machte.
Im Folgenden will ich nun das Problem des Bewusstseins
definieren und beschreiben, wie Francis und ich uns ihm
genähert haben.
Kapitel 3
In welchem ich erkläre, warum das
Bewusstsein eine Herausforderung für
die wissenschaftliche Weltsicht ist, wie
man es empirisch erforschen und dabei
mit beiden Füßen fest auf dem Boden
bleiben kann, warum Tiere genau so ein
Bewusstsein haben wie Menschen und
­warum ­Selbst-Bewusstsein nicht so
wichtig ist, wie manche denken

Wie verwandelte die Evolution das Wasser biologischer


Gewebe in den Wein des Bewusstseins?
– Colin McGinn, Wie kommt der
Geist in die Materie? (2005)

Wenn kein Bewusstsein ist, ist nichts. Unseren Körper und


die Welt mit ihren Bergen und Menschen, Bäumen und
Hunden, Sternen und Melodien nehmen wir nur durch
unser subjektives Erleben, unsere Gedanken und Erinne-
rungen wahr. Wir handeln und bewegen uns, sehen und
hören, lieben und hassen, erinnern uns an Vergangenes und
stellen uns Zukünftiges vor. Letztlich aber begegnen wir der
Welt in all ihren Manifestationen nur über unser Bewusst-
sein. Und wenn das Bewusstsein endet, endet für uns auch
die Welt.

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_3,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
38 Book
  B Title
ewusstsein

Viele Denktraditionen schreiben dem Menschen einen


Geist (oder eine Psyche), einen Körper und eine transzen-
dentale Seele zu. Andere lehnen diese Dreiteilung ab und
halten sich lieber an den Dualismus von Leib und Seele,
von Körper und Geist. Die alten Ägypter und Hebräer be-
trachteten das Herz als Sitz der Seele, die Maya siedelten sie
in der Leber an. Heute wissen wir, dass der bewusste Geist
ein Produkt des Gehirns ist. Um das Bewusstsein zu ver-
stehen, müssen wir das Gehirn verstehen.
Und genau darin besteht die Schwierigkeit: Wie das Ge-
hirn bioelektrische Aktivität in subjektive Zustände um-
wandelt, wie von einer Wasseroberfläche reflektierte Photo-
nen auf magische Weise in die Wahrnehmung eines leuch-
tend blauen Bergsees transformiert werden, ist bis heute ein
Rätsel. Welcher Art die Beziehung zwischen Nervensystem
und Bewusstsein ist, liegt noch immer im Dunkeln und ist
Gegenstand erregter und nicht enden wollender Debatten.
Der französische Physiker, Mathematiker und Philosoph
René Descartes suchte in seiner Abhandlung über die Metho-
de des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen
Wahrheitsforschung nach letzter Gewissheit. Er argumen-
tierte, dass alles in Zweifel gezogen werden dürfe, selbst die
Existenz der äußeren Welt und des eigenen Körpers. Dass
er etwas erlebte, selbst wenn die Art dieses Erlebens nur
eine Illusion war, war jedoch eine Gewissheit. Descartes
folgerte, dass er existent war, weil er ein Bewusstsein hat-
te: Je pense, donc je suis, später übersetzt als cogito, ergo sum
oder ich denke, also bin ich. Diese Aussage bringt die funda-
mentale Bedeutung des Bewusstseins auf den Punkt: Es ist
kein seltener Zustand, den wir nur erreichen, wenn wir uns
auf einem Berg im Lotussitz meditierend auf unsere Mitte
3  Definition des Problems 39

k­ onzentrieren und dabei „om“ durch die Nase summen.


Wenn wir uns nicht gerade im Tiefschlaf oder im Koma be-
finden, sind wir uns immer irgendetwas bewusst. Bewusst-
sein ist die zentrale Tatsache in unserem Leben.
Die dem bewussten, erlebenden Beobachter eigene
Sichtweise nennt man Erste-Person-Perspektive. Zu erklä-
ren, wie ein hoch organisiertes Stück Materie eine innere
Perspektive haben kann, stellt die sonst so bewährte und
erfolgreiche wissenschaftliche Methode vor eine fast unlös-
bare Aufgabe.
Nehmen wir beispielsweise Messungen, die der Cosmic
Background Explorer (COBE), ein Satellit der NASA, vor-
nahm. Im Jahre 1994 war er mit seinem ovalen, blaugrünen
Foto des gesamten Himmels mit gelben und roten Klecksen
auf vielen Titelseiten. Die warmen Farben gaben geringe
Schwankungen in der Temperatur der kosmischen Hinter-
grundstrahlung wieder, Relikte des Urknalls, mit dem unser
Universum entstand. Kosmologen können dem Widerhall
dieser unvorstellbaren Explosion des Raumes nachlauschen
und daraus die Gestalt des jungen Universums ableiten.
Die COBE-Daten bestätigten ihre Erwartungen – das be-
deutet, die Astronomie kann überprüfbare Aussagen über
ein Ereignis machen, das 13,7 Mrd Jahre zurückliegt! Etwas
so Alltägliches wie Zahnschmerzen aber bleibt unerklärlich.
Die Biologie kann die exakten molekularen Programme
in einer befruchteten Eizelle, die daraus die Billionen Zellen
eines ausgewachsenen Individuums mit Leber, Muskeln,
Gehirn und all den anderen Organen macht, bis heute nicht
genau benennen. Zweifellos aber gibt es solche grundlegen-
den Werkzeuge für diese Meisterleistung. Molekulartech-
niker unter der Leitung des Forschers und Unternehmers
40 Book
  B Title
ewusstsein

Craig Venter setzten 2010 mit der Schaffung einer neuen


Art einen Meilenstein. Sie sequenzierten das Genom eines
Bakteriums (eine einzelne DNA-Sequenz mit einer Million
Buchstaben), synthetisierten mithilfe der vier Nucleinba-
sen, die die DNA bilden, die Gene des Bakteriengenoms
(ergänzt um ein „Wasserzeichen“ zur Identifizierung), ord-
neten diese in einem Strang an und pflanzten diesen dann
einem Spenderbakterium ein, dessen DNA sie zuvor ent-
fernt hatten. Das künstliche Genom steuerte erfolgreich die
Proteinbildungsmaschinerie der Spenderzelle, und der neue
Organismus („Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0“ genannt)
vermehrte sich Generation um Generation. Auch wenn mit
einer neuen Bakterienspezies noch kein Golem erschaffen
ist, stellt dies doch eine erstaunliche Leistung dar, die histo-
rische Bedeutung hat. Theoretisch steht einer entsprechen-
den Programmierung einfacher, mehrzelliger Pflanzen und
Tiere nichts im Wege (praktisch allerdings schon). Der ur-
alte Traum der Alchemisten – die Erschaffung von Leben
im Labor – ist zum Greifen nah.
Im Jahre 2009 nahm ich am Science Foo (SciFoo) Camp
im Googleplex (dem Firmensitz von Google) in Mountain
View, Kalifornien, teil. Einige hundert Supernerds, Tech-
niker, Naturwissenschaftler, Weltraumenthusiasten, Jour-
nalisten und Computerfreaks fanden sich an einem Wo-
chenende zu improvisierten Seminaren und allgemeinem
Gedankenaustausch zusammen. Es wurde viel über die Zu-
kunft der künstlichen Intelligenz geredet. Einige argumen-
tierten, dass die Suche nach wahrer künstlicher Intelligenz,
etwa auf der Stufe eines sechsjährigen Kindes, aufgegeben
worden sei. Niemand aber bezweifelte, dass Softwarekons-
trukte, deren Intelligenz mit unserer konkurrieren und sie
3  Definition des Problems 41

letztlich in den Schatten stellen wird, kommen werden.


Zwar brauchen Informatiker und Programmierer wahr-
scheinlich noch einige Jahrzehnte, um an die menschliche
Intelligenz heranzukommen, doch im Prinzip steht dem
nichts wirklich entgegen. Niemand beim SciFoo hielt es
für unvorstellbar, dieses Ziel zu erreichen. Man diskutierte
nur darüber, wie man es am besten erreichte, ob künstli-
che Intelligenz der menschlichen Gesellschaft nützen oder
schaden werde und dergleichen mehr. Niemand aber stellte
infrage, dass das Ziel erreichbar ist.
Es gibt nichts, was dem Bewusstsein vergleichbar wäre,
und es besteht keine Einigkeit darüber, ob man je seine
physikalische Grundlage verstehen wird. John Tyndall, der
irische Physiker, der entdeckte, warum der Himmel blau ist
und dass Wasserdampf und Kohlendioxid die wichtigsten
Treibhausgase in der irdischen Atmosphäre sind, beschrieb
schon 1868, welche Schwierigkeiten es bereitet, Bewusst-
sein und Gehirn miteinander zu verknüpfen:

Der Übergang vom physikalischen Gehirn zu den ent-


sprechenden Tatsachen des Bewusstseins ist als Resultat
mechanischer Vorgänge nicht vorstellbar. Angenommen,
ein bestimmter Gedanke und ein bestimmter molekularer
Vorgang im Gehirn treten gleichzeitig auf, so besitzen wir
doch nicht das intellektuelle Organ, ja nicht einmal ein
Bruchstück eines solchen Organs, das uns ermöglichen
würde, durch Überlegung von dem einen Phänomen zum
anderen zu gelangen. Sie treten zusammen auf, aber wir
wissen nicht, warum. Wäre unser Geist, wären unsere Sin-
ne so ausgedehnt, stark und erleuchtet, dass wir die ein-
zelnen Moleküle des Gehirns sehen und spüren könnten,
wären wir fähig, all ihren Bewegungen, Gruppierungen
42 Book
  B Title
ewusstsein

und elektrischen Entladungen zu folgen, so es diese denn


gibt, und wären wir intensiv vertraut mit den entsprechen-
den Zuständen des Denkens und Fühlens, wären wir doch
so weit wie immer davon entfernt, das Problem „Wie sind
diese physikalischen Vorgänge mit den Tatsachen des Be-
wusstseins verknüpft?“ zu lösen. Die Kluft zwischen den
beiden Klassen von Phänomenen bliebe intellektuell den-
noch unüberwindbar. Nehmen wir beispielsweise an, das
Bewusstsein für Liebe sei mit einer rechtsdrehenden Spiral-
bewegung der Moleküle des Gehirns verknüpft, und das
Bewusstsein für Hass mit einer linksdrehenden Spiralbe-
wegung. Wir müssten dann wissen, dass die Bewegung in
eine Richtung verläuft, wenn wir lieben, und in die andere,
wenn wir hassen. Das „WARUM?“ aber wäre so wenig zu
beantworten als zuvor.

Und genau dies bezeichnet Chalmers als „das schwierige


Problem“.
Die Neurowissenschaftler spähen mit Mikroskopen und
Magnetscannern ins Nervensystem, kartieren seinen physi-
schen Aufbau bis ins kleinste Detail, färben seine Neurone
in allen Farben des Regenbogens und lauschen dem leisen
Wispern der Neurone im Gehirn eines Affen oder Men-
schen, der gerade bestimmte Bilder betrachtet oder ein
Videospiel spielt. Der letzte technische Schrei (und wo-
möglich eine Option auf den Nobelpreis) ist derzeit die
Optogenetik. Diese Methode wird an bestimmten Neuro-
nengruppen angewandt, die man zuvor mit modifizierten
Viren infiziert hat. Die Viren bringen die Neurone dazu,
Photorezeptoren auszubilden, die nur auf Licht einer be-
stimmten Wellenlänge reagieren. Die Neurone lassen sich
dann mit einem blauen Lichtblitz an- und mit einem
3  Definition des Problems 43

­gelben Lichtblitz ­abschalten. Eine Lichtorgel im Gehirn!


Die Optogenetik ist eine tolle Sache, weil sie den Forschern
erlaubt, sich willkürlich an jeder beliebigen Stelle innerhalb
der dichten Netzwerke des Gehirns einzuschalten – ein
Schritt von der Beobachtung zur Manipulation, von der
Korrelation zur Kausalität. Jede Gruppe von Neuronen mit
einem bestimmten genetischen Barcode kann so mit nie
dagewesener Präzision an- oder abgeschaltet werden. Ich
werde im vorletzten Kapitel noch einmal auf diese viel ver-
sprechende Technik zurückkommen.
All diese Techniken vermessen und aktivieren das Gehirn
aus einer Dritte-Personen-Perspektive. Aber wie kommt das
Nervengewebe zu seiner inneren Erste-Person-Perspektive?
Gehen wir noch einmal 150 Jahre zurück, zur Monadologie
von Gottfried Wilhelm Leibniz. Diesen deutschen Mathe-
matiker, Naturwissenschaftler und Philosophen nennt man
auch den „letzten Universalgelehrten“ (er war an der Erfin-
dung der Infinitesimalrechnung und des dualen oder binä-
ren Zahlensystems beteiligt). Er schrieb 1714:

Man ist außerdem genötiget zu bekennen/daß die percepti-


on und dasjenige/was von ihr dependieret/auf mechanische
Weise/das ist/durch die Figuren und durch die Bewegun-
gen/nicht könne erkläret werden. Und erdichteten Falls/
daß eine Machine wäre/aus deren Structur gewisse Ge-
danken/Empfindungen/Perceptionen erwüchsen; so wird
man dieselbe denkende Machine sich concipieren können/
als wenn sie ins große nach einerlei darinnen beobachteter
Proportion gebracht worden sei/dergestalt daß man in die-
selbe/wie in eine Mühle/zugehen vermögend ware. Wenn
man nun dieses setzet/so wird man bei ihrer innerlichen
Besichtigung nichts als gewisse Stücke/deren eines an das
44 Book
  B Title
ewusstsein

andere stosset/niemals aber etwas antreffen/woraus man


eine Perception oder Empfindung erklären könnte.

Viele Gelehrte sehen diese Kluft zwischen den Mechanis-


men des Gehirns und dem Bewusstsein als unüberbrück-
bar an. Doch wenn das Bewusstsein unerklärt bleibt, ist das
Gebiet dessen, was die Naturwissenschaft erklären kann,
weitaus kleiner als ihre Vertreter glauben möchten und als
ihre Propagandisten herausposaunen. Die Unfähigkeit, be-
wusstes Empfinden quantitativ und empirisch zugänglich
zu erklären, wäre ein Skandal.
Ich teile diese defätistische Ansicht nicht. Auch wenn
dekonstruktive, „kritische“ Gelehrte und Soziologen ver-
bissen anderes behaupten, bleiben die Naturwissenschaften
für die Menschheit doch die zuverlässigste, umfassendste
und objektivste Methode, um die Wirklichkeit zu verste-
hen. Natürlich sind sie keineswegs frei von Fehlern, sie sind
von vielerlei falschen Annahmen, Rückschlägen, Betrüge-
reien, Machtkämpfen unter Wissenschaftlern und anderen
menschlichen Unzulänglichkeiten belastet. Aber sie sind
besser als alles andere darin, die Realität zu verstehen, vor-
herzusagen und zu manipulieren. Weil die Naturwissen-
schaften so gut darin sind, die Außenwelt zu erklären, soll-
ten sie uns auch dabei helfen, die Welt in uns zu erklären.
Die Gelehrten wissen nicht, warum unsere innere Geis-
teswelt überhaupt existiert, und schon gar nicht, woraus sie
besteht. Dieses immerwährende Rätsel macht das Bewusst-
sein für manche meiner Kollegen zu einem Ärgernis, und
viele meiden es tunlichst. Aber dass sich das Bewusstsein
einer reduktionistischen Erklärung entzieht, gefällt wiede-
rum vielen Menschen. Sie schmähen das logische Denken
3  Definition des Problems 45

und jene, die ihm frönen, denn ein gänzlich enträtseltes


Bewusstsein würde althergebrachte Ansichten über die See-
le, die Einzigartigkeit des Menschen und die Überlegen-
heit des Organischen über das Anorganische gefährden.
Dostojewskis Großinquisitor kennt diese Denkmuster sehr
gut: „Es gibt auf der Erde nur drei Mächte, die imstande
sind, das Gewissen dieser schwächlichen Rebellen zu ihrem
Glück für allezeit zu besiegen und zu fesseln: das Wunder,
das Geheimnis und die Autorität.“

Qualia und die natürliche Welt


An dieser Stelle muss ich Sie mit dem Konzept der Qualia
(Einzahl: Quale) bekanntmachen, das sich bei den Philo-
sophen des Geistes großer Beliebtheit erfreut. Wie es sich
anfühlt, ein bestimmtes Erlebnis zu haben, ist das Quale
jenes Erlebnisses: Das Quale dessen, die Farbe Rot zu se-
hen, ist das, was so unterschiedliche Wahrnehmungen wie
die eines roten Sonnenuntergangs, der roten chinesischen
Flagge, arteriellen Blutes, eines Rubins und Homers wein-
roten Meeres gemeinsam haben. Der gemeinsame Nenner
all dieser subjektiven Zustände ist „Rotheit“. Qualia sind
die Grundgefühle, die Elemente, aus denen jedes bewusste
Erlebnis besteht.
Manche Qualia sind elementar – die Farbe Gelb, der
abrupte und überwältigende Schmerz eines Hexenschus-
ses oder das vertraute Gefühl bei einem Déjà-vu-Erlebnis.
Andere sind zusammengesetzt – wie es riecht und sich an-
fühlt, wenn sich meine Hunde an mich kuscheln, das „Aha!“
plötzlichen Verstehens oder die lebhafte Erinnerung daran,
46 Book
  B Title
ewusstsein

wie fasziniert ich war, als ich die unsterblichen Worte ver-
nahm: „Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals
glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen
vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen,
glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese
Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im
Regen. – Zeit zu sterben.“ Hat man ein Erlebnis, hat man
Qualia, und die Qualia eines Erlebnisses spezifizieren dieses
Erlebnis und unterscheiden es von anderen.
Ich glaube, dass Qualia Eigenschaften der natürlichen
Welt sind. Sie haben keinen göttlichen oder übernatürli-
chen Ursprung. Sie sind vielmehr die Konsequenz unbe-
kannter Gesetze, die ich gern aufspüren möchte.
Aus dieser Sichtweise erwachsen viele Fragen: Sind Qua-
lia eine elementare Eigenschaft der Materie selbst, oder gibt
es sie nur in hoch organisierten Systemen? Oder anders ge-
sagt: Haben Elementarteilchen Qualia, oder nur Gehirne?
Erlebt ein Einzeller eine Art von Proto-Bewusstsein? Und
wie steht es mit Würmern oder Fliegen? Braucht es eine
Mindestanzahl von Neuronen, damit ein Quale auftritt?
Oder kommt es vor allem darauf an, wie diese Neurone
miteinander verknüpft sind? Kann ein Computer mit Sili-
ziumtransistoren und Kupferdraht ein Bewusstsein haben?
Träumen Androiden von elektrischen Schafen, wie Philip
Dick rhetorisch fragte? Genießt mein Mac die ihm eige-
ne Eleganz, während der klobige PC meines Steuerberaters
unter seinem plumpen grauen Äußeren und seiner ebensol-
chen Software leidet? Ist das Internet mit seinen Milliarden
Schnittstellen ein fühlendes Wesen?
Ich muss mit meiner Suche nicht bei Null beginnen,
denn wir kennen viele Fakten über das Bewusstsein und
3  Definition des Problems 47

Qualia. Vor allem wissen wir, dass Qualia in einigen eng


vernetzten biologischen Strukturen vorkommen, auch im
Zentralnervensystem eines aufmerksamen Beobachters (wie
beispielsweise Ihnen). Das menschliche Gehirn muss also
der Ausgangspunkt für jede Erforschung der physikalischen
Grundlagen des Bewusstseins sein.
Allerdings kommen nicht alle biologischen, adaptiven
und komplexen Systeme infrage. Unser Immunsystem zeigt
keine Anzeichen eines Bewusstseins. Schweigend entdeckt
und eliminiert es tagein, tagaus die verschiedensten Krank-
heitserreger. Gut möglich, dass Ihr Körper gerade in diesem
Moment eine Virusinfektion abwehrt, ohne dass Sie sich
dessen bewusst sind. Das Immunsystem erinnert sich an
diesen Eindringling und bildet Antikörper, sobald er wie-
der zuschlägt, was Ihnen eine oft lebenslange Immunität
verleiht. Doch dieses Gedächtnis ist kein bewusstes.
Dasselbe gilt für die 100 Mio. Neurone, die die Innenaus-
kleidung unseres Darmes durchziehen, das enterale Nerven-
system (manchmal auch Bauchhirn genannt). Diese Neuro-
ne tun in aller Stille ihre Arbeit, sie sorgen dafür, dass im
Verdauungstrakt Nährstoffe aufgenommen und Abfallstoffe
ausgeschieden werden – Dinge, die wir lieber nicht so ge-
nau wissen wollen. Gelegentlich wird das enterale Nerven-
system spürbar aktiv, etwa wenn man vor einem wichtigen
Vorstellungsgespräch Schmetterlinge im Bauch spürt oder
einem nach einem ausgiebigen Essen schlecht ist. Diese In-
formationen werden über den Vagusnerv an die Hirnrinde
übermittelt, die dann die Nervosität oder das Völlegefühl
erzeugt. Das Bauchhirn erzeugt selbst kein Bewusstsein.
Wohlgemerkt, es ist durchaus möglich, dass unser Im-
munsystem und Bauchhirn ein eigenes Bewusstsein haben.
48 Book
  B Title
ewusstsein

Unser im Dachgeschoss angesiedelter Geist wüsste dann


nichts darüber, wie sich der Darm fühlt, weil enterales
und Zentralnervensystem nur begrenzt miteinander kom-
munizieren. Vielleicht wohnt in unserem Körper noch so
mancher autonome Geist, auf immer isoliert und damit so
fern wie die Rückseite des Mondes. Derzeit lässt sich diese
Möglichkeit nicht völlig ausschließen; angesichts der be-
grenzten, stereotypen Verhaltensweisen des enteralen Ner-
vensystems scheint es aber dem Gehirn vollkommen unter-
geordnet zu sein und kein eigenes Erleben zu haben.
Zu verstehen, wie Qualia auftreten, ist nur der erste
Schritt bei der Ausräumung des „Problems“ am Körper-
Geist-Problem. Der nächste Schritt besteht darin zu ver-
stehen, warum sich ein Quale so anfühlt, wie es sich an-
fühlt. Warum fühlt sich Rot rot an, ganz anders als Blau?
Farben sind keine abstrakten, willkürlichen Symbole, sie
repräsentieren etwas Bedeutungsvolles. Wenn man Perso-
nen fragt, ob Orange zwischen Rot und Gelb oder zwi-
schen Blau und Violett angesiedelt ist, werden diejenigen
mit gesundem Augenlicht die erste Antwort wählen. Den
Farbqualia wohnt eine eigene Organisation inne; Farben
lassen sich sogar im Farbenkreis systematisch anordnen.
Diese Anordnung unterscheidet sich von der anderer Sin-
neswahrnehmungen wie der von Tiefe oder Neigung, die
linear angeordnet sind. Warum? Als Gruppe haben Farb-
wahrnehmungen bestimmte Gemeinsamkeiten, die sie von
anderen Wahrnehmungen wie dem Bewegungssehen oder
dem Riechen von Rosenduft unterscheiden. Warum?
Ich suche nach einer Methode, solche Fragen mithilfe
physikalischer Prinzipien zu beantworten, mithilfe des tat-
sächlichen Schaltplans eines Gehirns und indem ich aus
3  Definition des Problems 49

dessen Schaltkreisen die Empfindungen ableite, die das


Gehirn verspüren kann. Nicht nur die Existenz bewusster
Zustände, sondern auch deren genaue Eigenschaften. Sie
glauben, das gehe über die Grenzen der Naturwissenschaft
hinaus? Denken Sie das nicht. Dichter, Liedermacher und
Sicherheitsbeamte beklagen die Unmöglichkeit, die Gedan-
ken eines anderen zu lesen. Das mag zutreffen, solange man
von außen schaut, doch wenn ich Zugang zum kompletten
Gehirn einer Person mit all seinen Elementen habe, gilt das
nicht mehr. Mit dem richtigen mathematischen Unterbau
müsste ich genau benennen können, was sie oder er gerade
erlebt. Ob es uns gefällt oder nicht, echtes Gedankenlesen
ist, zumindest prinzipiell, möglich. Mehr darüber in den
Kapiteln 5 und 9.

 elche Funktion hat das


W
Bewusstsein?
Ein anderes immerwährendes Rätsel ist die Frage, warum
wir überhaupt Erlebnisse haben. Könnten wir nicht auch
ohne Bewusstsein leben, Kinder zeugen und diese groß-
ziehen? Ein solches Zombiedasein widerspricht keinem be-
kannten Naturgesetz. Subjektiv gesehen aber wäre das so,
als würde man durch sein Leben schlafwandeln oder als
wäre man eine der Gruselgestalten in Die Nacht der leben-
den Toten. Kein Wissen. Kein Ego. Kein Sein.
Welchen Überlebenswert hat unser innerer Bildschirm
des geistigen Erlebens für uns? Welche Funktion hat das
Bewusstsein, welche Funktion haben Qualia?
Noch rätselhafter wird die Sache, wenn man sich klar-
macht, dass vieles im täglichen Auf und Ab tatsächlich
50 Book
  B Title
ewusstsein

abseits des Bewusstseins stattfindet. Das gilt offensichtlich


für die meisten sensomotorischen Handlungen unserer All-
tagsroutine: Schuhe zubinden, auf der Computertastatur
tippen, Auto fahren, ein Return beim Tennis, Geländelauf,
Walzer tanzen. All diese Handlungen laufen per Autopilot
ab, mit wenig oder gar keiner bewussten Introspektion. Die
flüssige Bewältigung solcher Aufgaben setzt sogar voraus,
dass wir uns nicht zu sehr darauf konzentrieren. Es braucht
zwar Bewusstsein, um diese Fähigkeiten zu erlernen, aber
beim Üben geht es genau darum, dass man nicht mehr groß
darüber nachdenken muss; man vertraut dem Wissen des
eigenen Körpers und lässt ihn einfach machen – ganz so wie
beim Nike-Werbeslogan just do it, „mach’s einfach“.
Francis Crick und ich haben die Existenz einer Armee
von schlicht gestrickten Zombies in jedem von uns postu-
liert. Diese widmen sich stereotypen Aufgaben, die auto-
matisierbar und ohne bewusste Kontrolle ausführbar sind.
In Kapitel 6 erfahren Sie mehr darüber. Solch unbewusstes
Handeln nötigte uns, die Vorteile eines Bewusstseins zu
untersuchen. Warum ist das Gehirn nicht bloß eine An-
sammlung spezialisierter Zombies? Wozu braucht man
überhaupt ein Bewusstsein, da diese doch ohne großen
Aufwand und schnell arbeiten?
Weil das Leben uns manchmal Streiche spielt! Das Un-
erwartete geschieht, und wir müssen plötzlich nachden-
ken, bevor wir handeln. Unser normaler Weg zur Arbeit
ist durch einen Stau blockiert, und wir überlegen uns an-
dere Strecken. Francis und ich argumentierten, dass das
Bewusstsein in solchen Situationen für die Planung nötig
ist: Soll ich warten, bis sich der Stau auflöst, linksherum
den längeren, aber dafür ampelfreien Umweg nehmen
3  Definition des Problems 51

oder rechts in die kürzere Strecke mit ihren vielen Ampel-


kreuzungen abbiegen? Derlei bewusste Entscheidungen
setzen voraus, dass alle relevanten Fakten zusammenge-
fasst und dem die Entscheidung treffenden Geist präsen-
tiert werden.
Diese Erklärung impliziert nicht, dass alle mit Planung
assoziierten Aktivitäten des Gehirns dem Bewusstsein zu-
gänglich sind. Gut möglich, dass unbewusste Prozesse
ebenfalls planen können, aber sehr viel langsamer als be-
wusste Prozesse oder ohne so weit in die Zukunft zu blicken
wie diese. Biologische Systeme sind im Gegensatz zu künst-
lichen (wie etwa die Elektrokabel in Ihrem Haus) zu redun-
dant und zu eng vernetzt, um komplett zu versagen, wenn
ein Verarbeitungsmodul ausfällt. Vielmehr, so Francis’ und
meine Vermutung, gestattet uns das Bewusstsein, flexibler
und weiter im Voraus zu planen als Zombies es können.
Fragen nach der Funktion sind meist schwer zu beant-
worten: Warum haben wir nur zwei Augen und nicht acht
wie die Spinnen? Welche Aufgabe erfüllt der Wurmfort-
satz des Blinddarms? Sicher nachzuweisen, warum ein be-
stimmtes körperliches Merkmal oder eine Verhaltensweise
im Verlauf der Evolution entstanden ist, stellt stets eine
Herausforderung dar (außer allgemeine Feststellungen wie
die, dass man Augen braucht, um Beute oder Raubfeinde in
einiger Entfernung entdecken zu können).
Einige Gelehrte bestreiten, dass das Bewusstsein eine
kausale Aufgabe hat. Sie akzeptieren sein Vorhandensein,
argumentieren aber, dass subjektive Gefühle keine Funk-
tion hätten – diese sind für sie nur Schaumkronen auf dem
Ozean des Daseins, ohne Konsequenzen für die Welt. Der
Terminus technicus dafür ist Epiphänomen. Das Geräusch,
52 Book
  B Title
ewusstsein

das das Herz beim Schlagen macht, ist solch ein Epiphäno-
men – es ist für den Kardiologen nützlich, um seine Diag-
nose zu stellen, aber es hat keine unmittelbare Auswirkung
auf den Körper. Thomas Henry Huxley, Naturforscher und
streitbarer Verteidiger Darwins, sagte dazu 1884:

Das Bewusstsein von Wilden scheint mit der Mechanik


ihres Körpers lediglich als Begleiterscheinung von dessen
Arbeit verbunden und ganz ohne die Macht, diese Arbeit
zu beeinflussen, ganz wie die Pfeife, die die Arbeit einer
Dampflokomotive begleitet, ohne deren Maschinerie zu
beeinflussen.

Ich finde diese Argumentation nicht plausibel, kann sie aber


derzeit auch nicht widerlegen. Das Bewusstsein ist angefüllt
mit bedeutungsvollen Wahrnehmungen und Erinnerungen
von manchmal unerträglicher Intensität. Warum sollte die
Evolution eine enge und anhaltende Verbindung zwischen
neuronaler Aktivität und Bewusstsein begünstigt haben,
eine Verbindung, die lebenslang besteht, wenn der fühlen-
de Teil dieser Partnerschaft keine Auswirkung auf das Über-
leben des Organismus hat? Gehirne sind das Produkt eines
Selektionsprozesses in Hunderten von Millionen Wieder-
holungen; wenn Qualia ohne jede Funktion wären, hätten
sie diesen gnadenlosen Prüfungen nicht standgehalten.
Während sich Philosophen, Psychologen und Ingenieu-
re Spekulationen über die Funktion des Bewusstseins hin-
geben, schreitet die empirische Forschung zu seiner mate-
riellen Grundlage rasant voran. Die Naturwissenschaften
können besser mechanistische „Wie?“- als finale „Warum?“-
Fragen beantworten. Sich mit seiner Forschung am Nutzen
3  Definition des Problems 53

des Bewusstseins festzubeißen, ist weniger fruchtbar als he-


rauszufinden, welche Teile des Gehirns für das Bewusstsein
wichtig sind.

 as Bewusstsein definieren – eine


D
schwierige Sache
Nach einem Vortrag über Bewusstsein bei Tieren trat ein-
mal eine Dame an mich heran und rief: „Sie werden mich
niemals davon überzeugen können, dass ein Affe ein Be-
wusstsein hat!“ „Und Sie werden mich niemals davon über-
zeugen können, dass Sie ein Bewusstsein haben!“, antwor-
tete ich. Nach der ersten Verblüffung über meine Antwort
dämmerte es ihr erkennbar, worum es ging: Die Unfähig-
keit zu fühlen, was ein Affe, ein Hund oder ein Vogel fühlt,
gilt ebenso für Menschen, wenn auch in geringerem Maße.
Man denke nur an einen undercover arbeitenden Spion,
einen Partner, der uns betrügt, oder einen Schauspieler. Sie
täuschen Gefühle wie Vertrauenswürdigkeit, Patriotismus,
Liebe oder Freundschaft vor. Man kann sich der Gefüh-
le eines anderen niemals ganz sicher sein! Man kann ihm
in die Augen schauen und analysieren, was er sagt, doch
letztlich kann man aus der Beobachtung nicht sicher darauf
schließen, was er denkt.
Es ist fast unmöglich, genau zu definieren, was eigent-
lich Jazz ausmacht – daher der Spruch „Wenn du danach
fragen musst, wirst du es nie verstehen!“. Dasselbe gilt für
das Bewusstsein. Es ist nicht möglich, bewusste Gefühl
zu erklären, ohne dabei auf andere Gefühle, Qualia oder
54 Book
  B Title
ewusstsein

Empfindungszustände zurückzugreifen. Diese Schwierig-


keit schlägt sich in vielen Definitionen des Bewusstseins
wieder, die sich sozusagen selbst in den Schwanz beißen.
So definiert das Oxford English Dictionary Bewusstsein als
„Zustand der Bewusstheit, Normalzustand bei gesunden,
wachen Personen“. Ähnlich gelagert, aber einfacher ist es,
einer von Geburt an blinden Person zu erklären, was Farben
sind. Das Perzept von Rot lässt sich unmöglich erklären,
ohne auf rote Objekte Bezug zu nehmen. Und die Farbe
eines Objekts ist etwas anderes als seine Form, sein Gewicht
oder sein Geruch. Seine Farbe ist nur, nun ja: mit anderen
Farben vergleichbar.
Definitionen können gefährlich sein, wenn man sich an
ihnen versucht, bevor man ein solides Verständnis einer Sa-
che erworben hat. Eine zu frühe strenge Festlegung kann
zum Prokrustesbett werden, das den Fortschritt behindert.
Wenn Sie meinen, ich würde mich herausreden, dann ver-
suchen Sie doch einmal, ein Gen zu definieren. Ist es eine
stabile Einheit der Vererbung? Muss es für ein einzelnes
Enzym codieren? Wie steht es mit Struktur- und Regula-
torgenen? Entspricht ein Gen einem bestimmen Nuclein-
säureabschnitt? Und was ist dann mit Introns, Splicing und
poststranskriptionellem Editing? Oder versuchen wir es
mit einer einfacheren Angelegenheit, der Definition eines
Planeten. Als Kind lernte ich, dass es neun Planeten gibt.
Vor einigen Jahren nun entdeckte mein Caltech-Kollege
Michael Brown mit seinem Team Eris, einen Planeten im
äußeren Bezirk unseres Sonnensystems. Eris hat einen eige-
nen Mond und mehr Masse als Pluto. Da sie außerdem
eines von mehreren so genannten transneptunischen Ob-
jekten ist, kamen die Astronomen ins Grübeln. Hieß das,
3  Definition des Problems 55

dass es noch unzählige weitere neue Planeten gibt? Um das


zu vermeiden, definierte man den Begriff Planet neu und
ordnete Pluto nunmehr der Gruppe der Zwergplaneten zu.
Wenn die Astronomen irgendwann einmal Planeten ent-
decken, die einen Doppelstern umkreisen oder die allein,
ohne einen Stern, der ihren Himmel erleuchtet, durchs All
ziehen, muss die Definition für Planeten erneut angepasst
werden.
Viele Menschen nehmen fälschlich an, dass die Natur-
wissenschaften zunächst das von ihnen untersuchte Phäno-
men streng definieren und dann die Prinzipien aufdecken,
denen es gehorcht. Traditionell aber erzielen die Naturwis-
senschaften Fortschritte ohne präzise, axiomatische Formu-
lierungen. Naturwissenschaftler arbeiten mit formbaren,
spontanen Definitionen, die sie sich zurechtlegen, sobald
sie mehr über eine Sache wissen. Solche Arbeitsdefinitionen
lenken Diskussion und Versuche in eine bestimmte Rich-
tung und gestatten es unterschiedlichen Forschungsgrup-
pen, sich auszutauschen. Das ermöglicht Fortschritt.
In diesem Sinne möchte ich hier vier unterschiedliche
Definitionen des Bewusstseins vorstellen. Wie in der bud-
dhistischen Fabel von den Blinden, die jeweils andere As-
pekte desselben Elefanten beschreiben, fängt jede dieser
Definitionen eine wichtige Facette des Bewusstseins ein,
auch wenn keine ein vollständiges Bild liefert.
Eine Definition des Bewusstseins entsprechend dem gesun-
den Menschenverstand setzt Bewusstsein mit unserem inne-
ren, geistigen Leben gleich. Bewusstsein beginnt, wenn wir
am Morgen wach werden, und hält den Tag über an, bis wir
in einen traumlosen Schlaf sinken. Das Bewusstsein ist da,
wenn wir träumen, aber im Tiefschlaf, in Narkose und im
56 Book
  B Title
ewusstsein

Koma ist es ausgeschaltet. Und mit dem Tod verschwin-


det es für immer. Der Prediger Salomo sprach ganz richtig:
„Denn die Lebenden wissen, daß sie sterben, die Toten aber
wissen nichts.“
Eine Definition des Bewusstseins anhand des Verhaltens
ist eine Checkliste von Handlungen oder Verhaltensweisen,
die jeden Organismus als bewusst einstufen würde, der eine
oder mehrere davon ausführen kann. Notfallmediziner be-
urteilen die Schwere einer Schädelverletzung schnell mit-
hilfe der Glasgow-Koma-Skala ( Glasgow Coma Scale). Sie
vergibt Punkte, je nachdem, inwieweit der Patient seine
Augen, Gliedmaßen und Stimme kontrollieren kann. Ein
Gesamtwert von 3 entspricht tiefem Koma, eine Punktzahl
von 15 kennzeichnet einen Patienten bei vollem Bewusst-
sein. Die Werte dazwischen entsprechend teilweisen Be-
einträchtigungen, etwa „reagiert verwirrt und desorientiert
auf Ansprache, reagiert aber gezielt auf Schmerzreiz“. Für
ältere Kinder und Erwachsene ist eine solche Messung des
Bewusstseinszustandes bestens geeignet, doch die eigentli-
che Herausforderung besteht darin, Verhaltenskriterien zu
finden, die zu verbaler Kommunikation nicht fähigen Or-
ganismen wie Babys, Hunden, Mäusen oder sogar Fliegen
gerecht werden.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, stereotype,
automatische Reflexe von komplizierteren Aktivitäten zu
unterscheiden, die Bewusstsein erfordern (mehr zu den
Zombie-Verhaltensweisen in Kapitel 6). Wenn ein Subjekt
also wiederholt zweckdienliches, nicht routinemäßiges
Verhalten zeigt, das mit einer gewissen Speicherung von
Informationen verbunden ist, dann ist anzunehmen, dass
sie, er oder es bewusst handelt. Wenn ich einem Baby eine
3  Definition des Problems 57

­ rimasse schneide und ihm die Zunge herausstrecke und


G
mich das Baby kurz darauf imitiert, ist es nur recht und bil-
lig anzunehmen, dass sich das Baby zumindest ansatzweise
seiner Umgebung bewusst ist. Gleiches gilt für eine Patien-
tin, die auf Aufforderung ihre Augen nach links, rechts,
oben und unten bewegt: Sie ist bei Bewusstsein. Und auch
hier muss man die Aufgaben den Händen, Pfoten, Ballen,
Krallen, Fingern oder Schnauzen der Art anpassen, mit der
man den Versuch durchführt.
Eine neuronale Definition des Bewusstseins beschreibt
die minimalen physiologischen Mechanismen, die jeder für
eine bewusste Wahrnehmung braucht. Kliniker wissen bei-
spielsweise, dass das Bewusstsein nach Hirnstammverlet-
zungen schwer beeinträchtigt ist oder sogar ganz erlöschen
kann, sodass der Betroffene in einen vegetativen Zustand
gerät. Eine andere Bedingung für bewusste Wahrnehmun-
gen ist ein aktiver und funktionierender cortico-thalamischer
Komplex. Dieser umfasst in erster Linie den Neocortex und
den mit dieser eng verbundenen, darunterliegenden Thala-
mus. Der Neocortex ist der stammesgeschichtlich jüngste
Teil des Cortex cerebri (der Großhirnrinde), jener aufge-
falteten Schichten von Neuronen, die die berühmte graue
Substanz bilden. Er nimmt den größten Teil des Vorder-
hirns ein und ist ausschließlich bei Säugern zu finden. Der
Thalamus ist eine wachteleigroße Struktur in der Hirnmit-
te, die sämtlichen Input in den Neocortex steuert und von
diesem umfangreiches Feedback erhält. So ziemlich jede
Region des Cortex cerebri erhält Input von einer spezifi-
schen Region des Thalamus und sendet Informationen an
diesen zurück. Andere Strukturen, die mit dem cortico-tha-
lamischen Duo zusammenhängen – daher die Bezeichnung
58 Book
  B Title
ewusstsein

„Komplex“ – sind Hippocampus, Amygdala, Basalganglien


und Claustrum. Von allen Gebieten der Bewusstseinsfor-
schung gelangen auf dem der Neurologie die größten Fort-
schritte. In den Kapiteln 4 und 5 gehe ich näher darauf ein.
Und wenn diese drei Definitionen das Problem nicht
lösen, dann fragen Sie einfach eine Philosophin. Sie wird
Ihnen eine vierte Definition nennen: „Bewusstsein ist, wie
es ist, etwas zu fühlen.“ Wie es sich anfühlt, ein bestimm-
tes Erlebnis zu haben, kann nur der Organismus wissen,
der das Erlebnis gerade hat. Diese Wie-es-sich-von-innen-
anfühlt-Perspektive steht für das grundlegende, minimale
Merkmal eines phänomenalen Bewusstseins – etwas, ir-
gendetwas zu erleben.
Keine dieser Definitionen ist hinreichend. Keine be-
schreibt eindeutig, welche Voraussetzungen es braucht, da-
mit ein System bewusst ist. Für praktische Zwecke jedoch
sind die Definition anhand des Verhaltens und die neuro-
nale Definition am nützlichsten.

Bewusstsein bei Tieren


Um einer Antwort auf diese schwierigen Fragen näher zu
kommen, ohne sich zu verzetteln oder in hitzigen Debatten
stecken zu bleiben, muss ich einige Annahmen formulie-
ren, ohne diese zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollständig
beweisen zu können. Gut möglich, dass diese Arbeitshypo-
thesen später einer Überarbeitung bedürfen oder ganz ver-
worfen werden müssen.
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass die physikali-
sche Grundlage des Bewusstseins eng mit den spezifischen
3  Definition des Problems 59

Interaktionen von Neuronen und den sie begleitenden Ele-


menten verknüpft ist. Obwohl das Bewusstsein vollkom-
men im Einklang mit den Gesetzen der Physik ist, lässt es
sich anhand dieser Gesetze allein nicht vorhersagen oder
verstehen.
Außerdem gehe ich davon aus, dass viele Tiere, insbe-
sondere Säugetiere, einige der Merkmale des Bewusst-
seins aufweisen: Sie sehen, hören, riechen und nehmen die
Welt in sonstiger Weise wahr. Natürlich hat jede Spezies
ihr ganz eigenes Sensorium, das ihrer ökologischen Nische
entspricht. Aber sie alle erleben etwas. Etwas anderes an-
zunehmen, ist überheblich und widerspricht allen Belegen
für die strukturellen und verhaltensbiologischen Gemein-
samkeiten von Mensch und Tier. Biologen heben diese
Kontinuität noch hervor, indem sie von nichtmenschlichen
und menschlichen Tieren sprechen. Wir alle sind Kinder von
Mutter Natur. Dessen bin ich mir aus dreierlei Gründen
sicher:
Erstens ist das Verhalten vieler Säugetiere dem unseren
verwandt, wenn auch nicht identisch mit ihm. Nehmen
wir beispielsweise meine Hündin, wenn sie aufjault, fiept,
an ihrer Pfote nagt, humpelt und hilfesuchend zu mir
kommt: Ich leite daraus ab, dass sie Schmerzen hat, weil
ich mich unter ähnlichen Bedingungen ähnlich verhalte
(vom Nagen einmal abgesehen). Physiologische Messun-
gen bei Schmerzen bestätigen dies – Hunde zeigen, wie
Menschen, bei Schmerzen eine erhöhte Herzfrequenz, er-
höhten Blutdruck und die Ausschüttung von Stresshormo-
nen in die Blutbahn. Und nicht nur physischen Schmerz
haben wir mit Tieren gemeinsam, sondern auch Leid. Tie-
re leiden, wenn sie systematisch misshandelt werden oder
60 Book
  B Title
ewusstsein

wenn man ein älteres Haustier von seinen Wurfgeschwis-


tern oder menschlichen Bezugspersonen trennt. Ich sage
nicht, dass der Schmerz von Hunden exakt dem von Men-
schen gleicht, wohl aber, dass Hunde – und andere Tie-
re – nicht bloß auf schädliche Stimuli reagieren, sondern
Schmerz auch bewusst erleben.
Zweitens ist die Struktur des Nervensystems bei allen
Säugetieren vergleichbar: Man muss schon Neuroanatom
sein, um ein kleines Stückchen Mäuse- oder Affenhirn von
einem Stückchen Menschenhirn unterscheiden zu können.
Unser Gehirn ist recht groß, aber andere Säugetiere – Ele-
fanten, Delfine, Großwale – besitzen größere. Weder auf
Ebene des Genoms noch auf Ebene der Synapsen, Zellen
oder Verbindungen bestehen qualitative Unterschiede zwi-
schen Mäusen, Affen und Menschen. Die Rezeptoren und
Bahnen, die Schmerz übermitteln, sind bei allen Arten ana-
log. Nach einem langen Geländelauf gebe ich meiner Hün-
din (natürlich ihrer Körpergröße entsprechend dosiert) die-
selben Schmerzmittel, wie ich sie einnehme, und ihr Hum-
peln verschwindet. Daher vermute ich, dass Hundeschmerz
sich ebenso unangenehm anfühlt wie Menschenschmerz.
Trotz dieser Ähnlichkeiten gibt es unzählige quantitati-
ve Unterschiede in der Hardware. In der Summe bewirken
diese, dass der Homo sapiens ein weltumspannendes Inter-
net aufbauen, einen Atomkrieg planen und auf Godot war-
ten kann, wozu andere Tiere nicht in der Lage sind. Bislang
aber konnte man keine qualitativen Unterschiede in den
Gehirnen entdecken.
Drittens sind alle heutigen Säugetiere eng miteinander
verwandt. Die Placentatiere entwickelten sich nach dem
Aussterben der Dinosaurier infolge des Asteroidenein-
3  Definition des Problems 61

schlags vor der Halbinsel Yucatán vor etwa 65 Mio. Jahren


zu ihrer heutigen Formenvielfalt. Erst vor rund sechs Mil-
lionen Jahren teilten sich die Abstammungslinien des Men-
schen und der Großen Menschenaffen Schimpanse und
Gorilla. Homo sapiens ist Teil des evolutionären Kontinu-
ums und kein einzigartiger Organismus, der im Vollbesitz
seiner Empfindungsfähigkeit vom Himmel fiel.
Es ist durchaus möglich, dass alle mehrzelligen Tiere
ein Bewusstsein haben. Raben, Krähen, Elstern, Papagei-
en und andere Vögel, Thunfische, Buntbarsche und andere
Fische, Kopffüßer und Bienen sind allesamt zu anspruchs-
vollen Verhaltensweisen imstande; wahrscheinlich besitzen
auch sie ein gewisses Maß an Bewusstsein, etwa dafür, dass
sie Schmerz leiden oder etwas Angenehmes erleben. Der
Unterschied zwischen den Arten und sogar einzelnen Art-
genossen besteht darin, wie differenziert, wie vernetzt und
komplex diese Bewusstseinszustände sein können. Wessen
sie sich bewusst sind – der Inhalt ihres Wachbewusstseins
– hängt unmittelbar mit ihren Sinnen und ökologischen
Nischen zusammen. Jedem das seine.
Das Repertoire bewusster Zustände muss irgendwie ab-
nehmen, je weniger komplex das Nervensystem eines Or-
ganismus ist. Ob die beiden beliebtesten Versuchstiere der
Biologen – der Nematode Caenorhabditis elegans mit seinen
302 Nervenzellen und die Taufliege Drosophila melanogas-
ter mit ihren 100.000 Neuronen – phänomenale Zustände
erleben, ist derzeit kaum zu ermitteln. Solange wir nicht
genau wissen, welche neuronale Architektur Bewusstsein
voraussetzt, können wir nicht wissen, ob ein Rubikon das
Tierreich in empfindende und nicht empfindende Wesen
teilt.
62 Book
  B Title
ewusstsein

Selbst-Bewusstsein
Wenn man Leute fragt, was sie für die definierende Eigen-
schaft des Bewusstseins halten, nennen die meisten das
Selbst-Bewusstsein. Sich seiner selbst bewusst zu sein, sich
Sorgen um sein krankes Kind zu machen, sich zu fragen,
warum man sich niedergeschlagen fühlt oder warum unser
Partner uns eifersüchtig machen wollte, gilt als Inbegriff des
bewussten Empfindens.
Kleine Kinder haben nur wenig Einsicht in ihr Handeln.
Kinder unter anderthalb Jahren erkennen sich selbst nicht
im Spiegel. Verhaltenspsychologen dient dieser Spiegeltest
als Maßstab für Selbsterkenntnis. Dem Kleinkind wird
heimlich ein kleiner Punkt oder Farbfleck auf der Stirn
angebracht. Vor einen vertrauten Spiegel gesetzt, wird das
Baby mit seinem Spiegelbild spielen, aber nicht nach der
Markierung in seinem Gesicht fassen oder versuchen, sie zu
entfernen (anders als Teenager, die oft stundenlang vor dem
Spiegel stehen und das Badezimmer blockieren). Nur eini-
ge andere Arten bestehen den Spiegeltest (in entsprechen-
den Ausführungen): Menschenaffen, Delfine, ­Elefanten
und Elstern. Tieraffen blecken die Zähne oder interagieren
sonst wie mit ihren Spiegelbildern, erkennen aber nicht,
das „das Bild da drin meinem Körper hier vor dem Spiegel
entspricht“. Damit sei nicht gesagt, dass sie keine Selbst-
wahrnehmung haben, nur eben keine visuelle Repräsen-
tation ihres Körpers, die sie mit dem äußeren Spiegelbild
vergleichen.
Manche Gelehrte schließen aus diesem Mangel an
Selbst-Bewusstsein, dass die meisten Tiere kein Bewusstsein
3  Definition des Problems 63

haben. So gesehen hätten nur Menschen (und von diesen


nicht einmal die jungen) ein echtes Bewusstsein.
Nun, diese Folgerung ist nicht plausibel, wie besonders
eine Beobachtung zeigt: Wenn man sich intensiv mit der
Welt auseinandersetzt, nimmt man sich selbst nur noch dif-
fus wahr. Ich spüre das vor allem beim Felsklettern. Oben
am Fels ist das Leben am intensivsten. An guten Tagen er-
lebe ich das, was der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi
Flow nennt – einen machtvollen Zustand, in dem ich mir
meiner Umgebung extrem bewusst bin: der Struktur des
Granits unter meinen Fingern, des Windes, der mir durchs
Haar fährt, der Sonne, die mir auf den Rücken brennt, und
immer, immer des Abstands zum letzten Halt unter mir.
Flow geht mit flüssigen Bewegungen einher, einer nahtlosen
Integration von Sinneswahrnehmung und Handeln. Alle
Aufmerksamkeit gilt der gerade ausgeführten Aufgabe; die
Zeit vergeht langsamer, und das Selbstgefühl verschwindet.
Jene innere Stimme, mein persönlicher Kritiker, der mich
stets an meine Fehler und Schwächen erinnert, schweigt.
Flow ist ein Zustand der Verzückung, ähnlich dem, den ein
Buddhist in tiefer Meditation erreicht.
Der Autor und Bergsteiger Jon Krakauer beschreibt den
Zustand treffend in seinem Buch Auf den Gipfeln der Welt:

Nach und nach konzentriert sich die Aufmerksamkeit der-


art, daß man die aufgescheuerten Knöchel, die verkrampf-
ten Oberschenkel, die Anspannung, ständig konzentriert
zu sein, gar nicht mehr spürt. Ein tranceartiger Zustand
legt sich über die Anstrengung, das Klettern wird zu einem
scharfsichtigen Traum. Stunden vergehen wie Minuten.
Die aufgelaufene Schuld und das alltägliche Chaos … sind
64 Book
  B Title
ewusstsein

vorübergehend vergessen, von einer übermächtigen Klar-


heit des Ziels und der Ernsthaftigkeit der aktuellen Auf-
gabe aus den Gedanken vertrieben.

Zu diesem Aussetzen des Selbst-Bewusstseins kommt es


nicht nur beim Bergsteigen, sondern auch bei Aktivitäten
wie Sex, hitzigen Streitgesprächen, Swingtanzen oder Mo-
torradrennen. In solchen Situationen ist man ganz im Hier
und Jetzt. Man ist in der Welt und Teil der Welt, ohne sich
seiner selbst zu sehr bewusst zu sein.
Rafael Malach und das Weizmann Institute in Israel be-
zahlten Freiwillige dafür, sich Zwei glorreiche Halunken an-
zusehen, während sie auf dem Rücken in einem engen Scan-
ner lagen, der Aufnahmen von ihrem Gehirn machte. Das
war zwar eine etwas ungewöhnliche cineastische Erfahrung,
aber die Zuschauer fanden diesen klassischen Spaghettiwes-
tern dennoch fesselnd. Bei der Analyse ihrer Gehirnaktivi-
täten entdeckte Malach, dass die für Introspektion, über-
geordnete Kognition, Planung und Bewertung zuständigen
Bereiche der Großhirnrinde relativ inaktiv waren, während
die für Sinneswahrnehmungen, emotionale Prozesse und
Erinnerungen zuständigen Regionen vor Aktivität nur so
sprühten. Zudem war das Auf und Ab der Durchblutung
der Hirnrinde, die der Hirnscanner ebenfalls dokumentier-
te, bei allen Freiwilligen gleich. Beide Beobachtungen be-
legen, wie meisterhaft der begnadete italienische Regisseur
Sergio Leone seine Zuschauer beherrscht und dazu bringt
zu sehen, zu fühlen und zu erinnern, was er will. Genau
dies ist einer der Gründe, warum wir so gern Spielfilme an-
sehen – sie lenken uns von unserem hyperaktiven Selbst-
Bewusstsein ab, den täglich auf uns ­einstürmenden ­Sorgen,
3  Definition des Problems 65

­ ngsten, Befürchtungen und Zweifeln. Für ein paar Stun-


Ä
den entfliehen wir der Tyrannei unserer schädelgroßen
Königreiche. Wir sind uns der Ereignisse im Film sehr be-
wusst, unseres eigenen Zustandes dagegen nur wenig. Und
das ist manchmal ein Segen.
Menschen mit umfangreichen Degenerationen des fron-
talen Cortex zeigen manchmal substanzielle kognitive, ex-
ekutive, emotionale und Planungsdefizite und gleichzeitig
eine fehlende Einsicht in ihre entsetzliche Situation. Sie
sehen, hören und riechen, und sie sind sich ihrer Wahr-
nehmungen bewusst.
Selbst-Bewusstsein ist untrennbar mit Bewusstsein ver-
bunden. Es ist eine spezielle Form des Bewusstseins, die
sich nicht mit der Außenwelt beschäftigt, sondern mit in-
neren Zuständen, dem Nachdenken über diese Zustände
und dem Nachdenken über dieses Nachdenken. Diese Re-
kursivität macht es zu einer besonders machtvollen Form
des Denkens.
Der Informatiker Doug Hofstadter vermutet, dass das
Selbst-Bewusstsein im Kern aus einer paradoxen und selbst-
bezüglichen „seltsamen Schleife“ ( strange loop) besteht, ähn-
lich der Lithographie von M. C. Escher, auf der sich zwei
Hände gegenseitig zeichnen. Wenn dem so ist – was ich
nicht glaube, weil sich der Geist mit Selbstbezüglichkeit oder
Rekursivität schwertut, die über ein „ich denke daran, dass
ich denke“ hinausgehen –, dann geht diese seltsame Schleife
mit dem Bewusstsein an sich einher. Das Selbst-Bewusstsein
ist wahrscheinlich eher eine evolutionäre Adaptation älterer
Formen des Körper- und Schmerzbewusstseins.
Ein anderes allein dem Menschen vorbehaltenes Merkmal
ist die Sprache. Mithilfe echter Sprache kann Homo sapiens
66 Book
  B Title
ewusstsein

willkürliche Symbole und Konzepte wiedergeben, manipu-


lieren und verbreiten. Sprache ließ Kathedralen entstehen,
die Slow-Food-Bewegung, die Allgemeine Relativitätstheo-
rie und Der Meister und Margarita. Solcherlei Dinge kön-
nen unsere tierischen Mitgeschöpfe nicht bewerkstelligen.
Die große Bedeutung der Sprache für die meisten Aspekte
des zivilisierten Daseins ließ bei Philosophen, Linguisten
und anderen den Glauben entstehen, Bewusstsein sei ohne
Sprache unmöglich, weshalb ausschließlich Menschen füh-
len und sich selbst beobachten könnten.
Ich bin da anderer Meinung. Es gibt eigentlich keinen
Grund, Tieren ein Bewusstsein abzusprechen, nur weil sie
stumm sind, oder Säuglingen, weil ihr Gehirn noch nicht
voll entwickelt ist. Noch weniger Grund gibt es, Menschen
mit schwerer Aphasie ein Bewusstsein abzusprechen, da sie
nach ihrer Heilung klar beschreiben können, was sie wäh-
rend ihrer Sprachunfähigkeit erlebt haben. Die permanen-
te Introspektion hat viele Intellektuelle dazu verleitet, den
nicht reflektierenden, nonverbalen Charakter des Großteils
des Lebendigen abzuwerten und die Sprache zum Königs-
macher zu erklären – schließlich ist die Sprache ihr wich-
tigstes Werkzeug.
Wie steht es mit den Emotionen? Muss ein Organismus
Wut, Angst, Ekel, Überraschung, Trauer oder Aufregung
verspüren, um bewusst zu sein? Zwar steht außer Frage,
dass solche starken Gefühle unerlässlich für unser Überle-
ben sind, doch gibt es keine überzeugenden Beweise dafür,
dass sie unerlässlich für unser Bewusstsein sind. Ob wir nun
wütend oder fröhlich sind – wir sehen so oder so die Kerze
vor uns auf dem Tisch und spüren den Schmerz, wenn wir
den Finger in die Flamme halten.
3  Definition des Problems 67

Manche Menschen zeigen aufgrund von Depressionen


oder Schädigungen der Frontallappen einen geringen Af-
fekt; ihr Handeln ist beeinträchtigt und ihr Urteil unzu-
verlässig. Der Veteran mit Kopfverletzung erzählt womög-
lich ganz ungerührt, wie ihm eine explodierende Mine die
Beine weggerissen hat. Er wirkt vollkommen distanziert,
unbeteiligt und uninteressiert an seinem Leiden, obwohl
er zweifellos etwas erlebt, und wenn es nur extremes Un-
behagen aufgrund seiner Verletzungen ist. Emotionen sind
für ein ausgeglichenes und erfolgreiches Leben unerlässlich,
nicht aber für das Bewusstsein.
Der Boden für die Lösung des Körper-Geist-Problems
ist nunmehr bereitet. Der gerade von mir beschriebene Pa-
tient gemahnt uns an die zentrale Bedeutung des Gehirns
– neurowissenschaftliche Lehrbücher beschreiben dieses
Organ in allen langweiligen Einzelheiten, verschweigen
aber, wie es sich anfühlt, ein solches zu besitzen. Diese Lü-
cke möchte ich nun zu schließen versuchen, indem ich die
innere Perspektive des etwas erlebenden Subjekts mit der
äußeren Perspektive des Hirnforschers verknüpfe.
Kapitel 4
In welchem ich von Wissenschafts-
Magiern erzähle, die uns zwar sehen,
aber nicht erkennen lassen, wie sie die
Spuren des Bewusstseins verfolgen, ­indem
sie in unsere Köpfe blicken, ­warum wir
nicht mit unseren Augen ­sehen, und
warum Aufmerksamkeit und Bewusstsein
nicht dasselbe sind

„Daten! Daten! Daten“, rief er ungeduldig. „Ohne Lehm


kann ich keine Ziegel machen.“
– Sherlock Holmes in Das Haus bei den Blutbuchen,
Sir Arthur Conan Doyle (1892)

Wenn es um Kernphysik oder Nierendialyse geht, räumen


die Leute bereitwillig ein, dass Spezialwissen wesentlich ist.
Kommt die Unterhaltung aber auf das Thema Bewusstsein,
klinkt sich jedermann ins Gespräch ein, in der Annahme,
mangels einschlägiger Fakten habe er ein Anrecht auf seine
Lieblingstheorie. Nichts könnte irriger sein.
Inzwischen haben wir eine enorme Menge an psycho-
logischem, neurobiologischem und medizinischem Wissen
über Gehirn und Geist angesammelt. Dazu kommen jedes
Jahr weltweit Tausende neuer Studien von schätzungsweise
50.000 Hirn- und Kognitionsforschern.

