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Prof. Dr. Wolfgang Kersting


Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
WS 2008
Mi 10 - 12
Vorlesung: Wirtschaftsethik

Rationale Moralbegründung; Naturzustandsargument;


Homo oeconomicus (10.12.2008)

Teleologische Ethiken sind ausschließlich an den Handlungsfolgen interessiert.


Die Motive der Handelnden sind für sie ohne Belang, spielen bei der
moralischen Bewertung des Handelns keine Rolle. Anders bei deontologischen
Ethiken. Grundsätzlich können Regeln auf zwei Weisen befolgt werden: man
kann ihnen äußerlich Gehorsam leisten oder sie aus innerer Überzeugung
respektieren. Für teleologische Ethiken gibt es nur zwei Möglichkeiten: man
kann entweder dem Gebot der Nutzenmaximierung entsprechen oder nicht. Für
deontologische Ethiken hingegen gibt es drei Möglichkeiten: a. man tut nicht
das, was man soll; b. man tut, was man soll, aber nicht aus den richtigen
Gründen; c. man tut, was man soll und man tut es aus den richtigen Gründen.
Insofern die Handlungsmotivation also Bestandteil der moralischen Beurteilung
ist, folglich belangvoll für den moralischen Wert der Handlung, ist auch die
deontologische Forderung komplizierter: sie lautet: tue das, was du tun sollst,
aus der richtigen Einstellung heraus. Oder in der Terminologie Kants: Handle
pflichtgemäß aus Pflicht. Und diese Aufforderung, dem Sittengesetz gegenüber
die richtige Einstellung auszubilden und aus dieser Einstellung heraus zu
handeln, ist nicht etwas, das zum Gebot des kategorischen Imperativ
hinzukommt, sondern sie ist für die Moralität der Menschen zentral.

Das Motiv unseres Handelns entscheidet allein über die moralische Qualität
unseres Handelns. Äußerlich dem kategorischen Imperativ zu folgen, bringt uns
nicht das Himmelreich. Wir müssen ihm aus Einsicht in seine praktische
Notwendigkeit, aus Einsicht in seine Verbindlichkeit befolgen. Das, was falsch
ist, ausschließlich darum nicht zu tun, weil es falsch ist – das ist in kürzester
Form moralisches Handeln nach Kant. Warum mag ein Schlachter darauf
verzichten, beim Abwiegen der Mortadellascheiben die Wagschale
herunterzudrücken? Nun, es könnte sich herumsprechen, daß er falsch auswiegt,
und das könnte die Kunden vertreiben. Und da er das vermeiden möchte,
erinnert er sich an das alte englische Sprichwort, daß sich Ehrlichkeit bezahlt
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macht, und unterläßt es, beim Auswiegen zu schummeln. Er könnte aber auch
darauf verzichten, weil es sich einfach nicht gehört, die Kunden zu betrügen,
weil es unmoralisch ist. Im ersten Fall handelt er aus Klugheit in
Übereinstimmung mit dem Moralgesetz. Im zweiten Fall handelt er aus innerer
sittlicher Einsicht, aus Anerkennung der Wahrheit des Moralgesetzes. Und nach
Kant ist ausschließlich ein Handeln, das sich durch die Verbindlichkeit der
Moral selbst unmittelbar leiten läßt, ein moralisch wertvolles Handeln. Dieser
Gesinnungsradikalismus hat den Freunden der Kantischen Ethik seit je zu
schaffen gemacht; und ihren Feinden war er ein guter Grund, sie als lebensfremd
zu verwerfen. Denn nicht nur wird kluge Gesetzesbefolgung von Kant moralisch
verurteilt; auch alle altruistische, sozial affektive, durch menschenfreundliche
Neigungen ausgelöste Handlungen sind, da nicht durch Einsicht in die
Verbindlichkeit des Moralgesetzes motiviert, für Kant moralisch wertlos.
Schiller hat diesen Rigorismus in zwei berühmten Distichen verspottet: „Gerne
dien’ ich den Freunden, doch thu ich es leider aus Neigung, / Und so wurmt es
mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du musst suchen,
sie zu verachten / Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.
(Über die Grundlage der Moral § 6)

Natürlich müssen wir Kant zugeben, daß das Motiv von beträchtlicher
Bedeutung für die moralische Beurteilung einer Tat, einer Handlungsweise ist.
Sollten Sie herausfinden, daß Ihr bester Freund nur darum Ihre Freundschaft
gesucht hat, weil er sich aufgrund der Beziehungen Ihres Vaters davon einen
karrierepolitischen Vorteil versprach, wird es Sie verletzten. Sie werden in
hohem Maße moralisch enttäuscht sein, obwohl sein Verhalten Ihnen gegenüber
stets mustergültig, das eines wahren Freundes war. Freilich zeigt dies Beispiel
auch sogleich, in welchem Bereich uns die Gesinnung, die Lauterkeit des
Motivs von moralischer Wichtigkeit ist. Es ist dies der Bereich der sozialen
Intimität und des existentiellen Betreffbarkeit. Jenseits dieses Bereiches
erwarten Sie in der Regel keine Lauterkeit, keine moralische Gesinnung. Dies
aber nicht darum, weil Sie dort nur Schlechtigkeit und Gesinnungslosigkeit
vermuten, sondern weil jenseits dieses Bereiches, weil jenseits des sozialen
Nahbereiches das Gesinnungskriterium nicht von Beurteilungsrelevanz ist.

In der Tat: Sollten wir nicht damit zufrieden sein, daß Menschen sich an die
Regeln halten, gleichgültig aus welchen Gründen? Ist nicht anzunehmen, daß sie
viel leichter Regeln befolgen, wenn diese mit ihren Interessen im Einklang
stehen? Ist es nicht vernünftig, anstatt – wie Kant – das Eigeninteresse zu
verdammen und aus der Moral zu entfernen, umgekehrt die Moral auf das
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Eigeninteresse zu gründen, eine Ethik des Eigeninteresses, der Klugheit zu


entwickeln? Die englischen Philosophen der Neuzeit waren allesamt dieser
Überzeugung. Ihr robuster Empirismus hat der Moralphilosophie darum einen
anderen Weg gewiesen. Für sie war ausgemachte Sache, daß, wie David Hume
schreibt, „jeder Mensch, der sein eigenes Glück und Wohl im Auge hat, durch
Ausübung aller moralischen Pflichten sich am besten seine Erwartungen erfüllt“,
und daß daher die erste Aufgabe jeder Moraltheorie darin bestehen muß zu
zeigen, „daß alle Pflichten, die sie empfiehlt, auch die wahren Interessen eines
jeden Individuums sind“, („What theory of morals can ever serve any useful
purpose, unless it can show that all the duties it recommends are also the true
interest of each individual“) -Diese individualistisch-rationale Moraltheorie
behauptet, moralische Normen seien, recht verstanden, nichts anderes als
Richtlinien des menschlichen Verhaltens, deren allgemeine Befolgung dem
wohlerwogenen Interesse jedes Menschen dient und die darum von jeder Person
anerkannt und befolgt werden sollten.

Humes Pointe liegt in der Unterscheidung zwischen interest und true interest;
das wahre Interesse ist nicht immer mit dem Interesse identisch; es scheint nie
an der Oberfläche zu liegen; an der Oberfläche liegt die unmittelbar drängende
Begierde; an der Oberfläche liegt das schnelle Geld, der sofortige Lustgewinn:
Um von der Oberfläche des aktuell Begehrten zu dem wahren Interesse zu
gelangen, ist Distanzierungsarbeit notwendig; auch die Berücksichtigung des
wahren Interesses kann eine Hemmung der Begierde verlangen; kann weh tun;
kommt in all dem also der Physiognomie der Pflicht schon recht nahe. Auf das,
was das langfristige und wohlerwogene Selbstinteresse verlangt, stößt man nur,
wenn man einen Rationalitätsfilter verwendet. Wie sieht ein Handeln aus, das
die durch diesen Rationalitätsfilter wirksam gewordenen
Rationalitätsbedingungen erfüllt. Es ist ein Handeln, das sich nicht naturwüchsig
vollzieht, kein affektiv-passioniertes, emotionales, gedankenloses oder
habituelles Verhalten, kein inkonsistentes, vorschnelles, unorientiertes
Verhalten, sondern ein informiertes und kalkuliertes Handeln, daß - wie eine
wahre Konklusion aus wahren Prämissen bei der korrekten Anwendung
deduktiver Schlußregeln - einer leidenschaftslosen Verarbeitung der
vorhandenen Informationen und einer nüchternen Gewichtigung der eigenen
Präferenzen und einer sorgfältigen Berücksichtigung aller Kosten,
Konsequenzen und Nebenfolgen entspringt. Wobei von besonderer Bedeutung
ist, daß die Kostenberechnung im Horizont der Präferenzenhierarchie erfolgt,
somit auch die Präferenzen berücksichtigt, die in der gegenwärtigen Situation
nicht aktuell sind, und deren Realisierungsbedingungen mit den Konsequenzen
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kurzfristiger Interessenverfolgung vergleicht. Und dabei gilt grundsätzlich


folgende Rationalitätsnorm: nie darf die Realisierung untergeordneter
Präferenzen die Realisierungsbedingung übergeordneter Präferenzen gefährden.
Rationalität zeigt sich vor allem als umfassendes, die Auswirkungen auf aktuelle
und virtuelle Präferenzen gleichermaßen berücksichtigendes Kostenbewußtsein.

Näherhin ist die Situation der Entscheidung als Situation einer rationalen Wahl
definiert: eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen sieht sich der
Aufgabe konfrontiert, aus tatsächlich vorhandenen alternativ möglichen
Handlungen jene Handlung auszuwählen, die für die vorliegende Situation im
Licht der faktisch gegebenen Wert- und Zielvorstellungen ein Maximum an
Wert, Nutzen oder Befriedigung verspricht. Das individualistisch-rationale
Begründungsmodell arbeitet also mit einem Rationalitätsstandard, der die
rationale Annehmbarkeit moralischer Prinzipien ausschließlich unter dem
Blickwinkel der subjektiven ökonomischen Rationalität jedes einzelnen im
Sinne seiner individuellen Nutzenmaximierung beurteilt.

Die Grundidee der rational-individualistischen Konzeption ist einfach und


bestechend: Wenn wir davon ausgehen, daß es für jeden von uns rational ist, von
mehreren verfügbaren Handlungsalternativen stets diejenige zu wählen, die ihm
auf längere Sicht zur Verfolgung seiner Ziele und Interessen am ehesten dienlich
erscheint, so ist es für jeden einzelnen rational, bestimmte Regeln des sozialen
Zusammenlebens zu akzeptieren, wenn er Grund hat anzunehmen, die
allgemeine Geltung dieser Regeln werde ihm trotz gewisser Einschränkungen
und Opfer, die sie ihm auferlegen, dennoch langfristig zum Vorteil gereichen.
Daraus folgt, daß es für jedermann rational ist, Regeln zu akzeptieren, bezüglich
welcher alle Betroffenen Grund haben anzunehmen, ihre Geltung werde ihnen
auf lange Sicht insgesamt zum Vorteil gereichen. Man kann daher sagen, ein
moralischer Grundsatz sei intersubjektiv rational begründet, wenn gezeigt
werden kann, daß die Geltung dieses Grundsatzes als einer allgemein
verbindlichen obersten Regel des gegenseitigen Verhaltens auf lange Sicht den
vorrangigen Interessen aller Beteiligten dient. Die Vertreter des rational-
individualistischen Ansatzes meinen nun nicht nur, daß einige unserer
fundamentalen moralischen Vorstellungen, die weithin Anerkennung genießen,
in diesem Sinne intersubjektiv rational begründet werden können, sondern sie
behaupten auch, daß es eine andere Art der intersubjektiv konsensfähigen
Begründung moralischer Grundsätze nicht geben kann.
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Die Moralnormen, die im Rahmen individualistisch-rationaler Moralbegründung


entwickelt werden, sind allesamt von folgendem Typ: da die Akzeptanz der
Normen eine Funktion ihrer individuellen Interessedienlichkeit ist, werden sie
allesamt Normen sein, die ein günstiges Klima der individuellen
Interessenverfolgung schaffen; es sind Kooperationsnormen, die den Menschen
genau die Handlungen untersagen, die allgemein genommen, wenn sie jeder
begehen würde, zu einer beträchtlichen Verschlimmerung des Zusammenlebens
und damit zu einer Beeinträchtigung individueller Interessenverfolgung führen
würden. Für die individualistische Rationalität ist Moral wesentlich ein
Unternehmen sozialer Kooperation, dessen Legitimität ausschließlich in seiner
Zweckdienlichkeit für die Verfolgung der individuellen Ziele der Betroffenen
beruht.

