Sie sind auf Seite 1von 3

SG / Weil Ethik J1 Sep´23

Wieviel Freiheit darf's denn sein?


Manuela Lenzen

Hirnforscher stellen unseren freien Willen infrage. Philosophen wenden ein: Automaten sind
wir deshalb noch lange nicht
Nennen wir ihn Jones. Ein armer Tropf. Zuerst wurde bei ihm ein Gehirntumor festgestellt.
Und als er diesen entfernen lassen wollte, geriet er an einen ruchlosen Neurochirurgen
namens Dr. Black. Der nutzte die Operation, um Jones einige Elektroden ins Gehirn zu
pflanzen. Von seinem Computer aus kann er seither Jones' Gedanken Tag und Nacht
überwachen und fernsteuern. Er interveniert, wann immer Jones im Begriff ist, etwas zu tun,
was ihm nicht gefällt. Der einzige Trost: Jones bemerkt nichts davon.
Dieses Szenario stammt nicht aus einem billigen Horrorstreifen, sondern aus einem Aufsatz
des amerikanischen Philosophen John Martin Fischer. Ist Jones' Wille frei? Nur bedingt -
nämlich nur dann, wenn er von sich aus tun will, was auch in Blacks Interesse ist. Denn dann
interveniert Black nicht.
Die Frage, ob Menschen einen freien Willen haben und wie man sich diesen vorzustellen hat,
ist ein philosophischer Dauerbrenner, dem derzeit allerdings besonders viel Aufmerksamkeit
zuteil wird. Ihm widmen sich allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in diesem Herbst
gleich drei Neuerscheinungen. Diese Aktualität haben die Philosophen den Hirnforschern zu
verdanken. Gestützt auf verstörende experimentelle Befunde, verkünden die Neurobiologen
allenthalben auf Tagungen, in Büchern und Zeitungsartikeln: Der freie Wille ist eine Illusion.
Kürzlich kam es gar in Berlin zum öffentlichen Show-down zwischen dem Direktor des
Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Wolf Singer, und dem leitenden Bischof
der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hans Christian Knuth.
Während Knuth mit Luther den absoluten Vorrang des göttlichen Willens gegenüber der
vermeintlich menschlichen Willensfreiheit herausstrich, hielt Singer dagegen: Alle mentalen
Prozesse beruhten auf rein materiellen Vorgängen und seien daher deterministisch. Er könne
jedenfalls "bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien
Willen oder die eigene Verantwortung finden".
Das klingt nach schwerer Kost: Ist damit der Kern des menschlichen Selbstverständnisses
bedroht? Geht es uns letztlich nicht anders als dem armen Jones? Sind wir nur Marionetten
unserer Neuronen, Automaten ohne selbstständige Entscheidungsgewalt? Zwar mag jeder
seine eigene Idee vom freien Willen haben, doch alle sind sich einig, dass ein Leben ohne
diesen schrecklich sein muss. Doch was ist das überhaupt für ein Wille, der sich als Illusion
erwiesen hat? Wollen wir ihn überhaupt?
Der Verdacht, dass es sich mit dem freien Willen ganz anders verhalten könnte, als uns das
alltäglich vorkommt, ist nicht neu. Vermutlich ist dieser Zweifel sogar so alt wie die Idee des
freien Willens selbst. Schon die antiken Atomisten rätselten, wo in einer Welt, in der Ursache
auf Ursache folgt, Platz für einen freien Willen sein könnte. Derselben Linie folgte im 19.
Jahrhundert der französische Mathematiker und Astronom Pierre Simon de Laplace, als er den
nach ihm benannten Dämon erdachte: Stellt man diesem nur genügend Rechenkapazität zur
Verfügung und die Kenntnis aller irdischen Objekte zu einem Zeitpunkt, so sollte er bis in alle
Ewigkeit voraussagen können, was auf Erden geschehen wird. Einem Laplaceschen Dämon
liegt Zukunft wie Vergangenheit offen vor Augen. Da bleibt für den freien Willen kein Raum.
Dieser deterministische Glaube erhielt mit Freuds Diktum, das Ich sei nicht Herr im eigenen
Haus, und der Erkenntnis der Evolutionspsychologen, wir benähmen uns wie Mammutjäger in
der Metro, sein modernes Gesicht. Heute zieht keine altmodische Gottheit hinter den Kulissen
die Fäden, kein Dämon, kein Dr. Black - nein, die Gene sind es, die Umwelt, die
Sozialisation, das Unbewusste und neuerdings die Verschaltungen unseres Gehirns.
Die experimentelle Evidenz dazu lieferte der Neurophysiologe Benjamin Libet Anfang der
achtziger Jahre: Noch bevor Menschen sich des Entschlusses bewusst werden, eine bestimmte
SG / Weil Ethik J1 Sep´23
Handlung ausführen zu wollen, so zeigte Libet, setzt in ihrem Gehirn bereits eine gewisse