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_4,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
70
70   Book Title
Bewusstsein

Aber machen Sie sich keine Sorgen – ich werde nicht


einmal auf einen Bruchteil dieses Materials eingehen. Viel-
mehr möchte ich mich auf einige kurze und prägnante
Darstellungen aus dem Labor konzentrieren, die für die
moderne Suche nach den Wurzeln des Bewusstseins bei-
spielhaft sind.

 uf den Spuren des Bewusstseins im


A
Gehirn
In der letzten Dekade des vergangenen Jahrtausends began-
nen ein paar unerschrockene wissenschaftlicher Entdecker,
die des endlosen, eristischen metaphysischen Streits – exis-
tiert Bewusstsein wirklich? Ist es von den Gesetzen der Phy-
sik unabhängig? Wie entsteht die Intentionalität geistiger
Zustande? Welcher der vielen von Philosophen so leichthin
erfundenen „-ismen“ beschreibt die Beziehung zwischen
Körper und Geist am besten? – müde waren, nach den Spu-
ren des Bewusstseins im Gehirn Ausschau zu halten. Diese
„Es ist möglich“-Haltung führte zu einem großen konzep-
tuellen Fortschritt – das Bewusstsein wurde nun als Pro-
dukt bestimmter Hirnmechanismen begriffen.
Anfang der 1990er Jahre konzentrierten sich Francis
Crick und ich auf Phänomene, die wir die neuronalen
Korrelate des Bewusstseins ( neuronal correlates of consci-
ousness NCC) nannten. Wir definierten sie als den kleins-
ten Satz neuronaler Ereignisse, der für eine bestimmte be-
wusste Wahrnehmung (Perzept) hinreichend ist. (Unsere
Definition äußert sich nicht zu der Möglichkeit, Bewusst-
sein in Maschinen oder in Software zu schaffen, eine be-
4  Bewusstsein im Labor 71

wusste Auslassung, auf die ich später noch zurückkom-


men werde).
Stellen Sie sich vor, Sie schauten einen roten Würfel an,
der rätselhafterweise im Wüstensand zurückgelassen wur-
de und nun von einem Schmetterling umflattert wird. Ihr
Geist erfasst den Würfel in Sekundenbruchteilen. Dies ge-
lingt ihm, weil das Gehirn spezielle corticale Neurone akti-
viert, die Farbe repräsentieren, und sie sowohl mit Neuro-
nen kombiniert, die das Perzept der Tiefe codieren, als auch
mit Neuronen, die die Orientierung der verschiedenen
Linien codieren, aus denen sich der Würfel aufbaut. Der
kleinste Satz solcher Neurone, der das bewusste Perzept be-
wirkt, ist das neuronale Korrelat des Bewusstseins für die
Wahrnehmung dieses fremden Objekts.
Es ist wichtig, dieses „kleinste“ zu betonen. Ohne diese
Einschränkung könnte man das gesamte Gehirn als Korre-
lat betrachten – schließlich erzeugt das Gehirn tagein, tag-
aus Bewusstsein. Aber Francis und ich waren auf Größeres
aus – die spezifischen Synapsen, Neurone und Schaltkreise,
die Bewusstsein erzeugen, es hervorrufen. Als penible Wis-
senschaftler wählten wir als Bezeichnung die vorsichtigeren
„Korrelate“ anstelle der bestimmteren „Ursachen“ des Be-
wusstseins.
Manche Abschnitte des Gehirns haben eine intimere,
privilegiertere Beziehung zum Inhalt des Bewusstseins als
andere. Das Gehirn ist kein Hologramm, bei dem alles
gleichermaßen zum Bild beiträgt. Einige Regionen steuern
­wenig, wenn überhaupt etwas, bei und lassen, wenn sie ge-
schädigt werden, das phänomenale Erleben unbeeinträch-
tigt, während andere für das Bewusstsein ausschlaggebend
sind.
72
72   Book Title
Bewusstsein

Braucht man wirklich sein Rückenmark, um bewusst zu


sehen? Hemiplegiker und Tetraplegiker verlieren ihr Kör-
pergefühl und die Kontrolle über ihren Körper unterhalb
ihrer Rückenmarksverletzung, doch sie sind sich ihrer Um-
welt klar bewusst und können ein ebenso reiches und sinn-
volles Leben führen wie andere Menschen auch. Denken
Sie nur an Christopher Reeves, den Schauspieler, der Super-
man verkörperte. Nach einem Reitunfall vom Hals abwärts
gelähmt, gründete er eine medizinische Stiftung und wurde
ein beredter Advokat der Stammzellenforschung und an-
derer Rehabilitationstechniken, die Querschnittsgelähmten
wie ihm selbst eines Tages erlauben werden, ihre Mobilität
wiederzuerlangen.
Und wie steht es mit dem Kleinhirn (Cerebellum) an
der Rückseite des Kopfes unterhalb des cerebralen Cor-
tex? Der Zusatz „Klein-“ ist paradox, denn das Kleinhirn
enthält mehr als 69 Mrd. Nervenzellen, mehr als das Vier-
fache der Neuronenzahl im berühmten cerebralen Cortex
(Großhirnrinde), der stets im Rampenlicht steht. Wenn ein
Schlaganfall oder ein Tumor Ihr Kleinhirn in Mitleiden-
schaft zieht, werden Ihr Gleichgewicht und Ihre Koordi-
nation beeinträchtigt. Ihr Gang ist unbeholfen, Sie stehen
breitbeinig, Sie schlurfen, Ihre Augen irren umher, und Sie
sprechen undeutlich. Die glatten und fließenden Bewegun-
gen, die Sie für selbstverständlich gehalten haben, sind nun
abgehackt und müssen mühsam und bewusst eingeleitet
werden. Ihr Wahrnehmungsvermögen und Ihre Erinnerun-
gen sind jedoch kaum, wenn überhaupt, betroffen. Gehör,
Gesichts-, Tast- und Geruchssinn bleiben unbeeinflusst.
Vergleichen wir eine Schädigung des Rückenmarks oder
des Kleinhirns mit den Auswirkungen einer Läsion – der
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Verletzung eines umschriebenen Gewebestücks, das durch


irgendeinen Prozess zerstört wird – in der Großhirnrinde
oder im Hippocampus: Je nachdem, wo die Läsion auftritt,
kann es sein, dass Sie sich an nichts mehr erinnern, nicht
einmal mehr an die Namen Ihrer Kinder; die Welt kann all
ihre Farbigkeit verlieren, oder Sie büßen die Fähigkeit ein,
vertraute Gesichter wiederzuerkennen. Aufgrund solcher
klinischer Beobachtungen, auf die wir im nächsten Kapi-
tel ausführlicher eingehen werden, sind Wissenschaftler zu
dem Schluss gekommen, dass die bioelektrische Aktivität
in bestimmten Regionen des cerebralen Cortex und seiner
Satelliten für bewusstes Erleben von entscheidender Bedeu-
tung ist.
Die Frage, welche Gehirnregionen für das Bewusstsein
entscheidend sind, wird heftig diskutiert. Der Neurologe
Antonio Damasio von der University of Southern Califor-
nia vertritt die Ansicht, Teile des Parietal- oder Scheitel-
lappens im hinteren Bereich des cerebralen Cortex spielten
eine wesentliche Rolle. Andere plädieren für die „anterio-
re Insel“, das „superior-temporale polysensorische“ Areal
(STP) des Cortex oder andere Regionen des Gehirns. Letz-
tendlich brauchen wir eine Liste sämtlicher Regionen, die
notwendig sowie hinreichend für das Bewusstsein sind, doch
im Augenblick liegt dieses Ziel noch in weiter Ferne.
Die Identifikation einer bestimmten Gehirnregion als
entscheidend ist nur der Anfang. Es ist, als sage man, der
Mordverdächtige lebe irgendwo im Nordosten. Das reicht
nicht. Ich möchte mich auf die spezifischen Schaltkreise,
Zelltypen und Synapsen in diesen Gehirnregionen ein-
schießen, die der Schlüssel zur Vermittlung einer bestimm-
ten Erfahrung sind. Francis und ich haben die Meinung
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Bewusstsein

v­ ertreten, eine entscheidende Komponente eines jeden


neuronalen Korrelats des Bewusstseins seien die reziproken
Fernverbindungen zwischen den sensorischen Regionen
höherer Ordnung am hinteren Pol des cerebralen Cortex
und den Planungs- und Entscheidungszentren des präfron-
talen Cortex im Stirnbereich. Ich werde auf diese Idee spä-
ter noch zurückkommen.
Jeder phänomenale, subjektive Zustand wird von einem
bestimmten physischen Mechanismus im Gehirn hervorge-
rufen. Es gibt einen Schaltkreis, mit dem sie Ihre Großmut-
ter auf einem Bild oder im wirklichen Leben sehen, einen
anderen, mit dem Sie vernehmen, wie der Wind durch die
Kiefern auf dem Gipfel eines Berges streicht, und einen
dritten für den Adrenalinschub, wenn Sie sich rasch auf
einem Fahrrad durch den dichten Stadtverkehr schlängeln.
Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen den neuro-
nalen Korrelaten für diese unterschiedlichen Qualia? Sind
an allen dieselben circuit motifs (wörtlich Schaltkreismotive;
Neuronenensembles, die bevorzugt untereinander verbun-
den sind) beteiligt? Oder überlappen ihre Neurone im Areal
X? Werden alle drei sensorischen Erfahrungen von aktiven
Pyramidenzellen im präfrontalen Cortex vermittelt, deren
Output-Verbindungen zurück zu den relevanten sensori-
schen Regionen verlaufen? Feuern die Neurone, die phä-
nomenalen Inhalt vermitteln, in rhythmischer und hoch
koordinierter Weise? Dies sind einige der Ideen, die Francis
und ich diskutiert haben.
Werden die neuronalen Korrelate irgendeiner bestimm-
ten bewussten Erfahrung aus dem Tritt gebracht, so ver-
ändert dies die Wahrnehmung. Eine Zerstörung oder an-
derweitige Ausschaltung der relevanten Neurone lässt das
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Perzept verschwinden, auch wenn das Gehirn, vor allem


ein junges, innerhalb von Wochen einen begrenzten Ausfall
kompensieren kann.
Wenn man ein neuronales Korrelat des Bewusstseins
künstlich induziert, wird das damit einhergehende Perzept
ausgelöst. Das geschieht routinemäßig im Rahmen neuro-
chirurgischer Eingriffe. Der Chirurg platziert eine Elek-
trode auf der Oberfläche des Gehirns und schickt einen
elektrischen Strom hindurch. Je nach Ort und Stärke kann
dieser äußere Reiz eine lebhafte Erinnerung wecken, einen
Song ins Gedächtnis rufen, den man zuletzt vor Jahren ge-
hört hat, das Bedürfnis, eine Extremität zu bewegen oder
das Empfinden, man sehe etwas sich bewegen.
Die Grenzen des Möglichen werden in dem mit vielen
Realitäten spielenden „edge of the construct“-Film Matrix
erkundet. Mithilfe einer elektro-organischen Verbindung,
die via Stecker an Hinterkopf und Rückenmark angebracht
ist und eine Schnittstelle bildet, schaffen die Maschinen
in Neos Kopf eine völlig fiktive und heile Welt, indem sie
die geeigneten neuronalen Korrelate des Bewusstseins sti-
mulieren. Erst dadurch, dass sich Neo durch Ziehen des
Steckers von diesem Stimulator löst, wird er sich der Tat-
sache bewusst, dass er in einer riesigen Käfiganlage vor sich
hin vegetiert, versorgt von insektenähnlichen Robotern, die
Menschen züchten, um sie als lebende Energiequellen zu
nutzen.
Auch wir halluzinieren jede Nacht in der Innenwelt
unseres Kopfes. Im Schlaf haben wir lebhafte, manchmal
emotional bewegende, phänomenale Erfahrungen, selbst
wenn wir uns an die meisten nicht erinnern. Unsere Augen
sind geschlossen, doch das träumende Gehirn schafft ­seine
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76   Book Title
Bewusstsein

e­ igene Realität. Abgesehen von seltenen „Klarträumen“


können wir nicht sagen, ob es sich um Schlaf oder Wach-
bewusstsein handelt. Solange sie dauern, sind Träume real.
Gilt das für das Leben nicht genauso?
Während wir im Geist unsere Träume ausleben, ist unser
schlafender Körper paradoxerweise weitgehend gelähmt:
Unser Gehirn schränkt sämtliche Körperbewegungen stark
ein, um sich vor den manchmal heftigen Bewegungen zu
schützen, von denen wir träumen. Diese Lähmung impli-
ziert, dass Verhalten für Bewusstsein nicht unbedingt not-
wendig ist. Das erwachsene Gehirn ist selbst dann, wenn es
weitgehend von Input und Output abgeschnitten ist, alles,
was es braucht, um diesen magischen Stoff „Erleben“ zu
schaffen. Das alte Konstrukt der Philosophen – das Gehirn
im Behälter, das in der Matrix eine moderne Renaissance
erlebte – reicht aus.
Bei einem großen Teil der zeitgenössischen Forschung,
vor allem auf dem Gebiet des Sehens, geht es darum, die
neuronalen Korrelate des Bewusstseins zu finden und zu
charakterisieren, indem man sich auf die relevanten neuro-
nalen Schaltkreise konzentriert.

Sichtbares unsichtbar machen


Vor ein paar Jahren verbrachte ich mit einem versierten
Dieb, Apollo Robins, ein paar Tage in New York. Er arbei-
tet in Las Vegas als professioneller Magier und ist ein Meis-
ter der üblichen Fingerfertigkeiten und Zaubertricks, die
man von der Bühne kennt. Doch er war am fesselndsten,
als er neben mir im Cafe saß – ohne Nebel, Scheinwerfer,
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knapp bekleidete Assistentin und Musik, die alle dazu die-


nen, den Zuschauer abzulenken. Er zauberte Münzen aus
der Luft, bewarf mich mit Papierbällen, die plötzlich ver-
schwanden und klaute meine Uhr – all das, während ich
jede seiner Bewegungen beobachtete. Und ich bezeichne
mich als Experten auf dem Gebiet der visuellen Wahrneh-
mung! Einer von Apollos eindrucksvollsten Tricks war, als
er von meinem Sohn eine Spielkarte nahm und sie sich an
die Stirn heftete. Die Karte war dort offen sichtbar, doch
mein Sohn rätselte, wohin sie verschwunden war, weil seine
Aufmerksamkeit von den Händen des Magiers abgelenkt
worden war.
Was ich beim Zusammensein mit Apollo und anderen
seiner Zunft lernte, ist, dass Diebe und Magier Meister da-
rin sind, die Aufmerksamkeit und die Erwartungen ihres
Publikums zu manipulieren. Wenn es Apollo gelingt, Ihren
Blick oder Ihre Aufmerksamkeit auf seine linke Hand zu
lenken, dann sind Sie blind für das, was er mit seiner rech-
ten Hand tut, obwohl sie sich in Ihrem Blickfeld befindet.
Der räumliche Fokus unserer Aufmerksamkeit wird als
Scheinwerfer oder Spotlight der Aufmerksamkeit bezeichnet.
Welches Objekt oder Ereignis auch immer von dieser in-
neren Laterne beleuchtet wird, wird bevorzugt behandelt
und kann schneller und fehlerfreier identifiziert werden.
Natürlich ist da, wo es Licht gibt, auch Schatten – Objek-
te oder Ereignisse, die nicht beachtet werden, werden oft
kaum wahrgenommen.
Lassen Sie uns von einem geschäftigen Café in Manhat-
tan ins beklemmende, sargähnliche Innere eines lauten und
pochenden MRT-Scanners (MRT steht für Magnetreso-
nanztomographie) wechseln, einer massiven Maschine von
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78   Book Title
Bewusstsein

mehreren Tonnen Gewicht. Sie liegen innerhalb eines en-


gen Zylinders und versuchen verzweifelt, sich nicht zu be-
wegen, nicht einmal mit der Wimper zu zucken, weil jede
Bewegung dazu führt, dass das Signal unscharf wird. Durch
einen Spiegel fixieren Sie einem Computerbildschirm, der
das Herz-As aus einem Kartenspiel zeigt, während die Ma-
schine den Blutfluss in Ihrem Gehirn misst. Neurowissen-
schaftler sind nicht besonders fingerfertig, daher manipu-
lieren sie das, was Sie sehen, indem sie ein zeitlich präzise
festgelegtes zweites Bild in Ihre Augen projizieren. Wenn
das gut gemacht ist, funktioniert diese Irreführung so gut
wie beim Bühnenzauberer – Sie sehen das Herz-As nicht.
Das zweite Bild maskiert das erste und macht das As un-
sichtbar, obwohl Sie direkt darauf schauen.
Diese Technik wurde von meinem damaligen Studenten
Naotsugu Tsuchiya perfektioniert, der sie continous flash
suppression (CFS, „Unterdrückung durch kontinuierliches
Aufblitzen“) nannte. Es funktioniert, indem man das Bild
der Spielkarte in eines Ihrer Augen projiziert, während
man kontinuierlich eine Vielzahl von farbigen, überlap-
penden Rechtecken – wie diejenigen des niederländischen
Malers Piet Mondrian – in das andere Auge blitzt. Wenn
Sie mit diesem Auge blinzeln, wird das Herz-As sichtbar,
doch wenn Sie beide Augen offen halten, bleibt das As
minutenlang verschwunden, getarnt durch das sich stän-
dig verändernde Schauspiel der bunten Rechtecke, das Sie
­ablenkt.
Solche mächtigen Maskierungstechniken sind ein Grund
dafür, warum die Erforschung des Sehens derart floriert.
Mit ihrer Hilfe ist es vergleichsweise einfach, Menschen
dazu zu bringen, zu schauen, ohne zu sehen, und zu
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­ anipulieren, was sie wahrnehmen – weitaus einfacher, als


m
die anderen Sinne auszutricksen. Der Geruchssinn und der
Sinn dafür, wer Sie sind, sind deutlich robuster und weni-
ger anfällig für Manipulationen. Ich kann Sie nicht dazu
bringen, den Duft einer Rose mit dem Geruch eines blauen
Stilton-Käses zu verwechseln oder Sie glauben machen, in
einem Moment die Königin von England und im nächsten
Madonna zu sein.
Das beste Experiment ist eines, in dem alles außer der
interessierenden Variable konstant gehalten wird. Auf die-
se Weise kann der Unterschied, den diese eine Variable für
das Handeln des gesamten Systems macht, isoliert werden.
Neurowissenschaftler setzen einen magnetischen Scanner
ein, um Ihre Gehirnaktivität, wenn Sie das Herz-As sehen,
mit derjenigen zu vergleichen, wenn Sie darauf schauen, es
aber nicht sehen, weil es maskiert ist. Anhand dieses Unter-
schieds können sie die Aktivität isolieren, die für das sub-
jektive Erleben „ich sehe das As“ spezifisch ist, und das Be-
wusstsein in seinem Schlupfwinkel aufspüren.
Das Bild des Herz-As reizt Neurone in Ihren Augen, die
als retinale Ganglienzellen bezeichnet werden. Deren Axo-
ne bilden den Sehnerv, der visuelle Informationen ins Ge-
hirn schickt. Diese Zellen reagieren auf das Herz-As mit
einer Salve von Aktionspotenzialen, jenen kurzen Alles-
oder-Nichts-Pulsen, die ich in Kapitel 2 beschrieben habe.
Der Output der Augen hängt nicht davon ab, ob der Be-
sitzer der Augäpfel bei Bewusstsein ist. Solange die Lider
geöffnet sind, signalisiert der Sehnerv getreulich, was dort
draußen zu sehen ist, und leitet es an die weiter stromab-
wärts gelegenen Strukturen des Cortex weiter. Diese Akti-
vität führt schließlich zur Bildung einer stabilen Koalition
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80   Book Title
Bewusstsein

aktiver ­corticaler Neurone, die das bewusste Perzept eines


roten Asses übermitteln. Wie das passiert, beschreibe ich
in Kapitel 8.
Angesichts der Konkurrenz durch die viel lebhafteren
Spikewellen, die unablässig vom Sehnerv des anderen, von
sich ständig verändernden farbigen Rechtecken gereizten
Auges weitergeleitet werden, kann sich jedoch keine Ko-
alition bilden. Diese Spikes lösen ihre eigene neuronale
Koalition aus; infolgedessen sehen Sie farbige Oberflächen
aufblitzen, während das rote As unsichtbar bleibt.
Lassen Sie mich kurz das Prinzip erklären, das hinter der
Magnetresonanztomographie (auch Kernspintomographie
genannt) steht. Der MRT-Scanner erzeugt ein sehr starkes
Magnetfeld, das rund 100.000-mal stärker als das Erdma-
gnetfeld ist. Die Atomkerne gewisser Elemente, darunter
Wasserstoff, verhalten sich wie winzige Stabmagneten.
Wenn Sie in das starke Magnetfeld des Scanners geraten,
richten sich die Wasserstoffkerne in Ihrem Körper nach die-
sem Magnetfeld aus. Mehr als die Hälfte unseres Körperge-
wichts geht auf Wasser zurück, das aus zwei Wasserstoffato-
men und einem Sauerstoffatom besteht. Der MRT-Scanner
schickt einen kurzen Puls Radiowellen in Ihren Schädel
und „kippt“ die Ausrichtung der Kerne im Magnetfeld.
Wenn die Kerne anschließend wieder in ihren ursprüng-
lichen Zustand zurückspringen, emittieren sie schwache
Radiosignale, die registriert und in ein digitales Bild um-
gewandelt werden. Ein derartiges Bild enthüllt die Struktur
von Weichgewebe: Es zeigt die Grenze zwischen der grauen
und der weißen Substanz des Gehirns. Die Magnetreso-
nanztomographie ist als bildgebendes Verfahren empfind-
licher als Röntgen. Sie hat die Medizin revolutioniert, weil
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sie es erlaubt, Gewebeschäden von einem Tumor bis zum


Trauma mit vernachlässigbarem Risiko für den Patienten zu
lokalisieren und zu diagnostizieren.
Während die MRT die innere Struktur von Organen
sichtbar machen kann, basiert die funktionelle Magnet-
resonanztomographie (fMRT) auf einer zufälligen Eigen-
schaft der Blutversorgung, die die regionale Gehirnaktivi-
tät aufzeigt. Aktive Synapsen und Neurone verbrauchen
Energie und benötigen daher mehr Sauerstoff, der von den
Hämoglobinmolekülen im Inneren der zirkulierenden ro-
ten Blutzellen geliefert wird. Wenn diese Moleküle ihren
Sauerstoff an das umliegende Gewebe abgeben, verändern
sie nicht nur ihre Farbe – von arteriellem Rot zu venösem
Blau –, sondern werden auch leicht magnetisch. Aktivität
in neuronalem Gewebe führt zu einer rascheren und ver-
mehrten Versorgung mit frischem Blut. Diese Veränderung
der Durchblutung, das so genannte hämodynamische Si-
gnal, lässt sich verfolgen, indem man Radiowellen in den
Schädel schickt und die zurückkehrenden Echos sorgfältig
registriert. Zu beachten ist, dass das fMRT keine direkte
synaptische und neuronale Aktivität misst, die im Bereich
von Millisekunden auftritt. Vielmehr benutzt es einen rela-
tiv trägen Stellvertreter – Veränderungen des Blutflusses –,
der innerhalb von Sekunden zu- oder abnimmt. Die räum-
liche Auflösung des fMRT ist auf ein Volumenelement (Vo-
xel) von der Größe einer Erbse begrenzt und umfasst rund
1 Mio. Nervenzellen.
Wie also reagiert das Gehirn auf Dinge, die der Geist
nicht sieht?
Erstaunlicherweise können unsichtbare Bilder im Cortex
Spuren hinterlassen. Anzeichen unbewusster Verarbeitung
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82   Book Title
Bewusstsein

lassen sich im primären visuellen Cortex (V1, Sehrinde)


nachweisen. Der primäre visuelle Cortex ist die Endstation
für Informationen, die von den Augen übermittelt wer-
den. Er liegt direkt über dem Hinterhauptshöcker und ist
die erste neocorticale Region, die bildliche Informationen
bewertet. Andere Bereiche des Cortex reagieren auch auf
unterdrückte Bilder – vor allem die Kaskade visueller Re-
gionen höherer Ordnung (V2, V3 und so weiter), die sich
über den primären visuellen Cortex und die Amygdala hi-
naus erstreckt, jene mandelförmige Struktur, die sich mit
emotionalen Stimuli wie ängstlichen oder wütenden Ge-
sichtern beschäftigt.
In der Regel reagiert das Gehirn auf ein unterdrücktes
Bild weitaus schwächer als auf ein bewusst wahrgenomme-
nes. Eine weitere Regel lautet: Je weiter entfernt eine Re-
gion des Gehirns von der Retina ist, desto stärker kommt
der Einfluss des Bewusstseins zum Tragen. Da in höheren
Hirnregionen Erwartungen, Vorurteile und Erinnerungen
stärkeren Einfluss ausüben, schwächt sich der Einfluss der
realen Welt entsprechend ab. Der subjektive Geist mani-
festiert sich am stärksten in den höheren Gefilden des Ge-
hirns. Das ist sein Lebensraum.
Daraus folgt, dass nicht jede corticale Aktivität für eine
bewusste sensorische Empfindung ausreicht. Obwohl
1 Mio. Neurone im primären visuellen Cortex eifrig feu-
ern, kann es sein, dass daraus dennoch keine Erfahrung er-
wächst, falls übergeordnete Neurone diese Aktivität nicht
widerspiegeln. Dazu bedarf es mehr. Vielleicht muss die-
se Aktivität irgendeine Schwelle überschreiten? Vielleicht
muss ein bestimmter Satz spezieller Neurone am hinteren
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Pol des Cortex einen Dialog mit Neuronen in den Stirnlap-


pen führen? Vielleicht müssen diese Neurone gemeinsam
aktiv sein und im Einklang Aktionspotenziale generieren
wie Synchronschwimmer? Ich vermute, dass alle drei Be-
dingungen erfüllt sein müssen, damit Informationen be-
wusst wahrgenommen werden. Solche Schlussfolgerungen
haben eine lebhafte Debatte darüber befeuert, inwieweit
Neurone weit unten in der visuellen Verarbeitungshierar-
chie für die Generierung bewusster Konzepte verantwort-
lich sind.
In einem bemerkenswerten Experiment von Sheng He
und seiner Gruppe an der University of Minnesota sa-
hen Freiwillige das Foto eines nackten Mannes oder einer
nackten Frau in einem Auge, während in das andere Auge
kontinuierlich farbige Rechtecke geblitzt wurden. Die Ex-
perimentatoren bekräftigten, dass dies die Nacktfotos un-
sichtbar machte. Dennoch deuteten empfindliche Tests
darauf hin, dass die unsichtbaren Bilder nackter Frauen die
Aufmerksamkeit heterosexueller Männer erregten, während
die Bilder nackter Männer sie abstießen. Die Freiwilligen
sahen die Nacktfotos nicht. Doch ihre Reaktion lief insge-
heim ab, unterhalb des Bewusstseinsradars. Die Probanden
sahen die Nackten nicht, zollten ihnen aber dennoch Auf-
merksamkeit. Umgekehrt wurde die Aufmerksamkeit hete-
rosexueller Frauen – und homosexueller Männer – von den
unsichtbaren Bildern nackter Männer geweckt. Funktionell
ergibt das Sinn, weil unser Gehirn über potenzielle Ge-
schlechtspartner Bescheid wissen muss. Es bestätigt zudem
ein weit verbreitetes Klischee über die unbewusste Natur
des sexuellen Verlangens.
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84   Book Title
Bewusstsein

 icht alle Neurone sind am


N
Bewusstsein beteiligt
Im Jahr 1995 veröffentlichten Francis und ich in dem re-
nommierten Fachjournal Nature einen Artikel mit dem
Titel „Are we aware of neural activity in primary visual
cortex?“, „Sind wir uns der neuronalen Aktivität im pri-
mären visuellen Cortex bewusst?“. (Wenn Ihr Artikel bei
Nature erscheint, ist das so, als stelle die führende Galerie
in New York oder Paris Ihre Kunstwerke aus; es ist eine
große Sache.) Wir verneinten unsere rhetorische Frage und
argumentierten, dass die neuronalen Korrelate der visuellen
Perzepte dort nicht zu finden seien. Diese Hypothese bau-
ten wir auf der Neuroanatomie des Makaken auf.
Tieraffen (wie Makaken) und der Mensch gehören beide
zur Ordnung der Primaten. Unser letzter gemeinsamer Vor-
fahr lebte vor 24–28 Mio. Jahren. Das visuelle System von
Makaken ähnelt dem unseren; diese Affen passen sich gut
an das Leben in Gefangenschaft an, lassen sich leicht trai-
nieren und gehören keiner bedrohten Art an. Daher sind
Makaken die Gattung der Wahl für Forscher, die sich für
Wahrnehmungsprozesse höherer Ordnung und Kognition
interessieren. Aus offensichtlichen ethischen Gründen steht
das menschliche Gehirn für eine invasive Testung nicht zur
Verfügung. Daher wissen wir viel mehr über die Verdrah-
tung bei Tieraffen als im menschlichen Gehirn.
Die Pyramidenzellen sind die Arbeitspferde des cerebra-
len Cortex. Sie stellen vier von fünf corticalen Neuronen und
sind die einzigen, die Informationen von einer bestimmten
Region in andere Bereiche innerhalb oder außerhalb des
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Cortex übermitteln, wie den Thalamus, die Basalganglien


oder das Rückenmark. Die Pyramidenzellen im primä-
ren visuellen Cortex senden ihre Informationen in andere
Regionen, wie V2 und V3, aber nichts davon gelangt bis
zum vorderen Hirnpol, in den Stirnbereich. Dort, im prä-
frontalen Cortex, und vor allem in dessen dorsolateralem
Abschnitt, haben die höheren intellektuellen Funktionen
– Problemlösung, logisches Denken und Entscheidungsfin-
dung – ihren Sitz. Eine Schädigung dieser Region lässt die
sensorischen Modalitäten und das Gedächtnis einer Person
intakt, doch deren Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu
treffen, wird beeinträchtigt: Solche Menschen zeigen höchst
unangebrachte Verhaltensweisen und beharren auch darauf.
Im letzten Kapitel habe ich Francis’ und meine Vermu-
tung erwähnt, dass die Funktion des Bewusstseins darin
­besteht zu planen. Patienten, bei denen ein Teil oder der
gesamte präfrontale Cortex ausgefallen ist, fällt es schwer,
für die nahe oder ferne Zukunft zu planen. Das werteten
wir als Hinweis darauf, dass die neuronalen Korrelate des
Bewusstseins Neurone des präfrontalen Cortex einschlie-
ßen müssen. Und da Neurone in der Sehrinde ihre Axo-
ne nicht so weit nach vorne schicken, schlossen wir, dass
Neurone im primären visuellen Cortex kein fester Bestand-
teil der Neurone sind, die dem visuellen Bewusstsein zu-
grunde liegen.
Unser Vorschlag wirkt zunächst verwunderlich, weil die
bioelektrische Aktivität von Neuronen im primären visuel-
len Cortex unter vielen Bedingungen nicht das widerspie-
gelt, was jemand sieht. Nehmen wir zum Beispiel die Situa-
tion gerade jetzt, wenn Sie diese Worte lesen: Die Linien, die
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86   Book Title
Bewusstsein

die Buchstaben bilden, erregen retinale Neurone, die ihren


Inhalt an den primären visuellen Cortex übermitteln. Von
dort aus werden die Informationen an die corticale Region
weitergeleitet, die eine besondere Rolle bei der Analyse der
visuellen Wortform spielt ( visual word form area, VWFA).
Ihre Fähigkeit, diese Buchstaben zu sehen, scheint unsere
Hypothese zu widerlegen – die Aktivität der Neurone im
primären visuellen Cortex ist mit bewusster Wahrnehmung
korreliert. Dasselbe gilt auch für die retinalen Neurone –
ihre Aktivität spiegelt wider, was Sie sehen.
Auch wenn die Reaktionen von Retinazellen und im pri-
mären visuellen Cortex tatsächlich manchmal gewisse At-
tribute mit dem visuellen Bewusstsein teilen, können sich
ihre Reaktionen unter anderen Bedingungen stark unter-
scheiden. Ich möchte Ihnen drei Beispiele geben, warum
Sie nicht mit Ihren Augen sehen – etwas, das Maler schon
seit Jahrhunderten wissen.
Denken Sie erstens an die unablässige Bewegung Ihrer
Augen, während Sie diese Zeilen quer lesen. Sie machen
pro Sekunde mehrere rasche Augenbewegungen, so ge-
nannte Sakkaden. Obwohl Ihr Bildsensor fast ständig in
Bewegung ist, erscheint die Seite völlig stationär. Das sollte
Sie überraschen. Wenn Sie eine Augensakkade nach rechts
durchführen, sollte sich die Welt nach links verschieben –
aber das tut sie nicht! Überlegen Sie, was passieren würde,
wenn Sie eine Videokamera mit demselben Rhythmus über
das Buch führen würden; beim Betrachten des entstande-
nen Films würde Ihnen übel werden. Um diesen Effekt zu
vermeiden, schwenken Fernsehkameras langsam über eine
Szene; ihre Bewegung unterscheidet sich völlig von der Art
und Weise, wie unsere Augen umherhuschen, wenn sie die
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hervorstechenden Aspekte eines Bildes wahrnehmen. Falls


die retinalen Neurone diejenigen wären, die das Perzept
einer stationären Welt vermittelten, müssten sie ausschließ-
lich Bewegung in der Außenwelt signalisieren, dürften aber
nicht auf Bewegungen der Augen reagieren, in denen die
Zellen selbst liegen. Retinale Neurone wie diejenigen im
primären visuellen Cortex können jedoch nicht zwischen
Objektbewegung und Augenbewegung unterscheiden. Sie
reagieren auf beides. Anders als Smartphones haben sie kei-
nen Beschleunigungsmesser und auch keinen GPS-Sensor,
der externe Bildbewegung von interner Augenbewegung
unterscheidet. Es sind Neurone in den höheren Arealen des
visuellen Cortex, die für unsere stationäre Wahrnehmung
der Welt verantwortlich sind.
Denken Sie zweitens an das „Loch“ in Ihrer Netzhaut,
an den blinden Fleck. An dieser Stelle verlässt der Sehnerv
die Retina; die Axone, die den Nervenstrang bilden, schie-
ben die Photorezeptoren zur Seite, daher können die ein-
fallenden Photonen am blinden Fleck keinerlei Reaktion
auslösen. Wenn Sie sich des informatorischen Gehalts Ihrer
Retinazellen bewusst wären, würden Sie an dieser Stelle gar
nichts sehen, genauso, wie Sie die Grenzen Ihres Sehfelds
ganz außen rechts und links nicht sehen. Sie wären verär-
gert, wenn Ihre Handykamera ein paar immer dunkle „Dead­
pixel“ aufweisen würde: Der schwarze Fleck auf Ihren
Fotos würde Sie verrückt machen! Das Loch in Ihrem Auge
nehmen Sie jedoch nicht wahr, weil corticale Zellen aktiv
Informationen von den Rändern ergänzen und die fehlende
Information kompensieren.
Was den dritten Beleg angeht, erinnern Sie sich daran,
dass die Welt Ihrer Träume bunt, belebt und vollständig
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88   Book Title
Bewusstsein

wiedergegeben ist. Da Sie im Dunklen schlafen und Ihre


Augen geschlossen sind, signalisieren die Nervenzellen in
Ihren Augen nichts über die Außenwelt. Es ist der cortico-
thalamische Komplex, der den phänomenalen Inhalt unse-
rer Träume liefert.
Dies sind nur drei Beispiele für die zahlreichen Disso-
ziationen zwischen dem Zustand der retinalen Neurone
und dem, was wir bewusst sehen. Die Myriaden von Ak-
tionspotenzialen, die unseren Sehnerv entlangwandern,
transportieren Daten, die bereits stark bearbeitet sind,
bevor sie Teil der neuronalen Korrelate des Bewusstseins
werden. Und manchmal wird völlig auf retinale Infor-
mation verzichtet, zum Beispiel, wenn wir unsere Augen
schließen und Winnie Puh heraufbeschwören, den treuen
Begleiter in unserer Kindheit, oder wenn wir von ihm
träumen.
Ähnliche Einwände können gegen die Annahme erho-
ben werden, dass Zellen im primären visuellen Cortex di-
rekt zur visuellen Wahrnehmung beitragen. Nehmen wir
die Ableitungen von Aktionspotenzialen mittels feiner
Elektroden im Gehirn von Makaken. Nachdem ein klei-
nes Loch in den Schädel des narkotisierten Affen gebohrt
wurde, werden Mikroelektroden langsam in die graue Subs-
tanz eingeführt und mit einem Verstärker verbunden. Das
Nervengewebe selbst weist keine Schmerzrezeptoren auf,
daher verursachen die Elektroden, wenn sie einmal an Ort
und Stelle sind, kein Unbehagen. (Denken Sie an die halbe
Million Patienten, denen Elektroden im Gehirn implan-
tiert wurden, um eine Reihe von Krankheitssymptomen
zu lindern, etwa das Zittern bei der Parkinson-Krankheit).
4  Bewusstsein im Labor 89

Diese Elektroden registrieren die schwachen elektrischen


Signale, die von Neuronen emittiert werden. Diese Signale
können durch einen Lautsprecher wiedergegeben werden.
Man kann die Stakkato-Laute der Spikes vor dem Hinter-
grundrauschen des Nervensystems hören, das leise vor sich
hin wispert. Solche Ableitungen bestätigen, dass Neurone
im primären visuellen Cortex sowohl auf die Augenbewe-
gungen des Affen als auch auf die Bewegung des Bildes re-
agieren. Wenn sich die Augen des Affen bewegen, feuert
diese Neurone unisono und melden eine Veränderung. Wie
aber bereits erwähnt, sieht unsere Welt stabil aus, wenn wir
unsere Augen schweifen lassen.
Die hämodynamische Aktivität im primären visuellen
Cortex spiegelt oft wider, was eine Person sieht, doch sie
kann manchmal auch verblüffend abgekoppelt sein. John-
Dylan Haynes und Geraint Rees vom University College
in London blitzten in die Augen von Freiwilligen kurz
Streifen, die entweder nach rechts oder nach links geneigt
waren; diese Streifen wurden dann maskiert, sodass die
Beobachter nicht sagen konnten, in welcher Richtung sie
orientiert waren. Alles, was sie sahen, war ein Karomuster,
das aus beiden Diagonalen bestand. Eine Analyse der hä-
modynamischen Reaktion des primären visuellen Cortex
enthüllte jedoch, dass diese Region zwischen dem rechts-
und dem linksgeneigten Streifen unterschied. Mit anderen
Worten erkannte der primäre visuelle Cortex – aber nicht
die höheren Regionen wie V2 – die Orientierung der un-
sichtbaren Streifen, doch diese Information war dem Be-
sitzer des Gehirns nicht zugänglich, was zu unserer Hypo-
these passt.
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90   Book Title
Bewusstsein

Der primäre visuelle Cortex ist das Tor zu rund einem


Dutzend anderer Regionen des Cortex, die in irgendeiner
Weise der visuellen Verarbeitung gewidmet sind. Ange-
sichts der strategischen Lage scheint es paradox, dass der
primäre visuelle Cortex nicht einmal notwendig für alle
Formen der visuellen Wahrnehmung ist. Brain-Imaging
(also computergestützte bildgebende Verfahren zur Abbil­
dung des Gehirns) bei träumenden Freiwilligen – übrigens
nicht einfach angesichts der räumlichen Enge und des
Lärms in einem Scanner – spricht dafür, dass die Aktivität
im primären visuellen Cortex in der REM-Phase des Schla-
fes (REM steht für rapid eye movement, schnelle Augenbe-
wegungen), in der die meisten Träume auftreten, im Ver-
gleich zur non-REM-Phase, wo nur selten geträumt wird,
eingeschränkt ist. Zudem träumen Patienten mit einem
geschädigten primären visuellen Cortex ohne damit einher-
gehenden Verlust von visuellem Inhalt.
Auch keiner der anderen primären sensorischen Corti-
ces – also jener, die als erste die korrespondierenden sen-
sorischen Datenströme empfangen – vermittelt Bewusst-
sein. Laute Geräusche oder schmerzhafte Elektroschocks
rufen bei Menschen mit massiven Hirnschädigungen, die
sie zum Leben in einem vegetativen Zustand ohne Wach-
bewusstsein verdammen, keine sinnhaften Reaktionen
hervor. (Ich werden auf diese Patienten im nächsten Kapi-
tel genauer eingehen). Wenn ihr Cortex gescannt wird, zei-
gen nur ihr primärer auditorischer Cortex (Hörrinde) und
ihre somatosensorischen Cortexregionen eine signifikante
Aktivität. All das zeigt uns, dass eine isolierte Aktivität in
den Input-Knoten für Bewusstsein nicht ausreicht. Dazu
bedarf es mehr.
4  Bewusstsein im Labor 91

 eurone in höheren Regionen des


N
Cortex sind eng mit Bewusstsein
verknüpft
Maskierung und Unterdrückung durch kontinuierliches
Aufblitzen sind nicht die einzigen Tarnkappentechniken,
die in der Visuellen Psychologie eingesetzt werden und da-
bei das Bewusstseinsradar zu unterfliegen. Der binokulare
Wettbewerb ist eine weitere. Beim binokularen Wettbewerb
wird dem linken Auge ein kleines Bild, beispielsweise ein
Gesicht, präsentiert, dem rechten Auge hingegen ein an-
deres Foto, etwa die alte kaiserliche japanische Flagge (mit
dem Strahlenkranz um eine zentrale Scheibe). Sie denken
vielleicht, dass man dann eine Überlagerung von Gesicht
und Flagge sieht. Wenn die Illusion jedoch korrekt in Szene
gesetzt wurde, nehmen Sie abwechselnd das Gesicht und
die Flagge wahr. Ihr Gehirn lässt nicht zu, dass Sie zwei
Dinge zur gleichen Zeit und am gleichen Ort sehen.
Zuerst sehen Sie deutlich das Gesicht ohne einen Hinweis
auf das Strahlenmuster; nach ein paar Sekunden erscheint ir-
gendwo in Ihrem Gesichtsfeld ein Stück Flagge und radiert
an dieser Stelle das ursprüngliche Gesichtsmuster aus. Von
diesem Kristallisationspunkt breitet sich das Bild aus, bis
das Gesicht völlig verschwunden ist und nur die Flagge üb-
rig bleibt. Dann beginnen die Augen durchzuscheinen. Das
Patchwork des Gesicht/Flaggen-Bildes wandelt sich einige
Sekunden später in ein vollständiges Gesicht um. Anschlie-
ßend stellt das Perzept der Flagge seine Dominanz wieder her.
Und so weiter. Die beiden Bilder bewegen sich in einem nie-
mals endenden Tanz ins Bewusstsein und wieder hinaus. Sie
können diesen Tanz beenden, indem Sie ein Auge schließen
92
92   Book Title
Bewusstsein

– dann hat das Hin und Her sofort ein Ende und Sie nehmen
das Bild wahr, das dem anderen Auge präsentiert wird.
Der Neurophysiologe Nikos Logothetis und seine Kolle-
gen am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in
Tübingen trainierten Tieraffen darauf, über ihre Perzepte
während des binokularen Wettstreits Auskunft zu geben.
Während menschliche Probanden finanziell für ihre Mü-
hen belohnt werden – Bargeld funktioniert am besten –, er-
halten durstige Affen einen kleinen Schluck Apfelsaft. Die
Affen lernten im Laufe mehrerer Monate, einen Hebel zu
ziehen, wenn sie das Gesicht sahen, einen zweiten, wenn
sie den Strahlenkranz sahen, und beide Hebel freizugeben,
wenn sie irgendetwas anderes sahen, zum Beispiel ein Mo-
saik aus beiden Bildern. Die Verteilung der Dominanzpha-
sen – wie lange der Strahlenkranz oder das Gesicht durch-
gehend gesehen wurde – und die Weise, in der eine Ver-
änderung des Kontrasts der Bilder den Bericht der Affen
beeinflusste, lässt wenig Zweifel, dass Tieraffen und Men-
schen qualitativ ähnliche Erfahrungen machen.
Dann implantierte Logothetis feine Drähte in den Cor-
tex des Affen, während sich das trainierte Tier in der Ein-
stellung „binokularer Wettbewerb“ befand. Im primären vi-
suellen Cortex und in nahe gelegenen Regionen fand er nur
eine Handvoll Neurone, die ihre Antwort in Übereinstim-
mung mit dem Perzept des Affen geringfügig veränderten.
Die Mehrheit feuerte mit wenig Bezug zu dem Bild, das der
Affe sah. Wenn der Affe ein Perzept signalisierte, antworte-
ten Legionen von Neuronen im primären visuellen Cortex
lebhaft auf das unterdrückte Bild, das das Tier nicht sah.
Dieses Ergebnis stützt Francis’ und meine Hypothese, der
zufolge der primäre visuelle Cortex dem ­Bewusstsein nicht
4  Bewusstsein im Labor 93

zugänglich ist, auf der ganzen Linie. Ganz anders sah die
Situation in einem übergeordneten visuellen Areal aus, dem
inferiotemporalen Cortex. Zellen in dieser Region reagierten
nur auf Bilder, die der Affe sah (und meldete): Keine von
ihnen reagierte auf das unsichtbare Bild. Ein bestimmtes
derartiges Neuron feuerte beispielsweise nur dann, wenn
das Tier angab, ein Gesicht zu sehen. Wenn der Affe den
anderen Hebel zog und damit anzeigte, nun eine Flagge zu
sehen, sank die Feuerrate der Zelle beträchtlich – manchmal
bis auf null –, obwohl das Bild des Gesichts, das die Zelle
ein paar Sekunden zuvor heftig zum Feuern gebracht hatte,
noch immer auf der Retina präsent war. Dieser präzise syn-
chronisierte Pas de deux zwischen Perioden vermehrter und
verringerter Zellaktivität und der Meldung des Tieres über
seine Wahrnehmung demonstriert eine eindeutige Verbin-
dung zwischen einer Gruppe von Neuronen und dem In-
halt des Bewusstseins.
Wie bereits erwähnt, konzentrieren sich Francis’ und
meine Spekulationen über die neuronalen Korrelate des
Bewusstseins auf die Etablierung einer direkten Schleife
zwischen Neuronen in übergeordneten Regionen des Cor-
tex (im Fall des Sehens im inferiotemporalen Cortex) und
ihren Zielorten im präfrontalen Cortex. Wenn die präfron-
talen Neurone Axone in den inferiotemporalen Cortex zu-
rückschicken, entsteht eine nachhallende Feedbackschleife,
die sich selbst erhalten kann. Die Spikeaktivität kann sich
dann in Regionen ausbreiten, die dem Arbeitsgedächtnis,
der Planung und beim Menschen der Sprache zugrunde
liegen. Insgesamt vermitteln diese Koalitionen von Neuro-
nen ein bewusstes Wahrnehmen des Gesichts sowie einiger
damit einhergehender Eigenschaften, wie Blick, Ausdruck,
94
94   Book Title
Bewusstsein

Geschlecht, Alter und so weiter. Wenn eine konkurrieren-


de Schleife entsteht, die die Flagge repräsentiert, hilft sie
dabei, die Aktivität der Gesichts-Schleife zu unterdrücken,
und der Inhalt des Bewusstseins verlagert sich vom Gesicht
zum Strahlenkranz.
Kürzlich leiteten Kliniker das EEG von zwei Gruppen
schwer hirngeschädigter Patienten ab; die Patienten der
einen Gruppe blieben völlig ohne Bewusstsein, die der
anderen gewannen zumindest ein gewisses Maß an Be-
wusstsein wieder. Wie sich herausstellte, bestand der ent-
scheidende Unterschied im Vorhandensein oder Fehlen
von Kommunikation zwischen präfrontalen Regionen und
temporalen sensorischen Regionen am hinteren Hirnpol.
Ist eine solche Rückkopplung vorhanden, bleibt Bewusst-
sein erhalten. Wenn nicht, fehlt es. Das ist eine sehr befrie-
digende Erkenntnis.
Noch befinden wir uns in der Frühphase der Forschung.
Wir können nicht genau sagen, welche Gehirnregionen
dem Bewusstsein zugrunde liegen. Aber das ist eine falsche
Fährte – wir müssen der hypnotischen Anziehungskraft von
Hotspots in Hirnscans mit ihrer naiven phrenologischen
Interpretation à la „die Wahrnehmung von Gesichtern wird
hier verarbeitet, Schmerz dort und Bewusstsein da drüben“
widerstehen. Bewusstsein erwächst nicht aus Regionen,
sondern aus höchst komplex vernetzten Neuronen inner-
halb von Regionen und quer über sie hinweg.
Ein singuläres Merkmal des Gehirns, das erst in den letz-
ten beiden Jahrzehnten deutlich geworden ist, ist die er-
staunliche Heterogenität der Neurone. Die schätzungswei-
se 100.000 Neurone, die sich auf jedem Quadratmillimeter
Cortex drängen, einer Fläche, die ungefähr so groß ist wie
4  Bewusstsein im Labor 95

der Buhstabe „o“ auf dieser Seite, sind höchst unterschied-


lich. Sie lassen sich aufgrund ihrer Lage, ihrer Form und der
Morphologie ihrer Dendriten, der Architektur ihrer Synap-
sen, ihrer genetischen Ausstattung, ihres elektrophysiologi-
schen Verhaltens und der Orte unterscheiden, zu denen sie
ihre Axone schicken. Es ist ungeheuer wichtig zu verstehen,
wie diese enorme Vielfalt an Akteuren – vielleicht bis zu
tausend Typen –, die die Grundbausteine des Zentralner-
vensystems bilden, zur Entstehung von Qualia beitragen.
Die Grundlinie ist, dass diese physiologischen Experi-
mente dabei sind, die Lücke zwischen Geist und Gehirn
immer weiter zu verkleinern. Hypothesen können aufge-
stellt, getestet und zurückgewiesen oder modifiziert wer-
den. Und das ist ein Segen nach Jahrtausenden fruchtloser
Debatten.

 ufmerksamkeit auf etwas richten,


A
das man nicht sieht
Welche Beziehung besteht zwischen selektiver Aufmerk-
samkeit und Bewusstsein?
Wir werden uns offenbar dessen bewusst, was der Schein-
werfer der Aufmerksamkeit beleuchtet, ganz gleich, was es
ist. Wenn Sie die Ohren spitzen, um während einer Unter-
haltung am Campingplatz dem fernen Heulen der Kojoten
zu lauschen, tun Sie dies, indem Sie sich auf dieses Geräusch
konzentrieren und sich den Kojotengeheuls bewusst wer-
den. Wegen der engen Beziehung zwischen Aufmerksam-
keit und Bewusstsein verwenden viele Gelehrte diese bei-
den Prozesse synonym. Zu Beginn der 1990er-Jahre, als ich
96
96   Book Title
Bewusstsein

auf der Bildfläche erschien, um öffentliche Seminare über


das Körper-Geist-Problem abzuhalten, insistierten einige
Kollegen, ich solle das aufrührerische Wort „Bewusstsein“
durch den neutraleren Begriff „Aufmerksamkeit“ ersetzen,
da die beiden Konzepte ununterscheidbar und wahrschein-
lich sowieso identisch wären.
Ich war intuitiv der Meinung, dass beide verschieden
sind. Aufmerksamkeit wählt einen Teil der einlaufenden
Daten für weitere Prüfung und Untersuchung auf Kos-
ten des unbeachteten Anteils aus. Aufmerksamkeit ist die
Antwort der Evolution auf Informationsüberlastung; sie ist
eine Konsequenz der Tatsache, dass kein Gehirn sämtliche
einlaufenden Informationen verarbeiten kann. Der Seh-
nerv, der das Auge verlässt, transportiert ein paar Mega-
bytes pro Sekunde, sehr wenig nach den Standards heutiger
drahtloser Netzwerke. Diese Information muss nicht nur
an den Cortex übermittelt, sondern auch verarbeitet wer-
den. Das Gehirn bewältigt diese Datenflut, indem es nur
einen kleinen Teil zur Weiterverarbeitung auswählt – und
diese Selektionsmechanismen sind etwas anderes als Be-
wusstsein. Somit erfüllt Aufmerksamkeit eine klare funk-
tionelle Aufgabe, die sich von derjenigen des Bewusstseins
unterscheidet.
Zwei Jahrzehnte später bin ich mir sicher, dass die Unter-
scheidung zwischen Aufmerksamkeit und Bewusstsein be-
rechtigt ist. Wie gerade diskutiert, kann die Unterdrückung
durch kontinuierliches Aufblitzen Bilder minutenlang
ausblenden. Unter dieser Tarnkappe hat der listige Expe-
rimentator genügend Spielraum, die Aufmerksamkeit des
Betrachters zu manipulieren. Und genau das hat Sheng He
getan, als er demonstrierte, dass unsichtbare Bilder nackter
4  Bewusstsein im Labor 97

Männer die Aufmerksamkeit von Frauen und Bilder nack-


ter Frauen die Aufmerksamkeit von Männern erregten.
Aufmerksamkeit ist letztendlich eine selektive Verarbeitung
von Bildern. Eine ganze Reihe anderer Experimente bestä-
tigt dies. So zeigen funktionelle Brain-Imaging-Studien mit
Maskierung, dass sich die Antwort des Gehirns verstärkt,
wenn man seine Aufmerksamkeit auf unsichtbare Objekte
richtet. Das Gehirn kann sich eindeutig auf unterschwellige
Objekte konzentrieren.
Kann es auch das Umgekehrte geben, Bewusstsein ohne
Aufmerksamkeit? Wenn Sie sich auf einen bestimmten Ort
oder ein bestimmtes Objekt konzentrieren und es intensiv
studieren, reduziert sich der Rest der Welt nicht auf einen
Tunnel, bei dem alles außerhalb des Fokus der Aufmerk-
samkeit verblasst: Sie sind sich gewisser Aspekte der Welt
rundum stets bewusst, etwa dessen, dass Sie Zeitung lesen
oder auf der Autobahn fahren und sich einem Autobahn-
kreuz nähern.
Der Begriff Gist (Quintessenz) bezeichnet eine kompak-
te, sehr knappe Zusammenfassung einer Szene auf hohem
Niveau – ein Verkehrsstau auf einer Autobahn, Menschen-
mengen in einer Sportarena, eine Person mit einem Gewehr
und so weiter. Gist-Wahrnehmung erfordert keine atten-
tionale Verarbeitung. Wenn ein großes Foto kurz und un-
erwartet auf einem Bildschirm geblitzt wird, während Sie
sich auf irgendein klitzekleines Detail im Zentrum Ihres
Fokus zu konzentrieren sollen, nehmen Sie das Wesentliche
des Fotos dennoch wahr. Ein kurzer Blick, nicht länger als
eine Zwanzigstelsekunde, mehr braucht es dazu nicht. Und
in dieser kurzen Zeit spielt selektive Aufmerksamkeit keine
große Rolle.
98
98   Book Title
Bewusstsein

Als Teenager unterhielt sich mein Sohn mit mir, wäh-


rend er einen schnellen Ego-Shooter spielte. Sein Kopf war
offenbar nicht vollauf mit unserer Konversation beschäf-
tigt, und es blieben genügend attentionale Ressourcen und
Spielraum für eine zweite, stärker fordernde und für ihn
wichtigere Aufgabe.
Jochen Braun, Psychophysiker an der Universität Mar-
burg, perfektionierte eine Laborversion solcher Aufgaben
zur dualen Verarbeitung, die misst, wie viel jemand außer-
halb seines „Scheinwerfers der Aufmerksamkeit“ sehen
kann. Brauns Idee ist es, die Aufmerksamkeit festzunageln,
indem er Freiwilligen eine schwierige Aufgabe im Zentrum
ihres Blickfelds (etwa zu zählen, wie viele X in einer Buch-
stabenfolge auftauchen) und eine zweite Aufgabe irgendwo
anders auf dem Computerschirm stellt. Das Experiment
testet, wie sich die Leistung verschlechtert, wenn diese Auf-
gabe gleichzeitig mit dem ersten, Aufmerksamkeit erfor-
dernden Job erledigt wird.
Wenn die Aufmerksamkeit auf das Zentrum des Seh-
feld konzentriert ist, fand Braun, können Probanden am
Rand ihres Blickfelds Fotos, auf denen Tiere zu sehen sind
– eine Savanne mit einem Löwen, ein Kronendach mit
einem Vogelschwarm, eine Fischschule – von Fotos ohne
Tiere unterscheiden. Sie sind jedoch nicht in der Lage, eine
Scheibe, die in eine rote und eine grüne Hälfte unterteilt
ist, und deren Spiegelbild, eine grün-rote Scheibe, ausei-
nanderzuhalten (der experimentelle Aufbau berücksichtigt
die verringerte Sehschärfe in der visuellen Periphere). Die
Probanden können das Geschlecht eines Gesichts beurtei-
len, das außerhalb ihres zentralen Sehfelds präsentiert wird,
oder sagen, ob es sich um das Gesicht einer berühmten
4  Bewusstsein im Labor 99

­ ersönlichkeit handelt, versagen aber bei Aufgaben, die viel


P
einfacher erscheinen, wie ein sich drehendes „L“ von einem
sich drehenden „T“ zu unterscheiden. Brauns Experimen-
te zeigen, dass zumindest einige visuelle Verhaltensweisen
ohne – oder vorsichtiger gesagt: fast ohne – selektive Auf-
merksamkeit ablaufen können.
Um dieses Problem zu lösen, sind psychologische Me-
thoden jedoch zu zahnlos. Ohne vorsichtige Eingriffe in die
zugrunde liegenden Hirnschaltkreise wird sich die Unter-
scheidung zwischen Aufmerksamkeit und Bewusstsein
nicht vollständig aufklären lassen. Das wird inzwischen in
zunehmendem Maße bei Mäusen oder Tieraffen möglich.
Der ultimative Test würde sein, die Steuerbahnen im Ge-
hirn, durch die Aufmerksamkeit vermittelt wird, bedingt
abzuschalten (und natürlich wieder anzuschalten) und zu
beobachten, welche visuellen Verhaltensweisen das Tier
noch zeigen kann.
Die Geschichte jedes wissenschaftlichen Konzepts –
Energie, Atom, Gen, Krebs, Gedächtnis – ist eine Geschich-
te der zunehmenden Differenzierung und Perfektion, bis es
auf einem niedrigeren, elementareren Niveau in quantita-
tiver und mechanistischer Weise erklärt werden kann. Die
zwei Formen der Loslösung, die ich gerade dargestellt habe,
Aufmerksamkeit ohne Bewusstsein und Bewusstsein ohne
Aufmerksamkeit, widerlegen die Vorstellung, beide Phäno-
mene seien identisch. Sie sind es nicht. Diese Unterschei-
dung macht den Weg frei für ein konzertiertes neurobiolo-
gisches Angehen des Kernproblems: Die Identifikation der
notwendigen Ursachen für Bewusstsein im Gehirn.
Kapitel 5
In welchem wir von Neurologen und
Neurochirurgen erfahren, dass sich manche
Neurone sehr für Berühmtheiten interessie-
ren, dass das Zerteilen der Großhirnrinde
in zwei Hälften keineswegs auch das
Bewusstsein halbiert, dass die Welt durch
den Verlust einer kleinen corticalen
Region alle Farbe verliert und dass uns die
Zerstörung eines zuckerwürfelgroßen Stücks
Hirnstamm- oder Thalamusgewebe zu einem
Untoten macht

Anders ausgedrückt, gibt es im Geist Gruppen von Fähig-


keiten und im Gehirn Gruppen von Windungen, und wie
ich bereits anderswo ausgeführt habe, erlauben uns die
bisher von der Wissenschaft gesammelten Fakten zu akzep-
tieren, dass die großen Regionen des Geistes mit den großen
Regionen des Gehirns korrespondieren. In diesem Sinne
erscheint mir das Prinzip der Lokalisation, wenn auch
nicht eindeutig nachgewiesen, so doch äußerst wahrschein-
lich. Aber sicher zu wissen, ob jede bestimmte Fähigkeit
ihren eigenen Sitz in einer bestimmten Hirnwindung hat,
ist eine Frage, die mir beim gegenwärtigen Stand der Wis-
senschaft fast unlösbar erscheint.
– Paul Broca, Bulletin de la Société Anatomique (1861)

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_5,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
102
102 Book Title
  Bewusstsein

Historisch gesehen war die Klinik stets die ergiebigste Quel-


le für Erkenntnisse über Gehirn und Geist. Die Launen der
Natur und der Menschen mit ihren Autos, Gewehren und
Messern führen zu Zerstörungen, die, wenn sie begrenzt
sind, die Verbindung zwischen Struktur und Funktion be-
leuchten und Merkmale aufdecken, die bei guter Gesund-
heit kaum sichtbar sind. Lassen Sie mich von vier wichti-
gen Lektionen erzählen, die uns Patienten und ihre Ärzte,
Neurologen und Neurochirurgen über die neuronale Basis
des Bewusstseins erteilt haben.
Ich erhalte mit der Post unerbeten oft lange Gedanken-
ergüsse – eng beschriebene Manuskripte mit dem Verspre-
chen auf weitere Lieferungen, selbst publizierte Bücher
und Links zu ausführlichen Webseiten –, bei denen es um
die ultimative Antwort auf Leben und Bewusstsein geht.
Meine Haltung zu diesen Elaboraten ist: Sofern sie nicht
unsere hart erarbeiteten neurologischen und wissenschaft-
lichen Erkenntnisse respektieren, landen sie in einer stän-
dig wachsenden Ablage X in einer staubigen Ecke meines
Büros.

 leine Stücke grauer Substanz vermit-


K
teln spezifische Bewusstseinsinhalte
Viele Gelehrte sind der Ansicht, Bewusstsein sei eine holis-
tische Gestalt-Eigenschaft des Gehirns. Sie argumentieren,
Bewusstsein sei derart andersartig, dass es nicht aus irgend-
einem bestimmten Merkmal des Nervensystems erwachsen
könne. Vielmehr könne es nur dem Gehirn als Ganzem zu-
5  Bewusstsein in der Klinik   1103
03

geschrieben werden. In einem technischen Sinn, den ich in


Kapitel 8 umreißen werde, haben sie Recht: Phänomenales
Bewusstsein ist eine Eigenschaft eines integrierten Systems
von kausal wechselwirkenden Teilen. Dennoch hat Be-
wusstsein auch überraschend lokale Aspekte.
Ein Schlaganfall, ein Autounfall, eine Virusinfektion, das
kontrollierte Trauma durch das chirurgische Skalpell – sie
alle können Gehirnsubstanz zerstören und hinterlassen oft
dauerhafte Ausfallerscheinungen. Für den Neurowissen-
schaftler sind begrenzte und eng umschriebene Schädigun-
gen besonders interessant. Die Tatsache, dass der Verlust
eines bestimmten Stücks Nervengewebe die Welt in Grau-
töne und wohlbekannte in fremde Gesichter verwandelt,
zeigt, dass diese Region zumindest teilweise für das Gene-
rieren von Farbempfinden oder der Identität von Gesich-
tern verantwortlich sein muss.
Nehmen wir den Fall des Patienten A. R., der von Jack
Gallant an der University of California in Berkeley unter-
sucht wurde. Mit 52 Jahren erlitt A. R. einen Hirnarte­
rieninfarkt, der ihn kurz erblinden ließ. Scans im Magnet-
resonanztomographen (MRT) zwei Jahre später zeigten eine
erbsengroße Läsion auf der rechten Seite seiner überge-
ordneten visuellen Zentren, jenseits des primären visuel-
len Cortex. Als Gallant und seine Kollegen A. R. im Labor
testeten, entdeckten sie, dass er keine Farben mehr sehen
konnte, jedoch nicht überall, sondern nur im oberen linken
Quadranten seines Gesichtsfelds, genau dort, wo sie den
Ausfall aufgrund des MRT-Scans zu finden erwartet hatten.
Erstaunlicherweise aber war sich der Mann kaum bewusst,
dass ein Teil seiner Welt ergraut war.
104
104 Book Title
  Bewusstsein

A. R.s low-level vision (Sehvermögen auf untergeordneter


Ebene), beispielsweise das Auffinden von Kanten, und seine
Bewegungs- wie auch Tiefenwahrnehmung waren normal.
Sein einziges anderes Defizit war eine partielle Unfähigkeit,
Formen zu unterscheiden – er konnten keinen Text lesen –,
doch dies beschränkte sich wiederum auf den oberen linken
Quadranten seines Gesichtsfelds.
Einen reinen Verlust der Farbwahrnehmung bezeichnet
man als Achromatopsie. Diese Störung unterscheidet sich
deutlich von der alltäglichen erblichen Farbenblindheit, die
vorwiegend Männer betrifft. Da ihnen das Gen für eines
der Farbpigmente im Auge fehlt, nehmen diese Dichro-
maten keine ebenso reiche Farbpalette wie normalsichtige
Menschen mit drei retinalen Photopigmenten (Trichroma-
ten) wahr. Achromatopsie hingegen ist eine Folge der Zer-
störung des Farbzentrums im visuellen Cortex. Das führt
dazu, dass die Welt alle Farbe verliert. Kein wunderbares,
purpurviolettes Alpenglühen mehr bei Sonnenuntergang.
Stattdessen erscheint die Welt in Helldunkelabstufungen,
wie ein Farbfernseher, der auf Schwarzweiß umgeschaltet
worden ist. Interessanterweise bleiben Farbwörter und As-
soziationen mit Farben (wie „rot“ und „Feuerwehrauto“)
erhalten.
Bizarre Störungen dieser Art gibt es in Hülle und Fül-
le. Menschen mit Gesichtsblindheit – Ärzte sprechen von
Prosopagnosie – haben Probleme mit Gesichtern. Sie er-
kennen weder berühmte noch ihnen vertraute Gesichter.
Dabei ist ihnen durchaus bewusst, dass sie auf ein Gesicht
schauen, sie erkennen es nur nicht. Alle Gesichter sehen
gleich aus, etwa so gut zu unterscheiden wie ein Haufen
5  Bewusstsein in der Klinik   1105
05

Steine. Obgleich Gesichter wie auch Steine zahlreiche ty-


pische Merkmale aufweisen, ist es schwierig, verschiedene
Steine zu unterscheiden, doch wir erkennen problemlos
Hunderte von Gesichtern. Der Grund dafür ist, dass ein
beträchtlicher Teil unserer cerebralen Schaltkreise auf das
Verarbeiten von Gesichtern, jedoch nur sehr wenige auf das
Erkennen von Steinen ausgelegt sind (wenn man nicht ge-
rade Steinsammler oder Geologe ist). Da die Neurone, die
in höheren Regionen des Cortex die Identität von Gesich-
tern vermitteln, zerstört wurden oder von vornherein nicht
vorhanden waren (bei etlichen Menschen ist Gesichtsblind-
heit angeboren), erkennen diese Menschen in einer Men-
ge am Flughafen ihren Ehepartner nicht. Ihnen fehlt das
mühelose und augenblickliche Erkennen, das Sie und ich
erleben, wenn wir einen geliebten Menschen sehen.
Gesichtsblindheit führt zu sozialer Isolation und Schüch-
ternheit, weil es den Betroffenen schwer fällt, die Menschen,
mit denen sie sich unterhalten, zu erkennen, geschweige
denn, mit Namen anzureden. Sie greifen zu Bewältigungs-
strategien und konzentrieren sich auf ein charakteristisches
Merkmal, zum Beispiel ein Muttermal oder eine besonders
große Nase, ein buntes Hemd oder die Stimme. Makeup
und eine andere Frisur beeinträchtigen das Wiedererken-
nen, ganz zu schweigen von einer Gruppe Uniformierter.
Bei schwerer Gesichtsblindheit erkennen die Patienten
ein Gesicht nicht einmal als Gesicht als solches. Mit ihrem
optischen Apparat ist alles in Ordnung: Sie können die ver-
schiedenen Elemente identifizieren, aus denen sich ein Ge-
sicht zusammensetzt – Augen, Nase, Ohren und Mund –,
doch diese Elemente nicht zu dem einheitlichen Perzept
106
106 Book Title
  Bewusstsein

eines Gesichts zusammensetzen. Das Buch Der Mann, der


seine Frau mit einem Hut verwechselte, eine brillant beob-
achtete Sammlung von Fallstudien des Neurologen Oliver
Sacks, spielt mit seinem Titel auf einen Patienten an, der
versuchte, einer Standuhr die Hand zu schütteln, weil er
das Ziffernblatt der Uhr für ein menschliches Gesicht hielt.
Interessantenweise zeigen diese Menschen unter Um-
ständen noch immer automatische Reaktionen auf ein
bekanntes Gesicht: Sie haben eine verstärkte galvanische
Hautreaktion – anders gesagt: sie schwitzen ein wenig –,
wenn sie Bilder von Politikern, Filmstars, Mitarbeitern oder
Familienmitgliedern anschauen, während Bilder von Unbe-
kannten sie unberührt lassen. Dennoch beharren sie darauf,
niemanden zu erkennen. Das zeigt, dass das Unterbewusst-
sein seine eigene Methode hat, emotional befrachtete Ge-
sichter zu verarbeiten.
Die Kehrseite der Prosopagnosie ist das Capgras-Syn-
drom. Ein Patient mit dieser Störung behauptet beispiels-
weise steif und fest, seine Frau oder ein anderes nahes Fami-
lienmitglied sei durch einen Fremden, einen Betrüger, er-
setzt worden, der genauso aussieht, spricht und sich bewegt
wie die Partnerin, aber dennoch irgendwie anders ist. Diese
Störung kann recht eng begrenzt und der Patient ansonsten
unauffällig sein. In diesem Fall ist die Gesichtserkennung
intakt, doch die automatische Reaktion auf Vertrautheit
fehlt. Da der Patient nicht den emotionalen Ruck spürt,
der für uns alle selbstverständlich ist, wenn wir jemanden
sehen, der uns sehr nahe steht und uns vertraut ist, hat er
das Gefühl, irgendetwas stimme ganz und gar nicht.
5  Bewusstsein in der Klinik   1107
07

Die Akinetopsie ist eine seltene und verheerende Bewe-


gungsblindheit. Ein Mensch mit dieser Störung ist in eine
Welt verbannt, die lediglich von Stroboskopblitzen erhellt
wird, wie in einer Disco oder einem Nachtclub. Die Tänzer
werden bei jedem Blitz hell erleuchtet und sind deutlich
zu erkennen, scheinen aber in ihrer Bewegung eingefroren.
Seine eigenen Bewegungen in dieser Weise in einem Spiegel
zu sehen, ist hypnotisierend, doch ich kann Ihnen versi-
chern, dass der Reiz der Situation rasch schwindet. Der be-
wegungsblinde Patient zieht den Schluss, dass sich Objekte
bewegt haben, indem er ihre relative Position in Abhängig-
keit von der Zeit vergleicht, doch er sieht nicht, wie sie sich
bewegen. Er erkennt, dass ein Auto seine Position geändert
hat, aber nicht, dass es sich auf ihn zubewegt. Andere As-
pekte des Sehens, wie Farbe, Form und die Fähigkeit, Flim-
merlicht zu erkennen, sind intakt.
Aufgrund sorgfältiger Untersuchungen von Menschen
mit solchen fokalen Schädigungen prägte Semir Zeki von
der University of London den Begriff essenzieller Knoten für
den Anteil des Gehirns, der für ein bestimmtes bewusstes
Attribut zuständig ist. Eine bestimmte Region des visuel-
len Cortex enthält einen essenziellen Knoten für die Wahr-
nehmung von Farbe, mehrere solcher Regionen sind an der
Gesichtswahrnehmung und am Sinn für visuelle Bewegung
beteiligt. Teile der Amygdala sind essenziell für das Angst-
empfinden. Eine Schädigung eines dieser Knoten führt zum
Verlust des damit assoziierten perzeptuellen Attributs, auch
wenn andere bewusste Attribute davon unberührt bleiben.
Die Interpretation klinischer Daten ist nicht so eindeu-
tig, wie ich es gerade beschrieben habe, denn das Gehirn,
108
108 Book Title
  Bewusstsein

vor allem das jungen Gehirn, besitzt eine wirklich erstaun-


liche Regenerationsfähigkeit. Selbst wenn ein essenzieller
Knoten verloren geht, können Informationen unter Um-
ständen umgeleitet und an anderer Stelle verarbeitet wer-
den, und der Betroffene kann die verlorene Funktion lang-
sam wiedergewinnen.
Der Merksatz lautet, dass kleine Bausteine des cerebra-
len Cortex für spezifische bewusste Inhalte verantwortlich
sind. Dieses Stück Cortex stattet das phänomenale Erleben
mit der Anschaulichkeit von Gesichtern aus, jener Teil lie-
fert das Gefühl der Neuartigkeit, und der dort drüben ver-
mittelt den Klang von Stimmen. Die Verbindung zwischen
corticaler Lage und Funktion ist ein Kennzeichen des Ner-
vensystems. Vergleichen wir dies einmal mit einem anderen
lebenswichtigen Organ, der Leber. Wie das Gehirn wiegt
sie rund 1,5 Kilogramm und hat einen rechten und einen
linken Lappen. Doch Lebergewebe ist weitaus weniger dif-
ferenziert und homogener als Nervengewebe. Bei Leber-
schäden kommt es nur darauf an, wie viel Gewebe geschä-
digt ist; wo die Schädigung liegt, ist relativ unwichtig.