Die Urszene aller rationalen Moralbegründung ist der Hobbessche Naturzustand.


Diese geniale Konstruktion bietet die radikalste Gestalt des Problems des
kollektiven Handelns und enthält alle charakteristischen Merkmale des ethischen
Institutionalismus. Hobbes zeigt in diesem Lehrstück dreierlei: 1. Daß die
rationalen Anstrengungen sozial ungebundener, unter Naturbedingungen
lebender Menschen einen Zustand wachsender Unerträglichkeit erzeugt, das
subjektive Selbsterhaltungsrationalität einen Zustand objektiver Irrationalität
verursacht, somit der Naturzustand sich als Kriegszustand entpuppt. 2. Daß die
Unerträglichkeit des Naturzustandes nur dadurch überwunden werden kann, daß
sich alle allgemeinen Regeln der Sozialverträglichkeit und der
Handlungskoordination unterwerfen. Und 3. Daß zwar alle wissen, daß
regelkonformes, also kooperatives Verhalten rational vorzugswürdig ist, dieses
Wissen aber erst dann praktische Folgen zeitigen kann, wenn durch eine
unwiderstehliche Sanktionsmacht gesichert ist, daß auch alle sich an die Regeln
halten. Denn niemand wird bereit sein, die Kooperationskosten der
Regelbefolgung aufzubringen, wenn die Regelverletzung Vorteile bringt. Die
Lektion des Naturzustandsarguments besteht, allgemein gefaßt, in der Einsicht,
daß es vorteilhaft ist, die eigene Vorteilsmaximierungsstrategie Regeln zu
unterwerfen, die einen für alle vorteilhaften Zustand ermöglichen und deren
Aufrechterhaltung im langfristigen Interesse aller liegt.

Offenkundig hat Hobbes mit seinem berühmten Argument von der Entstehung
des Staates, der Institution aller Institutionen, aus der Selbsterhaltungsnot der
Naturzustandsbewohner auch ein konzeptuelles Vorbild für das Projekt einer
angemessenen Wirtschaftsethik geliefert. Eine Wirtschaftsethik kann nur eine
institutionalistische Ethik sein. Das subjektive und das objektive Versagen einer
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individuenadressierten Ethik ist auf dem Bereich der Wirtschaft besonders groß.
Zum einen ist das Wirtschaftssystem ein Handlungssystem, dessen
gesamtgesellschaftlich erwünschte Leistungen von einer klugen individuellen
Interessenverfolgung abhängig ist. Daher wird eine auf moralische Motivation
angewiesene individuenadressierte Ethik auf beträchtlich erschwerte
Implementationsbedingungen stoßen. Auf der anderen Seite ist das
Wirtschaftssystem in hohem Maße ein System unintendierter Nebenwirkungen,
dessen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Naturverhältnisse und unsere
Sozialverfassung Gegenstand moralischer Aufmerksamkeit wert ist.
Wirtschaftsethik ist Nebenwirkungs-, Gesamtzustands- und Sanktionsethik. Sie
versucht die Herbeiführung eines erwünschten oder moralisch zuträglicheren
Gesamtzustandes dadurch zu sichern, daß sie durch geeignete sanktionsbewehrte
institutionelle Handlungseinschränkungen für alle Wirtschaftssubjekte deren
vorteilsmaximierendes Verhalten so lenkt, daß eben dieser moralisch
vorteilhaftere Gesamtzustand zustande kommt. Natürlich impliziert diese
Unzuständigkeit des individualethischen Theorietyps für wirtschaftsethische
Probleme keine moralische Unbelangbarkeit der Wirtschaftssubjekte für ihr
individuelles wirtschaftliches Handeln. Diese sind als Handelnde natürlich nach
wie vor den traditionellen Normen der Moral unterworfen. Aber das hat eben
nichts mit Wirtschaftsethik zu tun. Weder ist die Wirtschaftsethik ein
individuenadressiertes System von Spezialnormen noch ist sie ein Reservat
individueller moralischer Unverantwortlichkeit. Die moralischen Normen
bleiben weiterhin in Kraft. Aber sie vermögen nicht die moralischen Probleme
zu lösen, die die Wirtschaft als Gesamtsystem erzeugen kann. Diese können nur
durch institutionalisierte Handlungsregeln gelöst werden, die die
Rahmenbedingungen individuellen Wirtschaftshandelns formulieren und zur
Sicherung ihrer Durchsetzung bei Nichtberücksichtigung mit Sanktionen
drohen, die den Normbruch mit derart hohen Kosten belegen, daß er keine
rationale Gewinnstrategie mehr darstellen kann.

Diese Überlegungen machen deutlich, daß die Wirtschaftsethik nicht in den


Reigen der angewandten Ethiken gehört. Fraglos profitiert die gegenwärtige
wirtschaftsethische Konjunktur von der allgemein wachsenden Nachfrage nach
einer ethischen Vermessung der neuen modernisierungsbedingten
gesellschaftlichen Risikofelder. Aber die Wirtschaft ist kein neues
modernisierungsbedingtes gesellschaftliches Risikofeld. Die Ausdifferenzierung
der wirtschaftlichen Sphäre zu Beginn der Neuzeit ist selbst eine
gesellschaftliche Voraussetzung für die Modernisierungsprozesse in
Wissenschaft und Technik, deren moralische Folgen die gegenwärtig um
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Umwelt, Klimawandel, Stammzellenforschung und genetischer Optimierung


kreisenden Ethikdiskussionen beschäftigen. Das moralische Problempotential
der Wirtschaft hat von Anfang an bestanden und ist nicht erst aufgrund unerhört
wachsenden technischen Verfügungswissens entstanden. Umgekehrt gilt, daß
der wissenschaftlich-technische Fortschritt sich nicht so rasant entfaltet hätte,
wenn er nicht von der Dynamik des ökonomischen Verwertungsinteresses
vorangetrieben worden wäre. In der Hierarchie der Moralphilosophie steht die
Wirtschaftsethik also systematisch weit über den Umwelt-, Technik- und
Bioethiken; wie Demokratieethik und Rechtsethik gehört sie zur für die
Prinzipien von Institutionen und Ordnungen zuständigen politischen
Philosophie.

Der Hobbessche Naturzustand, das Grundmodell aller Ethik rational motivierter


Prinzipienwahl, ist durch folgende Bestimmung charakterisiert:

1. Konstitutiver Egoismus. – Die Menschen sind an dem Erfolg ihrer


Handlungen interessiert; sie wollen ihre Absichten ungestört realisieren und ihre
Interessen verfolgen. Ihr eigenes Leben und Wohlergehen ist für sie wichtiger
als das Leben und Wohlergehen anderer. Ihr fundamentales Interesse gilt der
Selbsterhaltung, aber nicht, weil das Leben als Selbstwert geschätzt würde,
sondern weil das Überleben die Voraussetzung für ein glückliches und er-
folgreiches Lebens ist. Daß wir bei all unseren Wünschen und
Glücksvorstellungen implizit immer das Leben und die Freiheit als gleichsam
transzendentale Bedingungen einer differenzierten Lebensstrategie mitwollen,
wird uns erst bewußt, wenn wir in Grenzsituationen geraten, die eben wesentlich
dadurch bestimmt sind, daß in ihnen die transzendentalen Voraussetzungen
eines normalen Handlungslebens auf dem Spiel stehen, so daß ihre Sicherung
unsere ganze Kraft und Aufmerksamkeit kostet.

2. Knappheitsbedingte Konkurrenz. – Menschliche Bedürfnisbefriedigung findet


unter der Bedingung einer doppelten unaufhebbaren Knappheit statt. Sowohl die
begehrten Güter selbst als auch die zu ihrem gegenwärtigen und künftigem
Erwerb erforderlichen Mittel sind knapp. Menschen sind daher in zweifacher
Hinsicht Konkurrenten: sie konkurrieren um die erstrebten Güter, und sie
konkurrieren um die Macht. Menschliche Bedürfnisbefriedigung steht folglich
unter dem Gesetz konfligierender Interessen: unter der Bedingung der
Knappheit von Gütern und Macht müssen die gütergerichteten Objektwünsche
und die Wünsche nach Macht kollidieren. Die Knappheit erzeugt Konflikte.
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3. Konkurrenzbedingte Verfeindung. – Konkurrenten im Naturzustand sind


prinzipiell gewaltbereit, sie werden zu Feinden. Im Naturzustand ist jeder
Machtkonkurrent von jedem, daher wohnt dem Naturzustand strukturell die
Tendenz zur Hostilisierung inne: "Wenn zwei Menschen nach demselben
Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so
werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich
Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu
vernichten oder zu unterwerfen" (Leviathan 13, 95).

4. Rationalität des offensiven Mißtrauens und vorbeugende Gewaltanwendung.


– Menschen besitzen Vernunft und daher praktische Voraussicht. Sie entwickeln
Langzeitstrategien und versuchen sich für mißliebige Fälle zu wappnen. Sie sind
Planer und Machtmaximierer und wissen, daß auch die anderen Planer und
Machtmaximierer sind und aufgrund der ihre Überlegungen nicht minder
konsequent leitenden Vernunft die gleichen Befürchtungen und die gleichen
Präventionsvorstellungen haben und die gleichen Konfliktverhaltensmuster
entwickeln. Es werden notwendigerweise sich aufschaukelnde, wechselseitig
verstärkende Strategien des offensiven Mißtrauens von den Menschen
entwickelt. Es gilt, mit dem Schlimmsten zu rechnen und der Gewalt anderer
zuvorzukommen. Den anderen selbst zu attackieren, erhöht die eigenen
Überlebenschancen; auf die Friedfertigkeit der anderen sich zu verlassen, ist in
höchstem Maße irrational. Rational, weil den eigenen Interessen dienlich, ist es
hingegen, gewaltbereit und, wie Kant sagt, "jederzeit in der Kriegsrüstung zu
seyn" (Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe Bd. XIX, Refl. 7646).

Unter Naturzustandsbedingungen, unter den Bedingungen einer ungeregelten


natürlichen Konkurrenz um Güter und Macht muß die rationale Strategie der
Machtmittelakkumulation notwendig das gesamte Repertoire von
Gewalthandlungen aufnehmen. Wegen des "gegenseitigen Mißtrauens gibt es
für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre
wie Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu
unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß
genug wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr, als seine Selbsterhaltung
erfordert und ist allgemein erlaubt. Auch weil es einige gibt, denen es
Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen
ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben,
könnten andere, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein
behagliches Leben führen würden, sich durch bloße Verteidigung unmöglich
lange halten, wenn sie nicht durch Angriff ihre Macht vermehrten. Und da
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folglich eine solche Vermehrung der Herrschaft über Menschen zur


Selbsterhaltung eines Menschen notwendig ist, muß sie ihm erlaubt werden"
(Leviathan 13, 95).

Hobbes' Argument vom Naturzustand und staatsbegründenden Vertrag ist eine


spieltheoretische Musterargumentationen. Die Individuen haben zwei Strategien
zur Auswahl, eine Überlebensstrategie unter Naturzustandsbedingungen und
eine Strategie zur Aufhebung der Naturzustandsbedingungen. Die erste ist die
bereits bekannte der Machtakkumulation, der kompetitiven Aufrüstung; die
zweite ist die der Kooperation.

