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Das Motiv unseres Handelns entscheidet allein über die moralische Qualität
unseres Handelns. Äußerlich dem kategorischen Imperativ zu folgen, bringt uns
nicht das Himmelreich. Wir müssen ihm aus Einsicht in seine praktische
Notwendigkeit, aus Einsicht in seine Verbindlichkeit befolgen. Das, was falsch
ist, ausschließlich darum nicht zu tun, weil es falsch ist – das ist in kürzester
Form moralisches Handeln nach Kant. Warum mag ein Schlachter darauf
verzichten, beim Abwiegen der Mortadellascheiben die Wagschale
herunterzudrücken? Nun, es könnte sich herumsprechen, daß er falsch auswiegt,
und das könnte die Kunden vertreiben. Und da er das vermeiden möchte,
erinnert er sich an das alte englische Sprichwort, daß sich Ehrlichkeit bezahlt
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macht, und unterläßt es, beim Auswiegen zu schummeln. Er könnte aber auch
darauf verzichten, weil es sich einfach nicht gehört, die Kunden zu betrügen,
weil es unmoralisch ist. Im ersten Fall handelt er aus Klugheit in
Übereinstimmung mit dem Moralgesetz. Im zweiten Fall handelt er aus innerer
sittlicher Einsicht, aus Anerkennung der Wahrheit des Moralgesetzes. Und nach
Kant ist ausschließlich ein Handeln, das sich durch die Verbindlichkeit der
Moral selbst unmittelbar leiten läßt, ein moralisch wertvolles Handeln. Dieser
Gesinnungsradikalismus hat den Freunden der Kantischen Ethik seit je zu
schaffen gemacht; und ihren Feinden war er ein guter Grund, sie als lebensfremd
zu verwerfen. Denn nicht nur wird kluge Gesetzesbefolgung von Kant moralisch
verurteilt; auch alle altruistische, sozial affektive, durch menschenfreundliche
Neigungen ausgelöste Handlungen sind, da nicht durch Einsicht in die
Verbindlichkeit des Moralgesetzes motiviert, für Kant moralisch wertlos.
Schiller hat diesen Rigorismus in zwei berühmten Distichen verspottet: „Gerne
dien’ ich den Freunden, doch thu ich es leider aus Neigung, / Und so wurmt es
mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du musst suchen,
sie zu verachten / Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.
(Über die Grundlage der Moral § 6)
Natürlich müssen wir Kant zugeben, daß das Motiv von beträchtlicher
Bedeutung für die moralische Beurteilung einer Tat, einer Handlungsweise ist.
Sollten Sie herausfinden, daß Ihr bester Freund nur darum Ihre Freundschaft
gesucht hat, weil er sich aufgrund der Beziehungen Ihres Vaters davon einen
karrierepolitischen Vorteil versprach, wird es Sie verletzten. Sie werden in
hohem Maße moralisch enttäuscht sein, obwohl sein Verhalten Ihnen gegenüber
stets mustergültig, das eines wahren Freundes war. Freilich zeigt dies Beispiel
auch sogleich, in welchem Bereich uns die Gesinnung, die Lauterkeit des
Motivs von moralischer Wichtigkeit ist. Es ist dies der Bereich der sozialen
Intimität und des existentiellen Betreffbarkeit. Jenseits dieses Bereiches
erwarten Sie in der Regel keine Lauterkeit, keine moralische Gesinnung. Dies
aber nicht darum, weil Sie dort nur Schlechtigkeit und Gesinnungslosigkeit
vermuten, sondern weil jenseits dieses Bereiches, weil jenseits des sozialen
Nahbereiches das Gesinnungskriterium nicht von Beurteilungsrelevanz ist.