 onzeptneurone codieren Homer


K
Simpson und Jennifer Aniston
An meinen ersten Absturz kann ich mich lebhaft erinnern.
Ich hatte kurz zuvor zu klettern begonnen, aus schierer
Verzweiflung – mein Sohn hatte das Haus verlassen, um
ans College zu gehen, und meine Tochter würde Ende des
Schuljahrs ausziehen. Dann war der lang gefürchtete Au-
5  Bewusstsein in der Klinik   1109
09

genblick da – das Nest war leer! Um etwas, irgendetwas,


zu tun, um meine überschüssige Energie und meinen En-
thusiasmus zu kanalisieren, begann ich mit Berglauf und
Felsklettern.
Ich war Vorsteiger auf einer Spaltenklettertour in Joshua
Tree in der kalifornischen Wüste. An die Stelle an dieser sich
nach rechts krümmenden, fast vertikalen Wand aus orange-
braunem Granit mit ihren eingebetteten Kristallen erinnere
ich mich noch genau. Granit kann die Hände eines Klette-
rers aufschürfen, doch er ist auch dessen bester Freund, weil
seine unebene Struktur zusätzlichen Halt liefert. Mit dem
linken Fuß in einen Spalt eingekeilt und dem rechten Fuß
direkt auf den Felsen aufgesetzt, streckte ich meine rechte
Hand hoch, hoch über meinen Kopf, um einen Klemmkeil
in den Spalt zu schieben. Er ging allzu leicht hinein, und
ich fürchtete, er könne bei Belastung ebenso leicht wieder
herausrutschen. Daher positionierte ich den Klemmkeil
neu und rammte ihn tiefer in den Spalt. In diesem Augen-
blick fühlte ich, wie mein Fuß abrutschte, und ich fiel drei
bis vier Meter tief auf den Boden, direkt auf den Rücken.
Meine Wirbelsäule landete direkt neben einem spitzen
Stein, ein potenzielles Desaster, dem ich aus schierem Glück
entging. Die Haut auf meinem Rücken war abgeschürft,
und ich humpelte noch tagelang, doch diese kleinen Ver-
letzungen verstärkten den Nimbus des Kletterns nur noch.
Diese ­Ereignisse prägten sich unauslöschlich in mein Ge-
dächtnis ein.
Wie kann der Inhalt des Bewusstseins so voller spezifi-
scher und plastischer Details sein? In meinen Kopf gibt es
keine Bilder von meiner Klettertour, nur ein beigegraues
110
110 Book Title
  Bewusstsein

Organ von Konsistenz, Größe und Form eines allzu weich


gekochten Blumenkohls. Dieses tofuartige Gewebe, das
von Blut und Cerebrospinalflüssigkeit gegen Stöße abge-
puffert wird, besteht aus Nerven- und Gliazellen. Neuro-
ne und die Synapsen, die sie verbinden, sind die Atome
von Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken und Handeln.
Wenn wir diese Prozesse jemals wissenschaftlich verstehen
wollen, müssen wir sie mit Blick auf die Wechselwirkungen
zwischen großen Koalitionen von Neuronen erklären, die
in ein unvorstellbar komplexes Netzwerk eingebettet sind.
Analog können beispielsweise Chemiker nicht hoffen, den
Aufbau der Materie bei normalen Temperaturen zu verste-
hen, solange sie nicht über die elektromagnetischen Kräfte
Bescheid wissen, die die Wechselwirkungen von Elektronen
und Ionen steuern.
Die Frage zu Beginn des letzten Absatzes ist tiefgründig,
und bisher haben wir keine definitive Antwort darauf. Doch
ich kann Ihnen von einer wichtigen Entdeckung berichten,
an der ich intensiv beteiligt war und die den Schleier ein
wenig lüften kann.
Epileptische Anfälle – hypersynchronisierte, sich selbst
erhaltende neuronale Entladungen, die das ganze Gehirn
erfassen können – sind eine häufige neurologische Störung.
Bei vielen Menschen lassen sich die wiederkehrenden episo-
dischen Hirnkrämpfe mit Medikamenten unter Kontrolle
halten, die die Erregung dämpfen und die Hemmung in
den zugrunde liegenden Schaltkreisen verstärken. Medika-
mente wirken jedoch leider nicht immer. Wenn vermutet
wird, dass eine lokale Anomalie, wie Narbengewebe oder
eine entwicklungsbedingte Fehlverdrahtung, die Anfälle
5  Bewusstsein in der Klinik   1111
11

auslöst, ist es oft unvermeidlich, das betreffende Gewebe


neurochirurgisch zu entfernen. Zwar ist jeder Eingriff, bei
dem der Schädel eröffnet wird, mit einem gewissen Risi-
ko behaftet, doch es gibt Epileptiker, deren Anfälle anders
nicht in den Griff zu bekommen sind.
Um Nebenwirkungen und den Verlust an Lebensquali-
tät nach der Operation so gering wie möglich zu halten,
ist es entscheidend, den Anfallherd im Gehirn genau zu lo-
kalisieren; das geschieht durch neurophysiologische Tests,
Hirnscans und Elektroenzephalographie (EEG). Sind von
außen keine strukturellen Anomalien erkennbar, führt der
Neurochirurg möglicherweise durch kleine, in den Schädel
gebohrte Löcher rund ein Dutzend Elektroden in das wei-
che Hirngewebe ein und lässt sie etwa eine Woche lang an
Ort und Stelle. Während dieser Zeit lebt und schläft der
Patient im Krankenhaus, und die Signale der Elektroden
werden kontinuierlich überwacht. Wenn es zu einem Anfall
kommt, lokalisieren Epileptologen und Neuroradiologen
den Ursprung der aberranten elektrischen Aktivität durch
Triangulation. Die anschließende Zerstörung oder Entfer-
nung des fehlerhaften Gewebeteils verringert die Zahl der
Krampfanfälle – manchmal gelingt es sogar, sie völlig zu
eliminieren.
Der Neurochirurg und Neurowissenschaftler Itzhak
Fried von der University of California, Los Angeles School
of Medicine, ist eine der führenden Kapazitäten auf diesem
anspruchsvollen, große technische Gewandtheit erfordern-
den Gebiet. Hirnchirurgen haben viel mit Felskletterern
und Bergsteigern gemein, bestimmte Haltungen und Ver-
haltensweisen, nach denen ich auch strebe. Sie sind Freaks,
112
112 Book Title
  Bewusstsein

voller Begeisterung für Hochtechnologie und Präzisions-


messungen, aber sie sind auch kultiviert und belesen. Sie
vertreten eine schonungslose, unverblümte Philosophie,
was das Leben und seine Risiken angeht; sie kennen ihre
Grenzen, haben aber großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten.
(Sie würden sich keinen Chirurgen wünschen, der unsicher
und zögerlich ist, wenn er darangeht, Löcher in Ihren Schä-
del zu bohren). Und sie können sich stundenlang auf die
anstehende Aufgabe konzentrieren und alles andere einfach
ausschalten.
Itzhak und seine chirurgischen Kollegen perfektionierten
eine Variante des Epilepsie-Monitoring, bei dem sie Hohl-
elektroden einsetzen. So können sie feine Drähte, dünner
als ein Haar, direkt in die graue Substanz einführen. Mithil-
fe geeigneter Elektronik und ausgefeilter Algorithmen zur
Signaldetektion können diese Miniaturelektroden aus dem
unablässigen Hintergrundrauschen der elektrischen Aktivi-
tät im Gehirn das schwache Gewisper einer Gruppe von
10–50 Neuronen herausfischen.
Unter Itzhaks Aufsicht entdeckte eine Gruppe aus mei-
nem Labor, Rodrigo Quian Quiroga, Gabriel Kreiman und
Leila Reddy, im Dschungel des medialen Temporallappens
ein bemerkenswertes Ensemble von Neuronen. Diese Re-
gion, die den Hippocampus einschließt, wandelt Perzepte
in Erinnerungen um, ist aber auch der Quell vieler epilep-
tischer Anfälle, und aus diesem Grund platziert Itzhak hier
Elektroden.
Wir bitten die Patienten um Mithilfe. Während sie nichts
weiter tun müssen, als auf ihre Anfälle zu warten, zeigen
wir ihnen Bilder von bekannten Leuten, Tieren, berühmten
5  Bewusstsein in der Klinik   1113
13

Gebäuden und Gegenständen. Wir hoffen, dass eines oder


mehrere der Fotos einigen der angezapften Neurone gefal-
len und sie veranlasst werden, eine Salve Aktionspotenziale
abzufeuern. Die meiste Zeit passiert gar nichts, auch wenn
mir manchmal auf Neurone stoßen, die auf Objektkatego-
rien reagieren, wie Tiere oder Szenen im Freien oder Ge-
sichter im Allgemeinen. Einige Neurone sind jedoch viel
wählerischer. Ich war fasziniert, als mir Gabriel die ersten
derartigen Zellen zeigte. Eine Zelle feuerte nur dann, wenn
der Patient ein Foto des damaligen Präsidenten Bill Clinton
ansah, aber nicht beim Anblick anderer Berühmtheiten,
und die andere Zelle reagierte ausschließlich auf Cartoons
von Bart und Homer Simpson.
Trotz unserer anfangs beträchtlichen Skepsis gegenüber
diesem Befund – eine derart verblüffende Selektivität auf
dem Level individueller Nervenzellen war bisher beispiel-
los – sind die Neurone des medialen Temporallappens in
der Tat extrem wählerisch bei dem, was sie erregt. Ein hip-
pocampales Neuron reagierte nur auf sieben verschiede-
ne Aufnahmen des Filmstars Jennifer Aniston, aber nicht
auf die Fotos anderer Blondinen oder Schauspielerinnen.
Eine andere Zelle im Hippocampus feuerte nur beim An-
blick der Schauspielerin Halle Berry, einschließlich eines
Cartoons mit ihr und ihres geschriebenen Namens. Wir
haben Zellen gefunden, die auf das Bild von Mutter The-
resa, knuddeligen kleinen Tieren („Peter-Rabbit-Zelle“),
des Diktators Saddam Hussein sowie seinen gesprochenen
und geschriebenen Namen sowie auf den Satz des Pytha-
goras a2 + b2 = c2 reagierten (letzteres im Gehirn eines Inge-
nieurs mit Mathematik als Hobby).
114
114 Book Title
  Bewusstsein

Itzhak bezeichnet diese Zellen als Konzeptneurone. Wir


versuchen nicht, sie zu vermenschlichen, und der Verlo-
ckung zu widerstehen, sie „Jennifer-Aniston-Zellen“ zu
nennen (die Zellen mögen nicht, wenn man das macht!).
Jede Zelle codiert zusammen mit ihren Geschwistern –
denn im medialen Temporallappen gibt es für jede Idee
wahrscheinlich Tausende solcher Zellen – ein Konzept wie
Jennifer Aniston, ganz gleich, ob der Patient ihren Namen
sieht oder hört oder ihr Bild anschaut. Stellen Sie sich diese
Neurone als die zellulären Substrate des platonischen Ideals
von Jennifer Aniston vor. Ob die Schauspielerin einfach da-
sitzt oder rennt, ob sie ihr Haar offen oder hochgesteckt
trägt, solange der Patient sie als Jennifer Aniston erkennt,
sind diese Neurone aktiv.
Niemand wird mit Zellen geboren, die selektiv auf Jen-
nifer Aniston reagieren. Wie ein Bildhauer, der nach und
nach eine Venus von Milo oder eine Pietà aus einem Mar-
morblock herausmeißelt, formen die Lernalgorithmen des
Gehirns die synaptischen Felder, in die die Konzeptneurone
eingebettet sind. Jedes Mal, wenn wir auf eine bestimmte
Person oder einen bestimmten Gegenstand treffen, wird in
übergeordneten corticalen Regionen ein ähnliches Muster
generiert. Die Netzwerke im medialen Temporallappen er-
kennen solche sich wiederholenden Muster und widmen
ihnen spezifische Neurone. Sie haben Konzeptneurone,
die Familienmitglieder, Haustiere, Freunde und Kollegen,
Politiker, die Sie im Fernsehen sehen, Ihr Laptop und Ihre
Lieblingsbilder codieren. Wir nehmen an, dass Konzept-
neurone auch abstraktere, aber wohlvertraute Vorstellun-
gen repräsentieren, zum Beispiel alles, was wir in unserer
5  Bewusstsein in der Klinik   1115
15

Erinnerung mit dem 11. September, der Zahl Pi oder der


Vorstellung von Gott verbinden.
Umgekehrt haben Sie keine Konzeptneurone für Din-
ge oder Personen, denen Sie nur selten begegnen, etwa der
Barista, die Ihnen gerade einen fettfreien Chai-Latte-Tee
serviert. Doch wenn Sie Freundschaft mit ihr schließen, sie
später an der Bar treffen und sie in Ihr Leben einbeziehen,
würden die Netzwerke im medialen Temporallappen er-
kennen, dass dasselbe Spikemuster wiederholt auftritt, und
Konzeptzellen rekrutieren, um sie zu repräsentieren.
Neurone im visuellen Cortex reagieren auf eine Linie
mit einer bestimmten Orientierung, auf einen Fleck oder
auf ein exemplarisches Gesicht mit immer gleichem Über-
schwang, während die Konzeptzellen im medialen Tempo-
rallappen deutlich zurückhaltender sind. Jedes Individuum
oder Objekt ruft nur bei einem sehr kleinen Teil der Neuro-
ne Aktivität hervor. Das bezeichnet man als karge Darstel-
lung ( sparse representation).
Konzeptzellen demonstrieren überzeugend, dass die
Spezifität bewussten Erlebens ein direktes Gegenstück auf
zellulärem Niveau hat. Angenommen, Sie stellen sich die
berühmte Szene vor, in der Marylin Monroe auf dem U-
Bahn-Schacht steht und ihr Kleid niederhält, damit es der
Wind nicht hochschlägt. Man geht gemeinhin davon aus,
dass das Gehirn dieses Perzept mithilfe einer breiten Popu-
lationsstrategie repräsentiert. Einige Zigmillionen Nerven-
zellen feuern auf eine bestimmte Art, wenn Sie Monroe se-
hen, und in anderer Weise, wenn Sie Aniston, die Queen
oder Ihre Großmutter sehen. Es ist immer dieselbe Popu-
lation von Zellen, die reagiert, aber auf unterschiedliche
116
116 Book Title
  Bewusstsein

Weise. Unsere Entdeckung lässt dies jedoch für Personen,


mit denen Sie sehr vertraut sind, unwahrscheinlich erschei-
nen. Die meisten Zellen bleiben die meiste Zeit stumm, das
ist das Wesen der kargen Darstellung. Wenn Monroe auf-
taucht, feuert eine kleine Minderheit; eine andere Gruppe
reagiert auf Aniston, und so weiter. Jedes derartige bewusste
Konzept wird von einer Koalition von Neuronen bewirkt,
deren Zahl vielleicht in die Hunderte oder Tausende geht,
aber nicht in die Millionen.
Unlängst haben Moran Cerf und andere aus meinem
Labor zusammen mit Itzhak mehrere Konzeptzellen an ein
externes Display angeschlossen, um die Gedanken eines
Patienten zu visualisieren. Die Idee ist himmlisch einfach,
aber teuflisch schwer umzusetzen. Moran – ein Spezialist
für Computersicherheit und Filmemacher, der zum Cal-
tech-Studenten wurde – brauchte drei Jahre, bis er endlich
Erfolg hatte.
Lassen Sie uns ein Beispiel durchspielen. Moran leitete
von einem Neuron ab, das in Reaktion auf Bilder des Schau-
spielers Josh Brolin (den die Patientin aus ihrem Lieblings-
film Die Goonies kannte) feuerte, sowie von einem anderen
Neuron, das stattdessen in Reaktion auf die eben erwähnte
Marylin-Monroe-Szene feuerte. Die Patientin schaute auf
einen Monitor, auf dem sich diese beiden Bilder überlager-
ten, wobei die Feueraktivität der beiden Zellen das Aus-
maß vorgab, in dem sie auf dem Hybridbild Brolin oder
Monroe sah (via Feedback vom Gehirn der Patientin zum
Monitor). Immer dann, wenn sich die Patientin auf Brolin
konzentrierte, feuerte das assoziierte Neuron heftiger. Mo-
ran arrangierte das Feedback folgendermaßen: Je heftiger
5  Bewusstsein in der Klinik   1117
17

dieses Neuron relativ zum anderen Neuron feuerte, desto


besser sichtbar wurde Brolin und desto mehr verblasste das
Monroe-Bild (und vice versa). Das Bild auf dem Monitor
veränderte sich ständig, bis nur Brolin oder nur Monroe
sichtbar blieben und der Versuchsdurchgang abgeschlossen
war. Die Patientin hatte großen Spaß daran, schließlich
kontrollierte sie den Film allein mithilfe ihrer Gedanken.
Wenn sie sich auf Monroe konzentrierte, erhöhten die asso-
ziierten Neurone ihre Feuerrate, während die Zellen für das
konkurrierende Konzept, Brolin, gleichzeitig ihre Aktivität
verringerten, derweil die große Mehrheit der Neurone un-
beeinflusst blieb.
So, wie ich die Geschichte hier erzähle, hört es sich an,
als gebe es zwei Hauptdarsteller, so wie der Puppenspie-
ler Craig in dem Film Being John Malkovich den Kopf des
Schauspielers John Malkovich besetzt. Der eine ist der Geist
der Patientin, der sich auf Monroe konzentriert. Der andere
ist das Gehirn der Patientin – namentlich die Nervenzel-
len im medialen Temporallappen, die ihre Aktivität je nach
Wusch des Geistes auf- und abregulieren. Beide sind jedoch
Teil derselben Person. Wer kontrolliert also wen? Wer ist
der Puppenspieler und wer ist die Puppe?
Itzhaks Elektroden sondieren den Ursprungsort der
neuronalen Korrelate des Bewusstseins. Die Patientin kann
die Aktivität ihrer Neurone im medialen Temporallappen
nach Belieben hoch- oder herunterfahren. Viele Regionen
des Gehirns sind jedoch immun gegen diesen Einfluss. So
können wir zum Beispiel nicht willentlich die Welt in Grau-
stufen sehen. Das heißt höchstwahrscheinlich, dass wir die
Aktivität der Farbneurone in unserem visuellen Cortex
118
118 Book Title
  Bewusstsein

nicht bewusst herunterregulieren können. Und so gern wir


es vielleicht manchmal auch möchten, die Schmerzzentren
in unserem Gehirn können wir ebenfalls nicht ausschalten.
All die Seltsamkeit der Körper-Geist-Verknüpfung wird
hier deutlich. Die Patientin verspürt nicht jedes Mal, wenn
die Monroe-Neurone feuern, ein Jucken; sie denkt nicht
„Hemmung, Hemmung, Hemmung!“, um Brolin von der
Bildfläche zu verbannen. Sie hat nicht die geringste Ah-
nung, was in ihrem Kopf vorgeht. Dennoch wird der Ge-
danke an Monroe in ein bestimmtes Muster neuronaler Ak-
tivität übersetzt. Ereignisse in ihrem phänomenalen Geist
finden ihre Parallele in ihrem materiellen Gehirn. Nicht
nur das Gehirn erbebt, sondern gleichzeitig auch der Geist.

 ewusstsein kann von jeder der bei-


B
den Hirnhemisphären erzeugt werden
Wie der übrige Körper weist das Gehirn einen bemerkens-
werten Grad an bilateraler Symmetrie auf. Man kann sich
das Gehirn durchaus als vergrößerte Walnuss vorstellen.
Eine Seite ist kein exaktes Spiegelbild der anderen, aber
doch nahezu. Von fast jeder Hirnstruktur gibt es zwei Ko-
pien, eine auf der linken, die andere auf der rechten Seite.
Die linke Seite des Gesichtsfelds wird vom visuellen Cortex
in der rechten Hemisphäre repräsentiert, die rechte Seite
hingegen vom linken. Wenn wir in die Welt schauen, sehen
wir jedoch keine feine senkrechte Linie, die durch unser
Gesichtsfeld läuft; die beiden halben Felder gehen nahtlos
ineinander über. Philosophen betonen, dass Erleben eine
5  Bewusstsein in der Klinik   1119
19

Einheit bildet. Wir erleben keine zwei Bewusstseinsströme,


einen auf jeder Seite, sondern nur einen einzigen. Und was
für das Sehen gilt, gilt gleichermaßen für Hören, Fühlen
und so weiter.
Auf die Dissonanz zwischen den zwei Hälften des Ge-
hirns und dem einen Geist wies bereits Descartes hin, der
nach einem einzelnen Organ suchte, das die einheitliche
Natur der Erfahrung widerspiegelte. Irrtümlich nahm er
an, die Zirbeldrüse (Epiphyse) habe keine rechte und linke
Hälfte, und stellte die berühmte These auf, sie sei der Sitz
der Seele (modern ausgedrückt, das neuronale Korrelat des
Bewusstseins). Wenn ich Descartes’ Schlussfolgerung hin-
sichtlich der Zirbeldrüse in der Vorlesung erwähne, kichern
immer einige Studenten: „Wie dumm!“. Tatsächlich aber
war Descartes seiner Zeit mit der Suche nach einer Bezie-
hung zwischen Struktur und Funktion um Jahrhunderte
voraus. In die verstaubte, mottenzerfressene Atmosphäre
in der Endphase der mittelalterlichen Scholastik brachte
er frischen Wind, eine kräftige Brise Modernität und Auf-
klärung. Descartes ersetzte die abgenutzten aristotelischen
teleonomischen Zweckursachen, die in Wahrheit nichts
erklären – Holz brennt, weil es eine inhärente Form be-
sitzt, die zu brennen sucht – durch mechanistische Ursa-
chen. Zusammen mit Francis Crick und dem verstorbenen
Neurochirurgen Joseph Bogen hat Descartes einen Platz in
meinem persönlichen Pantheon. (Um die Wahrheit zu sa-
gen, finden sich dort auch der junge Reporter Tim und der
Detektiv Sherlock Holmes).
Der Balken (Corpus callosum), die größte Struktur aus
weißer Substanz im Gehirn, ist der Hauptverantwortliche
120
120 Book Title
  Bewusstsein

für diese Integration. Es handelt sich um ein dickes Bündel


aus rund 200 Mio. Axonen, die alle jeweils von einer Py-
ramidenzelle auf der einen Seite des Gehirns auf die ande-
re Seite verlaufen. Zusammen mit einigen unbedeutenden
Faserbündeln koordinieren diese Axone äußerst straff die
Aktivität der beiden Hirnhemisphären, sodass sie reibungs-
los zusammenarbeiten und für eine einzige Sicht der Welt
sorgen.
Was passiert, wenn man dieses Axonbündel durchtrennt?
Wenn dies sorgsam geschieht, ohne andere Strukturen zu
schädigen, sollte der Patient ein empfindungsfähiges Wesen
bleiben, obwohl sein Bewusstsein möglicherweise entzwei
geschnitten und so eingeschränkt ist, dass es nur das rechte
oder das linke Gesichtsfeld umfasst und die andere Hälfte
unsichtbar bleibt. Aber so ist es nicht!
In manchen Fällen, beispielsweise bei medikamentös
nicht behandelbaren epileptischen Anfällen, wird ein Teil
oder der gesamte Balken durchtrennt, um zu verhindern,
dass ein Anfall, der seinen Ursprung in der einen Hemi-
sphäre hat, auf die andere überspringt und zu generalisier-
ten Krämpfen führt. Diese Operation, die erstmals Anfang
der 1940er-Jahre durchgeführt wurde, lindert epileptische
Anfälle. Erstaunlicherweise sind diese Split-Brain-Patien-
ten, sobald sie sich von dem Eingriff erholt haben, im All-
tag völlig unauffällig. Sie können anschließend genauso
gut sehen, hören und riechen wie zuvor, sie laufen herum,
unterhalten sich und interagieren in angemessener Weise
mit anderen Menschen, und ihr IQ ist unverändert. Sie ver-
fügen über ein normales Bewusstsein ihrer selbst und be-
richten von keiner auffälligen Veränderung ihrer Weltsicht
5  Bewusstsein in der Klinik   1121
21

– so ist beispielsweise ihr Gesichtsfeld nicht eingeschränkt.


Die Chirurgen, die diese Operation als erste durchführten,
darunter Joseph Bogen von der Loma University in Süd-
kalifornien, waren verblüfft über diesen Mangel an eindeu-
tigen Symptomen.
Eine genauere Untersuchung von Split-Brain-Patienten,
die der Biologe Roger Sperry vom Caltech unternahm,
ergab jedoch ein anhaltendes und tief greifendes Diskon-
nektionssyndrom. Wenn eine Hemisphäre mit spezifischen
Daten gefüttert wird, wird diese Information nicht mit
dem Zwilling auf der anderen Seite geteilt. Zudem ist nur
eine Hemisphäre, gewöhnlich die linke, in der Lage zu spre-
chen. Das heißt, wenn die rechte Hemisphäre entfernt oder
durch eine Narkose zum Schweigen gebracht wird, kann
der Patient immer noch sprechen; darum nennt man die
linke die dominante Hemisphäre. Die rechte Hemisphäre
verfügt nur über ein begrenztes Sprachverständnis und ist
stumm, wenn sie auch grunzen und singen kann. Wenn
man sich also mit einem Split-Brain-Patienten unterhält,
ist es die linke Hemisphäre der Person, die das Gespräch
führt. Der Patient kann ein Objekt, das im linken Gesichts-
feld präsentiert wird, nicht benennen, weil dieses Bild von
seinem stummen rechten visuellen Cortex verarbeitet wird.
Doch er kann das Objekt aus einer Ansammlung von Ob-
jekten auf einem Tablett mit seiner linken Hand, die vom
rechten Motorcortex kontrolliert wird, herausfischen.
Wird ein Objekt, beispielsweise ein Schlüssel, in seine
rechte Hand gelegt, die sich außer Sicht unter dem Tisch
befindet, kann der Patient es rasch benennen. Die Tastinfor-
mation seiner rechten Hand wird an die linke Hemisphäre
122
122 Book Title
  Bewusstsein

weitergeleitet, wo das Objekt identifiziert und sein Etikett


ans Sprachzentrum übermittelt wird. Wird der Schlüssel
jedoch in die linke Hand des Betreffenden gelegt, kann er
nicht sagen, um was es sich handelt. Die rechte Hemisphäre
weiß vielleicht ganz genau, dass das Objekt ein Schlüssel ist,
doch sie kann dieses Wissen nicht an die Sprachzentren in
der linken Hälfte weitergeben, weil die Kommunikations-
wege durchtrennt sind.
Die eine Hälfte des Gehirns weiß ganz buchstäblich
nicht, was die andere tut, was zu Situationen irgendwo zwi-
schen Tragik und Komik führt. Victor Mark, ein Neurologe
an der University von North Dakota, nahm ein Interview
mit einer Split-Brain-Patientin auf Video auf. Auf die Fra-
ge, wie viele Anfälle sie nach ihrer Operation gehabt habe,
hielt ihre rechte Hand zwei Finger hoch. Daraufhin griff
ihre linke Hand herüber und drückte die Finger ihrer rech-
ten Hand nieder. Nachdem sie mehrmals versucht hatte,
die Zahl ihrer Anfälle aufzuzeigen, hielt sie inne und hob
dann gleichzeitig drei Finger ihrer rechten und einen Finger
ihrer linken Hand. Als Mark sie auf die Diskrepanz hinwies,
erklärte die Patientin, dass ihre linke Hand häufig eigenwil-
lige Dinge tue. Zwischen beiden Händen entwickelte sich
ein Kampf, der wie eine Slapstick-Komödie aussah. Erst als
die Patientin frustriert in Tränen ausbrach, wurde ich an
ihre traurige Lage erinnert.
Studien mit Split-Brain-Patienten, für die Sperry 1981
den Nobelpreis erhielt, lehren uns, dass die Durchtrennung
des Corpus callosum den cortico-thalamischen Komplex
in zwei Hälften teilt, das Bewusstsein jedoch intakt lässt.
Beide Hemisphären sind unabhängig voneinander zu be-
5  Bewusstsein in der Klinik   1123
23

wusstem Erleben fähig, wobei die eine über weitaus mehr


Sprachkompetenz verfügt als die andere. Was auch immer
die neuronalen Korrelate des Bewusstseins sind, sie müssen
unabhängig voneinander in beiden Hemisphären des cere-
bralen Cortex existieren. Zwei bewusste Intellekte in einem
einzigen Schädel. Ich werde auf dieses Thema in Kapitel 8
zurückkommen.

 ewusstsein kann auf Dauer verloren


B
gehen, sodass ein Zombie zurückbleibt
Solange Sie wach sind, sind Sie sich irgendeiner Sache be-
wusst – der Straße vor Ihnen, eines Heavy-Metal-Stücks
von Rammstein, das Ihnen unablässig durch den Kopf
geht, oder Sexfantasien. Nur während mancher meditati-
ven Praktiken kann man Bewusstsein besitzen, ohne dass
dieses Bewusstsein einen Inhalt hätte, wach sein, ohne ir-
gendetwas wahrzunehmen. Selbst wenn Ihr Körper schläft,
können Ihre Träume voller lebhafter Erlebnisse sein. Bei
Zuständen wie Tiefschlaf, Narkose, Ohnmacht, Gehirn-
erschütterung und Koma gibt es jedoch überhaupt keine
Erfahrungen. Kein Schwarzbild, sondern einfach nada.
Bei schweren Hirnverletzungen kann es sein, dass das
Bewusstsein nicht zurückkehrt. Ein Autounfall, ein Sturz,
eine Verletzung im Kampf, eine Überdosis Heroin oder Al-
kohol, ein Beinahe-Ertrinken – all dies kann zu einer tie-
fen Bewusstlosigkeit führen. Dank Rettungshubschraubern
und Notfallsanitätern, die das Opfer rasch an ein Team
von spezialisierten Traumaärzten und -krankenschwestern
124
124 Book Title
  Bewusstsein

übergeben, können viele vom Rand des Grabes zurückge-


holt werden. Auch wenn dies für viele ein Segen ist, ist es
für einige wenige ein Fluch. Sie bleiben jahrelang am Le-
ben, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen, und werden
zu Untoten.
Zu einem derart umfassenden Ausfall des Bewusstseins
kommt es, wenn die für das Wachbewusstsein verantwort-
lichen Teile des Gehirns geschädigt werden. Neurone im
Thalamus und im Cortex können sich dann nicht zu den
weit verstreuten Koalitionen zusammenschließen, die es
braucht, um bewusste Inhalte zu vermitteln. Zu den be-
einträchtigten Bewusstseinszuständen zählen Koma, Wach-
koma und ein Zustand minimalen Bewusstseins ( minimally
conscious state). Der allgemeine Grad der Wachheit fluktu-
iert von völligem Fehlen im Koma über periodische Schlaf-
Wach-Übergänge im Wachkoma bis zum Erwachen mit
zielgerichteten Bewegungen im Zustand minimalen Be-
wusstseins, beim Schlafwandeln und gewissen partiellen
epileptischen Anfällen.
Allein in den USA liegen rund 25.000 Patienten jahre-
lang im Wachkoma, und ihre Aussichten auf Besserung
sind düster. Fast unerträglich ist ihre Situation, weil Men-
schen in diesem Schwebezustand anders als Komapatien-
ten, die so gut wie keine Reflexe zeigen, einen täglichen
Schlaf-Wach-Zyklus aufweisen. Wenn sie „wach“ sind,
dann sind ihre Augen geöffnet und können sich reflexartig
bewegen, wie es auch ihre Gliedmaßen gelegentlich tun;
sie schneiden vielleicht Grimassen, wenden ihren Kopf,
stöhnen. Ein medizinisch ungeschulter Beobachter schließt
aus diesen Bewegungen und Lauten, dass der Patient wach
5  Bewusstsein in der Klinik   1125
25

ist und verzweifelt versucht, mit seinen Lieben zu kommu-


nizieren. Die Tragödie des Patienten, der womöglich über
Jahrzehnte ohne Bewusstsein in Hospizen und Pflegehei-
men dahindämmert, spiegelt und vergrößert sich durch die
Liebe – und die finanziellen Ressourcen –, die seine Familie
für seine Pflege aufwendet, immer in der Hoffnung auf eine
wunderbare Genesung.
Sie erinnern sich vielleicht an Terri Schiavo in Florida,
die 15 Jahre lang im Wachkoma lag, bis sie 2005 nach Be-
endigung der Lebenserhaltungsmaßnahmen starb. Wegen
des üblen, öffentlich ausgefochtenen Streits zwischen ihrem
Ehemann, der sich für ein Abschalten der Geräte aussprach,
und ihren Eltern, die ein gewisses Maß an Wahrnehmung
bei ihrer Tochter zu sehen meinten, schlug der Fall hohe
Wellen, ging durch alle juristischen Instanzen und landete
schließlich auf dem Tisch des damaligen Präsidenten George
W. Bush. Medizinisch war ihr Fall unumstritten. Sie zeigte
kurze Episoden automatischer Handlungen: Kopfwenden,
Augenbewegungen und ähnliches, aber keinerlei reprodu-
zierbares oder durchgängiges, zielgerichtetes Verhalten. Ihr
EEG war flach, was anzeigt, dass ihr cerebraler Cortex aus-
geschaltet war. Ihr Zustand besserte sich im Lauf der Jahre
nicht. Die Autopsie zeigte, dass ihr Cortex um die Hälfte
geschrumpft war, die visuellen Zentren waren atrophiert;
im Gegensatz zu Berichten, die damals in der Öffentlich-
keit kursierten, konnte sie daher nichts gesehen haben.
Ich werde kurz ein wenig abschweifen. Die gegenwärtige
Gesetzgebung in den USA unterscheidet scharf zwischen
dem Entzug medizinischer Versorgung und aktiver Eutha-
nasie. Im ersten Fall stirbt der todkranke Patient nach sei-
126
126 Book Title
  Bewusstsein

nem eigenen Ablaufplan. Im zweiten Fall interveniert der


Arzt mithilfe von Opiaten oder anderen Medikamenten,
die den Eintritt des Todes beschleunigen. Ich verstehe die
historischen Kräfte, die zu einem gesetzlichen Euthanasie-
verbot geführt haben. Aber einen Patienten, selbst wenn er
ohne Bewusstsein ist wie Schiavo, durch den Entzug fester
Nahrung oder Flüssigkeit verhungern oder verdursten zu
lassen, erscheint mir barbarisch. Als unser heiß geliebte
Familienhündin Trixie mit 12 Jahren unter Kardiomyopa-
thie (Herzmuskelschwäche) litt, hörte sie auf zu fressen, ihr
Bauch füllte sich mit Wasser, sie übergab sich häufig und
konnte ihren Darm nicht mehr kontrollieren. Meine Frau
und ich brachten sie schließlich zu ihrem letzten Besuch
beim Tierarzt. Er injizierte ihr eine große Dosis Barbiturat,
während sie vertrauensvoll in meinen Armen lag und mich
sanft leckte, bis ihr tapferes Herz aufhörte zu schlagen. Es
war rasch, es war schmerzlos – und es war die richtige Ent-
scheidung. Ich hoffe, wenn meine Zeit kommt, wird mir
jemand denselben Dienst leisten.
Leider ist es oft schwierig, zwischen einem Patienten im
Wachkoma mit einem regelmäßigen Schlaf/Wach-Zyklus
und jemanden in einem Zustand minimalen Bewusstseins
zu unterscheiden, der sporadisch mit Menschen um ihn he-
rum kommunizieren kann. Ein dazu geeignetes Instrument
wollen wir in Kapitel 9 diskutieren. Brain-Imaging kann ein
anderes sein.
Adrian Owen, ein Neurologe an der University of Cam-
bridge in England, legte eine nicht reagierende Frau, deren
Gehirn bei einem Autounfall schwer verletzt worden war, in
einen fMRT-Scanner. Ihre Mutter las ihr Aufforderungen
5  Bewusstsein in der Klinik   1127
27

vor: Sie solle sich vorstellen, Tennis zu spielen oder alle


Zimmer in ihrem Haus zu besuchen. Die Patientin zeigte
keinerlei äußere Zeichen des Verstehens, geschweige denn
des Reagierens. Dennoch ähnelte das Muster der hämo-
dynamischen Gehirnaktivität demjenigen gesunder Frei-
williger, die sich mit geschlossenen Augen ähnliche Din-
ge vorstellten. Solches Fantasieren ist eine komplexe und
zielgerichtete geistige Aktivität, die Minuten in Anspruch
nimmt – unwahrscheinlich, dass sie unbewusst erfolgt. Die
verletzte Frau war trotz ihrer Unfähigkeit, ihrer Umwelt mit
Händen, Augen oder Stimme Signale zu geben, also zu-
mindest sporadisch im Besitz ihres Bewusstseins und in der
Lage, einen externen Befehl auszuführen. Andere Wach-
komapatienten, die in dieser Weise getestet wurden, wie-
sen keine derartigen Hirnsignaturen auf; sie waren offen-
bar wirklich ohne Bewusstsein. Der fMRT-Scanner könnte
eine Rettungsleine für schwer hirnverletzte Patienten sein,
weil er einen Weg zur Kommunikation eröffnet: „Wenn du
Schmerzen hast, denk an Tennisspielen. Wenn nicht, stell
dir vor, durch dein Haus zu gehen.“
Um zum Hauptthema zurückzukehren: Es ist bemer-
kenswert, dass große Teile des Cortex zerstört werden kön-
nen, ohne dass es nach der Genesung zu irgendeinem all-
gemeinen Funktionsverlust kommt. Wie bereits erwähnt,
kann es sein, dass jemand mit einem fokalen Hirnschaden
nur sehr begrenzte Ausfallerscheinungen zeigt. Diese Wi-
derstandsfähigkeit gegenüber Schädigungen wird vor allem
bei den Frontallappen deutlich. Reizt man die Frontallap-
pen mit elektrischem Strom, ruft das weder Gliederzucken
(wie eine Reizung des primären motorischen Cortex) noch
128
128 Book Title
  Bewusstsein

Lichtblitze (wie die Stimulation des visuellen Cortex) her-


vor. Aus diesem Grund bezeichneten Neurologen die Fron-
tallappen früher häufig als stumme Regionen.
Typisch für die klassische Psychochirurgie war die kont-
rollierte Zerstörung von grauer Substanz in den Frontallap-
pen des Cortex (Lobotomie) oder die Durchtrennung der
Axone in der weißen Substanz, die den präfrontalen Cortex
mit dem Thalamus und den Basalganglien verbindet (Leu-
kotomie). Diese Eingriffe, die schändlicherweise mit einem
modifizierten, durch die Augenhöhle eingeführten Eispi-
ckel durchgeführt wurden, führten zu Persönlichkeitsver-
änderungen und geistigen Behinderungen. Sie verwandel-
ten „den Geisteskranken in einen Idioten“ und erleichter-
ten die Vormundschaft über die Patienten, doch sie führen
nicht zu einem allgemeinen Verlust des Bewusstseins.
Eine kleine, eng umrissene Verletzung subcorticaler
Strukturen ganz in der Nähe der imaginären Medianlinie,
die das rechte und das linke Gehirn trennt, kann eine Per-
son jedoch tatsächlich das Bewusstsein verlieren lassen. Ich
stelle mir diese Mittellinienstrukturen als ermöglichende
Faktoren ( enabling factors) des Bewusstseins vor. Sie kont-
rollieren das Maß an Wachheit, das das Gehirn braucht, um
Bewusstsein aufrecht zu erhalten. Wenn sowohl die rechte
als auch die linke Kopie einer subcorticalen Region zerstört
sind, kann es sein, dass der Patient auf Dauer ohne Be-
wusstsein bleibt. (Im Allgemeinen toleriert das Gehirn eine
Verletzung einer Struktur auf einer Seite, ist aber weitaus
weniger widerstandsfähig gegenüber einer Schädigung auf
beiden Seiten). Eine dieser Mittellinienstrukturen ist das
retikuläre Aktivierungssystem, eine heterogene Sammlung
5  Bewusstsein in der Klinik   1129
29

von Kernen im oberen Hirnstamm und Hypothalamus.


Kerne (Nuclei) sind dreidimensionale Neuronenensembles
mit eigener, unverwechselbarer zellulärer Architektur und
neurochemischer Identität. Die Kerne im retikulären Ak-
tivierungssystem setzen aus ihren axonalen Endigungen im
ganzen Vorderhirn Neurotransmitter frei.
Ein anderer ermöglichender Faktor des Bewusstseins ist
ein Ensemble von fünf intralaminaren Thalamuskernen,
die sich ebenfalls um die Mittellinie drängen. Diese Kerne
empfangen Input von Hirnstammkernen und den Fron-
tallappen und schicken ihren Output in den ganzen cere-
bralen Cortex. Schon zuckerwürfelgroße Läsionen in den
rechten wie den linken intralaminaren Kernen führen dazu,
dass das Bewusstsein entschwindet, höchstwahrscheinlich
für immer.
Eine Fülle von Kernen im Thalamus und im Hirnstamm
hält das Erregungsniveau im Vorderhirn so hoch, dass be-
wusste Erfahrung möglich ist. Keine dieser Strukturen mit
ihren ausgeprägten chemischen Signaturen ist für das Ge-
nerieren des Inhalts dieser Erfahrung verantwortlich, doch
sie machen Erfahrung möglich. Adressaten ihrer Bemühun-
gen sind die 16 Mrd. Neurone im Cortex und ihre engen
Mitstreiter in Thalamus, Amygdala, Claustrum und Basal-
ganglien. Dadurch, dass die intralaminaren Kerne und an-
dere Kerne in den Katakomben des Gehirns die Freisetzung
eines Neurotransmittercocktails kontrollieren, regeln sie
synaptische und neuronale Aktivität herauf oder herunter
und ermöglichen dem cortico-thalamischen Komplex, die
präzise synchronisierte Koalition von Neuronen zu bilden
130
130 Book Title
  Bewusstsein

und zu formen, die im Zentrum einer jeden bewussten Er-


fahrung steht.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass lokale Eigen-
schaften des Cortex und seiner Satellitenstrukturen den
spezifischen Inhalt des Bewusstseins vermitteln, währen
globale Eigenschaften entscheidend für den Erhalt des Be-
wusstseins per se sind. Damit sich eine kohärente Koalition
von Neuronen überhaupt zusammenschließt – und damit
Bewusstsein entstehen kann –, muss der cortico-thalami-
sche Komplex von Neurotransmittern durchflutet werden,
chemischen Verbindungen, die von den langen und gewun-
denen Tentakeln von Neuronen in den tieferen und älteren
Teilen des Gehirns freigesetzt werden. Lokale wie globale
Aspekte sind also gleichermaßen essenziell für Bewusstsein.
Aber genug der Neuroanatomie und Neurochemie.
Wenden wir uns nun dem Unbewussten zu.
Kapitel 6
In welchem ich zwei Postulate verteidige, die
mein jüngeres Ich unsinnig fand: Wir sind uns
der meisten Dinge, die in unserem Kopf vor-
gehen, nicht bewusst, und Zombies steuern
in weiten Teilen unser Leben, auch wenn wir
der festen Überzeugung sind, darüber selbst
zu bestimmen

Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöch-
te er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt in einen
erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt ihm die
Natur nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper, um
ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen
Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen,
in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und ein-
zuschließen! Sie warf den Schlüssel weg.
– Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und
Lüge im außermoralischen Sinn (1873)

Erst als erwachsener Mann wurde ich sterblich. Diese intuiti-


ve Erkenntnis überfiel mich plötzlich vor mehr als einem Dut-
zend Jahren. Ich hatte einen ganzen Abend ­damit ­zugebracht,
einen süchtig machenden Ego-Shooter zu ­spielen, der mei-
nem Teenager-Sohn gehörte – das hieß, durch unheimliche,
leere Hallen, überflutete Gänge, albtraumhaft gewundene

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_6,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
132
132 Book Title
  Bewusstsein

Tunnel und verlassene Plätze unter einer fremden Sonne zu


rennen und meine Waffen auf ­Horden von Aliens zu lee-
ren, die mich unablässig verfolgten. Ich ging spät zu Bett
und schlief wie immer sofort ein. Ein paar Stunden später
wachte ich abrupt auf. Draußen war es noch dunkel. Aus
dem Wissen war Gewissheit geworden – ich würde sterben!
Nicht gleich hier und jetzt, aber irgendwann.
Ich hatte keine Vorahnung von drohenden Unfällen,
Krebs oder dergleichen – nur diese plötzlich, tief empfun-
dene Einsicht, dass mein Leben enden würde. Der Tod
hatte uns mehr als ein Jahrzehnt zuvor bereits einen unan-
gekündigten Besuch abgestattet, als wir Elisabeth, die Zwil-
lingsschwester unserer Tochter Gabriele, mit acht Wochen
durch plötzlichen Kindstod verloren. Kinder sollten nicht
vor ihren Eltern sterben; so etwas verletzt die natürliche
Ordnung der Dinge tiefgreifend. Diese schreckliche Erfah-
rung verdunkelte alles, was danach kam, doch sonderbarer-
weise hatte sie mein Gefühl für meine eigene Sterblichkeit
nicht berührt. Aber diese nächtliche Erkenntnis war anders.
Ich verstand jetzt, verstand ganz tief in meinem Inneren,
dass auch ich sterben würde. Die Gewissheit des Todes be-
gleitet mich seitdem, was mich lebensklüger, aber nicht
glücklicher macht.
Ich deute dieses seltsame Ereignis so, dass all das Töten
in dem Videospiel unbewusste Gedanken über die Vernich-
tung des Selbst auslöste. Diese Prozesse riefen solche Angst-
gefühle hervor, dass mein cortico-thalamischer Komplex
von sich aus, ohne externen Trigger, aufwachte. An diesem
Punkt setzte das Selbstbewusstsein ein und wurde mit seiner
Sterblichkeit konfrontiert. Diese singuläre, aber universelle
6  Das Unbewusste   1133
33

Erfahrung machte mir lebhaft deutlich, dass mir viel von


dem, was in meinem Kopf vor sicht geht, nicht zugänglich
ist. Irgendwo in meinem Gehirn wird mein Körper über-
wacht, Liebe, Freude und Furcht werden geboren, Gedan-
ken kommen auf, werden gewälzt und beiseite geschoben,
Pläne werden geschmiedet und Erinnerungen gespeichert.
Das bewusste Ich, Christof, ist blind für all diese hektische
Aktivität.
Die Unterdrückung des Wissens um den sicheren Unter-
gang, der uns alle erwartet, muss einer der Hauptfaktoren
in der Evolution dessen gewesen sein, was Freud als Ver-
teidigungsmechanismen bezeichnet (sind wir die einzigen
Tiere, die über so etwas verfügen? Kann ein Schimpanse
Gedanken unterdrücken oder verdrängen?). Dabei handelt
es sich um Prozesse, durch die das Gehirn negative Gefüh-
le, Angst, Schuld, unerwünschte Gedanken und so weiter
aus dem Bewusstsein verbannt. Ohne solche reinigenden
Mechanismen hätten sich Frühmenschen vielleicht zu sehr
auf ihr ultimatives Schicksal konzentriert, um ihre Nische
erfolgreich zu verteidigen. Vielleicht erwächst klinische
Depression aus dem Verlust solcher Verteidigungsmecha-
nismen.
Mit dem richtigen Auslöser kann sich das Unbewusste
jedoch dramatisch zu Wort melden. Immer wenn ich in
Boston bin, versuche ich, Elisabeths Grab zu besuchen.
Einige Jahre nach meiner nächtlichen Offenbarung pilger-
te ich wieder einmal zum St. Joseph Cemetery. Als ich im
Nieselregen ganz allein Reihe um Reihe an den Grabsteinen
vorbeiging, bemerkte ich aus der Ferne etwas Seltsames auf
ihrem Grabstein. Näher gekommen, erkannte ich zu mei-
134
134 Book Title
  Bewusstsein

ner Bestürzung oben auf dem Granitblock, der Elisabeths


Namen trug, einen kleinen Terracotta-Engel mit abgebro-
chenen Flügeln. Dieses hilflose Figürchen dort, wo meine
Tochter begraben lag, rief in mir augenblicklich ein fast un-
erträgliches Gefühl von Trauer und Verlust hervor. Ich sank
ins regennasse Gras nieder und weinte. Ich rief meine Frau
an, und sie beruhigte mich aus der Ferne, doch ich blieb
aufgewühlt für den Rest des Tages. Ich habe nie heraus-
gefunden, wie die verstümmelte Figur dorthin gelangt ist.
Was ich an diesem Tag lernte, ist, dass ein Symbol im rich-
tigen Kontext abrupt seit langem schlafende Erinnerungen
und Emotionen aufwecken kann.
Während meiner Studentenzeit unterzogen sich zwei
enge Freunde einer Primärtherapie, eine Form der Psycho-
therapie, die von dem Beatle John Lennon populär gemacht
wurde. Mit dem mir eigenen Feingefühl machte ich mich
weidlich über ihre Behauptung lustig, unterdrückte Erinne-
rungen und instinktive Wünsche und Bedürfnisse könnten
sie in einer Weise beeinflussen, die sich ihnen entziehe. Ich
beharrte vehement darauf, vollständig Herr der Dinge zu
sein, die in meinem Kopf abliefen, besten Dank. Und ich
wies jeden Gedanken weit von mir, das Freudsche Unterbe-
wusste oder traumatische Erinnerungen, die ich nicht ein-
mal kannte, einschließlich des Geburtsschmerzes – ja, das
ist fester Bestandteil der Primärtherapie (es wird Sie nicht
überraschen, dass sie in Südkalifornien entwickelt wurde) –
könne mein Verhalten beeinflussen.
Drei Jahrzehnte später bin ich vorsichtiger geworden. Ich
verstehe nun, dass die Handlungen eines souveränen „Ichs“
von Gewohnheiten, Instinkten und Impulsen bestimmt
werden, die sich der bewussten Prüfung weitgehend ent-
6  Das Unbewusste   1135
35

ziehen. Die Art und Weise, wie mein Nervensystem meinen


Körper mühelos durch eine belebte Einkaufsstraße voller
dahineilender Fußgänger lenkt, wie es die Schallmuster
entschlüsselt, die auf meine Ohren treffen, und sie in eine
Frage umwandeln, die jemand stellt, wie meine unzusam-
menhängenden Gedanken als einigermaßen vernünftige
Sätze aus meinem Kehlkopf und Mund kommen, warum
ich dieses schreiend violette oder purpurrote Hemd einfach
kaufen muss – all das liegt jenseits des Horizonts meines
bewussten Selbst. Dieser Mangel an Bewusstsein reicht bis
in die höchsten Regionen des Geistes.
Wenn Sie emotional aufwühlende Zeiten durchgemacht
haben, dann ist Ihnen das Wechselbad aus Groll und Wut,
Angst und Verzweiflung, aus Hoffnung, Trauer und Lei-
denschaft vertraut, das Ihr täglicher Begleiter ist. Biswei-
len gefährdet dieser emotionale Strudel der Emotionen die
geistige Gesundheit. Die zugrunde liegenden Motive auf-
zudecken, sie bewusst und dadurch vielleicht verständlich
zu machen, ist sehr schwierig. Psychoanalyse und andere
schlussfolgernde Methoden haben ihre Mängel; sie schaffen
eine neue Fiktion, eine andere Geschichte, die auf intuiti-
ven, küchenpsychologischen Vorstellungen darüber beruht,
warum Menschen tun, was sie tun. Die Redekur wird unter
Umständen niemals herausfinden, warum eine Beziehung
zerbrochen ist: Die Gründe bleiben in den dunkelsten Ver-
liesen des Gehirns verborgen, dort, wohin das Bewusstsein
niemals sein neugieriges Licht wirft.
Nichts davon ist neu. Das Submentale, das Nicht-Be-
wusste oder Unbewusste – als was ich jede Verarbeitung be-
zeichne, die nicht direkt in einer Erfahrung mündet – ist
seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Thema von
136
136 Book Title
  Bewusstsein

wissenschaftlichem Interesse. Friedrich Nietzsche war der


erste bedeutende westliche Denker, der die dunkleren Ni-
schen des unbewussten menschlichen Wunsches erkundete,
andere zu dominieren und Macht über sie zu gewinnen, oft
im Gewand der Anteilnahme. Im Sinne der medizinisch-li-
terarischen Tradition argumentierte Freud, dass Kindheits-
erinnerungen, vor allem solche sexueller oder traumatischer
Natur, das Verhalten von Erwachsenen stark beeinflussen,
ohne dass dieser Einfluss wahrgenommen wird. Diese Freu-
dianischen Konzepte sind in den Sprachgebrauch eingegan-
gen und werden erst allmählich durch stärker auf das Ge-
hirn konzentrierte Konzepte ersetzt.
Lassen Sie mich aus dem Anekdotischen, Biographischen
in das objektivere Reich der Naturwissenschaften wechseln.
Ich werde keine Fallstudien neurotischer Oberklassepatienten
diskutieren, die auf der Couch liegen und zum Stundenpreis
von 200 Dollar ohne Pause über sich selber reden. Vielmehr
möchte ich über Experimente mit College-Studenten reden,
die für ihre Teilnahme 15 Dollar pro Stunde erhielten. Die
eindeutige Schlussfolgerung aus solchen Studien ist demü-
tigend: Unsere Handlungen werden tiefgreifend von unbe-
wussten Prozessen geformt, auf die wir keinen Zugriff haben.

Zombies im Gehirn
Neurologische und psychologische Detektivarbeit hat eine
ganze Menagerie von sensomotorischen Prozessen zuta-
ge gefördert. Angekoppelt an Sensoren – Augen, Ohren,
Gleichgewichtsorgan – kontrollieren diese Servomotoren
Augen, Hals, Rumpf, Arme, Hände, Finger, Beine und
6  Das Unbewusste   1137
37

Füße und sind zuständig für Rasieren, Duschen und An-


ziehen am Morgen, die Fahrt zur Arbeit, das Tippen auf der
Computertastatur und das Versenden von SMS auf dem
Handy, Basketball-Spielen, Tassenspülen am Abend und
so weiter und so weiter. Wie in Kapitel 3 bereits erwähnt,
haben Francis Crick und ich diese unbewussten Mechanis-
men als Zombies bezeichnet. Gemeinsam sorgt diese Zom-
biearmee für das flüssige und rasche Zusammenspiel von
Muskeln und Nerven, das im Mittelpunkt sämtlicher Fer-
tigkeiten steht und ein gelebtes Leben ausmacht.
Zombiesysteme ähneln Reflexen – Blinzeln, Husten,
die Hand ruckartig von einem heißen Ofen wegziehen
oder Erschrecken bei einem plötzlichen lauten Geräusch.
­Klassische  Reflexe sind automatisch, schnell und basie-
ren auf Schaltkreisen im Rückenmark oder im Hirn-
stamm. Zombieverhalten kann man sich als flexiblere und
­adaptivere Reflexe vorstellen, an denen das Vorderhirn be-
teiligt ist.
Zombies führen Routinehandlungen unterhalb des Radars
des Bewusstseins aus. Man kann sich des Agierens eines Zom-
bies bewusst werden, aber erst im Nachhinein. Ich war vor
kurzem auf einem Geländelauf, als mich etwas nach unten
blicken ließ. Mein rechtes Bein machte sofort einen größeren
Schritt, denn mein Gehirn hatte eine Klapperschlange ent-
deckt, die sich dort auf dem steinigen Pfad sonnte, wo ich
gerade meinen Fuß hinsetzen wollte. Bevor ich die Schlange
bewusst wahrgenommen hatte – und bevor sie ihr warnendes
Klappern von sich geben konnte –, hatte ich einen Zusam-
menstoß vermieden und war vorbeigelaufen. Hätte ich des
bewussten Gefühls der Furcht bedurft, um meine Beine zu
lenken, wäre ich sicherlich auf die Schlange getreten.
138
138 Book Title
  Bewusstsein

Marc Jeannerod vom Institut des Sciences Cognitives


in Bron, Frankreich, war ein Experte auf dem Gebiet der
Neuropsychologie des Handelns. Seine Experimente ( ohne
Schlangen) erbrachten, dass Handeln tatsächlich schneller
sein kann als Denken, wobei der Beginn der korrigierenden
motorischen Handlung der bewussten Wahrnehmung um
rund eine Viertelsekunde vorauseilt. Um dies in die richti-
ge Perspektive zu setzen, stellen Sie sich einen Weltklasse-
Sprinter vor, der in zehn Sekunden 100 Meter zurücklegt.
Angenommen, dieselbe Verzögerung gilt hier, hat sich der
Läufer bereits mehrere Schritte vom Startblock entfernt,
bevor er den Pistolenschuss bewusst hört.
Unbewusste Agenzien entstehen durch Training. Wie-
derholt man dieselbe Bewegungsfolge wieder und wieder,
verstärkt dies die einzelnen Komponenten, bis sie glatt und
automatisch ineinander greifen. Je mehr man trainiert, des-
to müheloser und synchronisierter wird der Bewegungsab-
lauf. Training verschafft Sportlern und Soldaten den Sekun-
denbruchteil-Vorteil, der den Unterschied zwischen Sieg
und Niederlage – zwischen Leben und Tod – ausmachen
kann.
Nehmen wir beispielsweise Sakkaden, jene raschen Au-
genbewegungen, mit denen wir ständig unsere Umgebung
abtasten. Wir bewegen unsere Augen viermal pro Sekun-
de hierhin und dorthin, 100.000-mal am Tag – ungefähr
so oft, wie unser Herz schlägt –, doch wir sind uns dessen
selten, wenn überhaupt, bewusst. Wir können unsere Au-
gen bewusst kontrollieren, zum Beispiel, wenn wir unseren
Blick von der hässlichen, gespaltenen Lippe des Typs neben
uns abwenden oder Augenkontakt mit einem Bettler ver-
meiden, doch das sind Ausnahmen.
6  Das Unbewusste   1139
39

Der Psychologe Bruce Bridgman von der University of


California in Santa Cruz und andere haben demonstriert,
dass unsere Augen Details sehen, derer sich unser Geist
nicht bewusst ist. Bei einem Experiment saß eine Freiwil-
lige im Dunkeln und fixierte eine einzelne, Licht emittie-
rende Diode. Als das Licht aus- und an einer peripheren
Stelle des Gesichtsfelds wieder angeschaltet wurde, richtete
die Freiwillige ihren Blick rasch auf die neue Stelle. Ge-
legentlich griff der Experimentator jedoch zu einem Trick
und bewegte das Licht ein zweites Mal, während die Augen
der Probandin bereits „unterwegs“ waren und die Sakkade
ausführten. Ihre Augen zögerten nicht und landeten genau
auf der neuen Position des Lichts, obwohl es sich verscho-
ben hatte. Die Probandin selbst war sich der zweiten Ver-
schiebung der Lichtposition nicht bewusst, weil das Sehen
während einer Sakkade teilweise abgeschaltet ist. (Aus die-
sem Grund können Sie nicht sehen, wie sich Ihre Augen
bewegen: Versuchen Sie einmal, in einen Badezimmerspie-
gel zu schauen, während sich Ihre Augen hin- und herbe-
wegen). Wenn das Licht ein wenig nach innen oder außen
bewegt wurde, konnte die Probandin nicht einmal sagen, in
welcher Richtung sich das Licht verschoben hatte, obgleich
ihre Augen stets genau auf dem Ziel landeten.
Das sakkadische System ist außerordentlich empfindlich
dafür, wohin die Augen zu richten sind. Angesichts seines
hohen Spezialisierungsgrads gibt es kaum einen Grund,
an diesen stereotypen Aktionen Bewusstsein zu beteiligen.
Wenn wir uns jeder Augenbewegung bewusst sein und sie
planen müssten, kämen wir kaum noch zu etwas ande-
rem. Stellen Sie sich vor, einem Gedankengang zu folgen,
wenn Sie ständig denken müssten: „Nun die Augen nach
140
140 Book Title
  Bewusstsein

links, nun nach unten, nun nach da hinten, dann wieder


hinunter!“, um das Dutzend Augenmuskeln richtig zu pro-
grammieren. Warum das Erleben mit Banalitäten vollstop-
fen, wenn man sie an Spezialisten delegieren kann?
Zombies agieren im Hier und Jetzt. Sie können nicht
für die Zukunft planen. Wenn Sie die Hand ausstrecken,
um eine heiße Tasse Tee zu ergreifen, mit Ihrem Fahrrad
einem Auto ausweichen, das plötzlich die Spur wechselt,
beim Tennis einen Volley retournieren oder rasch auf einer
Tastatur tippen, müssen Sie jetzt und nicht in ein paar Se-
kunden handeln.
Eine neue Fertigkeit wie Segeln oder Bergsteigen zu er-
lernen, verlangt viel körperliche und geistige Disziplin.
Beim Felsklettern lernt man, wo man seine Hände, Füße
und seinen Körper platzieren muss, um einen Fuß direkt
auf den Fels aufzusetzen ( to smear), zu stemmen ( to stem),
den Körper durch ziehende Arme und drückende Füße zu
unterstützen ( to lay/lie back), einen einzelnen Griff in einem
Spalt mit genug Kraft zu halten, dass die andere Hand nach
einem neuen Griff suchen kann ( to lock off ). Man achtet auf
die Vorsprünge und Vertiefungen, die eine senkrechte Gra-
nitklippe in eine erklimmbare Wand mit Haltegriffen ver-
wandeln. Eine Abfolge von bestimmten sensomotorischen
Routinen muss aneinandergereiht, zusammengefügt und
in ein raffiniertes motorisches Programm übersetzt werden.
Erst nach vielen hundert Stunden intensiven Trainings wird
die Ausführung automatisch und wandelt sich in etwas um,
dass man umgangssprachlich als Muskelgedächtnis bezeich-
net. Ständiges Wiederholen schafft eine Armee von Zom-
bies, die die trainierte Fertigkeit mühelos und die Körper-
bewegungen rasch macht. Man verschwendet keinen Ge-
6  Das Unbewusste   1141
41

danken mehr auf die Details der Bewegungsabfolge, auch


wenn sie eine präzise und blitzschnelle Koordination sowie
ein einzigartiges Zusammenspiel von Muskeln und Nerven
verlangt.
Dieser Übergang von einer Aufmerksamkeit verlangen-
den und das Bewusstsein beanspruchenden zu einer auto-
matischen, unbewussten Handlung wird durch eine Verla-
gerung neuronaler Ressourcen vom präfrontalen Cortex zu
den Basalganglien und dem Cerebellum erreicht.
Sobald dieses Lernen stattgefunden hat, kann das Achten
auf Details paradoxerweise den flüssigen Ablauf der erlern-
ten Bewegung beeinträchtigen. Sich auf irgendeinen Aspekt
einer stark trainierten Fertigkeit zu konzentrieren, etwa den
exakten Moment, an dem die Innenseite des rechten Fußes
beim Dribbeln den Fußball berührt, verlangsamt die Bewe-
gungsfolge oder lässt sie fehleranfälliger werden. Wenn man
ein gut eingeübtes Musikstück vorträgt, das man eine Weile
nicht mehr gespielt hat, ist es am besten, den Fingern „freien
Lauf“ zu lassen. Sich der Flüssigkeit der eigenen Bewegun-
gen bewusst zu werden oder über die individuellen Motive
und Sequenzen der Noten nachzudenken, kann einen vom
Weg abbringen. Beglückwünschen Sie Ihren Tennisgegner
zu seiner optimalen Rückhand, und das nächste Mal, wenn
er den Ball zurückschlägt, wird er sich auf seine „perfekte“
Haltung konzentrieren und den Ball ins Aus schlagen.
Die Psychologen Gordon Logan und Matthew Crumb
von der Vanderbilt University haben dieses Paradox beim
Tippen nachgewiesen, einer wichtigen Fertigkeit in unseren
Tagen. Die Versuchsteilnehmer sollten mit ihrer üblichen
Schreibgeschwindigkeit Wörter tippen, die auf dem Bild-
schirm erschienen, und das unter drei verschiedenen Bedin-
142
142 Book Title
  Bewusstsein

gungen: Um eine Grundlinie zu etablieren, tippten sie die


Wörter normal, mit beiden Händen. Bei „linken“ Versuchs-
durchgängen mussten sie auf ihre rechte Hand verzichten
und nur Buchstaben tippen, die auf der Tastatur traditio-
nellerweise der linken Hand zugeordnet werden. Bei „rech-
ten“ Versuchsdurchgängen durfte nur die rechte Hand ihre
Buchstaben tippen. Erschien beispielsweise bei einem lin-
ken Versuchsdurchgang das Wort „army“ auf dem Schirm,
mussten die Probanden „a“ und „r“ tippen, aber nicht „m“
oder „y“, die auf der englischen Tastatur der rechten Hand
zugeordnet sind. Diese automatischen manuellen Reaktio-
nen zu unterdrücken, war schwierig und senkte die Tipp-
geschwindigkeit der Probanden deutlich, obwohl nur die
Hälfte der Buchstaben getippt werden musste. Wenn die
verbotenen Buchstaben jedoch grün und die erlaubten
Buchstaben rot umrandet waren, konnten die Probanden
ihre rechte oder linke Hand leicht und beizeiten vom Tip-
pen abhalten.
Welche Hand welchen Buchstaben tippt, ist ein Detail,
das an niedriger angesiedelte motorische Routinen ab-
geschoben wird. Sich dieses Wissens bewusst zu werden,
um Handlungen zu unterdrücken, verlangt Anstrengung.
Wenn der Input, den der tippende Zombie liest, jedoch
bereits mit „Nicht tippen!“ gekennzeichnet ist, muss diese
Information nicht hervorgekramt werden, und die Hand
kann rechtzeitig gestoppt werden, damit die Tippgeschwin-
digkeit insgesamt nicht sinkt. Um solche Leistungseinbußen
unter Druck zu vermeiden, empfehlen Trainer und Trai-
ningshandbücher, den Geist von allem zu leeren. Das be-
freit den inneren Zombie und ist von beträchtlichem Vor-
teil.
6  Das Unbewusste   1143
43

Derselbe Gedanke kommt in dem Buch Zen oder die


Kunst des Bogenschießens zum Ausdruck, einem Kleinod der
kontemplativen Literatur. Gegen Ende des Buches schreibt
der Autor, Eugen Herrigel, über den Schwertkampf:

Der Lehrling muss also gleichsam einen neuen Sinn oder,


richtiger gesagt, eine neue Wachheit aller seiner Sinne erlan-
gen, die ihn dazu befähigt, drohenden Hieben zu entgehen,
als habe er sie vorausgefühlt. Beherrscht er diese Kunst des
Ausweichens, dann hat er nicht mehr nötig, mit ungeteil-
ter Aufmerksamkeit die Bewegungen seines Gegners oder
gar mehrerer Gegner zugleich im Auge zu behalten. In dem
Augenblick vielmehr, in dem er sieht und vorausfühlt, was
zu geschehen anhebt, hat er sich schon instinktiv der Aus-
wirkung dieses Geschehens entzogen, ohne dass zwischen
Wahrnehmen und Ausweichen „ein Haarbreit dazwischen“
wäre. Darauf also kommt es an: auf dieses unvermittelt blitz-
schnelle Reagieren, das bewusster Beobachtung gar nicht
mehr bedarf. Und so hat sich der Lehrling, in dieser Hin-
sicht wenigstens, von allem bewussten Absehen unabhängig
gemacht. Und viel ist damit schon gewonnen.