Die Naturzustandsstrategie ist mit großen Nachteilen verbunden: sie verhindert


alle Annehmlichkeiten des Lebens. Jeder Naturzustandsbewohner weiß, daß es
eine vorteilhafte Alternative zur Naturzustandsstrategie gibt, die die von allen
begehrten Annehmlichkeiten des Lebens ermöglichen würde: nämlich das Leben
und den Besitz der anderen zu respektieren und bei der Verfolgung der eigenen
Interessen im Rahmen der einvernehmlich erlassenen Regeln zu bleiben. Diese
Alternativstrategie der zwanglosen Kooperation würde die immensen Rüstungs-
kosten und Aggressionsanstrengungen des Naturzustandes überflüssig machen
und Mittel und produktive Energien für eine Steigerung der Lebensqualität und
eine Anhebung des Kultur- und Zivilisationsniveaus freimachen. Damit ergibt
sich folgende Strukturbeschreibung des Naturzustandes:

1. Für jedermann würde es vorteilhaft sein, wenn alle ( oder nahezu alle ) sich
die Alternativstrategie der zwanglosen Kooperation zu eigen machen würden.

2. Dieser Nutzen für jedermann würde sich nicht ergeben, wenn nicht alle ( oder
fast alle ) diese Alternativstrategie der zwanglosen Kooperation befolgen wür-
den. Das heißt also: eine allgemeine ( oder hinreichend allgemeine) zwanglose
Kooperationspraxis ist sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedin-
gung für einen für jedermann nützlichen Zustand.

3. Die Alternativstrategie der zwanglosen Kooperation wählen impliziert ein


Opfer, so daß unter ansonsten gleichbleibenden Randbedingungen es für
jedermann maximal vorteilhaft sein würde, nicht die Alternativstrategie der
zwanglosen Kooperation zu befolgen, wenn alle anderen ( oder fast alle anderen
) sie befolgen. Ich nenne diese für das Gesamtargument entscheidende
Bedingung Gyges-Bedingung - in Erinnerung an jenen lydischen Schäfer mit
dem Unsichtbarkeit verleihenden Ring, von dem Glaukon in Platons "Politeia"
erzählt. Es ist offenkundig, daß der Unsichtbarkeitsvorteil Gyges' strukturell
dem Schwarzfahrervorteil oder free-rider-Vorteil gleicht.
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4. Das mit der Kooperationsstrategie verbundene Opfer ist gering im Vergleich


mit dem Konformitätsgewinn, d.h. mit dem Nutzen, den jeder hat, wenn alle
(oder fast alle) die Kooperationsstrategie wählen.
5. Es ist maximal nachteilig, sich dann zu der Kooperationsstrategie zu ent-
schließen, wenn alle anderen (oder fast alle anderen) sich nicht bereitfinden, die
Kooperationsstrategie zu wählen.

Geben wir dieser Strukturbeschreibung des Hobbesschen Naturzustandes eine


vereinfachende spieltheoretische Fassung, so kommen zu einem Zwei-Personen-
Spiel, das als Gefangenen-Dilemma bekannt ist 1 . Die Geschichte, die dieser
spieltheoretischen Miniatur des Hobbesschen Naturzustandes ihren Namen
gegeben hat, geht folgendermaßen: Zwei Gefangene, die in getrennten Zellen
untergebracht worden sind und keine Möglichkeit haben, sich miteinander
abzusprechen, sind eines gemeinsam begangenen, sehr schweren Verbrechens
angeklagt, das man jedoch keinem von beiden beweisen kann. Beweisen kann
die Staatsanwaltschaft jedoch, daß sie gemeinsam ein anderes leichtes
Verbrechen begangen haben. Beide Gefangene werden nun getrennt von-
einander gefragt, ob sie im Fall des schweren Verbrechens ein Geständnis
ablegen wollen, und dabei wird ihnen gleichzeitig folgendes eröffnet: sollte es
sich ergeben, daß ein Gefangener gesteht und der andere nicht, dann wird der
Geständige als Kronzeuge gegen seinen Kumpanen auftreten und den
Gerichtssaal straffrei verlassen können; sollte es hingegen der Fall selin, daß
beide Gefangene gestehen, dann werden sie dem Gesetz entsprechend bestraft
werden, wobei sich die Geständnisbereitschaft strafmildernd auswirken wird;
wenn jedoch keiner gesteht, dann werden beide nur des geringfügigen
Verbrechens angeklagt und mit einer entsprechend geringen Strafe belegt
werden. Und viertens wird schließlich jedem Gefangenen eröffnet, daß er, wenn
er nicht gesteht, sich jedoch der andere geständig zeigen sollte, mit der vom
Gesetz vorgesehenen Höchststrafe rechnen muß.

Den Gefangenen, die durch keinerlei moralische Erwägungen von ihrer strategi-
schen Vorteilssuche abgelenkt werden, also nicht von Reueanwandlungen und
Sühnebedürfnissen in ihrer Handlungsweise bestimmt sind, präsentieren sich die
vier offerierten Möglichkeiten in folgender Vorzugsordnung: für jeden rangiert
an erster Stelle die Kombination: ich gestehe, und der andere gesteht nicht; die
zweitbeste Möglichkeit für beide ist die Geständnisverweigerung von beiden; als

1 Vgl. R.D.Luce/H.Raiffa: Games and Decisions. Introduction and Critical Survey, New York
1947.
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dritte Wahl erscheint jedem Gefangenen das Doppelgeständnis; und als


eindeutig schlechteste Möglichkeit müsse beide die Umkehrung der
Ausgangskombination ansehen: der andere gesteht, und ich gestehe nicht. Das
Dilemma, in dem sich die beiden Gefangenen befinden ist deutlich: beide
werden als rational Handelnde gestehen; der Geständnisstrategie ist eindeutig
der Vorzug vor der Geständnisverweigerungsstrategie zu geben, denn falls der
andere gesteht, ist es besser, daß man auch gesteht, und falls der andere nicht
gesteht, ist es erst recht vernünftig, zu gestehen. Aber die rationale Strategie des
Geständnisses ist keinesfalls die für beide vorteilhafteste Strategie, führt
keinesfalls zu dem für beide vorteilhaftesten Ergebnis. Für beide wäre die
Strategie der Geständnisverweigerung vorteilhafter gewesen, die allerdings erst
dann ins Blickfeld geraten kann, wenn man aufhört, seine Interessen
unabhängig von den Interessen anderer zu verfolgen, wenn man also seine
Interessenverfolgung Prinzipien unterstellt, die von allgemeinem Nutzen sind,
deren Beachtung im Interessen von jedermann liegt und allen zum Vorteil
gereicht. In Situationen dieser Art, die in der Literatur nach diesem Beispiel
allgemein als Gefangenen-Dilemma-Situationen bezeichnet werden und deren
historisch erste Darstellung und rationale Auflösung in der Hobbesschen
Philosophie zu finden ist, entpuppt sich die Klugheit als Falle. Keinesfalls
geraten nur Untersuchungsgefangene in solche Situationen; sie sind auch nicht
nur in dramatischen Grenzsituation zu finden. Im Gegenteil, sie sind sehr
zahlreich und besonders häufig in Interaktionskontexten anzutreffen, deren
vorherrschende Rationalitätsform die individualistische Rationalität ist. Daher
sind sie in Marktgesellschaften geradezu epidemisch; ihnen verdanken wir das
stete Anwachsen der Umweltbelastung und der ökologischen Kosten unserer
Wachstumsgesellschaft; ihnen ist die Verschlechterung der Bereitstellung,
Pflege und Nutzung der öffentlichen Güter anzulasten.

Das Problemprofil derartiger Gefangenen-Dilemma-Situationen zeigt folgende


Matrix:

B
Kooperation Nichtkooperation
A Kooperation 3/3 (R/R) 1/4 (S/T)
Nichtkooperation 4/1 (T/S) 2/2 (P/P)

Für jeden Spieler ist der Nutzen einseitiger Unkooperativität größer als der
Nutzen beidseitiger Kooperativität, dieser hinwiederum ist für jeden Spieler
größer als der Nutzen beidseitiger Unkooperativität; und dieser schließlich
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größer als der Nutzen einseitiger Kooperativität. Angesichts dieser Situation


wird die dominante Strategie beider Spieler notwendig zu einem stark
ineffizienten Ergebnis führen müssen. Denn beide werden sich für eine Strategie
entscheiden, die die besten Antwort auf jede beliebige Wahl des Mitspielers ist.
Gefangenen-Dilemma-Situationen sind also dadurch charakterisiert, daß sie
unkooperative Strategien als dominante Strategien nahelegen; da unkooperative
Strategien jedoch zu einem Ergebnis führen, das jeden schlechter stellt, als er
sich bei Wahl der Kooperationsstragie stellen würde, entdeckt sich hier die
Klugheit also als Falle, aus der die an der Maximierung ihres Nutzens
interessierten Personen offenkundig nur die Kooperation befreien kann.
Gefangenen-Dilemma-Situationen sind also Situationen, in denen die Klugheit
zur Falle wird, aus der nur die Kooperation einen Ausweg zu weisen vermag.
Allseitige Kooperationsdisziplin wird in solchen Situationen einen sozialen
Effizienzgewinn ermöglichen. Sie sind so geartet, daß es für jeden vorteilhaft ist,
wenn er seine Nutzenmaximierung allgemeinen Regeln unterwirft. Die ganze
Aufmerksamkeit muß daher dann der Frage gelten, wie die Kooperativität
gesichert werden kann.

Aber nicht nur die Klugheit gerät in Situationen von der Art des Hobbesschen
Naturzustandes oder des Gefangenendilemmas in eine Falle; die Lage ist noch
viel vertrackter, auch die individuelle Moral muß hier versagen. Klugheitsfallen
sind derartige Situationen für den rational Handelnden, weil er mit vollem Wis-
sen suboptimale und mindereffiziente Strategien wählen muß; weil sie also die
effizienzbewußte Rationalität zur Selbstunterbietung zwingen. Und
Moralitätsfallen sind sie, weil die gewählte moralische Strategie, also zum
Beispiel unter den Unmäßigen des Hobbesschen Naturzustandes mäßig zu blei-
ben und sich nicht zur präventiven Aggression oder kompetitiven Aufrüstung
verleiten zu lassen oder als einziger das Kooperativitätsopfer zu bringen, nicht
nur unklug, sondern auch moralisch unzulässig ist. Moralisches Handeln würde
in dieser Situation offenkundig kontraproduktiv sein: da der Entschluß zur
privaten Verantwortlichkeit ohne Frage kostenträchtig ist, andererseits aber auch
die Schadenskosten der kollektiven Praxis nicht nennenswert mindert, führt er
nicht nur zu keiner Verbesserung der Gesamtsituation, sondern verschlechtert
sie noch. Niemandem ist gedient, wenn man sich allein kooperativ verhält; es sei
denn, man will sich am Genuß der eigenen moralischen Vortrefflichkeit
schadlos halten. Aber damit ändert sich das Paradigma, geht es doch um die
Herbeiführung einer distributiv vorteilhaften Situation für alle, und nicht darum,
im falschen Leben für sich selbst ein richtiges zu führen.
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Überdies muß das schöne Unternehmerseele durch folgende Überlegung be-


trächtlich betrübt werden: die individualmoralische Lösung ist ihrerseits
moralisch verwerflich, da der moralische Luxus der richtigen Lebensführung in
einer unvernünftigen Welt mit beträchtlichen Nachteilen für die abhängig
Beschäftigen verbunden ist: die durch den moralischen Eigensinn
hervorgerufenen Gewinneinbußen müssen irgendwann durch Lohnkürzungen,
Kurzarbeit, Entlassungen, also durch ökonomische und dann soziale Schlechter-
stellungen der Mitarbeiter und ihrer Familien bezahlt werden. In Situationen
dieser Art ist also die moralische Verhaltensweise die denkbar unvernünftigeste:
sie bringt nicht nur einen Narrenlohn ein, das was in der Spieltheorie als sucker's
pay off bezeichnet wird, sondern sie führt auch nach ihren eigenen, moralischen
Maßstäben gemessen zu unzulässigen Ergebnissen. Moralität ist hier also ein
doppeltes Verlustgeschäft.