In der Tat: Sollten wir nicht damit zufrieden sein, daß Menschen sich an die
Regeln halten, gleichgültig aus welchen Gründen? Ist nicht anzunehmen, daß sie
viel leichter Regeln befolgen, wenn diese mit ihren Interessen im Einklang
stehen? Ist es nicht vernünftig, anstatt – wie Kant – das Eigeninteresse zu
verdammen und aus der Moral zu entfernen, umgekehrt die Moral auf das
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Humes Pointe liegt in der Unterscheidung zwischen interest und true interest;
das wahre Interesse ist nicht immer mit dem Interesse identisch; es scheint nie
an der Oberfläche zu liegen; an der Oberfläche liegt die unmittelbar drängende
Begierde; an der Oberfläche liegt das schnelle Geld, der sofortige Lustgewinn:
Um von der Oberfläche des aktuell Begehrten zu dem wahren Interesse zu
gelangen, ist Distanzierungsarbeit notwendig; auch die Berücksichtigung des
wahren Interesses kann eine Hemmung der Begierde verlangen; kann weh tun;
kommt in all dem also der Physiognomie der Pflicht schon recht nahe. Auf das,
was das langfristige und wohlerwogene Selbstinteresse verlangt, stößt man nur,
wenn man einen Rationalitätsfilter verwendet. Wie sieht ein Handeln aus, das
die durch diesen Rationalitätsfilter wirksam gewordenen
Rationalitätsbedingungen erfüllt. Es ist ein Handeln, das sich nicht naturwüchsig
vollzieht, kein affektiv-passioniertes, emotionales, gedankenloses oder
habituelles Verhalten, kein inkonsistentes, vorschnelles, unorientiertes
Verhalten, sondern ein informiertes und kalkuliertes Handeln, daß - wie eine
wahre Konklusion aus wahren Prämissen bei der korrekten Anwendung
deduktiver Schlußregeln - einer leidenschaftslosen Verarbeitung der
vorhandenen Informationen und einer nüchternen Gewichtigung der eigenen
Präferenzen und einer sorgfältigen Berücksichtigung aller Kosten,
Konsequenzen und Nebenfolgen entspringt. Wobei von besonderer Bedeutung
ist, daß die Kostenberechnung im Horizont der Präferenzenhierarchie erfolgt,
somit auch die Präferenzen berücksichtigt, die in der gegenwärtigen Situation
nicht aktuell sind, und deren Realisierungsbedingungen mit den Konsequenzen
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Näherhin ist die Situation der Entscheidung als Situation einer rationalen Wahl
definiert: eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen sieht sich der
Aufgabe konfrontiert, aus tatsächlich vorhandenen alternativ möglichen
Handlungen jene Handlung auszuwählen, die für die vorliegende Situation im
Licht der faktisch gegebenen Wert- und Zielvorstellungen ein Maximum an
Wert, Nutzen oder Befriedigung verspricht. Das individualistisch-rationale
Begründungsmodell arbeitet also mit einem Rationalitätsstandard, der die
rationale Annehmbarkeit moralischer Prinzipien ausschließlich unter dem
Blickwinkel der subjektiven ökonomischen Rationalität jedes einzelnen im
Sinne seiner individuellen Nutzenmaximierung beurteilt.
Offenkundig hat Hobbes mit seinem berühmten Argument von der Entstehung
des Staates, der Institution aller Institutionen, aus der Selbsterhaltungsnot der
Naturzustandsbewohner auch ein konzeptuelles Vorbild für das Projekt einer
angemessenen Wirtschaftsethik geliefert. Eine Wirtschaftsethik kann nur eine
institutionalistische Ethik sein. Das subjektive und das objektive Versagen einer
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individuenadressierten Ethik ist auf dem Bereich der Wirtschaft besonders groß.
Zum einen ist das Wirtschaftssystem ein Handlungssystem, dessen
gesamtgesellschaftlich erwünschte Leistungen von einer klugen individuellen
Interessenverfolgung abhängig ist. Daher wird eine auf moralische Motivation
angewiesene individuenadressierte Ethik auf beträchtlich erschwerte
Implementationsbedingungen stoßen. Auf der anderen Seite ist das
Wirtschaftssystem in hohem Maße ein System unintendierter Nebenwirkungen,
dessen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Naturverhältnisse und unsere
Sozialverfassung Gegenstand moralischer Aufmerksamkeit wert ist.
Wirtschaftsethik ist Nebenwirkungs-, Gesamtzustands- und Sanktionsethik. Sie
versucht die Herbeiführung eines erwünschten oder moralisch zuträglicheren
Gesamtzustandes dadurch zu sichern, daß sie durch geeignete sanktionsbewehrte
institutionelle Handlungseinschränkungen für alle Wirtschaftssubjekte deren
vorteilsmaximierendes Verhalten so lenkt, daß eben dieser moralisch
vorteilhaftere Gesamtzustand zustande kommt. Natürlich impliziert diese
Unzuständigkeit des individualethischen Theorietyps für wirtschaftsethische
Probleme keine moralische Unbelangbarkeit der Wirtschaftssubjekte für ihr
individuelles wirtschaftliches Handeln. Diese sind als Handelnde natürlich nach
wie vor den traditionellen Normen der Moral unterworfen. Aber das hat eben
nichts mit Wirtschaftsethik zu tun. Weder ist die Wirtschaftsethik ein
individuenadressiertes System von Spezialnormen noch ist sie ein Reservat
individueller moralischer Unverantwortlichkeit. Die moralischen Normen
bleiben weiterhin in Kraft. Aber sie vermögen nicht die moralischen Probleme
zu lösen, die die Wirtschaft als Gesamtsystem erzeugen kann. Diese können nur
durch institutionalisierte Handlungsregeln gelöst werden, die die
Rahmenbedingungen individuellen Wirtschaftshandelns formulieren und zur
Sicherung ihrer Durchsetzung bei Nichtberücksichtigung mit Sanktionen
drohen, die den Normbruch mit derart hohen Kosten belegen, daß er keine
rationale Gewinnstrategie mehr darstellen kann.
1. Für jedermann würde es vorteilhaft sein, wenn alle ( oder nahezu alle ) sich
die Alternativstrategie der zwanglosen Kooperation zu eigen machen würden.
2. Dieser Nutzen für jedermann würde sich nicht ergeben, wenn nicht alle ( oder
fast alle ) diese Alternativstrategie der zwanglosen Kooperation befolgen wür-
den. Das heißt also: eine allgemeine ( oder hinreichend allgemeine) zwanglose
Kooperationspraxis ist sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedin-
gung für einen für jedermann nützlichen Zustand.