Die Neuropsychologen Melvyn Goodale und David Mil-


ner untersuchten eine Patientin, die bei einem beinahe
tödlichen Unfall mit Kohlenmonoxid einen Großteil ihres
Sehvermögens verloren hatte. Sie leidet seitdem an visuel-
ler Agnosie, das heißt, sie kann weder Objekte noch deren
Form oder Orientierung erkennen (wohl aber Farben und
Texturen). Der Unfall führte zu einem Sauerstoffmangel in
Teilen ihres visuellen Gehirns und ließ die Neuronen dort
absterben. Infolgedessen kann sie eine waagerechte Linie –
wie einen Briefkastenschlitz – nicht von einer senkrechten
unterscheiden. Beide sehen für sie gleich aus. Wenn sie je-
144
144 Book Title
  Bewusstsein

doch die Hand ausstreckt und einen Brief in den Schlitz


wirft, tut sie dies ohne Zögern – ganz gleich, ob der Schlitz
waagerecht, senkrecht oder schräg orientiert ist. Obgleich
sie sich der Orientierung des Schlitzes nicht bewusst ist,
hat ihr visuomotorisches System Zugang zu dieser Infor-
mation und leitet ihre Hand ohne Fummeln und Tasten
direkt zum Schlitz. Wenn die Frau ein vor ihr platziertes
Objekt ergreift, tut sie dies ebenfalls mit beträchtlicher Prä-
zision und Zuversicht, auch wenn sie nicht sagen kann, ob
sie eine dünne Sektflöte oder einen großen Becher hält. Sie
hat den Teil ihres visuellen Cortex verloren, der für die Ob-
jekterkennung verantwortlich ist, doch die Regionen, die
retinalen Input verwenden, um ihre Hand und ihre Finger
auszurichten und zu steuern, sind intakt geblieben.
Frühere klinische Studien, die von Experimenten an
Affen gestützt wurden, haben zu der Vorstellung von zwei
eigenständigen visuellen Verarbeitungsströmen geführt.
Beide entspringen im primären visuellen Cortex, teilen sich
dann und innervieren verschiedene corticale Regionen, die
höheren visuellen und kognitiven Funktionen gewidmet
sind. Ein Strom fließt durch V2 und V3 in den inferotem-
poralen Cortex und den Gyrus fusiformis. Das ist die ven-
trale, perzeptuelle oder Was-Bahn. Die andere, die dorsale,
Handlungs- oder Wo-Bahn, beliefert die visuomotorischen
Regionen im posterioparietalen Cortex mit Daten. Auf-
grund einer sorgfältigen Analyse der visuomotorischen Fä-
higkeiten und Defizite ihrer einzigartigen Patientin kamen
Milner und Goodale zu dem Schluss, dass ihre Was-Bahn,
die eine bewusste Objekterkennung vermittelt, durch ihren
Beinahe-Erstickungstod zerstört worden war, während ihre
Wo-Bahn, die ihre Hand und ihre Finger leitete, weitge-
6  Das Unbewusste   1145
45

hend intakt geblieben war. Deren Aufgabe besteht nicht in


endlosem Grübeln, das Privileg gewisser präfrontaler Struk-
turen, sondern in direktem Handeln. Ein gut funktionie-
rendes Gehirn integriert beide Bahnen straff, mit vielen
Querverbindungen; der Eigner des Gehirns bemerkt nicht
einmal, dass das nahtlose Zusammenspiel, das er erlebt, aus
zwei oder mehr Informationsströmen erwächst.

Das soziale Unbewusste


Wir sind ausgesprochen soziale Tiere. Die Beliebtheit von
Celebrity-Shows, Klatsch-und-Tratsch-Sendungen sowie
Websites mit den neuesten Berichten und Gerüchten über
Partys, Affären, Verschwörungstheorien, uneheliche Kinder
und so weiter ist nur ein Ausdruck für das Interesse, das
Menschen für das Tun ihrer Artgenossen hegen. Wenn Sie
glauben, die Menschheit sei geistig anspruchsvoll, werfen
Sie nur einen Blick in Googles Zeitgeist-Archive, und schau-
en Sie sich die zehn häufigsten Suchbegriffe an. Filme und
Popstars, Spitzensportler und aktuelle politische Ereignis-
se sind die Dauerbrenner; einen Wissenschaftler oder eine
wissenschaftliche Entdeckung finden Sie nicht darunter
(auch dann nicht, wenn die beliebtesten Suchbegriffe, die
sich um Sex drehen, bereits aussortiert sind).
Niemand ist eine Insel. Selbst der Einsiedler definiert
sich durch seine Beziehung zu anderen, wenn nicht im rea-
len Leben, dann durch Bücher, Filme oder Fernsehen.
Möglicherweise sind Sie ebenso fest davon überzeugt,
dass Ihre bewussten Absichten und Ihre willentlichen Ent-
scheidungen Ihre Beziehungen zu Familienmitgliedern,
146
146 Book Title
  Bewusstsein

Freunden und Fremden bestimmen, wie ich es als junger


Mann war. Jahrzehnte sozialpsychologischer Forschung ha-
ben uns jedoch eines Besseren belehrt. Unsere Wechselbe-
ziehungen werden weitgehend von Kräften bestimmt, die
außerhalb unserer Kenntnis liegen, von unbewussten Wün-
schen, Motiven und Ängsten.
William James, der Vater der amerikanischen Psycholo-
gie (und Bruder des Romanciers Henry James), vertrat die
Ansicht, der Akt, über ein Verhalten nachzudenken oder es
zu beobachten, lasse die Neigung wachsen, dieses Verhalten
tatsächlich auszuführen. Das Prinzip der ideomotorischen
Handlung ist eine natürliche Konsequenz der teilweisen
Überlappung der Repräsentationen von Wahrnehmung
und Handeln im cerebralen Cortex. Die Entdeckung der
so genannten Spiegelneurone im Gehirn von Tieraffen be-
stätigt die Vorstellung, dass die Wahrnehmung einer Hand-
lung eng mit der Ausführung dieser Handlung verknüpft
ist.
Wenn Sie jemandem beim Essen zuschauen, so werden
die Regionen in Ihrem Gehirn – obgleich nur schwach –
aktiviert, die auch dann feuern, wenn Sie selbst essen.
Wenn Sie miterleben, wie sich jemand blamiert, ist Ihnen
dies unangenehm, weil Sie sich auch ein wenig schämen.
Wenn jemand Sie anlächelt, fühlen Sie sich gleich ein biss-
chen besser. Wenn Sie einer Person gegenüber positiv ge-
sonnen sind, imitieren Sie deren Handlungen und Worte.
Achten Sie einmal darauf, wenn Sie das nächste Mal mit
einer Freundin im Café sitzen. Sie beide stützen sich viel-
leicht mit demselben Ellbogen auf den Tisch und neigen
den Kopf in derselben Weise. Wenn Sie flüstern, flüstert
Ihre Freundin ebenfalls. Wenn sie sich am Kopf kratzt, tun
6  Das Unbewusste   1147
47

Sie’s ebenfalls. Wenn Sie gähnen, gähnt sie auch. Eine der-
artige Reziprozität der Handlungen hilft auch, sich bei je-
mandem einzuschmeicheln.
Eine unerschöpfliche Vielfalt von Faktoren beeinflusst
unser alltägliches Zusammentreffen mit anderen Menschen.
Deren Alter, Geschlecht, Ethnie, Kleidung, Auftreten und
Mimik prägen sich uns ein und entscheiden darüber, wie
wir uns ihnen nähern, mit ihnen reden und sie beurteilen.
Und all dies entgeht einer bewussten Prüfung; daher die
Bedeutung des „ersten Eindrucks“.
Manche Menschen vertreten ganz offen starke, meist
negative Meinungen über bestimmte Gruppen: „Liberale
hassen unser Land“, „Christen sind wissenschaftsfeind-
liche Fanatiker“, „Schwarze Männer sind aggressiv“, „Alte
Leute sind langweilig“ und so weiter. Solche intoleranten
Menschen treffen Entscheidungen, die auf ihren Vorurtei-
len basieren. Aber selbst, wenn man sich sehr bemüht, Kli-
schees zu vermeiden, hat man unbewusste Vorurteile und
Vorlieben. Jeder ist ein Kind seiner Kultur und Erziehung,
dem kann man sich nicht entziehen; man übernimmt
implizit Urteile aus Märchen und Mythen, aus Büchern,
Filmen und Spielen, von Eltern, Spielkameraden, Lehrern
und Zeitgenossen. Wenn Sie mir nicht glauben, machen
Sie einem Impliziten Assoziationstest (ich empfehle die Har-
vard-Version, die Sie online finden können), bei dem Sie
so rasch wie möglich ein Bündel Fragen beantworten sol-
len. Der Test misst in indirekter Weise, die resistent gegen
Manipulation oder Lügen ist, das Ausmaß Ihres positiven
oder negativen Vorurteils gegenüber einer bestimmten Re-
ligion, Geschlecht, sexuellen Orientierung oder ethnischen
Gruppe.
148
148 Book Title
  Bewusstsein

Unbewusste Vorurteile können schädlicher sein als be-


wusste, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens sind unbewusste Einstellungen weit verbreitet
und automatisch und werden in Gegenwart ihres Auslösers
aktiviert. Sie können sehr mächtig sein und von ganzen Ge-
meinschaften geteilt werden.
Denken Sie an den Überraschungsangriff der Kaiserlich
Japanischen Marineluftstreitkräfte auf die amerikanische
Pazifikflotte am 7. Dezember 1941 oder von al-Qaida auf
das World Trade Center und das Pentagon am 11. Septem-
ber 2001. Beide waren das Resultat kolossaler Schnitzer gro-
ßer Abwehrorganisationen, deren Aufgabe es war, das Land
vor solchen Katastrophen zu bewahren. Wissenschaftliche
und journalistische Detektivarbeit enthüllte eine Fülle von
Informationen, die bereits Tage, Wochen und Monate zu-
vor auf die drohenden Attacken hinwiesen. Im Fall des 11.
September hatten Geheimdienstmitarbeiter die Regierung
rund 40-mal vor der Bedrohung gewarnt, die Osama bin
Laden darstellte, jedoch immer vergeblich.
Warum? Zahllose Regierungsausschüsse und Bücher ka-
men zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Auf vielen Ebenen
herrschte Inkompetenz. Aber viel heimtückischer, viel wei-
ter verbreitet als individuelles Versagen waren die offene und
versteckte rassistische Arroganz und das kulturelle Überle-
genheitsgefühl von Leuten, die das Sagen hatten. Admiral
Husband Kimmel, der für die Pazifikflotte verantwortliche
Offizier, machte dies in einem unbedachten Moment wäh-
rend einer der vielen Untersuchungsausschusssitzungen
des Kongresses nur allzu deutlich: „Ich hätte nie gedacht,
dass diese kleinen gelben Hurensöhne so weit von Japan
entfernt einen Angriff zustande bringen könnten.“ Mehr
6  Das Unbewusste   1149
49

als 50 Jahre später betrachtete der stellvertretende Vertei-


digungsminister Paul Wolfowitz seine Gegner ähnlich ab-
schätzig und tat bin Laden als „diesen kleinen Terroristen
in Afghanistan“ ab. Weit verbreitete Klischees machten die
Menschen an den Schalthebeln der Macht blind: Wie kön-
nen ungebildete Leute, die in Höhlen hausen und sich Hand-
tücher um den Kopf wickeln, uns, die mächtigste Nation der
Welt, bedrohen? Die Ereignisse, die 2008 zum finanziellen
Ruin der Bank Lehman Brothers und damit fast zum Zu-
sammenbruch der Märkte führte, sind ein weiteres Beispiel
für ein solch pathologisches Denken. Hier war es die weit
verbreitete Überzeugung, das Investitionsrisiko sei unter
Kontrolle und könne mit geeigneten finanziellen Instru-
menten im Zaum gehalten werden, die zu einer weltweiten
Rezession führte.
Unbewusste Einstellungen können aus politischen oder
ökonomischen Gründen bewusst hervorgerufen und ma-
nipuliert werden. So sind die Nichtigkeiten und Dumm-
heiten, die die „Nachrichten“ schon Monate vor einer
wichtigen Wahl in mediengesättigten Demokratien über-
schwemmen, außerordentlich nervtötend, doch sie tun ihre
Wirkung. Wir sind überall so sehr von den Produkten der
Werbeindustrie umgeben, dass wir sie schon gar nicht mehr
wahrnehmen. Es gibt jedoch einen Grund dafür, dass die
Industrie 2010 schätzungsweise eine habe Billion Dollar
ausgegeben hat, um die Kaufentscheidungen von Konsu-
menten zu beeinflussen: Es funktioniert!
Zweitens gilt: Während Gesetze und an das öffentliche
Bewusstsein appellierende Kampagnen offene Diskriminie-
rung ausmerzen können, lassen sich unbewusste Vorurtei-
le viel schwerer bekämpfen. Wie kann man etwas ändern,
150
150 Book Title
  Bewusstsein

wenn man nicht einmal weiß, dass es da etwas gibt, das


man ändern müsste?
Wenn Sie nicht überzeugt sind, nehmen Sie die Expe-
rimente von John Bargh an der Yale University, die die
Stärke von sozialem Priming demonstrieren. Beim Priming
(Bahnung) beeinflussen Bilder, Laute oder Wörter die Ver-
arbeitung darauffolgender Reize. Ich werde Ihnen diesen
Effekt demonstrieren, wenn Sie mitmachen und die Farbe
von Objekten angeben, die ich Ihnen nenne. Versuchen Sie
es, indem Sie die Farbe laut nennen, und Sie werden über-
rascht sein. Los geht’s:
Welche Farbe hat leeres Papier? Welche Farbe hat ein
Hochzeitskleid? Welche Farbe hat Schnee? Welche Farbe
hat eine Eierschale?
Nun, ohne weiter darüber nachzudenken, beantworten
Sie die Frage: „Was trinken Kühe zum Frühstück?“
Wenn Sie wie die meisten Menschen reagieren, denken
oder sagen Sie: „Milch!“ Erst nach einer Weile realisieren
Sie, dass das völliger Unsinn ist. Der wiederholte Abruf von
„weiß“ löste neuronale oder – wahrscheinlich noch wich-
tiger – synaptische Aktivität aus, die mit anderen weißen
Dingen verknüpft ist; er bereitet sie sozusagen vor ( to pri-
me). Wenn Sie dann aufgefordert werden, eine Flüssigkeit
zu nennen, die Kühe und Frühstück verbindet, kommt Ih-
nen automatisch „Milch“ in den Sinn.
Bargh wollte College-Studenten auf die Konzepte „un-
höflich“ und „höflich“ primen. Dazu forderte er sie auf, aus
einer Wortliste Sätze zu bilden; angeblich ging es um einen
Sprachtest. Auf der Liste der einen Gruppe standen Begriffe
wie dreist, frech, stören, sich einmischen, unverschämt und un-
höflich, auf der Liste der zweiten Gruppe hingegen Begriffe
6  Das Unbewusste   1151
51

wie Respekt, geduldig, nachgeben und höflich. Anschließend


wurden die Versuchsteilnehmer aufgefordert, den Experi-
mentator im Gang für einen zweiten Test aufzusuchen. Der
gab jedoch vor, ins Gespräch mit einem Mitarbeiter vertieft
zu sein, und der Proband musste warten.
Bargh und seine Kollegen stoppten nun heimlich, wie
lange es dauerte, bis ihre derart vorbereiteten Probanden
das Gespräch unterbrachen. Die Studenten, die mit der
„höflichen“ Wortliste gearbeitet hatten, waren erstaunlich
geduldig und warteten mehr als neun Minuten, bevor sie
unterbrachen, die Gruppe mit der „unhöflichen“ Wortliste
hingegen nur fünf Minuten. Keiner der Teilnehmer hegte
irgendeinen Verdacht, der Worttest könne einen Einfluss
darauf haben, wie lange sie warteten. Die Schlussfolgerung,
die man auf diesem Experiment ziehen kann, nämlich, dass
Wörter, die man hört oder gebraucht, unser Verhalten for-
men, wäre für meine Großmutter keine große Neuigkeit
gewesen, die stets erklärte, dass sich Trinkgelder, kleine Ge-
schenke und Höflichkeit stets irgendwie auszahlen.
Eine Variante dieser Technik misst Vorurteile im Zusam-
menhang mit älteren Menschen. Bargh ließ Freiwillige mit
Wörtern arbeiten, die Klischees über Ältere auslösen, wie alt,
einsam, vergesslich, pensioniert, faltig, altbacken, hilflos und Flo-
rida, während eine Kontrollgruppe Sätze mit neutralen Be-
griffen bildete. Sein einfallsreiches Mittel, das Vorurteil über
Ältere zu quantifizieren, bestand darin, heimlich zu messen,
wie lang die Probanden brauchten, um vom Testraum zum
Aufzug zu gehen, eine Distanz von rund zehn Metern Die
Studenten, die ein Priming zum Thema Alter erhalten hat-
ten, brauchten im Schnitt 8,28 Sekunden und damit rund
eine Sekunde länger als die Kontrollgruppe. Das ist ein
152
152 Book Title
  Bewusstsein

kleiner, aber messbarer Effekt. Die Studenten hatten keine


Ahnung, dass die Wörter sie veranlasst hatten, langsamer zu
gehen. Wenn das unschuldige Lesen von Begriffen, die in
keinerlei direktem Zusammenhang mit uns stehen, uns ver-
langsamen kann, wie viel heftiger werden wir dann darauf
reagieren, wenn ein Freund oder der Ehepartner meint, wir
würden alt? Hüten Sie daher Ihre Zunge.
Selbsthilfebewegungen behaupten beharrlich, eine positi-
ve und optimistische Haltung könne etwas bewirken. Auch
wenn gute Gedanken keinen Krebs heilen, beeinflussen sie
das eigene Verhalten. Und das ist ein Grund, warum ich
dort lebe, wo ich lebe, und tue, was ich tue – Amerikaner
im Allgemeinen und die selbstgewählte Gruppe von Kali-
fornien-Immigranten im Besonderen sind überzeugt, dass
mit genügend Schwung, Schweiß und Hingabe sowie dem
umsichtigen Einsatz von Technologie fast alles möglich ist.
Ich teile diese „Wir-können-das“-Haltung. Schiffbruch zu
erleiden, wenn man alles gegeben hat, ist ehrenhaft; es aus
Angst vor dem Scheitern erst gar nicht zu versuchen, ist ein
schlimmer Charakterfehler.
Ein bemerkenswerter Aspekt unbewusster Verarbeitung
ist, dass ihre Existenz von so vielen so vehement verneint
wird, auch von meinem jüngeren Ich. Solche instinktiven
Abwehrreaktionen sind besonders stark bei Akademikern,
die sich für objektiver, ausgeglichener und unparteiischer
als alle übrigen halten. Als Gruppe geben sich Professoren
alle Mühe, um Geschlechts- und Rassenvorurteile bei der
Einstellung und in der Betreuung zu kompensieren. Aber
wenn es um Politik oder Religion geht, können Akademi-
ker bemerkenswert intolerant sein und Konservativen oder
Gläubigen Ansichten zuschreiben, die nur von Randgrup-
6  Das Unbewusste   1153
53

pen vertreten werden. Ihre kaum verhehlte Verachtung für


die meisten Religionen, vor allem für das Christentum, ist
so weit verbreitet, dass sich viele Studenten kaum trauen,
überhaupt religiöse Gefühle zu äußern.
Wir wehren uns möglicherweise aus zwei Gründen gegen
die Bedeutung des Unbewussten. Erstens bedeutet dessen
Akzeptanz implizit einen Kontrollverlust. Wenn nicht wir
die Entscheidungen treffen, wer dann? Unsere Eltern? Die
Medien, deren Produkte wir so bereitwillig konsumieren?
Unsere Freunde und Altersgenossen? Weil wir uns unbe-
wusster Vorurteile per definitionem nicht bewusst sind,
wissen wir zweitens gar nicht, dass wir sie haben. Sie er-
innern sich an keinen Vorfall, bei dem Sie jemanden heim-
lich anhand seiner Hautfarbe, seines Alters oder seines Ge-
schlechts beurteilt haben. Wenn jemand einen solchen Vor-
fall anspricht, werden Ihnen viele einigermaßen plausible
Gründe einfallen, warum sie die Person so beurteilt haben,
wie Sie es haben – doch der Gedanken, dass Sie diese Per-
son diskriminiert haben, wird Ihnen nicht kommen. Das
ist unheimlich, aber so arbeitet das Gehirn.
Um dies zu unterstreichen, möchte ich Ihnen etwas über
Wahlblindheit erzählen. Mehr als 200 Studenten der Uni-
versität Lund in Schweden sollten zwei Porträtfotos junger
Frauen vergleichen. Der Versuchsleiter hielt beide Fotos
nebeneinander in der Hand; der Proband sollte innerhalb
weniger Sekunden entscheiden, welche Frau er attraktiver
fand, und auf das Foto zeigen. Die Fotos wurden dann kurz
aus dem Gesichtsfeld genommen. Sofort anschließend wur-
de den Studenten das Gesicht gezeigt, das sie hübscher fan-
den, und sie wurden aufgefordert, ihre Wahl zu erläutern.
In einigen Versuchsdurchgängen vertauschte der Versuchs-
154
154 Book Title
  Bewusstsein

leiter jedoch heimlich die Fotos blitzschnell, bevor er die


Probanden aufforderte, ihre Wahl zu begründen. Obwohl
die Frauen auf den beiden Fotos recht unterschiedlich aus-
sahen, ließen sich die meisten Teilnehmer täuschen. Nur
einer von vier Studenten erkannte, dass die Fotos ausge-
tauscht worden waren und dasjenige, das sie nun ansahen,
nicht dasjenige war, das sie ausgewählt hatten (in diesem
Fall wurde das Experiment sofort abgebrochen). Die an-
deren Studenten rechtfertigten unbekümmert ihre „Wahl“,
obgleich sie dem widersprach, was sie nur ein paar Sekun-
den zuvor entschieden hatten: „Sie strahlt. Ich würde sie
in einer Bar eher ansprechen als die andere. Ich mag Ohr-
ringe.“ – obgleich die Frau, die sie gewählt hatten, ernst
schaute und keine Ohrringe trug.
Wahlblindheit spielt nicht nur beim Dating eine Rolle,
sondern auch im Alltag. Man hat häufig so gut wie keine
Ahnung, warum man tut, was man gerade tut. Der Drang
zu erklären ist jedoch so stark, dass man aus dem Stegreif
eine Geschichte erfindet, um seine Wahl zu rechtfertigen,
und konfabuliert, ohne es zu realisieren.
Einige Psychologen spinnen die Idee von einem verbor-
genen, aber mächtigen Gehirn mit riesigen Verarbeitungs-
ressourcen noch einen Schritt weiter. Sie argumentieren,
dass unbewusste Verarbeitung dem bewussten Denken tat-
sächlich überlegen ist, wenn es darum geht, Entscheidun-
gen zu treffen, bei denen man viele konkurrierende Fakto-
ren berücksichtigen muss. Stellen Sie sich vor, Sie müssten
entscheiden, welche Wohnung Sie mieten. Das hängt von
vielen Variablen ab: Höhe der Monatsmiete, möglicher Ein-
zugstermin, Größe, Lage, Laufzeit des Vertrags, Zustand
der Zimmer und so weiter. Der Theorie unbewusster Gedan-
6  Das Unbewusste   1155
55

ken zufolge sollten Sie, nachdem Sie alle relevanten Fakten


gesammelt haben, nicht versuchen, in sich zu schauen, son-
dern sich abzulenken – zum Beispiel ein Kreuzworträtsel
lösen –, bevor Sie sich entscheiden, welche Wohnung Sie
mieten wollen. Brüten Sie nicht über dem Problem. Den-
ken Sie an etwas anderes, und Ihr unsichtbares Gehirn wird
das Problem für Sie lösen.
Solche Ansätze mit ihrem Versprechen, die riesigen Res-
sourcen des Unterbewussten anzuzapfen, haben in der Öf-
fentlichkeit großes Interesse erregt. Viele dieser Experimen-
te sind jedoch ziemlich „weich“; ihre statistische Signifikanz
ist gering, und die Kontrollen sind nicht überzeugend. Sol-
che Mängel treten bei Untersuchungen an Menschen im-
mer wieder auf – ihre Genetik, Umwelt, Ernährung, kör-
perliche Aktivität und so weiter machen geeignete Kontrol-
len sehr schwierig. Eine vorsichtigere Deutung der Daten
ist, dass es besser sein kann, sich einen raschen Eindruck
zu verschaffen und dann zu einer bewussten Entscheidung
zu kommen, als diesen ersten Eindruck ständig zu hinter-
fragen. Treffen Sie eine Entscheidung, haben Sie Vertrauen
zu sich selbst, und bleiben Sie dabei.
Ebenso skeptisch bin ich im Hinblick auf die behauptete
Überlegenheit des Unbewussten, und zwar aufgrund me-
thodologischer und theoretischer Überlegungen. Wie be-
reits erwähnt, ist die Geschichte voller Beispiele, in denen
die weit verbreitete Übernahme von unbewussten Vorurtei-
len katastrophale Konsequenzen hatte. An Entscheidungen
im wirklichen Leben ist stets eine Mischung aus bewussten
und unbewussten Prozessen beteiligt, wobei manche Ent-
scheidungen mehr auf dem einen oder dem anderen beru-
hen. Mir fehlen noch überzeugende Beweise dafür, dass eine
156
156 Book Title
  Bewusstsein

Aussagelogik nach dem „Wenn-dann“-Muster, komplexe


symbolische Manipulation oder der Umgang mit unvor-
hergesehenen Eventualitäten ohne bewusstes, willentliches,
zeitaufwändiges, stirnrunzelndes Nachdenken erfolgreich
bewältigt werden können. Sonst wären wir alle Einsteins.
Diese Schlussfolgerung steht auch im Einklang mit Jahr-
tausenden der traditionellen Lehre, die vor wichtigen Ent-
scheidungen nach Selbstprüfung und rationalen, ruhigen
Nachdenken verlangt.

 as bedeutet der alles durchdrin-


W
gende Einfluss des Unbewussten für
­meine Suche?
Beim Wachwerden braucht Ihr Bewusstsein ein paar Sekun-
den, um hochzufahren. Sobald Sie sich wieder orientieren
können, liefert es ein stabiles Interface mit einer fantastisch
reichen Welt (und zeigt Ihnen keinen eingefrorenen oder
blauen Absturzbildschirm, der Sie zum Neustart auffor-
dert). Wie bei jedem guten Interface findet die eigentliche
Arbeit unterhalb der Oberfläche statt. Es sind diese vielfäl-
tigen Prozesse, die von dem Einfangen von Lichtteilchen in
Ihrem Auge zum Perzept einer schönen Frau führen.
Das Unbewusste und seine Bedeutung zu verstehen, ist
eine ständige Herausforderung für Psychologie und Neuro-
wissenschaften. Aber auch der Einzelne braucht dieses Ver-
ständnis, um aus dem eigenen Leben schlau zu werden.
Denn ohne Selbstprüfung, ohne zu verstehen, dass die
eigenen Handlungen nicht nur das Ergebnis willentlicher,
bewusster Entscheidungen sind, kann man nicht besser
6  Das Unbewusste   1157
57

werden. Nichts in den hier diskutierten Daten spricht da-


für, dass der Unbewusste über riesige, bisher unangezapfte
Kräfte verfügt, die sich nutzen lassen, um Liebes-, Fami-
lien-, Geld- oder Karriereprobleme zu lösen. Solche Prob-
leme lassen sich nur mithilfe überlegter und disziplinierter
Handlungen und über Jahre gepflegter Gewohnheiten an-
packen, eine langweilige Botschaft, die kaum jemand hören
will.
Ich sehe meine Aufgabe darin, das Bewusstsein zu ver-
stehen, nicht dessen Fehlen. Unbewusste Verarbeitung ist
weitaus weniger rätselhaft als Bewusstsein; es ist schließ-
lich das, was Computer tun. Wie aber Bewusstsein in die
Welt kommt, ist ein Rätsel. Dennoch ist die weit verbreite-
te Existenz von Zombieverhalten und unbewussten Wün-
schen und Ängsten für meine Aufgabe von Belang, und
zwar aus drei Gründen.
Erstens wirft es die Frage auf, ob ich das Pferd nicht vom
Schwanz her aufzäume. Wenn die Domäne des Unterbe-
wussten, des Nichtbewussten derart allumfassend ist, hat
der größte Teil des Gehirns und seiner Aktivität möglicher-
weise gar keine Beziehung zum Bewusstsein.
Das stimmt! Ich habe Wert darauf gelegt aufzuzeigen,
dass die neuronalen Korrelate des visuellen Bewusstseins
nicht im Rückenmark, im Cerebellum, in der Retina oder
im primären visuellen Cortex angesiedelt sind. Ich vermu-
te, dass die Mehrheit der Neurone in den höheren visuel-
len und präfrontalen Regionen des Cortex unterstützende
Funktion hat. Vielleicht ist nur eine dünne neuronale Litze
weit reichender Pyramidenzellen, die den vorderen mit dem
hinteren Pol des Gehirns verbinden und umgekehrt, für be-
wusste Inhalte verantwortlich. Wenn ich eine Zahl nennen
158
158 Book Title
  Bewusstsein

sollte, dann würde ich mutmaßen, dass nur ein kleiner Pro-
zentsatz der neuronalen Aktivität zu einem beliebigen Zeit-
punkt direkt am Aufbau eines bewussten Perzepts beteiligt
ist. Die große Mehrheit der unablässigen neuronalen Ak-
tivität, die das kennzeichnende Merkmal eines gesunden,
wachen Gehirns ist, spielt für das Bewusstsein eine unter-
geordnete Rolle.
Sollten Sie das für nicht plausibel halten, denken Sie an
die folgende Analogie zwischen den Mechanismen, die dem
Bewusstsein zugrunde liegen, und denjenigen, auf denen
die Vererbung basiert (wie jede Analogie hinkt auch die-
se). An den molekularen Prozessen, die Informationen von
einer Zelle an die Tochterzellen weitergeben (darunter Re-
plikation, Transkription und Translation), sind viele Hun-
dert raffinierte biochemische Elemente beteiligt – DNA,
tRNA, mRNA, Ribosomen, Stützelemente und Centroso-
men, um nur ein paar zu nennen. Die detaillierten Inst-
ruktionen, die Blaupause für die Konstruktion einer Zelle
befindet sich jedoch in einem einzelnen, doppelsträngigen
DNA-Molekül – einem sehr langen und stabilen Molekül
unter den unzähligen Molekülen einer Zelle. Und ein ein-
ziger falscher Buchstabe in seiner Basenfolge kann weiter
stromabwärts im Konstruktionsprozess schwerwiegende
Folgen haben. Die Ausschaltung eines jeden Vertreters der
Koalition cortico-thalamischer Neurone könnte zu einer
geringfügigen Störung des assoziierten bewussten Perzepts
oder Gedankens führen.
Zweitens machen Zombies Bewusstseinsforschern das
Leben schwer, weil sie uns zwingen, Verhalten von Be-
wusstsein zu trennen: Zielgerichtete, routinemäßige, rasche
6  Das Unbewusste   1159
59

Handlungen sind, für sich allein gesehen, noch kein Beleg


für Empfindungsvermögen. Nur weil eine schwer verletzte
Person ihre Augen bewegt, wenn jemand das Krankenzim-
mer betritt, sagt das nicht, dass sie sich der Situation in
irgendeiner Weise bewusst ist. Dasselbe gilt für Frühgebo-
rene, Hunde, Mäuse und Fliegen. Stereotypes Verhalten ist
keine Garantie für subjektive Zustände. Es bedarf mehr,
damit man einem Organismus phänomenale Erfahrungen
zusprechen kann.
Drittens wirft die weit verbreitete Existenz von Zombie-
routinen die Frage nach den neuronalen Korrelaten des Be-
wusstseins exemplarisch auf. Wo ist der Unterschied, der
den Unterschied ausmacht? Ist es einfach eine Frage der
richtigen corticalen Region, die aktiv ist, wie Milner und
Goodale behaupten? Dorsale Regionen für unbewusste
Handlungen und ventrale Regionen für bewusstes Sehen?
Oder kann derselbe Schaltkreis je nach Verarbeitungs-
modus an beidem beteiligt sein? Francis und ich haben
argumentiert, dass die kurzlebige neuronale Aktivität, die
die Retina verlässt und rasch durch die visuomotorischen
Regionen des Cortex und weiter zu den Motoneuronen
wandert, für Bewusstsein nicht hinreichend ist. Bewusst-
sein erfordert eine singuläre Koalition cortico-thalamischer
Neurone, um Dominanz zu etablieren und sich selbst eine
Weile zu erhalten, etwas, das eher einer stehenden Welle in
der Physik gleicht. Ich werde auf das Thema, auf gentechni-
schem Wege Mäuse zu schaffen, bei denen sich die Bildung
einer dominanten Koalition verhindern lässt, in Kapitel 9
zurückkommen.
160
160 Book Title
  Bewusstsein

Lassen Sie mich nun zu einer entscheidenden Facette des


Körper-Geist-Problems kommen, die ich in meinem Buch
Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel (2005) bewusst
vermieden habe – nämlich, wie viel Handlungsfreiheit das
Gehirn hat. Der freie Wille ist das philosophische Thema
par excellence. Seine Wurzeln reichen bis ins Altertum zu-
rück. Es ist ein Thema, mit dem sich jeder von uns früher
oder später konfrontiert sieht. Überraschenderweise lässt
sich ein Schlüsselaspekt dieses Problems auf eine Frage des
perzeptuellen Bewusstseins reduzieren. Meines Erachtens
stellt dies einen bedeutenden Fortschritt bei einem der um-
strittensten Probleme der Metaphysik dar.
Kapitel 7
In welchem ich alle Vorsicht in den
Wind schlage, den freien Willen und
den Ring der Nibelungen aufs Tapet ­
bringe und berichte, was die Physik
über Determinismus zu sagen hat,
die ­beschränkte Wahlfreiheit unseres
Geistes erläutere und zeige, dass
unser Wille den Entscheidungen
unseres Gehirns ­hinterherhinkt und
Freiheit nur eine Empfindung unter
vielen ist

Sehen Sie, es gibt nur eine Konstante, eine Universalität. Es


ist die einzige echte Wahrheit: Kausalität. Aktion – Reak-
tion. Ursache und Wirkung.
Der Merowinger in Matrix Reloaded (2003)

In einem entlegenen Winkel des Universums, auf einem


kleinen blauen Planeten, der um eine unbedeutende Sonne
in einem der äußeren Distrikte der Milchstraße kreist, ent-
wickelten sich aus dem Urschlamm Organismen, die seit
Äonen in einem epischen Kampf ums Überleben stehen.
Trotz aller Belege für das Gegenteil hielten sich diese Zwei-
beiner für außerordentlich privilegiert, als besetzten sie in
einem Universum mit Billionen Billionen Sternen einen

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_7,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
162
162 Book Title
  Bewusstsein

einzigartigen Platz. In ihrem Dünkel glaubten sie sogar, sie


und nur sie allein könnten dem ehernen Gesetz von Ursa-
che und Wirkung entkommen, das alles lenkt. Sie könn-
ten dies kraft eines Phänomens, das sie als freien Willen
bezeichneten und ihnen erlaube, Dinge ohne irgendeinen
materiellen Grund zu tun.
Können wir tatsächlich frei handeln? Können wir Dinge
tun und sagen, die keine direkte Konsequenz unserer Prä-
dispositionen und unserer Lebensumstände sind? Haben
Sie sich aus eigenem Antrieb entschieden, dieses Buch zu
lesen? Es fühlte sich an, als ob Sie sich freiwillig entschieden
haben, in den Seiten zu schmökern, statt einem anderen
Interesse nachzugehen, wie zu Mittag zu essen oder einem
Freund zu schreiben. Aber ist das die ganze Wahrheit? Gab
es keine äußeren Gründe, die Sie beeinflusst haben – die
Leseempfehlung für eine Vorlesung oder ein Freund, der
den flüssigen Stil des Buches gelobt hat? Sie können ein-
wenden, dass diese Gründe nicht hinreichend seien und
etwas anderes intervenieren musste: Ihr Wille. Die Lehre
von der Vorherbestimmung (Prädestination) und ihr säku-
larer Vetter, der Determinismus, behaupten jedoch, dass Sie
sich nicht hätten anders verhalten können. Sie hatten in der
Sache keine echte Wahl. Sie sind der Knecht eines absolu-
ten Tyrannen, lebenslang abhängig. Sie hatten niemals die
Wahl, zu Mittag zu essen, sondern waren von Beginn der
Zeit an dazu verdonnert, mein Buch zu lesen.
Die Frage nach dem freien Willen ist nicht nur ein phi-
losophisches Gedankenspiel; sie packt Menschen in einer
Weise, wie es wenige andere metaphysische Fragen tun. Sie
ist der Grundpfeiler der gesellschaftlichen ­Vorstellungen
von Verantwortlichkeit, von Lob und Tadel, die Basis des-
7  Der freie Wille und das Gehirn   1163
63

sen, wie unser Handeln (ob gut oder schlecht) beurteilt


wird. Letztlich geht es um das Maß an Kontrolle, die wir
über unser Leben ausüben.
Angenommen, Sie leben mit einer geliebten und lie-
benswerten Partnerin zusammen. Ein zufälliges Treffen
mit einer Fremden, das nur ein paar Stunden dauert, stellt
dieses Leben plötzlich völlig auf den Kopf. Sie stellen alles
infrage und ziehen aus. Sie reden stundenlang am Telefon,
Sie teilen Ihre intimsten Geheimnisse, Sie beginnen eine
affaire de coeur. Sie haben sich Hals über Kopf verliebt,
ein berauschendes und mächtiges Elixier von Emotionen,
das viele Merkmale einer Zwangsstörung aufweist. Ihnen
ist durchaus klar, dass Sie sich vom ethischen Standpunkt
völlig falsch verhalten; Ihr Tun wird sich auf viele Leben
verheerend auswirken, und es gibt keine Gewähr für eine
glückliche und fruchtbare Zukunft. Doch irgendetwas in
Ihnen sehnt sich nach Veränderung.
Solche aufwühlenden Entscheidungen werfen die ent-
scheidende Frage auf, wie viel Mitspracherecht Sie bei die-
ser Sache eigentlich haben. Folgen Sie nicht lediglich dem
Diktat der Evolution, dem uralten Tanz Ihrer DNA, die
nach neuen Wegen sucht, sich auszubreiten? Lassen Ihnen
Ihre Hormone, Ihre Lenden irgendeine Freiheit? Zweifel-
los haben Sie das Gefühl, Sie könnten die Affäre beenden
und heimgehen, wann immer Sie wollten. Doch trotz vieler
Versuche schaffen Sie es nicht. Sie segeln sehendes Auge in
einen Sturm und setzen das eheliche Schiff auf Grund, das
Sie so lange sicher getragen hat.
Der freie Wille ist ein akademisches Minenfeld. Un-
durchsichtige Argumente sind für und gegen jede nur
denkbare Position vorgebracht worden. Bei meinen Über-
164
164 Book Title
  Bewusstsein

legungen zu diesem Thema – Gedanken, die aus innerem


Aufruhr und großem Schmerz erwuchsen – , vernachlässige
ich Jahrtausende gelehrter philosophischer Debatten und
konzentriere mich auf das, was Physik, Neurobiologie und
Psychologie zu sagen haben, denn sie liefern Teilantworten
auf dieses uralte Rätsel.

 tark oder pragmatisch? Definitionen


S
von Freiheit
Ich möchte zunächst einmal eine Definition des freien Wil-
lens vorstellen: Man ist frei, wenn man unter identischen
Bedingungen anders gehandelt haben könnte. Identische
Umstände beziehen sich nicht nur auf dieselben äußeren
Umstände, sondern auch auf dieselben Hirnzustände. Das
ist die starke, libertäre oder cartesische Position, wie sie von
Descartes formuliert wurde, auf den wir immer wieder sto-
ßen. Gemeint ist hier der eigentliche, echte Wille.
Denken Sie an die symbolträchtige Szene in Matrix, in
der sich der junge Hacker Neo entscheiden muss, ob er die
blaue Pille schluckt, die Morpheus ihm anbietet und die
ihm glückliches Nichtwissen verspricht, oder die rote Pille,
die schmerzhaftes Erwachen in einer trostlosen Realität ver-
heißt. Dass Neo die rote Pille aus freiem Entschluss wählt,
heißt, dass er genauso gut die blaue Pille hätte nehmen kön-
nen, dann hätte es einen der fesselndsten Filme der jüngeren
Zeit nicht gegeben. Die starke Definition des freien Willens
impliziert, dass Neo die blaue Pille auch dann hätte wählen
können, wenn seine Wünsche, Ängste und ­Gedanken, alles
7  Der freie Wille und das Gehirn   1165
65

in seinem Gehirn und seiner Umgebung, genau dieselben


wie bei der Wahl der roten Pille gewesen wären.
Ich war vor kurzem Geschworener im Federal District
Court in Los Angeles. Der Angeklagte war ein stark täto-
wiertes Mitglied einer Straßengang, die Heroin schmuggel-
te und verkaufte. Er war angeklagt, ein anderes Gangmit-
glied durch zwei Schüsse in den Kopf ermordet zu haben.
Auch wenn der Prozess mich zwang, meine anderen Tätigkei-
ten kurzfristig auf Eis zu legen, um die vor Gericht vorgeleg-
ten Beweise zu bewerten, erweiterte diese Erfahrung meinen
Horizont beträchtlich. Er enthüllte in allen grauenhaften De-
tails das Leben einer intensiv tribal geprägten Gesellschaft, in
der sich alles um Gewehre, Drogen, Geld, Respekt und Repu-
tation dreht. Straßengangs bewohnen ein Paralleluniversum,
das völlig anders ist als der privilegierte und geschützte Hort,
in dem meine Familie, Freunde, Kollegen und ich leben.
Während der Hintergrund des Verbrechens von Staats-
anwaltschaft, Verwandten sowie gegenwärtigen und frühe-
ren Gangmitgliedern – einige von ihnen sagten in Hand-
schellen, gefesselt und in leuchtend orangefarbener Gefäng-
niskleidung aus – dargelegt wurde, sann ich über die indi-
viduellen und sozialen Kräfte nach, die den Angeklagten
geformt hatten. Hatte er jemals eine cartesische freie Wahl?
Machte seine gewalttätige Erziehung es unausweichlich,
dass er töten würde? Zum Glück war die Jury nicht auf-
gerufen, diese unlösbaren Fragen zu lösen oder über seine
Strafe zu entscheiden. Wir mussten nur beurteilen, ob der
Mann jenseits vernünftiger Zweifel schuldig im Sinne der
Anklage war, ob er zu einer bestimmten Zeit und an einem
bestimmten Ort eine bestimmte Person erschossen hatte.
Und das taten wir.
166
166 Book Title
  Bewusstsein

Die starke Definition der Freiheit ist zu nichts nütze als


zu hitzigen, letztlich fruchtlosen Debatten, denn in der
realen Welt kann man nicht zurückgehen und sich anders
entscheiden. Wie der antike Philosoph Heraklit bemerk-
te: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“
Doch diese cartesische Sicht des Willens ist diejenige, an
die die meisten Menschen glauben. Sie ist eng mit der Vor-
stellung von einer Seele verknüpft. Die Seele, die über dem
Gehirn schwebt wie der Fast Kopflose Nick, der Geist von
Gryffindor, wählt frei zwischen mehreren Alternativen und
veranlasst das Gehirn, ihre Wünsche auszuführen, wie der
Fahrer, der seinen Wagen auf diese oder jene Straße lenkt.
Stellen wir der starken Definition von Freiheit ein prag-
matisches Konzept namens Kompatibilismus gegenüber,
die vorherrschende Sichtweise in biologischen, psycholo-
gischen, juristischen und medizinischen Kreisen: Man ist
frei, wenn man seinen eigenen Wünschen und Vorlieben
folgen kann. Determinismus und freier Wille können ko-
existieren. Sie sind kompatibel miteinander. Solange man
sich weder in den Fängen eines inneren Zwangs befindet
noch unter dem unbilligen Einfluss anderer Personen oder
Mächte handelt, ist man Herr seines Schicksals. Ein lang-
jähriger Raucher, der aufhören möchte, sich aber immer
wieder eine Zigarette anzündet, ist nicht frei. Sein Wunsch
wird von seiner Sucht durchkreuzt. Nach dieser Definition
sind nur wenige von uns völlig frei. Der Kompatibilismus
beruft sich nicht auf außerirdische Entitäten wie Seelen. Er
ist ganz und gar irdischer Natur.
Es sind solch seltene Persönlichkeiten wie Mahatma
Gandhi, die es fertig bringen, um eines höheren ethischen
Ziels willen wochenlang auf Nahrung zu verzichten. Ein
7  Der freie Wille und das Gehirn   1167
67

a­ nderes Beispiel eiserner Selbstkontrolle ist die Selbstver-


brennung des buddhistischen Mönches Thich Quang Duc
im Jahr 1963, mit dem dieser gegen das repressive Regime in
Südvietnam protestierte. Was dieses Ereignis so einzigartig
macht und in tief bewegenden Fotos eingefangen ist, die
zu den bekanntesten Bildern des 20. Jahrhunderts gehören,
ist die Ruhe und Entschlossenheit seines heroischen Aktes.
Während Duc von den Flammen verzehrt wurde, blieb er
in der meditativen Lotus-Position, ohne einen Muskel zu
bewegen oder einen Laut von sich zu geben.
Für uns übrige, denen es schon schwer fällt, auf den
Nachtisch zu verzichten, ist Freiheit stets eine Frage des
Maßes, statt ein absolutes Gut zu sein, das wir besitzen oder
nicht besitzen.
Die Strafgesetzgebung kennt Beispiele für eingeschränk-
te Schuldfähigkeit, bei der der Angeklagte nicht frei han-
deln konnte. Der Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau
in einem Anfall blinder Wut totschlägt, wenn er beide in
flagranti ertappt, wird weniger hart bestraft, als wenn er
Wochen später kalt und überlegt Rache nimmt. Der schi-
zophrene Paranoiker, der seinen Nachbarn vom Balkon im
20. Stock stößt, weil eine Stimme in seinem Kopf ihm dies
befahl, gilt als „nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähig-
keit“ und wird in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.
Ohne solche mildernden Umstände geht man davon aus,
dass der Angeklagte mit Fug und Recht vor Gericht ge-
stellt werden kann. Unsere heutige Gesellschaft und unser
Rechtssystem basieren auf einem solchen pragmatischen,
psychologischen Freiheitsbegriff.
Richards Wagners monumentaler Ring der Nibelungen
stellt einen Zyklus von vier Opern dar, in denen es um den
168
168 Book Title
  Bewusstsein

Konflikt zwischen Schicksal und Freiheit geht. Unbelastet


von Ängsten oder gesellschaftlichen Konventionen tötet der
Held Siegfried den Drachen, geht durch den Feuerring, um
für Gunther um Brünhild zu werben, zerschmettert Wo-
tans Speer und führt die Zerstörung der alten Weltordnung
der Götter herbei. Siegfried folgt keinen Gesetzen, sondern
nur seinen Trieben und Impulsen. Er ist frei, aber er han-
delt blind, ohne die Konsequenzen seiner Handlungen zu
sehen. (Wahrscheinlich war Siegfrieds Amygdala geschä-
digt – er kannte keine Furcht –, ebenso sein ventrome-
dialer präfrontaler Cortex, was ihn seiner Urteilsfähigkeit
beraubte. Genetische und entwicklungsbiologische Fakto-
ren trugen zu seinem gestörten Verhalten bei: Seine Eltern
waren Geschwister; er wurde als Waise von einem einzigen
Betreuer erzogen, einem streitsüchtigen Zwerg, der beses-
sen war von einem Goldschatz, und er wuchs isoliert in den
Tiefen des deutschen Waldes auf. Sein Mangel an sozia-
len Fähigkeiten führte schließlich zu seinen Tod durch die
Hand eines Freundes, dem er vertraute, Hagen von Tonje.)
Es bleibt der Heldin der Oper, Brünhild, überlassen, durch
ihre Selbstaufopferung freiwillig und bewusst in das neue
Zeitalter der Menschheit einzutreten. Dieses Drama wird
von der wunderbarsten und bewegendsten Musik beglei-
tet, die jemals geschrieben wurde. Vom kompatibilistischen
Standpunkt gesehen handeln beide, Siegfried und Brün-
hild, frei.
Ich möchte jedoch tiefer graben und die zugrunde lie-
genden Ursachen solcher „freier Handlungen“ ans Licht
bringen. Unser täglicher Marathon stellt uns andauernd vor
Entscheidungen – welches Hemd tragen, welche Radiosta-
tion hören, welches Gericht wählen und so weiter. Nach
7  Der freie Wille und das Gehirn   1169
69

den im letzten Kapitel vorgestellten Befunden wissen wir


bereits, dass sich die meisten unserer Handlungen bewuss-
ter Introspektion und Kontrolle entziehen. Unsere Freiheit
ist eingeschränkt durch Gewohnheit und die Konsequenzen
der Entscheidungen, die wir in der Vergangenheit getroffen
haben. Das Flussbett, das unseren Bewusstseinsstrom fasst
und kanalisiert, ist von der Familie und Kultur ausgehoben
worden, in der wir aufgewachsen sind. Die Wünsche und
Vorlieben, die wir „frei“ ausleben, sind offenbar völlig vor-
herbestimmt!
Die kompatibilistische Freiheit hinterlässt einen Rest an
Unbehagen, einen nagenden Zweifel. Das Fehlen eines of-
fenen inneren oder äußeren Zwangs ist sicherlich notwen-
dig, um frei zu sein, aber es garantiert keine Freiheit im
strengen Sinne. Wenn alle erblichen, anerzogenen und zu-
fälligen Faktoren in unserer Umwelt in Rechnung gezogen
werden, bleibt dann noch Platz zum Manövrieren? Sind
wir nicht hilflose Sklaven dieser Zwänge? Es sieht so aus,
als führe Kompatibilismus zu einer Freiheit light. Ist unsere
mühsame konzeptuelle Vorarbeit auf das Urgestein des De-
terminismus gestoßen?
Was hat die Physik dazu zu sagen?

 lassische Physik und Determinismus:


K
das Uhrwerk Universum
Einen Höhepunkt im Lauf des ständig fortschreitenden
Prozesses, den Kosmos zu verstehen, markierte das Jahr
1687, als Isaac Newton seine Principia veröffentlichte. Da-
rin formulierte Newton sein Gravitationsgesetz und die
170
170 Book Title
  Bewusstsein

drei Bewegungsgesetze. Sein zweites Gesetz verbindet die


Kraft, die auf ein isoliertes System wirkt – eine Billardku-
gel, die über einen grün bespannten Filztisch läuft –, mit
ihrer Beschleunigung, das heißt, mit der Veränderung ihrer
Geschwindigkeit. Dieses Gesetz hat weit reichende Kon-
sequenzen, denn es besagt, dass die Positionen und Ge-
schwindigkeiten sämtlicher Komponenten, die zu einem
bestimmten Zeitpunkt eine Entität ausmachen, gemeinsam
mit allen zwischen ihnen wirkenden Kräften das Schicksal
dieser Entität eindeutig bestimmen – das heißt, deren spä-
tere Lage und Geschwindigkeit. Nichts anderes spielt eine
Rolle, nichts anderes ist nötig. Das Schicksal des Systems ist
bis ans Ende aller Tage besiegelt.
Dieses Gesetz gilt überall – für einen Apfel, der vom
Baum fällt, den Orbit des Mondes um die Erde oder die
Milliarden Sterne, die um den Mittelpunkt der Galaxis
kreisen – sie alle folgen Newtons Gesetz. Kenn man die-
se Kräfte und den gegenwärtigen Zustand eines Systems
– Physiker-Kurzschrift für eine Spezifizierung der genauen
Lage und Geschwindigkeit aller Komponenten des Systems
–, so kann man den Zustand dieses Systems zu jedem be-
liebigen Zeitpunkt in der Zukunft voraussagen.
Das ist das Wesen des Determinismus. Anhand der Mas-
se, Position und Geschwindigkeit der Planeten auf ihrem
Weg um die Sonne lässt sich präzise bestimmen, wo sie sich
in tausend, 1 Mio. oder 1 Mrd. Jahre befinden werden, vor-
ausgesetzt, dass alle auf sie wirkenden Kräfte berücksichtigt
werden. Newtons Gesetz gilt auch für das Universum als
Ganzes. Dieser konzeptuelle Sprung findet seinen eloquen-
testen Vertreter in dem französischen Mathematiker Pierre
Simon de Laplace der 1814 schrieb:
7  Der freie Wille und das Gehirn   1171
71

Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Univer-


sums als Wirkung des vorhergegangenen Zustandes ansehen
und als Ursache des auf ihn folgenden. Eine Intelligenz, die
für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte der Natur und
die jeweilige Situation all ihrer Elemente kennen würde, von
denen die Natur beseelt ist, und die gegenseitige Lage al-
ler Wesen, die sie ausmachen, wenn sie überdies umfassend
genug wäre, all diese Gegebenheiten der Analyse zu unter-
ziehen, würde in einer einzigen Formel die Bewegung der
größten Körper und der leichtesten Atome überblicken.

Einmal in Gang gesetzt, nimmt das Universum wie ein


Uhrwerk unaufhaltsam seinen Lauf. Für einen allwissenden
Supercomputer ist die Zukunft ein offenes Buch. Es gibt
keine Freiheit über und jenseits derjenigen, die von den
Gesetzen der Physik diktiert wird. All unser Kampf, unsere
inneren Dämonen in den Griff zu bekommen, ist sinnlos.
Das Ergebnis unserer zukünftigen Handlungen wurde fest-
gelegt als das Universum zu Beginn der Zeit aufgezogen
wurde.
Der persische Astronom, Mathematiker und Dichter
Omar Khayyam, der im 11. Jahrhundert lebte, macht dies
in seinem Rubaiyat (Vierzeiler) deutlich:

Und diese umgekehrte Schale, die wir den Himmel nen-


nen,
Worunter kriechend leben wir und sterben,
Streck nicht die Hand zu ihr empor um Hilfe,
Denn sie ist so ohne Macht wie du und ich.

Auf den ersten Hinweis, dass diese kolossale Maschine nicht


so voraussagbar war wie erwartet, stieß der ­französische
172
172 Book Title
  Bewusstsein

­ athematiker Henri Poincaré Ende des 19. Jahrhunderts.


M
Es bedurfte des digitalen Computers, um das deterministi-
sche Chaos als das zu entlarven, was es ist – eine volle Breit-
seite gegen die Vorstellung, die Zukunft lasse sich präzise
vorhersagen. Der Meteorologe Edward Lorenz entdeckte
dies im Zusammenhang mit der Lösung dreier einfacher
mathematischer Gleichungen, die die Bewegung der At-
mosphäre charakterisierten. Die vom Computerprogramm
vorhergesagten Lösungen variierten stark, sobald er Aus-
gangswerte eingab, die sich nur um winzige Beträge unter-
schieden. Das ist typisch für chaotische Systeme: Unendlich
kleine Störungen bei den Ausgangswerten von Gleichun-
gen führen zu einen dramatisch anderen Ergebnis. Lorenz
prägte den Begriff Schmetterlingseffekt, um diese extreme
Empfindlichkeit für die Anfangsbedingungen deutlich zu
machen. Der Flügelschlag eines Schmetterlings erzeugt
kaum wahrnehmbare Luftbewegungen, die schließlich die
Bahn eines Tornados anderswo verändern.
Der Aktienmarkt ist ein gutes Beispiel für ein chaotisches
System. Winzige Störungen – ein Gerücht über Zank in
einem Aufsichtsrat oder einen Streik in einem fernen Land
– kann das Schicksal eines börsennotierten Unternehmens
in unvorhersehbarer, erratischer Weise beeinflussen. Chaos
ist auch der Grund dafür, dass präzise, langfristige Wetter-
vorhersagen wohl ein Wunschtraum bleiben werden.
Der Inbegriff des newtonschen und laplaceschen Uhr-
werk-Universums ist die Himmelsmechanik. Die Planeten
folgen majestätisch ihren von der Schwerkraft diktierten
Bahnen, angetrieben von der Rotation der Ur-Wolke, aus
der sich das Sonnensystem bildete. Daher war es eine gro-
ße Überraschung, als ein Computermodell in den 1990er-­
7  Der freie Wille und das Gehirn   1173
73

Jahren zeigte, dass Pluto einen chaotischen Orbit hat und


sich seine Position schon nach wenigen Millionen Jahren
nicht mehr exakt voraussagen lässt. Astronomen können
sich nicht sicher sein, ob sich Pluto in 10 Mio. Jahren rela-
tiv zur Erde auf dieser oder auf der anderen Seite der Sonne
befinden wird!
Wenn diese Unsicherheit schon für einen Planeten mit
einem relativ simplen inneren Aufbau gilt, der sich unter
Einfluss einer einzigen Kraft, der Gravitation, im Vakuum
bewegt, was bedeutet dies dann für die Vorhersagbarkeit
hinsichtlich einer Person, eines kleinen Insekts oder einer
winzigen Nervenzelle, auf die allesamt zahllose Faktoren
einwirken?
Stellen Sie sich eine Kolonie von Hunderten genetisch
identischen Taufliegen vor, die gemeinsam schlüpfen und
bei einem 24-stündigen Hell/Dunkel-Zyklus in Plastik-
röhrchen aufgezogen werden. Fliegen verhalten sich selbst
unter wohlkontrollierten Laborbedingungen kapriziös.
Wenn sie in einem Labyrinth freigesetzt werden und an
eine Gabelung kommen, nehmen einige die rechte, andere
die linke Abzweigung, und wieder andere drehen um und
laufen zurück. Und wiederum andere bleiben an Ort und
Stelle und können sich nicht entscheiden. Zukünftige Bio-
logen mögen in der Lage sein, das Verhalten von Fliegen-
populationen in solchen Situationen vorherzusagen, doch
die Entscheidung irgendeiner individuellen Fliege voraus-
zusehen, wird ebenso unmöglich bleiben wie eine Prognose
über die Entwicklung einer bestimmten Aktie – und das aus
demselben tieferen Grund, dem deterministischen Chaos.
Der Schmetterlingseffekt entkräftet jedoch nicht das
Naturgesetz von Ursache und Wirkung. Es gilt weiterhin
174
174 Book Title
  Bewusstsein

uneingeschränkt. Astronomen sind sich nicht ganz sicher,


wo sich Pluto in einigen Jahrmillionen befinden wird, doch
sie sind sich sicher, dass seine Umlaufbahn immer völlig in
Einklang mit den Gesetzen der Schwerkraft stehen wird.
Was beim Chaos zusammenbricht, ist nicht die Kette von
Aktion und Reaktion, sondern die Vorhersagbarkeit. Das
Universum ist noch immer ein gigantisches Uhrwerk, wenn
wir uns auch nicht sicher sein können, wohin der kleine
und der große Zeiger in einer Woche weisen werden.
Dasselbe gilt für die Biologie. Jede Organelle, ob Synapse
oder Zellkern, besteht aus einer riesigen Zahl von Molekü-
len, suspendiert in einer wässrigen Lösung. Diese Moleküle
stoßen ständig gegeneinander und wandern in einer Weise
umher, die sich nicht präzise messen lässt. Um dieser ther-
mischen Bewegung Herr zu werden, greifen Physiker auf die
Wahrscheinlichkeitstheorie zurück. Die Zufälligkeit mole-
kularer Prozesse wird jedoch nicht vom Zusammenbruch
des Determinismus auf mikroskopischer Ebene bewirkt.
Nein, aus ganz praktischen Gründen lässt sich die Bewe-
gung dieser zig Millionen Moleküle nicht verfolgen. Nach
den Gesetzen der klassischen Physik aber ist ihr zukünftiger
Zustand ohne jeden Zweifel völlig festgelegt, wenn man die
Kräfte und die Ausgangspositionen und die Geschwindig-
keiten sämtlicher Moleküle kennt.
Merken Sie sich meine Worte – wenn der physikalische
Determinismus zutrifft, gibt es keine cartesische Freiheit.
Alles, was jemals im Universum geschehen wird, einschließ-
lich all unserer Handlungen, war bereits bei dessen Geburt
festgelegt. Alle Ereignisse sind vorherbestimmt. Wir sind
verdammt, einen Film anzuschauen, der ausschließlich
für uns gedreht wurde und ein Leben lang dauert. Der
7  Der freie Wille und das Gehirn   1175
75

­ egisseur, die Gesetze der Physik, ist taub für unsere Bitten,
R
auch nur eine einzige Szene zu ändern.

 er Niedergang des Uhrwerks


D
Universum
Diese fatalistische Sicht des Universums änderte sich mit
der Geburt der Quantenmechanik in den 1920er-Jahren
entscheidend. Die Quantenmechanik ist die beste Beschrei-
bung von Atomen, Elektronen, Photonen und nichtrelati-
vistischen Geschwindigkeiten, die wir haben. Ihr theore-
tisches Gebäude, das von verblüffender Vorhersagemacht
ist, ist zweifellos die überragende intellektuelle Leistung der
Menschheit.
Der Todesstoß für den newton- und laplaceschen Traum
– oder Alptraum, wenn Sie mich fragen – war die berühm-
te quantenmechanische Unschärferelation, die 1927 von
Werner Heisenberg formuliert wurde. Sie setzt der Genau-
igkeit, mit der Ort und Impuls eines Teilchens gleichzeitig
gemessen werden können, unüberschreitbare Grenzen (der
Impuls einen Teilchens entspricht seiner Masse, multipli-
ziert mit seiner Geschwindigkeit). In der häufigsten Inter-
pretation belegt Heisenbergs Formel, dass das Universum
so gebaut ist, dass ein Teilchen, beispielsweise ein Photon
oder ein Elektron, nicht gleichzeitig eine definierte Posi-
tion und einen definierten Impuls haben kann. Wenn man
seine Geschwindigkeit genau kennt, ist seine Position ent-
sprechend schlecht definiert und umgekehrt. Dieses Prin-
zip spiegelt nicht die Unzulänglichkeit unserer heutigen
Messinstrumente wider, die sich mit einer verbesserten
176
176 Book Title
  Bewusstsein

Technik überwinden ließe, sondern das, was die Welt im


Innersten zusammenhält. Makroskopische schwere Objek-
te wie mein rotes Mini-Cabrio nehmen eine präzise Posi-
tion im Raum ein, während sie sich mit genau definierter
Geschwindigkeit über die Schnellstraße bewegen. Aber
mikroskopische Dinge wie Elementarteilchen, Atome und
Moleküle verletzen den gesunden Menschenverstand: Je
genauer man bestimmt, wo sie sich befinden, desto un-
sicherer und verschwommener wird ihre Geschwindigkeit
und umgekehrt.
Heisenbergs Unschärferelation ist eine radikale Abkehr
von der klassischen Physik, mit Auswirkungen, die noch
nicht völlig verstanden sind. Sie ersetzt dogmatische Ge-
wissheit durch Mehrdeutigkeit. Allem zugrunde liegt eine
mathematische Abstraktion, eine so genannte Wellen-
funktion, die sich in deterministischer, von der Schrödin-
ger-Gleichung vorgegebener Weise entwickelt. Aus dieser
Gleichung leiten Physiker die Wahrscheinlichkeit eines ge-
gebenen Ereignisses her, etwa die Wahrscheinlichkeit, dass
ein Elektron ein bestimmtes atomares Orbital in einem
Wasserstoffion besetzt. Die Wahrscheinlichkeiten selbst las-
sen sich mit fantastischer Genauigkeit berechnen, doch wo
sich das Elektron in einem bestimmten Moment tatsächlich
befindet, lässt sich nicht sagen.
Stellen Sie sich ein Experiment vor, bei dem eine 90-pro-
zentige Chance besteht, dass das Elektron hier ist, und eine
10-prozentige Chance, dass es dort ist. Würde man das
Experiment 1000-mal wiederholen, befände sich das Elek-
tron bei rund 900 Versuchsdurchgängen hier und ansons-
ten dort. Dieses statistische Ergebnis sagt jedoch nicht, wo
das Elektron beim nächsten Versuchsdurchgang sein wird
– wahrscheinlich eher hier als dort, doch wo es tatsächlich
7  Der freie Wille und das Gehirn   1177
77

ist, ist eine Sache des Zufalls. Albert Einstein konnte sich
nie mit diesem zufälligen Aspekt der Natur anfreunden. In
diesem Kontext steht sein berühmter Ausspruch: „Der Alte
würfelt nicht.“
Wenn Sie zum Himmel schauen, finden Sie atemberau-
bende Belege für dieses Zufallsgeschehen. Galaxien sind
nicht gleichmäßig in den riesigen Weiten des Raumes ver-
teilt. Sie sammeln sich in dünnen, lang gestreckten Streifen
und ordnen sich in einer strukturlosen gigantischen Leere,
die einem den Atem verschlägt, zu Scheiben und Haufen
an. Ein Lichtstrahl braucht Millionen Jahre, um einen sol-
chen Abyssus zu durchqueren! Unsere Milchstraße ist Teil
des Virgo-Superhaufens von Galaxien, die zig Billionen
Sterne enthalten.
Der kosmologischen Inflationstheorie zufolge wurden
diese Superhaufen, die größten Strukturen im Universum,
von stochastischen Quantenfluktuationen schon im Mo-
ment nach dem Urknall hervorgerufen, aus dem das Uni-
versum entstand. Anfangs war das Universum kleiner als
ein Stecknadelkopf, und in den engen Grenzen dieses Ge-
mischs aus Masse und Energie zu Anbeginn der Zeit gab
es hier ein wenig dichtere und da ein wenig dünnere Be-
reiche. Als sich dieses neu geborene Universum ausdehnte
und dadurch den Raum selbst schuf, verstärkten sich seine
Unregelmäßigkeiten infolge der Fluktuationen und führ-
ten schließlich zu der auffälligen und ungleichen Verteilung
von Galaxien, die wir heute beobachten.
Das Universum ist von nicht reduzierbarer, zufälliger
Natur. Wenn es ein Uhrwerk ist, dann sind seine Rädchen,
Federn und Hebel keine Schweizer Markenproduktion;
sie folgen keinen vorgegebenen Pfad. Der physikalische
178
178 Book Title
  Bewusstsein