Der Witz des Gefangenen-Dilemmas liegt in der Unvermeidlichkeit, mit der der
rationale Egoismus die vorteilhaftere Lösung verfehlt. Die rationale
Entscheidung für unkooperatives Verhalten unterbietet das, was die Situation
erlaubt hätte, wenn Kooperation und Interessenabstimmung gewählt worden
wären. Die Lektion des Gefangenendilemmas besteht, allgemein gefaßt, in der
Einsicht, daß es vorteilhaft ist, die eigene Vorteilsmaximierungsstrategie Regeln
zu unterwerfen, die einen für alle vorteilhaften Zustand ermöglichen und deren
Aufrechterhaltung im langfristigen Interesse aller liegt. Normen dieser Art, die
man als Gefangenen-Dilemma-Normen bezeichnet hat, sind Normen der Ko-
operationsrationalität; sie bestimmen die Strategie der zwangsfreien
Kooperation.

Die Verwirklichung des Vorrangs der Kooperation und die Sicherung stabiler
kooperativer Verhältnisse verlangt die Entschärfung der Gyges-Bedingung, der
Lösung des Parasitismus-Problems resp. des Vertrauensproblems. Wenn jeder
befürchten muß, daß ihn seine Kooperativität von den anderen schlecht
vergolten wird, daß er einseitige Opfer bringt und von den anderen ausgenutzt
wird, dann wird niemand sich zur Kooperation bereitfinden. Sucker's pay off —
Narrenlohn — nennt man in der Sprache der Spieltheorie den Ertrag, den der
einseitig Kooperative erzielt, und wer will schon ein Narr sein. Die Einsicht in
die Überlegenheit der Kooperationsrationalität kann keine praktische Früchte
tragen und nicht zu einem Zustand führen, in dem die allgemein zustimmungs-
fähigen Gefangenen-Dilemma-Normen vorteilhafte Verhältnisse für alle herstel-
len könnten, wenn jeder voller Mißtrauen gegenüber möglichen Schwarzfahrern
und Konformitätsparasiten ist und wenig Neigung zeigt und es als unvernünftig
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ansehen muß, die für die Etablierung eines Zustandes, der Kooperationsgewinne
für jedermann abzuwerfen in der Lage ist, notwendigen Konformitätskosten zu
entrichten. "Die meisten Menschen sind jedoch aufgrund ihres unvernünftigen
Interesses an gegenwärtigem Vorteil nicht fähig, diese Gesetze (der
Kooperationsrationalität W.K.) zu befolgen, obgleich sie sie anerkennen. Wenn
daher einige, die gemäßigter sind als die anderen, jene von der Vernunft
verlangte nützliche Rücksichtnahme gegenüber den anderen an den Tat legen,
die keineswegs im Austausch dasselbe tun, dann würden sie sicherlich nicht
vernünftig handeln; ebensowenig würden sie sich dadurch den Frieden sichern,
sondern nur umso gewisser und schneller den Untergang bereiten: die
Gesetzestreuen würden zur Beute der Gesetzesbrecher werden" 2 . Die Gyges-
Bedingung muß also entschärft werden oder, was das gleiche meint: die
Menschen müssen von ihrer Kurzsichtigkeit kuriert werden, die die auf Ein-
richtung eines dauerhaften allgemein vorteilhaften Zustandes zielende langfristi-
ge Vernunftstrategie immer wieder um eines kurzfristigen schnellen Vorteils
willen durchkreuzt. Und das ist nur möglich, wenn dafür gesorgt wird, daß Re-
gelverstöße sich nicht mehr lohnen. Mit den Regeln der
Kooperationsrationalität, mit den Gefangenen-Dilemma-Normen muß zugleich
ein institutionelles Arrangement in Geltung gesetzt werden, das die
Nachteiligkeit von Normbrüchen sicherstellt und damit jederzeit die Entrichtung
der Konformitätskosten zu einer gewinnbringenden Investition macht. Dieses
institutionelle Arrangement beseitigt den Konflikt zwischen dem kurzfristigen
Vorteil des Normbruchs und dem langfristigen Vorteil der Normgeltung und
bringt das kurzfristige und das langfristige Selbstinteresse zur Deckung. Schon
immer wußten alle, daß Gesetzestreue im langfristigen Interesse von jedermann
liegt und eine rationale Handlungsstrategie ist; jetzt erkennen sie, daß es ein
zusätzliches rationales Motiv gibt, die Gesetze zu befolgen, nämlich
Sanktionsvermeidung: Gesetzestreue liegt folglich auch im kurzfristigen
Selbstinteresse.

Matrix der [ordinalen] Auszahlungsfunktion


Gefangener 2 Gefangener 2
Strategien Nicht gestehen gestehen
Gefangener 1 Nicht gestehen 3,3 1,4
Gefangener 1 gestehen 4,1 2,2

Allgemeine Auszahlungsmatrix des 2-Personen-Gefangenen-Dilemmas

2 Hobbes: De cive 3,27; S.110.


15

Person 2 Person 2
Strategien action 2 nicht-action 2
Person 1 action 1 s, s q, t
Person 1 nicht-action 1 t, q r, r

Es seien q, r, s, t Auszahlungen (t>s>r>q und 2s>t+q)


Für jeden Spieler ist der Nutzen T (temptation) einseitiger Unkooperativität
größer als der Nutzen R (reward) beidseitiger Kooperativität; dieser wiederum
ist größer als der Nutzen P(punishment) allseitiger Unkooperativität und letzter
schließlich ist noch größer als der Nutzen S (sucker’s payoff) aus einseitiger
Kooperativität.

Person 2
Strategien Kooperation Un-Kooperation
Person 1 Kooperation R, R S, T
Unkooperation T, S P, P
Stark dominante Strategien sind Nutzenmaximierungsstrategien, die sich von
der Wahl der Mitspieler unabhängig machen, die also die einzige beste Antwort
auf jede mögliche Strategie des Mitspielers darstellen. Nimmt man an, daß
rationale Individuen stark dominante Strategien befolgen, dann ist das
Doppelgeständnis die Lösung des Spiels. Diese Lösung ist aber eine rationale
Katastrophe, denn für jeden der beiden ist die mit beidseitigem Schweigen
verbundene Auszahlung höher als beim Doppelgeständnis. Das Spielresultat ist
also stark ineffizient, denn es existiert eine alternative Auszahlung, die beide
Spieler besser stellt.

Reihung der Strategiekombinationen:


G, nicht-G
nicht-G, nicht-G
G, G
nicht-G, G
Eine allgemeine Charakterisierung des Gefangenen Dilemma-Zustands: Jeder
Spieler verfügt über zwei Strategien, von denen eine dominant, also einzige
beste Antwort auf jede beliebige Strategiewahl der anderen ist. Das Resultat, das
sich bei allseitiger Wahl der dominanten Strategie einstellt, ist jedoch stark
ineffizient, weil sich bei allseitiger Wahl der dominierten Strategie ein Resultat
ergibt, das jeden besserstellt. Es ist eine geläufige und auch plausible Annahme,
daß rationale Spieler in Situationen, in denen dominante Strategien existieren,
16

diese auch wählen. Es kommt daher zu einer ineffizienten Lösung. Die in deren
Rahmen gewählten Strategien werden üblicherweise unkooperativ bzw. defektiv
genannt. Kooperativ heißen hingegen jene dominierten Strategien, durch deren
gemeinsame Wahl jeder Spieler gegenüber der Lösung hätte besser gestellt
werden können. Vorausgesetzt ist, daß die Spieler keine bindenden
Vereinbarungen treffen können.

Klugheit ist eine Falle: man stelle sich zwei Fabriken vor, die an einem kleinen
See liegen, der durch die Abwässer dieser Fabriken verschmutzt wird (und zwar
nur durch diese). Die Fabriken benötigen aber für ihre Produktion sauberes
Wasser, das sie in der notwendigen Menge nur dem See entnehmen können. Das
verschmutzte Wasser hat schon bisher die Qualität ihrer Produkte beeinträchtigt,
so daß sie gezwungen waren, Anlagen zur Reinigung des aufgenommen
Seewassers einzubauen. Die Frage ist nun, ob die Fabriken bereit wären, in
Anlagen zur Reinigung ihrer Abwässer zu investieren, um damit die Kosten der
eigenen Reinigung des Seewassers einzusparen.

Dabei wollen wir annehmen, daß die Kosten für eine Anlage zur
Abwasserreinigung c höher sind als der daraus entspringende
betriebswirtschaftliche Nutzen u im Sinne der Ersparnis an Kosten für die
Seewasserreinigung, so daß für jede Fabrik gilt c>u. Andererseits würde sich die
weitere Unterhaltung von Seewasserreinigungsanlagen vollständig erübrigen,
wenn beide Fabriken über Anlagen zur Abwasserreinigung verfügten. Wir
können also davon ausgehen, daß die Fabriken einen doppelten Nutzen haben,
wenn beide jeweils eine Abwasserreinigungsanlage installieren, denn dann
könnten sie auf ihre Seewasserreinigungsanlagen vollständig verzichten. Die
Installation von Abwasserreinigungsanlagen ist bei beiden Firmen also dann die
betriebswirtschaftlich optimale Lösung, wenn der doppelte Nutzen 2u größer ist
als die Investitionskosten für die Abwasserreinigungsanlage c, d.h. 2u-c>0.
Dieser doppelte Nutzen stellt sich aber erst dann ein, wenn beide Fabriken
investieren; aber das genau werden sie nicht tun.
Die Nutzung verschmutzten, teilgereinigten oder vollständig gereinigten
Wassers kann zwischen den beiden Fabriken nicht ‘geteilt werden’. Unabhängig
von seinem Verschmutzungsgrad weist das Seewasser eine charakteristische
Eigenschaft öffentlicher Güter auf: die der Nicht-Ausschließbarkeit der
Beteiligten von seiner Nutzung. Das wirkt sich in der Weise auf die
Auszahlungen aus, daß im Fall des Baus von Abwasserreinigungsanlagen durch
beide Fabriken für jede von ihnen der doppelte Nutzen vollständig gereinigten
17

Seewassers entsteht, Kosten aber nur in Höhe der Investition für eine Anlage, so
daß die Auszahlung für jede Fabrik 2u-c beträgt.
Da des weiteren auch die nicht-investierende Fabrik nicht von der Nutzung des
teilgereinigten Seewassers ausgeschlossen werden kann, wenn eine
Abwasserreinigungsanlage durch die andere Fabrik erstellt wird, hat sie den
Nutzen u, jedoch keine Kosten. Hingegen hat die Fabrik, die die Anlage baut,
zwar auch diesen Nutzen u, aber zugleich auch die Kosten u-c. Existiert keine
Abwasserreinigungsanlage, entstehen weder Kosten noch Nutzen, da ja beide
über Seewasserreinigungsanlagen verfügen.

Fabrik 2
Bau der Anlage Kein Bau der
Anlage
Fabrik 1 Bau der Anlage 2u-c, 2u-c u-c, u
Kein Bau der u, u-c 0,0
Anlage

Auch hier wird die nicht-dominante, kooperative Strategie verfehlt: es gilt


c>u>0
daher u>2u-c, u>0 und 0>u-c; es werden keinen Anlagen gebaut.