Den Gefangenen, die durch keinerlei moralische Erwägungen von ihrer strategi-
schen Vorteilssuche abgelenkt werden, also nicht von Reueanwandlungen und
Sühnebedürfnissen in ihrer Handlungsweise bestimmt sind, präsentieren sich die
vier offerierten Möglichkeiten in folgender Vorzugsordnung: für jeden rangiert
an erster Stelle die Kombination: ich gestehe, und der andere gesteht nicht; die
zweitbeste Möglichkeit für beide ist die Geständnisverweigerung von beiden; als
1 Vgl. R.D.Luce/H.Raiffa: Games and Decisions. Introduction and Critical Survey, New York
1947.
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B
Kooperation Nichtkooperation
A Kooperation 3/3 (R/R) 1/4 (S/T)
Nichtkooperation 4/1 (T/S) 2/2 (P/P)
Für jeden Spieler ist der Nutzen einseitiger Unkooperativität größer als der
Nutzen beidseitiger Kooperativität, dieser hinwiederum ist für jeden Spieler
größer als der Nutzen beidseitiger Unkooperativität; und dieser schließlich
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Aber nicht nur die Klugheit gerät in Situationen von der Art des Hobbesschen
Naturzustandes oder des Gefangenendilemmas in eine Falle; die Lage ist noch
viel vertrackter, auch die individuelle Moral muß hier versagen. Klugheitsfallen
sind derartige Situationen für den rational Handelnden, weil er mit vollem Wis-
sen suboptimale und mindereffiziente Strategien wählen muß; weil sie also die
effizienzbewußte Rationalität zur Selbstunterbietung zwingen. Und
Moralitätsfallen sind sie, weil die gewählte moralische Strategie, also zum
Beispiel unter den Unmäßigen des Hobbesschen Naturzustandes mäßig zu blei-
ben und sich nicht zur präventiven Aggression oder kompetitiven Aufrüstung
verleiten zu lassen oder als einziger das Kooperativitätsopfer zu bringen, nicht
nur unklug, sondern auch moralisch unzulässig ist. Moralisches Handeln würde
in dieser Situation offenkundig kontraproduktiv sein: da der Entschluß zur
privaten Verantwortlichkeit ohne Frage kostenträchtig ist, andererseits aber auch
die Schadenskosten der kollektiven Praxis nicht nennenswert mindert, führt er
nicht nur zu keiner Verbesserung der Gesamtsituation, sondern verschlechtert
sie noch. Niemandem ist gedient, wenn man sich allein kooperativ verhält; es sei
denn, man will sich am Genuß der eigenen moralischen Vortrefflichkeit
schadlos halten. Aber damit ändert sich das Paradigma, geht es doch um die
Herbeiführung einer distributiv vorteilhaften Situation für alle, und nicht darum,
im falschen Leben für sich selbst ein richtiges zu führen.
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Der Witz des Gefangenen-Dilemmas liegt in der Unvermeidlichkeit, mit der der
rationale Egoismus die vorteilhaftere Lösung verfehlt. Die rationale
Entscheidung für unkooperatives Verhalten unterbietet das, was die Situation
erlaubt hätte, wenn Kooperation und Interessenabstimmung gewählt worden
wären. Die Lektion des Gefangenendilemmas besteht, allgemein gefaßt, in der
Einsicht, daß es vorteilhaft ist, die eigene Vorteilsmaximierungsstrategie Regeln
zu unterwerfen, die einen für alle vorteilhaften Zustand ermöglichen und deren
Aufrechterhaltung im langfristigen Interesse aller liegt. Normen dieser Art, die
man als Gefangenen-Dilemma-Normen bezeichnet hat, sind Normen der Ko-
operationsrationalität; sie bestimmen die Strategie der zwangsfreien
Kooperation.