neuronale Aktivität ein, das so genannte Bereitschaftspotenzial. Der bewusste Willensakt
kann demnach nicht die Ursache der Handlung sein. Denn das Gefühl, aktiv werden zu
wollen, kommt offenbar erst auf, wenn die entsprechende Handlung schon eingeleitet ist, wie
das Bereitschaftspotenzial beweist.
Der Willensakt entsteht also nicht aus heiterem Himmel. Zahlreiche Areale des Gehirns, von
deren Aktivitäten wir nicht das Geringste mitbekommen, sorgen dafür, dass das, was wir
wollen und tun, im Einklang mit unseren Erfahrungen und Anlagen steht. Diese Erkenntnis
formuliert der Psychologe Wolfgang Prinz griffig: "Wir tun nicht, was wir wollen, sondern
wir wollen, was wir tun."
Selbsterkenntnis ist oft ungemütlich
Doch dagegen protestiert sofort der Alltagsverstand. Haben wir nicht alle das Gefühl, Herr
unserer selbst zu sein? Diesen subjektiven Eindruck lässt der Philosoph Thomas Metzinger
nicht gelten. "Gegen die These vom freien Willen als Illusion gibt es zwei richtig schlechte
Argumente, die notorisch populär und politisch immer korrekt sind", sagt Metzinger. "Das
wäre ja schrecklich!", laute das eine; das zweite: "Aber ich fühle doch, dass ich frei bin!"
Dabei wird uns von dem, was in unserem Gehirn vor sich geht, immer nur ein kleiner Teil
bewusst. Wer denkt zum Beispiel beim Sprechen immer daran, wie er einzelne Buchstaben,
Wörter, Sätze formt? Wer ist sich ganz genau bewusst, warum er rote Rosen gegenüber
weißen bevorzugt? Solche Prozesse laufen weitgehend unbewusst ab. Dass wir dabei Meister
im nachträglichen Rationalisieren unbewusster Entscheidungen sind, zeigen neurobiologische
Experimente: Man kann der nichtsprachlichen Hirnhälfte einer Versuchsperson einen Befehl
geben, den diese prompt ausführt - ohne sich der wahren Ursache bewusst zu werden. "Fragt
man nach dem Grund für die Aktion, erhält man eine vernünftige Begründung, die aber mit
der eigentlichen Ursache nichts zu tun hat", beschreibt Wolf Singer das Ergebnis.
"Selbsterkenntnis", ergänzt Thomas Metzinger, "muss nicht unbedingt etwas Angenehmes
sein."
Dass wir uns dennoch frei fühlen, erklärt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth in seinem
demnächst erscheinenden Buch Fühlen, Denken, Handeln (Suhrkamp Verlag) so: Das Gehirn
benötige das Gefühl der Selbstveranlassung als Zeichen, dass sich seine unbewusst
arbeitenden Kontrollzentren ausreichend mit einem anstehenden Vorhaben befasst haben.
Doch im Alltag hängt an der Idee vom freien Willen mehr als die menschliche Eitelkeit. Wen
wollte man zum Beispiel für eine Handlung bestrafen, wenn es gar nicht in der Macht des
Verursachers stand, diese zu unterlassen? Unser gesamtes System von Verantwortung, Schuld
und Strafe baut auf dem Gedanken der persönlichen Verantwortung auf. Diesem Konflikt
kann sich auch ein Hirnforscher nicht entziehen. Obwohl er nicht an den freien Willen glaube,
so gestand Wolf Singer unlängst in einem Gespräch mit der ZEIT (Nr. 50/00) ein, "gehe ich
abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen
Blödsinn angestellt haben, weil ich natürlich davon ausgehe, dass sie auch anders hätten
handeln können".
Für diesen Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Einsicht und dem Alltagsverständnis hat
niemand eine Patentlösung anzubieten. Allein mit der Feststellung, Verantwortung, Sühne
und Strafe seien nützliche Ideen, ist es jedenfalls nicht getan. Jemanden für Jahre
einzusperren, weil man ihn für ein Verbrechen verantwortlich macht, kann nur gerechtfertigt
sein, wenn das zugrunde liegende Rechtssystem auf einem richtigen Menschenbild beruht.
Wenn Dr. Black via Fernsteuerung Jones benutzt, um einen Mord zu begehen, kann man
Jones nicht dafür verantwortlich machen. Und wenn an die Stelle der Elektroden des Dr.
Black Basalganglien, Amygdala und andere subkortikale Kontrollinstanzen treten, dann bleibt
auch das nicht folgenlos für unser Rechtsverständnis. "Man muss genau zwischen subjektiver
Freiheit und Handlungsautonomie des gesamten Menschen unterscheiden", lautet Gerhard
Roths Lösungsversuch. "Erstere ist schlichtweg eine Illusion, Letztere halte ich für gegeben."
SG / Weil Ethik J1 Sep´23