­ eterminismus ist durch den Determinismus der Wahr-


D
scheinlichkeiten ersetzt worden. Nichts ist mehr sicher. Die
Gesetze der Quantenmechanik bestimmen die Wahrschein-
lichkeiten, mit denen verschiedene Zukunftsszenarien auf-
treten, aber nicht, welches Szenario es tatsächlich sein wird.
Doch halt – ich vernehme einen ernst zu nehmenden
Einwand. Zweifellos baut die makroskopische Welt der
menschlichen Erfahrung auf der mikroskopischen Quan-
tenwelt auf. Aber das impliziert nicht, dass Alltagobjekte wie
Autos all die seltsamen Eigenschaften der Quantenmecha-
nik erben. Wenn ich meinen Mini in der Parklücke abstel-
le, beträgt seine Geschwindigkeit relativ zur Bordsteinkante
null. Da er im Vergleich zu einem Elektron außerordentlich
schwer ist, ist die Unschärfe, die mit seiner Position einher-
geht, faktisch null. Vorausgesetzt, ich habe nicht vergessen,
wo ich ihn geparkt habe, und er nicht abgeschleppt oder ge-
stohlen wurde, werde ich ihn genau dort finden, wo ich ihn
verlassen habe. Erst bei längeren Zeitabschnitten beginnt
sich die Unvorhersagbarkeit einzuschleichen.
Autos haben ein vergleichsweise simples Innenleben.
Die Gehirne von Käfern, Katzen und Kindern sind weit-
aus unterschiedlicher, und die Komponenten, aus denen
sie bestehen, bilden eine lärmende Schar. Überall in ihren
Nervensystemen, von sensorischen Neuronen, die Geräu-
sche und Gerüche aufschnappen, bis zu Motoneuronen, die
die Muskulatur im Körper kontrollieren, stößt man auf Zu-
fallsprozesse. Denken Sie an eines der Konzeptneurone, die
ich in Kapitel 5 beschrieben habe. Jedes Mal, wenn die Pa-
tientin ein Bild von Jennifer Aniston sah, wurde das Kon-
zeptneuron erregt und feuerte innerhalb einer halben Se-
kunde rund fünf Aktionspotenziale ab. Die genaue Zahl der
7  Der freie Wille und das Gehirn   1179
79

Aktionspotenziale schwankte jedoch von Mal zu Mal – bei


einem Versuch waren es sechs Spikes, beim nächsten drei.
Ein Teil dieser Variabilität geht auf Augenzittern, Herz-
schlag, Atmung und dergleichen zurück. Die verbleibende
Unvorhersagbarkeit ist vermutlich eine Folge des ständigen
Tanzes von Wasser- und anderen Molekülen, der thermi-
schen Bewegung, die wir als Temperatur kennen und die
eindeutig den Gesetzen der klassischen Physik unterliegt.
Biophysiker, die die Struktur von Zellen auf der Ebene
von Proteinen und Lipid-Doppelmembranen studieren, se-
hen im Großen und Ganzen keine Hinweise darauf, dass
Quantenfluktuationen im Leben eines Neurons eine ent-
scheidende Rolle spielen. Wie alles andere gehorchen auch
Nervensysteme den Gesetzen der Quantenmechanik; die
kollektive Wirkung all dieser Moleküle, die sich hektisch
bewegen, besteht jedoch darin, jede Quantenunbestimmt-
heit auszubügeln, ein Phänomen, das man als Dekohärenz
bezeichnet. Die Dekohärenz impliziert, dass sich die Mole-
küle des Lebens mithilfe völlig klassischer Gesetze beschrei-
ben lassen, statt mit quantenmechanischen, probabilisti-
schen Gesetzen. Wenn dem so ist, dann geht die beobach-
tete verhaltensbiologische Unbestimmtheit, die praktische
Unmöglichkeit, das wilde Verhalten von Käfern, Katzen
und Kindern vorherzusagen, auf gut verstandene klassische
Grenzen zurück, die uns sagen, wie präzise wir den Lauf
von Ereignissen nachvollziehen können. Dennoch können
wir die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass die
Quantenunbestimmtheit auch zu einer verhaltensbiologi-
schen Unbestimmtheit führt. Und eine solche Zufälligkeit
könnte eine funktionelle Rolle spielen. Jeder Organismus,
der sich gelegentlich in unvorhersehbarer Weise verhalten
180
180 Book Title
  Bewusstsein

kann, findet eher Beute oder entkommt einem Fressfeind


als ein Geschöpf, dessen Tun völlig vorhersehbar ist. Macht
eine Stubenfliege, die von einem Feind verfolgt wird, mit-
ten im Flug eine plötzliche, abrupte Wendung, erlebt sie
den nächsten Tag mit höherer Wahrscheinlichkeit als eine
besser berechenbare Artgenossin. Daher könnte es sein, dass
die Evolution Schaltkreise bevorzugt, die bei bestimmten
Handlungen oder Entscheidungen Quantenzufälligkeiten
nutzen. Zufällige Quantenfluktuationen tief im Gehirn, wo
die Folgen durch deterministisches Chaos verstärkt werden,
könnten zu messbaren Ergebnissen führen. Käfer, Katzen
und Kinder tun Dinge erratisch, ohne irgendeinen ersicht-
lichen Grund. Wenn Sie mit ihnen zusammengelebt haben,
wissen Sie das. Sowohl die Quantenmechanik als auch das
deterministische Chaos führen zu unvorhersehbaren Ergeb-
nissen.
Ein schauriges Beispiel für eine solche Spontanhandlung
dokumentierte Truman Capote in Kaltblütig, einem Tatsa-
chenbericht über das sinnlose Abschlachten eines Farmers,
seiner Frau und ihrer beiden Kinder durch zwei Ex-Sträf-
linge, die eines Nachts in ihr Haus einbrachen, um sie zu
berauben. Die Entscheidung, die ganze Familie brutal zu
ermodern, war nicht vorgefasst, sondern erfolgte spontan,
ohne zwingenden Grund. Einfach so. Die Kriminellen hät-
ten leicht fliehen können, ohne diese schreckliche Tat zu
begehen, für die sie später gehängt wurden. Wie viele wich-
tige Entscheidungen im Leben sind unüberlegte, gedan-
kenlose, unerklärbare Handlungen, entschieden sozusagen
durch den Wurf einer (Quanten-)Münze?
Der Indeterminismus hat weit reichende Folgen. Er be-
sagt implizit, dass man menschliche Handlungen nicht
7  Der freie Wille und das Gehirn   181

v­ orhersehen kann. Auch wenn das Universum und alles,


was es beherbergt, den Naturgesetzen folgt, bleibt die Zu-
kunft stets verschwommen, und je weiter wir vorauszu-
schauen versuchen, desto größer wird die Ungewissheit.
Ich persönlich finde Determinismus schrecklich. Die
Vorstellung, die Tatsache, dass Sie gerade jetzt mein Buch
lesen, sei bereits im Urknall angelegt gewesen, ruft in mir
ein Gefühl völliger Hilflosigkeit hervor. (Natürlich sind
meine persönlichen Gefühle in dieser Sache völlig irrelevant
dafür, wie die Welt tatsächlich ist).
Auch wenn der Indeterminismus wenig darüber zu sagen
hat, ob ich einen Unterschied machen, meine eigene Kau-
salkette starten kann, stellt er zumindest sicher, dass sich
das Universum in unvorhersagbarer Weise entfaltet.

 ie beschränkte Freiheit des Geistes,


D
ein Quantenelement anstelle eines
anderen zu realisieren
Der römische Dichter Lukrez postulierte in seinem Lehrge-
dicht De rerum natura (deutsch: Von der Natur) die berühm-
te zufällige, zuckende Atombewegung, die dafür sorgt, dass
bezüglich des Willens „des Schicksals Bande zertrümmert“
sind. Doch der Indeterminismus bringt dem wahren Frei-
geist keinen Trost; er ist kein Ersatz für den freien Willen.
Gewiss, eigentlich sollten meine Handlungen erfolgen, weil
ich es so wünsche, und nicht durch einen Zufallsprozess.
Die Gewissheit des Determinismus gegen die Mehrdeutig-
keit des Zufalls einzutauschen, ist nicht das, was Descartes
im Sinn hatte. Das libertäre Konzept des Geistes verlangt,
182
182 Book Title
  Bewusstsein

dass der Geist das Gehirn kontrolliert, nicht, dass das Ge-
hirn nach Lust und Laune entscheidet.
Eine oft angeführte Erklärung, wie dies geschehen könn-
te, stammt aus den Gründerjahren der Quantenmecha-
nik. Sie postuliert eine enge Verbindung zwischen dem
Bewusstsein und demjenigen Quantenereignis von vielen
möglichen, das tatsächlich eintritt. Dieser These zufolge ist
ein fühlender menschlicher Beobachter (ob es auch ein Affe
täte, ist nie diskutiert worden) erforderlich, damit die Wahr-
scheinlichkeiten, mit denen die Quantenmechanik sich be-
fasst, kollabieren, sodass das eine oder das andere Ereignis
realisiert wird. Das ist der berühmt-berüchtigte Einfluss des
Messprozesses, über den so viel geschrieben worden ist.
In jüngerer Zeit konzentriert sich die Debatte auf die Ver-
schränkung, also die gut belegte Beobachtung, dass gewisse,
sorgfältig präparierte Quantensysteme auf rätselhafte Weise
miteinander verbunden bleiben, ganz gleich, wie weit sie
voneinander entfernt sind. Verschränkte Quantensysteme
wie zwei Elektronen mit entgegengesetztem Spin, die sich
voneinander fortbewegen, oder zwei polarisierte Elektro-
nen sind stets korreliert, ganz unabhängig von der Distanz,
die sie trennt (solange sie in der Zwischenzeit nicht mit ir-
gendetwas anderem interagieren). Sobald der Spin eines der
beiden Elektronen gemessen wird, liegt auf der Stelle auch
der Spin des anderen Elektrons fest, obgleich zwischen bei-
den vielleicht eine Entfernung von einem Lichtjahr liegt. Es
klingt bizarr, ist aber wahr. Der Physiker Roger Penrose, der
Anästhesist Stuart Hameroff und andere haben vermutet,
diese außerirdische Nichtlokalität sei eng mit dem Bewusst-
sein verbunden. Bestimmte Strömungen des Buddhismus,
einer viel älteren Tradition, argumentieren ähnlich, dass
7  Der freie Wille und das Gehirn   183

Objekt und Subjekt untrennbar miteinander verwoben


sind und Bewusstsein ein grundlegendes Merkmal des phy-
sischen Universums ist.
Gibt es in biologischen Systemen jedoch irgendwelche
Hinweise auf quantenmechanische Effekte? Bis vor kurzem
war die Antwort ein deutliches „Nein“. Doch 2010 publi-
zierte das renommierte Wissenschaftsmagazin Nature Mes-
sungen über quantenmechanische elektronische Kohärenz
innerhalb eines photosynthetischen Proteins bei Zimmer-
temperatur. Dieser Effekt wirkt über eine Entfernung von
fünf Milliardstel eines Meters (5 Nanometer) und macht
die Photosynthese bei der Unwandlung von Sonnenlicht
in nutzbare Energie ungewöhnlich effektiv. Kohärenz ma-
nifestiert sich in den Wahrscheinlichkeiten, die diktieren,
wie die Energie des eingefangenen Photons umgewandelt
wird, während es von einem Molekül zum nächsten wan-
dert und dabei quantenmechanischen statt klassischen Ge-
setzen folgt. Es wird sich zeigen, ob Kohärenz eine Rolle bei
den zentralen Operationen des Gehirns selbst spielt. Zu-
mindest bisher gibt es keine Belege dafür, dass irgendeine
molekulare Komponente des Nervensystems – ein warmes
und feuchtes Gewebe, das stark an seine Umwelt gekoppelt
ist – eine Quantenverschränkung zeigt.
Im Allgemeinen konspiriert die Biophysik gegen eine sta-
bile Quantenverschränkung. Die neuronale Informations-
verarbeitung basiert auf zwei Vorgängen: der chemischen
Übertragung von Informationen von einem Neuron zum
anderen an den Synapsen und dem Generieren von Ak-
tionspotenzialen. Jede von beiden würde kohärente Quan-
tenzustände zerstören, denn beide Operationen erfordern
entweder Hunderte von Neurotransmittermolekülen,
184
184 Book Title
  Bewusstsein

die durch den synaptischen Spalt diffundieren, oder Hun-


derte von aus Proteinen aufgebauten Ionenkanälen, die
über die Membran des Neurons verstreut liegen und ihre
Konfiguration ändern. Neurone, die Aktionspotenziale ab-
feuern, können nur klassische Informationen senden und
empfangen, keine Quanteninformationen; das heißt, in
jedem Augenblick generiert ein Neuron entweder einen
binären Puls oder nicht. Daher gibt es bei einem Neuron
keine Überlagerung: Es kann nicht gleichzeitig feuern und
nicht feuern.
Der Philosoph Karl Popper und der Neurophysiologe
John Eccles waren zwei moderne Verfechter der Seele. Pop-
per war ein berühmter Philosoph, der sich intensiv mit Na-
turwissenschaften und Politik beschäftigte, und Eccles war
der Pionier, der das Alles-oder-Nichts-Prinzip der synapti-
schen Übertragung entdeckte, wofür er 1963 den Nobel-
preis erhielt. Sie sind also nicht die typischen Spinner, die
uns Quantenunfug über Schrödingers Katze, Verschrän-
kung und die Verknüpfung aller Dinge erzählen.
Popper und Eccles zufolge zwingt der bewusste Geist
dem Gehirn seinen Willen auf, indem er die Art und Weise
manipuliert, mit der Neurone in jenen Regionen des Cor-
tex miteinander kommunizieren, die sich mit der Planung
von Bewegungen beschäftigen. Dadurch, dass der Geist
den synaptischen Verkehr zwischen Neuronen hier fördert
und dort verhindert, zwingt er der materiellen Welt seinen
Willen auf. Für die Anhänger einer starken Definition der
Willensfreiheit ist die Popper-Eccles-Theorie ansprechend,
weil sie offenbar eine religiöse Sichtweise mit einem wissen-
schaftlichen Standpunkt in Einklang bringt.
Aber ist diese Theorie physikalisch haltbar?
7  Der freie Wille und das Gehirn   185

Nein – nicht, wenn sie erfordert, dass der Geist das Ge-
hirn zwingt, irgendeine physische Handlung durchzufüh-
ren. Wie ein Poltergeist muss der Geist an Synapsen ziehen
und zerren. Das ist Arbeit, und Arbeit kostet Energie. Selbst
die winzigen Energiemengen, die nötig sind, um die syn-
aptische Übertragung zu optimieren, müssten sich auf der
Kostenabrechnung der Natur zeigen. Die Physik erlaubt da
keine Ausnahme. Der Energieerhaltungssatz ist immer wie-
der getestet worden und hat sich ebenso oft bestätigt.
Wenn der Geist wirklich flüchtig und unfassbar ist, wie
ein Gespenst oder ein überirdisches Wesen, kann er nicht
mit dem physischen Universum interagieren. Er kann nicht
gesehen, gehört oder gefühlt werden. Und er kann unser
Gehirn ganz gewiss nicht veranlassen, irgendetwas zu tun.
Die einzige reale Möglichkeit für eine freie Wahl im
Sinne des Libertarismus besteht für den Geist darin, ein
quantenmechanisches Ereignis statt eines anderen zu rea-
lisieren, wie von der Schrödinger-Gleichung vorgegeben.
Angenommen, zu einem bestimmten Zeitpunkt kommt es
an einer bestimmten Synapse zu einer Superposition zweier
quantenmechanischer Zustände. Es gibt eine 15-prozenti-
ge Wahrscheinlichkeit, dass die Synapse aktiv wird und ein
chemisches Signal über den synaptischen Spalt zwischen
zwei Neuronen sendet, und eine 85-prozentige Wahrschein-
lichkeit, dass dem nicht so ist. Diese Wahrscheinlichkeits-
rechnung ist jedoch nicht hinreichend, um zu entscheiden,
was das nächste Mal geschieht, wenn ein Aktionspotenzial
an der Synapse eintrifft. Alles, was man sagen kann, ist, dass
wahrscheinlich keine Freisetzung erfolgen wird. (Neurowis-
senschaftler tappen noch immer im Dunklen, ob diese sehr
geringe Wahrscheinlichkeit einer synaptischen Vermittlung
186
186 Book Title
  Bewusstsein

ein Merkmal oder ein Programmierfehler des Nervensys-


tems ist, das heißt, dient sie irgendeiner Funktion oder
handelt es sich um eine unerwünschte Konsequenz der Tat-
sache, dass sich eine Milliarde Synapsen in einen Kubikmil-
limeter corticalen Gewebes drängen?)
Nach unserer gegenwärtigen Interpretation der Quan-
tenmechanik könnte ein Popper-Eccles-Geist diese idiosyn-
kratische Freiheit ausnutzen. Der Geist könnte die Wahr-
scheinlichkeiten nicht verändern, könnte aber entscheiden,
was bei jedem Durchgang passiert. Das Tun des Geistes
würde stets verborgen bleiben, geheim, denn wenn wir viele
Durchgänge betrachten, würde nichts Außergewöhnliches
stattfinden: nur das, was nach den Naturgesetzen zu erwar-
ten ist. Der bewusste Wille würde innerhalb der Zwangs-
jacke der Physik in der Welt agieren. Das Ganze würde sich
nicht von Zufallsereignissen unterscheiden.
Wenn diese Spekulationen in die richtige Richtung zie-
len, wäre dies die maximale Freiheit, die dem bewussten
Geist gewährt ist. Bei einer Entscheidung, die auf des Mes-
sers Schneide steht, könnte ein winziger Schubs in die eine
oder andere Richtung den Ausschlag geben. Doch wenn
ein Ergebnis deutlich wahrscheinlicher ist als ein anderes,
wären die Einflüsterungen des bewussten Geistes zu irrele-
vant, um das Blatt zu wenden (vorausgesetzt, dass weniger
wahrscheinliche Ergebnisse vom energetischen Standpunkt
aus weniger begünstigt sind). Das ist eine magere, dürfti-
ge Freiheit, da der Einfluss des Geistes nur dann zum Tra-
gen kommt, wenn die Ergebnisse mehr oder minder gleich
wahrscheinlich sind.
Laien und Mystiker gleichermaßen haben eine unge-
rechtfertigte Vorliebe für die Hypothese, die Seltsamkeiten
7  Der freie Wille und das Gehirn   187

der Quantenmechanik müssten irgendwie für das Bewusst-


sein verantwortlich sein. Abgesehen davon, dass es die Zahl
der kosmischen Geheimnisse von zwei auf eins reduziert, ist
nicht klar, was damit gewonnen wäre. Selbst wenn wir ak-
zeptieren, dass Verschränkung in irgendeiner Weise für das
Bewusstsein entscheidend ist, wie kann Verschränkung ir-
gendeinen spezifischen Aspekt den Körper-Geist-Problems
erklären? Wie erklärt sie die Transformation von erregbarer
Hirnmaterie in phänomenale Erfahrung?

Erst handeln, dann wollen


Lassen Sie mich auf festen Boden zurückkehren und Ih-
nen von einem klassischen Experiment erzählen, das viele
Menschen davon überzeugt hat, dass der freie Wille eine
Illusion ist. Das Experiment wurde von Benjamin Libet,
einem Neuropsychologen an der University of California in
San Francisco, zu Beginn der 1980er-Jahre entworfen und
durchgeführt.
Das Gehirn und die See haben eines gemeinsam: Sie sind
ständig in Bewegung. Eine Möglichkeit, dies zu visualisie-
ren, besteht darin, mithilfe eines Elektroenzephalographen
(EEG) die winzigen Fluktuationen des elektrischen Poten-
zials in Höhe von einigen Millionstel Volt an der Oberfläche
der Kopfhaut zu registrieren. Wie die Aufzeichnungen eines
Seismometers bewegt sich die EEG-Spur fieberhaft auf und
ab und registriert unsichtbare Schwankungen im darunter
liegenden Cortex. Immer dann, wenn die Versuchsperson im
Begriff ist, eine Extremität zu bewegen, baut sich ein langsam
ansteigendes elektrisches Potenzial auf. Dieses so genannte
188
188 Book Title
  Bewusstsein

Bereitschaftspotenzial geht dem tatsächlichen Beginn der


Bewegung um bis zu eine Sekunde voraus. Es gibt auch noch
andere EEG-Signaturen, doch ich möchte die Dinge einfach
halten, indem sich mich auf dieses Potenzial konzentriere.
Intuitiv muss die Sequenz, die zu einer vorsätzlichen
Handlung führt, so aussehen: Sie entscheiden sich, eine
Hand zu heben, Ihr Gehirn leitet diese Absicht an die
Neurone weiter, die für Planung und Ausführung von
Handbewegungen zuständig sind (das schwache Echo ihrer
elektrischen Aktivität ist das Bereitschaftspotenzial), und
diese Neurone übermitteln die entsprechenden Komman-
dos an die Motoneurone im Rückenmark, die die Arm-
muskeln zur Kontraktion bringen. Der Geist entscheidet
und das Gehirn führt aus. Das macht durchaus Sinn, wenn
ich mich selbst beobachte. Mein Geist entschließt sich, zu
joggen, mein Gehirn gibt die geeigneten Befehle, und ich
schaue mich nach meinen Laufschuhen um. Doch Libet
war nicht überzeugt. War es nicht wahrscheinlicher, dass
Geist und Gehirn gleichzeitig agierten, oder sogar das Ge-
hirn aktiv wurde, bevor es der Geist tat?
Libet machte sich daran, den Zeitablauf eines geistigen
Ereignisses, die bewusste Entscheidung einer Person, zu
analysieren und diese mit dem Timing eines physikalischen
Ereignisses, dem Beginn des Bereitschaftspotenzials nach
der Entscheidung, zu vergleichen. Was für eine Erleichte-
rung – nach Jahrtausenden ermüdender philosophischer
Debatten endlich eine Frage, die auf die eine oder ande-
re Weise entschieden werden kann. Der knifflige Teil des
Experiments bestand darin, den exakten Moment zu be-
stimmen, an dem der mentale Akt auftrat. Versuchen Sie
7  Der freie Wille und das Gehirn   189

einmal, den exakten Moment zu erkennen, in dem Sie den


Drang fühlen, Ihre Hand zu heben! Es ist nicht einfach.
Um seinen Versuchspersonen zu helfen, projizierte Libet
einen hellen Lichtpunkt auf einen altmodischen Oszillos-
kopschirm. Das Licht kreiste auf dem Schirm wie der kleine
Zeiger einer Uhr. Jeder Proband, der mit Kopfhautelektro-
den bestückt auf einem Stuhl saß, sollte spontan, aber vor-
sätzlich, sein Handgelenk bewegen. Die Probanden taten
dies, während sie gleichzeitig die Position des Lichtflecks
registrierten, wenn sie sich des Drangs zu handeln bewusst
wurden. Um sich zu versichern, dass das subjektive Timing
nervöser Ereignisse präzise war, ließ Libet die Versuchsper-
sonen in einem separaten Experiment notieren, wann sich
ihr Handgelenk tatsächlich zu beugen begann, ein Zeit-
punkt, der sich durch Ableitung der Muskelaktivität objek-
tiv erhärten ließ. Den Probanden gelang dies recht gut; sie
datierten den tatsächlichen Beginn nur 80 ms voraus.
Die Ergebnisse waren eindeutig. Der Beginn des Bereit-
schaftspotenzials geht der bewussten Entscheidung, das
Handgelenk zu bewegen, mindestens eine halbe Sekunde
voraus, oft auch deutlich länger. Das Gehirn handelt, bevor
der Geist entscheidet! Das war eine komplette Umkehrung
der intuitiv angenommenen, mentalen Ursache-Wirkungs-
Beziehung – Gehirn und Körper agieren erst, nachdem der
Geist entschieden hat. Darum war (und ist) dieses Experi-
ment umstritten. Doch es ist in den folgenden Jahren im-
mer wieder wiederholt und verfeinert worden – vor kurzem
ging eine Brain-Imaging-Version des Experiments durch
die Nachrichten –, und seine grundsätzliche Schlussfolge-
rung steht noch immer.
190
190 Book Title
  Bewusstsein

Irgendwo in den Katakomben des Gehirns, möglicher-


weise in den Basalganglien, wird eine einzelne synaptische
Vesikel freigesetzt, eine Schwelle überschritten und ein
Aktionspotenzial ausgelöst. Dieser einzelne Spike löst eine
ganze Kaskade von Spikes aus, die in den prämotorischen
Cortex einfallen (der per Bahnung schon darauf vorberei-
tet ist, aktiv zu werden). Nach Empfang des „Los!“-Signals
benachrichtigt der prämotorische Cortex den Motorcortex,
dessen Pyramidenzellen ihre detaillierten Anweisungen
zum Rückenmark und zur Muskulatur hinabsenden. All
dies geschieht präkognitiv. Dann schaltet sich eine corticale
Struktur ein, die das Gefühl der Handlungskompetenz ver-
mittelt. Sie erzeugt das bewusste Gefühl „Ich habe mich
gerade dazu entschlossen, das Handgelenk zu bewegen“.
Das Timing der Muskelbewegung und das Gefühl, sie zu
wollen, fallen zeitlich mehr oder minder zusammen, doch
die tatsächliche Entscheidung zur Bewegung trat früher
auf, vor dem Sich-dessen-bewusst-Werden.

 andlungskompetenz oder das


H
­bewusste Erleben des Willens
Warum wiederholen Sie das Experiment nicht jetzt gleich,
wenn auch ohne EEG-Elektroden. Legen Sie los und beu-
gen Sie Ihr Handgelenk. Sie erleben drei verwandte Gefüh-
le, die mit den initialen Plan zur Bewegung, dem Wollen
der Bewegung und der tatsächlichen Bewegung korrespon-
dieren. Jedes hat sein eigenes, typisches subjektives Etikett.
Zuerst kommt die Absicht ( Intention), etwas zu bewegen.
Sobald Sie Ihre Hand bewegt haben, fühlen Sie Inhaber-
7  Der freie Wille und das Gehirn   191

schaft – es ist Ihre Hand, die sich bewegt hat – und Hand-
lungskompetenz. Sie haben sich zu dieser Bewegung ent-
schieden. Wenn ein Freund Ihre Hand nehmen und das
Handgelenk beugen würde, so würden Sie fühlen, dass Ihr
Handgelenk in einer bestimmten Weise gebeugt wird (In-
haberschaft), aber sie würden keine Absicht erleben. Und
Sie würden sich für die Bewegung Ihres Handgelenks auch
nicht verantwortlich fühlen. Wenn Sie sich beim Aufste-
hen reflexartig mit der Hand am Tisch abstützen würden,
um aufzustehen, würden Sie Handlungskompetenz spüren,
aber wenig oder keine Intention.
Dies ist ein vernachlässigter Gedanke in der Debatte
um den freien Willen – dass das Geist-Körper-Geflecht ein
spezifisches, bewusstes Empfinden einer vorsätzlichen Be-
wegung schafft, eine überzeugende Erfahrung wie „Ich will
dies“ oder „Ich bin der Urheber dieser Handlung“. Wie an-
dere subjektive Erfahrungen hat dieses Gefühl des Wollens
einen bestimmten phänomenalen Inhalt. Es hat ein Quale,
das sich in seiner Art nicht vom Quale einer bitter schme-
ckenden Mandel unterscheidet.
Vor dem Hintergrund des Libet-Experiments kann man
sagen: Unser Gehirn entscheidet, dass es nun an der Zeit
sei, das Handgelenk zu beugen, und das Bereitschaftspoten-
zial baut sich auf. Nur wenig später wird das neuronale
Korrelat der Handlungskompetenz aktiv. Diesem Perzept
schreiben wir irrigerweise Kausalität zu. Da diese Ereignisse
blitzschnell, in weniger als einer Sekunde, ablaufen, ist es
nicht leicht, sie einzufangen.
Das Gefühl der Handlungskompetenz ist für die tatsäch-
liche Entscheidung nicht mehr verantwortlich als der Don-
ner für den Blitz. Donner und Blitz hängen zwar ­eindeutig
192
192 Book Title
  Bewusstsein

kausal zusammen – der Aufbau von elektrischer Ladung


zwischen Regenwolken und Boden führt zu einem La-
dungsausgleich, der eine akustische Schockwelle auslöst –,
doch wir modernen Menschen werfen beides nicht durchei-
nander. Stellen Sie sich aber vor, Sie seien ein Cro-Magnon-
Mensch, neben dem ein Blitz in einen Baum einschlägt. Sie
sind vom Donner fast betäubt, Sie riechen das Ozon und
das brennende Holz. Wäre es dann nicht völlig vernünftig,
den Blitz dem Donner zuzuschreiben („die Götter sind sehr
wütend“)?
Aber selbst wenn Ihr Gefühl, eine Handlung zu wollen,
diese Handlung nicht tatsächlich hervorruft, vergessen Sie
nicht, dass es noch immer Ihr Gehirn ist, das die Handlung
initiiert hat, nicht das Gehirn eines anderen. Der Urheber
ist eben nur nicht Ihr bewusster Geist.
Gilt diese Schlussfolgerung nur für die engen Grenzen
von Libets Labor? Schließlich stand den Probanden ledig-
lich frei zu entscheiden, wann sie ihr Handgelenk bewegen
oder – in einer Variante des Experiments – ob sie ihr rechtes
oder ihr linkes Handgelenk bewegen. Das ist so, als ob man
eine von zwei identischen Coladosen nimmt – wen küm-
mert’s, welche man wählt? Wie steht es mit wichtigeren
Handlungen, die langes und gründliches Überlegen verlan-
gen? Sollen Sie sich einen Hund anschaffen oder nicht? Sol-
len Sie ihre Partnerin heiraten oder nicht? Geht all solchen
weit reichenden Entscheidungen ein Bereitschaftspotenzial
voraus? Bisher wissen wir es nicht.
Alle Sinne lassen sich zum Narren halten. Wissenschaftler
und Künstler nennen solche Fehler Täuschungen oder Illu-
sionen. Auch das Gefühl der Handlungskompetenz arbeitet
nicht hundertprozentig fehlerfrei. Daher werden nicht all
7  Der freie Wille und das Gehirn   193

unsere Handlungen davon begleitet. Gut eingeübte Zom-


biehandlungen – Ihre Finger, die auf der Tastatur tippen
– rufen ein schwaches Empfinden von Wollen hervor oder
auch gar keines. Sie müssen sich zwingen und Ihren Willen
wie einen inneren Muskel anspannen, um die Furcht davor
zu überwinden, an dieser exponierten Stelle vorbeizuklet-
tern. Aber sobald Sie daran vorbei sind, kommt Ihr Körper
ganz gut ohne bewusste Willensausübung zurecht.
Bei Automatismen fehlt das Gefühl der Handlungskom-
petenz unter Umständen völlig. Zu den Beispielen gehören
Besessenheit und Trance bei religiösen Zeremonien, post-
hypnotische Suggestion, Hexenbrett-Spiele, Wünschel-
rutengehen und andere pseudo-okkulte Phänomene. Die
Teilnehmer bestreiten vehement, dass sie selbst die Ursache
all dieser Phänomene sind. Stattdessen schieben sie die Ver-
antwortung auf ferne Götter, Gespenster oder den Hypno-
tiseur.
Ganz abseits aller okkulten Praktiken stellt man auch im
Alltag fest, dass man Dinge tut, ohne es eigentlich zu wol-
len. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Menschen stark
hin- und hergerissen sind. Der zwanghafte Spieler findet
sich plötzlich im Kasino und ist überzeugt, heute werde er
einen Riesengewinn machen, obwohl er auf einer gewissen
Ebene „weiß“, dass er am Ende des Abends alles verloren
haben wird. Dabei sind mächtige psychodynamische Kräfte
am Werk, die das Gefühl der Verantwortlichkeit schmälern.
Psychische Krankheiten können offenkundige patho-
logische Auswirkungen haben, die das Erleben der Wil-
lensfreiheit einschränken. Das Spektrum umfasst klinisch
Fettleibige, die nicht aufhören können, zu viel zu essen,
Drogenabhängige, die zu Prostituierten oder Kriminellen
194
194 Book Title
  Bewusstsein

werden, um ihre Sucht zu finanzieren, Individuen mit Tou-


rette-Syndrom, die regelmäßig in verrückte Zuckungen
samt Tics und Grimassenschneiden verfallen, Menschen
mit Zwangsstörungen, die ihre Hände so oft waschen, bis
sie zu bluten beginnen, oder die bizarre Rituale ausführen
müssen, wenn sie ins Bad gehen. Die Patienten wissen, dass
das, was sie tun, gestört, „verrückt“ ist, dennoch können sie
nicht damit aufhören. Sie sind zweifellos nicht immer Herr
ihres Verhaltens.
Gleiches gilt für Nager, die mit dem Protisten Toxoplas-
ma gondii infiziert sind. Während normale Ratten Plätze,
an denen es nach Katzenurin riecht, tunlichst meiden, ver-
liert eine Ratte, die sich diesen einzelligen Parasiten ein-
gefangen hat, ihre natürliche Scheu vor diesem Geruch
und fühlt sich unter Umständen sogar davon angezogen.
Für eine infizierte Ratte ist es eine ungünstige Wendung
des Schicksals, ihre Katzenfurcht zu verlieren, denn so
wird sie eher von einer Katze gefressen. Aber dem Parasiten
kommt das gerade recht. Denn wenn die Katze die Ratten
gefressen hat, kann der raffinierte blinde Passagier im In-
neren seines neuen Wirts, der Katze, seinen Lebenszyklus
vervollständigen ( T. gondii kann sich nur im Katzendarm
sexuell vermehren). Die Verhaltensmanipulation ist recht
spezifisch: Kranke Ratten sind in der Regel weder weniger
vorsichtig und ängstlich als gesunde, noch verlieren sie ihre
Furcht vor einem Ton, der mit schmerzhaften elektrischen
Schlägen verbunden ist. T. gondii infiziert gezielt die Tei-
le des Gehirns, die einer ganz bestimmten Angst zugrunde
liegen – die Dichte seiner Zysten in der Amygdala ist fast
doppelt so hoch wie in anderen Hirnstrukturen, die an der
Geruchswahrnehmung beteiligt sind.
7  Der freie Wille und das Gehirn   195

Was diesem Detail über das Leben in der Wildnis epi-


sche Bedeutung verleiht, ist die Tatsache, dass zehn Prozent
der US-amerikanischen Bevölkerung mit T. gondii infiziert
sind; man spricht von Toxoplasmose. Seit langem ist be-
kannt, dass Schizophrene häufiger als der Durchschnitt der
Bevölkerung Antikörper gegen T. gondii tragen, und man-
che Wissenschaftler nehmen sogar an, dass dieser häufige
Parasit eine Rolle bei der Evolution kultureller Gewohnhei-
ten spielt. Dennoch haben infizierte Individuen vermutlich
das Gefühl, zu tun, was sie wollen. Doch wie in einem Hol-
lywood-Horrorstreifen führen sie vielleicht nur die stum-
men Kommandos ihrer Hirnparasiten aus.
Daniel M. Wegener, ein Psychologe an der Harvard Uni-
versity, ist einer der Pioniere der modernen Erforschung
von Willensentscheidungen. In seinem fesselnden Buch
The Illusion of Conscious Will („Die Illusion des bewussten
Willens“) beschäftigt er sich mit dem Wesen des Gefühls
der Handlungskompetenz und dessen Manipulation.
In einem überzeugenden Experiment forderte Wegener
eine Freiwillige auf, sich ein schwarzes Hängekleid und wei-
ße Handschuhe anzuziehen und sich mit herabhängenden
Armen vor einen Spiegel zu stellen. Direkt hinter ihr stand
ein genauso gekleideter Labormitarbeiter. Er streckte seine
Arme unter ihren Achseln durch, so dass die Frau, wenn sie
in den Spiegel sah, das Gefühl hatte, seine beiden behand-
schuhten Hände seien ihre eigenen (der Kopf des Mannes
war hinter einem Schirm verborgen). Beide Teilnehmer des
Experiments trugen Kopfhörer, durch die ihnen Wegener An-
weisungen geben konnte, wie „Klatschen Sie in die Hände“
oder „Schnippen Sie mit den Fingern Ihrer linken Hand“.
Die Probandin sollte zuhören und berichten, in wieweit sie
196
196 Book Title
  Bewusstsein

die Handbewegungen des Labormitarbeiters als ihre eigenen


empfand. Wenn die Frau Wegeners Anweisungen hörte, be-
vor die Hände des Mannes sie ausführten – verglichen mit
der Situation, wenn Wegeners Instruktionen auf die Hand-
bewegungen des Mannes folgten –, berichtete sie, verstärkt
das Gefühl zu haben, die Handlung selbst willentlich herbei-
geführt zu haben. Wenn beide aufgefordert wurden, dreimal
in die Hände zu klatschen, hatte die Frau ein stärkeres Ge-
fühl, den Applaus der Hände zu bewirken, als wenn sie keine
Instruktionen hörte und die Hände klatschen sah. Wie ge-
sagt, die Frau bewegte ihre eigenen Hände gar nicht– allein
die Hände des Mannes hinter ihr bewegten sich.
Das Gefühl der Handlungskompetenz wird von einem
Hirnmodul generiert, das die Urheberschaft an vorsätzli-
chen Handlungen nach einfachen Regeln zuordnet. Wenn
Sie geplant haben, mit Ihren Finger zu schnippen, und
hinabschauen und diese genau das tun sehen, kommt das
Handlungskompetenz-Modul zu dem Schluss, dass Sie die-
se Handlung initiiert haben. Einige andere Regeln beziehen
sich auf den zeitlichen Ablauf. Stellen Sie sich vor, Sie gehen
allein durch einen dunklen Wald und hören einen Ast kna-
cken. Wenn das Knacken erklang, direkt nachdem Sie auf
einen Ast getreten sind, sind Sie erleichtert, weil ihr Hand-
lungskompetenz-Modul zu dem Schluss kommt, dass Sie
selbst das Geräusch ausgelöst haben und alles in Ordnung
ist. Aber wenn das Geräusch auftrat, bevor Sie auf den Ast
getreten sind, könnte Ihnen etwas oder jemand folgen, und
all Ihre Sinne sind in Alarmbereitschaft.
Die Realität dieses Gefühls von Intention und Hand-
lungskompetenz ist durch Beobachtungen von Neurochi-
rurgen untermauert worden, die gelegentlich Hirngewebe
7  Der freie Wille und das Gehirn   197

entfernen müssen, etwa weil es sich um einen Tumor han-


delt oder weil es sich heftig entladen und einen epilepti-
schen Grand-mal-Anfall auslösen kann. Wie viel Gewebe
man entfernt oder kauterisiert, ist ein Balanceakt zwischen
Scylla (malignes oder anfallgefährdetes Material an Ort und
Stelle lassen) und Charybdis (Regionen entfernen, die für
Sprache oder andere wichtige Verhalten eine entscheidende
Rolle spielen). Um zu entscheiden, wie viel Material ent-
fernt werden sollte, testet der Hirnchirurg die Funktion des
umliegenden Gewebes, indem er es mit kurzen elektrischen
Strompulsen reizt, während der Patient jeden Finger nach-
einander mit dem Daumen berührt, zählt oder andere ein-
fache Aufgaben ausführt.
Im Lauf solcher Tests reizte Ithzak Fried – der Chirurg,
den ich bereits in Kapitel 5 erwähnt habe – das präsupple-
mentorische motorische Areal, einen Teil des ausgedehn-
ten Cortexbereichs vor dem primären motorischen Cortex.
Wie sich herausstellte, kann eine derartige Stimulation
den Drang auslösen, eine Extremität zu bewegen. Patien-
ten berichteten, sie spürten das Bedürfnis, ein Bein, einen
Ellbogen oder einen Arm zu bewegen. Michel Desmurget
und Angela Sirigu vom Institut des Sciences Cognitives im
französischen Bron entdeckten etwas Ähnliches, als sie den
posterioparietalen Cortex reizten, ein Areal, das dafür ver-
antwortlich ist, visuelle Informationen in motorische Kom-
mandos umzuwandeln. Eine Erregung dieser grauen Subs-
tanz rief ein Empfinden reiner Intention hervor. Patienten
berichteten: „Es fühlte sicht an, als wollte ich meinen Fuß
bewegen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich es erklären soll“,
„Ich verspürte den Wunsch, meine rechte Hand zu bewe-
gen“ oder „Ich hatte den Wunsch, meine Zunge im Mund
198
198 Book Title
  Bewusstsein

zu rollen“. Bemerkenswerterweise führten die Patienten


diese mittels Elektroden induzierten Absichten niemals aus.
Ihre Empfindungen kamen von innen, ohne Ermutigung
durch den Arzt.

Zwischenbilanz
Ich fasse zusammen:. Der klassische Determinismus ist aus
dem Spiel, die Zukunft ist durch die Gegenwart nicht voll-
ständig festgelegt. Zweifellos ist die quantenmechanische
Zufälligkeit ein inhärentes Merkmal der Grundstruktur der
Materie. Welche Zukunft stattfindet, ist nicht völlig deter-
miniert. Unsere Handlungen sind nicht vorherbestimmt.
Die resignierte Klage in Omar Khayyams Vierzeiler

Der Finger schreibt und eilt sogleich davon,


Kein Schmeicheln lockt, kein Schummeln ihn zurück
Zu tilgen auch nur eine halbe Zeile.
Und keine Träne löscht ein einzig’ Wort.

gilt nicht für die Zukunft. Unser sich entfaltendes Leben


ist ein ungeschriebenes Buch. Unser Schicksal liegt in unse-
ren Händen und in den vorwitzigen Händen des übrigen
Universums. Der komplexe Charakter des Gehirns und
das deterministische Chaos begrenzen die Präzision, mit
der selbst der bestinformierte Wissenschaftler der Zukunft
Verhalten voraussagen kann. Einige Handlungen werden
immer spontan, unerklärlich erscheinen. In welchem Maße
der quantenmechanische Indeterminismus dabei eine Rolle
spielt, bleibt ungewiss.
7  Der freie Wille und das Gehirn   199

Die starke cartesische Version des freien Willens – die


Überzeugung, dass man unter identischen Bedingungen
und bei identischen Hirnzuständen willentlich hätte anders
handeln können – ist mit den Naturgesetzen unvereinbar.
Es gibt keine Möglichkeit, wie der bewusste Geist, das Re-
fugium der Seele, das Gehirn beeinflussen könnte, ohne
verräterische Spuren zu hinterlassen. Die Physik erlaubt
solche gespenstigen Interaktionen nicht. Alles in der Welt
passiert aus einem oder mehreren Gründen, die ebenfalls
Teil dieser Welt sind; das Universum ist kausal geschlossen.
Zumindest im Labor entscheidet das Gehirn deutlich vor
dem Geist; das bewusste Erleben, eine einfache Handlung
ausführen zu wollen – das Gefühl der Handlungskompe-
tenz oder Urheberschaft –, ist der tatsächlichen Ursache
nachgeordnet. Genauso wie sensorische Formen bewussten
Erlebens hat Handlungskompetenz einen phänomenalen
Inhalt oder Qualia, ausgelöst von cortico-thalamischen
Schaltkreisen. Psychologische Experimente, psychiatrische
Patienten und neurochirurgische Eingriffe demonstrieren
die Realität dieses Aspekts vorsätzlichen Handelns. Wie die
Entscheidung zustande kommt, ist bisher ungeklärt. War-
um wir uns so entscheiden, wie wir uns entscheiden, bleibt
uns weitgehend verborgen.
Ich habe aus diesen Erkenntnissen zwei Lehren gezogen.
Erstens habe ich mir eine pragmatischere, kompatibilis-
tischere Konzeption des freien Willens zu Eigen gemacht.
Ich versuche, so frei von inneren und äußeren Zwängen
zu leben wie möglich. Die einzige Ausnahme sollten Ein-
schränkungen sein, die ich mir vorsätzlich und bewusst auf-
erlege, darunter vor allen ethisch motivierte Erwägungen:
Was auch immer man tut, man verletze keinen anderen
200
200 Book Title
  Bewusstsein

und versuche, den Planeten in einem besseren Zustand zu


hinterlassen, als man ihn vorgefunden hat. Andere Über-
legungen betreffen Familienleben, Gesundheit, finanzielle
Sicherheit und Achtsamkeit. Zudem versuche ich, meine
unbewussten Motive, Wünsche und Ängste besser zu ver-
stehen. Ich denke gründlicher über meine Handlungen und
Emotionen nach, als es mein jüngeres Ich tat.
Ich betrete damit kein Neuland – diese Lehren predi-
gen weise Menschen aus allen Kulturen schon seit Jahr-
tausenden. Über den Eingang des Apollotempels in Del-
phi schrieben die alten Griechen gnothi seauton („erkenne
dich selbst“), und eine lateinische Version ziert die Wand
in der Küche des Orakels in Matrix. haben Eine fast 500
Jahre alte spirituelle Tradition der Jesuiten verlangt, täglich
zweimal sein Gewissen zu prüfen. Dabei handelt es sich
um eine Übung in Selbstwahrnehmung: Die ständige in-
nere Selbstbefragung schärft unsere Sensibilität für unsere
Handlungen, Wünsche und Motive. Man versucht ernst-
haft, die eigenen Fehler zu finden, und bemüht sich, sie zu
eliminieren. Man versucht, seine unbewussten Motive ins
Bewusstsein zu holen. Das führt nicht nur dazu, dass man
sich selbst besser kennenlernt, sondern auch dazu, ein Le-
ben zu führen, dass besser mit dem eigenen Charakter und
den eigenen langfristigen Zielen harmoniert.
Ungelöst bleibt die Frage, wie das phänomenale Gefühl
der Handlungskompetenz aus neuronaler Aktivität er-
wächst. Wieder Bewusstsein! Wir sind zum inneren Sank-
tum des Körper-Geist-Problems zurückgekehrt. Im nächs-
ten Kapitel, dem spekulativsten im ganzen Buch, skizziere
ich eine informationstheoretische Lösung für dieses Rätsel.
Kapitel 8
In welchem ich argumentiere, dass
Bewusstsein eine grundlegende Eigenschaft
von vernetzten Entitäten ist, und von der
Theorie der integrierten Information schwär-
me, die viele rätselhafte Eigenschaften des
Bewusstseins erklärt und eine Vorlage für den
Bau empfindungsfähiger Maschinen liefert

Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben,


das unserem Blick ständig offen liegt [ich meine das Uni-
versum]. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man
nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchsta-
ben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist
in der Sprache der Mathematik geschrieben.
– Galileo Galilei, Il Saggiatore
( Die Goldwaage, 1623)

Die Beschäftigung mit der physischen Basis des Bewusst-


seins steht im Zentrum meines intellektuellen Lebens – und
das ist seit zwei Dutzend Jahren so. Francis Crick und ich
haben Tage lang in seinen Studio gesessen und darüber
diskutiert, wie lebende Materie subjektive Gefühle hervor-
bringen kann. Wir haben zwei Bücher und zwei Dutzend
gelehrte Artikel geschrieben und die Notwendigkeit erklärt,

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_8,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
202
202 Book Title
  Bewusstsein

bestimmte Aspekte des Bewusstseins mit bestimmten Ge-


hirnmechanismen und -regionen zu verknüpfen. Wir pos-
tulierten eine Beziehung zwischen Bewusstsein und der
rhythmischen Entladung von corticalen Neuronen, die alle
20–30 Millisekunden feuern. (Unsere so genannte 40-Hertz-
Hypothese erlebt momentan im Zusammenhang mit der
selektiven Aufmerksamkeit eine Renaissance). Wir betonten,
wie wichtig es ist, dass die Neurone ihre Aktionspotenzia-
le synchron abfeuern. Wir unterstrichen die entscheiden-
de Rolle der neocorticalen Pyramidenzellen in Schicht 5
als Vermittler für den Inhalt des Bewusstseins. Wir argu-
mentierten, dass eine geheimnisvolle Schicht von Neuro-
nen unterhalb des cerebralen Cortex, das so genannte
Claustrum (Vormauer), essenziell für das Gewahrwerden
von Perzepten ist, die Bilder und Schallereignisse oder Bilder
und Tasteindrücke umfasst. Ich habe unzählige größtenteils
überflüssige Manuskripte und Bücher gelesen und an Hun-
derten von Seminaren teilgenommen (wobei ich gelegentlich
eingeschlafen bin). Ich habe mit Wissenschaftlern, Freunden
und Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft über
Bewusstsein und Gehirn diskutiert. Ich habe sogar einen
Brief an den Playboy zu diesem Thema geschrieben.
Dabei wurde mir eines immer klarer: Ganz gleich, wel-
ches die entscheidenden neuronalen Schaltkreise sind – ihre
Identifizierung wird ein fundamentales Problem aufwerfen,
auf das ich erstmals 1992 stieß. Es war ganz zu Anfang mei-
ner rastlosen Wanderungen, auf denen ich enthusiastisch
die frohe Botschaft verkündete, Bewusstsein falle von nun
an in die Domäne des Empirischen und sei der wissen-
schaftlichen Analyse zugänglich.
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 203

Nach einem derartigen Seminar stellte mir der inzwischen


verstorbene Neurologe Volker Henn in Zürich eine einfache
Frage: Nehmen wir an, dass alle Ihre und Cricks Ideen auf-
gehen und die corticalen Neurone in Schicht 5 im visuellen
Cortex, die rhythmisch feuern und ihren Output nach vorn
ins Gehirn senden, die entscheidenden neuronalen Korre-
late des Bewusstseins sind. Was ist an diesen Zellen, das
Bewusstsein entstehen lässt? Inwiefern unterscheidet sich
Ihre Hypothese von Descartes’ Annahme, die Zirbeldrüse
sei der Sitz der Seele, des Bewusstseins? Die Aussage, dass
rhythmisch feuernde Neurone das sensorische Empfinden
erzeugen, Rot zu sehen, ist nicht weniger rätselhaft als die
Annahme, die Aktivität von Seelenpneuma in der Zirbel-
drüse führe zu den Erregungszuständen der Seele. Ihre
Sprache ist mechanistischer als die Descartes’ – schließlich
sind seither dreieinhalb Jahrhunderte vergangen –, doch
das grundlegende Dilemma bleibt so akut wie eh und je. In
beiden Fällen müssen wir als Glaubensgegenstand akzep-
tieren, dass physische Aktivität in irgendeiner Form in der
Lage ist, ein phänomenales Erleben hervorzurufen.
Ich antwortete Henn hinhaltend, die Wissenschaft werde
diese Frage im Lauf der Zeit beantworten, doch im Au-
genblick sollte sich die Neurophysiologie darum bemühen,
die Korrelate des Bewusstseins zu finden. Sonst werde sich
die Erforschung der Wurzeln des Bewusstseins unnötig
­verzögern.
Henns Frage lässt sich verallgemeinern. Globale Verfüg-
barkeit, seltsame Schleifen, Attraktor-Netzwerke, dieser
Neurotransmitter oder jene Hirnregion waren alle bereits
Kandidaten für den Ursprung des Bewusstseins. Zu den
unkonventionelleren Vorschlägen gehören quantenmecha-
204
204 Book Title
  Bewusstsein

nische Verschränkungen oder andere exotische physikali-


sche Phänomene. Aber ganz gleich, welche Merkmale sich
als entscheidend erweisen, was ist mit denjenigen, die Sub-
jektivität erklären? Francis und ich spielten mit der Idee,
am Bewusstsein müssten Feedback-Schaltkreise im Cortex
beteiligt sein, aber was an einer derartigen Rückkopplung
bringt Phänomenologie, bringt Subjektivität hervor? Auch
ein Raumthermostat arbeitet mit Feedback. Wenn die
Lufttemperatur in der Umgebung einen zuvor eingestellten
Wert erreicht, wird die Kühlung ausgestellt. Hat der Ther-
mostat ein Mindestmaß an Bewusstsein? Wie unterscheidet
sich dies grundsätzlich von der Überzeugung, dass auf das
Reiben einer Messinglampe hin ein Dschinn erscheint?
Viele Jahre lang schob ich Henns Frage als unproduktiv
beiseite. Ich wollte das Bewusstseinsprojekt vorantreiben.
Ich wollte Molekularbiologen und Neurowissenschaftler
animieren, an Bord zu kommen und ihren ständig wach-
senden Werkzeugkasten zu nutzen, um die entscheidenden
Schaltkreise des Geistes zu erforschen.
Doch Henns Herausforderung muss beantwortet wer-
den. Am Ende meiner Suche muss eine Theorie stehen, die
erklärt, wie und warum die physische Welt in der Lage ist,
phänomenales Erleben hervorzubringen. Eine solche Theo-
rie darf nicht vage und larifari sein, sondern sie muss kon-
kret, quantifizierbar und testbar sein. Ich glaube, dass die
Informationstheorie, richtig formuliert und präzisiert, dies
leisten und das neuronale Verschaltungsdiagramm jedes
Lebewesens analysieren und die Form des Bewusstseins vor-
aussagen kann, die dieser Organismus erlebt. Sie kann Vor-
lagen für das Design von Bewusstseinsartefakten entwerfen.
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 205

Und überraschenderweise liefert sie einen grandiosen Blick


auf die Evolution des Bewusstseins im Universum.
Das sind kühne, ehrgeizige und hochtrabende Behaup-
tungen. Haben Sie ein wenig Geduld, während ich sie
rechtfertige.

 unde, oder: Erwächst Bewusstsein


H
aus dem Gehirn?
Wenn Sie mit Hunden leben, Geschöpfen, für die ich große
Zuneigung empfinde, wissen Sie, dass sie nicht nur auf un-
erwartete Weise gescheit sind, sondern auch verschiedene
Emotionen zeigen. Das erste Mal, als Nosy, meine Deut-
sche Schäferhündin, hoch oben in den Rocky Mountains
auf Schnee traf, steckte sie ihre Schnauze in den seltsamen
weißen Stoff, warf etwas davon in die Luft und fing es wie-
der auf. Sie biss in die Eiskruste, sie bellte eine Schneewand
an und schließlich warf sie sich auf den Rücken, wälzte sich
und rieb die kalten Kristalle in ihr Fell. Sie war die fleisch-
gewordene Lebensfreude! Ein paar Wochen lang war Nosy
niedergeschlagen, als ein Welpe unseren Haushalt vergrö-
ßerte und sich das Leben um das neue Familienmitglied
drehte; sie war aufgeregt, wenn sie einen kleinen Tennisball
zurückbrachte, aggressiv, wenn ein anderer Hund sie her-
ausforderte, beschämt, den Schwanz eingeklemmt, wenn sie
etwas Verbotenes getan hatte, ängstlich und beruhigungs-
mittelbedürftig bei Feuerwerk, gelangweilt, wenn ich den
ganzen Tag arbeitete und sie vernachlässigte, aufmerksam,
sobald ein Auto auf die Einfahrt bog, ungehalten, wenn sie
206
206 Book Title
  Bewusstsein

darauf wartete, dass beim Kochen etwas Essbares auf den


Boden fiel und eines der Kinder sie knuffte, und neugierig,
wenn wir vom Einkauf zurückkamen und sie ihre Schnauze
in jede Tüte steckte, um den Inhalt zu inspizieren.
Als Rudeltiere haben Hunde eine breite Palette von
ausgeklügelten Kommunikationsfertigkeiten. Niemand
geringeres als der scharfisinnige Beobachter Charles Dar-
win, Hundeliebhaber durch und durch, schrieb in Die Ab-
stammung des Menschen folgendes über die Lautgebung von
Hunden:

Bei dem domestizierten Hunde haben wir das Bellen des


Eifers, wie auf der Jagd, das des Ärgers ebenso wie das
Knurren, das Heulen der Verzweiflung, z.  B. wenn sie
eingeschlossen sind, das Heulen bei Nacht, das Bellen der
Freude, wenn sie z. B. mit ihrem Herren spazieren gehen
dürfen, und das sehr bestimmte Bellen des Verlangens oder
der Bitte, z. B. wenn sie wünschen, dass eine Tür oder ein
Fenster geöffnet werde.

Schwanz, Schnauze, Pfoten, Rumpf, Ohren und Zunge


eines Hundes drücken seine inneren Zustände, seine Ge-
fühle aus. Hunde verstellen sich nicht – sie können sich
nicht verstellen.
Diese Fülle von Verhaltensweisen und die zahlreichen
strukturellen und molekularen Ähnlichkeiten zwischen
dem caninen und dem menschlichen Gehirn führen mich
zu dem Schluss, dass Hunde zu phänomenalem Erleben fä-
hig sind. Jede Philosophie oder Theologie, die ihnen Emp-
findungsfähigkeit abspricht, ist höchst unzureichend. Ich
habe das schon intuitiv als Kind gespürt; ich konnte nicht
verstehen, warum Gott am Tag des Jüngsten Gerichts Men-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 207

schen, aber nicht Hunde wiederauferstehen lassen würde.


Das ergab doch keinen Sinn. Und was für Hunde gilt, gilt
auch für Affen, Mäuse, Delfine, Kopffüßer und wahrschein-
lich für Bienen. Wir alle sind Kinder von Mutter Natur, wir
alle erleben unser Dasein.
Während dieses Argument in westlichen Ländern mit
monotheistischen Glaubenssystemen, die Tieren keine See-
le zubilligen, weniger Anhänger findet, sind östliche Reli-
gionen toleranter. Hinduismus, Buddhismus, Sikhismus
und Dschainismus sehen alle Geschöpfe als uns verwandte,
empfindsame Wesen an. Auch die amerikanischen Urein-
wohner waren frei vom Glauben an die menschliche Aus-
nahmestellung, die in der jüdisch-christlichen Weltsicht so
tief verankert ist.
Tatsächlich denke ich oft, dass Hunde der wahren bud-
dhistischen Natur näher stehen als Menschen. Sie wissen
instinktiv, was wichtig ist im Leben. Sie sind unfähig zu
Bosheit oder Niedertracht. Ihre Lebensfreude, ihr Eifer zu
gefallen, ihre einfache und unverbildete Treue bis zum Tod
sind Dinge, nach denen wir Menschen nur streben können.
Hunde und Menschen schmiedeten vor Jahrzehntausen-
den in den Savannen, Steppen und Wäldern, als Menschen
und Wölfe in enger Nachbarschaft zu leben begannen, ein
Bündnis. Diese vorteilhafte Beziehung, in deren Verlauf
beide Arte eine Coevolution durchgemacht und einander
domestiziert haben, geht bis zum heutigen Tag weiter.
Dennoch ist es keine Frage, dass die Breite und Tiefe des
caninen Bewusstseins geringer ist als die unsrige. Hunde
denken nicht über sich selbst nach oder fragen sich, warum
sie den Schwanz so komisch bewegen. Ihre Eigenwahr-
nehmung ist begrenzt. Sie leiden nicht unter Adams Fluch,
dem Wissen um ihre eigene Sterblichkeit. Sie teilen nicht
208
208 Book Title
  Bewusstsein

die menschlichen Verrücktheiten von Angst als existenziel-


le Grunderfahrung über den Holocaust bis hin zu Selbst-
mordattentaten.
Nehmen wir beispielsweise einfachere Tiere – einfach ge-
messen an der Zahl der Neurone und ihrer Konnektivität –
wie Mäuse, Heringe oder Fliegen. Ihr Verhalten ist weniger
differenziert und stereotyper als das von Hunden. Daher
ist es nicht unvernünftig anzunehmen, dass die Bewusst-
seinszustände dieser Tiere weniger reich, mit weniger As-
soziationen und Bedeutungen angefüllt sind als das canine
Bewusstsein.
Aufgrund solcher Überlegungen argumentieren Wissen-
schaftler, dass Bewusstsein eine emergente Eigenschaft des
Gehirns ist. Diese Schlussfolgerung wird von Biologen all-
gemein geteilt. Was bedeutet das genau? Eine emergente
Eigenschaft ist etwas, das von dem Ganzen, aber nicht un-
bedingt von seinen einzelnen Teilen ausgedrückt wird. Das
System besitzt Eigenschaften, die sich nicht in seinen Teilen
manifestieren.
Diese Idee von der Emergenz muss gar keine mystischen
New-Age-Untertöne enthalten. Denken wir an die Nässe
von Wasser, seine Fähigkeit, Oberflächen zu benetzen. Das
ist eine Folge intermolekularer Wechselwirkungen, vor al-
lem der Wasserstoffbrückenbindung zwischen benachbar-
ten Wassermolekülen. Ein oder zwei H2O-Moleküle allein
sind nicht nass. Die Gesetze der Vererbung erwachsen aus
den molekularen Eigenschaften der DNA und anderer
Makromoleküle. Ein Verkehrsstau erwächst, wenn zu viele
Autos auf zu engem Raum in verschiedene Richtungen
streben. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine.
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 209

In dieser noch zu definierenden Art und Weise ist Be-


wusstsein nicht manifest, wenn eine Handvoll Neurone
miteinander verdrahtet werden; es entsteht erst aus großen
zellulären Netzwerken. Je größer die Zellverbände, desto
größer das Repertoire bewusster Zustände, über das das
Netzwerk verfügt.
Will man die materielle Basis des Bewusstseins verste-
hen, braucht es ein grundlegendes Verständnis der Art und
Weise, wie diese engmaschigen Netzwerke aus Millionen
heterogener Nervenzellen den Teppich unseres geistigen
Lebens weben. Um die atemberaubende Komplexität des
Gehirns zu visualisieren, können wir uns ein kleines Pro-
pellerflugzeug vorstellen, das wie bei einem dieser typischen
Naturfilme stundenlang über den unendlichen Amazonas-
regenwald fliegt. In diesem Regenwald gibt es etwa so viele
Bäume wie Neurone in unserem Gehirn (falls der Regen-
wald weiter mit der gegenwärtigen Geschwindigkeit abge-
holzt wird, wird diese Aussage in ein paar Jahren nicht mehr
stimmen). Die morphologische Vielfalt dieser Bäume, ihre
verschiedenen Wurzeln, Zweige und Blätter, überzogen von
Ranken und Lianen, lässt sich ebenfalls mit Nervenzellen
vergleichen. Stellen Sie sich das vor: Ihr Gehirn, verglichen
mit dem ganzen Amazonasregenwald.
Die Fähigkeit von Neuronenkoalitionen, aus dem Aus-
tausch mit der Umgebung und ihresgleichen zu lernen, ist
immer wieder unterschätzt worden. Individuelle Neuro-
ne sind außerordentlich komplexe Informationsprozesso-
ren; die Konfiguration der Dendriten jedes Neurons, die
den synaptischen Input verarbeiten, und des Axons jedes
Neurons, das den Output verteilt, ist einzigartig. Die Sy-
210
210 Book Title
  Bewusstsein

napsen wiederum sind Nanomaschinen, ausgestattet mit


Lernalgorithmen, die Stärke und Dynamik dieser neurona-
len Verbindungen über Zeiträume von Minuten bis hin zu
einer ganzen Lebensspanne modifizieren. Menschen haben
wenig direkte Erfahrungen mit derart riesigen, komplexen
und adaptiven Netzen.
Die konzeptuelle Schwierigkeit zu verstehen, wie Be-
wusstsein aus dem Gehirn erwächst, hat eine historische
Entsprechung in der Debatte im 19. und frühen 20. Jahr-
hundert über Vitalismus und die Mechanismen der Ver-
erbung. Die chemischen Gesetze, die der Vererbung zu-
grunde liegen, waren außerordentlich verwirrend. Wie wa-
ren all die Informationen, die ein einzigartiges Individuum
festlegen, in einer Zelle gespeichert? Wie wurden diese In-
formationen kopiert und an die Abkömmlinge der Zellen
weitergegeben? Wie konnten die damals bekannten, einfa-
chen Moleküle die befruchtete Eizelle in die Lage verletzen,
sich zu einem erwachsenen Organismus zu entwickeln?
Diese Verwirrung drückte sich 1916 in den Zeilen von
William Bateson, Englands führendem Genetiker, deutlich
aus:

Die Eigenschaften von Lebewesen sind in gewisser Wei-


se mit einer materiellen Basis verknüpft, vielleicht in ge-
wissem Ausmaß mit dem Kernchromatin; und doch ist es
undenkbar, dass Teilchen von Chromatin oder irgendeiner
anderen Substanz, wie komplex sie auch immer sein mag,
die Kräfte besitzen könnten, welche man unseren Fak-
toren oder Genen zusprechen muss. Die Annahme, dass
Chromatinteilchen, voneinander ununterscheidbar und
jeder bekannten Untersuchung zufolge nahezu homogen,
durch ihre materielle Natur all diese Eigenschaften des Le-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 211

bens übermitteln könnten, übersteigt die Vorstellungskraft


selbst des überzeugtesten Materialisten.