Die Verwirklichung des Vorrangs der Kooperation und die Sicherung stabiler
kooperativer Verhältnisse verlangt die Entschärfung der Gyges-Bedingung, der
Lösung des Parasitismus-Problems resp. des Vertrauensproblems. Wenn jeder
befürchten muß, daß ihn seine Kooperativität von den anderen schlecht
vergolten wird, daß er einseitige Opfer bringt und von den anderen ausgenutzt
wird, dann wird niemand sich zur Kooperation bereitfinden. Sucker's pay off —
Narrenlohn — nennt man in der Sprache der Spieltheorie den Ertrag, den der
einseitig Kooperative erzielt, und wer will schon ein Narr sein. Die Einsicht in
die Überlegenheit der Kooperationsrationalität kann keine praktische Früchte
tragen und nicht zu einem Zustand führen, in dem die allgemein zustimmungs-
fähigen Gefangenen-Dilemma-Normen vorteilhafte Verhältnisse für alle herstel-
len könnten, wenn jeder voller Mißtrauen gegenüber möglichen Schwarzfahrern
und Konformitätsparasiten ist und wenig Neigung zeigt und es als unvernünftig
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ansehen muß, die für die Etablierung eines Zustandes, der Kooperationsgewinne
für jedermann abzuwerfen in der Lage ist, notwendigen Konformitätskosten zu
entrichten. "Die meisten Menschen sind jedoch aufgrund ihres unvernünftigen
Interesses an gegenwärtigem Vorteil nicht fähig, diese Gesetze (der
Kooperationsrationalität W.K.) zu befolgen, obgleich sie sie anerkennen. Wenn
daher einige, die gemäßigter sind als die anderen, jene von der Vernunft
verlangte nützliche Rücksichtnahme gegenüber den anderen an den Tat legen,
die keineswegs im Austausch dasselbe tun, dann würden sie sicherlich nicht
vernünftig handeln; ebensowenig würden sie sich dadurch den Frieden sichern,
sondern nur umso gewisser und schneller den Untergang bereiten: die
Gesetzestreuen würden zur Beute der Gesetzesbrecher werden" 2 . Die Gyges-
Bedingung muß also entschärft werden oder, was das gleiche meint: die
Menschen müssen von ihrer Kurzsichtigkeit kuriert werden, die die auf Ein-
richtung eines dauerhaften allgemein vorteilhaften Zustandes zielende langfristi-
ge Vernunftstrategie immer wieder um eines kurzfristigen schnellen Vorteils
willen durchkreuzt. Und das ist nur möglich, wenn dafür gesorgt wird, daß Re-
gelverstöße sich nicht mehr lohnen. Mit den Regeln der
Kooperationsrationalität, mit den Gefangenen-Dilemma-Normen muß zugleich
ein institutionelles Arrangement in Geltung gesetzt werden, das die
Nachteiligkeit von Normbrüchen sicherstellt und damit jederzeit die Entrichtung
der Konformitätskosten zu einer gewinnbringenden Investition macht. Dieses
institutionelle Arrangement beseitigt den Konflikt zwischen dem kurzfristigen
Vorteil des Normbruchs und dem langfristigen Vorteil der Normgeltung und
bringt das kurzfristige und das langfristige Selbstinteresse zur Deckung. Schon
immer wußten alle, daß Gesetzestreue im langfristigen Interesse von jedermann
liegt und eine rationale Handlungsstrategie ist; jetzt erkennen sie, daß es ein
zusätzliches rationales Motiv gibt, die Gesetze zu befolgen, nämlich
Sanktionsvermeidung: Gesetzestreue liegt folglich auch im kurzfristigen
Selbstinteresse.
Person 2 Person 2
Strategien action 2 nicht-action 2
Person 1 action 1 s, s q, t
Person 1 nicht-action 1 t, q r, r
Person 2
Strategien Kooperation Un-Kooperation
Person 1 Kooperation R, R S, T
Unkooperation T, S P, P
Stark dominante Strategien sind Nutzenmaximierungsstrategien, die sich von
der Wahl der Mitspieler unabhängig machen, die also die einzige beste Antwort
auf jede mögliche Strategie des Mitspielers darstellen. Nimmt man an, daß
rationale Individuen stark dominante Strategien befolgen, dann ist das
Doppelgeständnis die Lösung des Spiels. Diese Lösung ist aber eine rationale
Katastrophe, denn für jeden der beiden ist die mit beidseitigem Schweigen
verbundene Auszahlung höher als beim Doppelgeständnis. Das Spielresultat ist
also stark ineffizient, denn es existiert eine alternative Auszahlung, die beide
Spieler besser stellt.
diese auch wählen. Es kommt daher zu einer ineffizienten Lösung. Die in deren
Rahmen gewählten Strategien werden üblicherweise unkooperativ bzw. defektiv
genannt. Kooperativ heißen hingegen jene dominierten Strategien, durch deren
gemeinsame Wahl jeder Spieler gegenüber der Lösung hätte besser gestellt
werden können. Vorausgesetzt ist, daß die Spieler keine bindenden
Vereinbarungen treffen können.
Klugheit ist eine Falle: man stelle sich zwei Fabriken vor, die an einem kleinen
See liegen, der durch die Abwässer dieser Fabriken verschmutzt wird (und zwar
nur durch diese). Die Fabriken benötigen aber für ihre Produktion sauberes
Wasser, das sie in der notwendigen Menge nur dem See entnehmen können. Das
verschmutzte Wasser hat schon bisher die Qualität ihrer Produkte beeinträchtigt,
so daß sie gezwungen waren, Anlagen zur Reinigung des aufgenommen
Seewassers einzubauen. Die Frage ist nun, ob die Fabriken bereit wären, in
Anlagen zur Reinigung ihrer Abwässer zu investieren, um damit die Kosten der
eigenen Reinigung des Seewassers einzusparen.
Dabei wollen wir annehmen, daß die Kosten für eine Anlage zur
Abwasserreinigung c höher sind als der daraus entspringende
betriebswirtschaftliche Nutzen u im Sinne der Ersparnis an Kosten für die
Seewasserreinigung, so daß für jede Fabrik gilt c>u. Andererseits würde sich die
weitere Unterhaltung von Seewasserreinigungsanlagen vollständig erübrigen,
wenn beide Fabriken über Anlagen zur Abwasserreinigung verfügten. Wir
können also davon ausgehen, daß die Fabriken einen doppelten Nutzen haben,
wenn beide jeweils eine Abwasserreinigungsanlage installieren, denn dann
könnten sie auf ihre Seewasserreinigungsanlagen vollständig verzichten. Die
Installation von Abwasserreinigungsanlagen ist bei beiden Firmen also dann die
betriebswirtschaftlich optimale Lösung, wenn der doppelte Nutzen 2u größer ist
als die Investitionskosten für die Abwasserreinigungsanlage c, d.h. 2u-c>0.