Mit dem Hobbesschen Argument von der Entstehung einer institutionellen


Ordnung und eines sanktionsbewehrten Regelsystems aus dem geteilten
Überlebensinteresse der Menschen begann die wissenschaftliche Karriere des
Menchenmodells des homo oeconomicus, der in der gegenwärtigen Philosophie
und Wissenschaft vielfältige Verwendung findet, Begründudngszwecken in der
in der politischen Philosophie, Institutionenökonomie und Wirtschaftsethik
dient, aber auch für Erklärungszwecke in den individualistischen, dem
ökonomischen Verhaltensmodell sich verschreibenden Sozialwissenschaften
herangezogen wird. Daß dieser homo oeconomicus ein konstruktivistisches
Produkt ist, eine methodische Invention, die vorab definierten theoretischen
Interessen dienstbar ist und daher keinen Anspruch auf deskriptive
Angemessenheit stellt, stellt bereits Hobbes heraus, der seinen Naturzustand und
dessen Bewohner, eben den Stamm der homines oeconomici, als Ergebnis
gedankenexperimenteller Abstraktionen und Radikalisierungen einführt. Und
diese methodologische Idealisierung durch wissenschaftstheoretische
Überlegungen rechtfertigt. Aber gleichwohl ist dem homo oeconomcus immer
wieder der Vorwurf der Menschenverzeichnung gemacht worden. Entsprechend
wurde den Benutzern dieses Modells Misanthropie und Amoralismus
18

vorgehalten. Vielen scheint ausgemacht zu sein, daß der homo oeconomicus die
Moral verdirbt, und daß daher die Verwendung dieses Modells hinreichender
Grund für eine moralische Verdächtigung ist genauso wie etwa in den Augen
der Kreationisten die Verwendung der Evolutionstheorie gotteslästerlich ist und
von verwerflichem Atheismus zeuge. Für Kapitalismuskritiker und
Modernitätsskeptiker, Kommunitaristen, christlich Bewegte und andere
Romantiker ist der homo oeconomicus geradezu die Inkarnation des von Ihnen
abgelehnten Individualismus: in ihm bündeln sich alle schlimmen Seiten der
forcierten Modernisierung, die den Gemeinschaftsmenschen aus seinen
Kontexten sinnvollen Lebens und lebensethischer Erfülltheit gerissen hat und in
ein Sozialatom, einen existentiellen Solitär verwandelt hat, der in einer kalten
Welt rücksichtslos rücksichtlos seine Nutzenpositionen schützt und vermehrt.
Hier vermischen sich häufig Dämonisierung und Legendenbildung. Bereits der
Markt, das bevorzugte Biotop des homo oeconomicus, ist keine Kampfstätte
asozialer, atomisierter Wesen. Der Markt ist vielmehr ein System sozialer
Interaktion, dessen Basisoperation der Tausch ist, der seinerseits auf dem
Prinzip der Reziprozität, der Wechselseitigkeit basiert. Tauschaktionen besitzen
ihrerseits eine immanente Normativität; in ihren artikuliert sich eine basale
Anerkennungsgegenseitigkeit, die das normative Fundament bildet für das den
Tausch konstitutierende spannungsvolle Zugleich von Kooperation und
Konkurrenz. Immer steht das Wirtschaftssubjekt in einem Geflecht von
Kooperationsbezügen und Konkurrenzverhältnissen. Auch und gerade als
Wirtschaftssubjekt ist kein solitäres, atomisiertes Einzelwesen, sondern ein
soziales, mit anderen vielfältig verbundenes Subjekt. Freilich, wenn die
Zuschreibung des Sozialen nur dann erfolgen darf, wenn das Handeln der
Subjekte durch dezidiert soziale Motiv- und Gesinnungslagen bestimmt ist, dann
ist das Tauschsystem des Marktes kein sozialer Bereich. Denn natürlich agieren
die Subjekte, um ihre je individuellen Interessen zu befriedigen. Aber eine
derartige normative Engführung des Sozialen ist nicht einzusehen. Zudem
verbietet der Markt nicht im mindesten Moral und soziale Einstellung.
Diejenigen, die in ihm eine Brutstätte des Egoismus sehen, verkennen das
Wesen des Marktes völlig. Das Entscheidende des Marktes ist nicht, daß er
Moral verbietet oder zur moralischen Rücksichtslosigkeit erzieht; das
Entscheidende des Marktes ist, daß der keiner moralischen Gesinnung bedarf,
um zu funktionieren. Das ist seine Stärke und sein zivilisatorischer Charme: er
kann sich Egoismus leisten, er ist nicht auf Moral angewiesen.

Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich mich jetzt etwas


Ausführlicher dem homo oeconomicus zuwenden. Die Geschichte des homo
19

oeconomicus beginnt mit der Geschichte der gesellschaftlichen und


wirtschaftlichen Moderne und ihrer Selbstreflexion in Philosophie und
Wissenschaft. Der homo oeconomicus war der Protagonist der kapitalistischen
Wettbewerbsgesellschaft, der Held der Mikroökonomie, das anthropomorphe
Modell optimaler wirtschaftlicher Rationalität. Der homo oeconomicus
verkörperte das Ideal des Entscheidungsverhaltens, das den Erfolgsbedingungen
der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft genau entsprach. Er besaß vollendete
Rationalität, eine unbestechliche Sicht auf die Handlungsalternativen, stets alle
erforderlichen Informationen und ein zupackendes Entscheidungstemperament.
Er war ein Retortenwesen, eine rationalitätstheoretische Konstruktion, eine
Abwägungsmaschine mit stets makellosen Ergebnissen, ein rationaler
Entscheidungsautomat, mehr in den Lehrbüchern der Mikroökonomie zuhause
als in der Wirklichkeit. Ralf Dahrendorf, der in seiner Studie über den Homo
sociologicus von 1958 diesem wirtschaftswissenschaftlichen Menschenmodell
ein soziologisches Menschenmodell rollengemäßen Verhaltens entgegenstellt,
beschreibt den homo oeconomicus folgendermaßen: er ist der "Verbraucher, der
vor jedem Einkauf Nutzen und Kosten sorgsam abwägt und Hunderte von
Preisen vergleicht, bevor er seine Entscheidung trifft; der Unternehmer, der alle
Märkte und Börsen in seinem Kopf vereinigt und sämtliche Entschlüsse an
diesem Wissen orientiert; der vollständig informierte, durch und durch
"rationale" Mensch" (Pfade aus Utopia, München 1974, S. 129). Trefflicher
noch ist die Beschreibung, die der norwegisch-amerikanische Soziologie und
Ökonom Thorstein Veblen (1857-1928), Autor der berühmten Studie "The
Theory of Leisure Class" (1899), vom Homo oeconomicus gibt: "The
hedonistic conception of man is that of a lightning calculator of pleasures and
pains who oscillates like a homogeneous globule of desire of happiness under
the impulse of stimuli that shift him about the area, but leave him intact. He has
neither antecedent nor consequent. He is an isolated definitive human datum, in
stable equilibrium except for the buffets of the impinging forces that displace
him in one direction or another. Self-imposed in elemental space, he spins
symmetrically about his own spiritual axis until the parallelogram of forces
bears down upon him, whereupon he follows the line of the resultant. When the
force of the impact is spent, he comes to rest, a self-contained globule of desire
as before. Spiritually, the hedonistic man is not a prime mover. He is not the seat
of a process of living, except in the sense that he is subject to a series of
permutations enforced upon him by circumstances external and alien to
him.//"Die hedonistische Konzeption des Menschen ist die eines blitzschnellen
Berechners von Freuden und Leiden, der sich wie ein homogenes
Elementarteilchen, welches ganz aus Streben nach Glückseligkeit besteht, unter
20

dem Einfluß von Anstößen bewegt, die ihn in der Gegend herumschieben, selbst
aber unversehrt lassen. Ihm geht nichts voraus und ihm folgt nichts nach. Er ist
ein bestimmtes, isoliertes menschliches Datum, welches sich in einem stabilen
Gleichgewicht befindet, sieht man einmal ab von den Stößen der auf ihn
einwirkenden Kräfte, die ihn in die eine oder andere Richtung schieben. Auf
sich selbst beschränkt im Elementarraum, wirbelt er symmetrisch um seine
eigene geistige Achse, bis das Parallelogramm der Kräfte auf ihn Einfluß nimmt,
woraufhin er die Richtung von dessen Resultanten folgt. Ist die Kraft des
Impulses aufgebraucht, kommt er zur Ruhe, ein in sich abgeschlossenes
Elementarteilchen von Wünschen wie zuvor" (Why Is Economy Not an
Evolutionary Science, Quarterly Journal of Economics 12/1898, S. 373 – 397;
S.389f.).

Natürlich, da ist Dahrendorf völlig recht zu geben, ist der homo oeconomicus
"für unser naives Erleben … eine seltsame Kreatur". Gäbe es ihn, wäre er kein
angenehmer Zeitgenosse; jeder würde ihm aus dem Wege gehen, keiner seine
lebensweltlichen Belanglosigkeiten mit ihm teilen. Gleichwohl ist damit gegen
die wissenschaftliche Brauchbarkeit dieses Modells nicht gesagt. Schließlich,
wieder Dahrendorf, sieht für uns die Welt auch nicht so aus, wie es die atomaren
Bienenkorb-Modelle nahelegen, gleichwohl ist die Physik gut beraten, ihnen bei
der Erklärung der Phänomene zu folgen. In der Tat ist ein angenehmes Wesen
keine Voraussetzung für die explanative und prognostische Verwendbarkeit des
homo oeconomicus-Modells. Auch Realismus muß nicht vorausgesetzt werden.
Immer sind Modelle Abstraktionsprodukte und daher durch Einzelfälle
widerlegbar. Gleichwohl mindert das die explanative und prognostische
Brauchbarkeit derartiger Modelle nicht im mindesten, wenn an der für den
explanativen und prognostischen Zweck wesentlichen Bestimmung festgehalten
wird, in unserem Fall an dem Zusammenspiel der beiden Dimension des
Selbstinteresses und der informationsverarbeitenden und
entscheidungsvorbereitenden Rationalität. Andererseits ist für die modellhafte
Verwendung des homo oeconomicus aber auch nicht notwendig, die Abstraktion
so weit zu treiben, daß der homo oeconomicus gleichsam divinisiert wird, die
ihn auszeichnenden Eigenschaften selbstinteressierten Handelns und raitonale
Situationseinschätzung in vollkommender Reinheit besitzt. Wir müssen den
kontrafaktischen Charakter des Modells nicht so weit ausdehnen, daß wir
vollkommene Informiertheit, computerhaft schnelles Abwägen und
unerschütterliche Präferenzenhierarchie unterstellen. Auch ist es nicht
erforderlich, die Selbstinteressiertheit des Verhaltens egoistisch engzuführen,
21

schließlich gibt es einen guten sachlichen Grund, warum etwa die englische
Sprache self-interest von selfishness unterscheidet. D

Die heute in der Sozialtheorie, der Ökonomik, der Politischen Ökonomie und
Gesundheitsökonomie verwendeten Modelle ökonomischen Verhaltens
unterscheiden sich von diesem – wie er einmal schon getauft wurde - Paleo-
Homo Oeconomicus, der immer noch in mikroökonomischhen Lehrbüchern sein
Unwesen treibt, beträchtlich. Heute geht man von Verhaltensmodellen der
limitierten Rationalität und limitierten Informiertheit aus, öffnet auch das
Selbstinteresse für altruistische Motivationslagen, für Wertüberzeugungen und
ästhetische Interessen. Heute sieht der homo oeconomicus uns zum Verwechseln
ähnlich. Der Soziologe George C. Homans dazu: "Der Ärger mit dem homo
oeconomcius war nicht, daß er ökonomisch verfuhr, daß er seine Mittel zu
seinem Vorteil nutzte, sondern daß er asozial und materialistisch war, einzig an
Geld und materiellen Werten interessiert und jederzeit bereit, um ihretwillen
sogar seine alte Mutter zu opfern. Es waren seine Werte, die falsch waren: man
gestand ihm nur einen sehr begrenzten Werthorizont zu; der neue homo
oeconomicus aber ist nicht so begrenzt. Vom Altruismus bis zum Hedonismus
mag er alle möglichen Werte haben, solange er seine Mittel nicht völlig
verschwendet, um diese Werte zu erreichen, ist sein Verhalten immer noch
ökonomisch. … Der neue homo oeconomicus ist der normale Mensch" (Social
Behavior: Its Elementary Forms, London 1961, S. 79f.). Das Ökonomische
dieses neuen homo oeconomicus steckt also nicht mehr in den Präferenzen,
sondern ausschließlich in der präferenzenverwaltenden Rationalität. Daher kann
ein Philantrop genauso gut eine Verkörperung des homo oeconomicus sein wie
ein hedge-fond-Manager, der Papst genauso gut wie ein Nobelpreisgewinner der
Ökonomie.