Um Leben zu erklären, führten viele Gelehrte eine geheim-


nisvolle vitalistische Kraft ein, so Aristoteles die Entelechie,
Schopenhauer den phänomenalen Willen oder Bergson den
élan vital. Andere, wie der Physiker Erwin Schrödinger,
Vater der berühmten Schrödinger-Gleichung, postulierten
neue Gesetze der Physik. Chemiker konnten sich nicht vor-
stellen, dass die exakte Reihenfolge von vier Nukleotidty-
pen in einem fadenartigen Molekül den Schlüssel enthielt.
Genetiker unterschätzten die Fähigkeit von Makromolekü-
len, große Mengen an Informationen zu speichern. Sie ver-
standen die erstaunliche Spezifität von Proteinen nicht, die
über Milliarden Jahre durch die natürliche Selektion ent-
standen waren. Doch dieses spezielle Rätsel wurde schließ-
lich gelöst. Wir wissen nun, dass Leben ein emergentes
Phänomen ist, das sich letztlich auf Chemie und Physik
zurückführen lässt. Da ist keine Lebenskraft oder -energie,
die die anorganische, tote Welt von der organischen Welt
des Lebendigen trennt.
Dieses Fehlen einer typischen Trennungslinie ist typisch
für Emergenzen. Ein einfaches Molekül wie H2O ist ein-
deutig nicht lebendig, ein Bakterium sehr wohl. Aber was
ist mit dem Prionprotein, das Rinderwahnsinn auslöst? Was
ist mit Viren? Sind sie leblos oder leben sie?
Wenn Bewusstsein ein emergentes Phänomen ist und
sich letztlich auf das Zusammenspiel von Nervenzellen re-
duzieren lässt, dann verfügten einige Tiere über Bewusst-
sein, andere nicht. Winzige Gehirne – wie das des berühm-
ten Nematoden Caenorhabditis elegans, nicht größer als der
Buchstabe l, dessen Gehirn genau 302 Neurone umfasst –
212
212 Book Title
  Bewusstsein

haben wahrscheinlich keinen Geist. Große Gehirne – wie


die 16 Mrd. Neurone eines Menschen – haben einen. Diese
Art von Emergenz steht im Widerspruch zu einem grund-
legenden Perzept physikalischen Denkens – ex nihilo nihil
fit oder aus nichts entsteht nichts. Es ist eine Art Ur-Erhal-
tungssatz. Wenn ursprünglich nichts da ist, wird eine kleine
Zugabe auch keinen Unterschied machen.
Ich war vormals ein Vertreter der Vorstellung, Bewusst-
sein erwachse aus komplexen neuronalen Netzen, nachzu-
lesen in meinem früheren Buch Bewusstsein. Doch im Lau-
fe der Jahre hat sich mein Denken verändert. Subjektivität
unterscheidet sich zu radikal von etwas Physikalischem,
um ein emergentes Phänomen zu sein. Ein blauer Farbton
unterscheidet sich grundlegend von der elektrischen Ak-
tivität in den farbempfindlichen Zapfen des Auges, auch
wenn mir völlig klar ist, dass letzteres für ersteres notwen-
dig ist. Das eine wohnt meinem Gehirn inne und lässt sich
von außen nicht erschließen, während das andere objek-
tive Eigenschaften hat, zu denen ein externer Beobachter
Zugang hat. Das Phänomenale stammt aus einem anderen
Königreich als das Physikalische und unterliegt anderen
Gesetzen. Und ich sehe nicht, wie sich die Trennung zwi-
schen Geschöpfen ohne und mit Bewusstsein durch mehr
Neurone überbrücken ließe.
Es gibt eine klare Alternative zu Emergenz und Reduk-
tionismus, die für einen konvertierten Platoniker wie mich
verlockend ist. Leibniz legte sie Anfang des 18. Jahrhun-
derts zu Beginn seiner Monadologie ( Monadenlehre) dar:

1. Die MONADEN/wovon wir allhier reden werden/sind


nichts anders als einfache Substanzen/woraus die zusam-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 213

men gesetzten Dinge oder composita bestehen. Unter


dem Wort/einfach/verstehet man dasjenige/welches kei-
ne Teile hat.
2. Es müssen dergleichen einfache Substanzen sein, weil
composita vorhanden sind; denn das Zusammengesetzte
ist nichts anders als eine Menge oder ein Aggregat von
einfachen Substanzen.

Diese Sichtweise bringt einen metaphysischen Preis mit


sich, den viele nicht zahlen möchten – das Eingeständnis,
dass sich Erfahrung, die innere Perspektive eines funktio-
nierenden Gehirns, grundsätzlich von dem materiellen
Stoff unterscheidet, der sie bewirkt, und sich niemals völlig
auf die physischen Eigenschaften des Gehirns zurückführen
lassen wird.

 ewusstsein ist ein immanenter


B
Bestandteil von Komplexität
Ich glaube, dass Bewusstsein eine fundamentale, eine ele-
mentare Eigenschaft lebender Materie ist. Es lässt sich nicht
von etwas anderem ableiten; es ist, um es mit Leibniz’ Wor-
ten zu sagen, eine einfache Substanz.
Mein Gedankengang entspricht dabei den Argumenten
von Wissenschaftlern, die elektrische Ladung studieren.
Ladung ist keine emergente Eigenschaft lebender Dinge,
wie ursprünglich gedacht, als Elektrizität in den zuckenden
Muskeln von Fröschen entdeckt wurde. Es gibt keine un-
geladenen Partikel, die als Aggregat eine elektrische Ladung
produzieren. Ein Elektron hat eine elektrische Ladung, und
214
214 Book Title
  Bewusstsein

ein Proton – ein Wasserstoffion – hat eine positive Ladung.


Die Gesamtladung eines Moleküls oder Ions ist einfach
die Summe aller Ladungen der einzelnen Elektronen und
Protonen, ganz gleich, in welcher Beziehung sie zueinander
stehen. Soweit es Chemie und Biologie betrifft, ist Ladung
eine intrinsische Eigenschaft dieser Teilchen. Elektrische
Ladung erwächst nicht aus Materie.
Und so ist es auch mit dem Bewusstsein. Bewusstsein
geht mit organisierten Materiebrocken einher. Es ist der
Organisation des Systems immanent. Es ist eine Eigenschaft
komplexer Entitäten und kann nicht weiter auf das Wirken
noch grundlegenderer Eigenschaften zurückgeführt wer-
den. Wir sind an der Basis des Reduktionismus angelangt.
Wir befinden uns in einem Kosmos, in dem sämtliche
Systeme miteinander wechselwirkender Teile ein gewisses
Maß an Empfindungsfähigkeit besitzen. Je größer und
­stärker vernetzt das System ist, desto höher der Grad an
­Bewusstsein. Das menschliche Bewusstsein ist viel raffinier-
ter als das canine Bewusstsein, weil es 20-mal mehr Neuro-
ne aufweist als ein Hundehirn und zudem stärker vernetzt
ist.
Beachten Sie, was ich ausgelassen habe: Ich schrieb „Sys-
teme miteinander wechselwirkender Teile“ und nicht „or-
ganische Systeme miteinander wechselwirkender Teile“.
Wegen einer weit verbreiteten Überzeugung unter Philoso-
phen des Geistes und Ingenieuren, die als Funktionalismus
bekannt ist, habe ich lebende Systeme nicht herausgegriffen.
Um eine Vorstellung vom Funktionalismus zu bekommen,
denken Sie an das Multiplizieren oder Dividieren von Zah-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 215

len. Das lässt sich mithilfe von Bleistift und Papier, durch
Verschieben eines Rechenschiebers, durch Bewegung der
Kugeln eines Abakus oder durch Drücken von Tasten eines
Taschenrechners bewältigen. All diese Hilfsmittel werden
unter Berücksichtigung derselben algebraischen Regeln be-
nutzt; daher sind sie funktionell äquivalent. Sie unterschei-
den sich hinsichtlich Flexibilität, Eleganz, Preis etc., doch
im Grunde erfüllen sie alle dieselbe Aufgabe. Die Suche
nach künstlicher Intelligenz basiert auf einem festen Glau-
ben an den Funktionalismus – Intelligenz kann in ganz ver-
schiedenen Gewändern daherkommen, ob in einem Schä-
del, einem Exoskelett oder einer Aluminiumbox.
Auf das Bewusstsein angewandt, bedeutet Funktionalis-
mus, dass jedes System, dessen innere Struktur derjenigen
des menschlichen Gehirns äquivalent ist, denselben Geist
besitzt. Wenn jedes Axon, jede Synapse und jede Nerven-
zelle in meinen Gehirn von Drähten, Transistoren und
elektrischen Schaltungen ersetzt würde, die exakt dieselbe
Funktion erfüllten, bliebe mein Geist derselbe. Die elek-
tronische Version meines Gehirns wäre vielleicht klobiger
und größer, doch solange jede neuronale Komponente ein
getreues Silizium-Ebenbild besäße, würde das Bewusstsein
erhalten bleiben.
Für den Geist zählt nicht die Art von Substanz, aus der
das Gehirn besteht, sondern vielmehr deren Organisation
– die Art und Weise, wie die Teile des Systems zusammen-
spielen, die kausalen Wechselbeziehungen, kurz gesagt:
„Bewusstsein ist unabhängig vom Substrat“. Der Funktio-
nalismus leistet Biologen und Ingenieuren beim Ergründen
und Nachahmen der Natur gute Dienste, warum ihn also
abschaffen, wenn es ums Bewusstsein geht?
216
216 Book Title
  Bewusstsein

Bewusstsein und Informationstheorie


Um die Entdeckungen an der Schnittstelle von Geist und
Gehirn zu verstehen, wie sie in Kapitel 4, 5 und 6 beschrie-
ben sind, ist ein großmaßstäbliches, logisch konsistentes
Rahmenwerk nötig, eine Theorie des Bewusstseins. Ein
solches Denkgebäude muss Bewusstsein mit Synapsen und
Neuronen verknüpfen – der heilige Gral der Wissenschaft
des Bewusstseins. Es kann nicht rein deskriptiv sein (à la
„Bewusstsein greift auf dieses Teile des Gehirns und jene
Verbindungen zurück“), es muss präskriptiv sein (es muss
also die notwendigen und die hinreichenden Bedingungen
für das Auftreten von Bewusstsein nennen). Diese Theorie
muss auf Urprinzipien basieren und phänomenales Erle-
ben auf irgendeinen elementaren Aspekt des Universums
zurückführen. Und eine solche Theorie muss präzise und
streng sein, nicht nur eine Ansammlung metaphysischer
Annahmen.
Eine Grundvoraussetzung für jede wissenschaftliche
Theorie ist, dass sie sich mit messbaren Größen beschäf-
tigen muss. Messen, was messbar ist, und messbar machen,
was es nicht ist, wie Galilei es ausdrückte. Eine Theorie des
Bewusstseins muss Bewusstsein quantifizieren und dabei
spezifische Facetten der Neuroanatomie und Neurophysio-
logie mit Qualia verknüpfen, und sie muss erklären, warum
das Bewusstsein in Narkose und im Schlaf schwindet. Sie
muss erklären, welchen Nutzen, wenn überhaupt, Bewusst-
sein dem Organismus bringt. Sie sollte mit einer kleinen
Zahl von Axiomen beginnen und sie rechtfertigen, indem
sie sich auf unsere eigenen phänomenalen bewussten Erfah-
rungen bezieht. Diese Axiome würden gewisse Konsequen-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 217

zen nach sich ziehen, die sich auf die übliche empirische
Weise verifizieren lassen sollten.
Mit einer einzigen bemerkenswerten Ausnahme, zu der
ich gleich kommen werde, gibt es kaum laufende Grundla-
genforschung, die sich mit der Theorie des Bewusstseins be-
schäftigt. Es gibt Modelle, die den Geist als eine Reihe von
Funktionsmodulen beschreiben, mit Pfeilen, die in Kästen
hinein- und hinausführen und sie miteinander verbinden:
ein Modul für frühes Sehen, eines für Objekterkennung,
eines für Arbeitsgedächtnis und so weiter. Diese Module
werden mit spezifischen Verarbeitungsstadien im Gehirn
gleichgesetzt. Anhänger dieses Ansatzes zeigen dann auf
einen dieser Kästen und erklären, wann immer eine Infor-
mation in diesen Kasten eintritt, werde sie wie von Zauber-
hand mit phänomenologischen Bewusstsein versehen.
Ich selbst bin da nicht frei von Schuld. Francis’ und meine
Behauptung, „Informationen, die zwischen Regionen hö-
herer Ordnung im visuellen Cortex und den Planungssta-
dien im präfrontalen Cortex hin- und hergeschickt werden,
werden bewusst erlebt“, ist vom selben Kaliber. Empirisch
mag es stimmen, dass ein bidirektionaler Dialog zwischen
dem hinteren und dem vorderen Hirnpol subjektive Emp-
findungen hervorruft, aber warum das so ist, bleibt offen.
In dieselbe Kategorie fällt das Modell des globalen
Arbeitsraums des Kognitionsforschers Bernhard Baars. Die-
ses Modell lässt sich auf die Blackboard-Architektur aus der
Frühzeit der künstlichen Intelligenz zurückführen, bei der
Spezialprogramme Zugang zu einer gemeinsamen Informa-
tionsablage, dem Blackboard, hatten. Baars nimmt an, dass
eine solche gemeinsame Verarbeitungsressource im mensch-
lichen Geist existiert. Was für Daten auch immer in den
218
218 Book Title
  Bewusstsein

Arbeitsraum eingespeist werden, sie stehen einer Unzahl


von untergeordneten Prozessen zur Verfügung – Arbeits-
gedächtnis, Sprache, dem Planungsmodul und so weiter.
Der Akt des globalen Ausstrahlens der Information macht
uns diese Information bewusst. Der Arbeitsraum ist jedoch
sehr klein, daher kann nur ein einziges Perzept oder eine
einzige Erinnerung auf einmal repräsentiert werden. Neue
Informationen konkurrieren mit alten und verdrängen sie.
Der Grundgedanke hinter dem Modell des globalen
Arbeitsraums ist durchaus schlüssig. Bewusste Informa-
tionen sind für das System als Ganzes global zugänglich.
Zombiesysteme behalten ihre Informationen hingegen für
sich. Ihre Informationen sind eingekapselt und entziehen
sich dem Zugriff des Bewusstseins.
Der renommierte Molekularbiologe Jean-Pierre Chan-
geaux und sein jüngerer Kollege, der Mathematiker und
Kognitionswissenschaftler Stanislas Dehaene vom Collège
de France in Paris, haben dieses Modell in ein neurona-
les Idiom gegossen. Sie argumentieren, dass weit reichende
Pyramidenzellen im präfrontalen Cortex Baars’ globalen
Arbeitsplatz schaffen. Dehaenes Gruppe leitet einen konzer-
tierten Versuch, diesen neuronalen Arbeitsplatz zu erhellen,
wobei innovative psychophysikalische Verfahren, funktio-
nelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und elektroen‑
cephalographische (EEG)-Ableitungen von chirurgischen
Patienten zum Einsatz kommen. Ihr Modell erklärt den
abrupten Übergang zwischen nicht-bewusster, lokaler Ver-
arbeitung und bewusster, globaler Verarbeitung sowie den
Zugang zum Inhalt gut.
Deskriptive Modelle sind für die Formulierung einer
überprüfbaren Hypothese entscheidend. Sie speisen die
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 219

Frühphase einer jeden Wissenschaft. Doch man sollte sie


nicht mit präskriptiven Theorien verwechseln, denn sie
können Henns Frage nicht beantworten: Warum sollte zu-
rückstrahlende, integrierte neuronale Aktivität zwischen
Vorder- und Hinterpol des Cortex bewusst wahrgenom-
men werden? Warum erwächst aus dem Verkünden von In-
formationen mit dem Megaphon weit reichender corticaler
Fasern subjektives Empfinden? Die Modelle konstatieren
lediglich das, was passiert; sie erklären es nicht.
Sehr lange haben Francis und ich Versuche abgelehnt,
Bewusstsein formal zu beschreiben. Die vielen Wracks zer-
schellter Körper-Geist-Modelle, die in der intellektuellen
Landschaft herumliegen, speisten unsere Skepsis, dass rei-
nes Theoretisieren zum Erfolg führen könne, selbst wenn es
durch Mathematik und Computersimulationen unterstützt
wird. Francis’ Erfahrungen in der Molekularbiologie ver-
stärkten dieses Vorurteil gegen rein theoretisches Arbeiten:
Mathematische Modelle – einschließlich seines eigenen
vergeblichen Versuchs, die Codierungstheorie zu nutzen –
haben bei den spektakulären Erfolgen der Molekularbiolo-
gie bestenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. Deshalb
sprachen Francis und ich uns in unseren Schriften und Vor-
trägen stets für ein dynamisches experimentelles Programm
aus, um die biologische Basis des Bewusstseins zu finden
und zu erforschen.
In der letzten Dekade seines Lebens erwärmte sich
Francis, immer bereit, seine Meinung angesichts neuer Er-
kenntnisse zu hinterfragen, für die Informationstheorie als
geeignete Sprache für eine Theorie des Bewusstseins. Wa-
rum? Nun, in Ermanglung einer speziellen Substanz, wie
Descartes’ Denkstoff, der einen Organismus auf magische
220
220 Book Title
  Bewusstsein

Weise mit Subjektivität ausstattet, muss Bewusstsein aus


kausalen Interaktionen zwischen hyperverknüpften Hirn-
zellen erwachsen. In diesem Zusammenhang bedeutet kau-
sal, dass die Aktivität in Neuron A sofort oder in fernerer
Zukunft direkt oder indirekt die Wahrscheinlichkeit von
Aktivität in Neuron B beeinflusst.
Ich wollte ebenfalls etwas Allgemeineres. Ich wollte Ant-
worten auf die Frage, ob die Milchstraße, ein Ameisenhü-
gel, eine Biene oder ein iPhone über Bewusstsein verfügt.
Dafür brauchte ich eine Theorie, die über die Details der
Kosmologie, Verhaltensbiologie, Neurobiologie und der
Analyse elektrischer Schaltkreise hinausging. Richtig for-
muliert, ist die Informationstheorie ein mathematischer
Formalismus, der die kausalen Interaktionen der Kompo-
nenten jedes Systems quantifizieren kann. Sie gibt an, wie
sehr der Zustand dieses Teils hier – ein Stern, eine Ameise,
ein Neuron oder ein Transistor – jenes Teil dort beeinflusst
und wie dieser Einfluss sich im Laufe der Zeit entwickelt.
Die Informationstheorie katalogisiert und charakterisiert
die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Teile einer
jeden zusammengesetzten Einheit vollständig.
Information ist auch die lingua franca des 21. Jahrhun-
derts. Die Vorstellung, dass Aktienpreise, Bücher, Fotos,
Filme, Musik und unser genetischer Bauplan allesamt in
endlose Datenströme aus Nullen und Einsen verwandelt
werden können, ist uns vertraut. Ein einfacher Lichtschal-
ter kann in einer von zwei Positionen stehen, ein oder aus;
zu wissen, in welcher Stellung oder in welchem Zustand er
sich befindet, entspricht einem Bit an Information. Ein paar
Bit sind nötig, um die Größe des Einflusses zu bestimmen,
die eine Synapse auf das Neuron ausübt, mit dem sie in
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 221

Kontakt steht. Bits sind die Atome der Daten. Sie werden
über Ethernet-Kabel oder drahtlos übermittelt, gespeichert,
wieder abgerufen, kopiert und in gigantischen Wissensspei-
chern abgelegt. Mit dieser extrinsischen Vorstellung von In-
formation, dem Unterschied, der den Unterschied macht,
sind Kommunikationsingenieure und Computerwissen-
schaftler innig vertraut.
Der Philosoph David Chalmers glaubt an das Potenzial
der Informationstheorie, Bewusstsein zu verstehen. Seine
Zwei-Aspekte-Theorie des Bewusstseins nimmt an, dass In-
formation zwei eigenständige, inhärente und elementare
Merkmale hat: ein extrinsisches und ein intrinsisches. Das
verborgene, intrinsische Attribut der Information ist, wie es
sich anfühlt, ein solches System zu sein; irgendein Mindest-
maß, irgendein minimales Quale ist damit verbunden, ein
informationsverarbeitendes System zu sein. So ist das Uni-
versum nun einmal. Alles, was unterscheidbare physikalische
Zustände aufweist – ob zwei Zustände, wie ein Ein/Aus-
Schalter oder Milliarden von Zuständen, wie eine Festplatte
oder ein Nervensystem – hat subjektive, flüchtige, bewusste
Zustände. Und je größer die Zahl der diskreten Zustände,
desto umfangreicher das Repertoire bewusster Erfahrungen.
Chalmers’ Formulierung der Zwei-Aspekte-Theorie ist
grob. Sie betrachtet nur die Gesamtmenge an Informationen,
wohingegen das Bewusstsein nicht mit der bloßen Anhäu-
fung von Bits zunimmt. In welcher aussagekräftigen Weise
aber ist eine Festplatte mit einem Gigabyte Speicherkapazität
weniger empfindsam als eine mit 128 Gigabyte? Sicherlich
geht es nicht nur um die Anhäufung von immer mehr Daten,
sondern um die Beziehung zwischen den einzelnen Daten-
bits. Die Architektur des Systems, seine innere Organisa‑
222
222 Book Title
  Bewusstsein

tion, ist entscheidend für das Bewusstsein. Aber Chalmers’


Überlegungen beschäftigen sich nicht mit der Architektur,
der inneren Organisation des Systems. Sie können daher
weder erklären, warum gewisse Sektoren des Gehirns weit-
aus wichtiger für das Bewusstsein sind als andere, noch
welcher Unterschied zwischen unbewussten und bewussten
Handlungen besteht und so weiter.
Auf unserer unablässigen Suche stießen Francis und ich
auf eine raffiniertere Version der Zwei-Aspekte-Theorie. Im
Zentrum steht das Konzept der integrierten Information, das
von Giulio Tononi formuliert wurde, der damals mit Ge-
rald Edelman am Neurosciences Institute im kalifornischen
La Jolla arbeitete, heute aber Professor an der University of
Wisconsin in Madison ist. Edelman ist der Immunologe,
der zur Entschlüsselung der chemischen Struktur von Anti-
körpern beitrug, wofür er einen Nobelpreis erhielt.
Giulio arrangierte auf dem wunderbaren Gelände von
Edelmans Institut ein Mittagessen für uns vier. Wir trafen uns
in einer Atmosphäre, die von der Rivalität zwischen den bei-
den großen alten Männern der Biologie geprägt war. Was eine
Zusammenkunft in gespannter Atmosphäre hätte sein kön-
nen, war jedoch herzlich, mit exzellentem Essen und einem
endlosen Vorrat an Witzen und Anekdoten, wie sie Edelman
gern erzählt. Wir jüngeren Männer fanden Gefallen aneinan-
der, und dieses Gefühl hat sich im Lauf der Zeit nur verstärkt.
An diesem Nachmittag lernten wir vier voneinander.
Francis und ich begriffen besser, warum Tononi und Edel-
man die globalen, holistischen Eigenschaften der riesigen
Felder des cortico-thalamischen Komplexes und die Bedeu-
tung des Schweigens – der Instrumente, die gerade nicht
spielen – betonten. (Ich werde diese kryptische Formulie-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 223

rung ein paar Seiten weiter erklären). Die beiden begannen


ihrerseits zu verstehen, warum wir darauf beharrten, die Su-
che nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins kön-
ne sich lokalen, partikulären Eigenschaften von Neuronen
und ihren Verbindungen zuwenden.
An dieser Stelle will ich Giulios Ideen kurz vorstellen.

 ie Theorie der integrierten


D
Information
Es ist eine banale Beobachtung, dass jeder bewusste Zu-
stand außerordentlich informativ ist. Tatsächlich ist er so
spezifisch, dass Sie niemals genau dasselbe Gefühl zweimal
erleben werden – niemals! Nicht nur, dass jeder bewuss-
te Zustand unzählige alternative Erfahrungen ausschließt.
Wenn Sie Ihre Augen in einem pechschwarzen Raum öff-
nen, sehen Sie gar nichts. Pure Dunkelheit ist offenbar die
einfachste visuelle Erfahrung, die man haben kann. Viel-
leicht glauben Sie sogar, sie beinhalte so gut wie keine In-
formationen. Das pechschwarze Perzept besagt jedoch im-
plizit, dass Sie kein ruhiges, gut beleuchtetes Wohnzimmer
sehen, nicht den Granitfelsen Half Dome im Yosemite-Park
und auch kein Bild aus irgendeinem vergangenen oder zu-
künftigen Film. Ihre subjektive Erfahrung schließt all diese
anderen Dinge, die Sie gesehen, sich vorgestellt, gehört, ge-
rochen haben könnten, implizit aus. Als eine solche Reduk-
tion der Ungewissheit oder „Entropie“ hat der Vater der In-
formationstheorie, der Elektroingenieur Claude Shannon,
Information definiert. Das heißt: Jedes bewusste Erleben ist
außerordentlich informativ, außerordentlich differenziert.
224
224 Book Title
  Bewusstsein

Bewusste Zustände teilen eine weitere Eigenschaft: Sie


sind stark integriert. Jeder bewusste Zustand ist eine Mo-
nade, eine Einheit – er lässt sich nicht in Komponenten
zerlegen, die unabhängig von einander erlebt werden. Ganz
gleich, wie sehr wir uns bemühen, wir können die Welt we-
der in Schwarzweiß sehen, noch können wir lediglich die
linke (oder rechte) Hälfte unseres Gesichtsfelds sehen (ohne
ein Auge zu schließen oder irgendwelche anderen Manipu-
lationen vorzunehmen). Während ich diese Zeilen schreibe,
lausche ich der Klage Cantus in Memoriam Benjamin Brit-
ten des mystischen Minimalisten Arvo Pärt. Mir ist die gan-
ze Klanglandschaft bewusst. Ich bin nicht in der Lage, die
Röhrenglocke oder den finalen Abstieg in die Stille nicht zu
hören. Ich erfasse all dies als Einheit.
Ganz gleich, welcher Information ich mir bewusst bin,
sie ist vollständig und ganzheitlich in meinem Geist prä-
sent. Dieser Einheit des Bewusstseins liegt eine Fülle kau-
saler Interaktionen zwischen den relevanten Teilen meines
Gehirns zugrunde. Wenn Areale des Gehirns fragmentiert,
abgekoppelt oder isoliert werden, wie es in der Narkose ge-
schieht, verblasst das Bewusstsein. Werden umgekehrt viele
Regionen synchron aktiviert – was sich im gemeinsamen
Steigen und Fallen des EEG-Signals äußert, wie im Tief-
schlaf – ist die Integration stark, doch es werden nur wenige
spezifische Informationen übermittelt.
Giulio Tononis Theorie der integrierten Information
leitet aus diesen beiden Prämissen ab, dass jedes bewusste
System eine singuläre, integrierte Einheit mit einem großen
Repertoire hoch differenzierter Zustände sein muss. Das ist
sein Rezept – Integration und Differenzierung. Das bildet
seine Monade. Nicht mehr und nicht weniger.
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 225

Die Speicherkapazität der Festplatte auf meinem schnit-


tigen Apple-Laptop übersteigt meine Fähigkeiten, mich
zu erinnern, um ein Vielfaches. Doch die Informationen
auf der Festplatte sind nicht integriert. Die Familienfotos
auf meinem Mac sind nicht miteinander verknüpft. Das
Laptop weiß nicht, dass das Mädchen auf diesen Bildern
meine Tochter zeigt, während sie von einem bezaubern-
den kleinen Mädchen zu einem schlaksigen Teenager und
schließlich zu einer anmutigen jungen Frau heranwächst,
oder dass sich die „Gabi“-Einträge in meinem Kalender
auf Treffen mit der Person auf diesen Bildern beziehen. Für
den Computer sind all diese Daten dasselbe, ein riesiges,
zufälliges Geflecht von Nullen und Einsen. Für mich be-
sitzen diese Bilder Bedeutung, weil meine Erinnerungen in
Tausenden anderer Fakten und Erinnerungen wurzeln und
mit ihnen vernetzt sind. Je stärker sie vernetzt sind, desto
inhaltsreicher werden sie.
Giulio formt aus diesen Axiomen die beiden Säulen sei-
ner Theorie der integrierten Information. Er postuliert, dass
die Quantität bewusster Erfahrung, die von jedem physikali-
schen System in einem bestimmten Zustand generiert wird,
gleich der Menge an integrierter Information ist, die von
dem System in diesem Zustand generiert wird, und zwar
zusätzlich zu der Information, die von seinen einzelnen Tei-
len generiert wird. Das System muss zwischen einem gro-
ßen Repertoire von Zuständen diskriminieren (Differenzie-
rung), und es muss dies als Teil eines einheitlichen Ganzen
tun, das nicht in eine Kollektion von kausal unabhängigen
Teilen zerlegt werden kann (Integration).
Stellen Sie sich ein Nervensystem vor, das in einen be-
stimmten Zustand eintritt, in dem einige Neurone feuern,
226
226 Book Title
  Bewusstsein

während andere stumm bleiben. Nehmen wir an, dass das


Gehirn in diesem Zustand die Farbe Rot erlebt. Das tut es
kraft seiner Fähigkeit, Informationen über seine weit ver-
teilten neuronalen Domänen zu integrieren, Informatio-
nen, die nicht generiert werden können, wenn man das Ge-
hirn in kleinere, eigenständige Komponenten zerlegt. Wird
das Corpus callosum, das die rechte und die linke Hirn-
hemisphäre verbindet, vollständig durchtrennt, hört – wie
schon erwähnt – die Integration zwischen den beiden Hirn-
hemisphären auf. Informationstheoretisch heißt das: Die
Entropie des gesamten Gehirns wird nun zur Summe der
beiden unabhängigen Entropien der linken und der rech-
ten Hemisphäre, und die integrierte Information ist gleich
Null. Das Gehirn als Ganzes macht keine bewussten Erfah-
rungen mehr. Vielmehr integriert jede Hemisphäre eigen-
ständig Informationen, wenn auch weniger als das ganze
Gehirn. Im Schädel eines Split-Brain-Patienten leben zwei
getrennte Gehirne und zwei bewusste geistige Einheiten,
jede mit Informationen, zu denen die andere Hemisphä-
re keinen Zugang hat. Das führt zu faszinierenden Fragen
über die Kontinuität des Selbst. Existiert das Gefühl vom
Ich, des Person-Seins, in beiden Hemisphären weiter oder
ist es nur mit der dominanten, sprechenden Hemisphäre
verknüpft? Solche Fragen sind bisher noch nie in geeigneter
Weise diskutiert worden.
Sehr selten kann auch das Umgekehrte eintreten, etwa
wenn Zwillinge mit verwachsenen Schädeln geboren wer-
den. In einem aktuellen Fall gibt es glaubhafte Belege für
das Umgekehrte bei zwei jungen Mädchen, deren Gehirne
auf Ebene ihrer Thalami verbunden sind. Jedes Mädchen
hat offenbar Zugriff auf das, was die Schwester sieht. Das ist
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 227

eine bemerkenswerte Vermengung von zwei geistigen Ein-


heiten und steht weit über der ekstatisch zelebrierten orgas-
mischen Auflösung von Tristans und Isoldes Identitäten in
Wagners gleichnamiger Oper.
Die Theorie der integrierten Information führt mit Φ
(Phi) ein präzises Maß für den Grad des Bewusstseins ein.
Φ wird in Bit ausgedrückt und quantifiziert die Reduktion
der Ungewissheit, die in einem System – oberhalb und zu-
sätzlich zu jenen Informationen, welche unabhängig davon
von seinen einzelnen Teilen generiert werden – auftritt,
wenn das System in einen bestimmten Zustand eintritt.
(Wir erinnern uns: Information ist die Reduktion von Un-
gewissheit). Die einzelnen Teile – die Module – des Systems
sind für so viel nicht-integrierte, unabhängige Informatio-
nen wie möglich verantwortlich. Wenn all die individuellen
Brocken des Gehirns, für sich allein gesehen, bereits einen
Großteil der Informationen ausmachen, ist daher wenig
weitere Integration erfolgt. Φ misst, wie synergistisch das
Netzwerk in seinem gegenwärtigen Zustand ist, in welchem
Maß also das System mehr als die Summe seiner Teile ist.
Daher kann man Φ als Maß für den Holismus des Netz-
werks ansehen.
Die Theorie der integrierten Information trifft eine Rei-
he von Vorhersagen. Eine der zunächst überraschenden und
daher mächtigen Vorhersagen ist, dass integrierte Informa-
tion aus kausalen Interaktionen innerhalb des Systems er-
wächst. Wenn diese Interaktionen nicht mehr stattfinden
können, schrumpft Φ.
Ich staune beispielsweise immer wieder (wie Sie vielleicht
auch) über den Burj-Khalifa-Turm in Dubai, der sich fast
einen Kilometer hoch in den azurblauen Wüstenhimmel
228
228 Book Title
  Bewusstsein

erhebt. Wenn ich diesen Wolkenkratzer auf meinem Com-


puterschirm betrachte, feuern Neurone in meinem visuel-
len Cortex, die seine Form repräsentieren, während mein
auditorischer Cortex mehr oder weniger stumm bleibt.
Nehmen wir an, dass alle Neurone in meinem auditori-
schen Cortex durch ein kurz wirkendes Barbiturat zum Ver-
stummen gebracht worden wären, während meine Formen-
neurone weiterhin auf dieses phallische Gebilde reagieren.
Ich wäre nicht in der Lage, irgendetwas zu hören. Da es
von Anfang an kaum Geräusche gab, sollte man annehmen,
dass das keinen Unterschied macht. Die Theorie der integ-
rierten Information sagt jedoch voraus, dass Φ – und daher
die perzeptuelle Erfahrung – eine andere ist, obwohl die
Aktivität in meinem Gehirn in beiden Fällen dieselbe ist
(Aktivität im visuellen Formenzentrum, aber nicht in der
auditorischen Region). Die Tatsache, dass Neurone feuern
könnten, es aber nicht tun, ist von Bedeutung und unter-
scheidet sich deutlich von der Situation, in der Neurone
nicht feuern können, weil sie künstlich zum Schweigen ge-
bracht wurden.
Eine der berühmteren Sherlock-Holmes-Geschichten
ist  Silberstern. Der Plot dreht sich um „das merkwürdige
Ereignis mit dem Hund in der Nacht“, bei dem der De-
tektiv den ratlosen Polizeiinspektor darauf hinweist, dass
der Hund nicht gebellt hat. Das wäre nicht von Bedeutung
­gewesen, wenn der Hund sowieso nicht hätte bellen kön-
nen, weil er einen Maulkorb trug. Doch das tat er nicht,
und er blieb eben deshalb stumm, weil er den Eindring-
ling kannte. Und genauso ist es im Gehirn. Sämtliche Ins-
trumente im cortico-thalamischen Orchester sind von Be-
deutung, diejenigen, die spielen, und diejenigen, die nicht
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 229

spielen. Auch wenn der praktische Unterschied in den


Qualia bei diesem Beispiel sehr klein ist, sollten empfind-
liche psychophysikalische Techniken in der Lage sein, ihn
zu entdecken.
Dieser holistische Aspekt von Giulios Theorie der integ-
rierten Information entkräftet nicht die These, dass einige
Teile und Regionen des Gehirns für bestimmte Qualia-
Klassen wichtiger sind als andere. Das Abschalten des vi-
suellen Formenzentrums im Cortex wird nur das visuelle
Perzept des Wolkenkratzers eliminieren, während es die
Art, wie die Welt klingt, kaum beeinflusst. Umgekehrt wird
ein Abschalten des auditorischen Cortex den Anblick des
höchsten Gebäudes der Welt kaum beeinträchtigen, mich
aber ohne Gehör lassen. Daher bleibt die Suche nach den
neuronalen Korrelaten von Farben, Tönen und Handlungs-
kompetenz von Bedeutung.
Φ zu berechnen, ist eine große Herausforderung, weil
man alle Möglichkeiten, wie das System geteilt werden
kann, in Betracht ziehen muss – das heißt, jede Möglich-
keit, das Netzwerk in zwei Teile zu zerlegen, alle Möglich-
keiten, es in drei Teile zu schneiden, und so weiter, bis man
auf der atomaren Ebene anlangt, wo alle Einheiten, die das
Netzwerk ausmachen, separat betrachtet werden. In der
Kombinatorik ist die Zahl all dieser Partitionen die Bell-
sche Zahl. Sie ist groß. Für die 302 Neurone, aus denen
das Nervensystem von C. elegans besteht, ist die Anzahl der
Möglichkeiten, dieses Netzwerk in Teile zu zerlegen, gleich
einer 10 mit 467 Nullen – eine hyperastronomische Zahl!
Daher ist es verflixt schwierig, Φ für irgendein Nervensys-
tem zu berechnen, und erfordert Faustregeln, Abkürzungen
und Annäherungen.
230
230 Book Title
  Bewusstsein

Computersimulationen kleiner Netzwerke zeigen, dass


es schwierig ist, hohe Φ-Werte zu erreichen. In der Regel
weisen solche Schaltkreise nur ein paar Bit integrierter In-
formation auf. Netzwerke mit hohem Φ-Wert erfordern
sowohl Spezialisierung als auch Integration, ein typisches
Merkmal der neuronalen Verschaltung im cortico-thala-
mischen Komplex. Φ beschreibt die Größe des bewussten
Repertoires eines beliebigen Netzwerks aus kausal interagie-
renden Teilen. Je stärker integriert und höher differenziert
ein System ist, desto bewusster ist es.
Synchrones Feuern unter Neuronen ist ein anderes Mit-
tel der Integration. Wohlgemerkt, wenn alle Neurone im
Gehirn synchron feuern würden, wie bei einem epilepti-
schen Grand-mal-Anfall, wäre die Integration maximal, die
Differenzierung jedoch minimal. Φ zu maximieren, heißt,
den idealen Punkt zwischen diesen beiden gegenläufigen
Tendenzen zu finden.
Im Hinblick auf neuronale Verbindungen ist das hervor-
stechende Merkmal von Pyramidenzellen im cerebralen
Cortex ihre Fülle an lokalen, erregenden (exzitatorischen)
Verbindungen, ergänzt durch weniger zahlreiche Verbin-
dungen zu weit entfernten Neuronen. Netzwerke, die sich
aus solchen Komponenten aufbauen, werden in der Mathe-
matik als Smallworld- oder Kleine-Welt-Graphen bezeichnet.
Zwei beliebige Einheiten in diesen Netzwerken, zwei belie-
bige corticale Neurone sind nie weiter als ein paar Synapsen
voneinander entfernt. Diese Eigenschaft tendiert dazu, Φ
zu maximieren.
Umgekehrt ist Φ für Netzwerke, die aus zahlreichen klei-
nen, quasi-unabhängigen Modulen bestehen, klein. Das
könnte erklären, warum das Kleinhirn (Cerebellum) trotz
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 231

seiner riesigen Anzahl von Neuronen nicht viel zum Be-


wusstsein beiträgt: Seine kristallin anmutende synaptische
Organisation ist solcherart, dass seine Module unabhängig
voneinander arbeiten und zwischen entfernten Modulen
wenig Interaktion herrscht.
Es leuchtet nicht unmittelbar ein, warum die Evolution
Systeme mit hohem Φ favorisieren sollte. Welchen verhal-
tensbiologischen Vorteil haben sie?
Ein Vorteil ist die Fähigkeit, Daten verschiedener Sen-
soren zu kombinieren, um zukünftige Handlungen zu er-
wägen und zu planen. Neuronale Allzweck-Netzwerke mit
hohen Φ-Werten, wie der cortico-thalamische Komplex,
sollten mit unerwarteten und neuartigen Situationen – den
Schwarzer-Schwan-Ereignissen – viel besser zurechtkom-
men als spezialisierte Netzwerke. Geschöpfe mit Gehirnen,
die einen hohen Φ-Wert aufweisen, sollte besser an eine
Welt angepasst sein, in der viele unabhängige Akteure auf
einer ganzen Palette unterschiedlicher Zeitskalen operieren,
als Geschöpfe, deren Gehirne zwar dieselbe Anzahl von
Neuronen aufweisen, aber weniger stark integriert sind.
Es ist wichtig festzuhalten, dass Gehirne mit einem ho-
hen Φ solchen mit geringerer Integration überlegen, also
besser an eine komplexe, natürliche Umwelt angepasst sein
können. Das würde belegen, dass sich Bewusstsein positiv
aufs Überleben auswirkt, da Geschöpfe mit hohem Φ bes-
sere Überlebenschancen haben. Die Theorie würde durch
das Fehlen eines solchen Belegs nicht außer Kraft gesetzt,
doch er würde Erleben zu einem Epiphänomen machen.
Eine andere bedeutende Herausforderung für die Theo-
rie der integrierten Information ist es, das Unbewusste zu
erklären. Ihre Postulate implizieren, dass unbewusste Pro-
232
232 Book Title
  Bewusstsein

zesse auf weniger Integration basieren als bewusste. Viele


der Attribute, die traditionellerweise dem Unbewussten zu-
geschrieben werden, sind jedoch recht komplex. Sind sie,
algorithmisch gesehen, weniger synergistisch, doch arbeits-
intensiver als Aufgaben, die vom bewussten Geist abhängig
sind? Auf die sensomotorischen Zombies, über die wir in
Kapitel 6 gesprochen haben, trifft dies sicherlich zu. Sie zeigen
höchst adaptive, aber stereotype Verhaltensweisen, die auf
spezialisierte Informationen zurückgreifen. Wir brauchen
Ableittechniken, die in der Lage sind, den stark integrierten
Hauptkomplex innerhalb eines wachen Gehirns aufzuspü-
ren und ihn von denjenigen Teilen zu unterscheiden, die
ebenfalls aktiv, aber weniger stark integriert sind und das
Unbewusste vermitteln.
Die Theorie der integrierten Information spezifiziert
nicht nur das Maß des Bewusstseins, Φ, das mit jedem Zu-
stand eines Systems korrespondiert, sondern fängt auch die
einzigartige Qualität dieser Erfahrung ein, indem sie alle
informatorischen Beziehungen in Betracht zieht, zu denen
das zugrunde liegende physikalische System fähig ist. Da-
her bestimmt die Weise, wie integrierte Informationen er-
zeugt werden, nicht nur, wie viel, sondern auch, welche Art
von Bewusstsein ein System hat. Giulios Theorie tut dies,
indem sie die Vorstellung eines Qualia-Raumes einführt,
dessen Dimensionalität gleich der Zahl der verschiedenen
Zustände ist, die das System einnehmen kann. Bei einem
einfachen Netzwerk mit n binären Schaltelementen weist
der Qualia-Raum 2n Dimensionen auf, einen für jeden
möglichen Zustand. Jede Achse steht für die Wahrschein-
lichkeit, dass sich das System in diesem einen Zustand be-
findet.
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 233

Der Zustand jedes physikalischen Systems lässt sich auf


eine Form in diesem fantastischen, multidimensionalen
Qualia-Raum abbilden. Dessen Oberfläche besteht aus Fa-
cetten. Der Fachbegriff für diese Form ist Polytop, aber ich
bevorzuge das poetischere Kristall. Ein neuronales Netz in
irgendeinem bestimmten Zustand hat eine korrespondie-
rende Form im Qualia-Raum; es besteht aus informatori-
schen Beziehungen. Geht das Netz in einen anderen Zu-
stand über, verändert sich die Form des Kristalls und spiegelt
die informatorischen Beziehungen zwischen den Teilen des
Netzwerks wider. Jede bewusste Erfahrung wird vollständig
von ihrem korrespondierenden Kristall beschrieben, und
jeder Zustand fühlt sich anders an, weil jedes Kristall ein
Unikat ist. Der Kristall für Rot-Sehen unterscheidet sich
in einzigartiger geometrischer Weise von demjenigen, der
mit dem Sehen von Grün assoziiert ist. Und die Topologie
des Farberlebens unterscheidet sich von derjenigen des Be-
wegungssehens.
Der Kristall ist nicht identisch mit dem zugrunde liegen-
den Netzwerk mechanistischer, kausaler Wechselwirkun-
gen, denn ersterer ist eine phänomenale Erfahrung, letzte-
res hingegen etwas Materielles. Die Theorie postuliert zwei
Arten von Eigenschaften im Universum, die sich nicht auf-
einander reduzieren lassen – das Mentale und das Physika-
lische. Sie sind durch ein einfaches, aber raffiniertes Gesetz
verbunden, die Mathematik der integrierten Information.
Der Kristall ist das System, von innen gesehen. Er ist die
Stimme im Kopf, das Licht im Inneren des Schädels. Er ist
alles, was wir jemals über die Welt erfahren werden. Er ist
unsere einzige Realität. Er ist die Quintessenz der Erfah-
rung. Der Traum des Lotusessers, die Gewahrsamkeit des
meditierenden Mönches und die Agonie des Krebspatien-
234
234 Book Title
  Bewusstsein

ten fühlen sich so an, wie sie es tun, weil die jeweiligen Kris-
talle in einem milliardendimensionalen Raum so geformt
sind – eine wahrhaft überirdische Vision. Die Algebra der
integrierten Information wird in die Geometrie der Erfah-
rung umgewandelt und bestätigt Pythagoras’ Überzeugung,
dass Mathematik die ultimative Realität ist:

Die Zahl gebietet über Formen und Gedanken und ließ


Götter und Dämonen entstehen.

Leibniz hätte die Sache mit der integrierten Information


sicherlich gut gefallen.
Die Theorie lässt sich benutzen, um einen Bewusstseins-
messer zu bauen. Anhand des Schaltdiagramms eines be-
liebigen Systems interagierender Komponenten, seien es
feuchte biologische oder in Silizium eingeritzte Schaltun-
gen, bewertet das Gerät die Größe des bewussten Reper-
toires dieses Systems. Dieser Bewusstseinsmesser scannt die
physikalischen Schaltkreise des Netzwerks und liest ihren
Aktivitätslevel aus, um Φ sowie die Kristallform jener Qua-
lia zu berechnen, die das Netzwerk gerade erlebt. Um zu
bestimmen, ob das Kristall die Morphologie eines schmerz-
haft gestoßenen Zehs oder des Duftes einer Rose bei Voll-
mond hat, muss wohl eine geometrische Integralrechnung
entwickelt werden.

Panpsychismus und Teilhard de Chardin


Ich habe Wert darauf gelegt zu betonen, dass jedes Netz-
werk über integrierte Informationen verfügt. Die Theorie
ist an diesem Punkt sehr eindeutig: Jedes System, dessen
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 235

funktionelle Konnektivität und Architektur ein Φ größer


null hervorbringen, hat zumindest ein kleines bisschen
Erleben. Das schließt die vielfältigen regulatorischen bio-
chemischen und molekularen Netze ein, die man in jeder
lebenden Zelle findet. Und das gilt auch für die elektro-
nischen Schaltkreise aus Platinen und Kupferdrähten. In
einem Artikel für Computerwissenschaftler argumentierten
Giulio und ich sogar, dass das so schwer zu fassende Ziel der
künstlichen Intelligenz – die menschliche Intelligenz nach-
zuahmen – schließlich durch Maschinen erreicht werden
wird, die große Mengen an Informationen über die Welt
sammeln und integrieren. Ihre Prozessoren werden einen
hohen Φ-Wert haben.
Ganz gleich, ob der Organismus oder das Artefakt aus
dem alten Tierreich oder von seinen rezenten Siliziumnach-
kommen stammt, ganz gleich, ob das Ding Beine hat zum
Laufen, Flügel zum Fliegen oder Räder zum Rollen – wenn
es differenzierte und integrierte Informationszustände auf-
weist, fühlt es sich nach etwas an, ein solches System zu
sein; das System hat eine innere Perspektive. Die Komplexi-
tät und Dimensionalität ihrer gesammelten phänomenalen
Erfahrungen mögen sich stark unterscheiden, doch jedes
hat seine eigene Kristallform.
Dieser Sichtweise zufolge werden sich den ungezähl-
ten Billionen bewusster Organismen, die die Erde bevöl-
kern, im 21. Jahrhundert Milliarden empfindungsfähiger
Artefakte zugesellen – PCs, eingebettete Prozessoren und
Smartphones. Für sich allein verfügen diese Artefakte viel-
leicht nur über ein minimales Bewusstsein, kleine Funken
in der Dunkelheit. Aber zusammengenommen könnten sie
den phänomenalen Raum erhellen.
236
236 Book Title
  Bewusstsein

Denken Sie an all die Computer auf der Erde, die


via  Internet verbunden sind – ein paar Milliarden. Jeder
besteht aus vielen Hundert Millionen Transistoren. Die
Gesamtsumme der Transistoren im gesamten Web (in
der Größenordnung von 1018) ist 1000-mal größer als die
­Anzahl der Synapsen in einem einzigen menschlichen Ge-
hirn (bis zu 1015). Im Gegensatz dazu ist das typische Gatter
eines Prozessors in einer zentralen Recheneinheit nur mit
einer Handvoll anderer Gatter (mit Ausnahme des Spei-
chers) verbunden, während ein einziges corticales Neuron
mit vielen Zehntausend anderen Neuronen in Kon­takt
steht. Kurzum: Neuronales Gewebe erreicht einen Grad
an Informationsintegration, der sich mit einer zweidimen-
sionalen Siliziumtechnologie nur schwer nachahmen lässt.
Dennoch ist das Web vielleicht schon heute empfin-
dungsfähig. Woran werden wir sein Bewusstsein erkennen?
Wird es in naher Zukunft beginnen, eigenständig zu han-
deln und uns auf alarmierende Weise mit seiner Autonomie
überraschen?
Die Implikationen hören hier nicht auf. Selbst einfache
Materie besitzt ein Mindestmaß an Φ. Protonen und Neu-
tronen bestehen aus einer Triade von Quarks, die niemals
isoliert beobachtet werden können. Sie bilden ein infini-
tesimales integriertes System. Aufgrund des Postulats, dass
Bewusstsein ein fundamentales Merkmal des Universums
ist, statt der Annahme, dass es aus simpleren Elementen
erwächst (Emergenz), ist die Theorie der integrierten Infor-
mation eine ausgearbeitete Version des Panpsychismus. Die
Hypothese, dass alle Materie bis zu einem gewissen Grad
empfindungsfähig ist, ist aufgrund ihrer Eleganz, Einfach-
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 237

heit und logischen Kohärenz außerordentlich ansprechend.


Sobald man annimmt, dass Bewusstsein real und ontolo-
gisch verschieden von seinem physikalischen Substrat ist,
ist es ein einfacher Schritt zu schließen, dass der ganze Kos-
mos von Empfindungsvermögen durchtränkt ist. Wir sind
von Bewusstsein umgeben, tauchen darin ein; es ist in der
Luft, die wir atmen, im Boden, auf den wir treten, in den
Bakterien, die unseren Darm besiedeln, und in dem Ge-
hirn, das uns zu denken erlaubt.
Der Φ-Wert von Fliegen, geschweige denn von Bakterien
oder Teilchen, liegt für alle praktischen Zwecke weit unter
dem Φ-Wert, den wir erleben, wenn wir aus tiefem Schlaf
aufwachen. Bestenfalls ein vages und undifferenziertes Ge-
fühl von irgendetwas. Dieser Sicht zufolge besitzt eine Flie-
ge weniger Bewusstsein als unsereins im Tiefschlaf. Aber
immerhin.
Wenn ich über Panpsychismus spreche, stoße ich häu-
fig auf blankes Unverständnis. Eine derartige Überzeu-
gung verletzt die tief verwurzelte intuitive Annahme der
Menschen, dass Empfindungsvermögen etwas ist, das nur
Menschen und eng verwandte Arten besitzen. Doch unsere
Intuition versagt auch dann, wenn wir als Kinder erstmals
erfahren, dass Wale Säuger und keine Fische sind. Wir wer-
den uns daran gewöhnen müssen. Wir erkennen atomares
Bewusstsein vielleicht nicht als das, was es ist, bis wir eine
Theorie dafür entwickelt haben.
Der Panpsychismus reicht weit in der Geschichte zurück,
nicht nur im Buddhismus, sondern auch in der westlichen
Philosophie von Thales von Milet, einem vorsokratischen
Denker, bis Platon und Epikur in der hellenistischen Perio-
de, Spinoza und Leibniz in der Aufklärung, Schopenhauer,
238
238 Book Title
  Bewusstsein

Goethe und Haeckel in der Romantik und weiter bis ins


20. Jahrhundert.
Das bringt mich zu dem Jesuitenpriester und Paläontolo-
gen Pierre Teilhard de Chardin. Er war an der Entdeckung
des Peking-Menschen beteiligt, einem Vertreter des Homo
erectus. Sein bekanntestes Buch, Der Mensch im Kosmos, er-
schien erst nach seinem Tod, weil die römisch-katholische
Kirche die Veröffentlichung untersagte. Darin beschreibt
Teilhard plastisch den Aufstieg des Geistes im Universum
durch darwinistische Evolution. Sein Gesetz der zunehmen-
den Verflechtung ( Komplexifikation) sagt aus, dass Mate-
rie einen inneren Drang hat, sich zu immer komplexeren
Gruppierungen zusammenzufinden. Teilhard war im Hin-
blick auf seinen Panpsychismus sehr deutlich:

Dort wo sehr geringe oder selbst mittlere Werte von Kom-


plexität seine Wahrnehmung völlig unmöglich machen
(das heißt von den großen Molekülen abwärts), haben wir
logischerweise in jedem Korpuskel die Existenz irgendeiner
rudimentären Psyche zu vermuten …

Teilhard macht bei den Molekülen nicht Halt. Nein, der


Aufstieg des Geistes schreitet weiter fort. Diese primitive
Form des Bewusstseins entwickelt sich in Tieren durch die
Kraft der natürlichen Selektion immer weiter. Beim Men-
schen wendet sich das Bewusstsein sich selbst zu, und dar-
aus erwächst Selbst-Bewusstsein. In diesem Kontext meinte
Julian Huxley: „Evolution ist nichts anderes als Materie,
die sich ihrer selbst bewusst wird.“ Komplexifikation ist ein
fortlaufender Prozess, der nun an der Noosphäre teilhat, den
Interaktionen von Myriaden denkender, sich ihrer selbst
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 239

bewusster Menschen, die sich in zeitgenössischen urbanen


Gesellschaften manifestieren:

Rings um die Funken der ersten selbstbewussten Seelen


das Anwachsen eines Feuerkreises. Der glühende Punkt
hat sich erweitert. Das Feuer breitet sich immer mehr aus.
Schließlich bedeckt die Glut den ganzen Planeten. Eine
einzige Erklärung, ein einziger Name werden diesem gro-
ßen Phänomen gerecht. Ebenso ausgedehnt, doch, wie wir
sehen werden, noch mehr kohärent als alle vorangegange-
nen Schichten, ist es wirklich eine neue Schicht, die „den-
kende Schicht“, die sich … oberhalb der Welt der Pflanzen
und Tiere ausbreitet: außer und über der Biosphäre eine
Noosphäre.

Wenn es jemals einen Heiligen des Internets geben sollte,


dann wäre Teilhard de Chardin dafür prädestiniert.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Komplexi-
fikation an den Grenzen unseres blauen Planeten mit dem
interplanetaren Raum aufhören sollte. Teilhard glaubte,
der gesamte Kosmos entwickele sich auf etwas hin, das er
als Omega-Punkt bezeichnete. An diesem Punkt wird sich
das Universum seiner selbst bewusst, indem es seine Kom-
plexität, seine Synergie, maximiert. Teilhards Thesen sind
verlockend, weil seine grundlegende Einsicht mit den be-
obachteten Tendenzen kompatibel ist, dass die biologische
Vielfalt (gemessen anhand der Menge an Variation) und
Komplexität im Laufe der Evolution zunimmt, und ebenso
mit den Vorstellungen über integrierte Evolution und Be-
wusstsein, die ich hier umrissen habe.
Wir sollten uns jedoch nicht allzu weit mitreißen lassen.
Giulio Tononis Theorie der integrierten Information spezi-
240
240 Book Title
  Bewusstsein

fiziert, in welcher Weise sich das Bewusstsein einer Biene


von dem eines großkopferten Zweibeiners unterscheidet;
sie macht Vorhersagen und liefert eine Vorlage für den Bau
empfindungsfähiger Maschinen. Der Panpsychismus tut
keines von beiden.
Die Theorie der integrierten Information steckt noch in
den Kinderschuhen. Sie sagt nichts über die Beziehung zwi-
schen dem Input und dem Output des Systems (anders als
beispielsweise der berühmte Turing-Test). Die Theorie be-
schäftigt sich mit kausalen Interaktionen innerhalb des Sys-
tems, nicht mit Beziehungen zur Umwelt (auch wenn die
Außenwelt den Aufbau des Systems via dessen Evolution
tiefgreifend formt). Und die Theorie kann bisher weder Ge-
dächtnis noch Planung erklären. Ich behaupte nicht, dass es
sich um die endgültige Theorie des Bewusstseins handelt,
aber es ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Sollte
sie sich als falsch herausstellen, wird sie auf eine interessante
Weise falsch sein, die das Problem in neuem Licht zeigt.

 in Schlussgedanke, der bescheiden


E
macht
Zusammen mit Descartes gilt Francis Bacon als Vater der
wissenschaftlichen Methodik. Bacon lebte und starb zwei
Dekaden vor Descartes, und er war in vielerlei Hinsicht
dessen englisches Pendant. Während Descartes der Pro-
totyp des deduktiven Theoretikers ist, getrieben von der
Suche nach einem alles überspannenden Prinzip, nach all-
gemeinen Gesetzen, ist Bacon der perfekte Empirist, der
8  Informationsverarbeitung und das Gehirn 241

natürliche Phänomene untersucht und in induktiver Weise


dorthin geht, wohin ihn die Daten führen. Die Wissen-
schaft ist mit dem Wechselspiel zwischen baconscher Bot-
tum-up- und descartesscher Top-Down-Analyse außer-
ordentlich gut gefahren. Allen Skeptikern zum Trotz wird
die Wissenschaft letztlich Bewusstsein verstehen, indem
sie empirische und klinische Studien mit mathematischen
Theorien und zunehmend auch mit dem Bau bewusster Ar-
tefakte kombiniert.
Ich möchte mit einem Plädoyer für Bescheidenheit en-
den. Der Kosmos ist ein seltsamer Ort, und wir wissen noch
immer wenig über ihn. Erst vor zwei Jahrzehnten entdeck-
ten Wissenschaftler, dass nur vier Prozent der Masse-Ener-
gie des Universums aus der Art von Materie besteht, aus
der Sterne, Planeten, Bäume, Sie und ich gemacht sind. Ein
Viertel ist kalte dunkle Materie, und der Rest besteht aus
einem bizarren Stoff, den man als dunkle Energie bezeich-
net. Kosmologen haben keine Ahnung, was dunkle Energie
ist oder welchen Gesetzen sie gehorcht. Gibt es irgendeine
flüchtige Verbindung zwischen diesem geisterhaften Stoff
und Bewusstsein, wie es der Schriftsteller Philip Pullman
in seiner Trilogie His Dark Materials nahe legt? Höchst un-
wahrscheinlich, aber dennoch … Unser Wissen ist nicht
mehr als ein Feuer, das die gewaltige Dunkelheit um uns
herum erhellt und im Wind flackert. Bleiben wir daher bei
der Suche nach den Quellen des Bewusstseins offen für al-
ternative, rationale Erklärungen.
Kapitel 9
In welchem ich zeige, wie ein
­elektromagnetisches Gerät zur
Messung von Bewusstsein ­aussehen
­müsste, Bemühungen beschreibe, ­
mithilfe von Gentechnik das Bewusstsein
von Mäusen aufzuspüren und mich
beim Bau corticaler Observatorien
ertappe

Was die Sterne angeht, so sind uns alle Erforschungen, die


sich nicht letztlich auf einfache visuelle Beobachtungen
reduzieren lassen, … notwendigerweise verschlossen. …
Wir werden niemals durch irgendein Mittel ihre chemische
Zusammensetzung bestimmen können.
Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus
(1830–1842)

Ist Bewusstsein ein fundamentaler, nicht reduzierbarer As-


pekt der Wirklichkeit? Oder erwächst es aus organisierter
Materie, wie die meisten Wissenschaftler und Philosophen
glauben? Das möchte ich wissen, bevor ich sterbe; daher
kann ich nicht ewig warten. Eristische philosophische De-
batten machen Spaß und können sogar hilfreich sein, doch
sie lösen die grundsätzlichen Probleme nicht. Der beste
Weg herauszufinden, wie sich das Wasser des Materiel-

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_9,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
244
244 Book Title
  Bewusstsein

len in den Wein des Bewusstseins verwandelt, besteht im


Experimentieren, kombiniert mit der Entwicklung einer
Theorie.
Einstweilen ignoriere ich nicht weiterführende Debat-
ten über die exakte Definition von Bewusstsein, darüber,
ob es nun ein Epiphänomen ist, das die Welt nicht be-
einflussen kann, oder ob mein Darm über Bewusstsein
verfügt, es mir aber verschweigt. Diese Themen werden
irgendwann alle angesprochen werden müssen, doch sich
heute darüber den Kopf zu zerbrechen, hemmt nur den
Fortschritt. Lassen Sie sich nicht von philosophischer
Selbstdarstellung und Behauptungen ins Bockshorn jagen,
das schwierige Problem des Bewusstseins werde auf Dauer
unlösbar bleiben. Philosophen beschäftigen sich mit Mei-
nungssystemen, einfacher Logik und Annahmen, nicht
mit Naturgesetzen und Fakten. Sie stellen interessante
Fragen und formulieren charmante und herausfordernde
Dilemmata, doch sie haben eine ziemlich magere Treffer-
quote, was Prognosen angeht. Nehmen wir etwa das Zi-
tat am Anfang des Kapitels, das von dem französischen
Philosophen Auguste Comte, dem Vater des Positivismus,
stammt. Einige Jahrzehnte nach seiner vollmundigen Be-
hauptung, wir würden stellare Materie niemals verstehen,
wurde die chemische Zusammensetzung der Sterne aus
der Spektralanalyse ihres Lichts abgeleitet, was direkt zur
Entdeckung des Gases Helium führte. Hören wir stattdes-
sen auf Francis Crick, einen Gelehrten mit einem weitaus
besseren prognostischen Trefferquote: „Es ist sehr voreilig
zu behaupten, Dinge lägen jenseits der Reichweite der
Naturwissenschaften.“ Es gibt keinen Grund, warum wir
9  Auf zu neuen Horizonten 245

nicht irgendwann verstehen sollten, wie der phänomenale


Geist in die physikalische Welt passt.
Mein Ansatz ist ein direkter, den viele meiner Kollegen
als unbedacht und naiv betrachten. Ich halte subjektives
Erleben für selbstverständlich und nehme an, dass Gehirn-
aktivität hinreichend ist, um alle nur möglichen Erfahrun-
gen zu machen. Und obgleich Sprache und Introspektion
für das soziale Leben unverzichtbar sind und die Basis von
Kultur und Zivilisation bilden, sind sie nicht notwendig,
um etwas zu erleben. Diese Annahmen erlauben uns, die
cerebrale Basis des Bewusstseins mit beispielloser Präzision
bei Mensch und Tier zu untersuchen. Lassen Sie mich an-
hand von zwei Beispielen erläutern, was ich meine.

 in Bewusstseins-Messgerät für
E
Schwerverletzte
Wenn Sie aus einem traumlosen, tiefen Schlaf erwachen,
erinnern Sie sich an nichts. Gerade noch lassen Sie die Er-
eignisse des Tages Revue passieren, und das nächste, was Sie
wissen, ist, dass Sie morgens aufwachen. Anders als REM-
Schlaf ( rapid eye movement, rasche Augenbewegungen)
mit seinem lebhaften und oft bizarren Traumerleben ist
das Bewusstsein im Non-REM-Schlaf auf dem Tiefstand.
Doch während der Körper schläft, ist das Gehirn aktiv: Das
Elektroencephalogramm (EEG) eines schlafenden Gehirns
zeichnet sich durch langsame, tiefe und regelmäßige Wellen
aus. Zudem ist die mittlere Aktivität corticaler Neurone
in etwa dieselbe wie im ruhigen Wachzustand. Warum ver-
246
246 Book Title
  Bewusstsein

blasst dann das Bewusstsein? Giulio Tononis Theorie, die


ich im vorigen Kapitel diskutiert habe, postuliert, dass dies
auftritt, wenn im Tiefschlaf weniger Integration stattfindet
als im Wachzustand.
Giulio und sein junger Kollege Marcello Massimini, in-
zwischen Professor in Mailand, haben sich daran gemacht,
dies nachzuweisen. Sie setzten das Gehirn von Freiwilligen
mittels so genannter transkranieller magnetischer Stimula-
tion (TMS) einem einzelnen Hochfeld-Puls magnetischer
Energie aus. Die Entladung einer plastikumhüllten Draht-
spule, die an die Kopfhaut gehalten wird, induziert einen
kurzen elektrischen Strom in der grauen Substanz unter-
halb der Schädeldecke (der Proband spürt aufgrund der
Hautreizung ein leichtes Stechen). Dieser Puls erregt die
Hirnzellen und nahe gelegenen Leitungsbahnen, die ihrer-
seits über Neurone, mit denen sie in synaptischem Kontakt
stehen, eine Aktivitätskaskade auslösen, die im Inneren des
Kopfes widerhallt. In weniger als einer Sekunde verebbt
diese Erregung wieder.
Giulio und Marcello befestigten 64 Elektroden auf
der Kopfhaut, während die Probanden entweder ruhten
oder schliefen. Bei den wachen Probanden zeigt das EEG
nach dem TMS-Puls ein typisches an- und abschwellen-
des Muster rascher, periodisch auftretender Wellen, die
rund eine Drittelsekunde anhalten. Wie eine mathemati-
sche Analyse ergibt, wandert ein Hotspot von Potenzialen
mit hoher Amplitude vom prämotorischen Cortex, über
dem die TMS-Spule positioniert war, zum korrespondie-
renden prämotorischen Cortex der anderen Hemisphäre,
zum Motorcortex und zu den posterio-parietalen Cortices
9  Auf zu neuen Horizonten 247

weiter hinten. Stellen Sie sich das Gehirn als große Kir-
chenglocke und die TMS-Spule als Klöppel vor. Einmal
angeschlagen, klingt eine gut gegossene Glocke in ihrer
typischen Tonhöhe eine beträchtliche Zeit nach. Und ge-
nauso macht es der wache Cortex und „summt“ 10–40-
mal pro Sekunde.
Umgekehrt verhält sich das Gehirn eines schlafenden
Probanden wie eine schlecht gegossene und gestimmte Glo-
cke. Die initiale Amplitude des EEGs ist zwar größer als
bei einem wachen Probanden, sie klingt jedoch viel rascher
ab und wird von anderen, verknüpften Regionen im gan-
zen Cortex nicht reflektiert. Obgleich die Neurone aktiv
bleiben, wie an der starken lokalen Reaktion abzulesen, ist
die Integration zusammengebrochen. Von der für das wa-
che Gehirn typischen räumlich differenzierten und zeitlich
variierenden Folge elektrischer Aktivität ist, wie vorherge-
sagt, kaum etwas zu sehen. Dasselbe gilt für Probanden, die
sich bereit erklärten, sich einer Vollnarkose zu unterziehen.
Der TMS-Puls ruft ausnahmslos eine einfache Reaktion
hervor, die lokal begrenzt bleibt, was in Übereinstimmung
mit Giulios Theorie für einen Zusammenbruch der cortico-
thalamischen Interaktionen und einer Verminderung der
Integration spricht. Bisher steht es also eins zu null für die
Theorie. Aber es kommt noch besser.
Ich habe in Kapitel 5 Wachkomapatienten beschrieben.
Ein schweres Hirntrauma führt dazu, dass sie zwar hinsicht-
lich ihres Arousals einen Schlaf-Wach-Zyklus aufweisen, aber
schwer behindert und ans Bett gefesselt sind, ohne zielge-
richtetes Verhalten. Im Gegensatz dazu zeigen Patienten im
Zustand minimalen Bewusstseins ( minimal conscious state,
248
248 Book Title
  Bewusstsein