Dieser doppelte Nutzen stellt sich aber erst dann ein, wenn beide Fabriken
investieren; aber das genau werden sie nicht tun.
Die Nutzung verschmutzten, teilgereinigten oder vollständig gereinigten
Wassers kann zwischen den beiden Fabriken nicht ‘geteilt werden’. Unabhängig
von seinem Verschmutzungsgrad weist das Seewasser eine charakteristische
Eigenschaft öffentlicher Güter auf: die der Nicht-Ausschließbarkeit der
Beteiligten von seiner Nutzung. Das wirkt sich in der Weise auf die
Auszahlungen aus, daß im Fall des Baus von Abwasserreinigungsanlagen durch
beide Fabriken für jede von ihnen der doppelte Nutzen vollständig gereinigten
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Seewassers entsteht, Kosten aber nur in Höhe der Investition für eine Anlage, so
daß die Auszahlung für jede Fabrik 2u-c beträgt.
Da des weiteren auch die nicht-investierende Fabrik nicht von der Nutzung des
teilgereinigten Seewassers ausgeschlossen werden kann, wenn eine
Abwasserreinigungsanlage durch die andere Fabrik erstellt wird, hat sie den
Nutzen u, jedoch keine Kosten. Hingegen hat die Fabrik, die die Anlage baut,
zwar auch diesen Nutzen u, aber zugleich auch die Kosten u-c. Existiert keine
Abwasserreinigungsanlage, entstehen weder Kosten noch Nutzen, da ja beide
über Seewasserreinigungsanlagen verfügen.
Fabrik 2
Bau der Anlage Kein Bau der
Anlage
Fabrik 1 Bau der Anlage 2u-c, 2u-c u-c, u
Kein Bau der u, u-c 0,0
Anlage
vorgehalten. Vielen scheint ausgemacht zu sein, daß der homo oeconomicus die
Moral verdirbt, und daß daher die Verwendung dieses Modells hinreichender
Grund für eine moralische Verdächtigung ist genauso wie etwa in den Augen
der Kreationisten die Verwendung der Evolutionstheorie gotteslästerlich ist und
von verwerflichem Atheismus zeuge. Für Kapitalismuskritiker und
Modernitätsskeptiker, Kommunitaristen, christlich Bewegte und andere
Romantiker ist der homo oeconomicus geradezu die Inkarnation des von Ihnen
abgelehnten Individualismus: in ihm bündeln sich alle schlimmen Seiten der
forcierten Modernisierung, die den Gemeinschaftsmenschen aus seinen
Kontexten sinnvollen Lebens und lebensethischer Erfülltheit gerissen hat und in
ein Sozialatom, einen existentiellen Solitär verwandelt hat, der in einer kalten
Welt rücksichtslos rücksichtlos seine Nutzenpositionen schützt und vermehrt.
Hier vermischen sich häufig Dämonisierung und Legendenbildung. Bereits der
Markt, das bevorzugte Biotop des homo oeconomicus, ist keine Kampfstätte
asozialer, atomisierter Wesen. Der Markt ist vielmehr ein System sozialer
Interaktion, dessen Basisoperation der Tausch ist, der seinerseits auf dem
Prinzip der Reziprozität, der Wechselseitigkeit basiert. Tauschaktionen besitzen
ihrerseits eine immanente Normativität; in ihren artikuliert sich eine basale
Anerkennungsgegenseitigkeit, die das normative Fundament bildet für das den
Tausch konstitutierende spannungsvolle Zugleich von Kooperation und
Konkurrenz. Immer steht das Wirtschaftssubjekt in einem Geflecht von
Kooperationsbezügen und Konkurrenzverhältnissen. Auch und gerade als
Wirtschaftssubjekt ist kein solitäres, atomisiertes Einzelwesen, sondern ein
soziales, mit anderen vielfältig verbundenes Subjekt. Freilich, wenn die
Zuschreibung des Sozialen nur dann erfolgen darf, wenn das Handeln der
Subjekte durch dezidiert soziale Motiv- und Gesinnungslagen bestimmt ist, dann
ist das Tauschsystem des Marktes kein sozialer Bereich. Denn natürlich agieren
die Subjekte, um ihre je individuellen Interessen zu befriedigen. Aber eine
derartige normative Engführung des Sozialen ist nicht einzusehen. Zudem
verbietet der Markt nicht im mindesten Moral und soziale Einstellung.