Die Physiognomie dieses zeitgenössischen homo oeconomicus sieht im


wesentlichen folgendermaßen aus: der homo oeconomicus ist ein Verhaltens-
und Entscheidungsmodell; sein Entscheidungsverhalten ist als Zusammenspiel
von Präferenzen und Restriktionen explizierbar. Restriktionen sind Indikatoren
unserer Endlichkeit und Unvollkommenheit; Restriktionen sind die
Beschränkungen, mit denen wir leben müssen; sie begrenzen unsere Optionen
und Fähigkeiten, definieren unseren Handlungsspielraum. Diese Restriktionen
lassen sortieren, in unterschiedliche Gruppen einteilen. Die gröbste Einteilung
unterscheidet subjektive und objektive Restriktionen: objektive Restriktionen
sind die Handlungsbedingungen, die wir genauso wie alle anderen in ähnlichen
Situationen vorfinden, die institutionellen Gegebenheiten, politische Umstände,
22

rechtliche Rahmenordnungen, Wirtschaftsverfassungsstrukturen und ähnliches,


vielleicht auch kulturelle Anschauungen, Wahrnehmungs- und
Bewertungsmuster; subjektive Restriktionen sind hingegen solche, die mit
unserer individuellen Situation, mit uns selbst als Individuen zu tun haben, etwa
die Höhe des einzusetzenden Investitionskapitals, die Höhe des angesparten
Geldes, die Höhe des Einkommens. Handeln ist Einsatz der vorhandenen Mittel
zur Realisierung der Präferenzen unter den gegebenen Bedingungen. Welche
Optionen den Individuen zur Verfügung stehen, muß keinesfalls vollständig
aufgelistet werden. Normalerweise kennen die Individuen nicht alle Optionen,
die ihnen offenstehen; auch überschauen sie hinsichtlich der von ihnen ins Auge
gefaßten Optionen nicht alle damit verbundenen Konsequenzen. Die
Informationsbasis ist immer sehr begrenzt, kann aber – wenn kein allzugroßer
Entscheidungsdruck besteht – erweitert werden; manchmal ist es rational, in
Informationsbeschaffung zu investieren. Rationalität zeigt sich als Anpassung an
diese subjektiven und objektiven Restriktionen. Rationalität ist
präferenzengeleitete Anpassung an die vorgegebenen Rahmenbedingungen.

Präferenzen sind – wörtlich verstanden – Vorzüglichkeiten. Präferenzen hat nur


ein Wesen, das Optionen hat und eine Wahl treffen muß. Präferenzen dienen
dazu, eine Wahl zu treffen. Sie sind Kriterien; sie bezeichnen das, was man
lieber hat, lieber tut, lieber sehen möchte usf. Präferenzen bezeichnen, was wir
für gut ansehen, für vorzugswürdig halten; Präferenzen strukturieren unserer
Abwägungen, unsere Bewertungen der Optionen; sie definieren, was für uns
vorheilhaft und nachteilig ist. Präferenzen werden gebildet und können sich
ändern. Alle Präferenzen haben ein unveränderliches gattungsbiologisches
Fundament, die basalen, für unser organisches, geistiges und soziales Überleben
gleichermaßen unaufgebbaren Bedürfnisse. Aber jenseits dieses Bereichs des
Naturnotwendigen gibt es einen großen Spielraum für kulturelles
Präferenzendesign. Präferenzen sind die Ablagerungen unserer
Sozialisationsprozesse, dadurch immer auch durchwirkt mit Wertvorstellungen
und kulturellen Überzeugungen. Präferenzen können nur darum die
optionenabwägende und entscheidungsstrukturierende Bedeutung haben, weil
sie völlig unabhängig von der aktuellen Entscheidungssituation sind. Sie
verhalten sich zu den Optionen der aktuellen Entscheidungssituation wie
Begriffe zu den Einzeldingen, die durch sie beschrieben werden. Präferenzen
sind individuelle Bewertungsgrammatiken. Und mehr als diese in den
sogenannten Präferenzcodes enthaltene Rationalität benötigen wir für unsere
Modellüberlegungen in den Wissenschaften nicht. Es ist eine durchschnittliche
Rationalität, die all diejenigen teilen, die beispielsweise von einem Gut lieber
23

mehr als weniger davon haben (bei gleichen Ausgaben), die lieber reich als arm
sind – bei gleicher Gesundheit; die lieber geringere Kosten als höhere Kosten
haben – bei gleichem Nutzen; die lieber mehr Freizeit als mehr Arbeitszeit
haben – bei gleichem Einkommen, die lieber geringere Risiken auf sich nehmen
als höhere – bei gleichem Ertrag. Fassen wir zusammen, dann erhalten wir
folgende Definition ordinärer Rationalität: angesichts knapper Mittel ist es
rational, Alternativen abzuwägen und die kostengünstigste zu wählen.

Entscheidungssituationen sind in den seltensten Fällen monopräferentielle


Entscheidungssituation. Gewöhnlich betreffen Handlungssituationen immer
mehrerer Präferenzen, müssen die Optionen und die ihnen zuzuordnenden
Nutzen- und Kosten-Bilanzen immer vor dem Hintergrund mehrerer Präferenzen
bewertet werden. So daß – strukturell durchaus der Benthamschen Verrechnung
von Pleasure- und Pain-Einheiten ähnlich – die rationale Entscheidung bei
gewöhnlich polypräferentiellen Entscheidungssituationen darauf aus sein muß,
das größtmögliche Netto-Nutzen ausfindig zu machen.

Die Präferenzen legen inhaltlich fest, was einem Individuum als nützlich gilt; sie
bilden zusammen seine Nutzenvorstellung. Und welche Präferenzen durch die
aktuelle Handlungssituation auch immer betroffen sind, immer zeigt sich
rationales Handeln darin, den Nutzen zu maximieren. Rationalität ist im Kontext
des ökonomischen Verhaltensmodells immer Maximierungsrationalität. Nur
stellt sich diese eben nicht notwendig in den Dienst der im engeren Sinne
ökonomischen Güter. Nicht nur die materiellen Eigenschaften eines Gutes sind
von Relevanz, sollten die Präferenzen auch seine ästhetischen, ökologischen,
moralischen oder sozialen Eigenschaften betreffen, dann sind auch diese von
Wichtigkeit und gehen in die Abwägung ein. Wenn das homo oeconomicus-
Modell derartige Präferenzen zuläßt, muß auch der ihm zugeordnete Begriff des
Selbstinteresses oder des Eigennutzen für alle nur denkbaren Motivationen offen
gehalten werden und darf keinesfalls auf egoistische Intentionen reduziert
werden. Homines oeconomici können durchaus moralische Handeln, soziales
Engagement entwickeln und ästhetische Perspektiven bei ihren Entscheidungen
berücksichtigen. Selbstinteressiert handelt der homo oeconomicus nur, insofern
er sich ausschließlich an seinen Präferenzen orientiert und nicht an den
Präferenzen anderer. Weiterhin gilt, daß der homo oeconomicus nur persönliche
Präferenzen befolgen und von externen Präferenzen Abstand nehmen sollte.
Jedenfalls geht man in Argumentationen, in denen man von dem homo
oeconomicus – Modell Gebrauch macht, in der Regel davon aus. Der Verzicht
auf externe Präferenzen ist Bestandteil des modelleigenen Rationalitätskonzepts.
24

Ex ist rational, an dem Glück oder Unglück anderer desinteressiert zu sein, bei
seiner eigenen Präferenzenbildung nicht das Glück, aber eben auch nicht das
Unglück anderer zu berücksichtigen. Ein rationaler Mensch ist nicht
rachsüchtig, neidisch, mißgünstig, haßerfüllt, er kennt noch nicht einmal
Schadenfreude. Er ist aber eben auch nicht altruistisch. Er ist indifferent und
gleicht, so Kirchgässner, im Gleichnis vom Guten Samariter dem Priester und
Leviten, die bekanntlich sich an dem Leiden des Überfallenen und
Geschundenen nicht sonderlich interessiert zeigten. Im All des Handelns sind
sozialfreundliche und sozialfeindliche Einstellungen ins Irrationale reichende
Ausschläge vom Mittelweg selbstinteressierter Nutzenmaximierung. Sie mögen
dem Miteinanderleben die Farbe, die Dramatik, die moralische Temperatur
geben. Aber die homo-oeconomicus-Rationalität verlangt wechselseitige
Indifferenz. Insofern daher alle leidenschaftlichen, passionierten Beziehungen
zu anderen aus der Präferenzenskala ausgeschlossen werden, ist auch der neue,
aus den gewinnmaximierenden Quartieren der Wirtschaft in die weite
Gesellschaft ausgewanderte homo oeconomicus immer noch kein normaler
Mensch.

Der neue homo oeconomicus ist kein Entscheidungscomputer. Seine Rationalität


ist begrenzt, seine Informationen sind begrenzt, sein empirisches Wissen, das
zur Handlungsfolgenbewertung benötigt wird, ist begrenzt. Und wie wir steht er
natürlich immer auch unter Zeitdruck. Aber wie restringiert auch immer die
Entscheidungssituation ist, er wird – und das ist die explanative und
prognostische Pointe des homo oeconomicus-Modells – die Optionen mustern
und die vor ihn vorteilhafteste wählen. Daher eignet sich das homo
oeconomicus-Modell auch gut zur Desillusionierung; daher ist es auch lange
Zeit vor seiner wissenschaftlichen Ausformulierung von den Moralisten
verwendet worden: es ist nie unvernünftig, sich von der Frage nach dem Nutzen
leiten zu lassen, hinter den vorgeschobenen, die moralischen Erwartungen
bedienenden Motiven nach den eigentlich wirksamen Motiven der
Vorteilsmehrung zu suchen. Nichts anderes machen wir, nichts anderes machen
die professionellen Politikbeobachter, wenn sie die Handlungen,
Verlautbarungen, lancierten Mitteilungen bewerten: sie fragen nach dem Nutzen
für die Betroffenen. Nichts anderes macht auch die professionelle Politik, auch
sie orientiert sich an einem homo oeconomicus-Modell; versucht durch
Anreizsysteme und sozialstaatliche Bestechungen die Randbedingungen der
Stimmenabgabe so zu manipulieren, daß ein für sie günstiges Ergebnis dabei
herauskommt. Wir haben uns längst daran gewöhnt, daß das Prinzip der
Nutzenmaximierung in allen Bereichen der Gesellschaft wirksam ist, nur ist der
25

Nutzen nicht immer ökonomischer Profit, nicht immer Umsatzsteigerung und


Kurzsteigerung; Machterhaltung, Machtgewinn, Einflußsicherung – auch das
sind begehrte Güter, die zu erreichen rationales Handeln gefragt ist. Daher ist es
kein Zufall, daß Politische Ökonomie, die individualistische Sozialwissenschaft
und die Wirtschaftswissenschaften mit dem gleichen Modell des ökonomischen
Verhaltens arbeiten. Und wenn wir gelegentlich dagegen protestieren und
anthropologische Verarmung beklagen und vor einem Angriff auf die Moral
warnen, dann nur, weil wir uns zu genau in diesem Modell wiedererkannt haben
und nur zu gut wissen, daß es nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern auch
in unserem eigenem Berufs- und Sozialleben eine beachtlich virulente Rolle
spielt und von großer explanativer und prognostische Bedeutung ist.