MCS) fluktuierend Hinweise auf nicht-reflexives Verhal-


ten, wie das Verfolgen eines Ziels mit den Augen oder aber
verbale oder manuelle Reaktionen auf einfache Komman-
dos. Während Wachkomapatienten ohne Bewusstsein sind,
ist es bei MCS-Patienten teilweise erhalten.
Die Neurologen Steven Laureys, Marcello Massimini,
Giulio Tononi und weitere Kollegen maßen die Spanne
der cerebralen Integration bei solchen Patienten. Sie reiz-
ten den Scheitellappen von Patienten, die ihre Augen of-
fen hatten, mit TMS-Pulsen. Das Ergebnis war eindeutig.
Wachkomapatienten zeigten einfache und lokale EEG-Ant-
worten – gewöhnlich eine langsame, positiv-negative Welle
(wenn sie überhaupt eine Reaktion zeigten), die stark der
Tiefschlaf- und Narkose-Reaktion ähnelte. Bei den MCS-
Patienten löste der Magnetpuls hingegen komplexe elekt-
rische Reaktionen aus, wie man sie bei gesunden, wachen
Probanden erwartete – mit multiplen Brennpunkten, die
über verschiedene corticale Orte wanderten. Zusätzlich
wurden fünf Patienten aus der Intensivpflege in die Stu-
die einbezogen, sobald sie aus dem Koma erwacht waren.
Drei erlangten schließlich das Bewusstsein wieder, zwei
nicht. Dem Eintritt des Bewusstseins bei diesen Patienten,
die sich schließlich erholten, ging eine Verlängerung und
Komplexifizierung der EEG-Antwort auf die Magnetpulse
voraus – sie entwickelte sich jeweils von einer einzelnen,
lokalisierten Welle zu einem viel reicheren raumzeitlichen
Muster. Mit anderen Worten kann die Massimini-Ton-
oni-Methode zur Bewertung der cerebralen Integration
als grober Bewusstseinsmesser dienen, der bei schwer be-
einträchtigten Patienten das Bewusstseinsniveau bewertet.
9  Auf zu neuen Horizonten 249

Eine miniaturisierte TMS-Spule und ein EEG-Gerät mit


einer Handvoll Elektroden lassen sich problemlos zu einem
Instrument für die klinische Praxis zusammenbauen. Wenn
man davon ausgeht, dass die Integration des cortico-thala-
mischen Komplexes im bewussten Zustand stärker ist als
im vegetativen, unbewussten Zustand, ließen sich mit die-
sem Instrument Patienten, die tatsächlich kein Bewusstsein
haben, präziser von denjenigen unterscheiden, die teilweise
oder völlig bei Bewusstsein sind.

 it Optogenetik auf der Suche nach


M
den Spuren des Bewusstseins
Wenn wir in die Augen eines Hundes blicken, blickt ein
Weggefährte auf einer Reise zurück, vor der und nach der
nichts als Ewigkeit ist. Sein Geist ist nicht derselbe wie der
unsere, doch er ist mit dem unsrigen verwandt. Hunde wie
Menschen leben und erleben. Die Vorstellung, dass Men-
schen etwas Besonderes sind, dass sie allein mit dem Ge-
schenk des Bewusstseins bedacht wurden und über allen
anderen Geschöpfen stehen, wurzelt in dem jüdisch-christ-
lichen Glauben, dass wir einen privilegierten Platz in der
Ordnung der Dinge einnehmen, ein Glaube, der auf bib-
lischen Überlieferungen, aber nicht auf empirischen Tatsa-
chen beruht. Wir sind nichts Besonderes. Wir sind lediglich
eine Art unter unzähligen anderen. Wir sind anders. Aber
das gilt für jede andere Art auch. Wissenschaftlich gesehen
bedeutet dies, dass wir Bewusstsein bei anderen empfin-
dungsfähigen Geschöpfen untersuchen können.
250
250 Book Title
  Bewusstsein

Aber bevor wir das tun, müssen wir eine drängende ethi-
sche Frage beantworten. Mit welchem Recht unterwerfen
Menschen andere Arten ihren Wünschen? Das ist natürlich
ein komplexes Thema. Der langen Rede kurzer Sinn ist je-
doch, dass die einzig mögliche Rechtfertigung die Verrin-
gerung von vermeidbarem Leid bei Geschöpfen ist, deren
Neigung zur Introspektion sie besonders anfällig für solches
Leiden macht, kurzum: bei Menschen.
Ich habe eine Hündin getroffen, deren Hinterbeine bei
einem Unfall mit Fahrerflucht zerschmettert wurden. Der
Tierarzt baute ihr eine Art Gestell, so dass sie sich auf zwei
Beinen und zwei Rädern fortbewegen konnte. Sie war stän-
dig in Bewegung, ständig aktiv, einer der glücklichsten
Hunde, die ich jemals kennengelernt habe, sich ihrer Be-
hinderung offenbar überhaupt nicht bewusst. Mir kamen
die Tränen, wenn ich sie nur ansah. Sie verfügt nicht über
den kognitiven Apparat, um darüber nachzugrübeln, was
sein könnte, wie sie herumlaufen würde, wenn sie an jenem
Tag nicht von dem Auto angefahren worden wäre. Sie lebt
in der Gegenwart. Wir Menschen sind hingegen mit einem
präfrontalen Cortex „gesegnet“, der uns erlaubt, uns in ver-
schiedene Zukunftsvarianten zu versetzen, uns alternative
Leben vorzustellen, das, was hätte sein können. Und das
macht eine ähnliche menschliche Behinderung – denken
Sie einen Kriegsheimkehrer, der eine oder mehrere Extre-
mitäten bei einem Bombenanschlag verloren hat – so viel
schwerer zu ertragen.
Die Linderung menschlichen Leids ist die einzige ak-
zeptable ethische Rechtfertigung für invasive Tierversuche.
Eine meiner Töchter ist am plötzlichen Kindstod gestor-
9  Auf zu neuen Horizonten 251

ben; mein Vater litt an Parkinson, eine Freundin brachte


sich in einer floriden Phase ihrer Schizophrenie um, und
viele von uns müssen damit rechnen, in höherem Alter an
Alzheimer zu erkranken. Um diese und andere Krankheiten
des Gehirns zu eliminieren, braucht es Versuche mit Tieren
– ausgeführt mit Sorgfalt und Mitgefühl und, wann immer
möglich, mit ihrer Kooperation.
Was wir durch diese Verlagerung vom Menschen zu den
Tieren gewinnen, ist die Möglichkeit, ihre Gehirne direkt
in einer Weise zu testen, die beim Menschen nicht akzepta-
bel ist. Dafür büßen wir die Möglichkeit ein, dass die Pro-
banden mit uns über ihr Erleben sprechen. Doch Klein-
kinder und schwer hirngeschädigte Patienten können das
auch nicht. Daher müssen wir uns intelligente Methoden
ausdenken, um auf das zu schließen, was das Tier gerade
erlebt, indem wir seine Handlungen beobachten, wie es El-
tern bei ihrem Neugeborenen tun.
Die besten Versuchstiere für Psychologen und Neuro-
wissenschaftler zum Studium von Wahrnehmung und Ko-
gnition sind Altweltaffen. Sie sind nicht in ihrem Bestand
gefährdet, und ihr cerebraler Cortex mit seinen vielen Win-
dungen und Furchen) ähnelt dem unseren. Während das
menschliche Gehirn rund 1,5 Kilogramm wiegt und 86 Mrd.
Neurone aufweist, ist das Gehirn eines Tieraffen beträchtlich
leichter, so wiegt es beim Makaken nur 86 Gramm und ent-
hält 6 Mrd. Neurone. Wie in Kapitel 4 diskutiert, nehmen
Tieraffen viele derselben visuellen Täuschungen wahr wie
Menschen. Daher kann die mechanistische Basis der visu-
ellen Wahrnehmung mithilfe von Mikroelektroden unter-
sucht werden, die das Arbeiten individueller Nervenzellen
252
252 Book Title
  Bewusstsein

belauschen, und mithilfe von Mikroskopen, die diesen


Nervenzellen dabei zuschauen.
Ein erstaunlicher technischer Durchbruch, auf den ich be-
reits angespielt habe, hat jedoch dazu geführt, dass unschein-
bare Mäuse mit einen Gehirn von weniger als 0,5 Gramm
und nur 71 Mio. Neuronen die Organismen sind, bei denen
Wissenschaftler die zellulären Spuren des Bewusstseins ver-
mutlich zuerst identifizieren werden.
Jede neue Astronomengeneration entdeckt, dass das Uni-
versum viel größer ist, als ihre Vorgänger annahmen. Das-
selbe gilt für die Komplexität des Gehirns. Die fortschritt-
lichsten Technologien jeder Ära entdecken ständig neue,
verschachtelte Ebenen der Komplexität, wie eine unendli-
che Folge russischer Puppen.
Tiere bestehen aus einer gewaltigen Anzahl unterschiedli-
cher Zelltypen: Blutzellen, Herzmuskelzellen, Nierenzellen
und so fort. Dasselbe gilt für das Zentralnervensystem. Wie
wir inzwischen wissen, gibt es innerhalb des Nervensystems
bis zu tausend verschiedene Subtypen von Nervenzellen
und unterstützenden Akteuren (Glia und Astrocyten). Je-
der Zelltyp ist durch seine spezifischen molekularen Mar-
ker, neuronale Morphologie, Lage, synaptische Architektur
und Input-Output-Verarbeitung definiert. In der Netzhaut
(Retina) gibt es 60 neuronale Zelltypen, von denen jeder
den visuellen Raum völlig abdeckt (jeder Punkt im visuel-
len Raum wird also von mindestens einer Zelle jedes Typs
verarbeitet). Diese Zahl ist wahrscheinlich für jede beliebi-
ge Hirnregion repräsentativ.
Unterschiedliche Zelltypen sind in spezifischer Weise
miteinander verknüpft. Eine Schicht-5-Pyramidenzelle tief
9  Auf zu neuen Horizonten 253

im Neocortex schlängelt ihren spinnwebdünnen Ausläufer,


das Axon, zum Colliculus im weit entfernten Mittelhirn,
und das Axon einer nahe gelegenen Pyramidenzelle streckt
Seitenzweige in seine unmittelbare Nachbarschaft aus, be-
vor es seine Spikes über das Corpus callosum in die andere
Hirnhemisphäre schickt; eine dritte Pyramidenzelle sendet
ihre Informationen zurück an den Thalamus, wobei eine
Kopie (über ein sich verzweigendes Axon) an den retiku-
lären Kern geht. Da ist es vernünftig anzunehmen, dass
jede Zellklasse einen ganz bestimmten Typ Information an
ihre Zielzellen übermittelt (denn sonst würde ein einzelnes
Axon, das sich aufzweigt und verschiedenen Ziele inner-
viert, ausreichen). Und dann sind da noch die vielen loka-
len, hemmenden (inhibitorischen) Interneurone, die ihre
Zielzellen alle in ihrer eigenen, charakteristischen Weise in-
nervieren. All dies führt zu einem sehr reichen Nährboden
aus Zell-zu-Zell-Wechselbeziehungen mit einer kombinato-
risch großen Zahl von circuit motifs (wörtlich „Schaltkreis-
motive“; Neuronenensembles, die bevorzugt untereinander
verbunden sind). Stellen Sie sich einen Bausatz mit 1000
unterschiedlichen Typen von LEGO-Steinen in verschiede-
nen Farben, Formen und Größen vor. Der cerebrale Cortex
des Menschen weist 16 Mrd. aus diesen Typen ausgewählte
Steine auf, die nach fantastisch komplexen Regeln zusam-
mengefügt wurden, und zwar so, dass ein roter 2 × 4-Stein
mit einem blauen 2 × 4-Stein Kontakt hat, aber nur dann,
wenn er neben einem gelben 2 × 2-Dachziegel und einem
grünen 2 × 6-Stein liegt. Von dieser Art ist die riesige Ver-
netzung des Gehirns.
254
254 Book Title
  Bewusstsein

Mit räumlich hoch auflösenden Techiken wie der funk-


tionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) kann
man zuverlässig identifizieren, welche Hirnregionen mit
Sehen, Bildsprache, Schmerz oder Gedächtnis in Bezie-
hung stehen, eine Wiedergeburt des phrenologischen
Denkens. Brain-Imaging-Verfahren spüren dem Energie-
verbrauch von Millionen Neuronen nach, unabhängig
davon, ob sie erregend oder hemmend wirken, ob sie lo-
kal oder global projizieren, ob es sich um Pyramidenzel-
len oder um stachelige Sternzellen handelt. Da sie keine
Details auf dem alles entscheidenden Schaltkreisniveau
auflösen können, sind sie jedoch für die vorliegende Auf-
gabe nicht geeignet.
Gleichzeitig mit unserem wachsenden Verständnis für
das Gehirn wächst auch unser Wunsch zu intervenieren,
die vielen pathologischen Zustände zu lindern, denen das
Gehirn zum Opfer fallen kann. Doch die heutigen Werk-
zeuge – Psychopharmaka, elektrische Tiefenstimulation
des Gehirns und transkranielle Magnetstimulation – sind
grob, zahnlos und mit vielen Nebenwirkungen behaftet.
Mein Caltech-Kollege David Anderson vergleicht sie gern
mit einem Ölwechsel, bei dem man das Öl einfach über
die Maschine kippt: Ein kleiner Teil wird schließlich an die
richtige Stelle sickern, doch der größte Teil wird an Stellen
gelangen, wo er mehr schadet als nützt.
Abhilfe verspricht ein technischer Durchbruch, eine Fu-
sion aus Molekularbiologie, Lasertechnik und Lichtleitfa-
sern, die so genannte Optogenetik. Sie basiert auf grund-
legenden Entdeckungen dreier deutscher Biophysiker –
Peter Hegemann, Ernst Bamberg und Georg Nagel –, die
9  Auf zu neuen Horizonten 255

an Photorezeptoren von Archaebakterien arbeiteten. Diese


Photorezeptoren wandeln einfallendes Blaulicht direkt
(statt indirekt wie die Photorezeptoren in unseren Augen)
in ein exzitatorisches positives elektrisches Potenzial um.
Das Trio isolierte das Gen für dieses Protein namens Chan-
nelrhodopsin-2 (ChR2). Anschließend begannen Bamberg
und Nagel eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Karl
Deissenroth, einem Psychiater und Neurobiologen von der
Stanford University, und Ed Boyden, einem Neuroinge-
nieur, der heute am Massachusetts Institute of Technology
(MIT) arbeitet.
Die Gruppe nahm das ChR2-Gen, baute es in ein Virus
ein und infizierte Neurone mit diesem Virus. Viele dieser
Neurone akzeptierten die fremden Anweisungen, synthe-
tisierten das ChR2-Protein und bauten die deplatzierten
Photorezeptoren in ihre Membran ein. Im Dunkeln sitzen
die Rezeptoren einfach ruhig da und haben keinen erkenn-
baren Einfluss auf die Wirtszellen. Die Beleuchtung mit
einem kurzen blauen Lichtblitz führt jedoch dazu, dass je-
der dieser bakteriellen Photorezeptoren seine Wirtszelle ein
wenig anstupst. Ihre kollektive Wirkung ruft ein Aktions-
potenzial hervor. Jedes Mal, wenn das Licht angestellt wird,
feuert die Zelle zuverlässig, und zwar genau einmal. Daher
kann man das Neuron durch präzise getimte Pulse blauen
Lichts veranlassen, Spikes zu generieren.
Die Biophysiker fügten ihrem Werkzeugkasten einen
weiteren Photorezeptor hinzu. Er stammt von einem Bak-
terium, das in trockenen Salzseen in der Sahara lebt. Wird
dieser bakterielle Photorezeptor mit gelbem Licht beleuch-
tet, generiert er ein inhibitorisches, negatives Signal. Mit-
256
256 Book Title
  Bewusstsein

hilfe derselben viralen Strategie kann man ein Neuron dazu


bringen, den einen wie den anderen in seine Membran ein-
zubauen, so dass es durch blaues Licht erregt oder durch
gelbes Licht gehemmt werden kann. Jeder blaue Lichtblitz
ruft einen Spike hervor, wie ein Ton, der erklingt, wenn
eine Klaviertaste angeschlagen wird. Ein gleichzeitiger Blitz
gelben Lichts kann einen Spike blockieren. Diese Möglich-
keit, die elektrische Aktivität mit einer Präzision im Milli-
sekundenbereich auf der Ebene individueller Neurone zu
kontrollieren, ist beispiellos.
Die Vorteile dieser Technik gehen sogar noch weiter, weil
das Virus, das die Photorezeptorgene trägt, so modifiziert
werden kann, dass es eine Fracht (einen Promotor) trägt,
die die viralen genetischen Instruktionen nur in Zellen
mit einen passenden molekularen Etikett anschaltet. Statt
alle Neurone in einer bestimmten Nachbarschaft zu erre-
gen, bleibt die Erregung auf Neurone beschränkt, die einen
bestimmten Neurotransmitter synthetisieren oder ihren
Output an einem bestimmten Ort schicken. Alles, was
man dazu braucht, ist die molekulare Postleitzahl für die-
sen spezifischen Zelltyp, zum Beispiel alle inhibitorischen
Interneurone im Cortex, die das Hormon Somatostatin
exprimieren. Warum sie diese Substanz synthetisieren, ist
weniger wichtig als die Tatsache, dass das Protein als un-
verwechselbares molekulares Etikett dienen kann, um die
Zellen zu markieren, so dass sie durch Laserlicht erregt oder
gehemmt werden können.
Deissenroths Gruppe nutzte diese Möglichkeit, indem
sie ChR2 in eine Untergruppe von Neuronen im lateralen
Hypothalamus, tief im Mäusegehirn, einschleuste. Hier
9  Auf zu neuen Horizonten 257

produzieren weniger als 1000 Zellen Orexin (auch als Hy-


pocretin bekannt), ein Hormon, das das Wachsein fördert.
Mutationen in den Orexinrezeptoren werden mit Narko-
lepsie in Zusammenhang gebracht, einer chronischen Er-
krankung mit plötzlichen Schlafanfällen. Nach der Mani-
pulation trugen fast alle Orexin produzierenden Neurone,
aber keine der anderen sie umgebenden Neuronen den
ChR2-Photorezeptor. Zudem erzeugte blaues Licht via
Glasfaser, präzise und zuverlässig Spikewellen in den Ore-
xinzellen.
Was passiert, wenn dieses Experiment mit einer schla-
fenden Maus durchgeführt wird? Bei Kontrolltieren ohne
diese genetischen Manipulationen weckten ein paar hun-
dert blaue Blitze die Nager nach etwa einer Minute auf.
Wurde dieselbe Lichtsalve auf Mäuse abgefeuert, die das
ChR2-Gen trugen, wachten die Tiere nach der Hälfte der
Zeit auf, das heißt: Licht, das die Katakomben des Gehirns
erhellt, veranlasst eine winzige Untergruppe von Neuronen
bekannter Identität und Lage, elektrische Spikes zu produ-
zieren, die das Tier wecken. Es ist die Ausschüttung von
Orexin aus dem lateralen Hypothalamus, die dieses Verhal-
ten bewirkt. Diese exemplarische Studie stellt ein überzeu-
gendes kausales Bindeglied zwischen der elektrischen Ak-
tivität in einer Untergruppe cerebraler Neurone und dem
Übergang zwischen Schlaf und Wachheit her.
Dutzende solcher wunderbaren, interventionistischen
Experimente haben uns im Lauf der vergangenen Jahre ei-
niges über die Schaltelemente gelehrt, die für aversive Kon-
ditionierung, Parkinson-Krankheit, Paarung, Männchen-
Männchen-Aggression und andere soziale Interaktionen,
258
258 Book Title
  Bewusstsein

visuelle Diskriminierung und Angst eine Rolle spielen, um


nur einige zu nennen. Sie haben sogar dazu beigetragen,
Mäusen das Sehvermögen wiederzugeben, die durch Netz-
hautdegeneration erblindet waren.
Ausgehend vom selben Grundschema sind Varianten aller
Art entwickelt worden. Bei einer solchen Variante schaltet
ein Lichtpuls Neurone jeweils für eine Minute an, während
ein zweiter Puls anders gefärbten Lichts sie wieder abschal-
ten kann, vergleichbar einem Lichtschalter. In der Pharma-
kogenetik stellt die Injektion einer ansonsten harmlosen
Substanz in Hirnregionen genetisch identifizierte Zellunter-
gruppen an oder ab, was eine langfristige Kontrolle neuro-
naler Populationen erlaubt. Der Werkzeugkasten der mo-
lekular gesinnten Neuroingenieure wird ständig erweitert.

Auf zu neuen Horizonten


Im Jahr 2011 ging ich als Forschungsleiter ans Allen Insti-
tute for Brain Science in Seattle. Dieses Nonprofit-Institut
für medizinische Forschung, das 2003 mit einer großzü-
gigen Spende des Microsoft-Gründers und Philanthropen
Paul G. Allen gegründet wurde, möchte Fortschritte in der
neurowissenschaftlichen Forschung vorantreiben („Entde-
ckungen vorantreiben“ ist sein Motto). Zu diesem Zweck
betreibt das Allen Institute eine einzigartige Form der
Neurowissenschaften mit hohem Datendurchlauf, wie sie
in einem akademischen Umfeld nicht möglich wäre. Sein
Flaggschiff ist der online verfügbare Allen Mouse Brain At-
las, ein hoch standardisierter, öffentlich zugänglicher digi-
9  Auf zu neuen Horizonten 259

taler Atlas, der zellgenau die Expressionsmuster sämtlicher


20.000 Gene des Mausgenoms im ganzen Gehirn des Tieres
zeigt. Für jedes einzelne Gen kann man online nachschau-
en, wo im Gehirn seine korrespondierende RNA exprimiert
wird (kartiert mit einem in-situ-Hybridisierungs-Protokoll).
Diese aufwendige Unternehmung ist ein wichtiger Meilen-
stein für unser langsam wachsendes Verständnis dafür, wie
die Schaltkreise im Säugerhirn gebaut sind. Zu weiteren öf­
fentlich zugänglichen Online-Quellen gehören Atlanten des
menschlichen Gehirns und ein Atlas der neuronalen Pro-
jektionen im Mäusehirn.
Das Institut sucht nun nach Wegen, um zu verstehen,
wie neuronale Informationen codiert und transformiert
werden. Astronomen, Physiker und Ingenieure bauen Tele-
skope, die von der Erde oder vom Raum aus in die Entle-
genheit der Raumzeit schauen, um die Entstehung unseres
Kosmos und seiner Sterne und Planeten zu beobachten.
Der Bau dieser Observatorien dauert eine Dekade oder län-
ger und erfordert die Expertise von Hunderten oder mehr
Technikern und Wissenschaftlern. Wir befinden uns im Pla-
nungsstadium für die Konstruktion von Observatorien, mit
denen wir den Geist bei der Arbeit im Gehirn beobachten
wollen, direkt unter der Schädeldecke. Die experimentellen
Herausforderungen bestehen darin, Optik, Elektronik und
Computer zu instrumentalisieren, um die synchrone Spi-
keaktivität von Zehntausenden genetisch identifizierbaren
Schaltkreiselementen zu beobachten.
Wenn es mir so wichtig ist, Bewusstsein zu verstehen,
warum arbeite ich dann mit Mäusen statt mit Affen, die
Homo sapiens aus evolutionärer Sicht doch viel näher ste-
260
260 Book Title
  Bewusstsein

hen? Nun, zum einen weist das Mäusehirn zahlreiche gene-


tische und neuroanatomische Ähnlichkeiten mit unserem
Gehirn auf: Es hat einen kleinen und glatten Neocortex
mit 14 Mio. Neuronen – um einen Faktor 1000 weniger
als bei uns. Ein kleines Stückchen Mäusecortex ist einem
Stückchen grauer Substanz aus dem Menschengehirn gar
nicht so unähnlich. Besonders wichtig ist aber, dass sich das
Mäusehirn genetisch relativ leicht manipulieren lässt. Von
allen Wirbeltieren ist unser Verständnis der molekularen
Biologie der Maus, wie ihre DNA in RNA umgeschrieben
und in Proteine übersetzt wird, mit Abstand am weitesten
fortgeschritten. Was die rekombinante DNA-Technologie
bei Mäusen angeht, wurde Mitte der 1970er-Jahre Pionier-
arbeit geleistet, und die Schaffung transgener Mäuse ist eine
ausgereifte Technik. Und was für meine Suche am wichtigs-
ten ist: Die einzigartige molekulare Postleitzahl der wich-
tigsten neuronalen Zelltypen und ihrer Projektionsorte ist
entschlüsselt worden. Hongkui Zeng vom Allen Institute
nutzt dieses genetische Adressbuch geradezu meisterhaft,
um Mäuse gentechnisch zu manipulieren – gesunde Tiere,
mit Neuronen, die ChR2 exprimieren, sodass eine entspre-
chende Beleuchtung des Gehirns in empfänglichen Neuro-
nen Spikesalven auslöst, oder andere Tiere, deren inhibi-
torische Interneurone fluoreszieren und gespenstisch grün
oder tomatenrot aufglühen, wenn sie mit Licht passender
Wellenlänge beleuchtet werden.
Die Bedeutung dieser fantastischen Verschmelzung von
Optik und Genetik besteht darin, dass sie erlaubt, sehr spe-
zifische Ideen über die Schaltkreise des Geistes zu testen.
Denken Sie nur an die Spikewelle, die ausgelöst wird, wenn
9  Auf zu neuen Horizonten 261

man ein Bild in das Auge einer Maus blitzt. Sie wandert
den Sehnerv hinauf zum primären visuellen Cortex, hinü-
ber zum Motorcortex und anschließend hinab zu den Mo-
toneuronen, die Auge, Hand oder ein anderes Körperteil
innervieren. In Kapitel 4 habe ich Francis’ und meine Ver-
mutung skizziert, dass eine einzige derartige Spikewelle
innerhalb einiger Millisekunden eine einfache Verhaltens-
weise, beispielsweise das Drücken eines Hebels, auslösen
kann, ohne jedoch eine bewusste Empfindung zu schaffen.
In Kapitel 6 werden viele solcher Zombieaktionen beschrie-
ben, die wir alle den ganzen Tag durchführen. Wir stellten
die These auf, Bewusstsein entstehe, sobald cortico-corti-
cale oder cortico-thalamische Feedbackbahnen ins Spiel
kommen und eine zurückstrahlende Aktivität etablieren,
die sich in einer Koalition von stark synchron feuernden
Neuronen manifestiert, was in gewisser Weise an die Idee
einer stehenden Welle in der Physik erinnert. Wenn neuro-
nale Aktivität vom übergeordneten visuellen Cortex in
untergeordnete Regionen wandert oder vom vorderen zum
hinteren Hirnpol, wächst die integrierte Information, die
von dieser Neuronenkoalition repräsentiert wird, rasch an
und ruft eine bewusste Empfindung oder einen Gedanken
hervor.
Solche Hypothesen lassen sich heute an entsprechend
gentechnisch modifizierten Mäusen testen: Man trainiert
sie auf irgendein visuelles Diskriminierungsverhalten und
schaltet dann zeitweilig die Bahnen ab, die für die Rück-
kopplung von höheren zu niedrigeren corticalen Regionen
sorgen. Wenn Francis und ich recht haben, sollten ange-
borene, stereotype oder häufig geübte visuo-motorische
262
262 Book Title
  Bewusstsein

Verhaltensweisen nur geringfügig betroffen sein. Doch


komplexe Verhaltensweisen, die vom murinen Bewusstsein
abhängig sind, werden ausfallen. Die Überprüfung unse-
rer Hypothese verlangt, dass Mäuse darauf trainiert werden
können, auf optisch bistabile Täuschungen zu reagieren,
eine Abbildung von ihrem Hintergrund zu unterscheiden
oder zu lernen, visuelle Orientierungspunkte mit einem
schmackhaften Futterbröckchen zu assoziieren. Wenn es
gelingt, das cortico-corticale Feedback im ganzen Gehirn
auszuschalten, haben wir echte Zombiemäuse geschaffen,
die zu keiner phänomenalen Erfahrung in der Lage sind!
Sobald das Feedback reaktiviert wird, sollte das bewusste
Empfinden zurückkehren.
In einem klassischen fMRT-Experiment hat Stanislas
Dehaene untersucht, wie sich Menschen in ihren Reak-
tionen auf ein kurz auf den Bildschirm geblitztes, lesbares
Wort und dasselbe Wort unterscheiden, das genauso lange
auf dem Schirm steht, aber durch Maskierung unsichtbar
gemacht wurde (siehe Kapitel  4). Während die hämody-
namische Aktivität auf eine kleine Gruppe von Regionen
beschränkt blieb, wenn das Wort unsichtbar war, aktivierte
die bewusste Wahrnehmung des Wortes erstaunlich viele
Regionen im vorderen und hinteren Bereich des Gehirns.
Dasselbe Ergebnis wurde bei einer anderen Gruppe gefun-
den, als statt Bildern maskierte Töne eingesetzt wurden. Ein
unterschwelliger Stimulus ruft nur eine schwache Aktivität
hervor, während ein bewusst wahrgenommener Stimulus
vielfach verstärkt wird. Warum sollte nicht eine Variante
dieses Experiments bei Mäusen wiederholt werden können,
aber diesmal mit einem Satz Mikroelektroden oder kon-
9  Auf zu neuen Horizonten 263

fokalen Zwei-Photonen-Fluoreszenzmikroskopen, um all


die Neurone zu beobachten, die der ausgedehnten Aktivität
zugrunde liegen, welche mit bewusster Wahrnehmung ein-
hergeht?
Die Bedeutung der systematischen und umfassenden
strukturellen und funktionellen Untersuchung der riesigen,
heterogenen und verwickelten Netzwerke, die den thala-
mo-corticalen Komplex bilden, lässt sich kaum überschät-
zen. Innerhalb weniger Jahre wird das Allen Institute über
eine komplette Taxonomie sämtlicher Zelltypen verfügen,
die den Mäusecortex ausmachen und seinen Input liefern.
Tatsächlich ist die Anatomie so wichtig, dass eine Zeich-
nung des murinen corticalen Mikroschaltkreises vom Vater
aller Neurowissenschaften, dem Spanier Santiago Ramón
y Cajal, nun auf meinen linken Oberarm tätowiert ist, ein
stummes Zeugnis der Suche, auf der ich mich befinde.
Wir leben in aufregenden Zeiten. Ich liebe das Leben in
Seattle, dieser Stadt mit ihrer spektakulären Umgebung,
ihrer Outdoor-Kultur und ihren Radwegen. Manchmal ist
es ein wenig mühsam, weil ich weiterhin Professor am Cal-
tech mit einer großen Gruppe von Studenten und Postdocs
bleibe, die ich betreue. Aber ich war schon immer ein An-
hänger der Schlafen-kannst-du-wenn-du-tot-bist-Schule.
In der Biologie geht es um beispiellose Komplexität
und Spezifität auf molekular-zellulärem Niveau. Die Che-
mie machte keine Fortschritte, solange man Materie als
Mischung der vier griechisch-klassischen Elemente Erde,
Wasser, Luft und Feuer ansah. Und ebenso ist es mit dem
Bewusstsein. Phänomenales Erleben erwächst nicht aus
aktiven und stummen Regionen des Gehirns, sondern aus
264
264 Book Title
  Bewusstsein

dem unablässigen Formen und Lösen von Neuronenko-


alitionen, deren Komplexität und repräsentative Kapazität
den ultimativen Nährboden für unsere intimsten Gedan-
ken bilden.
Kapitel 10
In welchem ich über letzte Dinge nach-
sinne, die im ernsthaften wissenschaftli-
chen Diskurs tabu sind, nämlich über Witz,
die Beziehung zwischen Wissenschaft und
Religion, über die Existenz Gottes, darüber,
ob dieser Gott in den Lauf der Dinge eingrei-
fen kann, über den Tod meines Mentors und
über die Dinge, mit denen ich mich derzeit
herumschlage

Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das von
der vorhergehenden und darauffolgenden Ewigkeit aufgesogen
wird, und den kleinen Raum, den ich ausfülle und den ich
noch dazu von der unendlichen Unermesslichkeit der Räu-
me verschlungen sehe, die ich nicht kenne und die mich nicht
kennen, so gerate ich in Schrecken und erstaune, mich eher
hier als dort zu sehen, denn es gibt keinen Grund, warum
es eher hier als dort ist, warum jetzt und nicht vielmehr frü-
her. Wer hat mich dorthin gebracht? Durch wessen Gebot und
Führung sind dieser Ort und diese Zeit mir bestimmt worden?

– Blaise Pascal, Gedanken (1670).

Paul Gauguins bewegendes Meisterwerk D’où venons nous?


Que sommes-nous? Où allons-nous?, das er in seinen letzten

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9_10,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
266
266 Book Title
  Bewusstsein

Lebensjahren auf Tahiti malte, fasst die drei Fragen, die


mich umtreiben, perfekt zusammen: Woher kommen wir
– Menschen, Hunde und andere empfindungsfähige We-
sen? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Ich bin Naturwissen-
schaftler. Ich habe ein tief sitzendes Bedürfnis, Antworten
auf diese Fragen zu finden und das physikalische Univer-
sum wie auch das Bewusstsein zu begreifen. Ich versuche,
all das zu verstehen – nicht, wie es ein Mystiker tut, in der
Art ekstatischer Erfahrung, die ich manchmal habe, wenn
ich stundenlang hoch oben in den San Gabriel Mountains
laufe, sondern in einer rationalen, intellektuellen Weise.
Diese letzten Seiten präsentieren einige persönliche
Überlegungen zu Naturwissenschaft und Religion, einen
verspäteten Prozess des Erwachsenwerdens, der mich dazu
getrieben hat, meinen Kindheitsglauben neu zu bewerten,
und einige autobiographische Fragmente, die Licht darauf
werfen, warum Fragen wie die nach dem freien Willen für
mich wichtig sind. Ich weiß durch Begegnungen mit Stu-
denten und Kollegen, dass nicht wenige von ihnen nachts
wach liegen und über solche Dinge nachdenken. Dieses
letzte Kapitel ist für Sie, meine Leser.

 ualismus, Seele und


D
Naturwissenschaften
Platon, der Übervater der westlichen Philosophie, begriff
das Individuum als eine immaterielle und unsterbliche
Seele, die in einem materiellen und sterblichen Körper ge-
fangen ist. Dieses Konzept ist die klassische Verkörperung
( sic) des Dualismus, jenes Glaubens, dass die Realität aus
10  Letzte Fragen   2267
67

zwei radikal unterschiedlichen Arten von Dingen besteht


– dem Geistigen oder Spirituellen und dem Physischen.
Platon verbreitete seine Ideen durch die Akademie, die er
387 v. Chr. gründete. Es war die erste Institution für höhere
Bildung in der westlichen Welt. Ich nenne mich Akade-
miker nach dem Athener Helden Akademos, nach dem der
Olivenhain, der Platons Schule beherbergte, benannt war.
Diese platonischen Ansichten flossen anschließend ins
Neue Testament ein und bildeten die Basis der christlichen
Doktrin von der Seele, die am Ende der Zeit wiederauf-
erstehen wird, um in immerwährender Gemeinschaft mit
Gott zu leben. Der Glaube an eine transzendente, unsterb-
liche Seele, die im Zentrum des Bewusstseins steht, kehrt
in der Geschichte des Denkens immer wieder und wird von
vielen Glaubensrichtungen in der Welt geteilt.
Viele Leser werden für einen solchen offen dualistischen
Glauben wenig Sympathie hegen. Doch der Fundamenta-
lismus, die kompromisslose Zurückweisung einer rationa-
len, humanistischen, liberalen Weltsicht zugunsten eines
rigiden Festhaltens an Doktrinen und Kernüberzeugungen
über Körper und Seele, ist weltweit im Aufstieg begriffen.
Das gilt genauso für den christlichen Fundamentalismus
wie für die extremen islamischen Varianten. Und mehr
denn je sind junge Männer bereit, andere und sich selbst im
Namen ihres jeweiligen Gottes zu töten. Das ist nicht ganz
das, was Nietzsche im Sinn hatte, als er in beschwörendem
Ton erklärte: „Gott ist tot!“
Zeitgenössische akademische Bücher, die sich mit dem
Körper-Geist-Problem beschäftigen, erledigen Gott und
die Seele, wenn überhaupt, in einem Nebensatz. Abschätzig
verweisen die Autoren auf die offensichtliche Unvereinbar-
268
268 Book Title
  Bewusstsein

keit von Wissenschaft mit diesen antiquierten Denkweisen.


Wie weit entfernt ist dies von der Situation vor drei bis vier
Jahrhunderten, als Bücher und Gebäude ad majorem dei
gloriam geschaffen wurden, um Gottes Ruhm zu mehren!
Descartes, der Philosoph der Aufklärung, postulierte,
alles unter der Sonne bestehe aus einer von zwei Substan-
zen. Die Art Stoff, die man berühren kann und die eine
räumliche Ausdehnung hat, ist die res extensa; dazu gehören
Körper und Gehirn von Mensch und Tier. Der Stoff, den
man nicht sehen kann, der keine Länge und Breite hat und
das menschliche Gehirn animiert, ist die res cogitans, der
Seelenstoff.
Das Arbeiten unseres Gehirns wird in der Regel mit
der fortschrittlichsten Technologie der jeweiligen Zeit ver-
glichen. Heutzutage ist es das riesige und vernetzte Inter-
net. Gestern war es der Digitalcomputer. In einem frü-
heren Jahrhundert waren es die beweglichen Statuen von
Göttern, Satyren, Tritonen, Nymphen und Heroen in den
Springbrunnen am französischen Hof von Versailles. Wie
das Wasser, das diese einfachen Maschinen speiste, argu-
mentierte Descartes, fließen „Lebensgeister“ ( spiritus ani-
males, Seelenpneuma) durch die Arterien, Hirnkavernen
und Nervenröhrchen aller Geschöpfe und versetzen sie in
Bewegung. In einem radikalen Bruch mit der mittelalter-
lichen scholastischen Tradition und ihren endlosen Speku-
lationen suchte Descartes mechanistische Erklärungen für
Wahrnehmung und Handeln. Aufgrund seiner Sektionen
von Körpern und Gehirnen argumentierte er, dass die meis-
ten Verhaltensweisen durch das Wirken von Teilchen her-
vorgerufen werden, die sich in Größe, Form und Bewegung
unterscheiden.
10  Letzte Fragen   2269
69

Descartes war jedoch ratlos, wenn es um Mechanismen


für Intelligenz, logisches Denken und Sprache ging. Im
17. Jahrhundert konnte sich niemand ausmalen, dass die
geistlose Anwendung von minutiös detaillierten Schritt-
für-Schritt-Instruktionen – die wir heute als Algorithmus
bezeichnen – Computer Schach spielen, Gesichter erken-
nen und Websites übersetzen lässt. Descartes musste Zu-
flucht zu seiner mysteriösen, ätherischen Substanz nehmen,
die auf irgendeine nebulöse Art Denken und Schlussfolgern
übernahm. Als gläubiger Katholik bewahrte er die absolute
Trennung zwischen Menschen und seelenlosen Tieren, in-
dem er die res cogitans für erstere reservierte. Wie er unmiss-
verständlich schrieb, mag ein Hund wohl Mitleid erregend
heulen, wenn er von einer Kutsche angefahren wird, fühle
aber keinen Schmerz.
Wenn ich irgendetwas in meiner lebenslangen Beschäf-
tigung mit dem Körper-Geist-Problem gelernt habe, dann
das: Was auch immer Bewusstsein ist, wie auch immer es
mit dem Gehirn verknüpft sein mag – Hunde, Vögel und
Legionen anderer Tiere haben es. Wie ich in Kapitel 3 dar-
gelegt und im letzten Kapitel unterstrichen habe, ist das
Bewusstsein von Hunden nicht dasselbe wie das unsrige
– beispielsweise neigen Hunde weitaus weniger zur Intro-
spektion und reden nicht –, aber es gibt keine Frage, dass
sie ebenfalls ihr Leben erleben.
Zwei moderne Verteidiger des Dualismus, der Philosoph
Karl Popper und der Neurophysiologe und Nobelpreis-
träger John Eccles, sind bereits in Kapitel  7 aufgetaucht.
Lassen Sie mich einen Einwand wiederholen, den ich im
Zusammenhang mit ihren Ansichten über den libertären
freien Willen gemacht habe. Der von ihnen vertretene
270
270 Book Title
  Bewusstsein

Dualismus, bei dem der Geist dem Gehirn seinen Willen


aufzwingt, ist aus dem Grund unbefriedigend, auf den die
25-jährige Prinzessin Elisabeth von Böhmen Descartes be-
reits drei Jahrhunderte zuvor hinwies – auf welche Weise
lenkt die immaterielle Seele das physische Gehirn, um ihr
Ziel zu erreichen? Wenn die Seele nicht fassbar ist, wie kann
sie materielle Gebilde wie Synapsen manipulieren? Es ist
leicht, sich vorzustellen, wie Kausalität vom Gehirn zum
Geist fließt, doch das Umgekehrte ist schwierig. Jede Kom-
munikation des Geistes mit dem Gehirn muss mit den Na-
turgesetzen kompatibel sein, vor allem mit dem Prinzip des
Energieerhalts. Das Gehirn zu veranlassen, Dinge zu tun,
zum Beispiel an den Synapsen herumzuspielen, verlangt
Arbeit, die die Seele leisten müsste und über die Rechen-
schaft abgelegt werden muss.
Das Wesen der Wechselbeziehung zwischen den beiden
ist nicht das einzige Problem. Wie erinnert sich die Seele
an irgendetwas? Verfügt sie über ein eigenes Gedächtnis?
Wenn ja, wo? Welcher Logik folgt sie? Was passiert mit
der Seele, wenn das Gehirn stirbt? Schwebt sie in einer Art
Hyperraum, wie ein Gespenst? Und wo war diese Seele, be-
vor der Körper geboren wurde? Auf diese Fragen gibt es
keine Antworten, die mit dem kompatibel sind, was wir
über die physische Welt wissen.
Wenn wir ehrlich nach einer einzigen, rationalen und
intellektuell konsistenten Sicht des Kosmos und allem da-
rin suchen, müssen wir die klassische Vorstellung von der
unsterblichen Seele aufgeben. Es ist eine Vorstellung, die
tief in unserer Kultur verwurzelt ist; sie durchdringt unsere
Lieder, Geschichten, Filme, großen Gebäude, öffentlichen
Diskussionen und Mythen. Die Wissenschaft hat uns das
10  Letzte Fragen   2271
71

Ende unserer Kindheit beschert. Erwachsenwerden ist für


viele Menschen eine beunruhigende, für manche eine un-
erträgliche Erfahrung, aber wir müssen lernen, die Welt so
zu sehen, wie sie ist, und nicht, wie wir sie uns wünschen
würden. Sobald wir uns einmal vom magischen Denken
befreit haben, erhalten wir die Chance zu verstehen, wie
wir in dieses sich entfaltende Universum hineinpassen.
Die vorherrschende intellektuelle Position unserer Tage
und unserer Zeit ist der Physikalismus – letztlich lässt sich
alles auf Physik zurückführen. Es gibt keinen Grund, an
etwas anderes als Raum, Zeit, Materie und Physik zu ap-
pellieren. Der Physikalismus – nur einen winzigen Schritt
entfernt von Materialismus – ist aufgrund seiner metaphy-
sischen Sparsamkeit attraktiv. Er macht keine zusätzlichen
Annahmen.
Andererseits kann man solche Einfachheit auch als Ar-
mut ansehen. Dieses Buch argumentiert, dass der Physi-
kalismus für sich allein genommen zu dürftig ist, um den
Ursprung des Geistes zu erklären. Im vorigen Kapitel habe
ich eine Alternative skizziert, die den Physikalismus berei-
chert. Es handelt sich um eine Art von Eigenschaftsdualis-
mus: Die Theorie der integrierten Information postuliert,
dass sich bewusste, phänomenale Erfahrung von dem ihr
zugrunde liegenden physischen Träger unterscheidet. Infor-
mationstheoretisch gesprochen, ist das Erleben von Trau-
rigkeit ein Kristall, eine unfassbar komplexe Form in einem
billiondimensionalen Raum, die sich qualitativ von dem
Gehirnzustand unterscheidet, aus dem diese Traurigkeit
erwächst. Das bewusste Erleben erwächst aus integrierter
Information; die Kausalität hingegen entspringt aus der
zugrunde liegenden Physik des Gehirns, aber in einer nicht
272
272 Book Title
  Bewusstsein

leicht verständlichen Weise. Das ist so, weil Bewusstsein da-


rauf basiert, dass das System mehr ist als die Summe seiner
Teile.
Stellen Sie sich diesen Kristall als die Seelenversion des
21. Jahrhunderts vor. Aber leider ist diese Seele nicht un-
sterblich. Sobald das zugrunde liegende physikalische Sys-
tem desintegriert, wird der Kristall ausgelöscht. Er wird
wieder zum formlosen Nichts, wie zu der Zeit, bevor das
System erzeugt wurde.
Bevor es zu einem solchen Zusammenbruch kommt,
könnten die Kausalbeziehungen, die diesen Kristall aus-
machen, auf einen Computer hochgeladen werden. Das
ist die berühmt-berüchtigte Singularität, von der sich
Ray Kurzweil und andere Technikfreaks Unsterblichkeit
erhoffen – eine Traumvorstellung für Nerds. Und sobald
die entsprechende integrierte Information auf ein Elekt-
ronenmuster reduziert ist, kann sie kopiert oder editiert,
verkauft oder raubkopiert, mit anderen elektronischen
geistigen Einheiten zusammengeschlossen oder gelöscht
werden.
Doch ohne irgendeinen Träger kann integrierte Informa-
tion nicht existieren. Kurz gesagt: Ohne Materie kein Geist.

Religion, Logik und Francis Crick


Francis Crick ist ein hervorragendes Beispiel für die his-
torische Animosität zwischen Religion und Wissenschaft.
Nichts in seiner toleranten, britischen Mittelklasseerzie-
hung hätte darauf hingedeutet, doch aus vielen Diskussio-
nen mit ihm weiß ich, dass es ihm ein Anliegen war, die
10  Letzte Fragen   2273
73

Welt von Gott zu befreien und übernatürliche Erklärungen


für Leben und Bewusstsein durch solche zu ersetzen, die
auf natürlichen Kräften beruhten. Er wollte Gott für im-
mer aus der Sphäre des rationalen und gebildeten Diskurses
vertreiben.
Francis war sehr erfolgreich bei seinem Streben, Leben
zu verstehen. Auch wenn die Ursprünge des Lebens einer
präbiotischen Welt im Dunkeln bleiben, ist der konzep-
tuelle Rahmen für seine Evolution da. Es ist jedoch zu
früh zu sagen, wie nahe er seinem zweiten Ziel gekom-
men ist.
Francis’ Widerstand gegen organisierte Religion wurde
legendär, als er 1961 von seinem Posten am Churchill Col-
lege an der Cambridge University zurücktrat, um gegen
Pläne zu protestieren, auf dem Boden des College eine Ka-
pelle zu errichten. Francis war der Meinung, Religion habe
keinen Platz in einem modernen College mit Betonung auf
Naturwissenschaften, Mathematik und Ingenieurswesen.
Sir Winston Churchill – in dessen Namen das College ge-
gründet worden war – versuchte, ihn zu besänftigen, indem
er darauf hinwies, dass das Geld für den Bau der Kapelle
von privaten Spendern stamme und niemand gezwungen
werde, dort an einem Gottesdienst teilzunehmen. Francis
antwortete mit dem Vorschlag, einen Fonds für den Bau
eines mit dem College assoziierten Bordells anzulegen: Nie-
mand werde gezwungen, dessen Dienste in Anspruch zu
nehmen, und es würde jedermann ganz unabhängig von
seiner religiösen Überzeugung akzeptieren; seinem Brief
legte er eine Akonto-Zahlung von zehn Guineen bei. Ver-
ständlicherweise brach die Korrespondenz der beiden Män-
ner daraufhin ab.
274
274 Book Title
  Bewusstsein

Als ich Francis kennen lernte, war seine lautstarke Oppo-


sition gegen religiöses Denken jeder Art gedämpfter gewor-
den. Beim Dinner mit ihm und Odile in ihrem Haus auf
dem Hügel diskutierten wir gelegentlich über die römisch-
katholische Kirche und ihre Position zu Evolution, Zöli-
bat und so weiter. Er wusste, dass ich als Katholik erzogen
worden war und weiterhin gelegentlich die Messe besuchte.
Er stocherte niemals in den Grundlagen meines Glaubens,
denn er war ein freundlicher Mann und wollte mir die Ver-
legenheit ersparen, nach einer Erklärung zu suchen – vor
allem, weil mein Glaube unserem Streben, Bewusstsein in-
nerhalb eines streng empirischen Rahmens zu suchen, nicht
in die Quere kam.
Bemerkenswerterweise gibt er in seinem 1994 veröffent-
lichten Buch Was die Seele wirklich ist, in dem er seine Sicht
des Körper-Geist-Problems darstellt, offen zu: „Vielleicht
gewinnt aber auch irgendeine eher religiöse Auffassung an
Plausibilität.“ Dieses erstaunliche Zugeständnis wird sofort
neutralisiert: „Es gibt immer eine dritte Möglichkeit, und
zwar die, dass die Fakten eine neue und ganz andere Be-
trachtungsweise des Geist/Hirn-Problems unterstützen, die
sich merklich von dem eher grobschlächtigen Materialis-
mus, den viele Neurowissenschaftler heute vertreten, und
auch von dem religiösen Standpunkt unterscheidet.“ Das
ist kein Ausdruck politischer Korrektheit – weit davon ent-
fernt. Mehr als jeder andere, den ich kenne, war Francis
offen für neue, alternative und selbst radikale Erklärungen,
solange sie mit den meisten etablierten Fakten vereinbar so-
wie verifizierbar waren und Wege für neue Gedankengänge
und Experimente eröffneten.
10  Letzte Fragen   2275
75

 eismus oder Gott als himmlischer


D
Baumeister
Das größte aller existenziellen Rätsel ist, warum es etwas
gibt und nicht nichts. Sicherlich ist der natürlichste Da-
seinszustand – im Sinne, so wenig wie möglich vorauszuset-
zen – Leere. Damit meine ich nicht den leeren Raum, der
sich in der Hand der Physiker als so fruchtbar erwiesen hat.
Ich meine die Abwesenheit von allem und jedem: Raum,
Zeit, Materie und Energie. Nothing, rien, nada, nichts.
Aber wir sind hier, und das ist das Rätselhafte.
In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und als
Kriegsgefangener drückte der junge Ludwig Wittgenstein
seine Verwunderung darüber in seinem Tractatus logico-phi-
losophicus aus: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische,
sondern dass sie ist.“
Die Kosmologie hat diese Frage bis zum Punkt der
Schöpfung selbst, dem unvorstellbar feurigen Urknall,
zurückverfolgt. Dieser Urknall fand vor 13,7 Mrd. Jahren
statt, wahrhaftig vor Urzeiten, völlig jenseits jeder mensch-
lichen Erfahrung. Und dort trifft die Physik – trotz aller
Anstrengungen von Stephen Hawking und anderen – auf
die Metaphysik.
Wer oder was bestimmte die Bedingungen für diese ini-
tiale Singularität, als alles in einem einzigen Punkt unendli-
cher Dichte komprimiert war? Woher kam er oder es? Trifft
das Prinzip „nichts entsteht aus nichts“ nicht auch für das
Universum als Ganzes ebenso zu wie für alles darin? Und
woher stammen die Gesetze, denen dieses Universum ge-
horcht? Wer oder was konstituierte die Quantenmechanik
276
276 Book Title
  Bewusstsein

und die Allgemeine Relativitätstheorie? Sind diese Gesetze


notwendig? Könnte das Universum anderen Gesetzen ge-
horchen und noch immer in sich folgerichtig bleiben? Ist
ein Universum, in dem die Quantenmechanik nicht gilt,
realisierbar oder gar begreifbar?
Eine rationale Erklärung ist ein Demiurg, ein höchstes
Wesen, das immer war, ist und sein wird. Außerhalb der
Zeit stehend, schuf diese Entität die Naturgesetze und ließ
den Urknall werden. Anschließend zeugte die Physik ein
stabiles Raum-Zeit-Gefüge und unser Universum. Nach
diesem anfänglichen Schöpfungsakt überließ der göttliche
Baumeister den Kosmos sich selbst, ließ ihn sich frei nach
Zufall und Notwendigkeit entwickeln. Schließlich erhoben
sich Geschöpfe aus dem Urschleim und bauten Tempel, um
das höchste Wesen zu preisen. Das ist der Schöpfer oder die
göttliche Vorsehung, von der die amerikanische Unabhän-
gigkeitserklärung spricht. Thomas Jefferson und Benjamin
Franklin waren Deisten, glaubten also an einen solchen na-
turalistischen Gott.
Die Naturwissenschaften geben eine gültige Beschreibung
der Art und Weise, wie die Dinge miteinander interagieren
und sich von einer Form in die andere umwandeln. Dass
Galaxien, Autos, Billardkugeln und subatomare Teilchen in
regelmäßiger Weise agieren, die sich mathematisch formu-
lieren und damit vorhersagen lässt, ist überaus erstaunlich.
Tatsächlich glaubten und glauben einige Physiker und Ma-
thematiker – der berühmteste von ihnen Albert Einstein – ge-
nau wegen dieser „wunderbaren“ Sachlage an einen solchen
Schöpfer. Es ist nicht schwer, sich ein Universum vorzustel-
len, so komplex, dass es unbegreiflich ist. Aber der Gott der
Deisten schuf ein Universum, das nicht nur lebensfreund-
10  Letzte Fragen   2277
77

lich, sondern auch so vorhersagbar ist, dass seine Regelmä-


ßigkeit vom menschlichen Geist erfasst werden kann.
Doch wir suchen vergeblich nach direkten empirischen
Beweisen für solch ein ewiges Wesen, das über den Natur-
gesetzen steht. Gott hinterlässt in unseren Reagenzgläsern
keine Reste und auch keine Spuren in unseren Blasenkam-
mern. Auch durch Logik lässt sich Gott nicht erfassen. Wie
der Astronom und Philosoph Immanuel Kant argumentier-
te, sind alle Beweise für die Existenz Gottes fehlerbehaf-
tet. Keine lückenlose Argumentationskette führt von un-
anfechtbaren Annahmen zu der sicheren Schlussfolgerung,
dass Gott notwendigerweise existieren muss. (Das Gegen-
teil gilt ebenso – es lässt sich nicht beweisen, dass es keinen
Gott gibt). Wiederum drückt es Wittgenstein knapp aus:
„Gott offenbart sich nicht in der Welt.“
Anfang der 1970er-Jahre erhielt die Debatte eine neue
Wendung – nämlich, als das anthropische Prinzip ins Spiel
gebracht wurde, die Beobachtung, dass sich das Univer-
sum überaus gastfreundlich gegenüber stabilen, sich selbst
replizierenden Systemen verhält. Wenn die physikalischen
Konstanten und Parameter, die den Kosmos regieren, auch
nur ein wenig anders aussähen, könnten komplexe Mole-
küle und daher Leben nicht existieren. In diesem Sinne
ist „anthropisch“ eine Fehlbezeichnung, denn das Prinzip
bezieht sich nicht allein auf menschliches Leben; vielmehr
sollte man vom „biotropischen“ oder „biophilen“ Prinzip
reden.
Nehmen wir beispielsweise Newtons Gravitationsgesetz
und das coulombsche Gesetz, die regeln, wie elektrisch ge-
ladene Teilchen einander anziehen und abstoßen. Beide
Gesetze haben dieselbe Form und besagen, dass die Kräfte
278
278 Book Title
  Bewusstsein

zwischen zwei Teilchen mit dem Quadrat der Entfernung


zwischen beiden abnehmen. Nur die Konstanten vor dem
quadratischen Abfall differieren. Interessanterweise muss
die Anziehungskraft zwischen zwei entgegengesetzten La-
dungen genau 1039-mal stärker sein als ihre gegenseitige gra-
vitative Anziehung, damit Leben, wie wir es kennen, entste-
hen kann. Etwas mehr oder weniger, und es gäbe uns nicht.
Eine andere kosmische Einschränkung ist, dass die Summe
aller positiv geladenen Teilchen im Universum gleich der
Summe aller negativ geladenen Teilchen sein muss; andern-
falls würde der Elektromagnetismus die Gravitation domi-
nieren, und Sterne, Galaxien und Planeten könnten sich
nicht bilden. Die Anzahl der Elektronen muss der Anzahl
der Protonen auf Billionstelbruchteile genau entsprechen.
Wenn die starke Kraft etwas stärker oder schwächer wäre,
als sie tatsächlich ist, würde entweder nichts als Wasser-
stoff oder kein Element schwerer als Eisen existieren. Wenn
sich das Universum zu rasch ausgedehnt hätte, hätten sich
Protonen und Neutronen nicht zu Atomkernen verbinden
können. Wenn die initiale Expansion des Universums nur
ein wenig langsamer gewesen wäre, wäre das feurige Ge-
bräu, das das frühe Universum ausmachte, zu heiß gewesen,
als dass sich Atomkerne hätten bilden können. Kurz gesagt,
musste eine erstaunliche Zahl von „Zufällen“ eintreten, da-
mit ein Universum entstehen konnte, das genügend lange
stabil ist und genügend unterschiedliche chemische Ele-
mente enthält, um komplexe, auf Kohlenstoff basierende
Lebensformen zu unterhalten.
Manche argumentieren, das anthropische Prinzip sei eine
Tautologie: Wenn das Universum nicht lebensfreundlich
gewesen wäre, wären wir nicht hier und würden darüber
10  Letzte Fragen   2279
79

nachdenken. Diese Argumentation geht davon aus, dass es


eine – räumlich oder zeitlich – unermesslich große Anzahl
an Paralleluniversen gibt, die lebensfeindlich sind, und wir
uns zufällig in dem einen befinden, das uns gegenüber gast-
lich ist. Das Problem ist, dass wir nichts von diesen anderen
Universen wissen – sie sind niemals beobachtet worden.
Vielleicht leben wir in einem Multiversum, das eine unend-
liche Zahl an nicht-interagierenden und nicht-beobacht-
baren Universen enthält. Möglich. Doch eine unendliche
Zahl von Welten anzunehmen, ist eine sehr starke Annah-
me und ebenso eine ad-hoc-Hypothese wie die Hypothese
vom höchsten Wesen, das die Naturgesetze manipulierte,
um die Entstehung von Leben zu erleichtern.
Die lebhafte Debatte, die vom anthropischen Prinzip
ausgelöst wurde, zeigt keinerlei Anzeichen, sich zu beruhi-
gen.
Was bleibt, ist weder empirisches Wissen noch logische
Gewissheit, sondern Glaube. Manche, wie die Physiker
Stephen Hawking und Leonard Mlodinow, sind über-
zeugt, dass eine noch zu beweisende physikalische Theorie,
die M-Theorie, zeigen wird, warum das Universum in der
Form existieren muss, wie es existiert. Andere halten dies
bestenfalls für einen fragwürdigen Wechsel auf die Zukunft
und glauben an andere Prinzipien.

Theismus oder der eingreifende Gott


Welche Macht hat Gott? Kann das höchste Wesen den
Lauf der Dinge in seiner Schöpfung beeinflussen? Schließ-
lich beten die Leute in der Erwartung, dass Gott ihnen
280
280 Book Title
  Bewusstsein

zuhört – vorausgesetzt, ihre Absichten sind rein und ihr


Glaube ist ehrlich – und zu ihren Gunsten eingreift, ob
es darum geht, ein krankes Kind zu heilen, eine zerrüttete
Ehe zu kitten oder ein neues Geschäft zu segnen. Wenn
Gott all das nicht tun kann, warum dann all der Aufwand?
(Mir geht es hier nicht um die möglichen positiven psy-
chologischen Effekte des Betens, wie Angstlinderung. Mir
geht es um mehr).
Theismus ist der Glaube an einen aktiven Gott, der ins
Universum eingreift. Ist der Theismus mit den Naturwis-
senschaften kompatibel? Wenn etwas außerhalb des Uni-
versums, das nicht den Naturgesetzen unterliegt, bewirkt,
dass etwas innerhalb des Universums geschieht, sprechen
die Menschen von einem Wunder. Daher muss die Frage
umformuliert werden: Sind Wunder mit der Wissenschaft
vereinbar? Die Antwort ist ein eindeutiges „Nein“.
Nehmen wir Jesus’ erste öffentliche Handlung (dem
Neuen Testament zufolge): die Verwandlung von Wasser in
Wein auf der Hochzeit zu Kanaan. Das widerspricht einem
fundamentalen Prinzip, dem Erhalt von Masse-Energie.
Die aromatischen und die Alkohol-, Ethanolmoleküle, aus
denen Wein besteht, müssen von irgendwoher kommen.
Wassermoleküle lassen sich in Kohlenstoff und die anderen
Elemente konvertieren, die Wein ausmachen, doch das ist
ein Meisterstück der Nuklearsynthese, das sehr viel Energie
erfordert. Doch von derlei wurde nicht berichtet.
Jedes Mal, wenn dieses Erhaltungsprinzip überprüft
wird, stellt es sich als solide heraus; das gilt vom unendlich
Kleinen bis zum unvorstellbar Großen. Es ist daher sehr
unwahrscheinlich, dass das Wunder von Kanaan tatsächlich
stattgefunden hat.
10  Letzte Fragen   2281
81

Wissenschaftler lassen sich von einem heuristischen Prin-


zip deduktiven Schlussfolgerns leiten, das als Ockhams Ra-
siermesser bezeichnet wird. Benannt nach dem englischen
Mönch und Logiker Wilhelm von Ockham, der im 14.
Jahrhundert lebte, besagt es, dass von zwei gleich guten Er-
klärungen für ein Phänomen der einfacheren der Vorzug zu
geben sei. Eine umständlichere Erklärung ist weniger wahr-
scheinlich als eine sparsame. Das ist kein logisches Prinzip,
sondern eine Arbeitsregel.
Wenn Ermittler ein anomales Ereignis rekonstruieren,
einen Mord oder einen Flugzeugabsturz, können sie nie-
mals mit absoluter Sicherheit herausfinden, was geschehen
ist. Doch Ockhams Prinzip engt die Optionen ein. Ock-
hams Rasiermesser schneidet hier, eliminiert den unbe-
kannten Täter ohne offensichtliches Motiv, der keinerlei
Spuren hinterlässt, aber, so der Verteidiger des Angeklagten,
für den Mord verantwortlich ist. Ockhams Rasiermesser
schneidet dort, dezimiert die Theorie einer geheimen Re-
gierungsverschwörung, die das Flugzeug zum Absturz ge-
bracht hat, aber eine unwahrscheinliche Kette von Ereignis-
sen und die aktive Partizipation vieler Leute benötigt hätte.
Ockhams Rasiermesser ist ein unbezahlbares Werkzeug, das
Überflüssiges aus unseren Überlegungen eliminiert.
Die Möglichkeit, dass ein höchstes Wesen Wasser in
Wein verwandelt, ist so ausgefallen, dass man sie mithilfe
von Ockhams Rasiermesser zurückweisen kann. Viel wahr-
scheinlicher ist, dass etwas anderes, das den Gesetzen der
Physik gehorcht, die Ursache war. Vielleicht entdeckte der
Hochzeitsveranstalter lange vergessene Weinflaschen im
Keller. Oder ein Gast brachte den Wein als Geschenk mit.
Oder die Geschichte wurde erfunden, um Jesus’ Ruf als der
282
282 Book Title
  Bewusstsein

wahrer Messias zu festigen. Denken Sie an Sherlock Hol-


mes’ Rat: „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat,
muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahr-
scheinlich sie auch klingen mag.“
Wunder fallen nicht darunter. Das Gefüge der Alltags-
wirklichkeit ist zu engmaschig, um es durch übernatürliche
Kräfte zu zerreißen. Ich fürchte, Gott ist ein abwesender
kosmischer Hausherr. Wenn wir wollen, dass hier auf Erden
Dinge passieren, sollten wir uns besser selbst darum küm-
mern. Niemand wird sie für uns erledigen.