Diejenigen, die in ihm eine Brutstätte des Egoismus sehen, verkennen das
Wesen des Marktes völlig. Das Entscheidende des Marktes ist nicht, daß er
Moral verbietet oder zur moralischen Rücksichtslosigkeit erzieht; das
Entscheidende des Marktes ist, daß der keiner moralischen Gesinnung bedarf,
um zu funktionieren. Das ist seine Stärke und sein zivilisatorischer Charme: er
kann sich Egoismus leisten, er ist nicht auf Moral angewiesen.
dem Einfluß von Anstößen bewegt, die ihn in der Gegend herumschieben, selbst
aber unversehrt lassen. Ihm geht nichts voraus und ihm folgt nichts nach. Er ist
ein bestimmtes, isoliertes menschliches Datum, welches sich in einem stabilen
Gleichgewicht befindet, sieht man einmal ab von den Stößen der auf ihn
einwirkenden Kräfte, die ihn in die eine oder andere Richtung schieben. Auf
sich selbst beschränkt im Elementarraum, wirbelt er symmetrisch um seine
eigene geistige Achse, bis das Parallelogramm der Kräfte auf ihn Einfluß nimmt,
woraufhin er die Richtung von dessen Resultanten folgt. Ist die Kraft des
Impulses aufgebraucht, kommt er zur Ruhe, ein in sich abgeschlossenes
Elementarteilchen von Wünschen wie zuvor" (Why Is Economy Not an
Evolutionary Science, Quarterly Journal of Economics 12/1898, S. 373 – 397;
S.389f.).
Natürlich, da ist Dahrendorf völlig recht zu geben, ist der homo oeconomicus
"für unser naives Erleben … eine seltsame Kreatur". Gäbe es ihn, wäre er kein
angenehmer Zeitgenosse; jeder würde ihm aus dem Wege gehen, keiner seine
lebensweltlichen Belanglosigkeiten mit ihm teilen. Gleichwohl ist damit gegen
die wissenschaftliche Brauchbarkeit dieses Modells nicht gesagt. Schließlich,
wieder Dahrendorf, sieht für uns die Welt auch nicht so aus, wie es die atomaren
Bienenkorb-Modelle nahelegen, gleichwohl ist die Physik gut beraten, ihnen bei
der Erklärung der Phänomene zu folgen. In der Tat ist ein angenehmes Wesen
keine Voraussetzung für die explanative und prognostische Verwendbarkeit des
homo oeconomicus-Modells. Auch Realismus muß nicht vorausgesetzt werden.
Immer sind Modelle Abstraktionsprodukte und daher durch Einzelfälle
widerlegbar. Gleichwohl mindert das die explanative und prognostische
Brauchbarkeit derartiger Modelle nicht im mindesten, wenn an der für den
explanativen und prognostischen Zweck wesentlichen Bestimmung festgehalten
wird, in unserem Fall an dem Zusammenspiel der beiden Dimension des
Selbstinteresses und der informationsverarbeitenden und
entscheidungsvorbereitenden Rationalität. Andererseits ist für die modellhafte
Verwendung des homo oeconomicus aber auch nicht notwendig, die Abstraktion
so weit zu treiben, daß der homo oeconomicus gleichsam divinisiert wird, die
ihn auszeichnenden Eigenschaften selbstinteressierten Handelns und raitonale
Situationseinschätzung in vollkommender Reinheit besitzt. Wir müssen den
kontrafaktischen Charakter des Modells nicht so weit ausdehnen, daß wir
vollkommene Informiertheit, computerhaft schnelles Abwägen und
unerschütterliche Präferenzenhierarchie unterstellen. Auch ist es nicht
erforderlich, die Selbstinteressiertheit des Verhaltens egoistisch engzuführen,
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schließlich gibt es einen guten sachlichen Grund, warum etwa die englische
Sprache self-interest von selfishness unterscheidet. D
Die heute in der Sozialtheorie, der Ökonomik, der Politischen Ökonomie und
Gesundheitsökonomie verwendeten Modelle ökonomischen Verhaltens
unterscheiden sich von diesem – wie er einmal schon getauft wurde - Paleo-
Homo Oeconomicus, der immer noch in mikroökonomischhen Lehrbüchern sein
Unwesen treibt, beträchtlich. Heute geht man von Verhaltensmodellen der
limitierten Rationalität und limitierten Informiertheit aus, öffnet auch das
Selbstinteresse für altruistische Motivationslagen, für Wertüberzeugungen und
ästhetische Interessen. Heute sieht der homo oeconomicus uns zum Verwechseln
ähnlich. Der Soziologe George C. Homans dazu: "Der Ärger mit dem homo
oeconomcius war nicht, daß er ökonomisch verfuhr, daß er seine Mittel zu
seinem Vorteil nutzte, sondern daß er asozial und materialistisch war, einzig an
Geld und materiellen Werten interessiert und jederzeit bereit, um ihretwillen
sogar seine alte Mutter zu opfern. Es waren seine Werte, die falsch waren: man
gestand ihm nur einen sehr begrenzten Werthorizont zu; der neue homo
oeconomicus aber ist nicht so begrenzt. Vom Altruismus bis zum Hedonismus
mag er alle möglichen Werte haben, solange er seine Mittel nicht völlig
verschwendet, um diese Werte zu erreichen, ist sein Verhalten immer noch
ökonomisch. … Der neue homo oeconomicus ist der normale Mensch" (Social
Behavior: Its Elementary Forms, London 1961, S. 79f.). Das Ökonomische
dieses neuen homo oeconomicus steckt also nicht mehr in den Präferenzen,
sondern ausschließlich in der präferenzenverwaltenden Rationalität. Daher kann
ein Philantrop genauso gut eine Verkörperung des homo oeconomicus sein wie
ein hedge-fond-Manager, der Papst genauso gut wie ein Nobelpreisgewinner der
Ökonomie.