Es ist nicht entscheidend, daß der homo oeconomicus mit seiner Kombination
aus selbstinteressiertem Handeln und durchschnittlicher, Kosten-und-Nutzen-
abwägender Rationalität, die reichhaltige menschliche Wirklichkeit mit ihren
verwirrenden Motivlagen, mit ihren Schrullen und Marotten, Unüberlegtheiten
und Dummheiten, mit all dem Rücksichtslosen und Abscheulichen, aber auch
Großartigem und Atemverschlagendem nicht auffangen kann.
Modellkonstruktionen können das grundsätzlich nicht. Entscheidend ist, daß er
trotz seiner anthropologischen Kargheit und seiner vielen deskriptiven Defizite
auf bestimmten Gebieten von großer Brauchbarkeit ist. Unter anderem auf dem
Gebiet der rationalen Moralbegründung und des klugen Institutionendesigns. In
einer Gesellschaft, die aufgrund vielfältiger Modernisierungsprozesse ihre
einheitliche, kulturelle Homogenität verbürgende Hintergrundtheorie verloren
hat, die kein allgemein anerkennungswürdiges Ziel gesellschaftlicher und
individueller Existenz mehr kennt, die nur noch ein Geflecht ethischer
Selbstversorger ist, nur noch Individuen kennt, die ihre je eigenen Vorstellungen
eines gelingenden Lebens entwickelt haben, muß die Begründung
handlungseinschränkender Regeln sich auf unterethische, unterreligiöse,
unterkulturelle Residualgemeinsamkeiten stützen, auf solche
Residualgemeinsamkeiten, wie sich sie in den oben erwähnten Präferenzcodes
ausdrücken. Glauben wir an verschiedene Götter, können nicht diese als
Gemeinsamkeitsfundament dienen, sondern unsere Klugheit, die auf eine
erfolgreiche Verfolgung unserer grundlegenden Interessen gerichtet ist, unsere
Rationalität, die die Kontinuitätsbedingungen unseres selbstinteressierten
Handelns beobachtet. Mit einem Wort: wir müssen an den homo oeconomicus in
uns appellieren, an den Rationalitätskern, der unter der bunten Hülle der
differenten und kulturvarianten ethischen, religiösen und gesellschaftlichen
Moden verborgen ist. Und mit diesem müssen auch diejenigen rechnen, die in
26

unser aller Namen die Regeln für unser Zusammenleben aufstellen, die unser
gesellschaftliches Miteinander institutionell ordnen. Diese sollten den homo
oeconomicus als einen wertvollen Verbündeten betrachten; er ist der
Lackmustest gelingender Ordnungspolitik. Und sie sollten sich ein Vorbild an
seinem Biotop, dem Markt nehmen. Wie dieser zwar gute Menschen erträgt,
jedoch nicht verlangt, in seinem Funktionieren also von den Moralinvestitionen
der Wirtschaftssubjekte unabhängig ist, so sollten auch die politischen
Ingenieure des Rahmenwerks unserer gesellschaftlichen Existenz sich um solche
Regeln bemühen, die auch dann die von ihnen erwartete Selektionsleistung
erbringen, wenn sie es nicht mit entgegenkommenden Bürgern zu tun haben, die
also egoismusresistent und ausbeutungsimmun sind.

Die gegenwärtige wirtschaftsethische Debatte wird durch den Wettbewerb von


drei Positionen bestimmt, die sich in ihrer Krisendiagnose weitgehend einig
sind, bei dem Weg aus der Krise aber je einer anderen Leitvernunft vertrauen.
Alle drei stoßen in ihrer Analyse der Ursachen der moralischen Problemfolgen
wirtschaftlichen Handelns auf ein und dieselbe Quelle des Unheils: auf die sich
verabsolutierende instrumentelle, strategische, ökonomische Rationalität. Jedoch
bei der Wahl der therapeutischen Krisenüberwindungsrationalität gehen sie
getrennte Wege. Modernitätskonsequent und voller Vertrauen auf die
Lernfähigkeit der ökonomischen Rationalität setzen die einen auf einen
"ökonomischen Imperialismus". Da Menschen unter einem nicht
abzuschüttelnden Knappheitsregiment leben und daher bei allem, was sie tun,
Kosten anfallen, spricht der ökonomische Imperialismus der auf Handlungs-
koordination unter Knappheitsbedingungen spezialisierten ökonomischen
Rationalität ausschließliche und unbegrenzte Zuständigkeit in der Welt der
anthropina zu.

Neben den ökonomischen Imperialisten finden wir die Anhänger der


kommunikativen Diskursrationalität, die diesem nachkonventionellen
prozeduralen Vernunfttyp nicht nur die Verteidigung der Lebenswelt gegen die
Angriffe der Systemwelt zutrauen, sondern überdies sogar hoffen, daß er
ausgerechnet im ökonomischen Gravitationszentrum der Welt der Systeme der
ebenso kurzsichtigen wie unwiderstehlichen Marktrationalität den Einfluß
streitig machen kann. Und schließlich finden wir da nach die Fraktion eines
merkwürdig zwielichtigen Prämodernismus, der die substantialistische, religiös
imprägnierte Ethosvernunft der Tradition wiederbeleben möchte: half die
Religion ursprünglich dem Geist des Kapitalismus, sich zu entfalten, so soll sie
jetzt das kapitalistische Gewinnstreben zu ethischer Selbstbeschränkung
27

ermutigen. Entsprechend können wir drei Typen von Wirtschaftsethik


unterscheiden: zum einen eine dogmatisch-moderne Wirtschaftsethik, zum
anderen eine reflektiert-moderne Wirtschaftsethik und schließlich drittens eine
prämoderne Wirtschaftsethik.

Die dogmatisch-moderne Wirtschaftsethik des ökonomischen Imperialismus


dehnt den konzeptuellen Rahmen der Nutzen-Kosten-Vergleiche auf alle
gesellschaftlich-moralische Problemstellungen aus und läßt Vernunftförmigkeit
und Marktförmigkeit konvergieren. Hier soll die Vernunft zur Ökonomie
gebracht werden. Die anderen beiden wirtschaftsethischen Typen versuchen
hingegen, die Ökonomie zur Vernunft zu bringen. Gipfelt die dogmatisch-
moderne Wirtschaftsethik in einem Marktabsolutismus, so zielen die konkurrie-
renden Konzeptionen auf eine ethische Kontextualisierung des Marktes, durch
die die ökonomische Rationalität dem Regiment einer superioren
Alternativvernunft unterstellt wird. Da ist zum einen die Wirtschaftsethik der
diskursiven Kontextualisierung, die den universalistischen Orientierungen der
modernen Diskurs- und Kommunikationsgesellschaft vertraut. Und da ist zum
anderen die Wirtschaftsethik der ethischen Kontextualisierung, die den ganzen
kulturellen Instanzenzug der Traditionswelt wiedereinzuführen beabsichtigt und
der Ökonomie durch Einbettung in eine ganzheitliche, religiös zentrierte Sinn-
welt die verlorene menschliche Gestalt zurückgeben will.

Der Wirtschaftsethikmarkt ist durch den Wettbewerb von drei Unternehmen


geprägt. Da ist die Wirtschaftsethik der ökonomischen Rationalität, die sich
unter das Motto „Alles ist Ökonomie“ stellt und die Kosten-Nutzen-Kalkulation
zum alleinigen moralphilosophischen Erkenntnisverfahren macht. Soll hier die
Vernunft zur Ökonomie gebracht werden, so will das Konkurrenzunternehmen
einer Wirtschaftsethik der kommunikativen Rationalität die Ökonomie zur
Vernunft bringen und unter dem Motto „Ökonomie ist nicht alles“ die Strategien
der ökonomischen Klugheit durch inner- und außerbetriebliche praktische
Diskurse kontrollieren. Neben diesen beiden Konzeptionen nachmetaphysisch-
schmaler Vernünftigkeit versucht auch ein von Peter Koslowski geführter
metaphysischer Mischkonzern, aus der Krise der Moderne Kapital zu schlagen;
er bemüht sich, abgelegte Begriffsmuster neu herauszubringen, resignierend
aufgegebene Ansprüche auf Totaldurchdringung der Gesamtwirklichkeit
wiederzubeleben, und offeriert den wuchtigen materialen Vernunftbegriff der
metaphysisch-theologischen Tradition in leicht konsumierbaren Portionen.
In den folgenden Vorlesungen werde ich Ihnen diese drei konkurrierenden
wirtschaftsethischen Konzeptionen vorstellen. Ich beginne, der Chronologie der
28

Vernunft folgend, mit der Konzeption Koslowskis. Denn Koslowski vertraut


seine Wirtschaftsethik der ältesten Vernunftsorte an, der substantialistischen, die
in Metaphysik, Naturrecht und Theologie Gestalt annimmt. Zugrunde lege ich
Koslowskis Buch "Prinzipien der Ethischen Ökonomie", Tübingen 1988. Ich
werde dem Gedankengang dieses Buches folgen und bei den wichtigeren
Gedankenschritten ein wenig verweilen. Dabei werden die Voraussetzungen,
Aufbau und Konsequenzen der Wirtschaftsethik Koslowskis deutlich.
Koslowski hat mehrere Bücher zur Wirtschaftsethik geschrieben, aber dieses ist,
wie sein Untertitel preis gibt, das theoretisch gewichtigste und systematisch
anspruchvollste. Der Untertitel lautet: Grundlegung der Wirtschaftsethik und der
auf die Ökonomie bezogenen Ethik. Sollten Sie sich tiefer in das Koslowskische
Projekt vertiefen wollen, können Sie auch die folgenden Arbeiten heranziehen:
Gesellschaftliche Koordination , Tübingen 1991, und Die Ordnung der
Wirtschaft, Tübingen 1994. Während die beiden zuerst genannten Arbeiten
monographischen Charakter haben, ist das zuletzt erwähnte Buch eine
Aufsatzsammlung. die Sammlung verschiedenster Aufsatzsammlung.

In Koslowskis Selbstbeschreibung ist an großen Worten kein Mangel. Eine


ambitionierte Formel reiht sich an die andere. Nichts weniger als eine Theorie
der Gesamtwirklichkeit will Koslowski bieten, die die Wirtschaft als Teilbereich
einer umfassenden sozialen Welt begreift und zugleich diese soziale Welt in
eine noch umfassendere Seinsordnung einbettet. Es geht um eine "ontologische
und kulturwissenschaftliche Theorie der Marktwirtschaft", die als Teil eines
„philosophisch-theologisch-ökonomischen Gesamtentwurfs“ konzipiert ist.
Dieses Programm stellt sich offenkundig der Dynamik der Moderne in den Weg.
Modernisierung ist Ausdifferenzierung, ist zunehmende Lockerung der einen
integrierenden kulturellen Klammer und Auseinanderfall der homogenen
Wirklichkeit in autonome Funktionsbereiche. Ethik und Ökonomie treten
auseinander, Moral, Recht und Politik treten auseinander; wissenschaftliche
Weltsicht, lebensweltliche Überzeugungen und religiöse Gesamtauslegung
treten auseinander. Jedes dieser Teilsysteme des sozialen Lebens- und
Sinnzusammenhanges entwickelt seine eigene Rationalität, seine eigenen
Begründungsstandards und Rechtfertigungsroutinen. Verbunden ist damit eine
Versachlichung der sozialen Beziehungen in der sich immer
weiterausdehnenden, den sozialen und den psychologischen Raum immer
stärker kolonisierenden Marktwirtschaft und eine Subjektivierung des Sinns.
Wie das metaphysische Menschenwesen unter dem Diktat des Nominalismus
sich in einer Pluralität biologischer Gattungsexemplare verwandelte,
verwandelte sich auch die eine objektive, kulturelle Identität stiftende Glücks-
29

und Sinndefinition in eine Pluralität von Präferenzlisten und Sinnkonzepten. Die


Moderne hat nicht mehr den einen Himmel, sondern sie hat viele Himmel; jedes
Individuum hat seinen eigenen und auch das Recht, sich seinen eigenen Himmel
zu wählen.