Autonomie sei die Fähigkeit, als ganzes Wesen, samt Gehirn und Körper, Bewusstsein und
Unbewusstem, aus der individuellen Erfahrung heraus aktiv zu werden.
Demnach handeln wir zwar nicht immer vollständig bewusst, aber doch anders als willenlose
Automaten oder ferngesteuerte Individuen wie Jones: Immerhin sind es eigene Erfahrungen,
die unseren Willen bedingen, nicht die zweifelhaften Pläne eines Dr. Black. Doch wer kann
schon etwas für seine Erfahrungen, zumal für die aus der frühen Kindheit? Ganz zu
schweigen von der evolutionären Vergangenheit, die unleugbar unser Verhalten prägt? Darf
man angesichts dieses Autonomiebegriffs noch von individueller Schuld sprechen?
Roth mahnt zur Vorsicht. "Man muss erst einmal die Fakten diskutieren, ehe man zu großen
Rezepten greift." Er selbst ist allerdings davon überzeugt, dass der Gedanke der persönlichen
Schuld und Sühne aufgegeben werden müsse. An seine Stelle sollte der Gedanke der
Prävention und Umerziehung treten. Denn auch wenn der subjektive Wille zum Handeln nicht
frei sei, so ist sei doch wenigstens mehr oder weniger erziehbar. Für unser bisheriges
Menschenbild stellen solche Gedanken eine radikale Herausforderung dar. Denn ohne Zweifel
ist es eine ungemütliche Vorstellung, seinen Willen nur den eigenen, unkontrollierbaren
neuronalen Schaltkreisen zu verdanken. Doch was wäre das Gegenteil, ein unbedingt freier
Wille? Der Philosoph Michael Pauen, der sich in seinem neuen Buch Grundprobleme der
Philosophie des Geistes (Fischer Taschenbuch) ebenfalls mit der Willensfreiheit befasst,
bemüht dazu eine Analogie: Man stelle sich ein Parlament vor, das unter identischen
Umständen mal so, mal anders entscheide. Dies würde man nicht etwa wegen besonderer
Unabhängigkeit schätzen, sondern seiner Willkür wegen fürchten.
Wer will schon die totale Freiheit
Ähnlich argumentiert Peter Bieri, der gerade das Buch Das Handwerk der Freiheit fertig
gestellt hat (Hanser Verlag). Er beschreibt einen Menschen mit unbedingt freiem Willen als
jemanden, der gerade eine neue Wohnung bezogen hat. Bei der Einweihung versichert er, so
bald nicht wieder auszuziehen. Am nächsten Tag bestellt er die Möbelpacker, sein Wille hat
sich geändert. Bei der neuen Wohnung angekommen, hat er sich schon wieder anders
entschieden. Die Möbelpacker lassen ihn mit seinem Mobiliar am Straßenrand stehen. Unser
Held aber folgt seinem Willen und geht erst einmal ins Kino. Als er zurückkommt, haben die
Leute vom Sperrmüll seine Möbel mitgenommen. Ein derart freier Wille, schließt Bieri, wäre
nicht nur wenig überlebensdienlich, er wäre das Letzte, was wir uns wünschen würden.
Und was würden wir uns wünschen? Einen Willen, der sich unseren Urteilen fügt, meint
Bieri. Für ihn ist der freie Wille der "verstandene Wille", der zu unserem Selbstbild und in das
Profil unserer sonstigen Wünsche passt. Aber ist das nicht die Freiheit eines Jones, der sich
letztlich nur bemüht, das zu wollen, was auch Dr. Black will? Sollen wir unsere
Beschränktheiten am Ende noch begrüßen? Natürlich nicht, meint Bieri. Wir können sie uns
immerhin bewusst machen und in den Prozess der Willensbildung einbeziehen.
So gesehen bringen die Erkenntnisse der Hirnforscher die Menschheit nicht um einen
zentralen Bestandteil ihres Selbstverständnisses, sondern nur um die inkonsistente Idee vom
unbedingt freien Willen. Peter Bieri zufolge können wir alles, was uns an der Freiheit des
Willens lieb und teuer ist, nur im Rahmen durchgängiger Bedingtheit bekommen.
"Willensfreiheit ist ein zerbrechliches Gut, um das man sich stets von neuem bemühen muss",
schreibt er. Ob man sie je erreichen kann, sei eine offene Frage. "Vielleicht ist sie eher wie ein
Ideal, an dem man sich orientiert, wenn man sich um seinen Willen kümmert."
Trotz all unserer Bedingtheiten hat uns die Evolution, verglichen mit einfachen Organismen,
immer noch viel Leine gelassen. Wir funktionieren nicht wie Cola-Automaten, bei denen man
nur eine Münze einzuwerfen braucht, damit unten eine Dose herauskommt. "Wir sind so
komplex und flexibel, dass wir uns sogar selbst immer wieder einmal überraschen können",
stellt Thomas Metzinger fest. Was will man mehr?
http://www.zeit.de/2001/38/200138_willensfreiheit.xml?page=1, am 07.11.07

Das könnte Ihnen auch gefallen