mehr als weniger davon haben (bei gleichen Ausgaben), die lieber reich als arm
sind – bei gleicher Gesundheit; die lieber geringere Kosten als höhere Kosten
haben – bei gleichem Nutzen; die lieber mehr Freizeit als mehr Arbeitszeit
haben – bei gleichem Einkommen, die lieber geringere Risiken auf sich nehmen
als höhere – bei gleichem Ertrag. Fassen wir zusammen, dann erhalten wir
folgende Definition ordinärer Rationalität: angesichts knapper Mittel ist es
rational, Alternativen abzuwägen und die kostengünstigste zu wählen.
Die Präferenzen legen inhaltlich fest, was einem Individuum als nützlich gilt; sie
bilden zusammen seine Nutzenvorstellung. Und welche Präferenzen durch die
aktuelle Handlungssituation auch immer betroffen sind, immer zeigt sich
rationales Handeln darin, den Nutzen zu maximieren. Rationalität ist im Kontext
des ökonomischen Verhaltensmodells immer Maximierungsrationalität. Nur
stellt sich diese eben nicht notwendig in den Dienst der im engeren Sinne
ökonomischen Güter. Nicht nur die materiellen Eigenschaften eines Gutes sind
von Relevanz, sollten die Präferenzen auch seine ästhetischen, ökologischen,
moralischen oder sozialen Eigenschaften betreffen, dann sind auch diese von
Wichtigkeit und gehen in die Abwägung ein. Wenn das homo oeconomicus-
Modell derartige Präferenzen zuläßt, muß auch der ihm zugeordnete Begriff des
Selbstinteresses oder des Eigennutzen für alle nur denkbaren Motivationen offen
gehalten werden und darf keinesfalls auf egoistische Intentionen reduziert
werden. Homines oeconomici können durchaus moralische Handeln, soziales
Engagement entwickeln und ästhetische Perspektiven bei ihren Entscheidungen
berücksichtigen. Selbstinteressiert handelt der homo oeconomicus nur, insofern
er sich ausschließlich an seinen Präferenzen orientiert und nicht an den
Präferenzen anderer. Weiterhin gilt, daß der homo oeconomicus nur persönliche
Präferenzen befolgen und von externen Präferenzen Abstand nehmen sollte.
Jedenfalls geht man in Argumentationen, in denen man von dem homo
oeconomicus – Modell Gebrauch macht, in der Regel davon aus. Der Verzicht
auf externe Präferenzen ist Bestandteil des modelleigenen Rationalitätskonzepts.
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Ex ist rational, an dem Glück oder Unglück anderer desinteressiert zu sein, bei
seiner eigenen Präferenzenbildung nicht das Glück, aber eben auch nicht das
Unglück anderer zu berücksichtigen. Ein rationaler Mensch ist nicht
rachsüchtig, neidisch, mißgünstig, haßerfüllt, er kennt noch nicht einmal
Schadenfreude. Er ist aber eben auch nicht altruistisch. Er ist indifferent und
gleicht, so Kirchgässner, im Gleichnis vom Guten Samariter dem Priester und
Leviten, die bekanntlich sich an dem Leiden des Überfallenen und
Geschundenen nicht sonderlich interessiert zeigten. Im All des Handelns sind
sozialfreundliche und sozialfeindliche Einstellungen ins Irrationale reichende
Ausschläge vom Mittelweg selbstinteressierter Nutzenmaximierung. Sie mögen
dem Miteinanderleben die Farbe, die Dramatik, die moralische Temperatur
geben. Aber die homo-oeconomicus-Rationalität verlangt wechselseitige
Indifferenz. Insofern daher alle leidenschaftlichen, passionierten Beziehungen
zu anderen aus der Präferenzenskala ausgeschlossen werden, ist auch der neue,
aus den gewinnmaximierenden Quartieren der Wirtschaft in die weite
Gesellschaft ausgewanderte homo oeconomicus immer noch kein normaler
Mensch.
Es ist nicht entscheidend, daß der homo oeconomicus mit seiner Kombination
aus selbstinteressiertem Handeln und durchschnittlicher, Kosten-und-Nutzen-
abwägender Rationalität, die reichhaltige menschliche Wirklichkeit mit ihren
verwirrenden Motivlagen, mit ihren Schrullen und Marotten, Unüberlegtheiten
und Dummheiten, mit all dem Rücksichtslosen und Abscheulichen, aber auch
Großartigem und Atemverschlagendem nicht auffangen kann.