Karl Marx hat diesen Prozeß in seinem berühmten Manifest für die
Kommunistische Partei folgendermaßen beschrieben: "Die Bourgeoisie, wo sie
zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen
Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den
Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen
und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das
nackte Interesse, als die gefühllose "bare Zahlung". Sie hat die heiligen Schauer
der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen
Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die
persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen
verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose
Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen
und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte,
direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu
betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den
Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten
Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen
Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so
sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende
Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande
bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische
Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz
andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge" (820).

Aber die Modernisierung ist nicht nur dadurch charakterisiert, daß sie die
Traditionswelt zerstört, die einheitlich-eine substantialistische Vernunft
aushöhlt, die homogene Kultur fragmentarisiert und auf den Ruinen der alten
Orientierungssysteme eine egalitaristische, sich auf die Prinzipien des
Individualismus und Pluralismus stützende wissenschaftlich-technische
Zivilisation und Marktgesellschaft gestellt hat, sondern sie hat auch einen
Prozeß einer subkutanen Uniformierung in Gang gesetzt, der die bunte Pluralität
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der Oberfläche unterspült und alle freigesetzte Unterschiedlichkeit und


Verschiedenheit in eine Kultur der neuen Einheitsvernunft auflöst, die den alten
Traum von der einheitlichen Weltsicht und Gesamtwirklichkeit wieder von
neuem träumt. Damit droht das postmetaphysische Projekt Aufklärung in eine
neu-alte Vernunftdiktatur abzugleiten, die nicht im mindesten zögert, die alten
umfassenden Herrschaftsansprüche zu stellen. Gemeint ist hier der Landhunger
der ökonomischen und wissenschaftlich-empirischen Rationalität, die es nicht
mehr in ihren Quartieren hält, die ausschwärmen und eroberungslustig immer
mehr Bereiche der Gesellschaft kolonisieren und die dort heimischen
Rationalitätsformen, Beurteilungsstandards und Begründungspraktiken
verdrängen. Will man sich dem entgegenstellen, dann muß man die Tendenz des
Reduktionismus, diesen Kolonialismus der ökonomischen und szientistischen
Rationalität bekämpfen und die einheimischen Rationalitätssorten zur
Resurrektion anstiften. Ein solcher Kampf gegen die modernitätseigene
Metaphysiktravestie von Ökonomismus und Physikalismus stützt sich auf den
ebenfalls modernitätseigenen Pluralismus, auf den Pluralismus von Sichtweisen
und Rationalitätsorten, von Wirklichkeiten und Sinnhorizonten. Er bejaht die
Prozesse der Ausdifferenzierung, möchte die Tradition der Moderne vor ihren
schwundmetaphysischen Vereinfachungen retten. Man kann jedoch auch sein
Heil in der Flucht vor der Moderne suchen, die destruktiven Tendenzen dadurch
zu heilen versuchen, daß die alten Traditionsmächte wiederbelebt werden, der
fragmentierten Wirklichkeit wieder eine hierarchische Gesamtwirklichkeit
übergestülpt wird, dem zersplitterten Sinnwelten wieder eine einheitliche
metaphysische Verfassung gegeben wird. Daß Koslowski seine Theorie gern als
eine Theorie der Postmoderne beschreibt, darf nicht irritieren. Postmoderne hat
hier nicht – wie sonst – die Konnotation der konsequenten, von allen
Traditionsbestandteilen gereinigten und radikal individualisierten und
pluralisierten Moderne, der Lyotardschen, von allen großen Erzählungen
abrückenden Moderne. Im Gegenteil: Postmoderne meint bei Koslowski genau
das, was der Begriff sagt: einen Kultur-, Gesellschafts- und Mentalitätszustand,
wie er anzutreffen sein wird, wenn die Moderne vorüber ist, wenn die
apokalyptischen Reiter der Moderne, Autonomisierung und Versachlichung,
Individualisierung und Pluralisierung zurückgeschlagen worden sind und die
Wirtschaft wieder ethisch und kulturell kontextualisiert ist und diese integrierte
Gesellschaft ihrerseits in eine umfassendes metphaxisch-theologisches
Wirklichkeitsverständnis eingebettet ist und die alten sinnstiftenden und
identitätsverleihenden Autoritäten wieder in ihr Recht eingesetzt worden sind.
31

Hier muß einem möglichen Mißverständnis entgegengewirkt werden. Zumeist


wird gegenwartskritische Hinwendung zur Metaphysik mit moralistischen
Assoziationen verknüpft. Wenn jemand gar Gott ins wirtschaftsethische Spiel
bringt, könnten viele meinen, hier würde abermals ein Gutmenschenquichotte
unter Einsatz all seiner Empörungskräfte gegen die schrecklichen Windmühlen
des Kapitalismus kämpfen. Dem ist jedoch nicht so. Metaphysik ist ein ernstes
Geschäft; und wer sich dieses Geschäfts in einer Zeit annimmt, die solchen
Unternehmungen alles andere als günstig ist, ist auch dann zu rühmen, wenn
man selbst keinen Heller in dieses Geschäft investieren würde und in der
Wirtschaft auch dann keinen geeigneten Gegenstand für metaphysische
Widerbelebungsversuche erblicken kann, wenn diese durchaus ethischer
Aufklärung und Disziplinierung bedürfen sollte. Um so mehr ist dieses
Unternehmen zu rühmen, als es jeden moralistischen Zungenschlag meidet und
an keiner Stelle in Moralpredigt abgleitet. Metaphysiker nehmen ihren
Gegenstand viel zu wichtig, als daß sie sich mit dem Zeitgeist gemein machen
und in den großen Chor der Kapitalismus-, Neoliberalismus- und
Globalisierungskritiker einstimmen würden. Was Koslowski über den
Moralismus in der Wirtschaftsethik und in der Gesellschaft sagt, kann ich als
jemand, der die Dinge aus einer wesentlich liberaleren Perspektive betrachtet,
ohne jede Abstriche unterschreiben. Und was er über den zugleich moralisch
und ökonomisch bedenklichen Zustand unseres Sozialstaatssystems sagt,
ebenfalls.

Auch für den Freund der alten allzuständigen substantialistischen Vernunft der
metaphysischen Tradition ist Wirtschaftsethik nicht Moralismus. Man kann dies
zuspitzen: Moralismus korrumpiert Wirtschaftsethik. Aber das ist nur die
Anwendung der allgemeineren Erkenntnis, daß jede Ethik durch Moralismus
korrumpiert wird. Daß gleichwohl der Moralismus so erfolgreich ist und die
ethischen Diskurse durch sein Empörungsgeschrei übertönt, liegt daran, daß
Denkschwäche und Ressentiment Hand in Hand zu gehen pflegen und weit
verbreitet sind. "Wenn die Rechtfertigungserwartung an die Führungskräfte
zunimmt, ist die Gefahr der Tribunalisierung groß. Tribunalisierung der
Wirtschaft entsteht aus einer Form der "Remoralisierung" der Wirtschaft, die
nicht mehr Wirtschaftsethik, sondern moral aggression, in Moralität verkleidete
Aggression gegen den Tüchtigen ist. Eine … Wirtschaftsethik des
Kulturbereiches Wirtschaft zu fordern, ist nicht identisch mit vorschneller
Moralisierung. Die Moralisierung von Sachgebieten ist immer in Gefahr, dem
Ressentiment zu verfallen, jenem Ressentiment, das seine Mißgunst in die
32

Formel kleidet, daß die Tat des Tüchtigen nichts sei, weil sie nicht der moralisch
verbrämten Durchschnittlichkeit entspreche" (10).

Wäre das neoklassische Modell des Allgemeinen Gleichgewichts zutreffend,


würde der Markt dem Ideal eines vollständigen, alle Betroffenen inkludierenden
und alle Nebenwirkungen internalisierenden Koordinationssystems entsprechen,
bedürften wir keiner Ethik. Das ökonomische System könnte aus sich selbst
heraus für seine Kontinuierung sorgen. Die vielen dezentralisierten
Entscheidungen der Marktteilnehmer, der Produzenten und Konsumenten
würden wie durch eine unsichtbaren Hand gebündelt und zugleich effiziente und
gerechte Marktergebnisse herbeiführen. Das Gute, die Sicherung des
allgemeinen Wohlstandes und die Stabilität der Tauschverhältnisse, würde ohne
alle subjektiven ethischen Anstrengungen zustande kommen. Weder könnte der
Kuchen durch intentionale individuelle oder intentionale kollektive Handlungen
vergrößert werden noch könnte seine Verteilung durch individuelle intentionale
oder intentionale kollektive Handlungen gerechter ausfallen.

Das dezentralisierte Marktsystem könnte solche Leistungen nur dann erbringen,


wenn, so Koslowski, die Idealbedingungen vollständiger Konkurrenz und
kostenfreier Vertragsdurchsetzung erfüllt wären. Kostenfreie
Vertragsdurchsetzung bedeutet, daß keinerlei Unbestimmtheit hinsichtlich der
verabredeten Vertragsleistungen und keinerlei Unsicherheit hinsichtlich der
Vertragserfüllungsbereitschaft des Partners besteht. Jedoch werden sich
Unbestimmtheit und Unsicherheit als Nebenwirkung aller wirtschaftlicher
Transaktionen nicht vollständig eliminieren lassen. Alle Mittel wirtschaftlicher
und rechtlicher Art, die zur Stabilisierung wechselseitiger
Vertragserfüllungserwartungen eingesetzt werden, können nur zu einer
unvollständigen Internalisierung der Nebenwirkungen der Unsicherheit führen.
Unsicherheitsursache ist das Eigeninteresse, das auf den kurzfristigen Vorteil
des Vertragsbruchs nicht verzichten kann. So entstehen Kosten, die bei
wechselseitiger Verläßlichkeit vermieden werden könnten. Wechselseitige
Verläßlichkeit aber kann erreicht werden durch ethische Selbstdisziplinierung.
Ethik könnte also die Effizienzeinbußen durch den vertragskorrumpierenden
Eigensinn kompensieren und würde sich daher als ökonomisch vorteilhaft
erweisen. Damit der Markt das leisten kann, was er zu leisten in der Lage ist,
muß sein Versagen durch Ethik kompensiert werden.

Ein Spezialfall dieser Unmöglichkeit der Internalisierung der


Unsicherheitswirkungen wirtschaftlicher Transaktionen ist das ungleiche
33

Wissen. Es ist eine unvermeidliche Konsequenz arbeitsteilig organisierter


Gesellschaften, das sich ihrer einzelnen Kompetenzfelder immer stärker
professionalisieren. Damit entstehen immer mehr Wissensasymmetrieren. Ist
nun Wissen und Wissensanwendung Gegenstand nachgefragter
Dienstleistungen, bleibt dem Nachfrager nichts anderes übrig, als darauf zu
vertrauen, daß der Anbieter sein überlegenes Wissen nicht mißbraucht, daß der
Arzt nicht zu überflüssigen Operationen rät, der Geologe seine
Forschungsergebnisse nicht dem Auftraggeber verschweigt, der herbeigerufene
Elektronikfachmach nicht geringfügig Beschädigtes als Unreparierbar ausgibt
und sein Geschäft, das einzige am Ort, für einen Ersatzkauf ins Gespräch bringt.
Wissensanwendung ist ein prekäres Betätigungsfeld, da es hier äußerst
schwierig ist, externe Überprüfungsverfahren anzuwenden und jenseits der
Befunde grober Fahrlässigkeit Inkorrektheiten aufzuspüren. Und wo externe
Überprüfungsverfahren versagen, versagt auch das sanktionsbewehrte Recht.
Diese Kontrollücke kann nur durch ethische Selbstdisziplinierung gefüllt
werden. Nur Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und gewissenhafter
Pflichterfüllung kann hier zuverlässig zu den Leistungen führen, die der
Vertragspartner zu erwarten berechtigt ist.

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