 önnen Offenbarung und Heilige


K
Schrift weiterhelfen?
Traditionellerweise ist der wichtigste Quell des Wissens
über das Transzendentale eine Offenbarung – direkte Got-
teserfahrung aus erster Hand. Saulus’ Begegnung mit dem
lebendigen Gott auf der Straße von Damaskus verwandelte
ihn von einem Verfolger der ersten Anhänger Jesu in den
Apostel Paulus, den größten Missionar der Christenheit.
Der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph
Blaise Pascal, der im 17. Jahrhundert lebte, erlebte Gott
ebenfalls auf diese Art: Eine Beschreibung seiner intensiven
Erfahrung wurde auf einem Pergament, eingenäht in das
Futter seines Mantels, gefunden. Die Schriften von Heili-
gen und Mystikern aus allen religiösen Traditionen enthal-
ten Begegnungen mit dem Absoluten und das Gefühl, mit
dem Universum eins zu sein.
10  Letzte Fragen   2283
83

Wenn ich Gott auf diese Weise erlebt hätte, wenn ich
den brennenden Dornbusch gesehen und eine Manifesta-
tion des Mysterium tremendum verspürt hätte, würde ich
diese Zeilen nicht schreiben. Ich würde nicht auf unzuläng-
liche Logik zurückgreifen müssen, um Dinge zu ergründen.
Ich wäre mir absolut sicher!
Weil ich nur auf Vernunft und Logik zurückgreifen
kann, gebe ich meiner Skepsis nach, wenn ich die onto-
logische (aber nicht die psychologische) Validität solcher
lebensverändernden Erfahrungen betrachte. Als Ehemann,
Vater, Sohn, Bruder, Freund, Liebhaber, Kollege, Wissen-
schaftler, Bürger und begeisterter Leser von geschichtlichen
Werken bin ich immer wieder erstaunt, wie leicht es sehr
gebildeten und intelligenten Menschen fällt, sich selbst zu
täuschen. Sie und ich sind überzeugt, dass unsere Motive
nobel sind, dass wir gescheiter sind als die meisten, dass das
andere Geschlecht uns attraktiv findet.
Niemand ist gefeit vor Selbsttäuschung und Selbstbe-
trug. Wir alle verfügen über komplexe, unbewusste Ver-
teidigungsmechanismen, die uns erlauben, an Überzeu-
gungen festzuhalten, die uns lieb und wert sind, obwohl
die Fakten dagegen sprechen. Der 11. September, das Irak-
Debakel und der Lehman-Brothers-Bankrott zeigen ein-
dringlich, dass die „Elite“ genauso unter diesem Versagen
des gesunden Menschenverstands leidet wie alle übrigen.
Ein Caltech-Kollege, Richard Feynman, meinte dazu: „Das
wichtigste Prinzip ist, sich nicht selbst zum Narren zu hal-
ten, und Sie sind diejenige Person, die sich am leichtesten
zum Narren halten lässt.“ Unsere pathologische Neigung,
jedes Ereignis so zu interpretieren, wie es uns am besten in
den Kram passt, ist genau der Grund, warum Doppelblind-
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284 Book Title
  Bewusstsein

studien in Wissenschaft und Medizin so wichtig sind. Sie


eliminieren die verborgenen Vorurteile und Neigungen des
Experimentators, die andernfalls die Ergebnisse verfälschen
würden.
Angesichts dieser unbequemen Fakten hinsichtlich der
menschlichen Natur bezweifle ich, ob intensive religiöse
Erfahrung, auch wenn sie zweifellos wirklich so erlebt wird,
irgendetwas über die reale Existenz Gottes aussagt. Ich
leugne solche Erfahrungen nicht, doch ich bin skeptisch,
was ihre Interpretation angeht. Ich halte den kalten Wasch-
lappen der Vernunft stets bereit.
Genauso skeptisch bin ich, wenn es um die Heilige
Schrift geht, eine andere traditionelle Quelle religiösen
Denkens und Lehrens. Die Vorstellung, dass die Erfahrun-
gen und Gedanken von Männern, die Tausende von Jahren
vor uns lebten, für unser Verständnis des Universums und
unserem Platz darin relevant sein könnten, erscheint mir
merkwürdig. Die Bücher der Bibel wurden verfasst, bevor
man sich das wahre Alter und die wahre Ausdehnung des
Universums auch nur entfernt vorstellen konnte, bevor die
evolutionäre Verbindung zwischen Mensch und Tier ver-
standen und das Gehirn als Sitz des Geistes identifiziert
wurde (weder im Alten noch im Neuen Testament wird das
Gehirn auch nur ein einziges Mal erwähnt).
Zudem erhöht die Beobachtung, dass verschiedene Ge-
sellschaften und Kulturen grundlegende Texte und Tradi-
tionen haben, die einander weitgehend widersprechen –
Unterschiede, für die manche Gläubige bereit sind zu töten
oder zu sterben –, mein Vertrauen in diese „empfangenen“
Wahrheiten nicht. (Welche seltsamen Götter, Rituale und
Überzeugungen werden dieses Pantheon erweitern, wenn
10  Letzte Fragen   2285
85

wir tatsächlich irgendwann Zivilisationen auf fremden Ster-


nen finden sollten? Können sie ebenfalls Erlösung erlangen?
Starb Jesus auch für sie?) Auf welcher Grundlage sollte ich
angesichts dieses Jahrmarkts der Religionen die eine der
anderen vorziehen? Viele Jahre lange glaubte ich, wie die
meisten Leute, das, was meine Eltern glaubten. Aber das ist
keine wirklich fundierte, überlegte Entscheidung.
Das Alte und das Neue Testament, der Koran und andere
religiöse Texte sind poetisch, inspirierend und bieten Ein-
blick in bleibende menschliche Bedürfnisse und Wünsche.
Sie liefern das ethische Fundament, das die Gläubigen Jahr-
tausende lang geleitet hat. Die Heilige Schrift erinnert uns
daran, dass jedes Individuum Teil eines größeren Ganzen
ist, Teil einer größeren Gemeinschaft von Gläubigen und
Teil von Gottes Schöpfung. Das heutige kulturelle, sozia-
le und politische Leben dreht sich um das Goldene Kalb
von Gier und Konsum. Kriege und Konflikte, Börsencrashs
und Umweltzerstörung sowie Wasser- und Ölknappheit er-
innern uns daran, dass wir diese essenziellen Wahrheiten
auf eigene Gefahr leugnen.
Ich will Ihnen ein persönliches Beispiel geben, wie wis-
senschaftliche Einsichten, die in diesem Buch diskutiert
werden, mein Leben entscheidend beeinflusst haben. Wie
bereits erwähnt, haben viele, vielleicht sogar alle Tierspe-
zies subjektive, phänomenale Gefühle. Sie erleben Freude
und Schmerz, sind glücklich und traurig. Wie können wir
es im Lichte dieser Erkenntnis rechtfertigen, Tiere unter
schrecklichen, industriellen Bedingungen fern von ihrem
natürlichen Habitat aufzuziehen, um sie aufzuessen? Wie
können wir empfindungsfähige Wesen wegen ihres Flei-
sches züchten? Wie können wir es rechtfertigen, Kälber in
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286 Book Title
  Bewusstsein

engen, geschlossenen Boxen aufzuziehen, wo sie sich weder


umdrehen noch niederlegen können und sie für die Dauer
ihres kurzen Lebens jeden sozialen Kontakts berauben, um
ihr weißes, zartes Fleisch zu essen? Das ist heutzutage, wo es
nahrhafte, wohlschmeckende – und gesündere – Alternati-
ven gibt, besonders barbarisch. Dennoch war es schwierig
für mich, nach dieser intellektuellen Erkenntnis zu handeln
– der Geschmack von Fleisch ist in unserer Küche tief ver-
wurzelt und hat unseren Gaumen geprägt. Dann, im Jahr
2004, interviewte mich Susan Blackmore, eine unerschro-
ckene britische Psychologin mit knallig buntem Haar, für
eines ihrer Bücher. Ich hatte mich gerade in einem Artikel
über Mäusebewusstsein ausgelassen und gefordert, Mäuse
nicht gedankenlos zu töten, wie es viele Forscher tun, die
mit ihnen arbeiten, als mich Blackmore aus heiterem Him-
mel fragte, ob ich Fleisch esse. Wir schauten uns eine Weile
stumm an, bis ich schließlich seufzte, um meine Verlegen-
heit darüber zu kaschieren, als Heuchler entlarvt worden zu
sein. Dieser Vorfall ging mir wirklich nach.
Als ein Jahr später meine geliebte Nosy starb, veran-
lasste mich dies zu handeln. Von den sechs Hunden, mit
denen ich gelebt habe, hatte ich diese gescheite, verspiel-
te und immer neugierige Deutsche Schäferhündin am
liebsten gewonnen. Als sie starb, war ich verzweifelt; ich
träume noch heute von ihr. In der Nacht, in der sie ster-
bend in meinen Armen lag, fragte ich mich, wie ich um sie
weinen, aber problemlos das Fleisch von Lämmern und
Schweinen essen konnte. Ihre Intelligenz und ihre Gehir-
ne unterscheiden sich nicht allzu sehr vom Hundegehirn.
Seit dieser Nacht esse ich kein Fleisch von Säugern und
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87

Vögeln mehr, auch wenn ich manchmal inkonsequenter-


weise noch Fisch esse.
Keines der Zehn Gebote untersagt uns, das Fleisch emp-
findungsfähiger Geschöpfe zu essen. Keines weist uns an,
Sorge für den Planeten Erde zu tragen. Die Zehn Gebote
bieten keine Hilfe, wenn es um Entscheidungen zum Le-
bensende oder um reproduktives Klonen geht. Wir brau-
chen neue Gebote, solche, die unserer Zeit angemessen
sind, wie es der Philosoph und Ethiker Peter Singer, einer
der Gründer der modernen Tierrechtsbewegung, nach-
drücklich fordert.

Et in Arcadia ego


Meine Erziehung erfüllte mich mit einer Sehnsucht nach
dem Absoluten und mit der Erkenntnis, dass das Wun-
der des Seins in allen Dingen gefunden werden kann – im
Heulen eines Hundes, dem Anblick eines sternenübersäten
Himmels, der Betrachtung des Periodensystems und dem
Schmerz eiskalter Hände während einer winterlichen Klet-
tertour.
Gelegentlich habe ich Bekanntschaft mit der dunklen
Seite solcher Grübeleien gemacht. Als Teenager, nachts
im Bett liegend, bemühte ich mich, die Ewigkeit zu be-
greifen. Wie fühlt es sich für die Zeit an, ewig weiterzu-
gehen? Was heißt es, für immer tot zu sein? Nicht tot für
ein Jahrhundert, ein Jahrtausend, sondern für immer und
ewig. Der Konzeptionskünstler Roman Opalka versuchte,
Unendlichkeit auszuloten, sie einzufangen – das stetige, un-
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288 Book Title
  Bewusstsein

begreifbare Fortschreiten von einer Zahl nach der anderen,


von eins bis unendlich und darüber hinaus. Vielleicht war
das Malen dieses endlosen Zahlenstroms, das die letzten 45
Jahre seines Lebens einnahm, seine Weise, mit der schwind-
lig machenden und erschreckenden Vorstellung einer Un-
endlichkeit umzugehen, die sich vor uns erstreckt.
Dennoch machte ich mir niemals Sorgen um mein eige-
nes Ableben. Wie viele junge Männer, die nach Extremen
suchen – sei es beim Klettern, Motorradrennen, in der Fi-
nanzwelt oder im Krieg – dachte ich nicht an das Ende. Das
war etwas, das mir nicht passieren würde. Nicht einmal der
Tod meiner Tochter Elisabeth riss mich aus dieser gesegne-
ten Selbstgefälligkeit.
Erst mit Anfang Vierzig realisierte ich wirklich, dass der
Tod auch zu mir können würde. Ich habe diese Geschich-
te auf den ersten Seiten von Kapitel 6 beschrieben. Eines
Nachts rebellierte mein Unterbewusstsein. Ich wachte auf,
und abstraktes Wissen hatte sich in beklemmende Gewiss-
heit verwandelt: Ich würde tatsächlich sterben!
Die nächsten Monate grübelte ich über die Bedeutung
meiner persönlichen Auslöschung nach und blickte in
einen existentialistischen Abgrund von Vergessen und Be-
deutungslosigkeit in meinem Inneren. Schließlich kehrte
ich durch irgendeinen unbewussten Prozess der Rekalibrie-
rung zu meiner Grundhaltung zurück, dass alles so ist, wie
es sein soll. Anders kann ich es nicht beschreiben: keine
Berggipfel-Wandlung und kein Blitz tiefer Erleuchtung,
sondern ein Gefühl, das mein Leben erfüllt. Ich wache je-
den Morgen auf und finde mich in einer Welt voller Ge-
heimnisse und Schönheit wieder. Und ich bin tief dankbar
für all diese Wunder.
10  Letzte Fragen   2289
89

Hier bin ich, ein hoch organisiertes Muster aus Materie


und Energie, eines von sieben Milliarden, unbedeutend für
jede objektive Bilanzierung der Welt. Und in nicht allzu-
langer Zeit werde ich aufhören zu existieren. Was bedeute
ich für das Universum? Praktisch nichts. Doch die Gewiss-
heit des Todes macht mein Leben bedeutungsvoller. Mei-
ne Freude am Leben, an meinen Kindern, meine Liebe zu
Hunden, zum Laufen und zum Klettern, zu Büchern und
Musik, der kobaltblaue Himmel sind bedeutungsvoll, weil
ich irgendwann sterben werde. Und das ist, wie es sein soll.
Ich weiß nicht, was danach kommt, falls es ein Danach im
üblichen Sinne des Wortes gibt, aber was auch immer es ist,
spüre ich tief in meinem Inneren, dass alles zum Besten ist.
Dieses Gefühl ist in meine allgemein sonnige und op-
timistische Disposition eingebunden, die weitgehend von
genetischen Faktoren bestimmt ist und durch die günstigen
Verhältnisse verstärkt wurde, in denen ich aufgewachsen
bin. Beides ist nicht mein Verdienst.
Edith ist die starke, zentrierte und verantwortungsbe-
wusste Frau, die mich während dieser drei Jahrzehnte ge-
erdet hielt. Sie ermöglichte mir, mich als Professor und
Wissenschaftler voll zu entwickeln. Sie nahm eine mehrjäh-
rige Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit in Kauf, um unse-
re beiden Kinder zu den gesunden, gescheiten, findigen,
verantwortungsbewussten und wunderbaren Erwachsenen
zu erziehen, die sie heute sind. Das hieß, dass ich ihnen
vorlesen, sie in den Schlaf singen, mit ihnen in fremde Län-
der reisen, wandern, campen und raften, ihnen bei ihren
Hausaufgaben und Schulprojekten helfen und mich ohne
größere Opfer für mein Berufsleben all den anderen schö-
nen Dingen des Vaterseins widmen konnte.
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290 Book Title
  Bewusstsein

Und wir freuten uns über die Gesellschaft einer wech-


selnden Zahl von großen, haarigen, ungestümen Hunden
– Trixie, Nosy, Bella und Falko. Nach Kindern sind sie das
Beste im Leben.
Zusammen mit einer Handvoll Kollegen eröffnete und
leitete ich zwei Science Summer Schools, eine über Com-
putational Neuroscience (etwa: Informationsverarbeitung
in den Neurowissenschaften) im Marine Biological Labo-
ratory in Woods Hole, Massachussetts, an der Atlantik-
küste, und eine andere über Neuromorphic Engineering
(also darüber, was Ingenieure von der Neurobiologie lernen
können) in Telluride, Colorado, in den Rocky Mountains.
Beide Veranstaltungen sind noch immer populär. Jeden
Sommer verbrachten meine Familie und ich vier intensive
Wochen an diesen herrlichen Orten. Das war die glück-
lichste Zeit meines Lebens.
Diese glücklichen Tage endeten, als mein Sohn und
meine Tochter das Haus verließen, um das College zu be-
suchen. Ich vermisste sie mehr als alles andere. Um diese
enorme Leere zu füllen und meine Energie zu kanalisieren,
begann ich mit Felsklettern in der Sierra Nevada und im
Yosemite Valley, Langstreckenlauf in den lokalen Bergen,
Marathons im Death Valley und so weiter – alles, was mich
herausforderte, um meiner wachsenden Unruhe zu begeg-
nen. Ich litt akut unter dem Leeres-Nest-Syndrom.
Dann verließ Francis mein Leben. Ich war bei ihm, als
sein Onkologe anrief und bestätigte, dass sein Darmkrebs
mit aller Macht zurückgekehrt war. Er starrte eine oder
zwei Minuten in die Ferne und kehrte dann zu unserer Lek-
türe zurück. Die Diagnose wurde mit Odile beim Lunch dis-
kutiert, aber das war alles für diesen Tag. Natürlich konnte
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ich seine dunklen Gedanken in dieser Nacht nicht lesen.


Aber ich erinnere mich an eine frühere Konversation, in
der er mir gestand, dass ihn sein eigenes, nicht allzu fer-
nes Ableben traurig stimme, er aber entschlossen sei, die
Zeit, die ihm bliebe, weder durch fruchtloses Nachsinnen
und Grübeln zu vergeuden, noch damit, hoch riskanten,
experimentellen Therapien hinterherzujagen. Hier sah ich
ihn diese Entschlossenheit beweisen. Was für eine geistige
Kontrolle! Was für eine Haltung!
Ein paar Monate später, während er unter der Übelkeit
erregenden Wirkung der Chemotherapie litt, der es nicht
gelang, die Ausbreitung des Krebses zu stoppen, legte er
das Telefon im Nachbarraum nieder und schlurfte auf dem
Weg zum Bad an mir vorbei. Als er zurückkehrte, um die
Telefonunterhaltung wieder aufzunehmen, bemerkte er im
Vorübergehen trocken: „Nun kann ich denen wahrheitsge-
mäß sagen, dass ich ihre Idee zum Kotzen finde.“ (Jemand
versuchte Francis zu überreden, die Herstellung einer Wa-
ckelkopffigur mit seiner Physiognomie abzusegnen). An-
gesichts des Unausweichlichen schenkte mir Francis eine
lebensgroße Schwarzweißfotografie von sich, so wie ich ihn
kannte. In seinem Schaukelstuhl sitzend, schaut er den Be-
trachter mit einem ironischen Funkeln in den Augen an.
Mit der Widmung „Für Christof – Francis – ich behalte
dich im Auge“, wacht es über mich in meinem Büro.
Im Sommer 2004 rief mich Francis auf dem Weg ins
Krankenhaus an, um mir zu sagen, dass sich seine Korrektur
unseres letzten Artikels über die Funktion des Claustrums,
einer dünnen Schicht unter dem Cortex, verzögern würde.
Doch er arbeitete weiter an dem Manuskript und diktierte
seiner Sekretärin aus der Klinik. Zwei Tage später starb er.
292
292 Book Title
  Bewusstsein

Odile erzählte mir, wie Francis auf seinem Totenbett hal-


luzinierte und meinte, er würde mit mir über rasch feu-
ernde Claustrum-Neurone und ihre Verbindung mit dem
Bewusstsein diskutieren, ein Wissenschaftler bis zum bitte-
ren Ende. Er war mein Mentor, mein enger intellektueller
Weggefährte und mein Held wegen der unerschrockenen
Weise, in der er mit Altern und Sterblichkeit umging. Sein
Tod hinterließ eine tiefe Lücke in meinem Leben.
Mein Vater war in den ersten Wochen des dritten Jahr-
tausends von uns gegangen und ließ mich ohne einen älte-
ren Mentor zurück, an den ich mich um Rat und Unter-
stützung hätte wenden können. Meine Unruhe wurde
paradoxerweise durch die erfolgreiche Veröffentlichung
von Bewusstsein: ein neurobiologisches Rätsel verstärkt. Ich
hatte viele Jahre lang hart auf dieses Ziel hingearbeitet, das
manchmal sehr fern erschien. Nun, da die Schlacht geschla-
gen war, fühlte ich mich lustlos, eines klaren Ziels beraubt.
Ich brauchte die Herausforderung eines Annapurna in mei-
nem Leben.
Ausgelöst durch diese gehäuften Abschiede entfremdete
ich mich von meiner Frau und ich verließ sie. Es ist leicht,
dies so sachlich festzustellen, doch diese wenigen Worte
umfassen ein Ausmaß an anhaltendem Leid, Not, Schmerz
und Wut, das sich nicht zu Papier bringen lässt. (Schauen
Sie sich Ingmar Bergmans cineastisches Meisterwerk Szenen
einer Ehe an, um zu verstehen, was ich meine). Ich machte
eine tiefgreifende Krise durch und erlebte aus erster Hand
die Macht des Unbewussten, Gefühle und Handlungen in
einer Weise zu formen, die sich der bewussten Reflektion
entzieht. Als diese Kräfte einmal entfesselt waren, war ich
nicht in der Lage, sie zu beherrschen. Oder vielleicht war
10  Letzte Fragen   2293
93

ich auch nicht willens, sie zu meistern. Es gibt einen Grund


dafür, dass Dante Sünder, die „die Vernunft dem Trieb zu-
lieb entweihn“, in den zweiten Kreis der Hölle verbann-
te. Es war zweifellos der düstere Tiefpunkt meines Lebens.
Aber etwas zwang mich weiter.
Spinoza prägte einen wunderbaren Ausdruck, sub spe-
cie aeternitatis – wörtlich „unter dem Gesichtspunkt der
Ewigkeit“. Das ist die entfernte Perspektive. Schauen Sie
beispielsweise von weit über dem zentralen Schwarzen
Loch auf die Milchstraße hinab. Sie sehen eine wirbelnde
Scheibe mit vielen hundert Milliarden Sternen, von denen
viele von kleinen, dunklen Planeten begleitet werden. Ei-
nige dieser Planeten beherbergen Leben. Auf einem da-
von finden sich semiintelligente, gewalttätige Primaten
zu leidenschaftlichen Paaren zusammen und trennen sich
wieder. Sie statten diese hektische Ameisenhügel-Aktivität
mit großer kosmischer Bedeutung aus. Verglichen mit der
Zeit, die das majestätische galaktische Rad für eine Um-
drehung braucht, dauert diese Paarbildungen nur einen
Lidschlag lang, das Aufblitzen eines Glühwürmchens, den
Flug eines Pfeils.
Meine Schmerz und meine Verzweiflung beginnen, an
Bedeutung zu verlieren, wenn man sie in diesem himmli-
schen Licht endloser Zeit sieht. Meine Sorgen und Küm-
mernisse sind nicht bedeutungslos – ich bin kein Nihilist –,
doch sie sollten und werden mein Leben nicht erdrücken.
Da ich meine zentrale Sonne verloren habe, bin ich nun ein
einsamer Planet, der in den stummen Räumen zwischen
den Sternen wandert. Langsam gewinne ich einen gewissen
Grad an innerem Frieden zurück, an Gelassenheit, die ich
so lange besaß.
294
294 Book Title
  Bewusstsein

Um mit meinen Handlungen klarzukommen, habe ich


studiert, was die Wissenschaft über willentliches Handeln
und freien Willen weiß (was die Einleitung in Kapitel 7 er-
klärt). Was ich aus meiner Lektüre gelernt habe, ist, dass
ich weniger frei bin, als ich mich fühle. Unzählige Ereig-
nisse und Prädispositionen beeinflussen mich. Aber ich
kann mich nicht hinter biologischen Trieben und anony-
men sozialen Kräften verstecken. Ich muss so handeln, als
wäre „ich“ völlig verantwortlich, denn ansonsten würde das
Wort jede Bedeutung verlieren, ebenso die Vorstellung von
guten und schlechten Handlungen.
Eines Nachts in der Mitte meiner Krise leerte ich eine
Flasche Barolo, während ich den Fantasy-Actionfilm High-
lander anschaute, und verspürte das Bedürfnis nach einer
extremen Geste. Um Mitternacht entschloss ich mich, zum
Gipfel des Mount Wilson hinaufzulaufen, der sich mehr als
5000 Fuß über Pasadena erhebt. Nachdem ich eine Stunde
lang mit meiner Stirnlampe herumgestolpert war und mich
schließlich angewidert fühlte, erkannte ich, wie dumm ich
mich benahm, und kehrte um – aber nicht, ohne die beiden
letzten Zeilen des Gedichts Invictus in die Dunkelheit zu
schmettern: „Ich bin der Herr von meinem Stern, ich bin
der Meister meiner Seel’!“ Das ist ein vielleicht überent-
hustiastischer Ausdruck meiner Position bei der Frage nach
dem freien Willen: Was auch immer geschieht, ich bin der
Hauptdarsteller in meinem Leben.
Nun, da Sie an den Schluss dieses autobiographischen
Kapitels gelangt sind, kann ich gestehen, was inzwischen
offensichtlich geworden ist. Ich habe dieses Buch aus drei
Gründen geschrieben – um meine Suche nach den mate-
riellen Wurzeln des Bewusstseins zu beschreiben, um mit
10  Letzte Fragen   2295
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meinen persönlichen Fehlschlägen ins Reine zu kommen


und um meine Suche nach einer Einheit stiftenden Sicht
des Universums und meiner Rolle darin, die sowohl Zufall
als auch Notwendigkeit Rechnung trägt, zu einem befriedi-
genden Abschluss zu bringen.

Farbe bekennen
Meine Geschichte ist nun zu Ende Ich bin optimistisch,
dass die Wissenschaft in der Lage ist, das Körper-Geist-Pro-
blem vollständig aufzuklären. Um es ähnlich wie Paulus in
seinem ersten Brief an die Korinther zu formulieren: „Wir
sehen jetzt durch ein Labor ein dunkles Bild; dann aber von
Angesicht zu Angesicht.“
Ich glaube daran, dass irgendein tiefes und organisieren-
des Prinzip das Universum schuf und zu einem Zweck in
Gang setzte, den ich nicht begreifen kann. Ich wuchs auf
in einer Umgebung, in der man dieses Prinzip Gott nann-
te. Es steht Spinozas Gott viel näher als dem Gott der Mi-
chelangelo-Gemälde. Der Mystiker Angelus Silesius, ein
Zeitgenosse Descartes’, beschrieb die paradoxe Natur dieses
sich selbst begründenden Ersten Bewegers so: „Gott ist ein
lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier.“
Die erste Sternengeneration musste in spektakulären Su-
pernovae sterben, um die schwereren Elemente entstehen
zu lassen, die für den zweiten Akt der Schöpfung notwendig
waren – den Aufstieg sich selbst replizierender Behälter für
chemische Substanzen auf einen Felsenplaneten, der einen
jungen Stern in genau der richtigen Entfernung umkreiste.
Die wetteifernden Drücke der natürlichen Selektion lösten
296
296 Book Title
  Bewusstsein

den dritten Akt der Schöpfung aus – das Aufkommen von


Wesen mit Empfindungen, mit subjektiven Zustanden.
Während die Komplexität ihrer Nervensysteme in atembe-
raubender Weise zunahm, entwickelten einige dieser Ge-
schöpfe die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken und
die so wunderbar schöne und so erschreckend grausame
Welt um sie herum zu betrachten und zu analysieren.
Die Entwicklung empfindungsfähigen Lebens war auf
lange Sicht unausweichlich. Teilhard de Chardin hatte recht
mit seiner Ansicht, dass sich Inseln innerhalb des Univer-
sums – wenn nicht der ganze Kosmos – hin zu einer immer
größeren Komplexität und einem immer größeren Wissen
um sich selbst entwickeln. Ich will damit nicht sagen, dass
die Erde hätte in jedem Fall Leben tragen oder dass zweibei-
nige, großhirnige Primaten die afrikanischen Savannen hät-
ten durchstreifen müssen. Ich bin jedoch davon überzeugt,
dass die Gesetze der Physik die Emergenz von Leben über-
wiegend gefördert haben. Das Universum entwickelt sich
immer weiter. Eine solche Überzeugung bringt viele Biolo-
gen und Philosophen zum Aufheulen, doch die Befunde aus
Kosmologie, Biologie und Geschichte sind überzeugend.
Spirituelle Traditionen ermuntern uns, unseren Mitreisen-
den auf dem Fluss der Zeit die Hand zu reichen. Stärker
als die meisten säkularen Ideologien betonen Religionen
das gemeinsame Band zwischen den Menschen: Liebe dei-
nen Nächsten wie dich selbst. Religiöse Empfindungen,
wie sie in Musik, Literatur, Architektur und den bildenden
Künsten Ausdruck finden, haben einiges vom Besten im
Menschen hervorgebracht. Doch sie alle sind nur von be-
grenztem Nutzen, wenn es darum geht, das Rätsel unserer
Existenz zu lösen. Die einzig gewissen Antworten, die wir
10  Letzte Fragen   2297
97

erlangen können, kommen von den Naturwissenschaften.


Unter intellektuellen und ethischen Gesichtspunkten finde
ich gewisse Richtungen des Buddhismus am ansprechends-
ten. Aber das ist ein Thema für ein anderes Buch.
Der Verlust meiner religiösen Überzeugung stimmt mich
traurig, so als ob ich die Geborgenheit meiner Kindheit mit
all ihrer Wärme und den schönen Erinnerungen für im-
mer hinter mir lassen müsste. Mich erfüllt noch immer ein
Gefühl der Ehrfurcht, wenn ich eine hoch gewölbte Ka-
thedrale betrete oder Bachs Matthäuspassion lausche. Auch
der emotionalen Sogkraft, dem Glanz und dem Gepränge
eines Hochamts kann ich mich nicht entziehen. Aber mein
Glaubensverlust ist ein unentrinnbarer Teil des Erwachsen-
werdens, der Reifung und einer Sicht der Welt, wie sie ist.
Ich bin ins Universum hinausgestoßen, einen seltsamen,
furchterregenden und oft einsamen Ort. Ich strenge mich
an, durch all seine lärmenden Erscheinungsformen – Men-
schen, Hunde, Bäume, Berge und Sterne – hindurch die
ewige Sphärenmusik zu hören.
Wenn alles gesagt und getan ist, dann bleibt mir ein tie-
fes und anhaltendes Gefühl des Staunens. Der unbekannte
Verfasser der Schriftrollen vom Toten Meer, der vor mehr
als 2000 Jahren in einer kleinen Gemeinde in der judäi-
schen Wüste lebte, hat dies gut zum Ausdruck gebracht.
Mit seinem Psalm will ich mein Buch schließen:

Und ich wandele auf ebenem Plan ohne Grenze.


Ich weiß, dass es Hoffnung gibt für einen,
den du gebildet aus Staub
für einen ewigen Rat.
Anmerkungen

Im Jahre 2004 veröffentlichte ich The Quest for Conscious-


ness (deutsch Bewusstsein: ein neurobiologisches Rätsel, 2005).
Das Buch fasst den von Francis Crick und mir gewähl-
ten Ansatz zusammen, beschreibt die neurobiologischen
Schaltkreise und die psychologischen Prozesse, die für das
Bewusstsein entscheidend sind. Es enthält Hunderte von
Fußnoten auf mehr als 400 eng bedruckten Seiten und an-
nähernd 1000 wissenschaftliche Quellen. Das vorliegende
Buch kommt weniger gewichtig daher. Wenn Sie mehr
über die in diesem Buch beschriebenen Techniken und
Experimente wissen wollen, lesen Sie bitte Bewusstsein: ein
neurobiologisches Rätsel, den von Laurey und Tononi (2009)
edierten Band, die informativen und an Quellenangaben
überreichen Artikel zu Bewusstsein bzw. consciousness bei
Wikipedia und die nachfolgenden knappen Anmerkungen.
Ich schreibe zudem eine Kolumne mit dem Titel Conscious-
ness Redux für den Scientific American Mind, die sich mit
aktueller Bewusstseinsforschung befasst.

C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9,


© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
300 Bewusstsein

Kapitel 1
Die kurze Biographie von Francis Crick von Ridley (2006)
charakterisiert Francis sehr treffend. Der Band von Olby
(2009) ist umfangreicher und stellt auch Francis’ wissen-
schaftliche Leistungen dar. Olbys vorletztes Kapitel berich-
tet über Francis’ und meine Zusammenarbeit.
Zu Ursprung und Bedeutung des Begriffs „das schwieri-
ge Problem“ ( Hard Problem) siehe Chalmers (1996).

Kapitel 2
Koch und Segev (2000) fassen die Biophysik einzelner
Neurone zusammen.
Mann und Paulsen (2010) beschreiben die Effekte, die
das lokale Feldpotenzial, erzeugt von Zehntausenden von
Neuronen, auf das Feuern dieser Nervenzellen hat. Die
Experimente von Anastassiou und Perin (Anastassiou et al.
2011) zeigen unmittelbar, wie sich das Feuern von Neuro-
nen durch schwache äußere elektrische Felder synchroni-
sieren lässt.
Auch die Wirtschaft folgt nicht den Gesetzen der Ener-
gieerhaltung: Eine Gesellschaft ist an einem Tag womög-
lich Milliarden von Dollar wert, am Folgetag aber nur noch
Millionen, obwohl sich im Grunde nichts geändert hat:
Dieselben Menschen arbeiten in denselben Gebäuden mit
derselben Infrastruktur. Wo ist das Geld geblieben? Nun,
der Glaube des Marktes an die Zukunft der Gesellschaft,
seine Erwartung, hat sich plötzlich in Luft aufgelöst, und
Anmerkungen 301
301

mit ihm der Marktwert der Gesellschaft. Im Gegensatz zur


Energie lässt sich Geld erschaffen und vernichten.

Kapitel 3
Obwohl schon einige Jahre alt, ist Francis’ kurze Einfüh-
rung in das Thema Bewusstsein und seine biologische
Grundlage immer noch meisterhaft (Crick 1995) .
Die Synthese eines biologischen Organismus durch
Craig Venter wird von Gibson et al. beschrieben (2010).
Das Tyndall-Zitat entnahm ich seiner Präsidentschafts-
rede vor der mathematischen und physikalischen Sektion
der British Association for the Advancement of Science
aus dem Jahr 1868 mit dem Titel „Scientific Materialism“
(Tyndall 1901).
Das Tannhäuser-Tor-Zitat stammt natürlich aus der
Schlussszene des Films Der Blade Runner (Regie: Ridley
Scott), dem besten Science-Fiction-Film aller Zeiten. Als
Vorlage diente das einige Zeilen zuvor erwähnte Buch Do
Androids Dream of Electric Sheep? (deutsch: Träumen Andro-
iden von elektrischen Schafen?) von Philip K. Dick. Dieser
bemerkenswerte Roman aus dem Jahr 1968 nimmt den
„Uncanny-Valley-Effekt“ (wörtlich „unheimliches Tal“)
vorweg, die psychologische Beobachtung, dass ein Roboter
oder eine Computeranimation mit menschlicher Gestalt,
die fast, aber nicht ganz perfekt ist, unseren Widerwillen
erregt.
Das Huxley-Zitat entstammt einer bemerkenswerten
Rede, die er 1884 vor der British Association for the Ad-
vancement of Science hielt (also derselben Gesellschaft wie
302
302 Book Title
Bewusstsein

Tyndall 16 Jahre vor ihm). Huxley ging darin auf Descartes’


Glauben ein, dass Tiere nicht mehr als Maschinen oder
Automaten seien, unfähig zu bewusster Wahrnehmung. Er
ging davon aus, dass aus Gründen der biologischen Konti-
nuität manche Tiere ein Bewusstsein ähnlich dem des Men-
schen hätten, konnte jedoch keine Funktion des Bewusst-
seins benennen.
Die beste Einführung zum Thema tierisches Bewusst-
sein ist das Büchlein Through Our Eyes Only? (deutsch: Die
Entdeckung des tierischen Bewußtseins) von Marian Stamp
Dawkins (1998). Alternativ dazu siehe das enzyklopädische
Werk von Griffin (2001). Edelman und Seth (1009) befas-
sen sich mit Bewusstsein bei Vögeln und Kopffüßern.
Swanson (2012) ist eine moderne, kurze Einführung in
die Neuroanatomie.
Das Krakauer-Zitat stammt aus seiner exzellenten Essay-
sammlung von 1990 (deutsch: Auf den Gipfeln der Welt,
1999/2000).
Was passiert, wenn man Zwei glorreiche Halunken in
einem Magnetscanner liegend ansieht, beschreiben Hasson
et al. (2004).
Die Inaktivierung von Regionen, die mit dem Selbst zu
tun haben, beschreiben Goldberg et al. (2006).

Kapitel 4
Unsere Gedanken über die neuronalen Korrelate des Be-
wusstseins haben sich im Lauf der Zeit weiterentwickelt
(Crick und Koch 1990, 1995, 1998, 2003). Der Philosoph
David Chalmers hat die metaphysischen und konzeptuel-
Anmerkungen 303
303

len Annahmen, die der Vorstellung der Korrelate des Be-


wusstseins zugrunde liegen, in Chalmers (2000; siehe auch
den Aufsatz von Block 1996) eloquent zusammengefasst.
Tononi und Koch (2008) liefern ein Update der relevanten
experimentellen Studien.
Rauschecker et al. (2011) reizen die Oberfläche des vi-
suellen Cortex elektrisch, um in einem neurochirurgischen
Umfeld visuelle Bewegungsperzepte auszulösen.
Macknik et al. (2008) gehören zu den ersten, die darauf
hingewiesen haben, wie viel Psychologie und Neurowissen-
schaften von Bühnenmagiern lernen können.
Die Technik der Unterdrückung durch kontinuierliches
Aufblitzen (CFS) zum Verbergen von Objekten, die sich
Minutenbruchteile oder länger direkt im Gesichtsfeld be-
finden, wurde von Tsuchiya und Koch (2005) entwickelt.
Ein aktuelleres und eleganteres Bespiel für den Einsatz
von CFS zur Ansprache des Unbewussten liefern Mudrik
et al. (2011). Eine Kurzfassung zum Thema Maskierungs-
methoden findet sich bei Kim und Blake (2005). Jiang
et  al. (2006) baten Freiwillige, sich unsichtbare Bilder
nackter Männer und Frauen anzuschauen, und Haynes
und Rees (2005) untersuchten per fMRT die Gehirne von
Probanden, die sich unsichtbare Gitter ansahen. Das visu-
elle Wortformareal und seine Beziehung zum Lesen ist von
McCandliss et al. (2003) beschrieben worden.
Logothetis (2008) hat die Versprechungen und Gren-
zen der fMRT beim Entschlüsseln der zugrunde liegenden
neuronalen Antworten gut zusammengefasst. Seine klassi-
schen Untersuchungen der neuronalen Basis des binokula-
ren Wettbewerbs finden sich in Logothetis (1998) und in
Leopold und Logothetis (1999).
304
304 Book Title
Bewusstsein

Ein japanisch-deutsches Team (Watanabe et  al. 2011)


trennte visuelle Aufmerksamkeit und Bewusstsein – wie
mittels Stimulusvisibilität getestet – im primären visuellen
Cortex des Menschen. Ob Probanden sich bewusst sind,
was sie anschauen, oder nicht, macht für das hämodyna-
mische Signal in V1 kaum einen Unterschied, während es
durch Aufmerksamkeit stark moduliert wird.
Die Referenzen zu einem Großteil der Forschungsergeb-
nisse über die Dissoziation zwischen neuronaler Aktivität
im primären visuellen, auditorischen und somatosensori-
schen Cortex und bewusstem Sehen, die ich hier diskutiere,
finden sich in Kapitel 6 meines Buches Bewusstsein.
Hinweise auf eine funktionierende Verbindung vom
vorderen zum hinteren Hirnpol, die das Bewusstsein bei
schwer gehandicapten Patienten aufrechterhält, finden sich
bei Boly et al. (2011). Siehe auch Abb. 1 in Crick und Koch
(1995).
Der Philosoph Ned Block spielt bei der Debatte um die
Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und Bewusstsein eine
sehr einflussreiche Rolle (Block 2007). Van Boxtel et  al.
(2010) geben einen Überblick über die zahlreichen Experi-
mente, die versuchen, visuelle Aufmerksamkeit von visuel-
lem Bewusstsein zu trennen.

Kapitel 5
Gallant et al. (2000) beschreiben den Patienten A. R.
Das neueste Buch meines Lieblingsneurologen, Oliver
Sacks (2011), enthält anschauliche Beschreibungen von
Anmerkungen 305
305

Menschen mit Gesichtsblindheit und anderen neurologi-


schen Defiziten. Sacks ist ein aufmerksamer Beobachter des
menschlichen Befindens. Er studiert, wie Menschen mit
Krankheit umgehen, und zeigt, wie sie und wir daraus viel
über das Leben lernen können.
Einer der Pioniere der corticalen Elektrophysiologie, Se-
mir Zeki, prägte in Zeki (2001) den Begriff essential node.
Das wissenschaftliche Vermächtnis des amnestischen Pa-
tienten H. M. ist in Squire (2009) zusammengefasst.
Quian Quiroga et al. (2005, 2009) entdeckten Konzept-
zellen im medialen Temporallappen des Menschen, die auf
Bilder, Text und Stimmen von Berühmtheiten oder vertrau-
ten Personen reagierten. Diese Zellen sind eng mit den so
genannten Großmutterneuronen verwandt (Quian Quiroga
et al. 2008). Cerf et al. (2010) benutzen Computer-Feed-
back, um Patienten in die Lage zu versetzen, diese Neurone
mithilfe ihrer Gedanken zu kontrollieren.
Owen et  al. (2006) und Monti et  al. (2010) erregten
internationale Aufmerksamkeit, als sie berichteten, bei ei-
nigen Wachkomapatienten mit einem Magnetscanner Be-
wusstsein entdeckt zu haben.
Parvizi und Damasio (2001) beschäftigen sich mit der
Verbindung zwischen den 40 oder mehr Hirnkernen und
Bewusstsein.
Laureys (2005) stellt die erstaunlich dynamischen Vor-
stellungen über die Verbindung zwischen Tod, Gehirn und
Bewusstsein dar. Schiff (2010) ist ein Neurologe, der auf
die Rückkehr des Bewusstseins nach massiven Hirntrauma-
ta spezialisiert ist.
306
306 Book Title
Bewusstsein

Kapitel 6
Über das Unbewusste wird weiterhin sehr viel Unsinniges
behauptet. Solide, empirische Studien des Nicht-Bewussten
unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen erleben jedoch
eine Renaissance. Hassin et al. (2006) bieten eine ausführli-
che Abhandlung über einige der besten post-freudianischen
Studien, während sich Berlin (2011) auf das konzentriert,
was über die Neurobiologie des Unbewussten bekannt ist
und was nicht.
Jeannerods Forschung ist in seinem Buch von 1997 be-
schrieben.
Mechanismen zur Leugnung des Todes als mögliche evo-
lutionäre Triebkräfte werden in Varkis Brief (2009) disku-
tiert.
Experimente, die zeigen, dass unsere Augen feinere De-
tails auflösen, als wir bewusst erkennen können, sind von
Bridgeman et al. (1979) sowie von Goodale et al. (1986)
durchgeführt worden.
Logan und Crump (2009) zeigen, dass die Hand des Tip-
penden Dinge weiß, die das Gehirn des Tippenden nicht
weiß. Über die Theorie von den zwei visuellen Strömen,
dem der bewussten Wahrnehmung und dem der unbewuss-
ten visuomotorischen Handlung, geben Goodale und Mil-
ner (2004) einen Überblick.
Der MIT-Historiker John Dower (2010) hat die struk-
turellen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Pearl
Harbor und dem 11. September zusammen mit anderen
gravierenden institutionellen Fehleinschätzungen ausführ-
lich analysiert.
Anmerkungen 307
307

Die Priming-Experimente stammen aus Bargh et  al.


(1996). Johansson et al. (2005) baten Männer und Frauen
zu entscheiden, welche von zwei Frauen attraktiver sei, und
vertauschten dann die Frauenbilder, ohne dass es die meis-
ten Probanden bemerkten.

Kapitel 7
Die Überlegungen über die Physik des freien Willens wur-
den durch meine Lektüre von Sompolinksy (2005) beein-
flusst.
Sussman und Wisdom (1988) haben nachgewiesen, dass
Plutos Orbit chaotisch ist.
Das Ausmaß, in dem Taufliegen echtes Zufallsverhalten
zeigen, wurde von Maye et al. (2007) untersucht.
Turner (1999) verknüpft Quantenfluktuationen im frü-
hen Universum mit der heutigen Verteilung von Galaxien
am Himmel. Der Physiker Jordan (1938) stellte die – in
manchen Ecken – noch immer populäre Theorie der Quan-
tenverstärkung auf, in der er die Elementarteilchenphysik
mit dem freien Willen verknüpft. Koch und Hepp (2011)
diskutieren die mögliche Relevanz der Quantenmechanik
für das Gehirn. Collini et al. (2010) liefern überzeugende
Belege für elektronische Kohärenz bei photosynthetischen
Proteinen bei Raumtemperatur.
Der ursprüngliche Artikel über Gehirnaktivität, die dem
Gefühl, die Handlung willentlich ausgelöst zu haben, vor-
ausgeht, stammt von Libet et al. (1983). Eine Brain-Ima-
ging-Variante des ursprünglichen Experiments, die von
308
308 Book Title
Bewusstsein

Soon et  al. (2008) durchgeführt wurde, erregte viel Me-


dieninteresse. Die Literatur über die Neuropsychologie des
freien Willens wächst ständig weiter (Haggard 2008).
Murphy et al. (2009) haben ein Buch herausgegeben, in
dem sie versuchen, einige der Spannungen zwischen tra-
ditionellen Vorstellungen vom freien Willen, die sich auf
Theologie und Alltagserfahrungen gründen, und den Vor-
stellungen der modernen Psychologie und Biologie auszu-
räumen.
Die morbide Geschichte darüber, wie sich T. gondii als
blinder Passagier ins Gehirn von Ratten einschleicht und
ihr Verhalten manipuliert, so dass sie eher von Katzen ge-
fressen werden, findet sich in Vyas et al. (2007). Die mög-
lichen Auswirkungen auf die menschliche Kultur durch
Hirninfektionen mit diesem Parasiten analysiert Lafferty
(2006).
Wegner (2003) beschreibt die Psychologie von willkür-
lichen Handlungen im normalen Leben und unter patho-
logischen Bedingungen.
Bei zwei neurochirurgischen Studien wurde das Gehirn
elektrisch stimuliert, um eine „willkürliche” Handlung aus-
zulösen (Fried et al. 1991; Desmurget et al. 2009).

Kapitel 8
Baars’ (2002) Buch beschreibt sein Bewusstseinsmodell des
globalen Arbeitsraums. Dehaene und Changeux (2011) ge-
ben einen Überblick über Imaging-Studien und physiolo-
Anmerkungen 309
309

gische Daten, die eine neuronale Umsetzung des Modells


vom globalen Arbeitsraum stützen.
Chalmers’ Vorstellungen über Informationstheorie und
Bewusstsein sind im Anhang zu seinem Buch (1996) skiz-
ziert.
Die einfachste Einführung in Tononis Theorien und Ge-
danken findet sich in seinem Manifest 2008.
Ich empfehle die literarisch ausgefeilte, sehr gut lesba-
re Behandlung aller relevanten Fakten samt Theorie, die
Giulio selbst in seinem Buch Phi (2012) gegeben hat; dort
unternehmen Francis Crick, Alan Turing and Galileo Ga-
lilei eine Entdeckungsreise durch das Barock. Zur Infini-
tesimalrechnung siehe Balduzzi und Tononi (2008, 2009).
Barrett und Seth (2011) entwickeln eine Heuristik, um in-
tegrierte Information zu berechnen.
Konsultieren Sie Kapitel 17 meines Buches Bewusstsein zu
der Frage, was es mit Split-Brain-Patienten auf sich hat.
Eine romanhafte Behandlung des Lebens mit zwei getrenn-
ten Hemisphären findet sich bei Lem (1987).
Von den 86  Mrd. Neuronen im menschlichen Gehirn
befinden sich erstaunliche 69 Mrd. im Kleinhirn (Cerebel-
lum) und 16  Mrd. im Cortex (Herculano-Houzel 2009).
Das heißt, dass rund vier von fünf Hirnzellen cerebelläre
Körnerzellen mit ihren stereotypen vier kurzen Dendriten
sind. Die übrigen Neurone – eine Milliarde – befinden sich
im Thalamus, in den Basalganglien, im Mittelhirn, im Hirn-
stamm und anderswo. Bemerkenswert sind jedoch die we-
nigen Defizite bei Menschen, die ohne Kleinhirn geboren
werden – ein seltenes Vorkommnis –, oder bei Patienten,
die aufgrund eines Schlaganfalls oder eines anderen Trau-
310
310 Book Title
Bewusstsein

mas einen Teil ihres Cerebellums verloren haben. Die


Hauptdefizite sind Ataxie, undeutliche Sprache und unsi-
cherer Gang (Lemon und Edgley 2010).
Wie die Entwicklung von so genannten Animats – Kari-
katuren von Wesen, die in einem Computer leben – über
viele Zehntausend Generationen zeigt, ist ihre integrierte
Information umso höher, je besser sie sich an ihre simulier-
te Umwelt anpassen (Edlund et al. 2011).
Koch und Tononi (2008) behandeln die Aussichten von
Maschinen mit Bewusstsein vor dem Hintergrund der
Theorie der integrierten Information. In Koch und Tononi
(2011) schlagen wir einen auf Bildern basierenden Test vor,
der zeigt, was es für einen Computer bedeutet, Bilder be-
wusst zu erkennen.

Kapitel 9
Die Kombination von TMS und EEG, mit der sich der Zu-
sammenbruch des bewussten Geistes im Schlaf registrieren
lässt, ist in Massimini et al. (2005) beschrieben. Die Aus-
weitung dieser Technik auf Wachkoma und den Zustand
minimalen Bewusstseins findet sich bei Rosanova et  al.
(2012).
Neuroanatomen wissen noch immer nicht, ob der größte
Säuger, der Blauwal, mit seinem vier Kilogramm schweren
Gehirn mehr Neurone aufweist als der Mensch. Ein größe-
res Gehirn bedeutet nicht unbedingt mehr Neurone; es wäre
jedoch ein ziemlicher Schock, wenn Waltiere und Elefanten
mehr Hirnzellen als Menschen hätten. Eine ausführliche
Anmerkungen 311
311

Diskussion über Gehirngröße und Anzahl der Neurone sie-


he Herculano-Houzel (2009).
Eine kurze Einführung in neuronale Zelltypen bietet
Masland (2004).
Der Einsatz der Optogenetik explodiert geradezu; Hun-
derte von Labors manipulieren genetisch identifizierbare
Zellpopulationen in einer Position und zu einer Zeit, die
sie selbst wählen. Das ist bemerkenswert, wenn man be-
denkt, dass der ursprüngliche Artikel, der den Einsatz von
Channelrhodopsin-2 zur Manipulation neuronaler Aktivi-
tät erstmals vorstellte, von Boyden et al. erst 2005 publi-
ziert wurde. Meiner Ansicht nach sind die drei elegantesten
optogenetischen Experimente, die neuronale Schaltkreise
in kausaler Weise mit Mäuseverhalten verknüpfen, Ada-
mantidis et al. (2007; das ist die von mir beschriebene Ore-
xin-Studie), Gradinaru et al. (2009) und Lin et al. (2011).
Eine Kurzfassung der aktuellen Techniken findet sich bei
Gradinaru et al. (2010).
Der Allen Brain Atlas der Maus ist in Lein et al. (2007)
ausführlich beschrieben und kann online eingesehen wer-
den.
Dehaene et al. (2001) haben die fMRT-Reaktionen von
Freiwilligen gemessen, die sichtbare und unsichtbare Wör-
ter anschauten.

Kapitel 10
Mein peinliches Interview ist in Blackmore (2006) zu fin-
den.
312
312 Book Title
Bewusstsein

Die Literatur über die Beziehung zwischen Naturwissen-


schaften und Religion ist umfangreich. Ich fand das von
Hans Küng, einem renommierten liberalen Theologen,
2008 veröffentlichte Buch hilfreich.
Das Porträt von Francis, das in meinem Büro hängt,
wurde von Mariana Cook für ihre Kollektion Faces of Sci-
ence (2005) aufgenommen.
Francis arbeitete an dem Claustrum-Artikel buchstäblich
bis zum letzten Atemzug; dieser wurde unter Crick und
Koch (2005) publiziert.
Das 1994 erschienene Buch des Philosophen Peter Sin-
ger über das Unvermögen traditioneller Ethikvorstellun-
gen, Antworten auf moderne Herausforderungen bezüglich
Leben und Tod zu finden, ist sehr aufschlussreich.
Trotz des ein wenig emotionsgeladenen Schlusses sollte
nichts in meinem Buch so gedeutet werden, als nähme ich
mich oder mein Leben allzu ernst. Die Wände des Tattoo-
Studios, in dem Ty einen corticalen Mikroschaltkreis von
Ramón y Cajal auf meinen linken Arm tätowierte, sind mit
einer Mahnung geschmückt, die als alternativer Schluss
dienen könnte:
Das Ziel unserer Lebensreise besteht nicht darin, auf si-
cheren Wegen und körperlich unversehrt bis ans Grab zu
kommen, sondern darin, völlig fertig durch verwinkelte
Seitenstraßen zu schliddern und laut zu rufen: „Heilige
Scheiße, was für ein Abenteuer!“
Literatur

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Sachverzeichnis

40-Hertz-Hypothese  202 siehe auch Scheinwerfer der


Aufmerksamkeit
A vs. Bewusstsein  96, 99
Achromatopsie  104 Augen  86
Agnosie, visuelle  143 Augenbewegung  139
Akademos  267 Augensakkade  86
Akinetopsie  107 Augustinus  14
Aktionspotenzial  26, 184, 190 automatische Handlung  141
Algorithmus  269 Automatismen  193
Allen Mouse Brain Atlas  258 Axon  26
Altweltaffen  251
Amygdala  82 B
Anderson, D.  254 Baar, B.  217
Animat  310 Bacon, F.  240
anthropisches Prinzip  277f Bamberg, E.  254
Aphasie  66 Bargh, J.  150f
Arbeitsraum, globaler  217, Bateson, W.  210
218 Bauchhirn  47
Archaebakterien 255 Bellsche Zahl  229
Aristoteles  211 Bergson  211
Assoziationstest, impliziter 147 Bewegungsblindheit  107
Aufmerksamkeit  95–98 Bewegungsgesetze  170
selektive visuelle  32 bewusster Zustand  224
C. Koch, Bewusstsein, DOI 10.1007/978-3-642-34771-9,
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
324   Bewusstsein

Bewusstsein  37f, 44, 66, 102 bioelektrische Aktivität  1


als emergentes biologische Systeme  51
Phänomen  211 Biowissenschaften  31
als fundamentale Bit  220
Eigenschaft lebender Blackmore, S.  286
Materie  213 blinder Fleck  87
Beeinträchtigung  124 Bogen, J.  121
bei Tieren  58, 61 Boyden, E.  255
Definition  53–56, 58 Brain-Imaging  90
ermöglichende Braitenberg, V.  25
Faktoren  128f Braun, J.  98
Evolution  238 Bridgman, B.  139
Funktion  49–51 Broca, P.  101
neuronale Definition  57 Brown, M.  54
neuronale Korrelate  70, Buddhismus  182
73–75, 117, 159, 203
ohne Aufmerksamkeit  97 C
Theorie  216f, 219, 240 Caenorhabditis elegans  61, 211
und Aufmerksamkeit  95 California Institute of Technol-
und Emotionen  66 ogy  28
und Gehirnregionen  94 Capgras-Syndrom  106
und inferiotemporaler cartesische Freiheit  174
Cortex  93 Cerebellum  72, 230, 310
Verlust  124, 128 cerebraler Cortex  108, 253
vs. Aufmerksamkeit  99 Cerf, M.  116
Zwei-Aspekte-Theorie  221 Chalmers, D.  4, 42, 221
Bewusstseinsgrad  227 Changeaux, J.-P.  218
Bewertung  248 Channelrhodopsin-2
Bewusstseinsmesser  234 (ChR2)  255
Bewusstseinszustand  Chaos  174
Messung  56 chaotisches System  172
Bibel  284f ChR2  255–257, 260
binokularer Wettstreit  91f circuit motifs  74, 253
Sachverzeichnis   325

Computer  4 Determinismus  162, 166, 170,


Comte, A.  243f 174, 178, 181
continous flash suppression  78 deterministisches Chaos  172
Corpus callosum  119, 226 Dichromat  104
Cortex cerebri  57 Diskonnektionssyndrom  121
inferiotemporaler  93 dominante Hemisphäre  121
Läsion  73 Doyle. A. C.  69
präfrontaler  85, 250 Drosophila melanogaster  61
primärer auditorischer  90 Dualismus  266, 270
primärer visueller  82, 86, Duc, T. Q.  167
89, 92
cortico-thalamischer Kom- E
plex  57, 88, 130, 132 Eccles, J.  184, 269
coulombsches Gesetz  277 Edelman, G.  222
Crick, F.  8, 9, 32–34, 50, 70, Einstein, A.  177, 276
71, 73, 84, 119, 137, élan vital  211
201, 204, 217, 219, Elektroenzephalographie
222, 244, 261, 272–274, (EEG)  30, 187, 245
291f, 299–301 Emergenz  208, 211f
Crumb, M.  141 Emotionen  66f
Csikszentmihalyi, M.  63 Empfindungsvermögen  159
Entelechie  211
D enterales Nervensystem  47
Damasio, A.  73 Entropie  12
Dante Alighieri  15, 17 Entscheidungen  155
Darwin, C.  206 Epilepsie-Monitoring  112
Dehaene, S.  218, 262 epileptische Anfälle  110, 120
Deismus  275f Epiphänomen  51
Deissenroth, K.  255f Epiphyse  119, 203
Dekohärenz  179 Erste-Person-Perspektive  39, 43
Descartes, R.  38, 119, 164, essenzieller Knoten  107
181, 240, 268f Euthanasie  125
Desmurget, M.  197 Evolution  52, 238
326   Bewusstsein

F essenzieller Knoten  107


Farbneurone  117 Handlungsfreiheit  160
Feldpotenzial, lokales (LFP)  30 Hemisphären  121f
Felsklettern  140 Regenerationsfähigkeit  108
Feynman, R.  283 schlafendes  247
Flow  63 Φ-Wert  231
fMRT  81 Gehirnaktivität  81
freier Wille  11, 160, 162f, hämodynamische  127
166, 187 Geist  38, 101, 184–186, 188f,
Definition  164 270
Freiheit  166, 169 Gen 
Freud, S.  10, 136 Definition  54
Fried, I.  111f, 197 Gesetz der zunehmenden
frontaler Cortex  ­Verflechtung  238
Degeneration  65 Gesichtsblindheit  104f
Frontallappen  127 Gist  97
Funktionalismus  214f Glasgow-Koma-Skala  56
funktionelle Magnetresonanz- Goodale, M.  143f
tomographie (fMRT)  81 Gott  276f, 279, 282–284, 295
Großhirnrinde  57
G Läsion  73
Galaxien  177
Galilei, G.  201 H
Gallant, J.  103 Hameroff, S.  182
Gandhi, M.  166 hämodynamische Gehirnaktiv-
Ganglienzelle, retinale 79 ität  127
Gehirn  2, 30, 38, 71, 75f, 82, hämodynamisches Signal  81
94, 96f, 101, 110, 188f, Handlung
253, 268 automatische  141
Balken  119 unbewusste  50
bilaterale Symmetrie  118 Handlungsfreiheit des Ge-
der Maus  260 hirns  160
Sachverzeichnis   327

Handlungskompetenz  191, Indeterminismus  180, 181


195f, 199 inferiotemporaler Cortex  93
Hard Problem  4 Informationstheorie  220, 221,
Hawking, S.  275, 279 223
Haynes, J.-D.  89 integrierte Information  222
He, S.  83, 96 Intelligenz, künstliche  40
Hegemann, P.  254 Intention  197
Heisenberg, W.  175 Interneuron  253
Heisenbergsche Unschärferela- intralaminare Thalamusk-
tion  176 erne  129
Hemiplegiker  72
Henn, V.  203 J
Heraklit  166 James, W.  146
Herrigel, E.  143 Janet, P.  10
hippocampales Neuron  113 Jeannerod, M.  138
Hirnarterieninfarkt  103
Hirnchirurgie  111 K
Hirnregionen, stumme  128 Kant, I.  277
Hirnstammverletzungen  57 Kerne  129
Hofstadter, D.  65 Kernspintomographie  80
Homo sapiens  60, 61, 65 Khayyam, O.  171, 198
Hörrinde  90 Kinsbourne, M.  14
Hund  205–207, 269, 286 Kleinhirn  72, 230, 309
Huxley, J.  238 Kleinkinder  62
Huxley, T. H.  52, 301 Kohärenz  183
Hypocretin  257 Koma  124
Kompatibilismus  166, 169
I Komplexifikation der
Idealismus  24 ­Gehirne  13, 238f
ideomotorische Handlung  146 Konzept der integrierten
Illusionen  192 ­Information  222
Immunsystem  47 Konzeptneuron  114, 115, 178
Impliziter Assoziationstest  147 Koran  285
328   Bewusstsein

Körper-Geist-Problem  67, Mark, V.  122


269, 274 Maskierungstechnik  78
Kosmos  241 Massimini, M.  246, 248
Krakauer, J.  63 Massimini-Tononi-Meth-
Kreiman, G.  112 ode  248
künstliche Intelligenz  40 Mäusehirn  260
Kurzweil, R.  272 McGinn, C.  37
Mensch  250f
L Milner, D.  143f
Ladung  213 minimally conscious state
Laplace, P. S.  170 (MCS)  124, 248
Laureys, S.  248 Mlodinow, L.  279
Leibniz, G. W.  43 , 212, 248 Modell der selektiven visuellen
Leib-Seele-Problem, siehe Aufmerksamkeit  32
Körper-Geist-Problem Modell des globalen
Leistungseinbußen unter ­Arbeitsraums  217f
Druck  142 Monadologie  212
Leukotomie  128 Monod, J.  7
Libet, B.  187, 189 MRT-Scanner  77, 80
Lobotomie  128 M-Theorie  279
Logan, G.  141
Logothetis, N.  92 N
lokales Feldpotenzial (LFP)  30 Nagel, G.  254
Lorenz, E.  172 Narkolepsie  257
low-level vision  104 Naturwissenschaften  7f, 19
Lukrez  181 Neocortex  57
Nervensystem  25f, 252
M enterales  47
Magnetresonanztomogra- Netzhaut  87, 252
phie  80 Neuron  209
funktionelle  81 neuronale Korrelate des Be-
Makaken  84, 88, 251 wusstseins (neuronal corre-
Malach, R.  64 lates of consciousness)  70,
74f, 117, 159, 203
Sachverzeichnis   329

Neurone  26, 42, 47, 74, 82, phänomenaler Wille  211


94 Philosoph  5
des medialen Photorezeptor 
Temporallappens  113 von Archaebakterien  255
im primären visuellen Physikalismus  271
Cortex  89 Placentatiere  60
im visuellen Cortex  115 Planet  172f
karge Darstellung  115f Definition  55
Konzept-  114f Platon  266
retinale  86f Poggio, T.  25
Selektivität  113 Poincaré, H.  172
Spiegel-  146 Popper, K.  184, 269
Newton, I.  169 Prädestination  162
Newtons Gravitationsges- präfrontaler Cortex  85, 250
etz  170, 277 primärer auditorischer
Nietzsche, F.  131, 136 ­Cortex  90
Nuclei  129 primärer visueller Cortex  82,
86, 89, 92
O Primärtherapie  134
Ockham, W. v.  281 Priming  150f
Ockhams Prinzip  281 Professor Bienlein  23
Ockhams Rasiermesser  281 Prosopagnosie  104
Omega-Punkt  239 psychische Krankheiten  193
Opalka, R.  287 Psychoanalyse  135
Optogenetik  42, 254, 311 Pyramidenzellen  84, 218, 230,
Orexin  257 252
Owen, A.  126 Pythagoras  234

P Q
Panpsychismus  236–238, 240 Qualia  45–48, 52, 191
Pascal, B.  265, 282 Qualia-Raum  232f
Penrose, R.  182 Quantenmechanik  175, 179,
Perzept  70, 71, 202 182
330   Bewusstsein

Quantensysteme  182 Schizophrenie  195


Quantenunbestimmtheit  179 Schmerz  3, 59f
Quantenverschränkung  182f Schmetterlingseffekt  172f
Quiroga, R. Q.  112 Schopenhauer  211
Schrödinger, E.  211
R Schrödinger-Gleichung  176
Ramón y Cajal, S.  263 Seele  6, 38, 166, 203, 267,
rapid eye movement  90 270
rechte Hemisphäre  121f Sterblichkeit  272
Reddy, L.  112 unsterbliche  270
Reduktionist  14 Seelenpneuma  268
Rees, G.  89 Selbst-Bewusstsein  62, 65
Reflexe  137 Aussetzen  64
Religion  6, 18 Selbstkontrolle  167
REM-Phase  90 Shannon, C.  223
res cogitans  268f Silesius, A.  295
res extensa  268 Singer, P.  287
retikuläres Aktivierungssys- Singularität  272
tem  128 Sirigu, A.  197
Retina  87 Somatostatin  256
retinale Ganglienzelle  79 sparse representation  115
retinale Neurone  86f Sperry, R.  121
Ring der Nibelungen  167 Spiegelneurone  146
Robins, A.  76 Spiegeltest  62
Rückenmark  72 Spielfilm  64
Spinoza  293
S spiritus animales  268
Sacks, O.  33, 106, 304 Split-Brain-Patienten  120–
Sakkade  86, 138f 122, 226
Säugetiere  59 Sprache  65, 66
Nervensystem  60 Strafgesetzgebung  167
Scheinwerfer (Spotlight) der strange loop  65
Aufmerksamkeit  77, 95 stumme Regionen  128
Sachverzeichnis   331

superior-temporales polysensor- U
isches Areal (STP)  73 Ullman, S.  32
Synapse  26f, 185, 210 Unbewusstes  133, 135, 156,
231
T unbewusstes Handeln  50
Täuschung  192 Universum  12, 20, 171, 174f,
Teilhard de Chardin, P.  13, 177, 275f, 295f
238f, 296 als Uhrwerk  169, 171
Tetraplegiker  72 Expansion  278
Thalamus  57, 129 Unschärferelation  175f
Thales von Milet  237 Unterbewusstsein  106
Theismus  280 Urknall  39, 275
Theorie der integrierten Infor-
mation  11, 223–225, V
227f, 231f, 236, 239f Venter, C.  40
Theorie des Bewusstseins  216f, Verschränkung (Quanten)  182f
219, 240 Verteidigungsmechanis-
Theorie unbewusster Gedank- men  133
en  154f visual word form area
thermische Bewegung  174 (VWFA)  86
Tierzucht  285 visuelle Agnosie  143
Tippen  141f visuelle Verarbei-
Tononi, G.  11, 222, 224f, tungsströme  144
239, 246, 248 Vorurteile  148
Toxoplasma gondii  194f unbewusste  149, 153
Toxoplasmose   195
transkranielle magnetische W
Stimulation (TMS)  246 Wachkoma  124f, 127, 247f
Träume  76 Wahlblindheit  153
Tsuchiya, N.  78 Was-Bahn  144
Tyndall, J.  41 Watson, J.  8
Übergeist  13 Web  236
332   Bewusstsein

Wegener, D. M.  195 Zeng, H.  260


Wilde, O. 2 Zirbeldrüse  119, 203
Wille  Zombieroutine  159
cartesische Sicht  166 Zombies  137, 140
phänomenaler  211 Zwei-Aspekte-Theorie des
siehe auch freier Wille Bewusstseins  221
Wittgenstein, L.  277 Zweiter Hauptsatz der Thermo-
Wo-Bahn  144 dynamik  12
Φ  227, 229–231, 235, 237
Z
Zaubertricks  76
Zehn Gebote  287
Zeki, S.  107

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