Modellkonstruktionen können das grundsätzlich nicht. Entscheidend ist, daß er
trotz seiner anthropologischen Kargheit und seiner vielen deskriptiven Defizite
auf bestimmten Gebieten von großer Brauchbarkeit ist. Unter anderem auf dem
Gebiet der rationalen Moralbegründung und des klugen Institutionendesigns. In
einer Gesellschaft, die aufgrund vielfältiger Modernisierungsprozesse ihre
einheitliche, kulturelle Homogenität verbürgende Hintergrundtheorie verloren
hat, die kein allgemein anerkennungswürdiges Ziel gesellschaftlicher und
individueller Existenz mehr kennt, die nur noch ein Geflecht ethischer
Selbstversorger ist, nur noch Individuen kennt, die ihre je eigenen Vorstellungen
eines gelingenden Lebens entwickelt haben, muß die Begründung
handlungseinschränkender Regeln sich auf unterethische, unterreligiöse,
unterkulturelle Residualgemeinsamkeiten stützen, auf solche
Residualgemeinsamkeiten, wie sich sie in den oben erwähnten Präferenzcodes
ausdrücken. Glauben wir an verschiedene Götter, können nicht diese als
Gemeinsamkeitsfundament dienen, sondern unsere Klugheit, die auf eine
erfolgreiche Verfolgung unserer grundlegenden Interessen gerichtet ist, unsere
Rationalität, die die Kontinuitätsbedingungen unseres selbstinteressierten
Handelns beobachtet. Mit einem Wort: wir müssen an den homo oeconomicus in
uns appellieren, an den Rationalitätskern, der unter der bunten Hülle der
differenten und kulturvarianten ethischen, religiösen und gesellschaftlichen
Moden verborgen ist. Und mit diesem müssen auch diejenigen rechnen, die in
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unser aller Namen die Regeln für unser Zusammenleben aufstellen, die unser
gesellschaftliches Miteinander institutionell ordnen. Diese sollten den homo
oeconomicus als einen wertvollen Verbündeten betrachten; er ist der
Lackmustest gelingender Ordnungspolitik. Und sie sollten sich ein Vorbild an
seinem Biotop, dem Markt nehmen. Wie dieser zwar gute Menschen erträgt,
jedoch nicht verlangt, in seinem Funktionieren also von den Moralinvestitionen
der Wirtschaftssubjekte unabhängig ist, so sollten auch die politischen
Ingenieure des Rahmenwerks unserer gesellschaftlichen Existenz sich um solche
Regeln bemühen, die auch dann die von ihnen erwartete Selektionsleistung
erbringen, wenn sie es nicht mit entgegenkommenden Bürgern zu tun haben, die
also egoismusresistent und ausbeutungsimmun sind.
Karl Marx hat diesen Prozeß in seinem berühmten Manifest für die
Kommunistische Partei folgendermaßen beschrieben: "Die Bourgeoisie, wo sie
zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen
Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den
Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen
und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das
nackte Interesse, als die gefühllose "bare Zahlung". Sie hat die heiligen Schauer
der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen
Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die
persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen
verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose
Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen
und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte,
direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu
betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den
Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten
Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen
Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so
sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende
Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande
bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische
Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz
andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge" (820).
Aber die Modernisierung ist nicht nur dadurch charakterisiert, daß sie die
Traditionswelt zerstört, die einheitlich-eine substantialistische Vernunft
aushöhlt, die homogene Kultur fragmentarisiert und auf den Ruinen der alten
Orientierungssysteme eine egalitaristische, sich auf die Prinzipien des
Individualismus und Pluralismus stützende wissenschaftlich-technische
Zivilisation und Marktgesellschaft gestellt hat, sondern sie hat auch einen
Prozeß einer subkutanen Uniformierung in Gang gesetzt, der die bunte Pluralität
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Auch für den Freund der alten allzuständigen substantialistischen Vernunft der
metaphysischen Tradition ist Wirtschaftsethik nicht Moralismus. Man kann dies
zuspitzen: Moralismus korrumpiert Wirtschaftsethik. Aber das ist nur die
Anwendung der allgemeineren Erkenntnis, daß jede Ethik durch Moralismus
korrumpiert wird. Daß gleichwohl der Moralismus so erfolgreich ist und die
ethischen Diskurse durch sein Empörungsgeschrei übertönt, liegt daran, daß
Denkschwäche und Ressentiment Hand in Hand zu gehen pflegen und weit
verbreitet sind. "Wenn die Rechtfertigungserwartung an die Führungskräfte
zunimmt, ist die Gefahr der Tribunalisierung groß. Tribunalisierung der
Wirtschaft entsteht aus einer Form der "Remoralisierung" der Wirtschaft, die
nicht mehr Wirtschaftsethik, sondern moral aggression, in Moralität verkleidete
Aggression gegen den Tüchtigen ist. Eine … Wirtschaftsethik des
Kulturbereiches Wirtschaft zu fordern, ist nicht identisch mit vorschneller
Moralisierung. Die Moralisierung von Sachgebieten ist immer in Gefahr, dem
Ressentiment zu verfallen, jenem Ressentiment, das seine Mißgunst in die
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Formel kleidet, daß die Tat des Tüchtigen nichts sei, weil sie nicht der moralisch
verbrämten Durchschnittlichkeit entspreche" (10).